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Full text of "Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane"

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tr lier Stntumanr. 



In Gemeinschaft mit 

S. Exner, E. Hering, J. v. Kries, Th. Lipps, 
G. E. Müller, C. Pelman, C. Stumpf, Th. Ziehen 

herausgegeben Ton 

Herrn. Ebbinghaus, 



Ergänzungsband 2. 

üeber Annahmen. 

Von A. Meinong. 



Leipzig, 1902. 
Verlag von Johann Ämbrosius Barth. 



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lieber 



ANNAHMEN. 



Von 



A. Meinong. 



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Leipzig, 1902. 
Verlag von Johann Ambrosius Barth. 



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Alle Bechte, insbesondere das Uebersetzungsreclit, 

vorbehalten. 



Fraulein Mila Radakovic 



in Freundschaft zugeeignet 



Vi! 



VorTv^ort. 



Das vorstehende Widmungsblatt möchte eine Art Ausdruck 
dafür sein, dafs der Name, den es trägt, der Natur der Sache 
wie meinem persönUchen Wunsche nach neben dem meinigen 
auf dem Titel dieser Schrift hätte zu stehen kommen sollen. Im, 
Juni 1899 hat Fräulein M. Radakovic meine Aufmerksamkeit 
zum ersten Male auf die Thatsachen gelenkt, die ich in der vor- 
liegenden Schrift als Annahmen bezeichnet und einer ersten 
Untersuchung unterzogen habe. An der Durchführung dieser 
Untersuchung mitzuwirken hat dann die genannte Dame freund- 
lichst zugesagt ; sie hat die monographische Bearbeitung der Ge- 
biete, auf denen die neue Thatsache ihr zunächst auffällig ge- 
worden war, darunter in erster Linie Spiel und Kunst, wirklich 
in Angriff genommen und fast bis zur Druckreife durchgeführt. 
Aber eine eben so schwere als langwierige Erkrankung, der 
gegenüber sich nicht nur physisch, sondern auch psychisch zu 
behaupten des Muthes und der Kraft eines Helden bedurfte, hat 
meiner lieben Mitarbeiterin einen vorläufigen Verzicht auf die 
Weiterführung ihrer Forschungen aufgezwungen : und steht nun- 
mehr auch zu hoffen, dafs sie in nicht allzu femer Zeit ihr un- 
gewöhnUches Können wieder der Wissenschaft nutzbar zu machen 
im Stande sein wird, so habe ich für die Durchführung der vor- 
liegenden Arbeit eben doch auf ihre Hülfe verzichten müssen, 
soweit solche in der selbständigen Ausarbeitung mancher nun- 
mehr entfallener Abschnitte dieses Buches gelegen gewesen wäre. 



VIII VarwoH. 



Das kann aber an der Thatsaehe nichts ändern, dafs sie es war, 
die zu den hier niedergelegten Untersuchungen den Anstofs ge- 
geben und auch im Verlaufe derselben an Anregungen und 
Förderungen nicht gespart hat. Und sollten wirklich, wie ich 
zu glauben guten Grund habe, grofse und wichtige Thatsachen- 
gebiete durch diese Arbeit der wissenschaftlichen Forschung er- 
schlossen sein, dann mufs auch unvergessen bleiben, wem dieser 
Gewinn in letzter Linie zu danken ist 

Was die gegenwärtigen Darlegungen selbst anlangt, so braucht 
kaum ausdrücklich gesagt zu werden, dafs der Versuch, ein bis- 
her theoretisch unbeachtetes Thatsachengebiet zu bearbeiten, 
eben nur einen ersten Anfang, nicht aber eine abgeschlossene 
Theorie bieten kann. Das tritt bereits in der Disposition des 
Stoffes deutlich genug hervor, die nicht aus einem „Principe" 
heraus in den Stoff hineingetragen, sondern mir durch die That- 
sachen aufgedrängt wurde. Ich mufs berichten, dafs dies, wie 
noch vieles Andere in dieser Arbeit, sehr wider meine anfäng- 
liche Voraussicht ausgefallen ist. Zur Zeit, da ich die ersten 
Schritte im neuen Thatsachengebiete unternahm, hatte ich keine 
Ahnung davon, dafs ich auf dem eingeschlagenen Wege so 
vielen theils aller Welt, theils mindestens mir selbst gar wohl be- 
kannten Problemen begegnen und ihrer dabei von einer Seite 
ansichtig werden würde, die ihrer Lösung besonders günstig zu 
sein verspricht. Ist dies, wie nicht zu bezweifeln, der formellen 
Geschlossenheit dieser Ausführungen abträglich gewesen, so darf 
ich daraus doch eine erwünschte Bekräftigung meines Zutrauens 
darauf entnehmen, dafs dabei nicht die Empirie im Sinne einer 
vorgegebenen Theorie umgestaltet, sondern vielmehr ein selbst 
der Empirie entnommenes Theorem im Sinne der in gröfster 
Mannigfaltigkeit von allen Seiten sich herandrängenden That- 
sachen ausgestaltet worden ist. 

Der Mannigfaltigkeit dieser Thatsachen entspricht einiger- 
maafsen die Verschiedenartigkeit der in einigen Kapiteln dieser 
Schrift auf die Annahmen führenden Voruntersuchungen, deren 
Daseinsberechtigung indefs hoffentlich nicht nur in ihrer Be- 



Vorwort. IX 

Ziehung zu den Annahmen, sondern auch in ihren eigenen Er- 
gebnissen zur Geltung kommen wird. Es gilt dies insbesondere 
vom siebenten Kapitel, dessen Thema, wenn ich recht sehe, für 
das Erkennen und durch dieses hindurch für das ganze psychi- 
sche Leben eine fundamentale Bedeutung hat, die mir freiUch 
gerade von den Annahmen aus in besonderem Maafse deutlich 
geworden ist, die aber darum keineswegs an den Annahmen mehr 
hängt als etwa am Urtheil. Insofern hätte, was ich in diesem 
Kapitel unter dem Namen des „Objectivs" einer ersten Bear- 
beitung unterzogen habe, im Grunde eine von der Sache der 
Annahmen ganz unabhängige Sonderbehandlung verdient; und 
es wird unter solchen Umständen kaum ungerechtfertigt er- 
scheinen, wenn dieser erste Versuch, den Grund zur Theorie des 
Objectivs zu legen, zwar nirgends über die blofse Grundlegung, 
dafür aber mehrfach übei* das hinausgegangen ist, was im aus- 
schliefslichen Hinblicke auf die Annahmen etwa schlechterdings 
unentbehrlich gewesen wäre. 

Auch das achte Kapitel, das es mit der Bedeutung der An- 
nahmen für die Werth- und Begehrungstheorie zu thun hat, ist 
mnfänglicher ausgefallen, als die blofse Berücksichtigung der 
Annahmen nöthig gemacht hätte, und dies aus einem Grunde, 
der hier einer kurzen Darlegung bedarf. Die von mir in meinen 
„Psychologisch-ethischen Untersuchungen zur Werththeorie" auf- 
gestellte und innerhalb angemessener Grenzen auch bereits be- 
thätigte Forderung, die Ethik auf Werththeorie, die Werththeorie 
auf psychologische Untersuchung derWerththatsachen zu gründen, 
hat zu einer Reihe von Publicationen den Anstofs gegeben, in 
denen ich wohl die hoffnungsvollen Anfänge einer psycho- 
logischen Werththeorie und einer werththeoretischen Ethik 
begrüfsen darf, fest überzeugt, dafs diese Ethik und keine 
andere die wissenschaftliche Ethik der Zukunft ist. Unter diesen 
PubUcationen nehmen ohne Frage die zwei Bände „System der 
Werththeorie" von Chk. von Ehrenfels nicht nur dem Umfange 
nach die erste Stelle ein, vielmehr mufs ich in ihnen auch in- 
haltUch, ohne den Werth der übrigen Arbeiten gering anzu- 



X Vorwort 

schlagen, die weitaus erfolgreichste Weiterführung der von mir 
angebahnten ^ werththeoretischen Untersuchungen erblicken. Aber, 
wie selbstverständlich ist oder es doch sein sollte, ist dies eine 
„Weiterführung" im Sinne freiester Bethätigung einer anderen 
Forscher-Individualität; und diese Bethätigung hat in einigen 
wichtigen Dingen zu einem Dissens zwischen uns geführt, zu 
dem in ausreichend begründeter Weise Stellung zu nehmen es 
mir bisher an Gelegenheit gefehlt hat. Sie wird mir nunmehr 
durch die Thatsache geboten, dafs die beiden Arbeitsgebiete, die 
mein Thun bisher fast ausschliefslich in Anspruch genommen 
haben, das intellectualpsychologisch-erkenntnifstheoretische Haupte 
und das emotionalpsychologisch-ethische Nebengebiet sich durch 
den Verbreitungsbereich der Annahmen in ganz unerwarteten 
Maafse eng verknüpft erwiesen haben, so dafs, wenn ich recht 
sehe, den Annahmen ein wesentlicher Antheil an der allfälligen 
Schlichtung des in Rede stehenden Dissenses zukommen könnta 
Es war also am Platze, diesen in der vorliegenden Schrift zur 
Sprache zu bringen: nur habe ich mich unter den gegebenen 
Umständen für befugt gehalten. Einschlägiges auch dann aus der 
Discussion nicht auszuschliefsen , wenn es mit der Theorie der 
Annahmen in keinen directen Zusammenhang zu bringen war. 
Auf alle Fälle findet der Leser Eingangs zum achten Kapitel 
die Paragraphen 47 — 51 ausdrücklich als diejenigen bezeichnet, 
die vom eigentlichen Gegenstande dieser Schrift relativ am 
meisten abliegen. 

An dieser Stelle aber bietet mir der Hinweis auf die An; 
fange der psychologischen Werththeorie den erwünschten Anlafs 
zu einer Bemerkung in eigener Sache, die ich zunächst an den 
jüngsten ethischen Literaturbericht des ^Archivs für systematisch 
Philosophie^' anknüpfe, wo gelegentlich auf mich und Ehrknfels 



^ Wie gleichwohl die wichtigsten Positionen, die das „System" bringt, 
bereits etwa ein Jahr vor meinen „Untersuchungen zur Werttheorie" in 
der Vierteljahr88chrifl f, tvisaensch. Fhüosophie zur Veröfientlichung gelangen 
konnten, darüber vgl. Ehbenfbls im Jahrgang 1894 der genannten Zeitschrift^ 
S. 96, übrigens auch mein Vorwort zu den „Untersuchungen". 



Vorwort. XI 

als auf „die Werththeoretiker der Schule Brentano's** hingewiesen 
wird, obwohl Bkkmtano an imseren werththeore tischen Arbeiten 
nicht den geringsten Antheil hat, jene „Schule" sie daher muth- 
maafslich längst als Irrlehre verworfen haben wird. Nicht lange 
vorher wurde in einoB Art psychologischen Centennarberichtes 
der „Zeitschrift für pädagogische Psychologie^ mir, diesmal zu- 
sammen mit A. HöFLiER, die Stellung von Repräsentanten einer 
„scholastischen Methode** in der Psychologie unter Bezugnahme 
auf Bbentano's Vertrautheit mit der scholastischen Philosophie 
angewiesen, obwohl ich leider bekennen mufs, dafs mir eine 
solche Vertrautheit, aus der sicher vielerlei Gewinn auch für die 
moderne Wissenschaft zu schöpfen wäre, gänzlich abgeht. Nun 
kann ich es natürlich nur sachgemäfs finden, wenn etwa orien- 
tirende Darstellimgen des gegenwärtigen Standes der Philosophie, 
soweit sie es für angemessen halten, auch von mir zu reden, des 
Zusammenhanges meiner Arbeitsrichtung mit der F. Brentano's 
gedenken. Auch fehlt mir sicher nicht die dankbare Würdigung 
der Thatsache, dafs meinen ersten Versuchen im Bereiche philo* 
sophischer Forschung Brentano in damals wohlwollender Ge- 
sinnung fördernd zur Seite gestanden ist : solches zu unterschätzen 
werde ich um so weniger Gefahr laufen, je gröfser die Anzahl 
derjenigen ist, denen ich seither Aehnliches zu erweisen bemüht 
war, und je weniger mir das Andenken gleichgültig ist, das diese 
meine Schüler aus der Zeit unserer gemeinsamen Arbeit mit sich 
nehmen. Dennoch müfste ich die Umstände, unter denen ich 
einst in die wissenschaftliche Arbeit eingetreten bin, fast für eine 
Art Verhängnifs halten, wenn mir auch noch ein Vierteljahr- 
hundert später Gegner wie Freunde Brentano 's gleich wenig 
vergeben können, jene, dafs ich von Brentano gelernt, — diese, 
dafs ich nicht Alles von Brentano, sondern im Verlaufe meines 
wissenschafthchen Thuns durch redliches Bemühen auch Einiges 
von mir selbst oder eigentlich von den Thatsachen gelernt habe. 
Ich meine, ich hätte mir nachgerade den Anspruch erarbeitet, 
für mich selbst zu zählen, und nach Maafsgabe dessen einge- 
schätzt zu werden, was ich durch eigene ehrliche Arbeit zur 



XII Vonvort. 

Habe meiner Wissenschaft etwa beizusteuern im Stande gewesen 
sein sollte. Das ist nicht BßENTANo's Freunden zu Leide gesagt, 
und wo möglich noch weniger Bbentano*s Feinden zu Liebe : so 
gewifs es aber ein unpersönliches Ziel ist, das bisher meiner 
Lebensarbeit gesteckt war und ihr auch in Zukunft gesteckt 
bleibt, so gewifs habe ich ein Recht zu dem lebhaften Wunsche, 
dabei keinen anderen als sachlichen Schwierigkeiten oder Hinder- 
nissen zu begegnen. 

So möchte denn auch, was die vorliegende Schrift bringt, 
unpersönlich aufgenommen und an den Thatsachen, zu deren 
Kenntnifs es beizutragen bestimmt ist, auf seine Brauchbarkeit 
geprüft sein. Eine eigentliche Literatur hat der hier behandelte 
Gegenstand, den ich für wenigstens ex professo noch durchaus 
unbearbeitet halte, meines Wissens nicht : dagegen entspricht der 
Menge des durch die Annahmen Mitbetroffenen natürlich die 
Menge des literarisch Einschlägigen, so dafs dieses in einiger 
Vollständigkeit heranziehen zu wollen ein ganz aussichtsloses 
Unternehmen gewesen wäre. Nur wolle aus der geringen Anzahl 
von Arbeiten, die im Folgenden ausdrücklich berücksichtigt er- 
scheinen, nicht geschlossen werden, dafs ich nur diesen Arbeiten 
für unser Thema Gewinn verdanke oder gar nur ihnen Werth 
beimesse. Dafs mir die Berufung auf Veröffentlichungen solcher 
Autoren besonders nahe gelegen hat, deren Lehrer zu sein ich 
vor kürzerer oder längerer Zeit in der glücklichen Lage war, 
kann ich freilich nicht in Abrede stellen. Aber es ist eben 
Thatsache, dafs gerade sie es gewesen sind, deren Zustimmung 
oder Widerspruch den bisherigen Fortgang meiner Arbeiten vor 
Allem gefördert hat. 

Graz, October 1901. 

Der Terfasser. 



XIIJ 



Inlialt. 



Seite 

Torwort Vll 

lÄhtlt XIII 

Erstes Kapitel. 

Erste AnfsteUnngeiL 

§ 1. Ein Thatsachengebiet zwischen Vorstellen und Urtheilen ... 1 
§ 2. Das Negative gegenüber dem „blos Vorgestellten" 5 

Zweites Kapitel. 

Zur Frage nach den oharakteristlscheii LeUtuiKeii des Satxes. 

§ 3. Zum Begriffe des Zeichens 16 

§ 4. Ausdruck und Bedeutung beim Worte. Secundärer Ausdrnck 

und secundäre Bedeutung 19 

§ 5. Der Satz als Urtheilsausdruck 23 

§ 6. Unabhängige und abhängige Sätze, die nicht Ürtheile aus- 
drücken 26 

§ 7. Das Verstehen bei Wort und Satz 31 

Drittes Kapitel. 

Die nicliatiiegeiideii Annahmef alle. 

§ 8. Vorbemerkung 36 

§ 9. Explicite Annahmen 37 

§ 10. Annahmen in Spiel und Kunst 40 

§ 11. Die Lüge. Das „Vorstellen" fremder ürtheile 4ö 

§ 12. Annahmen bei Fragen und sonstigen Begehrungen 51 

§ 13. Aufsuggerirte Annahmen öo 

Viertes Kapitel. 
Die Annahmeschlttsse. 

§ 14. Unmittelbare und mittelbare Evidenz 61 

§ 15. Das Wesen der üeberzeugungsvermittlung 63 



XIV Inhalt 

Seite 

§ 16. Die relative Evidenz 67 

§ 17. Die Evidenzvermittlung. Scheinbare Schwierigkeiten bei der- 
selben 69 

§ 18. Das Erfassen der formalen Richtigkeit von Schlüssen und das 

hypothetische Urtheil 76 

§ 19. Annahmeschlüsse und Urtheilsschlüsse 83 

§ 20. Hypothetische Urtheile als Annahmeschlfisse 87 

Fünftes Kapitel. 

Zur GegensUndliclikeit des Fsjchiichen. 

S 21. Vom Urtheilsgegenstande 93 

§ 22. Actuelle und potentielle Gegenständlichkeit 97 

§ 23. Der Antheil der Annahmen 101 

§ 24. Die Gegenständlichkeit bei negativen Urtheilen und Annahmen 105 

Sechstes Kapitel. 

Das Erfassen ? on Gegenstinden höherer Ordnung. 

§ 25. Anschaulich und Unanschaulich. Unzulänglichkeit einer gegen- 
ständlichen Charakteristik dieses Gegensatzes 109 

§ 26. Zusammensetzung und Zusammenstellung 113 

§ 27. Die logische Indifferenz der Zusammmenstellungen 118 

§ 28. Allgemeinere Fragestellung 122 

§ 29. Belation zwischen Inhalt und Gegenstand. Die Adäquatheit . 124 
§ 30. Die gegenständliche Bedeutung von Realrelationen zwischen 

Inhalten 127 

§ 31. Primäre und secundäre Gegenständlichkeit 129 

§ 32. Die Verbindung durch Urtheil oder Annahme 133 

§ 33. Nachträgliches über anschauliche Vorstellungen. Complexionen 

aus unbestimmten Bestandstücken 136 

§ 34. Die thetische und synthetische Function des Urtheilens und 

Annehmens 142 

Siebentes Kapitel. 

Das Objectiv. 

§ 35. Objectität und Objectivität beim Urtheile • • 150 

§ 36. Das Objectiv als Denkgegenstand 155 

§ 37. Vor- und nachgegebene Urtheile 164 

§ 38. Denkgegenstände im Geistesleben. Prärogative des nachge- 
gebenen, Prägorative des vorgegebenen Urtheils 168 

§ 39. Sprachliche Bezeichnungen für Denkgegenstände. Die Satz- 
bedeutung 175 

§ 40. Denkgegenstände im Gemüthsleben 182 

§ 41. Allgemeines über die Beschaffenheit der Objective 186 

§ 42. Specielleres über Objective, ihre Eigenschaften und Relationen 190 
§ 43. Object und Objectiv als gegenständliche Momente desselben 

Urtheils 197 



Inhalt. XV 

Seite 

§ 44. Das Objectiv und die Annahmen, a) Auf intellectuellem Gebiete 201 

§ 45. Das Objectiv und die Annahmen, b) Auf emotionalem Gebiete 209 

Achtes Kapitel. 

Zur Begehrnngg- und Werthpsjchologie. 

§ 46. Vorbemerkung 212 

§ 47. Das Begehren als „relativ glückfördernde" Vorstellung .... 214 

§ 48. Das Zeugnifs der inneren Wahrnehmung 218 

§ 49. Das Vorstellungsgesetz der „relativen Glticksförderung" . . . 221 

§ 50. Das Begehrungsgesetz der „relativen Glücksförderung" .... 224 

§ 51. Die „Einschaltung" in die „subjective Wirklichkeit" 227 

§ 52. Die Annahmen bei der Begehrungsmotivation 230 

§ 53. Phantasiegefühle und Phantasiebegehrun gen. Die Einfühlung . 233 

§ 54. Die Phantasiegefühle als Begehrungsmotive 239 

§ 55. Vom Motivationsgesetz zur Werthdefinition 241 

§ 56. Noch einmal die Phantasiegefühle. Werthung gegenüber Werth- 

haltung 246 

Neuntes Kapitel. 

Ergebnisse. Bansteine xn einer Psjchologie der Annahmen. 

§ 57. Zur Beschreibung der Annahmethatsache. Qualität und Intensität 255 

§ 58. Fortsetzung: Evidenz 260 

§ 59. Das Verhältnifs der Annahmen zu ihrer psychischen Umgebung 266 
§ 60. Die Annahmen und die Sprache. Noch einmal das Verstehen . 271 
§ 61. Die Stellung der Annahmen im System der Psychologie. An- 
nehmen als Denken 276 

§ 62. Ausblick. Neues zur Bestimmung des Begriffes der Phantasie. 280 

Register 288 



Erstes Kapitel. 

Erste Aufstellungen. 



§1. 
Ein Thatsachengebiet zwischen Vorstellen und 

Urtheilen. 

Dafs es kein Geschehnifs giebt im Bereiche des Geisteslebens, 
das, falls es nicht selbst eine Vorstellung ist, nicht das Vor- 
stellen zur Voraussetzung hätte, gehört längst zu den Selbstver- 
ständUchkeiten , die nicht leicht einem ernst zu nehmenden 
Zweifel ausgesetzt sind. Um so häufiger konnte man von Alters 
her der Neigung begegnen, den Antheil des Vorstellens an den 
Bethätigungen des Intellects zu überschätzen, indem man 
meinte. Alles, was der Vorstellungen nicht entrathen kann, selbst 
für Vorstellungen nehmen zu sollen. Und auch heute noch ist 
trotz des Nachdruckes, mit dem D. Hume und J. St. Mill die 
englische, F. Brentano die deutsche Psychologie auf die Eigen- 
art des Urtheils hingewiesen hat, hierüber die öffentHche Meinung 
in Psychologie und Erkenntnifstheorie keineswegs zu der Einigung 
gelangt, die der Durchsichtigkeit der Sachlage entsprechen möchte. 
Es ist indes nicht die Aufgabe der nachstehenden Untersuchungen, 
das Ürtheilsproblem einer neuerlichen theoretischen Bearbeitimg 
zu unterziehen. Nur auf einer Art Umweg möchten sie mit zur 
Beseitigung der hier oft mehr subjectiven als objectiven Schwierig- 
keiten beitragen, indem sie darzuthun versuchen, dafs das 
Urtheilen, weit davon entfernt selbst Vorstellen zu sein, an das 
Gebiet des Vorstellens nicht einmal angrenzt, vielmehr von 
diesem Gebiete noch durch eine Gruppe gleichsam zwischen- 
Hegender Thatsachen getrennt ist, die den Vorstellungen wie 
Urtheilen gegenüber ausreichend scharf zu charakterisiren, sich 
der Erkenntnifs des einen wie des anderen der beiden Thatr 
Sachengebiete gleich fruchtbar erweist 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. II. 1 



2 Erstes Kapitel. 

Dabei denke ich natürlich nicht daran, hier in Sachen des 
Urtheils eine völlig neutrale Stellung einzunehmen. Was ich 
darzulegen habe, geht zu sehr auf das directe anschauliche Er- 
fassen der durch die innere Wahrnehmung dargebotenen Wirk- 
lichkeit zurück, als dafs es durchführbar wäre, einem Theile des 
sich da bietenden Thatsachenbildes gegenüber bei einer Unan- 
schauUchkeit stehen zu bleiben, die noch für recht weit auseinander- 
liegende Meinungen über die Natur des Urtheils Raum liefse. 
Andererseits aber scheinen jene charakteristischen Züge am 
Urtheil, die mir für das Folgende von entscheidendem Belange 
sind, doch so naheliegend bis zur Handgreiflichkeit, dafs ich 
mich der Hoffnung nicht entschlagen kann, in der Anerkennung 
derselben unvoreingenommene Beobachter mit sonst wie immer 
gearteten Vormeinungen auf meiner Seite zu haben. 

Zwei Dinge nämlich sind es, von denen meines Erachtens 
jedermann zugeben kann, dafs das Urtheil sie hat, indes sie 
dem Vorstellen fehlen. Wer urtheilt, glaubt etwas, ist von etwas 
überzeugt; nur eine ganz willkürliche Nominaldefinition kann 
es ermöglichen, von Urtheilen zu reden, wo das Subject seine 
Ueberzeugung in suspenso läfst. Jedem Urtheile kommt femer 
seiner Natur nach eine bestimmte Stellung zu innerhalb des 
Gegensatzes von Ja und Nein, von Affirmation und Negation. 
Habe ich in betreff des A oder in betreff seiner Verbindung 
mit B eine bestimmte Ansicht, eine Ueberzeugung, so geht diese 
ganz unvermeidlich entweder dahin, dafs A ist, resp. AB ist, 
oder dahin, dafs A nicht ist, resp. A nicht B ist. Und das gut 
nicht nur im Falle gewissen, sondern nicht minder im Falle 
ungewissen Urtheilens: auch wenn ich blos vermuthe, hat diese 
Vermuthung unvermeidlich affirmativen oder negativen Charakter. 
Diese beiden Momente also, Ueberzeugtheit und Position inner- 
halb des Gegensatzes von Ja und Nein, finde ich ausnahmslos 
bei Allem, was Anspruch darauf hat, Urtheil zu heifsen, und ich 
kann mich der Meinung nicht entschlagen, dafs keine Theorie 
irgend jemanden daran hindern könnte, sie gleichfalls anzu- 
treffen. Nur habe ich diese beiden Momente vor noch nicht 
eben langer Zeit für blos Eines gehalten, oder wenigstens das 
zweite für eine Art Determination des ersten, und zwar für eine 
jener Determinationen, die ohne das, was sie determiniren, nicht 
vorkommen können. Dafs jede Ueberzeugung affirmativ oder 
negativ sein müfste, hätte mir stets selbstverständlich geschienen ; 



Erste AufateUungen. 3 

aber ich hätte nie erwartet, Affirmation oder Negation irgendwo 
zu finden, wo die Ueberzeugung fehlt. Dafs dies nun gleichwohl 
möglich, ja nichts weniger als selten verwirkUcht ist, dies nebst 
den Consequenzen daraus macht ungefähr das Wichtigste aus, 
was durch die folgenden Darlegungen erwiesen werden soll. 
Das erwähnte Zwischengebiet zwischen Vorstellen und Urtheilen 
ist dadurch sofort mitgegeben, sobald ausgemacht ist, dafs nicht 
nur die Ueberzeugtheit, sondern nicht minder auch der Gegen- 
satz zwischen Affirmation und Negation eine wesentlich vor- 
stellungsfremde Thatsache ausmacht. 

Doch dürfte sich empfehlen, ehe in eine genauere Unter- 
suchung hierüber eingetreten wird, irgend einen der mancherlei 
diesem Zwischengebiete angehörigen Fälle einer möglichst un- 
mittelbaren Betrachtung zu unterziehen. Dies ist bei Thatsachen 
der in Rede stehenden Art leichter als bei vielen anderen 
psychischen wie physischen Greschehnissen , indem die Her- 
stellung geeigneter Thatbestände bei einigem guten Willen hier 
bis zur Unfehlbarkeit leicht gelingt, so wie sich auch die 
suggestive Kiaft des gehörten oder gelesenen Wortes hier fast 
ausnahmslos bewährt. Ich versuche, von dieser Kraft Gebrauch 
zu machen, indem ich den Leser dieser Zeilen auffordere, sich 
etwa zu denken, die Buren hätten der englischen Uebermacht 
nicht weichen müssen oder sie hätten seitens der Völker des 
europäischen Continents nicht nur Bewunderung und Sympathie, 
sondern auch politisch wirksame Unterstützung erfahren. Das 
begründete Befremden darüber, dafs in diesem Zusammenhange 
ganz plötzlich Dinge der TagespoUtik zur Sprache gebracht 
werden, wird den Leser schwerlich verhindert haben, meiner 
Aufforderung Folge zu leisten; und er wird diese hoffentlich 
auch nicht für unangebracht halten, wenn ich nun beifügen 
kann, dafs er, indem er meinem Verlangen nachgekommen ist, 
in sich eine jener Thatsachen hergestellt hat, die uns im Folgenden 
zu beschäftigen haben. 

Das, wozu dieses erste Beispiel uns nun zunächst verhelfen 
soll, ist einmal ein angemessener Name für die Gegenstände 
dieser Untersuchung, — aufserdem eine erste Charakteristik 
dieser Gegenstände. Li ersterer Hinsicht kommt uns der Um- 
stand zu statten, dafs wir es mit einer Sache zu thun haben, 
die der Praxis des täglichen Lebens ungefähr in demselben 

Maafse geläufig ist, als die Theorie sie bisher vernachlässigt hat. 

1* 



4 Erstes Kapitel. 

Jedermann versteht es, wenn ich die Zumuthung, die ehen an 
den Leser gestellt worden ist, dahin kennzeichne, es hahe sich 
darum gehandelt, den Leser zu veranlassen, eine bestimmte 
Annahme zu machen. Und was sich nun zweitens in betreff 
der Bedeutimg dieses Wortes vor Allem herausdrängt, das ist 
ohne Frage die Gegensätzlichkeit zum Urtheil, soweit das Moment 
der Ueberzeugtheit in Betracht kommt Wie könnte ich auch 
den Leser dazu auffordern, etwas zu glauben, von dem er nur 
zu gut weifs, dafs es falsch ist? Dieses „Annehmen" ist eben 
augenscheinlich etwas, das durch das Vorliegen einer gegen- 
theiligen Ueberzeugimg ganz und gar nicht beeinträchtigt wird. 
Ein anderes charakteristisches Moment ist vielleicht nicht ganz 
ebenso handgreiflich, indem es doch schon etwas mehr an 
psychologischem Blick voraussetzt : aber doch auch nicht allzuviel 
davon, wenn ich recht sehe. Denn in aller nur wünschens- 
werthen DeutHchkeit scheint mir bei Betrachtung dessen, was 
man in solch einer „Annahme" vor sich hat, zunächst das hervor- 
zutreten, dafs die Sachlage hier mit der beim Urtheilen zwar 
nicht identisch, aber doch in irgend einer Weise verwandt, ihr 
ähnlich ist, — dann aber, dafs es hier doch wieder ganz anders 
zugeht, als wenn man einfach etwas vorstellt, etwa eine Farbe, 
einen Ton, oder auch eine Melodie, eine Landschaft oder was 
sonst, falls es nur nicht etwa eine unanschauliche Vorstellung 
ist, ein Vorbehalt, dessen Begründung in späteren Ausführungen 
zu finden sein wird.^ Immerhin mag indes trotz der Deutlich- 
keit der Sachlage gerade dieser letzte Punkt, die Verschiedenheit 
gegenüber den Vorstellungen, nicht sofort jedem überzeugend 
sein: es soll daher sogleich unten versucht werden, den förm- 
lichen Beweis hierfür anzutreten, der nur eine etwas ausführ- 
lichere Untersuchung verlangt, weshalb es angemessen sein wird, 
ihn resp. diese Untersuchung zum Gegenstande eines besonderen 
Paragraphen zu machen. 

Das Wort „Annahme" soll im Folgenden als technischer 
Ausdruck für alle Thatsachen gebraucht werden, von denen ich 
zu zeigen hoffe, dafs sie jenem Zwischengebiet zwischen Vor- 
stellen und Urtheilen angehören. Es soll nicht verschwiegen 

^ Unten Kap. VI, wo sich freilich herausstellen wird, dafs möglicher- 
weise auch schon die von den anschaulichen Vorstellungen genommenen 
Beispiele nicht frei von Ungenauigkeit sind. Doch dürfte dies der Brauch- 
barkeit dieser Beispiele, namentlich für den Anfang, keinen Eintrag thun. 



Erste Aufstellungen. 5 

werden, dafs dieser technische Ausdruck mit allen Seinesgleichen, 
sofern sie dem Sprachschatze des täglichen Lebens entnommen sind, 
den Uebelstand theilt, seinem überkommenen Anwendungsgebiete 
nach nicht völlig mit dem zusammenzustimmen, was er nun im 
theoretischen Gebrauche zu bezeichnen haben soll. Dafs er dies 
oder jenes „annehme", sagt man auch von dem, der urtheilt, 
aber seine Ueberzeugung oder Meinung bewufst und daher 
einigermaafsen willkürlich aus unzureichenden Gründen schöpft. 
In diesem Sinne kann einer „annehmen", dafs der Gewährsmann, 
auf den er zu seiner Orientirung praktisch angewiesen ist, sich 
ausreichend genau wird unterrichtet haben; ähnüch mag der 
Kaufmann sich oft genug begnügen müssen, „anzunehmen", 
dafs der neue Kunde, dem er eine werthvoUe Ansichtssendung 
ins Haus stellt, ihn nicht zu Schaden kommen lassen werde u. dgl. 
Zwar wird sich zeigen, dafs das Moment der willkürhchen Beein- 
flufsbarkeit, das sonst gerade dem Urtheile besonders fern steht, 
den „Annahmen" in diesem zweiten Sinne eine gewisse Ver- 
wandtschaft mit dem sichert, wofür im Folgenden das Wort 
ausschliefsHch vorbehalten bleiben soll. Uebrigens aber sind 
diese „Annahmen" im zweiten Sinne eben Urtheile, und es hiefse 
die hier vertretene technische Bedeutung des Wortes um einen 
ihrer charakteristischesten Züge bringen, ja die ganze hier ver- 
tretene theoretische Conception verwischen, wenn man den Aus- 
druck weit genug gebrauchen wollte, um auch Fälle dieser 
zweiten Art einzubegreifen. Durch ausdrücklichen Ausschlufs 
dieser Fälle wird die Theorie von dem ihr zustehenden Rechte, 
die verfügbaren Ausdrucksmittel ihren Bedürfnissen unterzu- 
ordnen, wohl keinen unerlaubten Gebrauch machen. 

§2. 
Das Negative gegenüber dem „blos Vorgestellten". 

Dafs man in dem eben vorgeführten ersten Beispiel einer 
„Annahme" kein Urtheil vor sich habe, darüber ist sich, wie 
berührt, wohl Jedermann ohne Weiteres klar. Nicht dasselbe 
dürfte von der zweiten oben aufgestellten Behauptung gelten, 
dafs hier auch der Fall des blofsen Vorstellens ausgeschlossen 
sei. Vielmehr wird es, wenn ich nach mir selbst urtheilen darf, 
kaum irgend Jemanden geben, der einigermaafsen gewöhnt ist, 
seine inneren Erlebnisse unter psychologischen Gesichtspunkten 



6 Ersta Kapitel 

ZU betrachten, und der nicht schon den verschiedensten solcher 
Annahmen gegenüber ohne sonderliche Ueberlegung zu der 
Meinung gelangt wäre, dafs es sich da um nichts weiter als eben 
um Vorstellungen handle. Ich stelle mir eben vor, die Buren 
hätten nicht blos Worte zu hören, sondern auch Thaten zu sehen 
bekommen, ganz ebenso, wie ich mir vorstellen kann, ich wäre 
um zwanzig Jahre jünger, oder die Psychologie hätte von ihren 
aufserphilosophischen Nachbarwissenschaften förderndes Ent- 
gegenkommen zu erwarten, oder wer weifs was Unglaubliches 
sonst. Nim meine ich jetzt freilich, wie bereits bemerkt, durch 
directe Wahrnehmung zur Erkenntnifs zu gelangen, dafs hier 
mehr vorliege als blofses Vorstellen; ich würde erforderlichen 
Falles auch keinen Anstand nehmen, die hier eingenommene 
Position auf das Zeugnifs directer Empirie allein zu stützen. 
Aber es ist mir eine erwünschte Sicherung, zugleich für den- 
jenigen, der den Annahmen zum ersten Male seine Aufmerk- 
samkeit zuwendet, ein besonders nachdrücklicher Hinweis auf 
die Eigenart der hier gegebenen Sachlage, dafs es einen Ge- 
sichtspunkt giebt, unter dem sich die Unzulänglichkeit „blofsen 
Vorstellens" für dieselbe mit voller Stringenz erweisen läfst. 

Dieser Gesichtspunkt kommt zur Geltung, wenn Annahmen 
negativ sind. Unser Ausgangsbeispiel, das ja näher besehen 
nicht nur eine Annahme ausmacht, enthält eine Illustration 
hierfür, und im Allgemeinen ist es natürlich ebenso leicht, 
negative als affirmative Annahmen zu bilden. Denn die Negation 
ist niemals Sache des Vorstellens, obwohl sie natürlich niemals 
ohne Vorstellung auftreten kann: wo immer sich daher eine 
Negation vorfindet, dort ist der Bereich blofsen Vorstellens ganz 
gewifs überschritten. Auch dies wird vielleicht Manchem schon 
auf den ersten Blick einleuchten. Bei der Wichtigkeit der Sache 
scheint mir hier aber doch eine nähere Erwägung am Platze, 
auf die Gefahr hin, damit Ueberflüssiges zu thun, und ungeachtet 
des Umstandes, dafs damit in eine Art Voruntersuchung einge- 
treten wird, die uns vorübergehend vom eigentUchen Gegen- 
stande dieser Darlegungen abzieht. 

Es scheint nämlich die eben als nahezu selbstverständlich 
angesprochene Behauptung, dafs die Negation aufserhalb des 
Vorstellens stehe, eine ebenso umfassende als bekannte Gruppe 
von Vorstellungsthatsachen gegen sich zu haben. Man redet 
doch ganz ungezwungen von negativen Vorstellungen oder noch 



Erste Aufstellungen. 7 

lieber „negativen Begriffen", und die Logik hat von Alters her 
viel Sorgfalt auf deren Bearbeitung gewendet. Kann ich aber 
„Nicht-Roth", „Unausgedehnt", „Unendlich" kurzweg vorstellen, 
dann ist natürlich auch gar nicht einzusehen, warum die 
Annahme, dafs es etwa nicht regnet, oder dafs es Menschen ohne 
Fehler gebe, nicht ebenfalls durch blofses Vorstellen zu Stande 
gebracht werden könnte. Was haben wir also von solchen 
„negativen Vorstellungen" zu halten? 

Es kommt wohl vor Allem darauf an, was eigentlich an 
einer solchen negativen Vorstellung negativ ist. Man hat zu- 
nächst die Wahl, ob man dieses Negative an Act, Inhalt oder 
Gegenstand^ suchen will, — einfacher also, sofern die Natur 
des Inhaltes sich doch zunächst im Gegenstande verräth, ob im 
Acte oder im Gegenstande ; und da ist die Entscheidung zunächst 
in betreff des ersten Fragepunktes wohl eine aufserordentlich 
leichte. Dafs ich einen und denselben Gegenstand, z. B. das 
Modell des Farbenoctaeders im Grazer psychologischen Labora- 
torium, in zwei entgegengesetzten Weisen sollte vorstellen können, 
einmal affirmativ und ein andermal negativ, das ist doch hand- 
greiflich sinnlos, — immer natürlich vorausgesetzt, dafs dabei 
über das Vorstellen nicht zu anderer Bethätigungsweise hinaus- 
gegangen wird. Man ist sonach bezüglich unserer Fragestellung 
ausschliefslich auf das Gegenständliche am Vorstellen angewiesen. 

Giebt es also negative Gegenstände ? Der Instinct, der dazu 
drängt, auch diese Eventualität a limine abzulehnen, geräth ins 
Wanken gegenüber den vielen negativen Ausdrücken wie Nichts, 
Unsterblich, Unendlich, A ohne B, Nicht--4 u. dgl., nicht minder 
durch Begriffe, denen ein negatives Moment constitutiv scheint, 
ohne dafs es gerade im Ausdrucke hervortritt, wie Grenze, 
Loch u. A., nicht zum Geringsten auch durch die vielen Fälle, 
wo Unsicherheit darüber begegnet, ob ein vorliegender Gedanke 
positiver oder negativer Natm* ist, wie solches z. B. gegenüber 
den Begriffen Nothwendigkeit, Möglichkeit, Allheit und sonst oft 
genug der Fall ist. Von den mit der Negation doch so ersicht- 
lich lose verknüpften „negativen Gröfsen" kann in diesem Zu- 
sammenhange freilich abgesehen werden. Dagegen möchte mit 



^ Vgl. hierüber einstweilen meine Abhandlung „Ueber Gegenstände 
höherer Ordnung und ihr Verhältnifs zur inneren Wahrnehmung", Zeit- 
schrift für Psychologie 21, S. 185 ff. 



8 Erstes Kapitel. 

Eecht die Leichtigkeit zu denken geben, mit der in den ver- 
schiedensten intellectuellen Operationen an Stelle eines Ä eio 
Non-^ treten und so auch schon äufserUch etwas wie eine gegen- 
ständliche Parität oder Nebenordnung des Negativen neben dem 
Positiven zur Geltung kommen kann. 

Weiter scheint nun aber auch im Hinblick auf den natür- 
lichen Sinn des Ausdruckes Non-^^ der Oedankenthatbestand 
nicht eben fern zu liegen, nach dessen Analogie die Beschaffen- 
heit solcher negativer Gegenstände vorzustellen wäre. Denke 
ich an Nicht-Roth, so ist das freilich etwas Anderes als wenn ich 
an Roth denke: aber fast ebenso selbstverständlich ist es, dafs 
ich an Nicht-Roth so wenig denken kann, ohne an Roth zu 
denken, als ich etwa im Stande wäre, den Gedanken „ähnlich 
einer Glocke" zu bilden ohne den Gedanken an die Glocke. Mit 
Bezugnahme auf meine einschlägigen Ausführungen an anderem 
Orte* kann ich hier sogleich kurz sagen: giebt es negative 
Gegenstände, so sind sie jedenfalls auf positive als auf ihre 
Inferiora gebaut, sie sind selbst Gegenstände höherer Ordnung. 

Aber die Analogie des Beispieles von der Aehnhchkeit scheint 
noch weiter zu führen. Ich habe an der eben erwähnten Stelle ^ 
vom Hervorgehen der Vorstellungen von Gegenständen höherer 
Ordnung aus solchen von Gegenständen niederer Ordnimg zu 
handeln gehabt. Zwar den Terminus „Fundirung" auf dieses 
Hervorgehen, und damit zugleich auf die Vorstellungen anzu- 
wenden, indes er der Relation zwischen den Gegenständen vor- 
behalten bleiben sollte, erkenne ich, nachdem ein junger Fach- 
genosse* mich darauf aufmerksam gemacht hat, nun auch 
meinerseits als Incorrectheit : aber der Fehler, der im Grunde 
nur eine Nachwirkung aus der Zeit darstellt, da ich, Inhalt und 
Gegenstand noch nicht gehörig auseinanderhaltend, von „fundirten 
Inhalten" redete*, wo ich „fundirte Gegenstände" hätte sagen 



^ Vgl. TwARDOwsKi, „Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand", Wien 
1894, S.21ff. 

^ „lieber Gegenstände höherer Ordnung etc." a. a. O. S. 189 ff. 
8 A. a. 0. S. 201 ff. 

* Dr. Rudolf Ameseder in einer von der Grazer philosophischen Facultät 
im Jahre 1900 mit dem Wartinger - Preise gekrönten Abhandlung, deren 
wesentliche Ergebnisse wohl demnächst zur Veröffentlichung gelangen. 

* „Zur Psychologie der Complexionen und Relationen", Zeitschrift für 
Psychologie 2, S. 253. 



Erste Aufstellimgen. 9 

sollen, betrifft doch eben nur den Ausdruck, nicht den Gedanken 
und ist daher auch relativ leicht zu verbessern. Man könnte 
etwa sagen: wird das Superius durch seine Inferiora fundirt, 
so wird die Superiusvorstellung unter günstigen Umständen mit 
Hülfe der Inferioravorstellungen producirt, was dann für eine 
Eintheilung der Vorstellungen noch den Vortheil mit sich führt, 
dafs den „reproducirten Vorstellungen", die man so oft den 
Wahrnehmungs Vorstellungen" gegenüberstellt, in den „producirten 
Vorstellungen" nun ein auch schon äufserlich sich als Gegensatz 
ankündigender Gegenfall an die Seite tritt. 

Besteht somit auch bei möglichst strenger Terminologie 
der Gegensatz zwischen „Erfahrungs- und Fundirungsgegen- 
ständen" nach wie vor zu Recht, so gestattet die oben durch 
das Glockenbeispiel illustrirte Parallele zur Aehnlichkeit an 
diesen Gegensatz anzuknüpfen mit der Frage, ob wir in den 
allfälligen negativen Gegenständen Superiora von der Art der 
Erfahrungs- oder solche von der Art der Fundirungsgegenstände 
vor uns zu haben erwarten dürfen. Näher findet man sich durch 
diese Disjunction, da solche Negativa doch sicher nicht in den 
Bereich des Wahrnehmbaren gehören könnten, ohne Weiteres 
auf die Fundirungsgegenstände hingewiesen und stünde sonach, 
ganz wie bei der theoretischen Bearbeitung des Aehnlichkeits- 
oder Verschiedenheitsgedankens, vor der Aufgabe, für die präsum- 
tiven negativen Gegenstände Fundamente und producirende 
Thätigkeit namhaft zu machen. Dabei kann es der Formel 
Non-J. gegenüber auf den ersten Blick vielleicht nicht leicht 
scheinen, auf eine Mehrheit von Fundamenten zu gelangen; 
aber eine Formel wie „dem Ä ähnlich" ist auch hierin um nichts 
ungünstiger gestellt, und so wenig ich den Aehnlichkeitsgedanken 
nur mit Hülfe des A allein concipiren könnte, so wenig brauchte 
ich im Stande zu sein, den Gedanken des Negativums blos mit 
Hülfe dessen zu bilden, was negirt wird. Im Gedanken des Non-^ 
steckt ja nicht nur das A, sondern auch, ja im Grunde zunächst, 
eben das, was das A nicht ist. Der Sachverhalt würde sich also 
näher so darstellen : der Gedanke an das Negativum erwächst von 
Haus aus nicht aus dem A allein, sondern es ist auch noch ein 
M gegeben, von dem behauptet werden kann oder doch wird, es 
sei nicht A^ ganz ebenso, wie die Aehnlichkeit zunächst zwischen 
dem A und noch einem zweiten Gegenstande, etwa N, statuirt werden 
mufs. Und wie dann an die durch Vergleichung gebildete eigen- 



10 Erstes Kapitel, 

artige Complexion ^^ die Abstraction angreift und so aus dem 
Gedanken y,Ä ähnlich N^ den Gedanken „Aehnlichkeit mit Ä^ 
oder „ähnlich dem Ä^ bildet, ebenso kommt aus der wieder 
andersartigen Complexion Ä M resp. dem Gedanken „M ist nicht 
Ä^ das Abstractum „etwas, das Ä nicht ist" oder kurzweg Non--4 
zu Stande. Mit der ursprünglichen Zweiheit der Fundamente 
ist dann zugleich auch die producirende Thätigkeit ins Reine 
gebracht: was dort die Vergleichung, leistet hier das Urtheil, 
näher natürlich das negative UrtheiL Man kann dann sagen: 
das Negativum, genauer der negative Gegenstand ist zwar ein 
Erzeugnifs des Urtheils, selbst aber zuletzt kein blofser Urtheils- 
sondern ein Vorstellungsgegenstand, der erforderlichen Falles 
auch ohne Urtheil erfafst werden kann. Man kann dann den 
Schein der Uebereinstimmung noch weiter treiben, indem man 
statt der Aehnlichkeit die Verschiedenheit zum Vergleich heran- 
zieht Die Gedanken „Non-^" und „von Ä verschieden" geben 
sich nicht nur der Form, sondern sozusagen auch der Sache 
nach so verwandt, dafs man hier geradezu versuchen kann, das 
Eine für das Andere zu nehmen. 

Inzwischen tritt gerade in der letzten Stufe dieser Klimax 
deren Unannehmbarkeit auch schon besonders deutUch zu Tage. 
Der Versuch zwar, Verschiedenheit und Negation für wesens- 
gleich zu nehmen, möchte schon mehr als einem reductions- 
lustigen Theoretiker nahe gelegen haben, aber immerhin doch 
nur in der Intention, Verschiedenheit auf Negation, nicht aber 
Negation auf Verschiedenheit zurückzuführen. Und ein Unter- 
nehmen letzterer Art thäte den Thatsachen in so unverkenn- 
barer Weise Gewalt an, dafs der ausdrückliche Hinweis auf diese 
Thatsachen dem Vorwurfe der Ueberflüssigkeit kaum entgehen 
wird. Gleichwohl soll der Beziehungen zwischen Verschiedenheit 
und Negation hier wenigstens mit einigen Worten gedacht sein. 

Wer dem Gedanken nachgeht, ob das Urtheil „Ä ist ver- 
schieden von i?" nicht durch das Urtheil „Ä ist nicht 5" zu er- 
setzen wäre, stöfst sofort auf das Hindernifs, dafs es bei der 
Verschiedenheit Grade giebt, bei der Negation hingegen nicht, 
die ja ihrem Wesen nach völlig unsteigerungsfähig ist. Nun 
kann man sich aber leicht davon überzeugen, dafs es aufser 
dieser steigerungsfähigen auch noch eine unsteigerungsfähige 
Relation giebt, zu deren Bezeichnung das Wort „Verschieden- 
heit" sprachgebräuchlich ganz wohl anwendbar ist: den Gegen- 



Erste Aufsteühmgen. 11 

satz zur Identität, jene Nicht-Identität, die zwischen Gelb und 
Orange ebenso besteht wie zwischen Gelb und Roth, ja selbst 
Gelb und Blau, obwohl die Verschiedenheiten zwischen diesen 
drei Farbenpaaren, das Wort „Verschiedenheit" in steigerungs- 
fähigem Sinne verstanden, keineswegs gleich sind. Vielleicht 
sollte die Relationstheorie die Verwendung des Wortes „Ver- 
schiedenheit" im zweiten, unsteigerungsfähigen Sinne ^ als ungenau 
und irreführend besser vermeiden : ohne Zweifel ist es aber eben 
nur diese unsteigerungsfähige Verschiedenheit, deren Eigen- 
artigkeit gegenüber der Negation in Frage kommen kann. 

In der That hat es auch ziemUch viel für sich, zu vermuthen, 
diese „Verschiedenheit" möchte der Negation im kategorischen 
Urtheile analog gegenüberstehen wie der Affirmation die Identität. 
Wie aber, wenn man daraus nicht zu schliefsen versuchte, dafs 
eine solche Verschiedenheit in gewissem Sinne auf Verneinung 
zurückgehe, sondern, dafs das Verneinen im Grunde nur das Vor- 
stellen (und natürlich Affirmiren) einer solchen „Verschieden- 
heit" sei ? Man braucht dem gegenüber nur an eine Existential- 
Negation zu denken, um über die völlige Unhaltbarkeit dieser 
Auffassung im Klaren zu sein: wer möchte sich auch versucht 
fühlen, etwa in der Behauptung, dafs es kein Perpetuum mobile 
gebe, ein Verschiedenheitsurtheil ausfindig zu machen ? ^ Förder- 
licher, weil sogleich auf den uns hier nächststehenden Fall des 
kategorischen Urtheils anwendbar, ist aber noch ein anderer 
Gesichtspunkt Gesetzt, jemand spreche, indem er erst an Eisen, 
dann an Nickel denkt, hinter einander die beiden Sätze aus: 
„Das Metall, an das ich jetzt denke, rostet", und dann: „Das 
Metall, an das ich jetzt denke, rostet nicht". Der Hörende, der 
keinen Anlafs hat, an der Richtigkeit der beiden ihm vorge- 
sprochenen Urtheile zu zweifeln, der sie demnach gläubig mit- 
urtheilt, verbindet in seinen beiden Urtheilen die Gegenstände 
„Metall" und „Rosten". Wer vermöchte nun, wenn er die Urtheile 
auch noch so sorgsam mit einander vergleicht, im zweiten Falle 
normalerweise noch das Hinzutreten eines weiteren Gegen- 



' Vgl. auch HüsSERL, „Philosophie der Arithmetik", Halle a. S. 1891, 
Bd. 1, S. 571, wo freilich im Einzelnen Manches recht angreifbar sein 
möchte. 

' Gegen eine so unnatürliche Interpretation wie etwa: „Alles, was 
existirt, ist vom Perpetuum mobile verschieden" braucht wohl nicht aus- 
drücklich Stellung genommen zu werden. 



\2 Erstes Kapitel. 

Standes „Verschiedenheit" zu erkennen, der dem Metalle hier in 
ähnlicher Weise zugesprochen würde, wie dem Metalle des ersten 
Urtheils das Rosten ? So bleibt es eine handgreiflich aussichtslose 
Sache, aus einem sozusagen lebendigen negativen Urtheile die 
Negation gleichsam herausinterpretiren zu wollen. Möchte es 
dann aber wesentlich aussichtsvoller sein, Aehnliches dort zu 
versuchen, wo uns die Negation in der immerhin etwas erstarr- 
teren Form eines „Non--4" entgegentritt? Dafs gleichwohl allent- 
halben nNon-^" durch „von A verschieden" oder eventuell „ein 
von A Verschiedenes" ersetzt werden kann, bleibt nach wie vor 
verständlich, wenn man hier eine „Verschiedenheit" vor sich 
hat, die selbst, wie oben angedeutet, auf die Negation zurückgeht. 
Diesem Ergebnisse gegenüber bleibt aber nun freilich die 
Hauptfrage noch unerledigt, ob dieses „Zurückgehen" den 
Charakter der Fundirung resp. der Vorstellungsproduction auf- 
weist, und so die Eventualität ins Auge zu fassen gestattet, der 
betreffende Fundirungsgegenstand könnte, nachdem seine Vor- 
stellung erst einmal producirt worden ist, nun auch ohne einen 
neuen Productionsvorgang, also eben reproductiv erfafst werden, 
wie man auch an Gleichheit oder Aehnlichkeit denken mag, 
obwohl man zur Zeit gerade nicht vergleicht. Nun steht uns 
aber, diese Frage zu beantworten, eine eben so einfache als ent- 
scheidende Erwägung zu Gebote. Fundirte Gegenstände sind 
mit ihren Fundamenten durch Nothwendigkeit verknüpft ^ : roth 
und grün sind nicht nur verschieden, sondern sie müssen es 
auch sein : ebenso ist 3 nicht nur thatsächUch, sondern auch noth- 
wendig gröfser als 2 u. s. f. Nun giebt es gewifs auch Negationen, 
die mit Nothwendigkeit gelten: zwischen Roth und Grün ist 
gewifs die Gleichheit ganz ebenso nothwendig zu negiren, als 
die Verschiedenheit zu affirmiren ist. Aber ganz ebenso gewifs 
giebt es Negationen, an denen Nothwendigkeit keinen Antheil 
hat: dafs der losgelassene Stein sich gegen die Erde bewegt 
und nicht von ihr weg, das ist eine Erkenntnifs, die, wenigstens 
vor dem Forum menschUchen Wissens, ihrer affirmativen wie 
ihrer negativen Seite nach gleich wenig Anspruch auf noth- 
wendige Geltung erheben dürfte. An dem Non-^ als solchem 
haftet also noch keine Nothwendigkeit, und dann hat man darin 
auch keinen fundirten Gegenstand vor sich. Wenn aber keinen 



* „Ueber Gegenstände höherer Ordnung etc." a. a. 0. S. 202. 



E/'ste Aufstellungen. 13 

fundirten und auch keinen nicht f undirten, dann eben gar keinen, 
und das möchte ich in der That durch das eben Dargelegte er- 
wiesen haben. 

Ein Vorbehalt freilich darf dabei nicht unerwähnt bleiben. 

« 

Wird an der Vorstellung des A und der des M irgend etwas 
gemeinsam vorgenommen, was immer es sei, so begründet dies 
natürlich eine Relation zwischen den beiden Vorstellungen und 
damit auch zwischen den Gegenständen Ä und M zunächst als 
Pseudo-Existenzen.^ So unter Anderem auch, wenn ich das M 
vom A affirmire oder negire, und ist dieses Urtheil berechtigt, 
so hat es auch einen ganz guten Sinn, darauf hin von einer 
Relation zwischen dem A und dem M zu reden, die eben in 
der Geltung jenes Urtheils besteht. Insofern ist also auch, dafs 
M nicht A ist, eine Art Relation zwischen M und ^, die sich 
natürUch vorstellen lassen mufs, und dadurch ist dann auch ein 
Weg gefunden, durch Abstraction zu einem vorstellbaren Non--l 
zu gelangen und sonach zur Vorstellung eines sozusagen negativen 
Gegenstandes. Nun erwäge man aber, was für einen Apparat, 
wenn man so sagen darf, eine derartige Vorstellung voraussetzt. 
Um an „ein Nicht-Rundes" zu denken, hätte ich den Gedanken zu 
concipiren : „Etwas, von dem das Urtheil gilt, es sei nicht rund". 
Während hier jeder Unvoreingenommene meinen wird, sich mit 
seinem Vorstellen im Gebiete der Gestalten zu bewegen, hätte man 
in Wahrheit aufser an Rund auch noch an etwas von Gestalten 
ganz Verschiedenes, nämlich an das negative Urtheil und dessen 
Verhältnifs zu dem, wovon es „gilt", zu denken. Das ist natür- 
lich möglich; aber das Hereinziehen psychologischer und erkennt- 
nifstheoretischer Dinge in das in der Regel ganz anderen Interessen 
zugewandte Denken ist eine so auffallende Sache, dafs derlei, 
wo es sich zuträgt, auch schon flüchtiger Beobachtung nicht 
wohl entgehen kann. Nun vermag aber bei den sogenannten 
negativen Vorstellungen, vielleicht ganz seltene Ausnahmen ab- 
gerechnet, auch die gespannteste Aufmerksamkeit von einem 
Umwege eben beschriebener Art nichts zu entdecken. Praktisch 
kommt also die Möglichkeit dieses Umweges völHg aufser Be- 
tracht und soll auch im Folgenden aufser Betracht bleiben. Das 
Recht zu solcher Vernachlässigung kann durch neuerliche Heran- 
ziehung der Verschiedenheitsrelation zu einem diesmal wirklich 



« A. a. 0. S. 186 f. 



14 Ersten KapUd. 

instractiven Vergleiche eine neue Beleuchtung erfahren. Ist 
nämlich Ä und N von einander verschieden, so ist hiermit aufser 
dieser Verschiedenheit noch eine weitere Relation zwischen Ä 
und N gegeben : denn diese beiden Gegenstände sind auch durch 
die Thatsache mit einander verbunden, dafs von ihnen als 
Fundamenten die Verschiedenheitsrelation gilt, und die beiden 
Gedanken „Ä ist von N verschieden" und „Ä und N sind so 
beschaffen, dafs von ihnen die Verschiedenheits- Affirmation gilt" 
sind ihren Gegenständen nach ebenso ersichtlich verschieden, 
als sie ohne Zweifel ihrem Anwendungsgebiete nach gleichwerthig 
sind. Von diesen beiden Urtheilen ist aber das zweite ebenso 
künstUch als das erste natürUch : niemand wird erwarten, dieser 
Künstlichkeit anders als in sehr auffälligen Ausnahmen that' 
sächlich zu begegnen, und nur im Sinne einer eben solchen 
Künstlichkeit möchte der Möglichkeit gegenständlich charakteri- 
sirter Negativa zu gedenken sein. 

Einige Gefahr, die wirkliche Sachlage in betreff der Negation 
hier zu verkennen, liegt darin, dafs es möghch ist, auch nicht 
allzu selten vorkonunt, dafs man auf gehörte Worte von zunächst 
negativer Bedeutung mit positiven Vorstellungen, genauer Vor- 
stellungen mit positiven Gegenständen reagirt, imd zwar nicht 
nur bei festgewordenen Zusammensetzungen wie „unklug" oder 
gar sprachlich unzusammengesetzten Ausdrücken wie „blind" 
oder „taub", sondern auch sonst. Soll ich mir ein „Messer ohne 
Klinge" vorstellen, so kann die Vorstellung eines Messerheftes 
hierfür einen ganz positiven Repräsentanten abgeben. Statt 
„nicht starken Ton" stellt man leicht „schwachen Ton" vor u. s. f. 
Das ist ein Auskunftsmittel, das in vielen FäUen sicher ausreicht, 
manchmal sogar geradezu Vortheil bietet : aber den vorgegebenen 
Worten gegenüber läfst man sich damit eine zweifellose Unge- 
nauigkeit zu Schulden kommen, allerdings eine, wie sie im Ver- 
halten zum sprachlichen Ausdrucke auch sonst nichts weniger 
als selten ist. Es ist daher auch nicht statthaft, im Hinblicke 
auf solche Thatsachen von negativen Vorstellungsgegenständen 
zu reden. 

Wir können das Ergebnifs der vorstehenden Untersuchungen 
zu der Behauptung zusammenfassen, dafs der Gegensatz von Ja 
und Nein am Vorstellungsacte gar keine, im Vorstellungsgegen- 
stande und daher auch Vorstellungsinhalte höchstens eine auf 
einen ganz künstUchen und nur ganz ausnahmsweise beschrittenen 



Erste Äufsteüungen. 15 

Umweg beschränkte Anwendung gestattet. Daraus erwächst 
natürlich sofort die Frage nach der wirklichen Beschaffenheit 
dessen, was man herkömmlich als „negative Vorstellungen" be- 
handelt; und es wird sich später Gelegenheit bieten, die Beant- 
wortung dieser Frage zu versucHen.^ Vorerst soll aus dem Dar- 
gelegten nur das Recht abgeleitet werden, überall dort, wo der 
erwähnte Gegensatz zur Geltung kommt, daraus zu schhefsen, 
dafs es sich da um mehr als um blofses Vorstellen handeln 
müsse. Unter diesem Principe findet es nicht nur seine neuer- 
Uche und nachträgUche Rechtfertigung, dafs oben dem, wofür 
die technische Bezeichnung „Annahme" sich uns angemessen er- 
wiesen hat, eine Stellung zwischen Vorstellen und Urtheilen 
angewiesen wurde; dieses Princip wird sich vielmehr auch als 
einer der greifbarsten Anhaltspunkte bewähren, wenn wir nun- 
mehr darüber ins Klare zu kommen versuchen, ob und wo 
innerhalb der psychischen Erfahrung noch mehr an solchen 
Zwischenthatsachen, die dann gleichfalls auf die Bezeichnung 
„Annahmen" billigen Anspruch hätten, anzutreffen sein möchten. 
Es dürfte nicht allzusehr überraschen, wenn eine diesbezügUche 
Untersuchung sich gerade dort als besonders dankbar erweisen 
sollte, wo die theoretische Bearbeitung mit Hülfe der ihr bisher 
geläufigen Conceptionen nicht recht hat zu Stande kommen 
können: jedenfalls würde der Begriff der Annahme seine 
theoretische Bedeutung in besonders günstiger Weise bewähren, 
wenn er sich alten psychologischen resp. erkenntnifstheoretischen 
Schwierigkeiten gegenüber fähig erwiese, zu deren Entwirrung 
beizutragen. 

Natürüch wird es aber angemessen sein, die uns sozusagen 
eben erst bekannt gewordene Thatsache der Annahme vor Allem 
dort aufzusuchen, wo sie sich der Betrachtung gleichsam am 
wilhgsten darbietet. Auch darf die Hülfe nicht unbenutzt bleiben, 
die bei der ersten Auffindung und Charakteristik psychischer 
Geschehnisse der sprachliche Ausdruck allenthalben darbietet. 
Nur sind, um sich dieses Hülfsmittels gerade für unsere nächsten 
Zwecke in geeigneter Weise zu bedienen, einige vorbereitende 
Peststellungen in betreff des sprachüchen Ausdruckes nöthig, 
denen wir uns daher im folgenden Kapitel zunächst zuzuwenden 
haben. 



^ Vgl. unten Kap. VI, § 32 am Ende. 



16 



Zweites Kapitel. 

Zur Frage naeh den charakteristischen Leistungen des Satzes. 



§3. 
Zum Begriffe des Zeichens. 

Die Darlegungen, denen das gegenwärtige Kapitel in der 
Hauptsache gewidmet sein soll, waren bereits druckfertig, als 
E. Maetinak's „Psychologische Untersuchungen zur Bedeutungs- 
lehre" ^ zu meiner Kenntnifs gelangten. Gleichwohl kann ich 
es mir nicht versagen, nun sogleich an die instructiven Aus- 
führungen des genannten Autors anzuknüpfen, um, auf diese 
gestützt, vor Allem zu versuchen, die von ihm vorgenommene 
Präcisirung der Relation zwischen Zeichen und Bedeutung * noch 
um einen Schritt weiter zu führen, oder vielleicht auch blos das 
ausdrücklich zu sagen, was Mabtinak nur eben noch unformulirt 
gelassen hat. Will man nämlich bei der Bestimmung dieser 
Relation der Allgemeinheit nicht alles Charakteristische zum 
Opfer bringen, so ist, wenn ich recht sehe, der blofse Hinweis 
auf die Zuordnung der Bedeutung zum Zeichen^ denn doch zu 
farblos, und man wird nicht umhin können, zunächst einfach 
zu sagen*: kann ich aus dem Gegebensein des A auf das des 
J5 schliefsen, dann ist A ein Zeichen von 5, und 5, genauer 
freilich das Sein, zunächst die Existenz des B^ die Bedeutung 
des Zeichens. 



1 Leipzig 1901. 

2 A. a. 0. S. Iff. 

» Vgl. a. a. 0. S. 12. 

* Wohl in üebereinstimmung mit R. Gaetschenbbrger, „Grundzüge 
einer Psychologie des Zeichens", VTürzburger Inaug.-Diss., Regensburg 1901, 
S. 45 ff., sowie Husserl, „Logische Untersuchungen" Bd. II, Halle 1901, 
S. 25 ff. 

^ Noch genauer wäre auch der Fall des Nicht- Seins des B einzubeziehen, 
für das es ja auch Zeichen geben kann. Vorgreifend sei darauf hingewiesen. 



Zur Frage nach den charakteristischen Leistungen des Satzes. 17 

Dafs es hier in der That die Relation des Erkenntnifs- 
grundes zur Erkenntnifsf olge ist, auf die zuletzt Alles ankommt, 
zeigt sich natürlich am Deutlichsten am „realen Zeichen". Aber 
auch das „finale Zeichen" ^ ist ja von Haus aus nichts Anderes 
als ein absichtlich gesetztes reales Zeichen, also eines, das sich 
zum realen Zeichen im gewöhnlichen Sinne etwa so verhält wie 
das- Experiment zu der sich der theoretischen Bearbeitung von 
selbst darbietenden Thatsache. Nur führt hier natürlich der in 
der Absichtlichkeit gelegene Antheil subjectiver Momente eine 
gewisse Störungs-Chance mit sich, die z. B. in der Weise realisirt 
sein kann, dafs der Zeichengeber ein Zeichen wählt, dem die 
Eignung, den ex definitione erforderlichen Erkenntnifsgrund ab- 
zugeben, thatsächlich nicht zukommt Immerhin wird man aber 
auch so der Störungen nicht allzu viele zu verzeichnen haben, 
wenn man sich gegenwärtig hält, dafs dasjenige, was der Zeichen- 
geber in erster Linie überhaupt vernünftigerweise nur zu er- 
kennen geben kann, eben nichts weiter als seine Absicht ist, 
und zwar genau besehen nur die Absicht, etwas „mitzutheilen". 
Es wird sich dann ohne Zweifel aus mehr als einem Grunde 
empfehlen, in dem Specialfalle, wo das, was er mitzutheilen hat, 
sein Wunsch, wohl auch sein Wille, also allgemein ein Begehren 
ist, und sonach gleichfalls aus dem Zeichen erschlossen werden 
kann, von „begehrendem" Zeichen zu reden, und dann alle 
Fälle, wo der Zeichengeber etwas Anderes mitzutheilen hat, unter 
dem Namen der „mittheilenden Zeichen" in einigermaafsen 
engerem Sinne den „begehrenden Zeichen" entgegenzusetzen.* 
Streng genommen aber ist sonach jedes finale Zeichen zugleich 
mittheilendes Zeichen wenigstens in einem weiteren Sinne, und 
hierin liegt zu nicht geringem Theile der Keim zu einer wichtigen 
Erweiterung des Zeichen- resp. Bedeutungsbegriffes, der wir 
im Hinblick auf die uns in den gegenwärtigen Untersuchungen 
beschäftigenden Aufgaben unsere Aufmerksamkeit im Besonderen 
zuwenden müssen. 



dafs hierin nur der Umstand zu Tage tritt, dafs die Relation von Grund 
und Folge streng genommen nicht Sache des Objectes, sondern speciell die 
des Objectivs ist, ein Gegensatz, der in Kapitel VII deutlich gemacht 
werden soll. 

^ üeber den Gegensatz von realem und finalem Bedeuten vgl. Mabtinak 
a. a. O. S. 12. 

^ Vgl. auch über diesen Gegensatz Mabtinak a. a. O. S. 19 ff. 
Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. II. 2 



18 Zweites Kapitel. 

Ist nämlich im eben Dargelegten der Sachverhalt beim finalen 
Zeichen richtig aufgefafst, so steht diesem als Bezeichnetes, also 
als „Bedeutung" zunächst jedesmal eine psychische Thatsache 
gegenüber, was übrigens natürlich unter günstigen Umständen 
auch bei realen Zeichen der Fall sein kann und dann zu dem- 
selben Erfolge führt Dieser Erfolg besteht in einer zweiten 
Zuordnung, die darauf zurückgeht, dafs die psychische Thatsache 
ihren Inhalt und- daher auch ihren Gegenstand hat. Ist A das 
Zeichen, das eine psychische Thatsache B — am besten ein 
Vorstellen, Urtheilen oder Begehren — zu seiner „Bedeutung" 
hat, und hat B den Gregenstand C, so ist dadurch Ä nicht nur 
mit 5, sondern in neuer Weise auch mit C verknüpft, ohne dafs 
man darum ein Recht hätte, A in derselben Weise als Erkennt- 
nifsgrund für C zu nehmen wie es ex definitione den für B ab- 
giebt.^ Vielleicht verdient es nun gar nicht den Namen einer 
Erweiterung des Bedeutungsbegriffes und ist eher eine zweite 
Anwendungsweise des Wortes „Bedeutung", wenn man dem A 
auch das C als dessen „Bedeutung" gegenüberstellt; jedenfalls 
aber dürfte man das B und das C dem A gegenüber nicht auf 
gleichem Fufse behandeln. 

Die Wichtigkeit dieser Erwägung wird sofort jedem klar 
sein, der bemerkt, dafs der hier vorerst ganz allgemein dargelegte 
Thatbestand in der Sprache, zunächst in den einzelnen Wörtern 
derselben realisirt ist. Weil die Wörter ihre „Bedeutung" haben, 
hat man sich daran gewöhnt, sie als „Zeichen" zu behandeln, 
zumal das Wort in der Regel von einem psychischen Thatbe- 
stande begleitet auftritt, auf dessen Gregebensein man im Sinn 
unserer obigen Zeichenbestimmung aus dem Gegebensein des 
Wortes schliefsen darf. Man hat in Folge dessen zumeist un- 
beachtet gelassen, dafs das, worauf man aus dem Vorhandensein 
eines Wortes schliefsen kann, mit dem, was das Wort „bedeutet", 
durchaus nicht zusammenfällt, — aufserdem freilich auch, 
dafs Wort und Bedeutung keineswegs immer durch jene eigent- 
liche Zeichenrelation des Wortes zu einer psychischen That- 
sache zusammengehalten werden. Vielleicht stellt der erster- 
wähnte Umstand einen der vielen Fälle dar, in denen die un- 



^ Was man aus A erschliefsen darf, ist ja nur die Pseudo-Existenz 
des C, dieses Wort wieder in dem schon einmal gebrauchten Sinne ver- 
standen, den ich ihm in der Abhandlung „Ueber Gregenstände höherer Ord- 
nung etc.", Zeitschr. f. Psychol, 21, S. 186 f, gegeben habe. 



Zur Frage nach dm charakteristischen Leistungen des Satzes. 19 

zureichende Unterscheidung zwischen Inhalt und Gegenstand^ 
vom Uebel war : gleichwohl bleibt das mangelhafte Auseinander- 
halten hier besonders auffallend, da in diesem Falle die Sprache 
selbst für deutlich auseinanderhaltende Termini gesorgt hat. 
Für unsere Zwecke ist es von besonderem Werthe, den Sinn 
dieser Termini und die in ihnen gegebene Unterscheidung uns 
klar zu machen: sie soll uns daher vorerst noch etwas näher 
beschäftigen. Auf die eben erwähnte zweite Verbindung zwischen 
Wort und Bedeutung kommen wir weiter unten zurück, wenn 
auf das Verstehen der Wörter und Sätze kurz einzugehen sein wird. 

§4. 

Ausdruck und Bedeutung beim Worte. Secundärer 

Ausdruck und secundäre Bedeutung. 

Ich habe hier von einem Gegensatze zu handeln, auf den 
ich bereits an anderem Orte hingewiesen habe.^ Es ist ebenso 
herkömmhch als berechtigt, der Sprache in besonderem Maafse 
die Eignung zuzuerkennen, unsere Gedanken „auszudrücken". 
Ob der Redende seine Gedanken auch ausdrücken will, ob er 
sie ohne oder gar wider seinen Willen verräth, ob schliefshch 
wirkUch Jemand da ist, der von dem, was die Worte erkennen 
lassen, auch wirklich Kenntnifs nimmt, das sind Details, die hier 
ohne Schaden aufser Betracht bleiben können. Nicht minder 
vorerst der Umstand, dafs in dem Worte „Gedankenausdruck" 
eine einseitige Beschränkung auf das intellectuelle Gebiet her- 
vortritt, indefs doch die Sprache keineswegs darauf verzichtet, 
auch Gefühle oder Begehrungen zum Ausdruck zu bringen. 
Vielmehr kommt diese Einseitigkeit unseren nächsten Bedürf- 
nissen insofern sogar noch besonders entgegen, als an den in- 
tellectuellen Bethätigungen sich von dem, was ein Wort „aus- 
drückt", besonders deutlich das abhebt, was es „bedeutet" : der 
Gegenstand des betreffenden intellectuellen Geschehnisses, 
zunächst der dasselbe ausmachenden oder doch ihm zu Grunde 
liegenden Vorstellung. Wer also etwa das Wort „Sonne" aus- 
spricht, bringt dadurch normalerweise, gleichviel ob er es auch 
will oder nicht, zum Ausdruck, dafs sich eine bestimmte Vor- 
stellung, es kann natürhch so gut Wahmehmungs- wie Ein- 

* Vgl. „Ueber Gegenstände höherer Ordnung etc." a. a. 0. S. 185 ff. 
^ „lieber Gegenstände höherer Ordnung etc." a. a. 0. S. 188 f. 

2* 



20 Zweites Kapitd: 

bildungsvorstellung sein, in ihm zuträgt Was für eine Vor- 
stellung das ist, bestimmt sich zunächst nach dem, was durch 
sie vorgestellt wird, also ihrem Gegenstande, und dieser Gregen- 
stand ist eben das, was das Wort „Sonne" bedeutet Aller- 
dings hat man, wenn von der Bedeutung eines Wortes die Rede 
ist, nicht leicht dieses eben jetzt von diesem Individuum aus- 
gesprochene Wort, sondern „das Wort" im Allgemeinen im Auge, 
versteht also unter der Bedeutung eines Wortes nicht das, was 
gerade dieser oder jener damit meint, sondern was die Gesammt- 
heit oder Mehrzahl der Redenden meint und sonach der Einzelne 
vernünftigerweise meinen „sollte". Aber für den natürüchen 
Sinn des Gegensatzes von Ausdruck und Bedeutung hat das 
weiter keinen Belang. Niemand nimmt Anstand, einzuräumen, 
dafs ein und dasselbe Wort zu verschiedenen Zeiten, an ver- 
schiedenen Orten, für verschiedene Gesellschaftsclassen, für ver- 
schiedene Familien und am Ende auch für verschiedene In- 
dividuen Verschiedenes „bedeuten" kann, und so wird man wohl 
ganz allgemein sagen können, ein Wort „bedeutet" allemal den 
Gegenstand der Vorstellung, die es „ausdrückt", und drückt um- 
gekehrt die Vorstellung von dem Gegenstande aus, den es be- 
deutet^ 

Es ist eine unmittelbare Consequenz des eben Dargelegten, 
dafs das Wort, das etwas bedeutet, zugleich etwas ausdrücken 
mufs, nämüch eben die Vorstellung des Gegenstandes, der die 
Bedeutung im gegebenen Falle ausmacht Man kann also sagen : 
was Bedeutung hat, ist zugleich auch Ausdruck und zwar, wie 
man hinzufügen mag, primärer Ausdruck, im Gegensatze zu 
einer Art secundärer Ausdrucksfähigkeit, die einem Worte unter 
Umständen vermöge seiner Bedeutimg eignen kann. Dies ist 
nicht selten der Fall, wenn der die Bedeutung ausmachende 
Gegenstand dem Gebiete innerer Wahrnehmung angehört. Klagt 
Jemand über Schttierzen, so ist das, was das Wort „Schmerz" 
zunächst, also primär ausdrückt, die Vorstellung des Schmerzes. 
Aber diesmal ist aus dem Worte zugleich zu entnehmen, dafs 
der Redende den Schmerz wirkUch hat; insofern drückt das 



^ Gegen Hussekl, „Logische Untersuchungen" Bd. II, S. 46 ff. Der 
Dissens geht wohl darauf zurück, dafs Hussebl den Begriff des Gegen- 
standes enger fafst, als mir natürlich erscheinen möchte; vgl. hierüber 
einstweilen „Ueber Gegenstände höherer Ordnung etc." a. a. 0. S. 188 An- 
merkung. 



Zmy Frage nach den charakteristischen Leistungen des Satzes. 21 

Wort auch ein Gefühl aus, aber gleichsam auf einem Umwege 
und in diesem Sinne secundär. 

Dagegen ist die Umkehrung des obigen Satzes keineswegs 
in gleicher Weise statthaft : was Ausdruck ist, muTs darum noch 
durchaus nicht Bedeutimg haben. Das erhellt für das intellec- 
tuelle Gebiet bereits durch den Hinweis auf die Wörter Ja und 
Nein, die in der Regel Urtheile ausdrücken werden, aber durch- 
aus nicht erkennen lassen, worüber geurtheilt wird. Auf dem 
Gebiete emotionaler Thatsachen aber belegen Ausrufe wie „ach", 
„pfui" u. dgl. deutlich genug, wie leicht ein Schmerz oder ein 
Widerstreben zum Ausdrucke gelangen kann, ohne dafs über 
den Gegenstand desselben das Mindeste daraus zu entnehmen 
ist Viel häufiger noch functioniren in dieser Weise Wörter, 
denen es von Haus aus an einer Bedeutung keineswegs fehlt, 
die vielmehr durch diese in der oben berührten Weise zu 
secundären Ausdrücken werden konnten, vermöge ausschliefs- 
licher Verwendung als solche aber, praktisch wenigstens, ihre 
Bedeutung verloren haben , falls nicht etwa , was die Sprach- 
wissenschaft zu entscheiden hat, die Bedeutungen umgekehrt 
aus der Verwendung dieser Wörter als ursprünglich bedeutungs- 
lose Ausdrücke erwachsen sind. Jedenfalls denkt bei Inter- 
jectionen wie „wehe", oder bei formelhaft gewordenen Höflich- 
keitsbezeigungen wie „ich habe die Ehre" u. dgl. Niemand an 
den „Sinn" dieser Worte. Nur darf man natürUch, wenn man 
sonach einräumt, dafs es auch bedeutungslose Ausdrücke in der 
Sprache giebt, nicht vergessen, dafs hier von „Bedeutung" in 
einem eingeschränkten technischen Sinne die Rede ist, womit 
schon gesagt ist, dafs dem Ausdrucke, der in diesem engeren 
Sinne keine „Bedeutung" hat, doch dadurch, dafs er eben Aus- 
druck ist, ganz wohl eine Bedeutung im weiteren Sinne, wie 
sie dem Zeichen als solchem zukommt, und damit eine gewisse. 
Wichtigkeit, Beachtenswürdigkeit oder wie man sonst sagen mag, 
eignen kann. Wirklich liegt es den Traditionen der Grammatik 
durchaus fern, Wörtern von der in Rede stehenden Art „Be- 
deutung" schlechthin abzusprechen: aber daraus folgt, so viel 
ich sehe, nur dies, dafs die Grammatik den soeben als technisch 
bezeichneten Sinn des Wortes „Bedeutung" nicht unter aUen 
Umständen aufrecht erhält. 

Kommt sonach dem Verhältnisse zwischen Bedeutung und 
Ausdruck allgemein betrachtet, keineswegs Umkehrbarkeit zu, 



22 2koeite8 Kapitel. 

SO verdient um so mehr schon an dieser Stelle beachtet zu 
werden, dafs ein Bedeutungsanalogon zu dem, was oben secun- 
däxer Ausdruck genannt wurde, also eine Art „secundärer Be* 
deutung^, ganz wohl anzutreffen ist. Man findet sich hierauf 
geführt, sobald man berücksichtigt, dafs nicht etwa nur das Vor- 
stellen, Urtheilen u. s. f., sondern auch, was an Vorstellungen 
Urtheilen etc. vorgeht, also insbesondere alle Operationen an 
diesen psychischen Elementarthatsachen in den Bereich des sprach* 
lieh Ausdrückbaren gehören. Solche Operationen greifen natür- 
lich stets an psychisch Realem, also an Act und Inhalt ^ an, 
führen aber eben darum leicht genug zu inhaltlich und daher 
auch gegenständUch charakteristischen Ergebnissen, so dafs den 
für sie angewendeten sprachlichen Bezeichnungen dann insofern 
auch Bedeutung in dem hier gebrauchten technischen Sinne zu- 
kommen wird, wenngleich der betreffende Ausdruck zunächst 
streng genommen nur Ausdruck der Operation und nicht des 
Ergebnisses ist. So haben die Worte „4 weniger 2" ohne Zweifel 
eine „Bedeutung", und zwar nicht nur, wenn der Redende, was 
er natürlich kann, damit meint: „die Zahl, die herauskommt, 
wenn ich 2 von 4 abziehe". In diesem Falle hätten wir eine 
„indirecte" Vorstellung® vor uns, zu deren Conception die 
Reflexion über die Operation des Subtrahirens erforderlich war. 
Der Redende mufs aber diese Reflexion gar nicht vollzogen, 
die Operation des Subtrahirens gar nicht in abstracto erfafst 
haben, wenn er sie nur vorgenommen hat. Wenn also Jemand 
thatsächlich von einer 4 ausgeht, indem er davon 2 abzieht, so 
findet dies Geschehen in den Worten „4 weniger 2" sicher einen 
angemessenen „Ausdruck". Und insofern darin ein Ergebnifs 
von aller nur wünschenswerthen gegenständlichen Bestimmtheit 
mitausgesprochen ist, fehlt hier auch die „Bedeutung" nicht 
Sie fällt gegenständlich am Ende auch mit der des auf Reflexion 
zurückgehenden Denkactes zusammen: trotzdem kann man die 
Verschiedenheit der Sachlage nicht verkennen, und mag ihr viel- 
leicht durch die Bezeichnung „secundäre Bedeutung" im reflexions- 
losen, „primäre Bedeutung" im Reflexionsfalle gerecht werden. 
Wichtiger als der Name ist natürlich die Einsicht, dafs man in 
unserem Beispiele den Redenden praktisch zwar richtig, im 



^ „lieber Gegenstände höherer Ordnung etc." S. 186. 
2 Hume-Studien 2, S. 87. 



Zfwr Fragt nach den charakteristischen Leiatu/ngen des Satzes, 23 

Sinne psychologischer Genauigkeit aber möglicherweise unrichtig 
verstände, wenn man die Bede ohne Weiteres als den Ausdruck 
jenes complicirteren Vorganges von Reflexion und Abstraction be- 
trachten wollte, der erforderlich wäre, wenn man bei den Worten 
ausschUe&lich auf „primäre Bedeutung" rechnen dürfte. Für 
den Fortgang der gegenwärtigen Untersuchungen wird sich die 
Thatsache des secundären Ausdruckes als erheblich wichtiger 
herausstellen als die Thatsache der secundären Bedeutung, doch 
werden wir später Anlafs haben, auch auf die secundäre Be- 
deutung zurückzukommen.^ 

§5. 
Der Satz als Urtheilsausdruck. 

Die bisherigen Aufstellungen haben sich naturgemäls zu- 
nächst auf einzelne Wörter bezogen, und erst die „secundären 
Bedeutungen" haben uns auf Gegenstände geführt, denen im 
sprachlichen Ausdruck vorwiegend Wortcomplexionen gewidmet 
sein werden. Auch bezüghch dieser Complexionen hat natürlich 
der Gegensatz von Bedeutung und Ausdruck seine Geltung, und 
man wird vermuten dürfen, dafs, was solche Wortcomplexionen 
bereits vor dem Forum der Grammatik zu einheitUchen Ganzen 
macht, in der Regel entweder eine Einheit der Bedeutung oder 
eine Einheit des Ausdruckes sein wird, falls nicht Beides zu- 
sammentrifft. Es versteht sich, dafs man es dabei vorwiegend 
mit Gegenständen höherer Ordnung und den auf deren Con- 
ception gerichteten Operationen zu thun haben wird. Nun hat 
es aber die Grammatik von Alters her angemessen gefunden, 
unter den sonst beUebig mannigfaltig geformten Wortcomplexionen 
einer eine ganz auffallende Ausnahmsstellung gegenüber allen 
anderen einzuräumen. Und in der That mag sich auch schon 
der laienhaftesten Betrachtung nichts überzeugender darstellen 
als die völlig eigenartige Beschaffenheit dea Satzes gegenüber 
dem, was man im weitesten Sinne als blofse Wortzusammen- 
setzung fassen könnte, und was trotz behebig weitgehender Com- 
plexität immer noch dem einfachen, d. h. unzusammengesetzten 
Worte wesensverwandt zu bleiben scheint Es wird sich dem 
diesen Darlegungen gesteckten Ziele förderUch erweisen, wenn 
wir versuchen, den Gründen dieser offenbar für jedermann so 
einleuchtende Sonderstellung des Satzes nachzugehen. 

^ Unten Kap. IV § 20 gegen Ende. 



24 Zweites Kapitel, 

Vorerst steht nun freilich zu erwarten, dafs die Sprach- 
wissenschaft die Subsumtion des Satzes unter den Begriff der 
Wortcomplexion allzu äufserhch, ja in den Thatsachen nicht ein- 
mal ausreichend begründet finden wird, da es doch auch Sätze 
giebt, die nur aus einem Worte bestehen. Wirklich hat ein Ver- 
bum finitum wie „credo" allen Anspruch, für einen Satz zu gelten^ 
und läfst auch im Vergleich mit seinem Infinitiv „credere" sofort 
jenen eigenthümUchen Thatbestand erkennen, den man im Satze 
zum Unterschied vom „einzelnen Worte" vor sich zu haben ge- 
wöhnt ist Immerhin aber befinden sich Sätze dieser Art in 
einer ausreichend deuthchen Ausnahmestellung, dafs man sie 
hier ohne Schaden unter den Gesichtspunkt des Grenzfalles 
bringen kann; überdies bleibt die hier nur vorübergehend voll- 
zogene Subsumtion, indem aus ihr keine theoretischen Conse- 
quenzen gezogen werden sollen, jedenfalls unschädKch. Vor 
Allem wichtig für unsere Zwecke ist aber dies, dafs die Frage 
nach dem Wesen des Satzes sozusagen nur noch acuter wird, 
wenn nicht einmal das Zusammengesetztsein aus einer Mehrheit 
von Wörtern herangezogen werden kann, um die sich immerhin 
zunächst aufdrängende GegensätzUchkeit von Satz gegenüber 
Wort verständlich zu machen. 

Da es nun weiter kaum angehen wird, das Charakteristische 
des Satzes anderswo als auf der psychischen Seite zu suchen, so 
findet man sich nun unmittelbar vor die Wahl gestellt zwischen 
dem, was der Satz etwa bedeutet und dem, was er ausdrückt 
Aber das erste Glied dieses Dilemmas verspricht schon auf den 
ersten Blick wenig Ausbeute. An einer Bedeutung zwar fehlt es 
normalerweise nirgends wo ein Satz vorliegt: dieselbe wird aus- 
gemacht durch die Bedeutung der im Satze zu einer Complexion 
vereinigten Wörter und die Gegenstände höherer Ordnung, welche 
auf die diese letztere Bedeutung constituierenden Inferiora aufge* 
baut sind; über die Anzahl solcher Superiora kann im gegenwärtigen 
Zusammenhange eine genauere Bestimmung entbehrt werden. 
Aber der unbeschränkten Mannigfaltigkeit solcher Bedeutungen 
steht nichts Gemeinsames gegenüber, das zugleich an den Satz 
sich gebunden zeigte ; vielmehr scheint es jederzeit möglich, das 
im engern, eigentlichen Sinne ^ Gegenständliche dessen, was in 



^ Die Intention dieser Einschränkung wird später klar werden; vgl. 
Kap. VII § 43. 



Zur Frage nach den charakteristischen Leistungen des Satzes, 25 

einem Satze zum Ausdrucke gelangt, zu erhalten, auch wenn 
man die Satzform aufgiebt. Ich meine durchaus nicht, dafs man 
mit Brentano ^ den ganzen Sinn oder gar den eigentlichen Sinn 
des Satzes „der Mensch ist krank" durch den Satz „der kranke 
Mensch existirt" wiedergeben dürfte.« Unangreifbar ^heint mir 
aber, dafs in den Worten „der kranke Mensch", die doch durch- 
aus keinen Satz ausmachen, das ganze im engem Sinn gegen 
ständliche Material erhalten geblieben ist, das der Satz „der 
Mensch ist krank" in sich schliefst. 

So findet man sich durch Ausschlufs auf das zweite Glied 
des Dilemmas hingewiesen und wird diesem Hinweise um so 
leichter folgen, je kräftiger demjenigen, der nunmehr das Charak- 
teristische des Satzes in dem zu suchen unternimmt, was er aus- 
drückt, eine Art Vormeinung entgegenkommt, die nicht ansteht, 
dem Satze in betreff dessen, was er auszudrücken hat, sofort 
eine ganz bestimmte Aufgabe zuzuweisen. Die täglichste Er- 
fahrung scheint hierin aber auch ungewöhnlich deutliche Auf- 
schlüsse zu ertheilen. Sage ich „der Himmel ist blau", so drücke 
ich damit eine Meinung, ein Urteil aus, das den Worten „der 
blaue Himmel" in keiner Weise entnommen werden kann. Man 
mag also über die psychologische Natur des Urteils wie immer 
denken: in jedem Falle scheint es geradezu selbstverständlich, 
dafs, wo es gilt, ein Urtheil auszudrücken, allemal ein Satz wird 
in Anwendung kommen müssen, und dafs eine andere Weise^ 
der Ueberzeugung in betreff eines bestimmten Gegenstandes Aus- 
druck zu geben, überhaupt nicht zur Verfügung steht. ^ Auf die 
Frage nach dem Wesen des Satzes scheint damit in einfachster 
Weise die Anwort gefunden: der Satz wäre demnach dadurch 
charakterisirt, dafs wir in ihm gleichsam die Vorkehrung vor uns 
haben, die von der Sprache ganz speciell zum Ausdrucke des 
Urtheiles getroffen ist.* ^ 

Man wird einer solchen Bestimmung gegenüber schwerlich 
den Vorwurf erheben, dafs sie den Eindruck des Künstlichen 
mache, oder der auffallenden Sonderstellung des Satzes nicht 
durch Heranziehung eines ausreichend wichtigen und greifbaren 



^ Vgl. Psychologie I, S. 2a3. 

^ Vgl. meine Ausführungen in den G'ött Gel. Anz, 1892, S. 450 ff. 
^ Dafs den Wörtern „ja" und „nein" gegenständliche Bestimmtheit 
fehlt, wurde schon oben berührt. 

* Vgl. z. B. auch SiGWABT, Logik Bd. I, 2. Aufl., S. 25 Anfang. 



26 Zweites Kapitel 

Momentes Rechnung zu tragen versuche. Sie bietet sich viel* 
mehr als etwas so NatürUches dar, es scheint, sie zu erfassen, 
ein auf sie ausdrücküch gerichtetes Nachdenken so wenig e^ 
forderlich, dafs sie mancher fast unbewufst festgehalten haben 
wird, auch nachdem ihm mehr als eine Erfahrung begegnet ist, 
die sich mit dieser Bestimmung nicht in Einklang bringen WsL 
Bei etwas Aufmerksamkeit aber kann man solcher Erfahrungen 
eine ganz unerschöpfliche Menge gewahr werden und kann sich 
der Aufgabe nicht entschlagen, zu einem UeberbUck über die 
wichtigsten der hierher gehörigen Fälle zu gelangen. 

§6. 
Unabhängige und abhängige Sätze, die nicht ür- 

theile ausdrücken. 

Zunächst erkennt man leicht, dafs die grofse Ueberzahl der 
Sätze, die wirklich Urtheile ausdrücken, so beschaffen sind, dals 
die Grammatik sie als unabhängige Sätze bezeichnen darf. Man 
wäre aber bereits sehr erheblich im Irrthume, wollte man daraus 
schliefsen, dafs mindestens alle unabhängigen Sätze unter die oben 
versuchsweise in Erwägung gezogene Bestimmung passen. Das 
beweisen aufs Deutlichste alle Fragesätze in möglichst natürlicher 
Form, also nicht solche, bei denen der Gegenstand der Frage in 
einem abhängigen Satze auftritt, wie etwa : „ich frage, ob man sich 
auf diese Aussage verlassen kann". Hier hat man ein Beispiel fu* 
das vor sich, was ich oben „secundären Ausdruck" genannt habe; 
den primären Ausdruck aber bietet der unabhängige Satz : „Kann 
man sich auf diese Aussage verlassen?" Und was hier aus- 
gedrückt wird, ist normalerweise ein Begehren, vielleicht nur 
ein Wunsch, eventuell aber auch ein Befehl. Dafs es aber sicher 
kein Urtheil ist, kann gerade hier für besonders handgreiflich 
gelten, da dasjenige, was der Fragende unter gewöhnUchen Um- 
ständen erst begehrt, sonach eben noch nicht besitzt imd daher 
noch weniger ausdrücken kann, ein Wissen, eme Ueberzeugung, 
also eben ein Urtheil über den im Satze bezeichneten Gegen- 
stand ist. Und sowie es in der Sprache interrogative Formen 
giebt, die, wenn sonst in nichts, wenigstens in der Satzmelodie 
und dann wieder im Schriftzeichen zum Vorschein kommen, so 
giebt es noch viel deutlichere Optative und Imperative, die darauf 
aufmerksam machen, dass unabhängige Sätze eventuell auch noch 



Zur Frage nach den charakteristischen Leistungen des Satzes. 27 

anderes Begehren als das nach Wissen auszudrücken fähig sind. 
Natürlich ist auch hier nicht von den vielen Fällen secundären 
Ausdruckes die Rede, wo das, was einer wünscht oder befiehlt, 
wieder in abhängigen Sätzen — abhängig etwa von „ich bitte", 
„ich wünsche" u. dgl. — mitgetheilt wird. Wo aber primärer 
Ausdruck unter Anwendung eines unabhängigen Satzes vorliegt, 
ist der Ausschlufs eines Urtheiles als des möghcherweise Aus- 
zudrückenden zwar nicht ganz so äufserlich erkennbar, wie bei 
der Frage, übrigens aber kaum weniger unzweifelhaft. Denn 
was einer erst begehrt, kann er doch eben auch hier nicht für 
bereits verwirklicht beurtheilen. In der Aufforderung „Komm 
zu mir" etwa könnte also höchstens ein negatives Urtheil aus- 
gedrückt sein sollen, die Ueberzeugung, dafs der Angeredete 
nicht bei mir ist, eine Auffassung, die durch den Mangel jeden 
Negationszeichens ausreichend widerlegt wird. 

Noch wesentUch ungünstiger für die versuchte Charakteristik 
des Satzes durch das Urtheil steht es nun aber bei den ab- 
hängigen Sätzen. Zwar fehlt es auch an abhängigen Sätzen 
nicht, die als Ausdruck für ein Urtheil genommen werden können. 
Sage ich etwa: „die Hitze war so grofs, dafs Mittags Niemand 
das Haus verlassen mochte", so ist aus dem Nebensatze un- 
bedenklich das Urtheil zu entnehmen : „Niemand mochte Mittags 
das Haus verlassen". Es ist nicht anders, wenn ich etwa be- 
richte: „Während die Glocken der nahen Kirche zusammen- 
klangen, war ein ihnen gemeinsamer Oberton mit aufdriugUcher 
Deutlichkeit zu vernehmen". Auch hier kommt nebst anderem 
das Urtheil über das Zusammentönen der Glocken zum Aus- 
druck. Im Allgemeinen giebt es ja bekanntUch kein einiger- 
maafsen charakteristisches Bestandstück am unzusammengesetzten 
Satze, das nicht eventuell in einen Nebensatz übergehen könnte 
oder müfste ; es ist ja auch ganz gebräuchlich, die Nebensätze im 
Hinblicke hierauf grammatikalisch zu charakterisieren. Nim 
kommt es ja femer oft genug vor, mag auf den ersten Blick 
sogar als das ausschliefslich Natürliche erscheinen, dafs das ganze 
gegenständüche Material, von dem in einem Satze die Rede ist, 
auch in das durch den Satz ausgesprochene Urtheil einbezogen 
wird. In solchem Falle steht dann auch zu erwarten, dafs die als 
Erweiterungen eintretenden Nebensätze als Urtheilsausdrücke 
betrachtet werden können oder müssen. Es kommt hier aber 
sehr darauf an, ob das Haupturtheil, ich meine dasjenige, das 



28 Zweites Kapitel, 

im eventuellen Hauptsatze zum Ausdruck gelangt, affirmativ oder 
negativ ist. Sage ich: „es giebt keinen fehlerfreien Menschen", 
so denkt sicher Niemand daran, hierdurch den Gegenstand „fehler- 
freier Mensch" affirmirt zu finden, drückt ja doch der Satz gerade 
das Gegentheil einer solchen Affirmation aus. Ist dem aber so, 
dann geht es natürüch auch nicht an, die ganz unwesentHche 
Abänderung „es giebt keine Menschen, die frei von Fehlem 
wären" anders zu verstehen. Und sagt Jemand: „man findet 
innerhalb der gesammten psychologischen Erfahrung keinen 
einzigen Fall, wo Urtheilen nicht mit Vorstellen verknüpft wäre," 
so denkt auch hier Niemand daran, im Nebensatze das Urtheil 
zu suchen, dafs es Urtheilen ohne Vorstellen gebe. Zugleich 
wird man bereits hier auf die Bedeutung des Conjunctivs auf- 
merksam, der sich augenscheinlich gern einstellt, wo zwischen dem, 
was der betreffende Nebensatz als Urtheilsausdruck zu besagen 
haben müfste und dem, was er nach der Intention des Redenden 
wirkhch besagt, ein Dissens besteht. 

Besondere Beachtung aber dürften hier die mit „dafs" ein- 
geleiteten Sätze verdienen. Zwar könnte man gerade bezügUch 
solcher Sätze versuchen, etwa Wendungen wie „ich bin über- 
zeugt, behaupte, glaube, vermuthe, dafs . . ." unter die Instanzen 
einzuordnen, die der Auffassung des Satzes als Urtheilsausdruck 
günstig sind. Nur mufs es sogleich einigermaafsen auffallen, 
dafs hier das Urtheil zweimal zum Ausdrucke gelangen soll, 
einmal secundär im Hauptsatze, speciell in dessen Verbum, und 
dann noch einmal primär im Nebensatze. Femer scheint dann 
gelegentlich der Nebensatz in dieser Hinsicht mehr zu sagen, 
als der Hauptsatz eigentlich gestattet. Man halte, um das zu 
erkennen, etwa die beiden Aussagen zusammen: „ich bin über- 
zeugt, dafs es heute noch regnen wird" und „ich vermuthe, dafs 
es heute noch regnen wird". Ist im ersten Falle der Neben- 
satz Ausdruck des Urtheils „es wird heute noch regnen", so 
offenbar auch im zweiten Falle ; und ist er im ersten Falle Aus- 
druck eines mit Gewifsheit gefällten Urtheiles, so natürhch ebenso 
im zweiten, wie ja auch sonst ein Satz, wenn er ein Urtheil 
ausdrückt und über die Gewifsheit darin nichts bemerkt er- 
scheint, für den Ausdruck eines gewissen Urtheils gilt. Nun 
liegt aber in unserem zweiten Falle in Wahrheit keine Gewifs- 
heit, sondern nur eine Vermuthung vor, wie der Hauptsatz er- 
kennen läfst: als Urtheilsausdruck betrachtet würde hier also 



Zwr Frage nach den charakteristischen Leistungen des Satzes. 29 

der Nebensatz sozusagen den Hauptsatz Lügen strafen. Aber 
der Dissens zwischen Haupt- und Nebensatz, diesen letzteren 
nämlich als Urtheilsausdruck genommen, kann noch weit be- 
trächtlicher werden : ich kann ja auch sagen : „ich glaube nicht, 
dafs es heute regnen wird", und das bedeutet bekanntlich, ob- 
wohl man dabei manchmal ein leises Gefühl von Inexactheit im 
Sprechen haben mag, in der Regel so viel als „ich glaube, dafs 
es heute nicht regnen wird", also das genaue Gegentheil dessen, 
was der Nebensatz angeblich ausdrücken sollte. Aber auch 
Wendungen wie „ich bezweifle dafs . . .", „ich weifs nicht, lasse 
es dahingestellt, zweifle ob . . ." u. dgl. stehen der fraglichen 
Interpretation des Nebensatzes deutlich genug entgegen. Dem 
obigen „ich behaupte" aber wäre mit vollster Strenge im Aus- 
druck ein „ich bestreite, dafs . . ." gegenüberzustellen, und sollte 
der Nebensatz hier neben dem Bestrittenen auch noch einmal 
das Bestreiten mittheilen, so müfste der abhängige Satz unfehlbar 
für unser Regenbeispiel negativen Charakter haben. Ich schhefse 
daraus, dafs in keinem der hier aufgeführten Fälle secundären 
Urtheilsausdruckes im Hauptsatze, also auch nicht in denen, 
wo die in Rede stehende Auffassung vermöge der besonderen 
Sachlage nicht vorgängig bereits ausgeschlossen ist, im be- 
treffenden Nebensatze ein Urtheil zum Ausdrucke gelangt. 

Eine Art Verification hiefür bieten die Fälle, die sich von 
den eben besprochenen nur dadurch unterscheiden, dafs statt 
von den Ansichten des Redenden von denen Anderer gesprochen 
wird. Wenn Jemand sagt: „mein Freund X ist der Meinung, 
dafs das Problem des Determinismus und Indeterminismus un- 
lösbar sei", so kann er darum noch ganz wohl überzeugter 
Determinist sein. Das Einzige, was der Redende hier an eigenem 
Urtheil auszudrücken hat, betrifft die Meinung des Freundes, nicht 
aber die Frage des Determinismus. Das Urtheil über diesen und 
seine Unbeweisbarkeit fällt der Redende gar nicht: der Neben- 
satz seiner Rede kann es daher so wenig ausdrücken wie der 
Hauptsatz. 

Es giebt übrigens noch einen anderen Gesichtspunkt, unter 
dem es leicht ist, einzusehen, wie wenig die in Rede stehenden 
abhängigen Sätze mit „dafs" und Ihresgleichen eigentlich mit 
dem Urtheil zu thun haben. Sie bleiben verständlich, auch 
wenn sie gar nicht selbst an einen Satz, sondern blofs an ein 
Wort angegliedert sind, das selbst unmöglich als Urtheilszeichen 



30 Zweites Kapitel, 

betrachtet werden kann. Die Worte: „die Meinung, dafs die 
Wahrheit durch Gewaltmittel unterdrückt werden könnte" sind 
durchaus verständlich, aber offenbar nicht anders als etwa die 
Worte „die wichtigste Entdeckung des 19. Jahrhunderts"; ge- 
urtheilt wird im einen Falle so wenig wie im anderen, es müiste 
denn der Redende im Conjunctiv „könnte" etwas von seinen 
Ansichten verrathen, was aber keineswegs unerläfsHch ist VölHg 
analog zu dem eben betrachteten Beispiele rangiren nun aber 
auch viele Relativsätze. Wer vom Bäumlein redet, „das andere 
Blätter hat gewollt", läfst sich auf Behauptung der Existenz 
dieses Bäumleins sicher nicht ein, und für den Ausdruck einer 
Negation wird den fraglichen Relativsatz auch Niemand nehmen 
wollen. 

Nun bedarf es wohl keiner besonderen Begründung, dafs, 
was oben von unabhängigen Frage- und sonstigen Begehrungs- 
sätzen in betreff ihres Verhältnisses zum Urtheile dargelegt 
worden ist, auch auf diejenigen Nebensätze übertragen werden 
kann, die sich an Hauptsätze von der Form „ich frage, bitte" etc. 
anschliefsen, sobald diese als secundäre Ausdrucksmittel für die 
betreffenden Begehrungen die oben besprochenen primären er- 
setzen. Dagegen muTs hier noch auf gewisse satzförmige Aus- 
sagen hingewiesen werden, die unter den Gesichtspunkt des 
„abhängigen Satzes" nicht mehr durchaus passen, so dafs auch 
die Grammatik hier lieber von „zusammengesetzten Sätzen" 
besonderer Form spricht. Ich meine das vielbesprochene so- 
genannte hypothetische und disjunctive Urtheil. NamentKch in 
Bezug auf das erstere ist ja schon oft genug betont worden, 
dafs weder der Vordersatz noch der Nachsatz wirklich geurtheilt 
zu werden braucht, ja dafs der Kern des hypothetischen Urtheils 
aufrecht bleiben kann auch für den, der den Vordersatz und 
den Nachsatz geradezu für falsch hält. In der oben berührten 
Verwendung des Conjunctivs hat man hier sogar ein ganz ge- 
bräuchliches Zeichen für diesen Sachverhalt vor sich: „wenn es 
schön wäre, so liefse sich heute ein Ausflug unternehmen" sagt 
man bei Regenwetter. Dafs nun aber auch das sogenannte 
disjunctive Urtheil in den Rahmen der gegenwärtigen Unte^ 
suchung gehört, bedarf wohl keiner Rechtfertigung. Wer sagt: 
„entweder die Luft kühlt sich ab oder das Regenwetter dauert 
fort", der behauptet ja so wenig das Eine wie das Andere. 

Wie nahe hypothetische Urtheile von der eben besprochenen 



Zwr Frage nach den charakterisHachen Leistungen des Saizes. 31 

Beschaffenheit jenen Schlüssen stehen, die man sozusagen nur 
ihrer Form nach zieht, ohne sich für die Richtigkeit der „Materie" 
irgendwie zu engagiren, ist bekannt. Schon in der rein formel- 
haften Gestalt „-4 ist jB, B ist C, daher ist A C" erfasse ich die 
Richtigkeit des Syllogismus nach dem Modus „Barbara", ohne 
mich irgendwie näher auf die -4, B und C einzulassen. Und 
was da in mir vorgeht, findet dann sicher auch im hypothetischen 
ürtheile „wenn A B und B C ist, dann ist auch A C" einen 
ziemlich adäquaten Ausdruck.^ Damit ist aufser Frage gestellt, 
dafs auch die drei Sätze, durch die der obige Syllogismus aus- 
gesprochen wurde, in keiner Weise Ürtheile des Redenden aus- 
drücken. 

§7. 
Das Verstehen bei Wort und Satz. 

Wie man sieht, steht man vor einer ansehnlichen Reihe von 
Thatsachen, die es aufs Eindeutigste verbieten, dem Satze die 
Function beizumessen, als hätte er ein für allemal die Aufgabe, 
die ürtheile dessen auszudrücken, der ihn ausspricht. Will man 
aber nicht an sozusagen zwecklose Veranstaltungen in der 
Sprache glauben, so involvirt dieses negative Ergebnifs die Frage, 
was denn also in Sätzen wie den eben geprüften eigentlich zum 
Ausdrucke gelangt. Auf eine ganz analoge Frage findet man 
sich geführt, wenn man den Satz statt vom Standpunkte des 
Redenden nun auch vom Standpunkte des Hörenden aus be- 
trachtet. Die Sprache wird ja zum Verständigungsmittel nicht 
nur dadurch, dafs etwas ausgedrückt, sondern nicht minder 
dadurch, dafs das Ausgedrückte resp. die es ausdrückende Rede 
verstanden wird. 

