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Full text of "Zeitschrift für Philosophie und spekulative Theologie [afterw.] und ..."

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Philoſophie und ſpekulative 
Theologie 





im Vereine mit mehreren Gelehrten 


herausgegeben 


von 


Dr. J. H. Fichte, 


Profeſſor der Philoſophie an der Univerfität Tübingen. 


Eilfter Band. 








Tübingen, 
bei Ludwig Friedbrid Fues. 
1843. 





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Philoſophie und ſpekulative J 
Theologie 


im Vereine mit mehreren Gelehrten 


herausgegeben 


von 


Dr. J. H. Fichte, 


Profeſſor der Philoſophie an der Univerfität Tübingen. 


Eilfter Band. 








Tübingen, 
bei Ludwig Friedrich Fues. 


1843. 


2 ⏑ 5 — 


Snbaltsanzeige des eilften Bandes. 


Erſtes Heft. 


Ueber den Begriff der göttlichen Dreieinigleit von Prof. Dr. Ch. 9. 
Weiße... 

Der Begriff des negativ Abſoluten und ver negativen Philoſophie vom 
Herausgeber (Schluß) . - 

Die philofophifche Litteratur der Gegenwart ( Siebenter Artikel): "die 
logifche Frage zwiſchen Trenvelenburg und Gabler. Der gegen- 
wärtige Zuftand der Hegelfhen Schule. Kampf des "abfoluten 
Wiſſens⸗ gegen den Empirismus. Neue Syflemanfäße. Bon 
Herausgeber 

41) Die logiſche Frage in Hegels Spftem. Bon A. Trende- 
Ienburg Leipzig 1843. 

2) Die Hegelfhe Philofophie u. f. w. von G. U. Gabler. 
Erftes Heft, Berlin 1843. 

3) Beleuchtung der neuen Schelling’ichen Lehre u. f. w. von 
Aleris Schmidt, Berlin 1843. 

4) Die Philofophie und die Wirklichkeit von 3. C. Glafer, 
Berlin 1843. 

5) Grundzüge des wahren und wirklichen abfoluten Idealis⸗ 
mus von Conftantin Frank, Berlin 1843. 

6) Spekulative Studien von C. Frantz. Erſtes Heft: über 
die Freiheit, Berlin 1843. 

7) Die falſche Wurzel des Idealismus u. ſ. w. von F. Dor⸗ 
guth, Magdeburg 1843 . - - . 

Die innere Wahrheit der Religion von Dr. Karl Bayer . 


— — — — — — — 


Seite 


1 


24 


43 
129 


\ 


Zweites Heft. 


- Der bisherige Zuftand der praktifchen Philofophie in feinen Umriſſen. 


Ein Eritifcher Berfuh: 3. Kant, 3. ©. sin, Hegel. Shleier⸗ 
macher. Vom Herausgeber . 

Herbart's Ontologie, von Prof. Dr. H. Lobe!: .. 

Ueber den Begriff Gottes, als Princip der Philoſophie, mit Rüde 
fiht auf das Hegelfhe und Neu⸗ Schellingſche Syftem. Bon 
Dr. 32.4. Wirth . . 

Die philofophifche Litteratur der Gegenwart Bon Prof. Dr 9. Kr: 
riet. Achter Artikel ... 

1) Chr. A. Brandis, Handbuch der Geſcichte der Grie— 
chifch - Römifchen Philoſophie II. Theil 1. Abtheil. Ber⸗ 
lin 1844. | 

2) 3. Hillebrand, der Organismus der philofophifchen Idee 
in wiffenfchaftlicher und gefchichtlicher Hinficht. Drespen u. 
Leipzig 1843. 

3) Chr, 3. Braniß, Gefchichte der Philoſophie feit Kant. 
Erfter Theil. Weberficht des Entwidlungsganges der Phi« 
Iofophie in der alten und mittlern Zeit. Breslau 1812. 

4) &. Biedermann, die deutſche Philofophie von Kant bis auf 
unfere Zeit, ihre wiſſenſchaftliche Entwicklung und ihre 
Stellung zu ven politifchen und focialen Verhältniſſen der 

Gegenwart. 2 Bände. Leipzig 1842. 

5) C. 2. Michelet, Entwicklungsgeſchichte der neueften beut- 
ſchen Philoſophie mit befonderer Nüdficht auf den gegen- 
wärtigen Kampf Schellings mit der Hegelſchen Schule. 
Berlin 1843. 

6) ©. M. Chalybäus, Hiftorifche Entwidlung der fpecula- 


tiven Philofophie von Kant bis Hegel, 3. Ausg. Dres- J 


den 1843. 
Nachtrag zur Abhandlung über den Vegrif d der Dreielulsleir Von 
Prof. Dr. Weife . . . 2... 


Seite 


161 
203 


235 


293 


Nod e in Vort 
tiber den Begriff der göttlichen Dreieinigkeit. 


Bon. 
Prof. Dr. Ch. H. Weiße, 


Der Begriff der göttlichen Dreieinigkeit iſt in Bd. VII. Hft. 2 
diefer Zeitfchrift vom Herausgeber berfelben in einem Sinne bes 
fprochen worden, gegen welchen Ref. feine Bedenfen bereits in 
feiner neuerlich erfchienenen Schriftz das philoſophiſche Problem 
ber Gegenwart (Leipz. 1842) dargelegt hat, Wenn Ref. bier 
nochmals auf benfelben Gegenftand zurüdzufommen ſich erlaubt, 
fo gejchieht ed, um einen Gefihtspunft geltend zu maden, ber 
bisher in diefen Verhandlungen noch nicht zur Sprache gefommen 
ift, von deſſen ausbrüdlicher Beachtung und Befprechung er fich 
aber wo nicht ein Mehreres, fo doc jedenfalls dieß verfprechen 
zu dürfen glaubt, baß fie die Srage, ob über dieſen wichtigen Bes 
griff eine Bereinigung unter fonft in fo vielfacher Beziehung Gleich» 
gefinnten möglich ift, um einen Schritt ihrer Löſung näher brins 
gen wird, . 

Der Geſichtspunkt, ben ich meine, betrifft Die Stelle, die in 
der kirchlichen Dreieinigfeitölehre den Begriff der Perfon, der 
Perfönlichfeit einnimmt. Ich babe ſchon früher zu wiebers 
holten Malen auch in diefer Zeitfehrift (Bd. I. S. 190f. Bd. I. 
S. 359.) auf die Bedeutung aufmerffam gemacht, welche darin 
liegt, Daß die Kirchenlehre diefen Begriff überall nur in der Dreis 
zahl, nie in der Einzahl, auf Gott anwendete. Indeſſen ift das 
dort Geſagte noch nicht genügend, den eigentlichen Grund biefer 
- paraboren Wendung zu Tage zu bringen und den Anftog hinweg⸗ 


zuräumen, ben ber Firhliche Trinitätsbegriff Vielen auch derer 
Beitfchr. fe Philoſ. u. ſpek. Theol. XL Band 1 


2 Weiße, 
giebt, bie fonft von der Kirchenlehre und ber in ihr enthaltenen 
. Phitofophie Feineswegs geringfchägig denken. Meine fpätern Ab» 
bandlungen diejes Begriffs Cin der eben genannten Schrift, und 
früher. noch) in den Theolog. Studien und Kritifen, 18441 Heft 2), 
bie, wie ich glaube, feinen philofophiichen Gehalt und Sinn volle 
fländiger an's Licht gezogen haben, berühren bagegen gerade die- 
fen Punft, die Bedeutung, die in ihm dem Worte Perfon bei- 
gelegt ift, nur vorübergehend, und auf eine Weife, die vielleicht 
der Meinung Raum zu geben feheinen könnte, als gedächte id) ge= 
genwärtig diefen Ausdrud als einen nur anf aufällige Veranlaf- 
fung in die Kirchenlehre aufgenommenen preiszugeben. Dem 
aber ift Feineswegs fo; ich glaube vielmehr nach wie vor, wenn 
irgendwo fonft, fo gerade bier, in der Wahl diefes fonderbar ſchei— 
nenden Ausdruds den philoſophiſchen Inſtinkt der kirchlichen Dog⸗ 
matik bewundern zu müſſen, jenen Inſtinkt, der freilich, eben weil 
er nur Inſtinkt war, für ſich ſelbſt noch nicht in allen Stücken zum 
deutlichen Bewußtſein deſſen, was er eigentlich meinte, hindurch⸗ 
gedrungen iſt. | 

Dog dem Firchlihen Sprachgebrauche, fo wie er fich, befon- 
ders durch Die Einwirfung des Auguftinus, in der lateiniſchen 
Kirche befeſtigt hat und in das athanaſiſche Symbolum übergegan— 
gen iſt, im Allgemeinen die nämliche Vorſtellung zum Grunde 
liegt, die auch wir mit dem Worte Perfon verbinden, darüber 
fann wohl fein Zweifel fein. Zwar finden wir, daß in dem 
früheften Gebrauch, den die Schriftfteller der Kirche, zum Theil, 
wie 3. B. Tertullian, noch halb furdhtfam und zögernd, yon Die= 
fem Worte und dem gleichbedeutenden griechifchen machten, noch 
vielfach die Ältere Bedeutung deffelben hindurchſcheint, nad) wel- 
cher es befanntlich eine Maske, eine Rolle im Schaufpiel be— 
deutet. Die Snitiative zur feftftehenden, typifchen Bezeichnung der 
Dreiheit in Gptt durch dieſes Wort feheint zuerft gerabe von eis 
nem Solchen ergriffen worden zu fein, ber eben dag, was bie 
Kirche fpäter mit diefem Ausdruck bezeichnen wollte, in Abrede 
Relfte, von Sabellius, Diefer Gebrauch indeffen war, nach⸗ 
dem die Lehre des Sabellius von der Kirche als Härefig verwor⸗ 


über den Begriff ber. göttlichen Dreicinigfeit. 3 


fen war, im Munde rechtgläubiger Lehrer nicht mehr möglich, 
und außerdem war fchon von der Jurisprudenz ber zu jener Zeit 
auch im gemeinen Sprachgebrauche die fpätere Wortbebeutung 
hinreichend geläufig und über bie ältere überwiegend, daß ſchon 
Boethius die ausbrüdliche Definition geben konnte: persona ‚est 
rationalis naturae individua substantia Wir müſſen demnach an⸗ 
nehmen, daß die Kirche, wenn fie eine Dreiheit von Perfonen in 
Gott. lehrte, hiermit wirklich nicht blos eine Dreiheit von Offen- 
barungsmomenten bed in ber Welt ſich manifeftirenden Gottes, 
auch nicht eine Dreiheit ber blos formalen Momente des Selbft- 
bewußtfeing, eine ſolche, wie fie in dem einperfünlichen Selbftbes 
wußtfein des Menſchen ganz eben fo, wie in dem göttlichen ftatt 
finden müßte, fondern wirklich eine Dreiheit individueller Bernunfts 
fubftangen (Hypoſtaſen) oder, wie ich es anderwärtd ausgebrüdt, 
eine Dreiheit von Mittelpunften der Selbftheit oder 
Ichheit in Gott hat feßen wollen. Iſt aber dem fo, fo bleibt 
uns in Bezug auf diefe Lehre der Kirche offenbar nur folgende 
Alternative, Entweder wir müffen die Kirche der Gedanfenlofigs 
feit in der Wahl ihrer fombolifhen Ausdrüde bezüchtigen, wir 
müffen, mit Strauß, ihr vorwerfen, daß fie den Gläubigen ein 
Bekenntniß vorgelegt hat, welches Niemand befchwören fann, ohne 
bie Gefege des menſchlichen Denkens abzuſchwören; oder wir müſ⸗ 
fen für jene Paradorie eine wiſſenſchaftliche Rechtfertigung zu fin⸗ 
ben fuchen. Letteres dürfte ung jedoch nur dann gelingen, wenn 
wir vor Allem einen Standpunft eingenommen hätten, der nicht, 
wie ſolches von dem ſtreng methodifchen Standpunkte der neuern 
Spefulation allerdings gelten würde, als ein der Kirchenlehre, 
oder den philofophifchen Begrünbern diefer Lehre, ſchlechthin frem⸗ 
der zu heiradıten wäre. 

Sehen: wir uns nad) einem foldyen Standpunkt um, fo wers 
ben wir. wohl keinen ber natürlichen Betradhtungsweife, Die als 
lenthalben der eigentlichen Spekulation zum Grunde Tiegt, aber 
von ihrer eigenthümlichen Methode noch unberührt ift, näher lies 
genden ausfindig machen, als denjenigen, ber und in der unmits 
telbaren Borftellung des Begriffs der Perföntichfeit, ſo wie wir 

A 


A | Weiße, 
denfelben an uns felbft realifirt erbliden, gegeben if. Durch dag 
Chriſtenthum in feiner gefchichtlichen Unmittelbarfeit war der Sag 
ausgefprochen, daß Gott ein Geiſt iftz es war bie Forberung auge 
geiprochen, ihn im Geift und in der Wahrheit anzubeten, "Um 
ihn, biefen Geift, zu erfennen, waren zwar bie Gläubigen nicht 
ſowohl auf ihren eigenen Geift, als vielmehr auf den Geift Got⸗ 
tes felbft, der fih ihnen mitgetheilt hatte, hingewieſen worden. 
Denn wie nur der Geift des Menſchen weiß, was in dem Mens 
fhen ift, fo vermag nur der Geift Gottes bie Tiefen der Gott— 
heit zu ergründen. Aber diefe Hinweifung eben auf den göttlichen 
Geift enthielt, in diefer Analogie felbft, die fie aufftellte zwifchen 
dem Wefen Gottes und dem Wefen des Menfchen die unverfenn- 
bare Aufforderung, die Erfenntniß des göttlichen Wefens ſich durch 
ausbrüdliche Bergegenwärtigung ſowohl feiner Aehnlichfeit mit dem 
menfchlichen, als feiner Berfchiedenheit von ihm zu erleichtern. Da 
nun zu dem Wefen des Menfchen vor allen Dingen die ſelbſt— 
bewußte Bernünftigfeit, die Ichheit ober Perſönlichkeit 
gehört: fo war ausbrüdlich Dieß eine Erwägung, welcher der durch 
das Chriftentbum angeregte Geift der Forſchung gar nicht auswei— 
chen Fonnte: ob und in welchem Sinne die felbftberwußte Vernünf⸗ 
figfeit, die Ichheit ober Verfönlichkeit, den Attributen beizuzählen 
fei, unter denen ung der Geift Gostes Gott zu denken Tehrt. 
Daß diefe Frage im Allgemeinen nur mit Ja zu beantwor- 
ten ift, verfteht fich für Jeden, der nicht eben dieſe Grundlehre 
des Ghriftentbums, daß Gott ein Geift ift, zu einer leeren For⸗ 
mel machen will. Eben fo aber drängen fih Jedem, der nicht 
bei einer gedankenloſen VBorftellung der göttlichen Perſönlichkeit fich 
beruhigen mag, die Bedenken auf, welche fchon fo manchen Phi⸗ 
loſophen fich als eine unüberfteiglihe Schwierigkeit bei. Dem Ver⸗ 
- fuche der Anwendung biefes Begriffs auf die Idee der Gottheit 
entgegengeftellt haben. Die Perfönlichkeit erfcheint im Menfchen 
als ein in enge Schranken Eingefchloffenes, nach allen Seiten Bes 
gränzted, Sie erſcheint nicht nur thatfächlich fo, fondern ihr Be- 
griff felbft erweist fih als nothwendiger Weife an Gränzen ge= 
bunden; er felbft, diefer Begriff, fällt zufammen mit dem einer 


über den Begriff der göttlichen Dreieinigfeit. 5 


Gränze, einer Schranfe, innerhalb deren ſich unfer geiftiges Leben 
einherbewegt. Es bedarf in der That nur einer geringen Aufs 
merkfamfeit auf das, was in unferm Selbftbewußtfein den beharr⸗ 
lichen Gegenftand oder Hintergrund dieſes Selbſtbewußtſeins aus⸗ 
macht, auf die als bleibend in allem Wechfel der Gebdanfen, Ems 
pfindungen und Beftrebungen vorgeftellte Wefenheit, die wir unfer 
Ich nennen, um dieß gewahr zu werden. Nur dadurch vermö- 
gen wir dieſes Ich als Etwas, als ein wirflih Exiſtirendes 
vorzuſtellen, daß wir ihm in biefem Borflellen Anderes, das 
nicht Ich bin, gegenüberfiellen und daß wir es im ausbrüds 
lichen Gegenfase dieſes Andern als eitt,. einerfeits durch dieſes 
Andere Beftimmtes, andererfeits dieſes Andere Beftimmendes den⸗ 
fen. Eine Perfönlichfeit, die nichts Anderes fich gegenüber hätte, 
von dem.fie Beftimmungen erleiden, und auf das fie wiederum 
beftimmend gegenwirken Fönnte, würde eben dadurch außer Stand 
gefegt, ſich felbft in der Beftimmtheit, die fie von Anderen unters 
fcheidet, zu erfaflen, fich ihrer ald eines Wollenden, das Etwas 
will, als eines Wirfenden, das Etwas wirft, bewußt zu werben, 
Sie wäre dag ewig Eine, das weder in ſich, noch außer fich einen 
Unterſchied Hat. Denn auch um in fi felbft einen Unterfcpied zu 
fegen, müßte fie doch die Möglichkeit eines Unterfchiedes überhaupt 
sorausfegen, ein Unterſchied überhaupt aber ift nothwendig auch 
ein Untgrfchied von ber Ichheit als folder, und Die Ichheit, die 
ſolchen Unterſchied anerkennt oder ihn fih zum Bewußtſein bringt, 
hat eben an ihm ihre Schranfe oder ihr Nicht⸗Ich. So die Per⸗ 
fönlichfeit bes endlichen Geiftes, die einzige, Die wir aus unmittel⸗ 
barer Erfahrung fennen. Von Gott Dagegen, wiefern er ale ber 
Unendliche, der Abfolute gedacht werden foll, feheint es unzuläffig,. 
felbft eine ſolche Schranfe beftehen zu Yaffen, durch die auch nur 
die Möglichkeit, noch nicht die Wirklichkeit, eines Daſeins 
außer ihm geſetzt würde. Denn damit würde ja eben dieſe Mög- 
lichfeit als etwas Ihm Vorausgeſetztes, Ihn felbft oder fein eigen, 
nes Dafein Bebingendes anerkannt. Er felbft alfo hörte auf, in 
unferer Borftelung der Borausfegungslofe, der Undedingte zu fein, 


Jedermann weiß, wie Erwägungen ber hier bezeichneten Art, 
o 


— 


6’ Weiße, 

am nur von Philofophen der neuern Zeit, und nur von Solchen 
zu fprechen, bie, indem fie auf die Vorſtellung eines perſönlichen 
Gottes verzichteten, damit keineswegs auf die Idee der Gottheit 
überhaupt verzichtet zu haben meinten, unter Andern einen %. ©. 
Fichte, einen Schleiermacher, dazu veranlaßt haben, die An= 
wendbarkeit des Begriffs der Perfönlichfeit auf Gott, wenigſtens 
bie firenge, wiffenfchaftliche, in Abrede zu ftellen. Der älteren 
chriſtlichen Philofophie waren dergleichen Erwägungen um fo nä—⸗ 
her gelegt, je weiter ihre VBorftellung des Unendlichen, des Abs 
foluten, noch von dem Gedanken einer Immanenz der Bränge oder 
Schranfe, welche der neuern Philofophie jetzt fo geläufig gewor⸗ 
ben ifl, entfernt war, — Man follte bei der Würdigung der hrifts 
lichen Glaubenslehre, fo wie diefe fih im patriftifchen und ſcho⸗ 
laftifchen Zeitalter allmählig zum Syfteme ausgebildet hat, nie 
vergeffen, mit welchen verhältnigmäßig für das Werk, welches ihr 
aufgetragen war, rohen, ungenügenden Werkzeugen fie an ihre Ars 
beit gehen mußte, Ein ſolches Werkzeug nämlich bildete für fie 
die Philofophie, welche fie aus dem heidniſchen Alterthum, als 
beffen letzte, intelleftuelle Frucht, überfommen hatte, die in Eins 
zufammengerworfene, und darum nur mit abgeflumpften Spigen 
auftretende Spefulation der platonifchen, peripatetifchen und ſtoi⸗ 
fhen Schule, ein Gemengfel, in welchem eigentlich Nichts mit 
Klarheit und Entfchiedenheit hervortrat, als die eine, Alles ver» 
fehlingende und aufzehrende Idee, welche man zwar, von ber Zeit 
des Sofrates und Platon her, die Idee bed Guten nannte, von 
der man aber im Grunde Nichts zu fagen wußte, als dag in ihr 
alle Unterfchiede vertilgt, alle Gegenſätze Caljo auch der Gegenſatz 
des Böfen gegen das Gute) nur als nichtfeiende enthalten feien, 
während man ihr felbft fireng genommen nicht einmal das Sein, 
fondern etwas, das mehr fei ald das Sein, ein Ueberſe in (üreeo- 
eivae) zuzufchreiben wagte. Wie hätte durch die Hülfe einer fol 
chen Philofophie der Begriff der Perfönlichkeit bie ſcharfe Be- 
fiimmtheit gewinnen Fönnen, die doc) doppelt und dreifach erfor- 
derlich war, da wo es galt, mittelft diefes aus ber Erfahrung bes 
Endlichen entnommenen Begriffs der Idee des Unendlichen die 

= 


über den Begriff der göttlichen Dreieinigkeit. 7 


wiflenfchaftliche Geftalt und Form zu geben, die das Chriftenthum 
verlangt, welches nun einmal nicht mit einem forms und geſtalt⸗ 
Iofen Unendlichen. fih begnügen kann? Es hat diefer Begriff, fo 
zu fagen, hinter dem Rüden jener Philofophie, welche fonft in jes . 
der formalen Beziehung für die wiffenfchaftliche Ausbildung ber 
Glaubenslehre die leitenden Principien abgab, in biefelbe einges 
führt werben müſſen, durch die Macht des natürlichen Verſtandes, 
vermöge deſſen ſich die Gläubigen ſagen mußten, daß Gott nicht 
Geiſt ſein könne, ohne Perſon zu ſein. Aber wenn die Philoſophie 
das Eindringen dieſes Begriffs in die kirchliche Dogmatik, ja ſelbſt 
in das Glaubensbekenntniß der Gemeinde nicht verhindern konnte: 
fo trat fie dagegen hinterher als die dialektiſche Macht an ihm | 
hervor, welche zu dem Befenntniß nöthigte, daß er nicht unmits 
telbar darauf Auſpruch machen könne, ale die ontologifche Form 
zu gelten, in welcher das Dafein Gottes gefegt it. Die gefammte 
Trinitätslehre der glten Dogmatik ift, wenigſtens fo viel den rgo- 
106 vrragkeng betrifft, aus dieſem Kampfe zwifchen bem burch 
das natürliche Bewußtfein geforderten Begriffe der Perfönlichfeit 
Gottes und bem fpefulativen Begriffe des gegen alle Oränze und 
Schranfe, und deßhalb auch gegen alle inwohnende Geftaltung 
und Zormbeftimmung fih negativ verhaltenden Abfoluten hervors 
gegangen. Das natürliche Bewußtfein, auf defien Seite in diefem 
Kampfe zugleih der Inſtinkt einer höheren Entwidlung der 
Spekulation ftand, hat gefiegt, infofern es ihm gelungen ift, dem 
Begriffe der Perfönlichkeit feine Bedeutung für den Ausdrud des 
eigenen Wefens der Gottheit zu fihern. Die damalige Zeit 
philofophie aber hat geftegt, infofern durch fie jenes Bewußtſein 
geuöthigt worden ift, auf die unmittelbare Seßung eines perfön- 
lichen Gottes zu verzichten, und, die unperfönliche oder überperfön- 
liche Einheit der abſoluten göttlihen Subftanz anerfennend, Die 
Perfönlichfeit nur als das Moment der Unterfcheidung oder ber 
in ſich Treifenden Lebendigkeit innerhalb dieſer Subſtanz feſtzuhalten. 

Wir ſind jedoch keineswegs gemeint, bei dieſer blos phäno⸗ 
menologifchen Erklärung des Trinitätsbegriffs ftehen zu bleiben, 
Aus ihr würde fich höchſtens dieß ergeben, daß der Trinitätsher 


8 Weiße, Ä 

griff nur das nothbürftige Surrogat einer höhern metaphufifchen 
Entwicklung des Begriffs der Perfönlichfeit Gottes ſei; eine Art 
von juste-milieu zwiſchen dem gefunden Menfchenverftiand und 
der Spekulation einer niedern Stufe, leider vieleicht eine folche, 
bie, wie es befanntlich bem juste-milieu nicht felten begegnet, ges 
gen beide entgegengefeßte Parteien heftiger anftiege, als biefe 
felbft gegen einander. Auch würde ohne Zweifel ein ſolches uns 
gefähr das Ergebniß gewefen fein, wenn der Verſtand, welcher 
fi zum Vertreter des Momentes der Perfönlichfeit gemacht hatte, 
in der Weife etwa, wie wur zu oft der naturaliftifche Verſtand 
des neuern Deismus, fich jeder Belehrung durch fpefulative Ver⸗ 
nunft unzugänglich erwiefen, und nur einer Nöthigung durch äußere 
Autoritäten nachgegeben hätte. Allein durchdrungen, wie biefer 
Berftand, der Verſtand der chriſtlichen Glaubenslehre, es war von 
dem tieferen Geifte der hriftfichen Religion, der ihm bie Bedin⸗ 
gungen immer gegenwärtig bielt, unter denen allein ber wahre 
Gott zu begreifen ift, bat er fich dieß Teineswegs zu Schulden 
fommen laſſen. Er hat vielmehr zu einer Zeit, da bie eigentliche 
Spekulation noch nicht dazu gebiehen war, den Begriff Gottes, 
ohne dadurch feiner Unendlichfeit und Unbedingtheit Eintrag zu 
thun, als einen durch inwohnende rationafe Beftimmungen in fi) 
begrängten und geftalteten faffen zu Tönnen, das Werk ber ſpeku⸗ 
‚ Iativen Vernunft, mit ihrem Geifte ſich durchdringend, vorausges 
nommen, und dadurd einen Begriff erzeugt, deſſen weſentlichen 
Sehalt, wenn fie auch feine Form noch für eine unzureichende 
erfennen barf, die weiter herangereifte Spekulation auch ihrerfeits, 
ohne fich felbft zu verläugnen, nicht mehr verläugnen Tann. 

Die Betrachtung nämlich, von der wir annehmen dürfen, daß 
fie in der Hauptfache der dogmatifchen Dreieinigfeitsicehre zum 
Grunde Tiegt, ift folgende. Gott, wenn er zufolge ber Schriftlehre, 
die ihn als Geift bezeichnet, ald Perfon, als felbfibewußte vers 
‚nünftige Sndivibualität oder Ichheit zu faffen ift, Tann 
doch nicht in menfchlicher Weife Perfon fein. Denn in dem Mens 
ſchen finden wir bie Perfonalität bedingt durch den Gegenfag ei⸗ 
nes Nicht⸗Ich; eines Seins, das nicht zu feiner Perfönlichkeit 


über ben Begriff ber göttlichen Dreieinigfeit, o 


gehört. Oder genauer, wir finden fie bedingt nicht durch einen 
einfachen, fondern durch einen doppelten Gegenfag, nämlich einers 
feits durch die von der Wirflichfeit des. perfönlichen Daſeins 
unterfchiedene Möglichkeit fowohl diefes, als auch, mit dieſem 
zugleich, und auf ganz gleiche Weife unendlihen andern Dafeins, 
andrerfeits durch die Wirklichkeit einer Außenwelt. Keiner biefer 


beiden Gegenfäge kann wegfallen, ohne daß mit ihm das eigene _ 


perfönliche Dafein bes Dienfchen aufhört, zu fein, oder dag zu 
fein, was es ift, nämlich eben perfönliches. Denn ber Begriff 


der Perfönlichkeit fchließt ein, daß das Perfönliche fich zugleich als 


ein in feiner Befonderheit und Einzelbeit Beftimmtes, und in 
diefer Beſtimmtheit doch wieberum als frei, d. h. als ein Allges 


meines wiſſe. Nun aber ift dem Menfchen feine Befimmtheit 


wefentlih von Außen, durch den Baufalzufammenhang mit der 
Außenwelt gegeben, bie Freiheit aber hängt eben fo wefentlich 
an emer unbegränzten Möglichkeit des So⸗ oder Andersfein, 
welche, indem fie dem perfönlichen Gefchöpf als inwohnend unb 
die Allgemeinheit feiner vernünftigen Natur ausmachend geſetzt 
wird, doch eben fo wefentlih als über feine Befonderheit hinaus⸗ 
greifend, imd alfo unabhängig von ihm beftehend zu denken iſt. 
Keines von beiden aber kann von der Gottheit gelten, weber daß 
es ihr gegenüber eine in ihrer Wirklichkeit ſelbſtſtändige Außen- 
welt, noch daß es über dem perfönlichen Gotte und der unpers 
fönlichen Außenwelt eine Beide umfaflende Möglichkeit des Das 
feing giebt. Vielmehr ift Gott ſich felbft feine Möglichkeit, eben 
fo, wie er ſich felbft der Inhalt oder die Beſtimmtheit feines Das 
feing iſt, der entfprechende Inhalt, wie für den Menfchen berjes 
nige, ber ihm nur burch die Außenwelt gegeben werben kant 
Mas alfo in dem menfchlichen Geifte den Gegenfag zum Ich des 
Menfchen bildet, jenes doppelte Nicht-Ich, die im Denken, in reis 
ner Bernunft begründete Möglichkeit eines Dafeing überhaupt und 
die erfahrungsmäßige Wirftichfeit des Dafeins der Außenwelt: 
dieſes Beides kann für Gott nit als ein Gegenfag zu dem In⸗ 
balte Seiner Perfönlichkeit, nicht als ein Nicht» Sch vorbanden 
fein. Beides wird vielmehr, wiefern es dennoch. au für Gott 


40 , | Weiße, 

"gorbanden fein fol, — und Beides muß für ihn vorhanden fein, 
wenn nicht der Begriff der Perfönlichfeit in Gott zu einem leeren 
Worte werben ſoll, bei welchem fi nichts DBernünftiges denken 
Kit, — ausdruͤdlich ſelbſt als Ich, ſelbſt gls Perfon, in Ihm 
gelegt fein müſſen. 

Dieß die Schlußfette, von ber ich behaupte, daß fie, bewußt 
ober unbewußt, zu alfen Zeiten ber Lehre der chriſtlichen Dogs 
matif von einem nicht blos fehlechtbin dreieinigen, fondern dreis 
perſönlichen Gotte zum Grunde gelegen bat. Es giebt fi) 
diefelhe, wie man leicht gewahr wird, nicht für eine im ſtrengeren 
Wortſinn wiffenfchaftliche fpefulative Deduftion des Begriffs der 
göttlichen Dreieinigkeit oder Dreiperfönlichfeit. Sie kann dafür 
ſich ſchon aus dem Grunde nicht geben, weil fie den Begriff. der 
Perſon, der Perfönlichkeit, ftatt ipn, wie fie dann unftreitig müßte, 
auf dem Wege ontologifcher Dialeftif als einen metaphyſiſch noth⸗ 
wendigen zur Bezeichnung eines Daſeins, weldyes uns für bag: 
höchſte oder abſolute gelten fol, gewonnen zu haben, vielmehr 
aus dem natürlichen Menfchenverfiande, aus ber Vorſtellungswelt 
des gemeinen Lebens entnimmt und damit als mit einer von vorm 
berein zugeſtandenen Vorausſetzung gebahrt. Eben deßhalb auch 
Bio ich weit entfernt, für den Begriff der perfönlichen Dreieinig⸗ 
keit in Folge die ſer Betrachtung vom philofophifchen Standpunft 
qus die unbebingte wiflenfchaftliche Geltung in Anſpruch zu neh⸗ 
wen, die nur folchen Begriffen zukommt, welche an einer beſtimm⸗ 
kn Stelle des Syſtemes ſich durch die fireng methodiſche Dialektik, 
in der Fein Glied fehlen darf, welches von einem Vorangehenden 
zu einem Nachfolgenden überzuleiten dienen foll, ergeben haben. 
Denn geſetzt auch, was ich nicht in Abrebe ftelle, der Begriff der 
Perfönlichkeit überhaupt könne in unferer heutigen Metaphyſik be⸗ 
reits als ein dialektiſch hinreichend feftgeftellter gelten, um feine 
Unentbehrlichfeit für die Denkbarkeit eines Daſeins überhaupt hier 
ohne Weiteres vorausfegen zu bürfen: fo würbe doc baraus 
vicht folgen, daß, wenn daran gegangen werben follte, ihn auf 
Bas hoͤchſte Seiende, auf die Idee der Gottheit anzuwenden, er 
der Nothwendigkeit einer weitern dialektiſchen Umbildung enthoben 


über ben Begriff der göttlichen Dreieinigfeit. 4 


fei. Es würde nit folgen, daß es genüge, ihn nur fo geradezu 
in einer durch äußerliche Betrachtung zu gewinnenden numerifchen 
Beftimmibeit berzunehmen, ihn zu verboppeln ober zu verdreifa⸗ 
chen, um dadurch foldhe Anwendbarkeit zu ermöglichen Mit 
gleichem. Rechte fönnte man ja dann irgend eine niedere Kategorie 
der Metaphyſik, koͤnnte man vielleicht die erfte befte der zunächſt 
für das räumliche, körperliche Dafein ausgeprägten Kategorieen aus 
dem dialektiſchen Fluffe, in welchem wiflenfchaftlich die Geſammt⸗ 
heit aller Kategorieen entfteht, herausnehmen und fie, in ähnlichen 
Weiſe Anßerlih aufgeftust, auf die Gottheit übertragen. Alſo, 
wie gefagt, nicht von einer wiffenfchaftlichen Geltung bed 
Begriffs der göttlichen Dreiperfönlichkeit, nicht von einem fireng 
wiſſenſchaftlichen Beweife für diefen Begriff, ift hier die Rede. 
Es ift nur die Rede von einem Raifonnement, welches, auf bie 
Örundlage der Lehre des Chriftentfums, daß Gptt ein Geiſt fel, 
und der am biefe Lehre ſich Enüpfenden Vorausſetzung bes natür⸗ 
lihen Menfchenverftandes, dag er dann auch Perſon, d. h. ratio- 
nalis naturae individua substantia fein müffe, ein zwiſchen dieſer 
Borausjegung- und der fpelulativen Idee des Unenblichen, Abſo⸗ 
luten, fo zu fagen, getheilter, weil von beiden in gleichem Maaße 
eingenommener, bogmatifcher Verſtand ſich vorgelegt Haben wird, 
Was für weitere Gründe bie ſpekulative Vernunft finden koͤnne, 
ſolches Raifonnement gut zu beißen oder zu verimerfen, — (ſchwer⸗ 
lich jedoch wird fie es fo unbedingt nerwerfen können, baß fie 
nicht wenigftene feine relative Berechtigung und Gültigkeit für den 
Standpunkt, auf welchem es erfunden iſt, anerkennen follte) — 
das laſſen wir hier noch ganz dahingeſtellt. Es genligt, daß man 
ung zugebe: der Berftand, der aus religiöfen Gründen den Begriff 
der Perfönlichkeit Gottes — den Begriff fage ih, nicht blos 
ben Namen — um jeden Preis feithalten und doch dabei dem 
fpefulativen Begriffe der Unendlichfeit und Abſolutheit des Götte 
lichen nichts vergeben will, Eönne nicht anders, als in ber Weife 
fliegen, wie wir ihn bier haben ſchließen laſſen. Er kann aber 
in der That nicht anders ſchließen, fo gewiß nicht anders, fo ge⸗ 
wig er den Begriff der Perfönlichkeit, der ibm als eine Voraus⸗ 


‘ 


Zur | — Weiße, 

fetzung gegeben ift, nur zugleich mit den Bedingungen annehmen 
ann, unter denen er ihm gegeben ift, und fo gewiß er als folche 
Bedingungen eben bie zwei genannten vorfindet. Denn jede diefer 
Bedingungen würde, wenn fie fehlen follte, eben damit den Bes. 
griff der Perfönlichkeit. des Bodens berauben,. auf welchem allein 
er für das natürliche Bewußtfein feine Gültigkeit und Bedeutung 
behaupten Tann. | 

- Aber wie? Haben wir ung nicht im Vorſtehenden, indem 

wir das Verhältniß der dogmatiſchen Begründer des Trinitätsbe⸗ 
griffs zu dem philoſophiſchen Gehalte dieſes Begriffs nach zwei 
Seiten näher zu beſtimmen ſuchten, in eine Schwierigkeit eigen⸗ 
thümlicher Art verwickelt? Wir müſſen auf der einen Seite zuge⸗ 
ben, daß die Schlußfette, welche wir dieſen Begründern unterleg- 
ten, fich doch nicht in der bewußten Ausdrücklichkeit, wie wir felbft 
fie bier darzulegen fuchten, bei ihnen vorfindet, fondern, als die 
©rundlage ihrer fonfligen Raifonnements, und als das entichei= 
bende Motiv für ben beharrlichen Gebrauch bes Wortes Perſon 
für die Hypoſtaſen der göttlichen Dreieinigkeit, bei ihnen Vorauss 
äufegen ift. Auf der andern Seite machten wir gerade in Bezug 
auf diefe Schlußfette bemerklich, da fie doch nicht mit einer fireng 
philsfophifchen Debuftion des Begriffs der göttlichen Dreieinigfeit 
zu verwechſeln iſt. Liegt hierin nicht ein Widerfpruch, oder Yiel« 
mehr, haben wir ung damit nicht einer Halbheit fchuldig gemacht, 
die notwendig zu einem Widerſpruche führen muß? Handelte es 
fh nur darum, eine unbewußte Triebfeber jenes bogmatifchen 
Thuns aufzuzeigen: warum bemn nicht lieber gleich auf das Teste 
Motiv hinweifen, nämlich auf die philofophiihe Wahrheit felbft, 
die freilich Damals nur unvollfommen zum Bewußtfein und noch 
unvollfommener zum Ausbrud gelangen konnte? Oder, wenn biefe 
Wahrheit auch fo jenem Zeitalter noch zu entfernt lag, wenn fich 
in den Terminis ber Dogmatif nicht reine Beftimmungen ber Idee, 
nur halbphilofophifche Verftandesbeftimmungen ausbrüden ließen: 
. wird dann nicht. der Grund jener Termini eben dadurch in das⸗ 
jenige geftellt, was bem Zeitalter, das fie erfand, in feinem Be⸗— 
wußtfein gegenwärtig. war, und muß er nicht dann auch in dem 


über den Begriff der göttlichen Dreieinigfeit. 43 


mit Bewußtfein von ihm Ausgefprochenen, nicht in etwas dahin⸗ 
ter fih Berbergendem, von ihm Berfchwiegenem zu fuchen fein? — 
Ich erwiedere hierauf, daß die von mir aufgeftellte Schlußfette in 
der That Nichts enthält, was nicht in dem Bewußtfein bes dog⸗ 
menbildenden Zeitalters volllommen gegenwärtig geweſen wäre, 
Daß in Gott allein die Möglichfeit aller Dinge enthalten if, 
Daß es ‚überhaupt gar Feine Möglichkeit des Dafeind giebt, Die 
nicht in dem Begriffe der Gottheit vollftändig enthalten, oder mit - 
ihm eines und daffelbe wäre; dieß ift ein der alten chriſtlichen Phi- 
Iofophie und Dogmatif fo geläufiger, ich möchte fagen, für fie fo 
trivialer Sag, daß es überflüffig wäre, ihn durch Anführung ein« 
zelner Stellen belegen zu wollen. Noch mehr gilt dieß von dem 
Satze, dag Gott auch Fein wirkliches Dafein außer ſich hat, auf 
welches er. oder welches auf ihn einwirken könnte. Es Tönnte alfo 
hoͤchſtens dieß in Frage geftellt werden, ob nicht das Dritte, bie 
ausdrüdliche Bedingtheit des Begriffs der Perfönlichkeit durch den 
Gegenſatz dieſes doppelten Nicht-Ich, dem Bewußtfein jener Zeit 
fremd gewefen fei. Aber gegen diefen Zweifel genügt es, an bie 
sben angeführte Definition des Begriffs der Perfon zu erinnern. 
Denn offenbar unterfcheidet biefelbe Die individua substantia der 
Perfon von ben Bedingungen und Borausfegungen, die fie in dem 
Begriffe der rationalis natura zufammenfaßt, und fie fpricht alſo 
das deutliche Bewußtfein aus, bag, wenn eine Perfon eriftiren foll, 
zuvor der Begriff ber rationalis natura gegeben fein muß, Das 
mit ift allerdings zunächfi nur das Borhandenfein einer über bie 
Wirklichkeit der einzelnen Perfon binausreihenden Möglichkeit 
ihres Dafeins ausgefprochen. Aber daß in biefem. Ausſpruch 
für das philoſophiſche Bewußtſein, das ihn ausſprach, zugleich die 
Ausfage einer mit dieſer Möglichfeit unmittelbar verbundenen Wirk- 
Jichfeit ag, wird Jeder augeben, ber fich des ariftotelifchen Satzes 
erinnert, daß, wenn im Einzelnen allerdings bie Dynamis ber 
Entelechie, im Ganzen und Großen dagegen umgelehrt die mgwrn 
ivreleyela allem und jedem duvausı 0» vorangeht. — Ich glaube 
daher nicht zu viel zu behaupten, wenn ich alles Ernfted dabei 
bebarre, daß die Elemente,. aus denen fi) das obige Raifonnement 


0 


44 Ä Weiße, 


zuſammenſetzt, dem Bewußtſein bes dogmenbildenden Zeitalters 
nichts weniger ald fremd, daß fie ihm vielmehr vollfommen ge- 
läufig waren. Was namentlich den Begriff der Perfon anlangt, 
fo läßt ſich ſogar behaupten, daß das Bewußtſein ber doppelten 
Schranke, ohne welche diefer Begriff nicht ‚gebacht zu werben ver⸗ 
mag, jenem Zeitalter fogar geläufiger noch war, als bem unſri⸗ 
gen. Die moderne Gewohnheit, diefen Begriff auch als Einheit 
auf Gott zu übertragen, fehreibt ſich erſt aus ber Gedanfenlofige 
keit des neuern, naturaliftiihen Deismus ber. Die neuere Zeit 
‚bat ſich erft durch ihre Tpefulative Philofophie von der Unzuläffig- 
Belt folcher Uebertragung belehren laſſen müffen, während wir in 
dem kirchlichen Altertfum nirgends, auch bei ben hartnädigften 
Monarchianern nicht, nur die leifefte Spur eines Berfuches finden, 
Gott fihlechthin als Eine Perfon zu bezeichnen. Weit näher lag 
es dem äfteften chriftlichen Glauben, wenigftens dem von den Ein⸗ 
flüffen. der damaligen Zeitphilofophie berührten, — und nur als 
das Wert dieſes Glaubens ift die kirchliche Dogmatik zu betrach⸗ 
ten, — Gott als einen Geift vorzuftellen, der nicht Perſon, nicht 
auf fich ſelbſt ſich beziehende Ichheit im menschlichen Sinne ift. 
Die Einficht, daß, wo Geift ift, da nothwendig auch Schheit und 
Perſoͤnlichkeit fein muß, Hat fi ‚eben :erft im Verlaufe ber Aus⸗ 
bildung jener Dogmatik erzeugt oder zum Bewußtfein gebracht. 
Es bleibt freilich nach diefem Allem noch immer der Einwand, 
daß die alte Dogmatik nicht ausbrüdtich diefe in ihr vorhandenen 
Momente eines eben für ihren Standpunkt, und zunächſt nur 
für ihn, gültigen Beweiſes der dreifachen Perfönlichkeit in. Gott zu 
einem folchen Beweife zufammengeftellt hat. Was Fönnte fie, fo 
werben noch immer die Gegner fragen, was Tönnte fie wohl ber 
wogen haben, von'biefer Einficht, in deren Befige fie war, keinen 
Gebrauch zur mathen? Weßhalb follte fie es einer fpätern Zeit, 
einer ſolchen, die wielfeicht gar fchon über das Bedürfniß eines 
ſolchen Beweifes ‘hinaus ift, überlaffen haben, jene Diomente wies 
ber‘ hervorzufuchen, und aus ihnen den Beweis zufammenzuftellen ? 
"Die richtige Antwort auf dieſe Frage ergiebt fih aus einem Blide 
auf die Entftehungsgefchichte der Trinitätsichre in der chriſtlichen 


über den Begriff der göttlichen Dreieinigfeit. 15 


Dogmatik. Man erinnere ſich, daß bie Dreiheit in Gott don der. 
heiligen Schrift und der in ihr enthaltenen göttlichen Offenbarung 
ber, längft befannt war, ehe man daran gedacht hatte, fie als wie 
Dreiheit von Berfonen zu faflen. So entfchieden es in Abttve 
geftellt werben muß, was man oft behaupten hört, daß bie Schrift 
von keinen begrifflichen Unterſchieden in dein Wefen Gottes, foh- 
dern nur von unterfchledeneh Momenten der göttlichen OTfeh- 
barung ehvas wiffe: fo unläugbar tft, daß die Schrift die gölt⸗ 
liche Dreiheit nicht in diefer ausdrücklichen Form begrifflicher "Til 
terfcheidung, fondern dadurch der Welt zum Bewußtſein gebracht 
hat, daß fie, die Wefenheit des Vaters als das an und für ſich 
Gewiſſe, ald den nothwendigen Grund von Allem vorausſetzend, 
die Wefenheiten des Sohnes und bes Geiſtes in concreter thar⸗ 
fächliher Offenbarung dem unmittelbaren Anfchauen vorfühkte, 
Die Faſſung der Dreieinigfeit nach dem roonog anoxaivuyeng M 
ſonach in ber Ausbildung der Kirchenlehre ohne Zweifel älter al8 
jene nad) dem zponos unapkens. Man glaubte an eine Dreiheit 
der göttlichen Wefenheiten, weil man die Wefenheit des Söhnes 
in der Geftalt eines wirklichen Menſchen von Angeſicht zu Ange⸗ 
ficht geſchaut, die Wefenheit des Geiftes in den Iebendigen Wir⸗ 
- Tungen, bie er in den Seelen der Gläubigen übte, empfunden 
Batte, nicht, weil man in rein begriffliher Erfenntniß gefunden 
hatte, daß Gott, um Gott zu fein, nothwendig eine Dreikeit von 
Hypoſtaſen oder Perfonen fein müfle. In Folge diefes, aus vem 
lebendigen Duell der Offenbarung geſchöpften Glaubens beburfte 
es, ald man enbli dazu fihritt, eine begriffsmäßige Beſtimmung 
für die Dafeinsform, unter welcher die Hppoftafen in dem eige⸗ 
nen Wefen Gottes, nicht blos in feiner Offenbarung ad extra-g& 
fest find, wufzufinden, Iängft nicht mehr eines Beweiſes Tür dus 
wirfliche Borhandenfein dieſer Dreiheit. Die Dreiheit ass ſolche 
war bereits das allgemein Zugeflandene, als der Begriff der Per⸗ 
föntichfeit anfing, in der dogmatifchen Entwicklung eine Role zu 
ſpielen. Wie Hätte es bei diefer Sachlage einem Kirchenführer 
einfallen können, auf die ſen Begriff, den annoch problematiichen, 
in der orthodoxen Lehre erft einzubürkernden, einen Beweis. für 


: „die Nothwendigkeit der Dreibeit in Gott begründen zu wollen? 
Nicht, um die Perfönlichkeit Gottes vor der philofophbifchen Ver⸗ 
nunft zu reiten, war man auf bie Dreieinigfeit gefommen, fondern _ 
umgefehrt, nachdem unter bem eigenen Einfluffe des Chris 
ſtenthums, durch welches die Formbeſtimmungen des geiftigen 
Dafeins fo fehr in den Vordergrund des Weltbewußtfeind gerüdt 
worden waren, die Vorftellung der Perfönlichkeit für diefes Be⸗ 
wußtfeins eine fo entfchiedene Wichtigkeit erhalten hatte, fuchte 
man für. diefe Vorftellung einen Plas in dem ſchon feitgeftellten . 
Begriffe des dreieinigen Gottes. Daß man biefen Pla nicht in 
dem Begriffe der Einen göttlichen Subftanz, fondern in dem der 
dreifachen Hypoſtaſen fand, dieß darf unter dieſen Umftänden ung 
für einen eben fo ungweideutigen Beweis gelten, daß das oben 
dargelegte Bewußtfein über die concreten Bedingungen des Be⸗ 
griffs der Perfönlichkeit in der That diefer Lehrentwidelung zum 
Grunde lag, als wenn. ber Ausdrud, den wir biefem Bewußt⸗ 
fein gegeben haben, ſich in ber entfprechenden wörtlihen Faſſung 


u ſchon dort vorfände. 


Eine Forderung ift indeß noch übrig, die nicht unerfüllt blei⸗ 
ben darf, wenn unfer Recht zur obigen Argumentation nicht zuletzt 
dennoch als ein ufurpirtes erfcheinen fol. Wir haben jo eben 
- auf die Thatfache hingewiefen, daß die Dreibheit der göttlichen Wes 
fensbeftimmungen längft vorher von ber Kirche anerfannt, Tängft 
vorher diefer Grundftein zum Gebäude ihrer Glaubenslehre gelegt 
worden wat, ehe daran gedacht worben if, biefe Drei, den Vater, 
den Sohn und den. Geijt, ald Perfonen zu bezeichnen. In der 
Anerkennung diefer Thatfache ift unläugbar das Zugeftändniß ſchon 
enthalten, daß auch der Begriff jeder einzelnen biefer drei Hypo⸗ 
ftafen in der Hauptfache fchon feftgeftellt war. An jede derfelben 
mußte fich bereits, ſchon in Folge der lebendigen conereten Bedeu⸗ 
tung, die fie ald veale Momente des wirklichen Offenbarungspro- 
ceſſes haben, eine VBorftellung Tnüpfen, an welcher im Wefentlichen 
durch das gemeinfchaftlich ihnen ertheilte Prädikat der Perfönlich« 
Beit nichts geändert werben konnte. Wie nun werben wir dag 
- Zufammentreffen diefer Vorftellungen, dieſer Begriffe, mit denjenigen 


über den Begriff der göttlichen Dreieinigfeit. 47 


‚Beftimmungen zu erflären haben, weldhe durch die -obige Argu⸗ 
mentation für bie perfönlichen Einheiten gefordert find, worin bie 
Eine göttliche Subftanz auseinander treten fol? Denn aus der 
Argumentation felbft ergab fi) keineswegs nur eine gleichgültige 
Dreisahl von Perfonen überhaupt. Es war ausdrüdlic in ihr 
enthalten, daß durch das eine der Momente, welche dort als Pers 
fönlichfeiten bezeichnet wurden, jene allgemeine Möglichkeit des 
Seins überhaupt ausgebrüdt werde, durch welche, wie alles reale 
Dafein überhaupt, fo auch das perfönlihe Dafein bedingt ift, 
durch Das andere aber die concrete Wirklichkeit der Außenwelt, 
welche jeder endlichen, creatürlichen Perfönlichkeit als ihr reales 
Kicht=-Fch gegenüberfteht. Hierin liegt, wir dürfen es ung nicht 
verhehlen, eine Schwierigfeit, die unfere Erflärung mit dem Ges 
Ichichtlichen, dem wir fie doch angepaßt zu haben glauben durften, 
wieder zu entzweien droht. Denn freilich, wenn es babet bleiben 
follte, daß die conerete, anſchauliche Beftimmtheit der göttlichen 
Dffenbarungsmomente, aus denen die Kirchenlehre die Trinität 
ber Hypoftafen gebildet hat, ganz.und gar nichts gemein hat mit 
der begrifflihen Beſtimmtheit diefer Hypoftafen, wiefern diefelben, 
zufolge der obigen Betrachtung, als eben fo viele ſubjektive Mit⸗ 
telpunfte des perfönlichen Dafeins ber Gottheit gefaßt werben 
follen: fo würde damit bie Berechtigung wegfallen, der Tirchlichen 
Dogmatif in Bezug auf den Gebraud, den fie von dem Begriffe, 
oder, wie wir dann wohl richtiger fagen müßten, vielmehr nur 
von dem Worte der Perfönlichkeit gemacht hat, diefe Betrachtung 
unterzulegen. 

Hier nun ift es, wo ich, zum Behufe der Nachweifung eines 
wirklichen, hiſtoriſchen Zufammenhanges zwifchen dem fcheinbar 
Unzufammenhängenden, das Ergebniß meiner frühern Unterfuchuns 
gen über den Trinitätsbegriff zu Hülfe nehmen barf. Sch darf 
es um fo mehr, als auch gejchichtlih Fein Zweifel darüber ob» 
waltet, daß, zwar nicht die erfte, aber doch die für den ſymboli⸗ 
fhen Spracdhgebraud der Iateinifchen Kirche entfcheidende Anwen: 
dung des Wortes Perſon von demſelben Kirchenlehrer berrührt, 


welcher zugleich ber Urheber jener philofophifchen Begründung des 
Zeitſchr. f. Philoſ. u. ſpek. Theol. XI. Band. 


18 Weiße, 

Trinitätsbegriffs ift, die wir gutes Hecht haben, ale die von ber 
Kirche felhft angenommene und guigeheißene anzufehen, auf Aus 
guſtinus. Es iſt bekannt, wie in diefer Begründung die drei 
göttlichen Hypoftafen in der Hauptfache auf bie drei Grunbbeftim- 
mungen des Geiſtes: memoria, intelligentia und voluntas zurüd- 
geführt werden, — zurüdgeführt, fage ih; denn daß es fich, 
rrotz des entgegengefegten Scheines, wenn man fi an ben bloßen 
Buchſtaben jener Darftellungen halten wollte, in der That von 
etwas mehr, als einer bloßen Analogie, einem blos Außerlichen 
Parallelismus handelt, auch dieß glaube ich bewiefen zu haben. 
Ferner ift von dieſer Begründung gezeigt worden, daß fie, auf 
der Srundlage der, auch durch fie unangetaftet gebliebenen, ja auf 
das Ausprüdlichfte befräftigten und näher motivirten Anfchauung 
des bibfifchen zE0onog anoxaAvweng, für den zoonos Unapkeng 
bes Trinitätsbegriffs eine Beſtimmung gefunden hat, welche in 
Wahrheit ber Forderung genügt, bie in der obigen Argumentation 
binfichtlich der metaphyfiichen Bedeutung der drei perfönlichen Hy⸗ 
poftafen enthalten war. Den Inhalt deffen nämlich, was Augu⸗ 
ſtinus memoria nennt, — den urfprünglichen verfteht fich, bie 
Natur diefer geiftigen Wefenheit ausmachenden, nicht den erft 
durch Die intelligentia und die voluntas erzeugten und foldyerge- 
ſtalt a posterior» auch in die memoria gefeßten Inhalt, — bildet 
nach den eigenen, nachweisbaren Beftimmungen biefes Kirchenleh= 
vers baffelbe, was. wir nach der Terminologie unferer neuern Phi- 
Iofophie den Inhalt des reinen Selbftbewußtfeing, oder 
auh den reinen Bernunftinhalt nennen. Dieß aber ift 
eben nichts Anderes, als die aller Wirklichkeit vorangehende Mög— 
lichfeit des Dafeing, oder mit andern Worten, das abfolute Prius, 
welches auch die moderne Philoſophie ſchon zu verfchiedenen Dias 
len mit dem Namen des reinen, oder auch bes abfoluten Ic 
bezeichnet hat, während fie doch nicht in Abrede ftellen kann, daß 
zu bem endlichen Geifte des Menſchen diefer Inhalt vielmehr Die 
Bedeutung eines fchlechthin VBorausgefegten, alfo eines Nicht⸗Ich 
hat. Dem entfprechend wirb durch intelligentia die fhöpferi- 
ſche Intelligenz bezeichnet, Die auf der Grundlage des reinen 


über den Begriff der göttlichen Dreieinigfeit. 49 


Bernunftbewußtfeind und des barin enthaltenen abfoluten Denkge⸗ 
fees, dem Dritten, der voluntas, ihren Stoff, ihr. Material er. 
jeugt, woran fie ſich zu bethätigen hat, auf entfprechende Weiſe, 
wie der menfchliche Wille an demjenigen, was gemeinhin fein 
Nicht⸗Ich genannt wird, nämlih an ber realen Außenwelt, fich 
bethätigen muß. Die Perfönlichkeit ber göttlichen intelligentia, 
ober das Verbum, ber Logos, iſt demnach ganz eben fo, wie 
die Perfönlichkeit der memoria oder der ewige Vater noch im 
ausdrüdlichen Unterfchiede von dem, was in bem endlichen Geiſte 
das Moment der Perfonalität ausmacht, nämlich von dem Wil⸗ 
len, als Perfönlichkeit gefegt. Sie ift, gleich jener, die Hypoftafe 
einer geiftigen Wefenheit, deren Begriff Dort (im Geifte des Mens 
fhen) in der Beziehung auf ein Nicht⸗Ich aufgeht, das aber in 
der Gottheit eben nicht als Nicht⸗Ich gefegt fein Tanz und fomit 
die Hypoſtaſe eines folchen Nicht⸗Ich felbft zu einem Ich. Sie iſt 
es aber weſentlich erft dadurch (was auf ganz gleiche Weife auch 
von der memoria gilt), daß Beiden gegenüber bas dritte Mo⸗ 
ment, der göttliche Geiſt ald Wille, voluntas, beftimmt ifl. 
Denn erft dadurch wird überhaupt das Moment der Perfönlichkeit 
nach feiner begriffsmäßigen Wahrheit in dieſen Zufammenhang 
der göttlichen Wefensbeftimmungen eingeführt, fo Daß es nun auch 
rückwaͤrts auf die Borausfegungen derjenigen Hypoftafe, in 
welcher diefes Moment. feinen eigentlihen Sig hat, bezogen 
werben kann. — Es ift aus diefem Grunde fehr zu beachten, daß 
erft durch Auguftinus bie dritte Hypoftafe, der göttliche Geift, ale 
voluntas bezeichnet worden ift, während für bie beiden erften ſich 
der auguftinifchen in der Hauptfache entiprechende Bezeichnungen 
(für die erfte vods, für die zweite Aoyog) ſchon bei Altern griechi⸗ 
ſchen Kirchenlehrern vorfinden. Mit diefer Bezeichnung der drit⸗ 
ten Hypoftafe, ale des Willens, des Willens der göttlihen 
liebe, welder die zwei erften ausdrücklich in Eins fegt, indem 
er fie als unterfchiedene vorausſetzt, war allererfi die Idee 
der göttlichen Weſensdreiheit fo weit feſtgeſtellt und in ſich abge⸗ 


fhloffen, daß nun auch der Begriff der Perfönlichkeit nicht bios 


in der ſchwankenden, uneigentlihen Weife, wie hin und wieder 
a 


[0 y 


20 2 Weiße, 


auch früher, fondern in firengerer Beflimmtheit, wenn auch viel⸗ 
leicht noch nicht ganz in Der Beſtimmtheit, welche die vorgeſchrit⸗ 
tene philofophifche Wiſſenſchaftlichkeit un ſerer Zeit verlangen 
muß, auf ſie angewandt werden konnte. 

Durch dieſe Thatſachen der Entwickelungsgeſchichte des Tri⸗ 
nitaͤtsbegriffs wird ed meines Erachtens außer Zweifel geſtellt, 
daß die metaphyſiſche Unterlage, welche wir im Obigen dieſem 
Begriffe zu geben ſuchten, auch was die hiſtoriſche Geſtalt deſſel⸗ 
ben betrifft, keineswegs eine blos eingebildete iſt. Für diejenigen 
freilich, welche von der Anſicht ausgehen, daß allenthalben im 
Chriſtenthum, ſchon von der altteſtamentlichen Grundlage her und 
dem entſprechend auch in der eigenen Lehre Chriſti, der Begriff 
bes perſönlichen Gottes als das ſchlechthin Erſte, als die ab⸗— 
ſolute Vorausſetzung zu betrachten iſt, wird es immer etwas Pa⸗ 
radoxes behalten, wenn ſich aus dieſer Betrachtung ergiebt, daß 
das philoſophiſche Bewußtſein von der Bedeutung des Begriffs 
der Perſönlichkeit der Glaubenslehre zuerſt an demjenigen Offen⸗ 
barungsmomente aufgegangen iſt, in welchem man gemeinhin von 
allen am wenigſten bie Perſönlichkeit zu ſuchen pflegt, an dem Mo⸗ 
mente des heil. Geiſtes. Ja es kann nicht ausbleiben, insbeſon⸗ 
dere nach den Erfahrungen, die man an gewiſſen neuern Syſte⸗ 
men gemacht zu haben glaubte, daß mande fih für orthodox 
baltende, obgleich nichts weniger, als kirchlich rechtgfäubige 
Zionswädter, eben dieſe Faſſung, die in den heil. Geiſt als den 
göttlichen Willen das eigentliche Dioment der Perjönlichfeit Got⸗ 
tes fett, als eine von Haus aus pantheiftiiche oder nothwendig 
zum Pantheismus führende, auf das Heftigfte verunglimpfen wer- 
ben, Nicht dieſen Leteren, denn mit ihnen laffen wir ung über- 
haupt auf Feinen Streit ein, wohl aber den Erfteren geben wir 

zu bedenfen, wie wenig es mit der von ung eröffneten Einficht 
in den dogmatiſchen Entwicklungsgang unverträglidy ift, anzuerfen- 
nen, was freilich Fein Unbefangener in Abrede ftellen Fann, daß 
in ber 'veligiöfen Anſchauung die Vorftellung des Moments ber 
Perſönlichkeit Längft zuvor mit der VBorftellung des Tebendigen 
Schöpfergottes ſich verfnüpfte, ehe die dogmatiſche Formel gefun⸗ 


über den Begriff der göttlichen Dreieinigfeit.. 21 


den war, welche die Borftellung auch für das philofophifche Ers 
Innen, foweit damals deffen Anfprüche ſich erſtreckten, gerechtfer⸗ 
tigt hat. Es wird nicht im Entfernteften beftritten, daß für die 
Borftellung, für die religiöfe Anfchauung, bereits der altteftament- 
liche Jehovah ein perfönlicher Gott war, und eben jo wenig, daß 
fich Ehriftus für den Gott, von dem Er Seine Sendung ableitet, 
nimmer hätte des Ausdruds „himmliſcher Vater” bedienen Fün- 
aen, wenn er dieſen Gott nicht als einen perfünlichen hätte vor« 
geftellt wiffen wollen. Aber etwas Anderes tft Die, von ber relis 
giöfen Gefinnung ungertrennlihe Borftellung, etwas Anderes 
die philoſophiſche, zum Behuf der wiſſenſchaftlichen Glaubenslehre 
unternommene Rechtfertigung, oder ber Begriff diefer Vors 
fellung. Daß vor dem philofophifchen Denfen die Perfönlichkeit 
des Jehovah noch ungerechifertigt war, dieſes Bewußtſein fehen 
wir unter den Hebräern feit ihrer erften Bekanntſchaft mit alerans 
driniſcher Philofophie, ja ſchon vor derfelben, in jener Welt und 
Lebensweisheit, bie in den falomonifchen Sprüchen niedergelegt ift, 
aufdämmern. Das bereits dort erfichtlihe Streben, Die Idee ber 
göttlichen. „Weisheit“ zu einer perfönlichen Geftalt, wie fpäter bie 
bes „Logos“ zu Hypoftafiren, würde ohne foldhes Bewußtfein nicht 
haben auffommen können. Entfprechendes gilt, wie wenigftend 
diejenigen nid beftreiten werden, die mit ung dahin einverftanden 
find, daß unter den neuteftamentlichen Begriffen des göttlichen 
Sohnes und des Geiftes nicht blos Dffenbarungsformen des Ei- 
nen Gottes zu verfiehen find, yon den ebengenannten Begriffen. 
Nie hätte es im Chriftenthum zu ber Lehre von der Gottheit des 
Sohnes und des Geiſtes kommen fönnen, wäre die Borftellung 
von der Perfönlichkeit des Baters fehon damals Ähnlich, wie im 
modernen beiftifhen Nationalismus, eine fefte, vom pbilofophifchen 
Denfen, deſſen energifche Keime wenigftend doch bereits das Ur⸗ 
chriſtenthum in ſich fchloß, unberührt gebliebene Borausfegung ge⸗ 
weſen. Das philofophifche Denken hat eben in dem Afte der Her- 
ausarbeitung jener Lehren dem Bedürfniffe genügen wollen, ſich 
den Begriff der göttlichen Perfönlichkeit ferbftthätig erft zu bilden, 


2 | Weiße, 
ftatt ihn als eine ſchon feftftehende Vorausſetzung ſich gefallen zu 
laffen, und ohne Weiteres hinzunehmen. 

Daß wir übrigend, auch wenn wir für die in der hier dar— 
gelegten Weife aufgefaßte Wefenstrinität bie Identität mit der 
bibliſchen Dffenbarungstrinität nicht aufzugeben gefonnen find, da= 
mit noch feinen Pantheismus lehren: auch dieß ift anderwärts fo 
ausführlich) dargethan worden, daß wir hier nur mit ein paar 
Worten darauf zurüdzufommen braucen, Die Verfönlichkeit des 
Vaters macht feine Schwierigfeitz von ihr wird man leicht zuges 
ben, daß fie in beiden Geftaltungen des Trinitätsbegriffs unmittels 
bar eine und biefelbe if. Was aber die Perjönlichfeiten des Soh⸗ 
nes und bes Geiftes betrifft, fo gilt e8, einzufehen, wie in anderer 
Weiſe die [höpferifhe Intelligenz, in anderer der Wille 
Gottes in: der creatürlichen Welt ſich offenbaren muß, obgleich 
auch wieder in jedem wahrhaften Offenbarungsafte nicht auf exe 
elufive Weife nur eines oder das andere, fondern beide, ober 
vielmehr alle drei Momente des göttlichen Wefeng als mitwirfend 
und gegenwärtig zu denken find. Die ſchöpferiſche Intelligenz 
offenbart fih in dem Geftalten der Welt, bie von ihr gedacht 
und durch Denken hervorgerufen find. Sie offenbart fi in der 
ganzen Fülle und Mannichfaltigfeit dieſer Geftalten als die ewig 
Eine und zugleich unendlich reihe; vorzugsweiſe jedoch oder im 
engern Sinne nur. in folchen Geftalten, in denen, als felbft per- 
fönlihen, das eigene Wefen der Intelligenz, auf der Grund: 
lage eines vernünftigen Selbfiberyußtfeins, vegfam und thätig ift, 
Iſt unter diefen Geftalten eine, die nicht nur diefe allgemeine Form 
ber Geiftigfeit, der Perſoͤnlichkeit überhaupt, mit der Gottheit theilt, 
fondern deren perſönliche Qualität, deren Charakterbe— 
ſtimmtheit zugleich, in Folge theilg ihrer vollfommenen- fittlichen 
Reinheit, ihrer Sündlofigfeit, theils allerdings auch einer befon- 
dern, vor allen andern Perfönlichkeiten der nämlichen Schöpfungs- 
ſphäre fie auszeichnenden Begabung, als der reine Ausdruck bee 
eigenen fchöpferifchen Thung, der eigenen Qualität oder Charaf- 
terbeftimmung Gottes gelten Tann: fo werden wir in diefer ges 
ſchichtlichen Geftalt ganz eigentlich dag Ebenbild der Gottheit, 


) 


über den Begriff der göttlichen Dreieinigkeit. 235 


und, wiefern das Material, in welchem fie dieſe Ebenbildlichkeit 
ausdrückt, Fein anderes, als die fchöpferifche Intelligenz der Gott- 
beit ift, ganz eigentlich diefe in einer einzelnen, menfchlichen Ger 
Ralt zur volftändigen Offenbarung Eommende fchöpferifche Intelli⸗ 
genz felbfi, den Menſchgewordenen Logos, erbliden. Der 
göttliche Wille Dagegen, obgleich auch diefer gottmenfchlichen Ges 
alt, und zwar in vollfommenerem Grade, ald irgend einer andern 
einzelnen, inwohnend, kann doch in ihr nicht auf gleiche Weife, wie 
die Intelligenz, zur Offenbarung fommen. Denn dieß eben 
ift der Unterfchied des Willens von der Intelligenz, daß er fich 
nicht in der Produktion von Geftalten äußert, daß fein unmittel« 
bares Wirken ein innerliches ift, und nur mittelbar an den von 
der Intelligenz producirten Geftalten, als ein diefelben ordnen⸗ 
des und begränzendes Princip, zur Erfcheinung fommt. Der 
göttliche Wille kann deßhalb nicht, gleich der Intelligenz, von den 
Menfchen als eine Geftalt, die in ihre Mitte hereingetreten ift, 
angefhaut, er kann nur erfahren werden. Erfahren aber 
wird er in dem eigenen Innern des Menfchengeiftes, wiefern Dies 
fer ‚fi mit dem Geifte Gottes durchdrungen hat und mit demfel- 
ben Eins geworben if. Die einzig möglide Offenbarung dee 
göttlichen Willens, als folchen, befteht Daher in demjenigen, was 
die Schrift die Mittheilung des heiligen Geiftes nennt; 
das heißt in ber. dur die Anfchauung des göttlichen Logos in 
feiner menfclichen Geftalt bedingten Aufnahme des göttlichen Wil- 
Ins in den menfchlichen, oder in der Einigung bed menfchlichen 
mit dem. göttlichen. I 

Wenn gefragt wird, worauf der dogmatiſche Ausdruck Pers 
fon zunächſt zu beziehen fei, ob auf die öfonomifche oder auf die We⸗ 
fenstrinität, ob auf die nach dein zoonog anoxadvıyens ober nad) 
dem zeonog Unapkens betrachteten göttlichen Hypoftafen: fo kann 
bie Antwort nad) dem Obigen nicht zweifelhaft fein. Nichts Fönnte 
offenbar dem wahren Sinne der alten Glaubenslehre mehr wider« 
ftreiten, als wenn man behaupten wollte, daß der Vater zwar 
von Ewigkeit ber Perfon fei, der Sohn aber erft in dem Men⸗ 
ſchen Jeſus von Nazareth es geworden fei, und der heilige Geift 


24 Weiße, über den Begriff der göttlichen Dreieinigfeit, 


nur in den Gemüthern der Gläubigen zur Perfon werde. Dem⸗ 
ungeachtet möchte nicht zu verkennen fein, dag zum wirklichen Aufs 
fommen jenes dogmatifchen Sprachgebrauchs der Hinblid insbes 
fondere auf die felbftfländige perfönliche Geftalt bes Dienfchenfohnes, 
welche der Glaube für eine und biefelbe mit dem menſchgeworde⸗ 
nen Gottesfohne erfennt, das Seinige beigetragen bat. "Raum 
würde fonft die fubtile Metaphyſik, welche die Hypoftafen des gött- 
lichen Wefens bereits im zoonog vnapkeng als Perſonen bezeichnet 
bat, in ber populären Anfchauungsweile einen hinlänglich beques 
men Anfnüpfungspunft haben finden können. Ja, die metaphufifche 
Dogmatif würde vielleicht vor ihrer eigenen Subtilität erfchroden 
fein, wenn fie nicht für jenen kühnen Ausdrud nod immer zu⸗ 
gleich die alterthümliche Bedeutung der Worte moooanor, per- 
sona, nach welcher diefelben eine fo bequeme Anwendung auf bie 
Momente der Offenbarungstrinität leiden, zur Aushülfe bereit ges 
habt hätte, Diefe Zaghaftigkeit indeß, Die nothwendige Folge der 
Unvollkommenheit des philofophifchen Standpunfts jener Zeit, darf 
ung nicht abhalten, dem eigentlihen Sinne der alten Dog- 
matif beim Gebrauch dieſes Auspruds auf den Grund zu geben. 
Allerdings, fobald man diefen Grund erforfcht hat, wird der Aus⸗ 
druck ſelbſt gewiffermaßen überflüffig. Es ift dann die Einficht 
ſchon in vollfommnerer Geftalt vorhanden, für welche jener Aug- 
druck fo lange als Stellvertreter dienen mußte, fo ange die wife 
jenfchaftlichen Deittel fehlten, durch die allein der reinere und ge- 
nügenbere Ausdruck für fie gefunden werben Fonnte. Eine aus 
ben philofophifchen Rüſtkammern unferer Zeit hinlaͤnglich ausge 
flattete Glaubenslehre mag immerhin Bedenken tragen, ſich auch 
ihrerfeits noch des Wortes Perfonen für die Momente der gött- 
lichen Wefenstrinität zu bedienen; fie wird deſſelben um fo Teichter 
entrathen Tönnen, je beffer fie bie Motive, welche die ältere Dog- 
matif zum Gebrauch biefes paraboren Auspruds beſtimmt haben, 
verſteht und in ihrer unftreitigen Berechtigung zu würdigen weiß. 


— neue 











Der Begriff des negativ Abfoluten und der negativen 
Philoſophie. 
An 
Herrn Dr. theol. Ch. H. Weiße 


vom Herausgeber. 
(Schluß.) 


Sie Selbſt nun, da Ihnen der Begriff eines Seienden, Rea⸗ 
Ten in jenen. „Formen des Seins” fremd bleibt, haben keinen ges 
ringen Kampf zu beftehen, um in Ihrer Metaphyfif den Begriff 
der (leeren) Ausdehnung aus dem der Zahl und zwar ber fpeci- 
fen Dreiheit abzuleiten (S. 317), ebenfo den Begriff der Iee- 
ven Zeit aus dem der Bewegung (S. 486. 497), Kine Kritik 
biefer Partieen Ihrer Metaphyſik wäre indeß, wie bier nicht 
am Orte, fo überhaupt veraltet: Sie haben Selber Ihre meta= 
phyſiſchen Deduftionen von Raum und Zeit fo gut wie zurüd- 
genommen (Problem d. Gegenwart ©. 183. 84.), und yerweifen 
hierüber für jegt nur auf die Zukunft. Aber was diefe Ihnen 
ud darüber bereite — Sie mögen mich mit biefer Prophes 
jelung nur immerhin beim Worte halten! — ficherlich wird 
Ihnen auch künftig eine wirkliche Deduktion nur dann gelingen, 
wenn Sie „das nicht feiende Sein” von Raum und Zeit aus 
dem feienden Sein, dem Begriffe eines Nealen überhaupt, her⸗ 
leiten, wie auch in Ihrer Altern Metaphyſik diefe VBorausfegung 
eines „Seienden“ als eine ebenfo fillfchweigend gemachte, wie 
ausdrüdlich Doch verläugnete (3. B. ©. 337.), überall hindurdy- 
biidt, was fchon früher in Bezug auf Ihr Werk im Ganzen 
Ihnen von mir nachgewiefen worden iſt 9). Jene Behauptung 


*) Zeitfehrift II. Bd. S. 262. ff. 


26 Fichte, 
aber wage ich mit derfelben Zuverfiht und aus dbemfelben 
Grunde geltend zu machen, mit weldhem Sie Ihre Gewißheit 
ausfprechen, an Raum und Zeit ſchlechthin nothiwendige, durchaus 
unabftrahirbare Grundbbeftimmungen alles Realen zu befißen: jener 
Grund liegt auch miy „im Bewußtfein von der apodiktiſchen 
Nothwendigkeit, dem abfoluten Nichtnichtſeinkönnen 
des Raumes und der Zeit, während alles in Raum und 
Zeit Borhandene ohne Verlegung jener Denfmöglichfeit auch als 
nicht feiend gedacht werden kann“ (Probl. d. Gegenw. ©. 184.). 
In diefe Worte. finde ich Alles zufammengedrängt, worin über 
diefen Punkt unfer Einverftändniß, wie unfere durchgreifende Dif- 
ferenz beſteht: ich unterfchreibe ihren Inhalt ausdrücklich; nur 
bleibe ich nicht, gleich Ihnen, bei der Nackt- und Bloßheit jenes 
Raum⸗ und Zeitfeins ftehen, fondern finde unmittelbar fchon ein 
Mehreres darin, als Sie. Gleichwie nämlich von allem concret 
Wirflihen abftrahirt werden Tann, um barin den Begriff des 
ſchlechthin oder Ur-Wirklichen, als eines Unabftrahirbaren, übrig 
zu behalten, und daran gerade benfelben mit unwiberftehlicher 
Evidenz zum Bewußtfein zu bringen, — was meines Erachtens 
die eigentliche und ungerftörbare Wahrheit des ontologifchen Bes 
weiſes ift, wo ich alfo wiederum nur den Sinn, welden Sie 
jenem Beweife geben (Probl. d. Gegenw. ©. 160. f. 172 f.), 
daß jenem negativen prius der Kategorieen, ald dem Unabftrahirs 
baren, eben darum auch Eriftenz beizufegen fei, um jenen Zufag 
glaube erweitern zu müffen, nicht zwar weil, wie Sie meinen 
(S. 161), ich „ein vor der Metaphyſik gegebenes oder aufgefun- 
denes Abfolute” anerfenne, fondern weil mir die Idee des Abs 
foluten eben das höchſte Unabftrahirhare ift, aud) in dem von Ih⸗ 
nen fo bezeichneten metaphyfifchen prius: — fo ehthält einen Mos 
ment diefer ontologifchen Beweisführung auch jenes Bewußtfein von 
der Unabftrahirbarfeit des Raumes und der Zeit. Da beide an 
fih Nichts find, ohne ein fie fegendserfüllendes Seiende, 
— (barein müffen auch Sie am Ende einftimmen) — von ihnen 
felbft aber eben darum nicht abftrahirt werben Tann, weil, wenn 
auch das Nichts gedacht wird, es fofort Doch nur als das Nichts 


Der Begriff d. negativ Abfolutenu, ber negativen Philofophie, 27 


jeder Beftimmtheit, Damit zugleich aber nur als die Erfüllbars 
keit mit beftimmtem Sein gedacht werben kann (mas Raum 
und Zeit in ihrer Leerheit eben find): fo bleibt als eigentlich letzte, 
mabftrahirbare Wahrheit au von hieraus ber Begriff eines 
allgemeinen Seins, des fchledhthin Seienden in allem (con⸗ 
steten, raums und zeiterfüllenden) Sein übrig, und jenes, nit 
diefe, ift Daher der eigentliche und urfprüngliche Anfang der Mies 
tapbyfik, fo wie das wahrhaft Unabftrahirbare in Raum und Zeit. 
— Sie ſelbſt, wie jeder einfichtige Tefer, erfehen aus dem eben 
Gefagten zugleich, daß ich an Ihrem „negativ Abfoluten”, ber 
an fi) leeren Zotalität der fämmtlichen Kategorieen, im Ganzen 
denfelben Beweis führen könnte, wie jet an zwei feiner vor⸗ 
nehmften Beftimmungen, bem Raums und Zeitbegriffe, und daran 
chenfo Das Wahre, wie das Falfche (weil bei dem Halben fliehen 
Bleibende), Ihres metaphufifchen Princips nachzuweifen hätte. 
Mit derfelben Halbwahrheit Ihres Principe hängt ed zus 
fammen, daß Sie auch nad) einer andern Seite hin bie eigentlich 
entiheidende Folge Ihrer Lehre von der Abfolutheit des Raumes 
und ber Dauer Selbft nur halb erfannt haben. Unmöglich hätten 
Sie fonft meinen Begriff von den Urpofitionen in dem Grade 
mißfennen Tönnen, um in ihm lediglich eine willführliche Reflexion 
wu jehen, in welche ich zufällig bineingerathen, nicht eine aus der 
von Ihnen Selber behaupteten Univerfalttät des Raum⸗ und Zeite 
begriffes unvermeidlich folgende Nothwendigkeit, ein ebenfo unis 
verfell und urfprünglich fie Exrfüllendes und zwar auf fpecifiiche 
Weiſe, in qualitativen Unterſchieden, fie Erfüllended anzuer« 
kennen. Die dialeftifche Entwicklung dieſes Begriffes giebt mir 
den eines gefchloffenen Syſtemes unterfchiedener, damit aber auf 
einander bezogener und fich gegenfeitig ergänzender, darum zugleich 
ſchlechthin dauernder (ihre Raum⸗-Zeitlichkeit fegendserfüllender) 
Urqualitäten, welche mithin den ewigen und unvertilglichen Grund 


alles Wechſels und Werdens bilden, oder eigentlicher des Schau⸗ 


ſpiels eines Entſtehens und Vergehens, während in Wahrheit 
nichts qualitativ Specifiſches entſteht oder vergeht, noch auch dazu 
übergeht, ein anderes Specifiſche zu ſein. Es iſt ein Univerſum 


+ 


28 | Fichte, 

von urbeharrlichen Realunterſchieden (Urpoſitionen), als das eigent⸗ 
lich Begründende, dem Sinnenſcheine des vergänglich Endlichen 
immanent, welches in jenes, als in feine Realität und fein Ber 
harrliches, „ſich aufbebt”. 

Hiermit iſt von dieſer Seite aus, vom Vegriffe des endlich 
Subſtantiellen her, der Pantheismus aus dem Fundamente wider⸗ 
legt, wie er auch an ſeiner Stelle vom Begriffe des Abſoluten 
aus widerlegt werden muß, Hegel läßt, darin ſich bekanntlich 
um: feines Haares Breite über den Pantheismus Spinoſa's 
erhebend, mit einer ganz ungerechtfertigten Uebereilung und nichte 
weniger als dialektiſch, das Endliche, Vergaͤngliche, ſich unmittel- 
bar „in das Abfolute als in feine Wahrheit aufheben”: dies allein, 
die Eine Subflanz, iſt das Beharrlihe im Wechfel der Welt- 
dinge, es ift das ewig Werdende, unendlih Sichverendlichende. 
Die. weitern Folgerungen daraus find befannt. Mir dagegen, 
weil ich den Begriff des Endlichen gründlicher durchgearbeitet 
habe — gerade vom Begriffe einer fpecififchen Raum⸗ und Zeit: 
erfülung aus, — fügt fi bier der Moment eines endlich Sub- 
flantiellen ein, welches, in feiner fpecififchen Begränzung unbeharr- 
ih, an die Stelle deſſen tritt, was dem Spinofifch = Hegeljchen 
Pantheismus das Abfolute war, während dag Sein des Abfos 
Iuten, beffen, was ich eben deßhalb num gar eigentlich Gott zu 
nennen mich getraue, mit jenem „unendlichen Weltwerben”, dem 
Berendlichungsprocefie der Urpofitionen, unvermengt bleibt. 

Aber fo gewiß jene Urpofitionen, als in ihren fpecifiichen 
Unterjchieden fich ergänzende, Hiermit nicht in unbezogener Ver⸗ 
einzelung, fondern nur zum Spfteme, Univerfum befaßt, gedacht 
werben. Eönnen, find fie felbft nicht als leute, abfolute zu denfen: 
fie ſind es, die fi in die Einheit des Abfoluten aufheben, welches 
in jenem Segen-Erhalten und einigendem Urbeziehen derſelben auf 
einander feine ewige (Selbft-) Schöpferthätigfgit erweiſt. Dieß 
vorerſt, was ich Ihnen von hieraus entgegenzufegen hätte. 

Aber au Sie bedürfen nach Ihrer ganzen Weltanficht eines 
fotchen Begriffes endlicher Subftanzen: nur fo Tann Ihre Lehre 
. von ber univerfalen Selbſtthat und Freiheit aller Weltwefen, auf 


Der Begriff d. negativ Abfoluten u, ber negativen Philofophie, 29 


welche Sie fo viel Nachdruck legen, metaphyſiſchen Halt und Sinn 
gewinnen. Nur fo läßt fich ferner Ihrem im lebten Werke vor⸗ 
getragenen Begriffe der Trinität und der Perfönlichkeit Gottes 
eine reale Grundlage geben. Dieß Syſtem ber Urpofitionen ift 
„ver in den Begriff der Gottheit dialektiſch eingehende Weltbes 
griff” (S. 219), der auch mir, wie Sie nun fehen (vgl. ©. 220), 
ein Realuniverfum in fich fchließt, wiewohl ich mi, aus ben 
oben angedeuteten Gründen, fträuben muß, zugleich in Ihren Aus⸗ 
druck einzuftimmen, welchem nad) nun „ein Weltwerben, ber 
ewige Werdeproceß eines. ibealsrealen Univerfums in Gott“ 
(S. 221), anerkannt werben fol. Sc erblide darin, wenn nicht 
verwirrende, wenigftens ungenaue Bezeichnungen, Die mindeſtens 
beurfunden, wie Ihre Weltanficht Ihnen nur noch in allgemeinen, 
mausgeführten Umriffen vorfchwebt. 

Ebenfo fagen Sie mit Recht, daß der Begriff der Perfönlich- 
kit Gottes den feiner Lebendigkeit in fich ſchließe: Lebendiges 
aber fei nicht ohne innere Gegenfäge und deren gegenfeitiges Sich- 
negiven, Turz ohne eine dem Wefen Gottes felbft immanente Ends 
lihfeit, welche wiederum nicht auf abfirafte, fondern durchaus 
conerete Weife, als Raum und Zeit erfüllende „körperliche“ zu 
benfen fei*). Hiermit fei „bas abfolute Leben, das Leben Gottes, 





*) Die Bezeichnung der „Koörperlichkeit““, um dies nebenbei zu bemerken, 
für die raumerfüllende und dauernde Macht der endlichen Subftan« 
gen, welche fih fogar nach einer von Ihnen ausdrücklich in's Auge 

. gefaßten Beflimmung auch auf Gott ausdehnen ließe (S. 254. 35.), 
ſcheint mir infofern eine ungeeignete, auf Gott bezogen aber in je⸗ 
dem Sinne eine ungehörige, als „Körper“ in feiner gewöhnlichen 
Bedeutung fogar nach den Refultaten der neuern Phyfik doch nur 
das erfiheinende Produkt einer fhon in Eomplifation mit andern 

. Subftanzen eingetretenen Subftantialttät fein Tann, durchaus alfo 
der Erfcheinungswelt angehört, und um fo weniger irgend eine Be⸗ 
ziehung auf Gott übrig läßt, als der Begriff des Körpers von dem 
der räumlichen Begrängung und des werhfelfeitigen räumlichen Sichaus⸗ 
ſchließens unabtrennlich if. So wie für Gottes weltdurchdringende An- 
ſchauung (Weltallwiſſenheit) — Tofern man fih überhaupt auf 
ſolche Begriffe einzugehen getraut — es keine verdunkelnde Körperlichteit 


Fichte, 


als die Macht über die Totalität des Törperlichen, raumerfüllenden. 
Daſeins“ zu faflen; es beftehe „in der ewigen, von feinem Wer 
fen unzertrennlichen, nicht erft aus feinem freien Entfchluffe 
hervorgegangenen Schöpferthätigfeit, welche in unendlichem Pro⸗ 
eefje die Törperlihen Subftanzen fest und wieberaufhebt” 
(8, 253 —256). 

Aber würde nicht jeder Pantheift fich mit dieſem unendlichen 
Segen und Wiederaufbeben „körperlicher Subſtanzen“ ganz ein 
verftanden erklären Tönnen, würde nur irgend etwas aud) 
über den gewöhnlichen Pantheismus Hinausgehendes damit ges 
teiftet fein (daß Ihr Sinn, Ihre Meinung, mit jener pantheifti- 
then Auffaffung nicht das Mindefte gemein hat, verfteht ſich von 
jetbft), — wenn jene körperlichen Subftanzen nicht zugleich als 
felbft ewige, — alfo als nicht blog gefeßte und wiederaufge⸗ 
bobene, fondern als perennirende, bewiefen werben. jene 
nähere Beftimmung bes ganzen Begriffes, um ihn von ber bloß 
pantheiftifhen Auffaffung zu unterſcheiden, und diefen Beweis vers 
mifje ich aber gerade bei Ihnen, wodurch Ihre Lehre von dem 
realen Leben und der Perfönlichkeit Gottes geradezu eine funda⸗ 
mentlofe wird, — vermifie beide, während doch Ihre Prämiffen 
Sie auf diefelben hätten binleiten können: und hierin erfenne ich 
die zweite wichtige Folgerung, die Sie aus Ihrem Principe zu 
ziehen unterlaffen haben. Hat man nämlich einerfeitd, wie 
Sie, die Nichtigkeit eines leeren Raumes und einer leeren Zeit 
erfannt, andrerfeits dennoch ihre Unabftrahirbarkeit begriffen: 
fo folgt daraus ebenso entfchieden ihr abfolutes Erfülltfein von 
einer Mannigfaltigfeit realer und ſpecifiſcher Unterſchiede, die da⸗ 


der Weltſubſtanzen geben kann, weil er mit centralem Blicke, von 

Innen her, fie und ihre Beziehungen durchſchauen muß, fo Tann viel 
. weniger noch feine eigene Realität als eine Art von Alllörper- 

lichkeit bezeichnet werben, indem er jene realen, raum⸗ und zeiter« 

füllenden Subſtanzen, . welche gegenfeitig unüberwindliche, undurch⸗ 

dringliche find, und fo für einander Körperlichkeit configuriren, im 
. feine raum⸗ umb zeitüberwindende Einheit aufhebt. 


— —— — 


Der Begriff d. negativ Abſoluten u. der negativen Philoſophie. 34 


ber ebenfo unvertilgbare, beharrlich dauernde find, wie das, was 
durch fie befteht, Raum und Zeit, alfo erkannt werben mußte. Wie 
ih ſchon anderswo fagte, behält Leibnitze ns Ausſpruch: „Gäbe 
es keine Monaden, ſo hätte Spinoſa Recht“, ſeine volle Beden⸗ 
tung, für Sie, wenn Sie Ihr eigenes Princip- recht und ganz 
verfiehen, — vor der Hand aber noch gegen Sie. 

Aber der Begriff diefer realen, ſpecifiſch unterfchiedenen Man⸗ 
nigfaltigfeit ift auch mir nicht der letzte, — wie Sie meinen, und 
man in der That nur aus faktifcher Unkenntniß des innern Zuſam⸗ 
menhangs meiner Lehre behaupten kann, — und durchaus muß 
ih proteftiven ‘gegen Ihre Auffaffung der Urpofitionen als einer 
„atomiftifchen Unendlichkeit” (Probl. d. Geg. ©. 352). Schon 
am Ende des erften Buches der Ontologie, wo aus der Dialektit 
des Werdens und aus dem Widerfpruche des reinen Werdend 
die Nothwendigfeit des endlich Subflantiellen fi) ergibt, gebt 
ms der fernern Dialeftif diefes Begriffes, als der fpecififch fi 
ergänzenden Urqualitäten, die Folgerung hervor, daß fie nur in 
Iebendig feßender, diefe Qualitäten auf einander beziehender Ein⸗ 
heit des Abfoluten gedasht werden Fönnen, welches dadurch „fich 
erweist als das unendlich Setzende oder Schöpferife folcher 
(endlicher) Urpofitionen, welde — die unvertilgbare Grundlage 
beffen ausmachen, was wir bisher das Endliche nannten” u. ſ. w. 
($. 444. ©. 119). Die Syftem endlich ewiger Subftanzen er- 
fennt nun die weitere fpefulativ theologifche Entwicklung als bie 
„reale Seite” in Gott, die „ewige Natur” Gotted, „Gottes 
Wirklichkeit ift fein Erhalten jenes Monadenuniverfums; er bat 
ſein objektives Leben darin, ihre Unendlichkeit und Einheit zumal, 
bie wirkende Urfache derfelben, aber darin auch ihre einende 
Macht, zu fein — was er bewiefener Maaßen nur im felbftan- 
ſchauenden Geifte vermag, wodurch alfo abermals ſich zeigt, wie 
bie reale Seite Gottes nur in feiner Idealität oder Perfönliche 
feit ihre Möglichkeit und Erklärung findet”. (Zeitſchrift Bd. IX. 
©. 16.) 

Hierauf ‚alfo, auf diefen feften Boden der Wirflichfeit und 
realen Gegenwart, wird in Folge der angegebenen Bermittlungen 


22 Fichte, 

Lin dem eben angeführten Aufſatze) meine Lehre von ber. göttlichen 
Dreieinigfeit oder dreieinen Perfönlichkeit gegründet; daraus (Zeit⸗ 
Schrift Bd. IX. ©, 196.) ergibt fich ferner der Begriff ber zeit- 
lichen (ſchlecht⸗endlichen) Welt, in-ber Form tren nen der Raum- 
Zeitlichfeit, und damit im Unterfchiede jenes ewigen, in Gott voll- 
endeten, darum zugleich aber der Scheinwelt des Entſtehens und 
Vergehens immanenten Univerſums. Doc gehe ich hier auf dieſe 
Begriffe nicht näher ein; ich halte fie einftweilen in ben angeführ- 
ten Abhandlungen für fo ausreichend begründet, dag, bevor Sie 
Sich nicht der Mühe unterziehen, fie zu prüfen oder zu wiberle- 
gen, ich auf ihren Inhalt blos mich berufend bei ihnen beharren 
barf, da es jegt nur darauf anfam, den Durchgreifenden formellen 
Gegenfag Ihrer metaphyſiſchen und fpefulatio theologifchen Dia- 
leftif von ber meinigen nachzuweifen, bei unabläugbarem Paralles 
lismus in den Hauptergebniffen. 

Sie Selbft hat nämlich ein fehr richtiger fpefulativer Takt 
barauf hingewiefen, bag bie tiefere Konfequenz Ihres Principe 
bie ähnliche Unterfcheidung einer (wie Sie e8 nennen) „erften“ 
und „zweiten“, ewigen und zeitlichen Schöpfung fordern müſſe. 
Aber wie find Sie im Stande, dba Sie im Realen feinen An- 
knüpfungspunkt dafür haben, Sich des Grundes einer ſolchen Lehre 
zu verfihern? Sie erinnern dafür eben an das Dogma von 
„Der erftien Schöpfung der Engel und himmliſcher Heerfchaaren”, 
von „ber ewigen Aeonenwelt“, und feßen (S. 335 ff.) an ber Hand 
der weitern Beftimmungen ber Kirchenlehre und der myſtiſchen 
Philofophie Ihre eigene Lehre von der ewigen und zeitlichen 
Schöpfung feft. 

. Aber flatt alles Weitern — ift denn jene „Aeonenwelt“ phi⸗ 
loſophiſch beurtbeilt für mehr zu achten, ale für ein erfpefulixtes 
Scheinbild, kaum fogar für eine Hypothefe, fo lange man ihre Stätte 
nicht in der univerfalen Wirklichkeit, im Wefen der erjchei- 
nenden Dinge nachzumeifen vermag? Wo find, oder was: Ihre 
„Engel und himmliſchen Heerſchaaren“, wenn fie nicht für jene 
endlichen Subftantialitäten, Turz für das genommen werben, was 
ich Urpoſitionen nannte, welchen Begriff Sie fo weit hinwegwei⸗ 

. 











Der Begriff d. negativ Abfoluten u. der negativen Philoſophie. 35 


fen? Hat man aber dieſe entfcheibende Wahrheit erfannt, wie man es 
zwuß, wenn man die Konfequenz Ihres eigenen Princips einfiehtz 
swird man noch jener Anfnüpfungen, jenes. auf philofophifchem 
Standpunkte ganz ungehörigen, rein phantaftifchen Ausdrucks bes 
Dürfen? (An diefem Beifpiele werden Sie zugleich erkennen, was 
&ch oben meinte, wenn ich bemerfte,. Daß nur dadurch die chriſt⸗ 
Lihen Dogmen philofophifhen Rang und Bebeutung erhalten, ins 
Dem man fie in allgemeiner Objektivität nachweife und dadurch 
erſt zum freien und allgemeinen Inhalt des Denkens erhebe, eie 
gentlicher noch in diefem den ſpekulativen Sinn jenes dogmati 
ſchen Inhaltes ſelbſtſtändig wiederfinde.) 

Ich kann für jetzt nicht auf das Nähere Ihrer Beſtimmungen 
eingehen: wo der reale Boden zu biefem Allen fehlt, wird auch 
das Scharffinnigfte zwar für finnreich und anregend, nicht aber 
für zwingend und für obfeftio begründet gehalten werben können. 
Doc glaube ich ſchon im Vorigen genug gefagt zu haben, um 
das Urtheil über den Totaleindrud zu motiviren, welchen das Stu⸗ 
bium Ihres Yeßten und der meiften Ihrer frühern dahin einſchla— 
genden Werke in mir zurückgelaſſen hat. 

Von allen dieſen ſubjektiven Scharfſinnigkeiten, deren jeder 
Tag ‚neue erfinden und bie alten widerlegen kann, von dieſem 
ganzen weichen und trügerifchen Boden eines, wenn auch dialek⸗ 
tiſch fich nennenden, Ausſpinnens bloßer Begriffsabftraftionen, will 
Run meine Philoſophie im Ganzen die Wiſſenſchaft hinwegrüden, 
auf das fefte Gebiet der Wirflichfeit, damit zu einer aus ihr 
ſchöpfenden, an ihrer Stufenleiter emporfteigenden, und eben das 
duch objektiven Methode. Dieß ift meine eigentliche, durch» 
greifende Differenz von Ihnen, zu welcher ich mich ebenfo ent» 
ſchieden bekennen muß, je mehr ich in dem ſonſtigen Ziele unſerer 
Miloſophieen Uebereinſtimmung erblicke *). Sie wiſſen, daß ich 

*) Diefe principielle Tendenz iſt auch von andern Seiten ganz außer 

Acht gelaffen worden, wo ich gerade darin auf Beiftimmung zählen. 

zu Tönnen geglaubt hätte. So meint ein Recenfent in der Berliner 


Litt. Zeitung, wo die frühere extreme Parteinahme n“ die Hegef’fche 
Zeitſchr. f. Philof. m. ſpek. Theol. XI. Band, 


34 . Fichte, 
in feinem andern Sinne Hegel's „objektive Dialektik“ verſtehe, 
und nur in dieſem Wahrheit an ihr finden kann. Aus gleichem 
Grunde erfenne ich Feine andere „dialektiſche“ Methode an, als 
die, welche aus dem Gegenftande felbft gejchöpft ift, und die uns 
mittelbar nur feine empirifchen Elemente aufnehmen Tann, big 
ſich auf diefem Wege der concrete Begriff des Gegenftandes er- 
gibt, der nun feine Diomente mit der ihm eigenthümlichen, keines⸗ 
weges auf ein allgemeines, aprioriftiiches Schema zurüdzuführen- 
den Nothwendigfeit aufweist, — einer Nothiwendigfeit, welche eben 
damit das Wefen, den „immanenten Zwed” des Gegenftandes 
ausbrüdt, im Realen daher das Princip feines aus fi ſelbſt 
Seins, feiner Selbftentwidlung, fomit daher in der geiftigen Sphäre 
zugleich feiner Sreiheit, enthält. Ein eigentliches „Ableiten”, Her: 
auswideln aus „reinem“, formellem Denken und logiſchem Denk 
zwange-erfenne ich gar nicht an: ed wäre das wibderfprechende 
Herausmwireln des Etwas aus dem Nichts, und läßt ſich in den 
einzelnen Beifpielen, die dafür angeführt werden Tönnten, als Ers 
zeugniß einer Unflarheit oder Selbfttäufhung über den wahren 
Urſprung folder, vermeintlich aus „Nichts“ Alles herausipirmen- 
den Degriffsentwidlungen ausdrücklich nachweiſen; — wie, fofern 
Hegel fein reines Denfen nur für ein ſolches hat verftanden 
wiſſen wollen, dieß an feiner Logik fchon vielfach, au yon Trens 
belenburg fehr gut, gezeigt worden if, 

Ebenſo fehe ich in. diefem, dem Befeitigen alles blos Ayrios 
riftifchen, den eigentlihen Sinn der Schelling' ſchen Lehre von 
dem Zufammenfallen des Spealen und Realen *). Und wenn 
wir endlich auf Kant's berühmte Frage: wie fonthetifche Urtheile 


Sache jebt feltfam genug mit einer unbebingten Befehbung alles 
besienigen contraftirt, was mit Hegel auf irgend eine Weife in Ber 
bindung ſteht, die willenfchaftliche Bedeutung der oben angeführten 
ſpekulativ theologifchen Auffäße durch das Eine Wort auf dic Seite 
gebracht zu haben, daß es ein bloßes dialektiſches Begriffsgewebe fel, 
welchen: eben darum feine Realität zukomme. 

*) Bgl. Schelling, Darlegung des BVBerhältniffes der Raturphilſopht 
zur Fichte'ſchen Lehre S. 67. 


Der Begriff d. negativ Abfoluten u. der negativen Philofophie. 35 


apriori möglich feien? feine Antwort, bie ung auf die nothwendi— 
gen Bedingungen einer möglihen Erfahrung verweist, 
richtig verſtehen und des allgemeinen, von dem fubjektiv Idealiſti⸗ 
\hen feiner Theorie unabhängigen Refultates feiner Lehre einge- 
dent find: fo war es feine eigentlichfte Abficht, wie die der Vor⸗ 
hergenannten, die Philofophie überhaupt von jenem „bloßen Forſchen 
in reinen Begriffen“ zu befreien, in welchem er ben wahren Geift 
bes Dogmatismus und Wolffianismus erkannte. Mich duͤnkt, auch 
heute noch bat die deutſche Philofophie volle Urſache, ſich dieſer 
Kantiſchen Warnungen zu erinnern. 

Daher hoffe ich in dem, was ich wirklich erreicht zu haben 
glaube, eines ganz Andern theilhaftig geworden zu fein, denn nur 
eines „eigenen Syſtemes“. Ich halte es für das überflüſſigſte 
Geſchaͤft von der Welt, den bisherigen „eigenen“ Syſtemen noch 
ein anderes, wenn auch „eigenftes‘, hinzuzufügen: dieß giebt eben 
den Progreß in das fchlecht Unendliche, an welchem bie Philofophie 
lange genug leidet. Weffen ich mich freue und rühme, iſt viel- 
mehr die unvergänglich in mir aufgegangene Evidenz, wo ’bas | 
Syſtem fei, welches die Philofophie zu erkennen hat, und das 
Denken, dem fie fi unterwerfen ſoll: das objektive, allgemein- 
_ gültige Weltſyſtem nämlich und das darin objektiv gewordene göttliche 
Denten, Jenes hoffe ich num allerdings nach ‚feinen weſentlich⸗ 
ſten Grundzügen und auch nach neuen Seiten erkannt zu haben, 
und inſofern den allgemeinen Umriß, und auch einige Bruchſtücke 
des Urſyſtemes wirklich zu beſitzen, welche jedoch nur, je weniger 
fie eigengemachte, je mehr fie nachgebild ete find, deſto wahrer 
gefunden werben Fönnen. Denn bier-Ieuchtet ein, wie alle Ans 
ſprüche auf Selbfidenfen oder Erfinden, auf eigene foftematifche 
Verknüpfung als eitel verſchwinden, ja als die Wurzel alles Irr⸗ 
thums erſcheinen müffen, während nur die hoͤchſte Selbſtentaͤuße⸗ 
tung, das Hineindenken in bie ſchon in ihrem Grunde rationellen 
Und rationell verknüpften Dinge und das Erklären derfelben aus 
dieſer objektiven Verknüpfung das Princip auch ihres fpefulativ 
ſyſtematiſchen Zuſammenhanges werben kann. 


Dieß Bewußtſein fängt nun in den meiſten andern Philo⸗ 
a 3 * 


36 Fichte, 
ſophen an immer deutlicher aufzudämmern: dieß wollen fie eigent⸗ 
- Sich, und hierin erfenne ich den endlich ficher eintretenden, weil 
wahrhaft objeftisen und allgemeingültigen, Punkt ihres Tünftigen 
Einverftändniffes: darin zugleich erblide ich die nicht nur zu ent- 
‚Ichuldigende, fondern wahrhaft berechtigte Seite der erneuerten - 
Hinneigung zum- Empirismus in ber gegenwärtigen Philofophie, 
Und hierin, auf biefem objektiven, allgegenwärtigen Boden ber 
Wirklichkeit und Wahrheit, vermag bei fleißigem, felbfientäußerndem 
Beſtreben auch das ſchwache fpefulative Talent Etwas zu leiſten. 
| Dagegen find Sie der Denfer, den ich mit feinem talentvoll 
unrubigen, fubjeftiv erfinderifhen Selbfiphilofophiren als das ge- 
rade Gegentheil diefer Beftrebungen beurtheilen muß: dieß haben 
Sie nie gewollt, dieß verläugnen Sie gerade als das Antifpefula- 
tive, auf empirifcher Reflexion beruhende. Sie glauben-gar nicht 
philofophirt zu haben, wenn Sie nicht mit „Dialeftifchen Widerfprüs 
chen” zu thun gehabt, und fich nicht in Yöfung derſelben Durch „die Ne⸗ 
gation der Negation” bindurchgefämpft haben. Da nun aber der Wi- 
derſpruch Feine Realität hat, da ein „Dafeiender Widerſpruch“ 
" nirgends exiſtirt — (die irrigen Behauptungen Hegel’s darüber 
‘halte ich durch die Beleuchtungen anderer Denfer und durch meine 
Ontologie für hinreichend widerlegt und befeitigt), — -alfo von 
gelegten Widerfprüchen durch Löfung - derfelben zur Schürzung 
neuer fortzufchreiten, unmöglich das Schema einer objeftiven 
Methode fein kann: jo müffen, ‚wenn es demungeachtet nun auf 
Widerfprüce ankommt, im Wege des abſtrahirenden Denkens 
durch Trennung der an ſich verbundenen Momente nach der ſchon 
befannten Weiſe metaphyfifche Widerfprüde erzeugt und gelöst 
werden. Eines jeden folchen, nicht fich objeftin verhaltenden Den= 
tens, fei e8 Hegel's oder eines Andern, wie es auch fonft fich 
geftalte und in welchem Gebiete es gelten wolle, entichiedenfter 
Gegner bin ich: dieß nenne ih Scholaftif, in deren fteriler Wüfte 
na Brunnen lebendigen Waffers zu graben ich für überflüffig 
halte; denn fie hängen nicht mit der Einen ewig ftrömenden Le⸗ 
bensquelle des Realen zufammen. 
Auch Gott, auch der felbfibewußte Geift Bois, fann daher 


Der Begriff d. negativ Abfoluten u. der negativen Philoſophie. 57 


nicht anders erfannt werben, fol er überhaupt erfennbar fein, ale 
an der Wirklichkeit, nicht aus reinen Begriffen, aus der bloßen 
Idee eines Abfolutenz und indem fie an jener, der ganzen Wirk 
Tichkeit, ihm unwiderleglich und vollftändig zu erfennen ſucht, nur 
dadurch kann die Philofophie zur theiftifchen werben, und bei völ- 
ligſter Freiheit und Selbfiftändigfeit des Denkens auch bie chriſt⸗ 
liche Lehre in ſich aufnehmen, was nur auf dem Reſultate beruht, 
daß auch der, alſo aus dem Realen ſchöpfende philoſophiſche Got⸗ 
tesbegriff ſich zur Gewißheit eines göttlichen Geiſtes erweitert 
habe, welcher in der chriſtlichen Lebensthatſache der Heiligung und 
Wiedergeburt, der Einkehr des Geiſtes Gottes in den menſchlichen, 
und in der reichen Welt dieſer Erfahrungen ſich bewährt. (Dieß 
war au, im Vorbeigehen fei ed bemerkt, der Grund, warum 
mir in der chriftlichen Dreieinigfeitsichre der Begriff der „ökono⸗ 
mifchen” Trinität (vgl. Zeitfehrift VII. Bd. S. 226—28. 233) der 
urfprüngliche zu fein fchien, zugleich der, auf welchen die Bezeich- 
nungen bes Vaters, Sohnes und bes heiligen Geiftes, als dreier 
Hppoftafen CPerfonen) des Einen göttlichen Wefend, in eigents 
licher Bedeutung paffen und aus dem fie hiftorifch entftanden 
feien, um erft von bier aus auf die „ontologifche” oder Weſens⸗ 
trinität Gottes übertragen zu werben, für welche jene Beſtimmun⸗ 
gen mir nicht in gleichem Sinne geeignet zu fein Schienen; daher 
ich, geftüst auf das Urtheil und der Autorität auch neuerer Bibel- 
forſcher, die Behauptung wagte, daß diefe fich nicht vollftändig 
aus den biblifchen Urkunden begründen laſſe. Mit Tebterem fehe 
ich jest ein, dur Sie und von anderer Seite‘ belehrt, etwas Un⸗ 
richtiges, fogar die volle Tiefe der in jenen Schriften enthaltenen 
Offenbarung Beeinträchtigendes gefagt zu haben; ich nehme es 
zurück, wenn mir nur vergönnt wird, dabei zu verharren, daß bie 
Bezeichnungen: Vater, Sohn und Geift für die Momente der on- 
tologijchen Dreieinheit des göttlichen- Weſens, genommen, immer 
nah Nitzſchens Ausbrud (vgl. a. a, O. S. 229) „ancongruen= 
te” bfeiben.) 
Die Ineinanderbildung des Deismus und Pantheismus zum 
conereten Theismus, als Reſultat meiner Metaphyſik, iſt mir nur 


38 Sichte, 
in biefem Sinne von Bedeutung, aber, wie ich glaube, von ent- 
ſcheidender für unfere Zeit. Denn nur biefer Gott ift der wahr- 
baft gegenwärtige, darum ein folcher, von welchem allein eine 
wahre Ueberzeugung, Einfiht und Ueberführung (miozıs) möglich 
if. Sein Geift und Selbftbewußtfein, feine weltbeherrfchenden 
Gedanken und fein Wille, find nun nicht jenfeits der Welt, in eis 
nem utopifch Undenfbaren, oder in einer bloßen Begriffswelt zu 
ſuchen, wo fie eben nur gefucht oder geglaubt, nie aber mit eins 
dringender Evidenz erfannt werden können: fie find im Univerfum 
ferbft, und wir, unfer Erkennen ift in ihnen, was nun gar nicht 
myftifch oder hyperboliſch, fondern begreiflich if. Wird nun aber 
bie Einficht durch Wiffenfchaft zur unerfchütterlichen Gewißheit er⸗ 
hoben, worüber ich mich auf die gegebenen wiſſenſchaftlichen Be- 
weife berufen darf, dag das Univerfum nur durch die Gegenwart 
bes göttlichen Geiftes in ihm feinen Beftand habe, oder daß die 
Erhaltung des Weſens der Dinge durch Gott ihr Durchſchauen 
ift: fo wird aus biefem in allen Folgen für das geiftige, erfennen« 
de, wie füttliche Dafein grundentfcheidenden Gedanken und aug ber 
bamit durchaus erhöhten Anficht aller Dinge auch Kraft und Zus 
verficht zu fich ſelbſt in das erftorbene Gebein der Philofophie zus 
rüdfehren. Nur aus jener Evidenz, welche alles Leben über feis 
nen wahren Grund und über feine Wiederherftellung. in diefen 
Grund aus dem Tiefften verfländigt, kann bie Philofophie die 
Macht ſchöpfen, aus fich felbft, überhaupt von der Wiffenfchaft 
aus, eine Wiederherftelung der Menfchheit durch Religion, durch 
freie Religiofität, hervorgehen zu laſſen. Denn nur basienige Sys 
ftem, welches den der Welt immanenten, aber. ſelbſtbewußten ‚in 
ihr als feiner Seldftentäußerung, bei ſich bleibenden Gott Iehrt, 
fann eben darum bie Autonomie der Rreatur in vollem Sinne 
augeben, weil erflären. nl 

Dieg ift mir. die wahre Philofophie, die wahre Religion der 
Zufunft, von welder aus einem fehr richtigen Gefühle, dag an 
beiden Mancherlei alt und für immer hiftorifch geworden ift, jeßt 
jo viel die Rede geht. Haben die Myſterien der chriftlichen Of⸗ 
fenbarung nicht ewige, d. h. univerfelle und reale Bedeutung, hören 


Der Begriff d. negativ Abfoluten u. der negativen Philoſophie. 89 


fie deßhalb nicht auf, Myſterien im gewöhnlichen Sinne zu fein, 
und werben geiftig objektive, ftet8 zu erprobende Erfahrungen: fo 
haben fie überhaupt feinen Sinn und feine Wirkſamkeit mehr für 
ung. Denn die Devotion für dag Unbegreifliche ift in der erſtark⸗ 
ten Menſchheit dahin; fie darf fogar nicht mehr gefordert werben 
von einem gebildeten Bewußtfein, welches in allen andern Dingen, 
die es anerkennen fol, das Recht der unbedingten Prüfung, bes 
Ausgehens von ihrer VBerneinung fich zugeftanden fieht; und bie 
Irreligion, welde in dem Nichtmehrglauben des Hiftorifchen bes 
fteht, ift nicht nur, — man geftehe fich in Worten, wag jeder Blid 
in das innere unferer Bildungs-Berhältniffe beurfundet, — eine 
unabläugbare, immer ftärfer hervortretende Thatfache, fondern fie 
wäre völlig berechtigt und würde immer fieghafter mit der völli- 
gen Berneinung endigen, wenn in jenem Hiftorifchen mit feinem 
ganzen Apparate nicht ein wahrhaft Allgegenwärtiges, ſtets ſich 
Wiederherftellendegs und fo fi) Bewaͤhrendes enthalten wäre, Wie 
daher die fpefulative Theologie jest am Wenigften ſich genügen 
laffen darf, blos an jene Geftalten des Glaubens anzufnüpfen, 
und im einer, fei es dialektiſch, fei es gnoftifch gehaltenen Ausdeu⸗ 
tung berfelben ihre Aufgabe für gelöst halten Tann, wie überhaupt 
die Wiffenfchaft nur mit dem Ewigen, wahrhaft Allgemeinen ſich 
beihäftigen fol: fo fucht und kennt dieß auch der „lebendige“ 
Glaube, und weiß fi) in ihm befriedigt, nicht im blog Hiftori- 
hen. Auch mir if, wie den Myſtikern, die Zuverficht zu Dies 
fem Gegenwärtigen, Erlebten oder ſtets zu Erlebenden der Religion 
ber weltüberwindende Glaube, deſſen thatfächlihe Bedeutung auch 
in ber Wiffenfchaft ihm immer wieder feine Anerfenntnig erfämpfen 
und die Widerfacher — feien fie freiwillige oder unfreimillige 
Ignoranten deſſelben — befiegen wird. Ueber das Hiftorifche 
und das daran gefnüpfte Dogmatifche, in welchem er zuerft auf 
getreten ift, wird ſich wohl immer ftreiten laſſen, und foll dieß auch 
fritifch gerettet werben, fo kann es nur von bort aus ober um 
deßwillen. 

Und dieſer gerade wird gar bald vielleicht ſeine weltheilende 
Kraft in weit tieferer Weiſe zu bewähren Haben, als in irgend 


. . D 


40 Fichte, 

einer früheren Epoche ſeit dem Hervortreten des Chriſtenthums: 
wie er die einzige reale Geiſtesmacht iſt, welche ſeitdem die Menſch⸗ 
heit aus ihren verwickeltſten Kriſen gerettet hat, wie er dann aber 
zugleich immer eine freiere geiſtige Form annehmen, mit der Wiſ— 
ſenſchaft ſeiner Zeit ſich durchdringen mußte, um dieß Geiſteswun⸗ 
der vollbringen zu können, wie jenes und dieſes vielmehr ſtets 
Hand in Hand ging: ſo wird die vielleicht tiefſte weltgeſchichtliche 
Kriſe, der wir jetzt entgegengehen, auch die freieſte und reinſte 
Form deſſelben hervorrufen, die ganze Macht der Wiſſenſchaft in 
ihn hineinziehen müſſen, um dann erſt das Chriſtenthum in ſeiner 
vollen, wahrhaft die Welt überwindenden Macht zu zeigen. Die 
durchgreifende ſociale Umwaͤlzung, der wir. unvermeidlich immer 
näher rücken, wie einem ſicher uns erreichenden Abgrunde, und ge⸗ 
gen welche die bisherige äußere Rechtsgewalt des Staates macht⸗ 
los fein wird, weil die Bafis feines Rechtes nicht auf dem abfo- 
Iuten, göttlichen Rechte ruht: — dem Philofophen wenigſtens 
muß ed erlaubt fein, das Unabwendbare vorauszufagen, deſſen 
Frift er nicht Fennt, Das aber fiher naht, — dieſe Ummwälzung 
wird, vielleicht nach unzähligen Berfuchen, einer Tünftlichen ober 
aͤußerlichen Lfung, nur in der Verwirklichung des chriſtlichen Staa⸗ 
tes durch die tiefſte, aber freieſte, geiſtigſte und vielgeſtaltigſte 
Macht der Religion über die Gemüther, zu einer geſunden Zeiti⸗ 
gung überführen: dann erſt wird das Chriſtenthum, alle Geſtalten 
und Intereſſen des Lebens und Wiſſens durchdringend, aus den 
gegenwärtigen vorläufigen Geſtalten heraus eine objektive, gegen⸗ 
wärtige und aus ihrer Gegenwart ſtets fich erneuernde Wahrheit 
geworben fein. Deßwegen halte ih auch bie beiben jegt in ihm 
fih befämpfenden entgegengefesten Parteien für gleich berechtigt 
-und erblide fie zum Voraus verföhnt in jener Fünftigen Geftalt 
deſſelben, ſowohl .Diejenige, ‘welche das Pofitive bes bisherigen 
Glaubens beſchützt, weil fie in ihm bie einzig vettende Macht, ben 
“ Kern einer ewigen Wahrheit erblickt, als die andere, welcher dag 
Alte nicht früh, nicht Durchgreifend genug abgethan werben Tann. 
Aber damit hat bie Yegtere nur, fei es wollend, fei eg wider Willen, 
ben innern Tebensfräftigen Keim, in welchem alle regenerative Kraft 


Der Begriff d. negativ Abfoluten u. ber negativen Philofophie, 44 


beifammen geblieben ift, zu einem höhern Auffproffen gegeitigt. 
In diefem Sinne feheint es mir ein großes, in feiner weltgeſchicht⸗ 
lihen Bedeutung nicht genug erfanntes Unternehmen der ganzen 
neuern Spekulation feit Teibnig und Kant, jenen eiwigen und 
allgemeinen Gehalt des Chriſtenthums von feinen hiftorifchen Be⸗ 
ziehungen abfcheiden zu wollen, um es dadurch als die abfolute 
Religion zu erweilen, die fih aus bem Untergange und dem Ab- 
fireifen ihrer jeweiligen Formen immer reicher und tiefer wieder⸗ 
herſtellt, und darin fich gerade als bie unfterbliche, unbefiegbare, 
alle Gegenfäge in ihr und außer ihr verföhnende beweist. Auch 
Hegel's Philofophie hatte nicht darin Unrecht, daß fie den chriſt⸗ 
Hen Dogmen und Myfterien eine ewige und univerfale Bedeutung 
geben wollte, fondern daß diefe Bedeutung fih nur in die Wahrs 
heit abſtralter metaphyſiſcher Kategorieen zurüdverflüchtigte, wenig« 
ſtens im Ausdruck ſich nicht über diefelben erhob. 

Wie fperififch verfchieden mir die Sache erfcheint, bat der 
Inhalt meiner fortgefeßten Polemif gegen den Stanbpunft der 
Hegel'ſchen Neligionsphifofophie gezeigt: was ich auf den neuen 
Grund an defien Stelle zu fegen fuche, können meine Darftellun- 
gen aus der fpefulativen Theologie lehren, welche ihrem Umfange 
nad genug gegeben haben, um das Fundament und bie erften 
Folgen deffelben prüfen zu laſſen. Diefe Prüfung wünfche ich. 

Aber Hier iſt auch zwiſchen Ihnen und mir eine Abſcheidung 
noͤthig. Sch gehöre nicht und gehörte nie zu denen, die man vielleicht 
mit Recht die „Poſitiven“ nennen fönnte. Denn bie Grundlage für 
die ſpekulative Theologie ift mir nicht lediglich der Inhalt einer 
achriſtlichen Glaubenserfahrung“ oder ein daraus entwickeltes Dog- 
matifches, fondern die univerfale Weltthatfache. Unſere Lleberein- 
Kinmung im Refultate unferer Weltanfichten, wie entfchieden fie im. 
Ganzen fei, bleibt daher, was bie einzelnen Beftimmungen betrifft, 
immer noch eine problematifche, mehr zu boffende, als befiimmt 
feſtgeſtellte: ber Natur der Sache nach ſcheint mir nämlich ber 
von Ihnen bisher gewählte Ausgangspunkt diefer Unterfuchungen 
ein vieldeutiger, in mancherlei mögliche Ziele auslaufender, weil der - 
feten Objektivität entbehrender; was alfo Die letzte Geftalt einer von 


42 Fichte, Der Begriff d. negativ Abſoluten u. d. negativen Philoſ. 


bier aus geführten ſpekulativen, in das Allgemeinfte zurücklei⸗ 
tenden Unterfuchung fein werbe, laͤßt ſich ſchwer angeben. Es 
iſt an fich felbft, wie die Welt der „reinen Begriffe”, ein weiches, 
leicht umgeftaltbares Element. 

Demmoch verfenne ich nicht, fondern behaupte ansbrädtic, 
daß, wenn Sie felbft dem Gedanken des negativ Abfoluten nur 
bie ganze Folge geben, Ihr eigenes Princip nur recht verftehen wollen, 
. (und warum follten Sie nicht e8 Tönnen oder wollen, indem Sie da⸗ 
mit, wie ich gezeigt zu haben hoffe, nichts Ihnen Eigenthümliches 
‚aufgeben, fondern nur noch einen mefentlihen Moment ihm hin⸗ 
zufügen?) — auch Sie auf denfelben Grund fommen mäßten, der 
mir der ganze der fpefulativen Theologie ift: und dann halte ich 
die Hauptprämifle eines fidhern Einverftändniffes für gegeben, weil 
ed dann an einer feften, unnachgiebigen Grundlage ſich orientiren, 
wachfen, fich befeftigen kann. So darf ich zum Schluffe wohl noch ben 
Wunſch ausſprechen, deſſen Offenheit Sie durch meine Hochachtung 
vor Ihnen, wie buch meine große Hoffnung von Ihren Fünftigen Lei⸗ 


flungen motivirt finden mögen, daß Sie jene hindernden Zwifchen- 


ſtufen rafch und für immer überfchreiten, jene Hülle fprengen möch⸗ 
ten, weldye Ihren Genius offenbar nur beengt, weil fie ihn 
abtrennt von den großen Gegenſtänden, welche ihm vergönnen 
würden, ſich in feiner ganzen Kraft und urfprünglichen Ge- 
fundheit auszubreiten. Wir wollen das Alte, Abgeftorbene. fi 
felbft begraben Taffen, wie es an der Zeit ift, und was ftiller oder 
offenbarer zu verrichten fie fih nicht nehmen läßt, und nur. das 
immer Neue, Gegenwärtige und Ganze zu ergründen ſuchen. Zu 
fenem rechne ich ‚nicht minder das Scholaflifhe einer. Dialektif 
in reinen Begriffen, als, was bier beſonders in Frage gekommen 
it, das ſchon beleuchtete Anfnüpfen im ſpekulativ Theologiſchen 
an dogmatifche Borausfegungen: beides fcheint mir feiner wahren 
Meberführung fähig: Dieß ift Die Betrachtung der Natur, der 
heute noch, wie ſonſt, zu uns ſprechenden Myſterien unſeres ſeeli⸗ 
ſchen, wie geiſtigen Daſeins, und der ſtets ſich erneuernden Ge⸗ 
ſchichte, die ebenſo auch jetzt noch das Weſen des Göttlichen offen⸗ 
bart, als von menſchlich zufälligen Beſtandtheilen ſeines hiſtoriſchen 
Erſcheinens immer entſchiedener abreinigt. 





Die philofophifche Litteratur der Gegenwart. 
(Siebenter Artikel.) 


Die logifhe Frage-zwifchen Trendelenburg und Gabler, - 

Der gegenwärtige Zuftand der Hegel’fhen Schule. 

Kampf des „abfoluten Wiſſens“ gegen den „Empiris— 
mus". Neue Spitemanfäge. 


Vom 


. Herausgeber. 


1) Die logiſche Frage in Hegel's Syftem, zwei GStreitfchriften. - 
Bon A. Trendelenburg, Leipzig 1843. 

2) Die Hegel’fche Philofophie. Beiträge zu ihrer richtigen Be⸗ 

urtheilung und Würdigung, von G. A. Gabler. Erftes Heft: 
Das Abfolute und die Löfung der Grundfrage aller Philo⸗ 
ſophie bei Hegel, im Unterfchieve von der Faffung anderer 
Philoſophen. Berlin 1843. 

3) Beleuchtung der neuen Schelling'ſchen Lehre von Seiten ber 
Philofophie und Theologie, nebft Darftellung und Kritif der 
früheren Schelling’ihen Philofophie und einer Apologie der Mes 

taphyſik, insbefondere der Hegel’fhen gegen Schelling und 
Trendelenburg, von Aleris Schmidt, Berlin 1843. 

4) Die Phitofophie und die Wirklichkeit von 3. C. Glaſer. Bers 
lin 1843. 

5) Grundzüge des wahren und wirklichen abfoluten Idealismus 
von Conftantin Frans. Berlin 4843. 

6) Die falfche Wurzel des Idealismus, ein Sendfchreiben an 
Karl Rofenfranz, von F. Dorguth, Geheimen Yuftiz- und 
O. L. Gerichtsrathe zu Magdeburg. Magdeburg 4843. 


— — — — — 


LT Fichte, 

VUeber den litterariſchen Kampf, an welchen bie Namen der 
erſten oben angezeigten Schriften erinnern, auch in gegenwärtiger 
Zeitſchrift das Wort zu nehmen, dazu beſtimmte den Referenten 
nicht nur die allgemeine Verpflichtung der Zeitſchrift, über alle 
wichtigen Erſcheinungen im Gebiete der Philoſophie ihren Leſern 
nach Kräften Bericht zu erſtatten, ſondern auch innere, aus feiner 
wiſſenſchaftlichen Stellung zu den beiden kämpfenden Parteien ges 
ſchöpfte Gründe: Er befindet fih nämlich ihnen beiden gegenüber 
in dem eigenthümlichen Verhaͤltniſſe, ebenfo gemeinfchaftliche Punkte 
des Einverfländniffes mit Jedem von ihnen zu haben; wie nicht 
minder in ebenfo wefentlichen Punkten von Beiden abweichen zu 
müffen, aus demfelben runde und Principe, warum er Jedem 
nur theilweife Beiftimmung fehenfen. konnte. So ift er von ſelbſt 
ein Mittlerer zwifchen ihnen. Damit will er fich jedoch keines⸗ 
weges, und vollends unerbetener Weife, als ein Bermittler 
unter den Kämpfern in Borfchlag bringen: — ein an fi undank⸗ 
bares Geſchäft, welches dann aber noch fruchtloſer wird, wenn bei 
philoſophiſchen Standpunkten, die, nach den Worten des Dichters, 
aus ganzem Holze geſchnitten ſein wollen, die Vermittlung nicht 
in einem äußerlichen Zuſammenleimen derſelben beſtehen kann, ſon⸗ 
bern nur darin, fie in eine neue dritte, beide umfaſſende und be⸗ 
richtigende, aber eben darum jede ah zu einem gewiſſen Theile 
verneinende Anficht aufzunehmen, welcher Berneinung jeder ſich 
weigert. So wirb in der Negel erlebt, daß ſich beide Widerfacher 
dann, wenigfiens in Proteftationen und Vorbehalten, gegen ben 
Bermittler vereinigen: er bat nicht nur Keinem genug gethan, er 
hat bie doppelte Gegnerfchaft fogar in eine brei= oder vierfache 
verwandelt. 

. Und fo fei glei im Beginne erklärt, daß es nicht die Abficht 
der nachſtehenden kritiſchen Bemerkungen fein kann, die Streiten 


" den etwa zu Profelyten meines Syftemes machen zu wollen: 


es: wird überhaupt von biefem nur in dem Betrachte die Rebe 
fein, um gewiſſe hiſtor iſche Rechte deſſelben nad beiden Set 
ten hin ihm zu wahren. Es ift ebenfo erweislicd in den Haupt⸗ 
punkten feiner Polemik gegen das Hegel’che Syſtem der Tren- 


Die philoſophiſche Fitteratur der Gegenwart. Ab. 


delenhur g'ſchen Kritik deſſelben vorausgegangen, als es in dem, 
wvohinein Gabler jet das Hegel’fche Princip verwandeln will, 
ebenfo fortdauernd dasjenige bezeichnet hat, was allein die blei— 
bende Wahrheit deſſelben, aber zugleich damit das über Hegel’s- 
&ehre, fo wie fie vorliegt, Hinausgehende ſei. Dieß der Vorbe⸗ 
halt, an welchen bei der Lage ber ftreitenden Parteien zu erins 
nern, ih nicht für überflüffig halte. Im Uebrigen denfe ich Teis 
neöweges zu behaupten, daß das Grundprincip, auf welchem auch 
mein Spftem ruht, der große Gedanke des FJdealismug, mein 
Eigenthum oder meine Erfindung fei, wie überhaupt nicht die Er⸗ 
findung ‚irgend eines einzelnen Philofophen älterer ober neuerer 
Jet: er iſt der Anfang und das Licht der Spekulation, welches 
ſich ſelbſt und fein Gegentheil erleuchtet, den bornixten Irrthum 
des Empirismus und Materialismus. Jener ift mir gemeinfam, 
nicht nur mit dem Hegel’fchen Syfteme, fondern auch, wenn man 
ihn in einem etwas weitern Sinne faflen will, felbft mit der Tren- 
delenburg'ſchen Anſicht. 

“Das aber glaube ich allerdings, jenes Princip des Idealis⸗ 
mus um einen Schritt weiter über die abftrafte und ungenügende 
Faſſing hinaus entwicelt zu haben, welche es im urfprünglichen 
Hegel’fhen Syſteme noch behalten. Darin liegt aber zugleich 
der Rebenerfolg oder die Möglichkeit, in dem Principe, welches 
diefe Ausbildung gewonnen hat, ben beiben wiberftreitenden Geg⸗ 
ken ein wahrhaft Gemeinfames darzubieten, welches jegt beide 
umfaßt, ohne daß fie es in feiner bisherigen Geftalt als ein ſolches 
anerfennen wollten oder Tonnten. Doc darf Ref. dabei nicht un 
bemerft Iaffen, daß der Eine derfelben, Gabler, an vielen Stellen 
feiner Schrift auf dieß Gemeinfame ausdrücklich hinweist und Das _ 
deutfiche Bewußtfein deſſelben zeigt, wie er überhauptszufolge fei- 
ae freien, weil fpefulafiven Stellung eine weit ausgebilbetere 
md gerechtere Einficht über die Mängel und Vorzüge feines Geg⸗ 
uers befigt, ald wir fie Trendelenburg, bei aller Anerkennung, 
welche wir feinen Leiftungen zollen, zuzugeſtehen im Stande find, 
in Bezug auf das eigentlich Wahre und Bleibende, welches auch 
dem Hegel’fhhen Syſteme zu Grunde legt. | 


46 u Fichte, 

So moöchte unſers Erachtens — den Beweis davon hat frei⸗ 
lich das Folgende zu führen, — der Handel zwiſchen den beiden 
Gegnern etwa durch folgende drei Praͤliminarartikel eines gegen⸗ 
feitigen Abkommens fi auf friedliche Weife fchlichten Taflen. 

Beide geben vom Principe des Idealismus in feiner allge 
meinften Bedeutung aus: es ift der Gedanke, welcher eigentlich 
altem wiffenfchaftlichen, „rationalen“ Erkennen als unverflandene 
Prämiffe zu Grunde liegt, was aller Wiffenfchaft dunkel vorſchwebt 
und ihr das. unwillführliche Vertrauen giebt, mit ihrer Denkthaͤ⸗ 
tigkeit das Weſen der Dinge bewältigen zu fönmen, — "weil biefe 
ihren Entftehungsgrund nur in einem Urdenken haben Fönnen. 
Wäre nicht Vernunft (ratio) in den Dingen, wäre all unfer Den- 
fen nicht das bloße Nach denken biefes ihnen eingebildeten Ver⸗ 
nünftigen: fo wäre gar feine Wiffenfchaft und kein wiſſenſchaft⸗ 
liher Zufammenhang möglid. Ebenfo erkennt Trendelenbursg, 
wiewohl ibm bie Inhaltsichweren Folgen dieſes Zugeſtaͤndniſſes ent- 
gangen find, wenigftend im Allgemeinen ein Apriorifches in unferm 
‚Erkennen, und bat dadurch einen andern Punkt der Gemeinfchaft 
mit der fpekulativen Philofophie ſich gefichert. Mit vollem Rechte 
fann fi) Trendelenburg vor ber Bezüchtigung eines bloßen 
Empirismus verwahren. 

Aber gegen Trendelenburg ift — in feinem eigenen In⸗ 
tereffe fo zu fagen — geltend zu machen, baß, wenn es ihm Ernſt 
ift mit der von ihm behaupteten Apriorität der Kategorieen und 
ber ı Idee eines Unbedingten (Logiſche Unterfuchungen Bd. II. 

S. 388), es prineipiell hiernach eine der ſelbſtmißverſtehendſten 
Behauptungen wäre, gleichviel, durch welche Bedenken im Uebri⸗ 
gen man dieſelbe auch beſchönige (wir werden dieſe noch kennen 
lernen), daß die Kategorieen nur Bedeutung fuͤr das Endliche 
haben, aber unfähig ſein ſollen, das Weſen des Unbedingten zu 
bezeichnen. Sind die Kategorieen als vernunfturſprünglich ers 
Bannt, nicht ald Gemächt eines aus dem Endlichen fie abſtrahirenden 
Denkeus, vielmehr umgekehrt das Grundbeſtimmende alles Den- 
kens im Endlichen, Das jedem endlichen Denken fchlechthin Vor⸗ 
ausgehende CApriorifcpe), oder dasjenige, was bie Ältere Philo⸗ 


« 














Die philoſophiſche Litteratur der Gegenwart, 47 


fophie mit dem gewichtigen Ausbrude ber ewigen Wahrheiten 
bezeichnete: fo find ‚fie auch, wenn man fich nicht in einem Kanti⸗ 
ſchen Subjektivismus abſchließen will, wovon Trendelenburg 
fehr fern it, als objeftive Beftimmungen des Unbedingten in 
allem bedingten Sein, des Ewigen in allem Natürlichen und Geis 
fligen, anzuerfennen, ja jenes und dieſes ift nur ein ibentifcher 
Satz. Für ihn läßt ein ſolches Zugeftändniß Feine fernere Wahl 
und fein Ausweichen übrig: er muß ed ganz zurüdnehmen und 
dem in diefem Punkte äußerlich wentgftens Tonfequenteren Empi⸗ 
rismus beitreten, oder einen philofophilchen Standpunkt eniſchie⸗ 
den einnehmen, der mit der Apriorität und Objektivität der Kate⸗ 
gorieen nun auch die.davon unabtrennliche Erfennbarfeit des Un⸗ 
bedingten behauptet und dieß zum Principe der Philofophie macht. 
Jener Halblantianismus aber, den fih Trendelenburg vorzu- 
behalten ſcheint, wird nad) beiden Seiten überflägelt: fofern bie 
Kategorien zwar apriorifche und fubjektsobjeftine, dennoch aber 
nur endliche Beftimmungen fein follen, bat er fich nicht einmal 
mit den Inſtanzen bes Empirismus gegen diefe Anficht völlig ab» 
gefunden. Und von der andern Seite glauben wir Faum, daß, 
wer fih einmal jenes Standpunftes mit Einfiht in feine ebenfo 
allgemeinen Konfequenzen bemächtiget hat, bei bei Frage nad 
bem Grunde ber Uebereinftimmung von Denken und Sein, beren 
Eöfung Trendelenburg zur Hauptaufgabe feiner logiſchen Uns 
terſuchungen gemacht hat, mit ber hier gegebenen (Cfpäterhin noch 
näher zu prüfenden) Auskunft fi) begnügen oder zu ihr feine Zu⸗ 
flucht zu nehmen nöthig finden werde: daß, weil „Bewegung im 
Denfen, wie in allem objeftiven Dafein gefunden wird, darum 
auch Denken in Sein, Sein in Denken gegenfeitig ein= und aufs 
gehen Tönne. Hat fih aber der trefflihe Mann ganz des Prin- 
cips bemächtigt, welches er zur Hälfte gegen feinen ber entgegen 
geſetzten Angreifer behaupten kann: fo erhalten feine fonftigen 
Refultate, beſonders was er von der allgemeinen Objeftivität des 
Zwedes im Weltdafein fagt, erſt Einheit und durchgreifende Ber 
deutung; felbft feine Polemik gegen Hegel gewinnt neue Berech⸗ 


nn 


48 Fichte, 
tigung und größere Schärfe, weil fie fi ich in den Umkreis ſpekula⸗ 
tiver Philoſophie geſtellt hat. 

Denn gegen Gabler iſt zu erinnern, daß er, um es kurz 
zu ſagen, gar nicht das urſprüngliche Hegel'ſche Syſtem vor den: 
Angriffen feines Gegners zu fhügen fucht, fondern eine-andere 
Philoſophie, die zwar implicite im Hegel'ſchen Principe Tiegen 
mag, auch ald weitere Konfequenz beffelben fich ergeben muß, nicht 
aber wirklich enthalten ift im Hegel’fchen Syfteme, fo wie es vor 
und. liegt. Vielmehr hat Gabler die Identität von Sein und 
Denken, wie ber urfprünglihe Hegel fie lehrt, damit auch den 
Begriff des reinen, der Objektivität immanenten Denkens völlig 
aufgegeben, fo ſehr aufgegeben, daß er fie nicht einmal mehr vor 
den einzelnen fehr triftigen Einwendungen diefes Gegners ficher 
zu ftellen fucht. So fcheint fie ihm felber offenbar etwas völlig 
Unhaltbares, Veraltetes geworden zu fein, — wir haben das Recht 
zu vermuthen, bis er ung andere wifjenfchaftliche Gründe feines. 
hiermit ausgeſprochenen Abfalls vom eigentlichen Hegel aufweist, 
— durch den Einfluß derjenigen Gegner der Hegel'ſchen Philo— 
ſophie, weldye, innerhalb ihres eigenen Principe ftehend, von bier 
aus fie befämpften, und deren fpäter Nachzügler zu fein, — was 
biefen Punkt betrifft, Trendelenburg wohl felbft geftänbig 
. fein wird. So bat Gabler fehr recht, wenn er in der Vorrede 
(S. XL XIL): feine „Faflung der Hegel’fchen Philoſophie“ ale 
fein „eigenes philoſophiſches Glaubensbekenntniß“ angefehen wife 
fen will, welches ex auch Fünftig „als feine eigene Sade zu 
führen und zu vertheibigen wiſſen werde”, Wir halten dieß für 
bie einzig paffende und, von allen äußern bier nicht geltenden 
Rückſichten abgefeben, innerlich ſachgemäße Stellung und Fön 
nen nur den Wunſch Hinzufügen, welchen wir in dem ganz. ähn 
lichen Falle ſchon vor vielen Jahren gegen Göſchel ausfprachen, 
er möge, da er faktifch außerhalb Hegel’s ſteht, nun auch „auf 
eigene Rechnung” fortphilofophiren, und ſich um. die ebereinftim- 
mung mit den Hegel’fohen Paragraphen nichts mehr kümmern. 

In diefer Hinfiht kann nun der Hagende Ton und die Bits 
terfeit, mit welchen Gabler von ber über bie Hegel'ſche Philoſophie 


Die philofophifche Ritteratur der Gegenwart. 49 


verhängten Achtung ober Verfolgung fpricht, auf den unbefange- 
nen Lefer kaum einen günftigen Eindrud machen. Wer auf biefe 
Weiſe gewiffer Maßen das öffentliche Mitleid auf ſich ziehen will, 
könnte dem Verdachte ſich ausfegen, daß er noch andere Stützen 
für feine Anficht aufzurufen gewohnt fei, als die eigene innere 
Tüchtigkeit derfelben, indem eine durch fich felbft ftarfe Sache, 
vollends wenn fie verfolgt wird, dann von ſelbſt fhon die fiege 
reiche iſt: — vorausgeſetzt, Daß jene Klagen überhaupt gegründet 
find. /Es mag fein, daß auch bier nur die Nemeſis einer Außer: 
Sich ſchlecht geführten Politif auf dem Fuße folgt, wenn die ehes 
maligen Verfolger im natürlichen Umſchwung ber Dinge nun bie 
Berfolgten werden, Eigentliher indeß zu reden, mag das wies 
Derbergeftellte Gleichmaaß den bisher an Exklufſivität Gewöhnten 
wie eine gegen fie ausgefprochene Verfolgung erſcheinen. 

Doch abgejehen von biefen „zufälligen Aeußerlichfeiten und 
nad) dem innern Stande der Hegel’fhen Sache geurtheilt, läßt 
ſich wohl von Feiner Seite mehr in Abrede ftellen, daß dieſe Phiz 
loſophie in ihrer urfprünglichen Geftalt für die eigenen namhaften und 
nennenswerthen Anhänger bereits obfolet geworben und von ihnen 
aufgegeben fei. Der alten Formeln müde, ja wie von einer tiefen, faſt 
unheimlichen Langenweile an ihnen ergriffen, befehrt man ſich von 
_ allen Seiten, und das theiftifche Princip, für welches wir vor einer 
Reihe von jahren mit feftler Ueberzeugung den Eieg und dag 
Recht der Zukunft gerade von Hegel aus in Anſpruch nahmen, 
ift jegt zur Gegenwart geworben und hat fein Recht ſich er⸗ 
rungen — (denn bie pantheiftifchen und naturaliftiihen Verball⸗ 
bornungen ver Hegel’fchen Philofophie Tönnen wir wohl, ale für bie 
fpefulative Entwidlung bebeutungslos, zur Seite laſſen). Seit, 
nachdem das erfle Stabium des Kampfes vorüber ift, kommt es 
auf den. zweiten Schritt an, daß fi) auch bei jenen Männern 
das neue Princip ganz durchſetze und in die volle Gegenwart 
eines darnach umgebildeten Syftemes der Philoſophie eintrete. 

Hier nun täufhe fih auch Gabler nicht Über die weiter Das 
duch an ihn erwachfenden Forderungen. Zunächſt fteht ed ihm 


gar nicht frei, jenen Theismus fo ohne Umftände und wie wenn 
Miiſchr. £. Phileſ. u. ſyet. Theol. XI. Band. A 


50 Fichte, 
inzwiſchen Nichts vorgefallen wäre, der Hegel'ſchen Philoſophie 
bloß unterzuſchieben und von ihm aus ihre Apologie gegen Je—⸗ 
. bermann, auch gegen Trendelenbur g zu übernehmen, um dar⸗ 
aus den Beweis zu führen, wie ſie nach Inhalt und Reſultaten 
noch immer „alle übrigen Philofophieen der Gegenwart über⸗ 
glänze” (S. V. VI)! Schon Fifcher hat auf eine, meines Er- 
achtens, völlig überzeugende und uͤnwiderſprechliche Weife darge- 
than, daß dieß nicht die „urfprüngliche Lehre” Hegel's fei, fondern 
im bivefteften Widerfpruche mit ihrem fpftematifchen Zufammen- 
bange, wie mit ihren Refultaten ſtehe *). Sodann ergeben ſich 
ihm durch die Aufnahme jenes Princips noch beftimmte wiffen- 
fchaftliche Anforderungen, welche er nicht mehr umgehen Tann. 
Perſönlich können wir ihm nur unfere Freude bezeugen, ja ein 
großes indireftes Zeugniß ber Wahrheit darin .erbliden, daß es 
ihm fo wohl geworden ift, jene Ueberzeugungen in fich zu befeftis 
gen: dennoch müffen wir als Philofophen ihn erinnern, Daß ed mit dem 
bloßen „philoſophiſchen Glaubensbekenniniß“ des Theismus jekt 
nicht mehr gethan ift, daß er Damit dem wahren Sachverhältniſſe 
nad auch bie Nothwendigkeit einer gänglichen Umfchmelzung des 
foftematifchen Zufammenhanges in der Hegel'ſchen Philofophie zu⸗ 
gegeben hat. Wir haben ſchon von mehr als Einer Seite bie 
Ausführung einer Metaphyſik, die Behandlung der fpefulativ theo- 
Iogifchen Probleme von dem theiftifchen Principe her erhalten; da⸗ 
durch find neue, fehr fperiele Fragen in Anregung gebracht, ein 
ganz neuer Kreis von Unterfuchungen eröffnet worden, zu welchen 
ſich jeder in ein beflimmtes Berhältniß flellen muß, der ſich zu 
jenem Principe nicht nur durch vorläufige Winfe und allgemeine . 
Erklärungen, ſondern auch durch objektiv wiffenfchaftliche Förderung 
beflelden befennen will. Gabler, ald der ältefte und einer der 
befonnenften und umfidtigften Schüler Hegel’s, wird gewiß 
nicht mit ſolchen indirekt ihm abfagenden Erklärungen hervortreten, 
— noch dazu, indem er das Eingeftändniß hinzufügt, daß Hegel 


*) Fiſcher, „der Uebergang von dem ivealiftifchen Pantheismus ber 
Hegel'ſchen Ppilofophie zum Zheismus«: 3.Schr. Bd. X. ©. 294 ff. 


— 


Die philofophifche Litteratur der Gegenwart. 51 


dasjenige, worauf es ihm felber ankommt, „nicht fo feharf hervor⸗ 
gehoben haben möge” (S. XL), — ohne das ganze Gewicht der⸗ 
felben und die Folge davon für alle Seiten des bisher von ihm 
vertretenen Syftemes erwogen zu haben. Ja in ganz fpeciellen, 
die Form des Syſtems betreffenden Fragen verhehlt er gar nicht 
feine Abweichung von Hegel. Er verwirft es, mit dem bloßen 
Begriffe des Seins die Metaphyſik anzufangen; er fagt, dag nur, 
indem das Denken in bie Idee des Abfoluten zurüdlaufe und fo 
den tieffien Reflexionsakt vollziehe, e8 fein eigenes Weſen erken— 
nen könnez aber erft von diefer alfo gefundenen Fdee aus könne 
auch (metaphyſiſch) die Welt begriffen werden. Diefe, die Idee 
Des Abfoluten daher, nachdem fie Durch das in fein Wefen zurüds 
geehrte Denken in ihrer Bernunftapriorität gefunden worden, iſt 
ihm ber .eigentlihe Inhalt der Metaphyſik. Ref. wüßte nicht 
fchärfer und treffender den Punkt auszubrüden, auf den es ihm 
felber ankommt; denn daß dieß gerabe feine eigene Meinung fei, 
Tann jeder Lefer der Zeitfehrift aus feinen frühern Darftellungen 
entnehmen. Wil Gabler jedoch in biefe Gedanfenfolge auch 
ſyſtematiſche Folgerichtigfeit bringen, fo Fann er offenbar nicht ums 
gehen, ber Metaphyſik (Logik) eine Theorie des Denkens, des er⸗ 
kennenden Denfend, wie er das menfchliche im Uinterfchiede vom 
göttlichen Denken nennt, kurz eine Erfenntnißlehre vorantreten 
zu laſſen. Mithin fällt ihm, will er fich felbft verftehen, die ganze 
vielgerühmte Hegel’fche Sneinanderarbeitung der objektiven und 
fubjeltiven Logik unmwiederbringlich dahin. Will er fie aber nicht 
fallen laffen, wie es nad) feinen fonftigen Aeußerungen allen An 
Schein hat, fo kann es ihm Fein Ernft fein mit feinen Erklärungen über 
den Unterfchied des göttlichen und menſchlichen Denkens. Er bleibt 
felber dem „Popanz des reinen Denkens” (S. VIL) mit allen 
feinen Folgen fo ficher verfallen, dag nun erft die Trendelenburg'⸗ 
fchen Vorwürfe unabgewehrt mit boppeltem Gewichte auf ihm 
Iaften. Denn durch jene Berfchmelzung des Objektiven und Sub- 
jektiven in der Hegel'ſchen Logif wurde ja eben der Beweis ge: 
führt, daß die objeltive That des (weltſchöpferiſchen) Begriffes 
fih in den Aften des (menſchlichen) Denkens nur ins Subjektive 
Pi h* 


623 Fichte, 


erhebt, daß eben dadurch ber menfchliche Geiſt, in welchem der 
abſolute Begriff zu ſich ſelbſt gekommen ift, im fpefulativen Denken 
„rein” aus ſich felbft auch den wahren Begriff der Dinge 
findet, kurz daß göttliches und menfchliches Denken identiich find. 
Welche Folgerung wäre überhaupt unabweislicher nad) der ganzen 
- Grundanlage der Hegelfhen Togif und nach dem Schluffe bes 
Syſtems im Begriffe der Philofophie, als gerade dieſe? Weifi 
nun Gabler diefe Anficht zurüd, fpricht er feinen Abfcheu vor 
einem „bloßen reinen Bernunftgotte,” an mehr als Einer Stell: 
warm und nachdrücklich aus: fo hat er darin als wiflenfchaft: 
licher Denker die Aufgabe mitübernommen, burd eine gäng 
liche Umgeftaltung bes Syſtemes der Philoſophie nun auch das 
neue yon ihm adoptirte Princip zu begründen. Das Ignoriren oder 
Umgehen diefer fcharfgeftellten Alternative: entweder einer völligen 
und befinitiven Abfage von Hegel, oder eines Zurücknehmens obigen 
Erklärungen ift jegt nicht mehr möglich; vorausgeſetzt auch, baf 
von Gablers würdigem vwoiffenfchaftlihem Tharakter und gründ: 
lihem Sinne ein folches gefliffentliches Ausweichen irgend voraus 
gefegt werden bürfte, wie e8 burh Trendelenburg (die Iogifche 
Frage ©. 20) bei einer vornehmthuenden Gewöhnlichfeit feine 
verbiente Abfertigung erhalten hat. Um fo aufrichtiger freuen wir 
ung feiner Verheißung, in einer eigenen Logif feine jegt nur ans 
geregten Ideen weiter ausführen zu wollen, und erwarten von 
ihr nicht nur im nähern Umfreife der Hegel’fchen Schule, fon. 
dern im weitern ber deutfchen Philoſophie eine aufflärende, wohl 
tpätige Wirkung. 


Die unmittelbar bier vorliegende Frage fchließt ſich zunächfi 
an das „Iogifche” oder erfenntnißtheoretifche Problem. Daß aber 
bie Löfung biefer Frage in legter Inſtanz von der metaphpfifchen 
Löſung des Weltproblemes abhange, erkennen beide Männer in 
Uebereinftimmung an. Auch Ref. hat ſich ſchon längſt biefer 
Ueberzeugung angefchloffen, hält dieſe aber bei einem jeden, der, 
wie Gabler, einen bialeftifchen Zufammenbang der einzelnen 

a 


Die philofophifche Titteratur der Gegenwart. b5 


Theile des Syſtemes anerfennt, gleichfalls für durchaus entfcheie 
dend, um dieſen Zufammenhang zu beftimmen. Zuerft ergiebt 
fi daraus, daß das Erfenntnißproblem abzufcheiden fei von dem 
metaphyſiſchen, indem dieß, ale das höhere und allgemeinere, der 
wirklich erfolgten Löfung des erftern felbft wieder ihre weitere 
Begründung giebt. Auf die Frage: wie ein Erfennen möglich 
ſei? iſt die für ihren Umfreis vollftändige, jene Frage wirklich 
Iöfende Antwort: weil eine innere Webereinftimmung ftattfindet 
zwiſchen ber Welt der Objekte und ihrem Erfennen, indem dies 
nur fein eigenes Weſen (feine „Gefege”) in ihnen wieberfindet. 
Aber diefe für fich felber abfchließende, einen eigenen Umfang von 
Aufgaben und Löfungen erfchöpfende erfenntnißtheoretifche Unter- 
fuhung führt nothwendig in das weitere metaphyfifche Problem 
über: wie jene innere Lebereinftimmung bes Subjeftiven und 
Objektiven felber möglich, und was ihr Grund fei? So ift zwei⸗ 
tens nicht nur über die Sonderung beider Probleme, fondern 
auch über das nothwendige dialektiſche Verhältnig von Metaphyfif 
und Erfenntnißtheorie entichieden. Diefe auf jene erft folgen zu 
laſſen oder fie ihr als einen ihrer letzten Theile einzuverleiben, wie 
Hegel es ſich genügen läßt, wäre nach den jeßt gewonnenen Prä⸗ 
miffen zunächft das begrifflofe Hyfteron- Broteron, daß die Mög- 
lichkeit eines metaphyſiſchen Erfennens dann unerflärt bliebe, 
ja mit einer offenbaren petitio prineipii aus ihm erft rüdwärte 
bie Möglichkeit eines Erkennens überhaupt erflärt werben jollte, 
während es zu feiner eigenen Gültigkeit die Möglichfeit und Geltung 
eines Erfennens überhaupt unbewiefen vorausfezte. Sodann 
it diefes Verhältnis auch völlig undialektiſch: denn bei einem 
wahren dialektifchen Fortfchreiten muß jeder folgende Begriff, als 
der höhere, ben Umkreis des vorigen erweitern, er muß dag Pro- 
blem (den dialektiſchen Widerſpruch), welches der vorige zurüdge- 
laſſen hat, feinerfeits in fih auflöfen, fo lange in's Wefentliche 
zurückſchreitend, bis der ſchlechthin höchſte, Alles vermittelnde Begriff 
gefunden ift, der damit das legte Licht über die Löſung aller un 
tergeorbnneten Probleme giebt, und der eben darum unmöglich ber 
Inhalt und das Nefultat einer Anfangswiffenfchaft der Philoſophie 


54 Fichte, 

ſein kann, indem es dann mit dem dialektiſchen Antriebe derſelben gleich 
Anfangs ſeine Endſchaft erreicht hätte. Die Logik, als Anfangs⸗ 
wiſſenſchaft genommen, könnte ſomit überhaupt nicht mehr die 
Wiſſenſchaft vom abſoluten Principe, von Gott fein, eine Einſicht, 
welche Erdmann bereits auf das Beftimmtefte in ſich entwidelt hat, 

Hieraus folgt nun für Gabler und für jeden derfelben Schule, 
dem die aus ihrer eigenen Borausfegung fid) erweifende Hypotheſe 
Hegels vom reinen Denfen und dem abfoluten Begriffe nicht mehr Ges 
nüge thut (daß fienur dieß ift bei Hegel, hat die genaueund um: - 
fichtige Kritif Trendelenburg’sg, wie die frühere des Nef wohl — 
unwiderfprechlich, wenigftens von Gabler unmwiderlegt, darg⸗ — 
gethan); — es folgt das Doppelte daraus für fie: ebenfowohl, m 
daß fie die Hegel'ſche Verſchmelzung von Metaphyfif und Er— 
fenntnißlehre, die für jene Faffung des Principe ausreicherummm 
mochte, bei der von ihnen erftrebten weitern Entwidlung defielberuumm 
nothwenbig wieber aufzulöfen haben, als aud) daß, wenn bie 
Sonderung einmal vollbracht ift, das erfenntnißtheoretifhe (Io — 
gifche) Problem nicht nach dem metaphyfifchen behandelt, fonderu 
ale das erfte, unmittelbarfte in der Reihe der philofophiichen, am 
die Spitze aller übrigen treten müffe. Der Ref. muß dieß un 
das Obige als eine unvermeidliche Konfequenz jedes gründlicher — 
Herausfchreiteng über Das Hegel’fche „reine Denken” betrahten + 
und fann, den erneuerten Zweifeln über diefen Punft gegenüber, 
nur um fo fefter auf feiner Anficht und den Gründen für dieſelb — 
beharren. 

Hier iſt es dem Ref. nun ebenſo wichtig, als es ihn nur ie 
feinen eigenen Meberzeugungen beftätigen fann, daß ein Denker, 
wie Trendelenburg, der, ohne alle im Boraus angenommene 
Maximen (oder beffer gefagt, Vorurtheile) über philoſophiſche 
Syftem und Methode, lediglich mit finnigem Blide dem naturge — 
mäßen Zufammenhange ber Dinge nachforfcht, wenigftens in jene —# 
allgemeinen Faffung der Sache mit ihnen übereinftimmt, und wen! 
er dazu fortgehen möchte, eine fuftematifche Anordnung der Phile * 
fopbie nach ihren einzelnen Theilen zu entwerfen, dieſe wohl nr * 

- in ähnlicher Weife mit der feinigen gliedern Fönnte, 


Die philofophifihe Titteratur der Gegenwart. 55 


Das menfchliche Denken weiß fi) nach ihm (Logiſche Unter- 
fußungen IL. ©. 341. 42) als abhängig von der Natur ber 
Dinge und die Natur der Dinge als unabhängig von fih. Den⸗ 
noch verfährt ed von vorn herein, als wäre fie von ihm beftimmbar, 
und raftet nur, wenn es (erfennend) fie bezwungen hat. Diefe 
Zuverfiht wäre ein Widerfpruch, eine Kühnheit ber Verzweiflung, 
wenn nicht in ben Dingen Denkbareg, in dem Wirklichen Wahrheit 
vorausgefegt würde, — „wenn niht Gott, die Wahrheit, 
dem Denten und den Dingen ald gemeinfamer Urfprung 
und als gemeinfames Band zu Grunde läge.” 

Sp fließt er aus der vorhandenen Wahrheit im Denken 
und in den unmittelbar davon unabhängigen Dingen, — aus bie- 
jem „feſten Sage” oder Ausgangspunfte — auf die Nothwendigkeit 
einer höhern Vermittlung im denfenden und aus feinem Gebanfen 
die Dinge realifirenden Geifte Gottes. Trendelenburg madt 
den Sag zu dem feinigen (IL S. 262): daß „der Aft des goͤtt⸗ 
lichen Wiſſens in allen Dingen die Subſtanz des Seins ſei.“ 
Er nennt dieſen Beweis für das Abſolute und das Weſen des 
Abſoluten, als des Geiſtes, einen indirekten in mathematiſchem 
oder juriſtiſchem Sinne. Wir glauben ihn, vielleicht bezeichnender, 
den regreſſiven, aus der Folge in den Grund zurückſchreitenden 
nennen zu dürfen, die einzige Beweisführung, die für das Abſolute, 
den Urgrund, möglich iſt; und allerdings haben wir uns der 
Kautelen zu erinnern, welche über die begränzte Gültigkeit bie- 
jer Korm des bypothetifhen Schluffes bie Logik beibringt. Doc) 
it er bier vollfommen „zwingend,“ da „aus der Betrachtung nicht 
mehr gezogen werden foll, als was barin liegt,” nämlich die Er- 
Märung bavon, wie dieſelbe Wahrheit im Denfen, wie in ben 
Dingen fein Tann (IL ©. 342). Hiermit würde daher immerhin 
ein fefter Anhaltspunkt für die Erfennbarfeit des Abfoluten gege- 
ben fein: — ein Gegenftand, auf welchen wir noch einmal zurüd- 
fommen müffen. | 

Ferner aber, fagt Trendelenburg (IL. ©. 364); giebt es für 
ung Menfchen Fein veines Denken; es hätte ohne Anfchauung Fein 
Leben; eg würde in veiner Inhaltlofigkeit erftarren. „Vergebens 


56 Fichte, 
hofft es dadurch zum göttlichen Denken zu werden und dieß in 
ſeiner Ewigkeit darzuſtellen, wie es vor der Erſchaffung der Dinge 
war. Das göttliche Denken dachte die Welt und hatte darin eine 
Anſchauung. Das menſchliche Denken ſchafft nur dieſem 
leiblich gFewordenen Gedanken nach. Daher muß das erſte 
Princip des Denkens ein ſolches ſein, das in die Anſchauung 
führt und die Möglichkeit derſelben erzeugt. Ohne ein ſolches 
giebt es keine Gemeinſchaft zwiſchen dem Denken und den Dingen.“ 
Mit dieſer Anſicht, ſo wie mit der aus ihr geſchöpften und 
durch die ganze Schrift des Verf. durchgeführten Polemik gegen 
die Hegel'ſche Philoſophie, weiß ſich nun Ref. vom Anfange ſeiner 
eigenen Kritik Hegel's einverſtanden *): gerade von dem Satze 
aus, weil die Sdentität von Sein und Denfen im Syfteme ſtets 
nur vorausgefegt, mit einer verſteckten petitio principii dem Be⸗ 
weife jener Identität felber untergelegt, nirgends aber objektiv 
bewiefen werbe, wird gezeigt, Daß es ein „reines, aus fich felbft 
ben reinen Begriff entwidelndes Denfen nicht geben könne, in 
dem baffelbe zudem noch bei genauerer Betrachtung ſich als ein 
folhes verräth, Das feinen angeblich reinen Begriffsgehalt aus 
dem durch Abftraktion gewonnenen Gehalte der objektiven Welt⸗ 
begriffe fhöpfte, nicht aus der eigenen Immanenz; — dem Haupt⸗ 
gedanfen nach wird alfo dort baffelbe nachgemiefen, was Trende⸗ 
lenburg jest mit allerdings mufterhafter VBollftändigfeit, Klarheit 
und Geduld an allen einzelnen Seiten des Syſtemes gezeigt hat. — 
Deßhalb, wies Ref. ferner nad, fei das Denfen aus der ab» 
firaften Reinheit feiner metaphyfiichen Behandlung in Hegels Lo⸗ 
gif wieder abzulöfen, und auf dem noch einmal erneuerten Wege 
Kants, in einer eigenen Wiffenfchaft, als einer Erfenntnißlehre, 
zu behandeln, welche die Geneſis beffelben aus der Anſchauung 
nachweiſe, — was diefelbe aber nur baburch vermöge, fofern das 
Denfen der Anfhauung zugleich fchon immanent ift, aus dem 
(freilich erſt in der Metaphyſik feine völlige Erklärung erhaltenden) 





— — u — 


*) Ueber Gegenfaß, Wendepunkt und Ziel heutiger Philofophie, Heidel⸗ 
berg 1852. ©. a2 f. 54. 67.f. 72-74. 75—79. 81 ff. 


Die philofophifche Titteratur der Gegenwart. 67 


böhften Grunde, weil Alles, auch das Anfchaubare und Ange- 
(haute, in einem Uraft des Denkens feinen legten Urfprung bat. 
Das nämlih hat Trendelenburg freilich überfehen, was ihn 
eben nöthigt, auch hierin zu feinem Principe der Bewegung bie 
Zuflucht zu nehmen, daß fchon in der Anfhauung, wie im Vor⸗ 
Rellen, dem Gedächmiß u. |. w. das Denfen verborgener Weife 
mitthätig ift, daß es nur aus feiner eigenen Präeriftenz hervors 
tritt und fich felber findet, wenn es aus der Anfchauung und Vor⸗ 
fellung fih zum eigentlichen Denfen erhebt, fo wie es auch nur 
dadurch das Angeſchaute, Empirifche, denfend verarbeiten, un« 
ter die Form des Begriffes bringen, im Schluffe mit feinem eigenen 
Weſen und Grunde vermitteln kann, weil diefes felber urfprünglich, 
um bei Trendelenburg's finnbilblihem Ausbrude zu bleiben, 
„ein leiblich gewordener Gedanfe Gottes iſt.“ 

So ift eigentlich auch nach der wahren Konfequenz von Tren- 
delenburg das Denken das gemeinfame prius, welches nicht 
nur dag fubjeftiomenfchliche Denken und die Anfchauung, wie alle 
Stufen des menschlichen Erfennens und Bewußtfeins unter fi 
vermittelt und zur gegenfeitigen Uebereinflimmung bringt, fondern 
auch die umfaffende Synthefis, das wahrhaft Durchdringende und 
Vermittelnde zwifchen den Dingen und ihrem Erkennen if: — 
dad Denfen in jenem univerfalen und objektiven Sinne, in welchem 
es als ein Moment ber weltichöpferifchen Thätigfeit felber bes 
fadtet werben muß, und welchen auch Trendelenburg wenig⸗ 
ſtens im Allgemeinen anerkennt, indem er Das menfchliche Denken 
als dag Nachdenfen eines Urgedachten bezeichnet. So bliebe auch 
hm damit in der Löfung des erfenntnißtheoretifhen Problems eine 
Weitere, der Metaphyſik zu überweifende Frage zurück: wie näm- 
ih jenes fchöpferifche Urdenfen felber zu faffen fei, und welche 
ferneren Konfequenzen in die ſem Begriffe Iiegen mögen, die für 
Trendelenburg nun gewiß nicht in bem abftraften Feſthalten 
eines „reinen,“ fubjektlofen „Denkens,“ oder einer unperfönlichen 
Oder altperfönlich werdenden „abfoluten Idee“ beftehen Fönnen, 
indem er, gleich ung, dem Hegelfchen Syſteme gegenüber bie 
abſtralte und widerfpruchvolle Unverftänblichkeit diefer Begriffe 


68 Fichte, 

anerkennt. Er haͤtte dadurch, wenigſtens dem Principe nach, 
den Begriff einer Metaphyſik ganz in unſerm Sinne und in dem⸗ 
ſelben wiſſenſchaftlichen Zuſammenhange, von einer Erkenntnißlehre 
aus, gefaßt, den wir derſelben geben. Hat aber der Verf. einmal 
jenen Begriff von dem weltſchöpferiſchen Denken mit voller Klar⸗ 
heit und durchgreifender Entſchiedenheit gefaßt, dann wird er kaum 
noch nöthig haben, jene univerſale Bermittlung von Subjektivem 
und Objeltivem in Anſchauung und Angefchautem, wie im Denfen 
und Gedachten, in ber bloßen „Bewegung“ zu fuchen: er hat 
einen weit innerlicheren, angemeflenern und die univerfale Welt 
thatſache der wechfelfeitigen Immanenz ‚von Denken und Sein 
wirklich erflärenden Begriff erhalten, während jener ber Be 
wegung kaum weniger abftraft, kaum weniger der Sache äußerlich 
wäre, ald der verworfene Hegelihe vom „reinen Denken. Schon 
Weiße bat ihm, wie ich glaube, einleuchtend gezeigt (3.Schr. 
Bd. IX. S. 280 ff.), Daß die lediglich eine zwar finnreiche, aber immer 
doch nur eine Hypotheſe fei, die, nach der Natur von dergleichen, 
am naͤchſten Tage von einer andern verbrängt werben Tann, Teine 
objektive, das Verſtändniß jenes Vorgangs wahrhaft aufichließende 
Erflärung. Wir fegen hinzu: er hat wirklich gezeigt, Daß Bewe⸗ 
gung beiden gemeinfam ſei; Genefis, innere oder äußere Ge- 
nefis ift die Entſtehungsform alles endlich Seienden wie Gebadhten. 
Aber es ift ihnen nur ein Gemeinfchaftliches, d. h. ein äußerlich, 
wefenlos Gemeinfames, nicht das ſchlechthin Gemeinſchaftliche, 
das weſentlich ſie beſtimmende und geſtaltende, eben ſowohl für 
ihre Gemeinſamkeit, wie für ihren Unterſchied wirklich eine Er⸗ 
klärung enthaltende Princip derſelben. Dieß iſt der Begriff der 
Bewegung ſo wenig, daß man nicht einmal aus ihm, für ſich 
ſelbſt genommen, irgend einen Naturunterſchied, etwa den der 
chemiſchen und ber organiſchen Körper, herzuleiten vermöchte, 
wiewohl nach Trendelenburg's Beweiſe in ganz gleichem Sinne 
geſagt werden könnte, daß Bewegung auch hier das Gemeinſchaft⸗ 
liche ſei, — noch auch daraus verſtändlich machen könnte, wie jene 
verſchiedenen Produkte der Naturbewegung nun doch zugleich durch 
eine andere, höhere Naturbewegung in Uebereinſtimmung unter 





Die philofophifche Litteratur der Gegenwart. 59 


einander gebracht werben können, indem befanntlich in den meiften 
Lebensakten Chemismus und ‚organische Thätigfeit Cchemifche und 
erganiiche „Berwegung‘) zufammenwirfen. Am allerwenigften aber 
it erklärt, wie bie denfende Bewegung die Akte des Schließeng, 
das Denfen des Gaufalitätsbegriffes, das denkende Aufſuchen des 
Zwedes und dgl. zu Stande bringe (S. 112 -444. vgl. II. S. 65. 
66), Was der Berf. darüber ausführt, indem er bei dem Syl⸗ 
logismus auf die im „Raume des Denkens“ vorgehende Ueber⸗ 
ordnung und Unterordnung der Begriffe aufmerffam madt, „ber 
lid nur Durch Bewegung erzeugt,” — oder bei dem Denken 
der Wirfung aus ihrer Urfache, darauf, daß fie fih nur als „eine 
Rihtung woher” — „vorftellen” Iaffe, wie ſich dieß an den 
belannten Thatfachen aus der Grammatif zeige, — oder bei dem 
Denfen des Zwedes, daB es eine „Richtung wohin” darſtelle, 
ſo daß „bie Bewegung der Thätigfeiten gleichfam nach Einem Punkt 
gerichtet wird :” — fo täufcht fich der geehrte Verf, gewiß nicht über die 
wahre Bedeutung von dieſem Allen: hier ift gerade dag Denfen 
md dem Spiele und unerflärt gelaffen und nur aufmerkſam ge- 
macht auf bie finnlich fombolifirende Thätigfeit des Borftelleng, 
welhe die Denkakte begleiten Tann, und, indem wir vorftellend 
inehen, wie fie auch den (gleichfalls fymbolifivenden) Sprachaus⸗ 
druck geflaltet. Wenn er aber an dieß finnlih Symbolifche der 
Sprache und des grammatifchen Augdrucks erinnert, welcher dem 
eigentlichen Denken während des Ausfprechens feiner Gedanken 
nicht mehr ausdrücklich vorſchwebt, vielmehr in die reine, unbild⸗ 
Ihe Bezeichnung des allgemeinen Gedankens fich verloren hat, 
und wenn er jenes als das Urfprüngliche und Wahre der Sache 
iu bezeichnen fcheint, indem er aus ihm ben eigentlichen Hergang 
ded Denkens, feine noch darin fich verrathende „Bewegung,” erklären 
will: fo feheint ung gerade im Umgefehrten das Richtige, ber 
eigentliche Charakter des Denkens zu liegen. Indem das Denken 
in den Worten, mit denen es feine Afte bezeichnet, die urfprüng- 
I finnliche, meiftens allerdings eine Bewegung und Naumver- 
häliniſſe bezeichnende Bedeutung völlig vergeffen hat, und die reine 
Sache, unvermiſcht von dem Bilde, jegt vor fich fieht, ift es nicht 


60 Ä Fichte, \ 

von feinem Wefen abgefommen und hat feine Bewegung ertöbtetz 
es ift vielmehr aus dem vorftellenden Denken zum wahren, bild⸗ 
Iofen und darum auch Allgemeines in feiner Allgemeinheit zum 
Bewußtfein bringenden Denken, zum Denfen als ſolchem vorge- 
“ fipritten, das mithin ein fpecifiich Höheres, Anderes fein möchte, 
beun nur das geiftige Symbol des Sinnlidhen, eine in den Geift 
fallende Selbftbewegung, mit welcher es bie äußere nachbilbet. 
So wird es vielleicht nicht unmotivirt erfcheinen, was wir erfors 
derlihen Falls durch alle Inſtanzen der vom Verf. geführten 
Unterfuhung zu erhärten erbötig find, wenn wir behaupten, Daß 
jenes Prineip der Bewegung, das Alles vermitteln und erklären 
foll, ein zwar gemeinfamer, aber zugleich allzu unbeflimmter und 
vieldeutiger Begriff fei, um jene Jmmanenz von Denfen und Sein, 
und vollends bie einzelnen Stufen ber Anfchauung und des Denkens 
wirflih daraus zu erflären. Dadurch nämlih, dag man ihm, 
je nad den verfchiedenen Weltthatfachen, welchen man ſich zu⸗ 
wendet, verfchiedene Bedeutung beilegt, werben dieſe Weltthatfachen 
Selber weber in ihrer Berfchiedenheit, noch in ihrer Gemeinfamfeit 
wahrhaft begriffen. 

Dazu fommt nun aber noch ein anderer, fehr erheblicher Um- 
fand. Der Berf. hat richtig erfannt, dag aus dem Principe ber 
Bewegung blos die unmittelbare Wirkung ber Dinge auf 
einander, kurz die mechaniſche Verkettung wirkender. Urſachen 
ſich erklären laſſe: ihr Reſultat für ſich ſelber wäre eine mecha⸗ 
niſtiſche Weltanſicht. Wiewohl nun aber „das Gebiet der Bewe⸗ 
gung die ganze Welt iſt“ (II. S. 4): ſo begegnen in ihr uns den⸗ 
noch Thatſachen, die ſich aus der bloßen Bewegung nicht erklaͤren 
laſſen; es ſind die einer Zweckverknüpfung unter den Dingen, 
welche ebenſo univerſal in das Princip der Bewegung mithinein⸗ 
wirkt. Aber es ift eine andere Saufalität, als die der geftaltenden 
Bewegung. Der Zwed. wirkt innerhalb der Entzweiung unb 
Vielheit CI. ©. 46); aber er bringt innere, geheimnißvolle 
DNebereinflimmung in die äußerlich gefchiedenen, oft weit ge⸗ 
trennten Weltgegenfäge hinein, .fo daß fie nur Einen Gedan- 
fen darftellen, troß jener äußern Gefchiedenheit. Im Zwede alfo, 





Die philofophifche Titteratur der Gegenwart. 64 


wie er feine allgemeine Wirkung innerhalb des Reiches ber Be⸗ 
wegung zeigt, ift denkende Verknüpfung das eigentlih Thätige: 
er ift als ein zweites, höheres Princip in jenem mitgegenwärtig, 
und fo greift er auch als ein zweites apriori in die Welt ber Wiſ⸗ 
ſenſchaften ein; ſchon die geometrifchen Figuren, die arithmetifehen 
Berhältniffe zeigen innerhalb ihrer Nothwendigkeit zweckmaͤßige 
Berfnüpfung (II. S. 66. ©. 17. 18). Aber auch die Möglichkeit 
zeigt fich als unftatthaft, den Zweck als etwas bios von unferm 
Geiſte ſubjektiv in die Dinge Hineingetragenes zu betrachten, ba 
allerdings nur der Geift denkend fich Zwede ſetzen und ſolche aus⸗ 
führen Tann. So bleibt nur übrig, den Grund jener univerfalen, 
alles Geſchiedene und Entzweite ineinanderorbnenden Zwedcver⸗ 
fnüpfung in einem benfenden Geifte zu finden, „ber bie Welt bes 
berricht, indem er fie durchſchaut“, und auch in den „blinden Ur- 
ſachen“, d.h. im Principe der Bewegung, zeigt er fi als das 
eigentlih Wirfende und fie in ihrer Bewegung Leitende (e. 46. 
23. 66—70. Vgl. I. ©. 344 ff.). 

DieB der mefentlihe Gebanfengang in ber Abhandlung über 
den „Zwed‘ (I. S. 1— 71), weldhe wir ſchon einmal als den 
thönften, reichhaltigften und von wahrhaft tiefen, ächt fpefulativen 
Blicken erfüllten des ganzen Werkes erklärt haben. Dennod, 
wenn ber Berf. das hier von ihm Behauptete in feine volle Gel- 
tung eimfegen will, widerlegt er dadurch nicht feinen eigenen zu 
Anfang aufgeftellten Begriff von dem univerfal Vermittelnden, 
Allbewirfenden ber Bewegung im Sein, wie im Denken? Wir 
wollen von dem fehr wefentlishen formellen Mangel abfehen, auf 
welchen ihn fhon Weiße aufmerffam gemacht hat (a. a. O. 
©. 292. 93), daß in feiner Anfiht das Prineip der Bewegung 
und des Zwedes nur neben einander treten, daß nach dem Verf. 
an fich felbft recht gut eine Welt fich denken laſſe, in welcher bloß 
Dewegung und wirkende Urfachen walten, daß ihn nur die Er⸗ 
fahrung, die Thatfachen genöthigt haben, über Die Bewegung zum 
Zwede fortzugehen. Gol. das ausdrückliche Geſtaͤndniß des Verf. 
I. S. 67.) 

Aber wenn er auch nur empirif ch zu der Anerkennung des 


26 Kichte, 
Zwedes ald einer allgemein wirkenden Weltmacht gelangt 
ift, — was freilich den Anforderungen an eine philofophifche Welt- 
anficht in Feiner Weife genügt, indem empirifch bekanntlich nichte 
Allgemeines ober ſchlechthin Gemeingültiges erfannt werben kann: — 
fo muß er dann doch wenigftens alle Kolgen biefer Ueberzeugung 
erichöpfen und feine ganze Philoſophie ihr gemäß geftalten. Statt 
deſſen bleibt er in einer Halbheit, in einem Dualismus der bedenk⸗ 
lichften Art befangen, und zwar, wie es fcheint, in boppelter Weiſe. 
Zunächft nämlich gibt er zwar den Vorwurf des Dualismus 
felber zu: er bemerkt ausdrücklich, er könne fcheinen, „einem Dua- 
lismus in die Arme geführt worden zu fein, wenn er neben bem 
Principe der Bewegung dem bes Zweckes eine zweite Dahn 
öffne” (I. S. 67). Allein er entfchulbigt dieß mit ber „Noth⸗ 
wenbigfeit” der Thatfachen, welche viele Erfcheinungen barbieten, 
welche nicht aus der bloßen Bewegung erklärt werden können 
AL S. Aff. ©. 67). Mit andern Worten: weil der Weltzufam- 
menhang felber dualiſtiſch iſt; kann bie Philofophie ſich entbrechen, 
auch es zu werden? Oder vielmehr, würde ſie dadurch nicht ge⸗ 
rade falſch, wenn fie eigenfinnig aus einem moniſtiſchen Principe 
Alles erflären wollte? | 
Diefen Grund würden wir für völlig überzeugenb- haften, 
wenn mit foldher Faſſung der Sache nicht eben das Ziel verfehlt 
würde, welches ber Verfaſſer wirklich erreicht zu haben fcheinen 
Tonnte: er hat mit dem eingeräumten Dualismus feine eigenen um- 
faffenden Refultate aufgegeben. Aug jener Annahme eines Principe 
bes Zwedes neben dem ber Bewegung, wie fie aus einer blos 
empiriichen Auffaffung jenes Begriffes nicht anders erfolgen Bann, 
ergibt fih nur Das Refultat, was Teinesweges das beabfichtigte 
iſt: daß einige Welterfcheinungen nicht aus bloßer Bewegung ers 
Härt werben Tönnen, bag wir für dieſe vielmehr noch nebenbei 
eine Zwedthätigfeit annehmen müffen, — mit Richten folgt aber, 
was ber Verf. eigentlich im Auge hat und bewiefen haben will: 
baß bie Zwerfverfnüpfung, ale zweites ebenfo univerfales Prin- 
eip, im erften der Bewegung überall mitwirke und deſſen eigents 





Die philofophifche Kitteratur ber Gegenwart. 63 
lich Leitendes feiz fo wie es in der Natur der Dinge in Wahrs 
heit fi) verhält. 

Wenn jedoch dieß nicht feine Meinung wäre, nur jenes, was 
hätte er dann überhaupt gewonnen? Das ganze Fundament feiner 
theiftifchen Ueberzeugungen wäre dahin, der in der Welt „vers 
leiblichte” Gedanfe Gottes! 

Sodann aber ift Folgendes zu bemerfen: Sp lange der Bes 
griff des Zweckes blos empirifch aufgenommen, nicht metaphy- 
fifh in feiner allgemeinen, Alles durchdringenden 
Nothwendigkeit aufgewiefen worben ift Cwie ed 3. B. unfere 
Dntologie in der Weiſe getban, daß fie zeigt, wie in ber aliges 
meinen Exiftenz und dem Gegeneinanderwirfen ber Weltfubftangen 
feibft eine wechjelbeziehende, nach dem Gedanken des Zweckes 
fie verfnüipfende Macht dag urfprünglic Wirkſame fein müffe, in- 
dem fonft jenes fi Zugeorbnetfein und ergänzende Sneineinanders 
greifen der Weltfubftangen, als die Thatfache, die im Einzelnften 
wie im Umfaffendften bes Weltzufammenhanges fih uns anfün« 
digt, ohne höchſten Widerfpruch fich nicht denken laſſe): — fo Tange 
bleibt der ganze Begriff Des Zweckes proßlematifch und kann von dem 
Verdachte eines zufälligen Scheines nicht befreit werben. 
Und dieß giebt Trendelenburg felber zu: „Zwar bleibt auf 
biefem Standpunkte noch immer die Möglichkeit offen, daß die tiefer 
erforfchte wirkende Urfache die Anſicht des Zweckes in einen Schein 
auflöfe. Es muß ein folder Verfuch erwartet werden. 
Bis dahin ift indeffen das Unvermögen ber wirkenden Urfache 
der indirelte Beweis für die Nothwendigfeit des 
Zwedes“ (H. S. 67). So gefteht er alfo dieſem heile feiner 
Theorie — gerade dem mwichtigften und entfheibendften für feine 
Weltanficht, — nur eine einftweilige Gültigkeit zu, bis ihm das 
Gegentheil derfelben bewiefen werde, was er freilich für höchſt 
unwahrfcheininh hält! Aber er wollte ja philoſophiren: und Da 
wird er ſelbſt die Initiative ergreifen und bie Unmoͤglichkeit 
bes Gegentheils — nicht zwar den Iogifchen, wohl aber den be⸗ 
dingungsweis nothwendigen Widerfpruch — nachweifen müflen, 
wenn man von ber gegebenen Univerfaltbatfache der Welt ben 


64 - Kite, 

Begriff bed unive rfal in ihr wirkenden Zweckes fern Halten wollteẽ⸗ 
Aber, was das Miglichfte ift, wie der Verf, einmal den Begriff 
bes Zwedes in feinen Zufammenhang einführt, hat er ſich diefere 
Beweis felber unmöglich gemadt, wohl aber feinen Gegnern die 
Prämiffe ſtehen gelaflen, aus welcher fie allerdings jenen „Be 
weis des Gegentheild” wider ihn zu führen vermögen. Sp lange, 
wie bei ihm, feiner urfprünglichen Auffaffung nad, der Begriff 
des Zwedes nur als zweiter, neben dem der wirkenden Urfache, 
ſtehen bleibt, nicht diefen, als die auch in ihm einzige Weltmacht, 
in fi aufgehoben hat: wirb ihm jeder entichloffene und feines 
Principes fi Har bewußte Phyſiker beweifen, daß überall, auch 
da, wo das Probuft ein zweckmäßiges Corganifches) Gebilde iſt, 
nur eine Reihe wirfender Urfachen es hervorgebracht hat. Wie⸗ 
wohl wir nun mit dieſer Bemerkung ihm felber, als gebilbetem 
Denker und einſichtsvollem -Naturforfcher, nichts Neues oder ihm 
Fremdes gejagt zu haben glauben; fo hat er Doch in feiner Theo⸗ 
rie noch keinesweges bie entfcheidenden Folgen biefer Einficht wal- 
ten laſſen. Wie kann noch ein „künftig zu erwartender“ Beweis 
den Begriff des Weltzwedes in einen „Schein auflöfen‘‘, wenn 
allgemein erwiefen worden ift, daß durch allen Naturmechanid- 
mus hindurch) nur der Weltzweck fich verwirklicht, daß beide ſchlecht⸗ 
bin in einander find? Wir könnten ihn darüber aud noch auf 
die intereffante Abhandlung von Erdmann über „Natur ober 
Schöpfung‘? (Reipz. 1840 ©. 115. 148 ff.) verweifen, wo ber 
DBerf., feinem dortigen Standpunfte gemäß darauf gerichtet, mehr | 
den Unterfchied zu zeigen, als die Einheit, jenen Unterfchieb aber 
als einen univerfalen, in feinem Sinne partifulären, — nad) 
weift, wie das ganze Univerfum ebenfo von der Einen Seite na 
tura, das fich ſelbſt mit innerer Nothwendigfeit Auswirfende, wie 
ebenfo ganz creatura, Erzeugniß eines ſchoͤpferiſch den Zweck in 
ihm wirkenden Gottes ſei. 

Zuletzt noch ſcheint über das Ganze ſeiner Theorie nachfol⸗ 
gende Betrachtung zu entſcheiden: Wenn in der. „Bewegung“, in 
allen wirkenden Urfachen, doch nur der Zwed ſich vollzieht, wenn 

/er jene Wirkungsweifen indgefammt nur zum Mittel feiner eigenen 


Die philofophifche Litteratur der Gegenwart. 65 


Verwirklichung herabſetzt, — wenn alfo im Principe ber Bewe⸗ 
gung vielmehr das des Zweckes bie eigentliche Wahrheit iſt, — 
und darin müflen wir bie befinitive Meinung des Verf. nach dem 
Inhalte des zweiten Theiles feiner logiſchen Unterſuchungen fin- 
den: — fo ift ed au für ihn gar nicht mehr wahr, daß 
die Bewegung, der ja für fich Feine Bedeutung mehr zukommt, 
das Bermittelnde zwiſchen Sein und Denken, Subjektivem und 
Dbjektivem fein könne. Sein Werk hat ſich von hinten her felber 
wiberlegt, der zweite Theil den erften, aber nicht auf bialektifche 
Weife, fo, daß ein untergeordneted Princip durch Aufweifung der 
in ihm Tiegenden Nothwendigfeit, es zu überfchreiten, ſich in fein 
höheres aufhebt (dieſe regreſſive Dialektik, bie übereinfiimmt mit 
bem, was er genetiiche Methode nennt, wirb wohl gegen die Polemik 
bes Verf. wider bas bialeftifche Verfahren Stich halten), fondern 
die Selbftwiberlegung ift bie ganz äußerliche, gewöhnliche, mit ber 
man einen’ früher für unbebingt gehaltenen untergeorbneten Begriff 
nachher felbft als den untergeordneten entdeckt. Der Verf. wird 
dieſe Bemerkung nicht in dem Sinne deuten, als dächten wir zu 
behaupten, er habe bei der Ausarbeitung feines erften Theiles nicht 
den Inhalt des zweiten gefannt und planmäßig den Hauptgedan⸗ 
ten deſſelben im Auge gehabt: nur das behaupten wir, um ber 
Macht des Princips willen, welches, er in dieſem zweiten vertritt, 
daß er die wahre Konfequenz befielben nicht erwogen babe, als 
er bie Refultate des erften für befinitive und wirklich das Problem 
der Bermittlung zwifchen Sein und Denfen (welches fein Werk 
als die „nächſte Aufgabe‘ bezeichnet I. S. 101 ff.) Töfende anſah. 
Falls in der That — um bei des Verf. Ausbrudsweife zu blei- 
ben (I. ©. 70) — „die Anfchauung det Bewegung, indem fie 
fih näher befiimmt, ben Zwed in fih aufnimmt,“ 
ebenso falls „auch die. aus der Bewegung entworfenen Kateg o⸗ 
rieen den Zwed fih aneignen und dadurch in dichtere 
Geftalt des Begriffes übergehen”, d. h. wie bie weitere 
vom Verf. gegebene Ausführung der ‚Kategorien aus dem 
Zwecke“ zeigt (IL S. 72-88), wenn fie durch diefe Aufnahme 
in den Zweck ihre eigene abftraftere Faſſung ablegen, und bie 
Zeitſchr. f. Philsſ. u. ſpek. Theol. XI. Band. 


66 SFichte, 

coneretere, „dichtere“, eigentlich erfi wahre Geſtalt empfangen > 
falls demnadh hierin erfi das ganze, vollfiändige Princip de 
Welterflärung fich ergeben hat, nicht fchon in jenen untergeord— 
neten Auffafjungen: fo kann allein von dieſem vollfländigen Ge— 
danfen aus die wahre Löfung auch ber befondern, „nächften Auf 
gabe” gefucht werden, „wie Erkenntniß möglih”, — „wie da 
Räthſel des Erkennens zu erklären-fei”? So bleibt ed dabei = 
der Berf. bat nah dem Sinne feiner eigenen Wort 
Durch fein Ende feinen Anfang widerlegt. 

Aber auch nad) des Berf. fonftiger Grundanfiht Fann jene 
wahre Löfung nur von dorther, nicht aus dem untergeorbnnete®® 
Principe der Bewegung ſich ihm ergeben. Der im Sintrgrud 
liegende gemeinfame Gedanke ift der, daß die Welt ald „ein Fünf“ 
lerifches Ganze”, fomit auch nur Werf eines denfend>fchöpferifcher® 
Geiftes fein könne, das Gefchaffene (Objektive) fei ein Urgedach⸗ 
tes, hiermit ein flufenweis, nach innern Unterfchieden gegliederies. 
Syftem von Gedanken, und unfer Denfen babe nur die Aufgabe; 
biefem urfprünglich fchöpferifchen Denfen aus der Objektivität, 
welche ed in der Welt fih gegeben, „nachzudenken“, gleihwie - 
wir aus einem Gedichte die objektivirten Gedanken des Dichter 
geiftes ung herauslefen (I. S. 349 — 353). — Wir fehen bier 
davon ab, ob dieſer Gedanke ausreichend begründet oder mein 
phyſiſch vollftändig fei zur Welterflärung; wir betrachten ihn nur 
in feinem Verhaͤltniſſe zum einzig bier in Trage kommenden er 
erfenntnißtheoretifchen Probleme, und auch hier, müflen wir fagen, 
ift die Selbfiwiderlegung, die Selbfiberichtigung des Verfaſſers 
die vollftänbigfte, welche ſich denken läßt. Iſt nämlich das fchöpfe: 
riſche Denken der Grund der Dinge, das aller Objektivität. Im⸗ 
manente, ift unfer Denfen nur das Nachbilden beffelben, ein ihm 

„Nachdenken“: fo ift mit Nichten „Bewegung“ das Gemeinfame 
zwiſchen Objektivem und Subjeftivem, Sein und (unferm) Denten, 
fondern das Ur= oder objektive Denken felbft (der vos mosmrunas 
des Ariftoteles): — eine Anficht, gegen welche der Verf, ſchon 
als Ariitotelifer um fo weniger Etwas einzuwenden haben wird, 
als er im Mebrigen fih ganz zu ihr bekennt. Dann ftreife er 


Die philofophifche Literatur der Gegenwart. 67 


aber vollends jene Theorie von dem Allvermittelnden ber Bewe⸗ 
gung ab und fei fchon von Anfang, was er erft hinterher zu wer- 
den ſich entfchließt, Idealiſt. 

‚Hiermit würbe er aber erft recht in den „ehrlichen Weg“ 
Kant's zurüdienfen, was ja nad) feinen Erklärungen an fich fei- 
nen vollften Beifall hat. Denn in dieſen Weg, in den bes ab» 
ſoluten Idealismus, hat Kant den Strom der Philofophie wohl 
für immer bineingeleitet, indem darin zugleich das Princip entbedkt 
il, — wovon unfer Berf, in feinem Werke felbft die glänzenbften 
Proben gegeben hat, — den Empirismus über fich felber aufzus 
ren und feinen bisherigen Widerſtand gegen bie Philoſophie in 
bie freie Vereinigung mit ihr aufzulöfen. 

Wie vermag das objektive Sein zu einem gewußten, wie Das 
Wiſſen (Denken) zum Erkennen zu werben, in jenes objektive Sein 
einbringen? — Diefe Frage haben alle Philofophen, feitbem 
fie aufgeworfen worden, nur dadurch Löfen zu können eingefehen, 
daß in beiden getrennten Gliedern ein Gemeinfchaftliches nachges 
wiefen werbe. So nahm aud Kant die Sache, und dennoch auf 
eine durchaus neue, tiefe und originale Weife, indem er, freilich 
in bee noch befchränkten Form der Subjektisität, ben Gebanfen 

des Idealismus erfand oder neu wieberauffand, mit einer unwi⸗ 
berfieblichen Nachwirkung bis auf den gegenwärtigen Augenblid. 

Syn der höchſt bedeutenden Vorrede zur zweiten Ausgabe fei- 

ner Kritif der reinen Vernunft (S. XVI—XXIL) führt Kant 
den Gedanfen durch, daß, weil bie Metaphyſik fo ange bisher 
feine Fortichritte gemacht habe, als fie vorausgefegt, die Erfennt- 
niß müffe fih nad) den Gegenftänden richten, man es jegt umge- 
Tehrt mit der Annahme: „daß fi die Gegenftände nad unferm 
Erfenntniß richten”, verfuchen folle. Nichte fih das Objekt der 
Anfhauung nad der Befhaffenheit des Anſchauungsvermö⸗ 
gend, ebenfo: richte fih die gefammte Erfahrung nad den 
Geſetzen des Berftandes: fo erfenne man die Möglichkeit 
apriorifcher Anfchauungen (mie in der Mathematif), aprioriicher 
Geſetze des Berftandes für alle Erfahrung, kurz überhaupt bie 
Möglichfeit eines Apriorifchen ald bie Objektivität eherrſchend, 
— 5 


68 Fichte, 


ganz gut, nicht aber umgekehrt. Kurz: wir erkennen nur 
das von den Dingen apriori, was wir felbft in fie bin 
einlegen”. 

Die Kamiſche Behauptung ift demnach allgemeiner fo zu bezeich- 
nen: Nur fofern das Objektive (wo es in biefem Begriffe. des . 
Objektiven Feinen Unterfchied madıt, ob es als „bloße Erfcheinung”, 
oder als „Ding an fich” gefaßt wird) felbft den Geſetzen Des 
Bewußtfeing gemäß ift, vermag es erfannt zu werden. 
‚Gegen die Größe biefes Gedankens, der eine Welt von Wahr: 
beiten in fich fchließt, der ganz für ſich gefaßt werben Tann, 
verfchwindet der Kantifche Gegenfag von Erfcheinung und Ding 
an fih, wie eine Nebenſache; das folgenreihe Princip des Idea⸗ 
lismus ift entdedt: aber es Tonnte in. feinem erften Auftreten, 
wenn es, für bie weitere Entwidlung der philofophifchen Erkennt⸗ 
niß daran, auf die Dauer befefligt werben, nicht, wie fo oft ſchon 
vorher, in einem theofophifchen Nebel verſchwimmen follte, allein 
unter ber Geftalt der Subjeftivität erfcheinen; denn zunächft fo 
nur ift es faßlih. Weil Die Gefege des Subjeftiven, des Den- 
fens, überhaupt der Bernunft, auch die des Objektiven find, 
giebt es zuerft überhaupt für ung erfennbare Dinge, ſodann ein 
fohlechthin apriorifches Erkennen, welches den objektiven Din- 
gen, aber nur innerhalb der Erfahrung, Gefege vorſchreibt. 
Nun Tann man die Gefee, weldhe der Natur, als dem Inbegriffe 
der Gegenftände der Erfahrung, zu Grunde liegen, „mit ihren ge= 
nugthuenden Beweilen verfeben” ; aber bieg nur für die Sphäre 
der „Erfahrung“. Hier macht jedoch, fügen wir hinzu, das Aprio- 
rifche ſelbſt ein ſehr weſentliches Element in der Erfahrung aus; 
diefer Begriff umfaßt daher auch in Kantiſchem Sinne nicht bloß 
das unmittelbar Faftifche, in die Sinne Fallende, ſondern ebenfo 
das, was zufolge jener aprioriſchen Geſetze der Vernunft noth⸗ 
wendig gedacht werden muß, um jenes Faktiſche zu erklären, die 
Gründe jener unmittelbaren „Erſcheinungen“; gleichwie z. B. Kant 
ſelber in feinen metaphyſiſchen Anfangsgründen der Naturwiſſen⸗ 
ſchaft die Erſcheinung der Materie aus der Wechſeldurchdringung 
ber darin gegenwärtigen Attraktions⸗ und Expanſionskraft (als den 


Die philofophifche Litteratur der Gegenwart. 69 


Gründen, den „Dingen an fich” jener „Erfcheinung”) erklärt hat. So 
ſtellt ſich eigentlich, recht erwogen, Der Unterſchied zwifchen Erfcheinung 
(Sinnen Phänomenen) und ihrem Grunde, Wefen („Dinge an 
ſich“, als Noumenon), den Feine Philofophie, ja keine Wiffenfchaft 
wird fallen laſſen können, auch innerhalb . des Kantifchen 
Begriffes der Erfahrung wieder herz; aber er ift ein anderer ges 
worden, er beruht auf dem Unterfchiede von Sinnenanfchauung 
und Berftand, welche jedoch beide gleichmäßig durch Die aprio« 
riſchen Geſetze der allgemeinen (reinen) Vernunft verbunden find 
(wie naͤmlich Anfchauungen zu reinen Berftandesbegriffen wers 
den, dieſe auf Anſchauungen fich beziehen können, zeigt Kant aus 
führlich in femem Abfchnitte „von dem Schematismus der reinen 
Berftandesbegriffe”). Wenn nun hiernad, zufolge des eigenen 
Zugeftändniffes von Kant, der unmittelbare Grund oder das We- 
fen der Erfcheinung (z. B. der Materie) nad) den apriorifchen 
Denfgefegen völlig erfennbar ift, welches Lettere nun auch nad 
Kantifhem Sprachgebrauch recht eigentlih das Noumenon (Ge⸗ 
dachtwerden müſſende) für jenes Phänomenon (für das Anfchaus 
bare) genannt werden könnte: fo fallen jene anderweitigen, Schlechte 
bin unerfennbaren „Dinge an fih” für Kant felber als etwas 
ganz Bedeutungslofes völlig hinweg; denn es geht dem Ver⸗ 
ftande durchaus die Röthigung ab, auf ſie, aldö die „verborgenen, 
jenfeitigen Gründe” der Erfcheinungen zurüdzufchließen. — 

- Diefe Eritifhe Einfchaltung über das Ganze der Kantifchen 
Theorie, welche anderswo weiter durchgeführt ift, glaubten wir 
ung hier erlauben zu Dürfen, um bie Größe des wahren Kanti- 
ſchen Refultates in das Licht zu flellen, und fie hiernach mit ber 
vom Berf. verfuchten Löfung zu vergleichen. 

Sp beantwortet nun Kant in’ feiner Kritif der reinen Vernunft, 
welche er „Traktat über die Methode” nennt, Die Frage über die Mög- 
lichfeit des Erkennens folgender Geftalt: der Grund der Erfenn- 
barfeit der Erfahrungsgegenftände liegt darin, daß die Gefeße des 
erfennenden Geiftes fich über diefe Dinge felbft erfireden, daß 
beide in biefelbe Sphäre fallen, eine gemeinfhaftlide Welt 
ausmachen, in ber jedes dem andern daher zur Wedhfel- 


70 Fichte, 


durchdringung geöffnet iſt. Auf die Frage: wie ſynthetiſche 
Urtheile apriori möglich ſeien? antwortet Kant daher nun, ohne 
Zweifel richtig und für alle Zeit fie erlebigend, folgender Maßen 
(S. 196. 97): da Erfahrung, als empirifhe Syntheſis, in ihrer 
Möglichkeit die einzige Erfenntnigart ift, welche aller andern 
Synthefis Realität giebt: fo hat diefe als Syntheſis apriori auf 
nur dadurch Wahrheit (Einftimmung mit dem Objekte), daß fie 
nichts weiter enthält, als wag zur ſynthetiſchen Einheit der 
Erfahrung überhaupt nothwendig if. Oder als „oberfled 
Prineip” ausgedrüdt: „Ein jeder Gegenftand fteht unter den noth⸗ 
wendigen Bedingungen der fpnthetifchen Einheit des Mannigfal⸗ 
tigen der Anfchauung in einer möglichen Erfahrung” 
(S. 197): d. h. wie ich mir den Gegenftand in einer möglichen 
Erfahrung (allgemeinen Erfahrbarfeit) denken muß, fo if er 
nothwendig innerhalb der Erfahrung: die in dieſem Denken def 
felben ſich aufweiſende nothwendige Berfnüpfung von Eigenfchaften 
ift das Apriorifche an ihm. Ein ſynthetiſches Urtheil apriori über 
einen Gegenftand entfteht durch das Denken der Bedingungen 
durch welche er erfahrbar würde; — das apriorifche Denken 
ift ein nachfchöpferifches Vermögen, den. Gegenftand in feiner all 
gemeinen Erfahrbarfeit vorzuftellen; und bie Praͤdikate, welche hier 
im Denken deffelben fih als nothwendige zeigen, find eben 
deßhalb, weil das Denken die Sphäre ber. Erfahrbarfeit aller 
Dinge beherrfcht und durchdringt, auch fchlechthin gemeingültig im 
Sein des Öegenftandes. Wie Kant dieß ausdrückt (S. 266), 
iſt das Nothwendige am Gegenftande „bie allgemeine Bedingung 
einer Erfahrung deffelben”, wonach durch dieſe „Anticipation bei 
Erfahrung” feine ganze Anfchaubarfeit (Erfahrbarfeit) in’s Un- 
endliche erfchöpft if. Anfchauung mithin ift hier dem Principe 
nach als innerlih Eins gefegt mit dem Denken und dem apriori- 
fohen Denken: was bier apriori gedacht wird, find nur bie 
‚nothwendigen, „allgemeinen Bedingungen“ aller Aw 
ſchauung. | 
Die hieraus fich ergebenden ſynthetiſchen Urtheile apriori (0 
fährt die Kantifche Theorie fort) bangen aber ferner von den Ka- 





Die philofophifche Litteratur der Gegenwart. 71 


tegorieen ab: daher es nur fo viel „rein ſynthetiſche Grundfäge” 
geben Tann, als es Kategorieen giebt. Jene entwidelt Kant nun 
forgfältig und gewinnt fo den Inhalt auf erfenntnißtheoretifche 
Weife, welchen die Hegel’fche Logik, nad) ihr die fpätere Metaphy⸗ 
ſik oder Ontologie als allgemeine Beftimmungen des Seins, 
"wie des Denfens (aud hierin offenbar nicht von dem wahren 
Refultate der Kantifchen Theorie abweichend) aprioriſch⸗dialektiſch 
bearbeitet haben: — bialektifh darum, weil, gleichfalls nach einer 
"Thon von Kant hinterlafienen Entdeckung, biefe Kategorieen ſich 
gegenfeitig ergänzen, in einander überführen und ein geſchloſſenes 
Syftem von Gedanfenbeftimmungen bilden, welche ebenfo fehr 
(au nad Kant) die allgemeinen Beftimmungen aller Anfhauung 
find. In diefem zulegt der Spekulation gewonnenen, zugleid 
ſchwierigſten, weil beweglichften, eben weil innerhalb der allgemei- 
nen Gedanfenmöglichkeiten verfehrenden Gebiete der Metaphyſik ift 
freilich noch am Wenigften bis jett fefter Boden erreicht, ein de⸗ 
fwitives Refultat errungen: — Urfache genug, nicht um fid) Davon 
zurückzuziehen, fondern um ſich im Principe gerade zu befefligen, 
auf weiches alle jene Unterfuchungen als den ihnen gemeinfamen 
Grundgedanken hinweiſen. Es ift dieß das Grundprincip des 
Idealismus felber. 

Und hier bleibt nun die legte Frage übrig, die freilich Kant, 
innerhalb feiner Kritik der reinen Vernunft wenigftens, weder aufe 
geworfen, noch gelöst hat: wie es doc fomme, daß unfer Den— 

‚In, rein apriori dentend, hiermit dennoch die Bedingungen aller 
Anfhauung der Dinge, d. h. ihres wirklichen, erfahrungsge- 
mäßen Seins, durch „Anticipation”, durch eine Art von Bernunft- 

_ Prophezeiung, zu erfchöpfen vermag? Was ift ver höhere Grund 
diefer merkwürdigen Uebereinftimmung, in welche fih, wie man 
fieht, die Frage nad) dem Grunde von der Erfennbarfeit der 
Dinge übergefiedelt Hat? Jene Frage nad) dem Woher dieſes 
Parallelismus hat Kant nun unferes Erachtens nicht beantwor- 
tet, ja nicht einmal berührt in dem bezeichneten Werke: hier hat 
er nur gezeigt, wie die Kategorieen ber Anfhauung und ihre Ges 
genflände auf die des Verftandes bezogen werden können, in wel⸗ 


N 


⁊ 


72 Site, 

chem gemeinfchaftlihen Gebiete, eben in bem „ber Schematismen 
ber veinen Berflanbesbegriffe”, beide fich begegnen, und wie auf 
diefe Weife aus dem Zufammenwirken von Anfchauung und Ber- 
ftand, innerhalb des fubfeltiven Gebietes tetbft, eine Erfennmiß 
erwachfe. 

Jener Grund alfo, woburd unferm nachdenkenden Bewußt⸗ 
ſein es gegeben iſt, in dieſem Nachdenken aus ſich ſelbſt (apriori) 

dennoch die Bedingungen und Geſetze aller möglichen An- 
fhauung zu erfchöpfen, — worin fann er gefunden werben? Man’ 
fieht, daß dieſe Frage ung wieder in das Gebiet der Unterfuchun- 
gen verfegt, weldhe auh Trendelenburg von Neuem angeregt 
bat: auch er giebt, allerdings ohne eigentlih metaphyſiſche Aus⸗ 
führung, diefelbe Antwort, welche wir für die einzig übrig blei- 
bende, gründliche halten; zu der aber die Prämiffen bei Kant 
fchon fich finden, fofern man das Ganze feiner Lehre in Betracht 
zieht und deſſen ganze und tiefere Konſequenz erwägt. 

Das für und Denk nothwendige kann nur dadurch auch ale 
bas in der Anfhauung, d. h. der Wirflichfeit der Dinge, 
Nothwendige gedacht werben, wenn man annimmt, daß. Diele 
Wirklichkeit ihren Daſeinsgrund in einem intellektuellen Alte habe, 
worin Anfhauung und Denfen nicht getrennt find, fondern 
ſchlechthin zufammenfallen müffen, — welcher Akt daher zu- 
gleih ifr Schöpfungsalt, oder wenigftend ein nothwendiges 
Moment ihres Schöpfungsaftes wäre. Nur eine abfolute Vernunft 
kann der Grund des Seins (der Anfchaubarkeit) der Dinge, wie un. 
ſers Denfens, wie endlich der wechſeldurchdringenden Uebereinftims. 
mung beider fein. Und das Apriorifche im Sein der Dinge wie in 
unjerm Denfen ginge nur hervor aus jenem beiden gemeinfchafts 
lich immanenten Urafte, es wären nur bie realsidealen Urgebanfen 
jener abjoluten Bernunft. Die Dinge find ebenfo, wie unfer Den⸗ 
fen und Erfennen berfelben, jener abfoluten Bernunft eingerüdt, 
fiehben und gründen in ihr. 

Daß dieſe weitere, aus Kant's Theorie fih ergebende Kon⸗ 
ſequenz ben Idealismus nun Thon auf „theofophifche Grillen” 
führen müſſe, — um mich bes Damals gefallenen charakteriftifchen 


Die philofophifche Ritteratur der Gegenwart. 73 


Wortes eines Skeptifers zu bedienen, — daß biefe das letzte 
Wort in ber Sache find, auch dieſen Blick hat Kant an einer 
Stelle der höchft genialen, die ganze gegenwärtige Philofopbie im 
Schooße tragenden zweiten Hälfte feiner Kritik der Urtheilskraft 
(dev Kritik der teleologifchen Urtheilskraft) gethban, wo er von der 
Möglichkeit eines „anfchauenden Verſtandes“ fpricht, welcher in⸗ 
tuitiv (anfchauend) und discurſiv (das Befondere in vernüpfendem 
Denken zufammenfaffend) in Einheit fei,. weil ex vermöge, das 
Allgemeine und das Befondere, die Nothwendigkeit und den 
Zweck in den -Dingen in einander oder zugleich zu fchauen 
(S. 347— 49), alfo defien Vorſtellung des Ganzen die Zufällige 
feit der Verbindung ber Theile nicht in fich enthält, um eine be⸗ 
fimmte Form des Ganzen für ihn möglich zu machen (S. 349). 
Es iſt mithin nur (S. 345 f.) eine „befondere Einrichtung unfes 
res Berflandes in Anfehung ber Urtheilskraft“, bie ung dieß ver- 
bietet, und fo muß bier „die Idee von einem andern möglichen 
höheren Verſtande als dem menichlihen, zu Grunde liegen, wie 
ir in ber Kritif der r. V. eine andere mögliche Anfchauung 
in Gedanfen haben mußten, wenn die unfrige, ale eine befonbere 
Art, nämlich die, für welche die Gegenftände nur als Erſcheinun⸗ 
gen gelten, angefehen werden fol”, 

Zwar will Kant zunächft nur bie Denfbarkeit, Widerſpruch⸗ 
Infigfeit im Begriffe eines folchen intellectus archetypus geltend 
machen (S. 350. 51): am Schluffe feines Werkes indeß, wo er 
über die Betrachtung aller bloßen Naturteleologie hinaus, als 
weihe zur Begründung der wahren Principien einer Theologie 
nicht ausreiche (S. 400—409), zur Ethikotheolo gie fortfchreis 
tet, wird jener Begriff nach feiner eigenen Konfequenz als ein 
nothwendiger nachgewiefen. Wenn er vorher nämlich glaubte 
(5.409), fich als möglich denken zu können, „daß die Zweckmaͤßig⸗ 
feit in der Natur von einem aus der bloßen Nothwendigfeit feiner 
Natur zur Hervorbringung gewiffer Formen beftimmten' Verftande 
berrühre, nach der Analogie mit bem, was man bei den Thieren 
den Runftinftinft nennt”: fo findet er dieß nicht mehr möglich, 
nachdem fich ergeben hat, dag ein wahrhaft höchſter und rein 


74 Sichte, 


intelleftueller, darum ſchlechthin apriori in unferm eigenen Geiſte 
niebergelegter (S. 416) Endzweck dem ganzen Reiche der Dinge 
au Grunde liege, welcher die Welt zu einem „Syfteme von 
Zwecken“ macht (S. 413), — nämlich das Reich der moralifchen 
Freiheit im Menfchengefchledhte. Hiernah wird nun ausführlich 
gezeigt (S. 444. 418 ff.), wie das Urwefen nur unter den Prä- 
difaten der höchſten und abfoluten Sintelligenz gedacht werben 
könne, umdas Neich der Natur mit dem Neihe der Freiheit in 
ſtets zufammenwirfender Uebereinſtimmung zu erhalten, ober bes 
flimmter, die Naturnothwendigfeit felbft zum fteten, allgegenwär⸗ 
tigen Ausdrud jenes höchſten Endzwecks zu machen. Hiermit hat 
Kant aud mittelbar den Beweis geführt, daß jener intellectus 
archetypus wirklich fei, daß er den wahren, allvermittelnden Grund 
aller Zwedbeziehungen und ader Weltverfnüpfungen überhaupt 
ausmache, mithin aud den Grund jener fpeciellern zwifchen den 
anfchaubaren Dingen und dem Denken berfelben. Er bat das 
Princip des Idealismus auch in die metaphyſiſche Seite wenigſtens 
für den übergeführt, welcher felbftftändig die Bruchftüde feiner | 
großen Entdeckungen unter einander zu combiniren vermag, wäh- 
rend biefem Die von Kant dazugefügten Einfchränfungen und 
Bedenken, daß damit dennoch „Fein objektiv gültiger Beweis’ ges - 
geben fein folle, fondern daß „Jeder, ver mor aliſch Tonfequent 
denfen wolle, diefen Sab unter die Maximen feiner praftifchen 
Bernunft aufnehmen müffe” (S. 424. 25), nur ale ein äußer- 
liches Abkommen mit dem fubjeftiven Idealismus feiner Kritik der 
zeinen Bernunft erfcheinen, wonach die Kategorieen nur auf 
die „endlichen“ Dinge Anwendung finden können, nicht auf das 
Unbedingte, und womit alfo der ganze auf ber Kategorie bed 
Grundes beruhende, und den Sag der Analogie zwifchen Grund 
und Folge zu Hülfe nehmende Rückſchluß vom Dafein eines Sy 
ſtemes von Zwecken, und eines abfolut höchſten Zweckes in ber 
Welt auf einen fchöpferifchen intellectus archetypus, furz Die ges 
fammte Kant'ſche Beweisführung im letzten Theile feiner Kritik 
der Urtheilskraft Eonfequenter Weile in das Gebiet der Selbfttäus 
ſchungen einer dogmatifchen Philofophie fallen würde, Jenes Halbe 


Die philofophifche Litteratur der Gegenwart. 75 


Abkommen „einer wenigftens fubjeltiven Gültigkeit des Beweiſes 
für den moralifch Dentenden” hilft bier nicht aus. Entweder bie 
Kategorieen find nur von fubjeftiver Bedeutung: dann hat 
überhaupt bie Idee des Unbedingten, die ja auf ber Kategorie 
des Grundes beruht, weder für den moralifc noch unmoralifcy 
Dentenden (welcher Unterfchied hier von gar feinem Belange 
ift) die allergeringfte überzeugende Gültigkeit. Ober die Kategorieen 
haben felbft allgemeine und unbedingte Bedeutung: fo würde auch 
der „Unmoralifhe”, wie Kant unmwiderleglich gezeigt hat, „mit 
feinem (theoretiſchen) Denken in Widerfpruch gerathen”, wenn er 
nicht Die Nothwendigkeit eines Unbedingten, als einer abfoluten 
Smtelligenz, zugaͤbe. Weiter reicht aber das Recht Feiner Deduk⸗ 
tion und Feiner möglichen Bemweisführung, ald bis zur Aufweifung 
biefer Nothwendigfeit im Denken, welche Kant felber in eigenem 
unbefangenem Berlaufe jener Betrachtungen mit ftillfchweigendem 
Eingeftändnifie au als die Nothwendigfeit des Seins angefehen 
hat. Sp ift Kanten daffelbe begegnet, was wir von Tren de⸗ 
lenburg gezeigt zu haben glauben, was auch noch in einer an⸗ 
dern, ſogleich nachzumweifenden Beziehung von ihm gelten möchte; 
er bat .mit feinem Ende und Ausgange feinem Anfange wider: 
ſprochen, hat von hintenher fich felber widerlegt. — | 

Diefe Epifode fol im gegenwärtigen Zufammenhange nur fo 
viel beweifen, daß Alle, die, wie Trendelenburg, an ber leßs 
ten Entwidlung der Philofophie duch Schelling und Hegel 
feinen Theil nehmen und auf Kant zurüdgehen wollen, ohne frei> 
lich an feinen fubjektiven Idealismus fich zugleich zu betheiligen, 
nur in Bezug auf ihre Anerkennung der Gültigkeit der Kategorien, 
auch hier nicht bei den theilweifen Zugeftändniffen es bewenden 
Lafien können, wodurch fie fich mit dem Principe bes Idealismus 
abfinden wollen. Entweder es giebt für fie Feine objektive Güls- 
tigkeit berfelben; dann giebt es für fie auch kei Unbedingtes: 
fie find ſubjektive Spealiften in einem weit entfchiepneren Sinne; 
als Kant felber es fein mochte und konnte. Ober ihnen ift, wie 
unferm Berf., die Idee des Unbedingten von fehlechthin objeftiver 
Bedeutung: dann werben eben dadurch allein fchon die Katego⸗ 


76 | Fichte, 
rieen gleiche Gültigkeit haben müſſen; jenes Zugeftändnig enthält 
implicite dieß in ſich; denn nur in Folge der objektiven Gültigkeit 
der Kategorie des Grundes Tann überhaupt das Sein eines Un⸗ 
bedingten gebacdht werben. Wenn aber Eine Kategorie objektiv 
gültig ift, fo find fie es alle, u 

Dieß würde num nach des Nef. Ueberzeugung dem allgemeis 
nen Grunde nach vollfommen hinreichen, um Trendelenburg’s 
Lehre von dem Sein eines Unbedingten, aber von feiner Unerfenn- 
barkeit, zu widerlegen. Es wäre gezeigt, wie er entweder einen 
Schritt weiter zurüd, bis zum völligen Dahingeftelltfeinlaffen dies 
fer Idee, ober noch einen’ entſcheidenden Schritt nach) vorwärts 
zu thun habe, wie nur fein Mittleres nicht zuläffig fe. Dennoch 
find gerade die Motive zu biefer mittleren Haltung fo fehr in 
‚ das Ganze feiner Theorie verwebt, und bangen fo genau mit ans 
dern Bedenken zufammen, um bie Philofophie nicht zu „einem 
theoſophiſchen Gedichte” werben zu laffen Ch S. 350), — 
Bedenken, die wir unfererfeits fehr wohl zu würdigen wiffen und 
beziehungsweis theilen: — daß in jener, wie in dieſer Rückſicht es 
nur lehrreich fein Tann, dem Verf. auch in diefe Theile feineg 
wohl durchdachten Werkes zu folgen, wobei wir freilich, zur Er- 
gänzung des hier zu DBemerfenden, auf unfere frühern Erinnerun- 
gen (3. Schr. Bd. VIII. ©. 222—230) zugleich verweiſen müffen. 

Er zeigt in feiner Lehre von dem Bemeife (XVIL u. XVIIL 
Adfchnitt), Daß unter den direkten Beweilen ber genetifche der voll- 
fommenfte fei, indem er die Natur und den Gang des Seienben 
felber im Begriffe darftelle. Aber Die Principien, als ſolche, laſ⸗ 
fen feinen genetifchen, überhaupt alfo feinen bireften Beweis zu: 
benn fonft wären fie nicht Princivien und hätten vielmehr einen 
fremden Anfang. Sie find daher nur durch einen Erfenntniße 
grund, im Gegenfate des Sachgrundes, barzuthun. Alle 
bloßen Erfenntnißgründe laufen aber auf einen indirekten Des 
weis hinaus: fo der Beweis für das Sein des Unbedingten, Gottes. 
Für das unbedingte Princip ift aber nicht ein Einzelnes die Prämiſſe 
dieſes indirekten Beweifes, fondern das ganze Weltall, Er zeigt daher 
auf, in welchen Widerfprud man mit dem Denfen des 


* 


Die philofophifche Titteratur der Gegenwart. 77 


Weltbegriffes fommen würde, „wenn man Gott nidt 
fegte” (I. ©.334, vgl. 338. 339). Hier gefteht nun ber Verf, ſchon 
im Allgemeinen zu, daß „je nachdem in biefer indirekten Beweis⸗ 
art der Ausgangspunkt berfelben nur eine vereinzelte Wahrneh- 
mung oder eine allgemeine Erfcheinung ift, je nachdem er tiefer 
oder minder bedeutfam gefaßt wird: er mehr ober weniger bie 
zwingende Gewalt befige, um allen Einfprud gegen . 
das erhobene Princip niederzufhlagen” (S. 331). Alfo 
an fih iſt ihm dieſe Art des indirekten Beweifes von ebenfo - 
„„wingender Gewalt”, ald jede andere Beweisart; und fo 
follte man meinen, wenn für den Beweis des unbedingten Principe 
bie ſchlechthin „allgemeinſte Erfcheinung”, das „Weltall“ ſelbſt, 
zum Ausgangspunkte gemacht wird, daß dieſer Beweis von der „aller⸗ 
zwingendſten Gewalt“ auch für den Verf. werden müſſe, voraus⸗ 
geſetzt naͤmlich, bag er jene Univerſalthatſache des Weltalls „tief 
und bedeutfam” genug erfaßt habe, — worauf freilich auch 
nach unferer Meinung Alles anfommt, 

Sp .weit die allgemeinen Gefichtspunfte, die und der Berf, 
felber an bie Hand gegeben hat. Sehen wir.nun, wiefern er ih⸗ 
nen treu geblieben ift im eigenen weiteren Verlaufe. | 

In dem Abfchnitte „von dem Unbedingten und ber 
dee’ (U. S. 337 — 362) werben zuerft die kritiihen Bedenken 
Kant's gegen die Realität der Idee des Unbedingten durch die 
furge Bemerkung befeitigt, daß fie fih auf dem Wege ber inbiref- 
ten Beweisführung von felbft widerlegen (S. 338). 

So ift ihm alſo das Sein eines Unbedingten durch den 
indireften Schluß völlig erwiefen und feftgeftellt: weil ein Beding⸗ 
tes ift, fo muß es zu ihm ein Unbedingtes geben. Er fagt es 
nicht ausdrüdtich, aber er muß es zugefteben, daß er bier das Un- 
bedingte fchon in den SKategorieen, und zwar zufolge der des 
Grundes gedacht hat. 

Seltſam und widerſprechend muß es daher ſogleich ſchon lau⸗ 
ten, wenn auf bie Frage, nach welchen Beſtimmungen dad Un- 
bedingte gedacht werden ſoll, die Antwort erfolgt: daß „wir kein 
Necht haben, es in den Kategorieen zu denken, die nur für das 


78 Fichte, 

Endliche gelten”, alſo z. B. nicht das Recht haben, „die Katego⸗ 
rie der Urſache und Wirfung” auf daſſelbe anzuwenden. Hat ber 
Berf. vergeflen, daß er, und alles Denken, fo eben nur durch An: 
wendung dieſer Kategorie auf den Begriff vom Sein beffelben 
gelangt it? Daß es fich hier von den „Beltimmungen” (Prädi⸗ 
katen) jenes Seins handelt, macht nicht den geringften Unterfchied. 
Dienen die Kategorieen, um ein Sein „auf indireftem Wege” zu 
denfen, fo müffen fie auch dienen, auf gleichem Wege feine ‚noth: 
wendigen „Beftimmungen“ zu finden. 

Und eine Ahnung biefer felbftzerftörenden Inkonſequenz hat 
offenbar bier dem Verf. felber vorgeſchwebt; denn er berichtigt 
fogleich jene in ihrer Allgemeinheit offenbar irrthümliche und ihn 
‚in Widerfpruch mit fich felbft verwidelnde Behauptung durch eine 
Einihränfung, gegen deren Gültigkeit weder an fi, noch inner- 
halb der Theorie des Verf., fih Etwas einwenden läßt. Jene 
Rategorieen, heißt es nämlich weiter, reichen nicht. aus, um einen 
„genetifhen Beweis” vom Dafein Gottes zu führen, infofern 
auch nicht um „eine conſtruktive Erfenntniß feines We— 
fen 8” zu entwerfen. Wir find mit ihnen nur auf den indirekt 
ten Beweis befchränkt in beiderlei Hinficht feines Seins und 
feines Weſens (S. 339). 

