Google
This is a digital copy of a book that was prcscrvod for gcncrations on library shclvcs bcforc it was carcfully scannod by Google as pari of a projcct
to make the world's books discoverablc online.
It has survived long enough for the Copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject
to Copyright or whose legal Copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books
are our gateways to the past, representing a wealth of history, cultuie and knowledge that's often difficult to discover.
Marks, notations and other maiginalia present in the original volume will appear in this flle - a reminder of this book's long journcy from the
publisher to a library and finally to you.
Usage guidelines
Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken Steps to
prcvcnt abuse by commcrcial parties, including placing technical restrictions on automatcd qucrying.
We also ask that you:
+ Make non-commercial use ofthefiles We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for
personal, non-commercial purposes.
+ Refrain from automated querying Do not send aulomated queries of any sort to Google's System: If you are conducting research on machinc
translation, optical character recognition or other areas where access to a laige amount of text is helpful, please contact us. We encouragc the
use of public domain materials for these purposes and may be able to help.
+ Maintain attributionTht GoogX'S "watermark" you see on each flle is essential for informingpcoplcabout this projcct andhclping them lind
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it.
+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are lesponsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other
countries. Whether a book is still in Copyright varies from country to country, and we can'l offer guidance on whether any speciflc use of
any speciflc book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search mcans it can bc used in any manner
anywhere in the world. Copyright infringement liabili^ can be quite severe.
Äbout Google Book Search
Google's mission is to organizc the world's Information and to make it univcrsally accessible and uscful. Google Book Search hclps rcadcrs
discover the world's books while hclping authors and publishers reach new audiences. You can search through the füll icxi of ihis book on the web
at|http : //books . google . com/|
Google
IJber dieses Buch
Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Realen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfugbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde.
Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch,
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist.
Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin-
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.
Nu tzungsrichtlinien
Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nie htsdesto trotz ist diese
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch
kommerzielle Parteien zu veihindem. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen.
Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:
+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.
+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen
nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen
unter Umständen helfen.
+ Beibehaltung von Google-MarkenelementenDas "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht.
+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein,
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA
öffentlich zugänglich ist, auch fiir Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben.
Über Google Buchsuche
Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unterstützt Autoren und Verleger dabei, neue Zielgruppcn zu erreichen.
Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter|http: //books . google .corül durchsuchen.
■1-1
Ijatuar» fIDeöical Scbool
»oviiMtcb Xtbrar?
Übe <B(« of
'"»
lit^t! T3,Hvaa;cX
f '*"^t--^
p>
• ",
Dr. S. P. BcwdUeK
HARTABD MEDICAL
BOSTON, MASS.
;'*^:(e.»i
l^ufiirvift
m
l^Hi^tim
nnli
|l|i|fuilii0te in $mtmimt
In Qemeinscliaft mit
S. Exner, £. Hering, J. y. Kries,
Th, Lipps, G. E. Müller, C. Pelman, W. Preyer,
C. Stampf
herausgegeben von
Herrn. Ebbinghans und Arthnr Eonig.
Zehnter Band.
Hamburg und Leipzig,
Verlag von Leopold Voss.
1896.
HARVAttCi l'Nlvcil#l7Y
UBMAAY
4\
Draek der VerUgsmnstalt und Druckerei Aetien-Oesellseliaft
(rennalt J. F. Blehter) in Hamburg.
Inhaltsverzeichnis.
Abhandlungen.
Seite
G. E. Müller. Zur Psychophysik der Gesichtsempfindungen . . 1 u. 821
GiTiLLBBT. Über das Augenmafs der seitlichen Netzhautteile 88
Alois Höflbb. Krümmungskontrast 99
£. W. ScBiPTüRB. Untersuchungen über die geistige Entwickelung
der Schulkinder 161
BiGHABD HENinG. Eutstchung und Bedeutung der Synopsien 188
Alois Höflbb. Zur Analyse der Vorstellungen von Abstand und
Bicbtung 238
WiLiBALD A. Naobl. Über die Wirkung des chlorsauren Kali auf
den Geschmackssinn 236
RioHABD HiLBBBT. Über das Irisieren sehr grob ornamentierter \
Fl&chen bei gleichzeitigem Auftreten von Simultankontrast .^j^^240_...^_.. ;-t"v_c ^ -
Ratmond DoDGB. Beschreibung eines neuen Chronographen * 414 q^ .r -^ ■ ^^
F. G. Mülleb-Ltbb. Über Kontrast und Konfluzion. (Zweiter Artikel) 421 ^
WiLiBALD A. Nagel. Über J. vo» Ubxkülls vergleichend-siimes- k 5 ^ f
physiologische Untersuchung No. 1 482
Litteratnrberieht.