Versucht man vor Allem, sich das Wesen solchen „Ver- 
stehens" klar zu machen, so liegt natürlich nichts näher als 
dabei die zu Anfang dieses Kapitels berührte Auffassung der 
Wörter als Zeichen zu Grunde zu legen. Ist nämlich ein Zeichen, 
wie wir oben gesehen haben*, ein Thatbestand, der als Er- 
kenntnifsgrund zu functioniren vermag, so besteht das, was man 
natürlicherweise als „Verstehen" des Zeichens zu benennen be- 
rechtigt sein wird, im Auslösen des betreffenden Erkenntnifs- 



^ Vgl. auch Hume-Studien 2, S. 108 ff. 
' Vgl. § 3. 



32 Zweites Kapitel. 

actes: derjenige versteht das Zeichen, der aus dessen Gegeben- 
sein auf das Bezeichnete wirklich schliefst Sind also die Wörter 
Zeichen für psychische Vorgänge im Redenden, so wird der 
Hörer die Rede verstehen, sofern er auf Grund des Gehörten 
von den psychischen Vorgängen Kenntnifs nimmt, die zum 
sprachlichen Ausdruck gelangt sind. Speciell für den Satz, sofern 
er ein Urtheil ausdrückt, hat dies dann zu bedeuten, dafs das 
Verstehen des Hörers darin besteht, zur Ueberzeugung zu ge- 
langen, dafs der Redende und worüber er urtheilt. 

Und manchmal trägt es sich in der That zu, dafs, wenn der 
X dem Y gegenüber eine Meinung äufsert, dieser darauf hin 
urtheilt: „X ist der Meinung, dafs . . .", — oder genauer: „es 
liegt ein Urtheil des Subjectes X vor mit so und so beschafiEenem 
Gegenstande". Allein diesen Gedanken wirkhch auszudenken, 
vor Allem den psychischen Thatbestand im X nach Act und 
Gegenstand in ausreichender Klarheit vorzustellen und zu be- 
urtheilen, ist doch eine weitaus zu schwierige Aufgabe, als dafs 
deren Lösung dem psychologisch Ungeübten als eine noch dazu 
mit Leichtigkeit zu bewältigende Alltagsleistung zugemuthet 
werden könnte. Auch ist auffallend, wie sehr die Person des 
Redenden zumeist in den Hintergrund zu treten pflegt, wenn 
man Mittheilungen mit Verständnifs entgegennimmt, und zwar 
auch dann, wenn man das Gehörte durchaus noch nicht zu 
„glauben" geneigt ist Noch auffälUger ist dies, wo die Person 
des Redenden schon von vornherein gar nicht zur Geltung 
kommt, wenigstens äufserlich nicht : so in der Regel beim Autor 
eines Druckwerkes, insbesondere eines solchen, das zunächst als 
Kunstwerk zu wirken hat, also etwa eines Romans oder eines 
gelesenen Dramas. Die Frage, wie das Verstehen des ge- 
sprochenen Dramas vor sich gehe, schliefst sich hier un- 
abweislich an. 

Man ersieht aus Thatsachen dieser Art, dafs es, auch wo es 
sich um das Verstehen handelt, eben doch nicht angeht, die 
Leistungen der Sprache dem allgemeinen Begriffe der Function 
des Zeichens kurzweg zu subsumiren. Anstandslos ist dies, so 
viel ich sehe, nur dort möghch, wo die Sprache emotionale Ge- 
schehnisse auszudrücken hat: äufsert der Redende Gefühle oder 
Begehrungen, dann besteht das Verstehen wirklich nur darin, 
seine Aeufsenmg als Zeichen zu behandeln, d. h. aus ihr das 
heraus zu erkennen, wenn man so sagen darf, was der Redende 



Zur Frage nach den charakteristischen Leistungen des Satzes. 33 

ausdrückt. Dasselbe kann sich auch auf intellectuellem Gebiete 
zutragen, sofern der Hörende aus einem Worte oder Satze, den 
er hört, erkennen mag, dafs der Redende diese Vorstellung, 
jenes Urtheil realisirt hat: aber es mufs nicht geschehen, und 
ißt für das sozusagen intellectuelle Verstehen nicht einmal die 
Regel. Als solche Regel scheint sich hier vielmehr eine Gesetz- 
mäXsigkeit geltend zu machen, die darin besteht, dafs das Wort 
oder die Wortcomplexion im Hörer denjenigen psychischen 
Thatbestand wachruft, den es resp. den sie ausdrückt Insofern 
stüüde dann der in den vorangehenden Paragraphen erwogenen 
Position, dafs der Satz seinem Wesen nach das Urtheü aus- 
zudrücken habe, ebenso natürlich die Parallelthese zur Seite, dals 
der Hörende, indem er den Satz versteht, das darin ausgedrückte 
Urtheil nun auch seinerseits fällt. 

Auch dieser Position ist manche Erfahrung günstig: wenn 
mir Jemand etwas erzählt, ist meine normale Reactions weise 
darauf die, dafs ich das Erzählte glaube, d. h. das Urtheil, 
genauer die Urtheile fälle, die in der Erzählung zum Ausdrucke 
gelangt sind. Aber die Parallelposition fällt natürlich mit der 
Position, deren Parallele sie ausmacht: haben wir Sätze ange- 
troffen, die gar kein Urtheil ausdrücken, so wird auch derjenige, 
der solche Sätze versteht, dazu bereits im Sinne der eben ange- 
sprochenen Gesetzmäfsigkeit kein Urtheil nöthig haben. Die 
selbstverständliche Consequenz daraus ist dann weiter natürlich 
die, dafs genau dasselbe Problem, das sich uns oben in betreff 
dessen ergeben hat, was in solchen Fällen der Satz eigentUch 
ausdrückt, nun sich auch bezüglich der Weise einstellt, wie der 
Verstehende als solcher auf einen derartigen Satz reagirt. 

Inzwischen erweitert sich der Umfang des in diese Frage 
Einzubeziehenden noch beträchtlich, sobald man gewahr wird, 
dafs die in Rede stehende Gesetzmäfsigkeit selbst zwar zwischen 
eiQzelnen Wörtern und Vorstellungen Geltung hat, bei den 
Sätzen aber oft genug auch da versagt, wo diese wirklich 
Urtheüe auszudrücken haben. Ich verstehe den in gutem Glauben 
abgestatteten Bericht eines notorisch Leichtgläubigen oder Aber- 
gläubigen, auch wenn ich mich durch ihn keineswegs überzeugen 
lasse. Auch Zeitungsberichte versteht man, obwohl man sich 
für deren Zuverlässigkeit nur in den seltensten Fällen würde 
verbürgen wollen; und dieses Beispiel hat nebenbei noch 
den Werth, dafs hier auch das oben zuerst besprochene Ver- 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. II. 3 



34 Zweite» Kapitel, 

stehen als Urtheilen über das Urtheil des Redenden, hier etwa des 
Zeitungsreporters, wieder aufserordentlich fem gerückt ist. So 
stellt sich im Ganzen heraus, dafs in betreff dessen, was der 
Satz- eigentlich dem Verstehenden leistet, noch mehr Bedürfnifs 
nach einer einigermaafsen bündigen Antwort besteht als in 
betreff seiner Function für den Sprechenden. 

Genau in demselben Maafse ungelöst ist aber natürlich auch 
die Aufgabe, die Relation zwischen Sprechen und Denken in 
einigermaafsen befriedigender Allgemeinheit zu bestimmen, soweit 
dies nicht durch Subsumtion unter den ganz allgemeinen 
Zeichenbegriff geleistet ist, der, wie wir sahen, der Hauptsache 
nach gerade auf intellectuellem Gebiete versagt, also da, wo so 
sehr die grofse Ueberzahl aller sprachlichen Leistungen liegt, 
dafs man bekanntlich leicht Gefahr läuft, die aufser-intellec- 
tuellen Leistungen ganz zu übersehen. Sollte dieser Mangel nicht 
am Ende darin seine Wurzel haben, dafs man der Lösung der in 
Rede stehenden Aufgabe jenen Begriff der „Bedeutung" noch nicht 
recht dienstbar gemacht hat, die wir oben von „Bedeutung" im 
Sinne des Correlates zu „Zeichen" sorgfältig unterscheiden und 
insbesondere dem „Ausdrucke" gegenüberstellen mufsten?^ Fürs 
Erste scheint dieser Begriff freihch für solche Zwecke ein aUzu 
enges Anwendungsgebiet aufzuweisen: „Bedeutung" in diesem 
Sinne fanden wir zwar bei Wörtern, aber gerade bei Sätzen, auf 
die es uns doch nach dem Obigen besonders ankommen müfste, 
scheint sie zu fehlen. Wie aber, wenn sich zeigen liefse, dafs 
genauer besehen doch auch den Sätzen so gut „Bedeutung" zu- 
kommen kann wie in der Regel den Wörtern? Spätere Unter- 
suchungen - werden uns ganz von selbst auf die Beantwortung 
dieser Frage führen. 

Dagegen würde den bisherigen Ausführungen bereits an 
dieser Stelle eine Rechtfertigung darüber, weshalb hier eigent- 
lich die Frage nach den Leistungen des Satzes überhaupt auf- 
geworfen worden ist, kaum zu ersparen sein, hätte nicht der 
Leser voraussichtlich schon längst errathen, dafs diese Frage- 
stellung darauf aufmerksam machen soll, dafs dort, wo in dieser 
Sache das Urtheil seinen Dienst versagt, die Annahme an dessen 
Stelle zur Geltung kommt. Die Einsicht darein, dafs dem wirk- 



1 Vgl. oben § 4. 

« Vgl. Kap. Vn, § 39 am Ende. 



Zur Frage nach den charakteristischen Leistungen des Satzes. 35 

lieh SO sei, läfst sich aher natürlich nicht ohne genauere Be- 
kanntschaft mit den wichtigsten Annahmefällen gewinnen. Wir 
wollen uns daher einer Einzelbetrachtung einschlägiger That- 
sachen zuwenden, die uns zu einer nahezu ausreichenden Beant- 
wortung der hier aufgeworfenen sprachpsychologischen Fragen 
bereits am Ende des nächsten Kapitels befähigen dürfte. Doch 
wird sich zeigen, dafs auch die folgenden Kapitel Material hier- 
für zu bieten haben, so dafs es sich empfiehlt, auf die im Obigen 
behandelten Fragen im Schlufskapitel dieser Schrift^ ausdrück- 
lich noch einmal zurückzukommen, indem dann deren Beant- 
wortung sich als Miterfolg der bis dahin durchzuführenden 
Untersuchungen von selbst ergeben wird. 



^ Vgl. unten § 60. 



3^ 



36 



Drittes Kapitel. 

Die nlehstliegeiideB AnnshmeaUe. 



§8. 
Vorbemerkung. 

Aus der Feststelluug, dafs es Annahmen giebt, ist uns die 
Frage erwachsen, wo dieselben im psychischen Leben zu suchen 
sein werden, und wir haben als selbstverständlich erkannt, dafs 
diese Frage vor Allem durch Hinweis auf dasjenige an ein- 
schlägigen Thatsachen zu beantworten ist, was sich der psycho- 
logischen Empirie in besonderem Maafse aufdrängt. Dennoch 
könnte es befremden, dafs ich nun daran gehe, hier unter dem 
so äufserlichen imd wenig präcisen Gesichtspunkte der Auffällig- 
keit ziemlich Verschiedenartiges zusammenzustellen. Es sei 
darum sogleich bemerkt, dafs ich zu einem so äufserlichen Vor- 
gehen wirklich auch durch mehr äufsere als innere Beweggründe 
mich veranlafst finde. 

Sie liegen hauptsächlich einmal darin, dafs der erste Versuch, 
den Annahmen zu ihrem Rechte zu verhelfen, unmöglich darauf 
verzichten kann, sich auf diejenigen Fälle in etwas concreterer 
Weise zu berufen, wo die Eigenart der Annahme besonders 
deutüch in die Augen springt, und darum der Existenznachweis 
verwickeitere und daher auch angreifbarere Untersuchungswege 
nicht einzuschlagen braucht, — dann aber auch darin, dafs 
die in diesem Sinne namhaft zu machenden, ziemlich heterogenen 
Thatsachengruppen in der vorUegenden Schrift einer eingehenderen 
Behandlung deshalb nicht unterzogen zu werden brauchen, weil 
monographische Bearbeitungen dieser Thatsachengebiete in Aus- 
sicht stehen, die theilweise wenigstens nach dem ursprüngHchen 
Plane dieser Schrift^ hätten in ihr als besondere Kapitel ihre 

* Vgl. oben Vorrede Anfang. 



Die fiächstliegenden Annakmefälle, 37 

Au&ahme finden sollen. Es gilt dies namentlich von den 
unten in § 10 zu berührenden Dingen, über welche nahezu 
druckfertige Ausführungen von Fräulein M. Radakovic vorUegen, 
die daher hofEenthch auch in allernächster Zukunft der Oeffent- 
lichkeit werden übergeben werden können. Es gilt aber auch 
vom Thema des § 12, das die von Professor E. Mabtinak ge- 
leitete Abtheilung des Grazer philosophischen Seminars im letzten 
Sommersemester bereits lebhaft beschäftigt hat und voraussicht- 
lich ebenfalls in nicht femer Zeit den Gegenstand einer aus dem 
geniuinten Seminar hervorgehenden Veröffentlichung abgeben wird. 
So müssen die Ausführungen, die ich im gegenwärtigen 
Kapitel vereinige, in ganz besonderem Maafse für vorläufig 
gelten. Doch ist die Aufgabe, die ich mir hier allein stellen 
kann, die nämUch, den Antheil der Annahmen auf diesen Gebieten 
zur Geltung zu bringen, eben der Natur der Sache nach eine 
so leicht lösbare, dafs, soweit es sich nicht um mehr handelt, 
der einfache Hinweis auf die Thatsachen durchaus genügen wird. 

§9. 
Explicite Annahmen. 

Ich möchte diese Bezeichnungsweise nicht gerade als tech- 
nißchen Ausdruck empfehlen: über die Meinung jedoch, in der 
ich diesen Terminus an die Spitze dieses Paragraphen setze, 
wird ein Zweifel schwerlich aufkommen. Es ist eben Thatsache, 
dafs es Annahmen giebt, die ihren Charakter gleichsam an der 
Stime tragen, wohl gar vom annehmenden Subjecte noch ganz 
exprefs als Annahmen erklärt werden, und so das eine Extrem 
einer Reihe bilden, an deren anderem Ende Fälle stehen, an 
denen Annahmen als betheiligt zu erweisen, wie sich später 
zeigen wird , sehr sorgfältiger Analyse und wohl auch ver- 
wickelterer Untersuchungsweisen bedarf. 

Beispiele solcher „offener" Annahmen, wie man im Gegen- 
satze zu den erwähnten Fällen mehr oder minder „versteckten" 
Annehmens auch ganz wohl sagen könnte, sind uns bereits oben ^ 
begegnet: es mufsten ja zu Anfang Fälle ausgewählt werden, 
die in besonderem Maafse geeignet waren, die Aufmerksamkeit 
des Beobachters den kennzeichnenden Eigenthümlichkeiten der 

' Vjgl. § 1. 



38 Drittes Kapitel. 

neu zu untersuchenden Thatsachengattung zuzuwenden. Im 
gegenwärtigen Zusammenhange wollen wir uns nun nur noch 
fragen, einmal, in welchem sprachlichen Grewande man dieser 
Art Annahmen in der Regel begegnet, dann aber, was sie unter 
normalen Umständen sozusagen zu leisten bestimmt sind. 

Was zuvörderst den ersten Punkt anlangt, so versteht sich, 
dafs eine Annahme nirgends leichter als eine solche zu erkennen 
sein wird, als wo das Subject selbst sein Erlebnifs als Annahme 
ausdrücklich ankündigt. Dies wird natürhch dort geschehen, 
wo die vorhegende Annahme secundär ausgedrückt auftritt, #lso 

in Aussagen wie : „Ich nehme an, dafs ^ u. dgl. Natürhch 

tritt dann der primäre Ausdruck der betreffenden Annahme in 
Gestalt eines abhängigen Satzes auf, und so kommt ein Gegen- 
satz zu Stande gegenüber Fällen ausschhefslich primären Aus- 
druckes von Annahmen in unabhängigen Sätzen, die dann nicht 
selten durch einen Conjunctiv charakterisirt sind. „Es sei ein 
rechtwinkUges Dreieck gegeben, dessen eine Kathete die halbe 
Länge der anderen hat", — das ist eine Wendung, die nur als 
Ausdruck einer Annahme verstanden werden kann. Dafs end- 
lich Annahmen auch in unabhängigen Sätzen ausgesprochen 
werden können ohne durch den Conjunctiv besonders gekenn- 
zeichnet zu sein, darauf kommen wir sogleich unten zurück; 
doch möchte in solchen Fällen jene besonders aufdringHche 
Deutlichkeit in der Regel zu vermissen sein, die uns für die 
Einordnung in diese erste Gruppe maafsgebend bleiben soll. 

Das Recht zu der zweiten der beiden oben aufgeworfenen 
Fragen leuchtet im Grunde gar nicht ohne Weiteres ein. Sie 
verlangt einen Bescheid darüber, zu welchem Ende sich das 
Subject auf Annahmen sozusagen einlasse, und da könnte es 
gar wohl sein, dafs derlei sich zuträgt ohne allen weiteren Zweck, 
so dafs es seine Legitimation, wenn ja eine solche erforderUch 
sein sollte, einfach darin findet, dafs es den Annehmenden eben 
befriedigt. Und solches ist in der That imter Umständen der 
Fall : Luftschlösser zu bauen u. dgl. ist bisweilen gewifs ein ganz 
erfreuUches Geschäft, und Manches von dem, was sogleich imten 
unter den Titeln „Spiel" und „Kunst" zu berühren sein wird, 
könnte ganz wohl schon hier zur Sprache kommen. Daneben 
verdient es aber doch auch schon hier Beachtung, dafs das An- 
nehmen offenbar gar nicht selten in den Dienst intellectueller 
Verrichtungen genommen zu werden scheint, die selbst in letzter 



Die nächstliegenden Annahmefäüe. 39 

Linie es durchaus nicht bei blofsen Annahmen bewenden lassen 
wollen, vielmehr ohne Zweifel auf die Gewinnung von Urtheilen 
gerichtet sind. 

Der Leser des obigen Beispiels vom rechtwinkligen Dreieck 
hat sicher bereits daran gedacht, wie häufig sich mathematische 
Darlegungen ähnlicher Wendungen bedienen, um dann Positionen 
daran zu knüpfen, die durchaus nicht mehr den Charakter 
„blofser Annahmen" an sich tragen. So läfst sich von dem 
Gegenstande der in Rede stehenden Annahme, dem rechtwink- 
ligen Dreieck mit den im Verhältnifs von 1 : 2 stehenden Katheten 
etwas über die relative Länge der Hypotenuse, ebenso etwas 
über die Gröfse der beiden schiefen Winkel und noch vieles 
Andere nicht etwa blos annehmen, sondern mit der die mathe- 
matische Erkenntnifs unter normalen Umständen so vortheilhaft 
auszeichnenden Gewifsheit behaupten. Dafs es dabei zum 
mindesten besonders naturgemäfs sein mufs, von einer An- 
nahme auszugehen, dafür bürgt fürs Erste die häufige An- 
wendung der betreffenden Ausdrucksweisen. Dafs aber die An- 
nahmen dabei wenigstens unter Umständen unentbehrlich sein 
möchten, wird schon beim gegenwärtigen Stande unserer Unter- 
suchung für den Fall eingesehen werden, dafs man von negativen 
Daten seinen Ausgang nimmt, also sich z. B. mit rechtwinkligen 
Dreiecken beschäftigen wollte, deren Kathetenverhältnifs durch 
eine ganze Zahl nicht ausdrückbar ist oder dgl. 

In welchem MaaTse und warum auch sonst, also wo es sich 
nicht um Negativa handelt, Annahmen unentbehrlich sind, soll 
weiter unten darzulegen versucht werden.^ Für jetzt erhellt die 
Rolle, die den Annahmen sozusagen im Dienste der Erkenntnifs 
zukommt, vielleicht noch deutlicher aus der Anwendung der 
expliciten Annahmen bei minder strengen, ja vielleicht aus- 
schliefslich praktischen Erwägungen. ,, Versetze Dich in meine 
Lage und überlege, wie Du Dich dann verhalten müfstest" — 
das ist eine Aufforderung, von deren Erfüllung man sich nicht 
selten etwa eine Verständigung erwartet. Verwandt, zugleich 
wieder einer so strengen theoretischen Behandlung zugänglich, 
als empirische Wissenschaften sie nur immer gestatten, ist, was 
man gewöhnlich unter dem Namen „Hypothese" zusammen- 
zufassen pflegt. Es wird dabei freilich nicht immer leicht 



' Vgl. unten Kap. IV. 



1 



40 Drittes Kapitel, 

sein, den Punkt genau namhaft zu machen, wo derjenige, 
der sich mit einer solchen Hypothese beschäftigt und sie etwa 
an der Wirklichkeit zu verificiren unternimmt, aus dem Zustande 
des Annehraens in den des Vermuthens übergeht DaTs es aber 
ein Erfassen und Verfolgen von Hypothesen vor jeder Stellung- 
nahme und ohne Präjudiz giebt, eines also, wo das Urtheil auch 
als Vermuthung unbetheiligt bleibt, sonach die Annahme allein 
functioniren kann, ist sofort durchsichtig. Zusammenfassend 
erkennt man so, dafs die Annahme in ziemlich verschieden- 
artigen Leistungen eine Art logischer Dignität erweist, deren 
Würdigung indefs nicht im ausschliefslichen Hinblick auf diese 
auffälligsten Annahmefälle versucht werden kann, uns aber, so- 
bald wir wirkUch zu einer solchen gelangt sein werden, voraus- 
sichtlich eine charakteristische Seite der Annahmethatsache kennen 
lehren dürfte. 

§ 10. 
Annahmen in Spiel und Kunst 

Es kann sich mir hier natürlich nicht darum handeln, dem 
Wesen dieser ebenso eigenartigen als bedeutsamen Aeufseningen 
psychischen Lebens näher zu treten. Was hier ausschliefslich 
versucht werden soll und, wie mir scheint, auch ohne Schwierig- 
keit durchgeführt werden kann, ist der Nachweis der Berech- 
tigung dafür, diese beiden grofsen Gebiete als allenthalben durch 
Annahmen bestimmt oder wohl gar ausgemacht in Anspruch zu 
nehmen. 

I. Es ist herkömmlich, das intellectuelle Verhalten des Kindes 
beim Spiele, — und das Kind ist es zunächst, das ich im Folgen- 
den im Auge habe, — unter dem Worte „Phantasie" zusammen- 
zufassen; und wenn man dieses Wort in einem Sinne versteht, 
für den ich weiter unten eintreten werde,* so habe ich gegen 
eine solche Anwendung des in Rede stehenden Terminus auch 
durchaus nichts einzuwenden. Bisher aber hat es doch für selbst- 
verständlich gegolten, von Bethätigungen der Phantasie nur als 
Leistungen zu sprechen, in denen über das Vorstellen nicht 
hinausgegangen wird. Unter dieser Voraussetzung aber ist durch 
die gewöhnliche Auffassung das intellectuelle Verhalten des 
Spielenden einfach zur Vorstellungsleistung gemacht, und es darf 



^ Vgl. Kap. IX, § Q2. 



Die nächstliegenden ÄnnahmefUlle. 41 

die Frage aufgeworfen werden, ob eine solche Charakteristik auch 
wirklich den Thatsachen entspricht. 

Doch soll zuvor das dieser Auffassung entgegengesetzte Ex- 
trem wenigstens nicht ganz unberührt bleiben, obwohl niemand, 
der nur einigermaafsen einen Blick für Thatsachen hat, sich dabei 
aufzuhalten Neigung haben wird. Ich meine den Versuch, dem, 
spielenden Kinde zuzutrauen, dafs es sich während des Spieles 
wirklich im Zustande der Täuschung befinde, d. h. dafs es den 
Sessel, den es als Pferd vor den Tisch als Wagen spannt, wirk- 
lich für ein Pferd, den Tisch wirklich für einen Wagen halte. 
So viel Erinnerung an seine Kinderzeit hat am Ende doch jeder 
Erwachsene zurückbehalten, um die Unnatürlichkeit einer solchen 
Interpretation sofort einzusehen. Wer vollends Gelegenheit hatte, 
Kinder zu beobachten, wird weit eher Anlafs gehabt haben, über 
die Sicherheit sich zu wundern, mit der die Kinder bereits in 
frühen Jahren Spiel und Ernst zu unterscheiden wissen, als sie 
bei einer Verwechslung solcher Situationen anzutreffen. Das frei- 
lich begegnet nichts weniger als selten, dafs das Kind, das etwa 
seine Spielsachen aufräumen soll, erklärt, dies sei zur Zeit im- 
thuidich, weil die Puppe eben schlafe, oder die Pferde zu müde 
seien oder dgl.; und Eltern, die sich solchen Bescheid gefallen 
lassen, können ihn dann unzählige Male in den unglaublichsten 
Variationen erhalten. Aber für mehr als für einen Beitrag zu 
dem schier unerschöpflichen Kapitel von den Kinderausreden 
wird dies doch niemand nehmen wollen. Seltenen Ausnahmen 
mag dadurch die Möglichkeit vorsichtsweise nicht abgesprochen! 
sein : ich mufs mich vielmehr damit begnügen, die Versicherung 
abzugeben, dafs mir selbst ein solcher Ausnahmefall niemals bet 
gegnet, ebensowenig ein glaubwürdiger Bericht über ein der- 
artiges Geschehnifs zur Kenntnifs gelangt ist, und dies möchte 
wohl ausreichen, um den Beweis zu erbringen, dafs das CharaktCT 
ristische des intellectuellen Zustandes beim Spiele nicht im Urtheile^ 
genauer nicht in einer Täuschung des Spieleuden gelegen sein 
kann, die überdies ihren Ursachen nach ganz unverständUch 
wäre. 

Ohne Zweifel ist dem gegenüber die erwähnte herkömmliche 
Berufung auf die „Einbildungskraft" des Kindes das weitaus 
Natürlichere, auch wenn man damit die Angelegenheit lediglich 
ins Gebiet der Vorstellungen hinübergeschoben zu haben meint* 
Dafs man nun aber mit den „blofsen Vorstellungen" sein Aus- 



42 Drittes Kapitel. 

langen denn doch nicht findet, dafür legen auch hier, wie sonst 
so häufig die Verneinungen ein trotz seiner Aeufserlichkeit in be- 
sonderem Maafse unmiTsverständliches Zeugnifs ab. Es müTste 
also nur etwa der Versuch gemacht werden, zu bestreiten, dafs 
beim Spiele Negationen überhaupt in der uns hier beschäftigen- 
den Hinsicht in Frage kommen : aber angesichts der Thatsachen 
wird solches wohl kaum zu gewärtigen sein. Der Knabe, der 
„Siegfried" spielt und sich darauf hin für unverwundbar, oder bei 
Gebrauch des Tarnhelms auch wohl für unsichtbar giebt, muCs 
doch gowifs nicht erst von einem Theoretiker erfunden werden. So 
bietet das Spiel jedenfalls ganz ähnliche Erfahrungen dar, wie die- 
jenigen waren, an denen wir uns oben von der Existenz der An- 
nahmen zuerst überzeugen muTsten, und es würde an ihnen denn 
auch hier zunächst erwiesen sein, dafs beim Spiele Annahmen 
überhaupt vorkommen. Darf man aber weiter behaupten, dafe 
das intellectuelle Verhalten des Spielenden dort, wo es negativen 
Charakter aufweist, aufser eben diesem Charakter nichts Eigen- 
artiges dem affirmativen Verhalten gegenüber an sich trägt, 
dann ist es wohl aufserordentlich nahe gelegt, allgemein zu be- 
haupten: das intellectuelle Verhalten des Spielenden ist weniger 
als Urtheilen, es ist aber mehr als Vorstellen, indem es eben 
Annehmen ist. 

Und dies wird denn auch durch die directe Empirie aufs 
Beste verificirt, so deutlich, dafs man schwerlich fehlgehen wird, 
wenn man vermuthet, man werde sich bisher nur deshalb so 
leicht mit der „Vorstellungsansicht" zufrieden gegeben haben, 
weil sich die Unbrauchbarkeit einer jeden „Urtheilsansicht" so 
unverkennbar aufdrängte, und ein Drittes neben diesen beiden 
Ansichten nicht zu Gebote zu stehen schien. Nun steht aber 
etwas Drittes zu Gebote: die „Annahmeansicht", und dieser Mög- 
lichkeit gegenüber wird es nun auch Niemandem schwer fallen, 
sich daran zu erinnern, wie oft er im Grunde bereits selbst für 
sie Zeugnifs abgelegt hat durch Aeufserungen wie die, dafs der 
Spielende an sich und Anderen Eigenschaften, Situationen u. dgl. 
„fingire", um dann häufig, so lange das Spiel währt, zu thun, 
als ob er au die Fiction glaubte, obwohl ihm solches völlig ferne 
liegt. Die praktische, ich meine dem Handeln zugewendete Be- 
deutsamkeit, welche die Annahmen hier bethätigen, bildet zu- 
gleich ein natürliches Seitenstück zu der schon oben berührten 
logischen Bedeutsamkeit derselben, die übrigens auch dem Spiele 



Die nächstliegenden Annahmefälle. 43 

nicht fehlt, innerhalb dessen Consequenz und Vernünftigkeit für 
mindestens durchaus sinnvolle, wenn auch der Kinderweise nicht 
über alle Grenzen hinaus gemäfse Anforderungen gelten. 

Man kommt damit ganz von selbst von den Spielen der 
Kinder auf manche Spiele der mehr oder minder Erwachsenen, 
und auf spielähnliche Bethätigungen, die insofern bereits völlig 
„ernsthaften" Charakter an sich tragen, als es dabei auf Ein- 
übung für einen „Ernstfall" ankommt, die man dadurch ermög- 
licht, dafs man diesen Ernstfall „fingirt". Von den Kriegs- 
spielen der Militärschulen und den Sonntagsübungen der Dorf- 
feuerwehren an bis zu den grofsen Manövern ganzer Armeen 
reicht eine Reihe mehr oder minder complicirter und planvoll 
erdachter Geschehnisse, die, ohne noch zu Spielen zu zählen, 
doch gleich diesen auf die Grundlage eines mehr oder minder 
complicirten Systems von Annahmen gestellt sind. 

II. Dafs es der Kunst nicht an allen Anknüpfungspunkten 
und an jeder Verwandtschaft mit dem Spiele fehlen kann, er- 
giebt sich schon aus der freilich recht äufserlichen Thatsache, 
dafs es eine Kunstübung giebt, die man kurzweg „Spielen" 
nennt. Allerdings weist die Sprache in dieser Weise wohl gleich 
deutlich auf das Thun des Instrumentalisten als auf das des 
Schauspielers hin, und für unser gegenwärtiges Interesse kommt 
zunächst vorwiegend das Letztere in Frage. Dafür tritt aber 
hier der Antheil des Annehmens in ganz besonders unverkenn- 
barer Weise ans Licht. 

Fürs Erste freiüch scheint die Situation, in der sich der 
Schauspieler seiner Rolle gegenüber befindet, eine doppelte Auf- 
fassung zu gestatten. Dem der naiven Betrachtungsweise allent- 
halben so natürlichen rationalistischen Zuge, der den Antheil 
der Absichtlichkeit stets so hoch als möglich anschlägt, entspricht 
es vielleicht als das anscheinend Natürlichste, zu vermuthen, der 
Schauspieler habe eben die Aufgabe, das Aeufserliche in der 
Verhaltungsweise der von ihm darzustellenden Personen, das 
ihm aus Erfahrung ausreichend gut bekannt sein mufs, in über- 
legter Absichtlichkeit zu copiren und so den äufseren Schein 
innerer Vorgänge zu erwecken, die sich in Wahrheit in ihm so 
wenig zutragen, als er mit der dargestellten Persönlichkeit 
identisch ist. Und in der That wird es vielleicht keine schau- 
spielerische Leistung geben, in der dieses oder jenes Detail nicht 
wirklich durch abcichtliches Erlernen erworben wäre: je mehr 



44 Drittes Kapitd. 

aber dieses Angelernte vorwiegt, desto mehr pflegt man die 
blofse Routine durchzuspüren, die man für echte schauspielerische 
Kunst denn doch nicht leicht gelten läfst In betreff dieser 
Kunst aber hat man immer gemeint, und die gröfsten Schauspieler 
haben über Befragen Zeugnifs dafür abgelegt, dafs dazu vor 
Allem erforderlich sei, dafs der Darsteller „sich in die Lage 
des Darzustellenden versetze**, und dieser Forderung liegt die 
zweite der beiden eben als verfügbar bezeichneten Auffassungen 
des schauspielerischen Thuns zu Grunde. Wenn der Darstellende 
,,sich einzubilden^* vermag ^ er sei die darzustellende Person, und 
befinde sich in der durch die Handlung des Stückes ihm dar- 
gebotenen Umgebung, dann wird er sich, ausreichende Begabung 
natürlich vorausgesetzt, schon auch äuTserlich so verhalten, wie 
es der Darzustellende voraussichtlich thun müfste, und den 
schauspielerischen Intentionen ist in natürlicherer und harmoni- 
scherer Weise Genüge geleistet, indem die natürlichen Ausdrucks- 
instincte an Stelle einer in der Regel viel zu ärmlichen Empirie 
oder gar Theorie der Ausdrucksbewegungen treten. Natürlich 
meine ich nicht, dafs in diesem allerdings sehr einfachen Recepte 
das ganze Geheimnifs der Schauspielkunst beschlossen hege: 
für unsere Zwecke genügt, dafs wir auf dieses „Einbüden", 
oder „in die Lage des Anderen hineinversetzen" geführt worden 
sind als auf ein jedenfalls ganz fundamental wichtiges und 
charakteristisches Moment im Verhalten des darstellenden 
Künstlers, und darauf hin die Frage nach der psychologischen 
Natur dieses „Hineinversetzens" aufzuwerfen Anlafs haben. 

Die Antwort bedarf keines langen Nachdenkens, wenn man 
sich erinnert, dafs die in Rede stehende Verhaltungsweise ganz 
und gar mit dem zusammenfällt, was die Kinder thun, wenn sie 
Soldaten oder Kunstreiter oder dgl. spielen. Es braucht also 
weiter auch kein besonderer Beweis mehr dafür angetreten zu 
werden, dafs im psychischen Leben des seinen Beruf ausübenden 
Schauspielers den Annahmen eine ganz grundlegende Stellung 
zukommt Dafs es mit diesem blos intellectuellen Verhalten 
nicht sein Bewenden hat, vielmehr durch diese Annahmen dann 
auch die emotionale Seite des annehmenden Subjectes in hohem 
Grade in Mitleidenschaft gezogen zu werden pflegt, belegt 
neuerlich die das intellectuelle Gebiet weit überschreitende Be- 



^ Natürlich ohne es „wirklich zu glauben''. 



Die nächstliegenden Annahmefälle, ,45 

deutung der Annahmen. Ob es nur sozusagen gewöhnliche Gre- 
fühle und Begehrungen sind, die im Gefolge der Annahmen 
auftreten, ob nicht vielleicht dabei Gefühls- und Begehnmgs- 
thatsachen besonderer Art zum Vorschein kommen, die den An- 
nahmen gegenüber eine Art eigenthümUcher Verwandtschaft 
zeigen, darauf wird in späterem Zusammenhange ^ noch zurück- 
zukommen sein. 

Von der vorwiegend redenden, jedenfalls reproductiven 
Kunst des Schauspielers vollzieht sich leicht der Uebergang zur 
wesentlich redenden, aber productiven Kunst des Dichters. Und 
da leuchtet ein, dafs der Dramatiker unvermeidlich vor die Auf- 
gabe gestellt sein wird, sich während der Conception seines 
Dramas nicht nur in eine, sondern abwechselnd nahezu in alle 
Personen seines Dramas zu „versetzen^^ Auch der Epiker, mag 
er übrigens in Versen oder in Prosa reden, wird nur ausnahms- 
weise wahre Geschichten zu erzählen, ebenso der Lyriker 
mindestens weitaus nicht immer die ihm eben jetzt gegen- 
wärtigen Gefühle und Stimmungen zum Ausdruck zu bringen 
haben. Anerkannter MaaTsen tritt hier allenthalben die „Fiction^^ 
in ihre Rechtie: Fiction ist aber eben Annahme. 

Verwickelter und darum durch diese nur andeutenden Aus- 
führungen am besten unerörtert zu lassen ist der Antheil der 
Annahmen an den übrigen Künsten. Eines aber dürfte auch 
hier sofort für sich selbst sprechen. In dem Maafse, in dem 
auch diese Künste über das sinnlich durch sie Gegebene hinaus- 
streben und reichen, in dem Maafse also, in dem auch der 
bildende Künstler oder Musiker zum Dichter oder doch Nach- 
dichter wird, in dem Maafse zum allerwenigsten wird auch hier 
für das Verhalten des Künstlers die Annahme als charakteristisches 
Moment in ihre Rechte treten. 

§ 11. 
Die Lüge. Das „Vorstellen" fremder Urtheile. 

Man hat ein begreifliches Widerstreben zu überwinden, ehe 
man sich entschhefst, in unmittelbarem Anschlufs an die der 
Kunst zugewandten Feststellungen nun die Lüge in Unter- 
suchung zu ziehen, und dadurch eine gewisse Verwandtschaft 
zwischen einem so hoch und einem so niedrig stehenden mensch- 

^ Vgl. unten Kap. VIII, § 53. 



46 Drittes Kapitd. 

lieben Verbalten zur Anerkennung gelangen zu lassen. Aber es 
gebort eben mit zum Gebeimnifsvollen in der Menscbennatur, 
dafs Hobes und Niedriges darin so nahe beisammenwobnen kann ; 
und übrigens sind Thatsacben eben Tbatsachen, und es stebt 
ims nicbt frei, das Auge vor dieser oder jener darunter nach 
Gefallen zu scbliefsen. Im gegenwärtigen Zusammenbange aber 
dürften wir dies vollends nicbt, da das Verwandte gerade seinem 
Hauptgewicbte nacb in der uns eben bier interessirenden That- 
sacbenspbäre liegt. 

Uebrigens aber ist die Verwandtscbaft, auf die es bier an- 
kommt, eine aller Welt gar wobl bekannte Sache. Es ist ja 
schon oft genug, vielleicht sogar öfter und nachdrücklicher als 
bilHg, darauf hingewiesen worden, wie die Grenze zwischen un- 
schuldiger Bethätigung kindlicher „Phantasie" und lügnerischem 
Verhalten der Kinder gar nicbt immer leicht und scbarf zu 
ziehen ist, und bei Erwacbsenen, die gut und darum gern und 
viel erzählen, mag es oft auch nicht viel anders bewandt sein. 
Was aber die wortlosen Lügen anlangt, so weifs ja auch jeder, 
dafs schauspielerische Talente im Verkehre des täghchen Lebens 
durchaus nicht immer eine vöUig gefahrlose Mitgift bedeuterj. 

In abstracto ist es nun ferner auch gar nicht schwer, das 
Moment namhaft zu machen, welches das Verhalten des Lügners 
gegenüber dem in Spiel und Kunst kennzeichnet; es ist natür- 
Heb die Absicht zu täuschen. Ethisch besagt dies, wie sich von 
selbst versteht, ganz aufserordentHch viel: psychologisch ist es 
aber zunächst nur ein neu hinzutretendes Bestandstück einer 
complexen psychischen Sachlage, das der richtigen Beurtbeilung 
der übrigen Bestandstücke dieser Complexion eventuell sehr 
förderlich sein könnte. Und wirklich ist dies in der uns hier 
interessirenden Richtung der Fall. Wer einen anderen täuschen 
will, unterliegt selbst der betreflEenden Täuschung sicher nicht; 
genauer wäre es nur etwa, da er ja auch selbst getäuscht sein, 
und daher in der Meinung, zu täuschen, wider seinen Willen 
etwas Wahres sagen kann, zu behaupten : wer täuschen wiU, hat 
jedenfalls eine andere Meinung als die er zu haben vorgiebt, 
fällt also das Urtbeil nicbt selbst, das er im Anderen hervor- 
rufen will. Was man also in Spiel und Kunst zwar zu ver- 
muthen das beste Recht hat, aber doch mehr als einmal nicht 
wird zur vollen Gewifsbeit bringen können, das ist im Falle der 
Lüge von vornberein ausgemacht: der Lügner glaubt nicht 



Die nächstliegenden Amiahmefälle, 47 

selbst, was zu glauben er sich den Anschein giebt, und so erhebt 
sich hier besonders nachdrücklich die Frage, wie er denn eigent- 
lich das erfafst, was er die Anderen glauben machen will 

Und über den Ausfall der Antwort auf diese Frage könnte 
nach der Analogie des Bisherigen eine Unsicherheit weiter gar 
nicht aufkommen, drängte sich unter den besonderen Umständen 
dieser Sachlage nicht noch ein Gesichtspunkt auf, dessen Be- 
rechtigung nicht ganz ungeprüft bleiben kann. Wer sich vor- 
setzt, die Ueberzeugung eines Anderen in bestimmter Weise zu 
beeinflussen, wird sich zu seinem Vorhaben doch wohl ebenso 
verhalten müssen wie sonst der Begehrende, insbesondere also 
auch Wollende zu seiner Absicht, d. h. er wird wohl das, was 
er will, vorstellen müssen. In unserem Falle ist dasjenige, was 
hervorgebracht werden soll, eine bestimmte Ueberzeugung in 
einem Anderen : und wer diese verwirklichen will, mufs sie eben 
vorstellen, und zwar natürlich nicht nur den Gegenstand „Urtheil 
des Anderen *V etwa in abstracto, sondern gerade das Urtheil, 
worauf es ankommt, und das gegenüber anderen Urtheilen nach 
Act und Inhalt differenzirt ist. In dieser Weise scheint man 
hier über den Recurs auf die Annahmen hinauskommen zu 
können : auch wenn es sich um negative Urtheile handelt, scheint 
es entbehrlich, die Annahmen zu Hülfe zu rufen, da man ja ein 
negatives Urtheil am Ende eben so gut mufs vorstellen können 
wie ein affirmatives. 

Man findet sich durch diesen Bescheid vor eine der psycho- 
logischen Untersuchung noch in besonderem Maafse bedürftige 
Frage gestellt, vor die Frage nämhch nach der Weise, wie es 
beim Vorstellen von psychischen Thatsachen zugeht, die nicht 
etwa der inneren Wahrnehmung direct gegenwärtig sind. Es 
würde uns viel zu weit führen, wollten wir diesem Problem hier 
in seinem ganzen Umfange nachgehen. In betreff des relativ 
speciellen Falles, der ims hier zunächst angeht, sind einige erste 
Feststellungen unschwer zu gewinnen. Gesetzt, man finde sich 
vor die Aufgabe gestellt, sich das Urtheil vorzustellen, die 
Engländer hätten in ihrem Verhalten gegen die Buren das 
Völkerrecht nicht verletzt. Wer wirklich dieser Ansicht ist, wird 
wohl ohne viel Besinnen die Aufgabe in der Weise lösen, dafs 
er das seinen Ueberzeugungsdispositionen entsprechende Urtheil 
erneuert und sich so mit Hülfe der inneren Wahrnehmung zu- 
gleich in den Besitz der verlangten Vorstellung setzt. Wie aber 



48 DritttB Kapitel, 

wird sich derjenige verhalten, der das so wenig glaubt, dafs er 
sich etwa eben darüber wundert, eine solche Ueberzeugung bei 
diesem oder jenem sonst ganz urtheilsfähigen Menschen an- 
getroffen zu haben? Oder wie, wenn man sich an eine An- 
sicht erinnert, die man vormals selbst gehabt, dann aber auf- 
gegeben hat? 

Dafs es möglich sein muTs, zunächst Erinnerungen an 
Urtheile analog zu concipiren wie Wahrnehmungen dieser 
Urtheile, dafür bürgt schon der fliefsende Uebergang des Wahr- 
nehmens ins Erinnern.^ Sage ich also etwa: „ich war gestern 
überzeugt, dafs die erwarteten Gäste eintreffen würden^, so kann 
ich, obwohl sich einstweilen die Irrigkeit dieser Meinung heraus- 
gesteUt hat, diese Erinnerung an mein gestriges UrtheU in ganz 
gewöhnlicher Weise auf die zugehörige Vorstellungsgrundlage 
stellen, indem ich mein gestriges Urtheil in seiner Bestimmtheit 
nach Act und Oegenstand (genauer natürlich Inhalt) vorstelle. 
Und ähnlich, wenn auch nicht mehr in voller Anschaulichkeit, 
werde ich auch die Meinung eines Anderen als solche er- 
fassen können, gleichviel ob sie auch meine Meinung ist oder 
nicht. 

Dafs dies nun aber keineswegs die einzige Weise ist, in der 
ich das Urtheil Anderer in meinen Gredankenkreis einzubeziehen 
vermag, davon überzeugt man sich besonders leicht, wenn man 
sich mit der Geschichte einer Wissenschaft beschäftigt, und dabei 
etwa den theoretischen Conceptionen eines bestimmten Forschers 
näher zu treten bemüht ist. Man prüfe z. B., wie man sich ver- 
hält, wenn man sich Locke's Gedanken über die primären und 
secundären Qualitäten zu vergegenwärtigen versucht. Davon, 
dafs da der Gedanke „Urtheil Lockb's" oder „Meinung Locke's" 
oder dgl. im Vordergrunde der Aufmerksamkeit stünde, und das, 
was Locke gedacht hat, sich nur wie eine Art Determination 
anschlösse, davon ist auch nicht entfernt die Bede. Man hält 
sich vielmehr an die primären und secundären Qualitäten selbst ; 
und wird dabei die Autorschaft Locke's vielleicht auch zu keiner 
Zeit ganz aus dem Auge verloren, so wird dieser Erfolg doch 
höchstens durch einen an die Hauptgedanken ganz äuTserlich 
sich anknüpfenden Neben* oder Begleitgedanken an jene erzielt 



* Vgl. „lieber Gegenstände höherer Ordnung etc." a. a. O. besonders 
8. 265 f. 



Die nächstliegenden Annahmefälle. 49 

Und das wird um so gewisser der Fall sein, je complicirtere 
oder sonst schwierigere Theoreme es zu erfassen gilt, je mehr 
es darauf ankommt, Theoreme, die ein Ganzes ausmachen, 
nicht nur als thatsächlich vermöge der Person des Autors zu- 
sammengegeben zu erkennen, sondern auch ihren Zusammen- 
hang, ihre natürUche Zusammengehörigkeit zu verstehen. 

Das Verfahren, das man einschlägt, gleicht also weit mehr 
einem Nachbilden als einem passiven Beschauen. Wie ist es 
aber möglich, ein Urtheil „nachzubilden", ohne selbst zu 
urtheilen? — und dafs der das Urtheil des Anderen Erfassende 
es dem Stande seiner Ueberzeugung gemäfs nicht miturtheilen 
kann, haben wir ja vorausgesetzt. Oder sollte das „Nachbilden" 
etwa darin bestehen, dafs man ein dem vorgegebenen Urtheil 
conformes Urtheil nur sozusagen für den Augenblick fällt, um 
es dann sogleich wieder zurückzunehmen? Solcher plötzlicher 
Ueberzeugungswechsel verstiefse gegen alle sonstige Erfahrung, 
und so steht man hier eben wirklich vor einem der schon im 
vorigen Kapitel^ erwähnten Fälle, wo der gehörte oder gelesene 
Satz, obwohl er ein Urtheil ausdrückt, im Hörenden oder Lesenden 
doch kein Urtheil wachruft. Der einzige psychische Thatbestand 
jedoch, der das affirmative wie negative Urtheil noch „nachzu- 
bilden" im Stande ist, kann, soweit unser Wissen reicht, dann 
eben nur noch die Annahme sein, und die Frage, wie es in Fällen 
der eben betrachteten Art mit dem Erfassen überzeugungs- 
fremder Urtheile bewandt ist, kann dann etwa so beantwortet 
werden: das Subject erzeugt in sich eine dem vorgegebenen 
Urtheile gegenstands- und qualitätsgleiche ^ Annahme, verbunden 
mit dem mehr oder minder deutlichen Bewufstsein, dafs das zu- 
gehörige Urtheil dieses oder jenes andere Subject zum Autor 
oder Vertreter habe. In betreff dieses Nebengedankens wird 
genauere psychologische Präcisirung sicher noch in besonderem 
Maafse nöthig sein: für unsere Zwecke wird der Hinweis auf 
die Annahmen ausreichen. 

Wir können nämlich nunmehr zusammenfassend behaupten: 
es giebt zwei Wege, Urtheile Anderer zu erfassen, einen directen, 
indem das betreffende Urtheil zum Gegenstande einer Vorstellung 



^ Vgl. oben § 7. 

^ In betreff der inneren ZuBammengehörigkeit dieser Momente mufs 
auf Kap. VII vorverwiesen werden. 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. II. 4 



50 Drittes Kapitel. 

und dann eines auf diese gestellten Urtheils gemacht wird, — 
aufserdem einen mehr indirecten, für den das Eintreten einer 
dem betreffenden Urtheile gegenstands- und qualitätsgleichen 
Annahme wesentlich ist. Auch wer einen anderen täuschen will, 
mufs ein Urtheil dieses Anderen oder auch deren viele ins Auge 
fassen als das zu yerwirkhchende Ziel seines Begehrens: es ent- 
steht die Frage, welchen der beiden in Betracht kommenden 
Wege er erfahrungsmäfsig beschreitet. Sehe ich recht, so kann 
die Anwort hierauf nun weiter auch nicht zweifelhaft sein. Es 
mag ja oft geschehen, dafs, wer den Entschlufs fafst, den anderen 
zu belügen, fürs Erste sein Ziel rein vorstellungsmäfsig ergreift, 
soweit solches überhaupt möglich ist^: häufig, wenn es sich um 
ein einigermaafsen verwickelteres „Lügengewebe" handelt, wird 
schon dies auf beträchtKche, wohl gar unüberwindliche Schwierig- 
keiten in der Ausführung stofsen, so dafs schon hier die um 
vieles leichter zu Stande zu bringenden Annahmen werden zu 
Hülfe gerufen werden müssen. Diese werden aber so ziemlich 
immer in Anspruch zu nehmen sein, wenn es auf die Ausführung 
des Entschlusses ankommt. Denn die unvergleichlich einfachste 
Verhaltungsvorschrift wird hier dieselbe sein wie beim „Spiel'* 
im weitesten Sinne: man wird sich möglichst in die Lage ver- 
setzen, als glaubte man wirküch, was man sagt oder sonst 
glauben macht, und dieses „in die Lage versetzen" ist uns ja 
längst als der Thatbestand der Annahme bekannt. 

Eine Verification findet diese Auffassung dann in der so oft 
beobachteten Thatsache, dafs, wer Andere täuschen will, damit 
am Ende sich selbst täuscht, indem er zuletzt seine eigene Lüge 
glaubt. Die „blofse Vorstellung" eines Urtheils wird man nicht 
leicht mit einem wirklichen Urtheil zu verwechseln im Stande 
sein; und vom Vorstellen zum Urtheilen überzugehen, wäre 
unter den gegebenen Umständen besonders fernliegend, da das 
neu hinzukommende Urtheil nicht einmal denselben Gegenstand 
aufzuweisen hätte wie die Vorstellung, indem die Vorstellung 
das fremde Urtheil, das hinzukommende Urtheil dagegen den 
Gegenstand des vorgestellten Urtheils zum Gegenstande hat 
Dagegen ist die Annahme dem Urtheile ähnhch genug, um unter 
Umständen eine Verwechslung nicht geradezu unverständlich 



^ Vom Antheil der Annahmen an Begehrangen als solchen wird weiter 
unten die Rede sein, vgl. Kap. VII, § 45. 



Die nächstliegenden Annahmefälle. 51 

erscheinen zu lassen. Aufserdem aber ist die Aehnlichkeit einem 
sich thatsächlich vollziehenden Uebergange von einem psychi- 
schen Verhalten zum anderen natürUch in hohem Maafse günstig. 
Wir sind sonach berechtigt, in der Lüge einen das Auftreten von 
Annahmen zwar nicht in strenger Allgemeinheit fordernden, ein 
solches aber aufs Kräftigste begünstigenden Thatbestand zu er- 
blicken. 

§ 12. 
Annahmen bei Fragen und sonstigen Begehrungen. 

Vielleicht hat es auf den ersten Blick befremdet, dafs be- 
reits im vorigen Kapitel die Frage kurzweg dem Gebiete der 
Begehrungen zugewiesen wurde. Aber es liegt darin wirkUch 
nicht mehr als die Constatirung einer Selbstverständüchkeit. Sieht 
man etwa von den sogenannten rhetorischen Fragen ab, die eben 
streng genommen gar keine Fragen sind, übrigens dem Interessen- 
kreise dieser Darlegungen insofern nahe stehen, als der rhetorisch 
Fragende sich leicht in der Lage befinden könnte, den Zustand 
des wirklich Fragenden zu „fingiren", — von der rhetorischen 
Frage also abgesehen, steht doch aufser Zweifel, dafs, wer fragt, 
eben eine Antwort erhalten möchte. Läfst man überdies auch 
die leicht zu übersehenden Complicationen bei Seite, die sich 
speciell bei den mancherlei didaktischen und ihnen verwandten 
sowie sonstigen uneigentüchen Fragen einstellen, so ist klar, 
dafs, wer fragt, etwas wissen möchte und dafs er dasjenige, 
worauf das gewünschte Wissen sich beziehen soll, durch seine 
Frage zur Mittheilung bringt. Hiezu stellt die Sprache dem 
Fragenden, wie berührt, Sätze zur Verfügung, die oben bereits 
in der Liste der Fälle, wo Sätze Anderes als Urtheile ausdrücken 
können, Aufnahme gefunden haben: es scheint eben selbst- 
verständlich, dafs man in einer Sache, in der man sich urtheils- 
unfähig fühlt und darum zur Urtheilsfähigkeit eben erst ge- 
langen will, sich nicht gleichwohl zu einem Urtheile verstehen 
wird. Nun mufs aber die Gültigkeit dieser oben schon angewen- 
deten Betrachtungsweise doch dahin eingeschränkt werden, dafs 
es immerhin Fragen giebt, die, wenn sie auch kein Urtheil 
direct ausdrücken, dieses doch insofern indirect thun, als sie ein 
Urtheil zur wesentHchen Voraussetzung haben. Wer mich fragt, 
zu welchen Zeiten Eisenbahnzüge in der Nähe des von mir be- 
wohnten Hauses halten, behauptet damit, wenn auch nur „im- 

4* 



52 Drittes Kapitel, 

pUclte", dafs ich in der Nähe einer Eisenbahn-Haltestelle wohne. 
Wer fragt, wem die Seefischerei gehöre, setzt durch seine Frage 
voraus, daTs es in dem See, den er meint, eine Fischerei gebe u. s. L 
Fragen solcher Art gehen von einem Wissen aus, das nur in 
diesem oder jenem Punkte noch nicht bestimmt genug ist: sie 
zielen auf Ausfüllung der betreffenden Wissenslücke, können daher 
passend Ergänzungsfragen \ auch wohl Bestimmungsfragen heifsen. 
Ihnen stellen sich in schon äufserlich auffälliger Deutüchkeit 
Fragen gegenüber, die in correcter Weise anders als durch „Ja" 
oder „Nein" nicht beantwortet werden können, und die im Hin- 
blick hierauf als Bestätigungsfragen bezeichnet worden sind.* 
Genau genommen ist indefs durch diese Benennung nur auf die 
eine der beiden möglichen Antworten, die affirmative nämhch, 
Rücksicht genommen, und insofern möchte etwa die Bezeichnung^ 
dieser Fragen als „Entscheidungsfragen" vorzuziehen sein. Jeden- 
falls ist es diese zweite Classe von Fragen, welche im Hinblick 
auf das Thema dieser Untersuchungen von uns ausschüefslich 
in Betracht zu ziehen ist. 

Um in Betreff des psychischen Zustandes des in dieser Weise 
Fragenden ins Reine zu kommen, empfiehlt es sich, vor Allem 
festzustellen, was dieser durch seine Frage eigentlich erreichen 
will. Ohne Zweifel ebensogut eine Erweiterung oder Bereicherung^ 
seines Wissens wie bei der Bestimmungsfrage. Dafs es aber 
diesmal kein gegenständliches Mehr ist, worauf es dem Fragen- 
den ankommt, das erhellt aus der Beschaffenheit der beiden 
adäquaten Antworten, deren keine die Sachlage nach der gegen- 
ständlichen Seite hin zu verändern vennag. Das Einzige, was 
eine solche Anwort leisten kann, ist dies, dafs sie den Fragen- 
den, falls er dem Gefragten traut, in die Lage setzt, dem von 
ihm selbst vorgegebenen gegenständlichen Material gegenüber 
durch Fällung eines darauf bezüglichen affirmativen oder nega- 
tiven Urtheils sozusagen Stellung zu nehmen. Damit ist gesagt,, 
dafs der Fragende als solcher in betreff der Sache, auf die seine 
Frage eigentlich geht, noch nicht urtheilt, die Frage also insofern 
darauf zielt, ihn in die Lage zu setzen, in einer Angelegenheit 



^ Nach Delbbück, vgl. K. Gboos, „Experimentelle Beiträge zur Psycho- 
logie des Erkennens" in der Zeitschrift für Psychologie 26, S. 149. 

* Ibid., wo auch auf die alte Unterscheidung zwischen erotematischen 
und peistischen Fragen hingewiesen ist. 



Die nächstliegenden Annahmefälle. 53 

-zu urtheilen, in der er zur Zeit der Frage, gleichviel aus welchem 
Orunde, nicht urtheilen kann. Kurz also : der Fragende — immer 
nur den Fall der Entscheidungsfrage im Auge behalten — als 
solcher urtheilt nicht; was thut er also? 

Nächstliegend, jedenfalls dem Herkommen am besten ent- 
sprechend ist der Bescheid : was der Fi^agende thut, ist eben das, 
was zum Erfassen eines gegenständlichen Materials unerläfslich 
ist. Er bietet dem Gefragten sozusagen einen Gegenstand für 
^in zu fallendes Urtheil dar, indem er selbst diesen Gegenstand 
vorstellt, und zugleich bereit ist, an diese Vorstellung je nach 
dem Ausfalle der Antwort ein affirmatives oder negatives Urtheil 
zu knüpfen. Nun belehrt uns aber ein BUck auf die gewöhn- 
lichsten der einschlägigen Fragesätze darüber, dafs diese selbst 
«owohl affirmative als negative Form annehmen können. Es 
ist also in Wahrheit nicht erst Sache der Antwort, dem Gegen- 
sätze von Ja und Nein hier eine Stelle zu schaffen: dieser 
Gegensatz liegt vielmehr schon im psychischen Verhalten des 
Fragenden vor, und wenn unsere bisher durchgeführten Unter- 
suchungen im Wesentlichen das Richtige getroffen haben, so 
mufs sich im Fragenden auch mehr als blofses Vorstellen zu- 
getragen haben. 

Bevor hier die Consequenz gezogen wird, auf die es, wie 
der Leser ohne Mühe bereits errathen haben mag, abgesehen 
ist, mufs noch eine Mögüchkeit erwogen werden, die in 
manchen Fällen ohne Zweifel in gut beglaubigte Wirklichkeit 
umgesetzt erscheint. Könnte die Entscheidungsfrage nicht so 
Aufzufassen sein, dafs der Fragende nicht nur gegenständliches 
Material, sondern auch zugleich eine Vermuthung darüber dem 
Gefragten präsentirt und von diesem nur verlangt, die Ver- 
muthung in eine wenigstens praktisch ausreichende Gewifsheit, 
sei es ihrer selbst, sei es ihres Gegentheiles, umzuwandeln? 
Wirklich ist diese Charakteristik der Sachlage bereits gelegent- 
lich als eine ganz selbstverständUche ohne besonderen Beweis 
in Anspruch genommen worden \ und es scheint in der That 
sozusagen aus sich selbst heraus plausibel, dafs derjenige nicht 
wohl mit „Ja" fragen werde, der die Antwort „Nein" erwartet 
und umgekehrt. Die Erfahrung wird dem überdies, wie gesagt, 
gar nicht jedesmal entgegen sein: auch mag die Anforderung, 



^ Groos a. a. 0. 



54 Drittes Kapitel. 

einem gegebenen gegenständlichen Material gegenüber sieh jeg- 
licher Vermuthung zu enthalten, keine in voller Strenge leicht 
zu erfüllende Forderung sein. Inzwischen findet, was ich eben 
das innerlich plausibel Scheinende an dieser Sache nannte, eine 
seltsame Beleuchtung durch die Thatsache, dafs die negative 
Entscheidungsfrage nicht selten eine der Erfahrung sehr wohl 
vertraute suggestive Kraft nach der Richtung ihres Gegentheils 
hin bethätigt, weil sie eine der Negation entgegengesetzte, also 
affirmative Vormeinung des Fragenden zu verrathen pflegt 
„Nähern wir uns nicht bereits dem Ziele unserer Wanderung?"^ 
fragt natürlichst derjenige, der das Ziel schon zu erkennen meint 
und diese Vermuthung bekräftigt hören möchte. Auf eine nähere 
Untersuchung dieser merkwürdigen Thatsache kann hier nicht 
eingegangen werden, und für unsere nächsten Zwecke genügt 
jedenfalls der Hinweis darauf, dafs es Entscheidungsfragen genug^ 
giebt, bei deren naturgemäfs zumeist affirmativer Formulirung 
die vielleicht vorHegende, sehr häufig aber die Stärke de& 
praktisch in Betracht Kommenden keineswegs erreichende Vor- 
meinung gar keinen Antheil hat Auch giebt es negative 
Formulirungen solcher Fragen, die nicht intellectuell, sondern 
emotional motivirt sind, und so zugleich bald als Ausdruck 
eines Wunsches, bald als der eines Widerstrebens verstanden 
werden. Und so bleibt denn für einen guten Theil der in Wirk- 
lichkeit anzutreffenden Entscheidungsfragen, ja für die eigent- 
lich normalen Fälle derselben zunächst für deren Differentiation 
in affirmative und negative Fragen doch keine andere psycholo- 
gische Interpretation als der Hinweis auf die Annahmen übrig,, 
der die sonst drohenden Schwierigkeiten aufs Ungezwungenste löst» 
Wer eine Entscheidungsfrage stellt, macht über einen bestimmten,, 
allenfalls, wie vorerst noch hingenommen sein mag^, einfach 
durch Vorstellung gegebenen Gegenstand eine je nach Umständen 
affirmative oder negative Annahme, von der zu einem ent- 
sprechenden oder auch qualitativ entgegengesetzten Urtheile zu 
gelangen, das Ziel der in der Frage ausgedrückten Begehrung ist* 



^ Eine Prüfung dieser Supposition soll weiter unten (Vgl. Kap. V u. VI) 
vorgenommen werden. 

* Dafs ich durch diese Aufstellung implicite einen vor Jahren gegen 
die in B. Erdmann*s Logik vertretene Auffassung der Frage erhobenen Ein- 
wand einem wesentlichen Punkte nach zurücknehme, wird weiter unten zu 
berühren sein, vgl. Kap. IX, § 61. 



Die näclistliegenden Annahme fälle. 55 

Zugleich legt dieses Ergebnifs die Frage nahe, ob die Ent- 
scheidungsfragen wohl den einzigen Begehrungsfall darstellen, 
an dem Annahmen betheiligt sind. Ohne Zweifel nehmen ja 
die Fragen anderen Begehrungen gegenüber eine Ausnahme- 
stellung ein, nicht unähnlich der der „Wissensgefühle" gegenüber 
den „Werthgefühlen" ^ : man könnte nicht unpassend die Fragen 
als Wissenbegehrungen charakterisiren. Dies tritt auch im sprach- 
lichen Ausdruck hervor : was der Fragesatz an gegenständUchem 
Material darbietet, ist nicht etwa der Begehrungsgegenstand, wie 
solches bei Begehrungssätzen sonst der Fall ist. Und bei secun- 
därem Ausdruck einer Frage knüpft der von der Fragebehauptung 
abhängige Satz an diesen natürlichst mit einem „ob" an, indefs 
dem secundären Ausdrucke gewöhnlicher Begehrungen ein „dafs" 
zu dienen pflegt. Dem „ich frage, möchte wissen, ob das Wetter 
beständig bleiben wird" steht die Wendung gegenüber „ich 
wünsche, dafs es beständig bleibe"; und man erkennt zugleich, 
dafs hier der abhängige Satz mit „ob" als natürlicher Ausdruck 
der in der Frage liegenden Annahme gelten kann. Trotz sonstiger 
Verschiedenheiten wird nun aber vielleicht schon jetzt unmittel- 
bar zu erkennen sein, dafs in der uns hier zunächst interessirenden 
Beziehung ein solcher „ob"-Satz einem der bei sonstigen Be- 
gehrungen auftretenden „dafs "-Sätze ganz analog zur Seite steht, 
indem, um zu begehren, dafs etwas geschehe oder nicht ge- 
schehe, das „blofse Vorstellen" schon wegen des auch hier zur 
Geltung kommenden Gegensatzes von Ja und Nein nicht aus- 
reicht, sonach das Annehmen zu Hülfe gerufen werden mufs. 
Doch soll hierauf an dieser Stelle noch nicht eingegangen werden, 
weil uns spätere Untersuchungen^ ein abschlief sendes Urtheil 
über diese Sachlage wesentlich erleichtem werden. 

§ 13. 
Auf suggerirte Annahmen. 

Wir haben bisher Spiel, Kunst, Frage u. s. f. ausschhefslich 
vom Standpunkte des dabei zunächst activen Subjectes aus be- 
trachtet und die Annahmen in dessen Verhalten aufgesucht. 
Nun haben wir es aber da mit Bethätigungen zu thun, die theils 



^ Vgl. meine „Psychologisch - ethischen Untersuchungen zur Werth- 
theorie", S. 36 ff. 

2 Vgl. unten Kap. VII, § 45. 



56 Drittes KapiUl. 

häufig, theils ausnahmslos über dieses zunächst dabei active 
Subject auf andere Subjecte gleichsam übergreifen, und es steht 
zu erwarten, dafs dabei die von uns im Obigen agnoscirten An- 
nahmen die durch sie in Mitleidenschaft gezogenen Subjecte im 
Sinne der Hervorbringung weiterer Annahmen bestimmen, diesen 
Subjecten also Annahmen aufsuggeriren werden, wie man mit 
Recht sagen kann, wenn man das Wort „suggeriren" im weitesten, 
von jeder pathologischen Nebenbedeutung freien Sinne versteht. 

Dem ist denn auch wirküch so. Im Spiele vor Allem giebt 
es ja so häufig Mitspielende, die nicht selten eine ganz unerläfs- 
liehe Voraussetzung des betreffenden Spieles sind, und für deren 
Verhalten in erster Linie wesentlich zu sein pflegt, dafs sie auf 
die ihnen „mitgetheilten'* Annahmen durch gegenstands- und 
qualitätsgleiche ^ Annahmen reagiren, um dann immerhin durch das 
Ziehen praktischer oder logischer Consequenzen, wohl auch durch 
das mehr oder minder willkürliche Hinzufügen neuer Annahnaen 
das Spiel weiter zu führen. In gleicher Weise steht dem schaffenden 
wie dem reproducirenden Künstler das seine Leistungen auf- 
nehmende „Publikum" als mehr oder minder unentbehrUches 
Complement gegenüber, und bei dem dieses „Aufnehmen" aus- 
machenden Verhalten spielen wieder die aufsuggerirten An- 
nahmen eine fundamentale Rolle. Natürlich auch diesmal in auf- 
fälligster Weise bei den redenden Künsten, denen gegenüber der 
Unterschied zwischen Hören und Lesen in der uns beschäf- 
tigenden Richtung kaum etwas Wesentliches zu bedeuten hat. 
Man steht hier geradezu wieder vor einem der Fälle, bei denen 
die Rathlosigkeit, in der man sich ohne Recurs auf die An- 
nahmen befindet, in besonders handgreiflicher Weise zu Tage tritt. 

Um sich hiervon zu überzeugen, braucht man sich nur 
etwa bei dem einfachsten und bekanntesten Volksmärchen 
die Frage vorzulegen, welche Stellung man, indem man das- 
selbe erfafst, ihm gegenüber denn eigentlich einnehme. Von 
der Situation desjenigen, der die „wunderbare Geschichte'' 
einfach glaubt, kann hier als ebenso seltenem wie psycho- 
logisch uninteressantem Ausnahmefall abgesehen werden. Aber 
auch auf den Gedanken, man könnte es hier mit „blofsem Vor- 
stellen" zu thun haben, braucht im Hinblick darauf, dafs in 



^ Die Bedeutung dieses Zusammenauftretens von Gegenstand und 
Qualität wird uns, wie schon einmal berührt, in Kap. VII klar werden. 



Die nächstliegenden Annahmefälle. 57 

einem solchen Märchen Positives und Negatives bunt durch- 
einander läuft, nicht mehr zurückgekommen zu werden. Gäbe 
es aber hier vielleicht doch einen Weg, das Urtheil heranzuziehen, 
obwohl der Zuhörer, wie eben berührt, das, was ihm erzählt 
wird, nicht glaubt? Ich selbst habe in Zeiten, da mir die An- 
nahmen unbekannt waren, zwei Wege einzuschlagen versucht, 
um der Schwierigkeit Herr- zu werden. Einmal könnte man sich 
denken, der Zuhörer stelle sich irgend jemanden, etwa sich 
selbst oder auch den Erzähler oder sonst jemanden vor, der das 
Erzählte wirklich glaubte. Das andere Auskunftsmittel bestünde 
in der Vermuthung, der Zuhörer glaube, d. h. urtheile zur Zeit 
des Hörens wirklich im Sinne der Erzählung, nehme aber dann 
die so zu Stande kommenden Urtheile sofort wieder zurück, so 
dafs durch das Zuhören keine ungehörige Aenderung in den 
Stand seines Wissens hineinkäme. Von diesen beiden Hypothesen 
wird dem natürlichen Erkenntnifs-Instincte dessen, der von ihnen 
zum ersten Male hört, wohl keine sich als sonderlich verlockend 
darstellen; und so kann ich mich bei der Begründung des Ver- 
werfungsurtheils, das auch ich heute über beide fälle, kurz fassen. 
Demjenigen, der sich die Geschichte von den sieben Schwaben 
oder von Dornröschen erzählen läfst, Vorstellungen von Urtheilen 
zuzumuthen, hat in der directen Empirie keinen Halt und er- 
scheint auch gegenüber Allem, was man sonst weifs, als völUg 
unnatürlich. Damit ist die erste Hypothese abgelehnt, ganz 
abgesehen davon, dafs auch dann aus uns bereits wohlbekannten 
Gründen, zunächst um der immer noch wohl unvermeidlich 
sich einstellenden Negationen willen, das Einbeziehen von 
Annahmen unvermeidlich sein möchte. Die zweite Hypothese 
wäre vielleicht von dem letzterwähnten Mangel leichter frei zu 
halten; auch kommt sie ihrem unmittelbaren Eindrucke nach 
gerade dem Märchenbeispiele gegenüber keineswegs zu der 
Geltung, die ihr unter anderen Umständen gar wohl zukommen 
könnte. Die Zumuthung, auch nur vorübergehend ein Märchen 
zu glauben, wird sich wenigstens der „Gebildete" nur sehr 
ungern bieten lassen. Dagegen wird er vielleicht ohne sonder- 
liches Widerstreben einräumen, dafs, obwohl er den Roman, den 
er eben liest, doch in der Regel auch nicht für eine „wahre 
Geschichte" nimmt, er sich während der Leetüre desselben zu 
der Handlung und zu den einzelnen Personen recht ähnlich ver- 
hält, als ob sie wirklich wären. So wird der Gedanke, dafs beim 



58 Drittes Kapitel. 

Romanlesen mehr vorgeht als blofses Vorstellen, sieh Manchem 
als Selbstverständlichkeit aufgedrängt haben, und Mancher 
wird dann auch keinen allzu grofsen Schritt bis zu der Ver- 
muthung nöthig finden, dafs er das Gelesene zwar nicht dauernd, 
aber während des Lesens und ehe er sich Zeit nimmt, sich 
darüber zu besinnen, wirklich glaubt, d. h. urtheilt Gleichwohl 
wird genaueres Zusehen auch hier höchstens ausnahmsweise die 
Sachlage richtig charakterisirt finden können: im Allgemeinen 
steht auch diese zweite Hypothese mit dem, was uns innere 
Empirie über unser Verhalten sagt, in nicht minder bestimmtem 
Widerspruche wie die erste Hypothese. Zudem wäre der durch 
sie in Anspruch genommene plötzliche Ueberzeugungswechsel 
doch jedenfalls Sache meiner Willkür. Nun ist man aber sonst 
gewöhnt, die Ueberzeugung für etwas vom Wollen relativ Unab- 
hängiges zu halten ; imd was wäre das für eine Unabhängigkeit, 
wenn es in jedem Augenblicke in meiner Macht stünde, diese 
oder jene meinen sonstigen Ansichten beliebig widerstrebende 
Ueberzeugung sozusagen mir selbst auf- und im nächsten Augen- 
blicke dann wieder wegzusuggeriren ? Es kommt noch hinzu, 
dafs ein solcher plötzlicher Ueberzeugungswechsel, der zudem 
auch sonst wieder ohne seinesgleichen wäre, aufmerksamer Selbst- 
beobachtung und Erinnerung noch viel weniger entgehen könnte 
als der immerhin in gewissem Sinne minder greifbare Vorgang, 
den die erste Hypothese in Anspruch zu nehmen versucht 

Zu solchen Künstlichkeiten contrastirt nun auf das Vortheil- 
hafteste die Position, dafs der Zuhörer eben keine andere Auf- 
gabe zu erfüllen hat, als anzunehmen, was, wie wir sahen, der 
Erzähler, indem er erzählt, ja gleichfalls annimmt. Dafs damit 
eine gewisse logische Verarbeitung des Angenommenen auch 
seitens des Hörers in keiner Weise ausgeschlossen ist, bedarf 
nach Früherem nun gleichfalls keiner besonderen Hervorhebung 
mehr. Zugleich ist aber das Verhalten dem einfachen Märchen 
gegenüber paradigmatisch für das Verhalten gegenüber beliebig 
complicirten Dichtungen, mögen diese übrigens unter den Typus 
des Romans oder unter den des Dramas fallen, und die vielen 
ästhetischen Schwierigkeiten über künstlerische Täuschungen, 
bei denen im Grunde normalerweise doch Niemand getäuscht 
wird, sind damit zugleich in eben so einfacher als erfahrungs- 
gemäfser Weise behoben. 

Aufserdem belehrt uns nun das Drama auch darüber, dafs 



Die nächstliegenden Amiahmefälle. 59 

Annahmen nicht nur mit Hülfe des Wortes auf suggerirt werden 
können. Es giebt ja auch dramatische Vorführungen ohne 
Worte, und sollte der Kunstwerth derselben auch nicht allzu 
hoch einzuschätzen sein, sie setzen den Zuschauer ohne Zweifel 
in betreff seines intellectuellen Verhaltens in eine ganz ähnliche 
Lage, wie die ist, in der sich der Zuhörer einer erdichteten Er- 
zählung befindet, und lassen so erkennen, dafs auch das gewöhn- 
liche auf Worte gestellte Drama, bei dem man ohnehin her- 
kömmlich nicht von Zuhörern sondern von Zuschauern redet, 
diese nicht nur vermöge der Worte, sondern auch vermöge an- 
schaulicher Vorstellungen aus dem Bereiche des Gesichtssinnes 
mit Annahmen versorgt. Damit ist zugleich der Uebergang von 
den redenden zu den bildenden Künsten gewonnen und dargethan, 
dafs der Beschauer auch diesen gegenüber so ziemlich überall dort 
auf Annahmen angewiesen sein wird, wo das im Kunstwerke 
sich darbietende AnschauUche auf eine „Bedeutung" Anspruch 
macht. Dafs die Rolle der Annahmen aber auch noch über 
directe „Darstellung" hinausgehen wird, darauf macht das Ver- 
halten des verständnifsvollen Hörers dem musikalischen Kunst- 
werk gegenüber^ aufmerksam; spricht doch alles dafür, dafs in 
diesem Verhalten den Annahmen mindestens keine unerheb- 
lichere Stellung zukommen wird, als die war, die wir ihnen im 
künstlerischen Erleben des schaffenden Musikers haben beimessen 
dürfen. 

Nun müssen wir aber noch einmal auf unser obiges Paradigma 
vom erzählten Märchen zurückgreifen, weil daran noch eine 
wichtige Thatsache zu constatiren ist. Wir sind oben von der 
Voraussetzung ausgegangen, dafs der Erzähler selbst in seiner 
Erzählung nur Annahmen auszusprechen habe. Das ist nun 
aber eine Voraussetzung, die sich in vielen Fällen gar nicht 
nachcontrolHren läfst, weil der Erzähler sich äufserlich ganz 
ebenso verhalten könnte, auch wenn er nicht blos Angenommenes, 
sondern wirkUch für wahr Gehaltenes erzählte. Natürlich ist die 
suggestive Wirkung auf den Hörer häufig gleichwohl die nämliche, 
als wenn der Erzähler blos Annahmen ausspräche, und es erhellt 
daraus neuerlich die schon im vorigen Kapitel berührte That- 
sache, dafs ein verstandener Ausdruck im Verstehenden durchaus 
nicht die psychische Thatsache wachrufen mufs, die gerade 

^ Vgl. St. Witasek, „Zur psychologischen Analyse der ästhetischen 
Einfühlung", Zeitschr. f. Psychologie 25, S. 37ff. 



60 Drittes Kapitel. 

ausgedrückt wird. Im Besonderen aber erkennen wir daraus, 
dafs wenn der Redende Ueberzeugungen ausspricht, der Hörer, 
indem er versteht, sich diese Ueberzeugungen gar nicht mufs 
aufsuggeriren lassen. Wer könnte sich etwa erinnern, die Meinung 
des theoretischen Gegners, wenn es dessen Beweise zu prüfen 
galt, auch nur vorübergehend zur seinigen gemacht zu haben? 
Hätte damit nicht der Hauptimpuls zum Durchprüfen überdies 
normalerweise verloren gehen müssen ? Man geriethe damit, wie 
man nicht verkennen kann, unversehens in das Fahrwasser der 
oben bereits in Bezug auf unser Verhalten bei Erzählungen 
erwogenen und aus guten Gründen verworfenen Hypothese vom 
willkürlichen Ueberzeugungswechsel. So stehen also auch hier 
nur die Annahmen als dasjenige zur Verfügung, wodurch der 
Hörende auf die Worte, zunächst die Sätze des Redenden 
reagiren wird. Alle Fälle also, wo der Hörende seine Ansicht 
in betreff eines ihm mitgetheilten Urtheils in suspenso lassen 
will oder mufs, sind zugleich Fälle von Annahmen. 

Mit diesen kurzen Hinweisen will ich die Aufzählung der 
sich der directen Empirie in besonders deutlicher Weise auf- 
drängenden Annahme-Thatsachen beschliefsen, ohne gerade für 
die Vollständigkeit dieser Aufzählung mich verbürgen zu wollen. 
Nun meine ich aber, dafs wir damit zu einem Einblick in die 
wichtigsten Weisen, in denen die Annahmen in die Operationen 
des menschUchen Intellects eingreifen, so wenig gelangt sind, 
dafs das Grundlegendste in dieser Hinsicht bisher noch gar 
nicht zur Sprache kommen konnte. Um dem aber näher zu 
treten, müssen wir nun auf den Vortheil relativer Leichtzugäng- 
lichkeit verzichten, und es uns nicht verdriefsen lassen, in einige 
erkenntnifs- psychologische Probleme einzudringen, deren Be- 
ziehung zur Sache der Annahmen vielleicht nicht sofort kennt- 
lich sein mag. Doch sind es Fragen, deren jede schon um ihrer 
selbst willen einer sorgfältigen Untersuchung in hohem Maafse 
würdig wäre, deren Hierhergehörigkeit sich dabei aber als ebenso 
zweifellos erweisen wird, als die hier darzubietenden Beant- 
wortungsversuche derselben aufrecht zu bleiben verdienen. Neue 
Wege einzuschlagen wird dabei mehr als einmal, auch abgesehen 
von der Heranziehung der Annahmen, unerläfslich sein. Doch 
soll mit der Verhandlung einer Materie begonnen werden, bei 
der wenigstens die Fragestellung an bereits vielbearbeitete That- 
sachen anzuknüpfen in der Lage ist. 



61 



Viertes Kapitel. 

Die Annahmeschlfisse. 



§ 14. 
Unmittelbare und mittelbare Evidenz. 

Wir haben uns hier zunächst einem Thatsachengebiete zu- 
zuwenden, das von Alters her zu den bearbeitetsten Partien der 
Lehre vom menschlichen Erkennen gehört, ja für Viele unter 
dem Namen der „formalen Logik" so gut wie Alles in sich zu 
schliefsen schien, was von dieser Lehre Anspruch auf Beachtung 
hat. Die Einseitigkeit solcher Auffassung ist heute jedem auch 
nur einigermaafsen Urtheilsfähigen klar: aber über eine der 
wichtigsten Folgen solcher Einseitigkeit hat man bisher immer 
noch nicht recht hinauskommen können. Sie betrifft ebenso 
erstaunücher als charakteristischer Weise unser Wissen gerade 
über jene Erkenntnifsbethätigungen, die jederzeit das ganz aus- 
gesprochen bevorzugte Lieblingsthema für Untersuchungen der 
formalen Logik abgegeben haben, ich meine die Ableitungen 
von Urtheilen aus Urtheilen, das Erschliefsen resp. Begründen. 
Hier hat die Mannigfaltigkeit wirklich vorkommender oder wohl 
auch erst construirter Modi und Figuren die Aufmerksamkeit 
nicht nur von jenen Thatsachen völlig abgelenkt, welche sich 
der Einordnung unter diese „Formen" nicht willig fügen; sondern 
auch die allem Anschein nach viel primitivere Frage, was für 
Thatsachen man eigentüch in allen diesen Schlulsvorgängen vor 
sich habe, hat die erkenntnifstheoretische Forschung der Gegen- 
wart als eine im Wesentlichen noch offene überkommen, obwohl 
darin eines der fundamentalsten Probleme liegt, an die heran- 
zutreten die Erkenntnifstheorie berufen ist. Unter solchen Um- 
ständen ist es natürUch immerhin einigermaafsen gewagt, einen 
auch noch so bescheidenen Beantwortungs versuch jener Frage 



62 Vierfea KapUd. 

mitten in eine im Grande doch einer ganz anderen Sache ge- 
widmete Darlegung hineinzuwerfen. Aber einmal ist die Ant- 
wort, die ich meine geben zu dürfen, wenn sie auch im Rechte 
ist, wirklich nur eine doch aufserordentHch bescheidene Leistung, 
weil sie im Grunde nur wenig mehr bietet als eine, wie ich 
glaube, freilich unvermeidUche aber eben darum keineswegs als 
besondere theoretische That in Anspruch zu nehmende Ver- 
weisung auf die directe Empirie. Dann aber und vor Allem 
steht, was ich hier in betreff charakteristischer Fälle von An- 
nahmen zu sagen habe, mit der Weise, wie ich Begründung und 
Schlufs auffassen zu müssen glaube, in so enger Verbindung, 
dafs ich diese Auffassung hier nicht ganz undargelegt lassen 
kann, immerhin übrigens zugleich hoffe, dafs das ungezwungene 
Zusammenstimmen, auf das ich meine hinweisen zu können, 
dann nicht nur der hier vor Allem zu legitimirenden Conception 
der Annahmen, sondern auch dem über die Natur des Schlusses 
Beizubringenden zu statten kommen wird. 

Die eigenthümliche Dignität, vermöge deren gewisse Ur- 
theile im Gegensatze zu anderen für Erkenntnisse gelten, geht 
jederzeit zuletzt auf die selbst ein Letztes ausmachende That- 
sache der Evidenz zurück, der insofern mit Recht der Rang der 
Grund- oder Centralthatsache aller Erkenntnifstheorie eingeräumt 
werden kann. Alle Evidenz hängt natürlich am Urtheil, und 
man hat sich längst daran gewöhnt, den nur auf sich selbst ge- 
stellten unmittelbar evidenten Urtheilen solche von blofs mittel- 
barer Evidenz an die Seite zu setzen, so genannt, weil sie auf 
die Evidenz, zuletzt natürlich auf die unmittelbare Evidenz 
anderer Urtheile zurückgehen. Aus solcher Gegenüberstellung 
erwächst nun von selbst die Frage, ob die in ihr sich geltend 
machende Verschiedenheit der Evidenzen nur deren Herkunft 
oder auch deren Beschaffenheit betrifft, anders ausgedrückt, ob 
das mittelbar evidente Urtheil am Ende doch ebenso evident 
ist wie das unmittelbar evidente, oder ob die mittelbare Evidenz 
vielleicht zugleich auch eine Art unvollkommenerer Evidenz, etwas 
wie eine niedrigere Evidenzstufe darstelle. 

Vor aller Berücksichtigung der Erfahnmg könnte die Frage 
auch sozusagen nach der entgegengesetzten Richtung hin for- 
mulirt werden, dahin nämlich, ob die mittelbare Evidenz nicht 
etwa eine vollkommenere Evidenzstufe bedeute. Aber eine solche 
MögUchkeit könnte doch nur dem erkenntnifstheoretisch völlig 



Die Annahmeschlüsse. g3 

Naiven discutirbar erscheinen, dem blos das Bewiesene für völlig 
gesichert gelten mag, ohne Rücksicht darauf, dafs jeder Beweis zu- 
letzt doch auf Unbewiesenes gestellt sein mufs. Gleichwohl hat die 
in Rede stehende Frage ihren guten empirischen Untergrund 
in der auffallend verschiedenen Erkenntnifsstellung, die wir etwa 
einem geometrischen Axiom und dann wieder einem auch nur 
auf mäfsig complicirten Beweisgang gegründeten Theorem dieser 
Wissenschaft gegenüber einnehmen. Wirklich hat auch schon 
die ältere Erkenn tnifstheorie das „intuitive" Wissen dem „demon- 
strativen" vorangestellt; und wenn man sich an die seit Schopen- 
hauer so oft wiederholte Klage darüber erinnert, wie die 
EuKLiD'sche Geometrie ihre Sätze der Ueberzeugung gleichsam 
aufzwinge, ohne doch zu einer rechten Einsicht in den erwiesenen 
Sachverhalt zu führen, so mufs man sich geradezu fragen, ob 
so gewonnene „mittelbare" Evidenzen überhaupt noch den An- 
spruch darauf haben, für Evidenzen zu gelten. Auf einen 
solchen Gedanken einzugehen, wird man dann umsomehr ge- 
neigt sein, je weniger man sich streng genommen unter „Graden" 
der Evidenz oder wie man sonst sagen mag, zu denken im Stande 
ist. Nur dafs sich auch sofort die Gegenfrage einstellt, wie eine 
solche „mittelbare Evidenz", die streng genommen gar keine Evi- 
denz ist, einem Urtheile dieselbe Erkenntnifsdignität zu verleihen 
fähig sein soll wie jene „unmittelbare" Evidenz, genauer Evi- 
denz ohne Beisatz, die solchen Urtheilen dann eben einfach fehlt. 

§ 15. 
Das Wesen der Ueberzeugungsvermittlung. 

Evidenz haftet, wie berührt, am Urtheile, und Evidenz- 
vermittlung, wie immer sie aufzufassen sein mag, ist doch jeder- 
zeit ein specieller Fall von Ueberzeugungsvermittlung, die unter 
günstigen Umständen „Beweis" heifst, aber unter anderen Um- 
ständen, z. B. wenn die Voraussetzungen irrig sind, gar wohl 
auch zu Stande kommen kann, ohne dafs so gewonnene Ueber- 
zeugung Anspruch darauf haben müfste, für wirklich legitimirt 
zu gelten. Es wird uns vielleicht die Beantwortung der obigen 
Frage erleichtern, wenn wir zunächst in das Wesen solcher 
Ueberzeugungsvermittlung einen EinbUck zu gewinnen versuchen. 

Es handelt sich also um folgende einfache Frage: ich bin 
überzeugt, dafs A B ist; ich schliefse daraus, dafs C 2) ist; was 



64 Viertes Kapitd. 

geht da eigentlich vor, indem ich schliefse ? Es muTs dabei gar 
nicht ausdrücklich von „Schliefsen" die Rede sein ; sage ich ein- 
fach: C ist D, weil A B ist, so ist damit natürUch dasselbe 
ausgedrückt. Immerhin verbindet dasselbe Wort manchmal auch 
GUeder von Causalreihen , indem man etwa von einer Kugel 
sagt: sie bewege sich, „weil" sie durch eine andere Kugel ge- 
stofsen worden ist Und wer dies nicht sofort als einen der 
vielen Fälle von Mehrdeutigkeit^ unberücksichtigt läfst, wird 
hierin sogleich einen Hinweis auf die übrigens auch ohne Bezug- 
nahme auf das sprachliche Moment nächstliegende Antwort für 
unsere Frage finden. Was könnte dieses „weil" auch Natür- 
Hcheres bedeuten, als dafs das zweite Urtheil aus dem ersten, 
auf das man sich ja ausdrücklich beruft, hervorgegangen, dafs 
das zweite Urtheil durch das erste verursacht sei? Es wird ja 
zudem auch kaum in Zweifel zu ziehen sein, dafs das erste Ur- 
theil, wenn auch nicht die Gesammtursache, so doch normaler- 
weise sicher eine Theilursache für das Auftreten des zweiten 
Urtheils abgeben wird. 

Nun ist aber einer solchen Berufung auf die Causalrelation 
mit Recht entgegengehalten worden ^, dafs zwei Urtheile gar wohl 
in Causalnexus stehen können, ohne dafs man darum das 
zweite aus dem ersten erschlossen nennen dürfte. Wer etwa, 
sobald er den Blitz gesehen hat, auf den Donner wartet, hat die 
Ueberzeugung vom Bevorstehen des Geräusches gewifs seinem 
Wahrnehmungsurtheil über den Blitz zuzuschreiben; was da 
aber vorgeht, ist keineswegs dasjenige, was in der Wendung: 
„es hat geblitzt, folglich wird es donnern" zum Ausdrucke ge- 
langt. Man kann einen solchen Schlufs, wenn Umstände der 
gegebenen Art vorliegen, in der Regel ziehen: um so deutlicher 
hebt sich gerade dann der Unterschied der Sachlage, wenn man 
es thut, von der ab, wenn man es eben nicht thut. 

Vielleicht noch stringenter, jedenfalls für den gegenwärtigen 
Zusammenhang von charakteristischerem Belange ist ein anderer 
Beweisgrund gegen die in Rede stehende Auffassung. Wäre für 
das Verhältnifs der beiden Urtheile die Causalverbindung allein 



^ Die indefs vielleicht auch hier, wie sonst nicht ehen selten, sehr 
beachtenswerthe Wurzeln aufweisen mag, denen nur im gegenwärtigen Zu- 
sammenhange nicht nachgegangen werden kann. 

* Vgl. HiLiiBBBANi), „Die neuen Theorien der kategorischen Schlüsse". 
Wien 1891. S. 4f. 



Die AnnahmeschHiase, Qg 

maaTsgiBbend, dann wftre man niemals in der Lage, aus direcier 
Wahrnehmung zu wissen, ob man und woraus man etwas er- 
schlossen habe, da der Causalnexus zwischen einer Theilursache 
und der zugehörigen Wirkung sich niemals wahrnehmen läTst. 
Der Thatbestand eines Schlusses wftre sonach im einzelnen Falle 
nur auf Grund jener gelegentlich recht weitaussehenden Gedanken« 
Operationen erkennbar, deren wir sonst bedürfen, um innere oder 
:äufsere Geschehnisse unter einander causal zu verknüpfen: das 
widerspricht aber aufs Entschiedenste unseren Erfahrungen über 
die Unmittelbarkeit, mit der wir normalerweise darüber Rechen- 
schaft zu geben im Stande sind, ob und woraus ein vorliegendes 
Urtheil erschlossen ist. Natürlich darf man wegen jener Un- 
wahmehmbarkeit der Causalrelation den obigen Bestimmungs- 
versuch auch nicht etwa dahin verbessern, dafs das zweite Ur- 
theil dann erschlossen sei, wenn man den ursächlichen Zusammen- 
hang mit dem ersten Urtheile wahrnehme, denn das kommt eben 
überhaupt nicht vor^: richtig ist aber an dieser Wendung, dafs 
die dein Schliefsen wesentliche Relation eine der directen Wahr- 
nehmung zugftngUche sein mufs, die aufserdem den Causalnexus 
nicht ausschliefst. 

Ist die Relation wahrnehmbar, so lehrt allgemein gegen- 
«tandstheoretische Erwägung^, dafs es sich nur um eine Real- 
relation handeln kann. Ueber die nähere Beschaffenheit dieser 
Relation giebt, so viel ich sehe, nun eben nur diese directe 
Wahrnehmung Aufschlufs; und die Sprache kann diesen Auf- 
fichlufs, wie das bei bis auf Weiteres letzten Daten so häufig 
der Fall ist, nur durch eine bildliche Verlegenheitswendung 
öxiren helfen. Aber eine gewisse Hülfe ist es doch, wenn man 
etwa sagt, dafs derjenige schliefst, der sich eine neue Ueber- 
zeugung bildet unter Heranziehimg einer ihm bereits gegebenen, 
im Hinblick auf diese. ^ Das Erlebnifs, auf das durch Worte 
dieser Art hingewiesen wird, scheint mir charakteristisch genug, 
um einer weiteren Beschreibung entrathen zu können; ich finde 
mich aber auf alle Fälle aufser Stande, dem Hinweise auf die 



* Vgl. meine Ausführungen in den Gott. Gd. Anz. 1892, S. 446. 

* Vgl. „Ueber Gegenstände höherer Ordnung etc." S. 200f. 

' Wie nahe diese Auffassung dem steht, was bereits Locke vertreten 
bat, ergeben die auch sonst durchaus dem gegenwärtigen Interessenkreise 
zugewandten Ausführungen E. Mabtinak's über „Die Logik John Locke's** 
(HaUe a. S. 1894), S. 127 ff. 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. II. 5 



66 Viertes Kapitel. 

Thatsachen hier noch etwas hinzuzusetzen. Höchstens das Eine 
wüfste ich etwa beizufügen ^ dafs eine Ueberzeugungsg^- 
winnung „im Hinblicke^ auf etwas auch dem apriorischei) 
Urtheilen als solchem eigen ist Nur ist die Sachlage hier schon 
insofern eine wesentlich andere ^ als das, worauf hier „hin- 
geblickt^ wird, stets ausschUefslich etwas Gegenständliches, ge- 
nauer der in dem so zu Stande kommenden Urtheile erfafste 
Gegenstand ist. 

Irre ich nicht, so wird die bisher mehr vemachläfsigte als 
zielbewufst gepflegte psychologische Erfahrung noch in gar vielen 
Fällen auf vorher nicht beachtete und für den augenblicklichen 
Stand der Analyse imzurückführbare Thatsachen führen. Ich 
nehme darum gar keinen Anstand, auch im vorUegenden Falle 
zu behaupten, dafs die Gewinnung einer Ueberzeugung aus 
einer anderen, die Ueberzeugungs- oder ürtheilsvermittelung 
wesentlich charakterisirt ist durch eine eigenartige Realrelation 
des vermittelten Urtheils zu dem oder den vermittelnden 
Urtheilen. Ein Analogen zu dieser Relation ist auf dem 
auch sonst den Urtheilsthatsachen vielfach analog gearteten 
Gebiete der Begehrungen anzutreffen^ und hat dort einen 
längst gebrauchten Namen. Wie ich nämlich im Hinblick auf 
eine Ueberzeugung zu einer zweiten gelangen kann, so im 
Hinblick auf eine Begehrung (z. B. die nach einem Zwecke) zu 
einer anderen Begehrung (etwa der nach den Mitteln). Hier 
sagt man, das eine Begehren habe das andere zum „Motiv"; 
der Sachverhalt auf dem Urtheilsgebiete aber ist von ausreichend 
auffallender Analogie, um die Uebertragung dieser Benennungs- 
weise auf das intellectuelle Gebiet zu rechtfertigen. Indem ich 
daher hierin HujIiBbeand's Ausdrucksweise ^ entgegen anfäng- 
Uchen Bedenken^ acceptire, scheint es mir nur noch rathsam, 
erforderlichen Falles Thatsachen der in Rede stehenden Art als 
Fälle von Ürtheilsmotivation solchen von Begehrungsmotivation 



^ Dafs übrigens auch bei Gefühlen etwas Aehnliches stattfindet, näher 
bei dem, was ich als „vermittelte Werthhaltungen" den „unvermittelten" 
gegenübergestellt habe, ist bereits hervorgehoben auf S. 61 der „Psycho- 
logisch-ethischen Untersuchungen zur Werththeorie". 

* A. a. O. S. 5. HussERL, „Logische Untersuchungen" Bd. II, Halle a. S. 
1901, S. 28 nimmt sie für Brentano in Anspruch. 

• Gott Gel. Änz, 1892, S. 446; Husseel's polemischen Bemerkung^ 
a. a. O. mufs ich sonach stattgeben. 



Die Annahmeschlüsse, 57 

gegenüberzustellen. In betreff der zu einiander in dieser eigen- 
artigen Motivationsrelation stehenden ürtheile — analog übrigens 
Auch bei den Begehrungen — wird es mancherlei Bedürfnissen 
entgegenkommen, das „Motiv" resp. die „Motive" dem „Motivat" 
gegenüberzustellen, so dafs die Motivationsrelation auch als das 
Verhältnifs zwischen Motiv und Motivat bestimmt werden mag. 
Durch diese Ausführungen ist implicite gegen die vor Jahren 
von mir vertretene ^, übrigens auch schon explicite aufgegebene ^ 
Auffassung Stellung genommen, als wäre der Schlufs im Grunde 
nichts als ein hypothetisches Urtheil, in dem die Abhängigkeit 
des Motivats vom Motiv zum Ausdruck kommt. Ich denke bei 
dieser Position hier nicht verweilen zu soUen, zumal sie jeden 
Scheines entbehrt, so lange Richtigkeit und Evidenz ganz aufser 
Betracht bleibt. Immerhin aber erkenne ich heute in ihr den 
verfehlten Ausdruck eines an sich durchaus berechtigten Bedürf- 
nisses, dem ich, wie sich zeigen wird, durch die hier darzulegende 
Conception der „Annahmen" Rechnung zu tragen mich im 
Stande glaube. Es wird auf das berührte hypothetische Urtheil 
unten noch zurückzukommen sein. 

§ 16. 
Die relative Evidenz. 

Noch müssen wir aber imsere Aufmerksamkeit auf eine 
ebenso merkwürdige als wichtige Eigenschaft des Motivats lenken. 
Damit sich Ueberzeugungsvermittelung einstelle, ist, wie um- 
fassendste Erfahrung darthut, keineswegs erforderlich, dafs den 
motivirenden Urtheilen etwa auch Evidenz zukomme; die 
irrigsten oder mindestens grundlosesten Ansichten können be- 
kanntlich als Prämissen functioniren. Dafs aber einem Motivate 
als solchem^ höhere Erkenntnifsdignität zukäme als seinen 
Motiven, ist natürlich ausgeschlossen, und darum auch selbst- 
verständlich, dafs der aus evidenzlosen Prämissen geschöpften 
Conclusio als solcher keinerlei Evidenz im gewöhnlichen Sinne 
zukommen kann. Um ßo mehr mufs es auffallen, dafs nun 



^ Hume-Studien 2, S. 108 f. 

« GöU. Gel Änz. 1892, S. 445. 

' Die Eventualität also, dafs das als Motivat auftretende Urtheil 
anfserdem auch noch unmittelhar evident oder aus anderen evidenten 
Prämissen abzuleiten wäre, uneingerechnet. 

5* 



68 VierteB Kapitel. 

doch jedem Motivate, also jedem im Hinblick auf andere Urtheile 
gefällten Urtheile normalerweise etwas eigen ist, dem maa 
bereits auf Grund directer Betrachtung eine gewisse Eviden«- 
ähnlichkeit nicht absprechen kann. Schwerer noch wiegt vielleicht 
der AehnUchkeitsbeweis, den das menschhche Denken alter und 
neuer Zeit so häufig und so sehr wider Willen dadurch ange- 
treten hat, dafs blos vermittelte Ueberzeugungen mit evidenten 
Urtheilen verwechselt worden ist, indem man die Ableitung 
eines Urtheils aus anderen für dessen Erweis hat gelten lassen. 
Man hat sich auch schon oft genug darüber gewundert, wie 
leicht der Drang nach dem Warum durch das erste, beste 
„Darum" sich befriedigen läfst, wenns eben nur ein „Darum" 
ist, d. h. etwas, das als Urtheilsmotiv seine Schuldigkeit thut. 
Das wäre am Ende doch unverständlich, wenn es demjenigen, 
der „im Hinblick" auf Anderes urtheilt, nicht in der Regel 
bereits einigermaafsen nach Evidenz zu Muthe wäre, gleichviel, 
ob solche den Motiven zukommt oder nicht. 

Natürlich liegt in der Anerkennung dieser Thatsache ein 
neues Problem, oder vielleicht auch deren mehrere. Was sozu- 
sagen den Sitz dieses Evidenzartigen anlangt, so hat man freilich 
nicht lange zu suchen. Will man nicht neuerUch das „Schlufs- 
urtheil" oder „Schlufsgesetz" heranziehen, bei dem allerdings 
eine ganz eigentliche Evidenz vorbehaltlos zur Verfügung stä^nde, 
so wird kaum Anderes als eben das Motivat als Träger der 
eben constatirten Thatsache in Frage kommen. Was haben wir 
aber in dieser Thatsache selbst vor uns? Hat man ein Recht, 
sie kurzweg als eine Art Evidenz zu bezeichnen, und daraufhin 
den Evidenzbegriff angemessen zu erweitem? Ich mufs mich 
zur Zeit damit begnügen, durch Prägung eines, wie mir scheint, 
sich von selbst darbietenden Terminus die Frage mehr einer 
genaueren Untersuchung vorzulegen, als sie wirklich selbst zu 
beantworten. Ich wül die berührte Evidenzähnhchkeit zu ihrem 
Rechte gelangen lassen, indem ich vorbehaltlich künftiger 
Legitimation oder Abänderung in den uns hier beschäftigenden 
Fällen von relativer Evidenz rede. Praktisch hat diese Be- 
zeichnungsweise den Umstand für sich, dafs diese relative 
Evidenz, wie sogleich unten zu berühren sein wird, unter 
günstigen Umständen mit Evidenz im gewöhnlichen Sinne, also, 
wenn man so sagen will, absoluter Evidenz zusammen auftritt 
und dann eine Art Voraussetzung der letzteren abzugeben scheint 




Die Ännahmeschlusse, g9 

Theoretisch aber könnte dies die Frage nahe legen, ob der Schein 
der Evidenzähnlichkeit nicht am Ende eben darauf zurückgeht, 
dafs man es da mit einer Eigenthümlichkeit gewisser Conclusionen 
zu thun hat, die ihrerseits zur eigentlichen Evidenz in der 
angedeuteten engen Beziehung stehen. Diese Deutung klingt 
einigermaafsen an Betrachtungsweisen an, die man in der 
Psychologie gern als „empiristische" bezeichnet hat, und es wäre 
nicht das erste Mal, wenn sich das „Empiristische" keineswegs 
als das in besonderem Maafse Empirische d. h. Erfahrungsgemäfse 
bewährte: jedenfalls scheint mir das Zeugnifs innerer Wahr- 
nehmung vorerst solcher Auffassung nicht gerade günstig zu sein. 
Ich habe oben bemerkt, dafs die vorhin als „relative Evidenz" 
benannte Eigenschaft den Motivaten blos in der Regel zukommt : 
es giebt eben Motivationen ohne relative Evidenz so gut, als es 
Urtheile ohne absolute Evidenz giebt, nur vermuthUch beträcht- 
lich seltener. Läfst sich also etwa jemand beikommen, nach 
der zweiten Figur affirmativ oder nach der dritten Figur universell 
zu schliefsen, so urtheilt er zwar voraussichtUch ebenfalls „im 
Hinblick" auf die Prämissen: relative Evidenz wird aber dem 
Motivate doch nicht wohl zuzusprechen sein. 

§ 17. 
Die Evidenzvermittelung. Scheinbare Schwierig- 
keiten bei derselben. 

Wir wenden uns nun dem erkenntnifstheoretisch so fundamen- 
talen Specialfalle zu, in dem es sich nicht nur um Vermittelung 
einer Ueberzeugung durch eine andere, sondern um Vermittelung 
einer Evidenz durch eine andere, nicht nur um die Gewinnung 
eines neuen Urtheils, sondern zugleich um die eines berechtigten 
Urtheils handelt. Läge in dem oben berührten hypothetischen 
Urtheile das Wesen der Ueberzeugungsvermittelung und ver- 
diente es im Hinblick hierauf den ihm von mir einst zugedachten 
Namen des eigentlichen „Schlufsurtheils", dann könnte etwa in 
der Evidenz dieses Urtheiles der Thatbestand der sogenannten 
mittelbaren Evidenz gesucht werden.^ Aber das von Sigwart 
passender so genannte „Schlufsgesetz" ist, wie bereits einge- 
räumt, eben nicht der Schlufs selbst: eine durch SchUefsen ge- 
wonnene Evidenz kann überhaupt gar nichts anderes als Evidenz 

' HiLLEBBAKD, „Die neuen Theorien der kateg. Schlüsse'' 8. 8. 



70 VierUs KapUd. 

der Conclusio Bein. Eine Theorie der Evidenzvermittelong hat 
also jedenfalls die Aufgabe, die Schwierigkeit zu überwinden« 
die in der oben bereits erwähnten Evid^izlosigkeit von so vielen 
Conclusionen zu liegen scheint, an deren Correctheit und Gültig- 
keit gleichwohl niemand zweifelt. 

Es wird angemessen sein, sich zunächst zu fragen, ob die 
in Rede stehende Schwierigkeit etwa allen Fällen von Evidenz- 
Vermittlung eigen sei. Daran freiUch, dafs irgend einmal ein 
Urtheil zur Evidenz, zur eigentlichen, „absoluten" natürlich, ge- 
langen sollte durch Bezugnahme auf ein anderes Urtheil, dem selbst 
die Evidenz fehlt, wird Niemand denken. Kommt es aber nicht 
tsrenigstens unter günstigen Umständen vor, dafs ein Urtheil, das 
der Einsicht des urtheilenden Subjectes verschlossen bleibt, so- 
lange dieses über dessen gegenständliches Material nicht hinaus* 
geht, Evidenz erhält durch „Hinblick" auf Anderes, dem 
Subjecte Einleuchtendes ? Dafs sich dergleichen wirklich zuträgt, 
davon überzeugt man sich vielleicht am leichtesten an relativ 
einfach erweislichen Lehrsätzen der Geometrie, die nur nicht 
etwa schon vor dem Beweise einleuchten. Wie grofs z. B. die 
Summe der Dreieckswinkel, insbesondere ob sie gröfser oder 
kleiner als 180^ ist, darüber giebt die anschauliche Vorstellung 
eines Dreiecks für sich allein noch keinen ausreichend präcisen 
AufschluTs. Dagegen gestattet die bekannte Hülfsconstruction, 
sozusagen mit einem Blicke zu übersehen, dafs der dreigetheilte 
Winkel, den man in dieser Weise erhält, ein gestreckter Winkel 
ist, und dafs die drei Winkel, in die er zerfällt, den Dreiecks- 
winkeln gröfsengleich sind.^ Hier haben wir es also wirklich 
mit einem Umwege zu thun, der zur Einsicht führt: das er- 
schlossene Urtheil ist nicht anders evident ala die Prämissen, 
und nur die Weise, in der diese Evidenz zu Stande kommt, die 
Grundlage, auf die sie gebaut ist, ist eine andere. 

Ganz Aehnliches kann man bei Urtheilen antreffen, die in 
Bezug auf ihre erkenntnifstheoretische Natur dem eben bei- 
gebrachten Beispiele so unähnlich als nur möglich sein können. 
Einer weifs nicht, ob sein Freund X oder sein Freund Y der 



^ Dafs in der Wahl dieses Beispieles eine implicite Stellungnahme in 
Sachen von Eitklid's elftem Axiom gelegen ist, kann ich nicht leugnen. 
Doch ist sie für den gegenwärtigen Zusammenhang unwesentlich, und wer 
an ihr Anstofs nimmt, kann das obige Beispiel leicht durch ein anderes er» 
setzen. 