In Betreff diefes letztern Punftes hat er nun von unferer 
Seite feinen Einſpruch, fondern nur den vollften Beifall zu ger 
wärtigen.. Eine Conftruttion Gottes im Oken'ſchen Sinne ober 
eine rein bialeftifche Entwicklung des göttlichen Wefens „vor der 
Erfchaffung ver Natur und eines endlichen Geiſtes“ "aus abfolutem 
Denken in Hegel’fcher Bedeutung — wer bat ſich flärfer und 
aus Gründen einer umfaflenden Erfenntnißlehre heraus motivirter 
gegen ein folches ſich mißverftehendes Unweſen eines unfritifchen 
Allwiſſens erklärt, ald der Referent? Meine ganze fpefulative 
Theologie beruht auf der „indirekten Beweisart”; ihr Erkenntniß⸗ 

fanon iſt: Daß das Bebingte, das Univerfum, die befannte Größe, 
das Unbedingte, ald zunäͤchſt noch unbekannte Größe, aber zugleidh 
als ihm immanent, eben Darum audy aus ihm erfennbar fei, Als 
led das, was er felber fpäterhin (S. 351 f. 357. 3641 f.) vom Les 


,; 


_ ——— 


Die philofophifche Kitteratur der Gegenwart. 79 


fen bes göttlichen Geiftes in der Welt, als feinem Gedichte, von 
dem Endlichen, als dem Spiegel, in weldhem wir das Wefen Got⸗ 
tes zu lefen vermögen u. dgl. ebenfo wahr, als ſchoͤn und mit Acht 
philofophifcher Begeilterung fagt: es ift daffelbe, was in wiſſen⸗ 
ſchaftlicher Ausführung und in Darlegung des Inhalts, ber in 
jenem Erfenntnißprincipe liegt, die fpefulative Theologie enthält. 
Wenn der Berf. nur von feiner mehr rhetorifchen Darftellung dies 
fer Partieen feines Werkes zur begriffsmäßigen Ausführlichfeit und 
Durchbildung fortfchreiten wollte, er Eönnte faum auf andere Re⸗ 
fultate kommen, als die unfrigen, weil fie implicite eigentlich fchon 
in feinem Principe Tiegen; und damit dieß nicht unbefcheiden oder 
zubringlich erfcheine, erlauben wir und hierüber auf unfere früher 
erwähnten kritiſchen Bemerkungen zu verweiſen. 

Aber damit ſcheint uns die Inkonſequenz jener erſten Be⸗ 
hauptung nicht beſeitigt, vielmehr recht in's Licht geſtellt zu ſein. 
Einen direkten Beweis von Gottes Daſein giebt es nicht, eine 
- genetifche Eonftruftion feines Wefens ift unmöglich, nicht zwar 
weil die Kategorieen „endliche” find, fondern weil Gott Fein „ans 
ſchanliches“ Objekt ift, alfo die entfprechende Anfchauung den 
Kategorieen nicht gegeben werden kann. Dieß bat eigentlid) der 
Berf. bewieſen und dieß meint er auch, wenn er fich felbft getreu 
bleiben will. 

Deßhalb ift bei Gott der Beweis nur indirekt: aber da alles 
Deweifen nur unter Borausfegung der Allgemein- 
gültigfeit der Kategorieen flattfinden fann, fo muß 
aud der Verf. für feinen indirekten Beweis ihre Gültigkeit aner⸗ 
fennen; d. b. fie find ihm bier Feine „enblichen” mehr. Sind 
fie jedoch es ihm hier nicht, fo Eönnen fie es ihm überhaupt nicht 
fein. Er hat mit dem Zulaffen einer indirekten Beweisart für Gott 
feine ganze Lehre von der Enplichfeit der Kategorieen widerlegt, 
mdem. auch im Einzelnen jeder der verfchievdenen Beweiſe, in 
welche er jene Beweisart zerfallen läßt: — der ontologifche, 
als die Nachweiſung der Nothwenbigfeit für Das Denken, ein un⸗ 
bedingtes Sein gu fegen, — der kosmologiſche, ale der Rüde 
flug von dem wirklichen Sein des Bedingten auf das Sein 


80 Fichte, 


des Unbedingten, — ber teleologifche, als der Beweis von 

dem der Welt immanenten Gedanfen Gottes, welcher Daher auch als 
bas wahrhaft Bermittelnde zwifhen Erfennen, und 
Sein betrachtet werden muß, — der moralifche endlid, 
indem gezeigt wird, daß alles fittliche Handeln, ald dag allein un- 
bedingte und an ſich Werth habende, nur in der Beziehung auf ein 
Unbedingtes feinen Grund haben könne (IL ©. 340-347): — in⸗ 
dem biefe Beweisarten insgefammt feinen Schritt thun fönnen und 
Feine beweifende Kraft haben würden, ohne die Gül— 
tigfeit- der Kategorieen für das Unbedingte voraus— 
zuſetzen. 

Aber — fügt unſer Bert. Binzu, auf Kant's Nachweiſun⸗ 
gen fich berufend — „wie wenig fie Cdie eben angeführten 
Beweiſe) mit ſtrenger Nothwendigfeit geradezu bewei— 
fen, hat Kant dargethan” (S. 339). — Hierin fcheint fi 
bie erfte Veranlaffung jenes unwillführlichen Mißverfländniffes zu 
verratben. Kant hat. nirgends in feinen Kritifen jener Beweiſe 
fie auf den Gegenfaß der direkten oder indirekten (der „geradezu 
oder nicht geradezu beweifenden) zurädgeführt, und dieß iſt gar 
nicht der Moment der von ihm gegen fie geführten Widerlegung, 
daß er nur einen indirekten Beweis für Gottes Dafein zulaffen 
wollte, — denn auch diefer wäre doch immer ein, in feinen Grän⸗ 
zen, „mit ſtrenger Nothwendigfeit” geführter. Außerdem ift & 
auch in Wahrheit noch Niemandem eingefallen, wenigſtens philo⸗ 
fophifch, für. Gott einen andern Beiveis, als einen inbireften (im 
Sinne des Berf.) verfuchen zu wollen. Vielmehr läugnete Kant 
jede Möglichkeit einer (auch indirekten) Beweisart, und ‚mußte 
fie läugnen, weil er die fubjeftive, nur für Erfahrungsgegenftände 
gültige, kurz „endliche” Natur der Kategorieen behauptete, 

Hier ftelt fih demnach abermals die lebte unausweichliche 
Doppelentfcheidung dem Verf. vor Augen: entweder vollends Kan⸗ 
tianer zu werden, und zwar Kantianer nad) dem ausichließenden 
Maapftabe der Kritik der reinen Vernunft, womit der anderwei⸗ 
tige Inhalt der. Iogifchen Unterfuchungen unverträglid ift, ober 
aber von der Borftellung einer nur endlichen Wahrheit der Ka⸗ 





R 


Die philofopbifche Litteratur der Gegenwart. 81 


tegorieen abzuftehen, wo denn begreifliher Weiſe der lebte Theil 
feines Werkes und deſſen Refultate eine volftändige Umfchmelzung 
erleiden müßten. Ein Mittleres ift nicht möglich; überhaupt er» 
giebi fich Daraus das Urtheil, dag in den „Iogifchen Unterfuchun- 
gen”, dem Principe nad, und abgefehen von ben einzelnen 
trefflichen Ausführungen logiſchen und Eritifchen Inhalts, fein ent« 
fheidender Fortſchritt, weder über Kant, noch über Hegel hin- 
aus, begründet ift. Ihre eigentliche Bedeutung müſſen wir in 
ihren polemifchen Theilen erkennen. 

Hierin aber ift ohne Zweifel fein Berbienft ſehr hoch zu ftel= 
len; und ba die beabfichtigte Hauptwirkung feiner Polemik in feis 
nen beiden hier beiprochenen Werfen befonders gegen Hegel ges 
richtet ift, und da dieſe mit eben fo viel Ausdauer als Geſchick— 
lichkeit durchgeführt wird: fo kann es ihr gewiß nicht fehlen, zur 
völligen Ueberwindung jenes Syſtemes in’ feiner falſchen Webers 
fhätung beizutragen, während freilich die gebiegene Subftanz der 
Wahrheit, die auch in ihm vorhanden ift, dag Princip des abfo- 
Iuten Idealismus, fo wenig durch jene Kritif gelitten hat, daß es 
umgefehrt vielmehr, wie wir gezeigt zu haben glauben, einen nicht 
unwirkffamen Rüdichlag gegen die eigenen Anfichten biefer Kritik 
zu üben vermag. | 

Dieß führt ung zulegt noch darauf, die von Trendelen- 
burg gegen das methodifche Princip Hegel’s in feinen logiſchen 
Unterfuchungen ausführlich vorgetragenen und in feiner Streits 
fhrift erneuerten Gründe kurz zufammenzufaffen und die Gabler’: 
fchen und unfere etwaigen Vorbehalte ihnen gegenüber zu ftellen, 
nach dem von unferm Stanbpunfte aus über fie zu fällenden Urtheile: 

a) Hegel's dialektifche Methode ift unmöglich. Sie will ſchlecht⸗ 
bin Nichts vorausfegen, ald das reine Denken, feine Anfchauung, 
fein Bild, und aus reinem Denfen die Begriffe hervorgehen laſ— 
fen, welche zugleih die wahren Beftimmungen des Seins 
find, — die objektiven Gebanfen. Trendelenburg zeigt nun 
ausführlich, wie dem angeblich reinen Denfen dag unreine, bie 
empirifche Anfchauung der räumlichen Bewegung, bes Raumes 


und der Zeit in ſich tragende zu Grunde liege, und wie aus bies 
Zeitſchr. f. Philoſ. u. ſpek. Theol. XI. Band. 6 


N 


82 | Fichte, 


ſem Inhalte und Vorrathe von Bildern unabläſſig geſchöpft, und 
dieſer nur in abſtrakte Begriffe verwandelt werde, deren Anord⸗ 
nung und Einreihung unter einander nun die immanente Dialektik 
des ſich ſelbſt bewegenden Begriffes heiße, während doch dabei die 
ſubjektive Thätigkeit des Verſuchens und Ordnens, welches ſich 
auch in mannigfachen Aenderungen zeige, genugſam zu Tage komme. 
Eine ſolche bewußtloſe Benutzung der Erfahrung nennt der Verf. 
mit Recht „unkritiſch“. — Jene Nachweiſung von den ſtets in bie 
Hegelfhen Deduftionen ſich einfchwärzenden Anfchauungs =. und 
Borftellungselementen feheint ihm nun nach dem Urtheile des Ref. 
. ganz unwiberfprechlich gelungen zu fein; was felbft daraus erfe= 
ben werben fönnte, wenn es nit an ſich fchon Far genug vor 
Augen läge, daß Gabler in feiner Erwiederungsfchrift auf Das 
Einzelne jener Nachweifungen ſich nirgends einläßt, fondern ftatt 
deffen einen ganz andern Begriff von der Methode und dem rei- 
nen Denfen aufftellt, ald der urfprünglide Hegel’fche in der 
ſtreng feftgehaltenen Konjequenz des Syſtemes es fein Tonnte. 
Nach ihm ift unfer Denken, Philoſophiren, nur Nachdenfen bes 
urfprünglich von Gott Vorgedachten, es ift „ein zweites, zu 
feinem Urfprunge im Wiederdenken des fchon ewig Borges 
dachten zurüdfehrendes Denten”; wir haben zu dieſem 
Behufe ganz nur in Den Gegenftand, wie er in der Erfahrung 
gegeben ift, ihm nachdenfend, einzugehen, und eine abfolute Mes 
thode giebt es überall nicht; die Hegel’fche ift, wie jede andere, 
falfeh angewendet, dem Irrthum unterworfen, wie an ben Refuls 
taten der Neu⸗-Hegel'ſchen eremplifieirt wird. („Die Hegel’fche Phi: 
loſophie“ S. 123 ff. 154. 56.1414 f. Dazu Trendelenburg bie 
Iogifhe Frage S. 41 ff.) 

Nach biefen Erklärungen ift das eigentliche Objekt des Streits, 
ber abfolute, ebenſo ſehr real-ſchöpferiſche, als eben darum (in 
uns) rein zu denken vermögende Begriff aufgegeben: das menſch⸗ 
lihe Denken Tehrt nur zum ihm Vorgedachten zurüd. Gabler 
bat aufgehört, Hegelianer zu fein, oder vielmehr, da aus Allem 
“ hervorgeht, bag er des guten Glaubens lebt, Damit nichts Neues 
oder von feinen frühern Ueberzeugungen, Abweichendes zu fagen, 


Die philofophifche Litteratur der Gegenwart, 83 


er bat dann nie bie fcharfe Ausfchließlichkeit jenes Begriffes er- 
fannt, er ift nie Hegelianer gewefen in dem klaren und entfchie- 
denen Sinne, der von Hegel’s Logik, von feiner Encyflopädie 
der philofophifchen Wiffenfchaften aus, nicht bloß von feiner Phäs 
nomenologie allein, von jenem Syfteme gefaßt werden mußte. So 
allgemein ven Begriff des dinleftifchen Denkens und der Methode gg- 
faßt, als eines durch Erfahrung vermittelten „Nach denkens“ eines 
„Vorgedachten“, Tann Fein Zweifel fein, daß auch Trendelenburg 
wenig mehr dagegen wird einzuwenden haben, fo wie Weiße, 
Fiſcher, der Ref., kurz alle diejenigen, welche, die fpecielle Auffafe _ 
fung des Principe bei Hegel verwerfend, doch feinem allgemeinen 
Gedanken der nur in der Sache felbft zu findenden Objektivität 
der Methode beiftimmen, feinen Anftand nehmen werden, auch 
Gabler's Aeußerungen über diefen Punkt völlig beizutreten, und 
namentlich auch feiner Bemerkung vollen Beifall zu geben (S.155ff.): 
daß, wie nur Ein Sein, Ein Univerfum und Eine Vernunft, ebenfo 
auch nur Ein wahres und ‚wirkliches Denken im Univerfum vors 
handen fei, von welchem aud) das menfhliche Denfen nicht fo ab⸗ 
fallen könne, daß nicht jede individuelle Denfthätigfeit die urs 
fprünglichen göttlichen Gedanken, ebenfo wie fie an und für ſich 
find, denkend fi) anzueignen und damit in den Weltaccord des 
Einen und allgemeinen Denkens einzuftimmen vermöge, und, gleich⸗ 
wie der Menſch das Göttlihe wollen foll, ed auch müffe den— 
fen können: ebenfo, welche Zerreißung in das Innerſte des Men- 
hen einbrechen müffe, in religiöfen und fittlihen Dingen bis auf, 
die unmittelbaren. Entfcheidungen des praftiichen Lebens herab, 
wenn er fich nicht jagen könne, „baß er mit feinen vechten und 
wahren Gedanfen, wovon ihm fein Innerſtes Zeugniß- giebt, im 
unendlihen und univerfellen göttlichen Denkens wurzele und Got⸗ 
tes Uebereinftimmung mit denfelben habe”. Hiermit ift aber gerade 
die Identität des göttlihen und menſchlichen, d. h. der Begriff 
des im Menfchen fi) vollgichenden göttlichen Denkens, ebenfo der 
Identität der göttlichen und menschlichen Freiheit, alfo dag eigent- 
ih Hegel'ſche, fallen gelaffen. 

In der That, aufdiefem breiter gefaßten Gebiete des Idealismus, 

| = .6* 


84 " Fichte, 

auf welchem Hegel ſelbſt nur ſich begnügen muß einen Winkel einzu⸗ 
nehmen, wird ſich ein Friedensſchluß auch mit feinem gegenwaͤr⸗ 
tigen Gegner einleiten laffen; denn jene Säge find unbeftreitbar 
wahr und werben es bleiben, fo ange der Begriff der Vernunft 
-erfenntnig und das fpecifiihe Bewußtſein der ihr beimohnenden 
Evidenz noch nicht in der Philofophie erlofchen find. 

b) Da das Prineip der Dialeftif dag der Negation der Ne—⸗ 
gation, des Fortſchreitens in bialeftifchen Gegenfäken fein folle, fo 
wird gezeigt, daß dieſe logifchen Bezeichnungen, „Negation und 
Identität“, jenem Berfahren den Schein einer logiſchen That, 
und dem daraus Gewonnenen das Gepräge eines logiſchen 
Produftes aufprüden, während doch auch bier bemerkt wird, 
daß der Gegenfag -in Wahrheit nicht auf rein logiſchem Wege, 
fondern aus der Anfchauung gewonnen werde, „welde die unbe⸗ 
fimmte Weife der Logifchen Verneinung in eine pofitive Geftalt | 
willkührlich verdichtet und darin feſthält“. Ebenſo fei die Iden 
tität der Gegenſätze Feine Ichendige Durchdringung und reale Ein- 
heit derfelben, fondern nur eine durch Abftumpfung der Gegen 
fäße gewonnene Identitaͤt, wo es bloß auf Behauptung und 
Berfiherung beruhe, daß die Gegenfäße darin zum realen Jr 
einander geworden. feien (die log. Frage ©. 14— 146. 45, 46). 
Hier wäre nun eigentlich, um weder Hegel, noch feinem fehark 
"finnigen Kritifer Unrecht zu thun, auf jeden einzelnen Verſuch— ber 
bialeftifchen Gegenfegung und Vermittlung bei Hegel einzugeben, 
was dieſes Orts nicht fein Fann, zum Theil auch vom Ref. unab- 
bängig von dieſen Beziehungen in feiner „Charakteriſtik der neuern 
Philoſophie“ gefchehen if. Wie dem jedoch auch fei, und wenn 
von Hegel au in fpecieller Ausführung Feine einzige Gegen 
fegung und Feine Vermittlung richtig getroffen wäre: fo würde 
dennoch damit der große und fruchtbare allgemeine Gebanfe: daß 
jeder Gegenſatz im Realen, wie im Denfen, dialektiſch fei, d. h. 
niemals als das Legte betrachtet werben könne, fondern irgendwo 
feine Einheit und Verſöhnung haben oder fünftig erhalten müſſe, 
nicht umgeftoßen fein. 

c) Wenn der Begriff eines reinen, aus ſich ſelbſt Ichöpfenden 


Die philofophifche Litteratur der Gegenwart. 85 


Denkens widerlegt wird, fo ift auch, zeigt Trendelenburg, der 
zweite Anſpruch der Syftemes, feine einzelnen Theile und Ab- 
fchnitte, den ganzen realen Inhalt aus reinem Denfen zu fchöpfen, 
ebenfo unmöglich und widerfprechend. Aber auch die kritiſche Nach⸗ 
weifung im Einzelnen zeigt, daß jener immanente Zufammenhang 
des Ganzen nur Schein, nur Fühne Verſicherung ſei. Ueberall 
zeigt fich vielmehr, daß die Erfahrung das Leitende gewefen, und 
befonders bei den Lebergängen der Kategorieen bes Mechanismus, 
Chemismus, des Lebens u, f. w. die immanente Dialeftif Nichte 
fei, als ein Rüdüberfegen allgemeiner Erfahrungen in die Form, 
noch öfter in den bloßen Ausdruck eines vermeintlich aprioriſchen 
Begriffes. — Ref. hat dem Verf. ſchon zugegeben, daß er in die— 
fer Detailpolemik mit unftreitigem Erfolge verfahren und das Un- 
richtige, Mißverftändliche jener ganzen Prätenfion aufgededt hat. 
Auch darf Ref. im eigenen Namen binzufegen, daß feiner Ueber- 
zeugung nad von der Hegel’fhen Sliederung der Realphilofophie, 
ganz beſonders in feiner Philofophie des Geiftes, die allgemein- 
ſten Sefihtöpunften abgerechnet, Faum Etwas als probehaltig und 
für die Dauer gegründet fich erweifen wird. Die große That 
Hegel’s ift ihm auch hier nur der kühne Verſuch, das Syftem 
der gefammten Philofophie eben friich entworfen zu haben auf 
der Baſis des entfcheidenden Gedanfens,-dDaß es das Spftem der 
Dinge, ihren iniern Zufammenhang und ihre objektive Stufen- 
folge nur wiederfpiegeln folle in getreuem Abbilde. 
Die Tiefe und Wahrheit diefes Grundariomes, fogar wenn es 
bei Hegel felbft noch nicht frei von der Zumifchung verhängnif- 
voller Irrthümer aufgetreten wäre, verföhnen dennoch mit den 
einzelnen Berftößen und Subjeftivitäten eines mangelhaften Erfen- 
nens, welche 'auch noch lange, vielleicht noch Jahrhunderte Yang, 
feinen Nachfolgern flörend und irrend zur Seite bleiben werben, 
indem es bier zuerft noch auf° bie Bewältigung eines ungebeuern 
empirischen Stoffes anfommt, 

d) Die dialektiſche Geneſis dee Begriffes follte nach der Ans 
forderung des Hegel'ſchen Syftemes nur die reale Genefig der 
Sache ſelbſt denkend reproduciren, der Begriff der Sache ſich felbft 


86 Fichte, 

denken. Dennoch zeigt Trendelenburg nicht nur, wie übel dieſer 
Parallelismus bei Behandlung der einzelnen Begriffsgebiete aus— 
geführt fei, fondern wie Hegel gar nicht felten und mit deutlichem 
Geftändniffe, daß es gejchehe, von dieſer Maxime abweiche, ohne 
daß er damit fein ganzes Princip verlegt oder aufgegeben zu haben 
meine (©. 26). . 

Auf diefe und einige andere, minder wichtige Fritifche Nach— 
weifungen bin hält fih nun der Verf. für berechtigt, die Frage: 
„Iſt Heg el's dialektifche Methode des reinen Denken ein willen | 
ſchaftliches Verfahren?“ mit einem „reinen runden Nein’ zu 
erledigen (S. 26): — und wir trefen ihm bei unter ber im Bis— 
herigen fchon hinreichend motivirten Einfchränfung, daß er diejenige 
Methode meint, welhe reines Denfen zu fein ſich einbildet, und 
dasjenige Syftem, welches Produft dieſes reinen, ſchlechthin Nichte 
vorausfegenden, jeden Inhalt aus ſich ſpinnen wollenden Denkens 
zu fein behauptet. 

So lägßt fi der Streit zwilhen Trendelenburg und 
Gabler auf die zwei Punkte einer vielleicht möglichen Vereini⸗ 
gung zurüdführen: | 

4) Recht hat der Erftere, wenn er behauptet, die Methode 
bes reinen, zugleich auf pantheiftiihen Grundvorausfeßungen be: 
ruhenden Denkens widerlegt zu haben: — aber nicht auf „direktem 
Wege,” durch das Anerfennen einer begrängten relativen Wahrheit 
in ihr und Aufnahme dieſes Elementes in einen höhern Begriff 
ift dieß gefchehen, fondern durch „indirekten Beweis:“ es ergeben 
fih aus ihrer Vorausfegung falfche Nefultate, ungereimte Fols 
gerungen; fie wird ganz verworfen. Die Gabler'ſche Apologie 
ift in dieſer Hinficht ala mißlungen zu betradyten, weil fie in Wahr: 
heit einen ganz andern Begriff der Methode vertheidigt, als bie 
des Hegel'ſchen Syſtems ift, weil fie alfo eigentlich ex non con- 
cessis gegen Zrendelenburg bieputirt. Und wenn er diefem 
yorwirft („die Hegel'ſche Phi.” ©. 143. 114), er babe feinen 
Angriff gar nicht gegen das Herz der Hegel’fhen Philoſophie - ge- 
richtet, fondern vorbeigefchoffen; fo ift vielmehr zu fagen, daß 
er gerade ihr Herz, ihr Eigenthümliches getroffen. Leben bat er 


— 


Die philoſophiſche Literatur der Gegenwart. 87 


nur laſſen müflen, was aud in ihre das allgemeine Princip des 
Idealismus ift, welcher aus der anbredyenden Verweſung feiner 
Geftalt bei Hegel nur um fo frifcher wieder aufblühen kann. 

2) Recht hat Gabler daher gegen den Andern, wenn er 
behauptet, daß wider die Allgemeinheit jenes Princips, wie er 
es allein anerkennt und. vertheidigt, die Einwendungen Trende— 
lenburg's um fo weniger verfangen, als ſich in den gegemwär- 
tigen Verhandlungen deutlich genug gezeigt hat, wie feine eigenen 
Anfichten nur diefelben Prämiffen zur Grundvorausfegung haben. 
Wenn Gabler daher nicht fowohl das Hegel'ſche Syſtem, fondern 
Sich oder den Grundgedanken des Idealismus gegen Trende— 
lenburg vertheidigt, fo darf ihm indeß dabei nicht entgehen, wie 
ihm das Recht jener Bertaufchung nur daraus erwachjen könne, 
fofern er felber mit einer wiffenfchaftlihen Darftellung dieſes fei- 
nes (Nicht- Hegelfchen) Idealismus hevoorgetreten if. Dann 
wird auch fein Wort ein ganz anderes Gewicht erhalten, als es 
bei feiner unentſchiedenen Stellung zwifhen Vergangenheit und 
Zufunft der Philofophie der Natur der Sache nad) gegenwärtig 
haben kann. 

3) Bei diefen Verhandlungen ift aber zugleich noch dag All- 
gemeinere an den Tag gefommen, daß Hegel's Syftem in feiner 
Urfprünglichfeit auch bei feinen eigentlichften Anhängern geftürzt, 
daß auch bier Alles in Befehrung und Umwandlung begriffen if. 
Das Charafteriftiiche und Kühne feiner erften Geftalt ift fchon fo 
nivellivt und abgeftumpft, kurz fo hiftorifch geworben, daß es in 
biefer Geftalt eigentlih Niemand feiner Jünger mehr vertreten 
will, und an beffen Stelle ift das ungewiffe Dunftgebilde einer 
Lehre getreten, bie objektiv eigentlich nirgends exiftirt, deren Säge 
in feinem Buche niedergelegt find, — denn die Anhänger Hegel’e 
find fehr weit davon entfernt, im Sinne etwa von Hegel’s. 
Encyklopädie der philofophifhen Wiffenfchaften im Einzelnen oder 
im Ganzen übereinzuftiimmen, — die aber auch ebenfo wenig in der 
Perſon irgend eines Schülers ihren ausfchließenden Vertreter findet, — 
denn Fein Einziger berfelben erkennt irgend einen Andern ald einen 
folgen an, — noch auch in der Gefammtheit ihrer Anhänger ves 


#- 


88 Fichte, 
präfentirt fein kann, weil biefe den unverföhnbarften Widerftreit . 
der Anfichten und Richtungen in fich zeigen. Und doc foll dieß 
nichtige Phantom, dieß systeme introuvable dazu dienen, eben 
fowohl den Gegnern die Unwiberlegbarfeit Hegel’S vorzufpiegeln, 
— dieſen hat vielmehr, fo wie er urfprünglich ift, der eigene Er- 
folg innerhalb feiner Schule ſchon faktiſch widerlegt, — als bie 
Anhänger mit der Hoffnung eines etwa — Fünftigen Einverftand 
niſſes hinzuhalten! 

Beſſer und aufrichtiger iſt, ſich zu geſtehen, daß eine Hegel'⸗ 
ſche Schule jetzt gar nicht mehr vorhanden iſt, und wenn 
wir dieſen Urtheilsſpruch der Verneinung hiermit über fie aus- 
fprechen, gefchieht nur im Worte oder Begriffe, was fie Der That 


ſache und That nach an fi auf das Vollftändigfte vollzogen hat, 


Denn was hätten etwa Männer, wie Göſchel und Strauß oder 
Feuerbach, ja felbft wie Gabler und Michelet, irgend’ Ges 
meinfames in ihrer Weltanficht und Rebensauffaffung? Wo wäre 
eine Differenz diametral entgegengefeßter Tehren in der ganzen 
Geſchichte der Philoſophie größer, als die bier vorliegende. Und 
wie ift es möglich, aus irgend einem Gefidhtspunfte oder Nöthis 
gungsgrunde her folche widerftrebenden Refultate in die gemeins 
fame Einheit eines Syſtemes oder eines Princips zuſammenzu⸗ 
preffen? Dennoch hat man ſich nicht gefcheut, gerade darin bad 
Unwiderlegbare und Unerfchütterliche Der Hegel’fchen Lehre zu 
verfünden, daß fie unter ihren Anhängern in ſolche Selbftwiber- 
ſprüche ausgelaufen fei! Eine willführlichere und finnlofereBehauptung 
ift wohl nie ausgefprochen worden, als diefe von der Verzweiflung 
einer finfenden Autorität eingegebene. 

Den einleuchtendften Beleg für alle dieſe Angaben Bilde 
Gabler's apologetifhe Schrift. Wir fprechen nicht mehr davon, 
dag das Princip, welches er darin vertheidigt, nicht dag Hegel; 
ſche, fondern, wie wir zeigten, das unfrige iſt, daß er aus unferm 
Gegner ein Bundesgenoffe geworben. Wir haben ſchon Yängft 
behauptet, daß jened Princip die eigentlich bleibende Wahrheit 


‚der Hegel’fchen Lehre enthalte, und daß ihr von hier aus ihre 


nächfte Umgeftaltung bevorftehe. An diefer fheint nun Gabler 


Die philoſophiſche Titteratur dev Gegenwart, 89 


ſammt ben tüchtigften Gliedern feiner Schule mitarbeiten zu wollen, 
bei welchen Werfe wir fie nur willfommen heißen fünnen! Aber 
ebenfo find die Gegner, welde wir befämpfen, auch bie feinigen. 
Das Unwefen des „freien Denfens,” das Einem auch fonft nod) 
bier und da aufftößt, und deſſen Freiheit Tediglidy in der Frechheit 
befteht, ein abweichendes Denfen ber Unfreiheit zu verbächtigen, 
weift. der Verf. mit Ernft zurecht; und wie follte ihn eine wei- 
tere wiffenfehaftliche Ausführung feines vorläufigen „wiſſenſchaft- 
lichen Glaubensbekenntniſſes“ nicht immer mehr von der Möglic)- 
feit entfernen, mit den ftationär gebliebenen Schülern diefelbe 
Sahne zu tragen? Aber aud bei feinem gegenwärtigen, gründlid) 
und auf felbfiftändigem Wege die Wiffenfchaft fördernden Gegner 
ift er fih fehr wohl ihrer im Grunde liegenden Gemeinfamfeit 
bewußt; fo daß hier bei weiterer Ausbildung von jener und diefer 
Seite eine wechfelfeitige Annäherung zwifchen beiden Denfern zu 
erwarten ift, während ihn Dort durch die weitere Ausbildung 
nur eine immer tiefere Kluft von feinen bisherigen Genoffen tren- 
nen Tann, 

Es ift immer gut, befonders in der Wilfenfchaft, Illuſionen 
und falfche Bündniffe aufzuheben: dieß hauptſächlich vermochte ung 
zur ungefärbten Darlegung der gegenwärtigen Sachlage, deren 
Wahrheit fein Unbefangener in Abrede ftellen Fonn. Indem aber 
bie Täufchung einer noch eriftirenden Hegel’fiyen Schule verſchwin⸗ 
det, welche ihre Mitglieder durch ein gemeinfames Band von 
Ueberzeugungen verknüpfte, oder ihnen eine folidarifche Gemeinfchaft 
gewiffer Säge auferlegte, Tann nur zum Bortheile des Achten Denkens 
ein weit freieres Berhältnig in die Wilfenfchaft zurüdfehren. Was 
Jeder erringt ober verfehlt, er thut es auf eigene Gefahr, aber 
auch für eigenen Erwerb, der dennoch Allen gemeinfam werden 
Tann, indem man darin num nicht mehr bloß den Sieg oder dic 
Niederlage irgend einer Schule erblidt, Jeder ftreitet nun ebenfo 
ſehr für fi, wie für eine allgemeine Sade, und jeder wahre 
Fortſchritt kann weit leichter ein wahrhaft allgemeiner werben,. 
weil er nicht mehr abpralit an den Schranfen und Unterfcheidungen, 
welche Die Parteien um fi) gezogen haben. Und wie viel über: 


90 - Fichte, 
flüſſige Gehäffigfeiten von der Einen, wie manche täufchende Autori- 
tät fcheinbarer Verbrüderungen von der andern Seite werden 
fhwinden, wenn man endlid das Wort fid) ausfpricdht, Daß es 
feine Schule mehr giebt, und daß es auch Fünftighin weder nöthig 
noch möglich fein wird, eine foldhe zu gründen! 


Die beiden in der Titelanzeige biefes Aufſatzes unter Nr. 3 
und 4 angeführten Werke von Alexis Schmidt und C. J. Glaſer 
reiben ſich infofern bier an, indem auch fie die hier befprodyene 
Trage behandeln und dabei polemifd) gegen Trendelenburg fid 
vernehmen laſſen. Doch wird von ihnen nur kürzer zu reden fein. 
Sie find, fo wie das dritte Werk: „Conſt. Frank, Grundzüge 
des wahren und wirklichen abfolnten Idealismus, aus dem in 
Berlin jegt, wie es fcheint, zahlreich auffprießenden Nachwuchſe 
iunger Philofophen hervorgegangen, weldhe zwar von Hegel’s 
Geifte Tebhaft angeregt, aber yon feinem Syſteme in feinem Betradit 
mehr befriedigt, fi auf eigenen Bahnen verfuchen wollen, indem 
die ältern Schüler und Repräfentanten der Hegel’ichen Pbhilofophie 
vollends Teinen Einflug mehr auf fie haben. Daß fie dennoch 
gegen Schelling, jeßt auch gegen Zrendelenburg, den ge: 
meinfchaftlihen Chor einer Iebhaften Oppofition bilden, ift wohl 
nach dem, wie fie deren Lehren einmal aufgefaßt haben, nicht für 
fo ganz zufällig zu achten. In beiden erfcheint ihnen, nur in ver: 
fchiebenem Gebiete, eine Art von Empirismug, dort, indem hiſtoriſch 
veraltete Dogmen theoſophiſch⸗ myftiich ausgebeutet werben, und 
Gott nicht nur ald das allgemeine Weſen ‚ fondern auch als ein 
in gewiffem Sinne ber Erfahrung ſich unterwerfendes gefaßt werde: 
bier, weil ganz im Gegentheil die Anfprüce auf eine objektive 
Erkenntniß Gottes fallen gelaffen, jedes abfolute Wiffen verneint 
und bie Pbhilofopbie auf den Bereich erfahrungsmäßiger Erkennt 
niß eingeichränft werben fol. Gegen beide Seiten wollen fie 
nun das Recht des freien Denkens und die Anforderungen bed 
abfoluten Wiffend noch ferner vertreten, — wogegen an fid 
fürwahr Nichts zu erinnern wäre, wenn ſich die Größe ihrer Bor: 








Die philofophiiche Litteratur der Gegenwart. 9 


füge mit dem Umfange ihrer eigenen Ideen und Leiftungen nicht in 
einigem Mißverhältniffe befände. Glaſer befennt ſich übrigens 
in feiner gegenwärtigen Schrift als den Berfaffer der im vorigen 
Jahre erfchienenen „Differenz der Schelling’fhen und He— 
gel’fhen Philofophie,” — welche dem Ref. zufällig nicht zu 
Gefichte gekommen, — und ftellt ſich fo gleichfalls in Die Reihe der 
zahlreichen Gegner Schelling’s. 

Indeß müfjen wir diefe ganze Seite der Polemik hier uner= 
wähnt laſſen, indem unfers Erachtens, fo lange dag Schelling’- 
ſche Syftem noch nicht öffentlich und auf authentifhe Weife von 
feinem Urheber befannt gemacht worden ift, ed weder einer eigent- 
lichen Kritif, noch weniger polemifchen Angriffen unterworfen wer: 
den darf, und, da bier jede fefte Grundlage mangelt, diefe Kritif 
nicht wieder eine Recenfur erfahren Tann. Ueberhaupt müffen 
wir die aus befannten und unbefannten Sedern zahlreich jest her: 
vorgehenden Gompilationen aus Schelling's ungedrudten Borle- 
fungen gegen Schelling für einen bedenklichen Flecken unferer ge- 
genwärtigen Titteratur erflären. Man hat fehon oft über die Sitten- 
Iofigfeit unferer wiffenfchaftlihen Polemik ſich beklagt: in dieſem 
Salle ſcheint fie von -Unfittlichfeit nicht weit entfernt. Bisher zog 
es immer allgemeine Mißbilligung nad) fih, es wurde für wenig 
beffer ale für Nahpdrud gehalten, wenn man wider den Willen 
ihrer Urheber Collegienhefte derfelben abdruden ließ: aber e8 ge= 
ſchah doch in der Abficht, wenigftens unter dem Vorwande, um 
diefe Urheber zu ehren und die Belehrung, welche man felbft aus 
ihren Mittheilungen gefchöpft hatte, audy auf Andere zu verbreiten, 
Aus entgegengefeßtem Grunde gefchieht es bier: man läßt Sch el- 
ling’s Collegienhefte druden, oder theilt Öffentlich die Hauptfäge 
und auffallendftien Aeußerungen feiner Borträge mit, nicht nur 
um fein neues Syftem fchon vor der Geburt in der üffentlichen 
Meinung unmöglid zu machen, fondern um Schelling’g lit— 
terarifchen Charakter zu vernichten, felbft feine Moralität anzugreifen, 
Und zwei Veteranen der Theologie, die man. fonft nur in den ents 
gegengefegten Reihen zu fehen gewohnt war, wetteifern bei die— 
fem Gefchäfte! Was jene unberechtigien Bekanntmachungen in 


92 Fichte,— 

der That allein vor gerichtlicher Ahnung ſchützt, daß die Heraus— 
geber fie mit eigenen Zufägen verbrämt haben, macht gerade das 
Inhumane und Unfittliche derfelben aus, indem fie- die vielleicht 
unwillführlicden Wendungen einer Privatvorlefung zu litterariſchen 
ftempeln und ihnen dabei die gebäffigften Bemerkungen anfügen. 
Da bisher noch Feine öffentliche Stimme der Mißbilligung dem 
ef. zu Geficht gekommen iftz fo hält er es, fo weit an ihm iſt, 
für feine Pflicht, jenen Werfen zum öffentlichen Zeugniffe ben 
* Stempel aufzubrüden, welder ihnen zufommt. Saft als einzige 
Ausnahme davon find Roſenkranz Borlefungen über Sch elling’s 
Philoſophie zu bezeichnen; diefer folgt in feiner Kritif nur gedrudten, 


allen zugänglichen Quellen, und auch fonft ift fie maßhaltend, rein 


ber Sache zugewendet, wiewohl fireng und vielleicht nicht überal 
parteilog; dennoch wird fie eben wegen jener Eigenfchaften, und 
weil fie mande weniger bekannten Seiten aus Schelling’s 
Schriften an’s Licht zieht, faſt allein eines überzeugenden Eindrucks 
nicht verfehlen. 

Um indeß noch ein allgemeineres Wort zu ſagen, ſcheint uns 
das Urtheil über Schellings Sache durch Alles dergleichen noch 


nicht entſchieden. Bis jetzt hat ſie, das Schlimmſte, was einer 


Philoſophie begegnen kann, nur den Parteien dienen müſſen, um 
ihren entgegengeſetzten äußerlichen Abſichten gegen einander Anhalt 
und günſtigen Schein zu verſchaffen. Auch mag Schelling ſelbſt 
nicht außer Schuld ſein an der falſchen Stellung, in welche er 
hineingebracht worden. Offenbar iſt er durch langes Abgewendet⸗ 
ſein vom öffentlichen Leben der deutſchen Philoſophie desorientirt 
über ihre eigentlichen nächſten Aufgaben und wiſſenſchaftlichen An⸗ 
forderungen geblieben und bat fo mit unzureichenden Mitteln ei- 
gener Wilfenfchaft und mit unzulänglicher polemifcher Ausrüftung 
eine ylögliche Revolution in der gefammten Philoſophie durch 
fein Wiederhervortreten hervorzubringen geglaubt, die er nun, wes 
nigftend der äußern That nad, als mißlungen fi) wird befennen 
müffen. Wenn er dagegen anfprudhlos auf äußern Erfolg und 
rein fachlich fich verhaltend mit feiner Anficht hervorgetreten wäre, 
bie freilich, um auch nur formell auf Empfänglichfeit vechnen zu 


Die philofophifche Litteratur der Gegenwart. 95 


können, ein Vergeſſen faft aller gewohnten Anforderungen an wiffens 
ſchaftlichen Gehalt und foftematifche Form einer Ppilofophie in Ans 
ſpruch nimmt, jo möchte er für feine Anſicht im Kreife der philofophis 
ſchen Beurtheiler wenigfteng Unbefangenheit ſich erhalten haben. Hat 
fich Dagegen der Dunft des Zufälligen wieder verzogen, der von ihm 
felber, wie von feinen Gegnern um fein Unternehmen ausgegoffen wor⸗ 
den ift: fo beginnt erft feine wiffenfchaftliche Wirkung, welche unferes 
Erachtens, wie fehr wir ung bier auch eines motivirteren Urtheile 
enthalten müfjen, aaf jeden Fall eine, fehr bedeutungsvolle und 
tief aufregende fein wird. Die pofitive Philofophie bringt ein Eles 
ment in unfere fpefulative Bildung, was ung gerade fehlt: fie 
läßt fih wirfih auf den Verfuh ein, das Weltproblem in 
feiner Eigentlichfeit und unverfürzten Paradoxie zu erklären; 
fie fucht dabei fo viel aus einander liegende und von ber bishe- 
Philoſophie zur Seite gelaffene ragen unter Einen Geſichtspunkt 
biefer Erflärung zu bringen, fie bewährt dabei zugleich wieder den 
fharfen Sinn ihres Urhebers für die Eigenthümlichfeit und Be⸗ 
fiimmtheit der Welterfcheinungenz fie zeigt auch das Bekannte, 
das im Urtheile und der Behandlung längft Feſtgewordene unter 
jo neuen Gefihtspunften, daß fie recht eigentlich wie ein anregen- 
des Ferment zu wirfen berufen ſcheint. Allerdings war auch He= 
gel, fofern wir ihn als phitofophifchen Genius betrachten, mit 
jener Gabe des Herausfindend des Eigenthümlichen in jeder Welt- 
erfcheinung in feltenem Maaße ausgeftattet, und nur Parteimiß- 
gunft kann feine großen Blicke faft in jedem Gebiete der Reals 
philofopbie . verfennenz; dennoch — wir bürfen und auf unfere 
Nachweiſe in der Kritik feines Syſtemes berufen, — wenn es 
darauf ankommt, die Tiefe und Größe mander geiftigen Weltthat- 
fachen aus feinem Principe zu erklären, fo zeigt fih die Ohnmacht 
dazu, Das unbewegliche und todte Einerlei deffelben in den immer 
wiederkehrenden nur abſtrakt metaphyſiſchen Beftimmungen; es ſchei⸗ 
tert an ber Aufgabe oder vergeht ſich an dem Charakter derfelben, 
während Schelling’3 Vorgang eine objektivere, und darum freiere 
Behandlung diefer Gegenftände in die Philofophie hineinbringen wür⸗ 
de. Zugleich ift nicht außer Acht zu Iaflen, Daß das Erfenntnißprineip 


94 Fichte, 

der pofitiven Philoſophie auch in Bezug auf die Offenbarungs- 
lehren nur dadurch eigentlich wirkſam widerlegt werden Tann, bag 
man ein neued an deſſen Stelle fegtz denn alle bisherigen haben 
fih an einander aufgezehrt: die mythiſche Erklärungsweiſe hat fid 
bereits in einer determinirteren negativen Auffaffung verloren, des 
ven Unhaltbarfeit jegt wieder zu einer befonnenern, ruhigern und 
maaßhaltendern Kritik zurüdzuführen fcheint, und fo ift auch in 
diefer Hinficht der Moment eines Interregnums eingetreten: man 
ruht aus zur größern und tiefern Auffafjung auch diefer Fragen. — 

Die Schrift von A. Schmidt „Beleuchtung der neuen Schel 
Iingfchen Lehre von Seiten der Philofophie und Theologie” if 
nicht ohne Syntereffe, fowohl was das eigene Streben des Berf. 
betrifft, um den Grundfehler der bisherigen Philofophie zu verbeffern, 
den er ausgefunden zu haben glaubt, als in Betreff der Polemik, 
‚welche er von hier aus gegen bie ganze neuere, feit der Natur 
philofophie aufgetretene, namentlih auch die Hegelfche Spefu- 
lation richtet; die.neueften Lehren Schellings dienen ihm nur 
dazu, die Außerfte Konfequenz und legte Höhe diefer Richtung zu’ 
ebarakterifiren. 

Jenen Grundfehler der gegenwärtigen Philofophie bezeichnet 
der Verf. dahin, daß fie in der „analytifhen Weiſe“ befan- 
gen fei, welche, indem fie das durch Philofophie zu Vermittelnde 
geradezu als ein Entgegengefegtes behauptet, Diefem Entgegengeſetz⸗ 
ten nun eine Einheit in irgend einer Weife der Auffaffung voraus- 
fegen muß, wodurch alle methodiihe Bewegung nur darin befans 
gen bleibt, die Aufweifung eines und deſſelben Identiſchen, einer 
und berfelben Subftanz in allen entgegengefeßten Weifen des Da- 
feind zu vollziehen. Das Specifiihe, der Unterſchied wird fo in 
Wahrheit ausgelöfcht, indem er ald an ſich nur das Spentifche 
begriffen werben fol, Es fommt vielmehr darauf an, fagt ber 
Verf., ein Princip der Sperififation zu finden; denn nicht im Aus⸗ 
löſchen des fpecififchen Dafeing, fondern in der harmonifchen De: 
ziehung bdeflelben zu dem abfoluten Zwede des Ganzen: beftebt 
die Harmonie des Univerſums. So will nun aud der Menſch 
in feinem fpecififchen Prinsipe ergriffen fein: es ift dieß, wie. bie 


Die philofophifche Litteratur der Gegenwart. 95 


Schrift weiter ausführt, Das der Freiheit, welche nicht nur (pans 
theiftifch) Moment des Abfoluten, noch eine nur höhere Potenz 
der Natur ift, fondern autonomifh aus dem eigenen fpecifiichen 
Weſen des Menfchen ſtammt. Nur fo können wir feine Thaten, 
feine Sittlichfeit, feine Religion richtig beurtbeilen. Wird aber 
Sein und Denfen, Bedingtes und Unbedingteg, Freiheit und Noth⸗ 
wenbigfeit für an fi Eines gehalten, oder ift nur der Proceß 
biefer Entgegengefegten das Wahre, fo ift weder Gott erkannt, 
noch der Menſch in feinem fpecififchen Prineip, noch irgend ein 
Dafeiendes in feiner eigenthümlichen Natur und in feiner wahren 
Stellung im Ganzen. 

Hier ſucht nun der Berf. im kritiſchen Verfolge feiner Schrift 
weiter zu zeigen, wie die legten philofophifchen Syfteme beſonders 
dadurch in jenen Fehler verfallen feien, daß fie die Freiheit und 
alles aus ber Freiheit Hervorgehende nach denſelben Prineipien 
behandelt haben, mit denen fie das natürliche Dafein betrachteten, 
und daß fie fo dem Praktifchen nur eine theoretifche Schägung 
haben zu Theil werden laſſen. Alle Widerfprüce, in welche fid) 
jene Philofophieen mit dem Leben und mit den böchften Intereſſen 
der Menfchheit verwidelt haben, laſſen fich nach des Verf. Mei- 
nung auf den bezeichneten allgemeinen Irrthum zurüdführen. 

In der Borrede befennt der Berf., daß er den Orundfehler der bis⸗ 
herigen philofophifchen Principien auch an manchem andern jegt gel- 
tenden Syfteme hätte entwideln können; er habe aber dag Schel⸗ 
lingfche vorgezogen, theilg weil fih an ihm bie Mängel jenes ganzen 
Berfahrens am Deutlichften aufzeigen laſſen, „theils weil Das Syſtem 
in feinem zweiten Auftreten ein um fo mehr verführerifches Aeußere 
fich gegeben hat, je mehr ed die wejentlichen Intereſſen der Menſch⸗ 
heit in Schuß zu nehmen verſpricht“ (S. VID. — Zugleich) tft zu 
bemerfen, daß der Berf., was befonders am Schluffe feiner Schrift 
beroortritt, nicht ſowohl aus einem etwa von ihm aufzuftellenden 
neuen fpefulativen Principe gegen bie bisherige Philofophie Dies 
putirt, als vielmehr aus dem der Theologie, oder noch beftimmter, 
aus dem lebendigen Grunde, den auch die Theologie haben müfle, 
ang dem Glauben an bie in Chriſtus Perfon gewordene und fo 


96 Fichte, 


ihre unmittelbare Wirkfamfeit bethätigende, befreiende Kraft bes 
Geiſtes Gottes (S. 334 ff. Pol. Vorrede ©. XII f.). 

So fehr wir nun auch ganz annehmliche Gründe finden könn⸗ 
ten, um jene Befchuldigungen gegen die neuere, felbft „Schel- 
lingſche und Hegelfche Philofophie”, in folcher Allgemeinheit 
ausgedrüdt, für nicht durchaus zutreffend zu bezeichnen; — wir 
fönnten nur, ftatt aller Anderer, an Steffens erinnern, befien 
Grundgedanke, in allem Dafein ein Ureigenthümliches, Gottbeftä- 
tigtes, zu fehen, das zugleich der Mittelpunkt feiner Selbftftändig 
feit und ein Maaß feiner Freiheit ift, Doch ſicherlich aus der Fort 
bilbung einer Seite der Naturphilofophie hervorgegangen iſt: — 
fo fehr wir ferner wiffen, daß die Anhänger des Hegelſchen 
Syſtems, während fie obige Aeußerungen des Verf. gegen Schel⸗ 
lings neuefte Lehren utiliter acceptiren werben, biefem gegenüber 
vielleicht nicht ohne einigen Anfchein geltend machen möchten, wie 
fehr Hegel das Princip des Unterſchieds und in Betreff dee 
Menſchen das der Freiheit zu feinem „Rechte gebracht habe: fo 
find wir doch geneigt, der tiefern und eigentlichen Wahrheit 
nach den Anftand des Verfaſſers für einen berechtigten zu erfens 
nen gegen beide Philofophieen, fo viel ein Urtheil aus noch un 
vollftändigen, wiewohl in mandyer Beziehung übereinftimmenden 
"Angaben über erfteres Spftem gefchöpft werden kann. Selbft in 
ber fpätern, aus den eignen Schriften ihres Urhebers zu entneh⸗ 
menden Geftalt deffelben feheint noch immer der Kampf zwiſchen 
den Borftellungen eines felbftfchöpferifchen Naturproceſſes im Abs 
foluten, eines blindwirfenden Grundes, und dem Begriffe eined 
uranfänglich geiftigen, freien Wirkens nicht ausgeglichen. Das 
neue Princip des Willens, fo fehr wir darin den Begriff eines 
Specificirenden, jedes Weltvafein zum eigenthümlichen Stempeln 


den anerkennen, ift doch noch immer felbft in Gott als ein natur 


wüchfiges, unwillführliches gefaßt, über welches der Verſtand erſt 
aufgeht: — eine im Begriffe Gottes widerfprechende, das Welt: 
problem nicht wahrhaft Iöfende Beſtimmung. In Weiteres bürfen 
wir vorerft nicht eingehen. 

Ebenſo ift vonder andern Seite bei Hegel nur der abftrafic 


Die philofophifche Literatur der Gegenwart. 97 


Begriff der abfoluten Idee, bes Denkens, als des Allgemeinen 
und Freien, erreicht: fo Fommt es zwar zur Freiheit, als einem 
ebenfo Allgemeinen oder abfiraft Geiftigen und jener Begriff des 
Natürlichen, des Naturdafeins in jeder Art, als Beftimmung für 
das Abfolute ift überwunden; nicht aber kommt es zum Begriffe 
bes perſönlich Freien, weder im Abfoluten, welches nur Freiheit, 
jene unendlicy ſich über die Natur erhebende Idee in Einzelgeiftern 
ft, noch in den individuellen Geiftern felbft, indem bie Freiheit 
nicht ihr Präbdifat oder ihr Vermögen, fondern lediglich jener uns 
enbliche Proceß der Idee felber in ihnen iſt. 

Aus diefem Orunde trete ich dem Urtheile des Verf. bei, daß 
fih, fo lange jene Philoſophieen auf dem bezeichneten Standpunkte 
bleiben, auf ihrer Bafis nicht der Begriff eines chriſtlichen Gottes 
und der eigentlich chriftlich ethifchen Beftimmungen mit Sicherheit 
erheben Fönne, fie müffen in ihrer Eigentlichfeit anderweitig bazu 
fupplirt werden; aber ic) füge hinzu, daß aud dad allgemeine 
wiſſenſchaftliche Intereffe durch fie nicht befriedigt wird, daß es 
ber Widerlegung unterworfene, weiter zu führende philofophifche 
Standpunfte find. Jenes Alles daher ift nicht die Schuld des 
bbealiftifchen Principe, fondern allein feiner jeweiligen Ausbil- 
bung. Auch liegt in biefem an fich felbt Feinesweges die Noths 
wendigfeit, „das fpecififhe Dafein der Weltdinge,” wie der Verf. 
meint, „erlöfchen zu laſſen“, um fie in der wahren Einheit des ab⸗ 
foluten Wefens befaßt zu denken, Wie das Abfolute, ald abfolute 
Herfönlichkeit gedacht, in diefer feine eigenen Unterfchiebe, Die eis 
gene Unendlichkeit vealer Specifitationen zur lebendigen und gei« 
figen Einheit vermittelt trägt, fo Tann eg fie, eben deßhalb vollkom⸗ 
men erflärlih, auch als Unterfchiede für fich wirken laſſen und 
jeden in feiner Eigenheit und Sonderung gegen fein Anderes be- 
flätigen, worin fich, wie vielleicht bald erfannt werden dürfte, ber 
einzig begreiflihe und das Weltdafein nach allen feinen Beſtim⸗ 
mungen wirklich erflärende Begriff der Schöpfung ergeben hat. 
Es leuchtet ein, wie insbefondere der Menſch erft durch dieß Prin⸗ 


‚eip in feinem „ſpecifiſchen“, feiner Selbſterfahrung, wie ſie indi⸗ 
Beitfchr. f. Philoſ. u. ſpot. Theol. XI. Band. 


98 Fichte, 


viduell und weltgefchichtlich fich bewährt, allein entſprechenders 
Wefen erkannt werben Tann. 

Es iſt nun noch ein Wort zu fagen über bes Verfaſſers „Ann 
logie der Metaphufif und Hegels insbefondere gegen Trendelen- 
burg” in zwei Ercurfen S. 140—127 und ©, 191—213. Nah 
dem, was wir felber oben über diefen Gegenftand gefagt, muß 
ein kurzer Bericht Darüber genügen. Eine neue Geburt der „formalen 
Logik”, ineint der Verf., werde die Angriffe Trendelenburgs 
gegen bie ältere Logik vollfommen zu Nichts machen; dazu fei 
aber weſentlich nöthig, daß fie ihren Materien die richtige Orbnuung 
gebe, welche ſchon Ariftoteles ihnen gab, indem er in feinen 
Analytieis priorr. mit der Aufſtellung der fullogiftifchen Figuren 
angefangen, und erft von da aus zu der Abhandlung des Begrife 
fes und zu feiner Abtheilung in Gefchlechter, Gattungen und Arten 
übergegangen fei. Ob dieß alle Anftände befeitigen, namentlid 
bie ganze abftrafte Faſſung des Denfens, auf welcher die fors 
male Logik beruht, verbeffern werde, — und dieſe ift es, die auch 
Trendelenburg eigentlih angreift, — muß Ref. bier auf fih 
beruhen laſſen. Uebrigend hat fchon Gruppe ſehr lichtvoll ges 
zeigt, daß ber Begriff im wirklichen Denfen vielmehr Reſultat des 
Schluſſes ſei, demnach, als aus ihm hervorgehend, auch nad) dem 
Schluſſe behandelt werden müſſe, und dieſe Bemerkung ift für Nef, 
nicht verloren gegangen. Dennod fieht Ref, darin nur den in 
ſich zurüdlaufenden Proceß des wirklichen Denkens, von andern 
Begriffen, als den Prämiffen, ausgehend zum neuen Begriffe, als 
ihrem Refultate, fortzufchreiten, alfo in feiner Totalität von Bes 
griff, Urtheil und Schluß überall fich gegenwärtig und ganz zu 
fein, und unterfcheidet Davon wohl den wiſſenſchaftlich genetifchen 
Gang bei Betrachtung feines Weſens, vom einfachen Momente, 
vom Begriffe, zum Urtheile und Schluß fortzugehen, was Arifto 
teles nicht konnte, weil er befanntlidy das Denfen in feiner vol- 
len empirifhen Verwirklichung, in der Sprade, ergriff und auf 
analytiihem Wege aus dieſem die allgemeinen Beftimmungen bed 
Denkens erft entwidelte, ein Gang, der damals unabweislich war, 


c. 


“ 


Die philofophifche Titteratur der Gegenwart. 9 


ber aber nicht als der einer wiflenfchaftlichen Begründung anges 
feben werben Tann. Endlich macht ber Verf. noch (S. 129) 
gegen Trendelenburg bie fchöpferifche Priorität des Denkens 
geltend, und beruft fi) dabei auf den voug nosnzınog und 
nadızıxos des Ariftoteles, Aber er wird fich bekennen, daß erft 
innerhalb jener allgemeinen Annahme, die auch Trendelen- 
burg theilt, die eigentliche Differenz zwifchen ihm und Hegel 
falle. 

Was die Apologie der dialektifchen Methode betrifft (S. 116 ff.), 
fo it darlider ſchwer in der Kürze zu berichten, fo ſehr fcheinen 
dem Apologeten allgemeinere und befondere, bie Bertheidigung ber 
ſpekulativen Philoſophie überhaupt und bie der Hegelfchen Phi- 
loſophie betreffende Gründe in einander gefloffen zu fein. Nach 
bes Ref. Uribeil bat er fich die oben befprocdhene Frage keines⸗ 
weges Har vorgelegt, ob die (pantheiſtiſche) Grundvorausfegung 
oder Hypothefe, bei welcher allein fonfequenter Weile das reine, 
ale Begriffe aus fi felber fchöpfende Denken beftehen Tann, 
wahr fei, daß nämlich das welsichöpferifche Denken der Idee im 
Mefufativen Denken der Philoſophie nur zum Bewußtſein feiner 
felbft fi erhebe und den bemußtlos vollgogenen Proceß nun mit 
Bewußtſein nachichaffe? Iſt aber jene ganze Anficht nicht wahr, 
dam kann auch jene dialektiſche Methode nicht wahr, das reine 
Denken nicht möglich fen. Da nun der Berf., wie man aus 
allem Bisherigen erfehen hat, fehr fern davon ift, in jenem Prin- 
eipe die geringfte Wahrheit zu finden, fo folgt auch für ihn ſelbſt 
die Nothwendigkeit, gleichviel ob ihm Trendelenburgs Argus 
mente alle gleich ftichhaltig erfcheinen oder nicht, ben ganzen Begriff 
der dialeftifchen Methode im Hegelfchen Sinne fallen zu laffen. 
Dieß muß Nef, im eigenen Namen dem Berfaffer entgegenhalten, 
ie mehr er felber mit dem Meiſten einverflanden fein kann, was 
berfelbe im Folgenden über dag Verhältnig von Anfchauung und 
Denten, über bie objeftive Bedeutung des Gedankens und bag 
Prineip der Metaphyſik fagt (Vgl. S. 213). Weberhaupt können 
Wir von dem Verf., dem wir zum erften Dale begegnen, nicht 
Abſchied nehmen, ohne feinem Scharffinne, feinen Kenntniſſen und 

j 7 * 


400 Fichte, | 
dem Ernfte feiner Gefinnungen unfere volle Anerkennung zu bes 
zeugen, und gute Hoffnungen für die Zukunft feiner philofophifchen 
Laufbahn auszufprechen. 

Ref. bedauert aufrichtig, von der Schrift Glafers: „die 
Philoſophie und bie Wirklichkeit, feinen fo günftigen Bericht er- 
fatten. zu können, als es ihm vielleicht möglich geweſen wäre, 
wenn er, nach einigen Anführungen zu urtheilen, bie A. Schmibt 
aus der erftien Glaſerſchen Schrift in feinem Werke giebt, von 
diefer, der „Differenz des Schellingfchen und Hegelſchen Syſtemes“ 
zu reden hätte. Die vorliegende zweite hält fi zu fehr im une 
fruchtbaren Allgemeinen, um erachten zu können, daß wefentlidy 
durch fie, fei es die „Philoſophie“, fei es „bie Wirklichkeit‘, ge⸗ 
fördert worden fei. Auch ihr Zweck ift ein apolegetifcher: ihr Ver⸗ 
faffer will die Phitofophie gegen ihre neueften Antläger verthei- 
digen, welche fie als gefährlich für Kirche und Staat ausgeben, 
bat dabei aber fo trübe Borftellungen von ihrer Gegenwart und 
Umgebung, — democh ift Die Borrede: „Berlin Ende Mai 4843” 
unterzeichnet, — daß er felbft beinahe an der Wirkſamleit feiner 
Vertheidigung verzweifelt, „indem es ber Philoſophie heut zu Tage 
nicht gegönnt fei, nach allen Seiten hin und mit Ausführlichkeit 
fih über ihre Rechte zu verbreiten, weil fie auf wohlgefinnte Hö- 
ver kaum Anfpruch machen könne“!! Welche feltfamen Aufftel- 
lungen, in folder Allgemeinheit ausgefprochen völlig unglaublich, 
wenn man fie auch nur als Refultate feiner Iofalen Erfahrungen 
betrachtet, noch unglaublicher, wenn fie bie allgemeine Stimmung 
bezeichnen follten, in welcher fich Deutfchland, oder die andern 
eivififirten Nationen gegen die Philofophie befinden! Wenn wir 
vom Berf. nicht fonft eine beffere Meinung hegten, Tönnte ung 
darin nur der befannte Kunſtgriff gewifler Leute erſcheinen, die, 
weil ihre eigene fehlecht von ihnen geführte Sache Zutrauen und 
Beifall verloren, nun laute Klagen anflimmen, daß es mit der 
Philoſophie überhaupt vorbei fei, daß bie Rechte des freien 
Denkens mit Füßen getreten werden. Diefe Vermuthung Fönnte 
fogar beftätigt fcheinen, wenn man aus ber Schrift felber erfährt, 
daß unter Philoſophie zunächft nur bie „Tpefulative” Philoſophie, 


— 


[2 


Die philoſophiſche Litteratur der Gegenwart. 104 


unter ihrem Gegner der Empirismus verſtanden wird, ber feinen 
naͤchſten Repräfentanten in Trendelenburgs Iogifchen Linters 
ſuchungen gefunden haben fol (S. 5). Aber auch dem Empiris⸗ 
mug, ſelbſt im Locke-Condillacſchen Sinne, wird ber Berf. zus 
geftehen müflen, unter ben Allgemeinbegriff: „Philoſophie“ zu ges 
bören. — Beftimmter foll dann der neulich erfolgte „Sturz der 
Hegelichen Lehre” alle „ſpekulative“ Philoſophie in Mißkredit ges 
bradt haben. Bon einem fürmlichen „Sturze jenes Syſtemes 
i, in den Annalen der Philofophie wenigftens, Nichts befannt 
worden: ob es feinen politifchen Einfluß, feine Einwirkung in ges 
wiſſen Regionen behaupte oder ihn verloren habe, gleichwie man 
vom „Sturze“ der Günftlinge oder Miniſter fpricht, ift für bie 
Geſchichte der Philoſophie fehr gleichgültig. Dort ift nur bekannt 
geworden, daß dieß Syſtem widerlegt worden fei, widerlegt aus 
fih felber, Daß auch feine Schüler immer mehr in entgegengefegte 
Richtungen auseinandergegangen, alle Einheit ſich aufgelöst habe, und 
daß au Trendelenburg hierbei — übrigens weder Empiriſt 
zu nennen, noch fpefulativer Philoſoph, was Beides, wie ſich bei 
diefer Gelegenheit wieder zeigt, ganz vage Bezeichnungen find, — 
in der Widerlegung des Syſtemes eine bedeutende Rolle gefpielt 
habe, Damit ift es aber nicht geftürzt, ausgerottet, mit Füßen 
geireten, und wie dieſe gehäffigen Ausprüde alle heißen mögen; 


Tondern das Ewige und Bleibende an ihm ift in jener Wider- 


legung, die es über fich hinausführt, gerade gerettet und dem 
weiteren Gange der Philofophie einverleibt worden; noch weniger 
iſt daher durch Untergang der Hegelfchen Philoſophie, d. h. durch 
ihr Hiftorifchgewordenfein, bag Anſehen der ſpekulativen Philoſo⸗ 
phie im Geringſten gefährdet worden, auch nicht in den Augen 
des größern Publikums; denn faft niemals war das Intereſſe an 
philoſophiſchen Fragen und Verhandlungen fo Iebhaft und fo weit 
verbreitet, als gerade jest. Man erkennt vielmehr, wenn auch 
nicht felten widerwillig, dag nur durch die Philofophie bie vers 
Wifeiten Fragen der Gegenwart zu ihrer enblihen Löfung gelan⸗ 
gen können, daß fie allein das allgemeine verftändigenbe Licht 


MR, welches auch die Religion in ihr urfprüngliches Recht wieder 


103 dichte, J 
einſetzen kann, und in ihre centrale Stellung inmitten ber geiſtigen 
Mächte des Lebens, 

Sp. werden nun dergleichen allgemeine Bertheibigungen ber 
Philoſophie fehr wenig wirken, weil fie von ber einen Seite das 
Ueberflüffige thun, von der andern zu wenig: .beweifen. Denn 
gerade, je wichtiger es ift, aber je überflüffiger, es zu beweiſen, 
dag die Philofophie, als Wiffenfchaft von den höchften Wahrheiten 
des Menfhen, die tiefgreifendfte Wirkung auf alle geiftige Ber 
hältniffe behalte; defto mehr müffen aud die übeln Folgen einleuch⸗ 
ten, die von einer falfchen, nur zerftörenden Philofophie unabtrenn- 
fich find: die da falfch ift, weil fie nur jerftört, ohne an die Stelle 
der geraubten Güter irgend einen wahrhaften und ächten Halt 
fegen zu fönnen. Und dieß ift es, was der Verf. flets in ein 
ander fließen läßt. Die Meinungen, welche lediglich auf folche 
Zerfiörung ausgehen, wird der bedachtſame Dann der Wiffen- 
fchaft weder fördern, noch hervorrufen, noch mit jener allgemeinen 
Aegide der Wiffenfchaftlichfeit unbedingt vertheidigen wollen; er wirb- 
fie nur toleriren um des abfoluten Rechtes des freien Gebanfeng 
willen, in jeder Form der Berneinung am Pofitiven ſich zu verſuchen; 
aber eigenen Werth werden fie nur dadurch für ihn haben, daß 
ihre Verwirklichung eben ihre Krifis und ihre Selbftvernichtung 
if, an welcher ihr Gegenfag, die pofitive Wahrheit, befeftiget und 
verberrlicht wird. Gar Bieles exiftirt auch in der Wiffenfchaft, 
wie in der Natur und im fittlichen Leben, nur, damit ed unter« 
‚ gehe und dadurch das Höhere, das Wahre und Gute, in ſich be⸗ 
ftätige und befeftige; die hohlen, unzähligemal wiederholten Tiras 
den von dem unbedingten Werthe alles Meinungsweſens kom⸗ 
men dagegen viel zu kurz. Der Ref, wird ftets höchlich beklagen, 
daß ein befanntes Organ jener ertremften Berneinungen durch Staats⸗ 
gewalt unterdrückt worden iſt: er ſieht darin nicht nur einen Ein⸗ 
griff. in die unverlegbaren Rechte der Wiffenfchaft, — die, wenn 
fie, wie in: biefem Falle behauptet wird, in die praktiſchen Fragen 
überfchweifen wollte, darin noch immer durch die Cenſur, die ja 
auch noch gegen fie befteht, gehemmt werden konnte; — er erblidt 
vielmehr darin die unweifefte, unzeitigfte Uebereilung. Jene Rich— 


Die philofophifche Litteratur der Gegenwart. 105 


tung und jenes Organ waren bazu beftimmt, an ſich felberzufter- 
ben, durch eigenes finnlofes Leberbicten den Untergang vor aller Au⸗ 
gen an fi zu vollziehen, während fie jetzt, Durch Die Außerlich gegen fie 
geübte Gewalt, dag Recht und fo den Schein des geiftigen Sie⸗ 
ges auf ihrer Seite behalten haben: eine Doppelte Beeinträchtigung 
der Wahrheit und eine tiefe Kränfung des wahren Rechtes! 

Wie übrigens der Berf. dazu fich berufen fühle, Die unbes 
dingte Bertheidigung des „abjoluten Wiſſens“ zu unternehmen, 
iſt nicht recht einzufehen: wenn es feiner Meinung nad) „der 
Hegelſchen Philofophie mißlungen ift, die Aufgabe der Phi⸗ 
Sofophie zu löſen“ (S. 4—4) — und diefe allein hat ja die Bes 
Bauptung des abjoluten Wiffens in dem bier vertheidigten Sinne 
aufgeftelt, — fo ift bieß fürwahr der fchlechtefte apologetifche 
Grund für ſolches Wiffen, wenn es in jenem Spyfteme nur faule 
oder mißlungene Früchte gebracht hat! Was die Glaſerſche 
Schrift Allgemeines gegen Trendelenburg bemerkt, ſcheint dem 
Ref. von Gabler gründliher und ausführlider gefagt worden 
zu fein: die Vorrede erklärt fi) ſehr energiich gegen das von je⸗ 
nem Philoſophen aufgeftellte Princip der Bewegung; auch biefer 
Polemik liegt der ſchon geltend gemachte Gedanke zu Grunde, 
daß Bewegung weder als ein Wefentliched, noch als ein Urſprüng⸗ 
liches ericheine, am Wenigften aber als ein foldhes, aus dem die 
wahren Differenzen und deren Bermittlung begreiflich gemacht wer⸗ 
den Fönnen. | 

Am Schwerften ift ed, über bie fünfte Schrift: „Grund—⸗ 
züge des wahren und wirklichen abſoluten Idealismus 
von Conſtantin Frantz,“ ſummariſch zu berichten und ein 
motivirtes Urtheil in kurzen Worten abzugeben, weil ſie, wie alle 
philoſophiſchen Schriften von Tiefe und bedeutendem Gedankenge⸗ 
halt, aber mit einem in Verhältniß dazu ganz ungenügenden Ap⸗ 
parate beſonnener wiſſenſchaftlicher Begründung ausgeſtattet, unter 
verſchiedene Geſichtspunkte gebracht, nur eine faſt entgegengeſetzte 
Beurtheilung erfahren kann, und wir prophezeien dem ſehr talent⸗ 
vollen, aber nach allem Vermuthen noch jugendlichen Verfaſſer 


104 I Fichte, 
einen wahrſcheinlich ungünſtigen Empfang bei der herrſchenden phi⸗ 
loſophiſchen Kritik und zwar von den entgegengeſetzten Seiten. des 
abſoluten Wiſſens, wie des Empirismus und der Rationalität, 
Aber auch die verwandter mit ihm benfen, werben in feiner Schrift 
fehr viel Richtiges, Wahres, neu und tief Gefchautes, neben faſt 
ebenso viel Unflarem, aud nad des Berf, Princip Unrichtigem 
oder Halbwahrem antreffen; der kraftvoll aufftrebende, hoffnungs⸗ 
reiche Geift des Verf. verdient es, daß man ihm jene Irrthümer 
nicht erlaffe, daß man überhaupt ihn mehr auf den „Töniglichen 
Weg“ der Forſchung, auf das gleichmäßige Fortfchreiten Tang- 
famer Begründung und auf die befonnene Unterfcheidung ber vers 
fchiedenen Grade der Gewißheit zurüdweife, durch welche auf 
in der Philofophie, fofern man in ihr auf Unterfuchungen über: 
erfahrungsmäßiger Dinge eingeht, die verfchievenen Gebiete ihrer 
Erfenntniß genau unterfchieden find, — kurz eben auf das „nüch⸗ 
terne Denken“ (©. 24), von welchem ber Verf. noch wenig Gute 
hält, auf welches er dennoch wird eingehen müffen, falld er jetzt 
in der Wiffenfchaft auf dauernde Leiſtungen Anſpruch machen will. 
Demungeachtet nimmt Ref. feinen Anftand zu erklaͤren, daß 
ihn feit Langem feine Schrift vorgefommen fei, die mit ſolchem 
Ernite, zugleich mit fo zutreffender Tüchtigkeit und Tiefe des Simes 
die ragen behandelt hätte, welche die gewöhnliche Philoſophie, 
fowohl abfoluter als rationaliftifeher Seits, immer noch bei. Seite 
liegen läßt, und die dennoch gelöft werben müffen, wenn wir über 
bie Gewöpnlichkeit unferer auch philofophifhen Vorftellungen 
von Gott und feinem Verhältniſſe zur Welt, in denen ber üblich 
gewordene Pantheismus und der rationaliftifche Deismus ſich um bie 
Wette überbieten, hinausfommen wollen. Was Ref. insbejondere 
noch erfreut, ift Die Mebereinftimmung des Verf, mitihm in folchen 
fehr wefentlihen Punkten, für welche er nach anderer Seite hin 
noch Feine fonderliche Beachtung oder Zuftimmung hat erlangen 
fönnen, namentlich feine Lehre von der ewigen Natur in Gott, in’ 
beren unendlichen Unterfchieden und ihrer Einigung zugleich, Gott 
allein als der lebendige und geiftige, Eurz ald Perfon, gedacht werben 
fönne (©. 416—22), ebenfo in feinem daraus hervorgehenden Be⸗ 


Die philofophifche Litteratur der Gegenwart. 106 


geiffe der göttlichen Dreieinheit (vgl. S. 38), fo wie endlich in 
ber verwandten Auffaffung des Begriffes der zeitlichen Schöpfung, 
ber „refleftirten Welt” der „Erſcheinungswelt,“ (S. 52), welche 
nicht fowohl durch Gott pofitiv hervorgebracht und als etwas 
Neues in's Dafein gerufen fein Tann, — denn Gottes eigenes 
Wefen und Natur umfaßt die ganze Fülle der Möglichkeiten fchon 
als Wirkliches, zu welchem ohne höchſten Widerfpruch nichts 
Neued oder Mehreres binzufommen kann Cdiefen Widerfpruch 
aller bisherigen Schöpfungslehren, wodurch ihr Begriff eines 
neuberporbringenden Schaffens zu einem völlig Unbegreiflichen, 
Sinnloſen herabſinkt, "hat der Verf. auf das Klarfte eingefehen: 
vgl. S. 59 f.), fondern dag die zeitlichen Dinge nur entfichen und 
befteben fönnen aus einem Wandel der Dafeinsform, durch welchen 
die ewigen Elemente der Natur ober des Weſens Gottes in Wers 
den und Zertrennung eingehen. Daß nun biefe Umwandlung im 
Logos, „dem in ber ewigen Natur Gottes eingeborenen Sohne, 
dem bie Macht über ihre Fülle gegeben if“ (S. 57), ihren Grund 
babe, hat der Verf. zwar richtig erkannt; aber er hat, wenigftend 
nad) unferer Ueberzeugung, die Art und Weiſe derfelben weder 
vet angegeben, noch auch in feiner Darftellung zur Klarheit und 
Vegreiflichfeit gebracht. Damit hängt jedoch auf das Tieffte auch 
ber andere Mangel zufammen, durch welchen die Weltanficht des 
Verf. noch derfelben Abſtraktion und nebulofen Unanſchaulichkeit 
preisgegeben iſt, welche er bei den andern Philofophieen ‚oft mit 
ſo treffender Bezeichnung befämpft: wir meinen feine Behauptung, 
daß die ewige Natur Gottes „den Raum und bie Zeit" (die 
„unendlihbe Dauer’) ausfchließen fol (S. 58). Hiermit 
ift fie wieder zu jenem unbegreiflichen,. wirklichkeitsloſen Abſtraktum 
verflüchtigt, bei welchem es bie bisherige Theologie darüber belaſ⸗ 
ſen hat, welcher fonft der Begriff einer ewigen Natur, einer unend 
lichen Wefensfülle in Gott, nicht fremd geblieben if. Daß Zeit 
oder vielmehr „Dauer und Raum feine Rategorieen dee 
Ewigen find“ (S. 59), betrachten wir vielmehr als widerlegt 
duch die ganze neuere Wendung ber Metaphyſik, widerlegt 
namentlich auch im Iniereſſe der fonftigen Anfichten des Verf. und 


« 


106 Fichte, 


ihrer wahren Konſequenz, ſo daß es ihm vielleicht zu weiterer 
Ausbildung derſelben gereichen möchte, unſere Entwicklung der 
Unterſchiede des wahren und des nur in der Form äußerlicher 
Trennung erſcheinenden Raumes, der wahren Zeit oder Dauer 
von der die Momente des Seienden in leerer Dehnung auseinander⸗ 
haltenden Zeitlichkeit (3.Schr. Bd. IX. ©. 49 - 29. ©. 53 f.) 
zu vergleichen. Nur ſo kann der Verf. hoffen, dem Bedenken 
eines ſubjektiven Idealismus, in welches ihn feine Raum - und 
Zeittheorie hineinftürzt, mit befferm Fuge zu entgehen, ald er es 
durch die jegt von ihm angeführten Gründe vermag (S. 65. 66), 
welche bei Bielen jenen Vorwurf vielleicht nur beftätigen werben. 

Um nämlich über die Ableitung der „Erfcheinungs” = oder 
„Sinnenwelt” bei dem Berf, in der Kürze Bericht zu erftatten, 
fo ift dabei von dem Begriffe des Selbitbewußtfeind ober ber 
Perfönlichkeit Gottes auszugehen (S. 7 ff.). Gott denkt ewig 
den Begriff feiner felbft, und erfaßt ſich darin: dieſer Begriff ik 
aber nicht im bloßen Denken, fondern er ift unmittelbar auch da 
Sp entfteht für Gott das Andere feiner felbft in ihm, und nur 
dadurch wird. er feiner bewußt, daß er aus diefem Andern ewig 
in fid) zurüdfehrt, Dieß Andere ift fein Weſen, aber als ihm 
Anderes die Natur in Gott. Die Natur aber, unmittelbar fo 
für ſich feiend, „zieht ſich in fich felbft zufammen und wird von 
der dee, als ihrer Seele, geeint, und wie ein lebendiger Leib 
durchwirkt.“ Bon biefer Natur in fich unterfcheidet aber Gott 
ſich felbfithätig, und „fie gleichfam zurückdrückend,“ kehrt er in fid 
felbft als der wirflihe Wille zurüc, während in feinem Dem 
fen (der Natur) zwar big Kraft des Willens, aber noch nicht ber 
Wille als folder if. Indem er fi als folher von der Natur 
unterfcheidet, umfaßt er fie zugleich; — fie ift nur, infofern bei 
göttliche Wille in ihr if. — Und alfo, obgleich ewig in dem goͤtt⸗ 
lichen Willen befchloffen, ift die Natur dennoch für fich ein fih 
unendlich entwidelndes Leben, „da ihr Gott fo zu fagen gewähren 
läßt.” Denn die Kraft der Natur ift ſelbſt nur der göttliche 
Wille, nur nicht als folcher, fondern der „Gott entfließende 
und nicht in bie Ichheit zurüdgenommene Wille.” Dennoch wird 


S 


Die philofophifche Literatur der Gegenwart. 407 


es „erklaͤrlich (2) fein, wie ein und Daffelbe Wefen Seele ber Nas 
tur und Seele Gottes genannt werben fann, und nad) ber erften 
Beſtimmung möglicher Weife andere wirken fann, ald nad der 
zweiten höberen, alfo, daß die Kämpfe und Schidfale der Naturs 
feele die Seele Gottes abfolut nicht berühren” (S. 9). 

Goitt ill aber nicht fowohl fein Dafein, ale vielmehr fein 
Wille fein Dafein felbft if, und fo gewiß er ewig Wille ift, 
fo gewiß ift er ewig da und ſchafft ewig. Aber ohne Schöpfung 
wäre" Gott feiner felbft nicht bewußt, wäre er daher nicht Gott: 
denn Bemwußtfein ift nicht ohne Gegenftand zu denken, welcher 
Gott eben nur ſelbſt für fi fein kann in feiner ewigen Schöpfung 
oder Natur (S. 16—18), woran fich ebenfo richtige Beitimmuns 
gen über die Gleichheit, wie den Unterfchied zwifchen der abjoluten 
Perfönlichfeit und” der endlich menſchlichen anfchließen, aus welchen 
gleichfalls erſehen werden kann, was von der gewöhnlichen, 
prüfungslos immer wiederholten pantheiſtiſchen Phraſe zu halten 
ſei, daß das Abſolute, als perſoͤnliches gefaßt, damit in ein Ends 
liches, Befchränftes, ver werde (vgl. S. 3556). Ebenſo 
halten wir für völlig —— der Verf. (S. 19— 22) bei 
Beranlaffung feines Begriffes von der ewigen Natur in Gott, 
von der Wichtigkeit dieſes Begriffes fagt zu einer tiefern Vereini⸗ 
gung ber fpefulativen Theologie mit der Religion, ald es bisher 
möglich gewefen ſei. Ebenſo müffen wir im Folgenden (©. 23 f.) 
die Stelle bilfigend ausheben: „Es ift einer der tiefften Gedanken 
Scelling’s, daß Gott in fich felbft einen Grund feiner felbft 
haben müfle, welcher dunkel, d. i. felbft nicht bewußt ift, daß bie, 
Intelligenz auf einer Nichtintelligenz beruhen müſſe;“ (wiewohl 
daraus keineswegs folgt, was Schelling daraus hat folgen laſſen, 
daß dieſes Reale, Natürliche in Gott erft in Folge eines ftufenweifen 
Proceſſes von der geiftigen Macht Gottes überwunden, der Sins 
telligenz adäquat gemacht werde) „Schelling war dazu durch 
die Naturphilofophie geführt, aber zugleich trat er Damit aus ders 
felben heraus und firebte zur Geiftesphilofophie, wobei gleichwohl 
bie Naturphilofopbie die Grundlage bleiben follte. Daher denn 
ber Widerfpruc entftand, daß zwar der Geiſt, bie Macht über 






108 Site, 


die. Natur, dennoch aus ihr, als ſeinem Grunde, ſich natürlich 
erheben oder eigentlich entſtehen ſolle. Es entſtand der Dualis⸗ 
mus eines ſich ſelbſt bewegenden Grundes und des Geiſtes, welcher 
“in dieſen nur die Idee (das reflexive Bild) hineinſpricht, alſo 
nicht wahrer Schöpfer iſt. Dieß iſt noch heidniſch bei Schelling“ 
(und, ſetzen wir hinzu, nur bie halbe, vom Widerſpruche noch nicht 
freie Durchführung jenes Principe, indem es zum Begriffe. ber 
. ewigen Natur und des aus ihr ewig fich erhebenden abfoluten 
Geiftes in gleicher Weife gehört, daß jene, als das reale Weſen 
Gottes, ebenfo uranfänglich in feinem felbftanichauenden Geiſte ver, 
klärt, ald daß diefer an ihr dag ewig Elare, durchdringliche Eben 
Bild feiner Selbſtanſchauung habe; aber deßwegen enthält fid 
Ref. ebenfo forgfältig, jene Natur mit dem Verf. den „Leib Got 
tes“ (S. 23 und fonft) zu nennen, — indem Leib nur als eine 
dem (eben darum endlichen) Ich dunfle, deßhalb ihm äußere Ob 
jeftivität gedacht werden kann, — wie von einem Willen, ſelbſt 
einer „Urwollung” (S. 21) zu ſprechen, als dem Grunde ber 
ewigen Natur Gottes, indem Ref. es zu den halben, in ihrer Wur⸗ 
zel unflaren Gedanfen rechnen muß ion einem „blindiirfenben“ 
Willen zu reden, welcher mit der gleichfalls im Ungefähren ge 
bliebenen Borftellung einer Weltfeele zufammenhängt, in dem 
wahren und fcharfgebachten Begriffe des Abfoluten jedoch fih in 
einen Widerſpruch auflöft: es ift für Ref. der Begriff des abfor 
Iuten, eben damit jedoch vom Selbftbewußtfein durchdrungenen 
Lebens, der Selbfterzeugung Gottes;) — „und ift vollfommen 
wegzufhaffen nur durch die Rüdfehr zum Fichte'ſchen Anfange," 
mit welchem (Fichte) nämlich überhaupt der Verf. DEN Anfang 
des wahren Idealismus und der eigentlich deutſchen und chriftlichen 
Philoſophie bezeichnet (vgl. ©. 48 f. 72 u, f. w.). 

Ueber die Motive des Berf. bei Entwidiung bee Begriff 
der Dreieinheit Gottes wäre noch weiter zu denken: ed genüge 
bier zu bemerfen, daß Nef, mit dem Reſultate fih in Ueberein⸗ 
ſtimmung fegen kann, wiewohl er zur Bezeichnung jener innern 
Dreieinigfeit des göttlichen Weſens der Firchlichen Unterfcheidung ' 
von Vater, Sohn und Geift ſich enthält. „In Gott, dem Bater, 





* 


Die philoſophiſche Litteratur der Gegenwart. 409 


zwar iſt nicht der ganze wahre Gott, aber doch die Grundlage 
ſeines ganzen Weſens; der Sohn aber und der Geiſt haben die 
Beſtimmung der Beſonderheit an ihnen ſelbſt: der wahre Gott 
iſt ſie alle drei zumal, und zwar als der durch den Sohn und 
Bei ſich offenbar gewordene Vater. Das Einigende 
und Umſchließende ift alfo die offenbare Grundlage 
ſelbſt, und-nicht ein befonderes Viertes“ (S. 38. 39. vgl. ©. 44 ff.). 
In allem endlichen Leben dagegen, wo die Grundlage nicht 
die Glieder der DBefonderung erzeugt, fondern wo dieſe felbft« 
ftändig hervortreten, daher von dem Bereinigenden nicht geſetzt, 
fondert sorausgefegt werben, kann dieß Lebtere auch nur ein - 
Befondereg, alfo Viertes fein: deßhalb verläuft jede endliche Ver: 
mittlung nicht durch eine Dreiheit, fondern Vierheit von Gliedern; 
— ein neuer, und nach des Nef. Meinung richtiger Gedanke, 
wenn nur ber Verf. ihm nicht in den nächften Beiſpielen, bie er 
dafür wählt (S. 39 f.), eine zu fpielende Anwendung geges 
ben hätte, i Ä U 
Um nun die „refle endliche Welt aus dem göttlichen 
Weſen abzuleiten, geht dert. zu folgender Hypotheſe über 
(S. 62ff.). Im Sohne, dem Momente feiner unendlichen Be- 
fonderung ober Natur, hat Gott der Vater die Anſchauung feiner 
ſelbſt, Damit aber jener die Abfolutheit feines eigenen Weſens mit- 
getheilt, um das Leben in ihm felber zu haben. Diefer nun, um 
fi zu Gott dem Vater in freier Liebe als ein felbfiftändiger zu 
erheben, muß aus dem Verhältniſſe der unmittelbaren Einigfeit 
beraustreten, um dann, ber Eigenheit entfagenb, dieß Verhältniß 
frei —— — Damit er daher das Leben, das ihm gegeben iſt, 
mit Freiheit beſitze, muß er aus ſich ſelbſt ſich neu erzeugen und 
wiedergebären: nur fo hat er die verliehene Freiheit als eine durch 
Ach felbft gefegte. Er hat fih daher — gerade wie dieß bei dem 
göttlichen Wefen im Ganzen flattgefunden, — zum Grunde fei- 
ner felbft zu machen, um daraus frei wieder zu erfieben. Durch 
diefen „zunächft entäußerten Willen“ muß er fi) neuerzeugen laf- 
fen. Sp hat er einen vom Bater unabhängigen Grund .eigener 
Eriftenz und Freiheit, aus welchem er ſich als den freien fegt, fo 






f 


440 Fichte, | 

aber, daß er gar nicht anders kann, ald dennoch frei mit bem 
Vater fi vermitteln. Die Löfung dieſes Gegenfages vollzieht fih 
nun in der Menſchheit: durch die ſe wird der Sohn oder der fos 
808 wiebergeboren, woraus fi zugleich ergiebt, dag die Menſch⸗ 
heit überhaupt dem Willen Gottes widerfireben gar nicht Fam, 
daß die Welt gar nicht abfolut böfe zu fein vermagz. denn fünf 
wäre fie gar nicht. 

Dennoch ift der Sohn oder Logos dadurch nicht ſelbſtlos ge 
worden und atomiftifch zerfplittert; er ift vielmehr das transicen- 
bentale Urich, „durch welches die in der Einnenwelt gefchiedenen 

Geiſter wie die Zweige eines Baumes vereinigt find”. „ie wäre 

auch fonft eine innige Vereinigung der Menſchen möglidh, ja wie 
möchte es nur möglich fein, daß zwei Menſchen baffelbe denken, 
und ſich durch Sprache verftändigen? Wer aber nur etwas gründ⸗ 
lich darüber nachgedacht hat, wird wohl eingeftehen, Daß dasjenige, 
was man Gemeinbewußtfein, Volfsgeift, Zeitgeift nennt, zu. ben 
alferdunfelften Punkten gehört, da die bisherige Philofophie noch 
nicht einmal die Möglichkeit bot, Zarüber nur zu halbwegs bes 
fiimmten Borftellungen zu —— 930), | 

Die zulegt erwähnte Bemerkung muß Ref. in Abrede ftellenz 
jenes gemeinfam Subftantielle des Menfchengeiftes, Weltgeift ges 
nannt, der fi auch bis zu den Volks- und Familiengeiftern herab 
‚gliedert, ift ja vielmehr das Idol der neuern Philofophie” gewor⸗ 
den, das nach Oben hin den Begriff des Abfoluten, nach unters 
wärts die Subftantialität des individuellen Geiftes in fich ver 
fhlungen bat. In ihn, als das fubftantiell Einigende „und Bers 
mittelnde, läßt Degel’s Phänomenologie alle Stufen und Unter: 
fpiede des Bewußtſeins ſich zurücknehmen; in feiner Philoſophie 
bes Rechte ift er es, welcher bie Welt des Staates, der Site, 
in den endlichen Geiftern, al8 den Dienern feines Thrones, bers 
vorbringt und darum auch an ihnen allen das abfolute Recht bat 
und übt, fie in ſich aufzuheben. So ift dieß, für ſich felbft ges 
nommen, der allergeläufigfte Gedanfe gegenmwärtiger Spekulation; 
dennoch geben wir dem Verf. gern zu, daß bei ihm nicht fiehen 
geblieben werden fann, ebenfo, daß er ihn wefentlich verändert, 





Die philofophifche Literatur ber Gegenwart. 448 


vertieft hat nach den von ihm apborifiifch gegebenen Beſtimmun⸗ 
gen; wir vermiffen nur die ausreichende Begründung. Nach ihm 
ift jenes Weltgeiſtige allein der Logos, nicht Gott nad) allen feinen 
Momenten, wie im Hegel’fchen Pantheismus, dem bier ein Glied 
abgeht, da er den Logos (Sohn) nad der ausdrüdlichen Erklä⸗ 
rung in feiner Religionsphilofophie in den „Moment ber (end⸗ 
lihen) Welt” fallen laͤßt. Auch ift bier der Logos über das ab» 
fraft Weltgeiftige hinweggehoben und ale das „transſcendentale 
Urich“ beftimmt. Aber zu bedenfen bleibt dabei, daß damit nach 
anderer Seite hin für die Theorie eine Rüde bleibt: das Subftan- 
tielle des Menſchengeiſtes ift der Logos, felbft aber ſchon ale Urich, 
ald bewußter Mittelpunkt von Perfönlichkeit. Wie ift ed nun body 
zu erflären, daß feine Erfcheinung im Menfchen ſich in die Biel- 
beit von chen, Perfonen haben zerfchlagen können, welche, wenn 
auch nur die Zweige eines Baumes oder Glieder eines Geiftes, fonft 
ſich doch als genugfam getrennt und nicht bloß von ihrer Naturfeite 
ber gefchieven erweifen? Dies ift Das Problem, welches dem 
Berf, übrig bleibt (vgl. S. 307 u. 3412), welches auch, fofern 
wir yon der neuen Schelling’fehen Lehre vollftändig genug un⸗ 
terrichtet find, von biefer noch unerlebigt gelaffen ifl. Fichte in 
feinem fpätern Syſteme, dem jenes trangfcendentale Urich gleich⸗ 

falls das wahre und fubftantielle ift, hat dieſe Aufgabe wenigftens 

mit der größten Beſtimmtheit ſich vorgelegt und eine Antwort 

darauf gefucht Cin feinen im Nachlaffe erfchienenen Vorlefungen 
über die Thatfachen des Bewußtfeins); ba ber Verf. fo viel Ver- 
chrung für Fichte und fo viel eindringendes Studium in den Geift 
feines Syſtemes an den Tag legt, war uns dieß DBeranlaflung, 
ihn auf diefen Punkt hinzuweifen, von welchem er übrigens fehr 
Recht hat zu behaupten, daß Die bisherige Bhilofophie weit ente 
fernt war, ihn nur ale Problem ſich zum Bewußtfein zu bringen, 
Auch feine Löſung möchte noch eine Weile auf fih warten laflen, 

indem fie nur aus Praͤmiſſen einer ausgebildeten Monadenlehre 

fi) ergeben kann, zu welcher die Borftellungen ber herrfchenden 

Philofophie noch fehr wenig vorbereitet find. — 
Mit jener Berfelbkftändigung und Trennung des Logos von 


12 Fichte, 


Gott, um zufolge bed Aftes der Wiedergeburt (durch bie Menſch⸗ 
heit) frei in. ihn zurüdgufehren, iſt nun nach dem Verf. audy bie 
zeitliche oder Erfcheinungswelt gefegt: die wahre ewige Natur 
(natura 'nalurans) ruht zeit= und raumlos in Gott; aber durch 
die Trennung des Logos von Gott wird fie in jenem, in befien 
Selbſtſetzungs⸗ oder Bewußtſeinsakte, vefleftirt als bie nothwen⸗ 
dige Bedingung feines Bewußtſeins, und ſo erſcheint fie ihm ale 
„Sinnenwelt” (natura naturata); er felbit ift ſonach ber Wel- 
verftand zu nennen, „Denn. bie Sinnenwelt, als foldhe, befteht 
nur in dem Berftande, nicht aber in dem individuellen, fondern in 
. allgemeinem Weltverftande der transſcendentalen Urichheit. Die 
Handlung aber, durch weldye der Wille des Logos als nicht gött⸗ 
liher in die Natur tritt und fie verzeitlicht und vefleftirt, und 
welche für die Natur ein Ereigniß und Schickſal ift, Tann die Welt: 
reflerion genannt werden”. Aber in diefer zeitlichen Welt ift der 
einzige Inhalt, gleihfam auseinandergezogen aus feiner ewigen 
Einheit durch jenen Akt der Reflexion, — dennoch nur das Ewige 
(S. 57—- 60. 65 ff.). 

Dieß einmal zugegeben oder anerkannt, laſſen ſich die weitern 
Grundzüge feiner Lehre in wenig Sägen umfaſſen. Dieſe Grund- 
züge find diefelben, wie in der myftifchen Philofophie. Die Menid- 
heit war in ihrem Urftande unmittelbar einig mit Gott; wäre biefe 
Berbindung nun in der Weife nur gelöst worden, daß das Ich 
in dem Maaße, als es fich frei macht, auch den göttlichen Inhalt 
in fi aufgenommen hätte: fo wäre das Heraustreten aus ber 
“ unmittelbaren Einheit. mit Gott Feine Entfernung von Gott, fon- 
bern eine tiefere, freie Einigung geworben. Diefe ift geftört durch 
bie Sünde, welche als ein nicht weiter motivirtes Urfaktum zwi⸗ 
fhen jene gefunde Entwidlung bineintritt: fehärfere metaphy 
ſiſche Beftimmungen jenes Begriffes fehlen. Bon da an beginnt 
jedod der Rüdbildungsproceß: der Logos erfcheint, fpricht ſich in 
die Seelen der Menfchen hinein, und fo erfahren fie ihre göttliche 
Beftimmung unmittelbar, dur .göttlihe Offenbarung 
Aber die ift gleichfalls nur eine neue Form der Unmittelbarkeit, 
über welde hinaus der menſchliche Geift die Form der Selbfiſtän⸗ 


Die philoſophiſche Pitteratur der Gegenwart. 413 


digkeit, Flüffigfeit erhalten muß, in welcher allein bie wahre Vers 
einigung bes menfchlicyen. Geiftes mit Gott zu denken if, Diefe 
Regeneration der Menfchheit durd den freien menfchlichen Geift 
zur Einheit mit dem göttlichen iſt wefentlih Sache der Zufunft 
und ber beginnenden Neuzeit: die Reformation ift keineswegs ber 
Schluß des Mittelalters, fondern erft der Beginn feiner Iegten 
Epoche, der feiner Auflöfung, wie auch die alte Welt eine ſolche 
in der römiſchen Gefchichte hatte. Mit der Reformation werden 
alle Bande des Lebens gelöst, e8 bildet fich ein neues Römiſches Reich, 
ein Reich der Sünde, — die moderne Politif und Civiliſation un« 
ter der Anführung Frankreichs; die Religion wird zerflört, und 
bie Philofophie endet mit der abfoluten Gottlofigfeit. Aber ber 
Umfchwung kann nur, um ber Freiheit des Geifted willen, von 
der Wiffenichaft, von der Philofophie aus beginnen, Diefe rege⸗ 
neratorifche Philofophie ift der Idealismus. Durch ihn vertieft 
das Sch fih in fich felbft, und gelangt aus fich felbft zur Aner- 
fennung eines Abfoluten und endlich des wahrhaften Gottes und 
feiner eigenen göttlichen Beftimmung. „Fichte's Wiſſenſchafts⸗ 
lehre hat das Mittelalter beſchloſſen“. Der deutſche Idealismus 
hat die Aufgabe, eine neue Periode der Weltgeſchichte zu gründen. 
Das Nächſte dabei iſt die Entwicklung der Philoſophie zum ab⸗ 
ſoluten Idealismus ſelbſt, als der Gotteswiſſenſchaft; wo— 
mit die Möglichkeit gegeben iſt, eine allgemeine Welt wiſſenſchaft 
und eine „Wiſſenſchaft des Sollens“ auszubilden. „Aber die Boll- 
endung des abfoluten Idealismus kann nur mit der Vollendung 
der Welt felber erreicht werben, da er von vorn herein mit dem 
Leben Hand in Hand geht.” 

Diefe dritte Periode wird nun das Chriſtenthum beftätigen 
und bie Erlöſung vollenden; es ift Diefe die Periode des heiligen 
Geiſtes, der nun als ſolcher erkannt wird, da der menſchliche Geiſt 
ſelbſt bezeugt, daß nur in jenem, dem lebendigen, zu freier Liebe 
vereinigenden Geiſte Gottes, die Wahrheit ſei *). Aber erſt am 


%) „Es läßt ſich apriori beweiſen, daß fich feit der Erſcheinung bes 
Chriſtenthums weder ein neues (urfprüngliches) Volk noch eine neue 
Zeitfche, f. Philoſ. u. ſpek. Theol. XI. Band. 8 


41 Site, 

Ende der Tage wird biefe Epoche vollendet fein, während jebt 
ebenſo ein Zufland der Verzweiflung if, wie am Anfange der er 
fien und ber zweiten Periode. „Die Philofophie foll die Zeit 
nicht mit ſich felbft ausföhnen, fondern ihr Elend ihr 
aufdecken und einen Weg zum Beffern ihr angeben. Das 
Zweite ift daher, daß die erfannte Wahrheit dem Leben eingebil- 
det werde und daß der Menfch fich zu dem, was er durch Spe 
Iulation als fein Wefen erfannt hat, als ein Charakter made” 
— Die Menſchheit kann ſich nicht eher zu freier Liebe vereinigen, 
ebe fie nicht ihre Beftimmung, welche fie im abfoluten Wiflen ers 
fennt, auch im Glauben, unmittelbar und als verwirklichte hat: 
dann bat fie nicht nur oder erfennt bie Tiebe, als ihre Beſtim⸗ 
mung, fondern ift fi. Dann ericheint der Logos in ihnen, als 
freies Selbſt, und fchaut fo fih an in der Fülle der Dienfchheit, 
in deren unendlicher Ichheit er das Einigende, Durchwirkende if, 
alfo dag der Mittler nicht mehr als folcher erfcheint, ſondern, 
in fie eingegangen, in ihr feine ganze Wirklichkeit hat — er in 
ber Menfchheit, diefe in ihm, und Durch ihn in Gott. Dann ver 
ſchwindet aber. auch wieder die endliche Natur, die reflektirte Welt, 
und in der vollen Vereinigung jedes Geiftes mit feiner ewigen 
Natur Tann. er feine eigentlihe (verklärte) Leiblichkeit erhalten. 
Wenn bis zu diefer letzten Kataſtrophe, durch welche die zeitliche 
Natur in ihre eigene fubftantielle Ewigfeit zurüdgebildet wird, ins 
dem ſich ihr zeitliched Zeugen erfchöpft und die lebendigen Ges 
fchlechter allmählich nach einander ausfterben (S. 226), die Abs 
geichiedenen, von ihrem endlichen Leibe und allem Selbfifchen, 
was ihm während des Sinnenlebens eingebildet worden, getrennt, 


Religion gebilvet habe. Die muhamedanifche iſt nur Entwidiung 


einer alten, nämlich berienigen, welche auch der jünifchen zum Grunde 


liegt. bis dahin, wo bie jübifche Offenbarung anfängt. Einer ent 
ſprechenden Entwidlung dürfte aber das Chriſtenthun 


ebenfo fähig und bepürftig fein, welche dann noch einen 


böhern und umfaffendern Shwung in die Welt hervor 


rufen würde, ald es unläugbar der Muhamedanismus geifan 


(S. 255). 


Die philofophifche Ritteratur der Gegenwart. 146 


im Zuftande eines Iebhaften Traumes verharren, ohne darum von 
dem menjchlichen Gemeinbewußtfein, dem allgemeinen Geifte bes 
Logos abgelöst zu fein (S. 219—225): fo werben fie jebt zu ih⸗ 
rer ganzen, felbftbewußten Wirklichkeit und Freiheit wiederherges 
ſtellt. Diefe Wiedererlangung des Bewußtſeins ift die Auferftes 
bung und bie Wiederbringung aller Dinge (S. 202 — 228). 
Dieß der allgemeine Umriß der Lehre, wobei wir bemerken, 
daß manche eingeflochtene Nebengebanfen, die wir für bedeutender, 
ſelbſt originaler halten, als das hier Angegebene, in diefer fummas 
riſchen Ueberficht bei Seite gelaffen werden mußten. Woran ee 
dem Berf. fehlt, und was er zu viel hat, Tann man fehr leicht 
auf einen gemeinfamen Ausdruck bringen: er fondert nirgends dag 
Gewiſſe und das Hypothetifche, das begriffmäßig zu Ermeifende 
und das nur Wahrfcheinliche. Es ift Die halbviſionäre Darftellungs- 
weife über die Urfprünge und Abgründe in Gott und den Dingen, 
wie wir fie feit Franz Bader und Schelling wohl oͤfters zu vers 
nehmen Gelegenheit hatten. Dieß Alles jedoch hat jegt auf feinen 
Beſtand in der Wiffenfchaft mehr zu rechnen, wäre ed auch nicht 
in dem Geifte der Urheber ſelbſt von fo weicher, nachgiebiger Be⸗ 
fhaffenheit — eben weil ihm die fefte Widerlage des Wirflichen 
fehlt, — daß hier Die Umwandlungen und Kataſtrophen der Anficht nie 
aufhören werden, wie der unftreitig höchſt geiftvolle und produftive 
Berfafler ſchon jest durch die berichtigenden Nachträge feines Wer- 
tes felbſt verräth. Ein großes Gebiet von philofophifchen Lehren 
über die göttlichen und die fünftigen Dinge kann nur nad) dem 
Erkenntnißprincipe der Analogie unterfucht werden. Wie fidy ver- 
ſteht, darf dieß nicht auf die Evidenz ber reinen- Bernunftbegriffe 
‚und der auf univerfale Welttbatfachen gegründeten Lehrfäge An« 
ſpruch machen; dennoch kann die Analogie, weiter verfolgt und 
durch die ganze Reihe verwandter Begriffe geftügt und erweitert, 
allmählich einen Grad von Gewißheit erlangen, welde einem Be⸗ 
weife gleichzuftellen ift: es ift genug um bie Philofophie zur eiftis 
gen Erforſchung auch diefes Gebietes aufzuforbern, aber auch zum 
Maren Bewußtfein ihres Thuns und feiner nothiwendigen Begrän- 
zung zu bringen. Was fruchtet hier ein venommifiiicpee Drafel- 
8 


446 | Fichte, 
reden, welches in der beſonnenſten Wiſſenſchaft vielmehr zum 
Schaden und zur Beſchämung ausſchlagen muß? 

Dennoch nehmen wir von dem günſtigen und empfehlenden 
Urtheile über das erwähnte Werk kein Wort zurück. Bei dem 
faſt noch nie fo erlebten Mangel an ſpekulativer Zeugungskraft, 
bei der mertbaren Verödung an allen neuen, lebendurchdringenden 
Ideen, die unfere gegenwärtige philofophifche Litteratur trotz ihrer 
Bielthätigfeit mit einer Art von Bettelftolz zur Schau trägt, dient 
es ſchon zur Erfrifchung, einem jungen, gedanfenfchöpferifchen, das 
bei tiefernfien und gefinnungspollen Streben zu begegnen, das 
mit der kecken Zuverſicht eines experimentirenden Erkennens in den 
tiefſten Kern der Fragen eindringt und dann doch immer eine Ge⸗ 
dankenbeute hervorholt. Für die bedeutendſten Seiten des Buches 
halten wir noch bie durchgehende Polemik gegen die Negativität 
ber „Philofophanten”, deren angeblich wilfenfchaftlihe und objektiv 
fih verhaltende Behauptungen er, oft nur in wenigen Worten, 
auf dag Sclagendfte ihrer Oberflächlichfeit und Plattheit über 
führt. Wir hoffen den Verf. noch oft in immer gereifteren und 
ducchbildetern Werfen begrüßen zu Fönnen. 

Noch ehe der Drud diefer Abtheilung vollendet werben Eonnte, 
fam dem Ref. eine neue, an das eben beurtheilte Werk fih aw 
fchließende Fleine Schrift deffelben. Verfaffers zur Hand: 

„Speflulative Studien von Conftantin Frank 
Erftes Heft: über die Freiheit, Berlin 1843. 

Auch diefer eine Furzge Erwähnung zuzuwenden, hält Ref. für 
angemeffen, nicht nur wegen des fehr bedeutenden philofophifchen 
Gehalts, welder auch bier den Hauptgedanfen diefer Schrift 
ausmacht, fondern zugleich deßhalb, weil Behandlung und Dar 
ſtellungsweiſe nur allzufehr den an der erften Schrift charakteris 
firten gleichen, fo daß auch bei der zweiten Lob und Tadel, Hoff 
nung und Warnung für den Berfaffer nur beftätfgend ſich aus 
ſprechen könnten. Statt der Beweife in ruhiger Begriffgentwid- 
lung giebt er faft nur Ariome, gewagte Behauptungen und Ges 
danfeniprünge, Betheurungen in polemifcher oder perfuaforifcher 
Wendung, welche Manier fich jest fogar bis zu dem Kanon ge: 


Die philoſophiſche Fitteratur der Gegenwart. 417 


fteigert bat, daß „Feine Philoſophie ihr Princip beweiſe“ (S. 28), 
d. h. es nur feße, und es dann auf den Erfolg ankommen Yaffe, 
ob fie aus ihm das Dafein erflären Fönne oder nicht. Ebenfo 
fagt er anderswo, eine Philofophie der Freiheit habe Feine zwin- 
genden Beweiſe, wolle überhaupt fich nicht aufbringen, könne nur 
fih mittheilen an den, welcher Empfaͤnglichkeit für fie babe, fich 
in ihre Anfchauungen „hineinfchäuen“ Fönne u. dgl. Was an bie- 
fen Sägen richtig ift, verfennen wir nicht: — in der That kann 


der Philofophirende nur foweit die Welt und das Dafein erflä- | 


ven, wieweit fie felber ihm Far geworden ift in tiefer, felbfterleb- 
ter Anfchauung, und nur wer bie. Freiheit innerlichſt empfunden 
bat, wer in ihrem erfrifchenden Acther den eigenen Geift audge- 
weitet hat, wer daher auch jedem Andern feine freie Individua⸗ 


lität gönnt, Fann fie zum ſpekulativen Principe erheben und in. 


allem Wirflihen fie wiederfinden wollen. Aber damit hängen 
gar nicht zufammen die allgemeinen Anforderungen an die wiffen- 
fchaftliche Reife und Objektivität des Denkens, mit der jenes Prins 
eip, wenn es eben ald dag univerfale erkannt worden ift, fich zum 
Syfteme der Philofophie durchzuführen hat, noch dazu, da dem, 
welcher eg ergriffen hat, das Bewußtfein bewohnt, Fein anderes 
ächtes philoſophiſches Princip ſich gegenüber ſtehen gelaffen, fon- 
dern fie indgefammt in dem feinigen vermittelt und verföhnt zu 
haben. | 

Bei allem dem erfennt Ref. den Grundgebanfen ber neuen 
Freiheitslehre, wie der Berfaffer ihn wenigftens am Weſen dee 
menfchlichen Geiftes dargeftellt hat, für einen durchaus richtigen, 
und fih in dieſem Bereich mit demfelben einverftanden, ohne 
darum weder in der metaphyfifchen Theorie, die darauf gebaut 
wird, und beren Unzureichendes und Willführliches vielmehr bier 
flar an den Zag fommt, noch in die weitern Folgerungen, welche 
ber Verf. für die beftimmten Gebiete der Philofopbie des Geiſtes 
und der praftiichen Philofophie daraus zieht, einftimmen zu kön⸗ 
nen. Schälen wir jedoch jenen einfachen Gedanken aus feinen 
Umbüllungen heraus, fo hat derfelbe für fich eine folde Evidenz, 
zugleich ift er mit foldyer Energie von dem Berfaffer dargelegt 


4148 Fichte, 


worden, daß wir darin und um deßwillen der Schrift gerade im 
gegenwärtigen Zeitpunkte eine nicht geringe Bedeutung beilegen 
müſſen. Der Freiheit, dem Willen iſt das Primat in der Philos 
fophie zugugeftehen, — wer bat nicht feit Hegel oder in Oppo⸗ 
fition gegen ihn dieß ausgefprochen, überhaupt mehr oder minder 
ausbrüdlich fich zu diefem Gedanfen befanut, ohne daß bei jenen 
Behauptenden entfchieden und principiell die Philofophie damit 
einen Schritt über Hegel hinaus gethan hätte! Da zeigt nun eben 
der Berf. bier und in der vorigen Schrift von allen Seiten, und 
dieß macht das Wichtige feiner Polemik gegen das gefammte Her 
gelthum aus, daß das Princip der bloßen Immanenz dem Be: 
griffe der Freiheit nicht genugthun könne. Wäre nur dieß allge: 
mein erfannt, fo würde auch von jener Geite her ein wichtiger 
Schritt zur allgemeinen Berftändigung gefchehen fein! 

Damit ergiebt fi) aber, daß von jenem Principe ber Freiheit 
aus die ganze Metaphyfif, die Hauptbegriffe der fpefulativen Theo: 
logie umgebilbet werben müffen. Der Ref. hat diefe Umbildung 
mit dem Schöpfungsbegriffe vorzunehmen verfucht, ohne daß biefe 
Darftellung (3. Schr. Bd. IX. S. 196: „bie Idee der Schöpfung”) 
von denen, welche fie bis jett einer Kritif unterworfen haben, 
anders wäre betrachtet worden, denn als eine felbftbeliebte Hypos 
theſe oder eine parabore Neuerung, um nicht bei dem längft an 
gebahnten Alten zu bleiben, — ohne Einſicht in die tiefe Noth 
wendigfeit, welche von jenem Principe aus nur dieſe Faffung 
des Begriffes übrig ließ, und in die entfcheidenden Folgen für 
eine vollftändige, die Erfenntniß, wie das Gemüth gleicher Weile 
befriedigende Entwidlung der theiftiichen Philoſophie. 

Der Berf. hat nad) unferer Ueberzeugung diefe Entwicklung 
nicht gegeben, aber den entfheidenden Gedanken, der fie einleitet, 
mit höchſter Kraft und Klarheit, gewiffermaßen in Geftalt eines 
Problems, ausgefprochen. Daran halten wir und zunächſt, wenn 
wir die Bedeutung jener Schrift würdigen wollen. Ä 

Iſt der menſchliche Geift frei, ift er in Allem, was in ihm 
fih verwirklicht, feine eigene That: fo ift er auch nicht ge 
Ihaffen — er kann niht Produkt, Gefepies, fertig Hingeſtell⸗ 


\ 


Die philofophifche Ritteratur der Gegenwart. 119 


tes, eines fremden, wenn auch abfoluten Willens fein; wie man 
im gewöhnlichen Theismus den Begriff des göttlichen Schaffens 
beflimmt. Dieß halten wir für den nächften ganz unabweislichen 
Gedanken, der, wenn man redlicd und gründlich zufehen will, den 
bisherigen theiftiichen Schöpfungsbegriff als einen völlig ungenü- 
genden, dutchaus umzubildenden verräth. Hier bleibt dem Kon⸗ 
fequenten feine Wahl, als entweder ſich am pantheiftifchen Gottes⸗ 
und Schöpfungsbegriff genügen zu lafien, nach welchem die Wirk⸗ 
tichfeit und Freiheit des individuellen Geiſtes lediglich die eigene 
Selbfiverwirflihung Gottes ift, oder wenn man fi von dem 
Unzureichenden dieſes Standpunktes überhaupt, unter Anderm aud) 
durch eine tiefere Erwägung des Begriffes der Freiheit, überzeugt 
bat, dann eine weitere und eigentlihe Vermittlung zu fuchen zwi- 
fchen dem Satze: der endlich perfönliche Geift (weiter überhaupt 
die individuelle Kreatur) ift wirklich nur, fofern er felbft fi 
verwirflidt (Ihafft); und dem zweiten: ber endliche Geift (die 
Kreatur) iſt wirklich nur, fofern fe. durd Gott if. Erft wenn 
erkannt ift, wie beide Säge ihre ganze, ungefchmälerte Geltung 
behalten müſſen, kann der rechte Schöpfungsbegriff auch nur ge- 
ſucht werden. Bid dahin, daß jenen Beurtheilern das Bebürfniß 
folder Vermittlung entfteht, mögen fie wenigſtens ablaffen, von 
der einen oder der andern, Seite her mich zu ihren bisherigen 
gleicher Weife einfeitigen Vorftellungen zurückbekehren zu wollen, 
welche beide ich nicht ohne reifliches Ermeflen abgelegt. 

Jenem Fundamentalfage hat nun unfer Berfafler Die weitere 
Entwicklung gegeben: Iſt der menfchliche Geift frei, fo hat er les 
diglich ſich ſelbſt gefhaffen. Aber da er ferner in Mitte einer 
Natur lebt, auf welche er wirkt, in deren Gang er überall ein- 
greift, die fich feinem Willen fügt, und überhaupt ihm nichts Frem⸗ 
des it: fo hat er auch Die Natur gefhaffen. Aber endlich 
ift der menfchliche Geift zertheilt in die Vielheit von Individuen, 
er eriftirt nur als diefe Diannigfaltigfeit. Dennoch ift diefe wies 
derum durch das Bedürfniß gegenfeitiger Mittheilung, durch die 
Bande der Liebe und die burchwirfende Macht des Denkens und 
der Freiheit zur Einheit verbunden, welche verräth, Daß jene Zer⸗ 


120 Fichte, 


ſpaltung in Individuen nur der Erſcheinungswelt, ich bem wal- 
ren Sein angehört: der menfhliche Geift iſt in der Ewigkeit, 
welche der Zeit vorangeht und als das in ihr Erfcheinende ihr zu 
. Grunde liegt, Eins geweſen; erft mit der Entftehung ber Zeit 
welt hat er ſich in Individuen gefchieden. Diefe Einheit ift ber 
göttliche Logos, die fich felbft ſetzende Ebenbildlichfeit Gottes, die- 
felbe, welche in diefem Selbftfekungs- und Erfennungsafte. auf 
die Natur gefchaffen. 

ft nun aber die Menfchheit aus dem Ewigen herausgeire 
ten und eben nur dadurch ein Mannigfaltiges von Individuen ge 
worden, daß fie fi mir der Zeit und mit der Natur verflodhten 
hat: fo Tann ihr Ziel wiederum nur die Ewigfeit fein; in dieſe 
zurüdzufehren ift Inhalt und Zwed ihrer (gefchichtlichen) Entwid- 
Jung, d. h. der Entwidlung, zur Freiheit — aus den Naturbedin- | 
gungen, und der Freiheit — durch Verwirklichung der Freiheit 
Aller, in der auch nur der Einzelne völlig frei fein Tann: — 
daraus ergiebt fih ein Abriß der praftiihen Philofophie, der Be⸗ 
griffe des Staates, der Familie, der Kirche, in welchen der Berl, 
befonders gegen die Vorftellung eines (abftraften) „Bernunftftan- 
tes“ eifert (S. 83f.), der feinen allgemeinen Ideen das Leben und 
die Freiheit der Perfönlichfeiten opfert. Jede Conftitution, nad 
allgemeinen Begriffen gemacht, fei nichts Anderes, als eine Ty⸗ 
rannei, welche den Volkswillen befchränfe, indem jeder im Staait 
nur das fein folle, wag er wolle, u. |. w. 

Wiewohl nun Ref. diefe Grundlage zum Begriffe des Staws 
tes und ber ftaatlichen Freiheit Feinesweges für die richtige umd 
in Bezug auf ihre Verwirklichung für eine völlig unbeftimmte hält; 
— er betrachtet den rechten Staat vielmehr ald denjenigen, wel 
cher die äußern Bedingungen enthält, innerhalb deren, als aller 
dings num allgemeiner und zwingender, bie freie Perfönlichfeit eines 
Jeden ihr felber gemäß ſich entwideln und bie ihr genügende Wir: 
fensfphäre erhalten Tann; wir müffen, wie auch eine fittliche Le⸗ 
bensführung dieß von Innen ber und auferlegt, unfere -Außere 
Sreiheit, unfer Belieben mannigfach .einfchränfen laſſen, um mit 
voller Energie die innere Freiheit der wahren Berfönlichkeit und 


Die philofophifche Litteraur der Gegenwart, 124 


zu retten: — ſo zeigt ſich auch aufferdem in dieſer ganzen Auffaffung 
des talentvollen Berf. eine merkwürdige Inkonſequenz, welche wir fehr 
feiner Beachtung für Fünftige Unterfuchungen empfehlen. Nach 
feinen Begriffen von Staat und Familie hat die Perfönlichkeit, — 
bie eigenthümliche ©eftalt, welche der Geift in jedem Individuum 
angenommen, dev Genius, wie wir ed nennen würden, — höchs 
ften und abfoluten Werth; die Freiheit ift ihm nicht ald allgemeine, 
fondern nur als die perfönlihe wirklich: wie fehr Nef. darüber 
mit dem Berf, einverftanden ift, braucht kaum gefagt zu werden. 
Aber die ftimmt durchaus nicht mit feiner anderweitigen Behaup⸗ 
tung, daß der menschliche Gcift nur nady feiner Erfcheinungsweife 
ein individueller fei, daß er ebenfo in der Ewigfeit der Eine war, 
wie er in die Einheit zurüdfirebe, wonach ihm alfo die geiftige 
Individualität und Unterfehiedenheit (die Perfon) Feine Wahrheit 
und ewige Bedeutung haben kann. Dieß ift eine der Halbheiten 
ober Unentſchiedenheiten, durch welche feine Anficht noch dem He⸗ 
gelthume, überhaupt den abftraften Begriffen der philofophifchen 
Zeitbildung verhaftet geblieben und in gleichem Grade auch nicht 
zur vollftändigen Kortbildung der Philofophie Fichte's gelangt ift, 
der mit der höchften Entfchiedenheit die Ewigfeit und unveräußer- 
lihe Eigenthümlichkeit des wahren, fittlihen Ich, im Gegenfage 
zu dem in der Natur befangenen Schein-Jch Tehrt *): — bei un- 
fern Berfaffer, wie bei Hegel, würde die Konſequenz das Umges 
kehrte fordern, daß, je mehr das Ich aus den Naturbedingungen 
in feine Ewigfeit und Geiſtigkeit fih zurüdbildet, e8 deſto begriffe- 
mäßiger, allgemeiner und unperfönlicher,. bis zum endlichen Ver⸗ 
fhwinden feiner Individualität, werden müßte, Die Wahrheit ift 
wohl zu zeigen, was die Aufgabe der rechten Anthropologie wer« 
‚den muß, — wie in beiderlei Hinficht, yon natürlicher, wie geiftiger 
Seite, jeder Menfc ein durchaus individueller ift, wie aber von feiner . 
geiftigen individualität (feinem Genius) aus auch das Natürliche, 
Drganifche in ihm individualifirt und dem Geiſte zugebildet wird. 
*) Vgl. fein „Syſtem der Sittenlehre vom J. 18124 in feinen 
nachgelaffenen Werken, Bd. III. 3.8. ©. 70.71.75.55 ff. Vgl. ©. 62. 


123 Kichte, 


Veberhaupt aber iſt es grundentfcheibend für bie ganze gegen⸗ 
wärtige Philofophie, namentlich wo fie in bie praftiid vorliegen 
den Probleme der Zeit einzugreifen bat, ob ihr der Geiſt, als der 
allgemeine ober als der yerfönliche gebacht, feine höchſte Wahrheit 
babe? Wie man darüber ſich entfcheidet, Davon hängt Die Löfung 
aller Fragen ab, welche die Gegenwart bewegen, bis berumter auf 
bie einzelnen Begriffe des Strafrechtd oder der Erziehung. Jeder 
Anhänger des entgegengefetten Principe wird auch eine entgegen 
gefeste Antwort auf jene Fragen in Bereitfchaft haben; aber erfi 
dann bat die neue Zeit, das chriſtliche Princip, in ber Theorie der 
Gegenwart gefiegt, und aud die Philoſophie fi zum adäquaten 
Ausdrude deſſelben gemacht, wenn das Recht der Indivibualität in | 
allen Gebieten der geiftigen Freiheit erfannt worden ft, — das 
Recht, welches auf der Anerlennmig ihrer aus Gott ſtammenden 
-Ewigfeit beruht, | 

Aber auch noch in einer andern, ſpekulativ beurtheilt, 
ebenſo wichtigen Beziehung fcheint der Verf. bei dem Halben feis 
nes Principe ftehen geblieben zu fein. Er betrachtet bie Natur 
als gefhaffen durch den menſchlichen Geiſt vor feiner Ent 
zweiung, durch den göttlichen Logos; er entzieht ihr daher ganz 
folgerichtig die eigentliche Realität. und Eriftenz: fie gehört nur, 
wie Die Einzelgeifter, der Erfcheinungswelt an. Wir zeigen im 
Gegentheil: jedes wahrhaft Exiſtirende ſetzt fich felbft und ent 
wickelt fih aus dem eigenen und eigenthbümlichen Grunde; alfo 
auch das, was wahrhaft in der Natur eriftirt und allen ihren Ge 
‚bilden die unterfhieblihe Qualität und unbefchränfte Eigenthüm⸗ 
lichkeit aufbrüdt: — auch dieſes müßte man daher mit Dem Verf. das 
Freie und ſelbſt ſich Erfchaffende nennen. Erft mit diefer Ein 
ficht ift dem Principe der Freiheit fein volles Recht, feine wahre 
Univerfalität gegeben, der Geift nicht zur Natur hinab⸗, fondern 
biefe zu ihm heraufgezogen worden. Daß diefe Einficht, wie fie 
metaphyſiſch begründet wird, allein auch ber Erfahrung entfpridt 
‚ und diefe erklärt, daß fie, praftifch beberzigt, ung auch in ein bus 
manes VBerhäftniß zur Iebendigen Natur bringen würde, dieß fei 
nur nebenbei bemerft. 











Die philofophifche Titteratur der Gegenwart. 423 


Wichtiger erfheint ung, von hier aus den Schöpfungsbegriff 
noch einmal in's Auge zu fallen, der freilich mit dem Begriffe der 
Welterhaltung auf das Innigſte zufammenbängt und eigentlich) 
nur in Berbindung mit ihm richtig verftanden werben Fann, fo 
daß es ein Wagniß war, das ich nun durch das erregte Mißvers 
ſtaͤndniß zu büßen habe, den Abfchnitt von der Weltfchöpfung als 
lein dem. Publifum vorzulegen, ohne die ergänzende Lehre von 
ber Welterhaltung fogleich hinzuzufügen. Es fei daher geftattet, 
hier etwas Allgemeinered darüber zu fagen. 

Zuerft haben meine Beurtheiler außer Acht gelaffen, bag ich 
nicht, worin fie freilich das Philofophiren allein beftehen laſſen 
mögen, von Begriffsabftraftionen ausgehe, und nun aus ihnen 
apriori andere Begriffe ableite; alfo etwa bergebrachter Weile 
vom Begriffe des unendlichen, unbedingten Weſens anfange, die 
Welt, als das Endliche, Bedingte ihm gegenüberftelle, und nun 
aus jenem ben Begriff des abfoluten Wirkens (Schaffens), für 
diefe den des abjoluten Bewirktfeing herausfolgere, woraus dann, 
je nahdem man minder oder mehr die Konfequenz walten läßt, 
theils theiftifche, theils pantbeiftifche Folgerungen gezogen werden 
fönnen. Dieß Alles nenne ich Scholaftif, ein Ausſpinnen leerer 
Begriffe, und lege ihm gar feinen wiſſenſchaftlichen Werth bei, 
wie ich nicht zum erften Male erkläre. In dieſem Sinne bitte 
4 daher auch meine Philofopheme nirgends auszulegen, oder viel⸗ 
mehr, wenn man ihnen beweifen fan, daß fie nur dieß find, daß 
ihnen die Garantie und Nöthigung einer univerfalen Wirklichkeit 
nicht zu Grunde liegt, fo hätte man fie nach meinem eigenen Ges - 
ſtaͤndniſſe völlig widerlegt. | 
| Die Spekulation ift nur Denken des Univerfahwirflichen in 
feiner Nothwendigkeit, die Metaphyſik daher Denken der Idee Got⸗ 
tes aus den Prämiffen der Weltwirklichkeit. Daher muß ich auf 
alle jene gehäuften Fragen Günthers *), Die er der vermeint« 
lid apriorifchen Fiktion meines Schöpfungsbegriffes entgegenhält, 


En 








*) Eurpyſtheus und Heralles, metalogifche Kritifen und Mebitationen 
von W. 4. Günther, 1843. ©. 487 ff. 


und den lauten oder verftedten Folgerungen daraus, bie einfache 
Antwort geben, daß alle feine willführlichen Suppofitionen und 
Möglichkeiten völlig außer dem Bereich jenes Begriffes Tiegen; 
er weiß Nichts Davon, hat feine Antwort darauf zu geben, fofern 
nicht die Weltthatfache felbit dieſe Antwort enthält oder zu derſel⸗ 
ben den Antrieb giebt. Auch handelt es fich nicht davon, meinen 
Erfindungen vor denen Anderer den Vorrang zu erringen; vielmehr 
" will ich ſolchem Erfindungswefen für immer den Abfchied geben. 

Die Monadenlehre, weldhe mit dem von mir behaupteten 
Schöpfungsbegriffe genau zufammenhängt, geht durchaus nur aus 
der Denfnöthigung hervor, welche ung jenes Univerfalthatfächlide 
ſelbſt auferlegt.  Zunächft ift undenkbar, wie ein Wirfliches irgend 
einmal zu fein erft angefangen haben oder aufhören Fünne, en 
ftanden fei und vergehen werde. Es entfteht und vergeht über 
haupt nichts Wirkliches; es verändert fi nur in's Unendliche 
(wie diefe Veränderung felbft, der Wechfel der Befchaffenheiten, 
an ihm möglich fei, intereffirt ung bier nicht weiter; Die Ontes 
logie hat das allgemeine Problem zu Iöfen, die befondern Wiffen 
fchaften, die befondern Befchaffenheiten zu erklären, welche bei ber 
Beränderung ber einzelnen Dinge zu Tage fommen). Aber alles 
Wirkliche ift ſodann ein qualitativ Verſchiedenes, in bleibenden 
und feſten Unterſchieden fi) Ergänzendes. So wenig daher dafs 
felbe neu zu entftehen vermöchte, oder zu vergehen, ſo gewiß 
nur wird, ſich verändert: ebenfo wenig läßt fi) denfen, daß ein 
qualitativ Entſchiedenes zu einem Verſchiedenen, feinem Andern 
zu werben vermöge, daß es ſich wahrhaft an fich ſelbſt verändert 
und darin feine Urqualität aufgebe. So zeigt fi, daß das Blei⸗ 
bende, Ewige im wechfelnden Wirklichen nicht ein Einiges ſei, 
etwa das Abfolute, fondern ein Mannigfaches, Begränztes, fele 
ber „Endliches“, die nicht gewordene und nicht vergehende, felbft 
ewige Grundlage alles Werdens der Welterfcheinung. Dieß der 
Grund zu der Lehre von den Urpofitiosnen und Monaden, berest 
Einheit (wir entwideln nicht weiter die inhaltörcichen Beſtim⸗ 
mungen, bie diefer Begriff enthält) das Abjolute if. Nur imer⸗ 
halb diefer feftitebenden und wohl durch Feine Dialeftif oder So⸗ 


Die philoſophiſche Litteratur der Gegenwari. 126 


phiſtik umzuſtoßenden Grundbegriffe kann auch der Begriff der 
Weltſchöpfung und Erhaltung fallen, ſie weiter durchführend und 
nach Maaßgabe der Wirklichkeit tiefer und beſtimmter ausbildend. 

Denn das Wirkliche zeigt ſich ferner nicht nur als Unterſchie⸗ 
denes, fondern bei allen wechfelnden Befchaffenheiten, in welde 
es eingeht, nur das ihm Gemäße, feiner Urbeftimmtheit Enifpre- 
ende hervorbringend: es iſt felbftftändig, aus ſich felbft ſich bes 
fimmend gegen Anderes, widerftandsfähig und unverwüſtlich ge- 
gen alle ihm von Außen kommende Erregungen: kurz nicht bloß 
qualitativ unterfchieden, fondern individuell. Aber eben darum ift 
es nicht „geichaffen” in. dem gemeinen Sinne, übergegangen aus 
dem Nichtfein zum Sein, als fertig abgeſetztes „Produft eines ab- 
ſoluten Willens”, — weil bieß einfach ein Nichtgedanfe ift, das 
Myfterium eines begrifflofen Wortes, in Betreff deſſen man fich 
mit der Auskunft begnügt, daß der abfolute fchöpferifhe Wille 
eben anders beichaffen fei, ald der endlihe. — Iſt Diefe Bemer⸗ 
fung auch immerhin richtig; jo wäre die Welt, als das Reſultat 
eines folhen (einmaligen oder fteten) göttlichen Bewirfens, dann 
gewiß eine andere, als fie univerfell fich zeigt. Ein bloß gefeß- 
tes, ſelbſtloſes Produft kann nicht zugleich ein ſich felbft Seben- 
des, individuell fich Behauptendes und Entwidelndes fein. Beide 
Beſtimmungen find principiell wiberftreitend und unverföhnlich, und 
wer dennoch ihre Verknüpfung durch jenes Nichtwiſſen der Macht 
eines abfoluten Willens befchönigen wollte, — da boch vernünfe 
tiger Weife nur gefagt werden kann, daß der vollfommenfte Wille 
zwar die vollfommenften Produkte auswirken, dieſe Demungeachtet. 
darum deſto weniger bie Fähigkeit zeigen werden, fich felbft, und 
vollends Anderes, Gleichartiges aus fi) zu probuciren, — ber 
hätte damit überhaupt die Klarheit des Denkens aufgegeben, und 
gerade das Nichtwiffen zum Erflärungsprincip gemacht. 

Dephalb fprechen wir dem bisherigen Pantheismug, wie ges 
wöhnlichen Theismus gegenüber nochmals ed aus, Durch die uni- 
verſale Weltthatfache dazu genöthigt: fo wenig als die (endliche) 
Welt für die Wirklichkeit bes göttlichen Weſens gehalten werden 
kann, ebenfo wenig ift fie bloßes Produkt feiner Wirkfamfeitz fie ift 


136 | Fichte, 


ein Mittleres aus Beiden. Dieß ift noch nicht unfer Schöpfunge- 
begriff, aber es enthält die Prämiffen, die ihm zu Grunde Tiegen 

Daher ift, um noch einmal auf den unmittelbar bier vorlies 
genden Gegenftand zurüdzufommen, auch der Begriff einer allge 
meinen, an und für fi feienden Freiheit nur ein (Hegelſches) 
Abſtraktum, und es ift ein ſchon nachgewiefener Grundmangel bie: 
fer Philofophie, daß fie nur Die Freiheit in abstracto, ald Ber: 
nunft und Denfen, fennt und zum univerfalen Principe macht, wäh 
rend, der Weltthatfache gemäß, nur Individuelles, in eigenthüm- 
licher Setbfiftändigfeit ſich Gebahrendes exiſtirt; erft dieß genügt 
dem Begriffe des Freien, welches zugleich nur ald das Indivi⸗ 
duelle wirklich fein Tann. Die Vernunft, das Denfen, die butd 
waltende geiftige Einheit, muß als die Seite des Allgemeinen 
und Nothwendigen am Geifte betrachtet werben; bie einzige Nö- 
thigung, welche den Geift treffen kann, ift die zwingende Macht 
des Denkens, das Anerfennenmüflen der Wahrheit. Der Wilke, 
die Freiheit ift die Seite des geiftig Befondern, Individuellen md 
Eigenen, darum auch defien, worin jeder Geift hur aus fich ſelbſ 
fi enticheidet, und feiner überwältigt oder bezwungen zu werben 
vermag. 

Aber in diefen Willen geht auch das Allgemeine des Geiſtes, 
fein Denten eint — und dieß ift die Wurzel der geiftigen Inbr 
vidualität des Menfchen, dadurch iſt er freier Geftalter, Erfinder 
aller geiftigen Dlöglichkeiten, felbft des Böfen in feiner Bruſt. Wem 
nämlich in ber Natur das Denken nur objeftio und auf nothwen 
dige Weife wirft, gleich dem Zuge einer blinden Weisheit, wen 
e8 in den Thieren das ausmacht, was wir ihren Inſtinkt nennen: 
fo erfcheint es im menfchlichen Geiſte zuerft individualifirt und de 
mit fich ſelbſt zum freien Subjeft-Objefte werdend. Nur der menſch 
liche Geift in der Reihe des Endlichen ift Denfen des Denkens Gr 
is rñe vonaemg), und wie es mittelft jener Erhebung als „freie 
Weberzeugung” mit der indivibuellen Macht des Geiftes ſich ver 
einigt, Die Selbftthat feiner Freiheit und Individualität wird, | - 
müffen wir darin das Höchfte, Zugefpigtefte, darum Eigenſte md 
Unveräußerlichfte der Perfönlichkeit erkennen. 


Die philofophifche Kitteratur der Gegenwart, 477 


Daß erft aus dieſen Prämiffen und ihnen gemäß die allge 
meinen metaphyfiihen ragen, wie die befonderften der praftifchen 
Philofophie ausreihend und nachhaltig gelöst werden können, dieß 
jollte wohl im Allgemeinen ſchon Far geworben fein. Es auch 
nod im Befondern an der vorliegenden intereffanten und anre⸗ 
genden Schrift gezeigt zu haben, möge nicht für unzwednäßig 
gefunden werben. 


— — mn — — 


Das Sendſchreiben des Herrn Geh. J.Rath Dorguth an 
Herrn Profeſſor Roſenkranz über „die falſche Wurzel des Idealis⸗ 
mus’ bier zu erwähnen, veranlaßte den Ref. eine laͤngſt abzutra⸗ 
gende Pflicht der Erkenntlichkeit. Der gefälligen Mittheilung bes 
Berfaffers verdanke ich feine bisherigen Schriften und auch bie 
legte, worin natürlich die Aufforderung liegt, über den „Realra⸗ 
tionalismus”, in welchem der Verf. „das abfolute Richt” der Phi⸗ 
Iofophie zu verfümbigen gewiß ift, mich auch öffentlich zu erflären. 
Warum es bisher nicht gefcheben, ift weder in jenem sornehmen 
Ignorirenwollen zu fuchen, über weldes, als eine gleisneriſche 
Untugend unferer Zeit, der Verf. mit Recht fi) beffagt, noch in 
dem ftillen Befenntniß, feinen Gründen gegen den Idealismus 
mich gefangen geben zu müſſen: vielmehr glaubte Nef., daß dag 
Urtheil der Meiften Philofophen über Das neue Syſtem fo ziemlich dafs 
felbe und ein nicht ſchwer zu firirendes fein werde. — Der Grund⸗ 
fehler des Idealismus liegt nach dem Berf. in ber unbewußten 
Vermiſchung der Begriffe: Bernunft und vernünftig. Jeder 
ideafiftiiche Denfmeifter fuche namlich mit feiner Vernunft dag 
Bernünftige, d. h. dag objektiv Vernünftige, — nicht aber fo 
zu erfennen, daß er feine Natur flubirte, fondern, überzeugt, felbft 
Bernunft- zu haben, glaube er, rein durch Diefelbe das Mas . 
terial der Dinge, wie ber. Begriffe, erfennen und beftimmen zu 
kömen. Ihm if die Menfchenvernunft „ein Magazin der objeks 
tiven Wahrheit und Weisheit, mindeftens eine Wünfchelruthe, ein 
Zauberftab oder Spürnafe, analog dem Magnete, dem Trüffel- 
hunde” u. f. w. (S. 6. 7. 12). Dieß fei aber eine offenbare 


428 Fichte, die philofophifche Kitteratur d. Gegenwart. 


Selbfttäufhung, welche ſich auch in ihren weitern Folgen an ben 
idealiſtiſchen Syſtemen genugjam zeige, indem jedes eine andere 
Mufterfarte von Bernunft, und einen anderen Weltentwurf aus 
berfelben vorweist. Dieß die „Narrheit” des Idealismus. 
Aber ebenfo wenig hat die Borftellung des „Geiſtes“ objek- 
tive Realität: was der Idealiſt „Geiſt“, vollende® „fubjektiven 
Geiſt“ nemmt, iſt nichts Anderes als „das Sichwiſſen des Intel⸗ 
lekts“, das Bewußtwerden der in unferer Natur fich bildenden 
Thätigfeiten, die wir, wie jene Natur und alle äußern Dinge, 
nur ihrer „Erſcheinung“ nad kennen: weßhalb an die Stell 
einer fogenannten Pbilofophie des Geiftes, eine „Phyſiologie bes 
Intellekts“, treten muß, welche jene in's Bewußtfein eintretenden 
Thätigfeiten wiffenfchaftlih zu orbnen und in ihren verfchiedenen 


Disciplinen zu verzeichnen hat. Damit hat ung ber Verf. ſelbſt 


(S. 14) „auf den Standpunft feines Nealrationalismus geftell, 
aus welchem wir feine Konfequenz von A bis 3 verftändlich fin 
den können“. Er erfennt demnach überhaups. fein Apriorifches 
an; er concentrivt Alles in den von ihm erneuerten Lock e'ſchen 
Sat: »non est in intellectu, quod non antea fuerit in sangu« 
(S. 44). Der Berf. hätte vielleicht hiſtoriſch wiſſen können, daß 
von Leibnitz an bis auf Hegel hin auch der Idealismus fid 
biefen Sat, als einen in feiner Begränzung völlig richtigen, Tängft 
angeeignet hat, doc, nicht ohne den ergänzenden Zufag, daß ber 
intellectus felbft ſchon in sensu gegenwärtig fei. Indeß wird 
biefe und die andern damit verwandten Punkte unfer verehrte 
College. in Königsberg gewiß lichtvoller und allgemein befehrenber 
in feiner Erwiederung ausführen, als e8 ung hier in der Kür 
gelingen könnte! Was endlich dag Apriorifiven aus reiner Bers 
nunft betrifft, -defien der Verf. den Hegel’fchen Idealismus aw 
Hagt: jo bat fhon vor zehn Jahren Gruppe in geiftvoller Per 
lemif fi darüber ausgelaffen und bis auf diefen Tag, bie auf 
den Inhalt des vorliegenden Auffages, hat man nicht ermangell, 
‚ihm durch Polemif und durch poſitive Leiftung feine Gränze und 
das beftimmtere Bewußtfein feines eigentlichen Umfangs zu geben. 


Die innere Wahrheit der Religion. 


Bon 
Dr. Karl Bayer. 


Indem wir den Begriff der innern Wahrheit als 
Princip des religiöfen Bemwußtfeing darzuftellen unternehs 
men, liegt und ob, zu zeigen, zuerfi, daß der Begriff der in» 
nern Wahrheit, als das allgemeine und unbedingte Kriterion 
ber Wahrheit, auch der Grund des religiöfen Glaubens 
und die urfprünglide Erfenntnißquelle für dag reli- 
gidfe Bewußtfein iftz ſodann, daß der Begriff der Innern 
Wahrheit in der Idee der göttlihen VBollfommenbeit 
begründet und begriffen iftz enblih, daß die Anerfen- 
nung dieſes Principes der innern Wahrheit die wahre 
Frömmigkeit wirft und die wahre Gemeinfdhaft her- 
vorbringk Zuerſt alfo werden wir fehen, wie der Wahrheits⸗ 
begriff vermöge feiner Form, d. i. Kraft feiner Allgemeinheit und 
unbebingten Nothwendigfeit, auch in der Religion Realität und 
Giltigkeit hat; fodann worin fein Wefen befteht, woburd die 
Idee der Wahrheit eine inhaltsvolle, eine gehaltvolle Kategorie 
ift; endlich weldhe Wirkungen dieß Princip hat, welche ſittliche 
Folgerungen aus ihm fich ergeben. Syn diefer dreifachen Rüde 
fiht verweift der Berf. auf feine frühern Darftellungen: „der 
Begriff der innern Wahrheit” Cin der Zeitfchrift für praftifche 
Hhilofophie 1. Heft) und „die Idee der Wahrheit als willen- 
fchaftliches Problem” (Zeitſch. f. Philoſ. u. ſpekul. Theolog. X. 2.). 


— — — — 





Zeitſchr. f. Philoſ. u. fpef. Theol. XI. Band. 9 


430 Bayer, 


Die Allgemeinheit und unbedingte Giltigfeit bes 
Princips der innern Wahrheit folgt aus der Wahrheit goͤtt 
lichem Wefen. Wahrhaft allgemein und unbedingt giltig iſt das, 
was in fi felbfiftändig ift, was durch fich felbft befteht und um 
feiner felbft willen ift, — das felbftgenugfame Wefen. So felbfl- 
fändig und felbftgenugfam find die Beflimmungen und Eigen 
fchaften des göttlichen Wefeng, die Ideen: felbfiftändigen Werth hat 
bie Tugend, denn fie ift in der göttlichen Heiligfeit begründet, felbf- 
ftändigen Werth hat die Freiheit, denn fie ſtammt aus dem Geiſte 
Gottes, felbftftändigen Werth, felbfiftändige Würde "und Bebeut- 
famfeit hat die Wahrheit, denn fie ift ein Act der Vollkommenheit. 

Begründet und begriffen in der göttlichen Vollkommenheit it 
die Wahrheit innerlich felbfiftändig, und in dieſer innern Selbf- 
ſtaͤndigkeit ift fie allgemein giltig und unbedingt nothwendig. Die 
Wahrheit als in fich felbfiftändig umfaßt alle Gebiete des Seind 
und bes Lebens, beftimmt alle Gedanten und Willensentfchlüfe 
bes Geiſtes; fie ift ein ausnahmlofes Gefeg, ‚ein allumfaflendes 
Prineip, eine allbeberrfchende Macht, der felbfigenugfame Zwed, 
Zwar: find alle metapbyfiihen, alle ethifchen und. geiftigen Kate⸗ 
gorieen fo göttlichen Wefens, daß fie durch ihre innere Selbfifläns 
digkeit zugleich den Charakter unbedingter Nothwendigfeit und al 
gemeiner Biltigfeit haben, aber die Wahrheit hat diefen Vorzug 
in eminentem Sinne. Denn fie ift ſelbſt dieſer göttlidren Selbfls 
ffändigfeit Selbfibezeugung, der göttliden Vollkom— 
menbeitSelbftbewußtfein; fo daß der Charakter unbedingter 
Algemeingiltigfeit nicht nur zum Wefen der Wahrheit gehört, fon 
bern fo, daß diefe Allgemeinheit die Form ift, unter der allein 
fie fi) darftellen, unter der allein fie erfcheinen Tann: die Wahre 
beit ift ale folche nur wirklich, indem fie den Glauben an fich felbfl 
mittheilt, die Ueberzeugung von ihrer innern Realität hervorruft. 

Ueberall, wo Wahrheit ift und Wahrheit erfannt wird, — 
objeetiv und ſubjectiv — ift es die innerliche Selbftftändigfeit 
der Wahrheit, die innere Wahrheit, die ſich felbft darſtellt und 
bezeuget; alle Gebiete der Natur und des Geiftes umfafjend, if 
fie die innere Kraft des Lebens und der Freiheit und zugleich ber 


- Die innere Wahrheit der Religion. 434 


Grund aller unſrer Borftellungen, die urfprüngliche Selbfigewißbeit 
aller Gedanken, die urfprünglihe und allgemeine Duelle unferer 
Erfenntniffe, die bewegende Kraft unferer Willensentfchlüffe. Was 
wahr ift, ift wahr duch fih felbft, in fih ſelbſtſtän— 
Dig — und wir erkennen dag Wahre durch ein Wahrbeitserfen« 
nungsorgan, das fo untrüglich ift und ewig und heilig, und heili⸗ 
ger noch und untrüglicher, ald das fittliche Gewiſſen. 

Daß wir Etwas für wahr hielten, was wir nicht als innerlich 
wahr erfannt, ift mei isch und piychologifch unmöglich : unmög⸗ 
lich ift e8, aus einer aldein Duelle der Wahrheit Erfenntniß zu fchöp- 
fen, als aus dem Duelle des urfprünglihen Sinnes für die innere 
Wahrheit, der Wahrbeitsbegeifterung. Wahrheit ift Die urfprünglich 
freiefte That des göttlichen Wefens, in der Gott fein Wefen felbft 
bezeuget: aus dieſem Begriffe der Wahrheit folgt, daß fie nur 
von der Freiheit begriffen, geliebt, aufgenommen werben kann, daß 
aur ein diefem urfprünglichen göttlichen Freiheitsacte entfprechen- 
der Act der Freiheit im menfchlichen Geiſte Wahrheit finden und 
fühlen kann. Diefer urfprüngliche Act der Freiheit im menſch⸗ 
lichen Geiſte ift das Wahrheitserfennungsorgan, der Sinn ber 
innern Wahrheit: fei es, daß dieſe innerfte That des Geiftes 
fih zu fühlen gibt als Bedürfniß, oder fich erweilet ald Trieb, 
oder als Fähigkeit fich darftellt oder als Liebe der Wahrheit, — 
es ift der urfprüngliche Act des Geiftes, durch den er Geiſt ift, 
ber Act der Seiftigfeit, ber ald Organ der innern Wahrheit 
bie Wahrheit ergreift in ihrer innern Genugfamfeit und 
Gewißheit. Es kann nicht anders fein, die pſychologiſche Er⸗ 
fahrung beftätigt diefe metaphyfiiche Wahrheit. Denn, abgejehen 
von den verfchiedenen Formen des Bewußtfeins, und abgefehen 
von den verfciedenen Graben ber Gewißheit, wie gelange ich 
bazu, Etwas für wahr zu halten, als wahr anzuerfennen? Wo⸗ 
Durch entſteht mir die Vorftellung und die Anficht, die Erkenntniß 
und die Ueberzeugung? Als wahr erfenne ich an, was mich zur 
Anerkennung feiner felbft nöthiget. Diefe Nörhigung aber ift nicht 
eine äußere Gewalt, die ich erfahre, fondern ein Aufruf an meine 
Freiheit: die innere Selbfiftändigfeit der von mir anerkannten 

9* 





132 Bayer, 


Wahrheit ift auch das Wefen des Geiſtes. Wahrheit erfennend 
bin ich frei und glücklich, weil diefer Act der Erkenntniß innigſtes 
Einverfländniß meines Geiftes mit dem ift, was in fich felbft freies 
ewiges felbftftändiges Leben if. Eine äußere Gewalt könnte dich 
nöthigen, was in fich ſelbſt ſich widerſpricht, als wahr anzuerken⸗ 
nen, was dem Geſetz der Sittlichkeit, dem Weſen des denkenden 
Geiſtes widerſpricht, als göttliche Offenbarung aufzunehmen: was 
aber in ſich ſelbſt wahr iſt, was wahr iſt, weil es aus dem Weſen der 
Natur und des Geiſtes folgt, was göttlich wahr und ſelbſtgewiß iſt, 
ergreift dich mit unwiderſtehlicher Evidenz, erregt deine innerſte Thaͤ— 
tigfeit, wirfet in deinem Geifte freie Zuftimmung, in deinem Her- 
zen inniges Einverftändnig und Freudigfeit im Gemüthe. In dem 
Maße, als eine Vorftellung ihre Beglaubigung in. fich felbft trägt, 
und in dem Grade, in dem eine Anficht auf: die innere Eviden; 
der Wahrheit fi) gründet, wird jene zur Erfenntniß, dieſe gu 
Weberzeugung: ich erfenne das, deflen innere Nothwendigkeit ich 
einfehe, und ich bin überzeugt von dem, was als in nerlich 
wahr mir gewiß geworden ift. 

Diefer Glaube an die Wahrheit, als an die auf fih felhf# 
rubende, ift das eigenthümliche Organ der fpefulativen Wiffen- 
haft und Gefinnung: es ift dieß Princip aber nicht ein ſpeeifiſch 
eigenthümlicher Charakter der Spekulation, fondern auch — aber 
ohne daß derfelbige fi) deffen bewußt ift — das Princeip de 
religiöfen Glaubens und die nothbwendige Boraus- 
fegung des Dffenbarungsglaubens. Der Offenbarmgs⸗ 
glaube ruht zunächſt auf einer innern Erfahrung des Herzens und 
auf.einem Gemüthsentfchluffe, diefen Troft des Herzens in fidy 
walten zu laſſen, dieſen Offenbarungsinhalt in fih aufzunehmen, 
bem Geifte dieſer Offenbarung fich hinzugeben. Aber diefer Enter 
ſchluß, diefe Erfahrung fegen einen Begriff, ein Urtheil, einen 
Schluß des Wahrheitsfinnes voraus: der Offenbarungsglaube rufe 
auf einem Urtheil und Schluß der Vernunft, Vernunft ift Wahr 
heitserkenntniß. — Als göttlihe Offenbarung nimmft du auf, al 
göttlihe Wahrheit erfenneft du an, was mit der Idee der Böll“ 
lichkeit übereinftimmt: die Uebereinſtimmung bes Glau— 


Die innere Wahrheit der Neligion. 1353 


bensinhaltes mit der Idee der Göttlichkeit ift die noth— 
wendige Boraugfegung für den Glauben. So beruht 
auf bem innern Wahrheitsfriterium aud der Dffenbarungsglaube, 
auf dem Begriffe der innern Wahrheit beruht die beglüdende Her- 
zenserfahrung von ber troftreihen und befeeligenden Kraft bee 
Glaubensinhaltes, auf der Gewißheit von der innern Evidenz der 
Wahrheit beruht der Entfchluß, fih dem Geiſte der Offenbarung 
binzugeben, das Vertrauen, die Zuverfiht, das Einverftändnig 
unferer Seele mit ber, ahrheitsverfündigung. 

Nur die größte vſtiauſchung kann dieſe Nothwendigkeit die 
Menſchen vergeſſen laſſen: wer dieſe Nothwendigkeit, dieſen Zus 
ſammenhang nicht einſieht, macht ein particulares Bedürfniß und 
den Entſchluß der Selbſtſucht zu Prämiſſen ſeines Glaubens. Ein 
wahrer Erfenntuißgrund, ein wahres Axiom, ein wahrer Ober⸗ 
ſeh im Gedankenſchluſſe Fann nur fein eine metaphyſiſche Wahre 
beit, eine ewige, heilige, auf fich felbft beruhende, durch ſich felbft 
enidente, felbft Feines Beweiſes bebürftige Wahrheit. Aber alle 
biefenigen, die fich des urfprünglihen Wahrheitszeugniffes, dag 
der Aufnahme der Offenbarung vorhergegangen ift, bag fie bes 

ſtimmt und geleitet hat, nicht bewußt find oder nicht bewußt wer» 
den wollen, machen ihr Bebürfniß zum Fundament ihrer Beweid- 
führung für die Wahrheit ihres Glaubens und ſchließen alfo: 
„ir bedürfen einer Lehre, die und Ruhe und Frieden gewährt, 
diefer Offenbarungsinhalt befriedigt unfer Beduͤrfniß, alfo ift dieſe 
Offenbarung wahr.” Dieß iſt ber unfittliche, der felbftfüchtige Glaube. 

Der fitliche, der uneigennüßige Glaube hat zu feinem Fun⸗ 
damente die Ueberzeugung* von der Selbfiftändigfeit dev Wahrheit, 
den Begriff von der Göttlichkeit Gottes: er glaubt an die innere 
Wahrheit der Offenbarung, die er aufnimmt, er erkennt ſie als 
wahr an, weil fie innerlich wahr, weil fie mit der Heilig— 
keit Gottes übereinſtimmt, weil fie ber göttlichen Voll— 
kommenheit Ausdruck und Darſtellung iſt. Der ſittliche 

e iſt die Ueberzeugung von ber innern Wahrheit 
der Religion. 

Wollen wir nun Zeugniſſe und Auctoritäten für jene Formen 


134 Bayer, 


des Glaubens fuchen, der das Wahrheitözeugnig des eigenen 
Geiftes verläugnet, fo ift diefer Glaube nicht in der unfichern und 
abgeleiteten Darftellung, wie er in der herrichenden Richtung der 
Zeit erfcheint, zu betrachten, fondern in der urfprünglichen, ſelbſt⸗ 
fändigen Form, bei urfräftigen Geiltern, wie Hamann, Die 
Kraft und Tiefe feines Geifted, die fehöpferifche Freiheit feines 
Geiftes zeigt Hamann am Glänzendften darin, daß er den mate 
riellen und geiftigen Bezug der Dinge und Berhältniffe auf fid 
felbft erfennt, befonders aber ein wahtes und tiefes Gefühl für 
ſinnliche Wirklichkeit hat. Deßhalb hat er mächtig und fruchtbar 
gewirkt gegenüber dem abſtrakten und einſeitigen Idealismus, der 
ſich der ſinnlichen Wirklichkeit der Dinge ſchämt; aber er konnte 
nicht dem höchſten Bedürfniß genügen, er hat Nichts geihan für 
bie wahre hriftlihe Weisheit. Wir bedürfen nicht nur des Glau⸗ 
bens an die finnlihe Realität: und reelle Sinnlichfeit der ie 
ſchichte, — wir bedürfen noch mehr des neuen geiftigen Sinnes 
für die innere geiftige Wahrheit des Chriftenthums. 
Die wahre Tiefe und Reinheit des hriftlichen Glaubens iſt eine 
Unſchuld des Geiftes, eine Lauterfeit des Gemüthes, eine geiftige 
Klarheit und Freiheit, eine Liebe, die unendlich erhaben ift über 
die Controverfen,. in denen allein Hamann fi bewegt. Die 
Zeugniffe des innern Wahrheitsfinnes hat Hamann nicht aner⸗ 
fannt, die Bedeutung des Gewiſſens hat er gänzlich verfannt, was 
wahr und gut fei, ift in diefer Slaubensform ein willführlicher 
Beſchluß eines willführlichen Gottes: wie fol der Menfch dayım 
wien? Was wahr und gut-ift, ift aber nur wahr und gut 
durch die göttliche Bollfommenheit, weit fo zu wollen, fo zu den⸗ 
fen göttlich ift: diefer Wahrheit und Heiligkeit innere Selbſtſtän⸗ 
vigfeit macht eg nothwendig, daß der Menſch fie erfaffe mit freiem 
Gewiffen und in freier Erfenntniß. " 
Dieß Gefühl und Bewußtfein der göttlichen Vollkommenheit, 
die ung fagen, was güt ift und wahr, ift das Poftulat des wah⸗ 
ren, des neuteſtamentlichen hiſtoriſchen Chriſtenthums: im Alten 
Teſtament iſt das Sittengeſetz auf den göttlichen Urheber zurück⸗ 
geführt, aber nicht ſo, daß es aus ſeiner Göttlichkeit abgeleitet 


Die innere Wahrheit der Religion, 135 


wäre: — Tugend und Wahrheit find nicht als ſelbſtſtaͤndig göttlich 
gedacht, wo man fie auf einen „urkundlichen Vertrag Gottes mit 
den Menfchen” zurüdführt. Hamann fagt: „ber charakteriftifche 
Unterfchied zwifchen Judentum und Chriſtenthum betrifft weder 
un= noch mittelbare Dffenbarumg, — noch ewige Wahrheiten und 
Lehrmeinungen — nod) Geremonial- und Sittengefeße — , fondern 
lediglich zeitliche Geſchichtswahrheiten, bie fid) zu einer Zeit zugetra⸗ 
gen haben, und niemals wiederfommen, — Thatfachen, die durch eis 
nen Zufammenhang von Urfadhen und Wirfungen in einem Zeitraum 
und Endpunfte wahr geworden, und alfo nur von diefem Punkte 
der Zeit und des Raumes ald wahr gedadıt werden fünnen und 
durch Autorität beftätigt werden müffen.” Welche BVorftellungen 
vom Wefen der Wahrheit! welcher Mangel an Mitgefühl für die 
neuteftamentliche Geſchichte! Eine Reihe falfcher Schlüffe ift in 
diefen Worten zufammengedrängt. 

Die Geſchichte des Neuen Teftaments ift durch „einen Zufam- 
menhang von Urſachen und Wirfungen” zivar wirklich geworden, 
aber „wahr“ ift das Chriftenthum durch die Liebesthat Gottes, 
durch Gottes ewigen Liebesentſchluß. Wahr ift das Chriften« 
thum durch feine ewige, innere, heilige Wahrheit: und in dieſer 
innerlichen Selbftftändigfeit ift e8 zugleich ein Inbegriff von geis 
fligen Wahrheiten, durch deren Berfündigung dag Neue Teftas 
ment fpecifiih vom Alten ZTeftament fi unterfcheldet, — durch 
deren Anerkennung die dhriftlihe Welt fich fpecififch unterfcheidet 
von dem vorschriftlichen Alterthum. Wer dieß nicht einfieht, hat 
fich felbft nicht erfannt, hat fein eigen Herz nicht verftanden, hat 
nie empfunden, was der volle Glaube an die Wahrheit fei, was 
gefinnungsvolle Ueberzeugung vermöge. Jene gewaltfame, wille 
führliche, unmwahre Trennung und Entgegenfesung der gefchicht- 
Alichen Thatfache und der geiftigen Wahrheit, durd welche die 
Thatfache wirklich geworden, können wir ung nur aus Selbfttäu- 
fhung erklären: der Gläubige weiß nicht, oder will es fich felbft 
nicht gefteben, was ihn zur Anerfennung eben diefer Gefchichte 
als eines göttlihen Dffenbarungsmwortes vermocht, was ihn bes 
fähigt hat, zu unterjcheiden und zu erfennen. 


436 ” Bayer, 


Du hörſt die Gefhichte vom barmherzigen Samariter: — 
biefe Liebe ergreift dein Herz, biefe Liebe bezwingt dir das Herz, 
überzeugt dich von der Gewißheit der göttlichen Liebe, dur forſcheſt 
ſehnſuchtsvoll und beffommen nach neuen Erweifungen, nad) neuen 
Thaten diefer heiligen Liebe: daß Chriſtus dieß Gleichniß gebraudt 
bat, daß eine göttliche Rehre in ihm ung enthüllt ift — dieß ik 
gewiß durch das innere Zeugniß der Wahrheit. Zu fein mie 
Chriftus geweſen ift, heißet ein Chrift fein: ein Chrift ift, wer 
zu werben ftrebet, wie Chriſtus geweſen if. Einem ſolchen Mens 
ſchen verfehwindet die unwahre und thörichte Entgegenfeßung ge: 
ſchichtlicher Thatfachen und ewiger Wahrheiten: eine Thatfache ift 
wahr und bedeutungsvoll, fo ferne fie, im Lichte des göttlichen 
Willens betrachtet, einer ewigen Wahrheit Verwirklichung if. 
„Der Chrift,” fagt Hamann, „glaubt alfo nicht an Lehrmels 
nungen der Pbilofophie.” Der Chriſt glaubt an die Wahrheit 
als folche, mit Tauterem Geifte, mit unfchuldigem ‚Geifte, an bie 
Wahrheit, weil fie aus Gott ifl. 

Gegen diefe Form der Gläubigfeit, welche das imere Zeug⸗ 
niß, die Selbſtgewißheit der Wahrheit nicht anerkennt, und das 
Wahrheitserfennungs» Organ im eigenen Geifte verläugnet, find 
Leffings Ariomata gerichtet: Leffing hat mit. ewigen Zügen, 
für alle Zeiten, die Grundfäge der ſittlich lautern, der gewiflen 
haften und. gefinnungsvollen Schyjftausfegung feſtgeſtellt: „Die 
Religion iſt nicht wahr, weil die Evangeliſten und Apoſtel ſie 
lehrten, ſondern fie lehrten fie, weil fie wahr iſt.“ „Aus ihrer 
innern Wahrheit müffen die fchriftlichen Weberlieferungen erflät 
werden, und alle fchriftlihen Ueberlieferungen können ihr feine 
innere Wahrheit geben, wenn fie feine hat.” — „Die Ausbildung 
geoffenbarter Wahrheiten in Bernunftwahrheiten ift fchlechterdings 
nothwendig, wenn dem menfchlichen Gefchlechte damit ach} 
werden foll.” 

Leſſings theologiſche Streitſchriften haben höhere Vorzüge, 
als ihnen von den Meiften zugeftanden werden; fie find beſonders 
herrlich durch die flille Rührung, das männliche, edle Gefühl, 
daB fie durchdringt. 


Die innere Wahrbeit der Religion. 


Bon 
Dr. Karl Bayer. 


Indem wir den Begriff der innern Wahrheit ale 
Princip des religiöfen Bemwußtfeing barzuftellen unternehs 
men, liegt und ob, zu zeigen, zuerfi, daß der Begriff der in— 
nern Wahrheit, als das allgemeine und unbedingte Kriterion 
ber Wahrheit, auch der Grund des religiöfen Glaubens 
und die urſprüngliche Erfenntnißquelle für dag reli— 
giöfe Bewußtſein iftz fodann, daß der Begriff der innern 
Wahrheit in der Idee der göttlichen Vollkommenheit 
begründet und begriffen ift; endlich, daß die Anerken— 
nung dieſes Principes der innern Wahrheit die wahre 
Trömmigfeit wirft und bie wahre Gemeinſchaft her— 
vyorbringt. Zuerft alfo werden wir fehen, wie der Wahrheits⸗ 
begriff vermöge feiner Form, d. i. Kraft feiner Allgemeinheit und 
unbebingten Notwendigkeit, auch in ber Religion Realität und 
Giltigkeit hat; fodann worin fein Wefen beſteht, wodurch bie 
Idee der Wahrheit: eine inhaltsvolle, eine gehaltwolle Kategorie 
iſt; endlich welche Wirfungen dieß Princip hat, welche füttliche 
Folgerungen aus ihm ſich ergeben. In dieſer dreifachen Rüde 
fiht verweift der Verf. auf feine frühern Darftellungen: „ber 
Begriff der innern Wahrheit” Cin der Zeitfehrift für praftifche 
Philoſophie A. Heft) und „die Idee der Wahrheit als wiſſen⸗ 
Ihaftliches Problem” (Zeitſch. f. Philoſ. u. ſpekul. Theolog. X. 2). 


— — — 





Zeitſchr. f. Philoſ. u. fpef. Theol. XL. Vand. 9 


4138 Bayer, 


find nah Fichte Kriterien der Göttlichfeit einer . Dffenbarung 
ihrer Form nach; das allgemeine Kriterium der Göttlichfeit einer 
Religion in Abficht ihres moralischen Inhaltes ift folgendes: „Nur 
diejenige Offenbarung, welche ein Princip der Moral, welches mit 
dem Princip der praftifchen Vernunft übereinfommt, und Tauter 
folhe moraliihe Maximen aufftelt, welche fih davon "ableiten 
laſſen, kann von Bott fein. — Das Moralgefeß in ung ift die 
Stimme der reinen Vernunft, der Vernunft in abstracto. Ber 
nunft kann fi nicht nur nicht widerſprechen, fondern fie Tann 
auch in verfchiedenen Subjekten nichts Verſchiedenes ausfagen, 
weil ihr Gebot die reinfte Einheit ift, und alfo Berfchiebenbeit 
zugleih Widerfprucd fein würde, — Eine Offenbarung, die Mars 
men enthält, welche dem Princip aller Moral widerfprechen, bie 
3. 2. Betrug, Verfolgungsgeift, die überhaupt andere “Mittel zu 
Ausbreitung der Wahrheit ald Belehrung autorifirt, ift ficher nicht 
von Gott, denn der Wille Gottes ift dem Moralgefeg gemäß, 
und was biefem widerfpricht Fann er weder wolles, nach Tann a 
zulaffen, daß Jemand es als feinen Willen ankündige, der außer⸗ 
dem auf feinen Befehl handelt.” Und über die Kriterien der Goͤtt⸗ 
Kichfeit einer Offenbarung in Abfiht der möglichen Darftellung 
ihres Inhaltes: „Die Heuchelei ift viel ſchrecklicher als der 

völlige Unglaube, weil Ießterer den Charakter nur fo lange, ald 
er dauert, verberbt, ber erfte aber ihn ohne Hoffnung jemaliger 
Befferung zu Grunde richtet. — Dieß ift die Folge, welche das 


Berfahren, den Glauben auf Furcht und Schreden und auf bie - 


fen erpreßten Glauben erft die Moralität gründen zu wollen, noth⸗ 
wendig haben muß, und welde er aud allemal gehabt haben 
würde, wenn man immer confequent zu Werfe gegangen, — Rad 


Maßgabe diefer Grundfäge würde der einzige Weg, ben Glauben 


in dem Herzen der Menſchen bervorzubringen, der fein, ihmel 
durch Entwicklung des Moralgefühls das Gute erft recht Tieb ufb 
werth zu machen, und dadurch den Entfhluß, gute Menſchen 


zu werden, in ihnen zu weden. — Ein Jeder wird aus dem . 


Urtheil, das er (bei folder Anfiht) über Gewinn und Verluſt 
fänt, fein eigen Herz näher Eennen lernen.“ — „Die einig 


Die innere Wahrheit der Religion. | 4189 


vabre Probe, ob man Etwas wirklich antiehme, ift, ob man das 
sach handelt.” 

Dieß ift die Erhabenheit der Lehre von der „prafiifchen Vers | 
mft”, in dem Begriffe des Sittengefeges ein unbedingt gültige, 
allgemein nothwendiges, durch fich felbft ewidentes, — ein inner- 
lich ſelbſtſtändiges Wahrheitsfriterium erkannt zu haben: ein uns 
mdlicher Fortfchritt iſt dieß Bewußtſein von der. Unbedingtheit 
bes Sittengefeged. Der unwahre Gegenſatz von hiſtoriſcher und 
vernünftiger Wahrheit ift aufgehoben, ber fittlihe Glaube ift ges 
fordert und angekündigt. Aber dieß ift die Schranfe der Eritifchen 
Philoſophie, die Wahrheit des allgemeinen Geiles auf die Wahr: 
beit der praftifhen Vernunft befchränft zu haben, den ethifchen 
Sefichtspunft, der doc nur ein befonderer if, verallgemeinert zu 
haben. Kant und Fichte deducigen alle göttlihen Eigenfchaften 
aus dem Princip des göttlichen Willens, des Sittengefeges: er 
fei heilig und ſeelig, foferne dieß Sittengefeg ohne alle Ein⸗ 
ſchränkung in ihm herrſcht, allmädhtig, foferne dieß in Beziehmg 
auf die Sinnenwelt gedacht wird, gerecht, foferne er eine voll- 
fommene Concurrenz zwilchen der Sittlichfeit und dem Glüde 
enblicher vernünftiger Wefen bervorbringt u, |. f. 

Statt diefes beſchraͤnkten Kriterion der kritiſchen Philofopbie 
bedürfen wir eines allgemeinen, eines pofitiven: den Begriff ber 
innern Wahrheit. Was aber der Begriff der innern Wahrheit, 
der feiner Form nad allgemein und unbedingt giltig ift, feinem 
Gehalte nach fei, ift der zweite Gefichtspunft unferer Betrachtung, 
Der Begriff der innern Wahrheit folgt nicht nur aus der unbe- 
dingten Realität des Sittengefeges, fondern aus dem Begriff in« 
nerlicher ſelbſtſtaͤndiger Vollkommenheit, aus der Idee der Gött— 
lühfeit. 


— — —— — — 


Innere Wahrheit iſt der Act der innern Voll— 
Iommenheit eines Weſens, innere Wahrheit ift der Act, 
indem fi die Genugfamfeit begeugt, der Selbfibe- 
thätigungsact der Bollfommenheit. Innere Wahrheit 


10 Bayer, 


bat das, was auf der Vollkommenheit feiner Wefens- Berhält- 
niffe beruht, was in fih vollfommen il und in ſich ge- 
nugfam. 

Hat relativ jedwedes Weſen innere Wahryheit und Selbſt⸗ 
ſtändigkeit, ſo ferne es durch die Harmonie feiner Weſens⸗Ver⸗ 
hältniffe, durch eigene innere Kraft und Lebendigkeit beſteht, fo iſt 
Doch dieß Princip innerer Wahrheit am allereigentlichften 
gültig und nothwendig auf dem Gebiete der Religion. Die reli- 
giöfe Wahrheit ift die im abfoluten Sinne innerlich wahre; 
denn Gott ift die Wahrheit, als feiner Bollfommenheit ſelbſt 
fi) bewußt. Gott ift die Wahrheit als feiner Vollkom— 
menbeit Selbftbewußtfein — und wahr if, was Gott 
gedacht hat, was zu denken feiner Göttlichkeit gemäß 
if. Die Idee der Göttlichkeit, der felbfifiändigen, 
felbfigenugfamen Bollfommenpheit ift Kriterion und Maß 
aller Realität und Wahrheit. Auch der religiöfe Glaube und die 
religiöſe Meberzeugung hat ihren Urfprung und Grund, ven Maß- 
ftab für ihre Echtheit und das Kriterion ihrer innern Wahrheit, 
ihre Beglaubigung, Begründung, Beftätigung und Bewährung in 
der Idee der Vollkommenheit: wir erfennen das ale religiöfe Wahr- 
heit, wir glauben an das, was in fich felbft göttlich, was ber 
Idee göttliher Vollkommenheit entfpricht, ihr gemäß iſt, aus ihr 
erfolgt; wir glauben an Jeſum Chriftum, weil er der ſelbſtſtän⸗ 
dige Inbegriff fittlich = geiftiger Vollkommenheit ift, — um feiner 
göttlichen Liebe willen, feiner göttlich Tautern, heiligen Liebe. Der 
Gedanke der Gotteswürbigfeit, der Göttlichfeit if Fein Erzeugniß 
unerleuchteter Bernunftwillführ, fondern dad Organ der Wahrheit 
überhaupt, Poſtulat der fittlich geiftigen, der veligiöfen Vernunft. 
Ohne dieß innere Licht ift alles Finfterniß, ohne dieſe göttliche 
Eingebung ift der Glaube purer Aberglaube und eitler Wahn; 
Dieß Bollfommenbheitsbedürfnig und Vollkommenheits⸗ 
bewußtjein ift ber Urfprung bes veligiöfen Bewußt- 
feing, 

Gott ift größer ald unfer Herz. Aber nicht ſo, als könnte, 
was gut vor dem Gewiſſen der Menſchen, bei Gott boͤſe ſein, 





Die innere Wahrheit der Religion. 144 


und umgekehrt, nicht fo, als fei, was wahr und gut iſt, wahr und 
gut durch einen wilfführlichen Beſchluß Gottes, als Fönnte das 
böfe auch gut fein, wenn Gott e8 anders beſchloſſen. Es fehlt 
nicht an Solchen, die ganz folgerichtig, indem fie dem Menſchen 
ein inneres Kriterium ber Gotteswürbigfeit, der Gottesgemäßheit, 
ber Göttlichkeit abſprechen, zugleich jene Außerften, ſchaudervollen 
Conſequenzen nicht verläugnen, daß weder das Gute an ſich und an⸗ 
ders gut iſt als Durch ein willführliches Machtgebot eines willkühr⸗ 
lichen Gottes, noch der Menſch, was wahr und gut ſei, zu wiſſen 
vermöge. Was wahr und gut iſt, iſt wahr und gut, weil Gott 
e8 fo hat gedacht, gewollt alg der, ber er ift, nach feiner Frei— 
heit Gefeß, nach der NRothwendigfeit feines heiligen Wefeng, weil 
fo zu wollen, fo- zu denfen göttlich if. Ausdrud der Göttlichfeit 
ift, weil Gott, indem er fo denkt und fo will, den Act feiner Gött⸗ 
lichfeit vollzieht, weil er fo denfend und fo wollend frei ift, feelig 
ift, Gott iſt. Die innere Wahrheit und freie Nothwendigkeit, dag 
innere gefegmäßige Leben, die eigene Kraft und Beſchaffenheit 
jedes Dinges und jedes Weſens, das, wodurch ein Jedes ift, was 
es ift, dieſe innerliche Selbftftändigfeit und Eigenartigfeit ift alfo 
nicht Durch willführlihen Beſchluß, fondern durch innere fchöpfe- 
tiihe Freiheit den Dingen und Wefen eingeboren und dauernd 
und unwandelbar. Deßhalb Tann der Dienfch fein Gewiffen, auch 
wenn er es verleugnet, nicht vernichten, feinen Wahrheitsfinn, 
auch wenn er ihn betrügt, nicht völlig erftidden. Iſt Gott größer 
als unfer Herz, fo folgt daraus nicht, daß lauter zu fein, ein Vor⸗ 
vecht der göttlichen Heiligkeit, daß uneigennügig zu lieben, ein 
Vorbehalt der ‚göttlichen Liebe iſt, fondern es folgt nur bieß, daß 
bes Neinften Reinheit nicht rein genug ifi vor bem heiligen Gott, 
daß der Allgenugfame allein genug thun kann dem Gefege der Hei⸗ 
figfeit, Tugend und Wahrheit, daß menfchliche Tugend und menſch⸗ 
liche Bernunfterkenntniß ift, was fie ift, nicht im Gegenſatz gegen 
den göttlichen Willen, fondern durch die Abftammung .aus dem 
göttlichen Geifte, durch ihr Begründetfein im göttliden Willen, 
durch den Iebendigen Zufammenhang und das tiefe Einverftändniß 
mit der göttlichen Wahrheit. IR Wahrheit Selbfibezeugung 


442 Bayer, 


innerer Bollfommenbheit, fo ift, was wahr ift, in fid 
felbft gewiß, und diefe Selbftgewißheit, mit der ung die Wahr: 
beit ergreift, ift das Zeugniß ihrer göttlichen Abflammung und 
ihrer göttlihen Würde. Tugend und Wahrheit find felbftftändige, 
heilige Mächte, weil wir in Tugend und Wahrheit des göttlichen 
Weſens inne werden, weil wir in Tugend und Waprheit bein 
gewiß werben, daß ein Wefen iſt von diefer heiligen Genugfam 
feit, daß ein Bott ift. Gott in feiner felbftftändigen Vollkom⸗ 
menbeit will erfannt fein, wie er ift, geliebt fein, wie er ift. Das 
ſolcher Göttlichfeit entiprechende Erfennungsorgan ift das geiftige 
und fittliche Gewiſſen, die lautere und uneigennügige Liebe, aber 
Vernunft und Liebe und Gewiffen haben ihren wahren lebendigen 
Grund in dem felbfiftändigen Sinne für Vollkommenheit; — das 


Bedürfniß, dad Gefühl, das Bewußtfein der Vollkommenheit in 


das wahre Wahrbheitserfennungsorgan, bie Kraft der höchften Liebe, 
der Urfprung und Grund unfers Glaubens an Gott. 

- Bir glauben an Gott, weil wir in der Gewißheit felbftftän 
diger Vollkommenheit leben, weben und find, — wir glauben an 
Gott, weil ein Wefen fein muß von felbftftändiger Genugſamleü. 

Gott ift, — weil Alles, was ift, nur ift durch ein urfpräng 
lich und ſelbſtſtändig vollfommenes Wefen, weil, daß ein foldes 
Weſen fei, aus dem Begriffe der Vollkommenheit folgt. Daß Gott 
if, ift eine innere Wahrheit, die auf ſich felbft ruht, Feines äußes 
ven Zeugniffes bedurfte, ſo gewiß ald ber Begriff der Bollfow 
menbeit ift, der allein wahrhaft felbftftändig ift und allein wahr 
baftes Zeugniß feiner ſelbſt. Zwar beweifet Alles, dag Gott ih, 
alles Leben und Sein ift nur möglich unter der VBorausfehumg 
eines Wefens, das in fi felbft genugfam if, Die Gewißheit ein 
ſolchen Wefens ift die höchfte Prämiſſe für jeden Beweis: ab 
was biefer Idee diefe Allgemeinheit gibt, ift ihre Selbſtgewißheit; 
— Selbftgewißheit ift Selbftbezeugung der Vollkommenheit. Gotik, 
weil Vollkommenheit ift, Gott ift, weilein feelig und heilig Geb 
gen in fich felbft gedacht werden muß. Gelänge ung auch, jedes ei® 
zelne Naturweſen für fih zu denken, als dur innere Kraft be⸗ 
fiebend, woher die Einftimmung aller Einzelnen zu einem harme 


Die innere Wahrheit der Religiing. AAS 


niſchen Ganzen der Natur, der fittlich geiftigen Welt? Diefe felbft- 
fändige Einheit, unter deren VBorausfegung allein wir denken und 
find, das Weſen, von dem wir willen, daß wir find, weil es felbft 
it, diefe felbfigenugfame Einheit ift nur eines Weſens von 
beiliger Bollfommenpeit, ift nur Gottes, 

Die Lehre, daß der Gegenftand des Glaubens nicht Gott, 
fondern des Menſchen Wefen fei, beruht auf einem Mangel wahr 
rer geiftiger Beobachtung. Daß der Menſch feinen Gott nach ſei⸗ 
nem eigenen Bilde, fo wie er felbft ift, fich denkt, ift eine rich⸗ 
tige Beobachtung, aber die Folgerungen, bie jene Theorie daraus 
zieht, find verkehrte. Der Menfch denkt ſich feinen Gott, wie er 
ſelbſt it, — aber nicht fowohl, wie er ift, fondern vielmehr wie er 
fein will, wie er fein zu follen fühlt, wie er ſich denft, frei von Ge⸗ 
brechen und Unvollfommenheiten. Die Bollfommenheitsbedürfs 
niß, dieß Gefühl und Bewußtfein einer Vollkommenheit, in der un⸗ 
fere eigene Natur gereinigt, geläutert, verfelbftftändigt erfchiene, 
biefer Sinn der Bollfommenbeit ift Usfprung und Grund unferesd 
Glaubens an Gott: wir glauben an Gott weil und der innere 
Wahrheitsſinn fagt, daß wir nicht find, wie wir follen, daß ein 
Weſen ift ſelbſtſtändig vollkommen, von jeder Beichränftheit frei 
und der höchſten Güte, der heiligſten Größe fähig. 

Die Widerlegung jener Theorie, bag der Menſch ſich felbft Denkt, 
wenn er Gott denkt, ift — der große Menſch, der wahre Menſch, 
ber ſich folhe Thaten abgewinnen fann, daß er Zeugniß von bem 
ſelbſtſtaͤndigen Sinne für VBollfommenbeit gibt. Uneigennügige Tu- 
gend, Aufopferungefähigfeit, der freie Muth der Wahrheit, bag reine 
Wohlgefallen an der Schönheit entquellen diefem Tautern Wahrheits⸗ 
fun, diefem Sinn für felbftfländige, felbfigenugfame Vollkommen⸗ 
heit: alle fittlichen Mächte, das Nechtögefühl, die Wahrheitsliebe, 
die Gewiſſenhaftigkeit, find in dieſem Vollkdmmenheitsſinn befchloffen. 
In der kritiſchen Philoſophie iſt ein Anfang gemacht zur Aner⸗ 
lennung dieſes felbfiftändigen Wahrheitsſinnes: das Bewußtſein 
von der Selbſtſtändigkeit des Sittengeſetzes, der Begriff von dem, 
was ſein ſoll, der kategoriſche Imperativ iſt ein Anfang höhern 
Wahrheitsſinnes. Der Stoicismus der Tugend lebte wieder auf, 


44h | Bayer, 


die Menfchheit glaubte wieder an das felbfifländig Gute, — fie 
ertrug es nicht, in Gott zu denken, was ungoͤttlich ift, was Gt 
tes unwürbig wäre. 

Die Beglaubigung der Offenbarung ift ihre innere Wahrheit, 
ihre innere Wahrheit ift Ausdrud ihrer Göttlichfeit. Religioſer 
Glaube ift Glaube an die innere Wahrheit der Religion, chriſt⸗ 
liher Glaube ift Ueberzeugung von der Göttlichkeit des Chriſten⸗ 
thums. Ein folcher Glaube ift ein fittlicher: fittlich in feinem M⸗ 
tiv, denn das Bedürfniß der Vollkommenheit ift freie Liebe, un 
eigennüßige felbitfuchtslofe Liebe, reines Wohlgefallen lautere 
Freude; und ſittlich in ſeiner Wirkung, denn nur der Glaube an 
einen göttlihen Gott macht den Menfchen gut und edel. Dieß if 
das Wefen der Vollkommenheit, fich felbft mitzutheilen, die Liebe 
ihrer felbft zu erweden, wie au Carteſius fagt: „Res cogitans, 
si aliquas perfectiones novit, quibus careat, sibi statim ipsas 
dabit, si sint in sua potestate.‘ 

Pascal gibt ftatt des innern wahren Kriterion für bi 
Wahrheit und Göttlichfeit des Chriſtenthums nur ſolche Kennzeichen 
an, bie theils nicht in der reinen uneigennügigen Liebe begründet 
find, theils nicht das Eigenthümliche des hriftlihen Glaubens ber 
zeichnen. Aimer le Dieu — aber welchen Gott und mit welder 
Liebe? Chriftliher Glaube ift Liebe Gottes, — aber freie un 
‚eigennügige Liebe des felbfigenugfamen Gottes, Liebe Got⸗ 
ted um feiner Bödttlichfeit willen, Freude an Gottes 
Bollfommenheit. ‚Gefühl und Bewußtſein der Abhängigkeit 
von Gott ift in feinem Grunde Gefühl der Vollkommenheit: 
Frömmigkeit ift Bollfommenheitsgefühl, Liebe Gotted um feine 
felbft willen. Der Glaubenslehre und Religionswiffenfchaft: wah⸗ 


res Prineip ift alfo nicht das fubjective Bewußtfein. der Abbäns . 


gigfeit des Menfchen von Gott, fondern der objective Begriff der 
Bollfommenheit, die Idee der Göttlichkeit, in der allein alle gött- 
lichen Kräfte und Eigenfchaften, alle Triebe und Bedürfniſſe ded 
menſchlichen Herzens, alle Formen und Arten ber Geiftigkeit be 
griffen werden fönnen, aus der allein fie alle abzuleiten, auf welche 
ſie zurückzuführen ſind. 


—— 


Die innere Wahrheit der Religion. 445 


Wenn wir die Bollfommenheit - als felbfiftändiges Princip 
faffen, fo müſſen wir die falfche Vorſtellung der Vollkommenheit, 
welche bie Meiſten beberrfcht und Fraft welcher fie nur einen for⸗ 
mellen Begriff der Bollfommenheit denken Fönnen, aufgegeben und 
einen höhern Standpunft gewonnen haben. Es find zu unterfchei« 
den der Begriff relativer, formeller Vollkommenheit, und der 
Begriff abfoluter, in haltsvoller, felbfttändiger Volllom⸗ 
menheit. Nach der formellen VBorftellung ift das Vollfommene, dad 
was es ift, A) nur vergleihungsweife (verglichen ald Art mit 
andern Wefen verfelben Art ober als Gattung mit andern Gattun⸗ 
gen), 2) nur beziehungsweiſe (bezogen als Mittel auf einen 
beſchränkten Zwed, dienſtbar einer fremden Abficht, unterworfen: 
einem Außern Grunde), 3) nur formell (als negative Ueberein⸗ 
fimmung mit fich ſelbſt, als bloſe Widerſpruchsloſigkeit). In der 
erſten Rüdficht ift ein Individuum vollfommen durch den höhern 
Grad einer Eigenfchaft, durch das größere Maaß einer Kraft; 
im der zweiten Rüdficht nennen wir ein Mittel, das feinem Zwede 
entſpricht, vollklommen; in der dritten Rüdfiht, in der ein Weſen 
nur nad) feiner innern Widerfpruchslofigfeit betrachtet wird, hört 
man den Böfewicht vollkommen nennen, fo gut als den Helden. 

Der wahre Begriff der Vollkommenheit aber ift ber Begriff 
unbedingter ſelbſtſtändiger Genugfamfeit; volllommen. 
in biefem Sinn ift nicht, was mit Anderm verglichen beffer ald 
Anderes ift, fondern das, was über allen Vergleich erha— 
ben, über das Verhaͤltniß der Gattungen und Arten erhaben iſt; 
vollfommen im abfoluten Sinn ift nicht, was durch feine Anwend⸗ 
barkeit und Tauglichleit fremde Zwede fürbert, fonbern das, was 
ſelbſt Zwec if, das, was auf ſich ſelbſt berubt, und durch 
fih beſteht; im abfoluten Sinne vollkommen iſt endlich nicht, 
was nur nicht fich nicht widerfpricht, fondern das, was pofitiv 
mit ſich ſelbſt übereinftimmt, was Gehalt hat, gehalt. 
volle Einigkeit feiner mit fih, harmoniſche Einheit 
und Selbfifländigfeit. 

Auch Ariftoteles unterſcheidet mehrere Momente int Begriffe der 
Bolltommenheit, ohne dieſelben auf bie Einheit zurückzuführen, in 
Deisichrift fe Philoſ. u. ſpet. Thesl. Xi Band: 40 


146 Bayer, 


der dieſe fperiellen Momente begriffen find; die Begriffe Der Vollſtaͤn⸗ 
bigfeit, der vergleihungsweifen und der unbebürftigen Volllom⸗ 
menheit. Der unbedürftigen Vollkommenheit Begriff, — daß naͤm⸗ 
lich in Beziehung auf dad Gute dem Bollfommenen Nichts: fehlt, 
und daß es in feiner Art nicht übertroffen werden Fann, — be 
darf, um der Idee der Bollfommenheit zu entfprechen, daß er 
vom Gattungsverhältniffe frei gebacdht werde. Bei Spinoza it 
der Begriff der VBollfommenheit, wie der des Guten und Bis 
fen, nur in relativem und im formellen Sinne gefaßt. „Nihil 
enim, in sua natura spectatum, perfectum dicetur vel imperfec- 
tum; praesertim postquam noverimus, omnia, quae fiunt, s& 
candum aeternum ordinem et secundum certas naturae leges 
fieri.“ Und doc ift diefe „ewige Ordnung“ nur denfbar unter 
ber Borausfegung unbedingter, bedürfnißlofer, felbftftändiger Voll⸗ 
fommenheit: Spinozas Subftanz, der Begriff der Subftantialität 
ift nur ein Theil, nur ein Moment im Begriffe der VBollfommer 
heit. Platon bat das in fih freie und allumfaffende Princip 
lebendiger gedacht: die Welt iſt ihm gebildet nach dem Urbild der 
Vollkommenheit. Der Allerzeuger hat den Kosmos gebildet nach 
der Vollkommenheit, die in ihm ſelbſt iſt, nach der Unvergleich⸗ 
lichkeit, die in ihm ſelbſt iſt, — ru zw voovusvam #allloru 
nal saza navra reitlu nalıor 6 Dec aurov 0n0WORs Bovindek, 

Bolltommenheit im pofitiven Sinne ift Genugfamleit, 
ſelbſtſtääͤndige Seeligkeit, — der Freiheit und ber Liebe, ber 
Wahrheit und des Friedens ſelbſtſtändige Einheit, Di 
Einigkeit feiner in ſich ſeibſt. Diefes metaphyſiſche Principium f 
das alle geiftigen und füttlichen Kategorieen umfaffende, es ſchließt 
das Poflulat der Tugend und Freiheit, den Begriff ber Wahrheit 
und Seeligkeit in ſich. 

Gott iſt vollfommen, weil er die Wahrheit iſt und die Liebe, 
weil er in bedürfnißlofer Seligfeit in ſich ſelbſt genugfaw 
iR. Weil Gott vollfommen ift, weil die Wahrheit der Genug 
famfeit Zeugniß ift, ift fie felbfigewiß und innerlich wahr: ber 
Glaube an die innere Wahrheit, die Ueberzeugung von der felbf- 
ftändigen Wahrheit der chriflichen Religion beruht auf ber Ider 


Die innere Wahrheit der Neligion. 447 


der Göttlichkeit. Diefer Glaube, -biefe Ueberzeugung tft der wahre 
chriftlihe Glaube in feiner Integrität: wabhrbaftiger 
Glaube, felbftfuchtslofe Hoffnung, tugendvolle Liebe. Wer im 
Stande ift, die Evangelien mit Iauterm Sinne zu leſen, hat die 
Erfahrung an fich ſelbſt gemacht, daß die Auffaffung dieſer Ge- 
dichte, Die Aufnahme diefer Lehre die Idee der Göttlichkeit ale 
Prineip ihrer innern Wahrheit und den Sinn der Vollfommenpheit 
ald Drgan der Wahrheitserfennung vorausfegt: wer Chriftum 
liebt, wer ein Herz hat für die neuteflamentlihe Gefchichte, der 
bat es auch in fich erfahren, daß die Liebe Chriſti quillt aus der 
Liebe Gottes, dag bie Liebe Chrifii auf dem Gefühle göttlicher 
Bollfommenbeit beruft. Seine heilige Größe ift das Zeugniß 
feiner göttlichen Würde, feine Yautere Liebe ift feiner göttlichen _ 
Lehre Beftätigung : — feine Lehre ift göttlich durch fich felbft, ihrer 
innern Wahrheit eignes Zeugnig, 

Chrifti Reden find durch ihre innere Wahrheit, Chrifti Lehren 
find durch ihre Erhabenheit, Lauterfeit, Tiefe und Klarheit über 
dem biftorifchen Zweifel erhaben. Was in fich felbft wahr. ift, 
was göttlich lauter und tief und erhaben ift, ift auch echt: feine 
Ehtheit beruht auf der Abftlammung aus dem göttlichen Geifte. 
Das Gebot der Keindesliebe, die Seeligſprechung der Reinen, der 
Sanftmüthigen, Das Gebet der Verklaͤrung find göttliche Wahrhei⸗ 
ten, Offenbarungen ber heiligen und ewigen Wahrheit. An den Sinn 
für die ferhfiftändige Wahrheit hat Chriſtus fich gewendet, er hat 
die Menfchen mit der Macht der Wahrheit überzeugt, hat ihnen 
sugemuthet, Die Wahrheit zu erkennen, — nicht wie zu ben Alten 
geſagt war, hat er ihnen gefagt, fondern einen neuen Sinn hat 
er gewedt, die Freiheit hat er verfündigt, die Freiheit hat er zur 
Pflicht gemacht, die Liebe hat er geboten. 

Diefer neue Sinn, den Chriftus, — der gefchichtlich wirkliche 
Chriſtus, — von der Menſchheit gefordert, ift ber Sinn für die 
innere Selbftftändigfeit der Wahrheit, welche in ber Idee der 
göttlichen Volltommenheit begründet if. Wenn dieſes Glaubens⸗ 
princip anerfaunt ift, dann wird bas Chriſtenthum eine gefchicht« 
liche Wahrheit, dann wird und if das Chriſtenthum Religion der 

10. * 


448 | Bayer, 


innern Wahrheit und die Gemeinfchaft der Gläubigen, die Ge⸗ 
meinde der Werfen und Guten. 


Die Anerkennung des Principe der innern Wahrheit in der 
Religion wirft die wahre geiftige Frömmigkeit, bie freie 
Wahrhaftigkeit und Tautere Liebe, und Freiheit und Liebe 
find das wahre Band religiöfer Gemeinſchaft, die nel 
wendigen Borausfegungen geiftiger Einigkeit, 

Der Glaube ift ein geifliger, wo er ein freier ©lanbe iſt. 
Die Freiheit des Glaubens ift fowohl im negativen, als auf 
im pofitiven Sinne der Freiheit zu behaupten, das Princip ber 
feibfiftändigen Wahrheit verbürgt ebenfowohl die Unabhängigkeit 
des Glaubens von äußerlicher oder innerliher Gewalt, als fie 
‚auch die pofitive Freiheit, die Selbfibethätigung ber rel 
giöfen Vernünftigfeit in unferm Geifte, gewährt. 

Wer an bie innere Wahrheit der Religion glaubt, if frei 
vom zwingenden Einfluß Außerlihder Gewalt; nicht das Ar 
feben der Kirche, nicht die Gefege des Staates, haben ihn gend 
thigt, nicht Furcht vor Menfchen oder Rüdficht auf ſchnöden Ge 
winn hat ihn beftimmt, zu glauben, wie er befennet, fondern fein 
Glaube ruht auf innern Gründen, auf innern Erfahrungen, am 
innerer Zuverficht, er ift entfchloffen, ihm Alles zu opfern, für ihn 
zu fterben: „Hier ſtehe ich, ich kann nicht andere. Gott heit 
mir!" Es iſt auch in Wahrheit ganz unmöglid, durch Außern 
Zwang den Glauben hervorzubringen, durch Außerlihe Satzungen 
ihn zu gebieten: zum äußerlichen Befenntnig fann äußere Gewalt 
ben Gewiffenlofen vermögen, den Glauben Tann nur die Gewiß 
beit ver Wahrheit wirken. 

Wie der Glaube in feinem Urfprung von Außerer Gewalt 
frei fein muß, fo auch in feiner Bezeugung: zur Freiheit ber 
religiöfen Erfenntniß gehört als nothiwendige Bedingung, bie um 
beſchraͤnkie Freiheit der Darftellung und Mittheilung. 
Diefe Forderung der Glaubengfreiheit folgt aus dem Weſen Der 
Wahrheit. Wir müffen frei fein in unferm Glauben und ihn frei 


Die innere Wahrheit der Religion. 449 


und offen befennen, und dieß ift nicht ein Recht, das und äußere 
Geſetze einräumen, nicht ein Recht, das und willführliche Befchlüffe 
zugeſtehen, fondern unbedingte Pflicht, die und die Wahrheit felbft 
auferlegt. Denn die Wahrheit foll anerfannt werden, und es ift 
nicht in unfere Wahl geftellt, ob wir ed wollen, weil wir es follen. 
Diefe Pflicht freier, unbeichränkter Darftellung und Mittheilung 
religiöfer Ueberzeugung fann nur der aufrichtig und bereitwillig 
anerfennen, ber bie innere Selbfigewißheit der Wahrheit begreift, 
nur ber Eann fie üben, ber felbft eine feſte Üeberzeugung hat, nur 
der gefinnungsvolle Mann. 

Es find aber nicht nur diefe Außerlihen Schranfen, von 
welden der Glaube frei wird durch die Erfenntniß von feinem 
innern Gewißheitsgrund, fondern biefe Erkenntniß macht ihn frei 
von ber innern Unfreiheit, frei von Willkühr und Selbſtſucht, 
von Lüge und Aberglauben. Frei von Willführ und Selbftfucht: 
denn der Glaube an die innere Wahrheit ift Einficht in ihre in⸗ 
were Nothwendigkeit und Selbftftändigfeit, Bereitwilligfeit, bie 
Wahrheit fo wie fie ift, (nicht wie wir wünſchen, daß fie fein 
möchte), und mit allen ihren Kolgerungen fie anzuerkennen, Ent« 
ſchloſſenheit, alle unfere befchränften Neigungen und Bedürfniffe, 
alle unfere befchränften VBorftelungen und Einbildungen ihr zu 
opfern. Und frei von Aberglauben und von Lüge. Es ift eine un⸗ 
männliche, eine niedrige Feigheit, die jegt herrſchender Ton ift, daß 
fi) die Menfchen ſcheuen, den Aberglauben zu befämpfen, als 
wäre Tieffinn und Poefie, Glaubensinnigfeit und Herzenseinfalt 
Durch diefen Kampf gefährdet. . Eine Fleinlihe, unmännlidhe Den- 
fungsart. „Meiner Meinung nad,” fagt Juſtus Möfer, „hats 
ten unfere Borfahren, bei allen ihren fogenannten abergläubifchen 
Ideen, feine andere Abficht, ald gewilfen Wahrheiten ein Zeichen 
aufzudrücken, wobei man fich ihrer erinnern follte.” Gewiß, durch 
dieſe richtige Erklärung ift ber Gebrauch ſinnbildlicher Vorſtellun⸗ 
gen, um fittliche und geiftige Wahrheiten einzufleivden, entſchuldigt 
und gerechtfertigt. Aber dieß Zeichen ftatt des Weſens felbft zu 
faffen, dem Wefen innere Gewißheit abzufprechen, - ift unfittlich, 
iſt abergläubiſch. Aberglaube ijt jeder Glaube, der nit auf dem 


4150 Bayer, 


Gefühl und Bewußtfein, auf der Zuverfiht und Gewißheit von 
der innern Selbftgewißheit der Wahrheit beruht. Wer an Gottes 
Bollfommenheit glaubt, und an der Wahrheit innere Kraft und 
Seibfiftändigfeit, der bedarf nicht äußerer Zeihen, — und wem 
er ihrer ale Erwedungsmittel bebürfte, fo doch nicht als Beglau 
bigungsmittel, nicht ald Beglaubigungsgründe, Daß dieſe reii 


giöfe Gewißheit nicht in Allen mit gleiher Kraft und Staͤrte 
wirfet, nicht in Allen in gleichem Grade deutlich und mittheilbn | 


ift, verſteht fich von felbit: ob dieſe religiöfe Gewißheit als ver 
fhloffene Sehnfuht im Herzen des Kindes, oder als fiegende 


Sreudigfeit im Geifte des Denkers ſich darftellt, fie ift es immer, 


die und fagt, daß ein Gott fei, ein heilig vollfommenes Wefen 
von unbegreifliher Güte und Barmberzigfeit. 

Der Kampf der Wahrheit gegen den Aberglauben iR ber 
Kampf der Freiheit gegen die Willführ: Willkühr ift principloſc, 
ſelbſtſüchtige Wahl, die kein anderes argumentum kennt, als das 
argumentum a tuto; Freiheit iſt Wahrheitserkenntniß, die auf 
innern Gründen beruht. Der Kampf der Wahrheit gegen den 
Aberglauben iſt alſo auch ein Kampf für die Freiheit, für unbe 
ſchränkte Entwicklung der Wiffenfchaft und freie Forſchung. Frei⸗ 
beit der Forſchung iſt die unerläßliche Bedingung für Erkennmiß 
der Wahrheit, für freie Ueberzeugung und freien Glauben. Die 
abſolute Norm für alle Forſchung auf dem Gebiete der Religion, 
iſt die Idee der Göttlichkeit, deren unbedingte Macht nur der 
Aberglaube nicht fühlt, nur die Willkühr verläugnet: ſie iſt das 
conſtitutive, das regulative Princip der Wiſſenſchaft der Religion. 
Freiheit in vorgezeichneten Schranken, in beſtimmten Grenzen 
eingeſchloſſen, unter gewiſſen Vorausſetzungen und in einzelnen 
Fällen zugelaſſen, iſt nicht die Freiheit, welche die Wiſſenſchaft 
fordert: wiſſenſchaftliche Freiheit iſt unbefchränfte Selbftentwid- 
lung des reinen uneigennügigen Wiffeng- und Erkenntnißtriebes, 
unbefchränfie Selbftentfaltung des innern Wahrheitsfinnes, Ric: 
ter über diefe That des Geiſtes ift nur der allwiffende Gott. 

Aber nicht die Freiheit von Außerer Gewalt und innerer Be 
ſchränktheit, nicht diefe Unabhängigkeit macht der geiftigen Wahr: 


Die innere Wahrheit der Religion. 154 


haftigfeit wahres Wefen aus: jene Freiheit ift nur Bedingung, 
Borausfegung, — Reinigung und Läuterung zum wahren Acte 
der Sreiheit. Die wahre Freiheit des Geiſtes ift die Er- 
fennung der Wahrheit, der Act, in dem ber Geift Zeug- 
niß gibt von feiner Berwandtfhaft mit Gott, und in 
dem er der göttlihen Genugſamkeit bewußt wird. Die 
Anerfennung des Princips der innern Wahrheit erfüllt den Geift 
mit diefer Kraft der Erfennmiß, gibt ihm dieſe ſchoͤpferiſche Kreis 
heit, in den Tiefen der Gottheit zu forfhen. Die Wahrheit 
wird uns frei machen; fie Löfet die Fefleln, die den Geift an 
die Macht des Böfen gebunden, fie ertheilt ihm Kräfte, des Yes 
bens geheimnißvollen Urfprung zu ahnen, den Entfchluß der gött⸗ 
fichen Liebe zu erkennen, der Wahrheit Wefen zu ergründen, — 
Seeligfeit: mitzufühlen, inne zu werden der göttliden, uneigen- 
nügigen Weisheit. 

Chriſtliche Weisheit beruht auf freier Wahrhaftigfeit, 
auf der Liebe der Wahrheit, die ung frei macht. Nur der geiftig 
Freie ift chriftlicher Weisheit und Frömmigkeit fähig, denn nur ber 
geiftig Freie ift einfältigen Herzens: Vielwiſſerei macht das Herz 
leer und den Sinn eitel; Weisheit ift friedensvolle Liebe der 
Wahrheit, ſtille Sammlung, unzerftreute Betrachtung des Geiftes 
der Wahrheit. Die chriſtliche Weisheit fegt voraus Freiheit von 
niedrigen Motiven der Furcht und der Lohnſucht, Freiheit von 
Willkühr und Wahn, Freiheit von Pharifäismus, Kraft des Gei- 
ſtes zur Erfenntniß der Wahrheit; folh ein edles Freiheitsbe⸗ 
dürfnig ſetzt Chriſtus im Menſchen voraus, an ein ſolches ſittliches 
Freiheitsgefühl wendet er ſich mit feiner Ermahnung, an ein fol- 
ches heiliges Freiheitöbewußtfein mit feiner Lehre, Gegen alle 
Borftellungen, die feinem Bolfe eigen waren, über alle Ausfichten 
und Hoffnungen aller Völker der alten Welt hinaus, fordert er 
einen reinen Sinn für die Wahrheit, eine fittliche Größe, die noch 
fein Menſch geahnet hatte, einen Freiheitsmuth, vor dem ber ftoi- 
ſche Heldenmuth verfchwindet, eine Uneigennützigkeit ohne Gränzen, 
Aufopferungsfähigkeit ohne Bedingung, Entfagungstraft ohne Vor⸗ 
behalt: er fordert den Heiligen Sinn ber Bollfommenbeit. 


2 \ 


:459 BE Bayer, 
Denn es wirket die Wahrheit mit ber Freiheit zugleich bie 
Iautere Liebe, die Herzenseinfalt, die Geiftesun 
ſchuld, die fittlihe Größe und Hoheit. Die heilige Yau- 
terfeit des Gemüths, die göttliche Reinheit des Herzens, die fille 
friedensvolle Hoheit. des Geiftes, wie fie in Jeſu Chrifto erfchies 
nen, ift die dem innern Wahrheitsſinn entfprechende fittliche Ge 
finnung. Lauterkeit und Friede, infalt und Unfhuld find For: 
men der Liebe, wie in Tugend und Wahrheit die Freiheit 
fih felber erfüllt und verwirklicht. Freiheit und Liebe, Wahrheit 
‚und Friebe find Eins, — in Einer Einheit begriffen, im genug: 
ſamen Geiſte vereinigt. Sittliche Reinheit, Unſchuld, @infakt, 
Lauterfeit, Seelenfriepe, Sanftmuth und Güte find die Frucht de 
-innerlihen Wahrheitserfenntniß, die Beftätigung des wahren Glaw 
bens. An den Früchten allein erkennen. wir den Baum: ben 
Beglaubigungsgrund und Beweis ihrer felbft hat bie 
Mahrbeit in fich felbft, die Bewährung und Beftätigung 
ihrer Echtheit, ihrer Wirklichkeit ift die Tautere Liebe, 

In dreifacher Wirkung erweist firh die fittlihe Rauterfeit im 
religiöfen Glauben. Zuerft in der Reinheit ihres Urfprungs, 
fodann in ber Art, wie er fich fortpflanzt, in der Wahl der Mit: 
tel, durch bie er ſich behauptet, endlich in ber Erhabenheit und 
Selbfiftändigfeit der Zwede, die er zu erfüllen thätig ift. 

Glaube an bie innere Wahrheit der Religion wirfet vollfows 
mene Selbftfuchtlefigfeit im Herzen, völlige Selbfivergeffenkeit; 
der wahre Urfprung ‚der wahren Religion ift alfo nicht ſelbſ 
füchtige Bebürftigfeit, fondern Bedürfniß der Vollkommenheit. Die 
Bedürfniß ift Tautere Uneigennügigkeit — uneigennütziges rer 
ned Wohlgefallen, uneigennügige lautere Freude an der Herrlich⸗ 
feit und Fülle, der Gottheit, frommes Erftaunen über Gottes un 
endliche Seeligfeit. Wahre Frömmigkeit ift Liebe Gottes um 
feiner Göttlichkeit willen, d. i. in ihrem Urfprung felbfe 
ſuchtsloſe, reine, uneigennügige Liebe, | 

Solcher Glaube aber, der durch und durch Liebe ift, kann 
fih nur durch folhe Mittel behaupten, die feines göttlichen Ur 
fprunges würdig find, nur durch folhe Mittel fich darſtellen und 


* 


1 


Die innere Wahrheit der Religion. 465 


fortpflangen,. die der Erhabenheit feiner Zwece entfprehen. Der 
fittliche Glaube ift frei von Haß und Hader und Berfolgungd- 
fucht, frei von Fanatismus und Intrigue. Auf Die geiflige Lau⸗ 
‚terfeit kommt es an, ob Einer ein 'wahrer Ehrift oder ein Heuch⸗ 
Ir. Nicht ferne mehr ift die beflere Zukunft, in der die Ha⸗ 
berfucht, die Verfolgungsſucht, ber fanatiihe Haß der Parteien, 
wird aufgehört haben und bie Lauterfeit der Gefinnung, als 
das Kennzeichen der Frömmigkeit anerfannt fein wird. Ein es 
der, der für die Religion wirkfam fein will, um fie zu verkündi⸗ 
gen, augzubreiten, zu befefligen, gegen Angriffe zu vertheibigen, 
maß durch Die Yauterfeit feiner Mittel die Reinheit feines Zweckes 
beweifen: ein jeder, der fie verfündigen will und befehüsen, muß 
feinen Beruf, die heilige Sache zu vertreten, durch Hoheit ber. 
Gefinnung, Ehrenhaftigfeit des Charakters beweifen. Die Intri⸗ 
gue und die Liſt vermögen Nichts mehr gegen die Allmacht der 
Wahrheit; der blinde Eifer ift erfolglos gegen ben Muth der 
Gewiſſenhaftigkeit. 

„Habe ich übel geredet, ſo beweiſe es mir.“ Wo übt der 
Fanatiker je dieſe Pflicht, wo hat er je dieß Wort Chriſti auf ſich 
bezogen? Er bezieht es nicht auf ſich, weil es für ihn einen ſtil⸗ 
in Borwurf enthält, weil es ihn mahnet an des Gewiſſens hei⸗ 
fige Stimme, weil es den fchlummernden Wahrheitsfinn in ihm 
weit, Täufche fih Keiner über fich ſelbſt! Wer bie Fähigfeit 
verloren bat, fi durch Gründe überzeugen zu laſſen, die innere 
Schönheit der Tugend zu fühlen, die Selbfifländigfeit der Wahr⸗ 
beit zu faſſen, bat mit diefem Wahrheitserfennungs- Organ zus 
gleih das Bermögen verloren, bie göttliche Offenbarung zu erfen- 
nen, fie von der falfchen zu unterfcheiden, fie als die göttliche zu 
lieben. Woran follte ein Solcher die Wahrheit erfennen, wenn 
fie perfönlich ihm erfchiene? Die heiligfte Liebe ift den Phari- 
füern in perfönlicher Wahrheit erfchienen, fie haben fie nicht er⸗ 
fannt, in der himmlifchen Duldung und Sanftmuth haben fie 
nicht Die göttliche Würde zu erkennen vermocht, in der heiligen 
Eauterfeit nicht die göttliche Wahrheit. Wie der Geift der Liebe, 
wie Wahrheit und Tugend ſich barfiellt, war dem pharifäifchen 


154 Ä Bayer, 


Sinne verborgen: die göttlihe Würbe hatten fie im Ganze irdi⸗ 
fcher Majeſtät zu fehen gehofft, die göttliche Wahrheit ſtellten fie 
fi) vor in menfchlihe Schranken eingefchlofien: wie hätten fie 
jene erfennen follen in ihrer ſtillen Hoheit und Selbfivergefienheit, 
wie hätten ſie dieſe anerkennen ſollen in’ihrer unſchuldvollen Of⸗ 
fenheit und ſchrankenloſen Wahrhaftigkeit ? 

Der lautere Glaube, der ſittliche Glaube, der wirkliche Glaube 
‘verfolgt mit den Mitteln der Lauterkeit bie höchſten, erhabenſten 
Zwede Erhaben it bed Glaubens Ziel, weil es ein felbft- 
fländiger, ein umfaffender, ein auf Gott geridteter 
Geifteszwerk iſt. | 

Selbſtſtaͤndigen Werth hat der. Glaube, foferne er auf ber 
Veberzeugung von der innern Wahrheit der Religion ruht; denn 
biefe Ueberzengung ift die Gewißheit von der Selbftftändigfeit der 
Wahrheit: und felbfiftänpig find bie Zwecke, bie er verfolgt, 
weil fie aus dem Wefen der Wahrheit folgen. Umfaffend find 
biefe Zwecke, weil der Glaube in ſich felbft den Beruf hat, durch 
ſolche Mittel, die feiner würdig find, durch Belehrung und Leber: 
zeugung, durch Milde und Duldfamfeit, durch aufopfernde Liebe 
und Hingebung fich felbft fortzupflanzen, fi mitzutheilen, über 
die ganze Welt fi auszubreiten. Aber dieß Neid, das er grüns 

det, ift ein göttlihes Reich, der Wahrheit felbftftändiges Reich 
ift nicht von der Welt, fondern ift Gottes, - 

Sp "wirfet die Anerkennung des innern Principe der Wahrs 
heit nicht nur die wahre geiftige Frömmigkeit, fondern auch bie 
wahre Einigkeit, fie bringt hervor die wahre Gemeinſchaſt. 

Wenn auch die Böfen zufammenhalten, um ihre felbftfüchtigen 
Abſichten durchzuſetzen, und zwar äußerlich um fo fefter, je eigen- 
nüßiger ihre Abficht ift, wenn auch die Schwachen fich verbinden, 
am Durch ihre Berbindung eine äußere Macht zu bilden und 
zwar äußerlich um fo fefter, je mehr fie fühlen, eine Stüge zu 
hebürfen, fo find folche Verbindungen doch nicht in Wahrheit Ge- 
meinfchaften zu nennen. Denn die wahre Gemeinfchaft entſteht nur 
ba, wo Freiheit und Liebe die Guten vereinigt zu felbfiftändigen 
amd erhabenen Zweden. Kreie Wahrhaftigkeit und Iautere Liebe 


Die innere Wahrheit der Religion. 466 


ift das einzige Band wahrer Gemeinfchaft. Nur eine foldhe Ge⸗ 
meinfchaft ift eine wirflide, dauernde, fiegende. 

Jedwede Gemeinfchaft, welcher die in ihr Berbundenen nicht 
aus freier Ueberzeugung und mit freier Liebe, fondern nur ges 
swungen oder in theilnahmlofer Gleichgiltigfeit angehören, ift eine 
blos fcheinbare, ift feine wirkliche Gemeinſchaft. Wirklich, 
nicht blos fcheinbar, gehören nur die einer Kirche an, bie fie 
wollen, die fie begründen würben, wenn fie nicht wäre: foldhen 
Entſchluß, folhe Theilnahme aber wirft nur ber freie Glaube, 
sur die Ueberzeugung von der Wahrheit der Kirchenlehre, Alſo 
ift nicht die Verpflichtung auf ein kirchliches Symbol das Eini- 
gungsband der kirchlichen Gemeinfchaft, fondern die Erwedung 
bes freien Glaubens. Die Kirche ift die Gemeinſchaft derer, die 
ihr aus freier Liebe angehören, nicht überredet, fondern über- 
zeugt, nicht gezwungen, fondern freiwillig; alfo ift-die Freiheit 
ſelbſt die heilige Seffel, Die Die Gläubigen vereinigt, Die Liebe das 
göttlihe Band, das fie verbindet. Wirkliche Gemeinfchaft ift Ge⸗ 
meinfchaft der Freiheit, der Liebe, — Gemeinfchaft der Geifter im 
Glauben an die Selbfiftändigfeit der Wahrheit. 

Was aber nur fcheindar eriftirt, hat feinen wahrhaften Be⸗ 
Rand; es mag Jahrhunderte lang feine äußerliche Eriftenz erhals 
ten, innerlichen Beftand hat ed nicht: dauernd, bleibend ift 
nur die auf ihrer innern Wahrheit beruhende Gemeinfchaft. Das 
wahrhaft Dauernde, das wirklich Fortbeſtehende unterfcheidet fid) 
vom Bergänglihen und fcheinbar Eriftirenden dadurch, daß fein 
inneres Lebensprincip fortwirft, daß feine innere Le— 
bensfraft fich fleigert, daß es fich fortbildet, verjüngt, 
vervollfommnet. Ein Bolf, das groß geworden ift durch eine 
beftiminte Gefeggebung, durch eine beftimmte Richtung feiner 
Kraft und Thätigfeit, durch beſtimmte Vorftellungen und Zwecke, 
kann Jahrhunderte lang, nachdem es aufgehört hat mit diefem 
Geiſte in die Entwidlung der Menfchheit einzugreifen, ja nachdem 
biefer Geift in ihm erlofchen ift, äußerlich fortbefichen; aber nur 
ein Bolf,. Das allgemein menfchliche Zwecke verfolgt, das vom 
@eifte der Menfchlichfeit erfüllt ift, Das erfüllt ift von Ideen, dag 


156 "Bayer, 


die Freiheit, die Lebe, bie Wahrheit um ihrer felbft willen wiß, 
nur ein folches kosmopolitiſches, chriftliches Volk, nur ein Boll, 
wie das Deutfche, lebt wahrhaft fort im Wechſel der Zeiten und 
der Geſchicke, lebt ein unfterblihes Leben. Unſterblich Tebt, was 
Leben aus ſich erzeugt und Leben in fich felbft erzeugt Durch ewige 
Fortbildung, Erneuerung, Vervollkommnung. Wir find unfterblid, 
weil wir versollfommnungsfähig find, weil wir in ung felbft er- 
neuert werden und wiedergeboren. . 

Ob die Religion felbft einer Fortbildung fähig und bebürftig 
fei, ift eine ganz andere. Frage, als um bie es hier fich handelt, 
ob die religiöfe Gemeinfchaft einer folchen bedarf. Die Horde 
rung einer folhen innern Fortbildung, einer ſolchen inneren Er- 
neuerung, ift das Princip des Proteftantismus, das Element ded 
Proteſtantismus, das von Ruther und Melandyton, von Zwingli 
und Calvin in der Kirche thätig und wirkfam mar und in ihr 
fortwirfen wird, bis die trennenden Schranfen zwifchen ben Eon 
feffionen gefallen fein, bis Ein Geift Alle erfüllen, bis die Liebe 
Alle vereinigen wird. Dieß ift die wahre Reformation: ewige 
Erneuerung des Geiſtes, ewige Fortbildung des Geiſtes in der 
Gemeine, damit fie werde, was fie fein foll, damit fie ihrem Ur: 
bild in der. göttlichen Liebe entfpreche. Diefen Ruf des göttlichen 
Geiſtes haben die Reformatoren im ſechszehnten Jahrhundert ver- 
nommen, fie find ihm gefolgt mit Treue und Ergebung, fie haben 
biefe Sendung erfüllt, wie es unter den gefchichtlichen Bedingun⸗ 
gen möglih war, Was diefe Männer gewollt, verhält fih zu 
dem, was fie, ohne e8 felbft zu wollen, geleiftet, wie des Colum⸗ 
bus Plan zu feiner That fich verhält; Columbus fand mehr als 
er fuchte, entdeckte flatt eines neuen Weges eine neue Welt. Das 
proteftantifche, reformatorifche Princip, wenn es fich felbft erkennt, 
ift das Princip der innern Wahrheit der Religion, die Forderung 
.. des freien Glaubens und eines priefterlichen Volkes. 

Die Gemeinfhaft, die in ſich felbft der Fortbildung fähig 
ift und dauernden Beftand hat, ift auch die fiegende. De 
Sieg des Geiftes. ift nicht feine Anerfanntheit in der äußern 

. Gefchichte, fondern feine Selbſtvollendung, — der Sieg de 








Die innere Wahrheit der Religion. 457 


Geiſtes ift, Daß er es erreicht, zu fein wie er foll, wie feinem We⸗ 
fen gemäß iſt, daß er vollkommen ifl. Die fiegende religtöfe 
Gemeinfchaft ift die vollendete, in der der Geift Gottes 
offenbar, die Liebe Gottes fichtbar wird. 

Die fiegende, die vollendete, die wahre und vollkommene 
Geiftesgemeinfchaft kann nur bie Anerfennung des Principed der 
innera Wahrheit beroorbringen, denn nur diefe Anerkennung er- 
wet in der Gemeinfchaft den Sinn der Bolllommenheit, deren 
Darftellung fie felbft fein fol. Wo Alle glauben an die göttliche 
Wahrheit, wo Alle der göttlichen Vollkommenheit als der höchften 
Selbſtgewißheit fich bewußt find, da.ift ihre Gemeinschaft nad 
menſchlicher Kraft und menfchlicher Beftimmung, eine Darftellung 
des göttlichen Lebens. ine ſolche Gemeinſchaft freier und lies 
bender Wefen, die ſich vereinigt haben, um in ihrer Liebesgemeinz 
haft nach dem Urbilde göttlicher Freiheit und Secligfeit frei und 
feelig zu fein, ift der Wahrheit felbfiffändiges Neid. 
Me find Eins, denn in Allen ift der Geift der Wahrhaftigkeit 
und der Liebe, der Freiheit und des Friedens. 

Der innere Sieg der Wahrheit wird, wenn die Stunde ge⸗ 
fommen ift, aud äußerlich fihtbar und offenbar; der Geiſt der 
Wahrheit wird alle Völker ergreifen,. der Geift der Liebe alle 
Menſchen verbinden, die Tugend wird herrfchen auf Erden. Diefe 
Ausſichten in die Zukunft find nicht leere Schwärmerei, fondern 
ber Gegenftand männlicher Begeifterung. „Sie wird kommen,“ 
ſagt Leſſing, „fie wird gewiß kommen, die Zeit der Vollendung, 
da der Menfch, je überzeugter fein Verſtand einer innern. beffern 
Zukunft fih fühlt, von dieſer Zukunft gleihwohl Bewegungs⸗ 
gründe zu feinen Handlungen zu erborgen nicht nöthig haben wird, 
da er das Gute thun wird, weil es das Gute ift, nicht weil wills 
füprlihe Belohnungen darauf gefeßt find, die feinen flatterhaften 
Ein ehedem blos heften und flärfen follten, bie innern und befe 
fern Belohnungen beffelben zu erkennen. — Geh deinen unmerk⸗ 
lichen Sprit, ewige Vorſehung! Nur laß mid) diefer Unmerk- 
lhleit wegen an bir nicht verzweifeln, wenn ſelbſt deine Schritte 
mir scheinen ſollten zurüdzugehen!” Was giebt ung dieß Ver⸗ 


158 "2.200. Bayer, 


trauen, diefe Zuverficht?. Die feelige innerliche Gewißheit von der 
göttlichen Güte und Wahrheit; wir wiffen, daß Gott fein Won 
nicht bricht, Daß er nur verheißt, was feiner Liebe gemäß ifl, wir 
wiffen, daß Gott Alles vermag, weil er will, was feiner Weid- 
beit Zeugniß ift: fo gewiß Gott ift, ſo gewiß iſt der Sieg der 
Wahrheit. 