Die Anfuthmeschlüsae. 71 1 

Äeltere ist. Vom X weifs er, dafs er 47 Jahre hinter sidi hat: 
lütin erfährt er aus guter Quelle, dafs Y erst 46 Jahre alt seL 
Natürlich weifs er darauf hin nun auch, dafs Y der Jüngere ist 
und sieht das so gut ein, d. h. hat dafür so viel Evidenz, als 
für derlei Thatsächlichkeiten normalerweise nur immer zu ver* 
langen sein mag. Was zuvor auf apriorischem, zeigt sich hier 
auf ganz oder mindestens theüweise empirischem Erkenntniis- 
gebiete: die vermittelte Evidenz ist von der unvermittelten hur 
ihrer Provenienz nach verschieden, im Uebrigen ist aber die 
eine so gut Evidenz wie die andere. Zugleich entspricht dies 
«0 natürlich dem in den Bezeichnungen „mittelbar^ und „un- 
mittelbar^ sich aussprechenden Gegensatze, dafs man kaum 
^ders können wird, als in diesem Thatbestande den eigent^ 
liehen paradigmatischen Fall für alle Evidenzvermittlung zu 
vennutheD. ' 

Nun sind aber jedenfalls in der Regel die Umstände nicht 
iSo günstig, wie in den eben beigebrächten Beispielen. Die Be* 
gtündungen lind Beweise schon des täglichen Lebens, noch mehr 
die der Wissenschaft sind zumeist viel cömplicirter, imd die 
€bmplication macht sich einerseits in der Anzahl der zusammen* 
zuhaltenden Prämissen, andererseits in deren gegenständlicher 
Beschaffenheit geltend. In Folge dessen ist dann das schUefsende 
8„biec .nnJi auf^r S««d!, die Pr.au«en out jener An- 
schaulichkeit zu erfassen, die so oft die unentbehrHche Voraus* 
Setzung für unmittelbare Evidenz ausmacht Und selbst wer 
Gewissenhaftigkeit, Aufmerksamkeit und Zeit genug aufbringt, 
flämmtliche Prämissen hinter einander mit der ihnen zu- 
kommenden Evidenz zu urfiieilen, kann normalerweise dieses 
Vielerlei an Urtheilen und vollends die Evidenz für jedes dieser 
ürtheile nicht so lange festhalten, bis der Schlufssatz ins Reine ge* 
bracht ist. Gleichwohl müfste aber solches geleistet sein, da der 
dem Motivationsverhältnisse charakteristische „Hinblick" doch nur 
gegenwärtige Ürtheile betreffen kann, zudem aber, wie berührt, 
eigentliche Evidenz nicht aus evidenzlosen oder iii Bezug auf 
ihre Evidenz sozusagen minderwerthigen Thatbeständen zu ge-^ 
winnen ist. Hier also ist der Ort, wo die unter diesen Um* 
ständen gleichwohl zu Tage kommende „mittelbare Evidenz" 
des Schlufssatzes die Theorie vor da? eigentliche Problem dieser 
Evidenz zu stellen scheint 

Vielleicht ist indefs die Schwierigkeit doch leichter zu über^ 



^72 Vierte$ Kapitel. 

winden, als man fürs Erste erwarten möchte. Vor Allem mub 
man sich darüber klar werden, was für ein Evidenzsustand d^i 
Prämissen unter den gegebenen Umständen eigentlich zukommen 
kann. Gesetzt also, man habe sich zum Zwecke einer durch* 
zuführenden Argumentation auf einen Congruenzsatz zu berufen 
oder auch nur von dem oben besprochenen Satz über die Winkel- 
summe im Dreieck Gebrauch zu machen, ohne dafs man dabei 
noch einmal auf dessen Beweisgründe ausdrücklich eingehen 
kann. Wie steht es da mit der Evidenz ? Werden diese Urtheile 
dann etwa völlig evidenzlos gefällt? Ohne Zweifel kann es ge- 
schehen; mufs es aber? Und kann man auch nur für die Mehr- 
zahl der Fälle behaupten, dafs derjenige, der sich solcher Prä- 
missen in seinen Erwägungen bedient, diesen so gegenüberstehen 
wird, als wären es ganz willkürUch aus der Luft gegriffene 
Meinungen? Der Constructeur oder Rechner wird sicher viele 
mathematische Formeln und Lehrsätze anwenden, an deren 
Beweis er nicht denkt, vielleicht auch viele, deren Beweis er 
nicht sofort beizubringen im Stande wäre, aber keinen einzigen^ 
den er nicht für richtig hielte. Woher nimmt er aber diese 
Meinung ? Doch wohl in der Regel daher, dafs er sich erinnert,, 
den Beweis für die Richtigkeit des Satzes oder der Formel ein- 
mal nachgeprüft zu haben. Wenn dem aber so ist, kann man: 
mit aller Strenge behaupten, dafs ihm, indem er jetzt im Sinne 
jenes Satzes oder jener Formel urtheilt, für sein Urtheil jede 
Evidenz fehle? Jene apriorische Evidenz, die den eigenthüin- 
Uchen Vorzug mathematischen Erkennens vor vielem anderen 
Wissen ausmacht, die ist freilich verloren gegangen; ist aber 
die Erinnerung daran, diesen oder jenen Lehrsatz eingesehen zu 
haben, ja auch nur die Erinnerung daran, von seiner Richtigkeit 
mit Recht überzeugt gewesen zu sein, schlechter als die Er- 
innerung an ein Experiment, die man unbedenklich der Inductiou 
irgend einer Gesetzmäfsigkeit zu Grunde legt, — oder schlectter 
als die Erinnerung an die Begegnung mit dieser oder jener 
Persönlichkeit, die man unbedenklich im Alltagsleben als Ans- 
gangspimkt für praktische Consequenzen verwendet? So gewifo 
also dem Gedächtnifs Evidenz zukommt^, so gewifs sind auch 



' Vgl. meine Ausführungen „Zur erkenntnifstheoretischen Würdigung^ 
des Gedächtnisses" in der Vierteljahrsschrift f. wissensch. FhHos,, Jahrg. 1886^ 
S. 7 ff., auch HöFLBR Logik (Philosophische Propädeutik, Bd. I), a 123 f. 



Die AnndhmeschlilsM. 73 

die oljne Mitberücksichtigung ihrer Ableitung benutzten Formebi 
und Lehrsätze nicht Sache evidenzlosen Urtheilens. Nur ist es 
eine Evidenz von sozusagen niedrigerer Erkenntnifsdignität, 
welche an Stelle einer Evidenz höherer Dignität getreten ist: 
was mit Evidenz für Gewifsheit hätte geurtheilt werden können, 
tritt nur noch mit Evidenz für WahrscheinUchkeit auf, wenn es 
vieUeicht auch immerhin noch eine jener WahrscheinUchkeiten 
sein mag, die die Praxis des Erkennens und Handelns unbe- 
denklich für Gewifsheit nimmt. 

Nun müssen übrigens die Prämissen, um die es sich handelt, 
keineswegs immer apriorischer Beschaffenheit sem. Bei Er- 
wägungen, welche das Gebiet der theoretischen Mechanik oder 
auch sonst ein Capitel der Physik angehen, dann aber auch bei 
solchen aus beliebigen anderen wissenschaftlichen oder aufser- 
wissenschaftlichen Thatsachenbereichen kann es sich leicht genug 
zutragen, dafs einer sich in seinem Nachdenken auf Verall- 
gemeinerungen von Erfahrungen stützt, deren er sich dabei nicht 
im Emzelnen erinnert Vielleicht hat man freiUch auch schon 
von Haus aus ein Recht zu allerlei Urtheilen inductiven 
Charakters ohne ausdrückliche Erinnerung an die Instanzen, 
aus denen sie geschöpft sind. Aber auch abgesehen davon kann 
einer, der einmal etwas nach allen Regeln inducirt hat, sich ein 
andermal des Inductionsergebnisses bedienen, indem er sich 
daran erinnert, dies oder jenes festgestellt zu haben. Das Ver- 
trauen auf die Feststellungen Anderer, die Erinnerung daran, 
dafs man zu solchem Zutrauen Grund hatte und vielerlei Anderes 
mag hier noch mit in Frage kommen, darunter wohl auch 
mancherlei Arten von Vermuthungsevidenz, die sich gleich der 
des Gedächtnisses zur Anerkennung in der Erkenntnifstheorie 
«rst werden durchringen müssen, auf die aber an dieser Stelle ein- 
zugehen viel zu weit führen würde. Nur so viel darf nach dem 
Dargelegten hier wohl mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit 
behauptet werden: Wenn Jemand aus sozusagen äufseren 
Gründen ein Urtheil nicht mit der vollen oder genauer mit der 
erkenntnifstheoretisch höchststehenden Evidenz fällt, deren er 
resp. das Urtheil fähig wäre, so wird er normaler- und gewissen- 
hafterweise das Urtheil doch nicht ohne jede Evidenz fällen; 
es findet also zwar Verlust an Evidenz statt, aber sozusagen 
nicht völlige Vernichtung, sondern nur eine Art Evidenzherab- 



74 Viertes Kapitel 

Setzung, indem an Stelle einer Evidenz höherer eine Evident 
niedrigerer Erkenntniüisdignität tritt. 

Es ergiebt sich daraus, dafs die Schwierigkeit, die darin be- 
stünde, dafs der Conclusio eine Evidenz zukäme, die den Prä- 
roissen sÄmmtlich oder theilweise fehlt, eine nur scheinbare ist. 
Auch unter den ungünstigen Verhältnissen, von deren Be- 
frachtung wir hier ausgegangen sind, verlieren die Prämissen 
ihre Evidenz normalerweise nicht völlig, sondern diese erfährt 
nur eine Herabsetzung : eine Evidenz, welche diese herabgesetzte 
Evidenz an Dignität nicht übersteigt, wird also der Conclusio im 
HinbUcke auf sie ohne Bedenken zugesprochen werden können. 
Es müTste also nur noch etwa sein, dafs die Conclusio erfahrungs« 
gemäfs unter Umständen im Vergleiche mit den Prämissen allzu 
hohe Evidenzgrade zeigte. Damit hat es aber gar keine Gefahr : 
darauf weist schon die oft constatirte Thatsache hin, dafs man 
in der Regel des Erwiesenen nicht ganz in dem Maafse sicher 
ist wie der Beweisgründe. Es ist dann im Grunde nichts wesent* 
lieh Anderes, was in Schopbnhaubb*s bereits erwähnter Gegner- 
schaft gegen den EuKLin'schen Betrieb der Geometrie zur Geltung 
kommt. 

Das oben über Schlüsse aus apriorischen Prämissen Aus^ 
geführte hat gezeigt , dafs gelegentlich der Herabsetzung der 
Evidenz leicht auch eine Umwandlung des erkenntnifstheoreti- 
schen Charakters der betreffenden Urtheile eintritt, genauer 
dafs etwas, das von Natur fähig wäre, a priori erkannt zu 
werden, nun streng genommen nur noch als aposteriorische £r- 
kenntnifs zur Geltung kommt. Auch dieses entspricht der !Er- 
fahrung, insofern man gewöhnt ist, unter „Einsicht" speciell die 
apriorische, d. i. die aus der Natur der Vorstellungsgegenstände 
geschöpfte Einsicht zu verstehen. Wer dies thut, wird dann freilich 
leicht einen Schlufs aus apriorisch scheinenden Prämissen jener 
„Einsicht" baar finden, die er allein unter diesem Namen zu 
suchen pflegt, und insofern dem Vorwurfe, dafs etwa manche 
der EuKLiD'schen Beweise Ueberzeugung aber keine Einsicht 
herbeiführen, in seiner Weise nicht ohne Recht zustimmen. 

Wie nun aber, wenn das schliefsende Subject der oben ge- 
machten Voraussetzung entgegen seine Prämissen ganz ohne 
Evidenz heranzieht, in welchem Falle natürUch so gut wahre als 
falsche unterlaufen können? Wie, wenn es dabei doch nur 
richtige benützt und so zu einer brauchbaren Conclusio gelangt? 



Die Annahineschlüsse. 75 

In diesiBm Falle wird natürlich die Brauchbarkeit der Conclusio 
öichts daran ändern, dafs ihr thatsächlich die Evidenz in jedem 
eigentlichen Sinne so sicher fehlt als den betreffenden Prämissen. 
Was sie vor diesen voraus hat, ist nichts als die oben charak- 
terisirte „relative Evidenz**, die wir von Evidenz im genauen 
Wortsinne sorgfältig unterscheiden gelernt haben. Solche That- 
bestände sind sonach in das Problem der mittelbaren Evidenz 
eben gar nicht einzubeziehen, da bei ihnen keinerlei Evidenz 
vorliegt, weder eine unmittelbare noch eine mittelbare. 

Nun bleibt nur der zweite der oben namhaft gemachten 
Punkte zu berücksichtigen, die grofse Menge dessen, was unter 
Umständen in Einem Gedanken vereinigt werden soll: man sieht 
hier sogleich voraus, dafs dieser Umstand an der sonst be- 
währten Auffassung der Evidenz vermittelung schwerlich mehr 
etwas Erhebliches ändern wird. In der Thai scheint jetzt nur 
noch erforderlich, zweierlei in Rechnung zu ziehen. Einmal 
wird der Fähigkeit normaler IntelUgenz in dieser Richtung nicht 
allzu wenig zugetraut werden dürfen. Dann aber wird ?u berück- 
sichtigen sein, dafs dem Denken hier die allerveirschiedensten 
Hülfen die Arbeit theilweise abnehmen, theilweise erleichtern. 
Hierher gehören Symbole , Formeln und Operationen an den- 
selben, hierher Hülfs- und Zwischengedanken, die es eventuell 
ermöglichen, auch Urtheile, die nicht mehr haben gegenwärtig 
bleiben können, doch noch sozusagen indirect mit einzubeziehen. 
Ein einfachstes Beispiel mag ein Schlufs nach der Form „Ä ist 
5, B ist C, C ist D ...... , M ist iV, daher ist Ä N" darbieten, 

wo gewifs nicht alle Prämissen zugleich gegenwärtig bleiben 
werden. Wenn hier das Subject etwa den Gegenstand A 
hur ausreichend in Gedanken festhält, um bei jedem Schritte zu 
wissen, dafs das neu hinzukommende Prädicat auch von Ä 
gelten müsse, so resultirt daraus zusammen mit dem in seiner 
Weise evidenten Gedächtnifsurtheil über die Provenienz des so 
Gewonnenen freilich wieder eine Evidenz, die erkenntnifstheore- 
tisch niedriger steht als die der Prämissen, vielleicht auch 
hiedriger als die, welche durch Reflexion über den Rang der 
Prämissen und deren Verhältnifs zur Conclusio noch nachträg- 
lich zTi erzielen sein mag, — aber am Ende eben doch wieder 
eine Evidenz. Es möchte natürlich zu weit führen, sollte hier 
der Versuch gemacht werden, der Mannigfaltigkeit einschlägiger 
Thatsachen nachzugehen, deren genauere Feststellung übrigenä 



76 Vierte» Kapitel 

der Psychologie des Erkennens eine Fülle dankbarer Aufgaben 
stellen dürfte. Für die nächsten Zwecke dieser Untersuchung 
genügt wohl das Dargelegte, um die allgemeine These zu be- 
gründen, dafs die mittelbare Evidenz sich von der unmittelbaren 
im Princip wirkKch nur durch ihre Herkunft unterscheidet, 
immerhin aber in der Regel die Spuren dieser Provenienz auch 
noch in einem Verluste an Erkenntnifsdignität gegenüber einzelnen, 
vielen oder auch allen Prämissen an sich tragen wird. Was aber 
eben als charakteristische Herkunft bezeichnet worden ist, besteht 
zunächst in nichts weiter als in jenem VerhältniTs zwischen 
Motiv und Motivat, in jenem Urtheilen „im Hinblick" auf eine 
bereits vorgegebene Ueberzeugung , wie solches uns zuerst bei 
evidenzlosem Urtheilen entgegengetreten ist und auf den Fall 
des mit Evidenz ausgestatteten Urtheilens und Schliefsens ein- 
fach übertragen werden kann. 

§ 18. 
Das Erfassen der formalen Richtigkeit von Schlüssen 

und das hypothetische Urtheil. 

VieUeicht hat der Leser der vorstehenden Ausführungen 
eine eingehendere Berücksichtigung des oben nur kurz berührten 
„Schlufsurtheils" erwartet und hat nunmehr insbesondere der 
hier vertretenen Auffassung der mittelbaren Evidenz gegenüber 
noch auf unerledigte Bedenken hinzuweisen, die auf die Nicht* 
berücksichtigung eben dieses „Schlufsgesetzes" zurückgehen. Wirk- 
lich hat sich bisher alle Theorie des Schliefsens gerade bei diesem^ 
„Gesetze" mit besonderer Vorliebe aufgehalten. Dann lehrt aber 
auch allem Anscheine nach die directe Erfahrung, dafs gerade 
hinter diesem „Gesetze" ein der Evidenz in besonders auffälliger 
Weise zugänglicher Thatbestand steckt. Was aber vor Allem 
wichtig ist: die hier zur Geltung kommende Evidenz scheint 
von Evidenz, ja selbst Gültigkeit der Prämissen wie der Conclusio 
so wenig abhängig, nimmt vielmehr eine so selbständige Stellung 
ein, dafs man sich längst daran gewöhnt hat, von der „formalen 
Richtigkeit" eines Schlufses ganz ohne Rücksicht auf die „ma- 
terielle Wahrheit" der darin auftretenden Urtheile zu handeln. 
Ja man legt bei Feststellung der beim Schliefsen in Frage 
kommenden Gesetzmäfsigkeiten augenscheinlich gar keinen Werth 
darauf, mit wirklichen Urtheilen als Prämissen und Conclusionen 



DU Annahmeschlüsse, 77 

ZU operiren, indem man alles Erforderliche ganz wohl an fin- 
girten Urtheilen einzusehen vermag, deren Richtigkeit man ohne 
Schaden in suspenso läfst, falls man nicht etwa gar von ihrer 
„materiellen" Falschheit überzeugt ist. Und ohne Zweifel ver- 
dienen diese Thatsachen die Aufmerksamkeit eines Jeden, der 
über üeberzeugungs- und Evidenzvermittelung zur ausreichenden 
Klarheit gelangen will: aber erst vom Standpunkte des eigent- 
lichen Gegenstandes der gegenwärtigen Ausführungen betrachtet 
stellen sie sich als der nächste Grund dar, um dessen willen im 
Obigen eine Art Digression nach den Fragen der mittelbaren 
Evidenz hin unternommen werden mufste. Hoffentlich wird sich 
nun als bald herausstellen, dafs eine solche Digression zur Ge- 
winnung einer einigermaafsen sicheren Grundlage für das Folgende 
tmerläfslich war, — zugleich aber auch, dafs eben dieses Folgende 
Anspruch darauf hat, in einer Untersuchung über „Annahmen" 
seine Stelle zu finden. 

Was geht also vor, wenn ich, wie man mehr kurz als genau 
sagt, aus Prämissen eine Conclusion erschliefse, in Bezug auf 
welche ich meine Ueberzeugung ganz ebenso in suspenso lasse 
wie in Bezug auf die Prämissen, falls ich nicht etwa sogar von 
der Ungültigkeit sowohl des Schlufssatzes wie seiner Voraus- 
setzungen überzeugt bin? Dafs hier in Wahrheit nicht wirklich 
geschlossen wird, ist klar, dagegen liegt es nahe, die Eyidenz, 
die hier ohne Zweifel vorliegt, auf das Urtheil über einen Sach- 
verhalt zu beziehen, der beim wirklichen Schliefsen seine Be- 
deutung bewährt hat und im gegenwärtigen Falle sozusagen nur 
um der Eventualität wirklichen SchUefsens willen Beachtung 
findet. Genauer etwa: man trifft an den Schlüssen, den wirk- 
lichen natürlich, gewisse übereinstimmende Aeufserlichkeiten an : 
man hebt sie als „Form" heraus, die man dann mit einer be- 
liebigen „Materie" ausfüllen kann, um damit nur zu behaupten, 
dafs, falls die Prämissen zu Recht bestünden, auch die Conclusion 
mit Recht zu fällen wäre. An dem vorliegenden Quasischlusse 
wäre demnach eigentUch gar nichts einzusehen, als dafs er eine 
„Form" aufweist, die sich an erfolgreichen, d. h. zu Einsichten 
führenden Schlufsvorgängen thatsächUch bereits erprobt hat. 
Nun ist es ja wirkUch aufser Zweifel, dafs unser Wissen über 
„Denkformen" zunächst unseren Erfahrungen am lebendigen 
Denken entstammt. Sind wir aber, um die Gültigkeit des Modus 
Barbara oder Celarent einzusehen, wirklich auf Induction aus I 



78 Viertfis Kapitel. 

einer Reihe experimenteU zu ziehender oder doch der Erinnerung 
zu entnehmender Schlüsse angewiesen ? Ich kann keinen Augen- 
blick darüber im Zweifel sein, dafs zur Erzielimg der ganzen 
hier erf orderUchen , ja der zunächst hiefür charakteristischen 
Evidenz der QuasischluTs trotz Ungültigkeit oder Unausgemacht- 
heit seiner Bestandstücke ganz allein ausreicht: damit ist dann 
aber auch erwiesen, dafs der „richtigen Form" eben doch eine 
andere als die eben versuchsweise erwogene Bedeutung zu- 
kommen mufs. 

So findet man sich ganz von selbst auf die Auffassung des 
„Schlufsgesetzes" als hypothetischen Urtheiles hingedrängt, das die 
Grundlagen seiner Evidenz in sich selbst trägt, oder wenigstens 
tragen kann. Daran, in diesem „Schlufsgesetz" das Wesen des 
„wirklichen^ Schlusses zu suchen, kann nach Obigem natürUch 
nicht mehr gedacht werden ; davon ist jetzt aber auch gar nicht 
die Rede. Dagegen fragt sich nun, ob die Einsicht in die 
„formale Richtigkeit" eines Schlufsverfahrens auch wirklich als 
Evidenz eines hypothetischen Urtheils beschrieben werden kann. 

Es wird aber vor Allem billig in Zweifel gezogen werden 
dürfen, ob durch eine Zurückführung auf das hypothetische 
Urtheil, falls sie sonst statthaft sein sollte, wirklich etwas 
Bekannteres an die Stelle eines minder Bekannten gesetzt wäre. 
Denn auch in betreff dessen, was man im hypothetischen Urtheile 
eigentUch vor sich hat, dürfte das Wichtigste noch einer Fest- 
stellung bedürftig sein. Es wird dies nicht befremden können, 
falls sich im weiteren Verlaufe dieser Darlegungen herausstellen 
sollte^, dafs auch hier eine theoretische lüärxmg ohne Heran- 
ziehung der Annahmen nicht zu erreichen ist : fürs Erste genügt 
es, auf einige von den Schwierigkeiten hinzuweisen, die hier 
noch zu erledigen sind. 

Es sei dabei zunächst vorausgesetzt ^ dafs das, was die 
Logik-Tradition unter dem Namen des hypothetischen Urtheib 
zusammenf afst , auch wirklich allemal auf den Namen eines 
Urtheils Anspruch habe. Dann ist die Frage nach dem Gegen- 
stande eines solchen Urtheils sicherUch eine erstberechtigte und 
auch keineswegs unbearbeitete. Es ist eine sehr wichtige, aber 
einer besonderen Darlegung wohl längst nicht mehr bedürftige 



1 Vgl. unten § 20. 

^ Mit wie viel Becht^ mufs sich ebenfaUs erst zeigen^ vgl. unten a. a. 0. 



Die Annahmeschlüase. 79 

Tbatsache, dafs man dasjenige, was im hypothetischen Urtheile 
eigentlich aförmirt oder negirt wird, weder im Vorder- noch im 
Nachsatze zu suchen hat, sondern sozusagen in der Mitte zwischen 
beiden, in der Relation, die sie verbindet. Wo aber eine Relation 
beurtheilt wird, da sind die Glieder dieser Relation zwar nicht 
das erste, sicher aber das zweite, dessen Feststellung erforderlich 
ist, und auf sie bezieht sich unsere Fragestellung. Das hypothe- 
tische Urtheü betrifft zunächst, das wissen wir, einen Zusammen- 
hang: aber einen Zusammenhang zwischen was für Gliedern? 
Gerade in unserem speciellen Falle liegt hierauf eine Antwort 
nahe, von der dann immerhin unausgemacht bleiben könnte, in- 
wiefern sie eine Ausdehnung auf das Gesammtgebiet des hypo- 
thetischen Urtheils gestattet. Man kann nämUch vermuthen : das, 
zwischen dem der Zusammenhang in Anspruch genommen wird, 
seien die Prämissen einerseits, die Conclusio andererseits, Urtheile 
also, die in den uns derzeit zunächst beschäftigenden Fällen 
suspendirter oder gar gegensätzlicher Ueberzeugung nun freilich 
nicht wirklich gefällt, sondern blos vorgestellt sind.^ Ich stelle mir 
also etwa vor, dafs ich die Prämissen urtheile : ich komme dann 
zur Evidenz dafür, dafs diese Urtheile nur mit dem in der 
Conclusio gegebenen dritten Urtheile verträgUch sind, dafs also, 
wenn jene gelten, auch diese gelten mufs, oder wie man es sonst 
ausdrücken mag. 

Auf die Determinationen, die diese Auffassung im Einzelnen 
annehmen kann, meine ich indes genauer nicht eingehen zu 
müssen, weil schon ohne Rücksicht auf diese Ausgestaltungen 
die Unhaltbarkeit des Hauptgedankens ausreichend deutUch ist, 
wenn man ihn der Erfahrung gegenüberstellt. Diese lehrt ja 
deutlich ^ dafs, indem ich etwa die Gültigkeit des vielberufenen 
Modus Barbara einsehe, ich weder an mich, noch an mein 
Urtheilen, sondern blos an die betreffenden Subjecte, Prädicate 
und deren Relationen denke. Die Rolle, welche beim wirklichen 
Schliefsen dem wirklichen Urtheilen zufällt, im Falle blofsen 
Erfassens der Schlufsformen dem vorgestellten Urtheilen 
zuzuweisen, ist also ein ganz unempirisches und darum un- 
brauchbares Auskunftsmittel. 

Da wäre es schon beträchtlich natürUcher, nach einer Relation 



^ So EumeStudien 2, S. 107. 

* Völlig übereinstimmend mit den oben S. 57 erwogenen Fällen. 



gO Vierfes Kapitel. 

zwischen den Gegenständen von Prämissen und Conclusio 
zu suchen. Wirklich handelt das hypothetische Urtheil „wenn 
AB und BC ist, dann ist auch A 0\ nicht von Urtheilen, sondern 
von A, By C und etwa noch von den in den kategorischen Aussige- 
formen mehr oder minder deutUch hervortretenden Relationen 
zwischen Subject und Prädicat. Dasselbe gilt natürlich auch von 
hypothetischen Urtheilen, die sich zu Schlüssen nicht in so 
offenkundige Beziehung setzen lassen, wie das eben formelhaft 
ausgedrückte, also etwa von dem Urtheile : „Wenn A B ist, dann 
ist CD", ebenso, mutatis mutandis natürUch, von dem Urtheile: 
„Wenn A ist, so ist Ä" An der Anwendbarkeit dieser Position 
auf sämmtliche hypothetischen Urtheile ist also nicht zu zweifeln, 
falls sie sonst nur das Richtige trifft. 

Dafs dies letztere nun aber immer noch nicht der Fall ist, 
das kann man jedem Beispiele entnehmen, das einen Vorder- 
oder Nachsatz negativer Qualität aufweist, ein Fall, der ja der 
formalen Logik längst bekannt ist. Es sei also etwa das 
hypothetische Urtheil gegeben: „Wenn dieses Dreieck gleich- 
seitig ist, dann ist es nicht rechtwinklig." Wie läfst sich auf 
dieses Beispiel der eben zur Discussion gestellte Gesichtspunkt 
anwenden? Genauer: wo sind hier die Gegenstände, zwischen 
denen als Inferioren die für jedes hypothetische Urtheil wesent- 
Uche Zusammenhangsrelation behauptet wird ? Wäre der Nach- 
satz gleichfalls affirmativ, wie etwa in dem sonst mögUchst 
analog gebauten Urtheile „wenn ein Dreieck gleichseitig ist, so 
ist es auch gleichwinklig", dann möchte die Antwort leicht 
scheinen: es handelt sich darin eben um den Zusammenhang 
von Gleichseitigkeit und Gleichwinkligkeit. Spätere Unter- 
suchungen^ werden uns zur Einsicht führen, dafs die Einfach- 
heit dieser Sachlage nur eine scheinbare, jedenfalls eine von der 
bei Negationen in keiner Weise charakteristisch verschiedene ist 
Im gegenwärtigen Zusammenhange haben indefs Negationen 
den schon wiederholt bewährten Vorzug, charakteristischer zu 
sein. Versuchen wir nämlich, in unserem eigentlichen Beispiele, 
dem von der hypothetisch negirten Rechtwinkligkeit, die Aus- 
gangsfrage möglichst analog wie im Beispiele von der Gleich- 
winkligkeit zu beantworten, so müssen wir etwa sagen: das 
hypothetische Urtheil behauptet hier den Zusammenhang der 



^ Vgl. Kap. VII. 



Die Annahmeschlüsse. gl 

Gleichseitigkeit mit der — Nicht-Rechtwinkligkeit. Giebt es aber 
eineD Gegenstand ^Nicht-Rechtwinkligkeit^^ ? Es war eines der 
«rsten Ergebnisse der in dieser Schrift durchgeführten Unter- 
isuchungen^ dafs dem nicht so ist: die Frage nach dem durch 
den Nachsatz repräsentirten Inferius der Zusammenhangsrelation 
ist sonach eine offene. Wir werden weiter unten erkennen, dafis 
im Grunde, wie angedeutet, das Problem für affirmative Vorder- 
resp. Nachsätze nicht anders steht als für negative, und dürften 
wohl auch dann in der Lage sein, das Problem zu lösen.* Für 
jetzt muTs der Hinweis auf dasselbe genügen: schon hier aber 
verdient die Thatsache registrirt zu werden, dafs, wenn im 
hypothetischen Urtheile Vorder- und Nachsatz von Natur keine 
ürtheile ausdrücken, gleichwohl aber bei ihnen der Gegensatz 
von Affirmation imd Negation Anwendung hat, wir es hier jeden- 
falls mit Annahmen zu thun haben müssen. In welcher Weise 
sie im hypothetischen Urtheile functioniren, darauf wird eben 
weiter unten zurückzukommen sein. 

Wie man also sieht, wäre für die Aufklärung der „formalen 
Richtigkeit" materiell suspendirter Schlüsse wenig genug gethan, 
wenn man solche Schlüsse als hypothetische Urtheile darstellen 
könnte. Nim kann man sich aber auch leicht davon überzeugen, 
dafs eine solche Zurückführung aus formalem wie aus materialem 
Grunde unstatthaft ist. Um Ersteres einzusehen, müssen wir 
hier noch für einen Augenblick die Natur jener Relation ins 
Auge fassen, von der vorhin bereits als dem eigentlichen 
Gegenstande des hypothetischen Urtheiles die Rede war, eben 
derjenigen, deren Inferiora in befriedigender Weise namhaft zu 
machen wir uns für jetzt aufser Stande gefunden haben. Die 
Frage nach der Beschaffenheit dieser Relation mag auf den 
ersten Blick auch nicht eben schwer beantwortbar scheinen, wenn 
man bedenkt, wie geläufig uns Gedanken wie der der Bedingung, 
der Voraussetzung und dgl. zur Verfügung stehen. Hält man 
sich aber von augenfälligen Künstlichkeiten wie Heranziehung 
der Unverträglichkeit des Gegentheiles ^ u. dgl. fern, so tritt von 
selbst die Relation zwischen Erkenntnifsgrund und Erkenntnifs- 
folge in den Vordergrund, und es erscheint keineswegs unsach- 



^ Vgl. oben Kap. I, § 2. 

« Vgl. unten § 20. 

* Meine eigene Position in Hume-Studien 2, S. 105 ff. 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. II. 6 



82 Viertes Kapitel. 

gemäfs, wenn man das Urtheil „wenn Ä ist, so ist JS"' so inter- 
pretirt: „Aus dein Sein des A kann ich das des B erkennen^**. 
Da aber der, welcher dem hypothetischen Urtheile zustimmt, 
sieh darum doch weder für das Sein des Ä noch für das des B 
zu verbürgen braucht, so ist durch diese Wendung gerade da» 
Problem, das wir oben mit Bezug auf die Schlufsformen in 
Angriff genommen haben, nun auf das Gtosammtgebiet de» 
hypothetischen Urtheils ausgedehnt und zugleich die Möglichkeit 
verloren, dasselbe durch Berufung auf das hypothetische Urtheil 
zu lösen. Denn besagt das hypothetische Urtheil, genauer die 
dafür charakteristische oder wenigstens bisher stets für charakteri- 
stisch genommene Wenn-Relation nichts weiter als eben dies, 
dafs der Nachsatz günstigen Falles „im Hinblick" auf den Vorder- 
satz würde eingesehen werden können, so hat die Frage, wie 
solches zu erkennen sei, ehe Vorder- und Nachsatz wirklich 
geurtheilt werden, genau dieselbe Schwierigkeit an sich wie die 
Frage, wie ich die „formale Richtigkeit" eines Schlusses erkennen 
kann, den ich doch nicht ziehe, und es wäre der ofEenbare 
Cirkel, wollte man versuchen, die letztere Frage durch Hinweis 
auf das hypothetische Urtheil zu beantworten. 

Es erübrigt nun nur noch der Hinweis auf das, was ich 
eben den materialen Grund nannte, der eine Reduction der uns 
beschäftigenden Schlüsse auf das hypothetische Urtheil verbietet 
Es ist nichts weiter als die Berufung auf die directe Empirie,, 
die schon für sich allein in dieser Sache deutUch genug spricht 
Wenn ich mir einem jener Schlüsse aus suspendirten Prämissen 
gegenüber die Frage vorlege, ob ich unter normalen Umständen 
da ein Urtheil über einen Zusammenhang fälle, so kann ich 
nicht anders als dies entschieden in Abrede stellen. Freilich 
könnte es begegnen, dafs man auch manchem Thatbestande 
gegenüber, den alle Welt „hypothetisches Urtheil" nennen wird^ 
in einige Verlegenheit geriethe, wenn man darin das Urtheil 
über die Zusammenhangsrelation agnosciren sollte. Wir kommen 
hierauf weiter unten ^ zurück: für jetzt aber haben wir es eben 
mit jenem Zusammenhangsurtheile zu thun, und in betreflE dieses 
Urtheils müssen wir wohl zusammenfassend sagen, dafs es aus 
den verschiedenartigsten Gründen der Lösung unseres Problems 
nicht nutzbar zu machen ist. 

' Vgl. § 20. 



Die AnnahmesMüsse. 83 

§ 19. 
Annahmeschlüsse und Urtheilsschlüsse. 

Fassen wir also das Wesentliche dieses Problems noch ein- 
mal, und zwar von einer anderen Seite her ins Auge. Die 
eigentliche Schwierigkeit haben wir ja doch darin gefunden, dafs 
ein Zusammenhang zwischen Urtheilen eingesehen werden soll, 
die man gar nicht fällt Mit der im Schliefsen liegenden That- 
sache, dafs man urtheilen kann „im Hinblick^^ auf andere 
Urtheile, und dafs man auf diesem Wege zu sonst unerreich- 
baren Einsichten gelangen kann, haben wir xms als mit einer 
letzten Thatsache abgefunden. Was soll aber der „HinbUck", 
wenn sozusagen nichts da ist, worauf hingeblickt werden könnte ? 
Diesem Mangel wäre abgeholfen, wenn der Schlufs, auf dessen 
„Form" es gerade ankommt, sozusagen probeweise doch gezogen, 
d. h. wenn die Prämissen wirklich geurtheUt würden und dann 
„im HinbUck" auf sie auch die Conclusio. Um eine bleibende 
Ueberzeugung dürfte sichs dabei freilich nicht handeln: diese 
soll ja unserer Voraussetzung nach günstigsten Falles in suspenso 
bleiben. Aber könnte man diese Suspension oder gar gegen- 
theihge Ueberzeugung nicht vorübergehend aufgeben und so 
auch der an das Fällen der Prämissen geknüpften Einsicht 
in die Conclusio theilhaftig werden? 

Wir sind damit auf einen Gedanken zurückgekommen, der 
uns bereits im vorigen Kapitel wiederholt^ beschäftigt hat. In 
der That befinde ich mich ja wirklich beim Schlüsse, den ich, 
gleichviel wie er mir „gegeben" sei, verstehe, ohne ihn doch 
zum meinigen zu machen, in einer einigermaafsen ähnlichen 
Lage, wie gegenüber den Erzählungen oder sonstigen Mitthei- 
lungen eines Anderen, die ich verstehe, ohne die darin aus- 
gesprochene Ueberzeugung zu theilen. Es ist daher nicht 
erstaunlich, dafs nunmehr auch in Bezug auf den Schlufs die 
Hypothese vom willkürlichen Ueberzeugungswechsel sich Geltung 
zu verschaffen sucht. Natürlich wird es aber entbehrlich sein, 
auf die bereits dargelegten Ablehnungsgründe noch einmal 
zurückzukommen, obwohl die fragliche Hypothese gerade in ihrer 
Anwendung auf den Schlufs aus suspendirten Prämissen sich in 
günstigerem Lichte präsentiren möchte. Dagegen darf der 

* VgL oben S. 49, 57, 60. 

6* 



64 Viertes Kapitel 

Umstand nicht unbeachtet bleiben, dafs, wer den seinerzeit 
dargelegten Einwendungen statt giebt, sich des Eindruckes nicht 
völlig entschlagen kann, dafs die durch sie widerlegte Position in 
irgend einer Hinsicht doch in den Zeugnissen directer Empirie 
eine Art Stütze findet. Im Grunde ist es ja auch etwas 
ganz Natürliches, dafs, wer einen Gedankengang auf seine Folge- 
richtigkeit prüfen will, sich gleichsam in denselben hinein- 
versetzen, ihn insofern vorübergehend zu seinem eigenen machen 
mufs. Hierin liegt der schon oben in Aussicht gestellte Hinweis 
auf die wirkliche Sachlage. Es fragt sich eben wieder nur, ob 
jenes „sich Versetzen" in der That um keinen anderen Preis als 
um den eines, wenn auch vorübergehenden Ueberzeugungswechsels 
zu erzielen ist. Schon die Alltags-Psychologie hat die Antwort 
bereit: wenn ich mich in die Ueberzeugungslage eines Anderen 
versetze, so bin ich zwar durchaus nicht, auch nicht vorüber- 
gehend, der Meinung des Anderen, ich „thue aber so", als ob 
ich dieser Meinung wäre. Dieses „so thun" begegnet uns hier 
nicht zum ersten Male : und auch hier gilt es vor Allem festzu- 
stellen, welcher intellectuelle Zustand, wenn man so sagen darf, 
dafür die Grundlage abgiebt. 

Die Untersuchung kann diesmal insofern leicht eine Art 
experimentellen Charakters annehmen, als man ein solches „sich 
Versetzen" in einen fremden Gedankengang ja leicht zum Unter- 
suchungszwecke durchführen kann. Ich wähle dazu sogleich ein 
möglichst starkes Beispiel, einen Fall, wo der betreffende Ge- 
dankengang nach meiner — und muthmaaTslich wohl auch eines 
jeden Lesers — Ueberzeugung ein „materiell" zweifellos irriger 
ist. Ich denke an David Hume's Causaltheorie ihrem positiven 
Theile nach, zu dessen Ungunsten längst die Acten ungefähr 
ebenso endgültig geschlossen sind als zu Gunsten des negativen 
Theiles. Wer diese positiven Aufstellungen würdigen will, stöfst 
darin bekanntlich auf die folgenden Gedanken: Urtheilen ist 
wesentlich nichts als lebhafteres Vorstellen. Association bethätigt 
sich nicht nur darin, dafs vorgegebenen Vorstellungen gesetz- 
mäfsig andere folgen, sondern auch in der gröfseren Lebhaftig- 
keit der associirten Vorstellungen, falls die associirenden be- 
sonders lebhaft sind. Es kann daher als Associationsfall ge- 
deutet werden, wenn eine Wahrnehmung zum Glauben an die 
Existenz eines Unwahrgenommenen führt, das mit dem Wahr- 
genommenen ausreichend oft zusammen angetroffen worden ist 



Die Annahmeschlüsse, g5 

Von den hier vorliegenden Prämissen ist die erste ohne Zweifel 
falsch, die zweite, wenn überhaupt, so innerhalb weit engerer 
Grenzen gültig, als zur Stützung von Hüme's Hauptgedanken 
erforderlich wäre. Dennoch kann man der Argumentation eine 
gewisse innere Stringenz nicht absprechen. Wie fängt man es 
an, dieselbe einzusehen? 

- Die Erfahrung scheint mir über das Vorgehen, das hier mit 
leichter Mühe zum Erfolg führt, einen Zweifel nicht aufkommen 
zu lassen. Vor Allem darf ich mich durch meine Ueberzeugung 
von der Falschheit oder Fragwürdigkeit der beiden Prämissen 
nicht bestimmen lassen, wie man manchmal sagt, d. h. ich darf 
nicht etwa negative Urtheile in betreff dessen fällen, was positiv 
beurtheilt die HuME'schen Voraussetzungen ausmacht. Das besagt 
aber durchaus nicht, dafs ich nun plötzlich für wahr halten 
müfste, was ich sonst für falsch halte. Es genügt vollkommen, 
wenn ich für den augenblicklichen Zweck nur annehme, dafs 
Urtheilen mit lebhaftem Vorstellen zusammenfalle u. s. f. Und 
wer nicht etwa durch die früheren Ausführungen sozusagen seine 
terminologische Unbefangenheit verloren hat, wird gewiss nicht 
den Eindruck haben, dafs das bei Formulirung dieser Forderung 
verwendete Wort „annehmen" dabei eine irgendwie technisch 
exclusive Verwendung erfahren hätte. Ich stehe aber nun 
natürlich gar nicht an, auch den vom Anfang der vorliegenden 
Untersuchungen an festgehaltenen ganz technisch strengen Sinn 
des Wortes in Anspruch zu nehmen und allgemein zu be- 
haupten : um die formale Bündigkeit eines Schlusses einzusehen, 
den man nicht wirklich zieht, ist nichts weiter erforderlich, als 
dort Annahmen einzusetzen, wo der wirkliche Schlufs Urtheile 
aufweist, sei es an Stelle der Prämissen, sei es an der der Con- 
clusio. Eine Legitimation von geradezu handgreiflicher Deutlich-; 
keit findet dies Vorgehen in dem Umstände, dafs dergleichen 
nicht geurtheilte Prämissen und Conclusionen eventuell wieder 
auch negativ sein können, die Negation aber auch hier ergiebt, 
dafs es sich gewifs nicht blos um Vorstellungen, sonach, falls 
nicht um Urtheile, so sicherlich um Annahmen handelt. Den 
Voraussetzungsannahmen steht dann eine Schlufsannahme gegen- 
über, und dieser eignet „im Hinblick" auf die Voraussetzungs- 
annahmen ein charakteristischer Zug, der jener mittelbaren 
Evidenz bei wirklichen Schlüssen in ähnlicher Weise nahe steht, 
wie die Annahme selbst dem Urtheile. Noch gröfser möchte 



86 Viertes Kapitel 

immerhin die Aehnlichkeit mit jenem eigenthümlichen Zustande 
sein, den wir oben^ an Schlüssen aus evidenzlosen Prämissen 
angetroffen und als „relative Evidenz^ bezeichnet haben. Doch 
soll auf diesen Punkt in späterer Untersuchung ^ noch besonders 
zurückgekommen werden. 

Es scheint mir kein gering anzuschlagender Vorzug der hier 
vorgelegten Lösung unseres Problems, dafs dabei die Verwandt- 
schaft dieser uneigentlichen Schlüsse den eigentlichen gegenüber 
bei aller Verschiedenheit der Sachlage hier und dort gleich- 
wohl in dem für das SchUefsen wesentlichen Punkte gewahrt 
bleibt Man begreift unter diesen Voraussetzungen ganz wohl, 
weshalb man die uns hier beschäftigende Operation an den sus- 
pendirten oder gar verworfenen Prämissen ohne Weiteres als 
„Schliefsen" bezeichnet, obwohl ein Schlufs im gewöhnlichen 
Sinne gar nicht vorliegt, in diesem Sinne also auch nicht ge* 
schlössen wird. Es wäre dies unverständlich, wenn dergleichen 
Erfassen der „blofsen Form" vom SchUefsen so weit abläge, wie 
etwa das Fällen eines Relationsurtheiles vom Gewinnen der 
Evidenz für ein ürtheil aus anderen ürtheilen eben liegen mufe. 
Dagegen ist das Gewinnen der Evidenz für eine Annahme aus 
anderen Annahmen ein dem eigentlichen SchUefsen ganz analog 
gebildeter Vorgang; es ist daher ganz begreiflich, dafs für den 
Gebrauch des Wortes „SchUefsen" hinter dieser Analogie die an 
sich gewifs nicht unbeträchtlichen Verschiedenheiten zurück- 
treten. 

Bin ich also mit dem Vorstehenden im Rechte, so kann 
man sagen : Schlüsse aus suspendirten oder eigentUch besser aus 
nicht geurtheilten Prämissen sind durchaus nicht Urtheile 
über eine „Form" in abstracto, auch nicht das, was man sich 
gewöhnlich unter hypothetischen ürtheilen zu denken pflegt 
Sie sind vielmehr in ihrer Weise wirkUch Schlüsse, und was sie 
von den Schlüssen im gewöhnUchen Sinne unterscheidet, ist zu- 
nächst dies, dafs ihre Prämissen und ihre Conclusio nicht Ur- 
theile sondern Annahmen sind. Man hat insofern das volle 
Recht, Schlüsse dieser Art unter dem Namen der Annahme- 
schlüsse den gewöhnlichen Schlüssen als ürtheilsschlüssen an 
die Seite zu steUen : die Prägung der neuen Termini rechtfertigt 
sich ohne Weiteres durch ihre charakterisirenden Functionen. 



' Vgl. § 16. 

• Vgl. unten § 58. 



Die Ännahmeßlle, 87 

§ 20. 
Hypothetische Urtheile als Annahmeschlüsse. 

Wir müssen nunmehr auch noch einmal auf die oben nicht 
tu Ende geführte Betrachtung des sogenannten hypothetischen 
ürtheils zurückkommen. Wie schon berührt, wurde dabei 
die Voraussetzung gemacht, dafs, was man herkömmlich als ein 
43olches hypothetisches Urtheil zu bezeichnen pflegt, auch wirk- 
lich ein Urtheil sein werde, näher ein Urtheil über eine Zu- 
sammenhangsrelation, bei dem die oben berührte Unklarheit in 
betreff der Natur des Beurtheilten bereits umsomehr befremden 
durfte, je häufiger „Urtheile" dieser Art thatsächlich anzutreffen 
fiind. Es ist nunmehr an der Zeit, die Erfahrung darauf hin zu 
befragen, ob bei solchen „hypothetischen Urtheilen" wirklich 
■auch jedesmal oder doch wenigstens in der Regel überhaupt 
geurtheilt wird. 

Gesetzt also, es spreche jemand den Satz aus: „Wenn man 
von der Spitze des gleichschenkeligen Dreieckes auf dessen 
Grundlinie ein Lot fällt, so wird diese halbirt" ; was wird nor- 
malerweise im Redenden vorgehen? Ist insbesondere und vor 
Allem etwas von einem Urtheile über einen Zusammenhang zu 
merken? Ich kann nicht anders, als nochmals darauf erwidern, 
dafs in dem durch obigen Satz ausgedrückten Gedanken zwar 
ganz sicher das gleichschenkelige Dreieck, dessen Grundlinie und 
Höhe eine Rolle spielen, dafs sich aber ein allfälliger Gedanke 
an einen Zusammenhang in der Regel durchaus nicht leicht will . 
ausfindig machen lassen. Woher nimmt man hier also eigent- 
lich das Recht, ein Urtheil über einen Zusammenhang, ja über- 
haupt auch nur ein Urtheil herein zu interpretiren? Am Ende 
doch nur aus der an sich freilich ganz richtigen Beobachtung, 
dafs beim „hypothetischen Urtheile" die Sphäre „blofsen Vor- 
stellens" überschritten ist: ist dem wirklich so, so wissen wir 
bereits hinlänglich sicher, wie wenig damit allein der Nachweis 
für das Gegebensein eines Ürtheils erbracht ist. 

Zudem giebt es noch eine Art indirecten Anzeichens dafür, 
dafs man es beim „hypothetischen Urtheil" als solchem in Wahrheit 
schwerlich mit einem wirklichen Urtheil zu thun haben möchte. 
Es ist doch immer eine wunderliche Sache um eine Art Urtheil, 
das nur affirmativ und nie negativ ausfallen könnte. Drückt • 
nun aber die Wendung „Wenn . . . . , so .... " ein Urtheil 



88 Viertes Kapitel 

aus, SO kann das überhaupt nur ein affirmatives Urtheil sein. 
Ein negatives hypothetisches Urtheil giebt es der Natur der 
Sache nach nicht: denn dafs Vorder- wie Nachsatz negativ sein 
können, kommt ja hierfür gar nicht in Frage. Weit eher könnte 
man sich versucht fühlen, den Rang von Gegeninstanzen für 
Aussagen wie die folgende in Anspruch zu nehmen : „Wenn die 
Sonne scheint, braucht es deshalb nicht heifs zu sein", oder 
„mufs es nicht heifs sein" oder dgl. Deutlicher noch als dieses 
Beispiel, in dem man des Conditionalverhältnisses zwischen dem, 
was Vorder- und Nachsatz zu besagen hat, nicht jedesmal sicher 
sein möchte, wäre etwa die Position : „Wenn Vierecke gleichseitig 
sind, müssen sie noch nicht Quadrate sein^\ Aber näher besehen 
handelt der Nachsatz in solchen Fällen nicht von der Hitze 
oder von Quadraten, sondern zunächst vom Müssen^: zwischen 
dem Vorder- und dem eigentUchen Nachsatze stehen hier also die 
Dinge genau wie sonst. Vom Zusammenhange freiüch ist dabei 
nun ganz ausdrückhch die Rede, und ich denke auch nicht 
daran, zu bestreiten, dafs ein solcher unter Umständen ganz 
wohl affirmirt oder negirt werden kann. Aber an den sprach- 
lichen Gewand, in dem solche Affirmationen oder Negationen 
aufzutreten pflegen, wird nur erst recht ersichtlich, dafs, was in 
der hypothetischen Satzform ausgedrückt erscheint, von Haus 
aus etwas Anderes als ein Zusammenhangsurtheil ist 

Was ist es dann aber eigentlich ? Einen ziemhch deutlichen 
Fingerzeig in betreff der Richtung, in der die Antwort auf diese 
Frage zu suchen sein wird, kann uns der oben bereits vorüber- 
gehend constatirte Umstand^ darbieten, dafs am Vordersatz wie 
am Nachsatz des sogenannten hypothetischen Urtheils in einer 
offenbar durchaus nicht äufserlichen Weise Annahmen betheiligt 
sind. Was nun noch zur Bestätigung der hieraus wohl schon 
von selbst resultirenden Vermuthung über den wahren Sach^ 
verhalt noch erforderlich sein mag, stellt sich ein, wenn wir an 
Stelle des obigen Beispieles vom Dreieck etwa eines von der Be- 

* Anders immerhin bei dem Seitensttick dazu, das man bei den „weil"- 
Sätzen und Ihresgleichen antrifft, z. B. in der Wendung: „Obgleich die 
Sonne scheint, ist es nicht heifs''. Aber die aus solcher Aussage herans* 
zuspürende Gegensätzlichkeit betrifft zunächst nicht einen Zusammenhangs 
der dadurch implicirte negirt würde, sondern blos den im Sinne solchen 
Zusammenhanges zu gewärtigenden Nachsatz, resp. das, was dieser zu be- 
sagen haben würde. 

« Vgl. oben S. 81; 



I>le Anndkmeschlüsse. 89 

schaffenheit des folgenden „hypothetischen Urtheils" setzen : „Wenn 
alle Menschen ihre Schwächen haben, so war auch Goethe nicht 
frei von solchen". Was nämlich zunächst die Auffassung dieses 
ispeciellen Falles betrifft, so erscheint sie durch das oben über 
Schlüsse aus suspendirten Prämissen Festgestellte vorbestimmt» 
Es ist ja im Grund nichts als ein Schlufs „ad subaltematam" 
mit suspendirter „subalternans" : und es liegt gar kein Grund 
vor, die Sachlage in unserem Beispiele anders zu verstehen, als 
wenn der Schlufs auch dem sprachlichen Ausdrucke nach sich 
deutlich als solcher kundgäbe. Was also in diesem hypothetischen 
Urtheile zum Ausdrucke gelangt, ist dies, dafs durch Annahme 
des Vordersatzes und im Hinblick auf diese Annahme dem 
gleichfalls nur als Annahme aufzufassenden Nachsatze Evidenz 
zukommt. Und diese selbe Interpretation nun ist auch auf solche 
„hypothetische Urtheile" auszudehnen, die sich nicht bereits ihrer 
„blofsen Form" nach als Transformationen von Schlüssen an- 
kündigen. Die Annahme von der Halbirung der Grundlinie 
eines Dreieckes hat Evidenz, wenn sie auf die Annahme der 
Gleichschenkligkeit bezogen wird. Allgemein also : was man ge- 
wohnlich als „hypothetisches Urtheil" zu bezeichnen pflegt, ist 
seiner eigentlichen Natur nach gar kein Urtheil, sondern ein 
Schlufs: nur ist es eben kein Urtheilsschlufs, sondern ein An- 
nahmeschlufs. 

Damit soll natürlich keineswegs gesagt sein, dafs ein Zu- 
sammenhangsurtheil nicht unter besonderen Umständen auch 
einmal wirklich gefällt werden und dann wohl auch in der her- 
kömmlichen Form det hypothetischen Aussage zum Ausdruck 
gelangen könnte. Nur so viel ist zu betonen, dafs in dem, was die 
sprachliche Wendung „wenn .... so" ihrem natürlichen Sinne 
nach verräth, ein solches Urtheil wenigstens normalerweise nicht 
anzutreffen ist. Es steht damit ganz ebenso, wie wir es oben bezüg* 
lieh des Erfassens der sogenannten Form bei Schlüssen gefunden 
haben, und auch der Grund dieser Uebereinstimmung sowie das 
Verhältnifs dieses Erfassens zum hypothetischen Urtheil ist nun- 
mehr durchsichtig. Die Einsicht in die Form ohne Einbeziehung 
der Materie, d. h. ohne wirkliches Schliefsen, kann als hypothetisches 
Urtheil aufgefafst werden, weil das hypothetische Urtheil ein An* 
nahmeschlufs ist und auch jenes Suspendiren der Ueberzeugung 
gegenüber Prämissen und Conclusio nur bedeutet, dafs Annahmen 
an Stelle wirklicher Urtheile treten. Beim Erfassen der Schlufs- 



90 Viertes Kapitd, 

form hat man also wirklich einen Specialfall dessen vor sich, 
was man gewöhnlich als hypothetisches ürtheil zu bezeichnen 
pflegt. 

Nebenbei mag hier eine Bemerkung in betreff der Wendung 
„Wenn so" selbst am Platze sein. Ich habe in früherem Zu- 
sammenhang * darauf hingewiesen, dafs die Wörter einerseits vor- 
gestellten Gegenständen, andererseits Vorstellungen und sonstigen 
psychischen Geschehnissen zugeordnet sind, und dafs man dieser 
doppelten Zuordnung am natürlichsten Rechnung trägt, indem 
man mit Rücksicht auf den ersteren Umstand sagt, dafs die 
Wörter etwas bedeuten, in Bezug auf den zweiten aber, dafs sie 
etwas ausdrücken. Sage ich also etwa „die Thurmuhr schlägt 
eben zehn", so bedeuten meine Worte den vernommenen 
Stundenschlag, drücken aber meine Vorstellung dieses Stunden- 
schlages und mein Urtheil darüber aus. Kein Wort kann „be- 
deuten", ohne zugleich „auszudrücken", dagegen sehr wohl aus- 
drücken, ohne zugleich zu bedeuten. An den Interjectionen z. B. 
ist das ja ohne Weiteres augenfällig: dennoch wird es noch 
häufig übersehen, wenigstens macht sich oft genug eine Tendenz 
bemerkbar, bei Wörtern nach Bedeutungen zu suchen, wo es 
doch eigentlich auf den Ausdruck ankommt Sehe ich recht, 
so ist die bisher gebräuchliche irrige Auffassung des sogenannten 
hypothetischen Urtheils eine Bethätigung solcher Tendenz, die in 

dem Bestreben hervortritt, der Conditionalformel „Wenn so" 

eine „Bedeutung" beizumessen, indefs sie zunächst als „Ausdruck" 
in Betracht kommt. Die Bedeutung wäre der Gegenstand des 
supponirten Relationsurtheils. Wird eine- solche Relation über- 
haupt gar nicht vorgestellt, so entfällt damit die Aussicht, jene 
Formel durch eine bestimmte „Bedeutung" zu charakterisiren. 
Man mag besorgen, damit um jede Charakteristik derselben zu 
kommen, solange man die EventuaUtät des „Ausdrucks ohne 
Bedeutung" nicht ins Auge fafst. Dieser Fall ist verwirklicht, 
falls in unserer Formel einerseits das Motivationsverhältnifs 
zwischen Vorder- und Nachannahme, andererseits der darauf 
gestellte Evidenzzustand der Nachannahme zum Ausdrucke ge- 
langt. Natürlich braucht, wer etwas „ausdrückt", über das, was 
er vielleicht ganz absichtslos zum Ausdrucke bringt, sich durch- 
aus keine Gedanken zu machen, indefs einer an das, was seine 
Rede „bedeutet", normalerweise doch wohl wird denken müssen. 

^ Vgl. oben Kap. II, § 4. 



^ 



Die ÄnnaJimeschliisse, 91 

Es erhellt hieraus ohne Weiteres einer der nicht am niedrigsten 
anzuschlagenden Vorzüge der hier vertretenen Auffassung der 
hypothetischen Aussage: man mufs demjenigen, der sich dieser 
Aussageform bedient, keineswegs zumuthen, dafs er den Ge- 
danken der Relation von Grund und Folge oder sonst einer 
nicht immer ganz leicht zu erfassenden Beziehung concipire oder 
concipirt haben müfste. Der Erkenntnifstheoretiker weifs nur 
zu gut, um wie viel leichter es ist, Gegenstände in die Wenn- 
Relation — oder auch in die Weil-Relation, von der natürlich 
ganz das Nämliche gilt — zu setzen, als diese Relationen selbst 
durch das Denken zu erfassen. Man wird sich aber hüten 
müssen, die Alltagspraxis psychischen Thuns vor eine Aufgabe 
gestellt zu denken, deren Ausführung dem hierfür ausdrücklich 
und ausnahmsweise geschulten Theoretiker augenscheinlich 
höchstens unter besonders günstigen Umständen mit nichts 
weniger als leichter Mühe gelingt. 

Noch ist hier auf eine Consequenz hinzuweisen in betreff der 
Conjunctionen von der Beschaffenheit des „wenn, so" oder auch 
„weil, so" u. dgL selbst. Es kann unter besonderen Umständen ja 
doch begegnen, dafs diesen Wörtern eine Bedeutung in dem hier 
immer gemeinten Wortsinne zuzusprechen ist: eben zuvor z. B, 
hatten wir Anlafs, wiederholt der „Wenn -Relation" und der 
„Weil-Relation" zu gedenken. Es unterliegt nun keinem Zweifel, 
dafs in solchen Fällen die Bedeutung zu Stande kommt auf jenem 
über den Ausdruck, führenden Umwege vermöge dessen wir es hier 
mit einer Art Widerspiel zu denjenigen Fällen von Ausdruck zu 
thun haben, bei denen ein Wort zum Ausdrucke wird vermöge 
seiner Bedeutung. Ich habe im Hinblicke hierauf oben^ von 
secundärem Ausdruck gegenüber primärem, und dann auch von 
secundärer Bedeutung gegenüber primärer gesprochen. Haben, 
also Conjunctionen von der in Rede stehenden Art einmal aus-k 
nahmsweise eine Bedeutung, so kann es wohl keine andere als 
eine secundäre Bedeutung sein. 

Schliefslich wende ich mich nun noch einmal zu dem zurück, 
was meiner Meinung nach die „wenn"-Sätze von Natur auszu- 
drücken haben, um ganz explicite ein Mifsverständnifs auszu- 
schUefsen für dessen impliciten Ausschlufs durch das bisher 
Dargelegte freilich schon ausreichend gesorgt sein könnte. Ich 
trete keineswegs dafür ein, dafs hypothetische Sätze immer und 

1 Vgl. Kap. II, § 4. 



92 Viertes Kapitel. 

unter allen Umständen Annahmeschlüsse ausdrucken, sondern 
nur dafür, dafs dies die eigentliche und sozusagen natürliche 
Function dieser Sätze ist. Dies hindert nicht, dafs sie in be- 
sonderen Fällen auch Zusammenhangsurtheile auszudrücken in 
die Lage kommen : vielleicht wird solches um so eher eintreten, 
je leichter die betreffenden Conjunctionen secundäre Bedeutung 
im eben berührten Sinne annehmen. Im grofsen Ganzen aber 
steht zu erwarten, dafs sich Zusammenhangsurtheile durch An- 
wendung von Wörtern wie „müssen", „können" u. dgl. verrathen 
werden. Aufserdem mufs noch an die längst bekannte That- 
sache erinnert sein, dafs „wenn"-Sätze auch insofern mehrdeutig 
sind, als sie nicht selten rein temporalen Sinn haben, wie etwa, 
wenn man sagt: „Wenn ein Zug die Station verläfst, wird das 
für die nächste Station bestimmte Glockenzeichen abgegeben". 
Was hier zum Ausdrucke gelangt, ist so gewifs ein ürtheil über 
Gleichzeitigkeit, als man zunächst ein Urtheil über eine Art 
Ortsgleichheit oder -Identität vor sich hat, wenn die Wendung 
gebraucht wird : „Wo man den A antriffi;, da ist allemal auch 
der B zu finden". Es wäre selbstverständlich um nichts unnatür- 
licher, dieses Raumbeispiel als jenes Zeitbeispiel auf einen 
Annahmeschlufs zu deuten. 

Mit Rücksicht auf den eigentlichen Gegenstand der gegen- 
wärtigen Untersuchung aber ist es angemessen, die in den 
letzten Paragraphen gewonnenen Ergebnisse in folgender Weise 
zu überblicken. Das Erfassen der „formellen" Stringenz 
eines Schlufsverfahrens bietet ein Problem dar, das sich einer 
Lösung erst zugänglich erweist, wenn man in Rechnung zieht, 
dafs auch suspendirten oder selbst verworfenen Prämissen 
gegenüber ein Schlufsverfahren sehr wohl möglich bleibt, sobald 
an Stelle der Urtheile jene urtheilsähnlichen Thatsachen treten» 
die wir Annahmen genannt haben. Der Ausdruck „Schlüsse aus 
suspendirten Prämissen", der auf den ersten BUck etwas vom 
„hölzernen Eisen" an sich zu haben scheint, ist näher besehen 
durchaus sachgemäfs; denn den gewöhnlich allein in Betracht 
gezogenen Urtheilsschlüssen stehen auch Annahmeschlüsse zur 
Seite. Als solche Annahmeschlüsse stellen sich dann aber auch 
die meisten von den sogenannten hypothetischen Urtheilen heraus, 
denen ohne Zurückgehen auf den Thatbestand der Annahmen 
gleichfalls theoretisch nicht gerecht zu werden ist. 



93 



Fünftes Kapitel. 

Zur Gegenständlichkeit des Psychischen. 



§21. 
Vom Urtheilsgegenstande. 

Von einem vergleichsweise noch ziemlich internen Probleme 
der „formalen" Logik wollen wir nun zur Würdigung einer 
Thatsache übergehen, an der das gesammte psychische Ge- 
iscfaehen als an einer Fundamentalthatsache betheiligt ist, wenn 
auch die Erkenntnifstheorie in gewissem Sinne ein erstes Recht 
auf ihre Bearbeitung geltend zu machen hat. Es giebt kein 
psychisches Geschehen ohne Gegenstand ^ und insbesondere keine 
Vorstellung ohne Gegenstand. Sehe ich mm recht, so kann man 
sich unschwer überzeugen, dafs bei dem, was man das „Vor- 
stellen eines Gegenstandes" nennt, der Annahme eine ganz 
ständige Function zufällt, vermöge deren dann das Verbreitungs- 
gebiet der Annahmen kaum erheblich kleiner anzuschlagen sein 
wird als das des Vorstellens selbst. Nur macht die Darlegung 
auch dieses Sachverhaltes, wie solches bereits oben wiederholt 
zu berühren war, das Eingehen auf einige Voraussetzungen un- 
erläfslich und damit fürs Erste wieder den Anschein, vom eigent- 
lichen Thema einigermaafsen abzuschweifen. Es ist diesmal das 
Wesen der Gegenständlichkeit auf das hier mit einigen Er- 
wägungen eingegangen werden mufs. 

Es scheint mir hierzu vor Allem wichtig, das Verhältnifs 
zwischen Gegenstand und Inhalt einer Vorstellung richtig zu er- 
fassen. Den Nachweis für die grimdsätzliche Verschiedenheit 
dieser beiden Dinge werde ich ein zweites Mal nicht mehr an- 
zutreten brauchen^; dagegen habe ich es bisher unterlassen, 

^ Vgl. zum Folgenden meine Darlegungen „lieber Gegenstände höherer 
Ordnung etc.", Zeitschr. f. Psychol 21, S. 183 ff. 
2 Vgl. a. a. 0. S. 185 ff. 



94 Fünftes Kapitel, 

über das eine Meinung auszusprechen, was der bekannten und 
anerkannten eigenthümlichen Zuordnung von Gegenstand und 
Inhalt bei den Vorstellungen zu Grunde liegt Es ist im gegen- 
wärtigen Zusammenhange unerläfslich, der Natur der in dieser 
Zuordnung zu Tage kommenden Thatsächlichkeiten etwas näher 
zu treten. 

Man geht dabei am besten vom ürtheile aus, genauer von 
jener Eigenschaft des Urtheils, die man vom erkenntnifstheore- 
tischen Standpunkte aus billig die Grundeigenschaft des Urtheils, 
und zugleich die Fundamentalthatsache der ErkenntniTstheorie 
nennen könnte. Ürtheile ich mit Recht, dafs ich Schmerz fühle, 
dafs ich diesen oder jenen Wunsch habe oder dgl., so ist es eine 
ganz triviale SelbstverständUchkeit , dafs das Gefühl oder der 
Wunsch auch wirklich existirt. Dasselbe gilt von den Häusern, 
die ich sehe, den Wagen, deren Gerassel ich höre, den Kämpfen 
und Verhandlungen in und um China, an die ich denke u. s. f. 
Es mag einer Prüfung bedürftig sein, ob ich ein Recht habe, 
in betreff der Existenz dieser Dinge affirmativ zu urtheilen; 
habe ich aber das Recht, läfst sich, was damit zuletzt zusammen- 
fallen wird, für die betreffenden affirmativen Ürtheile die er- 
forderliche Evidenz aufbringen, dann kann darüber kein Zweifel 
aufkommen, dafs diese Dinge auch wirklich existiren. Ueber 
den Umkreis, innerhalb dessen uns Affirmationen dieser Be- 
schaffenheit zur Verfügung stehen, soll hiermit nicht das Ge- 
ringste vorbestimmt sein: nur dafs es solche Erkenntnisse giebt 
wird im Hinblick auf die innere Wahrnehmung auch der 
weitest gehende Idealismus kaum zu bestreiten geneigt sein. 
Ist dies aber eingeräumt, dann braucht man sich blos des Zu- 
standes zu besinnen, in dem sich der von einem bestimmten 
Sachverhalte Ueberzeugte befindet, um vor Allem einzusehen, 
dafs es ungereimt wäre, dem Ueberzeugten zuzumuthen, an der 
Existenz des Sachverhaltes zu zweifeln, an den er ja doch 
glaubt, und dafs es nicht minder ungereimt wäre, zugleich jener 
Ueberzeugung und doch auch wieder diesem Zweifel Berechtigung 
zuzugestehen. 

Obwohl dies nun etwas so Selbstverständliches ist, dafs 
höchstens hyperkritische Unnatur den vergeblichen Versuch 
unternehmen mag, das normale Functioniren des gesunden 
Menschenverstandes in dieser Hinsicht zu stören, so liegt in 
diesem Erfassen einer Wirklichkeit durch unser Erkennen doch 



Zur Gegenständlichkeit des FsycMschen. 95 

etwas vor, was man, einen bekannten Ausspruch Schopenhaueb's 
abändernd, ganz wohl das Wunder in der Erkenntnifstheorie, 
besser freilich die Grundthatsache alles Erkennens nennen 
könnte, für die es weder Beschreibung noch Erklärung, sondern 
nur jenes Hinnehmen giebt, auf das wir letzten Thatsachen 
gegenüber am Ende immer angewiesen sind. Zur Bezeichnung 
derselben meine ich das herkömmhche Wort „Transscendenz" 
nicht vermeiden zu sollen: die eben erwähnte Grundeigenschaft 
der berechtigten Existenzaffirmation läfst sich demgemäfs auch 
als die des Transscendirens solcher Urtheile gegen eine Wirk- 
lichkeit benennen. Es sei hinzugefügt, obwohl es für die 
nächsten Zwecke dieser Darlegungen vielleicht entbehrt werden 
könnte, dafs, indem den Existenzaffirmationen Bestandaffirma- 
tionen zur Seite treten ^, sich damit ein Gebiet eröffnet, auf dem 
den berechtigten Affirmationen zwar nicht Transscendenz im 
eigentlichsten Sinne, wohl aber etwas dieser Transscendenz Ver- 
wandtes zukommt, für das mir die Bezeichnung „Quasi-Trans- 
scendenz" angemessen scheint. Die Gleichheit, welche ein Con- 
gruenzsatz affirmirt, ist nicht eine Wirklichkeit für sich: aber 
das betreffende Urtheil steht hier dem „Bestände" ganz analog 
gegenüber wie die innere Wahrnehmung der von ihr erfafsten 
psychischen Wirklichkeit. 

Durch den Hinweis auf die Thatsache der Transscendenz 
beim berechtigten affirmativen Urtheil ist nun vor Allem in ein- 
deutigster Weise festgestellt, was der Gegenstand einer derartigen 
Erkenntnifs ist Hat man im Gegenstande einer Erkenntnifs das- 
jenige vor sich, was durch das betreffende Urtheil erkannt wird, 
so kann in unserem Falle der Gegenstand eben nichts anderes 
als jene Wirklichkeit sein, gegen die das vorliegende Urtheil 
transscendirt : in unserem obigen Beispiele macht also das Ge- 
fühl, der Wunsch oder was sonst mit Recht affirmirt wird, den 
Gegenstand des betreffenden affirmativen Urtheils aus. Analoges 
wäre dann auch von den affirmativen Urtheilen zu sagen, denen 
Quasi-Transscendenz zukommt: auch die Congruenz ist Gegen- 
stand der oben berührten Bestanderkenntnifs. Immerhin liegt 
hierin möglicherweise bereits eine Art Erweiterung des in seiner 
ursprünglichen Einfachheit vielleicht ausschliefslich auf die eigent- 



* lieber diesen Gegensatz vgl. einstweilen „üeber Gegenstände höherer 
Ordnung" S. 186. 



96 Fünfte» Kapitel 

liehe Transscendenz gestellten Gregenstandsgedankens : jedenfalls 
aber sind es dann wesentlich beträchtlichere Erweitemngen, 
welche dieser Gedanke durch seine Anwendung auch auf un- 
berechtigte afjSrmative sowie auf negative ürtheile erfährt; in- 
zwischen ist der Zusammenhang mit dem in der Transscendenz 
der wahren Affirmationen Gegegebenen auch hier nicht zu ver- 
kennen. 

In welchem Sinne kann vor Allem einem falschen bejahen- 
den Urtheüe gegenüber von einem Gegenstande — natürlich 
nicht einer Erkenntnifs, wohl aber eines Urtheils — die Rede 
sein? Dem Urtheilenden freilich ist es gleich ernst mit seiner 
Ueberzeugung, mag er übrigens in betreff dieser im Rechte sein 
oder nicht: aber Transscendenz ist ja im letzteren Falle sozu- 
sagen grundsätzlich ausgeschlossen. So viel ich sehe, kann der 
Gegenstand, der einem solchen ürtheile gleichwohl zugeschrieben 
wird, nur das Ergebnifs einer Art Fiction sein, die ihre Moti- 
virung in dem Umstände finden mag, dafs es dem Irrenden doch 
in so vielen Stücken gerade so zu Mute ist wie dem Erkennen- 
den. Urtheüe ich irrig, dafs A existirt, so gelangt man zu einem 
Gegenstande, wie die affirmative Erkenntnifs ihn hat, nur durch 
die Fiction, dafs ich Recht habe. Die Fiction, Recht zu haben, 
läfst sich aber durch eine Erweiterung des Gegenstandsgedankens 
vermeiden: man braucht eben nur auch das einen Gegenstand 
eines Urtheils zu nennen, nach dem dieses transscendiren würde, 
wenn es im Rechte wäre. In diesem Sinne hat dann natürlich 
auch jedes falsche affirmative Urtheil seinen Gegenstand. 

Von hier ist nun der Weg zmn Gegenstande des nega- 
tiven Urtheils ebenfalls nicht mehr schwer zu finden. Das be- 
rechtigte negative Urtheil freilich unterscheidet sich zunächst 
vom berechtigten affirmativen gerade darin in besonders auf- 
fälliger Weise, dafs es zur Transscendenz des affirmativen eine 
Art diametralen Gegensatzes ausmacht. Aber die eben bei den 
falschen Affirmationen bewährte fictive Behandlungsweise der 
Sachlage ist auch hier ohne Mühe anwendbar. Fingirt man bei 
der falschen Affirmation deren Wahrheit, so kann man bei der 
wahren Negation fingiren, dafs nicht sie, sondern eine wahre 
Affirmation vorliege. Und setzt man nun auch hier an die Stelle 
der Fiction die Abänderung des Gegenstandsgedankens, so ist 
sogar die oben für das falsche bejahende Urtheil getroffene Be- 
stimmung ziemlich unverändert übertragbar. Denn auch dem 



Zur Gegenständlichkeit des Psychischen. 97 

negativen Urtheil kann ich nun da49 als Gegenstand zusprechen, 
nach dem das Urtheil transscendiren würde^ wenn es statt der 
Negation eine berechtigte Affirmation wäre. 

Es ist entbehrlich, hier auch noch den Fall des falschen 
negativen Urtheils besonders zu erwägen. Denn es leuchtet nun- 
mehr sofort ein, dafs der eben geltend gemachten Fiction oder 
Erweiterung nicht nur das wahre, sondern eben so gut auch 
jedes falsche negative Urtheil zugänglich ist, liefse es sich ja 
doch verstehen, wie einer sogar geneigt sein könnte, den in 
jener Erweiterung gelegenen Schritt im Falle einer falschen 
Negation noch weniger gewaltsam zu finden als in dem der 
wahren. Man sieht zugleich, wie sonach der erweiterte oder 
modificirte Gegenstandsgedanke auf Urtheile ganz beliebiger 
Beschaffenheit, gleichviel ob affirmativ oder negativ, ob wahr 
oder falsch, anwendbar ist, und wie man hier jenen Sinn vor 
sieh hat, in dem der Gegenstand Sache aller Urtheile ohne Aus- 
nahme ist. Dieser Sinn ist von der affirmativen Erkenntnifs 
genonmien, aber so wenig an die Eigenschaft der affirmativen 
QuaUtät oder an die Erkenntnifsdignität gebunden, vielmehr 
3chiebt die erwähnte Fiction dieses Moment so rücksichtslos bei 
Seite, dafs zwei Fragen hier nicht wohl unaufgeworfen bleiben 
können. Was soll es im Grunde heifsen, etwa dem negativen 
Urtheile Gegenständlichkeit zuzuschreiben, wenn damit eine 
Eigenschaft gemeint ist, die das Urtheil unter Voraussetzungen 
hätte, die gegebenen Falles thatsächlich unerfüllt, ja eben um 
der Natur des betreffenden Urtheils willen unerfüllbar sind? 
Was soll es weiter bedeuten, von einem Urtheil zu sagen, es 
habe den betreffenden Gegenstand, wenn doch dieser Gegen- 
stand günstigen Falles (bei falschen Urtheilen) blos per accidens, 
ungünstigen Falles aber (bei den wahren negativen Urtheilen) 
gar nicht existirt ? 

§ 22. . 

Actuelle und potentielle Gegenständlichkeit. 

Die erste dieser Fragen zwingt uns zu einer präciseren Beant- 
wortung der Frage, wer oder vielmehr was den Gegenstand eigent- 
lich „hat". Ich kann von Einem, der nicht turnen gelernt hat, 
nicht sagen, er könne turnen, auch wenn ich weifs, dafs er es könnte, 
wenn er es gelernt hätte. Und noch imsinniger wäre die Behaup- 
tung, falls ich wüfste, dafs er gar nicht im Stande wäre, es zu er- 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. II. 7 



98 Fünfte» Kapitd, 

lernen, wenn er nicht vorher sozusagen ein anderer Mensch ge^ 
worden wäre. Dieser letztere, stärkere Fall ist aber der des 
Urtheils in unseren obigen Erwägungen. Den (Gegenstand, den 
das negative oder falsche Urtheil hätte, wenn es affirmativ und 
wahr wäre, den hat es eben nicht, oder genauer ausgedrückt: 
wenn ihm gleichwohl der Gegenstand in irgend einem Sinne 
zugeschrieben werden kann, so kann es nicht selbst dasjenige 
sein, an dem diese GregenständUchkeit hängt, diese mufs viel- 
mehr die E^igenschaft von etwas sein, das mit dem Urtheils- 
thatbestande verknüpft, aber von der QuaUtät und Richtigkeit 
des Urtheils nicht mitbetroffen ist Derlei findet sich denn auch 
wirklich an jedem Urtheil: es ist die Vorstellung, ohne die von 
einem Urtheil ja nicht die Rede sein könnte, die aber, im Princip 
wenigstens, sowohl für ein affirmatives wie für ein negatives, 
sowohl für ein wahres als für ein falsches Urtheil die „psycholo- 
gische Voraussetzung" ^ abgeben kann. Dieser von Natur gleich- 
sam indifferenten Vorstellung läTst sich denn auch um Vieles 
natürlicher etwas als Eigenschaft nachsagen, was zur Geltung 
käme, falls auf dieser Vorstellung eine berechtigte Ueberzeugung 
affirmativer Qualität zu errichten wäre: es ist wesentlich dasselbe, 
als wenn ich jemandem gutes Gedächtnifs oder körperliche Ge- 
wandtheit zu einer Zeit nachsage, wo er weder das Eine noch 
das Andere bethätigt. Allerdings giebt es nun doch Vor- 
steUungen, denen gegenüber eine berechtigte Affirmation ent- 
weder durch die Natur dieser Vorstellungen ausgeschlossen oder 
wenigstens sozusagen durch äufsere Umstände verboten ist : und 
wirkUch ist solchen Vorstellungen gegenüber mehr als einmal der 
Versuch gemacht worden, ihnen den Gegenstand abzusprechen. 
Es wird sich bald genug zeigen, warum ein solcher Versuch abge- 
lehnt werden mufs : immerhin aber ist schon jetzt klar, dafs die 
Gegenständlichkeit eine Eigenschaft ist, die, obwohl sie ursprüng- 
lich unter Rücksichtnahme auf das Erkennen concipirt wird, doch 
ihrer Natur nach als Sache der Vorstellung bezeichnet zu werden 
verdient. Wird dann gleichwohl auch dem Urtheile ohne Rücksicht 
auf seine sonstige Beschaffenheit Gegenständlichkeit zugeschrieben, 
so geschieht dies streng genommen nur auf dem Umwege über 
die Vorstellung, auf welche das betreffende Urtheil gestellt ist 



^ Vgl. meine „Psychologisch -ethischen Untersuchungen zur Werth- 
theorie" S.33£E. 



Zur GegenständUchkeit des Psychischen, 99 

Nun ist aber noch die zweite Frage zu beantworten: wenn 
^8 auch zunächst die Vorstellungen sind, welche die Gegenstände 
„haben", was ist das eigentiich für ein „Haben", wenn das, was 
di^ betreffende Vorstellung „hat", dabei ganz wohl auch nicht- 
existiren kann? Die Sachlage läfst sich unter ZuhüMenahme 
etwa des obigen Vergleiches mit dem Gedächtnifs auf Einen 
Blick übersehen. Wer möchte auch mit einiger Genauigkeit 
sagen, dafs ich diese Jahreszahl, jene Melodie „habe", auf 
die ich mich vermöge meines Gedächtnisses besinnen kann? 
Die Ausdrucksweise: „Die Vorstellung hat einen Gegenstand" 
iist also genau genommen jedenfalls eine recht ungewöhnliche. 
Man wird sie, da sie nun einmal so allgemein in Anwendung 
ist, nicht aufser Gebrauch zu setzen unternehmen: man wird 
aber gut daran thun, sich gegenwärtig zu halten, dafs das, was 
damit berechtigterweise gemeint werden kann, etwa besser in 
dem oben ohnehin schon vorübergehend gebrauchten Ausdrucke 
^Gegenständlichkeit" zur Geltung kommt, womit, ähnUch wie mit 
dem Worte „Gedächtnifs", eine Art Fähigkeit der Vorstellung 
bezeichnet ist, die eben, wie jede andere Fähigkeit, nur unter 
besonderen, eben den günstigen Umständen zu Tage tritt 

Der Gegenstandsgedanke oder genauer der Gedanke der Gegen- 
ständlichkeit ist sonach eine Art Fähigkeits- oder Dispositionsge- 
danke. Das, woran diese Disposition sozusagen haftet, ist streng 
genommen die Vorstellung und nur unter deren Vermittelung das 
Urtheil; das, wozu die Disposition disponirt, also das, was ich 
das Correlat der Disposition genannt habe^, indefs es neuerlich 
charakteristischer als deren Leistung bezeichnet worden ist^, ist 
die mit Hülfe dieser Vorstellung als psychologischer Voraus- 
setzung unter sonst ausreichend günstigen Umständen zu er- 
zielende Erkenntnifs einer gewissen Wirklichkeit (oder Quasi- 
Wirklichkeit). Was ich aber die Dispositionsgrundlage genannt 
habe ^ ist hier vertreten durch den Inhalt, vermöge dessen die 
gegebene Vorstellung gerade diese Vorstellung, d. h. eben die 
Vorstellung gerade dieses Gegenstandes ist. 



^ Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Werththeorie S. 41. 

^ Von E. Mabtinak: in seinen „Psychologischen Untersuchungen über 
Prüfen und Classificiren", Oesterreichische Mittelschule Jahrg. 14, S. 7 ff . des 
Sonderabdruckes. 

* Vgl. WiTASEK, „Beiträge zur speciellen Dispositionspsychologie", Arch. 
f. syst Fhilos, 3, S. 273 f. Auch Mabtinak a. a. 0. 

7* 



100 Fünfte» Kapitel, 

Mir scheint in der That, dafs diese Auffassung in allen 
wesentlichen Stücken der Wahrheit Grenüge leistet, einen einzigen 
Punkt ausgenommen. Auch Fähigkeiten sind ohne Zweifel That- 
sachen, aber niemals Thatsachen der Wahrnehmung. Ist nicht 
der Gegenstand, sondern die Gegenständlichkeit das eigentlich 
Thatsächliche an der Vorstellung, und ist diese Gegenständlich- 
keit eine Fähigkeit und nichts als dieses, dann ist es ausge- 
schlossen, dafs ich diese GegenständUchkeit irgend einmal wahr- 
zunehmen vermöchte. Nun meint aber doch jeder aus Er- 
fahrung, noch dazu aus alltäglichster Erfahrung zu wissen, dab 
sein Vorstellen auf Gegenstände „gerichtet^ ist; und Mancher 
wird es überdies für selbstverständlich halten, dafs dieses Ge- 
richtetsein sogar noch ein wesentUches Moment der Gegenständ- 
lichkeit ausmache. Haben wir hier nicht Anforderungen vor 
uns, die mit dem bisher Dargelegten schlechterdings nicht in 
Einklang zu bringen sind? 

Wenigstens in Betreff des letzterwähnten Punktes hat es 
damit keine Gefahr, da es leicht ist, demselben durch eine 
Determination am Begriff der GegenständUchkeit Rechnung zu 
tragen: der bisher exponirte Begriff kann passend als der der 
blos potentiellen Gegenständlichkeit bezeichnet, und dieser 
potentiellen eine actuelle GegenständUchkeit gegenüber ge- 
steUt werden, mit der dann nicht das blofse Grerichtet- sein- 
können, sondern das thatsächUche Gerichtet-sein gemeint ist 
Weit schwieriger scheint sich dagegen die Frage erledigen zu 
lassen, was man sich unter diesem actuellen „Gerichtet-sein" 
eigentlich zu denken habe. Es mufs sich dabei, wie eben er- 
sichtUch geworden ist, um etwas innerlich Wahrnehmbares 
handeln, und man könnte daraufhin immerhin versuchen, sich 
die Sache in der Weise zurecht zu legen, dafs das, was wir 
innerUch wahrnehmen, blos der jeweiUge Inhalt ist, und wir 
dieser Wahrnehmung dann die Interpretation zufügen, dafs 
diese Inhalte als präsumtive Erkenntnifsmittel gewissen durch 
sie erfafsbaren Gegenständen zugeordnet seien. Ich habe in der 
That eine Weile versucht \ mit Auskunftsmitteln dieser Art 
mein Auslangen zu finden ; aber die KünstUchkeit derselben ver- 
mag sich dem Blicke des Unbefangenen doch nur in sehr unvoll- 
kommener Weise zu verbergen, und so scheint es mir kein 



* Auch in Vorlesungen. 



Zur Oegenständlichkeit des Psychischen, 101 

geringer Gewinn, dafs durch Hinweis auf die Thatsache der 
Annahmen nun auch an dieser Stelle Rath geschafft werden kann. 

§23. 
Der Antheil der Annahmen. 

Klar ist vor Allem, dafs die in Rede stehende Schwierigkeit 
nur in betreff der Gegenständlichkeit der Vorstellungen und 
der negativen Urtheile vorliegt, nicht aber dort, wo es sich um 
affirmative Urtheile handelt. Denn dafs man es den letzteren, 
mögen sie übrigens wahr oder falsch sein, sozusagen ansieht, dafs 
durch sie ein Gegenstand, falls er nicht erfafst wird, doch jeden- 
falls erf afst werden soll, das versteht sich in dem Maafse von selbst, 
in dem es gewifs ist, dafs man sich unter dem „Erfassen^^ eines 
Gegenstandes oder wie man es sonst mehr oder minder bildUch 
ausdrücken mag, überhaupt gar nichts Anderes denken kann 
als affirmatives Erkennen. Nehme ich also in irgend einem 
FaUe wahr, dafs ich affirmativ erkenne, was nur in der Weise 
möghch ist, dafs ich aufser der Thatsache, dafs ich urtheile, 
auch noch die Evidenz dieses Urtheiles wahrnehme, dann sagt 
mir die Wahrnehmung darüber, dafs ich ein Stück Wirklichkeit 
oder Quasi -Wirklichkeit erfasse, so viel, als sie mir hierüber 
nur irgend zu sagen im Stande ist. Affirmire ich dagegen ohne 
Evidenz oder selbst irrig, so kann dies an dem, was die innere 
Wahrnehmung in betreff der Gegenständhchkeit des vorhegenden 
Urtheils sozusagen zu sehen bekommen kann, nicht das 
Geringste ändern; denn wer wirklich überzeugt ist, ist eben 
überzeugt, mag er damit im Rechte sein oder nicht. 

Dagegen enthält die noch sozusagen urtheilsfreie Vorstellung — 
von den negativen Urtheilen wird sogleich die Rede sein, — von 
einer Bezugnahme, einem Gerichtetsein auf einen Gegenstand 
noch gar nichts: sie ist an sich eben nur potentiell gegenständ- 
lich, nicht aber actuell. Wenn wir nun von solcher Bezugnahme 
gleichwohl durch das Zeugnifs der inneren Wahrnehmung wissen, 
so kann das am Ende nur so verstanden werden, dafs gegebenen 
Falles noch etwas Anderes vorliegt als die „blofse Vorstellung". 
Ein Urtheil kann es nicht sein : es ist ja ausdrücklich von Vor- 
stellungen ohne Urtheil die Rede. Was es aber sehr wohl sein 
kann, ist eine Annahme, eine affirmative natürüch. In der That, 
^er einer vom Urtheil begleiteten Vorstellung die Gegenständ- 



102 Fiknft€9 Kapitel. 

^chkeit ansieht, der wird auch der von dem urtheilsähnliobeE 
Thatbestaad der qualitätsgleichen Annahme begleiteten Vol?- 
Stellung das Hinstreben, die Tendenz nach dem Erfassen des 
Gegenstandes ansehen können. Und dafs es ein völlig natür- 
liches Vorgehen ist, sich einen Gegenstand in der Weise vorzu- 
stellen, dafs man gleichsam „thut, als wäre er wirklich", das 
wird ohne Bedenken einzuräumen sein. Nur die hiermit aufge- 
stellte Vermuthung oder Behauptung, dafs alles actuell gegen- 
ständliche Vorstellen von affirmativen Annahmen begleitet sei, 
ist auffallend genug, um noch besonderer Erwägung zu bedürfe». 

Zuvörderst darf nicht verkannt werden, dafs durch diese 
Position keineswegs behauptet ist, dafs es überhaupt keine Vor- 
stellung ohne Annahme gebe oder gar geben könnte. Gegen- 
ständlichkeit im Sinne der Fähigkeit, unter günstigen Umständen 
einem Urtheile, vielleicht besser noch, wie sich sogleich zeigen 
wird, einer Annahme affirmativer Qualität zur psychologischen 
Voraussetzung zu dienen, also potentielle Gegenständlichkeit ist 
selbstverständlich davon, ob eine Annahme thatsächlich sich an 
die Vorstellung knüpft oder nicht, völHg unabhängig: sie kommt 
allen Vorstellungen zu. Ob man dagegen von jeder Vorstellung 
behaupten darf, dafs sie sozusagen in gleich ausdrückhcher 
Weise auf einen Gegenstand gerichtet, also ob sie actuell gegeii- 
ständlich ist, das möchte erst durch sorgsames Befragen der 
Erfahrung besonders zu prüfen sein. Sehe ich recht, so ist der 
Fall, dafs man öich dem Vorstellen völlig passiv hingiebt, ohne 
etwas „daraus zu machen", also ebenso, wie man etwa ein GefüH 
über sich ergehen läfst, vielleicht beim normalen, erwachsenen 
Menschen nicht gerade häufig, aber immerhin gut genug belegt 
Wo die Dinge so stehen, da fehlt natürlich die Annahme, und 
sie stehen so, weil die Annahme fehlt. Die Vorstellung ist auch 
dann gegenständlich, man wird aber nicht eigentUch sagen 
können, dafs von Seite des vorstellenden Subjectes etwas wie 
eine Intention vorliegt, den Gegenstand vorzustellen. 

Ferner mufs nun darauf hingewiesen werden, dafs die Ein- 
führung der Annahme aufser dem erwähnten Zeugnifs der 
inneren Wahrnehmung auch den Werth hat, eine oben bereits 
gestreifte Schwierigkeit zu beseitigen, die sonst dem (Je- 
danken der GegenständUchkeit selbst noch anhaftet. Es bleibt 
immerhin mifslich, einer Vorstellung wie der des runden Vier- 
eckes trotz des Widerstreites, den sie in sich schUefst, die Fähig- 



Zur OegenständUchkeit des Psychischen. 103 

teit nachzusagen, die Grundlage zu einer affirmativen Erkennt 
nifs abzugeben. Es ist aber noch mifslicher, darauf hin, wie es 
ja öfter geschehen ist, der Vorstellung des runden Viereckes 
jeden Gegenstand abzusprechen, indefs man das auf einen Gegen- 
43tand „Gerichtetsein" an dieser Vorstellung normalerweise so 
^ut wahrnehmen kann als an sonst einer. Nun geht ihr zwar, 
wie gesagt, die Eignung mit Evidenz affirmirt zu werden, wirk- 
lich ganz und gar ab; dagegen durchaus nicht die Eignung, 
-einer affirmativen Annahme zur psychologischen Voraussetzung 
zu dienen. Die Annahme ist ja durch den Satz des Wider- 
spruches in keiner Weise gebunden. Darum empfiehlt es sich, 
-den Gedanken der Gegenständhchkeit statt auf das Urtheil auf 
die Annahme zu bauen. Es kann dies geschehen sowohl in 
TjetrefE der blos potentiell zu verstehenden Gegenständlichkeit 
äIs in betreff des actuellen „Gerichtet-seins" auf einen Gegen- 
stand. Gegenständlichkeit definirt sich demgemäfs als die Fähig- 
keit der Vorstellung, Grundlage zu einer affirmativen Annahme 
abzugeben: auf einen Gegenstand gerichtet aber heifst demge- 
mäfs eine Vorstellung dann, wenn ihr Inhalt zum Inhalte einer 
Affirmativen Annahme gemacht ist. Ohne Zweifel ist durch 
diese Definition der Gegenstandsgedanke, der seine Bedeutung 
ja doch von seinem Zusammenhange mit der Transscendenz 
i^sp. Quasi-Transscendenz nimmt, sozusagen abgeschwächt: die 
Annahme kann ja darin nur um ihrer Urtheilsähnlichkeit willen 
das Urtheil ersetzen. Dafür haben aber diese Bestimmungen 
•die ganz unbeschränkte Anwendbarkeit auf inhaltlich wie immer 
i)eschaffene Vorstellungen voraus. 

Vorübergehend mag darauf hingewiesen sein, dafs diese 
Auffassung auch geeignet ist, einen traditionellen termino- 
logischen Gegensatz, genauer das eine Glied dieses Gegensatzes 
unserem Sprachgefühle, das dadurch bei etwas etymologischer 
Ueberlegung jetzt doch schon recht fremdartig berührt wird^ 
-einigermaafsen näher zu bringen. Was mit der Gegenüberstellung 
des „iiöDiÄnenten" und „transscendenten" Objectes gemeint ist, 
darüber besteht ja gar kein Zweifel, und man ist an den Ge- 
brauch dieser Ausdrücke so gewöhnt, dafs man in der Regel gar 
nicht dazu kommt, sich über die participiale Form des Wortes 
„transscendent" Gedanken zu machen. Thut man es aber ein- 
mal, so hält es schwer genug, diese Form zu rechtfertigen, so 
lange man beim „Gegenstande" nur an das durch ein affirma- 



104 Fünftes Kapitd. 

tives Urtheil Erfafste oder Erfa&bare denkt Nicht der Tisch 
oder Sessel ^transscendirt^ ja, sondern das Urtheil ist es, das, 
indem es sich in seiner Weise einer Wirklichkeit bemächtigt; 
gewissermaafsen über sich hinansreicht, die Schranken der Sub- 
jectivität „übersteigt". Anders, wenn wir unter „Object", mehr 
kurz als deutlich gesprochen, das Angenommene als solches 
verstehen und ihm damit, hierin dem älteren Sprachgebrauche 
folgend, principiell innerhalb der erwähnten Schranken seinen 
natürlichen Platz anweisen. Dann ist es ein ganz verständliches 
Bild, zu sagen, dafs es innerhalb dieser Schranken verbleibe, 
also „immanent" sei, so lange, potentiell oder actuell, nichts 
weiter vorUegt als eben die Annahme, — dafs es aber über diese 
Schranken hinaus einem Stück Wirkhchkeit sich gleichsam ent> 
gegenbewege und es im Sinne der Identität mit demselben auch 
erreiche, in diesem Sinne also transscendire, wenn das berech- 
tigte affirmative Urtheil gleichsam zu Hülfe kommt Diese Hülfe 
könnte natürlich wieder entweder potentiell oder actuell gedacht 
und demgemäfs von einem transscendenten Objecte schon bei 
Vorstellungen oder nur bei Urtheilen, berechtigten affirmativen 
natürUch, geredet werden. Immerhin möchte aber der letztere 
Gebrauch hier der natürlichere sein, die potentielle Betrachtungs- 
weise aber eher sozusagen von der entgegengesetzten Seite her 
Geltung beanspruchen dürfen. Diese Betrachtungsweise ist näm- 
Hch nicht eigenthch dort in Anwendung, wo man, wie wir es 
hier gethan haben, von intellectuellen Functionen ausgehend, 
deren allfälliges Verhältnifs zur Wirkhchkeit im Auge hat, 
sondern vielmehr dort, wo man umgekehrt, von der Wirklichkeit 
ausgehend, deren allfälHges Verhältnifs zu den intellectuellen 
Bethätigungen hervorheben will. Es ist ja nichts Ungewöhn- 
Hches, ein Stück Wirklichkeit „Gegenstand" zu nennen, ohne 
dabei irgendwie ein erkennendes Subject resp. einen Erkenntnifs- 
ßxit desselben zu postulixen. Denkt man hier also den G^gen- 
standsgedanken überhaupt noch aus, ist nämlich nicht vielmehr 
das Wort „Gegenstand" schon ein von allen Nebengedanken 
losgelöster Ausdruck für „Ding" oder dgl. (allgemein für ein 
Seiendes) geworden, dann kann das fragUche Ding eben nur 
deshalb „Gegenstand" genannt sein, weil es unter ausreichend 
günstigen Umständen erkannt werden, sonach mit dem trans- 
scendenten Gegenstande einer affirmativen Erkenntnifs zusammen- 
fallen könnte. 



Zur Gegefiständlichkeit des Psychischen. 105 

§24. 

Die Gegenständlichkeit bei negativen Urtheilen 

und Annahmen. 

Indem wir nun aber wieder zur Thatsache des „auf einen 
Gegenstand Gerichtetseins" zurückkehren, finden wir noch die 
ausdrückliche Berücksichtigung eines Falles ausständig, der die 
Unerläfslichkeit; die Annahmen heranzuziehen, neuerUch in be- 
sonders klares Licht stellt. Wir haben gesehen, in welchem 
Sinne affirmative Erkenntnisse, und in welchem Sinne Vor- 
stellungen auf Gegenstände gerichtet heifsen dürfen: für nega- 
tive ürtheile aber ist die analoge Frage noch unbeantwortet 
Dafs die Frage auch hier aufgeworfen werden mufs, ist durch 
die Erfahrung aufser Zweifel gesetzt, da diese bei negativen Ur- 
theilen ganz ebenso deutlich auf deren Gegenstand hinweist, als 
dies nur irgendwo anzutreffen ist. Die Bezugnahme auf das 
affirmative Urtheil ist aber, wie schon einmal berührt, besonders 
schwierig, wo das Gegentheil eines solchen Urtheils, ein nega- 
tives nämhch, thatsächlich gegeben ist. Nun ist sofort einzu- 
sehen, wie die ganze Schwierigkeit bei Heranziehung der An- 
nahmen ohne Weiteres verschwindet: vor Allem wichtig ist 
aber, dafs die Erfahrung auch ziemlich directes Zeugnifs dafür 
ablegt, dafs bei negativen Urtheilen affirmative Annahmen wirk- 
Hch betheiUgt sind. 

Es ist bekannt, dafs sich die eigenthümhche Stellung der 
Negation zur Affirmation bereits längst der Aufmerksamkeit mehr 
als eines Beobachters aufgedrängt hat^ Man hat bemerkt, dafs 
es in der Natur des negativen Urtheils liegt, nicht „frei ein- 
zusetzen", wie die Musiktheoretiker sagen, sondern einer Art 
affirmativer „Vorbereitung" zu bedürfen. Wenn Ä B ist, hegt 
hierin Anlafs genug, eventuell dem A das B im affirmativen 
Ürtheile zuzuerkennen: von A aber zu negiren, dafs es etwa G 
ist, dazu scheint doch nur Anlafs und Gelegenheit vorzuliegen, 
wenn dem urtheilenden Subjecte der Gedanke ausreichend nahe 
getreten ist, das C vom A zu affirmiren. Dafs so jede Negation 

^ Vgl. insbesondere Sigwabt in der 2. Auflage seiner Logik, S. 150 ff., 
namentlich aber die Anmerkung S. 154 ff. Die Punkte, in denen ich diesen 
Ausführungen nicht beistimmen kann, werden sich dem Leser der gegen- 
wärtigen Abhandlung bereits deutlich genug aufgedrängt haben, um eine 
besondere Hervorhebung derselben an dieser Stelle entbehrlich zu machen. 



106 Fünftes Kapitel. 

auf eine gegenstandsgleiche Affirmation zurückweist, das kommt 
auch in der schon berührten eigenthümUchen Weise zur Geltung, 
in der der sprachliche Ausdruck der Negation gegenüber dem 
der Affirmation difiEerenzirt ist Stünden beide einander durch- 
aus auf gleichem Fufse zur Seite, so wäre ja doch wohl auf ein 
Ausdrucksmittel für das Urtheil schlechthin und dann auf Zu* 
thaten zu rechnen, durch welche das Urtheil je nach Bedarf 
als affirmativ oder negativ gekennzeichnet würde. Inzwischen 
bietet die Sprache normalerweise zunächst einen bestimmten 
Ausdruck für die Affirmation, der dann erst durch einen be- 
sonderen Beisatz in den Ausdruck der Negation abgeändert 
wird. Das an die affirmative Aussage angeschlossene ^nicht^, 
das die negative Aussage constituiren hilft, bietet so eine Art 
äufserlichen Beleges für das Hinzutreten der Negation an die 
vorgegebene Affirmation. 

Nun ist aber sofort ersichtlich, dafs, wer hier so weit geht, 
ein affirmatives Urtheil als Voraussetzung für das negative in 
Anspruch zu nehmen, damit den Thatsachen ganz zweifellos 
Gewalt anthut. Negire ich die Existenz eines runden Viereckes, 
so werde ich dazu sicher Veranlassung gehabt haben, aber es 
müfste doch mit seltsamen Dingen zugehen, wenn ich vorher an 
das Rundsein des Viereckes geglaubt hätte. Auch wo eine 
quaestio facti in einem negativen Urtheile ihre Beantwortung 
findet, mag eine wirkliche Frage ganz wohl der Anlafs dazu ge- 
wesen sein, aber bei Weitem nicht eine Vorwegnahme der Be- 
antwortung durch ein affirmatives UrtheiL Dagegen legt der 
Hinweis auf die Eventualität einer Frage im gegenwärtigen Zu- 
sammenhange den Gedanken aufserordentUch nahe, der auf- 
gewiesenen Uebertriebenheit dadurch zu steuern, dafs die Rolle 
einer Voraussetzung für das negative Urtheil zwar nicht einem 
affirmativen Urtheil, wohl aber einer affirmativen Annahme zu- 
erkannt wird. Ohne Weiteres ist dann zu verstehen, wie dem- 
jenigen, der den affirmativen Hintergrund wohl bemerkt hat, auf 
die Thatsache der Annahmen aber noch nicht ausdrückUch auf- 
merksam geworden ist, es recht schwer werden mag, diesen 
Hintergrund näher zu beschreiben, so dafs er sich am Ende ent- 
schliefst, ihn in mehr bildlicher als genauer Ausdrucksweise 
geradezu als affirmatives Urtheil zu benennen. 

Auch was der sprachliche Ausdruck in der vorhin erwähnten 
Weise bezüglich des Verhältnisses von Affirmation und Negation 



Zur Gegenatändlichkeit des Psychischen. 107 

zvL verrathjen scheint, kommt so zu seinem Rechte. Der Satz 
„Ä ist jB" drückt ohne Zweifel eine Affirmation aus, aber wir 
wissen bereits, dafs diese Affirmation in der Regel nur bei unab- 
hängigen Sätzen Urtheilsaffirmation, bei abhängigen Sätzen da- 
gegen Annahmeaffirmation ist. Wird also der Ausdruck der 
l^egation thatsächlich durch einen Zusatz an den Ausdruck der 
Affirmation gebildet, so kann dies unbedenklich so gedeutet 
werden, dafs die Affirmation der Negation gegenüber ein natür- 
liches Prius ausmacht; aber es darf billig dahingestellt bleiben, 
ob diese Affirmation eine Urtheils- oder eine Annahmeaffirmation 
ist, da dort, wo es sich nur um die innere Constitution des 
negativen Satzes, nicht aber um seine Stellung zu anderen Sätzen 
handelt, die Frage, ob abhängig oder unabhängig, überhaupt 
nicht zur Sprache kommen kann. Ergiebt nun aber weiter die 
directe Erfahrung, dafs von einem Ueberzeugungsumschlag beim 
Eintritte des negativen Urtheils normalerweise nicht die Rede 
sein kann, so gelangt man eben zu dem Ergebnifs, dafs das- 
jenige, was das negative Urtheil sozusagen als dessen natür- 
liches Antecedens vorbereitet, nichts Anderes als eine affirmative 
Annahme sein kann. 

Darf sonach für erwiesen gelten, dafs jedes negative Urtheil 
seiner Natur nach eine affirmative Annahme als Antecedens mit 
sich führt, so ist nun auch klar, wie nachdrücklich diese That- 
sache zu Gunsten der im Obigen vertretenen Heranziehung der 
Annahme zur Gegenstandsdefinition sich geltend macht. Dafs das 
negative Urtheil ganz ebenso gut auf einen Gegenstand gerichtet 
erscheint wie das affirmative, kann nicht im Mindesten be- 
fremden, wenn diesem „Gerichtetsein" der Thatbestand einer 
affirmativen Annahme wesentlich ist. Dieser Thatbestand findet 
sich ja am negativen Urtheil bereits als dessen Voraussetzung 
vor, indefs das affirmative Urtheil der affirmativen Annahme 
gegenüber selbst nur eine Art Superplus darstellt. 

Inzwischen ist die Darlegung in betreff des auf einen Gegen- 
stand Gerichtetseins immer noch in einem Punkte lückenhaft. 
Wir verstehen jetzt, wie dieses Gerichtetsein von der grofsen 
Ueberzahl der Vorstellungen zu behaupten ist, auch, wie es von 
allen Urtheilen, affirmativen wie negativen, gilt. Wie ist es 
aber mit jenem Thatbestande bewandt, der uns hier allenthalben 
das Verständnifs erst ermöglicht hat, wie steht es in betreff jenes 
Gerichtetseins bei den Annahmen selbst? Dafs man es den An- 



108 FünfUM Kapitel. 

nahmen so wenig absprechen kann als anderen psychischen 
Thatsachen, ist selbstverständlich; und dafs hierfür bei den 
affirmativen Annahmen eine neuerliche Legitimation entbehrlich 
ist, versteht sich nicht minder: jenes „Gerichtetsein'' und affir- 
mativ Annehmen ist ja, wenn das Bisherige richtig ist, im 
Grunde eine und dieselbe Thatsache. Nun stehen aber den 
affirmativen Annahmen auch negative gegenüber: wie ist die 
Stellung beschaffen, welche diese dem Probleme der Gegenständ- 
Uchkeit gegenüber einnehmen? Sehe ich recht, so beantwortet 
sich diese Frage an der Hand der Erfahrung einfach dahin, dafs 
nicht nur das negative Urtheil, sondern auch die negative An- 
nahme eine vorangehende Affirmation verlangt, von der hier 
noch selbstverständlicher ist, dafs sie nicht wohl anderen 
Charakter als den der Annahme an sich tragen wird. Immer- 
hin kommt der negativen Annahme gegenüber auch die Mög- 
Uchkeit des affirmativen Urtheiles als Ausgangspunkt weit mehr 
als beim negativen Urtheil in Frage; die affirmative Annahme 
aber bleibt sozusagen das Minimum, für das jedesmal gesorgt 
sein wird. Um von emem Helden annehmen zu können, er sei 
vermöge dieses oder jenes Zaubers unverwundbar oder unsicht- 
bar, muTs ich damit anfangen, ihn verwundbar und sichtbar zu 
denken. Arbeitet dann, was freilich nicht ganz selbstverständ- 
lich ist, die darauf hin concipirte Annahme der Unverwundbar- 
keit und Unsichtbarkeit nur mit dem Mittel der Negation, dann 
ist eben der verwundbare und sichtbare Held der Gegenstand 
auch der negativen Annahme, und dafs er es ist, geht auch hier, 
wie beim negativen Urtheil auf die affirmative Annahme zurück, 
von der die negative Gonception ihren Ausgang nimmt. 






109 



Sechstes Kapitel. 

Das Erfassen Yon Gegenständen höherer Ordnung. 



§ 25. 
Anschaulich und Unanschaulich. Unzulänglich- 
keit einer gegenständlichen Charakteristik dieses 

Gegensatzes. 

Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, dafs eine Vor- 
stellung, um actuell auf einen Gegenstand gerichtet sein zu 
können, einer Annahme bedarf. Es läfst sich nun zeigen, dafs 
dieser Annahme noch ganz besondere Fimctionen vorbehalten 
sind für den speciellen, übrigens aber nichts weniger als ver- 
einzelten Fall, dafs dieser Gegenstand ein Gegenstand höherer 
Ordnung ist. Wir wollen, um uns hiervon zu überzeugen, von 
der genaueren Würdigung eines Gegensatzes unseren Ausgang 
nehmen, der trotz seiner sich allenthalben in Psychologie und 
Erkenntnifstheorie aufdrängenden Bedeutung immer noch zu den 
wenigst untersuchten Dingen zählt. Jedermann weifs aus täg- 
licher Erfahrung, dafs unser Vorstellen bald den Charakter des 
Anschaulichen, bald den des ünanschaulichen an sich trägt, 
dafs man manchmal geradezu die Wahl hat, ob man sich mit 
einer unanschaulichen Vorstellung zufrieden geben oder sich 
zum anschauüchen Vorstellen desselben Gegenstandes durch- 
arbeiten wiU, dafs man sich aber freUich oft auch genöthigt 
findet, sich mit ersterer Vorstellungsweise zu bescheiden, falls 
man sie um gewisser auch ihr zukommender Vorzüge willen 
nicht etwa ausdrücklich anstrebt. Uns hegen hier derlei Zweck- 
mäfsigkeitsmomente und deren Erwägung fem; dagegen dürfte 
es sich uns als förderlich erweisen, die Frage aufzuwerfen, worin 
denn eigentlich das Wesen des anschaulich Vorstellens gegen- 
über dem des unanschauUch Vorstellens besteht. 



110 Sechstes Kapitel, 

An anderem Orte^ habe ich eine Charakteristik dieses 
Gegensatzes dnrch Berücksichtigung des Umstandes zu gewinnen 
versucht, dafs beim unanschauUchen Vorstellen gegenständliche 
Bestimmungen zur Anwendung gelangen, die streng genommen 
unter einander unverträgUch sind, indefs beim anschauUchen 
Vorstellen nur verträgliche Bestandstücke zur Complexion des 
anschaulich vorgestellten Gegenstandes vereinigt auftreten. 
Hört einer etwa die Worte „ein Kreuz, das rot ist", so kann er 
darauf in der Weise reagiren, dafs er die abstracten Vorstel- 
lungen „Kreuz" und „rot", überdies die gleichfalls abstracte 
Vorstellung der Zusammengehörigkeit dieser beiden Bestim- 
mungen zu Einem Gegenstande concipirt und aus diesem 
Material in geeigneter Weise eine Complexion bildet. Verlangt 
dabei jede der abstracten Vorstellungen das, was ich an anderer 
Stelle ^ das concrete Substrat genannt habe , d. h. kann ich das 
Kxeuz in abstracto nicht vorstellen, ohne es dabei doch, wenn 
auch in gewissem Sinne nur per accidens, an bestimmtem Orte, 
in bestimmter Gröfse, in bestimmter Farbe etc. vorzustellen, des- 
gleichen das Roth nicht, ohne dafs auch an ihm bestimmtes 
Orts-, Gröfsen-, Gestalt-Datum etc. haftete, so ist leicht ersicht- 
lich, dafs, wenn nicht etwa besonders darauf Bedacht genommen 
wird, weder der am Kjeuze mitvorgestellte Ort mit dem des Roth 
zusammenfallen, noch die dem Roth zufällig gegebene Gestalt, die 
Kxeuzesform, noch die dem Kreuze gegebene Farbe, die oder gar 
diese bestimmte rothe sein wird etc. Mit Einem Wort : die mit den 
Abstractis, die hier zu einer Complexion zusammentreffen, zu- 
fälhg mitgegebenen Substrate werden in der Regel weder unter 
einander noch mit den ihnen fremden ' unter den vorgegebenen 
Abstractis zusammenstimmen, und die in dieser Weise be- 
schaffene complexe Vorstellung heifst dann unanschauHch im 
Gegensatze zu einer etwa directer Anschauung entstammenden 
oder ihr nachgebildeten Vorstellung, in der das Roth sogleich 



^ „Phantasievorstellung und Phantasie" in der Zeitschrift für Philo- 
Sophie und phüosoph. Kritik 95, 8. 213. Vgl. auch Witasbk, „lieber willkür- 
liche Vorstellungsverbindung", Zeitschr. f. Psychol. 12, S. 197 ff. 

* Hume-Studien 1. 

' Ich meine diejenigen, die andere Substrate haben, im Beispiel vom 
rothen Kreuze also etwa die Kreuzesform, die mit dem räumlichen Substrate 
der Roth- Vorstellung unverträglich ist, wenn dieser etwa zufällig die Vor- 
stellung einer rothen Elreisscheibe zu Grunde liegt. 



Das Erfassen von Gegenständen höherer Ordnung. 111 

in Kreuzesfonn oder auch die Kreuzesform sogleich in rother 
Farbe und Beides in betreff unwesentlicher Bestimmungen an 
identische Substrate geknüpft, auftritt. In diesem Falle sagt 
man, das rothe Kreuz werde anschaulich vorgestellt. 

Ich glaube auch heute nicht, dafs sich gegen die Richtig- 
keit dieser Ergebnisse Triftiges einwenden läfst: und sofern 
es sich um ein Kriterium handelt, mit dessen Hülfe sich An- 
schauliches von Unanschaulichem in möglichster Schärfe unter- 
scheiden läfst, wird zum Mindesten dahingestellt bleiben 
müssen, ob man leicht auf Anderes wird hinzuweisen haben, 
das dieser Forderung in gleichem Maafse Genüge leistete. Damit 
verträgt sich aber aufs Beste, dafs gleichwohl die eben repro- 
ducirte Bestimmung in das Wesen des in Rede stehenden Gegen- 
satzes so gut wie gar keinen Einblick gewährt, so wenig etwa, 
als die Schwingungszahlen, durch die sich die verschiedenen 
absoluten Tonhöhen schärfer als durch was immer für sonstige 
Hülfsmittel präcisiren lassen, dem Tauben etwas über die 
Eigenart der betreffenden Tonhöhen verrathen. Dafs nun die 
vorliegende Bestimmung des Gegensatzes von Anschaulich und 
Unanschaulich wirklich an diesem Mangel leidet, ist im Grunde 
schon ohne Weiteres ersichtlich. Es verräth sich indefs auch 
daran, dafs dabei für die Anschaulichkeit eigentlich nur eine 
negative Kennzeichnung zu Stande kommt, obwohl jeder Un- 
befangene den für die Anschaulichkeit wesentlichen Thatbestand 
zum Mindesten nicht weniger positiv finden wird als den der 
Unanschaulichkeit. Ebenso bezeichnend ist es femer, dafs die 
Charakteristik sich zwar an das gegenständliche Moment hält, 
dabei aber doch vorwiegend solches gegenständliches Material 
heranzieht, das der zu charakterisirenden abstracten Vorstellung 
so unwesentlich ist, dafs es nach berechtigtem Herkommen dem 
Gegenstande derselben gar nicht zugezählt wird. Bin ich auch 
thatsächlich aufser Stande, das Kreuz anders als farbig und die 
rothe Farbe anders als in irgend einer Ausdehnung und insofern 
auch in einer bestimmten Gestalt vorzustellen, so gehört doch 
in den Gegenstand der abstracten Vorstellung „Kreuz" nichts 
von Farbe, und in den Gegenstand der abstracten Vorstellung 
„Roth" nichts von Gestalt. Ein Widerstreit also, bei dem derlei 
„Substrate" entweder ausschUefslich betheiligt oder doch wesent- 
lich mitbetheiligt sind, kann zwar eine wichtige und markante 



112 Seehata Kapitd. 

Begleitthatsache der Unanschaulichkeit ausmachen, in keinem 
Falle aber die zu beschreibende Hauptthatsache selbst 

An die letzten Erwägungen schliefst sieb nun ganz von 
selbst flucb die Frage, ob überhaupt Aussicht ist, eine vom eben 
bezeichneten Mangel freie Charaktenstik des Anschaulichen und 
Unanschaulichen aus dem Gegenstände der betrefEenden Vor- 
stellung heraus zu gewinnen. Man erhält die Antwort auf 
diese Frage durch Berücksichtigung der Thatsacfae, dafs ich das 
rotlie Kreuz unseres Beispieles sowohl anschaulich als unan- 
scliaulich vorzustellen im Stande bin. Fürs Erste freilich mag 
ea gerade im Hinblick auf das oben Besprochene nahe liegen, 
von der unanschauhchen Vorstellung des rothen Kreuzes zu 
sagen, dag Kreuz, das da vorgestellt werde, sei nicht roth, und 
das Roth, das da vorgestellt werde, nicht kreuzförmig. Aber 
dieses scheinbare Faradozon hndet seine einfache Erledigung, 
wenn man sich daran erinnert, wie häufig man da von „Vor- 
stellen" schlechtweg spricht, wo man genauer von „anschanlicli 
Vorstellen" reden müfste. Denn in der That, was im Falle un- 
anschatilicher Vorstellung des rothen Kreuzes anschaulich 
vorgestellt wird , ist ja wirklich ein Kreuz von anderer Farbe 
und ein Roth von anderer Gestalt als der verlangten. Natür- 
lich ist nun aber eine so enge Anwendung des Wortes „Vor- 
stellen" nirgends weniger am Platze , als wo es eben gilt, 
auch noch einer anderen Vorstellungsweise im Vergleiche mit 
der iinscbauUchen gerecht zu werden. Giebt es neben der an- 
schaulichen Vorstellung des rothen Kreuzes auch noch eine un- 
auBcliauhche, so liegt bereits in diesem Ausgangspunkte aller 
weiteren Erwägungen nicht etwa blos implicite, sondern ganz 
und gar explicite die Anerkennung der Thatsache beschlossen, 
dal's eben auch die unanschauhche Vorstellung eine Vorstellung 
vom rothen Kreuze ist, welche dieses somit ganz ebenso wie die 
anschauliche Vorstellung zum Gegenstande hat. Kann aber ein 
und derselbe Gegenstand sowohl in anschauhcher als in unan- 
schaulicher Vorstellung erfafst werden, so ist aufser Zweifel, dafs 
der Gegenstand es nicht sein kann, der den in Rede stehenden 
Unterschied an sich trägt: der Gegensatz zwischen anschaulicher 
und unanschauhcher Vorstellung mufs sonach ein aufsergegen- 
ständlicher sein. 



Das Erfassen von Gegenständen höherer Ordnung, 113 

§26. 
Zusammensetzung und Zusammenstellung. 

In diesem Ergebnisse liegt für jeden, der sich nicht ent- 
schliefsen mag, den in Rede stehenden Gegensatz kurzer Hand 
einer verschiedenen Weise des Vorstellens im strengsten Sinne, 
das ist einer Verschiedenheit im Vorstellungsacte beizumessen, 
zunächst einiges Befremdliche. Dem Vorstellungsacte nämlich 
steht freilich an jeder Vorstellung der Inhalt gegenüber^; aber 
die enge Correlation zwischen Inhalt und Gegenstand^ scheint 
bei Identität des Gegenstandes den Gedanken an inhaltliche 
Verschiedenheiten nicht wohl aufkommen zu lassen. Zwar ist 
es ganz im Allgemeinen durchaus nichts Seltenes, dafs derselbe 
Gegenstand mit Hülfe sehr verschiedenartiger Inhalte erfafst 
wird^; aber für unseren Fall kommt gerade Derartiges, wenn 
man sich an das Zeugnifs der Erfahrung hält, ganz aufser 
Frage. Es fehlt ja jeder Anhaltspunkt für die Vermuthung, 
dafs die Partialgegenstände „Kreuz" und „Roth" bei anschau- 
licher Vorstellung des rothen Kreuzes anderer Inhalte bedürften, 
als bei unanschaulicher. Aber indem wir uns hier ganz von 
selbst auf die Partialgegenstände imd so auf die Partialinhalte 
geführt finden, drängt sich ebenso von selbst der Weg unserer 
Beachtung auf, der der Lösung der vorliegenden Schwierigkeit 
offen steht. Es ist ja möglich, dafs dieselben Partialinhalte sich 
zu verschiedenartigen Ganzen, genauer zu verschiedenen Real- 
complexionen * vereinigen, dafs sie sonach, eben weil es immer 
noch die nämlichen Theilinhalte sind, auch immer noch dem- 
selben Gegenstände zugeordnet bleiben, und dennoch wegen der 
Verschiedenheit der zwischen ihnen existirenden Realrelationen 
als verschiedene Vorstellungen, wenn auch eben eines und des- 
selben Gegenstandes, gelten müssen. 

Und in der That möchte dies die einzig zulässige Auffassung 
des in Rede stehenden Gegensatzes sein. Die Frage, ob eine 
Vorstellimg anschaulich oder unanschaulich sei, kann, sofern 



^ Vgl. meine AuRführungen „Ueber Gegenstände höherer Ordnung'^ ia 
der Zeitschr. f. Psychol. 21, S. 188. 
» A. a. O. S. 185 ff. 
» A. a. 0. S. 188 Anm. 
* Vgl. a. a. 0. S. 198 ff. 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. II. 8 



114 Sechstes Kapitel. 

hier einfachheitshalber blos der Fall des directen Vorstellens ^ 
in Betracht gezogen wird, nur bei complexen Gegenständen 
aufgeworfen werden, die natürlich allemal auf complexe 
Inhalte zurückweisen.* An die Verschiedenheit von Real- 
relationen zwischen Inhalten zu appeUiren, dazu findet man 
sich auch schon gegenüber ganz anderen Thatsachen ge- 
drängt: bei der „Vorstellungsproduction", vermöge deren 
eventuell aus den Vorstellungen derselben Inferiora die Vor- 
stellung einmal dieses, einmal jenes Superius resultirt, kann es 
ja nicht wohl auf Anderes als auf die Herstellung verschiedener 
Eealrelationen zwischen den producirenden Vorstellungen, genauer 
zwischen deren Inhalten hinauskommen.^ Ebenso kann ich den 
Unterschied von Anschaulich und UnanschauUch nur in dem 
Umstände begründet finden, dafs eventuell dieselben TheiUnhalte 
zu zweierlei Realcomplexionen zusammentreten können, denen 
eine im Ganzen von der Beschaffenheit der die Bestandstücke 
ausmachenden Inhalte unabhängige Bedeutvmg zukommt. Die 
Verschiedenheit des unmittelbaren Aspectes, der sich in jedem 
dieser beiden FäUe der inneren Wahrnehmung darbietet, kommt 
unter dieser Voraussetzung ohne Weiteres zu seinem Rechte. 

Es wäre nun natürUch wünschenswerth, auch etwas zur 
Charakteristik dieser beiden Complexionen resp. Relationen * bei- 
tragen zu können; und wirklich versprechen vielleicht in dieser 
Hinsicht die natürUchen Bedeutungen zweier Ausdrücke etwas 
zu leisten, die sich mir zur Kennzeichnung des in Rede stehen- 
den Gegensatzes einst ganz ungerufen dargeboten haben. Zwar 
habe ich selbst sie später in der Besorgnifs, zu Mifsverständ- 
nissen Anlafs zu bieten, wieder aufgeben zu sollen gemeint*; 
sie sind aber dann doch wieder von anderer Seite beifälHg 



^ lieber den Gegensatz des directen und indirecten VorsteDens vgl. 
Hume-Studien 2, S. 87 f. 

* Auf die FäUe, wo wir ein Wort augenscheinlich durchaus nicht 
sinnlos gebrauchen, wo uns aber directe V^ahrnehmung weder eine an- 
schauliche, noch eine unanschauliche, sondern eben gar keine Vorstellung, 
die das Wort auszudrücken hätte, verräth, kann trotz ihrer grofsen Wichtig- 
keit hier nicht eingegangen werden. 

» Vgl. a. a O. S.200fE. 

* Ueber das Princip der Coincidenz von Complexion und Relation vgL 
a. a. O. S. 193 ff. 

* Vgl. „Ueber Phantasievorstellung und Phantasie" S. 207f. 



Das Erfassen von Gegenständen höherer Ordnung. 115 

aufgenommen worden. ^ Ich hatte die Verbindimg der die 
anschauliche und die unanschauliche Vorstellung ausmachenden 
Partialvorstellungen beziehungsweise ausgeführte und blos an- 
gezeigte Vorstellungsverbindung genannt^: und es hat ja wirk- 
lich den Anschein, als ob man bei der blos unanschaulichen 
Vorstellung des rothen Kreuzes gleichsam vor einer Aufgabe 
Halt machte, die nur derjenige löst, der es zur anschaulichen 
Vorstellung des rothen Kjpeuzes bringt. Aber näher besehen 
steckt hinter dem anscheinend Charakteristischen solcher Aus- 
drucksweise nur die auch schon in dem oben abgelehnten ex- 
clusiven Gebrauche des Wortes „Vorstellen" hervortretende Bevor- 
zugung der Anschaulichkeit vor der Unanschaulichkeit, die auf die 
gröfsere Leistungsfähigkeit zurückgeht, welche der anschaulichen 
Vorstellung normalen Erkenntnifsbedürfnissen gegenüber eigen 
ist. In der That, denkt man sich die anschauliche Vorstellung 
als das Ziel, dem alle VorsteUungsthätigkeit selbstverständlich 
zustrebt, dann bedeutet die unanschauKche Vorstellung eines 
Gegenstandes die noch ungelöste Aufgabe, das Analogon zu der 
„blos angezeigten" Rechnungsoperation. Natürlich leistet aber 
dann dieses rechnerische Gleichnifs nichts mehr zur Kennzeich- 
nung der Sachlage, sobald man von solch sozusagen teleologischer 
Betrachtungsweise Abstand nimmt. 

Es ist mir auch sonst keine Weise bekannt, in der die 
beiden Inhaltscomplexionen, auf die wir uns hingeführt gefunden 
haben, anders als etwa unter Heranziehung neuer indirecter 
Momente beschrieben werden könnten. Das schon oben benutzte 
Gleichnifs von der Tonhöhe und den Schwingungszahlen be- 
währt sich sonach nicht nur in betreff der durch letztere blos 
indirect erzielbaren Charakteristik, sondern auch in betreff der 
der ersteren anhaftenden ünbeschreibbarkeit. Und gleichwie 
es trotz dieser Ünbeschreibbarkeit nicht anginge, die in der 
Farbenempfindung oder Farbenvorstellung im engeren Sinne 
vorliegende Thatsache etwa gegenüber der der Präcisirung frei- 
lich viel zugänglicheren Thatsache der Schwingungszahl zu ver- 
nachlässigen oder gar ganz zu ignoriren, ebenso bedeutet es ein 
wenn auch noch so bescheidenes Mehr an Einsicht, wenn wir 
den dem anschaulichen und unanschaulichen Vorstellen eigen- 



* CoBNELius, Psychologie, Leipzig 1897, S. 60 resp. 432. 

* Hume-Studien 2, S. 99. 

8* 



116 Sechstes Kapitel. 

thümlichen Thatbestand als zwei verschiedene Weisen erkennen, 
in denen Inhalte sich compliciren können, auch wenn wir aufser 
Stande bleiben sollten, das Wesen dieser beiden Complexions- 
formen noch näher zu beschreiben. 

Was dagegen noch geleistet werden kann, ist eine an- 
gemessene Benennung dieser beiden Complexionsf ormen : die 
deutsche Sprache stellt dazu, wenn mein Sprachgefühl mich 
nicht täuscht, ziemlich ungesucht zwei Termini zur Ver- 
fügung. Wir haben gesehen, dafs der Gegensatz von An- 
schauKch und Unanschaulich an Vorstellungen von Com- 
plexionen gebunden ist.^ Man kann auch umgekehrt sagen: 
jede Vorstellung eines complexen Gegenstandes ist in betreff 
des Gegensatzes von Anschaulich und Unanschaulich bestimmt, 
was natürUch durchaus nicht in sich schhefst, dafs jedes complexe 
Object sowohl anschaulich als unanschaulich müfste vorgestellt 
werden können. Die Bestimmung innerhalb dieses Gegensatzes 
vollzieht sich, wenn das eben Dargelegte im Rechte ist, je nach 
der Verbindung, in der die Theilinhalte auftreten; diese Ver- 
bindung aber präsentirt sich entweder als eine sozusagen natür- 
Uche, wie sie sich uns ohne Zuthun dort darbietet, wo wir einen 
complexen Gegenstand wahrnehmen, oder als eine relativ künst- 
Uche, unter normalen Umständen erst durch unsere intellectuelle 
Thätigkeit zu Stande gebrachte. Die erste Verbindung wird man 
billig eine engere nennen dürfen gegenüber der zweiten, loseren; 
und ist es angemessen, im ersteren FaUe von einer Zusammen- 
setzung der inhaltlichen Bestandstücke zu reden, so mag im 
letzteren Falle der Ausdruck „Zusammenstellung" nicht im- 
passend angebracht sein. Mit Hülfe dieser Termini läfst sich 
das Ergebnifs der bisherigen Untersuchungen auch so zusammen- 
fassen: Vorstellungen können in zwei verschiedenen Weisen zu 
complexeren Vorstellungen zusammentreten, sie können Vor- 
stellungs - Zusammensetzungen , aber auch blos Vorstellungs- 



^ Eine Art Seitenstück zu diesem Gegensatze bietet der des direct 
und indirect Vorgestellten. Insofern die Anschauung nur directe Vor- 
stellungen liefert, mag man geneigt sein, die indirecte Vorstellung gleich- 
falls unanschaulich zu nennen. In diesem Sinne dürfte dann natürlich 
auch eine einfache Vorstellung, etwa die einer Tonhöhe oder was sonst 
der Einfachheitsforderung entsprechen mag, anschaulich zu nennen sein. 
Von solcher Erweiterung des Wortgebrauchs darf indefs hier abgesehen 
werden. 



Das Erfassen von Gegenständen höherer Ordmmg. 117 

Zusammenstellungen bilden. Im ersten Falle wird der durch 
die Vorstellungs-Complexion erfafste Gegenstand anschaulich, im 
zweiten Falle unanschaulich vorgestellt. 

Für die beiden so benannten Weisen des Zusammentretens von 
Vorstellungen hat die Sprache ziemlich deutUche Ausdrucksmittel. ^ 
Hält man die Worte „rothes Kxeuz" und „Kreuz, das roth ist" 
neben einander, so wird man kaum Bedenken tragen, in der 
ersten Wendung vorzugsweise den Ausdruck einer anschaulich, 
in der zweiten Wendung vorzugsweise den Ausdruck einer unan- 
schauKch vorgestellten Complexion zu erkennen, dort also den 
Ausdruck für eine Zusammensetzung, hier für eine Zusammen- 
stellung. Dafs sich in dieser Richtung kaum ein Zweifel ein- 
stellt, hat seinen einfachen Grund darin, dafs der anschaulichen 
Vorstellung im Allgemeinen ein simultanes, dem unanschaulichen 
Vorstellen ein successives Erfassen der Theilgegenstände eigen- 
thümlich ist, letzteres aber der Schwerfälligkeit der Umschreibung 
mittels eines Relativsatzes besser entspricht. Inwieweit die 
Sprachgeschichte diese Auffassung verificirt, mufs ich natürlich 
hier wie bei allen vorhergehenden Gelegenheiten, das Zeugnifs 
der Sprache zu Rathe zu ziehen, dahingestellt sein lassen. 
Soviel sagt aber jedem ein Blick auf den heutigen Thatbestand, 
dafs von einem consequenten Auseinanderhalten der beiden 
Ausdrucksmittel derzeit gewifs nicht die Rede sein kann. 
Möchte auch der Relativsatz im Ganzen seltener als Ausdruck 
für anschauhches Vorstellen angewendet werden, so trägt doch 
niemand Bedenken, sich des kürzeren ad jecti vischen Ausdruckes 
auch für unanschauliche Vorstellimgen zu bedienen. Immerhin 
sind aber die beiden Ausdrucksweisen natürlich genug, um sie 
einer Convention im Interesse theoretischer Auseinanderhaltung 
zu Grunde zu legen. Ich will daher im Folgenden dort, wo von 
einer Zusammensetzung gehandelt werden soll, den ad jecti vischen 
Ausdruck nach dem Paradigma „rothes Kjpeuz" anwenden, dagegen 
den Relativsatz nach dem Paradigma „Kreuz, das roth ist" für 
die Bezeichnung von Zusammenstellungen vorbehalten. Weil aber 



^ Dafs hier Benennung und Ausdruck in eine Art Gegensatz treten, 
kann befremden, weil es herkömmlich ist, die Namen selbst als „Aus- 
drücke" zu bezeichnen. Aber im Sinne der Ausführungen des zweiten 
Kapitels ist dies eben eine Ungenauigkeit, die nur unter besonderen Um- 
ständen, wie sie namentlich beim secundären Ausdruck vorzuliegen pflegen, 
beseitigt ist. 



118 Sechstes Kapitel. 

für letztere auch die adjectivische Ausdrucksform eine so häufig 
angewendete ist, so empfiehlt es sich, für manche Gelegenheiten 
doch auch für Zusammenstellungen eine adjectivische Bezeich- 
nungsweise sich offen zu halten: ich will mich hierfür in nun 
allerdings schon durchaus conventioneller Weise der Wendung 
„roth seiendes Kreuz" als Paradigma bedienen. Es versteht sich 
indefs, dafs diese Convention nur auf Fälle beschränkt ist, wo 
von Zusammensetzungen oder Zusammenstellvmgen als Gegen- 
ständen unserer Untersuchung zu reden ist, dafs es mir sonst 
aber völlig fem hegt, durch Anwendung des einen oder des 
anderen dieser Ausdrucksmittel dem Leser etwas darüber mit- 
theilen zu wollen, ob der Sinn meiner Darlegungen an dieser 
oder jener Stelle unter Anwendung anschaulicher oder unan- 
schaulicher Vorstellungen von mir concipirt worden ist oder gar 
vom Leser meinem Wunsche nach concipirt werden soll. 

§27. 
Die logische Indifferenz der Zusammenstellungen. 

Vielleicht haben die vorstehenden Ausführungen wie manche 
vorher auf den ersten Bück den Eindruck einer Digression vom 
eigentlichen Thema dieser Untersuchungen gemacht und erst 
die Schlufsbemerkungen wieder einen gewissen Zusammenhang 
mit diesem Thema vermuthen lassen. Hoffentlich weicht nun 
jeder Verdacht einer ungerechtfertigten Abschweifung bei 
näherer Betrachtung der Sachlage, die bei den Zusammen- 
stellungen vorHegt. Unter den mancherlei Momenten nämlich, 
durch die sich diese von den Zusammensetzungen unter- 
scheiden, treffen wir eine uns längst als für unsere Zwecke 
fundamental wichtig bekannte Thatsache an: die Bestimm- 
barkeit im Sinne des Gegensatzes von Ja und Nein. Ich 
kann die Vorstellungen der Gegenstände „Kreuz" und „Roth" 
unanschaulich nicht nur zur Vorstellung des „Kjpeuzes, das 
roth ist", sondern auch zur Vorstellung des „Kreuzes, das 
nicht roth ist", vereinigen, und das unanschauliche Vorstellen 
hat diese Freiheit vor dem anschauUchen voraus. Denn an- 
schaulich kann ich freilich leicht ein Kreuz vorstellen, dem man 
dann die Eigenschaft, roth zu sein, mit Recht absprechen darf, 
etwa weil es blau oder weifs ist. Aber dieses „nicht roth sein" 
selbst zu erfassen, dazu bietet keinerlei Anschauung und keine 



Das Erfassen von Gegenständen höherer Ordnung, 119 

anschauliche Vorstellung die Möglichkeit: es ist ausschliefslich 
das unanschauliche Vorstellen, dem solches überlassen bleibt. 

Im Hinblick auf Früheres ist es nun leicht, aus diesen That- 
sachen die erforderlichen Consequenzen zu ziehen. Es ist zu- 
nächst selbstverständlich, dafs für den Gedanken an das „Kreuz, 
das nicht roth ist", unmöglich das Vorstellen allein aufkommen 
kann: die hier vorliegende Negation ist nicht Sache des Vor- 
stellens. Weil aber weiter der in Rede stehende Gedanke vor- 
erst auch noch kein Urtheil bedeutet, so kann kein Zweifel daran 
bestehen, dafs bei der unanschaulichen Vorstellung des „nicht 
roth seienden Kreuzes" eine Annahme, selbstverständlich eine 
von negativer Qualität, eine constitutive Rolle spielt. Dann kann 
aber die Vorstellung des „Kreuzes, das roth ist", sich von der 
Vorstellung des „Kreuzes, das nicht roth ist", unmöglich nur 
dadurch unterscheiden, dafs darin sonst alles so ist, wie an 
dieser, und nur die Negation fehlt. Sonst müfste ja in der Vor- 
stellung des „Kreuzes, das nicht roth ist", neben diesem Kreuze 
auch ein „KJreuz, das roth ist", gegeben sein, was niemand wird 
behaupten wollen. Es folgt daraus ganz in Analogie zu früheren 
Ergebnissen, dafs, so gut die Vorstellung des „Kreuzes, das nicht 
roth ist", eine Negation verlangt, auch für die Vorstellung eines 
„Kreuzes, das roth ist", eine Affirmation constitutiv sein mufs: 
so wie aber dort kein negatives Urtheil, sondern blos eine nega- 
tive Annahme erforderlich ist, ebenso natürlich auch hier zwar 
kein affirmatives Urtheil, wohl aber eine affirmative Annahme, 
Darin ist nun aber ohne Weiteres das wichtige Ergebnifs be- 
schlossen, dafs die „Zusammenstellung" an sich sozusagen logisch 
indifferent ist. Die Zusammenstellung der Vorstellungen „KJreuz" 
und „Roth" (natürlich nebst der einer passenden Relation) ent- 
scheidet noch nichts darüber, ob das Kreuz roth oder nicht roth, 
das Roth kreuzförmig oder nicht kreuzförmig vorgestellt wird. 

Damit ist gesagt, dafs die Zusammenstellung für sich allein 
überhaupt noch nicht ausreicht, die Gegenstände der zusammen- 
gestellten Vorstellungen zu einem complexen Gegenstande zu 
verknüpfen. Dies bringt vielmehr erst die daran sich schliefsende 
Annahme zu Stande, die vermöge ihrer bejahenden oder ver- 
neinenden Qualität der durch sie erst vollendeten Complexion 
zugleich den affirmativen oder negativen Charakter aufdrückt, 
den imanschauliche Vorstellungen stets an sich tragen. Es folgt 
daraus weiter, dafs, wo immer man eine unanschauliche Vor- 



120 Sechstes Kapitel, 

Btellung antrefiEen mag, bei derselben jedesmal eine Annahme 
mitbetheiligt ist 

Es drängt sich dem gegenüber die Frage auf, wie es denn 
in betreff der Annahmen bei anschaulichen Vorstellungen be* 
wandt sei. Wir haben bereits gesehen, dafs solchen Vorstellungen 
sozusagen die Beweglichkeit zwischen Ja und Nein abgeht : Ver- 
einige ich einmal die Bestandstücke „Roth^ und „Kreuz" in an* 
schaulicher Weise, so kommt jederzeit nur ein rothes Kreuz zu 
Stande und nie dessen Gegentheil. Man könnte das, um der 
Analogie zu den unanschaulichen Vorstellungen möglichst nahe 
zu bleiben, nun so auffassen, dafs sich an Zusammensetzungen 
jedesmal eine affirmative Annahme schliefse. Der in Eede 
stehende affirmative Charakter dieser Vorstellungen kommt in- 
defs auch zu seinem Rechte, wenn die Zusammensetzung es ihrer 
Natin* nach ausschliefst, dafs sich an die zusammengesetzten In- 
halte eine andere Annahme oder ein anderes Urtheil knüpft als 
eben eine Affirmation. Einer sozusagen nur affirmativ yerwerth- 
baren Vorstellungscomplexion wird ja mit Fug affirmativer Cha* 
rakter auch dann zugesprochen werden können, wenn die Ver- 
werthung gerade unterbleibt 

Immerhin könnte nun von hier aus der Versuch gemacht 
werden, die oben zu einem gewissen Abschlüsse geführte Unter- 
suchung mit der Frage noch einmal aufzunehmen, ob man nicht 
auch die unanschauliche Vorstellung ähnlich auffassen und da- 
durch auch beim Unanschaulichen sich das Heranziehen der An- 
nahmen ersparen könnte. Besteht der affirmative Charakter der 
anschaulichen Vorstellung nur darin, dafs die dieser Vorstellung 
eigene Complexionsform eine andere intellectuelle Behandlung 
als die im Sinne einer Affirmation nicht zuläfst, warum könnte 
der affirmative Charakter der einen, der negative Charakter einer 
anderen imanschaulichen Vorstellung nicht ebenfalls darauf 
zurückgeführt werden, dafs die im einen Falle vorliegende Vor- 
stellungs-Complexion eben ihrer Natur nach nicht anders als 
affirmativ, die^ im zweiten Falle nicht anders als negativ be- 
handelt werden kann? Wie man sofort sieht, liegt der grofse 
Unterschied darin, dafs auf dem Gebiete des Unanschaulichen 
eben Beides vorkommt: ich kann unanschaulich sowohl ein 
Kreuz vorstellen, das roth, als eines, das nicht roth ist Eignet 
also allen unanschaulichen Vorstellungen Eine Complexionsform, 
eben das, was oben durch den Ausdruck „Zusammenstellung" 



L^Mi^. 



Das Erfassen von Gegenständen höherer Ordnung. 121 

bezeichnet werden sollte, dann ist es von vorn herein ausge- 
schlossen, dieser Form analog der Zusammensetzung einen den 
Gegensatz von Ja und Nein auch nur indirect betreffenden 
Charakter zuzusprechen. 

Dagegen ist allerdings durchaus nicht von vorn herein 
selbstverständlich, dafs alles unanschauüche Vorstellen sich unter 
Anwendung einer und derselben Complexionsform vollzieht, ge- 
nauer also, dafs beim Vorstellen des Kreuzes, das nicht roth ist, 
keine anders geartete Complexion in Anwendung kommt als beim 
Vorstellen des Kieuzes, das roth ist. Befrage ich aber hierüber 
die Erfahrung, so ergiebt sich mir fürs Erste, dafs mir eine 
Verschiedenheit der Complexionsform bei unanschaulichen Vor- 
stellungen überhaupt nirgends begegnet, vollends keine, die mit 
dem affirmativen und negativen Charakter solcher Vorstellungen 
zusammenginge. Ich verfahre, so viel ich bemerken kann, 
mit den Vorstellungen „Kreuz" und „Roth" ganz in derselben 
Weise, mag ich nun ein roth seiendes oder ein nicht roth seien- 
des Kreuz unanschaulich vorstellen wollen. Und einen Beleg 
dafür, dafs die psychische Sachlage weitgehende Verschieden- 
heiten nicht wohl aufweisen kann, darf der Häufigkeit der Ver- 
wechselungen entnommen werden, denen unanschauUch Vor- 
gestelltes bezüglich des darin gegebenen Ja oder Nein im täg- 
lichsten Leben ausgesetzt ist, sei es beim Wiedererzählen eines 
nicht Erlebten, sondern nur Gehörten, sei es beim Ausführen 
unanschauHch erfafster Aufträge, sei es sonst. Es kommt hinzu, 
darf sogar, weil vor Allem auffällig, besondere Ueberzeugungs- 
kraft beanspruchen, dafs, wer an das Kreuz denkt, das nicht 
roth ist, sich der in diesem Gedanken mitbetheiUgten Negation 
ganz direct bewufst ist. Er weifs, dafs er nicht blos einen Ge- 
danken concipirt, der keiner anderen als einer Behandlung im 
Sinne einer Negation fähig wäre, sondern dafs die Negation in 
dem Gedanken bereits vorliegt. 

Minder handgreiflich hegen die Dinge ja ohne Zweifel beim 
„Kreuz, das roth ist" und Seinesgleichen. Aber man wird es 
vielleicht selbst hier bereits der directen Erfahrung gemäfser 
finden, auch für anschauliche Vorstellungen normalerweise eine 
wirkliche und nicht blos facultative Affirmation in Anspruch 
zu nehmen, als sich in betreff der unanschaulichen Vorstellungen 
affirmativen Charakters mit der blofsen Bejahungsmögüchkeit zu- 
frieden zu geben. Bei Wahrnehmungsvorstellungen ist diese 



122 Sechstes Kapitel. 

Affirmation im Wahmehmungsurtheil ohnehin fast ausnahmslos 
vertreten, indes sie bei anderen anschaulichen Vorstellungen 
natürlich auch eine Annahme sein könnte. 

§ 28. 
Allgemeinere Fragestellung. 

Die bisherigen Untersuchungen haben den Antheil der An- 
nahmen am unanschaulichen Vorstellen sicher gestellt und einen 
ähnlichen Antheil derselben am anschaulichen Vorstellen minde- 
stens erwägenswerth erscheinen lassen. Um auch hierüber ins 
Reine zu kommen, zugleich aber die bisher mehr von der 
Aufsenseite erwogenen Thatbestände nun auch ihrem inneren 
Wesen nach etwas näher kennen zu lernen, empfiehlt es sich, 
nun von den im Gegensatze des Anschaulichen und Unanschau- 
lichen gelegenen Besonderheiten zunächst abzusehen, um den 
Grundlagen nachzuforschen, auf denen dieser Gegensatz sozu- 
sagen erst zur Geltung kommt. Derselbe ist jederzeit an zu- 
sammengesetzte Gegenstände gebunden: beim Einfachen giebt 
es keine Unanschaulichkeit und es ist schwerlich von jeder 
Convention frei, dabei von Anschaulichkeit zu sprechen. Ver- 
suchen wir also, der Weise, wie Complexionen, das ist Bestand- 
stücke in Relation, erfafst werden können, etwas näher zu treten. 

Gesetzt, man finde sich, gleichviel aus welchem Anlasse, vor 
die Aufgabe gestellt, sich zwei gegebene Gegenstände Ä und B 
in einer vorgegebenen Relation R vorzustellen, z. B. Grün und 
Gelb in der Relation der Verschiedenheit. Dafs das eine Auf- 
gabe sei, die durch „blofses Vorstellen" gelöst werden könne, 
darüber scheint die Formulirung, die sich zum Zwecke sprach- 
lichen Ausdruckes dieser Aufgabe Jedem von selbst aufdrängt, 
keinen Zweifel zu gestatten: dennoch ist eben dies die Frage, 
die hier aufgeworfen sein soll. Kann ich mir wirklich „vor- 
stellen", dafs sich Ä und B in der Relation B befinde? Denn 
darauf führt ja bereits das erste Nachdenken, dafs, um diese 
Forderung zu erfüllen, mindestens das blos gleichzeitige Vor- 
stellen von A, B und B sicher nicht ausreicht. Wer etwa an 
die Verschiedenheit zweier Singstimmen denkt, indefs sein Auge 
auf einer grünen Wiese mit gelben Blumen ruht, stellt gewifs 
Grün, Gelb und Verschiedenheit zugleich vor : dennoch denkt er 
keineswegs an die Verschiedenheit von Blumen und Wiese, resp. 



Das Er fassen von Gegenständen höherer Ch'dnung. 123 

von Gelb und Grün, leistet also gewifs nicht, was die ebengestellte 
Aufgabe verlangt. Es kommt eben darauf an, dafs das B dem A 
und B gleichsam nahe genug gebracht werde, dafs man also B 
selbst in der richtigen Relation zu A einerseits, B andererseits vor- 
stelle. Aber so einfach diese Forderung sich anläfst, so gewifs führt 
sie zu einer fehlerhaften unendlichen Reihe. Ist nämlich etwa R 
die eben zuletzt eingeführte Relation, so ist das Mittel, das dazu 
dienen soll, A und B in der Relation B vorzustellen, nichts An- 
deres als die Erfüllung ganz der nämlichen, eben erst zu lösen- 
den Aufgabe für A und B gegenüber B' sowie für B und B 
gegenüber B' ^ : damit ist aber das Problem natürUch nur zurück- 
geschoben, indem mm die weitere Frage, wie etwa A und B in 
dieser Relation B' vorzustellen sei, auf eine weitere Relation B" 
zwischen A und B' weist u. s. f. in infinitum. Fehlerhaft aber 
wäre eine so gebildete unendliche Reihe, weil jeder Schritt auf 
dem hier zurückzulegenden Wege auf eine Voraussetzung des 
vorhergehenden Schrittes führt, die realisirt sein müfste, ehe 
man ein Recht hätte, den Ausgangspunkt der ganzen Reihe für 
reaUsirt zu halten, womit natürhch gesagt ist, dafs eine solche 
ReaUsirung überhaupt nicht eintreten kann. Unsere Aufgabe, 
A und B in der Relation B zu denken, bleibt also unlösbar, so 
lange wir es mit nichts Anderem als mit dem Hinzudenken 
neuer Relationen versuchen. 

Es liegt nun nahe, zu erwarten, das, was sich sonach durch 
einen gegenständlichen und daher eigentUch inhaltUchen Zusatz 
zu den vorgegebenen Vorstellungen des A, B und B nicht leisten 
läfst, möchte durch eine Operation an diesen Inhalten zu er- 
reichen sein, durch welche diese Inhalte in eine geeignete Real- 
relation ^ zu einander gebracht würden. Es ist ja ganz natür- 
lich zu vermuthen, damit A und B in der Relation B vorgestellt 
werde, sei erforderlich, dafs sich die ^-Vorstellung und die B- 
Vorstellung zur -B-Vorstellung in einem bestimmten Verhältnisse 
befinden. Ueberdies ist dies augenscheinlich der Gesichtspunkt, 
der bereits oben bei der Gegenüberstellung von Zusammen- 



^ Es sei hier der Einfachheit wegen die an sich sicher plausible 
Voraussetzung gemacht, dafs, wenn sich A und B in der Relation R be- 
findet, R zu A in gleicher Relation steht wie zu B. Sollte es damit ein- 
mal anders bewandt sein, so kann das die Beweiskraft der obigen Er- 
wägungen natürlich unmöglich berühren. 

3 Vgl. „lieber Gegenstände höherer Ordnung etc." a. a. 0. S. 198 ff. 



124 Sechstes Kapitel. 

Setzung und Zusammenstellung einigermaaXsen zur Geltung ge- 
langt ist, sofern zur Conception der Complexion „rothes Kreuz" 
resp. „roth seiendes Kreuz" im Sinne des Coincidenz-Princips ^ 
die Conception der Glieder in Relation wesentlich ist. Aber so 
wenig inhaltlichen Complexionen und Relationen ein gewisser 
Antheil an der Conception von Complexionen und Relationen 
zugeordneter Gegenstände abzusprechen sein wird, so wenig ist 
abzusehen, wie auf diesem Wege Alles, was nach der gegen- 
ständlichen Seite hin erforderlich ist, zu leisten wäre. Um aber 
völlig klar zu sehen, dafs es hier geradezu die Hauptsache ist, 
für die die theoretische Erledigung noch aussteht, dazu ist er- 
forderUch, die schon oben* etwas näher erwogene Zuordnung 
zwischen Vorstellung, genauer Inhalt und zugehörigem Gegen- 
stand, noch einmal ins Auge zu fassen. 

§29. 

Relation zwischen Inhalt und Gegenstand. Die 

Adäquatheit. 

Es ist diesmal die Beschaffenheit der charakteristischen Re- 
lation zwischen Inhalt und zugehörigem Gegenstand, auf die es 
zunächst ankommt. War ich oben im Rechte, das Wesen dessen, 
was man bei sämmtlichen Vorstellungen als deren (immanenten) 
Gegenstand in Betracht zu ziehen pflegt, zuletzt doch in der 
eigenthümlichen Leistung der affirmativen Erkenntnifs begründet 
zu finden, so ist es selbstverständlich, dafs man über die Natur 
der fraglichen Relation doch auch nur von wirklichen Erkenntnils- 
fällen Aufschlufs erwarten darf, von den Fällen also, wo that- 
sächlich ein Sein, gleichviel ob Existenz oder Bestand, durch 
eine Vorstellung mit Hülfe einer berechtigten Affirmation erfafst 
wird. Es handelt sich also um Vorstellungen, die man, hier wie 
auch sonst die Existenz gegenüber dem Bestände in ungerecht- 
fertigtem Maafse bevorzugend, als der von ihnen erfafsten Wirk- 
lichkeit adäquat zu bezeichnen sich längst gewöhnt hat, so 
dafs die für uns einer genaueren Charakteristik bedürftige Re- 
lation zwischen Vorstellung und Gegenstand auch Relation der 
Adäquatheit genannt werden könnte. Auch an einer Art her- 



» A. a. O. S. 193 ff. 
« Vgl. § 25 f. 



Das Ik fassen von Gegenständen höherer Ordnung. 125 

kömmKcher Vormeinung über die Natur dieser Relation fehlt 
es dann nicht: es scheint ja fast selbstverständlich, dafs, wer 
die WirkUchkeit erkennen, also auch vorstellen soll, wie sie eben 
ist, seinem Ziele um so näher kommen wird, je näher die Vor- 
stellungen der vorzustellenden Wirklichkeit stehen. Adäquat- 
heit wäre demnach so viel als Uebereinstimmung der Vor- 
stellung mit der Wirklichkeit, und man weifs, welche Rolle das 
so bestimmte Erkenntnifsziel in der idealistischen und nicht- 
idealistischen Erkenntnifstheorie und Metaphysik gespielt hat 
und, wenn auch unter ab und zu etwas abgeänderten Schlag- 
wörtern, noch heute spielt. 

Nun ist es aber vor Allem vielleicht keine der am Niedrig- 
sten zu bewerthenden Früchte einer principiellen Auseinander- 
haltung von Gegenstand und Inhalt, dafs dieselbe in der eben 
gekennzeichneten Auffassung der Adäquatheit ein Mifsverständ- 
nifs erkennen läfst, das sich eben nur da einstellt, wo diese Aus- 
einanderhaltung versäumt wird. Es ist nämlich allerdings richtig 
bis zur TriviaUtät, dafs, wenn ich einen viereckigen Tisch durch 
mein Denken erfassen will, ich mir denselben z. B. nicht rund 
denken darf, auch nicht oval, sondern eben nur viereckig. Heifst 
dies aber etwa, dafs zu diesem Ende meine Vorstellung selbst, 
näher ihr Inhalt viereckig sein müsse, oder beschränkt sich die 
Forderung nicht vielmehr darauf, dafs meine Vorstellung, wenn 
sie zu keinem Irrthum führen soll, eben die Vorstellung eines 
Viereckigen, d. i. eben eines viereckigen Gegenstandes sein 
mufs? Näher besehen ist die verlangte Uebereinstimmung also 
durchaus nicht die zwischen meiner Vorstellung und der be- 
treffenden Wirklichkeit, sondern zwischen dem immanenten 
Gegenstande meiner Vorstellung und der Wirklichkeit, indefs 
die Erwägung, dafs die Vorstellung resp. ihr Inhalt weder rund, 
noch oval noch viereckig, weder ausgedehnt noch auch nur 
physisch sein kann, vielmehr ihrer Natur nach unvermeidlich 
psychisch ist, einen der handgreiflichsten Beweisgründe dafür 
abgiebt, dafs man es im Inhalte und im Gegenstande einer Vor- 
stellung mit toto genere verschiedenen Thatsächlichkeiten zu 
thun hat.* Durch derlei Erwägungen ist aber zugleich die 
Forderung der Uebereinstimmung oder auch nur Aehnlichkeit 
zwischen Inhalt und Gegenstand mindestens für alle Vorstel 



„Ueber Gegenstände höherer Ordnung" S. 187 f. 



126 Sechstes Kapitel 

lungen physischer Gegenstände als unerfüllbar dargethan, und 
wer dies einmal erkannt hat, wird auch nicht mehr viel Mühe 
darauf zu wenden brauchen, um einzusehen, dafs für eine solche 
Forderung im Wesen des Erkennens, so weit uns dieses erfafs- 
bar ist, auch nicht die Spur einer Legitimation angetroffen 
werden kann. Die Vorstellung bietet mir, sofern sie einem 
evident affirmativen Urtheile zur Grundlage dienen kann, ein 
Mittel oder besser das Mittel dar, mich einer Wirklichkeit — 
eventuell natürlich auch einer nicht „existirenden", sondern blos 
„bestehenden" Quasi- WirkHchkeit — gleichsam zu bemächtigen, 
sie intellectuell zu erfassen: wir können aber diese erkannte 
Wirklichkeit oder Quasi- WirkUchkeit dann nicht unserer Vor- 
stellung von derselben sozusagen noch einmal und auf gleichem 
Fufse zur Seite stellen, um die beiden Thatbestände auf Aehn- 
lichkeiten und Unähnlichkeiten zu vergleichen. Eine Vorstellung 
ist einer Wirklichkeit oder Quasi- Wirklichkeit gegenüber adäquat, 
sofern es eine evident gewisse Affirmation giebt, die sie gleich- 
sam legitimirt: darauf hin für den Inhalt der Vorstellung be- 
stimmte Aehnlichkeiten oder Unähnlichkeiten der ihr zugeordne- 
ten Wirklichkeit gegenüber in Anspruch zu nehmen, dafür fehlt 
zur Zeit, so viel ich sehe, jeder Anhaltspunkt. 

Ich unterlasse es, hier den Consequenzen dieses Ergebnisses 
speciell für die Werthschätzung der Leistungen der sogenannten 
äufseren Wahrnehmung nachzugehen, und knüpfe daran blos 
die für die gegenwärtigen Untersuchungen unentbehrliche Frage, 
ob wir über diese Negation nun nicht auch noch durch eine 
positive Bestimmung in betreff der Beschaffenheit der Relation 
zwischen Inhalt und dem durch diesen erfafsten existirenden oder 
bestehenden (transscendenten oder quasi-transscendenten) Gegen- 
stand hinauszukommen im Stande sind. Allzu weittragenden 
Hoffnungen freilich wird man sich einer Thatsache gegenüber, 
die das Gepräge einer, um nicht zu sagen, der erkenntnifs- 
tiieoretischen Grundthatsache so deutlich an sich trägt, nicht hin- 
geben dürfen ; aber in Einer Hinsicht zum AUermindesten scheint 
mir eine nähere Bestimmung unserer Adäquatheits-Relation schon 
heute ohne das geringste Bedenken statthaft : ich meine die Ein- 
ordnung dieser Relation in die eine der beiden das Gesammt- 
gebiet der Relationen in sich fassenden Hauptclassen der Ideal- und 
Realrelationen. Ganz einfache Erwägungen geben hierüber Auf- 
schlufs. Ist das, was ich erkenne, selbst real, also ein Stück 



Das Erfassen von Gegenständen höherer Ordnung. 127 

Wirklichkeit, so wird diese durch mein Erkennen doch ganz ge- 
wifs in keiner Weise real berührt, wie hier mit nicht allzu 
grofser, für den Augenblick aber wohl ausreichender Präcision 
gesagt werden mag. Das Erkannte braucht aber überdies gar 
nicht etwas Wirkliches zu sein: die Einsicht in eine Gleichheit, 
eine Möglichkeit u. A. hat ja Ideales zum Gregenstande. Der 
Erkenntnifsact nebst dem ihm zu Grunde liegenden Inhalte frei- 
lich ist jederzeit real : aber Reales kann zu Idealem nie in einer 
Real-, sondern nur in einer Idealrelation stehen. Ist aber das 
Verhalten des Erkennens zum Erkannten von der realen oder 
idealen Beschaffenheit des Letzteren unabhängig, dann ergiebt 
sich auch für den realen Erkenntnifsgegenstand , dafs das Er- 
kennen zu ihm nur in einer Idealrelation stehen kann, womit 
das zuvor als „reale Unberührtheit" Bezeichnete nichts als eine 
neue Verification erhält Eine solche bietet schliefslich auch 
der allgemeine Aspect der uns im Erkennen jederzeit ent- 
gegentretenden Sachlage. Dazu, dafs unser intellectuelles Thun 
eine Wirklichkeit oder Quasi- Wirklichkeit erreiche, dazu müssen, 
das drängt sich doch eigentlich schon recht kunstloser Erwägung 
auf, gewisse qualitative Bedingungen erfüllt sein einerseits von 
Seite des in Frage kommenden Urtheils, dann aber auch von 
Seite der betreffenden Wirkhchkeit oder Quasi -Wirklichkeit : 
Beide müssen ihrer Beschaffenheit nach sozusagen zu einander 
passen. Ein solches „Passen" mufs natürKch bei Weitem keine 
Aehnlichkeit oder gar Gleichheit sein; aber noch viel weniger 
wird man darin eine Realrelation suchen können, und man wird 
schwerlich fehlgehen, wenn man in der herkömmlichen Ansicht 
von der Beschaffenheit der „Adäquatheit" als einer Art Aehn- 
lichkeit mindestens die Anerkennung der idealen Natur dieser 
Relation erblickt. 

§30. 

Die gegenständliche Bedeutung von Realrelationen 

zwischen Inhalten. 

Ich habe bisher, wie oben bereits angekündigt, nur die 
Relation der affirmativen Erkenntnifs zu ihrem Gegenstande in 
Erwägung gezogen, weil es sich bei dem allen Urtheilen und 
Vorstellungen zuzuschreibenden „immanenten" Objecto nur um 
eine fictive Uebertragung des bei der affirmativen Erkenntnifs 
thatsächlich Stattfindenden handelt. Im Hinblicke hierauf können 



128 Sechstes Kapitel. 

wir nun allgemein sagen: die Relation zwischen der Vorstellung 
und ihrem Gegenstande, genauer zwischen Inhalt und zugeord- 
netem Gegenstande ist eine Idealrelation, gleichviel welcher 
näheren Beschaffenheit, und dieses Ergebnifs wirft alles für die 
gegenwärtigen Zwecke erforderliche Licht auf unsere Ausgangs- 
frage, ob irgend welche Realrelationen zwischen dem -4-Inhalte, 
^Inhalte und i2-Inhalte im Stande sein könnten, die Stellung 
dieser drei Inhalte im Erkennen derart zu modificiren, dafs den- 
selben statt der drei Gegenstände A, B und B nur noch der 
Eine Gegenstand „A und B in Relation i?" oder etwa auch 
„Relation B zwischen A und jB" gegenüberstände. 

Man kann die Frage leicht beantworten, wenn man ihr eine 
allgemeinere Form giebt, welche dann gestattet, an Stelle der 
Adäquatheits-Relation , wie man nun die Relation zwischen 
Inhalt und Gegenstand ganz ohne Einschränkung nennen 
könnte^, eine uns sonst geläufigere Idealrelation als Beispiel zu 
substituiren. Verallgemeinert aber lautet die Frage etwa so: 
Können Idealrelationen, in denen zwei oder mehr vorgegebene 
Gegenstände zu anderen Gegenständen stehen, dadurch modificirt 
werden, dafs jene vorgegebenen Gegenstände unter einander in 
irgend welche Realrelationen treten ? Im Beispiele also : ich 
denke an eine Farbe X und einen, durchaus nicht pimktuell zu 
verstehenden Ort F. Jene Farbe hat natürlich ihre Aehnlich- 
keiten und UnähnUchkeiten gegenüber den verschiedenen anderen 
Farben; ebenso der Ort seine Lage- und Distanz-Relationen zu 
anderen Orten. Wird sich mm an diesen Relationen der Farbe 
2JU den Farben, des Ortes zu den Oertem oder auch beider zu 
beliebigen anderen qualitativ bestimmten Thatbeständen etwas 
ändern, wenn ich die Farbe X an den Ort Y bringe ? Niemand 
wird Bedenken tragen, mit Nein zu antworten. Verallgemeinert 
aber heifst dies : Idealrelationen werden durch Realrelationen, in 
die ihre Glieder eingehen, in keiner Weise mitbeeinflufst, was im 
Grunde selbstverständlich genug ist, da ja die Idealrelationen 
an Gliedern bestimmter Beschaffenheit ein für allemal mit Noth- 



^ Immerhin mit der kleinen Modiflcation , dafs, während bei der 
^affirmativen Erkenntnils die Vorstellung dem Gegenstande adäquat heifst, 
in den übrigen Fällen blos immanenten Objectes besser der Gegenstand 
als der Vorstellung adäquat zu bezeichnen wäre. Bei Erkenntnifs des Seins 
ist eben der Gegenstand, sonst dagegen die Vorstellung resp. ihr Inhalt das 
VoifgjQgebene. 



Das Erfassen von Gegenständen höherer Ordnung. 129 

wendigkeit haften, durch die sozusagen äufseren Schicksale der 
Glieder sonach nicht mitbetrofEen werden können. 

Nun ist aber auch die Adäquatheit eine Idealrelation: der 
-4-Inhalt, J?-Inhalt und Ü-Inhalt können selbst als Gegenstände^ 
betrachtet werden, die nebst anderen Idealrelationen auch die 
Relationen der Adäquatheit zu den Gegenständen A, B resp. R 
aufweisen. Es ist nun klar, dafs man mit diesen Inhalten an- 
fangen mag, was man will: so lange man ihre Beschaffenheit 
nicht ändert, d. h. andere Inhalte aus ihnen macht, kann man 
auch ihre Idealrelationen nicht ändern ; und sind sie nicht schon 
von allem Anfange an zu dem Gegenstande „Relation R zwischen 
A und J?" in Adäquatheits-Relation gestanden, so ist diese Relation 
auch nicht durch relativ äufserliche Veränderungen an ihnen 
gleichsam zu erwerben. 

§ 31. 
Primäre und secundäre Gegenständlichkeit. 

Durch das Vorstehende möchte der Nachweis erbracht sein, 
dafs zu einer Vorstellung des Gegenstandes „Relation R zwischen 
A und jB" oder „A und B in Relation iJ" von dem vorgegebenen 
-^-Inhalte, jB-Inhalte und JZ-Inhalte aus weder durch einen neu 
hinzutretenden Inhalt noch durch Stiftung von Realrelationen 
zwischen diesen vorgegebenen Inhalten zu gelangen ist. Weil 
aber ein Drittes mit den in Rede stehenden Inhalten nicht vor- 
genommen werden kann, ohne den Bereich des Vorstellens dabei 
zu überschreiten, so mag man billig besorgen, durch Obiges bereits 
zu viel bewiesen zu haben, sofern damit dargethan ist, dafs es 
überhaupt keinen Inhalt giebt, der sich einem der eben wieder 
namhaft gemachten complexen Gegenstände zuordnen liefse. 
Man wird indefs an diesem Ergebnifs keinen Anstofs zu nehmen 
brauchen, wenn sich herausstellt, dafs, was man zunächst freilich 
von den Vorstellungen allein als deren ausschliefsliche Leistung 



^ Dafs hier die Inhalte als Gegenstände auftreten, könnte leicht den 
in solchen Untersuchungen Ungeübten im ersten Augenblick verwirren. 
Es liegt darin aber weder ein Fehler noch eine Schwierigkeit: Gegenstand 
ist ja alles Vorstellbare, folglich im Besonderen auch der Inhalt, wie im 
gegenwärtigen Zusammenhange besonders deutlich wird, in dem wir uns 
mit dem Gegenstande „Inhalt" ja nun schon eine Weile zu beschäftigen, 
ihn also vorzustellen und zu beurtheilen haben. 

Zeitschrift für Psychologie Erg.-Bd. II. 9 



130 Sedutes Kapitel 

ZU erwarten geneigt ist, sich sehr wohl dann, aber auch nur 
dann leisten läfst, wenn man neben dem Vorstellen nun neuer- 
lich noch das Urtheil oder ein ihm ausreichend Verwandtes 
heranzieht 

Greifen wir noch einmal auf jenen eigenartigen Thatbestand 
zurück, von dem aus sich uns das Wesen der Gegenständlichkeit 
zuerst erschlossen hat \ auf die affirmative Erkenntnifs, diesmal 
näher auf einen solchen Specialfall, wo es sich um eine Relation 
handelt Wenn jemand etwa das Urtheil fällt: „Spectralfarben 
sind anders beschaffen als Pigmentfarben", so drängt sich als 
Gegenstand dieser Erkenntnifs ohne Zweifel das AndersbeschafEen- 
sein, die Verschiedenheit auf. Aber man wird darüber nicht 
im Zweifel sein, dafs aufserdem durch diese Erkenntnifs auch 
die Spectralfarben sowohl als die Pigmentfarben betroffen oder, 
wenn man sich dieses Ausdrucks bedienen will, getroffen sind. 
Und nennen wir die Verschiedenheit deshalb Gegenstand unseres 
Urtheils, weil sie durch dasselbe „erkannt" wird, so werden 
Spectral- und Pigmentfarben, sofern sie durch unser Urtheil 
gleichfalls „erkannt'* werden % von dem Rechtsanspruche darauf, 
Gegenstände dieser Erkenntnifs zu heifsen, gleichfalls nicht wohl 
auszuschliefsen sein. Immerhin kommt dabei der Verschieden- 
heit eine Art Vorrang zu, und dieser kann ganz wohl zur Geltung 
gelangen, wenn wir sie als den primären Gegenstand, die 
Spectral- und Pigmentfarben dagegen als secundäre (regen 
stände unseres Urtheils bezeichnen. Man sieht zugleich ein, dafs 
das Nämliche auch von jeder anderen Erkenntnifs gelten mufs, 
durch die eine Relation unter Bezugnahme auf ihre Glieder — 
also nicht etwa blos unbestimmt, — affirmirt wird: jedesmal 
macht die Relation den primären Gegenstand, die Gesanamt- 
heit der GUeder die Gesammtheit der secundären Gegenstände 
aus, deren natürlich zunächst so viele sind, als die betreffende 
Relation Glieder hat. Dabei erkennt man als eine charak- 
teristische Eigenschaft dieser secundären Gegenstände, dafs sie, 
höchstens von Grenzfällen abgesehen, ihrer Natur nach niemals 
vereinzelt auftreten können. 



1 Vgl. oben § 21. 

^ Dafs diese Ausdnicksweise im Grunde sprachwidrig ist, darf hier 
unberücksichtigt bleiben. Die wichtige Thatsache aber, auf die anser 
ßprachgeftthl hier durch sein ablehnendes Verhalten hinweist, wird uns in 
Kap. VII näher zu beschäftigen haben. (Vgl. zunächst § 35.) 



Das Erfassen von Gegenständeti höherer Ordnung. 131 

Die Analogie dieser secundären Gegenständlichkeit mancher 
zu der uns bereits so wohlbekannten GegenständUchkeit aller 
Erkenntnisse, bewährt sich nun auch beim Versuche einer weiteren 
theoretischen Bearbeitung der erst genannten Thatsache. Einer- 
seits nämUch wird auf eine Zurückführung auf noch fundamen- 
talere Thatsachen beim secundären Gegenstande derzeit wenigstens 
ganz ebenso zu verzichten sein wie beim primären: hier wie 
dort wird man sich vielmehr vorerst bescheiden müssen, davon 
Kenntnifs zu nehmen, dafs solche Leistungen eben zum Wesen 
des Erkennens gehören. Andererseits aber wird auch von der 
secundären Gegenständlichkeit des Erkennens der Weg ganz 
ebenso zu der des Urtheilens im Allgemeinen und dann auch 
zu der des Vorstellens führen, wie sich dies oben für die primäre 
GegenständUchkeit ergeben hat. Auch der Gegensatz der actuellen 
zur blos potentiellen Gegenständlichkeit behält im Bereiche der 
secundären Gegenstände seine Geltung: wieder ist er für das 
Urtheil von weit geringerer Wichtigkeit als für die Vorstellung, 
und wieder wird als das Mittel, das zu einem actuellen „Gerichtet- 
sein" der Vorstellung auf einen secundären Gegenstand führt, 
nur die Annahme in Anspruch genommen werden können. 

Neben diesen Uebereinstimmungen darf man nun aber auch 
die weitgehenden Verschiedenheiten zwischen primärer und 
secundärer Gegenständlichkeit nicht übersehen. Primäre Gegen- 
ständhchkeit kommt, wie eben wieder berührt, jeder Vorstellung 
und jedem Urtheile zu : secundäre GegenständUchkeit treffen wir 
dagegen nur bei gewissen Vorstellungen an, nämlich den Vor- 
stellungen jener primären Gegenstände, die uns als Gegenstände 
höherer Ordnung bereits ausreichend bekannt sind. Zwischen 
primären imd secundären Gegenständen derselben Vorstellungen 
besteht sonach die Relation des Superius zu den Inferioren^, 
und damit ist zugleich gegeben, dafs zur Vorstellung Eines 
primären Gegenstandes normalerweise, nämlich von etwaigen 
Grenzfällen abgesehen, eine Mehrheit von secundären Gegen- 
ständen gehören wird, die man erforderlichen Falles als „Collec- 
tiv secundärer Gegenstände" oder kürzer „secundäres Gegen- 
stands-CoUectiv" zusammenfassen kann. 

Besonders nahe steht aber unseren gegenwärtigen Interessen 
eine zweite Verschiedenheit. Damit eine Vorstellung auf ihren 



^ Vgl. „Ueber Gegenstände höherer Ordnung etc." S. 189 f. 

9* 



132 



Sechstes Kapitel. 



primären Gegenstand gerichtet sei, ist anfser dem Gegebensein 
der Vorstellung nur noch das der zugehörigen Urtheils- oder 
doch wenigstens Annahme-Affirmation erforderlich. In betreff 
secundärer Gegenstände genügt dagegen ein einer solchen Gegen- 
ständlichkeit fähiger Inhalt nebst Affirmation noch keineswegs; 
es bleibt vielmehr dann immer noch eine sehr auffälhge Unbe- 
stimmtheit in betreff des secundären Gegenstands-CoUectivs übrig. 
So lange es sich freilich nur um die potentielle Gegenständlich- 
keit handelt, hat es wenig auf sich, dafs der Gedanke etwa der 
Gleichheit secundär auf Farben so gut wie auf Töne, auf 
Gröfsen so gut wie auf QuaUtäten sich „anwenden" läfst, CoUec- 
tive aus allen diesen Gebieten also gleich gut als Gegenstands- 
CoUective dieser Vorstellung gelten können. Wo es sich aber 
um ein actuelles Intentioniren oder „Meinen" seitens des vor- 
stellenden Subjectes handelt, ist dieses in der Regel auf Be- 
stimmteres gerichtet, und für solche Bestimmtheit kann die 
Gleichheitsvorstellung für sich allein nicht aufkommen. Ich 
sage, in der Regel; denn ausgeschlossen ist es am Ende nicht, 
dafs das secundäre Gegenstands-Collectiv einmal wirkUch gerade 
in seiner Unbestimmtheit „gemeint" ist. Hätte irgend jemand 
einmal wirklich den wunderhchen Einfall, darüber, dafs es 
Gleichheit giebt, ein Urtheil zu fällen, dem der Rang einer Er- 
kenntnifs, wenn auch einer nichtssagenden, sicher nicht abzu- 
sprechen wäre, so hätte man da eine Erkenntnifs mit so unbe- 
stimmten secundären Gegenständen vor sich, dafs man sich 
versucht fühlen könnte, ihr solche Gegenstände überhaupt abzu- 
sprechen. So stehen aber die Dinge gewöhnlich nicht, und so 
gut das Urtheil normalerweise sein wenigstens einigermaafsen 
bestimmtes secundäres Gegenstands-Collectiv hat, so gut bedarf 
seiner die Annahme und mit ihr die Vorstellung, sofern von 
deren secundärer Gegenständlichkeit in mehr als blofs poten- 
tiellem Sinne die Rede ist. 

Fragt man sich, durch welches Mittel solche Unbestimmtheit 
zu beseitigen sei, so ergiebt sich zunächst eine ebenso einfache 
als selbstverständliche Auskunft in dem Hinweise darauf, dafe 
das gemeinte secundäre Gegenstands-Collectiv jedesmal auch 
noch durch Vorstellungen gegeben sein mufs, deren primäre 
Gegenstände dieses CoUectiv ausmachen. Man findet sich hier 
vor die eigenthümliche Thatsache gestellt, dafs die Vorstellung, 
die das Superius zum primären Objecte hat, mit den Vor- 



Dm Er fassen von Gegenständen höherer Ordnung. 133 

Stellungen, die die Inferiora zu primären Objecten haben, da- 
durch verbunden ist, dafs die secundären Objecte der ersteren 
Vorstellung mit den primären Objecten der letzteren Vorstellungen 
wenigstens der Intention des Vorstellenden nach identisch sind. 
Und in dieser Thatsache dürfte nun auch der Schlüssel zur 
Lösung des Hauptproblems des gegenwärtigen Abschnittes ge- 
funden sein. 

§ 32. 
Die Verbindung durch Urtheil oder Annahme. 

Es ist nämlich vor Allem sofort einleuchtend, dafs dieses 
„für identisch Intentioniren", oder wie man sonst sagen mag, 
nicht darin bestehen kann, dafs man an die Identität der 
in Frage kommenden Gegenstände etwa in abstracto denkt und 
dann vielleicht eine solche Identität herzustellen unternimmt. 
Abgesehen von der in den ganzen Vorgang hineingetragenen 
unverhältnifsmäfsig grofsen CompHcation wäre darin auch die 
uns ihren Schwierigkeiten nach nun bereits ausreichend bekannt 
gewordene Aufgabe, vorgegebene Glieder in einer vorgegebenen 
Relation vorzustellen, als gelöst vorweggenommen, und es könnte 
von hier aus dann die Lösung dieser Aufgabe nicht ohne Cirkel 
erst in Angriff genommen werden. Man hat aber auch gar 
nicht nöthig, zu solchen Künstlichkeiten seine Zuflucht zu 
nehmen, da eine viel natürlichere Auffassung durch die Analogien 
zwischen primärer und secundärer GegenständHchkeit nahe 
gelegt wird. 

Halten wir uns zunächst an den Fall eines ürtheils, das 
neben dem primären Objecte auch secundäre Gegenstände zu 
„treffen" geeignet ist. Dafs ein Urtheil diesen oder jenen 
primären Gegenstand „habe", das läfst sich, wie hier nicht 
neuerUch dargelegt zu werden braucht, ja nur so verstehen, dafs 
sich die Urtheilsthätigkeit einmal diesem, das andere Mal jenem 
Vorstellungsinhalte zuwendet. Hat nun ein Urtheil neben dem* 
primären Gegenstande noch ein bestimmtes CoUectiv secundärer 
Gegenstände, so liegt nichts näher, als auch diese Thatsache 
mit Vorstellungsinhalten in Verbindung zu bringen, denen daö 
Urtheil nun gleichfalls in irgend einer Weise zugewendet sein 
mufs. Natürlich nicht in derselben Weise wie dem „primären 
Inhalte", falls man den zum primären Gegenstande gehörigen 
Inhalt so nennen mag: denn sonst urtheilte ich z. B. nicht 



134 SeclisteB Kapitel. 

über „Verschiedenheit zwischen Blau und Grün", sondern 
höchstens über „Blau, Grün und Verschiedenheit". Dafür aber 
in einer anderen, der Beschreibung nun freilich wieder nicht 
direct zugänglichen Weise, in betreff deren zunächst nur das 
Eine ziemlich deutUch ist, dafs der Vorstellung des primären 
Objectes dabei etwas wie eine vermittelnde Rolle eigen sein 
mufs, denn secundäre Gegenstände kommen ja nicht dem Urtheil 
als solchem, sondern nur Urtheilen über ganz bestimmte primäre 
Gegenstände zu. 

Damit also ein solches Urtheil einem gewissen Gegenstande 
als einem secundären zugewandt sei, wird die Vorstellung, die 
diesen Gegenstand zum primären Gegenstande hat, genauer 
der Inhalt dieser Vorstellung sich zum Inhalte der Vorstellung 
vom primären Gegenstande des betreffenden Urtheils in einer 
geeigneten Realrelation befinden müssen. Diese Forderung, die 
sich uns oben als werthlos erwiesen hat, so lange man sich aus- 
schliefslich auf Vorstellungsthatsachen beschränkt, erhält so eine 
charakteristische Bedeutung, sobald das Urtheil mit im Spiele 
ist. In Anwendung auf das eben zuvor gebrauchte Beispiel 
können wir also einfach sagen: das Urtheil „es besteht Ver- 
schiedenheit zwischen Blau und Grün" hat neben dem primären 
Objecte „verschieden" noch die beiden (ein Gegenstands-Collec- 
tiv ausmachenden) secundären Gegenstände Blau und Grün, und 
dies ist nicht nur dem Umstände zuzuschreiben, dafs die Vor- 
stellung „verschieden" ihrem primären Gegenstande nach zu 
dem CoUectiv „Blau und Grün" pafst, sondern im Besonderen 
noch dem Umstände, dafs der Urtheilende zugleich an Blau 
und Grün denkt und zwar in der Weise, dafs die betreffenden 
Inhalte in geeignetem Verhältnisse zum Inhalte der Vorstellung 
„verschieden" stehen. 

So liegt in der Fähigkeit des Urtheils, unter günstigen Um- 
ständen nicht nur auf ein primäres Object, sondern auch auf 
secundäre Gegenstände gerichtet zu sein, die Fähigkeit be- 
schlossen, ein Superius mit anderen Gegenständen als seinen 
Inferioren subjectiv zu verbinden. Was durch „blofses Vor- 
stellen", genauer durch bestimmte Inhalte und Realrelationen 
zwischen ihnen, wie wir sahen, nicht zu leisten war, tritt uns 
als eine der Leistungen des Urtheils entgegen. Nun begegnen 
wir freilich dieser Leistung auch dort, wo nicht geini;heilt wird, 
und wo man sich daher vom „blofsen Vorstellen" zu reden ge- 



Dm Erfassen von Gegenständen höherer Ordnung. 135 

Wohnt hat. Kann aber in betreff der primären Gegenständlich- 
keit die Annahme das Urtheil vertreten, so kann sie es auch in 
betreff secundärer Gegenstände und ihrer Verbindung mit pri- 
mären. So gelangen wir nunmehr zur nachstehenden Beant- 
wortung der unseren letzten Untersuchungen zu Grunde liegen- 
den Fragestellung : Um Ä und B in der Relation B vorzustellen, 
ist eine Annahme erforderUch, die B zum primären, A imd B 
zu secundären Objecten hat, was dadurch erzielt wird, dafs der 
i?-lnhalt zum Ä- und -B-Inhalt in eine geeignete Relation tritt 
Ich kann also genau genommen die Relation als zwischen Ä 
und B bestehend (oder existirend) nicht vorstellen, sondern blofs 
annehmen, und was man gemeinhin als Vorstellung des Ä und 
B in Relation B zu bezeichnen pflegt, ist jedesmal eigentlich 
eine Annahme. 

Eine Verification dieses Resultates dürfte in der ebenso 
leicht zu erfahrenden als auffälligen Thatsache zu erblicken sein, 
dafs es unter Umständen schwer, ja gar nicht gelingt, eine Re- 
lation in gehöriger Verbindung mit ihren Gliedern vorzustellen, 
ohne damit sogleich ein affirmatives Urtheil zu verbinden. Man 
versuche etwa, das oben verwendete Beispiel von der Ver- 
schiedenheit zwischen Blau und Grün dahin abzuändern, dafs 
man diese Verschiedenheit nur „vorstellt" und zuverlässig nicht 
zugleich — affirmativ natürlich — beurtheilt. Es ist ziun Minde- 
sten nicht leicht, sich einige Gewifsheit über das Gelingen 
solchen Vorhabens zu verschaffen. Diese Unsicherheit ist hier 
wenigstens ebenso charakteristisch für die Sachlage wie das 
wirkliche Mifslingen. Beides ist doch recht auffallend , falls ich 
-den Gedanken „Verschiedenheit zwischen Blau und Grün" unter 
Anwendung blofsen Vorstellens überhaupt vollziehen kann. 
Brauche ich dagegen unter allen Umständen wenigstens eine 
Annahme dazu, dann geht die allfällige Undeutlichkeit des im 
gegebenen Falle Vorliegenden auf die Verwandtschaft von Ur- 
theil und Annahme, das wirkliche MifsUngen eines Versuches 
«ber, ohne Urtheil auszukommen, auf die auch sonst wohl- 
bekannte Schwierigkeit der Forderung zurück, sich in einem 
Falle mit der blofsen Annahme zu bescheiden, wo man das 
Bessere, das Urtheil gleicher Qualität nämlich, zur Ver- 
fügung hat 

Um aber die Bedeutung unseres Ergebnisses in ihrer vollen 
Allgeraeinheit zu erfassen, ist noch in Erwägung zu ziehen, 



136 Sechstes Kapitd. 

dafs das hier von der Affirmation Ausgeführte sich nun ohne 
Weiteres auch auf die Negation übertragen läfst Das Urtheil 
„Blau und Grün sind einander nicht gleich" oder „Gleichheit 
zwischen Blau und Grün giebt es nicht" hat genau dieselbe 
innere Structur, wenn man so sagen darf, wie das oben unter- 
suchte Verschiedenheitsurtheil affirmativer Qualität, und der 
Conception des Gedankens „Kreuz, das roth ist" steht die des 
Gedankens „Kreuz, das nicht roth ist" ganz paritätisch zur Seite : 
wie dort die affirmative Annahme an Stelle des affirmativen 
Urtiieils tritt, so hier die negative Annahme an Stelle des nega- 
tiven Urtheils. Der Weg vom „nicht-rothen Kreuz" zum Begriffe 
„Nicht-roth" ist dann leicht genug zu überblicken, und so finden 
wir uns hier zugleich im Besitze der Auflösung der bereits im 
ersten Kapitel ^ constatirten Schwierigkeiten in betreff der Nega- 
tiva. Auch in ihnen haben wir also eine Begriffsbüdung vor 
uns, die ohne Annahmen nicht zu erzielen wäre. 

§ 33. 
Nachträgliches über anschauliche Vorstellungen. 
Complexionen aus unbestimmten Bestandstücken. 

Es erübrigt nun noch, die letztgewonnenen Ergebnisse mit 
den zu Anfang dieses Kapitels durchgeführten Untersuchungen 
in ausdrückliche Verbindung zu bringen und dabei dem einen, 
bisher in gewissem Sinne vernachlässigten GUede des dort be- 
handelten Gegensatzes zwischen anschauUchen und unanschau- 
Uchen Vorstellungen die ihm zukommende ausdrückliche Berück- 
sichtigung nun noch nachträgUch zu Theil werden zu lassen. 
Der erwähnte Gegensatz hat uns auf den zwischen Zusammen- 
setzung und Zusammenstellung von Vorstellungen resp. Vor- 
stellungsinhalten, und die logische Indifferenz der Zusammen- 
stellung auf den Antheil der Annahmen am un anschaulichen 
Vorstellen geführt. Ebenso hat die allgemeinere Fragestellung, 
der wir uns dann zuwandten, sich zunächst auf die Aufgabe be- 
zogen, vorgegebene Glieder A und B in einer vorgegebenen 
Kelation B zu denken, eine Aufgabe, die jedenfalls in erster 
Linie wieder auf un anschauliches Vorstellen hinweist: man kann 
daher leicht geneigt sein, das gewonnene Ergebnifs ausschliefsUch 



^ Vgl. § 2 gegen Ende. 



Das Erfassen v<m Gegenständen höherer Ordnung. 137 

auf unanschauliches Vorstellen zu beziehen. Nun ist aber doch 
Thatsaehe, dafs die in Rede stehende Aufgabe unter günstigen 
Umständen auch anschaulich gelöst werden kann: gleichwohl 
werden auch dann die in den vorigen Paragraphen angestellten 
Erwägungen in Kraft bleiben, so dafs unser Ergebnifs darauf 
Anspruch hat, auch für anschauliche Vorstellungen zu gelten. 
Und dies wieder nicht nur für den speciellen Fall, dafs die In- 
feriora und das (abstracte) Superius vorgegeben sind, sondern 
nicht minder dann, wenn die Vorstellung des Superius aus den 
Vorstellungen der Inferiora durch „Production" ^ hervorgeht, oder 
auch, wenn reale Glieder sich zugleich mit der Realrelation zwischen 
ihnen der Wahrnehmung darbieten. So hat man das Recht, in 
vollster Allgemeinheit zu behaupten: überall, wo es gilt, Re- 
lationen in Verbindung mit ihren GUedern, oder Glieder in einer 
Relation und sonach - als Complexion zu denken, daher auch kurz- 
weg: wo immer es gilt, Gegenstände höherer Ordnung in der 
ihnen eigenthümlichen Verbindung mit ihren Inferioren zu er- 
fassen, reicht das Vorstellen für sich allein nicht aus, so dafs 
es unter allen Umständen ungenau ist, die dieses Gebiet be- 
herrschende Gegensätzlichkeit des Anschaulichen und Unan- 
schaulichen auf das blofse Vorstellen zu beziehen. Man hat im 
Grunde gleich wenig Recht, von „anschauUch Vorstellen" wie 
von „unanschaulich Vorstellen" zu reden : hier wie dort ist, falls 
nicht geradezu Urtheile vorliegen, die Mithülfe des Annehmens 
unerläfslich. 

Immerhin mag die Allgemeinheit dieser Aufstellimg gerade 
im Hinblick auf die eigenthch erst durch die letzten Er- 
wägungen mit einbezogenen anschaulichen Vorstellungen einiger- 
maafsen befremden. Man braucht ja z. B. nur um sich zu 
blicken, um in der mannigfaltigsten Weise Farben an Orten, 
also gewisse Farben- mit gewissen Ortsdaten verbunden, sonach 
in Relation, genauer in einer bestimmten Realrelation zu „sehen". 
Ist es nicht gewaltsam, weil erfahrungs widrig , jedem dieser 
Fälle einen obhgatorischen Antheil des Annehmens zuzuschreiben ? 
Und gilt dann nicht auch ganz Analoges von den mancherlei 
Bildern, die sich dem inneren Auge des künstlerisch oder auch 
unkünstlerisch Phantasirenden gesucht und ungesucht darbieten ? 

* lieber diesen Begriff und Terminus vgl. oben S. 8f. 

* Vermöge des Ooincidenzprincips vgl. „Ueber Gegenstände höherer 
Ordnung etc." S. 193 ff. 



138 Sechstes Kapitel. 

Solchen Instanzen gegenüber scheint mir erforderlich, auf 
Mebreres hinzuweisen. Vor Allem bestreite ich, daCs in obigen 
Beispielen auf Annahmen zu verweisen, der Erfahrung wirklich 
in auffallendem Maafse entgegen ist. Dafs der Phantasirende 
sich in die Gebilde seiner Phantasie mehr oder minder tief ver* 
senkt, in sie hineinlebt oder wie man das sonst ausdrücken mag, 
wird ja von den Betreffenden oft genug constatirt und kann 
doch nicht gut anders verstanden werden als so, dafs der 
Phantasirende annimmt, was er vorstellt. Gegenüber mehr oder 
minder flüchtig auftauchenden Phantasiebildem mag es da aller- 
hand graduelle Verschiedenheiten geben ; es liegt aber kaum ein 
Erfahrungsgrund vor, für irgend einen dieser Falle Abwesenheit 
des Annehmens zu verlangen. Soweit es sich überdies ins- 
besondere um künstlerische Betrachtungsweise handelt, an der 
man der Anschaulichkeit jederzeit einen besonderen Antheil bei- 
gemessen hat, so darf daran erinnert werden, dafs uns die engen 
Beziehungen der Annahmen zur Kunst auch noch in ganz anderen 
Zusammenhängen deutlich geworden sind. Soweit die obigen 
Beispiele aber den Specialfall der Anschauung, d. h. der — 
selbstverständlich anschaulichen — Wahrnehmungsvorstellung 
herangezogen haben, darf wohl darauf hingewiesen werden, dafs 
bei ihnen die Annahmen freilich überflüssig sind, aber doch wohl 
nur deshalb, weil hier normalerweise für mehr gesorgt ist, für 
Urtheile nämUch, die natürlich die Unterstützung durch An- 
nahmen entbehrlich machen. 

Sollte indes die Empirie gleichwohl Fälle anschaulichen 
Vorstellens bieten, bei denen die Abwesenheit sowohl eines ür- 
theils als einer Annahme ausreichend wahrscheinlich zu machen 
ist, so fehlt es nicht an einem Gesichtspunkte, unter dem auch 
solche Erfahrungen mit der obigen Behauptung ganz wohl in 
Einklang zu bringen sind. Als Bedingung dafür, dafs ein Ur- 
theil oder eine Annahme mit geeignetem primärem Objecte sich 
auch noch auf ein CoUectiv secundärer Objecte richte, haben 
wir geeignete Realrelationen zwischen den in Frage kommenden 
Inhalten namhaft machen müssen. Der Gegensatz zwischen Zu- 
sammensetzung und Zusammenstellung belehrt uns nun darüber, 
dafs es in diesem Sinne geeigneter Relationen zweierlei giebt, 
die wir zur Zeit zwar nicht direct, indirect aber durch ihr Ver- 
halten zu den Urtheilen charakterisiren können, die sich auf sie 
aufbauen. Zusammenstellung nämlich ist, wie wir sahen, eben 



Das Erfassen von Gegenständen höherer Ch'dntmg. 139 

SO wohl geeignet, einem affirmativen als einem negativen Ur- 
theile zum Untergrund zu dienen, indefs ein Fall von Zusammen- 
setzung einer negativen Beurtheilung überhaupt unzugänglich 
ist Wird nun, um wieder auf unser oft gebrauchtes Formel- 
beispiel zurückzugreifen, etwa der A-, B- und i?-Inhalt in Zu- 
sämmensetzungs-Relation gebracht, so kann die so gewonnene 
Vorstellungs-Complexion zwar nicht bereits selbst gleichsam für 
die fertige Veranstaltung gelten, um „B zwischen Ä und -B" zu 
erfassen ; gleichwohl ist damit ein Vorstellungsgebilde geschaffen, 
das dem Gegenstande „i? zwischen A und -B" insofern eindeutig 
zugeordnet ist, als sich dasselbe zu einer anderen Erkenntnifs 
als der des in Rede stehenden Gegenstandes nicht verwenden 
läfst, eine Eigenschaft, die den nämlichen Inhalten in Zu- 
sammenstellungsrelation begreiflicherweise nicht zukäme. So 
hat es trotz der erwiesenen Unfähigkeit der Partialinhalte, 
gewissermaafsen aus sich heraus nicht nur die Bestandstücke, 
sondern auch die Complexion zu repräsentiren, einen ganz guten 
Sinn, zu sagen, hier werde die betreffende Relation in Verbin- 
dung mit ihren Gliedern vorgestellt, auch schon ehe das Urtheil 
oder die Annahme vorliegt, welche die Verbindung der Inferioren- 
Vorstellungen mit dem Superius eigentlich erst herzustellen ge- 
eignet ist. Es würde diese verbindende Function sonach auch 
nicht in Frage gestellt sein, wenn sich anschauliche Vorstellungen 
sollten aufzeigen lassen, die als Vorstellungen dieser oder jener 
Complexion oder Relation sich darstellen, obwohl weder An- 
nahme noch Urtheil daran betheiligt sind. 

Unter diesem Gesichtspunkte dürfte sich übrigens auch noch 
ein anderer Einwand erledigen lassen, der sich der hier ver- 
tretenen Auffassung gegenüber aufzudrängen scheint. Indem 
diese nämlich den Inhalts-Complexionen die Fähigkeit abspricht, 
Gegenstands-Complexionen wirklich zu repräsentiren, welche aus 
den den betreffenden Inhaltsbestandstücken zugeordneten Theil- 
gegenständen bestehen, legt sie die Consequenz nahe, dafs von 
einer eigentlichen Zuordnung zwischen Inhalt und Gegenstand 
nur . in betreff einfacher Gegenstände und dann wohl auch in 
betreff einfacher Inhalte die Rede sein könne. Was damit aber 
gesagt ist, scheint am besten der Hinweis auf Strecken zu 
beleuchten, deren unendliche Theilbarkeit dann wirklich ein Zer- 
fallen in unendlich viele Bestandstücke mit sich zu führen droht, 
bis deren ebenfalls unendlich viele inhaltliche Repräsentanten 



140 Sechstes Kapitel, 

durch ebenfalls unendlich viele sie verbindende Relations- 
urtheile die Eignung erhalten haben, die Strecke als Ganzes zu 
erfassen. 

Wer in dieser Sache Stellung zu nehmen versucht, wird 
sich natürUch über Einen Punkt von vom herein keinen 
Täuschungen hingeben dürfen: das Problem der Complexionen 
aus unbestimmten Bestandstücken ^ bietet, wie von Alters her 
bekannt, bei der Bearbeitung seiner gegenständlichen Seite 
allein schon so grofse Schwierigkeiten, dafs man sich für die 
naturgemäfs noch um so vieles verwickeiteren Fragestellungen, 
die sich bei Mitberücksichtigung der inhaltlichen Seite ergeben, 
sonderlich leichte Erfolge sicher nicht versprechen, im Besonderen 
also auch nicht erwarten darf, an der gegenwärtigen Stelle dieser 
Untersuchungen, wo das in Rede stehende Problem sich eben 
nur streifen läfst, etwas ErhebUches zu dessen Lösung beizu- 
steuern. Gleichwohl meine ich nun, dafs man auch unter so 
ungünstigen Umständen über die Untriftigkeit des vorUegenden 
Bedenkens ins Reine kommen kann. Dasselbe kann ja doch 
natürlich wieder nur auf anschauüche Vorstellungen bezogen 
sein; aber eine anschauliche Streckenvorstellung giebt es streng 
genommen nicht, oder genauer: was man mit einer für die 
meisten Zwecke ausreichenden Deutlichkeit anschauUche Strecken- 
vorstellung nennt, ist jederzeit so beschaffen, dafs es von der 
Vorstellung einer passenden Complexion unterschwellig naher 
Punkte aus dem betreffenden Continuum nicht unterschieden 
werden kann.^ Um von da zu einer wirklichen Strecken Vorstel- 
lung zu gelangen, sind unanschauliche und niemals anschaulich 
umzugestaltende Hülfen unerläfslich. Man hat also in keinem 
Falle einer anschaulichen Vorstellung Grund, mehr als eine re- 
lativ nicht allzu grofse, jedenfalls endliche Anzahl gegenständ- 
licher und sonach auch inhaltlicher Bestandstücke zu vermuthen. 
Auch die Einfachheit der ersteren ist durch nichts verlangt: es 
kann sehr wohl minima sensibilia und cogitabilia — letzteres 
natürUch immer unter Voraussetzung der Anschaulichkeit — 



^ Vgl. „Ueber Gegenstände höherer Ordnung etc." a. a. 0. S. 227 fE. 

^ Falls solche nämlich isolirt in anschaulicher Vorstellung gegeben 
sein können, was z. B. für das Farben-Gontinuum keine Schwierigkeit hat. 
Auf die Besonderheiten, die bei Kaum- und Zeitstrecken in Frage kommen, 
kann hier im Einzelnen nicht eingegangen werden : doch habe ich f olgends 
im Texte ihnen wenigstens implicite Kechnung zu tragen versucht. 



Das Erfassen von Gegenständen höherer Ordnung. 141 

geben, die darum gleichwohl Strecken sind. Dafs aber einer in 
diesem Sinne kleinsten Strecke eine Mehrheit von Inhalten 
gegenüberstehen müfste, ist wieder vorgängig durch nichts ge- 
fordert. Nur dann müfste es so sein, wenn Theile dieser Strecken 
analysirt und so als Theile zur Geltung gebracht werden könnten : 
aber dies gerade ist durch die Eigenschaft, Minimum zu sein, 
ausgeschlossen. Ob dann der inhaltliche Repräsentant eines 
solchen gegenständlichen Minimum selbst einfach oder in irgend 
einer Weise complex sein kann oder mufs, wäre gleichfalls ohne 
weitere Untersuchung nicht auszumachen. 

So bleibt am Ende von der ganzen Schwierigkeit nur die 
unter Umständen immerhin nicht ganz geringe Anzahl von Re- 
lationsurtheilen resp. -Annahmen übrig. Dabei ist nun aber zu- 
nächst in Anschlag zu bringen, dafs es sich dann nicht etwa 
darum handelt, die betreffenden Relationen herauszuheben und 
für sich, d. h. ohne ihre Glieder als seiend zu beurtheilen oder 
anzunehmen, dafs es vielmehr auf das Sein der Relationen 
sammt ihren Gliedern ankommt. Auch darf gefragt werden, 
warum nicht ebenso gut wie ich mehrere neben einander im 
Gesichtsfelde sich darstellende Dinge auf Einen Blick und durch 
Ein Urtheil erfassen kann, auch in unserem Falle die ganze in 
Betracht kommende Mannigfaltigkeit von Daten mittels Eines 
Actes oder doch einer geringen Anzahl von Acten sei es des 
Urtheilens, sei es des Annehmens zu ergreifen wäre. Wichtiger 
aber als derlei noch in so hohem Maafse primitive Ansätze 
zu genauerem Verständnifs dieser intellectuellen Operationen 
mag hier schliefslich der Hinweis auf den oben schon bewährten 
Gesichtspimkt sein, dafs auch hier zwischen der sozusagen affir- 
mationsfähigen anschaulichen Vorstellung und dem durch sie 
zu erfassenden gegenständhchen Sachverhalte schon ohne directe 
Inanspruchnahme dieser intellectuellen Operation die erforder- 
liche Zuordnung besteht, die es gestattet, den betreffenden Vor- 
stellungsthatbestand auch ohne Annahme und Urtheil als „Vor- 
stellen der Strecke" zu bezeichnen. 

Dafs dieser nun neuerlich bewährte Gesichtspunkt beim un- 
anschauüchen Vorstellen nicht heranzuziehen ist, versteht sich. 
Die inhaltliche Complexion, in der hier die A-, B- und i? -Vor- 
stellung auftreten, ist ja der „Relation R zwischen Ä und jB" 
nicht anders zugeordnet als deren auf derselben Grundlage 
zu erfassendem Gegentheil. Hier ist Annahme oder Urtheil so- 



142 8ech8te8 Kapitel 

nach unentbehrlich: es dürften sich aber auch kaum dieser Be- 
hauptung widerstrebende Erfahrungen darbieten, wie wir solche 
bezüglich des Anschaulichen eben untersucht und unkräftig ge- 
funden haben. 

§34. 

Die thetische und synthetische Function des 

Urtheilens und Annehmens. 

Ich habe die Untersuchungen dieses Kapitels unter einer 
Voraussetzung durchgeführt, die mir lange selbstverständlich 
geschienen hat und wohl auch den meisten Lesern selbstver- 
ständUch erscheinen mag, unter der Voraussetzung, dafs, um eine 
Complexion und sonach dem Coincidenz-Principe gemäfs gewisse 
Glieder in Relation zu erfassen, vor Allem jedenfalls Glieder 
und Relation vorgestellt werden müssen. Daher wurde die all- 
gemeine Fragestellung an die formelhafte Forderung geknüpft, 
A und B in der Relation -ß vorzustellen ; im Besonderen wurde 
das Beispiel vom rothen Kreuze in der Weise gedeutet, dafs 
Farbe und Gestalt die Glieder ausmachen, die mit der Vor- 
stellung der zugehörigen Relation zu verbinden dann als die 
der theoretischen Bearbeitung bedürftige, näher besehen erst 
durch Annahme oder Urtheil herzustellende Leistung sich 
erwies. Vielleicht ist aber bereits bei Erwägung dieses Bei- 
spieles auffällig geworden, dafs für denjenigen, der die Auf- 
gabe unanschaulich löst, also an „das Elreuz, das roth ist" 
denkt, der Antheil einer besonderen -ß- Vorstellung neben den 
sehr deutlich vorliegenden A- und jB- Vorstellungen sich der 
Beobachtung gar nicht sehr aufdrängt, so dafs eine genauere 
Beschreibung der Relation, die man da vorstellt, nicht unerheb- 
liche Schwierigkeiten macht. Sehe ich nun recht, so kann dies 
seinen natürlichen Grund darin haben, dafs die ü- Vorstellung 
eben einfach fehlt, und die Fälle solchen Fehlens sind nichts 
weniger als selten. Das Hauptproblem des gegenwärtigen Ab- 
schnittes nimmt unter dieser Voraussetzung natürUch eine 
einigermaafsen andere Gestalt an, und ich möchte nicht unter- 
lassen, wenigstens kurz zu beleuchten, wie es dann mit dem 
Antheile der Annahmen bewandt sein muTs. 

Am raschesten dürfte hier eine Fragestellung zum Ziele 
führen, welche von diesem auf den ersten Blick weit abzuliegen 
scheinen mag. Da das Urtheil, wie wir wissen, dem Vorstellen 



Das Erfassen von Gegenstänä/en höherer Ordnung. 143 

gegenüber unselbständig ist, indem es durch den Vorstellungs- 
inhalt sozusagen erst seine Richtung auf den Gegenstand erhält, 
den es unter günstigen Umständen zu erfassen im Stande ist, 
so darf die Frage aufgeworfen werden, in welcher Weise denn 
das Urtheilen an die vorgegebene Vorstellung gleichsam heran- 
tritt, oder zunächst, ob dies immer auf ein und dieselbe Weise 
geschieht. Man darf sagen, dafs, wo immer man eine einiger- 
maafsen klare Einsicht in die Wesensverschiedenheit der Urtheils- 
gegenüber der Vorstellungsthatsache antrifft, man ziemUch aus- 
nahmslos damit die Meinung verbunden findet, dafs der An- 
schlufe des Urtheils an die Vorstellung stets demselben Typus 
folge, dem nämUch, der im Satze „A existirt" seinen deutlichsten 
Ausdruck findet. Das ist ja am Ende der Kern von Brbntano's 
Position^, dafs jedes Urtheil ein Existenz - Urtheil sei und 
daher, falls es nicht bereits in der Form eines solchen auftrete, 
sich jedenfalls auf diese Form zurückführen lasse. Diese Formu- 
lirung freiHch erkennt man, sobald man einmal Existenz und 
Bestand auseinanderhalten gelernt hat^, leicht als zu eng: der 
Mangel ist aber beseitigt, wenn man etwa „Seinsurtheil" statt 
„Existenzurtheil" setzt. Weiter kann jene „Zurückführung" z. B. 
beim kategorischen Urtheile sicher nicht in der von Bäentano 
vorgeschlagenen Weise ins Werk gesetzt werden*: aber die 
diesem Versuche anhaftenden Künstlichkeiten lassen sich ver- 
meiden, indem man das kategorische Urtheil als Seinsurtheil 
über eine Relation zwischen Subject und Prädicat behandelt, 
sonach als eine Art Specialfall dessen, was uns im gegenwärtigen 
Kapitel bereits eingehend beschäftigt hat Kann man darauf 
hin also wirküch behaupten, dafs der Typus des Seinsurtheils 
für alle Urtheile maafsgebend ist, so dafs insbesondere auch 
alle kategorischen Urtheile darunter zu befassen sind? 

Wer diese Frage mit Ja beantwortet, darf auf alle Fälle 
nicht besorgen, mit der Praxis des Denkens in merklichen 
Conflict zu gerathen : denn zwischen Subject und Prädicat eines 
kategorischen Urtheils wird immer eine Relation ausfindig zu 
machen sein, deren Sein resp. Nichtsein mit der Geltung der 



^ Psychologie Bd. I, S. 279ff. 

* „Ueber Gegenstände höherer Ordnung etc." a. a. 0. S. 186. 
» Den Nachweis dafür habe ich beigebracht in den Gott. Gel Änz. 1892^ 
S. 450 ff. 



144 



Sechstes Kapitel. 



betreffenden kategorischen Affirmation resp. Negation untrennbar 
zusammengeht Auch wird, eine solche Relation aufzusuchen, 
dem klaren Erfassen der betreffenden Sachlage nicht selten 
günstig sein. Aber die strengen theoretischen Anforderungen, 
die ich seinerzeit gegen Bbentano's Reductionsversuch meinte 
zur Geltung bringen zu sollen^, müssen auch der von mir 
skizzirten Reductionsweise gegenüber in Kraft bleiben ; und ich 
darf nicht verschweigen, dafs meine Zuversicht darauf, durch 
die Abänderung des BRENTANo'schen Reductionsverfahrens etwas 
von Grund aus Besseres, also in der That mehr als ein neues, 
praktisch unschädliches Aequivalent geboten zu haben, im Laufe 
der Jahre einen erheblichen Niedergang erfahren hat. Folgt 
nämlich das kategorische Urtheil dem darin vorliegenden 
psychischen Sachverhalte nach wirklich dem Typus des Seins- 
urtheils, dann kann im Falle des betreffenden Urtheils nicht 
nur eine Relation zwischen Subject und Prädicat affirrairt resp. 
negirt werden, sondern sie wird es wirklich, indem sich hier an 
die Relationsvorstellung ganz ebenso das Seinsurtheil anschliefst, 
wie oben in unserem formelhaften Seinsurtheils-Paradigma an 
die ^-Vorstellung. Dem gegenüber ist nun aber die bereits zu 
Beginn dieses Paragraphen berührte Thatsache äufserst auffallend, 
dafs ich bei dem kategorischen Urtheile „das Kreuz ist roth" 
zwar die Kreuz- Vorstellung und die Roth- Vorstellung aufs Deut- 
lichste constatiren, dagegen von der Relation R und der Vor- 
stellung derselben nichts vorfinden kann, obwohl unserer Reduction 
nach eben das B der nächste und daher wohl auffälligste, weil 
derjenige Gegenstand sein sollte, an den sich das Urtheil direct 
anzuschliefsen hätte. Auch in einer anderen, wie es scheinen 
sollte, sehr naheliegenden Sache versagt die Erfahrung alle zu- 
verlässige Auskunft: ist die Relation R für verschiedene A und 
B dieselbe oder verschieden? Man sucht vergebens nach den 
Grundlagen für eine Vergleichung. Die Ergebnifslosigkeit eines 
Vergleichungsversuches könnte man freilich auch dahin deuten, 
dafs eben kein Unterschied zwischen den zu den verschiedenen 
A und B gehörigen B zu constatiren sei; und diese Gleich- 
förmigkeit aller für das kategorische Urtheil in Frage kommenden 
B stimmte dann ganz wohl zu gemeinsamen Benennungen wie 
„prädicative Verknüpfung" od. dgl. Aber wenn wir nur zwei 



^ Gott. Oel. Anz. a. a. 0. 



Das Erfassen von Gegenständen höherer Ordnung. 145 

Urtheile wie „dieser Tisch ist viereckig" und „jener Mensch ist 
tugendhaft" neben einander stellen, werden wir im Hinblick auf 
die hier und dort gemeinte Sachlage auf übereinstimmende 
Relationen rechnen können, also glauben, die Viereckigkeit stehe 
etwa in ihrem Auftreten dem Tische so gegenüber wie die 
Tugend dem Menschen? 

Was ich aus diesen Unzukömmlichkeiten meine schliefsen 
zu sollen, ist im Grunde durch die zumeist so sorgfältig durch- 
geführte sprachliche Sonderung zwischen der kategorischen und 
der Seinsaussage sehr nahe gelegt: die triftige Vermuthung 
nämlich, dieser Unterschied müsse am Ende doch mehr als 
blos sprachliche Bedeutung haben. Und sehe ich recht, so giebt 
nun auch die directe Beobachtung bereits Aufschlufs darüber, 
dafs es sich da um einen Unterschied handelt, der auf die ver- 
schiedene Weise zurückgeht, in der hier und dort das Urtheil 
functionirt oder, wie man auch sagen kann, in der das 
ürtheilen an das hier und dort vorgegebene Vorstellungsmaterial 
herantritt. Läfst man es als eine Art Beschreibung des Vor- 
ganges beim Seinsurtheile gelten, dafs da das Urtheil sich an 
den vorgegebenen Vorstellungsinhalt anschliefst, sonach an den 
durch die Vorstellung vorgegebenen Gegenstand gleichsam heran- 
kommt und ihn zu erfassen trachtet, so werden es am Ende auch 
mehr als Worte und kaum weiter abliegende Bilder sein, wenn 
man sich den Fall des kategorischen Urtheils so zurechtlegt, dafs 
das Urtheil hier an zwei Vorstellungsinhalten Anschlufs sucht, 
sich gleichsam zwischen die Gegenstände der beiden Vor- 
stellungen stellt und diese so in gewissem Sinne mit einander ver- 
bindet. Im Hinblick auf solche Bilder ist es vielleicht nicht ohne 
charakterisirende Bedeutung, dem kategorischen Urtheil eine 
„synthetische Function" zuzuschreiben, der man dann nicht 
ohne Anschlufs an logische Traditionen die Function des Seins- 
urtheiles als „thetische" gegenüberstellen könnte. Ob durch 
Wiederaufnahme dieser Benennungen ^ dem Einblick in die Natur 
dieses Gegensatzes bereits um einen Schritt näher gerückt, oder 
dadurch das ganze Problem blos für eine erst in Angriff zu 



^ Wohl aueh durch den darin ganz ungesucht, ja fürs Erste meiner- 
seits ganz unbeabsichtigt zu Tage tretenden Hinweis auf ältere, gelegentlich 
schon für überwunden gehaltene Conceptionen. 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. II. 10 



146 Sechstes Kapitel, 

nehmende Untersuchung sozusagen etwas bequemer zurechtgelegt 
ist, mag hier unerörtert bleiben. 

Minder bildlich möchte die Charakteristik des fraglichen 
Gegensatzes vielleicht ausfallen, wenn man sich dabei mit dem 
Hinweis auf derzeit oder wenigstens für mich Unzurückführbares 
zufrieden zu geben geneigt ist. Man kann dann nämlich an 
die uns ja geläufige Thatsache der Transscendenz (resp. Quasi- 
Transscendenz) des thetischen Erkennens anknüpfen, um darauf 
hinzuweisen, dafs derselben im Falle synthetischen Erkennens 
zwar ein Analogen, aber doch eben ein ganz eigenartiges 
Analogon zur Seite steht. Urtheilt jemand, dafs Mitleid ein 
Gefühl, oder dafs dieses Gefühl (etwa in einem concreten Falle) 
mäfsig stark, also allgemein, dafs Ä B sei, so kann man gewifs 
von einem Gerichtetsein auf Ä und B hier ganz ebenso gut 
reden, als dem ürtheil „es giebt Mitleid" oder allgemein ^A 
existirt" ein Gerichtetsein auf das Ä zuzuschreiben ist. Aber 
auch der Unterschied ist unverkennbar, und er besteht augen- 
scheinlich nicht nur darin, dafs jetzt zwei Gegenstände erfafst 
werden, indefs das Seinsurtheil zunächst nur auf einen gerichtet 
ist, sondern auch in der Weise dieses Erfassens resp. Gerichtet- 
seins. Uebrigens ist es auch hier leichter, neue Namen zu 
bilden als die Thatsachen wirklich zu beschreiben, und ich will 
mich darum auch hier damit bescheiden, der Transscendenz der 
thetischen Erkenntnifs als „absoluter Transscendenz" die der 
synthetischen Erkenntnifs als „relative Transscendenz« gegenüber 
ZU stellen, wobei das Beiwort „relativ" eben nur darauf hin- 
weisen soll, dafs durch eine solche Erkenntnifs weder das A noch 
das B für sich allein, sondern nur jedes relativ zum Anderen 
getroffen ist. 

Es mufs hier ununtersucht bleiben, ob es sich bei dem in 
Rede stehenden Gegensatze um zweierlei Arten des Urtheiles 
oder nur um zweierlei Functionsweisen der nämlichen psychischen 
Bethätigung handelt. Was insbesondere den Terminus „synthe- 
tisch" anlangt, so braucht wohl kaum ausdrücklich gesagt zu 
werden, dafs er in der hier vorgeschlagenen Anwendung mit 
dem Gegensatz zum vielberufenen „analytischen" Urtheile nicht 
das Geringste zu thun hat. Eine wirkliche Verwechselungsgefahr 
wird hierin schwerlich liegen ; immerhin aber ein Mangel dieser 
Ausdrucksweise, die vielleicht auch noch eine andere Unvoll- 
kommenheit aufweist Es war ja eines der Hauptergebnisse 



Das Erfassen von Gegenständen Höherer Ordnung. 147 

gerade des gegenwärtigen Kapitels ^ dafs die Verbindung der 
Kelation mit ihren Gliedern zu erfassen eine Leistung des 
Urtheils ist, womit, wie oben bemerkt, immer nur das Seins- 
ürtheil, also das thetisch functionirende Urtheil gemeint war: 
auch dieses Urtheil bethätigt sich also in einer Weise, die man 
ganz verständlich als „synthetisch" bezeichnen könnte. Ich 
möchte mich indefs auch bezüglich dieses Mangels für jetzt 
damit begnügen, ihn durch ausdrücklichen Hinweis sicher un- 
schädlich zu machen: es könnte ja sein, dafs nähere Unter- 
suchung darauf führt, dafs es die nämliche „synthetische 
Function" ist, die unter Umständen auch mit „thetisch 
functionirenden" Urtheilen zusammen auftritt. Es möchte viel 
zu weit führen, hier auf so schwierige und der Untersuchung 
noch in allen wesentUchen Punkten so sehr bedürftige Fragen 
einzugehen. Dagegen meine ich einige Consequenzen der hier 
versuchten Gegenüberstellung, genauer der Sonderbehandlung 
des kategorischen Urtheils gegenüber dem Seinsurtheile, soweit 
sie zunächst die Interessen des gegenwärtigen Kapitels berühren, 
nicht unerwähnt lassen zu dürfen. 