Iſt überhaupt Anerkennung eined Gottes der allgemeine Be | 
griff der Religion, fo liegt ber fpeeififche Unterfchied der Rei 
gionen in der Beftimmtheit, in der Gott gedacht wird. Diele 
Beftimmtheiten find Eigenfhaften, Wejensbeftimmungen Gottes, 
Die Vergangenheit wurde beherricht von ber Vorftellung der goͤn⸗ 
lihen Macht: die Furcht entſprach dieſer Vorſtellung der goͤn⸗ 
lichen Wirkſamkeit als Motiv im menſchlichen Geiſte, — „die 
Furcht hat die Götter gemacht,“ wie die Alten geſagt. Dieſe 
Vorſtellung von ber göttlichen Wirkſamkeit iſt die beſchrankteſte, 
untergeordnetſte, unausgebildetſte: was iſt Macht anders als ein 
formelles Vermögen, eine Fähigkeit ohne Gehalt?! Die Mad 
Gottes ift deßhalb die allumfaffende, allbeftimmende, alldurchdris 
gende, alldurchwirfende Macht, weil fie die Zwecke der Gerech⸗ 
tigfeit und der Güte ausführt, weil fie die Zwecke der Licht 
und Weisheit erfüllt. Die Welt ift das Werf der göttliden 
Allmacht, aber die Allmächtigfeit Gottes ift nur der Act der Volk 
führung deffen, was er als der Allbeilige gewollt und als 
ber Allweife befhloffen: die Welt ift voll feiner Weisheit 
und Güte, das Werk feines unausforſchlichen heiligen Willene, 
feiner unergründlichen Weisheit, feiner unerfchöpflihen Güte. Die 
wahre Gemeinde wird von dem Glauben an diefe wahrhaft göte 
lichen Eigenfchaften, die göttliche Weisheit, Güte und Heiligkeit 
erfüllt fein, durch die Ueberzeugung von der Geibftftändigfeit der 
Wahrheit beherrfcht und beftimmt werden. Die Furdt und die 
Selbſtſucht bat die Gögen gemacht, Liebe treibet aus die Furcht 
und den Wahn, die Wahrheit macdhet ung frei. Die Liebe ſagt 
ung, daß Gott ift, der Bollfommenheit Bedürfnig überzeugt undy 
daß Gott ift, die Wahrheit beweift ung, daß ein Gott ift, den zü 

denfen, aller Gewißheit Grund, den zu fühlen, aller Seeligkeit 


Die innere Wahrheit der Religion, 189 


Inbegriff if. Denn er ift in bedürfnißlofer Segligfeit in ſich ge⸗ 
nugſam, felbfifländig, feiner felbft wahrhaftig gewiß. 

Mittheilung feiner Seeligfeit ift der Zwed des Schöpfers, — 
Berherrlichung Gotred der Schöpfung Zweit. 

Berherrlihung Gottes ift der Zwed der wahren Ge⸗ 
meinſchaft, iſt das Werk des freien Glaubens, der geiſtigen Fröm⸗ 
migkeit. Eine religiöſe Gemeinſchaft iſt vom Geiſt Gottes er⸗ 
füllt, — vom Geiſt der Wahrheit, der Liebe, der Seeligkeit. In 
Erfüllung gehen foll in diefer Geiftergemeinfchaft die Verheißung 
Chriſti vom Neihe Gottes und vom Geifte der Wahrheit und 
ber heiligen Liebe. Wo die Liebe Gottes ift, ift auch die menſch⸗ 
liche Bruderliebe; wo die Liebe, ift auch die Freiheit, wo bie 
Freiheit, ift auch die Wahrheit: — die Wahrheit allein macht 
ung frei und glücklich, fromm nnd gottfelig. 


1) 


Der bisherige Zuftand der praktifchen Philofophie 
| in feinen Umriſſen. 


Ein kritiſcher Werfad 
vom 
Herausgeber. 


J. Kant, J. G. Fichte, Hegel, Schleiermacher. 


Die gegenwärtige Zeitſchrift hat ſich, ihrer nächſten Beſtim⸗ 
mung gemäß, vorzugsweiſe bisher mit Problemen der ſpekulativen 
Theologie befchäftigt, und das Princip, zu welchem fie ſich befennt, 
nad diefer ‚Seite bin darzuftellen gefucht. Jene Aufgabe. darf 
fie nunmehr fo weit für erledigt halten, ale wenigftend die Dadurch 
bervorgerufenen Hauptideen weitere Beachtung und Prüfung ge= 
funden, und auch von andern Seiten felbftftändig aufgenommen . 
worden find. So halten wir es an ber- Zeit, daſſelbe Princip 
auch an den andern Haupttheilen der Philoſophie durchzuführen, 
in Kritik, wie in Proben ſelbſtſtändiger Weiterbildung derſelben. 

Warum wir für dießmal die praktiſche Philoſophie waͤh— 
len, geſchieht aus keiner bloß aͤußern Veranlaſſung, — wiewohl 
wir gerade jetzt eine Reihe von Abhandlungen aus dieſem Theile 
der Philoſophie unſern Leſern vorzulegen gedenken, für welche der 
gegenwärtige Aufſatz als allgemeine kritiſche Einleitung dienen 
ſoll; — vielmehr gefchieht ed aus der tiefen Weberzeugung, daß 
außer der Religionsphilofophie die Umgeftaltung oder Fortbildung 
feiner Disciplin wefentlicher ift, als bie der praktiſchen Phitofophie, 
wenn-überhaupt die Spekulation den großen Aufgaben, welche die 
gegenwärtige Zeit ihr geftelt bat, gewachfen bleiben fol; denn 
fein-Wort iſt irriger, .ald was neulich aus fonft unverwerflichem 

Zeitſchr. f. Philoſ. u. pet. Theol. XI. Band 414 


162 Fichte, 


Munde gehoͤrt wurde, daß die ſpekulative Wiſſenſchaft nicht theil⸗ 
zunehmen nöthig habe an den Fragen, welche ihre Gegenwart auf 
das Innerſte aufregen. Verſteht jedoch eine Philoſophie ihre ei⸗ 
gene Epoche nicht, blidt fie, was Eins damit iſt, nicht zugleich 
noch darüber hinaus: fo fehen wir nicht ein, wie eine folche noch 
darauf Anſpruch machen könne, der höchſte Ausdruck der Intel: 
geng ihrer Zeit zu fein. Oder fie müßten dann ausbrüdlich be- 
kennen, mit ihrer Unterfuchung noch nicht zu Ende gefommen zu 
fein, und ihre Weltanſicht vielleicht zwar in ihren fernliegenden, 
abftraften Prineipien begründet zu haben, nicht aber aus ihnen 
die gefammte Wirklichkeit, am Wenigften die geiftige ihrer Zeit, 
zum Selbſtverſtändniß bringen zu können. Sa bei jeder Philoſo⸗ 
phie, die in ber That für ihre Gegenwart wirffam geworben, if 
dieß nur dadurch geſchehen, daß fie gerabe an bie Elemente die 
fer Gegenwart ſich richtete, welche die Zukunft im Schooße tra⸗ 
gen, und diefe aus ihr herausgeftaltete. Seine Zeit verſteht nur 
ber, welcher erkennt, was ans ihr folgen fol; nur fo- gewinnt et 
bleibende Wirkung auf fie, daB er dieſe Folgerung zieht. Jede 
in fi vollendete Weltaufiht von Platon bis auf Kant herab 
bat daher eben fo gut ihre prophetifchen Lehren gehabt, wie jede 
Religion, und wohin anders follen jene fich wenden, ats in bie 
praftifche Philofophie? Auch if es ein eben fo beſtimmtes Kri⸗ 
- terium von der Wahrheit und Tiefe eines philoſophiſchen Priv 
cips, als feine allgemeine theoretiſche Grundlage es ift, zu fehen 
ob das, was fie als das Zukünftige, zu Erſtrebende aufſtellt, eine 
eigentliche und weitumfaflende Zufunft habe, Wie groß und bedeu⸗ 
tungsvoll erfcheinen nad) biefem Maaßſtabe z. B. Spinsfa’s po⸗ 
litiſche Lehren: das ganze vorige Jahrhundert gehörte dazu, um 
ihnen, im Bewußtſeyn der Gebildeten wenigſtens, Gegenwart zu 
geben! 

Dieß iſt nun auch in dem Kreiſe ber Heg elſchen Lehre 
nicht unerkannt geblieben; ja von dieſer Seite ber hat man mil 
beftimmtem Bemwußtfein und entfchiebenfter Klarheit aus dem 
Kreife der Schule felbft die urfprünglichen Schranken des Syſtemes 
durchbrochen, — im Wiberfpruche mit dem befannten Worte fer 





Der bisherige Zuftand d. prakt. Philofophie in feinen Umriffen. 463 


nes Urhebers, „daß bie Eule ber Minerva erft dann ihren Flug 
beginne, wenn eine Geftalt des Lebens alt geworben ſei“, daß 
die Philofophie „mit ihren Grau in Grau” zeichnenden Begriffen 
nur die gegebenen Zuftände zu begreifen, d.h. die Bergangen- 
heit abzufchildern habe; — denn das Gegebene ift in Wahrheit nur 
das Produkt feiner nächften Vergangenheit. Democh müffen wir 
in biefem Ausfpruche ben tiefen, richtig leitenden Bernunftinftinft 
bed Denferd erbliden, mit welchem er den Charakter feiner 
Veltanfiht in ihren praktiſchen Theilen auf das Schärffte und 
Beionnenfte angab, nach dem unvermeidlichen Geſchick aller Phi« 
Iofophen freilich die Eigenfchaften feines Syſtemes auf den Begriff 
der ganzen Philofophie ausdehnend. In der That hat Hegel’s 
praktiſche Philoſophie, wie fich zeigen’ wird, nur einen Theil ih⸗ 
ter Gegenwart und ein Feines Maaß von deren Zufunft umfaßt: 
fie ift darin bie befcheidenfte, welche es je gegeben, und bieran hat 
fie aus ihrer eigenen Mitte ber ihre praftiiche Widerlegung er⸗ 
fahren müſſen. Im Widerfpruche mit ihr haben die Begabteften 
und Ungeftümften ihres Kreiſes getrachtet, fene bürftigen Zu⸗ 
funftöbegriffe fofort praftifch ‚werben zu laſſen, aus Philofophemen 
heraus Befchichte zu machen, — ftatt fie bloß hinterher als vers 
nünftig zu begreifen, — und aller Zukunft zu gebieten, was fortan 
ihre einzigen Intereſſen feyn follen! 

An dem doppelten Widerftreite gegen fi tft jene Philofophie 
nun zu Grunde gegangen, theils in fich felbft, indem der Zwies 
fpalt ihrer Anhänger in ber entfcheivenden Frage ihres praftiichen 
Verhaltens zugleich verrathen mußte, wie fie in einem ber we⸗ 
ſentlichſter Punkte unvollendet, oder, wenn vollendet, dennoch un- 
genügend geblieben fei, theild im Befammtverhältnifie zu ihrer 
Zeit, indem fich zeigt, daß fie mit ihren praftifchen Ideen dieſelbe 
nicht zu deuten, nicht zu umfaffender Corganifcher) Weiterbildung zu 
bringen vermöge. Die praftiihe Philofophie Hegers — dieß 
wiird ihre Kritik zeigen — hat nicht den rechten Begriff der Zu- 

kunft, ie Hat nicht die Tiefe der vorhandenen Gegenfäge verftan- 

ben, welche in biefer zu vermitteln find, weil fie den wahren Be⸗ 

griff der Perfönlichfeit nicht kennt und feine volle Verwirklichung im 
. 11* 


164 Fichte, 


Praktiſchen. Die Hegel’iche Vollendung ber Weltgefchichte ift eine 
ſehr nahe; denn der vollendete Organismus einer gegliederten Stante- 
verwaltung, ohne anderes Intereſſe, als ſich ſelbſt, — das vollendete 
Abbild der abfoluten Vernunft ift an einer beſtimmten Stelle vielleicht 
feiner Erreichung fchon nahe gewefen. Aber darum hat Hegel auf 
den Sinn der Gegenwart nicht vollftändig begriffen, bie wichtigften und 
eyeignißreichften Keime ber Zukunft gerade überfehen. Dennoch war, 
zur zeitigenden Kriſis in diefer Stockung, wenigfiend der Verſuch 
feiner Anhänger, jene Nefultate praftifch zu machen, mannhaft 
und an fih ächt philofophifh, und ift weit über das quietiſtiſche 
Berbalten Anderer aus demfelben Kreife zu flellen, jedem Con 
flifte mit der geiftigen Wirklichkeit forgfältig auszumweichen. 
Aber die Philoſophie hat ihre praktiichen Lehren nicht an 
dem populären Ende des Gegebenen zu befefigen, weber buch 
verſuchten Conflikt, noch Durch geinchte Hebereinftimmung mit ihm 
(wiewohl dieſe Sitte, die eigentlich nur denſelben Zweck äußerer 
Accommodation hat, in das Verhalten der Philoſophen fich ein 
fchleichen zu wollen fcheint), ſondern fie muß fie aus allgemeinen 
Prineipien fhöpfen, die, als folhe, nie populär werden Fönnen, 
noch es zu feyn branchen, fofern nur ber auf ifmen ruhende Bau 
wohl und tächtig gegründet it. So fommen wir auf die rein 
wiffenichaftliche Trage zurüd: weldes bie eigentlichen Principien 
ber praktiſchen Philofophie feien; und wit bas umfafiende Syflem 
berfelben auf fie zu gründen fei? Hier befinden wir ung übri⸗ 
gend mit biefer Frage nur auf dem kritiſchen Standpunkte; wit 
haben das bisher Seleiftete zu vergleichen und in einem feſten, 
gemeinfamen Refultate auszufprechen; hieraus wird ſich die Ein⸗ 
fiht über den weitern nächften Schritt in dieſer Wiffenfchaft a 
geben. Da es ſich aber hier um Feftftellung der Principien han 
beit, welche ihrerfeits auf dem Fundamente der Metaphyfit um 
Pſychologie ruhen; fo wird eine Philofophie, wir meinen Die 
Herbarffche, bie in beiderlei Hinficht eine ſchlechterdings yon dem 
gemeinfamen Bilbungsgange der gegenwärtigen Spekulation abwei⸗ 
chende Bahn verfolgt, auch in Behandlung der praktiſchen Princi⸗ 
pien auf einer andern Seite ftehen, als bie ſich mit ben unfern ver⸗ 





u 


Der bisherige Zuftand d. prast. Philoſophie in feinen Umriſſen. 465 


einigen Yäßt, unb zu deren Bermittlung ed eined weitern Ausho⸗ 
iens von metaphyfifchen Fragen bebürfen würde. Dieß iſt der 
Grund, warum bei gegenwärtiger Unterfuchung dee Principien 
ber praßtifchen Philoſophie die Herbartiche nicht in den Kreis 
gezogen werben konnte. 

Was nun jene betrifft, fo flebt es im Großen und Ganzen 
noch nicht anders um bie praftiiche Philoſophie, ald zu der Zeit, 
wo Schleiermacher mit feiner „Kritit der bisherigen Sitten- 
Ichre” hervortrat. - Diefelben durchgreifenden Gegenfäße, daſſelbe 
noch nicht erledigte, ja’ noch nicht einmal gu vollem Bewußtſein 
gekommene Bedürfniß, jene Gegenfäge in einer umfaffenden Durch- 
führung der Wiſſenſchaft in's Gleichgewicht zu bringen und gleich« 
mäßig zu befriedigen, kurz, diefelben Grundaufgaben, wie da⸗ 
mals! Wiewohl die unmittelbaren Ergebniffe und Cautelen jenes 
Werkes zunächft nur verneinender Art find, wiewohl die Lehren, 
gegen welche feine Kritif unmittelbar ſich richtete, jet mehr hiſto⸗ 
riſch beſtehende, als gegenwärtige find: fo Bat der eigentliche In⸗ 
halt diefer Kritik darum noch nicht an Kraft verloren. Er trifft 
ben Punkt, um den es auch jetzt ſich handelt, welcher auch Das 
Ziel von Schleiermachers foftematifchen Arbeiten zur Ethik 
war, und auf welchen auch das ganze. Intereſſe der gegenwärti« 
gen Zeit gerichtet iſt. Das eigentliche, noch jeßt geltende Ergeb- 
niß der Schleiermakher’fchen Kritif, wie viel man auch fonft 
noch aus dem reichhaltigen Werke ſich herauslefen mag, läßt fich 
nämlich dahin ausfprechen, daß es ber bigherigen praftifchen Phi⸗ 
lofophie noch nicht gelungen ift, die Güter-, Tugend» und Pflich- 
ten=Rehre aus Einem Princip, und zugleich damit in völligem 
Gleichmaaße und genauem gegenfeitigen Entfprechen auszubilben, 
daß aber — und dies ift die noch wefentlichere Betrachtung, wo⸗ 
mit wir fchon auf die Wendung eingehen, weldhe Schleier- 
macher den eigenen fyflematifchen Arbeiten zur Ethik gegeben 
bat, — nur auf den Grund der Güterlehre ber Tugend» und Pflichte 
begriff auf concrete, der fittlihen Wirklichkeit gemäße Weife aus⸗ 
geführt werden kann. So fteht die Sache im Grunde noch jetzt: 
auch nach Schleiermachers eigenem Syſteme der Ethik. 


166 Fichte, 


Die wiſſenſchaftliche Behandlung des Tugend» und Pflticht⸗ 
begriffes läßt fich erft dadurch über die bisherige abſtrakte 
Faſſung erheben, die fie in allen Syſtemen ber Sittenlehre hat, 
weiche ihren Hauptinhalt in die Entwicklung diefer beiden Begriffe 
fegen, nach welcher Alles auf eine Reihe formeller Vorſchrif⸗ 
ten oder Kriterien fich befchränft, an denen das Tugenbhafte oder 
Plichtgemäße der Gefinnung oder der Handlungen zu erfennen 
fei, — wenn dieſelbe auf eine vollftändige Lehre von den Gü⸗ 
tern des fittlichen Lebens gegründet, und in biefen der Inhalt 
der füttlichen Gefinnung, wie die Subftanz bes pflichtmäßigen 
Handelns nachgewieſen wird. 

Umgelehrt: allein dadurch kann die Güterlehre ihr willen 
fchaftliches Princip und ihre Ausführung erhalten, wenn erwieſen 
wird, wie die fittliche SFreiheit Aller und ihre Gemeinfchaft durch 
fittlihe Geftunung, das „böchfte Gut”, nur in ver Gefammt 
heit jener Güter erreichbar fei, und nur durch bie Theilnahme 
jedes Einzelnen an ihnen ſich verwirklichen Iaffe, wie aber eben 
damit für jeden Einzelnen Tugend und Pflicht auf durchaus bes 
grängte, nur individuelle Weife, in der ganz beflimmten Sphäre 
eines Gutes (der Familie, des Berufes, der bürgerlichen Gemein 
fhaft u. ſ. w.) Geltung babe, daß es reine Tugend und Pflicht 
‚mäßigfeit, bloß entfprechend jenen in abstracto aufgeftellten Ma 
zimen und Negeln, gar nicht gebe: — wie die Erfahrung längft 
bemerkt, und die Tauglichkeit folcher allgemeinen Kriterien zur 
Leitung ber Handlungen in der fehr complicirten Wechſelwirkung 
bes Lebens bezweifelt hatte, worüber wir nur flatt alles Andern, 
die befannte Polemit Jacobi's gegen die Kantifchen gemein 
gültigen Marimen in der Moral in Erinnerung bringen wollen, 

Ferner: iſt hierdurch zugleich der Begriff der Perfönlichkeit und 
Sreipeit, nach welchem auch im Gebiete des Sittlichen Jeder nur 
ſich ſelbſt gleich iR, feiner eigenften Welt angehört, und das Prüt- 
cip der Allgemeinheit, nach welchem Sittlichkeit nicht nur bie alls 
gemeine Forderung für Jeden. ift, fondern auch als die Höhe, 
Alle zur Gemeinfchaft verfnüpfende Macht fich erweiſt, in ihrem 
bisherigen Gegenfage völlig ausgeglichen. Die wahrhaft ver 








Der bisherige Zuftand d. praft. Philoſophie in feinen Umriſſen. 167 


wirflichte PerfönlichEeit, das Genugthun feinem Genius, wird 
den Einzelnen in der rechten, d. h. durch Verwirklichung aller fitts 
lichen Güter erreichten Gemeinfchaft mit der Perfönlichkeit aller Ans 
bern ausgleichen; die böchfte Selbſtvollendung eines eben wird bie 
wahre Gemeinfchaft Aller erzeugen: umgekehrt wird die rechte Ger 
meinfchaft Aller Jeden zu feiner wahren Perfönlichkeit gelangen laſſen. 

Endlich: kaun nur daburd zugleich der Begriff des höchften 
Gutes von feiner leeren Idealität und abfiraften Unbeſtimmt⸗ 
beit befreit werben, welche dann weiter zur Vorftellung feiner 
Unerreichbarfeit und Senfeitigkeit nöthigte: in der Gemein- 
ſchaft ift es nur erreihbar durch die fittliche Gefinnung Aller, 
welche eben damit die Gefammtheit der fittlihen Güter verwirk⸗ 
licht und bewahrt; aber auch dem Einzelnen, fofern er nur 
diefer Geſinnung in fi gewiß ift, des felbfiftändigften und an ſich 
erreichbarften von allen Gütern, — giebt ſich das höchſte Gut zum 
sollen fubjektiven Genuffe feiner eignen Vollkommenheit, weil ed 
ganz in feine Gefimmung und feinen Willen eingegangen ift, und ihn 
nach ſich umgeſchaffen hat. Aber auch objektiv wird ihm der un« 
verfürste Antyeil am höchſten Gute, fofern er durch jene Ge⸗ 
finnung fih zum weſentlichen Gliede der Gemeinfchaft erhoben, 
in der es allein verwirklicht werden kann, und fofern er dag Bes 
wußtfein diefer feiner abfoluten Bedeutung hat. 

Es iſt daſſelbe Bewußtfein, welches Kant ald dag der fitt« 
lichen Würde und Selbftadhtung bezeichnete, der unabtrennlichen 
Begleiterin der fittlichen Gefinnung, und in dem er vielmehr jene 
ie Selbfigefühle hervortretende Genüge und Vollendung, die in- 
nere, von jeder äußerlichen Beziehung unabhängige Gtlüdfeeligfeit 
hätte finden. fönnen, im Gegenfage zu der von ihm allein be⸗ 
zeichneten dußern Glüdjeeligkeit, zu welcher noch äußerlich ange= 
meffene Umftäude binzufommen müffen, — ein Gegenfaß, wel 
cher zugleich ihn nöthigte, Die Erreichung des höchſten Gutes für 
den Meunſchen bis auf ein Fünftiges Leben zu vertagen. — So 
iſt vielmehr der Begriff des höchften Gutes ein wahrhaft dies⸗ 
feitiger, ergreifbar geworden auch in der fchlichteften und unmit« 
telbarften Geftalt des Berufes oder des praftiichen Lebens, ſo⸗ 


A68 ' Fichte, 


Bald nur die ſittliche Geſinnung fi rückhaltlos darein verfenkt, 
und das Bewußtfein hat von ber unendlichen Bedeutung einer 
jeden ächt füttlichen That. 

Hiermit ift allerdings nach unferer Ueberzeugung das pöchfe 
Ziel der Eihif, auch als philoſophiſcher Wiffenfihaft, aufge 
- ftellt: der Einzelne, nad) feiner innern Jndividualität, wie nach ſei⸗ 
ner äußerlichen individuellen Lage, ift völlig über ſich verſtaͤndigt, 
er erkennt, wie er auch im Ktleinften das Ganze und Ewige ergreis 
fen könne. Auch feine Gefinnung ift mit jeder Geftalt bes Les 
bens verföhnt, weil er fih bewußt ift, die Pflicht, fein Handeln, 
auf vollkommene Weife in jeder verwirklichen zu koönnen. Aber 
auch die allgemeinen Geftalten des fittlihen Univerfums, ber 
Staat und die Kirche, werden erſt von hieraus in ihrer Wahrheit 
erfanntz der Einzelne hat ſich nicht ihnen zum Opfer zu bringen, 
fie werben vielmehr als diejenigen fittlichen Formen nachgewiefen, 
in welchen allein feine wahre Perfönlichkeit, die in ihm ſich indi⸗ 
vidualiſirende Idee des Genius, ihre freie Wirklichkeit und Selbſt⸗ 
genüge finden kann, wenn in beiden, in Staat und Kirche, ihr 
abfoluter Zwed erreicht fein foll, der nämlich, vollfommene Mit 
tel zu fein zur Verwirklichung jeder Perfönlichkeit in ihrer. wah⸗ 
ren geiſtigen Bedeutung, womit zugleich das vereinende, wahr⸗ 
hafte Gemeinſchaft fördernde Element in ihnen verwirklicht waͤre. 
Nah Löſung dieſer Aufgabe durch eine umfaſſende Güterlehre, 
kann die Ethik nur übergehen in eine Philoſophie der 
Geſchichte, um in dem ſcheinbar willkührlichen Gange der 
Weltgeſchichte den teleologiſchen Proceß jener Verwirklichung 
nachzuweiſen. — 

Wir bekennen nun unſere Ueberzeugung, daß Schleier 
machers Ethik zu unferer Zeit zuerſt dieſe umfaſſende Behand 
Yung der praktiſchen Philoſophie angebahnt habe und. in dieſe Anbah⸗ 
nung, in das von ihr aufgeſtellte Princip, iſt ihre eigentliche Lei⸗ 
ſtung zu ſetzen, mag auch zugeſtanden werden müſſen, daß der 
erſte Wurf ihrer (noch dazu auch äußerlich nicht zur Vollendung 
gekommenen) Ausführung nicht in allen Theilen, ſelbſt nicht in 


Der bisherige Zuftand d. prakt. Philoſophie in feinen Umriffen. 469 


ven fundamentalen Beſtimmungen, gelungen fei. Am Wenigften 
aber Tann man, wie bieß hier und da verfucht worden ift, ein⸗ 
jelne Bruchſtücke aus jener gefchloffenen Idee des Ganzen ablös 
fen ‚ um fie einem andern Ganzen einverleiben zu wollen. Das 
Weitere der Kritif muß nun fein, bie eigentliche Ausbeute, welche 
feine Borgänger, Kant und Fichte, auch für die Ethik ber 
Gegenwart binterlaffen haben, diefer zu bewahren, ebenfo der Leis 
fung Hegels ihre eigenthümliche Stelle im Ganzen der gegen 
wärtigen Aufgaben einer praftifchen Philofophie anzuweiſen. Ueber⸗ 
haupt müſſen wir biefenigen Principien der praftifchen Philoſophie 
näher Tennen lernen in ihrem Berhältniffe zu einander und zu 
Schleiermacher, welchen diefer theils direkt und mit Bewußt⸗ 
fein, wie dem Kantiſchen und Fichte'ſchen, theils indirekt und 
nur mittelbar, wie dem Hegelſchen, ſich entgegengefegt bat, um 
über das innere. Verhältniß aller zu einander eine‘ umfaſſende 
Einficht zu gewinnen. 

In Bezug auf ſein Princip ſtellt ſich Schleiermacher 
nämlich in die Mitte zwiſchen die beiden für ſich gleich einſeitigen 
Gegenfäge, nach welchen, vor ihm und bie auf ihn hin, am Ente 
fhiedenften die Behandlung der praftifchen Philoſophie fich getheilt 
hat, entweder nur Zugend= und Pflichtenlehre zu fein, und bie 
Güterlehre in unvollftändiger Beiläufigkeit der Pflichtenlehre eins 
zuverleiben, ober zu ihrem Hauptinhalte die allgemeinen Formen 
der Gemeinfchaft zu machen, und fie folchergeftalt auf die Lehre 
vom Staat zu begrängen, d. h. fie zur bloßen Güterlehre herab⸗ 
zuſetzen, und nicht. einmal dieſe volftändig zu behandeln, Jeder 
erfennt, daß der erfte Gegenfag in Kant und Fichte, diefer in 
Hegel feinen Repräfentanten findet. Schleiermader hat ber 
Erhif dadurch eine umfaffendere Aufgabe und eine neue Wendung 
gegeben, daß er Güter⸗, Tugend= und Pflichtenlehre in gleich“ 
mäßiger Ausführung und aus Einem Principe behandeln wollte, 
dergeftalt, daß in jeder diefer Formen dieß Eine Princip fi) voll⸗ 
kommen, aber eben bamit in wechfelfeitig fich entiprechendem Aus⸗ 
drude zeigt. Ohne Zweifel ift hiermit der richtige und umfaſſende 
Geſichtspunkt aufgeſtellt, welchen von nun an die Ethik nicht mehr 


% 


wird aufgeben. bärfen, ſchon deßwegen nicht, weil erft von ihm and 
eine vollftändige kritiſche Einficyt in den Grund ber bisherigen 
Ungenüge möglich if. Davon ift aber die weitere Folge unabtrenn⸗ 
lich, dieſe Eritifche Einficht an Schleiermachers eigener Aus⸗ 
führung zu erproben; er wirb fih am Erſten dem Maaßßſtabe 
einer von ihm aufgeflellten Idee der Ethil unterwerfen müſſen. 
Die Eine Behandlungsweile derſelben, wie fie dem zuerf 
bezeichneten Gegenfag entfpricht, begnügt ſich damit, die Ethik ald 
die Lehre von der tugendhaften Gefinnung und dem pflichtmaͤß⸗⸗ 
gen Handeln zu betrachten, und richtet Darauf ihr Hauptaugen 
merk, durch fittlihe Vorfchriften und Pflichtgebote den Trieben 
und Leidenſchaften gegenüber eine unfehlbare Richtſchnur des Ha 
being feftzuftellen. Die Vorausfegung ift dabei, daß die Trick, 
bie natürlichen Neigungen und Anlagen, Turz Alles, was in Ge 
ftalt des Naturells auf unmittelbare Weife den Willen antreikk, 
nur als ein dem Sittlichen Aeußerliches, ihm nicht Gemäßes, le⸗ 
diglich von ihm zu Beſchränkendes betrachtet werben müſſe. 
Hierdurch ift die Form des Willens, daß er der geiftige, felbk 
bewußte fein müfle, um ber fittliche zu fein, zum einzigen Krite⸗ 
sium des Sittlihen erhoben worden, mit völligem Abfehen vos 
dem möglichen Inhalte deffelben. Die Neigung entfcheidet mic, 
fondern das Bewußtfein der Pflicht; jene wird vielmehr, al 
an ſich bedeutungslos, aufgehoben, was richtig ift, fofern die Ne 
gung ihrem Inhalte nah aus dem bloß finnlichen Triebe oder 
ber yerfönlichen Selbſtſucht des Subjekts hervorgeht: falld 
aber, oder nur abftraft, fofern Neigung überhaupt entfteht, we 
der Inhalt oder Zuftand des Bewußtſeins mit dem Selbfigefühle 
des Subjeftes verföhnt iſt. Sofern nun bie fittliche Gefinnung nick 
dem Wefen des Subjefts Widerfprechenpes, vielmehr das ab 
lein feinem Begriffe Entſprechende ift Cein Moment, Der we 
nigfteng als weitere Konfequenz auch im Kant iſchen Moralprincipe 
liegt, indem Kant die Idee des Sittlichen ale das fchlechthin Ber 
nunfturfprüngliche im Menſchen, als das aprioriſche Geſetz feined 
Billens, nachgewiefen bat, — ber aber ausbrüdlich erft von Fichte 
ausgefprochen, und in feiner fräteren Sittenlehre, in Schilderung 


Der bisherige Zuftand d. praft. Philofophie in feinen Umriſſen. 474 


bes Weſens der Sittlichfeit, mit höchfter Energie dargeſtellt wor⸗ 
den ift): fo Tann die Pflicht nicht nur, fondern ſoll zugleich In⸗ 
halt feiner Neigung fein; d. h. das Subjekt hat fi nur infofern 
zu dem ihm angemefienen fittlichen. Bewußtfein, zur Achten fittlis 
chen Gefinnung erhoben, als jene mit der Neigung völlig vers 
föhnt if. Weil jedoch die Sittlichfeit, indem fich ihr allgemeiner 
Charakter nur daran enticheidet, auf welche Weile das fittliche 
Subjekt im eigenen Bewußtſein fich ergreift,. d. h. welches feine 
Gefinnung if, eben damit nur dur Stufen des Bewußt⸗ 
feins fi zu entwideln vermag: fo können auh in wahrhaft 
fütlichem Bewußtfein Neigung und Pflicht noch im Wibderftreite 
mit einander ſtehen, oder in dieſen zurüdfallen, was immer erfl 
bie Form der werdenden Sittlichfeit ift. Die fittliche Cultur und, 
ihr entfprechend,, die Ethik muß aus dieſem Zwiefpalte vielmehr 
zue Einheit fortgehen; — was Tängft erkannt und in ben vers 
fchiedenften Geftalten, felbft dur das befannte Spottwort ber 
Schiller'ſchen Xenien, gegen Kant geltend gemacht worden iſt. 
Es gilt indeß zugleich, und jetzt mehr als je, die eigenthümliche 
Berechtigung auch jener Kantiſchen Unterſcheidung feſtzuhalten, 
und nicht ſchwinden zu laſſen gegen laxere oder minder eniſchie⸗ 
bene ethifhe Beſtimmungen. 

Indem Kant nämlich zum entfcheidenden Kriterium der ſitt⸗ 
lichen Gefinnung machte, dag Pflicht und Neigung zwar im Zwie⸗ 
fpalte fein koͤnnen, diefe aber überwunden ſeyn folle: hat er den 
rigoriſtiſchen Standpunkt m ber Moral, immerhin ..den, welder 
feine Berechtigung nie verliert, nur zum abfoluten und ausfchlies 
genden gemacht; daher es auch durchaus folgerichtig von Kant 
war, den Begriff der Heiligkeit Cwelche Die ab folute Einheit von 
Pflicht und Neigung wäre), dem Menfchen abzufprechen. Er hat 
nicht Unrecht damit, ift nicht gu widerlegen, oder eine feiner Beſtim⸗ 
mungen aufzugeben, fondern feine an fich hochftehende und vom rein« 
fien fittlichen Adel in ihm felber jeugende Auffaffung der ethifchen 
Geſinnung ift nur noch in bie höchfte, allvermittelnbe und verfühs 
nende fortzuführen. Die chriftlich moralifche Praxis, wie fie fi) 
im Mittelalter fo eigenshümlich als energiich ausgebildet hatte, 


mieten Sicte, 

fah darüber tiefer: fle Hat im der Asfefe, in ber Buße bes unbes 
dingten Gehorfams, im unbedingten Befolgen der Pflicht, bloß 
aus dem formellen Sntereffe, feinen veinen Willen daran zu bes 
thätigen, mit Recht nur eine Zwifchenftufe erblidt, um das Be 
wußtſein von der felbftfüchtigen Neigung zu reinigen, und zu bem 


Standpunkte der freien Neigung zu erheben. Daher bleibt es fr 
gar eine erfahrungswibrige Behauptung, ben Standpunkt der Pflicht 


und den ber freien Neigung für unverträglich mit einander, oder 
beide für wechſelſeitig ſich ausſchließende zu halten. Wohl kam 
es fein, daß der Iegtere ſchon erreicht ift, und das fittliche Han 
dein des Subfeltes das Gepräge der vollen, nur in ihm fi be 
friedigenden Begeiſterung trägt, während Doc ein einzelnes Ber 
bältnig, ein beftimmter Conflikt, ihm das flärkfte Ankämpfen gegen 
pflichtwidrige Willführ und bie fchwierigfte Selbftverläugnung aufs 
erlegt; an dem Auftauchen dieſes Gegenfages und an dem Wie 
derverfchwinden diefer Spannung im fittlihen Bewußtſein be 
währt fi) gerade, daß nur die mit der Pflicht verfühnte Neigung 
zur Reife und Ruhe der fittlihen Bildung gelangt if. 

Daß alle diefe Punkte von der Rantifchen, wie von ber fou- 
ftigen, daran ſich anfchliegenden Moral ganz übergangen ober um 
erledigt geblieben find, davon ift der Grund kaum anderswo zu 
finden, ale in bem Mangel einer vollſtändig ausgeführten Lehre 
vom Weſen des Willens, die, ald Theil einer Lehre vom menſch⸗ 
lichen Geifte, der Ethik die fundamentale Einfiht als Grundlage 
zu überliefern hätte, daß der vollfommene Wille weder im Bi 
derſtreite gegen bie Triebe, noch in der bloßen, formellen Pflichtmaͤ⸗ 


figfeit des Handelns zu fuchen fei, fordern in dem Erfülltſein wit 


einem geiftigen Gehalte, einer in ihm ſich indivibualifivenden Idee, 
beren begeifterndes Intereſſe alle zerftreuten Neigungen und Triebe 
in fi) concentrirt, und fo das Subjekt und feinen Willen zu ei⸗ 
nem infich einigen und völlig befriedigten macht, Wir Iaffen für 
jegt die Frage noch unentfchieden, ob Hegel oder Schleier 
macher dieſen Begriff des Willens in einer vollftändigen Debuls 
tion aller feiner Beftimmungen gefunden, und fo das höchfte Ziel, 
in welches eine Tugend = und Pflichtenlehre. auszulaufen hat, nach⸗ 


Der bisherige Zuftand d. praft. Phitofophiein feinen Umriſſen. 473 


gewieſen haben: hier ift nur Daran zu erinnern, baß von Kant bie 
nicht gefchehen fei. Dagegen kennen wir unter den wiflenfchaftlichen 
Darfiellungen der Ethik aus der Gegenwart Feine, welde dieſen 
Punft, den Begriff der füttlihen Geſinnung und des fittlichen Wil⸗ 
lens, als Berwirklihungsform der Idee im individuellen Geifte, 
und damit als einzigen Grundes des wahren Ich und einer fub- 
ftantiellen Perjönlichkeit deſſelben, mit folher Klarheit und Ent- 
fhiedenheit ausgeſprochen hätte, ale Fichte's nachgelaffene Sit- 
tenlehre. Diefe gehört In den gegenwärtigen Zufammenhang, 
wiewohl in ihrem Betreff wieder zu bekennen ift, dag der Begriff 
der dee, ald des Grundes des wahren Sch, felber. bei ihr ab- 
Rraft geblieben, nicht fich zu einer erfchöpfenden Ideenlehre aus⸗ 
gebildet hat, die dann zugleich eine Lehre von den vollſtändigen 
Formen des Genius geworben wäre. Aber fie hat dieß beftimmte 
Bewußtfein ihrer Graͤnze: fie Iehrt,-wie die Idee in jedem Sch 
fi individualifire, fei a priori. fplechthin unerfennbar, und nur 
‚in dem Selbftbewußtfein. jedes Sch, welches ber Idee fich hin 
gebe, auf durchaus individuelle Weile zu erleben. Diefe rich⸗ 
tige und wejentlihe Erwägung fchließt aber nicht den andern Sat 
aus: daß die Kormen der Idee nach den Brundrichtungen des 
erfennenden, fühlenden und wohenden Ich ſich müſſen erfchöpfen, 
und fo auch die Hauptgebiete der fittlichen Thätigkeit fich vollftän- 
‚dig angeben laffen, was die Grundlage einer (hier gleichfalls feh- 
enden) Güterlehre fein würde, So können wir Fichte's Sit- 
tenlehre in dieſer Geftalt als wejentlihes Glied in ber gegenwär- 
tigen Sortbildung der Ethik bezeichnen, zugleich als die höchfte 
Spige und wahrfte Konfequenz der mit Kant beginnenden Rich⸗ 
tung in diefer Wiffenichaft. 
Ihr Princip hat fie felbft auf das Einfachfte ausgefprochen: 

Die göttliche dee, die abfolute Erfcheinung Gottes in der abfo- 
Iuten Form des Bewußtfeins, it Grund der Welt, mit dem 
Bewußtfein, daß fie es ſei; fie feht in der Natur (als der leeren, 
formalen Erfcheinung) und in den durch den Rechtsbegriff be- 
gründeten Berhältniffen der freien Iche zu einander (welche Berhält- 
niffe hiermit nur als die Bedingungen zur eigentlichen Welt, und als 


4174 | Fichte, 


nichts mehr begriffen werden), eine überſinnliche Ordnung der 
Dinge, eine Welt der Sittlichkeit, die Freiheit der Iche ergrei⸗ 
fend und ſich unterwerfend, ſo daß dieſe nun die Darſteller des 
göttlichen Inhalts, der Ideen, in der dadurch mit Inhalt erfüllten 
und erſt darin ihren Zwed erreichenden Natur werben, ebenfo, wie 
die Iche nicht minder erft in diefer Freiheit und dem Bewußtſein 
derfelben ſich über das bloß formelle Selbſtbewußtſein zur eigenen 
Realität erheben. | 

Die Sittenlehre iſt nun die bloße Analyfe dieſes Bewußtſeins 
des Ich, Werkzeug der Ideen zu fein: der füttlichen Gefinnung. 
Darin befteht aber das Wefen der Sittlichfeit, Iediglich Ausbrud 
der Verwirklichung der Fdeen im Willen zu ſeyn. Es ift kein 
bloßes Wollen der Pflicht, um der Pflicht willen, indem fich durch 
Selbftverläugnung das Ich ſtets von Neuem ihr unterwirft: 
fein Selbſt ift vielmehr ihm werſchwunden in ber Liebe der Idee, 
der wahre Charakter des Sittlichen ift Selbftlofigkeit; an 
die Stelle des nichtigen Selbſt und feiner Antriebe ift der Inhalt 
der dee, der Erfcheinung Gottes getreten, und in der Begei⸗ 
flerung, mit welcher diefe im Sch Perfönlichkeit und Selbfige 
fühl erlangt, ift auch eins für allemal jener fonft endloſe Kampf 
des Selbſt zwifchen der Neigung und der Pflicht verfchwunden, 
Einheit und Harmonie im Selbfigefühle eingefehrt. Hiermit wird 
dem Ich keine andere Realität und Wahrheit zugeftanden, als di 
es erlangt, indem bie Idee e8 ergreift, Perfon in ihm wird, und 
ed zum eigenthümlichen Gliede macht jener Gemeinfchaft der Iche, 
in der fih ‚das Eine, ewige Bild Gottes darftellt. Nur fo kommt 
ihm ſelbſt auch Ewigkeit und unvergängliche Dauer zu, während 
es von Seite feines natürlichen Dafeins und der darin. fich regen 
den Willführ, bloße formale Erfcheinung if, und der Schein 
welt, wie die Natur, angehört. 

Deßhalb hat die gegenwärtige (zeitliche) Dafeinsform, dem 
Fünftigen Reben gegenüber, nach Fichte Feine andere Bedeutung, ald 
zuerſt nur dieß wahre Ich und bie basfelbe verwirkfichende Ge⸗ 
finnung, die reine Sittlichfeit, in Allen zu entwideln. Jedes 
Pflichtgebot kann hienieden, „ob der Einzelne es wife ober nicht”, 


Der bisherige Zuftand d. prakt. Philoſophie in feinen Umriffen. 175 


nur darauf gerichtet fein, die Sittlihfeit der Andern zu fördern. 
Der Sittliche will die Sittlichkeit Aller, als „eines geſchloſſe⸗ 
nen Syftemes.” Sein eigenes felbfibewußtes Handeln kann 
mir jene zum Ziele haben. Aber darum muß der Sittliche wol- 
Ien, daß dieſes Syſtem fich fchließe, und er weiß, daß es fi 
fliegen müfje, wiewöhl er auch weiß, daß es fich nicht ſchließen 
fönne, bis nicht. alles individuelle Bild in einem gemeinfam an⸗ 
Ihaulichen Leben erfchienen, jede Perfönlichfeit entwidelt it dur 
und innerhalb.der fittlihen Gemeinfchaftl. Er weiß darım, daß 
ed mit biefer Welt, in der ſteig neue Individuen in bie Neihe 
treten, mit diefer Welt des Geborenwerdens und Sterbens, ein⸗ 
mal ein Ende nehmen, und zu der Welt kommen müfle, in ber 
das nun zur Einheit vollendete Gefchlecht fein eigentliches Ge⸗ 
ſchaͤft treibt, das abſolute, vollendete Bild in fich zu realiſiren; zu 
der ewigen Welt der göttlichen Erfcheinung, um welder willen 
die gegenwärtige, ald ihre Bedingung, ganz allein da if. Die 
fitlihe Gemeine, ale Formen ihrer Gemeinfchaft diefer ſittli⸗ 
hen Idee gemäß umfchaffend, bringt den Bernunftftaat hervor. 
‚Wie diefer aus den gegebenen Staatsformen, nur durd Freiheit, 
aber nach einem ficher wirkenden Gefege im Gange der Weltge- 
ſchichte, allmählich ſich realifire, und fo die Welt der zeitlichen Er- 
Kheinung unfehlbar ihrem Ziel entgegenführe, durch Verwirkli⸗ 
Hung des fittlihen Willens in Allen das ewige Reich Gottes 
zu begründen: dieß zeigt Fichte, den Gegenfag von Freiheit und 
Nothwendigkeit durch Betrachtung der weltgefchichtlichen Erſchei⸗ 
nungen felber Iöfend, und fo den Begriff der Vorſehung begrüns 
bend, in dem Abriffe einer Philofophie der Gefchichte, welche er 
Staatslehre, oder „über das Verhältniß bes Urftantes zum Ber- 
nunftreiche” genannt hat. 

Hiermit iſt nun, fo müffen wir urtheilen, bas Princip der 
praktiſchen Philoſophie von Einer Seite vollendet: der hoͤchſte 
Vegriff der Sittlichkeit, vereinigend das Bewußtſein der Neigung 
und der Pflicht, iſt mit Klarheit und Energie ausgeſprochen. Aber 
darin wird zugleich das wahrhafte Weſen der Perfönlichfeit nach⸗ 
gewieſen: dieſe kann nur in ber Sittlichkeit zur vollen Erfcheinung 





4176. Fichte, 


kommen; umgekehrt, wo die wahre Perſoͤnlichkeit ſich verwirklicht, 
da erzeugt ſie aͤchte Sittlichkeit. Hierdurch hat ſich der Begriff 
des Genius, des Ergriffenſeins des Ich von der Idee auf 
durchaus eigenthümliche Weiſe, worin eben das Weſen der Per⸗ 
ſon beſteht, in ſeiner univerſalen Bedeutung gefunden. Dieſe Per⸗ 
ſönlichkeit aber iſt zugleich das wahrhaft Vermittelnde, Gemein- 
ſchaft Fördernde unter den Ichen: jedes wird ſich darin ſeiner 
ergänzenden Gemeinſchaft mit allen andern bewußt. Die Ethil 
ft dadurch auf den Begriff der Perfönlichfeit gegründet, dieſer 
ſelbſt aber an die tiefften metaphyfiichen Principien geknüpft, und 
in feiner Wahrheit gerettet. Dieß Ich ift nicht mehr, wie bei 
Hegel, vorübergehender Moment im unendlihen Selbftverwirk 
lichungsprocefie der abfoluten Vernunft; denn feine Eigenthäns 
lichkeit, fein Genius, macht ed gerade zum ergänzenden Gliede 
der Gemeinfchaft Aller, des ewigen Bildes Gottes, in weldem 
fein Wandel und Fein Vergehen ift. — 

Um ferner ein anderes Eigenthümliche jenes gemeinfamen, 
Kant’ihen, Standpunttes zu bezeichnen: es fehlt hier der Ethil 
faft durchgehende eine felbfiftändige Behandlung der Güterlehre. 
Die objektiven Geftalten ber fittlichen Gemeinfchaft, Familie, 
Staat, Kirche, werden zwar in die Pflichtenlehre hineingezogen, 
indem da von Pflichten des Gatten, des Vaters, des Bürgers, 
des Laien und des Geiftlichen, u. dgl. die Rede ifl. Dennoch er⸗ 
ſcheinen jene Formen dabei nicht als die nothbwendige Selb 
geftaltung aller fittlihen Gemeinfchaft, eben darum als fitb 
liche Güter, welche allein auch den Pflichten ihren Inhalt und 
die Sphäre ihrer Verwirklichung geben fünnen, in deren Ge 
fammtheit erft Tugend und Pflicht ihr Dafein erhalten, ohne 
diefelben aber eine unreale Abftraftion fein würden, — fonden ed 
bleibt bei diefer Behandlung, wo an ihnen gleihfam nur beifpiek 
weile gezeigt wird, wie ber Sittlihe ſich in den gegebenen Les 
bensverhältniffen zu benehmen habe, der nothwendige Schein, ald 
feien fie etwas Unweſentliches, Accidentelles an der Sittlichkeit, 
als Fönne das fittliche Subjeft feine Gefinnung und fein Hans 
dein auch außer denfelben, etwa an der Hohlheit ſubjektiv erſon⸗ 


Der bisherige Zuftand d. praft. Philof ophie in feinen Umriffen. 477 


nener ſittlicher Ideale bethätigen. Hierin ift bie Idee der Sitt⸗ 
lichkeit nur auf formelle Weile beftimmt, — ja in Entzweiung 
mit der Wirklichkeit gelaffen : in doppelter Hinfiht. Im Subjekt 
bleibt fie unvermittelt mit dem Naturell und den Trieben, während 
jedes der Güter eine beftimmte Richtung des Naturells und feiner 
Triebe, aber ethifirt, durch den Begriff der fittlichen Gemeinfchaft 
vergeiftigt, darſtellt. Dei dieſem Mangel bleibt Daher Nichts übrig, 
als die Sittlichfeit für Die Negation des Triebes zu erflären. 

Innerhalb der Gefammtheit fobann läßt fie das Subjeft nur 
als Bereinzeltes fliehen, in der abfiraften Identität einer wirf- 
lichkeitsloſen fittlichen Gefinnung, die ſich nicht zur Perfönlichfeit 
geftalten kann in dem oben bezeichneten Sinne dieſes Wortes, für 
welche daher das wahre Princip der Gemeinfhaft noch nicht ge⸗ 
funden if. Jedes fittlihe Subjekt fcheint nach diefer Anficht ſchon 
für fich vollendet zu fein, es. fteht nur neben den andern; während 
es uur in der Ergänzung mit ihnen, auch als fittliches, feine 
wahre Bedeutung erhalten kann. 

Hiermit glauben wir nun die Gränzen des Principg bezeichnet 
zu haben, in welchen die Moral in gewöhnlichem Sinne, auch bie 
chriſtliche Moral, behandelt worden if. Dan hat jene Bedenken 
von mehr als einer Seite außerhalb ihres Kreiſes ausgefprochen, 
ohne daß fie es ſich hätte fonderlich anfechten laffen, noch weni⸗ 
ger, ohne daß eine gründliche Erweiterungsund Umgeftaltung ihrer 
Principien eingetreten ‚wäre, mit Ausnahme bed fchon angegebenen 
Schleier macher'ſchen Entwurfes. In jener hergebrachten Regel 
der Behandlung läßt ſich vielleicht noch die doppelte Weiſe unter⸗ 
ſcheiden: entweder handelt es ſich darum, wie bei Kant und in 
der zahlreichen Nachfolge von Bearbeitungen der Moral, welche 
von ihm ausgegangen ſind, mit Vorwaltenlaſſen des Pflichtbegriffes, 
allgemeingültige Maximen feſtzuſtellen, nach denen alle Handlun⸗ 
gen der Form dieſes Begriffes gemäß werden; wie nach der 
Kantiſchen Formel: immer ſo zu handeln, daß die Maxime der 
Handlung als Geſetz für alles Handeln betrachtet werden könnte: 
— oder es wird der Begriff der Tugend, der ſittlichen Geſinnung, 
zum vorwaltenden gemacht, wenn, wie in der chriſtlichen Moral, 

Zeitſchr. f. Philoſ. u. ſpek. Theol. XI. Band. 12 


178 Fichte, 

bie Liebe Gottes und bes Nächften ale Princip alles Wollens und 
Handelns erHärt und daraus bie Pflichtenlehre abgeleitet wird, 
In beiderlei Auffeffungsweife Bat die Sittenlehre nur einen Theil 
ihrer Aufgabe gelöſt: fie iR Lehre som fitlihen Bewußtſein in 
feiner reinen, allgemeinen Form; aber fie zeigt es nicht realifirt 
zu einer fittlichen Welt, nicht ald Den Duell einer fittlichen Gemeinfchaft 
Aller, welche fich immer vollenbeter aus ipm verwirklichen ſoll. 

Nur den direkten Gegenfag zu jenem, und Weiter noch 
Nichts, bildet das _andere, das Hegel'ſche Princip ber yraf- 
tiſchen Philoſophie: dieſe Fönnte als ebenfo einfeilige ober aud- 
ſchließliche Güteriehre bezeichnet werben; aber auch diefe vieleicht, 
wie fich zeigen wird, nicht in Bolltändigfeit oder in richtiger Auf- 
weifung des abfoluten Enbzweds, in welchem alle Güter ihr höch⸗ 
fies Ziel und ihre wahrhafte Beſtimmug finden. Der Grund 
davon iſt fhon angebeutets weil der Hegel'ſchen Philofophie 
des Geiſtes überall der wahre Begriff der Perfönlichkeit fehle. Für 
Hegel ift der Wille, feiner Subflanz nah, das nur Allge⸗ 
gemein, dem allgemeinen Denten gleich. Die abfolute Vernunft, 
der fubftantielle Geift, giebt fih feine an und für ſich feiende 
Beſtimmtheit, indem fie die individuelle Partikularitaͤt der einzel⸗ 
nen Subjekte auch von Seite ihres Willens in die eigene ver 
nünftige (denkende) Allgemeinheit aufhebt. Jene, al der allgemeine 
Wille, vollzieht ſich in ihnen, nicht fte felber nach ihrer Partiku⸗ 
laritaͤt oder Perfönlichkeit, welche nur der wichtigen und zufälligen 
Seite ihres natürlichen Dafemd angehört. So if der wahre 
(rechtliche, wie fittliche) Wille, nach einem dieſen Stanbpunfi 
treffend bezeichnenden Ausdrude Hegels, lediglich „Bas im 
Willen fih durchſetzende Denken“ (Rechtsphil. 5; 2. 
©. 57, vgl. F. 20 — 24), biefe im Willen, weicher nur Darum 
ein freier it, von der Partitularität fih reimigende Allgemeinheit 
bed Denkens, 

Zunächſt könnte ſcheinen, daß hiermit nur daſſelbe formale 
Prineip zum höchften der Sittlichkeit gemacht worben fei, welches 
fi) ſchon bei Kant und ergab. - Das im Willen fi durchfegende 
Denfen — was iſt e8 anderes, ald Kants Maximen, des Haw 


“ 





Der bisherige Zuſtand d. praft. Philofophie in feinen Umriſſen. 479 


deind, die zugleich ale Gefege alles Handelns, als allgemeiner 
Begriff deffelben, gelten Finnen? Ebenſo ift nicht zu Yäugnen, daß 
das rigorofe Berwerfen der natürlichen Eigenheit des Ich bei Hegel, 
als des völlig Unberechtigten und werthlos beiher Laufenden an der 
ſubſtantiellen Allgemeinheit des Willens, eine Parallele mit Fich— 
te's Lehre darbietet von. der Nichtigkeit bes Ich und feiner natürs 
lihen Unmittelbarkeit, und weder dort, wie hier, läßt fich in dieſer 
ausſchließlichen Auffaffung die Rückwirkung einer mangelhaften 
vischologifchen Grundlage kennen. Dennoch, daß bei Hegel 
das naͤchſfte Refultat und die ganze Behandlung ber praktiſchen 
Philofophie völlig andere find, hat darin feinen entfcheidenden 
Grund, weil es für ihn nicht mehr, wie für Kant, ein Princip 
ber „Autonomie” im Subjefte giebt, an welches ſich jene 
„Maximen“ richten, und welches nur dadurch fittlich wird, indem 
es fie ſelbſt ſtändig in die Form feines Willens aufnimmt, 
Fir Hegel vielmehr, — der Gegenfat ift in feiner Schärfe aus⸗ 
zuſprechen — bleibt das eigentlich Thätige in jenem Verſittlichungs⸗ 
proceſſe die allgemeine Macht der Vernunft, nicht das Cfittliche) 
Subjekt, | 
Für ihn daher fann die Hauptaufgabe der praktiſchen Phi⸗ 
Iofophie nicht mehr darin beftehen, wie für Kant und für Fichte, 
nachzuweiſen, wie fih das einzelne Subjekt in«jene Gefinnung 
hinaufzuläutern habe, und welches die allgemeinen Kriterien bes 
fütlihen Handelns für daſſelbe feien,. denn einen autonomen Duell 
des Handelns erfennt Hegel in jenem gar nicht an: er Fennt 
nur Freiheit, nicht freie Geiſter. Nur das kann ihm Inhalt 
ber praktiſchen Philofophie fein, zu zeigen, was jene Freiheit, - 
jener allgemeine Wille des Weltgeiftes erzeuge: der reale Auf 
bau, die objektive Geftaltung des fittlichen Univerfums aus jenem - 
Allgemein individuellen Thun des Weltgeiftes ; — ber Schwerpunft 
ber Unterſuchung fällt auf Die andere Seite, nach ber Güterfehre hin, 
Dagegen ohne Sntereffe, ja faft überfläfftg iſt die Frage, wie ſich 
da8 Subjekt zum Gliede diefer univerfalen Verwirklichung machen 
könne, oder machen folle. Die abfolute Macht des Weltgeiftes 
ſorgt fchon ſelbſt dafür, fich die geifligen Mittel feiner Verwirk⸗ 
2 * | 


180 1 Fichte, 


lichung zu ſchaffen. Die Wiſſenſchaft hat auch hier nur das Zus 
ſehen; fie ift das begreifende Anerkennen der allgegenmärtigen 
Bernünftigfeit dieſes Proceffes. 

- Hiermit hat Hegel ebeuſo entſchieden, nur nicht mit fo deut 
lichem Ausdrude und aus den nämlichen Gründen, wie Schleier 
mader, die imperativifche Form der Ethik, welche bei Kant 
die vorwaltende war, fallen gelaffen. Der tieffte Grund ift auf 
bier berfelbe, welchen unfere Kritik des Hegel'ſchen Syſtemes 
in ſeinen andern Theilen als die abſolute Schranke feiner Weltanſicht 
bezeichnen mußte, das Stehenbleiben bei dem nur allgemeinen 
Begriffe des Geiſtes. Dieß iſt überhaupt theils zu zeigen, theils in 
ſeinen unmittelbaren Folgen für die ethiſchen Begriffe darzulegen. 

Das Individuelle, Eigenperſönliche des Menſchen findet Hegel 
lediglich in der Zufälligkeit ſeiner Triebe, Neigungen und Leiden⸗ 
ſchaften und dieſes natürliche, ſchlechte und geiſtloſe Element iſt ihm 
der Duell des ſubſtantiellen Unterſchiedes zwiſchen den Subjeften. 
Diefe Smdividualität gilt iym daher (mit Recht) als das ebene 
Werthloſe, Bergänglide, wie an ſich Unberechtigtez; fie. hat vie 
. mehr unterzugehen in der Allgemeinheit des denfenden Willend, 
welcher bie unberechtigten Anforderungen biefer individuellen de 
fonberheit hinwegarbeitet. Den Begriff einer ethifchen Indivi⸗ 
dualität, nad weldem jener allgemeine denkende Wille nur in 
dem fubftantiellen Mittelpunkte der Perfon Geftalt gewinnt und 
diefe Dadurch ihrer Eigenthümlichfeit gemäß ſich vollzieht, einen 
Genius in biefem univerfellen Sinne erfennt er gar nicht an, 
nicht fowohl weil ex dieſe Idee zu widerlegen vermöchte ober 
ausdrücklich fie verläugnete, als weil er fie nicht kennt; weil et 
feine Begriffe vom Wefen des Geiftes nicht. bis zu dieſem Punkte 
entwidelt bat. Auch das fittliche Subjekt ift ihm daher an ſich 
felbft ein ebenfo nichtiges und vergängliches Gefäß bes in ihm 
ſich objektivirenden Geiftes der Weltgefchichte, wie das in finnlid 
leeren Begehrungen ſich abarbeitende Individuum, Auch jene 
Serfönlichkeit ift bloß die Erſcheinung dieſes Allgemeinen, 
„Werkzeug in Bezug auf den fubftantiellen Gehalt feiner Ar- 
beit” und feine „Subjektivität, welche fein. Eigenthum iſt, iſt die 








Der bisherige Zuſtand d. prakt. Philoſophie in feinen Umriſſen. 484 


feere Form ber Thätigfeit" — „an dem fubftaritiellen, unabhängig 
von ihn bereiteten und beftimmten Gefchäfte.” (Encykl. $. 554, 
vgl. Rechtsphiloſophie S. 344. 45.) 

Somit ift der Begriff eigentlicher „Autonomie”, die Unter> 
werfung bes Subjeltd aus ſich ſelbſt unter das Sittengebot, 
worin Kant und Fichte das Wefen der Sitilichkeit beſtehen Yie- 
fen, durch Heraushebung des vollfländigften Gegentheiles, bis auf 
die Wurzel ausgetilgt: nach Hegel giebt es ein fo autonomifches 
Prineip im endlichen Geifte gar nicht, mithin — der weitern Kon⸗ 
fequenz ift dann nicht auszuweichen, — aud) Fein eigentliches 
Soll für bdenfelben, ſondern die Sittlichfeit wird ihm auch nur 
durh ein von ihm unabhängiges Gefchehen des allgemeinen 
Willens zu Theil, wie er in dem allgemeinen Procefle ebenfo 
auch unberührt bleiben kann von biefer höhern Weihe, Es find 
univerfelle Vorgänge, wo wir bisher individuelle Thaten zu haben 
vermeinten. Daher denn die lebte Folgerung Hegels: der ſub⸗ 
ieftive Einzelwille muß, wenn er fittlich fein will, d. h. wenn er es 
it, oder ſich alſo im Selbſtbewußtſein erkennen foll, vielmehr in 
die fubftantielle Sittlichkeit, wie fie im Bollögelfte, in der Sitte, 
in der pofitiven Gefeßgebung des Staates verwirklicht ift, fich auf- 
heben. Der Verſuch, fih autonomifch darüber hinaus = oder ihr 
entgegenzufegen (eigentliche, Das Ereigniß, daß es gefchieht und 
das Seibfibewußtfein, welches fich jo gewahrt), ift Das Böfe, 
„die fih als Abſolutes behauptende Subjektivität“ (Rechtsphil. 
$. 141. 146. Dazu feine Lehre vom „Guten“ und vom „Ger 
willen”, 6. 432, $. 436 u. 157.). 

Defwegen kann für Hegel aber auch nur ber Staat bie 
hoͤchſte Berwirklichung des praftifchen Geiftes fein, nicht Die geiftige 
Gemeinfchaft, welche ihren Ausdruck nur in der wahren Verwirk⸗ 
lihung der Kirche findet. Für ihn giebt es nur eine Menfch- 
heit, ein Collektivindividuum von gleichgültig fich fubflituirenden 
Eremplaren, und ihr geiftiger Proceß ift nicht weniger nur ein 
Proceß an der Gattung und duch die an ſich bebeutungslofen 
Individuen hindurch, wie im leben der Pflanzen und Thiere es 
der natürliche iſt: denn gleichwie an biefen bie allgemeine Naturkraft 


482 Sichte, 


hindurchwirkt, fo der allgemeine Weltgeift an jenen. Diefer findet 
jedoch fein genügendes Gegenbild ſchon in ber vollkommen ausgeführ⸗ 
ten und fich erhaltenden Mafchinerie des Staates; in dieſem erreicht 
ex fein höchftes Werk (vgl. 6.257 u. 270 mit Anm. u. Zufag). Auch der 
Proceß der Weltgefchichte Läuft nur in diefes Nefultat zufammen, 
Principiell entgegengefegt ift die Grundanficht bes Chriftenthums: 
dieß fennt gar nicht das Golleftivabfiraftum einer Menſchheit ohne 
Einzelne; nur in den Perfonen nach ihrer ungetheilten Subjeftivität 
it ihm diefe vorhanden. Sein abfoluter Zweck ifl, dieſe zur wahren 
Perfönlichkeit zu befreien oder die gefallene wieder herzuftellen und 
bis in ihre Außerfie Entartung ihr rettend zur Seite zu bleiben; 
an diefe richtet e8 feine Gaben; jede einzelne ift ihr daher von 
unendlicher Bedeutung, wie von unbedingtem Rechte, welchem alled 
bloß Allgemeine zum Opfer gebracht werben muß. Die Anflalt 
dazu ift die Kirche, die, fo.Iange fie ihrem Geifte getren niht 
zur Hierarchie entartet, fih nur als dienende, ald Mittel begreift, 
ben geiftigen Anforderungen ‚auch des Einzelnften gegenüber. Aber 
von. hier aus Fann auch der Staat mm als Mittel betrachtet were 
den: er hat die Außern Bedingungen vollftändig zu verwirklichen, 
unter denen bie wahre Perfönlichkeit und Freiheit jedes Einzelnen 
und die Gemeinfchaft Aller durch diefelde fich verwirklichen Fan, 
‘deren innerer Förderung bie Kirche fich widmet. Aber ber 
Staat felber, feitbem er ein chriſtlicher geworden, betrachtet ſich 
faktifch nicht anders, nach dem Sinne vieler Beftimmungen, in 
denen er die Glaubens⸗ und Gewiſſensrechte auch der Einzelnen, 
z. B. ber .Ouäfer, über feine eigenen allgemeinen Anorbnungen 
ftellt, in dem tiefen Bewußtfein, daß hier ein höheres Neich und 
Recht if, welchem er fi) unterwerfen muß. So bat Hegelı 
‚indem er biefe Ordnung geradezu umfehrte, in feiner Rechtsphi⸗ 
loſophie nicht einmal den bereits praftifch gewordenen Begrifl 
des hriftlichen Staates wiedergegeben, viel weniger das lange noch 
nicht von ihm erreichte Ziel gezeigt, um feinen abfoluten Zwed zu ver⸗ 
wirklichen, den nämlich, Durch die freie Gemeinfchaft Aller Jeden aut 
vollen Verwirklichung feiner (wahren) Perſönlichkeit zu verhelfen. 
Es bedarf ‚hier nicht Weiterer Auseinanderfegung, um im 








Der bisherige Zuftand d. pralt. Philoſophie in feinen Umriffen. 483 


Principe der Heg el'ſchen Rechtsphiloſophie bie abfolute Schrauke 
erkennen zu laſſen, mit welcher es ihr weder gelingt, den wahr⸗ 
haften Begriff der Perſon feſtzuſtellen und den Umfang ihrer Güter 
zu erkennen, noch daher auch die Güterlehre vollſtändig auszu- 
führen. So wenig wie das rechte Verhälmiß der Kirche, wird 
die Stellung“erlannt, welche Wiffenfchaft und Kunft in der freien 
Gemeinſchaft nach dem bezeichneten Sinne einnehmen. Hege 
bat in ber Güterlehre, indem er nur bis zum Begriffe Des Staates 
gekommen ift, lediglich bie univerfalen, aber äußerlidhen Bes 
dingungen der geiftigen und fittlihen Güter erichöpft, welche er 
dennoch, mit offenbarer Umfehrung des wahren Verhältniſſes, als 
hödhftes , abfolutes Gut angefehen willen will... Bon biefer miß- 
fennenden Ueberfchägung des Staates hängen, als kaum vermeid- 
Ude Folgen, alle Die weitern Uebelftände ab, welche Hegels 
Rechtsphiloſophie im ganzen Entwurfe, wie in ihrer einzelnen 
Ausführung, nicht verbergen kann. In Feinem Abfchnitte feines 
Syſtemes weniger als in diefem hat er feine Dialektif zur wahren 
Dbjektisität und inhaltsgemäßen Entwidlung bringen können, wes 
gen bes Falſchen und Gezwungenen des ganzen Grundgebanfeng, 
bie „Sittlichfeit" im den Begriffen des Staates aufgehen laſſen 
zu wollen. 

Der erſte und ber dritte Theil, „bad abfirafte Recht“ und 
„die Sittlichleit” überfchrieben,, gehören troß biefer weiten Aus- 
einanderfperrung auf Das Engfte zufammen, und machen ein Gans 
zes aus: ihr verwandter Inhalt zeigt dieß und bie aufeinander 
folgende Entwicklung derſelben Gegenftände in beiden: fie find 
eine in fi abgefchloffene Staatslehre, für melde der zweite 
Theil als ein völliges hors d’oeuvre zu betrachten ift, das nicht 
nur fehlen Eönnte, ſondern herausgeworfen werden müßte, um 
den wahren Zufammenhang zwifchen den beiden Theilen . herzu- 
ſtellen. Wie wäre auch fonft eine fo abenteuerliche Anordnung 
erflärlih, das „Recht“ im erften, die „Rechtspflege“ aber im drit⸗ 
ten Theile unter dem Abfchnitte der SittlichFeit ($. 209-229) 
abgehandelt zu fehen, weit getrennt von dem allgemeinen Begriffe 
bes Rechtes, das dem Begriffe des „ Vertrages“ ($. 72. ff.) 


484 Fichte, 


und des „Unrechtes“ ($. 82. ff.) zu Grunde liegt, da jene . 
und diefes doch nur zufammen abgehandelt werben können? 
Und abermals, wie wäre erflärlih, die „gefeßgebende Gewalt” 
des Staates ($. 298. ff.) von Neuem weit getrennt von beiben, auf 
Die „Rechtspflege (6.209. ff.) erſt folgen zu laſſen, da fte vielmehr 
als Bedingendes ihr vorangehen follte, da nach dem wahren Ju 
ſammenhange der Staat, als Verwirklicher des Rechts, es in einer 
‚erfchöpfenden Geſetzgebung auszuſprechen und hernach in der 
Rechtspflege es zu vollziehen hat. Diefe.beiden fo weit nad 
fommenden Abfchnitte des dritten Theiles gehören alfo ihrer na 
türlihen Ordnung nach vielmehr in den erften; aber auch nach ihrer 
innern Bedeutung: denn die Berwirktichung des Rechtes Durch ben 
Staat ift noch keineswegs bie der „Sittlichfeit”, wie es nach Die 
fer Darftellung erfcheinen müßte, fondern iſt nur die äußerliche, 
negative Bedingung dafür, daß innerhalb der reshtlichen Ges 
meinfchaft auch die fittliche fich erheben könne. Wie ift es endlich 
zu ertragen, bie „Polizei (noch dazu mit der „Korporation” zu⸗ 
fammengeftelt, $. 230. ff.), in der Bedeutung, daß fie die öoͤffen⸗ 
liche Sicherheit zu beauffichtigen, die Perfonen (phyfifche und me. 
ralifche) in ihren „Rechten“ zu ſchützen und für ihre „Bedürfniſſe“ 
zu forgen habe (vgl. Zufag zu $. 236), — dieſen bloß Außer 
Dienft im gemeinen Wefen unter dem Begriffe der Sittlichkeit 
abgehandelt und als eine der Bemwährungen- der Sitelicpkeit 
des Staates bezeichnet zu fehen, ald wenn bie Ausbilbung und 
Bollendung polizeilicher Anorbnungen jemals zum Maaßſtabe bei 
fittlichen Geiftes eines Staates gedient hätten ober dienen könnten? 

Der Umftand, dag Hegel überall auf bie fittliche Grundlage 
des Staates hinweift, daß er zeigt, wie er ohne dieſe auch al 
Staat feinem Begriffe nicht gemäß fei, übrigens eine der erfraw 
lihften und wichtigften Seiten feiner Lehre, ändert indeß nicht 
an jenem Grundimißverftändniffe. Ex wiederholt öfters, daß in 
der Familie, wie in der Korporation die beiden ſittlichen Grund 
lagen des Staates enthalten feien: „Heiligfeit ber Ehe mb 
Ehre in der Korporation find bie beiden Momente, um bie fid 
die Desorganifation des Staates dreht” (8. 255.). Wohl: wem 


N 


Der bisherige Zuftand d. prakt, Philofophie in feinen Umriffen. 4185 


aber der Staat die Heiligkeit der Ehe, wie die Ehre (Ehrlichkeit, 
Sittlichfeit) in der bürgerlichen Gemeinfchaft zu erhalten, zu fürs 
dern firebt, hat er dabei bie Abficht nur auf feine Erhaltung ges 
ſtellt, find es Lediglich politifche Gründe, weßhalb er es thut, 
oder ift er nicht vielmehr darin, fei es bemußtlos oder mit Bes 
wußtfein, der dienende Vollfireder eines abfoluten, über ihn 
ferbft hinausgehenden Zwedes? Und mehr noch: begreift der 
wahre Staat ſich felber anders, denn nur ald Mittel zu jenem, 
dem abfoluten Zwede, der allgemeinen Sittlichfeit des Menſchen⸗ 
geichlehts? Diefer umfaffende und allein wahre Gefichtöpunft 
bringt die Hegel’fche Leiſtung auf ihre untergeordnete Bedeu⸗ 
tung zurüd, Rechts⸗ und Staatslehre, Lehre von den Bebinguns 
gen, der Sittlichfeit, nicht aber Sittenlehre zu fein. 

Was nun der zweite Theil über diefe Tegtern eigentlich ethi⸗ 
ſchen Beſtimmungen enthält, ift ſchon unwillführlich eingeengt und 
verfchieft worden durd die Beziehung auf das Ziel, dem das 
Ganze. im dritten Theile zugeführt werben fol. Schon die un- 
dialektiſche Verknüpfung des zweiten Theiles mit dem erften, ber 
Begriffe des „UUnrechts“, des ‚Berbredheng” und der Strafe” 
mit der „Moralität“ verräth es, Daß von dort aus ein vollflän= 
Diger Sprung in ein ganz entlegenes Begriffsgebiet ftattfindet. Der 
Uebergang foll dadurch motivirt werden ($. 104.), daß die Pars 
tifularität des Willens, weldhe im „Verbrechen“ zur Verwirk⸗ 
lichung ausfchlägt, indem fie ſich ber vernünftigen Allgemeinheit 
wiberfest, dur die „Strafe” in ihrer Nichtigkeit aufgewiefen 
und bamit durch Negation der Negation das Affirmative ge- 
fest wird, daß die Perfon durch Selbftbeftimmung fich jener 
Allgemeinheit gemäß made. „Die im Verbrechen aufgehobene 
Anmittelbarfeit führt fo durch die Strafe, d. h. durch die Nichtig- 
Zeit diefer Nichtigkeit, zur Affirmation, — zur Moralität.” — 
Diefer moralifche Standpunkt ift „überhaupt,. aber auch zu- 
sächft der, infofern der Wille nicht nur an fich, fondern auch 
für fich unendlich if.” Dadurch „wird die Perfon zum Subjekte“ 
£$. 405.): „bie Abficht oder die Triebfeder der Selbſtbeſtim⸗ 
mung“ macht hier die wejentliche Beftimmung aus ($.106 mil Zuſatz). 


486 Fichte, 

So unzweifelhaft richtig und ſo wenig neu dieß iſt; ſo 
enthält dennoch der fo gefundene Begriff der Moralität durch ben 
angegebenen Zufammenbang mit der „Strafe und durch bie ver⸗ 
fuchte Deduktion: „daß die im Verbrechen aufgehobene Unmittel⸗ 
barkeit durch die Strafe zur Affirmation, zur Morali= 
tät führe”, eine unvertilgbare Schiefheit, die gerabezu ihn auf⸗ 
hebt. Bei Handlungen, bie in das Gebiet der Moralität, nicht 
des Rechts fallen, enticheibet allein „die Abficht, die Triebfeder” : 
fo fagt Hegel, mit allen Möratphilofophen feit Kant. Ebenfo: 
wur diejenigen Handlungen find moralifche zu nennen, bei denen 
bie Triebfeber eine reine, „uneigennüßige” if, wie Kant es aus⸗ 
drückt; wie es Hegel bezeichnet: in der ber fubjeltive Wille ſich 
zum „objektiven“ befimmt und ihm gleich if. Wird jedoch, 
wie bier, die Moralität (ihre „Abfiht und Triebfeder“) aus dem 
Uebergange von der Strafe her deducirt: fo kann dieß nur heißen, 
daß die moraliiche Triebfeder urfprünglich aus der Strafe hervor⸗ 
gebe, d. h. in der Furcht vor berfelben liege, — was eben hieße, 
die Moralität aus einer unmoralifchen Triebfeder herleiten! Wie 
ſich verfieht, iſt nicht diefe, fondern das Gegentheil Heg eis Mei- 
nung: aber fie müßte es fein, wenn jener „Uebergang vom 
Rechte indie Moralität” (6. 104.), welcher auf die bezeich⸗ 
nete Weife vollbracht wird, Wahrheit behalten foll, während er fo 
fih verrätb als eine dem erſten Theile der Rechtsphiloſophie 
fchlecht angefügte Uebertünchung, um die Unmöglichkeit zu verhüllen, 
von bier aus einen innern, fachgemäßen Uebergang zu finden in 
die „Moralität”, 

Der zweite Theil zeigt fich vielmehr feinem Inhalte nad) als 
ein ſchlechthin neuer, unmotivirt eingefügter: er ift der fragmen⸗ 
tarifhe Berfuch einer Tugend⸗ und Pflichtenlehre, ſogleich Doch 
wieder befchränft durch die Rüdficht auf den folgenden Theil, wo 
der allgemeine Wille des Staates, des weltlichen gemeinen 
Weſens es ift, der die Subftanz des „Guten“ und den Inhalt 
auch des „Gewiſſens“ ausmachen fol, Das Gute if das Wefen 
des Willens in feiner Subftantialität und Allgemeinheit; 
ed iſt deßwegen ſchlechthin nur im Denken und burc das 





Derbisherige Zuftand d. pralt. Philofophie in feinentimriffen. : 487 


Denfen ($.132.). Realifict aber wird es nur durch den frei dazu 
fi) beſtimmenden Willen; das Subjekt fol es (denkend) als das 
©ute erfennen und wollen: das „Gewiſſen“ ($. 136, 137): 
Das wahrhafte Gewiflen ift „bie Gefinnung, das an und für 
ſich Gute zu wollen”: e8 hat daher „feſte Grundfäge” und biefe 
find ihm die obfeftiven Beflimmungen und Pflichten. „Aber das 
sbjeftive Syftem dieſer Grundfäge und Pflichten if 
erfi auf dem Standpunkte der Sittlichkeit vorhanden” 
€$. 136.). Auf dem Standpunkte der „Moralität” ift das Subs 
jeft noch ohne biefen objektiven Gehalt, befigt nur die formelle 
Selbſtgewißheit feines Willens, welche eben dadurch, wie im Fole 
genden gezeigt wird, in „Willführ" und in das „Böfe” ums 
ſchlagen kann ($.139.). 

In dem eben ausgehobenen Sage iſt zunächft Die richtige, auch für 
die Ethik auf ihrem gegenwärtigen Standpunfte entfcheidende Bes 
trachtung ausgeſprochen, daß das „Gewiſſen“, daß Tugend und 
Pflicht nur in einem feften, objektiven Gehalte, nicht in formellen 
Allgemeinheiten, wie reiner Gefinnung, Pflicht um der Pflicht willen 
u. dgl. ſich bethätigen können: bag mit Einem Worte die wahre 
Tugend» und Pflichtenlehre nur auf das vollftändige Syſtem der 
fittlichen Güter gegründet werben könne. Und infofern ift Hes 
gels Hinweifung auf den „Standpunft der Sittlichfeit" 
‚feiner allgemeinen Intention nad) richtig und verbienftlih. Wie 
aber biefer Standpunkt der Sittlichfeit felber von ihm ausgeführt 
worden ift, mit bloßer Einfchränkung auf die Rechts» und Staats⸗ 
begriffe, dieß macht jene Lehre vom Gewiſſen, welches fi nun 
in der „objektiven Sittlichfeit” des Staates gefangen geben foll, 
zur fehneidendften Karrikatur der Wahrheit. Hieraus würde fol 
gen, daß ber Einzelne und fein „Gewiflen“, der „allgemeinen 
Sittlichkeit“ gegenüber, welche feine Zeit und fein Staat jeweilig 
in ſich verwirklicht hat, durchaus unberedhtigt find, baß fie vor 
ihr nur zu verfiummen haben. jeder reformatorifche Fortfchritt, 
welchen das „Gewiſſen“ des Einzelnen, das gewiffe Bewußtſein 
bes „an und für ſich“ Guten, im Widerfpruche mit feiner Zeit 
bes Geſchichte eingepflanzt hat, müßte nad diefem Principe als 


188 Fichte, 


gewiſſenloſe Willkühr geächtet werden; und in der — 2— ſehen 
wir nicht ein, wie ſich jene weltgeſchichtlichen Thaten Einzelner 
gegen ihre Zeit, durch die allein Fortſchritt in die Geſchichte hin⸗ 
einkommt, von der „Willkühr, die eigene Beſonderheit über 
das Allgemeine zum Principe zu machen“, was Hegel als 
den Urfprung des Böfen bezeichnet ($. 139.), dem Wefen und 
Begriffe nad) unterfcheiden follten! Mochten dieſe Grundfäge ba- 
mals, als fie zuerft mit fo harter Einfeitigfeit auftraten, in Op⸗ 
pofition gegen manche unreife Staatsneuerer, einen relativen 
Werth und zeitweife Entfehuldigung finden, um das Gewicht ber 
Meinung auf die entgegengefegte Seite zu werfen: in ber Eihl 
ſelbſt fönnen fie nur von fehr untergeorbneter Wahrheit fein, und 
Hegels Prineip wird auch aus diefem Grunde in der Fünftigen 
Ethik nur von fehr befchränfter Geltung bleiben fünnen. Es hat 
füh gezeigt: Hegel hat mit ihm nur einen Theil der Güterlehre 
gegeben. — 

Zulegt wird von den beiden bisher betrachteten Stanbpunfien 
der praftifchen Philofophie, dem gewöhnlichen, wie dem Hegel 
ſchen, befonders aber von jenem, in deffen Bereich und Intereſſe 
diefe Unterfuchung eigentlich einfchlägt, eine Frage ganz übergam 
gen, die in ben fundamentalen Unterfuchungen der Ethik ihren 
Plag finden müßte, Die Möral fordert, als etwas fich von ſelbſ 


Berftehendes, im unmittelbaren Bewußtfein Begründetes und bar | 
um ſchlechthin Berechtigtes, die Unterwerfung der Triebe md 
Neigungen unter den Pflichtbegriff, werde diefer als Inhalt de 


Bernunft, oder Gebot des Gewiſſens, oder als Wille Gottes u. ſ. w. 
bezeichnet. Die doppelte Frage wird hier überfprungen: War 
um fann die Unterwerfung gefordert werden? Dieß heißt zugleich: 
Woher die geiftige Nöthigung dazu, noch dazu als eine fo af 
gemeine, ald eine folche, zufolge der wirin das Bewußtſein fe des 
Andern hinein dieſe Unterwerfung fordern dürfen, ohne in be 
eigenen innern Beurtheilung bdeffelben je fehlzugreifen? Der 
bloße Beweis von der Apriorität der fittlichen Idee, wie Kant 
ihn gegeben, Tann dazu nicht ausreichen. _ 

Sodann; ift der Trieb, die Neigung das lediglich Unbe⸗ 


Der bisherige Zuftand d. praft. Philofophie in feinen Iimriflen. 489 


rechtigte; bloß im Widerfireite mit der Pflicht zu faffen (wie bei 
Kant), oder als zufällig Subjeftives und an fih Bedeutungs⸗ 
loſes (wie bei Hegel)? Bis zu welchem Grade foll jene Unter⸗ 
werfung fortgehen, oder foll die Ausrottung des Triebes und ber 
Neigung eine unbedingte fein, fo daß (ascetifch) jedes auf per⸗ 
fönlihes Wohlfein, Befig, Ehre, Macht gerichtete Beftreben an 
ſich dem Begriffe der Sittlichfeit widerfpriht? Dem Principe der 
meiften Moralphilofophieen nach müßten fie fich zu dieſer Konſe⸗ 
:quenz befennen, wiewohl fie diefelbe durch Iarere Auslegung zu 
umgehen fuchen. — Oder foll jenes Streben fih nur dem Mo- 
ralifchen unterordnen, nur nicht ſich unmoralifcher Mittel bedienen, 
and fo neben jenem, dem Willen, jede Einheit raubend — ber 
Tod der Achten Moral! — äußerlich beiherlaufen und fich, in ge- 
wiſſen ehrbaren Schranfen gehalten, volle Genüge thun (das au- 
dämoniftiiche Prineip)? — Oper endlih, was erft die wahre 
Bermittlung wäre, ift nicht die vergeiftigende Macht des Gitt- 
lichen gerade in die Neigung felbft hineinzuverlegen, wodurch der 
ganze Menfch. in allen feinen unvermwüfteten Kräften bewahrt, 
aber auch in den Trieben und Neigungen das Gittliche zum 
wahrhaft Wirkfamen gemacht wird, fo daß nur Ein Mittelpunkt 
des Willens, Ein Streben und Ziel alle Regungen feiner Selbft- 
beftimmung burchbringt, fo daß jeder, feinem Genius gemäß und 
mit ihm verföhnt, feine fittliche Lebensaufgabe auf eine durchaus 
individuelle Weife löft und eben Darum auch löſen kann? Da- 
durch würden bie Güter des Naturells zugleich in ben Organis⸗ 
mus des fittlihen Lebens, wie er durch die Gemeinfchaft Aller 
bedingt ift, aufgenommen und fo au als fittlich berechtigte fich 
erweifen. Uns bünft, daß erft bamit die Ethif Human werben, 
aber auch von ihrer abftraften Höhe herab auf das Begreifen 
des reichgegliederten, alle Seiten des Menſchen umfaffenden fitt- 
lichen Univerfums eingehen könne, in bem Jeder, der feine gei- 
ſtige Eigenthümlichkeit begriffen und ausgebildet hat, feinen Plag 
und die volle Genüge eines mit ſich verſöhnten Dafeins findet. 
Dann Fönnte die Erhif wieder hoffen, zur Seite ber nun auch durch 
fie veränblicher, eoncreter geworbenen Religion bag große Bil⸗ 


490 Fichte, 


dungsmittel zu werden, welches fie bei ben Alten war: fie koͤnnie 
hoffen, umſchaffend auf die Geſinnung zu wirken, weil ſie das 
tauſendgeſtaltige Leben aus dem Einen und höchſten Geſichtspunkte 
wirklich verftehen lehrt. 

Zu diefer großen Umgeflaltung der Ethik fcheint ung nun 
Schleiermacher den erften, umlenkenden Schritt gethan zu 
haben, nicht fowohl dadurch, daß er bloß diefer Wiffenfchaft einen. 
größern Umfang vindicirt, ald es Die Kantiſche Bildungsepode 
einers, Hegel anbererfeits gethban, — vielmehr dürfte fogar ein 
Theil diefes Inhaltes der Pfychologen oder der Lehre vom fub- 
jeftiven Geifte, bei einer fchärfern Abgränzung beider Wiftenfchaften, 
wieder zurldgegeben werben müſſen, — als weil er gleich von 
vorn herein jene beiden Gefichtspunfte, den des Allgemeinen und 
bes Individuellen, vereinigt in's Auge gefaßt, und aus Einem 
Principe ihnen bat Genüge leiften wollen. Beides muß Aufgabe 
ber Ethik fein, forwohl zu zeigen, wie in der GSitilichfeit und in 
der Gemeinſchaft, welche Durch fie gefegt wird, Die Cfaliche, ſelbſtiſche) 
Individualitaͤt fi) aufzehrt, als umgekehrt, wie in der fittlichen 
Gemeinfchaft jeder Einzelne erft Teine eigentliche Perfönlichfeit 
verwirklichen Tann, und wahrhafte Eigenthümlichkeit erhält. Alſo 
. Gemeinschaft und Unterfcheidung, völliges Sichhingeben an bie 
Gefammtheit, und gerade dadurch eigenthämliches Verhalten in 
ihre völlige Freiheit und individuelle Selbſtſtaͤndigkeit zufolge 
jener Gemeinfchaft, — dieß ift das neue Princip der Ethik, wel⸗ 
ches nicht mehr die Berechtigungen der Individualität unterdrückt 
oder nivellirt, nicht mehr ein abftraftes fittliches Ideal binftellt, 
mit welchem Alle gleich wären, und das eben darum unmirklich 
und ohnmächtig bleibt gegen die Energie individueller Begabung 
und Neigung oder, wenn es erreicht wird im Kampfe gegen jene 
Gewalten, nur den Dünfel einer befondern Benorzugung und 
eines ausnehmenden fittlihen Werthes erzeugen Tann. Cbenfo 
ignorirt andererfeits Diefe Ethil nicht mehr den Begriff der Indi⸗ 
sidualität, wie das Heg el'ſche Princip gethan, welches dadurch, 
hätte es fich in allen feinen Konfequenzen ausbreiten können, bie 
sum Geiſtloſen und Bildungsfeindlichen gelangt wäre, Sie. beruht 





Der bisherige Zuftand d. prakt. Philofophie in feinen imriffen. 494 


vielmehr in dem Gedanken, bag die Har erfannte und vollig aus- 
gebildete Eigenthümlichfeit des Individuums, fofern fie der Ges 
meinfchaft ſich bingiebt und nur in ihr ſich weiß, eben damit aud) 
fittlich fei, wodurch der ſchlichteſte Beruf mit den unfcheinbars 
ſten Thaten, ohne alles Bewußtſein von Marimen und ohne re⸗ 
fleftirte Pflichtmäßigkeit, fih der wahrften Sittlichfeit und bes 
vollſten Antheild am erreichten böchften Gute bewußt fein kann. 
Dieß Prineip bat nun zuerft mit wiffenfchaftlichem Bewußtſein 
und ala Grundlage der ganzen Ethik Schleiermader ausge⸗ 
ſprochen: „Nur dasjenige ift ein volfommen für fi 
gefettes Sittlihes, wodurch Gemeinſchaft geſetzt 
wird, die in anderer Hinſicht Scheidung, oder Schei⸗ 
dung, bie in anderer Hinfiht Gemeinſchaft if. 

Die weitere Frage iR nun, in welchem Umfange und wie 
glücklich im Einzelnen er diefen Gedanken durchgeführt, ja ob er 
ihn in feiner letzten Höhe und eigentlihen Begründung gefaßt 
habe. Daß Lesteres nur in dem engſten Zufammenhange mit 
den übrigen Theilen der Philofophie, namentlich mit einer voll⸗ 
Bändig durchgeführten metapbyfifhen Weltzwecklehre ge- 
fcheben, dag alſo die Ethik ihr höchſtes Princip nur von der 
Metaphyfik erhalten koͤnne, — ebenfo wie, nad) der Meinung 
Bieler, umgelehrt die Metaphyſik in ihrem bisherigen Zuftanbe 
von den Begriffen und Problemen der Ethif aus fortgebilbet wer» 
den müffe (Beides widerfpricht fich Teineswegs, fondern würde 
gleihermaßen feine Erledigung finden in dem Begriffe einer voll⸗ 
Kändigen Metaphyfit), — das wäre ber weiteſte und höchſte 
Gefichtöpunft biefer Unterfuhung Bei Schleiermader if 
das Berhältniß der „Dialektik“, welche bei ihm die Stelle der Me⸗ 
taphyſik vertritt, zur Ethik nur das Außerliche einer gegenfeitigen 
Gränzberichtigung: jene betrachtet dad Sein ald das gegenfaglofe, 
als Identität des Idealen und Nealen, von Bernunft und Natur, 
von Seele und Leib; diefer, der Ethik, fällt Dagegen zu, im Ge⸗ 
genfage der Phyfit, „bie Darftellung des endlichen Seins 
unter der Potenz der Bernunft”: d. h. fie hat zu zeigen, 
„nie in dem Ineinanderfein beider Gegenfäge bie Vernunft 


192 Fichte, 


das Handelnde, die Natur dag Behandelte if.” So würbe Eihil 
die gefammte Lehre vom Geifte umfaſſen müflen, wie dieß auch 


wirflih die fonftige Anordnung bes Schleierma cher'ſchen | 


Syſtemes zu erfordern ſchiene. 

Wohin füme aber ſodann Pfychologie und Logik? So fragt 
Schleiermacher fi felber, und hat bis in die. legten Jahre 
feines Forſchens Schwierigkeit gefunden, fich eine definitive Ant 
‚wort darauf zu geben *). „Die Erklärung der Ethik als Willen 
um das geſammte Thun des Geiftigen wäre zu weit, weil 
Logik und Pfychologie darunter auch gehören würden.” — Wir 
übergehen feine Erklärungen in Betreff der Logif; das Verhaͤltniß 
der Pfychologie bezeichnet er folgender Geftalt: „Die Pſychologie 
entfpricht der Naturlehre und Naturbefchreibung, ift alfo emp 
rifhes Wiffen um das Thun des Geiltigen.” — — . „Die 
Pſychologie erfchöpft aber die empirifche Seite nicht, fondern bief 
thut die Gefchichtöfunde, Sittenlehre ift alfo fpefulatives Willen 
um die Geſammtwirkſamkeit der Vernunft auf die Natur.“ 
Erläuterungsweife fügen wir hinzu, daß nach diefer Erklärung alles 
Dasjenige der Pſychologie anbeimfallen würde (wir laſſen beir 
feite, dag Schleiermacher eine andere ale bloß empirifche Be 
handlung bes pfychologifchen Stoffes entweder nicht zu kennen, 
ober nicht anerkennen zu wollen fcheint), was Natur, Gegebe 
nes in unferm Geiſte ift, Alles dagegen der Ethif zufäme, was 
die Wirkſamkeit der Vernunft auch auf diefe Seite der Natur, 
bie der Subjeltivität, alfo des Naturells, der Triebe u. |. m, 
bervorbringt, womit Der wefentlich richtige Begriff des Verhält 


nifjes beider Wiffenfchaften zu. einander, denfe man übrigens in 


Betreff der Behandlung ‚der Piychologie, wie man wolle, wie ind 
befondere der Ethik nach ihrem eigentlichen Umfange, gefunden fein 
möchte. 

Hätte indeß S chleie rmach er dieß Verhältniß der Ethik zu 
Pſychologie nur beſtimmter durchgeführt; hätte er die natürliche 


| *) Bol. das Manuſcript aus dem J. 1832 im „Spſtem der Sittenlehre⸗ 
nah A. Schweizers Redaktion: Werke Bd. V. ©, 37 mit des 
Letztern Anmerkung. 


Derbisherige Zuftand d. pratt. Philoſophie in feinen Umriffen. 193 


Seite des Geiſtes, welche das eigentlich zu ethifivende Element 
ft, Das Naturell und die Triebe, nur wirklich in ihrer Spe- 
sialität in's Auge gefaßt, und an einem vollftändigen Syſteme der 
Triebe die ethifchen Beftimmungen nachgewiefen, welche jeden eins 
gebornen Trieb mit dem Sittlihen vermitteln, — mie dieß in Dem 
wahren Geifte feiner Ethik gelegen hätte, welche das Individuelle, 
die Eigenthümlichfeit auch nach diefer Seite, nicht unterbrüden, 
fondern augföhnen will mit dem Allgemeinen des Ethos: — fo wäre 
ee nicht nur über jene abftrafte, unbeftinmte und vieldeutige All: 
gemeinheit hinausgefommen, an welcher gerade bie einleitenden Be- 
griffe feiner Ethif Ieiden, fondern er hätte auch für die Lehre von 
den Gütern eine wiffenfhaftlihe und erfhöpfende Grundlage er- 
halten, weldhe er jegt nur durch Berufung auf einzelne empirifche 
Thatfachen der Anthropologie, feinesmegs aber nach einem Prin⸗ 
cipe, das ihre Bollftändigfeit verbürgte, Darzuftellen vermag. (Vgl. 
Ethik nah Tweften ©. 122. 23. N. 1 — 6.) 

Diefer Mangel einer ausgeführten Lehre vom fubjektiven 
Geiſie, zur Unterlage und bewußten Beziehung für die Schleier- 
macher'ſche Ethik, tritt noch deutlicher an's Licht, wenn wir die 
einzelnen Beftimmungen ihrer Einleitung unterfuchen. 

Die Phyſik ift, innerhalb des fchon bezeichneten Gegenſatzes, 
„Darſtellung des endlichen Seind unter der Potenz der Natur, 
d. h. wie das Reale das Handelnde ift und das Ideale das Be- 
handelte.” Da aber im endlihen Sein fowohl, wie im- endlichen 
Wiffen, der Gegenfag nur ein relativer, im abfoluten ein ewig 
ausgeglichener ift: „To ift in der Bollendung Ethik Phyſik“ 
— die Bernunft ift in ihrem abfoluten Zuftande, völlig verwirf- 
licht, zur „Natur“ geworden, — „wie bie Phyfif Ethik.“ 
Nur auf dem Wege zu diefer Verwirklichung, im Vernunft⸗ Wer⸗ 
den der Natur kann die Ethik, als geſonderte Wiſſenſchaft, ihre 
Bedeutung haben. Ferner „iſt ſie unmittelbar bedingt durch die 
Phyſik, inwiefern ihren realen Darſtellungen ber Begriff des zu be— 
handelnden Objefts, d. h. der Natur zu Grunde liegen muß: — 
mittelbar gleichfalls, inwiefern die Wiſſenſchaft bedingt ift durch 
Zeitſchrift f. Dhilof. u. ſpek. Thebl. XL. Band. 15 


194 Fichte, 


die Geſinnung, diefe aber durch die Herrichaft über bie Natur, 
weiche abermals von der Erkennmiß der Natur abhängt.” 

„Die Ethit ift Daher zu Feiner Zeit beffer, als die 
Phyſik: innerer Parallelismus beider” (Ethik nah 
Tweften ©. 247. N. 28 — 34.). 

„Die Bernunft wird in der Natur gefunden, und 
die Ethik ftellt Fein Handeln bar, woburd fie urfprünglich hin⸗ 
einkaͤme. Sie ftellt alfo nur dar ein potenzirtes Hineinbilden 
und ein extenſives DBerbreiten der Einigung der Bernunft mit 
der Natur, beginnend mit dem menſchlichen Organismus, ale ei- 
nem Theile der allgemeinen Natur, in welchem aber eine Eini- 
gung mit der Bernunft fhon gegeben tft.” 

„Bas die Ethif darzuftellen bat, if alfo eine Reihe, ,deren 
jedes Glied befteht aus gewordener und nicht geworbener 
Einigung” (von Natur und Bernunft), „und deren Erponent ein 
Zunehmen des einen und ein Abnehmen des andern Faktor aus⸗ 
drückt.“ (S. 249. N. 39 —41.) 

Aber wie allgemein und unbeftimmt, darum im Schwanfen 
und Bieldeutigfeit belafien, ift bier der Gegenfag von Bernunft 
und Natur, eben deßhalb, weil er doch zugleich Fein Gegenſatz 
fein fol: — Schuld der ganzen wiſſenſchaftlichen Methode, nur 
den Parallelismus der Unterfchiede zu verfolgen, nicht aber 
darin zugleih das Höhere und Niebere zu feinem Rechte und 
zu feiner fcharfen Bezeichnung gelangen zu laſſen! Dean hat 
neuerdings Schleiermahers Methode nach ihrer Eigenthüms 
lichkeit als architektonische bezeichnen zu müflen geglaubt: charak⸗ 
teriftifcher wäre vielleicht, fie die parallelifivende und antithetifie 
rende zu nennen. 
| Wie viel nähere Beſtimmungen müſſen daher auch hier zu den 

Begriffen: Vernunft und Natur noch hinzukommen, um jenen 
Erklärungen ihre Wahrheit zu geben, ja bie zugleich darin liegende 
Möglichkeit des Irrthums abzufchneiden! Weberfprungen ift der 
Unterfchied zwiſchen der objektiven, blindwirfenden Vernunft, die 
allerdings, aber allein, „in der Natur gefunden wird”, und ber 
fubjeftiven, felbftbewußten, innerhalb deren allein das Gebiet 




















Der bisherige Zuftand d. praft. Phiſoſophie in feinen Umriffen, 495 


der Ethik fallen fann. Wird jedoch dieſer Unterfchied zu vollem 
Bewußtfein gebracht, wie er ed muß, fofern von Ethik die Rede 
fein foll: fo wird es falfch, in Diefem Betrachte zu fagen, „daß 
die Ethik Fein Handeln darftelle, wodurch die ſe Vernunft in die 
Natur hineinkäme.“ Diefe fommt in der That erft durch ethi- 
fhes Handeln hinein in die Natur, und ift ohne fie fehlechthin 
nicht vorhanden in derfelben. Und fo ift weder der Begriff des 
ſelbſtbewußten, freien Geiftes, im Unterfchiede von jener allgemei- 
nen, fubftantiell bleibenden Vernunft, noch ift damit auch bie fcharf 
beftimmte Gränze zwiſchen Ethik und Phyſik Cin jedem Sinne, 
auch fofern Piychologie in fie hineingezogen würde) zu ihrem 
Rechte gebradht und im allgemein begründenden Principe der 
Ethik enthalten, wiewohl fonft in fpecieller Beziehung der Unterfchied 
von Natur= und Eittengefeg ausdrüdiih von Schleiermader 
anerfannt wird, worüber wir Fürzlih auf das von Schweizer 
(a. a. O. ©. 38. Note) Angeführte verweifen Tonnen. Ebenfo 
überfehen wir nicht, Daß dieſes nahe Heranrücen des freien Ethos 
an die Bernunft in ihrer Naturform, in ihrem „Sein“, von ber 
andern Seite wiederum ben eigenthümlichen Vorzug der Sitten- 
Iehre Schleiermachers begründet, das Sittliche, welches die 
frühere Schule nur in der Form des Gebotes Ffannte, als ein 
ebenfo Vernunftnothwendiges, Objektives und „Seiendes” zu fafs 
fen, wie das Sein der Bernunft in der Natur es iſt, alfo bie 
bloß imperativifche, wie die confultative Form der Sittenlehre zu 
der rein darjtellenden Entwidlung einer „Anfhauung” zu 
erweitern: — „der Stil der Ethik“ — fagt Schleiermaner 
prägnant, — „ift der hiſtoriſche; denn nur wo Erfcheinung und 
Gefeg als daffelbe gegeben ift, ift Anſchauung“ (Sittenlehre 
nah Schweizer ©. 56. d. vgl. $.95—95.). Damit hängt zu- 
gleich der fernere Charafter feiner Ethik zufammen, in völligem 
Gleichmaaß ebenfo Güterlehre fein zu wollen, als Tugend - und 
Pflichtenlehre; denn das Sein, die Objeftivität, hat das Ethos 
eben in den fttlihen Gütern. 

Immer bat aber damit jenes Ariom, daß in ber Bollen- 
dung Eihit Phyſik fe, und umgekehrt, und daß Ethik zu feiner 

\ 15 * . 


196 | SFichte, 


Zeit beſſer fein könne, als Phyſik, feine genauere Beſtimmung und 
Berichtigung zu erhalten, um nicht geradezu falſch zu ſein. In 
keinem Sinne iſt das Wirken des ethiſchen Willens auf die Na⸗ 
tür, der unmittelbaren, blindwirkenden Thätigkeit der Vernunft in 
ber Natur gleich zu fielen; Ethik kann in ihrer Vollendung nie 
Phyſik fein. Ebenſo ift der fittlihe Wille, in feiner Objektivität, 
das jittliche Univerfum, in keinem Betracdhte naturgleich gewor- 
den; die Natur ift ihrem Begriffe nad immer diefelbe, der in 
fich zurückkehrende, fich felbft gleichbleibende (ſchlechthin imperfektibele) 
Proceß: das fittlihe Univerfum erneuert und fteigert ſich flets in 
feinen feften Formen; es beſteht nur durch viefe fletige, aus Frei» 
heit ftammende Selbfterneuerung und innere Steigerung: es iſt nur 
als ein ſchlechthin perfektibeles zu denken. Die Eihif demnach, dieß 
immer höhere Geift«, nicht Naturwerden des freien Geiftes’bes 
trachtend, ift jederzeit „beffer”, als die Phyfik. 

Derfelben Zweideutigfeit oder Unbeftimmtheit unterliegen aus 
dem gleichen Grunde die übrigen Einleitungsbegriffe der Schleier. 
macher'ſchen Ethik. Ihre Berichtigung, abermals aus bemiel- 
ben von ung aufgeftellten Principe ber, würde die Wahrheit des 
Grundgedankens, aus welhem auch fie hervorgehen, nicht zeritös 
ren, fondern tiefer befeftigen und fchärfer beflimmen. Schon der 
erfte Sag, aus welchem alle weitern ethischen Beftimmungen flie- 
gen: daß die Bernunft nur infofern fittlih auf die Natur zu hans 
bein vermöge,' als eine uriprüngliche Einheit beider vorauszufegen 
fei, fofern ein immer fchon vorausgefegtes Organifirtfein der 
Natur für die Bernunft, was die menſchliche Natur als Gats 
tung fei ($.99.), ftattfinde, alles ethiſche Handeln demnach nur ein 
Freiwerden der in ber Natur liegenden Bernunft wäre: — fchon dies 
fer Sat ift nur wahr im allerabfirafteften Sinne, fofern, nad 
dem ebenfo abitraften Standpunkte der bloßen Spentität von 
Vernunft und. Natur, Idealem und Realem, Bernunft nur bes 
“deuten foll jenes allgemein Bernünftige, die immanente Televlogie, 
welche dem Ganzen des Univerfums, wie jedem einzelnen Welt- 
wefen, je nach feiner Stufe, die innere, feiner „Natur gemäße 
Vollkommenheit verleiht, — nicht fofern unterfehleden wird in 





Derbiöherige Zuftand d. prakt. Philofophie in feinen Limriffen. 197 


jenem allgemeinen Begriffe die in bewußtlofer Naturweife her⸗ 
vorwachiende Bernünftigfeit der Dinge, — jenes Organifirtfein 
der Natur”, aud) in der menſchlichen Gattung, „Durch und für 
die Bernunft”, — von der Bernunftgemäßheit des Menfchen, die 
er allein durch freie und bewußte Selbfibeftimmung zu erreis 
hen vermag. Wird aud) die letztere noch in ihrem metaphyſi⸗ 
ſchen Begriffe auf denfelben Urfprung zurüdgeführt werben müf« 
fen mit jener, fo iſt ſie doch an ſich ſelbſt nicht „identiſch“, ſon⸗ 
dern ſpecifiſch unterſchieden von ihr. Schleiermacher ſelbſt 
aber hätte ſich mit dieſem Principe noch nicht über die Unbe— 
ſtimmtheit der Stoiſchen Lehre erhoben, indem er, wie dieſe, weil 
die Natur die Objektivität der Vernunft, bed 420500, iſt, das 
Eittlihe auf Stoifche Weife bezeichnen könnte ale das der Natur 
gemäße Leben (zo x guoes omoAoyovuerug Liv). Deßhalb kann 
ihm auch der Gegenfag zwifchen Stothwendigfeit und Freiheit, wie 
zwiſchen Böfe und Gut, bloß der Relation angehören, in der ganz 
nur abftraften und völlig unausreichenden Bedeutung, daß fie ihm 
das Ueberwiegen theils des Natürlichen oder Bernünftigen, theils 
des Mechaniſch- oder Organiſchſeins ausdrücken (vgl. 8. 164 — 166 
mit den Anmerkungen und Noten): bei welcher Relation es gerade 
nicht zum Begriffe ihres ſpecifiſchen Unterſchiedes innerhalb jener 
Allgemeinheit gekommen iſt. Es iſt der Standpunkt abſtrakter Dies 
taphyſik, nicht aber der Ethik, in welcher es gerade auf Heraus⸗ 
bildung diefer Unterfchiede ankommt. 

Demungeachtet verfennen wir nicht, daß zur Ablöſung Des 
Rantifchen Standpunftes, welcher fich in der einfeitig imperativen 
Weife abfchloß, die Ethik als Lehre von Maximen, Sittenregeln 
und Pflichtgeboten behandelte, und namentlich den Gegenfaß zwi⸗ 
fen Neigung und Pflicht als einen unüberwindlichen fteben ließ, 
das Gegengewicht faft unvermeidlich war, Das Sittlihe ale bie 
eigene Natur des vernünftigen Willens darzuftellen, wodurch Die 
Ethik in fürzefter Bezeichnung Phyſik, Naturlehre des Wil⸗ 
lens, zu benennen gewefen wäre. Und auch dieg wäre noch nicht 
für füch felbft als ein falfcher Geſichtspunkt zu bezeichnen, wenn 
diefer Begriff der „Natur” als Wille niht bloß als dad Iden⸗ 


198 " Fichte, 


tiſche mit der Vernunft als Natur, jene nur unter der Form des 
Idealen, dieſe unter der des Realen, aufgefaßt worden wäre. Aller⸗ 
dings iſt die Eihif in ihrem höchſten Sinne nicht Lehre von des 
Sittengeboten, als von etwas dem. Willen Fremden oder ihm 
Aeußerlichen: fie find als das Weſen des Willens, das feinem 
Begriffe (Natur) allein Gemäße zu zeigen; aber eben dieß um 
durch den Beweis, dag der Wille nicht mehr Naturvernunft if, 
fondern der frei fich beflimmende Geiſt, der eben damit jene Na— 
turvernunft felber in fich zum Werkzeuge und darftellenden Organe 
der feinen Willen erfüllenden Ideen berabfegt. Diefem wider 
fpricht Die Schleier macher'ſche Ethik an ſich zwar nicht ausdrüd⸗ 
lich, fie ſchließt Die höchfte Anſicht in fich 5 aber fie hat fie noch nid 
berausgefegt zu der vollen, unzweifelhaften Ueberwindung einer 
feitö des Rantifchen Prineipg, andererfeits ber ihm entgegenge 
festen Anficht, das Werden des Ethifchen gleichfalls nur. für einen 
Naturvorgang, für ein Sichgeftalten der Vernunft im Willen auf 
unwillführlihe Weife zu halten. Bliebe jedoch die Wahl lediglic 
zwifchen jener und diefer Einfeitigkeit: fo läßt fich nicht verkennen, 
daß jene wenigftens mittelbar das unterfcheidende Weſen des Eikis 
fhen, im Geifte, als dem freibewußt fich Beſtimmenden, und fa 
mit in der benfenden Innerlichkeit der Gefinnung feinen Urfprum 
und feine Wirklichkeit zu haben, entfchiedener ausdrüdt, als bie 
entgegengefette Anficht, welche den Urfprung des Ethiſchen in bie 
dunkeln und unwillführlihen Naturvorgänge des Geiftes, in fein 
Berflehtung mit dem Naturell, zurüdfciebt. 

Sicherlich liegt an fih Schleiermachers Princip ba 
Ethik über dieſe Doppelte Einfeitigfeit hinaus: ja er hat ihr in den 
allgemeinen Zügen wenigſtens das höchſte, beide vermittelnde Ziel 
vorgeftedt: in der Lehre vom böchften Gute, welches er als de 
Einheit der fittlichen Güter nachweift, in deren Gefammtheit alles 
bie freie Gemeinſchaft Aller fih verwirklichen läßt, worin zugleich 
aber auch alle Seiten der einzelnen Perfönlichkeit ſich entwideln, 
ber Menſch in harmonifcher Bildung hervortreten Tann, weil die 
Freiheit die individuelle Neigung mit dem Allgemeinen verföhnt 
hat. Ebenfo in der Tugenplehre, wo bei Entwicklung der Cardinal⸗ 


Der bisherige Zuftand d. prakt. Pbiloſophie in feinen Umriffen. 199 


tugenden, bem Pr'ncipe der geiftigen Freiheit, dem Erfennen (Dens 
fen) nicht minder, wie dem Fühlen, im Sittlichen fein Recht ges 
laſſen wird, ald Grundlage der füttlihen Gefinnung, indem es in 
der Gefinnung, ruhend, ald Weisheit, unter die Zeitform ges 
Rellt, werdend, ald Befonnenheit fich darftellt: ebenfo wie dieß 
Element des Denfend au im Pflichtbegriffe als dasjenige dar⸗ 
gelegt wirb, was das Künftlerifche des ſittlichen Thuns ausmacht. 
Jede Pflicht ift „Anfnüpfen an Gegebenes”; aber hiermit zugleich 
ein durchaus originales Produciren, Neufchaffen. Se vollfommes 
ner, fünftlerifcher bie Pflichterfüllung ift, defto inniger wird Bei⸗ 
des, Anfnüpfung und neue Produftion, fidy durchdringen und ver- 
mitteln: defto tiefer muß daher der gegebene Zuftand, an welchen 
anzufnüpfen, erkannt und beurtheilt fein; deſto ficherer wird alfo 
endlich nach‘ dem individuellen Standpunkte des Handelnden, der 
gleichfalls nur im Urtheile feine Würdigung erhält, das pflicht⸗ 
mäßige Handeln fein. So ift das Denken, die freie Macht des 
Beiftes , bier fo gut, wie bei Sant in dem von. ihn poftulirten 
Handeln nach allgemeinen Marimen, zum Leitenden der Sittlich 
feit gemacht, und die Schleiermacher'ſche Ethik wäre in ihren 
‚Refultaten nit minder, wie die Kantifche, vom Begriffe der 
Freiheit durchdrungen. Dennoch hat unfere Kritik gezeigt, daß 
fie in ihren Sundamentalbegriffen keineswegs hinreichend ausges 
bildet ift, um dieß Princip unzweifelhaft und in vollftändiger Durch» 
führung von Anfang bis zu Ende anerkennen zu laſſen. Noch weiter 
ift zu bemerken, daß Schleier macher in feinen frübern, eigent« 
lich fchriftftellerifhen und darum bekannter gewordenen Darftelluns 
gen, auch in feinen Reden über die Religion durch feine Auffafs 
fung des Neligionsbegriffes, welche inniger, ald man glauben 
follte, auch mit feiner Grundlage. der Ethif zufammenhängt, ben 
Haupmachdruck weit mehr auf das Naturwüchfige des Geiftes 
legs, auf die Urfprünglichkeit des Gefühls und auf die Hingabe 
an deſſen unmittelbare Regungen, als auf das davon Befreiende 
und eigentlich Geiftige, das Denfen. Dieß bat ſich nun auch noch 
bis in die Ethik hineingezogen, und wird in den Beflimmungen 
über den Parallelismus von Eihit und Phyſik, in der gänzlichen 


7 


200 | Site, 
Gleichſtellung der Vernunft ale Natur und ale Wille, ebenfo in 


der völligen Nichtanerfennung einer imperativifchen Form ber 


Ethik fihtbar. Gegenüber diefer Zweideutigkeit oder dieſem Schwan 
fen in Betreff eines fo enticheidenden Hauptgedankens, behält 
dann Hegels Princip fein eigenthümliches Recht, das Weſen des 


‚Geiftes, auch im Willen und im Gefühle, in das Deufen ges 


ſetzt zu haben. 

Faſſen wir zum Schluſſe noch das Ergebniß unſerer Krilll 
in eine umfaffende Ueberſicht zuſammen, fo wäre zu ſagen: Kant, 
und Fichte's früberes Syſtem der Sittenlehre, babe die Ethü 
unter dem ausfchließlihen VBorwalten des Pflichtbegriffes ber 
handelt und aud den Begriff der Tugend nur aus dieſem Ge⸗ 
fihtspunfte zugekaffen, tnwiefern fie nämlich im pflichtgemäßes 
Handeln ſich verwirkliche. So konnte wenigfiens bei Erſteren, 
— Fichte hat auf dieß Verhältniß Fein befonderes. Gewicht ge 


legt — die Tugend, als die reine Pflichtmäßigfeit, nur im Gegen 


fage mit der Neigung gefaßt und das höchſte Gut als ein durch 
den fubjektiven Willen unerreichbares bezeichnet werben, — wei 


— 


es auch iſt, ſofern es in das unendlich Perfektible und ſich Ber 


einzelnde der Pflichtmäßigkeit geſetzt wird, nicht in die Einfachhen 


und Erreichbarkeit der fittlichen Gefinnung, welche fich bewußt if, 
in allgemeinen Intereffen, in der Welt der Ideen zu leben, Roch 
untergeordneter mußte bei Kant die Güterlehre bleiben, da ed in 


der Kantiſchen Ethif lediglich auf die Form des Handelng, nicht 


auf den noihwendigen Inhalt deffelben anfam. 

Fichte in feiner zweiten Periode hat dagegen mit vode 
Entfrhiedenheit den Begriff der Tugend zum Mittelpuntte ber 
Ethik gemacht und die Pflicht nur ald Erfcheinungsweife ber 
Einen, untheilbar in jeder Handlung gegenwärtigen . füttlichen 
Gefinnung dargeftellt. Zugleich gelang es ihm, von diefem Bes 
griffe, dem der ſittlichen Gefinnung aus, und des durch fie im 
Individuum fich entzündenden Lebens der dee, ben Begriff der 
Perfönlichfeit zu begründen und fo den für alle Ethik entfcheiven 
den Sat zu gewinnen: baß die Verwirklichung der wahren -Fus 
bividunlität in Jedem zugleich das wahre Gemeinfchaft Fördernde 


Der bisherige Zuftand d. praft. Philofophie in feinen limriffen. 204 


in Allen fei. Aber auch dieß war nur ein Schritt, ein Beitrag 
zum umfaflenden Syfteme der Ethik: die Pflichten-, wie vollends 
die Güterlehre traten vor dem Uebergewichte des Tugendbegriffeg, 
vor dem Allentfcheidenden, welches bier in die Gefinrung gelegt 
wurde, in den Hintergrund, 

In direktem Gegenfage mit beiden zeigt fih bei Hegel das 
Praktiſche ausfchlieglih von Seiten der Güterlehre dargeftellt, 
mit gänzlicher Unterordnung der Tugend» und Pflichtenlehre , in» 
wiefern in ihnen zu zeigen ift, wie das einzelne Individuum fich 
ihnen gemäß zu machen habe, Bei ihm hat die praftiiche Philo- 
fophie ganz aufgehört, Lehre von der Form des füttlihen Wil⸗ 
lens, von Marimen und Normen zu fein, an denen er fich in feis 
ner Reinheit erproben kann. Bon ihm wird der ausfchließliche Nach» 
drud auf den allgemeinen Inhalt beffelben‘ gelegt. Hier nun 
iſt fein Verdienſt, den Willen, der mit allgemeinem Inhalte erfüllt 
it, ale den allein fittlichen und wahren erwiefen zu haben. Hegel 
Sat damit das richtige Princip einer Güterlehre gegeben; in wel 
den Schranfen aber die Ausführung derfelben bei ihm verblieben 
iſt, indem er lediglich den Staat als die Wirklichkeit des Sittlichen 
„zeigte, durfte die Kritik feiner Rechtsphiloſophie nicht verbergen. 

Den Entwurf einer Ethif, die gleichmäßig und aus Einem 
Grundgedanken her den allgemeinen Inhalt des ſittlichen Hans 
being, die Einheit der ihm zu Grunde liegenden Gefinnung, 
und die Individualität ihrer praftifchen Berhätigung an jenem alle 
gemeinen Inhalte nachwieſe, und fo in ganz gleichem Verhältniſſe 
Güterlehre, wie Tugend- und Pflichtenlehre würbe, ver- 
banfen wir zuerft und ausfchließliih Schleiermacdher, weldem 
daher das "entfcheidende Verdienſt gebührt, den erften umfaffenden 
Plan der Ethif gegeben zu haben. Unfere Kritif hat indeß ges 
zeigt, was an ber Ausführung ihm abging, theild im allgemeinen 
wiftenfchaftlihen Zufammenhange, indem die metaphyſiſche und pſy⸗ 
chologifche Grundlage der Ethik ganz fehlt oder auf eine unge- 
nügende Weife in die Einleitungsbegriffe derſelben verflochten ift, 
theild im Principe felber, welches über den Standpunft der bloßen 
Identität von Natur und Geift fi nicht bis zum Standpunfte 


202 Fichte, der bieherige Zuftand ꝛc. ıc. 


des Unterfchiedes beider innerhalb jener Identität entwickelt hat, eben- 
fo nicht von dem Begriffe der Einheit des Nothwendigen und Freien 
zu dem ihres Unterfchiedes fich erheben fonnte, fo daß Schleier 
machers Darftellung vielmehr den Gegenfag gegen die Kantiſche 
bildet), ald daß fie deren eigenthümliche Leiſtung wieberherftellte; 
noch davon abgejehen, daß feine ganze Behandlungsweife, mehr 
die Begriffe parallelifivend und ſchematiſirend, als nad) dem in 
nern Reichthum ihrer Beflimmungen darlegend, überall weniger 
entichiedene Refultate giebt, als heuriſtiſch ihre richtige und fchärffe 
Beftimmung erft zu ermitteln ſucht. Schleiermachers Werte 
zur Sittenlehre find die befte methodiiche Propädeutit Tünftiger 
etbifcher Unterfuchungen. | 

Und fo wird jebe fernere Ausbildung der Ethik von diefer 
Grundlage ausgehen und diefen Umfang im Auge behalten mäf 
fen, um aus Einem Principe Güter», Tugend- und Pflichtenlehre 
zu entwideln, aber in jedem dieſer Theile die ganze Idee der 
Sittlichfeit darzuftellen: in der Güterlehre die Vollendung der 
Gemeinfchaft, in der Tugendlehre die Vollendung des Einzelnen, 
in der Pflichtenlehre die Vermittlung jener beiden Seiten, indem ges 
zeigt wird, wie durch pflichtmäßigesHandeln des Einzelnen in jeder 
Sphäre der Gemeinjchaft die fittlihen Güter erhalten und fie 
ihrem Begriffe gemäßer realifirt werben. Wie fih hiernach bie 
Ethik, zugleich) ausgebildetere Principien der Metaphyſik und Pf 
chologie zu Grunde legend, im Parallelidmus diefer drei Haupt⸗ 
theile vollſtändig zu gliedern babe, hoffen wir in der Folge 3 
zeigen. 


⸗ 


Herbarts Ontologie. 
Von 


Profeſſor Dr. Hermann Loge, ' 





Welchen Erfolg ein philofophifches Syftem hat und wie weit 
es ſich mit der Denkungsart feiner Zeit zu durchdringen vermag, 
bieß hängt nicht allein von der Befriedigung ab, die es den tiefes 
ren Bebürfniffen des Geiftes gewährt, fondern in großem Maaße 
auch von dem Grade, in welchem feine Principien für die Vorſtel⸗ 
Jung eine anfchauliche, in ihren weiteften Verwicklungen immer 
noch verhälmnigmäßig leicht zu verfolgende Beftalt annehmen. Kaum 
hat je ein ibealiftifhes Syftem eine weiter greifende Geltung er⸗ 
langt, da felbit feine Urheber es unmöglich fanden, ſich der fchwies 
rigen Abftraftionen, die folchen Lehren zu Grunde liegen müffen, für 
die Beurtheilung ber gewöhnlichftien Dinge zu bedienen, und den 
Zufammenhang fo verwidelter Fäden fortwährend mit gleicher 
Klarheit feſtzuhalten. Eine große Bequemlichkeit haben dagegen 
immer die atomiftifchen Syſteme fowohl in der Philoſophie als in 
der Phyſik gehabt, und der Wiederbelebung dieſer Grundvorſtellung 
individueller Wefen, die, zuerſt nach dem Fluffe und dem unfichern 
Schweben der dialektiichen Idee, der Betrachtung einen feftern 
Boden verfprach, hat Herbarts Lehre neben dem Beifall, der dem 
eigenthümlichen Scharffinn ihres Erfinders galt, gewiß einen gro» 
‚ ben Theil ihrer günftigen Aufnahme zu verbanfen. | 

Die Borftellungsweite der individuellen Wefen tritt indeſſen 
bei Herbart ebenfowenig, als bei Leibnig, nur als eme auch wEh- 
ulafiende ober zu verändernde Anfhauungsweife aufs; ſondern es 


204 Lotze, 


liegt in ihr, fo wie dort, das Hauptfächlichfte der ganzen Anſicht, 
die in der Entwidlung der neuern deutfchen Philofophie als ein 
wohlthätiger Zwifchenfall eintrat, um auf Forderungen aufmerl- 
fam zu machen, die freilidy Feine jener Philofophieen auch von ihs 
rem Standpunkte aus hätte überfehen ſollen. Je mehr die allge 
meinen Formen des Gefchehens und die dee, die fich in allen 
Verwicklungen der Erfiheinungen ausdrüden follte, den ausfchließ- 
lichen Gegenftand einer in einzelnen Gebieten fruchtbaren , im 
Ganzen jedoch mehr um ihres Zwedes ald um ihrer Ergebniffe 
willen anzuerfennenden Beftrebung ausgemacht hatte, um fo noth⸗ 
wendiger mußte num aud die Frage nad) der realen Mafchinerie 
behandelt werden, die dem Sinne der Erfcheinung feine Berwirk 
lihung bereitet. Diefe Aufgabe einer erflärenden Theorie, aus 
‚gehend von dem Gegebenen und an ihm haftend, diejenigen Ers 
gänzungen binzuzufuchen, bie feine Wirflichfeit hervorbringen, hat 
Herbarts Philofophie mit einer Konfequenz und Scharffinnigkeit 
zu löſen gefucht, die innerhalb der Reihe der philofophifchen Ey 
fteme ihr ebenfo den Charakter einer naturwifienichaftlichen Lehre 
ertheilen, wie bie conftruirenden Philoſophieen unferer Zeit weſent⸗ 
lich die Natur einer Afthetifchen Auffaffungsweife an fih tragen. 
Welche von beiden Anfichten die höhere fei, und ob nicht wielmehr 
die, welde einen Zufammenbang der Ericheinungen nach eier 
immanenten Idee verfolgt, dieſem Reich der Gnade und Schön 
heit auch ein ftügendes Reich der Natur, und umgefehrt die, welde 
fih mit der Verwirflihungsweife des Scheins befchäftigt, ws 
mittelbar auch ein Reich der Gnade hätte vorausiegen follen, 
welches dem der Natur felbft die erften Geſetze feiner Formen ber 
ſtimmt: dieß mag bier dahingeftellt bleiben; meine Anſicht ift hier 
darauf beſchränkt, die Grundbegriffe zu betrachten, welche Herbatt 
feiner Geneſis der Erfcheinungswelt unterlegt, und zu unterfuchen, 
ob fie für das Denfen diefelbe unmittelbare Annehmlichfeit bes 
fiten, die ihnen für die Vorflellung gewiß zufommt, oder ob es 
fih nicht hier fo wie in den Naturwiffenfchaften verhält, in denen 
dis. Begriffe der Atome und der Kräfte, fü wie ber der Materie 
nicht entbehrt werden Tönnen, obwohl fie fo nur metaphyfſſche, 


Herbartd Ontologie. 208 


nothwendige Illuſionen ſind, die als brauchbare Abbreviaturen 
eines andern und wahreren Verhaͤltniſſes angeſehn werden müſſen. 

Die Nothwendigkeit, zu dem Wechſel, der Unvollſtaͤndigkeit 
und den Widerſprüchen der Erſcheinungen ein Seiendes als er⸗ 
klärende Ergänzung hinzuzuſuchen, hat immer der Philoſophie vor⸗ 
geſchwebt, und jedes Syſtem wird dieſen Anfang mit dem Her—⸗ 
bart’fchen zu theilen vermögen; aber ſchon hier wird eine Ver⸗ 
fchiedenheit der Anläffe zur Unterfuchung, auf welde das meifle 
Gewicht gelegt wird, auch eine Durchgreifende Abweichung in allen 
fpäteren Entwiclungen der Anficht hervorbringen. Daß wir nänıs 
lich vom ©egebenen ausgehn müffen, ift nicht zweifelhaft, aber 
was in dem Gegebenen ift ed, das und überhaupt zu der Mühe 
einer Unterfuchung nöthigt ? Der häufigfte Anlaß gewiß find die 
einzelnen Widerfprüche, die fi in einzelnen Erfcheinungen zeigen 
"und eine Erflärung ihres Zufammenhangs verlangen; aber es 
giebt auch eine Sinnesart, der Dad Gegebene als ſolches räthſel⸗ 
haft ift, und die ſich daher nicht mit der Realität begnügen kann, 
die einen Schritt rüdwärtd hinter den Erfcheinungen, auch als 
ein nur faktifch Gegebened, angenommen werden muß, um jene 
zu erflären, fondern für welche der Begriff eines Realen, fo wie 
ihn Herbart entwidelt, felbft ein neuer Widerſpruch ift, der einer 
eignen Bearbeitung unterworfen werden muß. Dieß fann natür- 
lich nicht fo gemeint fein, als könnte es überhaupt gelingen, eine 
Phitofophie zu Stande zu bringen, die zulegt. auf gar feinem bloß 
faftifch anerfannten Grunde beruhtes wohl aber Darf dieſes Prädicat 
bes ſchlechthin für ſich Seins, jener abfoluten Pofition Herbatts 
nicht allem demjenigen zugeftanden werben, welches auf einem re= 
greffiven Wege als nothwendige Ergänzung zu dem Scheine hin» 
zuzupoftuliven ift, fondern nur dem, was bie beiden Forderungen 
gleichzeitig erfüllt, fowohl zu fein, als um feiner felbft willen fein 
zu follen. Finden wir einen Inhalt, der beiden Anforderungen 
genügt, fo werden wir in ihm bas wahrhaft Seiende anerfennen; 
finden wir feinen, fo mögen wir zwar zugeben, daß jene Welt 
ber realen Wefen, welde ald Maſchinen den Schein der Erfahr 
rung berporbringen, für unfere Erfennmiß das legte, das faktiſch 


206 Lotze, 


Exiſtirende iſt, deſſen Abhaͤngigkeit von andern Gründen uns ver⸗ 
borgen iſt, allein die Aufgabe wird immer bleiben, dieſes Andere 
zu ſuchen, und wir werden nicht bis zu dem wahrhaft Seienden, ſon⸗ 
dern nur bis zu dem letzten erkennbaren Wirklichen vorgedrungen 
ſein, deſſen Zuſammenhang mit dem gegebenen Scheine ſich noch 
uͤberſehen läßt. 

In der Ueberzeugung, daß jene Aufgabe, das Gegebene als 
ſolches zu erklären, allerdings eine unabweisbare iſt, und daß die 
neueren conſtruirenden Theorieen nur deßwegen in. ihren Entwik 
lungen nidyt glüdlich waren, weil fie zum Princip der Ableitung . 
bes Gegebenen ein Abfolutes annehmen, das in feinem Synhalk 
gar Fein Moment befigt, um deßwillen ed mehr als andrer In⸗ 
halt dag Vorrecht befigen follte, für den legten, unbedingt anzır 
erfennenden faktifchen Punkt zu gelten: — in diefer Weberzeugung 
fonnte ich zwar fein Ergebniß einer regrefliven, von dem Einzel 
nen ausgehenden, und zu dem Cinzelnen einzelne Ergänzungen 
binzufuchenden Theorie für eine völlig zufriedenftellende Aufklärung 
anfehn; aber ich Eonnte doch in dem Syſteme Herbarts die wide 
tige Ergänzung zu finden glauben, die zu jeder ideal conftruirenden 
Philoſophie hinzufommen muß, die Nachweifung der Urſachen näms 
lich und ihrer Wirfungsgefege, durch welche der Zweck der. Idee 
tealifirt wird. Allein bei Herbart haben fi) diefe Cauſalunter⸗ 
fuchungen, die eigentlichen Erklärungen, emancipirt von ben Unter. 
fuchungen des Zwedes, und die Auffindung des Iegtern gilt nicht 
als eine ebenfo unabweisbare Gorrection unferer Begriffe vom 
Gegebenen, wie die Tilgung der Widerſprüche gegen das Gefeh 
ber Spentität als eine folche gilt. Das Gegebene als felches iR 
für Herbart Har, und es enthält für ihn feinen Widerfpruch, Daß eine 
Welt ohne Zwed ſchlechthin exiſtire; nur dag dieſe vorhanden 
Welt Zwedveranftaltungen 'in ſich fchliege, dieß fei aus der Ers 
fahrung Härlich zu entnehmen. Sch babe diefe Verſchiedenheü 
meiner Auffafiungsweife bier nur angedeutet, nicht um fie bier m 
‚rechtfertigen, fondern weil ich weiß, daß fie in den folgenden Bes 
trachtungen fih doch überall geltend machen wird, Jetzt aber 
wollen wir feben, ob bie ontologiichen Begriffe Herbarts volle 


Herbarts Ontologie, 207 


in ſich zufammenftimmen, und nicht vielmehr felbft wieder auf bie 
oben angedeutete Region von Unterfuchungen als nothwendige Er» 
gänzung zurüdweifen. Wenn ich bier zum Theil Einwärfe gegen 
Herbarts Lehren erneuere, bie ich bereits anderwärtd gemacht 
babe, fo hoffe ich, daß es einen Anhänger jener Philofophie geben 
wird, der weniger Gewicht auf das Factum meines Widerfpruche 
gegen Herbart, als auf die Gründe legt, die mich dazu bewegen; 
eine gegenfeitige Verſtändigung Tann nirgends leichter fein, als bei 
Anfichten, die von ihrem Urheber mit fo viel Deutlichfeit vorges 
tragen find, daß bie Punkte der Dunfelheiten ſich überall beftimmt 
abgränzen. 

Der Begriff des Realen, Seienden, fo wie er von Herbart 
ausgebildet worden ift, bietet den erſten Stein bes Anſtoßes. Wir 
‚geben willig Herbart zu, daß das, was wir als feiend bezeichnen 
"wollen, in der Art unabhängig fowohl von und, als von jedem 
Andern, in der Art auf fich felbft beruhend gedacht werden müſſe, 
wie wir zuerft Tas in der finnlihen Wahrnehmung fcheinbar ges 
genwärtig Sciende uns dadıten. Wir geben ebenfo zu, daß der 
Begriff des Ecienden nur durch zwei, im Denfen zwar treunbare, 
im Seienden felbft ober zufammenzufaffende Begriffe erfchöpft 
werden fann, nämlich den des Seins und den des Was, oder 
des Inhalte, welcher if, Daß nicht jeder mögliche, willführlich 
angenommene Inhalt jene abfolute Pofition des unabhängigen 
Seins ertragen Fönne, ift ebenfo Flar, gar oft find wir genöthigt, 
‘eine fo übereilt gegebene Pofition zurüdzunchmen. Borbehalte 
werben daher an fie geknüpft; wem fie zuertheilt werden foll, dag 
Darf feine Negation, Feine Relation, Feine Mannichfaltigfeit in fich 
ſchließen. Und nun, nachdem diefe Bedingungen feftgeftellt find, 
wird auf die Frage: was ift das Seiende? geantwortet: bie 
"Qualität des Seienden ift einfach, ohne Negation, allen Größen- 
befiimmungen unzugänglidh. Entfpricht denn dieſe Antwort dem, 
was wir in ber Frage wiflen wollten, und bringt fie nicht viel⸗ 
mehr ganz andere Dinge zur Sprahe? Was war denn wohl das 
Was, deſſen Eigenthümlichkeit wir kennen lernen wollten? Doch 
ohne Zweifel eben dasjenige, welches fähig fein follte, bie abfolute 


208 Lotze, 


Poſition des nicht wieder zurücknehmbaren Seins zu ertragen. 
Und was in der Antwort füllt nun die Stelle jenes Was aus! 
In der Antwort liegen zwei Begriffe, der der Qualität und ber 
des Seienden, deffen Dualität fie if. Diefer genitirns por 
sessivus beutet fogleih auf ein verfchwiegenes Verhaͤltniß der 
Dualität zum Seienden felbft hin; offenbar liegt es in dieſem Au 
brud, daß das Seiende die Dualität hat, nicht aber ſelbſt die 
Dualität ifl. Sp würde dann das Seiende noch abgefondert 
von feiner Dualität für fich fein, und es müßte möglich fein, ein 
Seiendes ohne Dualität zu denken. Allein hiergegen flemmt fih 
Herbart durch die firenge Bemerkung, daß Fein Eeiendes ohne 
ein Was, das es fei, gedacht werden könne, und daß beide Be 
griffe, Qualität und Sein, im Seienden felbft nothwendig vers 
bunden werden müſſen. Was wird uns alfo übrig bleiben auf 
die Frage: was denn Die abjolute Pofition erhalten habe, zu anf 
worten, als: die Qualität? oder eine einfache Qualität? End 
foricht denn aber diefer Anhalt irgendwie den Bedingungen, die 
wir jenem Inhalt vorjchrieben, der die abfolute Pofition zu ertra⸗ 
gen fähig fein follte? Offenbar nicht, denn Niemand fann ein 
Dualität denfen, ohne bie ausdrüdliche Relation derfelben auf ein 


fhon Seiendes. Entweder das Seiende ift eine Dualität, oder 


es bat eine. Der erfte Fall widerfpricht dem Begriffe des Seins, 
der keinem Relationsbegriffe unmittelbar fi verknüpfen kam; 
der zweite widerfpricht der Vorausſetzung, daß der Begriff des 
Seienden aus dem des Seins und dem der Qualität im einer 
untheilbaren Einheit verfchmolzen beſtehe. Ich Tann nach dieſen 
Bemerkungen nicht anders als urtheilen, daß Herbart ſchon biefe 
erfte Srage: was ift das Seiende, nicht beantwortet, fondern ums 
gangen hat, indem er zmar in den Vorbereitungen zur Antwort 
alle die Anfichten zu vernichten fucht, welche zwifchen die Quali⸗ 
tät und ihr Sein noch einen andern Kernpunft bazwifchen ze 
fhieben verfuchen, in der Antwort aber nicht auf die von ihm 
geftellte Frage, fondern auf jene andere antwortet, bie ſich auf 
die Borausfegung einer foldhen Einfchiebung gründet, und zwar 
mit Ausdrüden antwortet, welche bie nämliche Einfchiebung vor⸗ 


Herbarts Ontologie. 209 


qusſetzen. Auf die Frage: was ift Das Seiende, Fonnte nur er« 
wiedert werden: die Qualität, oder wenn man wollte, irgend 
etwas Anderes; daß aber diefe Antwort ganz überfprungen und 
fogleicy von der Dualität des Seienden gefprochen wird, als ob 
dieſes genitivifche Verhältniß für fi Far wäre, ift in dieſem 
Anfang der Unterfuchung ein verhängnißvoller Mangel der Ge- 
nauigfeit. 

Ueberlegen wir, woher der Begriff der Dualität gefommen 
if, um ung in diefem Zufammenhange Verlegenheiten zu bereiten, 
fo fcheint es, als fei ſelbſt fein Auftreten in den Bedingungen ber 
Aufgabe gar nicht motivirt. Wer da fragt: was ift Das Seienbe, 
der begehrt unter dem Was jenen nur fubftantivifch zu faffenden 
Inhalt zu erlangen, der nur ald Subject, nie ald Prädicat gedacht 
werben kann; reichen wir ihm jeßt ald Erwiederung die Qualität, 
fo erhält er eine Antwort auf die Frage: wie iſt das Seienbe, 
und diefe Antwort befteht in der Angabe eines Inhalts, der nie 
als Subject, fondern nur ald Prädicat gedacht werden kann. 
Zwifchen dem verlangten Was und dem gegebenen Wie befteht 
eine große Kluft, welche die ältere Metaphyſik durch den Unter⸗ 
fhied der Duiddität und Dualität andeutete, und durch die An⸗ 
nahme eines Subftantiale in der Subftanz zu füllen fuchte, wel- 
des das eigentliche Subject, diefen feften Beziehungspunft für den 
bloßen Nelationsbegriff der Dualität abgeben follte. Welches 
auch der Werth diefer Begriffe, und welches die Bedeutung fein 
mag, bie ihnen eine correcte Philofophie zutheilen muß: die Furze 
Abfertigung, die der Gedanfe des Subftantiale von Herbart im 
erften Bande ver Metaphyfif erfahren hat, verdiente er nicht, ſo⸗ 
bald im zweiten Bunde die Definition des Seienden auf eine 
Weiſe dargeftellt wird, die den Lefer mit Gewalt immer wieder 
auf biefen Gedanken zurüdführt. Wir vermiffen in dieſem Seien: 
den jeden feften Punkt; fo wie der Ausdrud felbft ein Participium 
if, fo muß es einen Anhalt geben, der an dem Sein, an der abfo- 
luten Segung participirt ; ift aber dieſes Was nichts Anderes ale 
das Wie der Qualität, fo haben wir bier jedenfalls feinen Inhalt, 
der nach Herbarts eignen Anforderungen die abfolute Pofition zu 

Zeitſchr. fe Philoſ. u. ſpet. Theo. X. Wand. 4A 


240 Lotze, 


ertragen vermoͤchte, ſondern immer ſucht ſich die Qualitaͤt an 
Etwas anzulehnen, das überall vermißt wird. Auf ſolche Zweifel 
kann Jemand antworten: was ſuchſt du denn eigentlich in dem 
Seienden? Bildeſt du dir ein, daß allem Seienden ein gewiſſer 
an und für ſich ſeiender Stoff zu Grunde liege, ein Seinſtoff 
feibft, der dem Inhalt einen ſolchen Ort der Anlehnung gewährt? 
Iſt es nicht vielmehr fo, daß jeder Inhalt unabhängig und ab 
folut feiend eben durch die abfolute Setzung eriftirt, fo daß eben 
grade diejenige Qualität, die wir das Seiende nennen, ſich dadurch 
von der bloßen Dualität, dieſem Relationsweſen, unterfcheide, 
daß fie abfolut gefett it? Iſt denn nicht Sein überhaupt dieſe 
unabhängige Sesung, und muß folglich nicht jeder Inhalt, fomit 
auch die Qualität, ein Seiended fein, wenn fie fo gefegt wird, 
und wird fie nicht eben Durch dieſe Segung zu dem Was, dem 
fubftantivifchen Duid, das du auf andere Weife irgendwoher nod 
hinzuholen willſt? Diefe Zurechtweifung Tönnte ich mir in vie 
Hinficht gefallen Taffen, aber fie kann nicht von einem Herbartiane 
ausgehn. Denn fehr verlegbar ift die abfolute Pofitionz ihre Er 
tbeilung hängt an Bedigungen; durch fie kann daher nicht der 
Inhalt zum Seienden geftempelt werden, fondern in dem Inhall 
muß die Möglichfeit liegen, von ihm muß die Möglichkeit abhän 
gen, daß er die Pofition ertrage, Und doch wifjen wir nicht, wie wit 
auf einem andern Wege aus biefem Zauberfreife von Abftractione 
heraustreten können, ald wenn wir dieſes Zugeftändnig machen: 
der Inhalt ift dann, wenn er abfolut geſetzt ift, oder Türzer, wert 
er ift. Diefer ſcheinbar tautologifche Sag aber führt und wei‘ 
von Herbartd Anfichten und den Principien feines ganzen Syſtens 
ab. Denn in feiner hypotbetifchen Faffung behauptet er, daß fer 
nem Inhalt an und für ſich dieſes Sein der abfoluten Setzug 
zukomme; die ganze Welt der einfachen Wefen, die in fich fe 
feinen Halt haben, finft jegt als ein abhängiges Refultat eine 
höheren zufammen, und über ihr Flärt fi die Ausficht in ei 
Reich der Geſetze auf, nad deren Beflimmungen verfihiebent 
Inhalt die abfolute Pofition erhält, und durch fie fett in fich ber 
Schein erzeugt, als rührte diefes fein feſtes Sein von einem 


Herbarts Ontologie. 2 


Punfte der Realität her, der in ihm felber Täge, und der doch bei ges 
nauerer Betrachtung nicht in ihm aufgefunden werben fann. Schon 
bier ehren fid) alfo die Annahmen der erflärenden Theorie nad) 
einem andern Principe hin, als dem legten Pol der Gewißheit 5 
ausgegangen von dem Gegebenen, fünnen wir zwar zunächſt eine 
Welt einfaher Wefen ihm zu Grunde legen, auf deren Pofition 
Das Wirkliche der Erfcheinung beruht, allein diefe Wefen können 
nicht das Letzte fein, fondern ihre Pofttion, ihr Sein felbft hängt 
von den Beſtimmungen allgemeiner Gefege ab. 

ft dieß fo, dann bedürfen wir freilich nicht mehr jenes ſub⸗ 
ftantiale Duid, das in den Dingen ale eigentliches Subjekt zu 
liegen fchien, und ed werben, wie ich dieß früher ausbrüdte, bie 
Dinge nicht Durch eine Subftanz fein, fondern fie werden dann 
fein, wenn fie einen Schein der Subftanz in ſich zu erzeugen ver⸗ 
mögen. Eine Theorie, Die von dem flarren Sein einfacher Wefen 
ausgeht, hat es ſchwer, hintennach zu dem Gedanfen allgemeiner 
Gefege zu kommen; diefem Umſtande verdankt Herbarts Lehre 
den Mangel an Applicabilität, namentlich auf die Naturerfcheis 
nungen, wie wir fpäter fehen werden; aber auch fchon innerhalb 
diefer ontologifchen Betrachtungen wird fid) der faft durchgängige 
Mangel diefes Gedanfens an Gefege überhaupt mehrmals ftörend 
aufbrängen und ed war deßhalb gut, -an biefer Stelle darauf hin- 
zuweifen, wie allerdings Herbarts Principien eine Erweiterung felbft 
fchon verlangen, deren Fehler uns bei der Debuction bes Einzel- 
nen empfindlid) wird. | 

Geben wir indefien einftweilen Herbart Alles zu, was wir 
“eben umzuftoßen verfuchtenz; nehmen wir mit ihm eine Welt ein- 
facher Seienden an, deren Weſen in einer ebenfo einfachen, un- 
veränderlichen, allen Größenbeftimmungen unzugänglichen. Qualität 
befteht, und fehen wir, ob von hier an bie Entwicklung ftetig und 
ohne Bedenken fortfchreitet. Das Nächſte, was fich ung, barbietet, 
ift die Inhärenz der vielen Eigenfchaften an dem einen Dinge. 
Wir geben den Widerfpruch zu, ber hierin liegt, wir geben ferner 
zu, dag bie Mehrheit der Eigenfchaften auf die Vielheit von realen 
Wefen bindeute, ſo wie, daß dennoch fein einzelnes dieſer Wefen 

Au * 


212 Loge, 


‚zur Begründung einer Eigenfchaft hinreiche; aber wir hüten ung, 
für die einzelnen Wefen eine Zufammenfaffung derfelben zu fub- 
flituiren, aus Furcht vor einem Ausdrude, der, vom Raume ent 
lehnt, fogleih das Vorurtheil mit fih führen Fönnte, als müßten 
die Beziehungen, die Berhältniffe, die zwifchen ben Seien- 
ben obwalten, nothivendig in der Verfchiedenheit räumlicher Com 
binationen liegen. Stellen wir alfe mit einem vorurtheilsloſen 
abftracten Ausdrude feft: e8 müffen Beziehungen vieler realen 
Weſen fein, aus denen die Inhärenz des Vielen an dem Einen 
hervorgeht. Unter diefen Beziehungen verftehen wir jegt nur die 
Bedingungen, die überhaupt gegeben fein müffen, wenn mehrere 
Reale den ganzen Grund der Folge ausmachen follen, und fo wie 
Herbart, der dieſe Bedingungen unter dem Namen des Zufams 
men als gleich anfteht bei jedem verfchiedenen Beifpiel der In⸗ 
härenz, fo werden auch wir aus biefen Beziehungen allein nicht 
die Inhärenz der beftimmten Deerfmale an dem beftimmten Dinge 
herleiten, fondern fragen, wie nun beftimmte, von andern unter 
ſchiedene Reale, wenn fie einmal in jene Beziehung, die überhaupt 
bie Bedingung aller Wirkfamfeit ift, gefegt worden find, das 
beftimmte Refultat grade diefer oder jener inhärirenden Eigen 
fchaften hervorbringen. Dieß beftimmte Refultat muß abhängen 
von ber Qualität der Wefen, wenn nicht vielleicht jene. allgemein 
Beziehung felbft fo verfchiedener Mopdificationen fähig ift, Daß and 
ihnen allein, auch bei vollfommen gleicher Dualität aller Weſen 
die Verfchiedenheit der Erfcheinungen hervorgehen Tann. Ueber 
den letztern Gedanken, der von Herbart grade fo wenig berüd⸗ 
fichtigt worden ift, als er von der Phyſik faft einzig benugt wid, 
haben wir fpäter noch Manches hinzuzufügen; jegt machen wir - 
mit Herbart den. Effect von den Berfchiedenheiten in den Quali⸗ 
täten der Wefen abhängig. Wie Tann aus ihnen etwas folgen, 
und was folgt? Diefe Frage legt Herbart felbft denjenigen fer 
ner Lefer in den Mund, bie, befümmert über die abfolute Einfade 
beit und Unveränderlichfeit der realen Wefen, an der Möglichkeit 
einer Entwidlung aus ihnen verzweifeln wollen, und beantmworiet 
fie zugleich durch die Hinweifung auf die zufälligen Anfide 


Herbarts Ontologie. 243 


ten, bie zugleich mit der Methode ber Beziehungen ben Hebel 
der weiteren Entdedungen ausmachen follen. Die zufälligen Ans» 
fihten find die Subftitutionen der Mathematik und der mathema- 
tifchen Phyſik; da Herbart ihre Anwenbbarfeit auf Die vorliegende 
Frage nur durch Beifpiele aus jenen Wiſſenſchaften glaublich ger 
macht hat, fo bleibt ung bie Ueberlegung überlaffen, worauf ſich 
zuerft in der Mathematik die Subftitutionen gründen, und ob das 
Nämlihe, was ſie dort möglich macht, fie auch hier begründet; 
wie ferner in der Mathematif aus Subftitutionen Refultate gezo⸗ 
gen werden, und ob die nämlicdhen Bedingungen, welche dort 
überhaupt die Möglichfeit von Ergebniflen liefern, auch bier ſtatt⸗ 
finden; endlich, ob nicht felbft die Borausfegung der Richtigkeit 
diefer Methode doch wieder auf eine noch übrige, noch zu fuchende, 
ergänzende Beftimmung hinweift? 

In Bezug auf die erfte Frage müffen wir die arithmetifchen, 
die geometrifchen und die phyfifaliichen Subftitutionen unterfchei« 
den. Eine Zahl als eine Function einer gegebenen beliebigen an- 
dern Zahl auszubrüden, ift eine ſyſtematiſch ausgebildete, weit⸗ 
greifende Forderung der allgemeinen Arithmetif, die überall deß- 
wegen gelöft werden kann, weil die Größe feine Dualität befigt, 
fondern, ind Unendliche theilbar, ebenfo unendlich variirenden Zus 
fammenfaffungen der Theile unterworfen werden Tann. Nichte 
geht hier verloren, Fein inneres Band wird zerftört und die vers 
ſchiedenſten Ausdrüde werden zulegt darauf hinausfommen, eine 
gleihe Menge nur mannichfaltig zufammengefaßter Einheiten der 
Bergleichung in fi) zu begreifen. Diefer Grund, der hier die 
Umformung einer Größe in einen fubftituirbaren Ausdruck be— 
günftigt, muß wegfallen, wo von untheilbaren Dualitäten einfacher 
Wefen die Rede ift, und feltfam genug werben grade da die Sub- 
flitutionen der Arithmetif unmöglich, wo fie fi) am meiften ver 
ihnen in der Metaphyſik aufgetragenen Leiftung nähern und zwei 
qualitativ verſchiedne Größen wechfelöweis als Function, bie eine 
von ber andern, barfiellen follten. Es ift nicht möglich, auf rein 
arithmetifchem Gebiete für eine pofitive Größe einen Ausdrud 
in negativen oder imaginären Größen zu finden, ohne daß das 


244 Lotze, 
Negative oder Imaginäre in der Formel ſelbſt ſich wieder auf⸗ 
höbe. So großen Werth ſolche Formeln, wie (A +1— 4 1 
‚auch haben mögen, fo find fie doch nicht eigentlich Subftitutionen 
im engern Sinne, fondern verändernde Ergänzungen der gegebe- 
nen Data, aus denen allein eine Entwidlung nicht herzuleiten if, 
durch folche Bedingungen, welche diefelben einem allgemeinen Ge 
feße als einen Fall der Anwendung unterordnen. Wollten wir fo 
die Dualität eines realen Wefend mit a bezeichnen, und bafür 
+ a — 4 fubftituiren, fo würbe dieſe Formel gar Nichts and 
der Dualität a zu entwideln fähig fein, fo wenig als fie eine zw 
fällige Anficht derfelben wäre; vielmehr würde die Entwidlung aus 
der Zufammenfaffung des Nealen mit ergänzenden Bedingungen 
fließen, ein Fall, der, obwohl überaus wichtig, doch nicht das ift, was 
‚ Herbart bier im Auge hat. Wir müffen daher dabei verharren, 
Daß aus den arithmetifchen Subftitutionen gar Feine Berechtigung 
fließt, diefe Methode zur Zerfällung von Qualitäten anzumenben; 
feine untheilbare Qualität Fann eine Function der andern fein, 
gegen die fie disparat if. Es war in der That Fein geringer 
- Schritt, den Herbart that, ald ev dag, was mit den Coefficienten 
gethan werden kann, auf die Benennungen der Größen übertrug. 
Bielleicht liegen die geometrifchen Subftitutionen- der Meia⸗ 
phyſik näher. Sch ſehe ab von den Fällen, wo Summen yon 
Linien oder Flächen für einzelne Linien und Flächen geſetzt werben 
und wende mich zu den bedeutenderen Anwendungen, in denen 
irgend eine Linie als eine geometrifche oder trigoenometrifche Fun 
tion einer andern angefehn wird. Eine gegebene Linie kann ebenfo 
gut die Hypotenufe eines Dreieds als der Sinus eines Wir 
feld, oder die Tangente eines Bogend, der Durchmeffer eines 
Kreifes fein; eine unendliche Anzahl einzelner Ausbrüde werben 
fi) in dieſen verfchiedenen Rüdjichten für fie bilden laſſen. Was 
fagen diefe Formeln aus? Nichts von den Linien felbft, ſonder 
etwas yon ihrer Umgebung. Schließt etwa irgend eine biefe 
Formeln unmittelbar die innere Qualität der Linie auf, fo daf 
fie wirklich, wie Herbarts Beifpiele verlangen, eine Mannichfaltig⸗ 
feit von Merkmalen einer urfprünglic einfachen Dualität gleich⸗ 


Herbarts Ontologie. 216 


ſetzen? Nichts von dem, fondern die Linie bleibt an fi) unbes 
ſtimmt, und wenn aus einer ſolchen Subftitution fi dennoch reiche 
Refultate ergeben, fo gefchieht es nicht deßwegen, weil hier aus 
einer fubftituirten Mannichfaltigfeit folgte, was aus der einfplbigen, 
einfachen Qualität nicht zu entwideln war, fondern weil eine und 
diefelbe Linie durch ihre Rage im. Raume zwei verfchiedene Sy⸗ 
fleme geometrifcher Verhältniffe ald gemeinfames Glied zuſam⸗ 
menbringt, und daher eine Menge Gleichfeßungen einzelner Glie⸗ 
der begünſtigt. Auch die geometrifchen Subftitutionen und bie 
Hilfsconftructionen Finnen daher nicht zum Nechtfertigungsgrunde 
jener Zerfällung einfacher Qualitäten in zufällige Anfichten dienen; 
denn fo wie die arithinetifchen auf der Zheilbarfeit, fo beruhen 
diefe auf der Relation des ganzen Elements, für welches eine 
Subftitution gefucht wird, zu den gegebenen oder den möglichen 
Umgebungen. Auch dieß alfo wiefe auf eine Eonftruction bes Ge- 
ſchehens aus der Zufammenfaffungsweife des Nealen, nicht aus 
ihren Qualitäten hin. Dean kann nidt als Einwurf die Reihen 
anführen, die 3. B. Bogen durch Theile der Sinus ausbrüden; 
denn diefe Reihen brüden weder Geftalt, noch Lage, noch Rich 
tung , fondern nur bie Größe des Bogens durch die Größe der. 
Sinus, alfo Zahlen durch Zahlen aus. Sie berechtigen daher 
nicht, auch die Qualität eined Nealen, die fo disparat fi) gegen 
bie eines andern verhält, wie grade und frumm, zwei disjuncte 
Degriffe fih nicht einmal verhalten fünnen, durch eine zufällige 
Anficht auszudrüden, die mit der des andern vergleichbar wäre. 
Auch die phyſikaliſchen Subftitutionen geben Feine beffere Hülfe, 
Man fommt bier gewöhnlich auf die Zerfällung der Kräfte zurüd, 
die auch Herbart anführt. Genau genommen wird jedoch bier 
gar Nichts zerfällt, weder der Weg noch die Bewegung, noch bie 
Kräfte, fondern ein Refultat wird auf die möglichen Formen 
feiner Urſachen zurüdgeführt, eine Relation, die nicht auf die 
Natur des Seienden, deſſen Pofition unabhängig ift, übergetragen 
werden Tann, 

Nach dieſem Allen fcheint ung Herbart nur die Abfiht gehabt 
zu haben, an den mathematifchen DBeifpielen die Art und Weite 


246 | Lotze, 

der Methode zu zeigen, die er für die Metaphyſik ebenfalls zu 
brauchen wünſcht, und wir müſſen weiter nach andern Gründen 
fragen, durch welche er die Möglichkeit dieſes Gebrauchs bewieſen 
bat. Gleichgeltende Ausdrücke für theilbare Größen ober raum 
liche Relationen nügen uns Nichte, es muß die Zerlegbarfeit einer 
Qualität gezeigt werden. Nun bat Herbart allerdings an dem 
Farben namentlich Beifpiele einfacher Empfindungen , denen bad 


zufammengefeste zufällige Anfichten entfprechen, wie dem Biol . 


bie Bereinigung. von Blau und Roth. Allen, wenn wir auf 
diefe Empfindungen Dualitäten nennen wollen, fo haben fie doch 


Nichts als diefen Namen, und zwar in einer fehr weiten DBebdew 


tung, mit den Qualitäten der einfachen Wefen gemein. Nach Her 


bart felbft find fie Selbfterhaltungen der Seele, und ba fie ver 


fhieden find, fo Fann feine wirflich die Qualität des Realen fein, 


und wir haben für diefe letztere auch die Duelle zufälliger Am - 


fihten nicht, die wir für Die Empfindungen noch nachweisen können. 
Verſchiedenen Störungen werben verfchiedene Selbfterhaltungen 
entfprechen, eine Borausfegung, die, wie fich fpäter zeigen wird, 
Herbart und nicht mir gehört; die Qualität der Empfindung ſelbſt 
. aber fann billig nur das Nefultat der Selbfterhaltung fein, nicht 


diefe felbfl. So wie nun die Störungen nicht bloß disparat, 


fondern auch reihenweis zufammengeorbnete fein fönnen, fo werben 


auch die Selbfterhaltungen einzelne abgeftufte Reihen bilden, die, 


da fie auf irgend eine Weife immer mathematifcher Beftimmungen 
zugänglich gedacht werden müſſen, auch die Vortheile der Größen 


genießen werden, fo daß jedes Glied einer folchen Reihe eine 


Function eines andern fein fann. Nach einem Analogon des Bas 
rallelogramms der Kräfte wird jebe Selbfterhaltung dann auch bei⸗ 
ſpielsweis aus zwei andern zufammengefloffen fein können, und 


in der Qualität der Empfindung, die ihr entfpricht, wird füch dieſe 


- Möglichkeit als zufällige Anficht von der Entftehung, 3. B. das 
Biolet aus Blau und Roth, wiederfinden. Hierdurch ließe fich über 
haupt die Reihenoronung der Empfindungen und ihre mathematr 
ſchen Berhältniffe zu einander erklären. Nichts von bem aber 
fönnen wir auf die im eigentlihern Sinne fo genannten Due 


Herbarts Ontologie, 247 


Litäten der einfachen Wefen übertragen, denen feineswegs ein 
mathematifch geordnetes Syftem von Selbfterhaltungen, wenn wir 
fo wollen, untergefchoben werden kann. 

Dieß find die Gründe, aus denen mir die Uebertragung der 
Subftitutionen auf die einfachen Dualitäten des Realen unmöglich 
ſcheint; findet ſich dennoch irgendwie eine Möglichkeit, fo verdient 
fie befonders nacdhgewiefen zu werden; denn von felbft verftehen 
fih zufällige Anfichten wenigftens nur fo weit, ald Größe, Theil 
barfeit und Relationen reichen, weldye alle grade von Herbart fo 
entfchieden von dem Nealen geläugnet worden find. Da nun alle 
Subftitutionen doch eigentlih immer dazu gebraucht werden, ale 
Medii Termini zu dienen, und einen für fi) gefchloffenen und fei- 
ner Entwicklung fähigen Ausdruck ale Beifpiel unter ein allge- 
meines Gefeg unterzuordnen, fo ift es auffallend, daß Herbart 
feine zufälligen Anfichten grade auf die dem gewöhnlichen Bewußt- 
fein ferner liegenden mathematifhen Methoden fügte, ohne Das 
gewöhnliche Schlußverfahren auch nur zu erwähnen, das doch in 
der That die allerausgebildeifte Methode der Subftitutionen ifl. 
Wenn ich eine Linie als Tangente eines Kreifes betrachte und 
hieraus fhließe, fo thue ich nichts Anderes, ald im gewöhnlichen 


- Scluffe, wo id durch die zufällige Anficht, daß das Subject Des 


Unterfages, unbefchadet feiner fonftigen Einheit mit ſich felbft, doch 
auch als eine Art des Begriffs M angefehen werden Fann, dieſem 
S nun auch das Prädicat P zufchreibe, dag mit M auf eine all⸗ 
gemeine Weife im Oberfag verbunden war. Aber freilich führen 
dieſe Schlußmethoden wieder auf die Forderung allgemeiner Ge- 
fege; fie find ferner nicht anwendbar, ohne Relationen der ihnen 
unterworfenen Begriffe zuzulaffen, und daher können auch fie nicht 
zur Rechtfertigung der” Zerfällung einfacher Qualitäten in fingirte 
Theile dienen, während fie recht wohl dazu dienen, aus den Ver⸗ 
hältniffen einer einfachen Qualität zur andern und aus ihren Res 
Iationen zu einem Allgemeinen Data herzuftellen, aus denen ein 
Schluß möglich wird. Angeführe zu werden hätten fie jedoch ver: 
dient, denn in der That find die zufälligen Anfichten Herbarts faft 
nur ein pretiöfer Ausdrud für den altbefannten Mittelbegriff, nur daß 


218 Loge, 


biefer bier unter Bedingungen gefunden werben foll, unter benen 
er unmöglich iſt. ’ 

Sch will nicht läugnen, daß in den vorhergehenden Bemer: 
fungen Manches noch eine genauere Unterfuhung nothwendig 
macht; allein diefe Nothwendigfeit nachzuweifen, war eben mein 
Zwed, und ich bin befriedigt, wenn ich die Ueberzeugung bewirkt 
habe, daß der Gebrauch zufälliger Anfichten in Herbarts Sinne 
feine befondere Begründung bedarf. Wir wollen daher einftweilen 
auch dieſes Hinderniß unferer Uebereinftimmung mit Herbart weg 
geräumt denfen und die Richtigkeit der zufälligen Anfichten zugeben, 
fo fragt fich zweiteng, unter welchen Bedingungen folgt aus ihnen 
Etwas in der Mathematik und Phyfif, und welde andre Bedin⸗ 
gungen werben in ber Metapbyfif dafür eintreten ? 

Ich habe fhon erwähnt, daß alle Subftitutionen dazu bienen 
follen, einen für ſich gefchloffenen Ausdruck fo darzuftellen, daß 
er als Fall der Anwendung eines allgemeinen Gefeges gelten Tann. 
Nichts würden arithmetifche Subftitutionen leijten ohne das Hin- 
zufommen der allgemeinen Nechnungsregeln, die und zeigen, nad 
welchen Gefeten aus der ZJufammenfaffung der Größen etwas 
Neues hervorgehn könne; Nichts würden die Hülfsconftructionen 
ber Geometrie nüßen Fönnen, wenn nicht der Raum, in welden 
fie gezeichnet werden, eine fo beftimmte innere Gefegmäßigfeit be 
fäße, daß aus der Einreihung einer Linie in die Theile einer Figur 
fi) ſogleich ein Syſtem von Folgen nur aus diefer Eigenthüms 
lichfeit des Raums entwidelte; Nichts endlich würden phyſikaliſche 
Subftitutionen zu lehren vermögen, wenn wir nicht unabhängig 
von der geichehenen Zerfällung der Kräfte nach allgemeinen Ge 
fegen überhaupt die Berhältniffe von Kräften zu beurtheilen wäß 
ten. Es fragt fi nun, was tritt bei Herbart an die Stelle der 
allgemeinen Gefege, die in jeder diefer Wiffenfchaften die Moͤz⸗ 
lichkeit einer Folge hervorbringen? Offenbar erwarten wir, jet 
eine fublimirtere, allgemeinfte Statif und Mechanik des Seienden 
zu finden, welche diefe Gefege beftimmtz wir erwarten, dag auch 
bier die zufälligen Anfichten nur dazu dienen werden, Das Seiende 
fo auszubrüden, daß es einen Angriffspunft für das Gefep dar 


Herbarts Ontologie. 219 


bietet, ihm überhaupt als ein Fall der Anwendung fubfumirt wers 
‚den Tann, Allein diefer Analogie, die fih in feiner eigenen Bes 
gründung der zufälligen Anfichten findet, ift Herbart nicht gefolgt; 
feine Unterfuchung über diefe Geſetze wird geführt, nicht einmal 
der Gedanfe ihrer möglihen Dannichfaltigfeit tritt auf, fondern 
die ganze Entwidlung wird fogleid auf einen einzigen beftimmten 
Fall gebradt, nämlid den, daß die zufälligen Anfichten zweier 
Wefen einen entgegengefegten gleichen Theil haben, der folglich 
dahin fireben wird, fich aufzuheben. Diefer Gang der Betrach— 
tung ift ſehr charafteriftifch und wichtig für die ganze fpätere Aug 
bildung der Lehre. Noch einmal ift hier dem Gedanken allgemei- 
ner Geſetze, die pofitiv Etwas beftimmen, aus dem Wege gegan- 
gen, und nur das negative Geſetz gilt, daß Entgegengefeßtes ſich 
aufbebt. Eine folche Anficht benugt weder alle die nämlichen Vor⸗ 
theile, welche die Mathematik befigt, noch ift fie überhaupt ein 
nothwendiger Gedanke. Die Mathematik, wenn fie Nichts Fönnte, 
als Entgegengefegtes aufheben, wenn fie in ihren arithmetifchen 
und geometriſchen Gefegen nicht aud ein Mittel zu pofitiveren 
Folgerungen hätte, würde fehwerlich je zu den Nefultaten gelangt. 
fein, welche Herbart beftachen und ihn zu dem Ilnternehmen bes 
wogen, durch die Einführung der zufälligen Anfichten in die Mer 
taphyſik auch hier eine Reihe von Refultaten zu erzielen, bie jenen 
gegenüber geftellt werden könnten. Allein auch nothwendig ift 
dieſe Beſchränkung nit. Müffen wir einmal die Unvereinbarfeit 
des Widerfprechenden als ein allgemeines Gefeß anfehen, das 
unabhängig von aller_Dualität des Seienden fich vielmehr diefe 
unterwirft, fo kann es auch Nothwendigfeiten der Vereinigung 
bes nicht Widerfprechenden geben, die eben fo unabhängig von 
jener Dualität find, und die ganze Unterfuchung würde fi) nicht 
mehr darauf richten, durch den Chemismus der Aufhebung des 
Entgegengefetten ein Refultat aus den Qualitäten der Wefen zu - 
ziehen, fondern die Gefege aufzufinden, nach denen überhaupt 
gewiſſe Dualitäten und ihre Zufammenfaffung Gründe zu Folgen 
werden. Die zufälligen Anfichten würden dann unnütz. Denn 
auch ohne dag das fingirte innere Gefüge der Realen mit den 


220 Lotze, 


Armen des Widerſpruchs gegenſeitig in einander eingreift, auch 
dann, wenn die Qualitaͤten als völlig disparate gegen einander 
begriffen werden, würden fie doch, ſobald ein Geſetz geböte, daß 
aus ihnen eine Folge bervorgehe, diefe erzeugen, und nie bebarf 
es einer neuen Nachweilung einer verborgenen Mafchinerie, welde 
wieder die Zügel andeutet, durch die das Geſetz Die ihm unter 
thänigen Fälle lenkt. Ganz übergehn wollen wir hierbei noch den 
Begriff des Entgegengefegten felbft, von dem fehr zweifelhaft if, 
ob er auch nur als zufällige Anficht den realen Wefen beigelegt 
werden kann. Auch hier alfo famen wir auf die Forderung all 
gemeiner Geſetze zurüd, und, was hier einen Stein des Anſtoßes 
bildet, die willführlihde Zurüdführung alles Geſchehens auf den 
Gegenſatz, das wird auch fpäter, 3. B. in ber Pſychologie, einen 


Streitpunft bilden, ald deren Grundbegriffe die Stärfe und der ' 


Gegenfag der Borftellungen gewiß nicht anzufehen find. 
Diefelde Frage nach den Bedingungen, unter denen aus Sık 
flitutionen Etwas folgt, führt aber noch eine andere Bemerkung 
berbei. Gefegt, es fei für eine Größe ein Ausdrud gefunden, 
ber fie al8 Function einer andern barftellt, fo brauchen wir nicht 
bloß überhaupt ein Gefeg, um daraus Etwas zu fchließen, fonbern 
dieß Geſetz wird immer hypothetiſch ausgebrüdt werben müſſen; 
es gilt daher felbft nur unter gewiffen Vorausfegungen, die wir 
hinzufügen müflen. Wenn zwei Größen, + a und — a entgegew 
gefest find, fo heben fie ſich keineswegs ohne Weiteres auf, for 
dern nur, wenn wir fie addiren; wollten wir fie multipliciren, fo 
würde das Refultat ein anderes fein, noch ein anderes, wenn wit 


eine von der andern abziehen. Dieje arithmetifchen Operationen . 


fallen alle gemeinfchaftlich unter den Begriff einer Zufammenfaf 
fung im Denfen überhaupt; wenden wir Anfichten diefer Art anf 
bie realen Wefen an, fo wird offenbar das ZJufammen der We 
fen dasjenige fein, was auf objectivem "Gebiete der Zufammen 
faffung im blog willführlichen Denken entfpridt. Beide werden 
alfo die allgemeine Bedingung ausdrüden, unter deren Gewäh 
rung es überhaupt zu einem gegenfeitigen Eingreifen des Ber 
ſthiedenen kommt, die allgemeine Bedingung ber Caufalität über 


Herbarts Ontologie. 221 


haupt. Allein was entfpricht nun bei Herbart der Verſchiedenheit 
der arithmetifchen Operationen, denen jene Größen zu unterwers 
fen gefordert wird, und von denen eben das Refultat jenes Ein- 
greifens abhing? Dffenbar können zweierlei Beftimmungen zwar 
in Beziehung überhaupt ftehen, aber warum fteigert fich ihre Ver⸗ 
ſchiedenheit wie in der Addition entgegengefegter Größen bis zum 
Widerfpruch, und gibt nicht wie bei der Multiplication ein reelles 
Refultat? Wenn in einem Punkte a zwei Körper zufammen find, 
und der rechts gelegene foll ſich mit der Gefchwindigfeit c nad) 
rechts, der andere mit derſelben c nach links bewegen, fo find 
beide Bewegungen im firengften Sinne entgegengefegt, aber aufs 
heben werden fie ſich nicht, noch werben fie ein Beftreben dazu 
haben. Der Widerfireit und die Aufhebung tritt aber ein, wenn 
berfelbe Körper beide Bewegungen gleichzeitig vollführen fol. Der 
erſte Fall ift analog dem Berhältniffe zweier Wefen, die mit ents 
gegengefegten Beflimmungen zufammen find; der zweite hat Feine 
Analogie in Herbart’d Betrachtungen, Es zeigt fih daher, daß 
wir mit Herbart’s- Prämiffen gar nicht auskommen. Sein Auss 
druck: Zufammen fol offenbar gleichzeitig zwei ganz verfchiedene 
Forderungen erfüllen. Erftens foll er bedeuten jenen allgemeinen 
Begriff der Zufammengehörigfeit überhaupt, durch weldye die Dun= 
litaͤten zweier Realen in die Beziehung gefegt find, vermöge deren 
fie den ganzen Grund einer Folge ausmachen, und ſich nicht mehr 
gleichgiltig verhalten können; zweitens aber foll der nämliche Aus⸗— 
druck auch jenes fpecifiiche, veränderliche Verhältniß zwifchen bei- 
den bezeichnen, Durch welches der Widerfpruch des Entgegengeſetz⸗ 
ten bald zur Aufhebung wie in der Addition, bald zur Erzeugung 
eines andern Reſultats, wie in der Multiplication, führen muß. 
Eine Lehre von dieſen fpecififhen Verhältniffen gibt Herbart 
‚nit; fein Zufammen ift das der Addition, oder vielmehr, es 
it in dieſem Worte eine ganze weitläufige Unterfuchung nieders 
gefchlagen. Wir werden fpäter noch fehen, zu welchen verberb- 
lien Folgen diefe nicht hier allein zu beobacdhtende Gewohnheit 
Herbart’s führt, bildliche Ausdrücke, die freilich dem gewöhn- 


v 
\ 


222 | Lotze, 


lichen Verſtande ſehr eingänglich ſind, anſtatt der ſtrengen ab⸗ 
ſtracten Begriffe einzuführen, welche fie bezeichnen ſollen. 

Hieran ſchließt fi) Herbart's Degriff der Urſache. Es ges 
hört ohne Zweifel zu Herbart's größten Verdienſten, die alten 
Anfichten über die causa transiens und immmanens berichtigt und 
den ganzen Proceß der Laufalität auf das Zufammen mehrere 
Wefen zurücgeführt zu haben. Allein diefe Verbefferung ift nit 
vollſtändig. Wenn Herbart (Metaph. I. ©. 177) fagt, die Cauſa⸗ 
lität folge unmittelbar aus dem Gegenfage zwifchen den Weſen, 
und werde daher durch Vorausſetzung des Zufammen fogleid 
nothmwendig, ohne noch als Komplement zur Wirklichkeit auf einen 
Impuls befonderer Wirfungsvermögen zu warten, fo ift ein Theil 
dieſes Satzes tautologifch, der andere unmotivirt. Aus dem Ge 
genfaße folgt nur unter der Borausfegung allgemeiner Gelee 
(unter welchen dieß, Daß Entgegengefegtes fi) unter gewiſſen Der 
dingungen aufheben müffe, nur eins ift) die Nothwendigfeit eined 
Erfolgs überhaupt, und .infofern die Nothwendigfeit der Caufaluät 
überhaupt. Allein Caufalität überhaupt kann nie flattfinden, ſon⸗ 
dern beftimmte Saufalitätz diefe aber, der. beftimmte Erfolg, fehl, 
wie oben angegeben, immer noch fperiellere Berhältniffe des Eu 
gegengefesten, als fein bloßes Entgegengefegtfein voraus. Was 
aber das Andere betrifft, daß unter Borausfegung des Zufammen 
die Saufalität nothwendig fei, fo ift dieß tautologifch; denn Zw 
fammenfein heißt eben in der Verknüpfung oder Beziehung fteben, 
durch welche Gaufalität bedingt wird, 

Wenn wir nun nad) der Erledigung biefer zwei erften Fra 
gen das Geſammte überbliden und die dritte Frage betrachten, 
ob nicht felbft unter Vorausſetzung der Richtigkeit jener Benupung 
des Begriffs von zufälligen Anfichten doch dieß Alles nod auf 
eine andere Ergänzung hinweist, fo werben wir biefe Trage jet 
bejahen müffen. So wie e8 allgemeine Gefege geben mußte, nad 
denen einzelne Qualitäten die abjolute Pofttion erhielten und mu 
eben dadurch als reale Wefen figurirten, fo muß es überhaupt 
allgemeine Gefete geben, nach denen aus zwei Datis Etwas folgt, 
und es gibt überhaupt gerade fo viel Cauſalität in der Welt, ald 


Herbarts Dntologie. 223 


ver Sinn und die Bedeutung der Welt möglich macht, welcher _ 
angemeffen jene Gefege zu denfen find. Nirgendd werden wir 
gefördert, wenn wir alle Caufalität auf biefen einen Fall bes 
Gegenfages zurückführen und etwa Hagen, daß ein poſitiv befehlens 
des Gefeß: aus a und b folle überall c folgen, und den Mes 
chanismus nicht fehen Taffe, durch den diefe Folge hervorgebracht 
wird. Wer foldhe Fragen nach der Mafchinerie eines Gefeges 
aufwirft, muß feine Bedenken auch gegen jenes Geſetz der Aufs 
bebung des Entgegengefegten richten, welches nur Eins neben 
andern iftz er wird auch bier fragen müffen, wie a und non-a 
es anfangen, ſich zu wiberftreiten oder ſich aufzuheben. 

Ohne indeffen bier weitere Confequenzen aus dem Vorigen 
zu zichen, gehen wir jet zur Auflöfung des Problems der ns 
bärenz über, um deren willen alle vorhergehende Annahmen von 
Herbart gemacht worden waren. Aus dem Gegenfage eihzelner 
Beftimmungen in den zufälligen Anfichten zweier Wefen würde 
die Aufhebung derfelben hervorgehen, wenn bie zufälligen Anſich— 
ten eben mehr als zufällige, wenn fie wefentliche Anfichten des 
Wefens wären. Allein jedes Wefen ift einfach, und an feiner ein⸗ 
fachen, mit fih überall identifchen Dualität darf Nichts verändert 
werben. Aber fo gefchieht ja gar Nichts; Alles bleibt ja, wie es 
it! Wie Fann denn da Etwas gefchehn, wo dad Neale Tediglich 
ſich felbft gleich bleibt? Diefe Fragen legt Herbart feinen Gegnern 
in den Mund und fügt hinzu: fo ſpricht man, weil man mit vol- 
fen Segeln in den Abgrund hineinfahren will, den man vermei- 
den fol. Allein ein fo Iebhaftes Bewußtfein der Kraft, jenen 
Borwürfen gegenüber beftehen zu können, diefe Worte auch ver- 
rathen mögen, fo fann ich doc den Einwurf nicht aufgeben, obs 
gleich er von Herbart gewiffermaßen im Voraus zum Schweigen 
verurtheilt wird. Denn was ift Die Duelle des Kortfchritts, Die 
Herbart eröffnet? Er fagt (II. S. 175): Das wirkliche Gefchehen 
ift nichts Anderes, als ein Beftehen wider eine Negation; A ers 
halt fih als A und B al8 B. Jede diefer Selbfterhaltungen 
denfen wir durch eine Doppelte Negation, bie unftreitig der 
Affirmation deffen, was diefes Wefen an fi if, 


224 Lotze, 


völlig gleich gilt. Allein dieſe Doppelte Negation iſt dennoch 
unendlich vieler Unterfchiebe fähig. Geſetzt, mit A=a«a-+-Pß-+7r 
fei zufammen B=p-+ q — 43 fo wirb auch jebt A ſich ſelbſt 
erhalten, aber nunmehr wird nicht 7, fondern 4 die Art und 
Weife beftimmen, wie es fih erhält. — Sp weit Herbartz fo 
bald wir ihm dieß zugeftehn, werden wir auch den größten Theil 
feiner Philofophie, namentlich feiner Pfychologie, zugeftanden haben. 
Allein vor allen Dingen fragt ed fid), woher denn plöslich diefe 
Mannichfaltigkeit der Arten und Weifen fomme, die hier der 
Selbfterhaltung zugefchrieben wird? Was ift Selbfterhaltung? 
Legen wir diefe Frage einem unbefangenen Lejer vor, fo würde 
er den Prineipien des Syſtems gemäß nichts Anderes antworten 
fönnen, als: fie ift Die ungehinderte, ungeftörte Fortexiſtenz beffen, 
was einmal abfolut gefest if. Wenn auch wir, Die denkenden 
Subjecte, in der theoretifhen Erwartung, daß das Entgegengefebte 
in den Qualitäten zweier Weſen in ihnen eine Störung hervor 
bringen würde, einen Augenblid in unferer abjoluten Poſition 
geſchwankt, dieſe auffeimende Negation aber augenblicklich durch 
die Abſolutheit der frühern Poſition unterdrückt haben, ſo iſt doch 
dieſe Negation der Negation nur ein theoretiſcher Umweg ge⸗ 
weſen. In dem Seienden ſelbſt iſt weder die erſte Negation ein⸗ 
getreten, noch hat es nöthig gehabt, dieſelbe zu negiren; es iſt 
ſtehn geblieben, und die ſcheinbare doppelte Negation 
gilt der Affirmation deſſen, was das Weſen an ſich 
ift, völlig glei. Iſt dies nun fo, und ich weiß nicht, wie 
es nad) Herbartd eignen Worten anders fein könnte, fo ift es 
Pflicht, für den bildlichen Ausdrud Selbfterhaltung, der ung hier 
die Borftellung einer feheinbaren Widerſtandskraft vorfpiegels 
fönnte, ebenfo den Ausdruck Eriftenz zu feben, wie wir in anders 
Fällen die nur fcheinbaren wirkenden Kräfte von Herbart vermieden 
fehen. Heißt aber Sichfelbfterhalten Nichts anders, als abfolut und 
ungehindert fein, während einer Negation (indem wir beim 
“ Worte wider eine Negation, welches ſchon eine thätige Widet⸗ 
ſtandskraft mit ſich fchleppt, den zeitlichen Ausdruck fubftituiren, 
ber und nur das Zufammen beider Beftimmungen andeutet) ; ſo 


Herbartd Ontologie. | 225 


Tann dieſes Sein gewiß Feine „verfchiebenen Arten und Weifen 
haben, fondern es ift ſchlechthin einfach und jederzeit ſich felbft 
gleich. Allein wenn diefe Bedeutung der Selbfterhaltung auch die 
einzige ift, bie einem einfachen Wefen zukommen fann, das, ein« 
mal abfolut gefeßt, gar nichts weiter zur Aufrechterhaltung dieſer 
Pofition zu thun bat, da fie ohnehin nicht fallen kann, fo kann es 
hoch Feineswegs ber einzige Sinn fein, den ihr Herbart gegeben 
bat. Offenbar fpielt auch die andre Bedeutung des Worts, in 
der e8 lange vor Herbart ein Gemeingut der Wiffenfchaft, na⸗ 
mentlich der Phyfiologie war, mit hinein, und ſich felbft erhalten, 
heißt eine Thätigfeit, eine Anftrengung, überhaupt ein Gefchehen 
entwideln, durch welches das Seiende ſich gegen bie Störung 
wehrt. Bei der Eutwidlung folcher Anftrengung fann es fi in 
fehr vielfältigen Danieren benehmen, und diefer Art von Selbfls 
erhaltung kommen natürlich viele Arten und Weifen zu Es ift 
aber Har, daß grade fie niemals einem einfachen Wefen zuges 
ſchrieben werben fann, fondern daß fie innere Organifation vor- 
ausſetzt; fie ift Daher in der Phyfiologie bei der Lehre von einem 
"Körper an ihrem Plage, der feine beftimmt eingerichteten Fritifchen 
Mechanismen hat; fie läßt ſich auch auf die Seele anwenden, 
fobald wir in diefer mehr als bloß ein Wefen von einer einfachen 
Dualität erbliden ; nur auf ſolche einfache Wefen ift fie ſchlechthin 
unanwenbbar. 

Entweder alfo das Sciende ift abfolut gefest; dann fann es 
nicht geftört werden und hat gar fein Motiv zur Selbfterhaltung, 
fondern es eriftirt ruhig und genau auf die nämliche Weife fort. 
Sol aber Selbſterhaltung verfchiedene Weifen haben, fo muß fie 
eine varirbare That des Seienden fein, welches zwar geftört 
werden Tann, aber nicht darf, und daher wie jeder Organismus 
mit einer Auswahl von Schugmitteln verfehen iſt; Selbfterhal- 
tung in biefem Sinne ift nie möglich, ohne der Störung wenig- 
ſtens ein Differential wirklichen Einfluffes zuzufchreiben. (Die 
Weſen drücken einander, ©. 170.) Im erften Falle kommen 
wir zu feinem Gefchehen, im zweiten haben wir eine Mannichfal- 
tigfeit im Seienden. Nun fagt Herbart allervings felbft, alle 

Seitſchriſt f. Philoſ. u. fpet. Theol. XI. Band. 15 


v 


226 Lotze, | 


Mannichfaltigfeit, welche darin liege, daB A fich entweder gegen 
B, oder C oder D felbfterhalte, verfchwindet fogleich mit dem 
Gefchehen felhfl, wenn man aufs Seiende, wie es an ſich iR, u 
rüdgeht; es ift immer A, das fich ſelbſt erhält, ober erhalten 
wird. Diefe Worte find mir dunkel, denn es fcheint nach ihnen 
gar in Frage zu fommen, ob die Selbfterhaltung wirklich erifit 
und nicht felbft eine zufällige Anficht von der einfachen Fortexiſte 
des Nealen ifl. Dann wäre es fchwierig, die Gründe einer ſel⸗ 
chen Anficht zu finden. 

Ich Tann nach diefen Bemerkungen nur mit der Behauptung 
fchließen, daß der gefammte Apparat der zufälligen Anfichten u 
Selbfterhaltungen, fo geiftreich und anregend alle diefe Gedanken 
auch find, doch vergeblich aufgeboten worden ift, und daß wir 
wirflich, wenn wir an einer einfachen und firengen Bedeutung der 
Begriffe fefthalten, nur zu einem flarren, unveränderlichen Gele, 
nicht aber dazu fommen, aus diefem den Schein des Gefchehens 
zu erflären. Ich habe jest nur noch eine Bemerfung hinzu 
fügen bei Gelegenheit des analogen Problems der Veränderung 
Nehmen wir mit Herbart an, daß fie auf dem Wechfel des Ju 
fammen der Wefen beruhe, fo läßt' ſich doch Hieraus nicht jewer 
Unterfchied von Subftanz und Urfache fo einfach herleiten, wie 
Herbart es angibt. Um die Veränderung zu erklären, muß nah 
ihm fo oft eine Reihe von zufammenfeienden Wefen angenommen 
werden, al8 Eigenfchaften des Beränderlichen nach dem Probleme 
der Inhärenz zu deuten find. So oft.die Eigenfchaften wechſeln, 
ift auch diefe Conftruction zu ändern; dabei aber darf dann nit 
eine Zerfplitterung vorgehn, wobei bie Einheit des gegebenen Dings 
ſich zertheilte, fondern damit den Anforderungen des Gegebenen 
genügt werde, welche verlangen, daß Eins aus dem Anden 
werde, muß der Anfangspunft aller dieſer vielfältigen Heihen um 
Einer fein. Er ift der Mittelpunkt aller der Gruppen von New 
Yen, die da fommen und gehn, und verfchiedene Eigenfchaften «m 
ihm begründen oder wieder verfchwinden laſſen. Diefe Intenkon 
ift ganz richtig, aber die Eonftruction entfpricht der Aufgabe nicht 
Das Werden des Folgenden aus dem Erfien würde wegfallen 


Herbarts Ontologie, 227 


fagt Herbart, wenn bie beiden Complerionen auf einander folgten: 
Abc, mpg. Diefe hingen nicht zufammen; der Faden bes Zufams 
menhangs liegt in den Merkmalen, die gleich bleiben. Dieß iff 
vollkommen richtig, aber die Conftruction garantirt ung nicht, daß 
irgend ein Merkmal gleich bleibe. Es feien zuerft die Reihen 
gegeben A, B,C,D, Abcd, A  y d, deren gemeinfames 
Glied A eben deßwegen vorzugsweis bie Subftanz heiße, und die 
erfie Reihe fei die Urfache des Merkmals a, die zweite die von b, 
bie Dritte die von c, bie gegebene Merkmalcomplerion alfo abc, 
Es trete für die verfhwindende dritte Reihe die neue ein: A,p,g,r. 
Voraus wiſſen wir nun, daß A, welches früher im Wechfelver- 
Hältuiß mit den beiden erften Reihen die Merkmale a b hervor- 
‚brachte, durch das Eintreten der neuen Reihe nicht Davon abges 
Balten wird, fondern nur ein neued Merkmal p ftatt des ver- 
fhwundenen c erhält? Dafür wird uns dur Nichts Gewähr 
geleiftet; Die Selbfterhaltung, die Durch bie neue dritte Reihe von 
A erzwungen wirb, warum follte fie immer von der Art fein, 
daß fie die Selbfterhaltungen gegen bie erfte und zweite Reihe 
gar nicht ftörte, fondern fich friedlich ihnen bloß beigefelltet Es 
. ER dieß jedenfalls eine ungerecdhtfertigte Behauptung, und die bloße 
Gegenwart eines gemeinfchaftlihen Gliedes in allen Reihen reicht 
gar nicht hin, um die allmählichen Uebergänge der Veränderung 
- gu erklären, fondern mit dem Eintritt jeder neuen Reihe kann bie 
Gefammtfumme aller Refultate fih ändern. 

Diefe Ausftellung mag minutiög fcheinen; fie iſt ed aber nicht, 
wenn wir die Anhänglichfeit Herbarts an das. Gegebene fennen, 
und den wenigen Werth, den er auf Entwicklungen legt, welde 
bie Forderungen unbefriedigt Iaffen, die zu ihrer Erklärung die 
Thatfachen der Beobachtung machen. Es ift daher wichtig, wenn 
an biefem enticheidenden Punkte Herbarts Prämifien nicht bis an das 
Gegebene zurüdreichen. Kein Problem ift in der Gefchichte der Phi⸗ 
loſophie fo celebrirt, als das des Beftändigen im Wechfel; aber fo 
wie eine von allem Anfang an zu Grunde liegende Subftanz ſich 
ungenügend zur Löfung der Frage bewies, fo ift hier ungenügend 
diefe Bildung der Subſtanz felbft, oder diefe Veränderung ihres 

15 * 


— 


#* 

228 Lotze, 

Begriffs, nach der ſie nicht mehr im Wechſel ihrer Attribute ſich 
erhält, fondern nur eine gleiche iſt in der wechſelnden Zuſammen⸗ 
faſſung vieler. Folgen wir den Antrieben dieſer Zweifel, um zu 
fehn, wohin fie führen, fo würden wir der Annahme jenes ge- 
meinfchaftlichen Mittelglieded mehrerer Reihen noch die nähen 
Beſtimmung hinzuzufügen haben, daß feine Gemeinfchaft mit einer 
Reihe nie die Refultate berührt oder fört, Die aus feinem Zuſan⸗ 
men mit andern Reihen hervorgehen; eine Konſequenz, bie Her 
bart ſchwerlich gezogen haben würde, wenn wir bedenfen, wie et 
in der Pſychologie darauf befteht, daß vermöge der Einheit des 
Seelenwefens alle verfchiedenen Selbfterhaltungen, die Borftellme- 
gen, in Eine zufammenfließen würden, wenn fie nicht Durch ihren 
Gegenfag daran gehindert würben. Gründer fi) nicht die game 
Pſychologie auf diefen gegenfeitigen Einfluß mehrerer Selbſterhal⸗ 
tungen, der bei der obigen Bildung bes Subftanzbegriffs nicht mi 
in Rechnung gezogen worden ift? Geben wir aber die erwähnte 
nähere Beftimmung zu, fo führt fie weiter. Nichts hindert, def 
nicht überhaupt die Gemeinſchaft aller jener Weſen fich auflös, 
fo lange fie ihnen zufällig if. Wollen wir daher wirklich nid 
nur die coneatenirten Complexionen erklären, in denen zwar mit 
fprungweis, wohl aber am Ende alles neu wird, indem bie älteren 
Wefen nur fo lange bleiben, bie die neuen in der Complexien 
einheimifch geworden find, jondern wollen wir aud den Fall ke 
achten, wo eine Gruppe von Eigenfchaften beftändig und burd 
alle Verwandlungen der übrigen hindurch fi) erhält, fo werben 
wir vorausfegen müffen, daß es gewiſſe Reihen von Weſen gehe, 
die nie aus ihrem Zufammen heraustreten. Es wirb dann gam 
die nämliche Schwierigfeit eintreten, Die umgangen werden folk, 
. nämlich der Unterfchied wefentlicher und zufälliger Eigenfchaften. 
Da nun jedem realen Wefen das Zufammen mit andern gas 
zufällig ift, fo Tann die Teftigfeit jener befländigen Complerien 
nicht aus der Onalität der zufammengefaßten Weſen hervorgehe; 
fie muß einen andern Grund haben, der nirgends liegen kam, 
als in einem Gefete, das um des zu realifirenden Simes br 
Erſcheinungen willen grabe biefe Complexion als befländige Grund 





2 
Herbarts Ontologie. 229 
lage bes Geſchehens fordert, eine andre ausfchlicht. Ueberall drängt 
fi) diefer Gedanfe der Gefege zu; und es iſt nirgends möglich, durch 
eine Welt von einfachen Wefen, denen alles Zufammen oder Nichts 
sufammen zufällig -ift, an das. Gegebene heranzureichen. Alles 
Gegebene ftellt zwei Fragen: durch welche Mittel bin ich vealifirt 
" worden, und warum bin ich fo, wie ich bin? Beide ragen vers 
‚langen von ber Metaphyfit die Principien ihrer Aufflärung und 
man wird niemals die Wirkfamfeit der Mittel begreifen können, 
wenn man das Reale nur als bie Stifte anfieht, durch die bie 
Erfcheinung an einen feiten Hintergrund angeheftet wird, 
Ich habe in dem Borigen die Einwürfe zuſammengefaßt, bie 
fi mir im Einzelnen gegen Herbart’d Ontologie aufbrängten und 
babe nun nur noch in einigen Bemerkungen fertzufahren, die am 
Kingange biefer Zeilen gemacht wurden. Es war dort die Frage 
aufgeworfen worden, ob es fich nicht mit dieſen Grundbegriffen 
ber Ontologie fo verhalte, wie mit denen der Naturphiloſophie, 
nämlich den Begriffen der Materie und der Kraft, die, fo wie 
fie find, immer nur metaphyſiſche Illuſionen find, aber nothwen⸗ 
dige, ohne deren Gebrauch eine Ausbildung der Wiſſenſchaft nicht 
zu denken if. Ich möchte jegt dieſe Frage in gewiſſem Sinne bes 
jahen. Die atomiftifchen Lehren hängen fo fehr mit den Neiguns 
gen des menſchlichen Berftandes zuſammen, dag man daraus nicht 
blos auf eine Faulheit des Denkens fchließen Tann, bie das idea⸗ 
liſtiſche Continuum nicht feſtzuhalten vermöchte, fondern auf bie 

Dermuthung, auch hier eine wirklich metapbyfifche Illuſion zu ſehen, 
dingeführt wird, 

- Was Herbart objektiven Schein nennt, das ift zwar nod 
fehr verſchieden von dem, was ich nothwendige metaphufifche Illu⸗ 
fionen nenne; allein es kommt auf dieſen, fpäter cinmal zu bes 
rührenden Unterfchied, hier wenig an, und fo kann ic) meine Mei⸗ 
nung furz dahin ausdrüden, daß ich Herbarr’s fcheinbares Ges 
fhehen eben für das wirkliche, fein Seiendes dagegen für einen 
objektiven Schein erfläre, der ſich nothwendig in bem Geifte jedes 
Beobachters der Dinge erzeugt, und allerdings niemals der Wiſ— 
fenfchaft entbehrlich fein wird, So wenig ald Raum und Zeit 


Zu 
250 Lotze, 
von unſerer Auffaſſung der Dinge abgehalten werden können, fo 
wenig jener Begriff eines atomiftifchen, einzig auf fi; beruhenden 
Realen; aber fo wie der Metaphyfifer jene Anfhauungen in ihrer 
Entfernung vom wahren Sein und dem wirflichen Geſchehen 
darſtellt, fo hat er auch die Entfernung dieſes Seienden von dem | 
wahrhaften Sein aufzuzeigen. ! 
Ueberbliden wir den Inhalt ber Ontologie, den wir jen 
durchgegangen haben, und werfen wir im Voraus einen Blick anf 
die Synechologie, die ung lehrt, daß alle räumliche und zeitlie 
Ordnung, fo wie die Bewegung, dem wahrhaft Seienden gleide 
giltig, uns aber gegeben ift, fo entwidelt ſich daraus das 
Zugeftändniß von felbft: das Geſchehene ift dem Seienden fremb, 
und wir reichen mit dem Begriff des Seienden gar nicht bie 5 
dem Gegebenen hinan, aus beffen Scheine wir body eben eim 
Hindeutung auf jenes Sein herleiteten. Sp viel Schein, fo wid 
Hindeutung auf Sein, fagt Herbart fehr richtig. Diefer Aus 
ſpruch läßt fi aber in zwei zerfpalten: fo viel ſcheinbare Dw 
lität und fcheinbare Dinge, fo viel Hindeutung auf reale Weſen 
und ihre wahrhaften Qualitäten; dann aber: wie viel gegebene 
Relationen zwifchen dem Scheine, fo viel Hindeutung auf Rela⸗ 
tionen zwifchen dem Seienden. Nun mag es immerhin fein, def 
das Seiende gegen alle diefe Relationen fo gleichgiltig if, wi 
ed Herbart andeutet, indem er einen intuitiven Verftand zwar die 
©egenfäge in den wahren Qualitäten anſchauen, damit aber dog 
Nichts erkennen läßt, was ein Prädicat eines dieſer Wefen wäre; 
allein je gleichgiltiger Die Wefen ihren Relationen find, deſto mehr 
hängt der wirkliche Thatbeftand des Gegebenen natürlich von bie 
fen Relationen felbft ab, und die Seienden werben nur die noff 
wendigen Beziehungspunfte für fie; ein nothwendiges metapfy 
fifches Uebel, das da fein muß, wenn es zur Verwirklichung 
irgend einer Erſcheinung fommen fol, in fich felbft aber gar fein 
Princip zur Hervorbringung des Gegebenen hat. Nun Tann alle 
dings Jemand, wie die Eleaten dieſes zuerft eingeführt haben, 
biefen flarren Begriff des bloßen Seins fo hoch halten, daß er, 
von aller Relation, aller Beziehung frei, in reiner Selbftgenügfam 


Herbart3 Ontologie. 254 


- Seit erhalten werden müfle, alle Ericheinung und alles beftimmte 
Gefchehen dagegen ale eine parafitiiche Lururiation an ihm herz 
vorfeime,, bloß bedingt durch einen Concurs zufälliger Umftände, 
bie um bes wahrhaft Seienden willen recht gut auch hätten an⸗ 

ders fein Tönnen. Allein in eben dem Maße entfernen wir ung 

k auch überall vom Gegebenen, und es erfolgt nothwendig die Um⸗ 
kehrung ber Begriffe, nad) der die eleatifchen Principien bes Scheing, 
Herbarts Relationen, die dem Seienden gleichgiltig find, grade zu 
dem Princip der Erklärung des Gegebenen, die Welt des wahre ⸗ 
haften Seins dagegen zu einer Reihe unbrauchbarer Abftractionen 
wird. Nirgend fo fehr, als in diefer ©leichgiltigfeit des Seien, 
den gegen feine Zufammenfaflungsweifen, Tann man ein Motiv 
finden, eben diefe Zufammenfaffungsweifen ald eine zweite große 
Gruppe ber Unterfuchungsgegenftände für die Metaphyſik anzus 
ſehn, vollkommen parallel jener Gruppe von Gedanfen über das 

— Seiende felbft, die den Inhalt von Herbart's Ontologie bilden. 
Sp wie wir bereits an einzelnen Stellen auf biefe Unterfuchung 
der Geſetze hingewiefen haben, ohne welche das Alles nicht gelei= " 
let werden kann, was Herbart in der Ontologie fordert, müſſen 
wir es jest noch einmal im Allgemeinen wiederholen. Wenn nicht 
jede Qualität die abfolute Pofition verträgt, fo verträgt auch nicht 
jede im willführlichen Denfen mögliche Zufammenfaflung der Rea⸗ 
Yen diefe Pofition, ein objectives, wirkliches Verhältniß zwiſchen 
dem Wirflichen zu fein, und wie gleichgiltig auch jedes Reale 
gegen feine Relationen fein möge, fo ift nicht gleichgiltig gegen 
fie dee Sinn der Welt, fondern von biefem find fie in gewiſſe 
Grenzen eingefchloffen, durch welche fie das Gegebene hervor⸗ 
bringen. 

Ich komme hier auf die im Eingange vorerwähnten Gedanfen 
urüd, die bier nur eine kurze Erwähnung finden mögen. Der 
Borwinf, Ethil mit Metaphyſik zu vermifchen, wird mir nicht 
afpart werben, wenn bie letztvorhergegangnen Zeilen gelefen find. 
Ich mag ihm gar nicht ausweichen, denn wenn auch Herbart 
biefen Vorwurf mit fo lebhaften Ausbrüden mehreren Syftemen 
gemacht hat, grade ald ob er Recht hätte, fo gründet ſich doch 


232 - Lotze, 

feine Polemik ebenſo nur auf eine ihm unwiderleglich gewordene 
Evidenz, wie ſich meine Forderung, Metaphyſik nie ohne Rückſicht 
auf das, was im allgemeinften Sinne Ethif heißen Tann, zu bear 
beiten, auch auf eine ſolche Evidenz gründet. Ein fo herber md 
sollfommen unerträglicher Widerfpruch für Herbart darin Iiegt, 
daß Eines zugleih ES felbft und ein Anderes fein fol, ein eben 
fo großer liegt für mich darin, daß ein Seiendes fchlechthin eris 
fire, in Relationen, bie ihm ganz gleichgiltig find, von denen aber 
Doch zulegt die Geftalt des Gegebenen abhängen. fol. Da wir 
aber nie weiter Tommen würden, wenn Sjeder feine Evidenzen 
wiederholen wollte, jo habe ich es verfucht, an Herbarts eigener 
Entwicklung und aus feinen Datis heraus die Ueberzeugung p 
begründen, daß jede Welt einer flarren relationslofen Realität, 
wenn man fie auch annehmen und bochhalten will, doch nie m 
. dem Gegebenen zurüdführt, und daß man daher neben jenem Kreife 
ganz willführlicher Gedanken die Arbeit noch einmal beginnen maß, 
um aus Gefegen und Relationen zu entwideln, was aus brm 
Seienden nicht abzuleiten ftand. Eben dadurch wird das Seine 
dDiefer Art herabgefegt zu der Reihe von Beziehungspunften fir 
allgemeine Gefege, und in der That ift diefer Begriff des Sein 
den wohl ebenfo fehr in der Sinnesart der Menfchen begründe, 
ald der Herbartd. Wenn wir fragen, was den Erfcheinunge, 
was dem Gegebenen zu Grunde liegt, fo fragen wir nicht bles 
nad einem Halt, ber der Erfcheinung Feftigfeit gebe, benn mar 
wüßte nicht, warum fie Diefe nicht von felbft haben follte; ſonden 
wir fragen zuerft nach dem Geſetze, das in den Erfcheinungen fd 
erhält, und auf viel engere Weife jenen Zufammenhang hervor⸗ 
bringt, der durch das Seiende bewirkt werben follte. Allein jet 
Idee, die in den Erfcheinungen fich repräfentirt, muß, ba fie al 
ber Zweck derfelben zu betrachten ift, nothwendig auch Mittel ihre 
Realifation haben; fie fegt Urfachen voraus, und diefe wiederum 
Gründe, nad) denen ihnen ihre Wirkſamkeit zulommt. Was mm 
aber, durch feftflehende Gefege der Welt bebingt, in dem Wechfel 
der Erfcheinungen ſich gleichbleibt, oder in regelmäßigen Npyihmen 
wieberfehrt, Das nimmt für ung den objectiven Schein eines ſeien⸗ 





Herbarts Ontologie. . : 2333 


den Dinges an, und gibt uns die Illuſion, als würde es durch 
einen unvertilgbaren Punkt der Realitaͤt, der in ihm ſelbſt laͤge, 
fortwährend in der Reihe des Exiſtirenden feſtgehalten. In der 
That aber liegt Nichts der Art in ihm, ſondern es iſt ber gleich 
farfe und gewaltige Arm ewiger. Gefege, der eine beftimmte Er⸗ 
fheinung fortwährend aufrecht erhält und fie im Wechfel anderer 
bewahrt. Nur darin beftebt die abfolute Pofitipn, fie fommt dem 
zu, das um feines Inhalts willen fein foll, und das Sein, dag 
auf dieſe Weife gehalten wird, ift nicht im mindeſten wandelbarer, 
als jene motivloſe, abfolute Poſition, aus der das Heer der gleich« 
giltigen einfachen Wefen hervorgegangen ifl. Die Realität, "die 
wir fuchen, iſt nicht Die des Stoffes, fondern bie der Wahrheit. . 
Doch genug jegt von Anfichten, deren weitere Beleuchtung 
bier wenig Frucht bringen kann. Das Gefagte reicht hin, um 
das Berhältniß unferer Einwendungen gegen Herbart zu ben erwaͤhn⸗ 
ten Anfichten feftzuftellen, Blicken wir nämlich auf das Vorige 
gurüf, fo war ſchon der Begriff des realen Wefens mit feiner 
einfachen Dualität den Forderungen der abfoluten Pofition widers 
fprecyend; eine Dualität konnte biefe Pofition nicht von felbft er⸗ 
langen, fondern nur, wenn nad) dem Gebote eines allgemeinen 
Geſetzes grade fie wirklich fein mußte, um dem Geſetze felbft ale 

Angriffspunft zu dienen. Das Seiende war alfo der vom Geifte 
nothwendig zu dem Geſetze hinzugedachte Beziehungspunft. Nichts 
ging ferner aus den zufälligen Anfichten in der That hervor; nie 
fonnten Die Qualitäten zweier Seienden gn und für ſich eine Folge 
begründen, ohne daß ihnen dieſe Fähigkeit nach einem allgemeinen 
Geſetz zukam, wäre es auch nur dieſes ungenaue geweſen, daß 
alles Entgegengeſetzte fh aufheben. müſſe. Nicht endlich konnte 
der Schein der Subftanz durch das bloße Vorhandenfein eines 
gleihen Anfangsgliedse in den Reihen combinirter Nealen con« 
Rruirt werben, bie ber Veränderung zu Grunde gelegt wurden, 
ſondern auch dieſe Erflärung machte allgemeine Gefege unum⸗ 
gänglich nothwendig. Ich glaube daher nachgeiwiefen zu haben, 
daß Herbarts Entwicklungen nicht fortgehen ohne die verſchwiegene 


254 | Lose, Herbarts Ontologie. 


Mikwirtung von Gedanken, bie er, ald des Rominalismus ver» 
daͤchtig, auf Iangen Umwegen fruchtlos zu vermeiden geftrebt hat. 

Möchten diefen Bemerkungen, bie ohne Gunft und Ungunſt 
zur Bertheibigung einer ald wahr erkannten. Anſicht vorgetragen 
worden find, von anderer Seite die Erläuterungen entgegenges 
ftellt werben, bie geeignet find, Herbart von den Einwürfen zu 
befreien, die ich ihm machen zu müflen glaube. Wie die Anhän⸗ 
gerihaft an einen großen Meiſter der Wiffenfchaft oft einfeitige 
Berblendung, fo bringt fie Dagegen auch noch öfter eine Gewöhs 
nung und Orientirung ber Anfichten hervor, die Vieles in anderem 
und wahrerem Zufammenbange erfcheinen läßt, als es ber fieht, 
der, obwohl voll Anerkennung der geiftigen Bedeutung einer Lehre, 
fih doch von vorn herein durch ihre Prineipien abgefoßen und 
son der Erlangung jener vollfommen häuslichen Eingewöhnung 
abgehalten fühlt. In diefem Sinne fol es mir erfreulich fein,” 
der Irrthümer in meiner Anfiht von Herbarts Gedanken über= 
führt zu werden, deren Möglichkeit ich nicht im Mindeften in 
Abrede Felle, 














Ueber ben 
Begriff Gottes, als Princip der Philoſophie, 
mit 
NRüffiht auf das Hegelfhe und NReu⸗Schelling'ſche Syftem. 
Bon | | 
Dr. J. U. Wirth, 


Stadtpfarrer zu Winnenden. 


Das uranfänglihe Gefühl, bie erſte Form und Quelle der 
Religion, iſt ein Sich-felbfisfinden- wollen in einem Unbebingten. 
Der Geift ift eine unendliche Einzelheit in der Form der Indivi⸗ 
bualität. Dieß find die zwei an ſich zwar vereinbaren, aber in 
gewiſſer Beziehung bisparaten Elemente feiner Perfönlichkeit. Als 
ſolche treten fie hervor und bilden ben Zwiſt feines Lebens, wel⸗ 
her ihn nöthigt, in einem Unbedingten die Löfung zu fuchen. 

Sol dieſes Unbedingte jenen Zwift zu Iöfen vermögen, fo 
muß es an fich felbft von ihm frei fein. As folhes vermag es 
nicht das reine Unendliche, biefes als ein Abfiractum bes 
tradhtet, zu fein. An und für ſich ift das Unenblidhe, rein als 
fokhes, außerhalb des Gegenſatzes; allein das reine Unendliche iſt 
nur bie DBerneinung, nicht bie Loͤſung jened Zwiſtes. Gerade 
aber durch dieſe Verneinung wird im Leben des Geifles jener 
Zwift vielmehr hervorgerufen. Denn in demfelben will ſich das 
Unendlihe nit als das Bejahende bes relativen Seins her⸗ 
geben; es zeigt fich immer. nur als bie verneinende Macht des 
letzteren; es will fich nicht feffeln laffen, um mitten im Enblichen 
ein pofitives Element bes Lebens zu werben. Würde daher das 
reine Unendliche als dasjenige. geboten, welches den Zwift ber 
unendlichen Einzelheit und der Individualitaͤt Iöfen foll, fo wuͤrde 
fih Darin diefer Zwiſt vielmehr nur felbft begegnen. 


236 . ®irth, 


Das Unbebingte, als die löfende Potenz des Zwiſtes, muß 
beide Elemente felbft in ſich ſchon gelöst enthalten. Ein foldhes 
it das Ganze der relativen Unenblichfeiten, deren Wechfelwir- 
Eung fich hiemit zum vollen Unbedingten zu vervollftändigen ſcheint. 
Es ift auch Feine Frage, daß diefes Ganze, lange Zeit her das 
einzige Unbebdingte, welches die Philofophie gefannt hat, den Zwiſt 
zu löfen vermöge; aber bieß nicht, wenn es ald Collectivum ‚ges 
dacht wird. Iſt Das Ganze ein bloßer. Eollectiobegriff, fo ift bie 
individuelle Unendlichkeit mit der Abficht, die fie hat, die Indivi⸗ 
dualität der Unendlichkeit geeinigt zu fehen, nur unendlich außer 
fi felbft hinaus vertiefen. Denn nur- in der vollſtaͤndigen Reihe 
der individuellen Unendlichkeiten vermag bier das Unbedingte dem 
Geiſte fich zum Genuffe zu bieten; eine ſolche Reihe ift aber felbft 
derſelbe Zwift, welcher den Geift umbertreibt, unendlich endlich 
und endlich unendlich zu fein. Nehmen wir aber das Ganze als 
Einheit, als einen fingulären Begriff, dann ift es eine Gotterfüllte 
Welt und vermag allein den Zwift zu löſen; dann aber ift es 
Drganifation eines unenblihen Singulären, 

Und diefes ift das gefuchte Unbedingte. Sich⸗ſelbſt⸗ finden- 
wollen im Unbedingten, dieß haben wir als das Weſen bes res 
Tigiöfen Gefühls bezeichnet. Sich felbft aber vermöchte ber Geiſt 
nicht im-Unbebingten zu finden, wäre dieß nicht ſelbſt ein Selbſt. 
Beflimmter aber. haben wir gefagt, der Zwift, deſſen Löfung zu 
fuchen das Wefen bes religiöfen Gefühle ift, entfpringe aus der 
Divergenz bes Unenblichen und ber Individualität im menfchlichen 
Weſen. Soll daher bag Unbedingte biefen Zwiſt Yöfen, fo muß 
es ſelbſt Einheit des Unendlichen und des Ich, es muß an und 
für fi) feiender Geift fein. Auf ihn weist das veligiöfe Ges 
fühl, ‚ihn ſetzt es felhft voraus. Das rein Unenbliche negirt nur 
‘den Zwiſt, ruft ihn -alfo ‚wieder hervor, das Ganze der relativ 
unendlichen Geifter löst ihn nie ſchlechthin. Das Unbedingte als 
an und für fich feiender Geift ift feine ewige Beſchwichtigung; 
als ſolcher enthält er ewig ben Zwiſt ſchon gelöst; in ihm begeg- 
net ung Das Unendliche als das, was. wir erft erficeben, nehmlich 
als Selbſt. Löfung eines Zwiftes iſt aber zugleich die Einheit 








Ueber den Begriff Gottes, als Princip d. Philofophie. 237 


feiner Elemente, nur als dasjenige, worin die Elemente felbft einzu⸗ 
gehen fireben.und worin fie ihr eigenes Wefen realifirt finden; 
fie ift mit Einem Worte der Zwed des Zwiftes. Folglich muß 
auch das Unbedingte gedacht werden als Zwed bes Zwiftes bes 
Geiſtes; folglich muß es, obgleih an fich oder feinem Wefen 
nach unendliche Einzelheit, doch als die Einheit des Inendlichen 
und der Individualitäten fih bervorbringen. Es muß fomit 
werdende Einheit beider Elemente fein. Denn der Zwed wird 
erft, er ift noch nicht. Ohne etwas Succeffives in Gott wäre er 
daher nicht Object des religiöſen Gefühls. Er würde ohne alle 
Beziehung auf daffelbe, völlig gleichgiltig für den Geift fein. Der 
Geiſt fucht feinen Zwed in Gott und weiß eben damit Gott als 
ſich bervorbringende Thätigfeit feiner Elemente. Darum hat Gott 
nothwendig eine Gefchichte; alle tieferen Religionen, und am mei- 
ſten die chriftlihe, Tennen eine foldhe und nur ein, von der my⸗ 
Reriöfen Duelle der Religion, dem uranfänglichen Gefühle, ‚weit 
ab .verirrtes Denken vermochte Gott zu etwas völfig Ungeſchicht⸗ 
lihem zu machen. 

Sid ſelbſt im Unbedingten finden wollend, haben wir ge⸗ 
fagt, divinirt das veligiöfe Gefühl das Unbedingte als unendliche 
Einzelheit. Aber, festen wir Hinzu, fuchend darin die Löfung fei- 
nes Zwiftes, ahnet ed das Unbedingte als feinen Zwed, d. h. ale 
en Zumal beider Elemente der menfchlichen Perfönlichfeit,. der 
unendlichen Einzelheit und des individuellen, als ein Zumal, wel- 
‚des. fih erſt hervorbringt, jedoch ſicherlich hervorbringt. Dieß 
‚aber vermag das Unbedingte nur zu fein, wenn es Grund jener 
‚beiden Elemente if. An und für ſich unendliche Einzelheit, muß 
es diefe, die Einzelheit, irgendwie felbft firiren gegen bie Unend⸗ 
lichkeit; hierdurch eben: wird die Einzelheit ein bloß relativeg Eing, 
eine endliche Individualität, und fie, die unendliche Einzelheit, 
bricht fih in ihnen, die als endlihe Eins nur in einer unendlichen 
Reihe den. unendlichen Grund barzuftellen- vermögen. Hierdurch 
ſelbſt gebrochen in fich, die: unendlihe inzelheit, und in bie 
individuellen Eins, muß das Unbedingte den Bruch wieder zum 
Ganzen zurüdführen. Dieß aber vermag es nur, indem es den 


% 


238 ‚ Wirth, 

individuellen Eins fi) als unendliche Einzelheit ſelbſt eingeftaltet. 
Hierdurch entfteht ber Geift des Menſchen, das Band zweier Po- . 
tenzen, des Unendlichen felbft und des Endlichen. Es iſt aber 
Har, daß hierdurch erſt ber Zwiſt in feiner ganzen Schärfe, daß 
jest erft jener Zwift entfieht, der das religiöfe. Gefühl aus feiner 
Uranfänglichfeit hervorruft. Wenn daher diefed Gott fucht, fo iR 
e8 nicht der reine Gott an ſich, fondern als Geiſt eines Schr 
reiches, in weichem in taufend Brechungen bie Gottheit ſich fe 
ſchaut und die Individualität ale eine ewige affirmirt wird, oder 
es ift Gott als unendliche Subjectivität, deren vollendete Exiſtenj 
der Kreis der ewigen Genien der Einzelnen ald verfühnter Ein | 
heiten des Unendlichen und Endlichen if. | 

Das ift das Gotterfülte Sein, welches die Sehnſucht des 
Srundes im Geiſte if. Sich felbft will diefer Grund finden in 
dem Unbedingten, — in diefem Grundgefühle liegt, daß das Un 
bedingte unendliche Einzelheit, Subject, aber zugleich Grund einer 
Disjunction feines Seins in die relativen Einheiten und Die uw 
endliche Einzelheit, und- endlich, daß es als Allgeift, als Monade 
bes begeifteten Seins, ſich bervorbringendes Zumal jener Ele 
mente, zugleich Selbft- und Weltzweck fei. | 

Wir verſtehen von hieraus alle Religionen. Weil jenes uw 
anfängliche Gefühl die ganze Gefchichte Durchziehen muß, fo muß 
auch in allen Religionen jener uralte Zwiſt und feine Löſung al 
ein theogoniſcher Prozeß irgendwie vorkommen. 

Die Philofophie aber ift es allein, welche das Iöfende Wort 
über jenes Grundgefühl ausfpricht. Nicht meine ich eine Philo⸗ 
fophie, welche fo abgezogen, fo alles Lebens und aller Tiefe baar 
wäre, daß fie das Unbedingte nur entweder außer dem Negau⸗ 
ven oder als das Negative felbft, als ein bloßes Ja ober al 
das Ieere Nein, als ein bloß affirmatives Weſen ober als ben 
abftracten Proceß felbft zu denken vermöchte, fondern eine Phile 
fophie, bie frei ift von biefen Dilemmen, weil fie endlich mit de 
sem Grunde auf das Reine kommt. 


Ueber den Begriff Gottes, ald Princip d. Philoſophie. 230 


Erfter worhnitt, 

Aber die Philoſophie muß jenes Gefühl ſchlechthin analyſiren, 

d. 5. fie muß auf den letzten Grund beffelben zurückgehen ober 
fie hat vor allen Dingen nah dem Princip zu fragen. Bir 
Tonnen fagen, um das Princip bewege ſich die ganze Philoſophie. 
‚Der Grund hievon wird. fogleicy einleuchten, wenn wir fragen, 
was die Philofophie wolle, wenn fie ein Princip fuhe? 1) Wir 
haben ein mannigfaltiges Wiffen. Woher entfieht uns nun das 
Bedürfnig des philofophifchen Wiffens? Das Bedürfniß kommt 
her von dem Ungenügenben einer Sache. Es muß alfo auch in 
jedem anderen, als dem philofophifchen, eine Ungenüge verborgen 
liegen. Dieß Ungenügende Tann nur in der Unvollftändigfeit die⸗ 
\ fes Wiſſens felbft und dieſe zulegt nur in feinen Srundbegriffen 
liegen. Die Unvollftändigfeit des in ihnen enthaltenen Wiſſens 
kann aber nur darin befteben, daß diefe Grundbegriffe felb der 
Begründung bebürfen. Alles andere, als das philofophifche Wiſſen 
beginnt mit Ariomen, Begriffen oder Saͤtzen, die nicht abgeleitet 
find. Hiedurch ift dieß Willen ein bloß bedingtes und problema⸗ 
tifches, ein bedingteds — denn es fest durch die Annahme von 
Ariomen ein anderes Willen voraus, welches diefe Ariome ſelbſt 
ableitet; ein problematifches, denn ein unbegründbetes Wiſſen iſt 
problematiſch. Ein problematifches Wiſſen aber ift fein Wiſſen. 
Es muß aber ein Wiſſen geben. Nehmet auch das Gegentheil 
an, daß es Fein Willen gebe, fo willen wir doch, daß wir nicht 
wiflen. Gibt es daher ein Wiffen, — diefes Wort natürlich im 
wahren Sinne genommen — fo muß es ausgehen von einem Be⸗ 
griffe, welcher fchlechthin begründet if. Nur, wenn das philoſo⸗ 
phifche Wiflen ausgeht von einem ſolchen Begriffe, if es unbe⸗ 
dingt und apobiktifch, und nur ein ſolches Wiffen it wahres Wiffen, 
was die Philofophie fein muß. 2) Das Princip der Philofophie 
muß begründet fein. Begründet fein heißt aber, gefekt fein durch 
ein Anderes. Dieß kann aber das Princip der Philofophie nicht 
fein. Nehmen wir an, ihr Begriff fei wirklich gefegt durch ein 
Anderes, fo wäre er bedingt. Folglich wäre auch das Wiflen, 


240 — Wirth, | 

welches von biefem Begriffe. ausgeht, ein bedingtes. Folglich 
bebürfte dieſes Andere, durch welchen das Princip geſetzt wir, 
ſelbſt einer Begründung und fo Fort in’ Unendliche rückwäris, d.h. 
:c8 entftünde fein Wiſſen. Alfo darf das Princip der Philofophie 
‚nicht geſetzt fein durch ein Anderes, alfo muß es vorausſetzungs⸗ 
108 fein. 3) Hieraus folgt durch einen einfachen Schluß, daß 
dieſes Princip alles Andere, als es felbft, fegen müſſe. 


Denn nehmen wir an, es gäbe irgend etwas, was es nicht fehte, 


fo wäre e8 ebenfalls bedingt durch dieſes Andere. Es wäre 
folglich, wie bewiefen worden, nicht vorausſetzungslos. 


Das Prineip der Philofophie, haben wir alfo gezeigt, ift ein 


ſchlechthin begründeter, aber vorausfeßungslofer und alles Andere 
fegender Begriff. In diefem Begriffe fcheint aber ein Wider 
ſpruch zu liegen. Wir haben bebucirt, daß er fchlechthin begrüns 
det und doch ſchlechthin vorausſetzungslos feyn müffe, wir haben 
aber zugleich bemerkt, daß Begründetfein fei = Geſetztſein durch 
ein Anderes, Borausfegungslofigfeit aber ein ſolches Geſetzt⸗ 
fein durch ein Anderes ausfchließe., Wie ift diefer Widerfprud 
zu löſen? Seine Löfung liegt, genauer betrachtet, ſchon in der 
‚Deduction. Die Nothwendigfeit der fchlechthinigen Begründung 
liegt im Wiſſen, die der Borausfegungslofigfeit im Wefen bed 
Prineips, d. h. jene Begründung ift eine ſchlechthin ſubjective, 
dieſe Voraugfegungslofigfeit ift eine objective, eine reelle Beſtim⸗ 
mung des Princips felbft, fowie Das, daß das Princip alles An 
‚dere, als es felbft, feßen müffe, gleichfalls eine reelle Beftimmung 
beffelben iſt. Eben deßwegen iſt wohl zu unterfcheiden: zwifchen 
dem Anfange und dem Princip der Philofophie. Das Prin 
ein fol .fchlechthin begründet werben durd ein Anderes. Die 
Begründung darf aber bloß eine fubjective fein, das Princip ſelbſt 
muß vielmehr vorausfegungsios fein und alles Andere fehen. 
Folglich iſt an fi das Andere, welches das Princip begründen 
ſoll, vielmehr nicht Grund, fondern Principiat des Iegteren. Das 
Prineip aber fol ſchlechthin begründet fein. Nicht von irgend 
einem Principiat aus darf auf das Princip gefchloffen werden. 
Würde dieß gefchehen, dann wäre die Gefahr, bag wir nicht dad 


e 


ss 


. Ueber den Begriff Gottes, ald Princip d. Philoſophie. 244 


alles Andere fegende, d. h. abfolute Princip befümen. Denn von 
_ irgend einem Prineipiat läßt fih nur auf irgend ein Princiy 
ſchließen. Irgend ein Princip aber darf, wie bewiefen, das 
philofophifche nicht fein, dieß muß das Princip fchlechthin fein. 
Folglich ift der erfte Begriff, mit welchem die Philofophie beginnt, 
fhlechterdings nur der des Principiate ſchlechthin, oder der Bes 
griff des Principiats an fih. Diefer Begriff ift daher ver Ans 
fang ber Philofophie und dieſer Anfang cben deßwegen durchaus 
nicht eins mit dem philofophiichen Princip. Der Anfang ift viel- 
mehr das durchaus Borausgefegte felbft, fein reiner Begriff, das⸗ 
jenige, was das Gefegtfein durch ein ganz Anderes genannt 
werben muß. Das Princip ift und muß bievon dag Gegentheil 
fein, das durchaus Vorausſetzungsloſe, völlig Seibfiftändige, rein 
aus fich felbft Seiende. Es refultirt aus Nichts, hiemit auch nicht 
- aus dem Anfang. Sein Refultiren ift bloß unfer Denfen. Wie 
fönnte es vefultiren, da ihm Nichts vorangeht und Alles nur aus 
ihm folgt ? 

(Es erledigt fih durch die angegebene Unterfcheidung des 
Anfangs und des Princips der Philofophie und durch genauere 
Beftimmung des Uebergangs von dem erften zum zweiten ein 
alter Streit, weldyer unter den Philofophen geführt worden ift. 
Die Einen haben behauptet, die Phitofophie beginne mit Ariomen, 
bie Anderen fegten das Charafteriftifche derfelben gerade darein, 


daß fie Alles, auch ihre Principien bemweife, und die Sfeptifer . 


“haben hieraus einen eigenen Tropus gebildet, indem fie fagten: 
entweder geht die Philofophie von einem Ariom aus, dann aber 
lage ſich demfelben mit dem gleichen, Rechte, mit welchem e8 auf: 
geftellt wird, ein anderes Ariom gegenüberftellen; oder aber Das 
Princip wird aus einem andern Begriffe bewieſen, dann aber 


bedarf dieſer Grund wieder eines andern Grumdes und fofort ind, 


Unenbliche rückwärts. Diefes Dilemma ift durch die Deduction 
gelöſt. DerBegriff, weldyer der Grund des Princips ift, ift Durch 
das Princip felbft, nämlich durch den formellen Begriff beffelben, 
Ihlechthin beftimmt. Es fann alfo außer ihm feinen andern geben, 
und ein Regressus in infinitum ift hier durchaus undenkbar. Ein 
Zeltſchr. f. Philoſ. u. ſpet. Theol. X. Band. -46 | 


‘ 


242 Wirth, 


anderer Widerſpruch ift e8 befanntlic) gewefen, welchen Jacobi 
in dem Begründen des abfoluten Principe finden wollte und wel 
hen er als Inſtanz für den bloßen Glauben gebrauchte. Sn 
feiner ganzen‘ Schärfe lautet er fo: Die Philofophie als folde 
muß beweifen. Folglich muß fie auch das Abfolute beweifen, 
Beweiſen aber heißt Begründen und Begrünberfein ift Wefen des 
Endlihen. Folglich macht die Philofophie das Abfolute noth⸗ 
wendig zu einem endlichen Weſen. Diefer Schluß wäre gam 
richtig, wenn es bloß progreffive Beweife, d. h. folche gäbe, welde 
von dem Grunde auf bie Folge fliegen. Es gibt aber bekannt 
lih auch regreffive Beweiſe, welche lediglich fubjectine Vermitt 
lungen find und das Princip vielmehr in feiner Abfolutheit 
erfcheinen laſſen. Wird freilic ein Prineip der Philoſophie auf- 
geftellt, deſſen Vorausfegungslofigfeit in der reellen Aufhebung 
aller Borausfegung ſchlechthin durch das Princip befteben fol, fo 
fehe ich nicht ein, wie ein folhes Philofophiren dem Jacobiſchen 
Bormwurfe entgehen kann. Ausdrüdiih wird von einer Lehr, 
welche die Borausfegungslofigfeit des Principg in diefem Sinne 
nimmt, bemerkt, daß die Aufhebung aller Borausfegung von felbk 
fhon die abfolute Segung fei. Folglich ift jene ein reeller Ad ' 
des Principe, folglich auch das Gegebene, ohne welches feine 
Aufhebung der Borausfegung denkbar wäre, ein vor dem Princip 
felbft Seiendes, d. h. dieſes ift ein Bedingtes. — Den Borwurf 
des Dogmatismug fürdten wir nicht. Nicht jede Annahme 
einer abfoluten Segung, die nicht felbft Aufhebung aller Bora 
fegung ift, führt zum Dogmatismus, Der Dogmatismus hat 
ganz anderswo feinen Grund, als in jener Annahme. Er Hi 
allerdings ein Syftem, welches ein fchledhthin pofitives Abfolted 
annimmt. Aber darin hat er ganz Recht, daß er das Abfohsie 
‚gegen jede Borausfegung pofitiv fein läßt. Wie Fönnte 
e8 negativ fein gegen Etwas, was außer und vor ihm gar nicht 
it? Sein Fehler kann alfo nur darin beftehen, daß er die Per 
fitioität des Abfoluten nicht gegen die eigene Pofttion des A 
foluten negativ werben laſſen will, wodurch es dag todte Ding 
der Abftraction bleibt.) 


Ueber den Begriff Gottes, als Princip d. Philofophie. 243 


I. Abfoluter Beweis des Principg, 

Wir haben nunmehr genau beftimmt, was das abfolute Princip 
fein müffe. Aber dieß Tediglih auf formale Weile. Was das 
Prineip felbft fei, das ift erft zu beflimmen, erft zu beweifen. 
Aber wie kommen wir von jener Tediglic formalen Beftimmung 
des Principe aus auf feine materiale Befiimmung? Etwas bloß 
Formales kann jenes Princip nicht fein. Wir haben gezeigt, wars 
um die leere Form der Aufhebung aller Vorausſetzung an fi 
nicht das Princip felbft fein könne, weil nämlich diefe Abftraction 
eine Materie vorausfest, von der fie abftrahbirt. Aber eben dieß 
Lettere, der Begriff der Borausfegung felbft muß auf die Materie 
des abfoluten Principg führen. Weil das Princip der Philoſophie 
ein abjolutes, Das Setzende alles Andern ift, jo muß der Anfangs 
begriff, aus dem es dialektiſch refultirt, Das fchlechthin Geſetzte 
fein. Hier haben wir ſchon ein Was, und dieſes muß auf das 
Was des Princips leiten. 

Das fihledhthinige Gefegtfein ift das Sein durch Anderes. 
Dieß ift aber das [hlehthin Mannichfaltige. Denn ale 
geſetzt durch ein Anderes, ift jedes in fich felbft ein Verſchiedenes; 
das Andere, durch weldyes es gefegt ift, influirt auf feine Natur, 
und fomit Jedes auf Jedes, wodurd eine unendlihe Mannich: 
faltigfeit von Dingen entfteht, deren jedes fein beflimmtes Sein 
außer ſich in einem andern Dinge hat. Dieß ift das fchlechthin 
Gegebene, und, daß es diefes ift, ift durch den Begriff gefebt. 
Wir nehmen das Gegebene nicht unmittelbar auf, Durd bie 
formale Erfenntnig des Principe entfteht ung der Begriff dee 
Gegebenen oder des Vorausgeſetzten. Hiedurch aber find wir 
der Gefahr enthoben, ein bloß irgendwie beftimmtes Gege— 
benes oder Borausgefektes zu Haben und von ihm aus nicht auf 
. das abfolute Prineip zu fommen. Die abjolute Mannichfaltigkeit 
it die nothwendige und fchlechthinige, durch den Begriff felbft 
beftimmte Vorausſetzung aller Philoſophie. 

Folglich ift das abfolute Princip nur die reine Einheit 


ſelbſt. Denn ift das fchlechtweg Vorausgeſetzte das Mannichfale 


tige, fo Tann das Borausfegungslofe nur das Gegentheil bes 
46 * 


244 = Wirth, 


Mannichfaltigen, alfo nur die reine Einheit felbft fein. Wäre das 
höchfte Princip irgendwie ein Mannicfaltiges, fo wäre es be 
flimmt ‘oder gelegt durch ein Anderes, als es ſelbſt iſt, d. h. es 
wäre nicht Princip. Die reine Einheit ift hiemit das in fich Un⸗ 
unterſchiedene, das Sichſelbſtgleiche, in welchem noch durchaus 
nichts Mannichfaltiges enthalten iſt. Sie iſt aber ebenſo wenig 
von einem Anderen unterſchieden. Denn es iſt Nichts, wovon ſie 
unterſchieden ſein könnte, und exiſtirte Etwas, wovon ſie unter⸗ 
ſchieden wäre, fo wäre fie beſtimmt und bedingt, d. h. fie wäre 
nicht Princip. Die reine Einheit ift daher das abfolut fich Gleiche, 
durchaus Einfache, 

Das ſchlechthin Einfache aber ift das Ideelle. Das Reale 
iſt ein in ſich mannichfaltig beſtimmtes Sein. Das Ideelle da 
gegen iſt durchaus ſich gleich. Es iſt aber dieſe ideale Einheit, 
Sie iſt nicht etwa bloß in unſerem Bewußtſein, Es wäre ein 
völliges Mißverſtändniß unſerer Deduction, wenn man dieſe reine 
Einheit als etwas bloß Gedachtes beſtimmen wollte. Man haͤtte 
dann überſehen, was wir deducirten, daß die abſolute Voraus— 
ſetzung eben die Vorausſetzung der reinen Einheit ſelbſt iſt, daß 
alſo die Vernunft im Denken der abſoluten Vorausſetzung noth⸗ 
wendig beſtimmt iſt, die reine, ideale Einheit als Sein zu denken. 
Wäre fie lediglich ein formaler Begriff, fo wäre auch der Begriff 
ber Borausfesung ein bloß formaler. Er ift aber, wie bewiefen, der 
Begriff des fchlechthin Gegebenen. Mit derfelben Nothwendig⸗ 
feit daher, mit welcher bie Vorausſetzung der Philofophie das 
ſchlechthin Gegebene ſelbſt ift, muß das, was biefe Borausfegung 
vorausfebt, felbft ein Seiendes, aber nicht Das gegebene‘ Seiende, 
fondern das rein Seiende felbft fein. 

Als ſolches iſt die reine Einheit überall und in Allem; fie iR 
das Göttlihe, das Gute. Das Gute ift dasjenige, wag bie 
Welt der Willen erhält, was da macht, daß alle verfchiedenen 
Willen zufammengehalten ‚bleiben, daß das Herbe des Gegenſatzes 
verfehwindet; das Gute ift etwas Pofitives, ein Sein = fegendee. 
Alles dieß aber ift Die Einheit. Sie ift das Heilige, Ewige in 
Allem, bie Liebe ſelbſt, Die Alles bewegt. 


* 


Ueber den Begriff Gottes, als Princip d. Philoſophie. 245 | 


Sie ift dieß aber nicht als Prädicat=, fondern als ein Sub⸗ 
fantiobegriff. Sie ift nicht an Allem, fondern das Wefen von 
Allem, Allem liegt eine Einheit zu Grunde; diefe Einheit ift das 
Unfinnlihe in Allem, dasjenige, was nicht dieſe ober jene Eigen⸗ 
ſchaft an Dingen, fondern was der bewegende Grund aller diefer 
Eigenschaften ifl. Die Einheit. ift fo die plaftifche, empfindende, 
ja in höchſter Potenz die denfende Seele, und das Denken felbft 
“in feiner abfoluten Reinheit ift die ſchlechthinige Einheit, die ſich 
als ſolche erfaßt, Hieraus erhellt, daß allein die Einheit der - 
höchfte Begriff der ganzen Philofophie, dag fie das Wefen Gottes 
ferbft fei und daß Fein anderes Princip an die Spige ber Philo⸗ 
ſophie geſtellt werden könne. 

Die reine ideelle Einheit, haben wir geſagt, wie ſie am An⸗ 
fange iſt, iſt das Nichts aller Beſtimmtheit, das pure, lautere 
Unendliche, dasjenige, was durchaus kein Andersſein in ſich ent⸗ 
hält, ſondern nur ſich gleich iſt. Aber eben dieſes ſich Gleiche, 
das ſich nur auf ſich bezieht, iſt das Beſtimmte. Dad Bes 
ſtimmte iſt, was ſich ſchlechthin gleich iſt, nicht durch ein Anderes 
ſich aus ſich hinausreißen, durch daſſelbe ſeine Gleichheit mit ſich 
aufheben läßt, ſondern in ſich beharrt, ſich nur auf ſich ſelbſt be⸗ 
zieht. So iſt insbeſondere ein beſtimmtes Wollen ein durchaus 
ſich gleich Bleibendes, was ſich dem Wechſel der Stimmungen 
nicht ausſetzt. Ein ſolches Beſtimmtes iſt die reine Einheit, weil 
ſie als durchaus ſich gleich ſich auf ſich ſelbſt bezieht, nur mit ſich 
zuſammengeht. Das Abſolute ſetzt ſich daher in ſeiner Unbeſtimmt⸗ 
heit als das Beſtimmte, nicht weil das Unbeſtimmte durch ſeinen 
Gegenſatz zum Befimmten ſelbſt ein Beſtimmtes ift — denn eg 
. hat noch Teinen Gegenfag —; fondern weil es das Gegenfaslofe 
ift, ift es nur ſich auf fih Beziehen und darum Beſtimmtes. Es 
it von Ewigfeit her in Gott feine reine Einheit oder Unendlichkeit 
bie Bewegung zur Sichfelbftgleichheit oder Beftimmtheit. Das 
Werben ber Beftimmtheit in Gott iff darum auch nicht ein Hers 
vorgehen aus ihm, eine Emanation, vielmehr iſt es ein Zufams 
mengehen Gottes mit ſich. Seine reine Erpanfion wird als reine 
Erpanfton nothwendig Contraction. 


246 Wirth, 


Wir haben hiemit zwei Elemente im Abfoluten erkannt. Diele 
find von einander unterfchieden. Die reine Einheit nämlid 
ft das ſich von Nichts Unterfcheiden, in Allem mit fich Zufammen: 
gehen, und in Alles Hineingehen, mit Einem Worte Continuität 
Das Beftimmte dagegen iſt wohl aud die Gleichheit mit fi, 
welche die Sontinuität ift, aber als Unterfcheiden von Anderem, 
ift e8 ein Eins, mit Einem Worte, es ift Discret, 

Als Kontinuität muß daher die reine Einheit von ihrem die 
ereten Sein ſich unterfcyeiden, fie muß von dem Lebteren abge: 
fioßen werden und zu fi zurüdfehren. Eben als ſchlechthin 
continuirlich geht die Einheit von ihrem beflimmten Sein in fih 
zurüd und mit ſich zufammen. 

So hat fie alfo ihr discretes Sein ſich gegenüber. Dieſes 
aber ift ihr Sein und von ihr unterfchieden, Beides if da 
ber in ihr gefegt. Die continuirlihe Einheit hat das discrete 
Sein als ſich felbft und als ihren Gegenſatz vor ſich. 

Faffen wir num zufammen, was wir jebt ein für alle Mal 
gewonnen haben, fo ift die reine Einheit ein Dreifaches in fih 
geworden, reine Continuität mit fih, Seben des Disſcreten ald 
eind mit ihr und Entgegenfegen gegen fie, Thefis, Synthefis und 
Antithefis. Diefe drei Acte find aber nur Ein Act der veinen 
Einheit felbft, fie find eins mit ihrem Wefen und von ihr niät 
verfchieden. Oder die reine Einheit ift eing mit fi), indem fit 
fih auf das Gegenbild ihrer felbft zugleich als fih und nicht ald 
fi bezieht, d. h. die reine Einheit ift uranfänglich Selbſtbe⸗ 
wußtfein, reiner, urfprünglicher Geift, der in der ewigen Gleich⸗ 
beit feines fich ſelbſt Denkens oder Wiſſens Iebt. Sie ift urfprüngkh 
reine ideale Energie, völlig potenzlos, völlig Licht in ſich. 

Im Selbftbewußtfein find drei Beftimmungen, die wir deducitt 
haben, als ungetrennter Act, ein fih Gleiches, das ſich gleich # 
in der Beziehung auf ein Anderes und zwar in einer antithetifcen 
und fonthetifchen Beziehung auf daffelbe. Eben fo wenig opt 
eine fonthetifche, als ohne eine antithetifche Beziehung zu einem 
Anderen fann das fich Gleiche fih bewußt fein. Wie dieſe Act 
uranfänglich in Gott feien, dieß Haben wir gezeigt. 


Ueber den Begriff Gottes, als Prineip d. Philofophie. 247 


Man fönnte vermeinen, dieſe Debuction fei willkührlich, da 
nicht jede Einheit ſelbſtbewußt und doch das Abfolute die Einheit 
felbft fei. Hiebei aber würde man überfehen, daß das Abfolute 
reine Einheit ifl. Als reine Einheit muß fie wohl jede andere 
Einheit fegen, und wir werben-fogleich fehen, wie die unendliche Ein» 
beit in ein Syſtem von Henaden übergehe. Aber ihrem Wefen 
nach ift fie von diefen -beftimmten Henaden zu unterfcheiden, näms 
lich als Die ſchlechthinige Einheit, als die Ureinheit aller Ein- 
heiten. Man denke fih nun aber fharf den Begriff der 
reinen Einheit und man muß fchlechterdings auf die gegebene 
Deduction kommen. Eine beftimmte Einheit kann auch bewußtlos 
fein; es ift möglich, Daß eine’ foldye bloß plaftifche Seele fei. Denn 
eine beftimmte Einheit fann die übrigen beftimmten Einheiten nur 
außer fich haben; dann ift ihre ideale Seele in das beſtimmte 
Sein nur ergoffen; dann bildet fie, ſchlechterdings durch das finn- 
lihe oder fremde Sein determinirt, das Sein immer nur außer 
ſich; fie ift Dann eine dunkle und blinde Henade. Aber alfo blind 
vermag die reine Henade nicht zu fein. Denn als reine He⸗ 
nade ift fie ſchlechterdings über das beftimmte Sein, das fie durch 
ihre Syſtole in fich fett, zugleich hinaus und dieſes Hinausfein if, 
weil fie abfolute Gontinuität ift, nothwendig zugleich Inſichſelbſt⸗ 
geben, d. h. fie iſt ewiger Geiſt, abfolute Refleribilität, felbfibe- 
wußtes Leben, 

Freilich beginnen wir mit einem ganz andern Begriffe, als 
die herrſchende Philoſophie. Diefe fegt Das todte, Nichts ver 
moͤgende, Ieere Sein voran. Wir aber beginnen mit dem Eins 
ſelbſt, mit einem Begriffe, welcher der Tod aller Abftraction und 
uranfänglich Leben if. Diefes reine Eins, das &v der Alten, bie 
Urmonade Leibnigend, ift der abgezogenfte, lauterfte Begriff, es 
gibt nichts Einfacheres, als er, weil er das Einfache ſelbſt iſt, 
und darum kann er allein an der Spitze der Philoſophie ſtehen. | 
Zugleich aber ift er allein bei der höchſten Einfachheit ein ſub⸗ 
Rantieller Begriff, etwas für fih Seiendes, Grund alles Lebens 
und ſelbſt urfprünglich Leben, Grund alles Geiftes und felbft ur> 
ſprünglich Geiſt. Mit ihm erſteigt die Philofophie die lauterſte 


248 Wirth, 


Höhe alles Speculirens und vernichtet uranfänglich den Tod, den 
das abgezogene, mit Nichts beginnende Denken urſpruͤnglich in 
ſich trägt. 

Den gegebenen Beweis der abſoluten Geiſtigkeit Gottes halte 
ic für den allein ftreng philofophifchen. Denn er ift analytifd: 
fonthetifh. Er beruht auf der reinften Analyfe des Gegebenen 


und geht fodann ſynthetiſch von dem Refultate diefer Analyfe, dem 


Degriffe der reinen Einheit, zu dem des Selbftbemußtfeing fort. 
Eine andere, ebenfo fireng philofophifche Art, die uranfänglide 
GSeiftigfeit Gottes zu beweifen, läßt fi nidyt denken. Indeß, 
weil diefe reine Geiftigkeit Gottes fchlechthin uranfänglich ift, fo 
läßt fie fih auch auf rein analytifhem Wege beweifen. Hiebei 
fann man entweder auf den Inhalt des zu Beweifenden oder auf 
die Form der Erfenntniß, durch welche der Begriff des Abfoluten 
entftebt, veflectiven. Wir wollen biefen doppelten Beweis noch 
führen, lediglich aber, um den ſchon deducirten Begriff dem Des 
wußtfein noch näher zu bringen, mit dem ausprüdlichen Bemer⸗ 
fen, dag von der Philoſophie nicht bloß eine analytifche, fondern 
auch eine fonthetifche Erfenntnig des Abfoluten zu fordern fei, weil 
gerade ihre Differenz von dem unphilofophifchen oder auch dogs 
matifchen Bemwußtfein darin befteht, die Möglichfeit Cnicht bloß die 
‚Nothwendigfeit) deffen, was dag unphilofophifche Bewußiſein ent 
hält, darzuthun. 


I. Materialer Beweis des abfoluten Principe, 


Analyfiren wir den reinen Inhalt irgend einer Erfenntnif, 
fo kommt er zuleßt auf das Denfgefeb A = A hinaus. Jedes 
Weſen ift ſich felbft gleich, dieß ift der oberſte Grundfag alled 
Denkens. So ausgefprochen, bleibt aber dieſes Denkgeſetz Iedig 
ih formel. Um einen Inhalt zu befommen, muß ic) als Prädirat 
fegen a, b, c, d, und der Grundfaß lautet: A=a+tb+c+d 
A ift hier irgend ein Gegebenedg, a+b +c-+d find feine Be 
fimmungen, und A ift hierin beftimmt als fi felbft gleich in 
feinen unterfchiedenen Beftimmungen. Hier haben wir offenbar 
einen mannichfaltigen Inhalt, In A = A haben wir benfelben 


Ueber den Begriff Gottes, als Princip d. Philofophie. 249 


Inhalt; darum ift dieſer Sat Tediglich formal. Aber in dem 
Sage: A=a+b+c-+d haben wir einen mannichfaltigen In- . 
halt; a ift nicht fchlechthin = A, fondern ift ihm gleich nur in 
Verbindung mit b--c-+d, und ebenfo ift A nicht ſchlechthin =b 
oder ce oder d. Jedes von diefen Prädicaten hat eine andere. 
Inhaltsbeſtimmtheit und A ift ihre bloße Formbeziehung oder dag 
Weſen des Dinge felbft. Allein wie kommt bie formale Logik zu 
diefer verfchiedenen Inhaltsbeſtimmtheit? Hierauf antwortet fie 
nicht, und fie braucht ſich nicht darauf einzulaffen, weil fie das 
Gegebene vorausfegt und lediglich ihre‘ Formbeziehung be: 
trachte. Darum kann fi ihr auch der höchſte philofophifche 
Begriff verbergen. Nämlich, weil fie die verſchiedene Inhalts⸗ 
beftimmtheit, welche in a, b, c, d ausgedrüdt ift, nur aufnimmt, 
fommt fie auf den lediglich formalen Begriff des A, nämlich def- 
jelben als bloßer Beziehung des Mannichfaltigen auf einander. 
Ihr Gefeg ift nun wahr. Aber die weitere Frage ift die: wie 
fommt A dazu, das a,b,c,d als verfchiedenen Inhalt zu fegen? 
Indem bloß Gegebenen können diefe verfchiedenen Beffimmungen 
an dem Subject gefegt fein So ift dann A felbft ein durch 
ein Anderes und durch diefes Andere verschieden beſtimmtes End⸗ 
liches. In dem höchften und reinen. A, dem abfoluten Wefen 
ſelbſt gedacht, muß aber, weil an ihm nichts gefegt fein Tann, 
jenes Geſetz Yauten: das reine A fest das Unterfchiedene, a,b,c,d 
und ift doch darin fich gleich, oder mit andern Worten, das 
transſcendentale Selbſtbewußtſein iſt ſelbſt der Grund 
des formalen Denkgeſetzes, d. h. nur aus Gott, ſofern er uran⸗ 
fäänglich ſeiner bewußt iſt, vermag das oberſte Denkgeſetz abgeleitet 
zu werden. Nicht das abftrafte A=A, ſondern ein Ideales, Das 
abfolute Selbftbewußtfein geht voran und fegt felbft jenes A=A. 
Die formale Logik, fobald fie als Denfen eines Inhalts gedacht 
wird, weift zurüd auf eine transfcendentale, auf die Logik der abſo⸗ 
Iuten, fich felbft denfenden Vernunft, und das reine Selbitbewußts 
fein iſt hiemit derjenige Begriff, welcher der erfte metaphufifche 
und die Wahrheit der der Metaphyſik vorangehenden Logik ifl. 
Die formale Logik wird dieß auch freiwillig anerkennen, wenig- 


250 Wirth, 


ſtens fo viel, daß ihr abgezogenes Geſetz nicht ein Letztes, weil 
nichts Produftives fei, wohl aber wird dieß eine andere Logik 
nicht zugeftehen; fo wenig ift fie auf die Iegte Duelle aller Wahr: 
heit zurüdgegangen. 

Oder auch: Es iſt fehlechterdings nothwendig, das Abfolute 
jenfeitd der Gegenfäge, frei von ihnen zu denfen. Wäre dad 
Abfolute felbft ein Gegenfab, fo wäre es endlich. Folglich muß 
es die Einheit der Gegenfäge fein. Es ift aber wiederum nidt 
die Einheit dev Gegenfäge fo, daß die Gegenfäge und die Einheit 
verfchiedene Dinge wären, daß alfo die Einheit etwas Anderes 
wäre, ald die Gegenfäge. Denn eben dadurch wäre die Einheit 
- felbft wieder ein Gegenfag, nämlich der Gegenfag der Gegenfähe, 
alfo endlich. Bis zu diefem Begriffe des Abfoluten ift das phi- 
Iofophifhe Bewußtfein allgemein in unfern Tagen vorgedrungen. 
Aber das überfieht man ebenfo allgemein, daß die Einheit zwar 
nicht ein anderes Ding, als die Gegenfäße, ein Subftrat u. bel, 


nichts deſto weniger aber unterſchieden fein müffe von den Gegen 


fägen. Denn wäre fie nur in den Gegenfägen, nicht zugleich frei 
von ihnen, fo wäre fie nur im Ausfichhinausbilden begriffen, d.h. 
fie wäre in die Öegenfäge verloren. Eines mit fi in ben Gegen 
fägen muß alfo das Abfolute fein; diefe Einheit mit ſich, die im 
Poniren der Gegenfäge nie ſich felbft verliert, ewig fich erhält, 
ift allein der abfolute Begriff des Abfoluten. Diefe Einheit aber 
it Geiſt, Selbſtbewußtſein. 


II. Formaler Beweis des abſoluten Principe 


Betrachten wir endlich dieſen Begriff des Abſoluten rein nach 
feiner formalen Seite, fragen wir alfo lediglich nad) der Art und 
Meife, wie Begriffe überhaupt, alfo auch der des Abfoluten en’ 
ftehe, fo muß bier genau unterfchieden werden zwifchen der phil 
fophifchen und unphilofophifchen Begriffsbildung. Jene befteht ia 
der reinften Analyfis, deren höchſtes Nefultat zugleich die Mög 
lichkeit der Synthefis in fi) ſchließt; dieſe Dagegen ift bloße und 
zwar 'unvollfommene Analyfis ohne die Möglichkeit der Syntheſi 
Es ift Mar, dag nur jene DBegriffebildung die: allein wahre iR. 


nn 


Ueber ben Begriff Gottes, als Princip d. Philofophie. 264 


Der Begriff ift das Allgemeine, aber nicht bloß als irgend eine 
Beflimmung der Dinge — fo wäre er felbft nur etwas Befons 
deres — fondern ald das Identiſche in ihnen, hiemit als das 
Weſen derfelben. Das Wefen aber ift ſetzende Einheit der vielen 
Beftimmungen. Die wahre Begriffsbildung befteht alfo in einer 
vdllig reinen Analyfe, einer Analyje, bie nicht irgend eine conerete 
Beſtimmung, fondern wirflih dag Allgemeine erfennt und, auf 
diefem Punkte angelangt, fynthetifch wird. Die unphilofophilche 
Begriffsbildung dagegen ift bloße Analyfig, ja fie ift nicht einmal 
vollendete Analyfis. Sie nimmt irgend eine der vielen Beftimmt- 
heiten in den Dingen, weldye da ift, aber eben bewegen nicht 
das Identiſche in allen Beftimmtheiten ift, da fie ja felbft nur 
eine derfelben iſt. Diefe Beftimmtheit fegt fie als das Identiſche 
der Dinge. Wie kann alfo hier von einer möglichen Syntheſis 
des Begriffe, durch welche er organifirend wäre, die Rede fein? 
Sefest aber auch, bie unphilofophifche Methode der Begriffsbil- 
bung fegte ein Identiſches in den vielen Beftimmungen, fo kommt 
ed fehr darauf an: ob ein Identiſches mit dem ausdrücklichen 
Bewußtfein der Forderung genommen wird, daß es ſynthetiſch 
werden fönne, oder nicht. Denn es find mehrere lebte Allges 
meinheiten denkbar, je nachdem nämlich Diefelben als fubftantivilche 
oder als präbicative Begriffe genommen werben. Die philoſo⸗ 
phiihe Methode kann nur in einer fubftantivifchen Allgemeinheit 
einen legten Begriff erfennen, weil nur eine foldhe einer aprio⸗ 
riihen Syntheſis, hiemit der Gonftruction fähig iſt; die unphilo- 
fophifche Methode dagegen kann möglicher Weife, weil fie diefe 
Forderung der Syntheſis nicht an den Begriff macht oder viele 
mehr ihrer gar nicht bewußt if, und, wenn fie ihrer eigenen 
unphiloſophiſchen Natur folgt, fo muß fie auf einen legten, vein 
präbicativen Begriff kommen. — Hieburch entftehen zwei him⸗ 
melweit verichiedene Wiffenfchaften. Nehmen wir die rein un⸗ 
philofophiiche Methode, den höchften Begriff zu bilden, vor, fo iſt 
als das allercomplicirtefte Wefen der Menfch gegeben. Er ifl 
unter den fihtbaren Wefen allein Geift; Geift folglich kann nach 
jener Methode der höchfte Begriff nicht fein. — Er hat mit einer 


252 Wirth, 


Claſſe von Wefen die Seele gemein, aber nur mit Einer Claſſe, 
mit anderen nicht; auch ſeelenhaft alſo kann der höchſte Begriff 
nicht ſein. Mit dieſen beiden Claſſen von Weſen und zudem mit 
einer weiteren hat er das Leben gemein, aber auch ein Lebendiges 
darf der höchſte Begriff nicht fein; denn noch bleibt eine letzte 
Claſſe übrig, mit der der Menſch nichts gemein hat, als daß er 
if. Sein alfo ift hienach der Urbegriff, diefes Teere, rein prä 
bicative, nichts vermögende Sein! 

Sobald wir Dagegen mit dem beſtimmten Bemwußtfein 


der reinen Methode der Begriffsbildung an die Beftimmung bed 


Prineips gehen, jo müſſen wir einen ganz anderen Urbegriff ge: 
winnen. Nämlich jene unphilofophifche Methode gebt völlig ober 
flächlih von dem Gentralen, dem Geifte, durch die Mittelwefen, 
Seele und Leben, in das völlig Peripherifche, das bloße Sein, 


Das wahre Wiffen muß aber in ein noch Centraleres, als fell | 


ber endliche Geift ift, eingehen, um den legten Begriff zu. gewinnen, 
Durch die peripherifche Richtung des Wiffens kommen wir auf 
den allgemeinften Prädicatiobegriff, durch die centrale auf ben 
allgemeinften. Subftantiobegriff. Was ift das Allerinnerfte und 
zugleic, Allbildende der Welt! Dieß muß fchlechterbings die Ichte 
Frage der Philofophie werden. Eigentlich follten wir, um in der 
Einheit, al8 idealer Continuität der Discretion, dieß Centrum de 
Seienden nachzuweiſen, die ganze empirische Welt durchgehen und 
zeigen, daß fie plaftifhe Dynamis, Seele, Geift fe. Die Meta 
phyſik feßt fo, nach der fubjectiven Seite ihrer Geneſis betrachtet, 
bie ganze Realphilofophie voraus. Hier haben wir es bloß mi 
der Form des Begriffs zu thun. Nehmen wir diefe Form, fo 
ift die Einheit das Einfache felbft, fie ift aber zugleich ein fubs 
ftantivifcher Begriff, eben weil fie Alles in fich fchließt, nicht am 


dem Bielen if. Als diefer fubftantivifche Begriff muß fie noth⸗ 


wendig die reine, apriorifche, aus fich felbft fich beftimmende Syn⸗ 

"thefis fein. Wie? dieß haben wir fchon bewiefen. Folglich ift fie 
- das alleinige Princip der Philofophie und fie ift dieß auch vor 
ber formalen Seite in dem genau beftimmten Sinne, als ein ww 
endliches Selbſt, das ſich von ſich unterſcheidet. 


Ueber den Begriff Gottes, als Princip d. Philofopbie. 253 


Hiemit haben wir und auch bereit gegen den Vorwurf ber 
Anmaßung vertheidigt, welche man in der Gonftruction des 
Abfoluten von jeher hat finden wollen. Diejenigen, welche der 
Philoſophie dieſen Vorwurf machen, mögen angeben, worin denn 
bie Philofophie felbft beftehe, wenn nicht darin, daß fie die Mög⸗ 
lichfeit des Abfoluten aufzeigt. Das gewöhnliche Bewußtſein 
gebt in feinen Beweifen von dem Dafein Gottes bie zur Noth⸗ 
wendigfeit feiner dee, Damit aber ift noch nicht geholfen. Es 
find in diefer dee, wie fie dad populäre Bewußtfein hat, Diepa= 
rate Elemente, deren Syntheſis denkbar zu machen if. Daß fie 
an fich denfbar fei, glaubt man wohl. Warum follte fie es nicht 
auch für ung fein? Sie ift es fo fehr, daß ohne fie überhaupt 
nichts denkbar if. Denn Gott ift die Idee der Ideen, oder er 
it der abfolute Begriff felbft, wie wir fo eben gefehen haben, 
deßwegen, weil dieſer Begriff die reine Analyfig mit der Mög- 
lichkeit abfoluter Synthefis ifl. — Wenn man diefen Begriff faßt, 
fo wird, man einfehen, wie von ihm aus die uralte Frage: 
Wie entfteht aus dem lautern A ein b, c, d, wie ein Bieleg, 
Mannigfaltiges aus dem leeren, unterfchiedslofen Eins? zu löſen 
fei. Diefe b, c, d fönnen nicht entftehen durch Eimanation, noch 
auch dürfen fie abgeleitet werden Durch einen indirecten Beweis, 
noch viel weniger darf die Differenz blos vorausgefet werben. 
Diefe aber find unferes Willens die einzigen Methoden, deren ſich 
bie Philofophen bisher bedient haben, um zu der Differenz zu 
gelangen, Durdy Emanation leiteten die Neuplatonifer die Dife 
ferenz ab, während vor ihnen Fein Philofoph an eine foldhe Ablei- 
tung auch nur dachte, aber durch Emanation entfteht Fein Anderes 
in Gott. Böhme, Leibnig und Schelling, wo er die Differenz aner- 
kannt, bedienten fich des indirecten Beweifes. So fagt bey erftere:: 
ber göttliche Wille wäre fich nicht offenbar, wenn er nur ein ei- 
niger wäre (Goͤtil. Beſchaulichkeit F. 10 u. a. and. O.). Leibnitz 
fagt: opus tamen est, ut Monades habeant aliquas facultates; 
aliäs nec Entia forent (princ. phil. $.8.). Was Schelling be⸗ 
teifft, fo vergl. 3. B. feine Zeitfchrift für ſpecul. Phyſik IL. Bd., 
IL Heft S. 10. Allein ſolche indireste Beweiſe find gerade an 


254 Wirth, 


diefem Orte, bei Löfung bes höchften Problems, völlig unftatthaft. 
Daß eine Differenz fein müfle, das fieht jeder aus der Unſtatt⸗ 
haftigkeit des Gegentheils, aber wie fie denfbar fei, das ift allein 
die Frage. Daß endlih Fichte die Differenz nur vorausgeſetzt 
babe, weiß Jeder; daß aber audy Hegel daffelbe fich erlaubt habe, 
werde ich feiner Zeit zeigen. Es ift daher Feine der bisherigen 
Löfungen des Grundproblemd der Philofophie für gelungen zu 
halten. Denn ed muß gezeigt werben, wie bie reine Einheit felbft 
das Beftimmte bervorbringe. Rein von ihrem Begriffe aus muß 
auf den des Discreten übergegangen werden, der Beweis ein birec- 
ter und zwar genetifcher fein. Sobald man fich die Probleme 
der Philofophie in ihrer ganzen Strenge denft, bat man fie halb 
. gelöst. So aud bier. Wir dürfen nur die beiden Begriffe: 
reine Einheit und Beftimmtheit vergleichen, und wir werben fin 
den, daß fie nicht fo weit auseinandergehen. Denn das Ununter- 
fhiedene iſt das ſchlechthin ſich Gleiche, das fchlechthin fich Gleiche 
‚aber it das Beſtimmte. Weil aber die reine Einheit zugleich das 
Beftimmte nicht ift, gebt fie in fih. Im ſich gehend beftimmt fie 
ſich wieder als beftimmte Einheit und ‚fofort. Hier haben wir 
‚ bie ewige Duelle aller Thätigfeit; denn alle Thätigfeit der Welt 
ift nur ein Act jener Einheit. Die ewige Oscillation der Welt: 
feele und aller ihrer feelenhaften gewordenen Einheiten ift ein 
Wechfel zwifchen Contraction und Expanſion. Wer nicht in bieled 
Myfterium alles Lebens geblickt, dem bleiben die höchften und 
wichtigften Begriffe der Philofophie ein Räthfel. Aber man bemerfe 
wohl, dag wir in unferer Deduction nur erſt von einer Unter- 
fheidung in Gott gefprochen haben! Eben deßwegen haben wit 
bie Beftinimtheit nicht als ein Hervorgehen aus Gott, fondern 
vielmehr als ein Zufammengehen Gottes mit ſich bezeichnet. Es 
ift weit entfernt, eine Emanation zu fein, vielmehr im eigentlichen 
Sinne eine Syftole, durch welche fi Gott in fich ferbft ald de 
ftimmte Einheit fegt. Wie fönnte fonft bie Differenz, wenn fie 
wirklich urfprünglich Durch ein Hervorgehen oder etwas Aehnliches 
entſtünde, eine Gott ſchlechthin immanente bleiben? Umgekehrt 
wenn Gott die Differenz ſelbſt nicht immanent wäre, wie ver⸗ 
moͤchte er, Geiſt, Selbſtbewußtſein zu ſein? 


Ueber den Begriff Gottes, ald Prineip d. Philofophie. 255 


B. Die Jdealwelt. | 

Mir haben in der abfoluten Einheit zweierlei unterfchieben, 
ihre Gontinuität und ihre Discretion, das unbeflimmte und bag 
beftimmte Sein. Beide Beflimmungen fegt die abfolute Einheit 
als identifch, diefe identiſche Beziehung ift ihr Selbſtbewußtſein. 

Alllein an ſich ift das discrete und das continuirliche Sein 
Gottes unendlich verfchieden. Jenes ift das Endliche, diefes das 
Unendliche, jenes das Einzelne, diefed das Allgemeine. Die Be- 
ziehung, in welcher die abfolute Einheit beide als identifche umfchließt, 
Tann daher nicht ein einfacher Act fein. Vermöge des Abſtandes 
zwifchen beiden Elementen Gottes, Fann die Identität beider nur 
als eine intelligible Reihe von Stufen der Ineinsbildung der Dis⸗ 
ereten in das Gontinuirliche gefegt fein, und dieß ift die Ideen⸗ 
welt in Gott. 

Die Ideen find nichts Anderes, als die verfchiedenen Formen 
der Sjneinsfegung der abfoluten Continuität und Discretion in der 
göttlichen Intelligenz. Alles Sein drüdt nur einen verfchiedenen, 
jedoch beflimmten Grad ber Conjunction beider Elemente Gottes 
aus, Leben, Seele, Geift find nichts als folhe Bindungen der 
beiden Urbeftimmungen des göttlichen Weſens. In Gott aber hat 
fih die abfolute Einheit und die abfolute Differenz beider Ele— 
mente ergeben. Folglich muß auch in demſelben ewigen Acte, in 
welchem er ſich felbft erfennt, auf ebenfo ewige Weife die Ideen⸗ 
welt gefegt fein. 

Die Sontinuität ift aber ſchlechthin identiſch mit der abſoluten 
Einheit; fie iſt alſo ebenfo unendlich, wie dieſe. Aber ebenſo ſchlecht— 
hin iſt in ihm die Discretion. Die abſolute Einheit iſt ewiges 
ſich Unterſcheiden von ſich. Folglich find in Gott abſolut die Ele⸗ 
mente von allem Seienden gegeben; folglich entfteht in ihm durch 
dieſelbe intelleetuelle Rüdbildung der Continuität aus dem discreten 
Sein in fih, durd welche fein ewiges Selbftbewußtfein ſich Bil- 
det, Die vollftändige Ideenwelt von allem Seienden, ein abſo⸗ 
ter intelligibler Kreis allee Möglichen, aller verſchiedenen Weſen⸗ 
heiten des Werdenden. 


256 Wirth, 
C. Die Realwelt. 


Die Ideenwelt ift die erfte concrete Selbftanfchauung und 


real=ideale Selbfthervorbringung Gottes. In jener hat Gott fein 
Selbftbewußtfein in der Form ber Differenz, in dem idealen Reid: 
thume feines Weſens. Dieß, die reine Continuität der abfoluten 
Einheit mit fi in den Disceretionen, iſt die Seeligkeit, be 
ewige Selbftgenuß Gottes. Denn Seeligfeit, Genuß ift überall, 
wo die Discreten Beftimmungen bes Seins in der reinen Gonti- 
nuität fließen. Es muß überall, wo jener Genuß fein foll, bie 
Natur fi frei entfalten und doch ungehemmt in ſich bleiben, ſich 
vor ſich felbft hervorbringen und doch ſich nicht verlieren. Die 
abfolute Henade in dem ewigen Reichthume ihres intelligibles 
Lebens ift Darum die feeligftez denn fo groß dieſer Reichthum iR, 
fo mächtig ihre Einheit und ihr Sichfelbfifinden in den Ideen. 
Nichts deſto weniger find die Ideen bloße Wefenheiten 
Sie find noch Feine reale Eriftenzen, fondern bloße intelligible 
Arte oder unfinnlihe Einheiten in dem Berftande der abfoluten 
Einheit, Werden fte real, fo entfalten fie fih erft vollfommen, 
fie erlangen einen eigenen Bildungstrieb, deſſen Formen zwar 
ferbft Schon ideel in ihnen enthalten find, aber ohne daß fie ſchon 


in ihrer ganzen ſpecifiſchen Beftimmtheit, völlig entfaltet - 


. mitgefest wären. 

Hiedurch ift eine reelle Differenz Dee Möglihen und Wirk; 
lichen in Gott gefeßt. Damit aber ift der abfolute Selbftgenuß 
ber ewigen Einheit nur noch ein relativer. Es entfteht daher im 
Abſoluten nothiwendig der Wille, jene Differenz des Möglichen 


und Wirklihen in ſich aufzuheben und fomit die ewige Einhell, | 


die erft idealiter, d. h. nur relativ abjolute Zotalität ift, vollendet, 
fomit realiter als die Fülle ihres Lebens zu fegen. Das if ber 
Wille zur Schöpfung, der hienach fo ewig ift, als Gott felbft 

Der Wille Gottes zur Schöpfung kann nit anders begriffen 
werden, denn als der Wille , die Gontinuität der abfoluten Eins 
heit reell in die ganze Breite der Diseretion auszubilden, damit 
ſo Gott in der VBollftändigfeit feiner Natur vorhanden fei, oder 
damit er fich felbft fchlechthin in der Wirklichfeit alles Moͤglichen 


Ueber den Begriff Gottes, als Princip d. Philofophie. 257 


anschaue und empfinde. Der Endzweck berfelben ift daher, daß 
bie in. bie Diseretion dahin gegebenen Ideen felbft lebendige, reale 
Einheiten werben, aus ber Discretion aber ſich zurüdbilden in 
bie ewige Einheit, und begeiftet in ihm fortleben, damit Bott als 
abſolute, unendlich ſeelenvolle Henade exiſtire. 

Es wäre daher ein Mißverſtändniß unſerer Lehre, wenn man 
diefelbe dahin verſtehen wollte, als ſetzten wir die Schöpfung 
lediglich mur als. einen intellectuellen Vorgang. In Gott als 
Geiſt iſt alferdings nothwendig das Erſte die Intelligenz, Dies 
jenigen, welche ihn nur ale Subftanz zu denken vermögen, fünnen | 
ald das primam movens ber Schöpfung lediglich fein blindes 
Weſen ſetzen; und ift dieſes movens feine, aber weientliche Intel⸗ 
ligen, der Drang, fi vollfländig offenbar zu werden. Allein 
biefer intellectuelle Borgang, durch welchen die. Schöpfung zu: be= 
greifen -ift, iſt zugleich eine reale Vollendung ber.Ratur 
Gottes. Er ift die volftändige Begeiftung feiner Subftanz, .eine 
Begeiftung, welche zugleich ihre abfolute Entfaltung if. Cs ift 
daher die Schöpfung eine wirkliche Evolution Gottes und das 
Wollen der Welt ein-Selbfimollen Gottes in ber ganzen Realität 
feines Seins. Darum iſt die Schöpfung zugleich ein Act der 
Intelligenz, bes Willens und bes Weſens Gottes. 

Alſo vermöchten wir ben Willen Gottes zur Schöpfung nicht 
zu begreifen, wenn wir Gott nur ald einen endlichen, nicht als 
unendlichen Geiſt bächten. Der endliche Geift profieirt fein Selbft« 
bewußtfein ebenfalls, aber das Werk, in welchem er es projicitt, 
it ein fremdes. In Gott kann diefe Trennung nicht Statt finden, 
fondern die Einheiten, in welchen er fein Selbftbewußtfein profi- 
cirt, find vielmehr fein eigenes Leben fort und fort, find und bleiben 
feine eigene immanente Natur, feine nun befeelte und gegliederte 
Organiſation. 

Dieß iſt die einzige Art und Weiſe, wie das ewige Artuell- 
fein Gottes und feine Evolution fih vereinigen laffen. Wir 
werben in biefer Beziehung die Syfteme in den heftigften Gegen⸗ 
fügen fih bewegen fehen; wie werden finden, daß bie einen das 
einige Actuellfein Gottes ſetzen, ohne die Succeſſivität desfelben 

Zeitſchrift f. Philoſ. u. ſpek. Theo. XI. Want j 47 


258 2 Wirth, 


in der Welt und bie realen Wiberfprlche. ber letzteren aus Gott 
begreiflich machen zu fönnen, bag die anderen dagegen bie Suc⸗ 
ceffivität fchlechthin ale das Weſen Gottes beftimmen, ihm alfo 
als den Proceß felb denken, ohne ein bewegendes Selbſt dieſes 
Proceſſes oder die ewige Nefleribilität Gottes zu erkennen. Bir 
erkennen bie potenzlofe, rein actuelle Geiftigfeit als das Anfängliche, 
ſetzen aber eben deßwegen ihre Leibwerdung durch reale Organi- 
fation ale ihre ewige und nothwendige Selbftentfaltung, als Evo- 
Jution ihres Weſens, und diefe Entfaltung hinwiederum ift ung, 
wie fich fpäter zeigen wird, ebenfo ein hinausgehender, als ein 
hineingehender Proceß, wieder alfo felbft ein Geboppeltes, Aus 
breitung und Sichfeten Gottes als centralen Selbfied. Das, was 
von Ewigfeit Gottes Wefen ift, artuelles Sein in ſich und Wer⸗ 
den, Act und Bewegung, das ift er in Allem in jebem Momente, 
“indem er in Allem evolutionär und revolutionär, Aus⸗ und Ein 
kehr if. 


1. Kritiſcher Theil, 
41) Die Hegel’fche Lehre. 


Dasfenige Princip ber Philofophie, welches wir für bad 
allein zureichende erkennen und nachzuweiſen gefucdht haben, if 
von dem Hegelichen Syiteme — wenigſtens dem Wortlaute nad — 
‚anerkannt worden und mußte bieß, weil jenes Syſtem bie wid: 
tige Bedeutung in der Geſchichte ber Philofophie hat, den Pan 
theismus in die Form des abfolnten Idealismus erhoben zu haben. 
Das Hegelihe Syſtem iſt unter ben Syſtemen bes Pantheismus 
- das ausgebildetfte, lebensvollſte, es iſt durch und durch Idealismus, 
der aber eben deßwegen feinem Wortlaute nach mehr befagt, als 
er fireng genommen jagen Tann. Hegel vollendet die Syſteme 
des pantheftifchen Idealismus fchon dadurch, dag er bie zu ber 
legten Abftraction, bie dr als folche anerkennt, zurüdgeht, und fie 
bis zu dem reichften Inhalt, ben bie Idee irgend ſich geben Tann, 
son Stufe zu Stufe ſich vertiefen läßt. Während die Begriffe, 
welche bie früheren germanifchen Philofophen an bie Spibe ihrer 
Spfteme geftellt und welche fie als das Abſolute beftimmt haben, 





Ueber den Begriff Gottes, ald Princip d. Philofophie. 259 


die Subſtanz, das Ich, bie pentität des Realen und Idealen, 
ſolche Einheiten find, welche eine Bielheit von Beſtimmungen in 
fih fchließen und daher felbft der logiſchen Ableitung bedürfen, fo 
beginnt dagegen Hegel mit dem abfiracten Begriffe, dem bes 
Sein, führt ihn in feiner Logik durch die Kategorie des Weſens 
bis zur Idee, ale ber Einheit des Begriffs und der Objectivität 
durch, und läßt ihn in ber Realphilofophie endlich big zu dem 
hoͤchſten Begriffe Gottes, dem des abfoluten Geiſtes, ſich ver- 
tiefen. In der Naturphilofophie nämlich wird bie Idee begriffen 
als fih zunächſt Außerlih in Raum und Zeit anfchauend, aber 
immer tiefer aus diefer Aeußerlichkeit in fich zurückgehend, fich in 
fi) reflectirend, bis fie im Thiere empfindende Seele wird. In 
der Philoſophie des Geiſtes endlich gewinnt ber Togifche, allge⸗ 
meine Begriff, welcher in der Natur ſich entäußert bat, fein uns 
endliches Sein in fi, er kehrt in fich ſelbſt wahrhaft zurück und 
wird fo Geifl. Diefer.ift wieder im Einzelnen erft auf fubjective, 
im.Staate auf objective Weife da, bis er in Kunft, Religion und 
im reinen Willen als abfoluter Geift, als unendlich fich wiffende 
und anfchauende dee ſich actualifirt, und in diefem Yebten Sta« 
dium, dem abfoluten Wiffen in feinen Anfang, das logiſche Ele⸗ 
ment, zurüdfehrt, um fo als ein in ſich gefchloffener Kreis von 
Kreifen zu eriftiren. Bringt Hegel hierin fchon, ihrer Form nad, 
bie wahrhaft philofophifche Erkenntniß des Abfoluten infofern 
burch die Dialektik feines ganzen Syſtems zum Bewußtſein, als 
er nicht ein ſchon von Anfang an inhaltsoolles, fondern ein reines 
Wiſſen als das erfte fegt, welches erft Durch fich ſelbſt den reichen 
Gehalt des religiöfen Bewußtſeins fi) geben und logiſch gewin- 
nen muß, fo. hat er zugleich den pantheiftifchen Idealismus in bie 
abfolutefte Form, deren er fähig ift, auch feinem Gehalte nad) 
erhoben, indem er nicht nur bie Natur und alles Sein als bloße 
Form ber Selbſtanſchauung eines Ideellen, des Begriffs, febt, 
fondern aud, während Schelling in feiner früheren Philofophie 
den Geiſt als eine bloß relative, hiemit nur enbliche Form ber 
abfoluten Totalität, des Gleichgewichts des Idealen und Realen, 
fett, den Geift ale das allein wahre Abfolute beftimmt, welches 
oo. 417 * 


260 Wirth, 

zugleich das NRefultat und die Wahrheit ber Natur if. Denn de 
Fortgang der dee von dem abftracten Begriff des Seins bie 
zu dem unendlich reichen des abjoluten Geiftes hat in dem ©: 
fieme Hegeld den Sinn, daß der folgende Begriff, welcher logiſch 
fi) als Refultat der Dialektif des vorangehenden ergibt, in Wirk 
lichfeit, weil er den vorangehenden als Moment enthält, Grund 
deſſelben als feiner bloßen Borausfegung ift, ‚und die Definitim 
Gottes als des abfoluten Geiftes, welche fih am Schluffe der 
Philoſophie ergibt, ift vielmehr die allein wahre und adäquate, 
Gott ift abfoluter Geift, und die Ratur nur ein Gefebtes, ei 
Moment in Gott ald dem abfoluten Geifte, der unendlichen, Alles 
in ſich fchließenden Totalität, welche ebenfo vor, als nad) der Ne 
tur, ihr Zwed und Grund ifl. (Bd. 7. ©. 695). Idealiſtiſcher 
kann eine Philofophie, wenn wir dem Wortlaute nach urtheilen, 
nicht fein. Der Fichtefche und frühere Schelling’fche Idealismu 
find in dem Syſteme Hegels zur abfoluten Form nereinigt. - Die 
Subſtanz Schellings ift Das geworden, was Prinzip des formali 
ftifchen Idealismus war, Ich, Subject, und es if fo geleikt, 
was fchon in Schellings Philofophie Durchleuchtete, was fie abe 
nicht leiſtete, weil fie immer wieder in die fubftanzielle Anfchaunmg 
ber bloßen Identität alles Seienden zurüdfiel und das Ideale um 
als die eine Hälfte, ftatt felbft als das Ganze ſetzte; geleiſte 
fage ich, ift, was Ziel alles Idealismus fein muß, die Subflam 
als Subjeet, ald unendlichen Geiſt zu begreifen. 

Allein fo fehr Das Hegelfhe Syſtem feine idealiftifche Tieft, 
die Fülle der Anfchauung und die Einheit feiner in fich zurücllrei⸗ 
fenden Organifation nur durch die Behauptung hat, daß bie 
früheren Stufen der Iogifhen Idee von ihrem abfiraeten A 
fang bis hinauf zum abfoluten Geifte nicht vernichtet, ſonden 
zulegt in dem Begriffe des abfoluten Geiftes nur aufgehoben 
- werben, welcher vielmehr Grund der Natur, fie, um fi ane 
ſchauen, fi vorausfegende und ald Moment in fi) erhaltende, 
unendliche Subjectivität feiz fo tft ihm dieſer abfolute Geiſt ded 
nur der menfchliche, in Tegter Beziehung nur der des Philoſophen 
welcher die Natur begreift. Im philoſophiſchen Wilfen 


Ueber den Begriff Gottes, als Prineip d. Bhilofophie. 261 


ber letzten Stufe des Weltproceffes, ift Gott abfolutes Selbfibe- 
wußtjein, an ſich ift und bleibt er das Abftractum der Allge- 
meinheit, die wohl Subjectivitäten bervorbringen fol, an ſich aber 
ſelbſtlos iſt. Daß dieß der Sinn Hegels fei, ift nach den gepflo- 
genen Debatten vollig äberflüffig noch beweifen zu wollen. Statt 
vieler. Stellen nur die Eine, fihlagende! Im 7ten Bande ber 
Gefammiwerfe, ©. 695 heißt es: „Als der Zweck der Natur ifl 
ber Geiſt vor ihr, fie ift aus ihm hervorgegangen : jedoch nicht 
empirifch (!), fondern fo, daß er in ihr, die er fich vorausfeßt, 
immer fchon enthalten if. Aber — feine unendliche Freiheit Täßt 
fie frei und ſtellt das Thun der Idee gegen fie als eine innere 
Nothwendigkeit an ibr vor, wie ein freier Menfch der Welt ficher 
it, daß fein Thun ihre Thätigfeit if. Der Geift alfo, zu näch ſt 
ſelbſt aus dem Umittelbaren herfommend, bann aber abftract ſich 
faſſend, will fich felbft befreien, alg die Natur aus ſich herausbildend; 
Dieb Thun des Geiftes iſt die Philsfophie.” Aus diefem verwor⸗ 
renen Gerede, nach welchem ber Geift in der Natur, die er fi 
vorausſetzt, nur enthalten fein, urfprünglich eine fo unend« 
liche Freiheit gegen die Natur haben foll, daß er fie frei entläßt, 
und doch erſt, weil er zunächft (er, der jene unendliche Freiheit 
gegen die Natur hat!) aus dem Sinnlihen berfommt, im Philos 
ſophen ſich befreien muß, indem er bie Natur wiffend reproducirt, 
aus biefem Durcheinander von Begriffen geht wenigftend fo viel 
hervor, daß das Abfolute im Sinne Hegel abfoluter Geiſt in 
letzter Beziehung einzig im philoſophiſchen Wiffen iſt. 

Faſſen wir das Hegeliche Princip in diefem feinem beftimmten 
Sinne, fo entfteht die entfcheidende Frage: Genügt ed, um von 
ihm aus das Sein zu erflären? Wir haben vor Allem an dieſem 
Syſteme als einen Borzug die Einheit herausgehoben,. welche es 
dadurch habe, daß der abftracte Begriff in einen reicheren Begriff, 
dieſer wieder in einen inhaltsvolleren zurüdgehe, bis fie alle in 
der Art in der Idee des abfoluten Geiftes fich zufammennehmen, 
daß. diefer ald Grund aller vorangehenden Stufen des Begriffe 
fih beflimmt, die vorangehenden Stufen aber als feine bloßen 
Momente erfcheinen. Schärfer aufgefaßt ift gerade diefe Methode 


es, durch deren Anwendung dad Syſtem der Grunbeinheit, ober, 
was daſſelbe ift, des Princips entbehrt. Wie kann denn das 
metaphyſiſche Princip, aus dem Alles geworden, wieder Moment 
eines Andern werden? As Moment iſt es bloße Beſtimmung 
einer Einheit; es ift fubjicirt, und dieſe tiefere Einheit ift das 
Subſfeet. Das metaphyſiſche Prineip aber — wohl zu unters 
fiheiden von dem Anfang ber Philofopbie, der ein bloß fubjectiver 
Ausgangspunkt fein kann — muß fchlechterdings, weil es Princip, 
weil es Grumbbegriff ift, auch die in allem Folgenden herr, 
ſchende Einheit fein und bleiben. Das follte man wahrhaftig 
nicht erſt zu beweifen brauchen. Der bloße propäbeutifche Anfang 
der Philofophie Tann und muß fich aufheben; denn er kann nur 
das Unmittelbare fein, das Unmittelbare aber if ein Geſetztes, 
und das Geſetzte muß in feinen Grund zurüdgeben. Der meta 
phyſiſche Anfang aber oder das Prineip der Philofopbie kann 
nie fich aufheben, eben weil er Alles fett. Das Princip kann ſich 
bereichern, es muß dieß fogar, fo nothwendig das Ideale Realität 
wird; aber in allem Inhalt, welchen das Prineip. feßt, — und 
aller Inhalt muß vom Princip gefegt fein, weil es Princip if — 
muß es ſich ſelbſt erhalten, ed muß im Geſetzten bei ſich felhfl 
oder es muß Subject bleiben, ohne je Mm alle Ewigkeit Pradicat 
werben zu Fönnen. Das metaphufiiche Prineip iſt das Abſolute 
und aud in der Hegel’fchen Metaphyfif hat es dieſe Beftimmung. 
Aber fhon das Wefen entihront das Sein; es feut es ab und 
zwar herab zu einem bloßen Sein, ja noch mehr vernichtet es; 
denn der Schein hat feine Nichtigkeit im Weſen. So ergeht «0 


abber auch dem Weſen durch den Begriff und fofort. Cine ſolche 


Enttfronung der Götter durch ihre Söhne hat man wohl in ber 
Mythologie erlebt. Diefer Mythologie Tann man bieß auch gut 
halten; denn entfprungen aus einer in das Mannichfaltige der 
Welt. verfenften und ihre ethifchen Maͤchte perſonificirenden Phan⸗ 
tafie, vermochte fie die höchfte Einheit nicht zu denken, welde 
über Alles herrfcht und in Allem nicht bloß als eimapuevn, viel 
mehr affirmatio fich erhält. Diefe Einheit zu begreifen, hat aber 
bisher gerade als Unterfchied des Philofophirens vom Mythiſiren 





Ueber den Begriff Gottes, ald Princip d. Philofophie. 263 


gegolten, und Fein einziges Syſtem, nicht nur jene, welche das 
abfolute Prineip ſogleich als fich ſelbſt denkendes Subject, wie 
das des Plate, Ariſtoteles, Zeno, Leibnig, fondern ſelbſt jene nicht, 
welche es abfiract beftimmen, haben ed wieder zu einem Moment 
oder gar zu einem nichtigen Schein bepotenzirt. Sie alle haben 
ihren Grunbbegriff feftgehaltenz; er iſt Ihnen fänmtlich geblieben 
in allen weiteren Beftimmungen, weldye fie aus ihm ableiteten. 
Nur eine falfche, und, wie wir ſogleich fehen werben, nihiliſtiſche, 
im Grunde ſophiſtiſche Dialektik konnte fo febr alle Regeln des 
Philoſophirens vergeflen, daß fie ihren Urbegriff, der nichts Ges 
ringeres als das Abfolute in feinem reinen Weſen fein fol, wieder 
in eine leere Beitimmung, in das Aermlihfie, was man fagen 
könne, wie Hegel fonft das Sein bezeichnet, verwandelte, 

. .. Der Raum geftattet uns nicht, alle Srrgänge barzuftellen, 
durch welche Hegel im feiner Logik den Fortgang vom Sein aus 
zu concreteren Begriffen gewinnen will, Auch fonft find dieſelben 
bargeftellt worden, und wir wenden uns baher zu bem Haupte 
probleme, welches jeder, das Abfolute an ſich nicht als Geiſt, 
nicht als Subject, fondern als ein Abftrachım fetender Pan⸗ 
theismus, biemit auch der Hegel’ihe zu Höfen bat unb von 
deffen Löfung die Wahrheit des Syſtems felbft abhängt, nämlich 
zu der Frage: wie it das Lebendige, Befeelte, vollends wie If 
der Geift geworden? Hier if nur eines von beiden möglich, 
entweder jene höheren Seinsformen find zeitlich entftanden ober 
fie find ewig. Sind fie zeitlich entflanden, fo iſt ein Vierfaches 
und mur ein foldhes denkbar: fie find entflanden entweder aus ber 
Iogifchen, an und für ſich felbftlofen Fdee, ober aus dem Geifte 
als dem abfoluten Prius oder aus dem Chaos, das noch unges 
ſchieden die verfchiedenften Lebendfeime enthielt, oder endlich 
ſchlechtweg aus der Materie. Nach allen dieſen genau beſtimm⸗ 
ten Weifen ber Löfung jenes Problems muß einmal das Hegelfche 
Syſtem geprüft werden, um völlig über feine Wahrheit entſchei⸗ 
ben zu koͤnnen. Hegel gibt wenigftend von ben telluriichen For⸗ 
men bes Lebens zu — und er kann nicht anders —, Daß fie eine 
zeitliche Entftehung gehabt haben, Die Gefchichte, fügt er (DB. 7, 


6. Wirth, nn el 


Abth. I, S..437), ift früher in die Erde gefallen, jetzt aber if 
fie zur Ruhe gefommen: ein Leben, das, in fich ſelbſt gährend, 
die Zeit an ihm hatte; der Erbgeift, der noch nicht zur Entgegen 
fegung gekommen, — die Bewegung und Träume eines Schlafenden, 
bis er erwacht und im Menjchen fein Selbſtbewußtſein gefunden, 
und ſich alfo ale ruhige Geftaltung gegenübergetreten. Es iſt und 
dieß genug. Gibt Hegel nur von den tellurifchen Formen des 
Lebens und Geifted eine zeitliche Entftehung, alfo eine Zeit zu, 
in der fie nicht waren, und eine folche, in der fie wurden, — fi 
muß er aud) ihre Genefis begreiflich machen, und dieſe Debuction 
wird in Hegels Syſtem fogar, obgleich fehon bier der Widerſpruch 
einer folchen Annahme unmittelbar in die Augen fpringt, ben Wert 
einer allgemeinen Debuction alles organifchen, pſychiſchen und 
geifligen Lebens haben, weil Hegels Syſtem nur eine telluriſche 
Form deſſelben kennt. Dasjenige Erklärungsprincip, auf welche 
zunächſt das Syſtem führt, iſt die logiſche Idee. „Indem“, ſag 
er (Log. Th. II. ©. 353), „die Clogifche) Idee ſich als abſolute 
Einheit des reinen Begriffs und feiner Realität ſetzt, ſomit in die 
Unmittelbarkeit des Seins zufammennimmt, fo ift fie als bie 
Totalität in diefer Form — Natur. Diefe Beftimmung if 
aber nicht ein Gewordenſein oder Uebergang. Die reine Idee, 
in welcher die Realität des Begriffs felbft zum Begriffe erhoben 
ift, ift vielmehr abfolute Befreiung, für welche Feine unmittelbare 
Beſtimmung mehr ift, die nicht ebenfo fehr gefest und ber Be 
griff iſtz in dieſer Freiheit findet. Daher fein Uebergang flatt, dad 
einfachfte Sein, zu dem fich die Idee beftimmt, bleibt ihr. vollfems 
men durchſichtig, und ift_der in feiner Beflimmung bei. fi blei 
bende Begriffe Das Uebergehen ift daher bier vielmehr fa 
fuflen, daß Die Idee fich felbft frei entläßt, ihrer abfolut ſicher | 
und in fi rubend. Um diefer Freiheit willen ift die Form ik 
ver Befimmtheit ebenfo ſchlechthin frei — die abfolut für 
ſich felbft ohne Subjectivität feiende Aeußerlichfeit des Raumd 
und der Zeit.“ Diefe Stelle kann nicht den Sinn haben, daß 
unfer fubjectives Erfennen, nachdem es den Iogifchen Proceß 
durchlaufen, eine Tiefe gewonnen babe, bei welcher ihm die Re 


Ueber den Begriff Gottes, als Princip d. Philoſophie. 268 


tur burchfichtig fei, der Geiſt in -ihe nur fich ſelbſt wife Ein 
ſolches Sichwiſſen der Idee in der Natur entfteht erft am Schluffe 
Cogl. B.7, S. 696), nicht am Anfang der Naturphitofophie. . Hier 
fol die Idee als etwas ſchlechthin Dbjectived gefaßt werben. 
Zwar ſchimmert jene fubjective Auffaffung der Idee in der angef. 
Gtelle der Logik S. 352 dur, wenn es heißt: „Weil bie reine 
Idee des Erfennend infofern (fie nehmlich logiſch iſt) in Die Sub« 
jeetivität eingeichlofien ift, ift fie ber Trieb, diefe aufzuheben, 
und bie reine Wahrheit wird als letztes Refultat auch der Ans 
fang einer andern Sphäre (der Natur) und Wiſſenſchaft.“ 
Allein dieß iſt nur eine ber vielen Begriffsveriwirrungen, ber tau⸗ 
ſend Unterfchiebungen und Verwechslungen völlig heterogener Ges 
danken, von welchen das Hegel’iche Syftem voll if. Wenn Raum 
und Zeit entſtehen durch die Form der Selbfibeftimmung der Idee, 
fo muß fie wahrlih als eine objective Macht gedacht werben. 
Aber wie ift dieß denkbar? Wie Fann die Idee etwas Obfectives 
fein, welche durch die völlig fubjectiven Reflerionsbeflimmungen 
des Weſens, einer fingirten Möglichkeit im Unterfchiede von der 
Wirklichkeit und dgl., vollends durch die fubjective Logik hindurch 
geführt wird? Kann dieß ihr ewiger, an und für fi feiender 
Rebensproceß fein, welcher idealiter Der Natur vorangeht und durch 
welchen fie in ihrer Fülle jene Sicherheit und Selbftgewißheit ers 
langt, mit der fie frei die Natur entläßt? Doch dieß zugegeben, 
das Allgemeine habe jene unendliche Lebensfülle, jenen Reichthum 
von abfirarten Begriffen in fih, welchen Hegeld Logik entwidelt 
und vermöge befien es fchlechthin nichts ihr Fremdartiges in ber 
Realität gibt, diefe vielmehr ihr ganz durchſichtig iſt, wie kann fie 
denn nun die Natur fchaffen? Es ift Schon zugegeben, daß bie 
jellurifchen Formen der Drganifation des Lebens und des Geiftes 
einen zeitlichen Anfang hatten. Denfen wir ung, die Erbe fei in 
jenem primitiven Zuftande, in welchem fie Nichts war, als eine 
Aetherfugel. Wie, woher fommt nun jene erfüllte Iogifche Idee 
hinzu, um in der Kugel die verfchiedenen chemiſchen Stoffe zu 
fcheiden, fie als Granitmaffen nieberzufchlagen und das Lebendige 
hervorgehen zu. laflen? Iſt jene reihe Idee etwas von jener 


6 . Wirth, 


Aetherkugel ſelbſt Berſchiedenes, fo kann fie Fein Ab ſtractum 
fein; dann muß fie etwas in ſich ſelbſt und für ſich felb Seien 
des, db. i. Subfectivität an und für fi fein. Das iſt fie aber 
nicht nach dem Geifte des Syſtems. Sie muß daher etwas mit 
dem Aether felbft ſchlechtweg Identiſches gewefen fein; dann 
war fie urfprünglich nicht die unendlich erfüllte, alle Wahrheit ideell 
in fih tragende Macht, welche ihrer felbft ſicher die Welt entläßt, 
fondern fie war dann nur die ganz einfache Kraft der einfachfen 
Materie. Das einzig Vernünftige, wad man vom Hegel’ichen 
Standpunkte aus noch fagen Fönnte, um die tellurifchen Bildungen 
genetifch zu erklären, wäre, dag eben jene Aetherfugel fchon eine 
in fih zurüdgebende Einheit felbft fei, die, indem fie im 
mer reiner fi) in fich reflectire, die Lebensformen bis hinauf zum 
Geifte bilde oder fie felbft werde. Allein dieſe Reflerion dei 
Aethers felbit kann fchlechterdings nur als Act eines Subjects ber 
griffen werben; bie Materie an fich, alſo felbft die reinfte, rei 
nur nach Ausdehnung ; die Berneinung der Ausdehnung feibk iß 
Act eines Anderen, als ber Muterie, alfo audy hier. des Aethers. 
Als dieſe Subjectivität ſetzt daher Hegel die Iogifche Idee auf 
bier am Schluffe, wie früher am Anfange feiner Logik. Aber als 
foiche fest er fie nur duch Hypoftafirung berfelben; ja be 
Nero feiner Deduction der Natur beruht auf einer Subjecti⸗ 
yirung der in Wahrheit fubjectlofen Idee. Denn derjenige 
Begriff, auf welchem der ganze Verſuch einer Ableitung ber Na 
tur aus der Iogifchen Idee beruht, ift der, daß fie fie, ihrer abs 
folut fiher, fich ſelbſt entlaffe, oder (B. 6. 6.244) gar, baf 
bie Idee anfchaut, daß fie fih entfihließt, das Dioment ihrer 
Befonderheit als ihren Wiederfchein zu entlaffen. Dieß find abet 
offenbar Beflimmungen, welche nur einem Subjerte zukommen; 
fie beweifen eben damit nur bie unumgängliche Nothwendigfei, 
welcher auch Hegel unwillfühtlich bei aller Abfiraction feines Yriw 
eins fich nicht zu entwinden vermochte, das Princip Doch als das ſchoͤ 
pferifche Selbſt einer Welt zu denken, welche in allen ihren Sphaͤ⸗ 
zen eine fich ſelbſt coneret anfchauende Syntelligenz offenbart. Es 
kann daher Hegeln nur zum Berdienfte angerechnet werben, went 


Ueber ben Begriff Gottes, als Princip d. Philoſophie. 367 


er fogar fo weit geht, bie Undenfbarfeit bavon, daß die abſtracte 
metaphbyfiihe Idee die Natur gefchaffen habe, einzugefleben 
und den Geift als Princip derfelben amzuerkennen. Dieß thut. 
er in der ſchon eitirten, hoͤchſt merkwuͤrdigen Stelle (B. 7. Abth. 4. 
©. 695): „der. Beift ift ebenfo vor ald nach der Natur, nicht blos 
die metaphyſiſche Idee derfelben. . Als Zweck der Natur it er vor 
ihr; fie ift aus ihm hervorgegangen.” Hiemit fegt Hegel mit aus⸗ 
drüdlicher Ausichliegung der metapbufiihen Idee ben Geiſt ale 
Princip der Natur und geht ebendamit zu dem zweiten mög«- 
lichen Erflärungsgrund der Welt über. Allein ebendamit ftürzt 
er im runde fein ganzes philofopbifches Gebäude um, und eben 
dad Gefühl hievon war ed, was Hegel beftimmte, fogleich jene 
Worte, in welchen er feiner ganzen Philofophie das Urtheil ges 
fprochen, wieder zurüdzunehmen. Die Natur iſt aus dem Geifte 
hervorgegangen; jedoch, feßt er hinzu, nicht empirifch, fondern fo, 
daß er in ihr, die er fih vorausfegt, immer. ſchon enthalten iR, 
Wir wollen hier abfehen von der Sophifterei, mit welcher Hegel, 
um ein, den Geift wirklich ald Grund der Natur begreifendes 
Syſtem defto leichter zu widerlegen, ihm bie abfurde Meinung 
unterlegt, welche feinem Spfteme fo fremd fein muß, ale eben 
jenem, als habe der Geiſt auf empirifche, d. 1. finnlich wahrnehm« 
bare Weife die Natur geichaffen. Wir fragen, was es heiße: 
der Geiſt fei immer ſchon in der Natur enthalten? 
Der Sinn fann ber dreifache fein: entweder, bie metapbyfifche 
Idee der niederen Organifationsftufen fei an fich fehon die des 
Geiſtes, oder diefe Organiſationsſtufen felbft feien der Grund bes 
Geiſtes, das Unorganifche verwandle fih in ein Organiſches, Dies 
ſes in ein Beſeeltes und das Befeelte werde zuletzt Geift, ober 
endlich in der urfprünglichen Natur feien außer den Keimen bes 
Pflanzlichen, Thierifchen auch befondere materielle, in hohem Grabe 
der Senfibilittät faͤhige, vielleicht ferbft fchon ſenſible Elemente in 
einander, alfo ald Chaos geweſen und ihre Scheibung fei bie 
Schöpfung der Welt. Die erfie Annahme hatte Hegel kurz zuvor 
verworfen; bie zweite befireitet Hegel ausdrücklich S. 440 feiner 
Raturphilofophie, wo er fagt: „Der Menfch bat fih nit aus 


268 Wirth, 

dem Thiere herausgebildet, noch dad Thier aus ber Pflanze; je 
des iſt auf einmal ganz, was es if.” Folglich bleibt nur die 
dritte Annahme, die Hypothefe eines mit allen möglichen Lebens- 
Feimen gefchwängerten Chaos übrig, und dieſes iſt es, was wes 
nigfteng der Vorgänger Hegels, Schelling, zu lehren fcheint, wenn 
er in der Zeitfchrift für ſpekulat. Phyſ. IL 2. ©. 120 fügt: „Die 
Erde felbft wird Thier und Pflanze, und es ift eben Die zu Thier 
und Pflanze gewordene Erde, die wir jest in den Organifationn 
erbliden. Nicht ale ob wir und vorftellten, das Organiſche habe 
fi) überhaupt aus dem Unorganiſchen gebildet, da wir doch dieſes 
gar nicht zugeben, und alfo freilich die Organifation nicht entfiaw 
‚den, fondern von Anbeginn, wenigftend potentia, gegenwärtig 
denken. Die febt vor und liegende unorganifch wirkende Materie 
{ft freilich nicht die, woraus Thiere und Pflanzen geworden find, 
denn fie ft vielmehr dasjenige von der Erde, was nicht‘ Thie 
und Pflanze werden Ffonnte, alfo das Reſiduum der organifchen 
Metamorphofe.” . Einen folhen Zuftand der Erde aber, in web 
chem die verfchledenartigen Lebenskeime noch ungefchieben, gähren), 
in einander lagen und wirkten, leugnet Hegel aufs Entfchiedenfk. 
„Man ftellt”, fagt er Naturphil, S. 439, „die Production dei 
Lebendigen als eine. Revolution aus dem Ehaos dar, wo das we’ 
getabilifche und animaliiche Leben, Das Drganifche und Unorganiſche 
in Einer Einheit gewefen feien. Das ift aber eine VBorftellung 
ber leeren Einbilbungskraft. Das Natürliche, Lebendige if nicht 
gemengt, Fein Bermifchen aller Formen, wie in Arabesken. Di 
Natur Hat wefentlih Berftand. Wenn alfo aud) die Erbe is 
einem Zuftande war, wo fie Fein Lebendiges hatte, nur ben che 
miſchen Proceß u. ſ. w.; fo ift doch, fobald der Blitz des Leben 
digen in bie Materie einfchlägt, fogleich ein beſtimmtes, vollſtaͤn⸗ 
biges Gebilde. da, wie Minerva aus Jupiters Haupte bewaffnet 
fpringt.” Wir koönnen das Vollgewicht diefes Grundes nicht m 
Abrede fielen. Abgefehen davon, daß jene Erklärung eine bloße 
Diallele ift, das zu Erklärende, die befonderen Kebensftufen, ſchon 
als beſondere Materien vorausfebt, hienach das Problem nur wei 
ter zurückſchiebt, nicht aber feldft feinem letzten Grunde nad 


Ueber den Begriff Gottes, ald Princip d. Philofophie. 269 


löst, fo fpricht gegen fie die fpecifiiche Beftimmtheit des Organis 
fhen, Seelenhaften und Geiſtigen, vermöge beren fie in ſich bes 
flimmte Totalitäten und, obwohl durch ihre Borftufen bedingt, 
doch ſchlech: hin aus fi un) mit Einem Male find, fobald fie ein« 
mal werden. Nur Eonnte Hegel in Wahrheit jene Einwendung _ 
nicht machen, fo wenig, ald er in Wahrheit jenes Haupt Jupiters 
erfannt hat, aus welchem bie Minerva, die vernünftige Seele ber 
Natur, entfprungen. Einen Berfiand, aus welchem er bie ver⸗ 
ſchiedenen Lebensformen als fpecififche, in fich beſtimmte Totalitä« 
ten erklärt, gibt es nicht ohne ein Verſtändiges; man fann ihn 
bypoflafiren, perfonificiren, aber der Verſtand, welcher alles My⸗ 
ihifche abgeftreift hat, muß auch das Mythiſiren der Philofophie 
erfennen und aufheben. Strauß bat die Menjchenbildung ſchlecht⸗ 
weg aus der Materie, ber vierten unter ben möglichen Hypo⸗ 
tbefen, zu erflären verfucht. Das, was Schelling in der angef. 
Stelle noch Teugnet, die Entflehung des Organifchen aus ber uns 
organifchen Materie ift feine ausbrüdliche Behauptung. Er be- 
ruft fich zu diefem Behufe auf die fortwährende generatio aequi- 
voca. einiger der niederften Thierarten und, indem er fie als daß 
verfchwindende Nachzittern einer Bewegung betrachtet, deren ges 
waltigen Anfängen alles organifche Yeben, biemit auch das bes 
Menfchen, feine Entftehung verdankt, ift ihm bie erfie Menfchen- 
bildung nur ein natürlicher Proceh, das Ergebniß bes Zur 
fammentreffens gewiffer phyfifalifher Bedingungen 
(die chriftl. Glaubensl. S. 685 — 685). Strauß find alfo die 
neueften Unterfuchungen über Infuſorien unbefannt, er weiß nicht, 
daß fie auf das Beftimmtefte die Fortpflanzung der mifroffopifchen 
Thierwelt theild durch Ableger, theils durch Samenbildung, immer 
alfo durch die generatio univoca nachgewieſen haben, Er ver- 
kennt zugleich die fpecifiiche Differenz des organifchen, vollends 
des pfychifchen und geiftigen Lebens von der Dynamis der Mas 
terie, eine Differenz, vermöge der es feinen Grund nie in der 
letzteren haben kann. Nichtödeftoweniger müſſen wir in der An⸗ 
fiht yon Strauß die äußerſte, firengfte Confequenz des Syſtems 
erkennen. Strauß ift in ber. Hegeffchen Schale baflelbe, was 


270 Wirth, 


Oken in der Schelling'ſchen; beide find confequente Denker, welche 

:folgern, was in dem Princip, wenn es ohne Nebel, Har gedacht 
wird, fehlechterbings Liegt, und fo treffen beide hier, wo ibrelin 
-terfuchung denfelben Gegenftand zum Objeete Bat, in bemfelben 
materialiftifchen Refultate zufammen. Die beiden großen Urheber 
des fuhftanziellen und des abfoluten Idealismus mit ihrem reichen 
Geiſte, ihrem genialen Blid in die Schöpfung fonnten fidh nid! 
dazu entfchließen, was Schülern von einer verfiändigen Richtung 
eher möglich ift, Die Menſchenbildung als Nefultat einer gewiſſen 
Miſchung der Stoffe unter gewiffen Berhältniffen der Temperatm, 
der Electricität, des Galvanismus u, ſ. f. (Strauß a. a, O.) zu 
betrachten. Allein weil der erfte Zuftand der Erde Doc ein ww 
organticher gewefen fein muß, weil fodann der ſchlechtweg im 
manente Pantheismus nur aus der ber Erde immanenten Kraf, 
alfo hier den phyſikaliſchen Agentien, Alles ableiten. barf, was af 
ber Erde ſich weiter entwidelte, jene unorganifche Kraft aber fein 
anſchauendes Princip, Feine mit dem Reichthume der Togif erfüllte 
Idee, fondern eben nur biefes ganz Aäußerliche, unmittelbar fi 
liche Ideelle ift, fo muß der fchlechtweg immanente Pantheiemm 
in feiner reinen Gonfequenz zum Materialismus führen. De 
Sophisma, auf welchem diefer beruht, ift zwar das allerpfatteke: 
post hoc, ergo propter hoc, allein e8 ift unvermeidlich auf einen 
Standpuntte, welcher Fein anderes propter fennt, als jeneö hoc. 
Mit Einem Worte, jenes anfchauende Princip Schellings, uw 
jene abfolut erfüllte Idee Hegels, welche in idealer: Präerikem 
fhon den ganzen Reichthum des organifchen, pfychifchen, geiftigen 
Lebens enthält und dieſen, ihrer felbft ficher, nur zu entlaffen braucht, 
find eine Art Mittelweſen zwifchen einer wirklichen Subfeetivitt 
und zwiſchen einer bloßen Naturfraft, für ſich baltungslofe Hype 
ftafen, welche entweder zu einem realiftifchen Idealismus ode 
einem materialiftifchen Naturalismus führen müſſen. 

Wenn wir nun nad) dem Bisherigen Hegel zwifchen entgegen 
gelegten Antworten auf jene Grundfrage: wie ift Reben, Seele, 
Geift geworben, ſchwanken und ihn zu Feiner Entſcheidung kom⸗ 
men jehen, fo bleibt ihm noch Ein Ausweg übrig, um dieſes Pre 


Ueber ben Begriff Oottes, als Princip d. Philofophie. 271 


blem nicht fowohl zu Höfen, fondern zu — umgeben, nehmlich die 
Behauptung, fie feien überhaupt nicht geworben und ‚bie Aufgabe 
der Philofophie fei daher nicht, die Bedingungen ihres Wer- 
dens, fondern nur das, fie ald einmal vorhandene Formen, 
als nothwendige Glieder des Einen Bernunftorganis- 
mus zu begreifen, alfo nur die logiſche Stelle auszumitteln, 
welche die Begriffe derſelben — abgefehen von aller ihrer empi⸗ 
rifhen und zeitlichen Geneſis — im Spfleme einnehmen. Zu 
dieſer Beantivortung jenes Problems neigt fi) Hegel — freilich, 
nachdem er ſich mit demſelben in offenbarer Berlegenheit herum⸗ 
geichlagen — aufs Entichiedenfte hin, ja feine ganze Naturphilo⸗ 
fophie beruht auf diefer Auffaffung jener Lebensformen ald einmal 
da feiender Fotenzen des Totalorganismus, einer Auffaffung, bei 
welcher er ihre Begriffe nur beflimmt, fie nicht deducirt. S. 26 
feiner Naturpbilofophie ſagt er: „Bei der Frage, ob die Welt, 
bie Natur in ihrer Endlichkeit, einen Anfang in der Zeit habe 
oder nicht, hat man die Welt oder die Natur überhaupt vor ber 
Borftellung, d. i. das Allgemeine; und das wahrhaft Allgemeine 
ift Die. Idee, von der ſchon gefagt worden, daß fie ewig. Das 
Endliche iſt zeitlich. Die Philofophie aber iſt zeitlofes Begreifen, 
auch der Zeit und aller Dinge überhaupt, nad ihrer ewigen Bes 
ſtimmung.“ Wohl, wenn Hegel in feiner Naturpbilofophie nur 
nicht diefe tellurifchen Formen des Lebens begreifen wollte! 
In dem bezeichneten $. fucht er die Frage nad) dem Urfprunge 
des Lebens abzuweifen, weil die Natur im Allgemeinen ewig 
fei. Dieß ift fie gewiß. Aber Hegel findet ja eine lebenbige, 
befeelte und begeiftete Natur nur auf Erden, und die ſe Formen 
des Seins find offenbar entftanden, mit ihrem bloßen Begreifen 
iR es da nicht abgethan. Aber felbft von ihnen will Hegel nur 
jenes zeitlofe Begreifen flatuiren. „Zu beſtimmen“, fagt er S. 439, 
„wie e8 vor vielen Millionen Jahren Cauf der Erde) gewefen if, 
iſt nicht das Intereſſante; fondern das Intereſſante befchränft fich 
auf das, was da iſt, — auf dieſes Syftlem ber unter- 
fhiedenen Gebilde” Darum ftellt Hegel, allen geologifchen 
Unterfuchungen zum Troß, es fogar als etwas Problematiiches 


972 Wirth, 


dar, ob fie nur entitanden feien. „Wenn”, fagt er ©. 440, 
diefes Wenn felbft betonend, „alſo auch die Erde in einem Zuſtande 
war, wo fie ein Lebendiges hatte, nur den chemifchen Yroref 
u. ſ. w.“ Wenn wir auch an die Philofophie die Forderung nicht 
ftellen, fie folle eine empiriſch genetiſche, aljo geognoſtiſche Eons 
firuction der Erde liefern, wenn auch die philofophifche Conſter⸗ 
ction wefentlich eine Iogifche bleiben muß, fo muß fie doch wirklich 
eine Conſtruetion oder eine genetiſche Deduction ſein, und daff 
fi nicht in eine bloße logiſche Beſchreibung verwandeln. 
Wird freilich dieß der Philofophie zugeftanden, dann hätte Hegel 
gewonnen Spiel, dann Tönnte er, indem er die tellurifchen Leben“ 
formen als bie allein feienden, ewigen, allgemeinen vorausfegen 
dürfte, das Syſtem des Tellurismus an die Stelle des Syftem 
bes Weltorganismus ſetzen; dann bedürfte es auch Feines Goitet, 
im biefes zu erflären, indem. ber logiſche Ceigentlich. fubjective) 
Begriff Alles vermöcte, dba er ja Nichts zu leiften, Nichte 
zu fhaffen Hätte. Und. feiner anderen, als der Iogifch deferiw 
tiven Methode hat ſich Hegel in feiner Naturphilofopbie bediem. 
Die geht fehon daraus hervor, daß er Arten aus Arten ms 
ftehen läßt. Den Uebergang zu den Pflanzen madıt er $. 54 
fo: „Diefe Trennung des allgemeinen, ſich äußerlihen Drganik 
mus (des Landes), und dieſer nur punftuellen, vorübergehenber 
Subjectivität (der Pilze, Flechten) hebt fich, vermöge der an fih 
feienden Identität ihres Begriffs, zur Eriftenz diefer Identität, 
zum belebten Organismus auf.” Hierin fünnte man noch am 
meiften eine real=-Iogifche Deduction des vegetabilifchen Organid 
mus finden, fofern die Erde ald Grund beffelben durch genersto 
aequivoca gedacht würde, Aber Hegel fegt nicht die Erde, fo 
dern ben Iogifchen Grund, die an ſich feiende Identität ber Erbe 
und der Subjectivität, einen Grund, der noch leichter, als bie for 
mellen Raifonnementsgründe, gemacht ift, fofern man, was wirk 
lich iſt, nur als an ſich ausfprechen darf, um ihn zu befommen, 
Bei der Darftellung des Thieres und Geiſtes bedient ſich aber 
Hegel vollends ganz der befchreibenden Methode, bie indeß aud 
fonft ihm eigen ift, nehmlich der, ftatt von der höchften Allgemein 


Ueber den Begriff Gottes, ald Princip d. Philofophie. 273 


heit durch Gliederung zu den Species, wie es bie wahrhaft Io- 
giiche, organifivende Methode erfordert, von Arten zu Arten forte 
zugehen. Bon der Reife der Pflangenfrucht, die zugleich ein Vers 
derben berfelben fein fol, weil in bem Blumenleben der Punkt 
des Fürfichwmerdend nur als ihr Tod erfcheinen könne, macht er 
den Uebergang zum Thiere, in weldhem das Einzelne als iden⸗ 
tiſch mit Dem Allgemeinen geſetzt fei ($. 349), und ganz denfelben 
Uebergang madt er in der Arzneiwillenfchaft, in welcher zudem 
bereits der menfchliche Organismus, alfo der Leib vor dem Geifte, 
bad Begründete vor dem Grunde, in Betracht gezogen wird, durch 
den Tod des thierifchen Organismus zum Geifte, indem in dem 
jelben einer Seit eine Unangemeffenbeit des Individuums - zur 

Gattung, anderer Seits, fofern das Thier aus ſich abfterbe und 
fein Leben nur als proceglofe Gewohnheit erfcheine, eine unmits 
telbare Fdentität beider, alfo zwei Momente gefebt feien, deren 
Widerfpruch zur wahren Einheit, zur negativen Identität des Ein⸗ 
zelnen mit der Gattung, — dem Geifte werde, Abgeſehen das 
von, daß ber Uebergang von der Pflanze zum Thiere und von 
diefem zum Geifte völlig derſelbe ift, Thier und Geift fomit nicht 
unterfchieden,, beide als Identität der Gattung und Einzelheit ges 
feßt find; fo entfteht das Thier fo wenig aus ber Reife der Pflan- 
senfrucht, als der Geift aus dem Tode bed Thierd, und wenn 
Hegel fih das Verdienſt zufchreibt, Urheber der objectiven Me⸗ 
thode zu. fein, fo ift wenigſtens bier feine Deduetion nicht der 
Gang der Sache felbft, vielmehr nur eine rein fubjective 
Betrachtung in der Art, daß Hegel feine höheren Begriffe an die 
Sorangehenden nur anfchließt, bie Momente ber erfteren in 
den letzteren nur findet, bie Identität biefer Momente aber 
rein willkührlich ſupponirt; denn damit 3. DB. daß im Sterben 
des Thiers einer Seits fein Unterfchieb von der Gattung, anderer 
Seit feine Einheit mit ihr vereinzelt zur Erfcheinung fommt, iſt 
die Identität beider, jenes Unterſchiedes und dieſer beiden noch 
nicht geſetzt. Hegel fagt, „im Begriffe” werde dieſe Identitaͤt ge⸗ 
fegt (orgl. $. 349). Allein diefer Begriff ift hier Tebiglich eine 
ſubjective Reflexion, welche zudem, wenn fie ben böheren Begriff 

Beitfcheift f. Philoſ. u. ſpek. Theol. XL Band. 18 


274 Wirth, 


an das Borangehende nur anfchließen, Arten nur aus Arten, nicht 
aus dem höheren identifchen Grund ableiten wollte, für bie Ge⸗ 
nefis des Thieres in ben höcften Species der Pflanze und für 
die des Menfchen in den höchften Thierfperies einen viel reelleren 
Uebergangs= oder Anſchließungspunct (nicht Debustionsgrund), ale 
an der Reife der Frucht oder dem Tode des Thieres hätte finden 
tönnen. — Bliden wir daher auf die verfchiebenen, in bem He⸗ 
gel’fchen Syſteme theils enthaltenen, theild von ihm aus möglichen 
Löfungen des Hauptproblems, wie aus bem höchſten Prineip ein 
Lebendiges und Beiftiges geworben, zurüd; fo geht aus dem Bis⸗ 
berigen fattfam hervor, daß Feine gelungen, ja feine von bem 
_ Principe des Hegel'ſchen Syſtems aus möglih, ſchon aber das 
Schwanfen des Meifters felbft in biefem ein Beweis von dem 
dunklen Bewußtfein fei, wie wenig fein Princip diefem Problem 
gewachfen, wie wenig alfo ſein Syſtem in ſeinem tiefſten Grunde 
vollendet ſei. 


2) Neue⸗zſſchelling'ſche Lehre. 


Das Hegel'ſche Syſtem iſt die höchſte Spitze, die vollendeiſte 
Form des Pantheisſsmus, eine Form, in welcher er ſich über ſich 
ſelbſt hinauserhebt. Indem der Pantheismus idealiſtiſch wird, 
ſetzt er den Geiſt als das abſolute Princip; er iſt ihm die in ſich 
negative Einheit, welche bei aller Disjunction doch monadiſch 
bleibt, hiemit alle Realitaͤt in ſich zurücknimmt. Wird aber dieſes 
Princip beſtimmt gedacht, fo hört das Syſtem auf, ein blos re 
latives zu fein, 28 erhebt fih, fomweit dieß dem menfchlichen 
Geifte möglich ift, zur Abfolutheit der Anfchauung, welche ale 
blos relativen Syfteme, biemit auch bie pantheiftifchen, als bloße 
Fartoren umfchließt, felbft aber in ſich ein durchaus vollendeice, 
urfprüngliches Ganzes hervorzubringen im Stande if. 

Schelling war es vorbehalten, dieſe abfolute Geftaltung ber 
Philofophie anzubahnen. Hat Plato zwei Epochen der Philos 
fophie begründet, die erfte durch fein Wort felbft, Die zweite und 
abichließende Epoche durch feinen Geift in der Form bes Neus 
platonisnus, fo ward Schelling bei dem rafcheren Ablauf der 


Ueber den Begriff Gottes, als Princip d. Philoſophie. 275 


germanifchen Philofophie, deren Grund bie über bloße Uebergangs⸗ 
formen ſchneller binausfchreitende, in ihnen weniger befriedigte, 
göttliche Tiefe bed deutfchen Gemüths ift, der feltene Beruf zu 
Theil, zwei Hauptformen ber germanifchen Philofophie, bie cen- 
trale und die abjchliegende, unmittelbar felbf zu begründen. 
Schelling's Genie war nur beſtimmt, Standpunfte zu gewin- 
nen. Daß er bie Philofophie immer von vornen anfing, war 
nicht, wie man ihm von einer gewiffen Seite vorwirft, Schwäche, 
fondern Tiefe des philofophifchen Triebs, es war bie Folge da⸗ 


von, daß ihm unter der formalen Geftaltung der Anfchauungen _ 


ihr Gehalt überwüchfig wurbe und eine neue Form verlangte, wie 
der neu anfchwellende Saft eines Iebendigen Baums immer von 
Neuem feine Form durchbricht, während ein weniger reich begabter 
Geift, welcher eine begrenzte Anfchauung befißt, Zeit und Muße 
hat, fie in Die ganze Breite formaler Bollendung auszubilden. 
Schelling's reicher Geift hat alle Phafen der germanifchen Philo- 
fopbie von jener Zeit an, in welche bie eigentlich freie Ausbil⸗ 
bung bloßer Formen der Idee zu ganzen Syſtemen, fomit die 
Schärfe des Kampfes fällt, bis zu der Entwicklung durchlaufen, 
in welcher die Totalität ber Formen ale Ein einziges, fomit 
abfolutes Syſtem erfcheint. Den formaliftifchen Idealismus hat 
er fogleich durch feine reihe Naturanfchauung ergänzt, beide ſo⸗ 
bann in das Eine Syſtem des fubftanziellen Idealismus verwoben 
und fhon Damals bie Grundideen ausgefprochen, aus welchen ber 
abſolute Idealismus ſich erhoben hat; aber felbft biefem hat er 
das Erbe des philoſophiſchen Scepters wieder entriffen durch eine 
verfüngte Philoſophie, welche zugleich Die Reife des Alters in fich 
traͤgt. Der Neufchellingianismus ift der Neuplatonismus unferer 
Zeit, Reuplatonismus in der Form des germanifchen Bewußt- 
ſeins. Hat Plato’$ reicher Geift die fruchtbaren Keime einer Zus 
kunft der Philoſophie deßwegen in ſich getragen, weil feinem 
Scharffinn ein feltener Tieffinn, feiner Intelligenz eine anſchauungs⸗ 
volle Phantafie, feinem Verſtande ein zartes, veligiöfes, äſthetiſch 
gebilbetes Gemüth zur Seite fund, und darum feine Gebanfen 
nur Andeutungen, nur Umriffe ber tiefften Wahrheiten find, welche 
18 * 


% 


270 Wirth, 


zu einer weiteren Ausbildung von ſelbſt draͤngten; ſo waren in 
nicht geringerem Grade dieſelben Bedingungen einer philoſophi⸗ 
ſchen Zukunft, welche über die erſten Geſtaliungen des Syſtems 
hinausging, urſprünglich in Schelling's Geiſte gegeben. Wie der 
Neuplatonismus insbeſondere den Gegenſatz der Evolutionsſyſteme, 
welche Gott als ein, aber ſelbſtloſes Werden ausſprachen, und 
der Creationsſyſteme, welche ihn als ewig abſoluten Geiſt ſetzten, 
darin vereinigte, daß er das an ſich ſelbſtloſe Eine in ſich auf 
ewige Weiſe zum abſoluten Geiſte der Welt ſich entwickeln ließ, 
daß er alſo das Abſolute auf lebendige Weiſe als ſich evolvi⸗ 
rende Subfectivität, als Evolution und doch als Subject 
begriff; ſo wurzelt auch der Neuſchellingianismus ganz in derſelben 
Grundidee, um ſie dreht ſich ſeine ganze Entwicklung, in ihr 


findet er mit Recht denjenigen Begriff, welcher allen bisherigen 


Philoſophemen vorgeſchwebt und, ſofern er von keinem beftimmt 
ergriffen worden, ihre Einſeitigkeit ausmacht. 

Wir ſagen aber ausdrücklich: der Neufchellingianismus iſt ber 
Neuplatonismus unferer Zeit, er in ber Form des germa 
nifhen Bewußtfeins: d. b. er ift Neuplatoniemus in vol 
enbeterer, wiffenfchaftlicherer Form. Wie die ganze Gefchichte ein 
Kreislauf von Geftaltungen iſt, von welchen die fpäteren nur tie 
fere, ausgebilbetere Reproductionen ber früheren find, wie ind 
befonbere die helleniſche Philofopbie in der germanifchen nur in 
reicherer Geftaltung mit beflimmterer Conſequenz fich wiederholt; 
fo ift der Neufchellingianismus die Reproduction des Neuplatonis⸗ 
mus mit bem entfhiedenften Bewußtfein der zu löſen— 
den Gegenfäge Dieß beflimmt bie ganze Entwicklung der 
neu⸗ſchelling'ſchen Philofophie, dieß ift der Grund, warum bie 
Gegenfäge, welche in der Grundidee des abſoluten Wiffens, der 
Idee Gottes als fich evoloirenden Beiftes der Welt, enthalten find, 
und welche bie Neuplatonifer nicht beftimmt dachten, nun für fid 
befondere.Phafen der Schelling’ichen Philoſophie conftituiren. 

‚Im Allgemeinen nemlich ift die neu=fchelling’fche Philoſophie 
die Einheit-ber bisherigen germanifchen Philoſopheme darin, daB 
fie den Gegenfaß ber Transfeendenz und Immanenz des Abfoluten 








Leber den Begriff Gottes, als Prineip d. Philofophie. 277 


auflöst. Diefer Gegenfat zieht fi) duch die ganze Gefchichte der 
germanifchen Philoſophie hindurch; früher begegnet er ung in dem 
Syſteme des Spinoza einer = und anderer Seits in bem Leib⸗ 
nigens, in neuefter Zeit in ben Syftemen bes pantheiftifchen Idea⸗ 
lismus -und in ber Lehre Jacobi's. Indem Scelling Gott als 
Subject-Öbjectivität, als Sebſtbewußtſein faßt, beffen Entfaltung 
burch die verfchiedenen möglichen Stufen hindurch die Welt mit 
ihren immer ideelleren Potenzen ift, fo iſt er durch dieſen Grund⸗ 
gebanfen, welcher den verichiedenen Entwiclungsftufen zu Grunde 
liegt und fchon von der Naturphilofophie, freilich in einem abgezoge- 
nen Sinne, ausgeiprochen wurde, über den Grundgegenfag der ger⸗ 
maniſchen Philoſophie hinausgefchritten, und er konnte mit Recht 
gen: „Wann wird endlicy eingefehen werben, daß gegen dieſe 
Wiſſenſchaft Transfcendenz und Immanenz völlig und gleich leere 
Worte find, da fie eben felbft diefen Gegenfag aufhebt, und in 
Ehr Alles zuſammenfließt zu Einer Gotterfüllten Welt?“ Wenn 
mun dieß im Allgemeinen die Grundidee der vollendeten Philo⸗ 
ſophie ift, Gott weder ald transmundanes Subject, beffen bloßes, 
willkührliches Werk die Welt ift, noch als eine abgezogene, felbfls 
Wofe Allgemeinheit, welche, an fich ſubjectlos, erſt in ber Welt, ben 
einzelnen Welen, Subject wird, fondern als actuellen Geift der 
Welt, ale Subjectivität zu denken, deren Selbft-Entfaltung oder 
Leibwerdung die Welt iſt; fo muß dieſe Grundidee eine wefentlic) 
Yerfchiedene Geftaltung annehmen, je nachdem die Stellung be- 
ſchaffen ift, in welde fie fih zu einem anderen Grundge- 
genfas ber Philofophie fegt. Außer dem Gegenfage des Pan⸗ 
theismus und Theismus ift nämlich in der germanifchen Philo- 
fopbie, beftimmter, Als in der hellenifchen, der des Dogmatismug 
and Idealismus, hervorgetreten. Jener, wie er in ben Syſtemen 
Spinoza's und Leibnitzens ſich ausdrüdt, faßt das Abfolute als 
negationsloſes Sein, diefer, wie er in den Syſtemen Fichte's und 
Hegel's ſich ausipricht, als Idealität oder Negativität ſelbſt. Mit 
derfelben Nothwendigkeit, mit welcher erſt der germaniſche Geiſt 
dieſen Gegenſatz in feiner ſchroffen Geſtalt ſich zum Bewußt⸗ 
ſein gebracht hat, mußte auch die abſolute Philoſophie in ihn 


278 Wirth, 


eingeben. Jener Gegenfag konnte auch das im Höchſten 
wandelnde Denfen inficiren, und weil er dieß Tonnte, mußte er 
es. Denn damit die reine Form felbft werde, müflen alle moͤg⸗ 
lichen Disfunctionen vorangeben, da fie felbft Nichte if, als bie, 
obwohl originale Conjunction jener Disjunctionen. Darum find 
die Formen der neusfchelling’fchen Philofophie wieder dreifad: 
das Negative wird entweder außerhalb des Abfoluten gedacht, 
oder in das Weſen des Abfoluten felbft verlegt, oder das Abſo⸗ 
Inte wird begriffen als Geift, der an und für fih Geiſt ifl, den⸗ 
noch aber vealiter durch den Gegenſatz hindurch fih expliciri. 


Erfie Form der Neufchelling'ſchen Philoſophie. 


Als wirkliche Subjectivitaͤt hat Schelling Gott zum erſten 
Mal in der Schrift: Bruno oder über das göttliche und natür⸗ 
liche Prineip der Dinge, beſtimmt. Biele Stellen berfelben ſpre⸗ 
chen dieß auf das Beſtimmteſte aus. So ©. 9, wo es heißt: 
Geht nicht alles unfer Beftreben darauf, die Dinge fo zu erfen- 
nen, wie fie. auch in jenem urbildlichen Berftande vorge 
bildet find, von dem wir in dem unfrigen die bloßen Abbilder er⸗ 
bliden? ©. 15 ff. unterfcheidet er eine urbilbliche, unwandelbare 
Natur, welche der lebendige Spiegel it, worin alfe Dinge vor» 
gebildet find, und eine bervorbringende, dem Dienfle der Eitelkeit 
unterworfene, welche jene Vorbilder in der Subftanz ausprägt. 
Hierauf fährt er fort: Jene ewigen Urbilder der Dinge find gleich⸗ 
fam die unmittelbaren Söhne und Kinder Gottes, daher auch in 
einer "heiligen Schrift gefagt wird, daß die Ereatur ſich fehne und 
verlange nach ber Herrlichkeit der Kinder Gottes, welche Die Vor⸗ 
trefflichfeit jener ewigen Urbilder if. Denn es tft nothwendig, 
daß in der urbildlichen Natur oder in Gott alle Dinge, weil ſie 
von den Bedingungen der Zeit befreit ſind, auch viel herrlicher und 
vortrefflicher ſeien, als fie an ſich ſelbſt ſind. Die Erbe z. B., 
welche gemacht worden, iſt nicht die wahre Erde, ſondern ein 
Abbild der Erde, inſofern fie nicht gemacht, und weder eniſtan⸗ 
ben iſt, noch jemals vergehen wird. Wenn nun hierin ein theifis 
ſches Element aufs Harfte ſich ausfpricht, fo ift Damit Schelling 








Ueber ben Begriff Gottes, ald Princip d. Philofophie. 279 


nicht dem gemeinen ſchalen Theismug verfallen. Dan vergleiche 
nur die einzige Stelle S. 29, wo e8 vom Dichter heißt: er offen 
bare, ohne es zu wiſſen, denen, die es verſtehen, die verborgen» 
Ren aller Geheimniffe, die Einheit des göttlihen und nas 
tärlihen Wefend Hat fih hiemit Schelling zu der abfoluten 
See Gottes emporgefchwungen, fo war dabei das Charakteriftiiche 
feines damaligen Standpunftes, daß er das Abfolute, jene urbild⸗ 
liche Sintelligenz, in welcher die Ideen aller Dinge viel vortreff- 
Yicher enthalten fein follen, als fie in der Welt erfcheinen, im gans 
zen Berlaufe der Darftellung bemüht if, ald Jndifferenz der 
Begenfäge des Endlihen zu begreifen. Diefe Gegenfäse 
werden noch völlig nach Spinoziſtiſcher Methode von der Wirk⸗ 
Ychfeit aufgenommen und im Abfoluten zwar nicht fchlechthin auf- 
gehoben, — wie bieß der fchlechte Pantheismus thut — wohl 
«ber als identisch, gegenſatzlos gefegt. So wird „das Wefen des 
Einen, welches von allen Entgegengefeßten weder das Eine, noch 
das Andere ift, bezeichnet ald der ewige und unfichtbare Water 
aller Dinge, der, indem er felbft nie aus feiner Ewigfeit heraus⸗ 
tritt, Unendliches und Endliches begreift in einem und bemfelben 
Acte göttlichen Erfennend.” Darum heißt e8 S. 175: Thätigfeit 
und Sein verhalten fih in allen Dingen, wie Seele und Leib; 
Daher auch das abiolute Erkennen, obgleich es ewig bei Gott und 
@ett ſelbſt it, doch nicht wie Thätigfeit gedacht werden fann. 
Denn von ihm find Seele und Leib, Thätigkeit alfo und Sein, 
ſelbſt die Formen, bie nicht in ihm, fondern unter ihm find, und 
wie das Weſen des Abfoluten im Sein reflectirt, der unendliche 
Leib, fo ift daſſelbe im Denfen oder in der Thätigfeit reflectirt, 
als unenbliches Erkennen, die unendliche Seele der Welt, im Abs 
foluten aber Fann ſich weder die Thätigfeit, wie Thätigfeit, noch 
Bas Sein, wie Sein verhalten. Wer daher den Ausdrud fände 
für eine Thätigfeit, die fo ruhig wie die tieffle Ruhe, für eine 
'SRube, die fo thätig wie die höchfte Thätigfeit, würbe ſich einiger- 
maßen in Begriffen der Natur des Vollkommenften annähern.” 
Bas Schelling hier fagt, müflen wir in Beziehung auf das ab» 
ſolute Wefen Gottes an fich allerdings zugeben. Aber jene Bes 


hauptung hatte fofort den fchiefen Sinn, daß an ſich, d. h. über 
haupt, alle Gegenfäge nur fcheinbar fein. Daher eben fagt er 
©. 89: „Wahrhaft für fich eriftirt nie das Endliche, fondern nur 
die Einheit des Endlichen und Unendlihen.” Darum ift auch bie 
Melt vollfommen. „Was wir irrig, verkehrt, unvollkommen new 
nen, ift ed nur in Anfehung unferer Betrachtungsweife, Tosgetrennt 
vom Ganzen; Feiner bringt etwas hervor, ald was theils aus de 
Eigenthümlichkeit feiner Natur, theild aus den“ Einwirkungen, 
welche auf ihm von außen gefchehen, nothwendig folgt. Somit 
drückt jeder, ber eine durch feinen Irrthum, det andere burg 
die Unvollfommenheit feines Werks, die höchſte Wahrheit md 
die höchfte Bollfommenheit des Ganzen aus.“ 

Wenn auch hierin noch eine Wahrheit Tiegt, die wir am we 
nigften in Abrede ftellen, fo bleibt nichts befto weniger hiebei bie 
Frage ungelöst: wie ift ein foldhes Ganzes, das nur dur Ar 
thum die Wahrheit, durch Unvollfommenheit die Vollkommenhei 
zur Darftellung zu bringen vermag, geworben und welche No 
wendigfeit, .n einem foldhen Ganzen fich zu proficiren, Liegt it 
Gott? Schelling, auf feinem damaligen Standpunfte, Tone 
diefe Frage nicht löſen. Wirb ald das wahre Abfolute die es 
differenz der Gegenfäge gedacht, oder foll eben diefe Fnbifferng 
die höchſte Abfolutheit fein und bleiben, fo können aus ihr de 
Gegenfäte nicht begriffen werben. Einen Uebergang vom Un 


endlichen zum Endlichen gibt es daher für dieſen Standpuil 


nit ©. 131: Mlem, was aus der abfoluten Einheit hervor 
zugehen oder von ihr fich loszureißen fcheint, iſt in ihre zwar bie 
Möglichkeit für fi zu fein; vorherbeſtimmt, die Wirklichkeit aber 
des abgefonderten Dafeind liegt nur in ihm felbft. 

Diefe Vorftellung, daß das Endliche als folches feinen Grmb 
nicht im Abfoluten habe, daß ed aus ihm nicht abgeleitet werben 
könne, ift bekanntlich noch beflimmter in der Schrift, Philofe 
phie und Religion, ausgefprocdhen. Denn der Lehre der Ic" 
teren zufolge gibt ed vom Abfoluten zum Wirklichen Teinen fletigen 
Uebergang und ift der Urfprung der Sinnenwelt nur ale ein vol 


fommenes Abbrechen von der Abfolutheit, durch einen Sprum | 


Ueber den Begriff Gottes, als Princip d. Philoſophie. 284 


denkbar; ihr Grund kann nicht in einer Mittheilung von Realität 
durch das Abſolute, ſondern nur in einer Entfernung, in einem 
Abfalle vom Abſoluten liegen. Es iſt nämlih die Schöpfung, 
durch welche das ſchlechthin Ideale, das ewig über aller Realität 
fchwebt und nie aus feiner Ewigfeit beraustritt, ober Gott, im 
Realen objectiv wird, genauer ein Selbfterfennen Gottes. Das 
Reale, in welchem Gott fich obfectivirt, ift Daher ein Gegenbild 
Gottes. Das Abfolute würde fih aber in ihm nicht wahrhaft 
objectiviren, theilte es ihm nicht Die Macht mit, hleich ihm ſein 
ideelles Weſen in Realität umzuſetzen und es in beſonderen For⸗ 
men auszuprägen. Es iſt ſomit ein wahrhaft anderes Abfos 
lutes, ebenfo felhftftändig fchaffend, wie das erfte Abfolute. Ein 
foldhes anderes Abfolutes ift e8 aber nur dadurch, daß es von 
dem erften ſich trennt und von ihm abfällt, wodurch es, von ber 
ewigen Nothwendigfeit ſich Iogreißend, mit der endlichen Noth⸗ 
wendigfeit (den Cauſalnexus der endlichen Dinge) verwidelt und 
Das Nichts der finnlichen Dinge producirt. 

Haat bie Weltanfiht Schellings in der Schrift: Bruno noch 
eine fpinozififhe, alle Gegenfäge im Abfoluten nur tilgende 
Tendenz, fo wird fie in der Schrift: Philofophie und Religion 
wefentlih neuplatonifch, nämlich in dem Sinne, daß gerade 
die vergängliche, unwahre Seite des Neuplatonismus in ihr vor⸗ 
berrfcht. ' Indem fie, wie der Neuplatonismus, das Endliche, bie 
Schöpfung einer zeitlichen Welt, nur aus einem Sicherfaffen der- 
Seele in ihrem eigenen Centrum zu begreifen vermag, hat fie 
fenen fchlechten Dualismus erneuert, welcher den Neuplatonismus 
Burchzieht und ihm eine büftere, widerliche Färbung gibt. Es it 
aber Har, daß die Unterfcheidung einer bloßen Möglichkeit in Gott, 
die nicht ſelbſt in die Wirklichkeit übergeht, völlig nichtig fei, und 
es ift ebenfo nur ein Beweis von der ungenügenden Beftimmung 
ber Idee des Abfoluten und von der Unfähigfeit, das Hauptpros 
blem der Philofophie, die Weltfchöpfung, zu erklären, wenn dieſe, 
ſtatt als ein nothwendiger Act, als eine Evolution Gottes felbft 
begriffen zu werden, aus jener Imagination der gefchaffenen Seele 
‚abgeleitet wird. Es war daher auch dieſe Weltanficht Schelling’s 


"283 Wirth, 


ein bloßer Durchgangspunkt, den fein fpeculativer Geift um fo 
fehneller verlaffen mußte, als gerade ber in ber Wirklichkeit affir⸗ 
mativ fi anfchauende Geift unferer Zeit aufs entfchiedenfte dem 
dualiftiichen Bewußtfein des Neuplatonismus fi) entwunden hatte 
und es vielmehr die ganze, tiefe Richtung des fpeculativen Geiſtes, 
ja ber heilige Beruf der germanifchen Philofophie von Anfang 
‚ war, aud den lebten Reſt des Dualismus des religiöfen Be 
wußtfeind zu vernichten. Darum bat fih Schelling in dem wei 
teren Berlaufe feiner philofophifchen Studien dem Bemühen zuge 
wendet, das Negative aus dem Abfoluten felbft und unmittelbar 
begreiflich zu machen, ja — ald wollte fih der Geift für jene 
Unrecht, feine Welt, die Welt der Realität, Sinnlichfeit und End 
lichfeit als einen Abfall von Gott zu erflären, rächen — Schel⸗ 
ling fiel in das entgegengefeßte Extrem, das Negative in bad 
ideelle, reine und ewige Weſen Gottes felbft zu ſetzen. 


Zweite Form der Neuſchelling'ſchen Philoſophie. 


Sie findet ſich ausgeſprochen in der Abhandlung /Schellings 
über die Freiheit des menſchlichen Willens. Hatte früher 
Schelling das Weltwerden aus dem Wiſſen Gottes abgeleitet, fo 
ftellt diefe Schrift den Willen als das Urfein an die Spitze. Neben 
dieſem Unterfchiebe, der an ſich bedeutungslos ift, weil das Wiflen 
Gottes auch Wollen fein muß und umgefehrt, tritt aber eine von 
der früheren Speculation wefentlich verfchiedene Betrachtung 
ein: Gott, fofern ihm Afeität zufommt, hat in fi den Grund feiner 
Eriftenz, der infofern ihm, als Eriftirendem, vorangeht. Diefer 
Grund ift die Natur in Gott, die Sehnfucht, die das ewige Eine 
empfindet, fich felbft zu gebären, ein Wille, in dem aber no 
fein Berftand if. Aus dieſem Verſtandloſen ift im eigentlichen 
Sinne der Verftand geboren. Weberall geht das Regellofe voran 
und nirgends fcheint ed, als wären Ordnung und Form das Urs 
ſprüngliche. Entfprechend jener Sehnfucht nämlich erzeugt fi in 
Gott eine innere, reflerive Vorſtellung, durch welche Gott ſich 
ſelbſt in einem Ebenbilde erblickt. Diefe Borftellung iſt das Erf, 
worin Gott, abſolut betrachtet, verwirkficht ift, obgleich nur in ihm 


Ueber den Begriff Gottes, als Princip d. Philofophie. 283 


ſelbſt. Sie ift der göttliche Aoyog, der am Anfange bei Bott if. 
Gott, als Einheit des Grundes und des Aoyos, ‚ver Beift, erkennt 
in der vefleriven Borftellung klar den Inhalt der Sehnfudt und 
fpridht daher, von der Liebe bewogen, das Wort aus, dag num 
der Berftand mit der Sehnſucht zufammen freifchaffender Wille 
wird und in der anfänglich regellofen Natur, als in ihrem Ele⸗ 
mente und Werkzeuge, bildet. Die erfte Wirfung des Verſtandes 
iſt Die Scheidung jener anfänglich chaotiichen Kräfte, um bie in 
ihrem Abgrunde liegende Einheit herauszuheben. Diefe Einheit, 
auf welche alle Kräfte der Natur zielen, ift der Dienfch, der in 
der Tiefe verfchloffene Lebensblid, den Bott erjah, als er ben 
Willen zur Natur faßte. Aber durch jene Erregung bed Verſtan⸗ 
des zur Scheidung der Kräfte wird die Sehnſucht zur Gegenwirs 
kung follieitietz fie fucht den in ihr ruhenden Lebensblid in fich zu 
verfchließen, damit immer ein Grund fei. Bei dieſem Wibderfires 
ben der Sehnfucht fann die Hervorhebung der allerinnerften Ein« 
heit nur in einer flufenweifen Entfaltung geſchehen. In allen 
Creaturen find beide Principien, der Grund und der Berftand, 
obwohl in beflimmtem Grade eind. Der Grund ift das, was in 
der Greatur als Eigenwille, weiterhin als das Böfe erfcheint, wäh 
rend der Verſtand als Univerfahwille, als das Sittliche fich zu 
erfennen gibt. Im Geifte des Dienfchen aber müffen beide lös⸗ 
lich fein, oder ed muß in ihm die Deöglichfeit des Guten und Bö⸗ 
fen geſetzt fein, damit Gott als Geift offenbar werde. Ja in der 
ganzen Schöpfung muß der Grund wirken, damit die Liebe fein 
Fönne, und zwar muß er unabhängig von ihr wirken, bamit fie 
reell exiſtire. Das böcfte Ziel aber dieſes Kampfes, hiemit der 
ganzen Schoͤpfung, iſt die innere Transmutation oder Verklaͤrung 
des dunkeln Princips. 

Auch dieſe Lehre, deren genauere Darlegung wir für übers 
Hüffig erachten, weil fie unter allen Phafen der Schelling’fchen 
Philoſophie die in dem weiteften Umkreiſe befannt geworbene iſt, 
it, wie fchon aus dem Bisherigen fattfam erheilt, feineswegs fo 
zu verſtehen, als feßte fie Gott als Abſtractum oder ald ben ewi⸗ 
gen, reinen Weltproceß ſelbſt. Jene Dunlität des Grundes und 


Br Wirth, 

Berftandes nimmt Schelling in Gott vielmehr ausdrücklich nur an, 
um Gott. als Subject zu denken; denn nur auf der Verbindung 
eines Selbſtſtändigen mit einer von ihm unabhängigen Bafis 
ſchien ihm der Begriff der Perfon zu beruhen, ober, wie ex. in 
dem Denkmal der .Schrift von den göttlichen Dingen ſich Außer, 
folange nicht in Gott eine wirkliche Zweiheit erkannt, und ber bes 
jahenden, ausbreitenden Kraft eine einfchränfende, verneinende 
enigegengefett wird: ſolange wird die Läugnung eines perfönlichen 
Gottes wiffenfchaftliche Aufrichtigfeit fein. . Allein. um fo unum⸗ 
ſtößlicher ift der Einwand, welchen man laͤngſt gegen diefe Lehre 
erhoben bat, daß fie Gott die Perfönlichfeit auf Koften feiner Ein- 
beit vindicire, daß fie hiemit einen Dualismus in Gott felbft, die 
höchſte, abfolute Einheit alles Seienden fege, indem fie in Gott 
einen von ihm als Sntelligenz unabhängigen, für fich wirkenden 
Grund annehme, Daß dem Selbftftändigen eine von ihm unabs 
bängige Bafis voraus = oder zur Seite gehe, macht die Endlid« 
feit der Perfönlichfeit aus und ift blos in der gewordenen 
Subjectivität denkbar. Die reine, fomit abfolute und ewige Per- 
fönlichkeit ift dag A = A, fie ift daher vielmehr Subjectivität, 
deren Objeetivität nur fie ſelbſt iſ. Weil fie Alles fest — um 
nur ein folches Selbftbewußtfein kann Alles fegen — kann ſchlech⸗ 
terdings Nichts ihr voraus geſetzt fein. 

Zwar fucht Schelling die Einheit dee hochſten Abſoluten zu 
zeiten, indem er über jenen beiden gleich ewigen Anfängen ein 
Weſen ſetzt, das er als die Indifferenz beider oder Ur- und Uns 
grund bezeichnet, und welches in jedem berfelben gleicherweile 
als das Ganze wirklich fein fol. Allein diefer Ungrund ift em 
bloßes Abſtractum; indem in ihn, nicht in die Subjectivität Got 
tes, den Berftand, die Einheit Gottes fällt, ift diefe überhaupt 
nicht wahrhaft gedacht. Denn nur die Subjectivität ſelbſt iſt bie 
das Andere als fich felbft ſetzende, es klar durchdringende, in ihm 
ſich erhaltende, d. h. nur fie if abfolute Einheit. Jener Ungrund 
aber in ſeiner Abſtraction iſt nur der leere Ort, der bloße Name 
für das logiſche Bedürfniß der Identität. 

Es iſt aber eben damit noch ein anderer Fehler dieſer Con⸗ 


Ueber den Begriff Gottes, als Princip d. Philofophie. 285 


ſtruction ber abfoluten Idee gegeben, nämlich die Unmöglichkeit, 
von ihr aus ein wirkliches Selbftbewußtfein in Gott zu begreifen. 
Diefes ift nicht ein Uranfänglihes in Gott, nicht fein Wefen 
ſelbſt. Erſt entfprechend der Sehnfucht ded Grundes: bildet fidh 
in Gott eine innere reflerive Vorſtellung. Das Tiefe, Berbors 
genfte in Gott, feine Afeität kann nach Schelling nicht ſchon Selbft- 
bewußtfein, alfo der bewußte Gott fein. Ebenfo, wenn bes götts 
lichen Wefend Art in Liebe und Güte befteht, fo Fann feine vor⸗ 
ausgefegte Natur niht auch in Güte und Weisheit beſtehen. 
Wäre das Allervollfommenfte zuerft geweſen, fo hätte es feinen 
Grund zur Schöpfung fo vieler Dinge gehabt, durch bie es nur 
weniger vollfommen werden konnte. Diefer letztere Grund hätte 
ſchon längft alle Denker von der Nothwendigfeit überzeugen follen, 
eine Evolution im Abfoluten zu denfen, durch welche dag reine, 
ideelle Wefen Gottes vou Ewigkeit her ſich erfi als reales, con⸗ 
eretes fett, und, wie ſchon die Stoifer Iehrten, erft als Abfolut» 
heit ſich verwirklicht. Immerhin aber muß jenes ideale Wes 
fen Gottes, als folhes, reines Selbftbewußtfein: fen. Wenn 
freilid) Gott eine verausgefegte Natur in fich felbft hat, fo Tann 
dieſe nicht fchon Güte und Weisheit felbft fein. Aber daß Gottes 
reines, ideales Wefen eine ſolche vorausgeſetzte Natur habe, 
ift felbft eine Vorausfegung und, fofern fie ald Beweisgrund gel- 
tend gemacht wird, bie offenfundigfte petitio principii. Im Ges 
gentheil ift Gott, vollends fein reines, ewiges Wefen gerade ber- 
Begriff, welcher ſchlechthin vorausfegungslos ift, und wie vermag, 
aus einem Bewußtlofen, ald dem Erften, ein Bewußtfein zu ent- 
fiehen, wenn es nicht: an ſich Bewußtfein it? Iſt aber in Gott 
fein Anfih und fein Act verfchieden, d. h. ift.das Selbſtbewußt⸗ 
fein in ihm nicht zugleich Act, fo ift im Abfoluten eine urfprüngs 
liche Differenz, d. h. es iſt nicht abfolut, nicht die ſchlechthinige 
Einheit ſelbſt. Wenn daher die ganze, in Rede ftebende Phafe 
ber Schelling’fcyen Philofophie einer Seits als ein Beweis von 
ber Nothivendigfeit betrachtet werben muß, in Gott eine ewige, 
durch das Nein hindurchgehende Selbftevolution begreifli zu ma⸗ 
den; fo erfcheint fie anderer Seits nur als das andere Extrem 


286 Wirth, 

zu der erfien Phafe derfelben. Diefe hat Gott nur als Indiffe⸗ 
renz der Gegenfäge begriffen, jene bat in Gott felbft einen Dua⸗ 
lismus gelegt; die eine hat das Negative als einen bloßen Schein 
prädicirt, die andere dem Schickſale deſſelben das ewige, urfprüngs 
liche Wefen des Abfoluten felbft unterworfen. Beide Phafen der. 
Schelling'ſchen Speculation find dualiſtiſch, aber die erftere hat 
den Dualismus einer reinen Sintellectual= und einer Sinnenwelt, 
die andere hat ihn in das Abfolute felbft verlegt; jene iſt ſpino⸗ 
ziftifch- neuplatonifch, dieſe ift Die Erneuerung der Böhmefchen 
Lehre, obwohl in legterer Keime einer noch höheren Löfung der 
böchften Probleme liegen. Keine bat geleiftet, was ihre höhere 
Einheit und die höchfte Wahrheit ausprüdt, aus dem reinen 
Selbftbewußtfein Gottes die negative Evolution def 
felben begreiflih zu maden. 


Dritte Form der Reufhelling’fhen Philoſophie. 


Dieß zu begreifen, hat Schelling in der neueften Geftalt ſei⸗ 
ner Philofophie verſucht. Denn fo viel geht einftimmig aus als 
len Berichten üher fie hervor, daß Schelling. zugleich ein ewiges 
oder vorweltliches abſolutes Sein Gottes und doch eine negative 
Selbftevolution deffelben fegt. Laut der Darftellung feines neueften 
Syſtems, wie fie Dr. 9. €. ©. Paulus in feiner Schrift: Die 
endlich offenbar gewordene Philofophie der Offenbarung zc. gibt 
_ (vergl. hiemit auch Zellers Jahrbücher Bd. J. H. 2. und 3), fl 
Gott in feinem reinen Weſen das rein= oder blind und unvors 
denklich Seiende, ein actus purus. Diefer aber kann Nichts aus 
fangen, er iſt flarr und unbeweglid, und doch müſſen wir Davon 
binwegfommen (S. 452). Nichts defto weniger ift es möglid, 
daß dieſem actus purus, dem feine Potenz vorangeht, eine ſolche 
nachfolge. Blos eine ſolche Möglichkeit nämlich kann die Philofoppie 
benfen. Daß es wirklich fo fei, muß ſich Durch den Erfolg zeigen 
Nehmen wir an, es gefchehe, fo würde das Sein zu einer Per 
ten; erhoben, die die Potenz in ihrer Hand bat, Es würde fih 
gegen fein unvordenkliches Sein in Freiheit gefegt fehen. Seiner 
felbft ficher, würde es in voller Freiheit fich befinden, jenes an 


Ueber ben Begriff Gottes, ald Princip d. Philofophie. 287 


dere Sein, bie zweite Potenz in Gott, anzunehmen oder nicht. 
Es muß das andere Sein nicht annehmen, fondern kann es nur, 
wenn es will. Diefe Möglichfeit erfcheint dem Sein als etwas 
Unerwartetes. Dadurch aber entfteht in Gott ein Sein- und 
Nicht ſein-Könnendes, d. h. ein Zufälliged. Das reine Sein 
wird fih nun ald Herr eines Seing, das nodh nicht ff, 
bewußt, und wird dadurch ſchon frei von feinem unvordenklichen 
Bein, über das es noch nicht Herr if. Aber auch über Diefes 
Sein wird es Herr. Das zufällige Sein wird das ungleiche 
fein; ift dieß entflanden, fo wird an der Stelle, wo fonft Nichts, 
als das reine A war, das B fein und der actus purus hat einen 
Gegenſatz. Dadurd wird es ein fich felbft befitendes Sein, ſei⸗ 
nes Urſeins mädtig (S.454—457). Denn durch den Gegenſatz 
wird ihm fein unvordenklich Sein ſelbſt gegenftändlih, und es 
unterfcheidet fich als das feiner Natur nad) nothwendig Eriftirende 
von feinem actu und infofern nur zufällig nothwendigen Exiſtiren 
(©. 459). Es entfteht damit die zweite Möglichkeit in Gott, 
auch fein unvordenkliches Sein zu verwandeln und für fich zu eis 
nem zufälligen zu machen, und damit die dritte, fi ald Sein- 
und Nichtſein⸗Könnendes, als Geift zu ſetzen (S. 471). jenes 
Herrfein über das Sein ſchlechthin ift Die abfolute Perfön« 
lichkeit (475). Indeß ift jenes Allem zuvorkommende, unvor⸗ 
denkliche Sein Borausfegung blos der Sache, nicht der Zeit nach. 
Bon Ewigkeit fieht fih Gott ald Herren, fein Sein zu fufpen» 
diren, Ebenfowenig braucht er erft durch die Welt hindurch zu 
geben, um im Menfchen zum Selbftbewußtfein zu gelangen. Gott 
it fchon vor der Welt Herr der Welt (CS. 487), und weiß fich 
als ſolchen. Doch entbehrt er Etwas, nämlid das Erkannt⸗ 
werben (S. 495). Dieß iſt der Grund der Weltfhöpfung. 
Schon vor ihr hatte Gott die drei Potenzen ald die Möglichkeiten 
eines Tünftigen Seins. In ihr wirken fie al8 Potenzen, denen 
aber noch feine Selbftftändigfeit zukommt, fondern Einer ift der in 
Allem wirkende, darum die allein felbfiftändige abfolute Perföntich- 
kit CS. 529). Weil nun bie Weltſchöpfung für Gott durchaus 
nicht nothwendig ift, fo ift ed nur ein Act feines freien Willens, 


288 . Wirth, 

daß Gott die zweite Potenz gegen die erſte bewegt und mittel 
des Hinzutreteng der dritten eine Welt in ſelbſtſtaͤndigen, von 
Stufe zu Stufe das fihranfenlofe Sein überwindenden Probueten 
hervorbringt. Durch jene Bewegung aber kommen diefe in Span 
nung; indem fie aus dieſer Spannung in ſich zurüdfehren, wer 
den fie. zu drei Perfönlichfeiten; Gott vor der Schöpfung ber 
All:Eine wird nun. der Dreieinige. Inſofern ift der Schöpfungs- 
proceß, obwohl für Gott nicht nothwendig, doch zugleich nicht.blod 
ein kosmogoniſcher, fondern auch ein theogoniſcher. Das lebte 


Ziel deſſelben aber ift der Menſch. In ihm beruhigt ſich Die. Span - 


nung der Potenzen, aber durch feinen Sündenfall hat er von | 


Neuem den Grund ber Schöpfung bewegt (©. 537), bieburd hat 


nicht nur die Welt, welche nun erft der Aeußerlichfeit, der falfchen 
Zeit verfiel, fondern es haben auch — die göttlichen Perfönlichkeiten 


ihren Einbeitspunft verloren, ihre Einheit iſt zerbrochen worden nd 
fie werden nun zu außergöttlichen göttlichen Perfönlichfeiten. Um 
ihre Einheit .wieder: zu gewinnen, müffen fie das durch den Fal 


bes Menſchen gewordene widergöttlihe Sein überwinden. Die 


zweite Potenz ift zunächft durch ihre Natur angewiefen, dieß | 


volbringen. Dieß gefchieht in dem Heidenthum, deſſen Mythos 


logie fih nur ald nothwendiges Erzeugniß des unter bie Gewalten, 


die in ihrer Spannung nicht mehr göttliche, fondern bios kosmi⸗ 
ſche Bedeutung haben, gefallenen Bewußtſeins denken läßt (S. 553) 
Am Ende diefes mythologiſchen Proceffes ift Die zweite Potenz Herr 
des Seind, Am. Ende der Weltzeit gibt fie das außergoͤtlliche 


Sein dem Bater als ein verfühntes zurüd, Damit entfieht, wähe 


rend zuvor der Sohn ausfchließlich die Weltherrfchaft hatte, eine 
Gemeinfhaft der Herrlichkeit. Der Sohn kehrt, was er am Ass 
fang nicht war, als felbfiftändige Perfönlichfeit in den Vater p⸗ 
rück, und, da baffelbe auch von ber dritten Potenz gilt, fo en» 
fteht hier die vollfommene Dreieinigfeit. Die drei Perfonen be 
figen nun gemeinfchaftlich das Sein, und die ganze Gefchichte iß 
ein Fortgang von der Tautouſie (worin nur der Vater bemiut 
giſche Potenz) durch die Heteroufte (Spannung bis zur letzten 
Berfühnung) zur Homoufie (©. 643). . 


Ueber den Begriff Gottes, als Princip d. Philofophie, 289 


Daß jenes Problem, welches, wenn -nicht die ganze bishe⸗ 
tige Entwictung der Philofophie eine leere Täufchung ift, das 
Endziel aller ihrer unendlich mannigfaltigen Beftrebungen bifbet, 
nämlich aus ‚Gott als Geift die negative Selbftevolution begreifs 
Ih zu machen, in ber neueften Phafe der Schelling'ſchen Philo⸗ 
fophie eine abäquatere Löſung finde, als in irgend einer früheren 
Philofophie, erhellt von ſelbſt. Gott ift in ihr als vorweltlicher 
Geift ausdrücklich geſetzt, fo fehr, daß die Weltfchöpfung für ihn 
nur ein Bedürfnig, erfannt zu werben, feineswegs aber nothwen⸗ 
big..fein fol. Nichts defto weniger ift der Weltentwidiungspro- 
ceß zugleich ein theogonifcher,, er ift keineswegs, wie der gewöhn⸗ 
lihe, das Abfolute endlich und unlebendig auffaflende Theismus 
annimmt, ein Verlauf außerhalb des Abfoluten und gleichgiltig 
für deffen Sein, fondern, wie gleich fehr jede tiefere Philoſophie 
und Religion angenommen haben, eine Selbftevolution des Abs 
ſoluten. Die Disfunction der endlichen Wefen in fich iſt begreif- 
lich nur als eine ſolche des Abfoluten in fih. Die Oppofition 
bes Menfchen gegen das Seiende wird zur Spannung ber Po⸗ 
tenzen bes, Abfoluten in fich ſelbſt und die Einkehr der endlichen 
Villen in Gott ift zugleich die Selbfivollendung Gottes zu ber 
Homouſie, ber entwickelten Form, welche bie Potenzen am Ans 
fang nicht hatten und in der fie nun als felbfiftändige Perfün- 
lichfeiten in Gott find, Eins ift hiemit diefe lebte Phafe der 
neu⸗ſchelling'ſchen Philofophie mit ihrer erften infofern, als fie 
Gott yon Ewigfeit ber als Geift denkt, verfchieben von ihr ins 
jofern, als fie der Disfunction des Negativen eine reelle‘ Bes 
deutung für das Sein Gottes felbft gibt. Ebenfo ift fie eins und 
verſchieden von der zweiten Phafe, jenes, fofern fie die Weltevolus 
tion auch eine ſolche Gottes in ſich fein laͤßt, biefes, fofern Gott 
an fi über den Dualismus erhoben iſt. 

Obgleich aber die Grundidee dieſer Philofophie die höchſte 
und letzte der Philoſophie ift, fo ift Doch Har, daß fie in ihr nur 
bis zu einer trüben Ahnung gefommen if. Da das Syflem 
ſelbſt noch nicht authentifch vor ung liegt, fo enthalte ich mich in- 
das Einzelne einzugehen, das vol von ben baarſten Witlführlich 

Zeltſchrift f. Philoſ. u. ſpek. Theol. XI. Band. 49 


2% Wirth, 

Seiten zu fein feheint, und bemerke ich bier nur fo viel, daß we⸗ 
der Anfang, noch Fortgang, noch Ziel des ganzen Proceſſes ir- 
gend philofophifche Haltbarkeit habe. Sehen wir auf jenen An- 
fang, fo fol die Dualität in Gott eine blos denkbare fein, ihre 
Wirklichkeit allein aus dem Erfolge erfannt werden fönnen, Was 
ift dieß aber Anderes, als das Eingeftändnig der Unfähigkeit, das 
Grundproblem der Philofophie zu löſen? Schelling hat nie an 
biefes felbft fi) eigentlich gewagt; geht er fort zu einem Anderen, 
als das Princip ſelbſt iſt, fo thut er dieß auch da, wo er bie 
philoſophiſche Form noch nicht ganz bei Seite gefegt hat, durch 
den indirecten Beweis, welcher aus der Unfähigkeit der Debuction 
felbft entſpringt. Aber ift denn bie zweite, dem Sein nadfol 
gende Potenz nur auch möglich? Wenn ber actus purus ſtarr 
und unbeweglich ift, fo widerfpricht es feiner Natur, ein Anderes 
zu werben, ald er unvorbenflich if. Wie vermag biefem flarren 
Sein, das ausbrüdlich als unvordenkliches bewußt- und willen 
188 fein fol, eine Selbftficherheit, eine Freiheit, ein Wille, das 
andere Sein anzunehmen oder nicht, anders zugefchrieben wers 
den, als durch die ftillfchweigende Fiction einer urfprünglichen 
Perfönlichkeit? Darum, weil das unvorbenkliche Sein von aller 
vorausgegangenen Möglichkeit unabhängig ift, ift es nicht 
gegen jede uachfolgende ein in ſich freies Wefen, das fie anneh⸗ 
men kann oder nicht, Doch wie ift eine ſolche Möglichkeit in Gott 
überhaupt denkbar? Schelling, indem er in das bobenlofefte . 
liberum arbitrium die Geiftigfeit Gottes fegt, führt allerding® 
völlig neue Begriffe in die Gotteslehre ein, aber ſchwerlich ſolche, 
bie in ihr beharren werben. Wäre in Gott die Möglichkeit, bie 
zweite Potenz nicht anzunehmen, fo fönnte diefe nicht zum Wefen 
Gottes gehören; gehört fie aber zum Wefen Gottes, fo ift ihre 
Eriftenz eine ſchlechthin nothwendige. Ebenſo unhaltbar ift aber 
der ganze Fortgang diefer Philofophie. Behaupten, daß die 
Schöpfung nicht zwecklos, aber doch nicht nothwendig ſei, iſt ein 
Beweis vom Abhandentommen aller Schärfe des philofophifchen 
Verſtandes. Denn der Zwed ift zugleih Grund von Etwas, aljo 
dag, was es zu etwas Nothwendigem macht, Schelling widerſpricht 


Ueber den Begriff Gottes, als Princip d. Philofopbie. 294 


fi aber hierin ſelbſt. Wie Tann er in Gott ein Vorauswiſſen 
aller feiner Werke ſetzen (S. 488), wenn doch biefe rein zufällig 
ſind und, wie Schelling felbft an vielen Stellen behauptet, das 
Zufällige a priori nicht wißbar it? Es dringt fich in dieſer Bes 
ziehung noch ein anderer Selbftwiderfpruch auf. Wie ift es dent 
bar, daß die Endlichfeit der Welt, das Außereinander bes Zelte 
Uchen erft Durch den zufälligen Willen des Urmenfchen entftand, 
da doch gerade hiedurch die göttlichen Potenzen ſelbſt zu ihrer 
vollendeten Form, die gewiß in ihrer perfönlihen Dreieinigkeit 
befteben foll, gelangen? Doch dieß wird Schelling nicht ale Selbſt⸗ 
widerſpruch anerkennen, da eg für Gott gleichgiltig fein fol, 
ob er feine Potenzen in der Einheit des urfprünglichen Entwurfs, 
oder in der Spannung und Ausfchliegung hervortreten Iaffe 
(8. 494)! Wir müflen befennen, bei ſolchen Behauptungen laͤßt 
FH nicht mehr flreiten. Ein folcher Gott, der gegen fein eigenes 
Weſen fo gleichgiltig ift, DaB es ihm eins ift, ob er harmoniſch 
sber im Zwiefpalt mit fich Yebt, ein Gott, ber, weil jene Entge- 
genfegung der Potenzen und ihre Vereinigung mit der Weltent- 
wictung und Welterlöfung zufammenfällt, auch gegen biefe inbif- 
ferent ift, wäre das Princip der Unvernunft und Unfittlichfeit ſelbſt. 
In Wahrheit aber ift das Ziel der Entwicklung felbft ver- 
fehlt. Gottes uranfängliche Subjectivität kann nicht von der 
Schwaͤche fein, daß fie je, vollends nicht durch eine endliche Pos 
ztenz, bie Einheit mit fid) völlig verlöre. Dieſe endlihe Potenz, 
der Menſch, inſofern er außer und abhängig von Gott durch ſei⸗ 
nen zufälligen Willen die Einheit Gottes zerreißen fol, wird eben⸗ 
Damit nicht blos zu einem Demiurgifchen, fondern fogar zu dem 
"phantaftiichen Ungeheuer eines gegen Gott übermächtigen, theurgi- 
fehen Principe, Wie kann aber vollends die Leberwindung 
des Gott entgegenftehenden Seins die Folge haben, daß er num 
als dreifache Perfönlichkeit exiftiren fol, wenn er uranfänglich 
nur eine einzige war? ine Entwidlung ift vielmehr um fo un- 
sollfommener und fest ein um fo fehwächeres fubjectives, Princip 
voraus, je weniger fich die Subfectivität in dem Werden zu bes 
Aupten und, was fich in ihr emporheben will, fich, ihrem Selbfte 
19 * 


- 


293 Wirth, über d. Begriff Gottes, ale Princip d. Philoſophie. 


als folhem zu affimiliren vermag. Sf es nicht vielmehr umge . 
kehrt eine Entwidlung in deterius, die unter dem Niveau bes 
normalen Zuftandes fleht, wenn auch nur der endliche Geift durch 
fremde Potenzen ſich fo weit fortreifen und in ihre Gewalt hin- 
einzieben läßt, daß er völlig außer ſich ſelbſt kommt und fein 
Serbfibewußtfein ſich vervielfältigt? Sol aber eine ſolche Vers 
vielfältigung ber Perſoͤnlichkeit die Folge der Ueberwindung bes 
entgegenftehenden Seins fein und bleiben, fo bewährt fich viel- 
mehr jedes, noch mehr das abfolute Ich, als iventifches Ich gerade 
“in einer folhen Ueberwindung. Diefes Ich zumal muß das, 
was das endlihe fchon ift, in hödhfter Potenz fein, eine elaftifche, 
aus jeder relativen Entfremdung wieder zur Ruhe und Gleich⸗ 
beit mit ſich gelangende Monas; und nur das kann Das Ziel 
hrer Selbfimanifeftation fein, daß fie eine Unendlichkeit yon Mo⸗ 
naden in ihre ewige Ruhe, die gleich iſt der bochſnen Thaͤtigkeit, 
aufnimmt, 





Die phitofophifche Literatur der Gegenwart. 
Prof. Dr. 9. Ulrici. 


Achter Artikel, 
Die neueften Werfe zur Geſchichte der Philofophie von 


Braudis, Hillebrand,, Brauiß, Biedermann, 
Michelet und Chalybaͤns. 


Die Geſchichtſchreibung hat in neuerer Zeit eine ähnliche Ume 
wandlung erfahren, ald unfer Staats- und Volksleben überhaupt. 
Richt die franzöfifche Revolution, wohl aber der Geift, von dem 
fie und der von ihr überallfin ausging, machte der einfeitigen 
Kabinets⸗Politik ein Ende, — in ähnlicher Art, wie bereits bie 
Reformation die Leitung der kirchlichen Angelegenheiten dem Papfte 
‚md der Römifchen Eurie, d. h. dem yperfönlichen Gutbünfen Ein⸗ 
zelner entriffen hatte, Damit aber brach die Stüte des alten ein- 
feitigen Pragmatismus der Gefchichtfehreibung zuſammen. Man 
fonnte den Gang ber Begebenheiten nicht mehr bloß aus dem 
Charakter, den Borzügen und Schwächen, den Leivenfchaften und 
Abfichten der einzelnen Machthaber ableiten; man mußte nothivens 
dig allgemeinere Motive, bie rechtlichen und fütlihen Zuſtaͤnde 
ver Völker, die Verſchiedenheit der Nationalcharaftere, den f. g. 
Geift der Zeiten mit den ihn beberrfchenden oder vielmehr ihn 
conftituirenden Ideen mit in Rechnung fielen; man überzeugte 
fh fogar, daß dergleichen Motive auch in-den Zeiten, als Eurie 
und Kabinet: bie Gefchichte zu machen wähnten, mit gewirkt haben. 
Damit traten zugleich die erften Anfänge einer Philofophie ber 
Geſchichte an's Tageslicht: indem man Die allgemeinen Motive auf 
immer allgemeinere zu bafiten fuchte, mußte ſich nothwendig Die 


294 Ulriei, 


Forſchung endlich auch auf die legten Gründe und Urſachen, 
den legten Zweck der Weltgefchichte hinwenden. Weigerten fid 
auch die Hiftorifer vom Fach mit Recht, den Philofophen ihr Am 
ganz abzutreten, fo Eonnten fie doch dem im Stoffe ſelbſt gegebenen 
Gegenfag zwilchen dem alten Pragmatismus, der das Einzelne 
nur auf Einzelned zurüdführte und damit die Gefchichte in ein 
monftröfes, nicht bloß aus einzelnen Maſchen beftehendes, fon 
dern von dieſen felbft gemachtes Gewebe ohne Faden und ohne 
Deſſein auflöfte, und der philofophiichen Behandlung, welche das 
Einzelne aus dem Allgemeinen abzuleiten fuchte, ihre Anerkennung 
nicht verfagen. | 

Das neue pbilofophifche Princip mußte natürlich vorzuge⸗ 
weile die Geſchichte der Philofophie felbft ergreifen. Heutzutage 
fann und darf Niemand mehr, wie Bruder, Ziebemann ꝛc., dk 
Geſchichte als ein Machwerf der einzelnen Philofophen beirad- 
ten. Den innern Zufammenhang der Syſteme als folcher, oder 
wenigftens ihrer - Principien und Grundideen aufzudeden, das Be 
bingtfein eines jeden durch Die Vergangenheit und fein Hinaus 
weifen in die Zukunft darzuthun, wird allgemein als unerläßliche 
Anforderung an cine wiflenfhaftlich = biftorifhe Darftellung be 
trachtet. Inſoweit hat das neue Princip unbedingte Anerkennung 
gefunden, Aber man ging weiter. Dan ſprach alsbalb dem phi⸗ 
Iofophiremden Subjefte allen weſentlichen Antheil an der Fortis 
dung und bem Entwidlungsgange der Philoſophie ab; höcdfens 
ftellte man die Auswüchfe und das Beiwerk eines philnfophifdes 
Syſtems auf feine Rechnung: das Wefentlihe und Subſtanzielle 
follte der f. g. Weltgeift gemacht haben; im Wefentlichen: fol 
jedes Syſtem nur bie unmittelbare Confequenz des ober ber vor 
angegangenen, nur Glied einer Kette fein, welche der -MBeltgeil 
fehmiedete, die einzelnen Philofopben als Hammer unb Ambee 
gebraudhend, Während man in allen übrigen Gebieten den Um 
terſchied zwifchen Gefchichtfchreibung und Philofophie der Geſchichte 
mit oder wider Willen anerfannte, wurde für bie Gefchichte ber 
Philofophie Beides in Eins zufammengegoffen. Bier. follte be 
Zufammenhang ber Syfteme, der Gang der hiftorifchen Entwib 





Die philofophifche Literakır ber Gegenwart. 0 


lung ein nothwendiger, a priori beftimmt und befimmbar ſein, 
Alles aus ben letzten, allgemeinften Beſtimmungen bes denkenden 
Geiftes mit immanenter Nothwendigkeit abfließen, bie ganze Ges 
fhichte nur die durch den Begriff der Philoſophie felb bedingte 
und getriebene Entfaltung dieſes Begriffs fein, Kurz man wollte 
bie Gefchichte a priori conſtruiren, — freilich nicht in dem 
unmöglichen Sinne, daß dadurch die einzelnen Begebenheiten nach 
Form und Erfcheinung, die einzelnen handelnden Perfonen nad 
ihrer Individualität, ihren Plänen und Abfichten ꝛc., mit beftimmt 
fein follten; das Einzelne als folches, und feine vergänglide Er⸗ 
fheinungsweife folte vielmehr das nur a posteriori erfennbare 
Zufällige fein, an dem ſich die innere Nothwendigfeit nur negativ 
durch deffen Aufhebung bewähres wohl aber follten die allgemei- 
nen Motive und bie fubftangielle Bedeutung ber Ereigniffe a priori 
durch und aus dem Begriffe ſich ergeben. 

Es war vornehmlich Hegel und feine Schule, von dem bieß 
Conſtruiren wenn auch nicht eigentlich ausging, doch als das allein 
philofophifche Princip proflamict und mit möglichſter Strenge ge⸗ 
handhabt wurde. Er verfuchte es, zundächft den Entwicklungsgang 
ber Philofophie, dann aber auch der Weltgeſchichte überhaupt 
unter die Botmäßigkeit ber logiſchen Kategorieen zu fielen. Die 
einzelnen, einen wirklichen Sortfchritt enthaltenden Spfteme folls 
ten wo möglich nur den: binleftifchen Entwidlungsproceß der Kar 
fegorieen feiner Logik wiederholen, jedenfalls aber jeder wahre 
Foriſchritt der Philofophie, jede neu erſtiegene Bilbungsflufe ber 
Menſchheit durch einen dialektiſch⸗ logiſchen ebergang vermittelt fein. 
Die dialektiſche Selbſtbewegung des Begriffs, deren allgemeinen 
und nothwendigen Gang die Logik allein darſtellt, ſollte alſo bie 
aprioriſche Norm ſein, nach welcher mit immanenter Nothwendig⸗ 
leit Philoſophie und Weltgeſchichte ihren Weg nehmen. 

Hiergegen erhob fih nun von den verfchiebenften Seiten ber 
entſchiedenſte Widerſpruch. Dean wandte ein, daß dieſes Princip, 
conſequent durchgeführt, die menſchliche Freiheit vernichte und einen 
abſtrakten Determinismus und Fatalismus proflamire. Denn bie. 
Unterſcheidung zwifchen einem hiſtoriſch Rothwendigen und Zufäl- 


296 Ulriei, 

ligen, auf welches Iegtere bie freie Selbſtbeſtimmung ber handeh- 
den Subjefte angewiefen werde, fei durchaus willführlid, eis 
bloßer Nothbehelf, das verftedte Eingefländniß der Ohnmadt, 
einen großen Theil des hiftorifch gegebenen Materials in der aprie 


rifchen Eonftruetion nicht mit verarbeiten zu können. Nach Hegel 


felbft fei ja das Erfcheinende nur Erfcheinung des Weſens, das 
Einzelne nur Ausdruck und Träger des Allgemeinen: ſei alfo das 
Eine nur zufällig, fo könne das Andere unmöglich nothwendig fein 
und umgefehrt. Wer überhaupt folle die Gränze ziehen zwiſchen 
dem Nothiwendigen und Zufälligen? worin beftehe das Kriterium, 
nach welchem in der Geſchichte dag Eine vom Andern ſich un 
terfcheiden laſſe? Die allgemeinen Motive, wenn fie wirken 
follen, müflen doch zugleich die Motive der handelnden Perfonen 
fein: feien fie von letzteren als Motive frei aufgenommen, fo könne 
von Nothwendigkeit nicht die Nede fein, eben fo wenig ale in 
entgegengefeßten Falle von ber freiheit der menfchlichen Hands 


lungen. Sollen aber die großen Männer der Gefchichte nur nicht 


wiffen, was fie wollen und thun, und während fie ihre particw 
laren Zwede verfolgen, nur die Abfichten des Weltgeiftes bin 
vollführen, fo frage es fich, woher denn der Philofoph das Bor 
recht habe, dem Weltgeifte in die Karten zu fehen? Außerdem 
fei diefer Weltgeift, der wie ein Maulwurf unter dem Boden 
fortwühle, eben nur das blinde Katum, das die Menfchheit am Bande 
der Nothwendigkeit leite. Denn daß er felbft wiffe, was er wolle, 
fei eine bloße Borausfegung. Jedenfalls aber verlieren Die menfde 
lihen Handlungen nicht nur allen hiftorifchen, ideellen, fonbern 
auch allen moralifhen Werth; denn bie menfchliche Freiheit iß 
nach diefer Anficht eine bloße Illuſion: der Menſch wähne wohl 
in feinem trügerifhen Bewußtfein, frei zu handeln, in Wahrpeit 
aber fei er mit feinem Wollen und Thun nur das blinde Werk 
zeug des Weltgeifted. Solle nun gar der Entwidlungsproceß der 
logiſchen Kategorieen den Gang der Weltgeſchichte Yeiten, fo fe 
die Gefchichte in ihrem innerften Kern ein leeres Formular; aller 
Inhalt, alle Lebendigkeit verfchwinde; das caput mortuum de 
Adftraction, das allein übrig bleibe, zu feciren und feiner Com 


— u 


Die philofophifche Literatur der Gegenwart. 297 


ſtruction nachzuforſchen, Iohne fich nicht der Mühe. Endlich fei ja 
das bloß formale Princip des dialektiſchen Fortſchritts an und für 
fih gegen allen Inhalt gleichgiltig; Ddiefer Fönne fo wenig aus 
jenem abgeleitet werben, daß es ihn vielmehr an fi gar nicht 
einmal berühre. Der Inhalt, der hiftorifche Stoff, dag Geſchehene 
und damit die Gefchichte felbft, d. h. gerade dag, was a priori 
eonftruirt werben folle, müffe von Außen, a posteriori herbeigeichafft 
werden. Und da ed Hegeln erwiefenermaßen nicht einmal gelungen 
fei, die Kategorieen in der Logik felbft aus dem reinen Denfen, 
ohne Beihilfe der Anfchauung und der apofteriorifchen Erkennt⸗ 
niß, ohne Sprünge und willführliche Einfchiebfel, rein a priori 
zu entwideln, wie follte e8 nicht eine bloße Selbfttäufchung fein, 
wenn er wähne, die Geſchichte a priori eonftruirt zu haben! — 

Sp triftig biefe Einwürfe find, fo wenig läßt fich andrerfeits 
läugnen, daß ohne alle immanente Nothwendigfeit die Geſchichte 
ein bloßes Spiel des Zufalld wird. Man rettet die menfchliche 
Freiheit nur auf Koften der Vernunft, Ein Chaos von Handlungen 
und Begebenheiten, in welchem Alles, von den fubjektiven Ent« 
ſchließungen und beliebigen Abfichten der handelnden Perfonen abs 
hängig, ohne Ziel und Zwed durch einander wirkt, verdient kaum 
ben Namen der Gefchichte. Der Menfchheit, die ein folches Leben 
führte, müßte alle Bernünftigfeit abgefprochen werben, Bon einer 
göttlichen MWeltregierung könnte fchlechthin gar nicht die Rebe fein; 
der Fatalismus, den man vermeiden wollte und der Hegelſchen 
Geſchichtsanſchauung zum Vorwurf machte, wäre nur durch eine 
Hinterihür wieder eingeführt. Denn wo bie fubfeftive Wiuführ, 
d. h. der Zufall, ob ſich die welthiftorifchen Perfönlichkeiten To 
oder anders entichließen, den Gang der Begebenheiten leitet, da 
regiert das blinde Fatum. — 

Soll der Streit je gefchlichtet werden, fo kommt e8 vor allen 
Dingen darauf an, zwilhen logifher und moralifher Noth- 
wendigfeit ſcharf zu unterfcheiden. Bon Iogifcher Nothwendigfeit 
fann im Gebiete der Gefchichte aus den angeführten Gründen nie 
die Rede fein. Nicht der erfennende, fondern der wollende 
Geiſt macht die Geſchichte, und die Erfenninig des Menſchen iſt 


298 Uleici, 


eben fo fehr vom Willen, als der Wille von ber Erfemaniß 
abhängig, Mit der Iogifchen Nothwendigfeit ift allerdings ein 
abftrafter Determinismus und mas noch fchlimmer ift, ein tobter 
Formalismus an die Stelle lebendiger Geiftesentwidiung gefeht. 
Das eitle Vergnügen, fi in ihrem Scharffinn zu befpiegeln, unb 
jeden Schritt der Gefchichte auf einen Iogifch » bialektifchen Leben 
gang zu reduciren, überlaffen wir daher gern den Märtyrern ber 
Logit und. ihrem logiſchen Enthufiasmus. Finden fie auch überall 
die logiſche Zauberformel auf, fie würden darum die Sprache ber 
Geſchichte um Fein Haar beſſer verftehen als ber empirifchfte, we 
logiſchſte Hiftorifer. 

Die moralifche Nothwendigkeit dagegen ift allerdings als 
Das leitende Princip aller Gefchichte anzuerfennen. Sie ift ei 
Müffen, aber bedingt durch die freie Selbftbeflimmung des Mer 
hen, mithin Fein Müffen ſchlechthin, ſondern ein Sollen. Der 
Gefchichte der Menfchheit — das fordert die Bernunft und ber 
Begriff der Geſchichte — ift nothwendig ein Ziel vorgeftedt, das 
fie in ihrem unbegrängzten, nur mit der Erreichung des Ziele fh 
sollendenden Dafein eben fo gewiß erreichen muß, ale der Eis 
zelne bei der Begrängtheit feines irdifchen Lebens und der Freiheit 
feiner Selbftbeftimmung das feinige nicht zu erreichen braucht. 


2 — — — — 


Wie naͤmlich der Menſch durch Feine Selbſtbeſtimmung, durch fi 


nen Willensakt, von feinem Ich und feinem Menſchſein loszukon⸗ 
men vermag, fo kann das Böſe und Verkehrte, fei es auch neh 
fo groß, niemals den fubftanziellen Kern bed Guten in ihm ver 


nichten. Es giebt eben fo wenig eine abfolut böfe, als eine | 


abfolut gute Handlung: das Abfolute ift überhaupt in biefer 
Welt der Nelativität nirgends zu finden; es iftnur, indem es fiein 
ſich aufhebt und mit fi) vermittelt. Mithin involvirt auch Die fehle 
tefte, verfehrtefte Handlung noch immer einen, werm gleich noch fo 
feinen Bortfchritt zu jenem Ziele, welches eben nur in ber voll 
endeten Entwidlung und Ausbildung jenes fubftantiellen Kernes dei 
Guten, Wahren und Schönen befteht: je größer, edler und ſche⸗ 
ner die Handlung, deſto größer ber Fortfchritt, und umgefeht. 
Der Einzelne braucht daher allerdings das Ziel feines. irdiſche⸗ 


| 


Die philofophifche Literatur ber Gegenwart. 299 


Dafeins nicht zu erreichen, aber mır Darum, weil bie Spanne 
Zeit, die ihm gegeben, nicht ausreicht um mit dem Minimum der 
fortfchreitenden Bewegung zum Ziele zu gelangen; dafür öffnet 
fih ihm nach dem Tode ein zweites Leben. Die Menfchheit das 
gegen muß das ihrige erreichen; jeder Schritt der Weltgefchichte 
iſt nothwendig ein Schritt zu ihrem Ziele. Aber diefe Noth⸗ 
wenbigfeit ift eine moralifcye, bedingt durch die menfchliche Freiheit. 
Denn die Bahn, auf welcher die Geſchichte ihrem Ziele entgegen 
geht, die Art, wie die Menfchheit dahin gelangt, ob auf taufend 
Umwegen ober in gerader Richtung, ob mit rafhem oder langſa⸗ 
mem Schritte, — das ift fchlechthin von ihr felbft abhängig. A priori 
laͤßt fich alfo nur darthun, daß der Gefchichte ein Ziel worgeftedt 
fei und von ihr erreicht werben müſſe; nothwendig ift nur, Daß 
jeder Schritt ein Schritt zu dieſem Ziele ſei; eben dieſe Noth⸗ 
wenbigfeit ift das Band der Ordnung und Gefegmäßigfeit, der 
sufammenhängenden, fortfchreitenden Entwidlung, wodurd Die Ges 
ſchichte Geſchichte if. Aber das Wie diefes Proceſſes läßt fich 
nur a posteriori erfennenz; nur fo laͤßt fich beſtimmen, worin jeder 
Schritt beftanden, wie groß oder Hein er gewefen, woburd 
er vermittelt worden, wohin er zunächft geführt habe, Eine Phis 
loſophie der Gefchichte kann alfo nur darin befteben, daß fie nach 
ber bargethanen Nothiwendigfeit des Ziels und feiner näheren Bes 
flimmung in der Maſſe der a posteriori erforfchten Thatfachen bie 
fortfchreitende Bewegung barthut, jeden Schritt ald einen Schritt 
zum Ziele, jeden mithin in feiner Nothwendigfeit und damit bie 
immanente Nothwendigfeit im Gange der Gefchichte überhaupt 
nachweift. | 

Was von der Gefhichte überhaupt, das gilt auch von ber 
Gefchichte der Philofophie. Denn fie ift nicht bloß der Entwid- 
Iungsproceß der Iogifchen Kategorieen, fondern der menfchlichen 
Bernunft überhaupt von Seiten ihred Selbſtbewußtſeins. Diefe 
aber hat nicht nur den erfennenden (denkenden), fondern auch ben 
wollenden Geift zu ihren Diomenten. Mithin ift auch Die Gefchichte 
ber Philofophie das Nefultat jener beiden Faktoren, fener imma⸗ 
nenten Nothwendigkeit und der fie bebingenden menfchlichen Freiheit. 


300 Ulriei, 


Nach diefem Vorwort, das nothwendig war, um ben Stand: 
punkt der folgenden Kritik zu bezeichnen, wende ich mich zu letz⸗ 
terer felbft. Ich beginne mit einem Werke zur Gefchichte der 
antiten Philofophie. 

Chriſt. Auguſt Brandis: Handbuch der Geſchichte der 
Griechiſch-Römiſchen Philoſophie. 2ter Th. Aſte Abtheilung. 
Berlin, 1844. 

Die Hegelſche Schule wird nicht verfehlen, dieſes Werk einen 

f. g. überwundenen Standpunkte zuzuweiſen, und ihm ben Mans 
gel an immanenter Entwidlung, an wahrem Zufammenbange, an 
Princip und Methode u. dgl. vorzumerfen. Allerdings weiß es 
Nichts von der abfoluten Herrichaft der Togifchen Kategorieen und 
der f. g. bialeftiihen Methode. Dennoch ift es ein ausgezeichnetes 
Werft, das trog der ihm vorangegangenen trefflichen Schriften 
Ritters und Hermanns feinen Rang in der Literatur behaupten 
wird, — ein Werk, das auf den gründlichften Stubien und einer 
gediegenen Gelehrjamfeit ruht, von allfeitiger Erwägung und 
forgfältiger Durchbenfung des Stoffs getragen if, ein Werk, in 
welchem insbejondere ein Acht hiftorifcher Geift fih ausſpricht. 
Diefem Geifte, der vor allen Dingen Achtung vor der Gefchichte, 
rückhaltloſe Vertiefung in den Stoff, Beurtheilung jeder biftorifchen 
Erfcheinung nad) ihrem eigenen Standpunfte, Ausfchließung aller 
vorgefaßten Meinungen und felbftgemachten Principien forbert, wird 
auch der wahre, wirklich vorhandene Zufammenhang, jene wahre, 
immanente Nothwendigfeit des hiftorifchen Fortfchrittes nicht ent 
gangen fein. Diefer Acht Hiftorifche Geift ift vielmehr mit dem 
Geifte ächter Spekulation fo nahe verwandt, daß beide nothwendig 
zufammentreffen müflen, indem erſterer vom Standpunkte wiſſen⸗ 
fchaftliher Erforfhung des Gegebenen daflelbe Ziel zu erreichen 
fucht, das letzterer, dieſe Forſchung vorausfegend, vom Standpunkt 
der immanenten Denfnothwendigfeit aus ſich felber fegt und er 
firebt: beide wollen aber nur den Nachweis liefern, dag nicht bloß 
bie Natur, fondern auch die Geſchichte die Werfftatt der ewigen 
Vernunft fei. Es wird daher Niemanden Wunder nehmen für 
nen, wenn biefe Zeitfehrift, die ihrer Tendenz gemäß allerdings 


Die philofophifche Literatur der Gegenwart, 301 


bas Gebiet der reinen nadten Hiftorie, d. b. ber bloßen Samm- 
lung und Sichtung des Materials, von ſich ausfchließt, ein Werk 
wie Das vorliegende, nicht ganz unberüdfichtigt läßt. 

In der That bemüht fich der Verfaſſer vorzugsweife, fogleich 
bei der Darftellung der Sofratif, mit der diefer zweite Band bes 
ginnt, den innern Zufammenhang zwifchen der reinen Lehre bee 
Sofrates, und den mannigfaltigen, anfcheinend fo entgegengefebten 
Schulen, die von ihm ausgingen, nachzuweifen. Um zunächſt dag 
eigenthümlih-Sofratifche von der erhöhenden Platonifchen und 
ber erniedrigenden Xenophontifchen Auffaffung deſſelben ausfcheiden 
zu können, ruft er mit Necht die. Zeugniffe des Ariftoteles zu 
Hilfe: fie allein Eönnen im Zweifel den Ausfchlag geben. Der 
Sat, daß die Tugend eine Erfenntniß, ein Wiffen (Zmsornun) 
und fomit auch umgefehrt die wahre Erfenntniß Tugend fei, — 
biefe immanente Beziehung zwifchen dem erfennenden und wollen- 
den Geifte, dieß gegenfeitige Bebingtfein des Wiffens und Wollens, 
diefer innige Zufammenhang des Wahren mit dem Guten und 
Schönen, ift demnach ohne Zweifel als der eigenthümliche Lebens⸗ 
‚quell der Sofratifchen Lehren anzufehen. Das war das neue 
Princip, das der bisherigen Trennung des Ethifchen vom Phy⸗ 
ſiſchen und Metaphyſiſchen, die zur. Sophifti geführt hatte, ſieg⸗ 
reich gegenübertrat. Diefe Idee eines untrüglichen, in der mora⸗ 
liſchen Natur des Menſchen liegenden Wiffens, die Sokrates nur 
zum Bewußtfein zu bringen, Plato erft in fyftematifcher Begrün⸗ 
bung und "Durchführung philofophifch zu realiſiren fuchte, verbindet 
und trennt zugleich die verfchiedenen Sokratiſchen Schulen. Die 
Sokratiker nämlich, die der Berfafler mit Necht die einfeitigen 
nennt, d. h. alle Schüler des Sokrates mit Ausnahme Plato’s, 
hielten zwar im Allgemeinen an jener Idee fett, aber fie faßten 
das Wiflen entweder nur ald moralifches Bewußtfein, deſſen 
Werth und Bedeutung nur in ber praftifchen Ausübung bes 
Guten beftehe, oder beſchränkten ed auf den erften unmittelbarften, 
Hoß ſubjektiven Inhalt des Bewußtfeind, auf die praftifhen Ge⸗ 
fühle des Angenehmen und Unangenehmen, oder endlich gaben 
ihm eine einfeitig theoretifche Richtung auf das Objektive, in- 


302 Ulrici, 


dem fie den Accent auf die Lehrbarfeit bes Guten, auf das Er 
kennen und bie bialeftiihe Form deffelben legten. 

Auf dieſe Weife ergeben fi) dem Verfaſſer die verfchiebenen 
Tendenzen, welche bie Kynifche, die Kyrenäifche und die Negariſch⸗ 
Eretrifhe Schule verfolgten. Jede von ihnen afjoctirte fich zu 
Sleich, bewußt oder unbewußt, mit einer früheren, vor⸗ Sokrali⸗ 
fchen Richtung, oder um modern zu fprechen, trat damit zugleich 
auf einen bereitö überwundenen Standpunft zurüd. Die Kymier 
mit ihrer einfeitigen Tugendlehre und Tugendpraris neigten fid 
offenbar zur Pythagoräiſchen Philofophie hinüber, deren vorherr⸗ 
fhend ethifche, auf das Praktifche gerichtete Tendenz unzweifelhaft 
iſt; nur faßten jene mit Sofrates das Ethiſche in höherer philoſo⸗ 
phifcher Selbfiftändigfeit auf, frei von allen zufälligen Bezichm 
gen auf Politif und herrichende Sitte, mit denen es bie Pythagoraͤer 
vermiſcht hatten. Deutlicher noch tritt bei der Kyrenätfchen Schule 
ihre innere principielle Beziehung zur Sophiftif hervor. Dem 
ihre Hedonif, nad) welcher „nur die Empfindung oder innere As 
feetion wahrhaft wißbar, nur fie mithin ald Kriterium gelten, und 
folglih nur der aus den einzelnen erregenden Luftempfinbungen 
hervorgehende gegenwärtige Genuß Endzwed fein und Werth an 
fi haben follte” (S. 102), führte confequenter Weife auf das 
Grundprincip aller Sophiftif zurüd, auf den Sag, daß fchlechiäie 
Alles, Erkennen und Wiffen, Wollen und Thun, nur von ſubjel⸗ 
tiver Bedeutung, der Menſch — d. h. das einzelne Inbioibuum 
als folhes — Das Maß aller Dinge ſei. Die Megarifer endlich 
- nahmen augenfcheinlich die abſtrakt⸗-logiſche Dialektik der Eleaten 
wieder auf und fuchten den: Sofratifchen Begriff des Guten mil 
ben eleatifhen Beftimmungen über das reine Sein zu vermitteln. 

‘jede diefer Einfeitigfeiten, jeder diefer anfcheinenden Rüd 
ſchritte involvirt gleichwohl einen Kortfchritt, oder war wenigfiens 
zur weiteren Fortbildung der Philofophie nothwendig. Zunähk 
nämlich mußten die Hauptmomente der Sofratiichen Lehre, deren 
innere Einheit Sofrates felbft niemals eigentlich wiſſenſchafilich 
dargetban, fondern gleihfam nur perfönlih an fich felber darge 
flellt und durch feine gefchmeidige, der jebesmaligen Perſoönlichleit 


⸗ — 


» 


Die philofophifche Literatur der Gegenwart. 305 


des Schülers fi anpaſſende Lehrmethode nur beiläufig und in 
individueller Form erörtert hatte, zu entſchiedener Gegenſaͤtzlichkeit 
auseinandertreten, um wahrhaft vermittelt werden zu können. 
Eben fo..- waren die einfeitigen Richtungen der vor- Sofratifchen 
Philoſophie zwar in Wahrheit von der Sofratifchen zu innerer Eins 
beit zufammengefaßt und eben damit ihre Einfeitigfeit paralyſirt; 
aber der Bermittelungsproceß, der fie in der Sofratifhen Grunds 
anfchauung vereinigte, war von Sofrates felbft wiederum weder 
wiffenfchaftlich dargethan, noch erfchöpfend durchgeführt. Als das 
perfönliche Uebergewicht des Sofrates wegfiel, mußte daher noths 
wenbig eine Reaktion eintreten; die früheren Richtungen bemäch⸗ 
tigten fich. der einzelnen Elemente der Sofratifz die Vermittelung 
wurde zunaͤchſt am Einzelnen einfeitig durchgeführt, damit aber 
ber wahren, vollftändigen Verſöhnung durch einen höheren, ums 
faſſenderen Geiſt die Bahn eröffnet, 

Diefer höhere Geift war Plato, einer der füngften Schüler 
bed Sokrates. Sein Berhältnig zu letzterem beſtimmt der Vers 
faffer zunächft im Allgemeinen dahin, daß er die Sofratifche Phi⸗ 
loſophie fpftematifch zu entwickeln und zu ergänzen zu feiner Aufgabe 
gemadt habe, Gewiß war Plato’d Stellung eine ganz ähnliche 
wie bie von Fichte zu Kant oder von Schelling zu Fichte: er 
glaubte und beabfichtigte zunächft nur das Sofratifhe Princip 
näher zu begründen, allfeitig durchzuführen, und fo des Sofrates 
einzelne Lehren zu einem vollftändigen Syſtem der Philofophie 
auszubilden. Dieß geht zur Evidenz fhon daraus hervor, daß 
er in feinen Dialogen durchgängig den Sofrates als den eigent« 
lichen Lehrer der Philoſophie auftreten läßt. Aber indem er an’s 
Verf ging, geftaltete fich ihm unter der Hand ein wefentlich neues 
Gebäude. Die Grundidee blieb zwar im Allgemeinen biefelbe; 
allein indem Plato das Sofratiiche Willen des Wahren, Guten 
und Schönen nicht bloß dialektifch «negativ durch Widerlegung ber 
entgegenftehbenden Anfichten, als conditio sine qua non eines 
menfchlich = vernünftigen Daſeins erwies, — worauf Sokrates ſich 
befehränft hatte, — indem er vielmehr feine ihm eigenthümliche 
Ideenlehre diefem Wiſſen als Fundament fubfiruirte und es damit 


304 Ulrici, 


pofitiv begründete, feine reale Möglichfeit, feine Entftehung und 
Berwirklihung darthat, indem er endlich) von der Ideenlehre aus 
den Begriff des Guten und Schönen, ald des Wahren, nicht nur 
im Allgemeinen, fondern auch in feiner immanenten Beziehung 
auf Politif, Kunft und Religion, und damit in feinem eonereten 
Inhalte näher beftimmte, bildete er das Sofratifhe Princip in 
jenen erhabenen Idealismus hinüber, der die reine abfolute Wahr: 
heit, Güte und Schönheit in das Jenſeits der Ideenwelt fegt, und 
ber zwar eben deßhalb noch an einem philoſophiſch bedeutenden Mau 
gel leidet, denn es wird wohl fchwerlich je gelingen, von rein Ple- 
tonifchen Motiven und Grundlagen aug jenes Jenſeits mit Dem Dieß⸗ 
feitö der realen Erfcheinungswelt wahrhaft zu vermitteln, der aber 
nichts defto weniger feinen Grundgedanken nach die ewige Bafi 
aller Achten Spekulation bleiben wird. Durch ihn unterfcheibe‘ 
fih Plato’s Philofophie nicht nur von der des Sofrates und aller 
Sokratiſchen Schulen, fondern ragt fogar über die antife Well 
anfchauung überhaupt in die neue chriftlihe Bildungsperiobe ber 
Menfchheit hinüber, 

Der Darftellung des Platonifchen Syftems widmet der Ber 
faffer den ganzen übrigen Raum diefes zweiten Bandes (S. 154- 
570). Troß diefer Weitläuftigfeit tritt die Gliederung des Ganzen 
als eined Ganzen klar und prägnant hervor. In der Befims 
mung ber Reihenfolge der einzelnen Dialogen, wie in ber Unter 
fuhung über die Aechtheit der wenigen angezweifelten, folgt bet 
Berfaffer im Allgemeinen Schleiermacher’n, ohne jedoch deßhalb jede 
einzelne Annahme deffelben zu unterfchreiben. Zu einer unbeftrei- 
baren Gewißheit über alle fraglichen Punkte zu gelangen, bürfte 
bier überhaupt unmöglich fein. Nur den Parmenides vindicirt er 
ausdrüdlih und entfchieden jener zweiten Gruppe, der den Be 
griff des Wiſſens überhaupt bialektifeh entwidelnden Dialogen; 
und ben Hippiad minor, den Menerenus und den Son betrachtet 
er als Platoniſche Gelegenheitöfchriften, deren Aechtheit Schleier 
macher ohne genügenden Grund angefochten. Danach bedarf es 
benn Feiner befondern Erwähnung, dag auch hinſichtlich der Ans 
orbnung und Entwicelung des Inhalts, hinſichtlich der Gliederung 


Die philoſophiſche Titeratur der Gegenwart. 505 


des Syflems, als Spflems, der Verf. der Schleiermacher'ſchen Aufs 
faffung den Borzug giebt. Nur darin weicht er von letzterer ab, 
daß er die Dialeftit von ben beiden realen Wiffenfchaften der 
Phyſik und Ethik abfondert, „überzeugt, daß eine ſolche Sonde 
rung von Plato felber mindeftend bereits beabfichtige und mehr 
durchgeführt ift, als Schleiermacher zuzugeben gencigt ift, und 

außerdem ber Einficht in die Zufammengehörigfeit der dialeftifchen 
mb etbifchen wie phyſiſchen Unterfuchungen fich fehr förderlich er- 
weist.” Demgemäß gliedert fih ihm das Platonifhe Syftem fol⸗ 
gendergeftalt: zunächft als Einleitung in das Ganze die mythifch- 

polemifche Grundlegung , die Plato feinen Lehren von der Liebe, 
als dem begeifternden Triebe zur Weisheit, von der Seele und 
ihrem göttlichen Urfprunge, kraft deffen fie der Wahrheit und Ge«- 
wißheit empfänglich ift, endlich von der Form und dein Inhalte 
eines unbedingten Willens und der nothiwendigen Zufammengehös 
rigfeit des Wiſſens und Handelnd giebt. Sodann folgt, als das 
erite Glied des Syſtems felbft, die dialektiſche Entwidelung des 
Begriffs des Wiffens und zwar zuvörberft in Beziehung auf dag 
Subject, demnaͤchſt in Beziehung auf Das Seiende, ald dag Ob⸗ 
ject deffelben, und endlich rüdfihtlih der Ideen als der ſubjeeti⸗ 
ven Normen des Wiffend und der objectiven Principien der Ge- 
genftände beffelben. Nachdem fobann die Ideenlehre felbft auf. 
dialektifch-antinomifche Weile näher begründet und von ihr aus 
die Entwidelungsweifen und Stufen des Wiffens wie deffen Ab⸗ 
ſchluß in der Idee des Guten näher beftimmt worden, ift zugleich 
der Grund gelegt, auf welchem die Platonifhe Weltanfchauung, 
zunächft ihren allgemeinen Grundzügen nah, ſich von felbft auf 
baut. Denn eben die Ideenlehre ift das Fundament, auf welchem 
legtere ſteht. Aus dem VBerhältniß der Ideen zu dem, was Plato 
ben Stoff (#47) nennt, ergiebt fi zunächft Wefen und Begriff 
ber Welt der Erfcheinungen: der Stoff ift aber einerfeits die Be- 
dingung ber Verwirklichung der Ideen in ber Erfcheinungswelt, 
von eigenthümlicher, mit Nothwendigkeit wirkender Urfächlichkeit, 
andererſeits der Grund aller Mannichfaltigkeit. Der legte abfo- 
. Inte Grund der Ideen felbft und der ihnen eigenthümlichen freien 
Zeitſchrift f. Philoſ. u. fpek. Theol. XL Banb- . 20 


306 Ulriet, 


Urfächlichfeit ift dagegen die Gottheit, deren nähere Begriffsbe⸗ 
ſtimmung als des fchlechthin Guten unter ber Form der unbedingten 
Einheit, vom Denken unmittelbar ergriffen und durch vermittelndes 
Beweisverfahren bewährt, ungezwungen zur Lehre von ber gött 
lichen Vorfehung und Weltregierung überleitet. Damit if die 
Platoniſche Weltanſchauung in ihren allgemeinen Grundlagen umd 
Grundzügen vollendet. Die detaillirte Ausführung derfelben er 
folgt dann zunächft in derjenigen Dieciplin, welche Plato feibk 
unter dem Namen der Phyſik als einen befonvderen Theil feines 
Syſtems bezeichnet. Sie fehließt mit dem Verſuche Plato’s, bie 
Lehre vom Drganismus des menfchlichen Körpers in Weberein- 
flimmung mit feinen naturphilofophifchen Grundvorausſetzungen 
teleologifch zu begründen. Diefe Lehre bildet den Uebergang zu 
Piychologie, welche Plato felbft wohl nur als Theil der Phyfil 
betrachtete, die aber der Verf. mit Recht als eine befondere Die 
eiplin behandelt. Mit ihr verknüpft fih von ſelbſt Plato’s Lehre 
von der Unfterblichfeit der Seele und ihren Schickſalen nad dem 
Tode; und als Uebergangspuntt von ber Pſychologie zur Ethil 
benugt der Verf. Plato’s Beftimmungen über die Freiheit des 
Willens. Die Ethik ift der leute Haupttheil des Platonifchen Sp | 
ſtems. Sie wird zunächſt negativ begründet durch) Widerlegung 
der ſophiſtiſch-⸗hedoniſtiſchen Irrlehren, poſitiv durch Unterſuchm⸗ 
gen über die Natur und die Arten der Luſtempfindungen in ihrem 
Verhältniß zum Wiſſen, über das höchſte Gut und deſſen Beſtand⸗ 
theile, über die Tugend und die Glückſeligkeit. Dieſe Unterfu⸗ 
chungen bilden zugleich den allgemeinen Theil der Ethik ſelbſt, an 
welchen die Darftellung von Plato's Idealſtaate und feinem Staale 
der Gefege als befonderer Theil oder als concrete Durchführung 
der allgemeinen Principien ſich anfchließt. — 

Daß nad) diefer Anordnung die Platonifche Philofophie, wei 
he, wenn man an den einzelnen Dialogen Fleben bleibt, in eine 
Menge Iofe zufammenhängender Unterfuchungen zu zerfallen fcheitt, 
im Grunde als ein wohlgegliedertes Syftem, als ein in fi har 
monifches Ganzes, eines philofophifchen Künftlers, wie Plato vol 

lommen würdig, fih ausweist, muß Jeder auf den erften DL 
erkennen. Die weientlichen Lehren Plato's in biefer Abrundung 


Die philofophifche Literatur der Gegenwart. 507 


zu einem foflematifchen Ganzen treu und unverfälfcht dem Blicke 
yorzuführen, ohne ihrer Eigenthümlichfeit Abbruch zu thun, ohne 
Uebergänge zu erdichten und felbfigemachte, unplatonifche Mittele 
glieder einzufchieben, ift die Hauptaufgabe jedes Hiftoriferd der 
antiken Philofophie. Denn Plato’s Syftem bildet nun einmal den 
Mittelpunkt in der Entwidelung des philofophifchen Geiftes ber 
Alten; von ihm aus allein ift der Gipfel- und Wendepunft der» 
felben, die Ariftoteliiche Philofophie, wahrhaft zu verſtehen. Der 
Berf. hat diejer fchwierigen Aufgabe, foweit deren Löſung über: 
Haupt möglich ift, meines Erachtens auf eine durchaus befriedi- 
gende Weile genug gethan. Im Einzelnen dürften fi freilich 
noch manche Punkte finden, über die fich ftreiten ließe; im Ein- 
zeinen würde ich felbft Manches anders gefaßt und anders ges 
Kellt haben: wem auch möchte ed gelingen, überall, in jedem 
Nebenpunkte das Richtige zu treffen! Wer aber dürfte ſich auch 
das Recht anmaßen, über folde einzelne Streitpunfte in letter 
Inſtanz zu entſcheiden, und feine eigene Anficht als die allein 
wahre und untrügliche geltend zu machen! Ref. wenigfteng macht 
auf diefe Untrüglichfeit feinen Anſpruch; er fühlt fih im Gegen- 
Keil in Beziehung auf die Platoniſche Philofophie, trog feiner ge⸗ 
nanen Belanntichaft mit derjelben, Tem Hrn. Verf. nicht gewach⸗ 
fen, glaubt aber auch, daß von dieſem Schidſat nur ſehr Wenige 
ausgenommen fein dürften. 

Unter diefen Umftänden würde es eine Anmaßung fein, wenn 
ich meine einzelnen Ausftellungen hier weiter ausführen wollte, 
Ich fage im Gegentheil dem Hrn. Verf. auch öffentlich meinen 
Dank für die mannichfaltige Belehrung, die mir aus feinem Werfe 
zu Theil geworden. Und nur um doch irgend Etwas auszuſetzen, — 
man würde vielleicht fonft an meiner Unparteilichfeit zweifeln — 
will ich mir erlauben, den Hrn, Verf, darauf aufmerffam gu ma⸗ 
Sen, daß feine Diction, insbefondere fein Periodenbau, ein zu an- 
tiles, platonificendes oder wenigſtens gräcificendes Gepräge hat. 
Da a in feinen fürzlich erfchienenen „Mittheilungen,über Gries 
chenland“ eine ganz andere Spracde führt, fo war es vielleicht. 
‚feine Abſicht, die Darſtellung der antifen Philofophie auch durch 
1 20 * 


308 Ulrici, 


die Form der Diction dem antifen Geifte näher zu bringen. Allein 
jo berechtigt dieß Beſtreben in allen andern Gebieten fein mag 
im Gebiete ber Philofopbie, wo es auf den reinen Gedanfen, af 
die ideelle, über Zeit und Volksgeiſt hinausreichende Wahrhei 
ankommt, kann ihm nicht die gleiche Berechtigung beigelegt werden. 
Ueberall wenigſtens, wo die Klarheit der Darſtellung und die Leich⸗ 
tigkeit des Verſtändniſſes in Frage kommt, müſſen alle andern 
Rück- und Abſichten weichen. Dieſer Klarheit und Leichtigfet 
thut nun aber die Diction des Verf. in der That einigen Abbrud. 
Davon wird er fich felbft überzeugen, wenn ihm nach einiger 
Zeit feine eigene Darftellung fremder geworden, und er fie dam 
mit unbefangenem Blicke noch einmal wieder durchſehen will — 

An Brandis’-Schrift reihe ich ein paar Werfe an, deren lim 
fang zwar über die Gefchichte der antifen Philoſoͤphie hinausgeht 
legtere aber doch mit einfchließt, und bie daher Bergleichunge 
punfte unter einander wie mit Brandis barbieten, zumal dba fr 
von deſſen Principe abweichen und ber conftruetiven Methode der 
Geſchichtſchreibung huldigen. Ich meine 

1) Joſ. Hillebrand: Der Organismus ber philoſoph. Zoe 
in wiffenfchaftl. u, gefchichtl. Hinſicht. Dresd. u. Leipz. 184% 

2) Chr. %. Braniß: Geſchichte der Philofophie feit Kam. 
Erfter Theil, unter dem befondern Titels Ueberſicht bei 
Entwidlungsganges der Philofophie- in der alten und mi 
Ieren Zeit. Bresl. 1842, 

Hillebrand’g Standpunkt ift der ber neueren beutfchen Pf 
loſophie feit Fichte, der |. g. abfolute Standpunft Schellings mb 
Hegeld. Sein Syitem, das er bereits in früheren Schriften, p⸗ 
legt in feiner Philofophie des Geiftes dargelegt hat, und hier I 
Grundriß als den erften Theil der vorliegenden Schrift wiebe:- 
holt, hat die nädfte Verwandtſchaft mit dem Hegelfchen. DE 
Grundidee wenigftens it trog mannichfaltiger Abweichungen dir 
felbe: die abfolute Thatfache, d. h. die Idee oder der reine Ge 
banfe, dag Denken ſchlechthin, fol fih in immanenter Selbſtbe⸗ 
fimmung und GSelbftentwidelung durch die Dialektik (Rogid), Nr 
turphilofophie. und Geiftesphilofophie hindurch, als das Abfolnik 
als immanente Grunburfache und Subftanz bes Uniyerfums, is 


Die philofophifche Literatur der Gegenwart. 509 


letzter Vollendung als abfoluten Geift ausmweifen. „Der wiſſen⸗ 
Schaftlihe Organiſations⸗Proceß beginnt mit ber abfiracten 
Selbfibeftimmung der Idee, mit dem reinen Selbftanfange und 
ber allgemeinen Selbfterfafiung des Denkens, gewiffermaßen mit 
Dem Denfen des Denkens. Der näcfte Fortſchritt iſt ſodann die⸗ 
fer, daß ſich die Idee zur objectiven Beftimmtheit bringt, d. h. 
bie Natur als Moment ihrer Selbftbeftimmung nimmt und an der⸗ 
ſelben ihre abflracten Kategorieen realifirt findet. Die dritte Rich⸗ 
tung erweifet fih darin, daß fie fih in ihrer eigenen Sub— 
jectioität beftimmt, d. h. ſich felbft als freie Wirklichkeit faßt, 
fomit ebenfofehr ihre abftracte Allgemeinheit als ihre objective 
Naturbeſtimmtheit an ſich aufbebt und ſich als Einheit beider, fo- 
mit eben als bie pofitive Eriftenz der Freiheit, ald das ſich 
felbftfegende und felbfibewußte Sein begreift.” Hierin 
wird Jeder auf den erften Blick die Hegelihe Grundanfchauung 
-wieber erfennen. Die Abweichung des Verf. von letzterer beruht 
im Allgemeinen auf: feiner entfchiedeneren Hinneigung zum Spino⸗ 
zismus. In Folge deffen treten ihm jene drei Hauptbegriffe- und 
Entwidelungsmomente ber Idee nicht fo beftimmt als bloße unter- 
fehiedene Momente des Abfoluten auseinander. Die dee ale 
die abfolute Thätigfeit im Elemente des reinen Denkens, die 
Dialeftifche Clogifhe) dee, fest nah ihm in der Unendlichkeit 
ihrer Beftimmungen nur ale möglichen Unterſchiede ihrer 
ſelbſt. Um aber wahrhaft abfolut zu fein, muß fie fih auch als 
ihre eigene Macht, als ihre eigene Allgemeinheit, als ihren eiges 
nen Gruud und Zweck fegen: „nur indem fie fi) felbft als 
Dbjeet und Subject, ald unmittelbare Eriftenz und Freiheit 
zugleich bat, ift fie wahrhaft ſich felbft gleich, iſt fie veine 
Abdjolutheit.” Ihre Objectivität ift dann die Natur, ihre Sub- 
jectioität der Geiſt. Within ift die Natur dem Verf. nicht 
bloßes Entwicklungsmoment im Proceffe der Selbftrealifirung 
des abfoluten Geiſtes, fondern die Eine Seite, der ©eift die an« 
dere Seite der abjoluten Idee, beide gleichfam die, gleichberech⸗ 
tigten, aber allerdings immanent zufammengehörigen Hälften, in 
deren Einheit das Abfolute, das als logiſche Idee im reinen Deus 
fen nur. das potentiale Prius feiner ſelbſt if, feine ahiote 


3410 | Ulriei, 
Realität hat. Daß damit der Verf. der Spinoza'ſchen Grundans 
ſchauung bedeutend näher fiehe ald Hegel, teuchtet von felbft ein. 
Dieß möge genügen, um bie Stellung des Verf. im Allge- 
meinen zu bezeichnen. Wir Tönnen auf eine Beurtheilung feines 
eigenen Syſtems ſchon darum nicht näher eingehen, weil wir ihm 
ſelbſt Unrecht than würden, wenn wir es nach der bloßen Skizze, 
in der es uns hier als erfter Theil diefer Schrift vorliegt, kriti⸗ 
firen wollten. Denn bie Pofttion, Die es einnimmt, ift allein halt 
bar, wenn auf ummwiderlegliche Weife dedueirt ift, wie der menſch⸗ 
liche Geift, das menfchlihe Denken oder Bewußtfein, zum Begriffe 
eines abfoluten Denkens oder der abfoluten Idee komme, und 
daß diefer Begriff fowie feine abfolute Realität und Wahrheit 
ſchlechthin denknothwendig fei. Diefe Deduction fehlt aber in ber 
vorliegenden Skizze, und mußte fehlen, wenn fie bloße Skizze bie 
ben follte. Man fieht daher nicht ein, mit "welchem Rechte die 
Philofophie, oder wie der Verf. fich ausprüdt, die philoſophiſche 
Idee, d. h. das menſchliche Denken in feiner reinen Beziehung 
auf ſich felbft, in feiner VBorausfegungslofigfeit oder Abſtraction 
:pon aller Gegebenheit, ohne Weiteres mit dem abfoluten Denfen 
identificirt wird, Soll in der Abftraction von allem Gegebenen — 
'gefeht, deren Nothwendigfeit und Berechtigung wäre dargethan — 
zugleich die Abftraction von feiner Beſtimmung als menſchliches 
Denken liegen, fo müßte doch jedenfalls die Nothwendigkeit oder 
minbeftens die Möglichkeit diefer Abftraction erwiefen fein, ehe 
von einem Denken ſchlechthin, von einem reinen Denken bie 
‚Rebe fein kann. Statt deffen erklärt der Verf. ohne Weiteres den 
reinen Gedanken für die abfolute Thatſache. Allein wenn von 
einer Thatfache ausgegangen werben fol, fo kann es offenbar nur 
‚die Thatfache fein: Ich denke. Diefe Thatfache ſcheint auch der 
Berf. mit der Thatfächlichfeit des reinen Gedankens oder des ab 
foluten Dehfens zu ibentificiren; wenigftens bezieht er ſich zugleich 
auf das Carteſiſche cogito ergo sum, und erklaͤrt dieſes für den 
abfoluten Grundſatz aller Philoſophie. Daß Ich mun- aber in 
‚und mit meinem menſchlichen Denken genöthigt fei, zugleich ein 
ſchlechthin allgemeines, abfolutes Denken, das doch mit 
blos das allgemeine menſchliche Denken fein kann, anzunehmen 


Die philofophifche Literatur der Gegenwart. 344 


und in abfoluter Realität zu feßen, verfteht fi doch nicht ohne 
weiteres von felbfl. Und noch weniger kann ich ohne Weiteres 
berechtigt fein, mein Denken, geſetzt auch daB ich ed von allem 
vorgefundenen Inhalte, von allen Beziehungen nad) Außen, auf 
irgend etwas Anderes, reinigen könnte, mit dem abfoluten Denken 
zu ibentifieiren. Vielmehr bliebe, — wenn nad jener Reinigung 
das inhaltslofe Nichtsdenfen überhaupt noch für Denken gelten 
kann — troß alles Abſtrahirens doch immer nur ein abftract 
menſchliches Denken übrig, d. b. ein Denfen, das nicht nur 
feiner eigenen grundwejentlichen, fubftanziellen Beftimmung nad 
ftets menschliches Denken bleibt, fondern gerade in jenem Abftras 
hiren als folches fi) bewährt. Denn nur das menfchliche Denken 
Tann von gegebenem Inhalte, von Aeußerlichleiten u. dgl. abſtra⸗ 
hiren; für das abfolute giebt ed gewiß gar Feinen gegebenen In⸗ 
balı, Teine Befimmtheit von Außen. ebenfalls aber wird durch 
das bloße Abftrahiren die urſprüngliche Natur des menfchlichen 
Denkens in Nichts verändert; trotz alles Abfirahirend bleibt es 
realiter, was es iſt; und wenn es feiner eigenen Natur nad 
nicht genöthigt ift, das abfolute Denfen als unterfchieden von ſich 
in realer Eriftenz zu denfen, — durch bioßes Abftrahiren kann 
ed unmoͤglich zum Begriffe defielben gelangen; benn könnte ed auch 
von feiner eigenen menſchlichen Natur, von ſich ſelbſt abftrahiren, 
fo würde damit immer noch ‚nicht das abfolute, fondern nur ein 
ſchlechthin unbeftimmtes Denken gewonnen, das zufolge dieſer 
abſtracten Unbeftimmtbeit in feinem Berhältnig zum menſchlichen 
Denken ſtehen könnte, von dem alfo auch nicht einzufehen wäre, 
was das menfchliche Denfen von ihm wiffen und ob es baffelbe 
überhaupt denfen könne. jedenfalls ift mit dieſem Abftrahiren 
noch nicht die Nothwendigkeit, das Denfen in ſolcher Unbes 
ſtimmtheit zu faffen, und noch weniger die reale Erifienz beffelben 
erwiefen. Diefes unbeflimmte, |; g. reine Denfen ift und bleibt 
vielmehr, wenn. überhaupt denkbar, ein abftracter Begriff, ein 
Product des willführlich abſtrahirenden menfchlichen Denkens, von 
. dem fi nur mit gleicher Willführ behaupten läßt, ‚daß es das 
Abſolute ſei und ihm abſolute Realität zukomme. — 
(Beſchluß im nächſten Hefte.) 


Nachſchrift zu der Abhandlung im vorigen Heft: uͤber 
den Begriff der göttlichen Dreieinigkeit. 
| Bon 


Profeffor Dr. Weiße *). 


Oben genannte Abhandlung war im Januar und Februer 
des Jahres 4843 niedergefchrieben. Im Auguft defielben Jahres 
fam mir der dritte Band von Hrn, Dr. v. Baur’s Werke über 
die chriſtliche Lehre von der Dreieinigfeit zu, in welchem es ba 
Herr Berfaffer feiner nicht unwürdig gefunden hat, ben befannie 
Angriff Strauß's gegen mich, genau mit berielben, nur eiwab 
‚abgefhwächten Wendung, zu wiederholen. Was Herr v. Bau 
im Texte des Werkes gegen mich vorbringt, if ausſchließlich ge 
gen ben Inhalt der in den theolog. Studien und Kritiken AM, 
Heft 2 gedrudten Abhandlung: zur Bertheidigung des Begrift 
der immanenten Wefenstrinität gerichtet, Ob eine gewifjenhaftert 
Auffaffung nicht in diefer Abhandlung felbft noch andere Momente 
zu beachten gefunden haben würde, als die zu beachten meinem 
Gegner gefallen hat, ob die Abhandlung in der That Die plumpe 
Inconſequenz verfchuldet hat, die Herr v. Baur mir aufbürdt, 
erfi durch Combination der Engellehre mit dem Begriff eine 


°) Bergl. Bd. XL. 9. 1. S. 1. — Die Redaktion der Zeitfchrift je 
fich zu der Erklärung veranlaßt, baß ber vorſtehende Auffap, mi 
Bewilligung des Verfaſſers, dem Herrn Dr. von Baur vor ſeiren 
Abdrude mitgetheift worden ſei, zugleich mit der Aufforderung am 
Denfelben, ihn in der Zeitfcheift zu beantworten, was von Der 
Dr. von Baur unter dem Beifügen abgelehnt worden iſt, oe er 
ſich durch den Inhalt des Aufſatzes nicht bewogen geſehen habe, E⸗ 
was darauf zu erwiedern.« 


Weiße, Nachſchrift. 343 


vorsveltlichen, durchaus immanent bleibenden Schöpfung eine ber 
vornehmlichften, in ber bisherigen Dreieinigkeitslehre zurädbleis 
bender Schwierigkeiten löfen gewollt, dann nichts deſto weniger 
die Engel als Gefchöpfe ganz gleicher Art, wie diejenigen, deren 
Dafein den Begriff unferer Welt ausmacht, bargeftellt oder gelten 
gelafien zu haben, died und noch manches Andere muß ich hier 
dahin geftellt fein Yaffen. Es mag fein, daß in jener Darftellung 
demjenigen, der fie allein vor Augen hat, mandes als zufam« 
menhanglos und unbegründet erfcheint, welches für denjenigen, 
der die allgemeinphilofophifchen Prämiffen meines theologifchen 
Standpunfts kennt, feinen guten Zufammenhang gewinnt; ed mag 
fein, und ich will Dies als Entfchuldigung auch für Hrn. Dr. v. Baur 


‚gelten Iaffen, fo wenig ich annehmen Fann, daß, wenn es fi) von 


der Lehre eines philofophifchen Theologen früherer Zeit handelte, 
er im aͤhnlichen Kalle felbft ſolche Entfchuldigung für fih in An⸗ 
Spruch nehmen würde, Aber was foll ich zu der Art und Weife 
fagen, wie der Hr. Verfaſſer in einer, dem Terte des gegen mid) 


‚geführten Angriffs beigefügten Note, es ablehnt, auf die Darftels 


Yung einzugehen, durch welche ich, fehr bald nach Erfcheinen der 
erwähnten Abhandlung, den Inhalt derfelben aufs Neue durch⸗ 
ürbeitet, weiter ausgeführt, und in allen Punkten an allgemeinere 
theologiſch⸗ philofophifche Kragen, deren Erörterung durchaus im 
Bereich der Unterfuhungen bes Baur'ſchen Werkes lag, anges 
knüpft habe? | 

Ich brauche ben Refern diefer Zeitfchrift die Worte aus mei- _ 


ner „Idee der Gottheit“ nicht zu wiederholen, deren ſich Strauß 


Chrift. Glaubenslehre I, S. 495) bedient hat, um, fo viel an 
ihm war, meinen literarifchen Charakter vor Mit» und Nachwelt, 
wie er meinte, zu brandmarfen. Es find unvorfichtige Worte, es 
it wahr, und die ich jegt weder ihrer Form, noch ihrem Inhalte 
nach vertreten mag; dennoch darf ich vertrauen, daß’ weder, wer 
fie in dem Zuſammenhange lieft, dem fie entnommen find, den 
Etoß der „Trompete“ in ihnen vernehmen wird, den Hr. Strauß 


fo gefällig gewefen if, mir in die Hand zu geben, noch, wer 


meine Übrige wiffenfchaftliche. Stellung keunt, die Stimme bes 


314 Weiße, 


Charlatans, ber feine Kunden mit der Verheißung anledt, um 
wohlfeilen Preis „die Wunden des Glaubens zu verbinden un 
der Philofophie die gefährlichen Zähne auszuziehen.“ Daß. es 
Herr Dr. 9. Baur nit verſchmäht, auch feinerfeits unter der 
beifallklatſchenden Menge fich einzufinden, welche ſich um dieſen Scharf 
zichtersact feines Freundes verfammelt hat, ja daß er im feine 
eiwas fohwerfälligen Weife, den Verſuch macht, dem gefchidten 
Dandftreih, der ihm nicht ganz fo gut wie dem gewandierer 
Borgänger gelingen will, nachzuthun, ift feine Sache, und ich habe 
Darüber nichts mit ihm zu verhandeln. Mich intexeifirt hier nur 
der eigenthümliche Gebrauch, den er von den nämlichen Works 
macht. Weil nämlich in denfelben die Lehre von ber Drei 
Der Perfonen in Gott im firengeren Wortfüme vertheidigt wir, 
and weil Dagegen in der (fieben Jahr fpäter abgefaßten) Abhand 
Jung der Studien und Kritifen der Eirchliche Ausdruck der Dres 
Yerfönlichkeit denjenigen Preis gegeben wird, die in dem Gin 
an.ihm Anftoß nehmen, „ald würden dadurch die drei Hypoſtaſen 
als Wefen bezeichnet, die auch getrennt von einander beſtehen 
Zönnten” : fo meint fi Herr v. Baur berechtigt, mein philoſoph⸗ 
ſches Denfen überhaupt als ein „fich felbft aufbebendes” zu be 
‚zeichnen, und das Intereſſe daran den Freunden der „fogenanni 
pofitiven Philofophie” zu überlaffen. Ja er hält es für erlaukt, 
aus diefer, angeblicy von mir begangenen Inconſequenz einen Schlaf 
zu ziehen, der nicht nur mich, fondern der mit mir zugleich alle, bie 
ihm unter der gemeinfamen Kategorie der „pofitiven Philoſophie 
unterzufteden beliebt, treffen fol, wie es fcheint in der Abſicht, 
am dadurch feine gänzliche Nichtberüdfichtigung dieſer Anderes 
‚die ihm von Diefen ſelbſt ohne Zweifel nicht im Mindeſten ver 
übelt wird, hätte er nur, wie es dem Charakter feines hiſtoriſche 
Werkes unftreitig das Gemäßere- war, auch alles Uebrige, wei 
jeit Hegel über bie Dreieinigfeitslehre und Chriſtologie verhaw 
delt worden if, gleichfalls zur Seite liegen laſſen!) zu em 
ſchuldigen. 

Wollte ich hier in der Weiſe, von der wir bei Hrn. Dr. Bau 
gar nicht feltene Beiſpiele antreffen, Eonfequenzen ziehen, fo läge 


Nachſchrift. 315 


es nahe zu fchließen, bag alfo in ben Augen meines geehrten Geg⸗ 
ners jeder wiflenfchaftliche Forſcher des Anſpruchs auf Beachtung 
und Prüfung feiner Lehren ſich begiebt, der über einen einmal 
eingenommenen Standpunft hinausſtrebt, und: in Folge einer er⸗ 
zungenen beffern Einficht zur ausdrüdlichen oder ſtillſchweigenden 
‚Zurüdnahme früherer Behauptungen fi) bewogen findet. Glück⸗ 
licherweiſe für ihn hat der Herr Berfaffer in jener Anmerkung 
ſelbſt, die zu diefem Schluß verleiten könnte, die Unabhängigfeit 
feines Geiftes von den Regeln der gemeinen Verftandeslogif unzwei⸗ 
beutig genug an ben Tag gelegt, daß Fein Leſer fo leicht fi) dazu 
verſucht finden wird, feine Aeußerungen allzu fireng beim Wort 
‚gu nehmen. Auch giebt er ja eben dort von ber Tiberalität feiner 
Denkweiſe in Bezug auf Widerfprühe, die einem Schräftftellee 
gelegentlich entfallen Fönnen, dadurch einen auffallenden Beleg, 
Daß er, der mich vor nicht gar langer Zeit den kirchlich gefinnten 
Theologen als einen „bämifchen” Gegner denuncirt (Berliner Jahre 
bũcher 1839, Febr. S. 163), der eine ausführliche Beurtheilung 
meines Werkes über die evangelifche Gefchichte recht eigens darauf 
angelegt hatte, dem Publicum glauben zu machen, ich fei im Grunde 
is Allem eines Sinnes mit Strauß, und habe es nur aus Ehr⸗ 
geiz oder Eitelfeit darauf abgefehen, ihn zu überbieten oder an 
ihm zum Ritter zu werden, jett umgefehrt mi des „Schola⸗ 
ſticismus“ bezüchtigt, d. h. nach ihm einer Denkweiſe, welde 
„Die eigentliche Aufgabe der philofophifchen Speculation darin ers 
kennt, die orthodoxen Beftimmungen der Firchlichen Lehre in ihren 
.fpeeulativen Formalismus herüberzuziehen und mit ber Appellation 
an bie Eirchlich gläubige Gefinnung der Zeit allen Anforderungen 
des fpeculativen Denkens” (zu ſolchen Beſchuldigungen vermag 
‚eine uneble Leidenfchaftlichkeit einen fonft verdienſtvollen Gelehrten 
-fortzureißen!) „zu genügen glaub.” u 
Was diefe Ietttere Anſchuldigung betrifft, bie troß ihrer hands 
greiflichen Abgeſchmacktheit fchon zu wiederholten Malen aus Hrn. 
v. Baur's Umgebung gegen Schellings gegenwärtige Philofophie 
“und die meinige zugleich erhoben worden if, — verfteht ſich, ohne 
dag man es fi. hätte einfallen Iaffen, noch zu fragen, ob auch 


346 Weiße, 


nur Einer von und Beiden gemeint ſei, eine Solidaritaͤt ber Ver⸗ 
antwortlichfeit für den Anderen zu übernehmen: — fo ift leicht zu 
erachten, daß fie durch Die vorſtehende Abhandlung neue Nahrung 
‚gewinnen wird. Sch brauche indeflen diefen Borwurf nicht p 
fheuen; die Zeit, und hoffentlich eine nicht fehr entfernte Jet, 
wird lehren, welche Richtung der wahren Freiheit des wiſſenſchaf⸗ 
lichen Forfchens, der wahren Geiftesfreiheit, die man gern ald 
durch den „Scholaftieismug” gefährdet darftellen möchte, günftiger 
it, ob die des Herrn Dr. v. Baur, oder bie meinige, Sollte 
.bie erftere in der That nach diefer Seite Etwas vor ber meitr 
gen voraus haben, fo würde dies fchwerlich in etwas Anderem 
befieben, als in der Gleichgültigkeit gegen gewifle religiöfe Glas 
bensfäge, gegen bie ich allerdings weder für meine Perfon mich 


gleichgültig zu verhalten, nocd deren Vorhanden⸗ ober Nik | 


vorhandenfein im allgemeinen Glauben ich für eine gleichgültige 
Sache anſehen zu können befennen muß. Will man eine Phil 
fophie Scholaftif nennen, welche dieſe Glaubensfäte zunächſt a 
eine Erfahrungsthatfache, gleich anderen Erfahrungsthatfachen, ver⸗ 
ausſetzt, aber nicht, um auf fie auch das, was die Philoſophie 
aus andern Quellen weiß, zurüdzuführen, fondern umgekehrt, um 
fie, ganz eben fo wie jede andere Erfahrung, aus den Prämifen 
der rein philofophifchen Erfenntnig denfbar zu machen oder gi 
erflären: fo möge man zuvor der hiftorifchen Bedeutung biefed 
Worts etwas genauer auf den Grund gehen, und möge fi 
erimern, daß der gefchichtliche Charakter der mittelalterlichen 
Scholaſtik gerade darin beftand, zwiſchen jenen zwei Ueber⸗ 
zeugungsquellen, ber religiöfen Erfahrung und dem reinen mo 
taphyſiſchen Denken nicht zu unterfcheiden, fondern den Pr 
halt beider als aus einer Duelle fließend zu behandeln. Drok 
wirklich unferer Zeit die Gefahr einer neuen, der fcholaftif—er 
ähnlichen Geiftesfnechtfchaft, fo ift es von Seiten Derer, welde 
ben religiöfen Glauben der Unabhängigkeit, weldye dem philofo 
phifchen Denfen gegenüber ihm gebührt, und bie allein auch bew 
philoſophiſchen Denken feine Unabhängigkeit verbürgen kann, zu ber 
sauben, und feinen Inhalt auf. metaphyſiſche Formeln zurüchzu⸗ 


Nachſchrift. 817 


führen trachten, folche, Die nothiwendig mit einer beftimmien Mes 
taphyfit zugleich ſtehen oder fallen müſſen. 

Es iſt nicht meine Abficht, mich hier auf weitläuftige Recrimi⸗ 
nationen einzulaſſen; aber die Bemerkung wird nicht am unrechten 
Orte ſtehen, daß es kaum eine mit dem wahren Princip der Gei⸗ 
ſtesfreiheit unverträglichere Denk⸗ und Sinnesweiſe geben kann, 
als diejenige, welche ein wiſſenſchaftliches Thun, das zu ſeinem 
Inhalte die höchſten religiöſen Angelegenheiten des Geiſtes hat, 
in die Abhängigkeit von philoſophiſchen Vorausſetzungen ſtellt, 
die man ohne nähere Prüfung in Bauſch und Bogen hingenom⸗ 
wen, und in Bezug auf die man ſich ſelbſt den Weg verfperst 
bat, felbfidenfend und in ernfter Forſchung auf fie zurüdzufommen, 
and ihre Haltbarkeit zu unterſuchen. Dies aber ift offenbar ber 
Bl, in welchem fih Hr. Dr. v. Baur fammt feiner ganzen Schule 
jetzt befindet. Die Theologie dieſer Schule, d. h. nicht blos ihr 
dogmatiſches Syſtem, ſondern zugleich mit dieſem auch die An⸗ 
ficht und Behandlung der Geſchichte, in die der genannte Gelehrte 
fein vornehmlichſtes Verdienſt fest, beruht auf der Vorausſetzung 
einer Metaphyſik, deren Vertretung in Bezug auf ihren befondern 
Inhalt, auf das Detail ihrer Ausführung, ſchwerlich weder er; 
uaoch irgend einer ſeiner Schüler, wird übernehmen wollen. Und 
Boch nimmt eben dieſe Metaphyſik ſelbſt, ſchon zufolge des Be—⸗ 
griffs, den ſie von ihrer wiſſenſchaftlichen Methode aufſtellt, für 
alle ihre beſondern Theile und Lehren genau dieſelbe unbedingte 
Geltung, wie für ihr Geſammtreſultat, in Anſpruch, ja fie läßt 
Die Möglichkeit eines ſolchen Gefammtrefultates, unterfchieden von 

‚dem Befondern und Einzelnen ihres Inhalts, gar nicht gelten. 
Zu welcher Leichtfertigfeit, zu welcher Gewiflenlofigfeit des wiſſen⸗ 
fhaftlichen Thuns folche Zweideutigfeit des Verhaltens zu ber 
' fpeculativen Grundlage, von der man ausgeht, verleiten Tann, 
dies glaube ich neulich in meiner ausführlichen Beleuchtung der 
Straußifchen Glaubenslehre nah ihren gefchichtlihen Voraus⸗ 
fegungen (in Illgen's Zeitſchrift für hiſtoriſche Theologie) genug⸗ 
ſam dargethan zu haben. Ich bin und bleibe weit entfernt, Hrn. 
Dr. v. Baur mit dieſem feinem Schüler in eine Klaſſe zu werfen, 


318 ‚Weiße, 


er ift in feiner Sphäre ein rechifchaffener und gründlicher Fer 
fiber; aber wie mißlich es mit diefer Sphäre ſelbſt ausſieht, wie 
durchaus abhängig er fih in feiner Richtung des geſchichtlichen 
Conſtruirens der Dogmenentwidlung von wiffenfchaftlichen Borans | 
fegungen gemacht bat, bie in ihrem ganzen Umfange vertreten 
zu wollen unmöglich feine Abſicht fein kann, Dies wird er fi kei 
einiger Selbfibefinnung ſchwerlich felbft verbergen können. We 
ängftlich muß er fi) abmühen, bie Hegeliche Logik, fie, die in der 
Auffaffung der Schule dieſes Denkers, befonders der theologifchen, 
nachgerade zu einem ganz unfagbaren, ganz undenfbaren Dinge 
geworben ift, indem fie beileibe nicht die bloße Form für ben 
‚abfoluten Inhalt, die bloße Möglichkeit folhes Inhalts, abe | 
doch eben fo wenig der wirkliche Inhalt felbf fein fol, im leid⸗ 
licher, doch allenthalben bloß vorausgefegter, nirgends auf 
nur von fern motivirter, gefchweige erwiefener Geltung zu erhak 
ten, — wie, fage ih, muß er fi abmühen, um nur nicht de 
zwiſchen den Rubrifen der „Subjectivität” und der „Objectivüät" 
Fünftlich, in der Schwebe erhaltene Gebäude feiner Conftructise 
über den Haufen flürzen, und die mühfam errungenen Endreſu 
tate der gefchichtlichen Entwidlung geradezu mit dem Feuerbaq⸗ 
fhen Naturalismus zufammenfallen zu fehen! Mit dem Ze 
bach ſchen Naturalismus, fage ich, obgleich ich wohl weiß, di 
Herr Dr. 9. Baur gerade in diefem Naturalismus ben eigen 
lichen Gegenfag zu dem objectiven Standpunkt der Hegelſchen 
Lehre finden will Cdie chriſtl. Lehre von d. Dreieinigfeit ıc. IL 
©. 959). Er mag von feinem Standpunkt ganz Recht haben, 
ihn fo zu bezeichnen; aber wäre es denn, nach ‚den eigenen Pri⸗ 
‚miffen diefes Standpunkte, etwas fo Unerhörtes, daß ein bogms 
tiſches Princip, in Folge des einfeitigen Strebeng, um jeden Prod 
nur’ fich felbft zu behaupten und gegen das Höhere, dem es ſih 
‚einverleiben foll, abzufchließen, in fein Directes Gegentheil umfchlägt? 
Hat nicht Herr v. Baur (a. a. O. S. 274—229) von ber Lehre Ja⸗ 
cob Böhmes nachzuweiſen gefucht, daß es ihr begegnet fei, Gott 
‚und den Teufel als Eins zu fegen, oder auch, ſtatt Gottes ber 
Zeufel zum wahren fubftantiellen Princip der Natur⸗ und Ger 


Nachſchrift. tk) 
ſtesentwicklung zu machen, — eine Befchulbigung, mit der. es 
fih ganz richtig verhalten würbe, wenn es wahr wäre, was bort 
voraußgefett wird, daß nad Böhme's Prämiffen eine reale Geis 
ſtesentwicklung ohne ben Teufel undenkbar fei *); — wie könnte 
es nicht möglicherweile auch Hegeln begegnet ſein, feinen angeb⸗ 
lich ſo durchaus „objectiven” Gottesbegräf auf Prämifien begründet 
zu haben, die, wenn fie in ihrer Unhaltbarkeit erfannt werben, 
ihn gerabe umgelehrt als eine lediglich fubiective, der menfchlichen 
Natur, wie fie nun einmal iſt, entfproffene Vorſtellung erfcheinen 
laſſen? Jeder der-philofophifchen Wirren -unferer Tage Kundige 
weiß, oder wer es noch nicht wiffen follte, der wird es deutlich 
in den philofophifchen Aphorismen ausgefprochen finden, bie aus 


. Feuerbachs Feder neuerlich Ruge's „Anekdota“ und gebracht ha⸗ 


ben, wie Feuerbach auf feine anthropologifche Theologie eben 
dadurch gekommen ift, daß er, Hegel Standpunkt in allem UAn⸗ 
bern feftbaltend, die Logik dieſes Denkers (freilich Das charakteriſtiſch⸗ 





*) Die ganze in dem vorliegenden Werk gegebene Darftellung der 
Boöhme'ſchen Lehre, und namentlich die raifonnirenne Zufammenfaf- 
fung ihres Welt» und Gottes» Begriffs (S. 268—280) kann als 
eines ber auffallenpften Beifpiele für die Berfälfhungen angeführt 
werden, zu denen ber Berf. auch in der Auffaffung des Gefchichte 
lichen durch das Feflfißen in feinen metaphyflihen Vorausſetzungen 
verleitet wird. Sogar der Gedauke an die Möglichfeit bleibt 
ihm fremd, daß Böhme vielleicht, was felbft Strauß nicht in Ab⸗ 
rede zu fielen gewagt, fondern es auf Rechnung ber „ſchwachen 
Stunden“ des »Görlitzer Schuflers« zu fihreiben vorgezogen, auch 
dem Sinne nad, worauf doc offenbar feine Worte gehen, bie Rea- 
lität einer Welt, einer Schöpfung auch vor Lucifers Fall habe 
lehren wollen, vielleicht nur aus Unbehülflichleit des Ausdrucks, aller⸗ 
dings bin und wieder das thatfächliche Geſchehenſein des Abfalls 
mit dem Princip der Schiedlichleit, der Negativität überhaupt zu 
verwerhfeln feheint, fo gilt es Hrn. 9. Baur für eine ausgemachte 
Sache, daß Alles, was bei ihm mit der Borausfeßung, ale datire 
fih alles reale Dafein, fowohl in Gott als außer Gott, erſt von 
dieſem Fall, nicht in Einklang zu bringen if, nothwendig von wınye 
thiſcher⸗ Beſchaffenheit fein müſſe. — Hr. v. Baur ſteht mit biefer 
uns Böhme’s allerdings nicht allein, aber fie iſt noch felten 

mit folcher Keckheit, den urkundlichen Zeugniſſen gegenüber, gelten 
gemacht und durchgeführt worden. 


v 


820 Weiße, 


fie, das eigentlich weientliche Moment dieſes Standpunlis) über 


Bord geworfen hat. Was fichert Hrn. v. Baur vor einem aͤhnlichen 
Mißgeſchick, vor einem ähnlichen Schiffbruch feines Gottes = und Drei- 
einigkeitsbegriffs, auf befien „Objectivität" oder vielmehr abfolute 
„Subieet« Objestivität” er fich, der Feuerbach'ſchen „Subiectivität” 
gegenüber, fo viel zu Gute thut? Was fonft, ald nur feine Unbe⸗ 
fümmerniß um bie metapbyfiichen Borausfegungen biefes Begriffs, 
die er als ein opus operatum ruhig hinter fich Liegen läßt! — Iſt 
es zu verwundern, wenn ein Gelehrter, der fich nicht blos mit feinem 


- gefammten wiſſenſchaftlichen Thun, fondern auch mit feiner religiö- 


\ 


fen Veberzengung in eine folhe Abhängigkeit von leidigem Men 
ſchenwerk begeben hat, fogleich einen perfönlichen Feind in jedem 
Korfcher erblidt, der mit der Prüfung jener Borausfegungen, 
bie jener ein= für allemal als ein Noli me tangere zu behandeln 
fih in die traurige Nothwenbigfeit verſetzt hat, Ernft macht? 
Und entfpricht es nicht genau der Art und Weife, wie von jeher 
bie geiftig Unfreien gegen die Freien zu Felde gezogen find, wenn 
man einen foldhen Gegner, flatt mit wiſſenſchaftlichen Gründen, mit 
den Waffen moraliicher Verbächtigung bekämpft, oder unter dem 
Borwande eines Selbſtwiderſpruchs, den der Gegner begangen 
haben fol, dem Kampfe mit ihm zu entfchlüpfen fucht ? *) 
Wenn die Ideen, bie ich in der Abhandlung über ben Be 
griff der göttlichen Dreieinigfeit, und ſchon früher in der Schrift 


über das philofophifche Problem der Gegenwart ausgeſprochen 


habe (auch eine demnaͤchſt ericheinende exegetifch » dogmengeſchicht⸗ 
liche Abhandlung über die eis» zov Heov. wird damit in Ber: 


*) Hrn. v. Baur’s Gereiztheit gegen mi datirt fi, fo viel ich weiß, 
von meiner Beurtheilung feiner »Gnofis« in den theofog. Studien 
und Kritiken (1837 Heft 1). Dan Iefe diefe Beurtpeilung, und 
man wird fie von jeder Perfönlichleit frei, im rein wiſſenſchaftlichen 
Sntereffe abgefaßt und im Tone der aufrichtigften Hochachtung 9 
gen den Gegner gehalten finden, während ſchon Herrn v. Baur? 
Eriwiederung, noch mehr aber feine, obwohl in manchen Punkten 
anerfennende Recenflon meiner evangel. Geſchichte, offenbar darauf 
berechnet war, bie Moralität meines ſchriftſtelleriſchen Thuns in 
ein übles Licht zu flellen. 