Sind wir im Stande, das Urtheil „das ICreuz ist roth" zu 
fällen, ohne dafs dabei andere Vorstellungen betheiligt wären 
als die Kreuz- Vorstellung und die Roth- Vorstellung, so ist da- 
durch doch ohne Zweifel das rothe Kreuz, also eine Complexion 
erfafst, ohne dafs dabei mehr als die Bestandstücke der Complexion 
zur Vorstellung gelangten. Das ist insofern eine sehr befremd- 
liche Sache, als damit das fundamentale Princip der Coincidenz 
von Complexion und Relation in Frage gestellt erscheint. 
Relationslos oder richtiger unverbunden sehen die Bestandstücke 
„Kreuz" und „Roth" hier freihch auch nicht aus: aber die 
etwa durch den Urtheilsact gestiftete Verknüpfung kann doch 
höchstens die beiden Vorstellungs in halte betreffen; und dafs 
diese mit der Relation zwischen den Gegenständen nichts zu 
thun haben, davon konnten wir uns ja oben ^ ganz ausdrücklich 
des Näheren überzeugen. Das Problem, wie es möglich sein 
soll, eine Complexion zu erfassen, ohne eine zugehörige Relation 
vorzustellen, mufs in der That im Zusammenhange dieses 
Kapitels ohne Lösungsversuch bleiben. Nur darauf mufs noch 



^ Vgl. vor Allem § 32. 

* Vgl. § 30. 

10* 



148 Sechstes Kapitel 

hingewiesen werden, dafs dieses Problem streng genommen 
keineswegs auf die hier in Erwägung gezogene Auffassung des 
kategorischen Urtheils beschränkt, vielmehr näher besehen auch 
an die den früheren Paragraphen dieses Kapitels zu Grunde 
gelegte Behandlung des kategorischen Urtheils als Specialfall 
des Seinsurtheils, von der eben wieder die Rede war, geheftet 
ist Wir haben ja dort auf die Frage, wie man dazu gelange» 
A und B in der Relation B zu erfassen, die Antwort gefunden, 
dies geschehe, indem jß immittelbarer Gegenstand, Ä und B 
mittelbare Gegenstände eines und desselben Urtheils werden. 
Hiermit ist thatsächlich dem betreffenden Urtheile bereits die 
Leistung zugeschrieben, den Gegenstand B mit den Gegenständen 
A und B in jener Complexion resp. jenen Complexionen zu er- 
fassen, wie sie durch eine Relation zusammen mit den Gliedern, 
zwischen denen sie besteht, stets ausgemacht werden.^ Ein Vor- 
gestelltwerden der mit diesen Complexionen coincidirenden Re- 
lationen aber war erfahrungsgemäfs in Abrede zu stellen, von der 
unendlichen Reihe ganz abgesehen, auf die eine diesbezügliche 
Forderung unvermeidlich hätte führen müssen. Selbstverständlich 
wird eine Schwierigkeit dadurch nicht geringer, dafs man ihr an 
verschiedenen Orten begegnet, vielmehr macht sich das Bedürfnifs 
nach der Lösung um so nachdrücklicher fühlbar, und es möchte 
die Aufstellungen des nächsten Kapitels um so wärmer empfehlen, 
wenn dieselben einen Gesichtspunkt zur Verfügung stellen sollten, 
unter dem die in Rede stehende Schwierigkeit zu beseitigen wäre.* 
Sehen wir aber für jetzt von dem, was in dieser Hinsicht 
noch zu klären ist, sowie von den sonstigen vielen Unfertig- 
keiten der im Vorstehenden eben erst angebahnten Betrachtungs- 
weise ab, so hat uns diese günstigen Falles einen neuen Weg 
gezeigt, auf dem wir vorgestellte Gegenstände zu einem Ganzen 
vereinigen, und wir haben uns nun zu fragen, ob durch die 
Constatirung dieses Weges der in den vorangehenden Unter- 
suchungen dieses Kapitels dargethane Antheil der Annahmen 
am vorstellenden oder vorstellungsartigen, genauer urtheilsfreien 
Erfassen von Gegenständen höherer Ordnung in seiner Be- 

^ Ich meine also die Complexion des B mit A oder des JS mit B oder 
auch des B mit beiden, natürlich nicht etwa zu verwechseln mit der 
Complexion, welche die Glieder unter einander vermöge der Belation R 
ausmachen. 

* Vgl. unten besonders § 36 am Ende. 



Das Erfassen van Gegenständen höherer Ordnung. 149 

deutung herabgemindert wird. Es bedarf keines Besinnens, um 
zu erkennen, dafs dies in keiner Weise der Fall ist. Denn auch 
der neue Weg, das Ganze, dessen Bestandstücke wir vorstellen, 
zu erfassen, ist seinem Wesen nach nicht ein Weg des Vor- 
stellens, sondern zunächst des Urtheilens. Sich seiner zu bedienen 
ohne Urtheil, ist ausschliefslich unter der Voraussetzung in 
Betracht zu ziehen, dafs etwas an Stelle des Urtheils gesetzt 
werden kann, und das kann natürlich wieder nur die Annahme 
sein. An das Kreuz zu „denken", das roth ist, dazu kann mir, 
wenn das Urtheil nicht vorhält, auch dann nichts als noch die 
Annahme verhelfen, wenn diese zwar nicht die Aufgabe hat, 
die Kelation B mit Farbe und Gestalt, wohl aber diese Gheder 
unter einander in die gehörige Verbindung zu setzen. 

So bleibt der oben* allgemein formulirte Antheil der An- 
nahmen am Erfassen von Gegenständen höherer Ordnung auf- 
recht, wie immer man über das Verhältnifs des kategorischen 
Urtheiles zum Seinsurtheile denken mag. Ich habe meine Be- 
denken gegen die wirkUche „Zurückführbarkeit" des ersteren 
hier nicht verschweigen zu sollen gemeint: ich hielte es aber 
derzeit noch für allzu gewagt, dieselben zur Grundlage für die 
uns jetzt doch in erster Linie beschäftigende Untersuchung der 
Annahmen zu machen. So werden auch im Folgenden die 
Seinsurtheile im Vordergrunde bleiben, auf den sie freilich 
vielfach unter allen Umständen Anspruch behalten. Und selbst 
wo dies nicht der Fall ist, bürgt die oben berührte MögUchkeit, 
an Stelle jedes Urtheils, das nicht Seinsurtheil ist, ein Aequivalent 
in der Form des Seinsurtheils beizubringen, dafür, dafs durch 
Bevorzugung dieser Seinsform ein erheblicher Fehler kaum in 
die Darlegungen wird kommen können. 

' Vgl. § 32. 



160 



Siebentes Kapitel. 

Das Objectiy. 



§35. 
Objectität und Objectivität beim Urtheile. 

Der Antheil der Annahmen am menschlichen Denken, den 
etwas mehr im Einzelnen zu erweisen die vier vorstehenden 
Kapitel sich bereits zur Aufgabe gesetzt haben, ist bisher einer 
seiner wichtigsten Seiten nach noch unerwogen geblieben. Um 
nun auch in dieser Hinsicht den Thatsachen einigermaafsen 
gerecht zu werden, ist es unerläfslich, vor Allem in der genaueren 
Betrachtung des Gegenständlichen am Urtheile, die uns schon 
bis hierher wesentliche Dienste geleistet hat, noch einen Schritt 
weiter zu gehen. Und zwar handelt es sich diesmal nicht, oder 
doch nicht ausschliefslich um das, was uns bisher gemäXs allge- 
meinem Herkommen unter dem Namen des „Gegenstandes" 
allein beschäftigt hat, sondern zunächst um die Feststellung der 
Thatsache, dafs das Urtheil auTser dem, was wir als dessen 
„Gegenstand" nun bereits etwas genauer kennen, noch ein 
zweites Moment aufweist, das der theoretischen Bearbeitung 
bisher entgangen zu sein scheint, und in dem wir, wenn nicht 
geradezu einen zweiten Gegenstand neben dem bereits bekannten 
ersten, so doch etwas Gegenstand-AehnUches vor uns haben. 

Um uns das Wesen des Urtheils- und darauf hin auch des 
Vorstellungsgegenstandes klar zu machen, hat es sich als natür- 
lich erwiesen, von der affirmativen Erkenntnifs unseren Ausgang 
zu nehmen : es ist für die Eigenartigkeit der Thatsache, auf die 
ich jetzt aufmerksam zu machen habe, kennzeichnend, dafs man 
sie vielleicht am leichtesten von der negativen Erkenntnifs aus 
zu erfassen im Stande ist. Sagt man z. B. in Bezug auf eine 
Parlamentswahl, der eine heftige Agitation vorangegangen ist, 
es sei keine Ruhestörung vorgefallen, so wird fürs Erste sieher 




Da8 Objectiv. 151 

niemand in Abrede stellen, dafs, falls es mit dem vorliegenden 
ürtheile seine Richtigkeit hat, durch dasselbe „etwas" erkannt 
ist Aber immerhin könnte man zunächst meinen, dieses „etwas" 
werde nichts Anderes sein als der Urtheilsgegenstand „Ruhe- 
störung", also das, von dem bisher bereits so oft die Rede sein 
muTste. In Ermangelung einer besseren Ausdrucksweise könnte 
es seitens eines Theoretikers einmal vielleicht wirklich auch so 
gemeint sein. Wird aber ein natürlich Redender sagen, eine 
Ruhestörung sei erkannt worden, wenn es sich gerade um die 
Erkenntnifs der Thatsache handelt, dafs eben nichts Derartiges 
geschehen ist? Und doch hat auch der natürlich Redende in 
unserem Falle ein „etwas" zu verzeichnen, das erkannt wurde, 
oder eigentlich, er kann es in natürlicherer Weise thun, als 
jener Theoretiker : nicht ein Beurtheiltes hat er dabei im Auge, 
sondern, wenn man so sagen darf, ein Erurtheiltes, das in 
seiner Weise positiven Charakter hat trotz der negativen Qualität 
des in Frage kommenden Urtheils. Versucht man, dieses 
„etwas" näher anzugeben, so fällt sofort auf, dafs unter gewöhn- 
lichen Umständen, wenn man künstlichere Wortbildungen ver- 
meiden will, ein einzelnes Wort hierzu nicht zu Gebote steht, 
dagegen ein Satz mit „dafs" sich als ganz ungezwungenes Aus- 
drucksmittel darbietet. Was ich etwa im Falle unseres Beispieles 
erkenne, ist eben dies, „dafs keine Ruhestörungen vorgefallen 
sind". Der Leser der gegenwärtigen Untersuchungen mag aus 
der Unvermeidlichkeit dieser Ausdrucksweise immerhin schoii 
hier die Beruhigung darüber schöpfen^, dafs wir trotz der an- 
scheinend neuerlich ganz fremde Dinge heranziehenden Unter- 
suchungen dieses Paragraphen ganz und gar bei der Sache sind. 
Fürs Erste wollen wir aber von genauerer Präcisirung des Zu- 
sammenhanges mit unserem Hauptthema noch absehen und uns 
vielmehr bemühen, die Natur dieses sprachlich so eigenthümlich 
repräsentirten „etwas" und die sich im Hinblick auf dasselbe 
ergebende Erkenntnifs- resp. Urtheils - Charakteristik möglichst 
genau ins Auge zu fassen. 

Ich habe eben zuvor die eigenthümliche Positivität dessen 
hervorgehoben, was durch unser negatives Urtheil erkannt wird. 
„Dafs es keine Ruhestörung gegeben hat" ist freilich nicht etwa 
ein Stück Wirklichkeit, wie es zu erfassen eine affirmative 



' Im Hinblicke insbesondere auf die Ausführungen in Kap. II, § 6. 



152 Siebentes Kapitel, 

Existential-Erkenntnifs ihrer Natur nach geeignet ist, aber etwas 
Thatsächliches ist es ohne Zweifel, etwas, das auch Gregenstand 
eines affirmativen Urtheils werden kann. Ich habe ja gutes 
Recht zu sagen: „dafs keine Ruhestörung vorgefallen ist, das 
ist Thatsache" oder auch, obwohl minder sprachgebräuch- 
lich: „dafs keine Ruhestönmg vorgefallen ist, das ist''. Damit 
ist also doch wohl gesagt, dafis das in Rede stehende „etwas", 
das durch miser negatives Urtheil erkannt wird, nichts Anderes 
ist als ein Gegenstand : nur als Gegenstand eben dieses negativen 
Urtheils kann es nicht wohl bezeichnet werden, falls wir dem 
Worte „Gegenstand" nicht eine neue, dem im Bisherigen ge- 
meinten Sinne gegenüber erweiterte Bedeutung ertheilen. Denn 
was wir bisher immer unter dem Gegenstand eines Urtheiles 
verstanden haben, das fehlt ja natürUch auch bei dem in Rede 
stehenden negativen Urtheile nicht, ist aber nicht das eben durch 
den „dafs"-Satz Ausgesprochene, sondern etwa „eine vorgefallene 
Ruhestörung" oder dgl. Nun wäre eine derartige Erweiterung 
des Gegenstandsgedankens, dafs auch jenes „etwas", auf das 
wir erst im gegenwärtigen Paragraphen aufmerksam geworden 
sind; sich in den Umkreis dieses Gedankens einbeziehen liefse, 
eine keineswegs undiscutirbare Sache. Denn dafs es sich auch 
dieser „Thatsache" gegenüber um eine Art Erfassen seitens 
unseres Urtheiles handelt, um etwas Aehnliches also wie das, 
was wir von Anfang an für das Verhalten eines Urtheils zu 
seinem Gegenstände charakteristisch fanden, das ist ja nicht zu 
verkennen. Dennoch dürfte es bei mehr als Einer Gelegenheit 
im Interesse der Deutlichkeit, ja, wie sich zeigen wird, geradezu 
im Interesse unentbehrlichster Gorrectheit liegen, die Verschieden- 
heit des vorliegenden Sachverhaltes gegenüber dem, was wir 
bereits als Gegenständlichkeit kennen, auch im Terminus hervor- 
treten zu lassen. Ich will daher für dieses Gegenstandartige, 
diese unserem negativen Urtheile gegenüberstehende Thatsache, 
sofern ich sie sozusagen vom Standpunkte dieses Urtheils aus 
charakterisiren will, die Bezeichnung „Objectiv dieses Urtheils" 
gebrauchen, deren für diesen Zweck nicht eben erwünschte 
anderweitige Bedeutungen hoffentlich dem Vorzug gegenüber 
aufser Betracht kommen, dafs darin die Verwandtschaft zum 
Gegenstande oder Objecte sofort deutlich wird. 

Ein anderer Mangel dieses Ausdruckes besteht darin, dafs 
sich aus ihm das Analogen zum Worte „Gegenständlichkeit" 




Das ObjecHv. 153 

nicht bilden läfst, ohne zugleich die Gefahr von Verwechselungen 
mit eben dieser auf sich zu nehmen: denn der Terminus „Ob- 
jectivität" kann natürlich zwar sehr wohl auf „Objectiv" be- 
zogen werden, aber eben so gut, ja dem Herkommen nach weit 
besser, auch auf „Object". Doch liegt, hierin näher besehen, 
für unsere speciellen Bedürfnisse viel weniger Störendes, als 
man auf den ersten Blick zu vermuthen geneigt sein möchte: 
denn für das, was wir im gegenwärtigen Zusammenhange als 
„Gregenständlichkeit" zu bezeichnen uns gewöhnt haben, wird 
das Wort „Objectivität" doch thatsächlich kaum je gebraucht. 
Es wird darum praktisch gewifs zu keinen Unzukömmlichkeiten 
führen, wenn ich mir im Folgenden thatsächUch vorbehalte, das, 
was im Hinblick auf den Gegenstand Gegenständlichkeit heifst, 
Objectivität zu nennen, wo an Stelle des Objectes das Objectiv 
gemeint ist Um aber den Anschein zu vermeiden, als wollte 
ich dem Worte „Objectiv" nur die Uebersetzung eines Wortes 
zuordnen, das eigentlich zum Worte „Object" und sonach zum 
Gegenstande gehört, so sei vom Worte „Object" das freilich 
wenig natürlich kUngende Wort „Objectität" gebildet oder viel- 
mehr für den Ausnahmsfall zum Gebrauche vorgeschlagen, wo 
das Wort „Gegenständlichkeit" nicht ausreichen sollte. Es wird 
dies praktisch kaum begegnen : in den vorliegenden Ausführungen 
wenigstens werden wir uns leicht ohne diesen Terminus behelfen 
können, dem daher zunächst keine weitere Aufgabe zukommt 
als die, den auf das Objectiv bezogenen Sinn des Wortes „Ob- 
jectivität" in ausreichend helles Licht zu setzen. Zum Zwecke 
solcher Klarheit sei also die im Obigen aufgestellte Behauptung 
noch einmal ausdrücklich in die Form gefafst: das negative 
Urtheil hat nicht nur sein Object, sondern auch sein Objectiv, 
und insofern kommt einem solchen Urtheil nicht nur Gegen- 
ständUchkeit oder Objectität, sondern auch Objectivität zu. 

Vor Allem ist nun nöthig, darüber im Klaren zu sein, dafs 
die Eigenschaft dieser „Objectivität" nicht etwa nur Sache des 
negativen Erkennens ist Schaue ich auf die beschneite Strafse 
und urtheile darauf hin: „es giebt Schnee draufsen", so ist 
„Schnee" der Gegenstand dieser Erkenntnifs, daneben aber „dafs 
es Schnee giebt" deren Objectiv, das diesmal dem Objecte freilich 
nicht in jener eigenthümlichen Gegensätzlichkeit gegenübersteht, 
die vms das Objectiv bei der negativen Erkenntnifs besonders 
auffällig machte. Man mag also auf den ersten BUck bei der 



154 Siehentea Kapitel. 

Affirmation weit mehr als bei der Negation den Eindruck haben, 
es möchte wohl überflüssig sein, das Objectiv hier dem Objecte 
ausdrücklich entgegenzusteUen. Man wird in betreff dieser 
scheinbaren Ueberflüssigkeit im Verlaufe dieser Darlegungen 
vielleicht bald anderer Ansicht werden: für jetzt sei nur die 
Möglichkeit dieser Gegenüberstellung auch für die affirmative 
Erkenntnifs betont, die garantirt ist, sobald man die Gedanken 
„Schnee" und „dafs es Schnee giebt" nicht für kurzweg identisch 
zu halten genöthigt ist. Dies ist aber sicher nicht der Fallimd 
so läfst sich allgemein sagen : die affirmative Erkenntnifs hat so 
gut wie die negative nicht nur ihr Object, sondern auch ihr 
Objectiv. 

Der Uebergang von der Erkenntnifs zu Urtheilen im Allge- 
meinen, d. h. ohne Rücksicht darauf, ob sie wahr oder falsch 
sind, vollzieht sich nun nach dem Muster dessen, was sich uns 
oben in betreff der Gegenstände ergeben hat, mit Leichtigkeit 
Wer einst den Stein der Weisen suchte, stand dem Objectiv, 
„dafs es einen Stein der Weisen giebt", wieder ähnlich gegenüber 
wie dem Objecte „Stein der Weisen", und Analoges möchte 
auch für negative Irrthümer gelten. Nur fehlt hier natürlich in 
demselben Sinne das Objectiv wie beim affirmativen Irrthume 
das Object, so dafs das Objectiv, das sämmtlichen Urtheilen ohne 
Rücksicht auf Wahr oder Falsch zugeschrieben werden kann, 
auch hier ein immanentes ist, wie ja auch nur ein immanentes 
Object dasjenige Object ist, das keinem Urtheile fehlt. Zugleich 
wird hier nun noch ein Unterschied zwischen Object und Objectiv 
deutlich. Wir mufsten speciell im Hinblick auf Vorstellungen bei 
der immanenten Gegenständhchkeit Actuell und blos Potentiell 
auseinanderhalten. Weil dagegen beim Objectiv, wie wir sahen, 
der Gegensatz von Ja und Nein eine dasselbe mitcharakterisirende 
Rolle spielt, so kann vom Objectiv zwar beim Urtheile, nicht 
aber beim blofsen Vorstellen die Rede sein, und dies läfst so- 
gleich vermuthen, beim immanenten Objectiv werde, wie beim 
immanenten Urtheilsgegenstande — wenigstens beim nächsten 
primären Gegenstande — nur der Fall des Actuellen in Frage 
kommen. Wie eben das Urtheil sein Object „hat", so „hat" 
es auch sein Objectiv, und im einen Falle folgt so wenig wie 
im anderen aus dem „Haben" das Sein des „Gehabten". Weil 
es aber keinen Sinn hat, den Gedanken der potentiellen Gegen- 
ständlichkeit von der Vorstellung auch auf das Urtheil zu über- 



Das Objectiv. 155 

tragen, hat es beim Objectiv, da dieses auf die Vorstellung 
überhaupt gar nicht bezogen werden kann, auch keinen Sinn, 
im Hinblick auf dasselbe von einem Analogon zu jener Poten- 
tialität zu reden. Dem Urtheil fehlt das „Gerichtetsein" auf das 
Objectiv so wenig wie das aufs Object, mag es übrigens im 
Rechte sein oder nicht. 

Es ist nicht überflüssig, sich dies ausdrücklich klar zu 
machen, weil man sonst sich unter Umständen leicht geneigt 
finden könnte, in Sachen von Actuell und Potentiell das Ob- 
jectiv in den bisher zunächst betrachteten Fällen seines Auf- 
tretens gerade umgekehrt aufzufassen. Es rührt dies daher, 
dafs sich das Urtheil aufser in der eben besprochenen allge- 
meinen, d. h. jedem Urtheile und jedem Objective eigenen 
sozusagen in einer noch ganz speciellen Weise mit dem Ob- 
jectiv beschäftigen kann, bei der man sich veranlafst finden 
mag, von „actuellem Erfafst werden" des Objectivs durch das 
Urtheil in ganz besonderem Sinne zu reden. Wir haben uns 
den hierhergehörigen Thatsachen nun zuzuwenden. 

§36. 
Das Objectiv als Denkgegenstand. 

Es wurde oben bereits vorübergehend erwähnt, dafs Objec- 
tive selbst beurtheilt werden und so Urtheilsgegenstände abgeben 
können. Darauf hier ausdrücklich zurückzukommen, hat vor 
Allem den Werth einer neuen Bekräftigung für das eben über 
Objective Behauptete. Zwar scheint mir die im Objectiv sich 
darstellende Parallelthatsache zur Gegenständlichkeit aus der 
direkten Betrachtung dessen, was das Urtheil bietet, sich mit 
voller Deutlichkeit als ein charakteristisches Moment am Urtheil 
zu ergeben, das man, falls es sich nicht weiter sollte zurück- 
führen lassen, so gut als letztes Datum wird hinnehmen müssen 
wie den Gegenstand. Aber ich kann mir andererseits doch 
auch nicht verhehlen, dafs, wer sich zum ersten Male vor die 
Zumuthung gestellt findet, der altbekannten Thatsache des 
Urtheils eine wenigstens anscheinend ganz neue Seite zuzu- 
erkennen, eine Sachlage vorfindet, die nicht in jeder Hinsicht 
geeignet ist, ihn für die neue Position einzunehmen. Insbesondere 
naufs die Ausdrucksform befremden, mit deren Hülfe allein im 
Obigen dem Objectiv näher zu treten versucht worden ist. Fällt 



156 Siebentes Kapitel. 

jemand das Urtheil „Harmonisch Reines kann melodisch unrein 
sein", und ich mache nun geltend, dafs dieses ürtheil ein 
Objectiv habe, nämlich „dafs harmonisch Reines melodisch 
unrein sein kann", so gehört wahrlich nicht viel übler Wille 
dazu, um zu meinen, meine Aufstellung sei nichts weiter als 
eine völlig leere Tautologie, und das als etwas Besonderes in 
Anspruch genommene „Objectiv" nichts weiter als das Urtheil 
selbst sozusagen noch einmal. Solche Vormeinung findet zudem 
noch in einer etymologischen Erwägung eine Stütze. So viel 
mir bekannt, sind die Linguisten darüber einig, dafs unsere 
Conjunction „dafs" von Haus aus nichts Anderes als ein Demon- 
strativ-Pronomen ist Wer also etwa sagt, „ich glaube, dafs 
harmonisch Reines melodisch unrein sein kann", der sagt 
wenigstens etymologisch im Grunde gar nichts Anderes als: 
„ich glaube dieses: harmonisch Reines kann melodisch unrein 
sein". Damit scheint dem „dafs"-Satze alle Eigenartigkeit ge- 
nommen: er ist ein Satz wie jeder andere, und was er zu be- 
sagen haben mag, ist allenfalls ein Urtheil, aber nichts, was unter 
dem Namen des Objectivs eine besondere Beachtung verdiente. 
Unter solchen Umständen wird insbesondere für denjenigen, 
der der Anerkennung solcher letzter Thatsachen berechtigte Zu- 
rückhaltung entgegenbringt, der Umstand nicht ohne über- 
zeugende Kraft sein, dafs es Urtheile giebt, denen ohne Heran- 
ziehung des Objectivs gar kein deutlicher gegenständlicher Sinn 
beizumessen ist. Wie sollte man etwa ein so alltägliches Urtheil 
verstehen wie dieses: „es steht fest, dafs die Acten noch nicht 
geschlossen sind"? Es wird darin behauptet, dafs etwas fest- 
stehe; aber was? Offenbar natürlich das, was der abhängige 
Satz besagt. Er kann in diesem besonderen Falle wenigstens, — 
dafs es nicht immer so ist, haben wir bereits früher gesehen \ — 
für den Ausdruck eines Urtheils genommen werden : ist also 
das Urtheil dasjenige, was „feststeht"? Die Interpretation ist in 
diesem Specialfalle auch nicht gerade sinnlos; doch genügt es, 
das Zeugnifs der directen Empirie anzurufen, um festzustellen, 
ob der Urtheilende hier an das Urtheil und nicht vielmehr ganz 
ausschliefslich an die Acten und deren Geschlossensein denkt 
Ohne Zweifel ist Letzteres der Fall : wir finden uns sonach zum 
Zwecke der Präcisirung dessen, was ,.feststeht", auf den Gegen- 



' Vgl. oben Kap. II, § 6. 



Das Objectiv. 157 

stand des im „dafs^' -Satze ausgedrückten Urtheiles hingewiesen. 
Gegenstand ist, wie berührt, der Actenschlufs : aber gerade er 
steht nichts weniger als fest nach der Meinung des Urtheilenden, 
der ja eben das Gegentheil davon behauptet. So findet man sich 
unmittelbar auf das Objectiv als das „Feststehende" hingewiesen, 
und ich kann nicht absehen, wie der Weg beschaffen sein könnte, 
auf dem man hier und in allen analogen Fällen um dieses 
herumkäme. Denn wäre etwa in unserem Beispiele das „Fest- 
stehende" statt durch einen negativen durch einen affirmativen 
Satz zum Ausdrucke gelangt, so wäre die obige Erwägung vielleicht 
nicht ganz so handgreiflich ausgefallen, indem man eher hätte ge- 
neigt sein können, dann den Gegenstand des „dafs"-Satzes für das 
„Feststehende" zu nehmen. Aber einmal würde sich zeigen, 
dafs auf den Gegenstand „Actenschlufs", soweit darin nicht 
wieder ein Objectiv steckt, der im Bilde vom Feststehen be- 
schlossene Sinn gar nicht anwendbar wäre, — vor Allem aber 
möchte es doch nicht wohl angehen, den affirmativen „dafs"- 
Satz ceteris paribus ganz anders zu deuten als den negativen. 

Was hiermit zu Gunsten der oben nur durch Hinweis auf 
die directe Empirie gestützten Behauptung, dafs jedes Urtheil 
neben dem Objecto auch ein Objectiv habe, an Beweis noch 
hinzugekommen ist, läfst sich vielleicht am durchsichtigsten an 
einem Formelbeispiel darlegen, das als Schema für die einfachste 
hier in Frage kommende Sachlage gelten darf. Ist das Urtheil 
„^ existirt nicht" zu Recht bestehend, dann darf ich, wie oben 
schon berührt, auch urtheilen: „Es ist, dafs A nicht existirt". 
Hier ist „dafs Ä nicht existirt", ohne Frage das, was „ist", also 
der Gegenstand des hinzugekommenen Urtheils. Der Gegen- 
stand, der sonach durch den „dafs" -Satz repräsentirt ist, ist 
sicher nicht etwa das Ausgangs- Urtheil „-4 existirt nicht": 
darüber läfst die directe Betrachtung der hier gegebenen Sach- 
lage keinen Zweifel aufkommen. Das Präsens „es ist" könnte 
freilich den Schein erwecken, es handle sich hier jedenfalls zum 
Mindesten um die Zeit, in der geurtheilt wird ; aber nicht einmal 
das ist richtig. Oder sollte der Urtheilende normalerweise meinen, 
es stünde anders um das A, wenn er jetzt nicht urtheilte? Zu 
allem Ueberflufs braucht man dann nur noch das Beispiel so 
abzuändern, dafs man es auch im Hauptsatz nicht mit einer 
Affirmation, sondern mit einer Negation zu thun hat. Wenn 
ich sage: „es ist nicht, dafs A nicht existirt", so kann dos 



158 Siebentes Kapitel. 

Nicht-Existirende doch ganz gewifs nicht das Urtheil sein, das 
eben durch diesen negativen Satz zum Ausdrucke gelangt. Nun 
kann man aber noch weiter gehen und behaupten, dafs auch 
nicht etwa das Ä unserer Beispiele den Gegenstand des im 
Hauptsatze ausgesprochenen Urtheils ausmache : denn abgesehen 
davon, dafs dann die Einkleidung in den ^dafs^-Satz mindestens 
unmotivirt heifsen müfste, wird ja eben gar nicht geurtheilt, dafs 
A existire, sondern vielmehr das Gegentheil. Der „dafs"-Satz 
hat also seinen besonderen gegenständlichen Sinn. Wie be- 
schaffen freilich etwas ist, von dem sonst nichts festgestellt 
wäre, als dafs es eben Gegenstand eines Urtheils ist, resp. sein 
kann, ist an sich völUg unausgemacht: in irgend einem Sinne 
kann ja Alles Gegenstand eines Urtheiles sein. Ueberzeugen 
wir uns aber an derlei „dafs "-Sätzen, auch wenn sie übrigens 
ein Urtheil ausdrücken ^ davon, dafs sich in ihnen auch noch 
etwas Anderes ausspricht, das weder das Urtheil noch dessen 
Gegenstand im gewöhnlichen Wortsinne ist, so liegt hierin 
sicherlich eine Stütze für die Behauptung der Thatsächlichkeit 
dessen, was oben gleichfalls zunächst mit Hülfe von „dafs'*- 
Sätzen deutlich gemacht werden mufste, und das darauf hin 
unter dem Namen des „Objectivs" allen Urtheilen zugeschrieben 
wurde. 

Im Bisherigen haben wir die Bestätigung der hier vertretenen 
Position über das Objectiv zunächst der Thatsache entnommen, 
dafs das Urtheil „Ä existirt nicht" in unserem Formelbeispiele 
einem zweiten Urtheile, das oben im Hauptsatze „Es ist" seinen 
Ausdruck fand, einen Gegenstand zur Beurtheilung darzubieten 
hatte, der weder das erste Urtheil selbst, noch dessen Gegen- 
stand Ä war. Betrachten wir nun diese Position für ausreichend 
gefestigt, so verdient jetzt umgekehrt die eben betonte Thatsache, 
dafs ein Objectiv selbst Gegenstand eines Urtheils werden kann, 
noch in besonderem Maafse unsere Aufmerksamkeit. Denn was 
uns hierin als Thatsache entgegentritt, unterscheidet sich doch 
ganz wesentlich von Allem, was bei Urtheilsgegenständen anzu- 
treffen man sonst für selbstverständlich hält, so dafs es auch 



^ Dafs dies nicht allemal der Fall ist, hat sich uns bereits in Kap. II, 
§ 6, übrigens auch wieder eben jetzt aus dem Formelbeispiel mit negativem 
Hauptsatze ergeben. Doch soll dieser Punkt für*s Erste noch nach Than- 
lichkeit unberücksichtigt bleiben: er wird im Laufe der Untersuchungen 
dieses Kapitels gleichwohl zu seinem Bechte gelangen. 



Das Objectiv. 159 

den in den beiden vorangehenden Kapiteln niedergelegten gegen- 
standstheoretischen Untersuchungen unbedenklich als Grundlage 
dienen durfte. Ich meine nicht etwa die qualitative Beschaffen- 
heit der in den Objectiven sich uns darbietenden neuen Classe 
von Gegenständen: in betreff qualitativer Variabilität wird man 
ja, wie eben zuvor angedeutet, dem, was möglicherweise einen 
Gegenstand abzugeben im Stande sein möchte, schwerlich 
Schranken setzen können. Zudem kommt, wie sich zeigen wird ^, 
den Objectiven unter den mancherlei Gegenständen keineswegs 
eine so völlig isolirte Stellung zu, als man fürs Erste zu glauben 
geneigt sein dürfte. Was aber bisher in betreff sämmtlicher 
durch psychische Repräsentation gegebenen, also pseudo-existiren- 
den* Gegenstände für unfehlbar realisirt gelten durfte, das war 
ein diesem Gegenstande natürlich zugeordneter Inhalt, näher der 
Inhalt einer Vorstellung, welche die ebenso selbstverständliche 
als unentbehrliche psychologische Voraussetzung des in Frage 
kommenden Urtheiles abgeben zu müssen schien. Wie steht es 
nun aber mit alledem im Falle des Objectivs? Wo ist da der 
Inhalt, der diesem Gegenstand gegenübersteht, wo die Vorstellung, 
für die dieser Inhalt als ihr zugehörig in Anspruch zu nehmen 
wäre? In der That, dürfte man demjenigen, der etwa einen 
„dafs"-Satz ausspricht, normalerweise ein Reflectiren auf sein 
psychisches Thun zumuthen, dann wäre eine Art Ausweg in der 
Vermuthung zugänglich, dafs mit dem im „dafs"-Satze eventuell 
zum Ausdrucke gelangenden Urtheile eine Vorstellung wie 
„das durch dieses Urtheil erkannte Objectiv" oder dgl. ver- 
bunden sei, in welchem Falle der Gegenstand dieser Vorstellung 
dann immerhin auch als Gegenstand des im Hauptsatze ausge- 
drückten Urtheils aufgefafst werden könnte. Aber wie schon 
berührt, weifs die Erfahrung gar nichts von derlei Reflexionen. 
Diese Sachlage drängt zu einer sehr befremdlichen aber, so viel 
ich sehe, am Ende doch unvermeidlichen Consequenz: man 
wird zunächst einfach einräumen müssen, dafs ein Urtheil ein 
durch ein anderes Urtheil erfafstes Objectiv zu seinem Gegen- 
stande haben kann, ohne dazu einer dieses Objectiv betreffenden 
Vermittelung durch das Vorstellen zu bedürfen, — womit dann 
allgemein nichts Geringeres behauptet ist als dies, dafs es mög- 
lich ist, an etwas zu denken, das man nicht vorstellte 

^ Vgl. § 41f. 

* „Ueber Gegenstände höherer Ordnung etc." a. a. O. S. 186 f. 



160 Siebentes Kapitel. 

Oanz unerwähnt soll indefs hier nicht bleiben, dafs ein 
Mittel, über die Aufstellung einer so ungewöhnlichen Conception 
wie der eines beurtheilten und doch nicht vorgestellten Gregen- 
Standes hinauszukommen, mindestens nicht jenseits aller dis- 
cutirbaren MögUchkeiten läge. Schon im ersten Kapitel dieser 
Darlegungen^ habe ich einmal darauf hinzuweisen gehabt, dab 
fundirte Gegenstände mit Hülfe von Vorstellungen concipirt 
werden, die aus den Vorstellungen der Fundamente durch 
Production hervorgehen. Dafs es nun für das Ergebnifs solcher 
Production wesentUch auf die derselben dienende Thätigkeit des 
Subjectes ankommt^, darauf mufs ich im gegenwärtigen Zu- 
sammenhange deshalb zurückkommen, weil angesichts der 
grofsen Verschiedenheit, welche wir etwa in den producirenden 
Thätigkeiten des Unterscheidens, Zusammenfassens u. s. f. an- 
treffen, die Frage wenigstens nicht von der Hand zu weisen 
ist, ob nicht auch das Urtheilen als eine solche zur Pro- 
duction von Vorstellungen führende Thätigkeit in Anspruch ge- 
nommen werden könnte. Wie also, wenn der Umstand, dati 
ein Gegenstand A zum Gegenstande eines affirmativen oder 
negativen Urtheils gemacht wird, auch ein in einem besonderen 
Inhalte hervortretendes Vorstellungsergebniüs hätte, dem dann 
natürlich ein neuer Gegenstand zur Seite stünde, unser Objectiv 
nämlich, sprachlich repräsentirt durch die Wendung : „dafe Ä 
ist", resp. „dafs A nicht ist"? Das Objectiv für durch das 
Object fundirt zu nehmen, ginge freiüch, wenn ich recht sehe, 
schon deshalb nicht an, weil ja normalerweise^ zu demselben 
Objecto zwei entgegengesetzte Objective zu bilden wären, je- 
nachdem das an den Gegenstand angeschlossene Urtheil be- 
jahend oder verneinend ausfiele. Andererseits aber spräche 
natürlich für einen Versuch, dem Objectiv einen Inhalt zuzu- 
ordnen, aufs Eindringlichste die Ausnahmestellung, die dem 
Objectiv sonst überall da zuzuweisen wäre, wo es als Object 



* Vgl. oben § 2. 

* Vgl. auch „lieber Gegenstände höherer Ordnung etc." 8. 202 f. 

* Eine Ausnahme könnten nur anschaulich vorgestellte Gegenstäade 
auszumachen scheinen, sofern sich an diese, wie wir sahen (vgl. oben 
Kap. VI, § 27), nur affirmative Beurtheilungen anschliefsen lassen. Dais 
aber solcher Meinung ein Mifsverständnifs zu Grunde liegt, ist sofort daraus 
ersichtlich, dafs ich, auch wenn ich das „rothe Kreuz" ganz anschanlicb 
vorstelle, doch überzeugt sein kann, dafs es nicht existirt. 



Das ObjecHv. 161 

eines Urtheils auftritt, — nebenbei vielleicht auch der termino- 
logische Umstand, dafs es, wie noch darzulegen, mindestens nicht 
ganz ausgeschlossen ist, den Sinn des „dafs"-Satzes auch in ein 
einziges Wort zusammenzudrängen, und so die Analogie zur 
Vorstellung auch nach der sprachlichen Seite einigermaafsen her- 
zustellen. 

Inzwischen ist der letzterwähnte Umstand doch nur von 
ganz geringem Beweiswerthe. Bei jedem Worte kommt es, wie 
man ja schon vor aller Theorie weifs, in erster Linie darauf an, 
was es bedeutet; ob dieser Bedeutung dann ein Inhalt zu 
Grunde liegt oder etwas Anderes, das die Function der Vor- 
stellung zu ersetzen vermag, das wäre, falls es dergleichen eben 
giebt, wohl für die allermeisten Fälle Nebensache. Was aber 
die eben berührte Hypothese anlangt, so stimmt sie freilich ganz 
gut zu der gleichfalls weiter unten ^ noch zu besprechenden 
Thatsache, dafs die Objective ganz ebenso wie die Fundirungs- 
gegenstände nicht dem Bereiche des Existirenden, sondern dem 
des blos „Bestehenden" zugehören. Im Uebrigen aber hängt 
die Vermuthung einer Vorstellungs-Production durch das Urtheil 
ZMT Zeit doch völlig in der Luft; man wird sich daher die 
Frage vorlegen müssen, ob der oben ausgesprochene Gedanke 
jan Gegenstände, die uns nicht durch das Vorstellen, sondern 
durch Urtheil (oder Annahme) „gegeben" sind, wirklich so viel 
gegen sich hat, dafs man nicht fürs Erste mit demselben sein 
Auslangen finden könnte. 

Und da ist vor Allem daran zu erinnern, dafs es sich da 
ja in keinem Falle um ein Urtheilen ohne Vorstellen handeln 
kann. Wird der Gegenstand „dafs A existirt", uns durch ein 
Urtheil gegeben, so ist dies eben das Urtheil über Ä, also 
keineswegs eines, das einer Vorstellung als psychologischer 
Voraussetzung entbehrte. Nur dafs, wo durch das Vorstellen 
blos der Gegenstand A „gegeben" war, nun auch der Gegenstand 
„dafs A existirt" einer weiteren intellectuellen Bearbeitung zur 
Verfügung steht, das ist der in Rede stehenden Auffassung nach 
/sozusagen ein Erfolg des Urtheilens, an dem das Vorstellen 
nicht noch einmal theilnimmt. Das Objectiv ist also jederzeit 
•selbst auf ein Object gestellt, dem dann der zugehörige Inhalt als 
feste Vorstellungsbasis unter keiner Bedingung abzustreiten wäre. 



^ Vgl. § 41. 

JZeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. II. 11 



162 Siebentes Kapitel 

Wichtiger uoch scheiDt mir jedoch ein Anderes zu sein. 
Haben wir uns angesichts der Thatsachen entschliefsen müssen, 
einzuräumen, dafs jede Erkenntnifs, gleichviel ob affirmativ oder 
negativ, „etwas" erkennt, jedes Urtheil „etwas" erurtheilt, das 
nicht der Gegenstand ist, wohl aber dem betreffenden Urtheile 
so gegenübersteht wie der Gegenstand seiner Vorstellung, dann 
ist dem urtheile die Fähigkeit, dieses „etwas" zu erfassen, ohne- 
hin schon zugestanden. Im Erzeugen einer neuen Vorstellung 
durch das Urtheil, auch wenn eine solche im Sinne der eben 
besprochenen Hypothese wirklich stattfände, könnte dieses Er- 
fassen nicht gelegen sein: denn „blofses Vorstellen", wie immer 
zu Stande gekommen, ist eben noch keine Erkenntnifs- oder 
auch nur Urtheilsleistung. Müfste aber zu dieser neuen Vor- 
stellung etwa neuerlich ein Urtheil treten, so käme für dieses 
auch wieder ein neues Objectiv in Frage, damit wieder eine 
neue Vorstellung u. s. f. ins Unendliche, also eben eine unend- 
liche Reihe im fehlerhaften Sinne. Bleibt es also dabei, dafs sich 
jedes Urtheil seines Objectivs sozusagen aus eigener Machtvoll- 
kommenheit zu versichern hat, dann ist eigentlich nicht mehr 
recht abzusehen, warum eine Vorstellungshülfe nöthig sein müfste, 
damit das erurtheilte Objectiv nun Gegenstand weiterer Beur- 
theilung werden kann, zumal hier weitere Beurtheilungen vom 
ersten ihnen vorgegebenen Urtheile nichts weniger als unab- 
hängig sind. Habe ich das Recht zu dem Urtheile „A existirt", 
dann auch im Hinblicke hierauf zu dem das Objectiv des ersten 
Urtheils betreffenden zweiten Urtheile „es ist, dafs A existirt": 
ich habe es so gewifs, dafs dem Naiven das zweite Urtheil dem 
ersten gegenüber gar nicht verschieden zu sein scheint 

Giebt man sich mit solcher Betrachtungsweise zufrieden, 
dann mufs den Objectiven, wo sie als Gegenstände einer auf sie 
bezogenen intellectuellen Thätigkeit auftreten, gegenüber anderen 
Gegenständen eine Sonderstellung zugewiesen werden, die auf 
dem Umstände beruht, dafs sonst Gegenstände für intellectuelle 
Bearbeitung stets durch Vorstellungen, genauer durch deren 
Inhalte repräsentirt sind, indefs Objective nur durch die Urtheile 
selbst, deren Objective sie sind, gleichsam in die intellectuelle 
Sphäre des denkenden Individuums gerückt werden können. Ich 
will diesen Gegensatz terminologisch dadurch zm* Geltung 
bringen, dafs ich, einen erst später^ näher zu legitimirenden 

1 Vgl. unten Kap. IX, § 61. 



Das Objectiv. 163 

Sprachgebrauch anticipirend, Objecte, die ihrer Natur nach 
Objective sind, als Denkgegenstände den übrigen Objecten als 
Vorstellungsgegenständen gegenüberstelle. Bei Zugrundelegung 
der obigen oder einer besseren Hypothese würde diese Unter- 
scheidung natürlich überflüssig werden. 

Für jetzt mag dieser Terminus und mit ihm noch einmal 
die Conception des Objectivs selbst neuerliche Legitimation durch 
den Umstand erfahren, dafs wir dadurch in den Stand gesetzt 
sind, einer Schwierigkeit Herr zu werden, die wir als ungelösten 
und, wie hinzugefügt werden mufs, keineswegs unerheblichen 
Rest aus dem vorigen Kapitel haben herübemehmen müssen. 
Wir haben dort* der anerkannten thetischen Function des 
Urtheils eine synthetische zur Seite gestellt, die sich nicht so 
sehr im Verknüpfen der Vorstellungsinhalte als vielmehr darin 
bethätigt, dafs die zu diesen Inhalten gehörigen Gegenstände in 
Complexion erfafst werden, obwohl eine coincidirende Relation 
nicht mitvorgestellt wird. Dann fanden wir freilich wesentlich 
dieselbe Schwierigkeit, wenn auch in etwas verwickelterer Ge- 
stalt, überall da vor, wo die thetische Function des Urtheils sich 
einem Gegenstande höherer Ordnung zuwendet, so dafs das 
Problem keineswegs an einer besonderen Auffassung des 
kategorischen Urtheils gegenüber dem Seinsurtheil hängt. Nun 
hat aber natürlich das kategorische Urtheil sein Objectiv so gut 
wie das Seinsurtheil: dem Denkgegenstande „dafs A ist" steht 
der Denkgegenstand „dafs A B ist", völlig ebenbürtig zur Seite. 
Dieser letztere Gegenstand trägt femer alle Eigenschaften einer 
auf A und B als Gliedern aufgebauten Relation an sich ^ : und 
treten uns nun in Wendungen wie „^, das B ist" oder „i?-seiendes 
^" die Gegenstände A und B thatsächlich auch in Complexion 
entgegen, so ist es ganz ungezwungen, die dieser Complexion 
coincidirende Relation, die uns bisher gefehlt hat, in dem 
relationsartigen Objectiv „dafs A 5 ist" zu suchen. Es ist natür- 
lich wesentlich derselbe Sachverhalt, wenn A statt mit B zunächst 
mit einem E sozusagen durch das Urtheil verbunden wird, 
ebenso B, und in dieser Weise dann A und B in der Relation 
R gedacht wird etwa in dem Urtheil: ,,A ist von B verschieden" 

' Vgl. § 34. 

* Indes das Objectiv „dafs A ist" vergleichsweise den Charakter der 
Complexion, genauer vielleicht, da A auch einfach sein könnte, den des 
Grenzfalles einer Complexion an sich zu tragen scheint. 

11* 






154 Siebentes Kapitel. 

oder dgl. Zusammenfassend kann man also sagen: Die in 
solchen Fällen durch das Coincidenz-Princip wie überall sonst 
geforderte Relation ist so lange nicht aufzuzeigen als man die 
Voraussetzung macht, dafs alle Gegenstände selbstverständlich 
auch Vorstellungsgegenstände sein müssen. Wir finden dagegen 
die gesuchte Relation im Gebiete der Denkgegenstände, d. h. 
als etwas, das, wenn es überhaupt einmal als Gegenstand zur 
Geltung kommen soll, (was aber keineswegs unerläfslich, ja nicht 
einmal die Regel ist), Denkgegenstand sein mufs. Das Urtheil 
erfafst Objecto in Verbindung mit einander, indem es das 
Objectiv erfafst, das sie verbindet. 



§ 37. 
Vor- und nachgegebene Urtheile. 

Es wird dem Fortgange dieser Untersuchungen dienlich 
sein, wenn wir, ehe wir die Erfahrung nach den Umständen 
des Auftretens sowie nach den möglichen Eigenschaften solcher 
Denkgegenstände befragen, uns zunächst schematisch deren 
Stellung zu den sie betreffenden intellectuellen Acten klar zu 
machen versuchen, als welche fürs Erste auch hier Urtheile allein 
in Betracht gezogen sein mögen. Legen wir der Untersuchung 
etwa wieder das formelhafte Urtheil „A existirt" zu Grunde, so 
hat dieses den Gegenstand Ä und das Objectiv „dafs A existirt", 
kürzer^ „Existenz des A^. Ich kann nun auch über dieses 
Objectiv urtheilen, was dann etwa so auszudrücken ist: „dafs 
A existirt, das ist", oder auch: „die Existenz des A ist". Wir 
haben so das Schema eines Urtheils über einen Denkgegenstand 
vor uns, immerhin eines Urtheils, dem besondere Wichtigkeit 
höchstens in Ausnahmefällen beizumessen sein mag: aber es 
hat den Vorzug der Einfachheit für sich, und dafs es auch noch 
viel wichtigere Urtheile über Denkgegenstände giebt, davon 
werden wir uns weiter unten zu überzeugen ausreichende Ge- 
legenheit haben. 

Man kann nun an unserem Formel beispiele leicht erkennen, 
wie in den hierhergehörigen Fällen das Objectiv, indem es zu- 
gleich Denkgegenstand ist, in eigenthümlicher Weise gleichsam 



* Wir kommen auf diese abgekürzte, doch nicht jederzeit äquivalente 
Ausdrucksweise weiter unten zurück, vgl. § 39. 



Das Objectiv. 165 

zwischen zwei Urtheile gestellt erscheint, indefs gleichzeitig, ja 
in gewissem Sinne bereits früher, nämlich schon ehe das Ob- 
jectiv selbst wieder beurtheilt wird, das Urtheil zwischen zwei 
gegenständliche Thatbestände, ein Object und ein Objectiv, bei 
Beurtheilung des Objectivs selbst aber zwischen zwei Objective 
zu stehen kommt. Dafs darin im Grunde gar keine sonderliche 
Complication liegt, davon überzeugt man sich am leichtesten 
mit Hülfe irgend einer geeigneten symbolischen Aufschreibung. 
Verwendet man etwa die Zeichen -[■ ^^^ — ß-ls Symbol für 
Affirmation resp. Negation, so dafs die Aufschreibung A + einen 
Ausdruck für die Urtheile „Ä ist" resp. „^ ist nicht" ausmacht, 
so kann das Objectiv „dafs Ä ist" resp. „dafs Ä nicht ist" etwa 
durch Parenthesen gekennzeichnet werden, und falls dieses Ob- 
jectiv nun selbst wieder Gegenstand eines ürtheils wird, dieses 
neuerlich durch ein der Klammer nachgesetztes Affirmations- 
resp. Negationszeichen zur Darstellung gelangen, was dann im 
Ganzen ergiebt: 

wobei das jedesmaUge Zusammenauftreten der beiden entgegen- 
gesetzten ürtheilszeichen sogleich darauf hinweist, dafs die beiden 
Zeichen aufserhalb und innerhalb der Klammer von Natur durch- 
aus frei combinirbar sind. In mancher Hinsicht noch übersicht- 
licher ist es, jede der hier hinter einander auftretenden Stufen 
durch einen besonderen Buchstaben zu bezeichnen. Vorgegeben 
ist zunächst ein Object (das Ä im obigen Beispiele), das allge- 
mein durch bezeichnet sei. Schliefst sich an dieses das 
Urtheil C/j, so eignet diesem das Objectiv 0\ und dieses kann 
nun wieder selbst Gegenstand eines neuen Ürtheils U^ werden, 
was also die Folge ergiebt: 

U, 0' U,, 

oder, indem man dem Umstände ausdrücklich Rechnung trägt, 
dafs durch Hinzutreten des zweiten ürtheils aus dem Objectiv 0' 
eben selbst wieder ein wird : 

01 U, (y 



0, ü. 



wo die untereinander gestellten, durch einen Verticalstrich ver- 
bundenen Buchstaben sich auf Identisches beziehen, die neu 
hinzugekommene Indices für die und ü aber nur zur Unter- 



Igg Siebentes Kapitel. 

Scheidung der betreffenden Symbole zu verhelfen haben. Dafs 
solche Auf Schreibungen einem anderen Zwecke als dem gröfserer 
Anschaulichkeit in keiner Weise zu dienen im Stande sind, 
braucht kaum ausdrücklich hervorgehoben zu werden: aber 
dieser Gewinn scheint mir bei den vielen Irrthums-Chancen, die 
eine eben erst in Angriff genommene Untersuchung stets wider 
sich hat, doch nicht allzu niedrig angeschlagen werden zu sollen. 

Was hier nun zunächst in die Augen fällt, ist die Gegen- 
sätzlichkeit des Verhaltens, das bei Object und Objectiv dem 
Urtheile gegenüber zu Tage tritt, zu dem jedes von beiden 
gehört. Das Object kann seiner Natur nach sehr wohl gegeben 
sein ohne Urtheil, ist es wohl auch oft genug; nicht ebenso 
das Urtheil ohne Object. Mufs also auch nicht jedesmal das 
Urtheil erst auftreten, nachdem das Object bereits in der Vor- 
stellung vorgegeben ist, so ist doch das Object dem Urtheile 
gegenüber, wie man wohl sagen kann, das seiner Natur nach 
Frühere. Dagegen ist das Objectiv zwar nicht zeitlich später 
als sein Urtheil; es ist vielmehr aus einem Grunde, auf den 
noch zurückzukommen sein wird ^, streng genommen überhaupt 
nicht in der Zeit. Jedenfalls ist es aber erst durch das Urtheil 
gegeben: darf also das Object dem Urtheil vorgegeben heifsen, 
so könnte das Objectiv höchstens als dem Urtheil mitgegeben 
bezeichnet werden. Nur besagt hier „mitgegeben" denn doch 
zu wenig, was am besten daraus erhellt, dafs dann folgerichtig 
ebenso gut auch das Urtheil dem Objectiv „mitgegeben" heifsen 
müfste, indefs in betreff des Gegebenseins dem Urtheile doch 
ohne Zweifel eine Art Priorität eigen ist. Um diese zur Geltung 
zu bringen, und auch sonst der deutlicheren Gegensätzlichkeit 
zwischen Objectiv und Urtheil wegen will ich, immerhin nicht 
ganz ohne Ungenauigkeit , das Objectiv seinem Urtheil nicht 
mitgegeben, sondern nachgegeben nennen, falls man an 
diesem etwas ungewöhnhchen Ausdrucke keinen Anstofs nimmt. 

Aehnliche Betrachtungen mit naturgemäfs einigermaafsen 
entgegengesetztem Ergebnisse lassen sich dann aus Anlafs des 
Hinzutretens eines weiteren ürtheils anstellen, das das Objectiv 
zum Objecte, eben zum Denkobject hat. Wie oben zwei gegen- 
ständliche Momente gegenüber Einem Urtheil, so hat man hier 
nun zwei Urtheile gegenüber Einem gegenständlichen Momente, 



^ Unten § 41. 



i 



Das Objectiv. 167 

das dem einen dieser Urtheile als Objectiv, dem anderen als 
Object zugehört. Man kann hier in sofort verständlicher Weise 
das vorgegebene Urtheil dem nachgegebenen Urtheile gegenüber- 
stellen. 

Weil nun aber schlie&lich auch das über das Objectiv ge- 
fällte Urtheil ein Urtheil ist und als solches wieder sein Objectiv 
hat, so versteht sich, dafs in den obigen symbolischen Auf- 
schreibungen nur die ersten Schritte in einer theoretisch wenig- 
stens in keiner Weise abzuschliefsenden Reihe von Weiter- 
bildungen verzeichnet sind. Je nach der Notirungsweise erhält 
man eben 

[iı)±]± 

oder 

0, u, a, ü^ o\ u^(y^ 

oder 

I 

0, ü. 0-, 



0« u, 0\ 



Dafs solcher zunächst ausschliefslich theoretisch vollzogenen 
Weiterführung nur innerhalb sehr enger Grenzen auch eine 
praktische, genauer eine empirische Bedeutung beizumessen sein 
wird, ist selbstverständlich. 

Dagegen kommt der Thatsache, dafs das Objectiv zwischen 
vorgegebenem und nachgegebenem Urtheile sozusagen inmitten 
steht, für die Auffassung der Natur dessen, was man in diesem 
Objectiv vor sich hat, keine geringe Bedeutung zu, indem sie 
eine Art Schein mit sich führt, als wäre das Objectiv mit blos 
vorgegebenem Urtheil, das Objectiv also, wie es nach Obigem 
jedem Urtheil zukommt, etwas gleichsam Unfertiges, genauer 
ein blos Potentielles, dem Gegenstande einer Vorstellung ver- 
gleichbar, an der noch gar keine intellectuelle Thätigkeit an- 
greift.^ Dasselbe stünde sonach im Gegensatze zu jener 
actuellen GegenständUchkeit, die etwa der in geeigneter Weise 

1 Vgl. oben Kap. V, § 22. 



Igg Siebentes Kapitel, 

mit einem Urtheil verbundenen Vorstellung eigen ist, jenem 
ausdrücklichen Gerichtetsein auf den Gegenstand, zu dem im 
Falle des Objectivs dann erst bei nachgegebenem Urtheile 
ein Seitenstück anzutreffen wäre. Sehe ich indefs recht, so wäre 
in solcher Auffassung die Natur des Verhältnisses zwischen 
Urtheil und Objectiv durchaus verkannt. Vielmehr gehört es, 
wie schon einmal berührt ^, geradezu zum Wesen jedes Urtheils, 
dafs es sein Objectiv gleichsam erfassen will: ob es ihm wirk- 
lich auch gelingt, das hängt freiUch davon ab, ob das Urtheil 
im Rechte ist oder nicht; an der Intention aber, wenn man so 
sagen darf, fehlt es in keinem Falle und kann es nicht fehlen. 
Das Analogen zu der blos potentiellen Gegenständlichkeit ist 
sonach beim Urtheil in seinem Verhältnifs zum nachgegebenen 
Objectiv unvertreten. 

Das schliefst aber gar nicht aus, dafs das Objectiv zu unserem 
Intellecte noch in ein neues Verhältnifs tritt, wenn sich ihm das 
Denken in der uns bereits bekannten Weise sozusagen ein 
zweites Mal, jetzt ausdrücklich als einem Gegenstande zuwendet 
Ohne Zweifel kommt ja dem Gegenstande eines Urtheils im 
Vergleich mit dem Objectiv dieses Urtheils eine gewisse Vorzugs- 
stellung zu, vermöge welcher das Meiste dessen, was uns bisher 
an intellectuellen Operationen bekannt geworden ist, zunächst am 
Gegenstande angreift. So gelangt auch das Objectiv selbst erst, 
indem es einem nachgegebenen Urtheile gegenüber in die Stellung 
des Gegenstandes rückt, gleichsam auf Eine Stufe mit dem, was 
das Vorstellen dem Urtheile und sonstiger intellectueller Be- 
arbeitung zur Verfügung stellt. Die wissenschaftliche Be- 
arbeitung des Objectivs, auf deren Anbahnung es hier an- 
kommt, wird daher dasselbe ausdrücklich zum Gegenstande der 
Beurtheilung machen müssen und aus solchen psychischen Er- 
lebnissen vor Allem Förderung gewinnen, in denen das Objectiv 
als Gegenstand eines nachgegebenen Denkactes auftritt. 

§38. 
Denkgegenstände im Geistesleben. 
Prärogative des nachgegebenen, Prärogative des 

vorgegebenen Urtheils. 

In einfachster Weise ist die eben ausgesprochene Forderung 
dort realisirt, wo der Redende nach dem Typus des eben zu- 

* Vgl. oben § 35 am Ende. 



Das Objectiv. 169 

vor verwendeten Formelbeispieles urtheilt und das Urtheil in 
gewöhnlicher Weise zum Ausdruck bringt. Inzwischen scheint 
diese sozusagen reine Beurtheilung des Objectivs nur ganz aus- 
nahmsweise den Bedürfnissen des Redenden entgegenzukommen : 
um so häufiger sind die Fälle, wo das Objectiv entweder in 
Relation zu psychischen Geschehnissen beurtheilt, oder ihm, 
zunächst wohl wieder im Hinblick auf solche Geschehnisse, 
Attribute zu- resp. aberkannt werden. 

Ich beginne mit Fällen, die ich unter Benutzung eines 
früher^ festgelegten Terminus kurz als secundäre Urtheilsaus- 
drücke bezeichnen kann, Fällen also, wo der Redende die That- 
sache, dafs er urtheilt, durch ein Aussprechen eines Urtheils 
über dieses Urtheil zum Ausdrucke bringt. Sätze wie „ich 
urtheile, bin überzeugt, glaube, meine, vermuthe, dafs Ä existirt" 
und dgl. sind ja so zu verstehen, und jedesmal verräth uns der 
mitgegebene „dafs"-Satz die Bezugnahme auf ein Objectiv. Zu- 
gleich scheint ein Zweifel darüber, dafs dieses Objectiv zu dem 
secundär ausgedrückten Urtheile als seinem vorgegebenen Urtheile 
gehören müsse, nicht aufkommen zu können: aus Urtheilen, 
denen gegenüber wir uns nicht nur bewufst sind, dafs sie vor- 
liegen, sondern bei denen wir auch klar erfassen, was durch sie 
erkannt wird, haben wir ja auch zu Anfang dieser Untersuchung 
die Thatsache des Objectivs zuerst kennen gelernt. 

Nun giebt es aber doch eine erstaunhche Menge von Aus- 
drücken, die mit den erwähnten ganz und gar auf gleicher Linie 
zu stehen scheinen, aber gleichwohl eine andere Auffassung ver- 
langen, und dadurch die allgemeine Geltung der obigen Deutung, 
ja nahezu ihre Geltung überhaupt mit in Frage stellen. Die 
nähere Untersuchung der Sachlage wird durch die eigenthüm- 
liche Complication nicht wenig erschwert, die durch die That- 
sache des secundären Ausdruckes bedingt ist, und die leicht zu 
Verwechslungen führen kann, wenn man sie nicht besonders 
im Auge behält. Sage ich nämlich etwa: „ich bin überzeugt, 
dafs Ä ist", so ist hier vor Allem durch primären Ausdruck ein 
Urtheil bezeugt, das einerseits von meiner Ueberzeugung handelt, 
andererseits von dem, wovon ich überzeugt bin, also dem Objectiv 
dieser Ueberzeugung. Diese Ueberzeugung ist das secundär aus- 
gedrückte Urtheil, dem das primär ausgedrückte so gewifs nach- 



^ Vgl. oben Kap. II, § 4. 



170 Siebente» Kapitel. 

gegeben ist, als die Wahrnehmung dem Wahrgenommenen 
gegenüber für das Frühere gelten darf. Und insofern ich nicht 
nur wahrnehme, dafs ich, sondern auch, worüber ich urtheile, ist 
das primär ausgedrückte Urtheil auch dem Objectiv des secundär 
ausgedrückten Urtheiles jedenfalls nachgegeben, und mufs es offen- 
bar auch in allen anderen analogen Fällen secundären Urtheils- 
ausdruckes sein : von diesem Urtheile und seiner Nachgegebenheit 
ist darum im Folgenden zunächst gar nicht die Rede. Dagegen soll 
hier die Frage aufgeworfen werden, ob das secundär ausgedrückte 
Urtheil und das im ^dafs^-Satze zur (Jeltung kommende Objectiv 
etwa jedesmal oder auch nur in der Regel in der Relation des 
vorgegebenen Urtheils zu seinem Objectiv stehen mufs, ob also 
dieses nicht vielmehr auch schon für das secundär ausgedrückte 
Urtheil blos einen Denkgegenstand abgeben kann. Eigentlich 
sachliche Schwierigkeiten kann die zu klarerer Einsicht in unser 
Thatsachengebiet kaum zu entbehrende Untersuchung dieser 
Frage nicht wohl in sich schliefsen : aber sie wird, wie nun leicht 
einzusehen, einigennaarsen erschwert durch die Gefahr, das primär 
Ausgedrückte an Stelle des secundär Ausgedrückten heranzuziehen; 
und es wäre immerhin nicht ausgeschlossen, dafs ich selbst auf 
dem neuen Gebiete nicht heimisch genug bin, um in dieser Hin- 
sicht unbeschadet aller Sorgfalt völlig für mich gut stehen zu 
dürfen. 

Gesetzt also etwa, jemand bedient sich der Wendung: „ich 
negire, dafs Ä existirt". Kann man auch da den Hauptsatz als 
secundären Ausdruck des dem Objectiv vorgegebenen Urtheils 
verstehen? Dem Objectiv „dafs J existirt" könnte kein anderes 
Urtheil vorgegeben sein als „^existirt" ; durch dieses Urtheil würde 
aber nichts negirt, sondern nur etwas affirmirt. Dagegen ist die 
in unserem Hauptsatze ausgesprochene Negation ungefähr näm- 
lichen Sinnes, als wäre geurtheilt worden: „Dafs A existirt ist 
nicht". Wie man sieht, liegt also die Negation im nachgegebenen 
Urtheile, und auch in der Aussage „ich negire, dafs A existirt" 
hat der Hauptsatz das dem Objectiv nachgegebene Urtheil aus- 
zudrücken. Dafs Sätze wie „ich bestreite, bezweifle, dafs . . . ." 
und dgl. ebenso zu deuten sind, versteht sich. Dasselbe gilt von der 
Wendung „ich glaube nicht, dafs . . . .", an der nur auffallend ist, 
dafs der Negationsausdruck sozusagen an falscher Stelle steht, als 
gälte es, das Glauben zu negiren, indefs in der Regel zwar 
sehr wohl geglaubt wird, nur mit negativer Qualität. Dafs dann 



Das ObjecHü. 171 

auch Sätze wie „ich verneine, dafs A nicht existirt" nicht etwa 
so gemeint sein werden wie „ich fälle das negative Urtheil, dafs 
A nicht ist", erhellt hier einfach daraus, dafs der so Redende 
normalerweise nicht der Meinung sein wird, dafs A wirklich 
nicht existire, dies vielmehr gerade in Abrede stellt. 

Man ersieht daraus zugleich, dafs man nicht etwa das 
Princip aufstellen dürfte: wenn Haupt- und Nebensatz gleiche 
QuaKtät ^ aufweist, dann drückt der Hauptsatz das dem Objectiv 
vorgegebene, wenn sie entgegengesetzte Qualität haben, das dem 
Objectiv nachgegebene Urtheil aus. Aber auch aus affirmativer 
QuaUtät des Hauptsatzes wird nicht zu schliefsen sein, dafs er 
das vorgegebene Urtheil betreffen müsse : denn auch Wendungen 
wie „ich bestätige, affirmire, versichere, dafs A nicht existirt'' 
und dgl. weisen jene Gegensätzlichkeit der Qualität im Haupt- 
und Nebensatz auf, die für uns oben das Kennzeichen dafür 
abgegeben hat, dafs es sich da um das nachgegebene Urtheil 
handeln müsse. So bleiben nur noch Fälle mit affirmativer 
Qualität sowohl im Haupt- als im Nebensatze übrig, bei denen 
eine Interpretation zu Gunsten des vorgegebenen Urtheils 
mindestens nicht von vorn herein ausgeschlossen heifsen darf. 
Will man aber Gleichheit der Interpretation bei affirmativen 
und negativen Ausdrücken einigermaafsen aufrecht erhalten, will 
man also „ich bejahe, dafs A ist" nicht anders deuten als „ich 
bejahe, dafs A nicht ist", so kann man eben nur ganz allgemein 
sagen : ist der Hauptsatz qualitativ unbestimmt ®, dann betrifft er 
das vorgegebene, ist er qualitativ bestimmt, so betrifft er das 
nachgegebene Urtheil. 

Immerhin ist es aber nicht jedesmal sicher, ob der Hauptsatz 
das Urtheil, das er secundär zum Ausdrucke bringt, nach seiner 
Qualität bestimmt oder nicht, genauer, ob es sich um unbe- 
stimmte oder um affirmative Qualität handelt. Sage ich, „ich 
behaupte, erinnere mich, vermuthe" und dgl. so bleibt ungewifs 
ob damit blos auf das vorgegebene Urtheil Bezug genommen, 
dieses nur als Behauptung, Erinnerung, Vermuthung charakterisirt 
werden, oder ob nicht vielmehr eine Zustimmung zu einem 



^ Mit „Qualität" ist hier natürlich nur die Bestimmung in betreff des 
Gegensatzes von Ja und Nein gemeint. 

* Ein Fall, der übrigens erstaunlich selten ist. Selbst die hierfür zu- 
nächst in Betracht kommende Wendung „ich urtheile, dafs . . . ." ist kaum 
einmal ohne Gewaltsamkeit ihres affirmativen Charakters zu entkleiden. 



172 Siebentes Kapitel 

solchen Urtheil durch Affirmation des Objectivs, sonach das 
diesem nachgegebene Urtheil bezeichnet sein soll. Ebenso 
wird für den besonderen Fall, dafs Haupt- wie Nebensatz 
affirmative Qualität aufweisen, die Möglichkeit nicht kurzer 
Hand abzulehnen sein, dafs das eben ausgesprochene Princip 
da und dort einmal auch noch in der Weise, eine Ausnahme er- 
leiden könnte, dafs der Hauptsatz auch keine andere Aufgabe 
hätte, als das im Nebensatze auftretende Urtheil, also das dem 
Objectiv vorgegebene, einigermaafsen pleonastisch als Affirmation 
zu charakterisiren. Jedenfalls aber läfst sich im Allgemeinen 
sagen, dafs auf dem bisher betrachteten, zunächst durch die 
„dafs"-Sätze sich kenntlich machenden Gebiete ganz gegen den 
ersten Anschein den nachgegebenen Urtheilen gegenüber den 
vorgegebenen eine ganz beträchtliche Prärogative zukommt 
Begegnet man also einem „dafs"-Satze, der vom secundären Aus- 
drucke eines Urtheils abhängt, so wird man für die weitaus 
gröfste Zahl der Fälle darauf rechnen dürfen, dafs dieser secun- 
däre Ausdruck ein Urtheil betrifft, das dem durch den „dafs"- 
Satz ausgesprochenen Objectiv nachgegeben ist. Nebenbei mag 
noch ausdrücklich betont sein, dafs, wenn oben von „Quahtät" 
des Hauptsatzes die Rede war, es sich natürlich nicht um die 
Qualität des darin primär, sondern nur um die des darin secundär 
ausgedrückten Urtheiles gehandelt hat. Für derlei secundäre 
Ausdrücke ist es ja allemal selbstverständlich, dafs das in ihnen 
primär zum Ausdrucke gelangende Urtheil nicht anders als affir- 
mativ sein kann: eine Aussage in betreff dessen, was in mir 
nicht vorgeht, könnte doch nicht wohl für Ausdruck gelten. 

Wenden wir uns nunmehr von dem bisher fast ausschliefs- 
lich ^on uns berücksichtigten secundär ausgedrückten Urtheile 
vorübergehend noch einmal dem primär ausgedrückten zu, so 
ist ohne Weiteres ersichtlich, dafs den Gegenstand desselben 
nichts Anderes als das secundär ausgedrückte Urtheil aus- 
macht und zwar, wie schon berührt, in seiner Relation zum 
Objectiv. Die Relation ist natürlich verschieden, je nachdem 
es sich im Hauptsatze um das vor- oder das nachgegebene Ur- 
theil handelt ; das Objectiv ist dabei für das primär ausgedrückte 
Urtheil Denkgegenstand. Dieser Sachverhalt wird wo möglich 
noch deutlicher, wo es sich nicht, wie in den bisher betrachteten 
Fällen, um intellectuelle Geschehnisse im Redenden sondern mn 
solche in Individuen handelt, die nicht der Redende sind. Für 



Das Objediv. 173 

die Beziehungen zwischen dem Objectiv und den ihm als vor- 
oder nachgegeben zugehörigen Urtheilen verschlägt es nichts, ob 
gesagt wird: „ich glaube, bestreite dafs" oder „er glaubt, be- 
streitet, dafs" od. dgl.: die Interpretation der hierher gehörigen 
Aussagen wird also wohl ausnahmslos den oben allgemein formu- 
lirten Gesichtspunkten zu folgen haben. Dafs der Gegensatz 
primären und secundären Ausdruckes in Fällen der in Rede 
stehenden Art keine Anwendung mehr hat, braucht nicht be- 
sonders bemerkt zu werden. 

Dagegen fällt es immer noch unter den Gesichtspunkt des 
secundären Ausdruckes, wenn der Hauptsatz nicht blofs die Con- 
statirung des vom Redenden gefällten Urtheils im Allgemeinen, 
sondern zugleich eine Charakteristik dieses Urtheils nach irgend 
einer seiner Eigenschaften darbietet. Genauer besehen war das 
ja auch bereits in mehr als einem der obigen Beispiele der 
Fall; durch „ich bejahe" oder „ich verneine" war die Urtheils- 
qualität, durch „ich bin überzeugt" oder „ich vermuthe" der 
Gewifsheitsgrad näher bestimmt. Die Constatirung der Eigen- 
schaft kann nun gegenüber der des Urtheils, dem sie zugehört, 
im Hauptsatze hervortreten; so etwa in der Wendung „es ist 
mir einleuchtend, dafs . . . .", was sich aber natürlich auch mit 
Bezug auf eine andere Person als die des Redenden, dann auch 
ohne Bezugnahme auf irgend eine Person sagen läfst, also etwa : 
„es leuchtet ihm ein, dafs . . . ." und kurzweg: „es leuchtet ein, 
dafs . . . .". 

An einer solchen unpersönlichen Form wird besonders auf- 
fallend, was freilich eigentlich schon auch an jeder der persön- 
lichen Formulirungen zu bemerken gewesen w^äre, dafs hier etwas, 
das sich zunächst als eine Eigenschaft eines Urtheils darstellt, 
nun geradezu als Attribut des im „dafs" -Satze zur Geltung 
kommenden Objectivs erscheint. Evidenz ist doch sicher so gut 
Sache des Urtheils wie etwa Gewifsheit; gleichwohl könnte das 
Sprachgefühl, das dem Theoretiker heute anstandslos gestattet, 
das Adjectiv „evident" ohne Weiteres an das Substantiv „Urtheil" 
anzuschliefsen , vielleicht erst durch die erkenntnifstheoretische 
Kunstsprache geschaffen sein, indes es dem Laien sicher um 
Vieles natürlicher sein wird, zu sagen: „es leuchtet ein, dafs 
3 gröfser als 2 ist" als etwa „das Urtheil hierüber ist ein- 
leuchtend". Noch deutUcher wird dies an den gegensätzlichen 
Terminis „wahr" und „falsch". Man kann bekanntlich durch- 



174 SUhenta Kapitel. 

aus nicht sagen, dafs dieselben einer Anwendung in übertragener 
Bedeutung sonderlich widerstreben: „wahrer Freund^, „falsche 
Zähne", „wahre Rede", „falsche Vorstellung" sind ja geradezu 
Schulbeispiele für Mehrdeutigkeit Bezeichnet man nun ein Ur- 
theil als wahr oder falsch, so hat man dabei immerhin nicht 
mehr das Gefühl einer geradezu uneigentlichen Wortanwendung. 
Dennoch kann es keinen Augenblick zweifelhaft sein, dafs genau 
besehen die Wendung: „es ist wahr, dafs Ä existirt", „es ist falsch, 

dafs " eine um Vieles natürlichere, ja im Grunde die einzige 

wirklich naturgemäfse Redeweise ist. „Wahr" und „falsch" sind 
eben, näher besehen, Attribute von Objectiven, ebenso wie es 
oben bei „evident" zu constatiren war, genommen von einer ge- 
wissen Beschaffenheit des dem betreffenden Objectiv vorge- 
gebenen Urtheiles, aber von diesem selbst schon weniger sprach- 
gemäfs auszusagen als das Adjectiv „evident". Noch schwerer 
ist ein Urtheil ..wahrscheinlich", gar nicht mehr ist es „mög- 
lich", „nothwendig", „zufälUg" zu nennen, während jedes dieser 
Adjective sich zwanglosest als Attribut des Objectivs anwenden 
läfst. Wendungen wie „es ist wahrscheinlich, möglich, zufällig, 
nothwendig, dafs ....'* gebrauchen diese Adjective sicher in der 
ihnen eigentlich zukommenden Weise. 

Es kann nicht versucht werden, den Eigenthümlichkeiten 
der hierher gehörigen Einzelfälle genauer nachzugehen: von 
ihrer logischen Dignität wird weiter unten ^ noch kurz zu 
reden sein. Hier mufs es genügen, darauf hinzuweisen, dafs 
die Charakteristik aller dieser Fälle zuletzt auf Eigenschaften 
eines Urtheils zurückgeht, dem das im „dafs"- Satze gegebene 
Objectiv zugehört. Es ist damit schon gesagt, dafs hier nur 
das dem Objectiv vorgegebene Urtheil in Frage kommt: auch 
kann man die Natürlichkeit dieses Sachverhaltes ziemlich gut 
einsehen, wenn man erwägt, um wie viel das Objectiv seinem, 
d. i. eben dem vorgegebenen Urtheile näher steht als einem 
nachgegebenen, dessen Denkgegenstand es gerade ausmacht 
Aber im Hinblick auf die oben constatirte Prärogative des 
nachgegebenen Urtheils verdient es ausdrücklich hervorgehoben 
zu werden, dafs derselben sonach unter Umständen auch eine 
Prärogative des vorgegebenen Urtheils gegenübersteht. 

Gehört die Wendung „es ist Thatsache, dafs . . . ." trotz 
ihrer abweichenden Form noch durchaus der eben betrachteten 

' Vgl. § 42. 



Da8 Objectiv. 175 

Gruppe an, so gilt natürlich keineswegs dasselbe von jenen 
augenscheinlich eine besondere Gruppe ausmachenden Fällen, bei 
denen es sich darum handelt, Relationen zwischen Objectiven 
auszusagen, denen daher zunächst das Zusammenauftreten von 
mehreren „dafs"-Sätzen charakteristisch ist. „Dafs A ist, beweist, 
bedeutet, besagt, dafs B ist": das mag als Formelbeispiel für 
solche Relationen hier ausreichen, deren eminent logische Digni- 
tät auf den ersten Blick zu erkennen ist. Dafs auch hier die 
den betreffenden Objectiven vorgegebenen Urtheile und deren 
Relationen zu einander maafsgebend sind, ist ebenfalls sofort er- 
sichtlich. Auf Einzelnheiten einzugehen, würde auch hier ebenso 
zu weit führen als besondere Untersuchungen darüber, ob auf in- 
tellectuellem Gebiete aufser den bisher namhaft gemachten auch 
noch andere Fälle zu gewärtigen sind, in denen Objective in 
„dafs"-Sätzen auftreten. Für unsere nächsten Bedürfnisse darf 
ich mich darauf beschränken, zu constatiren, dafs ich bisher 
aufser Stande gewesen bin, weitere charakteristische Gruppen 
aufzufinden. 

§ 39. 
Sprachliche Bezeichnungen für Denkgegenstände. 

Die Satzbedeutung. 

Indes meine ich das Gebiet der hier kurz erwogenen in- 
tellectuellen Thatsachen nicht verlassen zu sollen, ohne auch 
noch der sprachlichen Seite derselben mit einigen Worten zu ge- 
denken, die überdies durch die oben ohne eigentliche Begründung 
ausgesprochene Behauptung gefordert werden, dafs das Objectiv 
bezüglich sprachlichen Ausdruckes zunächst auf die „dafs "-Sätze 
angewiesen sei.^ Ganz vorübergehend sei bemerkt, was ohnehin 
für selbstverständlich gelten darf, nämlich, dafs damit die An- 
wendbarkeit äquivalenter Satzformen, etwa solcher mit Verben im 
Conjunctiv oder Infinitiv, durchaus nicht in Frage gestellt werden 
sollte. Nicht so sehr den „dafs "-Satz galt es dort zur richtigen 
Geltung kommen zu lassen, als vielmehr den Satz gegenüber dem 
Worte ; und so ist auch jetzt dasjenige, was mir noch einer aus- 
drücklichen Erwägung zu bedürfen scheint, dies, ob dem Ob- 
jectiv im sprachlichen Ausdrucke nicht statt Sätzen auch blos 
Worte gegenüberstehen können, was so viel besagt als die Frage, 

^ Vgl. S. 151. 



176 Siebentes Kapitel. 

ob es in den eben aufgezählten Anwendungsfällen der „dafs^- 
Sätze für letztere auch Ausdrucksäquivalente in anderer als der 
Satzform giebt. 

Versucht man also, die ^dafs"*- Sätze sozusagen ihrer Satz- 
form zu entkleiden, so bietet sich zunächst eine Umwandlungs- 
weise dar, von der man nicht sagen kann, dafs sie jedesmal 
geradezu auf einen Fehlschlag führt. Statt ^ich vermuthe, 
dafs es ein Unglück giebt", kann ich ganz wohl sagen: „ich 
vermuthe ein Unglück", — statt: „ich erinnere mich daran, 
dafs er anwesend war" auch: „ich erinnere mich an seine 
Anwesenheit", — statt: „ich berichtete, dafs er gerettet ist" 
auch: „ich berichtete seine Rettung", — statt: „ich weifs, 
dafs er Fehler hat" auch : „ich weifs um seine Fehler" u. dgL 
Mag man indes bereits hier der vollen Adäquatheit des 
Transformationsergebnisses nicht jedesmal ganz sicher sein, 
so ist doch etwa eine Aussage über „Glauben" schon merk- 
lich schwerer in dieser Weise zu bearbeiten. Man sagt zwar 
noch ganz natürlich: „ich glaube an Gott, an mein gutes 
Recht" u. dgl. statt: „ich glaube, dafs Gott ist, dafs ich ein 
gutes Recht habe" etc. Dagegen wird statt „ich glaube, dafs im 
Zimmer ein Tisch steht" Niemand sagen: „ich glaube an den 
Tisch im Zimmer" und es ist zum Mindesten sehr fraglich, ob 
daran eine Verschiebung im Sinne des Wortes „glauben" die 
Schuld trägt. Vollends scheint bei Wendungen wie „ich urtheile, 
meine (denke), behaupte, sage, dafs ..." und ähnlichen eine 
das „dafs" eliminirende Umformung ganz ausgeschlossen. Sagt 
z. B. die Versuchsperson beim Anstellen von psychologischen 
Gewichtsversuchen : „ich urtheile, dafs das erstgehobene Gewicht 
schwerer war", so läfst sich dem eine Aussage von der Form 
„ich urtheile über das Schwerersein des erstgehobenen Gewichtes" 
oder dgl. nicht zur Seite stellen. 

Mehr oder minder ungenau freilich wird man in solcher 
Weise den Gegenstand des Urtheils vermuthlich jedesmal be- 
zeichnen können. Aber auch wenn man dabei den Gegenstand, 
über den man etwas „meint, urtheilt" etc. genau zu bestinunen 
in der Lage ist, so fehlt immer noch die Bestimmung darüber, 
ob das vorliegende Urtheil affirmativ oder negativ ausfällt, eine 
Bestimmung, welche im Satze mit „dafs" ganz naturgemäfs nicht 
fehlen kann, die sich dagegen in das Transformationsergebnifs 
hier nicht mit aufnehmen läfst. Nachträglich fällt nun vielleicht 



Da8 Objectiv. 177 

auch auf, dafs bereits bei den oben als statthaft aufgezählten Trans- 
formationen die Unbestimmtheit der Urtheilsqualität sozusagen 
nur durch eine Art willkürlicher Einschränkung beseitigt war. 
Denn besagt etwa die Wendung: „ich vermuthe ein Unglück" 
nichts weiter, als dafs das Unglück eben Gegenstand meiner 
Vermuthung ist, so fehlt an solchem Ausdrucke thatsächlich 
eine eigentliche Angabe darüber, ob die Vermuthung affirmativen 
oder negativen Charakter hat und es kann streng genommen 
für nicht mehr als conventioneil gelten, dafs hier Jedermann 
ohne Weiteres eine affirmative Vermuthung versteht. 

Aber was sich so im Wesentlichen als undurchführbar 
herausstellt, ist vorerst doch nur der Versuch, das Objectiv ein- 
fach zu Gunsten des Gegenstandes des dem Objectiv vorgegebenen 
Urtheils zu vernachlässigen: dieses Mifslingen verificirt also in 
seiner Weise, was im Bisherigen über das Objectiv im Gegen- 
satze zum Object behauptet worden ist. Ob dagegen das Ob- 
jectiv nicht auch noch anders als durch den Satz sprachlich zur 
Geltung kommen kann, das ist eine ganz andere Frage und zwar 
eine, die, soweit ich sehe, innerhalb gewisser Grenzen sehr wohl 
eine affirmative Antwort gestattet. Sage ich, um noch einmal 
an die zu Anfang der obigen Darlegungen ^ gebrauchte Formel 
anzuknüpfen, statt „dafs A existirt, ist" etwa „die Existenz des 
Ä ist", so besagt dies freilich nicht mehr, aber auch nicht 
weniger; und statt „ich bestreite, bezweifle, behaupte, dafs es ein 
Vacuum giebt", kann ich auch sagen: „ich bestreite, bezweifle, 
behaupte die Existenz des leeren Raumes". Ist dagegen das dem 
Objectiv vorgegebene Urtheil in kategorischer Aussageweise auf- 
getreten, also in der Formel „dafs A B ist", so bietet hierfür die 
Form „das B-sein des -4" vielfach einen ganz befriedigenden 
Ersatz. Statt „ich bestreite nicht, dafs der Eisenbahnzug heran- 
kommt, dafs die Tafel schwarz, dafs Gelb von Grün verschieden 
ist", läfst sich unbedenklich sagen: „ich bestreite nicht das 
Herankommen des Eisenbahnzuges, das Schwarz-sein (oder die 
Schwärze) der Tafel, die Verschiedenheit zwischen Gelb und 
Grün". Dabei ist der Unterschied zwischen den hier so brauch- 
baren Verbalsubstantiven und dem Infinitiv freilich kaum ein 
sehr erhebUcher: im Ganzen aber soll hier weder die Eigen- 
artigkeit noch die Verwendbarkeit dieser Weisen, das Objectiv 



* Vgl. oben § 35. 
Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. II. 12 



178 Siebentes KafnUL 

zu bezeichnen, in Abrede gestellt werden. Dafs ich auf sie bei 
den obigen Darlegungen zunächst keine Rücksicht genommen 
habe, ist in dem Umstände begründet, dafs sie als Aequivalente 
der „dafs^^-Sätze nur unter besonderen Voraussetzungen brauch- 
bar scheinen, deren Natur erst genauerer Feststellung bedarf. 
„Dafs Frostwetter bevorsteht", kann ich „wahr, selbstverständ- 
lich, einleuchtend" finden und dgl, „das Bevorstehen des Frost- 
wetters" dagegen nicht Es steht zu vermuthen, dafs hier ein- 
gehendere Untersuchung über Wesen und Bedingungen der bei 
diesen Aequivalenten auftretenden Grebrauchs-Einschränkungen 
auch die Einsicht in das Wesen des Objectivs nicht unbeträcht« 
lieh fördern wird : indefs mufs im gegenwärtigen Zusammenhange 
von einer Weiterführung dieser Untersuchungen Abstand ge- 
nommen werden. 

Für die Theorie des Objectivs sind derlei Ausdrücke, in 
denen die Satzform aufgegeben ist, dadurch besonders lehrreich, 
dafs hier Denkgegenstände mit Vorstellungsgegenständen auch 
äufserUch sozusagen auf gleichem Fufs , behandelt auftreten. 
Und vor Allem ist beachtenswerth , dafe'die auf den ersten 
Blick so wohl abgegrenzte Gregensätzlichkeit zwischen Object 
und Objectiv sich dabei in ganz erstaunlicher Weise zu ver- 
mischen droht Zwischen „Tisch" freiUch und „Existenz des 
Tisches" stellt sich die Kluft immer noch recht unüberbrückbar 
dar. Wie aber unterscheidet sich eigentlich „ Verschiedensein " 
von Verschiedenheit, wie „Schwarz-sein" von Schwärze? Und 
sind Verschiedenheit und Schwärze nicht zweifellos Vorstellungs- 
gegenstände, näher jene ein Fundirungs-, diese ein Erfahrungs- 
gegenstand ?^;Falls sie es aber etwa nicht sind, haben wir dann 
folgerichtig nicht in allen Relationen, ja allen durch die soge- 
- nannten Abstracta der Grammatik auszusprechenden Attributen 
eigentlich Objective vor uns? 

Erwägen wir zuerst den Fall der Verschiedenheit, etwa der 
Verschiedenheit zwischen Blau und Grün, allgemein der Relation 
R zwischen Ä und B, Dafs hier B so gut Gegenstand ist wie 
etwa A oder B, wird nicht wohl einem Zweifel unterliegen ; aber 
es handelt sich nicht, um B allein, sondern um B bezogen auf 
seine Glieder Ä und B, und es ist in früherem Zusammenhange - 

^ Vgl. „Ueber Gegenstände höherer Ordnung etc." Zeitschr, f, PsydoL 
21, S. 200 ff. 

« Vgl. Kap. VI, § 31 f. 




Das OhjecHv. 179 

bereits festgestellt worden, dafs diese Verbindung durch das Vor- 
stellen allein nicht zu stiften ist, dafs dazu vielmehr die Mit- 
hülfe des Urtheils oder der Annahme in Anspruch genommen 
werden mufs. Daraus folgt aber dann unmittelbar,- dafs „E 
zwischen A und JB" gar kein Vorstellungsgegenstand, daher, 
wenn es doch ein Gegenstand ist, nur ein Denkgegenstand sein 
kann.^ Ist also „Verschiedenheit zwischen Ä und 5", was kaum 
zu bezweifeln, dasselbe wie „Verschiedensein des Ä und B", 
dann unterUegt, wer es für ein gewöhnUches Vorstellungsobject 
nimmt, einem trügenden Scheine, der näher besehen offenbar 
darauf beruht, dafs man als Bedeutung des Wortes „Verschieden- 
heit^ nur sozusagen das Element R heraushört, dagegen unbe- 
achtet läfst, dafs die Bezugnahme auf A und B ebenfalls in 
diese Bedeutung hineinzurechnen ist. Ein Mifsverständnifs ist 
hier darum besonders leicht möglich, weil für B ohne Ver- 
bindung mit seinen Gliedern ein einigermaafsen deutliches 
Wort nicht leicht zur Verfügung steht: im speciellen Falle 
unseres Beispieles könnte das Adjectiv „verschieden" nur in 
einer gewissermaafsen absoluten Anwendung noch einige Dienste 
leisten, falls es statthaft ist, unsere Relation etwa als „das 
Verschieden" zu bezeichnen. Ohne solche Modification wäre auch 
das Adjectiv „verschieden" undeutUch, da es auch als Aequi-^ 
valent für „verschieden-seiend" verstanden werden könnte. 

Wie steht es nun weiter mit dem grammatischen „Abstrac- 
tum" Schwärze? Dafs es so viel besagt als Schwarz-sein, kann 
wieder niemand bestreiten, und dafs auch dieser Fall im Wesent- 
lichen dem eben dargelegten Gesichtspunkte untersteht, ist nun 
gleichfalls leicht zu erkennen. Sicherer noch als oben in betreff 
der Relation B erkennt man hier einen Vorstellungsgegenstand, 
den Gegenstand der Schwarz-Empfindung. Aber wer etwa von 
Schwärze der Tafel redet, meint jenen Gegenstand wieder nicht 
in seiner Isolirtheit sondern in einer, hier in der Regel nicht 
ausdrücklich namhaft gemachten Relation, etwa Identität mit 
dem Gegenstande Tafel. Das ist also wieder eine jener gegen- 
ständlichen Verbindungen, wie sie durch blofses Vorstellen ohne 
Unterstützung durch das Denken nicht zu Stande zu bringen 
sind. Darum ist auch „Schwärze der Tafel" im Ganzen nicht 
VorsteUungs- sondern Denkgegenstand, indefs das Wort „schwarz", 



^ Vgl. auch oben § 3ß am .Ende. 

12^ 



180 SuAenUs Kapitd, 

zunächst solange es einer Declination nicht unterworfen wird, 
für den vorgegebenen VorsteUungsgegenstand ganz wohl anzu- 
wenden sein mag. Declinirt bedeutet ^jdas Schwarze^ oder dgL 
natürlich wieder so viel wie „das Schwarz-seiende", womit man 
dann neuerlich in das Gebiet der Objective übergegangen ist. 

Was uns Thatsachen dieser Art lehren, ist also nicht, dafs 
Object und Objectiv in diesen substantivischen und adjec- 
tivischen Ausdrücken in einander verschwimmen, sondern dafs 
das Gebiet der Objective erheblich weiter reicht, als man auf 
die blofse Berücksichtigung der „dafs^-Sätze hin glauben könnte. 
Sowohl was man gewöhnhch unter dem Namen der Relationen, 
wie das, was man in der Regel unter dem Namen der Attribute 
begreift, nimmt neben dem Vorstellen stets auch das Denken in 
Anspruch. Sofern aber das Ding seine Attribute in sich fafst, 
also eine Complexion darstellt, die dem Coincidenz-Principe ge- 
mäfs wieder durch eine Relation zusammengehalten wird, so 
erhellt auch sofort, wie wenig Dinge imd Complexionen aus 
ihnen streng genommen durch blofses Vorstellen zu erfassen, 
dafs also auch sie zuletzt den Objectiven beizuzählen sind. Es 
ist dies ein Ergebnifs, dessen umfassende Natur zu der zweifeln- 
den Frage hindrängt, wann man es denn dann eigentUch in der 
Praxis der intellectuellen Thätigkeit einmal nicht mit Objec- 
tiven sondern blos mit Vorstellungsgegenständen zu thun haben 
möchte. Die Antwort darauf ist durch den Erlös der Unter- 
suchungen des vorigen Kapitels^ gegeben. Sieht man von den 
wenigen Fällen ab, wo wirklich Einfaches vorUegt, so wird man 
nur in Fällen voller Anschaulichkeit mit blofsem Vorstellen sein 
Auslangen finden können, und zwar streng genommen bereits 
nicht ohne eine gewisse Ungenauigkeit. Denn wie wir sahen, 
wird durch die anschauliche Vorstellung die betreffende gegen- 
ständliche Complexion eigentlich noch nicht erfafst, sie ist 
aber der eindeutige Vorstellungs-Repräsentant dieser Complexion, 
der sonach die unter Zusammenwirken von Vorstellen und 
Denken zu Stande kommende Conception normalerweise wohl 
ohne jeden Schaden ersetzen kann. Das ändert aber natürlich 
nichts daran, dafs der betreffende Gegenstand seiner Natur nach 
ein Denkgegenstand, also ein Objectiv ist, oder mindestens einem 
wesentlichen Theile nach durch ein solches mitausgemacht wird. 



* Vgl. besonders § 32 f. 



Das ObjecHv. 181 

Am Schlüsse dieser Darlegungen scheint es mir nun noch 
am Platze, auf eine sprachpsychologische Consequenz derselben 
hinzuweisen. Die, wie wir sahen, so zahlreichen Nomina, denen 
nicht Vorstellungs- sondern Denkgegenstände zugeordnet sind, 
machen in betreff der seinerzeit^ urgirten Gegenüberstellung 
von Ausdruck und Bedeutung gewifs keine Ausnahme. Zwar was 
solche Wörter eigentlich ausdrücken, mag noch besonderer 
Feststellung bedürfen, die übrigens in der weiter unten ^ zu beant- 
wortenden Frage nach der Weise, wie wir Objective zu erfassen 
vermögen, von selbst mit einbegriffen sein wird: klar ist aber 
jedenfalls, dafs sie etwas ausdrücken, indefs ihre Bedeutung 
natürlich in dem betreffenden Objectiv gelegen sein mufs. Was 
aber den Wörtern zukommt, wird ihren Aequivalenten nicht 
wohl abzusprechen sein, auch wenn diese Aequivalente nicht 
Wörter, sondern Sätze sind, also etwa insbesondere Sätze mit 
„dafs", mit denen wir im Vorhergehenden so viel zu thun hatten. 
Daraus folgt, dafs, was wir als „Bedeutung" im engeren, sprach- 
psychologischen Sinne kennen gelernt haben, nicht blos einzelnen 
Wörtern resp. Wort-Complexionen, sondern auch gewissen Sätzen 
zukommen mufs, denjenigen nämlich, die auch syntaktisch an 
die Stelle von Wörtern oder Wort-Complexionen treten können. 
Was diese Sätze und ihre Wort-Aequivalente bedeuten, sind 
Gegenstände, wie alle Bedeutungen, aber näher Denkgegenstände. 
Nun kann aber die Bedeutung dieser Sätze doch nicht wohl 
daran gebunden sein, dafs diese Gegenstände die Grundlagen 
neuer Gedankenoperationen abgeben: die neuen Gedanken- 
operationen aber sind es erst, durch die aus sozusagen gewöhn- 
lichen Objectiven Denkgegenstände gemacht werden. Das 
Objectiv wird ja erst Gegenstand, indem etwa ein nachgegebenes 
TJrtheil sich desselben bemächtigt. Der Satz, der ein Urtheil 
ausdrückt, mufs sonach seine Bedeutung haben, mag dann 
ein weiteres Urtheil noch nachgegeben werden oder nicht. Hat 
aber weiter jedes Urtheil und wohl auch^ jeder Satz sein Ob- 
jectiv, so läfst sich ganz allgemein sagen: jeder Satz ist nicht 
nur Ausdruck, sondern er hat auch Bedeutung, und was er be- 



^ Oben Kap. II, § 4 ; übrigens auch Kap. IV, § 20 gegen Ende. 

« Vgl. §44 ff. 

^ Diese Unbestimmtheit beseitigt sich von selbst, sobald auch die 
Annahmen in die Betrachtung einbezogen werden, vgl. die beiden Schlufs- 
paragraphen dieses Kapitels sowie Kap. IX, § 60. 



182 SUbenta Kapitd, 

deutet, ist jederzeit sein Objectiv. Wir werden später sehen, 
dafs die Thatsache nicht ohne sprachpsychologische Wichtig- 
keit ist.^ 

§40. 
Denkgegenstände im Gemüthsleben. 

Wir sind den Objectiven resp. Denkgegenständen bisher nur 
auf dem intellectuellen Gebiete nachgegangen. Es lohnt sich, 
nun auch einen flüchtigen Blick auf das emotionale Gebiet zu 
werfen und sich so von der Wichtigkeit der Rolle zu über- 
zeugen, die dem Objectiv auch dem Fühlen und Begehren 
gegenüber zukommt. Auch hier machen wir am besten bei 
Fällen secundären Ausdruckes den Anfang. 

Was zunächst die Gefühle anlangt, so braucht man bei deren 
secundärem Ausdrucke nach ,, dafs "-Sätzen nicht eben lange zu 
suchen. Bei sinnlichen Gefühlen freilich wird man keine Denk- 
gegenstände erwarten : um so häufiger begegnet man indefs solchen 
schon bei ästhetischen Gefühlen. Völlig natürlich mag etwa Jemand 
mit Bezug auf den ersten Theil von Björnson's Drama „Ueber 
unsere Kraft" sagen: „Es mifsfäUt mir, dafs Pastor Sang dem 
tragischen Ende seiner Frau zuerst nichts entgegenzustellen hat 
als das naive Erstaunen über eine Art Mifsverständnifs". Ebenso 
sind Wendungen wie „es gefällt mir, erhebt mich, rührt mich, 
dafs . . . ." u. dgl. durchaus am Platze. Vor Allem aber mufe 
hier auf die Urtheilsgef üble * hingewiesen werden, und zwar schon 
einigermaafsen auf die Wissensgefühle : wer etwa zu erstem Ein- 
blick in die moderne Mikrobenlehre gelangt, mag leicht finden, 
es interessire ihn, dafs der gegenwärtige Stand des Wissens und 
Könnens in dieser Sache die Vollkommenheit unserer optischen 
Hülfsmittel zur unerläfslichen Voraussetzung habe. Namentlich 
aber drängen sich hier die Werthgefühle der Beachtung auf, die 
ja natürlichst in Wendungen zum Ausdruck gelangen wie „ich 
freue mich, bedauere, fürchte, hoffe, dafs . . . ." etc. Man wird 
hier geradezu behaupten müssen, dafs dem Grundthatbestande 
aller Werthgefühle, der Werthhaltung eine Beziehung zu einem 
Objectiv jederzeit ganz wesentlich anhafte. Werthgefühle sind 



» Vgl. Kap. IX, a. a. 0. 

' Ueber deren BegrifE vgl. meine „Psychologisch -ethischen Unter- 
suchungen zur Werththeorie" S. 31ff., auch Höfler, Psychologie S. 400 ff. 



Das Ohjectiv, 183 

Existenzgefühle: darin liegt eigentlich schon beschlossen, dafs 
das Werthgefühl sich zunächst nicht irgend einem Ding, sondern 
der Existenz dieses Dinges zuwendet, was ganz unverkennbar 
in dem Umstände zur Geltung kommt, dafs dasjenige, worauf 
Werth gelegt wird, statt der Existenz einmal auch Nicht- 
Existenz des betreffenden Dinges sein kann. Man darf sich an 
dieser Einsicht nur nicht dadurch irre machen lassen, dafs beim 
Ausdrucke von Werthhaltungen durchaus nicht immer „dafs"- 
Sätze in Verwendung sind. Ich kann ganz wohl sagen, „ich 
lege Werth auf dieses Buch", wo genauer zu sagen wäre: „ich 
lege Werth darauf, dafs ich dieses Buch besitze" ; und dies ist 
vielleicht nicht einmal blofse Ungenauigkeit, wie bei manchen 
früher erwähnten^ Fällen aus dem Erkenntnifsgebiete. Denn 
es könnte ja ganz wohl sein, dafs das Objectiv dann auch eine 
Relation zwischen seinem Objecte (genauer dem des vorgegebenen 
Urtheils) und dem Werthgefühl stiftet, und dafs, was man ohne 
Unterschied „Werthobject" nennt, ohne genauere Differenzirung 
bald das Objectiv, bald dessen Object bedeutet. In anderen 
Fällen ist es nicht einmal nöthig, diese Möglichkeit* ins Auge zu 
fassen, weil da der „dafs"-Satz nur durch Wendungen ersetzt 
ist, die uns als relativ annehmbare Aequivalente desselben 
bereits bekannt sind. Statt „ich lege den gröfsten Werth darauf, 
dafs meine Schüler selbständig denken", kann ich freilich sagen: 
„ich lege den gröfsten Werth auf das Selbstdenken meiner 
Schüler" oder auch auf deren „Selbständigkeit" oder dgl. Aber 
was bei solcher Redeweise zur Geltung kommt, sind eben jene 
Verbalsubstantive und grammatischen Abstracta, über deren Be* 
deutung wir oben bereits ins Klare gelangt sind.^ Anders steht 
es, wie vielleicht nebenbei bemerkt zu werden verdient, mit 
Wendungen wie „ich liebe, verehre, achte, schätze ihn" u. dgl., 
wo offenbar „dafs"-Constructionen ohne Gewaltsamkeit nicht an- 
zubringen wären. Auch den hier zum Ausdrucke gelangenden 
psychischen Erlebnissen liegen ohne Zweifel Werthgefühle zu 
Grunde: aber gerade die erwähnte AusdruckseigenthümUchkeit 
wird als Hinweis darauf zu beachten sein, dafs es sich da nicht 
nur um Werthgefühle handelt. 

Was eben von den Werthgefühlen dargelegt wurde, gilt 



^ Vgl. den Anfang des vorigen Paragraphen. 
« Vgl. S. 177 f. 



184 Siebmies Kapitel. 

womöglich in noch augenfälligerer Weise von den Begehrungen 
und zwar, so viel ich sehe, von allen Begehrungen. Die viel- 
fach auffällige Analogie zwischen Urtheilen und Begehren kommt 
auch darin zur Geltung, dafs jedes Begehren so gut wie jedes 
Urtheil sein Objectiv hat Wie man nicht urtheilen kann, ohne 
über etwas zu urtheilen, so kann man auch nicht begehren, 
ohne etwas zu begehren, und in diesem Falle heifst dies genauer, 
ohne zu begehren, dafs das betreffende Etwas existirt oder dafs 
es nicht existirt.^ Daneben giebt es auch hier wieder sprach- 
liche Wendungen, denen der „dafs^-Satz fehlt: das Kind verlangt 
den Apfel, der Erwachsene sehnt sich nach Glück u. dgl. Aber 
auch da sind die im Vorhergehenden nun schon mehrfach be- 
währten Interpretationen am Platze. Vor Allem mag es wieder 
oft genug begegnen, dafs der „dafs'^-Satz nur durch eines jener 
Verbalsubstantive resp. grammatischen Abstracta ersetzt ist, die 
uns als Aequivalente jener Sätze bereits ausreichend bekannt 
sind, von Infinitivconstructionen wie „ich wiU das Interesse der 
Gesammtheit nicht aufser Acht lassen" gar nicht zu reden. ^ 
Ist, wie bei den obigen Beispielen vom Kinde und vom Er- 
wachsenen, solche Auffassung ausgeschlossen, so ist dies doch 
keineswegs so zu deuten, als hätte man da Begehrungen ohne 
Objectiv, natürlich vorgegebenes Objectiv, also genauer ein Be- 
gehren ohne Denkobject vor sich. Davon überzeugt man sich 
am Einfachsten durch die Erwägung, dafs ein Begehren, dem 
nur das Vorstellungsobject Apfel oder Glück gegenüberstände, 
für die Praxis noch genau so unbestimmt wäre als so lange erst 
ausgemacht werden müfste, ob es sich um Begehren oder Wider- 
streben, specieller also etwa um „velle" oder „noUe", Wollen 
oder, wie man als Gegensatz dazu ungenau sagt, Nicht- Wollen 
handle. Ich meine nämlich zwar durchaus nicht, dafs etwa 



^ Vgl. auch Ehrenfbls, „System der Werththeorie", Bd. I, S. 53 unten. 
Ich betone die Uebereinstimmung in dieser wichtigen Sache um so lieber, 
als ich weiter unten gezwungen sein werde, bei Divergenzen in betreff 
anderer Punkte der Begehrungstheorie länger zu verweilen. 

* Eine Art Widerspiel zu den fehlenden „dafs" -Sätzen machen die 
Fälle aus, wo solche Sätze oder etwas ihnen ausreichend Aehnliches zwar 
vorliegt, das Begehren aber den Worten nach ganz verschwiegen bleibt und 
nur aus der Construction, genauer aus der Verbindung unseres abhängigen 
Satzes mit einem zunächst etwas ganz Anderes als das Begehren aas- 
sprechenden Hauptsatze erkannt werden kann. So verhält es sich bei 
finalen Wendungen mit „auf dafs", „damit" u. dgl. 



Das ObßcHv, 185 

jedes Widerstreben als Wollen einer Nicht-Existenz aufzufassen 
wäre ^ : das Widerstreben ist dem Streben oder Begehren gegenüber 
so qualitativ verschieden, d. h. ebenso entgegengesetzt und quali- 
tativ eigenartig, wie Unlust gegenüber Lust, oder Negation 
gegenüber Affirmation. SoDte aber die Aussage „ich begehre X" 
gar nichts Anderes auszudrücken haben als ein Begehren, das 
auf X als seinen Gegenstand bezogen ist, dann kann sie ebenso- 
wohl besagen, dafs es dem Begehrenden um die Existenz, 
wie dafs es ihm um die Nicht -Existenz des X zu thun sei: 
in beiden Fällen ist das Begehren auf X als seinen Gegen- 
stand bezogen; das eine Mal aber käme dabei ein Thatbestand 
zum Vorschein, der mit einem gleichfalls auf das X bezogenen 
Widerstreben seiner praktischen Bedeutung, wenn auch nicht 
seinem psychologischen Wesen nach zusammenfiele. Kurz, ist 
die Wendung „ich begehre X" in der Regel nicht mifsverständ- 
lich, so ist das im Grunde nur dem besonderen Sprachgebrauche 
beizumessen. Streng genommen müfste jedesmal ganz ebenso 
bestimmt werden, ob das Begehren auf die Existenz oder die 
Nicht-Existenz des X gerichtet ist, wie es ins Reine gebracht 
sein mufs, ob das Begehren sozusagen positives oder negatives 
Vorzeichen hat. 