—ſ 











Nachſchrift. 321 


bindung zu bringen fein), ſich als bie richtigen bewähren ſollten, 
weun Herr v. Baur gensthigt fein follte, fie ſelbſt als bie richti⸗ 
gen anzuerfennen.: fo würbe er eben damit freilich auch anerkennen 
müſſen, dag die Anfichten über den gefchichtlichen Entwicklungs⸗ 
gang der Dreieinigfeitslehre, von denen er fich in feinem Werfe 
bat leiten laſſen, einer bebeutenden Umgeftaltung bedürfen. Nicht, 
als ob nicht die umfaflenden hiftorifchen Erörterungen bes Werfes 
unter allen Umftänden ihren Werth behaupten würben; aber wie 
aud in der Erörterung gerade der bedeutendften gefchichtlich gege⸗ 
benen Theorieen der Herr Verf. durch feinen philofophifchen Stand» 
punkt gehindert wird, den wahren Sinn und Geift derfelben uns 
befangen aufzufafien, dies glaube ich an dem Beifpiele der Aus 
guftinifchen ihm nachgewieſen zu haben, worauf Herr v. Baur, 
Er, den wir fonft jedem Angriff, er mag kommen, woher er wolle, 
fo fampffertig und rüftig begegnen zu fehen gewohnt find, mir 
Rede zu ftehen vermieden hat. In Bezug auf die Geſammtan⸗ 
ficht des Ganges ber Dogmenentwidlung aber würbe er, wenn 
wir annehmen bürften, baß in feinem Geifte mit dem Fleiß und 
der Gelehrſamkeit, die feine Darftellung  allenthalben beurfundet, 
ein entfprechendes Feingefühl für den lebendigen Puls der gefchicht- - 
lichen Bewegung verbimden fei, eine philofophifche Lehrwen⸗ 
dung nur willfommen heißen können, welde diefe Bewegung, ohne 
darum den Begriff ihrer Gefegmäßigfeit fchlechtbin aufzugeben, 
yon dem unnatürliden Zwange eines Schematismus zu befreien 
verfpricht, unter dem er fie gebunden zu halten, mag der Inhalt 
noch fo fehr widerftreben, fi) jest überall abmühen muß. Herrn 
v. Baur’d gegenwärtige Anficht nöthigt ihn, in Bezug auf bie 
Dogmen der Dreieinigfeit und Menſchwerdung, ald, nach ihm, 
den fpeceulativen Dättelpunft aller Dogmenentiwidlung, eine Ste⸗ 
tigfeit in dem Fortgange dieſer Entwidlung von ben älteften bis 
auf die neueften Zeiten anzunehmen, und die Nachweifung biefer 
vermeintlichen Stetigfeit zur Aufgabe feiner hiftorifchen Darftels 
lung zu maden. Sollte ihn, bei feiner treufleißigen Beſchaͤfti⸗ 
gung mit dem fo umfangreichen Stoffe diefer feiner Darftellung, 
nie das Gefühl überrafcyt haben, wie gänzlich unwahr jene Vor⸗ 


% 
322 Weiße, Nachſchrift. 


ausſetzung, wie ganz falſch geßellt alſo nach dieſer Seite die. Aufgabe 
feines Werkes ift? Oder wenn er in ber That biefes Gefühl 
nie hat in ſich auffommen laſſen: wie viele Lefer glaubt er denn 
durch feine, in anderer Hinficht fo refpectable Arbeit, überredet 
zu haben, daß dem in der That fo fei, daß wirklich die Lehre 
von ber Dreieinigfeit von ihrem erften Urfprunge an in dem Urs 
chriſtenthume oder noch vor dem Chriftenthume, nichts Anderes 
gewollt, nichts Anderes gemeint habe, als was wir jegt in ber 
Hegel-Strauß’fhen Lehre erreicht fehen, und dag jede der von 
ihm Ddargeftellten, jede wenigftend der von ihm als die bebeu- 
tendere bezeichneten Theorieen, genau an der Stelle, an ber fie 
gefchichtlich auftritt, genau fo ſich auf die Schultern ihrer Borgän- 
gerinnen ftellend, ein nothwendiges Mittelglieb, einen unentbehr⸗ 
lichen Durchgangspunft zu biefem Ziele ausmahe? — Ich maße 
mir nicht an, durch meine Auffaffung des Dreieinigfeits - Begriffe, 
einen neuen Schlüffel zur dogmen = biftoriichen Entwicklung dieſes 
Begriffs gegeben zu haben, aber ich halte es wenigftens für feinen 
Nachtheil derfelben, dag fie von der Prätention fern ift, in ber 
Weife, wie die Auffaffung meines es Gegners, ſoichen Schlüſſel geben 
zu wollen. 





Drudfepler. 


. & 163 8. 7 v Oben ſtatt „müßten“ I. „müßte. 
©. 185 3. 11 v. Unten flat „pollzeiliher” 1. „folcher polizeilichen" 
©. 2350 3. 2. v. Dben fiatt „welden"” I. „weldhes”. 





Zeitſchrift 
für 


yilofophie und ſpekulative 
‚Theologie 


im Dereine mit mehreren Gelehrten 


herausgegeben 


von 


Dr. 3. 5. Fichte, 


Profeffor der Philofoppie an der Univerfität Tübingen. 


Zwölfter Band 


Tübingen, 
bei Ludwig Friedrid Sue 
1844 


Subalt des zwölften Bandes. 


Erſtes Heft. 


Ueber dab Berhältuiß der Metaphpfik zu der Ethik. Bon Prof 
Dr. Beife . . . 

Der bisherige Zuſtand ber Anthropologie und Pſpqoiogie. Eine 
Fritifche Meberfiht vom Herausgeber . oo. . 

Eine phyfiologiſche Anficht von den fittlichen Dingen. Bon Dr. Ro⸗ 
mang, Pfarrer zu Därftetten im Canton Ben . . .» 

Die philoſophiſche Literatur der Gegenwart. Bon Prof. Dr. 9. 
Hirick Achter Artilel Die neueften Werke zur Geſchichte 
der Philoſophie von Brandis, Hillebrand, Braniß, Bieber- 
mann, Micelet und Chalpbäus. (Schluß) 0 


Zweites Heft. 


Eine phyſiologiſche Anficht von den fittlihen Dingen von Dr. Ro⸗ 
mang. (Schluß) 20. 000. 

Rachſchrift des Herausgebers zum vorhergehenden Yuffate 

Ueber den gegenwärtigen Zuftand der Kunſtphiloſohhie und ihre nächfte 
Aufgabe, von Dr. W. Danzelin Hamburg. 

Der bisherige Zuſtand der Anthropologie und Pſychologie, eine fi. 
tifche Heberfiht vom Herausgeber. (Das reine Ih. — Der 
Spiritualismus und Naturalismus. — Die Phrenologie) . 

Ueber die wiſſenſchaftliche Stellung der Phrenologie zur Phyſiologie 
von Dr. ©. Hermann Meyer, mit befonderer Berüdfichtigung 
der phrenologifchen Werle von G. Combe, Noel, ©. von 
Struve, Eaflle, Carus, Choulant u. A. .. 

Zu Hegels Charakteriſtik, mit Rückſicht auf „G. W. Fr. Hegels Leben, 
beſchrieben von K. Roſenkranz 1844”, vom Herausgeber 





Seite 


1 
66 


106 


132 


167 
196 


201 


245 


279 


295 


Ueber das Verhaͤltniß der Metaphyſik zu der Ethik. 
Bon | 
“ Heren Profeffor Dr. Weiße. 


Das, gegenfeitige Verhältniß der beiden in ber Ueberfchrift 
genannten philofophifchen Difciplinen ift neuerdings zu wiederholten 
Malen in wiffenfchaftlicher Erörterung zur Sprache gekommen. 
Bon verfchiedenen Seiten zwar, und in verfchiedenem Sinne, doch 
immer in einem ſolchen, ver auf eine engere Verbindung beider 
Wiſſenſchaften hinzudeuten ſchien, als bis jest flatt gefunden hat, 
als insbefondere in demjenigen Syſteme flatt findet, welches im 
Ganzen noch immer ald das die Schule, wenn auch nicht bie 
Gemüther, beherrfchende anerkannt werden muß, iſt Die Anregung. 


gegeben worden, biefes Verhaͤltniß einmal fchärfer in's Auge zu 


faffen. Hatte bereits im Jahre 1834 Ch. 3. Braniß ein „Sys 
ſtem der Metaphyfif” entworfen, welches im Gegenfage zum Hegels 


ſchen „Sein“, ven Begriff Gottes, des fehlechthin wollenden, han⸗ 


beinden, ſchaffenden zum Princip diefer Wiffenfchaft machte und die 
„Kategorieen” nur als Formen für die Erzeugniffe der göttlichen 
Schöpferthätigfeit darſtellte, hatte ev in Folge dieſer Auffaffungse 
weile das Poftulat der nur durch ethiſche Thätigkeit der Gefchöpfe 
zu erzielenden Gottähnlichkeit der Schöpfung zum Grundgedanken 
feiner metapbyfifchen „Kosmologie“ gemacht, und, um biefem Ger 
danfen fein Hecht zu geben, ben Gefammtbegriff diefer ethifchen 
Thätigfeit unter dem Namen einer „Ethifologie” zum ausbrüdlichen 
Gegenftande der metaphyſiſchen Erörterung gemacht*): fo hat fi 
in den legten Jahren die Anzahl Derer noch fehr vermehrt, die, 
wenn auch nicht eben mit ausprüglicher Rückſichtnahme auf jenen 





*) Bergl. des Ref. Beurtheilung des’ Branißfchen Werkes in den Brit 
tern für literar. Unterhaltung. 1834. Ne. 229. 230. 


Zeltſchrift fe Phlloſ. m. ſpek. Thetz XL. Band 1 


2 Weiße, 


Borgänger, deſſen Werk im Ganzen nicht die Beachtung gefun⸗ 
den zu haben fcheint, bie es in einigen feiner Partien unftreitig 
‚verdient, verwandte Gedanken geäußert, ähnliche Pläne oder Um⸗ 
riffe zur Ausführung, fei es einer ethifologifchen Metaphyfit, oder 
einer metapbyfifchen Ethik, entworfen haben. Snsbefondere A, 
gegenüber der Hegelichen Philofophie und ihrer Verabfolutirung 
bes rein idealen oder theoretifchen Momentes, von den verjchie- 
denften Seiten her die Forderung Iant, und faft ſchon zu einem 
Gemeinplatze geworben, baß auch der realen Seite des Geiftes, 
dem Willen fein Redyt werbe, und bderfelbe, als logiſches oder 
metaphyſiſches Begriffemoment des abfoluten Geiſtes, defien Be: 
griff keineswegs in dem des „abfoluten Wiſſens“ fich erſchoͤpfe, 
in die ihm gebührende Stelle des Syſtems eintrete. Enthält nun 
auch biefer Gedanke an füch felbft nichts, was zu einer unmiltel- 
baren Berbindung der Ethik mit der Metaphyſik, zu einer Auf⸗ 
nahme ethifcher oder ethikologiſcher Kategorieen in die Metapbyftf, 
oder gar zu einer Begründung der Metaphyfif durch Ethik nöthigte, 
kann er vielmehr als ein volkfommen wahrer, vollkommen, ind 
befondere jener Hegelfchen Einfeitigfeit gegenüber, berechtigter, gar 
wohl auch von Solchen angenommen und in Ausführung gebracht 
werben, die übrigens Feineswegs gefonnen find, ber in unfern 
Tagen insbefondere durch Hegel vertretenen abfoluten Priorität 
der Iogifehen oder metaphyfiichen Idee vor allem fei es im phys 
fiiden oder im ethifchen Sinn Realen etwas zu vergeben: fo 
feheint er doch von den Meiften, die ihn begen und ausfprecen, 
. anders verftanden zu werben. Bei den Meiften nämlich fnüpft 
ſich diefe Oppofition gegen das Refultat der Hegelfchen Rogit 
an eine Oppofition zugleich gegen die Grundidee dieſer Wiffen- 
fchaft, und die Stelle, welche derfelben in dem Spflem der Phi- 
Iofophie überhaupt eingeräumt if. Im der Vorausfegung, dab 
der Begriff des Willens, oder daß der Begriff des Geiftes als 
Wollender nicht, wenigftens nicht in Hegels Sinne, etwas rein 
Rogiiches ober Metaphyſiſches fein könne, meint man, um biefem 
Begriffe feine principielle Bedeutung zu retten, die philoſophiſche 
Priorität des Metaphyfifchen vor dem Realen überhaupt befämpfen 





Ueber d. Verhältniß d. Metaphyfit zu d. Ethik. 5 


zu mäffen. Oder wenn man, fei ed aus Ueberzeugung ober aus Ber- 
legenheit, etwas Beſſeres an deren Stelle zu fegen, die Hegelſche 
Anordnung des Syftems im Ganzen gelten läßt, fo glaubt man 
wenigftend zugleich mit dem Willen eine Reihe „ethifcher Rates 
gorien” in die Metaphyſik aufnehmen zu müffen. Auch dies, wie 
leicht zu bemerken, in der Meinung, als ob zwiſchen diefem abſo⸗ 
Int praktiſchen Princip und den Hegelichen „Sategorieen” eine zu 
große Kluft befeftigt fei, als Daß ohne anderweit dazwiſchen tre⸗ 
tende Bermittlung bie letztere zur Kategorie des Willens dialektiſch 
fortgebildet, oder als in Diefelbe aufgehend nachgewiefen werben 
könnten. | | 

Es ift meine Abficht im Gegenwärtigen nit, ein vollflän- 
diges Verzeichniß der Schriften und Abhandlungen zu geben, in 
benen fi) Anfichten der bier erwähnten Art haben vernehmen 
laſſen; nur zweier befreunbeter Forſcher erlaube ich mir nament 
lich zu gedenken, deren mehrfache, diefen Punkt betreffende Aeuße⸗ 
zungen mie, nächſt dem Branig’fchen Werke, zu diefer Erörterung 
den nächften Anlaß gegeben haben. Ich meine H. M. Chaly⸗ 
bäus in feiner, diefer Zeitfchrift (Band VIIL, Heft 2) einver- 
leibten Abhandlung: „Ueber die ethiichen Kategorien der Meta⸗ 
phyſik“, und in verfchiebenen Andeutungen feiner „Phänomenologi« 
ſchen Blätter” (Kiel 1840) und befonders der neueften britten 
Ansgabe feiner „Hiftorifchen Entwicklung ber fpeculativen Philo⸗ 
fophie von Kant bis Hegel” (Dresden 1843), und H. Loge in 
wiederholten, zwar nur Eurzen, aber fehr beftimmt lautenden, und 
in bie ihm eigenthümliche Behandlungsweife der rein theoretifchen 
Philofophie tief eingreifenden Erklärungen fowohl feiner „Meta⸗ 
phyſik“ (vergl. die Anzeige biefes Buches in Band IX. Heft 2 
diefer Zeitfhrift S. 304 f.), ald auch ber neuerlich (Leipzig 1843) 
erfehienenen „Logik“. Bei dem Erxfteren deutet ſchon die Ueberfchrift 
ber eben erwähnten, gehaltvollen Abhandlung auf das Unterneh⸗ 
men einer wirklichen Verſchmelzung ber Ethik, wenigfiens in ihren 
Haupt» und Grundprincipien, mit der Metaphyfif, und es {fl 
zu erwarten, daß auch der Grundriß einer Ethik, den ung der 
Verfaſſer jegt wieder in ber Vorrede zur neucften Auflage ber 

4 % 


4 | Weiße 


„Hiftorifchen Entwicklung” als eine von ihm beabfichtigte Grmb- 
legung feiner eigenthümlichen Anfichten anfündigt, in dieſem Sinne 
abgefaßt fein wird. Loge bat zwar in feiner. Bearbeitung ber 
Metaphyſik ethiſche Kategorieen nicht aufgenommen, dagegen aber 
um fo beflimmter erflärt, bag (Metaphyſik ©. 329) „die Meta 
pyhyſik nicht in füch felbft, fondern in der Ethik ihren Anfang habe,” 
eben fo wie (Logik S. 144), daß „die logiſche Thätigfeit des Gei⸗ 
fies abhängig fei von feinem tieferen ethifchen Weſen.“ 

Die beiden bier Fürzlich bezeichneten Anfichten kommen aller: 
dings nicht fchlechthin auf Eines hinaus; fie Lönnen vielmehr recht 
wohl als Beifpiele für zwei mögliche Standpunkte in der De: 
flimmung des gegenfeitigen Berbältnifies der Metaphyſik und der 
Ethik gebraucht werden. Ehalybäus, den Standpunkt des hegel’- 
ſchen Phitofophirend im Allgemeinen als einen gegebenen, und 
unter den gegebenen ald den in der Zeit vorzugsweife berechtig⸗ 
ten und zu beadhtenden fefthaltend, und einen Kortfchritt über bie 
bisherigen Refultate dieſes Philofophirens hauptfächlich von einer 
tieferen Berftändigung über den Standpunkt felbft und beffen Prin⸗ 
eipien erwartend, folgt nur einem Zuge, ber ſich mehrfach ſchon 
in dem Kreife der eigenen Anhänger jenes Standpunfts Fund ges 
geben hat, wenn er die von derfelben der „Logik“ gezogene Gränze 
zu erweitern, und durch Hereinzichung gegenfländlicher Beltin« 
mungen, weldye Hegel davon ausgefchloffen hatte, die Logik wie 
ber zur Metaphyſik im umfaffendften Wortfinne, ober, wie er es 
ſelbſt ausbrüdt, zur philosophia prima, zu einer allgemeinen 
Wiſſenſchaftslehre fortzubilden fucht, einer „auf dem Begriff 
der abfoluten Wahrheit ruhenden, in fich felbft gravitirenden Be: 
“ gründung der Principien aller Wiffenfchaften, die von ihr als dem 
Albordi aller Wiftenfchaftlichfeit ihre Quellen nad allen Seiten 
bin ableiten” *). Als das Ziel folder Fortbildung wird von ihm 
ein philofophifcher Theismus in Ausficht geftellt, der ſich auf die 
ethiſchen Kategorieen begründen, deſſen Methode jedoch, die te 
leologiſche, Feine andere fein fol, „als die zu völlig beſtimmter 


2) Hiftorifhe Entwicklung ꝛc. ©, 430. 





Ueber d. Verhältniß d. Metaphyfif zu d. Ethik. 3 


Ausbifdung in ſich ſelbſt gekommene dialektiſch⸗logiſche“ *). Lotze 
dagegen läßt zwar auch ſeinerſeits Die Metaphyſik in dem Zweck⸗ 
begriffe wurzeln, und beſtimmt als die ſpecifiſche Methode des 
ſpeeulativen Denkens, im Gegenſatze untergeordneter Formen der 
Wiſſenſchaftlichkeit, die teleologiſche **); ja das Zuſammentreffen 
mit Chalybaͤus wird noch überraſchender, wenn auch er bie dia⸗ 
lektiſche Methode Hegel's als eine „verftedte teleologiſche“ bezeich⸗ 
net ***). Allein wenn es in der That feine Abſicht fein ſollte, 
durch folche Methode ein philofophifches Syſtem, äbnlidy wie das 
Hegel'ſche, zu dem er ſich allenthalben in viel fohrofferen Gegen» 
fat, als Chalybäus, ftellt, begründen zu wollen, fo fcheint eg, 
als werde dann fowohl die Metaphyfil, als auch die Logik außer- 
halb ſolches Syftems fallen und nur als vorbereitende Disciplinen 
bienen können. Denn feineswegd beichäftigt fich feine Metaphy⸗ 
ff, — die Logik laſſen wir bier zur Seite liegen, — mit ben 
wirflichen Weltzweden, oder mit Gott ald dem Grunde und’ Ur- 
heber diefer Zwecke, wie bei Chalybäus offenbar die Abficht 
it; fie bat es vielmehr nur mit der allgemeinen Kategorie des 
Zwedes überhaupt und mit.den übrigen Kategorieen zu thun, bie 
nah dem Verf. in jenen enthalten find, durd fie gefordert oder 
vorausgefegt werben. Die Aeußerung, daß der Anfang ber 
Metaphyſik in der Ethik zu fuchen fei, Tann, wie ſchon aus bem 
Umftande erhellt, daß fie am Ende einer, auf feiner vorange- 
ſchidten Ethik fußenden Bearbeitung der Metaphyſik zu leſen ift, 
nur den Sinn haben, daß der Begriff des Zweckes ſelbſt, biefes 
eigentliche Realprineip der Metaphyſik, derſelben nur durdy bie 
Ethik, oder vielmehr durch das allgemeine ethiſche Selbſtbewußt⸗ 
fein des menſchlichen Geiſtes gegeben iſt. 
Wie weit indeſſen auch in der wiſſenſchaftlichen Ausführung 
ihrer Anfichten beide Denfer gegenfeitig von einander, und wie 
weit von. ihnen beide wieberum Andere, die ſich zu ähnlichen 





*) Hiftorifche Entwiclung ıc. ©. 432. 
”*) Logik ©. 234. 
»v) Ebendaſ. 


6 Weiße, 

Principien befennen, abweichen mögen: jedenfalls finden wir welt 
binlänglicher Deutlichkeit von Beiden einen Gedanken ausgeſpro⸗ 
chen, von welchem wir wohl vorausfegen bürfen, daß er in it 
gend einer Weife mit mehr oder minder Harem Bewußtfein allen 
den von fo verfchiedenen Seiten ber fich heroortbuenden Beftte- 
bungen, die Metaphyſik zur Ethik in ein näheres DBerhälmiß zu 
bringen, oder der Philoſophie ftatt der blos metaphyfifchen eine 
zugleich ethifche Grundlage zu geben, zu Grunde liegt. Es iſt 
diefer, daß eine Löfung der philofopbifchen Probleme, eine voll 
fländigere und befriebigendere, als welche ung von den bermalen 
herrſchenden Syſtemen dargeboten wird, nur mittelft des Zwed⸗ 
begriffs möglich ift, der Zweckbegriff ſelbſt aber nach feiner 
Wahrheit und objektiven Bedeutung nicht in der rein theoretifchen, 
fondern in der ethifchen Natur des Geiftes wurzelt, und nur 
zugleich mit biefer Natur in feiner concreten Realität zum Bes 
wußtfein der Wiſſenſchaft gebracht werden kann. Wie eng fi 
diefe Borausfegung mit der fo vielfach Iaut werdenden Forberung 
einer Umgeftaltung ber Philoſophie zum wiflenfchaftlichen Theis 
mus berührt, dieß kommt befonders deutlich bei Ehalybäus zu 
Tage, der auch in feiner Kritik der vorhandenen Spfieme bie 
theologischen Fragen überall in den Borgrund ſtellt. Er hat kein 
Hehl, daß er es bei biefer Kritik bauptfächlich darauf abgeſehen 
habe, „ein Syftem in Ausficht zu fiellen, welches, von einer an 
und für ſich feienden Gottheit ausgehend und diefe zum Princip 
babend, bie Weltfchöpfung als freie That derfelben zu begreifen 
trachtes, eine Aufgabe, worin allein der wahrhafte Inhalt unſers 
modernen, chriftlichen, nicht mehr nur des antik» vorchriſtlichen 
* Denkens richtig bezeichnet zu fein ſcheine“ *). Er bezeichnet dieſes 
Syſtem bei aller Oppofition gegen den Iogifchen Pantheismus, 
doch als ein, gleich Diefem, rein rationales oder ſpeculati⸗ 
ves, denn „wir befigen allerdings in unferer Vernunft das Mit 
tel und die Berechtigung des Wiffens vom Abfoluten, weil Gott 
vermöge feiner objective Zwede fegenden Liebe auch zu biefen ſei⸗ 


Und. e. 432. 


Ueber d. Berhältnig d. Meitaphyſik zu d. Ethik. 7 


nen Zweden in uns kommt und gekommen ift, fobald jwir in ihm 
den heiligen und heiligenden Geift erkennen; und dieſen erfennen 
wir indem, was unfer eigenes feinfollendes Wefen ift, wenn es if, - 
wie es fein fol; d. h. wenn es in fich ſelbſt zur widerfpruchsfreien Ber» 
föhnung, zur Freiheit vom Widerſpruch im Denken und Wollen 
gelangt it” *), Der Zwed der Philofophie, ober näher der Mes 
taphyſik, denn ausprüdlich der Metaphyſik wird, wie wir gejehen 
baben, diefe Erkenniniß vindicirt, wird hiernach dieſer fein: „mit 
biefem in ung realifirten Zwed des Abfoluten das Abfolute ſelbſt, 
nit nur feinem ewigen Sein nad als Geiſt, dv. i. nit 
nur den fogenannten metaphyſiſchen Eigenfhaften 
nad, fondern auch nah feinem Willen und ewigen 
Rathſchlüſſen zu erfennen und zu begreifen.“ 

Die bier gefperrt gebrudten Worte finde ich aus dem Grunde 
beachtenswerth, weil fie, bei aller Tendenz, das Metapbyfiiche 
und das Eihifche zufammenzumwerfen oder in Eine Maſſe zu ver- 
ſchmelzen, doch von einem zurüdgebliebenen und, wie es frheint, 
wider den Willen des Verf. immer neu wieder füch hervordraͤn⸗ 
genden Bewußtfein Des Unterfchiebes beider Elemente zeugen. Maͤch⸗ 
tiger noch bat fich ſolches Bewußtfein, einer verwandten Tendenz 
zum Troß, bei Loge gelten gemacht, indem es ihn ſchon ehemals 
fogar zu einer abgetrennten Bearbeitung des gemeinhin metaphy- 
fh genannten Inhalts, dergleichen nach feinem Prineip, wenn 
ee mit demfelben Ernſt machen wollte, eigentlich gar nicht flatt 
finden dürfte, verleitete, und auch jebt wieder die Logik, flatt 
auf ethifche Prineipien, vielmehr auf rein metaphyfifche (— dieß 
indeß, wie wir beiläufig zu bemerfen nicht unterlaffen wollen, auf 
eine fehr beachtenswerthe, hoffentlich in die fernere Behandlung 
dieſer Disciplin fruchtbar eingreifende Weife) begründen ließ. Ref. 
glaubt von diefem boppelfeitigen Umſtande Vortheil ziehen zu bür- 


*) Ehendaf. S. 438. — In ganz ähnlicher Weife fehen wir auch 
Loge (Logik S. 115) den logiſchen Sag der Identität für das 
höchſte Denkgeſetz erklären „nur deswegen, weil er zugleich die 
tieffte Natur des Geiftes ausdrückt auch nach der Seite hin, wo 
er nicht als bloße Futelligenz, fondern als fittlicher Geift erſcheint.“ 


8 Weiße, 

fen, um die Bebenfen, bie er nicht nur gegen bie wirkliche — 
ſchmelzung der beiden Disciplinen, fondern auch gegen die 
bängigfeitserflärung derjenigen unter ihnen, der man bisher . 
gemein die Priorität zugeftand, von der andern vorzubringg‘ 
bat, in ein um fo belleres Licht zu ftellen. — Was zwar die be 
derfeitigen Berff. ſelbſt betrifft, fo könnte es, ba fie mit fo ve“ 
Entfchiedenheit ein jeder feine Richtung ergriffen haben, Teicht ale 
das Nichtigere erfcheinen, fie diefelbe fürerfi ungeftört forwacc 
dein zu laffen, und von dem Einen das bereits verfprochene Wei 
über Ethik abzuwarten, den Andern, wie bereits in biefer Zeile 
ſchrift geichehen ift, nochmals zu einem ähnlichen Unternehmen 
aufzufordern, um daran den Berfuch zu maden, ob die Durde 
führung eines ſolchen ohne eine davon unabhängige metaphyfiſche 
Grundlage gelingen fann. Indeß, abgefehen von dem Intereſſe, 
welches, wie wir wohl vorausfeben dürfen, ber Gegenftand auf 
für weitere Kreife der Mitphilofophirenden Bat, fo hoffen wir und 
einigen Dank fowohl von jenen beiden Schriftftellern, als anf 
yon andern, die etwa auf einem ähnlichen Wege begriffen fek 
möchten, zu verdienen, wenn wir fie, foviel an ung ift, giel 
von vorn herein auf eine Schwierigfeit aufmerffam machen, die 
ihnen, fobald fie einmal Hand an ein Unternehmen der Art legen 
ſollten, wie wir es von ihnen erwarten dürfen, früher ober ſpo⸗ 
ter denn doch begegnen, und ihnen vielleicht um fo mehr zu ſchaf⸗ 
fen maden würde, je weniger fie fich diefelbe zuvor zu beflimm 
tem, deutlihem Bewußtfein gebracht. 

Es ift nämlich, um dieß noch ausdrücklich zu bemerken, nicht 
fowohl im Sntereffe der Metaphyſik, als vielmehr in dem eigen 
nen der Ethik, daß ich bier in der Kürze die Gründe auseinan 
berzufegen beabfichtige, welche mich beftimmen, nicht nur auf e⸗ 
ner getrennten Bearbeitung beider Disciplinen, ſondern insbefow 
dere auch auf der völligen Unabhängigkeit der Metaphyſik von det 
Ethif, und auf der in einer foftematifchen Anordnung des Gam 
zen der Philofophie der erfteren vor der letztern zuzuerfennenden 
Priorität zu beharren, und jeden entgegenlaufenden Verſuch, auch 
wenn derſelbe von einer Seite kommt, deren Tendenzen ich achte, 


M v. IL 


Ueber d. Berhälnig d. Metaphyſik zu d. Ethik. 9 
und mit der ich mich im keinerlei feindlichem Gegenfab weiß, mit 
Ernft und Nachdruck abzulehnen. Was die Metaphpſik betrifft, 
fo ift die Zeit eines vorläufigen Redens über Inhalt, Zwer und 
Stellung dieſer Wiſſenſchaft für mich ſchon laͤngſt vorüber. Ich 
Tann hier jeden, mit dem ich mich über einen dieſer Punkte in 
Differenz befinde, nur auf mein gebrudtes Werk verweifen, und 
muß mich, in wiefern fi) auch aus einer bereits erfolgten Be» 
rüdfichtigung deſſelben eine weitere Annäherung nicht ergeben will, 
der Hoffnung getröften, daß vielleicht eine wiederholte Nachbeffe- 
rung der Mängel, von denen, wie ich wohl weiß, biefes Werk 
Teinedwegs frei ift, einige der Anftöße befeitigen wird, die jegt noch 
Manchen ein Hinderniß find, in den von mir dafelbft eingenom« 
menen Stanbpunft näher einzugehen. Wie ich aber bei.der Be- 
arbeitung bes Metaphyſik allenthalben das Ganze ber Philoſophie 
vor Augen hatte, fo darf ich hoffen, dag wiederum auf den Einn - 
und die Ergebniffe diefer Bearbeitung ein helleres Licht zurückfal⸗ 
Ien wird, wenn ich zum Behuf einer weiteren Befprechung der⸗ 
felben den Standpunkt in einer der Disciplinen nehme, welde 
ſich nach dieſer Anfiht der Sache eben erft auf bie Vorausſetzung 
der Metaphyſfik zu begründen haben. 

Ich glaube die Anfichten, gegen welche ich im Gegenwärtis 
gen zunächſt anfämpfe, — darum zunächſt, weil ich doch fonft 
mit ihnen in vielfacher Beziehung einer verwandten Richtung 
folge, — im Allgemeinen nicht unrichtig zu deuten, wenn id} fie 
als ſolche bezeichne, welche Die philoſophiſche Gewißheit, 
aud die rein theoretifche, von einer fittlihen Erfah— 
rung abhängig maden. Das Grundariom ift bei ihnen das 
nämliche, wie jenes, welches der befannten Behauptung Kant's 
von dem Primate ber praftifhen Vernunft vor der 
theoretifhen zum Grunde liegt. Nicht als müßten fie darum 
auch in der Ausführung nothwendig mit der kantiſchen Philofophie 
zufammentreffen. Sie unterfcheiden ſich von berfelben fehr wes 
fentlich durch die, auch für. diefen Standpunkt ohne Zweifel be« 
rechtigte, Einfiht, dag mit dem Princip objectiver Gewißheit, 
welches dem ethifchen Bewußtfein vermöge feiner Natur inwohnt, 


\ 


42 Weiße, 


Die Erwägung, für die wir dem tieffinntgen. Denker jeden 
falls den richtigen Inſtinet zutranen, wenn ex ſich auch, der ge 
fammten Natur feined Standpunfts zufolge, diefelbe nicht zum 
Klaren Bewußtfein gebracht haben Tann, ift nämlich folgende. In 
dem Freiheitsbegriffe, wenn berfelbe fo gefaßt wird, wie er zu⸗ 
folge des Fategoriichen Imperatives gefaßt werben muß, liegt, 
dem wiſſenſchaftlich nicht ausdrädlich gefchärften Auge freilich uns 
vermerkt, in ber That ſchon eine ganze Metaphyſik verborgen, 
und zwar eine foldhe, bie zu ihrem Rechte, d. h. eben zu dem 
wiſſenſchaftlich entwidelten Freiheitäbegriffe, ale ihrem eigentlichen, 
sollfländigen Refultate, nur dann fommen Tann, wenn fie nicht 
als ein von dem Tategorifchen Imperativ abhängiger, nur durch 
ihn, aber auf feine Weife ohne ihn gegebener Inhalt, fonbern 
als eine an und für fich unabhängige Vorausſetzung, kurz ald 
fein Prius, behandelt wird. Kant ift fi) diefer in dem Freiheits⸗ 
begriffe latirenden Metaphyſik nur im ausbrüdlichen Gegenſatz zu 
der Metaphyſik feiner theoretifchen Vernunftkritif, mit der er fie 
für unvereinbar erfannte, bewußt geworden, aber fchon dieſes Des 
wußtſein reichte bin, ihn über die Unmöglichkeit einer unmittelbar 
auf ethiſchem Princip zu begränbenden theoretifchen Vernunft: 
Iehre nicht im Zweifel zu laſſen. Denn er mußte ſich wohl fü 


gen, daß jede ſolche Begründung doch nur dazu führen Könnte, 


ben theoretifhen Vernunftformen eine ethiſche Gewißheit, alſo 
eine von der Erfüllung des fategorifchen Imperatives abhän- 
gige zuguerfennen, während dagegen biefer Imperativ feinerfeitd 
in feiner Vorausſetzung des Freiheitsbegriffs eine von folder Er- 
fülung unabhängige, ihm feldft (— dem Begriffe, nicht der Zeit 
nah) vorangehende Gewißheit in Anfpruc nimmt, Der Ta 
tegorifhe Imperativ kann nur an ein Weſen gerichtet fein, wel- 
‚ches ein Princip abfoluter Caufalität in ſich vorfindet, alfo ein 
ſolches, bei dem es flieht, das fittlihe Gebot zu befolgen oder 
nicht zu befolgen, das Sein, welches durch dieſes Gebot gefordert 
wird, anzufangen oder nicht anzufangen. Jenes Princip ſelbſt 
verhält fi) alfo zu der gefammten Dafeinsfphäre, welche durch 
ben Fategorifhen Imperatio geforbert wirb, als ein abſolutes 


Ueber d. Verpätmiß d. Metaphyſik zu d. Ethil. 48 


Prius, und, die Verſtandeskategorieen und übrigen Formen der 
theoretifchen Vernunft als Ausflüffe oder Seitenftrahlen der ethi⸗ 
hen Gewißheit biefer Sphäre einverleiben wollen, würde nur 
heißen, den Widerſpruch, der im Gebiete der theoretifchen Ver⸗ 
nunft, wegen ihrer Endlichleit, unvermeidlich ift, in das höhere 
ber praftiichen Vernunft hinübertragen, und fomit auch bie letzte 
Quelle aller eigentlich) apodiktiſchen Gewißheit trüben. Ä 
Dieß die Ueberlegung, die, wenn aud nicht Kant felbft fie 
angeftellt bat, fi) doch für jeden Kenner feines Standpunkts als 
eine Confequenz deſſelben ergiebt. Man wird nicht von uns er⸗ 
warten, Daß wir unfere Gegner unmittelbar auf den Fantifchen 
Standpunkt zurüdzuverweifen gebächten, aber man wird ed auch 
nicht befremdlich finden, wenn wir einige Momente jener Ueber⸗ 
fegung auch für den gegenwärtigen Standpunkt der Spekulation 
allerdings noch der Beachtung werth halten. Wenn in der von 
der praßtifchen Vernunft und ihrem Sittengefege, nad Kant, 
unzertrennlichen Borausfegung des Kreiheitsbegriffs, nach unferer 
obigen Bemerkung, eine ganze Metaphyſik enthalten if: fo wird 
bie Stellung diefer Metaphyſik zu dem praftifchen Bernunftinhalte 
doch nicht dadurch zu einer andern werben, daß fi von einem, 
Kant noch unzugänglid gebliebenen philoſophiſchen Stantpunfte 
bie Ausficht eröffnet, dieſelbe in wiſſenſchaftliche Ausführung ge⸗ 
bracht, und durch fie die unzureichende, nach dem eigenen Ge⸗ 
ſtändniß ihres Urhebers mit den praftifchen Ideen Feineswegs im 
Einftang ſtehende Metaphyſik des Fantifchen Standpunkte verdrängt 
zu fehen? Der, von Kant für unheilbar erkannte, dualiſtiſche 
Zwieſpalt feiner Lehre befand darin, daß feine theoretiiche Phi⸗ 
Iofophie ung in eine Welt von Erfeheinungen einführt, deren For⸗ 
men und Gefege nur für den endlichen Berftand Geltung haben, 
während Dagegen bie praftifche, eben durch ihre Vorausfegung des 
Sreiheitsbegriffs, den Einblid in ein An⸗ſich oder ein Abfolutes 
eröffnet, befien nähere Erkenniniß jenem Verſtande, und damit 
aud der Philofophie verfehloften bleibt. Dem gegenüber hat bie 
weitere Entwidelung ber Philoſophie, befonders durch Schelling 
und Hegel, gerade dieſes Abfolute, dieſes An⸗ſich zum eigent- 





44 | Meiße, 


Jihen Gegenſtande der metaphyfiſchen Forſchung gemacht. Die 
Gegner, mit denen wir es hier zu thun haben, ſind keineswegs 
gemeint, dieſe Richtung des Forſchens aufzugeben und zu jenem 
fubjectiven Idealismus zurüdzufehren. Die Frage wird fidh alfo 
in Bezug auf fie dahin fielen, ob fie, wenn gleich in bem ge: 
dachten Punkte, mit der gefammten neuern Philofophie, von Kant 
abweichend, demfelben boch jenes Grundariom der praftifchen 
Philofophie, die Borausfegung des transfcenbentalen Freiheits⸗ 
begriffs für alle Wefen, an welde das Sittengefeg gerichtet if, 
alfo für alle Bernunftweien, zugeftehen? — Wer diefe Frage mit 
Sa beantwortet, wer überbieß den über das kantiſche Ariom viel- 
leicht noch hinausgehenden, in dieſer Zeitfchrift ſchon fonft (Bd. I, 
©. 182) ausgefprochenen Satz zugiebt, daß aud Gott ſelbſt 
nicht gut zu nennen wäre, wenn nidt aud das Böfe 
für ihn eine metaphyſiſche Möglichleit wäre: bem 
glaube ich es unfchwer deutlich machen zu koͤnnen, wie ich es meine, 
wenn ich bie wiflenfchaftliche Abtrennung des Metaphyſiſchen von 
allem Ethiſchen, die prioritätiiche Stellung der Metaphyſik vor der 
Ethik, oder vor ben wie auch immer zu nennenden Difeiplinen, 
denen in einem nad) richtiger Methodik entworfenen Spfteme der 
ethiihe Inhalt zu überweifen fein wird, für ein Moment erfenne, 
worauf ih im Sntereffe des der Ethik wefentliden 
Freiheitsbegriffs beharren zu müflen glaube. — Über freis 
lich, ich muß mich darauf gefaßt machen, daß man mir jene Bor: 
.ausſetzungen felbft nicht fo ohne Weiteres zugeben wird, — auch 
von denjenigen Seiten nicht, von benen ich es, im Folge ihrer 
Dppofition gegen den Determinismus oder den Indifferentismus, 
den man, fei es mit Recht oder mit Unrecht, im hegel’fchen Sy 
ftem zu finden meint, am ebeften erwarten könnte. Die Unent- 
behrlichkeit des Freiheitsbegriffs überhaupt für eine wiffenfchaft- 
liche Ethik wird man mir willig einräumen, aber weber wird man 
diefen Begriff fo nahe mit der kantiſchen Borftellung von ber 
transfeendentalen Freiheit zufammentreffend finden, noch wird man 
jenen Sat unterſchreiben wollen, ber allerdings auch gegen bie 
Vorausſetzungen ber reeipirten Dogmatik eine arge Heteroborie 








Ueber d. Verhaltniß d. Metaphyſik zu d. Ethik. 13 


Prius, und, die Verſtandeskategorieen und übrigen Formen ber 
theoretifhen Vernunft als Ausflüffe oder Seitenfirahlen der ethi- 
ſchen Gewißheit diefer Sphäre einverleiben wollen, würde nur 
heißen, den Widerſpruch, der im Gebiete der theoretifchen Ver⸗ 
nunft, wegen ihrer Endlichfeit, unvermeidlich if, in das höhere 
der praftifchen Vernunft hinübertragen, und fomit auch die letzte 
Duelle aller eigentlich apopiktifchen Gewißheit trüben. 

Die die Ueberlegung, bie, wenn auch nicht Kant felbft fie 

“ angeftellt hat, ſich doch für jeden Kenner feines Standpunkts als 

eine Gonfequenz deſſelben ergiebt. Man wird nicht von ung er⸗ 

- warten, daß wir unfere Gegner unmittelbar auf ben kantiſchen 
Standpunkt zurüdzuverweifen gebächten, aber man wird es auch 

nicht befremdlich finden, wenn wir einige Momente jener Uebers 

» Segung auch für den gegenwärtigen Standyunft der Spekulation 

. allerdings noch der Beachtung werth halten. Wenn in der von 
der praktiſchen Vernunft und ihrem Sittengeſetze, nad Kant, 
. Anerivennlihen Vorausſetzung des Freiheitsbegriffs, nach unferer 
vbigen Bemerkung, eine ganze Metaphyſik enthalten ift: fo wird 
Die Stellung diefer Metaphyſik zu dem praftifchen Bernunftinhalte 
doch nicht dadurch zu einer andern werden, daß ſich von einem, 
Kant noch unzugänglich gebliebenen philoſophiſchen Standpunkte 
die Ausſicht eröffnet, dieſelbe in wiſſenſchaftliche Ausführung ge⸗ 
braqt, und durch fie die unzureichende, nach dem eigenen Ge⸗ 
ſtändniß ihres Urhebers mit den praktiſchen Ideen keineswegs im 
Einllang ſtehende Metaphyſik des kantiſchen Standpunkts verdrängt 
sur feben? Der, von Kant für unheilbar erkannte, bualiftifche 
Zwieſpalt feiner Lehre beſtand darin, daß feine theoretiſche Phi⸗ 
lo ſophie ung in eine Welt von Erſcheinungen einführt, deren For⸗ 
Men und Gefese nur für den endlichen Verftand Geltung haben, 
während dagegen bie praftifche, eben durch ihre Vorausſetzung des 

eiheitsbegriffs, den Einblid in ein An-ſich oder ein Abfolutes 
eröffnet, deffen nähere Erfenntniß jenem Berflande, und damit 

Auch der Phitofophie verfihloffen bleib. Dem gegenüber hat Die 
Weitere Entwidelung der Philoſophie, beſonders durch Schelling 
und Hegel, gerade dieſes Abfolute, dieſes An⸗ſich zum eigent- 


und deren Löfung fie ber Realphiloſophie überlaflen Soll, dieſe 
angiebt: „die Welt vollende fih entweder unmittelbar in ihrer 
Schöpfung, und dann durch ihre Selbfithat, welche Got⸗ 
tes That in fi refleetirt, oder fie vollende fich mittelft 
ihrer Erlöfung, und fo durch Gottes That, in welder 
fi ihre Selbfithat reflectirt;“ das, wir befennen es, will 
ung nicht ganz verftändlich bebünfen. ebenfalls aber. erhellt fo 
viel, daß nach ihm die Metaphyſik an zwei verfchiebenen Stellen 
in einen Freibeitöbegriff ausläuft, der, als Möglichfeit eines 
Anderen, wodurd aber die entgegengefette Möglichkeit nicht aus- 
geichloffen wird, einen neuen Anfang., einen neuen Fortgang ver- 
langt, das erfiemal einen ſolchen, der (als „iveelle Kosmologie”) 
noch in die Metaphyſik ſelbſt, das anderemal einen, ber (ald 
„Realphiloſophie“) außerhalb diefer Wiſſenſchaft fällt. 

Halte ih nun diefe Erklärungen an denjenigen Freiheitöbes 
griff, defien Begründung ich im Intereſſe der Ethik von der Me- 
taphyſik fordern zu dürfen glaube, fo finde ich Folgendes darüber 
zu bemerfen. Was zuvörderſt die göttliche Freiheit betrifft, fo 
erkenne ich die Stellung, welche Braniß biefem Begriff gegeben 
“ bat, injofern für die richtige, als auch fie bag Attribut der Frei⸗ 
heit in der That, wenigftend ber Intention nad, zu einem Prius 
ber ethiſchen Attribute macht. Ich glaube nämlich nicht, daß, 
fei eg der Verf. felbft, oder Die Audern, mit denen ich bier zu 
verhandeln. habe, etwas dagegen einwenden werden, wenn ih 
behaupte, daß die ethifchen Präbicate Gott nur. infofern zukom⸗ 
men, als erfhöpferifch thätig ift, als er, um mit dem Verf. 
zu reden, dazu fortgeht, ein Anderes, als er felbft, zu fegen. 
“ Bei dem Berf. feheint ſich dieß fchon aus der Stellung, welde 
er den „ethifologifchen ’ Kategorieen angewiefen hat, zu ergeben. 
Wem, wie ihm (S. 366), der Begriff des fittlichen Geiſtes 
mit dem des erreichten Weltzwedes zufammenfällt, der wird 
fih auch nicht weigern, das Attribut des Guten, bas er allen 
falls, fchon um der Namensverwandtichaft willen (eine ausdrückliche 
Erbklärung barüber finden wir bei ihm nicht), auch jenem vorweltlichen, 

‚ nicht fchaffenden Gotte beilegen möchte, der bei Ihm eine Exiſtenz 


Ueber d. Berhäftniß d. Metaphyſik zu d. Ethik, 47 


unftreitig nur im Begriffe, nicht auch in der Wirklichkeit haben 
fol, auf jene bonitas transscendentalis zu beichränfen, bie ja 
auch ſchon die Scholaftifer von den ethifchen Eigenfchaften im eis 
gentlihen Sinne zu unterfcheiden und auf die rein logifche per- 
fectio, als vein formale Eigenfchaft zu beziehen pflegten. Das 
etbifche Attribut der Güte kommt — fo glauben wir noch im 
Sinne des Berf., oder wenigftend ohne eine wefentlihe Beein⸗ 
trächtigung feines Sinnes fagen zu dürfen, — Gott eben in fo fern 
zu, als er von jener an fi ihm inwohnenden Möglichkeit, nur 
Er Selbft zu bleiben und Fein Anderes neben fich zu fegen, kei⸗ 
nen Gebraud macht, fondern fi zur Schöpfung einer Welt ent 
ſchließt. — Aber: wenn dieſe Ausdrudsweife dem Sinne bes Berf. 
entfpricht, fo entfpricht es diefem Sinne gewiß nicht minder, oder 
vielmehr, fo wird dann durch diefen Sinn gefordert, weiter zu 
fagen, daß eben diefer Entfchluß zur Schöpfung felbft die Güte 
Gottes ausmacht, daß ed, um Bott im ethifchen Einne, oder in 
dem Sinne, der in Bezug auf Gott das den ethifchen Attributen 
des creatürlichen Geiftes Entfprechende enthält, gut zu nennen, 
neben ber Borausfegung jener allgemeinen, von dem Schöpfungs- 
begriffe unabhängigen Begriffebeftimmung Gottes, nichts Weiter 
ven bedarf, als eben nur des Schöpfungsbegriffes ſelbſt. Dieß 
nämlich liegt offenbar in den bereits erwähnten weiteren Lehren. 
des Verf., welche als ben Inhalt des fittlih Guten die Vollen⸗ 
dung ber Welt, biefe Vollendung felbft aber, in jo fern fie eine 
Tyhat Gottes if, als eine nothwendige und unfehlbar erfolgende 
bezeichnen. 

Wir haben hier ein fehr klares Beifpiel ber Wendungen, 
deren ſich von jeher ein Theil ber fpeculativen Philoſophen be= 
dient hat und noch jebt bedient, um, fei e8 das Ethifche zu meta= 
phyſiciren, oder auch umgekehrt das Metaphyſiſche zu ethikologi⸗ 
firen. Um zu entfcheiden, ob bei unferm Verf. das eine, ober das 
andere ber Fall fei, Tommt es darauf an, ob man ben Gottes⸗ 
begriff, den er im erften Theile feines Werkes aufftellt, für ei- 
nen rein metapbufifchen gelten laſſen will, oder nicht. Daß feine 
Intention dahin geht, ihn als einen metaphyfiihen darzuftellen , 

Zeitſchrift f. Philoſ. u. ſpek. Theol. XII. Band. 2 


48 Weiße, 


und zwar nicht blos in feinem Sinne, fondern ausdrücklich auch 
in dem Sinne, in welchem wir den rein metaphyſiſchen Begriffen 
wegen des zu ihnen gehörigen Freiheitsbegriffs bie Priorität vor 
den ethifchen vinbiciren, liegt am Tage. Stellen wir uns alfo in 
diefer Beziehung auf feinen Stanbpunft, fo werden wir fagen 
müffen, Daß die Operation, durch welche es ihm gelingt, die ethi⸗ 
ſchen oder ethifologifchen Begriffe. auf das metaphyſiſche Gebiet 
berüberzuziehen, darin beftcht, baß er die metaphyſiſche Nothwen⸗ 
digkeit feined Gottesbegriffs zwar nicht auf den fehöpferiichen Act 
als folchen, wohl aber auf die Beſchaffenheit deſſelben, alfo nicht 
auf das Daß, aber auf das Wie der Schöpfung überträgt, und 
die Totalität dieſes Wie in den Begriff der Gottgleichheit, worin 
ihm das Princip für alle ethifchen Begriffsbefiimmungen gegeben 
ift, zufammenfaßt. Gott, als das abfolute Thun, Fann, 
wenn er überhaupt fih dazu entfhließt, ein Anderes, 
als er felbft, zu fhaffen, in diefem Anderen nur ein 
fih Gleiches ſchaffen: — dieß das Ariom, welches offenbar 
der Braniß'ſchen Darftellung im Hintergrunde liegt, wenn es auf 
nicht zur beftimmten Ausfpracdye fommt, fondern hinter der Ent 
widelung der „kosmologiſchen“ Kategorieen verborgen Bleibt. — 
Es liegt nahe, dieſes Axiom, und noch näher, die Darftellung, 
in welcher es fich. ausgeprägt hat, mit jener Darftellung zufams 
menzuftellen, gegen welche jene zwar ausdrücklich gerichset if, mit 
der fie aber dennoch in den eigentlichen Grundmotiven näher, 
als fie ed ahndet, zufammentriff. Was nämlich ift.mit dem eben 
ausgefprochenen Ariom im Grunde anderes gefagt, ale mit dem 
befannten Axiom des Hegelfchen Syſtemes: daß die „Idee,“ ob⸗ 
wohl, an fi, fich felbft genug, doch ihrer felbft fich entäußert, 
aber auch in diefem Andersfein das abfolute Gegenbild ihrer felbf, 
ben „abfoluten Geiſt“ erzeugt? Jener „logiſche Pantheismus,“ 
welchen man der Hegelſſchen Philoſophie fo häufig. vorgeworfen 
bat, jene Tendenz, alles Concrete und Reale in den abſtracten 
‚Kategorieen der Logik aufgeben zu Yaffen, was iſt fie anders, ald 
nur eine etwas fchroff ausgefallene Bethätigung und in’s Werk 
Setzung jener, keineswegs ihr allein eigenthümlichen, ſondern, 





Ueber d. Berhältnig d. Dietapbyfif zu d. Ethik. 49 


wie wir bier fehen, mit anderen, feheinbar fehr weit divergiren⸗ 
den philofophifchen Strebungen gemeinfamen Richtung auf einen 
im reinen Deufen, im abfoluten Willen auf adäquate Weile zu 
erfaffenden, in dem empirifchen Weltbegriffe fein durch die Aeu⸗ 
Berlichfeit deffelben nur ſcheinbar, nur für die menfchliche Ans 
ſchauung geträbtes oder verfümmertes Abbild fich erzeugenden Got⸗ 
teöbegriff? 

Aber lehrt nicht Braniß den Gottesbegriff, der bei ihm bie 
Stelle der „abfeluten Idee“ einnimmt, auf das Ausdrücklichſte 
als den Begriff eines feiner ſelbſt bewußten, felbftbewußt wollen- 
den und baudelnden, kurz eines perfönlichen Gottes denken, 
und unterfcheidet fich nicht dadurch fein Freiheitsbegriff auf dag 
Unzweibeutigite von der Freiheit, die, als ſchlechthin identiſch mit 
der abſeluten Nothwendigfeit, auch Hegel von feiner „Idee“ zu 
präbiciren nicht unterläßt? — Sch verfenne nicht den gemeinten 
Unterfchied des Branig’ichen Philofophemd von dem Hegel’fdyen, 
halte jedoch dafür, daß es der Mühe lohnt, gerade bier näher 
zuzuſehen, welche Borausfegungen man zur Darftellung bes erft« 
genannten Denkers hinzubringen, oder welche Korberungen man 
ihr zugeben muß, wenn man bdiefen Unterfchied für mehr, als 
eben aur einen gemeinten, gelten lafien wid. Nimmt ja doch bes 
kanntlich auch eine Fraction der Hegel'ſchen Schule ganz denfelben 
Charakter der freien, felbfibewußten und felbftbewußt wollenden 
Beiftigfeit für bie „abfolute Idee“ der Logik in Anfpruch *), wo 
doch Herr Braniß, mit Allen, die einer der feinigen verwandten 
Richtung folgen, gewiß nicht gefonnen if, dieſe Attribute für ete 
was Anderes, als eben nur für gemeinte gelten zu laffen. Nu 
aber möchte es nicht fehwer fallen, zu zeigen, daß bie Bebeufen, 





*) Ich berufe mich hierüber ftatt aller andern auf die Schrift Gab⸗ 
ler’ 8 gegen Trendelendurg, welche frei ift von der Zweideutig⸗ 
keit, mit welcher manche andere den theiftifchen Gottesbegriff, 
den auch Re dem Hegel'ſchen Spitem vindiciren wollen, eine Ers 
Elärung darüber vermeiden, ob berfelbe in der Logik uber erſt im 
der Geiſteslehre feine Selle haben foll. 

N 2 


20 Weiße, 


welche man jenem vermeintlich vein logiſchen Gottesbegriffe nicht 
mit Unrecht entgegenftellt, den Braniß'ſchen Gottesbegriff fogar 
noch in erhöhten Maaße treffen. Findet man es nämlich) unbe 
greiflich,, ‚wie Selbfibewußtfein und freies Wollen und Handeln 
mit wiffenfchaftlihem Rechte einer „Idee“ zugefchrieben werben 
fönnen, die alle raumszeitliche Realität, alle Realität nicht nur 
des natürlichen, fondern auch des geiftigen Dafeins außer fid, 
zu ihrem Inhalte aber nur eine Reihe abfiraeter Kategorieen odır 
Denkbegriffe hat, die in ihr fih „aufheben“ follen: fo muß man 
es noch viel unbegreiflicher finden, wenn dieſelben Attribute einem 
Begriffe beigelegt werden, ber nicht. einmal dieſen, fondern 
außer jenen Attributen ſelbſt, die aber dadurch eben wiſſenſchaftlich 
zu unmöglichen werden, gar feinen Inhalt hat. Ober was für 
einen wiſſenſchaftlich denkbaren Inhalt könnte doch ein Begriff bar 
ben, dem zugleich mit der concreten Realität, durch welche wir 
allerorten dieſe Kategorieen erfüllt denken, auch die einfachen onto- 
Togifchen Kategorieen ſelbſt: Dafein, Dauer, Einheit, Vielheit, 
Dualität, Wefen, Subftanz, Urſache, Möglichkeit, Wirklichkeit 
uf. mw, — ohnehin die, nad unferm Verf. „ethikologiſchen“: 
“Kraft, Materie, Leben, Organifation, Geiſt, Seele u. f. w. — 
abgeſprochen werden? — Offenbar hat Braniß, indem er dieſe 
Kategorieen, und mit ihnen ben gefammten eigenthümlichen ober 
ſpecifiſchen Inhalt einer wiflenfchaftlihen Metaphyſik, außer aller 
Beziehung zur „ideellen Theologie” fette, und fie ausfchließlid 
der „Kosmologie“ überwies, feinen Gott zu einem „Ueberfeien- 
ben“ im Sinne der Neoplatonifer und des Dionyfius Areopagita 
gemacht, und er kann ihm daher auch nur mit demfelben Rechte, 
wie jene feine Vorgänger, d. b. mit wiflenfchaftlich, fehr unzus 
reichendem, Selbftbewußtfein und Freiheit zufchreiben, — Eigen 
fhaften, die einen Klaren Sinn nur dann erhalten fönnen, wenn 
fie auf Grund der ontologifchen Kategorieen, bie für das wiſſen⸗ 
fhaftlihe Denken ihr Prius find, dialektiſch entwidelt werben, 
font aber ein unbeflimmtes Etwas der BVorftellung bleiben, wel- 
ches fih wohl mit ethifcher und religiöfer Berechtigung, aber nim⸗ 
mermehr mit metaphyſiſcher, dev Gottheit zuſchreiben laͤßt. 


Ueber d. Verhaͤliniß d. Metaphyſik zu d. Ethik. 21 


Und hiermit komme ich auf meine vorige Andeutung zurück, daß 
Darftellungen der Art, wie die Braniß'ſche, wenn fie zunächft die 
Wendung zu nehmen feheinen, das Eihifche zu metaphyficiren, und 
von wiſſenſchaftlicher Kritik zunächit auch darauf angefehen wer⸗ 
den müffen, doch eben fowohl auch dahin gebeutet werben kön⸗ 
nen, ja, genauer betrachtet, zulest mit Nothwendigkeit darauf 
hinaus kommen, die Metaphyſik von ethifchen Principien abhän- 
gig zu machen. So fehr nämlich der mehrfach genannte Philor 
ſoph ſich bemüht hat, feinen Gottesbegriff vein metaphyſiſch zw 
halten, fo entfchieden er (S. 4189) die Deduction deſſelben auf den 
ontologifchen Beweis, alfo auf eine ber reinen Vernunft, dem 
reinen Denken angehörende Gewißheit zurüdzuführen trachtet: fo 
iſt doch gar nicht ſchwer zu entdecken, nicht nur, wie mangelhaft 
diefer Beweisverſuch bleibt, fondern auch, daß die für jenen 
Gottesbegriff in Anfpruh genommene Gewißheit, wenn fie auch 
der Verf. nicht dafür erfennt, doch in der That eine ethifche iſt. 
Das „abfelute Thun,” welches er, bierin ſich eng an Fichte d. &. 
anſchließend, von defien Philofophie Die feinige ein Abſenker it, 
zur Grundlage feines Gottesbegriffs macht, das abfolute Thun, 
als netuales, wie er es gefaßt wiffen will, nicht als bloßer 
Begriff eines möglichen Thuns iſt durchaus Fein Ergebniß 
jener reinen Denfnothiwendigfeit, welche die Metaphyſik, wenn 
fie, ihrer Beftimmung gemäß, von aller Erfahrung abſtrahiren 
will, zu ihrem alleinigen Princip, zu ihrer alleinigen Erkenntniß⸗ 
quelle machen muß. Die, von allen ethifchen eben fo, wie fonfligen 
empiriſchen Elementen (wozu auch das Bewußtfein unferes eigenen 
Dafeins als Subjects gehört), veingehaltene Denknothwendigkeit 
Tennt überhaupt Feine Actualität, d. b. Feine ein Thun, einen 
Artus einfchließende Nealität (— daß feine wahre Realität ohne 
Actus möglich ift, fagt eben jenes Wort, und hat auch unfer 
Berf, ganz richtig eingefeben); fie Fennt nur ein Sein, welches 
ſich, dieſer Actualität gegenüber, ald Potenz, ald Möglichkeit 
verhält, ein fehlechthin ruhendes, that» und bewegungslofes Sein. 
Auch Gott iſt ihr, und ift der Metaphyſik, wiefern fie nur im 
reinen Denken bleibt und deflen Nothwendigfeit zum Bewußtſein 


2) Weiße, 


bringt, ein folches Sein; die Metaphyfit wird, wenn fie fi wil- 
fenfchaftlich vollendet, allerdings dazu fortgehen, dieſes Sein als 
den Begriff, d. b. eben als die abſolute, fich felbft genügende 
Möglichkeit eines derartigen Actus zu erkennen, wie nad) un 
ſerm Berf. die Gottheit iſt; allein das Setzen des Actus als eis 
nes ſolchen, ober die Erfenntniß des fich ſelbſt fegenden Actus 
hat fie andern Wiffenfchaften zu überlafien. — Ich muß wohl ge- 
wärtig fein, daß Braniß und die ihm Gleich= oder Achnlichden 
fenden mir dieſe Säße felbft über die Natur des reinen Denfens 
‘in Abrede flellen werden. Mit diefen Tann ich bier nicht weiter 
rechten; aber ich hoffe, daß es auch Andere geben wird, vor bes 
nen biefelben nur ausgefproden zu werden brauchen, um ihnen 
ben eigentlichen Sig ber Streitfrage, um bie es ſich handelt, 
zum Bewußtſein zu bringen. Kann es nämlich nach dieſen Sägen 
feinen Zweifel leiden, daß ein Gottesbegriff ber Art, wie der 
Braniß'ſche, zur Metaphyfif in eine principielle Stellung geſetzt, 
nur als ein ethifches oder ethifch » religiöfes Poſtulat gelten kann, 
von welchem man, in Ermanglung eines Haren wiſſenſchaftlichen 
Bewußtſeins über die im reinen Denken als foldhem enthaltene 
Gewißheit und Nothwenbigfeit; den fpecifiich metaphyſiſchen Ins 
halt in Abhängigkeit fegt: fo wird, für ben ethifchen Standpunkt 
felbft, den wir hier einnehmen zu wollen bereitd oben erklärt has 
ben, die Frage unftreitig dahin zu ftellen fein: ob den Forderun⸗ 
gen dieſes Stanbpunftes- felbft ein folcher Gottes⸗ und Freiheitd 
begriff beffer entfpricht, als ein auf dem Wege, den wir vol 
Häufig als den rein metapbyfiichen bezeichneten, vorläufig zu ge⸗ 
winnender, wenn auch erft in ethifchem Zufammenhange, oder 
unter Vorausſchickung ethifcher Prämiffen, in's Werk zu ſetzender 
und zu bethätigenber ? 

Ehe ich jedoch in die nähere Erörterung diefer Frage ein 
gebe, glaube ich darauf aufmerffam machen zu müffen, wie bie 
Stellung ber ethifchen und der metaphyfifchen Principien zu ein 
ander, die bei Braniß eine unflare und unbewußte geblieben wat, 
bei einem der nachfolgenden, in verwandter Richtung ſich bewe⸗ 
genden Forſcher, nämlich bei Lotze, zu deutlichem Bewußtfein ge⸗ 





Leber d. Berhältnig d. Metaphyſik zur d. Eihi. 23 


bieben ift. Sch ſtehe nicht an, es als ein Verdienſt fowohl der 
metaphyfifchen, als der logiſchen Darftellung biefes Schriftftellers, 
und als einen Fortfchritt über die Braniß'ſche hinaus, zu bezeich— 
nen, daß fie, obwohl auch ihrerfeits eines immanenten Prin- 
eins der metaphyfiichen Forfchung entbehrend, fi) doch über die⸗ 
fen Mangel Feine Illuſion gemacht, fondern ihre Abhängigkeit von 
einem Princip, das ihr Außerlich und jenfeitig bleibt, offen 
eingeftanden hat. Gerade dadurch ift es ihr möglich geworben, 
was der vorhin erwähnten Darftellung verfagt blieb, den meta⸗ 
phyfifchen Inhalt vein abzufcheiden von bem ethifchen, und, zwar 
nicht den ganzen Reichthum der Inhaltsbeſtimmungen, welche bie 
metapbyfifche Denknothwendigkeit für fih in Anfprud nehmen 
fann, ohne irgend eine Beimifchung außermetaphyſiſcher Quali⸗ 
täten ober Nealitäten, aber doch einen wiel beträchtlicheren, als 
jenen, für fich zu gewinnen. Denn während Braniß überall nur 
fein, durch außermetaphyfifche Intereſſen ihm gegebenes, von ihm 
aber für metaphyſiſch gehaltenes Ziel vor Augen bat, und ſich in 
der Auswahl und Entwicklung feiner Sategorieen nur von dem 
Bewußtſein dieſes Zieles leiten läßt: fo ift dem jüngeren Forſcher, 
eben durch das Bewußtfein über bie einfeitige, der Actualität bes 
fittlichen Geiftes entbehrende, — Darum, nad ihm, von der Natur 
dieſes Geiſtes abhängige Stellung (welches Darum aber von uns 
eben in Frage geſtellt wird), ber Blick über das eigenthümliche 
Gebiet dieſer Denknothwendigkeit befreit, und er vermag ſich ins 
nerhalb Deffelben, wenn. auch noch nicht im wahren Wortfinn hei⸗ 
miſch zu fühlen, doch mit viel größerer Unbefangenheit zu bewe⸗ 
gen, als wer über ben Unterfchieb dieſes Gebietes von dem ber 
ethifchen Geiſteswirklichleit gar Fein Bewußtfein hat. Dagegen 
treten aber auch bie Uebelſtände, welche ſich aus dieſer Unterord⸗ 
nung des metaphyſiſchen Standpunkts unter den ethifchen für ben 
letzteren felbft ergeben, bier weit fchroffer hervor, als dort, wo 
bie Bermifgung beider Standpunfte überall noch eine, wenn auch 
wiſſenſchaftlich mangelhafte, Unterftellung metaphyſiſcher Prämifs 
len da, mo man ihrer bebarf, für ethifche eine oder Begriffe: 
beitimmungen möglich) macht. 


24 Weiße, 


Wenn wir nämlich, als die Summe biefer Uebelſtaͤnde, fehf 
beflimmter den, im Allgemeinen zwar fchon oben angedeuteten 
geltend machen, daß bei diefer Stellung ber beiderfeitigen Disci⸗ 
plinen dem ethifchen Freiheitsbewußtſein fein Necht nicht werben 
kann: fo wird, wer Die Lotziſche Darftellung vor Augen hat, den 
Sinn diefes Tadels leicht begreifen, während den übrigen, und 
namentlich der Braniß'ſchen, manche Ausflüchte offen ſtehen, die 
man ihnen erft ausbrüdiich verfperren müßte. Wer, wie Loge, 
alle Iogifche und metaphyſiſche Denknothwendigkeit, bis auf ihre 
einfachften Elemente, bis auf den Togifchen Sab des Widerſpruché, 
für einen Ausflug der praftifchen Natur des Geiftes hält, — 
wer ihr mithin — denn dieß liegt offenbar in dieſer Boranefegung, 
— nur darum md nur Infofern Geltung zufchreibt, weil 
und wiefern ein fittlich wollender und handelnder Geiſt da ift, 
der als folcher ein Object, eine Sphäre feines Handelns in Ans 
fprudy nimmt: der erklärt damit, daß er für biefen Geift entwe⸗ 
‚der überhaupt Fein Prius Fennt, ober wenigftens die metaphyfi- 
ſchen Kategorieen nicht als folches Prius anerkennt. Wollten wir 
das Legtere annehmen, wollten wir annehmen, daß auch ein 
Solcher in ähnlicher Weife, wie Kant, zwar nicht die Katego⸗ 
rieen, wohl aber die Freiheit als dag Prius der Sittlichkeit, ober 
der Actualität bes Geiftes als fittlichen, als fittlich « wollenden und 
handelnden, zu ſetzen gebächte: fo würde hiermit ganz der oben 
von uns befprocdhene Fall des letztgenannten Denkers eintreten. 
Der Philofoph, der diefen Weg einfchlüge, würde ſich genoͤthigt 
ſehen, eine zweite Metaphyſik, eine Metaphyſik des Freiheitsbe⸗ 
griffs, neben ber erſten anzuerkennen, und die erſte Metaphyſil 
entweder geradezu durch die zweite widerlegt werben zu Taflen, 
ober ihr neben berfelben nur eine untergeorbnete Geltung, a8 
Metaphyfil der endlichen Berfianbesbeftimmungen, einzuräumen. 
Aber dazu wird ſich in neuerer Zeit, nachdem der Stanbpunlt 
bes Kriticismus fo allgemein als ein überwundener gik, und man 
in den Kategorieen, auf welche Weile auch immer, ein Abfolnted, 
ein An⸗ſich anzuerfennen gelernt hat, Fein Korfcher fo Teicht ent 
Schließen wollen; und Loge namentlich Hat (im dritten Theile fir 


Ueber d. Verhältnig d. Metaphyſik zu d. Ethif. 26 


ner Metapbyfif) die Unzuläffigfeit der kantiſchen Getrennthaltung 
der Kategorieen von dem Begriffe eines hinter ihnen und binter 
der von ihnen beherrfchten Erfcheinungsmwelt fi) verbergenden An⸗ 
fi auf eine Weife dargethan, die von ung fchon früher in dieſer 
Zeitſchrift als eine fehr gelungene anerfannt worden if. Es bleibt 
alfo Taum etwas anderes übrig, als, unumwunden einzugeftehen, 
bag man in dem Begriffe des handelnden fittlihen Geiftes von 
feinem Unterfchiede eines Prius und Pofterius überhaupt etwas 
weiß, und namentlich alfo nicht die Freiheit ald ein Prius feiner 
Sittlichfeit betrachten Tann; — und dieß iſt es denn auch, wozu, 
wie ich nicht zweifle, die Meiften derer, die auf diefen Stand« 
punkt fi) geftellt haben, gar Teicht fich entfchließen werden. Be⸗ 
barf es ja doch, um des Freiheitsbegriffe in Diefem Sinne ent« 
rathen zu Eönnen, feineswegs einer Verzichtleiftung auf den Be⸗ 
griff der fittlichen Freiheit in jedem Sinne. Denn abgefehen das 
von, daß nicht Wenige folhen Begriff auch mit dem firengfien 
Deierminismus vereinbar finden wollen , fo bieten ſich ja ben An⸗ 
beren, die um ber Erklärung des Böfen willen dem creatürlichen 
Geifte die Möglichkeit entgegengefeßter fittlicher Richtungen nicht 
von vorn herein abjchneiden zu dürfen glauben, noch gar manche 
Ausfunftsmittel dar, ben Begriff folcher Möglichkeit in Anfehung 
der Gefchöpfe offen zu halten. Was aber den Schöpfer, ben Urs 

geiſt betrifft, ſo feheint, in Anfehung feiner jene Möglichkeit zu 
laugnen, um fo weniger ein Bedenken obzumwalten, ald man bei 
folder Läugnung ja audy den Buchftaben der bisherigen Dogmas 
tif auf feiner Seite hat. 

Solches Eingeftändnig von Seiten meiner Gegner bis auf 
Beiteres vorausfegend, enthalte ic) mich für fegt der weitern 
Polemik gegen fie, und befchränfe mich auf eine kurze Darlegung 
des Sinnes, in welchem ich meinerfeits im Sntereffe der Ethik 
einen Freiheitsbegriff, und eine wiffenfchaftliche Begründung und 
Ausführung des Freiheitöbegriffs fordern zu dürfen glaube, welche 
fih, der erflere zum Princip der Ethik als ſolchem, bie anderen 
au den wiffenfchafflichen Disciplinen, welche der Begründung und: 
Ausführung diefes Principe gewidmet find, als das Prius beiber 


zu verhalten haben. — Sch gehe von einer Bemerkung aus, bie 
mir wohl von Wenigen wird beftritten werben, welche ihr natürs 
liches Bewußtfein, ihren gefunden Menfchenverfiand nicht ganz 
und gar den Lehren irgend eines beflimmten fpeculativen Stand« 
punkts gefangen gegeben, oder von denſelben haben abforbiren laſ—⸗ 
ſen. Es iſt dieſe, daß von dem natürlichen Bewußtſein bei 
jedem Acte ſittlicher Anforderung oder ſittlicher Beurtheilung in 
dem Weſen, welchem, fei es die Forderung, oder das Urtheil 
gilt, eine Duplicität des Könnens und des Thuns oder Wols 
lens als realer, nicht blos logiſch⸗ideeller Unterſchied voraus⸗ 
geſetzt wird, und daß dieſe reale Unterſchiedenheit beider Momente 
es iſt, welche für jenes Bewußtſein den Inhalt der Vorſtellung 
ausmacht, die es von der Freiheit, von der ſittlichen Freiheit der 
Vernunftweſen hat. Das geſunde, natürliche Bewußtſein ver⸗ 
kennt darüber keineswegs die geiſtig ſubſtantielle Natur des ſitt⸗ 
lichen Wollens und Handelns. Es weiß recht wohl, daß die Ge⸗ 
wohnheit ſolchen Wollens und Handelns in dem freien Vernunft⸗ 
weſen zu einer Natur, zu einer Nothwendigkeit wird, welche 
bie Moͤglichkeit eines entgegengeſetzten Handelns ober Wollens, 
obwohl ſelbige, und zwar nicht blos als ein ideelles, logiſches 
Moment, ſondern allerdings als eine xeale Potenz oder Weſen⸗ 
heit, .auch fo noch befteben bleibt, doch gar nicht aufflommen, gar 
nicht in wirklichen Handlungen und Willensacten ſich bethätigen 
laͤßt. Ohne diefe Ueberzeugung wäre, wie Herbart richtig be⸗ 
merkt hat, keinerlei fittlihe Werthſchätzung, auch nicht die ein 
fachfte Zurechnung möglich; während es freilich diefem Philofophen 
nicht zugugeben ift, wenn er aus dem Factum foldher Zurechnung 
und Werthſchaͤtzung auf bie Nichtigkeit dev Freiheit als einer rea⸗ 
Ien Potenz ohne Weiteres bat fchließen wollen. Eben darum aber, 
weil dem natürlichen Bewußtfein dieſer Begriff einer füttlihen, 
auf dem Grunde ber Freiheit beruhenden Natur und Nothwendigfeit 
Seineöwegs fremd ift, eben darum nimmt daſſelbe auch nicht den 
mindeſten Anfioß daran, die nämlichen Vorausſetzungen ſittlicher 
Werthſchaͤtzung, die es bei den endlichen Vernunftweſen macht, 
auch auf den Schöpfer zu übertragen. Was auch Philofophen 








Ueber d. Berhältnig db. Metaphyſik zu d. Ethik, 27 


und Theologen dagegen erinnern mögen: der natürlishe Menſchen⸗ 
verftand läßt es fich nicht nehmen, Gott, indem er ihn als den 
Guten anerkennt und verehrt, zugleich doch eine wirkliche, reale 
Macht auch zum Nichtguten zuzufchreiben, und feine Güte eben 
darein zu feben, daß er von biefer Macht Feinen, wohl aber von 
der zum Guten den vollften und überfchwänglichftien Gebraud) 
macht. Er findet in diefer Annahme eben fo wenig, wie einen 
fittlihen, auch einen logifchen Anftoßz er weiß nichts von dem 
Widerſpruche, den gewifle philofophifche Schulen darin finden. wols 
len, eine Macht, eine Möglichkeit als real zu ſetzen, die fi in 
feinem Momente ihres Dafeins zur Actualität bringt ober ale 
Artus beithätigt. Er wird vielleicht Bedenken tragen, es eine Wahl 
zu nennen, wodurch fich Gott für dag Gute, im Gegenfage dee 
Nichtguten, entſchieden hat, denn ed entgeht ihm nicht, daß diefer 
Ausdrud, auch beim gefchöpflichen Geifte, beſſer auf die mit deuts 
licher Gegenwart des Objects im Bewußtfein erfolgende Willeng- 
entiheidung zu einer einzelnen, vorübergehenden That, als auf 
die Aneignung einer beharrlichen, in einer längeren Folge folcher 
Thaten fich Außernden Eharaftereigenfchaft paßt, daß er aber am 
wenigften bei einem Acte, den wir doch als von Ewigkeit her 
geichehend zu denken nicht umbin können, als paſſend erfcheinen 
will, Aber er beharrt darum nicht minder dabei, ſolche Entſchei⸗ 
bung, von dem reinen Wefen oder Sein Gottes, in welchem 
fie erfolgt, alfo von feiner Allmacht und Allwiſſenheit unterfchies 
den, und feinesweges unmittelbar damit zufammenfallend zu denken. 

Wer nun mit und in diefem Allem die Ausſprüche der, na= 
türlihen, gefunden Vernunft wiebererfennt, der wird uns ohne 
Zweifel die Forderung an die ſyſtematiſche Phildfophie einräumen, 
daß fie ihrerfeits derfelben eingedenk bleibe. Ohne ſich die cis 
genthümlichen Schwierigfeiten zu verheelen,, welche daraus für fie 
erwachfen, wird fie doch einen Weg einzufchlagen fuchen mäffen, 
der wenigſtens eine Möglichkeit abfehen laͤßt, zu Nefultaten zu 
gelangen, welche mit jenem Ausfprüchen übereinfiimmen, einen 
Ausweg, ber nicht, wie fo manche der bisherigen Richtungen der 
Sperulation, jede ſolche Möglichfeit gleich von vorn: herein ab⸗ 





28 Weiße, 

ſchneidet. —. Eine Schwierigkeit if überall ſchon halb überwun⸗ 
ben, wenn man ihr nur keck in's Auge ſieht. Wir halten es das 
ber auch in diefem Falle für das Gerathenfte, bie beſtimmte 
Frage aufzumerfen: worin denn eigentlich die Schwierigfeit bes 
flieht, welche die Philoſophie bisher verhindert hat, nicht nur, in 
ihren Refultaten mit jenen Ausſprüchen der natürlichen Ver⸗ 
nunft übereinzuftimmen, fondern, fogleich in den Principien, in 
den erften Anfängen ihres ethifchen und metaphyſiſchen Forſchens, 
damit unverträglihe Nefultate vorauszunehmen? Die Schwie⸗ 
rigkeit ift, wenn ich recht ſehe, folgende. In jenen Ariomen 
des gefunden Dienfchenverftandes ſcheint, ungeachtet der Andeus 
tungen, die fi, wie bemerkt, auch in ihm auf ein Anderes fin 
ben, zuletzt doch immer eine geiftige Eriftenz vorausgefeßt, welde 
ſich gegen die ethifchen Beflimmungen gleichgültig verhält. Wie 
eine, jetzt ziemlich allgemein aufgegebene oder für veraltet erflärte 
Pſychologie in theoretifcher Beziehung den Geiſt ald eine tabnla 
rasa vorftellen Iehrte, worauf Begriffe, Borftellungen, Erkennt 
niffe, kurz jedweder theoretifche Inhalt nur. durch Einwirkung von 
Außen aufgetragen wird: fo fcheint es, als werde in jenen Axio⸗ 
men der Geift in ethifcher Beziehung als eine ähnliche tabula rasa 
vorausgeſetzt. Freilich nicht als eine von Außen zu beſchreibende, 
aber doch als eine, die, indem ſie durch irgend einen mechani⸗ 
ſchen Apparat ſich ſelbſt mit jener Schrift erfüllt, welche den ethi⸗ 
ſchen Inhalt bezeichnen ſoll, dabei in ihrem von vorn herein fer⸗ 
tigen Weſen oder Daſein unverändert bleibt, gleichviel, welcher 
Art der Inhalt iſt, der ſolchergeſtalt auf ſie aufgetragen wird. 
Solche Vorſtellung würbe ſich ohne Zweifel recht wohl vertragen 
mit ber bereits vorhin abgewiefenen, von der natürlichen Ver: 
nunft Teinesivegs vertretenen Anficht, als habe das Ethiſche nicht 
in ber Subftanz des Geiftes, fondern nur in befien vorübergehen- 
den Handlungen feinen nächſten Sit, als feien nur die letzteren, 
nicht aber die Subſtanz, Gegenftand fittlicher Beurtheilung. Durd- 
aus aber nicht verträgt fie ſich mit jener ſubſtantielleren Anſicht 
des Ethiſchen, welche, von jeher dem richtigen Bernunftinftinet , 
fo wie nicht minder dem ächten Religionsglauben fo nahe lag, in 








7 


Ueber d. Verhaͤliniß d. Metaphyſik zu d. Ethik. 29 


der Philoſophie unſerer Zeit aber einen ziemlich unbeſtrittenen 
Triumph gefeiert hat. Nach dieſer nämlich kann nicht nur bie 
Idee des göttlichen Geiftes, ale wirkliche, Tebendige, auf 
feine Weife von dem Begriffe feiner Güte, und der fonftigen 
daran ſich reihenden ethiſchen Eigenschaften getrennt werden, ſon⸗ 
bern es müffen die entfprechenden Eigenfchaften als ſubſtantielle, 
nicht blos accidentelle Momente auch des ereatürlichen Geiſtes gel- 
ten. Wenn, wie nicht blos die hegel'ſche Philoſophie es faßt, 
ber allerdings der Ruhm nicht beftritten werden Tann, von allen 
bisherigen Syftemen die eindringendfte Darftellung dieſes Geiſtes⸗ 
procefied gegeben zu haben, — wenn das Wefendes individuellen, 
ereatürlichen Geiftes, weit entfernt, wie die monadologiihen Sys 
fieme es anſehen, eime für fich fertige atomiftifche Subftanz zu 
fein, vielmehr nur begriffen werden Tann als das organifche Er⸗ 
zeugniß eines geiftigen Proceſſes, in welchem bie objectiven Mo⸗ 
mente bes Gefammtlebens, denen in dem Individuum bie fittlichen 
Eigenfchaften entfprechen, recht eigentlich die realen, fubftantiellen 
Prineipien oder Exponenten find: wie bleibt denn noch eine Auge 
fiht, die Borftellung des perfönlichen Geiftes als eines auch un 
abhängig von dem fittlihen Attributen fertigen, exiſtirenden Din 
ges feſthalten oder wiſſenſchaftlich rechtfertigen zu können? 

Dieß, ich wiederhole es, ift Die Schwierigfeit, welche, fei es 
Har gebacht, ober bunfel empfunden, in unferer Zeit, aber nicht 
erh in der unfrigen, fo Manche auf die Meinung gebracht hat, 
als Fönne in der Faffung des Freiheitsbegriffs ein firenges wiſſen⸗ 
fhaftliches Denken unmöglich fi) den Forderungen bes natürlichen 
Menfchenverftandes anbequemen, ja bie Einige wohl zur ausdrüd- 
lichen Mißfennung und Berläugnung biefer Forderungen verleitet 
bat. — Sch verfenne nicht, wie nahe insbefondere durch die He⸗ 
gelichen Philoſopheme über den „objectiven Geift” als den fub- 
ftantiellen Träger der „ Sittlichkeit,“ die eben Durch ihn zur eis 
gentlihen, wahrbaften Subftang auch des „ſubjectiven Geiftes 
wird, wie nahe, fage idy, dadurch denen, welche bie Wahrheit 
und Berechtigung diefer Philofopheme anerfennen,, babei aber Durch 
das Verhäliniß fich nicht befriebigt finden, in welches bort ber 


30 J Weiße, F 


„objective Geiſt“ zum „abſoluten Geiſte“ geſetzt iſt, der Berfud 
gelegt wird, dad Dioment ber Sittlichkeit, welches durch die Wen- 
dung, bie wir bafelbft genommen finden, für den abfoluten Geiß 
ganz verloren zu gehen fcheint, durch die Aufnahme ethifcher Ka⸗ 
tegorieen in die Metaphyfif zu retten. Auf die Metaphyſik näm- 
lih , oder, wie es bort heißt, die „Logik“ weist ung auch bei Des 
gel der Begriff des abfoluten Geiſtes zurüd, indem derfelbe im 
„abfolnten Wiffen” — dieß aber iſt nach Hegel befanntlich eben 
das logiſche Willen, das Wiffen der abfoluten Iogifchen Idee von 
ſich ſelbſt, — ſich in's Werk fegen und vollenden fol. Dieß if 
Denen, von welchen ich bier fpreche C— unter den oben nament- 
lid Genannten meine ich vorzüglich Chalybaͤus), nicht unbemerkt 
geblieben, und fie find daher auf den Gedanken gefommen, eine 
Berbeflerung jened Grundmangels der Hegelfchen Philoſophie, 
unter wefentliher Bewahrung des Begriffs, den biefelbe von dem 
fubftantiellen, etbifchen Proceffe des Geiſteslebens aufftellt, durch 
eine Umgeftaltung der Metaphyſik zur Ethik oder ethikologiſchen 
Theologie zu erreichen. Die Frage nach der Bedeutung des Frei⸗ 
beitöbegriffs, für ben abfoluten eben fo, wie für den endlichen 
Geiſt, iſt dabei unberüdfichtigt geblieben, oder wenigſtens zur Zeit 
noch nicht ausdrüdtich berüdkfichtigt worden. Sch nun glaube eben 
son dem Standpunkte aus, auf den mich im Obigen die Erörte 
rung dieſes Begriffs bingeführt hat, unter nicht minder volfän- 
Diger Bewahrung des Wahren und Tiefen, was ung bie Hegel’ 
fche Geiftesiehre gebracht hat, dafjelbe Ziel, was Jenen vor- 
ſchwebt, noch ficherer erreichen zu können. 

Daß der Proceß des objeetiven Geiſteslebens, in welchen pe 
gel und die ihm folgenden oder dem Einfluß feiner Schule fd 
nicht verfchließenden Philoforhen im Allgemeinen das Weſen der 
Sittlichfeit feßen, als folher, als Proceß, und daß mit ihm zu- 
gleich die in ihn eintretenden oder vielmehr nach ihrer individuel⸗ 
Ien geiftigen Beftimmiheit aus ihm hervorgehenden fubjectiven Per⸗ 
fönlickeiten, als freie betrachtet, oder mit dem Attribute der 
Sreibeit belegt werden, darf ich als befannt voraugfeßen. Der 
Sinn diefer Bezeichnung liegt indefien bier nicht ganz fo offen zu 


4 


Ueber d. Verhaͤltniß d. Metapbyfif zu d. Ethik. 5 


Tage, wie bei andern Lehren, bie fich derfelben bedienen; man 
wird ung daher wohl verflatten, die Frage aufzuwerfen, was 
denn eigentlich damit gemeint fei® Ganz in bemfelben Sinne, in 
welchem Hegel die „abjolute Freiheit” für identifc mit der „abe 
foluten Nothwendigkeit“ erklärt, und in diefer Identität beide zu 
Attributen feiner „abfoluten Idee“ macht, kann er, und können 
die ihm bierin Kolgenden wohl ſchwerlich von dem „vbjectiven,* 
und noch weniger von dem „fubjectiven Geifte” die Freiheit prä⸗ 
dieiren wollen. Denn werm auch immerhin für die Begriffe 
beider, als integrirende Momente des „Syſtemes,“ biefelbe abs 
folute Rothwendigfeit in Anfprud) genommen werben möchte, wie 
für die Idee ale ſolche — (mas doch immer nod in fo fern zweis 
felhaft bleibt, fofern man nicht ganz klar fieht, ob Hegel feinen 
außerlogifchen, natur» und geiftesphilofophifchen Kategorieen die⸗ 
felbe Nothwendigkeit beilegt, wie den logifchen): fo würden Doch 
theils diefe Begriffe hiermit nur in das Verhäliniß ber einzel- 
nen logiſchen Kategorieen eintreten, denen ber genannte Denker 
zwar Nothwendigfeit, aber, wegen ihrer dialektiſchen Abhängige 
feit von andern Kategorieen, nicht, wie der abfoluten Idee, Die 
Nothwendigkeit, die mit der Freiheit iventifch ift, zufchreibt, theils 
würde die Bezeichnung dann eben nur dem Begriffe gelten, 
aber nicht dem zeitlich und räumlich begränzten, organifchen Gei— 
ftesleben felbft, den gefchichtlichen Entwicklungsreihen, weldye un⸗ 
ter den Begriff des „objectiven,” und noch viel weniger den ein- 
zelnen Subjecten oder Individuen, welche unter den Begriff des 
„Tubiestiven” Geiftes fallen. Wir müffen ung alfo nad einer - 
andern Bedeutung des Wortes Kreiheit umfehen, Die, wenn man 
auch eine ausdrüdliche Erklärung darüber bei Hegel vermißt, doch 
ſtillſchweigend vorausgefegt wird. Und hier nun glaube ˖ ich mich 
ber Beiftimmung derer, denen in dieſer Sphäre ein Urtheil zu⸗ 
ſteht, fo ziemlich verfichert halten zu können, wenn ich folgende 
Erklärung darüber gebe. Frei wird der Geift, ſowohl der fub- 
jective der Individuen, als auch der obfective ber Völker, Staas 
ten und bes menjchlichen Gefchlechts, in fo fern genannt, als von 
ihm vorausgefegt wird, daß er in der Weiſe zeitlichen Werbeng, 


32 Weiße, 


zeitlicher Entwickelung ſich in die Geſtalt, welche durch die Idee 
von ihm gefordert oder ihm vorgezeichnet iſt, dergeſtalt hineinbil⸗ 
det, daß er ſelbſt ſich bei dieſer Hineinbildung, die in 
Bezug auf ihn, dieſen beſondern, zeitlich und räum— 
lich beſtimmten Geiſt, auch nicht, oder auch auf ver 
kehrte Weiſe geſchehen könnte, ſein alleiniger Grund 
iſt, und Feiner äußeren Nöthigung folgt. Dieß, ſage 
ich, wird hier vorausgeſetzt, nicht nur vom objectiven, ſondern 
allerdings auch vom fubjectiven Geiſte, wiefern nämlich auch auf 
dieſen das Prädicat der Freiheit angewandt wird. Denn obwohl, 
wie vorhin bemerkt, der fubjective Geift in dieſer Betrachtungs- 
weile als abhängig von dem objectiven, und obwohl gerade in 
diefe Abhängigkeit die „Sittlichfeit” des erfleren gefegt wird: fo 
darf doch, auch nach Hegel, ſolche Abhängigkeit nicht, wie bei 
ben Naturproducten, ald eine äußere Nöthigung genommen wer: 
den. Sie ift vielmehr analog zu verſtehen, wie bei'm objectiven 
Geifte die Abhängigfeit von der „Idee“. Wie bem objectiven 
Geiſte feine Beftimmung ein für allemal durch die „abfolute Idee“, 
fo if dem ſubjectiven die feinige, nicht ein für allemal, fondern 
den einzelnen Individuen nach Maaßgabe ihrer Zeit- und Ort 
verhältniffe, ihrer Naturbeftiimmung, und der jebesmaligen Bil 
dungs⸗ und Entwidlungsftufe des Bolfs und Zeitalters, alfo dee 
„objectiven Geiſtes“ felbft, ihre individuelle, perfönliche Beftimmung 
durch den objertiven Geift angewiefen; aber ob fie nun berfelben 
genügen oder nicht, fo iſt es, in demeinen, wie in dem andern 
Kalle ihre That, eben fo, wie es die eigene That des Bolfd- 
ober Menfchheitgeiftes ift, wenn er der Beftimmung genügt, welde 
durch die „abfolute Idee“ ihm angewiefen iſt. 

‚ &s ift leicht zu ſehen, daß auch bei dieſem Freiheitsbegriffe, 
eben fo wie bei dem ber natürlichen, unbefangenen Vernunft, eine 
Möglichkeit des Gegentheils, des Andersfeind vorausgefegt, und die 
Immanenz folher Möglichkeit als wefentliches Moment ber Frei 
heit angefehen wird. Den einzelnen Kategorieen wird in Hegel's 
Logik, trog ihrer Abfolutheit und abſoluten Nothwendigfeit, Feine 
Freiheit zugefchrieben, denn ihr Sein und Sofein Kängt nieht von 





Ueber d. Verhättnig d. Metaphyſik zu d. Ethik. 33 


Ahnen ſelbſt ab, ſondern von der Idee, in der fie ihre Wahrheit 
haben; dem concreten Geiſte dagegen, fowohl dem der Indivi⸗ 
duen, als dem der Völker und der Menfchheit, wird (Freiheit zu⸗ 
geſchrieben, denn nur ihre fittliche Beichaffenheit überhaupt, oder 
in abstracto, ift durch die Idee geſetzt, nicht aber, daß fie es 
find, an denen oder in denen ſolche Befchaffenheit geſetzt if. — 
Allerdings dürfen wir nicht unbemerkt laffen, daß nicht dieſes Mo- 
ment der Möglichkeit des Nicht = oder Andersfein für fi es tft, 
was man, wenn man ben authentiichen Sinn jener Philoſophie 
vor Augen behält mit biefem Prädicate der Freiheit eigentlich 
gemeint glauben darf. Wäre dieß, wie fönnten wir dann biefen 
Wortgebrauch in Einklang bringen, mit jener. urfpränglichen, mes 
daphyfifchen Bedeutung, nad) weldyer ber „Idee“ Freiheit zuge⸗ 
frieben wird, ausbrüdlich wiefern fie zugleich die. ſchlechthin noth⸗ 
ivendige, und in Bezug auf fie von Feiner Möglichkeit des Nicht 
oder Andersſeins die Rede iſt? Solchen Leichtſinm in dem wiſſen⸗ 
Ihaftlihen Gebrauche eines fo prägnanten Wortes dürfen wir ohne 
Weiteres weder Hegeln, noch feinen Schüleen zutrauenz auch ift 
e8 gar nicht ſchwer, das Band zu finden, welches beide Wortde- 
deutungen unter einander verbindet, oder das Motiv, weldyes bie 
Uebertragung des Wortes yon der einen Sphäre, in der es ge- 
braucht wird, auf Die andere rechtfertigt. — Wir dürfen ung, um 
folches Motiv zu finden, nur an die Bedingung erinnern, von der 
auch das natürlihe Bewußtfein die Möglichkeit der Freiheit als . 
concreter Weſensbeſtimmung abhängig macht. Das natürliche Bes 
wußtfein fchreibt nur vernünftigen, felbfibewußten Weſen Freiheit 
gu, und wenn Hegel im concreten Wortgebrauche diefe Eigenfchaft 
nur geiftigen Weſen beilegt, fo hat bieß feinen guten Grund darin, 
daß nach feiner Auffaffung nur in biefen bie Idee fih als To⸗ 
talität offenbart, oder zum Bewußtfein kommt. Das facti- 
Ihe Borhandenfein des Bewußtfeind, des. Selbft- und Gotteöbes - 
wußtſeins, ſowohl im fubjectiven, als im objectiven Geiſte, — 
denn auch dem objectiven Geiſte, den Völkern, Staaten u. ſ. w. 
ſchreibt Hegel bekanntlich als Gefammtperfönliggkeiten ein Self: 
bewußtfein, und nur in Bezug auf diefes Selbſtbewußtſein, Freie 
Zeltſchrift f. Philoſ. u. ſpek. Theol. XI. Band j 3 


54 Meiße, 


beit zu — {ft in dieſen geiftigen Wefen das Siegel ber dee, wel- 
des fie, nicht zwar von der idealen, wohl aber von der Natur 
nothwendigkeit befreit, indem es ein jebes Wefen, dem es inwohnt, 
eben durch fein Inwohnen ald Totalität in fi), entfprechend ber 
urfprünglichen und abfoluten Totalität, welche die Idee ſelbſt ifl, 
alfo als Ab» oder Ebenbild der Idee barflellt. Die Frei 
heit als Attribut der geiftigen Subjecte, ober der objectiven Sub- 
flanz, welche für dieſe Subjecte das fitliche Lebenselement bildet, 
bat alfo in dieſem Zufammenhange wefentlich dieſelbe und Feine 
andere Bedeutung, wie bie Freiheit als Attribut ber Idee. Sie 
bezeichnet in jenem Falle die relative, wie in dieſem bie abfolute 
Selbſtſtaͤndigkeit des weſentlich aus ſich und durch ſich, nicht aus 
Anderem und in Anderem Seienden. — Daß die Freiheit der 
ereatürlichen Geiſter, ſowohl die ſubjective, als auch bie ihrer 
objectiven, fittlihen Subflanz, mit ber Möglichfeit des Nicht⸗ 
oder Andersſeins deſſen, dem fie inwohnt, verbunden ift, thut ei- 
gentlich nichts zur Sache. Es iſt dieß eben nur eine Folge ber 
Beſchraͤnkung oder Endlichfeit, ber blos relativen Totalität und 
Selbſtſtaͤndigkeit diefer geiftigen Weſen; wären fie, oder wäre 
eines diefer Wefen das Abfolute ſchlechthin, fo würde dieſe Moͤg⸗ 
lichkeit, des Gegentheils wegfallen, wie fie denn bei der „abfoluten 
Idee“ in der That wegfällt. Da es aber in dem Begriffe bed 
eonereten, fubfectiven oder objectiven Geiftes liegt, bie endliche, 
und als foldher nur velative, nicht abſolute, Totalität zu fein: f0 
kann auch diefe „fchlechte” Möglichkeit allerdings als ein notbs 
wendiges Ingrediens, und fomit als ein Zeichen oder Beglaubi- 
gungsmittel ber Freiheit betrachtet werben, denn fie brüdt eben 
fo fehr, wie einerfeits die Nichtabfolutheit, auch anderfeits die 
Unabhängigkeit von jeder Außerlihen Neceffitirung aus. Diele 
aber ift es, worauf es anfommt, wenn der Geift ald freier nicht 
von der Idee als eben fo oder in noch höherm Sinne freier, fon 
dern von den Naturwefen, ald unfrefen oder nur, und nicht ein 
mal im böcften Sinne, nothwendigen, unterfehieben werben fol. 

So, wie bier dargelegt, ſtellt ſich die Betrachtung, went 
wir im Hegel’fchen Spfteme unfern Standpunkt nehmen, Ich habe 


Ueber d. Berhältniß d. Metaphyſik zu d. Ethif. 55 


biefen Standpunkt näher bezeichnet, nicht als wäre er ber meinige, 
fondern weil ich ihn, namentlich mit Hinblid auf einige der vor- 
bin erwähnten Anfichten, für den bequemften Durchgangspunkt 
halte, um zu dem Ziele, nach weldyem ich binarbeite, zu gelans 
gen. Wie nämlich. ſchon vorhin bemerkt, fo glaube ich mic, zus 
nächſt mit denen verfländigen zu müſſen, welche die hegel’fchen 
Borausfegungen über die organifhe Natur der Sittlichfeit und 
ber fittlichen Freiheit im endlichen Geifte im Allgemeinen theilen, 
und, ohne darum in die Art und Weife einzuftimmen, wie Hegel 
ben Begriff des Geiftes durch feine Lehre vom abfoluten Geifte 
wieder auf das abftract Rogifche zurädführt, doch in jenen Vorauss 
fegungen einen Grund finden, ber fie abhält, eine reale, in der 
ausbrädlichen Abtrennung der, beiden Begriffsfphären gewidme⸗ 
ten Disciplinen ſich abfpiegelnde Unterfcheidung des Könnens, 
und des fittlichen Wollens und Handelns in fester Snftanz 
für ausführbar oder mit der fubftantieflen, organifihen Natur des 
Geiſtes vereinbar zu halten, Es wird wohl überflüffig fein, diefe 
darauf hingewiefen zu haben, wie eben das, was ihnen unaus⸗ 
führbar fcheint, bei Hegel, wenn auch zunächft nur in einfeitiger 
Deziehung, in der That fchon ausgeführt if. Dem Geifte, dem 
fubjectiven der Individuen fowohl, wie auch dem objectiven der 
Bölfer und der Menfchheit, iſt nach Hegel in der logiſchen Idee 
fein abftractes Wefen, d. h. die allgemeine Form und Möglichkeit 
feiner concreten, realen Geftaltung gegeben. Solche Geftaltung 
ſelbſt ift fein eigenes Werk, und darin, daß er in Bezug auf fie 
nur auf fich ſelbſt gewiefen ift, nur in fi den Grund ihres Seins 
oder Nichtfeins, ihres So⸗- oder Andersfeins hat, befteht feine 
Sreiheit. Ob diefer Freiheitsbegriff mit den VBorausfegungen des 
natürlichen Bewußtfeins übereinfiimme, werben Manche vielleicht 
besweifeln, aus dem Grunde, weil nach Hegel das Bewußtſein, 
das Selbſtbewußtſein erſt das Refultat der freien Selbftentwirk- 
lung des Geiftes, die Vollendung und der Abfchluß feines vealen, 
ſittlichen Wefens fein Tann, der Ausſpruch des natürlichen Be« 
wußtſeins aber gemeiniglich fo verftanden wird, als fordere dafs 
ſelbe zur Freiheit die Möglichkeit einer auf Grund eines ſchon vor- 
. 5 * 


56 Weiße, 


bandenen, klaren Selbſtbewußtſeins erfolgenden fittlichen Eniſchei⸗ 
dung. Sch halte jedoch folchen Zweifel für ungegründet, denn dieſe 
letztere Forderung würde, folgerecht durchgeführt, auf die fchlechte 
Willkühr oder die äquilibriftiiche Freiheitsvorſtellung hinauslau⸗ 
fen, dem natürlichen Bewußtfein aber ift, wie ſchon oben bemerkt, 
auch ber Begriff einer compacteren, fubftantiells organifchen Natur 
des Sittlichen mit nichten fremd. Darum ftehe ich nicht an, es 
auch ald meine Ueberzeugung auszufprechen, daß in Bezug auf 
den endlichen Geift Hegel, ohne es felbft zu wollen, den ganz 
richtigen, den einzig möglichen Weg eingefchlagen ift, um ben 
Treiheitsbegriff der natürlichen Bernunft mit den Ergebniffen eines 
gebildeten, wiflenfchaftlichen Denkens zu vereinigen. 

Ohne es felbft zu wollen, fage ih. Es erhellt nämlich aus 
bem eben Dargelegten, daß es Hegeln um basjenige Moment, 
welches bie natürliche Vernunft nie aufhören wird, für das eis 
gentlich wejentliche diefes Begriffs zu halten, ganz und gar nicht 
zu thun war. Er hat daſſelbe, nur weil er nicht anders Fonnte, 
mit in Kauf genommen, ohne irgend einen Werth darauf zu les 
gen, und ohne ihm irgend eine Conſequenz für den abfoluten Geil 
und feine freiheit einzuräumen. Er befindet fih im Grunde 
bier in gleichem Falle mit der alten Metaphyſik und Dogmatik, 
welche auch ihrerfeits den Begriff Gottes als des „ſchlechthin noth⸗ 
wendigen Weſens“ auch über die ethiſchen Eigenschaften erfredte, 
und, troß der ihm zugefchriebenen Allmacht, Feine reale Möglid 
feit des Andersfeing oder Anderswollens in Gott zugab. Doch 
aeichnet er fih vor diefer Durch das beutlichere Bewußtfein aus, 
welches er über fein Verhaͤltniß zur Freiheitsvorſtellung der na 
türlihen Bernunft, oder, wie er es anfah, des gemeinen Men 
fehenverftandes hegt. Jener alte Dogmatismus fand gar Fein Arg 
barin, jene Sreiheit, bie er Gott abſprach, nichts deſtoweniger 
in ben Gefchöpfen ald einen Vorzug, als eine Bollfommenheit anzu 
feben, als eine fo hohe Vollkommenheit, dag um ihretwillen Gott 
fogar dem verderblichen Heere bes Böfen und bes Uebels Eingang 
in feine Schöpfung geftattet haben fol *). Dieß vermeidet die 





») Ich weiß wohl, daß die vechtgläubige, auguſtiniſch⸗proteſtantiſche 


Ueber d. Verhaͤltniß d. Metaphyſik zu d. Eihif. 87 


Hegeliche Lehre, indem fie das Pofitive der Freiheit, wie gezeigt, 
im bas Moment der Nothwendigkeit fest. Hinter den Anfprüchen 
der natürlihen Vernunft aber bleiben beide, fowohl jener Dogma⸗ 
tismus, ald auch die Hegel’iche Philofophie in fo fern noch zurück, 
als jene, wie gefagt, das pofitive, fittlihe Moment der Freiheit 
auch in Gott ald verknüpft mit einer realen Macht oder Möglich: 
feit des Entgegengefegten vorzuftellen fi) berechtigt weiß. Nun - 
fielen wir zwar nicht in Abrede, daß ſolches Zurüdbleiben, oder 
das Nichteingehen in dieſe Vorftellung in fo fern mit Recht als 
die Folge einer geläuterten Einficht gelten muß, wiefern die na⸗ 
türliye Bernunft, in ihrer Eigenfchaft oder Aeußerungsweife als 
gemeiner Meenjchenverftand, immer wieder zur fchlecht äquilibris 
fifchen Vorſtellung herabſinkt. Man kann, in Bezug auf biefen 
Aequilibrismus, ben vechtfertigenben Grund oder ben eigentlichen 
Sinn jener Unterſcheidung zwifchen dem göttlichen und dem menſch⸗ 
lichen Geifte in Beziehung auf den Freiheitöbegriff eben in ber 
Wahrnehmung finden, daß der erentürlichen Freiheit, in Folge der 
Unvollfommenbeit, mit welcher in ben menfchlichen Individuen 
vermöge ihrer Endlichfeit das fttliche Princip zum Durchbruch 





Theologie diefer Tadel in fo fern nicht trifft, als fie dem menſche 
lihen Geift nach dem Sündenfalle die Freiheit abſpricht. Aber 
theils iſt nicht fie es, die ich hier meine, fondern bie erft aug 
ihrem Verderb hervorgegangene fupernasurafiftifche und rationgs 
liſtiſche Dogmatik, theild Bann doch auch — nicht ſowohl jene 
Theologie felbft als Theologie, ald vielmehr die auch von ihr ale 
formale Werkzeug gebrauchte phitofophifche Theorie, zu der Eon» 
feguenz fortgetrieben werden, daß die Freiheit, welche Gott den 
Engeln und (nach der vorherrfchenden,, infralapfarifhen Ansicht ) 
dem Adam anerfchuf, als eine Vollkommenheit voransgefeht wird, 
deren doch Gott feibft entbehrt haben fol. — Schärfer Dentende 
haben freilich zu allen Zeiten, wie Hegel in der neneften, die 
Auſicht ausgefprochen, daß die Freiheit, die in der Möglichfeit 
des Andersfeind oder des Böfen befteht, nicht als eine Voll: 
Fommenheit, fondern als ein Mangel, als ein im Begriffe des 
ereatürlihen Dafeins mit metaphpfifcher Nothwendigkeit Iiegen- 
der Mangel zu betrachten fei. 


38 | Weiße, 

oder zur Obherrſchaft über das natürliche gelangt, immer etwas 
son Aquilibriftifcher Wilführ anhängt, was in Gott unftreitig ala 
gänzlich wegfalfend zu denken iſt. Aber auch fo bleibt Doch noch 
immer die Trage unbeantwortet: ob nicht, bei gänzlicher Beſeiti⸗ 
gung der äquilibriftiichen Vorftellungsmweife, bei Zurüddrängung 
berjelben in die Sphäre, aus welcher fie ihren Urfprung hat (dieß 
aber ift die Sphäre der Außerlichen, oberflächlihen Erfheinung 
ber creatürlihen Freiheit), jener Borausfegung der natürlichen 
Bernunft auch in Bezug auf die Gottheit ein richtiger, wiſſen⸗ 
fhaftlih haltbarer Sinn abgewonnen werben könne? Sie bleibt 
unbeantwortet, oder vielmehr, es ift hiermit ſchon auf die Mög- 
lichkeit, ja auf die Wahrheit und Nothwendigfeit einer den bisher 
für wiflenfhaftlih geltenden Anfichten entgegenlaufenden Antwort 
hingedeutet. 

Das Paradore, was diefe Anfichten in dem bloßen Gedan⸗ 
fen einer folhen Antwort ohne Zweifel finden werden, hebt oder 
mildert fih, fobald man ſich nur recht entfchieden in der Einſicht 
feftfegt, daß auch bei der ereatürlichen Freiheit Die Entfeheibung, . 
in welche man allgemein, wenigftend vom Standpunfte des na= 
türlihen Bewußtfeind aus, das Weſen der fittlichen Freiheit feßt, 
nit in das unmittelbare Selbftbemußtfein des Subjects, in wel⸗ 
chem die Entfcheidung erfolgt, fondern hinter diefes Selbfibes 
wußtfein fällt. Diefe Einfiht, fo ganz unabweislich fie durch den 
Begriff der organifch - fubftantiellen Natur des Sittlidhen gefordert 
wird, ſcheint den Meeiften noch immer fehr fchwer anzugehen. Im⸗ 
mer aufs Neue ſehen wir, auch bei ernften und philofophifch ge⸗ 
bildeten Forfchern, die, durch jenen Begriff fo entichieden abge⸗ 
wiefene, Borftellung wiederfehren, als ob in den Wefen, benen 
vermöge ihrer geiftigen Natur die Entfcheidung für Gut oder Bös 
anbheimgegeben ift, ſolche Entſcheidung in Form eines ſelbſtbewuß⸗ 
ten Wahlactes, unter ausdrüdlicher Präfenz der Gegenflände, 
zwifchen denen man fi zu entfcheiden hat, im Bewußtſein er⸗ 
folgen müffe *). Es hilft aber nichts; ift es in der That Ernft 


tem — — 





*) Ich nenne in dieſer Beziehung nur. das bekannte, mit Recht ge⸗ 
ſchätzte Werk von Julius Müller: Die chriftliche Lehre von 


Veber d. Berhältuiß d. Metaphyſik zu d. Ethik. 59 


mit ben gewonnenen hohern Ideen über die Natur des Sittlichen, 
und will man auf bie Srüchte der Einficht, die aus diefen Ideen 
bereits erwachfen oder für die Zufunft in Ausficht geſtellt find, 
nicht ein für allemal verzichten: fo wird man fich in jene Folge⸗ 
rung ergeben, und auch ben legten Reſt der aͤquilibriſtiſchen Bor 
ſtellung, — denn ein folder Reſt, und nichts Anderes ift Die bier 
befämpfte Anfiht — fahren zu laffen fich entfchließen müflen. — 
Nicht, als gedächte ich die Wahrheit fittlicher Kämpfe im ſelbſt⸗ 
bewußten Menfchengeifte zu Iäugnen, die Realität fittlicher Ent⸗ 
fheidungen, die, in dem fchon feiner felbft bewußten Geifte er- 
folgend, doch von eben fo tief ein⸗, wie weit ausgreifender or⸗ 
ganifcher Wirkung auf fein gefammtes moralifhes Dafein find, 
Aber wer je in die Natur biefer Kämpfe, dieſer Entfcheidungen 
einen tieferen Blick gethan, der wirb mir zugeſtehen, baß, je 
ernſter und ſchwerer ein folcher Kampf, und je folgenreicher feine 
endliche Entfcheidung ift, um fo weniger, auf welche Seite auch 
bie Entfcheidung falle, das Gute und das Böfe, als Object der 
Wahl, von vorn herein ausprüdlich nach dieſer feiner fitt 
lihen Qualität dem Bewußifein in Elarer Einſicht gegenwär⸗ 
tig if. Es iſt vielmehr das Eigenthümliche folcher Entfcheidungen, 
daß, wenn fie zum Guten erfolgen, eine Aufklärung bes Bewußt⸗ 
feing über die Natur fowohl des gewählten Guten, als auch des 
verworfenen Böſen, wenn zum Böfen, eine weitere Verdunkelung 
bes ſchon zuvor keineswegs Über die Beichaffenheit feines Gegen- 
ſtandds volllommen Haren Bewußtſeins, die nothwendige Folge 
iſt. Es giebt ſchlechterdings Feine Entſcheidung für ein als Bö—⸗ 
ſes klar erkanntes Böſe und gegen ein als Gutes klar erkanntes 
Gute. Der Dichter *), wenn er der Medea die bekannten Worte 
in Mund legt: 
| — video meliora proboque, 
Deteriora sequor — 


irrt entweber felbft über die pſychologiſchen Zuftände eines ſolchen 





der Sünde, beffen Grundmangel nad philofophifcher Seite der 
wicht vermiedene Rückfall in diefe Vorftelungsweife if. 
*) Ovid. Metamorph. VII, v. 20. 


40 | Weiße, 


Gemüths, und läßt aus feinem Bewußtfein heraus feine Helbir 
ſprechen, ober er. will und den Zuftand einer Seele ſchildern, wel- 
cher die fitiliche Forderung zwar in unbeflimmter Ahndung ober 
Erinnerung vorſchwebt, aber, durch ben. Wogenfchlag der Leiden⸗ 
ſchaft getrübt, nicht die Klarheit gewinnen fan, die, wenn fie 
vorhanden wäre, Gemüth und Willen unfehlbar mit der Forderung 
in Einklang ſetzen würde. Kurz: es kann als eines ber ficherfien 
Ariome der Ethik gelten, daß allenthaiben die Klarheit des fitt- 
lichen Bewußtfeing den unträglichen Maßſtab abgiebt für die 
Entfchiedenheit des fittlichen Willens, und daß Fein Widerfprud 
bed Willens gegen dad Bewußtfein möglich if, der nicht zugleich 
ein Widerfpruc des Bewußtſeins gegen ſich ſelbſt oder eine im 
nete Trübung und Zerriſſenheit des fittlichen Bewußtfeins wäre *). 
— Wenn aber dem fo if, wenn zur Ratur der fittlichen Ent 
fheidung nicht nur nicht gehört, daß fie ein mit klarem Bewußt⸗ 
fein über die Natur und Befchaffenheit der Gegenfäte, zwifchen 
denen die Entfcheidung getroffen werben foll, verbundener Wahls 
aet fei, fondern wenn biefe ihre Natur ſolches Klare Bewußrfein 
fogar ausdrücklich ausſchließt: was folgt daraus für den allge- 
meinen Begriff diefer Entfcheidung und ihr Verhaͤltniß zum Selbſt⸗ 

bemwußtfein, zur Perfönlichfeit des Geiftes überhaupt? Nichts Ans 


*, Diefe Einſicht in die Natur des fittlichen Bewußtſeins Liegt auch 
dem theologifchen Satze zum Grunde, den, dem ſcholaſtiſchen 
Aequilibrismus, der eug mit dem Pelagianismns zufammenping, 
gegenüber, Luther Überall mit fo großem Nachdruck ausgeſpro⸗ 

chen und eingefchärft hat: daß jeder der Erlöfung durch Chriſtum 
wirklich Theithaftige auch diefer feiner Erlöfung vollfommen 
im Stauden gewiß fein müffe und an ihr gar nicht zweifeln dürfe. 
Die Zuverfiht im Glauben — dieß aber ift eben die Klar 
heit des fittlichen Selbſtbewußtſeins — wird nämlich hier ald das 
Refultat der wirklich erfolgten Erföfung, d. h. Entfcheidung für 
das Gute, bezeichnet, während die gegnerifche Anſicht dem Er: 
öfungsglanben, d. h. dem fittlichen Bewußtfein einen abſtracten 
Juhalt gab, und das Bewußtfein über das reale Verhältniß des 
Individuums zu diefem Inhalt ſich indifferent dazu verhalten lieh. 








Ueber d. Berhältnig d. Metaphyſik zu d. Ethik. 44 


deres, meine ich, als daß für fie das Selbſtbewußiſein, das Vers 
nunftbewußtſein nur als Potenz, nicht als Actus eine Voraus⸗ 
ſetzung bildet; daß ſie, weit entfernt, nur in einem ſeiner ſelbſt 
und ſeiner Gegenſtaͤndlichkeit durchaus bewußten Geiſte erfolgen 
zu koͤnnen, vielmehr umgekehrt für die Integrität und Vollſtän⸗ 
digfeit dieſes Bewußtfeins eine Vorausfeßung iftz endlich daß, 
wen auch die Natur des creatürlichen Geiſtes ed mit ſich bringt, 
daß in der Mehrzahl der Individuen bie Entfheidung nicht mit 
Einem Male volftändig, fondern nach und nad), und theilweife erft 
nach erfolgter Feftftellung. des Selbſt⸗ und Weltbewußifeing ſtatt 
findet, doch in der Idee als folcher nichts entgegenfteht, daß nicht 
- in einem von den Bedingungen der Enblichfeit entbundenen Geifte 
biefelbe auch als mit Einem Male, vielleicht von Ewigfeit ber, 
vollſtändig und unwieberruflich erfolgt gebacht werbe, 

Dieß nämlich if, wie man weiß, ber Anfloß, den an der 
Neigung der natürlihen Vernunft, den Begriff der Zreiheit, 
welche in der realen Möglichkeit des Andern oder Entgegengefeß- 
ten befteht, auf die Gottheit überzutragen, ein fchärferes wiſſen⸗ 
ſchaftliches Denken allerdings rechtmäßiger Weife nehmen fann, 
und bisher noch faft immer genommen hat, — Daß in Gott nicht 
nur Fein fittlicher Kampf und Zweifel irgend welcher Art, fondern 
auch Feine Willführ, Fein das Sittliche betreffender ausdrüdlicher 
Wahlact ftatt finden Fannz daß, fobald auch nur vorübergehend 
etwas der Art in Gott geſetzt wird, Gott damit aufhört, der abs 
folnte Geift zu fein und in die Bedingungen der Endlichkeit her⸗ 
abgezogen wird: dieß ift eine allgemeine und rechtmäßige Bor- 
ausfegung wenigftend bes philofophifchen Theismus, die auch ich, 
obgleich ich fie im gegenwärtigen Zufammenhange nicht ausdrück⸗ 
lich zu rechtfertigen ober zu erweifen unternehmen kann, doch kei⸗ 
neswegs zu verläugnen oder aufzugeben gefonnen bin. Haben ja 
doch ſelbſt Syſteme, welche man des Pantheismus zu befchuldigen 
pflegt, wie das Hegel'ſche, ſolche Vorausſetzung keineswegs aufs 
gegeben. Obgleich es ſolchen Syflemen vielleicht näher zu liegen 
Ihien, Gott, als den Weltgeift, der-fih nur allmählig im Laufe 
der Zeit zur Höhe des abfoluten fittlichen und inteflectuellen Selbſt⸗ 


42 Weiße, 


bewußtſeins heraufarbeite, auch den Kämpfen und Schwankungen, 
unter benen ſich Diefes Bewußtfein im großen Gange der Welt 
geichichte herausgeſtaltet, unterworfen zu befennen, fo haben fie 
ed doch vorgezogen, den Namen Gottes. nur in fo fern auszu⸗ 
fprechen, als fie damit das allen biefen Schwankungen und Käms- 
pfen entuommene, in ewiger Rube fich gleichbleibende Wefen der 
„abfoluten dee” zu bezeichnen fich verftattet halten durften. Auch 
Hegel, troß feiner in Bezug auf den endlichen Geiſt gefchärften 
Einfiht in die Bedingungen ber ihm zufommenden fittlichen Freis 
heit, kennt nämlich in Bezug auf den abfoluten Geift, eben fo, 
wie der alte Dogmatismus, im Allgemeinen nur die Alternative, 
ihm entweder nur, zwar nicht bie fchlechte Freiheit bes Aequilis 
briums, aber doch, was in feinem Zufammenhange an deren Stelle 
tritt, bie Allmähligkeit einer Entwicklung zum fittlihen Selbfibes 
wußtfein und zue Realität des Sittlichen, ober aber eine mit ber 
Nothwendigkeit ſchlechthin zufammenfallende Freiheit zugufchreiben. 
Er enticheidet fich für das Lestere, und bieß follte ihn, wie id 
ſchon anderwärts bemerkt habe, billiger Weife von der Beſchul⸗ 
Digung des Pantheisſsmus freifprechen. Diefe kann mit Recht nur 
gegen biejenigen feiner Schüler. erhoben werben, welche ſich auf 
jener abitratten Höhe des metaphyfiihen Denkens nicht zu erhal 
ten wiffen, und den Namen Gottes, den Hegel, wiefern er fi 
überhaupt feiner bedient, ausichließlich Der „abfoluten Idee“ vor 
behält, auf den „Weltgeift“ übertragen. Wenn freilich aud in 
der Starrheit der abfoluten logiſchen Idee das religiöfe Gefühl 
und die an dieſes Gefühl gerichtete Lehre des Chriſtenthums ihren 
lebendigen, perfönlihen Gott nicht wieberzuerfennen ver⸗ 
mag: fo trifft doch felbft dieſer Vorwurf Hegel nur in fo fern, 
als er demjenigen, was an fi auch fchon in der alten dogma⸗ 
tiihen Lehre lag, einen wiſſenſchaftlich gereinigten, folgerechten 
Ausdrud gegeben hat. Er teifft alfo nicht ihn allein, fondern mit 
ihm zugleich alle die Lehren, welche die göttliche Freiheit mit der 
Nothwendigfeit in Gott in Eins zufammenwerfen. 

Wer den Begriff der Perfönlichfeit, oder, was ich ald 
gleichbedeutend betrachte, der freien, felbftbewußt wollenden Gel 





Leber d. Verhältnig d. Metapppfik zu d. Eibi: 45 


Bigfeit bis in feine letzten metaphyſiſchen Elemente verfolgt, ber 
kann nicht im Zweifel darüber bleiben, daß er auch in feiner alls 
gemeinften Bedeutung, alfo auch in Der Geflalt, in welcher er, 
ber Forderung bes religiöfen Bewußtfeins zufolge, auf bie Gott⸗ 
heit übertragen werden foll, auf einem entfprechenden Gegenfate 
der Principien beruht, wie jener, ben wir oben, in Anſchluß an 
die Hegel'ſche Darftellung, an dem creatürlichen Geifte nachwie⸗ 
fen. Der creatürliche Geift ift nur in-fo fern der perſoͤnliche, ald 
er dad durch eine Nothiwendigfeit, bie für ihn allerdings ein Hö⸗ 
heres ift, als er felbft, ihm vorgezeichnete Schema des Sting 
durch freied Handeln ausfüllt, und aus dem ihm inwohnenden 
Wefensgrunde heraus, der als folcher nur eine Möglichkeit, nicht 
eine Wirklichkeit Des Dafeins ausdrückt, welches den Geift zum 
Beifte macht, fowohl fich, als ſelbſtbewußten und wolenden über- 
haupt, ald auch, zugleich damit, einen beitimmten, füttlichen In⸗ 
halt feines Serbfibewußtfeins und Wollens ſetzt. Daß gr in dies 
fer felbftfchöpferiichen Thätigfeit, auch nachdem biefelbe bereits bes 
gönnen, und in der Richtung begonnen bat, in welcher das Ziel 
liegt, das er erreichen fol, der Möglichkeit des Mißlingens aus⸗ 
geſetzt iſt; Daß er fich durch innere Kämpfe und Widerfprüce bins 
burcharbeiten muß, welche in einzelnen Momenten auch die Noth⸗ 
wendigfeit eigentliher Wahlacte, d. h. ausbrüdlicher, mehr ober 
weniger mit Bewußtfein, obgleich, fo lange das Zünglein in ber 
Wage noch ſchwankt, nie mit dem vollen Bewußtfein über bie 
ſitlliche Befchaffenheit des feiner Wahl vorliegenden Inhalte, bes 
gleiteter Entfcheidungen mit fich führen: dieß ohne Zweifel ift auf 
Rechnung feiner Endlichfeit zu fegen, und bei dem abfoluten Geifte, 
bei der abfoluten Perfönlichkeit, als wegfallend zu denken. Aber 
fällt mit diefen Wirkungen der Endlichfeit nothwendig auch der 
Gegenfag felbft hinweg, in welchem dort das freie Sichwiſſen und 
Sichwollen des Geiftes zu jener Nothwendigkeit feiner Natur flieht, 
die eben erſt als eine gewußte und gewollte für ihn zu einer da⸗ 
feienden, zu einer wirflihen wid? — Wie es feheint, als 
lerdings, da ja für den enblichen Geil eben der abfolute Geiſt 

ſolche Nothwendigkeit ift, diefer ſelbſt aber nicht nochmals eine 


43 Weiße, 


bewußtſeins heraufarbeite, auch den Kämpfen und Schwankungen, 
unter denen fich dieſes Bewußtfein im großen Gange der Welt 
geichichte herausgeftaltet, unterworfen zu befennen, fo haben fie 
es doc vorgezogen, den Namen Gottes. nur in fo fern auszu⸗ 
fprechen, ald fie damit das allen biefen Schwankungen und Käm⸗ 
pfen entnuommene, in ewiger Ruhe ſich gleichbleibende Wefen der 
„abfoluten Idee“ zu bezeichnen fich verftattet halten durften. Auch 
Hegel, troß feiner in Bezug auf ben endlichen Geift gefchärften 
Einfiht in die Bedingungen ber ihm zukommenden fittlichen reis 
heit, kennt nämlich in Bezug auf den abfoluten Geift, eben fo, 
wie ber alte Dogmatismud, im Allgemeinen nur die Alternative, 
ihm entweder nur, zwar nicht die fchlechte Freiheit des Aequilis 
briums, aber doch, was in feinem Zufammenhange an deren Stelle 
tritt, die Allmähligfeit einer Entwicklung zum fittlichen Selbfibes 
wußtfein und zur Realität des Sittlihen, oder aber eine mit der 
Nothwendigkeit ſchlechthin zufammenfallende Freiheit zugufchreiben. 
Er entfcheibet fich für das Tegtere, und bieß follte ihn, wie id 
fhon anderwärts bemerkt Habe, billiger Weile von der Beſchul⸗ 
Digung des Pantheismus freiſprechen. Diefe kann mit Recht nur 
gegen diejenigen feiner Schüler. erhoben werben, welche ſich auf 
jener abſtracten Höhe des metaphyſiſchen Denkens nicht zu erhals 
ten wiflen, und den Namen Gottes, den Hegel, wiefern er fih 
überhaupt feiner bedient, ausfchließlich der „abjoluten Idee“ vor 
behält, auf den „Weltgeiſt“ übertragen. Wenn freilich aud in 
der Starrheit der abfoluten logiſchen Idee das religiöfe Gefühl 
und die an biefes Gefühl gerichtete Lehre des Chriſtenthums ihren 
lebendigen, perfönlihen Gott nicht wieberzuerfennen ver: 
mag: fo trifft Doch ſelbſt diefer Vorwurf Hegel nur in fo fern, 
als er demjenigen, was an ſich auch fchon in der alten bogma 
tifchen Lehre lag, einen wiflenfchaftlich geveinigten, folgerechten 
Ausdrud gegeben hat. Er trifft alfo nicht ihn allein, fondern mit 
ihm zugleich alle die Lehren, welche die göstliche Freiheit mit der 
Nothwendigkeit in Gott in Eins zufammenwerfen. 

Wer den Begriff der Perfönlichfeit, oder, was ich ald 
gleichbedeutend betrachte, der freien, felbftbewußt wollenden Geis 


Leber d. Verhaͤlmiß d. Meiaphyſik zu d. Ei? 43 


Bigfeit bis in feine legten metaphyſiſchen Elemente verfolgt, ber 
fann nicht im Zweifel Darüber bleiben, daß er auch in feiner all⸗ 
gemeinften Bedeutung, alfo au in der Geftalt, in welcher er, 
ber Forderung bes religiöfen Bewußtfeind zufolge, auf bie Gott⸗ 
heit übertragen werden foll, auf einem entfprechenden Gegenſatze 
der Principien beruht, wie jener, den wir oben, in Anfchluß au 
die Hegel’fche Darftellung, an dem creatürlichen Geifte nachwie⸗ 
fen. Der creatürlihe Geift ift nur in-fo fern der perfönliche, als 
er dad durch eine Nothwendigkeit, bie für ihn allerdings ein Hö⸗ 
heres ift, als er felbft, ihm vorgezeichnete Schema des Seins 
durch freied Handeln ausfüllt, und aus dem ihm inwohnenden 
Wefensgrunde heraus, der als folher nur eine Möglichkeit, nicht 
eine Wirktichfeit Des Dafeins ausprüdt, welches den Geiſt zum 
Geiſte macht, fowohl fich, als felbfibewußten und wollenden über» 
haupt, als auch, zugleich damit, einen beftimmten, fittlichen In⸗ 
halt feines Selbſtbewußtſeins und Wollens ſetzt. Daß gr in Lies 
fer ſelbſtſchöpferiſchen Thaͤtigkeit, auch nachdem biefelbe bereits bes 
gönnen, und in Der Richtung begonnen hat, in welcher das Ziel 
liegt, das er erreichen fol, dev Möglichkeit des Mißlingens aus⸗ 
geſetzt iſt; daß er fich durch innere Kämpfe und Widerfprüche hin⸗ 
durcharbeiten muß, welche in einzelnen Momenten auch die Noth⸗ 
wenbigfeit eigentliher Wahlacte, d. h. ausbrüdlicher, mehr oder 
weniger mit Bewußtfein, obgleich, fo lange das Zünglein in der 
Wage noch ſchwankt, nie mit dem vollen Bewußtfein über bie 
fütlihe Befchaffenheit des feiner Wahl vorliegenden Inhalte, bes 
gleiteter Entſcheidungen mit fich führen: dieß ohne Zweifel if auf 
Rechnung feiner Endlichfeit zu fegen, und bei dem abfoluten Geifte, 
bei der abfoluten Perfönlichkeit, als wegfallend zu denken. Aber 
fällt mit dieſen Wirkungen der Endlichfeit nothwendig auch der 
Gegenfag felbft hinweg, in welchem dort das freie Sichwiffen und 
Sihwollen des Geiftes zu jener Nothwendigkeit feiner Natur flebt, 
die eben erfi ald eine gewußte und gewollte für ihn zu einer da⸗ 
feienden, zu einer wirklichen wird? — Wie es ſcheint, als 
lerdings, da ja für den endlichen Geift eben ber, abfolute Geiſt 
ſolche Nothwendigkeit ift, diefer ſelbſt aber nicht nochmals eine 


44 B Weiße, 

entſprechende Noihwendigkeit außer ſich haben kann, ohne da⸗ 
mit aufzuhören, der abſolute zu fein. Allein auch für den end 
lichen Geift darf ja doch, wie man zugeben wird, Das Moment 
der Nothwenbigfeit keineswegs blos als ein Außerliches betrad- 
tet werben. Was jenfeits des endlichen Geiftes in dem abfoluten 
ein ewig Dafeiendes, ewig Wirkliches iſt, das muß fih, um in 
Form bes endlichen Geiftes noch einmal realiſirt werben zu für 
nen, feiner felbft entäußerns; es muß fih zur Potenz, zur Dyna⸗ 
mis eines Seins herabfeten, welches, als Actus, als Enteledie 
geſetzt, eben nichts Anderes, als der endliche, der .creatürliche Geil 
ſelbſt if. Der Actus aber hat feine Potenz, die Entelechie ihre 
Dynamis nicht außer ſich, fondern in ſich; auch für den endlichen 
Geift alfo wird ber Begriff des abfoluten Geiſtes, wiefern er, 
als Begriff, die Dynamis ift, die in ihm, dem endlichen, zu 
Entelechie werben fol, nicht ein Außerlicher,, fondern ein ihm ins 
wohnender Gegenfaß fein. Und in diefem Sinne nun wieder 
holen wir die Frage, ob Etwas vorhanden if, was uns verhiw 


bern Fönnte, wenn doch eine anderweite Nothwendigfeit der Bo 


griffsentwiclung uns dazu hindrängt, dieſen Gegenfag, den ir 
neren, immanenten, von Dynamis und Enteledhie, wie wir im 
am endlichen Geifte Fennen gelernt, auch auf den abfoluten über 
zutragen? Berfteht ſich, dergeftalt, daß hier, wie es der Begrif 
des Abfoluten unftreitig mit ſich bringt, die Entelechie als ihre 
Dynamis vollfommen adäquat, und der Segenfaß zwifchen beiben 
als wegfallend zu denfen ift, der im endlichen Geifte fich ohne 
Zweifel wohl eben darauf wird zurüdführen laffen, daß ihm feine 
Dynamis zugleih, als Entelechie eines Anderen, männlich eben 
des Abfoluten, äuß erlich iſt. 

Ich weiß wohl, wie ſehr ich mit dieſen Gedanken gegen die 
alte, aus der ariſtoteliſchen Schule ſtammende Forderung, die 


Gottheit als reine Entelechie, als actus purus zu denken, a 


ſtoße. Aber eben dieſe Forderung ſelbſt iſt es, gegen die ich mit 
vollem Bewußtſein ankämpfe, da fie mit der unſtreitig höheren, 
unftreitig berechtigteren Forderung, Gott als lebendig, als per⸗ 
ſönlich zu denfen, in einem ſchlechthin unauflöslichen Widerſpruch 


Ueber d. Verhaͤltniß d. Metaphyſik zur d. Ethik. 45 


ſteht. Wie man fich auch anftelle: ohne den Gegenfag von Mög⸗ 
lichkeit und Wirklichkeit, von Dynamis und Enteledie läßt fich 
zwar bas Wort Teben, das Wort Perfönlichfeit ausfprechen, 
aber etwas Klares bei diefen Worten benfen läßt fich nicht ohne 
ihn. — Ich braude über das Allgemeine biefes Punktes nicht 
weitläuftiger zu fein, da ich mich vielfach darüber in meinen ſon⸗ 
fligen Schriften verbreitet habe, und bie Sache jest allmählig doch 
ben Mitphilofophirenden, auch denen, bie fich noch nicht ganz von 
den Borurtheilen der alten Schule Iosgemacht haben, näher tritt. 
Deffer wird es fein, gleich bier einzulenfen, und mich deutlicher 
über den Zufammenhang zu erflären, in welchem mir ber Gegen- 
fat diefer Begriffe in ihrer Anwendung auf den Geift, den abs 
foluten oder göttlichen nicht minder, wie den endlichen ober crea⸗ 
türlihen, mit der hier verbandelten Trage über dag Verhältniß 
der Metaphyſik und der Ethik ſteht. — Es fann nämlich Teicht 
feinen, als fei gerade die Herbeiziehung biefes Gegenfahes der 
Trennung beider Disciplinen nichts weniger ald günftig, als folge 
vielmehr aus ihm, wenn man feine Gültigkeit für ben Geift über- 
haupt anerkennt, die Nothwenbigfeit ihrer Vereinigung. Denn 
wenn im Obigen, wie feinem aufmerffamen Leſer, auch wenn ihm 
meine übrigen Schriften nicht befannt fein follten, entgangen fein 
wird, meine Tendenz dahin ging, für die Metaphyſik als ihren 
Inhalt eben jenes Potentiale, jenen Begriff einer von der 
Wirklichkeit des Geiftes unterfchiedenen, Möglichkeit oder Dy⸗ 
namis feines Dafeins, in deſſen Immanenz ich feine Freiheit 
fege, in Anfpruch zu nehmen: fo wird, nad ber gewöhnlichen 
Auffaffungsweife, gerade das Ethiſche, weit entfernt, hiezu einen 
Gegenfaß zu bilden, vielmehr vorzugsweife eben in dieſe Kate- 
gorie zu fallen feheinen. Wer das Ethiſche, wie es gemeinhin 
vorgeftellt wird, zunächft in Geftalt eines dem Geifte vorgezeich⸗ 
neten Geſetzes oder einer an ben Geift ergebenden Forderung 
vorftellt: der wird eben hierin eine ſolche dem Geifte vorliegende 
und zu ihm als fein Prius, als die Dynamis feines fo befchaffenen 
Daſeins fid, verhaltende Nothwenbdigfeit zu erfennen glauben, wie 
die von uns als Bedingung ber Freiheit bes. Geiſtes poſtulirte. 


4 


46 Weiße, 


Auch hat er damit, fo viel den creatürlichen Geift betrifft, gar 
nicht Unrecht. Dem creatürlichen Geiſte iſt durch den abfoluten 
Geift, zugleich mit dem allgemeinen Begriffe feines Dafeins als 
Geiſtes, als ſelbſtbewußten, ſelbſtbewußt wollenden und handeln⸗ 
den, auch die beſondere, den Begriff des objectiven oder fittlichen 
Geiſtes bedingende Beſchaffenheit ſeines Wollens und Handelns 
vorgezeichnet. Beides ſteht ihm als eine objective Forderung ge⸗ 
genüber, die er, in dem realen Proceſſe ſeines Werdens oder ſei⸗ 
ner Selbſtſetzung, zu erfüllen hat, wiewohl fie auch unabhängig 
son ihm, von Ewigfeit ber erfüllt if. Nicht fr aber verhält es 
fih in diefer Hinficht mit dem abfoluten Geifte, auch unter Vor⸗ 
ansfeßung der Anwendung, die auch auf ihn von dem Gegenfate 
von Dynamis und Enteledhie im Allgemeinen zu machen if. Die 
deutliche Einficht in dieſen Unterſchied ift, fo viel ich fehe, das 
entfcheidende Moment in der Frage, die uns bier befchäftigt hat. 
Es hat allerdings Philofophen gegeben, die, unter ausbrüd: 
licher Anerfenntniß eines folhen Prius nicht nur für ben Geift 
überhaupt, fondern insbefondere auch für den göttlichen, wie das⸗ 
jenige tft, woburd wir hier Die Kreiheit dieſes Geifles als be- 
dingt erfannten, — den Begriff des fittlih Guten und was zu 
ihm gebört, kurz die Principien der Ethik, zu diefem Prius zu 
fchlagen Fein Bebenfen fanden. So unter Andern Leibnitz, bei 
welchem befanntlich diefe Principien unter den Veritatibus aeter- 
nis oder necessarüis ihren Platz finden, die von ihm als der fchlecht« 
hin gegebene Inhalt des göttlihen Denkens, unabhängig von 
allen Beftimmungen des göttlihen Willens, der ohne fie feinen 
Inhalt, feinen Gegenftand haben würde, bezeichnet werben. Auch 
Kant, fo wenig er in anderer Beziehung fein theoretifches Prius 
mit dem praktiſchen unter einerlei Gefichtspunft ſtellt, laͤßt doch 
auch die praftifchen Princtpien, der empirifchen Realität des Geis 
fted gegenüber, eben ale ein Prius gelten. Wird auch dieſe Bee 
ftimmung von ihm nicht ausdrücklich auf den göttlichen Geift bes 
zogen, auf deſſen Entwicklung er aus befannten Gründen über 
haupt nicht näher eingeht, To Fönnen wir doch nicht verfennen, 
daß ſie ˖ folgerechter Weife nach feinen Prämiffen allerdings auch 


Ueber d. Verhälmiß d. Metaphyſik zu d. Ethik. 47 


auf ihn zu beziehen if. Was jene Männer zu dieſer Stellung 
der Begriffe beftimmt hat, ift lelcht zu entdecken. Es ift der ſchon 
erwähnte Umftand, daß zu dem creatürlichen Geifte fich beibe 
Glaffen von Begriffen, diejenigen, welche die metaphufiiche, und 
diejenigen, welche die moralifche Rothwendigfeit feiner Daſeins⸗ 
und Hanblungsweile bezeichnen, in ber That ale em Prius ver⸗ 
halten. Wir find in Bezug auf den creatürlichen Geiſt gewohnt, 
das Moment feines fittlichen Werthes in die Angemeffenheit zu 
einem Gefebe oder einem Inbegriffe von Geſetzen zu ſetzen; wie 
‚ nahe liegt die Berfuchung, eine ähnliche Betrachtungsweife auch 
über den göttlichen Geift, fofern auf dieſen die fittliche oder eine 
der fittlichen analoge Schägung übertragen werben foll, zu er⸗ 
freden; zumal da ja auch bei'm cereatürlichen Geifte Das Geſetz 
nicht ſchlechthin nur als ein von Außen an ihn gebrachtes vorges 
ftelle wird? Auch wird man mir vielleicht erwiedern, baß, wenn 
ih oben das Recht der natürlichen Vernunft in ber Anwendung 
ihres Freiheitsbegriffs auch auf die Gottheit gelten machte, ich 
eben darin eine nothwendige Confequenz folder Anwendung er⸗ 
bliden müffe, daß Gott in feinem Wollen und Schaffen als bes 
folgend und in's Werk fegend Das in feiner Natur, in dem Prius 
feines Wollens, begründete Geſetz des Guten vorgeftellt werbe. 
— Ich gebe zu, daß diefe Vorftellung der natürlichen Vernunft 
nahe liegt, aber ich Täugne, daß fie für fie eine nothwendige, . 
unverbrüchlich feſtzuhaltende if. Sch läugne es, indem id von 
der fpeculativen Vernunft behaupte, daß fie nothwendig biefe 
Borftellung aufgeben, nothwenbig ihr, fofern fie fie in wiſſenſchaft⸗ 
lihen oder unwiſſenſchaftlichen Denkweifen antrifft, entgegenwir⸗ 
Ten muß. 

Hier nämlich, bier if} der Ort, wo es einer fpeculativen 
Pänterung und Durcarbeitung von Begriffen, bie in ben bishe⸗ 
tigen Syſtemen durchgängig noch ſehr ſchwankend und unficher 
schalten find, bedarf, wenn der Freibeitsbegriff des natürlichen 
Bewußtſeins nicht zulegt doch den Angriffen bes Determinismus 
erfiegen fol. Daß in Bezug auf bie Gottheit, wenn wir aud 
in ihr bag Sitiengeſetz, ober, dafern man hier biefen Namen un. 


Bo. Weiße, 


paſſend finden follte, die „dee des Guten” als ein Prius, in 
gleicher Reihe mit den metaphyſiſchen und mathematifchen Katego- 
rieen, welche für den Begriff Gottes die abfolute Nothwenbigfeit 
‚feiner. Dafeinsform bezeichnen, vorausſetzen will, — daß in Bes 
‚zug auf fie die Möglichfeit einer Nichtbefolgung diefes Geſetzes, 
‚einer Nichtrealifirung ober Verfehrung der Idee des Guten, kei⸗ 
nen Sinn haben würde, fondern etwas ganz Undenlbares ift, 
‚bieß muß fich bei einiger Leberlegung Jedem aufdrängen, ber nicht, 
‚einem eingebildeten Ausfpruche der gefunden Bernunft zu Liebe, 
‚den zweifellofeften Forderungen dieſer Bernunft Schweigen gebie⸗ 
‚ten will. Leibnig, deſſen Ideengange diefe Betrachtung fehr nahe 
Sag, bat dieß wohl empfunden. Er ift in feiner Zheodicee, wo 
er fih.fo ämfig beftrebt, dem ereatürlichen Geifte eine von allen 
äquilibriſtiſchen Borausfegungen gereinigte, und Doch. die reale Mög⸗ 
‚lichkeit des Gegentheils einfchließende Freiheit zu vindieiren, der 
Frage forgfältig ausgewichen, ob und in wiefern ſolcher Freiheits⸗ 
begriff auch auf die Gottheit Anwendung leide, während er. an» 
derwärts die Gottheit fchlechtbin, nicht blos einfach nad ihrem 
Dafein, fondern, wie es fcheint, nach dem gefammten Inhalt ih⸗ 
res Begriffs, ald das ſchlechthin nothwendige Weſen bezeichnet 
hatte. — Wenn die Unterfcheidung zwifchen einem Prius und ei- 
nem Posterius (verfteht ſich, nicht der Zeit, fondern dem Begriffe 
nad) in Gott felbft, einem Prius, welches die Möglichfeit, 
aber die fchlechthin dafeiende, exiftirende, weil als Möglichkeit 
unbedingt nothwendige, nicht nichtfein und nicht andersfein kön⸗ 
nende Möglichkeit, und einem Posterius, welches die Wirkl ich— 
feit des göttlichen Dafeind ausdbrüdt, einen richtigen Sinn geben 
fol: fo ift Dazu unumgänglich erforderlich, daß nicht etwa beide 
- ‚Seiten dieſes Gegenſatzes ſich einander decken, .bie-eine ganz den⸗ 
felben Inhalt, wie die andere, habe, fondern dag in dem Poste- 
rius ein Mehreres, ald in dem Prius, enthalten fei, ein Mebre- 
res als darin enthalten gedacht und erfannt werde *). Denn es 


*, Die alte Metaphyſik, namentlicy die der wotffifdien Schufe, pflegte 
bekanntlich umgekehrt zu fagen, daß in der Möglichkeit mehr, 
als in der Wirklichkeit, enthalten fei. Diefer Say widerfpricht 


Ueber d. Verhaͤltniß d. Metaphyſik zu d. Ethil. 49 


erhellt, daß im entgegengefegten alle die Unterſcheidung eine 
ganz müffige wäre; ed wäre en nur eine Unterfcheibung der 
Worte: Möglich und Wirklich, aber. nicht eine Unterfcheidung von 
Sachen; denn Worte, die einen und benfelben Inhalt haben, be⸗ 
deuten auch Eines und Dafielbe. Bei'm creatürlichen Geifte ift 
das Verhältniß in fo fern nicht ganz daffelbe, als bier frhon das 
Einführen von Beftimmungen, die im abfoluten Geifte, wenn 
auch ihrer Qualität nach vollſtaͤndig, doc, immer nur in Geſtalt 
der Allgemeinheit geſetzt wären, in bie zeit=-räumliche Eingelheit 
und Befönderbeit, alfo die Bervielfahung diefer Beſtimmun⸗ 
den, ein Mehr von Inhalt in ſich fchliegen würde. Und doch 
dürfen wir auch von dem creatürlichen Geifte behaupten, daß der 
Act der Individuation, wodurd er fich im Einzelnen als wirklich 
feßt, nie blos einen quantitativen, fondern allenthalben zugleich 
einen eigenthümlich "qualitativen Gehalt hat, wie ſich dieß an ter 
in Wahrheit unendlichen Charakterverfchiedenheit der menfchlichen 
Individuen, und in noch höherem ‚Grabe der objectiven Geftaf- 
tungen des Staaten- und Bölferlebend zu Tage bringt. Was 
aber den göttlichen Geift betrifft, fo werden wir und, da in Be⸗ 
zug auf ihn Ber blos quantitative Unterfchied, und eben fo auch eine 
ſolche Individuation, die eine Befchränfung, d. b. eine Ausſchlie⸗ 
ung an fich realer, qualitativer Beftimmungen enthalten würde, 
in Wegfall kommt, vergebens nad) einem haltbaren Princip für 
die Beſtimmungen, welde feiner Wirktichkeit im Gegenfage feiner 
Realität zukommen follen, umſehen, fo Iange wir uns nicht ent- 
ihließen wollen, eben in biefem Zufammenhange, wohin er ganz 
eigentlich gehoͤrt, und wo durch ihn die Löſung von Problemen, 


ne 





nicht nur nicht dem unfrigen, fondern er ift fogar nur ein an« 
derer Ausdruck für denfelben. Der. fcheinbare Widerfpruch rührt 

. daher, daß dort von dem durch die Beſtimmungen der Piögischs 
keit als möglich Geſetzten, oder vielmehr Cda folhe Seßzung 
nichts Reales, keine reale Beziehung auf das vermeintlich Ge⸗ 
ſetzte iſt) nur nicht Aus geſchloſſe nen, bei uns aber von die⸗ 
ſen Beſtimmungen ſelbſt, den immanenten Gränzen des 
Mögtichen, bie Rede iſt. 

Zeitſchriſt f. Philoſ. u. fpet. Theol. XII. Band. 4 


die fonft fchlechihin unlösbar bleiben, ermöglicht wird, dem Un- 
jerſchied der ethiſchen und der. metaphyſiſchen Eigenſchaf⸗ 
ten ſeine Stelle zu geben. 

Ich meine in der That nicht zu viel zu ſagen, wenn ich be⸗ 
haupte, daß die Schwierigkeiten, die auch nach dem Bisherigen 
in dem Begriffe der göttlichen Freiheit zurückzubleiben ſcheinen mö⸗ 
gen, ſofern derſelbe unferer Forderung, ‚welche zugleich bie For⸗ 
derung der unbefangenen natürlichen Vernunft iſt, entſprechend 
gefaßt werden ſoll, ſich ſämmtlich entweder von ſelbſt löſen, oder 
einer gar nicht ſehr ſchwierigen Töfung entgegen gehen, wenn 
einmal bie eben bezeichnete Einficht erwacht ift, die Einfiht, Daß 
die Eigenfhaften, die in Gott den fittlihen Beſtim— 
mungen bes crentürlichen Geiftes entſprechen, daß, 
als Summe oder ideales Princip diefer Eigenſchaf— 
ten, die Idee des Guten in Gott nidhts Anderes ift, 
als Die concrete Qualität bes göttlihen Willens ale 
wirklichen, im Unterfdhiede von feinem allgemeinen 
Begriffe oder von fi ſelbſt als blos möglichen. 
Diefe Einficht zu faſſen follte wenigftend denen nicht allzu fchwer 
fallen, denen in Bezug auf den creatürlihen Get die Einſicht 
feſtſteht, durch welche bier doch ber Begriff der organiichen Na⸗ 
tur des Sittlichen ohne Zweifel bedingt wirb: daß auch dieſer 
Geiſt das Gute nur in fo fern wollen kann, als er felbft gut 
if, d. h. als das Gute zur lebendigen, beharrenden Qualität 
feines Willens geworden iſt. Für den menfchlichen Geift zwar 
hat das Gute allerdings auch objective Bedeutung, und es muß 
biefe objective Bedeutung bort in fo fern als die urfprängliche oder 
vorangehende betrachtet werben, als eben biefe Qualität des creas 
tärlichen Willens, fammt den mit ihr in organifhem Zuſammen⸗ 
bange ftehenden objectiven Geftaltungen bes geiftigen Geſammt⸗ 
lebens, ein, in dem abfoluten ober göttlichen Geiſte Vorgebilde⸗ 
tes, duch ihn als Forderung an ben endlichen Geift Gebradjtes 
if. Dagegen aber kann, den göttlichen Geift betreffend, wenig» 
ſtens eine gleiche Priorität ber objectiven Bedeutung vor der 
ſubjectiven nicht zugegeben werben. ine objective Bedeutung iſt 





Leber d. Verhätmig.d. Metaphyſik zu d. Eihif. . Bi 


bier nur etwa in fo fern denkbar, ald wir annehmen, daß Gott 
in Folge des in feinem Geifte enworfenen Schöpfungsbegriffe dies 
icnigen Eigenfshaften feiner Natur und feines Willens fi im .Bes - 
wußtfein feines Geiſtes gegenwärtig macht, weldhe von ihm in 
die werdende Schöpfung übergehen, oder berfelben als das von 
ihr zu erreichende Endziel oder Ideal vorfchweben follen. Dieß 
wird man leicht zugeftehen, und bis hieher in dieſen Behauptun⸗ 
gen feine Schwierigfeit finden. Aber nicht minder muß ich auf 
dem weiteren Sat beharren, für den ich Feine fo raſche Zuſtim⸗ 
mung zu finden erwarten barf; bag eben biefe Grundeigenfchaft 
des göttlichen Willens in einem ausdrücklichen Gegenfage fteht 
zu den Beftimmungen ber göttlichen Natur, durch welche Gott 
einfach ald der Urgeift und als das ſchlechthin nochwens 
dige Werfen bezeichnet wird. Das Wort Natur brauche ich, 
wie man bemerken wird, bier nicht in dem mehr realiſtiſchen Sinn, 
in welchem Schelling in der Abhandlung von ber menfchlichen 
Freiheit von ‚einer Natur, ober von -einem Grunde in Gott ges 
ſprochen hat. Der Gebanfe eines „Fürſichwirkens des Grundes”. 
it dem gegenwärtigen Zufammenhange fremd, wie er denn über- 
haupt, auch bei Schelling, nur einen creatürlichen Hergang, nicht 
einen unmittelbar göttlichen bezeichnen fannz man wird baber auch 
den Gegenſatz, von welchem ich bier ſpreche, nicht mit jenem 
Rampfe der realen, in der. Schöpfung freigelaffenen Potenzen ver⸗ 
wechſeln. Aber je weniger ich in der Gottheit als folder 
einen thatfächlihen Gegenſatz realer Potenzen, einer dunklen und 
einer lichten, einer bewußtloſen und einer ihrer ſelbſt bewußten, 
ber Urt, wie er dort befchrieben wird, bier zu behaupten Grund 
finde *): um fo entfihiedener muß ich auf ber Ausdrüdfichkelt je- 


) Es iſt nämlich hier, wie mon ſieht, von einem thatfächlichen 
Kampfe der Principien die Rede. Im einer andern Weife, auf 
die ich Hier nicht nochmals eingehen Bann, aber die ich keineswegs 
hiermit zurüdgenommen haben will, habe ich ſelbſt anderwärts eine 

Deutung jenes vn Schelling aufgeftellten' Gegenfabes verſucht, 
die ihn als einen aud) auf bie reine Idee der Gottheit anwend⸗ 
baren erfcheinen laſſen würde (das phitofophifche- Problem der Ger 
genwart x. ©. 356 f.). 4 * 


52 Weiße, 


nes idealen, und doch auch in feiner Idealität wahrhaft real 
Gegenfages beharren. Ich unterſcheide alfo Die Eigenschaften ober 
- Begriffsbeftimmungen der göttlihen Natur, die in der abfolun - 
Denfnothwendigfeit des göttlihen Seins, welches unter feine 
Borausfegung als nicht feiend oder als anders feiend, ale es i, 
gedacht werden kann, ihren Sit haben, von ben freien Eigew 
fhaften der wollenden und fhaffenden Perfönlichkeit, 
die, ohne einen inneren Widerfpruch des Begriffs, und daher 
auch ohne Veberfchreitung der allgemeinen Gränzen ber Denb 
möglichfeit, als nicht feiende oder als anderartige gebacht werde 
können. 

Dieß nämlich iſt der Sinn, von n welchem ich behaupten darf, 
daß er auch, der natürlihen Vernunft bei ihrem auf den göttlichen 
Geiſt nicht minder, wie auf den creatürlichen, angewandten jur 
beitsbegriffe im Hintergrunde liegt, Die Vorſtellung einer mi 
unbedingter Willführ handelnden und durch ein grundlofes bem> 
placitum das Gute zum Guten, das Böfe zum Böfen ſtempelnde 
„Gottheit, wenn auch die Verftandesreflerion oft genug, z. B. i 
der calvinifchen Prädeftinationsiehre, durch ihre abftrufen Con 
quenzen fich zu ihr verirrt hat, wird doch von der wahrhaft ge 
funden, durch ein lebendiges fittliches Gefühl geleiteten Vernch 
eben fo entfchieden abgewiefen, wie ihr gegenüber von ber durh 
ein lebendiges veligiöfes Gefühl geleiteten Vernunft die Vorfeb 
Yung abgewiefen wird, als gehorche Gott bei feinem Thum md 
Schaffen einem Geſetze, welches von feinem fchöpferiihen Wil 
unterfchieden iſt, und ſich zu ihm als ein Prius verhält, Zwiſcher 
den Sliedern diefer Alternative mag der abftracte Verſtand, wen 
er von der allgemeinen Vorausſetzung des theiftifchen Princy 
ausgeht, Tein Drittes für möglich halten; dennoch ift ein foldee 
nicht nur möglich, fondern auch das allein Wahre; nämlich cher 
biefes, daß das Gute die Iebendige Dualität des göttlichen Bir 
lens felbft, und als foldhes eben fo wenig ein ausbrüdliches Ob 
ject feiner Wahl, wie anderfeitd Doch eine zwingende Nothwen⸗ 
bigfeit ift, welcher der Wille vermöge feiner metaphyſiſchen 
Natur, ober fofern er eben Wille ift, geerden müßte. Died 


y 


Ueber d. Verhäliniß d. Metaphyſik zu d. Ethif. 53 


ſelbſt, daß Gott nur als Geiſt, und mithin auch nuß als Wille 
— denn ohne Willen Fein Geiſt — wirklich iſt, gehört am ſich 
noch ganz zur denknothwendigen, logiſchen oder metaphyſiſchen 
Natur Gottes, und auch dieß wird nach den Beſtimmungen bie- 
fer Ratur beizuzählen fein, dag der Wille, um wirklich zu. fein, 
einen beftimmten Inhalt, eine beftimmte Befchaffenheit haben muß, 
Aber eben dieſer Inhalt, diefe Beichaffenheit ſelbſt ift nicht mehr 
durch jene allgemeine Denfnothwendigfeit gefegt, durch welche der 
Begriff des Willens und des wollendeu Geiſtes geſetzt war. 
Dieß eben, das Nichigefegtfein der fittlihen Eigenfchaften durch 
das Prineip, durch welches der Wille als Wille geſetzt ift, 
ſchwebt der natürlichen Bernunft vor, wenn fie den Willen für 
frei erflärt. Sie meint damit eben nur, bag in dem Begriffe des 
Willens, — und in Bezug auf Gott ift diefer Begriff der 
ſchlechthin eriftirende Wille felbft, — eine vielfache, fa 
unendlich vielfache Deöglichkeit von Befchaffenheiten liegt, deren 
eine er ergriffen haben muß, um als Wille wirklich zu fein. Das 
Zur „ daß er nur in einer oder einer andern biefer Befchaffens 
heiten der wirkliche Wille ift, wird ausgefchloffen, daß der 
‚Het, wodurd der Wille diefe Beichaffenheit annimmt, ein felbft: 
bewußter Wahlact fein könne. Er ift ſolches, wie oben gezeigt, 
auch im ereatürlichen Geifte nicht, aber in Bezug auf den götts 
lichen Geift wird noch mehr Jeder, der bie Idee dieſes Geiftes 
zu faflen vermag, die Vorftellung einer bewußten Wahl zwifchen 
Gut und Bös für eine durchaus verwerflice erklären. Aber das 
durch, daß zwilchen den Beftimmungen der Nothiwendigfeit, durch 
welche das Dafein des- Willens bedingt wird, und den Beftim- 
"mungen feiner Freiheit Fein felbftbewußter Wahlact in der Mitte 
liegt, wird bie Unterfcheidung beider keineswegs zu einer über 
Afifigen, gelebt auch, daß man fie, was wir doch nicht gut heis 
Gen könnten, in Bezug auf den göttlichen Willen ald eine blos. 
formale bezeichnen wollte. Daß fie in Wahrheit mehr, als eine 
blos formale ift, dieß fommt auf Das Unzweideutigfte freilich nur 
an dem ereatürlihen Willen zu Tage, an weldem bie. Beſtim⸗ 
ungen ber Freiheit ſich durch ihre unendliche Verſchiedenheit und 


0 


> 


54 Weiße, 
Mannichfaltigkeit ale von den Beftimmungen ber Nothwendigkeit, 
weiche in allen geiftigen Individuen bie nämlichen find, unterfchies 
dene bethätigen. Aber was folchergeflalt an dem creatürlichen 
Willen zu Tage kommt, das muß feinen Grund in dem Begriffe 
des Willens überhaupt, alfo in dem bes göttlichen Willens haben. 
Das Intereſſe diefer Unterfcheibung iſt es alfo, durch wels 
des mir: eine Getrenmthaltung jener beiden Disciplinen, der Dies 
taphyſik und der Eihif, gefordert zu werben fcheint. Sch kann, 
ohne dieſem Intereſſe das Mindeſte zu vergeben, denen, welche 
in irgend einem Sinne eine Vereinigung beider Disciplinen, eine 
Aufnahme ethifcher Kategorieen in die Metaphyſik oder eine Ans 
fnäpfung der Metaphyſik an ethiſche Principien für fachgemäß oder 
nothwendig erachten, fehr bedeutende Zugeftändniffe machen, folche, 
wodurch vielleicht Einige dad, worauf es ihnen weſentlich anfommt, 
ſchon erreicht finden werden. Ich kann zugeben, — zugeben, weil 
es meine eigene, beftimmtefte Heberzeugung ift, — daß das for= 
male Grundprincip der Ethik, der Begriff des Willens, des 
freien, intelligenten Geiftes und Willens wefentlich der 
Metaphyfif angehört und den nothwendigen Schlußftein des Ge⸗ 
bäudes diefer Wiffenfchaft ausmacht, deren fonfige Inhaltobe⸗ 
flimmungen, die „Kutegorieen”, ohne ihn der feften Stelle, in 
welcher fie ein für allemal ihren Sitz haben, entbehren, und fo 
zu fagen in der Luft fhiweben würden. Ich fann ferner zugeben 
(was vielleicht von dem Begriffe, den ich in der Einleitung zu 
ben „Orundzügen der, Metaphyſik“ von biefer Wiffenfchaft aufge- 
ſtellt, noch beftimmter eirte Abweichung zu enthalten fcheinen Fönnte, 
aber ſich bei näherer Betrachtung als gar wohl damit vereinbar 
erweifen wird), Daß die Metapbufit den Geift, den Willen nicht 
als blos formale Kategorie, als Begriff eines blos möglichen 
Geiftes oder Willens, fondern daß fie ſchon einen dafeiendeh, 
wirklichen Geift und Willen, nämlich den göttlichen, zu ihrem Ge⸗ 
genftande hat. Es ift nämlich jene allgemeine Kategorie bed 
Willens, was der dee und dem Entwicdlungsgange diefer Wifs 
fenfchaft zufolge, allerdings die Geftalt ift, in welcher fie zunächft 
vom Willen zu handeln hat, in der That ſchon, wie bereits vor⸗ 





Ueber d. Verhaͤliniß d. Metaphyſik zu b. Ethik. 55 


bin angebeutet,, ber bafeiende, göttliche Wille ſelbſt, jener Wille, 
in welchem, ober genauer, in deſſen Bewußtfein die „Mate⸗ 
gorie“ als folche allein ihr Dafein und ihre Wahrheit hat. Sie 
it, fage ich, der daſeiende göttliche Wille ſelbſt, jebod in ſtreng⸗ 
fer Allgemeinheit gefaßt, noch ohne die Beſtimmungen, bie fein 
Wirken, feine Thätigfeit begleiten und eben dieſem Wirken bie 
beftimmte Dualität geben, welche wir burch die Gott zugefchries 
benen ethiſchen Eigenſchaften, die Güte, die Gerechtigkeit u. f. w. 
ausbrüden. Allerdings iſt nur in, nur mit dieſen Eigenſchaften 
der göttliche Wille der wirkliche. Es liegt eben in feiner mes 
taphyfifchen Beſtimmtheit, oder. in der metaphyfiichen Beſtimmt⸗ 
beit des Willens überhaupt, daß er, um zu wirfen, eine Qua⸗ 
Htät annehmen muß, die ihm nicht unmittelbar in jener Bes 
ſtimmtheit als folcher gegeben if. Aber ein Anderes iſt die Wirk 
lichfeit bes göttlichen Willens, ein Anderes feine Eriftenz ald 
Wille nur überhaupt. Unter biefem Letzteren meine ich eben Das, 
was Kant meinte (in der Abhandlung: ‚Einzig möglicher Beweis: 
grund” 26), wenn er einen denknothwendigen Beweis fir das 
Dafein Gottes in ber Betrachtung fand, daß die Möglichkeit ald 
ſolche, um nicht das Gegentheil ihrer ſelbſt, nämlich Unmöglich⸗ 
keit zu fein, in Folge der Nothwendigkeit ihres Begriffs eine Dies 
jem Begriffe angemeflene, aber nicht blos Außerliche, blos zu⸗ 
fällige Eriftenz haben müſſe. Die Kategorieen.der Metaphufik, 
— dieſe nämlich find eben bie Beftimmungen jener reinen Mög» 
lichkeit, — exiſtiren zufolge ihres Begriffs in einem nicht zu⸗ 
fälligen, nicht auch nicht ſein könnenden, ſondern ſchlechthin noth⸗ 
wendigen, ihnen, abgeſehen davon, daß es den Moment ihres 
Daſeins, ihrer Exiſtenz enthält, in allem Andern, durchaus 
gleichartigen Weſen, und dieſes Weſen iſt eben die Gottheit ſelbſt. 
Sie iſt es, doch nur von Der Seite betrachtet, welche ſich in Dies 
fem Zufammenhange unmittelbar, durch reine metaphpfifche Denk⸗ 
nothwendigkeit· ergiebt, von ber Geite ihrer abfoluten Kreis 
beit, ibrer Allmacht, als die unbedingte Macht oder Möglidy- 
feit, ein Dafein, eine Wirklichkeit überhaupt, und damit fich in 
den durch ige metaphyſiſche Natur ihr zufommenden Beftimmuns 





56 % Weiße, 


gen der felbfibeivußten und frei wollenden Geiſtigkeit als da⸗ 
ſeiende, ald wirkliche und wirfende zu fegen. 

Durch dieſe Zugeftändniffe, — die ich: jedoch, wie. gefagt, 
nicht ala Zugeftändniffe, fondern als den Ausdrudf meiner ent«- 
fehiedenften wiflenfchaftlichen Ueberzeugung betrachte, — find nun 
allerdings wohl Rategorieen, die man, wenn man will, mit Bra⸗ 
ig „ethifologifche” nennen mag, in die Metaphyſik aufgenommen, 
aber die Trennung biefer Wiffenfchaft von der Ethik und ihre lin 
abhängigfeit von letzterer iſt demungeachtet gerade hierdurch auf 
das Beſtimmteſte gerechtfertigt. Die metapbufifchen Beftimmun- 
gen bed Willens überhaupt und bes göttlihen Willens, welder 
mit dem allgemeinen Begriffe des Willens unmittelbar iden⸗ 
tiſch if, und nur durch feine eigene Thätigfeit diefen Begriff 
als eins Cin den Ereaturen) auch für fich wirkende ‘Potenz aus 
ſich entlaffen kann, insbefondere, find von allen ethiichen Beſtim⸗ 
mungen völlig unabhängig. Denn fie nur find auf rein rationa⸗ 
lem Wege, durch die reine Nothwendigkeit des Denkens erfenns 
‘bar, während dagegen die andern nur. Alles, was von ber Freis 
heit ausgegangen, und nicht bie eigene Borausfegung ber Frei- 
heit ift, nur durch Erfahrung, — freilich in dieſem Falle eine 
innere, fittlihe, und Glaubengerfahrung, nicht eine äußere, 
finnlihe Empirie, — erfannt- zu werden vermögen. Schon biefe 
Berfchiedenheit der Erkenntnißquelle rechtfertigt die Abtrennung 
beider Disciplinen, oder vielmehr, fie macht ſolche Abtrennung 
zur entichtedenften Forderung der Wiſſenſchaft. Es rechtfertigt fich 
biefelbe aber auch durch das eigene Bebürfnig der Ethik, welche, 
um fich wiflenfchaftlich zu geftalten, fi vor allen. Dingen über 
ihre Vorausſetzungen Far geworben fein muß. Eine Ethik, 
welde ohne bie Grundlage metaphyſiſcher Borausfegungen unmit⸗ 
telbar von den Thatfachen ber innern Erfahrung beginnen wollte, 
welche den fpecififchen Inhalt aller Ethik ausmachen, würde biefe 
Thatfachen immer nur, wie jede rein empirifche Wiffenfehaft die 
thrigen, als ein Gegebeneg der endlichen, menſchlichen Ers 
fahrung betrachten. fönnen ; ihre folgerechtefte Geftalt würde chva 
bie fein, fie in Herbarts Weife auf „äſthetiſch⸗praktiſche Ideen“ 


Ueber d. Verhälmiß d. Metaphyſik zu M. Ethit. 67 


zurückzuführen, d. h. im Grunde auf Machtſprüche eines angeb« 
lichen fittlihen Gefühle, welches ſich in theoretifcher Hinſicht auf 
feine Weife zu beglaubigen vermöchte. Eine Anfnüpfung der ins 
nern fittlihen Erfahrungsthatſachen an den Begriff der Gottheit, 
eine Ableitung berfelben aus der freien Thätigfeit Gottes, wodurch 
‚allein die Ethik nach ihren höchften-Princivien in die Sphäre theo- 
tetiicher Betrachtung erhoben wird, ift wiffenfchaftlich nur möglich, 
wenn im metapbpfiichen Zufammenhange ein gemeinfames Fun⸗ 
dament bes göttlichen und des menfchlichen Geiftes und der Thä⸗ 
tigfeit beider eben in dem Begriffe der Freiheit gefunden iſt. 
Denn nur auf diefem Fundamente läßt fich die abfolute Grunds 
thatfache ber Ethik, welde ald Erfahrungsbatum flets nur 
eine Befiimmung des menſchlichen Geiftes bleiben würde, als 
eine inwohnende Beitimmung des göttlichen Geiftes erfennen.. 
Sie läßt ſich als ſolche erkennen, freilich nicht unmittelbar durch 
biefelbe Denknothwendigkeit, durch welche der Begriff der Freiheit 
als folcher erfannt wird, aber doch, auf Grund diefer Denknoth⸗ 
wenbdigfeit, al8 ein Factum, befien Borhandenfein überhaupt durch 
bie Nothwendigkeit bes. Denkens gefordert, deffen nähere Beftimmt«- 
beit aber von dieſer felbft der Erfahrung, die allein das Freie in den 
Aeußerungen feiner Freiheit zu ihrem Objecte hat, überwiefen wird, 

Was die nähere Geftaltung der Ethik als Wiffenfchaft be= 
‚kifft, fo ergiebt ſich Darüber aus dem bisher Entwidelten Folgen⸗ 
bee, Da das nädhfte, reale Princip diefer Wiffenichaft nur in. 
der philofophifchen Theologie ihre Stelle haben Tann, fo wird fie 
in diefem Sinne als ein Abfenker dieſer Wiffenfchaft zu behandeln 
fein, namentlich wiefern fie in der ſubjectiven Geſtalt einer Pflich⸗ 
ten= und Tugendlehre auftreten fol. Denn nur in der dee 
des Guten ald Eigenfchaft des göttlichen Willens ift ein Princip- 
gegeben, welches fich ſchlechthin um feiner felbft willen als For⸗ 
derung, als Gebot an den crentürlichen Willen bringen läßt, nur 
in ihr ‚ein fchlechthin Iegter und höchſter Maaßſtab der Werths 
Ihägung für den freien crentürlichen Willen. Die Erfenntnißquelfe 
diefes Princips Fann zwar, wie ſich nach allegg bisher Gefagten 
von ſelbſt varſteht, nicht jenes veine Denfen und feine abfofute 


58 ” Weiße, 
Nothwendigkeit fein, welche beide in der Metaphyfif ihre Sielle 
habenz fie wird vielmehr, wie fo eben bemerft, im weiteren Wort 
finne al8 Erfahrung bezeichnet werden müſſen. Aber durch 
Berfegung jenes Princips auf theologifihen Grund und Boden 
wird der Unterfchied die ſer Erfahrung von jeder andern Erf 
rung auf das DBeftimmtefte angedeutet. Es ift eine Erfahrung,f 
die fih nur im ausdrücklichen Gegenfage gegen die Thatſachen 
der Erfahrung, die in der Naturbeftimmtheit des finnlichen Trie⸗ 
bes ihren Sit hat, nur im Zufammenhange mit jener Richtung 
der Intelligenz auf dag Ueberfinnliche, welche wir Glauben new 
nen, weil fie von dem eigentlichen metaphyfifhen und mathema⸗ 
tiſchen Wiffen nicht blos durch ihre fubjertive Befchaffenpeit, 
efondern auch durch ihren Gegenſtand — bie lebendige, per 
ſönliche Gottheit, nicht blos, wie dort, die als abfolute Frei 
heit und Allmacht nur abftract dDafeiende Gottheit — unterfhie 
ben ift, ſich entwideln kann. Nicht das: unmittelbare Schöpfen 
aus dieſer Erfenntnigquelle macht die Ethik, fo wenig, wie dad 
unmittelbare Schöpfen aus dem im Innern des Gemüthes qui⸗ 
lenden Born des Glaubens die Theologie macht; beide entflehe 
vielmehr eben nur durdy Anknüpfung des aus diefen Duellen Ge 
Ihöpften an die ausbrüdlich erkannten Wahrheiten der Metaphyſi, 
aber beide find und bleiben von biefen Wahrheiten unterfchieben, 
unter ſich aber organifch Eins. Noch deutlicher kommt diefe Ein 
‚heit zu Tage, wenn man für die Ethif, und dieß zwar gewih 
mit Recht, in Folge der gewonnenen fpeculativen Einficht in bie 
fubftantiell» organifche Natur des Ethifchen zugleich, oder vielmeht 
wefentlih, als eigentlich wiffenfchaftliche Geftalt, Die obiective ber 
Güterlehre fordert. Dann nämlich ift überhaupt nicht abzufe 
ben, wie dieſelbe fol abgetrennt werden können einerfeits von 
ber Rechts- und Staatswiffenfchaft, anderfeits von der Theols 
gie als der Lehre vondem Reiche Gottes. In diefen beiden 
Begriffen, — freilich nicht, wie bei Hegel, einfeil ſchon im dem 
erfteren, — ift die Geſammtheit jenes organiſch Subftantiellen ent 
halten, dem fich Wer creatürliche Geift einverleiben muß, um fer 
“Mer ethifchen Beſtimmung zu genügen. Die immangnte, metho⸗ 


ir 


Ueber d. Verhältniß d. Metaphyfif zu d. Ethik. 59 


biihe Entwicklung der Idee des göttlihen Reiches als einer 
durchaus organifchen,- geiftig = fubftantiellen wird alfo nach der ethi« 
fhen Seite jene Ergänzung oder Erweiterung des Hegel’fchen 
ESyſtems ausmachen, welche diejenigen mit Recht gefordert ha- 
ben, bie in der Staats- und Rechtsphiloſophie diefes Denfers, 
obwohl das Aechte anerfennend, was durch diefelbe eben in jener 
organifchen Beziehung geleiftet ift, Doch Fein Genüge fanden, ſon⸗ 
"bern nur bei einer weiteren Erhebung ber ethifchen Principien auf 
den Standpunft des abfoluten Geiftes ſich beruhigen wollten, 
Um nämlich noch einmal einen Eritiihen Blick auf das eben 
gedachte Syſtem zurückzuwerfen: fo erhellt, wie der Grund, der 
es in demfelben nicht zu einer befriebigenden Ausführung der Ethik 
Bat fommen laffen, nicht fowohl in dem Mangel „ethifcher Rates 
gorieen” in feiner „Logik,“ als vielmehr in ber zweideutigen Stel 
lung liegt, welche es dieſer Logik zu den realphilofophifchen Dies 
eiplinen gegeben bat, Durch diefe Stellung ift e8 geichehen, daß 
das eigentlihe Moment der Freiheit in dem benfenden und wol⸗ 
lenden Geifte, das heißt, bie als reale Potenz inwohnende, 
obwohl in der einmal von ihm angenommenen ethifchen Qualität 
aufgehobene Möglichkeit des Andersfeind oder Gegentheils, als 
ein nur die Stufe der Endlichfeit, der Creatürlichfeit des Geiftes 
bezeichnendes, für den abfoluten Geift aber bedeutungslofes ers 
Schienen ifl. Der Ethik aber Tann, — dieß haben die vorhin ers 
wähnten Gegner Hegel’8 wohl eingefehen, — die ihrer wahrhafs 
ten Idee entfprechende Ausführung nur dann zu Theil werden, 
wenn fie auf den Standpunft des abfoluten Geiftes erhoben wird. 
Dahin hat bereits Kant gedeutet, wenn ev ihren Forderungen, 
ihrem „Fategorifhen Imperativ” eine Abfolutheit beimaß, für die 
er doch in feiner theoretifchen Philofophie Feine entfprechende Ka⸗ 
tegorie fand. In lebendigerer, prägnanterer Weile hat auf eben 
dieſen Standpunft das Chriftenthfum mit feiner an den menfd)- 
lichen Geift ergebenden Forderung der Gottgleichheit hinges 
beutet. Den wahren Sinn biefer Forderung wird nur der bes 
greifen, der dba gewahr wird, wie es fich hier nicht von ber ab- 
firacten Form der Geiftigfeit oder Perfönlichfeit überhaupt, fon= 


60 Weiße, 

dern von einer realen und lebendigen, auf Grund der Freiheit 
des Geiſtes beruhenden Qualität handelt, die, in dem Schoͤpfer 
von ‚Ewigfeit ber verwirklicht, dem Geſchöpf als ein geiſtig Sub⸗ 
ſtantielles dargeboten wird, worin es ſich organiſch hineinbilden 
ſoll. In dem Acte dieſer Hineinbildung wird nämlich ber Jh 
der Gottgleichheit nur dann ihr wahres Recht, wenn ein entfpres 
chenter Act, nur, wie gefagt, ein ewiger, von den Kämpfen der 
Zeitlichfeit freier, auch in dem Schöpfer vorausgefegt wird, De 
Begriff der preatürlichen Freiheit tritt in fein rechtes Licht mer, 
wenn der Gegenfab der abftracten metapbyfifchen Natur des Geis 
ſtes und der concreten ethifchen Beſtimmtheit, welche Diefe Ratır 
indem Procefje ihrer Berwirklihung annimmt, ald ein aud) dem 
ſchöpferiſchen Geiſte der Gottheit -Feinesiwege fremder, vielmehr 
den Begriff dieſes Geiſtes ganz eben fo, wie den des creatits 
lien bedingender gefaßt wird. Kurz, der allgemeine Begriff, 
die abfiracte, denfnothwendige Form ber Geiftigfeit muß ale de 
gemeinfhaftlihe Borausfegung des göttlichen und des certa⸗ 
gürlichen Geiftes begriffen worden fein, Damit die Freiheit dei 
Geiſtes und die nur durch Freiheit zu verwirklichende fiksliche, ors 
ganifche Geſtaliung deſſelben für beide als eine und Diefelhe en 
fannt werde. Damit wird nicht ausgeſchloſſen, daß nicht folde 
Borausfegung für den göttlichen Geift eine andere Bedeutung habe, 
als für den ereatürlihen, wie ja auch, zugeftandener Weife, der 
Act der Verwirflihung der freien, organiſchen Dualitäten ie je 
nem ein anderer ift, als in dieſem. Ihre Bedeutung tft, wi 
vorhin. bemerkt, für den göttlichen Geift, mit deſſen allgemeinen 
Weſen unmittelbar zufammenzufallen, oder, dem dafeiende göttliche 
Geiſt nach der Seite feiner Nothwendigfeit, als Bafis feiner freien 
Eigenfchaften, felbft zu fein, für den ereatürlichen Geift aber, nım 
die allgemeine Bedingung feiner Möglichkeit zu fein. Darum fan 
die Metaphyſik allerdings in gewiffen Sinne ſchon als fpeculas 
tive Theologie, — genauer, wie wir es anderwärts ausbräd« 
ten, als der ontologifhe Beweis, welder bie nothwendige ' 
Baſis jeder fpeeulativen Theologie ausmacht, — auf feine Weit 
aber darf fie, wie bei Hegel, als das nicht blos Anfangende, 


‘ Ueber d. Berhältniß d. Metaphyſik zu d. Ethik. 61 


ſondern zugleich Endende, als das ſchlechthin Letzte und Höchſte 
aller Philoſophie und Theologie betrachtet werden. Die Ethit 
insbefondere, als Theil oder Abſenker der philoſophiſchen Theolor ! 
gie, hat allerdings nur von ihr, wiefern fie und ber durch fie bes 
gründete Freiheitöbegriff als ihre inwohnende Vorausfegung gilt, 
das Moment und Bewußtfein bes Abfoluten, welches fie mit Recht 
Für fih in Anſpruch nimmt. Ohne fothe Vorausfegung, oder 
wohl gar ihrerfeits als Borausjegung des Metaphyfifchen behan⸗ 
delt, würbe fie zu etwa lediglich Empirifchen, für das nur durch 
einen unwiſſenſchaftlichen Machtſpruch, wie bei Kant, die abfolute 
Geltung in Anſpruch genommen werben Fönnte, Aber obgleich 
durch das metaphyſiſche Freiheitsbewußtfein in Die Sphäre des Abs 
foluten hinübergerüdt, ift und bleibt doch der eigenthümliche, fpe- 
cifiſche Inhalt der Ethik ein von dem metaphyſiſchen Snhalte ums 
terfchiedener. Er befteht in Beftimmungen der freien, organi- 

ſchen Wirklichkeit des abfoluten Geiftes, während die Metapbyfif 
. "aur die Beftimmungen feiner Nothwendigfeit, beren Refultat eben 

erft die Freiheit ift, zu ihrem Juhalt hat. 
| Ich babe früher mehrfach die Hoffnung ausgefprochen, in 
| diefer Unterfcheidung der Metaphyſik als Wiffenfchaft des nega⸗ 
tiv Abſoluten, Vernunſtnothwendigen, von den dem Poſitiven und 
Realen zugewandten Theilen der Philofophie im Wefentlichen mit 
Schelling's Unterfcheidung einer negativen und einer pofitis 
ven Philoſophie zufammenzutreffen. Nach dem, was neuerdings 
von fo verfduiedenen Seiten her, und doch in der Hauptfache übers 
eisttreffend, über den Inhalt von Schelling’s Vorlefungen berichtet 
wird, will es allerdings ſcheinen, als werde ich auf dieſe Hoffe 
ung verzichten müffen. Es gründete fich diefelbe zunächft auf defien 
Aeußerungen in der Vorrede zu Coufin, welche ich mit dem in 
ber Abhandlung über die Freiheit aufgeitellten Begriffe eines gött« 
lien Urgrundes oder Ungrundes in Verbindung bringen zu 
bürfen glaubte (— daß, was bort ber Grund in Gott heißt, 
dem Begriffe des Metaphyſiſchen oder negativ Abfoluten nicht ents 
fpricht, habe ich fchon oben bemerkt). Jene Heußerungen ſchienen 
nämlich der Vermuthung Raum zu geben, ale fei es die Abficht, 


/ 


64 Weiße, 


gemuthet werden, ſich mit Bewußtfein, anders, als nur etwa zum 
Behuf, wie Schelling felbft es thut, einer geſchichtlichen Charafteri- 
firung, auf einen von ihm ſelbſt für unwahr erfannten Stand» 
punkt zu ftellen; auch würbe von einem derartigen Unternehmen 
fhwerlic eine Frucht der Wahrheit erwartet werben Fönnen. — 
Sollte. dagegen für den Inhalt der Metaphyſik in der pofitiven 
Philoſophie ein Play gefucht werden: fo käme es zunächſt auf 
eine nähere Beftimmung und Entwidelung jenes „unvorbenftid 
‚Seienden” an, um darüber entfiheiden zu koͤnnen, ob deſſen Be 
wit mit diefem Inhalte Eines und Daffelbe if. Daraus, baf 
die bisherigen Berichte über die „Philofophie der Offenbarung” 
uns dieſes Seiende als einen fchlechthin einfachen, Feine Mannich⸗ 
faltigfeit von Beziehungen und Inhaltsbeftimmungen in fich tra 
genden und alfo auch Teiner weiteren wiflenfchaftlichen Entiwid- 
lung fähigen Begriff ericheinen laſſen, fchließen zu wollen, daß 
es in der That von Schelling auf eine ſolche Weife gefaßt werde, 
welche jede Möglichkeit inwohnender Entwidlung biefes Begriffs 
abſchneidet, dürfte an ſich wohl soreilig fein. Bedenklich bleibt 
allertings der Umftand, daß ber rein rationalen, denknothwen⸗ 
digen Entwidlung, welche dieſes Begriff, falls er mit Dem nega⸗ 
tiv Abfoluten unferer Metaphyſik zufammenfallen follte, einzig zu 
Iaffen würbe, ihre Stelle außerhalb der poſitiven Philofophie, in 
der negativen, zugewieſen ift, und feine Anbeutung fich daräber 
findet, daß das Princip derfelben, als Princip einer befondern, 
poſitiv philoſophiſchen Disciplin, auch im Zufammenhange ber 
poſitiven Philoſophie eine Stelle erhalten müſſe. Eben ſo wenig 
will die Bezeichnung jenes „blind Seienden“ als eines „zufäl⸗ 
lig Nothwendigen“ zu unſerer Vorausſetzung ſtimmen. Dieſelbe 
ſcheint vielmehr darauf hinzudeuten, daß das unvordenklich Seiende 
nicht als ein an und für ſich, oder durch ſich ſelbſt Nothwendi⸗ 
ges, ſondern / nur in Beziehung auf das, was ſich auf Grund die 
fe8 Seins entwideln ſoll, aljo velativ, Nothwendiges gefaßt wer: 
den ſoll; ich aber muß darauf. beharren,. den Inhalt ber Metar 
phyſik als das ſchlechthin oder unbebingt Nothwendige, ihr Re⸗ 
fultat, wie oben ausgeführt, als das. „abfolut nothwendige We⸗ 


Ueber d. Berhäftniß d. Metaphyſik zu d. Ethik. -65 


fen” des alten ontologifchen Beweifes zu faffen. — Dagegen aber 
erfcheint, — und dieß ift ein Umftand, der gewiß wohl beachtet 
zu werben verdient, — in allen Darftellungen, bie mir bis jetzt 
zu Geficht gefommen find, der Uebergang von dem blind oder 
unvorbenklich Seienden zu den höhern Potenzen fo befchaffen, daß 
gar Teicht aus Betrachtung deffelben die Reflexion ſich ergeben kann, 
daß in jenem felbft noch weitere Beftimmungen vorausgefeßt wer⸗ 
ben, woburd jener Uebergang motivirt wird, Dem Seienden 
fol fi die MöglichFeit darbieten, ſich von fich felbft, von der 
Seftalt, da es eben nur das Blinde, Unvordenkliche ift, zu bes 
freien, und das Andere feiner felbft zu werben. Woher kommt 
ihm dieſe Moͤglichkeit, wenn fie nicht von Anfang an in ihm vers 
borgen liegt, wenn der ausgeführte Begriff dieſes „geradezu Seien⸗ 
den” nicht an und für fich felbft ſolche Möglichkeit des Anderen, 
die dafeiende, erifirende Möglichkeit ber höheren Pos 
tenzen, und fomit bes Geiftes iR? — In folder oder ähnlicher 
Weiſe önnte ich, auch ungeachtet jener Einwürfe, verfucht fein, 
meinen Begriff der wiſſenſchaſtlichen Metaphyfif auch in bie „po⸗ 
fitive Philoſophie,“ freilich als ein von ihr felbft eben nur vor⸗ 
ausgefegtes, noch nicht in ihr zur wiffenfchaftlihen Ausführung 
gedieheneg Moment hineinzutragen, wenn nicht jede ſolche Ver⸗ 
ſuchung durch die Erwägung niebergefchlagen würbe, daß für alle 
‚weitere Discuffion über dieſe Philoſophie die Zeit abzuwarten ift, 
wenn ihr Urheber fie durch authentiſche Mittheilungen der vollen 
Deffentlichfeit Ibergeben haben wird. 


Zeliſchriſt f. Philoſ. u. (pet. Theol. XI. Band. . 5 


Der bisherige Zuftand der Anthropologie und 
Pſychologie. | 


Eine hritifhe Meberfidt 
vom Herausgeber. 


Bisheriges Verhältnig der Phyfiologie und Anthre 
pologie zur Pſychologie. — Begriff der legtern. — 
Die empirifhe Pſpchologie. — Dad Hegel’fde 
und das Herbart’fhe pſychologiſche Princip. — 
Die Unfterbligpfeitsfrage. — Wahrhafter Begriff 
des Geiſtes. 


Die Pfychologie, oder, wie man fie beftimmter nennen follte, 
die Wiffenfchaft vom menſchlichen Geifte, von welcher Hegel 
vor noch nicht zwei Jahrzehnten behaupten Fonnte, daß fie fi in 
völlig verwahrlostem Zuftand befinde, ift ſeitdem, wenigftend was 
bie Bielfeitigfeit und Rüftigfeit der ihr gewibmeten Beftrebungen 
betrifft, faſt in die erfte Reihe der philofophifchen Wiffenfchaften 
getreten. Und nicht allein durch die Thätigfeit ber philoſophiſchen 
Forſcher: auch die neuere Phyfiologie bat die ihr zufallende Auf 
gabe erkannt und den beftimmten Antheil an derſelben ſich zus 
geeignet, Dadurch die Pfychologie von einer ganz neuen Seite unter 
bauend und den ganzenlimfang ihrer Betrachtung um ein Weſent⸗ 
liches erweiternd, vielleicht fogar jedoch ihre eigene Gränze babei 
überfchreitend und wider ihre urfprüngliche Befugniß ein der Piy- 
hologie vorzubehaltendes Gebiet in ihren eigenen Umkreis hinein 
ziebend. So ift es auch gefommen, daß derfelbe Gegenſatz, wel: 
cher in den übrigen Gebieten der Phyfiologie ſich geltend macht, 
ber einer ibeellen und einer materialiftifchen, auf phyſikaliſchen 
Hppothefen geftügten Grundanficht, von bier aus auch im die 





Der bisherige Zuftand d. Anthropologie u. Pfychologie. 67 


Piychologie von Neuem hineindrang: ja auf diefem Gebiete muß 
der Kampf jener Anfichten zur Entfcheidung kommen, wo bie Unge⸗ 
nüge und das Gewaltfame bloß materialiftiicher Borausfeßungen 
ih am Wenigften verbergen Tann. 

Aber wie man fonft auch das Thatfächliche im Einzelnen 
erklären mochte, die Grundthatſache felbft erfennt man jegt von 
allen Seiten an, wie eng und unauflöglich der Geift an die or⸗ 
ganifchen Mittel feiner Verwirklichung gebunden fei, wie er nur 
burd fie hindurch wirkfam werbe, und nur in biefer vermittels 
ten Beftalt fich ſelbſt und Andern zur Erfcheinung komme; wie Daher 
eine Piychologie, welche das Bewußtſein nur aus ihm felbft und 
feiner eigenen Borausfegung erflären wollte, des eigentlichen Bor 
dens und Ausgangspunftes entbehren müfle: und hierhinein, im 
diefe Erweiterung der Wiffenfchaft von der Seele, if zunächft ganz 
im Allgemeinen ber fpecififche Unterfchieb der neuern Pfychologie 
von der der vorhergehenden Periode zu fegen. Hiernach ift jenes 
neutrale Gebiet, in welchem die bewußtlofe und die bewußte Seite 
der Menfchenfeele (nach gewöhnlicher Bezeichnung: ber Organiss 
mus und das bewußte Seelenprincip) fi) durchdringen oder in 
einander find, nicht weniger als integrirender Theil einer Lehre 
vom Geifte zu faflen, wie derienige Inhalt, den man fonft ald 
den einzigen und vollgenügenden für diefe Wiffenfchaft betrachtete, 
die Lehre von dem Bewußtfein und feinen gefammten Thatfachen, 
weihe man fich begnügte, nad fonftigen methodiſchen Marimen 
oder metaphufiihen Borausfegungen auf das Mannigfachfte in 
Öruppen zu ordnen und unter fich zu verknüpfen, — in welchen 
Verſchiedenheiten nach dem bisherigen Looſe der Pfiychologie die 
Haupidifferenzen in diefer Wiflenfchaft beftanden haben. 

Dasjenige Syflem nun, welches zuerft ben enticheidenben 
Schritt that, jenen mit der Phyfiologie gemeinfamen Lehrabfchnitt 
von den organischen Borbedingungen bes Geiftes als wefentlichen 
Theil der Lehre vom „fubjeltiven Geifte” einzuverleiben, bat ihn 
vorläufig „Anthropologie genannt: — fieht man auf die wörtliche 
Bedeutung diefes Namens, fo ift er offenbar viel zu allgemein; 
er follte Das ganze Gebiet dieſer Unterfuchungen bezeichnen, und 

5 % 


68 Fichte, 


unmöglich könnten ihm, feinem eigentlichen Wortfinn nach, eine 
„Phänomenologie des Bewußtſeins“ und eine „Pſycho— 
logie“ (oder, nad ber neuerbings gewählten zwedimäßigern Be 
nennung, eine „Pneumatologie”) als beigeorbnete Theile zur 
Seite treten. Dennoch bleibt für jenen Namen einftweilen die 
biftorifche Berechtigung übrig, daß man in der ältern, eigentlich 
fogenannten, Anthropologie, welche in der Regel ohne Beziehung 
auf beftimmt.philofophifche oder piychologifche Probleme und völlig 
empiriſch behandelt wurde, denſelben Inhalt zuſammenfaßte (von 
den Racen- und Völkerunterſchieden, von der Differenz der Ge⸗ 
ſchlechter und Lebensalter, von den Temperamenten, von Schlaf 
und Wachen u. f. w.), den man jegt mit der Pſychologie in 
eigentliche und integrirende Verbindung zu bringen angefangen bat. 

Aber noch ein wejentlicherer Grund Tiefe ſich anführen, um 
jene Bezeichnung auch für jet noch zu rechtfertigen, weil dadurch, 
äußerlich wenigftens, auf den Unterſchied hingewiefen wird zwiſchen 
einer bloßen Phyfiologie und einer Lehre vom Geifte in feiner 
Naturunmittelbarkeit. Diefer Unterfchied ift ein hoͤchſt weſentlichet 
und. fan nicht ohne Schaden für beide in dieſem Gebiete eng fi 
berührende Wiffenfchaften, -die Phyfiologie wie die Pſychologie, 
‚verwifcht werben. Die Phyfiologie des Menſchen, als Theil der 
allgemeinen oder vergleichenden Biologie, hat lediglich, wenn 
fie den Umfang ihres Begriffes nicht überfchreiten will, das Wefen 
bes menſchlichen Organismus in feiner Eigenthümlichfeit zu er 
Tennen und feine allgemeinen wie eigenthümlidhen Funktionen aus 
jenem Begriffe zu erklären. Die weitere Unterfuchung jedoch, wie 
das Leben und feine Organe Werkzeuge oder Verwirklichungs⸗ 
mittel bes. Geiftes und Bewußtſeins werden, Tiegt jenfeits ihres 
Gebietes: denn fie Fennt nur das Leben und feine höchfte Erſchei⸗ 
nung, bie Senfi bilität, nicht aber den Geift, durch welchen dem 
Leben ebenfo eine eigenthümliche, völlig neue Stufe des Dafeind 
hinzugefügt wird, wie biefes den allgemeinen, anorganifchen Che: 
mismus fpecififch überragt. Wie Das intenfiofte Leben nie zum 
Geifte ſich zu ſchwingen vermag, fo kann auch die ausgebilbetfie 
Phyfioiogie Feine Erfcheinung des Geiftes erflären; nur die orga⸗ 








Der bisherige Zuftand d. Anthropologie n. Pfychologie. 69 


nifhe Bedingung deſſelben, das gerade, was an ber geiftigen 
Erſcheinung das Nichtgeiftige iſt, vermöchte fie zur Klarheit zu 
bringen. Daß die Phyfiologie in ihrer gegenwärtigen Beſchaffen⸗ 
beit felbft von diefem Ziele noch fehr weit entfernt iſt, wollen 
wir hierbei nicht in Anſchlag bringen. 
So hätten in eine phyſiologiſche Lehre von den menſchlichen 
Sinnen nicht hineingezogen werden ſollen alle diejenigen Phaäno⸗ 
mene, welche ſich nur aus der den Sinnenempfindungen einwoh⸗ 
nenden Denkthätigkeit erklären laſſen; wie z. B. im Gefichtsfinne 
Nähe und Entfernung nur beurtheilend wahrgenommen, die An⸗ 
ſchauung raumbegraͤnzter Außendinge nur durch Ausſonderung und 
Zuſammenfaſſung ihrer Theile ſelbſtihätig hervorgebracht wer⸗ 
den kam, wie im Hörfinne die einzelnen Töne und Laute zur 
Melodie oder zu Worten verknüpft werden können u. dgl., dies 
zu erklaͤren, iſt nicht mehr Sache der Phyſiologie, denn dazu reicht 
der Begriff einer auch noch fo geſteigerten Senfibilität nicht aus. 
Diefe zumaͤchſt nur formelle Abgränzung der Phyſiologie ift jedoch 
zugleich von höchfter materialer Bedeutung: fie hält dieſelbe ab, 
Erflärungen zu verfuchen, Hypotheſen auffommen zu laffen, bie 
der Eigenthümlichkeit der zu erflärenden Thatfadhen nur Gewalt 
anthun können; denn nicht irgend eine wanbelbare Theorie, fons 
dern der fpeeifiiche Charalter des Thatfählihen am Geifte 
verbietet jede ſolche Vermiſchung. Wie es nur zu ben größten 
Ungereimtheiten geführt hat, die Erfcheinungen des Lebens aus 
bloß phyfifchen und chemifchen Kräften zu erklären — (wenigftend 
ihien dies bis vor Kurzem noch als allgemeines wiflenfchaftliches 
Anerkenntniß dev Naturforfcher gelten zu Tönnen, bis jegt ein 
hervorragender Meifter chemifcher Forſchung die Rechte und Gräns 
zen der Chemie zu überfpannen fcheint, indem er annähernbe ober 
analoge Erfcheinungen für innere Wefensgleichheit hält): — fo if 
ed biefelbe Ungereimtheit, die Funktionen des Bewußtſeins und 
Denkens als die höchften Steigerungen des Lebensproceſſes, als 
Wirkungen einer eigenthümlichen, nur höhern Senfibilität zu bes 
trachten, und etwa auszufprechen, wie es gefchehen ift, daß, gleich- 
wie dem Magen das Verdauen, ber Lunge bie DOrybation bes 


70 Fichte, 


Blutes, gewiſſen Nerven die ſenſible oder motoriſche Thätigkeit, ſo 
dem Hirn das Denken und Selbſtbewußtſein zukomme, oder wenn 
man gar dahin geſtellt ſein laͤßt, ob nicht, wie das Leben, ſo auch 
das Bewußtſein, als Produkt einer beſondern Zuſammen⸗ 
ſetzung organiſcher Stoffe betrachtet werden könne. Hierin 
iſt nicht nur der Begriff des Bewußtſeins, ſondern ebenſo der des 
Lebens, der centralen organiſchen Thaͤtigkeit, auf das Tieſſte ver⸗ 
kannt und in offenbarſten Selbſtwiderſpruch verſetzt worden. Der⸗ 
gleichen principielle Verwirrungen neuerer ſonſt ausgezeichneter 
phyſiologiſcher Werke und Beſtrebungen, legen einer wiſſenſchaft⸗ 
lichen Pſychologie die dringende Verpflichtung auf, zunächſt nur zu 
thun, was ihres Amtes iſt und ſolche ungehörige Einmiſchung 
deſto ſtrenger von ihrem Gebiete zurückzuweiſen, je weniger ſie 
ſelber eine ſtete Beziehung auf die Phyſiologie mehr entbehren kam. 

Man pflegt wohl für all dergleichen Erklärungsverſuche an⸗ 
zuführen, daß es dem Gange Achter Naturforfchung gemäß ei, 


eine Hypothefe, ein Erklaͤrungoprincip fo weit als möglich über 
das Reich der Thatfachen auszubehnen. Aber doch wohl nur ber 


Thatfachen, bie mit jenen bereits erflärten unter einen gemeins 
fchaftlichen Grundbegriff einzureihen find, nicht aber berjenigen, 
deren fpecififcher Lnterfchied die bisher angewendete Analogie 
gerade zurücweist? Das letztere Berfahren wäre fürwahr die 
naturwidrigſte Art der Naturforfchung, indem ed gerade ale durch⸗ 
waltender Typus alles Natürlichen fich erweist, bie feftgezogene 
Graͤnze nirgends überichreiten zu können, nie bie eine Stufe des 
Daſeins unbefiimmt in bie andere überfchweifen zu laſſen, aber 
eben fo ftetig das Niedere in das Höhere aufzunehmen und von 
ihm unterwerfen zu laſſen als Mittel zu befien Verwirklichung. 
Nach diefer vorläufigen Abſcheidung des Gebietes der Phyfio- 
logie, — welche, fofern fie ſchon ale Glied einer Fünftigen Eney⸗ 
Hopäbie philoſophiſcher Wiffenfchaften betrachtet werben könnte, 
Schlußpunkt der Naturphilofophie und Webergangsmoment in bie 
Lehre vom Geift werden müßte, weil fie im menfchlichen Leibe das 


vochſte Produkt des organiſchen Lebens, damit zugleich aber bie 


hoͤchſte Verwirklichungsſtaͤtte Bes Geiſtes nachgewiefen hat, — laͤßt 





Der biöherige Zuſtand d. Anthropologie u. Pſychologie. 71 


fi mun beſtimmter der Umfang und bie Eintheilung der Lehre 
vom menfchlichen Geifte felber bezeichnen. So gewiß der wahre 
Eintheilungsgrund jeder Wiffenfchaft allein in dem objektiven 
Wefen ihres Gegenflandes gefunden wird, Tann bie Lehre vom 
menfchlichen Geiſte nur in zwei Theile zerfallen, und die auch 
hier beliebte Trichotomie iſt zurückzuweiſen: in einen anthroyos 
logiſchen, —um bie hiftorifch überlieferte, wenn auch ungenaue 
Bezeichnung. vorläufig beizubehalten, — als die Lehre von ber 
Naturbeftimmtheit des Geiftes nad ihrem ganzen Umfange, und 
in emen pfychologifchen, als die Lehre vom Geifte in feiner 
Entwicklung zum Bewußtfein und im Bewußtfein. Die beiben 
letztern Momente Tönnen aber nicht getrennt, nicht zum Principe 
einer neuen, durchgreifenden Eintheilung gemacht werben (etwa um 
die gewohnte Triplicität herauszubringen): denn es ift daſſelbe Prin- 
eip, die Immanenz der Ideen im@eifte, welches ihn ebenfo 
ſehr aus feiner Raturunmittelbarkeit in's Bewußtſein erwachen, 
ald im Bewußtſein felber feine volle Enwicklung vollenden läßt. 


II. 


Ueber den erſten Theil kann im Weſentlichen Fein Streit mehr 
obwalten. Zwar hat man neuerbings gegen die Ausführbarkeit 
einer ſolchen anthropologiſchen Lehre eingewendet, daß, indem 
Zuſtände, wie die dahin einſchlagenden, welche ſich als Produkt 


zweier Faktoren, des Leibes und des Geiſtes, ankündigen, nich 


wohl begriffen werben könnten vor ihren Faktoren, zuerſt alſo 
Anatomie, organifche Chemie, Phyfiologie den Leib, die Pſychologie 
ben Geift gehörig in's Licht ſetzen müffe, bevor man mit Hoffnung 
des Gelingens ſich an Erklärung jener Zuftände wagen dürfe *). 
Uns fcheint, bei aller Faßlichkeit dieſes Argumentes, dennoch Fein 
gültiger Abweifungsgrund für jene Aufgabe daraus hervorzu⸗ 
sehen. Zunächft ift hierbei nicht vom „Leibe”, ſondern vom Leben 
im Leibe die Rede, und ebenfo wenig, wie bie organifche Chemie 
etwa das Wefen des Lebens erkennen Fann, fondern nur gewifle 
ehr begränzte Wirkungsweifen und Produkte deffelben zu erfor. 


— — — 


*) Erner, die Pſychologie der Hegel'ſchen Schule. 1843. ©. 5. 6. 


79 Fichte, 


ſchen hat, fie alſo am Wenigſten unter die nothwendigen Hülſe-⸗ 
wiſſenſchaften der Anthropologie zu zählen iſt, wird auch der Be⸗ 


griff des Geiſtes fi aus der Summe einzelner pſychologiſcher 


Beobachtungen nicht ergeben, — fondern beide, der Begriff des 


Lebens wie des Geiftes, können nur durch Denken, durch Schluß 
von ihren Grundeigenfchaften auf ihr Wefen gefunden werden, 
fo daß in beiberlei Sphären die Betrachtung des Allgemeinen und 
Befondern, des Wefens, wie feiner befondern Eigenfchaften, fiel 
Hand in Hand gehen und fi) wechfelfeitig beflätigen muß. Da 
wäre es num ein feltfamer Zirkel, wenn man ſich nach dieſer melhe 
diſchen Anweifung der Erforfchung des Befondern fo lange zu em— 
fchlagen hätte, bis das Allgemeine erfannt wäre, oder umgeleht: 
bier alfo die anthropologiiche Betrachtung des Geiftes in feinem 
Berflochtenfein mit dem Leben und dem Organismus fo Tange 
auffchieben müßte, bis man das „Weſen“ deſſelben vollſtaͤndi 
erfannt, während vielmehr in diefer Verflechtung mit feiner Ne 
gation gerade das Weſen des Geiftes am Treffendften und lie 


verfennbarften an's Licht treten muß. Endlich) wäre es nur eix 


Derwirrung fireng aus, einander zu haltender Materien, wen 
man glauben wollte, durch genauere phyfiologifdye Studien üht 
bie Struftur des Hirns oder des Nervenſyſtems dem Wefen irgend 
eines pfychifchen Hergangs näher auf die Spur zu kommen, üb: 
haupt aus der Kenniniß des „Leibes“ ſich auch über jene antike 
pologifchen Mittelzuftände beftimmteres Licht zu verfchaffen. Wem 
Aehnliches der Verfaſſer auch nicht ausdrücklich behauptet, P 
müffen die eben ausgehobenen Bedenken und VBorausfegungen bob 
unvermeidlich auf dies Ergebniß hinführen. 

Der erfte Theil der Lehre vom. Geifte hätte demnad bit 
Naturbeftimmtheit defielben nach allen ihren Seiten zu erkennen: 
ebenfowoht fein Preisgegebenfein an eine äußere Natur, — vor 
den geographifchen, Flimatifchen, Iofalen Unterſchieden an, bid a 
ben begünftigenden oder hemmenden Körperbebingungen, welde 
in den Racenunterfchieden, wie überhaupt in allen erexrbten lab 
lichen Anlagen gegeben find, — wie die Präeriftenz des Geiſts 
in einer eigenen innern, damit zugleich ſubjektiv werbenben 


— 


Der bisherige Zuſtand d. Anthropologie u. Pfychologie. 73 


Natur, indem einestheils die organifche Beftimmtheit in bleibens 
den oder wechfelnden Gefühlsfiimmungen in's Bewußtfein tritt, — 
Die Teibliche Eonftitution als Temperament, die bleibenden Unter: 
ſchiede des Geſchlechts und die ſich ablöfenden der Lebensalter in 
charalteriſtiſchen Grundftimmungen der Individualität, endlich das 
allgemeine oder vorübergehende Förperliche Befinden in beftimmten 
Lebensempfindungen: — indemanderntheils aber auch der Geiſt 
in jedem Menfchen nur auf individuelle Weife, nad) angeborenem 
geiftigen Unterfchiede, ald Genius gegenwärtig ifl. Der Genius 
iſt Fein ausfchließender, nur gewiſſen bevorzugten Individuen bei⸗ 
zulegender Begriff: aud) der Geift ift nur wirklich als individua⸗ 
Ufirter, in dem befiimmten Herwortreten der einen oder der andern 
fealen Anlage, wenn diefe auch in der faktifchen Tebengentwid- 
Iung des Individuums Tatent bleiben, nicht zum vollen Bewußt⸗ 
fein und zum Siege über ihre organifhen und pſychiſchen Vor⸗ 
ausſetzungen gelangen ſollte. Der Begriff des Genius in dieſem 
"univerfalen Sinne iſt höchſtes Reſultat der Anthropologie: dieſe 
bat nachzuweiſen, wie das individualiſirende Princip des Men⸗ 
ſchen gerade im Geiſte (Genius) liegt und wie von dieſem aus 
die individualiſirende Färbung bis auf den Organismus und die 
körperlichen Anlagen ſich hinaberſtreckt, durch die der Leib der 
Abdruck und das entſprechende Werkzeug des Genius wird, Die: 
fer Begriff muß daher die Grundlage des zweiten Theiled der 
Pſychologie werben, Zugleich können wir aber nicht umhin, darin 
einen principiellen Fortfchritt dieſer Wiffenfchaft zu fehen: exit da⸗ 
mit hat fie das Princip erreicht, welches fie. der ganzen gegen- 
wärtigen Bildung gemäß macht. Diefe ift Die Epoche der Freiheit, 
des Triebes der Entwicklung eines Jeden nad feiner Eigenthüm⸗ 
Yichkeit. Wie hätte diefer jedoch Recht und Anſpruch auf foldye 
Entwidlung, wenn nicht jeder überhaupt nicht nur Geift, fondern 
darin zugleich Genius wäre? 

Die Pſychologie hak num ihrerfeits den Geiſt aus jenen 
univerfalen und individuellen Vorausfegungen feiner ſelbſt in 
feiner Entwicklung zum Bewußtfein zu begleiten: dies aber in 
doppelter Beziehung. Theils hat fie zu zeigen, wie ber Geiſt durch 

\ “ 


74 Fichte, | 
dies in's Bewußtfein Treten allmählich ſeinem Organismus ſich 
einbildet und zulegt frei in ihm gegenwärtig ift, als einem 
biegfamen, durchdringlichen Werkzeuge feiner felbft, — von der 
Sinnenthätigfeit an, welcher das Denken immanent if, bis hinab 
zu der unwillkührlichen Bernünftigfeit der dem Leibe eingeübien 
Geſchicklichkeiten. Theild hat fie aber auch umgekehrt zu zeigen, 
wie alles Geiflige von organischer Mitwirkung begleitet it, ww 
diefe Färbung mithinaufnimmt in die innerlichfien Zuſtaͤnde dei 
erfennenden, fühlenden und wollenden Bewußtfeins, — von den er⸗ 
ganifchen Stimmungen an, welde im unwillführlichen Selbfigefühl 
fi) fpiegeln, bis zu den Geiftesftörungen, bei denen eigentlich 
fomatifche Sranfheiten den Geift in feiner unmittelbaren Erfher 
nung verwirren oder verbunfeln. Sp ift der anthropologiſqhe 
Faden auch bier nie fallen zu laſſen. 

Was nun die methodifche Behandlung des zweiten yipde 
logiſchen Theiles betrifft, fo feheint ſchon vorläufig eine burg 
greifende Bemerfung am Orte. Seitdem man, die Borflellus 
gefonderter Geiſtes vermögen aufgebend, an deren Stelle da 
wahrhaftern Begriff einer flufenmäßigen Entwidlung des Fine 
ungetheilten Wefend des Geifles in das Bewußtfein und inner 
halb deſſelben gefegt hat: ift es, im Kreife der Heg el'ſchen Schuk 
wenigftend, zum Borurtheil geworden, dieſe Etufenfolge nur i 
einer einzigen ftetigen Reihe nach dem befannten dialektiſche 
Schema darlegen zu wollen. Aus diefer falſchen methodiſche 
Marime ift der allen Bearbeitungen der Piychologie vom Hegel: 
fhen Standpunkte gemeinſchaftliche Uebelftand erwachfen, welde 
von vorn herein ſchon die naturgemäße Auffaffung der Grub 
verhältnifie bes Bewußtſeins verfehren mußte, daß der vermein⸗ 
lich dialektiſche Uebergang vom theoretiſchen zum praktiſchen Geil 
oder zum Willen nur an der Stelle ſich ergeben kann, wo der 
theoretiſche Geiſt feine Vollendung und höchſte Entwidlung (iM 
Denfen) erreicht hat, und daß daB Gefühl als ein beiläufiged 
Ingrediens in einer ziemlich willführlichen und bei ben einzelnen 
Bearbeitern ſchwankenden Verteilung bald jenem bald dieſen 
Abſchnitte untergeordnet wird; — als ob in jener Beziehung 


Der bisherige Zuftand d. Anthropologie u. Piychologie. 75 


Der Wille nur dem Denfen entfpreche und blos diefes ihm im⸗ 
wnanent fei, während er vielmehr die fämmtlichen Stufen des Er: 
kennens begleitet und von ihnen aus felber einen parallelen Auss 
druck annimmt: — fowie in Diefer Beziehung das Gefühl ebenfo 
ein Beſonderes ift gegen Erfennen und Wollen und Doch vermittelnd 
Für die fämmtlichen Stufen berfelben zwiſchen beide tritt. Alle 
Läden und fehlenden Bermittlungen, alle Trennung des Zuſam⸗ 
wwengehörenden und nur burch feinen Zufammenhang zu Begrei- 
enden, wie bdiefe eine fpeciellere Kritif der Hegelichen Pſycho⸗ 
Uogie darzulegen hätte, zum großen Theil fchon dargelegt bat Caud) 
in dem angeführten Werfe von Erner, welder übrigens felbft 
jeder folhen methodiſchen Entwidlung abgeneigt ift, und in Ana= 
‚Nogie mit der Methode der Naturwiffenfchaften den Geift als 
unter gewiſſen Gefegen wirkfam betrachten will, — wir fommen 
weiterhin noch auf nähere Erörterung dieſes Punktes): alles dieß 
Hängt auf das Innigſte mit jenem methodifchen Borurtheile einer 
einzigen dialektiſchen Reihe zufammen, ja ift die nothwendige 
Folge deffelben. 

Sao kann der ädht wiffenfchaftlihe, d. h. der objektiven 
Natur und Entwicklung des Geiftes fi) anſchließende methodiſche 
Gang der Piychologie nur darin beftehen, das Erkennen, Fühlen 
und Wollen für ſich felbft darzuftellen, aber, weil jedes bie gleich⸗ 
mäßige Stufenfolge durchläuft, und auf jeder einen dem andern 
entfprechenden Ausdrud gewinnt, fie in einer dreitheiligen, paral⸗ 
felen Reihe durchzuführen. Wie der Geift in der Unmittelbarkeit 
feines Bewußtfeind ein noch ungefchiedened Ineinander bes gleich⸗ 
mäßig finnlichen Empfindens und Fühlens von Luſt und Unluſt, wie 
des ebenfo unmittelbaren, aber durch jene Momente. bedingten 
Kriebes ift: fo trägt der zu feiner felbfibewußten Verwirklichung 
gelangte Geift audy in feiner Vollendung noch denfelben Paralle⸗ 
lismus an fich, der fich aber zum felbfiftändigen Auseinanberfein, 
zur freien Unterfcheidung dieſer Zuftände entwidelt hat. Die 
höchſte Stufe des Erkennens ift das Denfen der Idee des Abs 
foluten und das Zurüdnchmen alles Bedingten in die Unbedingt: 
beit und Wahrheit beffelben: ge biefe Idee ift dem Bewußiſein, 


76 Fi.hte, 


fo gewiß es das des Geiſtes ift, zugleich immanent und urs 
fprünglich gegenwärtig; fo ift fie zugleich ſchon Inhalt feiner ur⸗ 
fprünglichen, bewußten Selbftbeftimmtheit oder des Gefühls: er 
weiß ſich unmittelbar, fühlt fih, als endlidh, hingegeben an jene 
Unenblichfeit. Der höchfte Inhalt des Denkens eriftirt als höchſtes 
Gefühl, Aber ebenfo eriftirt er im Willen, indem diefer, ale ſiti⸗ 
liche Sefinnung, nicht mehr das Einzelne, Selbfifche, fondern nur 
das Allgemeine will. Hier enthält jede Stufe das Gleiche, weil ber 
Inhalt, die dem Bewußtfein immanente dee die gleiche iſt; den- 
noch ift jeder Zuftand durchaus eigenthämlich und Tann ſelbſt⸗ 
fländig gegen den andern im Ich Hervortreten. Es ift Paralle- 
lismus, nicht Zufammenfallen. 

Ueberhaupt wird der Begriff paralleler dialektiſcher Reihen 
im ganzen Gebiete der Natur» und Geiftesphilofophie (in der 
Erhif haben wir ein anderes Beiſpiel dieſes Parallelismus an 
ber entfprechenden Entwidlung her Güter» und Pflichtenlehre ges 
geben *)) an bie Stelle jener einfachen dialektiſchen Begriffsver⸗ 
mittlung treten müflen, welche Hegel allein kennt, und in der 
Bezeichnung feines methodifchen Principe dahin charafterifirt hatte, 
daß jede einzelne Beftimmung, als für ſich unwahre, endliche, 
biernah dem Widerfpruche verfallen fei und fich in die Einheit 
der Gegenſätze, als das Affirmative derfelben, aufheben müſſe 
(Encyflop. Ste Aufl. F. 81. 82.). Hier fehen wir davon ab, — 
was anderswo ausführlicher dargeftellt worden — dag Hegel in 
diefen Beſtimmungen über die Methode „Widerfprudy” und „Gegen⸗ 
ſatz“, „Selbftaufhebung” und „Ergänzung“ ununterfchieden in ein- 
ander Iaufen läßt und eben daher auch eine „abftrafte Berftan- 
desbeſtimmung“, in welcher um bes Charakters ihrer Einfeitigfeit 
end Unwirktichfeit willen ein Widerſpruch aufgewiefen werben 
fan, welcder fie „aufhebt”, methodiſch ganz auf dieſelbe Weiſe 
behandelt wird, wie bie realen, endlichen Weltgegenfäte, von 
denen es gleichfalls gelten fol, daß fie, weil fie Gegenfäge find, 
eben darum auch alsk „widerfprechende” fih aufheben müffen 


*) Ueber den bisherigen Zuſtand der praßtifchen Phi— 
loſophie. Zeitfchr. Bd. XL Heft 2. S. 201 f. 





Der bisherige Zuftand d. Anthropologie u. Pſychologie. 77 


(„alles Endlihe ift der daſeiende Widerſpruch“, — „das Endliche 
ift dies, fich aufzuheben” u. dgl.). Diefe Grundverwirrung, welche 
in die realphiloſophiſchen Theile den ganz falfchen Begriff des 
Widerfpruhes und der Selbftaufbebung hinüberträgt, der 
nur an ben reinen, abftraften Begriffsbeftimmungen Geltung bat 
und nur bier nachgewiefen worden ift, mußte die falfche Damit 
zufammenbängende methodische Marime herbeiführen, auch in jes 
dem Realen den Widerfpruch aufweifen, es alg „bafeienden Wider- 
ſpruch“ behandeln zu wollen, ‚was ebenſo mit der erfahrungs⸗ 
wie begriffsmäßigen Auffaffung ber Wirklichkeit unverträglih iſt. 
Sm Realen, am Ausgebildetften im Leben und in den Berwirfii- 
chungen bes Geiftes, haben die Gegenfäge vielmehr felbfiftäntige 
Eriftenz für fich, jeder bildet fich zu einer eigenen Welt und einer 
relativen Totalität aus. Bei diefer realen Selbftftändigfeit ber 
Gegenfäge if es das gleich Unangemeffene, den einzelnen ohne den 
andern ald Widerfpruch behandeln, oder den Uebergang aus dem 
einen zum andern in berjelben Begriffsnothwendigkeit fuchen zu 
wollen, mit der ein abftraft einfeitiger Begriff das Denfen in feine 
Ergänzung überzugehen nöthigt. In der Natur’ wäre es fein 
Widerfprud, wenn wur die Welt der Schwere und bes Che⸗ 
mismus, ohne die höhern Stufen des Lebens und des Geiftes, exi⸗ 
ftirte, in der Sphäre bes Geiftes ift es feiner, vielmehr finden wir 
diefen Zuftand an Individuen, wie an ganzen Gefchlechtern und 
Bölfern realifirt, daß der. Geift nur noch in feiner nieberften Uns. 
mittelbarfeit, als das Ineinander von Empfindung, ſinnlichem 
Gerühle und Triebe, für fi vorhanden fei, daß ex hartmädig 
darin verharre, oder auch in irgend einem falfchen Extreme eins 
feitiger Ausbildung. Was fol bier daher bie grundverwirrende 
Borftellung einer auf Yöfung von Widerfprüchen beruhenden 
Dialektik? u 

Aber ebenfo wenig läßt fih fagen, Daß der Uebergang ber 
realen Gegenfäge in ihre Ergänzung als ftetiger, in Einer Reihe 
dahinlaufenber gebacht werben könne. Es ift ſchon oft ausge 
fprochen worden: bie Pflanze ift das relativ Niebere gegen das 
Thier; dennoch ift Fein direkter Fortſchritt von jener zu diefem, 


76 Fi.hte, 


fo gewiß ed das des Geiſtes ift, zugleich immanent und ur 
fprünglich gegenwärtig; fo ift fie zugleich fchon Anhalt feiner ur . 
fprünglichen, bewußten Selbftbeftimmtheit oder des Gefühle: er 
weiß ſich unmittelbar, fühlt fih, als endlich, hingegeben an jene 
Unendlichfeit. Der höchſte Inhalt des Denkens eriftirt als höchſtes 
Gefühl, Aber ebenfo eriftirt er im Willen, indem biefer, als füt 
liche Sefinnung, nicht mehr das Einzelne, Selbftifche, fondern mr 
das Allgemeine will. Dier enthält jede Stufe das Gleiche, weil der 
inhalt, die dem Bewußtſein immanente Idee die gleiche ift; den 
noch ift jeder Zuftand durchaus eigenthümlich und Tann felh- 
fändig gegen den andern im Ich hervortreten. Es ift Para 
lismus, nicht Zufammenfallen, 

Veberhaupt wird der Begriff paralleler dialektiſcher Reihen 
im ganzen Gebiete der Natur= und Geiftesphilofophie (in de 
Erhif haben wir ein anderes Beiſpiel diefes Paralleliamus an 
ber entfprechenden Entwidlung her Güter» und Pflichtenlehre ge 
geben *)) an die Stelle jener einfachen dialektiſchen Begriffever— 
mittlung treten müflen, welche Hegel allein kennt, und in be 
Bezeichnung feines methodifchen Principg dahin dharafterifirt hatte, 
daß jede einzelne Beftimmung, als für ſich unwahre, endliche, 
biernach dem Widerfprucdhe verfallen fei und fich in die Einhei 
der Gegenfäse, als das Affirmative derfelben, aufheben miäfl 
(Encyklop. Ste Aufl. F. 81. 82.). Hier fehen wir davon ab, — 
was anderswo ausführlicher dargeftellt worden — dag Hegel 
biefen Beftimmungen über die Methode „Widerſpruch“ und „Gegen 
ſatz“, „Selbftaufhebung” und „Ergänzung“ ununterfchieden in ein 
ander laufen läßt und eben daher auch eine „abftrafte Verſtan⸗ 
besbeftimmung”, in welcher um bes Charakters ihrer infeitigfet 
and Unwirktichfeit willen ein Widerſpruch aufgewiefen werber | 
kann, welcher fie „aufhebt”, methodifh ganz auf dieſelbe Weiſe 
behandelt wird, wie die realen, endlichen Weltgegenfäge, von 
benen es gleichfalls gelten fol, daß fie, weil fie Gegenfäge find, 
eben darum auch als „widerfprechende” fih aufheben müſſen 


*) Ueber den bisherigen Zuſtand der praktiſchen Phi⸗ 
loſophie. Zeitfchr. Bd. XL Heft 2. ©. 201 f. J 


Der bisherige Zuftand d. Anthropologie u. Piychologie. 77 


(‚alles Endlihe ift der dafeiende Widerſpruch“, — „das Endliche 
iſt dies, fich aufzuheben‘ u. dgl.). Diefe Grundverwirrung, welche 
in die realphilofophifchen Theile den ganz falſchen Begriff des 
Widerfprudes und der Selbftaufhebung hinüberträgt, der 
nur an ben reinen, abftraften Begriffsbeftimmungen Geltung hat 
und nur bier nachgewiefen worden iſt, mußte die falfhe damit 
zufammenhängende methodifche Maxime herbeiführen, auch in je- 
dem Realen den Widerfpruch aufweifen, es alg „bafeienden Wider- 
fprud” behandeln zu wollen, was ebenſo mit ber erfahrungss 
wie begriffsmäßigen Auffaffung der Wirklichkeit unverträglich ift. 
Im Realen, am Ausgebilbeiften im Leben und in den Berwirkli- 
«ungen bed Geiſtes, haben die Gegenfäge vielmehr felbftftäntige 
Exiſtenz für fich, jeder bildet fich zu einer eigenen Welt und einer 
relativen Totalität aus. Bei diefer realen Selbftftändigfeit ber 
Gegeufäge ift eö Das gleich Unangemeffene, den einzelnen ohne den 
andern ald Widerfpruch behandeln, oder den Uebergang aus dem 
einen zum andern in berfelben Begriffsnothwendigkeit fuchen zu 
wollen, mit der ein abftraft einfeitiger Begriff das Denfen in feine 
Ergänzung überzugehen nöthigt. In der Natur wäre es Fein 
Widerſpruch, wenn wur die Welt der Schwere und des Che⸗ 
mismus, ohne die höhern Stufen des Lebens und des Geiftes, exi⸗ 
ſtirte, in der Sphäre des Geiſtes ift es Feiner, vielmehr finden wir 
diefen Zuftand an Individuen, wie an ganzen Gefchlechtern und 
Bölfern realifirt, Daß der. Geift nur noch in feiner nieberften Uns 
mittelbarfeit, als das Ineinander von Empfindung, finnlihem 
Geſühle und Triebe, für fih vorhanden fei, daß ex harinädig 
Darin verharre, oder auch in irgend einem falfchen Extreme ein- 
feitiger Ausbildung, Was foll hier daher die grundverwirrende 
Borftellung einer auf Löſung yon Widerfprüchen beruhenden 
Dialektik? u | | 

Aber ebenfo wenig läßt fih fagen, DaB der Uebergang ber 
realen Gegenfäge in ihre Ergänzung als fletiger, in Einer Reihe 
dahinlaufender gedacht werben könne. Es iſt ſchon oft ausge 
fprochen worden: die Pflanze ift das relativ Niebere gegen dag 
Thier; dennoch ift Fein direkter Fortſchritt von jener zu diefem, 


78 Fichte, 
fo daß die höchſte Pflanze dem niederſten Thiere ſich anſchlöſſe; 
vielmehr erheben fich beide aus einer gemeinfhaftlihen, für den 
Gegenfag noch indifferenten, jaͤ fogar in ihrer Bildung zwiſchen 
beiden ſchwankenden Grundlage nad) entgegengefetter Richtung: 
ihre gegenfeitige Ergänzung finden fie erfi in dem umfaflenden 
- Ganzen der Natur. Ebenſo verhält es fi) mit den Stufen dei 
Geiftes, in. deren jeder, je höher fie ift, der Geift feinem Begriffe 
befto gemäßer heroortritt, darum nicht minder jedoch, weil er in 
jedem Gegenfage dennoch als der ganze zu exiftiren vermag, auf 
jeder untergeorbneten Stufe ohne Widerſpruch zu verharren ver 
mag. Hiermit ift alfo ebenfo fehr die aprioriftifche Begriffenoth 
wendigfeit, deren Gegentheil anzunehmen Wiberfpruch wäre, al 
ein birefter „dialektiſcher“ Nebergang dieſer Nothwendigkeit auf 
gefchloffen: das Hegel’iche Princip der Methode in der Ausbir 
dung, in welcher er es belaſſen, wo fie lediglich an der Löfung bie 
lektiſcher Widerſprüche bahinlaufen fol, zeigt fi) Daher als durqh⸗ 
aus unanwenbbar auf die beiden Syhären der Natur und bes Ger 
ſtes; fie ift einzig der Logik oder Metaphyſik vorzubehalten. 
Exner hat es fich zur befondern Aufgabe gemacht, ben Mi 
brauch der Hegel'fchen Dialektik namentlich in feiner Pſychologe 
aufzudeden, Wir fönnen mit dem Begriffe berfelben unter den fihon 
angegebenen Modifikationen auch die Bezeichnung preisgeben, wen 
man unferer Methode nur den doppelten Unterſchied gegen bad ge 
wöhnliche Verfahren zugefteht: zuerft, daß man ſich enthalte, in der 
Piychologie nad) einer Mannigfaltigkeit von „Geſetzen“ oder „Ber 
mögen” des Geiftes zu fuchen, um aus dem einen ober dem aw 
dern Begriffe die verfchiedenen Erfcheinungen defielben erklären m 
wollen, aus dem einfachen Grunde, weil die Begriffe bes Gefebed 
oder bes Vermögens felbft nur unerwiefene VBorausfegungen find; 
fondern dag nachgewiefen werde, wie ber Geift, fein Wefen an 
dem Andern einer Objektivität verwirflichend, dadurch aus feiner 
urfprünglichen Einheit und Einfachheit ein Unterfchiedenes werde; 
ſodann: dag die Methode eben darum mit vollfommeger Obi 
tioität alle Eintheilungsgründe nur aus dem betrachteten Objehe 
felber fchöpfen und in ihm nachweiſen könne. Der Begriff einer 


Der bisherige Zuftand d. Anthropologie u. Pfychologie. 79 


:folchen fletigen Entwidlung aus jenen beiden Grunbfaftoren des 
Weſens und feines Verhaltens zu einer Objektivität, an welcher der 
Geiſt zum Bewußtfein femer felbft fommt, hat dasjenige zu ers 
-fegen, was bisher die verfchiebenen Seelenvermögen genannt 
wurden. Der Beweis einer nothwendigen Stufenfolge darin, 
um das Weſen des Geiſtes zu der feinem Begriffe entfprechen- 
den Eriftenz zu bringen, wird fobann an die Stelle desjenigen 
:zu treten haben, was man „Gefege” der Seelene-Brmögen oder 
Zuftände genannt hat. 

Was nämlich hier Gefes beift, und was nad dieſem Augs 
drude ald ein Fremdes, durch irgend eine Fügung von Außen 
Auferlegtes erfcheint, ıft in Wahrheit.nichts mehr, als eine aus 
. Erfahrung gefhöpfte, allgemeine Thatfache des Bewußtſeins, wel⸗ 
her die befondern fubfumirt werden, was man ſodann eine „Er⸗ 
Härung” der letern zu nennen beliebt, während der Zirkel dieſes 
Berfahrens, falls man dadurch Etwas erklärt zu haben meint, 
ganz handgreiflih if. So 3. B. verhält es ſich mit den „Geſe⸗ 
tzen“ der Vorftellungsaffociation in der empirifcheg Pſychologie. 
Sie find aus einzelnen Beobachtungen abfirahirte allgemeine Er⸗ 
fahrungen, wie fih Vorftellungen unwillführlich zu verfnüpfen pfle- 
gen. Gegen dies Berfahren, aus befonderer Empirie zu allge- 
meiner aufzufteigen, ift in biefem Streife nicht das Geringfte anzu- 
"wenden; nur ein Gefeb kann man diefe Erfahrung nicht nennen, fo 
lange nicht die Nothwenbdigfeit aus dem Wefen des Gegen- 
ftandes für diefelbe nachgewiefen worden ifl. Ebenfo wenig kann 
man glauben, eine einzelne Thatfache in Wahrheit aus ihr ers 
klärt zu haben, wenn nichts Anderes geſchehen ift, als daß man 
fie unter ihren Allgemeinbegriff, als Beleg für jene allgemeine 
&rfahrung, fubfumirt bat. 

Wenn Exner daher erklärt, für die Fünftige Piychologie nur 
davon Heil erwarten zu können, daß fie, ganz auf den Weg der 
Naturforſchung zurüdfehrend, die Geſetze der Seelenzuftände auf- 
fuche und von ihnen aus dann die Erflärung der befondern See- 
Ienerfcheinungen unternehme: fo wird er ſich erinnern, wie bie 
empirifche Naturforfchung felbft dieſen Zirkel einer aus unbegründes 


80 Site, 

ten metapbyfifchen Borausfeßungen ihr aufgebrängten Methode, von 
den Erfcheinungen auf gewifle hypothetiſch anzunehmende Gefehe, 
Kräfte, Materien u. dgl. zurüdzufchlichen, und Daraus, wie and 
erwiefenen Objeftivitäten, die Erfcheinungen „wiederum erklären 
zu wollen, felber befeitigt hat, und. auf den wirklich förbernden 
. Weg einer völlig unbefangenen, vorausfegungslofen Empirie zw 
rüdgefehrt ift, durch Beobachtung oder durch Verſuch alle Er 
fheinungen eines Naturgebietes oder einer beſtimmten Naturfraft 
zu erfhöpfen, und dann gewiß zu fein, das Wefen biefer 
Kraft oder diefer Erfcheinungen völlig erfannt zu haben, der Theo 
vie darüber mächtig zu fein, und bes Ummeges einer Erklärumg 
aus befondern Gefegen, verborgenen Kräften oder Materien nigt 
mehr zu bedürfen. | 

Gerade auf diefelbe Weife bat unferes Erachtens bie Pi 
chologie zu verfahren, um zur Theorie Des Geiſtes zu werben 
Der nur empirische, blos beobachtende Weg, die Thatfachen def 
felben zu fammeln, zu verzeichnen und in georbneten Gruppen p 
fammenzufaffen, ift nur der propäbeutifche,, einleitende. nme 
muß man ben entfcheidenden Schritt thun, das Eine Wefen dii 
©eiftes in der Mannigfaltigfeit feiner Erfcheinungen erkennen p 
wollen. Exner könnte der Meinung fein, dag dies zu frühzeitig 
fei, daß man ſich noch mit jenen Vorſtudien länger zu befchäftige 
babe. Hierüber ließe fich fireiten oder berathen; aber irgend eier 
mal muß man den Muth haben, zur eigentlichen Aufgabe zu kom 
men, und kaum fönnte man hierbei die Anweifungen befolgen, 
welche der Herr Berfaffer dafür in Vorfchlag bringt, weil fie wert 
dem Charakter reiner, vorausfeßungslofer Empirie, noch dem eine 
fpefulativen Begründung entſprechen. 

Da ift es nun die entfcheidende Frage, worin jenes Wefen 
des Geiftes und zugleich damit dag Grundprädikat Deffelben be 
fiebe? In Betreff diefer Trage fünnen wir ung eines NRüdtidt 
auf die bisherigen pfychologifchen Prineipien nicht entfchlagen, de 
ven vergleichende Kritik deßhalb eine Hauptaufgabe der gegenwär 
tigen Abhandlung if. Auch bier verfolgen wir nämlich unſere 
wiffenfchaftliche Maxime, aus der Sichtung der bisherigen Er 





Der biöherige Zuftand d. Anthropologie u. Pfychologie. 88 


durch die Kantifche Auskunft: dag das Weſen ber Seele an 
fih unerfennbar fei, und daß wir nur von ihrer Erfcheinung wife 
fen, daß es fomit gänzlich den Horizont unfers Erkennens über, 
feige, jene Frage löfen zu wollen, wie und ob die an fich feiende 
Einheit der Seele zu einem an fih Mannigfaltigen werde? Um 
jo mehr Tonnte man fih daher empiriſchen Analyfen zuwenden, 
und in ber That hat — wir dürfen nur an bie Pſychologieen aus 
der Kantifch = Friefiihen Schule erinnern — das Zergliedern. des 
Bewußtfeins in die mannigfachften Ober- und Untervermögen erft 
jest feine ganze Geltung erhalten. Ueberhaupt ift zu fagen, daß, 
wie epochemachend Kant's Verdienſt in anderer Weiſe um bie 
Pſychologie if, indem er den Beweis der Apriorität und Ders 
nunfturfprünglichkeit für bie Ideen führte und fo erft Das Weſen 
der Bernunft, des Geiftes, gefunden bat, doch feine unmittelbare 
Wirfung für die fletige Entwidlung der Piychologie lähmend und 
desorientirend war. Bis in bie gegenwärtige Epoche hinein Fäns 
pfen wir noch in Bezug auf das Wefen des Geiftes und fein Ver⸗ 
bältnig zur Natur und zum eigenen Leibe mit den damals herr⸗ 
Ihenden Borftellungen, welche, zu ihrer Zeit Fonfequent und 
wohlbegrünbet, jet, wo wir jene Prämiffen aufgegeben haben, 
und als bloße Borurtheile übrig geblieben find. Wir werden fie 
fennen lernen, — 

Aber auch andererfeits ift der Grundgedanke, welcher ber als 
ten rationalen Pſychologie (eigentliher Prneumatologie) zu Grunde 
Ing, — richtig verftanden — ebenfo bedeutend als verbienftlich, 
„Einfachheit” der Seele, im Gegenfage der „Zufammenges 
ſetztheit“ eines aus mannigfaltigen Stoffen beftehenden Leibes, 
it, wenn auch nicht eine treffend gewählte Bezeichnung, doch ein 
treffend hervorgehobener Grundbegriff derfelben, um jene, bie 
Mannigfaltigfeit und den Wechfel an ihm durchdringende und zur 
Einheit feiner felbft vermittelnde, die Raum» und Zeitunterfchiede 
der eigenen Entäußerung ſtets überwindende Macht des Seeli⸗ 
ſchen überhaupt, beftimmter des Geiftes, als unterfcheidenden Cha⸗ 
vater beider an die Spige der Wiffenfchaft zu ftellen. In biefer, - 
feine Mannigfaltigkeit ſtets in fich ſelbſt zurücführenden Einheit 

6*r 


Ho. Fichte, 

{wofür man dort „Einfachheit“ fagte) iſt Das Weſen, der fpecififche 
Unterfchied der Seele von allem Nichtfeelifchen ausgebrüdt: Dies 
fer Begriff muß die, wenn auch noch abflrafte, Grundlage aller 
Pſychologie werben. Nur hätte bort, — was ald die Folge ber 
durchwaltenden (dogmatifchen) Methode zu bezeichnen ift, die nad) 
dem Grundfage des ausgeſchloſſenen Dritten über dag Entweder⸗ 
Oder zweier ſich ausfhliegenden Gegenfäte nicht binausfommt, 
— die Seele nicht das nur Einfache, das fpecifiih Entgegenge⸗ 
feste des Körpers, dieſer nicht Das nur Zufammengejeßte, die Ver⸗ 
neinung ber Seele, bleiben follen. So ift jene richtige, wenn aud 
in einen falfchen Ausdrud und faliyen Gegenſatz gebrachte Grund» 
auffaſſung (in den Gegenfag eines „Einfachen”, dem „Zufammen- 
gefeßten” gegenüber) um ihre urfprüngliche Wahrheit gefommen. 
Vollends gerieth fie dann burg) Mendelsfohn’s formelle, auf 
bloßer Begriffsanalyfe berubende Beweisführung von der Beharr- 
lichkeit und Unzerfiörbarfeit der Seele um ihrer Einfachheit willen, 
poſitiv, negativ durch Kant's Widerlegung dieſes Beweifes und 
des ganzen wiflenfchaftlichen Verfahrens, auf Dem berfelbe berubte, 
in Berruf und Vergeſſenheit *). 

Hiernach halten wir und zu dem Ausfpruche berechtigt, daß 
beide Stanbpunfte der Piychologie, jener wie biefer, nicht mehr 
der gegenwärtigen wiflenfchaftlichen Gefammtbilbung angemeffen 
find. - Der alten rationalen Piychologie denkt ohnehin jegt Nies 
manb mehr ſich anzunehmen; aber auch von dem, was jeßt noch 
für empirifche Pſychologie im hergebrachten Sinne gefchieht, haben 
wir ein Recht, in vorliegender Kritif abzuſehen. 

IV. | 

Sp bleiben nur zwei philofophifche Standpunkte übrig, welche 
eigentlih der Gegenwart angehören und auch im Bereiche ber 
Pſpchologie an ber Tagesordnung find: es find die bes Hegel’; 
fhen und des Herbart’fchen Syſtemes. Se mehr fich beide in 
allen Theilen ber Wiſſenſchaft entgegengefegt find, und je mehr 
jede, in Ausichlieglichfeit gegen die andere, eine beftimmte Des 


*) Kant, Kritit der reinen Vernunft ©. 213 fie Ste Auf. 





Der bieherige Zuftand d. Anihropologie u. Pfychologie. 85 


rechtigung für fh in Anfpruch zu nehmen hat: befto ficherer müſ⸗ 
fen fie fih in irgend einer höhern Einheit ausgleichen laſſen. 
Dies gilt überhaupt und namentlich auch in Rückſicht auf die bei⸗ 
berfeitigen pſychologiſchen Principien, fo gewiß fich zeigt, baß der 
Gegenfag, welcher beide Philofophieen aus einander hält, nur 
der nämliche iſt, aber in erneuerter und weit entfchiebnerer Ge⸗ 
Ralt, der auch in früheren Epochen der Philofophie uns begeg« 
net und ber immer in einem vermittelnden Begriffe ſich ausgegli⸗ 
hen hat, weil jeder in Wahrheit nur die Ergänzung des andern 
iſt. Wir fönneo in Bezug auf dies Berhältniß uns auf bie all⸗ 
gemeinen Rachweifungen berufen, welche wir in einem größern 
kritiſchen Werfe darüber gegeben haben 9). 

Beiden Schulen zur Seite fteht eine Gruppe empirifcher For- 
ſcher, welche, von dem großen, die heutige Phyfiologie beherrfchen- 
den Gedanken der ftufenmäßigen organifchen Entwicklung erfüllt, 
biefen Begriff auf das Leben der Seele und des in ihr ſich verwirk⸗ 
tihenden Bewußtfeing übertragen, und aud) in biefem einen Ent⸗ 
widlungsproceß immer tieferer Verinnerlichung bed Neußerlichen 
nachzuweiſen fuchen. Es wird einer mehr fpeciellen Ausführung 
zu überlafien fein, zu zeigen, wie fehr diefe Unterfuchungen einer: 
geläuterten, von den fpefulativen. Ideen der neuern Zeit befruch⸗ 
teten Empirie mit dem wahren philofophifchen Verfahren Hand in 
Hand gehen und daſſelbe unterſtützen und bereichern. 

Hegel’s und Herbart’s Prineipien ſcheinen zunächft nun, 
obenhin betrachtet, ebenfo in unauflöslichem Wiberftreite beharren 
su mäffen, wie ihre Refultate im Einzelnen unverträglic) mit eins 
ander find, und wie beide Schulen auch in ihrer äußern Erfcheis 
nung fich gegenfeitig befämpfen. Daß dem nicht fo fei in Bezug 
auf den metaphyſiſchen Grundgedanken Herbart’s, haben 
wir in bem angeführten Eritifchen Werke gezeigt, ebenfo in unfes 
rer Ontologie in’ allgemein fpefulativer Beziehung dig beftimmte 
Stelle nachgewiefen, wo der wichtige Begriff einfacher Weſen, 


*) Beiträge zur Charakteriſtik der neuern Philoſophie, 2te Aufl. 
S. 1044 f. 


86 Fichte, 


obwohl in- vermitteltem Zufammenhange und keinesweges, wie bei 
Herbart, als ein urfpräünglicher oder leßter, alfo um ein weſent⸗ 
liches Moment erweitert, in die objektiven Weltfategorieen einzus 
reihen if. Auf analoge Weife verhält ‘es fih mit den Piycholos 
giſchen Principien beider Syfteme: jedes für ſich bietet dar, was 
das andere, eben darum zugleich ihm fchroff entgegengefegte, ge⸗ 
rade vermiflen läßt. Diefer doppelte Mangel ift zunächft nachzu⸗ 
weilen: gelingt es dann, jene Gegenfäge in einem britten, beibe 
in Einheit zufammenfaflenden Principe zu vermitteln, fo möchte 
die wahre Löfung des piychologifhen Grundproblemes, Der wahre 
Degriff des Geiftes gefunden fein. Dies zu zeigen, wäre die wei- 
tere Aufgabe der gegenwärtigen Abhandlung. 


V. 


Daß wir zuvoörderſt Hegel's methodologiſchen Grundgedan⸗ 
Sen, in feiner Allgemeinheit gefaßt, auch für die Pſychologie 
noch immer als den richtigen erfennen, trotz aller Angriffe, die 
vefonders von diefer Seite her in der neueren Zeit auf das Sy⸗ 
ſtem gemacht worden find, wird Diejenigen Leſer nicht überrafchen, 
welche auch nur den letzten dieſen Kampf betreffenden Artifel ın 
gegenwärtiger Zeitfchrift (Bd. XL ©. 43 ff.) gelefen haben, und bie 
fih aus einer noch frühern Abhandlung „über das Princip 
der philofophifhen Methode” (Bd. IV. S. 44 — 47) der 
Erklärungen erinnern, unter welcher Einfchränfung wir überhaupt 
nur von Anfang an in Hegel’s methodiſchem Principe Wahrheit 
geſehen haben. Weber bie aprioriſche Herleitung concreter Bes 
ſtimmungen aus einem vermeintlich abfoluten Begriffe durch reis 
ned Denken, noch das babei überall wieberfehrende Schema ber 
Zriplicität enthielt ung diefe Wahrheit, vielmehr nur der wichtige 
und fruchtbare Grundgebanfe, daß die wahre Methode allein der 
innern Notpwenbigfeit des betrachteten Gegenſtandes nachzugehen, 
biefe in ſich wieberzufpiegeln habe, welche barum zugleich bie 
innere Vernunft der Sache ift, indem fi) zeigt an dem durchge: 
henden Erfolge diefer, dem objektiven Verlaufe des Gegenftandes 
nachgehenden Unterfuchungen, wie jene Nothwendigkeit bie ſchlecht⸗ 

















v 


Der bisherige Zuſtand d. Anthropologie u. Pſychologie. 87 


bin vernünftige, die vollendete Auswirkung ber innern Zwedmäs 
ßigkeit it, daß mithin unfere unterfuchende Vernunft und ſubjel⸗ 
tive Denkthätigkeit fidh nur zu. unterwerfen habe, nachbenfen müfle 
jenem objektiven Gedanken, ber im Gegenſtande ſelbſt bereits v ver⸗ 
wirklicht uns vor Augen liegt. 

Dies methodologiſche Princip, auf den Gegenſtand der Pſy⸗ 
chologie angewendet, klann nun im Weſentlichen, nur ſelbſtbewuß⸗ 
ter und feiner allgemein wiſſenſchaftlichen Berechtigung gewiſſer, 
blos daſſelbe erſtreben, was, lange vor Hegels Methode und vor 
feinen pſychologiſchen Unterſuchungen, die genetifche oder (nach 
Stiedenroth) die heuriftifche Methode für diefe Wiſſenſchaft 
zn leiſten gedachte 9. Schon da lag überall der Begriff im 


* Es iſt und die Bemerkung Erd mann s („Leib und Seele” ©. 23 f. 
and „Lehrbuch des Pſychologie“ F. 4.) nicht entgangen, daß er 
die genetifche Methode nicht für die rechte philofophifche, ſondern 

veſentlich verfchieden von der „dialektiſchen““ halten müfle, in⸗ 
dem fie den Gegenfland darftelle, nicht wie er ſich „aus feinem 
ewigen Grunde entwidele”, fondern nur wie er „ans feinen 
veranlaffenden Urfachen” hervorgehe, die weſentlich verfchieden 
und auc in der Betrachtung genau abzufondern feien von jenem. 
&r erläutert dies an den beftinnmten Beifpielen, daß der Staat, 
hiftorifch betrachtet, entſtanden fet aus gewaltthätiger Unter: 
drückung und Räubereien, hiermit alfo aus Unfittlicheit, wähs 
send der „ewige Urfprung‘ des Staates in der fittlichen und 
vernünftigen Natur des Menfchen liege, beflen Begriff daher 
als nothwendig poftulist und Defivegen auch, hervorgebracht 
werde: ebenfo werde die genetifche Betrachtung der Rechts⸗ 
verhältniffe das perfönliche Recht erft aus dem Begriffe des 
, Staates hervorgehen laſſen, während die dialektiſche Behandlüng 
das abſtrakte Recht als fich aufhebend in den concretern Begriff 
der Familie und des Staates nadyzuweifen hätte. — Wir haben 
mit Abſicht dieſe Beifpiele angeführt, weil fih uud aus ihnen 
zu ergeben fcheint, daß er etwas Anderes als genetifche Methode 
bezeichnet, ald was namentlich die weiterhin von und angeführ- 
ten Korfcher darunter verftanden, zu denen man noch Carus 
den Jüngern in feinen „Vorleſungen über Pſychologie“ (1834), 


86 Fichte, 

obwohl in vermitteltem Zuſammenhange und keinesweges, wie bei 
Herbart, als ein urſprünglicher ober letzter, alſo um ein weſent⸗ 
liches Moment erweitert, in die objektiven Weltkategorieen einzu⸗ 
reihen if. Auf analoge Weiſe verhält es ſich mit den pſycholo⸗ 
gifchen Principien beider Syfteme: jedes für fich bietet dar, was 
das andere, eben darum zugleich ihm fchroff entgegengefegte, ges 
rade vermiffen läßt. Diefer doppelte Mangel ift zunächft nachzu⸗ 
weifen: gelingt es dann, jene Gegenſätze in einem dritten, beibe 
in Einheit zufammenfafienden Principe zu vermitteln, fo mörhte 
die wahre Yöfung des pfychologifchen Grundproblemeg, Der wahre 
Degriff des Geiftes gefunden fein. Dies zu zeigen, wäre Die weis 
tere Aufgabe der gegenwärtigen Abhandlung. 


V. 


Daß wir zuvörderſt Hegel's methodologiſchen Grundgedan⸗ 
ken, in ſeiner Allgemeinheit gefaßt, auch für die Pſychologie 
noch immer als den richtigen erkennen, trotz aller Angriffe, die 
vefonders von dieſer Seite her in der neueren Zeit auf das Sy 
ſtem gemacht worden find, wird diejenigen Lefer nicht überraschen, 
welche auch nur den letzten diefen Kampf betreffenden Artifel ın 
gegenwärtiger Zeitfchrift (Bd. XI. ©. 43 ff.) gelefen haben, und die 
ſich aus einer noch frühern Abhandlung „über das Prineip 
der philofophifhen Methode” (Bd. IV. S. 44—47) der 
Erklärungen erinnern, unter welcher Einfchränfung wir überhaupt 
nur von Anfang an in Hegel’s methodifchem Principe Wahrheit 
gejeben haben. Weber die apriorifche Herleitung concreter Bes 
ſtimmungen aus einem vermeintlich abfoluten Begriffe dur rer 
ned Denfen, noch das dabei überalf wieberfehrende Schema ber 
Zriplieität enthielt ung dieſe Wahrheit, vielmehr nur der wichtige 
und fruchtbare Grundgedanfe, daß bie wahre Methode allein der 
innern Nothwendigkeit des betrachteten Gegenftandes nachzugehen, 
dieſe in ſich wiederzufpiegeln habe, welche barum zugleich bie 
innere Vernunft ber Sache iſt, indem ſich zeigt an dem durchge: 
henden Erfolge diefer, dem objektiven Verlaufe des Gegenſtandes 
nachgebenden Unterfuchungen, wie jene Nothwendigkeit die ſchlecht⸗ 


E | 


Der bisherige Zuftand d. Anthropologie u. Pſychologie. 89 


fo eine-Stufenreihe von immer vollendetern, geiftigern, d. h. 
ihrem Begriffe gemäßeren Zuftänden burchfchreite, deren febe unter» 
georbnete bie höhere bedingt und zugleich ihr als Grundlage dient, 
bis in diefer Selbftentwidlung der ganze Begriff bes ſelbſtbewuß⸗ 
ten Geifles erreicht, das Weſen (der Begriff) der menfchlichen 
Seele verwirklicht iſt. Ä 
Die allgemeine Idee einer folchen objektiven Entwicklungs⸗ 
gefchichte des Geiſtes wurde beftimmter zuerſt angeregt durch ben 
allgemeinen von Fichte's Wiffenfchaftsicehre und von der Natur- 
philofophie ausgehenden Impuls, und Schellings „Syftem des 
transfeendentalen Idealismus“ (1800) können wir als ben erften, 
ansgeführteften Verſuch einer folchen genetifhen Gefchichte des 
Selbſibewußtſeins betrachten. Der ältere Carus (Pfychologie, 
1 Bde 1808), wiewohl feinem Werke die Vorftellung noch zu 
Orunde liegt, „daß die Seele das Unbefannte fei”, beftrebt fi) 
dennoch nicht minder, aus ber Einheit des Subjektes mittelft fei- 
nes Berhältniffes zu einem Andern, Afficirenden, bie Mannigfal⸗ 
tigfeit feiner Zuſtände herzuleiten. Die. Einheit ift das Gefühl, 
in weldem ſich die Selbftheit concentrirt: die Dannigfaltigfeit 
entipringt aus dem Objekte und wird durch den Sinn bervorge- 
rufen. Die Richtung auf das Objekt, der Trieb, fucht das 
Gefühl mit Dem Objekte auszugleichen. — Diefer grundlegende 
Anfang wäre vortrefflich gewefen, wenn es Carus gelungen 
wäre, theils bie reichlich abgeftuften Gegenfäge des Bewußtfeine, 
welche er unterfcheibet, aus jenen Grunbbegriffen heraus ab⸗ 
auleiten, theils überhaupt aber der rechten Idee des Geiftes in 
voller Klarheit ſich zu bemächtigen. So fehlte dieſem pſychologi⸗ 
ſchen Syſteme bei hoffnungsvollem Ausgange die Mitte und das 
abſchließende Ziel, während wir das noch gegenwärtig geltende 


kann. Der Name „Dialektik“ aber, befonders zufammens 
genommen mit dem ebenfo wichtigen Begriffe der „Aufhe⸗ 
bung’ (im doppelten Sinne der Tilgung, wie ber Aufbes 
wahrung der Gegenfäge) wird, wie weiter unten gezeigt wer⸗ 
den foll, für die Wiflenfchaft vom Geifte immer von bezeichnen: 
der Wahrheit bleiben. 


83 Fichte, 


Hintergrunde, daß die Seele (der Geiſt) ihrem Weſen nach die 
Eine und untheilbare ſei, daß ſie aber, wie alles Lebendige, an 
der Wechſelwirkung mit einem ihr Andern, ſie Afficirenden und 
dadurch Modificirenden, ein Mannigfaltiges aus ſich entwickle, und 


Fr. Vorländer in feinen „Grundlinien einer organiſchen 
Wiffenfchaft der Seele” (1841), ſelbſt Tren delen burg in fe. 
nen „logifhen Unterfucdhungen‘ (1840) zählen kann, und wei 
dieſe als genetifche oder organifche Entwicklung, Karl Wein 
holtz (in mehreren methodifchen Schriften, vergl. auch Den: 
feiben in bdiefer Seitfchrift Bd. VIII. 2. ©. 181. und fein 
lebte Schrift: „Die fpekulative Methede und die natürliche Ent 
wicklungsweiſe“, Nofto 1843, befonderd S. 251 ff.) als de 
natürlidhe oder finfige Entwidlungsmweife der Sack 
bezeichnete. Alle diefe Denker, — am Bewußteften und Aus 
drücktichften der Lebtgenannte mit der, wie ung dünkt, glücklich 
‚gewählten Bezeichnung einer „‚ftufigen” Entwicklung (meil die 
felbe ebenfo die allgemeinen Stufen der Natur, wie bie fpeciellern 
des organifchen Lebens und der Entwicklung des Geiftes zu charalı 
terifiren taugt) — meinen Denfelben Gedanken, der and) dem 
urfprünglichen, in feiner Wahrheit gefaßten Heg-e l'ſchen Begrift 
der Dialektik eigentlich zu Grunde liegt: daß die allgemein 
und nothwendige Stufenfolge von Linterfchieden und Verwand⸗ 
ungen, welche ein Gegenftand durdyläuft, von der Wiſſenſchaft 
getreu nachgebildbet (was der empirifchen Behandlung entfpreden 
würde), aber eben darum auch in feiner innern, aus dem Ein 
heitsbegriff des Gegenflandes hervorgehenden Nothwen 
digkeit begriffen werden müffe (was mau fonft das „Aprie⸗ 
rifhe” genannt und im Gegenſatze mit dem Empirifchen bei 
Spekulation vorbehatten hat): daß jeder Gegenſtand demnadı 
wenn auch Peinesweges eine „eigenthümliche Methode”, wohl 
aber eine völlig eigenthümtiche und freie Ausbildung jenes als 
gemeinen methodologifchen Principe, feiner Natur und Ent 
wicklung gemäß, bei ſich führen müſſe. Dies fehen wir als 
den alleinigen, aber entfcheidenden Gewinn zu einer allgemeinen 
Verftändigung über die wahre Methode an, wo es fobann auf 
die verfchiedeuen Bezeichnungen derfelben weniger ankommen 


Der bisherige Zuſtand d. Anthropologie u. Pfychologie. 89 


fo eine-Stufenreihe von immer vollenbetern, geiftigern, d. b. 
ihrem Begriffe gemäßeren Zuftänden burchfchreite, deren jede unter» 
georbnete die höhere bedingt und zugleich ihr als Grundlage dient, 
bis in diefer Selbſtentwicklung der ganze Begriff des felbfibewuß- 
ten Geiftes erreicht, das Weſen Cder Begriff) der menfchlichen 
Seele verwirklicht iſt. 

Die allgemeine Idee einer folchen objektiven Entwicklungs⸗ 
gefchichte des Geiftes wurde beftimmter zuerft angeregt durch den 
allgemeinen von Fichte's Wifjenfchaftslehre und von der Natur- 
philofophie ausgehenden Impuls, und Schellings „Syftem ded 
kransfcendentalen Idealismus“ (1800) können wir ald den erften, 
ausgeführteften Verſuch einer folchen genetifchen Gefchichte des 
Selbfibewußtfeindg betrachten. Der ältere Carus (Pfychologie, 
1 Bde 1808), wiewohl feinem Werfe die Vorftelung noch zu 
©runde liegt, „baß die Seele das Unbefannte fei”, beftrebt fich 
dennoch nicht minder, aus der Einheit des Subjeftes mittelft fei= 
nes Berhältniffes zu einem Andern, Affteirenden, die Mannigfals 
Hofeit feiner Zuftände herzuleiten. Die. Einheit ift dag Gefühl, 
in weldem fi) die Selbftheit concentrirt: die DMannigfaltigfeit 
entfpringt aus dem Objekte und wird dur) den Sinn hervorge⸗ 
rufen. Die Richtung auf das Objeft, der Trieb, fuht das 
Gefühl mit dem Objekte auszugleichen. — Diefer grundlegende 
Anfang wäre vortrefflich gemweien, wenn es Carus gelungen 
wäre, theils die reichlich abgeftuften Gegenfäge des Bewußtſeins, 
welche er unterfcheibet, aus jenen Grundbegriffen heraus ab⸗ 
zuleiten, theils überhaupt aber der rechten Idee des Geifted in 
voller Klarheit ſich zu bemächtigen. So fehlte dieſem pfychologi- 
fchen Spyfteme bei hoffnungsvollem Ausgange die Mitte und das 
abfchließende Ziel, während wir das noch gegenwärtig geltende 


kann. Der Name „Dialektik“ aber, befonders zufammens 
genommen mit dem ebenfo wichtigen Begriffe der „Aufhe: 
bung’ (im doppelten Sinne der Tilgung, wie ber Aufbe⸗ 
wahrung der Gegenfäse) wird, wie weiter unten gezeigt wer⸗ 
den foll, für die Wilfenfchaft vom Geifte immer von bezeichnen: 
der Wahrheit bleiben. 


90 Fichte, 


Verdienſt des Werkes nicht verkemen, den reichſten pſycholegi⸗ 
ſchen Stoff in wohlgeſichteter Auswahl des Einzelnen geboten zu 
haben. 

Chriſtian Weiß verdienſtvolles Werk: „Unterſuchungen über 
das Weſen und Wirken der menſchlichen Seele” (1814) +halten 
wir der Zeit nach für die erſte wiffenfchaftliche Grundlage einer 
genetifchen Behandlung der Pfychologie. Die vom Kanten 
Standpunkt zurüdgebliebene Halbheit ift mit entfchiedenem Berwußt 
fein überfehritten: die Unterfuchung wird auf das Grundwefen dei 
Geiſtes gerichtet, und der Anhalt derfelben befteht nur barin, ben 
Geiſt in feiner Entwidlung durch beflimmte „nothwendige Bil 
dungsftufen” zu zeigen (die dem Verfaſſer an die Stelle ber bis⸗ 
herigen Seelenvermögen treten), an welder jenes Grundweſen 
befielben eben an den Tag kommt und ſich verwirflicht. Die Man 
pigfaltigfeit entfteht ihm aus dem „Sinne”, durch die Umfims 
mung, welde das an fich ſelbſtſtändige Cfubftantiell individual) 
Weſen des Geiftes durch Außere Affektionen erhält, der es aber 
um feiner Selbftftändigfeit willen Rückwirkung entgegenfegt, um 
ſich mit der Affeftion in Ausgleichung oder gegen fie mit fich feiht 
in Uebereinftimmung zu fegen: es ift der „Trieb”, begehrend oder 
fliehend. So ift die Selbfiftändigfeit, das Subftanzfein des Gei⸗ 
ſtes die gemeinfchaftlihe Wurzel und Einheit jenes Grundgegen 
fabes des Sinnes und Triebes; aber. weil der Geiſt beider Ein 
heit iſt, entwicelt er fich immerhalb ihrer, erhebt er fich von jenem 
zum Denfen, von diefem zum Willen, in denen er erft eigentliche 
(entwickelter) Geift iſt. 

Von hier an zeigte ſich der Gedanke einer ſtufenmäßigen 
Entwicklung des an ſich Einigen, untheilbaren Geiſtesweſens immer 
entſchiedener, ſtatt des ſonſt gewöhnlichen Begriffes entgegenge⸗ 
ſetzter Seelenvermögen. Steffens ſchrieb feine Anthropologie 
mit der analogen, aber umfaſſender geſtellten Aufgabe, nachzu 
weifen, wie in den menfchlichen Sinnen nad ihrem qualitativen 
Unterfehiede die ganze Natur in’s Subjektive erhoben und fo dem 
Seifte, dem Bewußtſein entgegengebracht werbe, wie überhaupt 
der Organismus und alle anthropologifchen Vorbedingungen des 


Der bisherige Zuftand d. Anthropologie u. Pfychologie. 94 


Geiſtes nicht etwa nur in Harmonie flehen mit bem Univerfum, 
fondern die Einheit aller feiner Thätigfeiten in einem individuellen 
Körper darflellen: wie der Menfch daher, leiblich als Schlußpunft 
ber Natur, und alle ihre Kräfte zur Einheit in fich verfnüpfend, geiftig 
ber Anfang einer neuen, ber Natur jenfeitigen Entwidlung fei. 
Steffens hat, wie ſchon anderswo gezeigt worden, die große 
Bedeutung für feine Zeit, auch in diefem Gebiete das Princip ber 
Individualität des Geiftes, der Perfönlichfeit, zum Mittelpunfte 
gemacht zu haben. Die entfcheidende Bedeutung diefes Begriffes 
zur Sortbildung auch der gegenwärtigen Piychologie wird ſich als⸗ 
bald ergeben. — An die ähnlichen, populärer gewordenen Anfich- 
ten 5%. C. Heinroths Cin feiner „Anthropologie” und „Pſycho⸗ 
logie als Selbfterfenntnißlehre”) und &. H. Schuberts in feiner 
„Geſchichte der Seele” bedarf nur erinnert zu werben: beide has 
ben die Triplicität von Leib, Seele und Geiſt zum Hauptbegriffe 
gemacht, richtig nach unferer Weberzeugung, fofern man darunter 
nicht drei Principe verfteht, die zu einander kommen, fondern die 
Eine, untheilbare Geiftesmonabe, die zugleich lebendig oder ſeeliſch 
ift, und eben dadurch es vermag leiblich zu werben, aus ben ches 
mifchen Stoffen ſich einen Außenleib zu erbauen. 


VI. 


Dies waren unmittelbar vor Hegel die zwar in vielem Be⸗ 
tracht noch unbeſtimmten oder unausgeführten, aber leitenden Grund⸗ 
gedanken in der Pſychologie. Hierzu trat nun Hegel ſelbſt mit 
dem ſchärfern Bewußtſein von der Grundform der philoſophiſchen 
Methode und von den verändernden Bedingungen, welche ſie auch 
für die Pſychologie mitbringen mußte. Dialektik wurde fie genannt, 
weil fie durch Ueberwindung und Bermittlung von Gegenfägen 
ſich fortbewegt, die aber nicht Ergebniß der methodifchen Behand- 
Yung oder gemachte Diftinktionen fein follen, fondern in der Natur des 
betrachteten Gegenftandes felber liegen müſſen. Der wichtige Be⸗ 
griff der Aufhebung, der abfoluten Negativität, als Negation dev 
Negation, kam dazu, worin fehr glücklich die eigentliche Macht des 
Geiſtes, die ibeelle, bewahrende Natur des Bewußtſeins bezeich⸗ 


92 Fichte, 

net iſt. Die untergeordneten Stufen deſſelben find zmmächſt ent: 
gegengefegt den höhern: Empfinden ift nicht Borftellen, Wahr⸗ 
nehmen nicht Denken, und umgefehrt. Aber das Untergeorbneke, 
weil e8 Moment bed Geiſtes ift, tritt in den höhern Zuſtand 
des Bewußtſeins mithinüber, tft ihm immanent und daburd in 
ihm „aufgehoben“, zugleich aber in eine bewußtere, verflärter 
Einheit aufgenommen und darin bewahrt. Die affgemeine 
Macht aber, in diefe Gegenfäte und Partikularitäten des eigenen 
Dafeins ſich zu entäußern, in jede völlig einzugehen und in freie 
Idealität dennoch zugleich über ihre zu bleiben, — diefe fl 
das Wefen des Geiftes, der Potenz nach einfach, in feiner Ber 
wirflihung mannigfaltig; darin aber ein objektives Syftem, 
eine in ihrer Dannigfaltigfeit fi nie verlierende, fondern alk 
ihre Gegenfäse zum Ganzen ihrer eigenen Wirklichkeit zufammen 
faffende Einheit. 

Diefer im Alfgemeinften feftgeftellte Begriff des Geiftes, ſo 
wie der daraus fich ergebende allgemeine Charakter pſycholog 
fcher Methodik darf nun nicht aufgegeben werben, wenn bie Wil 
fenichaft einer fchon eriworbenen Errungenfchaft der Wahrheit nicht 
wieder verluftig gehen fol. Die Ernerjchen oder ähnliche Bor 
Schläge zur Behandlung der Pfychologie würden daher Feine For 
fchritte, fondern, wie wir fürchten, die wefentlichften Rückfchritte ver 
anlaffen. Indeß fcheinen überhaupt zu folchen Rüdkfchritten inder 
Wiftenfchaft die bloßen Gegner der Hegerfchen Philoſophie, die, 
welche Alles an ihr verkehrt und nur ihr Gegentheil richtig fin 
den, auf das Kräftigfte entichloffen, Diefen ſich ebenfo entſchie⸗ 
den zu widerfegen, wie es bisher von ung gegen den ausfchließ- 
lichen Hegelianismus gefchehen, ift es volle Zeit. Jenen unter 
fich felbft fehr verſchiedenen Rathichlägen nämlich folgend, würde 
bie Philofophie das kaum errungene Bewußtfein wieder verlieren, 
wie überhaupt in ihr ficher und objektiv fortzufchreiten fei; fe 
würde ſich wieder in ber willführlichften Anarchie und in über 
flüffigen Wiederholungen verirren, die aus jeder bloßen Neaftion, 
aus jeder Desorientirung über das wahrhaft erlangte Gefammts 
refultat hervorgehen. 


Der bisherige Zuftand d. Anthropologie u. Piychologie. 95 


Damit fteht indeß nicht im Widerfpruche unfer weiteres Ber 
Tenntnig, daß von ben Refultaten der Hegel'ſchen Pfychologie im 
Einzelnen faum vielleicht ein Stein auf dem andern bleiben möchte, 
Daß auch die befondere methodifche Anordnung völlig umgefchmol- 
‚zen werben müſſe, indem, wie wir vorläufig fchon gezeigt, Die tiefe 
allgegenwärtige Einheit, mit welcher auf allen Stufen des Gei⸗ 
ftes in eigenthbümlicher Weife Erkennen, Fühlen und Wollen fich 
durchdringen, nicht, wie bei Hegel, durch eine einfache dialektiſche 
Reihe, fondern nur durch bie Dreiheit paralleler Reiben zu einer 
wahren, objektiven Darftellung gelangen Tann. 

Aber noch ein tiefer greifender Grundmangel feiner Pfiycho- 
logie ift nachzuweiſen. Hegel bat nur bie metaphyſiſche 
Kategorie des Geiſtes gefunden; und fo fehr wir ihm dies fo 
eben zum Berdienfte angerechnet haben, fo wird daraus doch zu= 
gleich erft Das Durchgreifende Verſäumniß feiner Piychologie ver⸗ 
ſtaͤndlich, welches freilich bisher weder von feinen Sommentatoren, 
noch von den Gegnern, in feiner Eigentlichkeit erfannt worden 
ft, — daß er, auch in ihr mit der bloß metaphyſiſchen Auffaſſung 
fi) begnügend, nicht bis zum Begriffe bes realen Geiftes hindurch⸗ 
drang, ja daß er Diefe Frage ganz unberührt ſtehen lieh, als 
ob dies Problem nicht ein anderes und beſonders zu behandeln⸗ 
des ſei! 

Wir erklären dies näher. Wie er, in ſeiner Logik vom Sein 
anhebend, damit alles Seiende ſchon einbegriffen zu haben 
meinte, wie er deßhalb kein Seiendes anerkennt, als nur „das 
abſolute Sein“, weil nämlich ihm (mit Recht) das Sein als erſtes 
metaphyſiſches Prädikat des Abſoluten gilt — womit aber 
über die Frage nach dem Weſen des real Seienden noch gar 
Nichts präjudicirt iſt: — wie er in der Naturphiloſophie, ſobald 
er an das Lebendige kommt, ebenſo nur von einem „Leben“ 
weiß, das lebendige Individuum aber, als ob ſich dies von 
ſelbſt verſtaͤnde, deß halb nur für Die wechſelnden, vergänglichen 
Erſcheinungen jenes (All⸗) Lebens hält — während, an ſich ſelbſt 
und der allgemeinen Natur der Begriffe nach, der Begriff: „Leben“ 
nur das allgemeine Prädikat gewiſſer, anderweitig zu ſuchen⸗ 


94 Fichte, 


der und zugleich zu unterſuchender realer Subſtanzen ſein kann: — 
völlig ebenſo kommt er auch in feiner Lehre vom „ſubjektiven Geifte" 
über jene allgemeine Kategorie des Geiſtes, über die ebenfo al 
gemeinen Präbdifate bed Denkens und Wollend, als des wahrhaft 
Subftantiellen jenes „Geiſtes“, nicht hinaus, 

Sp wenig, wie bort, läßt er auch hier Die Unterfcheidung 
fich beigeben, daß der reale, ber Menfchengeift, ein Mehr fein 
Fönne, ja fein müffe, als jene bloß allgemeine Kategorie, die ledig 
lich vielmehr als gemeingültiges Grundpräbdifat aller realen Sub⸗ 
ftanzen zu gelten hätte, denen der Charakter ber Geiftigfeit ber 
gelcgt werden muß. Und ganz auf gleiche Weife, wie bort, über 
fpringt er völlig auch diefe Frage, Weil er nur von ber Kale⸗ 
gorie, vom allgemeinen Beifte, Kunde nimmt, ift ihm zugleich da⸗ 
mit entfchieden die Subftanzlofigfeit des individuellen Geiſtet, 
und aus dem gleichen Grunde, warum dag Einzel-Tebendige mm 
die vorübergehende Erſcheinung des Alltebens fein fol, if ihn 
auch der endlihe Geift an ſich felbft ein Marf- und Beſtand⸗ 
Iofes, nur Moment im Proreffe des Allgeiftesz; Turz auch hie 
bleibt e8 für Hegel bei der fonft fchon nachgewiefenen Hypofo 
firung metaphufifcher Kategorieen, die, ftatt allgemeine Präbdikatt 
bes Realen zu fein, wie es ihre urfprüngliche und einzig wahr 
Bedeutung zu fein fehiene, in ihrer abftraften Reinheit vielmeht 
das Reale felbft fein und alle Beftimmungen im Realen hervor 
bringen follen, während gerade von diefer Seite aus, an ba 
realen Wirklichkeit des Geiftes, an den burchgreifenden, bis in 
bie tieffte Wurzel geiftiger Individualität bereinreichenden Unter 
ſchieden deffelben, überhaupt ſich entfcheiden Tann, ob jenes ganze 
Hegelſſche Erfenntnißprineip ein zureichendes fei, ob es nicht 
von hier aus auch nad Rüdwärts, nad) feiner Logik oder Met 

phyſik hin, ſich auflöfe? Ä 
Dean fieht, die Frage ift grundentfcheidend, nicht blos für 
bie Pfychologie felber, fondern, wenn fie an biefer zum klaren Abs 
fhluß gefommen, allgemeiner noch für das ganze Verhälmiß des 
Metaphyfiihen zum Realen. Aber man irrt, wenn man glaubt, 
bag Hegel durch fein Princip in irgend einer Weife über fie abe 


Der bisherige Zuftand d. Anthropologie u. Pſychologie. 95 


geſchlofſen hätte: er hat ihr eigentliches Gebiet nirgends berührt, 
nicht einmal zum Bewußtſein gebradıt, um was es in ber ganzen 
"Frage fich handelt; feine Phitofophie, fo wie fie von ihm hintere 
Laffen worden, erxiftirt in ihrer Eigenthümlichfeit nur. dadurch, daß 
diefe Unterfuchung vielmehr überfprungen wird. Dies Syſtem 
zeigt nicht den Sieg des Allgemeinen über das Individuelle, des 
Merapbyfiichen über das Neale und Conerete, wie wenn das Letz⸗ 
tere als das Nichtige und nur Scheinende, jenes als das allein 
Wahre erwiefen worben wäre: es ift lediglich Das Ignoriren 
dee ganzen Unterfchiebes, das Nichteingehen auf denfelben, wel 
ches jenes Nefultat wahrhaft durch eine „Faulheit der Vernunft” 
zu Wege gebracht hat. Auch in feiner Lehre vom Geifte iſt He- 
gel über die blos metaphyſiſche Grundlage nicht hinausgefommen, 
and Ale, weldye bisher von dieſen Prämiffen aus über ganz 
eoncrete Fragen ber Pfychologie entfcheiden wollten, bis auf die 
Unfterblichfeit des individuellen ©eiftes, welche fie aus ſolchen 
Borausfegungen entweder beweifen (Göfchel und A.) oder wider- 
legen zu können meinten ( Strauß und bie Seinigen): alle bieje 
befinden fich in einem principielten Irrthume. Wie vermöchten Doch 
aus dergleichen metaphyfifchen Allgemeinbeiten fo concrete Beſtim⸗ 
mungen berausgeflaubt zu werden, welde nur auf dem Wege 
ber Induktion und Analogie, mit Bergleichung und Erwägung alles 
Thatfählichen, welches felbft empiriſch noch lange nicht vollſtändig 
genug feitgeftellt ift, in langſam fich fortbildender Erforfchung 
des Wefeng des Geiftes ermittelt werben fönnen? Dies und Aehn⸗ 
liches haben wir ihnen zwar fchon vor zehn Jahren nachgewiefen; 
aber, jo Har und unabweislich es ift, hat es natürlich bei den 
Männern des „reinen Begriffes” nicht viel verfangen können. 
Anmerfung Gewiß hat die nüchterne Verftandesflarheit, 
mit welcher Strauß in feiner „chriftlichen Glaubenslehre“ (II. 
$$. 109. 410.) die Verſuche beleuchtet, aug dergleichen blos fpes 
kulativen, d. h. metaphyſiſchen Begriffen bie Unfterblichfeit ber 
menſchlichen Seele darzuthun, einer überzeugenden Wirfung nicht 
verfehlen können. Hätte er jedoch aud) hier gründlich auf den 
Kern dringen wollen, fo müßte er fogleich ſich felbft und feine 


%6 . Nichte, 
vermeintlichen Gegenbeweife mit einfchließen in jene Gefammiwi- 
derlegung; benn es ift nicht minder eine nur metapbyfifche Grund» 
lage, auf welcher diefe beruhen, und auch bier ift Die gleiche, nur 
vom entgegengefegten Ende herfommende petitio prineipii wirb 
fam, durch die er feinerfeits die Subftanzlofigfeit, Endlichkeit und 
Bergänglichfeit des individuellen Geiftes zu zeigen fucht. 
Göſchel glaubte die Unfterblichkeit aus folgendem Grunde 
erwiefen zu haben: Der menſchliche Geiſt ift unvergänglich,, meil das 
Subftantielle in ihm, — ber abfolute Begriff, dag Denfen, — die 


unendlihe Macht der Negativität ift, die bamit auch dem einzel | 
nen Subjefte in den eigenen Unterfchieden und in feinem Anders | 


werden bas Vermögen verleiht, unendlich überzugreifen über bie 
feiben, und fo die Gelbfiheit und Diefelbigfeit in ihnen ihm be 
wahrt, Hier wird mit Recht von Strauß ber Zirkel aufgezeigt, 
dag man bei diefem Beweiſe ſchon ftillfehweigend vorausſetze, mas 
erft bewiefen werden folle: man hat eben erft zu zeigen, daß jew 
Unterfchiede und Das Anderswerden, in welchen die negative Macht 
des abjoluten Begriffes ſich ewig erhält, in der That Die am ei 
zelnen Eubjelte hervortretenden Unterfchiede find, das ewige 
Sicherhalten aber dem einzelnen Subjekte felber zufomme, und dies 
mit dem abfoluten Begriffe zufammenfalle, während auf Dem Stand 
punkte, der Göſcheln mit feinem Gegner gemeinfchaftlih iR, 
die entgegengefeßte Auffaffung ebenfo denkbar ift, das einzeln 
Subjeft fammt feinen Unterfchieden aus dem unendlichen Andere 
werben bes abfoluten Begriffes felber hervorgehen zu laffen, we 


dann für die Unvergänglichfeit des erfiern von bier aus überhaupt 


Nichts bewiefen worden ift. Kurz, was vor allen Dingen zu be 
weiſen wäre, und was von Göfchel. eben nicht -bewiefen iR, 
wäre die Subftantialität des endlichen Geiſtes. Iſt dieſe 
jedoch einmal feftgeftelt, aus andern Prämiſſen, ald die dieſem 
ganzen Begriffsumfreife zugänglich find: fo ergäbe ſich dann wohl 
aus ihr bie weitere Folgerung, dag er auch an der allgemeinen 
Natur des Geiftes theilhabe, über jedes eigene Anderswerden hit 
überzugreifen und aus allen Selbftentäußerungen füch berzuftellen. 
Es wäre biefer Iegtere Gedanke, auf jenes allgemeine Fundament 


Der bisherige Zuſtand d. Anthropologie u. Yſochologie. 97 


geſtützt, zwar keineswegs ſchon ein Beweis für die unſterdlichteit, 
aber wenigſtens die allgemein metaphyſiſche Grundlage zu einem 
ſolchen, der, wie geſagt, nur auf dem Grunde concreter empiri⸗ 
ſcher Beobachtung, von empiriſchen Analogieen getragen, ſich ver⸗ 
ſuchen läßt. Göſchels aprioriſcher Beweis bleibt daher unbe⸗ 
gründet und unvollſtaͤndig, und muß feinem Principe nach es blei⸗ 
ben; gang daſſelbe gilt aber auch von den Gegenbeweiſen auf 
gleicher Grundlage! 
Umgekehrt nämlich folgert Strauß mit dem ganzen Chore 
ber links Stehenden aus Hegels Schule (a. a. O. ©. 754): | 
„Weil der Geift zun äch ſt nur das Allgemeine iſt“, 
(woher anders weiß er dies, als blog daher, weil Hegel jene‘ 
metaphyſiſche Kategorie des Geiftes, eben -unbewiefener Weife, — 
bypoftafirt Hat?) — „weil er daher (2) individueller wird 
nur, fofern er in Die partitulären Beſtimmungen eingeht, . welche Die 
einzelne organifche Individualität ausmachen “:-— (woher weiß 
ferner Strauß, ober wie hat er bewiefen, daß das Individua⸗ 
Ifirende der Geifter blos ihre organifhen Unterfchiede 
find?) — „fo ift mit dem Verſchwinden diefer organiſchen 
Individualität, welde fih im Tode vollzieht, aud der ein- 
zelne Geift aufgehoben: ewig, unfterblich ift nur der allgemeine, 
indem er in’s Unendliche bin geiftige Individuen her- 
vorbringt.“. (Auch diefe letztere Lieblingswendung, weldhe man 
in diefem ganzen. Forfcherfreife zu wiederholen nit müde wird, 
iſt, näher erwogen, höchſt myftifch und unverſtändlich! Welcher 
weitern, bier überall noch fehlenden Bermittlungen, welcher tiefern 
Begründung bedürfte es, um diefen Gedanken überhaupt nur ver 
Händlic zu machen, der fodann zunächſt blos eine dev möglichen Hy- 
potbefen neben andern bleiben würde, — bis. er bewiefen iſt! 
Was foll es heißen: der allgemeine Geift — dies verblafene, 
nebliche Abftraftum, welches felber, zur Wirklichkeit hypoſtaſirt, in 
einen Widerfpruch umfchlägt, — bringe „ins Unendliche“ 
geiftige Individuen hervor? — bringe fie hervor, entweder aus 
dem Nichts — was vollends der abfolute Widerſpruch wäre, — 
oder aus der Präeriftenz der eigenen Schöpferfülle, wo er fie 
Zeitſchrift f. Philoſ. u. ſpek. Theol. XII. Band. 7 


98 Site, 


dann weber hervorzubringen bebürfte, noch es vermoͤchte, weil. 
fie dann ja fhon eriftiren? Man fieht, daß der bekamie 
Begriff eines Uebergangs aus dem Idealen in’d Reale, aus der 
Potenz in den actus, wonach das fhon Eriftirende nur in bie 
äußere Erfcheinung, in das Werben tritt, auf höchſt unklare 
Weife hier verwechſelt wird mit Dem Begriffe primitiver Entflehug 
und eigentlichen Hervorgebrachtwerdens. Dennoch fol fich in die 
fem unendlichen. Hervorbringen endlidher Geiſter ein teleolog⸗ 
fcher Proceß, ein Fortfchritt vollziehen, indem in ihnen ber db 
gemeine Geift immer tiefer ſich anfchaut und zum Bewußtſein fer 
ner felbft kommt. Wie Tann es jedoch genügen, ihn als nut 
allgemeinen Geift zu denfen, wenn ihm bei feinem Thun zugleid 
Zwed, Abficht und Ziel beigelegt wird? Und zuleßt noch: wem 
ein Ziel vom abjoluten Wefen durch Schöpferthätigfeit erreihl 
werben foll, ift es nicht fchlechthin widerfprechend, Died Herner 
bringen als ein „in’d Unendliche‘ Gehendes, d. h. nie völlig 
veichtes zu bezeichnen? Schließt nicht überhaupt der Begriff em 
Zotalität, eines gefchloffenen Univerfum, jede Vorſtellung jew 
fchlechten Unendlichfeit aus, die wir hier immer wieder, obwohl, 
wie wir meinten, principiell widerlegt, auftauchen fehben? Die 
nur einige der Widerfprüche und Lücken, welche zu heben find, 
um biefe ganze Anfiht — nicht zu beweilen, fondern vorerſt zum, 
Maren Gedanfen zu erheben. Daß es hierzu zugleich eines tiefen 
Eingehens auf allgemein metapbyfifche Prämiffen, überhaupt ee 
ausgebildetern Metaphyfit bedürfe, als die Hegel’fche in biefm 
Theilen ift, fann der Inhalt der obigen Fragen ſchon andeuten. Fe 
deß wäre Damit überhaupt nur bewiefen, daß das ganze philofopf - 
Ihe Fundament jenes theologifchen Werkes Iofe und lückenhaft ſei) 
Ueberhaupt, fagt Strauß ferner (S. 726. 27), verfept dk 
— Spinoſiſch⸗Hegel'ſche — fpekulative Weltanficht das Sub 
ftantielle nicht in die Einzelwefen, fondern jenfeits ihrer in dem ab 
foluten Geift, zu welchem ſich die Individuen, als wechfelnde, mi⸗ 
hin wie entflandene, fo auch vergänglicye Accidentien, als vor 
übergehende Aftionen feiner immanenten Negativität verhalten 
Diefe hiftorifche Berichterfiattung, fo richtig fie iſt, trägt jedoqh 


Der bisherige Zuftgnd d. Anthropologie u. Pſychologie. 99 


nicht das Kieinfte dazu bei, in der That zu erweifen, worauf 
es bier anfommt, nämlich die völlige Subtanziofigtei bed enb- 
lichen Geiſtes. 

So fehen wir denn, dag Strauß ſammt allen hierin mit 
ihm Gleichdenkenden, nur nach der entgegengeſetzten Seite hin, in 
denſelben Fehler verfallen iſt, welchen er an Göſchel fo ener- 
gifch gerügt hat: auch er legt, was er zu beweilen gebenft und 
bewiefen zu haben meint, den Prämiffen des Beweiſes verborge- 
ner Weile unter, und glaubt es dann erft durch den Beweis er- 
härtet zu haben. Er fegt voraus für diefen Beweis der Sterb- 
lichkeit, daß das Subftantielle überall nur das Allgemeine, alles 
Individuelle ein Nichtiged, Vergängliches fei, fett alfo voraus 
die Subftanzlofigfeit des individuellen Geiſtes, und folgert 
fodann daraus — idem per idem — die Endlichkeit und 
Bergänglichke it deſſelben, d. h. fagt in Form der Folgerung 
wur daffelbe, was er für fie vorausgefegt. Kurz — umgefehrt 
wie bei Göſchel — was: vorerft zu beweifen wäre, bie Sub» 
Ranzlofigfeit des einzelnen Geiftes, die Behauptung, daß das 
Sndividualifirende in ihm Lediglich das Organiſche, 
bie mit dem Leibe gefesten Unterfhiede feien — dies 
bat er eben nicht bewiefen, dies ift überhaupt noch nicht erwiefen, 
die ganze Frage in dieſer Beftimmtheit nody nicht angeregt und 
zur Aufgabe der Pſychologie gemadt worben. g 

Wäre aber in der That jene Prämiffe ſchon dargeihan: fo 
Hätte man damit doch erft nur den Anfang des Beweiſes ange- 
treten und ganz andere Zwifchenfragen wären noch gu erledigen. 
Denn felbft vorausgefegt, daß eine metaphyſiſche Weltanficht für 
gründlich und erichöpfend gehalten werden könnte, nach welcher 
das Leben des abfoluten Geiftes nur „im unendlichen Hervorbrin- 
gen individueller Geiſter“ beftehen fol: fo läßt dieſelbe, an fid 
beiradtet,, wiederum die Doppelte Auslegung zu, daß dieſe Indi— 
pinualitäten entweder ein gefchloffenes und in fich vollendetes Gei- 
fierreich ausmachen, felber alfo als ewig, und ewig diefelben zu 
denfen wären, oder daß fie andere und immer andere, flets ent 
ſtehende und wieber vergehende feien in's Unendliche bin. su 

7 * 


100 - Fichte, - 
welche diefer beiden, mit den metaphyſiſchen Prämiffen über 
die Unfterblichfeitöfrage innig zufmmmenhangenden Weltanfüchten 
man ſich entfcheide, hängt offenbar von ganz andern Unterfudım 
gen ab, als die bisherige Metaphyfif, befonders die im Umkreiſe 
jener Denfer übliche, noch berührt hat. Zugleich aber ergiebt fid, 
dag, wie die Metaphyſik unftreitig auf die Grundauffaffung des 
pſychologiſchen Problemes, jo umgekehrt die eoncerete Betrachtung 
des Weſens des Geiftes in der Pſychologie die wefentlichfte Rüd 
wirfung haben müffe auf Löſung jener metaphyfifchen Doppelfrage 
Aber beide Ausfunftsweifen auch nur obenhin betrachtet, wird ders 
jenige, weldyer die Begrifflofigfeit eines jeden ſolchen Auslaufens 
in das „ſchlechte Unendlihe” ein für allemal ſich Far gemacht hat, 
wie fie auch hier wieder uns geboten wird in der behaupteten 
Hervorbringung von Geifterindividuen in's Unendliche, fich ſchwer 
lich entſchließen Fönnen, für dieſe Seite der Frage fich zu entfcheiden 
ſondern, fo gewiß das Univerfum, als Abdruck der abfoluten Ber 
nunft, nur ald ein gefchloffeneg, in fih vollendetes, ge 
dacht werden kann, in welchem ein Neuentfteben in's Unendlicht 
bin völlig finnlos wäre, wird er dieſe Frude, dem robfinnliche 
Anfchein abgefchöpfte Vorftellung auch hier, und hier vorzugsweiſe, 
fern halten. Gewiß ift es übrigens Feine der geringften Incon⸗ 
gruenzen und Widerfprüche der hier beleuchteten Denkart, daß dir 
ſelbe, während fie nicht müde wird, Kanten fein begriffiofes Bes 
fallen in das fchlecht Unendliche vorzurücken, indem er Die Vollendung 
des gegenwärtigen Weltdaſeins erft in ein Jenſeits verſchiebe, om 
eine weit entfcheidendere Weife fogar in den Widerfpruch verfäll, 
die Schöpfung in ihrem wefentlichften Theile, dem Geifterreick, 
überhaupt niemals enden Yaffen zu wollen. 
| In Summa möchte fich gezeigt haben, — und biefe Eviben 
ift.e8, die wir beabfichtigen, — daß überhaupt mit bloßer Me 
taphyfif, mit jenen Allgemeinbegriffen an Erledigung fo inhalt: 
und beziehungsreicher Fragen, wie Subftantialität oder Nichtſub⸗ 
ftantialität des individuellen Geiftes, wie Bergänglichfeit oder 
Nichtvergänglichkeit deſſelben innerhalb feiner unmittelbaren Leben 
erfcheinung, gar nicht beranzufommen fei. Diefe Einfiht zu⸗ 


Der bisherige Zuftand d. Anthropologie u. Pſychologie. 104 
nächft wollte meine, auch von Strauß in feinem Werke (8.108. 


©. 745 ff.) angezogene Schrift „über die Perfönlichfeit und ins ° 


dividuelle Fortdauer“ erwecken; fie wollte die ganze Frage aus 
dem Kreiſe blos metaphyfifcher Kategorieen und allgemeiner, auch 
ethiſcher oder veligiöfer, Betrachtungen hinwegrüden auf Das Ge⸗ 
biet empirifcher Induktion und Analogieen. Daß jedoch in dieſem 
Gebiete überhaupt, alfo aud in Bezug auf die befondere Frage 
nach der Fortdauer des Menfchen, Fein Beweis „aus fpefulas 
tiver Nothwendigkeit“ geführt werden könne — nicht für 
Diefelbe, aber ebenfo wenig auch gegen fie — wußte ber 
Berfaffer fo gut, daß er gerade dies in's Licht zu fegen für eine 
Hauptaufgabe des fritifchen Theiles feiner Schrift anfah. 
Dennodh hat man von jener Seite her die für den Begriff 

ber Zortdauer dort aufgeftellten allgemeinen Analogieen der Na- 
tur und des geiftigen Lebens, wie beide in wirklicher Erfcheinung 
vor und liegen, und wie, fie weiter zu verfolgen und im Einzel- 
nen durchzuführen, als die noch lange nicht vollendete Aufgabe 
der fünftigen fpefulativen, wie empirifchen Wiffenfchaft bezeichnet 
worden ift, — im Sinne abftrafter Begriffsmäßigfeit genommen und 
auch in ihnen den Verſuch einer dialektiſchen Entwidlung, eine auf 
fofortige Vollendung Anſpruch machende Demonftration in Des 
gel'ſchem Sinne gefehben, und dafür die nöthigen Ingredien— 
zien in ihnen vermißt: — mit vollem Nechte, und wir felber find 
-gleiher Meinung; aber wir lehnen die ganze Umbeutung unferes 
Verfahrens ab. Es iſt vielmehr gezeigt worden, daß überhaupt 
nicht aus reinen Begriffen von Leben, Seele, Geiſt, und aus ei- 
ner vermeintlichen immanenten Nothwendigkeit in denfelben, fon- 
‚bern aus empirifcher Betrachtung ihrer gelammten Erfcheinung. 
ihr coneretes Weſen erkannt und das Fundament auch jener Unter- 
fuchung gelegt werden müffe, die jedoch, als Fünftige überempiri« 
ſche Zuftände betreffend, niemals die Evidenz einer erwieſenen That⸗ 
fächlichfeit erhalten Tönnen. Und dennoch — daß bie aus gleich 
abftrafter Auffaffung gefchöpften Gegengründe entkräftet find, daß 
fi) die gewohnten Einwendungen ‚gegen die Möglichkeit einer Fort⸗ 
dauer, nad ypantheiftifhen wie nad naturaliſtiſchen Prämiffen, 


102 Fichte, 


als bedeutungslos und nichtig gezeigt haben, daß alfo wenigflens 
das Gleichgewicht zwiſchen den entgegengefesten Anfichten her 
geſtellt ift, bis zur Fünftigen, auf einen neuen philoſophiſchen Bil 
dungsflandpunft zu gründenden Entideidung: — follte dieſe Einſicht 
nicht für fich fchon als ein Fortfchritt, als allgemein foͤrderliche 
Orientirung betrachtet werben dürfen? ' 

Bei dem Allen wird dies Problem für die Philofopbie immer 
vom tiefften, erregendften Intereſſe bleiben; ja es wird eine burds 
greifende Lebensfrage für fie fein, nad welcher Seite hin fe 
fih darüber entfcheide. Dan hat neuerdings in wiederholten Aus 
führungen darauf hingewiefen, daß es für die Achte Morakitäi 
von feinem Einfluffe fein Fönne, ob man fi philoſophiſch fr 
oder gegen die Unfterblichfeit erfläre. Wir treten, die Frage fo 
gefaßt, dieſer Behauptung völlig bei: — die Acht fittliche Gefinnung 
und die aus ihr entipringende reine Neigung, ihr zu folgen, gehört 
ebenfo zum Wefen bes Geifted und thut ebenfo allein ihm Genäg 
ohne alle Nebenabfihten und Erfolge, wie etwa der intelfektuehk 
oder äfthetifche Genius in dem aus feinem Innern hervorqueller 
den Thun die vollgenügende Luft findet; und wie bei biefal 
von feinem Gebote oder Verbote die Rede fein kann, fo foßk 
eigentlih auch dort diefer Begriff nicht als der wefentlihe m 
harafteriftifche gelten. Und dies ift zum Theil fchon erkannt wer 
ben: bie fpefulative Ethik in ihrer neuern Entwicklung hat bie Korn 
bes Gebotes und Berboted mit Recht als eine nur untergeordnet 
Geſtalt der Sittlichfeit nachgewiefen. , 

Dennod liegt in der ganzen Verknüpfung jener Begriffe um 
in dem Berhältniffe, welches man ihnen darin zum Probleme de 
Fortdauer gegeben hat, etwas Dürftiges und Enges: ja es läht 
eine gewiſſe Befchränftheit der Auffaffung, oder, noch eigentliche 
vielleicht, eine ſophiſtiſche Entſtellung nicht verfennen, wenn ma 
in dem Beftreben der bisherigen Theologie und Moral, die Be 
griffe der Süitlichfeit und Tugend mit dem der Fortdauer in Bar 
‚ bindung zu bringen, nichts Höheres zus finden weiß, denn nur das 
gemeine DBeftreben, dem finnlichen Menſchen duch Borfpieglumg 
künftigen Yohnes oder künftiger Beftrafung die ſonſt fehlenden 


Der bisherige Zuftand d. Anthropologie u. Hſychologie. 103 


Motive der Sitilichkeit lebendig zu erhalten, nicht einen tiefen, 
wenn auch ungeläuterten, dennoch bie entgegengefeßte Anficht mit 
Recht von ſich ſtoßenden Bernunftinftinkt.. Der wahre, tiefer liegen» 
de Grund jener Verbindung ift vielmehr derfelbe, welcher auch für 
jede philofophifche Weltanficht die Frage nad) der Fortbauer des 
menfchlihen Geiftes zu einer principiellsentfcheidenden macht. Iſt 
ber endliche Geift fubftanzlos? Hat auch im höchſten Gebiete 
ber Freiheit und ſittlichen Selbſtthat nur das Allgemeine Wahrs 
beit; ift dies das allein darin Wirkfame und Reale? Giebt es 
daher fein geiftig Individuales und eigen Geartetes; alfo übers 
haupt nur Freiheit, ald univerfal geiftige Macht, völlig in gleis 
em Sinne, wie das Denken gefaßt wird, — fein Freies, aus 
innerer centraler Eigenheit ber fich Entfcheidendes? Daß dies 
eine Principienfrage durchgreifendſter Art if, die, je nachdem man 
fich über fie entfcheidetr auch in alle. einzelnen Theile der Philo⸗ 
ſophie des Geiftes entgegengefehte Refultate bineinbringen muß, 
exfennt Jeder. Hat man aber einmal die fundamentale Unzu- 
laͤnglichkeit der erften Anficht ſich erwiefen, hat man zugleich durch 
allgemein metaphyfifche Begründung in der entgegengefegten fefte 
Wurzel gefaßt: fo fann man fich nicht bergen, daß auch in Betreff 
jener befondern Frage ein: unverföhnlicher Widerftreit zwifchen 
beiden Weltanfichten zurüdbleiben müffe. In jener fann für den 
Begriff einer Fortdauer des individuellen Geiftes gar Fein Raum 
übrig bleiben, weil nach ihr ein Danerndes nirgends überhaupt im 
Individuellen zu finden ift. Iſt man dagegen aus metaphyſiſchen 
Prämiſſen auf die Nothwendigkeit des Begriffes endliher Sub- 
Rantialität gefommen; hat man zugleich durch gründliche piycho- 
logiſche Ausführung fi) bewiefen, daß der menfchliche Geift 
gerade aus feinem geiftigen Principe ber den Duell feiner In⸗ 
dividualität fchöpfe, und daß von ihm aus das Individualiſirende 
fih auch auf den Organismus erftrede und in diefem fih aus⸗ 
präge, wie daher die oben vernommene Behauptung völlig er- 
fahrungswidrig fei, „daß das Individuelle im Menſchen bloß in 
‚feinen organiſchen Unterfchieden liege”: dann wird aud 
— und dann gewiß — das Intereſſe an jener Frage wieder 


104. | Fichte, 


erwachen, weit fie durch das Ganze diefer Weltanficht ‚gefordert 
iſt. Das ift die rechte metaphufifche Behandlung dieſes Probleme, 
dies auch der Antheil, den die gefammte theovetifche Philofophie 
an der Löfung derfelben zu, nehmen hat, daß fie von allen Seiten, 
metaphyſiſch, wie phyſiologiſch und pſychologiſch, die Subftantiakis 
tät, Spealität und innere Unverwüftlichfeit des menfchlichen Gei- 
ſtes zeigt, feinen fämmtlichen empirifchen Bethätigungen gegenüber. 

Seine Fortdauer ebenfo fehr, wie feine in irgend einem 
Sinne anzunehmende Vor dauer (Präeriftenz: — nad) diefer Seite 
bin haben fich die bisherigen Unterfuchungen beinahe noch gar 
nicht gewendet; fie hätten an das Problem der Zeugung ar 
zufnüpfen, das höchfte der Phyfiologie, zu deffen Löfung es einer 
ſchon vollendeten Lehre vom Leben bedürfte; denn Löſung dieſes 
Problems ift es nicht, wenn man auch, worin es Die neuern 
Unterfuchungen zu großer Vollftändigkeit gebracht haben, die bei der 
Zeugung fattfindenden äußerlichen Hergänge bie in’s Kleinſte 
nachweiſen kann): — dieſe beiden gegenfeitig ſich fordernden Ber 
griffe müſſen in der gefammten Konfequenz einer Weltanficht be- 
gründet fein, in welcher es vor allen Dingen ale der größte 
Widerſpruch erfannt wird, daß ein qualitativ Eigenthümliches, 
Eigengeartetes, überhaupt neu entſtehen, ebenfo verſchwinden ober 
- vernichtet werben koͤnne. 

Aber hiermit find, wie ſchon bemerkt, nur die erſten Pramif- 
fen zur Erledigung ‚jener Frage gegeben: über bie metaphyſiſche 
Denkbarfeit oder fogar die allgemeine Nothwendigfeit einer For 
bauer hinaus muß aud die Frage nad dem Wie, nach ihrer 
nähern Befchaffenheit in Anregung fommen. Hier ift es gleich⸗ 
falls ein phyfiologifch-anthropologifches Problem, welches zunaͤchſt 
uns entgegenfommt: was der Tod fei, und welcher Leib es eigenl- 
lich ift, der vom Tode ergriffen und in ihm zerflört werde? In 
biefer Beziehung ift die Phyfiologie ſchon völlig im Stande, ben 
Sat auszuſprechen: daß die den Leib erbauende organifdye Kraft 
(die in ihm fi verwirflichende Idee des individuellen Lebens) 
nicht vom Tode berührt werden fann, daß fie bei dieſem Hergangt- 
nur die Wirkfamfeit auf ihr Produkt, "den teib, fallen läßt, ſich 








Der bisherige Zuftand d. Anthropologie u. Pfychologie. 106 


in die Latenz zurückzieht. Aus diefem großen und bedeutungs- 
vollen Sate ergäbe ſich zunächſt aber nur die univerfale Unvers 
wüftlichfeit der lebendigen Subftanzen, nicht was wir Unfterblich 
feit nennen; und überhaupt wird nach diefer Seite hin der Faden 
der Unterfuchung bald abreißen müffen, weil es und nicht gelingen 
fan, in die fubjektive Innerlichfeit der Thiere, der nächften Re⸗ 
präfentanten jenes Principe, gehörig einzubringen. Aber im Men- 
fhen tritt zu ihm ein neues, bewußtmacdhendes Princip hinzu, wel⸗ 
ches ſich ebenfo an der den Leib organifirenden Kraft verwirklicht, 
und mittelft ihrer ſich herauslebt, wie dieſe un ber chemiſchen 
Stoffwelt, aus der fie ihren Leib producirt. In jenes vermögen 
wir nun felbfibetradhtend völlig einzubringen; das Geheimniß 
unfered Innern, das Verhältniß unferes Diesfeitd zu unferer 
Jenfeitigfeit muß bier thatfächlich zu Iefen fein, aus den norma- 
In, wie den anomalen Zügen ſich entdeden laffen, welche ber 
Menfchengeift in feiner extenfiven und intenfiven Selbftgegebenheit 
und vor Augen legt. Dies ift der Iangfam zu gewinnende, aber 
in ſich feſtgegründete Weg für alle Probleme des Geiftes, und 
ſo auch für dieſes. 

Damit glaube ich auf den Standpunft meiner Schrift über 
Perfönlichfeit und individuelle Fortdauer zurüdgeführt zu haben, 
die eher alles Andere ift, als, wofür dieſe Kritif fie gehalten, 
eine apriorifirende Dialektif aus reinen Begriffen. 


(Befhluß im nächſten Hefte.) - 


Eine phyſiologiſche Anficht von den fittlichen Dingen. 
Bon | 


Dr. Romang, 
Pfarrer zu Därftetten im Canton Bern *). 


J’ai cru qu’on devoit traiter la morale comme toutes is 
autres sciences, et faire une morale comme une ‚physigee 
experimental. Helvétius de lespri. 
Bon Sokrates fagt Cicero, er zuerft habe die Philoſophe 
aus dem Himmel herabgerufen, ihr in den Städten ihren On 
angewiefen, fie auch in die Privatwohnungen eingeführt, und ik 
genöthigt, über das menſchliche Leben, die Sitten, und das Gut 
und Böfe Unterfuhungen anzuftellen **). Beinahe follte man u 
unferm Zeitalter wünſchen, daß Sofrated wiederfehrte, und ba 
Philofophie zum zweiten Mal eine folhe Richtung gäbe, dem 
wohl noch weiter, als der Himmel, in welchem fie fi vor &e 
frates mit den Bewegungen der Geftirne befchäftigte, von da 
Erde entfernt ift, ift fie in der neuern Zeit von dem menfhliga 
Leben, von ber Unterfuchung des Guten und Böfen abgefommen, 
wenn boch jenes Land der Mütter, wo es felbft dem in ala 
menſchlichen Dingen wohlerfahrenen Fauſt unheimlich zu Mutk 
ward, erflärt worden ift als das Gebiet der abfiraften Kategorieecn 
alfo ganz eigentlich ber neuern deutfchen Philofophie. In der Ber 
nachlaͤſſigung der ethifchen Seite zeigt fich aber nicht nur eine par 
tielle Unvollendung der gegenwärtigen Philofopbie, fondern dieſelbe 
gereicht ihr auch auf dem Gebiete, wo fie fid der ausgezeichue 
fien Leiftungen rühmt, zum offenbaren und großen Schaden, 
Es ift aber auch bereit der Auf laut geworden, welder die 
Philofophie zur Unterfuchung über das Gute und Böfe zurüdfüh 





») Bergi. Zeitfchrift Bd. VII Heft 2. ©. 175. 
vv Tusc. V, 4. 


Eine piychologifche Anficht von ben fittlihen Dingen. 107 


ren will. Die Ethik von Harleß hat freilich ihre Bedeutung nicht 
als philofophifche Bearbeitung des Gegenftandes, doch wirb fie 
dazu beitragen, das wiflenfchaftliche Intereſſe auf diefe Dinge bins 
wuleiten. Der Magus, welcher verfprocen bat, die Philoſophie 
wieder zurecht zu bringen, fcheint allerdings jegt des Guten und 
Böfen weit mehr Rechnung zu tragen, ale früher. Und in unfes 
rer Zeitfehrift ift, nachdem fie fehon früher einen beachtenswerthen 
Artikel über die ethiſchen Kategorieen *) mitgetheilt. hatte, ganz 
neuerlich auf eine Weile von dem gegenwärtigen Zuftande ber 
praftifchen Philofophie gehandelt worden, daß wir nicht, wie fonft 
unerläßlich gemweien fein würde, ung forgfältig zu rechtfertigen 
brauchen, wenn wir es unternehmen, in einer, freilich nur un⸗ 
volltändigen, Skizze eine eigene Auffaflung der fittlichen Dinge 
vorzulegen. 

Nach unferer fchon in einer andern Abhandlung **) ausge⸗ 
fprochenen Weberzeugung ift es, bei dem gegenwärtigen Zuflande 
bes Wiſſens, für eine Unterfuchung, die fich nicht in das Gebiet 
‚einer beftimmten Schule eingrängen, fondern überhaupt mit dem 
für. ſolche Verhandlungen reifgewordenen Bewußtfein fi in Rap⸗ 
port feßen möchte, nicht der angemeffenfe Anfang, von einem bes 
fimmten philofopbifchen Syfteme auszugehen. Denn gefegt auch, 
bie Anfänge der befondern Wiflenfchaft wären in einem" allgemei- 
nen wiffenfchaftlichen Syſteme bereits foweit entwidelt, daß die 
tihtigfte Bearbeitung derfelben nicht von vorn anzufangen, fondern 
nur auf dem. bereits für alle Zeit gelegten Grunde fortzubauen 
hätte; fo hat ſich doch Fein Syſtem die allgemeine Anerfennung 
errungen, welche vorausgehen müßte, wenn ohne weiteres an ihre 
Säge, als an unbeftrittene Ariome, angefnüpft werden follte. 

Wer aber auf jede folhe Anfnüpfung verzichtet, wird feine 
Unterfuchung mit einer möglichft auf den Gegenfland fih con- 
centrirenden und in benfelben fi verfenfenden Befinnung ans 
fangen, und fie dann von dem Anfangspüunfte der ſich dem uns 


— — — 


— 


*) Band VIIL Heft 2. 
») Spftem der natürl. Rel.Lehre 2c. 1841. $. 2. 3. 5. 


4108: Romang, 


befangenen Bewußtſein bier aufdraͤngenden unmittelbarften Auf⸗ 
faſſung aus ſo fortzuführen trachten, daß das natürlich fort⸗ 
ſchreitende Denken feine Zuſtimmung nicht verſagen ‚könne. Dies 
| fenigen freilich werben eine folche Abhandlung gar Teiner Beach⸗ 
tung würdigen, welche nur dem, was ihrer Manier folgt, wiflen» 
ſchaftliche Bedeutung zugeftehen. Allein wir kümmern und eben 
nicht fehr um die Uebereinftimmung mit einer Partei, deren Weife 
ſich niemals bei den gebildeten Geiftern ber. verfchiebenen euro= 
paͤiſchen Bölfer als die einzige und nothwendige Form aller wife 
fenfchaftlichen Erkenntniß geltend machen wird. 


Bor allem Weiteren fteht uns nur die Ueberzeugung feſt, der 
Gegenftand der Sittenlehre fei nicht weniger, als derjenige irgend 
einer andern Wiffenfchaft, ein reales Sein, fie fei in ſehr ähn- 
licher Weife, wie die Naturwiflenfchaft, ein reales Wiſſen. 

Da es nicht darum zu thun ift, die Stellung unferer Unter- 


fuhung zum vollftändigen Syſtem ber philofophifchen Wiffenfchaft 


zu beftimmen, fondern nur den Öegenftand unferer Unterfuchung 
zu ergreifen; fo brauden wir aud nicht forgfältiger einzugehen 
auf die Frage, ob ein höheres, allgemeinftes Wiſſen den hier ale 
reales Wiffen bezeichneten Wiffenfchaften der Natur und des Sitt- 
lichen vorausgehen folle. Doc wollen wir gerne zu erfennen 
geben, daß wir in biefer Beziehung ganz Ähnliche Ueberzeuguns 
gen hegen, wie in der oben angeführten Abhandlung *) ange- 
deutet worden find. Allen wohl alle Mitarbeiter der Zeitfchrift 
würden zugeben, daß das höchſte MWiffen noch nirgends in bes 
friedigender Geftalt ausgebildet worden ſei. Mithin wird eg un- 
ferer Arbeit auch nicht fehr zum Vorwurf gereihen, wenn fie 
nicht von der Borausfesung eines folchen höchften Wiſſens aus⸗ 
geht. Wir bemerken nur noch, daß auch dieſes höchſte, allge- 
meinfte Wiffen, die philosophia prima, ein nicht bloß abftractes, 
nicht eine bloß negative Philofophie würde fein müflen, wenn es 


*) Chalybaãus, die ethiſchen Kategorieen x. Zeitſchr. VIII Heft 2. 
©. 167. 





Eine phyſiologiſche Anficht von den fittlichen Dingen. 14109 


ein wirkliches Wiffen enthalten fol. Hingegen würde es in den 
allgemeinften Begriffen nur die allgemeinften Gefege und Beftimmts 
heiten alles Seins und Erkennens enthalten, fo daß jede befondere 
Wiſſenſchaft zwar nicht eben fchidlih angewandte Wiffenfchaft 
Yeißen, jedoch den befondern Gegenftand nach den allgemeinften 


Begriffen und Gefeten alles wiffenfhaftlichen Erfennens zu er- _ 


Faffen haben würde, wo denn allerdings die Grenzen zwifchen ber 
Die Principien oder Kategorieen enthaltenden höchſten, und ber 
Den befondern Gegenftand erfennenden Wiffenfchaft ſchwer genug 
werben verzeichnet und jeder Zeit ohne alle Uebergriffe feftgehal- 
sen werben fünnen. j 

Wenn wir gleich jagen wollten, welches das reale Sein fei, 


Son dem die Sittenlehre das Wiffen darzuftellen habe, fo würden 


Sir den Hauptgegenftand aller ethifhen Unterfuhung in einer 
wicht gehörig begründeten Behauptung hinftellen. Aber ein Sein, 


eine Realität überhaupt ift nothwendig als Gegenftand dieſes 


Wiſſens anzunehmen. . 
.. Es ſollte überflüffig fein, dieß noch beſonders auszuſprechen. 
Die Feſtſtellung dieſes Satzes iſt indeſſen von der durchgreifendſten 


Wichtigfeit für die ganze Auffaſſung des Sittlichen. Die wenigſten 


‚Gittenlebrer halten firenge an diefer Grundanficht fe, auch wenn 
fie diefelbe nicht eigentlich beftveiten, und bekanntlich wird fie nicht 
nur von dem gemeinen Bewußtfein, ſondern auch auf: bem Gebiete 
ber willenfchaftlichen Betrachtung von den Meiften wirklich vers. 
worfen. 

Nicht das Sein, ſondern das Sollen, heißt es ſeit Kant, 
ſei der Gegenſtand der praktiſchen Philoſophie. Das Sollen, der 
Amperativ, deffen wir und in Anfehung unferes Handelns bewußt 
feien, ift von diefem Philofophen aufs Entfchiedenfte dem Inhalt 
der Natur, und den Beftimmungen theoretifcher Gegenftände über- 
haupt, als feienden, wobei dag Sollen gar. feine Bedeutung habe, 
entgegengefeßt worben *9. Und noch beſtimmter unterſcheidet 
Fichte das Gebiet des Begriffs, wo einzig freie Urſachlichkeit 


*) Kritik d. r. Vernunft ©. 575. 


140 on Romang, 


Platz finde, von bemjenigen des Seins, ale der ein ber 
Raturgefeglichkeit *). 

Dagegen erfennt jedoch die Hegel’fhe Philoſophie ein Sollen 
an au auf dem Gebiete der metaphpfifchen Kategorieen, und 
Schleiermacher hat befanntlih die Naturwiſſenſchaft und die Erhif 
in dieſer Hinficht als gleichartig angefehen, in der Ratur, nämlich 
-inwiefern das erjcheinende Sein nicht feinem Begriffe angemeflen 
ift, ein Sollen nachgewiefen, und umgefehrt auf dem ethifchen 
Gebiete ein Sein angenommen **). Und wohl noch entfchiedener 
muß Benefe der Sittenlehre einen realen Gegenftand vindiciren, 
wenn er biefelbe ale eine Phyfif und auf eine dem in der Natur- 
wifienfchaft befolgten Berfahren entfprechende Weiſe bearbeiten will. 


Wie follte auch die Sittenlehre nicht ein Sein zum Gegen- 
ftande haben? Wäre ihr Gegenftand auf Feine Weife ein wirklich 
feiender, fo wäre er nothwendig ein nichtfeiender, ein nichtiger, 
ein Nichts. Und entfprechend dem alten Sage: non-entis nulla 
sunt praedicata, würde auch gefägt werben müffen: non-entis 
nulla est scientia. Doc darf man nicht läugnen, daß auf dem 
Gebiete der Natur, überhaupt auf der Seite, welhe man bie 
theoretifche nennt, das Sollen ungleich zurüdftehe hinter dem Sein, 
und umgefehrt auf dem Gebiet bes Sittlichen das Sein hinter 
dem Sollen. 

Wohl die meiſten wuͤrden, wenigſtens ſo obenhin, einſtimmen, 
wenn einer ſagte: gewiſſermaßen ſei der Gegenſtand der Sitten⸗ 
lehre das Allerhöchſte und Realſte in allem endlichen Sein, und 
doch ſei es immer weit mehr nur ein Gefordertes, ein Sollen, 
als ein wirkliches Sein. Dieſes Entgegengeſetzte hält das gemeine 
Bewußtſein zugleich feſt. Bei einer ſolchen Vorſtellung, geſetzt ſie 
dürfte nicht aller Wahrheit entbehren, kann ſich jedoch nur be⸗ 
friedigt fühlen, wer entweder zu Feiner höhern Entwidelung fort- 
gefchritten ift, oder über andern Intereſſen nicht dazu kommt, dem 

*, Sittenlehre ©. 31. und 33. - 
**) Sittenlehre ©. 39. Abhandlung über den Unterſchied zwiſchen 
Natur: und Sittengeſetz. . 








Eine phyfiologiſche Anficht von den fittlichen Dingen. 1 


bier unläugbar gegebenen Probleme feine Aufmerffamfeit zuzus 
‚wenden. 

Es will übrigens, aud bei der fchroffften Entgegenfegung der 
Raturwiflenfchaft und der Sittenlehre, und bei der einfeitigften 
Hervorhebung des Sollend ‚auf dem Gebiete der letztern, doc) 
Seiner diefer alles Sein entziehen. Nach der Kantiſchen Auffaffung 
ſoll der praftifchen Vernunft, der Freiheit, dem Sittengefeg, die 
wahrhaftefte Realität zufommen, und fogar die Begriffe von Gott 
und LUnfterblichfeit gewinnen ihm Realität nur durch ihre Vers 
Mrüpfung mit diefen praftifchen Grundüberzeugungen. 

Was das Nähere anbelangt, hat aber Kant die Vorſtellun⸗ 
gen von biefen Dingen in der nämlichen widerſpruchsvollen Ver⸗ 
worrenheit belaffen, wie das unwiſſenſchaftliche Bewußtfein fie 
ſchon vor ihm erzeugt und feither bewahrt hat. Und aud die 
acc ihm aufgetretenen Sittenlehrer haben über die allererfte 
Grundauffaffung wenig Beftimmtes vorgebracht. Die Vernunft 
ſoll ſich felbft das Gefeh geben — die vielberühmte Autonomie — 
mit einer unbedingten, jede Widerrede der Selbftfucht niederfchla« 
genden Autorität, und der Menſch ift fittlich oder unſittlich, je 
nachdem ſich der, hier von der Vernunft unterfchiedene, Wille dem 
von per Vernunft gegebenen Gefeg unterwirft, ober nicht. Wie 
aber die Vernunft dazu Fomme, das Gefeg zu geben, worauf daf- 
feibe berube, und wie ſich der Wille, der doch als füttlicher nicht 
ein widervernünftiges Princip if, vielmehr, als „reiner” Wille, 
an einer Stelle *) mit der Vernunft felbft identiftcirt wird — wie 
er fich zur gefeßgebenden Vernunft verhalte — dieß wird nirgende 
beftimmt aufgezeigt. Zu beachten ift dabei aber jedenfalls auch 
die Stelle **), wo der Gedanke wenigftens nicht ale ungereimt 
verworfen wird, daß das Sittengefeg „bloß das Selbfibewußitfein 
der reinen praftifchen Vernunft, diefe aber ganz einerlei mit dem 
pofi tiven Begriffe der Freiheit fein dürfte”. 

Auf dem Standpunlte des gemeinen Bewußtſeins empfiehlt 


*) Kritik d. prakt. Vern. S. 56. 
”>, Krit. d. prakt. Vern. ©. 52. 


142 Ä Romang, 


fi nicht am wenigften etwa folgende Anſicht: Es gebe ein Sein, 
und auch Wiffen von dem Sein, Beide müflen unterfchieben 
werden, denn obfehon alles wahrhafte Wiſſen ſchon an fich felbf 
etwas Seiendes tft, fo ift es doch nicht das einzige. Seiende, 
fondern es gibt auch Sein, das gar nicht Wiffen ift, noch an fid 
hat. Beide feien aber, auch inwiefern Eines nicht das Anden, 
doch fo für einander gefchaffen und aufeinander berechnet, def, 
bei gebörigem Rapport zwifchen beiden, im Erfennenden ein ben 
Sein entfpredhendes Bewußtfein, Wiffen, fi bilde. -Der Sein 
oder Gebiete des Erfennbaren feien aber verfchiedene, und fo auf 
ber Erfenntnifähigfeiten. Cine beftimmte Erfenntnißfähigfeit e— 
hebe fih, unter den erforderlihen Bedingungen, zur Erkemminf 
der phofifalifchen und mathematifchen Beftimmtheit der Ding, 
eine andere zu derjenigen des Sittlih-Guten, welches ebenfo anf 
ein objektiv Seiendes ſei. Unter diefer Vorausſetzung - wäre # 
dann ganz natürlich, daß jett das Wiffen, welches, nad) jem 
üblichgewordenen Unterfcheidung,, der theoretifchen Vernunft as 
gehört, jet dasjenige, welches der praftifchen eignet, fich mil de 
ihm in feinem richtigen Ausſpruch für das zur erforderlichen Et 
wickelung gelangte Bewußtfein zufommenden Nöthigung eine. 
Wie unter begünftigenden Verhälmiſſen ein mit der nöthigen, de 
gabung für das befiimmte Gebiet ausgerüfteter Geift ſich zur Er 
kenntniß der in der einzelnen Erfcheinung niemals ganz heran 
tretenden, fondern nur in ihr hindurchfchimmernden Gefetzmäßtgket 
der mathematifhen und phyfifaliichen Seite erhebt, und dann bei 
einmal anerfannte allgemeine Gefeß auf die einzelnen Eriftenn 
anwendet: fo würde fih auch in Anfehung des Sittlichen de 
Sache verhalten fünnen. Das moralifhe Bewußtſein anerkem 
jedenfalls nur ein irgendwie als Objektives ihm gegebenes Geſez 
in einer von der fonftigen theoretifchen fich kaum wefentlicy unter 
ſcheidenden Erkenntniß. Zu einer folchen Auffaffung würde fid 
auch Manches in den Kantiſchen Darftellungen ohne Zwang her 
geben. Demnad wäre das Erfennen auf der theoretifchen um 
auf der praftifchen Seite weſentlich gleichartig, nur der Geger 
ftand wäre ein anderer, und das eigentlich Praktiſche finge er 


Eine phyſioiogiſche Anſicht von den ſittlichen Dingen. 443 


an mit dem Handeln, welches ſittlich iſt, wenn es dem, wie ſich 
die Sache hier darſtellt, in rein theoretifcher. Thätigfeit erkannten 
Geſetz entfpricht, unfittlich, wenn es nicht mit demſelben überein- 
Bimmt. Sogar macht es feinen fehr wichtigen Unterfchied, ob in 
Kantiſcher Weiſe von einem fogenannten Selbfigefetgeben der Ver⸗ 
nunft geſprochen werde, oder ob man nach der gemeinen Vor⸗ 
ſtellung das Geſetz als ein von anderswoher gegebenes auffaſſe. | 
Das ittlihe Geſetz fcheint bei Kant in ganz ähnlicher Weife bes 
wachtet zu werden, wie bie mathematiſchen Poftulate. Und wenn 
die Bewußtſeinsentwickelung nicht in einer gar nicht fehr wiſſen⸗ 
schaftlichen. Beſchränkung ſich auf das eigene Dafein concentrirt, 
phne zum Gedanken des Allgemeinen und Ganzen fortzugehen, 
fo muß auch auf Kantifchem Standpunft das zuerft als felbft- 
gegebenes aufgefaßte Geſetz doch anerkannt werden als ftehend 
über der einzelnen Eriftenz, und dieſer irgendwie gegeben, nicht 
Durch fie dem Geifterreiche vorgefchrieben, fowie umgefehrt auch 
die Anficht, welche das Geſetz auffaßt, als durch Gott gegeben, 
in ihrer nicht ganz unwiffenfchaftlichen Geftalt fehr gut weiß, daß 
eigentliche Sittlichfeit nur vorhanden iſt, wo das Subject ſich dem 
Geſetz nicht als einem ihm fremden Gehot unterwirft, fondern in 
bemjelben fein eigenes wahrhafteftes Wefen findet. Die Aufs 
fafjung des gemeinen Bewußtſeins fcheint felbft etwas nicht Uns 
‚bedeutendes vor der Kantifchen vorauszubaben, inwiefern für. fie 
nicht das etwas wunderliche Verhältniß eintritt von einer gejeß« 
gebenden Vernunft, die dag Geſetz doch nicht ſowohl felbit gibt, 
als mit unabweisbarer Nöthigung in ihrem tiefſten Wefen gegeben 
findet, und einem von ihr verfchiedenen, und doch wiederum, als 
ſittlichen, nicht wahrhaft verfchiedenen Willen, _ 

, Indeſſen dürften doch in diefen übel zufammenftinmenden 
Kantiſchen Sägen richtige Andeutungen enthalten fein. Es bleibt 
aber hier immer der unerflärte Gegenfag des Seins und des Sol» 
eng, des Realen und des Idealen. Man weiß nicht zu fagen, was 
pas Geſetz ift und worauf es beruht, fobald man es nicht ganz 
nad) der Analogie menfchlicher Gefegesvorfchriften als Ausfpruh 
eines göttlichen Willens auffaßt. Das Geſetz auf dem Gebiete 
Zeltſchrift f. Philoſ. u. ſpek. Theol. XII. Wand. 8 


114 Romang, 


der Natur und der Mathematik wird bei einiger Beſinnung bald 
erkannt als Beſtimmtheit eines Seins, deſſen Geſetz es if. Mi 
dem Sittengeſetz aber ſoll es ſich anders verhalten, ſowohl in 
wiefern daſſelbe in die Sphäre des irdiſchen Daſeins hereingreift, 
als inwiefern es über dieſe hinausreicht. Das Ideale, mit wel⸗ 


chem das Sittliche zwar nicht ganz zuſammenfaͤllt, aber doch, be 
fonders für die Anficht, welche es nicht als ein Reales auffaht, 
nahe zufammenhängt,, ift bei den Meiften etwas ziemlich Zwer | 


beutiged. Als dem Realen entgegengeftellt fchiene es ein wenige 
wahrhaft Wirkliches fein zu follen, wie denn auch fehr Häufig von 


den Ideen geredet wird, als wären fie willfürlich ausgedachte 


Gedankenbilder, und doch ift eigentlich feit Plato Die Wreimumg, 
die Idee fei das im höchften und wahrhafteften Sinne Seide 
Aber auch wenn dieſer Gegenfag fo gefaßt wird, daß dad 
Ideale — oder wie das der naturgefeglihen Wirflichfeit Entge 
gengefeßte bezeichnet werden mag — ein nicht weniger Seiendet, 
vielmehr eine höhere Ordnung des Seienden fein würde, fo wir 
daffelbe, und zwar gerade, wo es fid) um die Beftimmung dei 
Sittlihen handelt, der naturgefeglihen Wirklichkeit fo fehr enge 
gengefett, daß beinahe alle Begriffe, in denen man biefe Lepten 
zu befigen glaubt, auf das Erftere nicht angewendet werben hin 
fen, es alfo für diefes Fein beftimmtes Erfennen gibt, und durh 
das doch überall Statt findende Hereingreifen deffelben in das Ge 
biet der Natur, zugleich überall die natürliche Geſetzmäßigkeit anf 
gehoben, und auch für die Natur und das der Naturgefehlichfet 
gewiffermangen eingereihte Sittliche jede Erfenntnig unmöglid 
gemacht werden würde. Wir erinnern an die Kantiſche Xehre von 
dem empirifchen und intelligibeln Charakter des Menſchen, von 
welchen beiden der erftere, als Glied des natürlichen Gaufal-Nerud, 
durchaus bedingt, der andere aber des erftern, ſelbſt fort und 
fort unbedingt bleibende, Bedingung fein fol, und an die angeb⸗ 
liche Löfung der Schwierigfeiten in Hinficht auf die Bereinigung 
des Sreiheitsgebieted mit der unleugbaren Naturnothwendigkei, 
welche Fichte in feiner Sittenlehre gegeben zu haben meinte. 
Das gemeine Bewußtfein hat freilich nicht durchgängig dieſe 


Eine phyfiologifche Anficht von den ſittlichen Dingen. Ab 


Borftellungsweife fih angeeignet, allein es treibt ſich vollends in 
gedankenloſen Widerfprüchen herum, und was er in feiner Weife 
meint, würde im Wefentlichen doch nichts fehr Verfchiedenes fein. 

Diefe denn doch ganz und gar ungenügende Vorftellungsweife 
berricht nicht nur in der Altern Kantifchen Fitteratur, fondern 
iR in dieſer Beziehung wahrlich nicht beffer geworden bei Herbart 
und Fried. Auch von Schelling find haltbare Begriffe von dieſen 
Dingen weder bisher entwickelt worden noch kaum wohl zu erwar⸗ 
sen. Im Hegel/ihen Syſtem ift freilich, obſchon die ethifche Seite 
än biefer Schule fehr zurüdtritt, in einem- andern Sinne von dem 
Sittlihen die Rede. Daß dabei ernftlicher, als bei Kant, von 
dem Willen felbft auögegangen, und deſſen gefegmäßige Explicas 
sion dargelegt werden foll, Tann an ſich wohl nicht anders, als 
vollkommen richtig fein. Die Sittenlehre gewinnt dabei auch wirt 
Mich in gewiſſer Weife Die Stellung eines realen Wiffens, fo daß 
wie Einheit des Wiffens überhaupt nicht follte geftört werden, 
wenn auch, nach jener mehrmals berührten Abhandlung in unfes 
zer Zeitfehrift, Die Kategorieen des naturgefeglichen Gebiets auf 
Dem fittlihen Gebiete nicht gelten follen. Das gebildete Bewußt⸗ 
Gein Hat fich jedoch noch nicht in fehr weiten Kreifen überzeugen 
Yönnen, daß die genügende Erklärung des Geiftigen und Sittlichen 
Jowohl an fih, als in feinem Verhälmiß zur Naturgefehlichkeit, 
gegeben worden fei. 

Anfänge der richtigen Erkenntniß find indefien ohne Zweifel 
Wei Berfchiedenen vorhanden. Nur follte man nicht immer fo 
ſehr erichreden, wenn von Einigen der Unterfchied zwiſchen dem 
matürlichen und fittlihen Gebiet ald weniger groß angefehen wird. 
Dem Sittlihen wird dabei immer feine unvergleichlihe Bedeu⸗ 
sung bewahrt werben können. Selbſt firengglaubige Theologen 
zeigen fich geneigt, diefen Gegenfag zu mildern. Schon bie Ethik 
Des Spinoza iſt in ihrer Art wirklich eine Ethif. Niemand wird 
Dehaupten, daß ſich ‚bei Schleiermacher eine Herabfegung des Sitt- 
Mchen zeige, obſchon er daffelbe auffaßt, ald ein die Naturgefeß- 
Wichfeit keineswegs aufhebendes, fondern in realfter Wechſelwirkung 
zuit dem Natürlichen beftehendes Sein, und zwar nicht nach He⸗ 

8 ® 


146 Nomang, 


getfchen Kategorieen, für welche auch diefer Mann zu befchränft 
war. Auch Benefe verleugnet wenigftens in den das Befonder 
betreffenden Ausſprüchen die Dignität des Sittlichen nirgends, 
und doch fagt er (Sittenl. I, 95), „das fittlihe Geſetz if um; 
ebenfo, wie dasjenige, welchem es gegenüber tritt, als ein Glich 
ber Erjcheinungswelt oder der geiſtigen Naturentwickelung gege 
ben”, und will die Sitteniehre nad ber Weife der empiriſcha 
Naturwiffenfchaft behandeln. Ja felbft Fichte hätte feine Gedar 
fen über den reinen Trieb nur in einem von der Kantifchen Bw 
ftellungsweife ſich befreienden Denfen auszuführen nöthig gehalt, 
um auf eine ähnliche, wahrhaft reale Auffaffung des Sue 
"geführt zu werben, 


+ 


Es würde nicht unmöglich fein, mit Anfchluß an emige in 1 
Borigen bemerflich gemachte Begriffe, die Anficht, welche in bie 
fer Abhandlung entwidelt werden foll, gleich hier augszufpreden 
Wir würden von dem Willen, der, ale reiner, ſchon bei Kant ad 
baffelbe, was die praftifche Vernunft, bezeichnet wird, ober vs 
Fichtes reinem Tricbe ausgehen können. Allein das gemeine + 
lihe Bewußtſein ift zu wenig geneigt, fie anzuerkennen, als bij 
. damit viel gewonnen fein würde. Der Lefer möge fich alfo ned 
einige Vorbereitungen nicht verdrießen Taffen. 

Zu den vielfachen andern Unbeftimmtheiten und Verworre⸗ 
heiten des gemeinen ſittlichen Bewußtſeins gehört auch, Dh mon, 
einerfeit die Erfenntniß des Sittlichen als gleichartig anficht mi 
jeder andern Theorie, als Werf und That des theoretifchen. de 
ftesvermögeng, andrerfeits aber auch von Trieb und Intereſſe de 
bei zu veden nicht umhin Tann, fo daß es denn das Anfehen g 
winnt, als beruhe bie fittliche Erfenntnig nicht nur auf dem & 
fenntnißvermögen. Die vorwaltende Meinung ift, nach der ala 
Schulformel: nihil appetimus, nisi sub ratione boni; nihil aver 
samur, nisi sab ratione mali: — in einer theoretifchen Bewuße 
ſeinsentwicklung werbe zuerft das Gute und Böfe erkannt, dau 
erfolge, dieſer Erfenntniß entſprechend, bie Willensbewegung 


- Eine „hyftologifche Anficht von den fittlichen Dingen. 417 


Dagegen meinte Carteſius: ad judicandum requiritur quidem 
intellectus, quia de re, quam nullo modo pereipimus, nihil 
‚possumus judicare; sed requiritur etiam voluntas, ut rei aliquo 
imodo perceptae assentio praebeatur *). Und Spinoza hat die gar 
zu fonderbare Behauptung ausgefprocdhen:.Constat, nihil nos co- 
nari, velle, appetere, neque cupere, quia id bonum esse ju- 
dicamus; sed contra, nos propterea aliquid bonum esse judi- 
eamus, quia id conamur, volumus, appetimus atque cupimus **) 
Wir fönnen und aber auch an das gemeine Bewußtfein wenden, 
‚and fragen: findet nicht jedes Mal, wo ein Gegenftand nicht nur 
40, wie er fi dem bloßen Erfenntnigvermögen barbietet, hinge⸗ 
nommen, ſondern ihm ein Werth oder Unmwerth beigelegt wird, 


ein Wohlgefallen oder Mißfallen Statt, ein Intereſſe, eine Luft. 


oder Unluft, eine Befriedigung oder eine Verlegung ? Iſt alfo das 
Werthurtheil wohl eine Function nur des reinen Erfenntnißvers 
mögeng ? 


Die Unterfuhung, wie das Werthurtheil entftehe, wird ung 
am fiherften erfennen laffen, was überhaupt einen Werth für und 


babe, und was das Gute, das GSittlidhe ſei. Doch dürfen wir 
dieſer Unterfuhung, welche uns in alle Tiefen der Piychologie 
binabziehen möchte, nicht einen ungehemmten Verlauf Iaffen, fon- 
dern dürfen nur das zur Aufhellung der Sache unerlaͤßliche her⸗ 
beiziehen. 

Die angeführte Aeußerung des Carteſius verdiente, auch wenn 
fie nicht son einem fo berühmten Manne herrührte, keineswegs 
ſo geringfchätig behandelt zu werden, wie wohl Manche dazu ges 
neigt fein dürften. Bei jeder Urtheilbilbung findet ein Segen, 
ein Trennen und Berbinden Statt, welches nicht: der doch vor⸗ 
zugsweiſe aufnehmenden theoretifchen Seite, fondern ber felbfithäs 
tig wirffamen Kraft angehören zu müſſen ſcheint. Indeſſen ift 
doch faum jede Urtheilbildung auf den Willen im eigentlichen Sinne 


*) Princ. phil. I, 34. 
**) Ethic. III, 9. 


v 


4118 Romang, 


zurüdzuführen *). Man wird die im eigentlichen Simme theore⸗ 
tifche Seite des Seelenwefend nicht als bloße Receptivitaͤt anſe 
ben, jede eigene Kraftäußerung aber fofort Willen nennen dürfen, 
ob ſchon die Ausſcheidung beider Seiten, der theoretifchen um 
praftifhen, fehr ſchwer wird, fobald man nicht fireng am dieſe 
Merkmal fih hält. 

In der unmittelbaren Wahrnehmung, die mit einer Spiege 
fung verglichen werden fann, findet fi Das Minimum von pofitise 
Thätigkeit, doch ift auch fie nicht bloße Spiegelung. Das Deute, 
dann das eigentliche Erfennen, wird nicht felten mit einem gre 
Gen Aufwande von Willensfraft vollzogen; allein nur die abſich 
liche Richtung und Ausdauer der Thätigfeit, nicht das Sepen in 
‚ Berbindung von Subject und Prädicat, fcheint als eigentliche 
Willensact angefehen werden zu können Auch iſt ficherlich de 
Unterfchied der Urtheilefunction und des eigentlichen Willensacks 
nicht mit Herbart oder Benefe auf eine bloße Differenz in dm 
Berhältniffen und in dem Getriebe der Borftellungen zurückzuführen. 

Was das Wiffen nad feinem allgemeinften Wefen fei, in 
eben fo wenig mit vielen Worten deutlich zu machen, «ale wei 
das Licht fei. Das Bewußtfein weiß unmittelbar bie Bedentum 
biefes Begriffs, wie es durch das Auge des Lichts ficher iſt. En 
wictelungsftufen des Wiſſens aber Yaffen fich ſchon beſſer beſchrei⸗ 
ben. Nur der oberflächlichften Erfcheinung wird Das Wiffen burh 
unmittelbaren Eindrud inne, wie in einer Spiegelung. Dieß abe 
ift nur ein ganz dumpfes Bewußtfein, kaum mit beflimmter Us 
terfcheidung eines gegenftändlichen und des eignen Seind E⸗ 
gentliche Erkenntniß, entſchiedenes Segen von Sein und Beſtimm— 
heit eines Vorgeftellten, erfolgt erſt nach fürzer oder Länger baum 
der Unentfchiedenheit des Bewußtſeins, fei ed, daß ber Proc 


*) Auch in jener Abhandlung Beitfhr. VII. &. 156 iſt angefähl, 
wie nad) Hegel man „ohne Willen ſich wicht theoretiſch verhalten 
oder denken Bann, denn inden wir denken, find wir eben thätig" 
— und dann bemerkt der Berf.: „das Denken kommt doch Mi, 
ohne das im eigentlichen Sinne fo genannte Wollen“. 


Eine phyſiologiſche Anficht von dem füttlichen Dingen. 419 


ber ſich bildenden Ueberzeugung fi) vollziehe in der Weife eines 
Sichemporarbeitend früher nicht deutlich hervorgetretener Beftim- 
mungen einer zuerft allein dem Bewußtfein vorfchwebenden Vor⸗ 
Rellung — im jogenannten analytifchen Urtheil — oder in derje⸗ 
nigen des Zuſammenſchmelzens zuerft getrennt im Bewußtſein vors 
Bandener Vorftellungen zu einer einzigen Borftellungs » Einheit — 
um ſynthetiſchen Urtheil, wo indeß die Seßung bes Zufammenge- 
börens der Beſtimmungen wohl ebenfalls nur zu Stande fommt, 
indem die zuerſt dem Subject wie von außen ber zufommende 
Borftellung fih dem dadurch aufmerkfam gemachten Bewußtfein 
erzeigt ald Beſtimmtheit der Subjectsvorftellung. Nach der Hers 
bart'ſchen Anficht wäre es das Gewicht der Vorſtellungen ſelbſt, 
wodurch diefe Enticheidung zu Stande käme. Die Vorftellungen 
können jedoch ein fol Gewicht, eine ftrebende Kraft, nur be= 
Riten, vermöge der in ihnen fi Außernden realen Energie des 

Seelenweſens. | 

Daher ift denn allerdings nicht zu leugnen, daß felbft in ber 
iheoretifchen Urtheilbildung ein reales Princip ſich thätig erweist. 
Diefe Aeußerung eines firebenden Principe aber fofort Willen zu 
heißen, würde ohne Nuten der gangbaren Ausdrucksweiſe wider: 
fpreihen. Selbft das Bild erzeugt ſich nicht ohne eine gewiffe 
Wirkfamfeit des Spiegels. Allein wenn auch ber dabei Statt fin- 
dende Hergang ſich mit Bewußtfein vollzöge, fo hätte derfelbe 
doch Feine Hehnlichkeit mit einem Willensact. Demnach fann auch 
bie Urtheilbildung, bie bewirkt wird durch das bloße Eintreten 
eines gewilfen Rapportes zwifchen dem Erfenntnißgegenftande und 
dem erfennenden Subject, ohne daß biefes zu einer Erregung ſei⸗ 
nes zur Einheit in fich vertieften Weſens aufgerufen wird, -nicht 
ein eigentlicher Willensact fein. Wir dürfen aljo nicht ohne Uns 
terichied fagen:-ad judicandum requiritur voluntas. 

Bielleicht aber dürfte biefer Sag fo ziemlich feine Geltung 
behalten in Hinficht auf das Werthurtheil. Es ift nämlich etwas 
wefentlih Anderes, die fonftige Beftimmtheit eines Gegenſtandes 
gu erkennen, und das, was den Werth deffelben ausmacht. Zwar 
wird auch der Werth jedesmal eine objective Beftimmtheit dee 





120 Nomang, 


Segenftandes fein, ober doch auf einer foldhen beruhen, fo vaf 
es zunächft feheinen Fann, diefe Art von Urtheilbilbung ſei nicht 
wefentlic von derjenigen, bie nicht ben eigentlichen Werth bekriffl,. 
verfchieden. Geſetzt, es fei mit der vollfommenften Genauigfel 
der finnlihen Wahrnehmung und mit der größten Schärfe bed 
Begriffs ein Gegenftand nach feinen übrigen Beftimmtheiten er 
fannt worben, aber nicht nad) feinem Werthe, fo ift die natür 
lihfte und erfte Annahıne wohl die, es habe ſich eben der Geger 
fand dem Beurtheiler von dieſer Seite nicht gehörig dargeſtelt, 
ober diefem gehe zufällig der Sinn für dieſes Moment ab, he 
Zweifel wird Beides Play finden können, einerfeits ungünfliges 
Verhaͤltniß, andrerfeits Mangel an Urtheilsfähigfeit bei dem Be 
urtheiler, Allein es fragt fi) in Hinficht auf dag bei dieſem Ma 
- gelnde, ob ihm nur eine beflimmte theonbtifche Begabung, em 
beflimmte Ausrüftung feiner Sinne oder feiner Berftandesanlagen 
abgehe, oder etwas Anderes ? 

Niemand wird beftreiten, daß die Richtigkeit des ſittlichen 
Urtheils nicht immer in geradem Berhältniffe ſteht zur theoretiſchen 
Ausbildung. Einer Tann wohl die Handlung oder den Zuflan 
in jeder andern Beziehung fehr genau erfannt haben, und nidt 
zu einer lebendigen Wertbichägung kommen. Oder vergegemmät 
tigen wir ung einen Fall aus dem Gebiet der äfthetifchen Werth 
Ihätung, fei es auf dem Felde ber bildenden ober der Tow 
funft. Hier kann doch die fchärffte Wahrnehmung aller Element 
ber ganzen Darftellung nad ihrem Zufammenhange vorhanden 
fein, ohne daß es zu einer wirklichen eignen Wertbfchägung kömmt. 
Ya fogar genaue Kenntniß der Theorie mit bedeutender technifhe 
Fertigfeit fommt vor ohne wahre Urtheilsfähigfei. Wenn aber 
alle Sinnenfchärfe, alle Berftandesbildung, alle zur Fefthaltum 
einer zufammengefesten Erfcheinung und ihrer natürlichen Gele 
. mäßigfeit erforderliche Geiftesfraft vorhanden tft, ohne daß das 
Werthurtheil entfteht, Fann denn dasjenige, wodurch dieſes er⸗ 
zeugt wird, zum rein tbeoretifchen Vermögen gehören ? 

Es haben wohl alle, die ſich gründlicher mit biefen Fragen 
beihäftigten, wenigftens in einigen Bezichungen das Werthurtheil 


Eine phyfiologifche Anſicht von ben fittlihen Dingen. A421 


aufgefaßt, als mit dem Intereſſe in Verbindung ftehend, und ſich 
zu intereffiren ift Feine Sache des bloßen Erfenntnigvermögeng. 
Unter den breierlei Werthen, die man in der menſchlichen Werth⸗ 
ſchaͤtzung gewöhnlich unterfcheidet, dem des Angenehmen, des Schös 
nen und des Guten, foll freilih nad einer gangbar gewordenen 
Kantifchen Erklärung der des Schönen unabhängig fein von dem 
Intereſſe. Das Schöne fol ohne Intereſſe gefallen, und nad 
Herbart würde auch das fittliche Urtheil zu den Afthetifchen Lr- 
theilen gehören. Im Allgemeinen jedoch wird niemand verweh⸗ 
ren, ein fittlihes ntereffe anzunehmen. Saum gibt es bei Kant 
eine entfchiedener ausgeſprochene Lehre, ald die, daß das Wohl⸗ 
gefallen am Guten mit Intereſſe verbunden fei, denn das Gute 
fei das Object des Willens, etwas aber wollen, und an dem Da⸗ 
fein deffelben ein Wohßkefallen haben, d. h. daran ein Intereſſe 
nehmen, fei identifh *). Und dag das Wohlgefallen am Angenehs 
men intereffirt fei, darin find Alle einverftanden. Wie follte denn 
neben den zwei auf Sintereffe beruhenden Arten des Werthurtheilg 
dieſe Eine, die Afthetifche, ganz und gar unabhängig davon fein, 
während doch ein fo fcharffinniger Denfer,. wie Herbart, das ans 
erfannt intereffirte füttliche Urtheil zu diefer rechnet? Ya wenn wir 
auch abfehen wollten von dem Begriff des Intereſſes, fo bliebe 
jedenfalls das Wohlgefallen ald Grundlage jedes Werthurtheileg, 
und Wohlgefallen wird wohl ſchwerlich gedacht werben Fönnen 
ohne Iniereſſe. 

Sich für etwas intereffi iren, heißt, nicht gleichgültig gegen 
den Gegenſtand ſein, ſo gegen ihn geſtimmt ſein, daß einem 
etwas an ihm, an ſeinem Daſein, gelegen iſt. Bei jeglichem 
Wohlgefallen iſt einem aber an dem Gegenſtande gelegen. Nur 
ſcheinbar macht das Schöne hiervon eine Ausnahme. Andere In⸗ 
tereſſen mögen zu gleicher Zeit weit überwiegen, inwiefern aber 
ein Gegenſtand wirklich als ſchön gefällt, iſt man nicht gleichgül⸗ 
fig, ſondern man mag ihn lieber vor ſich haben, als den haͤß⸗ 
lien. Daß die beiden andern Arten des Wohlgefallend gewöhr— 


Krit. d. Urth.Kr. ©. 14. 


122 Nomang, 


lich ein lebendigeres Intereſſe in fich fchlichen, Fommt wohl nır 
baber, daß die Affection durch das Angenehme und das Gute bei 
den Meiften weit tiefer und gewaltfamer ihr inneres Wefen er 
greift und erregt. Uebrigens wird das Intereffe am Schönen ki 
einzelnen Naturen ebenfo Tebhaft, wie irgend ein anderes. Den 
enthufiaftifhen Kunftliebhaber ift Die Gegenwart des Schönen bir 
unentbehrliche Bedingung einer gedeihlichen Eriftenz. Den Alte 
fiel es auch nicht ein, das Wohlgefallen am Schönen von allen 
Intereſſe auszuſcheiden. 

Ohne Intereſſe gibt es kein Wohlgefallen, und ohne Tor 
gefallen, ſelbſt bei der in jeder andern Beziehung vollſtaͤndigſten 
Erfenntnig, Fein Werthurtheil. Auch wenn man weiß, ber Be 
genftand habe für Andere einen Werth, fo hat er boch: Feinen fr 
und, wenn er nicht in irgend einer Bezichung und gefällt, und 
an ihm gelegen ifl. Auf dem Princip irgend eines Wohlgefallen 
und Intereſſes beruht alfo jede Werthſchätzung, und, Da nur, was 
einen Werth hat, ein Gut ift, jedes Gut. 

Sich zu intereffiren ift nun "aber feine Sache des bloßen Er: 
fenntnißvermögend. Die fonderbare Meinung Spinoga’s, dah 
wir urtheilen, etwas fei gut, weil wir darnach fireben, iſt ange 
führt worden. Diefelbe fteht jedoch ziemlich ifolirt da unter ak 
lem, was über den Grund des Werthurtheild aufgeftelft worden 
it. Da aber niemand das Wohlgefallen und das Sntereffe aus 
bem Berftande abzuleiten unternehmen mochte, fo haben fie dem 
in der Luft und Unluft den Grund beffelben zu-finden geglaubt, 

Luft und Unluſt hat man längft gefannt, und aud) in da 
wiffenfchaftlichen Unterfuchungen berüdfichtigt. Erſt die Neuen 
aber haben ein eigenes Seelenvermögen angenommen für biek 
Erfcheinungen, das Gefühl, als ein fonderbares Mittleres zwiſchen 
dem Erkenntniß⸗ und dem Begehrungsvermögen. Ohne Zweifel 
ift Die Region des Seelenlebens, welche in der deutfchen Sprache 
mit diefem Namen bezeichnet wird, von fehr hoher Bedeutung, 
und es ift ein Fortſchritt der pfychologifchen und ethifchen Unter 
ſuchung, daß ihr eine ungleich forgfältigere Aufmerkfamfeit zuge 
wendet wird, als ehemals. Die Ausfcheidung dieſes Element‘ 


Eine phyfiologifche Anſicht von den fittlichen Dingen. 4123 


son dem theoretifhen und praftifchen ift aber bisher noch ſchlecht 
genug gelungen. Wir haben eben felbft erfahren, wie ſchwierig 
es ift, das Theoretifche und Praftifche im Seelenwefen recht aus⸗ 
einander zu halten, und doch find dieß zwei ohne Zweifel ver= 
Schiedene Seiten. Im Gefühl hingegen hat noch Keiner wirklich 
etwas aufzuweiſen vermoct, das nicht entweder zum Wiſſen 
gehörte, ober.zur realen, firebenden Kraft, zum Praktiſchen. Beis’ 
des ift im Gefühl — eine Art des Wiffend, aber eben fo ge⸗ 
wig auch eine Erregung bes Seelenweſens, die ald erſtes inners 
liches Aufftreben, Hinneigen und Ergreifen, oder als Abfehren 
und Abftoßen, in Liebe und Haß, unzweifelhaft zur praftiichen 
Seite zu rechnen iſt. Wahrfcheinlich ift das Gefühl Fein von dem 
Wiffen und Wollen verfchiedenes Drittes, fondern die noch nicht 
recht gefchiedene Einheit beider auf der unterften Stufe der be⸗ 
wußten Entwiclung, ‚worauf einerfeits die Innigkeit dieſer Be⸗ 
wußtfeingzuftände, andrerfeits dag Dunfele und Berfchwimmende 
derfelben hinzuweiſen fcheint. 

Auf diefem Boden wurzelt indeſſen allerdings das Wohlge- 
fallen und das Intereſſe. In jedem Lufigefühl iſt Wohlgefallen, 
in jeder Unluft Mißfallen, auf beiden Seiten Intereſſe, und eben 
fo gewiß gibt es fein lebendiges Intereffe ohne Affection der Fuft 
und Unlufl. Das Innewerden biefer Zuftände gehört nun offens 
bar der Seite des Wiſſens an — aber auch ber erfte, tiefere 
Grund der fo empfundenen Affection? Hielt es doch fo Außerft 
Schwer, für das theoretifhe Vermögen dasjenige von ber praftls 
ſchen Kraft auszufcheiden, was die Entfcheidung und Segung bei 
Der Urtheilbildung bewirkt, fo wird wohl niemand es unterneh⸗ 
men, die liebe, die Zus und Abneigung, oder welches die erften 
und leifeften Aeußerungen des noch nicht über das Niveau des 
Gefühle heraustretenden Intereſſes fein mögen, der Seite des 
bloßen Wiffend zuzueignen. Vielmehr darf man nicht Teicht bei 
einer Sache fiherer an das Bewußtfein eines jeden an ber Uns 
terfuchung Theilnehmenden appelliven, als bei der Frage: ob man 
bier nicht aufs Deutlichfte ein von dem eigentlichen Wiffen fid) 
unterfcheidendes Aufftreben, Erregts und zuweilen auch Gedrüdts 


. 


124 Romang, 


fein des innerften Seelenweſens in fi wahrnehme? Und hierauf 
beruht, in diefer Erregung des realen Seeleſeins befteht das In⸗ 
terefie. Wo Feine ſolche Erregung eintritt, können vielleicht alle 
anderweitigen Beftimmtheiten des Gegenftandes nur um fo fihe 
rer erfannt werden, ein Werthurtheil aber fommt nicht zu Stande. 
Nicht fowohl an einem befondern Sinn, einer theoretifchen Em 
pfänglichkeit, oder einer fonftigen rein.theoretifchen Fähigkeit wird 
es fehlen, wo fein Werthurtheil gefällt wird, als an diefer Ev 
tegbarfeit der realen Energie der Seele. Wenn wir alfo nid 
ganz im Allgemeinen mit Carteſius fagen mochten: ut assense 
praebeatur requiritur voluntas; ſo wird doch in Anfehung dei 
Werthurtheiles fo ziemlih mit Spinoza gefagt werden. müflen: 
propterea aliquid bonum esse judicamus,, quia id eonamar, 
volumus, appetimus, atque cupimus. 

Volumus freilich ift wohl nicht der ganz richtige Ausbrud 
für diefen tiefften Grund des Intereſſes und des Werthurtheiles; 


— conamur, appetimus, dieß ift dad Wort. Es findet ein Bew⸗ 


gen, ein Erregtfein, ein innerliches Drängen und Treiben Siau 


bei jedem Wohl- oder Mißfallen, Luft- oder Unluſtgefühl. Us | | 


es find nicht blos Vorſtellungen als ſolche, die ſich in ihrem ge 
genfeitigen Getriebe, nach Herbart, einander preffen und drängen, 
noch ift es ein Spannungsverhältuig von Vorftellungen , wie bie, 
übrigens nicht Alles blos in leere Vorftellungen ſetzende, Dar 
ftellung Beneke's beinahe lautet. Die Borftellung ift nur die 
Form eines beftimmten Bewußtfeind, reale Potenz aber nur, it 
wicfern fortwährend dag reale Element des Seelenwefens in it 
vorhanden ift, mehr oder weniger ähnlich, wie das Eine Waſſer 
bes Sees in der einzelnen Welle. 

| Reale, bewegende, treibende Kräfte müffen jedenfalls ange⸗ 
nommen werden. Und warum ſollten wir uns durch die Be⸗ 
dräuung Herbart's abſchrecken laſſen, dieß auszuſprechen? Ein 
reales Sein iſt, wie ſchon Leibnitz deutlich genug gefagt hat, nicht 
zu denken ohne Kraft und Kraftäußerung. Es liegt ſchon in dem 
Begriffe des Seeleſeins, daß die lebendige Seele eine Kraftaͤu⸗ 
Berung, eine ftrebende Bewegung entfalte: 

Auch der Name für die hier vor ung liegende Sache. ift lünzf 


Eine phyſiologiſche Anficht von ben fittlihen Dingen. : 425 


im Gebraud. Trieb nennt man aud) auf dem Gebiete des Sees 
liſchen und Geiftigen das Princip diefes innern Treibens und Ver 
wegend. Auf Trieben beruht alles Intereſſe, alles Wohlgefallen, 
alfes Werthurtheil. Das Erfenntnißvermögen blog für ſich bringt 
ed nur zur Einfiht in die fonftigen Beftimmtheiten des Gegen— 
ftandes im theoretifchen Urtheil; erft wo lebendig ftrebende Triebe 
in Das Bewußtſein hereingreifen, entfteht ein praftifches, ein Werh— 
urtheil. Auf dem Gebiete der finnlichen Werthgebung erinnern 
wir nur an Die vorzugsweiſe fogenannte, die aphrodiſiſche Luſt und 
die darauf beruhende Wertbfihägung. Hier braucht nicht nachge— 
wiejen zu werden, wie fie erft mit der Entwidlung eines beſtimm⸗ 
ten Triebes eintritt, und wie nad) dem Erfterben deffelben davon 
aur eine Erinnerung, nicht aber bie unmittelbar gegenwärtige Urs 
sheilsfähigfeit zurückbleibt. Auch einen fittlihen Trieb haben Lies 
fenigen, welche fich ernftliher mit Diefen Dingen befchäftigten, 
anzunehmen fich längſt genöthigt gefehen. Hingegen würde nicht 
gefagt werben können, Daß das äfthetifche Werthurtheii auf einem 
Triebe beruhe, wenn dafjelbe unintereffirt wäre; allein bie unfere 
obigen Erörterungen über diefe Frage widerlegt, und Die dahin 
gehörenden pſychologiſchen Thatſachen aus einem andern Princiy 
-erflärt fein werben, Dürfen wir dieß verneinen, und mithin an 
ber Annahme fefthalten, alles Werthurtheil ohne Ausnahme bes 
ruhe auf Trieben, auf realen, firebenden Kräften. 


Nachdem diefe Vorfrage erledigt worden, können wir über- 
gehen zur Unterfuchung der Hauptfrage: was denn dasjenige fei, 
dem im Werthurtheile der Werth beigelegt, das ald ein Gut er⸗ 
kannt werde? Mit der Antwort, das Angenehme, das Schöne 
und Gute habe den Werth, Fönnen wir ung nicht begnügen, denn 
£8 handelt fih um die Beftimmung, was das Gute fei. Diefe 
aber ift nicht fo Leicht zu geben, fonft würden nicht die tiefſinnig⸗ 
ſten Geifter fich bei ihren Erklärungen im Kreife herum bewegen *), 
oder fi gar nicht in eine beſtimmte Erklärung einlaffen. 


*) Aristot, Eth. Nic. 1,3. IMavnv $ysı Tayada. — II, 6. gern E&ıs 
&v uewuryti ovva, wewoulrn Aöya, xaL us as 6 Yguvuuus Opiggıe. 


436 " Nomang, 


Die Luft felbft dürfen wir nicht ohne Weiteres für Das Gute 
erflären, aber, als Die Wurzel des Wohlgefallens und des Werth: 
urtheils, wird fie wenigftend auf Das Gute hinweifen, 

Hier fällt und nun wieberum bie bereits in einer frühern ähn⸗ 
lichen Unterſuchung hervorgezogene Platonifche Stelle ein: „Wenn 
die aus dem Unbegränzten und der Begränzung gemäß ber be 
feelten Natur entftandene Art verdirbt, ift ihre Verderbniß Unluſt, 
der Weg aber in ihr Sein und Beftehen, dieſe Rückkehr wiederum 
ift in allem Luft” *). Nur in der befeelten Natur ift Luſt, und 
zwar wird bie Art von Befeelung verftanden werben müſſen, bie 
zualeich ihrer felbft fich bewußt if. Die Luft entſteht, wo bad 
feiner felbft und feines Zuftandes bewußte Wefen feiner eigenen 
Dafeinsförderung inne wird, Unluft hingegen, wenn es feine Hem⸗ 
mung und Berderbniß empfindet**). Und, wie gezeigt worden iſt, 
in diefen Hergängen erzeugt ſich mit und in dem Wohlgefallen und 
Mißfallen alles Werthurtheil. Wem aber wirb der Werth gegeben? 

Nach der Art und Weife, wie der gemeine Sprachgebraud 
fih in diefen Dingen ausdrüdt, würde man antworten können, 
demjenigen, was die Luft hervorbringe. Die Speife, die Bewe⸗ 
gung wird als angenehm vorgezogen, alfo wird ihr ein Werth 
beigelegt, welcher zu beftehen fcheint in der Beichaffenheit, ver⸗ 
möge welcher fie die Luft erzeugt. Eigentlich jedoch hat in jedem 
ſolchen Verhaͤliniſſe die Iufterregende Sache nur die Bedeutung 
eines Mittels, das aber, wozu fie Mittel if, würde das Gute fein. 
Plato fagt, der Weg in das Sein und Beftehen für die bes 
feelte Art fei Luft, und ähnlich Spinoza: laetitia est transitio ad 
majorem perfectionem. Es geſchieht freilich nicht felten, daß auf 
dem Gebiete des Angenehmen, der niebrigften Güter, auf welches 
wir ung zunächft abfichtlich beſchränken, im Augenblid des Genuffes 
eine Luft vorgezogen, alfo ihr ein Werth beigelegt wirb, welche 

dem ganzen Dafein bes. Geniefenden keineswegs förderlich if. 





e) Mat. Phileb. 32. nad) Schleiermacher’d Leberfegung ©. 179 
**) Spinoza Ethie. III. Affect. def. 2. 5. Laetitia est hominis transitio 
a minore ad majorem perfectionem; tristitia est transitio a majore 
ad minorem perfectionem. 


ı 





Eine phyfiologifche Anficht von den fittlichen Dingen. 427 


Doc fobald das Befeelte fi) nicht nur in einer yartiellen Erres 
gung, fondern vollftändiger nad) feinem ganzen Wefen empfindet, 
wird die Luſt, die für das‘ ganze Wefen Berderbniß ift, nicht als 
ein Gut anerfannt, mithin wird wohl angenommen werben dürfen, 
fhon im finnlihen Luftgefühl werde ganz eigentlich dem Sein 
und Beftehen, welches gerade empfunden wird, der Werth gegeben. 

Die Luft tritt jedenfalls nur ein, wo lebendige Triebe vor⸗ 
handen find. Das bloß theoretifche Bewußtfein für ſich würde 
ed, nach unferer obigen Auseinanderfegung, zu feinem Intereffe 
und Werthurtheil, und eben deßhalb auch zu keiner Luſtempfin⸗ 
dung bringen. Erſt mit dem Hereingreifen des Triebes in das 
Bewußtſein entſteht bei gedeihlichem Verlaufe der Entwickelung 
die Luſt, bei Hemmung derſelben die Unluſt, und das Luſtgefühl 
it eben nur das Bewußtſein der Foͤrderung eines ſolchen lebendig 
firebenden Daſeins. Der Trieb erzeugt durch fein Streben das 
Urtheil, in welchem eine Werthſchaͤtzung ausgefprochen wird, Wor⸗ 
nad denn firebt der Trieb? Nach der Luflempfindung, ober nad 
feiner eignen naturgemäßen Entfaltung? Auf die erflere kann 
wenigſtens urfprünglid fein Streben nicht gerichtet fein, denn 
durch fein Streben, welches zuerft nicht in das Bewußtſein aufs 
genommen tft, wird dieſes erft zur Wertbgebung beftimmt, mithin 
frebt er urfprünglich als bewußtlofer oder blinder Trieb, und 
auch nachdem er foweit in's Bewußtfein bereingetreten ift, daß 
er im Intereſſe und Werthurtheil gewiffermaßen felbft gewußt 
wird, ſtrebt er, ehe er noch eine vollfommene Befriedigung er⸗ 
halten bat, alfo die Luft derfelben Fennen fann, weiter fort nach 
feinem Ziele. Miühin firebt er eigentlich nad feiner eigenen 
Weſensentwickelung. 

Demnach dürfen wir, was Plato und Spinoza nur gleichſam 
durch unmittelbare Intuition erfannt, jedenfalls ohne forgfältigere 
Bsgründung ausgefprochen haben, für. erwiefen anſehen, nämlich, 
daß die Dafeinsförderung felbft, fobald fie gewußt wird, Luſt, 
die Hemmung hingegen Untuft ift, und zugleich, daß diefer ſelbſt, 
nicht aber dem gewiffermaßen davon zu trennenden Gefühle, ber 
Werth zukommt. Wo es ſich anders zu verhalten, einer Luſt⸗ 


128 Nomang, 


empfindung Werth beigelegt zu werben fcheint, bie ber volltäw 
digern Weſensentwicklung verderblich ft, wird dieß daraus zu erw 
fären fein, daß das ganze Dafein, zu welchem jene Luflentwide 
lung gehört, eine DMannigfaltigfeit von Momenten in fich fchlick, 
von denen einige zum Nachtheil des Ganzen fich entwideln fir 
nen, ‚diefe übergreifende Entwidelung aber bag Bewußrfein, ) 
lange die Luſt währt, ganz erfüllt. . Das nähere Verhalten dei 
Seins und der Luft in Beziehung auf das Sittlich» Qute fa 
vielleicht fpäter noch unterfucht werden. 

Der Trieb, welcher das Werthurtheil erzeugt, und darin fer 
ner eignen Förderung und Entfaltung den Werth beilegt, wid 
nun auch auf dem pfuchologifchen Gebiete aufgefaßt werden müfen 
nad der Analogie lebendiger Kräfte überhaupt. In ber Eppin 
der finnlidhen Güterfhägung wird man dieß noch am leichteſe 
zugeben, denn hier wird niemand beftreiten, daß es der Nam⸗ 
trieb, als phyſiſcher Bildungstrieb, felbft fei, ber dem Werthurkel 
zu Grunde liegt. Jedes Angenehme oder Unangenehme beſth, 
tiefer erfaßt, immer in irgend einer Befriedigung und FZörberum 
oder Hemmung und Berlegung der die Bildung und Entwidchm. 
des phyſiſchen Daſeins tragenden und beherrſchenden Lebenöfrak 
fei ed mehr nach ihrem Gefammtinhalt, oder in einer befonden 
Beziehung. In Anfehung der höhern, geiftigen Xebensgebiete unkr 
liegt dagegen dieſe Auffaffung vielen Einwendungen. Und op 
. Zweifel ift dasjenige Gebiet, welches als dag geiftige, obſchon md 
ungewiffen Gränzen, doch fo im Ganzen ziemlich) übereinftimmen, 
von dem phyfifchen unterfchieden wird, von fehr anderer Beldal 
ſenheit, ald das letztere. Wenn aber in der erwähnten Beziehung 
gar feine Analogie angenommen werben follte, fo würde es wohl 
ſchwer fein, irgend eine beſtimmte Vorſtellung von ber geiftigen Do 
ſeins⸗ und Entwicklungsweiſe feſtzuhalten. Diejenigen, welde di 
Annahme jeder folhen Analogie als gänzlihe Mißkennung Yi 
geiftigen Weſens mit der allerhöchften Geringſchätzung behandelt, 
geben gewöhnlich in ihren vornehm fpeculativen Neben gar keire 
wirflihe Erflärung diefer Dinge, fondern eben nur Worte, mi 
denen man freilich am Zuverfichtlichften zum Tempel der Gewif 





























Eine phyſiologiſche Anſicht von ben fittlihen Dingen. 129 


heit einzugeben glauben mag. Bis alfo bie gänzliche, unbebingte 
Heterogeneität der verfchiedenen Gebiete nachgewieſen, und Dabei 
zugleich für die Thatfachen der geiftigen Sphäre eine genügende 
Erffärung gegeben fein wird, halten wir feſt an ber Ueberzeu⸗ 
gung, auch wo ein äfthetifches und -fittliches Werthurtheil gefällt 
wird, liege bemfelben ein Trieb zu Grunde, eine reale, lebendige 
Weſenheit, die ſich in einer befiimmten Weife zu entfalten firebe, 
beren Hemmung oder Körberung empfunden, und, -inbem fie fich 
felbft den Werth gibt, ald Gut oder Uebel beurtheilt werde. Auch 
bie äſthetiſche Luft, ſelbſt die an einem wenigftend zur Zeit noch 
aller nachweisbaren äußern Realität entbehrenden Phantafiegebilde, 
ſcheint Darauf zu beruhen, daß die Seele, welche fie empfindet, 
vermöge ihrer einmal gegebenen Wefensbeftimmtheit nach dieſer 
Weiſe eigner Entfaltung hintendirt, fi alfo dabei befriedigt fühlt, 
Es ift auch, wie ſchon oben ift erinnert worden, mit dem äſtheti⸗ 
ſchen Wohlgefallen ein Interefie an dem Dafein des Schönen ver» 
bunden, nur ift diefe Forderung meiftens nicht fehr dringend. Ge 
kräftiger aber derjenige Trieb ift, welchen wir auch dem äſtheti-⸗ 
ſchen Urtheile zu Grunde zu legen genöthigt' find, die Energie der 
Seele, die eben das probuctive Kunfttalent ausmacht, oder vers 
möge welcher fie doch nur in der wirklichen Berührung mit dem 
Schönen ihre fröhliches Dafein gewinnt, defto entichiedener wirb 
au in reinäfthetifcher Entwidelung die Wirklichkeit des Schönen 
verlangt *). Intereſſe an einem Sondereigenthum bes Schönen 
liegt jedoch nicht im äſthetiſchen Wohlgefallen, dieſes wäre immer 
eine Berunreinigung bes Tegtern, und würbe auf einer ganz andern 
Grundlage beruhen, wie denn überhaupt nicht bie Abweſenheit 
alles Intereſſes, fondern die des egoiftifhen, ausſchließenden 


2) Selbſt in der Kantifchen Auffaflung des Afthetifchen Urtheiles 
findet fi) etwas mit der unfrigen Verwandtes. Wenn das 
Geſchmackurtheil nur „die Beziehung einer gegebenen Worftels 
„lung auf das ganze Vermögen ber Borftellungen, auf das Sub: 
nject und das Lebensgefühl derſelben“ ausdrüdt (Krit. d. Urth. 
Kr. ©. 4); fo wirb ia eben bie Befriedigung oder Verletzung 
des eigenen Iebendigen Wefens darin auegeſprochen. J 

Zeitfhrife fe Philoſ. u. ſpek. Theol. XII. Band 9 





430 Nomang, 


Intereſſes, von Wichtigfeit if für die Unterfcheidung der höhern 
von ben niedern Febensgebieten. Weniger brauchen wir ung woll 
darüber zu rechtfertigen, daß wir auch beim fittlichen Werthurtkeil 
“annehmen, es werde in demfelben dem eignen Wefen und be 
Entfaltung des dein Urtheil zu Grunde liegenden fittlichen Triebed 
ber Werth gegeben. Denn einen fittlihen Trieb haben kängk 
fhon Andere angenommen, und daß das Wohlgefallen am Gukn 
mit Sintereffe verbunden fei, wird allgemein zugeftanden, 

Bei diefer Zurüdführung alles Werthurtheiles auf bie de 
friedigung gewiffer, ſich darin felbft den Werth beilegender Trick 
im urtheilenden Subject, mag es das Anfehen haben, wir fon 
men, wenigftens für das Werthurtheil, auf den berüchtigten Sah 
des Protagoras, daß der Menſch das Maaß aller Dinge fei, 4 
obfeetive Beftimmtbeiten der Dinge, vermöge welcher dieſen ei 
Werth zufomme, gar nicht gebe, Dieß ift jedoch gar nicht ci 
nothmwendige Konfequenz unferer Auffaffung. Die objective de 
deutung des menfchlihen Vorftellens und Urtheilens hängt nid 
davon ab, ob angenommen werde, das Fürwahrhalten fei theil: 
weife bedingt durdy die eigne Beſtimmtheit des urtheilenden Euk 
jectes, denn dieß ift jedenfalls nicht zu läugnen, fondern daven, 
ob die Ueberzeugung fefiftehe, das objective Sein und das fu 
jective Erfenntnißvermögen feien fo für einander gemacht, daß 
fich bei gebörigem Rapport zwifchen beiden die Erkennmiß des 
Seienden einftelle. Die, Zuverläffigfeit des Urtheils, welded 
auf der realen Wefenheit des Geiftes beruht, wird nicht geringer 
fein, als die auf der Beftimmtheit des rein theoretifchen Ber: 
mögen beruhende, . Allerdings aber würde nach unferer Anfıdt 
der eigentlihe Werth dem Sein und Wefen bes urtheilenden 
Subjertes felbft zufommen, das äußere Sein aber nur die de 
deutung eines Mitteld zur Entwidelung des Erftern behalten. 
Allein das fittlihe Subject ift felbft ein Glied in dem Zuſammen⸗ 
hang bes objectiven Seins, und gerade in dem Werth der fill 
hen Subjecte hat das objective Sein feinen wahren Werth. 

Wirklich aber fommt unfere Auffaffung der Werthſchaͤhung 
‚und der Güter ziemlichermaßen auf Spinoziſtiſche Säge zurid 


Eine phyflologifche Anficht von den fittlichen Dingen. 434 


Dad suum esse conservare wird auch in unferer Sittenlehre eine 
bedeutende Geltung behaupten; dad bonum wird uns ziemlich nahe 
zufammenhangen mit dem utile, bie perfectio mit ber realitas; und 
felbft Darin möchte etwas Wahres anzuerkennen fein, daß in ziem⸗ 
lid) ähnlicher Weife bonum genannt werbe, quod ad valetudinem 
und quod ad Dei cultum conducit. Man erbofe ſich nicht zu 
poreilig gegen diefe Wendung. Spinoza wußte immer noch einen 
großen Unterfchied zu machen zwifchen dem: ex ductu rationis 
suum Esse conservare, gefett dieß follte, wie ausdrüdlich hinzu⸗ 
gelegt wird, gefchehen ex fundamento proprium utile quaerendi, 
und den auf vernunftlofen Einfällen beruhenden Zweckbegriffen. 
Und ebenfo weht uns in manchen Stellen der Discurfe des alle 
menſchliche Thätigfeit von ber Eigenliebe ableitenden Helvetiug 
eine edlere Gefinnung an, als in den von Liebe und Uneigens 
nügigfeit überfliegenderi Neben mancher Andern. Es wird Darauf 
anfommen, welches Esse erhalten, welches utile gefucht werde, 
Die Aufgabe ift nun, die Güter zu unterſcheiden und ſo das 
Sittlich⸗ Gute naͤher zu beſtimmen. 


Geſchluß im naͤchſten Hefte.) 


g® 


Die phitofophifche Literatur der Gegenwart, 
Bon 
Prof. Dr. H. Ulrich, 


Achter Artikel. 


Die neueſten Werke zur Geſchichte der Philoſophie von 


Brandis, Hillebrand, Braniß, Biedermann, 
Michelet und Chalybäus. 


(ortſetzung). 

Laſſen wir Daher das eigene Syſtem des. Verf. ganz aus ben 
Spiele, und halten ung nur an feine Darftellung der Geſchicht 
ber Philofophie, auf die es ihm nach feiner eigenen ausbrüdticen 
Erflärung auch vorzugsweile in der vorliegenden Schrift anfomm. 
Auch hier begegnen wir wiederum der Hegelfiben Grundidee. De 
Verf. behauptet, dag die philofophifche Idee zwar zunaͤchſt ihern 
Organismus in der Erhaltung ihrer wefenhaften Momente al 
ſolcher oder in dem Unterfchied und der Einheit ihrer Gliederung— 
d. h. in der oben angegebenen Gliederung feines philoſophiſchen 
Syſtemes — habe, aber hiermit zugleich nothwendig in der ge 
ſchichtlichen Bewegung ftehe, indem der Geift nur in ber Ge 
fchichte die Bedingungen feiner allfeitigen Erfülung und den. Te 
talzufammenhang mit ſich felber gewinnen könne. Dieſe geſchich 
Viche Fortbeſtimmung der philofophifchen Idee gehe aber von bier 
felbft aus, habe in dem Weſen berfelben ihr Princip und die fub 
ftantiellen Momente ihres Proceffes, woraus folge, Daß aud bie. 
wahre gefhichtliche Form und Darftellung ber dee. nothwendig 
organiſch, d. h. eine idealsimmanente fein müſſe. In dieſen 
Sinne ſtellt er dann den wiſſenſchaftlichen Organismusder 
philoſophiſchen Idee, d. h. ſein Syſtem im Grundriſſe, dem ge⸗ 
ſchichtlichen Organismus derſelben, d. h. der Univerſal⸗Ge⸗ 
ſchichte der Philoſophie, gegenüber: beide ſollen ſich offenbar durch 
die Gleichartigkeit ihrer Organiſation, ihrer Gliederung und Er 


Die philofophifche Titeratur der Gegenwart. 435 


wickelung, gegenfeitig halten und tragen. — Ganz Ähnlich wollte 
Hegel den Entwidelungsproceß der logiſchen Kategorien mit dem 
gefchichtlichen Bildungsgange der Philofophie identificiren; die Ges 
fchichte follte in concret biftorifcher Form nur den Inhalt feiner 
Logik wiederholen und abfpiegeln. Daß ihn indeflen dieſe Unter 
nehmung durchaus mißlungen, daß er im Berlaufe berfelben for 
gar feiner eigenen Intention untreu geworden, geben feßt feine 
Schüler felbft zu. | 

Auch dem Verf. fcheint das Unbaltbare diefer Hegelfchen An⸗ 
ſicht eingeleuchtet zu haben. Wenigſtens ift er weit davon ent- 
fernt, in der Sefchichte der Philofophie nur das allmählige Her⸗ 
vortreten und zum Bemußtfeinfommen der logifchen Kategorieen _ 
zu erbliden. Der ganze Parallelismus zwiſchen feinem Syſteme 
und der Geſchichte ober zwiſchen dem wiflenfchaftlidhen und ge⸗ 
fchichtlihen Organismus der philofophifchen Idee befchränft fich 
vielmehr darauf, daß, wie in jenem die Obfectivität der Subfecti- 
sität der abfoluten Idee gegenüberfteht und dieſe auf jene folgt, 
fo die Gefchihte der antiken Philofophie von ber gegebenen 
Realität und Objectivsität, die der modernen chriftlichen Philos 
fophie Dagegen von der Subjectivität und Idealität des Abfoluten, 
des Geiſtes, der Idee, ausgeht, jene zu dieſer hinüberführt. 
Allein felbft diefer fehr allgemein gehaltene Parallelismus löst fich 
bei näherer Betrachtung in Nichts auf. Denn bie objective Seile . 
der Idee ift, wie bemerkt, im Syſteme bes Verf. die Natur, 
die fubjective Seite der Geiſt; biefen beiden Haupttheilen ſteht bie 
Dialeftil als dritter Haupttheil des Ganzen voran. Diefer dritte 
Haupttheil, diefer Anfang, der das Gange begründet, erfcheint 
nun aber im gefhichtlihen Organismus der dee gar nicht 
vepräfentirt; gefchichtlich beginnt die Idee fofort mit ber Entwides 
lung ihrer Objectivität. Letztere aber ift wiederum biftorifch nicht 
baffelbe, was fie wiffenfchaftlich if: die antife Philoſophie iſt ja 
offenbar nicht blos Entwidelung des Begriffe der Natur, nicht 
bioße Naturpbilofophie. Wenn fie auch mit naturaliftiichen Be» 
fiimmungen der ſ. g. philöfophifchen Idee beginnt, fo tritt ja doch 
ſchon mit den @leaten, jedenfalls mit Anaragoras und Empebo- 
kles der Geift an die Spitze der philofophifchen Weltanfchauung. 


434 Ulrtei, 


Der Fern ber antifen Philofopbie, zu welchem alle früheren Bi: 
dungsftufen nur als einleitende, propädeutifche Vorſtufen anzufehen 
find, ift nicht Naturphilofophie, fondern weſentlich Ethik, d. h. 
Geiftesphilofophie. Der Berf. erkennt dieß auch ausdrücdlic m 
Nach feiner Darftellung der Platonifchen und Ariftotelifchen Phi 
loſophie läßt ſich nicht einfehen, was namentlich dem Arifotdk 
fhen Spyfteme, an der Vollendung bed Begriffs noch fehlen folle: 
es hat in Princip und Grundidee die nächſte Berwandtfchaft mit 
dem Syſteme des Verf, ſelbſt. Die antike Philofophie mußte nad 
feinen eigenen Worten (S. 325) „durch alle Stufen der objectiom 
Denkbewegung hindurchdringen, um bei ber Abfolutheit der Sub⸗ 
jeetivität der Idee als folcher anzulangen.” Syn der mobernm 
Philofophie dagegen foll „die dee von diefer Abfolutheit ihre 
Subjectivität ausgehen und fich innerhalb derfelben rein, an ſih 
und durch ſich beftimmen, um fidy fchlechthin an und für fidh ode 
eben in ihrer fubjectiven Abfolutheit zu begreifen.” Wenn nu 
aber bereits in der antifen Philofophie die Idee ihre abfolute Sub 
jectivität erreicht hatte, wenn bereits bei Plato und Arifoteled 
von der Subjectivität der Idee aus durch den abfoluten Geiß 
Natur und Welt und Menfchheit beftimmt erfcheint, — wozu dam 
noch ein neuer Proceß der Entwirelung, wozu Die ganze mobern 
Philofopbie, Die es doch um nichts weiter bringt? — Wenn ii 
Verfs. eigene Darftellung nicht zeigte, daß die moderne Philoſophie 
nad) einem ganz andern Ziele hinftrebt, als was Plato und Arb 
ftoteles mit ihrem noch einfeitig pantheiftifchen unperfönlichen Geb 
tesbegriffe erreichten, d. h. wenn die Geſchichte ſelbſt nicht das Priw 
eip und den Standpunkt des Verf. widerlegte, fo dürfte es fohlimm 
fiehen um die Nothwendigkeit und Bernünftigfeit des hiſtoriſhen 
Entwickelungsproceſſes der ſ. g. Idee. — 

Der Verf. beſitzt überhaupt eine glückliche Inconſequenz, durch 
die er die Einſeitigkeit ſeines Standpunkts und feiner conſtruktiven 
Methode immer wieder corrigirt. Dieß zeigt fich fogleich in ber 
näheren Beftimmung feines Princips felbft. Eigentlich fol danach 
nur „die Idee fich felbft Princip und Subftanz in dem zeitlichen 
Fortſchritt ihrer Selbfibeftimmung, mithin ihre eigene Immanerz 
in dieſem Proceffe und damit ihr eigener Organismus fein und 


Die phllofophifche Literatur ber Gegenwart, 436 


bleiben” ; und daher die Aufgabe einer hiftorifchen Darftellung der 
Dhilofophie nur darin beftehen, „dieſe organifche Immanenz der 
philoſophiſchen Idee in der Gefchichte ihrer Fortentwidelung nach⸗ 
zuweilen und in ihren Hauptmomenten zu bezeichnen”. Gleich- 
wohl foll dann aber doch die empirifch richtige Erfenntniß der 
hiftorifch concreten Beftimmtheit der dee .unerläßlihe Bedingung 
einer ſolchen Darftellung, nothwendiges Moment der conftruftiven 
Methode fein. Diefe hiftorifche Beltimmtheit aber foll ſich vor⸗ 
gugsweife nach dem jedesmaligen Standpunfte bes Bewußtſeins 
In einer befondern Zeit bilden, ſo daß infofern der jebesmalige 
Zeitgeift auch eine eigenthümliche Mobdification in der Philofos 
„hie bewirfe, wie denn überhaupt die Zotalität der gegebenen 
geſchichtlichen Verhältniffe die befondere Herausbildung der philo- 
ſophiſchen Idee bedinge. Ja aud bie pſychologiſche Eigen 
Muũmlichkeit der individuellen Repraͤſentanten der Philoſophie fol 
mitftimmen, ſoll nicht unbeachtet bleiben, und nur nicht als Haupt⸗ 
‚gefichtspunft angefehen werben dürfen. Das heißt denn doch aber 
wffenbar: der Gang der Gefchichte Täßt fich nicht blos aus ber 
philofophifchen Idee heraus a priori beftimmen, ableiten, con- 
ſtruiren; die f. g. Idee ift nicht das allein herrfchende Princip, 
Deffen Selbſtbeſtimmung und Selbftentwidelung den Organismus 
der Geſchichte bildetz die hiftorifch ſich entwidelnde Idee ift 
nicht diefelbe mit der abfoluten Idee des wiffenfhaftli- 
Ken Organismus: denn fonft Fönnte fie ja unmöglich von dem 
Zeitgeifte und der pfychologifchen Eigenthümlichfeit der philoſophi⸗ 
renden Individuen abhängig fein, fondern müßte dieſe vielmehr 
autofratiich beſtimmen; — von einer immanenten apriorifhen 
Erfenntniß des Ganges der Geſchichte aus dem Begriffe ber 
Philoſophie oder aus der ſ. g. philofophifchen Idee heraus, d. h. 
von einer Conftruftion der Gefchichte, in weldem Sinne man 
das Wort auch nehmen möge, kann mithin nicht die Nede fein. 
Kurz, dem Principe des Verf. ift feine wefentliche Eigenthümlich⸗ 
feit abgeſtreift; es ift im Grunde als Princip aufgehoben. Denn 
daß die Gefchichte der Philofophie nicht eine bloße Sammlung 
von Gedanken und Einfällen der philofophirenden Subjekte fei, 
daß fie vielmehr durch Wefen und Begriff einer eigenthümlichen 


436 Ulrieti, 


menſchlichen Geiftesthätigfeit (eben der philoſophiſchen) bedingt, 
alfo auch nothwendig Fortfchritt und Zufammenhang, ſchon zufolge 
des Principe der Caufalität, in ihr zu finden fei, — das wi 
heutzutage auch der unphiloſophiſchſte Hiftorifer ſchwerlich Täugnen 
Die Frage ift vielmehr nur, ob fi diefer Zufammenhang ı 
priori aus dem Begriffe der Philofophie ableiten Yaffe, um 
ob nicht auch der nothwendige Fortfchritt der philofophifchen Er 
Tenntniß, wie aller menſchlichen Bildung und aller Gefchichte, tref 
feiner Nothwendigfeit, doch durch die menſchliche Willensfreiket 
in dem Grabe bedingt fei, daß von einer apriorifchen Erfenntu 
diefes Fortfchritts, von einer Conftruftion der Geſchichte nicht die 
Nede fein könne. Diefe apriorifche Erkennmiß allein iſt es, die 
die Gegner der conftruftiiven Methode läugnen, und mit Zug mb 
Recht läugnen. Denn wollte man auch die menfchliche Cfubfektie) 
Willensfreiheit und deren Einfluß auf die Entwidelung bes erler⸗ 
nenden Geiftes in die Schanze fchlagen, — immer ift die aprieck 
Ihe Beftimmung des Ganges der Geſchichte aus dem Begriffe der 
Philofophie nur möglich, wenn und fofern diefer Begriff bereid 
erfhöpfend entwidelt, vollſtändig erfannt, mit unträgls. 
her Gewißheit und Wahrheit erfaßt il. Dann aber Eönnte e 
feine Vielheit philofophifcher Syfteme mehr geben; dann wär 
bie Gefchichte der Philofophie und damit die Weltgefchichte noff 
wendig zu Endes; die Gefhichte hätte fi in den Begriff aufge 
‘hoben, und es bebürfte mithin Feiner Darftellung derfelben mei 
Will alfo der conſtruirende Hiftorifer fein Syſtem nicht für dad 
abfolufe Syftem ausgeben, will er der Gefchichte nicht wi 
göttlicher Machtvollkommenheit zurufen: Bis hieher und nicht wer 
ter, fo — muß er eben das Eonftruiren laffen. Denn von einem 
unvollftändigen, ungewiſſen Begriffe aus läßt ſich offenbar and 
‚nur eine unvollftändige, Tüdenhafte, ünfichere Eonftruftion geteins 
‚nen, die in Wahrheit eine ift, da ihr das Hauptmoment ihres 
Begriffs, die immanente Nothwendigfeit und die in diefer Tiegende 
Gewißheit ihrer ferbft fehlt. Diefe innere, mit dem unvollſtaͤnd⸗ 
gen Begriffe verfnüpfte Unficherheit zeigt fi) denn auch zur Ge⸗ 
nüge bei allen eonftruirenden Hiftorifern: jeder Spätere wirft im 

mer wieder um, mas feine Vorgänger aufgebaut haben. — | 


Die phitofophifche Titeratur der Gegenwart. 157 


Nach den Zugeftänpniffen, die der Verf, der nicht conſtruiren⸗ 
den Geſchichts for ſchung mad, ift ed dann nicht zu verwundern, 
daß er fein Princip durchaus nicht confequent durchführt; ja er 
eonftruirt zuweilen fogar zu wenig, indem ber Zufammenhang, 
den er zwifchen ben einzelnen Syſtemen und Epochen nachweist, 
bier und da ein fehr äußerlicher ift, an andern Stellen bie im- 
manente Nothwendigfeit des Lebergangs zwar behauptet, aber 
wicht deducirt, nicht entwidelt erfcheint. So wird von der alt⸗Jo⸗ 
niſchen zur Pythagoräifch=Eleatifhen Philofophie nur durch die 
Bemerkung binübergeleitet, daß e8 „in der Natur der Sache geles 
gen, die einfeitige Richtung ber Jonier, nachdem ihre Bedeutung 
wwud Geltung hinlänglih erfannt worden, zu verlaffen, um in ans 
derer Weife dem Denkſtreben feine Befriedigung zu vermitteln, 
Map man fidh aber dem zugewendet, was der naturaliftiichen Uns 
mitielbarkeit am entichiedenften gegenüberftehe, nämlich dem abs 
Krakten Denten an und für fich felbft, werde begreiflich, wenn 
Man erwäge, daß das Iettere feiner bialeftifhen Beſtimmt⸗ 
geit, in welcher es allererft fein wahres Verhältniß erfaflen könne, 
wo nicht mächtig geworben. So fei ed gekommen” u. ſ. w. — 
‚Mit Anaragoras fol dann das Denfen zwar zum allgemeinen Bes 
wußtfein feiner ſelbſtſtändigen Wefenheit,. jedoch noch nicht zum 
Selbſtbewußtſein feiner freien Wirklichkeit, feiner Subjectivität 
‚gelangt fein. Der Fortfchritt zu diefer Subfectivität, d. h. von 
Anaragoras zu den Sophiften, wird dann dadurch begründet, daß 
„das Denken, einmal an jener Gränze (bei Anaxagoras) anges 
Sangt, fi) durch feine eigene Nothwendigfeit zur concreten Bes 
#immung feiner abfoluten Wefenheit fortgetrieben, fich durch fich 
ſelbſt als Princip feiner eigenen Wirklichkeit näher zu faffen, und 
‚feine Selbfftändigfeit dem gegebenen Sein gegenüber als eine an 
und für fi beftimmbare zu behaupten gefucht habe, ‘eben damit 
aber als feine an ihm felbft gefehte Freiheit, als Subjectivität 
erfchienen fei”, Worin dann aber jene behauptete Nothwendigkeit 
befanden habe, wie der Fortichritt vom Allgemeinen zum Con⸗ 
ereten zugleich ein Fortfchritt vom Bewußtfein der felbfiftändigen 
Wefenheit des Denfens zum Selbftbewußtfein feiner freien Wirk 
lichkeit fein, und wie namentlich dieſe Wirklichkeit, dieſe Subjecti⸗ 


458 * Ulriei, 


yität des Denkens von den Sophiften als ihre eigene, indi 
viduelle menſchliche Subjectivitär gefaßt werben konnte, — das 
Alles wird nicht näher dargethan; und verfteht ſich doch wahrlich 
nicht fo ohne weiteres von felbfl. — Bei dem Fortgange von Ari- 
fioteled zur zweiten Hauptperiode der griechifchen Philofophie, de 
ven Charakter der Verf. in die Auflöfung ber unbefangenen Ein . 
beit von Denken und Sein in eine „abftractivsreflerive Gegenläß 
lichkeit” fest, fehlt alle Ueberleitung aus der Idee. Ganz im 
Style hiftorifher Erzählung wird angeführt: „ALS im Innern de 
Lebensfriihe abnahm und durch Alerander und feine Nachfolge, 
noch mehr bald darauf durch Die Römer, das nationale Wade 
thum der Staatsordnung audy von außenher geftört wurde, um 
die Autoritätsgewalt der Herrfchaft ſich an die Stelle der conereim 
politiichen Volksorganiſation eindrängte, entfland jene abflradie 
reflexive Gegenfäßlichfeit im Leben und Denken: das Individum 
fuchte ſich vielfach zu ifoliren und die Freiheit, deren es bedurſt, 
lediglich in fich ſelbſt, woher in Abficht auf die Philofophie die 
zwiefache Erfcheinung zu erflären” u. ſ. w. — Daf der Neu⸗Po 
tonismug fih) aus dem Jufammentreten der Griechifch-Römifhen 
mit der Drientalifchen Speculation herausbildete, ift ebenfalld nz 
ein äußerlich biftorifches Faktum. Bei der Gliederung und be 
grifflihen Beftimmung der Scholaſtik aber erklärt der Verf, mi 
ehrenwerther Offenheit felbft: „Es fei ſchwer, Die werfchiebenen 
Phaſen und Formen der Scholaftif nach einer fachlichen und be 
grifflichen Anordnung barzuftellen, weil in ihr und ihrer Geſtab 
tung feine rehte Immanenz ber Idee ſich bethätige, mit 
feine organische iveal=begriffliche Fortbewegung mit Beſtimmlhei 
hervorzuheben fei” (S, 335)! — Wie aber ift es möglich, daß de 
Idee an irgend einem Punkte fich felber fo abhanden kommen kam, 
ohne damit den gefchichtlichen Organismus von Grund aus zu 
zerftören, da fie doch allein den wahren Fortgang der Geſchichte 
vermitteln fol? — Iſt mit jener Erklärung nicht implicite einge 
flanden, daß die ſ. g. conftruftive Methode, felbft nach des Berl 
höchſt befcheidener Begriffebeftimmung und Anwendung berfelben, 
eine Unmöglichkeit ſei? — 

Doch laſſen wir den Kampf gegen ein Princip, bas bisher 


Die philofophifche Literatur der Gegenwart. 439 


ftets nur behauptet, poftulirt, noch niemals aber erwiefen, durch⸗ 
geführt und in feiner Anwendbarkeit bewährt worden ift, — wos 
für die vorliegende Schrift einen neuen Beweis liefert. Erfen- 
nen wir lieber an — was wir nicht nur mit Bereitwilligfeit, fon= 
dern mit wahrem Vergnügen thun, — daß des Verf. hiftorifche 
Darſtellung, trog der Einfeitigfeit ihres Princips, in vieler Des 
ziehbung großes Lob verdient. Sie beruht nicht nur faft überall 
— und. das will viel fagen — auf einem gründlichen Studium 
ber Originalquellen , fie gewährt nicht nur einen klaren Ueberblid 
über den Gang der Geſchichte, indem die Einfchnitte mit fiherem 
Hiftorifchen Zafte fat überall an den rechten Stellen gemadt, 
Die einzelnen Epochen und Syſteme auch meift in beſtimmten deut⸗ 
dichen Umriffen hervortreten, — obwohl in letzterer Beziehung 
ao manches zu wünſchen wäre; — fondern es ift bem Verf, 
auch nicht felten gelungen, durch tiefereg Erfafferi einzelner Sys 
ſteme in ihrem innerften Principe Mißverftändniffe und Einfeitigs 
Seiten der bisherigen Auffaffung zu emendiren. So — um nur 
Einiges anzuführen — hat der Verf., wie es uns fcheint, mit 
Recht den Heraflit aus der Gebundenheit an die altionifchen Na⸗ 
turphiloſophen, in der er fi) bisher befunden, befreit, und ihm 
feine Stellung zwifchen den Eleaten und Atomiftifern angewiefen. 
Noch beffer dürfte er indeß gethban haben, wenn er ihn hinter bie 
Atomiften zwifchen diefe und Empedokles gefeßt hätte, Der Phie 
loſophie des Iegteren nämlich giebt er, ſoviel wir wiffen zuerſt, 
die allein richtige Beftimmung, ein äußerlich dogmatifcher Ver⸗ 
mittelungsverfuch zu fein zwilchen den bie dahin herporgetretenen 
Gegenfägen und Richtungen. Zu diefer Vermittelung fcheint ung 
nun Heraflit, indem er das Werden, das ftete Auseinandergehen 
und Zufammentreten Der Gegenfäße zum Princip erhob, den Ueber⸗ 
gangspunft zu bilden, — Eben fo dürfte der Verf. denjenigen 
Punkt richtig getroffen haben, von dem aus am Flarften und durch⸗ 
greifendften das Verhältniß des Sofrates zur Sophiftif und wie⸗ 
derum des Plato zu Sofrates, fo wie des Ariftoteles zu Plato 
fich beftimmen laßt. Es ift hier allerdings ein Fortfchritt erfenne 
bar von dem individuellen, fubiektiomenfchlichen zum allgemeinen, 


440 Ulriei, 


objektiomenfchlichen Geifte, welcher Eins ift mit dem fittlichen 
Geifte. Den Begriff des letzteren, d. h. das fich felbft gewiſe 
Willen des Guten ald des Wahren, ftellte Sofrates den Soph⸗ 
ften entgegen; und wenn er bereits das Gute zugleich in den de 
griff der Gottheit verlegte, fo war das bei ihm noch gewilles 
maßen eine ueraßaoıg eig aALo yErog: er übertrug nur den Le⸗ 
griff des menſchlich Guten in die Sphäre des Göttlichen. Plate 
Dagegen faßte das Gute von Anfang an in einem höheren Sim 
als das abfolut Allgemeine, und fomit im theologifchen Gi 
als die Subftang des Gättlihen. Nur hob er es wiederum 3 
‚bo hinaus über die Sphäre des Endlichen: über der Transfer 
denz der dee verlor er die Immanenz derfelben aus den Augen, 
oder wenigſtens gelang es ihm nicht, beide Seiten wahrhaft 3 
vermitteln. Die wahrhafte Bermittelung erreicht freilich auch Ans 
ſtoteles nicht, aber er erkannte wenigftend bie einfeitig transſcen 
dente Richtung des Platonismus; und der Berk. beſtimmt daher 
fein Verhäliniß zu Plato im Allgemeinen richtig dahin, bag Ark 
ftoteled im Gegenfat gegen feinen Lehrer die Seite der Ju 
nenz der Ideen (denn den Begriff der Gottheit faßte diefer bekam 
Lich dualiftifch im Gegenfag gegen die Welt) hervorgekehrt habe 
Eben deßhalb aber Fönnen wir ihm nicht beiftimmen, wenn a 
als „bie Grundfrage der Platonifchen Philofophie das Verhälb 
niß des Einen zum Vielen, womit die Beziehung des Be 
ſens zur Erfcheinung, das Sntelligibele zur Wirklichkeit zuſammen 
hänge”, betrachtet. Hier glauben wir vielmehr, hat Brandis dad 
Rechte getroffen, wenn er ald Grundproblem, ald Ausgangs⸗ um 
Zielpunft der Platonifchen Philofophie den Begriff des wahren 
Wiſſens fagt. 

Der Raum verbietet und, bed Verf, Darftellung der fee 
ftifhen und neueren Philofophie in ähnlicher Art Durchzugehen und 
bie vielfach gelungenen Partieen hervorzuheben, zumal da wi 
bei diefem zweiten Haupttheile, troß aller Anerfennung , öfter zum 
Widerfpruche genöthigt fein. würden. Nur das Eine wollen wir 
noch bemerfen, daß er uns Charakter und Verhältniß der milch 
alterlichen und. neueren Philofophie im Allgemeinen richtig gefoft 


.. 


Die philofophifche Literatur ber Gegenwart. dal 


zu haben fcheint, wenn er jene als theologiſchen, dieſe dage⸗ 
gen als transfcendentalen Idealismus (transſcendental im 
weiteren Sinne des Worts) bezeichnete. Jene fette in der That 
den Begriff Gottes, des abfoluten Geiftes, in theologifcher Weife 
und Faſſung überall nur voraus, und fuchte ihn gleihfam nur 
aus ihm felber begreiflich zu machen, während diefe Dagegen von 
Dem Wefen und Begriff des menschlichen Geiſtes, des menſch⸗ 
Lichen Denkens aus (zu dem auch die Natur gehört) zum Bes 
griffe des Abfoluten erft zu gelangen fudt. Eben daraus aber 
ſcheint und zu folgen, daß die Philofophie des Mittelalterd da zu 
Ende geht, wo eine freie, vorausſetzungsloſe Erforſchung 
der Natur und der Naturbeftimmtheit des menfchlichen Weſens 
beginnt, d. b. daß Baco von Berulam, der zuerft, nicht nur frei 
von theologifchen Borausfegungen und phantaſtiſch⸗ alchymiſtiſchen 
Einbildungen, fondern auch von der Autorität des Plato und Ari 
ſtoteles, an die gegebene Objektivität trat, nicht, wie der Verf. 
will, an den Schluß des Mittelalters, fondern an den Anfang 
ber neueren Philofophie zu ſetzen fei. Denn follte letziere ihre 
Beftimmung erfüllen, fo mußte fie gleihmäßig von den beiden 
Seiten des menfchlichen Erkennens und. Wiffens, von dem apo⸗ 
Reriorifhen und apriorifchen Stundpunfte aus auf das Ziel zus 
Reuern, gejegt auch daß diefe beiden Seiten nur in der concre- 
ten Sdentität ihrer felbft ihre Wahrheit haben follten. Die Eine 
vertritt offenbar -Baeo, die andere Descartes. — 

Wenden wir und jest zu Braniß „Ueberficht des Entwides 
lungsganges der Philofophie in ber alten und mittleren Zeit”, fo 
begegnen wir nicht nur im Allgemeinen derfelben Tendenz, fon= 
dern auch demfelben Grundprineipe. Auch Branig will den Fort⸗ 
ſchritt und innern Zufammenhang der, Univerfalgefcyichte der Phi- 
Iofophie durch einen Furzen Grundriß derfelben zur beutlicheren 
Anfchauung bringen. Aud er will in feiner Darftelung nicht blos 
das Thatfähliche, fondern audy - „die Idee, die e8 durchdringt 
‚and zu einem DBernünftigen macht, ausfprechen”. Wie aber bie 
Tendenz bei ihm fich dadurch mobificirt, daß ihm bie Ueberſicht 
der Univerfalgefchichte nur als Einleitung dienen fol au einer aus⸗ 


443 Ulrici, 


führlihen Darftellung der Gefchichte der neueren Philoſophie feit 
Kant, fo weicht er auch, wenigftens fcheinbar , in der Beftimmung 


des Grundprincips von Hillebrand ab. Nah ihm nämlich fl 


bie biftorifche Darftellung zwar, wie bemerkt, die Idee, die dad 
Thatfächlihe durchdringt, ausfprechen, die Nothwenbdigfeit 
der Idee Dagegen foll nicht fie, fondern die fpefulative Wiffes 
fchaft nachzuweifen haben. Darnach fcheint -es, ats folle in der 
biftorifhen Darftelung die Idee nur ald gegebene und «@ poste- 
riori erfannte auftreten. Allein die Ausführung zeigt -foglehh, 
daß der Verf. doch dem Principe der conftruftiv.en Methode 
huldigt, gefegt auch, daß er einräumen follte, der Entwidelnüge 
proceß der Idee und deffen immanente Nothwendigkeit Iaffe fi 
nur mit Hülfe der a posteriori zu Werke gehenden hiſtoriſchen 
Forfchung erfennen oder fei wenigfteng in der gefchichtlichen Dar 
ftellung nur als ein gegebener zu fallen. Denn fogleich in der 
Einleitung beginnt der Verf. das Gerippe des hiftorifchen Orga 
nismus, die Gliederung der Weltgefchichte, aus dem Begriffe bed 
menfchlihen Wefens und Geiftes heraus zu conftruiren: wenig 
ſtens theilt er darnach von vorn herein (a priori) Die Weltge 
fhichte in die beiden Hälften der vorchriftlichen und der chriftlichen 
Zeit, und deducirt die Nothwendigfeit diefer Eintheilung wie ben 
Charafter der beiden Perioden aus den beiden Hauptmomenter 
des Begriffs des menfchlichen Geiſtes. 

Abgefehen von der Wahrheit dieſer Begriffsbeftimmung, — die 
wir fogleich näher in Betracht ziehen werben, — tritt einer fob 
chen Conftruftion der Gefchichte aus dem Begriffe des menſchlichen 
Geiſtes ſogleich derfelbe Einwand entgegen, den wir oben gegen 
Hillebrands Eonftruftion aus ber philofophifchen Idee (dem De 
griffe der Philofophie) geltend gemacht Haben. Aus dem Begrift 
des menſchlichen Geiftes kann Nichts mit Sicherheit abgeleitt 
werben, fo lange diefer Begriff nicht erfchöpfend entwickelt, nicht 
vollſtändig in feiner ganzen Wahrheit erfannt if. Hat fich aber 
biefe Entwickelung, diefe Erkenntniß vollftändig realifirt, fo ift notfe 
wendig die Gefchichte der Menfchheit ober wenigfiens der Pie 
fopbie zu Ende, Die oben aufgeftellte Alternative tritt alſo ad 


j 


Die philofophifche Literatur ber Gegenwart. 445 


bier wieder hervor: Entweder der Verf. ift im Befite der abfo- 
luten Philoſophie, oder feine Conftruftion ift ohne. innere Gewiß⸗ 
beit, mithin Teine Conftruftion, 

Indeſſen fcheint der Verf. doch infoferh einen anderen Stand⸗ 
punkt als Hillebrand einzunehmen, als er den Begriff des menſch⸗ 
lichen Geiſtes an die Stelle der philofophifchen, mit dem Abſo⸗ 
Iuten identifchen Idee fest. Allein bei näherer Betrachtung ver- 
fchwindet auch diefe Differenz. Denn der menfchliche Geift foll 
nach ihm zugleich die Idee des abfoluten Geiſtes fein; mithin iſt 
e8 dann doc die abfolute dee, die fich in der Weltgefchichte 
entwidelt und realifirt. Der Verf. behauptet zwar einen weſent⸗ 
chen Unterſchied zwifchen dem Begriffe des göttlichen und des 
menſchlichen Geiftes. Allein confequenterweile muß er dieſe Dife 
ferenz fallen laffen, oder er widerfpricht ſich ſelber. Näher bes 
ſtimmt fol nämlich der Geift des Menſchen die dreifache Idee 
‚ber Ceinzelnen) Subjektivität, des Natur -Selbftbewußtfeing und 
des abfoluten Geiftes fein. Unter Geift überhaupt verfieht der 
Berf. ein Wefen, „deſſen Wirflichfeit feine That if, das daher 
an fich ſelbſt die Möglichkeit deffen ift, was es in feiner Wir’- 
lichkeit manifeftirt, und zwar nicht blos die Iogifche, fondern die 
reale Möglichfeit, die pofitive Macht ſich zu verwirklichen”. Als 
Diefe thatkräftige Möglichfeit nennt er den Geift die Idee deſſen, 
was er in feiner Wirklichkeit if. Demglnap ift ihm der menſch⸗ 
liche Geift zunächſt die dee feiner Subjeftivität, indem es das 
Erſte ift, daß es fih als einzelnes Individuum durch fich felbft 
zum Selbfibewußtfein entwidelt, fich felbft als Sch, als Subjekt 
fest. Mit feiner Subjektivität erfaßt er fich” zugleich in feinem 
Verhältniß zur Natur; und es ift dann Die Arbeit des Geiftes der 
ganzen Menfchheit, diefes Verhältniß aus der Beflimmung ein 
feitigev Gegenfäßlichfeit, in der es zunächſt das einzelne Indivi⸗ 
duum faßt, herauszuheben, und es feiner Wahrheit nach dahin 
zu beftimmen, daß der Menfch ale die höchſte Spige und bie 
eoncrete Identitaͤt des Geſammtorganismus der Natur, „der Geift 
des univerfellen Naturleibes und fo die fich wiſſende Natur felbft 
ſei.“ Eben fo erfaßt ſich der menſchliche Geiſt zunächſt im Unter 


fhiede von dem abſoluten Geifte, und es iſt auch in ber That 
ein wefentlicher Unterfchied vorhanden. Denn ber abfolute Geik 
it der fchlechthin vorausfegungslofe, „die erzeugende Mad 
feines Dafeins, feine Eriftenz durch die Selbfipofitiou gegeben“, 
während der menfchlihe Geift zwar auch fein Dafein fest, abe 


es nicht hervorbringt, fih als Geift durch Sefbfibejahung | 


zwar verwirflicht, aber jenfeits diefer Selbfibejahung bereits eis 
Dafein hat, das feine reale Möglichkeit ausdrückt. Allen da 


„das Moment der Selbſtbeijahung nicht ein an dem natürlichen 
Dofein, als defien Aeußerung, fondern abfolut fpontan hervorbt⸗⸗ 
Gender Akt ift, und ber in ihm feine Wirklichkeit vollbringende 


Geift darin als fich ſelbſt beftimmend und fo als die freie Mad 
feiner Wirklichkeit auftritt,. fo.ift Freiheit, der Charakter dei 
göttlichen Wefend, auch der Charakter des menschlichen Geikes, 
und der feine Freiheit beflätigende Menſch erweist fidy als die is 
der Welt fich felbft vealifivende Gottesidee.“ — In biefer De 
duktion liegt nun aber offenbar eine Verwechſelung der Begrift, 
und damit ein Trugſchluß. Denn die Freiheit, die der Charak 
ter des göttlichen Weſens fein fol, die der Verf. ſelbſt al 
„reine Selbſtbeſtimmung bezeichnet, bie auf keine andre beſtin⸗ 
mende Potenz weiter zurüdweife”, ift offenbar nicht dieſelbe mi 
ber Freiheit des menſchlichen Geifted, die ja eben nicht reim 
Selbſtbeſtimmung, fondem ein ihm vorausgefegtes gegebene un 
damit beftimmtes Dafein zur Baſis hat, durch die fie felb note 
wendig beftimmt, befchränft if. Jene ift abfolute, diefe vela 
tive, bedingte Freiheit. Mithin Tann auch durch die Berwih 
lichung dieſer Freiheit niemals die Idee des Abfoluten realiſi 
erfcheinen: das hieße, das Unbedingte, Abfolute, durch und al 
ein Bedingtes, Nicht» Abfolutes realifiren. Der Verf. muß daher 
entweder den abjoluten Geift zum menfchlichen berabziehen, — 
indem er, etwa mit Hegel, auch ihm eine Bedingung feiner Ga 
heit und felbfibewußten Freiheit (an der logiſchen Idee und der 
Natur) vorausfegt; oder er muß den menfchlichen Geift zum ab⸗ 
foluten binaufpeben, — indem er, etwa mit Straußs Hegel, je 
nen als die concrete Wirklichkeit von dieſem faßt; — oder rm) 


V nn nn — — ——— — — — — — 


Die philofophifche Literatur der Gegenwart. 145 


feine Behauptung, der menfchlidhe Geift fei zugleich die Idee des 
abjoluten, aufgeben. Diefe Behauptung, die ſich wohl mit dem 
Charakter der Hegel’ichen Philofophie verträgt, läßt ſich mit feis 
ner fo lobenswerthen Grundtendenz, den einfeitigen Pantheismus 
ber neueren Spekulation zu durchbrechen, offenbar nicht vereinigen. 

Der Berf. kommt zu jener Behauptung durch Die unrichtige 
Anwendung eines an fich ganz richtigen Sages. Er behauptet 
namlich mit Necht, daß der menfchliche Geift feine Sdeen, Bes 
griffe, Borftellungen nicht blos hat, fondern vielmehr felbit iſt, 
in ihnen als in feinen Modifikationen fich manifeftirt. Allein wenn 
Danach der menjchliche Geiſt die Idee des Abfoluten als eines von 
ihm felbft und der Idee feiner feldft Berfchiedenen bat, fo 
konn er ja biermit unmöglich die Idee des Abfoluten felbft 
ſchlechtweg fein; denn eben damit wäre er gerade etwas An des 
ses ald:die Idee, die er hat, indem dieſe Idee ja ausfagt, daß 
er felbft feiner Idee nach nicht die Idee des Abfoluten iſt. Mit 
andern Worten: die Idee des Abfoluten als eines von dem menſch⸗ 
lichen Geifte Verſchiedenen ift ja nicht die Idee des Abfoluten 
ſelbſt, fondern vielmehr die Idee feines Unterſchiedes vom 
wenfclichen Geiſte; und wenn legterer diefe Idee felbft ift und in 
feiner Selbftbejahung verwirklicht, fo verwirklicht er eben damit 
aur fi ſelbſt als unterſchieden vom abfoluten Geiſte. Hätte 
er aber auch mit der Idee des Unterſchiebs zugleich Die Idee ſei⸗ 
wer Identität oder feiner VBermittelung und Cinigung mit dem 
-Abfoluten, fo würde er auch damit noch nicht Die dee des Abs 
foluten felbft fein und verwirklichen, fondern vielmehr nur bie 
Idee feiner Bermittelung und Einigung mit dem Abfolus 
ten. — Dürfen wir die Grundanficht des Verf. in Diefem Sinne 
verftehben, fo würden wir mit feiner Eintheilung der Weltgefchichte 
in jene beiden großen Hauptperioden im Allgemeinen vollfommen 
einverfanden fein; die vorchriftliche Zeit würde danach allerdings 
die Entwickelung des „Natur » Selbftbewußtleind‘ des menſchlichen 
Geiftes (Heidenthum) und zugleich „den Widerftreit” des Goͤtt⸗ 
lichen gegen das Natürliche (Judenthum), jo wie deſſen werdende 
Bermittelung bis zur Erzeugung der Verſöhnung darjtellen, Die 
| Ze it ſchr. fe Philoſ. u. ſpek. Theol. All. Band. 418 


146 Ulriei, | 
ehriftliche Zeit dagegen „auf der Borausfekung beruhen, baß biefe 
Berföhnung vollbracht fei, und dem gemäß zu ihrem Inhalte die 
Bewährung derfelben als fiegreiher Macht haben.” — 

Die beiden Hauptgegenfäge des Heidenthums und Jubentkums, 
die in der vorchriftlichen Zeit fih gegenüber ſtehen, charakterifirt 
der Berf. näher in folgenden treffenden Zügen: „Es iſt Das ge 
meinfam Charakteriftiihe aller heidniſchen Völfer, dag in ihrem 
Bewußtfein das Göttliche vom Natürlichen beftimmt iſt; ihre Gör⸗ 
ter find entftandene, an eine beftimnite Natürlichkeit gebundene, 
zufällige, die Natur aber, die Allerzeugerin und Allbildnerin if 
allein das Ewige, Abjolute und Nothwendige, ja die Nothwen⸗ 
Digfeit felbft, der die Götter unterthan. Dagegen iſt es das Ei 
genthümliche des Judenthums, wodurch e8 fi) von allen Voͤllemn 
nicht fowohl fondert, als vielmehr ihnen entgegenfegt, Daß in fer 
nem unmittelbaren Bewußtfein das Natürliche dem Sein und We 
fen nad) vom Göttlihen beftimmt iſt; ihm ift alle Natur ein Ges 
worbenes, ſchlechthin Abhängiges und Unmäcdtiges; Gott aber, 
in feinem einfachen Weſen abfoluter Wille und abfolute Macht, 
iſt allein der unentftandene, fchlechthin unabhängige, durch nichts 
als feinen freien Rathſchluß beſtimmbare.“ — Das Heidenthum 
muß daher wegen des innern Neichthums des Naturbegriffe und 
feiner mannichfaltigen Entwidelungsmomente in eine Mannichfal⸗ 
tigfeit von Bildungsftuffh fi) gliedern, welche von eben fo vie 
Ien verfchiedenen Bölfern eingenommen werden; das Judenthum 
dagegen fteht aus dem entgegengefegten Grunde nothwendig von 
Anfang an einfam da, kann nur von Einem Volke repräfentist 
erfcheinen. Die geiftvolle Charakteriſtik, die hiernächſt der Berl, 
von den Hauptvölfern des vorgriechiſchen Heidenthums (den Che 
nefen, Indern, Negyptern und Perfern) in einer Iebendigen, au 
drucksvollen Sprache entwirft, und durch die er jedem derſelben 
feinen Standpunkt in dem Entwidelungsproceffe des „Natm⸗ 
Selbſibewußtſeins“ anweist, müffen wir leider übergehen, fo reich 
fie auch an eigenthümlichen Gedanken und treffenden Bemerkur 
gen iſt. Diefer Entwidelungsproceß, der uns, obwohl wir ge 
gen das Einzelne noch manches zu erinnern hätten, im Ganzen 


Die philofophifche Literatur dev Gegenwart. 447 


eonfequenter und natürlicher erfcheint als der Hegel’fche, hat feine 
Spitze im Griechenthum. Das griechifche Volk „erreicht vermöge 
feiner größten Vertiefung in die Natur auch die größte Befreiung 
von ihr als einer fremden Gewalt. In ihm iſt die Forderung 
vollzogen: in ihm, deffen ganzes Wefen Identität von Natur und 
Freiheit ift, fo daß es alles Natürliche eben fo in Selbſtthat um⸗ 
wonbelt, wie umgefehrt die Produkte feiner freien Selbſtbeſtim⸗ 
mung ald allgemeine Naturthaten auftreten läßt, — in ihm iR 
bie große weltgefchichtliche Aufgabe, die Subfektivität zum univer⸗ 
fellen Raturfelbfibewußtfein zu erweitern, vollftändig gelöst, und 
die Menſchwerdung bes Naturgeiftes in Wahrheit vollbracht." — 
Nachdem der Verf. diefen Gedanfen näher ausgeführt hat, 
beginnt er feinen Entwurf der Gefchichte der griechifchen Philofos 
pyhie. Die Eonfteuftion fällt natürlich wieder ganz anders aug 
als bei Sillebrand. Abgefehen von dem viel zu großen Gewichte, 
das ber Berf. auf ben Gegenfag zwiſchen bem Sonifchen und Dos 
riſchen Stammcharafter legt, — ber im Gebiete der Philofophie 
um ihres Begriffs willen fi) unmöglich bedeutend geltend mas ' 
hen konnte, — ift zwar die leitende Grundidee im Wefentlichen 
dieſelbe: der Verf. parallelifirt die Geſchichte der Philofophie mit 
der der Boefie, die nach ihm den Rhythmus der Bewegung des 
griechiſchen Volksgeiſtes am prägnanteften ausdrückt: Zuerft bie 
epifche Berfenfung des Geiftes in die Objektivität; .fodann das 
Igrifche Zurücktreten derfelben in die Subjektivität und deren prins 
eipielle Herrſchaft; endlich die dramatifche Vermittelung beider 
Seiten zur concreten Identität. Allein ſchon die Abtheilung in 
die Einzelnen Perioden ift bei ihm eine ganz andere als bei Hilles 
brand. Die erfte Periode fchließt er auf. der Joniſchen Seite mit 
Heraftit, auf ber Dorifchen mit Parmenides; die zweite umfaßt 
nur die Anaragoräifche Philofophie, die Atomiftif und die Sophi⸗ 
ſtik; die dritte Dagegen den ganzen Reſt von Sokrates bis zu den 
Neu⸗Platonikern Cin den beiden legten wird der anfänglich fo ur⸗ 
girte Gegenfag zwifchen Joniſcher und Doriſcher Stammindivis 
bualität aus begreiflihen Gründen ftillfehweigend fallen gelaffen). 
Diefe Anordnung ift offenbar verfehlte. Schon die auffallende Uns 


4148 Ulriei, 


gleichheit der Theile fpricht gegen den Berf. und für Hillebrand. 
Demnächſt ift der Abſatz, den die Entwidelung des.ganzen grie 
hifchen Geiftes hinter Plato und Ariftoteled macht, fo einlenh 
tend, die Forderung, einer allmäligen, zunächft negativ ſich bethi 
tigenden Hinüberbildung aus dem (mit Plato und Ariftoteles) vollen 
deten Griechenthum in die chriftliche Culturperiode ſowohl für bie 
biftorifche Forſchung wie für die fpefulative Anſchauung fo um 
weislih, daß es nicht wohl zu begreifen ift, wie ber Verf. dieh 
überfehen Fonnte. Er, erfennt zwar an, daß der Skepticismu 
(des Aenefivemos) und der Neo -Platonismus nur Die Zeichen 
Des Berfalls und der erlöfchenden Lebenskraft des griechifchen Ger 
flieg find. Er befämpft mit fiegreichen Waffen die Hegel’fche An 
fiht, die einen ftetig auffteigenden Kortfchritt in der Geſchicht 
der Philofophie annimmt, und dem gemäß unerhörter Weiſe Zen 
und Epifur über Plato und Ariftoteles feht, den Neo- Platon 
mus aber für die höchſte Vollendung der griechifchen Philoſophie 
erflärt. Allein ſelbſt diefes Anerfenntniß tritt in des Verf. Ye 
riodifirung nicht hervor; außerdem aber beginnt der Verfall of 
fenbar nicht erft mit Aeneſidemos, fondern bereits hinter Arie 
teled. Denn wenn auc nach des Berf. Darftellung im Stoici⸗ 
mus und Epifureismus die beiden großen Gegenfäge bes griede 
fchen Lebens, das Gotted-Bemwußtfein und das Natur⸗Bewußtſen 
oder bie göttliche Freiheit (die Idee des Abfoluten) und bie His 
gebung an die Natur, erſt wahrhaft die Subjektivität durchdrin⸗ 
gen, und ihre Bermittelung von letzterer erfirebt wird, wenn auf 
in dieſer höheren Entwidelung, Verſelbſtſtändigung und glei 
fam Hypoftafirung der Subjeftivität noch ein Fortfchritt fich Fund 
giebt: fo beweist doch eben das Auseinanderfallen. jener Gegen 
fäge, deren Vermittelung durch Plato und Ariftoteles, wenn auf 
nicht abfolut, doch relativ für. den Standpunkt des griechifchen Ger 
ftes, bereits vollzogen war, den Verfall und die innere Auflöfeng 
der griechifchen Philofophie. Was für die Weltgefchichte ein For⸗ 
fchritt fein mochte, war für das Griechenthum offenbar ein Rüd⸗ 
ſchritt; der Verf, widerfpricht feiner eignen Grundanfidht von dem 
welthiſtoriſchen Berufe des griechifchen Volks, wenn er dieß nid 


Die philofophifche Yiteratur der Gegenwart. 149 


ausdrücklich anerkennt; der Inhalt feiner Darftellung widerfpricht 
ihrer Form, wenn dieß Anerfenntniß fich nicht auch in der. Perivs 
denabtheilung abfpiegelt. — Ebenfo ift es offenbar ein Widerfpruch 
gegen feinen eignen Grundgedanken, wenn er die Atomiftif in die 
zweite Periode der griechiichen Philofophie einreiht. Mit dem 
Wrifchen Principe der vorberrfchenden Subjeftivität hat die Ato= 
miftif noch gar nichts gemein. Der fubjektive Geift befteht ja nad 
ihr nicht minder aus Atomen; fein Empfinden und Wiffen iſt durch 
die befondere Geftaltung und Verknüpfung derfelben bedingt; Furz 
die Atomiftit hat es nur mit der Objektivität (dem allgemeinen 
Sein) zu thun, und gehört mithin ganz und gar in die erfle epi- 
ſche Periode der Berfenfung in die reale Aeußerlichkeit. — Da⸗ 
gegen ift ed ein Vorzug, daß der Verf. den Anaragoras an bie 
Spige der zweiten Periode ftellt. Es fpricht ſich darin die Ein- 
ſicht aus, daß Anaragoras, den auch der Stagirit beveutfam hers 
vorhebt, bereits denfelben Grundgedanken, den Plato und Ari- 
ftoteles fpäter dDurchführten und vollzogen, nur in der unmittelbas 
ren, ſchroffen Gegenfäglichkeit feiner Momente ausgefprochen, und 
daß er andrerfeitS durch dieſen ſchroff hingeftellten Gegenſatz zwi⸗ 
ſchen Geiſt und Materie (Natur) zuerſt das einſeitige Princip der 
epiſchen Periode, die ſtarre Verſunkenheit in die Objektivität durch⸗ 
brochen habe. Offenbar bildet er zuſammen mit den Endpunkten 
ber erſten Periode, der Atomiſtik, der Zenoniſch-dialektiſchen All— 
einslehre und dem verunglückten Vermittelungsverſuche des Ems 
pedokles, die Ausgangspunkte für die Sophiſtik, welche erſt das 
Princip der zweiten Periode entſchieden ausſpricht. — 

Was das Einzelne betrifft, fo zeigt ſich auch hier wiederum 
Das ſchon vielfach bewährte Talent des Verf. für geiftreihe Com⸗ 
binationen, Parallelen und Antithefen. Nur verführt ihn dieß Tas 
Ient zumeilen zu einfeitigen Auffaffungen und fchiefen Pointen, Die 
Mängel, die ſich daraus ergeben, hat bereits Zeller in feinem 
trefflihen Auffage über die Geſchichtſchreibung der antifen Philos 
fophie (Jahrb. der Gegenwart 1843 Detbr. Nr. 65 ff.) darge⸗ 
legt. Wir ſtimmen im Weſentlichen mit ihm überein. Nur hin⸗ 
fihtlid) des Einen Punftes müffen wir Braniß ganz, binfichtlich 


450 Ulrici, 


eines andern wenigftens halb in Schug nehmen. Der erfte be 
trifft die Stellung und Bedeutung des Stoicismus und Epilureie⸗ 
mus. Hier ertennt fa Branig — was Zeller vermißt — aus 
vrüdtih an, ja hebt es, wie uns dünkt, nur zu ſtark hervor, 
daß in der Art und Weife, wie jene beiden Hauptgeftalten ber 
nach « Ariftotelifchen Philofophie die Subjektivität faffen, fie yum 
Princip erhebend, hypoſtafirend und apotheofirend, ein entſchiede⸗ 
ner Fortſchritt ſich documentire. Und wenn er zugleich behaupte, 
— was Zeller ihm zum Vorwurf macht, — daß Stoicismus md 
Epikureismus allgemach in eine feichte Popularphiloſophie ſich ver 
kehrt hätten, fo beweist die außerordentliche Popularität, die ft 
ihrer Zeit in der That erreichten, daß er darin vollfommen Red 
bat, Der zweite Punkt bezieht fih auf des Verf. Auffaffung und 
Schägung der Ariftotelifchen Philofophie. Hier geht Branfß aller 
dings viel zu weit, wenn er in Ariftoteles nur den Nachtreier 
Plato's fieht und ihm faft alle Originalität abfpricht. Ebenſo ge 
wiß aber ift es, daß Hegel und bie‘ meiften feiner Schüler bie 
Berbienfte des Stagiriten überfchägen und Plato gegen ihn 1 
rückſtellen. Mag man den philofophifchen Genius des Ariftoteled 
auch noch fo hoch anfchlagen, fo darf man doch nie vergeflen, 
bag er allerdings die Platonifhe Weltanfchauung im Allgemeinen 


nur aufnahm, weiter bildete und: ihre Einfeitigfeit zu corrigiren 


fuchte, d. h. dag Plato’n der Ruhm ber erften Erfindung, dei 
Originalgenie's gebührt, während Ariftoteles feine Größe vor 
nehmlich in der tiefen, eigenthümlichen Begründung und Durde 
bildung einzelner Disciplinen Cinsbefondere der Logik und Phyſch 
bewährt. — Ä 

Dem Judenthume, diefem urſprünglichen, burchgreifenden 
Gegenfage des Heidenthums, widmet der Verf. natürlich nur ei⸗ 
nen kurzen Abfchnitt. Auch hier tritt indeß fein eben gerühmies 
Talent glänzend hervor. Vortrefflich namentlich if} die Parallele, 
die er zwiſchen dem Phariſäismus, Sadduzäismus und Eſſeniemu 


einerfeits, und dem Stoicismug, Epifureismus und Neo» Platonik | 


mus andrerfeitd durchführt. Durch diefe Parallele bahnt er fd 
zugleich den Uebergang zur chriftlichen Idee und der chrifligen 


Die philofophifche Literatur der Gegenwart. 154 


Zeit, In jenen drei Geftalten nämlich, den principiell- gleichars 
tigen Haupiformen des erfterbenden griechifch -römifchen wie des 
jũdiſchen Geiftes, fpricht ſich ihm einerfeits das vergeblihe Rin⸗ 
gen der Dienfchheit aus, den Urgegenfab ihres eignen Wefeng, 
Der dee des Abfoluten gegen die Idee der Natur (oder des Gotr 
tesbewußtſeins gegen dad Naturbewußtfein, der Freiheit gegen die 
Nothwendigkeit, des Denkens gegen das Fühlen), in der einzelnen 
Subjektivität felbft und durch ihre eigne That zu wahrer Vermits 
telung zu bringen, andrerfeits (im Neuplatonismus und Effenis- 
mus) die tiefe Sehnfucht des Geiſtes nach der Vollziehung biefer 
ihm nothwendigen Vermittelung durch eine über die menfchliche 
Bubjektivität und deren Ohnmacht hinausreichende ab folute That. 
Diele das Teste geſchichtliche Entwidlungsftadium charafterifirende 
Sehnſucht der Individuen, nicht fi, fondern das Abfolute in fich 
zu tagen und an fich zu manifeftiren, brüdte blos die vorhandene 
Reife des Geſchlechts aus, die Ichheit bes abfoluten Geiftes aus⸗ 
zugebären und eben hierin die verwirkfichte Idee des Menſchen, 
die im Subjekte vollzogene Verföhnung des Endlichen und Abſo⸗ 
Iuten, des Natürlichen und Freien, der Ereatur und Gottes zu 
offenbaren. Der die Gefchichte Maullende und beiwegende abfos 
lute Geiſt hatte in-Ianger Arbeit die Subjeftivität dazu erzogen 
und herangebildet, feine Einheit mit ihr vollziehen zu können; er 
hatte in einem tiefen, durch Jahrtauſende unaufhaltſam fortfchreis 


senden Entwidelungsprocefie ſich felbft feiner bios objektiven, uns 


— 


perſönlichen Exiſtenz, darin er ein Bewußtſein ohne Selbſtbewußt⸗ 
ſein war, immer mehr entnommen und ſeinem Ziele, der Ichheit 
entgegengeführt. Und wie die Reifezeit da war, ſo vollbrachte 


ſich auch die große Geburt der Geſchichte, und zwar, wie fie als 


lein fonnte, in abfoluter That: der verwirklichte wahre Menfch, 


» 4 der Gottmenſch — Chriſtus warb geboren.” — Gegen 
‚biefe Anficht haben wir nur einzuwenden, einerfeitS 1) dag nad) 


ihr, ähnlich wie bei Hegel, Gott nur vermittelft des Procefled 
ber Weltgejchichte, in und durch den Menſchengeiſt zum Selbfts 


‚bewußtfein kommt, mithin nicht Geift ift, fondern nur wird, 
folglich die Welt (wie der Menſch die Natur und feine eigne Teib- 


452 Ulrici, 

lichkeit) zur nothwendigen Bedingung feiner Selbſtverwirklichung 
als Geiſt hat, und alſo nur Weltgeiſt, nicht ‘der abſolute Geiß 
iſt; andrerfeits 2) daß fie den Verf. mit fich felbft in Widerſpruh 
fegt. Denn ift Gott nur abfolut und vom menfchlichen Geifte m⸗ 
terfchieden , fofern er ſchlechthin fich ſelbſt fegt, fo ift er kraft 
deffen und eben damit zugleich nothwendig perfönlicher ſelbſthe⸗ 
wußter Geift, und zwar mit Einem Scylage, in dem Einen ei 
gen Akte des Sichſelbſtſetzens, weil er damit zugleich fich feihk 
Subjekt und Objekt und die MWechfelbeziehung zwifchen beiden ff. 
Und ift der menſchliche Geift an ſich die Idee der Natur wie 
die Idee des Abfoluten, fo muß er dieß nach den ausdrücklichen 
Sägen des Berf. auch nothwendig für fich werden, dieſe Fre 
auch durch eigne Selbftthätigfeit realiſiren fünnen. ine abfohre 
göttliche That kann ja unmöglich dasjenige vollbringen, was ber 
Menſch nach dem Berf. nothwendig ſelbſt thun und verwirklichen 
muß, wenn er es wahrhaft fein fol. — 

Doch wir müſſen ed den Lefern überlaflen, bei dem Ber, 
ſelbſt die Durchführung diefer feiner Anfiht und feine darauf fob 
gende Charakteriftif der fcholaftiihen Philofophie nachzulefen: wir 
müffen nothwendig noch ein Paar Werke fürzlich erwähnen, bie 
um des fchroffen Gegenſatzes willen, in welchem fie zu einander 
ftehen, für den gegenwärtigen Juftand der Philoſophie höchſt cher 
rafteriftifch find. Wir meinen 

Die deutfche Philofophie von Kant bis auf unfere Zeit, ihr 
wiffenfchaftliche Entwidelung und ihre Stellung zu den yo 
tifchen und focialen Berhältniffen der Gegenwart. Bon Dr. 

Carl Biedermann. 2 Bde. Lpz. 1842. 

und bie 
Entwidelungsgefchichte der neueften deutſchen Philoſophie me 
befondrer Rüdfiht auf den gegenwärtigen Kampf Schellings 
mit der Hegel’fhen Schule. Bon Dr. C. L. Midelet. 

Berl. 1843. 

Das Biedermann’fche Werk foll nad) des Verf. eigner Erklärung 
„ein Verfuch fein, nachzumweifen, wie die deutfche Philoſophie, ber 
fonders die neufte, unter dem Einfluffe des Lebens und ber it 


Die philofophifche Literatur der Gegenwart. 155 


der friihen Bewegung bes Lebens ſich erzeugenden Fdeen bee 
Forftſchritts entflanden ift und fi entwidelt hat; es fol an 
jedem einzelnen Syſteme die Spuren biefes Bortfchritts aufzeigen, 
daneben aber auch die Elemente jener andern, vom Leben abge- 
fehrten Richtung, durch welche gerade unfere Philoſophie mehr 
als die irgend eines Volks der Neuzeit die abflrafte, fchulmäßige, 
dogmatiſche Form erhalten hat, die fie erſt jet endlich zu durch» 
brechen entichloffen fcheint; es foll diefen Durchbruch felbft vers 
mitteln und vollenden helfen, indem es alle die einzelnen Fäden, 
die von der Phikvfophie ‚zum Leben und vom Leben zur Philofos 
phie bin und wieder laufen, auffucht, ihre Verfchlingungen ver- 
fofgt und fie zu einem feften Gewebe verfnüpft, indem es aber 
auch die Punkte aufzeigt, in’ denen biefe Verbindungen zwiſchen 
bem Leben und ber Spekulation durch bie Schuld der letzteren 
abgebrochen worden find, welche alfo die Philofophie nothwendig 
aufgeben muß, um ſich der allgemeinen Bewegung des focialen 
und nationalen Lebens wieder anzuſchließen.“ — Diefe Tendeiiz 
fönnen wir nur fehr lobens⸗ und banfenswerth finden. Denn 
wir find keineswegs ber Meinung, daß bie Philofophie ein abge- 
ſchloſſenes, von einer chinefifhen Dauer umgebenes Land fei; 
oder, wie eine Spinne, in ihrem felbftgewebten Wege ein Anacho⸗ 
veten «Leben zu führen babe. Wir glauben vielmehr, — unk 
welcher Philofoph wäre nicht derfelben Weberzeugung ? — daß fie 
nur ein Glied, ein Motiv, ein Hebel neben andern Hebeln, und 
zugleih Refultat und Produkt der allgemeinen Gefchichte des 
menfchlichen Geiftes fei, daß daher ihre Iſolirung ihr felb wie 
der Menfchheit nur ſchaͤdlich, ihre innige Verknüpfung mit allge- 
meinem leben, den Bebürfniffen, Intereſſen und Beftrebungen 
der Zeit ihr nicht nur förderlich, fondern fogar nothwendig fei, 
ja daß ihr Beruf recht eigentlich darin beftehe, dem Geiſte der 
Zeit — das Wort in feiner wahren, hohen Bedeutung genommen — 
den Spiegel der Selbfterfenntnig vorzuhalten und ihn über fich 
und feine wahren Intereſſen, über feine Bahn und deren Ziel zu 
verfländigen. 

- Allein der Verf. hält leider nidt. was er erprict, er chut 


454 Ulriei, 


nicht, was er fi vorſetzt. Jene pofitive Tendenz einer burds 
greifenden Bermittelung zwilchen der Philofophie und dem gemei⸗ 
nen Leben tritt im Werke felbft fehr in den Hintergrund zuräd, 
Statt deffen drängt ſich überall Die negative Abficht hervor, di 
der Berf. am Schluffe der Vorrede ausfpricht, indem er erfläk: 
„Den größten Dienft hoffen wir unferer Nation zu erweifen, wenn 
es ung gelingt, fie zu überzeugen, daß der Weg, auf den ihr 
Philoſophen fie geführt haben, nicht der fei, auf dem das wahr 
Ziel alled Voͤlkerlebens und auch des unfrigen liegt, nämlich: de 
Begründung einer Fräftigen, nach außen Achtung gebietenden, im 
Innern aber die größte Selbfiftändigfeit der Einzelnen und be 
Gemeinden, die organifche Entwidelung der öffentlichen Infite 


tionen , den ftetigen Fortichritt der allgemeinen politifchen, fors 


Ien, inbuftriellen und geiftigen Bildung verbürgenden Nation 


lität; wenn ed und gelingt, bie vielen edlen Kräfte, welde neh | 
immer theild in den zwängenden Fefleln des Syitems verfümmen, 
theild im unruhigen, ziel« und fruchtlofen IImherfchweifen, Sehen . 


und Suchen ſich verzehren, für die wohltpuende und foͤrdernde 
Beſchäftigung mit den realen Intereſſen, für die thätige Theil 
nahme an dem großen Wert unferer Nationalentwicfelung zu ge 
winnen” ꝛe. Demgemäß fragt der Berf. überall nur, was die 
neuere beutiche Philofophie für den Fortſchritt der allgemeinen au 
tionalen, insbefondere der wiflenfchaftlichen, ſocialen, politiſcher 
und induftriellen Bildung geleiftet habe. Das Nefultat aber iß 
überall zum Erbarmen negativ. In wiffenfchaftlicher Hinficht fir 
bet fih, daß fie duch ihr Spefuliren. und Eonftruiren a prien 
die wahre Erfenntniß der Natur, die nur auf dem empiriſcher 
Wege zu erreichen fei, bei weitem mehr gehemmt als geförben 
babe. Daffelbe gilt im Wefentlihen von der Gefchichtforfhung 
Sm Gebiete der Moral hat fie vergeblich verfucht, ein abfolntes 
Princip des fittlihen Thund und Verhalteng zu finden; durch be 
idealiſtiſche Suchen danach hat fie nur die Einficht. geftört m 
zurüdgebalten, daß „Nichts fittlich fei, was nicht im dem nativ 
lichen Entwicfelungsgefegen des Menfchen feine Begründung fa, 
und daß umgekehrt diefe natürlichen Gefege allein Hinveichen, um 


Die philofophifche Literatur ber Gegenwart. 455 


dem Willen eine fittlihe Richtung zu geben, daß es alfo eines 
befondern fittlichen Motives außer und über demfelben gar nicht 
bedürfe.“ In Beziehung auf die Religion hat fie zwar wohl dazu 
beigetragen, den alten Dffenbarungsglauben und Damit Die Zwangs⸗ 
gewalt der Stiche zu vernichten; aber indem fie fortwährend übers 
watürliche Urfachen in die Naturerflärung einmifchte, die rechts 
lichen und politiichen Geſetze aus einer höheren Offenbarung ab« 
leitete, und überhaupt die natürlichen menfchlihen Verhältniſſe 
wach einem außerhalb ihrer felbft Tiegenden Maßftabe beurtheilte 
— was durchaus nicht zu dem Geifte unferer gegenwärtigen Bil⸗ 
dungsſtufe fiimmt, — bat fie der rein natürlichen Auffaffung ber 
Belt, der Betrachtung der Natur nad) immanenten Gefegen und 
Der Anerfennung der moralifchen, rechtlichen und focialen Ber: 
bältniffe, als durch fich felbft berechtigter, nur Eintrag gethan. Erſt 
in ihrer neuften Phafe, in Strauß, Feuerbah und DB. Bauer, 
bat fie begonnen, ber Religion ihre richtige Stellung außerhalb 
alles Einfluſſes auf die wiffenichaftlichen, fittlihen, rechtlichen, 
yolktiichen und focialen Intereſſen anzuweiſen. Was endlich ben 
politiſchen Ideengang unferer Philofophen betrifft, fo hat er ſich 
ebenfalls frucht⸗ und zwecklos im Kreiſe herumbewegt. „Zuerft bes 
geifterten fie fich an der franzöfiichen Revolution [Kant und Fichte]; 
darauf erperimentirten fie nach dem Mufter des Preugifchen Staates 
mit allerhand politiichen DOrganifationsideen [Fichte in feiner ſpä⸗ 
twren Zeit]; nad einer Abfchweifung in das Haffifche Alterthum 
Schelling] famen fie abermals nach Preußen zurüd [Hegel], und 
endlich finden wir fie wieder an ihrer erften Duelle, bei der fran⸗ 
zoͤſiſchen Nevolution” ſRuge und Conforten]., Werth und Wefen 
bes conflitütionellen Staatslebens — worauf ed doch vornehmlich 
ankam — hat Keiner von ihnen wahrhaft begriffen. — 

Man fieht, der Verf. ftellt fih auf den politiich »focialen ins 
duſtriellen Standpunkt, umgiebt fi) mit allen den ntereffen und 
Ideen der neuften einfeitig= materialiftifchen Zeittendenz, und wirft 
von diefer Warte aus einen Blick in’s Land der Philoſophie. Da 
findet er denn natürlich nichts als eine große. Wüſte: die Philo- 
ſophie hat nichts geleiftet, fie ift nicht nur weit hinter der Zeit 


456 Ulrici, 

zurück, ſondern ganz außerhalb des Bewußtſeins derſelben: drun 
ſtatt mit politiſchen, ſocialen, induſtriellen Intereſſen philoſophirte 
die unglückliche bisher noch immer in Begriffen und Ideen. a 
eben deßhalb verſchwindet fie dem Verf., wie es ſcheint, gam 
und gar in das Nichts ihrer eignen Obnmacht und Unmöglichkeit 
zufammen. Ihre Selbftftändigfeit ald freie, allgemeine, nur nad 
Wahrheit ringende, von allen fonftigen Zwecken abfehende Wil 
fenfcyaft will und kann er wenigfteng Feinenfall8 anerkennen. Aber 
ſelbſt ihre relative Gültigfeit, ihr eigenthümliches Weſen, ihr be⸗ 
fonderes Princip, von dem aus fie in das Getriebe der Weltge 
fchichte eingreift und als Glied derfelben mitzählt, feheint er in 
Abrede zu ftellen. Denn einerfeits erklärt er wiederholentlid: 
‚zu allen Zeiten habe es die Philofophie als ihre Aufgabe be 
trachtet, ein Abfolutes zu finden, d. h. einen Standpunkt oder 
ein oberftes Princip, von welchem aus und durch welches fie Dad 
Wefen der Dinge und ihren Zufammenhang unter einander, de 
Bedeutung und den Zweck des menfchlichen Lebens , Furz Alles a 
Allem zu erfennen und zu erklären vermöchte.”. Andrerſeits aber 
fucht er eben fo oft zu zeigen, daß ein ſolches Princip nicht er⸗ 
ftire oder wenigftens dem Menfchen nicht erfenubar ſei; das Ew 
chen danach und der Wahn, es gefunden zu haben, dieſe fpehr 
lative, ibealiftifche Richtung fei eben der Grundmangel aller ii 
berigen und namentlich der deutfchen Philoſophie. Mithin if de 
Philoſophie entweder von Anfang an und. zu allen Zeiten wicht 
geweſen, was fie fein foll und allein fein kann, fie hat ihren Be 
griff und ihr eigentliches Wefen noch gar nicht gefunden, fie m 
vielmehr erft noch erfunden werden; — oder fie ift ſchlechthu 
überflüffig, unmöglih, Nichts. Dieß feheint der Verf. auch am 
zubenten, wenn er fein Werk mit ber Behauptung fehließt: "We 
Philofophie habe den farren Dogmatismus des Kirchenglaubens 
nur befämpft, um ſich ſelbſt als Gebieterin des Lebens aufzuwer⸗ 
fen und ihm Gefeße vorzuſchreiben; fie habe fi) vermeffen, durch 
ihre Begriffe Erfahrung und Natur zu meiftern, durch eine eat 
Moral unverrücdbare Grenzen zu ziehen, innerhalb deren ſich « 
fein die Thätigfeit und das Intereffe des Menfchen beivegen tür; 


- Die philofophifche Riteratur der Gegenwart. 167 


und als fie gezwungen biefe Grenzen felbft niedergeriffen und die 
Berechtigung der finnlihen Lebensintereffen anerfannt, da habe fie 
menigftens bie Entwidelung dieſer Intereffen an fefte Regeln 
Binden und vom Einen Punkte aus’ leiten wollen. „Allein dag. 
Leben duldet folde Bevormundung nicht mehr; — — — es hat: 
feinen Intereſſen eine felbfiftändige Geltung erfämpft und in fid 
ſelbſt dag Geſetz gefunden, weldes ihm die Philofophie von au- 
Ben ber aufbringen wollte. Als das oberfte Gefeh des Lebens 
M die Idee freier unendblider Entwidelung anerfannt 
worden, wenn auch noch nicht überall im Princip, fo doch faftifch 
in den meiften ihrer Conſequenzen.“ — est alfo, auf der gegen- 
' wWärtigen Höhe der Bildung, ift die Philofophie jedenfalls über- 
flüſſig. Das, worauf es allein anfommt, das oberfte Gefeß des 
Lebens ift gefunden; ein andres giebt es nicht, und felbft jede. 
Gpecifteirung deſſelben, jede Ableitung fpecieller Regeln aus dein 
allgemeinen Prineip wäre nur ein Rüdfall: denn jede Beftimmt- 
Beit des Ganges der unendlichen Entwidelung würde das Leben 
wiederum nur in Feſſeln ſchlagen. Und da die Philofophie ihrem 
Weſen gemäß nun doch einmal nad einem Wilfen von allgemein- 
gältigem, nothwendigem Inhalte, ſomit nach der Ertenntniß der 
leitenden Principien und Gefete des Dafeins ftrebt, fo — hat 
ſie ſich offenbar ausgelebt, fie ift eine Leiche, der bisher nur noch 
Bas Begräbniß fehlte, das ihr der Verf. endlich gewährt hat. — 
Aber wie? Nach dem Titelblatte feiner Schrift ift ja ber 
Berf. ſelbſt Profeffor der Philofophie zu Leipzig! Er kann doch uns 
möglich Lehrer einer überflüffigen oder gar unmöglichen Wiſſenfſchaft 
ſein; er muß ſich alſo doch im Beſitz einer Philoſophie befinden, 
welche von allen den gerügten Mängeln frei iſt, er muß die 
wahre Philoſophie erfunden haben, die bisher vergeblich geſucht 
worden Warum aber hat er dann feinen Zund der Welt vor» 
enthalten? — Oder befteht etwa feine Philofophie nur in dem 
Nachweis, daß e8 Feiner Bhilofophie, Feines Wiſſens von allgemeins 
gültigem, nothwenbigem Inhalt bebürfe, daß vielmehr das oberfte 
Geſetz alles Lebens die Idee freier, unendlicher Entwidlung fey? 
Allein dieß Geſetz hat ja die bisherige Philofophie ſchon längſt 


AÄ 


158 Ulrich, 


als allgemeines Princip der Weltgefchichte erfannt und proflamit, 
freilich aber zugleich eingefeben, daß mit dieſer an ſich leeren, 
formalen, abſtrakten Idee noch gar Fein Inhalt der Erfenntif 
gegeben fei, daß es vielmehr darauf anfomme, den durch dieſes 
Geſetz beftimmten, gefegmäßigen, nothwendigen Gang be 
menfchlihen Entwicklung zu erfennen, d. h. daß die Entwidiug 
bes menſchlichen Geiftes und Lebens, eben, weil fie Entwide 
lung, ‚weil fie eine freie, unendlide ift, unmöglich eine wills 
Führliche, zufällige, ziel- und zwedlofe Bewegung in’s Dlaw 
hinein, fondern nothwendig durch das innerfte eigenthümliche Weſen 


des menfchlichen Geiftes, der Natur, der Welt und der Gotbei | 


bedingt und geregelt fein müfle. Dieß innerfie Weſen zu erlken 
nen und aus ihm heraus das menfchliche Leben zu begreifen, war 
eben das Ziel der bisherigen Phitofophie. If die Bewegung ci 
rein willführliche, zufällige, fo gibt es auch Feine natürlichen En 
wicklungsgeſetze, die der Verf. an die Stelle der idealiſtiſche 
Moralprincipien fegen will, mithin fein Recht, Teine Moral, fee 


nen Staat, vor allen Dingen feine Wiſſenſchaft. Was der Beh 


lehren mag, und wäre es noch fo tief und weile, wäre ebenfalld 
nur Epreu, die der nächfte Wind verweht. Im Taumel der uw 
endlichen Entwidlung würde der Proceß der Weltgefchichte dem 
Gange eines Trumfenen gleichen. Der Berf. felbft Fönnte mw 
möglich behaupten, daß die bisherige Richtung der Philoſophie 
eine verfehrte, verberblihe ſei; in der Willlühr der Bewegum 
hätte vielmehr jede Richtung daſſelbe Recht. — 

Doc fo meint e8 der Verf. ohne Zweifel nicht, Gr wi 
offenbar nur die neuefte, Alles a priori conſtruirende Richtung ber 
Dhilofophie befämpfen. Und wer wollte läugnen, daß biefe Tem 
denz bis zu einem fich felbft vernichtenden Extreme hinaufgetrieben 


worden? Der Berf. tritt ihr von feinem Standpunkte aus we 


Recht entgegen. Er geht aber offenbar zu weit, er ſchüttet bad 
Kind mit dem Bade aus, wenn er damit zugleich die Philoſophie 
felbft verwirft, und ſchlechthin alle nothwendige, allgemein aprite 
rifche Erkenntniß, alle immanente Denknothwendigkeit Läugne. 
Nah den erfenntnißtheoretifchen Sätzen zu urtheilen, die er Im 


Die philoſophiſche Piteratur der Gegenwart. 469 


matifch, vornehmlich bei Gelegenheit feiner Kritif des Kantifchen 
Kritieismus aufflelit, will er an die Stelle des abfiraften Idea⸗ 
lismus einen einfeitigen, rohen Empirismus fegen, und das 
menfchliche Wiſſen auf nur formalen, quantitativen Inhalt beſchrän⸗ 
ten; allein er vergißt, dag er felbft behauptet und darthut, wie 
ber einfeitige Empirismus nothwendig zum Skeptieismus und Ma⸗ 
terialismug führe. Er bedenkt nicht, daß der Empirismus, wenn ' 
er wiflenfchaftliche Geltung haben will, fich felbft doch irgendwie 
erweiien, ben Gegner widerlegen, darthun muß, daß der Menſch 
feinem Wefen und Begriffe nah nur dur die Erfahrung zu 
Erfenntnig und Wiffenfchaft komme. Er bedenft nicht, Daß alled 
Beweifen nur Entwidlung der immanenten Denknothwendigkeit ift, 
und daß er felbft, indem er die bisherige Philoſophie Eritifirt und 
ihre Nichtigkeit darlegt, fortwährend an die Denknothwendigkeit 
appeflir. Er bedenkt nicht, daß alle empirifche Forſchung die 
Namnichfaltigfeit der Thatfachen auf bie Einheit und Nothwen⸗ 
digfeit eine Geſetzes zurüdzuführen firebt, daß fie nur wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Werth hat, fo weit ihr dieß gelingt, und. mithin bies 
felbe immanente Nothivendigfeit im Sein und Denken vorausfebt, 
von der die Philoſophie ausgeht. Er bedenft ferner nicht, daß 
es ein handgreifliher Widerfpruch ifl, wenn er den Subſtanzbegriff 
für den „Stütz⸗ und Zielpunft jedes philoſophiſchen Syſtems“ er⸗ 
Härt und Die Subftanz des menſchlichen Weſens — den Ziel= und 
Stüßpunft feines eigenen Philoſophirens — in „bie Freiheit oder 
in das Princip einer ſtetigen und unendlichen Entwicklung“ fegt, 
zugleich aber behauptet, daß „Die Subftanz als Princip der Ent 
wicklung eigentlich überhaupt niemals Gegenftand unferer Erfennt- 
niß werben könne“; — daß es gleichermaßen ein offenbarer Wider⸗ 
ſpruch if, wenn er die Annahme eines Dinges an fich im Gegen- 
[RB zur Erſcheinung als ein Hirngefpinft der Abſtraktion beftreitet,; 
und doch vom Subfkanzbegriff redet und mit Kant behauptet, wir 
vermöchten das eigentlihe Wefen der Dinge nicht zu erkennen. 
Er bedenkt nicht, daß wenn von Entwicklung, von Erfcheinung, 
von Berhätinißbeftimmungen der Dinge die Rebe. fein ſoll, es 
doch auch Etwas geben müfle, das ſich entwidelt, Das erſcheint, 


460 Uriei, 


das fich verhält, und dag ohne die Erkenntniß dieſes Etwas die | 


Erfenntniß der Entwicklung und Erſcheinung leere Einbildung 


unmöglidy if. Er bedenkt nicht, daß, wenn das Princip freie, 
unendlicher Entwicklung die Subftanz des menfchlichen Wefend au⸗ 


macht, doch wohl auch die Philofophie, die er befämpft, ſchon um 
ihres dristbalbtaufendjährigen Beſtehens willen als Moment u 
Motiv jener Entwidlung anzuerkennen, ja daß fie ein fehr us 
wendiges Moment derjelben fein dürfte, weil diefe Entwicklung 
wenn ſie nicht von der ſelbſtbewußten Vernunft nach rechtlichen 
ſittlichen, vernünftigen Principien geregelt, nothwendig alle Ord 
nung, alle Sicherheit und Geſetzmäßigkeit des Daſeins über der 


Haufen rennt und damit den wahren Fortſchritt unmöglicd macht 


Kurz der Berf. bedenkt nidt, was er fagt, weil er — überham 


fein Freund vom Denken if. — 

Daß von einem Autor, der das innerfte Wefen nicht nur der 
neueren Deutfchen, jondern dev Philofophie überhaupt fo gauzlich 
verfennt und negirt, Fein wahres, tiefes Verſtändniß derfelben zu 
erwarten fein dürfte, Teuchtet von felbft ein. Es würde und ze 
weit führen, wenn wir die mannicdyfaltigen Irrthümer und Nik 
verftändniffe, Die durchgehende Mangelhaftigkeit, Einfeitigfeit uw 
Seichtigkeit der Auffaffung und Beursheilung ihm nachweifen wol 
ten. Wir glauben fchon durch die obige Kritik feines Standpunk 
seö genügend gezeigt zu haben, baß der Berf. dem Thema, wis 
ches er zu bearbeiten unternommen, nicht gewachlen ifl. He 
Biedermann mag ein trefflicher Politiker fein und auf dem Felde 
ber Staatöwiflenichaften Tüchtiges leiften, — aber ein große 
philofophifches Talent ift er nicht. Dürften wir ihm Daher eins 
guten Rath geben, fo möchten wir ihn bitten, bie Philoſophie, 
ohne fernere Einmifchung feinerfeits, laufen zu laſſen, wohin ſie 
laufen mag. Soll fie zu Grunde geben, fo wird fie auch ohue 
feine Beihülfe ihr Grab finden: fie muß es ſich ihrem Wefen nah 
nothwendig felbft graben. Soll fie für die nächfte Zukunft wenig 
ftens ihre bisherige abjolute Geltung und Bedeutung verlieren, 
und gegen andere Intereſſen zurüdtreten, — was vielleicht fü 
das Wohl Deutſchlands wicht fo übel wäre, — fo wird bij 


| 


Die philofophifche Literatur der Gegenwart, 464 
wiederum beffer ohne, als mit des Berf. Beihälfe erreicht werden. 