So gewifs das hier Skizzirte einer genaueren Durcharbeitung 
noch in hohem Maafse bedürftig ist, so sicher ist doch damit 
dargethan, dafs die secundären Ausdrücke für Gefühle und Be- 
gehrungen nicht minder deutlich auf Denkgegenstände hinweisen 
als die secundären Urtheil sausdrücke. Und ganz in ähnlicher 
Weise wie beim Urtheil wären nun auch bei Gefühl und Be- 
gehrung die auf sie sich beziehenden Attribute namhaft zu 
machen, die den betreffenden Objectiven zuerkannt werden. 



^ Gegen Ehebnfels, insbesondere in der Vierteljahrsschrift f. wissensch. 
Philosophie, Jahrgang 1899, S. 278 ff., dessen Ausführungen gegenüber ich 
meine Positionen in den „Psychologisch -ethischen Untersuchungen zur 
Werththeorie" S. 123 aufrecht erhalten mufs ; vgl. nunmehr auch H. Schwakz, 
„Psychologie des Willens", Leipzig 1900, S 160 ff. Nicht einmal in dem 
von Ehbenfels (a. a. O. S. 280 f.) als besonders schlagend angesprochenen 
Falle des Begehrens nach einem Gegenmittel kann ich einsehen, dafs 
man da ein Begehren nach Nichtsein vor sich haben müfste, so dafs ein 
Widerstreben gegen das Sein ausgeschlossen wäre. Begehren nach einem 
Zweck motivirt Begehren nach den Mitteln und Widerstreben gegen die 
Hindemisse : warum sollte nicht Widerstreben gegen den Zweck nebst dem 
Widerstreben gegen die Mittel auch Begehren der Hindernisse motiviren? 



186 Siebentes Kapitel 

ffEs ist schön, erfreulich, bedauerlich, verdriefslieh, interessant, 
werthvoll, wichtig, dafs . . . .^ etc. „Es ist gerathen, geboten, 
willkürlich, unabweislich, dafs . . . / etc. Es braucht kaum bei- 
gefügt zu werden, dafs die erste der eben angeführten Gruppen 
von Ausdrücken dem Gefühls-, die zweite dem Begehrungs- 
gebiete angehört: auf dem letzteren Gebiete scheinen hierher- 
gehörige Attribute resp. Adjective im Ganzen weniger leicht auf- 
findbar zu sein. Auch nach Relationen wird man nicht vergebens 
suchen: dafür bürgt schon die Thatsache, dafs gleich meiner 
Ueberzeugung auch meine Freude oder Trauer, und dann ebenso 
meine Entschliefsung „den Grund haben kann, dafs . . . .^. Ich 
mufs darauf verzichten hier in der Einzelbetrachtung noch 
weiter zu gehen. 

§ 41. 
Allgemeines über die Beschaffenheit der Objective. 

Aus Anlafs des mehr der Kürze als theoretischer Strenge 
dienenden Sprachgebrauches, von Gegenständen zu reden, die 
„in meiner Vorstellung" oder natürlich auch „in meinem Urtheile" 
existiren u. dgl., habe ich an anderem Orte den Begriff der 
Pseudoexistenz von Gegenständen gebildet^ Dafs er auf Ob- 
jective anwendbar ist, ergiebt schon der Umstand, dafs Objective 
Denkgegenstände sein können, und ich kann nunmehr von dem 
bisher über Objective Dargelegten zusammenfassend sagen, dafe 
dieselben ausschliefslich unter dem Gesichtspunkte der Pseudo- 
existenz behandelt worden sind, d. h. dafs bisher von den ver- 
schiedenen psychischen Thatsachen die Rede war, sofern sie 
Objective „haben". Nun scheint mir aber denn doch eine erste 
Bearbeitung des Objectivs den Thatsachen, für deren Anerkennung 
sie eben erst eintreten mufs, allzu wenig gerecht zu werden, 
wenn nicht auch, wenigstens in aller Kürze, von den Ob- 
jectiven selbst gehandelt würde. So will ich, obwohl dies mit 
Rücksicht auf das Hauptthema dieser Schrift kaum für ein 
unentbehrliches Erfordernifs gelten könnte, hier, bevor ich die 
Beziehungen zwischen Objectiven und Annahmen darlege und 
dadurch die Stellung des gegenwärtigen Kapitels erst legitimire» 
noch etwas zur allgemeinen Charakteristik des Objectivs beizu- 
tragen, und dann die wichtigsten Fälle von Objectiven zusammen- 



^ Vgl. „lieber Gegenstände höherer Ordnung etc." a. a. 0. S. 186 f. 






Das Objectiv. 187 

zustellen versuchen. Die nachträgliche Würdigung einer der 
ganzen Position vom Objectiv anscheinend anhaftenden Schwierig- 
keit mag die dem Objectiv sozusagen um seiner selbst willen 
gewidmeten Ausführungen beschliefsen. 

Vor Allem also: Kann man in betreff der Objective etwas 
ebenso Allgemeines wie über ihr Verhältnifs zum Urtheil auch 
über ihre Beschaffenheit ausmachen ? Mir ist in dieser Hinsicht 
vorerst nur zweierlei deutlich. Vor Allem die Thatsache, dafs 
die Objective durchaus den Charakter von Gegenständen höherer 
Ordnung an sich tragen, die sich normalerweise auf Vorstellungs- 
gegenständen als Inferioren aufbauen : aufserhalb dieser „Norm" 
stehen dann natürlich bereits die Fälle, wo über Denkgegen- 
stände geurtheilt wird; denn auch solche Urtheile haben ihre 
Objective, für die dann die bezüglichen beurtheilten Denkgegen- 
stände die Inferiora abgeben. Dafs für Objective der Typus der 
Coniplexion und der Relation so gut seine Bedeutung hat wie 
sonst bei Gegenständen höherer Ordnung, ist schon aus Früherem ^ 
ersichtlich geworden. 

Das Zweite, worauf allgemein hingewiesen werden kann, ist 
die Stellung, die den Denkgegenständen in der alles Seiende 
umfassenden Gegensätzlichkeit von Dasein und Bestand ^ zu- 
kommt. „Dafs Ä existirt" oder auch „dafs es nicht existirt", 
das „besteht", falls das vorgegebene Urtheil mit Recht gefällt 
werden durfte, aber es existirt nicht sozusagen noch einmal. 
Ganz das Nämliche wäre natürlich vollends von Objectiven zu 
sagen, denen schon Bestandurtheile vorgegeben waren: „dafs 3 
gröfser als 2" oder auch „dafs Krumm nicht Gerade ist", das 
kann gleichfalls nur „bestehen", nicht aber existiren. In gleicher 
Weise wird dann natürlich auch von Objectiven falscher Urtheile 
nicht etwa zunächst Existenz, sondern stets nur Bestand zu 
negiren sein, was dann freilich das Recht zur Existenznegation 
jedesmal mit implicirt, immerhin zu einer insofern nichtssagenden, 
als sie von Allem gilt, das von Natur aus höchstens be- 
stehen kann, nicht aber existiren, weil es eben ein idealer Gegen- 
stand ist. Es wäre nichts als ein Seitenstück zu einer Behaup- 
tung wie der, dafs Gleichheit zwischen 2 und 3 nicht existire, 
was ohne Zweifel richtig, aber darum gar nicht charakteristisch 



^ Vgl. oben § .S6 am Ende. 

* Vgl. „üeber Gegenstände höherer Ordnung etc." a. a. O. S. 186. 



188 Siebentes Kapitel, 

ist, weil die Verschiedenheit zwischen 2 und 3 oder etwa auch 
die Gleichheit zwischen 2 und 2 ^ ebenso wenig „existirt", da sie 
eben nur bestehen kann. 

Eines scheint an der hiermit gegebenen Bestimmung auf- 
fallend. Die Verschiedenheit, die zwischen Grün und (Jelb be- 
steht, besteht nothwendig; die Gleichheit, die zwischen Grün 
und Gelb nicht besteht, besteht nothwendig nicht: ebenso ver- 
hält es sich auch sonst ausnahmslos auf dem Gebiete des Idealen. 
Kann ich aber ebenso sagen : ^^dafs jetzt die Sonne scheint oder 
dafs es jetzt nicht regnet, ist nothwendig" ? Es unterliegt keinem 
Zweifel , dafs ich das nicht kann - : aber was daraus folgt, ist 
eben nur dies, dafs Fälle von Bestand oder Nicht-Bestand zwar 
häufig, doch keineswegs immer auch Fälle von Nothwendigkeit 
sind. Nothwendigkeit ist, wie noch zu zeigen sein wird, eine 
Eigenschaft, die sich streng genommen überhaupt nur an Ob- 
jectiven vorfindet: dafs auch Gleichheit und Verschiedenheit in 
den angeführten Beispielen in gewissem Sinne Objective sind, 
ist wie oben berührt* uns bereits in früherem Zusammenhange 
klar geworden. Die Eigenschaft, nothwendig zu sein, kommt 
aber den betreffenden Objectiven zu im Hinblick ^uf gewisse 
Eigenschaften am vorgegebenen Urtheile, die keineswegs allemal 
anzutreffen sind. Eben darum eignet jedoch die Nothwendig- 
keit nicht allen Objectiven, die vielmehr auch dem Gegentheil 
der Nothwendigkeit, der Zufälligkeit, Raum bieten, ohne dafs 
danun Fälle letzterer Art mit weniger Recht als Fälle von Be- 
stand oder Nicht-Bestand in Anspruch zu nehmen wären. 

^ Dafs im Grunde auch in Fällen dieser Art Objective mitbetheiligt 
sind, hat sich oben ergeben (vgl. 8. 178 ff.). Wir wissen aber auch, warum 
es gleichwohl nicht etwa fehlerhaft, weil nichtssagend ist, hier solche Bei- 
spiele zum Vergleich heranzuziehen. 

* An Nothwendigkeit fehlt es freilich auch hier nicht, sofern jedes 
Existirende seine Ursache hat; aber diese Nothwendigkeit kommt dem 
Existirenden nur zu im Hinblick eben auf seine Ursache und nicht für 
sich allein. Immerhin ist auffallend, dafs hier die Beschaffenheit des Ob- 
jectivs gewissermaafsen von der Beschaffenheit des psychischen Vorganges 
abhängig gemacht erscheint, der mehr oder minder zufällig dem Erfassen 
des Objectivs dient; allein bei Attributen wie „wahrscheinlich", „unglaub- 
lich" steht es am Ende auch nicht wesentlich anders. Ohne Zweifel verrath 
sich hierin eine der Untersuchung noch in ganz besonderem MaaTse be- 
dürftige Seite der Lehre vom Objectiv, und ich möchte an dieser Stelle 
wenigstens nicht unterlassen haben, darauf hinzuweisen. 

* Vgl. die erste Anmerkung dieser Seite. 



Das Ohjectiv. 189 

Bestände unterscheiden sich von Existenzen unter Anderem 
auch darin, dafs sie an keine Zeitbestimmung gebunden, in 
diesem Sinne ewig oder besser zeitlos sind. Das gilt natürlich 
auch vom Objectiv. Mein Schreibtisch ist ein zu bestimmter 
Zeit existirendes Ding: dafs er aber jetzt existirt, das besteht 
jetzt wie in alle Zukunft und Vergangenheit, obgleich es dem 
Wissen der vergangenen Zeiten unzugänglich war und dem der 
künftigen entschwunden sein wird. Es ist nicht weniger zeitlos, 
als dafs etwa der rechte Winkel gröfser ist als der spitze.^ 

Ein Objectiv, das besteht, wird auch als „Thatsache^ be- 
zeichnet. Mein Schreibtisch, von dem eben die Rede war, ist 
ohne Künstlichkeit nicht gut selbst als Thatsache namhaft zu 
machen: dafs er aber vor mir steht, das ist Thatsache. Auch 
wer es als Thatsache bezeichnet, dafs 2 kleiner als 3 ist, drückt 
sich nicht geradezu sprachwidrig aus: aber man merkt an 
diesem Beispiel leicht, dafs als „Thatsachen" doch zunächst nur 
solche Objective zu gelten haben, deren vorgegebene Urtheile 
empirischen Charakters sind. So maafsgebend ist dieser Ge- 
sichtspunkt, daXs sich unter demselben sogar die Schranke 
zwischen Objectiv und Object terminologisch überspringen läfst, 
indem man Erfahrbares ganz allgemein als Thatsache bezeichnet, 
wenn es auch nicht Objectiv ist. Muskelcontraction eine physische. 
Wollen eine psychische Thatsache zu nennen, ist meinem Ge- 
fühle nach völlig sprachgemäfs. Vielleicht hängt dieses Schwanken 
in der Bedeutung damit zusammen, dafs, wie wir gesehen haben, 
die Grenzen zwischen Object und Objectiv auch sonst in vielen 
Wortbedeutungen gar nicht sehr bestimmt gezogen sind®, mög- 
lich auch, dafs ' eigentlich doch der Tisch, der Muskel u. s. f., 
kurz die erfahrbaren Objecte die eigentlichen „Thatsachen" sind, 
und den auf sie gestellten Objectiven darauf hin zunächst „That- 
sächlichkeit" zugeschrieben wird, so dafs das Wort „Thatsache" 
in seiner Anwendung auf Objective nicht ganz dasselbe be- 
deutete wie in seiner Anwendung auf Objecte. Es dürfte von 
der Weiterentwickelung der Lehre vom Objectiv abhängen, ob 
in dieser ganzen Sache eine unter theoretischen Gesichtspunkten 



^ Den „überzeitlichen Charakter der Wahrheit" betont sonach mit 
Recht auch G. Ufhues in seinen während der Niederschrift dieser Aus- 
führungen in meine Hände gelangten „Grundzügen der Erkenntnifstheorie", 
Osterwieck a. H. 1901, S. 3. 

« Vgl. oben S. 178 fl. 



190 SMmtu KapUd. 

vorzunehmende Correctur des Sprachgebrauches angemessen sein 
möchte. Ueber die auf das Allgemeine an den Objectiven ge: 
richtete Fragestellung des gegenwärtigen Paragraphen sind wir 
jedenfalls bereits hinausgegangen, da ja die in Rede stehende 
Thatsächlichkeit wenigstens denjenigen Objectiven nicht mehr 
zugeschrieben werden kann, die den Gregenstand einer berech- 
tigten Semsnegation abgeben können. Das Objectiv, „dafe es 
ein Perpetuum mobile giebt", ist eben keine Thatsache. 

Uebrigens aber wird es sich empfehlen, den im Obigen in 
der That bereits betretenen Weg ins Speciellere nun noch ein 
paar Schritte weit zu verfolgen. Es liegt nahe, sich zu diesem 
Zwecke wieder zimächst an das Zeugnifs der Sprache zu halten, 
von der wir ja bereits ausreichend erprobt haben, dafs sie uns 
namentlich in den „dafs^^-Sätzen einen sehr auffallenden Hin- 
weis auf Objective darbietet. FreiUch macht, wie wir wissen, 
sich an jedem Satze ein Objectiv als dessen Bedeutung geltend: 
es ist aber nach Früherem selbstverständlich, dafs Objective 
uns dort sprachUch besonders charakterisirt entgegentreten werden, 
wo sich das Denken des Redenden dem Objective als seinem 
Oegenstand zuwendet, dort also, wo die Objective zugleich Denk- 
gegenstände sind. 

§42. 

Specielleres über Objective, ihre Eigenschaften 

und Relationen. 

Wer im Allgemeinen weifs, was ein Vorstellungsgegenstand 
ist, mag sich leicht vor die Frage gestellt finden, welcher Art 
und näheren Beschaffenheit derlei Gegenstände wohl sein möchten, 
um sich dann freilich durch die grofse Mannigfaltigkeit des hier 
Anzutreffenden vielleicht vom Versuche einer Aufzählung ab- 
schrecken zu lassen. Bei den Objectiven ist die analoge Frage 
nicht minder loyal, und deren Beantwortung durch die relativ 
grofse Einförmigkeit dessen, was da in Betracht kommt, jed^a- 
faUs erheblich erleichtert In dieser Einförmigkeit verräth sieh 
neuerlich die eben erst berührte Wesensverwandtschaft der Ob- 
jective mit dem, was uns sonst an Oegenständen höherer Ordnung 
bekannt ist ; für Mannigfaltigkeit sorgen die den betreffenden Ob- 
jectiven zugehörigen Vorstellungsgegenstände. Und wie Letztere 
durch die Mannigfaltigkeit der ihnen zugeordneten Vorstellungs- 
inhalte oder, was dasselbe ist, durch die Mannigfaltigkeit in der 



Das Objectiv, 191 

Beschaffenheit der jene Gegenstände erfassenden Vorstellungen 
sozusagen repräsentirt sind, so entspricht die innerhalb aus- 
reichend enger Grenzen ja doch sich darbietende Mannigfaltig- 
keit in der Beschaffenheit der Objective den verschiedenen Be- 
schaffenheiten der sie erfassenden Urtheile. 

Da es sich beim gegenwärtigen Stande meines Wissens um 
das Objectiv nur um den ganz vorläufigen Versuch eines ersten 
Ueberblickes über das Thatsachenmaterial handeln kann imd 
bei Weitem nicht bereits um dessen theoretische Verarbeitung, 
so mag es auch nicht allzu beiläufig sein, wenn ich vor Allem 
darauf hinweise, dafs jener kategoriale Gegensatz, den man am 
besten als den zwischen dem Dinge und seinen Eigenschaften 
kennt, bei den Objectiven besonders deutlich heraustritt, indem 
sich von den Gedanken an Objective die Gedanken an Eigen- 
schaften von Objectiven, welche die ersteren zu determiniren im 
Stande sind, deutlich absondern. 

An Objectiven giebt es,* so viel ich sehe, im Grunde nur 
zweierlei, entsprechend dem, was ich oben^ die thetische und 
synthetische Function des Urtheils genannt habe, nämlich die 
beiden Fälle: „dafs Ä ist" und „dafs A B ist" oder, wie man 
dafür kürzer und wohl auch immer noch verständlich sagen 
könnte: Sein und Sosein, — die contradictorischen Gegentheile, 
Nicht-Sein und Nicht-Sosein natürlich mitgerechnet. Beim Sein 
ist dann im Sinne meiner Aufstellungen an anderem Orte '^ 
Dasein oder Existenz dem Bestände gegenüberzustellen, so dafs 
man im Ganzen auch dreierlei Objective: Dasein, Bestand und 
Sosein unterscheiden könnte. Ueberall steht dem Affirmations- 
objectiv das entsprechende Negationsobjectiv zur Seite. 

Bei der Aufzählung der Differentiationen oder Eigenschaften, 
denen jede dieser Objectivclassen zugänglich ist, sei der Ein- 
fachheit wegen als Vertreter dieser Classen das affirmative 
Seins-Objectiv „dafs A ist" benutzt. Die Differentiationen selbst 
aber ergeben sich einfachst imter Berücksichtigung der charak- 
teristischen Momente an dem sie erfassenden Urtheil, dessen 
Eigenschaften unter Umständen, wie wir übrigens bereits wieder- 
holt gesehen haben, dem Objectiv kurzweg als Eigenschaften 
prädicirt werden können. 



» Vgl. Kap. VI, § 34. 

• „TJeber Gegenstände höherer Ordnung etc." a. a. O. 8. 186. 



192 8iebente$ Kapitel. 

Das nächstliegende Beispiel hierfür bietet der Gegensatz von 
Gewifsheit und Ungewifsbeit, in dem der Intensitätsgrad des 
ürtheils zur Geltung kommt. „Dafs A ist", etwas minder unge- 
zwungen auch „das Sein des A'^ ist entweder gewifs oder unge- 
wifs, und das Sprachgefühl läfst unentschieden, ob diese Aus- 
drücke sich natürlicher auf das Objectiv oder auf den es erfassen- 
den Denkact beziehen. Bemerkenswerth ist übrigens, dafs in 
manchen sprachlichen Wendungen Gewifsheit und deren G^gen- 
theil auch von Vorstellungsobjecten ausgesagt erscheint: man 
redet von „ungewisser Zukunft" gegenüber „gewisser Gegen- 
wart" u. dgl. 

Vor Allem wichtig ist hier der Thatbestand der Evidenz. 
Dafs auch sie sich nicht nur vom Urtheil, sondern auch vom 
Objectiv prädiciren läfst, wurde schon berührt: noch lieber und 
natürlicher aber wird man das durch ein evident gewisses Urtheil 
erfaXste Objectiv wahr, das durch evident ungewisses Urtheil 
erfafste wahrscheinlich nennen. Dafs man solange vergebens 
nach dem Gegenstande gesucht hat, dem sich Wahrheit 
(cum grano saus aber auch Wahrscheinlichkeit) in wirklich 
strenger Correctheit attribuiren läfst, hat seine Ursache eben 
darin, dafs die Objective dabei immer aufser Betracht blieben. 
Selbst in betreff des Wortes „Erkenntnifs" scheint mir die Frage, 
ob dasselbe wirklich das evidente Urtheil und nicht vielmehr 
das durch dieses zu erfassende Objectiv meint, sehr erwägens- 
werth: im letzteren Falle ist dann Erkenntnifstheorie schon 
etymologisch nichts Anderes als die Theorie gewisser Objective. 

Ist dem Wahren naturgemäfs das Falsche entgegengesetzt, 
so darf es bUlig befremden, dafs die Charakteristik des Letzteren 
auf ein dem als falsch qualificirten Objectiv nachgegebenes 
Urtheil zurückgeht, indefs wir beim Wahren einfachst auf dessen 
vorgegebenes Urtheil angewiesen waren. „Dafs Ä ist" wird 
dann mit Recht als falsch zu bezeichnen sein, wenn eine Evidenz 
der Gewifsheit dafür vorliegt, dafs A nicht ist. Aber man könnte 
kaum verstehen, warum, was sonach eigentlich auf das Objectiv 
„dafs A nicht ist" Bezug hat, von dem ihm qualitativ entgegen- 
gesetzten Objective „dafs A ist" ausgesagt wird. Was wirklich 
vom letztgenannten Objectiv gilt, d. h. was Evidenz der Gewifs- 
heit für sich hat, ist das Urtheil: „es ist nicht, dafs A ist^, ein 
uns wohlbekanntes, unserem Ausgangsobjectiv aber nachge- 
gebenes Urtheil. Die Evidenz dieses Ürtheils also wird als 



Das ObjecHv, 193 

Falschheit von dem ihm vorgegebenen Objectiv ausgesagt. Mög- 
lich ist es nun natürlich auch, für die Wahrheit eine analoge, 
d. i. von einem nachgegebenen Urtheil genommene Bestimmung 
festzustellen, von der für die Falschheit nur dadurch unter- 
schieden, dafs das nachgegebene Seins-Urtheil diesmal affirmativ 
statt negativ sein müfste. Liegt Evidenz vor für das Urtheil: 
„es ist, dafs A ist", dann ist, dafs Ä ist, natürlich ebenfalls 
wahr. Die Evidenz wird aber vorliegen, wenn das Urtheil, dafs 
A ist, d. h. das unserem Objectiv vorgegebene Urtheil, evident 
ist. Praktisch kommt also die Bestimmung der Wahrheit durch 
ein nachgegebenes Urtheil auf dasselbe hinaus wie die durch 
das vorgegebene; sie ist nur complicirter, und man hat sich 
eben zu entscheiden, ob diese Complication für die dadurch 
erreichte Analogie zwischen Wahr und Falsch nicht ein allzu 
grofses Opfer ist. 

Eine ganz eigenthümliche Specification erfahren die wahren 
Objective (oder vielleicht noch genauer die Wahrheit gewisser 
Objective) vermöge des Umstandes, dafs es Urtheile giebt, bei 
denen der „Hinblick" auf ihre Gegenstände ganz in ähnUcher 
Weise zur unmittelbaren Evidenz führt, wie gemäfs früheren 
Feststellungen ^ der „Hinblick" auf evidente Prämissen die mittel- 
bare Evidenz der Conclusion im Gefolge hat. flierin liegt, worauf 
an dieser Stelle freüich nicht näher eingegangen werden kann, das 
Wesen jener erkenntnifstheoretisch so fundamentalen Eigenschaft 
gewisser evidenter Urtheile, die man längst unter der im Grunde 
wenig glücklichen, darum auch oft genug mifsverstandenen *, 
gleichwohl heute durch keinen geeigneteren Terminus mehr zu 
ersetzenden Bezeichnung des Apriori zusammenzufassen sich ge- 
wöhnt hat: ein Objectiv aber, dessen vorgegebenes Urtheil im 
eben angegebenen Sinne a priori evident ist, heifst nothwendig. 
In gleicher Weise wird ein Objectiv, dessen Sein durch ein 
(natürlich nachgegebenes) Urtheil mit apriorischer Evidenz negirt 
werden kann, unmöglich heifsen. Wer aber hier wieder Noth- 
wendigkeit und Unmöglichkeit in betrefE ihrer Ableitung auf 
Eine Linie stellen will, kann bezüglich der Nothwendigkeit ganz 



1 Vgl. oben Kap. IV, § 15. 

* Vgl. Ubberweg, Logik, 4. Aufl., S. 181 ff., auch desselben Autors Ueber- 
setzung von Berkeley's „Abhandlung über die Principien der menschlichen 
Erkenntnifs", Berlin 1869, S. 120. 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. U. 13 



194 Siebentes Kapitel. 

80 wie oben in betreff der Wahrheit den Umweg über das nach- 
gegebene Urtheil einschlagen, indem er für die Nothwendigkeit 
die apriorische Evidenz dafür maaTsgebend sein läXst, dafs das 
fragliche Objectiy ist. Im Formelbeispiele also: DsSb A ist, ist 
noüi wendig, sofern das Urtheil „A ist^ a priori einleuchtet; dafs 
A ist, ist unmögUch, falls für das Urtheil „es ist nicht, dafs Ä 
ist^ apriorische Einsicht vorliegt : will man aber Nothwendigkeit 
ganz analog zu Unmöglichkeit bestimmen, so mufs man die 
Nothwendigkeit, dafs A ist, auf die apriorische Evidenz stützen, 
die dann dem Urtheile „es ist, dafs A ist" zukommt — Fehlt 
hingegen den Urtheilen, deren apriorische Evidenz die Noth- 
wendigkeit resp. Unmöglichkeit der betreffenden Objective con- 
stituiren würde, eben diese Evidenz, so hat man Objective vor 
sich, denen in gleichfalls herkömmlicher Weise Zufälligkeit resp. 
Möglichkeit nachzusagen ist 

Wie man sieht, sind es Gedanken von ganz eminenter Er- 
kenntnifsdignität, denen so ihr Platz im Gebiete der Objective 
angewiesen erscheint Die Probe für die Hierhergehörigkeit 
der aufgezählten Begriffe ist immer daran zu machen, dais 
die betreffenden Termini auf Substantiva, die Vorstellungs- 
gegenstände benennen, unanwendbar sind, dagegen mit „dafs- 
Sätzen^ und der^n uns ja bereits einiger maafsen bekannten 
Aequivalenten zwanglos verbunden werden können. Ein Tisch 
kann nicht wahr, ein Sessel nicht nothwendig sein, wohl aber 
ist es wahr, „dafs" es viel Leid in der Welt giebt, nothwendig, 
„dafs" der ununterstützte Stein fällt u. dgl. Nur etwa bei Mög- 
hchkeit und Unmöglichkeit ist der Sprachgebrauch etwas un- 
sicher, vielleicht durch die bisherige Vernachlässigung des Ob- 
jectivs unsicher gemacht Das Bild von der Erkenntnifsbedeutung 
des Objectivs erfährt indefs noch eine wesentUehe Bereicherung 
durch Heranziehung der Fälle, in denen Objective die Glieder 
für Relationen abgeben, die auf sie gebaut sind. Hierher gehört 
insbesondere Verträglichkeit und Unverträglichkeit, die man 
wohl auch nur mit ' dem Gefühle mehr oder minder tolerirter 
Ungenauigkeit Vorstellungsgegenständen nachsagen mag. Rund 
und Viereckig nennt man freilich unverträglich, wird jedoch kaum 
Bedenken tragen, darin einen abgekürzten Ausdruck etwa dafür 
anzuerkennen, es sei unverträglich, dafs etwas rimd imd dafs 
dasselbe auch viereckig sei od. dgl. Vor Allem wichtig sind hier 
aber die Zusammenhangsrelationen, zunächst die „Wenn"- und 



Das Ol^ectiv. 195 

„Weil"-Relationen, mit denen wir uns oben^ etwas genauer be- 
schäftigt haben, so dafs nun über den wesentlichen Antheil der 
Objectiye als des darin zunächst in Relation Stehenden sicher 
kein Zweifel mehr aufkommt Dafs diese Relationen dann 
eventuell noch eine Art üebertragimg vom Objectiv auf dessen 
Object gestatten, derzufolge etwa A als Ursache, B als Wirkimg 
bezeichnet werden kann, vermag an der Bedeutung des Ob- 
jectivs auch für diese Relationen nichts zu ändern: nur würde 
es an dieser Stelle viel zu weit führen, in das der Durcharbeitung 
zum Theil noch sehr bedürftige Detail dieser relationstheoretischen 
Fragen näher einzugehen. 

UeberbHcken wir sonach das Gesammtgebiet dessen, was 
dem Dargelegten zufolge unter den Gesichtspunkt des Objectivs 
fällt, so mag der obige Hinweis auf die ErkenntniTsdignität 
des Hierhergehörigen weit eher zu wenig als zu viel be- 
sagen. Denn es kann nun kaum mehr ein Zweifel darüber 
aufkommen, dafs das der Erkenntnifstheorie resp. Logik eigen- 
thümliche Thatsachengebiet ganz und gar in die Sphäre des Ob- 
jectivs einzuordnen ist. Darauf ausdrücklich hinzuweisen, hat 
für denjenigen besonderen Werth, dem es darum zu thun ist, 
sozusagen den Gewinn einigermaafsen abzuschätzen, der aus 
der durch das Bisherige hofEentlich angebahnten ausdrücklichen 
Würdigung der Thatsache des Objectivs erwächst. Denn durch 
diese Würdigung beseitigt sich die im Grunde so seltsame 
Schwierigkeit, die sich bei der Frage nach dem für Erkenntnifs- 
theorie und Logik charakteristischen Untersuchungsgebiet so- 
lange Zeit auch für denjenigen nicht wollte überwinden lassen, 
der für das Vorhandensein einer solchen charakterisirenden 
Eigenartigkeit aus dem Betriebe dieser Disciplinen heraus ein 
ausreichend deutliches Gefühl gewonnen hatte.* Immerhin war 
bei der Logik noch eine gewisse Aussicht ofEen, ihre Sonder- 
stellung auf ihre Natur als praktische Disciplin zu gründen ; bei 
der Erkenntnifstheorie aber versagte selbst dieses, wenn auch 
noch so precäre^uskunftsmittel. Und da die Erkenntnifslehre am 
Ende doch nicht wohl die Lehre von den unter die verschiedensten 
Wissenschaften aufgetheilten Gegenständen des Erkennens, wie 
Thieren und Pflanzen, organischem und unorganischem Ge- 



1 Vgl. Kap. IV. 

* Vgl. E. HussEBL, „Logische Untersuchungen", Bd. I, bes. S. 58 ff. 

13* 



196 Siebentes Kapitel. 

schehen etc. etc. sein konnte, so schien wirklich nichts Anderes 
übrig zu bleiben als eben das Erkennen, ein psychisches Ge- 
schehen also, womit dann die Erkenntnifstheorie zu einem 
Kapitel der Psychologie gemacht war, — jener „Psychologismus" 
sonach, gegen den gerade in allerjüngster Zeit in besonders nach- 
drückUcher und, so viel ich sehe, allem Wesentlichen nach durch- 
aus zutreffender Weise Einsprache erhoben worden ist.^ 

Die Sachlage verändert sich natürlich wesentlich, sofern sich 
herausstellt, dafs einem ganzen weiten Thatsachengebiete bisher 
gewissermaafsen die officielle Anerkennung versagt war: es ist 
das Gebiet, in dem, wie wir sahen, Wahrheit, Noth wendigkeit, 
Verträglichkeit, Grund und Folge etc. sozusagen heimatsberechtigt 
sind, all das also, mit dem es die Erkenntnifstheorie stets in erster 
Linie zu thun gehabt hat. Darf ich hier eine oben bereits 
vorübergehend versuchte Interpretation des Wortes „Erkenntnifs" 
urgiren, so kann auch gesagt werden : Erkenntnifstheorie ist eben 
zunächst Theorie der Erkenntnifs und nicht Theorie des Er- 
kennens. Natürlich soll damit aber keineswegs in Abrede ge- 
stellt werden, dafs Erkenntnifstheorie und vollends Logik auch 
Theorie des Erkennens sein mufs ; insbesondere soll damit keines- 
wegs behauptet sein, dafs diese anders als auf psychologischer Basis 
zu einer gesunden Theorie der Erkenntnifs werden könne. In 
diesem Sinne habe ich von dem, was ich vor Jahren über die 
grundlegende und namentlich alle philosophischen Disciplinen 
verbindende Position der Psychologie ausgeführt habe ^, auch 
heute nichts zurückzunehmen, in diesem Sinne auch nichts gegen 
die Einordnung meiner Arbeitsrichtung unter den Titel „Psycho- 
logismus".* Umsomehr allerdings gegen die Subsumtion meines 
erkenntnifstheoretischen Standpunktes unter den „Psychologis- 
mus" in Husserl's Sinn, dessen wohl implicite auch gegen mich 
gerichtete Polemik* auf ein gleichviel durch wen veranlafstes 
Mifsverständnifs zurückgeht. Dafs Erkenntnifstheorie nichts als 
ein Kapitel Psychologie sei, habe ich zu keiner Zeit gemeint; 
und die Ausnahmestellung der Evidenz schien mir nie durch 



^ HussERL, a. a. 0. S. 50 ff. 

* „Ueber philosophische Wissenschaft und ihre Propädeutik", Wien 
1885, S. 5 ff. 

' In M. Heinze's verdienstvoller Weiterführung von übberweo's Grund- 
rifs der Geschichte der Philosophie, Theil IV der 9. Auflage 1902, S. 313 ff. 

* „Log. Untersuchungen" I, S. 182 ff. 



Das Ohjectiv. 197 

ihre psychologische Eigenart, sondern stets durch ihre Dignität 
bedingt. Allerdings aber scheint mir heute, dafs ich erst seit 
der Bekanntschaft mit der Thatsache des Objectivs wirklich 
sagen kann, warum Erkenntnifstheorie nicht Psychologie ist. 
Dass Anderen dieselbe Einsicht nicht auch schon vorher unter 
einem anderen Namen oder auch ohne Namen aufgegangen sein 
mag, möchte ich keineswegs für wahrscheinlich halten. Ins- 
besondere darf ich hier nicht unerwähnt lassen, dafs mir 
E. Hussebl's Eintreten für die „reine Logik" Einsichten zu ent- 
springen scheint, die mit dem hier über das Objectiv Dargelegten 
in ganz wesentlichen Punkten zusammenstimmen ^ und daher als 
um so willkommenere Bekräftigung der Letzteren in Anspruch 
zu nehmen sind, je weiter die Forschungswege aus einander 
liegen dürften, die zu den verwandten Ergebnissen hingeführt 
haben. 

§43. 

Object und Objectiv als gegenständliche Momente 

desselben Urtheils. 

Bevor ich diese dem Objectiv sozusagen um seiner selbst 
willen zugewandten Untersuchungen beschliefse, mufs ich noch 
kurz auf ein Bedenken eingehen, dem die Fundamentalaufstel- 
lungen dieses Kapitels bereits von allem Anfang an ausgesetzt 
scheinen konnten. Es hätte darum auch schon viel früher da- 
von die Rede sein sollen, wäre der Würdigung der Schwierig- 
keit nicht eine genauere Kenntnifs des fraglichen Thatsachen- 
gebietes in besonderem Maafse günstig. Es sei also hier nach- 
getragen, was dem sachlichen Zusammenhange nach etwa schon 
an das Ende von § 35 zu stellen gewesen wäre. 

Für denjenigen, der Paradoxien nicht gerade aus dem Wege 
gehen will, gestattet unsere Grundposition über das Objectiv ja 
doch jedenfalls die Formulirung, dafs das ürtheil neben dem 
längst bekannten Gegenstande sozusagen noch einen zweiten 
haben soll. Erkenne ich, dafs A ist, so haben wir im A das vor 



^ Ohne dafs übrigens der genannte Autor den Begriff des Objectivs 
terminologisch ausgeprägt hätte. Er bedient sich wiederholt (vgl. z. B. 
Logische Untersuchungen Bd. II, S. 94 ff., auch schon Bd. I, S. 176 Anm.) 
der übertragenen Bedeutung des Wortes „Satz", durch die, wenn ich recht 
sehe, die Sprache längst schon für das Objectiv ein nur lange unbeachtet 
gebliebenes Zeugnifs abgelegt hat. 



198 Siebentei Kapitd. 

uns, was man längst als Gregenstand zu betrachten sich gewöhnt 
hat Ist nun aber auch, „daTs A ist", etwas, das ich erkenne, 
und haben wir in diesem y^dafs^-Satze noch etwas Anderes vor 
uns als den Ausdruck des Urtheils, dann ist das eben ein Zweites 
neben A, indefs unsere Erfahrung uns gar nichts davon merken 
läfst, dafs wir durch das Urtheil neben dem Gegenstande noch 
ein Zweites erfafsten, oder anders ausgedrückt, dafs das durch 
das Urtheil Erfafste ein Zweifaches wäre. 

Inzwischen dürfte die Schwierigkeit doch nur eine scheinbare 
sein. Versuche ich mir die eigenthümUche Leistung des Urtheils 
klar zu machen, wie sie nicht nur bei der oben ^ gelegentlich der Ex- 
position des Gedankens der Transscendenz ausschUefsUch heran- 
gezogenen Affirmation, sondern nicht minder auch bei der Ne- 
gation zur Geltung kommen muTs, so finde ich Folgendes: Das, 
was ich im Falle richtigen, namentUch also für Gewifsheit evi- 
denten Urtheils erkenne, ist zunächst und im eigentUchen Sinne 
eben nur, dafs A ist, resp., dafs A nicht ist, — und nichts als 
dieses. Das tritt auch sprachlich bereits in der Thatsache her- 
vor, dafs das grammatische Object von Verben wie „urtheilen", 
„erkennen", „affirmiren", „negiren", „anerkennen", „verwerfen" 
u. dgl. nicht, wie etwa beim Verbum „vorstellen" das Object im 
gewöhnlichen, engeren Sinne, genauer also das Vorstellungs- 
object, sondern stets das Objectiv ist, so dafs es also entschieden 
sprachwidrig ist, etwa zu sagen: „ich affirmire, negire das A^\ 
weil eben nur gesagt werden kann: „ich affirmire, negire, dafs 
A ist".* Dem so zunächst ausschliefslich erfafsten Objectiv steht 
jedoch das Object A nicht als etwas davon Getrenntes und in 
diesem Sinne Zweites gegenüber, sondern es ist darin gewisser- 
maafsen als Theil bereits enthalten, und es ist etwas wie eine 
Art Abstractionsleistung, wenn wir auf dieses A unter dem 



^ Vgl. Kap. V, § 21. 

' Einwendungen gegen solche Ausdrucksweisen (vgl. z. B. W. Enoch 
in den Philosoph. Monatsheften 29, S. 444) sind also vom Standpunkte ge- 
sunden Sprachgefühls durchaus berechtigt. Nur über die Beschaffenheit 
des an die A -Vorstellung sich schliefsenden Seins -Urtheils werden daraus 
schwerlich Consequenzen zu ziehen sein. 

' Man wird insofern der Position G. üphues': „Für uns giebt es nur 
einen Gegenstand des Erkennens und das ist die Wahrheit*^ („Grundzüge 
der Erkenntnifstheorie", S. 2) im Hinblick auf das oben über Wahrheit (be- 
sagte (vgl. § 38 und § 42) nur beipflichten können. 



Das Objectiv, 199 

Namen des Gegenstandes unsere Aufmerksamkeit noch besonders 
richten. 

Indefs wäre es ein Mifsyerständnifs, hier etwa wirklich an 
etwas wie Abstraction zu denken. Ich kann, indem ich einen 
Würfel vorstelle, von dessen Farbe oder auch Gröfse abstrahiren : 
um aber nicht auch an sein Gewicht zu denken, dazu bedarf es, 
höchstens von der Eventualität besonders enger Association ab- 
gesehen, keines eigenen Abstractionsactes.^ Was in betreff 
des Vorgestelltwerdens gar nicht an einander gebunden ist, be- 
darf eben auch keiner besonderen Operation, um ohne einander 
in der Vorstellung auftreten zu können: vollends, wenn es 
sich um ein Ganzes handelt, das seiner Totalität nach gar nicht 
vor dem Forum des Vorstellens steht. Ist blos ein Theil dieses 
Ganzen dem Vorstellen zugänglich, so braucht es natürlich keine 
Abstraction dazu, diesen Theil auch allein vorzustellen, da man 
mehr als ihn ja überhaupt nicht vorstellen kann. Und dafs 
dieser Theil für sich „gegeben" sei, dazu ist in unserem Falle 
weiter nichts erforderlich, als dafs man im Stande ist, vorzu- 
stellen ohne zu urth eilen. 

Denn dafs ich an das Ä denken kann, ohne dessen Sein resp. 
Nicht-Sein in das Denken einzubeziehen, obwohl das, was mein 
Erkennen erfafst, doch gerade das Sein resp. Nicht-Sein des A 
ist, das geht, wenn ich recht sehe, zunächst auf die Thatsache 
zurück, dafs ein integrirender Theil jenes das Sein oder Nicht-Sein 
des A erfassenden Vorganges auch für sich auftreten kann. Es 
ist dies der differentiationsfähigste Theil jenes psychischen Vor- 
ganges, der vermöge der Mannigfaltigkeit seiner möglichen In- 
halte der Mannigfaltigkeit der mit Hülfe dieser Inhalte als seiend 
oder nicht-seiend zu erfassenden Gegenstände zunächst zuge- 
ordnet ist. Der Gegenstand ist also dasjenige am Objectiv, was 
durch den auch für sich allein auftretenden Theil des Erkenntnifs- 
vorganges sozusagen speciell erfafst wird, indem den (inhaltlichen) 
Verschiedenheiten an diesem Theile auch zugeordnete Leistungs- 
verschiedenheiten zuzuschreiben sind. Isolirt kann das Vor- 
stellen diese Leistungen freilich nicht zu Stande bringen. Dafs 
man gleichwohl den Vorstellungen stets einen Gegenstand zu- 
schreibt, haben wir bereits^ als den Ausdruck unseres jederzeit 



* Vgl. Hume-Studien 1, S. 11 f. 
« Vgl. oben Kap. V, § 22. 



200 Siebentes Kapitel. 

in erster Linie den Erkenntnifsleistungen zugewendeten Interesses 
erkannt. Natürlich wäre dabei das Erfassen der Thatsache, „dafs 
A nicht ist*^, ganz ebenso gut eine Erkenntnifsleistung als das Er- 
fassen der Thatsache, „dafs Ä ist**, und die „Gegenständlichkeit" 
der Vorstellung könnte insofern sich ebenso gut an jene wie an 
diese Leistung anschliefsen. Dafs, wie wir seinerzeit sahen ^ in 
Wirklichkeit nur das Letztere der Fall ist, darin verräth sich 
eben die natürliche Prärogative der Affirmation vor der Negation. 
Immerhin aber mag es dem Heraustreten des Gegenstandes aus 
dem Ganzen des Objectivs günstig sein, dafs er zugleich das- 
jenige an dem erfafsten Ganzen repräsentirt, was trotz der im 
Sein und Nichtsein liegenden Verschiedenheit, ja Gegensätzlich- 
keit bei einem Wechsel in dieser Beziehung doch unverändert 
bleiben kann. 

Um freilich diese Gegensätzlichkeit selbst, sowohl ihren 
GUedern, dem Sein und Nichtsein, als ihrer Relation nach zu er- 
fassen, dazu ist dann allerdings Abstraction nöthig, weil Sein 
und Nichtsein ohne gegenständliche Grundlage eben nicht ge- 
geben sein kann. Ich kann vorstellen, ohne zu urtheilen, aber 
nicht urtheilen, ohne vorzustellen. Das Erfassen von Sein 
oder Nichtsein stellt sich so in ähnlicher Weise als die speci- 
fische Leistung des affirmativen resp. negativen Urtheils heraus, 
als das Erfassen des Gegenstandes Ä oder B die specifische 
Leistung der durch die Inhalte a bezw. b charakterisirten Vor- 
stellungen ist. Dafs man aber Sein wie Nichtsein in abstracto 
erfassen, ihre Relationen erkennen kann u. s. f., giebt Zeugnifs 
für die psychologisch höchst beachtenswerthe Thatsache, dafs die 
verschiedenen intellectuellen Operationen nicht nur an Vorstel- 
lungs- sondern auch an Denkgegenständen angreifen können. 

Das Dargelegte dürfte wohl ausreichen, Mifsverständnisse in 
betrefE einer Zweiheit des durch ein ürtheil zu Erfassenden aus- 
zuschliefsen. Wer urtheilt, erfafst nicht den Gegenstand und 
aufserdem noch das Objectiv, sondern er erfafst einfach das 
Objectiv und in diesem den Gegenstand. Ihrer zwei sind darum 
Object und Objectiv gleichwohl, insofern das, dem in irgend 
einem Sinne Verschiedenheit nachgesagt werden kann, eben auch 
eine Zweiheit ausmachen mufs. Und dann kann sich wohl auch 
einmal das Bedürfnifs einstellen, von den Gliedern dieser Zwei- 



1 Vgl. a. a. 0. § 21. 



Das Objectiv. 201 

heit als solchen zu reden, d. h. beide Glieder unter einen auf 
beide anwendbaren Namen zu subsumiren. Vielleicht eignet sich 
hierzu ein Terminus wie „gegenstandartige'* oder „gegenständ- 
liche Momente" : die schwerfällige Zusammensetzung wird kaum 
grofsen Schaden stiften, da ein Bedürfnifs nach besonders häufiger 
Verwendung des Ausdruckes sich schwerlich geltend machen wird. 
In diesem Sinne soll also erforderlichen Falles von Object und 
Objectiv als den gegenständlichen Momenten am Urtheile 
die Rede sein. 

Ich habe mich zum Zwecke der Feststellung des Verhaltens 
dieser gegenständlichen Momente zu einander zunächst wieder 
an den einfacheren Fall der Seins-Urtheile und der zugehörigen 
Objective gehalten. Wie auch sonst, steht die Sache beim So- 
Sein immerhin etwas complicirter , ohne aber im Wesentlichen 
ein anderes Verhalten aufzuweisen. Dem Objectiv, „dafs A B 
ist", stehen hier eben in gewissem Sinne zwei gesonderte und 
doch für identisch genommene Gegenstände, A und B gegenüber, 
auf die sich jedoch das oben über A Gesagte mit unwesentlichen 
Modificationen anwenden läfst. Diese Modificationen sind für den- 
jenigen ganz entbehrlich, der in dem Urtheil „J. ist -B" eigent- 
lich ein Seins-Urtheil sehen zu dürfen meint, das die Relation 
zwischen diesen beiden Gegenständen zum eigentlichen Ob- 
jecte hat. 

§ 44. 
Das Objectiv und die Annahmen, a. Auf intellec- 

tuellem Gebiete. 

Ich habe mich im Bisherigen bemüht, die Thatsächlichkeit 
und Bedeutung dessen, was ich als „Objectiv" benannt habe, 
glaubhaft zu machen, ohne dabei die Existenz der Annahmen 
vorauszusetzen. Das hat, wie hier ausdrücklich bemerkt werden 
mufs, eine gewisse Einseitigkeit, ja üngenauigkeit in diese Dar- 
legungen gebracht, indem mehr als einmal ausschliefslich vom 
Urtheile die Rede war, wo in Wahrheit die Annahmen eben so 
viel oder auch mehr Recht darauf gehabt hätten, herangezogen 
zu werden. Auch so aber hat sich die wenigstens implicite Bezug- 
nahme auf Letztere nicht immer vermeiden lassen und nun ist 
es an der Zeit, zu legitimiren, in welcher Weise eine Unter- 
suchung über das Objectiv in den Rahmen einer den Annahmen 
gewidmeten Abhandlung gehört. Vor Allem ist es nicht eben 






202 Siebentes KapiteL 

schwer, den hierfür maafsgebenden Gesichtspunkt mindestens im 
Allgemeinen aufzuzeigen. Was die Annahmen für uns mit dem 
Objectiv verbindet, das sind zunächst die „dafs^-Sätze. Wir 
wissen von diesen bereits aus dem zweiten Kapitel, wie wenig 
man berechtigt wäre, sie unter normalen Umständen für Aus- 
drücke von Urtheilen zu nehmen: darauf hin in ihnen Aus- 
drücke von Annahmen zu vermuthen, war durch den weiteren 
Fortgang dieser Untersuchungen wohl mehr als nahe gelegt 
Nun hat sich aber im gegenwärtigen Kapitel gezeigt, daTs die 
„dafs "-Sätze, — freilich auch andere Sätze sowie deren Aequi- 
valente — in ihrem Auftreten stets die Pseudo-Existenz eines 
Objectivs verrathen. Man wird im Hinblick hierauf auch eine 
gesetzmäfsige Verbindung zwischen Objectiv und Annahmen ver- 
muthen dürfen. 

Näher gilt es, die nachfolgende Frage zu beantworten. Wir 
haben gefunden, dafs nicht nur das einzelne Wort, sondern auch 
der Satz sowohl Ausdruck ist als Bedeutung hat; als Bedeutung 
des Satzes hat sich uns das Objectiv herausgestellt : gewährt uns 
nun dieses Objectiv vermöge seiner Natur oder vermöge der 
Umstände seines Auftretens einen Anhaltspunkt, um zu ver- 
stehen, wann und warum der Satz eventuell nicht ein Urtheil, 
sondern blos eine Annahme ausdrückt? Die Antwort wird sich 
für jedes der drei Gebiete psychischen Geschehens, auf denen 
wir dem Objectiv begegnet sind, ich meine das des Denkens, 
des Fühlens und des Begehrens, am besten gesondert aufsuchen 
lassen. 

Was nun zunächst das intellectuelle Gebiet anlangt, näher 
die Fälle, wo ein Objectiv als Gegenstand eines Denkactes auf- 
tritt, so haben unsere obigen Untersuchungen fünf charakteri- 
stische Thatsachengruppen ergeben, die hier nochmals durch 
kurze Präcisirung in Erinnerung gebracht seien: 

1. Das Objectiv ist Gegenstand einer einfachen Seins-Beur- 
theilung. Paradigma etwa: „Es ist, dafs A ist". 

2. Dem Objectiv werden Eigenschaften zu- oder aberkannt. 
Beispiel etwa: „Es ist einleuchtend, dafs A ist". Wie überall, 
wo eine kategorische Aussage am Platze ist, kann mindestens 
ohne praktischen Fehler als der eigentliche Gegenstand eines 
solchen Urtheils eine Relation betrachtet werden, und insofern 
schliefst sich dieser Fall mit den drei folgenden gegenüber Fall 1 
zu einem Ganzen näher verwandter Thatsachen zusammen. 



Das OhjecHv. 203 

3. Das Objectiv wird in Relation zu anderen Objectiven 
beurtheilt. Beispiel: „Dafs A ist, hängt damit zusammen, dafs 
B ist". 

4. Das Objectiv wird beurtheilt in betreff seiner Zugehörig- 
keit zu einem Urtheile als vorgegebenem ürtheil. Beispiel: „ich 
bin überzeugt, dafs A ist". Auf die Schwierigkeit, Fälle dieser 
Art sicher zu agnosciren, wurde oben hingewiesen * ; es sind das 
diejenigen, die sich sozusagen gegen die Prärogative des nach- 
gegebenen Urtheils behaupten. 

5. Das Objectiv wird beurtheilt in betreff seiner Zugehörig- 
keit zu einem Urtheile als nachgegebenem Urtheile. Beispiel: 
„ich gebe zu, dafs A ist". Eine Art besonders enger Verwandt- 
schaft dieser Gruppe mit der vorhergenannten ist natürlich nicht 
zu verkennen. 

Wie man sieht, ist hier als der das Objectiv gegenständlich 
erfassende Denkact ausschliefslich das Urtheil in Betracht ge- 
zogen. Da ein Zweifel daran, dafs Annahmen überhaupt vor- 
kommen, im gegenwärtigen Stadium dieser Untersuchungen 
wohl nicht mehr zu besorgen sein möchte, so wird dagegen 
kein Einwand erhoben werden, wenn man hier nun auch der 
Möglichkeit gedenkt, dieser Denkact könnte etwa eine Annahme 
sein. Desgleichen möchte es für Fall 4 und 5 ohne Weiteres 
für statthaft gelten dürfen, an Stelle des dort als vorgegeben 
oder nachgegeben in Anspruch genommenen Urtheils eine vor- 
oder nachgegebene Annahme zu setzen. Inzwischen handelt es 
sich hier nicht um Umstände, unter denen das Auftreten einer 
Annahme etwa möglich sein könnte, sondern um die Beant- 
wortimg der Frage, ob die Objective dort, wo sie als Gegen- 
stände auftreten, nicht eventuell die Annahme an Stelle eines 
Urtheils geradezu verlangen. Und da wird es vielleicht schon 
auf den ersten Blick sich als selbstverständlich darstellen, dafs 
in dieser Hinsicht dort, wo die Hauptsätze unserer obigen fünf 
Paradigmen Urtheile ausdrücken, charakteristischere Ergebnisse 
zu gewärtigen sein werden, als wo denselben blofse Annahmen 
entsprechen. Wir wollen uns daher auch bei Erwägung der 
obigen fünf Gruppen auf Fälle dieser Art beschränken. 

Dies vorausgesetzt, ist es nun leicht, zunächst innerhalb der 
oben an erster Stelle aufgeführten Gruppe einschlägige Gesetz- 



' Vgl. § 38. 



204 Siebentes Kapitel, 

mäfsigkeiten aufzufinden. Urtheile ich: „es ist, dafs A nicht 
ist" oder auch: „es ist nicht, dafs A ist", so ist sofort ein- 
leuchtend, dafs der „dafs"-Satz kein Urtheil, sondern nur eine 
Annahme ausdrücken kann. Das ist natürlich ohne Weiteres 
auf analoge Fälle zu übertragen, der Sachverhalt aber in einem 
allgemeinen Satze leicht auszusprechen, wenn man die affirmative 
oder negative Qualität des einem Objectiv vorgegebenen Denk- 
actes kurz als die affirmative resp. negative Qualität des be- 
treffenden Objectivs bezeichnet. Man kann dann nämUch zu- 
nächst sagen: ist die Qualität des Objectivs derjenigen des (im 
Hauptsatze ausgedrückten) Urtheils entgegengesetzt, dann ist der 
psychische Act, durch den das Objectiv vorgegeben ist, allemal 
eine Annahme. Es steht aber auch bei gleicher Qualität nicht 
anders, sobald diese negativ ist. Denn wer behauptet: „es ist 
nicht, dafs A nicht ist", der kann, dafs A nicht sei, ebenfalls 
nicht urtheilen, sondern nur annehmen. Die beiden Gesetz- 
mäfsigkeiten sind dann etwa so zusammenzufassen: sobald von 
den beiden in Urtheil und Objectiv zusammentreffenden Qualitäten 
wenigstens eine negativ ist, dann ist das dem Objectiv Vorge- 
gebene kein Urtheil, sondern eine Annahme. Es sind dies die- 
selben Fälle, aus denen oben ^ der Beweis zu erbringen war, 
dafs das durch den unabhängigen Satz ausgedrückte Urtheil 
dem Objectiv nicht vorgegeben sein könne, sondern ihm nach- 
gegeben sein müsse: dieselben Fälle können nun als eben so 
viele Beweise für die Existenz von Annahmen in Anspruch ge- 
nommen werden. 

Die noch übrige Eventualität, qualitative Gleichheit vermöge 
affirmativen Charakters des Urtheils wie des Objectivs, haben 
wir bereits^ als schon in betreff des Verhältnisses zwischen 
Urtheil und Objectiv undeutlich erkannt. Machte sich gleich- 
wohl zu Gunsten einer Gleichbehandlung mit den deutlichen 
Fällen, also zu Gunsten der Nachgegebenheit des Urtheils eine 
überwiegende Wahrscheinlichkeit geltend, so wird nunmehr unter 
demselben Gesichtspunkte zu vermuthen sein, dafs das Objectiv 
auch hier in der Regel nicht durch ein Urtheil, sondern durch 
eine Annahme gegeben sei. Immerhin aber wird man einer 
solchen Vermuthung noch lieber stattgeben, wenn man sich die 



' Vgl. § 38. 
» A. a. O. 



Das ObjecHv. 206 

Intention klar zu machen versucht, in der man sich zu Urtheilen 
der in Rede stehenden Art normalerweise veranlafst finden wird. 

Diese Intention tritt vielleicht noch deutlicher als in Gruppe 
1 in Gruppe 5 zu Tage, deren Verwandtschaft mit Gruppe 1 
darauf beruht, dafs in ihr dasjenige secundären Ausdruck findet, 
was in Fällen der Gruppe 1 primär ausgedrückt wird. Dieser 
secundäre Ausdruck läfst nun in der Regel ganz offenkundig 
erscheinen, dafs da zumeist jene psychische Situation vorliegen 
wird, in der man wohl am passendsten von einer intellectuellen 
„Stellungnahme" reden könnte. Ich meine Erlebnisse, wie sie sich 
am deutlichsten dort zutragen, wo ein fertiges Urtheil gleichsam 
von aufsen an uns herantritt', und wir auf dasselbe nun auch 
unsererseits mit einem Urtheil reagiren, das vermöge seiner 
Uebereinstimmung oder seines Gegensatzes zu jenem ersten 
Urtheü uns zu diesem in die Position des Beistimmens oder Ab- 
lehnens bringt, mit der dann emotionale Momente so leicht und 
so eng verknüpft auftreten können, dafs man sich versucht 
fühlen mag, in derlei aufserintellectuellen Begleitthatsachen 
geradezu das eigentlich Charakteristische der Sachlage zu er- 
blicken. 

Einfachste Beispiele bieten hierfür die Anwendungen der 
Wörter „ja" und „nein" vor Allem dort, wo derjenige, der sie 
anwendet, eine Meinung oder Ansicht vorfindet in einer Sache, 
in der auch er sich eine Meinung oder Ansicht gebildet hat oder 
eben büdet, die mit der vorgegebenen entweder zusammen- 
stimmt oder nicht. Es ist jedenfalls sehr beachtenswerth, dafs 
es gerade diese relative Thatsache des Consenses oder Dissenses 
ist, die sich der Aufmerksamkeit der Betheiligten in erster Linie 
aufdrängt, so dafs zunächst sie zum sprachlichen Ausdrucke ge- 
langt, indefs das dieser Relation als ein wesentliches Glied zu 
Grunde liegende Urtheil des Redenden zumeist unausgesprochen 
bleibt. Man kann sich dabei kaum enthalten, der vielen Fälle 
im menschlichen Zusammenleben zu gedenken, wo wirklich Zu- 
stimmung oder Widerspruch für die Betheiligten die Haupt- 
sache, das aber, worauf sich Zustimmung oder Widerspruch be- 
zieht, ganz und gar Nebensache ist. — Einigermaafsen abge- 
schwächt functionirt das Ja und Nein dann auch dort, wo das 
Vorgegebene nur ein fictives Urtheil, sozusagen ein Urtheils- 



* Vgl. auch oben Kap. III, § 13. 



206 8iebente$ Kapitel. 

versuch, kurz eine jener Fragen ist^ aus denen durch das „ja'' 
oder y,nein" des Gefragten normalerweise erst das fertige Urtheil 
herauswächst Für den Gefragten ist auch dies eine Stellung- 
nahme, wenn er es dabei auch statt mit einem wirklichen mit 
einem blos fingirten Widerpart zu thun hat 

Nun ist es selbstverständlich ganz aufser Zweifel, daXs eine 
wirkliche Stellungnahme gegenüber einem wirklich vorliegenden 
Urtheil sich ganz wohl an dieses als natürUchen Angriffspunkt 
halten kann; und ausnahmsweise mag dergleichen auch durch 
die innere Erfahrung des Stellungnehmenden bezeugt werden. In 
der Regel aber läfst gerade diese Erfahrung keine Unsicherheit 
darüber aufkommen, dafs dabei an das Urtheilen dieses oder 
jenes oder selbst eines unbestimmten Subjectes durchaus nicht 
gedacht wird, vielmehr blos das Objectiv das Substrat für die 
Stellungnahme abgeben muTs. Weiter ist dann aber ein- 
leuchtend, dafs zur Zeit, da sich diese Stellungnahme voll- 
zieht, jenes Objectiv noch nicht durch ein vorgegebenes Urtheil 
repräsentirt sein kann, weil derjenige, der bereits urtheilt, zu 
einem fremden Urtheil über denselben Gegenstand nicht erst 
Stellung zu nehmen in der Lage ist, vielmehr schon Stellung 
genommen hat Hier ist also, was der „daXs^-Satz ausdrückt, 
nichts als eine Annahme auch dann, wenn die Stellungnahme 
übrigens eine zustimmende ist, derzufolge von nun an auch das 
der Annahme nächststehende, nämUch gegenstands- und qualitäts- 
gleiche Urtheil den Ueberzeugungen des Stellungnehmenden 
ganz gemäfs wäre. 

Bei blos fictiver oder äufserUcher Stellimgnahme ist dieser 
Gesichtspunkt freilich nicht im gleichen Maafse überzeugend: 
vollends versagt er da, wo das Objectiv nicht mit einem nach- 
gegebenen, sondern mit seinem vorgegebenen Urtheile zusammen 
auftritt, oder wo es sich um Eigenschaften, namentlich auch 
Relationen des Objectivs handelt, für die dessen vorgegebenes 
Urtheil wesentlich ist In der That sind denn auch die oben 
ausgesprochenen Gesetzmäfsigkeiten auf unsere Gruppen 2, 3 
und 4 nicht anwendbar. Dennoch führt es auch hier die Natur 
der Thatsachen mit sich, dafs sich leicht einsehen läfst, warum 
auch hier den Annahmen mindestens in vielen Fällen ein ganz 
wesentlicher Antheil gewahrt bleiben mufs. 

Wiederum gilt es natürlich, festzustellen, inwieweit dem 
„dafs "-Satze resp. dessen Aequivalente die Function zuzuschreiben 



r~ 



Das Objectiv. 207 

ist, dafs er ein Urtheil auszudrücken hat; und da verdient mit 
specieller Rücksicht auf Gruppe 4 vor Allem an etwas erinnert 
zu werden, was sich uns bereits bei der ersten Betrachtung 
der „dafs^'-Sätze aufgedrängt hat.^ Ich meine die Thatsache, 
dafs in einem Satze wie „ich urtheile, dafs A ist^, das im 
Hauptsatze secundär ausgedrückte Urtheil im Nebensatze ein 
zweites Mal zum Ausdrucke gelangen mufs, sofern auch dieser 
nichts Anderes auszudrücken hat, als ein Urtheil, — und dafs in 
einer Aussage wie „ich vermuthe, dafs Ä ist", der „dafs"-8atz, 
als Ausdruck eines Urtheils verstanden, im Vergleich mit dem 
ungewissen Hauptsatze zu viel besagt^ Das läfst mindestens 
die Frage aufkommen, ob nicht auch da, wo es sonst immerhin 
nicht sinnlos ist, den „dafs "-Satz als Urtheilsausdruck zu ver- 
stehen, die Interpretation auf eine Annahme unter Umständen 
ebenso wohl am Platze sein könnte. Entscheidend ist aber, 
dafs in die Gruppe 4 auch Fälle subsumirt werden müssen, 
wo ein vorgegebenes Urtheil so wenig in Anspruch zu nehmen 
ist, dafs der Hauptsatz vielmehr gerade die Aufgabe hat, den 
Mangel an solchem Urtheile auszusprechen. Negationen wie 
„ich urtheile nicht", oder „ich bin nicht davon überzeugt, dafs 
A ist", gestatten in dieser Hinsicht kein Mifsverständnifs. Durch 
das Urtheil, das hier ausgesprochener Maafsen nicht vorliegt, 
kann das Objectiv, das ja ebenso ausgesprochener Maafsen vor- 
liegt, unmöglich gegeben sein: was der „dafs"-Satz unter solchen 
Umständen ausdrückt, kann natürlich nichts als eine Annahme 
sein. 

Dafs Gruppe 3 ihrer Natur nach für Annahmen eine ganz 
besondere Aufgabe darbietet, war bereits in Kapitel IV Gegen- 
stand einer näheren Untersuchung; die Präcisirung des Gegen- 
satzes zwischen Wenn und Weil hat uns darin den Gegensatz 
von Annahme und Urtheil erkennen lassen. Natürlich war dort 
nur von den Fällen die Rede, wo der Zusammenhang zwischen 
Vorder- und Nachsatz oder, wie nun vielleicht deutlicher gesagt 
werden könnte, zwischen Vorder -Objectiv und Nach -Objectiv 
affirmirt wird. Es ist nunmehr nachzutragen, dafs, wo dieser 
Zusammenhang negirt wird, der traditionelle Gegensatz des 

^ Vgl. oben Kap. II, § 6. 

^ Oder hat man es hier bereits mit einem nachgegebenen Urtheile zu 
thnn? Dann wäre das Beispiel natürlich am unrechten Platze: eine An- 
nahme aber hätte man dann erst recht vor sich. 



208 8iebente$ Kapitel. 

Wenn- und Weil-Gedankens freilich keine Stelle mehr findet, 
übrigens aber diese Negation so wenig wie die Affirmation zur 
Voraussetzung hat, dafs die in Frage kommenden Objective 
seitens des Negirenden durch Urtheile getragen werden. Um 
zu erkennen, dafs zwei Positionen resp. deren Objective mit 
einander nicht in Zusammenhang stehen, müssen die beiden 
Positionen keineswegs meiner Ueberzeugung gemäfs sein. Aufser- 
dem giebt es nun aber auch hier Gedanken, die ein Urtheil 
Yon der Qualität mindestens des einen der in Relation stehenden 
Objective ausschliefsen. Sage ich: „dafs A ist, verhindert, dafs 
B eintrete", oder: ,,dafs A ist und dafs B ist, verträgt sich 
nicht", so ist sofort ersichtlich, dafs hier nicht beide Objective 
durch Urtheile gegeben sein können, mindestens im Einen Falle 
also eine Annahme vorliegen mufs. 

Was endlich Gruppe 2 anlangt, so ist es nun ohne Weiteres 
klar, dafs auch innerhalb ihres Gebietes Attribute vorkommen, 
die dem betreffenden Objectiv zwar auf Grund eines vorge- 
gebenen Denkactes zugesprochen werden, deren Natur es aber 
verbietet, in diesem Denkacte ein Urtheil zu suchen. Finde ich 
es „widersprechend, unmöglich, undenkbar, dafs A ist" u, dgL, so 
kann ich eben darum das zum Objectiv als vorgegeben gehörige 
Urtheil nicht fällen und dieses mufs durch eine Annahme ver- 
treten sein. 

Zusammenfassend läfst sich sagen : Wo Objective als Urtheils- 
gegenstände auftreten, kann allerdings durchaus nicht etwa be- 
hauptet werden, dafs der Denkact, durch den das Objectiv der 
Beurtheilung gleichsam dargeboten wird, niemals ein Urtheil sein 
kann. Aber sowohl die Natur des auf das Objectiv als Gegen- 
stand gerichteten Urtheils als die Beschaffenheit dessen, womit 
das Objectiv dabei in Relation gesetzt wird, bringt es nicht 
selten mit sich, dafs mit diesem Urtheil ein dem Objectiv 
qualitätsgleiches Urtheil als Ueberzeugung desselben Subjectes 
unverträglich ist. Aufserdem kommt es häufig vor, dafs ein 
Subject, das das in Rede stehende Urtheil fäUt, sich in betreff 
eines dem Objectiv entsprechenden Urtheils Ueberzeugungs- 
freiheit mufs wahren dürfen oder sie thatsächlich wahrt Jedes- 
mal hat man es dann mit Objectiven zu thun, die dem Urtheile 
nur durch eine der Qualität des Objectivs entsprechende An- 
nahme gegeben sein können. 



Das ObjecHv, 209 

§ 45. 
Das Objectiv und die Annahmen. b.Auf emotionalem 

Gebiete. 

Wenden wir uns nunmehr wieder vom intellectuellen dem 
emotionalen Gebiete zu, so bieten vor Allem die Objective, die als 
Gegenstände von Begehrungen auftreten, dem Vorhaben, den 
Antheil der Annahmen an denselben ins Reine zu bringen, kaum 
erhebliche Schwierigkeiten dar. Ist durch Früheres^ erwiesen, 
dafs ich genau genommen zunächst nicht A begehre, sondern 
nur, dafs A sei oder nicht sei, dann ist auch sofort einleuchtend, 
dafs ein solches Objectiv demjenigen, der begehrt, nicht durch 
ein Urtheil gegeben sein kann, aus dem so selbstverständlichen 
Grunde nämlich, weil Niemand erst begehren kann, was seiner 
Meinung nach bereits verwirkUcht ist. Urtheile ich also, dafs A 
ist resp. nicht ist, so kann ein diesem Objectiv zugewendetes Be- 
gehren nicht zu Stande kommen; liegt dagegen das Begehren 
thatsächlich vor, so kann das Objectiv unmöglich durch ein 
Urtheil gedacht sein, und nichts Anderes als die Annahme bleibt 
■übrig. Dem steht natürlich keineswegs entgegen, dafs Jemand in 
betreff einer Sache, die gegenwärtig existirt, sehr wohl begehren 
kann, sie möchte auch in Zukunft existiren: „dafs A ist" ist 
eben ein anderes Objectiv als „dafs A in Zukunft sein wird",. 
Von jenem kann auch überzeugt sein, wer dieses begehrt, aber 
eben nur, weil die Ueberzeugung von einer gegenwärtigen 
Existenz bei Weitem noch nicht die von der künftigen in sich 
fichhefst 

Nicht ganz so durchsichtig ist die Sachlage bei den Wider- 
strebungen Als Analogen zu dem eben fiir die Begehrungen 
Dargelegten stellt sich hier die Thatsache dar, dafs wer sich 
etwa gegen das Eintreten eines Ereignisses A zur Wehr setzt, 
unmöglich der Ueberzeugung sein kann, dafs A überhaupt gar 
nicht eintreten werde. Dadurch ist aber in betreff des Denk- 
actes, durch den hier das dem Widerstreben zu Grunde Hegende 
Objectiv gegeben ist, gar nichts vorbestimmt. Denn ist das Ob- 
jectiv, dem widerstrebt wird, dies, „dafs A eintritt", dann hat 
das diu'ch dieses Widerstreben ausgeschlossene Urtheil das Ob- 
jectiv „daljs A nicht eintritt", also das Gegentheil dessen, dem 
widerstrebt wird. Immerhin darf man nun aber auch hinzu- 



^ Vgl. oben § 40. 
Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. II. 14 



210 Siebentes Kapitel. 

fügen, dafs, wer unerschütterlich fest davon überzeugt ist, daüs 
A eintreten werde, normaler oder „vernünftiger" Weise sein 
Widerstreben gegen Unabänderliches bezwingen wird.^ Man darf 
sonach zwar nicht so weit gehen, zu behaupten, dafs ein Wider- 
streben dagegen, „dafs A ist", die Ueberzeugung davon^ also 
ein Urtheil mit dem Objectiv „dafs A ist" ausschliefse. Da- 
gegen ist es mindestens das Natürlichere, dafs der Widerstrebende 
das, dem er sich entgegenstellt, nicht für unvermeidlich halte, 
und für solche Fälle ist damit wieder festgestellt, dafs das Ob- 
jectiv der in Frage kommenden Widerstrebung nicht durch ein 
Urtheil, sondern durch eine Annahme gegeben ist. So ist die 
Annahme als psychologische Voraussetzung für alle Begehrungen 
positiver Qualität unerläfslich, für Begehrungen negativer Qualität 
zum Mindesten weitaus die Regel. 

Ich unterlasse es, auf die für die Angelegenheit der An- 
nahmen offenbar wenig charakteristischen Fälle besonders ein- 
zugehen, wo dem Objective Eigenschaften nachgesagt werden, 
die von einer diesem Objectiv zugewendeten Begehrung ge- 
nommen sind, zumal da viel Einschlägiges mit Objectivprädicaten 
auf gleicher Linie rangiren wird, welche auf, die zu dem be- 
treffenden Objectiv gehörigen Gefühle zurückgehen. Wir 
hätten uns nunmehr sonach diesen Gefühlen zuzuwenden, näher 
Vor Allem den ästhetischen Gefühlen und den Werthgefühlen. 
Beiderseits scheint auf den ersten Blick die Sache so einfach 
zu liegen, dafs von näheren Erwägungen billig abzugehen wäre. 

Denn dafs zunächst bei ästhetischen Gefühlen die Ob- 
jective nicht allemal, ja nicht einmal in der Regel durch ein 
Urtheil des Fühlenden getragen werden, das ist, wie wir bereits 
gesehen haben ^ so sicher, als es selbstverständlich und bis zum 
Ueberdrusse oft betont worden ist, dafs für das Verhalten zum 
Kunstwerk die Ueberzeugung von dessen Wirklichkeit durchaus 
nicht erforderlich ist. Man hat dies in der Behauptung anerkannt, 
dafs das ästhetische Verhalten wesentlich auf Vorstellen, auf den 
„Schein" gegründet sei; und ich selbst habe daraus die Conse- 
quenz gezogen, dafs die ästhetischen Gefühle ihrem Wesen nach 
als Vorstellungsgefühle zu bestimmen seien. ^ Soweit wir nun 

^ Zum Mindesten ein Widerstreben von der Art, die das auf diesem 
Gebiete ohne Zweifel vertretene Gegenstück des Wollens ausmachen würde. 

* Vgl. oben Kap. III. 

• Vgl. Psych.-eth. Unters, zur Werththeorie S. 36, besonders aber 
HöFLEB, Psychologie, S. 427 ff. 



Da8 Objectiv. 211 

aber im Obigen für ästhetische Gefühle nicht nur auf Gegen- 
stände, sondern im Besonderen auf Objective hingewiesen wurden, 
ist damit gesagt, dafs diese dem ästhetisch Fühlenden nicht durch 
Urtheile, sondern durch Annahmen gegeben sind, und dafs man 
Grund hat, dabei nicht mehr von Vorstellungs- sondern von 
Annahmegefühlen zu reden. Es wird dies eben so wohl gelten, 
wo ästhetische Gefühle indirect ausgedrückt sind, als wo einem 
Objective ästhetische Prädicate zu- oder eventuell auch abge- 
sprochen werden. Zugleich ist damit der hervorragende Antheil 
der Annahmen an der Kunst, der sich uns im früheren Zu- 
sammenhange^ blos aus der directen Betrachtung der That- 
sachen heraus und noch ohne besonders eingehende psychologische 
Analyse aufgedrängt hat, einem wesentlichen Theile nach für 
unser Verständnifs erschlossen. 

Ebenso leicht scheint nun die Bedeutung der Werthgefühle. 
für die Annahmen auszumachen, nur dafs das Ergebnifs hier 
sozusagen das entgegengesetzte Vorzeichen hätte. Sind Werth- 
gefühle von Natur Urtheilsgef ühle , so ist ja klar, dafs die An- 
xxahmen bei ihnen keine Anwendung finden. Nun scheint mir 
aber eine nähere Untersuchung unseres Verhaltens zu Werth- 
objecten doch zu ergeben, dafs dabei den Annahmen eine und 
zwar eine für das richtige Erfassen der Grundthatsachen der 
Werththeorie sehr wichtige Rolle zukommt. Dies läfst sich aber 
nicht wohl darlegen, ohne näher auf einige Dinge einzugehen^ 
die von dem übrigen Contexte dieser Ausführungen etwas ab- 
liegen, die aber gleichwohl in Erwägung zu ziehen ich neben 
den sachlichen auch aus einigermaafsen persönlichen Gründen 
nicht gern unterlassen möchte. Ich widme diesen Untersuchungen 
daher ein besonderes Kapitel, was wohl um so leichter geschehen 
kann, als im Obigen auch noch in betreff der Begehrungen eine, 
wie mir scheint, für deren Kenntnifs sehr wichtige Seite nicht 
zur Sprache gekommen ist, in Bezug auf welche sich die Berück-, 
sichtigung der Annahmen als ein wirksames Aufklärungsmittel 
erweist. Näher handelt es sich dabei um Fragen der Begehrungs- 
psychologie, deren Beantwortung für das richtige Erfassen auch 
der Werththatsachen von Belang ist, so dafs es sich empfiehlt, 
die einschlägigen Untersuchungen denen in betreff unseres Ver- 
haltens zu Werthgegenständen vorangehen zu lassen. 

1 Vgl. Kap. III, § 10 u. 13. 

14* 



212 



Achtes Kapitel. 

Zur Begehmiigs- und Werthpsychologie. 



§46. 
Vorbemerkung. 

Wir haben oben gesehen, dafs eine Annahme jedem Be- 
gehrungsacte als dessen „psychologische Voraussetzung^ ebenso 
oder doch, um Widerstrebungen nicht ganz unberücksichtigt zu 
lassen, fafst ebenso gewifs wesentlich ist als ein Objectiv. Dies 
gilt zunächst nur von der sozusagen fertigen Begehrung » legt 
aber die Frage nahe, ob die Annahme nicht bereits an der ent> 
stehenden Begehrung betheiligt sein möchte. Dabei mag der 
eben wieder gebrauchte Ausdruck „psychologische Voraussetzung", 
dessen Einführung^ geradezu den Zweck hatte, innerhalb statt- 
hafter Orenzen eine gewisse Unbestimmtheit in der Betrachtungs- 
weise zu ermöglichen, darauf hinweisen, dafs es sich hier nicht 
darum handelt, den Gegensatz des Zugleich und Nacheinander 
bis zur äufsersten Strenge zu urgiren. Sowie es in betreff des 
Verhältnisses zwischen Vorstellungen und Oefühlen, auf das ich 
die in Rede stehende Bezeichnungsweise zuerst angewendet habe, 
dem Wesen der psychologischen Voraussetzung keineswegs 
entgegen ist, dafs eventuell Vorstellung und Gefühl gleichzeitig 
auftreten, so braucht, wer die Annahme als psychologische Voraus- 
setzung der Begehrung in Anspruch nimmt, es durchaus nicht 
für ausgeschlossen zu halten, dafs unter Umständen das Objectiv 
resp. die es tragende Annahme mit der Begehrung zugleich „ins 
Bewufstsein" tritt. Gegenwärtig aber handelt es sich ausschlielüs- 
Uch um jene Fälle, wo das Objectiv bereits früher gegeben ist 
als die dann darauf gerichtete Begehrung, und wo der Denkact, 
durch den das Objectiv gegeben ist, als Theilursache für das 



^ Vgl. meine „Psychol.-eth. Untersachungen zur Werththeorie", S. 34. 



Zwr Begehrunga- und Werthpsychologie, 213 

Zustandekommen der Begehrung, in diesem Sinne also als Be- 
gehrungsmotiv angesehen werden mufs. Dafs dieser Denkact 
unter normalen Umständen wieder nichts Anderes sein kann als 
eine Annahme, ist ungefähr ebenso einleuchtend, als es sich uns 
oben als sachgemäfs herausgestellt hat, für die Zeit der Existenz 
der Begehrungen auf Annahmen hinzuweisen ; und es wäre über- 
flüssig, bei dieser Sache besonders zu verweilen, träte an dieser 
SteUe die Angelegenheit der Annahmen nicht in Beziehung zu 
dem vielverhandelten Problem der Begehrungsmotivation, ja 
durch dieses hindurch zu dem noch fundamentaleren Problem 
von der Natur der Begehrung, — und käme nicht auch in diesem 
Zusammenhange der Gewinn zur Geltung, der für die Psychologie 
in der Erkenntnifs liegt, dafs es Annahmen giebt. Es ist insofern 
keine Abschweifung vom Hauptthema, oder mindestens keine 
schwerer zu rechtfertigende als es die Untersuchungen vorher- 
gehender Kapitel waren, wenn im Folgenden etwas näher auf 
einige Fragen der Begehrungs- und Gefühlspsychologie einge- 
gangen wird. 

Immerhin wird aber der Eindruck, als verliefsen wir den 
Gregenstand der Hauptuntersuchung, diesmal in besonderem 
Maafse zu besorgen sein. Denn die theoretische Aufgabe, der 
ich diu'ch die folgenden Darlegungen etwas näher treten möchte, 
findet ihren herkömmlichen Ausdruck in der Frage nach dem 
Antheil des Gefühls an den Begehrungen. Um aber zu würdigen, 
was die Annahmen in dieser Richtung zu leisten vermögen, ist 
von einiger Rücksichtnahme auf den Stand der Theorie, wie er 
sich ohne Heranziehung der Annahmen ergeben hat, nicht wohl 
abzusehen. Immerhin denke ich nicht daran, alle in Frage 
kommenden Möglichkeiten hier auch wirklich zu erwägen; in 
der Hauptsache genügt der Hinweis auf die einschlägigen 
Darlegungen Chb. von Ehbenfels' ^, die sich zudem in wesent- 
lichen Punkten mit den kritischen Ausführungen berühren, durch 
die ich bereits in Universitätsvorlesungen aus der ersten Hälfte 
der achtziger Jahre ^ meinen damaligen Standpunkt zu präcisiren 



^ Zuerst in der Schrift „Ueber Fühlen und Wollen", Wien 1887, dann 
in der Umarbeitung dieser Schrift, die in den ersten Band des „Systems der 
Werththeorie^ aufgenommen ist. Es dürfte so ziemlich für alle Zwecke 
ausreichen, auch wohl den Intentionen des Autors am besten entsprechen, 
wenn man sich an diese zweite Bearbeitung hält. 

' So insbesondere im Wintersemester 1884/85. 



214 Ächi^ Kapitel, 

bestrebt war. Dabei nehme ich gern die Gelegenheit wahr, die 
ablehnende Stellung gegenüber Ehbenfels* Lösungsversuch, zu 
der ich mich bereits vor Jahren bekannt habe S wenigstens den 
Hauptgedanken dieses Versuches gegenüber zu begründen.^ Zu 
diesem Ende wird schon gelegentlich auf die Annahmen ausdrück- 
Uch Bezug zu nehmen sein; immerhin sei aber im Interesse 
desjenigen Lesers, der von der Unhaltbarkeit des „Gresetzes der 
relativen Glücksförderung^ und seiner Consequenzen sich bereits 
selbst überzeugt hat oder sonst abgeneigt ist, im gegenwärtigen 
Zusammenhange auf diese Sache einzugehen, darauf hingewiesen^ 
dafs die auf die Ablehnung einer solchen Oesetzmälsigkeit ge- 
stützte Fortführung der die Annahmen ausdrücklich betreffenr 
den Untersuchung mit § 52 anhebt. 

§ 47. 
Das Begehren als „relativ glückfördernde" Vor- 
stellung. 

Dafs das Begehren in seinem Auftreten eng an das Fühlen 
geknüpft sei, das gilt der Vulgärpsychologie als eine selbstver- 
ständliche Sache. Nichts scheint natürlicher, als dafs ich begehre, 
was mich und weil es mich erfreut; und man sollte darauf hin 
vermuthen, der psychologischen Theorie müfste es ein Leichtes 
sein, in ausreichender Strenge die Gresetzmäfsigkeit zu formuliren, 
die sich bereits der aufsertheoretischen Beobachtung so ungesucht 
aufgedrängt hat. Inzwischen sind der theoretischen Bearbeitung 



* Psych.-eth. Unters, zur Werththeorie, S. 10 Anm. 

' Einen dem Endergebnisse nach übereinstimmenden Standpunkt hat 
inzwischen auch H. Schwabz eingenommen in der Abhandlung „Die empi- 
ristische Willenspsychologie und das Gesetz der relativen Glücksförderung", 
Vierteljahr 88chr. f, vms. Philos., Jahrgang 1899, S. 206 ff. Ehrenfels* ^Ent- 
gegnung" findet sich in demselben Bande der Vierteljahrsschrift, S. 261 ft 
Vgl. nun auch H. Schwabz, ^Psychologie des Willens", S. 155 ff. Doch 
liegen die in dieser Controyerse berührten Dinge mir theil weise, wenigstens 
subjectiv, als Grundlage für die Würdigung der EHBENPELs'schen Position 
femer, theilweise scheinen Schwabz* Angriffe auch mir nicht einwurfsfrei. 
Dies gilt aber nicht von der Unanwendbarkeit der EHBSNFELs'schen Auf- 
fassung auf Widerstrebungen, auf die hingewiesen zu haben (vgl. Sckwabz 
in der Viertel jahrsschr, a. a. O. S. 220 f.) ich für ebenso richtig als wichtig 
halte, nur dafs in dieser Unanwendbarkeit Ehbenfels selbst bei seiner An- 
sicht von den Widerstrebungen (vgl. oben S. 185 Anmerkung) keinen Mangel 
erblicken kann. 



Zwr BegehrungS' und Werthptychologie. 216 

hier unerwartete Hindernisse in den Weg getreten ; insbesondere 
wollte es bisher immer noch nicht geUngen, in betreff der 
Relation, in der sich hier Fühlen und Begehren beisammen 
befinden, einen befriedigenden Aufschlufs zu gewinnen. Mag 
man Lust als das einzige „eigentliche^^ Begehrungsobject auf* 
fassen, oder von dem sonst wie immer beschaffenen Begehrungs- 
object verlangen, seine Vorstellung müsse stets von Lust oder 
von der Aussicht auf die im Verwirklichungsfalle zu gewärtigende 
Lust begleitet sein, mag man es vollends mit irgend einer Art 
Wesensidentität zwischen Fühlen und Begehren überhaupt ver- 
suchen, immer geräth man mit gerechten Forderungen sei es 
^er Empirie, sei es der Theorie in unvermeidlichen Conflict 
Dafs unter solchen Umständen einem Versuche, neue Wege ein- 
zuschlagen, sozusagen die äuTsere Berechtigung nicht abzu- 
sprechen ist, steht aufser Zweifel: einen solchen Versuch hat 
Ehbenfels durch Aufstellung seines „Gesetzes der relativen 
Glücksförderung" thatsächüch gemacht, und es gilt nun, zu 
demselben in Betreff seiner inneren Berechtigung Stellung zu 
nehmen. Als Substrat der nachfolgenden kritischen Erwägungen 
setze ich hierher vor Allem die einschlägigen Hauptgedanken in 
der Form, in der sie mir zu eigen zu machen, mir am besten 
gelungen ist Von der Meinung des Autors hoffe ich dabei nicht 
abzuweichen: sollte es mir gleichwohl wider Willen begegnet 
sein, so sei betont, dafs es mir bei der folgenden Polemik so 
wenig wie bei anderen ' literarischen Discussionen der letzten 
Jahre ^ um eine Würdigung der Person, sondern ausschliefslich 
um die Erkenntnifs der Sache zu thun ist, so dafs Unrichtig- 
keiten in der Wiedergabe hier nur insofern in Betracht kämen, 
als die zu erwägende Position dadurch geschwächt würde. 

Was das Begehren mit dem Gefühle zu thun hat, die Weise 
also, in der diese beiden psychischen Thatsachen mit einander 
verbunden auftreten, erfährt durch Ehbenfels selbst die nach- 
stehende Formulirung: Jeder Act des Begehrens „fördert bei 
seinem Eintritte den Glückszustand im Vergleiche zu demjenigen 
Zustand, wie er für den Fall des Ausbleibens des betreffenden 
Actes sich einstellen würde".- Unter „Glücksförderung" ist so- 

1 Vgl. „lieber Gegenstände höherer Ordnung etc." S. 183, 205; übrigens 
auch „Abstrahiren und Vergleichen" in Bd. XXIV der Zeitachr. f. Psychol S.35. 

' „System der Werththeorie" Bd. I, S. 32. Dem ganzen Wortlaute 
nach handelt der angefahrte Satz freilich nur vom „Streben und Wollen", 



\ 



216 Ächtei KapUd, 

wohl Steigerung des Lust- als Herabsetzung des Unlustzustandes 
des Begehrenden zu verstehen. Der an sich vielleicht nicht sehr 
deutUche Beisatz „relativ'', dem gemäfs das in Rede stehende 
Gesetz eben „Gesetz der relativen Glücksförderung^ benannt ist, 
soll darauf aufmerksam machen, dafs nicht eine Förderung im 
Vergleich mit dem der Begehrung unmittelbar vorhergehenden 
wirklichen, sondern eine Förderung im Vergleich mit einem dem 
Begehren gleichzeitigen, aber nicht wirklichen sondern nur hypo- 
thetischen Zustand des Begehrenden gemeint ist, dem Zustande 
nämlich, wie er ohne Eintreten des Begehrens und an dessen 
statt sich hätte einstellen müssen. 

Nun geht es aber nicht wohl an, sich mit diesem Gesetze 
zu beschäftigen, ohne der psychologischen Perspective zu ge- 
denken, die es zu eröffnen scheint, der Aussicht nämlich auf eine 
Art Analyse des Begehrens und ein darauf sich stützendes tiefe- 
res Eindringen in das Wesen desselben. Erwägungen wie die 
nachstehenden sollen zu diesem Ziele führen. 

Vor Allem läfst sich im Sinne Ehrenfels' an den Begeh- 
rungen das Moment noch näher bezeichnen, an dem ihre im 
obigen Gesetze constatirte glückfördernde Bedeutung hängt Was 
man begehrt, wird nicht „schlechthin^ sondern ausdrücklich als 
wirkUch oder nicht-wirkUch vorgestellt, genauer: es wird in das 
„Causalgewebe der subjectiven Wirklichkeit" „ein- resp. ausge- 
schaltet".^ Die Vorstellung dieser Ein- oder Ausschaltung ist es 
nun, die glückfördemd wirkt, was übrigens nicht ausschlielisen 
soll, dafs „beim positiven Begehren .... meist auch schon mit 
der schlechthinigen Vorstellung des Objectes eine relative Glücks- 
förderung verbunden" ist Und auch umgekehrt läfst sich sagen: 
„Ueberall wo die Vorstellung der Ein- oder der Ausschaltung 
eines Objectes in die oder aus der subjectiven WirkUchkeit eine 
relative Glücksförderung mit sich führt, ist auch ein — positives 
oder negatives — Begehren vorhanden".* Solches Zusammen- 
treffen läfst die Identität der zusammentreffenden Thatbestände 
vermuthen und für diese Vermuthung finden sich noch die folgen- 
den Bekräftigungen. 

indes der Autor mit Kecht auch das Wünschen unter die Begehrungen ein- 
begreift. Dafs das Gesetz aber auch für das Wünschen und sonach für 
alles Begehren gelte, findet sich ausdrücklich betont a. a. O. S. 39 f. 

* A. a. O. S. 217 f. 

' Ebenda S. 219. 



Zwr Begehrunga- und Werthpsychologie, 217 

Man wird nicht von Begehren reden, wenn das, was man so 
nennt, sich nicht gegenüber Concurrirendem im Bewufstsein be- 
hauptet; auch der Motivenkampf kommt in der Weise zur Ent^ 
Scheidung, dafs das betreffende Begehrungsobject entweder sich 
behauptet oder verdrängt wird.^ Nun kennt Ehrenfels aber 
Gesetzmäfsigkeiten, welche gestatten, diese Fähigkeit der Be- 
gehrungen, sich zu behaupten, einerseits dem Momente der Ein- 
oder Ausschaltung, andererseits dem der Glücksförderung zuzu- 
schreiben und so diese beiden Eigenschaften der Begehrungen 
als deren wesentUchen Kern darzuthun. 

Eine dieser Gesetzmäfsigkeiten statuirt Ehbenfels abermals 
unter dem Namen eines „Gesetzes der relativen Glücksfördenmg" \ 
obwohl sie von dem oben so genannten unbeschadet der Mög- 
lichkeit, dafs die Anwendungsgebiete der beiden Gesetze theil- 
weise zusammentreffen könnten, völlig verschieden ist. Das er- 
hellt angesichts der von Ehbenfels vertretenen Begehrungs- 
theorie weniger daraus, dafs sich dieses neue Gesetz als Vor- 
stellungsgesetz präsentirt, als daraus, dafs dadurch nicht, wie 
im ersten Gesetze dieses Namens, einer bestimmten Glasse von 
Thatsachen die Eigenschaft zugesprochen erscheint, glückfördemd 
zu sein, vielmehr für gewisse glückfördemde Thatsachen, die 
glückfördernden Vorstellungen nämlich, die Eigenschaft in An- 
spruch genommen wird, anderen Vorstellungen gegenüber sich 
in einer Vorzugsstellung zu befinden, und zwar nicht so sehr 
in betreff ihres Auftauchens als ihres Verbleibens im Bewufst- 
sein. „Die angenehmeren Vorstellungen erhalten einen Kraftzu- 
schufs im Kampf um die Enge des Bewufstseins" ^: das ergiebt 
nicht nur die directe Empirie, sondern „auch physiologisch läfst 
sich das Gesetz von der relativen Glücksförderung als ein gleich- 
sam in der Natur der Sache gelegenes begreifen".* 

Ganz Aehnliches wie von den glückfördernden Vorstellungen 
^t nun femer von solchen, deren Objecte als wirkUch oder nicht 
wirkHch vorgestellt, also in „das Causalgewebe der subjectiven 
WirkHchkeit ein- oder ausgeschaltet" werden. Auch ihnen kommt 
ein „Kraftzuschufs" zu nach dem Gesetze, „dafs die Phantasie 
in besonderer Weise an demjenigen haftet, welches als mit dem 

* Vgl. a. a. O, S. 231 ff und später. 

* Ausdrücklich so bezeichnet z. B. S. 191 f. 
8 A. a. O. S. 190. 

* Ebenda S. 195 ff. 



218 Achtes Kapiid. 

fltets gegenwärtigen Complex der Ich- Vorstellung in causaler Ver- 
bindung stehend vorgestellt wird".* Man thäte Unrecht, darin 
eine Wirkung des Urtheils zu sehen, da dieses auch fehlen kann, 
der Einflufs des Urtheils aber „immer über den Weg einer Ein- 
oder Ausschaltung in oder aus dem Causalgewebe der subjectiven 
Wirklichkeit" geht« 

Hat sonach ganz allgemein sowohl Glücksförderung als jene 
Ein- oder Ausschaltung stets Kraftzuschufs zu bedeuten, haben 
wir femer bei den Begehrungen sowohl Glücksförderung als 
Ein- oder Ausschaltung angetroffen, so erscheint es nun auch 
nicht gewagt, diesen Factoren jene Widerstandskraft beizumessen, 
.die sich gleichfalls an den Begehrungen aufweisen liefs. In 
diesen Factoren aber geradezu das ganze Wesen des Begehrens 
-zu sehen, dazu findet sich unser Autor durch „fast unüberwind- 
liche Schwierigkeiten" genöthigt, die der Anerkennung eines 
eigenartigen Begehrungsthatbestandes entgegenstehen sollen \ 
sowie durch den Umstand, dafs die innere Wahrnehmung für 
einen solchen Thatbestand das Zeugnifs versagt Ehbenfels 
fafst demgemäfs seinen Standpunkt in die Worte zusammen: „Ein 
besonderes psychisches Grundelement „„Begehren"" (Wünschen, 
Streben oder Wollen) giebt es nicht Was wir Begehren 
nennen, ist nichts Anderes, als die — eine relative Glücks- 
förderung begründende — Vorstellung von der Ein- oder Aus- 
schaltung irgend eines Objectes in das oder aus dem Causal- 
gewebe um das Centrum der gegenwärtigen concreten Ich- Vor- 
stellung".* 

§48. 
Das Zeugnifs der inneren Wahrnehmung. 

Ich beginne die kritische Erwägung des Dargelegten mit 
einem kurzen Hinweise auf die eben erwähnten drei „Schwierig- 
keiten", denen übrigens auch unser Autor nur eine ganz vorüber- 
gehende Behandlung zu Theil werden läfst Dafs das Begehren 
des Mittels um des Zweckes willen vom Urtheil über den Zu- 



* A. a. O. S. 205. 

* Ebenda S. 207. 

* A. a. 0. S. 245 ff. Auf die Natur dieser Schwierigkeiten, — unser 
Autor zählt deren drei auf, — kommen wir sogleich unten zurück. 

* A. a. O. S. 248 f. 



\ 



Zwr BegehntngS' und Werthpgychologie. 219 

sammenhang zwischen Zweck und Mittel abhängig ist^, das ist, 
so viel ich sehe, keine Schwierigkeit, sondern eben Thatsache. 
Ist femer das Begehren, wenn es nicht gemäfs der von Ehben- 
FELS vertretenen Ansicht einem Theile seines Wesens nach rela- 
tive Glticksförderung ist, doch jedenfalls von dieser abhängig, 
so mag es immerhin befremdlich erscheinen, wie diese eben blos 
„relative" Glücksförderung, also „die Differenz zwischen einem 
-thatsächlichen und einem nur möglichen Gefühlszustande, einem 
thatsächlichen Element, einem actuellen psychischen Phänomene 
Existenz und Intensität verleihen sollte".^ Aber es ist nicht ab- 
zusehen, warum für diese Schwierigkeit gerade derjenige auf- 
kommen müfste, der für die Existenz besoiiderer Begehrungs- 
acte eintritt, und nicht der, dessen Darlegungen jenes „Gesetz" 
der relativen Glücksförderung erst glaubhaft machen sollen. 
Ebenso mag, wer Glücksförderuiigs- und Kraftzuschufs-Gesetze 
im oben dargelegten Sinne für erwiesen hält, sich die Frage 
vorlegen, ob dann das, was man gewöhnlich für Willenserfolge 
nimmt, überhaupt noch einer besonderen Ursache bedarf.* 
-Wen aber Ehkenpels' Ausführungen eben nicht überzeugt 
haben, der wird auch hierin keine Schwierigkeit erblicken, mit 
der sich abzufinden, ihm obläge. 

Nicht zu übergehen ist dagegen natürlich das Zeugnifs der 
inneren Wahrnehmung, und ich darf in dieser Hinsicht vor 
Allem nicht unterlassen, zu betonen, dafs dieses Zeugnifs für 
mich ganz anders lautet als für unseren Autor. Freilich, dafs 
-das Begehren einfach oder unzurückführbar sei, das sagt die 
innere Wahrnehmung mir so wenig, als sie sonst Jemandem 
derlei Aufschlüsse zu geben im Stande wäre. Dafs aber an dem 
Bilde, das mir die innere Wahrnehmung von meinem Begehren 
entwirft, von der „glücksfördernden Ein- oder Ausschaltung" 
•ganz erstaunlich wenig zu erkennen ist, das darf nicht ungesagt 
bleiben. Darin liegt natürlich für mich sehr viel, für den Gegner 
aber allerdings sehr wenig üeberzeugendes, und es darauf hin so- 
gleich damit zu versuchen, die Psychologie des gegnerischen 
Irrthums zu concipiren, schiene mir doch nur in besonderen 
Ausnahmen ein statthaftes Vorgehen. 



1 Vgl. a. a. 0. 8. 245 f. 
« A. a. 0. 8. 246. 
« A. a. 0. S. 247 f. 



220 Ädites Kapitel 

Angesichts dieser Sachlage, die Jedem als unüberwindliches 
Verständigungshindernifs nur zu wohl bekannt ist, darf es als 
ein besonderer Glücksfall gelten, wenn der Appell an die innere 
Wahrnehmung nun doch eine discutirbare Seite aufweist Sie 
scheint mir darin zu liegen, dafs auch der Gegner kaum in Ab- 
rede zu stellen geneigt sein wird und der Erfahrung gegenüber 
auch nicht wohl in Abrede stellen kann, dafs uns normalerweise 
die innere Wahrnehmung vom Vorhandensein unserer Begeh- 
rungen Kenntnifs giebt. Dies könnte aber in keinem einzigen 
Falle geschehen, wenn Ehrenfels* Charakteristik des Begehrens 
zuträfe, näher, wenn jene „relative Glücksförderung" ein Con- 
stitutivum des Begehrens ausmachte. Es wurde oben ' eine Stelle 
wiedergegeben, aus der erhellt, wie unser Autor selbst diese 
.Glücksförderung als Differenz zwischen einem Wirklichen und 
einem Möglichen beschreibt, auch sonst wird oft und nachdrück- 
lich genug auf die in diesem besonderen Sinne „relative" Natur 
der hier in Frage kommenden Glücksförderung hingewiesen. 
Was aber nicht wirklich sondern nur möglich ist, genauer, was 
unter Umständen stattfinden müfste, die thatsächlich nicht ver- 
wirklicht sind, darüber giebt die innere Wahrnehmung natürlich 
keinen Aufschlufs. 

Und was hat nun die in Rede stehende Ansicht an die Stelle 
der sonach von ihr ausgeschlossenen Wahmehmbarkeit der Be- 
gehrungen zu setzen? Um zu einer Ueberzeugung darüber zu 
gelangen, ob in einem bestimmten Falle „relative Glücksförde- 
rung" vorliege oder nicht, dazu werden Ueberlegungen erforder- 
lich sein, von denen leicht vorherzusehen ist, dafs sie sich minde- 
stens in vielen Fällen recht complicirt gestalten müfsten. Ehken- 
FELS selbst, dem die vorliegende Frage keineswegs fremd ist, 
beantwortet sie durch den Hinweis darauf, „dafs wir gelegent- 
lich des Auftauchens" der die betreffenden Begehrungen aus- 
machenden „Vorstellungen im Bewufstsein sowie auch der 
Schwankungen an Lebhaftigkeit und Anschaulichkeit, denen sie 
vermöge der steten Störungen des Gleichgewichtes in den ander- 
weitigen Tendenzen des Vorstellungslaufes ausgesetzt sind, eine 
parallelgehende Veränderung in unserem absoluten, actuellen 
Glückszustand beobachten".- Damit aber wäre fürs Erste das 



» Vgl. S. 216. 
» A a. O. S. 262. 



Zur BegehrungS' und Werthpsychologie. 221 

Begehrungsgesetz der „relativen Glücksfördening" wenigstens 
für alle Fälle wahrnehmbaren Begehrens in ein Gesetz der „ab- 
soluten Glücksförderung" übergegangen. Dann aber müfste, wer 
wissen wollte, ob er begehre oder nicht, einen Vergleich zwischen 
seinem jetzigen und seinem früheren Lustzustande anstellen. 
Nun weifs aber normalerweise Niemand von solchen oder 
sonstigen Ueberlegungen, wenn er sich übrigens auch seines Be- 
gehrens gar wohl bewufst ist. Ich kann nicht umhin, durch das 
Gesagte die Sache der EHRENFELs'schen Begehrungstheorie be- 
reits für entschieden zu halten. 

§ 49. 
Das Vorstellungsgesetz der „relativen Glücks- 
förderung". 

Wenden wir uns nun aber ganz ausdrücklich den beiden 
„Glücksförderungs "-Gesetzen zu und zwar zunächst dem auf das 
Vorstellen bezüglichen, das zugleich, in gewissem Sinne sogar 
deutlicher, als ein „Kraftzuschufs "-Gesetz zu bezeichnen wäre. 
Natürlich kommt das eben berührte Verhältnifs aller „relativen 
Glücksförderung" zur directen Empirie auch hier im Sinne eines 
die Feststellung der Inductionsinstanzen erschwerenden Um- 
standes in Betracht; aber mehr als eine Erschwerung liegt hier 
nicht darin, da die Instanzen ja möglicherweise auf einem in- 
directen Wege zu gewinnen sind. Wirklich beruft sich Ehrbn- 
FEiiS darauf, „dafs immer die angenehmeren resp. weniger unan- 
genehmen Phantasievorstellungen länger andauern, als man es 
lediglich vom Standpunkte der Gewöhnung und Ermüdung aus 
erwarten sollte, und dafs dieselben „sich auch ohne einen hierauf 
gerichteten inneren Willensact länger und lebhafter erhalten, als 
unter übrigens gleichen Umständen die gleichgültigen oder gar 
die unangenehmen" Vorstellungen.^ Wer aber über diese an 
sich schon offenbar nicht ganz einfachen Sachverhalte gern 
noch etwas näheren Aufschlufs hätte, erhält darauf im Voraus 
einen nicht eben vielversprechenden Bescheid. „Es wäre über- 
flüssig", fährt der Autor fort^, „für dieses Gesetz von allum- 
fassendster Bedeutung Beispiele anzuführen; wer dasselbe aul 



^ System der Werththeorie Bd. I, S. 189 f. 
« A. a. O. S. 190. 



222 Achtes Kapitel. 

Grund seines psychologischen Ueberblickes anzuerkennen sich 
gezwungen sieht, dem werden sich solche in Fülle ergeben, und 
wer es läugnet, der wird durch Beispiele nicht überwiesen 
werden ; denn der einzelne Fall vermag nichts anderes zu zeigen, 
als dafs diese und jene relativ angenehme VorsteUung so und 
80 lange im BewuTstsein verbleibt Dafs sie nicht so lange ver- 
bleiben könnte, wenn sie nicht angenehm wäre, — diese Ueber- 
zeugung kann nur auf Grund jener weitausblickenden, auf der 
psychologischen Phantasie beruhenden Induction gewonnen 
werden, welche jeder für sich besorgen mufs". Die „psycho^ 
logische Phantasie" in allen Ehren: aber die summarische Be- 
rufung auf sie möchte in einem Falle denn doch allzu summa- 
risch sein, in dem der Autor selbst nachträglich auf Gegen- 
instanzen aufmerksam zu machen hat, von denen er sicher zu- 
geben wird, dafs sich mindestens darüber streiten lasse, ob es 
ihm gelungen sei, sie zu beseitigen oder nicht. 

Näher handelt es sich auch da um die Würdigung ziemlich 
alltäglicher Thatsachen. Jeder hat an sich bereits erfahren, dafs 
sich nicht nur angenehme sondern auch schmerzliche Gedanken 
mit grofsem Nachdruck aufdrängen und behaupten. Melancho- 
lisch Disponirte verweilen auffallend oft und lang bei trüben 
Gedanken. Auch dafs man von Vorstellungen „geplagt" werden 
kann, für die das Attribut „schmerzlich" viel zu gut wäre, die 
aber um so gewisser für lästig bis zur Unerträglichkeit gelten 
dürfen, hat jedermann oft genug erfahren. Eheenfels' Inter- 
pretation des Verhaltens des Melancholikers mag dahingestellt 
bleiben: er meint, einem solchen wären eben die trüben Ge- 
danken angenehm^; ich kann mich schwer der Vermuthung 
entschlagen, die heiteren Gedanken möchten ihm doch noch an- 
genehmer sein, wenn er die trüben nur erst los werden könnte. 
Dagegen kann an Ehbeneels' Stellungnahme zu den beiden 
anderen Punkten hier nicht vorübergegangen werden, ohne auf 
die Besonderheit dieser Stellungnahme ausdrücklich hinzuweisen. 
Es wird von unserm Autor für solche Fälle eben eingeräumt, dafs 
„die von der relativen Glücksförderung herstammenden Einwirkun- 
gen oft paralysirt" werden, und vermuthet, „dafs es aufser den be- 
kannten noch andere wahrscheinlich rein physiologische Theil- 
ursachen giebt, welche den Vorstellungslauf beeinflufsen".^ Der- 

^ A. a. 0. S. 194. 
« A. a. 0. S. 194. 