Denn der ſchwache Angriff erhöht nur das Bewußiſein der eige⸗ 


nen: Stärfe und fordert die Oppofition heraus, 

Auf dem gerabe entgegengefegten Standpunkte fteht befannte 
Lich Hr. Prof. Michelet. Kür ihn toncentrirt fi) das Heil ver 
Welt in der modernen Spebulation, deren Mittels und Gipfel 
punkt die. Hegel’fche Philoſophie if. Für ihn it das Hegel’iche 
Spftem die abfolute Philofophie: wir wiſſen wenigſtens nicht, ‘ob 
er bie. Möglichkeit einer höheren Entwidlung zuläßt; jedenfalls 
würde der Fortichritt nur aus der Hegel'ſchen Philofophie her⸗ 
vorwachſen, nur eine Weiterbildung des Hegel’fchen Princips fein 
Eönnen, wahrfcheinlich vorzugsweiſe nach ber Richtung hin, welche 
per Berf. felbft eingefchlagen. Für ihn-ift Daher der Gegenſatz zwi⸗ 
fhen dem theoretifhen und praftiichen Geifte — in deſſen Mitte 
fih Biedermann ftellt, um zu zeigen, daß Die Theorie (Philofophie) 
hinter der Praris (dem politifchen, focialen, induftriellen Leben) zu- 
rückgeblieben fei und überhaupt von leßterer geleitet werden, ihr 
dienfibar fein müffe — längſt im Hegel’ichen Sinne aufgehoben: 
der Wille des Einzelnen, das praftifche Leben ber Bölfer, bie 
Gefchichte der Menſchheit, hat ſich dem. abfoluten Begriffe, dem 
zeinen Bernunftwifien als deſſen Moment eins und unterzuordnen; 
der Begriff muß oder follte wenigftens fortan die Welt regieren. 

Natürlich ift es daher Hrn. Michelet ein Greuel, dag Schel« 
ling, nach Berlin berufen, in. der Metropole des Hegelthums bie 
Hegel'ſche Philofophie anzugreifen wagt, ihre Herrſchaft und 
weitere Entwicklung zu untergraben fucht, ja den unerhörten Ans 
foruch macht, im DBefige eines Syſtems zu feyn, welches über. den 
Hegel'ſchen Standpunkt hinausrage. Die vorliegende Schrift, obs 
wohl fie eine neue. Darftelung der Philofophie feit Kant vers 
ſpricht, iſt im Grunde durch und durch polemiſch; fie Dat nur bie 


Abſicht, jene Anfprüche und Angriffe Schellings gebührend zurück⸗ 


zuweiſen. Hr. Michelet nimmt den „hingeworfenen Handſchuh“ 

für ſich und feine Genoſſen — für deren Führer oder wenigſtens 

rüftigften Kämpen ex fi doch wohl halten muß — mit gewohns 

ter Kühnheit aufz er tritt bis an die Zähne gewaffnet in bie 
Zeitſchrift f. Philoſ. u. fpet. Theol. XII. Band. 44 


4162 Ulriei, 


Schranken; unter der mächtigen Aegide der Gefchichte, mit dem 
Schwerte des abfoluten Begriffs gegürtet, ift er feines Siege 
"gewiß. Im der That werden die übrigen Syſteme von Kant bis 
auf Schelling nur mit aufgeführt, theils um den Gegner ducch 
die immanente Dialektif des hiftorifchen Proceffes zu widerlegen, 
theils um durch eingefchaltete Bemerkungen zu zeigen, wie Schelling 
Die Gedanken feiner Vorgänger klüglich benupt, und aus eittem 
Worte, das bereitd Kant hingeworfen, aus einer Idee, bie Fichte 
geäußert u, dgl: feine Philofophie aufgebaut habe, wie er dann 
aber in feinen neueften Anfichten weit unter Kant, Jacobi, Schle 
gel wieder herwitergefunfen fei. — Wir maßen uns durchaus nicht 
an, den großen Streit als Kampfrichter zu entfcheidenz dieß über: 
laſſen wir der alten Sitte gemäß den regierenden Fürſten und 
Herren, d. h. den Heroen der Philofophie, die nicht Durch Kris 
Sen und Necenfionen, durch Schmähungen und Herabfegungen bes 
Gegners, auch nicht bloß durch gefchichtöphitofophifche Argumente 
tionen, fondern durch eigene neue, höher gebildete Syſteme ihr 
Recht, der Entfcheidung documentiren, — die vielleicht bereits im 
Berborgenen dem Kampfe zufchauen, und wenn fie auch für jet 
noch ſchweigen, doch gewiß in Zukunft reden werben, 

Laffen wir nun aber demgemäß des Berf. Polemik gegen Schel⸗ 
ling unberüdfichtigt, — die ſchon um ihres ſubjektiven, leidenſchaft 
lichen, von aller wiſſenſchaftlichen Ruhe und Objektivität entblößten 
Charakters willen feine Beachtung verdient, — fo bleibt von dem 
vorliegenden Werke fo gut wie Nichts übrig. Eine „Entwidlungs 
gefchichte Der neueften deutfchen Philofophie” ift e8 jedenfalls nic. 
Denn zu einer gründlichen, vom Principe aus organifch fortfchreiten- 
den Entwicklung der einzelnen Syfteme und ihres Zufammenhangs 
unter einander kann es ſchon darum nicht Fommen, weil fich der Verf. 
fortwährend mit polemifchen Digreffionen gegen Schelling unterbricht. 
Aber ſelbſt wenn man letztere wegfchneiden wollte, fo bliebe bob 
nimmermehr eine „Entwidiungsgefchichte”, fondern nur eine ziem⸗ 
lich unordentlihe Wafle von Reflerionen und Bemerfungen, ver 
mifcht mit einigen Citaten aus den verfchiedenen philoſophiſchen 
Syſtemen übrig, Selbft die Diftion ift fo liederlich, daß man 


Die philoſophiſche Literatur der Gegenwart. 163 


glauben muß, der Verf. habe in der That nur ſein Collegienheft, 
bei dem es vielleicht urſprünglich nur auf einen Leitfaden für den 
freien mündlichen Vortrag abgeſehen war, ohne weiteres abdrucken 
laſſen. Dieß Collegienheft iſt aber ſo nachläſſig und flüchtig hin- 
geworfen, daß wir darin z. B. folgender klaſſiſcher Widerlegung 
ber Kantiſchen Identität von Raum und Zeit begegnen: „Um 


aber zu Kant zurüdzufehren, fo ift es ganz richtig, daß Naum ö 


und Zeit nicht den Dingen an fid) zufommen, indem biefe ale 
Ideen gar nicht dem Boden der finnlichen Anfchauung anheime« 
fallen. Daß aber damit die finnlihen Dinge aufhören follen, 
außer unferem Erkenntnißvermögen zu feyn, if ein Mißverſtänd⸗ 
mig Kants. Sie können Erfcheinungen, und ihr Außereinander 
Darum doch ein uns äußerliches, fie alfo auf dieſe Weife objektive 
Erfcheinungen fein. Wir willen, daß auf dieſem Gebiete das 
wahrhaft Seiende, Beſtaͤndige, Ewige nicht zu finden ift, fondern 
nur das bunte Gaukelſpiel ber Veränderlichleit alles Irdiſchen. 
Aber darum brauchen wir dieß Alles doc nicht auf ung zu nebs 
men, wie jener Beſucher des Blocksbergs im Goethefchen: Fauſt es 
thut, wenn er ausruft: Fürwahr wenn ich dieß Alles bin, ſo bin 
ich heute närriſch, — ſondern Gottlob können wir uns Alles die⸗ 
ſes aus dem Sinne ſchlagen“. — In der That, das iſt die be⸗ 
quemfte Art der Widerlegung, die ung noch jemals vorgekommen! 
Wenn fih Hr. Michelet fo ohne weiteres die ganze Sinnenwelt 
und damit die ſchwierigſten Probleme der Philofophie aus dem 
‚Sinne zu fehlagen. vermag, warum fehlägt er fich dann nicht'lieber 
Die ganze Philofophie aus dem Sinne? Bei einer ſolchen Be- 
handlung Tann fie wenigftend nicht viel gewinnen. — Sodann 
heißt es weiter: „Mit den Formen der Anſchauung hat Kant dag 
Fine Moment fynthetifcher Urtheile a priori gefunden. Alle Ans 
fhauungen, die ih in Raum und Zeit zufammenfaffe, find ihm 
nämlich ſolche Urtheile”. Wer die Kantifche Philofophie nicht 
bereitd fennt, ber muß hiernach offenbar glauben, Kant habe die 
Anfhauung einer Landſchaft oder eines dahinrollenden Wagens 
für ein fonthetifches Urtheil a priori erflärt! — Doch weiter! — 
„Die zweite Duelle der Erkenniniſſe a priori, von welcher bie. 
- 44 * 


164 “ Meici, 

transfcendentale Logik handelt, find die Begriffe des Verſtandes, 
welcher die Spontaneität des Denfens ift, während die Sinn 
lichkeit das Vermögen der Receptipität war, Aus dem empiriſchen 
Stoffe des Denkens, d. h. aus unferen Vorſtellungen, Tora 
Kant fest eben fo die reinen Begriffe, wie vorher aus der Materie 
der Anſchauungen, deren reine Kormen aus” u. f.w. Wie? Kan 
fondert die Sategorieen und die reinen Anfchauungen aus dem 
empirifhen Stoffe des Denfens aus? Wo thut er das? 
Wo hat Hr. Midyelet das gefunden? Kant erflärt ja ausprüd 
lich beide für urfprüngliche, in unferm Geiſte a priori bereit Iis 
gende Formen des Erfentnifvermögend, von denen Der empiriihe 
Stoff unferes Denkens aufgenommen, ‚geordnet, geftaltet, erſt zum 
Inhalte eines menfchlihen (zufammenhängenden, vernünftigen) 
Bewußtſeyns wird. Wie Fönnte er fie alfo aus dem empiriſchen 
Stoffe ausfondern wollen? — Wüßte man nit, dag Hr. Mir 
chelet Profeffor der Philofophie in der-Metropole der Wiſſenſchaſt 
Sinhaber des abfoluten Begriffs und damit des Schlüffeld ale 
Weisheit wäre, fo follte man in der That glauben, er habe die 
Kantiſche Philofophie nicht fo ganz verftanden. 


Doch der Verf. ift nicht vollkommen zurechnungsfähig: et 
geht ganz und gar auf in dem erhabenen Pathos Des welthifers 
chen Kampfes gegen feinen großen Gegner; alles Uebrige iſt ihm 
‚gleichgültig. In der Hite des Gefechts find ihm daher wohl 
einige Yeußerungen entwifcht, bie fih vor dem Richterftuhle der 
Kritik nicht ganz rechtfertigen laſſen. Da wir ihn nun aber, wie 
gefagt, in fenen Kampf nicht begleiten, weder für ihn, noch wider 
ihn Partei nehmen fönnen, fo — müffen wir ihn nothwendig fer 
nem Gegner und dem Urtheile jener Kampfrichter der Zukunft 
überlaffen. Recht und Billigfeit fordern, daß wir fein Buch feiner 
'weitern Kritif unterwerfen. — 

Zum Schluß nur nod zwei Worte über die Dritte Auf 
‚gabe von 


H. DM. Chalybäus' hiſtoriſcher Entwicklung der ſpekulativen 
Philoſophie von Kant bis Hegel. Dresd. 4843. 


Die philoſophiſche Literauur der Gegenwart. 165 


Das Werk hat, wie der raſche Abfa beweist, längft die alls 
gemeine Anerkennung gefunden, die es verdient, und die ihm 
beſonders die ruhige, objektive Haltung, bie große, von einem 
geändlichen Studium und eindringendem Berftändniß getragene 
Klarheit der Vorftellung und Unpartheilichfeit des Urtheils erwor⸗ 
ben hat. Bon einer nochmaligen eigentlichen Kritik deſſelben kann 
mithin nicht die. Rebe fein, zumal da es in Geiſt und Charafter 
feine wefentliche Umänderung feit feinem erften Erfcheinen erlitten 
bat. Wir bemerken daher nur, daß es in biefer dritten Auge 
gabe durch die theilweife Umarbeitung der Abfchnitte über Kant, 
Herbart und Fichte, durch die tiefer eingehende Darftellung und 
Kritif des Schelling’ihen und Hegel’fhen Syſtems, fo wie durch 


die neu hinzugetretenen Andeutungen über Schellings neuefte (poſi⸗ 
tive) Philofopbie, unfers Erachtens an Intereſſe und Bedeutung 


nur gewonnen hat. So wie es jegt bafteht, gewährt es zuſam⸗ 


‚men mit 3. H. Fichte's Beiträgen zur Charakteriftif der neueren 


Dhitofophie (2te Ausg. Sulzb. 1841) die befte Hülfe für das 
Studium eben biefer neueren Philofophie. Beide Schriften ergäns« 
zen ſich gleichfam gegenfeitig, indem Chalybäus mehr die Schüler 
Der Philoſophie, Fichte mehr die Männer vom Fach in's Auge 


‚gefaßt, jener daher es mehr auf eine Einleitung in das Studium 


der Philofophie und eine Verftändigung über das Wefen der neues 


ſten Spefulation, biefer dagegen e8 mehr auf eine kritiſche Ans 


weifung zur weiteren Fortbildung der Wiffenfchaft als folcher ab⸗ 
gefeben hat. Wir wollen daher nur von neuem das treffliche 
Werk, insbefondere der fludirenden Jugend, beftens empfohlen 


‚haben, — 





Drudfebhler 


Seite 15 Zeile 2 v. unten lied Endiiel finder fl, Endiie findelt. 


Sntelligenz- Blatt. 


Sämmtliche, in diefem WBlatte angezeigten oder in der „Zeitſchrift für Philoſopbie 
und fpetulative Theologie” recenfirten Werte können durch Die 2. Fr. Fued’ide 


Zübingen. Bei. 5. Fues find vorräthig: 

” GARGALLO, marchese Tommaso. Di alcune Novitä introdotte nella 
letteratura italiana. Lezione recitata il giorno 30 agosto 4857 nel 
J. B. Accademia della Crusca, con una Elegia latına al canonico 


Filippo Schiassi su lo stesso argomento. In-8. Milano, 8338. 
n. 32 kr., 8 ggr. 


* sans, Fr., Inni. Prima ediz. completa. In-33. Ib. 843. n. 25 kr, 
6 ger 
* Lascertı, V., Memorie intorno ai poeti laureati d’ogni tempo t 


d’ogni nagione raccolte, In-8. con ritr. Ib. 859. nm. 5 fl. 20 kr. 
3 Thir 8 gg. 


® revarı (Prof) A., Il Triumvirato dell’ italica Pittura. Baffach, 
:  Correggio, Tiziano. Eleg. ed. in-8 piccolo, adorna di tredici = 
cisioni in rame. Ib. 837. n. 2 fl.8 hr, 4 Thlr 7 ger 





® MANZONZ, Opere complete, 4 vol. in-8. con ritr. Parigi, 38 
n. 6 fl. 18 kr., 3 Thir 45 ggr. 


* _- I Promessi sposi. 2 voli in-12. Ib, 843. Fes 5=n. 2 fl. 20 kr, 


. 4 Thir 9 ger. 

* monts, Vinc. Opere. Ti 6 in-8 gr. Milano, 839/42. n. 19 fl. 42 kn. 
41 Thilr 12 ggr. 

*— Ti 6 in-13. Ib. 839/42. n. 44. fl. 48 kr, 8 Thir 16 gg: 


(Beides ganz huͤbſche Ausgaben), 


® Poesie liriche di A. Manzoni, Inni di G. Borghi, Terzine di G. Tori 
In-32. Ib. 837. 2 88 kr, 12 gg 
* varcaı, B., Lezioni sul Dante, e Prose varie, la maggior parte 


inedite, tratte ora in luce dagli Autografi della Biblioteca Rinucciasa. 
Voli 2 in-8 gr. con fac-sim., e ritratto dell’ Autore. Firenze, 84. 


n. 42 fl., 7 Thir. 

* vıscontı, E. Q., Opere. Ti 20 in-8. Milano. n. 923 A, 
| 128 Thlr 42 gor. 

* _ Due discorsi inediti, con alcune sue lettere, e con altre a li 
scritte, che ora per la prima volta vengono pubblicate. In-8. Ib. 
8411. n. 1 fl. 8 kr., 16 ggr. 


Bei F. Maufe in Jena find vollfländig erfchienen: 


JUSTINI MARTYRIS OPERA, 
ed. Dr. 3. C. T. Otto. 
se II Tomi gr. 5 Thir 20 Sgr. . 





y’ 


Inhalt. 


Seite 


Ueber das Verhältniß der Metaphyſik zu der Ethik. Bon Prof. 
Dr. Weiße .. . ..... 1 
Der bisherige Zuſtand der Anthropologie und Pſychologie. Eine 
Pritifche Veberficht vom Herausgebe686 
Eine phyſiologiſche Anficht von den fittlihen Dingen. Von Dr. 
- Romang, Pfarrer zu Därftetten im Canton Bern .. 106 
Die philofophifche Literatur der Gegenwart. Bon Prof. Dr. 
9. Ulriei. Achter Artifel. Die neueften Werke zur Ge: 
fchichte der Philofophie von Brandis, Hillebrand, Braniß, 
Biedermann, Michelet und Chalybäus. (Schuß) . . . 132 


Eine phyſiologiſche Anficht von den fittlichen Dingen. 
Bon 


Dr. Romang, 
Dfarrer zu Därftetten im Canton Bern. 


. J'ai eru qu’on devoit traiter la morale comme toutes les 
Autres sciences, et faire une morale comme une physique 
experimentale. Helyetius de l’esprit, 


(Kortfesung). 


Es ift nicht zu leugnen, die Menfchen nennen gut, was ad 
valetudinem und was ad Dei cultum conducit. Denn daß die 
Genauern fi) verfchiedener Worte bedienen, daß fie, was bie 
ſinnliche Exiſtenz fördert oder flört, Wohl und Uebel, Hingegen 
But und Böfe etwas Anderes, jedenfalls, gefett es ſei noch nicht 
gehörig beſtimmt, einer höhern Weife ber Eriftenz Eignendes, 
nennen, zeigt nur, daß fie einen Unterſchied machen unter den 
Gütern, Güter jedoch find ihnen beide, ebenfo ernftlich das mit 
Wohl, als das mit Gut Bezeichnete. 

Wenn das Thier im Stande wäre, feinen Seelengehalt 
in gebantenähnliche Form zu fallen, fo würbe es zwar mancher⸗ 
ei Zuftände und Gegenftände kennen, denen ed vor andern den 
Borzug gäbe, die alfo für ed die Bedeutung von Gütern hätten, 
fie würden jedoch im Wefentlicden alle von einerlei Art fein, denn 
nur die Förderung feines animalifchen Dafeins iſt ihm ein Gut. 
Die Ausbildung und Erhaltung feines Weſens nach feiner einmal 
gegebenen Beftimmtheit, dieß ift das Gute für das Thier; was 
hingegen diefe fört, ſowohl das Hinaufſchreiten über feine Wes 
fensbeftimmtheit, als das Zurüdbleiben hinter berfelben, ift ihm 
ein Uebel. Equus tam destruitur, si in hominem, quam si in 
giiſchx. f. Philoſ. u. ſpek. Theol. XII. Band. 12. 


4168 Nomang, 


insectum mutetur *). Demnach fcheint es, je einfacher, je wes 


nigern Gegenfägen in fih Raum gebend eine Eriftenz fei, deſto 


wenigere Uebel werbe fie fennen. 

Für den Menfchen nun ift nicht diefe einfache Weiſe ber 
Eriftenz und Entwidelung gefegt, daher gibt es für ihm aud 
verfchiedenartige Werthfchägungen und Güter. Er. ift finnlichee, 
animalifhes Wefen, und infofern ift alles, wodurch feine an 
malifche Eriftenz nach ihrer eigenthümlichen Beflimmtheit gefür 
dert wird, ihm ein Gut, Er ift aber nicht nur finnliches We 
fen, daher kennt und erftrebt er eine ganz andere Weife der Er 
Renz, ganz andere Güter. Auf diefe beziehen ſich die Äfthetifchen 
und fittlihen Werthurtheile, von denen in unferer Unterfuchung 
erſt obenhin, nad) dem, was das gemeine Bewußtſein bay 
weiß, die Rede fein Fonnte, daher wir die genauere Beftimmun 
ihres Gegenftandes noch aufzufuchen haben. 

Daß es eine höhere Weile des Seins für den Menſchen gebe, 
als diefe finnlihe, die ihm mit den Thieren gemein ift, und da 
diefe Iegtere nur ald das Subftrat der erftern anzufehen fei, ald 
bie Bedingung, vermittelft welcher die höhere eine fefte Baſis ge 
winnen Fann auf unferm Planeten: — dieß braucht nicht forgfältig 
nachgewiefen zu werden. Mit durdhgängiger Uebereinſtimmug 
des Sprachgebrauchs wird diefes Höhere Vernunft genant, 
Was an fi die Vernunft, was im einzelnen Falle vernünftig ſei 
mag noch fo ungewiß fein, darüber ift fein Streit, Bernunft fi 
das Höchfte und Beßte im Menfchen und. für den Menſchen. Un 
biefes Höhere, Beflere, was fie alle Vernunft nennen, if" 
durchaus nicht zu überfehen, daß, wie eben ift erinnert worden, 
auch Spinoza dem ex ductu rationis, als dem Höchften und Beh 
ten, die forgfältigfte Aufmerffamfeit zuwendete. 

Ob zwifchen dem Sinnlihen und Bernünftigen noch ein Drib 
tes, Mittleres angenommen werden folle, mag einftweilen unen» 
fchieden bleiben. Die äfthetifche Werthſchätzung, die, als folde, 
nicht dem finnlihen Wefen angehört und doch ziemlich allgemeis 


*) Spin. Ethie. IV. praef, - 


Eine phyfiologifche Anficht von den fittlihen Dingen. 109 
auch von der fittlichen unterjchieden wird, fcheint Darauf hinzudeu⸗ 


ten, und eben fo auch die fo ausgedehnte Region pſychiſcher Ent⸗ 


widelungen, wo ſich eine weit über alles blos Animalifche hin⸗ 
ausgehende Intelligenz zeigt, ohne daß der Entwidelungszuftand 
als wahrhaft vernünftig anerfannt werden könnte. 

Doch vielleicht ift dieß nur ein Gebiet des Mebergangs und 
der baherigen Berfchmelzung der niedern und der höhern Region. 
Jedenfalls wird die richtige Einficht in dieſe Dinge, fo weit fie 
zu unferer Aufgabe unerläßlih gehört, am ficherften gewonnen 
werben, wenn zuerft die beflimmter entgegengefebten Gebiete ges 
börig unterfchieden worden find. 

Ohne weitere Rechtfertigung wird ausgefprochen werben dürs 
fen, das vernünftige Wefen und Leben fei das Gittliche. Und 
nach unferer Grundanfiht von den Werthen und Gütern würde 
die Bernunft, als reales Iebendigftrebendes Princip, in ähnlicher 
Weife, wie der finnliche Trieb, fich felbft den Werth beifegen. 

Die allgemeinfte Beftimmung des Sittlih = Guten wäre mits 
Yin gefunden, wenn zuverfichtlich gefagt werben darf, das Sein 
und die Wirkfamfeit der Vernunft fei dag Gute. Schon in dies 
fer Beftimmung hat unfere Wiffenjchaft einen vealern Inhalt ges 
wonnen, als nach der gewöhnlichen Behandlung. Doc bedarf 
fie auch in einer fich auf den Umriß der Grundanfchauung beichräne 
Senden Erörterung mancherlei Vervollftändigungen. Bor allem 
follte das wirklich fittliche Gebiet von dem ihm doch theilmweife 
ähnlichen des natürlichen Lebenskreiſes etwas genauer unterjchies 
den werben. | 

Nur auf dem Gebiete des Lebendigen ift von eigentlichen 
Werthen die Rebe, denn der Werth des Unlebendigen wird nur 
im bewußten Lebendigen erkannt, und fommt ihm zu nur inwie- 
fern e8 diefem zur Vermittelung dient, ihm irgendwie entipricht 
und eine Befriedigung gewährt. Aber nicht alles bewußte Leben 
iſt fittlicher Natur. Hoffentlich ift aus der bisherigen Darftellung 
unferer Grundanficht” Flar geworben, wie das GSiitlihe ald ein 
fubftanzielles Wefen von gediegenfter Beftimmtheit gefaßt werben 
muß, jo daß ſchwerlich Böfes und Gutes aus Einem und bemfel« 

ar | 


® 


470 Romang, 


ben Princip abzuleiten fein wird. Welches aber iſt Denn das von 
den übrigen Weifen bed Lebens fih unterfcheidende Princip, wel 
- ches allem Sittlihen zu Grunde liegt? 

Bon der Vernunft würde man ziemlich unangefochten fagen 
mögen: fie fei Prineip nur des Guten und Wahren; wo Böfee, 
da fei Abwefenheit der Vernunft. Dürfen wir aber ganz ebenfo 
auch fagen, der Geiſt fei ausfchließlich gut, bewirfe und thue nur 
das Gute? Gerade die fehlimmften Arten des Böſen ſcheinen 
wohl den Meiften aus einem nichtfinnlichen Grunde. hervorzuge⸗ 
ben. Wird indefien jemand behaupten wollen, ber Geift fei ebenh 
fehr unvernünftig, als vernünftig® - 

Bei der Berworrenheit und in jeder Beziehung ſich Fund ge 
benden Halbheit der berrichenden VBorftellungen und ihrer Aus 
drudsweife wird die Unterſuchung fich nicht zu fehr durch dieſel⸗ 
ben dürfen beunruhigen laſſen. Da Geift doch ebenfalls höheres 
Leben bedeutet, fo wird man wohl die Ausbrüde Vernunft und 
Geiſt ald gleichbedeutend gebrauchen, und dem nicht als gut An 
auerfennenden auch die Dignität des wahrhaft Beifligen abſpre⸗ 
chen dürfen. 

Jedenfalls muß die Betrachtung, welche eine Nealerklärung 

ihres Gegenftandes fucht, im Gegenfag zu den herrfchenden Ir 
fihten e8 wagen, in aller Strenge, nicht nur fo halb und unficen, 
wie fie fih jest in Hinficht auf die Vernunft ausdrüden, das 
reale Gute aus einem beftimmten realen Princip abzuleiten, wel 
es, als folches, und in directer Wefendäußerung, Das Böfe niht 
erzeuge. Und von der Analogie der niedern Arten Des Lebendir 
gen halten wir bei Vernunft oder Geift wenigftens fo viel feh, 
als ſchlechterdings gefchehen muß, wenn eine Vermeidung der 
durchaus. haltlofen Vorftelungen möglich fein fol, die man ſich 
meiftens von biefem Lebensgebiete macht. Wie das Böfe aufs 
faffen, wie die einzelnen Erfcheinungen des fittlihen Bewußtfeind 
zu erflären feien, kann in diefer Abhandlung nicht völlig er 
fhöpft werden, und was wir vielleicht anbringen koͤnnen, H 
einftweilen zu verfchieben. Mit möglichfter Beftimmtheit aber 
ift augzufprechen, daß alles Böſe ebenfo wenig That und dr 


Eine phyſiologiſche Anficht von den fittlichen Dingen. 174 


fiimmiheit des geifligen oder vernünftigen Weſens iſt, als bie Un⸗ 
geftalt und Corruption des Phyſiſch-Lebendigen Product feines 
gefunden Bildungstriebes. 

Der Geift ober die Vernunft ift als folche realiter und we⸗ 
fentlich felbft das Gute *). Die Vernunft umfaßt aber nicht als 
les Bewußtfein. Nicht nur gibt es ein thierifches Bewußiſein, 
fondern auch ein menſchliches von oft bedeutender intellectueller 
Entwidelung, wobei doc der Zuftand Fein wahrhaft vernünftiger 
und fittlicher ift.. Und weder auf der theoretifchen noch auf der 
praftifchen Seite des Bewußtſeins iſt es leicht, die Grenze zu 
beftimmen, wo das Vernänftige, das Pofitig- Sittliche anfange. 

Aus der höhern Natur und Bedeutung der obern Sinne bie 
ſittlichen Werthe zu conftruiren, wie Beneke verfucht hat, wird 
wohl niemals gelingen, obſchon allerdings diefelben, als vorzugs⸗ 
weife der höhern Geiſtesentwickelung dienend, näher mit bem 
Sittlihen zufammenhangen. Die höhere Wiffensentivicelung ge⸗ 
hört ohne Zweifel zum vernünftigen Dafein, alfo zum Guten. 
Doch nicht nur kommt auch den untern Stufen der intellectuellen 
Entwickelung, wenigftens in Verbindung mit gewiſſen Befchaffen- 
beiten der praftifchen Seite, ein fittliher Werth zu, fondern bei 
ver höchften theoretifchen Entwidelung hat oft ber ganze Zuſtand 
feinen wahrhaft fittlichen Werth. Sowohl nad den Andeutungen 
unferer Unterfuchung, als nach der entichiedenften Weberzeugung 





°), Die pofitiuchriftliche Heberzeugung weicht bier ebenfo entichieben 
von derjenigen des natürlichen Bemußtfeind ab, als in irgend 
einem Punkte der Lehre von den göttlichen Dingen. Ihr ift das 
wahrhaft Gute nicht die angeborne Vernunft, fondern ein ale 
göttliche Gnadenwirkung in den natürlichen Menfchen Hereinges 
kommenes. Die chrifttiche Ethid von Harleß ift wohl die erſte, 
welche, im Gegenſatz zur philoſophiſchen Sittenlehre, die nach 
den dogmatiſchen Anſprüchen des ehriſtlichen Bewußtſeins auch 
der Ethik zukommende Stellung gleich von Anfang einzunehmen 
ſucht. Schwierig dürfte es aber für die chriſtliche Sittenlehre 
werden, den Unterſchied der aus dem Glauben hervorgehenden 
von der natürlichen Tugend überall als einen realen nachzuweiſen. 


172 Romang, 


des unwiſſenſchaftlichen Bewußtſeins, iſt das Gute hauptfſaͤchlich 
auf der praktiſchen Seite, in der realen Weſenheit des Geiſtes⸗ 
lebens zu ſuchen. 

Hier bietet ſich wahrſcheinlich das deutlichſte Unterfcheidunge 
merfmal dar, wenn wir den fittlihen Trieb gerade unter dem 
Geſichtspunkte in's Auge faffen, wo ſich und die größte Aehnlich⸗ 
keit zwifchen ihm und dem nicht=fittlichen berauszuftellen fchien, 
und wir ohne Zweifel werden befchuldigt werden, das Sittliche 
in hohem Grade mißfannt zu haben. 

Dean erlaube die abermalige Zurüdbeziehung auf unfere Abs 
leitung alles Werthurtheild aus dem Streben des fich felbft 
balten wollenden, feiner eignen Förderung den Werth beilegenden 
Triebes, fo daß das suum Esse conserrare ex fundamento pr- 
prium utile quaerendi auch das Princip ber füttlichen Lebendbe 
wegung zu fein ſchien. Wir fagten oben, es werbe darauf ar 
fommen, welches utile gefucht werde. 

Der ſinnliche Trieb ift jederzeit egoiftifch im eigentlichen Sin, 
d. h. nur fein einzelnes, alled Andere ausſchließendes Sein und 
Gedeihen fuchend. Denn er ift eben nur Energie des phyſiſchen 
Weſens, welches, in die Grenze der Einzelheit feftgebannt, fih 
nicht in die Sphäre des Allgemeinen zu erheben vermag, al, 
wie überhaupt das Körperliche, wo anderes Seinesgleichen am 
fängt, zu fein aufhört, mithin durch das Andere auf allen Seiten 
eingeengt wird, daher e8 denn auch nach dem Maaße feiner Energie 
das Andere zu verdrängen und aufzuheben ſtrebt. Anders dage—⸗ 
gen ſchon das Princip der äfthetifchen Werthſchätzung. Diefe heißt 
unintereffirt, und ift es allerdings in dem Sinne, daß fie, ald 
folhe, auf ausfchließenden Befig Feine Rüdfiht nimmt, vielmehr 
durch den Witgenuß Anderer gehoben wird. Noch weniger auf 
ſchließend -ift der fittlihe Trieb. Zwar will die fittliche Weſenhei 
bes Einzelnen suum Esse conservare, suum utile quaerere, abet 
fein individuelles Esse und Utile ift identifcy mit dem Esse des 
Sittlichen überhaupt. Daher fommt bie vein fittliche Einzel-Er 
flenz mit feiner andern in Gollifion, fondern, weil ihr Trieb af 
das allgemeine Wefen des Sittlichen überhaupt geht, iſt ihr de 


RL a are . . 
ke 57 


Eine phyſiologiſche Anſicht von den ſittlichen Dingen. 173 
andere ſittliche Exiſtenz ebenſoviel werth, als bie eigene, fie fin- 
det darin ihr eigenes Sein, und die Berührung wirft folglich, 
ftatt beengend, fördernd auf fie ein. Gerade in feiner lebhafte⸗ 
ften Strebung erkennt das ſittliche Bewußtfein den unbebingten 
Werth der andern fittlichen Weſen an, welche Anerkennung ſich - 
im Gefühl der Achtung ausfpricht, fo daß aller in etwa noch an« 
baftenden unfittlichen Elementen ſich regenden egoiftifchen Stre⸗ 
bung Stilleftehen und Zurüdweichen geboten wird, 

An dieſem ausfchliegenden, im eigentlichften Sinne egoiftifchen 
Wefen wird überall das Unfittliche ſich erfennen laſſen, gleichviel 
ob es auf Befriedigung unmittelbar finnlicher, Begierden ausgehe, 
oder ob dieſe weniger dabei hervortreten; und umgefehrt wird die 
Strebung, welche durchaus frei ift von aller ausfchliegenden Ten» 
benz einer fich in fich felbft verfeftigenden Egoität, von dem ges 
funden fittlihen Bewußtfein überall als füttlich anerkannt werben. 
Der theoretiihen Entwidelung dann wird im Allgemeinen eine 
fittlihe Bedeutung zufommen, je nachdem fie mit der angebeutes 
sen Beichaffenheit des realen praftifhen Weſens in Uebereinftim- 
mung ſteht, und abgejehen hiervon würde man das nicht blos an 
ber Einzel»-Eriftenz haftende, fondern zum Unbedingten und Ganzen 
ſich erhebende Erfennen als das vernünftige bezeichnen können. 

Eine Scharfe Grenze läßt fich freilich auch nach diefer Beftim- 
mung nicht ziehen zwifchen dem Vernünftigen und Nicht = Bernünf- 
tigen, Sittlihen und Nichts Sittlihen. Wohl möchte diefe Mühe, 
Das Sittlihe vom Nicht - Sittlihen auszufondern, Manden ale 
eine überflüffige und unfruchtbare erfcheinen, indem fie vielleicht 
meinen, es bebürfe nichts weiter, ale dag Sittengejeg an jeden 
gegebenen Zuftand zu halten. Allein für und fragt es ſich eben 
erft noch, was wir ald das Wefen und Geſetz des Sittlihen. ans 
zufehen haben? 

. Einen Gegenfaß des Höhern und Niebern, des Sittlichen und 
Unfittlichen müffen wir jedenfalls anerkennen. Demnach ift für 
die auf das reale Weſen des Gegenftandes eingehende Unterſu⸗ 
hung die Frage nicht zu umgehen, ob das Höhere, Vernünftige 
ein von dem Niedern, Nicht= Bernünftigen weſentlich Verſchiede⸗ 


> Romang, 


nes ſei, oder vielmehr nur die höchſte, vollſtaͤndigſte Entwickelung 
bes ganzen als wirkliche Einheit zu faſſenden menſchlichen Wefens? 
Selbſt Arifioteles, der doch in den höhern Arten des Be 
ſeelten die fonft von ihm unterfchiedenen dreierlei Seelen, die er 
nährende,, empfindende und bewegende, als eine untrennbar 
Einheit auffaßt, inwiefern die niedrigere immer die nothwendige 
Bedingung der höhern fei, fo daß dieſe ohne jene gar nicht be 
ſtehen könnte, ift geneigt, die vernünftige Seele als trennbar aw 
zufehen von jenen andern, da fie doch von außen herein gefom 
men und fortwährend vom Körper trennbar ſei. Dieß iſt im 
Wefentlihen auch fo ziemlich die herrſchende Vorftellung geblichen 
Dann würde angenommen werden müflen, das VBernunftprindp 
liege zuerfi als gleihfam von außen hineingelegter Keim in bem 
abgeſehen von ihm thierähnlichen Wefen des Menfchen, und ia 
einer zum Theil lange hinten nachfolgenden Entwidelung durch⸗ 
bringe es endlich das vor ihm entwidelte niedere Bewußtfeinleben. 
Allein nad) diefer Anficht enthielte die Eine Lebenserſcheinung de} 
Menſchen zwei von einander ausgefchiedene Wefenheiten. Die 
niedere Seele hat, als empfindendes und bewegendes Princip eine 
Art von Bewußtfein und Willen, und das Vernunftprincip mb 
doch, befonderd wenn ed getrennt von dem andern als geifliged 
Weſen beftehen kann, nicht weniger einen Willen und ein Be 
wußtfein haben, welches beides es zu ber niedern Seele her 
bringen würde. Demnach würde man fich bei forgfältiperer Aus 
bildung diefer Vorſtellung in Hinficht des Menfchen überhaupt im 
ähnliche Schwierigkeiten verwideln, wie bie unter dem Namen 
bes Monotheleten« Streites befannten theologifchen in Hinficht auf 
bie Perfon des Gottmenſchen. Wer fi ein wenig deutlich mad, 
was einem hiemit zugemuthet wird, bürfte fich vielleicht doch za 
der andern Auffaffung geneigt finden, welche bie vernünftige Gedk. 
mit ber ernährenden und empfindend bewegenden als eine einzige 
Lebens» und Wefenseinheit anfieht. Nach diefer Anficht würde 
. im menfchlichen Wefen jede der verfehiedenen Ariftotelifchen Ste 
len nur eine eigene Stufe feiner Entwidelung ausmachen, um 
das vernünftige und fittliche Wefen wäre nur, die höchſte und vol 


Eine phyfiologifche Anſicht von den fittlichen Dingen. 175 


ſtaͤndigſte Entwickelung des ganzen menſchlichen Seins, die ſich 
aus den untern emporbilden würde, nicht als ein von denſelben 
getrennt beftehendes Princip, fondern ähnlih, wie auf dem Ges 
biete des Phyſiſch-Organiſchen die volftändige Geftaltung aus 
ben vorhergehenden in einem und bemfelbigen Bildungsproceß res 
fultirt. Eine ziemlich entfchiedene Hinweifung auf diefe Anficht 
fcheint auch darin zu Tiegen, daß fich feine ſcharfe Grenze wollte 
finden lafjen zwifchen dem Sittlihen und Nicht-GSittlihen. Der 
Werthunterſchied der verſchiedenen Momente würde bei einer ber 
phyſiſchen Bildung und Entwidelung fehr ähnlichen Weife nicht 
aufgehoben. Aud in der rein pflanzlichen und animalifchen Ent- 
widelung werden im gehörig ſich vollziehenden Verlaufe die man⸗ 
nigfaltigften Beftimmtheiten der frühern unvollkommenern Zuftände 
allmählig abgeftoßen, bis die volllommenfte Geftaltung ſich gebil- 
det hat, und jedem Moment, jeder Entwidlungsftufe bleibt dabei 
ihr, eigenthümlicher Werth. Wie Leibnig wohl ganz richtig gefagt 
bat, der Magnet würde nad) dem Norden ftreben wollen, und 
dieß mit Freiheit zu thun meinen, wenn er fich feiner felbft be= 
wußt wäre; fo würde in der Pflanze, wenn die Strömung und 
Strebung der ihre Geftaltung beftimmenden Kräfte von der pflanz= 
lihen Seele gewußt würde, ein dem menfchlichen ſehr ähnlicher 
Bewußtjeinszuftand entftehen. Das jedesmal der Idee des Ge- 
wächſes Entfprechende müßte als gut, das Entgegengefekte ale 
böfe empfunden werden. Und auch jene Rüdfiht, welche den Ari- 
ftoteles bewog, eine Trennbarkeit der vernünftigen von ber nichts 
vernünftigen Seele anzunehmen, die Trennbarfeit derfelben vom 
Leibe, ſcheint nicht durchaus enticheidend gegen dieſe Anficht. Auch 
wenn die vernünftige Seele nicht ein und daſſelbige Wefen wäre: 
mit dem phofifchen Lebensprincip, müßte fie bei der Trennung vom 
Leibe fehr Vieles von dem, was, fo lange fie im Leibe lebt, ihr 
Dafein mitconftituirt, gleichfam von ſich abftoßen, und doch glaubt 
man, daß bie Identität des Weſens erhalten werde, Sollte denn 
nicht. auch die fireng. einheitliche Seele, die wohl ihren Leib weit 
mehr felbft hervorbringen, ald aus bemfelben rejultiven würde — 
follte fie nicht fich ganz über die gegenwärtige Eriftenz erheben 


176 Nomang, 


fünnen, ohne die innere Jdentität ihres Weſens aufzugeben? Wer 
überzeugt ift, daß die Seele: ſich wiederum verleiblichen werde, 
der muß jedenfalld der von dieſem Leibe trennbaren die Fähigkeit 
der Anbildung eines neuen Leibes zufchreiben, alfo wohl ebenfo- 
viel auf das phyſiſche Leben Bezügliches beilegen, als ihr nad der 
bier in Frage ftehenden Anficht zu ber nicht eigentlich vernünftigen 
Lebensſphäre Gehöriges inhäriren würde, Gewiß hängt die Fort 
dauer der Eeele nit ab von ihrem Verhältniß zum phyſiſchen 
Lebensprincip. 

Uebrigens verhalte es ſich hiermit, wie ed wolle, die Be⸗ 
ſtimmung des Sittlichen, foweit eine ſolche ganz im Allgemeinen 
gegeben werben kann, würbe unter beiberlei Borausfegungen wes 
fentlich gleich ausfallen. Alle ſtimmen darin überein, daß bie 
Bernunft das eigenthümliche und eigentlichfte Wefen des Diem 
ſchen ausmache. Demnach können wir jedenfalls fo ziemlich der 
Spinsziftiihen Formeln und bedienen: Per perfectionem in ge 
nere realitatem intelligam; virtus, quatenus ad hominem refer- 
tur, est ipsa hominis essentia; per bonum intelligam id, quod 
certo scimus medium esse, ut ad exemplar humanae natur 
magis magisque accedamus. ut ift nur im einzelnen Falle, was 
bie Realität und Vollſtändigkeit des menfchlihen Weſens mitcon 
flituirt. Das vollftändige Gute aber, foweit ed in den Berad 
der Ethik als folcher hineinfällt, finden wir in der ganzen Bolb 
ftändigfeit des vernunftgemäßen menschlichen Dafeing auf der Erde, 
wie diefelbe abgemeſſen worden ift Durch den, welcher dem Mew 
hen das Sein in feiner ganzen Beftimmtheit gefegt hat, und wie 
fie von dem erkannt wird, welchem die Idee dieſes Scins auf 
gegangen ift. 

Se nachdem ein Moment des ganzen menſchlichen Daſeins 
zu diefer Vollſtändigkeit mehr oder weniger beiträgt, in bemfelben 
Maaße kommt ihm auch fittlihe Bedeutung zu. Das eigentlich 
Sittliche wird jedoch nur anzuerfennen fein in der Die Idee dei 
menſchlichen Weſens völlig in ſich faffenden Realität des Geiſtes, 
und in der dieſes fubjective Wefen erplicirenden und auswirkenden 
That. Alles Andere hingegen hat für bie Sittenlehre eine dr 


Eine phyſiologiſche Anfiht von den fittlichen Dingen. 477 


beutung nur vermöge irgend einer vermittelnden Beziehung zu bie« 
ſem eigentlich füttlichen Weſen. 

Diefe Beftimmung bes Sittlihen ift allerdings nicht fo genau, 
ald zu wünfchen wäre, doch ftellt fie wohl einen nicht weniger 
gediegenen Inhalt dar, als die Formeln, welche die Sittenlehrer 
an die Spite ihrer Abhandlungen zu ftellen pflegen. Und für 
eine ihren Gegenftand in der Weife der Naturwiffenfchaft unter 
ſuchende Betrachtung eignet ſich kaum eine beffer. Denn auch bie 
normale Bollfommenbheit eines Naturgegenftandes würde nicht am 
beften erfannt und bargeftellt werden in einer fie nach abfiracten 
Merkmalen a priori beftimmenden und demgemäß den inhalt zer- - 
legenden, fondern eher in einer das concrete Wefen in durchdrin⸗ 
gender Anfchauung erfaffenden und nad) feiner Einheit und Man⸗ 
nigfaltigfeit befchreibenden Behandlung *). 


Unter dem mancherlei Unhaltbaren der gemeinen Borftellungs- 
weife in Hinficht auf die fittlichen Dinge ift namentlid aufgeführt 
worden die Art und Weife, wie das Sittengeſetz vorgeftellt wird 
als eine Negel, von welcher durchaus nicht zu fagen ift, wie bie 
Vernunft dazu komme, fich diefelbe vorzufchreiben, wie der Wille 
als vernünftiger ſich zu ihr verhalte, und worauf fie beruhe, ba 
fie nicht als Beftimmtheit eines Seins gefaßt werden ſoll. Zum 
nothdürftigen Umriß unferer Auffaffung des Sittlichen gehört, daß 
wir doch wenigſtens andeuten, wie baffelbe ſich und in biefer 
Hinficht darftellt. 

Nach der oberflächlich gefaßten Weife gemeiner menſchlicher 
Geſetzgebung denkt man fi unter einem Gefeg eine gebietende 





*) Das chriftliche Bewußtſein freilich kann dieſe Auffaffung nicht 
‚gelten laffen, fo lange die Gegenfäbe nicht gehoben find, welche 
in den eigentlich veligiöfen Fragen zwifchen ihm und dem natür⸗ 
lichen Bewußtfein beftehen. Zwar würde gerade die tieffte Faſ⸗ 
fung der eigenthümtich chriftlihen Sittenlehre, wie fie durch 
Harleß fi) Bahn zu machen anfängt, in gar vielen Dingen mit 


178 Romang, 


Vorſchrift, die als foldhe nur noch die vorausgedachte Beflimmung 
eines Seind würde heißen Fönnen, zu welcher aber das wirkliche 
Sein erft hinzufommen fol in der fie erfüllenden Wirklichkeit. Auf 
dem Gebiet der Natur trennt man jedoch das Geſetz weniger von 
dem wirflihen Sein. Hier würde man wohl nicht viel einwenben 
gegen die Erklärung: das Geſetz fei für jedes Geſetzmäßige bie ke 
ftimmte, feftftehende Weife feines Dafeind. Wo eg für irgend eine 
Eriftenz eine peftimmte Norm und Weife des Werdens und Seins 
giebt, ift diefe das Gefeg, und wenn feine folhe angenommen wer 
den zu können ſcheint, fo wird die Sache als zufällig und gefeplos 
angefehen. Auf biefem Gebiet denkt dann wohl auch niemand im 
Ernfte. daran, das Geſetz anderswo zu fuchen, als, wenn ad 
nicht nach feiner Bollftändigfeig in der einzelnen Erfcheinung, doch 
in der Gefammtheit des beftimmten Gebiets, und zulegt überhaupt 
des natürlichen Seins. Bloß in der jeweiligen Erfcheinung fl 
nicht das ganze Gefeg, felbft wenn fie demfelben durchaus ent 

. fpricht, z. B. nicht in dem Fallen eines beflimmten Körpers ik 
bie ganze Wirklichkeit des Gefeges der Schwere gegenwärtig. Aber 
diefe ift auch nicht außerhalb der Gefammtheit ber gravitiren 
den Körper, fondern ift in biefer Beziehung eben“ ihrer aller 
gemeinfchaftliche Weife und Dafeinsbeftimmtheit. Und wenn be 
einem organifchen Wefen dem Bildungsgefe nicht Genüge ge 
ſchehen ift, fei e8 eingetretener Störungen wegen, fei es, weil bie 
Entwidlung fonft nicht weit genug fortgefchritten iſt, fo ift aller 
dings die reale Wirklichkeit des Geſetzes hier nicht vollſtändig 


der unfrigen übereinffimmen, von dem Punkte an, wo die Wie 
dergeburt vor ſich gegangen wäre, das Princip des criſtlich 
Guten in dem natürlichen Menfchen fich feſtgeſetzt hätte. Wllein 
das Gute ift auf diefem Standpunkte ein Göttliches, währen? 
das natürlidy fittliche Bewußtſein, auch als wirklich fittliched, 
zuerft gewiffermaßen gottlos fein ann, und wenn auch dieje 
Einfeitigkeit bei vollfländigerer Entwidelung des natürlichen 
Bewußtfeinsgehattes fid) verlieren muß, fo wird doch die drif: 
liche Ethik ftetd ein anderes Gut zu haben behaupten. 


Eine phyfiologifche Anficht von den fittlichen Dingen. 179 


in der einzelnen Erfcheinung vorhanden, fondern ſcheint außerhalb 
derfelben angenommen werben zu müffen. Doch wird auch bier 
niemand das Naturgefet als etwas nur Ideales vorftellen, und 
auch nicht ihm eine Realität zufchreiben außerhalb der Gefammts- 
beit der unter ihm ftehenden Erfcheinungen. Auch in der hinter 
ihrer Idee zurüdgebliebenen Erfcheinung ift das Geſetz zugegen, 
nur iſt es in feiner vollen Wirkfamfeit irgendwie gehemmt wors 
den. Immer und überall ift das Naturgefe zu denfen als die 
reale Macht der beftiimmten Exiſtenzen, welche dieſe, gemäß ihrer 
Einordnung in die Gefammtheit des Seienden, fowohl in ihrem 
Werden als in ihrem Dafein trägt und beberrfcht. Das Gefeg 
it alfo vealiter in jeder einzelnen Erfcheinung gegenwärtig; eben 
fo nothwendig aber greift es auch über jebe hinaus, als Die bes 
berrichende Macht aller zufammen, So ift auf dem Naturgebiet 
das Geſetz die feſte Beflimmtheit des Seins. Und bei einiger 
Meberlegung wird man auch zugeben, daß felbft das zuerft als 
bloß vorausgedacdhte Beftimmung eines noch nicht wirklichen Seins 
fich darftellende von Menfchen gegebene Gefeg, die anfcheinend 
nur noch in Gedanfen gefegte Beflimmung einer erft zu erwar⸗ 
tenden Wirftichfeit — daß auch dieſes Geſetz, ſobald ihm eine 
reale Bedeutung zufommt, fchon bei feinem erften Hervortreten 
die fefte Beftimmtheit des Willens oder der Macht ift, welche das 
Daſeinsgebiet beherrfcht, dem das Gefetz gegeben wird. Auch 
bier ift das Geſetz gleich von Anfang Fein bloßes Sollen, dem 
nicht auch ein Sein zufäme, fondern vielmehr der beftimmt for⸗ 
mulirte Ausdrud eines realen Seins für dag gemeinfame Des 
wußtfein. | 
In ganz entfprechender Weife ift denn auch das Gittengefeß 
aufzufaffen. Es ift eben ganz und gar nichts Anderes, ale die 
reale Beſtimmtheit des fittlichen Weſens felbft *). Wo fittliches 
Wefen fih findet, da iſt-das Sittengefeg ald die Weife dieſes 
Seins, und außerhalb des realen Guten ift Tein Sittengefeb, ſon⸗ 
*) Vergl. Schleiermacher über den Unterfchied zwifchen Natur» und 
Sitfengefep, der Akad. d. Will. in Berlin vorgelefen. 1825. 


180 Romang, 


dern nur Borftellung und gedanfenmäßiger Ausdruck defielben, 
Zunächſt ift für ung feine Gegenwart und Wirklichkeit da, wo es 
zum Bewußtfein kommt, in der menſchlichen Seele felbft, als die 
Beftimmtheit des reinen fittlihen Triebes, deffen Einwirkung auf 
das Bewußtfein die fittlihe Wertbfehägung erzeugt, und dami 
das Wiffen um das Geſetz. Ob das Bewußtwerden des Gefeges 
feine alleverfte Wirklichkeit im fittlihen Subjekt fei, bürfte noch 
bezweifelt werden, unbeftreitbar jedenfalls ift fhon im Bemußt 
werden bes Gebotes felbft eine wirkliche fittliche Nealität, ein 
eigentlihes Dafein des Guten gegeben, obſchon nur ein unvols 
fländiges, wobei die Eriftenz, in welche die fittliche Realität hereins 
greift, im Ganzen ihr unangemeffener fein kann, als eine andert, 
in der das Bewußtſein des Geſetzes fehlt. 

Hier zeigt fih nun, wie fehr muß Ernſt gemacht werben 
mit jener Aeußerung Kante, „daß das GSittengefeg bloß das 
Selbftbewußtfein der reinen praftifchen Vernunft fein möchte”. Es 
ift ohne Zweifel, fo wie es dem fittlihen Subjeft zum Bewußtſein 
fommt, gar nichts Anderes, und nur der Wille des niedern Be 
wußtfeind bat fich ihm zu unterwerfen, der vernünftige Wille his 
gegen, als die reale Energie der Vernunft, hat fich nur geltend 
zu machen, und der ganze fittliche Entwirfelungsproceß, vom erflen 
Bewußtwerden des Geſetzes bis zur volftändigften Erfüllung feiner 
Forderung, ift ein einziger Verlauf des ſich im menfchlichen Wefen, 
und zwar im Gegenfage zu dem, was in biefem, und überhaupt 
in den Dingen, nicht ſittlich ift, entfaltenden fittlichen Triebes, oder 


der realen Bernunftenergie. Und gewiß wird eine Auffaffung, die | 


in baltbaren Borftellungen die Sache ergreifen will, fich weit mehr 
an die Analogie phyfifcher Procefje halten müffen, als man zur Zeit 
noch mit der Dignität des Sittliden verträglic zu halten fcheint, 
wobei es übrigens für das Verſtändniß der einzelnen Momente 
nicht eben fehr viel Darauf anfommen wird, ob eine Zweiheit ber 
Principien im menfchlihen Weſen vorausgefegt werde, oder eine 
wefentliche Einheit des Niedern und des aus diefem fich entwideln- 
den Höhern, denn auch nach der letztern Annahme ift das Sin⸗ 


Eine phyſi ologiſche Anſicht von den ſittlichen Dingen. 181 


he eine Realität, die nach feſter Weſensbeſtimmtheit ſich ent- 
ickelt, und das Niedere abftößt oder es ſich unterwirft *). 

Nach dieſer Grundanſchauung iſt die Sittenlehre eine in ganz 
mlichem Sinne reale Wiſſenſchaft, wie die Naturlehre, und wohl 
nzig von einem ſolchen Standpunfte aus ift ein veales Wilfen 





*) Der bier entwicelten Anficht werden manche audy deßwegen uns 
geneigt fein, weit bei diefer Fdentificirung des fittlichen Willens 
mit dem Princip des doch in feiner Weife die ſtrengſte Noth⸗ 
wendigfeit ausdrückenden Sittengefeged die Freiheit preisgeges 
ben werden müſſe. Allerdings würde diefe Anficht nicht aus» 
gefprochen werden, wenn ber Verf. die Auffaffung der Freiheit, 
welche er in der Schrift: Willensfreiheit und Determinismug, 
Bern bei Jenni 1835, entwidelt, und auch in feine natürliche 
Rel.Lehte, Zürich, bei Schultheß 1841, aufgenommen hat, als 
widerlegt und unrichtig anfehen könnte. In diefer Beziehung 
wird auf die bezeichneten Bücher verwiefen. Hier foll nicht ber 
alte Streit immer von neuem verhandelt werden. Nur möchte 
der Verfaſſer befonders diejenigen feiner Necenfenten, die im 
Intereſſe der chriftlichen Frömmigkeit ihn zurechtweifen zu müffen 
glaubten, gerälligft nachzufehen bitten, wie Harleß, deſſen tiefe 
chriftfiche Sefinnung doch nicht in Zweifel. gezogen werden fann, 
fih in feiner chriftt. Ethik F. 11 und Anmerkung, über diefe 
Frage ausfpricht. Etwas Härtered, als diefer. Sittenlehrer, hat 
der Verfaffer wohl nicht gefagt und braucht nichts Härteres ans 
zunehmen. Gerade die gediegene theologifche Weberzeugung follte 
in diefem Stück nicht fpröde thun gegen unfere Anficht. Dem 
bloß gemeinverſtändigen Bewußtfein hingegen ift fein Widerſtre⸗ 
ben nicht zu verdenfen; es müßte aufhören, zu fein, was es iſt, 
wenn es nicht proteftiven follte. Und. doch ift diefes Bewußtfein 
ein auf feiner Stufe natürliches und geſundes. Die Dialektik 
unferer fpeßulativen Necenfenten hingegen wird einft noch all» 
gemeiner, als bereits jept gefchieht, als eben fo ungefund wie 
unnatürlicy erkannt werden. Wie gefund und wahr die Bröms 
migkeit fei, bei der man nicht gerechter und unbefangener 
wird, als jener Recenſent im Tholuk'ſchen Anzeiger 1843, wollen 
wir nicht unterſuchen. 


4182 Romang, 


von dem Eittlichen möglich. Doch mörhten vwoir nicht ganz nad 
einer, übrigens von ihm felbft fchon einigermaßen berichtigten, 
Aeugerung Schleiermachers *) ſagen: „von dem gleich allgemei— 
nen Begriff ift das Einzelne auf der Naturfeite eben fo fehr ab 
weichend, wie auf der Vernunftfeite”. Das Sollen herrſcht ohne 


Zweifel auf dem fittlihen Gebiete weit mehr vor über dad Een, 


als auf dem der Natur. Nicht nur ift auch bier das Gefeh nad 
feiner Gangheit nur zugegen in der Zotalität feines Gebiets, for 


dern das einzelne Individuum bleibt hier weit mehr zurüd hinter . 


der Vollftändigfeit feines Wefens, die fih dem Bewußtſein auf 
auf den untern Stufen der Entwidelung indicirt, felbft wenn es fe 
nirgends äußerlich verwirklicht gefchaut hätte. Ueberhaupt ſchei⸗ 
nen, der Grund fei nun, welcher er wolle, in den höhern Sphäre 
des Lebendigen häufigere Störungen flattzufinden, als auf ben 
niedern Dafeinsgebieten. Dann muß offenbar das Sollen auf 
dem Gebiete des Sittlihen auch deßwegen fidh weiter erfireden, 
weil die Grenzen dieſes irdifchen Dafeins nicht die ganze Befim 
mung bes fittlichen Wefend umfaffen, die Richtung aber, in web, 
cher die Entwicklung in's Unendliche fortzugehen hätte, fehen auf 
untern Stufen ziemlich deutlich erfannt werden mag. 

Dennoch ift auch bier jedesmal das Sollen nur am Een 
Das Sittengefeg ift die fubftanzielle Wefensbeftimmtheit alles ſin⸗ 
lichen ober vernünftigen Seins in feinem ganzen Gebiet, und zwar 
nicht nur in Hinfiht auf den abftractallgemeinen Gattungstypus, 
fondern zugleih in Rückſicht auf die Erfüllung deſſelben in der 
einzelnen Erfcheinung. 

Die Sittenlehre hat, als ſolche, zu ihrem Gegenftande mut 
das fittlihe Weſen und Leben oder die Vernunftwirklichkeit af 
‚der Erde. Doc kann das entwiceltere fittliche Bewußtſein nicht 
umbin, über diefe Sphäre hinauszubliden. 

Bon dem Geſetz eines beftimmten Naturgebiets würbe nicht 
anzunehmen fein, daß es eine Realität habe außerhalb feiner ber 
ftimmten Sphäre in ihrer ganzen Ausdehnung. Das fubftanziele 


5 Sittenlehre ©, 39. 


— — — — — . — — — 


Eine phyfiologifche Anficht von den füttlichen Dingen. | 183 


Bildungsgefeg eines beftimmten Thier = oder Pflangengefchlechte 
wird, als foldhes, feine Grenzen haben in der Umgrenzung bes 
räumlichen und zeitlichen Dafeins des Gefchlechtes felbft, in wel⸗ 
der es ohne Zweifel auch zu feiner vollftändigen Entwidelung | 
fommt, und in feiner Ganzheit wird es aufgehen und aufgehoben 
fein in dem Univerfalzufammenhang der allgemeinen Naturgefeh- 
lichkeit, aus der es hervorging, und durch die es beim allfeitigen 
Verſchwinden des Gefchlechts wiederum abforbirt werben wird. 
In ähnlicher Weife werden wir das Bildungsgefeg bes menfch- 
lichen Geſchlechts nach feiner bloß natürlichen Exiſtenz auffaffen 
bürfen. Das menfchliche Gefchlecht ift nicht von jeher gewefen, 
und wird, in feiner gegenwärtigen Weile, nicht immer fortbes 
Reben. Indeſſen wird das fittlihe Bewußtfein doch nicht Dazu 
gebracht werden können, anzunehmen, das fittlihe Wefen und 
Geſetz habe nur diefe relative Bedeutung, es fei ein mit dem 
Menſchengeſchlecht Entſtandenes, und mit dem Aufhören ber irdi- 
fchen Exiſtenz beffelben wiederum Verſchwindendes, in einer höhern 
Geſetzmäßigkeit ald untergeordnetes Moment Aufzuhebendes. Das 
zu tieferer fittliher Befinnung gefommene Bewußtfein vermag es 
fchlechterdings nur zu denfen als ein Abfoluted, Ewiges, nicht an 
die Eriftenz der menſchlichen Gattung Gebundenes. 

Den allgemeinften Naturgefegen 3. B. dem ber Gravitation, 
fchreiben die Naturforicher unbedenflih eine Geltung zu über die 
‚ganze Sphäre und Gefchichte des einzelnen Himmelskoörpers hin⸗ 
aus, ſo daß dieſelben nicht, wie das eigenthümliche Geſetz der 
dem einzelnen Himmelskörper eigenthümlichen Weſen und Daſeins⸗ 
weiſen, als erſt mit dieſem geſetzt anzuſehen ſein würden. Dem 
Sittengefetz aber muß nothwendig eine noch allgemeinere und höhere 
Geltung beigelegt werden. Es ift nicht nur kosmiſch, wie bie 
Schwere, fondern in einem weithöhern Sinn allgemein. Es ift nicht 
bloß in, es ift vor und über allem Zeitlihen und Räumlichen. 
Man würde wohl nicht unrichtig fagen Fönnen, es gebe eine 
mechanifche Weltorbnung durch das ganze Gebiet der Förperlichen 
Welt. Nicht ohne Grund aber iſt der Ausdruck moralifche Welts 
orbnüung weit mehr im Gebrauch. Das mechanifche Geſetz iſ 

Zeitſchrift f. Philoſ. u. ſpek. Theol. All. Band. 13 


184 Romang, 


nicht das wahrhaft ordnende. Hingegen ift es von allem Gewiſſen 
das Gewiffefte für den menfchlichen Geift, daß das Sittliche im 
menfchlichen Dafein nur eine Erfcheinungsweife ift von einem über 
alles Zeitliche und Räumliche erhabenen, alles Seiende nad der 
ihm eigenen allerhöchften Gefegmäßigfeit beberrfchenden Guten, 
Diefe Gewißheit gibt nicht die gemeine Anſchauung, nicht der 
bloße Berftand — das Bewußtfein gewinnt fie unter der Ei 
wirkung einer lebendigen Energie des realen fittlichen Triebes. 


Das fittlihe Bewußtfein weist in- diefen Indicationen p 
nächft hin auf eine nicht in der einzelnen Erfcheinung völlig af 
gebende, vielmehr über alles Endliche erhabene, nach der Analogie 
des Naturgefeges vorzuftellende und doc dieſes unendlich über 
.  treffende Realität des Sittengeſetzes. Es ift aber nicht zu dent, 

daß ſittliche Wefenheit beſtehen follte außer fittlihem Weſen, die 
fes aber hat wahrhafte Wirktichfeit nur in der Weiſe des wir, 
lichen Geiftes, oder, nad) dem Ausdruck, an den wir nun einmal 
gewieſen find, der Perfönlichkeit. Demnach ift das fittlidhe Ber 
wußtfein nicht anders vollftändig zu begründen, ale in dem Begrif 
eines perfönlichen Urhebers des Sittengefeges, eines Geiſtes, deſſen 
Wollen die Wefensbeftimmtheit der endlichen Geiſter geſetzt hat, 
und ber, bei ber über alle Relativität erhabenen Bedeutung bed 
Sittengefeges, nothwendig abfoluter Geift fein muß. In dieſer 
Weife ift der vollftändige Abſchluß des fittlihen Bewußtfeind, 
wenigftend beim gegenwärtigen Zuftande bes Wiſſens, die ficherfe 
Begründung ber Gewißheit des Daſeins Gottes *), 


*) Diefe Begründung des Glaubens an einen perfönlichen Geit 
darf ſich allerdings Beine Anerkennung verfprechen von Geite der 
neuern Spekulation. Doch kann die Herbeiziehung des ethiſchen 
Elements zu nicht eigentlich ethifchen Unterfuchungen nicht ohıe 
Unterfchied eine Trübung des wifienfchaftlichen Denkproceſſes gr 
nannt werden. Die praktifhe Seite des Geiftes wird gerak 
von Hegel ald ein von der theoretifchen nicht ſehr Werfchiedenet 
dargeftellt, und etwas ift doch auch wahr an dem Garteflanifce: 
ad judicandum requiritur voluntas. Weberhaupt follte bei dent, 


Eine phyſiologiſche Anficht yon den ftlihen Dingen. 485 


Damit ift nun aud) die Realität des Sittlichen erft vecht ents 
fchieden ausgeſprochen. Für ung ift dag Sittliche oder das Gute, 
und, als feine Weſensbeſtimmtheit, das Sittengefeg, zunächft vors 
banden im einzelnen Dienfchen. Es ift- aber das wahrhaft Reale 
in der ganzen vernünftigen Gattung, und, nach feinem tiefften 
Wefen, in der Totalität des Seind. Doch iſſt es auch in feiner 
allerhöchften Allgemeinheit Fein abfiract Allgemeines, auch nicht, 
nad jenem bei diefen Sachen einem leicht einfallenden Platonifchen 
Ausdrud, ein gleihfam Weberfeiendes, fondern in feinem lebten . 
Grunde das Weſen und Wollen deffen, der allem Seienden das 
Sein gegeben hat, der allein der wahrhaft Seiende und Gute if *). 

Diefe Beziehung auf das Abfolut-Gute wird aud die natürs 
liche Sittenlehre, fobald fie fich einmal zum DBewußtfein des letztern 
erhoben hat, fefthalten. Indeſſen kann fie diefelbe nicht, wie bie 
chriſtliche, überall hervortreten laſſen. Vielmehr hat fie fi, als 
mit ihrem eigentlihen Gegenftande, mit dem Guten im menfchli« 
hen Dafein, zu befchäftigen, welches fie nach feinem conereten 
Wefen, feinem Werden und Sein erflären und befchreiben fol. 


Nachdem die allgemeinfte Grundanfchauung verzeichnet wor⸗ 
den ift, fei es uns vergönnt, nun noch an einigen Beifpielen zu 
zeigen, wie unfere Auffaffung fi) zu einer natürlichen Beantwor- 
tung ſchwieriger ethifcher Fragen fehr bequem hergibt. 

Daß fittlihe Wefen wird, in ganz allgemeinfter Beftimmung, 
gefaßt als reale lebendige Kraft, deren Strebung, fo wie fie, 
was zur wirklich fittlichen Entwidelung allerdings .gehört, eine 
bewußte iſt, zum Begehren wird. Demnach fagen wir mit Spingza: 


welchen der Vorgang Kants noch etwas gilt, die Ergänzung des 
theoretifchen Bewußtſeins durch das praktifche nicht einer ängſt⸗ 
lichen Rechtfertigung bedürfen. 

*) Das Gittengefeb beruht weit mehr auf göttlicher Gefebgebung, 
als auf Selbſtgeſetzgebung der Vernunft, denn die endliche Ver⸗ 
nunft findet es als ein mit ihrem Sein Gegebenes. Dody ift 
ed als Wefensbeftimmtheit der praktiſchen Vernunft auch die 


eigene Forderung derfelben. 
. 43 * 


486 x Romang, 


cupiditas est ipsa hominis essentia, quatenus ex data quacur- 
que ejus affectione determinata concipitur ad aliquid agendum; 
"und: omnes affectus ad cupiditatem, laetitiam et tristitiam re 
feruntur. Bon diefem Gefichtspunfte aus wird ſich nun zunähk 
die Bedeutung der Luſt für die Sittenlehre genauer beftimmen laffen. 
Wenn das fittlihe Weſen, als Trieb ſich ſelbſt zu erhalten 
firebend, feiner eignen Förderung den Werth gibt, jede Werth 
gebung aber nur in einem Gefühle der Luft, des eigenen Befrie⸗ 
. digtfeing, zu Stande fommt, fo feheint die Luft, wenn auch, wie 
wir bereitd zu zeigen fuchten, nicht dag eigentliche fttliche Gute, 
doch ein Hauptelement des Sittlihen zu fein, wie benn in ber 
nahe jeder Sittenlehre fich die Luft irgendwie geltend gemacht hat, 
Wir werden die Momente, auf welche es bier anfommt, 
nicht richtiger und fchärfer faflen können, als Schleiermader *) 
fie beftimmt hat. „Das Sittliche wird geſetzt in ein fo und nikt 
anders Sein oder Thun des Menfchen, ober aber nicht in das 
-fo Sein oder fo Thun felbft, fondern nur in eine beftimmte Be 
fchaffenheit des Bewußtſeins von einem Sein oder Thun.” Die 
legtere Auffaffung iſt diejenige der Syfteme der Luft, benn bi 
Luft, als ſolche, iſt nicht Das Sein oder Thun ferbft, fondem 
nur ein Durch das Gefühl gegebenes Wiffen von einem Sein ober 
Thun. Wohl Fein Sitienlehrer hat das eine dieſer Momente gam 
überfehen, und niemand, der Darauf hingewiefen wird, Tann ver 
kennen, daß in. einem vollftändig entwidelten fittlichen Yebensme 
ment beides vorhanden fei, fowohl ein Sein und Thun, ald ein 
Bewußtfein von einem Sein und Thun, und zwar im wahrhaft 
fittlichen Zuftande ein befriedigtes Bewußtfein, eine Luft. Aber 
welhem Momente die Priorität zufomme und welches ihr Ber 
bältniß fei, follte genauer beftimmt werben, 
Nach unſerer Unterfcheidung ber niedern ſinnlichen Tricbe 
und des ſittlichen Triebes haben wir nicht erſt zu erinnern, dah 
wenigſtens Feine grobſinnliche Luft zum Guten gerechnet wird. 
Aber wenn auch bereitd an einer frühern Stelle gezeigt werben 


*) Kritik der Sittenlehre S. 53. 


Eine phyſiologiſche Anficht von den fittlichen Dingen. 487 


fonnte, daß der fittlidhe Trieb urſprünglich nicht nach deutlich be⸗ 
wußter Luſt hinſtrebe, ſo möchte dennoch die Befriedigung ſeines 
Bedürfniſſes das erſte Moment des Guten zu ſein ſcheinen. So⸗ 
viel jedoch iſt bereits klar, daß nur in wirklicher Energie des rea⸗ 
len Vernunftprincips das Sittliche anzuerkennen iſt, nicht aber in 
einem leidentlich ruhenden Gefühle. 

Zu einem vollſtändigen entwickelten ſittlichen Daſeinsmoment 
gehört beides, ein Sein und Thun, und ein Bewußtſein von Sein 
und Thun. Nach dem Grundſatz: nibil appetimus nisi sub ra- 
tione boni, ſcheint e8, nicht die Befchaffenheit eines Seins ober 
Thuns mache den Zuftand zu einem guten, da das Gute durch 
die Strebung gefucht werben würde als ein fcheinbar von ihr Ver⸗ 
fehiedenes, fondern eher werde das Gute beftehen in einer Att 
und Weile der Empfindung. Hingegen nad) der Formel: prop- 
terea aliquid bonum esse judicamus, quia id conamur, volu- 
mus, appetimus atque cupimus, muß nothwendig von der Bes 
flimmtheit des Seins und Strebens oder Thuns der Werth ab» 
bängig fein. Ohne Zweifel findet ſich eine Luft im wahrhaft fitt« 
lichen Zuftande, aber nicht nur wäre fie, abgetrennt vom realen 
Sein oder Thun der Vernunft, nicht das Gute, fondern, wie bie 
urſprüngliche Regung des fittlichen Triebes dem Bewußtſein feis 
ner Befriedigung vorausgeht, fo ift das Maag des Luſtgefühls, 
wie ſelbſt in den Spflemen der Luft anerfannt wird, nicht das 
Maaß des ſittlichen Werthes. Alfo ift die Luft felbft nicht das 
eigentliche. Wefen, ja nicht einmal das Hauptmoment des Guten, 

Es fheint zwar, gerade nad) unferer Auffaffung follte jeder⸗ 
jeit dem Grade des Sittlihgut-Seind der Grad des Lufigefühls - 
vollfommen entfprechen,, wenn doch das eigene Sein der Vernunft 
den Werth habe, dieſes aber, als Bernunftrealität, feiner felbft 
bewußtes Sein fei. Im zeitlichen Dafein des endlichen Geiftes 
findet jedoch diefes Entfprechen nicht immer Statt. Eine Luft, 
und zwar bie reinfte, findet fich ohne Zweifel bei der vollendet« 
ſten fittlichen Entwidelung, es wird aber keineswegs die lebhafs 
tefte Wefend- und Dafeins- Empfindung fein, denn diefe fcheint 
durch Gegenſätze und Contrafte bedingt, die nicht zur vollfommen« 


188 ' Nomang, 


fen Dafeinsweife gehören. Und bei ber befchränkten Capacttät 
des wirflichen wachen Bewußtſeins, welche niemals den ganzen 
Gehalt des wirklichen Seelefeind umfaßt, ift jedenfalls bald bie 
Luſtempfindung größer, ald — fogar auf dem Gebiet der nid 
fittlihen Werthſchätzung — der reale Werth des Zuftandes, ba 
aber auch geringer. 

Die Untrennbarfeit beider Elemente, ded Seins und des Thums 
einer= und der Luft andrerfeits, im vollfländig entwickelten fit 
lichen Dafein ergibt fih indeffen gerade auf unferm Standpurkte 
als etwas fehlechthin Nothwendiges. Die Tugend iſt nicht die Luk 
und ift nicht zu mefjen an der Luft, doch ift dieſe auch nicht nad 
den Stoifern ein.nur beiläufig Miterzeugted. Eher könnten wir 
dennoch auch in dieſer Sache den Ausfprud) Spinoza's gelten Iof 
fen: Beatitudo non est virtutis praemium, sed ipsa virtus; nee 
eadem gaudemus, quia libidines coercemus, sed contra, quia 
eadem gaudemus, ideo libidines coercere possumus *), 

Am richtigften dürfte, wie in Anfehung manches Anden, fo 
auch hierin, Ariftoteles das Wahre erblict haben, gefegt er fi 
nicht dazu gefommen, eine befriedigende Sittenlehre aufzuftelln. 
Zunächſt ſcheint er der Luft eine viel zu große Bedeutung einzu 
räumen, indem er bie Glüdfeligfeit als. das höchfte Gut darfell. 
Allein die Glüdfeligfeit ift ihm an fich felbft eine Energie, be 
Glückliche ift ihm der mit vollendeter Tugend Thätige **), um 
die Glückſeligkeit jelbft wird beftimmter erflärt als Die tugendge 
mäße (xar agernv) Energie des höchften Vermögens der Seele **). 
Mit diefer nun fei die Luft aufs Innigſte verbunden, aber ald 
die Vollendung ber Energie +), Teineswegs als Zwed oder Lohn. 
Nur darin würden wir nicht mit Ariftoteles zufammenftimmen 
fönnen, wenn er wirklich, nad) dem Wortlaut einer Hauptftelle H), 
bie Luft nur am Ende der Handlung erblidt, fie nicht ale ihre 


) Ethic. V, prop. 42. 
**) Ethic. Nicom, I, 10. 
“er, X, 7. 
1YX. a und 5. 
ID %X4 8. 


£ 


Eine phyfiologifche Anficht von ben fittlichen Dingen. 189 


fiete Begleitung in ihrem Fortſchritt erkannt hätte *). Wir glaus 
ben aber nicht, daß dieß feine eigentliche Meinung gewefen fein 
fönne. Er erkennt ja aud zu fchlechten Thätigkeiten gehörende, 
freilih eben deßwegen auch fchlechte, Lüfte an, und wohl felten 
würde von einer Thätigfeit behauptet werden können, fie fei auch 
nur in ihrer Art eine fchlechthin vollendete. Ohne Zweifel Liegt 
es im Geifte der Ariftotelifchen Auffaffung, auch bei der nicht gang 
vollendeten Handlung eine dem Grade ihrer Entwidelung entſpre⸗ 
- chende Tuft anzuerkennen, aber von dem jeweiligen Entwickelungs⸗ 
moment würde bie entiprechende oder eigenthümliche Luft in ges 
willen Sinne die Bollendung fein. Die eigenthümliche Luft jeder 
Energie befteht alfo in nichts Anderem, als in dem Bewußtſein 
ihres Weſens und Gedeihens, welches für jegliches Moment, und 
zuletzt für die höchſte Entwidelung ber Thätigfeit die Vollendung 
it. Und daß zwar wohldie reinfte, abernicht immer Die lebhaftefte 
Luft die vollfommenfte Sittlichfeit begleite, ift ebenfalls von Ari⸗ 
fioteles eingefehen worden, fonft würde er nicht die Wirkfamfeit 
ber theoretifchen Vernunft und die ihr eignende Luft darftellen als 
. bie vollendetfte Glüdfeligfeit, worin wir freilich nicht unbedingt 
mit ihm übereinftiiumen. Allerdings kann nach Schleiermacher **) 
gefagt werden, Ariftoteled begehre eigentlich die Luft nur als Probe 
und Bewährung einer zur Bollfommenheit gediehenen naturgemäs 
Ben Handlung. Doc zieht er fie nicht von außen herbei, als ei» 
nen der Tugend fremdartigen Probierftein, fondern fie ift ihm 
die nothiwendige Bollendung der Tugend in ſich felbit, fo daß 
man vielleicht nicht braucht mit jenem Kritifer- anzunehmen, bei 
Spinoza fei Die Berfnüpfung des Gefühle mit der Thätigfeit noch 
inniger, als bei Ariftoteles. Jedenfalls ift das Verhältniß diefer 
beiden. Elemente des Sittlichen in der bier dargeftellten Weile zu 
faſſen. 

Ebenſo leicht wird ſich von unſerer Grundauffaſſung aus das 
Sittliche genauer beſtimmen laſſen in Hinſicht auf einen andern 


*) Schleiermacher, Kritik d. Sittenl. S. 241. 
**2) Kritik der Sittenl. ©. 57. 


19 Nomang, 


von Schleiermacher nicht mit Unrecht unter die allerwichtigfen 
gerechneten Punkt, nämlih die Frage, ob das Sittlihe erzeu | 
gend fei, oder nur befchränfend, ob der fittliche Zuftand en | 
durch das fittlihe Princip ganz neu Hervorgebrachtes fei, ober 
nur eine eigenthümliche Beftimmung und Begrenzung eines be 
reits vor der fittlichen Entwidelung Vorhandenen? Bei den ver 
fhiedenften fittlichen Anfichten zeigt fi) bald eine überwiegende 
Hinnergung zu diefer Annahme, bald zu jener, doch durchgängig 
. auch eine gewifle Anerkennung fowohl von neuer Hervorbringung, 
als von Beſchränkung eines ſchon Vorhandenen bei jeder ſittlichen 
Entwidelung. 

Nach der legten Borftellungsiweife würde der Naturtrieb in 
der fittlichen wie in ber nichtfittlichen Handlung das einzige poß 
tiv Bewirfende fein, in der erftern aber durch die fittliche Potenz 
eine Beftimmung erfahren, von der buchftäblich zu fagen wäre: 
determinatio est negatio. Manche Sittenlehrer, und zwar vor 
nehmlich unter denjenigen, welche das Gute in die That ſetzen, 
haben fich ausgeſprochen, als wäre die Aufgabe des füttlichen Priw 
eips nur die Begrenzung und Ordnung der Naturtriebe, und wohl 
niemand wird fagen wollen, daß in der fitlihen Entwidelung 
feine Belchränfung des Nicht - Sittlihen Statt finde, in weldem 
Falle es dann freilich fchwerlich gelingen wird, nach der Forde⸗ 
rung Schleiermachers das Unfittliche in der Sittenlehre gar nicht 
zu berühren, fondern nur das Neinfittliche zu befchreiben. Ebenſo 
offenbar jedoch ift in jeder fittlichen Yebensentwidelung das fit 
liche Princip auch pofitio hervorbringend. Angenommen, die ugs 
türlichen Potenzen bilden nicht nur das Subftrat, auf welches im 
irdifchen Dafein die fittlihe Eriftenz fich gewiffermaßen zu fügen 
babe, fondern diefelben feien fortwährend wirkſame Kräfte im fir 
lichen Werk ſelbſt, fo daß in der fittlichen Lebensgeftaltung nicht 
fowohl etwas ganz Anderes, als vielmehr nur das Nämliche auf 
andere Weife geichehe, ale ber bloße Naturtrieb e8 bewirkt ha 
ben würde — ift denn nicht auch die zunähft als bloße Negation 
ſich darftellende Beftimmung des Naturtriebs eigentlich auch ei 
Pofitives, welches ein pofitio hervorbringendes Princip voraus 


Die phyfiologifche Anficht von den füttlihen Dingen. 491 
ſetzt? Auch abgefehen von unferer Grundanſchauung müßte biefe 


Frage befaht werben. Es wäre fchon eine Erzeugung und Her⸗ 


vorbringung zu nennen, wenn bereits vorhandene &lemente eine 
Ordnung und Geftaltung erhalten, die fie obne das fpäter erft 
fih wirkſam erweilende Princip nicht erhalten hätten. Und wie 
will man fi) eine haltbare Vorflellung machen von einem bes 
fehränfenden Princip, wenn baffelbe nicht in einer fein eignes We⸗ 
fen erzeugenden und ausbreitenden Wirkfamfeit hinzuträte zu dem 
zu Befchränfenden ? 

In Beziehung auf das der fittlichen Entwidelung vorausge⸗ 
hende Naturleben ift das Sittliche jedesmal befchränfend, felbft - 
wenn die Bewegung bed Naturtriebes nicht gehemmt, fondern nur 
in Beſitz genommen, und fpätere Abweichungen von. der richtigen 
Linie abgewehrt werben; in Hinficht aber auf die wirklich zu Stande 
gefommene Sittlichfeit ift es im wahrbafteften Sinne erzeugend. 
Nach unferer Auffaffung wird man es als überwiegend erzeugend 
anſehen müffen, obichon die jedesmalige Sittlichfeit auf's mans 
nigfaltigfte bedingt ift durch die Naturbeftimmtheit des. Subjects. 
Das bildende Princip des fittlihen Dafeins ift, felbft wenn es 
von demjenigen des natürlihen Lebens weſentlich verfchieden und 
zu diefem wie von außen berbei gefommen wäre, boch jedenfalls 
nicht eine dieſem äußerlich bleibende Schranke, fondern eine daffelbe 
in feinem Innerſten ergreifende und in ihren eignen Tebensproceß 
verwendende lebendige Kraft. Und wäre ed nur die höchſte und 


vollendetfte Entwidelung des ganz einheitlich zu faffenden menfche 


fichen Weſens, nach welcher in vollfommen gefunder Entwidelung 
alles und jedes hin tendirte, fo würde zwar diefer Bildungstrieb 
beichränfend einwirken auf jede, feinem Gefege fih in irgend ei⸗ 
ner Hinficht entziehen wollende Bewegung irgendwelcher zu dem 
ganzen Dafein gehörender Potenzen, feinem Wefen nad) aber 
wäre das fo zu faffende Sittliche erzeugend. 

Bringen wir und nun die Borftellung des Sittlichen als eis 
ner realen, lebendig ſtrebenden Kraft, fei es nach der bualiftifchen 
oder moniftifchen Vorausſetzung, zu beutlicherem Bewußtfein, fo 
ergibt ſich, wie von felbft, die natürlichfte Faſſung und Erklärung 


192 Nomang, 


der wichtigften Thatfachen des fütlihen Bewußtſeins, für welde 
die gewöhnliche, in abftracten Begriffen fich bewegende Anſicht 
feine Realerflärung, Feine wirklich denfbare Borftellung aufzuwei—⸗ 
fen hat. 


Schon im Anfange unferer Abhandlung haben wir erinnert, 
wie die gangbare Anfiht — und in biefer Hinficht findet fi) wer 
nig Befferes auch bei den tieffinnigern Philofophen — nicht zei 
gen fann, was das Sittengefeß fei, oder worauf eg beruhe, und 
wie fie ſich in unheilbare Widerfprüde verwidelt in Hinficht auf 
den fich felbft das Geſetz, gebenden und dann fich demfelben doch 
unterwerfenden Willen. Wie dagegen aus unferm Geftchtspunft das 
Sittengefeß ſich darftellt, it im Verlaufe der Erörterung bereits 
bargethan worden. Es verlohnt ſich aber, aud) auf das Bewußt⸗ 
werben des Gebotes, die Unterwerfung unter daſſelbe, und einige 
andere darauf bezügliche Bewußtfeinsmomente einen aufmerffamern 
Blick zu werfen. 


Dad zu entwidelterer Wirklichkeit gelangte Sittliche iſt wer 
fentlich bewußtes Leben; doch gibt es, wie fehon Andere erkannt 
haben, eine Region unter dem eigentlihen wachen Beruf: 
fein, der eine nicht unwichtige fittliche Bedeutung zufommt. Das 
Bewußtſein ift indeffen oft auch in einer den thierifchen Zw 
fland bereits weit übertreffenden Weife entwidelt, ehe das es 
gentlich ſittliche Element entſchieden hereintrit. Wenn nun über⸗ 
haupt ein Trieb — auch ein nicht dem ſittlichen Weſen angehoͤ⸗ 
vender — fich regt, fo daß das wache Bewußtfein dadurch ber 
ftimmt wird, fo ift die erfte Einwirkung des Triebes auf das Be 
wußtfein nicht fofort ein beſtimmt ausgeſprochenes Werthurtheil, 
fondern eine gewiffermaßen fchwebende und ſchwankende Gefühle 
beftimmung. Bei den niedern Trieben nennt man biefe erfte Res 
gung in der Region bes Bewußtfeins ein Sehnen. Es if ein 
zunächft meiſtens nur Teifes, erſt im weitern ‚Verlaufe an Ener 
gie zunehmended Regen und Tendiren zu einer beflimmten En 
widelung und Eriftenz, womit denn allerdings, wenn es nicht aus 
innerer Schwäche oder unter äußern Gegenwirfungen in fi fell 


Eine phyſiologiſche Anſicht von den ſittlichen Dingen. 498 


verſinkt, ohne langen Verzug ein Wohlgefallen, ein eigentliches 
Intereſſe und Werthurtheil entſteht. 

Die Aeußerung des ſittlichen Triebes verbietet nun freilich 
Fichte, der doch am entſchiedenſten das ſittliche Weſen als Trieb 
gefaßt hat, ausdrücklich, ein Sehnen zu heißen. Mit einem zu⸗ 
nächſt noch wenig heraustretenden, innerlichen Regen, das ſich 
dann als Tendiren in einer beſtimmten Richtung äußert, und ſo 
das eigentlich ſittliche Bewußtſein, das Bewußtſein des Guten 
und Böſen, erzeugt, wird indeſſen wohl die ſittliche Entwickelung 
anfangen. | 

Die nun bereits etwas beftimmtere fittliche Entwickelung ift 
allerdings weit entichiedener, ald dag Sehnen des nad) dem An⸗ 
genehmen firebenden Naturtriebes. Nicht zufällig iſt die Dezeich- 
nung Gewiffen — in den Sprachen der übrigen höher entwi⸗ 
delten Bölfer entfprechende andere — dafür entftanden, denn hier 
iſt etwas gleich von Anfang Gewiſſes. Nicht nur ein Wüns 
(den, Berlangen ift diefe erfte beutlichere Entwidelung des fitt« 
lichen Bewußtſeins, fondern ein unbedingtes Gebieten, ein Tate 
gorifher Imperativ. Diefer Allen befannte Unterſchied 
wird ſich nach unferer Auffaffung auch erklären laſſen. 

Die Strebung bder- niedern Lebenspotenz kann in der richtig 
fortichreitenden Gefammtentwidelung nicht als kategoriſcher Imperas 
tig mit unbedingt verbindlichem Gebot auftreten, denn es Fommt für 
bie vollffändige Entwidelung (das exemplar humanae naturae ) 
meiftens nicht fehr darauf an, ob ihre Realifirtung zu Stande 
komme, ja fie fol oft fich nicht ausbreiten, damit die richtige Ge— 
flaltung des ganzen Wefens nicht geftört werde. Deßhalb tritt 
dieſe Regung in das Bewußtfein herein als das, was fie if, als 
ein zitterndes, unficheres Streben, das alfo auch im Bewußt⸗ 
fein nur ein unficheres Gelüften, nicht felten mit dem Gefühl feis 
ner Nichtberehtigung, erzeugt. So wird fich biefer Proceß we⸗ 
nigſtens geftalten in einer nicht ganz einfeitigen Bewußtſeinsent⸗ 
widelung, in welcher auch höhere Potenzen fich zugleich geltend 
machen, während dem ganz rohen und unfittlihen Bewußtfein 
bie Strebung des unfittlichen Triebes, z. B. der Rachſucht, wo 


‚ (:) - Romang, 


Blutrache Sitte ift, oft zum eigentlichen Imperativ wird, an bei 
fen Berbindlichfeit zu zweifeln dem Menfchen nicht einfällt, 

Der fittlihe Trieb hingegen iſt die Energie des wahrhafte 
fien, tiefinnerlihften Weſens des Geiftes felbft, deſſen das einis 
germaßen zu ſich felbft gefommene Bewußtfein nicht wähnen fam, 
inne zu werden, als eines gleichgültigen Momentes, das all 
falls auch ohne wefentlihen Schaden zurüdbleiben könnte. Def 
wegen lautet die Kundgebung bes fittlihen Triebes gleich von 
Anfang fo wefentlich anders, fo unbedingt gebietend, feinen Ge⸗ 
genftand bezeichnend als von einem mit nichts Anderem zu ver⸗ 


gleichenden Werthe, deffen Schägung auch die Sprade vor jeder 


andern mit dem Ausdrud Achtung auszeichnet, 

Die gewöhnliche Auffaffung vermag feine genügende Erllä⸗ 
rung von dieſen Thatfachen zu geben, und hingegen ift der Im⸗ 
peratio Feine miraculos in den Lüften ſchwebende Erfcheinung, 
fondern diejenige Entwidelung des fittlichen Wefens, von welder 
aus der Natur der Sache erkannt wird, daß fie zuerft eintreten 
muß. Und fobald der Menſch über die Stufe der unterften Un 
mittelbarfeit und äußerſten Rohheit hinwegſchreitet, ſtellt fich we⸗ 
nigſtens in Anſehung der wichtigſten Momente dieſe Entwickelung 
ein. Vom Baume der Erkenntniß des Guten und Böſen haben 
Alle gekoſtet. Auch hier ſchon iſt das Sittliche ein Reales. Das 
auf dieſe Weiſe zum Bewußtſein gekommene Sittengeſetz iſt, wie 
wir oben dargethan haben, die Beſtimmtheit des hier bereits über 
das Niveau des wachen Bewußtſeins ſich emporhebenden ſittlichen 
Weſens. So iſt denn wenigſtens das Sollen rrklärt. 

Es ſoll aber bei'm Sollen nicht bleiben, das Sollen ſoll eine 
Wirklichkeit werden. Nach der gemeinen Anſicht weiß man gar 
nicht, was dem Sollen zu Grunde liege, und auf ſehr gedanken⸗ 
loſe Weiſe wird angenommen, daß der ſittliche Wille, von dem 
fie meiftend lehren, daß er fich felbft das Gefeb gebe, mit einer 
Sreiheit, die nichts Anderes, als Beſtimmungs- und Wefenlofig 
feit fein würde *), dem Geſetz ſich unterwerfe. Die Auffaffung 








f 


*) Auch diejenigen, welche dieß mit dem forgfältigften Fleiße zu ver 


Eine phyfiologifche Anſicht von den fittlihen Dingen. 495 


hingegen, welche das reale. Wefen des Sittlichen in feiner leben⸗ 
digen Entwidelung ergriffen hat, wird erkennen, daß es nicht eine 
und diefelbige Potenz ift, welche das Gefeg gibt, und bie fih ihm 
unterwirft, fondern daß die, als einheitliches Leben im Bewußt⸗ 
fein zufammengefaßt, ben nichtfittlichen Willen ausmachenden Triebe 
fi) dem fittlihen Wefen entweder unterordnen oder ihm widers 
fireben, wobei jeboh auch im letztern Falle die Anerkennung der 
nothwendigen höhern Geltung des Sittlichen fih erhält — daß 
alſo die Erfüllung des Gebots nur die weitere Entwidelung der 
naͤmlichen fittlihen Energie ift, die fich zuerft im Sollen äußerte: 

Wäre die fittlihe Entwidelung nicht eine in der Zeit fort 
fhreitende, fo gäbe e8 nirgends ein Sollen, fondern nur ein Sein 
des Sittlichen. Für Gott felbft gibt e8 Fein Sollen und das crea⸗ 
türlihe Bewußtfein würde wenigfteng Fein Sollen erfennen, wenn 
gleih mit Einem. Male die ganze Entwidelung, zu ber es eine 
Möglichkeit und einen Trieb in ihm gibt, ganz und vollftändig 
bervorträte. In der allmähligen Entwidelung aber entfteht noth- 
wendig das Sollen, neben welchem bie hinter der zum Bewußt⸗ 
fein gelangten Tendenz des Triebes aurüdgeblicbene Entwidelung 
als ein Unwerth erjcheint. 

Im vollftändigern Fortſchritt der Entwidelung wird dad, was 
zuerſt als Werben=- und Gefchebenfollendes erfannt wurde, gu 
einem Seienden. Dann fommt, fo weit dieß geſchehen ift, das 
ſittliche Bewußtſein zu feiner Befriedigung. Hier ift ſittliches Wohl⸗ 
gefallen — in Hinficht auf die fremde Eriftenz fittlihes Lob, in 
Anfehung des eignen Seins das gute Gewiſſen. Umgekehrt 
aber befteht das böfe Gewiffen in garnichts Anderem, als in 
einer tiefen Verlegung des fittlihen Triebes, in ähnlicher Weife, 
wie auch andere Triebe fi verlegt fühlen, und je nach dem Maaß 
ihrer Wichfigfeit für den Bewußtſeinszuſtand, und ihrer jeweiligen 
Energie, eine mehr oder weniger burchbringende Unzufriedenheit 
mit dem Gegenftande und mit dem eignen Zuftande erzeugen, 

meiden fuchen , fallen immer wieder in die Vorftellung des gemeis 


nen Bewußtſeins zurüd, wie Harleß und die neusfpeßulativen 
Freiheitstheorieen. | 


196 . Romang. 


Das böſe Gewiſſen zeigt ſich daher nicht überall, wo es ein⸗ 
treten follte, nämlich dann nicht, wenn bie fittliche Entwickelung 
in Stumpffinnigfeit oder Verwilderung ganz erdrüdt worden if, 
alfo das von dem entwideltern fittlihen Bewußtſein als Nichtfein 
follendes Erfannte gethan, von dem Thäter aber nicht als foldes 
empfunden wird, weil das höhere Princip fi) in ihm noch nicht 
regt. Früher oder fpäter tritt jedoch das böfe Gewiſſen meiftend 
ein, wo in höherm Maaße Böfes gethan worden ift, denn zu 
einigermaßen menfchlichen Eriftenz gehört wenigſtens in ben Haupt 
beziehungen des Sittlichen eine fo weit gehende Entwickelung, daß 
die Mipbilligung entftehen muß. Wie aber das Sollen des fits 
lichen Triebes unbedingter gebietet, fo ift Denn auch Die durch feine 
Verletzung erregte Unzufriedenheit burchbringender, zerreißenbe, 
als jene andere, weil es ſich hier um das innerfle Wefen und 
. Sein des Geiftes handelt, ift aber dieß doch nur in dem Ber 
hältniß, wie eine kräftige ſittliche Energie hereingreift in einen 
verderbten Zuſtand. Geringe Seelen find auch der höchſten Ber 
unruhigung des Gewiſſens nicht recht fähig. Hingegen wenn in 
einer reich auegeftatteten Seele eine fpät aufgeregte bedeutende 
Energie des Eittlihen fi gegen die verhärtete Rinde erhebt, 
welche in einem langen unfittlichen Leben fih um den innern Kera 
gelegt hat, dann mag das böfe Gewiffen beinahe zur Zerfpren 
gung des Dafeins ausſchlagen. 

Leicht ift auch einzufehen, wie von unferm Standpunkte aus 
noch manche andere Erfcheinungen des fittlichen Bewußtfeing, z. 2. 
bie verfchiedenen Schattirungen der Reue und Selbfibilligung, dad 
Erftarfen der Stimme des Gewiflens, gleich nachdem Die unſit⸗ 
liche Begierde ihre Befriedigung gefunden hat, die auf die bittere 
ften Bußfämpfe folgenden Gefühle der Befeligung u. dgl. m. ihre 
natürliche Erklärung, und nad ihrem Werth und Unwerth ihre 
Würdigung finden würden. Jegliche pſychologiſche Erfcheinung 
ift auch in ethifcher Beziehung immer zu begreifen aus dem Zu⸗ 
fammenfein der verfchiedenen höhern und niedern Elemente ded 
menſchlichen Weſens, die unter beftimmten Bedingungen in de? 
Bewußtſein hereintreten, aber niemals alle zugleich Hollftändig von 


⸗ 


Eine phyfiologifche Anficht von den fittlihen Dingen. 4197 


bemfelben umfaßt werben, ſich auch nach beftimmten pfycholo- 
giihen Gefegen gegenfeitig emporheben und niederbrüden, fo 
dag auf die Erfchöpfung eines Triebes, 3. B. des unfittlichen in 
der böfen That, fofort der entgegengefebte das wache Bewußtſein 
wenigftens vorübergehend ganz erfüllen Tann, weßhalb dann Neue 
und Selbftzufriedenheit oft nicht dem wirklichen Werth des Zus 
ſtandes entiprechen, wie dies fchon in Beziehung auf die Luft über- 
- Haupt gezeigt worden ift, zu welcher dieſes Bewußtfein von dem 
eigenen fittlichen Zuftand ebenfalls gehört. 

Gegen die Auffaffung des Guten als des poſitiven Bernunfte 
lebens pflegt eingewendet zu werben, das Böſe fei nicht in die 
nichtvernünftige Natur bineinzuverlegen, fondern gehöre dem geis 
fligen Gebiete an, und es fei nicht, wie es nach dieſer Auffafjung 
ſein würde, ein nur Negatives. Was das Erfte anbelangt, ift 
mit Zurückbeziehung auf das oben über das Gute Gefagte, zu 
bemerken, daß es ſich nicht verlohnt über den Ausdruck zu ſtrei⸗ 
ten, daß man jedoch das Böſe wohl ebenfo wenig, wie den Irr⸗ 
thum, im Ernfte wird als pofitive Vernunftthätigfeit anfehen wol⸗ 
ken, Bernünftigfeit aber und höhere, veine Geiftigfeit faum etwas 
wefentlich Berfchiedenes fein werben. | 

Indeſſen ift nur defwegen, daß wir dad Gute ald die Rea⸗ 
lität des Vernünftigen erfannt haben, das natürliche Sein und 
Wefen feineswegs fofort und ale ſolches böſe. Es ift zunächft 
nur das Nicht-Gute, aber an fi) nur im Sinn des Indifferenten, 
Werthloſen, welhem Werth oder Unwerth nur zukommt, je nach⸗ 
dem es fich fördernd oder hemmend zum vernünftigen Leben vers 
hält. In denjenigen Sphären, wo Feine pofitive Vernunftthätig⸗ 
feit eintreten fann, ift wie das Gute, fo aud das Böfe nicht vor⸗ 
handen. Wenn wir oben das Böfe in allen feinen Erfcheinungen 
richtig auf irgend eine Art der Eigenfucht zurüdgeführt haben, fo 
wird es, felbft in feiner zunächſt am meiften geiftig fcheinenden 
Gefalt, an der natürlichen, als finnlihe Einzelheit beftehenden 
Eriftenz haften. Es wird aber weder zu fegen fein in das Sein 
und Thun des Natürlichen an ſich, noch in dasjenige des Geiſti⸗ 
gen, fondern in die Berfehrung des richtigen Verhälmiſſes beider 


198 Romang, 


im finnlid vernünftigen Wefen, in die Abweichung von der Norm 
des exemplar naturae humanae, welche einerfeitd als abnorme 
Erhebung des Natürlichen, andrerfeits ald Verkehrung und Zu 
rüdbleiben des Verrünftigen, niemals aber ald pofttive Wirkſan⸗ 
keit dieſes letztern zu faſſen ſein wird, ebenſo wenig, als die 
Krankheit und Ungeſtalt des phyſiſchen Organismus eine poſitive 
Wirkung des geſunden Bildungstriebes iſt. 

Damit ergibt ſich denn auch, daß das Böſe ung nicht ein 
nur Negatives ift, gelegt es könne auch aufgefaßt werden ald 
das noch nicht gewordene Gute. Ob der pofitive oder der nega⸗ 
tive Ausdrud gebraucht werde, ift überhaupt nicht fehr wichtig. 
Nur das Abfolute ift durchaus pofitiv, und zwar auch dieſes mehr 
dem inhalt, den man dabei zu benfen bie Intention bat, ald dem 
Ausdrud, ja felbft der logiſchen Gedanfenform nach. Auf dem 
Gebiet des Endlihen Hingegen ift in der negativen Bezeichnung 
immer ein pofitiver Gehalt, und umgefehrt fchließt die pofitive 
Beitimmung immer eine Negation in fih. Bei unferer Anfiht 
bleibt dem Böfen eine nicht geringere Pofitivität in feiner Sphän, 
als der Krankheit und dem Verderben des natürlichen Drganismıd 
gegenüber feiner normalen Entwidelung. Wenn auch vielleidt 
gewiffen mit diefer Anficht von dem Sittlihen mehr oder weniger 
verwandten religionswiflenfchaftlichen Vorſtellungen mit einigen 
Schein def Wahrheit möchte vorgeworfen werben, daß fie dem 
Böſen in der Gefammtheit des Seins Feine recht pofitine Beber 
tung zu bewahren vermögen, fo trifft dieß doch nicht die gatz 
innerhalb der Grenzen ded gegenwärtigen menſchlichen Daſein 
ſich haltende ethiſche Betrachtung. 


Bei dieſer fo imigen Beziehung des Guten, auf das Boͤſe iſ 
es nun vollends Mar, daß die Sittenlehre nicht, wie Schleier 
macher es wollte, das Böfe ganz aus dem Streife ihrer Erörteru⸗ 
gen ausſchließen Tann. Das Gute ift allerdings der eigentliche 
Gegenftand der GSittenlehre. Allein die ethiſche Seite im menſq⸗ 
lichen. Dafein iſt nicht zu einer beftimmten, anfchaulichen Borkth 


Eine phyfiologifche Anficht von den fittlichen Dingen. . 189. 


Iung zu bringen ohne Bezugnahme . auf das Böfe, und bie Be- 
arbeitung der Sittenlehre ift ohne. Zweifel die fruchtbarfte, welche 
auf jeder. Stufe und auf jeder Seite jedes der fittlichen Beurthei⸗ 
lung unterliegende Moment am richtigſten begreifen und würbigen 
lehrt. Gewiß gehört es nicht nur nicht zu dem Unintereffantern, fon- 
bern audy nicht zu dem praftifch Unfruchtbarften, bie Beziehungen 
und Affinitäten des Natürlichen und Sittlichen, der einzelnen Leiden- 
fhaften und Tugenden, auf jeder Entwidelungsftufe zu erfennen, 
in welcher Hinficht wiederum bei Spinoza wenigftend die Anfänge 
der fruchtbarften Behandlung am erſten zu finden fein dürften, 
Unſerer auch auf dem eigentlichſt ſi ſittlichen Gebiete einen ge⸗ 
wiſſermaßen phyſiologiſchen Charakter feſthaltenden Behandlungs⸗ 
weiſe entſpricht es überhaupt, bei jeder Unterſuchung von der 
Naturbaſis auszugehen. Allerdings aber wird es ihr dann aͤußerſt 
ſchwer werden, ſich innerhalb beſtimmter Grenzen zu halten. Die 
Unbeftimmsheit ber Abgrenzung der einzelnen Gebiete ift eine Un⸗ 
vollfommenheit jeder Darftellung; fie ift aber.bei dem gegenwär« 
tigen Zuftande bes Wiffens überhaupt und unferer Wiffenfchaft im 
Belondern nicht ganz zu vermeiden. Auch Chalybäus würde nad) 
feiner früher mitgetheilten Skizze. wenigſtens in ber unterften 
Sphäre gar Manches zu erörtern haben, was mehr der Natur- 
wiflenfchaft als der eigentlichen Sittenlehre anzugehören fcheinen 
dürfte. Bei ung müßte freilich nicht nur auf einzelnen Punkten, 
fondern durchgängig diefe Beziehung auf die Naturbafis mehr oder 
weniger hervortreten. Namentlih im Rechts - und Staatsver⸗ 
hältniß ift das phyſiologiſche Moment von großer Bedeutung. 
Und wie viel intereffanter, als Die gewöhnliche, ſowohl die poſitiv 
geſetzliche, als die abftract Liberale, diefe Behandlung werden 
Eönnte, die bei der Nachweiſung der naturgefeglichen Proceffe doch 
das wahrhaft Sittlihe ebenfalls anzuierfennen ‚weiß, zeigt das 
Büchlein, worin Leo zuerft einen Berfuch diefer Art gemacht hat. 
Nicht um vieles leichter, als die Abgrenzung gegen die Naturs 
feite des Daſeins, wird aber auch auf unferm Standpunfte bie 
organische Gliederung der Sittenlehre wahrhaft gelingen. Die 
Schleiermacher'ſche Kritik der Sittenlehre verdient ohne Zweifel 
Zeitſchrift f. Philoſ. u. ſpek. Theol. XII. Band. 44 


490 Romang, 


auch in Hinficht auf die Syftematifirung von jedem Bearkeie 
diefer Wiflenfchaft beachtet zu werden. Daß jedoch die Bearbei⸗ 
tung des ganzen Stoffes zugleich nad dem Güter, dem Tugend: 
und dem Pflichtbegriff zuträglicd fei, davon leiſtet das eigen 
Spftem dieſes Sittenlehrerd nicht einen überzeugenden Beweis, 
Die Hauptbegriffe hat er im Wefentlichen wohl unübertreffbe 
richtig beftimmt, aber es ift doch auch Elar, daß die Pflichtforme 
ihren Inhalt nur gewinnen kann in einer vorausgehenden Ex 
kenntniß des realen Sittlihen, fei es nun, daß baflelbe gefaßt 
werde ald Tugend, oder als Gut. Diefe Behandlung, bloß fir 
fih allein, wäre nicht geeignet zu einem realen Wiffen von dem 
Gegenftande zu führen, und wo eine Güter⸗ oder Tugendlehre 
vorausging, wird die nachfolgende Pflichtenlehre nichts Reale 
hinzufügen, fondern wird nur in einer Zufammenftellung vom 
Formeln für die einzelnen Thätigfeiten beftehen. 

Diefe Begriffe müſſen freilicd, ihre Bedeutung behalten. Di 
nach einer realen Erfenntniß ihres Gegenftandes ringende Bearber 
tung ber Sittenlehre wird fich jedoch nicht Durch üblich geworben 
Auffaffungsweifen und aͤußerliche Beziehungen beflimmen laffen 
fondern, wie bie Naturwifienfchaft, in Das Wefen des Gegenſtandes 
bineindringend in diefem erfchauen und demgemäß naturgeiren be 
fchreiben, wie ſich derſelbe aus feinem einheitlichen Princip heran 
in feine Mannigfaltigfeit zerfälle. Ueberall ift jedoch diefe richtige 
Eintheilungsweife äußerft ſchwer. Saum werden auf dem Gebiet 
der eigentlichen Naturwiſſenſchaft Biele fi) rühmen können, de 
Zerfällung der Wefenseinheit ihres Gegenftandes in die Biekpek 
feiner Momente vollfommen erſchaut zu haben, fo daß fie Ne 
- felbe nach ihrer in einem höchſten Princip begründeten inzen 
Nothwendigfeit nachzuweiſen im Stande wären. Eher gelingt es 
wohl, ſelbſt die unvollftändigen Fragmente vorweltlicher Knocher 
gerüfte zu einer von außenher zufammengebrachten Einheit 
fammen zu ſchauen und. zu ordnen, wie denn fchon Plato wußte) 
daß man leichter von unten hinauffteigt bis da, wo ber ra 


% Piato, Rep. VL ©. 511. 


Eine phyſiologiſche Anficht von den fittlichen Dingen. 4194 


liche Anfang fi) befinden muß, als dieſen wahrhaft erfaſſend von 


obenher das Ganze durchſchaut. 

Die in jener mehrmals berüdfichtigten Abhandlung von Cha⸗ 
Iybäus angebeutete Theilung wird wohl ſchwerlich zu einem voll 
fommenen Syſtem unferer Wiffenfchaft führen, und auch auf dem 
Wege zu diefem Ziel faum nur die Behandlung fehr erleichtern. 
Nicht erft im legten Abſchnitt, wo das Verhaͤltniß des fittlichen 
Weſens zu Gott abgehandelt werden foll, darf vom Guten im 
engern Sinne die Rede fein. Es dürfte ‚diefer Behandlung ers 
gehen, wie meiftens denjenigen Arbeiten, welchen fie ſich anſchließt, 
daß gleich zuerft ſchon von dem Yebten und zuletst noch von dem 
Erften geiprochen wird, das zufammen Gehörende nicht recht zu⸗ 
fammen, das zu Trennende nicht recht auseinander will, und eine 
wahre Anfchaulichfeit der Erfenntniß nicht erreicht wird. 

Allerdings ift ein gänzliches Audeinanderreißen und Vonein⸗ 
anderhalten nicht anzuftreben. Schon auf dem Gebiete des Phyſiſch⸗ 
Drganifchen greifen die zu unterfcheidenden Syſteme überall in 
einander hinüber, und nod weit mehr muß nothwendig auf dem 
Gebiete des Geiſtigen, dieſer allertiefften Innerlichkeit, gewiſſer⸗ 
maßen Alles in einander ſcheinen und ſein, ſo daß die Schleier⸗ 
macher’fche Kritik auch in dieſer Beziehung ohne Zweifel viel zu 
fireng ift, wie er denn felbft feinen eignen Anforderungen fogar 
in ber am forgfältigften ausgearbeiteten Behandlung des Tugend» 
begriffs keineswegs Genüge geleiftet hat. 

Die Behandlung unferer Wiffenfchaft wird wohl noch lange 
auch in dem fo hochwichtigen Stüde der Eintheilung und Syſte⸗ 
matifirung mit bloß annähernd Richtigem fich begnügen, und, im 
Gegenſatz zu der fo eben von uns felbft aufgeftellten Forderung, 
fi) mehr oder weniger durch äußere Beziehungen beſtimmen laſſen 
müffen. Kaum wird man daher noch heute einen um vieles rich- 
tigen und fruchtbarern allgemeinften Theilungsgrund finden, ale 
den ſchon von Plato erkannten, wenn diefer fagt: die Gerechtigkeit 
Can dieſer Stelle überhaupt die Tugend) findet fih am einzelne 
Menfchen, findet fich aber auch an einer ganzen Stadt ”). 


2) M ato, Rep. II, 368. 
@ 





14* 


:492 Romang, 


Die Sittlichfeit if eine Weile des menfchlichen Dafeins, ſo 
wohl des einzelnen Menfchen, als der Gemeinfchaften, -und im 
weiteften Sinne des ganzen Gefchlechts, die vernünftige. Lebens 
geftaltung, wie fie zur Eriftenz gelangt im einzelnen Subjekt, und 
aus biefer Innerlichkeit hervorwachſend ſich ausbreitet in die Aeuſ⸗ 
ferlichfeit des gemeinfamen menfchlihen Dafeins auf der Erde 
Wir glauben jedoch, hierin abweichend von Plato, es fei ange 
meflener, das Sittliche zuerft am einzelnen Menfchen erkennen pa 
wollen. 

Die Darftellung des Sittlihen als Sein und Beftimmtheit 
‚ des Subjefts kann nichts Anderes fein, ald eine Tugendlehre. 
Ob wir hingegen die Abhandlung der objektiven Geftaltungen de} 
Sittlihen mit dem Ausbrud Güterlehre bezeichnen follen, Eünnte 
beftritten werden. Vielleicht wäre es ebenjo richtig, dieſe ver 
ſchiedenen Abfchnitte nur als die Darftellung der fubjektiven und 
der objektiven Sittlichfeit zu bezeichnen. Diefer Theilung würde 
aber eine wirkliche Getheiltheit des Gegenftandes entſprechen, ſo 
daß nicht, wie Schleiermader annahm, fowohl in. der Tugend 
als in der Güterlehre der ganze Inhalt der Sittenlehre ih 
würbe dargeftellt werben können, 

Die Tugend nun ift es nicht ſchwer im Allgemeinen mit his 
länglicher Richtigkeit zu beflimmen als die Realität und Energie 
bes vernünftigen Wefeng, als die lebendige Kraft, welche in ihre 
Wirffamfeit das exemplar humanae naturae dbarftellt. Hingegen 
die organifche Theilung des concreten Inhalts der Tugend, die 
zwar Eine ift, fich jedoch ebenfo unzweifelhaft in viele Tugenden 
ausbreitet, diefe ift nicht fo Teicht zu finden. | 

In den vier Cardinaltugenden ber alten Sittenlehrer bridt 
fih wohl eine Auffaffung des Sittlihen aus, ‚die fich dem Be 
wußtfein mit einer in der Sache begründeten Nothwenbigfeit auf 
bringt, fonft hätte fie ſich nicht bei den gebildeteften Völfern im 
ganzen Verlaufe der vwoiffenfchaftlichen Entwidelung in Anfehen ® 
halten. Diefe zuerft ohne Zweifel gewiffermaßen inftinftartig auf 
gefundenen Seiten des Sittlichen hat aber beinahe nur Plato in real 
wiffenfchaftlicher Betrachtung tiefer zu faffen und nach ihrem orge 


= 


Eine phyſiologiſche Anficht von ben fittlichen Dingen. .193 


nifchen Zufammenfein in der Einheit des menfchlihen Wefens zu⸗ 
fammenzufchauen.verfucdht. Jedenfalls würde bie Schleiermacher'⸗ 
ſche Abhandlung der Tugendlehre auch vor einer weit weniger uner« 
bittlichen Kritik nicht beftehen, als er felbft an Anbern ausgeübt hat. 

Die Tugend, als die gefunde Kraft der Seele, verinöge wels 
her biefe ihr eigenthümliches Werk gut vollbringt *), umfaßt noth« 
wendig das ganze Vernunftwefen, fowohl von ber erfennenden; 
als von der praftifchen Seite, und nicht weniger die innerliche 
Intenſität des fittlichen Weſens, ale feine äußerliche Entwidelung 
wird zur Tugend gehören. 

Demnach würden wir verfuchen, bie Seite bes Wiſſens, der 
Sntellectualität oder Idealitaͤt, als Tugendflamm der Weisheit dar⸗ 
zuftellen, die Realität, ben realen Gehalt des fittlichen Weſens 
aber in feiner Beziehung zur Natur als Tugendftamm der Mäßi⸗ 
gung, und in berfenigen zu andern Bernunftwefen als Tugend⸗ 
ftamm ber Gerechtigkeit, und endlich bie Intenfität oder die innere 
Stärke als: Tugendflamm ber Tapferkeit. Die verfchiebenen Sei⸗ 
ten werden freilich nach dieſer Theilung auf gar vielen Punkten 
ineinander verfliegen. Doc zweifeln wir nit, daß eine den’ 
realen Inhalt der Sache weit natürlicher, als die Schleiermacher'⸗ 
fche, ergreifende und barftellende Bearbeitung in biefer Weife mög⸗ 
lich fein follte. Sehr fchwierig würde aber auf jeder Seite bie 
genetifche Entwidelung ber Stammtugend nach allen ihren Ver⸗ 
zweigungen ſein. 

Auf der objektiven Seite ſtellen ſich als eonerete Geftaltun 
gen ber gemeinſamen Sittlichkeit zuvörderſt die Sphaͤren ber 
Familie und des Staats dar. Wahrſcheinlich aber wird über 
dem Staat noch die Kirche anzuerfennen und abzuhandeln fein, 
als die fowohl in die tieffle Tiefe des Staats und der Familie 
binabreichende, als über den einzelnen Staat hinansgreifende, in 
ihrer vollendeten Entwidelung das ganze Geſchlecht umfaffende 
Sphäre der geiftigften, religiösfittlichen Lebensgemeinſchaft. 

Ueberall aber, felbft bei den einzelnen Tugenden, und fogar 


*») Plato, Rep. 1, 353. 


194 Romang, 


bei der religiöfen Gemeinfchaft, nicht nur bei der Familie und 
alffeitig beim Staat, wäre die Naturbafis anzuerkennen, und jeber 
Dafeinsgeftaltung nad ihrer eigenthümlichen Begründung auf dem 
natürlichen Subftrat ihre fttliche Bedeutung zu beflimmen. 

indem die Sittenlehre auf dieſe Weife das ganze prakiiſche 
Gebiet umfaßt, wird felbft die Rechtslehre, nicht etwa bios die 
Pädagogik und ähnliche technifche Doctrinen, ihr infofern unter 
geordnet werden müſſen, als fie für jede andere praftifche Dortrin 
die höchſten Principien enthält, welche diefe Doctrinen Ichnfat 
weife von ihr zu empfangen haben. Dabei wird es aber auh 
fehwierig werden, fie von dieſen verwandten Gebieten durch fee 
Grenzen abzufondern. Sie darf fih nämlich doch nicht mur in 
abftracten Allgemeinheiten bewegen. Denn allerdings Hat Ariſtote⸗ 
led gewiffermaßen Recht, wenn er meint, die nur das Allgemeine 
behandelnden Reden feien leer, von wahrem Gehalt aber nm 
die, welche mit dem Einzelnen ſich befchäftigen. Namentlich unferr 
Auffaffung würde. ernftlichere Beachtung erſt verdienen, wenn ft 
das concrete fittlihe Wefen ebenfowohl in lebensvoller Anfchas 
lichkeit, als nach feiner tiefverborgenen Gefegmäßigfeit barftelen 
könnte. 

Bon dem Stil der Sittenlehre ſagt Schleiermacher *), er fi 
der biftorifche. Allerdings it das Sein des Sittlichen zu befri 
ben. Doch ift ed nicht um die Befchreibung der blos äufen 
Erfcheinung zu thun, wie denn die Ethif auch nach Diefem Sitten: 
lehrer der fpelulative Ausdrud des Weſens der Vernunft fein 
fol. Ihr Stil würde demnach nicht fowohl dem der Naturbe 
fchreibung, ald demjenigen der Naturwiffenfchaft ähnlich fein. Zu 
deſſen würde wirklich theilweife auch Büffon'ſche Schilderung, nicht 
nur Ariftotelifche Begriffsichärfe anzuftreben fein, und das Seal 
der Darftellung wäre wohl eine Bereinigung der Borzüge bieler 
beiden Schriftfteller, fo daß je nad) dem zu behandelnden Moment 
bie Eigenthümlichfeit des Einen mehr hervorträte oder diejenige 
bes Andern. Doch wäre mehr in die Tiefe zu geben, als An’ 
ſtoteles meifteng thut. 


— 





*, Schleiermacher's Sittenfehre ©. 56. 
« 


Eine phyfiologifche Anficht von den fittlichen Dingen. 196 


Aber je-ernflliher man fih an biefen Problemen verfucht, 
befto meßt wird man aud heute noch ſich Überzeugen, daß zo 
axgıßks 0u7 Onolng &r änucs roig Aoyosg Enulnenzeov, niayıv 
de zıva £yeı xal rayada. dyanıroy oUv, reg! rowuzav zul dx 
z060Ur09 Akyorrag, nayviog al zung raAmdis Eudeixvuodar‘ 
209 aurov d2 roonov xal anodeyeodnı ypewv Exacrov ray A8yo- 
uEvoy' nenaudevusvov yap £ozıy Enl rooourov raxgıßls Enı- 
Inzeiv nad" Exaozov yEros, EP 0009 N TOV TIERYUREOS PUcsg 
Inıdeyera. Arist. Ethic. Nicom. I, 3. $. 4—4. 


Rachichrift 
bes Herausgebers zum vorigen Auffage. 


— 


Wir haben die vorftehende Abhandlung des fcharffinnigen 
und namentlich in dem bier berührten Gebiete längſt anerkannten 
Forfchers um fo mehr hier aufzunehmen für Pflicht gehalten, wern 
fie auch von der gewöhnlich in ber Zeitfchrift vertretenen Methode 
und Denfweife principiell abzuweichen befennt, als fie uns af 
eine lehrreiche Weife zu zeigen feheint, daß der Gegenfag, af 
deffen Behauptung der Verf. befteht, — der zwifchen empiriide 
Behandlung philofophifcher Begriffe und einer fogenannten aprie 
rifchen oder fpefulativen — wie er nad unferer Weberzeugum 
der Wahrheit nad) wefenlos und nichtig ift, fo auch bei der Be 
handlung der einzelnen Srage bedeutungslog zu werben anfängt. 
In Betreff des vorliegenden Gegenftandes erlaubt fich der Hew 
ausgeber zunähft nur auf feinen (im Bd. XI. ©. A161 ff w 
fchienenen) Auffab „über den bisherigen Zuftand ber praftifhen 
Philoſophie“ zu verweilen, welchen übrigens Herr Dr. Romany 
bei feiner eigenen Abhandlung noch nicht berüdfichtigen Font. 
Schon bei Schleiermacher's Unterfuhungen über die Eih, 
die theils kritiſch die bisherigen Anfichten vermitteln wollen, theil 
heuriftifch das Richtige immer fehärfer herauszuläutern fuchen, pa 
jene methodifche Unterfcheidung und die Frage nicht mehr, ob fen 
Berfahren ein empirifches oder ein apriorifches ſei? Es ift keines 
von beiden nach dem gewöhnlichen Sinne, ben man mit jenen Wortes 
zu verbinden pflegt, ebenfo wenig als die ethiſchen Unterfuchumgen 
des Ariftoteles, ja, fegen wir hinzu, die.von Kant, den de 
Berfafler des‘ vorftehenden Auffages doch zu feinem vorzüglihhe 


Nachſchrift. 47 


—* ausſchließlich nach der einen oder andern Seite 
binfalleng Auch dieſe Forſcher ganz ähnlich, wie er, gehen aus 
von der möglichſt ſcharfen Auffaſſung und Unterſuchung des Ge⸗ 
gebenen, in ſeiner Verwandtſchaft und in ſeinem Unterſchiede 
von den andern Gebieten des Geiſtes, um daraus die vollſtändige 
Theorie deſſelben zu finden. Unſer Verfaſſer könnte nur be⸗ 
haupten, daß eine ſolche Theorie von den Grundbegriffen des 
Sittlichen durch jene Denker, namentlich durch den zuletzt Genann⸗ 
ten noch nicht gefunden ſei, — und man kann ihm Recht geben 
oder nicht, je nach der ſonſtigen Denkweiſe eines Jeden: — we⸗ 
niger dürfte er aber behaupten, daß ihr methodiſches Verfahren 
ein im Principe falſches und verwerfliches geweſen ſei. 

Dennoch läßt ſich nicht verkennen, daß nach einer andern 
Seite hin eim weſentlicher Unterſchied zwiſchen ſeinem und dem 
Berfahren jener Denker flattfindet. Der Berf. erklärt den Begriff 
der Sittlichfeit in der Weile der Naturwiſſenſchaft unterfuchen zu 
wollen (S. 4177. 181.) und polemifirt von bier aus (nad) unferer 
Weberzeugung mit feinem Rechte) gegen bie Rantfce. Auffaffung 
des Sittlichen, als eines Soll, überhaupt als eines äußerlich an 
das Bewußtfein berantretenden Gebotes. Er befteht mit vollem 
Grunde darauf, daß das Sittengefeg. die eigene, fubftantielle 
Weſensbeſtimmtheit alles fittlichen oder vernünftigen Seins in 
feinem ganzen Umfange fei, daß die Sittenlehre daher nur biefe 
zu betrachten, in ihrer innern Natur darzulegen habe. Doch hier- 
über flimmt mit ihm die fpefulative Ethik ‚bereits überein, worüber 
wir ung bloß auf Schleiermadher, ja, mit einer gewiflen, bier 
nichts verfchlagenden Einfchränfung, auf Hegel berufen Fönnten, 
fo daß diefe Anficht weder ausfchließliches Eigenthum, noch bes 
ſonderes Ergebniß feiner „empirischen“ Methode wäre. - Aber die 
letztere fcheint ihn vielleicht nad) einer andern Seite hin im Stiche 
gelaſſen zu haben: er glaubt „bei dem fittlichen Entwicklungspro⸗ 
ceſſe vom erſten Bewußtwerden des Sittengeſetzes bis zur voll: 
Rändigften Erfüllung feiner Forderung” (welcher eben im innern 
Weſen des Geiftes felber wurzele) „weit mehr an die Analogie 
phyſiſcher Proceſſe fich halten zu müffen“, als mit den bis⸗ 


4198 Fichte, 


herigen Vorſtellungen von der Dignität des Sittlichen vertraͤglich 
fei (S. 180). Was an dieſer Bemerkung richtig iſt, "Afern das 
durch auch im Sittlichen die felbfiftändige immanente Entwidlung 
bes, Geiftes gerettet werden fol, das glauben wir nicht zu ver- 
fennen. Aber immer ift es doch der Geift, mit dem VBermögen 
die eigenen Gegenfäge zu überwinden, welcher im Sittlichen „ſich 
entwidelt” und damit feinem urfprünglichen Wefen fich gleich mad. 
Hierbei wird aber jede Analogie phyſiſcher Proceffe vielmehr ab 
gefchnitten: der Geift wird im Sittlihen nicht bloß zu dem, was 
er werden muß, fondern er fchafft fi) aus fleter, realer oder 
wenigftend das Bewußtfein von der Möglichkeit des Gegen 
theild enthaltender Ueberwindung des Gegenfages zu dem, was 
da recht eigentlich fittlih ift, und was eben darum auch nidt 
fein fünnte. So ift dieß niemals bloß Produkt einer Entwicklung, 
fondern Refultat einer Selbftthat, die nicht, wie jene, fucceffi 
und allmählich, fondern auch augenblidlich und plößlich umfchaffend 
wirken kann (ploͤtzliche Sinnesänderung durch Reue, ein augen 
blicklich eingreifender, die bisherige Reihe des Wollens und Ha 
delns durchbrechender Borfag: — in allen diefen Erſcheinungen 
pflegt jeder die eigenthümliche Macht des Geiftes und bes fiir 
hen Wolleng zu finden). Darum ift au das Wefen des Geiſtes 
nicht bloß Princip feiner Nothwendigkeit, fondern Darin zugleich 
feiner Freiheit, d. h. deffen, was auch nicht fein Tönnte. 

Dies muß auch die nur mit einiger Tiefe oder Sinnigfeit ein 
dringende empirifche Beobachtung als den eigentlichen Begriff dei 
Geiftes eingeftehen: wir wollen nur an Goethe erinnern,- biefn 
unbefangenen Selbftergründer, der (ſämmtl. W.XLVIIL ©, 14.17.) 
feinen dichterifch probuftiven Genius völlig als Narur zu beirad 
ten gewohnt war, davon aber wohl unterfcheiden zu müſſen be 
jeugt, was in ihm fein Eigenthum, das des freien Geiſtes, ge 
weſen fei, das auch nicht fein Könnende, aus Selbftthat, ja Selbk- 
überwindung Hervorgegangene, Darum jedoch ihm nicht nothwenbig 
Entwidelte, fondern das Freiwilligfte, was indeß wiederum nicht 
ein Zufälliges für ihn war, fondern der tieffte und eigenſte Erwerb 
feines Weſens. Es ift auch an die aus dem wahrſten fütlichen 


Nachſchrift. 199 


Ernſte ſeines geprüften Lebens hervorgegangenen Zeilen in den 
„Geheimniſſen“ zu erinnern: 

Wenn einen Menſchen die Natur erhoben, 

Iſt es kein Wunder, wenn ihm viel gelingt; — 

. Doch wenn ein Maun von allen Lebensproben 
Die fanerfte befteht, fich ſelbſt bezwingt: 

Dann Bann man ihm mit Breuden Undern zeigen, 

Und fagen: das ift er, das ift fein eigen! 
Dies ift auch der Begriff des Geiſtes und des fittlichen Geiſtes, 
bei welchem mithin jede Analogie bes phyſiſchen, felbft des orga⸗ 
nifhen Proceffes verſchwunden ift, und wobei bloß die „Naturs 
‚bafis” aufzumeifen unzureichend if. Jede That des Geiſtes, weil 
nur in ihm That, Meberwindung gefunden wird, ift als folde 
unendlich höher, ald alle Naturentwidlung (vgl. Zeitfehr. Bd. XI. 
©. 195. 96.). Wenn dem fcharffinnigen Verfaſſer jenes gleich⸗ 
falls thatſächliche Dioment am Geifte entgangen fein follte, fo if 
ed, weil ex der allerdings gewöhnlichen empiriſchen Analogie, das 
Geiftige nad dem Natürlichen zu beurtheilen, zuviel vertraut hat. 
Daraus wird der Herr Berf. auch die Gründe erfennen, und 
mein Bekennmiß entfchuldigen, warum mir fein Begriff des Böfen 
jo richtig und Acht dialeftifch (er erlaube mir biefen Ausdruck) 
auch die allgemeine Beftimmung deſſelben ift, nicht erichöpfend, 
aber auch feine allgemeine determiniftifche Anficht, zwar nicht falſch 
in gemeinem Sinne, aber unvollftändig erfcheinen müffe. Er könnte 
jelbft an jener Goetheſchen Auffaffung gewahr werden, was bie 
„Spefulativen” meinen, wenn fie in der innerlich beterminirenden 
Individualität jedes bewußten Wefens zugleich den Duell feiner 
wahren und eigentlichen Freiheit und einer durch äußerliche 
Determination ſchlechthin unüberwinblichen Selbftftändigfeit er⸗ 
bliden, wie diefe Einficht aber nicht das gewaltfame Produkt einer 
übel gelungenen Zufammenfügung ein für allemal unverträglicher 
Begriffe, wie Freiheit und Nothwendigkeit, fondern eine fehr ans 
\haulicye fei, wie denn in jedem feiner Individualität gemäß fich 
äußernden bewußten Wefen dieſe Einheit von Freiem und Noth⸗ 
wendigem wirklich angefchaut wird. 

Ohne Zweifel vagt der Verfaffer neben den Andern, die ben 


200 : Fichte, Nachfchrift. 


gleihen Standpunkt behaupten und ähnlih, wie er, von einer 
Phyſik der Sitten fprechen, durch Schärfe und Tiefe der Auffaffung 
weit hervor. Um fo bedeutungsvoller und wichtiger erfchien es 
und an einem fo tüchtigen Beifpiele darauf hinzuweifen, wie die 
Enden der fcheinbar fchroffften Gegenſätze in einander überzulau 
fen beginnen, und wie man daher wohl thut, ftatt der in ber 
Philoſophie immer obfoleter werdenden Sektennamen zu achten, 
bei jedem Forfcher genau Hinzufehen, was er Iehre, gleichviel 
von weldhem Standpunkte, und wie ‚weit man ſich darüber mit 
ihm verfländigen koͤnne! 


Ueber den gegenwärtigen Zuftand der Philoſophie der 
Kunft und ihre nächfte Aufgabe. 


Bon- 
Dr. W. Danzel in Hamburg *). 


(Erſter Artikel). 


Es mag feine Richtigkeit haben, daß bie philoſophiſche Wiſſen⸗ 
Ihaft nach ihrem bisherigen Beftande ſich in irgend einem Syfteme 


*) Berfafler der Schrift „über Goethes Spinozismus“, Hams 
burg 1843, und mehrerer Britifchen Auffäge über Philoſophie der 
Kunft. — Bei der oben mitgetheilten Abhandlung, welche als 
„erfter Artikel” fidy ankündigt, bemerkt die Redaktion, daß diefe 
als Einleitung in eine Reihe von folgenden Artikeln dienen foll, 
in welchen der Verf. allmäglig eine vollfländige Kritik der äfthes 
tifhen Standpunkte von Kant bis zur Gegenwart zu geben 
beabfichtigt. Aus einem Privatfchreiben deffelben entnehmen wir 
darüber mit feiner Erlaubniß Folgendes, was als einleitende 
Ueberficht dienen möge: 

„Kant und Schiller faffen die Sache von der praktifchen 
Seite her an; bei dem letztern treibt fidy diefe in ſich ſelbſt zur 
tBeoretifchen Phitofophie fort. Diefer letztern wird in Intereffe 
der Wiffenfchaft überhaupt die Kunftphilofophie von Fichte, 
Schelling und Hegel beigerecnet: es wird nur auf den 
Inhalt der Kunft gefehen, welcher das Abſolute fein foll. 
Die nähere Beftimmung, welhe Hegel von diefem letztern giebt, 
führt ihm dazu, die von Kant im Gegenfag gegen Leibnis 
anfgeftellte Unterfcheidung von Anfchauung und Denken wieder 
aufzugeben, und alfo für diefes Gebiet zum Wolffianismus 
zurückzukehren. Solger verſucht diefen Eirkel zu durchbrechen; 
es gelingt ihm aber nicht, weil er die höchfte Spise der theo: 


202 Danzel, 


der Gegenwart total gegipfelt, und dad Wahre, Bas die früheren 
enthalten, in daſſelbe abforbirt habe. Aber der, welcher fie nad. 
irgend einer Seite hin weiter zu führen hofft, würde feinem Be: 
fireben eine fchlechte Empfehlung bereiten, wenn er darauf allzu⸗ 
viel Werth legen wollte. Die Unbefriedigung mit den Refultaten 
bisheriger Wiffenfchaft wird‘ in den wenigfien Fällen baraus her 
vorgegangen fein, daß man den immanenten Widerſpruch derfelben 
entdedt hätte. Dean findet diefen erft hinterher, wenn der Sort 
ſchritt, welcher ihn auflöst, hiſtoriſch vorliegt; Die Auflöfung felbf 
entipringt aus frifcher Berfenfung in die Erfahrung, welcher bie 
vorliegende Theorie an irgend einem Punkte nicht Genüge thut; 
ed würde alles unbefangene Studium untergraben, wollte man 
etwas Neues durch ftarres Hinfehen auf die legten Refultate her 
vorzuloden ſuchen. Die Frage der gegenwärtigen Philofophie iR 
nicht, was nun an die Reihe fomme, fondern diefelbe, welche vom 
jeher allen Philoſophen vorgelegen, was wahr ſei? Das Andere 
hieße eine Philoſophie der Geſchichte der Philofophie vor der 





retifchen Anficht noch nicht vor fich hat, und daher die Wahrheit 
noch nicht als Moment der Schönheit zu faffen weiß. Die 
teiftet Weiße; er faßt daher auch die Anfchauung felbft um 
fo reiner und betrachtet die Kunft in einem höhern prakt 
fhen Sinne ald reine That. — Sie werden mir vielleicht zu 
geben, daß es bei diefer Anordnung Darauf anfam, gleich in 
erften Artikel fowohl in Bezug auf Solger und Weiße da 
Gegenfas von Denken und Anfchauung, als auch in Bezug an 
den zweiten Artikel die firenge Bedeutung des Praktiſchen ini 
Licht zu ftellen, was, da in diefen Punkten Kants Berdieuſte 
gerade fehr groß find, glüdlicher Weife auf eine ganz objektin 
Art, und ohne daß ich meine eigenen Anfichten vorzudrängen 
brauchte, gefchehen Fonnte. Es ift aber der Einheitspunkt, wel 
cher bei Kant ber reinen Faſſung des Praktiſchen und Mt 
Anſchauung zu Grunde liegt, eben der Sinn für die Wirklid⸗ 
Peit, dem in diefem Gebiete erfi Weiße wieder fein Recht hat 
wiederfahren laſſen; — und über eben dieſen hätte ich am 
Schlufſe, mit Rückſicht auf gewifle neuere &rfcheinungen, ne® 
Einiges zu bemerken.” — 


Ueber den gegenwärtigen Zuftand ber Kunſtphiloſophie. 203 


Geſchichte ſelbſt machen wollen. Gehört doch das Geſetz, welches 
man dabei vorausſetzen möchte, ſelbſt einer beſtimmten Philoſophie 
an, und zwar derjenigen, über die jetzt gerade am entſchiedenſten 
binausgegangen werden foll. Iſt baffelbe nun durch diejenigen, 
welche e8 gegen feine Erfinderin fehren, befanntlich fogleich weſent⸗ 
lich modificirt worben, fo wird es dem, welcher ſich jest an's 
Philoſophiren begiebt, erlaubt fein müſſen, da er doch nicht: vor- 
ber wiſſen Tann, wie es ſich etwa bei ihm geftalten werde, es 
vorerft gänzlich bei Seite zu laſſen. 

Sjedenfalld Fönnte von dem völlig gerablinigen Yortfchritt, 
den jene Anficht vorausfegt, nur in Betreff der allgemeinften Prin= 
eipien die Rede fein. Es hieße nicht nur allzufehr von der menſch⸗ 
lichen Unvolllommenheit abfehen, wenn man annähme, daß bie 
Grundgedanfen der verfchiedenen Syfteme in allen Theilen der: 
felben gleichmäßig confequent durchgeführt wären, fondern es ift 

gerade durch ſolche Durchführung, wo fie etwa verfucht worden, 
dem Einzelnen oftmals Gewalt angethan. Die einzelnen phil: 
fophifchen Wiffenfchaften haben bis jest wenig unabhängige Be- 
handlung erfahren; fie find entweder ausgefogen worden, um ein 
neues Princip zu gewinnen, oder mißbraucht, um es zu explici- 
"ren; wenn man von der Naturphilofophie oder der Iogifchen Phi⸗ 
lofophie hört, weiß man fogleih, woran man zu denfen hat. Die 
Philofophie ift in der That fo unbefangen verfahren, wie wir 
eben fordern zu dürfen glaubten; ein jedes Syſtem hat einen 
andern Anfangspunft genommen und ein anderes Augenmerf ges 
habt. Es ift befannt, daß mehr als Eins feine Bedeutung dem 
Umftande verbanft, daß es einen bis dahin unbeachteten Theil 
an’s Licht gezogen. Hieraus geht eine große Ungleichmäßigfeit in 
der Berüdfichtigung diefer einzelnen Theile hervor. Man muß 
fi) für den Einen hierhin, für den andern dorthin wenden, es 
liegt in Behandlung berfelben eine gewiffe Wechfelfolge vor: 
Multa renascentur, quae jam cecidere cadentque, 
Quae nuno sunt in honore. — 

Sn der That eine weile Einrichtung der Natur, würde em 

‚Teleologe fagen — denn fie iſt geeignet, uns Muth einzuflößen, 


204 - Danzel, 

auf dem Wege, den und Natur und Schidjal einmal vorgezeichnet 
haben, fortzumandeln, in dem Bertrauen, daß es auch für das 
. Allgemeine wohl zu etwas gut fein werde — und fett und zw 
gleich in Befig einer guten Waffe gegen diejenigen, welche etwa 
auch in der Wiſſenſchaſt zu der Frage. geneigt wären, was kam 
Gutes aus Bethlehem fommen? 

‚Der Berf. der Auffäge, deren Reihe hiemit eröffnet wird, 
hat ſich zunächft der Aefthetif gewidmet, ob es ihm etwa gelänge, 
nad) Trendelenburg's Worte, durch forgfältige Ergründung eines 
Einzelnen den Begabteren, welche zum Fortbau am Allgemeinen 
berufen find, eine gewichtige Thatfache mehr an die Hand zu 
geben. Es ift befannt, und wird, wie ich Hoffe, durch meine 
Verſuche noch heller, als bisher gefchehen, ind Licht treten, wie 
ſehr das Obengefagte gerade von ber äſthetiſchen Wiſſenſchaft 
gilt... Dem wiebererwedten Intereſſe am wahren Schönen ver 
danft die neuere Philofophie einige ihrer glücklichſten Blicke, fo 
wie umgefehrt manche Erfenntniffe über daffelbe zu ihren fehönften 
Früchten gehören. Vielleicht ift diefe enge Verbindung die Urſache, 
daß wir. in diefem Face am wenigften von einer herrſchenden 
Philofophie der Gegenwart reden können. Während ber größtt 
Theil derjenigen, welche am Schönen nur ein allgemein geiſtiges 
Intereſſe nehmen, noch auf der Stufe fleht, die. Solger in feinen 
Anfelm perfonifteirt, theilen die Wenigen, welche in irgend einer 
Weife einen Beruf aus der. Sache machen, ſich in alle Stand 
punkte der modernen Philofophie. Dabei werden die wichtigen 
Bücher, die in neuerer Zeit diefe Wiffenfchaft behandelt haben 
oftmals nach oberflädhlicher Kenntnignahme bei Seite gefchoben. 

Zieht man die Alles in Betracht, fo wird man es mir nicht 
_verargen, daß ich in der Ueberſicht des bisher Geleifteten, mi 
welcher ich auf diefem fchlüpfrigen Pfade Fuß zu faſſen ſuche, ze 
dem ganz .empirifchen Begriffe zurüdfehre, welcher eben Ale 
eine Gegenwart zugefteht, was von gegenwärtig lebenden Ind 
viduen, wenn aud nicht in foftematifcher Weife, bekannt wird. 
Dieſes Berfahren erfcheint im vorliegenden Kalle um fo geeignet 
ter, da von Rant ber, welcher wenigftens für das proteftantifdt 


‚ Ueber den gegenwärtigen Zuftand der Kunſtphiloſophie. 208 


Deutſchland der ältefte Philofoph fein möchte, deſſen Lehren noch 
einige Anhänger zählen, auch gerade die Eriftenz der Kunftphilo- 
fophie als einer ſelbſtſtändigen Wiflenfchaft .datirt. | 


Chalybäus macht die Bemerkung, dag Kant, bei allem weit 
verbreiteten Einfluß, doch Faum Einen getreuen Nachfolger gehabt 
babe, ber genau feine Spur gehalten, und das Syſtem nad) dem 
urfprünglichen Plane vervollſtaͤndigt hätte. Diefes Verhältniß, wel- 
ches die Darſteller der Gefchichte der Philoſophie in mancherlei 
Schwierigfeiten verwidelt hat — man hört ja bisweilen fogar 
Sichte'n ‚ein eigenes Syftem abfprechen — möchte bis jegt bei ber 
Kunfiphilofophie noch am Wenigften ind Reine gebracht fein. Der 
Umſtand, Daß ſich bier nur ein einziger Nachfolger von Bebeus 
tung findet, fihien von der Nothwendigfeit der Unterjcheibung 
zwifchen ihm und dem Meiſter zu bispenfiren. Eine concretere 
und auf den Ausdruck der totalen Thatfache gerichtete Lehre darf 
ih nicht nur in diefem Sache mehr als in jedem andern eine 
Bevorzugung vor der abſtracten und in ber Analyfe beharrenden 
verfprechen, fondern wird der letztern auch leicht untergelegt wers 
den. Während Kant's Schönheitslehre kaum von den Philofophen 
von Fach noch berüdfichtigt wird, beberricht die Schiller’fche einen 
großen, und vielleicht den unbefangenften Theil ber Gebilbeten; 
eine berühmte Gefchichte der deutſchen Poefie bezieht aus derſelben 
ihren Bedarf an allgemeinen Begriffen. “Freilich ift das Ver⸗ 
bättniß zwifchen Schiller und Kant nicht fo.leicht anzugeben, wie 
etwa das ziwifchen dieſem und Fichte. Kant hat fein Werk bald 
“für eine Vorbereitung zu einem noch auszuarbeitenden Syftem, 
bald ſelbſt für ein ſolches erflärt. Laͤßt fih nun einerfeits nicht 
abfehen, worin das verſprochene Syftem hätte beftehen follen, da 
ja die Krititen alle Erkenntniß auf die Erfahrung eingefchränft 
hatten, fo fehlte andererfeitd dieſen letzteren, um fr ein ſolches 
gelten zu ‚Finnen, der Einheitspunft, Diefen gefunden, und Das 
durch den transſcendentalen Standpunkt zu einem Syſtem erweitert 
zu haben, iſt Fichte's Verdienſt. So verhält es ſich mit Schiller 

Zeitſchrift fe Philoſ. u. ſpek. Theol. XI. Band. 45 


206 Danzel, 


auf feine Weife. Diefer geht, weil er, wie Kant, in bem Bors 
walten des Praftifchen einen ſubjectiven Mittelpunkt bat, fo 
wenig, wie urfprünglich diefer, auf die objective Einheit eine? 
Syſtems aus; er übt nur eine Art von transfcendentaler Krüil; 
er fucht die Thatfache des Schönen feftzuftellen; dabei erklärt er 
fih, wie auch Fichte gethan, im Allgemeinen für einen Kantianer, 
ja er giebt manche feiner Erörterungen, für bloße Ausführungen 
Kanrfcher Ideen. So fommt es, dag man ihn etwa nur für einen 
befonders fachfundigen Erläuterer gehalten, oder, wenn man ſich 
die wefentlichen Abweichungen nicht verbergen fonnte, biefe nur 
ind Sittlihe gelegt hat. Iſt auf diefe Weife die Bedeutung 
Schiller's mißfannt worden, fo hat ſolche Abflumpfung des Gegen 
ſatzes auch manches Mißverftändniß Kant's herbeigeführt. Es if 
wahr, daß jener nur entwidelt, wozu fi die Lehren des lepten 
in ſich felbft forttreiben, aber dieß läßt ſich nur durch Die firengfe 
Sonderung beider demonſtriren. 

Man pflegt überhaupt Kant zu fehr in Beziehung auf dad 
zu betrachten, was feine Lehre noch nicht iſt: — nämlich durk: 
geführter Idealismus. Diefem ift e8 aufgegangen, Daß ber New 
eines jeden fynthetifchen Urtheild a priori oder Die Duelle feine 
Gewißheit das Ich = Ych fei, und fo kann man freitich ſagen, daf 
Kant, deffen einziges Augenmerk jene Urtheile waren, von biefem 
Apercu eine Ahnung gehabt habe, Aber man wird wenigfend 
zugeben müflen, daß fein Standpunft eben darin beſtanden habe, 
bieg nur zu ahnen. Wenn er fragte, wie find fynthetifche Urtheil 
a priori möglich, fo liegt darin, daß fie ihm zunächft unbegrei: 
lid waren. Wäre er vom Jh = Ich ausgegangen, ſo würde er 
ſich vielmehr darüber haben verwundern müſſen, wie es überall 
andere als apriorifche Urtheile geben könne. Wirklich hat Hegel, 
deſſen Beruf e8 freilich war, die Durchführung des Idealismus 
zu vollenden, mit einer Unmittelbarfeit, weldye Dem Caeterum 
censeo bes alten Tennemann wenig nachgiebt, Die Zumuthung an 
ihn geftellt (Bd, XVIL S. 15), daß er vielmehr nach der Roth 
wendigfeit derfelben hätte fragen follen. — Kant war von Haw 
aus Empirifer, Er hatte fih durch phyfifalifche und aflrae 


Ueber ben gegenwärtigen Zuftand der Kunftphilofophie. 207 


mifche Schriften befannt gemacht, und warb als Naturkundiger 
und beſonders wegen feiner Borlefungen über phyſiſche Geographie 
für eine Zierde feiner Vaterſtadt angefehen, ehe man feine ſpe⸗ 
kulative Größe ahnen konnte. Auch in ſpäteren Jahren legte er 
dieſe Studien nie ganz bei Seite. 

Freilich war dieſe Empirie von Anfang an nicht ohne ein 
zum Grunde liegendes allgemeines geiſtiges Intereſſe geweſen. 
Die Vorleſungen über phyſiſche Geographie wurden eingeſtandener⸗ 
maßen von ihm gehalten, um ſeinen Mitbürgern die Zeitungen, 
die er für die Organe eines hoͤhern Selbſtbewußtſeins der Menſch⸗ 
heit anſah, verſtändlich zu machen. Schubert weist nach, wie 
ſich ſeine Studien, die von der Aſtronomie ausgingen, immer mehr 
auf die Erde und ihre Bewohner concentrirten. Die pragmatiſche 
Anthropologie, welche, wie die Vorrede ſagt, neben jener Wiſſen⸗ 
ſchaft zur Beförderung der Weltkenntniß dienen ſollte, wurde ber 
Mittelpunkt derfelben. Sie wurde noch von ihm felbft zum Drud 
bearbeitet, während er auf Herausgabe |jener, zu der er 1789, 
als ihn die politifchen Angelegenheiten — felbft ein mehr anthro⸗ 
pologiſcher Gegenftand — in Anſpruch zu nehmen anfingen, zu 
fammeln aufgehört hatte, feines Alters wegen Verzicht thun zu 
müſſen glaubte. Die phyſiſche Geographie war ihm die Grund» 
lage aller äußeren Erfahrung, die Anthropologie vepräfentirte bie 
innere. So bezog ſich bei ihm Alles auf einen geiftigen Mittelpunkt. 

Unter den Bildungsmitteln, welche ihm feine Vaterſtadt ver⸗ 
möge ihrer geographifchen und merfantilifchen Verhältniffe, deren 
Wichtigkeit für die Nahrung feines frifchen geiftigen Lebens er 
ſelbſt anerfannt hat, vorzugsweiſe Darzubieten geeignet war, befand 
ſich die Sprache und Literatur der Engländer. Kant mußte fich | 
zu den zahlreichen Schriftftellern, welche in dieſem Lande, das er 
für das gebildetfte in Europa erflärte, gerabe damals recht eigent- 
lich orientirend und ausbildend auf das Publikum einzumwirken ſuch⸗ 
ten, als zu Geiflesverwandten hingezogen fühlen. Cine Stelle in 
der Anthropologie gegen S. Johnſon zeigt, wie tief er fich ſelbſt 
bei ihren perfönlichen Verhaͤltniſſen betheiligt hat, und fein Wohl 
gefallen am Spectator, gleichſam der Normalerfcpeinung jenes 

15 * 


208 Danzel, 


Kreifes, erhellt aus einigen Auffägen im Geſchmack deffelben, unter 
benen einer über die Krankheiten des Kopfes an Zreiheit und 
Reinheit des Stiled neben Leffing ſtehen Eönnte. 

Es war diefer Geift der Empirie, für den feit den Zeiten 
der beiden Baco England eine Freiftätte geweſen war, welder 
die Tode und Hume auf ihre Unterfuchungen über den intellectuck 
len Dienfchen geführt hatte. Man faßt dieſe unrichtig auf, wens 
man ihnen die Stellung außerhalb des Lebens giebt, welche bie 
Philoſophie, als reine Wiſſenſchaft betrachtet, immer einnehmen 
muß. Sie find jenen pragmatiſch⸗anthropologiſchen Beftrebungen 
zu fubfumiren; der Sinn, welder nicht bloß das Einzelne zu er⸗ 
fahren, fondern auch die Erfahrung zu empfehlen und zu predigen 
wußte, konnte endlich darauf führen, die Bedingungen und Ele 
mente der Erfahrung überhaupt zum Gegenſtande der Forſchung 
zu machen. 

Wenn Kant auf dieſem Punkt die Engländer überfchritt, fo 
war ed nur, weil er von jenem Geifte der Empirie tiefer erfüllt 
war als fie ſelbſt. Hume Hatte die nothwendigen Urtheile de 
Geometrie für analytifche, und den Begriff des Cauſalverhälmiſes 
für eine Täufhung erflärt. Hierin mußte Kant als gründlichet 
Mathematifer und durchgebilbeter Phyfifer eine theoretiſirende 
Verfaͤlſchung der Thatfache fehen; er hatte es zu wohl in fd 
felbft erfahren, daß es wirklich ſynthetiſche Urtheile a priori gebt. 
Die Empfänglichfeit der Engländer für pſychologiſche Thatſaͤchlich⸗ 
feit, und ihre Begabung, fie in der Befchreibung zu firiren, hattt 
in ihm den höhern Sinn für eine rein geiftige Wirklichkeit gemwedt. 

Nichts ift unrichtiger, als Kan's Lehre in irgend einer Be 
ziehung als Sfepticiömus zu betrachten. Wenn er Iehrt, daß wit. 
das Anfich nicht erkennen Fönnen, daß wir-nur Exrfcheinung vor 
ung haben, fo liegt darin nicht eine ſchmerzliche Entfagung, for 
dern im Gegentheil eine lebensfriſche Ergreifung unferer heim 
ſchen Welt. Ebenfo wenig hat es bei ihm etwas Gehäffiges, Gott 
Unfterblichfeit u. |. w. für bloße Speen zu erflären. Sie fin 
eben nicht, wofür man fie hält; fie können nicht für das priss 
unſerer Ericheinungsiphäre gelten, fondern fie find nur ein Ant 





\ 
Ueber den gegenwärtigen Zufland ber Kunftphilofophie. 209 


Aug derſelben, aber ein nothiwendiger, und jener Irrthum über 
fie if ſelbſt noihwendig. Er Eonnte dieß ohne Bitterfeit fagen, 
weil es ihm aufgegangen war, daß das Sein in biefer Erſchei⸗ 
nungsfphäre, und das Durchleben berfelben wirflih etwas 
fei, oder daß diefelbe etwas an und für fich Genügendes, etwas 
Nothwendiges in fich habe. Dieß find eben bie ſonthetiſchen Ur⸗ 
theile a priori. 

Die Trage, wie diefe möglich feien, ging von der Erfahrung 
aus, welcher diefelben, wenn man in ihr fteht, und alfo nur das 
Einzelne fucceffiv erfährt, zu wiberfprechen feheinen. Darum leug⸗ 
nete Hume diefe Möglichkeit. Kant aber faßte die Sache in einem 
höhern Sinne, ging von der Wirflichfeit aus, und zeigte, daß 
umgefehrt nur dadurch, daß fi in jenen Urtheilen inwohnende 
Sormen unferer Erfenntinißfräfte offenbaren, die Erfahrung ale 
totale Sphäre möglich fei. 

Dadurch wird zugleich die Methode, die er in feinen Kritiken 
befolgt, volllommen erklärt. Es ift ganz die der empiriichen Na- 
turwiſſenſchaft. Er legt in der Analgtif die Thatfache dar, daß 
ein Urtheil a priori vorhanden fei; dann zeigt er in der Deduction, 
wie dafielbe nur aus der Annahme der inwohnenden Formen ber 
Erfenntnigfräfte erflärt werden könne; endlich löst die Dialektik 
die Schwierigkeiten auf, welche daraus entflehen, daß wir dieß 
auf natürlichem Standpunkte zu verfennen pflegen. Voran geht 
eine Einleitung, welche mit bem ungemein concreten Geiftesringen, 
welches auch der Grund der unendlichen Wiederholungen inner- 
halb der Unterfuchung felbft ift, die freilich, genau beſehen, jebe 
an ihrem Orte eine ganz eigenthümliche Wendung zeigen, eigent- 
lich nur den Standpunkt angeben will, aber weil das Ganze im 
Grunde nichts als Darftellung eines folchen ift, dieſes gemeiniglich 
Ihon im Voraus ausſpricht. Es wird alfo überhaupt von der That 
lache des unmittelbaren Bewußtſeins zu der transfcenbentalen, 
unter deren Annahme jene allein erflärlich fei, übergegangen — 
bei der Thatfache aber bleibt es durchaus. 

Wir verdanken diefem Berfahren die reine Sonberung ber 
verihiedenen Gebiete, die bei Kant eben Darum nicht nach Ver⸗ 


210 . Danzel, 


dienft gewürdigt zu werden pflegt, weil er bie frühere Verwir⸗ 
zung bis auf die Erinnerung berfelben aus dem Bewußtfein ber 
Menfchen ausgelöfcht hat. Dean Iefe die Englifchen Senfualiften: 
man wird — was in Bezug auf die reine Erfenntnißlehre ſchon 
Hegel bemerkt hat, im Einzelnen eine merfwürbige Uebereinfim 
mung mit Kant finden — befto bewundernswürbiger ift die Gründ⸗ 
lichfeit, mit welcher er dieß complicirte Gewebe auseinanderge⸗ 
zettelt hat. Wie fehr diefe Sonderung bei ihm, gleichwie kei 
Leſſing, bewußte Maxime war, zeigt die Anmerkung am Ende 
der Analytit der Kritif der praftiihen Vernunft. _ 

Es werde fi, fagt er an demfelben Orte, bei ſolchem Ber- 
fahren die Einheit nur deſto reiner herausfiellen. Der Umſtand, 
daß diefe bei ihm im Praftifchen liegt, macht Schwierigfeiten, 
wenn man, wie wir heutigen Tages zu thun pflegen, von ber 
Forderung objectiver und fid) felbft genügender Wiffenfchaft aus 
geht. Es ift aber oben gezeigt worden, wie feine philoſophiſchen 
Studien nur eine Zufpigung der anthropologifchen gewefen; biefe 
fanden diefen Mittelpunft gerade dadurch aus, daß fie von vom 
herein nicht phyfiologifch, fondern pragmatifch gemeint waren, und 
ba andererfeits ihre empirifche Methobe bei feinem Philofophiren 
beibehalten wurde, fo Tann man biefes Teßtere ſelbſt als wine prag 
matifche Anthropologie in höherer Potenz bezeichnen. 

Kants Tendenz, den Menfchen als in die Wirflichkeit hir 
eingeftellt zu begreifen, ward in der fittlihen Sphäre beſonders 
von Wieland getheilt. Aber es blieb Kant aufbehalten, in gerw 
bem Gegenſatze zu dieſem, ald dem prononeirteften Eubämonifen, 
bie Einſicht auszufprechen, daß dieß nur dann nicht zu moralifder 
Schlaffheit führe, wenn man ihn an ihre Gränze ſtelle. Inden 
ber Menſch von bem Gebiet ber Erfcheinung als folcher den Mitte 
punkt bildet, veicht er zugleich über daffelbe hinaus, Er gehört 
nicht fowohl der Welt an, als fie ihm, er felbft aber einem höher 
Zufammenhange — eine Lehre, durch welche Kant zu der tiefen 
Auslegung der religiöfen Thatfachen, welche neuerlich die Phile 
fophie befchäftigt, um ſo mehr den Grund gelegt hat, je eniſchie⸗ 
bener er damit der damaligen widerſprach. Sein Verdienſt um 


Ueber den gegenwärtigen. Zuſtand ber Kunſtphiloſophie. 214 


die füttlihe Wedung und Kräftigung feiner fpätern Zeitgenoffen 
ift unermeßkich. 

Allein in dem Verſuch, der rein herausgeftelften füttlichen 
Sphäre einen theoretiihen Ausdrud zu geben, follte feine empi- 
rifche Berfahrungsweife ihre Gränze finden. | 

Zudem Kant den Menfchen in die Mitte der Welt ſtellte, und 
biefe nur als für ihn exiſtirend anſah, mußte ihm das prius von 
Allem bie Thätigfeit beffelben fein. Hieraus erklärt es ſich, daß 
die Kategorieen aus ben verichiedenen Arten des Urtheilens ab- 
geleitet werden. Dieß haben biejenigen nicht gefaßt, welche da⸗ 
dur, daß fie Alles auf „Thatfachen des Bemußtfeins” zurück⸗ 
führen wollten, die Kant’fche Lehre zu verbeffern glaubten. Da 
jedoch bie verfchiedenen Arten des Urtbeilens fich als eben foviele 
ber Urtheile barftellen, oder in ihnen das Thun in nichts anderem 
zu beftehen fcheint, als bewußter Weife diefe oder jene Beziehun- 
gen zwifchen den Gegenftänden zu fegen, fo ift ed erklärlich, daß 
Kant der ein handelndes Ich nicht gelten laſſen fonnte, das Thun 
weiter nicht berüdfichtigt, und fi) nur an ben durch baffelbe ges 
festen Inhalt des Bewußtfeind, welches eben die Kategorieen 
find, hält. | 

Sp durfte er nun beim fittlichen Handeln nicht verfahren. 
Da alle Begriffe, welche ein Sein ausbrüden, nur durch unfere 
Erfenntnißfräfte"gefegt werden follen, fo hätte er den Mittelpunkt, 
son welchem biefe ausgeben, für einen reinen Act erklären, und 
die Sittlichfeit, wie fpäter von Fichte gefcheben if, als, nichts 
anderes, denn reine Activität beſtimmen müſſen. 

Aber davon weit entfernt, verfucht er nicht einmal, was ihn 
freilich fogleich weiter geführt hätte, den Inhalt, welchen er dem 
Handeln zu Grunde legt, auf ähnliche Weile, wie bie Kategorieen 
abzuleiten. Er faßt das moralifche Orundgefeg nur ale ein FZactum 
der reinen Bernunft (S. 54 der Kr. d. p. V. Ate Ausg). Ueber 
biefes ift felbft der heilige Wille nicht hinaus (58); das Thun 
ift nur infofern Quelle des moraliichen Gefetes, als wir und 
durch bafielbe des Iettern bewußt werden (S. 5. ©. 52). 

Sp haben wir alfo auch hier nichts ald eine Erfenntniß- 


212 Danzel, 


fraft — die wir aber bier aus einem niedrigeren Standpunkte, 
als in der theoretifchen Philofophie, zu betrachten verurtheilt find — 
während wir ung in biefer über bie Erfenntnißfräfte ftellen dür⸗ 
fen, um fie als fpontane Acte zu betrachten, müffen wir ung im 
Praktiſchen begnügen, in ihnen zu fliehen. 

Es ift daher im prägnanteften Sinne ded Wortes zu nehmen, 
wenn Kant das moralifhe Geſetz ald das einer höhern Natur 
bezeichnet. Die Freiheit wird von ihm nur als dag Negative be 
ftimmt, ſich aus der gemeinen in die leßtere verfegen zu koͤnnen. 
Diefe Auffaffung widerfpriht dem Intereſſe der Sittlichkeit, web 
chem fie doch einzig dienen fol, vollfommen. Eine jebe Nat, 
fie fei welche fie wolle, ift für den Willen eine fremde. & 
beruht nur auf der Stimme des Gewiflens, und läßt fih af 
feine Weife theoretifch demonftriren, dag wir der fogenannten 
höheren den Vorzug geben müffen. Daß beide auf gleicher Stufe 
ftehen, wird durch die Lehre vom radicalen Böfen gerabezu ein 
geftanden. Sein Grund, diefelbe anzunehmen, fagt Schiller in 
einem Briefe an Goethe, beruhe darauf, daß der Menſch eine 
pofitiven Antrieb zum Guten habe; er brauche alfo, weil dad 
Pofitive nicht Durch das bloß Negative aufgehoben werden Font, 
auch einen pofitiven Grund zum Böſen. „Hier find aber, fäht 
Schiller fort, zwei unendlich heterogene Dinge, der Trieb zum 
Guten und der zum finnlihen Wohl, als gleiche Potenzen und 
Dualitäten behandelt, weil die freie Perfönlichfeit ganz gleigülng 
zwiſchen beide Triebe geftellt wird”, 

So befchränft ſich alſo Kant's Verdienſt um die praktiiſche 
Philoſophie darauf, fie davon emancipirt zu haben, bloß ange 
wandte Philoſophie — in dem Sinn, wie man von angewand⸗ 
ter Mathematik fpricht — zu fein; er giebt ihr zwar ein eigened 
Princip, aber dieß ift von dem ber theoretifchen nicht generih 
verſchieden. 

Es war nothwendig, dieß fo weitläufig auszuführen, damit 
es gehörig ins Licht treten könnte, in wiefern bie Kritik der Ur 
theilsfraft den bisher betrachteten Sphären etwas vollfonmen News 
“an die Seite ftellt. 


Lieber den gegentwärtigen Zuftand der Kunſtphiloſophie. 213 


Wenn nämlich der Menſch auf die angegebene Weife zwiſchen 
Die beiden Naturen hineingeftellt if, fo wird feine Aufgabe darin 
befteben, ſich nach allen Seiten hin zu orientiren, d. h. im Alls 
gemeinen, wie im Befonderen, richtig zu fubfumiren. Dazu dient 
ihm die beftimmende Urtheilöfraft, über welche weiter nichts 
zu fagen ift, weil fie nur mit dem operirt, was ihr auf die oben. 
befchriebene Weife gegeben if. Ihr fteilt aber Kant noch eifle 
andere zur Seite, die ſich zunächft im äfthetifchen Urtheile äußere, 
die reflectirende — und diefe beiden follen fi) dadurch unters 
fheiden, daß wenn jene vom Allgemeinen auf das Befondere 
gehe, diefe vielmehr zum Befondern das Allgemeine fuche. (K. d. U. 
S. XXVI. 2te Aufl.). 
| Dieß iſt nun fogleih verwirrend. Es kann fiheinen, als 
handelte es ſich von den Iogifchen Berfahrungsmweifen der Deducs 
tion und Snduetion. Allein es ift mit dieſem Uebergehen bloß ein 
transfeendentaler Act gemeint.. Kür die beflimmende Urtheilskraft 
ift das Allgemeine nur darum ˖ das Erfte, weil e8 ein bereits fers 
tigeß, in den Geſetzen der beiden Naturen gegebenes iſt. Diefes 
fann nun als foldhes niemald gefucht werden; ich kann wohl 
bemerfen, daß ich falich fubjumirt habe, aber das Subfumiren 
überhaupt, die Borausfegung, daß ein Gegenfland der Natur 
angehöre und ihren Geſetzen gemäß fein. müffe, ift damit nur um 
fo gewiffer gegeben; Aber daneben giebt es noch eine andere 
Weiſe des Urtheilens, welche gar nicht ein richtiges Urtheil 
jucht, ſondern nur eine Sehnſucht ift, überhaupt zu urtheilen, oder 
welche nicht auf irgend ein beſtimmtes Allgemeines, Tondern auf 
das Allgemeine gerichtet ift, und bei der, weil fie Feine Artbegriffe 
bat, von denen felbft wieder etwas Allgemeineres ausgeſagt wer⸗ 
den könnte, fondern nur das volllommen Einzelne der Empirie 
und das ganz Allgemeine, nur Einzelurtheile vorkommen. Diefe 
geht aus der reflectirenden Urtheilskraft hervor, welche man, ine 
fofern alles Urtheilen eine Beziehung zwifchen dem Einzelnen und 
Allgemeinen bedeutet, wegen dieſer VBerhältnifie wohl bie Urtheilds 
kraft zar’ dEoyn» nennen Tann. 
Um dieß richtig zu verftehen, muß man hier fogleich bemerken, 


214 Danzel, 


daß es eine Ungenauigkeit iſt, wenn Kant von äſthetiſchen Urthei⸗ 
len in der Mehrzahl ſpricht; er meint Damit nur die Vervielfäl⸗ 
tigung der Fälle des einzigen möglichen Urtheils der‘ Art, weldes 
fo lautet: dieß ift ihön. Wenn er aber diefem beftimmten Urtheil 
einen fo bervorftechenden Rang angewieſen, fo hat er damit bie 
Anregung andeuten wollen, welche alles Schöne auf ung ausübt; 
man kann es täglih in Gemäldegallerieen bedbachten, wie feine 
Gegenwart die Menfchen veranlaft, es in unaufhoͤrlich Tautwer; 
dender Anerkennung oder Verwerfung beftändig auf fich ſelbſt zu 
beziehen. 

Nämlich da alles Allgemeine, welches in der Natur vorkom- 
men mag, wie fih aus dem Obigen ergiebt, immer nur ein be 
fliimmtes fein kann, fo werben wir jenes Allgemeinfte in und 
felbft zu fuchen haben: das Gefühl der Luft oder Unluſt. 

Hier ift nun Kant der Gründer einer abgefonderten Kun 
philofopbie dadurch geworben, daß er die Natur der Luft m 
Schönen, die bid auf ihn nur quantitativ, als eine feinere, von 
der finnlichen unterfchieden wurde, genau beftimmt hat. Er nemt 
fie uneigennügig, ohne Begriffe allgemeingültig. Beide Eigen 
ſchaften fliehen mit der Beftimmung eines Urtheild xar’ &oyır 
in genauer Berbindung. Wenn das Einzelfte als ſolches auf das 
Allgemeinfte bezogen werben foll, fo muß es mit größter Strenge 
feftgehalten werben, damit nicht etwa bloß bei Gelegenheit feine 
das letztere gefebt werde. Dieß gefchieht fowohl beim Angeneh⸗ 
men, als bei dem, was vom fittlihen Gefühl gebilligt wird. 
Kant aber behauptet, daß die Schönheit nur dem Gegenflandt 
als ſolchem, und ohne daß wir ihm durch irgend eine Art von 
Genuß feine Gegenftändlichkeit abftreifen, beigelegt werbe. Um 
nur eine Luſt, welche ein reiner Gegenſtand einflößt, Fann über 
die Subjectivität erhoben fein, und auf Allgemeingültigfeit, die 
von Feinem Begriffe abhängt, Anfprudy machen, 

Somit hatte aljo Kant eine dritte Sphäre aufgefunden, we: 
che fich von den beiden erften dadurch total unterfcheibet, daß ft 
durchaus Feine Erkenntniß begründet, ja, daß von ihren Gegen⸗ 
fländen nicht einmal eine objertive Wiſſenſchaft möglich iſt, au 


Ueber den gegenwärtigen Zuftand der Kunftphilofophie. 215 


bem einfachen Grunde, dag alle Erkenntniß in Ießter Inſtanz auf 
beftimmten Allgemeinheiten beruht, die erft durch das Miffen felbft 
auf den Hintergrund der Dinge an fich aufgetragen werden, hier 
aber nur von einem unbeflimmten Allgemeinften die Rede ift, 

| Es mußte ihm nun bie Frage entftehen, wie diefe Sphäre 
möglich fei? Ä 

Er war jo glüdih, die Erflärung aus dem Mittelpunfte 
feiner "Speculation hernehmen zu können. Es ift einer der größ- 
ten Triumphe feines fondernden Echarffinng, daß er Die Anſchauung, 
welche in der Leibnitz-Wolff'ſchen Schule nur für ein getrübtes‘ 
Denfen galt, als eine eigene totale Sphäre erfaßt hat. Eine 
Anmerfung zu $. 7 der Anthropologie fyricht fih über dieſen 
Punkt, indem er mit Leſſings Laokoon auf eine bewunderungss 
würdige Weife zufammentrifft, auf das Beftiimmtefte aus. Diefe 
Erwerbung feines philofophirenden Geiftes erfennt er nun in Betreff 
des Schönen im natürlichen Bewußtfein wieder. Ein Gegenftand 
eriftirt nur Dadurch, daß er von ung durch Die Formen der An⸗ 
ſchauung conftituirt wird: und da nennen wir ihn nun ſchön, 
wenn wir ihn ergreifen, infofern er der Einbildungskraft ans 
gehört. Es find alfo nicht fowohl die Gegenftände, mit denen 
wir es im Schönen zu thun haben, als das, was fich durch fie 
hindurch continuirt, gleihfam die Gegenftändlichfeit ‚überhaupt, 
oder die Einbildungsfraft in ihrem freien Spiele, wobei 
Diefer Teßtere Ausdrudf in dem Sinne zu nehmen ift, wie man 
vom Spiel der Muskeln ſpricht. Hieraus ergiebt fi das Aprio⸗ 
riſche des Lufigefühls beim Schönen von felbft: dafjelbe hängt - 
nicht von dem Eindrud eines Außendinges ab, auf deſſen Eins 
treten wir erft warten müßten, fondern von der Wahrnehmung 
einer Kraft, ohne die wir felbft nicht wären. 

Allein hier tritt noch eine nähere Beſtimmung ein, welche 
forgfältig in Betracht gezogen zu’ werben verdient, weil von ihr 
das Urteil über die Kantiſche Schönheitslehre wefentlih abhängt. 

Sieht man nämlich Kanten die Verfchiebenheit der Gemüths⸗ 
kräfte, auf die er Alles zurüdführt, einmal zu, fo läßt ſich der 
Fall denfen, daß biefelben in Widerftreit gerathen Eönnten, ja 


216 Danzel, 


man muß behaupten, daß für ihre Uebereinfiimmung bei Kant 
weiter feine Gewähr vorhanden ift, ale daß wir aus Erfahrung 
wifien, dag Alles in der Welt noch fo ziemlich Yeidlich, geht. Wie 
ſich's nun damit verhält, infofern wir unter ihrer Herrichaft fliehen, 
und nad ihrer Vorſchrift Gegenftände vor und fehen, oder von 
ihnen praktische Gefebe empfangen, gehört nicht hieher, infofern 
wir aber, wie oben gezeigt, wenigftens der Einbildungskraft in 
ihrem freien Spiele zufehen, müßte eine folde Disharmonie in 
und ein Gefühl der Unluft zu Wege bringen. Es iſt alfo zur 
Echönheit erforderlich, daß diefelbe in ihrem Wirken den andern 
Gemüthsfräften nicht widerſpreche. 

Zunächſt kommt dabei der Verſtand in Betracht, denn er fl 
cd, der befonderd mit den äußern Gegenfländen und ihren Ber 
. hältniffen zu einander zu thun bat. Zu ihm muß alfo die Ein 
bifdungskraft übereinftimmen, nicht mit beftimmten Begriffen, dem 
alsdann wäre Fein Spiel mehr vorhanden, das Angefdantı 
würde dieſen einfach fubfumirt, fondern im Allgemeinen 
‚ etwa fo, daß doc eine gewiſſe Einheit in jenem Spiele fei; es 
fommt bier ja eben nur auf nähere Erplication eines Gefühle 
an, Der Berftand vertritt hier gleichfam die Stelle eines Zügeld, 
mit welchem der Reiter nicht die einzelnen Bewegungen bes Roſſes 
beftimmt, fonbern es nur auf dem richtigen Wege erhält. Bo 
biefed Verhältniß ftattfindet, ift Schönheit vorhanden. 

Aber auch mit der Vernunft muß die Einbildungskraft im 
Harmonie ſtehen. Hier geftaltet fi) jedoch Die Sache ander. 
Denn da diefe die Gegenftände nicht conftituiren hilft, fo komm 
bier die Einbildungsfraft nicht rein als folche in Betracht, fondenn 
wie fie ſchon in einer Beziehung zu unferer‘ Freiheit flieht. & | 
ift daher in diefem Falle Fein Afthetifches Verhaͤliniß in firengem 
Sinne vorhanden (K. d. U. ©. 43.). Bloße Vebereinfimmug 
kann bier nicht ftattfinden, denn die Freiheit fteht zu den Gegen 
ſtaͤnden als folhen an und für fih im Gegenſatz. Die Forderung 
ift alfo, daß diefer Eontraft fo mobificirt fei, daß er die Freihen 
nicht fowohl befchränfe, als anrege. Dann entftcht auch hier ei 


i= 


Ueber den gegenwärtigen Zuftand ber Kunſtphiloſophie. 217 


Wohlgefallen, diefes gewinnt eine Aehnlichfeit mit dem moralifchen 
Gefühl, und man ſchreibt dem Gegenftande Erhabenheit zu. 

An dem letztern Punkte hat man feit lange Anſtoß genommen. 
Man bat bemerkt, dag auf diefe Weile das Aefthetifche hier gar 
nicht in ben ©egenftänden, fondern nur in unferer Stimmung 
liege. Kant ift fo wenig gelonnen, dieß zu leugnen, daß ex nicht 
nur biefe Abtheilung, fondern die ganze aͤſthetiſche Sphäre nur 
für eine Borbereitung zur Sittlichfeit gelten laſſen will, 

Denn auch für das Schöne Läuft es auf daſſelbe hinaus, 
wenn auch auf einem Umwege. 

Kant fpricht häufig von einer gewiſſen Proportion der Ein⸗ 
bildungskraft und des Verſtandes, welche die Schönheit: ausmache. 
Da es aber, wie oben gezeigt ift, an beflimmten Glicdern fehlt, 
fo kann damit nit eine beſtimmte Proportion gemeint fein, 
ſondern nur die erwähnte Harmonie überhaupt. Gleihwohl kann 
eben diefe nicht anders wirklich fein, als in beftimmten Fällen: 
der Zügel des Verſtandes wird immer mit einem beftimmfen 
Grade von Schlaffheit oder Energie angezogen fein müffen. So 
bleibt nichts anderes übrig, ald daß das Schöne immer nur etwas 
Duantitatives fei, und folglich allein auf einer Idee der Schön 
beit, im Kantiſchen Sinne des Wortes, beruhe. 

Dieſe Lehre, welche im Munde der Schule unglaublich erude 
klingt — das Präfentefte von Allem, die Schönheit, foll nur Idee 
fein! — ift nichts als der firenge Ausbrud der Anſicht, welche zu 
jener Zeit die allgemein herrfchende war, daß die Schönheit immer 
auf ein Höchftes, ein Ideal, hinweiſe. Und eben dieſe Zeitivee 
wird noch nach einer andern Seite hin, nämlich infofern fie der 
Schönheit eine unbeflimmte didaktiſche Tendenz lieh, von Kant auf 
eine feientififche Faſſung zurückgeführt. Wenn die Uebereinſtim⸗ 
mung der Einbildungstraft zum Verſtande nicht auf beftimmten 
Inhalt des letztern geben fol, fo bleibt nichts übrig, als daß 
fie die höchſt zweckmäßige Stimmung beider Erfenntnißfräfte zu 
möglicher Anwendung ſei. Daß wir diefe in einem gewiflen 
Grade in ung entſtehen fehen, darauf beruht bei Kant in Iegter 
Inſtanz das Wohlgefallen am Schönen, und die Forderung ſowobl 


. 


218 Danzel, 


als die Moͤglichkeit, baffelbe ald etwas Allgemeingültiges, und 
den Sinn für daffelbe ald einen Gemeinfinn (common sense) zu 
betrachten. Denn alle Menfchen find des Erkennens fählg — 
worin ja allein die Menſchheit beſteht — und dieſe wiederum if 
nur durch den Hinblid auf eine höchſte Erfenntniß möglich, es 
muß alſo jeber durch das, was dieſe verſpricht, ſich in ſeinen 
Eigenſten geſtaͤrkt Fuͤhlen. Und wie Kant ein ſolches Höchſtes — 
im dunfeln Gefühle, was ein ganz formelles fei, überall auf bie 
Moralität zurüdführt, fo ift es alfo auch nach diefer Seite hin 
zulegt nur diefe, welcher die Schönheit dient, 

Inſofern zerflöffe ung alſo die Schönheit in Yauter Undeſtimm— 
heit. Auf der andern Seite aber müſſen doch beim einzelnen 
Schönen, gerade indem es an das Höchſte erinnert, Die Erkennmij⸗ 
fräfte in irgend eine Thätigkeit gefegt fein. Worin foll nun diee 
befteben, wenn nicht barin, daß biefe ihren beflimmten SZmhalt 
ſetzen? So drängt fih das beftimmte Denfen, welches vorke 
abgewiefen war, boch wieder ein; in der anhbängenben Scös 
beit, welde von der Normalibee eriflirender Gegenftände be 
berrfcht wird, und der alle Kunft angehört CS. 88), finft die 
freie Schönheit — jenes Gefühl der Belebung der Erkemmiſ 
kräfte — zum bloß beiläufigen herab; bie äfthetifche Idee, d. h. 
die Anfchauung, welche durch feinen Begriff erfchöpft werben kam 
(S. 240), wird zum Attribut — oder einer Nebenvorftellung 
der Einbildungsfraft beim Begriffe (S. 495), ‚in welcher biek 
bei Gelegenheit des legtern in's Weite fchweift. 

So ift denn alfo nach allen Seiten hin das Gebiet Des Schönen 
ein untergeorbneted, und gar nicht eine dem Theoretifchen un 
Praftifchen beigeordnete dritte Sphäre. 

- Wie war ed aber möglich, daß Kant fo von feiner urfpräng 
lihen Intention abirrte? j 

Die Erklärung liegt fehon im Vorigen. Das Eigenthümliche 
der dritten Sphäre befand darin, daß, während in ben anben 
beiden die Erfenntnißfräfte nur ihrem Inhalte nad) in Beirat 
famen, bier wenigftens bie Einbildungsfraft in ihrer Totalik, 
ober als Thätigfeit, ergriffen ward. Es hätte alfo aud der 


Ueber den gegenwärtigen Zuftand der Kunftphilofophie.. 249 


Berſtand — um nur bie Schönheit in Betracht zu ziehen; das 
verwideltere Verhaͤltniß beim Erhabenen wird ſich fpäter auflöfen — 
- auf diefe Weife veflectirt, und aus ber Uebereinſtimmung jener 
zu ihm, eine mit ihm gemacht werben follen. Kant hätte, wie 
erwähnt, infofern er von Wolff herkam, die Anfchauung, um fie 
zu fondern, als totale Sphäre faflen müffen, und dieß dann in 
die Aeſthetik verlegt; beim Berftande ließ er es theoretifch und 
daher auch Afthetifch beim Alten. 

Man ift nicht dazu gefommen, dieß richtig anzufehen, weil 
man, von neueren und freilich tieferen Anfichten ausgehend, in 
Kant eine Ahnung dieſer Ieteren finden wollte. In biefer Ber 
ziehung ift die Teleologie herbeigezogen, und bie Aefthetif nur 
gewiflermaßen als ein Ableger von berfelben betrachtet worben, 
am ungefcheuteften. von Hegel, Aefthetif L. ©. 78. Afte Aufl, Ab⸗ 
geliehen davon, dag das ganze Compliment in Kant’s Sinne ab- 
gewiejen werben muß, benn hat je ein Philofoph gewußt, was 
er wollte, fo iſt er es geweſen, — erhellt Die Unmöglichkeit, daß der 
Schwerpunkt der dritten Sphäre, welche doch Kant abgefondert 
haben wollte, in der Teleologie liegen könnte, daraus, daß biefe 
nach feiner ausbrüdlichen Erklärung gerade gar nichts Abgeſon⸗ 
dertes wäre, ſondern allenfalls fowohl ber theoretifchen als der 
praktiſchen Sphäre angehängt werben könnte. 

Gleichwohl dürfte hier der Ort fein, auf das Verhälniß der 
beiden Theile der Kritif der Urtheilskraft etwas näher einzugehen. 

Schon die fo eben angeführte Aeußerung zeigt, daß in ber 
Teleologie ber vielbefprochene Widerfpruch zwiſchen ber theoreti= 
fhen und praktiſchen Philoſophie ind Enge gebracht fein muß, 
Nur bier wird eigentlich Ernft mit demfelben gemacht, anders 
wärts wird immer nur die eine oder die andere Seite betrachtet. 
Das allgemeine Verhältniß derfelben ift aber diefes: Kant war 
auf dem Wege feiner theoretiichen Forſchungen dazu gelangt, daß 
eine ändere Bernunft in der Welt, als die derſelben ald Natur 
inwohnte, ober das Syflem ber apriorifchen oder apofterioriichen 
Naturgefege ausmadhte, nicht möglich fer — ein Nefultat, welches 
nur bie ausgefprochene Tendenz der naturwiflenfchaftlihen Studien 


220 Danzel, 


jener Zeit war, befonderd nachdem Newton ihnen einen mathe 
matifchen Mittelpunft gegeben hatte, Er verfchmähte es, mit 
diefem Refultate, wie die Engländer zu thun pflegen, um eine 
phufitotheologifche Slaufel zu markten; er fah ein, daß wenn auch 
etwa Gott der Welt ihre mathematifchen Grundgefege eingepflaut 
haben follte, diefe doch immer das prius wären, und nicht das 
Thun Gottes dabei. Auf der andern Seite war aber fein fitli- 
ches Gefühl zu lebhaft, als daß er die moralifchen Confequenzen, 
welche befonderg die franzöfifchen Senfualifien aus der natur 
wiſſenſchaftlichen Weltanficht gezogen hatten, hätte annehmen für 
nen. Seine praktiſche Philofophie iſt nichts anderes, als bie 
ausführlide Exrpofition dieſes Gefühles — jene Nefultate- find 
unwibderleglich und folglih wahr — aber du darfſt fie nicht m 
nehmen, denn fonft Fönnteft du nicht fittlih Handeln. - 

So weit der Gegenfat beider Sphären, bei dem doch am 
Ende eine Wahl zwifchen ihnen unvermeidlich geworden fein würde 
Allein eine Vermittlung wird dadurch möglich, ja nothwendig, daf 
eine foldye als unmittelbare Thatſache des Bewußtſeins vorliegt 
Die Annahme einer höhern Vernunft in der Welt beruht Feine 
wegs auf jener Vernunftforderung, das fittlihe Handeln müßk 
eine Erxiftenz haben können — fie Fönnte es nicht einmal, bem 
der Oberfaß eines Schluffes, der dabin führen ſollte, würde ein 
vernünftiges Werfen fegen, das felbft ganz und gar unter die 
Bedenken der theoretifchen Philofophie fällt — fondern fie if und 
ganz natürlich. Es entſteht alfo die Aufgabe, dieſes letztere Bor 
kommen, welches ſich alfo die fittliche Forderung gleichfam nur zu 
Nutze macht, zu erflären. Bekanntlich follte dieß durch die ſo 
geziwungenen „nothwendigen Täufchungen”, welche immer bariı 
beſtehen, daß wir ein inneres Thun als äußeren Gegenftand ſetzen — 
geleiftet werben. | 

Eben diefe Fragen find es num, welche in der Teleologie ind 
Enge gebradyt werden, denn der allgemeine Ausdruck jener Höhere 
Bernunft in der Welt ift, daß diefe zweckmäßig fi. 

Es waren durch. jene „Täufhungen” die gewöhnlichen Er 
Härungsgründe der Bernunft, die wir in der Welt wahrzunehmen 


lleber den gegenwärtigen Zuftand ber Kunftphifofophie. 224 


glauben, abgewieſen und felbft erklärt worden, es war auch ge⸗ 
zeigt, daß eine vernünftige Welt felbft nicht exiftire, aber dieſes, 
daß wir fie annehnien, blieb noch zu erflären übrig. 

Um dieſes zu leiſten, mußte eben bie Aefthetif vorausgefchistt 
werben, die fo allerdings im Syſtem als Nebenſache auftritt. Wir 
fühlen im Schönen eine Uebereinftimmung ber Anfchauung und des 
Denkens: dieſes ganz Innerliche, dieſes Spiel, hypoſtaſiren 
wir, und dieß iſt die Annahme einer zweckmäßigen Welt. 

Aber wo ſagt Kant das? Kant ſagt es nirgends, aber es 
laͤßt ſich mit Beſtimmtheit nachweiſen, daß und warum er ſich 
ſelbſt über dieſen Punkt nicht ganz klar geweſen. 

Der Hauptgrund des Mißverſtändniſſes in Betreff des gegen⸗ 
ſeitigen Verhaͤltniſſes von Aeſthetik und Teleologie liegt darin, daß 
er bie Schönheit unter Anderm als Zweckmäßigkeit ohne Zweck, 
oder als bloß formale Zwedmäßigfeit befiimmt, ein Ausprud, 
welder von jeher den größten Anftoß gegeben hat, und dem 
allerdings eine feltfame Verwirrung zu Grunde liegt. 

Wenn man Manche über Kant reden hört, follte man denken, 
biefer habe in ber Xeleologie das, was wir ben immanenten 
Zwed nennen, gelehrt, und fei nur darin von der neueren Auf- 
foffung abgewidhen, daß er ihn ale fubjectives Negulativ geſetzt 
babe. jeder Lefer der Teleologie weiß, daß dergleichen ſich in 
ihr nicht-findetz Kant bringt nur einige Naturgefeße und bie alte 
Teleologie der Phyftfotheologen vor, mit dem Zufage, das fei 
Alles aber nur unfere Annahme — er zeigt ſich ganz unfähig, fich 
unter dem Zweckmäßigen etwas Anderes, ald das abfichtlicd Her- 
vorgebrachte, unter der Einheit von Sinnlichfeit und Denfen eine 
andere, als die von einem bewußten Wefen bewirkt fei, vorzu⸗ 
ſtellen. Nun konnte er fich nicht verbergen, daß und im Schönen 
eine folche vorliege, welche fich nicht nur ganz unmittelbar Fund 
giebt, fondern ſich auch nicht einmal, wie fonft wohl möglid, auf 
jene Weife demonftriren läßt, und mit ber für ihn überhaupt 
nichts weiter anzufangen war, da er Anfhauung und Verſtand, 
als durchaus Verſchiedenartiges, nicht aus Einer Duelle entſtan⸗ 
den benfen Eonnte, Statt nun dieſe als eine urſprüngliche anzus 

Zeitſchrift f. Philoſ. u. ſpek. Theol. XII. Band. 16 


223 Danzel, 


erfennen — deren er ja doch in irgend einer Weife bedurfte, ja 
die er vorausfegte, denn woher follen wir den Begriff von einer 
foichen haben, wenn fie nicht irgendwo ftatifindet, — fuchte er fie 
ſelbſt mittelft jener nothbürftigen Erflärung auszufprechen, gleich⸗ 


fam mit einem Hülfsausbrud, wie —4, ber an fi weite 
nichts zu bedeuten brauchte. Aber er bedeutete Doch noch zuviel, 
Kant betrachtete damit jenes Allgemeinfte in ung wie ein ein 
zelnes Naturproduftz er fagt auch wohl, die Vorfehung hat ımd 
das Luftgefühl der Schönheit zur Beförderung der Sittlichkeit ge: 
geben. Inſofern wir bieß nun aber bIoß fühlen, und nicht aus 
drücklich denken, foll es eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck fein, dad 
heißt ohne Bezweden oder Bezweckendes. Die abfichtliche der: 
bindung von Anfchauung und Berftand alfo, welche nur dw 
von herſtammt, daß er die unabfidhtliche und fertig vorausliegende 
nicht zu erflären weiß, wirb als die urfprüngliche, und bie legten, 
welche in der That die urfprüngliche iſt, als eine folche gefaft 
der zu jener etwas mangele. 

Um fih dieß Wunderliche einigermaßen zu erflären, muß 
man ſich erinnern, daß, wenn die Teleologie allenfalls der ther 
retifchen Philofophie hätte angehängt werben fönnen, nach unfert 
Darftellung der Inhalt diefer Tegteren ſich in die Aeſthetik Eingany 
zu verfchaffen gewußt bat, wo denn aber auch der Zmedbegrif 
als eine unklare Vorſtellung mit herbeigezogen werden Fonnte. 

Faſſen wir nun dieß Alles 'zufammen, daß nämlich, währen 
Doch der eigenthümliche Charakter der Aefthetif in der reflectirem 
ben Urtheilsfraft, d. h. in der Ergreifung- der Erkennmiß kräfte 
als ſolcher beftehen follte, der Inhalt derfelben gleichwohl her 
eingezogen wird, fo werden wir ben Mangel ber Kant'ſchen Schön 
heitslehre dahin beftimmen Fönnen, daß fie Neflectirtes und In 
veflectirted durch einander mifche. 

Dieß führt und noch einen Schritt weiter, Der Unterfdie 
zwiſchen beiden befteht nämlich darin, daß das Unreflectirte ei 
Spontanes, Natürliches ift — eben unfer geiftiges Leben — bei 
Reflectirte aber etwas, das micht nur, wie Kant anerkennt, inden 
er es ald Drittes namhaft macht, außer dem Natürlichen fehl 


Ueber den gegenwärtigen Zuftand der Kunftphilofopbie. 223 


fondern, da es benfelben Inhalt wie diefes, aber noch einmal, 
bat, über bemfelben — das mithin ganz und gar auf einem 
geiftigen Act beruht. 

So ift ed alfo der Act beim Schönen, den Kant überfehen 
hat. So wie er das Natürliche immer nicht recht als Thätigfeit 
zu erfaffen gewußt hat, — felbft bei der Einbildungsfraft läuft 
es mit ber. Freiheit derfelben ziemlich auf einen materiellen Reich» 
thum hinaus, — fo noch weniger die Thätigfeit, die jene erfaßt. 

Es ift nit zu verwiundern, daß wir dieß bier vermiffen. 
Hätte er den reinen Act zu faffen vermocht, er hätte es wohl 
fchon beim Praftifchen gezeigt; es ift eben gezeigt worden, daß 
ihn der Geift der Empirie, auf dem übrigens feine Größe beruht, 

‚baran hindert. Er fonnte aber um fo weniger dazu gelangen, 
dieſen Mangel in der Kritif der Urtheilöfraft zu erfegen — obgleich 
er den Weg dazu dur die Reflerion auf die Einbildungskraft 
als folhe andeutete — da ihm feiner ganzen geiftigen Richtung 
nad) das Schöne nie etwas mehr ald Thatfache gewefen iſt, oder 
er ſich nie felbft dichterifch verhalten hat. Sein Nachdenken hatte 
ihn auf das richtige Princip geleitet, aber dieß befaß nicht Leben— 
digkeit genug, um ſich durchzuführen. 

Dagegen ging Schiller ganz von der vollſten Erfahrung der 
That aus. Wenn es Kant's Aufgabe war, den Menſchen als in 
die Wirklichkeit hineingeſtellt zu begreifen, ſo ging ſein Beſtreben 
darauf, ſich in ſich ſelbſt zu verwirklichen. Sein Philoſophiren über 
Das Schone hat weſentlich die Seite, jenen Act der Kunſt in ſich 
abzuflären und fih, wie Goethe fagt, durch Reflerion und That 
zur Hervorbringung mufterhafter Werke zu fleigern. 

Man hat daher feine theoretifchen Leiftungen mehr, als fonft 
jemals mit ſolchen verfucht worden, auf feine perfönliche Lebens⸗ 
entwidlung zurüdführen wollen, ja die Anficht aufgeftellt, daß er 
auf feine Lehren auch wohl ohne Kant gefommen fein würde, Er 
hätte dann wenigftend das, was biefer geleiftet hat, felbft vor⸗ 
läufig erarbeiten müffen, denn er giebt fih nicht nur von Seiten 
der Polemik und Kritik, alfo der Gewinnung des Standpunftes, 
für einen Kantianer , fondern erklärt auch in einem Briefe an 

46 * 


22% Danzel, 


Goethe in Bezug auf einen unbefonnenen Berächter Kanı’d, daß, 
wenn auch die Natur überall fynthetifh verfahre, doch alles 
wiffenfchaftliche Forfchen auf Unterſcheidung und Analyfis berufe. 
In der That fußen feine Erörterungen, fo populär fie bisweilen 
ausfehen, auf der tiefften Erwägung der Kant’fchen Grundbegriffe; 
Niemand hat diefen fo gründlich verftanden und fo fachgemäß 
überſchritten. 

Nicht als ob er, wie man aus feiner Berufung auf die Syn⸗ 
theſe der Natur ſchließen fönnte, etwa nur den entgegengefeßten 
Meg eingefchlagen, und was Kant aus größerer ober geringerer 
Ferne auf einen Einheitspunft bezogen, nun auch aus dieſem her: 
zuleiten verfucht hätte. Die war an und für ſich nicht möglid. 
Kant verfährt zwar durchaus mit einer gewiffen Ironie, welde, 
wie in einem englifchen Garten, das Einzelne abfichtlich in eme 
fcheinbare Unordnung zu ftellen fcheint, um den Lefer, wenn er 
auf den richtigen Punkt geführt ift, mit der Ordnung, bie barin 
berrfcht, deſto mehr zu überrafchenz; auch fpricht er (K. d. p. V. 
©. 19) von. einem höhern Berftändniß, welches die ſpynthetiſche 
Wiederfehr zu dem fei, was vorher analytifh gegeben worden 
Allein jene Ironie befteht Doch nur darin, daß er fich deffen zu 
enthalten fucht, wozu er, da er eigentlich) nur einen Standpunft 
auszufprechen bat, beitändig verfucht ift, nämlich Alles auf einmal 
fagen zu wollen, und bie fynthetifche Ueberſicht ift auch nur bie 
ideale VBerfnüpfung in dem Einen transfcendentalen Standpunfte. 
Der reale Einbeitspunft, auf Den er wohl verweist, Der Vereini⸗ 
gungspunft aller unferer Vermögen a priori (8. d. U. ©, 239), 
ift für ihn durchaus theoretiſches Ideal, und wird in bag über 
finnlihe Subftrat der Menfchheit verlegt. 

Daraus Fonnte Schiller nicht viel mehr, als den allgemeinen 
Gedanken eines Einheitöpunftes, Die Stelle feiner Anfnüpfung an 
Kants Sperulation, enmehmen. Indem er als Künftler von der 
That ausging, befam derfelbe bei ihm eine ganz andere Beben 
tung. Sein Verdienſt um die Philofophie der Kunft befteht darin, 
die Reflexion, deren mangelhafte Durchführung Kanten, wit 
gezeigt worden, in Widerfprüche verwidelt hatte, an die Spike 


Ueber ben gegenwärtigen Zuftand ber Kunftppilofophie. 225 


der Unterfuhung, wohin fie gehört, geftellt, und ihr eine burdhs 
greifende Anwendung gegeben zu haben, 

Das theoretifche Problem, welches ihm feine Praxis vorlegte, 
war bie Tragödie, oder die Kunſt der Exrhabenheit. Die beiden 
erften Abhandlungen, welche in diefen Kreis gehören, „über bag 
Vergnügen an tragifchen Gegenftänden“, und „über die tragifche 
Kunſt“, befchäftigen fi mit derfelben. Während jene die Natur 
des tragifchen Gegenftandes unterfucht, bemüht fich die zweite, 
aus ben zufammengefaßten und hier ſchon eigenthünlicher ausges 
fprochenen Reſultaten der erfteren einige Grundregeln für Die 
dichterifche Kunftübung abzuleiten, und befonders die Tragöbie 
als die erhabene Kunft im eminenten Sinne darzuftellen, wobei 
fih ein merfwürdiges Beftreben fund giebt, auf Kantiſchem Wege 
zu den Beflimmungen des Ariftoteles zu gelangen. Sie wurden 
beide, wie ein Brief an Goethe andeutet, von Schiller fpäter 
nicht mehr gebilligt: ohne Zweifel eben wegen der vorwaltend 
Kantiichen Behandlung, die allerdings in dieſem Punfte am 
wenigften genügen kann. 

Wenn ed nämlich zwar als irrthümlich bezeichnet werben 
muß, was man nicht felten Hört, daß Kant die Naturfchöndeit 
über die der Kunft gefeßt habe, — denn er befchäftigt fich bloß 
mit der reinen Thatfache der Schönheit ohne Rückſicht auf ihren 
Urfprung, — ſo ift e8 dagegen allerdings wahr, daß fih aus feinen 
Prineipien eine einigermaßen adäquate Erfenntniß der letzteren 
nicht ableiten Täßt. 

Inſofern für ihn das beim Achthetifchen im freien Spiele 
Begriffene, wie wir eben gefehen haben, nur die Einbildungsfraft 
ift, und der Verſtand die Beflimmung bat, jene Freiheit vielmehr 
zu zügeln, Tiegt für Kant die Productivität des Genied nur in 
jener, und es ift alfo zur Hervorbringung der mufterhaften Werke 
eigentlich nur die Bedingung, „Das Genie, heißt es ©. 186, 
giebt nur den Stoff zu den Producten der ſchönen Kunſt, die Ver⸗ 
arbeitung und Form erfordert ein durch die Schule gebildetes 
Talent“. Das Genie kann daher auch ohne Geſchmack gedacht 
werden, Genie, dem der Geſchmack ganz fehlt, oder Originalilät 


226 Danzel, 


der Einbildungsfraft, die gar nicht zu Begriffen zufammenftinmt, 
heißt Schwärmerei (Anthropol. $. 29). So befteht alfo die Kunf 
nur in einem abfichtlichen Berechnen des Werkes auf die Wirfung— 
es foll eben Natur zu fein feinen — wobei zwar einerfeild nur 
.. von ber Uebereinfiimmung zum Verftande überhaupt die Rede if, 
anbererfeits aber doc felbft die Rüdficht auf Vollkommenheit bes 
Gegenftgndes (S. 188) — weil nämlid alles bewußte Hervor 
bringen einen Zwed haben müſſe — ſich einzufchleichen weiß. 
War Kant auf diefe Weife die Kunft überhaupt nicht erw 
faßlich, fo fonnte es die erhabene insbefondere noch weniger fein, 
und zwar wegen bes ſchon angeführten Umftandes, daß er Feinen 
erhabenen Gegenftand, fondern nur eine erhabene Stimmung 
fennt. Diefe bervorzurufen, giebt es zweierlei Mittel — entwe 
ber man führt und etwas vor, wogegen wir reagiren, und fomit 
das Erhabene felbft erft machen müffen, oder man ſtellt Menſche 


bar, welche eben dieſes Verhalten des Widerflandes gegen äußern 


- Einflüffe vor unfern Augen beobachten. Dieſes leßtere war die 
Methode der damaligen Zeit, welche in den Tragöbien außer 
orbentlihe Zugendhelden, oder, wo ber Begriff der Tugend 
fchwanfend war, Kraftmenfhen vorzuführen liebte. Keines von 
jenen beiden Mitteln ift Afthetifch; es kann durch fie nie ein Kunfs 
werk entfteben; man fommt babei nie über ein fubjectives Ber 
halten, fei es, daß man es felbft zu vollführen, ober daß man 
fi in ein vorgemachtes hineinzuverfegen hätte, hinaus, 

Gerade darüber erhob ſich aber Schiller durch die Dur 
führung der Reflexion. Die Wendung, mittelft welcher dieß ge 
fhieht, macht eben das Eigenthümliche der Abhandlung über bie 
tragifche Kunft aus; Man hatte fi) damals mit der Beftimmung 
des Mitleids bei der Tragödie bis zum Ueberdruß herumgeſchla⸗ 
gen: Schiller fest bier an die. Stelle beffelben das Mitleiden, 
das heißt, die Neprobuction des fremden Leidens, zu welchen 
dann natürlich auch das Thun gehört, alfo überhaupt das Pathos 
in uns ſelbſt. „Der tragifche Held, fagt er, muß fo befchaffen 
fein, daß wir unfer eigenes Ich feinem Zuſtand augenbidtih 
unterzufchieben fähig find.“ So kommt alſo das Leiden in ber 


Ueber den gegenwärtigen Zuftand der Kunftphitofophie. 227 


Kunft nur in Betracht, infofern es das unfrige ift, aber inſofern 
es wirflih das Leiden der bargeftellten Perfon ift, nicht ein bei 
©elegenheit berjelben bloß in ung ftattfindendes Gefühl, 3. B. 
eben Mitleid, ift es vielmehr nicht als unfer Leiden gefeßt, oder 
es ift unfer Leiden, wie es ung felbft objectio geworden iſt. Die 
Kunft beruht mit Einem Worte darauf, daß wir und Yon ung 
felbft trennen, wobei der Stantpunft des Künftlers darin befteht, 
Daß dieß ein urfprünglicd ihm angehöriger Gehalt, der des Bes 
trachterg, daß es ein durch Mitleidenschaft erworbener ſei. Schil- 
Ver deutet an, daß er dem Studium der Kantfchen Philofopbie 
dieſe Einficht verdanke; „der Lebensphilofophie, wie er fagt, welche 
durch flete Hinweifung auf allgemeine Gefete das Gefühl für 
unfere Individualität entfräfter, und uns dadurch in den Stand 
fegt, mit ung felbf wie mit Sremdlingen umzugehen”, 
Wir fehen bier, wie bei der erften Anwendung ber äſthetiſchen 
Reflexion (auf die Anfchauung in ihrer Totalität), fo auch bei 
ihrer Durchführung die theoretifche ald Schema vorangehen, 
Kant felbft Eonnte diefe Anwendung nicht machen; es iſt nad) 
feinen Principien unmöglih, daß wir unfer eigenes fütliches In⸗ 
dividuum ald fremdes betrachten, Dieſes ift nicht anders für uns 
vorhanden, als in fofern wir ung eben fittlich verhalten; es ob⸗ 
jeetio machen, heißt, es als Naturfache denken; — denn die ob⸗ 
jective Welt ift eben die Natur — in ganz gleicher Weife wie 
der Seele Fein räumliher Sig im Körper angewieſen werben 
fann, weil der Körper gerade der räumlich und nicht ald Ich 
gedachte Menſch if. Wir haben ſchon oben gefehen, daß Kant 
fih auf Feine Art das fittlihe Thun des Menfchen präfent zu 
machen weiß. Die einzige Thatfache des fittlichen Gebietes ift 
für ihn die Forderung des fittlichen Geſetzes, und dieß in fo 
firengem Sinne, daß felbft das Bewußtfein der Möglichkeit, fittlich 
zu handeln, nur ein abgeleitetes fein fol: du Fannft, denn du 
folft. Darum fagt er auch von der Erhabenheit, daß fie Feiner 
Deduction bedürfe; wenn die theoretifchen Gefege ihre Apriorität 
davon herleiten, daß fie einem der Vermögen bes Gemüths an⸗ 
gehören, fo ift das Praftifche, auf Dem jene beruht, eine legte That⸗ 


228 Danzel, 


ſache. Freilich wäre fo die Erhabenheit eigentlich überhaupt gar 
nicht zu flatuiren, denn wie foll jene Forderung des Sittlidhen mit 
dem finnlihen Hinderniß ihrer Verwirklichung in einem Gontraf, 
in eine äfthetifche Spannung treten können; das letztere müßte vor 
ihrem bloßen Aufpämmern in Nichte verfchwinden — alles andere 
wäre unfittlih. Es mag fih hier die Möglichkeit der Sit— 
lichfeit, als etwas, das für ſich angeſchaut werden Fönne, doch 
geltend gemacht haben — und wie follte fie nicht? Jener Satz, du 
Tannft, denn du follft, mag tauglich fein, mich im befondern Falk 
zum Handeln aufzurütteln, aber gerade dazu muß ich ein Können 
überhaupt vorausfegen — allein dem Princip nach ift fie Kan 
ten fremd. Die ganze Xefthetif wurde, wie wir geſehen haben, 
auf Beförderung der Moralität zurüdgeführt, Die Reflexion mußt 
alſo der Sittlichfeit dienen, daher konnte Kant nicht dieſe ſelhſ 
zu ihrem Gegenſtande machen. 

Schiller leiſtete dieß. Nicht zwar, als hätte er, weil er eines 
zu Reflectirenden bedurfte, das Sittliche fo beſtimmt, daß es ri⸗ 
flectirt werden konnte, ſondern er reflectirt es eben von Anfang 
an, und nimmt alſo einen ganz andern. Standpunkt ein. E 
adoptirte zunächft die Kantifchen Beftimmungen durchaus. Kommt 
body in einer ber mehrgenannten Abhandlungen fogar die Anfiht 
vor, bag eine Handlung um fo mehr an Berbienft einbüße, je 
mehr die Neigung daran Antheil habe. Aber er ftellte dabei fo 
gleih eine Betrachtung an, die Kant nie in ben Sinn gekommen 
war — daß nämlich, wenn und infofern Das Sittengefeg in dem 
Willen aufgenommen wird — was Kant dadurch, daß er es für 
möglich erklärt, nicht nur für möglich erklärt, fondern fich ver 
wirklichen läßt, die Sittlichfeit gerade dadurch fehon mehr als eine 
Horderung, nämlich eben ein Wirkliches wird. Und damit mußte 
er dann freilich auch in ben materiellen Beſtimmungen von Kant 
abweichen. 

Das fittliche Beftreben muß vor allen Dingen einen Erfolg 
haben können. Diefen verlegt Kant in die äußere Welt oder bie 
Natur — gleihfam durch eine Wahlverwandtfchaft der beiden 
Sphären getrieben, denn das Sittengefeg foll ja nach ihm Gefeh 


Ueber den gegenwärtigen Zuſtand ber Aunſtphiloſophie. 229 


einer höhern Natur ſein. Aber damit erreicht er ſeinen Zweck 
nicht. Die Natur iſt nicht im Stande, die Sitilichkeit aufzuneh⸗ 
men, wir Fönnen auf fie nur wirken, infofern wir ihr felbft an⸗ 
gehören, alſo nur phyſiſch; die fittliche Intention bleibt babei in 
und zurüd, und ift dem finnlichen Nefultat unferes Handelns auf 
Feine Weife anzufeben. Was aber die moralifche Weltordnung 
anbetrifft, durch deren Annahme wir und lebendig erhalten follen, 
fo giebt fie zwar Kant felbft nur für eine Idee aus, aber es ift 
doch ein wunderliher Troft, dag man annehmen foll,- was man 
für einen Widerfpruch erfennt, Denn bei der Außerlichen Weife, 
wie Kant den Zwedbegriff auffaßt, ift das Verhältniß Gottes zur 
Welt dem unfrigen hierin ganz analog; er möchte etwa bei ber 
Einrichtung der Welt ganz gute Abfichten gehabt haben, aber biefe 
als folhe kann doch nur eine mechanifche fein., Verlieren wir 
nun aber auch diefen Troft, fo muß das fittliche Handeln ung 
überhaupt als unmöglich erſcheinen. 

Nun nimmt er zwar auch eine innere Natur ans unfer 
Fühlen, Wünfhen, Begehren. Aber da das eigentliche Selbft 
immer nur in dem reinen Gefes als ſolchem Tiegen foll, weiß er 
fie aus der Außern Natur analog aufzufafen: fie ift ihm auch 
nur’eine fremde, Das Ideal der Sittlihfeit, die Heiligfeit des 
Willens (K. d. 9.2. ©. 149), Tann für ihn daher nicht Reinheit 
der Neigung fein — denn wie fäme die Neigung dazu, fih zu 
reinigen — fondern reine Neigungslofigfeit. Daher iſt es 
Außerft treffend von Schiller bemerkt, daß Kant fi, wie Luther, 
nie völlig von den frühern Feffeln habe losmachen Fönnen, und 
daß feiner ganzen Sittenlehre etwas Mönchiſches inwohne, 

Und doch hätte er nur die Idee der fittlichen Weltordnung, 
welche er bei der äußern Natur anmwandte, auf die innere übers 
tragen bürfen,. um zu einem genügenderen Nefultate zu gelangen. 
Denn wenn wir auch bier das Vertrauen auf eine Vernunft, mit 
der, indem fie etwa von Gott in ung gelegt worben, unferm Handeln 
ein fruchtbarer Boden bereitet fei, binzubrachten, worin follte dieſe 
befteben, als ‘in einer GSittlichfeit der Gefinnung und Neigung? 
So trauten wir alfo ung felbft. ſchon zu, was wir brauchten, näm⸗ 


230 Danzel, 


lich eine Anlage, eine reale Möglichkeit zur Sittlichkeit, bie wir 
nur weiter ausbilden müßten, was, infofern nun Doch unfer Ste 
ben, das lettere zu leiften, felbft nicht ein von außen kommendes, 
fondern bereits eine Verwirklichung jener Anlage fein würde, mi 
ber oben Schillern beigelegten Betrachtungsweife zufammenftele, 

Mag nun Schiller diefe Gebanfenwege betreten haben ode 
nicht, fein Standpunft ift in der That der bezeichnete. Man ü 
bisweilen geneigt, ihn wegen der piychologifchen Färbung, weld 
feine Unterſuchungen haben, als Philofophen nicht für voll ar 
zufehen. Allerdings bedient er fich häufig der Beftimmung di 
Triebes; er brüdt mit berfelben fogar entichieden trausſcer 
bentale Beflimmungen aus: man denke an die Benennungen For 
trieb, Spieltrieb, ja als das, was ſich beim Erhabenen gehindert 
finde, und wofür Kant die fittliche Forderung felbft einführt, wir 
fogar ein Thätigfeitstrieb überhaupt namhaft gemacht. Aber wen 
dieß eine Vermenſchlichung der Sache ift, fo verdient Schilke 
barum etwa nur das Lob, das man dem Sofrates wegen cin 
ähnlichen Beifeitigung der physica gezollt hat. 