Zur Begehrungs- und Werthpsychologie, 223 

gleichen Möglichkeiten in Aussicht zu nehmen, ist an sich gewifs 
ganz einwandfrei, wenn man es etwa mit einem so sichergestellten 
Gesetze zu thun hat, wie dem Gravitations- oder Trägheitsgesetz, 
auf deren Analogie sich Ehbenfels beruft. Fliegt ein Stein nach 
aufwärts , so werde ich freilich darauf hin am Fallgesetze noch 
nicht irre werden, zumal wenn ich schon etwas vom Werfen 
gehört habe. Aber beim „Gesetze der relativen Glücksförderung" 
gilt es ja eben erst festzustellen, ob es dergleichen überhaupt 
giebt, und da läfst sich die uns vorliegende Beweisführung wohl 
in die nachstehende Formel fassen : Es giebt Erfahrungen, die für 
ein solches Gesetz sprechen ; es giebt freilich auch solche, die da- 
gegen sprechen : diese letzteren werden aber anders, in einer vorerst 
noch unbekannten Weise zu deuten sein und verschlagen darum 
nichts. Bei dieser Lage der Dinge ^ wird denn doch wohl eine 
nähere Untersuchung abzuwarten sein, ehe man sich entscheidet. 
Den Anfang einer solchen Untersuchung finde ich in der 
eben veröffentlichten Abhandlung „Ueber den Einflufs der Ge- 
fühle auf die Vorstellungsbewegung" von R. Saxingeb 2, der sein 
Ergebnifs in dem Satze formulirt: „Das längere Beharren der 
Vorstellungen und das öftere Auftauchen derselben im Bewul'st- 

sein beruht , insoweit überhaupt Gefühle in Betracht 

kommen, stets auf einer Einwirkung actueller Gefühle. Diese 
Einwirkung geht sowohl von Lust- als auch von Unlustgefühlen 
aus. Und zwar sind die Lustgefühle in dieser Beziehung nicht 
axiders gestellt als die Unlustgefühle. Nicht die Qualität, sondern 
die Intensität der Gefühle ist das für den Einflufs der Gefühle 
auf die Vorstellungsbewegung maafsgebende Moment".^ Die 
Acten werden durch diese Aufstellung voraussichtlich npch 
nicht geschlossen sein: doch kann ich für jetzt nicht umhin, 
dieses Ergebnifs den mir bekannten Thatsachen erheblich ge- 
mäfser zu finden als das Vorstellungsgesetz der „relativen Glücks- 
förderung". 



* Die an sich recht ansprechend concipirte physiologische Hypothese 
S. 196 ff. ist natürlich kein Beweis. Auch möchte ich ihre Würdigung liebei; 
dem ph}^siologischen Fachmanne überlassen. 
. « Zeitschrift f. Psychologie 27, S. 18ff. 
. » A. a. 0. S. 28- 



224 Achtes KapiM, 

§50. 

Das Begehrungsgesetz der „relativen Glücks- 

förderung". 

Nach dem Vorstellungsgesetze von der relativen Glücks- 
förderung ist nun auch das Begehrungsgesetz von der relativen 
Glücksförderung einer kurzen kritischen Erwägung zu unter- 
ziehen. Die sozusagen methodologische Schwierigkeit, dafs wir 
streng genommen in keinem einzigen Falle vöUig sicher wissen, 
ob „relative" Glücksförderung wirkhch vorliege, hat natürlich auch 
hier ihre Anwendung. Indefs mag in diesem Falle das Auskunfts- 
mittel gelten, dafs von absoluter Glücksförderung doch wohl auf 
relative geschlossen werden darf. Ist uns also während der Be- 
gehrung besser zu Muthe als vor derselben, dann mag ja wirk- 
lich im Ganzen wenig Triftiges gegen die Vermuthung zu sagen 
sein, dafs es wohl auch mit der relativen Glücksförderung seine 
Bichtigkeit haben werde, d. h. dafs es uns zur Zeit der Be- 
gehrung ohne diese minder gut zu Muthe wäre als thatsächlieh 
der Fall ist: wir haben ja überdies bereits gesehen^, dafs unser 
Autor in betreff der Begehrungswahmehmung von diesem Ge- 
sichtspunkte Gebrauch macht. 

Aber wenn so thatsächlieh nur die absolute Glücksförderung 
empirisch greifbare Instanzen darbietet, warum handelt das Ge- 
setz nicht von der absoluten Glücksförderung, warum vielmehr 
gerade von dem, was der Empirie gar nicht zugänglich ist? 
Was damit gewonnen wird, läfst sich freilich leicht sagen: es 
ist die Möglichkeit, dort, wo ein Begehren ohne absolute Glücks- 
förderung auftritt, immer noch einen dem Gresetze günstigeren 
Sachverhalt in betreff der relativen Glücksförderung zu ver- 
muthen. Wirklich ist man so davor gesichert, durch die Em- 
pirie widerlegt zu werden. Wird aber solcher Mangel an Gegen- 
instanzen nachdrücklicher zu Gunsten des Gesetzes sprechen, 
als es etwa für eine Theorie der Farbenempfindungen sprechen 
mag, wenn ein Blinder keine ihr entgegenstehenden Erfahrungen 
aufzuweisen hat? 

Was also zu Gunsten unseres Gesetzes vorliegt, wird am 
Ende doch nur etwa in die Form folgender Erwägung zu 
bringen sein : Es giebt Begehrungen, die ziemUch wahrscheinlich 



^ Vgl. oben S. 220 f. 



Zur BegehrungS" und Werthpsychologie. 225 

mit relativer Glücksförderung zusammengehen ; das sind die Be- 
gehrungen mit absoluter Glücksförderung. Man mag darauf hin 
die Eventualität eines Gesetzes relativer Glücksförderung ins 
Auge fassen. Es giebt aber auch Begehrungen ohne absolute 
Glücksförderung: dafs sie auch ohne relative Glücksförderung 
wären, läfst sich nicht wohl behaupten, freilich hauptsächlich 
deshalb, weil wir zur Zeit überhaupt kein rechtes Mittel in der 
Hand haben, über relative Glücksförderung anders als auf dem 
Umwege über die absolute Glücksförderung etwas zu erkennen. 
Die MögUchkeit eines Gesetzes der relativen Glücksförderung 
kann also immerhin in Erwägung gezogen werden: es aber 
einigermaafsen wahrscheinlich zu machen, möchte unter diesen 
Umständen auf alle Fälle recht schwer halten. 

Natürlich wird für denjenigen, der trotz so ungünstiger 
Sachlage sich doch gern eine Ansicht bilden möchte, die relative 
Häufigkeit der dem vermutheten Gesetze günstigen Fällen gegen- 
über den uncharakteristischen Fällen von Belang sein: Näheres 
hierüber aber hat unser Autor, der gerade in dieser Sache über- 
haupt mit dem Hinweis auf concrete Thatsachen sehr zurück- 
haltend ist, meines Wissens beizubringen unterlassen. Nun ist ein 
aus dem Ganzen der persönlichen Erfahrungen ohne theoretische 
Hülfsmitel versuchter Ueberschlag hier gewifs eine nichts weniger 
als vertrauenswürdige Sache. Soll ich gleichwohl einen wagen, 
so kann ich das Ergebnifs dem in S.ede stehenden Gesetze 
keineswegs günstig finden. Mir begegnen ja ohne Zweifel Be- 
gehrungen mit „absoluter Glücksförderung", also in gewöhnlicher 
Redeweise ausgedrückt solche Begehrungen, die von einem Ge- 
fühle der Befriedigung oder dgl. begleitet sind, das man mit der 
Begehrung in Zusammenhang zu bringen keinen Anstand nehmen 
wird. Es scheinen zumeist Fälle zu sein, wo die gewöhnliche Auf- 
fassung in der Begehrung selbst einen Schritt zur Verwirkhchung 
des Begehrens sieht und darauf hin auf diese Verwirklichung 
hofft, also zunächst beim zuversichtlichen Wollen. Es giebt auch 
Wünschen, das von Hoffnung begleitet ist : die Vulgärauffassung 
wird hier nicht glauben, dafs das Hoffen vom Wünschen komme; 
doch soll dies an dieser Stelle weiter nicht urgirt werden. Solchen 
Begehrungen mit Lustgefühlen^ steht nun aber eine ganz be- 

^ Das Gewicht dieser Instanzen wird zum üeberflufs noch von Ehbbn- 
FELS selbt abgeschwächt, vgl. a. a. O. S. 37, dazu H. Schwabz in der Viertel- 
jdhrischrift f. wiss. Philos. 1899, S. 222 f. 

Zeitschrift für Psychologie. £rg.-Bd. II. 15 



226 Achtes Kapitel, 

trächtliche, mir scheint geradezu eine erdrückende Menge von 
Wollungen und Wünschen gegenüber, an denen begleitende Ge- 
fühle entweder überhaupt nicht wahrzunehmen sind, oder wo 
diese unverkennbar Unlustcharakter haben. Ich glaube nicht, 
dafs unter solchen Umständen statthafterweise auf die günstigen 
Fälle ein auch die so zahlreichen undeutlichen Fälle umfassen- 
des Gesetz gegründet werden könnte. 

Ich habe bisher die Begehrungen ohne begleitende Gefühle 
und die von Unlust begleiteten Begehrungen als „undeutliche" 
zusammengefaTst und nur ihrer Anzahl nach in Betracht ge- 
zogen. Es mufs nun aber schliefslich doch auch die Frage auf- 
geworfen werden, ob dadurch im Entgegenkommen gegen die 
Theorie der „relativen Glücksförderung" nicht bereits zu weit 
gegangen war. Es sind die mit Unlust verknüpften Begehrungen, 
welche in diesem Sinne noch besonders erwogen werden müssen. 
Man kann sie analog den wiederholt erwähnten Begehrungen mit 
„absoluter Glücksförderung" als solche mit „absoluter Glücks- 
schädigung" bezeichnen und dann auch weitere Analogien geltend 
machen. Wenn es nämlich recht ist, absolute Glücksförderung 
als Anzeichen für relative zu behandeln, so wird Aehnliches für 
die Glücksschädigung kaum mehr als billig sein. Dann sind 
aber Begehrungen mit absoluter Glücksschädigung nicht mehr 
blos undeutliche Fälle: sie sind vielmehr Gegeninstanzen gegen 
das Gesetz von der relativen Glücksförderung. 

Es gewinnt unter solchen Umständen natürhch noch er- 
höhten Belang, ob es Begehrungen mit absoluter Glücksschädi- 
gung auch wirklich giebt: aber mir scheint, die Erfahrung läfst 
auch bei sorgsamster Prüfung keinen Zweifel hierüber auf- 
kommen. Den Wollungen mit guter Zuversicht stehen solche mit 
schlechter gegenüber : oder sollte, wer den Kampf gegen Mächte, 
an deren Besiegbarkeit er kaum glauben kann, gleichwohl auf- 
nimmt, dabei glücklicher sein, als wer sich resignirt in das nahe- 
zu Unvermeidliche fügt? Deutlicher noch ist aber hier das 
Wünschen : wen die Sehnsucht nach einem Unerreichbaren über- 
kommt, der ist in der Regel um ein Leid reicher und nicht um 
eine Freude. Warum hätte man sonst so oft in der Wunschlosig- 
keit das wahre Glück zu sehen versucht ? Ich meine keineswegs, 
dafs man darin Recht hatte: aber das Gesetz von der relativen 
Glücksförderung ist, auf alle Begehrungen bezogen, das ent- 
gegengesetzte Extrem, das mir sonach nicht nur unbewiesen und 



it 



Zur Begehrunga- und Werthpsychologie, 227 

schwer wahrscheinlich zu machen, sondern direct den That- 
sachen entgegen und deshalb unannehmbar scheint. 

Ist das über die beiden Gesetze von der relativen Glücks- 
förderung Ausgeführte richtig, dann fallen mit diesen beiden 
Gesetzen natürHch zugleich auch die beiden Hauptstützen der 
Begehrungsreduction, die sich uns überdies bereits unter einem 
anderen Gesichtspunkte ^ als unhaltbar herausgestellt hat. Ganz 
nebenbei sei hier noch berührt, dafs mir bei dieser auch auf die 
Eigenschaft des Begehrens, sich in der „Enge des Bewufstseins" 
zu „behaupten", mehr Gewicht gelegt erscheint, als sie verdienen 
dürfte. Speciell die Lösung des Motivenconflictes so zu denken, 
dafs der Sieger sozusagen der Beharrlichere, der Besiegte ein- 
fach der Verdrängte wäre, scheint mir den Thatsachen durch- 
aus nicht immer gemäfs. Mit dem Kinde freiUch, das Unerfüll- 
bares wünscht, wird man am leichtesten fertig, indem man es 
„auf andere Gedanken bringt", wie man zu sagen pflegt. Der 
Erwachsene aber kommt über Gegenmotive sicher nicht nur in 
der Weise hinweg, dafs er „auf sie vergifst"; auch die Ver- 
suchung hat der noch nicht wirklich überwunden, der ihr nicht 
ins Auge sehen kann, ohne wieder wankend zu werden. 

§51. 

Die „Einschaltung" in die „subjective Wirk- 
lichkeit". 

Es ist in den bisherigen kritischen Erwägungen von der 
„Ein- und Ausschaltung in das und aus dem Causalgewebe der 
subjectiven Wirklichkeit" mit keinem Worte die Rede gewesen. 
Ein Eingehen auf sie schien mir entbehrlich, soweit es sich nur 
um die Stellungnahme zur Begehrungsreduction handelte. Nun 
mufs aber diese „Ein- und Ausschaltung" um ihrer selbst willen 
noch besonders zur Sprache kommen als derjenige Punkt der in 
Rede stehenden Ausführungen Ehbenfels', der mit dem Haupt- 
gegenstande unserer den Annahmen zugewendeten Untersuchung 
in nächstem Connex steht. 

Fürs Erste freilich habe ich auch in dieser Sache Einwen- 
dungen zu erheben. Dafs eine solche „Ein- oder Ausschaltung" 
jeder Begehrung wesentlich sei, mufs ich angesichts der Er- 



^ Vgl. oben § 48. 

15* 






228 ^chU$ Kapitd. 

fahrung aufs Bestimmteste in Abrede stellen, wenigstens solange 
wir unter jener Ein- und Ausschaltung das meinen, was diese Worte 
bedeuten und was auch der vom Autor gegebenen Beschreibung 
gemäfs ist.^ Es wird ja gewifs vorkommen, dafs der Begehrende 
das, was er begehrt, in irgend einer Causalrelation zu sich selbst 
denkt: darin aber auch nur die Regel zu sehen, schiene mir 
schon für die Durchschnitts wollungen oder gar -Wünsche des 
täglichen Lebens äufserst gewagt An Ausnahmslosigkeit einer 
solchen Regel aber ist, wenn ich einigermaafsen recht sehe, ent* 
femt nicht zu denken. Freilich, wer etwa eine Turnübung be- 
wältigen will, die ihm bisher nicht gelungen ist, dem ist es sehr 
wesentlich, dafs er derjenige sei, dem sie nun gelingt Anders 
schon beim Experimentator, der etwa einen Gashahn aufdrehen 
oder die Stärke eines elektrischen Stromes, mit dem er eben ar- 
beitet, durch Vorschaltung eines Widerstandes herabsetzen will 
Noch mehr, wenn einer will, dafs etwas, allenfalls auf seine An- 
ordnung, geschehe, oder gar, wenn er blos Wünsche hat, zu 
deren Realisirung er gar nichts beizutragen vermag. An irgend 
einen Causalzusammenhang mit sich selbst zu denken, wird ihm 
dabei in tausend Fällen ganz fem hegen, und wo er daran 
denkt, wird das oft genug ganz unwesentlich sein. In yöUig 
unverkennbarer Weise aber scheint mir die Empirie verlassen, 
sofern sich unser Autor auf Beispiele wie das Folgende beruft: 
„Wenn ich wünsche, dafs Sokeatbs von seinen Richtern frei 
gesprochen worden sein, oder dafs Beethoven die neunte Sym- 
phonie zu hören bekommen haben möchte, so bringe ich in der 
Vorstellung diese Vorgänge in causale Verbindung mit Dingen 
und Ereignissen, die ich als real ansehe und entweder (wie in 
den angeführten Beispielen) als mitbestimmende Ursachen gegen- 
wärtiger Realitäten, in welchen auch mein Ich enthalten ist, 
oder doch als Wirkungen von gemeinsamen Ursachen, oder als 
mögliche gemeinsame Ursachen künftiger Wirkungen, alles ia 
Bezug auf die gegenwärtige subjective Wirklichkeit verstanden, 
betrachte".' Causalbeziehungen solcher Art mögen sich freilich 
an allen Begehrungsobjecten ausfindig machen lassen : wenigstens 
hat man schon oft behauptet, dafs streng genommen Alles mit 

^ Anders, wenn man unter dem Namen der Ein- und Ausschaltung 
etwas ins Auge fafst, das auf diese Benennung eigentlich keinen Ansprach 
hat. Wir kommen darauf sogleich unten zurück. 

' System Bd. I, S. 218. 



Zwr BegehrungS" und Werthpsychologie. 229 

Allem in Causalrelation stehen müsse. Ich kann freilich auch 
diese Nothwendigkeit nicht einsehen. Wie dem indefs auch sei, 
in einem Falle wie dem von Sokbates oder Beethoven denkt 
der Begehrende normalerweise eben an Sokkates oder Beethoven, 
aber nicht an sich, und ich könnte auch gar nicht absehen, wie 
da durch Hinzutreten des Gedankens an mich etwas, was noch 
nicht Begehrung wäre, zur Begehrung werden oder ihr auch nur 
näher kommen könnte. 

Aber auch noch in einer zweiten Hinsicht mufs ich der 
„Ein- und Ausschaltung" die Bedeutung abstreiten, die Ehben- 
PELS ihr beimifst Sie soll, wie wir sahen, dasjenige sein, was 
hinzutritt, wenn wir einen Gegenstand nicht nur „schlechthin" 
sondern „als wirklich oder imwirklich vorstellen". Nun dürften 
jedoch die Untersuchungen, die wir in den früheren Kapiteln 
dieser Schrift dmrchgeführt haben, uns in den Stand setzen, vor 
Allem zu erkennen, dafs der Gegensatz, um den es sich hier 
handelt, doch nicht blos eine Angelegenheit der Vorstellungen 
ist. Ohne Weiteres zuzugeben ist freihch, dafs sich in dem Zu- 
sätze „wirklich" oder „nicht-wirklich" nicht etwa ein Urtheil 
verräth^: ist aber „wirklich" so viel als „existirend", dann sind 
wir damit jedenfalls vom Object zum Objectiv übergegangen 
und wissen nun auch, dafs dieses, falls kein Urtheil vorliegt, 
durch eine Annahme erfafst sein mufs. Ob ausserdem even- 
tuell noch ein Gedankenschritt hinzukommt, vermöge dessen 
das „als wirklich oder als existirend Vorgestellte" das Sein, 
eines der beiden ihm zugehörigen Objective, als ein — 
immerhin ziemlich absonderliches — Attribut zugewiesen er- 
hält, kann hier unerwogen bleiben: das Wesentliche liegt in der 
Annahme, die jedenfalls auch für sich allein ausreicht. „Als 
wirklich oder nicht wirklich vorstellen" heifst also genauer nichts 
Anderes als affirmativ oder negativ annehmen: das theoretische 
Bedürfnifs aber, aus dem heraus Eheenfels der gewöhnlichen 
Weise, einen Gegenstand „schlechthin" vorzustellen noch zwei 
andere Vorstellungsweisen desselben Gegenstandes zur Seite 
stellen zu müssen meinte, ist ein an sich vollkommen berech- 
tigtes, und es steht zu hoffen, dafs unser Autor selbst durch den 
Hinweis auf die Annahmen diesem Bedürfnisse befriedigend 
Rechnung getragen finden wird. 



* Vgl. a. a. 0. S. 202 f. 



230 iicAee» Kapitel, 

Natürlich entfällt damit zugleich jeder AnlaTs, sich in dieser 
Sache auf das auch der directen Empirie gegenüber wieder 
äufserst fragwürdige Auskunftsmittel der „Ein- und Ausschaltimg^ 
einzulassen. Wird diese aber hier durch die affirmative und 
negative Annahme ersetzt, dann liegt die Frage nahe, ob dieser 
Ersatz nicht auch die UnzukOmmliclikeiten gut zu machen im 
Stande wäre, um deren willen eben zuvor den Begehrungen ein 
regelmäfsiges Zusammengehen mit „Ein- oder Ausschaltungen" 
nicht zugeschrieben werden konnte. In der That, versuchen wir 
es mit diesem Ersätze, so kommen wir zu einem durchaus 
richtigen, uns aber immerhin schon bekannten Ergebnisse. Dais 
eine Begehrung mit einer Annahme Hand in Hand geht, das 
fanden wir^ ja nahezu zusammenfallend mit der Thatsache, 
dafs jedes Begehren sein Objectiv hat, d. h. auf Sein resp. 
Nicht Sein seines Objectes gerichtet ist, einer Thatsache, von der 
bereits erwähnt werden konnte ^ dafs sie auch unserem Autor 
nicht entgangen ist. 

§52. 
Die Annahmen bei der Begehrungsmotivation. 

Erweisen sich die Annahmen sonach als geeignet, den Be- 
dürfnissen Rechnung zu tragen, aus denen die so fragwürdige 
Conception der „Ein- und Ausschaltung" hervorgegangen sein 
dürfte, so hoffe ich nun aber vor Allem zeigen zu können, 
dafs durch Berücksichtigung der Annahmen auch die Lücke aus- 
zufüllen ist, welche durch die obige Ablehnung des Begehrungs- 
gesetzes der „relativen Glücksförderung" nun neuerlich in das 
Verständnifs der Beziehungen zwischen Fühlen und Begehren 
gerissen scheint. Vielleicht stellt sich dabei noch heraus, dafs 
auch das genannte Begehrungsgesetz trotz seiner sonstigen 
Mängel an einem wichtigen Punkte mit der Empirie eine Füh- 
lung hat, die bei Heranziehung der Annahmen gleichfalls auch 
ohne Inanspruchnahme jenes Gesetzes ebenso gut und besser 
hergestellt werden kann.* 

Wir gehen dabei am besten noch einmal von dem aus, was 
bereits die vorpsychologische Beobachtung über das V^rhältnifs 



1 Vgl. oben Kap. VII, § 45. 

2 Oben S. 184. 

* Vgl. unten § Ö4 am Ende. 



Zwr BegehrungS' und Werthpsychologie, 231 

des Fühlens zum Begehron für ausgemacht nimmt. Es kommt 
in der Bereitwilligkeit zur Geltung, mit der man die Frage, 
warum man dies oder jenes begehre, durch den Bescheid für 
erledigt hält, „weil es mir Freude macht", oder „weil es mir an- 
genehm ist", wohl auch „weil ich Werth darauf lege" u. dgl., so 
dafs man eine solche Beantwortung zwar um ihrer Selbstver- 
ständlichkeit willen für nicht eben auf schlufsreich , um so ge- 
wisser aber für unangreifbar richtig hält. Fast ebenso selbst- 
verständlich möchte dabei dem theoretisch Naiven auch dies 
sein, dafs, wenn er sagt, er begehre das Ä, weil es ihm erfreu- 
lich ist, er mit diesem „es", dem also, was ihm angenehm ist, 
nicht etwa das Begehren^, sondern ganz gewifs in irgend einer 
Weise das Begehrte resp. das zu Begehrende meint; und hier- 
über wäre es sicherlich niemals zu einer Unsicherheit gekommen, 
wenn sich diese „Weise" hätte leichter angeben lassen. Hier 
aber eben liegt die alte Schwierigkeit: das Begehrte kann mich 
noch nicht erfreuen, weil es als zu Begehrendes noch nicht 
existirt; Erwartungsfreude kann es auch nicht sein, weil ich es 
besten Falles erst erwarten kann, wenn ich einmal begehre, ins- 
besondere will; die Freude an der blofsen Vorstellung genügt 
ebenfalls nicht, und die allerlei künstUchen Auswege, in die man 
sich durch das Versagen der natürlichen hineingedrängt findet, 
führen auch nicht zu besserem Ziel. 

Nun sind wir aber in der Lage, den mancherlei bereits er- 
wogenen Eventualitäten noch eine weitere, bisher unerwogene 
an die Seite zu setzen. Es handelt sich ja doch zunächst um 
die psychologische Beschreibung des Zustandes, in dem sich das 
Subject vor dem Zustandekommen der Begehrung befindet, 
und da weifs auch wieder bereits die vorpsychologische Er- 
fahrung, dafs man, ehe man etwa zu einem Entschlüsse gelangt, 
sofern man nämlich einigermaafsen Zeit hat, „sich's zu über- 
legen", sich vor Allem in die durch die Wollung zu verwirk- 
lichende Sachlage hineindenkt, d. h. sich klar zu machen sucht, 
„wie es wäre, wenn" sich bereits verwirklicht hätte, was wirklich 
zu machen eben innerhalb unserer Willenssphäre liegt oder doch 
zu hegen scheint. Und wo es sich statt des WoUens um blofses 
Wünschen handelt, wird zwar ein ausdrückliches, zumal ein 



* Insofern zeugt eigentlich schon das vortheoretische Denken recht 
nachdrücklich gegen eine Motivation im Sinne der „Glticksförderung". 



232 ^chte$ Kapitel. 

absichtliches „Ueberlegen" so leicht nicht stattfinden ; aber bevor 
sich einer ein „Luftschlofs^ wünscht, mnfs er es eben erbaut 
haben, und dabei wird der Gedanke daran, „wie es wäre, 
wenn . . . .^, kaum zu yermeiden sein. Nun ist uns aber die 
Natur eines solchen Gedankens bereits wohlbekannt: es ist 
kein Urtheil, aber auch keine blofse Vorstellung; mit einem 
Worte, es ist eine Annahme. Wir haben oben schon gesehen, 
dafs, wer begehrt, das Begehrte nicht nur vorstellt, sondern es 
zum Gegenstande einer Annahme machen mufs, durch welche 
das dem Begehren wesentliche Objectiv gegeben wird. Es steht 
damit in gutem Einklänge, wenn sich nun herausstellt, dafs das 
Objectiv bereits vor dem Begehren zwar nicht unter allen Um- 
ständen gegeben sein mufs, wohl aber mindestens überall da ge- 
geben ist, wo man Grund hat, von einem dem Begehren natur- 
gemäfs vorhergehenden Motivationsvorgange zu reden. 

Nun ist es aber mit der Annahme, dafs das präsumtive Be- 
gehrungsobject existire resp. nicht existire ^ natürlich noch nicht 
abgethan. Es liegt nahe, zu vermuthen, der in Bede stehenden 
Annahme müsse noch eine zweite zur Seite gehen in Betreff 
der Weise, wie die angenommene Existenz oder Nicht-Existenz 
das Gefühlsverhalten des Subjectes in Anspruch nehmen möchte. 
Beide Annahmen könnten dann im Sinne der Relation von 
Grund und Folge mit einander verbunden sein. Aber das Ganze 
wäre dann doch nichts Anderes als was man, freilich ohne auf 
die dabei den Annahmen zufallende wichtige Rolle zu achten, 
unter dem Namen des hypothetischen Urtheils längst mit 
in Betracht gezogen hat. Kurz gesagt: das Motiv der Be- 
gehrung wäre dann die Reflexion darüber, wie es dem Subject 
zu Muthe sein möchte, falls das Gewollte oder Gewünschte er- 
reicht wäre. In der That werden ja solche Reflexionen unter 
besonderen Umständen vorkommen: für die Regel aber zeigt 
die Erfahrung doch ein Betheiligtsein nicht von Reflexionen 
über Gefühle, sondern von Gefühlen selbst; und damit scheinen 



^ Die Zeitbestimmung mufs dabei nicht etwa jedesmal die Gregenwart 
sein: bei WoUungen kann sie es nicht einmal. Ich kann nur Künftiges 
wollen, künftige Existenz oder Nicht -Existenz: die zugehörige Annahme 
mufs sich demgemäfs ebenfalls auf die Zukunft beziehen, auf jene näm- 
lich, der dann eventuell das Wollen zugewandt ist. Wünschen kann dagegen 
auch Gegenwärtiges oder Vergangenes betreffen und darum auch durch 
Annahmen motivirt sein, die auf Gegenwart oder Vergangenheit gehen. 



Zur BegehrungS' und Werthpsychologie. 233 

wir trotz Heranziehung der Annahmen zuletzt doch wieder vor 
die alte Schwierigkeit gestellt zu sein. 

Und dem wäre wirklich so und müfste, so viel ich sehe, 
auch so bleiben, legte nicht die Erkenntnifs, dafs es ein Urtheils- 
artiges giebt, das gleichwohl nicht Urtheil ist, die Frage nahe, 
ob es nicht auch ein Gefühlsartiges geben könnte, das die quali- 
tative GegensätzUchkeit des Gefühls ebenso aufweist, wie die 
Annahme die qualitative Gegensätzlichkeit des Urtheils an sich 
trägt. Es ist das natürlich eine Frage, die einer ebenso ein- 
gehenden Untersuchung bedarf wie jene, durch die ich die That- 
sächlichkeit der Annahmen erwiesen zu haben hoffe. Die Auf- 
gabe wäre aber viel zu weitaussehend, als dafs ich im gegen- 
wärtigen Zusammenhange an sie herantreten könnte. Unter 
solchen Umständen hat es sein Mifsliches, wenn ich hier etwas 
in die Betrachtung einbeziehe, dem als einem erst neu zu 
Legitimirenden gegenüber ich an dieser Stelle sozusagen meine 
wissenschaftUche Pflicht nicht ganz erfüllen kann. Andererseits 
aber möchten doch wohl auch die Annahmen selbst, um die es 
uns hier immer in erster Linie zu thun bleibt, in anderem 
Lichte erscheinen, wenn sich wahrscheinlich machen liefse, dafs 
es auch auf aufser-intellectuellem Gebiete in gewissem Sinne 
Ihresgleichen giebt. In dieser Absicht mögen hier ein paar 
flüchtige Hinweise in einer Sache gestattet sein, die einer ein- 
gehenderen Untersuchung ebenso bedürftig als würdig wäre 
und dieselbe hoffentlich auch in nicht allzuferner Zeit erfahren 
wird. 

§53. 
Phantasiegefühle und Phantasiebegehrungen. 

Die Einfühlung. 

Beim Versuche einer ersten Charakteristik des Thatbestandes 
der Annahmen haben wir uns wiederholt darauf hingedrängt 
gefunden, dieselben als psychische Thatsachen zu beschreiben, 
die eine Art Zwischenstellung zwischen Vorstellung und Urtheil 
einnehmen. Ich meine nun in ganz analogem Sinne behaupten 
zu müssen, dafs es auch psychische Thatsachen giebt, denen 
eine Art Mittelstellung zwischen Vorstellungen und Gefühlen 
zugeschrieben werden mufs. Am deutlichsten belehren hier- 
über Erlebnisse an Kunstwerken, ich meine Erlebnisse, die, 
so alltäglich und bekannt sie waren, der Psychologie und 



234 Ach^ Kapitd. 

Aesthetik bisher doch, wenn ich nicht irre, eine unlösbare Crux 
geblieben sind, und schon dadurch die Vermuthung nahelegen, 
es müfste sich um ein Stück eigenartiger und in ihrer Eigen- 
artigkeit doch noch nicht gehörig gewürdigter, psychischer 
Wirklichkeit handeln. In der That, jene „Furcht" und jenes 
„Mitleid", oder was sonst die Tragödie zu „erwecken" die Auf- 
gabe haben mag, was sind sie eigentlich? Eine Furcht, bei der 
man sich im Grunde doch gar nicht fürchtet, ein Mitleid, das 
näher besehen eigentlich doch gar nicht „weh thut", sind das 
noch „Gefühle", wie man sie in der Psychologie zunächst zu be- 
handeln pflegt? Dafs Manchem, namentlich einem solcher 
Dinge noch Ungewohnten, im Theater ab und zu wirkliche 
Furcht oder noch leichter wirkliches Mitleid beikommen mag, 
soll hier natürlich nicht in Abrede gestellt werden: aber dafs, 
was einem Solchen begegnet, weder das normale, noch das dem 
Kunstwerke gegenüber sozusagen adäquate Verhalten ist, darüber 
ist ja ebenfalls nicht leicht jemand im Ungewissen. 

Die Frage, vor die wir uns hier gestellt finden, gehört be- 
kanntlich unter dem Namen der „Einfühlung" zu den meist- 
verhandelten Problemen moderner Aesthetik. Aber die licht- 
volle Bearbeitung, welche diesem Gegenstande erst neuerlich in 
der Abhandlung St. Witasek's^ zu Theil geworden ist, macht 
auch demjenigen, der durch dieselbe noch nicht alle Schwierig- 
keiten beseitigt finden kann, die Stellungnahme besonders inso- 
fern leicht, als fürs Erste einer Verständigung über Gröfse und 
Beschaffenheit des noch unerledigt scheinenden Restes kaum 
ein Hindernifs im Wege stehen wird. So meine ich vor Allem, 
dafs der genannte Autor das, was er die „Actualitätsansicht" 
nennt, die Meinung nämlich, als läge das Wesen der Einfühlung 
in wirklichen Gefühlen, endgültig widerlegt hat.^ Und auch die 
Position, die er selbst unter dem Namen der „Vorstellungs- 
ansicht" vertritt, der zufolge es sich statt der wirklichen viel- 
mehr um blos vorgestellte Gefühle handelt, wird kaum einen 
Irrthum von Belang enthalten. Aber sie scheint in zwei Punkten 
einer Vervollständigung zu bedürfen, die bezüglich des ersten 
Punktes früheren Ergebnissen der vorliegenden Untersuchungen 



* „Zur psychologischen Analyse der ästhetischen Einfühlung", Zeit- 
schrift f. Psychologie 25, S. Iff. 
2 A. a. O. besonders S. 11 ff. 



2^ Begehnmgs- und Werthpsychologie, 235 

einfach zu entnehmen, bezüglich des zweiten Punktes im gegen- 
wärtigen Zusammenhange hoffentlich nicht allzu schwer zu ge- 
winnen ist. 

Bei der ersten Ergänzung brauchen wir uns hier nicht auf- 
zuhalten: es ist ja nach Früherem selbstverständlich, dafs die 
Gefühle, welche die Vorstellungsansicht für sich in Anspruch 
nimmt, nicht „blos vorgestellt", sondern auch angenommen sein 
werden^, dafs also insofern die „Vorstellungsansicht" genauer 
als „Annahmeansicht" zu benennen wäre. Einen wirklichen 
Dissens mit Witasek dürfte dies kaum zu bedeuten haben. Viel 
eher steht zu vermuthen, dafs der genannte Autor, der zur Zeit 
der endgültigen Conception seiner Abhandlung mit der That- 
sache der Annahmen völlig vertraut war, der damals bereits in 
Aussicht genommenen Veröffentlichung der vorliegenden Unter- 
suchungen nicht hat vorgreifen wollen. 

Kaum weniger selbstverständlich erscheint mir nun aber das 
Bedürfnifs nach der zweiten Ergänzung, wenn es sich dabei 
auch um Thatsachen handelt, denen wir uns vor dem gegen- 
wärtigen Paragraphen noch nicht ausdrücklich zugewendet haben. 
Hält man der Vorstellungsansicht, auch wenn sie zur Annahme- 
ansicht vervollständigt ist, die Actualitätsansicht gegenüber, so 
findet man sich gedrängt, zu sagen : diese postulirt zweifellos zu 
viel, aber jene ebenso zweifellos zu wenig. Dafs ich mich dem 
Kunstwerke gegenüber nur vorstellend und etwa annehmend 
verhielte^, das widerspricht meinen deutlichen Erfahrungen in 
der Regel auf das Entschiedenste. Wenn ich z. B. im zweiten 
Theile von Björnson's „Ueber unsere Kraft" miterlebe, wie 
Elias Sang sich selbst und seine Gegner seinem redlichen Willen 
und seinem Drange nach dem „Unermefslichen" opfert, so fühle 
ich deshalb jenen Drang noch nicht in mir, noch weniger er- 
eignet sich in mir die ganze Stufenleiter von Gefühlen, von der 
heroischen Gefafstheit herab bis zur sinnlos feigen Todesfurcht, 
wie sie der Intention des Dichters gemäfs bei den verschiedenen 
Theilnehmern der dem Tode verfallenen Versammlung dem Zu- 
schauer vor die Augen zu führen ist; aber dafs sich dabei in 
mir neben intellectuellen Vorgängen auch ganz Wesentliches 

^ Vgl. oben Kap. III, § 10 u. 13. 

* Von den eigentlichen „ästhetischen" Gefühlen des Gefallens und 
Mifsfallens und was damit zusammenhängt, sei hier ausdrücklich ab- 
gesehen; wir kommen sogleich unten auf sie zurück. 



236 AchteB Kapitel 

zuträgt, das anderswohin als in das emotionale Gebiet nicht zu 
rangiren ist, darüber scheint mir jeder Zweifel ausgeschlossen. 
Das „Miterleben", so gewifs es nicht wörtlich zu interpretiren 
ist, bedeutete für Vorstellen und Annehmen allein denn doch 
eine viel zu lebhaft gefärbte Metapher. 

Das Wort hat, wo die Begriffe fehlten, in der Theorie 
schon manches Unheil gestiftet, auch das rechte. Es war 
gar nicht unpassend, in betreff des intellectuellen Verhaltens 
dem Kunstwerke gegenüber gern von „Illusion" zu reden: aber 
die Geläufigkeit des Wortes scheint Viele abgehalten zu haben, 
über dessen Sinn nachzudenken und so zu erkennen, dafs es 
sich dabei zunächst um Annahmen handle. Hingegen darf im 
Hinblick auf die emotionale Seite billig gefragt werden, ob der 
Ausdruck „Scheingefühl" überhaupt mehr als ein Verlegenheits- 
wort war. Gleichwohl wäre es nun aber doch vielleicht un- 
gerecht, den Terminus „Scheingefühl" ohne Weiteres ein 
schlechtes Wort zu nennen : denn er gestattet eine Interpretation, 
die den wirklichen Sachverhalt gar nicht ungeeignet charakterisirt 
„Etwas, das einigermaafsen aussieht wie ein Gefühl, genau ge- 
nommen aber doch kein Gefühl ist", wenigstens keines in dem 
Sinne, in dem man natürlicherweise von Gefühl spricht, das 
ist eben die freilich noch nicht allzu genaue Beschreibung, die 
sich mir den in Rede stehenden Thatsachen gegenüber auf- 
drängt. 

Die Gefühlsähnlichkeit kommt an dem, was hier sonach 
vorliegt, nicht nur in betreff des Gegensatzes von Lust und Un- 
lust zur Geltung, sondern auch darin, dafs den mancherlei 
bereits in der Vulgärpsychologie als „verschiedene Gefühle" be- 
handelten Erlebnissen auch hier ganz deutliche Parallelfälle zur 
Seite stehen, deren Verwandtschaft sich in der Anwendbarkeit 
übereinstimmender Benennungen verräth. So behauptet der Un- 
befangene in durchaus natürlicher Aussdrucksweise, Freude und 
Trauer, Furcht und Hoffnung „mit" den Personen des Dramas 
zu erleben. Solchen Aussagen kommt ohne Zweifel das Ueber- 
einstimmende an intellectuellen Voraussetzungen sowie der 
Parallelismus zwischen Urtheil und Annahme nicht wenig zu 
Statten. Aber das genügt nicht: der Zuschauer erlebt wirklich 
etwas in sich. Das ist weder Freude noch Trauer, weder Furcht 
noch Hoffnung im eigentlichen Sinne, aber etwas Aehnliches, 
dafs jedermann die Anwendung der nämlichen Ausdrücke, wenn 



Zwr BegehrungS' und Werthpsychologie, 237 

er sie auch sofort als uneigentlich verspürt, doch ohne Weiteres 
versteht. 

Um aber einem naheliegenden Mifsverständnifs hier sogleich 
vorzubeugen, sei ausdrücklich betont, dafs durch das eben Ge- 
sagte nicht etwa die Eigenart der „ästhetischen Gefühle" ge- 
kennzeichnet sein soll, denen ich das Recht, für Gefühle im 
strengen und eigentlichen Sinne des Wortes zu gelten, keines- 
wegs absprechen möchte. Es ist aber auch leicht, sie von den 
eben besprochenen Thatsachen auseinander zu halten.^ Man 
redet ja selbst heute, in der Zeit so weitgehender Reform- 
freudigkeit in ästhetischen Dingen, von Kunstgenufs, Freude 
am Kunstwerk u. dgl, und nimmt auch nicht leicht Anstand, 
die Eignung zur Erweckung solcher Gefühle etwa der Tragödie 
zuzuschreiben. Aber was wir im „Trauerspiel" ästhetisch mit- 
erleben, ist ja „Trauriges". Jene Kunstfreude, das Wohlgefallen 
am Kunstwerk und was sonst damit in Eine Gruppe zusammen- 
gehört, kurz eben die „ästhetischen (Gefühle " sind sonach etwas 
ganz Anderes als jene Thatsachen, für deren Anerkennung 
seitens der Theorie dm'ch diese Ausführungen erst eingetreten 
wird: es sind echte Gefühle, an deren Zustandekommen diesen 
gefühlsartigen Thatbeständen als deren psychologischen Voraus- 
setzungen zusammen mit den Annahmen ein ganz hervorragender 
Antheil zukommen wird. 

Neu in die theoretische Bearbeitung eintretende Thatsachen 
bieten, da die Sprache dafür zimieist nicht vorgesehen hat, in 
der Regel Benennungsschwierigkeiten. Im Falle der Annahmen 
hat sich die Sprache uns ungewöhnlich entgegenkommend ge- 
zeigt; in betreff der eben statuirten gefühlsartigen Thatsachen 
ist man hingegen auf künstliche Benennung angewiesen. Dafs 
dem Worte „Scheingefühl" nicht alle Eignung hierzu fehlt, wurde 
eben bemerkt; aber es ist dazu eine Umdeutung des gewöhn- 
lichen Wortsinnes kaum zu entbehren. Nicht minder scheint 
mir für die Wahl eines anderen Terminus der Umstand maafs- 
gebend, dafs es einen später zu erwähnenden^ Gesichtspunkt 
giebt, unter dem die sich vielleicht auch schon um ihrer selbst 
willen empfehlende Bezeichnung „Phantasiegefühle" besonders 
angemessen sein dürfte. Ich mufs auch in dieser Sache hier auf 



* Vgl. WiTASBK a. a, 0. S. 4411. 

• Vgl. unten Kap. IX, § 62. 



238 Achtes KapUd. 

tieferes Eingehen verzichten, werde aber immerhin mich für den 
nächsten Bedarf des Ausdruckes „Phantasiegefühl^ bedienen. 

Doch scheint mir zur auch nur ersten Würdigung der so 
benannten Thatsachengruppe unerläTslich , hier einen Umstand 
noch mit in Betracht zu ziehen, der zwar sozusagen aufserhalb 
derselben gelegen ist, gleichwohl aber eine Art neuer Garantie für 
die Richtigkeit der auf sie hinführenden Beobachtungen in sich 
schliefst Wenigstens steht zu erwarten, dafs man an der Existenz 
der Phantasiegefühle zu zweifeln sich um so weniger veranlaTst 
finden wird, je zwingendere Gründe man antrifft, auch auf dem 
Gebiete der Begehrungen etwas Analoges zu statuiren, das dem- 
eemäfs dann auch auf den Namen „Phantasiebegehrungen^ An- 
fpruch hat Dafs dem aber wirklich so ist, dafür ergeben sich die 
deutlichsten Belege wieder aus dem Verhalten zur Kunst Von 
Lesern „spannender^ Romane kann man nicht selten hören, dafs 
sie einen bestimmten Ausgang „wünschen", und auch Bühnenvor- 
gängen gegenüber kommen Begehrungen dieser Art ab und zu 
zum Ausdruck. Man pflegt Letzteres gern als grobes Mifsver- 
stehen der Situation zu verspotten und mag dabei oft genug im 
Rechte sein. Nur mufs doch eingeräumt werden, dafs ähnliche 
Regungen auch demjenigen keineswegs fremd sind, der übrigens 
weit davon entfernt ist, Dichtung mit Wahrheit zu verwechseln. 
Die „Unvemünftigkeit" eines Begehrens, das im Grunde doch 
ganz und gar nicht der Wirklichkeit zugewendet heifsen kann, 
sieht ein Solcher dann bestens ein: aber diese Einsicht kann 
dem Eintreten des als Begehren geschilderten Verhaltens so 
wenig Eintrag thun, dafs man eben billig fragen darf, ob man 
es hier nicht wieder blos mit einem begehrungsartigen That- 
bestande, einer Scheinbegehrung oder lieber Phantasiebegehrung 
zu thun habe. Ich stehe nicht an, auch hier mit Ja zu ant- 
worten: der urtheilsfähige Romanleser hat für die Personen des 
Romans ganz ebenso Wünsche, als er Gefühle für sie hat: und 
diese Wünsche sind streng genommen genau so wenig eigent- 
liche Wünsche, als jene Gefühle eigentliche Gefühle sind. Man 
wird dann, was so das relativ passive Verhalten zur Kunst lehrt, 
leicht auch an mehr activem Verhalten zu ihr bestätigt finden: 
dem Schauspieler zumal wird es oft genug zu wenig sein, blos 
anzunehmen, dafs er fühle oder begehre, und so verschieden 
seine Position dem Kunstwerke gegenüber sonst im Vergleich 
mit der des Zuschauers sein mag, die eine Uebereinstimmung 



2^ BegehrungS' und Werthpsychologie. 239 

wird doch bestehen, dafs auch bei ihm nicht nur Phantasie- 
gefühle, sondern auch Phantasiebegehrungen zu ihrem Rechte 
gelangen. Ich verkenne natürUch keineswegs, dafs auch in dieser 
Sache die Detailuntersuchung erst einsetzen mufs. Für jetzt aber 
kann ich mich der Vermuthung nicht entschlagen, dafs es kein 
ganz geringer Antheil an unserem Verhalten zu Kunstwerken 
sein wird, also wieder kein ganz geringer Antheil an jener „Ein- 
fühlung", was auf die Rechnung dieser Phantasiebegehrungen 
zu setzen sein möchte. Den nächsten Bedürfnissen der weiteren 
Untersuchungen stehen übrigens die Phantasiebegehrungen fem, 
und nur am Ende dieser Schrift wird sich Anlafs finden, noch 
einmal auch auf sie zurückzukommen. 

§54. 
Die Phantasiegefühle als Begehrungsmotive. 

Ich kann mich nun in betreff dessen, was mich zu diesen durch- 
aus vorläufigen Ausführungen veranlafst hat, kurz fassen. Was 
man, wie mir scheint, bisher immer übersehen hat, wenn man 
die Frage nach der Motivationsrelation zwischen Fühlen und 
Begehren aufwarf, das sind die Phantasiegefühle in ihrer Eigenart. 
Ist der Begehrung eines bestimmten Objectes dessen Vorstellung 
vorhergegangen, zusammen mit der dem in Frage kommenden 
Objectiv zugewandten Annahme, dann wird auf diese Annahme 
ganz ähnKch wie auf die beim Erfassen eines Kunstwerkes sich 
einstellenden Annahmen durch ein Phantasiegefühl reagirt, und 
diesem Phantasiegefühle ist in erster Linie jene das Begehren 
„sollicitirende" Kraft beizumessen, die man dem Gefühle zuzu- 
sprechen sich gewöhnt hat trotz der Schwierigkeiten, in die man 
dadurch immer wieder gerieth. Dafs alle diese Schwierigkeiten 
dem Phantasiegefühle gegenüber entfallen, da es ein gegen- 
wärtiges, in seiner Weise ganz wirkliches Gefühl ist, das gleich- 
wohl nicht erst auf die vielleicht dem Begehren vorbehaltene 
Realisirung des Objectes sich angewiesen findet, an das es sich 
knüpft, das leuchtet nun auf den ersten Blick ein. 

Auch einfache Gesetzmäfsigkeiten , welche die Qualität der 
Phantasiegefühle mit der Qualität der durch sie motivirten Be- 
gehrungen in Zusammenhang bringen, ergeben sich nun fast von 
selbst. Im einfachsten Falle führt das lustartige Phantasiegefühl 
auf eine Begehrung im engeren Sinne, das unlustartige auf eine 



240 Ächte9 Kapitd. 

Widerßtrebung. Complicirter gestaltet sich die Sache natürlich, 
wenn mehr als Ein Object sich gleichsam dem Begehren dar- 
bietet, oder eigentlich bereits, wenn zwar nur Ein Object vor- 
liegt, das betreffende Individuum aber sozusagen gründlich genug 
ist, sowohl den Existenz- als den Nicht-Existenzfall in betreff des 
fraglichen Objectes zu berücksichtigen, genauer also, in betreff 
dieses Objectes sowohl die affirmative als die negative Annahme 
zu machen und so das sich an jede dieser Annahmen knüpfende 
Phantasiegefühl auszulösen. Den Vorwurf der Ueberflüssigkeit 
möchte ein solches Vorgehen gewils nicht jedesmal verdienen, 
da das Verhalten gegenüber Existenz und Nicht-Existenz, wenn 
auch keineswegs von einander unabhängig, doch schon dadurch 
wesentlichen Variationen ausgesetzt ist, dafs dem Subjecte ein- 
mal die Existenz, das andere Mal die Nicht-Existenz das „Ge- 
wohntere" sein kann. 

Auf einen eigentlichen Conflict wird man auf diesem Wege 
noch nicht leicht gelangen; um so leichter, wenn mehrere Ob- 
jecte unter einander gleichsam m Concurrenz treten. Auch hier 
wird, wenn es etwa zwischen A und B zu wählen gilt, das ein- 
fachste, aber zugleich primitivste Vorgehen das sein, sich mit 
den beiden Existenzannahmen und den daran sich knüpfenden 
Phantasiegefühlen zu begnügen: man „denkt sich'' eben, wie es 
wäre, wenn -4, und wie es wäre, wenn B verwirklicht vorläge. 
Gründlicher aber ist es wieder, zugleich dem Umstände Rech- 
nung zu tragen, dafs mit der Existenz des A die Nicht-Existenz 
des B verknüpft ist und umgekehrt Ob dann die so auftreten- 
den Phantasiegefühle nach Maafsgabe ihres Intensitätsverhält- 
nisses oder auch anderer Umstände sogleich zu einer nur mehr 
dem Einen Objecte zugewendeten Begehrung führen, oder viel- 
leicht jedes Phantasiegefühl sozusagen seine Begehrung auslöst 
und dann erst die verschiedenen einander so entgegentretenden 
Begehrungen (resp. Widerstrebungen) sich gegen einander 
zu behaupten versuchen, das mufs wohl noch besonderer 
Untersuchung überlassen bleiben. So viel aber scheint mir 
sicher, dafs die Complicationen, die eintreten müfsten, falls der 
Conflict ohne Inanspruchnahme von Annahmen und Phantasie- 
gefühlen ausschliefslich vor dem Forum der Intelligenz aus- 
getragen werden müfste, und die Eheenfels im Wesentlichen 
richtig, wenn auch immerhin mit etwas lebhaften Farbeil, ge- 



r' 



Zur BegehrungS' und Werthpsychologie, 241 

schildert hat ^, normalerweise, d. h. wenn die betreffenden Ueber- 
legungen nicht doch einmal angestellt werden, nunmehr entfallen. 
Damit wird aber zugleich eines der Argumente, ja vielleicht 
geradezu der in der Empirie am besten gegründete unter den 
Beweggründen, gegenstandlos, die sonst zur Acceptirung einer 
Aufstellung von der Art des Gesetzes der „relativen Glücks- 
förderung" geneigt machen konnten. 

§55. 
Vom Motivationsgesetz zur Werthdefinition. 

Es wäre vielleicht anspruchsvoller als bilHg, wollte ich für 
die im vorigen Paragraphen doch nur in erstem Umrisse vor- 
geführte Gesetzmäfsigkeit, von der auch noch ganz unausgemacht 
geblieben ist, ob und in welchem Maafse alle Begehrungen sich 
ihr fügen, ohne Weiteres zum „Motivationsgesetz" erheben. Viel- 
mehr hat die für die folgenden Ausführungen gewählte Ueber- 
schrift nur die Bestimmung, auch äufserlich an die eben zuvor 
in der Anmerkung erwähnte polemische Schrift Ehrenfels' an- 
zuknüpfen, da mir das oben Dargelegte den natürUchen Aus- 
gangspunkt zu bieten scheint zu einer kurzen Würdigung der 
Stellung, welche der genannte Autor in dieser Schrift und sonst 
bei Weiterführung der Arbeiten zur psychologischen Grund- 
legung der Werththeorie meinen Fundamentalaufstellungen gegen- 
über eingenommen hat. Von Nebensächlichem und vollends von 
Aeufserlichkeiten, in Bezug auf welche so ziemüch jeder Gegner 
ohne grofse Kunst ins Unrecht zu setzen ist, soll natürHch auch hier 
nach Möglichkeit abgesehen werden , zumal in dieser Controverse 
Keiner von uns seinen Ehrgeiz darein gesetzt hat, auf dem Anfangs 
eingenommenen Standpunkte möglichst starr zu verharren, und es 
übrigens wenig für sich hätte, den Widerpart erst ausdrücklich 
auf Mängel im Kleinen hinzuweisen, auf die er voraussichtlich 
längst selbst aufmerksam geworden ist. 

Die Frage, die ich hier zwar nicht zum Austrag zu bringen 
Jioffe, aber doch dem Austrage näher führen möchte, betrifft 
das Wesen des Werthes, näher die Natur der psychischen Ge- 
ßchehnisse, an die der Werthgedanke thatsächlich anknüpft. Ich 



^ „Von der Werthdefinitioii zum Motivationsgesetz", Archiv f, systemat 
JPhiloB. 2, S. 114. 

Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. IL 16 



242 Achtes Kapitel 

hatte gemeint, das für alle Werththatsachen charakteristischi 
Verhalten in der Weise gefunden zu haben, wie man durch seine 
Gefühle zur Wirklichkeit als solcher Stellung nimmt : diese Wirk- 
lichkeitsgefühle hatte ich darum als die eigentlichen Werthgefühle 
bezeichnet, den Werth selbst aber in der Fähigkeit eines Exi- 
stirenden zu finden gemeint, unter ausreichend günstigen Um- 
ständen solche „Werthhaltungen" sozusagen auf sich zu ziehen.^ 
Dem gegenüber ist Ehrenfels für die Begehrungen als grund- 
legende Thatsache eingetreten: ihm zufolge wäre Werth-haben 
so viel als Begehrt- werden oder wenigstens Begehrt -werden- 
können. ^ Und dafs der Werth mit dem Begehren enger ver- 
knüpft sein möchte, als ich ursprünglich vermuthet hatte, darauf 
wurde ich nun bald selbst aufmerksam, nachdem mir die Rolle 
klar geworden war, die bei unserem Werthhalten neben der 
Existenz auch die Nichtexistenz des Werthob jectes spielt.* Darauf 
hin hat Ehbenfels die Definition „Werth ist Begehrbarkeit" für 
auch meinerseits fiwjceptirt genommen *, immerhin aber dieser Be- 
gehrungsdefinition des Werthes eine Gefühlsdefinition an die 
Seite gestellt ^ die der meinigen gegenüber Modificationen auf- 
weist, von denen er in einigen unwesentlicheren Punkten zwar 
später wieder zurückgekommen ist**, nicht ebenso in betreff 
dessen, was mir immer noch als das eigentliche Centrum der 
ganzen Frage erscheint. Diese Nebeneinanderstellung der beiden 
Definitionen hat indefs den Eindruck, dafs die Begehrungs- und 
die Gefühlstheorie des Werthes denn doch Gegensätze seien, 
zwischen denen man zu einer Entscheidung wird gelangen 
müssen, nicht zu verwischen vermocht. Wirklich sind seither 
zu Gunsten sowohl der einen als der anderen Weise, die Werth- 
theorie zu begründen, Stimmen laut geworden ' : mir selbst aber 
bietet sich erst jetzt Gelegenheit, vor Allem zu constatiren, dafs 
mir bei der Abfassung der Arbeit „Ueber Werthhaltung und 

^ Psychol.-eth. Unters, zur Werththeorie S. 25. 

' Zuerst in den Artikeln über „Werththeorie und Ethik", Vierteljahrs- 
Schrift f. wies. Philos.y Jahrgang 1893, S. 89 resp. 209. 

' Vgl. meine Ausführungen „Ueber Werthhaltung und Werth" im 
Archiv f. systemat. Philos. 1, insbesondere S. 340 f. 

* System der Werththeorie Bd. I, S. 53, Anm. 2. 

^ A. a. 0. S. 54ff. 

« System der Werththeorie Bd. II, S. 262 ff. 

^ Vgl. die Zusammenstellung und Stellungnahme bei M. Beischls^ 
^Werthurtheile und Glaubensurtheile", Halle a. S. 1900, S. 27 ff. 



Zwr BegehrwngS' und Werthpaychologie. 243 

Werth" nichts femer gelegen hat als die Absicht, einer auf das 
Begehren gestellten Werthdefinition Concessionen zu machen, — 
Gelegenheit zugleich, auseinander zu setzen, welche Stellung gegen- 
über der EHRENFELs'schen Doppeldefinition und insbesondere 
gegenüber den an meiner Präcisirung des Werthbegriffes vor- 
genommenen Abänderungen resp. den diesen zu Grunde hegen* 
den Einwendungen mir durch die Natur der Sache geboten scheint 

Nur weniger Worte bedarf die Principienfrage , die an- 
gesichts des Versuches einer Doppeldefinition eine Beantwortung 
heischt : ist von zwei Definitionen für dieselbe Sache nicht jeden- 
falls eine zu viel? Wenn man bedenkt, wie vielerlei man durch 
Aufstellung einer Definition kann leisten wollen, wie vielerlei 
Wege überdies zur Gewinnung einer richtigen Definition sich 
darbieten können, so wird man diese Frage im Allgemeinen 
sicher nicht mit Ja beantworten. In diesem Sinne habe ich auch 
bereits in den „Untersuchungen" der Eventualität einer „künst- 
lichen" Werthdefinition, wie ich hoffe, ausreichende Gerechtigkeit 
widerfahren lassen^; damit war aber zugleich schon aus- 
gesprochen, dafs es mir zunächst um die „natürliche" Definition 
zu thun sei, um die, nicht blos um eine. Genauer: wer fest- 
stellen will, was der Werth ist, wird sich vor Allem darüber 
Rechenschaft geben müssen, woran man thatsächUch denkt, 
wenn man den Dingen Werth beimifst oder abspricht. Ist das 
Wort „Werth" nicht mehrdeutig oder sonst von unsicherer An- 
wendung, so kann es auf diese Frage nur Eine richtige Antwort 
geben, wodurch dann ja nachträgliche definitorische Abänderungen 
und Präcisirungen im theoretischen oder auch praktischen Inter- 
esse keineswegs ausgeschlossen sind. Aber es müssen eben erst 
nachträgliche sein, d. h. man mufs die Eigenart des in Unter- 
suchung genommenen Thatsachengebietes erst einmal im Wesent- 
lichen klargestellt haben, wenn man nicht Gefahr laufen will, 
eben dieser Eigenartigkeit unter den Händen verlustig zu werden. 
In diesem Sinne hatte ich mir die Analyse des Werthgedankens 
zur ersten Aufgabe gemacht: diese kann also nur entweder auf 
das Begehren oder auf das Gefühl, aber keineswegs sowohl auf 
das Eine als auf das Andere führen. 

Ist nun femer die Bestimmung : „Werth ist Begehrbarkeit" 
an sich annehmbar ? Ich habe zu dieser Frage eigentUch bereits 



^ A. a. O. S. 25 Anm. 

16* 



244 Achtes Kapitel 

an der eben erwähnten Stelle der „Untersuchungen" Stellung 
genommen und zwar eine keineswegs geradezu ablehnende. 
Dagegen hat sich mir später ein Gesichtspunkt aufgedrängt, 
unter dem mir die in Rede stehende Position dann lange als un- 
cmnehmbar erschienen ist und der darum auch hier nicht un- 
erwähnt bleiben mag. Dafs Eheentels sich bei der Werth- 
definition statt des einfacheren Gedankens der Begehrtheit Ueber 
des Gedankens der Begehrbarkeit bedient, ist durch die Rück- 
sicht darauf Yeranlafst^ dafs man, was schon ist oder war, 
nicht zum Gegenstande eines Begehrens machen, wohl aber dem 
Existirenden sowie auch dem Vergangenen Werth beimessen 
•kann. Derlei hat also eventuell Werth, ohne begehrt zu sein; 
kann man aber, was man aus den angegebenen Gründen eben 
nicht zu begehren im Stande ist, doch noch begehrbar nennen? 
Wenn nicht, so haben wir es da mit Werthgegenständen zu 
thun. die ni^ht nur nicht begehrt, sondern ebef so wenig be- 
gehrbar sind: die durch Einführung der „Begehrbarkeit" vor- 
genommene Correctur wäre insofern erfolglos. 

Nun finden wir weiter den Sinn dieser Correctur durch nach- 
stehende Interpretation beleuchtet: „Werth schreiben wir den- 
"jenigen Dingen zu, welche wir entweder thatsächlich begehren 
oder doch begehren würden, falls wir nicht von ihrer Existenz 
überzeugt wären".* Dagegen ist in der That formell nichts ein- 
zuwenden, sofern die Bedingung, „falls wir nicht von ihrer 
Existenz überzeugt wären", statthaft ist. Kann ich aber noch 
begehrbar nennen, was nur begehrbar wäre unter einer Be- 
dingung, die unter den vorliegenden Umständen unerfüllbar ist? 
Wäre einem Vergangenen in dieser Weise Begehrbarkeit zu- 
sprechen nicht eben so gut, als wollte man einen Rhombus des- 
halb ein Quadrat nennen, weil er ohne Zweifel die Eigenschaften 
eines Quadrates hätte, wenn seine Winkel nicht schiefe, sondern 
rechte wären? 

Ich habe, wie berührt, diesen Einwand lange für ent- 
scheidend gehalten : es sei nun kurz darauf hingewiesen, warum 
er mich heute nicht mehr überzeugt. Begehrbarkeit ist natür- 
lich so viel als Fähigkeit, begehrt zu werden: Fähigkeit aber 
IsiBjm zwar ohne Bedenken in irgend einer Weise dem, das 



1 Vgl. System Bd. I, S. 52 f. 
« A. a. O. S. 26. 



Zwr BegehrungS' und Werthpsychologie. 245 

fähig ist, als eine Art Eigenschaft zugeschrieben werden, allein 
sie ninunt den übrigen und zunächst so zu nennenden Eigen- 
schaften gegenüber doch eine deutliche Ausnahmestellung ein. 
Im Hinblick auf diese ist vor AJlem der Vergleich mit dem 
Rhombus nicht beweisend. Wie wenig man sich in der That 
behindert fühlt, eine Disposition zu einer Zeit ins Auge zu 
fassen, wo einer Actualisirung derselben Hindernisse im Wege 
stehen, zeigt am eindringlichsten der Gredanke an „Raphael 
ohne Handels wenn man auch vielleicht in der Praxis Anstand 
nehmen wird, einem Radfahrer auch noch nach dauernder 
Lähmung seiner Beine nachzusagen, dafs er „radfahren könne^. 
In unserem Falle aber kommt noch vor Allem in Betracht, dafs 
der Umstand, um deswillen es nicht zur ActuaKsirung der „Be- 
gehrbarkeit^' kommt, die Existenz dessen ist, dem das Begehren 
sich sonst zuwenden könnte : nach den Ausführungen des vorigen 
Kapitels wird gewifs besonders wenig Neigung vorliegen, das 
Objectiv „Existenz" auf gleichem Fufse mit irgend einer Eigen- 
schaft des Existirenden zu behandeln, die dann etwa ein 
Actualisirungshindernifs für die in Betracht kommende Dis- 
position oder Fähigkeit abgeben könnte. Ich werde mir also 
wohl auch Eheenpels' argumentum ad hominem ^ gefallen lassen 
und von einer sozusagen apriorischen Bekämpfung seiner auf 
das Begehren gestellten Werthdefinition Abstand nehmen müssen. 
Anders möchte sich dagegen die Sache stellen, sobald der 
empirische Weg eingeschlagen wird. Schon das tägliche Leben 
weifs, dafs es active und passive Naturen unter den Menschen 
giebt, was speciell auf emotionalem Gebiete darin zur Geltung 
kommt, dafs in betreff der allgemeinen Disponirtheit zum Fühlen 
einerseits und zum Begehren andererseits eine gewisse Un- 
abhängigkeit der Veränderlichkeit besteht. Es giebt also z. B. 
Menschen, welche die Last, die ihnen das Leben etwa auflegt, 
gar wohl spüren, es aber gleichwohl unterlassen, sich dieser Last 
zu widersetzen. Sollte für solche Menschen das Glück keinen 
Werih, das Unglück keinen Unwerth haben? Beispiele dieser 
Art weisen aber nur besonders deutlich auf das hin, was mir 
die Beobachtung im Grunde bei jedem Verhalten gegenüber 
Werthobjecten zu beleuchten scheint, nämlich, dafs dabei jeder- 
zeit in erster Linie die Gefühle und nur in zweiter die Be- 



* Archiv f, systemat. Philos. 2, S. 106 unten. 



246 Achtes Kapitd. 

gehrangen in Frage kommen. Insofern drängen die Thatsachen 
nun doch wieder zur Gefühlsdefinition des Werthes hin, und wir 
haben zu erwägen, was Ehbenfels gegen die von mir versuchte 
Bestimmung derselben einwendet 

Sehen wir von Nebensächlichem ab, auf das ja auch Ehben- 
fels selbst zur Zeit kein Gewicht mehr legt ', so handelt es sich 
da um den Versuch, den Antheil an den Werthgefühlen, den 
ich der Ueberzeugung von der Existenz oder Nichtexistenz des 
Werthobjectes beimesse, „der möglichst anschaulichen, lebhaften 
und vollständigen Vorstellung vom Sein oder Nichtsein des 
Objectes" * zuzuschreiben, der das ürtheil zwar förderlich aber 
keineswegs wesentlich wäre. * Man möchte sich solcher 
Formulirung gegenüber in besonderem Maafse dazu hingedrängt 
fühlen, in betreff der hier in Anspruch genommenen „Vorstellung" 
von Sein resp. Nichtsein auf die früher durchgeführten Unter- 
suchungen über Annahmen und Objective zurückzuverweisen. 
Indes dürfte auch ohne Berufung auf diese Ergebnisse der 
in Rede stehende Versuch als erfolglos erwiesen sein, wenn sich 
zeigen liefse: 1. dafs Werthhaltungen ohne Urtheil überhaupt 
nicht auftreten, mag es übrigens mit der „Lebhaftigkeit etc." 
der verfügbaren Vorstellungen wie immer bewandt sein, 2. dafs 
Werthhaltungen auch ohne besondere Lebhaftigkeit der Vor- 
stellungen sehr wohl anzutreffen sind, 3. dafs der Grundcharakter 
der Werthhaltung, sozusagen deren Vorzeichen, in sein Gegen- 
theil umschlägt, wenn ein eben solcher Umschlag in betreff des 
Urtheiles erfolgt, indefs Veränderungen in der Lebhaftigkeit der 
Vorstellungen nirgends zu ähnlichen Ergebnissen führen. 

§56. 

Noch einmal die Phantasiegefühle. Werthung 

gegenüber Werthhaltung. 

Ich beginne mit dem dritten Punkt, indem ich zum Er- 
weise des darin Behaupteten auf alltäglichste Erfahrungen Bezug 
nehme. Gesetzt etwa, ein Sammler alter Musikinstrumente habe 
um vieles Geld eine Geige erstanden, bei der es ihm, wie in 



1 System Bd. II, S. 262 ff. 
« System Bd. I, S. 62. 
» A. a. O. S. 57 ff. 



Zur BegehrungS' und Werthpsychologie. 247 

solchen Fällen die Regel, nicht auf den Ton, sondern nur auf 
die Echtheit und allenfalls auch auf das wohlerhaltene Aeufsere 
ankommt. Stolz auf seinen Besitz weist er denselben einem Kenner 
vor, mufs sich aber von diesem sagen lassen, dafs er eine neue 
Nachahmung für ein altes Original genommen habe. Welche 
Veränderung hat sich, falls der Sammler dem Sachverständigen 
glaubt, in seinem Werthhalten vollzogen? Eben noch meinte 
er ein echtes Instrument zu begitzen: nun hat er plötzlich er- 
kannt, dafs er ein solches nicht besitzt. Ein blofses. Vor- 
stellen erst des Seins, dann des Nichtseins dieses Besitzes ist 
das, auch wenn sonst nichts dagegenspräche, sicher nicht: noch 
da er an seinen Besitz glaubte, konnte er ganz wohl an die 
Möglichkeit etwa eines Verlustes und demgemäfs eines „Nicht- 
besitzes" gedacht und sich darauf hin seines Besitzes erst recht 
gefreut haben. Diesmal aber ist's kein blofses „sich denken" \ 
sondern ein nur zu deutliches Glauben, und zwar ein Glauben 
entgegengesetzter Qualität im Vergleiche mit dem, das vorher die 
Werthhaltung des Instrumentes begleitete und das, wenn man den 
nun erfolgten Gefühlswechsel in Betracht zieht, doch wohl mehr 
als blofse Begleitthatsache gewesen sein mufs. Das Beispiel ist 
zugleich so gewählt, dafs gar kein Grund vorliegt, eine Ver- 
änderung in betreff der Lebhaftigkeit der Vorstellungen vor und 
nach der bedeutungsvollen Mittheilung des Sachverständigen zu 
vermuthen. Das Instrument ist während der ganzen Verhandlung 
über seine Echtheit in Wahrnehmungsvorstellungen gegeben; 
die erst affirmirte, dann negirte Echtheit aber ist der Conception 
durch eine Wahrnehmungsvorstellung überhaupt nicht fähig. 

Dem Beispiele mit mögUchst lebhaften und anschaulichen 
Vorstellungen sei eines an die Seite gestellt, in dem zunächst 
Einbildungsvorstellungen betheiligt sind, also von Natur wenig 
„lebhafte" Vorstellungen, für deren Anschaulichkeit zudem 
mindestens keine Garantie zu leisten wäre. In unsicheren Zeiten 
geschieht es bekanntlich nicht eben selten, dafs einer Geld und 
sonstige kostbare Habe durch Verstecken, insbesondere etwa 
Vergraben sich zu sichern versucht. Man erwäge nun die Ver- 
schiedenheit der Gemüthslage, in der der Eigenthümer eines 
solchen verborgenen Schatzes an diesen denkt, solange er ihn 
in Sicherheit glaubt, und wenn er erfährt, dafs derselbe auf- 



^ Genauer natürlich „annehmen". 



248 ^ch^ KapiteL 

gefunden und geraubt worden sei. Es wäre hier immerliin 
möglich, dafs die Nachricht von der Plünderung die Vorstellung 
des verlorenen Gutes lebendiger macht: man braucht nun aber 
nur noch anzunehmen, die Plünderungsnachricht, nachdem sie 
eben eingetroffen, stelle sich als falsch heraus, um einen neuer- 
hohen Gefühlsumschlag vor sich zu haben, der diesmal mit einer 
Veränderung in betreff der Lebhaftigkeit der Vorstellungen 
sicher nicht mehr verbunden sein kann. 

Der eben betrachtete Fall kann zugleich bereits als Beleg 
für die zweite der oben aufgestellten Thesen gelten. Und man 
wird dies um so bereitwilliger einräumen können, je öfter man 
thatsächUch mit Gütern, d. i. Werthobjecten zu thun hat, die 
sich entweder schwer oder wohl auch gar nicht durch anschau- 
Uche Vorstellungen erfassen lassen, wie etwa Ehre, öffentliche 
Wohlfahrt, Fortschritt und vieles Andere. Dc^egen verdient die 
erste unserer drei Behauptungen, deren Unverträglichkeit mit 
der EHHENFELs'schen Auffassung besonders deutlich in die Augen 
fällt, eine besonders sorgfältige Erwägung, weil sie auf den 
ersten Bück so wenig die Erfahrung für sich zu haben scheint, 
dafs ein mehr oder minder deutUches Gefühl für diese Discrepanz 
vielleicht dasjenige gewesen ist, was Manchem die Gefühlstheorie 
des Werthes in erster Linie als nicht recht vertrauenswürdig hat 
erscheinen lassen. In der That wird meine Aufstellung : „Werth- 
haltung ist Existenzgefühl^ bereits in der Anwendung, die 
ich ihr in den „Untersuchungen zur Werththeorie" gegeben 
habe, dem Einwände begegnet sein, dafs es ja auch solchen 
Dingen gegenüber ein Werthverhalten giebt, die nicht existiren. 
Oder besteht das „Entbehren^ nicht geradezu darin, dafs man 
auf etwas „Werth legt'', das nicht existirt, so dafs man dessen 
Existenz eben begehrt? Darin mufs nicht sogleich ein Argument 
auch zu Gunsten der Begehrungstheorie des Werthes gefunden 
werden: ich lege auf Vieles Werth, ich „schätze" Vieles, das 
ich darum noch durchaus nicht begehre. Aber das Auseinander- 
fallen von Existenz, genauer von wenigstens vermeintlicher 
Existenz einerseits, Werthgefühlen andererseits tritt hier deutlich 
zu Tage. Vollends unverkennbar scheint sich dieses geltend 
machen zu müssen, wenn es mir, wie meines Wissens von keiner 
Seite bestritten worden ist, gelungen sein sollte, in dem Aufsatze 
über „Werthhaltung und Werth" noch nachträglich zu beweisen, 
dafs für die Bestimmung der Werthgröfse nicht nur der Existenz- 



Zwr BegehrungS' und Werihpsychologie, 249 

sondern auch der Nichtexistenzfall in Frage kommt* Denn 
handelt es sich zugleich sowohl um Existenz als um Nicht- 
existenz, so kann sicher nicht erforderlich sem, dafs das Werth- 
subject mit dem Werthobject in betreff dieser beiden, mit ein- 
ander ja unverträglichen Eventualitäten durch je ein Urtheil 
verbunden sei. Ich kann ja nicht zugleich an die Existenz und 
an die Nichtexistenz glauben: ist die Ueberzeugung aber in 
Hinsicht auf die eine der beiden Möglichkeiten entbehrUch, so 
liegt es nahe genug zu fragen, warum sie denn auch nur für 
eine unerläfslich sein müfste. 

Wie wenig mir selbst die einschlägigen Thatsachen zur Zeit 
der Niederschrift meiner werththeoretischen Aufstellungen fremd 
waren, beweist der Umstand, dafs ich in der eben erwähnten 
Nachtragsabhandlung darauf hingewiesen habe, dafs Werth- 
haltung und Werth unter Anderem auch insofern nicht zusammen- 
fallen, als es normalerweise geradezu unthunlich ist, den Werth 
eines Objectes sozusagen in seiner Totalität durch Eine Werth- 
haltung zu erfassen.* Gleichwohl mufs ich heute anerkennen, 
dafs, indem ich als eme Art Ersatz hierfür auf das ürtheil über 
die Werthhaltungen hingewiesen habe, die sich im Nichtexistenz- 
resp. ExistenzfaUe des betreffenden Objectes einstellen würden», 
in meinen werththeoretischen Aufstellungen eine Lücke geblieben 
ist, die vielleicht nicht zum geringsten Theile dazu beigetragen 
haben könnte, manchem der neueren Bearbeiter der Werth- 
probleme den Aufbau der Werththeorie vom Gefühle aus un- 
befriedigend erscheinen zu lassen. 

Nun hat mich aber dazu, diese Dinge gerade an dieser 
Stelle zur Sprache zu bringen, vor Allem der Umstand ver- 
anlafst, dafs ich mich jetzt durch den Hinweis auf die An- 
nähmen und die sich an diese unter Umständen anschliefsenden 
„Phantasiegefühle" in den Stand gesetzt glaube, die Lücke aus- 
zufüllen und dadurch der Gefühlstheorie des Werthes alle nur 
irgend zu wünschende Vorhältigkeit zu geben. Fürs Erste ist 
es sicherlich kein erfahrungsfremdes Theorem, weit eher der 
Hinweis auf eine bis zur Trivialität selbstverständliche Sache, 
dafs der Arme, der auf Reichthum, oder der Kranke, der auf 



* A. a. O. im Archiv f. systemat Philos. 1, S. 332 ff. 
« A. a. O. S. 342. 
« A. a. 0. S. 343ff. 



250 Achtes Kajntd. 

Gesundheit „Werth legt", dabei nicht nur die Bedeutung der 
ihm so wohlvertrauten Abwesenheit dieser Güter fühlt, sondern 
sich eventuell auch in die Lage des Besitzenden oder des Ge- 
sunden „versetzt", was, wie wir wissen, intellectuell eine An- 
nahme, emotional eines der oben besprochenen Phantasiegefühle 
zu bedeuten hat. Umgekehrt wird auch der Besitzende oder 
Gesunde den Werth dessen, was er vor so Vielen voraus hat, 
erst dann richtig erfassen können, wenn er sich nicht nur 
intellectuell, sondern auch emotional in die Lage des Nicht- 
besitzenden, des Kranken hineinphantasirt. EndUch aber wird es 
ein Werth verhalten auch gegenüber „blofs vorgestellten", genauer 
unbeurtheilten Gegenständen geben können, ohne ihrer etwa der 
Zukunft angehörenden Existenz oder Nichtexistenz etwas zu 
präjudiciren , und dennoch im Hinblick sowohl auf Existenz 
als auf Nichtexistenz. Indem man sowohl Existenz als Nicht- 
existenz annimmt und auf jede dieser Annahmen durch ein 
Phantasiegefühl reagirt, ist das betreffende Object in unmittel- 
barster Weise nach seinem subjectiven Werthe gewürdigt. Es 
bleibt dabei natürlich dem Einzelnen unbenommen, den Sach- 
verhalt auch rein intellectuell zu erfassen, indem er dem be- 
treffenden Objecte die Fähigkeit zuerkennt, Werthgefühle resp. 
die diesen entsprechenden Phantasiegefühle auf sich zu ziehen; 
doch ist dies ein Umweg, der voraussichtlich nur ausnahms- 
weise beschritten werden wird. 

Da ich Grund habe zu vermuthen, dafs Ehrenfels selbst 
keinen Einwand dagegen erheben wird, dafs das, was er „Vor- 
stellung der Existenz resp. Nichtexistenz" nennt, genauer als 
Annahme beschrieben werde, so scheint mir auf Grund des 
eben Dargelegten auch die Aussicht auf ein weitgehendes Ein- 
verständnifs in betreff der „Gefühlsdefinition des Werthes" wohl- 
begründet. Jedenfalls meine ich, in dem eben erörterten Sinne 
auch die erste der obigen drei Thesen einer bejahenden Beant- 
wortung zugeführt zu haben, und finde insofern an meiner Be- 
hauptung „Werthgefühle sind Existenz- (resp. Nichtexistenz-) -Gre- 
fühle" nach wie vor nichts zurückzunehmen. Was mir bei Auf- 
stellung dieser Behauptung aber noch unbekannt war, und die 
sorgfältigste Berücksichtigung verlangt, ist die Thatsache, dafs 
die beiden Objective Existenz und Nichtexistenz nicht nur durch 
das Urtheil sondern auch durch die Annahme erfafst werden 
können, und demgemäfs die Werthgefühle sich nicht nur als 



Zur BegehrwngS' und Werthpsychologie. 251 

Urtheilsgefühle sondern eventuell auch als Annahmegefühle oder 
genauer gefühlsartige Zustände darstellen, durch die das Sub- 
ject dort auf Annahmen reagirt, wo im Urtheilsfalle sich die 
Werthhaltungen einzustellen pflegen. 

Diesen Quasigefühlen gegenüber, in denen wir einen 
speciellen Fall dessen haben erkennen müssen, was oben als 
„Phantasiegefühl" zu benennen sich empfahl, drängt sich natür- 
lich neuerlich das Bedürfnifs auf, welches neu beobachteten That- 
sachen gegenüber zu so vielen Verlegenheiten führt, das Be- 
dürfnifs nach einer angemessenen Benennung. Da der vor- 
theoretische Sprachgebrauch mir ein den besonderen That- 
bestand einigermaafsen charakterisirendes Wort nicht darbietet, 
so will ich versuchen, aus der babylonischen Sprachen Verwirrung 
in betreff der philosophischen Terminologie, unter der alles 
wissenschaftliche Arbeiten auf philosophischem Gebiete immer 
noch in so hohem Maafse leidet^, einmal vorübergehend eine 
Art Vortheil zu ziehen, indem ich einen der hier von der Sprache 
zur Verfügung gestellten Ausdrücke zunächst nach vorwiegend 
subjectivem Dafürhalten auswähle, obwohl ich dadurch dem von 
Ehrenfels und insbesondere von F. Krüger^ bereits in prak- 
tische Anwendung gebrachten Wortgebrauche einen neuen ent- 
gegensetzen mufs. Von den drei zunächst in Frage kommenden 
Ausdrücken „Werthen, Werthhalten, Bewerthen" ^ habe ich die 
beiden letzteren bereits in meinen früheren Veröffentlichungen 
durch Anwendungsvorschläge zu bestimmen versucht: ausdrück- 
lich und wiederholt habe ich Werthhalten als das durch die 
üeberzeugung vom Dasein oder Nichtdasein eines Objectes aus- 
gelöste Gefühl bezeichnet, mehr vorübergehend Bewerthen als 
das blos intellectuelle Erfassen eines Werthes, kurz als Werth- 
urtheil. Der Ausdruck „Werthen" dagegen, der meinem ganz 
persönlichen Sprachgebrauche aus irgend einem zufälligen An- 
lasse besonders fremd geblieben ist*, hat sich mir in Folge 



* Und naturgemäfs immer mehr leiden wird, bis durch Convention 
aller oder doch der meisten Fachgenossen und unvermeidlicher Selbst- 
entäufserung des Einzelnen Wandel geschaffen sein wird. 

2 „Der Begriff des absolut WerthvoUen", Leipzig 1898, bes. S. 30 ff. 

* Vgl. die kleine Zusammenstellung bei Ehrenfels, System Bd. I, S. 70 f. 

* Daher noch die Anmerkung 1 auf S. 343 meines Aufsatzes „lieber 
Werthhaltung und Werth". 



252 ^c^^ Kapitel. 

dessen für weitere Verwendung frei erhalten^, und ist mir nun- 
mehr als einzig in diesem Sinne verfügbarer Terminus will- 
kommen, um den durch die obigen Feststellungen wachgerufenen 
Ausdrucksbedürfnissen in einer mindestens nicht sprachwidrigen 
Weise Genüge zu leisten. Ich will also das Verhalten desjenigen 
als ,,Werthen'' bezeichnen, der auf die Annahme von der Exi- 
stenz oder Nichtexistenz eines Objectes mit dem oben wiederholt 
besprochenen Phantasiegefühl reagirt Werthung ist dann das 
Seitenstück zur Werthhaltung, von dieser dadurch unterschieden» 
dafs das dieser letzteren wesentliche Urtheil durch eine Annahme, 
das ihr wesentliche Urtheilsgefühl durch ein Annahme-Quasige- 
fühl, eben durch ein Phantasiegefühl, ersetzt ist Dafs diese Fest- 
setzung nicht von aller Willkürlichkeit frei ist, darüber gebe ich 
mich, wie berührt, durchaus keiner Täuschung hin: aber mir 
scheint, dafs es ohne jede Willkürlichkeit oder Convention in 
keinem Falle abgehen kann, wo es versucht werden soll, drei 
einander vortheoretisch so nahestehende Ausdrücke im theore- 
tischen Interesse zu differenziren. Aufserdem scheint mir aber 
die Hoffnung begründet, dafs diejenigen, die „Werthung" und 
„Werthhaltimg", wie dies doch bisher die Regel war, promiscue 
anzuwenden sich gewöhnt haben, meinem Vorschlage in dem 
Maafse leichter beipflichten können, in dem sie an den von 
ihnen bisher promiscue benannten Thatsachen die im Hinweis 
auf Annahme und Phantasiegefühl gegebene Beschreibung sach- 
gemäfs finden. 

Solche Ausdrucksweise vorausgesetzt, kann ich nun kurz 
sagen: ich war im Unrecht, wenn ich meinte, dafs alle Werth- 
gefühle oder besser alle Weisen, den Werth anders als einfach 
inteUectueU, d. h. durch Bewerthung zu erfassen, auf Werth-^ 
haltungen, also auf Urtheilsgefühle zurückgehen. Den Werth- 
haltungen stehen eben noch die Werthungen zur Seite, und 



^ M. Reischle referirt insofern nicht ganz genau, wenn er es als meine 
Ansicht bezeichnet, „dafs die Werthungen selbst nur durch ein Werthartheü 
zu Stande kommen" und zum Belege dafür meine Behauptung citirt : „Wenn 
ich ein Object bewerthe, so geschieht dies, indem ich ihm Werth zuerkenne« 
also ein Werthurtheil fälle" (M. Rbischle, „Werthurtheile und Glaubens- 
urtheile" S. 20 f.). Das an sich unwichtige Versehen kann gerade a. a. O.^ 
nachdem der Verfasser unmittelbar vorher Werthung mit Werthhalten 
identificirt hat, zu einer Verkennung des Grundgedankens meiner Werth- 
theorie Anlafs geben. 



Zur BegehrungS' und Werthpsychologie, 263 

diesen kommt jenen gegenüber sogar eine Art Vorzug insofern 
zu, als sie beim emotionalen Erfassen einer Werththatsache niemals 
ganz fehlen dürfen, falls nicht ein wesentliches Moment unberück- 
sichtigt bleiben soD, indefs die Werthhaltungen unter Umständen 
völlig entfallen können, unter denen sich dann die Werthungen 
allein als ausreichend erweisen. Es liegt dies daran, dafs eben 
für den Werth die Rücksichtnahme auf Existenz sowohl als 
Nichtexistenz erforderlich ist, das Subject aber zu gegebener 
Zeit höchstens eines dieser beiden Objective durch ein wirk- 
liches Urtheil zu ergreifen versuchen kann. Diesem einen Ob- 
jectiv entspricht dann die Werthhaltung, indefs ziun anderen 
nur eine Werthung gehören kann, die hier eben an SteDe der 
dem Subject unzugänglichen Werthhaltung eintreten mufs. Da- 
gegen kann es sehr wohl sein, dafs das Subject weder für die 
Existenz noch für die Nichtexistenz eine Ueberzeugung zur 
Verfügung hat: dann stehen dem Subjecte immer noch für 
beide Eventualitäten Annahmen und Phantasiegefühle, also Wer- 
thungen zu Gebote, und die oben ^ besprochene Motivationskraft 
dieser Quasigefühle wird nicht am wenigsten dasjenige sein, 
was den Zusammenhang zwischen Werth und Begehren zu einer 
so auffälligen Thatsache gemacht hat. 

VieDeicht wird es nach dem Gesagten befremden, wenn ich 
nun gleichwohl die Behauptung, dafs die Grundthatsache allen 
Werthes die Werthhaltung sei, nicht gleichfalls zu Gunsten der 
Werthung zu modificiren bereit bin. Das liegt an dem eigen- 
thümlichen Verhältnisse, in dem sich die Phantasiegefühle zu 
den ihnen zugeordneten eigentlichen Gefühlen befinden, und das 
dem zwischen Annahme und Urtheilen oder auch zwischen Ein- 
bildungs- und WahmehmungsvorsteDungen durchaus analog ist 
Annahme wie Einbildungsvorstellung spielen im psychischen 
Leben die Rolle von stellvertretenden Thatsachen, die ihre Be- 
deutung zuletzt doch vor Allem den WahrnehmungsvorsteDungen 
resp. Urtheilen entlehnen, die sie unter Umständen zu ersetzen 
die Aufgabe haben. Ebenso scheinen mir Werthungen und 
Werthhaltungen sozusagen nicht auf gleicher Linie zu ran- 
giren, indem das Eintreten der Werthungen vielmehr eben 
darin seine Legitimation findet, dafs den Werthhaltungen nie- 
mals sowohl Existenz als Nichtexistenz zugänglich, dagegen 

1 Vgl. § 54. 



254 ^^te$ KapiUl 

unter Umständen Eines wie das Andere mangels des erforder- 
lichen Wissens oder doch Urtheilens des Subjectes diesem ver- 
schlossen ist Wo also Werthungen an Stelle von Werth- 
haltungen auftreten, da geschieht dies sozusagen im Namen der 
letzteren, und diese sind es, an die der Werthgedanke seiner 
Natur nach doch zuletzt immer wieder anknüpft. Eine Bestäti- 
gung dieser Auffassung macht sich geltend, wo die Wirklichkeit 
nicht hält, was die Phantasie versprach, indem durch das Urtheil 
nicht jene Grefühle ausgelöst werden, die den durch vorher- 
gehende Annahmen hervorgerufenen Phantasiegefühlen zuge- 
ordnet sind. Man redet da von Täuschung, womit wohl an- 
erkannt ist, dafs unter den Phantasiegefühlen, zunächst also 
Werthungen im Grunde doch die eigentUchen Gefühle, also zu- 
nächst Werthhaltungen „gemeint'^ waren. 



255 



Neuntes Kapitel. 

Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen. 



§ 57. 
Zur Beschreibung der Annahmethatsache. 

Qualität und Intensität. 

Es mufste im Verlauf der vorstehenden Untersuchungen 
wiederholt darauf hingewiesen werden, dafs ihr Fortgang zur 
Einbeziehung ziemhch verschiedenartiger Probleme genöthigt 
hat. So hätte nun auch eine zusammenfassende Uebersicht über 
die Ergebnisse dieser Untersuchungen hier ziemhch Verschieden- 
axtiges zu registriren, dessen Werth nicht nur von dem Maafse 
abhängig sein möchte, in dem es speciell der Erforschung der 
Annahmen förderlich war. Im gegenwärtigen Kapitel aber sollen 
die Annahmen als der eigentliche Vorwurf dieser Darlegungen 
zur ausschliefslichen Berücksichtigung gelangen. Es soll also im 
Folgenden versucht werden, das Wesentliche dessen, was im Bis- 
herigen in betreff der Annahmen festgestellt worden sein möchte, 
in sachüch geordneter Folge zu überschauen und wohl auch 
noch um Einiges weiter zu führen. Es soll dies unter drei Ge- 
sichtspunkten geschehen. Vor Allem soll zusammengestellt 
werden, was einer charakterisirenden Beschreibung der neuen 
Thatsachenclasse dienlich sein könnte. Dann aber soll die Posi- 
tion genauer präcisirt werden, in der sich die Annahmen sozu- 
sagen ihrer psychologischen Umgebung gegenüber befinden, und 
zwar einerseits ihrem wirklichen Vorkommen nach, andererseits 
aber auch der Stellung und Bedeutung nach, die ihnen in einer 
möghchst natürlichen Systematik des psychischen Geschehens 
wird zukommen müssen. 

Indem ich mich hier zunächst der ersten dieser drei Auf- 
gaben zuwende, scheint mir zur Aufsuchung der wichtigsten 



f 



256 Neuntes Kapitel. 

Eigenschaften der Annahme ein willkonmienes heuristisches 
Princip durch den Umstand nahe gelegt, dafs wir in derselben 
ja jedenfalls ein dem Urtheil in mehr als einer Hinsicht ahn- 
Uches psychisches Geschehnifs kennen gelernt haben. Nun ist 
freiUch, wie ich glaube, die Urtheilsthatsache in ihrer charak- 
teristischen Eigenartigkeit in der Psychologie bei weitem noch 
nicht zu der ihr gebührenden Greltung gelangt Aber ohne 
Zweifel ist doch das Urtheil im Vergleich mit der Annahme das 
um Vieles besser Gekannte, und es ist zu erwarten, dafs wenn 
wir nun die für das Urtheil wesentUchen Momente eines nach 
dem anderen vornehmen und daran die Frage knüpfen, ob auch 
bei der Annahme etwas Analoges anzutreffen sein möchte, doch 
einige der für die Eigenart der Annahmen wesentlichen, wenn 
nicht geradezu die wesentlichsten Momente zur Sprache kommen 
werden. 

Und da sind denn vor Allem zweifeUose Uebereinstim- 
mungen zu constatiren. Das Urtheil ist seiner Natur nach ein 
unselbständiger Vorgang; man kann nicht urtheilen, ohne vor- 
zustellen: in ganz der nämlichen Weise ist auch die Annahme 
an das Vorstellen gebunden. Das Urtheil ist femer jederzeit 
«in Thun im Gegensatz zu dem Leiden, d. h. jenem passiven 
Verhalten, das uns etwa im Fühlen, aber streng genommen 
auch im VorsteDen entgegentritt^: auch an der Activität alles 
Annehmens ist nicht zu zweifeln. An jedem Urtheile kann man 
endlich die inhaltUchen, resp. gegenständlichen Bestimmungen 
den aufserinhaltlichen resp. aufsergegenständlichen gegenüber- 
stellen. Dafs man auch dies bei den Annahmen thun kann, 
darf im Hinblick auf die FeststeDungen der vorangehenden 
Kapitel für selbstverständlich gelten. Wir halten uns daher im 
Folgenden an diese Gegensätzlichkeit, um aber, was die gegen- 
ständliche Seite anlangt, neuerlich zunächst auf völlige Ueber- 
einstimmung hinzuweisen. So vor ADem in betreff der vielleicht 
nicht ganz restlos unter den Titel „Gegenständlichkeit" fallenden 
Weise, Gegenstände zu erfassen, die uns am Urtheil als dessen 
„thetische" resp. „synthetische" Function entgegengetreten ist', 
und die wir nicht minder deutlich bei den Annahmen antreffen 
konnten. Sowie ferner jedes Urtheil Object und Objectiv, odei 



^ Vgl. HöFLEB, Psychologie S. 16. 
» In Kap. VI, § 34. 



Ergehnisne. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen, 257 

genauer sein Objectiv und als eine Art Theil desselben sein Ob- 
ject aufweist, so giebt es auch keine Annahme, der das Eine 
oder das Andere dieser gegenständlichen Momente fehlte. Nur 
von Transscendenz , Quasitransscendenz oder dgl. kann bei der 
Annahme selbstverständlich in keinem Falle die Rede sein: 
Gegenstand wie Objectiv bleibt hier unausweichlich immanent. 
Natürhch ist dies aber bereits ein Unterschied, der im Aufser- 
inhalthchen seine Wurzel haben mufs, und im Aufserinhaltlichen 
mufs aus naheliegendem Grunde zuletzt alles Charakteristische 
der Annahme zu suchen sein. Alles Inhaltliche wird ja sozu- 
sagen durch das Vorstellen beschafft, und deshalb müfste der 
Versuch, eine Definition der Annahme zu geben, sich im 
Wesentlichen an aufserinhaltliche Daten halten. Auch beim Ur- 
theil wäre das nicht anders. Aber es zu einer wirkUch befrie- 
digenden Definition des Urtheils zu bringen, darauf scheint die 
Psychologie, zur Zeit^ wenigstens, ganz ebenso verzichten zu 
müssen, als sie nicht daran denkt, eine Definition der Vorstel- 
lung zu geben, oder es ihr bisher geglückt ist, das Gefühl oder 
die Begehrung zu definiren. Auch bei der Annahme dürften 
die Dinge für eine Definition nicht günstiger stehen, und darum 
giebt es hier zur ersten Kenntnifsnahme dessen, was unter einer 
Annahme zu verstehen ist, nichts als den Hinweis auf die directe 
Empirie der inneren Wahrnehmung. Diese praktische Undefinir- 
barkeit, wie man ganz wohl sagen könnte \ hindert den Psycho- 
logen keineswegs, am Urtheile durch Abstraction gewisse charak- 
teristische und in bestimmter Weise variable Momente heraus- 
zuarbeiten: es steht zu erwarten, dafs es damit auch bei der 
Annahme nicht anders bewandt sein wird. Eine gewisse Direc- 
tive gewährt dabei der Umstand, dafs sich das Verhältnifs 
zwischen Urtheil und Annahme, wie sich uns schon am Anfange 
dieser Untersuchung aufdrängen konnte*, durch eine fast 
definitionsartige Aufstellung präcisiren läfst, indem man etwa 
sagt : „Annahme ist Urtheil ohne Ueberzeugung", oder natürhch 
ebenso gut: „Urtheil ist Annahme unter Hinzutritt der Ueber- 
zeugung" oder ähnlich. Definirt ist damit genau besehen natür- 

^ Ob für alle Zeiten, wird dermalen wohl unausgemacht bleiben müssen. 

* Theoretisch wäre sie, wenn das Wesen des Urtheils resp. der An- 
nahme eine Definition ausschliefsen sollte, was möglich ist, wofür ich aber 
keinen Beweis antreten könnte. 

» Vgl. oben Kap. I, § 1. 
Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. IL 17 



268 Neuntei Kapitel 

lieh die Annahme so wenig wie das Urtheil; aber es ist damit 
schon ziemlich deutlich vorgegeben, wie weit ungefähr die Urtheils- 
ahnlichkeit bei der Annahme reichen kann. 

Es ist vor Allem ohne Weiteres klar, dafs das, was man von 
Alters her am Urtheile als dessen Qualität zu bezeichnen 
pflegt, auch bei der Annahme nicht fehlen kann. In den vor- 
stehenden Untersuchungen zumal hat der Hinweis auf die Be- 
stimmtheit in betreff des Gegensatzes von Ja und Nein ein oft 
genug benutztes Kennzeichen dafür abgegeben, dals gegebenen 
Falles entweder Urtheil oder Annahme vorliege, woraus dann 
unter günstigen Umständen durch AusschluTs der Eventualität 
eines Urtheils der Thatbestand der Annahme zu agnosciren war. 
Es giebt also ganz ebenso gut bejahende und verneinende An- 
nahmen, als es bejahende und verneinende Urtheile giebt Ob 
auch noch Annahmen anzuerkennen smd, die ihrer QuaUtät nach 
zwischen der sozusagen extremen Affirmation und extremen 
Negation in der Mitte hegen, das wird sich wesentlich danach 
entscheiden müssen, ob es sich als erfahrungsgemäfs herausteUt, 
im Sinne einer von mir einmal durch einen ganz flüchtigen Hin- 
weis* gegebenen Anregung bereits beim Urtheile Mittelglieder 
zwischen den durch gewisses Ja und gewisses Nein gegebenen 
Gegensätzen zu statuiren. Ich selbst bin seither auf Schwierig- 
keiten dieser Auffassung gestofsen, und meine zugleich einen 
Weg gefunden zu haben, dem Unterschiede von Grewifsheit und 
Sicherheit unter blofser Inanspruchnahme der Intensitätsvaria- 
bilität am Urtheile gerecht zu werden. Aber es möchte an dieser 
Stelle viel zu weit führen, in die genauere Erörterung dieser 
Frage einzutreten: es dürfte genügen, zu constatiren, dafs, wie 
immer die endgültige Entscheidung hier fallen mag, die An- 
nahme jedenfalls der Analogie des Urtheiles wird folgen können. 

Unter diesen Gesichtspunkt fällt dann natürlich auch, was 
von den Annahmen in betreff ihrer Intensität zu sagen ist; 
nur dafs die Selbstverständlichkeit hier nicht in dem MaaTse sich 
geltend macht wie bei der Qualität. Denn während, wie eben 
wieder bemerkt, die Gegensätzlichkeit zwischen Ja und Nein sich 
uns überall als auf den Thatbestand der Annahmen besonders 
leicht anwendbar gezeigt hat, liegt es nicht eben fem, zu ver- 



^ Vgl. meine Besprechung von J. v. Kribs „Principien der Wahrschein- 
lichkeits- Rechnung" in den Gott Gel. Anz. 1890, S. 71 f. 



Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen. 259 

muthen, die Stärke, Intensität oder wie man sonst zu sagen 
hätte, möchte beim Urtheile doch jedenfalls Sache des Ueber- 
zeugungsmomentes sein, also jener Seite der Urtheilsthatsache 
zugehören, die den Annahmen eben im Gegensatze zum Ur- 
theile fehlt. Demnach gäbe es dann keine jener Intensitäts- 
verschiedenheiten an den Annahmen, wie sie uns beim Ur- 
theil in den so verschiedenen Gewifsheits- oder eigentlich ge- 
nauer Ungewifsheitsgraden begegnen, soweit man es dabei 
nicht etwa doch mit den eben berührten qualitativen Verände- 
rungen zu thun hat Von letzterer Eventualität hier also aus 
dem oben angegebenen Grunde abgesehen, wäre kurz zu sagen: 
Liegt die Verschiedenheit zwischen Gewifs und Ungewifs sowie 
den verschiede^en Graden von Ungewifs in dem, was wir als 
Ueberzeugungsmoment nur den Urtheilen zuzusprechen hatten, 
dagegen den Annahmen absprechen mufsten, dann fehlt den 
Annahmen das Analogen zu diesem Unterschiede von Gewifs 
und Ungewifs. 

Nun entspricht dies aber der Erfahrung ganz und gar nicht 
Am Deuthchsten erkennt man dies so ziemlich überall dort , wo 
man sich einigermaafsen theoretisch mit der Bestimmung von 
Wahrscheinlichkeiten beschäftigt Nichts ist da natürlicher als etwa 
zu sagen : „Aus einem Sacke mit weifsen und schwarzen Kugeln sei 
lO-mal hinter einander stets Weifs gezogen worden : es besteht unter 
dieser Voraussetzung eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, auch 
das 11-te Mal Weifs zu ziehen". Die Aufgabe mag dann sein, diese 
WahrscheinUchkeit imter gewissen näher anzugebenden Voraus- 
setzungen numerisch zu bestimmen. Das Genauere einer solchen 
Bestimmimg ist uns hier gleichgültig ; wichtig dagegen die Frage, 
was oder besser die Gröfse wessen da eigentlich einer numeri- 
schen Bestimmung unterzogen wird. OfEenbar handelt es sich 
um die Wahrscheinlichkeit, die aus den vorgegebenen Voraus- 
setzungen folgt Woran hängt aber, wenn man so sagen darf, 
diese Wahrscheinlichkeit? Man wird vielleicht sofort an das 
unter den gegebenen Voraussetzimgen gültige Urtheil denken, 
das natürlich nur eine Vermuthung sein könnte. Aber diese 
Vermuthung liegt ja in Wahrheit gar nicht vor, sondern hätte 
nur unter den vorgegebenen Voraussetzungen ihre Gültigkeit; 
gleichwohl handelt, wer die in Bede stehenden Wahrscheinlich- 
keitsbetrachtungen anstellt, zunächst wieder nicht von Urtheilen, 

sondern von den Kugeln und den Ziehungen. Kurz, es müssen 

17* 



260 Neuntes Kapitel 

hier Erwägungen Platz greifen, wie sie bei der Untersuchung 
der Schlüsse aus suspendirten Prämissen resp. der hypothetischen 
Urtheile anzustellen waren ^ und hier nicht neuerUch darzulegen 
sind. Wir haben es eben auch hier mit Annahmeschlüssen zu 
thun: nicht nur die Prämissen sind, psychologisch besehen, nur 
Annahmen, sondern ebenso auch die Conclusio. Die Conclusions- 
annahme aber ist es, der gegenüber von gröfserer oder geringerer 
Wahrscheinlichkeit die Rede ist; und darin liegt die Thatsache 
beschlossen, dafs Unterschiede dieser Art nicht nur auf Urtheile, 
sondern nicht minder auf Annahmen zu beziehen sind. Ist 
daher, wie ich ja derzeit wirklich für das Nächstliegende halte, 
jenes Mehr und Weniger an Wahrscheinlichkeit Sache der 
Intensität, so sind diesen Stärkeverschiedenheiten die Annahmen 
nicht minder zugängUch als die Urtheile, und diese Verschieden- 
heiten können nicht an demjenigen haften, was das Urtheil als 
„Ueberzeugtheit" vor der Annahme voraus hat. 

Dafs dieses Ueberzeugungsmoment deshalb seinerseits gra- 
dueller Abstufungen unfähig wäre, ist damit natürhch nicht ge- 
sagt; nur dürften dem Obigen gemäfs Ueberzeugtheitsstärken 
nicht mit Gewifsheitsgraden identisch gesetzt werden, weit eher 
vielleicht in dem, was man oft Festigkeit der Ueberzeugung ge- 
nannt hat, zu Tage treten. Jedenfalls ist der ganze Sachverhalt 
noch einer näheren Untersuchung dringend bedürftig, und es 
steht zu hofEen, dafs wenn die hier nur in groben Umrissen dar- 
gelegte Auffassung selbst beliebig weit gehende RichtigsteDungen 
sollte erfahren müssen, doch auch hier die Annahmen und deren 
Untersuchung sich geeignet erweisen werden, neues Licht auf 
die Urtheilsthatsachen zu werfen. 

§ 58. 
Fortsetzung: Evidenz. 

Besonders sorgfältige Erwägung verdient die Frage, ob die 
an den Urtheilen, wie wir wissen, erkenn tnifstheoretisch so funda- 
mentale Thatsache der Evidenz auch bei den Annahmen Ihres- 
gleichen hat, genauer, ob es bei den Annahmen etwas der Ur- 
theilsevidenz ausreichend Aehnliches giebt, dafs man darauf hin 
sich berechtigt finden kann, auch von Annahmeevidenz zu reden. 



1 Vgl. oben Kap. IV. 



Ergebnisse, Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen. 261 

Auf den ersten Blick mag man hier sehr bestimmte Neigung 
verspüren, hierauf mit „Nein" zu antworten und diese Anwort 
mit dem Hinweis darauf zu begründen, dafs es ja ganz und gar 
Sache meiner Willkür ist, ob ich einen bestimmten Gegenstand 
zum Gegenstand einer Annahme mache oder nicht, und ob im 
ersten Falle die Annahme affirmative oder negative Qualität er- 
hält Und in der That, wenn man sich gewöhnt hat, das Ur- 
theil vielleicht in höherem Maafse als der Erfahrung entspricht, 
für unbeeinflufsbar durch Wünschen und Wollen zu halten, so 
mag das in erster Linie darin seine Ursache haben, dafs man 
beim Urtheilen sogleich an das Erkennen, also zuletzt an das 
evidente Urtheilen denkt, die Evidenzthatsache aber ihrer eigen- 
sten Natur nach die MögUchkeit auszuschliefsen scheint, dafs 
das Begehren in irgend einer Weise Macht über sie haben könnte. 

Es ist durchaus dieser Vormeinung gemäfs, dafs man ganz 
aufser Stande ist, eine Annahme namhaft zu machen, der man 
für sich allein irgend etwas wie Evidenz nachzusagen vermöchte, 
oder die etwa ihrem Gegentheil gegenüber irgend etwas an Evi- 
denz voraus hätte. Solcher Annahmen freilich, denen wahre oder 
falsche, evidente oder evidenzlose ürtheile zugeordnet sind, giebt 
es natürlich die Fülle. Aber die Thatsache, dafs das Urtheil 
yjA ist -B" evident wahr oder auch evident falsch ist, ist völlig 
verschieden davon, ob der Annahme „Ä ist -B" Evidenz zukommt 
oder nicht Dies ausreichend fest im Auge behalten, läfst sich 
also sagen : es giebt keine Annahme, die vor anderen Annahmen, 
für sich allein betrachtet, einen Evidenzvorzug aufzuweisen hätte, 
lind auch keine, gegen die, für sich aUein betrachtet, vom Stand- 
punkte irgend einer Evidenzforderung aus Einwendungen zu er- 
heben wären. Insofern ist unserem Annehmen keinerlei Evidenz- 
schranke gesetzt: es gilt das Princip unbeschränkter Annahme- 
freiheit 

Seltsamerweise steht nun aber dieser Freiheit in betreff iso- 
lirter Annahmen eine ganz unverkennbare Gebundenheit gegen- 
über, wenn man eine oder mehrere Annahmen als vorgegeben 
betrachtet und dann weitere Annahmen auf sie bezieht Habe 
ich einmal angenommen, dafs Ä B sei, dann steht es mir nicht 
mehr frei, auch noch anzunehmen, dafs irgend eines dieser Ä 
nicht B sei, es wäre denn, dafs ich die ersterwähnte Annahme 
zuvor aufgebe oder doch unberücksichtigt lasse. Man kann diese 
Thatsache etwa in dem Satze aussprechen : Annahmen sind zwar 



262 Neuntes Kapitel. 

ausnahmslos absolut frei, sie können aber gleichwohl relativ ge- 
bunden sein. Es fragt sich nun nur, wie die Thatsache relativer 
Gebundenheit genauer zu beschreiben ist Sie ist uns in unseren 
bisherigen Untersuchungen ziemUch häufig begegnet, und die 
Auffassung derselben als Evidenz oder doch evidenzartige That- 
sache hat sich uns dabei wohl in ungezwungenster Weise auf- 
gedrängt Es wird aber am Platze sein, hier ausdrücklich nach- 
zufragen, ob nicht etwa auch andere Auffassungen mit einiger- 
maafsen befriedigendem Erfolge heranzuziehen wären. 

VieUeicht wird Manchem naheliegend scheinen bis zur Selbst- 
verständlichkeit , dafs diese „Grebundenheit'^ nicht wohl Anderes 
sein könnte als eine unter gewissen Umständen sich geltend 
machende Nöthigung, so dafs, wer etwa einmal angenommen 
hat, dafs Ä B und B C sei, nun einfach gar nicht anders kann 
als auch annehmen, dafs A C sei, oder dafs er auf diese An- 
nahmen hin mindestens ganz aufser Stande ist, anzunehmen, 
dafs etwa A nicht C wäre. Und man könnte dann weiter ver- 
suchen, diese psychische Nöthigung einer noch allgemeineren 
Oesetzmäfsigkeit zu imterstellen, der dann freilich das oben auf- 
gestellte Princip der absoluten Annahmefreiheit zum Opfer fallen 
müfste. Wäre es nicht ein ganz ansprechender Gedanke, zu ver- 
muthen, dafs wir überhaupt nicht im Stande sind, sozusagen 
gegen unsere bessere Ueberzeugung Annahmen zu machen, d. h. 
etwas anzunehmen, von dem wir bereits wissen, dafs es falsch 
ist? Die Anwendung auf unseren Fall von Syllogismus wäre 
dann einfach genug: dafs nicht zugleich A B, B C und doch 
nicht A C sein kann, das weifs man ja. Allein die eben ver- 
suchsweise aufgestellte Gesetzmäfsigkeit wird durch einfachste 
Erfahrungen widerlegt : jedermann kann sich durch den Versuch 
davon überzeugen, wie leicht er etwa beim trostlosesten Regen- 
wetter sich in die Situation emes wolkenlosen Sommertages 
hineinzudenken, sonach eine Annahme zu machen vermag, von 
deren Falschheit, wie man mehr kurz als genau sagen kann, 
ihn der unmittelbare Augenschein nur zu eindringlich überzeugt 
hat Man könnte darauf hin es mit einer Art Einschränkung 
versuchen, indem man behauptete, es sei zum Mindesten un- 
thunlich, etwas anzunehmen, dessen Falschheit aus der Be- 
schaffenheit des Objectivs heraus, also a priori, einleuchte oder 
sich einleuchtend machen lasse. Aber auch diese Position käme 
mit der Erfahrung in Conflict : ich kann ja auch annehmen, da& 



Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen, 263 

es ein rundes Viereck gebe oder ein Kreis viereckig sei oder dgL, 
so gewifs negative Urtheile auf affirmative Annahmen gestellt 
sind ^ und das unanschauliche Vorstellen der Annahmen bedarf.* 
So versagen, wie es scheint, alle Gesichtspunkte, unter denen man 
versuchen mag, sich das Mü|||en oder Nicht-anders-können doch 
wieder erkenntnifs- teleologisch zurecht zu legen. Gleichwohl 
könnte natürUch die Nöthigung resp. Unfähigkeit zu gewissen 
Annahmen immer noch Thatsache sein: ist sie es aber auch? — 
und wenn sie es wäre, dürfte man in ihr wirklich das suchen, 
was wir eben unter dem Namen der Gebundenheit gewisser An- 
nahmen constatirt haben? 

Was zunächst die erste Frage betrifft, so dürfte für unsere 
Zwecke genügen, darauf aufmerksam zu machen, dafs die Selbst- 
verständlichkeit, mit der man auf eine bejahende Beantwortung 
derselben zu rechnen geneigt sein mag, jedenfalls auf eine 
Täuschung zurückgeht Dafs ich nicht sozusagen in Einem 
Athem annehmen werde, dafs alle Ä B sind und doch eines 
davon nicht -B, das versteht sich freilich, aber doch nur, weil 
das handgreiflich unvernünftig wäre. Ob ich aber diese ün- 
vernünftigkeit nicht leisten könnte, wenn ich etwa erst nur un- 
vernünftig sein wollte, oder es wohl gar wäre, so dafs ich das 
Wollen gar nicht nöthig hätte, das ist doch zum Mindesten 
noch sehr die Frage. Darf ich dem Experimente trauen, das 
ja sehr leicht anzustellen, nur schwer mit ausreichender Zu- 
verlässigkeit zu interpretiren ist, so kostet es gar keine besondere 
Mühe, solche ünvernünftigkeit wirklich zu Stande zu bringen: 
ich kann unmittelbar hinter einander annehmen, sowohl dafs 
alle A B seien, als dafs sie es nicht seien; zweifelhaft ist dabei 
allerdings, ob mir bei der zweiten Annahme die erste aus- 
reichend gegenwärtig bleibt. Ist dies der Fall, und soDte das 
Wort „Annahmefreiheit" nichts besagen als die Fähigkeit, die 
betreffende Annahme unter den gegebenen Umständen zu 
machen, so dürfte man nicht nur von absoluter, sondern auch 
von relativer Annahmefreiheit, im Ganzen also von principiell 
ganz unbeschränkter Annahmefreiheit reden. Jedenfalls bietet, 
sie zu bestreiten, die Erfahrung keinen einigermaafsen sicheren 
Halt. Zugleich erkennt man aber daraus schon, dafs die oben 



* Vgl. oben Kap. V, § 24. 
^ Vgl. oben Kap. VI, § 27. 



264 Neuntes Kapitel, 

aufgestellten Principien von den absolut freien und relativ ge- 
bundenen Annahmen, deren Erfahrungsmäfsigkeit sofort ein- 
leuchtete, in anderem Sinne verstanden sein wollten. 

Damit sowie durch den obigen Hinweis auf das Moment 
der „Vemünftigkeit^ ist nun aber auch schon zur zweiten Frage 
Stellung genommen. Vor Allem ist es am Platze, hier darauf 
hinzuweisen, dafs dem Gedanken an die Nöthigung resp. Un- 
fähigkeit bereits von der Theorie des Urtheils her etwas wie ein 
Präjudiz dafür anhaftet, dafs er sich als eine Art Verlegenheits- 
behelf dort einzustellen pflegt, wo man gern um die einfache 
Anerkennung der Evidenzthatsache herumkommen möchte. Es 
kann ja sogar heute noch begegnen, dafs sich einer deshalb für 
besonders vorurtheilsfrei hält, weil er Nothwendigkeit von 
Nöthigung nicht zu unterscheiden weifs. Auf Mifsverständnisse 
dieser Art näher einzugehen, würde hier natürlich viel zu weit 
führen : doch mag sich ihrer zu erinnern, nicht überflüssig sein, 
wo es gilt, analoge Mifsverständnisse in betreff der Annahmen 
zu vermeiden. In der That, es wird ohne Zweifel Annahmen 
geben, die zusammen zu concipiren etwa um ihrer Compücirtheit 
willen oder auch wegen der mangelhaften Fähigkeiten dieses 
oder jenes Subjectes oder wohl auch aller Subjecte unthunlich 
ist Das ist indels etwas ganz Anderes als die oben unter dem 
Namen der Gebundenheit einer Annahme an eine andere ge* 
meinte Thatsache. Diese Gebundenheit selbst aber gestattet, 
ganz analog wie beim Urtheile, eine viel treffendere Charakteristik, 
als in dem „ich kann nicht anders^' gelegen ist, in einer Wendung 
wie ;yich darf nicht anders^. Dieser Hinweis auf eine Art 
Imperativ aber verräth hier wie beim ürtheil nicht etwa eine 
utilitarische Erwägung wie die, dafs ein solches intellec- 
tuelles Verhalten in diesem oder jenem Sinne am zweck- 
dienlichsten sein möchte. Es kommt darin vielmehr bei der 
Annahme wie beim Urtheil ein natürlicher Werthvorzug zu Tage, 
von dem wir beim ürtheil wissen, dafs er auf dessen Evidenz 
gegründet ist, so dafs wir ihn auch bei der Annahme unge- 
zwungen auf etwas Evidenzähnliches beziehen werden, von dem 
uns ja überdies die directe Empirie deutliches Zeügnifs ablegt 

Annahmen scheint also unter Umständen in derselben Weise 
Evidenz zuzukommen, in der sie ausnahmslos die Bestimmtheit 
in betreff des Gegensatzes von Ja und Nein sowie den Gewifs- 
heitsgrad mit dem Urtheil gemein haben. Wollen wir aber ver- 



Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen, 265 

suchen, diese Annahmeevidenz nun nach den beim Urtheil be- 
währten Gesichtspunkten zu charakterisiren, finden wir uns vor 
die Nöthigung gestellt, die beiden oben aufgestellten Principien 
der absoluten Freiheit und relativen Gebundenheit der Annahmen 
in dem sehr befremdlichen Satze zu vereinigen : Alle Annahme- 
evidenzen sind mittelbare Evidenzen; unmittelbare Annahme- 
evidenz aber giebt es nicht. Denn alle Annahmeevidenz ist Evidenz 
„im Hinblicke"* auf andere Annahmen \ an deren Stelle höchstens, 
a potiori gleichsam, Urtheile treten können. Natürlich genügt 
diese Nebeneinanderstellung, die Unannehmbarkeit der ganzen 
Position in ausreichend helles Licht zu setzen. Wir haben ja 
gesehen, dafs mittelbare Evidenz ihrem Wesen nach keine andere 
Evidenz ist als die unmittelbare, sondern sich von dieser nur 
durch ihre Herkunft unterscheidet ^ davon ganz abgesehen, dafs 
diese Herkunft unvermeidUch auf andere, zuletzt unmittelbare 
Evidenzen zurückweist. Thatsachen also, deren Natur die un- 
mittelbare Evidenz ausschKefst, sind darum ebenso, ja im gewissen 
Sinne noch in erhöhtem Maafse unfähig, mittelbare Evidenz 
aufzuweisen. 

In diesen Erwägungen liegt nun die indkecte Legitimation 
für eine Auffassung, die im vierten Kapitel thatsächlich bereits 
vorweggenommen wurde ^ und sich dort wohl auch direct als 
das NatürKchste, um nicht zu sagen als Selbstverständliches 
präsentirt haben dürfte. Wir haben ja schon am Urtheile einen 
evidenzähnlichen Thatbestand angetroffen, der zwar an die Ueber- 
zeugungsvermittlung, keineswegs aber an die Evidenz der Motive 
sich gebunden zeigte.* Nur mit dieser „relativen Evidenz" ist 
das zu vergleichen, was wir bei den Annahmen als Evidenz 
haben bezeichnen müssen. Wir werden also sagen dürfen: was 
man Evidenz im eigentlichen Sinne nennt, kommt den An- 
nahmen in keinem Falle zu ; dagegen können sie aufweisen, was 
wir am Urtheile „relative Evidenz" genannt haben. Das ist 
keine eigentliche Evidenz: gleichwohl sind dadurch die An- 
nahmen mit den Thatsachen der durch Ueberzeugungsvermitt- 
lung zu erzielenden, d. i. der mittelbaren Evidenz vermöge der 



* lieber den analogen Sachverhalt bei mittelbar evidenten ürtheilen 
vgl. oben Kap. IV, bes. § 17. 

* Vgl. oben a. a. O. 

» Vgl. oben Kap. IV, § 19 f. 

* Vgl. oben § 16. 



266 NeunUi Kapitd. 

Fähigkeit der Annahmen verknüpft, unter geeigneten Umständen 
als Stellvertreter der Urtheile zu functioniren. 



§59. 

Das Verhältnifs der Annahmen zu ihrer psychi- 
schen Umgebung. 

Es ist nicht gerade herkömmlich, den von Alters her sozu- 
sagen wohl accreditirten psychischen Grundthatsachen gegenüber, 
wie etwa denen des Vorstellens und Fühlens, oder auch denen 
des Begehrens und selbst des Urtheilens, die Frage, wann und wo 
sie auftreten, in voller Allgemeinheit aufzuwerfen. Das hat in 
verschiedenen Fällen verschiedene Gründe. Beim Vorstellen ver- 
hält es sich so, weil die Antwort auf die Frage, wann man vor- 
stellt, wohl einfach lauten müTste : immer und überall, wo es Be- 
thätigungen psychischen Lebens giebt Bei den übrigen psy- 
chischen Grundclassen dagegen ist es nicht anders bewandt, 
weil eine ausreichend aUgemeine Antwort auf die sie betreffende 
Frage uns noch keineswegs zu Gebote steht Unter solchen 
Umständen wird demjenigen, der eben daran ist, für etwas wie 
eine neue, bisher noch nicht anerkannt gewesene psychische 
Grundthatsache einzutreten \ kaum ein Vorwurf daraus eiv 
wachsen können, wenn er für die Frage nach dem Wann und 
Wo ihres Auftretens ebenfalls keine ganz bündige Antwort- 
formel bereit hat. Die Frage gleichwohl aufzuwerfen und eine, 
wenn auch noch so unvollkommene Beantwortung derselben dar- 
zubieten, liegt aber doch in allzu deutlich ersichtlicher Weise im 
Interesse des Versuches einer Neuaufstellung, als dafs hier darauf 
verzichtet werden dürfte. Es gilt also nunmehr, die Fälle, in 
denen, resp. die Umstände, unter denen Annahmen im psychischen 
Leben auftreten, in möglichst leicht übersichtlicher Weise zu- 
sammen zu fassen. Es steht ja zu hoffen, dafs die Untersuchungen 
der vorangehenden Kapitel uns mindestens das Wichtigste an 
vorhandenem Thatsachenmaterial zur Verfügung gestellt haben 
werden. 

Indem ich nun nach Gesichtspunkten suche, das auf den 
ersten Blick recht bunte Vielerlei von Annahmethatsachen, denen 



^ Genaueres hierüber wird der nächste Paragraph beizubringen ver- 
suchen. 



ErgebnisBe. Bausteine zu einer Fsychologie der Annahmen, 267 

wir im Verlaufe dieser Untersuchungen begegnet sind, einiger- 
maaTsen zu ordnen, drängen sich mir deren drei auf, unter 
denen sich die mir zur Zeit bekannten Annahmefälle in drei 
ziemlich natürliche Gruppen zusammenschliefsen. Es giebt An- 
nahmen, die als integrirende Bestandstücke fundamentaler in- 
tellectueller Operationen vielfach die wichtigsten einfacheren 
und zusammengesetzteren Bethätigungen unseres Geisteslebens 
mit constituiren helfen; es giebt Annahmen, deren Leistung zu- 
nächst darin gelegen ist, eine psychologische Voraussetzung für 
auTserintellectuelle Bethätigungen abzugeben ; es giebt schliefslich 
Annahmen, die sozusagen für sich und um ihrer selbst willen 
da sind. Findet man, dafs diese Gesichtspunkte einigermaafsen 
ins Teleologische hinüberschillern, so wird man darin kein in 
höherem Grade unstatthaftes Präjudiz finden dürfen als im Her- 
kommen, das Auge als das Organ zum Sehen oder die Lunge 
als das Organ zum Athmen zu betrachten. Von den drei 
Gruppen aber ist die dritte naturgemäfs die der auffälligsten, 
die erste dagegen wahrscheinlich die der wichtigsten und ver* 
breitetsten Annahmethatsachen, jedenfaUs derjenigen, in deren 
Wesen die theoretische Bearbeitung leichter als in das der 
Uebrigen noch etwas tiefer eindringen kann, so dafs wir uns 
dieser Gruppe hier noch besonders zuwenden müssen. 

Es handelt sich da zunächst um die in den Kapiteln IV 
bis VII besprochenen Dinge. Es hat sich gezeigt, dafs eine 
ohne ürtheil auftretende Vorstellung der Annahme bedarf, um 
auf ihren Gegenstand actuell gerichtet heifsen zu können ^ ; und 
wir haben weiter gesehen, dafs dieser Annahme auch noch eine 
Art zusammenhaltender Function zukommt, wenn es sich um 
einen Gegenstand höherer Ordnung handelt.* Ganz und gar an 
die Stelle der Vorstellung tritt die Annahme dort, wo es sich 
um das Erfassen des der Vorstellung unzugänglichen Objectivs 
handelt *, und der Umstand, dafs die Annahmen relative Evidenz 
an sich tragen können, gestattet das Zustandekommen der für 
so viele Denkoperationen wesentlichen Annahmeschlüsse.* Damit 
ist den Annahmen weiteste Verbreitung auf dem Gesammt- 
gebiete intellectueller Bethätigungen gesichert. „Blofses Vor- 

» Vgl. oben Kap. V, § 23 f. 
« Vgl. oben Kap. VI, § 32. 
« Vgl. oben Kap. VII, § 44 f. 
* Vgl. oben Kap. IV, § 19 f. 



268 Neuntes Kapitel. 

stellen^ ohne Annehmen ist zweifellos eine Seltenheit^, und bei 
den Objectiven tritt das Vorstellen hinter das Annehmen ganz 
und gar zarück ; in den Schlüssen mit nicht geglaubten Prämissen 
sowie im hypothetischen Urtheile sehen wir intellectuelle 
Leistungen, die, obwohl herkömmlich dem Gebiete des Urtheils 
zugewiesen, in Wahrheit zum Gebiete der Annahmen gehören, 
üebrigens aber haben wir hier mindestens dreierlei charakteristisch 
von einander verschiedene Leistungen vor uns : das Erfassen der 
Vorstellungsgegenstände einschliefslich der bei Gegenständen 
höherer Ordnung auftretenden Besonderheiten, das Erfassen der 
Objective, endlich die eigenthümliche Verknüpfung von An- 
nahmen in den Annahmeschlüssen, — und man mag billig fragen, 
was denn eigentlich diese so verschiedenartigen Bethätigungen 
als Gemeinsames verbinden möchte. Gleichwohl ist dieses Ge- 
meinsame ohne besondere Schwierigkeit herauszuarbeiten. 

Man braucht zu diesem Ende sich blos zu fragen, was denn 
diesen verschiedenen Leistungen der Annahmen eigentlich ihre 
Bedeutung verleiht. Woher kommt also vor Allem die Rolle, 
die die Annahmen beim Erfassen von Gegenständen spielen? 
Doch ohne Zweifel daher, dafs die Beziehimg auf den Gegen- 
stand zunächst Sache des Erkennens, also jedenfalls des Urtheilens 
ist, die Annahmen aber urtheilsähnlich genug sind, um bei 
mangelnder ErkenntniTs, insbesondere bei mangelndem Urtheile 
für dieses einzutreten. Wo sich an die Vorstellung ein Urtheil 
knüpft, erfolgt das Erfassen des Gegenstandes, gleichviel ob 
höherer Ordnung oder nicht, durch das Urtheil: aber beim 
„blofsen Vorstellen" fehlt eben das Urtheil, und hier ist es das 
jederzeit verfügbare Urtheilsähnliche, was für das Urtheil ein- 
tritt Wie steht es weiter beim Erfassen eines Objectivs? 
Wieder ist das Urtheilen die einer solchen Aufgabe zunächst 
angemessene Thätigkeit. Aber auch dem Objectiv gegenüber 
giebt es ähnliche Bedürfnisse wie die, welche durch die urtheils- 
lose Vorstellung im Gegensatz zu der ein Urtheil tragenden 
Vorstellung erfüllt werden. Erweist sich schon im Falle der 
„blofsen Vorstellung", also dort, wo es sich um Erfassen des 
Objectes ohne Urtheil handelt, die Vorstellung ohne Annahme 
sozusagen zu schwach, so ist sie dem Objectiv gegenüber vollends 
gleichsam kraftlos: auch hier tritt die Annahme für das Urtheil 



' Vgl. oben S. 102. 



Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen, 269 

ein, und sie thut es augenscheinlich vermöge ihrer Urtheilsähn- 
lichkeit. Und versuchen wir uns schliefslich die Sachlage auch 
noch bei den Annahmeschlüssen klar zu machen, so fällt das 
Uebereinstimmende im Ergebnifs nun wieder sofort in die Augen. 
Dafs es bei der Annahme so gut relative Evidenz giebt wie 
beim Urtheile ^ läfst zunächst neuerlich die Verwandtschaft von 
ürtheil und Annahme erkennen. Wichtiger aber ist im gegen- 
wärtigen Zusammenhange, dafs den Annahmeschlüssen entfernt 
nicht die logische Bedeutung zukäme, die sie thatsächlich haben, 
wenn nicht die bei den Annahmeschlüssen zu Tage tretenden 
Gesetzmäfsigkeiten auch für das Urtheil ihre volle Anwendbar- 
keit hätten. Die Annahmeschlüsse wären nichts als eine Art 
IntelUgenzspiel, wenn man nicht an ihnen wie an leicht zugäng- 
lichen Modellen den gröfsten Theil der Arbeit thun könnte, die 
am Urtheil zu thun man so nöthig hätte, und gleichwohl an 
diesem um der Schwierigkeiten willen, die sozusagen am Material 
haften, so häufig gar nicht oder doch nur schwer verrichten 
kann. Mit einem Worte : wieder ist es das Urtheilsähnliche, 
das doch kein Urtheil ist und darum jeder Regung des Wollens 
zu Gebote steht, was in den Annahmen zur Geltung kommt und 
ihnen ihre intellectuelle Bedeutung sichert. Was also allen 
Fällen dieser Gruppe eigen ist, das ist das Auftreten der An- 
nahmen als eben so leicht zugängliches wie leistungsfähiges 
Urtheilssurrogat. 

In betreff der beiden noch übrigen Hauptgruppen von An- 
nahmen ist der oben versuchten Charakteristik wenig beizufügen. 
Habe ich zuvörderst bezüglich der zweiten Gruppe von der 
Function mancher Annahmen als psychologischer Voraussetzungen 
aufserintellectueller Geschehnisse gesprochen, so ist der Ausdruck 
„psychologische Voraussetzung" hier wie auch schon manchmal 
früher in dem Sinne gemeint, der sich mir bereits an anderem 
Orte^ brauchbar erwiesen hat. Weiter wird darüber kaum eine 
Unsicherheit zu beseitigen nöthig sein, dafs mir dabei der An- 
theü vorschwebte, den wir dem Objectiv an verschiedenen, man 
kann wohl sagen den meisten, emotionalen Geschehnissen haben 
zuerkennen müssen.'^ Das, was ich begehre, ist, wie wir fanden, 

^ Vgl. nebst dem vorigen Paragraphen auch Kap. IV, § 16. 
^ Vgl. meine „Psychologisch -ethischen Untersuchungen zur Werth- 
theorie^' an der schon angezogenen Stelle S. 34. 

» Vgl. oben Kap. VII, § 40 u. 45, sowie Kap. Vni. 



270 yeuntes Kapitd. 

nicht eigentlich das Object, sondern das Objectiv, dasselbe gilt 
von dem was ich eigentlich werthhalte resp. werthe. Das Ob- 
jectiv zu erfassen, dazu dient günstigen Falles — so bei den 
Werthhaltungen — das Urtheil, Aber wir fanden diesen 
günstigen Fall bei den Werthen vielfach, bei den Begehrungen 
ausnahmslos unrealisirbar : auch hier functionirt also die An- 
nahme vermöge ihrer Urtheilsähnlichkeit als Urtheilssurrogat. 
Diese bereits an den drei Hauptfällen der ersten Gruppe als 
diesen gemeinsam dargethane Eigenthümlichkeit hat also keinen 
Anspruch darauf, für eine „differentia specifica" unserer zweiten 
Gruppe zu gelten : es ist vielmehr am Ende doch nur der (regen- 
satz von Intellectuell und Emotional, was die erste und die zweite 
Gruppe auseinanderhält. 

Deutlicher noch als die ersten beiden Gruppen unter ein- 
ander ist von ihnen im Ganzen die dritte gesondert, welche 
durch die namentlich in Kapitel in abgehandelten Fälle aus- 
gemacht wird, wo Annahmen selbständig für sich auftreten, — die 
Fälle also, für die oft genug ein besonderer sprachlicher Aus- 
druck, gleichviel ob ein primärer oder ein secundärer \ gegeben 
ist, und mit deren Hülfe der Existenznachweis für die Annahmen 
zu Anfang dieser Untersuchungen am Leichtesten beizubringen 
war. Paradigmatisch für diese Gruppe sind vor Allem die An- 
nahmen in Spiel und Kunst, bei denen etwas wie ein Annahme- 
trieb so gut zur Geltung kommt, als sich sonst etwa ein Urtheils- 
trieb oder dgl. bemerklich macht. Näher besehen ist nun aber 
doch die Scheidung auch dieser Gruppe insbesondere von der 
ersten weitaus keine so strenge, als man auf den ersten Blick 
meinen könnte. Auch diese selbständigen Annahmen haben oft 
genug die Bestimmimg, gewissen intellectuellen Aufgaben zu 
dienen: die aufsuggerirten Annahmen zeigen dies besonders 
deutlich, und die Einordnung in die eine oder die andere Gruppe 
kann dann geradezu zweifelhaft werden. Das ist ohne Frage 
ein theoretischer Mangel, aber ich meine denselben toleriren zu 
sollen, da es hier ja doch nicht auf „gute Arten", sondern auf 
die Kenntnifs der im Annahmenleben gleichsam treibenden 
Factoren ankommt, und dieser Kenntnifs möchte durch die 
Nebeneinanderstellung der in den drei Gruppen sich realisirenden 
Gesichtspunkte fürs Erste Genüge gethan sein. 



* Vgl. oben Kap. H, § 4. 



Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annähmen. 271 

§60. 

Die Annahmen und die Spraclie. Noch einmal das 

Verstehen. 

Vielleicht ist es nicht frei von aller Gewaltsamkeit, zur 
„psychischen Umgebung" eines inneren Erlebnisses auch dessen 
sprachlichen Ausdruck zu zählen ; jedenfalls aber ist es hier am 
Platze, nun auch die Stellung der Annahmen zur Sprache im 
Hinblicke auf die in dieser Schrift durchgeführten Unter- 
suchungen kurz zu präcisiren. Zeigt sich dabei, dafs diese 
Untersuchungen uns in die Lage gesetzt haben, sprachpsycho- 
logische Schwierigkeiten zu überwinden, die sich uns vor Mit- 
berücksichtigung der Annahmen als unlösbar zu erweisen schienen ^ 
so möchte darin zugleich eine neue Stütze des hier über die An- 
nahmen Dargelegten zu finden sein. 

Versucht man sich vor Allem das Verhältnifs der Annahmen 
zu den durch die Sprache zur Verfügung gestellten Ausdrucks- 
mitteln klar zu machen, so kommt dabei die oft erwähnte Mittel- 
stellung der Annahmen zwischen Vorstellen und Urtheilen neuer- 
lich zur Greltung. Vorstellungen finden wir in einzelnen Wörtern 
oder Wortcomplexionen, Urtheile in Sätzen ausgedrückt : dagegen 
stehen den Annahmen als Ausdruck sowohl Wörter wie Sätze 
gegenüber. Genauer dürfte man vielleicht sagen : zunächst Sätze, 
dann aber auch Wörter, und zwar findet das Eintreten der Wörter 
an Stelle von Sätzen seine Erklärung in der Fähigkeit der An- 
nahmen, ihre Objective für weitere intellectuelle Bearbeitung als 
Gegenstände darzubieten. Dadurch leisten die Annahmen für 
Denkgegenstände, was für Vorstellungsgegenstände eben die 
Vorstellungen leisten: finden letztere in Wörtern ihren Aus- 
druck, so ist es durch das analoge Functioniren der ersteren 
verständlich, dafs eventuell auch sie durch Wörter zum Aus- 
druck gelangen, aufserdem aber auch, dafs Sätze, die in be- 
sonderem Maafse dem Ausdrucke von Annahmen dienen, von 
der Grammatik eventuell selbst wie Wörter, resp. Wortcomplexe 
behandelt werden. Als solche Sätze haben wir die „dafs "-Sätze 
kennen gelernt, und können darauf hin auch die eigenthümhche 
Position verstehen, welche die Grammatik den „dafs"-Sätzen ein- 
zuräumen lehrt. 



* Vgl. oben Kap. II. 



272 Nettnte9 Kapitel 

Geht mau nun umgekehrt statt von den Annahmen von 
den Sätzen aus, so ist die im zweiten Kapitel fallen gelassene 
Frage nach den Leistungen des Satzes jetzt unschwer zu beant- 
worten und zwar sowohl nach der Seite des Ausdrückens wie 
nach der des Verstehens. In ersterer Hinsicht bestand die 
Schwierigkeit, auf die wir geführt Mrurden\ darin, dafs wir 
Sätze antrafen, die keine Urtheile auszudrücken hatten: wir 
wissen jetzt, dafs in Sätzen dieser Art Annahmen zum Aus- 
drucke gelangen. Was aber das Verstehen der Sätze anlangt, 
so hatten wir leicht einsehen können ^ dafs hierzu weder ein 
durch den Redenden aufsuggerirtes Urtheil über den vom Re- 
denden vorgestellten Gegenstand, noch vollends ein Urtheil über 
die Meinung des Redenden erforderlich ist : auch hier bietet der 
Hinweis auf die Annahmen gleichsam das positive Complement 
zu jenen negativen Bestimmungen, und gestattet überdies eine 
ganz einfache Formulirung, wenn wir die Thatsache der Satz- 
bedeutung' mit in Rechnung ziehen. Der Satz drückt, wie 
bemerkt, entweder ein Urtheil oder eine Annahme aus; eben 
darum hat er auch jedesmal eine Bedeutung, nämlich das Ob- 
jectiv jenes Urtheils oder dieser Annahme. Das Verstehen des 
Satzes besteht nun einfach im Erfassen dieses Objectivs, und es 
ist insofern einerlei, ob dieses Erfassen durch ein Urtheil oder 
blos durch eine Annahme erfolgt 

Soweit es also gilt, das Minimum dessen zu präcisiren, was 
vorliegen mufs, damit vom Verstehen einer Rede gesprochen 
werden kann, darf man einfach behaupten : der Hörende versteht, 
sofern er annimmt, was der Redende sagt. Besteht also die 
Leistung des gesprochenen Satzes normalerweise mindestens 
darin, eine Annahme auszudrücken, so die Leistung des ge- 
hörten Satzes mindestens darin, im Verstehenden Annahmen 
wach zu rufen. So kommt die Relation, durch die wir oben* 
zuerst die sonst allgemein zwischen Zeichen und dessen Be- 
deutung bestehende Verbindung für den Fall des Verstehens 
von Wörtern und Sätzen zu ersetzen versucht haben, in ge- 
wissem Sinne doch wieder zu ihrem Rechte. Deutlicher und 
genauer aber bleibt es jederzeit, zu sagen: Verstehen eines Ge- 

^ Vgl. oben Kap. II, § 6. 
« A. a. O. § 7. 
» Vgl. oben Kap. VII, § 39. 
* Vgl. Kap. II, S. 33 f. 



Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen. 273 

sprochenen (natürlich auch Geschriebenen) besteht im Erfassen 
seiner Bedeutung. Und obwohl in dieser Formulirung wieder 
ganz ausdrücklich von „Bedeutung", dem herkömmlichen Correlate 
zu „Zeichen", die Rede ist, so läfst gerade diese Fassung 
besonders deutlich erkennen, wie wenig eigentlich durch die 
einfache Subsumtion der Sprache unter den Zeichenbegriff die 
wichtigsten Functionen derselben zu ihrem Rechte gelangen. 

Es scheint, dafs alle Satzarten, deren die Grammatik ge- 
denkt, Annahmen ausdrücken können: man wird indefs kaum 
Anstand nehmen, die Eignung hierzu den im weitesten Sinne 
des Wortes unselbständigen Sätzen in hervorragendem Maafee zu- 
zuschreiben. Zwar können auch sie unter besonderen Umständen 
ganz wohl Urtheilsausdruck sein : in der Regel aber sind sie es 
nicht, und es ist auf Grund der vorangehenden Untersuchungen 
dieser Schrift zumeist nicht schwer, sich von der Verbindung, 
die zwischen der grammatikalischen Eigenart der betreffenden 
Sätze und den Annahmen besteht, genauere Rechenschaft zu 
geben. Insbesondere weisen die Relativsätze auf die Rolle der 
Annahmen bei der Bildung von Complexionen ^ die bereits von 
der Grammatik unter dem Gesichtspunkte „logischen" Zusammen- 
hanges charakterisirten Satzverbindungen auf die Annahme- 
schlüsse®, die „dafs"-Sätze nebst ihren Aequivalenten auf das 
Objectiv hin. Einen Specialfall der letzterwähnten Gruppe bilden 
natürlich die verschiedenartigen „secundären Ausdrücke" ^, für 
die, wie nun leicht eingesehen werden kann, wesentlich ist, dafs 
dabei das Gerichtetsein der betreffenden psychischen Gescheh- 
nisse auf ihr Objectiv besonders in den Vordergrund tritt. 

Fafst man, wie zunächst für selbstverständlich gelten darf, 
bei solchen secundären Ausdrücken den „dafs"-Satz als primären 
Ausdruck einer Annahme auf, die dem secundär ausgedrückten 
psychischen Geschehnifs als „psychologische Voraussetzung" dient, 
so hat für uns der Fall des secundär ausgedrückten Urtheils 
sein ganz besonderes Interesse, weil da eine Annahme als psycho- 
logische Voraussetzung für ein Urtheil mit gleichem Objectiv 
und daher * gleichem Object auftritt. Man wird sich nur freilich 
zu hüten haben, daraus, dafs ein Urtheil einmal primär, ein ander- 

^ Vgl. oben Kap. VI. 
" Vgl. oben Kap. IV. 
3 Vgl. oben Kap. II, § 4. 
* Vgl. oben Kap. VII, § 43. 
Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. II. 18 



274 Neuntes Kapitel 

mal secundär ausgedrückt auftritt, in betreff dessen, was im 
Redenden vorgeht, allzu stricte Consequenzen zu ziehen; viel- 
mehr darf nicht unberücksichtigt bleiben, wie oft stylistische 
und rhetorische Bedürfnisse das Ihre dazu beitragen. Deutliches 
undeutlich, Charakteristisches imcharakteristisch zu machen. Es 
wird wenig Menschen geben, die nicht irgend einmal einem 
wirklich oder vermeintlich guten Witze zu Liebe den Schein 
frivoler Gesinnung auf sich genommen haben, und es giebt 
keinen, der nicht schon dies und jenes aus keinem anderen 
Grunde gesagt oder geschrieben hätte, als weil es eben gut 
klingt. Wer aber einigermaafsen gewohnt ist, zu „überlegen", 
ehe er etwas niederschreibt, der mag leicht erstaunen, wenn er 
sich zum ersten Male von den Wandlungen Rechenschaft giebt, 
die der Ausdruck zu erfahren pflegt, in dem seine Gedanken 
sich ihm zuerst präsentirt haben: Umwandlungen von Affir- 
mativem in Negatives, von Existenzaussagen in kategorische 
Aussagen und umgekehrt, Ersatz einer Relation oder Complexion 
durch eines ihrer in erstaunlicher Menge zur Verfügung stehen- 
den Aequivalente gehört hier zum AlltägUchsten. Und ungefähr 
ebenso alltäglich ist wohl auch der Uebergang eines unab- 
hängigen Satzes in einen Nebensatz mit „dafs", der dann vom 
secundären Ausdrucke eines psychischen Sachverhaltes abhängig 
erscheint, auf den es dem ursprünglich vorgegebenen Gedanken 
ganz und gar nicht ankommt. Wer würde auch Anstand nehmen, 
aus stylistischen Gründen statt des einfachen „Ä ist B'' zu sagen 
oder zu schreiben: „ich sage, behaupte, betone, räume ein, dafs 
A B ist" etc., oder auch, „es ist klar, selbstverständlich, unbestreit- 
bar, dafs Ä B ist" u. dgl.? Immerhin erweist sich bei solchen 
Umformungen des Ausdruckes der auszudrückende Gedanke 
keineswegs als etwas absolut Starres, folgt vielmehr, manchmal 
wohl auch zum Schaden der Sache, den Ausdrucksbedürfnissen. 
Aber natürlich doch nur innerhalb gelegentlich recht enger 
Grenzen, so dafs es ja wirklich der Redende wie der Schreibende 
leicht genug als Gewaltsamkeit verspürt, wenn man ihn allzu 
genau „beim Worte nimmt". Kurz also: der secundäre Aus- 
druck eines Urtheils garantirt für den Einzelfall, wo man diesen 
Ausdruck antrifft, keineswegs unfehlbar für eine nur ihm zuge- 
ordnete psychische Sachlage. Dagegen legt gerade der Umstand, 
dafs der Uebergang vom primären zum secundären Ausdruck 
und umgekehrt so leicht zu vollziehen ist, zusammen mit dem 



Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen. 276 

im secundären Urtheilsausdruck gelegenen Hinweis auf den An- 
theil der Annahme die Frage nahe, ob dieser Antheil nicht 
auch schon dem primär ausgedrückten, sonach normalerweise 
jedem Urtheile beizumessen ist, eine Frage, auf die wir im 
nächsten Paragraphen noch einmal kurz zurückzukommen haben. 
Immerhin darf indefs hier nicht verschwiegen werden, dafs 
mindestens auch noch die Möglichkeit bestünde, den „dafs "-Satz 
im secundären Urtheilsausdruck nicht als Annahme, sondern als 
ürtheil zu nehmen. Wirklich ist der Gedanke, im Haupt- und 
Nebensatze könnte unter Umständen auch nur Eines und das- 
selbe zum Ausdrucke gelangen, schon deshalb nicht a limine 
abzuweisen, weil derlei auch auf anderen Gebieten gelegentlich 
ganz unzweifelhaft vorkommt. Sagt einer „ich bitte, komm her", 
so ist hier, den richtigen Tonfall vorausgesetzt, die Bitte in 
Wahrheit zweimal ausgesprochen, einmal unbestimmt und ein- 
mal bestimmt, zugleich dort secundär, hier primär ausgedrückt. 
Ein Satz mit „dafs" ist da nun freilich nicht gegeben; warum 
sollte aber bei „dafs"-Sätzen nicht AehnHches vorkommen können? 
Es sei sogleich hinzugefügt, dafs es, auch wenn die im Voran- 
stehenden daxgelegte Auffassung die richtige ist, mindestens in 
einem ganz bestimmten Falle auch wirkUch vorkommt: die 
Wendung „ich nehme an, dafs es schön ist" wird in natür- 
licher Weise kaum anders zu verstehen sein, als so, dafs hier eben 
die Annahme zweimal zum Ausdrucke gelangt, einmal unbe- 
stimmt und das andere Mal bestimmt, dort secundär, hier 
primär. Inzwischen ist es nichts Neues, dafs die Sprache sich 
auch sonst zu pleonastischen Ausdrucks weisen zwingen läfst, wie 
z. B. die sogenannten inneren Objecte wie „eine That thun", „einen 
Kampf kämpfen" u. dgl. erkennen lassen. Gleichwohl hat 
solchen Fällen gegenüber Niemand gezweifelt, dafs sie als Aus- 
nahmen zu behandeln sind, welche die Regel, dafs von den 
einzelnen Bestandtheilen einer Rede jeder seine besondere Auf- 
gabe zu erfüllen hat, nicht zu erschüttern vermögen. — Viel- 
leicht verdient übrigens auch noch in Betracht gezogen zu 
werden, dafs die hiermit abgelehnte Auffassung des „dafs"-Satzes 
als Urtheilsausdruck noch die Voraussetzung machen müfste, 
das im Hauptsatze secundär ausgedrückte Urtheil, eben weil es 
mit dem im Nebensatze angeblich primär ausgedrückten Urtheile 
identisch ist, wäre das vom Standpunkte des im Nebensatze er- 

fafsten Objectivs aus vorgegebene Urtheil. Dies widerspräche 

18* 



276 Neunie$ KapiUl 

aber dem, was sich uns seinerzeit als „Prärogative des nach- 
gegebenen Urtheils" dargestellt hat^ 

§61. 

Die Stellung der Annahmen im System der Psycho- 
logie. Annehmen als Denken. 

Systematik ist in keiner Wissenschaft Selbstzweck ; aber das 
Bestreben, den Anforderungen systematischer Strenge mögUchst 
gerecht zu werden, kann den Einblick in die Natur der zu unter- 
suchenden Thatsachen mächtig fördern. Denn der wichtigste 
unter den leitenden Grundsätzen für jede systematische Dar- 
stellung ist doch zuletzt der, dafs darin Verwandtes neben ein- 
ander zu stehen komme, und zwar um so näher, je enger die 
Verwandtschaft ist. Darum fällt auch die Frage, welche Stelle 
im Systeme psychischer Thatsachen den Annahmen zuzuweisen 
sei, zunächst mit der Frage zusammen, in welchem Verwandt- 
schaftsverhältnils sie zu den übrigen bereits genauer untersuchten 
Geschehnissen stehen, und in diesem Sinne soU dieselbe auch 
hier zunächst aufgeworfen sein. Immerhin möglich, dafs die 
Beantwortung dieser Frage dann Oonsequenzen nahe legt, welche 
auf die systematische Gruppirung auch solcher Thatsachen Ein- 
flufs nehmen könnten, die keineswegs mehr in den Bereich des 
den Annahmen besonders nahe Verwandten einzubeziehen sind. 

Wir haben in den Annahmen eine im psychischen Leben 
aufserordentlich reich vertretene Classe psychischer Geschehnisse 
kennen gelernt ; welche Stellung werden wir dieser Classe gegen- 
über den sozusagen durch die Tradition mehr oder weniger sicher 
accreditirten Classen des Vorstellens, Urtheilens, Füblens und 
Begehrens einzuräumen haben? Dafs näher dabei nur die beiden 
dem Geistesleben zugehörigen Classen, die des Vorstellens und 
Urtheilens, in Erwägung zu kommen haben, versteht sich sofort : 
und die Weise, in der die Annahmen sich unserer Beachtung 
zuerst aufgedrängt haben ^, verbietet auch jeden Zweifel darüber, 
dafs eine Annahme mehr ist als blofse Vorstellung und weniger 
ist als ein Urtheil, genauer als Vorstellung und auf sie gestelltes 
Urtheil zusammengenommen. Es wurde daher auch schon mehr 



1 Vgl. Kap. VII, § 38. 

'" Vgl. oben § 1, auch Kap. III. 



Ergehnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen, 277 

als einmal im Laufe der vorstehenden Untersuchungen erwähnt, 
dafs den Annahmen eine Art Mittelstellung zwischen Vorstellung 
und Urtheilen zukommt. Ist das nun so zu verstehen, dafs die 
Annahmen den Vorstellungen und Urtheilen einfach zu coor- 
diniren sind, oder stehen diese Zwischenthatsachen der einen 
oder der anderen von den beiden genannten Gruppen ausreichend 
nahe, dafs sie besser mit dieser zu einem der noch übrigen 
Gruppe coordinirten Ganzen zu vereinigen sind? 

Wie mir scheint, weist der ganze Verlauf dieser Unter* 
suchungen auf das Eindeutigste darauf hin, dafs zwischen An- 
nahme und Urtheil viel engere Verwandtschaft besteht als zwischen 
Annahme und Vorstellung. So paradox es klingt, es hat doch 
einen ganz guten Sinn zu sagen: die Annahme ist ein Urtheil 
ohne Ueberzeugung ^, indefs es gar keinen verständlichen Sinn 
hätte, die Annahme etwa als eine nach dem Gegensatze von Ja 
und Nein bestimmte Vorstellung zu definiren. Auch das so ge- 
wöhnliche Eintreten der Annahme als Urtheilssurrogat ^ spricht 
hier eine unmifsverständliche Sprache. Und im Grunde weist 
sogar die seinerzeit berührte ^ Mangelhaftigkeit des Terminus 
„Annahme" nach derselben Richtung hin: was das Wort aufser 
der von uns in dieser Schrift näher untersuchten Thatsache 
sprachgebräuchlich noch bedeutet, ist eine bestimmte Weise zu 
urtheilen, niemals aber blofses Vorstellen im strengen Sinne. 
Natürüch wird es gleichwohl, wenn man nur an der erforder- 
lichen Künstlichkeit keinen Anstofs nimmt, auch Begriffs- 
bildungen geben, mit deren Hülfe man Vorstellung und An- 
nahme zu Einer Classe zusammenfassen und dem Urtheil ent* 
gegensetzen kann. Aber wo möglich noch weniger als Systeme 
wollen wir ja Classenbegriffe bilden sozusagen um ihrer selbst 
willen; nur darum ist es uns zu thun, in den begrifflichen 
Conceptionen die Eigenart der Thatsachen so sehr als nur 

* B. Erdmann spricht geradezu von „geltungslosen Urtheilen" (Logik^ 
Bd. I, S. 271 ff.), zu denen er z. B. die Fragen rechnet. Den Terminus 
möchte ich mir auch heute nicht gern zu eigen machen ; dafs die Conception 
selbst aber einen in den Thatsachen wohlbegründeten Sinn hat, darüber 
kann ich mich, seit ich um die Annahmen weifs, keiner Täuschung mehr 
hingeben, und ich meine dies im Hinblick auf meine ablehnende Stellung- 
nahme in den Gott Gel. Anz. 1S92, S. 447 hier ausdrücklich anerkennen 
zu sollen. 

* Vgl. oben § 59. 

* Vgl. oben § 1 am Ende. 



278 Nettntes Kapitel. 

irgend möglich zu ihrem Rechte gelangen zu lassen: es sind 
darum eben die natürlichen Classen, an denen wir festzuhalten 
haben. Demnach dürfen wir sagen: nicht die Urtheile machen 
die den Vorstellungen, Gefühlen und Begehrungen natürlich bei- 
zuordnende Classe aus, sondern die Urtheile zusammen mit den 
Annahmen. 

Natürlich stellt sich mit diesem Ergebnifs zugleich das leidige 
Bedürfnifs nach einem Terminus ein, der als Namen für die neu 
concipirte Classe verwendet werden kann: der Versuch, diesem 
Bedürfnifs durch einen Vorschlag Genüge zu leisten, kann nor- 
malerweise ohne etwas Willkür resp. Convention nicht abgehen, 
und ob man wirklich den Ausdruck herausfindet, der in der 
neuen Anwendung dem Sprachgefühl nicht mehr als billig zu^ 
muthet, bleibt dann mehr oder weniger Glückssache. So muCs 
denn auch ich es einigermaafsen auf mein gutes Glück an- 
kommen lassen, indem ich zur Bezeichnung der aus Annahme 
und Urtheil als Unterarten gebildeten Classe psychischer That- 
sachen das Wort „Denken" heranziehe. Was mir hierfür zu 
sprechen scheint, ist einmal der Umstand, dafs gerade dieses 
Wort seitens der Theorie eine technische Zuschärfung in irgend 
einem bestimmten Sinne noch kaum erfahren hat, — dann auch 
dies, dafs in der allgemeinst herkömmlichen Bedeutung dieses 
Wortes sowohl das intellectuelle als das active Moment deutlich 
ausgeprägt ist. Ein rein passives Vorstellen nennt niemand 
Denken, und speciell in der Wendung „sich etwas denken" 
scheint ein Fall des, wo möglich anschauUchen, Annehmens ge- 
meint, während andererseits die Anwendbarkeit des Wortes 
„Denken" auf Urtheile in der mannigfaltigsten Weise belegt ist. 
Ungünstig ist es für diese Wahl, dafs es mindestens nicht aus- 
gemacht ist, ob einer nicht auch Operationen, die intellectuell 
und activ, aber weder Annahmen noch Urtheüe smd, wie etwa 
Abstrahiren, Vergleichen u. A. in das Anwendungsgebiet des 
Terminus „Denken" einbegreifen will. Soweit dies der Fall ist, 
sind wir hier eben an die Stelle gelangt, wo die conventioneile 
Festsetzung ihren Anfang nimmt, deren, wie berührt, keine 
wissenschafthche Terminologie dauernd entrathen kann. 

Wie man nun leicht erkennt, war es nichts als eine Vor- 
wegnahme der durch solche Erwägungen hoffentlich zu recht- 
fertigenden Ausdrucksweise, wenn ich oben* für Gegenstände, 

^ Von Kap. VII, § 36 an. 



Ergebnisse. Batisteine zu einer Psychologie der Annahmen. 279 

die nicht durch Vorstellen, wohl aber durch Urtheilen oder 
Annehmen zu erfassen sind, die Bezeichnung „Denkgegenstände" 
im Gegensatz zu „Vorstellungsgegenständen" in Anwendung 
genommen habe. Täusche ich mich nicht, so hat sich dabei 
die Brauchbarkeit solcher Benennung bewährt. Auch dafs die 
Wortbildung „Denkung" für Denkact kaum schwieriger ist als 
die Form „Wollung" für Willensact, ja sogar dem Worte Volition 
auch die „Cognition" zur Seite gestellt werden könnte, spricht 
für die praktische Brauchbarkeit meines Vorschlages. 

So können wir denn zusammenfassend sagen : die Natur der 
Annahmen ist auch in der Thatsache charakterisirt, dafs sie zu- 
sammen mit den Urtheilen die Bethätigungen des „Denkens" 
im technisch präcisirten Sinne dieses Wortes ausmachen, das 
Denken aber dem Vorstellen, Fühlen und Begehren coordinirt 
zur Seite steht. Durch diese Formulirung werden zugleich zwei 
Fragen besonders nahe gelegt, die ich nicht unaufgeworfen 
lassen möchte, obwohl ich derzeit aufser Stande bin, sie bündig 
zu beantworten. 

Vor Allem: geht die oft betonte Verwandtschaft zwischen 
Annehmen und Urtheilen nicht vielleicht auf das zurück, was 
Stumpf einmal ^ Aehnlichkeit durch gleiche Theile genannt hat ? 
Genauer: haben wir nicht im Urtheüe insofern einen complexen 
Thatbestand vor uns, dafs darin jedesmal eine Annahme ent- 
haltet! ist und dann nur noch etwas dazu, das wir als Ueber- 
zeugungsmoment kennen? Die Fähigkeit der Annahme, das 
Urtheil in mehr als einer Hinsicht zu vertreten, würde durch 
diese Voraussetzung unserer Einsicht jedenfalls um Wesentliches 
näher gerückt. 

Noch einen Schritt weiter ginge dann die zweite Frage, ob 
wir in der Annahme nicht etwa einfach eine Vorstufe des 
Urtheils vor uns haben, die man beim Concipiren des Urtheils 
normalerweise jedesmal passiren müfste, und die dafür, wenn 
erreicht, auch allemal eine gewisse Urtheilschance repräsentirte. 
Dafs das Urtheil wirklich oft genug Annahmevorstufen hat, 
davon hüben wir uns so ziemlich überall überzeugen können, 
wo der Gegenstand dem Urtheil thatsächlich vorgegeben ist. 
Nur zeigte sich dabei eine Art Vorzug der affirmativen An- 
nahme, indem diese sogar den Ausgangspunkt für die Conception 



* Tonpsychologie I, S. 113. 



280 NewUes Kautel 

negativer Annahmen ausmacht ^ : negative Urtheile aber 
könnten doch nicht wohl auf affirmative Annahmen gestellt sein. 
Unüberwindlich wäre diese Schwierigkeit indefs nicht : man müfste 
blos Grund haben, zu vermuthen, dafs der QuaUtätsumschl^ 
von der Affirmation in die Negation, der ja auf alle Fälle ein- 
treten mufs, noch in den Bereich des Annehmens fällt, dafs also 
auf die Ausgangsannahme affirmativer QuaUtät zunächst eine 
negative Annahme folgt, und dann erst ein negatives UrtheU 
sich einstellt Dafs aber die Annahme zum Mindesten eine Chancen- 
verbesserung für das gleich qualificirte, d. h. demselben Objectiv 
zugewendete UrtheU involvirt, dafür sprechen jedenfalls die be- 
kannten Erfahrungen vom Lügner, der seine Lüge zuletzt selbst 
glaubt, ebenso vom Leichtgläubigen, der die Meinung des 
Anderen, die er sich vorerst des Verständnisses halber als An- 
nahme muTste aufsuggeriren lassen^, bald genug, insbesondere 
nach wiederholter Suggestion, zur eigenen Meinung macht, so 
dafs es eben nicht nur aufsuggerirte Annahmen, sondern auch 
aufsuggerirte Urtheile giebt 

Im Ganzen steht es, wie man sieht, für eine affirmative Be- 
antwortung beider obigen Fragen keineswegs ungünstig : aber zur 
Zeit ist die Sache in beiden Fällen um Vieles weniger spruch- 
reif als einer weiteren sorgfältigen Untersuchung würdig. Und 
ob die diesbezügUche Untersuchung dann durchaus in den Zu- 
sammenhang des gegenwärtigen und nicht vielleicht mehr in 
den des vorhergehenden Paragraphen gehört, mag gleichfalls 
dahingestellt bleiben. 

§62. 

Ausblick. Neues zur Bestimmung des Begriffes 

der Phantasie. 

Man braucht künftiger Entscheidung der letztaufgeworfenen 
Fragen in keiner Weise zu vorzugreifen um in den oben unter 
dem Namen des Denkens zusammengefafsten Thatsachen etwas 
wie eine Zweistufigkeit zu constatiren, d. h. es für verständlich 
und berechtigt zu finden, dafs die Urtheile in irgend einem Sinne 
eine Art Oberstufe zu den Annahmen als Unterstufe abgeben. 
Die in solcher Aufstellung liegende Unbestimmtheit hat nun 



» Vgl. oben Kap. V, § 21 u. 24. 
« Vgl. oben Kap. IH, § 13. 



Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen, 281 

den Werth, die weitere Frage besonders nahe zu legen, ob eine 
derartige Zweistufigkeit nicht etwa auch innerhalb einer der drei 
anderen, oben dem Denken coordinirten Classen psychischer 
Grundthatsachen anzutreffen wäre. Vielleicht käme aber die 
Frage überhaupt Niemandem in den Sinn, wenn nicht auf emem 
der drei noch in Betracht kommenden Gebiete die Zweitheilung 
eine der anerkanntesten und bekanntesten Thatsachen wäre. 
Ich meine natürlich das Vorstellen, bei dem der Gegensatz 
von Wahrnehmungs- und Einbildungsvorstellungen ^ — letztere 
vielfach lieber als „Erinnerungs"- resp. „Phantasievorstellungen" 
bezeichnet — aller Welt geläufig ist Zwar beherrscht dieser 
Gegensatz, solange man sich an das Geltungsgebiet der eben 
herangezogenen Termini hält, keineswegs das gesammte Vor- 
stellen: denn von Wahrnehmungs- und daher gegensätzlich 
hierzu von Einbildungsvorstellungen kann doch nur bei Gegen- 
ständen die Rede sein, die ihrer Natur nach ein Wahrge- 
nommenwerden überhaupt gestatten, bei realen Gegenständen 
also, ^ nicht aber bei idealen Gegenständen wie Aehnlichkeit, 
Gegensatz u. dgl.*^ Hier aber kommt die Zweitheilung oder 
Zweistufigkeit in der Gegenüberstellung von Production und 
Reproduction * neuerlich zu ihrem Rechte. Wir finden dieselbe 
also in Wahrheit auf dem ganzen Vorstellungsgebiete: und 
die Frage, ob, was sonach für sämmtliche intellectuellen Be- 
thätigungen gilt, den emotionalen völlig fremd sein mag, wird 
darauf hin zu einer unabweisUchen. 

Material zur Beantwortung dieser Frage haben wir bereits 
bei früherer Gelegenheit* gesammelt. Wir haben Thatsachen 
zu registriren gehabt, die ihrer Beschaffenheit wie den Umständen 
ihres Auftretens nach gefühlsähnlich heifsen durften, ohne doch 
eigeritUch das zu sein, was man gewöhnüch sich unter Lust oder 
Unlust zu denken pflegt: in analoger Weise haben wir den Be- 



* Vgl. meine Ausführungen „üeber Begriff und Eigenschaften der 
Empfindungen'^ in der Vierteljahr sschr. f, wissensch, Philos., Jahrgang 1888, 
8. 478 ff. — Auch „Beiträge zur Theorie d. psych. Analyse" Zeitschr. f. Psych., 
Bd. VI, S. 373 ff. 

* „üeber Gegenstände höherer Ordnung" a. a. 0. S. 198 ff. 

" Vgl. bereits meine „Beiträge zur Theorie der psychischen Analyse" 
Zeitschr. f. Psychol. a. a. O. S. 441 f. und vorher. 

* Vgl. oben S. 8 f. 

* Vgl. oben Kap. VIII, § 53. 



282 Neuntes Kapitel 

gehrungen im gewöhnlichen Sinne begehrungsartige Thatsachen 
an die Seite zu stellen gehabt Ich habe für Fälle der ersten 
Art die Bezeichnung „Phantasiegefühle'', für die der zweiten 
Art den Namen „Phantasiebegehrungen" vorgeschlagen, ohne 
sofort auf den Beweggrund zu dieser Wahl näher einzugehen: 
er wird im gegenwärtigen Zusammenhange alsbald klar werden. 
Acceptiren wir vorerst die Benennungen, so ist nun ohne 
Weiteres einzusehen, dafs diese Phantasiegefühle den wirklichen 
Grefühlen, die Phantasiebegehrungen den wirklichen Begehrungen 
ganz ähnUch gegenüberstehen, wie die Annahmen den Urtheilen : 
dürfte man jene ganz wohl als Scheingefühle resp. Schein- 
begehrungen bezeichnen, so nicht minder die Annahmen als 
Scheinurtheile. Wenn wir aber im vorigen Paragraphen dem 
Fühlen und Begehren das Denken als coordinirte Classe zur 
Seite stellten, so entdecken wir in diesem Vorgehen nunmehr 
eine terminologische Ungleichmäfsigkeit, die darin besteht, dafs 
wir unter „Gefühl" neben den wirklichen noch die Schein- 
gefühle, ebenso unter „Begehrung" neben den wirklichen auch 
die Scheinbegehrungen verstehen müssen, während wir beim 
„Denken" von diesem wenig exacten terminologischen Auskunfts- 
mittel keinen Gebrauch machen, sondern die zwei selbständigen 
Unterarten auch unter den selbständigen Benennungen „UrtheU" 
und „Annahme" neben einander stellen. Dafs letzteres Vor- 
gehen das bei Weitem correctere ist, versteht sich: ich habe 
aber Wörter, die gegenüber den Gefühlen und Begehrungen 
Aehnliches zu leisten vermöchten wie das Wort „Denken" gegen- 
über den Urtheilen, nicht ausfindig zu machen vermocht. So 
mag es denn vorerst bei jener Ungleichmäfsigkeit sein Be- 
wenden haben. 

Man kann mehr als einen Gresichtspunkt namhaft machen, 
unter dem diese drei Classen psychischer Greschehnisse , das 
Denken, Fühlen und Begehren, sich unter einander enger ver- 
wandt zeigen als mit der noch übrigen vierten oder auch ersten 
Classe, der des Vorstellens. Es gehört hierher die ihnen eigene 
Unselbständigkeit, vermöge deren jeder diesen Classen zuge- 
hörige Thatbestand auf eine Vorstellung als psychologische 
Vororaussetzung angewiesen ist ; es gehört hierher die innerhalb 
jeder dieser drei Classen herrschende Gegensätzlichkeit, die im 
Denken als Affirmation und Negation, im Fühlen als Lust und 
Unlust, im Begehren als Begehrung und Widerstrebung zur 



Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen. 283 

Geltung kommt. Dies und Anderes hat bei den Vorstellungen 
nicht seinesgleichen, und so ist es auch weiter nicht auffallend, 
dafs die uns hier im Besonderen beschäftigende Zweigetheiltheit, 
die sich innerhalb der drei Classen in so verwandter Weise an- 
treffen läfst, beim Vorstellen sichtlich einen relativ eigenartigen 
Charakter an sich trägt. Die Erfahrung scheint hier keinerlei 
Anhaltspunkt dafür zu bieten, dafs die Einbildungsvorstellung 
als Vor- resp. Durchgangsstufe für die Wahrnehmungsvor- 
stellung desselben Gegenstandes anzusprechen wäre, und schon 
terminologisch ist auffällig, dafs der Ausdruck „Vorstellung" 
nicht etwa zunächst „Wahrnehmungsvorstellung" bedeutet, und 
man sich daher keineswegs gedrängt fühlt, die Einbildungsvor- 
stellung etwa analog zum „Scheingefühl" als „Schein Vorstellung" 
zu bezeichnen. Vielmehr ist, was eigentlich und zunächst, 
wenigstens für den aufserwissenschafthchen Sprachgebrauch, 
„Vorstellung" heilst, gerade die Einbildungsvorstellung, so dafs 
bekanntlich auch viele Theoretiker sich nicht entschliefsen 
können, die Erweiterung der Bedeutung des Wortes Vorstellung 
zu der des sowohl Einbildungs- als Wahrnehmungsvorstellung 
«inbegreifenden Ciassennamens mitzumachen. 

Nun können aber derlei Verschiedenheiten an der Haupt- 
thatsache nichts ändern, dafs die Zweitheilung eben auch hier 
zu Recht besteht; und was den Einbildungsvorstellungen an 
Verwandtschaft mit den Annahmen, Scheingefühlen und Schein- 
begehrungen fehlen sollte, wird vielfach dadurch einigermaafsen 
compensirt werden, dafs die der Unterstufe des Denkens, Fühlens 
und Begehrens zugehörigen Bethätigungen so oft gerade auf die 
Einbildungsvorstellungen als ihre psychologische Voraussetzung 
Angewiesen sind. Nicht als ob die Wahrnehmungsvorstellungen 
«in für allemal aufser Stande wären, in eine solche Function 
einzutreten: aber in der Regel thun sie es eben thatsächlich 
nicht, und so stellen sich die Angehörigen der Unterstufe aller 
vier Classen nicht selten auch vermöge der Relation der regel- 
mäfsigen Coexistenz als ein zusammengehöriges Ganze dar. 

Ich meine auf diesen Umstand Gewicht legen zu sollen, 
weil darin, wenn ich recht sehe, der Schlüssel für das Verständ- 
nifs einer zunächst zwar nur vulgärpsychologischen Conception 
gegeben ist, an deren richtiger Erfassung aber auch die auf 
Strenge nach Thunlichkeit bedachte Theorie ihr sehr wohl be- 
gründetes Interesse hat. Ich meine den Begriff der Phantasie, 



284 Xeuntes Kapitd, 

an dessen Aufhellung ich bereits einmal literarisch herangetreten 
bin\ ohne dafs das dabei gewonnene Ergebnifs mich oder 
Andere dauernd hätte befriedigen können. An den sachlichen 
Voraussetzungen meiner diesbezüglichen Au&tellungen zwar 
werde ich kaum mehr zurückzunehmen brauchen als die in die 
Zwischenzeit fallenden, hoffentlich nicht ganz unerheblichen 
Fortschritte der Gegenstandstheorie eben mit sich gebracht 
haben. Aber die Definition der Phantasie y,als der zur anschau- 
lichen Neubildung erforderlichen Spontaneität" ^ oder dgl. bleibt 
am Ende doch in mehr als Einer Hinsicht viel zu eng. Vor ihr 
hat Witasek's Versuch, im Phantasiebegriffe die „Disposition zu 
directem Einbilden neuer fundirter Inhalte" ^ oder vielmehr, wie 
wir seither genauer zu sagen gelernt haben, fundirter Gegen- 
stände herauszuarbeiten, den erheblichen Vorzug, auf ein wich- 
tiges, insbesondere auch für das künstlerische Thun sehr charak- 
teristisches Moment zum ersten Male hingewiesen zu haben. Aber 
dieser Definitionsversuch theilt mit dem meinigen und wohl 
auch mit den meisten sonst vorliegenden den Mangel, über den 
Bereich des Vorstellens nicht hinauszugreifen, indefs wir im Ver- 
laufe der vorstehenden Untersuchungen Gelegenheit genug hatten^ 
uns davon zu überzeugen, in welch inniger Weise gerade das 
active wie passive Verhalten zur Kunst mit Annahmen, dann 
aber auch mit Scheingefühlen und Scheinbegehrungen sozusagen 
durchsetzt ist Wirklich meint denn auch das vulgäre Denken 
von demjenigen, dem lebhafte Phantasie zugeschrieben wird^ 
dafs diese Lebhaftigkeit sich nicht nur im Vorstellen, sondern 
auch innerhalb der drei übrigen Thatsachengebiete äufsere, nicht 
durch Ueberzeugungen , auch nicht durch eigentliche Gefühle 
oder Wollungen, wohl aber durch jene eigenthümlichen Bethäti- 
gungen, die wir mehr oder minder charakteristisch als der bisher 
von uns sogenannten Unterstufe zugehörig bezeichnet haben^ 
Mir scheint daraus einfach zu folgen^ dafs diese ganze Unter- 
stufe, mag übrigens Vorstellen, Denken, Fühlen oder Begehren 
auf derselben auftreten, das Gebiet ausmacht, in dem die Phantasie 
sich bethätigt. 



^ In der Abhandlung über „Phantasievorstellung und Phantasie*^ 
Zeitschr. f. Philosophie u. philos. Kritikj Bd. 95, bes. S. 234 ff. 

« A. a. O. S. 236. 

* „Beiträge zur speciellen Dispositionspsychdlogie** im Arehii} f. systermt, 
Philosophie, Bd. III, S. 283. 



Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen. 285 

Ob man darauf hin das Recht hat, Phantasie kurzweg als 
Disposition zu psychischen Bethätigungen zu bestimmen, die 
imserer „Unterstufe" angehören, ob man also den Begriff, um 
ihm theoretische oder praktische Brauchbarkeit zu sichern, nicht 
doch in dieser oder jener Hinsicht einschränken mufs, das soll 
hier ununtersucht bleiben. Möglich wäre auch immerhin, dafs 
der Gedanke der Phantasie zu jenen Vulgärgedanken gehört, die 
ein« andere als willkürliche Präcisirung überhaupt nicht ge- 
statten, so dafs entweder die Weise, in der diese vorzunehmen 
ist, bis zu ausdrücklicher Convention immer controvers bleibt, 
wie beim Begriffe der Aufmerksamkeit, — oder die Theorie auf 
den Grebrauch der betreffenden Termini für exacte Zwecke lieber 
ganz verzichtet, wie dies etwa in betreff der dem täglichen Leben 
so geläufigen Vulgärtermini „Verstand" und „Vernunft" ge- 
schehen ist. Dagegen genügt die dargethane Beziehung zwischen 
der Phantasie auch im Vulgärsinne einerseits und unserer „Unter- 
stufe" andererseits, um für die dieser Unterstufe angehörenden 
Thatsachen eine zusammenfassende Benennung zur Verfügung 
zu stellen, welche den in keiner Hinsicht empfehlenswerthen 
Verlegenheitsausdruck „Unterstufe" wieder entbehrlich macht. 
Täuscht mein Sprachgefühl mich nicht, so hat es bereits für 
vorwissenschaftlich psychologische Betrachtung einen charak- 
terisirenden Werth, Alles, was wir der „Unterstufe" beigezählt 
haben, als Bethätigungen der Phantasie, näher einerseits der 
intellectuellen, andererseits der emotionalen Phantasie zusammen- 
zufassen. Ich habe, wie man nun sieht, diese Bezeichnungsweise 
bereits im Detail vorweggenommen, als ich für die Scheingefühle 
und Scheinbegehrungen die Benennungen „Phantasiegefühle" 
und „Phantasiebegehrungen" in Vorschlag brachte. Vielleicht 
sehen wir jetzt klarer, warum dieser Vorschlag sogleich das 
Sprachgefühl für sich hatte. Ueberträgt man dieselbe Benennungs- 
weise nun auch auf das Gebiet des Denkens, so erhält man den 
Ausdruck „Phantasieurtheil" für „Annahme", und soviel ich sehe, 
ist auch dies ein Ausdruck, der bereits demjenigen, der ihn zum 
ersten Male hört, etwas ganz Bestimmtes und unsere Annahme- 
thatsachen richtig Charakterisirendes sagt, daher keineswegs für 
unbrauchbar gelten darf. Greifen wir schliefslich auch noch auf 
die Vorstellungen zurück, so brauchen wir die Zusammen- 
setzung „Phantasievorstellung" bekanntlich längst nicht mehr 



286 Neuntes Kapitel, 

ZU bilden. Was ich seinerzeit* gegen den weiten Gebrauch 
dieses Terminus beigebracht habe, verliert unter den neuen 
Oesichtspunkten der vorstehenden Untersuchungen seinen Be- 
lang. Dafs das Verhältnifs der beiden diese Zusammensetzung 
eingehenden Wörter hier von Haus aus ein anderes ist als in 
den drei übrigen Fällen, indem hier die Bedeutung des „Grund- 
wortes^, wie die Grammatiker manchmal sagen, durch das 
„Bestimmungswort" weit eher interpretirt als in seiner Be- 
deutung modificirt wird, darauf ist eben zuvor ^ bereits hinge- 
wiesen worden. 

Wie man sieht, führen so die Untersuchungen, die es zu- 
nächst auf die Aufhellung eines bisher von der Forschung so 
gut wie übersehenen Thatsachengebietes abgesehen hatten, weit 
über dieses Grebiet hinaus. Nicht nur dadurch haben sich uns 
die Annahmen als wichtige und untersuchenswerthe Thatsachen 
bewährt, dafs von ihnen aus auf ältere wie neuere Probleme, 
denen sich Psychologie und Erkenn tnifstheorie bereits zugewendet 
haben, neues Licht fällt, sondern auch dadurch, dafs sie uns 
den Weg gewiesen haben zu bisher so gut wie unbekannten 
Thatsachengebieten. In der That scheint mir aufser Zweifel, 
dafs die Untersuchungen, die im Vorstehenden für die An- 
nahmen zu ersten, gleichviel wie vorläufigen Ergebnissen ge- 
führt haben, vor Allem auch für die Phantasiegefühle und 
Phantasiebegehrungen werden in Angriff genommen werden 
müssen, ehe man wird hoffen dürfen, innerhalb der durch die 
Bethätigungen der Phantasie im weitesten Sinne ausgemachten 
einen Hälfte psychischer Lebensäufserungen auch nur die 
klaffendsten Lücken unseres psychologischen Wissens noth- 
dürftig ausgefüllt zu haben. Was für Licht von da aus dann 
wieder speciell auf die Theorie der Annahmen zurückfallen wird, 
ist fürs Erste natürlich ganz unabsehbar: dafs aber dem gegen- 
über dann noch jede der oben die Annahmen betreffenden Auf- 
stellungen im Rechte bleiben sollte, mehr als unwahrscheinlich. 
Sollten indefs diese Aufstellungen sich als fähig erweisen, die 
psychologische Forschung in neue und aussichtsreiche Bahnen 
zu lenken, dann wird man dem, was ich in diesen Unter- 



^ „Ueber Begriff und Eigenschaften der Empfindung", Viertdjahrsscfir. 
f. wi88. Fhilosophiey Jahrgang 1888, 8. 479 f. 
« Oben S. 283. 



Ergebnisse. Bausteine zu einer Psychologie der Annahmen. 287 

suchungen niederzulegen hatte, die Mängel zu Gute halten 
dürfen, die auch gewissenhafteste Arbeit nicht abzustreifen ver- 
mocht hat. Es ist der Stolz des Lehrers, Schüler heranzubilden, 
von denen er selbst zu lernen hat: da wird es auch für den 
Forscher keine Demüthigung sein, wenn er denen, die ihm 
folgen, die Wege ausreichend geebnet haben sollte, dafs sie 
nicht allzu lange zu wandern hätten, um in klar umrissenen 
Formen vor sich zu sehen, was ihm selbst blos in ungewisser 
Feme vorgeschwebt hat. 

(Eingegangen am 5. November 1901.) 



288 




(Die Zahlen bedeuten die Seiten.) 



A. 

Abhängige Sätze 27 fr., 38, 66, 107, 
273 ff. 

Absolute Evidenz 68. 

Absolute Transscendenz 146. 

Abstracta der Grammatik 178 ff., 183 f. 

Abstracte Vorstellung 110 ff. 

Abstraction 199 f. 

Abstraction bei Object gegenüber Ob- 
jectiv 198 f. 

Act, Vorstellungs- 113. 

Activ 278. 

Active Naturen 245. 

Activität des Annehmens 266. 

Actualitäts - Ansicht über die Ein- 
fühlung 234 f. 

Actualisirung einer Disposition 246. 

Actuelle Gegenständlichkeit 100 ff., 
131 f., 154, 267 f., A. bei Vor- 
stellungen 126 f. 

Actuelles Objectiv 154 f. 

Adäquatheit 124 ff., 128 f. 

Aequivalente für „dafs" - Sätze 161, 
176 ff., 184. 

Aesthetische Gefühle 210 f., 235 ff. 

Affirmation 2 f., A. als Voraussetzung 
der Negation 105 ff., Prärogative der 
A. 200, 279 f. 

Affirmatives Erkennen 94 f. 

Affirmative Qualität des Objectivs 204. 

Analyse des Begehrens 216 f., 219 ff., 
227. 



Analytisches Urtheil 146. 

Angezeigte Vorstellungsverbindung 
116. 

Annahme 3 ff., 15, 255 ff., deren An- 
theil am Erfassen von Gegen- 
ständen höherer Ordnung 133 ff., 
149, activer Charakter der A. 256, 
Antheil der A. an der Gegenständ- 
lichkeit des Psychischen 101 ff., 
Eigenschaften der A. 256 ff., Evi- 
denz der A. 260 ff., gegenständliche 
Momente der A. 256 f., Gegenständ- 
lichkeit der A. 107 f., Intensität der 
A. 258 ff., praktische ündefinirbar- 
keit der A. 257, relative Evidenz 
der A. 671, 265, Qualität der A. 258, 
relative Gebundenheit der A. 262, 
Stellung der A. im System der 
Psychologie 276 ff., Stellung derA. 
zwischen Vorstellen und Urtheilen 
271, 276 ff., thetische und syntheti- 
sche Function der A. 256, Unselb- 
ständigkeit der A. 256, UrtheUs- 
ähnlichkeit der A. 268 f., Verhältnifs 
der A. zu ihrer psychischen Um- 
gebung 266 ff., — A. als psycho- 
logische Voraussetzungen 269 f., A. 
als Urtheils-Surrogat 268 ff., 277, 279, 
A. als Vorstufe des Urtheils 279 f., 
— A. beim anschaulichen Vor- 
stellen 120 ff., 137 f., A. beim Dichter 
45, A. bei Gegenständen höherer 



Register. 



289 



Ordnung 133 ff., 149, 267 f., A. beim 
Schauspieler 43 ff., A. beim unan- 
sdiaulichen Vorstellen 109 ff., 118 ff., 
137, 263, A. beim „Vorstellen" von 
Relationen 135 f, — Immanenz bei 
A. 246, 257, Können und Dürfen bei 
A. 264, — A. und actuelle Gegen- 
ständlichkeit der Vorstellungen 267, 
A. und Denkgegenstände 271, A. 
und Objectiv 201 ff , 267 f., A. und 
Sprache 271 ff., — aufsuggerirte A. 
55 ff., 270, 280, explicite A. 37 ff., 
gebundene A. 261 f., offene A. 37 ff., 
selbständige A. 270, unvernünftige 
A. 263, versteckte A. 37, — A. die 
weder affirmativ noch negativ sind 
258, — drei Hauptgruppen von A. 
267 ff., — A. „im Hinblick" 89, A. 
in Spiel und Kunst 40 ff. 
„Annahme", Doppelsinn in diesem 
Worte 5, 277. 

Annahme-Evidenz 260 ff., mittelbare 

A. 265 f.. unmittelbare A. 265 f. 
Annahmefreiheit 261 ff., 265. 
Annahmegefühle 211, 251 f. 
Annahmeschlüsse 61 ff., 85 ff., 92, 260, 

267 ff., 273. 
Annahmetrieb 270. 
Annehmen dessen Activität 256, A. 

mehr als „blofses Vorstellen" 6ff , 

A. und Verstehen 272. 
Anschauliches Vorstellen 109 ff., 136 ff , 

160 Anm., a. Vorstellen der Strecke 

140, Annahme bei a. Vorstellen 

120 ff., 137 f. 

Anschaulichkeit, Kriterium derselben 
111, A. als Voraussetzung unmittel- 
barer Evidenz 71. 

Anschauung 137 f. 

Aposteriorisches Erkennen 73 f. 

A priori 193 f, 262 f. 

Apriorisches Erkennen 73 f. 

Apriorische Evidenz 72, 74. 

Apriorisches ürtheil 66, 70 f. 

Attribute von Objectiven 173 ff., 185 ff. 

Aufsuggerirte Annahmen 55 ff, 270, 
280. 
Zeitschrift für Psychologie. Erg.-Bd. II. 



Ausdruck 19, 90 ff., 117, 181, 202 ff., 
272, A. des ürtheils 23, A. ohne 
Bedeutung 21, 90 f., primärer A. 
20 f. s. primärer Ausdruck, secun- 
därer A. 20f. s. secnndärer Aus 
druck, A. für Zusammensetzungen 
117 ff., A. für Zusammenstellungen 
117 ff., — Ein psychisches Geschehen 
zweimal ausgedrückt 275. 

Ausgeführte Vorstellungsverbindung 
115. 

Aussage, kategorische A. 145, 202, 
Seins- A. 145. 

B. 

Bedeuten, reales und finales 17. 

Bedeutung 16 ff., 34, 90 f., 181, 202 ff., 
272 f, primäre B. 22 f., 91, secundäre 
B. 22 f., 91 f., B. beim Satze 24 f., 34, 
181 f., 190, 202, 272, B. beim Worte 
18 ff., 161. 

Begehrbarkeit 243 ff. 

Begehren, dessen Verbindung mit 
dem Fühlen 214 ff., 243 ff., Objective 
beim B. 209, B. und Urtheilen 261, 
Analyse des B. 216f., 219ff., 227. 

Begehrendes Zeichen 17. 

Begehr ung 51, 541, 184 ff., 209 f., 212 ff., 
deren Analogie zum Urtheil 184, 
Wissens-B. 55. 

Begehrungsdefinition des Werthes 
242 f. 

Begehrungsmotiv 2 12 f., 239 ff. 

Begehrungsmotivation 66, 230 ff. 

Begehrungssätze 26 f, 30. 

Begründen 61. 

Benennung 117. 

Beschreibung der Annahmen 255 ff. 

Bestätigungsfrage 52. 

Bestand 95, 124, 126, 143, 187 ff., 191, 
B.- Affirmation 95, B. ohne Noth- 
wendigkeit 188. 

Bestandstücke, unbestimmte 140 f. 

Bestimmungsfrage 52. 

Beweis 63, B. gegenüber Evidenz 63 ff. 

Bewerthen 251. 

Bildende Künste 45, 59. 

19 



290 



Begi$ter, 



CauHalrelation, deren Unwahrnehm- 

barkeit 65. 
Coincidenz-Princip 114 Anni., 124, 137, 

147 f., las f. 

Concretes Substrat 110 ff. 

Conjunctiv 28, 38, 175. 

Continuum 140. 

Complexer GegenHtand 114, 116. 

Complexer Inhalt 114. 

Complexion 163, 187, C. aus unbe- 
stimmten Bestandstücken 140 f.. 
Erfassen der C. ohne Vorstellen 
einer Relation 147 f. 

Complexionsform 114 ff., 120 f. 

Correlat der Di8positi9n 99. 

Dasein 187, 191. 

„Dafs" 156. 

„Dafs-Sätze" 28 f., 65, 151 ff., 156 ff., \ 
169 ff., 175 f., 182 ff , 194, 202 ff., 206 ff., | 
271, 273, Aequivalente für D. 161, 
176 ff., 184, D. als grammatisches 
Object 198, D. als ürtheilsausdruck 
275. 

Definition des Werthes 242 ff. 

Demonstratives Wissen gegenüber in- 
tuitivem 63. 

Denken 278 f. 228, Zweistufigkeit darin 
280 ff. 

Denkgegenstand 162 ff., 168 ff., 172, 200, 
202 ff., 271, 278 f. 

Didaktische Frage 51. 

Dichter 45. 

Dignität, Erkenntnifs D. s. Erkeunt- 
nifsdignität. 

Ding gegenüber Eigenschaften 191, 
D. als Gegenstand 104. 

Directes Vorstellen 114, 116 Anm. 

Disjunctives Urtheil 30. 

Disposition 99, 244 f., Actualisirung 
der D. 245, Leistung der D. 99. 

Disposition 8-Correlat 99. 

Dispositions-Grundlage 99. 

Drama 58 f. 



Dürfen und Können bei Annahmen 
264. 

E. 

Eigenschaft gegenüber Ding 191. 

Eigenschaften der Annahme 256 ff. 

Eigenschaften von Objectiven 210 f. 

Einbildungsvorstellung 28, 283, E. 
gegenüber Wahrnehmungsvorstel- 
lungen 253 f. 

Einfache Vorstellung 116 Anm. 

Einfühlung 234 ff., 239, Actualttät« 
ansieht über die E. 234 f., Vorstel 
lungsansicht über die E. 234 f. 

„Einschaltung" in die „subjective 
Wirklichkeit" 227 ff. 

Einsicht s. Evidenz. 

Emotionale Phantasie 285. 

Empirisches Erkennen 73. 

Empirisches Urtheil 71. 

Entbehren 248. 

Entscheidungsfrage 52 ff., suggestive 
Kraft der E 54. 

Erfahrungsgegenstand 9, 178. 

Erfassen eines Gegenstandes 101. 

Erfassen der Wirklichkeit 94 f. 

Ergänzungsfrage 52. 

Erinnern, fliefsender Uebergang des 
Wahruehmens in dasselbe 48. 

Erinnerung 72, E. bei luduction 73. 

Erinnerungsvorstellung 281. 

Erkennen, affirmatives 94 f., aposte- 
riorisches E. 74, apriorisches E. 72, 
74, Leistung des E. 199 f., E. und 
Erkenntnifs 196. 

Erkenn tnifs 62, 192, 196, negative E. 
150 f. 

Erkenntuifsdignität 76, 97, E. der Ge- 
dächtnifsurtheile 73, E. bei Evidenz 
74, E. bei Motiv und Motivat 67, 
E. bei Objectiven 194. 

Erkenntnifstheorie, deren Gebiet 
195 ff. 

Erotematische Frage 52. 

Erschliefsen 61. 

Erurtheiltes gegenüber Beurtheiltem 
151. 



Register. 



291 



Erweiterung des Gegenstandsgedan- 
kens 951, 152. 

Evidenz 62 ff., 67 ff., 89, 94, 173 f, 192, 
193, 260, absolute E. 68, apriorische 

E. 72, 193 f., herabgesetzte E. 75, 
mittelbare E. 62 ff., 69 ff., 76, 193, 
265, unmittelbare E. 62 ff., 71, 76, 
265, relative E. 67 ff., .75, 86, 265 f., 
269. — Ausnahmestelhing der E. 
196 f., Grade der E. 63, — E. bei 
Annahmen 67 f., 260 ff., 265, — E. 
bei Vermuthung 73, E. des Ge- 
dächtnisses 72 f., E. im „Hinblick" 
70, E. für Gewifsheit 73, E. für 
Wahrscheinlichkeit 73. 

Evidenz- Aehnlichkeit 68 f. 
Evidenzbegriff,Erweiterungde88elben 

68. 
Evidenz-Herabsetzung 73 f. 
Evidenzloses ürtheilen 72. 
Evidenzlosigkeit 73 ff., E. bei Con- 

clusionen 70. 
Evidenzvermittelung 63. 69 ff. 
Existenz 94, 164, 191. 
Existenz-Affirmation 94 f. 
Existenz-Urtheil 143. 
Explicite oder offene Annahmen 37 ff. 

F. 

Fähigkeit 99 f., 244 f. 

Falsch 173 f., 192 f. 

Festigkeit der üeberzeugung 260. 

Fiction 42 f., 45, F. eines Gegenstandes 

96 f. 
Fictive Stellungnahme 206. 
Finales Bedeuten 17. 
Finale Sätze 184 Anm. 
Finales Zeichen 17. 
Fingirte Urtheile 77. 
Folge 196. 
Form, Complexions-F. 114 ff., 120 f., F. 

des Schlusses 77 f. 
Formal richtige Schlüsse 31. 
Formale Richtigkeit 81 f., F. beim 

Schliefsen 76 ff. 
Frage 26, 51 ff., 106, 206, didaktische 

F. 51, erotematische F. 52, peisti- 



sche F. 52, rhetorische F. 51, un- 
eigentliche F. 51, — Bestätigungs- 

F. 52, Bestimmungs-F. 52, Ent- 
scheidungs-F. 52 ff., Ergänzungs-F. 
52, F. und Vermuthung 53 f. 

Fragesätze 26, 30, 53, 55. 

Freiheit des Annehmens s. Annahme- 
freiheit. 

Fremde Urtheile, Vorstellen derselben 
47 ff. 

Fundamente 160. 

Fundirte Gegenstände 12, 160, 284. 

Fundirung 8 f., F. stets mit Noth- 
wendigkeit verbunden 12. 

Fundirungsgegenstand 9, 178. 

Function des Urtheils, synthetische 
145 ff., thetische 145 ff. 

Furcht und Mitleid in der Tragödie 
234. 

(J. 

Gebundene Annahmen 261 f. 

Gebundenheit von Annahmen, rela- 
tive 262, 264 f. 

Gedächtnifsurtheile , deren Evidenz 
72 f., 75, Erkenntnifsdignität der G. 
73. 

Gefühl 186, Annahme -G. 211, 2511, 
ästhetisches G. 235 ff., Schein -G. 
236 f., 282, 284 f., Werth-G. 55, 182 f., 
211, Wissens-G. 55, 182, secundärer 
Ausdruck des G. 182 ff., G. und 
Begehren 214 ff., 242 ff. 

Gefühlsdefinition des Werthes 241 f. 

Gegensatz von Ja und Nein 14, 531, 
55, 81, 118, 154, 171, 205, 242 f., 
246 ff., 258, 277, 2821 

Gegenstand 93 ff., 1581, Denk-G. s. 
Denk-Gegenstand, Erfahrungs-G. 9, 
178, Urtheils G. 93 ff., 150 ff., 158, 
Vorstellungs-G. 163. — G. des hypo- 
thetischen Urtheils 78 f., Erfassen 
des G. 101, G. der beurtheilt ohne 
vorgestellt zu werden 159 ff., G. 
und Inhalt s. Inhalt, — complexer 

G. 114, fundirter G. 12, 160, 284, 
idealer G. 281, immanenter G. 124 f., 

19* 



292 



Register. 



127, 154, mittelbarer G. 148, nega- 
tiver (f. 7 ff., primärer G. 130 ff., 
HecundärerG. 130 ff., unbestimmter 
G. 132, unmittelbarer G. 148, trans- 
scendenter G. 126. 

Gegenstands - Collectiv , secundftres 
131 ff. 

Gegenstandsgedanke , Erweiterung 
desselben 95 f., 152. 

Gegenstände höherer Ordnung 8, 23 f., 1 
109 ff., 131, 147 ff., 137, 190, Antheil I 
der Annahmen am Erfassen von G. 
133 ff., 149. 

Gegenständliche Momente an der An- 
nahme 256 f. 

Gegenständliche Momente am ürtheil 
201, 197 ff. 

(iegenständlichkeit Oaff., 9Tff., 124, 
152 ff., 155, 268, Antheil der An- 
nahmen an der G. des Psychischen 
101 ff., G. der Annahmen 107 f., G. 
des negativen I'^rtheils 105, 107, G. 
der VorKtellungen 98, 102, 103, — 
actnelle G. 100 ff., 131 f., 15t, 168, 267, 
potentielle G. 100 ff., primäre G. 
131 f., secundäre G. 131 f. 

Geltungslose Urtheile 277 Anm. 1. 

Gerichtet sein auf einen Gegenstand 
100 ff., 105 ff., 131, 146. 

Gesetz der relativen Glücksförderung 
213 ff., 241. 

Gewifsheit des Urtheils 73, 192, 258, 
Evidenz für G. 73. 

Gewifsheitsgrad 173. 

Glauben 176. 

Glücksförderung, absolute 220f., 224 ff., 
relative G. 214 ff. 

Grade der Evidenz 63. 

Grund 196, G. und Folge 81 f. 91. 

Grundlage, Dispositions- 99. 

Grundthatsache der Erkenntnifs- 
theorie 126. 

H. 

Hauptsatz 28 f., 170 ff. 
Herabgesetzte Evidenz 75. 
Hinblick 82, 89, H. auf Annahmen 



265, H. auf Begehrungen 66, H. 
auf „Gegenstände" 66, 193, H. auf 
Urtheile 71, 65 f., 76, Evidenz im H. 
70. 

Hypothese 39 f. 

Hypothetisches Urtheil 30 f, 67, 69, 

78 ff , 87 ff., 232, 268, Gegenstand des 

selben 78 f. 



I. 

Ideale Gegenstände 281. 
Idealrelation 126 f., 128 ff. 
Identität 11. 

Immanentes Object 124 f., 127, 154. 
Immanentes Objectiv 154. 
Immanenz des Angenommenen 246, 
2:)7. 

Indifferenz der Zusammenstellungen, 

logische 118 ff. 
Indirectes Vorstellen 22, 116 Anm. 
Induction 73. 

Inferius 132f , 134, 137, 139, 141, 187, 
Inferius-Vorstellung 114. 
Infinitiv 175, 177 f., 184. 
Inhajt93f., complexerl. 114, primärer 

I. 133, — Vorstellungs-I. 113. — I. 

und Gegenstand 8, 18 f., 113, 124 ff., 

129, 139 f., 159 f., 190 f., 199, 256. 

Intellectuelle Phantasie 285. 

Intellectuelle Stellungnahme 205 f. 

Intensität der Annahme 258 ff., I. des 
Urtheils 192. 

Intuitives Wissen, gegenüber demon- 
strativem 68. 



J. 

Ja 52 f. 

Ja und Nein 2 ff., 14 f., 531, 55, 81, 118, 
154,171, 205, 242 f., 246 ff., 258, 277, 
282 f., Anwendbarkeit dieses Gegen- 
satzes als Kriterium der Annahmen 
15, Mittelglieder zwischen Ja und 
Nein 258, Verwechselung von Ja 
und Nein 121. 



Begüter. 



293 



K. 

Kategorische Aussage 145, 202. 
Kategorisches ürtheil 143 f., 147 f., 163, 

Reduction desselben 143 f. 
Können und Dürfen bei Annahmen 

264. 
Kriterium der Anschaulichkeit 111. 
Kunst 38, 43 ff., 46, 66, 58, 211, 234 ff., 

138, 239 f., 248, 270, bildende K. 59, 

redende K. 56. 

L. 

Leichtgläubigkeit 280. 

Leistung der Disposition 99. 

Leistung des Erkennens 199 f. 

Leistungen expliciter Annahmen 38 ff. 

Leistungen des Satzes 23 ff. 

Leistung des Urtheils 198 ff. 

Leistung des Vorstellens 200. 

Logik, deren Gebiet 195 ff. 

Logische Dignität der Annahmen 40. 
42 f. 

Logische Indifferenz der Zusammen- 
stellungen 118 ff. 

Logische Verarbeitung von Annahmen 
58. 

Löge 45 ff., 280. 

M. 

Materie des Schlusses 77. 
Minima cogitabilia 140 f. 
Minima sensibilia 140 f. 
Miterleben beim Drama 235 ff. 
Mitleid und Furcht in der Tragödie 

234. 
Mittheilendes Zeichen 17. 
Mittel 66, 218 f. 
Mittelbare Evidenz 62 ff., 69 ff., 76, 193, 

265. 
Mittelbarer Gegenstand 148. 
Mittelglieder zwischen Ja und Nein 

258. 
Mitspielen 56. 
Möglichkeit 174, 194. 
Momente, gegenständliche, an der 

Annahme 256 f., am ürtheil 197 ff. 



Motiv 66 f., Begehrungs-M. 212 f., 239 ff., 

Urtheils-M. 76. 
Motivat 67 f., Ürtheils-M. 76. 
Motivation, Begehrungs- 230 ff. 
Motivationskraft der Werthungen 253. 
Motivationsrelation 67. 
Motivenconflict 217, 227, 240 f. 
Musik 45, 59. 
Müssen 88. 

N. 

Nachannahme 90. 

Nachbilden der Urtheile Anderer 49. 

Nachgegebene Annahme 203. 

Nachgegebenes ürtheil 167 f., 170 ff., 
192 f., 203 f., 206 f. 

Nachgegebenheit des Objectivs 166. 

Nach-Objectiv 207. 

Nebensatz 27, 30, 170 ff. 

Negation 21, 39, 42, 47, 85, N. mit 
Noth wendigkeit 12, N. ohne Noth- 
wendigkeit 12, N. beim hypotheti- 
schen ürtheil 80 f., N. nie Sache 
blofsen Vorstellens 6 ff., N. setzt 
Affirmation voraus 105 ff. 

Nein 52 f. 

Negativa 136. 

Negative Begriffe 7, 136. 

Negative Erkenntnifs 150 f. 

Negativer Gegenstand 10, 14. 

Negatives hypothetisches ürtheil 87 f. 

Negative Qualität des Objectivs 204. 

Negatives ürtheil 96 f., dessen Gegen- 
ständlichkeit 107. 

Negative Vorstellungen 6 f., 13 f. 

Negatives gegenüber „blos Vorgestell- 
tem 5 ff. 

Non-A gegenüber A 7ff. 

Noth wendigkeit 174, 188, 193, 196, N. 
bei Fundirung 12, N. und Nöthigung 
264. 

Nöthigung und Noth wendigkeit 264. 

Nöthigung zum Annehmen 262 f., 264. 

0- 

Obgleich 88 Anm. 
Object, s. Gegenstand. 



294 



Register. 



Objectivität 153. 

Objectiv 16f.Anm., 130 Anm., 150ff., 
269 f., actuelles O. 154 f., immanen- 
tes O. 154, potentielles O. 15 f., — 
Attribute des 0. 173 ff., 185 ff., Be- 
schaffenheit des O. 190 ff., 187, 
Eigenschaften des 0. 210 f., Qualität 
des O. affirmative und negative 204, 
0. und Annahme 201 ff., 2ß7f., 0. 
bei ästhetischen Gefühlen 211, 0. 
bei Begehrungen 209 f., 0. vor dem 
Begehren 2311, O. bei Wider- 
strebungen 209 f., — Nachgegeben- 
heit des O. 166, 0. als Bestand 161, 
O. gegen Object undeutlich abge- 
grenzt 178 ff. 189. 

Objectivität 153. 

„Ob"-Satz 55. 

Offene oder explicite Annahmen 37 ff. 

P. 

Partialgegenstände s. Theilgegen- 

stände. 
Partialinhalte 113. 
Passiv 278. 
Passive Naturen 245. 
Peistische Frage 52. 
Phantasie 40, 138, 283 ff., emotionale 

Ph. 285, intellectuelle Ph. 285, — 

Ph. beim Lügen 46, stellvertretende 

Function der Ph. 253 f. 
Phanta8iebegehrung44f., 238, 282, 286. 
Phantasiegefühle 44 f., 237 f., 249 ff., 

249 ff., 252 f., 281 f., 286. 
Phantasieurtheil 285. 
Phantasievorstellung 281, 285 f. 
Positivität des negativ Erkannten 151f . 
Prärogative der Affirmation vor der 

Negation 200, 279 f. 
Prärogative des nachgegebenen ür- 

theils 172, 203, 275 f. 
Prärogative des vorgegebenen Ur- 

theils 174 f. 
Prädicative Verknüpfung 144 f. 
Primärer Ausdruck 20 f., 26 f., 28, 38, 

91, 172 f., 205, 270, 273 ff., p. A. des 

Urtheils 169 f., 172. 



Primäre Bedeutung 22 f., 91. 
Primärer Gegenstand 130 ff., 134 f., 138, 

154. 
Primäre Gegenständlichkeit 131 ff. 
Primärer Inhalt 133. 
Potentielle Gegenständlichkeit 100 ff. 

1311, 154, 168. 
Potentielles Objectiv 1671, 1541 
Producirende Thätigkeit 160. 
Producirte Vorstellungen 9, 114. 
Pseudoexistenz 13, 18, 159, 202. 
Psychologische Voraussetzung 212, 

269 f., 273. 
Psychologismus 196. 

Qualität der Annahme 258. 
Qualität des Objectivs, affirmative, 

negative 204. 
Qualität des Urtheils 171, 173. 
Qnasi-Transscendenz 95, 103, 126, 146. 
Quasi-Wirklichkeit 1261 

R. 

Realcomplexion 113, R. zwischen 
Theilinhalten 114. 

Reale Gegenstände 281. 

Realrelation 651, 126, 128, 137, R. 
zwischen Theilinhalten 114, 1231, 
134. 

Reales Bedeuten 17. 

Reales Zeichen 17 f. 

Redende Künste 561 

Reduction des Begehrens s. Analyse 
des Begehrens. 

Reduction des kategorischen Urtheils 
1431 

Reflexion über Gefühle als Be- 
gehrungsmotiv 232. 

Relation 163, 187, Ideal- R. 126 ff., 
Motivations-R. 67, Real-R. s. Real- 
Relation, R. zwischen Objectiven 
175. 

Relative Evidenz 67 ff., 75, 86, 2651, 
269, empiristische Auffassang der- 
selben 69. 



Register. 



295 



Kelati ve Gebuudenheit vouAnnahmen 
262. 

Relative Glücksförderung 214 ff., Be- 
gehrungsgesetz derselben 215, 217. 
2210, 224 ff, 230. 

Relative Transscendenz 14. 

Relativsätze 30, 273. 

Reproduction 281. 

Rhetorische Frage 51. 

Roman 58. 

s. 

8atz 23 ff., Leistungen des S. 23 ff., 
272 ff., S. im Sinne von Objectiv 
197 Anm., S. als Urtheilsausdruck 
23 ff., S. als Werthcomplexion 24, 
— Abhängiger S. 27 ff., 38, 55, 107, 
273 ff., Begehrungs-S. 26 ff., 30, 
Frage-S. 26, 30, 53, 55, Haupt-S. 
28 f.. Neben -S. 27, 30, 170 ff., Re- 
lativ-S.30,170ff.,273, unabhängiger 
S. 26 f., unselbständiger S. als An- 
nahmeausdruck 273, S. mit „dafs" 
28 f. 

Satzbedeutung 24, 34, 181 f., 190, 202 ff., 
272. 

Schauspieler 43 ff., 238 f. 

Schein 210. 

Scheinbegehrung 238, 282, 284 f. 

Scheingefühl 2361, 282, 284 f. 

Scheinurtheil 282. 

Scheinvorstellung 283. 

Schlief sen 61, 63 ff. 

Schlufs, dessen Materie 77, S. als 
hypothetisches Urtheil 78, S. mit 
suspendirten Prämissen 77, 92, 268, 
S. der nur seiner Form nach ge- 
zogen wird 31, formale Richtigkeit 
des S. 811, Annahme-S. s. diesen. 

Schlufsannahme 85. 

Schlufsf orm 77 1, 89 1 

Schlufsgesetz 68 f, 76. 

Schlufaurtheil 681, 76. 

Secundärer Ausdruck 201, 26 ff., 38, 
55, 91, 117, 1691, 1721, 182 ff., 185, 
205, 207, 270, 273 ff., sec. A. des Ur- 
theils 172. 



Secundäre Bedeutung 221, 911 

Secundärer Gegenstand 130 ff., 134 f., 
138. 

Secundäres Gegenstands • CoUectiv 
131 ff., 138. 

Secundäre Gegenständlichkeit 131 f., 
133. 

Sein 191. 

Sein und So-Sein 191, 201. 

Seiendes als Gegenstand 104. 

Seinsaussage 145. 

Seinsurtheil 1431, 145, 147 ff., 163, 
198 Anm. 2. 

Selbständige Annahmen 270, vgl. auch 
offene oder explicite Annahmen. 

Sicherheit des ürtheils 258. 

Sich -Versetzen in fremde Gedanken 
831 

Spiel 38, 40 ff., 46, 50, 56, 270, Täu- 
schung beim S. 41. 

Spontaneität 284. 

Stellungnahme 52, fictive St. 206, in- 
tellectuelle St. 205 f. 

Stellvertretende Function der An- 
nahmen 266, 268 ff. 

Stellvertretende Function der Phan- 
tasie 2531 

Strecke 1391 

Streckenvorstellung anschauliche 140, 
S. ohne Annahmen 141. 

Substrat, concretes 110 ff. 

Suggerirte Annahmen 55 ff. 

Suggestive Kraft der Entscheidungs- 
frage 54. 

Superius 131, 132 ff., 137, 139. 

Superi US- Vorstellung 114. 

Suspendirte Prämissen 77, 79, 82, 85 f., 
89, 92. 

Syllogismus 262. 

Synthetische Function der Annahme 
256. 

Synthetische Function des ürtheils 
145 ff., 163, 191. 

T. 

Täuschung 46, künstlerische T. 58, 
T. beim Spiel 4t 



296 



Begiiter. 



Thfttigkeit, producirende 160. 
Thatsache 162, 174, 189 f. 
ThatHächlichkeit 152. 
Theilgegenstände 113, 117. 
Thetische Function der Annahme 256, 

des Urtheils 145 if, 163, 191. 
Transformation von „dafs" • Hfttzen 

17611. 
TransBcendeuter Gegenstand 126. 
Transscendenz 95 f., 103 f, 146, 198, 

absolute T. 146, relative T. 146. 

V. 

Uebereinstimmung der Vorstellung 
mit der Wirklichkeit 125 f. 

Ueberlegung beim Begehren 231 f. 

Ueberzeugtheit 2 ff. 

Ueberzeugung 277, U. gegenüber An- 
nahme und Urtheii 257 f., Festig- 
keit der U. 260. 

Ueberzeugungsgewinnung im Hin- 
blick auf etwas 65 f. 

Ueberzeugungsmoment 259, 279. 

Ueberzeugungsvermittelung 63 ff., 265. 

Ueberzeugungswechsel 49, 57 f., 60, 
83 f., 107. 

Unabhängiger Satz 26 f., 38, 107. 

Unanschauliches Vorsteilen 109 ff., 137. 
263. 

Unbestimmte Bestandstücke 140 f. 

Unbestimmte Gegenständlichkeit 132. 

Undefinirbarkeit der Annahme, prak- 
tische 257. 

Uneigentliche Frage 51. 

Unendliche Keihe, fehlerhafte 123. 

Ungewifsheit 192. 

Unmittelbarer Gegenstand 148. 

Unmittelbare Evidenz 62 ö., 71, 76, 
265. 

Unmöglichkeit 193 f., 208. 

Unselbständige Sätze als Annahme- 
Ausdruck 273 f. 

Unselbständigkeit der Annahme 256. 

Unselbständigkeit bei psychischen 
Thatsachen 282 f. 

Unvermittelte Evidenz 71. 

Unvermittelte Werthhaltung 66 Anm.l. 



Unvernünftige Annahmen 263. 

Unverträglichkeit 81, 194, 208. 

Un wahrnehmbarkeit der Causalrela 
tion 65. 

UnwiUkürlichkeit des Urtheils 58. 

Ursache 188 Anm., 195. 

Urtheii, analytisches 146, apriorisches 
U. 66, 70 f., disjunctives U. 30, evi- 
denzloses U. 72, geltungslo^es U. 
277 Anm. 1, hypothetisches U. 301, 
67, 69, 78 ff., 87 £f ., 232, kategorisches 
U. 143 f., 147 f., 163, nachgegebenes 
U. 167, vorgegebenes U. 167, vor- 
gestelltes U. 47 ff., 57, — Existenz- 
V. 143, Phantasie-U. 285, Gewifs 
heit und Sicherheit des U. 2581, 
Intensität des U. 192, synthetische 
und thetische Function des U. 
145 ff , UnwiUkürlichkeit des U. 58, 
zwei wesentliche Momente des U. 
2f , — U. und Begehren 184, 261, 
U. als Complexion 279, U. im „Hin- 
blick" 69, U. gegenüber Vorstellung 
142 ff. 

Urtheilen als productive Thätigkeit 
160 ff. 

Urtheilsähnlichkeit der Annahme 
2681 

Urtheilsausdruck 23 ff. 

Urtheils-Causation 641 

Urtheils-Evidenz 260 ff. 

Urtheilsgefühle 182, 211. 

Urtheilsgegenstand 93. 152. 

Urtheilsmotivation 66. 

Urtheilsmotive 265. 

Urtheilsproblem If. 

Urtheilsschlüsse 86, 92, Annahmeu 
als U. 268 ff., 277, 279. 

V. 

Veränderlichkeit des sprachlicheu 

Ausdrucks 273 ff. 
Verarbeitung der Annahmen 58. 
Verbalsubstantiv 1771, 1831 
Verbindung von Begehren und Fühlen 

230 ff. 
Vermittelte Evidenz 71. 



Register, 



297 



Vermittelte Werthhaltung 66 Anm. 1. 
Yermittelung, Evidenz- 69 fl. 
Vennuthung 53. 
Vermuthungs-Evidenz 73. 
Verschiedenheit, steigerungsfähige u. 

unsteigerungsfähige 10 f., V. und 

Negation 10 fl. 
Versteckte Annahmen 37. 
Verstehen 31 ff., 56, 83, 272 ff. 
Verstehen und Annehmen 272. 
Verstehen einer Dichtung 32. 
Verträglichkeit 194, 196. 
Verwechselungen zwischen Ja und 

Nein 121. 
Voraussetzung, psychologische 212, 

2691 

Voraussetzungsannahme 85. 

Vorderannahme 90. 

Vorder-Objectiv 207. 

Vorgegebene Annahme 203. 

Vorgegebener Denkact 204 ff., 208. 

Vorgegebenes ürtheil 167, 170 ff., 187 f., 
192 ff., 203, 2061, 275. 

Vorstellen, anschauliches s. anschau- 
liches Vorstellen, affirmatives V. 7, 
directes V. 116 Anm., indirectesV. 
22, 116 Anm., negatives V. 7, un- 
anschauliches V. 109 ff., 118 ff., 137, 
263, — V. ohne Annahmen 267 ff., 
V. eines Gegenstandes 93 ff., etwas 
als wirklich V. 229 f., V. von 
Gegenständen in Relation 122 ff., 
V. im Sinne von „anschaulich Vor- 
stellen" 112, V. fremder Urtheüe 
47 ff. 

Vorgestellte Gefühle 2341 
Vorgestellte ürtheile 47 ff., 57, 79. 
Vorstellung, Einbildungs-V. 253 f., 281, 
283, Erinnerungs-V. 281, Phantasie- 
V 281, 2851, Wahrnehmungs-V. 
253f., — abstracte V. llOff., ein- 
fache V. 116 Anm., indirecte V. 22. 
— V. ohne Annahme 102, V. ohne 
Gegenstand 98, 102 f., Gegenständ- 
lichkeit der V. 981, V. von Sein 
und Nicht-Sein 246, V. eines nega- 
tiven Gegenstandes 13, Annahme 



bei V. von Relationen 135 f., V. 
von Relationen ohne Annahme oder 
Urtheil 1381 

Vorstellungsact 113. 

Vorstellungsansicht über die Ein- 
fühlung 2341 

Vorstellungsgefühle 210. 

Vorstellungsgegenstand 163. 

Vorstellungsinhalt 113. 

Vorstellungsproduction 9, 114, 137, 
160 f., 281. 

Vorstellungsverbindung 116, ange- 
zeigte V. 115, ausgeführte V. 115. 

w. 

Wahr 173 f., 196. 

Wahrheit 192 ff., W. als Erkenntnifs 

gegenständ 198 Anm. 3. 
Wahrnehmungsvorstellung 253 1, 281, 

283. 
Wahrscheinlichkeit 73, 174, 192, 259 f.. 

Evidenz für W. 73. 
Warum, Drang danach 68. 
Weil 64, 88, 91, 207 f. 
Weil-Relation 194 f. 
Wenn 87 ff., 207. 
Wenn- Relation 82, 1941 
Werth 241 ff., W. als Begehrbarkeit 

242 ff., Begehrungsdefinition des 

W. 241 f., Gefühlsdefinition desW. 

242 ff. 
Werthen 2511 
Werthgefühle 55, 1821, 211. 
Werthgröfse 248 f. 
Werthhaltung 182 f. 242. 246 ff. 249. 

251 ff., 254, unvermittelte W. 66 

Anm. 1, vermittelte W. 66 Anm. 1. 
Werthung252ff., Motivationskraft der 

W. 253. 
Werthurtheil 251 f. 
Widerstreben 184 f., 209, 214 Anm. 2. 

2391, Objective bei W. 209 f. 
Widerspruch 205. 
Wirklich, etwas als w. vorstellen 

2291 
Wirklichkeit, Erfassen derselben 94 1 
Wirklichkeitsgefühl 242. 



296 



Begiiter. 



Wirklichkeit als Gegenstand 104. 

Wirkung 194. 

Wissensgefflhle 66, 182, W.-Begehrung 

66. 
Wissen, intuitiyes, demonstratives 63. 
Wortbedeatung 18 ff., 161. 
Wortlose Lügen 46. 
Wflnschen 231 f. 

z. 

Zeichen 16 f., 31 ff., 34 272 f., begehren- 
des Z. 17 f., finales Z. 17, mit- 
theilendes Z. 17, reales Z. 17 f. 



Zeitlosigkeit des Objectivs 166, 189. 

Zufälligkeit 174, 188, 194. 

Zusammenhang 78, 80, 82, 88, 194, 
203, 207 f. 

Znsammenhang8'UrtheU87f., 92, 194. 

Zusammensetzung 116 ff., 138 f. 

Zusammenstellung 116 ff., 1381. 

Zustimmung 205. 

Zweck 66, 218 f. 

Zweistufigkeit im psychischen Ge- 
schehen 281 ff., Z. im Denken 280ff. 

Zwischengebiet zwischen Vorstellen 
und Urtheilen 8 ff., 16, 42 ff. 



Lippert & Co. (Gt. Pats'sche Bnchdr.), Naumburg a/S. 



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