Denn es ift die gerade der Punkt, an welchem er in fir 
damentalen Gegenfag gegen Kant tritt. Unter dem Triebe H 
bie Kraft im Sinne der wirklichen Thätigfeit, nicht bloß des dm 
mögens, oder einer phyfifalifchen Hypothefe, wie bei dieſem, J 
verſtehen. Indem Schiller diefe Beftimmung einführt, macht « 
fi) gänzlich von der Grundidee Kants log, welche dieſer in ein 
eigenen Abhandlung für Sliefewetter Ch. Kants Schriften vum 
Rofenkranz und Schubert Bd, XL Abth. A. S. 2641) ausgefühl 
bat, daß wir nicht erfahren Fönnen, daß wir denken u. ſ. ® 
fondern daß der Menfch fih auch feinem Snnern nad nur Ev 
ſcheinung fei (ſ. bei. 8. d. p. V. S. 9).. Hierauf mußte Kun 
Tommen, weil er, obgleich er in Abrede flellte, daß das Seelen⸗ 
bing oder das Ich an fi, Subftanz genannt werden dürfe, fih 
doch von. der Annahme eines folden, nenne man es, wie ma 
wolle, nicht loszumachen wußte. Schiller aber brachte den durk 
geführten Idealismus, obgleich er ſich befanntlich theoretifch weit 
nicht auf ihn eingelaffen hat, in fh fo weit zum Durchbruch, daß 


Ueber den gegenwärtigen Zuſtand ber Kunſtphiloſophie. 3341 


er annahm, wenigftens unfer fittlihes Ih fei nichts ans 
Deres, ale wovon wir wiffen, ober ber Menfch habe es 
im Praftifchen nach allen Seiten hin nur mit fi felbft zu thun. 

Wie follte auch für und als Sittlihe ein äußerer Gegenſtand 
vorhanden fein, da er ja als bloßer Gegenftand gerade nur fo 
geſetzt wäre, daß er unfer praftifches Verhalten nicht anginge, wenn 
er aber auf diefes bezogen würde, als Affertion unferer felbft viels 
mehr feine Gegenftändlichfeit abwürfe, und in ung einträte. Unfere 
eigenen unreinen Neigungen, unfere Schwäche, unfere Schlaffheit 
Find unfere Feinde — wir ſelbſt find fittlih genommen, unfer 
einziges Object. Dieß hält Schiller durchaus feft. Aber er zeigt, 
daß ed an ber einfachen Negation bes Kampfes gegen dieſe Feinde 
nicht genug fei. Die Neigung kann an fich Feine. unferer Sittlich⸗ 
Zeit fremde fein: wir haben den Grund oben angegeben, die Sitt- 
lichkeit ift, infofern fie wirklich gewollt wird, ſelbſt Neigung. 
Das Innere ift alfo in fih Eins, und es kommt folglich nur 
darauf an, es als ſolches zu ſetzen. Das fittlidhe Uebel befteht 
Demnach nicht darin, daß dieß oder jenes in und vorhanden, ift, 
was von anderer Seite befämpft werden müßte, fondern das 
Kämpfen ift felbft vom Uebel, weil es zu feinem Beſtehen fein 
Mißlingen fordert, oder eine befländige Zweiheit vorausſetzt. 
„Der Menih, fagt Schiller in der Abhandlung über Anmuth und 
Würde, ift nicht dazu beftimmt, einzelne fittlihe Handlungen zu 
verrichten, fondern ein ſittliches Weſen zu fein.’ Es bebarf alſo 
einer zweiten Negation, durch welche der Kampf felbft befeitigt, 
und die freie fittlihe Neigung auf den Thron .gefebt wird; der 
Menſch ift nur ein halber, nicht nur, infofern er von fich felbft 
befämpft wird, fondern auch, infofern er fi bekämpft. Er fol 
‚aber ein ganzer werden: — Zotalität if das Lofungswort der 
Schiller'ſchen Sittenlehre. — — 

Bliden wir jetzt auf den bisher zurüdgelegten Weg zurüd. 
Um der erhabenen Kunft willen hatte Schiller das Sittliche näher 
in Betracht gezogen. Er hatte dabei eine engere Verbindung 
zwilchen biefem und dem Aefthetifchen, als Kant annimmt, ent 
bei. Denn während bei diefem das letztere nur ‚eine Tendenz 


232 Danzel, 


zur Außeren Beförberung ber Moralität enthält (Anthropol. $. 68) 
— welde, beiläufig gefagt, im Grunde darauf Kinausläuft, daf 
das äfthetifche Beftreben, möglichft Bielen zu gefallen, uns au 
‚die Betradhtung führen kann, wie wir ung etwa den Beifall Alleı 
fihern können, ‚was nur buch Sittlichfeit möglich ift — war 
Schiller durch daſſelbe, indem er den in ber reflectirende 
Urtheilskraft liegenden Keim des Actes entwidelte, zu einer Hefe 
ren Erfaffung der Sittlichfeit felbft gelangt. 

Bringen wir dieß nun auf einen beflimmten Ausdrudh p 
werben wir fagen müflen, daß er eben auch die Sittlichfeit af 
Reflexion begründet habe. 

Allein hieraus ergiebt ſich ein für Kunft und Sittlichfeit gleid 
mißliches Nefultat. 

Es ift eben gezeigt worden, wie fich bei Kant ber unrefles 
tirte Inhalt des Bewußtfeins in Geftalt der Normalidee in be 
Aeſthetik einfchleicht. Abgefehen nun davon, daß fich nicht eir 
fehen läßt, wie das foldhergeftalt ganz verfchiedenen Sphären An 
gehörige in eine Einheit der Wirkung zufammengehen foll — dem 
Daß unfere verfchiedenen Erfenntnißfräfte neben einander befrie 
digt werden würden, kann nicht für eine ſolche gelten — ergeben 
fih aus der Weile, wie die Sache gehandhabt wird, noch ander 
Schwierigfeiten. Was Kant zur Annahme der Normalibee, als 
eines gleihfam durch das Aufeinanderlegen vieler Anfchauunge 
berjelben Claſſe entſtandenen Durchfchnittsbildes bewogen hatt, 
war, auch jenem flofflichen Elemente nad) für Die Schönheit etwas 
in fich felbft Genügendes aufzufinden, denn durch ein folches Ber 
fahren der Abftraction wird das Zufällige abgeftreift. Stellt man 
biebei die Einbildungsfraft etwas zurüd, fo kann man unter be 
Normalidee eines Dinges die Borftellung defielben verftehen, die 
fo beichaffen ift, Daß nad) ihr daſſelbe vollfommen feinem beflimm- 
ten Zweck entſpräche. | 

Hier konnte fih nun aber Kant nicht verbergen, baß ein fol 
cher Zweck felbft manchen Modificationen unterworfen fei, und 
folglich die Sache. — er führt das Beifpiel eines Landhauſes an, — 
ſehr verfchieden geftaltet fein könne; daß es alfo won derſelbe 


Ueber den gegenwärtigen Zuftand der Kunftphifofophie. 233 


Fein eigentliches Ideal gebe. Ein folches, fchließt er daraus, Fönne 
alfo nur für das angenommen werden, was den Zwer feiner 
Eriftenz unwandelbar in fich felbft trage — für den Menfchen. 
Allein damit fällt er nun vollends aus dem äfthetifchen Gebiet 
heraus... Denn wenn wir auch zugeben, daß dieſes deal etwas 
Höheres fei, als die Normalidee, fo muß es doch in Weile ber 
Vegteren, d. h. für bie Anfchauung eriftiren — es wäre eben eine 
Borftellung, welche in Betreff bes Menſchen überhaupt Geltung 
hätte, während die Normalivee immer nur ein beflimmtes Gebiet 
beherrſcht; aber wie follte man bieß ihr als Vorſtellung anfehen 
Fönnen, und andererfeits, wie fol ſich die fittlihe Natur des Mens 
ſchen in feiner Geftalt vorftellig machen laſſen? 

Indem Schiller diefen Knoten auflöst, hebt er zugleich jene 
Vermiſchung von Reflectirtem und Unrefleetirtem auf, ja zieht 
gerade aus bem Ießteren feine eigene Schönheitslehre. Wir haben 
gefeben, daß er überall von der That, Kant von ber Thatfache 
ausgehe. Die findet hier feine Anwendung. In einem längern 
Abſchnitt am Anfange der Abhandlung über Anmuth und Würde, 
welcher Kants Namen nicht nennt, aber offenbar gegen ben fo. 
eben genannten Punkt der Kritif der Urtheilskraft gerichtet ift, feßt 
er auseinander, daß der Menſch, infofern er bloß Zweck in ſich 
felbft, oder, was daſſelbe ift, der höchſte Zweck ſei, durchaus der 
Natur angehöre; dabei fei nur von architektoniſcher Schönheit Die 
Rede; zeichne fi) durch diefe der Menſch vor andern Gefchöpfen 
aus, fo fei es nur, weil fein Bau vollfommener fei: feine fittliche 
Natur als folhe komme dabei gar nicht in Betracht. Diefe bes 
ſtehe nämlich darin, daß er fih ſelbſt als Zwed ſetze. Ent⸗ 
wickele man aber, was barin liege, daß er wirklich fich felbft mit 
Sitilichkeit zu durchdringen, feine Natur zu einer fittlichen umzu⸗ 
fchaffen fuche, fo werde die Erfcheinung des Zuftandes, ben er 
Damit in fi) hervorbringe, ale Schönheit bezeichnet werden können. 

‚Dieß ift das Schema der Abhandlung über Anmuth und _ 
Würde, Die erftere ift nach Schiller die Befchaffenheit des Be⸗ 
nehmens und befonders ber Törperlichen Bewegungen, welche zeigt, 
dag es dem Menfchen mit der Durchdringung von Natur und 


234 Danzel, 


Sittlichfeit gelungen, daß er alfo des Zwanges ledig fei. Di 
Würde ift der Ausdrud der Beherrſchung folcher Neigungen, 
welche ihrer Natur nach nicht mit Sittlichfeit durchdrungen werden 
Eönnen. Damit jedoch die Anmuth nicht mit Der Seelenlofigfet, 
welche gut ift, weil fie feinen Anreiz zum Böfen empfindet, ver 
wechfelt werde, muß fie zugleich Würde — damit Diefe nicht Unter 
drüdung der Natur fcheine, welche, aus andern, als fittlichen, Die 
tiven hervorgeht, muß fie Anmuth, d. h. eben eine von fittlihe 
Motiven durchdrungene Gefinnung, zeigen. Beide find eine Schiw 
beit, welche nicht von der Natur gegeben, fondern vom Menfda 
felbft hervorgebracht wird. 

Dffenbar tritt dabei die füttliche Wiedergeburt gänzlich in da 
Bordergrund. Wenn diefe nur vorhanden ift, foll die Anmulf 
ber Erfcheinung, — da body, fobald einmal die finnlichen Neigungen 
in ung vom Willen aus umgeflaltet werben Fünnen, infofern jm 
fih im Körper abdrüden, auch biefer in dem Yegtern einen Ant 
brud finden muß, — ganz von felbft folgen. Am deutlichften fpridt 
fih in Betreff dieſes Punktes eine Anmerkung über die Schas 
fpieler aus. Nur die Wahrheit der Darftellung, wirb dort be 
hauptet, Fönne abfichtlicdy berechnet werden, die Schönheit miflt 
Natur fein; um fie zu erwerben, fei nichts zu machen, als daß 
der Künftler vor Allem die Menfhheit in ſich zur Zeite 
gung bringe.. 

Dieß ift der Keim und zugleich der philoſophiſche Austrut 
einer Anficht über die Kunft, welche fi) bis auf den heutigen Tas 
geltend macht, daß nämlih das Kunftwerf nichts fei als die 
Heußerung einer Natur, welche ſich felbft ein für allemal [Gin 
gemacht habe. Dean denke dabei an Wieland, deffen Bid Sci: 
lern, ber damals noch nicht mit Goethe in Verbindung getreien 
. war, bei biefer Ausführung vorgefchweht haben könnte. Sdile 
fcheint auch nicht daran verzweifelt zu haben, felbft die architelte 
niſche Schönheit, für die er, nach eigenem Geſtändniß, nicht viel 
Sinn hatte, auf daffelbe Princip zurüdzuführen; fie beruhe, fagt 
er, auf Bewegung; denkt man nun an die Unterfuchungen übe 
bie Schönheitslinie u. dgl., fo möchte man faſt vermuthen, def 


lieber den gegenwärtigen Zuftand ber Kunftphilofophie. 235 


er gehofft habe, die Zeichnung durch graziöfe Handbewegung, 
wirkliche oder vorgeftellte, zu erflären, 

Dem fei wie ihm wolle — ber Nero der ganzen Angelegen- 
beit ift Diefer, daß das Abftoßen unfer felbft, auf dem die Kunft 
ihrem ganzen Wefen nach beruht, nichts anderes fei, als die Bil⸗ 
dung zur fittlihen Gefinnung, daß alfo für Schiller Sittlichkeit 
und Kunft in ihrem Kern identifch feien. 

Das Mißliche diefer Anficht bedarf nicht vieler Auseinander⸗ 
febung. In der Tragödie, auf.die es Schiller am meiften an⸗ 
kam, bat fie die Dramen hervorgerufen, in welchen ſich der Dich« 
ter felbft feinem fittlihen Streben nad) in der Hauptperfon fchil« 
dert. Die redendften Beifpiele diefer Art find Schiller’s eigene 
Werfe aus feiner erften Periode, Bon den Räubern giebt jeder- 
mann zu, daß fie mehr eine fittlihe, als eine dichterifche That 
find. Die fittlihen Conſequenzen, welche die Uebertragung eines 
Sichwiegens in der Totalität, das in der Kunft, richtig verſtan⸗ 
den, an feiner Stelle ift, auf das Handeln hat, find neuerdings 
bei Gelegenheit des Kampfes gegen die Romantik fo überreichlich 


erörtert worden, daß man barüber fein Wort mehr zu fagen - 


braudt. Das Teste Refultat diefer Vermifchung heterogener Ge⸗ 
biete find die Künſtlerdramen gewefen, in denen ein haltungslofes 
Individuum ein eben folches fchildert, deflen einzige Beſchäftigung 
Darin beſteht, das Bleiche zu thun, und fofort wo möglich 
in infinitum. 

Für Schiller war biefe Confuſion höchſtens ein Ausgangs 
punkt, Sobald er fih ihrer einmal bewußt geworden war, er⸗ 
kannte er es für feine Tebensaufgabe, fie zu überwinden. 

Für das GSittlihe warb ihm dieß nicht ſchwer. Es ift zwar 
nach feiner Lehre unfere Aufgabe nicht, der Sinnlichfeit das Gute 
mühevoll abzuringen, fondern und dazu zu fleigern, daß wir es 
aus dem Mittelpunkt unferer Natur mit Teichtigfeit hervorbringen. 
Da aber der Zweck nicht die Teichtigfeit ift, fonbern das Gute, 
fo dürfen wir, wenn jene nun einmal noch nicht vollftändig er⸗ 
reicht iſt, um der Vollbringung bes letztern willen die Einfeitigfeit 
ber Anftrengung nicht ſcheuen. Dieß ift die Graͤnze, bes Gebrauchs 


256 Danzel, 


Schöner Formen“. Wie follte es auch möglich fein, daß wir, wenn 
eine beftimmte Anforderung an unfer Handeln gemacht wird, vor 
erft auf unfern allgemeinen fittlihen Zuftand zurüdgingen un 
diefem bei feinem Verhalten in dem befonderen Falle gleichlam 
zufähen? Beftände die Sittlichfeit in folcher vefleriven Erhebung 
über bie Unmittelbarfeit, fo wäre fie ja gerade nicht Natur. 

Aber läuft e8 dann nicht mit unferer Ausbildung zu fittlichen 
MWefen am Ende doch wieder darauf hinaus, daß fie nur gefuht 
werden folle, damit das Einzelne defto befier auf legale Weie 
gefchehe? Wird nicht die Reflexion, welche Schiller in die Sitten 
lehre eingeführt hatte, zum bloßen Hülfsmittel herabgeſetzt, und 
alfo ihrer übergreifenden Wichtigkeit beraubt? Keineswegs. Au 
indem und infofern wir im Handeln begriffen find, follen wir 
auf das Einzelne ſehen, Das ung gerade vorliegt, dabei bleibt ed 
aber wahr, dag wir damit, infofern wir Handelnde find, z 
gleich dag Reich der Sittlichfeit nit nur ausbreiten, fondern fchen 
ausgebreitet Haben (extensum habemus). Die äfthetifcye Er 
ziehung ift an und für fi Verwirklichung des Staates. An 
biefem befigt die Schiller'ſche Philofophie ein Ideal, welches fih 
von dem Kantifchen dadurch unterfcheidet, daß es nicht, wie dieſes, 
eine Unmöglichkeit und eine bloße Annahme ift, fondern, ob es 
zwar nie vollftändig verwirklicht werben kann, Doch beftändig, und 
fhon dadurch, daß ich es nur benfe, theilweife in der That vers 
wirklicht wird. Der Staat ift die wahre höhere Natur, is 
welche wir eintreten, fobald wir und dazu erheben, fittliche Weſen 
zu fein: und zwar iſt er, was, wie wir oben geſehen haben, 
Kant von feiner höhern Natur nicht zu. zeigen vermochte, des 
dur mehr als Natur, bag er nur durch und gefebt ift, und 
vermöge unferes Setzens fortwährend befteht. 

Dieß die Auflöfung jener Schwierigkeiten Yon Seiten ber 
Sittlichkeit. In Betreff der Kunft hat Schiller eine folche wen 
ger deutlich ausgeſprochen. 

Die Abhandlung über die Gränzen des Gebrauchs fchöne 
Formen war fehon erfchienen, mithin bie äſthetiſche Auffaffung ber 
Sittlichkeit ſchon abgewiefen, als Schiller die Auffäge über naive 


Ueber den gegenwärtigen Zuftand der Kunſtphiloſophie. 937 


und fentimentalifche Dichtung fchrieb, in denen er die Dichtung | 
noch als Ausflug perfönlicher Gefinnung und Bildungäftufe, naive 
und fentimentalifche Dichtungsweife zugleich als Denkweiſe dar- 
ftellte. | 

W. v. Humboldt, fein eifriger Studiengenoffe im Sache der 
Aeſthetik, nahın hieran Anſtoß. Schiller hatte die naive Poeſie ale 
die beftimmt, weldye der Form, die fentimentalifche als die, welche 
der Materie nad) Unendlichkeit habe, infofern jene aus der in ſich 
geichloffenen Sinnesweife der Alten, diefe aus der immer auf ein 
Jenſeits gerichteten der Neueren hervorgehe. Humboldt wünfchte 
(Briefw. ©. 368), er möchte beide Arten aus dem höhern Begriffe 
ber Poefie abgeleitet haben; es feheine ihm, daß wenn die Be- 
flimmung der naiven Poefie auch etwa richtig wäre, die ſenti— 
mentalifche wenigftend der Materie und Form nad) unendlicy fein 
müfle. Denn in der Form — dieß erläutert er Durch das Beifpiel 
der Sculptur, beftehe doch das Wefen der Kunft. 

Schiller erwiedert darauf zuvörderſt (S. 382) eine Deduction 
des Begriffs der Poefte, die ihn jett zu weit führen würde, fei 
dem Inhalte nach in der. „Erziehung“ und in den vorliegenden 
Auffägen enthalten. 

Was finden wir nun bier? 

Kant hatte alle Sittlichfeit darauf begründet, daß das uns 
verrüdbare Ziel derſelben uns beftändig im Bewußtſein gegen« 
wärtig ſei. Dieß Ziel war von Schiller anders beſtimmt worden; 
es war ihm nicht eine Verwirklichung in der Außern Welt, fondern 
eine fittlihe Durchbildung, Zotalität und vollfommene Leichtigfeit 
des fittlichen Vollbringens im Innern. Nach ihm ift der höchfte 
Trieb des Menfchen der Spieltrieb, d. h. eben das Beftreben, 
den Stofftrieb, oder das Unbewußte, mit dem Formtrieb, oder 
dem Bewußten, vollkommen in Eins zu fegen, und ganz und gar 
als dieſe Einheit zu exiſtiren. Man kann dieß ein fi) Durchleben 
nennen. Hiedurch befommt nun das Ziel felbft eine ganz andere 
Bedeutung, als bei Kant, Es kann nicht bloße Annahme fein, 
denn dann flände es ja nur auf der Seite des Formtriebed, wäre 
etwas, das an und für fi) nur verwirklicht werden follte. Es 

Beitfchrift f. Philoſ. u. ſpek. Theol. X. Band. 47 


— 


238 Danzel, 


muß, wenn es in feiner Sntenfität, nicht etwa bloß als entfernte 
Borftellung, im Bewußtfein vorhanden ift, felbft ſchon ein Durd- 
lebtes, ein in fich Bollendeteg, ein Erreichtes fein: — die Totalität, 
wie fie nicht bloß fein foll, fondern als Totalität iſt — nicht 
mehr ein Spieltrieb, fondern das Spiel felbfl. Dieß ift di 
Kunft. Sie ift das Ideal ver Schiller'ſchen Philofophie, weldes 
fi) von dem Kantifchen nicht bloß dadurch unterfcheidet, daß «6, 
wie der Staat, verwirklicht werden kann, fondern, während di 
Sittlihfeit, deren deal fie ift, befländig ein Streben bie, 
neben derfelben als an und für fi) Verwirklichtes eriftirt. 

Dieß ift der Gattungsbegriff der Poeſie, zu welcher mithin 
auf praktiſchem Wege nie zu gelangen ift, denn fie befteht ehe 
darin, daß, was in Bezug auf biefen nur ald Ferment des fitlli 
chen Lebens betrachtet wird, als eine für ſich  beftehende Sphär 
erfaßt werde. . | 

Wie fommt ed nun aber, daß Schiller beide dennoch unter 
einander zu mengen fiheint? Denn auf Humboldt's Einwand 
gegen bie fentimentalifche Poefte erwiedert er (a. a. DO. S. 377) 
berfelbe wende zu fehr den Gattungsbegriff ſchon auf die Art an 
Für fie fei jener nur das Ziel, dag fie nie erreichen könne. Dis 
ift nur die Wiederholung deffen, was Humboldt tabelt. Dem 
was die Poefie, d. h. bie Totalität als ſolche, nicht erreichen kam, 
ift ja eben nicht Poefie, fondern Sittlichfeit. Die ſentimentaliſche 
Poeſie ift alfo nur Denkweife. Warum Tann nun aber Schile 
nit davon loskommen, daß fie mehr fein ſolle? Was ift über 
haupt eine Art, von ber ihre eigene Gattung nicht prädiceirt wer: 
den ann, ein Ding, das nicht fein eigener Begriff it? — Die 
Sittlichfeit ift an und für fich dasjenige, was zu etwas hinftrelt, 
das außer ihr eine Eriftenz hat. Die neuere Philofophie nem 
dieß Verhältniß das Hinaustreiben eines Begriffes über 
fih ſelbſt. Die Kunft ift die Wahrheit der Sittlidfeit. 
Wie Schiller dadurch, daß er Naives und Sentimentaled ald 
wefentlihe Geſtalten des Geiftes begriffen, der erfte Phane- 
menolog im Hegelfchen Sinne gewefen ift, fo hat er burch fein 


Ueber ben gegenwärtigen Zuſtand der Kunſtphiloſophie. 239 


Verknüpfung und wieder Sonderung von Sittlichkeit und Kunſt 
einen dialektiſchen Uebergang aufgeſtellt. | 

Damit ift nun aber bie praftifche Auffaffung der Kunft im 
Grunde aufgegeben: diefelbe gewinnt eine theoretifche Bedeu⸗ 
tung. Erft jest konnte Schiller in der Abhandlung von 4800 
(1796) einen abfchließenden Ausbrud für das Erhabene finden. 

Dieg zu erläutern, muß noch einmal auf Kant zurüdgegangen 
werden. 

Es ift wohl fonft fhon die Bemerkung gemacht worden, und 
auch im Anfang dieſes Auffages von ung darauf hingedeutet, daß 
Kanr's ganze Philofophie ein Ringen fei, das Selbftbewußtfein in 
Weiſe des Bewußtſeins auszufprechen. Daher das Gewirre von 
Bermögen, mit weldyen es ihm, während es aus der Angft, das 
Ich auf irgend eine Weife zu bypoftaficen, hervorgeht, doch gerade 
Darum wieder nicht recht Ernſt iſt. Daher die Cruditäten ber 
Ideen, des Typus der Sittlichfeit, des Ideals: lauter Umſchrei⸗ 
bungen bed Jh = Ich. Aus derfelben Duelle fließt die Ablei⸗ 
tung der mathematischen Erhabenheit, die wir S. 93 der K. d. U. 
finden. Wenn das größte Maaß, das unfere äfthetifche oder com⸗ 
prebenfive Größenfchägung anzuwenden weiß, fi zur Auffaffung 
eines Gegenftandes unzureichend erweist, fo foll uns, wegen dies 
ſes Mangels, das abfolute Gange der Natur felbft, ald das eigent- 
liche Grundmaß derfelben, einfallen, und darin, daß er dazu Ver⸗ 
anlaffung gegeben, fol die Erhabenheit des Gegenftandes beftehen. 
Dan fieht fogleich, daß dieß etwas ganz Zufälliges tft: das Ge⸗ 
fühl unferes Unvermögend und die Vorftellung jenes abjoluten Gan⸗ 
zen müßten eins und baffelbe fein, — bie legtere müßte durch 
Neflerion auf das erflere gewonnen werden, wenn ed mehr 
fein follte. Dieß hat Schiller gefehen. In einem höchſt wichtigen 
Abfchnitte der „zerfireuten Betrachtungen”, welchen er ſpäter weg- 
gelaffen, aber Hoffmeifter in feinen Supplementen (IV. ©. 552 ff.) 
wieder an’s Licht gezogen hat, zeigt er, daß die Erhabenheit bes 
Eindruds, welchen ein Gegenftand, den ich nicht aufzufaflen weiß, 
auf mich macht, Daraus enifiche, daß mir dabei die Unendlichkeit 
meines Auffaffens felbft aufgeht. Dieß erreicht er dadurch, 

| 17° 


240 Danzel, 


daß er das Seben eines Maaßes überhaupt als ein Sehen dei 
Ichs auffaßt, mithin die Bedeutung ber synthesis a priori, weldt 
die neuere Philoſophie hevausgeftellt hat, erkennt. So kam a 
dann fagen (S. 562): „Ih muß mir beim Erhabenen vorftellen, 
daß ich die Einheit meines Ichs nicht zur Vorftellung bringe 
fann, aber eben dadurch flelle ih mir ja Diefelbe vor: 
— — das Große ift alfo in mir, nicht außer mir, es iſt mein 
ewig ibentifhes, in jedem Wechfel beharrendes, in jeder Ber 
wandlung ſich felbft wiederfindendes Subject”. 

Es war nicht ſchwer, auf Diele Weife einen Ausdruck für das 


Erhabene überhaupt, der nicht blog vom Mathematifchen gält, 


zu finden. Schiller hatte bereits Verftand und Moralität, welche 
bei Kant zwei ganz verfchiedene Arten defielben begründen, unter 
den Begriff des Formtriebes vereinigt. Diefer bedeutet aber 
Setzen des Ich, alfo Thätigfeit, fomit ift das Erhabene cm 
Hemmung der Thätigfeit, oder ein Leiden, welches gleichwohl 
mit einem Quftgefühl verbunden ift. 

Allein dieſe letztere Beftimmung Tann feinen andern Sim 
baben, als dag wir ung durch daffelbe nur auf andere Walt 
in Thätigfeit verfegt finden; ein Leiden an und für ſich Tann, weil 
es eine todte Aeußerlichkeit fegt, Die wir nicht zu überwinden ver 
mögen, niemals anders, denn als ein Abbruch, der unferer Eriften 
gefchieht, gefühlt werben. Dieß brachte Schiller auf die Annahme 
einer ibealenleberwindung, mit deren Entdeckung der Kreis feine 
äfthetifchen Grundbegriffe durchlaufen war. „Kann der Meufd, 
fagt er in der zuletzt namhaft gemachten Abhandlung, den phyf 
ſchen Kräften Feine verhältnigmäßige phyſiſche Kraft mehr car- 
gegenfegen, fo bleibt ihm, um feine Gewalt zu erleiden, nidts 
Anderes übrig, als ein Verhältnig, welches ihm fo nachtheilig if 
‚„ ganz und gar aufzuheben, und eine Gewalt, Die er der Tpat 
nach erleiden muß, dem Begriffe nad) zu vernichten. Dieh 
heißt aber nichts anderes, als fich derfelben freiwillig 
unterwerfen“ Der allgemeinfte Ausdruck endlich besjenigen 
weflen er praftifch nicht Herr werben kann, des Reſtes, welcher nad 
aller fittliihen Durchdringung der Welt immer übrig bleiben wir, 


Ueber den gegenwärtigen Zufland der Kunftphilofophie. 241 


und follte e8 auch nur in der unentfliehbaren Nothwendigkeit bes 
Todes fein, ift das Schickſal. Daher ift Schillere ganze Lehre in 
-dem Worte zufammengefaßt, daß das Erhabene, infofern es einen 
Angriff auf unfer menſchliches Selbft enthält, oder dag Pathetifche, 
eine Inoculation des Schickſals fei. - 
Zwar darf e8 nicht verfchwiegen werben, daß hiemit wieberum 
zunächſt nur ein Anhang zur äfthetiihen Erziehung gegeben fein 
foll; es wird nicht abgeleitet, in wiefern ſich dieß Erhabene nun 
gerade im Kunftwerfe der Tragödie barftellen müſſe. Er nennt 
als erhabenes Object bie Weltgeſchichte, die als ſolche doch höch- 
ſtens für eine Naturfchönheit gelten kann. Aber wenn ung babei 
ſogleich einfallen muß, daß er fih auch als Hiftorifer thätig bes 
wiefen, und daher bei jenem Ausſpruche vermuthlich zunächſt an 
die von ihm bearbeiteten Theile gedacht habe, fo ift es überhaupt 
nicht ſchwer, in diefem Betracht feine Theorie mit der großartigen 
Ausübung, weldhe feine legte Periode ausfüllt, zu vermitteln. 
Hat nämlich unfer ganzer Verſuch die Aufgabe gehabt, die 
Schickſale zu verfolgen, weldye die Theorie des Schönen und der 
Kunft vermöge ihrer Auffaffung von Seiten der praftifchen Philo⸗ 
fophie ber zu erfahren hatte, fo find wir jest zu dem Punfte 
Durchgedrungen, an weldem dieſe Verhältniffe fich in fich ſelbſt 
abfchließen. Wenn auh in der Kunft das Praftifche fih über 
fi) ſelbſt hinausgetrieben hatte, fo ift es doch noch an ihr ficht« 
bar, daß fie von demfelben berfommt. Das wahre Praftifche 
beftand nah Schiller darin, daß wir ung felbft ald Totalität zu 
fegen fuchen. Diefe Bewegung kann nicht verloren gegangen fein, 
wenn dieſe letztere erreicht iſt, denn wie follte eine Thätigkeit 
fein, wenn fie nicht das Urfprüngliche wäre? Da aber bie To— 
talität hier nichts mehr hat, was fie noch nicht durchdrungen und 
in fih verwandelt hätte, fo kann ihre Thätigfeit nur darin bes 
ſtehen, daß fie ſich ſelbſt fih gegenüberfege, und zwar nicht als 
Zotalität, denn alddann würde fie bald unterſchiedslos in fid) zu⸗ 
fammenfinfen, und die Thätigfeit würde vielmehr erlöfchen — 
fondern als Einzelnes, oder ald Kunftwerf, „Jedes Werk, 
fchreibt Schiffer an Goethe, enthalt Totalität, wenn e8 Charakter 


/ 


242 Danzel, Ueber den gegenwärtigen Zuſtand ıc. 


hat”. Es wird alſo gerade durch das Beſonderſte die Allgemein 
heit als ſolche realifirtt. Hiemit ift der fchöne Gegenftand als 
beflimmter, den Kant auf fo Außerliche Weife durch die Normal 
idee zu erflären fuchte, aus dem Mittelpunkt der Sache ſelbſt ab- 
geleitet. Sein Name aber ift „die Geftalt”. Durch diefen Aus 
brud den fchönen Gegenftand für immer von dem Dinge ber 
gemeinen Erfahrung gefchieden, und, bei Befeitigung alles yraktis 
ſchen Inhalts der Kunft, das Bleibende der praktiſchen Auffaſſung 
berfelben, nämlich dieß, daß fie nur ald vom Menfchen Gefeptes 
und fortwährend Gefebtwerdendeg, oder durch einen zeitlofen Act ' 
überhaupt ein Dafein hat, erfannt zu haben, ift Schiller's Verdienſt 
um bie Aeſthetik. Hat er die letztere Seite der Sache verbältiß 
mäßig ausführlicyer, als die erftere, behandelt, fo findet dieß feine 
Erflärung darin, daß ihm als probuctivem Künftler das über 
greifende Verfertigen näher Tag, als die Geſchloſſenheit des Werkes, 
weldye ſich befonderd dem Befchauer bemerkbar macht, für jenen 
aber ein Selbſtverſtändniß iſt. Auch bedurfte es, wenn fein 
Philofophiren über das Schöne, wie glei anfänglich bemerkt 
wurbe, bie weſentliche Seite hatte, ihn in fich felbft zum Höchften 
zu fleigern, gerade für bie legte Forderung der Kunft, ſobald 
fie ihm perfönlich aufgegangen war, am wenigften der theoretilcen 
Erörterung. 


Der bisherige Zuſtand der Anthropologie und 
Pſychologie. 





Eine kritiſche Ueberſicht 
vom Herausgeber. 


(Bortfesung). 


Der Begriff des reinen Id. — Der Spiritualismug 
und Naturalismus. — Die Phrenologie. 


VII. 

Wenn wir nun um uns blicken, um zu ſehen, von welcher 
Seite her hiſtoriſch für den bei Hegel völlig fehlenden Moment 
des Individuellen und Concreten *) ſich eine Ergänzung finde; fo 
bietet fich eine folche, wie ſchon gezeigt, überhaupt im Herbart’ 


ſchen Syfteme, fpecieller für die hier verhandelten Fragen in feiner 


Pſychologie. Wie Herbart gleich bei dem Einfchreiten in feine 
Metaphyſik nicht anhob Yon der Entwidlung allgemeiner Begriffe 
an einem Realen, wie er daher auch das „Wirkliche (Seiende) 
auf das Beſtimmteſte vom „Sein“ unterſchied, und fo von ber 
Frage ausging, „was ba gegeben”, was das Reale felber fei, 
indem wir es zufolge dieſer femer Gegebenheit mit gewiffen Be⸗ 
griffen (des Seins, der Dualität, des Beharrens und ber Ver⸗ 
änderung, der Materie oder des Erſcheinens des Realen im Raume, 
in der Zeit und mit Bewegung) in Verbindung feken müffen *): 
fo ift auch in feiner Pfychologie nicht dies allein oder urſprüng⸗ 


>) Bal. im vorigen Heft ©. 95 ff. | 
**) Hauptpunkte der Metaphyſik zu Anfangs allgemeine Metaphyſik 
U. ©. 73 ff. 


244 Fichte, 


lich die Aufgabe, mit irgendwelchen Allgemeinbegriffen den Begriff 
des Geiſtes auszuſtatten oder dieſen aus ſolchen Begriffen bin 
Iektifch hervorgehen zu laſſen, fondern zu beftimmen, was das 
Weſen desjenigen Realen fei, welches ung als ein vorftellen 
des, bewußtes Reale erfahrungsmäßig gegeben ifl. Der dur 
greifende Unterfchied diefer ganzen Berfahrungsweife von de 
Hegel'ſchen leuchtet ein; ebenfo, wie in ihr gerade ein von Hegel 
ſchlechthin Verabſäumtes zu finden if. 

Allgemeines „Sein“ aber, All⸗Leben, Weltfeele, „allgemeine 
Geiſt“, perſönlich werdend erſt in unendlichen Einzelgeiſtern, und 
wie dieſe metaphyſiſchen Geſpenſter weiter heißen, welche ma 
jest als die Alles erflärenden Schlagwörter ausfpielt, würde er, 
wenn er von ihnen Notiz genommen hätte, mit uns für bewußt 
los bypoftafirte Begriffsabftracta erklärt, er würde fi, gleich 
ung, den Beweis audgebeten haben, daß Leben, Geift in der 
That nur allgemeine Subftanzen fein können, das Individuelle 
bloß die vereinzelte, für fih fubftanzlofe Bethätigung jener mi 
verfellen Kräfte. Diefen Beweis, den wir von den Gegnern noch 
zu erwarten haben, werben fie indeß wohl und fchuldig bleiben. 
Sie hätten zunächft die allgemein metaphyſiſchen Gründe zu wiber 
legen, durch bie wir die Nothwendigfeit endlicher Subftanzen nad 
gewiefen; bis jest haben fie nur. fie zu ignoriren fich begnügt. 
Aber je weiter die Betrachtung in das Reale hineingeht, beie 
unabweislicher muß fie die Eigenthümlichfeit alles Daſeins im Unis 
verfellen zugefteben, und felbft die neuere Naturforfchung weist in 
- allen ihren Theilen darauf bin, die Vorſtellung bIoß allgemeiner 
Naturfräfte als eine ungenügende Einfeitigkeit abzulegen. 

"Neben diefem Hauptverdienfte Herbart’d, auf eine aud in 
ber Pſychologie von der herrſchenden Denfweife zurückgedrängte Auf⸗ 
faffung wieder eingelenft zu haben, bleibt fogleich auch noch das 
fpecieller pſychologiſche Verdienft ihm nachzurühmen, dem wahren 
Begriffe des Ich tiefer nachgeforicht und auch hier eine herge 
brachte Begriffsverwechfelumg oder Ungenauigfeit in's Klare ge 
bracht zu haben. Dieß fteht fogar mit dem Probleme von dr 
Subftantialität Des Einzelgeiftes in innigerem Zufammenhange, ald 


Der bisherige Juftand d. Anthropologie u. Pſychologie. 245 


der erſte Blick es verrathen möchte: fo iſt ed der Mühe werth⸗ 
näher darauf einzugehen. 

Alles, was im Bewußtſein, aber unmittelbar zugleich nur 
für das Bewußtſein iſt, — das Innerliche, Subjektive, — wird 
von der bewußten Seele (d. h. von dem Realen, welches, in⸗ 
dem es iſt, zugleich Wiſſen dieſes Seins iſt) eben damit als 
ihre eigene Zuſtändlichkeit auf ſich bezogen, an jenes urſprüngliche 
Wiſſen von ſich (Ich⸗Vorſtellung) angeknüpft und als nähere Bes 
ſtimmung deſſelben ihm ſubſumirt; die Ich-Vorſtellung iſt immer 
zugleich Vorſtellung des Ich in einer beſtimmten Zuſtaͤndlichkeit, 
weil das Reale, das in ihm ſich weiß, ſtets nur in beſtimmter, 
unterſchiedener Zuftändlichfeit if. Aber dieſe iſt eben damit nicht 
nur eine mannigfaltige, fonbern an dem Einen Realen. eine wech⸗ 
felnde, und fo werben von biefem die wechfelnden Zuftände zu« 
gleich auf fich felbft, als das darin Eindbleibende, bezugen. So 
weiß die Seele, ihnen gegenüber, ſich als die Eine: d. h. unter 
dem Wechfel der Borftellungen ift die Jch-Vorftellung die gemein⸗ 
- fame, alle begleitende und fie verfnüpfende: nur an ihrer Einheit 
Kann der Wechfel gewußt werden; aber auch umgekehrt gelangt 
am Wiſſen des Wechſels das Bewußtfein der Einheit erſt zu Energie 
und Dauer. — Alles dies bezeichnet Kants „Einheit der Apper- 
ception”. Aber auch fein weiterer Sat, in welchem er ben Bes 
. griff der Apperception näher analyfirts „Die VBorftellung: ich denke, 
muß alle meine Vorftellungen begleiten können“; enthält in dem 
Zufage des „Könnens” eine wichtige und folgenreihe Beſtim⸗ 
mung. Es ift darin nicht nur unterfchieden Das Ich, welches alles 
Andere, auf baffelbe Bezogene, und ſich zugleich vorftellt, von 
dem ch, welches fi in feiner veinen Einheit vorftelt: — 
der Kortfchritt vom Bewußtfein zum Selbfibewußtfein if 
ebenfo bezeichnet, als beides ſcharf aus einander gehalten; — 
fondern es ift auch. darauf hingewieſen, daß das Ich felber nichts 
Reales, fondern lediglich die Orundvorftellung des— 
jenigen Realen fei, welchem die Eigenfchaft des Bewußtſeins 
(tag Prädikat „ich denke” fich beilegen zu Fünnen) zukommt. 
Und Dies ift ed, für wie unfcheinbar auch dieſe Unterfcheidung 


246 Fichte, 

auf den erſten Anblick ſich geben möge, worauf wir auch jekt 
noch vollen Nachdruck zu legen haben. | 

Die Seele nämlich ift durchaus dem „Sch“ nicht gleichzuſetzen, 
fo gewöhnlich auch dies einem immer mehr fich vernachläffigenden 
philofophifchen Sprachgebraucde geworden if. Sch ift überhaupt 
gar nichts Subftantielles, fondern eine das Subftantielle, Reale, 
welches die Secle-ift, begleitende Allgemeinvorftellung ber 
ſelben. Nicht einmal das entfpricht genau der Wahrheit, zu fagen: 
die Seele ift ein Ich, fondern die Seelenfubftanz, indem fie if, 
weiß fich zugleich, hat die Ichvorſtellung. Auch der Ausprad: 
das Ich ift Fein völlig angemeffener, ja er Fann, — wie es wirk 
lich geſchehen if, — zu trügerifchen Folgerungen verleiten; indem 
der Artifel „das“ ihm eine Selbftftänbigfeit und Realität zu leihen 
fcheint, bie in ihm gerade nicht ift, fondern in demjenigen, deſſen 
Allgemeinprädifat lediglich es bedeutet. | 

Diefer erfte, wie es zunächft feheint, unverfängliche Irrthum 
hat jedoch nun viele andere, der ſchwerſten Art, nach fich gezogen. 
Indem man fi gewöhnte, das Ich und die Seelenſubſtanz für 
lediglich daffelbe zu halten, hat man ferner die letztere, weil fe 
die reale, beharrliche Einheit in ihrem gleichfalls realen Wedhfel 
ift, fofort nun für gleichbebeutend gehalten mit Dem „reinen” Jd, 
mit jener formalen Einheit des Sichwiſſens in dem realen 
Wechſel: die Ieere Form des Ich, die nun abſtrakt geworben 
Einheit Des Seelenwefeng, wurde als die Seele felber beftimmt. 
Dadurch war man zuoörberft ſchon bis dahin gefommen, bem 
Realen die Form, als das Werfen beffelben, unterzulegen, biele 
ſomit zu hypoſtaſiren. Darin lag das folgenreihe nowzar weudos 
der Altern Wiffenfchaftsiehre, wodurd fie eine vergebens von ihr 
abgelehnte nihiliftifche Seite behielt. Weil aber ferner die Vor: 
ftellung: Ich nur in der fteten Selbftunterfcheidbung von Subjekt: 
Objekt befteht, ein ftetes Sichfeten der Einheit in dieſen Unter 
fihied ift, wurde das Reale, deffen Prädikat das Ich ift, nicht 
minder als Sichſetzen des, Sichprobucivended genommen; und 
weil endlich das Objekt jenes Subjeftes eben nur das Produft 
jener fich felbft fegenden Unterfcheidung iſt, fo ſchien bewiefen, daß 


Der bisherige Zuftand d. Anthropologie u. Pſychologie. 247 


‚alles veal Objektive für das Sch nur durch das Ich probucirt 
werde. Hiermit war man zulebt bei dem abfoluten Ich, als dem 
realsibealen Principe, angeflommen: ein individuelles mußte erft 
innerhalb des praftifchen Theiles der Philofophie abgeleitet. wers 
den, ald Moment des allgemeinen; — und dadurch war übers 
haupt die Bahn geöffnet zu. jenem Verſelbſtſtändigen reiner All⸗ 
. gemeinheiten, jenem Subftantiiren univerfaler Prädifate, welches 
wir als den Charakter der folgenden philoſophiſchen Epoche bes 
zeichnen können. Das rein fubftanzlos:Dynamifche, die Hypoftafen 
eines unendlichen, ſtufenweiſe fich ſelbſt hemmenden, fubjeftiosob= 
jeftivirenden, barum als „abfolute Vernunft” bezeichneten Produ⸗ 
- eirend, dann einer unendlichen Subjeftivität, eines allgemeinen 
Geiſtes, erhielten den Sieg, in der Naturphilofophie, wie in dem 
Hegel’fchen Syſteme: es war nur die gefteigerte Entwidlung des 
Einen, unwillkürlich durch den Begriff des reinen Ich in die 
Philoſophie eingedrungenen Grundfehlerg. 

Aber nicht minder entfcheidend haben ſich nad anberer Seite, 
bin die Folgen dieſes Irrthums in der ganzen Epoche des Kan⸗ 
tianismug und noch jet überall geltend gemacht, wo von empiri⸗ 
ſcher Pſychologie die Rede iſt, welche man uns ſogar erneuert em⸗ 
pfehlen zu müſſen denkt: — auch bier iſt das „Ich“, — in Wahrheit 
nur das Reſultat und die Gemeinvorſtellung der hinter ihm liegen⸗ 
den, gewiſſe wechſelnde Zuſtändlichkeiten in ſich wiſſenden und 
in Einheit zuſammenfaſſenden Seelenſubſtanz, — ſofort zur 
„Seele“ erhoben, und ihr völlig gleich geſetzt, fo daß dieſelbe, 
ale bloß bewußtes Wefen, ihren ‚unbewußten Zuftänden ent- 
gegengefest wurde, welche man, durch eine neue, nun nöthig. 
werdende Abftraftion, insgefammt dem „Leibe” zurechnete, 

Darin war jedoch eine zweite, nad) anderer Richtung fließende, 
Duelle der folgenreichften Irrthümer eröffnet. Bloß in Folge diefes 
Berfahrens, ohne eigentlihen Grund oder Beweis, wurden nun 
„Seele und „Leib” oder „Seele” und „Organismus“, wie Ich 
- und Nichtich, wie direkt fich entgegengefeßte Begriffe einander ent⸗ 
gegengehalten: alles Bewußte gehört ausſchließlich der „Seele, 
alles Bewußtloſe ausichließlih dem: „Leibe“, dem „Organismus” 


248 Fichte, 


an. Da eniſtand nun die Schwierigkeit, wie die zwiſchen Bewußt- 
fein. und Bewußtlofigfeit fchpwanfenden, aus dem einen in das 
andere Gebiet übergebenden Zuftände zu erflären feien, ja wie 
die flete Wechfelwirfung und Zufammengefellung fo direkt ent 
gegengefeßter Dinge, wie „Leib” und „Seele — nun geworben 
waren, überhaupt denfbar werben möge? Es eniftanden Pros 
bleme und Fragen, bie nicht im Objekte felbft ihren. Grund und 
ihre Anregung hatten, fondern Produfte waren jenes abſtra⸗ 
birenden Denkens, welches überall nur Gegenfäge bervorbringen 
fann: — man fragte nad) dein Zufammenhange von Leib und 
Seele, als „entgegengefetter Subftanzen”, nad) dem sensorium 
commune, als der ausſchließenden Stelle im Hirn, durch welde 
der an fich feelenlofe, nur belebte „Organismus“ mit der an fih 
leiblofen Seele in Zufammenhang trete; es entftand die Vorftellung 
einer Raumlofigfeit der Seele, Die, ohne irgendwo fein zu 
bürfen, nun dennoch im Leibe überall wirkſam gedacht werden 
mußte: — offenbare Widerfprüche, in denen man tieffinnige Auf 
gaben und verborgene Räthfel fah, während fie, — das Schlimmfi, 
was einer Wiffenfchaft begegnen Tann, — Täufhungen einer ober 
flächlichen und unachtſamen Auffaffung des Gegebenen waren, bie 
fo bartnädig an die Stelle des Wirflihen traten, daB Dies zulegt 
gar nicht mehr richtig gefehen wurde, 

Zwar konnte es fcheinen, daß Kants Raums und Zeitiheorie 
biefer Lehre von ber abfoluten Raumlofigfeit des Seelenwefens 
zur Unterflügung und zum triftigfien Beweife diene. Aber diefelbe 
Berneinung ‚hätte fogleih auch auf feine Exiftenz in der Zeit aus⸗ 
gedehnt werden müffen: nach der urfprünglihen Conſequenz der 
Kantifhen Theorie ift dem Wefen der Seele ebenfo fehr bie 
Dauer in der Zeit, ald das Beharren im Raume abzufpreden; 
fie ift ebenfo wenig in irgend einer Zeitform, als in irgend einem ' 
Raumtheile wirklich, d. h. fie ift niemals und nirgends. Zu 
bem entichiebenen Ausfprechen diefer Conſequenz ift nun die empi⸗ 
riſche Pſychologie begreiflich nie fortgefchritten: fie hätte ſouſt an 
ber Seele gar nichts Wirflihes und empiriſch Zugängliches mehr 
übrig behalten, Sie hat fih nur begnügt, die eine: Hälfte, die 


Der biöherige Zujtand d. Anthropologie u. Pfychologie. 249 


Räumlichkeit, ihr abzufprechen, und ſchon damit ein erhabeneg 
Refultat fich zu erringen geglaubt. Wenigſtens iſt indeß das Vor⸗ 
urtheil dadurch befeftigt worden, daß das Räumliche ein. Niedri« 
gered, Geringeres, des Geiftes und feiner Eriftenz Unwürdiges 
ſei; und dennoch gab man die übrigen Refultate des Rantifchen 
Idealismus auf,- und glaubte weit über feine Anfichten hinaus 
zu fein. Ä | 

Dies Alles zu widerlegen, thut nun nicht Noth; da es in der 
That nur auf der halb angenommenen, halb fallen gelafienen 
Conſequenz eines philofophifihen Standpunftes beruht, welder 
längft feine Geltung verloren bat, fo bedarf es nur charakte⸗ 
rifirt, bezeichnet zu werden ale ber bewußtlos nachwirfende Reſt 
jener Denfart, welche man in ihren Principien ausdrücklich zu 
verläugnen ſich angelegen fein läßt. Ebenfo hat, was den pofitis 
ven Gegenbeweis betrifft, die nachhegelfche Metaphyſik, naments 
lich die des Referenten, den Hauptnachbrud ſchon lange darauf 
gelegt, nachzuweiſen, daß Raum und Dauer, als unmittelbare 
Specififationen der Kategorie, der Duantität, ebenjofehr und ganz 
auf gleiche Weife, wie diejenigen Kategorieen, "welche Kant bie 
des Berftandes nannte, Grundformen alles Wirklichen feien, daß 
ſchlechthin alles Natur» wie Geiftes:Reale, bis. zu Gott hinauf, 
nur als Raum⸗ und Zeitwirklih (Raum und Zeit jegend-erfüllend) 
gedacht werden könne, was für das Princip der Pfychologie und 
das Verhältniß des Geiftes zu feiner Raumrealität eine ganz vers 
änderte Grundlage geben muß. Dennoch ift zu befennen, daß dem 
entfchiedenen Ergreifen diefer fpefulatio allein klar abfchließenden 
und auch einzig naturgemäßen Auffaffung jene Ueberbleibfel halb⸗ 
Fantifcher Denfweife noch mächtig entgegenftehen, daß die Natur 
lofigfeit Gottes und des menſchlichen Geiftes noch immer zu 
den hergebrachten Ariomen der philoſophiſch Gebildeten gehört, 
bei deren Antaftung fie fogleich befürchten, in naturaliftifche und 
materialiftiiche Borftellungen geftürgt zu werben. Umgekehrt folls 
ten fie darin eine Bewährung von der Macht des Geiftes erbliden, - 
daß er völlig die Natur zu durchdringen, fi) in ihr durchaus zu 
vergegenwärtigen, fie fich zu unterwerfen vermag, und den Sieg 


250 Fichte, 


des Idealismus, dag die Natur nicht mehr, wie felbft noch bei 
Hegel, ald die Negation des Geiftes gefaßt wird, fonbern als 
das ihm untergebene, widerftandlofe Berwirflihungsmittel deſſelben, 
welche Widerftandlofigfeit derſelben und fo die unmittelbare Ueber 
macht des Geiftes über die Natur viel weiter, reicht, als die ge 
wöhnliche Erfahrung ung dies annehmen läßt. Wir erinnern nur 
an die (zum Zeichen, daß das Princip ihrer Erflärung noch nic 
gefunden war, mit dem allgemeinen Ausdrude des „Magiſchen“ 
belegten) Fernapperceptionen und Fernwirfungen des Geiftes, ia 
- denen er noch auf intenfivere Meife das eigentlich Trennende, Ne 
gative, der Natur, die Raumunterjchiede überwindet, als dies 
ſchon in der normalen Apperception und Willensäußerung gefchieht, 
aber dort und bier nur auf analoge Art, und gleichmäßig barin 
feine vollberrfchende Gegenwart in der Natur erweifend. — 
Um fodann noch in einigen weitern Zügen die an jene Grund 
lagen ſich anfnüpfenden falſchen Eonfequenzen zu charakterifiven, fo 
war hierdurch, was die empirifche Piychologie betrifft, bie ganze 
Lehre von den mannigfachen, auf bie Einheit des Ich übergetragenen 
Seelenvermögen eingeleitet. Da nämlich dem alfo fubftantürten, 
an fich felbft aber fubftanzlofen Ich irgend ein Inhalt beizulegen 
war, fo fonnten nur jene bewußten Zuftände, welche die Seele 
in der Ichvorſtellung verfnüpft, als der eigenthümliche Inhall 
einer Selbfibeflimmung des Ich, als bleibende. Eigenfchaften 
oder Selbftbeftimmungen deffelben, ihm zugefchrieben werben. Sie 
wurden zu Bermögen bdefielben geftempelt, und nun hieß es: 
die Seele oder das Ich hat die und die Vermögen, welde 
vollftändig auszumitteln nun ber „innern Erfahrung” überlafen 
blieb. Daraus der Inhalt und die Methode der empirifchen Pſy⸗ 
chologie, die Thatfachen des Bewußtſeins aus der innern Erfah 
rung zu fammeln, nach beftimmten Hauptbegriffen zu orbnen und 
zu befchreiben. Als pfochologifcher Vorarbeit haben wir berfelben 
ſchon ihren vollen Werth eingeräumt; aber die empirische Pſychologie, 
wie wir noch jüngft vernommen haben, geht zugleich barauf aus, 
das Gegebene zu „erklären“. Dennoch war man über das eigentlich 


zu &rklärende, ja Problematifce, ſchon hinausgegangen: denn indem 


Der bisherige Zuftand d. Anthropologie u. Piychologie. 2541 


man dem Ich ein fertiges Erfenntnißvermögen, baneben dann 
zwei ebenfo fertige Gefühls⸗ und Begehrungsvermögen fammt ber 
zahlreichen Sippſchaft vielfach verzweigter Untervermögen beilegte: 
fo war die eigentliche Schwierigfeit, wie das Eine Ich dennoch 
in ein fo Unterfchieblihes, wie Erfennen, Fühlen, Wollen fich 
theilen koͤnne, ſchon überfprungen. Ja möge es den Bertheidis 
gern diefer Betrachtungsweife nicht entgehen: — man hat fidh ei⸗ 
gentlich die Wurzel und Duelle alles Erklärens abgefchnitten, indem 
man das Reale, Subftantielle der Seele, welches ebenfo realer 
Affektionen, Umſtimmungen und Gegenwirfungen fähig ift, uns 
beachteter Weife in ein hohles, in der Luft ſchwebendes Ich ver- 
wandelt hat, in eine abftrafte Monade, von der, wenn man 
eonfequent denken wollte (Fichte hat es dargethban), fehlechters 
dings unbegreiflich ift, wie etwas Anderes in ihren Umkreis fal« 
len, für fie eriftiren Eönne, denn nur ihre Selbftbeftimmungen, ein 
ebenfo nur Schematifches, wie es felbft Tediglich das in fich felber 
fih abfpiegelnde Urfchema iſt. 
VII. 

Diefen prineipiellen Unzulänglichfeiten insgefammt hätte nun 
die Rritit Herbart’s ein Ende machen können, welder den Bes 
griff eines reinen, aber fubftantiirten Ich, ebenfo den der Sees 
Ienvermögen, in ihrer Nichtigkeit zeigte. Mit Letzterm fcheint er 
gefiegt zu haben in der allgemeinen Meinung der Wiſſenſchaft⸗ 
lichen: jener Nachweis dagegen fcheint weniger klar durchgedrun⸗ 
gen zu fein, ohne Zweifel darum, weil er ſich bei ihm mit eis 
genen, noch mancherlei Problematifches übrig laſſenden Unterfus 
dungen verwidelte. Es wird daher nicht überflüffig fein, Dies 
Refultat auf felbfiftändige Weife noch weiter auszuführen, ald es 
im Borhergehenden gefchehen, und es Fritiich beſonders nach der 
Seite zu wenden, auf der es der nächſten Entwidlung der Pfychos 
Yogie hindernd in den Weg tritt, welcher Herbart jedoch nad) der 
biftorifchen Stellung feiner Pſychologie gar Feine Beachtung zuwen⸗ 
den fonnte, 

Auch in den pſychologiſchen Lehren Hegel's und feiner Coms 
mentatoren nämlich fcheint jener überfommene Grundirrthum von 


952 - Fichte, 


dem Sch noch hindurch, ja er iſt für Das ganze Syſtem von den 
durchgreifendften Folgen gewefen. Eben darum, weil das a 
fi) Richtige erfannt wurde, dag „Ich“ nichts Subftantielleg, nur 
das Accidenz, Prädikat eines folchen fei, wurde auch das real 
individuelle Zch zum bloßen noooano»v, zur Masfe eines in ihm 
bindurchtönenden allgemeinen Geifted herabgeſetzt: — wohl 
freilich nur zu erinnern bleibt, daß jener Begriff des allgemeinen 
Geiſtes ſich ebenfo unreal und unverftändlich gezeigt hat, ale der 
eines leeren, für fich beftehenden Einzel⸗Ich. War man aber ein 
mal über diefen Punkt außer Sorge, fo ſchien es dann ſich von 
ferhft zu verftehen, daß auch im Gebiete des Geiftes das Indivi⸗ 
duelle feine Wahrheit babe, fondern nur. das wechfelnd Erſchei⸗ 
nende am Allgemeinen, bier am fubftantiellen Geifte fei. Bir 
braucden biefe Lehre in ihrem allgemeinen Charakter und in ie 
ren befondern Gonfequenzen nicht weiter zu entwideln. 

Aber ebenfo dürfen wir nur daran erinnern, daß biefe gane 
Grundanficht, fofern fie mit metaphyſiſchen Prämiſſen zufammen 
hängt, bereits aus ebenfo allgemein metaphyſiſchen Principien wi 
deriegt worden fei Cogl. VI. S. 94). Unfere ontologifchen Dar- 
ftellungen haben gezeigt, daß der Begriff endlicher Subftantie 
Iitäten ein nothwendiger Wechfelbegriff ift, zu dem nicht mehr bloß 
abftraft (oder unvollftändig) gedachten der abfoluten Subſtanz, 
gerade aus demfelben Grunde, warum ber Begriff der realen, 
lebendig wirkenden Einheit ein Nichteines, veal Unterfchiedenes, ald 
das zu Bereinende, in ihr nothwendig macht. Dies allgemeine 
Refultat zeigt fih nun am Begriffe des Ich von einer befondern, 
und zugleich neuen Seite. Es fann an ihm nachgewieſen werben, 
daß es felbft nichts Subftantielles fei, wohl aber Merkmal, 
Prädikat eines Realen fein müffe, welches eben durd 
die Dethätigungen, in denen eg, fich felber und andern chen, 
als Ich offenbar wird, durchaus als individuelle, nidt 
als bloß allgemeine Subftanz fi zeigt. 

Wir Eönnen diefen Satz, theils mit Rückſicht auf das allge 
mein vorauszufeßende metaphufifche Nefultat, theils im Hinblidt 
aufden gegenwärtigen pſychologiſchen Zuſammenhang, auch ſo auf 


Der biöherige Zuftand d. Anthropologie u. Pfychologie. 253 


drüden: Gewiſſen endlihen Subflanzen (den Menfchenfeelen ) 
kommt, im Unterfchiede von andern, das Vermögen zu, ihre wech⸗ 
- felnden Zuftändlichfeiten zugleich in bewußter Einheit zu durchdrin⸗ 
gen, und fo Iche, für fich feiende Subſtanzen zu fein. Hierbei 
ift die Subſtanz ebenfo der reale Träger des Sch, wie bag 
Ich nur Merkmal, Selbftanfündigung der Subflanz. Es felber 
ift nur die Allgemeinvorftellung, in welcher jenes Reale feine zus 
gleich vorgeftellten Zuftändlichfeiten zufammenfaßt und deren Man« 
nichfaltigkeit fo auf Eich, ald das Eine, bezieht. „Reines Ich“ 
giebt ed demnach überall nicht; für ſich gefaßt, nicht befeftigt an 
einem Realen, das, im Bewußtlein fi) ergreifend, Die Ich vor⸗ 
ftellung, ale dag feine reale Einheit Begleitende, dadurch ſtets 
produeirt, iſt es ein bloßes Abftraftum, deſſen „Widerſpruch“ 
Herbart nachgewieſen hat. Was weiter dabei noch zu bedenken 
iſt, wird ſich ergeben. 

Hiermit ſchwindet auch die fernere Vorausſetzung, von wel⸗ 
cher ſich die pſychologiſchen Lehren nicht losmachen können, denen 
Seele und Ich ununterſcheidbar in einander aufgehen: daß dag 
Reale der Seelenfubftanz nur in ihren bemußten: Zuftänblichfeiten 
beſtehe. Das Bewußtlofe fol dann eben nicht Seele, foll die Nes 
gation ber Seele, der „Leib” fein. Und fo wurde dem einzig 
berechtigten, den wahren Beftand des Thatfädjlichen, wie ber bars 
über gepflogenen Unterfuchung ausdrüdenden Sage: Daß in dem 
Nealen, weldhes dem Sch zu Grunde liegt, bewußtlofe und 
bewußte Zuftändlidfeiten auf's Innigfle verbunden 
find und in einander übergehen, die ebenfo unberechtigte, 
als ungeprüfte Behauptung, — fogar ald ein vermeintlicher Erfah» 
rungsfag — untergelegt: der Menſch beftehe aus Leib und Seele, 
wo „Leib“ Doch nur das unbekannte und unbeftimmte Gebiet des 
Bewußtlofen, das Inunterfuchte, bedeutet. Es ift eben die Frage, 
was der Leib fei, bis auf feine unmittelbarfte Handgreiflichfeit 
berab? . 

Man mag nämlich die Seele entweder fpiritualiftiich als Im⸗ 
materielles, oder maierialiſtiſch als eine „äußerſt feine und 
ſublimirte Materie“ faſſen: ſo ſetzt man dabei ſtillſchweigend vor⸗ 

Zeitſchrift f. Philoſ. u. ſpek. Theol. XII. Baud. 18 


25A Fichte, 

aus, ſchon zu wiſſen, was Materie ſei? Materie nämlich, als 
ſinnlich palpabel, wird ſehr übereilter Weiſe für bekannter ge 
halten, als das Unſichtbare, der Geiſt. Der Begriff der Maie⸗ 
rie iſt vielmehr ſelbſt ein naturphiloſophiſches Problem, fo ober— 
flächlich gefaßt aber, wie es hier geſchieht, und wie auch der Leib 
nur als das Materielle bezeichnet wird, iſt er durchaus ein: 
unbeſtimmte Abſtraktion, in der ſehr viele höchſt ungleich 
artige ſinnliche Erſcheinungen zuſammengefaßt werden; es iſt daß 
ſelbe Unbekannte, was uns vorhin ſchon in der Vorſtellung des 
„Leibes“ begegnete. Wenn daher Spiritualismus und Materia⸗ 
lismus fih in der Behauptung vereinigen, daß der Leib „Mate 
rie” fei, fo haben fie nur den unbeftimmten Ausdruck mit einem 
noch unbeftimmtern, weil abftraftern, vertaufht. Kann doch der 
Leib nicht bloß Materie fein, 

Vielmehr ift ed eine alte Borausfeßung, daß die an fich „tobte‘ 
Materie im Leibe von organifhen Kräften (der „Lebenskraft“) 
belebt, geftaltet, bewegt werde, und der Gegenſatz, nad mel: 
chem der Menſch aus Seele und Leib beftehen follte, dehnt ſich 
jegt um ein Glied weiter aus: daß er entweder. aus Geift und 
aus Lebenskraft fammt Leibe, oder aus Geift ſammt Lebenskraft 
und aus Leibe beftehe, indem jene entweder näher nach ber Geitt 
des Geiftes oder nad der_des Leibes hingezogen werben kann. 
An ihr, der organifhen Sraft nämlich, haben wir ein Mitileres 
erhalten, von dem es auch bei dem harmaͤckigſten Beſtehen auf 
dem Begriffe des Gegenfates zweifelhaft werden muß, ob hier 
noch ein folcher zwiſchen dem Geiſte und der organifchen Kraft wal 
ten könne? Sollte nicht das Reale, welches gewiffe eigene Zufänd 
lichkeiten zugleich zur Borftellung erhebt und darin fich als Ich ſetzh, 
die bewußte vernünftige Seele, daſſelbe fein können mit demjen- 
gen, welches im Lebensproceffe den Außern Leib erbaut und er 
hält, und zwar um fo mehr, je entfchiebener auch im Tegtern eine 
vernunftgemäße Thätigfeit ſich gegenwärtig zeigt, fo daß bie br 
wußte Seele und die bewußtlos bleibende organifche Kraft nur 
als die beiden verfchiebenen Seiten Ein und deſſelben an fid 
vernünftigen Realen anzufehen wären? Wenn man darauf mit Ja 


Der bisherige Zuftand d. Anthropologie. Pfychologie. 255 


antivorten müßte, fo wäre dadurch Nichts behauptet, was im Ge⸗ 
ringften das Wefen des Geiftes preisgegeben, dem Materiellen 
genähert. hätte, — falld man nämlid nicht bis zu der auch in 
diefem Zufammenhange ſchon finnlofen Behauptung fortfchreitet: 
daß die organische Kraft (dieſe einigende, aus der Jdee des Or: 
ganismus heraus die Mannigfaltigfeit aller feiner Theile geſtal⸗ 
tende und beberrfchende Macht) nur Produft fein folle aus der 
Zufammenfegung der im Körper vereinigten Stoffe. Muß viel- 
mehr einleucdhten, daß die organifche Kraft, ald dag objektiv 
Bernünftige, an fich felbft ſchon ſchlechterdings hinausliegt über 
alle bloß materialiſtiſchen Borftellungen, welche fi an ihr ale durch⸗ 
aus ungenügend erweifen: fo folgt daraus, um wie viel weniger 
in den Aften des Bewußtſeins eine bloß materielle Subftanz, wie 
„sein und fublimirt“ auch gebacht, wirffam fein könne. Schon eine 
gründlihe Einfiht vom Wefen der organischen Kräfte muß allen 
bloß materialiftiichen Vorausſetzungen völlig ein Ende machen; 
aber damit find auch die Borftellungen widerlegt, welche im 
„Leibe“ wefentlih nur Ausgedehntes, Stofflihfeit erbliden, im 
Gegenfage mit der Seele (dem Geifte), ald der nichtausge⸗ 
dehnten, bloß denkenden Coorftellenden) Subſtanz. Diefer Dualis⸗ 
mus ift die Grundlage des in diefem Betracht ebenfo einfeitigen 
Spiritualismug, der fogar, wie fich bier zeigt, in der Ver⸗ 
fennung und Herabfeßung des Lebens und des Organifchen über« 
haupt ganz auf demfelben Boden mit dem Materialismus ficht, 
durch das hartnädige Verharren im bloßen Gegenfabe von Seele 
und Leib aber, was feine theoretifche Konfequenz und Bündigfeit 
betrifft, fogar tief herabfinft unter den Materialismug, welcher, 
indem er den Menfchen wenigſtens aus einem moniftiihen Prin⸗ 
eipe zu erklären. fucht, ungleich Fonfequenter it, als jener, und ohne 
tiefere Prüfung, auf den erften Anblid wenigfterg, ungleich haltbarer 
erfcheint, als Die entgegengefegte fpiritualiftifche Anficht. Durd) dag 
Dualiftifhe, was im Spiritualismug liegt, wird er nämlich ge= 
nöthigt, bei allen näher eingehenden Fragen nach dem eigentlichen‘ 
Zufammenhange von Leib und Seele, nad) der Möglichkeit einer 
Wechſelwirkung zwifchen diefen beiden „entgegengefegten” Subſtan⸗ 
18 * 


256 Sichte, 


zen, zu den abenteuerlichften Hypothefen feine Zuflucht zu nehmen, 
Wir veden nicht von der Theorie des Occaſionalismus bei den Cars 
tefianern oder von der Leibnitz'ſchen vorausbeftimmten Harmo⸗ 
nie; ihr Nefultat ift eigentlich nur dag ſcharfgefaßte philoſophiſche 
Bewußtſein von der Unbegreiflichfeit Des alfo gefaßten Prob: 
lemes, von dem abfoluten Widerfpruche, zwei an fich entgegenge 
fegte Subflanzen in irgend einer unmittelbaren Wechſelwirkung 
zu denken. Deßhalb fol Gott oder eine. von Gott vorauggeirof- 
fene „Einrichtung“ das Vermittelnde fein: die Löſung des Prob— 
lems wird in den allgemeinen Urgrund der Dinge zurüdgelhe 
ben, worin freilich am Ende auch die Urfache jenes Zufammen: 
bangs von Leib und Seele zu fuchen iſt. Aber das eigentlide 
Wie defielben bleibt dabei völlig im Dunfel; Gott oder die be 
fondere „Einrichtung“ ift hier nur, wie fo oft, das asylum igno- 
rantiae. Unerwarteter Weife werden wir in diefer Frage fogar 
bei Herbart einer ähnlichen Auskunft begegnen, 

Wir reden vielmehr von denjenigen Hypothefen, welche mit jener 
bualiftifchen Grundanſicht zufammenhangen und nod) gegenwärtig in 
Geltung find — befonders bei Naturforfchern und Aerzten, welde 
durch fie der Klippe des Materialismus aus dem Wege gehen 
wollen, ohne fich zu dem wahrhaft Entfcheidenden und Grünbli- 
chen erheben zu fönnen. Wir erinnern beftimmter hierbei an die noch 
kürzlich von Neuem ausgebildete Tchre von einem Centraltheile im 
Körper Cim Hirne), in welchem, ald dem Sensorium vommung, 
alle Nerven und deren Empfindungen ihren gemeinfchaftlichen Ein- 
heitöpunft finden, und von welchem umgekehrt alle (willkührlichen 
und unwillführlichen) Einwirkungen der Seele auf den Leib fd ver: 
breiten follen, Da nur durch deſſen Vermittelung der Leib mit 
der Seele zufammenhangen, beide überhaupt für einander erifiren 
follen, fo wurbe derſelbe der Sig ber Seele, oder, etwas we 
niger finnlih, darum jedoch nur deſto unbeftimmter und vieldew 
tiger, dad Seelenorgan genannt. Der Phyfiologie und Ant- 
tomie wurde nun die Unterfuchung überwiefen, an welcher Stel 
bes Hirnes der Punkt anzutreffen fei, in welchem das Centralende 
aller Nerven zufammenlaufe: Diefer nämlich follte das Seelenor⸗ 


Der bisherige Zuftand d. Anthropologie u. Pſychologie. 257 


gan fein. Se Fleiner man fich denfelben dachte, deſto mehr, 
meinte man, verliere fi) die Schwierigfeit der Annahme, wie ein 
ſchlechthin Unräumliches (die Seele) mit einem Ausgedehnten (dem 
Körper) in Zufammenhang treten Fönnen: — ale ob auch das 
Kleinfte nicht immer noch theilbar, mithin ausgedehnt wäre, 
und es daher nicht ebenfo unerflärlich bliebe, wie vorher, wie 
die Seele, dieſe der Vorausfegung nach ſchlechthin nicht ausge⸗ 
dehnte, nur vorftellende Subſtanz, mit irgend einem Körperibeile, 
auch von Fleinfter Ausdehnung, in unmittelbare Berührung treten 
fönne ! | 
Lange Zeit hat nun dieſe Hypotheſe vom Seekenorgane felbft 
der anatomifchen Erforfchung des Hirns und der Nerven das 
Borurtheil aufgebrüdt, an irgend einer einzelnen Stelle deffel« 
ben eine Bereinigung aller Gentralenden des Nervenſyſtems fin- 
den zu wollen, einen legten und Heinften Mittelpunft, ald Sams 
melplag aller Empfindungen, die von bier, aus unmittelbar in dag 
Bewußtſein überfpringen! Was man aber fucht, glaubte man 
finden zu müffen, und fo giebt ed, nah Hartmann’ Nachweis 
fung *), feinen ausgezeichneten Theil des Hirnes, in welchem 
man jenes Gentralorgan nicht gefunden zu haben meinte, 
Dennoch, wiewohl es noch jegt namhafte Phyfiologen giebt, 
welche an ber endlichen Nachweilung eines folchen einzelnen Mittel⸗ 
punftes im Hirn nicht verzweifeln, fo hat Doch Die unbefangene und 
von Borausfegungen Feinerlei Art befchränfte phyfiologifche Forfchung 
neuerer Zeit folhe Ausficht immer unmwahrfcheinlicher gemacht. 
Vielmehr gehört ed zu den durch übereinfiimmende Beobachtung 
der neuern Phyfiologen ziemlich feftgeftellten Erfahrungsfähen, daß 
fein einzelner Theil, fondern das ganze Hirn, felbft mit Zuzie⸗ 
bung des Heinen, ald des Gentralorgang der motorifchen Nerven, 
„Drgan” ober „Sig” der bewußten Thätigfeit der Seele fei. 
Wir dürfen dies Refultat in feinem Betrachte für gering oder uns 
bedeutend achten, fondern nur feine allgemeine fpekulative Bedeu- 
tung faffen, um es in feiner durchgreifenden Erheblichkeit zu ers 


>), ‚Der Geiſt dee Menſchen“ ꝛc. te Auf. 1832. ©. 221. 


. 


fennen; ed muß fogar noch einen Schritt weiter geführt werden, 
Ueberalt, wo die bewußte Seele ſich wirffam zeigt, fei es empfin 
dend oder mollend, da ift fie auch im Leibe gegenwärtig, fo gewiß ihre 
Gegenwart nur in ihrer Wirffamfeit befteht. Es ift daher noch 
zu wenig gefagt, das Scelenorgan nur auf das Hirn ober die 
beiden Hemifphären dis großen Hirns einzufchränfen: es reift 
fo weit, als die Empfindung im Organismus verbreitet ift, welche 
nicht ohne Selbfiverboppelung, ohne eine Analogie Des Bewußtfeind, 
denkbar ift. Der Sig der Empfindung: ift daher nicht im Him 
oder in einem dort irgendwo fi) aufhaltenden Seelenorgan zu 
ſuchen (eine mit den obigen Prämiffen eng zufammenhängende gan 
unbegründete Hppothefe, welde in der Tehre von den Sinn 
eine Menge von erfünftelten Schwierigfeiten veranlaßt hat), for 
bern in dem Peripherieende der empfindenden Nerven felbfl. Bis 
dahin erfiredt daber auch die bewußte Seele ihre 
Wirffamfeit oder Gegenwart. (Dies läßt fich bis herab 
auf die einzelnen Fragen nachweilen, die eine Theorie der Einne 
zu löſen hat; wir werben Fünftig in einer ſelbſtſtändigen Darſtel⸗ 
lung der Wiffenfchaft von der Seele zeigen, wie nur unter Iete 
rer Vorausſetzung auch eine genügende Löſung des befannten Proble 
mes von dem Aufrechterfcheinen der Gefichtsobfekte möglich wird, 
nicht nach der gewöhnlichen Annahme, welche den Sig ber Ems 
pfindung im Hirne annimmt, und das Percipiren der Geſichtsob⸗ 
jefte durch die Seele erft hinter dem (verfehrten) Bilde auf ber 
Nervenneghaut des Auges vor ſich gehen läßt.) 

Died die Eine Seite der Sache: aber ebenfo ift die ergir 
gende andere feflzubalten, daß die Seele, wiewohl ald organildt 
Kraft in allen Theilen des. lebendigen Organismus gegenwärtig, 
als bewußte in allen empfindenden Theilen deſſelben wirffam, da 
mit dennoch nicht ausgedehnt und theilbar fei in dem gewöhnlichen 
Sinne, welden man alein bisher bei Erwähnung räumlicher der 
hältniffe kunt. Sie ift vielmehr durch ihre wirk ſame Allgegen 
wart im Organismus das die eigene Räumlichfeit und Theilbar 
feit deffelben Leberwindende, in ihre Einheit Aufbebende: 
das Auseinander feiner Theile ift in der fie burchbringenden Beſee⸗ 


Der bisherige Zuftand d. Anthropologie u, Pfychologie. 259 


lung ein Sneinander derfelben geworden; jeder nimmt „Theil” 
an der Veränderung des andern, ift ideell gegenwärtig in ihm, 
wiewohl realsräunlid von ihm gefchieden. Nur fo ift zu erklä⸗ 
ren, wie eine Empfindung, an einer beſtimmten Stelle entſtehend, 
das Ganze durchdringt, wie überhaupt eine Gemeinſchaft im Di 
ganismug möglich iſt. 

DBefeelung beißt daher Aufhebung des Raumes in feiner 
trennenden Bedeutung, SJdealifirung des Leibes; und Secle, 
ganz allgemein gefaßt, ift diefe Macht, als Einendes des Leibeg, 
feinen Raum zu durhwirfen, aber eben damit auch fein Trennene 
bes aufzuheben. Diefe raum- (und zeit-) überwindende, fchlechte 
hin ideelle Cmithin auch alle materialiftifche Vorausſetzungen thats 
fählih weit überflügelnde) Einheit des Organismus nennen wir 
Seele im weiteften Sinne. Wie follte nun der gleiche Begriff 
nicht auch von der Seelenfubftanz, die zum Selbitbewußtfein hints 
burdbricht, und von der Macht des bewußten lebend gelten? So 
it der Spiritualismus in feinem pofitiven Beftande gerechtfertigt; 
aber er hat die völlig unhaltbare und grundverwirrende Vorſtellung 
eines Außereinanderfeind, von Geift und Organismus aufgegeben. 

Aber auch fonft mußte das Unbegreiflihe und Ungereimte der 
fpiritualiftifchen Vehren vom Sensorium commune einleuchten, wel⸗ 
ches jener fehroffe Gegenſatz hervorgebracht; man griff baher zu 
'weitern balbfpiritualiftifchen Hppothefen, man nahın ein Mittleres 
an, welches, weder nur materiell, noch bloß geiftig, der Bors 
ftellung eine leichtere Handhabe zu leihen ſchien, um bie Wech— 
felwirfung direkt entgegengefegter Subftanzen zu erflären. Eine 
in den Nerven ſich ausfcheidende imponderable Flüffigfeit, ein 
„Aether“ in den Hirnhöhlen follte nun das Bermittelnde fein; bie 
Wirkfamfeit der Seele auf die Nerven und den Körper wurde 
(aus Beranlaffung der befannten Berfuche) einer elektrifch » galva= 
nifhen Strömung verglichen; — und noch neuerdings hat man 
aus diefen Gründen ſich bemüht, den Sitz der Seele in den Hirn⸗ 
höhlen nachzuweifen und ihre Wirfung auf den Körper durch den 
Nervenãͤther vermittelt ſich zu denken *). Da nun aber die Hirn⸗ 


u: 





— — 


*, Dr. F. w. Hagen Beiträge zur Anthropologie 1811. ©. 102 ff. 


260 Fichte, 5 

höhlen, wenn man phyfiologiſch klar ſehen will, keine andere Be⸗ 
deutung haben koͤnnen, als daß fie die leeren Zwiſchenräume find, 
welche die Ganglien des großen und Heinen Hirns, fo wie bie 
Hemifphären des großen Hirns in ihrer Entfaltung übrig laflen, 
alio gerade die Stellen bezeichnen, wo Feine Hirn⸗ oder Nerventhis 
tigkeit ftattfindet: fo haben fie auch für die Seele, fofern diefe doch 
in irgend einer unmittelbaren Beziehung mit ihrem Organe ftehen 
muß, gerade gar feine oder bie allergeringfte Bedeutung: denn 
diefe wird doch nicht neben oder außer dem Organe fteden 
follen, durch welches fie wirft? 


IX. 

Berglichen mit der theoretifchen Schwäche eines folchergeftalt 
In widerfprechende Hypotheſen ſich verlaufenden Spiritualismus, 
ericheint die naturaliftifche Anficht von der Seele, wenigftend 
ohne tiefere Prüfung, haltbarer, weil fie moniftifch ift, weil fe 
den Menfchen nicht, einer Theorie zu gefallen, in zwei entgegen 
geſetzte Hälften zerreißt. Aber eben dieſe Teicht zu erfaſſende, äus 
Berlich entfchloffene Konfequenz ift das Täufhende, Gründlicfet 
und Unbefangenheit nur Borfpiegelnde diefer Anſicht, wodurch fe 
unter fonft Klaren und Faltbefonnenen, aber mit halbem Denfen 
fi genügenden Forfchern, Phyſiologen, Aerzten, Weltmännern, 
laut, noch mehr im Stillen, zu allen Zeiten und jegt erneuert, 
großen Anhang gefunden hat, Auch diefe ftellen wir in ihren 
Grundzügen dar, weniger babei bloß einzelnen Lehrmeinungen und 
beftimmten Ausfprüden folgend, als die durch fich felbft fich ent 
widelnde Konfequenz des Ganzen in's Auge fallend. 

Der Menſch zeigt während ſeines ganzen Lebens die unauf 
lösliche Verflechung von bewußten und bewußtlofen Zuflän 
den, von Seele und Leib: wir finden nirgends einen Zuftand 
der Seele, d. h. des Bewußtſeins, oder einen Zeitmoment ihrer 
Wirkfamfeit, in denen fie ohne den Leib wäre und wirkte 
Wohl aber umgefehrt giebt es im Leibe eine Reihe von Zufäs 
den, Wirkfamfeiten und Erfcheinungsweifen, an denen die Seele 
(in der oben angegebenen Bedeutung gefaßt) offenbar feinen Tpeil 
nimmt, beren fie ſich ‚gar nicht bewußt wird. Ohne Leib alle 


MR 
Der bisſage Zuſtand d. Anthropologie u. Pſychologie. 261 


keine Verwirklichungsweiſe der Seele; wohl aber umgekehrt ohne 
Seele leiblihe Eritenz und Wirkſamkeit. Somit ift die Einheit 
und das Wefen des Menfchen nicht in feiner Seele, fondern in 
feinem Leibe zu fuchen; aud ‚die Seele, die Ericheinung des Bes 
wußtſeins, wird daher füglich nicht anders, denn auch nur ald 
eine ber Thätigfeitsweifen des Leibes, etwa als höchſte 
Lebensäußerung ober vollkommenſte Senfibilität, betrachtet 
werden Fönnen. In dieſen Ausdrud läßt fih die Gefammilonfes 
quenz der naturaliftifchen Anficht von der älteften Zeit, bis auf 
Die gegenwärtige, bis auf Fe ue rbach hin, zufammenfaffen. Daß 
diefelbe eben deßhalb auch in die Läugnung alles Apriorifchen, der 
Speen, in den Empirismus, auslaufen müſſe, folgt unmittelbar; 
auch giebt Davon der eben Genannte nach feinen letzten Erklärun« 
gen ein ausdrückliches Zeugniß. 
Aber wie ift aus diefen Prämiffen die Einheit des Bewußt⸗ 
ſeins begreiflich zu maden, welche die Seele unter allen eignen 
wechfelnden Zuftänden und unter dem Wechfel des R eiblichen wäh- 
vend des Lebens fich bewahrt? Dies bleibende, alle Zuftände begleis 
tende Selbftbewußtfein, die Einheit des Ich, Tann auf dieſem Stande 
punkte nur ald Produkt der in fih zufammenftimmenden leib⸗ 
lichen Drganifation gelten, als der Wiederhall, Das widerfcheinende 
Bewußtfein von der Einheit des Leibes. Der Eine Leib 
fühlt fih auch als Einer: dies ift das Ich. Und weil im Hirm 
alle Drgane des Empfindens zufammenlaufen, weil es der Verei⸗ 
nigungspunft aller Senfationen ift: wird es auch ale Träger (ale 
Drgan) biefer Einheit des Bewußtſeins, der VBorftellung des Ich, 
begriffen werben müflen, welche hiernach nichts Anderes wäre, als 
das Refultat, die Berfchmelzung der dort zufammenfließenden Eins 
zelfenfationen, der Spiegel von der Einheit aller Hirntheile, welche, 
ftetö überfirömt und gereizt von den in ihr ſich vereinigenden Sin« 
nenerregungen, aus ihnen die mehr oder minder lebhaft hervors 
tretende Gemeinvorftellung erzeugt, Die wir Bewußtfein und Selbft« 
bewußtfein nennen. — Dies bie fonfequente Erklärungsweife, welche 
biefe Anficht von ber Einheit des Bewußtfeind zu geben hat: wir 
erinnern ung zwar nicht, dieſe Säge mit folcher Beftimmtheit und 


262 | Site, a 
in diefer Gedanfenfolge ausgefprochen irgendwo gefunden zu ha; 
ben: indeß find Dies bie. nothwendigen Prämiffen von Behauptu- 
gen, dergleichen feit Magendie bei franzöfifchen, englifchen und 
einer gewiffen Gruppe deutſcher Phyfiologen auf Das Häufigfte fih 
finden, daß Bewußtfein, Vorftellen und Denfen nur die ebenfo 
eigenthümliche organiſche Yunftion bes Hirnes fei, wie ud 
jedem andern Theile des Organismus eine folche zufomme. Der 
ungeheuere Gegenfaß, daß die Produfte der organischen Thätigkeit 
von Magen, Leber, Lunge ſich als fihtbare Stoffe Darweifen, die 
vermeintlichen Produfte der Hirnthätigfeit aber, die Vorſtellun 
gen, mit fo Stofflihem in feiner Weife verglichen werden für 
nen, — bies Mißverhältniß und dieſe Ungereimtheit fcheint fie du 
bei nicht zu beunrubigen. Und ebenfo, wenn J. Müller im letz⸗ 
ten Theile feiner Phyfiologie, wo er die Erfcheinungen des Be 
wußtfeing in den Kreis ſeiner Unterfuchung zieht, es für möglid 
hält, daß das Selbftbewußtfein auch nur eine höchft Lebhafte Ser 
fation fei, gleich den Eingelempfindungen, welche die Sinnt und 
zuführen — was kann er Anderes damit meinen,. welche Grund 
anſicht Tann ihm vorfchweben, als die oben gefchilderte: Daß das 
Bewußtſein lediglich die Zotaleınpfindung des in jenem Wedel 
‚der Senfationen ald- Eins fich fühlenden Hirnes fei? Falls je 
doch fchon bei fo namhaften Bertreiern einer Wiffenfchaft derglei⸗ 
sen Ausſprüche uns begegnen, wird es Zeit, ſie auf ihre Konfe 
quenz zurüdzuführen und damit der Kritif zu unterwerfen, 
Aber wir müffen zu diefem Zwede noch einen Schritt weikr 
zurüdihun. Sei nämlich vorerft auch zugegeben, daß jene Ein 
heit des Bewußtſeins bloßes Produft pon ber Einheit des orga⸗ 
nifchen Körpers fein könne; fo erhebt ſich die zweite Frage, mad 
wiederum der Grund diefer organifchen Einheit felber fei? Hier 
auf richtet ſich jest das Gewicht. der Entfheidung, mit melde 
die naturaliftifche Anficht zu fiehen oder zu fallen hat. Läpt fi 
nämlich nachweiſen, dag die organische Einheit Des Körpers aud 
bloß materiellen Bedingungen fehlechthin unerflärbar fei, daß fie 
ſelbſt feelifcher Art fein müſſe: fo ift das Hauptfundament jener 
Aujicht widerlegt, Läßt ſich nicht einmal der körperliche Organicmus, 


26 


“ Der bisherige Zuftand d. Anthropologie u. Pfychologie. 263 


die Erfcheinung des Lebens, aus bloß Stofflichem erklären, um wie 
viel weniger wird dergleichen zur Erklärung des Geiſtes genügen. 
Daher fucht, ganz folgerecht, der Naturalismus fo lang als mög> 
ich diefer Nöthigung audzuweichen; er muß behaupten, daß auch 
Die organifche Einheit, weldye den Körper durchdringt und: bee 
herrfcht, nur Die Wirkung gewifjer im Mienfchenförper zuſammentre⸗ 
tender Stoffe fe. Aus der Kombination diefer Stoffe: fol, 
ale Produft, jene belebende und erhaltende Einheit hervorge⸗ 
ben, durch welche der Körper ein organiſcher wird und als foldyer 
beftehen kann, und diefe organifche Einheit wiederum fol fi in 
der Einheit des Bewußtſeins wiederfpiegeln, und im Ich zum 
Selbfigefühle Tommen. So wäre der Naturalismus in dem Um⸗ 
freife feiner Lehren Fonfequent vollendet, — wenn. nicht hieran 
gerade die ungeheuere Ungereimtheit der lebten Grundvoraus⸗ 
ſetzung an den Tag kaͤme! 

Diefer zu gefallen begeht er nämlich den gewaltigen Berfioß, 
‚die fihtbare Wirfung für die Urfache zu halten, das Produkt für 
Das Producirende, und fo das wahre Verhältniß zwilchen beiden 
gerade unmzufehreu, Die Harmonie der leiblichen Erfcheinung kann 
nicht hervorgebracht, noch. erhalten werden durch irgendwelche 
„Kombination der Stoffe”; denn diefe find gerade das Unſtete, 
Wechſelnde; fie treten ein in den organifchen Umfreis und ſchei⸗ 
den aus, find daher das Einheitswidrige; fie müffen vielmehr ſtets 
von Neuem vereinigt, fa zur Einheit des Organifchen- bezwungen 
werden. In ihnen den Grund dieſer Einheit zu fuchen, wäre 
völlig ebenfo ungereimt, wie wenn die Harmonie einer vollſtim⸗ 
migen Mufif aus der Mifchung der einzelnen Inſtrumente, nicht 
aus dem einenben Gedanken des Künftlerd, hergeleitet werben 
follte, wiewohl zur verwirklidenden Erfcheinung derſelben jene 
einzelnen Snftrumente allerdings gehören. Und wenn man bier 
"dem Denfen, dem klargefaßten Begriffe mißtrauen möchte, fo wis 
beriegt noch vollends das Tharfächliche felbft jene, Hypotheſen. 
Es ift ein phyfisiogifcher Erfahrungsfag, daß der Körper nach be⸗ 
fiimmtem Zeitverlaufe (fei es nach den Einen im Verlaufe von fies 
ben, nad Andern von 10—12 Jahren) durch fteten Stoffwechfel 


264 Site, 


fi) völig erneuert hat: ebenfo wandeln ſich täglich die Beſtand⸗ 
sheile des Hirns, ale des Seelenorgand, deſſen Thätigfeit unfer 
Bewußtſein bilden foll, und erneuern fi völlig, Wäre dies Be 
wußtfein nun bloßes Produkt ihrer Einheit: fo müßte auch dies 
ebenfo völlig neu werden, und endlich ein Anderes geworben fein, 
wie es von den Stoffen ausgemadt if. Iſt das Bewußtſein und 
Denfen nur organifche Thätigfeit des Hirns, fo wäre mit bem 
ftofflich erneuerten Seelenorgane auch ein anderes Bewußiſein, 
eine andere Perfönlichleit da; wir Tönnten weder die Einheit ders 
felben Cunferes Ich) während des ganzen Lebens bewahren, noch 
Gedächtniß, Erinnerung, bleibenden Charakter im Laufe deſſelben 
behaupten. Da nun aber die Wirklichkeit das Gegentheil von diefem 
Allen zeigt, jo geräth die naturaliftifche Anficht nicht nur mit dem 
Begriffe, fondern mit der univerfalften Erfahrung und Grundihab 
ſache unferes Selbft in den offenbarften Widerſpruch. 

Dennoch wird fie mit Nothwendigfeit zur Ronfequenz dieſer 
Ungereimtheit bingedrängt, fofern fie. in das Aeußerlich Reale, 
unmittelbar Erfcheinende, das Wefen des Menfchen fest, d. h. 
fofern fie Empirismus und Naturaliemus if. Und auch hier fün- 
nen wir Autoritäten, wie die von 3. Müller anführen, der (mes 
nigfteng noch in der zweiten Ausgabe feiner Phyfiologie I. 1. S. 26) 
fih dahin ausdrüdt: es laſſe ſich Denfen, daß die organifs 
sende Kraft und alle Tebensericheinungen nur bie Folge, die Er 
genfhaft einer gewiffen Eombination der Elemente, 
einer Mifhung der Stoffe feien! Eine ſolche aufrichtige Ent- 
ſchloſſenheit iſt ſchätzbar, auch wenn fie die Anficht, „welche dadurch 
vertheidigt werden foll, von hinten ber aufbebt. 

Einmal fo weit gedichen, ift die fonft fo nüchterne Lehre ganz 
ähnlichen Phantaftereien Preis gegeben, als die ſich bei dem Spi⸗ 
ritualismus ums ergaben. Weil die Erfcheinungen des Geiſtes, 
des Bewußtſeins, offenbar mit allem bloß Stofflidhen unverträg: 
ih find, muß irgend eine feinere, unfichtbare Materie als deren 
Träger. und Grund erdacht werden: die Seele ift ein feines, ims 
ponderables Fluidum, ganz analog dem, was bei.den Spiritus 
liſten das Sensorium commune war; baffelbe wird überall yon den 


Der bisherige Zuftand d. Anthropologie u. Pſychologie. 265 


Nerven ausgeſchieden, durchftrömt den ganzen Körper, und, an 
gewiſſen Stellen deffelben fich concentrirend, erzeugt es dort eben 
diejenige Erfcheinung, welde wir Empfindung nennen. So wird 
aud erflärt, warum das Hirn das Bewußtfein producire, und 
fo zugleich Organ defielben werde: es bringe, als die flärffte, con⸗ 
ecentrirtefte Nervenmafle, auch jene Seelenflüffigfeit in größter 
Duantität hervor, welche daher das heilfte, lebhafteſte Empfin⸗ 
den, das Selbfibewußtfein, zu erzeugen vermag. Uebrigens 
fei das Nervenfyftem, namentlich Rüdenmarf und Hirn, am Beften 
einer voltaifhen Säule zu vergleichen; aud) ſtehe die Seelen- und 
Nervenwirkung mit der Elektricität in deutlichſter Analogie, weil 
— dieſe noch nad dem Tode in den Musfeln Zudungen erregen 
fönne *), 





*) Zwar ift der Antheit der Efektricität am Nervenleben von J. Mül⸗ 
fer wieder bezweifelt worden, aus dem empirifchen Grunde, der, 
oberflächlichen Anatogieen gegenüber, gewiß zunächft auf Beachtung 
Anſpruch hat, Daß er bei allen feinen Unterfuchungen über die 
Nerven aud mit dem allerreizbarften Elektrometer Beine Spur 
von Eiektricität habe entdeden Fönnen. Aber man Fönnte fagen, 
daß fie hier, am organifchen Körper und durch organifche Mes 
dien, anders wirke, als im Unorganifchen, für deſſen Efektricität 
jenes Inftrument eigentlicdy nur fi empfindlich zeigt, ebenfo wie 
auch Wärme und Atmofphäre erwiefener Maaßen in weit reis 

chern Unterfchieden auf den lebendigen Organismus wirken, als 
unfere phyſikaliſchen Wärmemeffer und Barometer darzuſtel⸗ 
ten vermögen. — Zutreffender und allgemein eingreifender möchte 
vielleicht daher die Betrachtung fein, daß auch die flärffte elek: 
trifche Einwirkung nur Budungen, das Kranke, Lebenswidrige, 
der gefunden Lebenswirfung Entgegengefebte, hervorgerufen habe. 
In dem klaſſiſch dafür gewordenen Erperimente von Ure erregte 
man durd) die eleftrifche Strömung, die man in verfchitdenem 
Umfange durdy den Körper leitete, auch in verfchiedenen Bereiche 
Mustelbewegung: fo brachte man durch Erregung der Muskeln des 
Zwerchfelld ein Analogon des Athmens, aber ohne Herz⸗ und Puis⸗ 
ſchlag, hervor; die Berzudungen bed Geſichts hatten einen fo entſetz⸗ 


266 Fichte, 


Wir wollen nicht das gänzlich Willkührliche, Unbewieſene die: 
fer Behauptungen rügen, wir wollen zulegt nur noch den abfolu: 
ten Widerfpruch hervorheben, der darin liegt, einer noch fo ver 
bünnten Stofflichfeit, Die doch niemals aufhören Tann, Stoff, cin 
einfahes Nebeneinander von Theilen zu fein, trgenbwelde 
Afte des Bewußtfeind, von der Empfindung bis hinauf zum Der 
fen, unterzulegen, welche Selbfiverborpelung, zugleih Inſich— 
und Leberfichfein, zum gemeinſchaftlichen Grundcharakter haben, 

So gewiß alle Erfcheinungen des Bewußtfeins darin beftehen, 
im Sein fi) zugleich anzufchauen, dies Doppelte in Einheit zu 





lichen Ausdruck, Daß die Zufchauenden flohen, Einer in Ohnmaht 
fiel. Der Urheber des Verſuchs fchloß aus diefen Erſcheinungen, 
daß eine noch flärkere elektrifche Reizung Das Leben zurückgeführt, 
wirkliches Athmen und Blutumlauf bergeftellE hätte; — daß alſo 
das Leben überhaupt nichts Anderes fei, als ein höchſt intenfirer 
elektriſcher Proceß: — und Viele haben ihm dies nachgefchlofien. 

Gerade das Umgekehrte fcheint uns aus dem Verſuche zu folgen, 
wenn er recht verftanden wird. Schon der Augenfchein Deffeiten zeigt, 
daß jene Reizungen Fein Analogon des wahren Kebeng, fondern nur 
eine verzerrte Karrikatur deffelben hervorzubringen vermod⸗ 
ten, gewaltige Muskelzuckungen nämlich, weiche fid) bei flärkerer 
elettrifher Einwirkung immer nur vermehrt, alfo von dem mil 
den, harmonifchen Wirken des Lebens fid nur weiter ent 

fernt Hätten. Denn dann entfliehen audy während des Lebens 
Zuckungen in den Thieren, wenn die lebendige und gefunde Bir: 
fung der Nerven geftört ift. Deßwegen kann die elektrifche Kraft, 
welche auch in flärkfter Anwendung nur das Lebenswidrige zu 
erregen fähig ift, unbefangener Beurtheilung nad), nicht mit 
ber Lebens» oder Nervenkraft verwandt, nody weniger identiih 
fein. Bei der Neigung der gegenwärtigen Phyfiofogen, dus ke 
ben aus bloßer Steigerung oder Modifikation phyſikaliſcher Kräfte 
und Gefege zu erklären, fcheint es fogar wichtig, auf ſolche Miß—⸗ 
tennungen des Thatfächlidyen aufmerkfam zır machen, Nie 
bei den Verfuchen obwaltet, welche man als entfcheidend für jene 
Erklärungsweiſe betrachtet. 


Der bisherige Zuftand d. Anthropologie u. Pfychologie. 267 


- fein, in jedem Zuftande, aber zugleich über ihn hinaus zu fein, 
“und fo jedes Vorftellen oder Denfen in unendlidher Refleribilität 
wieder vorftellen und tenfen zu können: fo bekt dieſer Grundcha— 
rafter alle Borausfegungen eines Stofflien, weil einfach Rea= 
Ien, auf, Das des Bewußtfeind fähige Reale ift durchaus eige— 
ner Art, ſchlechthin nit in Eine Reihe zu ſetzen mit demjenigen 
Realen, welches dem Natürlichen, Bewußtlofen zu Grunde liegt; 
Bewußtſein iſt fein eigener Anfang, feine eigene VBoraudfegung, 
fofern wir nur den Begriff defielben mit Schärfe denfen wol⸗ 
len. Dies werden wir fpäter fogar gegen eine Herbart’fcde 
Behauptung geltend maden müffen, die Übrigens freilich mit den 
bier beleuchteten rohen Vorftelungen Nichts gemein hat. Wenn 
demnach der Naturalismus aus feinen Pramiffen nicht einmal die 
Erfcheinung des organifchen Lebens zu erklären vermochte, noch 
viel weniger darum die des Bewußtfeind und der Einheit des 
Ich: fo hat er fid) völlig ohnmächtig gezeigt, die Prineipien ci— 
ner Pfychologie zu geben. Ihn Fonfequent denfen, ihn in feinen 
Begriff erheben, beißt auch, ihn völlig widerlegen. ' 
Anmerkung In diefen Zufammenhang fehiene auch die 
Phrenologie zu gehören. Diefe Wiffenfchaft hat fehon Yange, 
als Lieblingsgegenftand halbdilettantifcher Beſchäftigung, in Enge 
land, Frankreich und Nordamerika Verbreitung gefunden: jetzt 
ſcheint ſie eine ähnliche Rolle in Deutſchland ſpielen zu wollen. 
Sofern durch ſie bei dieſer Gelegenheit zugleich allgemeine Grund⸗ 
ſätze der Humanität und wahrer Aufflärung gefördert werden *), 
wird jeder Wiffenfchaftliche diefen Beftrebungen Anerfennung zollen 
und ihre Fortdauer wünſchen. Wenn aber die Phrenologie von 
der Einen Seite fih an die Stelle wiffenfchaftlicher Pfychologie 


*) Wie dies einer der berühmteften Phrenologen, G. Combe, in feis 
ner Schrift: „über das Wefen bes Menſchen und fein 
Berhältniß zur Außenwelt“ cüberfept von Hirfchfeld 41838) 
ſich zum befondern Zweck gefebt hat, welde wegen dieſer allges 
meinen Gefinnung und vieler praßtifch humanen Nathfchläge 
auf jede Achtung Anfpruch hat.: 


268 Fichte, 

ſetzen zu fönnen glaubt, anderntheils die neuern phyfiologiſchen 
Forſchungen über das Nervenſyſtem und Hirn überflüſſig zu machen 
meint: ſo iſt es Zeit, von beiden Seiten dieſer Selbſtüberſchätzung 
entgegenzutreten. 

Von Seiten der Pſychologen iſt ſchon vielfach Proteſt ein⸗ 
gelegt worden gegen die unkritiſch zuſammengehäuften phrenole- 
gifhen Hirnorgane und Geifteövermögen, welche bier noch willlühr⸗ 
licher aufgezählt werden, al& in der alten empirifchen Pfychologie 
die Seelenvermögen. Wenn nad Spurzheims Lehre die eng 
liſchen Phrenologen fünf und dreißig (oder, anders gezählt, fieben 
und dreißig) Geiſtesvermögen annchmen, dieſe fobann im 
Empfindungen und Berftandesvermögen theilen, zu jenen, 
— zu den doch ohne Zweifel nur durch äußere Affektion zu erregen 
den Empfindungen — fogleich die Triebe rechnen, das Dem Begriffe 
ber Empfindung gerade Entgegengefegte, — wenn man ferne 
unter biefen Trieben den ber Kinderliebe und der Anhängligkeit, 
ebenfo den Befämpfungs- und Zerftörungstrieb gefondert und au 
verfchiedene Hirntheile verlegt findet, die Doch nur Modifikationen 
eines einzigen Triebes fein könnten, wenn unter den Gefühlen 
die Hoffnung figurirt, ihr nothwendig Gontraftirendes, die 
Furcht, aber. nicht gefunden wird, wenn ferner unter ben 
Gefühlen der Wis, welcher nur eine Thätigkeit des Verſtandes, 
die Nahahmung, weldhe nur ein Trieb fein kann, aufgeführt 
werden, — wenn endlih unter den Verſtandesvermögen, 
neben den fünf Sinnen, welche mit übertreibendem Lockeanismus 
dem Berftande zugerechnet werden, noch ein Gewichtſinn 
aufgezählt wird, weldyer die Wahrnehmung der Schwere an ben 
Körpern bedingt; zuletzt noch das Denkvermögen in Vergleichunge⸗ 
und Schlußvermögen getheilt werden ſoll, als wenn eines ohne 
das andere ſein könnte: — ſo zeugen dieſe und viele andere Be⸗ 
weiſe willkührlicher Barbarei in der Beſtimmung pſychologiſcher 
Begriffe nur dafür, auf welcher niedrigen Stufe das Studium 
ber Pſychologie, felbft nach der Bildung durch Die Schottilde 
Schule, ſich gegenwärtig noch in England befindet, Aber das 
Berwunberlichfte ift, daß die Phrenologie, bei dieſer Beſchaffenheit 


Der bisherige Zuftand d, Anthropologie u. Pfychologie. 269 


ihrer wiſſenſchaftlichen Hauptbegriffe, in Deutſchland Protektoren 
gefunden hat, welche hoffen, von ihr aus die Philoſophie, Moral 
und das geſammte ſociale Leben umzugeſtalten! 

Den Vorwurf einer materialiſtiſchen, die moraliſche Freiheit 
und Zurechnung aufhebenden Denkweiſe, welchen man der Phreno⸗ 
logie oft genug gemacht hat, können wir nicht unbedingt theilen. 
Sie iſt nicht principieller Materialismus, indem ſie das Hirn eben 
nur als „Seelenorgan“ bezeichnet, damit alfo unentſchieden laſſen 

kann, was die Seele an ſich ſelber ſei. Auch haben ſich aus eben 
dieſem Grunde Gall *), Spurzheim, © Combe u. A. vor 
dieſem Verdachte und ‚allen mit dem Materialismus zuſammen⸗ 
hängenden Folgerungen ausführlich verwahrt. Dennoch erhebt 
ſich die Phrenologie ebenſo wenig mit Entſchiedenheit über den⸗ 
ſelben: ſie bleibt zu ihm in einem ſchwankenden, unentſchiedenen 
Verhältniſſe, und wenn man die in phrenologiſchen Werken immer 
wiederkehrende Folgerung erblickt, daß, weil der Schädel eines 
Menſchen dieſe Hervorragungen oder dieſe Senkungen zeige, da⸗ 
mit vollkommen erklärt ſei, wie er dies Verbrechen habe verüben 
oder jene Tugend zeigen müffen **): fo liegt dieſer Folgerungs⸗ 
weile eben die Prämiffe zu Grunde, welcher die Phrenologie aus 
dem Wege gehen will, ja es zeigt fich eine noch tiefer gehende 
Unflarbeit, die wir fogleich aufdecken werden. 

Im Uebrigen find die allgemeinen Säge, auf denen fie beruht, 
solfommen richtig, aber weder ihr ausſchließendes Eigenthum, 
noch auch durd fie erft bewiefen. Daß dad Hirn Organ ber 
bewußten Seele fei, ebenfo daß die einzelnen Theile deffelben eine 
befondere Bedeutung für Die einzelnen Richtungen des Bewußtſeins 
haben mögen, gerade wie das Sinnenbewußtfein auch an gewiſſe 
Drgane und Nerventheile ausfchließlich gebunden iſt: dies Alles 
ift unläugbar, aber gehört zugleich zum längſt befannten Gemein⸗ 
befige der Phyſiologie. Erſt bei den ihr eigenthümlichen Sätzen 
beginnt dad Hypothetifche: daß Diejenigen Geiftesvermögen, welche 


| °) in einer eigenen Schrift: »Des dispositions innees de l’ame er 
de l’esprit ou du materialisme.« Paris 1812. 
‚*®) vergl. 3: B. Eombe a. a. O. ©. 169-171. ©. 204, 209 U. ’ w. 


Zeitſchr. f. Philoſ. u. ſpek. Theol. XII. Band. 19 


270 | Fichte, 

in einzelnen Individuen flarf bervortreten, auch von Anſchwel⸗ 
lungen ihrer Drgane im Hirn begleitet fein müſſen; daß ferner 
diefe Anfchwellungen insgeſammt äußerlich am Schädel ſichtbar 
werben follen, fo dag nicht nur deſſen Erhöhung auf beftimmte 
Fähigkeiten und Eigenfchaften des Geiftes, feine WBertiefungen 
auf Abwefenheit derfelben fchließen Iaflen, fondern Daß auch ber 
Menſch nah allen feinen geiftigen Eigenfchaften an der Ber 
fchaffenheit feines Schädels erfannt werden foll. 

Wir glauben zwar der Beurtheilung der. Phrenologie von 
phyſiologiſchem Standpunfte und enthalten zu müffen, indem auf 
unfern Wunſch ein bewährter Forſcher in phyfiologifchen Dingen, 
und namentlid, in diefem Theile ber Nervenlehre, fich zu einem 
Gutachten über diefelbe entfchloffen hat, welches wir im der nad: 
folgenden Abhandlung erfcheinen laſſen. Dennoch Fönnen wir und 
nicht enthalten, auch darüber noch einige Bemerkungen hinzu 
fügen, welde der gegenwärtige Zufammenhang von felbft darbieiet. 

Bei jener phrenologifhen Hypotheſe bleibt nämlich das Drei 
fahe unbewiefen, welches durch vollſtaͤndige Induktion erſt feh- 
geflellt werden müßte, wenn die Beifpiele, auf welche die Phre 
nologie ſich beruft, beweiſende Kraft erhalten ſollen, und opm 
welche jene vermeintlihen Erfahrungen in der That völlig un 
reichend find für den bezeichneten Zweck, weil fie auch einer andern 
Erklaͤrung fähig find. 

Zuerft wäre zu erweifen: warum überhaupt ber intenfiven 
-geiftigen Fähigkeit eine ertenfive, noch dazu äußerlich ſicht 
bar werdende Ausdehnung oder Entwidlung eines einzelnen 
Hirntheils entfprechen folle, welcher etwa jene repräfentirt? Bei 
ber höchſt zarten, dem unbewaffneten Auge des Beobadhters fih 
völlig entziehenden Organifation der Primitiv-Rerventheile if der 
entgegengefegte Fall ebenfo möglih, daß ein Hirnorgan, durch 
urfprüngliche Anlage oder durch Uebung, in der That vorzüglide 
Ausbildung erlange, daß feine innere Struktur fich vervollkommn, 
daß bie Primitiotheile deſſelben fih vermehren, ohne daß bet 
äußere Umfang beffelben im Geringften auf augenfällige Beil 
vergrößert erfcheinen, am Wenigften als Anſchwellung auf 


Der bisherige Zuftand d. Anthropologie u. Pfychologie. 271 


der Oberfläde berovortreten müßte, noch dazu, da bei näherem 
Bedenken Far werben muß, wie auch bei einer Vermehrung der 
Primitiviheile eines Organs dies höchſtens nur eine Verdichtung 
der neben einander Iegenden Theile deffelben im Innern dee 
Hirns, keineswegs eine nad) Außen und in die Länge hin her: 
oortretende Anfchwellung deſſelben erzeugen könne. Weberhaupt 
aber macht es die gänzliche Unſicherheit über dieſe Grundverhältniffe, 
in welcher bie heutige Phyfiologie fich befindet, und die jeder, ber 
gegenwärtigen Gränze feiner Wiffenfchaft Tundige Phyfiolog eine 
geſteht, für jegt noch völlig unthunlich, aus Anfchwellungen ein⸗ 
zelner Hirniheile oder fogenannter Organe irgend Etwas mit 
Sicherheit zu fchließen auf eine etiva bevorzugtere geiftige Thätige 
feit in denfelben, oder auf eine im Verhältniffe zur Größe bee 
Organes flehende Intenſität diefer geiftigen Thätigfeit. | 
Aber wäre ein ſolcher Parallelismugs zwifchen Sntenfität und 
-Ertenfität auch völlig bewiefen: fo hätte die Phrenologie noch 
ben zweiten Schritt zu thun und zu zeigen, wie jede ſolche Ans 
fchwellung fi nothwendig in der äußern Inochigen Oberfläche des 
Schaͤdels ausprägen müffe, deſſen Erhöhungen auch aus andern, fehr 
zufälligen Urfachen berrühren Tönnen, und oft genug wirklich her⸗ 
rühren. Was in jedem befiimmten Falle die wahre Urfache 
einer Schädelerhöhung fei, das entſcheidet erft über die Richtigkeit 
einer kranioſtopiſchen Beobachtung, das macht erſt gewiß, ob unter 
der Schäbelerhöhung wirklid eine Hirnanfchwellung verborgen fei 
oder nicht? Aber am Schädel des Lebenden Fann dies nie entichieden 
werden, an dem. bes Berftorbenen nur dann, wenn man bie äußere 
und bie innere Oberfläche deſſelben genau unter einander vers 
gliche: eine Borficht, welche bei den phrenologifchen Unterfuchuns 
gen erwiefener Maaßen gar nicht in Betracht gejogen wird, Dan 
ftellt Beobachtungen an den Schädeln Tebender, wie Verſtorbener 
ohne Unterfchied an, und begnügt fi) nur mit der dußern Obers 
fläche derfelben. Die Folge. davon: ift, daß auf Feine der alſo 
angeftellten phrenologifchen Schädelbeobachtungen irgend ein ſiche⸗ 
ser Schluß gegründet werben Tann, daß man darin völlig unfichere, 
bebeutungslofe Zatfachen zufammenhäuft. 


r 
an 


272 SFSichte, 


Dazu kommt noch die antiphrenologiſche Erfahrung von Ano⸗ 
malien, ja Mißbildung der Schaͤdelform (ſogar künſtlich hervor— 
gerufen bei einzelnen wilden Völkern), ohne daß ſich hier im Ge- 
singften die entfprechenden geiftigen Anomalieen oder die Eigenart 
ber Individualität gezeigt hätten, welde eintreten müßten, wen 
die Phrenslogie Recht hätte. C. G. Carus, welcder an biele 
Erſcheinungen erinnert, hat ohne Zweifel auch die richtige Erf 
rung davon gegeben *), indem er zeigt, daß Die allgemeine Stier 
fung der Hirntheile zu einander fi verändern könne, ohne die 
Thätigkeit des Hirns ald Seelenorgand zu beeinträchtigen, fofern 
nur die Ausbreitung der Primitiofaferung in den einzelnen Him- 
theilen nicht befchränft wird. Iſt diefe Bemerfung aber richtig, 
wie Die angegebenen Erfahrungen dies zeigen, fo braucht mithin 
die äußere Schädelform überhaupt gar nicht der Abdruck der Hirn 
entwicklung auch nur nach feinen Grundverhältniffen zu fein: die 
erſte Örundvorausfegung der Phrenologie ift damit aufgehoben. — 
Ueberhaupt hat jener phofiologifhe Denker, — welchen fein 
bloß beobachtenden Genoſſen deßhalb verfhmähen zu Dürfen glaw 
ben, weil er nicht bloß beobachtet, fondern das einzeln Beobachtele 
unter gemeinfame, das Denfen weiter leitende Geſichtspunkte zu 
bringen fucht, — auch die Phrenologie auf die allgemeinen Grän 
zen der Wiffenfchaftlichfeit zurüdgebracdht, die fie nach den Re 
fultaten ber gegenwärtigen Phyfiologie in Anfpruch zu nehmm 
bat, und ift darüber natürlich von den phrenologiichen Dilettan- 
ten — gehörig zurechtgewiefen worben! Er hat nämlich gezeigt, 
daß wenigftens in den gefammten Dimenfionen des Schaͤdeis 
an dem Border -, Mittel» und Hinterhaupte ein eben fo all 
gemeiner, jenen äußern Dimenfionen im Ganzen entſprechender 
Unterſchied in ber Entwicklung des hintern (oder Kleinen), mittlern 
und Vorderhirns ſich nachweifen laſſe. Sofern nun aber, feiner 
Bermuthung nach, das Feine Hirn der Willengrichtung, das Mittel: 
birn der Gemüths⸗ ober. Gefühlsrichtung, das Vorderhirn ben 
‚intelleftuelen Fähigkeiten dienen foll: fo wärbe. fih aus den al 


v9 Spfem ber Phyflologie. 1840. Bd. II. 5.74. 


Der bisherige Zuftand d. Anthropologie u. Pſychologie. -273 


gemeinen Grimbverhältniffen, in denen die Dimenfionen des Schäs 
dels in diefen drei Hauptiheilen zu einander ftehen, ein Schluß 
machen laſſen auf die flärfere Entwicklung, fei es der Willend- 
oder der Gemüths⸗ oder der intellektuellen Sphäre. 

Daß das Heine Hirn neben dem Seruellen der Mittelpunft 
der motorischen ‚Nerven des Organismus fei, gehört für jest 
wenigftend zu den angenommenen Refultaten ber Phyfioiogie: ebenfo . 
hat Beobachtung und ein lange geübter phyfiognomifcher Inſtinkt 
in der Stine und im Borderbaupte den Sitz der inteXektuellen 
Fähigkeiten geſucht. Wir ſtehen daher mit diefer Theorie wenig⸗ 
ſtens anf dem Boden einer mwohlbegründeten Erfahrung; und wie 
es mit dem etwas unbeflimmt aufgefaßten Begriffe des „Gefühle“ - 
ober „Gemüthes“ auch ſich verhalten möge, bie Theorie befenntfelber, 
nur fchr allgemeine wiffenfchaftlihe Grundſätze geben zu können: 
— wie fi) dies au in der Anwendung auf dad Einzelne bes 
währt, nad welder 3. B. die Bergleihung von Schillers und 
. Napoleons Schädel zeigt *), daß fich in "beiden das Organ’ ber 
Sntelligenz gleihmäßig entwidelt finde: — und dennoch, wie ver⸗ 
ſchieden, ja in entgegengefeßter Richtung war in beiden ihre In⸗ 
telligenz entwidelt! Diefe klare Einficht ber Grängen ihrer vorkäufie 
gen Gültigkeit, diefe Sefbftbefcheidung, unterfcheidet bie Caru s'ſche 
Theorie auf das Vortheilhafteſte von der gewöhnlichen phrenolo« 
gifchen Lehre, in weicher Anmaßung und Unwifjenfchaftlichfeit um 
bie Wette fich überbieten. | | 

Die letztere nämlich hätte drittens noch ben Beweis zu führen, — 
oder wenigftens eine beffere Begründung zu fuchen, als bie bet 
ihr fich findet, — warum alle die fünf (fieben) und dreißig Organe, 
deren Summe ben menfchlichen: Geift fd ziemlich umfaffen würbe, 
nur auf deräußern Oberfläche: des Hirns abgelagert fein follen, 
feines im Innern berfelben ſich verbergen, oder nad) Unten ges 
richtet fein könne? Die Antwort darauf lautet feltfam genug. 
Nah den Einen mögen unten im Hirn die Organe für Wärme 
und Kälte anzunehmen fein, — weil man fie bisher an ber Ober« 


98) Carus a. a. O. ©, 375. 


274 . Fichte, 

fläche des Hirns noch nicht gefunden! Die Andern nehmen am, 
daß die Organe darum bid auf die äußere Fläche des Hirns her« 
ausragen müffen, indem anzunehmen fei Canzunehmen bloß def 
halb, weil ihre Theorie es alfo fordert), DaB die Drgane von 
Innen ber Cgleichfam Eeilförmig) das Hirn durchſetzen und mit 
der Spitze nady Innen, mit der Breite nach Oben, gelagert find, 
Nun verhält es fih aber mit der Organifation des Hirns er 
wicfener Maaßen völlig andere, und die Phrenologen erdreiſten 
fih, durch ihre Behauptungen wie mit einem Federſtriche, bie 
Refultate forgfältigfter phyfiologifcher Forſchung zu vernichten. Sn 
der innern (jogenannten weißen) Hirnfubftanz find es nur bie in 
dem Körper ſich verbreitenden Primitivfafern der peripheriſchen 
Nerven, welche fi in Lagerungen neben einander oder in Ber 
fchlingungen ausbreiten: um biefen Complex aber fügt fich, ohne 
in ihn einzubringen, oder die Fortſetzung jener Primitivfafern in 
ſich aufzunehmen, eine völlig anders gebildete, körnige, ganglien 
artige Belegungsmafle (graue Subſtanz), gleich einer äußern Ums 
Hleidung von jener. Dies Grundverhältnig (deſſen Einzelnheiten 
den nicht phyfiologifchen Lefern dieſer Blätter weder verftändlid 
werden, noch fie intereffiren Tann) ſchließt nun wenigſtens, wie 
man ficht, den Wahn einer ſolchen das Hirn durchſetzenden Be 
fonderung von Organen völlig aus. Andernfalls müßte die ſchon 
gewonnene Einficht von der Organifation bes Hirns, deren ein 
fache, aber finnreiche Zwedmäßigfeit den Betrachter mit Bewuns 
derung erfüllt, und fogar ſchon auf widtige, das Wefen bee 
Seelenorgans betreffende Schlüffe leiten Fönnte, den willführlichften 
Borftellungen eines ungereimten Aggregatzuftandes der Hirntheile 
Platz machen. 

Aus dieſen Betrachtungen ergiebt ſich, daß, was Theoretiſches 
an der Phrenologie iſt, zum völlig Ungewiſſen oder Problemati⸗ 
fhen, Willführlihen, Werthlofen herabfinft. Und fo bliebe ihr 
eigentlich nur übrig, fih einfach auf die Maffe von Thatſachen, 
auf die Menge der von ihr angeftelten Beobachtungen zu berufen, 
welche fie freilich durch allerlei außer ihrem unmittelbaren Kreife 
Kegende Erfahrungen zu vermehren trachtet, um padurch ben un 


Der bisherige Zuftand d. Anthropologie u. Pſychologie. 275 


beftimmten Gefammteindruef hervorzubringen, daß Alles ihr diene, 
mithin auch Alles fie beftätigen müffe. 

Aber dann eben, wenn man dad. Maffenhafte der phrenolos 
giſchen Beobachtungen prüfend in's Einzelne zerlegt, ſchwindet faft 
ganz das Gewicht, das man darauf zu legen hätte: wenn jebe 
einzelne nicht, oder nicht völlig beweist, was fie foll; fo kann das 
Nefultat der vielen nur noch ungewiffer und verwirrender fein, 
da es eben Fein Gefammtrefultat if. Zugleich iR noch über die 
Art der dabei gepflogenen phrenologifchen Beobachtungen und pſy⸗ 
chologiſchen Schlüffe ein Wort zu fagen. Man fucht die Schädel - 
merfwürdiger, befonders durch Verbrechen, Lafter, heftige Leidens 
ſchaften ſich auszeichnender Menſchen zufammen, gleich den aufs 
fallendften Ertremen der Menſchheit. Was fih nım an beren 
Schädelbildung Abweichendes oder Abnormes findet; follte dies nicht 
jenen pfychifchen Anomalieen entfprechen, und fo auf die Organe 
derfelben im Hirne ein Licht werfen? So hat die Phrenologie 
und früher fhon Galle Kranioffopie gefchloffen, wie es zunächft 
fcheinen Fonnte, mit einigem Grunde, und. befhalb hat fie gerade 
die Schädelbildung folcher auffallendften Menfchen zu Hauptftüben 
ihrer Theorie gemacht, Aber gerade umgefehrt verhält es fich in 
Wahrheit; es find Dies die allercompficirieften und ſchwierigſten 
Phännmene, die verwideltften Erfcheinungen, ganz ungeeignet, bie 
bleibenden und regelmäßigen Orundverhältniffe erkennen zu laſſen. 
Und zudem noch: — mag es für die Eriminaljuftiz einen Mörder, 
einen Dieb, überhaupt Lafter und Verbrechen in abstracto geben; 
die beobachtende Pſychologie kennt dergleichen nicht, ſondern be 
trachtet die einzelne That oder dag Lafter, Durch weldhes das In⸗ 
dividuum fich unterfcheibet, nur als die letzte, oft zufällig eintretende 
Spitze einer geiftigen Rishtung, die fehr verfchiebenartigen Urfprungs 
fein kann. Aug wie verfchiedenen Gründen, theild aus temperas . 
menteller Anlage, theils aus Lebensglüd oder Lebensnoth, kann 
entftehen, was wir mit dem gleichmachenden Ausdrude des Geizes 
oder der Habjucht bezeichnen! Wenn daher die Mörder aus 
Eiferfucht oder aus monomaner Mordluft oder aus Habgier wirk⸗ 
lich eine analoge Schädelformation zeigen follten — woraus ja 


276 £ Fichte, | 

eben das ältere Organ der Mordſucht, das fpätere des Zerfd- 
rungstriebes erwachſen it: — fo würde eine folche (zufällige) 
Thatſache die vermeinten phrenologifhen Nefultate geradezu um 
ftoßen, die Behauptung widerlegen, daß die Verſchiedenheiten bed 
Charakters fi) auch an den Unterfihieden des Schädels abfpie 
geln müſſen; denn jene Mörder indgefammt haben, außer ihrer 
ganz verſchieden motivirten That, fchlechthin Nichts mit einander 
gemein. Nur die. volftändige Gefchichte der geiftigen Entwicklung 
eines Individuums könnte zu einem Urtheile über die Pebeutung 
feines Schädels berechtigen, Fönnte einen richtigen phrenologiſchen 
Schluß begründen, — vorausgeſetzt freilich, daß überhaupt der 
Begriff von Organen im Sinne der Phrenologie ſchon feſtſtehe. 
Nun wollen wir zwar nicht läugnen, daß die Phrenologen im Eir⸗ 
zelnen einer ſolchen Individualiſirung der Charaftere zu genügen 
wiſſen; die verfchiedenen Drgane follen fih nad) ihnen- mannigfad 
mobdificiren und einfchränfen, gleichfam ſich multipliciven oder fu 
trahiren gegen einander, und fo gar zufammengefeßte Nefultate 
hervorbringen. Aber was hilft dieſe nachfommende Cautel, wenn 
bie erſte Grundlage, welche fie dabei vorausfeßen, die wirktice 
Eriftenz von folhen Organen, überhaupt noch nicht erwiefen if 
oder nur auf Scheinbeweifen beruht? 

Und bier fällt endlich die principielle Erörterung einer andern 
Frage hinein, welche die Phrenologie gleichfalls unberührt gelaffen 
hat, Möchte die Lehre von den Organen, als Anfchwellungen 
an der äußern Oberfläche des Hirns und Schädels, auch feſt⸗ 
fteben: fo laßt fih doch von der Urfache derfelben durchaus 
eine doppelte Anficht faffen. Die Phrenologie kommt, foweit wir 
bie ihr gewidmeten Werfe kennen, nirgends über dieſe Alternative 
zur Entfehiedenheit; ja fie Fann fih nur dadurch in ihrem jeweilis 
gen Beftehen erhalten, daß fie fich über jene Frage nicht entſcheidet. 

Das Hervortreten gewiſſer Organe kann entweder als Folge 
betrachtet werden von den geiſtigen Anlagen des Menſchen, oder 
von der freien Ausbildung derſelben: — (gerade ſo, wie der 
Muskel anſchwillt, der ſtets angeſtrengt wird — eine oft voe 
Phrenologen gebrauchte Analogie, — oder wie ber Sinnenner 


Der bisherige Zuſtand d. Anthropologie u. Phychologie. 277 


vorzüglich ſich ausbildet, deſſen man ſich vorzugsweiſe bedient, 
gleichwie man umgekehrt Vertrocknung der Sehnerven bei dem 
grauen Staare gefunden hat: — bei welchen Beiſpielen es Keinem 
eingefallen iſt, nad) phrenologiſcher Analogie zu ſchließen, daß bie 
Anſchwellung des Muskels oder die Vollkommenheit der Einnens 
nerven die Urfache fei, warum die Seele. die Neigung erhalte, 
ihrer fih vorzugsweife zu bedienen; vielmehr exemplificirt fich 
Daran das wichtige allgemeinere Ergebniß, daß der Geift, das 
bewußte Princip, durch die eigene bewußtlofe Organifationsfraft 
” vermittelt, fi fein Förperliches Organ erfi erbaut und ausge⸗ 
bildet habe). Bei dieſer Auffaſſung, die wir für die einzig richtige 
halten, verſchwindet jedoch aller Grund zu jenen der Phrenologie 
eigenthümlichen Folgerungen, welche ſie aus der Organenlehre 
zieht, um auf das Unwillkührliche und Unwiderſtehliche hinzus 
weifen, das eine anomale Hirnorganifation auf den Dienfchen aus» 
üben und feine Handlungen oft unvermeidlich bedingen fol, Wenn 
biefelbe umgefehrt erft dag mittelbare Produkt gewiſſer im geiftis 
gen Neben ausgebildeter Verkehrtheiten wäre: fo müßten jene, 
ihrem Urfprunge nah immerhin verbächtigen, das Wefen der 
Menſchen erniedrigenden Entfehuldigungen verſtummen. 

Oder die entgegengefeste Annahme wäre, daß die Größe 
des Hirnorgans die Urfache fei zur Erregung gewiffer Geiftes- 
anlagen, pfochifcher Nichtungen und Triebe: — eine Hypotbefe, 
welche nach Allem, was die gegenwärtige Abhandlung darüber 
enthält, bier Feiner Widerlegung mehr bedarf, Auch behauptet 
die Phrenologie diefelbe nicht ausdrücklich, — fie würde Damit den 
naturaliftifchen Folgerungen anbeimfallen, welchen fie fo forgfältig 
auszuweichen fucht. Dennoch behält fie diefelbe wenigftens als 
dunkle Prämiffe im Hintergrunde ihrer Denfweife und benust fie 
mannigfad. Denn auf weldem andern Grunde Fünnen jene 
wiederholten Tiraden und beredten Ausführungen ruhen, daß das 
“ meifte moralifche Unglüd und die zahlreichſten Fehlgriffe des Urtheils 
bloß daraus eniftehen, indem man fich nicht nad) Beſchaffenheit der 
Hirnorgane richte und fo wider die menſchliche Natur ſelber an- 
sche? Will ſich die Phrenologie nun dennoch zum Principe biefer 


278- Fichte, Der bisherige Zuſtand ꝛc. 


Folgerungen nicht ausdrücklich befennen, fo thut man nicht zuviel, 
von ihr zu behaupten, daß fie nur durch gefliffentliche Unklarheit 
über ihre Principien ihr Dafein behaupten Tann, daß fie fi auf 
geben müßte, wenn man fie nötbigte, entfchieden und klar für dad 
eine oder Das andere Glied jener Alternative fich zu entfcheiden. 
Die Summe möchte fein, daß die Phrenologie, zwar auf 
einer im Allgemeinen wahren, aber auch den andern Wiffenfchaften, 
welche fih mit dem Menfchen befehäftigen, gemeinfamen Grund: 
age berubhend, dennoch his jebt, weder als eigenthümliche Theorie, 
noch durch fpecielle Beobachtungen, irgend ein fiheres wilfen 
ſchaftliches Refultat fich erworben haben möchte, noch überhaupt 
auf ihrem Wege, troß ihrer zahlreichen Schriften und Synftitute, 
je fi erwerben werde. Ueberhaupt aber iſt auszufprechen, daß 
ſelbſt die wiffenfchaftliche Phyfiologie nach diefer Seite hin noch 
nicht fiher genug ausgebildet ift, um auf die Fragen, welde bie 
Phrenologie in Anregung bringt, völlig begründete Auskunft geben 
zu fönnen. Will man überhaupt dem richtigen und alten Gedan⸗ 
fen, daß der Leib, namentlich das Haupt, das Gepräge des Geiſtes 
und der Individualität an ſich tragen müffe, eine umfaffende Au 
bildung geben, fo hätte man, audy von Seiten der Phrenologie, 
die Phyfiognomif mit in den Kreis zu ziehen, welche fürmahr 
weit mehr reale Bedeutung für fi anzufprechen hat, ia bem 
Principe nach finnvoller, der Quelle des Geiftes näher ift, al 
jene. : Das Antlig, das bewegliche Mienenfpiel, die Phyfiognomie 
überhaupt, ift ein abäquaterer und beweglicherer Spiegel des Geiftes, 
als die Hirnfchale, und auch jett ift man vollkommen beredtigt, 
die ausfchließenden Phrenologen und Schädelſeher an die fcyarfe 
und Förnige Perfiflage zu erinnern, mit welcher Hegel in feiner 
Phänomenologie *) den Gedanfen beleuchtet bat, „daß die Wirk 
lichkeit und das Dafein des Menfchen fein Schädelfnochen fei”. 
(Eude des erften Artikels) **). 





*) ©. 268. 272. 72 alte Ausgabe. 

+") Wir haben, um die gegenwärtige Abhandlung hier nicht zu fehr 
anfchwellen zu laſſen, ihren Schluß einem zweiten Artikel vor: 
behalten müffen. 


Einige Worte Über die woiflenfchaftlihe Stellung | 
der Phrenologie zur Phyſiologie. 
Ton 
‚Dr. ©, Hermann Meyer, 
Doeenten ber Phpfiologie in Tübingen *). 





Mit befonderer Berüdfichtigung folgender Schriften: 


1. G. Combe, Syftem der Phrenologie, überfeßt von Hirfch- 
feld. DBraunfchweig 1833. XIV und 498 ©, | 
(Das umfaflendfte Originalwerk für die heutige Phrenologie). 
II. R. R Noel, Grundzüge der Phrenologie, Dresden und 
Leipzig 1842. . VI und 374 ©. 
(Ungefähr derſelbe Inhalt wie I, doch mit einiger Selbſtſtän⸗ 
| digkeit und Kritik bearbeitet). 
IL Ric. Chevenix, über Gefhichte und Wefen der Phreno⸗ 
logie, überf. von Dr. Bernhard Cotta. Dresden und Leipzig 
1838. IV und 140 ©. 
(Der durch, den Titel angezeigte Inhalt iſt auf geiftreiche, pikante 
Art, aber ziemlich flüchtig behandelt). 
IV. G. v. Struve, die Phrenologie in und außerhalb Deutfch- . 
land. Heidelberg, 1842. 57 ©. 


) Berf. der „Unterfuchungen über die Phyſiologie der Nerven: 
faſer“. 1843. — Die unterzeichnete Redaktion hatte den Herren 
Derfaffer um ein wiflenfchaftliches Gutachten über den oben be« 
zeichneten, jetzt fo viel befprochenen Gegenſtand erſucht; er lieferte 
eine Abhandlung, deren Reſultate, foweit dieſelben nicht⸗phyſto⸗ 
logiſche Leſer zunächſt intereffiren dürften, hier im Auszuge er: 
fheinen, während der Herr Verfaffer eine weitere Ausführung. 
des Gegenflandes einem eigenen Werbe vorbehält. 

Die Redaktion. 


220 Meyer, 


v. G. v. Struve, die Geſchichte der Phrenologie, Heidelb. 
1843. 60 S. 
(Beides angenehm geſchriebene, ſtizzenhafte, von redlichem Ei: 
tHuflasmus befeelte Abhandlungen; V mit häufigen nicht une: 
deutenden „Reminiscenzen‘ aus TIL.) _ 
VI. R. R. Noëel, einige Worte über Phrenologie. Dresden und 
Leipzig. 1839. 46 ©. 
(Potemifc gegen einen Auffas in dem Magazin für die Liter 
fur des Auslandes mit durchblickender Gereiztheit.) 
vn. Grohmann, Unterfudungen der Phrenologie. Grimme, 
4842. VI und 175 ©. 
(Wenn nidyt der Ernft an vielen Stellen unverkennbar wäre, ſo 
könnte diefes Buch, wegen feines ercentrifchen Weſens und de 
an vielen Stellen zu findenden gänzlichen Verborgenſeins des 
Sinnes in wohltönenden Phrafen, für eine vortreffliche Satyre 
auf Phrenologie und Phyſiognomik angefehen werden, für welche 
es vermittelnd und weiterbauend ‚auftreten will.) 
vım © Combe, das Wefen des Menſchen und fein Berhältuiß 
zu der Außenwelt. Aus dem Engliſchen von Hirſchfeld. 
Bremen 1838. XXII und 433 S. 
(Sehr angenehm geſchriebene populäre Belehrung über die Ber 
hältniffe des Menfchen zu der Natur und den Naturkräften, 
fowie über die Pflichten deffelben gegen feinen Körper und feine 
Seele, — mit ber alferübertriebenften Teleologie. Ein Abſchnitt 
ift fogar in Geſtalt einer Parabel abgefaßt, in welcher „Inpiter“ 
redend auftritt.) 
IX. Attomyr, Theorie der Verbrechen auf Grundfäge der Phre⸗ 
nologie bafirt. Leipzig 1842. 64 ©. 
(Die Rüdfichten behandelnd, welche man der Individualität und 
den Berhältniffen von Berbrechegn ſchuldig iſt.) 
X. M. Caſtle, phrenologiſche Analyſe des Charakters des Herra 
Dr. Juſtinus Kerner. Heidelberg 1844. XXVI u 74 ©. 
XL ©, von Struve und Dr. E. Hirfchfeld, Zeitfchrift für 
Phrenologie. Band J. Heidelberg 4843. VII u, 484 ©. 


u * 
* 


X. Carus, Syſtem der Phyfiologie. Band IU. Dresden und 
Leipzig 1840, ©, 837 —352. 


— 


Stellung der Phrenologie zur Phyfiologie. 284 


XI. Carus, Grundzüge einer neuen und wiflenfchaftlich be= 
gründeten Graniofcopie. ‚Stuttgart 1841. VIIL und 87 ©. 
XIV. — Ueber wiffenfchaftliche Cranioſcopie in Müller's Archio 
für Anatomie, Phyſiologie und wiſſenſchaftliche Medicin. 


* m 
® , 


XV. L. Choulant, Vorleſung über die Kranioffopie. ober Schädel 
lehre. Dresden und Leipzig 1844. IV und 81 ©. 
(Die Phyſiognomik, Gall'ſche und Carus'ſche Kranioffopie ohne 
beſtimmte Färbung ziemlich) oberflächlich befprechend; — ange: 
hängt-ift ein vollftändiges Literaturverzeichniß der Phrenologie 
von Gall bis auf die neuefte Seit.) 


Die Phrenologie, welche lange Zeit in Deutfchland kaum 
noch dem Namen nad befannt war, hat fih, aus England und 
Nordamerika nach Deutichland zurüdfommend, wieder unter ung 
eingebürgert und ift wieder zur Tagesfrage geworden, welche um 
fo mehr Aufmerffamfeit und Beachtung verdient, als die Phreno- 
Iogen, in ihrer Lehre die Wiffenfchaft der Wiffenfchaften erblicend, 
ſich mit lebhafteftem Eifer bemühen, ihren Einfluß auf alle Lebens⸗ 
verhältniffe geltend zu maden, dieſe mit dem Geifte ihrer Lehre 
‚zu durchdringen und nach demfelben umzugeftalten. 

Die Phrenologen vermeinen, einer wichtigen und fchönen Auf- 
gabe zu dienen, indem fie auf dieſes Ziel hinarbeiten; und wirt 
lih würde eine öffentliche und allgemeine Anerkennung der Phres 
nologie ein Ereigniß fein, deſſen Folgen unberechenbar wären. 
Es muß deßhalb als eine nicht überflüffige Aufgabe‘ ericheinen, 
die Grundlagen und Lehren der Phrenologie einmal vom phyſio⸗ 
Iogifhen Standpunfte aus zu befprechen, um zu ermitteln, in’ wie 
ferne diefe fo ficher daftehen, daß fih auf dieſelben wirklich vie 
beabfichtigten wichtigen Veränderungen aller Lebensverhältniſſe grünz 
den laſſen Fönnen, — Die Phrenologen werben gegen eine Bes 
ſprechung von diefer Seite aus um fo weniger einzuwenden haben, 
als nach Combe's eigenem Geftänbniffe (XL Heft: 4. S. IX) die 
Phrenologie ein Theil der Anatomie und Phyſiologie if, 


282 | Meyer, 


Don Gall, dem Begründer der Phrenologie, hafın wir eine 
doppelte Leiflung zu unterfcheiden: A) die Begründung einer be 
fonderen Art das Gehirn zu zergliedern; und 2) die Begründung 
ber Phrenologie. Beide find durchaus unabhängig von einanber, 
wenn auch ohne Zweifel Gall durd bie Verfolgung berfelben 
Studien auf beide zugleich geführt wurde. 

Was zuerft Gall's Anatomie bes Gehirns angeht, fo iſ 
diefe Jängft von allen Anatomen fo fehr als vorzüglich anerlımt 
worben, daß fie die Grundlage aller neueren Unterfuchungen Aber 
das Gehirn geworben if. Gall hat felbft von feinen Zeitgenofen 
unter den Anatomen viele ſchmeichelhafte Huldigungen wegen bie 
fer Arbeiten erfahren. 

Anders verhält es fich mit feiner Phrenologie, mwelhe 
von den Zeitgenoffen Gall's unter den Phyfiologen nicht günfig 
‚ beurtheilt wurde, audy nad) Spurzheim's umfichtigerer und geif- 
voller Bearbeitung fich Feines Beifalles bei denfelben erfreuen 
konnte, und deßhalb Feine weitere Bearbeitung von diefer Seite 
erfahren hat. — Die Phrenologie ift eine Lehre von ber Ber 
sihtung des Gehirns, nach welder Das Gehirn in eine be 
ffimmte Anzahl von Organen zerfällt, deren jedes das 
materielle Subftrat eines befonderen Grundvermö 
gend der Seele fein foll. Die Organe find paarig, d. h. 
ein jedes Organ ift in jeder Hemifphäre je einmal, im Ganzen 
alfo zwei Dal an ſymmetriſchen Stellen der Hemifphären, vor 
handen, Ihre Zahl ift gegenwärtig 37 (35 mit Zahlen und 3 
mit. Zeichen bezeichnete Organe); die Phrenologen find aber bes 
müht, diefe Zahl noch fletd zu vermehren, namentlich verfprecen 
fie ſich für diefen Zwed viel Gutes von dem Phrenomagnetismus 
(XI. S. 308), einer abentheuerlihen Verbindung der Phrenologie 
mit dem thierifchen Magnetismus, nach weldher durch Betaſten 
gewiſſer Kopfgegenden bie unter ihnen gelegenen Hirnorgane jur 
Ihätigfeit angeregt und bie benfelben entfprechenden Gefühle fo 
bedeutend gefteigert werden follen, dag fie ſich durch Wort un 
Mienen der betreffenden Perfon aufs tebhaftefte funbgeben. 


Stellung der Phrenologie zur Phyfiologie. 288 


In dem angeführten Grundfage ber Phrenologie find aber 
folgende einzelne Sätze enthalten: 

4) daß das Gehirn in eine beftimmte größere Anzahl funktionell 
verfchiedener Seelenorgane zerfalfe, und 

2) daß es eine beflimmte größere Anzahl von Grundvermögen 
ber Seele gebe, deren jede an die Thätigkeit eines Hirn- 
organes gebunden ſei. 

Es iſt damit alſo eine neue Srundanfi ht für die Phyſiologie 
des Gehirns und eine foldye für die Pfychologie gegeben. 

Daß die Thätigfeit der Seele im Allgemeinen an 
Die Thätigfeit des Gehirns gebunden ift, ift eine fo all- 
gemein anerkannte Thatſache, daß das Borbringen von Beweifen 
für diefen Sag ebenfo überflüffig als unnüg erfcheinen muß. Es 
ift ein Sag, welder zu allen Zeiten ald Grundfag in der Phys 
fiologie gegolten hat, wenn auch vielleicht manchmal Zweifler aufs 
traten, deren Widerfpruch aber nur die wiffenfchaftliche Befefti- 
gung dieſes Satzes vermitteln half. Die Phrenologen haben, fo 
fehr fie fih auch Mühe geben, dieſes für fich zu vindieiren, dieſen 
Sag weder als neu aufgeftellt, noch auch mit neuen Thatfachen 
unterftüßt. Ausgang ihrer Lehre ift er allerdings; deßhalb geben 
fie fi) auh Mühe, ihn zu begründen, und weil fie doch einmal 
gerne gegen die Phyfiologen fprechen, möchten fie hierbei dieſe wes 
nigftens theilweife ald Männer binftellen, welche das Gehirn nicht 
als Sig der Seele anerfennenz; und doch ift gerade die von den 
Dhyfiologen gegebene wiſſenſchaftliche Begründung diefer Anficht 
viel gründlicher und umfafjender ald die von den Phrenologen - 
gegebene, weldhe noch dazu großentheils phyfiologifchen und ärzt⸗ 
lichen Schriften entnommen ift. 

In den beiden obengenannten Sägen bleibt alfo nur noch zu 
erörtern übrig, ob eine Eintheilung des Gehirns in funk— 
tionell verfhiedene Organe Cim phrenologifchen Sinne J 
von den Phyfiologen, und ob eine Annahme vieler Grund» 
vermögen der Seele von den Pfychologen gebilligt wer⸗ 
den kann. 

Was den erſten Punkt angeht, ſo iſt darüber Folgendes zu 


284 Meyer, 


bemerfen. Die Anatomen haben feit den älteften Zerglieberungen 
des Gehirnes an diefem Eingeweide zur Bequemlichkeit der Le: 
ſchreibung und Drientirung verfchiedene Theile unterfchieven und 
| ‚ benannt. Diefe Theile find theilveife Streden der Nervenfafer: 
züge des Gehirns, theilweife Anfhwellungen (fogenannte Gang: 
lien), welche fih durd Dazwifchenlagerung ber fogenannten grauen 
Hirnmaffe in der Continuität der Faferzüge bilden. In dem Be⸗ 
fireben die Berrichtungen. des Gehirnes zu erforfchen, find viel⸗ 
fache Berfuche gemacht worden, einem jeden diefer einzelnen Tpeile 
beftimmte Funktionen in der Sphäre der pſychiſchen Thätigfeiten 
beizumefien. Doch muß zugeftanden werden, Daß bis jcht nod 
faum ein ganz ficheres und umfaffendes Ergebniß die Frucht die 
fer Bemühungen gewefen iftz alle Forſchungen weifen vielmehr 
mehr und mehr darauf hin, dag es nicht zuläßig fei, einzelne 
Seelenthätigkeiten an gewiffe einzelne Hirnabtheilungen ausſchließlich 
zu binden: und daß in der Maffe des Gehirns (neben der grauen 
Subftanz, deren Berrichtung gänzlich dunfel ift) als funftionel 
verſchieden nur anzuerfennen find: die in dem Hirne enthaltenen 
eentralen Endigungen der fih in dem Körper. verbreitenden Ner 
ven einerfeits, und die dem Gehirne eigenthümlichen Faſern ans - 
dererſeits. Erſtere find funktionell gleichbedeutend denjenigen Ner- 
ven des Körpers, deren Theil fie find; letztere dienen den pfy⸗ 
chiſchen Zunftionen als materielles Subftrat und zwar in der Weiſe, 
daß bie ganze Maſſe derfelben an allen GSeelenoperationen in ih⸗ 
rer Gefammtheit Antheil nimmt. Diefe Anfiht muß wenigfens 
ald diejenige erfannt werben, welde bei dem gegenwärtigen Zu 
ftande des phyſiologiſchen Wiſſens die meiften Gründe für ſich hat. 

Ganz im Widerfprude mit diefen Beſtrebungen der Phyfio- 
Iogen für die Vereinfachung der Hirnphyfiologie, will nun bie 
Phyrenologie ohne Rückſicht auf jene yon den Anatomen gegebene 
Eintheilung des Gehirns einen Theil des Gehirns (die Hemifphi- 
ven und das Heine Gehirn) in. funktionell verfhiedene Theile trew 
nen und jeden. derfelben zum Organe einer befondern Seelenthaͤ⸗ 
tigfeit machen. Dieſer Widerſpruch läßt ſich nur loͤſen, wenn man 
die Grundlage, auf welche Phyſiologen einerſeits und Phrenolo⸗ 


Stellung der Phrenologie zur Phyſiologie. 285 


gen andererfeitd fußen, genauer unterſucht. Der Werth diefer 
Grundlagen muß fodann zunächkt den Werth der Lehre felbft bes 
zeichnen. _ | 

Daß die Phyfiologen ihre Anfichten auf wiſſenſchaftliche That⸗ 
ſachen gründen und diefe dabei in einer fireng wiffenfchaftlichen 
Methode benugen, ift wohl anzunehmen, benn wer foll wiſſen⸗ 
fchaftlicher Forfcher fein, wenn die wiſſenſchaftlichen Forſcher ſelbſt 
es nicht find? Die Wiſſenſchaft kann wohl einmal auf kurze Zeit 
irre geleitet werden, wo aber, wie in der Phofiologie des Ges 
hirns, lange Zeit viele Forfcher denfelben Weg ruhig vorwärtes 
jchreitend betreten, da ift anzunehmen, daß biefer der richtige ſei. 

Anders ift es mit den Phrenologen. Sie find meifteng Laien, 
Es iſt deßhalb natürlich, daß ihnen nicht nur anatomiſch⸗phyſio⸗ 
Logifche Kenntniffe überhaupt, fondern insbefondere auch die für 
die Sehirnphyfiologie zu benußenden abgehen, wie biefes durch 
eine große Anzahl hieher gehöriger grober Verſtöße in ihren Schrife 
ten bewiefen werben kann. Daß ihnen auch die anatomifch - phy⸗ 
fiologifche Forſchungsmethode fremd ift, müßte, wenn fie felbft nicht 
durch ihre Schriften unzählige Beweiſe dafür abgäben, ſchon dar» 
aus geſchloſſen werben, daß die Methode ohne das Material (die 
Thatfache) nicht gelernt werden kann; wer alfo mit dem einen 
nicht befannt ift, dem Fann das andere unmöglich vertraut fein. 
Die Phyfiologie eines einzelnen Theiles des Körpers (wie 3. B. 
des Gehirns) laßt ſich aber nicht für fih allein betreiben. Alle 
Theile des Organismus bilden eine unzertrennlihe Einheit; Fein 
Theil Fann ohne die anderen leben, und er felbft ift wieder für 
alle anderen unentbehrlich; deßhalb fann auch das Reben Feines 
Drganes verftanden werben ohne einge gründliche Kenntniß des 
Lebens aller Drgane und ihres Zuſammenwirkens. Wie vermefs 
fen muß daher das Beftreben der Phrenologen erfcheinen, ohne 
" gründliche allgemeine anatomifch phyfiologifche Kenntniffe Die Phys 
fiologie des Gehirns nicht nur betreiben , fondern fogar veformis 
ren zu wollen! . 


. Eine wifienfchaftlihe Begründung ber phrenologiſchen Hirn⸗ | | 


phyfiologie hätte vor allen Dingen das Borhandenfein der foges 
Zeitſchrift f. Phlloſ. u. fpek. Theol. AI. Band, 20 


286 Meyer, 


nannten Organe bes Gehirns nachzuweiſen. Nun finden wir aber 
eine ſolche Nachweiſung nirgends in den Arbeiten von Gall, der 
doch ein fo fehr genauer Kenner des Gehirnes war und, wenn be 
Organe irgend nur zu finden gewefen wären, dieſe beichrieben ha⸗ 
ben würde. Es konnte ja Nichts mehr als Diefes in feinem Zw 
tereffe liegen. Daß die neueren Phrenologen fie nicht nachgewie 
fen haben, ift bei ihrer Unfenntniß der Anatomie und bei ihrem 
‚zum Theil entſchieden ausgefprochenen Widerwillen vor analomr 
ſchen Arbeiten fhon zu erwarten; zum Ueberfluſſe haben wir aber 
auch noch ihr Geſtändniß, daß die Organe nody nicht dargeftell 
frien (v. Struve XI. ©. 184); auch Gall hatte daſſelbe Gefläns- 
niß abgegeben (XI. ©. 244). — Gall fühlte aber doch das Br 
bürfnig, fi über die Geftalt der Organe näher auszuſprechen 
und giebt deßhalb an, daß fie Fegelförmig geftaltet feien, mit ib 
rer Bafis an der inneren Fläche des Schädels lägen und mit der 
Epibe fi in das verlängerte Mark einfenften. Da der anate 
mifhe Nadyweis fehlt, hat dieſe Angabe gar feinen Werth, fo 
vielfältig fie auch von den Phrenologen nadhgefprochen wird. Un 
abey feinem Lefer doch noch ein-befanntes palpables Objeft old 
Drgan in die Hände zu fpielen, weiß er e8 in feinen „anatomi« 
fhen Beweifen für die Mehrheit der Seelenorgane“ ſehr ſchön 
einzurichten, dag man bie Hirnwindungen für die „Organe“ hält, 
während biefe in Wahrheit doch nur bie zufällige äußere Gefak 
tung der Hemilphären des Gehirnes find. _ 
Um dieſe Schwäche in der Begründung feiner Lehre, welt 
fait allein ſchon hinreichte, diefelbe ganz haltungslos zu machen, 
zu verbergen, hat Gall eine Reihe anatomifcher. und phyſiologi⸗ 
her „Beweiſe für bie Mehrheit der Seelenorgane” gegeben, 
welde aud in XL ©. 227 — 248 und ©. 349— 376 mitgetheilt 
find. Diefe Beweife find für einen flüchtigen Leſer und für einen 
folgen, welder den anatomiſch⸗phyſiologiſchen Forſchungen fremd 
ift, fehr überzeugend. Genauere Prüfung läßt aber-in benfelben 
ein ſolches Gewebe von falfchen Behauptungen, Trugſchlüſſen und 
. gehaltlofen Spipfindigfeiten erfenien, Daß man nicht einem einge 
gen biefer „Beweiſe“ au mur bie allergeringfte Beweielraſt bir 


Stellung der Phrenologie zur Phyſiologie. 287 


meffen kann; und dennoch feheinen die Phrenologen, durch die 
ſchlaue Sophiſtik derfelben verführt, fie für genügend zu erach⸗ 
ten; fie haben ihnen wenigftend nichts wefentlich Neues zugefügt. 

Zu einer genauen Begründung der phrenologifchen Hirnphy⸗ 
fiologie würde ferner auch gehören, dag man beftimmten Nade 
weis über den Zufammenhang gewiſſer entfchleden auftretender 
Seelenthätigfeiten mit gewiflen Kopfformen (als dem äußeren 
Kennzeichen der Entwidelung der „Organe ’) fände. Wie wenig 
die Phrenologen dafür bemüht find, laͤßt ſich in allen ihren Schrife 
ten daran erfennen, daß fie flatt diefes Nachweifes nur Dichters 
ftellen anführen und Anekdoten von Perfonen und Thieren erzähr 
len, gewöhnlich ohne und über deren Kopfform zu unterrich« 
ten. Sie wenden ſich dabei fogar häufig an Inſekten!!! (3. B. 
1. ©. 335. und IL S. 90.) — Wenn fie aber wirklich Nachweis 
über die Kopfform geben und gerade in der Uebereinftimmung ges 
wiſſer Kopfformen mit gewiſſen individuellen Entwidelungen des 
Charafters eine Hauptftüge ihrer Lehre finden mollen, und wenn 
fie gerade ihren Stolz auf diefe Begründung durch die Erfahrung 
fegen; fo muß man, ehe man ihre Berfiherungen binnimmt, fid 
erft über den Werth ihrer Erfahrungen Far gemacht haben. Dar 
von fpäter! I | 

Was den zweiten Punkt angeht, nämlich die von den Phre⸗ 
nologen ausgeführte Zerfpaltung der Seelenthätigfeiten in die Thaͤ⸗ 
tigfeit von 37 Grundvermögen der Seele; jo maaße ih mir, ald 
Phyſiolog, nicht an, mit den nothwendigen philofophifchen Grün- 
den das Unpaſſende einer folhen Zerfplitterung nachweifen zu 
Fönnen. Bon dem phyfiologifchen Standpunkte aus Tann ich nur 
fagen, daß durch Annahme fehr weniger Grundfräfte der Seele 
hinlängliche Erflärung aller Erfcheinungen des finnlihen Seelen 
lebend gegeben ift, und daß eine jede weitere Zertheilung bet ur» 
ſprünglichen Seelenfräfte nur eine populäre Anfchauumgsiweife vers 
sathen muß. Daß die Phrenologen wirftich mehr einer ſolchen ald 
genauerem Nachdenken über die Hergänge der Seelenoperationen 
folgen, beweist nicht nur der ganze Bau ihres pſychologiſchen Sys 
flems und die Begränzung ber einzelnen „Seelenvermögen”, fon« 

20 * 


288 | Meyer, 


dern audy die höchſt populäre und faſt lächerliche Perfonifikation 
derfelben, weldyer man außerordentlid häufig begegnet. 

In näherer Beziehung zu dem ſinnlichen Eeelenleben erlaube 
ich mir nur noch auf die folgenden Mißſtände und Inkonſequen⸗ 
zen der phrenologifhen Pfychologie aufmerffam zu maden. — 
Ein jedes pſychologiſches Spfiem, weldes für genügend erklärt 
werben foll, muß alle Beziehungen der Seele mit der Außenwelt 
und mit dem Körper in fo erfchöpfender Weife bearbeitet und in 
fih aufgenommen haben, daß durch daſſelbe alle jene Beziehun 


gen genügend erHlärt werden. Hierzu ift aber vor Allem note 


wendig, daß alle Vorgänge in der Aufnahme von Eindrüden der 
Außenwelt, wodurd Empfindungen, und die innern Zuſtände des 
Körpers, wodurch körperliche Gefühle entftehen, fowie auch all 
Dorgänge bei der Erregung von Musfelbewegungen zur Einwir 
fung auf die Außenwelt oder auf Den Körper genau analyfirt wer: 
den. Hierzu find aber vor Allem wieder genaue und umfaflente 
Kenntniffe in der Phyfiologie namentlich des Nervenſpyſtems un 
umgänglid nothwendig. Phyſiologiſche Kenniniffe geben nun aber 
ben Phrenologen ab; deßwegen müßte fchon ihre Analyfe der Wed: 
felwirfungen der Seele mit dem Körper und mittels dieſes mit der 
Außenwelt höchſt unvollfommen fein, wenn auch nicht ihre popus 
läre Auffaſſungsweiſe ber Seelenthätigfeiten fie an derfelben ver: 
binderte. Beweife finden fih in veichlicher Menge von fehr ſchla⸗ 
gender Art. Daß fie die höchft wichtige Unterfcheidung der Ems 
pfindungen und körperlichen Gefühle nicht Fennen, beweist bad, 
daß fie die Empfindungen der Wärme. und ber Kälte zu den 
förperlihden Gefühlen rechnen (1. ©. 72). Wie wenig fie die 
Seelenthätigfeiten analyfiren, beweifen die Thatfachen, 4) dag dem 
Dienfte einzelner Sinne mehrere Seelenvermögen unsergeben find, 
wie 3.8. dem Geſichtsſinne, dagegen für. andere Sinne 5. D. den 
Geruchsfinn Fein befonberes Seelenvermögen vorhanden iſt (bie auf 
ſolche Weile. entftandenen Lüden müſſen der Thatfachenfinn und 
Gegenftandfinn ausfüllen); — 2) daß für die Wahrnehmung ein, 
zelner Gefühle 3. B. des Geſchlechtstriebs befondere „Bermögen” 
vorhanden find, für ‚andere dagegen 3. B. Ahmungshebürfei, 


Stellung der Phrenologie zur Phyfiologie. 289. 


Bedürfnig zur Mugfelbewegung, gar Feine, auch nicht einmal ein 
alfgemeines für alle zufammen; — und 3) daß für. gewiffe Grup⸗ 
pen von Musfelbewegungen 5. B. zur Zerförung von Gegenflän- 
den befondere Vermögen gefunden werben, feine aber für andere 
Gruppen 3. B. das Gehen ober für Bewegungen im Allgemei- 
nen. — Ein anderer hierhergehöriger Fehler ift der, daß die Phre⸗ 
nologen den Grund der Entftehung der Förperlichen Gefühle, fo» 
wie der Empfindungen ıc. in der Thätigfeit gewiſſer Hirnparthieen 
finden wollen; während, wie in der Phyfiologie Tängft anerkannt 
und bewiefen it, nur im Gehirne im Allgemeinen das Gefühl 
und die Empfindung zum Bewußtfein-fommen, den Grund ihrer 
Entftehung aber in dem Zuftande der Nerven finden, welche mit 
ihrem peripheriſchen Ende an. das betreffende Organ des Körpers 
gebunden find. Nothwendige Folge diefer phrenologifchen Lehre 
wäre der Satz, daß auch ohne Vorhandenfein der Organe blos 
Durch die Hiruthätigfeit die entfpredhenden Triebe entftehen müßten, 
z. B. Geſchlechtstrieb bei Kaſtraten, oder fehlt den Kaftraten etwa 
das Heine Gehirn? 

Bon den beiden oben berührten Sägen zeigt ſich alfo der erfte, 

daß das Gehirn in viele funktionell verfchiedene Drgane zerfalle, 
als ein wiſſenſchaftlich durchaus nicht begründeter und fogar mit 
dem Ergebniffe rein wiflenichaftlicher Korichung in geradem Wider» 
ſpruche ftehender, der nur durch Sophiftif aufrechtgehalten werben 
kann; — der andere Sag aber, welder bie phrenologiiche Pſy⸗ 
chologie angeht, giebt fich zu erkennen als ein durchaus unwiſſen⸗ 
fcyaftlicher und populärer, welder voll Inkonſequenzen und Mäns 
geln iſt. 
Einen nicht unweſentlichen Theil der Phrenologie bildet der 
angewandte Theil derſelben, die Kranioſkopie oder die Lehre 
von der Kunſt, aus der Geſtalt des Kopfes einer Perſon auf des 
ren Gharafter zu fchließen. Diefe Lehre gründet fi weſentlich 
auf die phrenologiiche Tehre und- auf den Sag, daß die äußere 
Kopfgeftult genau der äußeren Gefalt des Gehirns entfpreche. 

Was zuerſt den letzteren Sau angeht, fo ift den Phrenofos 
gen zwar ſchon häufig die Unwahrheit deffelben vorgeworfen wor« 


290 Meyer, 


den, aber fie wollen und bürfen biefe- nicht anerfennen, ohne das 
mit zugleich die Kranioffopie für eine ganz unzuverläffige Kun 
zu erflären. Die äußere Oberfläche des Kopfes entipricht zwar 
der äußeren Oberfläche des Gehirns im Allgemeinen, aber nicht 
mit ber Genauigfeit, welde die Phrenologen für. den Gebrauch 
bei der Kranioffopie nöthig haben; denn: 4) zwiſchen ber äufe 
sen Oberfläche bes Gehirns und der inneren Oberfläche des Schü 
dels befinden ſich mehrere Häute und eine nicht unbeträchtliche 
Schichte von Waſſer; diefed Waſſer füllt auch Lücken und Män 
gel der Hirnſubſtanz aus, fo daß auf der Oberfläche des Schi 
dels Nichts davon gefehen werben kannz die Größe des Schi 
dels richtet fich daher auch nicht nach der Größe des Gehirn, 
fondern nad diefer und der Menge des das Hirn umfpülenden 
Waſſers (ſ. hierüber unter andern: Eder, über die Gerebrofpinals 
füffigkeit in Rofer und Wunderlichs Archiv für phyfiologifche Heil 
Funde. 1843); — 2) die Die des Schädels ift an verfchiedenen 
Stellen nach ſehr verfchiedenen Verhältniffen verfehieden; dadurd 
muß eine nicht nach genauen Gefegen zu beftimmende Inkongruen; 
zwifchen innerer und äußerer Oberfläche des Schädels hervorge 
bracht werden; — 3) die Hervorragung einzelner Stellen an dem 
Kopfe wird nicht durch die Geftalt des Gehirns, fondern durd 
andere Berhältniffe beftimmt, 3. DB. in der Schläfengegend durch 
die Entwidelung des Schläfenmusfeld, in der Augenbraugegend 
durch die Entwidelung der in jedem Individuum vorkommen 
den Stirnbeinhöhlen, am inneren Augenwinkel durch die Entwi⸗ 
delung des Siebbeind ꝛe. 

Die andere Frage ift: ließe fih für den Fall, dag wirflid 
bie äußere Oberfläche des Kopfes genau der. äußeren Oberfläde 
bes Gehirns entfpräche, aus der Kopfform ein Schluß auf den 
Charakter der betreffenden Perſon thun? Wir Tommen hierdurd 
auf die früher angeregte Frage über die Uebereinftimmung ber 


“ = phrenologifchen Erfahrung mit der phrenologifchen Theorie, indem 


beide fih in der Art unterftüßen müſſen, daß erflere Grundlage 
für die legtere, Ießtere aber zielgebend für. die erſtere wird. Wir 
finden nun aber, daß Theorie und Erfahrung in der Vhrenologie 


Stellung der Phrenologie zur Phyſiologie. 291 


ausgezeichnet guͤt zu einander paſſen, und die Phrenologen ſetzen 
großen Stolz auf diefe Mebereinftimmung. - Prüfen wir aber Dies 
felbe genauer, fo finden wir den Grund. derfelben nicht in der 
nothwendigen Harmonie ber Theorie und der Erfahrung, ſondern 
in dem Mangel fyftematifcher Schärfe der Lehre und in vielen 
Klaufeln, durch welche jene Uebereinſtimmung oft auf das Ge: 
waltfamfte herbeigeführt wird. Der Mangel ſyſtematiſcher Schärfe 
in ber Lehre offenbart fi in der größten Unbeftimmtheit der Be- 
gränzung der Wirkfamkeit der einzelnen „Organe” und ber ent⸗ 
fprechenden „Seelenvermögen“, durch welche es möglich gemacht 
wird, daß biefelbe Neigung ober Handlung der Thätigfeit fehr 
verfchiedener „Drgane” und bie verfchiedeniten Neigungen und 
Handlungen der Thätigfeit deſſelben Organs“ beigemeffen werden 
können. Die Klaufeln aber finden fich in den Annahmen, daß 
4) in bemfelben Gehirn Heine Drgane mit flärferer Energie und 
größere Organe mit geringerer Energie vorkommen können (I. S. 93), 
während doch die Energie eines Organes, wie des Gehirns, in 
allen feinen Theilen jederzeit als biefelbe angefehen werden muß; 
— 28 fcheint den Phrenologen zu entgehen, daß fie durch Aufftels 
kung diefer Klaufel ihre ganze Lehre von der ber größeren Thätigfeit 
der Organe enifprechenden größeren Ausbildung berfelben gewiſ⸗ 
fermaßen widerrufen; — 2) daß verfchiedene Organe nad) nit 
angegebenen Befegen fih entweder mit anderen zu einer ges 
meinfchaftlichen Thätigfeit vereinigen oder gegen biefelben wirken 
können; — daß fie diefes annehmen, geht wenigkäig' aus ihrer Art, 
Schädel zu analyfiren, hervor; — 3) daß auch entfihieden aus⸗ 
gefprochene Neigungen nicht Aeußerungen zur Folge haben müfs 
fen — und 4) daß auch nicht übermäßig ausgebildete Organe durch 
„unglüdlihe Verhältniffe ” Beranlaffung zum ftarfen Mißbrauch 
ihrer Kräfte befommen Fönnen. 
Durch die genannten Mittel iſt es möglich, far einen jeden 
Charakter in eine gegebene Kopfform hineinzubringen, darum fin⸗ 
den auch die Phrenologen bei den Analyfen des Kopfes von — 
ihrem Charakter nach — bekannten Perfonen ſtets neue Beftätis 
gung ihrer Lehre, Diefelben ſchwankenden Verhältniffe in ber 


292 Meyer, 


phrenologifchen Tehre müſſen ung aber auch migleic aberzeugen, 
daß es ganz unmöglich iſt, aus der Koyfform auf den Charafter 
zu ſchließen; und wenn wir die Phrenologen dennoch öfters rid- 
tige Urtheile fällen hören, fo müffen wir dieſes weniger der Un 
trüglicyfeit der Kranioffopte zufchreiben, als vielmehr dem Um- 
ftande, daß fie für Ausübung ihrer Kunft nach eigenem Geſtaͤnd⸗ 
niß neben der Kranioſtopie noch Belehrung über Temperament, 
Hörperbeichaffenheit,  Tehendverhältniffe und Erziehung (V. ©. 42) 
wörhig haben, — Hülfsmittel, welche befanntlich ſchon für fih 
allein auf ziemlich genaue Weife den Charakter können erkennen 
laffen, welchen man dann noch mit Leichtigkeit Durch die angeführ- 
‘sen Ausfunftsmittel in die Kopfform einpaffen fann. Beim Aus 
fprechen bes Urtheild darf man fih denn nur noch orafelmäßig 
punfel ausbrüden, um gewiß für alle Fälle richtig geſprochen zu 
haben. 

So erſcheint alſo auch die Gelliſche Kranioſkopie neben bem, 
daß fie auf gänzlich unhaltbarer Baſis ruht, als durchaus nichts⸗ 
ſagende Kunſt. 


In geradem Gegenſatze mit dem laienhaften Weſen der Phre 
nologen von der Gallifhen Schule ftelt Carus eime Kranioſlo⸗ 
pie auf, welche wirklich auf ächt wiflenfchaftliche Baſis mit wil 
ſenſchaftlicher Methode gebaut if. Anderes Tieß ſich auch nidt 
von einem Manne erwarten, der unter den Naturforfchern einen 
gefeierten Rang Einnimmi und ale geiftreicher Forfcher und Schrift: 
fteller in Zootomie und Phyfiologie allgemein anerfannt if. Uebri⸗ 
gens kann aud fein Verſuch der Begründung einer Sranioffopie 
nicht ald gelungen angefehen werden und zwar aus folgenden 
Gründen. 

Seine Kranioſkopie gründet ſich auf ſeine Anſicht von der 
Phyſiologie des Gehirns. Nach dieſer ſollen die großen Hemi⸗ 
ſphären der Intelligenz, die Vierhügel den Gefühlen und das 
kleine Gehirn dem Wollen und den Trieben dienen. Grundlage 
für biefe Anficht find ihm Thatfachen aus der Zootomie und ber 
Embryologie, jo wie die Parallele der von ihm aufgeftellten drei 


Stellung ber Phrenologie zur Phyfiologie. 293 


Hirnabtheilen mit den drei höheren Sinnesorganen: Naſe, Auge, 
Ohr. Da aber dieſe Anſicht von den Verrichtungen des Gehirns 
noch keinesweges allgemein angenommen iſt, einer allgemeinen 
Annahme derſelben auch noch der Umſtand entgegenſtehen muß, 
daß er in der Angabe der ſeiner Anſicht zu Grunde liegenden zoo⸗ 
tomiſchen und embryologiſchen Thatſachen mit den Angaben ande⸗ 


“rer bewährter Forſcher in öfteren Widerſpruch tritt, — und daß 


N 


er. in der Parallelifirung der Hirnabtheilungen mit den Sinnes⸗ 
organen der Natur etwas Gewalt anthutz — fo laſſen ſich auch 


bis jetzt noch keine allgemeiner gültigen Sätze auf feine Pimpbp- 
 fiologie gründen. 


wirbels mit der der Vierhügel und die Entwidelung des Hinter 
hauptswirbeld mit ber des Heinen Gehirns übereinftimmen ſoll. 


Wäre aber auch feine Hirnphyfiologie allgememer angenoms 
men, fo würde fi doch der Anwendung berfelben auf eine Kra⸗ 
nioffopie mancherlei Schwierigfeiten in den Weg ftellen. — Seine 
franioffopifche Lehre gründet nämlich Carus auf die Parallele 
zwifchen den drei Hirnabtheilungen unb den drei Schaͤdelwirbeln, 
nad welcher die Entwidelung des Vorderhauptswirbeld mit der 
Entwidelung der Hemifphären, die Entwickelung des Mittelhaupts⸗ 


Auf dieſes wird nun eine Methode gegründet, durch genaue Meſ⸗ 


‚fungen des Nmfangs und der Durchmeſſer der drei Schädelwirs- 


bel mittels eines Taftezirkel die Entwickelung der drei Hirnabtheis 
lungen und damit die Individualität des Charakters zu beftimmen, 
Es mag aber diefe Meſſung feinen genauen Maaßſtab für die 
Entwickelung der einzelnen Hirnabtheilungen abgeben können; denn 
es ſtehen genauen Schlüſſen von dem Umfange des Kopfes auf 
ſeinen Inhalt hier im Weſentlichen dieſelben Hinderniſſe entgegen, 
welche bereits bei der Galliſchen Kranioſkopie angegeben find; und 
indbefondere wird für die Carus'ſche Kranioffopie flets ein gros 
Bes Hinderniß fein, daß nach Carus eigenem Geftändniffe die gros 
Ben Hemifphären fo gelagert fein Fönnen, daß fie bald mehr in 
dem einen, bald mehr in dem anderen von den beiden durch fie 
ausgefüllten Wirbeln (dem Mittelhaupts⸗ und dem Vorderhaupts⸗ 
wirbel) liegen Fünnen, Dadurch muß das gegenfeitige Größen- 


, 


/ 


c 
294 Meyer, Stellung d. Phrenologie 3. Phyflologie. 


verhältnig biefer beiden Wirbel bei derfelben Entwidelung der 
Hemifphären vielfachen Schwanfungen ausgeſetzt fein, welde bie 
Schlüſſe auf die Entwidelung der einzenen Hirnabtheilungen au 
herſt unfiher machen müſſen. Außerdem ift aber auch in jener 
Angabe, daß die Entwidelung der drei Schäbelwirbel der Ent 
widelung der drei Hrmabtheilungen entipreche, noch in Betreff 
des Mittelhauptswirbels eine fehr große Unwahrfcheinlichfeit ent 
halten, indem dieſer ſich in feiner Größe nad) der Entwidelung 
der Bierhügel richten fol, während diefe doch eine fehr Keine, in 
ihrer Größe höchſt unbedeutend fchwanfende Maſſe find, welde 
tief in einer weit größeren die Höhle des Mittelhauptswirbels faſt 
ganz ausfüllenden Maſſe der Hemilphären verborgen find. 

So fehr demnach der Methode in der Aufftellung der Ga 
rus'ſchen Kranioffopie, als einer durchaus wiflenfchaftlichen, An 
erfennung gezollt werben muß, jo wenig kann doch Garus’s fra; 
uioffopifche Lehre ſelbſt in ihrer jegigen Geſtalt als genügend an 
erfannt werben. 


Zu Hegel’s Charakteriſtik. 
- Vom 


Herausgeber. 


G. W. Fr Hegel’s Leben, befhrieben von Karl Ro— 
fenfranz. Supplement zu Degel 8 Werten Ber⸗ 
lin 1844. 

Böllig im rechten Zeitpunfte, nad des Referenten Dafürhals 
ten, ift die lang erwartete Lebensbeſchreibung des berühmten Phi⸗ 
Iofopben an das Licht getreten. Während die Nachwirkungen bes 
Syſtemes, welches er gegründet, in den Lehren feiner Anhänger, . 
wie nach den Urtheilen feiner Gegner, in die allerentlegenften 
Widerſprüche aus einander gefahren find, ift es jeut gerade der 
angemeſſenſte Augenblick, auf die einfachen, Fotyledonenartigen Ans 
fänge deſſelben zurüdzubliden und diefe darauf anzufehen, wie fe 
doch der Same fo weit ausgreifender Nachwirfungen und Kämpfe 
zu werben vermochten % 

Bei diefer Vergleichung jedoch kann ſich dem Unbefangenen 
faum verbergen, wie antiquirt und hiftorifch Die Hegel’fche Lehre 
in ihrer erſten Geftalt und in dem Sinne, wie Hegel fie in ur; 
fprünglicher Friſche und rüdfichtsiofer Unfchuld entwarf, bereits 
geworden if. Wie es feinen Rantianer der drei Kritiken mehr 
giebt, wie kaum auch ein Vertreter Schelling’s aus der Pes 
riode feines Identitätsſypſtemes mehr aufzuweiſen fein möchten 
ebenfo Fennen wir jest faft. Feinen Hegelianer mehr in dem 
Sinne, wie das Syſtem zwiſchen dem Erfcheinen der Phänomeno⸗ 
logie des Geiſtes und dem erſten Herportreten der philofophifchen 
Eneyflopädie (4818) ſich gab — die fpätern Auflagen berfelben, 
fo wie die Rechtsphilofophie, enthalten ſchon Berüdfichtigungen 


296 Fichte, 


und Cautelen genug, ja mancherlei den gegebenen Verhältniſſen 
Zurechtgelegtes: — Keinen, der jest noch fo unbefangen in der 
unentfchiedenen Schwebe verblieben wäre über Die principiellen 
Differenzen, welde von da an innerhalb des Syftemes felber hers 
vorgebrochen find, und über welche damals noch fein Bewußtſein 
zu haben, eben das Eigenthümlihe von Hegel’s urfprünglihem 
Standpunkte if. Weber die vorbereitende Entwicklung biefer Epoche 
— zugleich die eigentlich fchöpferiihe und entfcheidende des He- 
gel’ihen Lebens — verbreiten nun die in der Lebensbefchreibung 
mitgetheilten Documente und Urfunden das hellſte Licht. Wir er 
fennen vollfländig, wie. und warum es alfo fommen fonnk, 
daß er. fich jener Unentfchiedenheit nidyt bewußt wurde. Dies 
halten wir für das philofophifch Intereſſante der hier gegebenen 
authentiſchen Mittheilungen; es iſt auch zugleich dasjenige, deſſen 
Erwahnung in eine phbiloſophiſche Zeitſchrift gehört, welche von 
ihrem Beginne an einem fo bedeutenden Syſteme und allen Mi: 
tamorphofen, welche es durchfchritten hat, vorzugliche Beachtung 
widmen mußte. 

Und ſo ſind denn in der That alle die Divergenzen über die 
wichtigſten Lehrpunkte, welche ſpäterhin einen Zwieſpalt der Schule, 
einen Kampf auf Leben und Tod entzündet haben, in jenem ur⸗ 
ſprünglichen Syſteme noch unentſchieden neben einander geſtellt: 
von hier aus kann die Eine Auffaſſung ebenſo für wahr gelten, 
als die entgegengeſetzte; denn beide find in der That nur weitere 
Beſtimmungen, Zortentwidiungen jenes urfprünglichen Principed, 
in deffen Unmittelbarfeit, wie fie dort vor und liegt, die kritiſche 
Entſcheidung noch nicht fo tief eingedrungen war, daß man ſich 
für dag Entweder — Oder zwiſchen Beiden. hätte entfcheiden 
müſſen, deren das Gegeniheil ausſchließende Parteinabme jegt 
nicht mehr zu umgehen ift. 

Solche Unenifchiebenheit ober uUnſchuld des Anfangs ſollte nun 
an ſich nicht verwundern; fie iſt ganz. in der allgemeinen Oekono⸗ 
"mie geifliger Entwicklung gegründet und hat ſich bei allen Erfcheis 
nungen von nachhaltiger Wirkung gezeigt. Aber eben damit ſollte 
auch einleuchten, wie es frhlechthin unmöglich iſt, nachdem das 


Hegel's Charäfteriftif. 297 


Bewußtſein jener Gegenſätze einmal hervorgebrochen, ſich jetzt noch 
mit dem einfachen Primitivzuſtande des Syſtems beſchwichtigen und 
über alle jene Fragen mit Stillſchweigen ſich abfinden zu laſſen, 
überhaupt die feitdem gewonnene Erweiterung der Gefihtspunfte 
in die Nacht jener abſtrakten Gegenfaßlofigfeit zurüdzugwängen, 
wie es die eigentlichen Anhänger von ung verlangen, — ohne es 
felbft zu thun. Zwar wird die Lehre in ihrer Urfprünglichfeit und 
unmittelbaren Geftalt immer ber hiftorifche Oricnitirungspunft blei⸗ 
ben für die von ihr aus datirenden Philoſophieen, ebenfo ber 
Maaßſtab, nad welchem Hegel au in feinen entfernter liegen⸗ 
den Aeußerungen feine Deutung erhält; aber als ausgebildetes 
Eyftem, ald Inbegriff beftimmter, ausgeführter Lehren und jest 
noch unerfehütterlich geltender Refultate, -ift e8 nicht mehr Aus- 
drud der Zeit und kann die gegenwärtigen wiſſenſchaftlichen de 
bürfniffe nicht mehr befriedigen. 

Dies Verhälmiß — das einzig richtige, welches zugleich Als 
lein in den Stand feßt, gerecht gegen Hegel zu fein — dies 
Berhältnig hat fi) nun der Biograph zu wenig zur Klarheit. ge= 
bracht, oder, wenn ed ihm (nach einigen Stellen zu urtheilen) 
vorſchwebte, es mwenigftens nicht ausiprechen wollen. Er bleibt 
auch hier auf dem Standpunfte unbedingter, Nichts an ſich Toms 
men Iaffender Apologetik; er ſcheint noch immer die ausgeführtes 
ften kritiſchen Erörterungen über das Eyftem mit ber gelegentlichen 
Berichtigung eines Mißverſtändniſſes zurechtweifen zu -wollen, und 


fohreitet mit voller Sorglofigfeit dur die Dornen der heutigen 


Streitphilofophie dahin. Da nun. ein übrigens fo einfichtövoller 
Mann fi gewiß befennen wird, daß dergleichen Feineswegesd mehr 
ausreiche, dag nad) feiner Seite hin, weber für, no gegen Hes 
gel, damit den Anforderungen ber Kritif und Wifjenfchaft genügt 
fei: fo Eönnen’ wir in feinen apologetifhen Bemühungen nur fei« 
nen Wunſch erblicken, der vollkommen berechtigten Begeiſterung 
für ſeinen Meiſter auch biographiſch Genüge zu thun, und wenig⸗ 
ſtens von dieſer Seite her Alles in das günſtigſte Licht zu ſtellen, — 
ein Gefühl der Pierät, welches wir zu jehr anerfennen, um es 
durch. polemifche Erörterungen. ihm zu verfümmern. Er geftatte 


298 | Fichte, 


ung baher, im Folgenden auf ein ſtreitloſes Gebiet herüberzuri- 
den und, flatt an. feine Auslegung der Hegel’fdyen Lehre, und 
an die reichlich von ihm dargebotenen authentifchen Duellen ſelbſt 
zu halten, um aus ihnen den Bildungegang des Philofophen und 
den erften Sinn des Spftemes zu fchöpfen. 

Aus diefen Quellen wird nun gerade völlig begreiflich, bri 
dem Gange, den Hegel’s philoſophiſche Bildung langſam, aber 
in durchaus fletiger, ungeirrter Richtung nahm, wie berfelbe 
auch auf der Höhe feiner Ausbildung von ben unvermittelten Ge 
genfägen Nichts empfand, die fi in feinem Syſteme neben ein⸗ 
ander befinden. Alle Fragen und Einwendungen, welche, wie 
der Diograph erzählt (S. 396), noch bei Rebzeiten des Philoſo⸗ 
phen in „böflichen” Briefen, oder, fegen wir hinzu, auch wohl 
mündlicdy ihm vorgetragen wurden, und in-benen fchon alle Zer⸗ 
würfniffe im Keime lagen, welche fpäter in der. Gefchichte der 
Schule zu. großen Kriſen geworden find, konnten ibm in ber 
That als unwefentliche oder Künftig. von ſelbſt ſich Töfende erſchei⸗ 
nen. Sofern es zunächſt darauf anfam, das Princip des abſolu⸗ 
ten Idealismus in voller Stärke auszuſprechen und die ganz 
Philofophie in großen Grundzügen darnad) umzugeftalten, fann 
man. jenem Beifeitefchieben von weitern Fragen fogar bie Berech⸗ 
tigung nicht abfprechen. 

So dürfte von Hegel gejagt werben, daß er nicht nur, wie 
Herbart, in der Allgemeinheit des methodifchen Principe ober 
in gewiflen fundamentalen Refultaten mit feiner Philofophie Recht 
zu haben glaubte, während ihm doc), wie diefem, die Maſſe der 
übrigen ungelösten Fragen, die „Größe der philofophifchen Um 
wiffenheit” drohend gegenüberftand, — fondern er hatte jenem 
Principe zugleich die breitefte Bafıs im Concreten zu geben ver- 
mocht und die Gewißheit aud für das Einzelne durch den Ges 
ſammteindruck des Ganzen, durch die auf. ben erſten Anblid um 
erſchütterliche Seftigfeit, mit ber alle Theile des. Syfiemes eine 
der tragen, faft in’d Unbedingte gefleigert. Und er Konnte dieſer 
Gewißpeit fih rühmen, weil er im Grunde Recht hatte; aber 
daraus folgt noch keinesweges, einerfeitd, daß ex Die Tiefen diefed 


a 


Hegels Charafteriftif. 299 


rundes völlig oder überall richtig ausgelegt, anbrerfeits, daß 
in diefem alle Principien zu einer vollfländigen Welterflärung 
enthalten fein follten. Durch Die Darlegung dieſes doppelten Mans 
gels hat das Syſtem, wie die andern bisher, fein Schickſal ers 
füllen müffen, als überfchrittenes. aufgewwiefen zu werden, 

Gehen wir nun auf die Aufichlüffe näher em, welde une 
die Tebensbefchreibung über Hegel’s Bildungsgang giebt: fa 
begegnen wir zunächſt mancherlei Unerwartetem. Der Iernbegies 
tige, fleißig fortfchreitende Knabe und Jüngling zeigt doch weder 
irgend ein hervorſtechendes, beftimmt marfirtes Talent oder frühs 
reife felbfiftändige Produktivität, noch. den Geiſt einer Oppofition 
oder eigenthümlicher Aneignung gegen irgend eine Seite der auf 
ihn wirkenden mannigfaltigen ©eiftesmächte ; Fein originaler Trieb 
der Begeifterung, der Liebe oder des Haffes gegen irgend eine 
Seite feiner Umgebung wird fihtbar: er ſcheint in ziemlich paffiver 
Harmonie, aber mit Fleiß und Sorgfalt, vem afabemifchen Unterrichte 
zur Seite geblieben zu fein, neben fonft gewöhnlichen, ja trivialen Ers 
bolungen, welchen er ſelbſt bis in feine fpäteren Tage bekanntlich mit 
einer gewiſſen Nachſicht ſich hingab (vgl. S. 427), Ein gemäßig- 
tes, ſelbſtſtändig vernünftiges Urtheil zeigen ſeine Tagebücher; ein 
Sinn voll Pietät gegen die Aeltern und ſeine Lehrer blickt erfreulich 
hervor, ebenſo der Trieb gewiſſenhaften, redlichen, nicht nachlaſſenden 
Fleißes. Geordnete philologiſche und hiſtoriſche Studien machen 
den Inhalt ſeiner Schulzeit, die hergebrachten philoſophiſchen und 
theologiſchen den Inhalt ſeiner akademiſchen Jahre aus; aber bis 
in die Epoche feines Aufenthalts in Bern (4796, alſo bis zu ſei⸗ 
nem 26. Rebendjahre) verräth boch noch Nichte, bei aller Ziefe 
ber pſychologiſchen Neflerion, welche feine Damaligen tbeologifchen 
Arbeiten zeigen, daß der Stapel und Neiz eigentlich fpefulativer 
Probleme oder Zweifel, oder der Trieb eines fundamentalen Er» 
gründen ‚allgemeiner Principien feinen Geift in Bewegung gefckt 
hätten. Sp wagen wir, gleichfam noch fragweile die Bermuthung 
auszufprechen, — weil fpätere Dittheilungen allerdings noch Vie⸗ 
les ‚näher und anders beftimmen fönnen, — daß Hegel fich zum 
Philofophen gemacht, herausgebildet, nicht, wie die großen Dris 


500 viudte, 


ginaldenker faſt insgeſammt, in ihn hineingeboren ſei. Die hiermit 
angeregte Frage iſt intereſſant genug, für Hegel ſelbſt, wie in 
Bezug auf die verſchiedenen Geſtalten, in welchen der philo⸗ 
ſophiſche Genius ſich zu entwickeln vermag. Nur kann ſie in vor⸗ 
liegendem Falle nicht gelöst werden durch hineintragendes Ver⸗ 
frühen weit fpäterer Beziehungen. Sp, wenn ber Biograph 
(S. 36—38) in der Abhandlung des zwanzigjährigen Hegel: 
de limite oficiorum humanorum, seposita anımorum immorl.- 
litate, zur Erwerbung des Baccalaureats und zum Vebertrit in 
das theologiihe Studiengebiet (1790) verfaßt, — einerfeits „das 
Studium der Kantiſchen Philoſophie“, andrerfeits „den Kauf 
mit derfelben und den Berfud ihren Dualismus zu üben 
winden”, erbliden will: fo fcheint uns eine ſolche Annahme, 
wenigſtens nady dem Auszuge, welchen er und in der Abhand⸗ 
lung giebt, kaum fich begründen zu laffen. Liegt in den Beſtim⸗ 
mungen, welche den weientlihen Inhalt derfelben ausmachen: 
dag im Menfhen Sinnlidhfeit und Bernunft fo verwachſen 
find, daß fie feine untheilbare Natur ausmachen, daß baher 
von rein moraliichen Handlungen bei ibm nicht die Rede frin 
Zönne, fondern nur von folhen, welhe Triebfedern ber 
Sinnlichkeit mit in fich ſchließen; wie daher die wefent 
lichften Antriebe zur Tugend immer doch nur aus dem Glauben 
an Unfterblichfeit gefchöpft werden fönnen, während zuzugeben 
fei, daß auch der an Unfterblichkeit Nichtglaubende gewiſſe Pflich⸗ 
ten fich auferlegen werde, weil er allem Gegenwärtigen einen 
böbern Werth beilegen und feiner Erhaltung eine höhere Energie 
zuwenden wird; — liegt in allen diefen Beftimmungen der ges 
ringfte Kantiſche Gedanfe, oder vollends Zeichen eines Kampfes 
und einer verfuchten Ueberwindung feines „Dualismus”? Es 
it das ganz plaufible Räfonniren der Popularphilofoppie, 
wie es damals von vielen Kathedern zu den Jünglingen erfchol, 
‚und wie aud bier die vorgeſchriebene Aufgabe gelegentlich in 
den Borlefungen des Profeſſors ber praktiſchen Philofophie mag 
behandelt worden fein. Uebrigens iſt ed fogar wichtig für den 
Charakter feiner fpätern Bhilofophie, wie viel Hegel von dauernder 


Hegel’d Charafteriftif. 301 


Einwirkung bes Kant'ſchen und Fichte’ fchen Geiſtes, ald Durch— 
gangspunft für den feinigen, wirklich in fidh erlebt habe, Bis zum 
Schluß der Berner Epoche (1796) findet fi) davon Feine entfcheis 
dende Spur in feiner Den'weife, während Roſenkranz bemerkt, 
Daß in den Ercerpten aus jener Zeit Kant und Fichte nur fehr 
vereinzelt erwähnt werden, daß ſich übrigens ein Auszug mit eis 
nigen Bemerkungen von Kant's Kritik der pr. B., jo wie, aus früs 
herer Zeit, von der Kritif der r. V. erhalten habe (S. 86. 87) *). 
Die eigentlich theologifhe Bildungsepoche bringt, nach den 
mitgetheilten Notizen und Urfunden zu urtheilen, viele Zeichen feines 
tiefen, gründlichen Geiftes, wiederum aber Nichts, was auf eigent- 
lich fpefulativen Trieb oder eine zum Licht ringende eigenthümlicdye 
Grundanficht der Dinge deutete. Daß Hegel „mit ber Romantik 
der Orthodorie” ebenfo, wie „mit der moraliichen Deengtheit der 
Aufklärung” zerfallen gewefen fei (S. 38), wollen wir dem Bers 
faffer glauben: aber wir. können in Beidem Nichts erbliden, was 
der Zeit vorausgeweien wäre. Nach beiden Seiten hin waren 
dies die Kämpfe, welde von Leffing, Herder, Kant und 
wie vielen Andern, im Großen der deutfchen Bildung längft durch⸗ 
geftritten waren; und gegen die Beengtheit der Aufflärung auch 
für die Religion und Theologie ein tieferes Princip, die aprios 
rifhe Idee der Sittlichkeit zu befefligen, war Kant's 
“ unfterbliches Verdienſt geweien. Ein Werf über das Leben Jeſu 
von Hegel, worin die Wunder in der Erzählung ale ein Ueber» 
flüffiges weggelaffen werden, Fann nicht für etwas über ben damalie 
gen Bildungsfreis Hinausliegendeg gehalten werden. Dagegen zeis 
gen die „Fragmente theologifcher Studien” (5.190 ff.) Spuren ſei⸗ 
ner eigenthümlichen, Durchbringenden Auffaffung des Gegenftanbeg ; 
fie find Zeugniß der tiefen pfochologifchen Innigfeit, mit welcher 
er die chriftlichen Hauptlehren in ſich verarbeitet hatte: wir möch⸗ 


*) Man vergleiche damit bie eigenen Aeußerungen Hegel's a. d. 
J. 1795 (©. 70. 72. 74), wie er fi Selling gegenüber 
als philofophifchen Lehrling bekennt, und durch ihn in die Aufs 
faflung des Ficht e'ſchen Syſtemes erſt eingeführt zu werben hofft. 

Beitfche. f. Philoſ. w. ſpek. Theol. XU. Band u 21 


302 Fichte, 


ten fie die Anſätze zu einer pſychologiſchen Gnoſis nennen, 
indem die Belege und Gegenbilder zu ihnen in der Tiefe der 
menſchlichen Bruſt und in einer merkwürdigen Dialektik ihrer Ge⸗ 
fühlsübergänge geſucht werden, nicht in allgemeinen metaphyfi 
fhen Verhälmiſſen. | 

Wir fommen hiermit zur Epoche feined Frankfurter Aufent 
halts (1797 — 1800), als dem entfcheidenden Wendepunfte feines 
Lebens. „War Hegel auf dem Gymnaſium Polyhiftor, auf dem 
Seminar Republifaner, in der Schweiz Theologe und Hiftoriker, 
fo bildete fich zu Frankfurt der Drang feines fpefulativen Ta 
lents auh zum Entfhluß, nur ihm zu leben. Die politifge 
Neigung hat er ſtets behalten und feine Philofophie niemals als 
etwas dagegen Heterogenes angefehen” (©. 81). — Weiterhin 
wird hinzugefeßt, daß er bier neben Hölderlin au zu Sin 
clair in nähere freundfchaftliche Beziehung getreten fei, der „im 
Gegenfage der klaſſiſchen Romantif Hölderlin’g für He 
gel der Nepräfentant der chriftliden Romantik wurde" 
(S. 82). — Warum dieſe Antithbefe? Weil Sinclair in einem 
politifch -religiöfen Drama, — der Ausführung nach durchaus 
nicht romantiih, — die merfwürdige Kataftrophe des Cevennen⸗ 
frieges behandelt hatte? Sinclair war ein entichiedener, burd: 
bildeter Fichtianer, wie fein fpäterer Briefwechfel mit Hegel, 
mehr noch fein philofophifches Werk: „Wahrheit und Gewißheit" 
(Frankfurt, in drei Theilen 41811) es zeigt, und fein wahres 
Verhältnig zu Hegel Fönnen eben jene Briefe beurfunden 
(S. 272. f.). Er ließ mit dem Zweifel das Philofophiren 
beginnen, d. h. mit dem Afte der Neflerion, durch welchen 
alle Wahrheit, ald nur in und für das Ich geſetzte, er 
blidt wird, und forderte von der Durchführung der Philofophie 
bie Löſung deffelben auf wiffenfchaftlihe Weife, d. h. die Aufwei⸗ 
fung, wie alles Objektive, .nur in der halben Wahrheit der Res 
flerion ein dem Ich Außerlihes, ihm unbefannt bleibendes „Ding 
an fih”, der Wahrheit nach ein ihm Immanentes, Gleichartiges, 
eben Darum aber ihm Zugängliches und Durchdringliches fei. Diele 
Durchführung ift nun Refultat jenes philofophifchen Werkes, eines 


Hegel's Charakteriſtik. 503 


fcharffinnigen und höchſt merfwürbigen Verſuches, den Idealismus 
vom Standpunfte der Reflerion aus in den abfoluten Idealismus 
überzuführen. Deßhalb genügte Sinclair fogleidy auch nicht, wie 
die Briefe zeigen, der Hegel’fche Anfang der Philofopbie und der 
ganze Standpunkt der Phänomenologie des Geiſtes. 

Der Biograph fährt fogleich fort: „Durch den fpefulativen 
Myſticismus, inweldhen Hegel während feiner Schweizer 
Periode aus dem Rationaligmus und Fihtianismug 
übergegangen war, war er ſolchen Bildungsſtoffen“ (chrift- 
her Romantif u. dgl.) „fehr zugänglich geworden”, Uns interef- 
firen zunächſt nur die unterftrihenen Worte; hier nämlich, wie 
auch übrigens im Buche, wird als ausgemadte Thatfache vor⸗ 
ausgefegt, — und wie oft ift es fonft ſchon wiederholt worden, — 
daß Hegel zuerft in aller Ordnung Kantianer gewefen, dann 
von ihm aus zu Fichte übergegangen, diefen Standpunft cbenfo 
ganz in fi) durchbildet, und endlih, — fei es an der Hand 
Schellings, fei es, wie die neueften Entdedungen darüber laus 
ten, dieſen vielmehr über ſich erft verftändigend und ihm felber 
weiterhelfend — zum Principe des abfoluten Idealismus fid) er 
hoben habe. Das letztere Verhältnig zu Scelling laſſen wir 
bier beifeite, etwa nur ung berufend auf das in der „Sharafteris 
ſtik“ darüber Gefagte *): — in diefem Betreff wird ung wohl 
der einft zu veröffentlichende vollftändige Briefwechſel der Philos 
fophen ein unparteiifches Licht geben. Wir reden für jest nur 
von dem früheren Sachverhalte. 

Da glaubte nun Ref. aus dem frühern Studium des Hegel’ 
fhen Syftemes nad) den Allen zugänglichen Quellen ſich entnom- 
men zu haben, daß Hegel vielmehr den (Rantifch = Fichte’fdyen) 
Standpunkt unbedingter Neflerion in feiner innern, gewaltig fefs 
felnden und immer wiederfehrenden Macht niemals eigentlich em— 
pfunden, in fih durchgekämpft und immanent überwunden habe: 
denn in feiner ganzen nachfolgenden Philofophie findet fich Feine 
entfcheidende Nachwirkung diefer Ueberwindung. Sonft hätte feine 


*) „Charakteriſtik der neuern Phil.“ 2te Ausg. 1841. ©. 590 - 93. 
787 fi. ” 


304 Fichte, 


Phänomenologie des Geifted, als „erfter Theil der Wifjenichaft", 
ihrer Grundlage nady anders entworfen, flatt des ſich einmifchen 
den pfychologifchen, ethifchen, veligiong = philofophifchen Inhalts 
hätte das Erfenntnißproblem rein als foldyes darin herausgeſtellt 
werden müffen, weil es eben, das drohende Bewußtſein der Re 
flerion im Rüden, ganz unvermeidlid das erfte Problem der 
Philoſophie wird. Ja ſelbſt bie auf die fpätere Zeit hin hätte fih 
Hegel gegen dad Kant'ſche Bedenken, daß vorerft das Er 
fenntnißvermögen zu unterfuchen fei, mit dem gründlich mißver 
ftebenden, aber höchſt charakteriftiihen Wigworte nicht abfinden 
fönnen, daß dies dem Vorſatze gleihe, nicht eher ſchwimmen zu 
wollen, bevor man es gelernt habe. Jedermann fieht, wie we 
fentlich diefe Erörterung ift zur Einfiht in das ganze Verhälmiß 
des Hegel’fchen Syſtems zu Borgängern und gleichzeitigen Phis 
lofophieen. 

Deßhalb deute man auch unfere Bemerfung nicht Teichthin 
oder oberflählih. Wem follte nicht befannt fein, dag Hegel 
wiederholentlih und in ausführlihen Erörterungen fich über das 
Princip der Reflexion erflärt habe, von feinem erften Auftreten 
an, in ber’ „Differenz bes Fichte’fhen und Schelling'ſchen 
Syitemes”, ferner im philoſophiſchen Journal, deſſen Abhandlung 
„über Glauben und Wiffen oder die Reflerionsphilofophie 
der Subjeftivität in der Vollftändigfeit ihrer Formen, als Kanr⸗ 
she, Jacobi'ſche und Fichte'ſche Philofophie”, Dies fogar zu 
ihrem Hauptinhalte hat, bis zur Phänomenologie herab, wo er 
unter den dort vorübergeführten Standpunften auch den der Res 
flerion, des Sichgegenüberhaltens des Ich gegen alle Objektivität, 
als Stoicismus und Skepticismus, endli als in Selbftentzweiung 
ausjchlagendes, „unglückliches Bewußtſein“ auftreten läßt; und 
gewiß ift das dort eigenthümlich Geleiftete nicht wirfungsios an 
ung vorübergegangen. 

Dennod bemerfe man wohl das ganze Verhälmiß dieſer Kritif 
und die innere Gränze berfelben. Ueberall wird dort das Princiy 
.der Reflexion beurtheilt aus dem freilich umfaffendern ibealrealifi 
fhen Standpunkte abfoluter Identität bed Subjektiven und Ob 


Hegel’8 Charakteriſtik. 305 


jeftiven: von bier aus wird nachgewiefen, wie bie Neflerion 
mit den Refultaten ihres Wiffens, in Betreff der Natur nur 
bis zum negativen Begriffe der Schranke für das Ich, in Bezug 
auf das Praftifche und die Sittlichfeit zu dem eines perennirenden 
Sollens, alfo unendlichen Nichterreihene, — in Allem daher nur 
bis zur Negation, bis zum Wiſſen der Endlichkeit, Nichtvollen⸗ 
dung und des Nichtswiſſens gelange, was fie dann ihre Ergäns- " 
zung im „Ölauben, in der Sehnfüchtigfeit der Subjektivität”, 
fuchen laſſe, weldhe die Jacobiſche Philofophie vertritt. Das 
Grundargument alfo ift Die Nachweifung, daß die Neflerion übers 
haupt ein beſchränktes philofophifches Prineip, im Befondern 
unfähig fei zu einer objektiven, vollgenügenden Welterflärung. Aber 
bat nicht Kant dies ebenfo gefühlt, Fichte es aufs Klarſte aus⸗ 
gefprochen in feiner Beltimmung des Menſchen? Und wird das 
dur — was die Hauptfache iſt, — die feindliche Macht des 
Gegners gebrochen? Befreit man fi damit von der mephiftos 
phelifhen, jede Realität ftürzenden, geheimen Zweifel an jeder 
Sewißheit in’d Ohr raunenden Gewalt der Reflerion? Sa fie 
wendet fich zuerft gegen jene vermeintlich gewonnene Identität des 
Subjeftiven und Objektiven felbft, gegen die theofophifche Höhe 
des „abfoluten Wiſſens“, das fie felber ganz gut Fennt und nur 
anders auslegt, — als die vollendete Berhärtung ber Nichtres 
flexion, indem, wie Fichte fih irgendwo fehr bezeichnend auge 
drückte, die Kunſt jener Philofophen der’abfoluten Identität, um 
ſich gegen die Zweifel der Reflerion abzufinden, eben die fei, „an 
beftiimmter Stelle die Augen zu verfchließen und die Hand zu öff« 
nen, um nun getroft und unbefümmert die Realität zu ergreifen”. 
Dies zunächft gegen Schelling gefprochene Wort reicht aber noch 
über ihn hinaus; denn auch Hegel hat nirgende das Princip 
der Neflerion aus ihm felber über fi) verftändigt und durch abs 
folute Bollendung zur Auflöfung aus fi durdhgeführt, wie bies 
von Fichte gefchehen in feiner Wiffenfchaftslehre vom J. 1804 
und in den „Thatſachen des Bewußtſeins“ (v. 3.1812: beide im 
Nachlaſſe abgedrudt). Er hätte gleich Anfangs nicht mit einem 
Syiteme von „theoſophiſchem“ Charakter auftreten (leben S. 104), 


‘“ 


506 Fichte, 


und an der Stelle, wo er über das Berhältniß der Reflexion zu 
feinem Principe, der Einheit des Enblichen und der Unendlichkeit, 
fi) ausfpricht, damit fi) genügen fönnen, daß die Reflerion, ale 
das im Gegenfag Bebarrende, eben felbft nur in die Dialektik 
der Unendlichkeit, ald „des Eins Entgegengeſetzter“, zurückweiche. 
„Wie die Unendlichkeit darin beruhigt if, fo müffen wir gleichfam 
ebenfo unfere Reflexion beruhigen und nur nehmen, 
was da ift. Unfere Reflexion wird die Reflerion Diefes Ber: 
hältniffes felbft werden” (S. 107). 

Sp burfte Ref. das Verhältniß bisher betrachten, und fo 
fhien er vom Anfange feiner Kritik der Hegel’fchen Philoſophie 
an berechtigt, es auszufprechen, daß ein beſtimmtes &lement ber 
Kantiſch⸗Fichte'ſchen Bildung, jo wenig von Schelling, wie 
von Hegel mit hinübergenommen fei auf ihren philofophifchen 
Standpunkt; wie dafjelbe aud) jest nur in der, jeder metaphyfis 
ſchen Unterfuchung vorausgehenden, Löſung des Erfenntnißproblems, 
in einer Erfenntnißlehre, feine volle Befriedigung erhalten Eönne. 
Diefe ift begriffsgemäß — fol Kant nicht vergeblich gelebt haben 
— die vorausverftändigende Bedingung aller weitern Philoſophie, 
Anfang derfelben, „erfter Theil” des Syftemes, und hat an bie 
Stelle der Phänomenologie, oder vielmehr, da Hegel fakiiſch 
zulest feine Logif und fein Syſtem mit diefer nicht mehr einlei- 
tete, an die Stelle jener kritiſch vefleftirenden Betrachtungen zu 
treten, welche er der Logik in den fpätern Ausgaben der Encyflo- 
pädie vorausjchickte, Unter vorliegenden biftorifhen Umpftänden 
nor darüber zu fireiten, ob Hegel perfönlid die Phänomenolo⸗ 
gie zurückgenommen oder niht — Herr Michelet behauptet aus 
mündlihen Mittheilungen Heg el's das Erftere, Rofenfran; 
fiellt es in Abrede — ift ganz überflüffig, und wie alle folce 
auf perjönlicher Zeugenfchaft berubende Dinge, nicht mehr feh- 
zuftellen. Aber follte nicht ſelbſt' der Beengtefte der Schüler bei 
biefer einfach unbeftreitbaren Sachlage fo weit klar fehen, um 
ſelbſtſtändig und ohne -Appellation an Perſönliches über jene Frage 
urtbeilen zu können? 

Dennoch durfte es dem Referenten bei dem Erfcheinen der 


Hegel's Charalteriſtit. | 507 


Biographie von Intereſſe fein, zu unterfuchen, ob fi) Die Behaup⸗ 
tung der Schüler von dem eigentlichen Durchgegangenfein Hegel's 
durch Kant's und Fichte's Standpunkt hiſtoriſch beitätige, oder 
ob feine Bermuthbung? Was Ref. in diefem Betrachte dort ges 
funden oder vielmehr nicht gefunden, darüber hat er feinen Leſern 
getreulich berichtet, Wo Hegel in den mitgetheilten Dofumenten 
als Philofoph hervortritt, da ift immer fchon der Schelling'ſche 
Standypunft der Identität die Grundlage, freilich fogleih in fols 
cher Tiefe und in ſolchem Umfange foflematifcher Ausführung aufs 
gefaßt, daß an der Originalität, fei ed der Kortbilbung des von 
Schelling Ergriffenen, fei es einer urfprünglich felbftitändigen 
Conception des Principes, nicht gezweifelt werden Fann. 

Und von diefer urjprünglichen Geftalt des Syſtemes noch 
einige Worte! Sie fann vornehmlich dazu dienen, die fpätern 
Shwanfenden VBorftellungen in der Schule zu firiren und auf den 
urſprünglichen Sinn zurüdzubringen. Es ift weniger, wie Ro» 
fenfranz meint (©. 101. 192. 248), das theofophifche Element, 
welches darin heroortritt, als der mit ganzer Friſche und paras 
dorer Energie ausgefprochene Grundgebanfe des objektiven Idea⸗ 
lismus, nicht, wie bei Schelling zunächſt, in’die Gränzen der 
naturphilofophifchen Conftruftion eingefchloffen und unter den Bes 
griff des potenzenmäßigen ‚Ueberwiegend des realen oder des 
idealen Factors gebracht, fondern in der Metaphyfif des reinen 
Gedanfens erfaßt und zugleich mit dem Streben, die Gliederung 
des ganzen Syſtemes der Philofophie aus dem WMeittelpunfte 
jenes Principe zu verfuchen. Und eben dies, — nebenbei fei es 
bemerft, — verbunden mit den großen Abweichungen, welche H e- 
gel in feinen, freilich abftrufen und manchmal in's völlig Sym- 
boliſche überfchweifenden naturphilofophifhen Conftruftionen, von 
Scellings Darftellungen zeigt Cogl. ©. 119— 22), läßt den Ref. 
jett Die veränderte Anficht faffen, daß Hegel gleih urfprüng: 
lich in feiner Auffaffung des idealiftifhen Principe 
völlig unabhängig von Schelling geblieben fei: — ein 
für die Gefchichte der Philofophie allerdings bedeutendes Ergebs 
niß der vorliegenden biographifchen Deittheilungen ! 


308 Fichte, 


„Das Anſchauen Gottes als feiner felbft it dag ewige Er- 
fchaffen des Univerfumsg, in welchem jeder Punkt für fi” 
(dennoch) „als relative Zotalität feinen eigentbümliden Les 
benslauf hat”. Dies Auseinandergehen des Nealen iſt „die 
Güte Gottes”. Allein das Einzelne hebt fi) als inzelnes auf 
und zeigt damit feine Allgemeinheit. Diefer Akt. iſt „das Erfen- 
nen des Anfchaueng, der abfolute Wendepunkt, die Gerede 
tigfeit Gottes, welche an dem Realen die negative Seite her 
vorfchrt und es damit aus feinem Fürfichfein in Die Einheit 
mit allem Andern verkehrt”. Snfofern Gott, als das ewig 
fih gleihe Selbfibewußtfein, nicht unmittelbar in dieſen 
Doppelproceß des Univerfums, als eines zugleich ruhenden und 
werdenden, verſenkt ift, ift er die ewige Weisheit und Seligkeit, 
Aber auch jede relative Totalität ift in ihrem Lebenslauf felig. 
Diefem feligen Infichfein thut zwar allerdings ihre. Realität Ab» 
bruch; aber das Gericht kann nicht abftraft richten; Gott als Richter 
muß „als die allgemeine Totalität” der Welt „das Herz bre 
hen”, im Uebrigen fann er fih ihrer nur erbarmen, u. ſ. w. 
An andern Stellen wird das Schaffen ver Welt als ein: Augfpres 
chen des abfoluten Wortes bezeichnet, und der Rückgang des Uni- 
verfums in Gott ald das Bernehmen derfelben. Die Natur 
ift der als das Andere feiner felbft fich darftellende Geift, zwar 
lebendig, aber nicht in den idealen Momenten der dee, fon 
dern die dee, die fih in den Momenten ausdrüdt, die baber 
in der Natur die allgemeine Beftimmtheit des Augeinander 
hat. Der Geift, in diefer realen Zotalität ald Natur fich dar 
ftellend, ift der Aether... „Diefer it nicht der lebendige Gott, 
aber er ift die erfte Form feiner Realität, der abfolute Gährungs⸗ 
proceß, als die abfolute Unruhe der Sichfelbfigleichheit, 
ebenfo nicht zu fein, als zu fein. Er ſpricht fi) in fich ſelbſt, 
nicht in einem Andern, zu fi) aus, und if ebenfo das Verneh—⸗ 
men feines ewigen Wortes, die abfolute Melödie und Harmonie 
des Univerſums. Das Herporbrechen des artifulirten Wortes if 
zugleich das Empfangen des Tones in der weichen, fich abfolut 
anſchmiegenden Unendlichkeit der Luft. Der Geift, als Aether 


Hegel's Charakteriſtik. 309 


ſich erkennend, bleibt daher in ſeiner Bewegung ebenſo die 
Ruhe, in feinem Ausſprechen ebenſo ſtumm und verſchloſſen“ u. ſ. w. 
(Leben ©. 192. 93. 104. 144. 415. 446). Aber aus der Natur 
geht der Geift zu fich ſelbſt hervor: indem in der Natur das 
Erkennen nur außer ſich ift, genügt „dieſe einfache Verdop⸗ 
pelung feiner felbft” deßhalb nicht; ed muß „die zwiefache 
Verdoppelung” gejegt werden. So wird das Erkennen nicht 
nur, wie in der Natur, Leben, fondern, ale febendiges, ein 
Erfennen des Erkennens, Geſchichte. Wie aber die Nas 
tur in ihrer Realität für den Geift doch nur ein ideeller Gegenfag 
ift, fo it auch das Werden des Geiftes an ih nur „Schein“, 
der mithin gleichfalls aufgehoben werben muß, — in der Relis 
gion. Der Geift, als endlicher, erfennt in dem abfoluten Geifte 
ſich ſelbſt, und der abjolute an und für ſich im Proceſſe des 
Werdend freie Geift erfennt fi in dem geſchichtlichen Geiſte als 
ſich ſelbſt (S. 103. 104). 

So chaotiſch trübe und maſſenhaft dieſe Anfänge des Syſte⸗ 
mes ſind und in der Ausführung voll neuplatoniſirenden Schwul⸗ 
ſtes, wegen des ſteten Ineinanderwachſens des begriffsmäßigen 
Ausdruckes mit dem fymbolifcy »allegorifchen (was überhaupt die 
ganze erſte Manier Hegel's in einem weit ertravaganteren Ueber⸗ 
maße zeigt, ald es Schelling, aud hier durch äfthetifchen Taft 
gehalten, fi erlaubte, — worin fi) abermals feine. Spur Kan» 
tifch = Fichte’fcher Neflexion und Zucht gewahren läßt): fo Tann 
doch die Wahrheit und ächte Tiefe des Grundgedanfeng darin nicht 
verfannt werden, daß der Grund des Univerfums ein intellek« 
tueller Akt, ein in ihm objektiv gewordenes göttlihes Denken 
fei, und daß es ud) in allem Einzeldafein ber Natur und des 
Bewußtfeins ein Gedanfenartiges fei, welches ſich zu entfalten, 
den Selbiterfenntnißaft zu vollziehen firebe. Dies Princip hat 
Hegel nun im eigenen Fortgange aus jener trüben Mifchung im⸗ 
mer weiter abgeklärt, und zwar in die Breite, in die reiche lies 
derung eines Syflems ausgebildet, nicht aber in die Tiefe verfolgt, 
beffen eigene, im Weſen Gottes Hegende Bebingungen unterfucht 
und es fo in feiner felbft nur partitularen, ber Ergänzung durch 


510 Fichte, 


ein anderes, ebenfo wefentlihes Princip bebürftigen Wahrheit 
erfannt. Der Standpunft feiner fpätern Eaffifchen Zeit if dem 
Weſen nach durchaus noch derfelbe, fogar bis auf die charakterifti- 
ſchen Schwankungen in der Faſſung des Principes, indem einerfeite 
bie Schöpfung als der uranfängliche Selbftanfchauungsaft des Ab- 
foluten gezeigt, was ein Analogon theiftifcher Vorftellungen wäre, 
andererfeitd Doch wieder, mit pantheiftifcher Ausprägung, gelehrt wird, 
daß das Abfolute erft in der Rüdfehr von der Natur zum endlichen 
Geifte und in der Einheit mit diefem (durch Religion und Philo— 
fopbie) zum Selbfterfennen gelange, und indem dieſer flete Wi: 
derfpruch, die Wurzel aller anderweiten Unflarheit, der in feinem 
weitern Fortwuchſe die Trennung in eine vechte und linfe Geite 
herbeigeführt hat, zuletzt mit dem Ausfpruche befehwichtigt werden 
fol, daß das Ende eben zugleich der Anfang fei. 

Doch auf diefe und andere Unzulänglichfeiten des Hegel’ 
fhen Syſtemes braucht Nef. nicht mehr zurüdzufommen, ebenlo 
wenig, wie auf die principielle Einfeitigfeit feines Standpuntted 
überhaupt, neben der Tiefe und Wahrheit deffelben. Wie wit 
Hegeln nachgewieſen haben, daß er in der Kategorie des Ger 
ſtes auf eine nur einfeitige Weife das Denfen hervorgezogen, den 
Willen lediglich als Nebenbeftimmung des Denkens gefaßt bat, 
während gerade umgekehrt der Wille, die aus dem Innern aufs 
quellende Selbftthat, wie in jedem individuellen Weltwefen, fo im 
Geitte, die Wurzel feiner Realität ift: fo muß dies aud) vom Wefen 
bes abfoluten Geiſtes gelten 5; der Wille ift ale das primitive Schoͤ— 
pfungsprincip nachgewiefen worden. Ja es muß die ganze Welt: 
anficht um eine Stufe höher rücken, wenn in allem Dajein eine 
ſich verwirklichende Urpofition — daſſelbe, was im bewußten Geiſte 
als Wille hervortritt — als das urſprüngliche, allindividualiſi 
rende, die allgemeine Macht des Denkens erſt als das dazutre— 
tende, ordnende und unterſcheidende Princip, Die welterhaltende 
Macht Gottes betrachtet wird. Auch darauf brauchen wir nicht mehr 
aufmerkſam zu machen, daß das Univerſum, wie es gegeben iſt in 
der unauflöslichen Verflechtung von Einzelſtreben und Eigenheit, 
‚mit ſteter Zurückleitugg derſelben in die Harmonie und Eintracht, 


Hegel's Charafteriftif. | 344 


weit fubftantiellere Eigen» und Bewegfräfte zeigt von Seiten der 
Kreatur, wie Gottes, ald die mit der idealiſtiſchen Vorftellung ver- 
träglich find, welche die Welt zu einem bloßen Kunftwerfe des 
göttlichen Denkens macht und Alles in das weiche, ideelle Element 
der göttlichen Selbficontemplation auflöst: dies ift die tieffte Un— 
zulänglicyfeit und Abftraktion im Hegel’fchen Idealismus, der eben 
damit verräth, nicht das vollftändige Prineip zur Welterflärung 
zu befiten. 

Dies Fehlende ift nun die neue, nachhegel’fhe Weltanficht 
errungen zu haben fi bewußt, ohne damit einen ber großen 
Gedanfen fallen zu laſſen, welche Hegel in der Philofophie be= 
feftiget hat. Damit ift fie aber auch im Stande, gerecht und 
unbefangen die Stellung zu würbigen, die diefer große Denfer 
in der nächften Vergangenheit einnimmt, und ihm auch für bie 
Gegenwart das volle Maaß der Nachwirkung zu vindieiren, wel- 
ches er verdient. "Sein Geift, der raftlos fich umbildende und 
ausarbeitende, wie die Biographie ihn ung zeigt, Tann ung Mu- 
fter eines gründlichen Strebeng bleiben, und zeigen, daß in der 
Philofophie nur der redliche Gewinn in ber That Gewinn ift. 
Diefe Nachwirkung wird uns vor der verbumpfenden Myftif will- 
führlicher Vorftellungen bewahren, aber e8 auch unmöglich ma- 
chen, überlebte Standpunkte eined Empirismus.oder halben Kan⸗ 
tianismus wieder zurüdzuführen, als dasjenige, was jetzt Noth 
thue, um bie Philofophie von ihren bisherigen Verkehrtheiten zu 
heilen. Wir brauchen feinen Schritt zu rück zu thun, fondern nur, 
durch freien Vor- und Umblid, den rechten Schritt vorwärts! 





7 Sinnſtörende Druckfehler 
in der Abhandlung "über das Berhältniß der Metaphyſik zur Ethik, 
Bd. XI. Heft 1 


u. ft. den, I. in Bezug auf den. 
u. nad) Stellung ” fehlt: der metapbufiichen Denknothwendigkeit. 
u. ft. die endliche, I. der endliche. 
 woßl, l. wohl nicht. 

u. ft. Realität, I. Möglichkeit. 

nad), I. nod). 

. die andern nur Alles, I. die andern, wie Alles. 


11111109 
a 
a 
III Iı 1» 


+ 


Sntelligenz- Blatt. 





Saͤmmiliche, in diefem Blatte angezeigten oder In der „Zeitfchrift für Philoſopbi⸗ 
und ſpekulative Theologie” vecenfirten Werte können durch die 2. Fr. Fued’ice 
Buchhandlung In Tübingen bejogen werden. 





So eben ift bei Lippert und Schmidt in Halle erfchienn: 


Schaller, Brof. | 
Borlefungen über Schleiermacher. 


4 2%; Thlr. 


Der Verfaſſer Hat fih die Aufgabe geftellt, Schleiermachers philoſopbiſche und 
theologiſche Dentweife in Ihrer ganzen Ausbreitung und in ihrem Inneren Zuſam⸗ 
menbange zu’ entwideln. Er gebt von Schleiermachers Briefen über Lueinde aud un 
zeigt, wie deren Tendenz mit der Philofopbie und der allgemeinen Bildung der Zeu 
zuſammenhaͤngt, verbreitet fich dann liber die Reden über Religion, über die Mew 
logen, die Weifnachtöfeter ; dann folgt die Darfiellung von Schleiermachers pbilee 
vphiſchem Syſteme, der Dialektik, Ethik und endlich wird, mit fortwährender Be 
zugnahme auf die philoſophiſchen Principlen, Schleiermachers Dogmatik und chrif 
liche Sittenlehre zur Unterſuchung gezogen. 


Tübingen. Bei L. Fr. Fues iſt erſchienen: 


Schwegler, F. C. M., Dr, Der Montanismus und die 
christliche Kirche des 2. Jahrhunderts. gr.8. 1841. 5 fl., 4 Thir 18 ggr. 


% 


— — — 


Sntelligenz- Blatt. 





Saͤmmiliche, in diefem Blatte angezeigten oder In der „Beitichrift für Philoſophie 
und fpetulative Theologie” vecenfirten Werte können durch die 2. Fr. Fued"fche 
Buchhandlung In Tübingen beysgen werden. 





So eben ift bei Lippert und Schmidt in Halle erfdyienen: 
Schaller, Brof. | 
Vorleſungen über Schleiermacher. 


4 2%; Thlr. 


Der Verfaſſer hat fih die Aufgabe geſtellt, Schleiermachers philoſopbiſche und 
theologiſche Denkweiſe in Ihrer ganzen Audbreitung und in ihrem Inneren Zuſam⸗ 
menbange zu’ entwideln. Er geht von Schleiermacerd Briefen über Bueinde aus un 
yelgt, wie deren Tendenz mis der Philoſophie und der allgemeinen Bildung der Zeit 
sufammenbängt, verbreitet fih dann Über die Reden Über Religion, über die Mon⸗ 
logen, die Weibnachtöfeier ; dann folgt die Darfiellung von Schleiermachers philoſe 
pbiſchem Soſteme, der Dialektik, Ethik und endlich wird, mit fortwährender Be 
sugnahme auf die philoſophiſchen Principien, Schleiermachers Dogmatit und dırib 
Ude Eittenichee zus Umterfuchung sejogen. 








Tübingen. Bei 2. Br. Fues if erfchienen: 


Schwegler, F. C. A., Dr, Der Montanismus und die | 
christliche Kirche des 2. Jahrhunderts. gr.8. 1841. 5A, 1 Thir 18ggr. 


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