I. Allgemeines.
Th. Zibben. Leitfaden der physiologischen Psychologie in 15 Vori»
lesungen 244
SiBGMOHD Exkeb. Entwurf zu einer physiologischen Erklärung der
psychischen Erscheinungen 109
G. Maibb. Pädagogische Psychologie fELr Schule und Haus 118
Alfbbd Binst. Introduction k la psychologie ezp^rimentale 448
G. K. Uphübs. Psychologie des Erkennens vom empirischen Stand-
pxmkte 289
G. Tbumbüll Ladd. Philosophy of mind 256
GoswiH K. Uphübs. Die psychologische Grundfrage 244
W. Pbbybb. Die Seele des Kindes. Beobachtxmgen über die geistige
Entwickelung des Menschen in den ersten Lebensjahren 245
Minor Studies from the Psychological Laboratory of Clark University
(C. MiLEs, A study of individual psychology) 446
IV Jnhaitsverzeichnis.
Seite
G. W. Fitz. A Location Beactdon Apparatus 448
H. MüNBTEBBERO. Studies from the Harvard Psycbological Labora-
tory (H. MüKSTERBEBG u. W. T. Bush, A Psychometric investi-
gation of the Psychophysic law) 118
Minor Studies from tbe Psychological Laboratory of Clark üniversity
(E. C. Sanford, Notes on new apparatas) 448
£. Kraepelin. Psycbologpische Arbeiten 247
BüDOLF Lehmann. Schopenhauer. Ein Beitrag zur Psychologie der
Metaphysik 246
n.' Anatomie der nervösen Zentralorgane.
C. Bbnda und Paula Günther. Histologischer Handatlas 120
nL Physiologie der nenrösen Zontralorgane.
Georo EEirth. Die Lokalisationstheorie angewandt auf psycho-
logische Probleme. Beispiel: Warum sind wir zerstreut?.... 269
V. Monakow. Experimentelle und pathologisch-anatomische Unter-
suchungen über die Haubenregion, den Sehhügel und die Begio
subthalmioa nebst Beiträgen zur Kenntnis früh erworbener
Groüsh und Kleinhirndefekte 260
Allen Starr. The muscular sense and its location in the brain-
cortex 121
Fr. Kiesow. Versuche mit Mossos Sphygmomanometer über die
durch psychische Erregungen hervorgerufenen Veränderungen
des Blutdrucks beim Menschen 266
L. LuoiANi. Ober Ferriers neue Stadien zur Physiologie des Klein-
hirns 265
— I reoenti studi sulla fisiologia del Cervelletto secondo il Prof.
David Ferrier 265
IV. Sinnesempfindimgen. Allgemeines.
V. Hbnsen. Vortrag gegen den sechsten Sinn 124
B. HiLHERT. Zur Kenntnis der sogenannten Doppelempfindungen . . 121
Minor Studies from the Psychological Laboratory of Clark Üniversity
(A. J. Hamlin, On the least observable interval between Stimuli
addressed to disparate senses and to different organs of the
same sense) 447
V. Physiologische und psychologische Optik.
L. Pfaundler u. 0. Lummer. Die Lehre vom Licht (Optik) 122
BoRTSiBKiEWicz. Weitere Untersuchungen über den feineren Bau
der Netzhaut • 267
Fr. Dihmer. Beiträge zur Anatomie und Physiologie der Macula
lutea des Menschen 267
BoRYBiBKiBWicz. Erwiderung auf Dimmers Angriffe 267
Dimmer. Entgegnung an Herrn Prof. Borysiekiewicz 267
InhcUtsverzeichnif. V
Seite
BoBYSiEKiBwicz. Aütwort auf die Entgegnung des Herrn Dr. Dihmeb, • 267
LiHDSAT Johnbon. Observations on the Macula Lutea. I. Histologj
of the human Macula. 267
F. Schanz, Ein Hornhautmikroskop 269
— Ein Homhautmikroskop und ein Netzhautfemrohr mit kon-
axialer Beleuchtung 269
O. SoHWEiochCR. Zum Akkommodations-Mechanismus 122
— Vorlesungen über den Gebrauch des Augenspiegels 123
G. Trümbull Ladd. Direct Control of the Betinal Field 123
B. Perlia. Kbolls stereoskopische Bilder. 26 färb. Taf. mit Ge-
brauchsanweisung 273
Contributions from the Psychological Laboratory of Columbia College
(S. J. Franz, The aftar-image threshold) 258
S. BxROEL. Über die Empfindlichkeit der Netzhautperipherie für
intermittierende Beizung 271
S. Epstein. Über ein neues Perimeter 270
H. MüiiSTERBERO. Studics from the Harvard Psychological Laboratory
(H. MüNSTBRBERO, A Stcrcoscope without mirrors or prisms.) . 120
VI. Physiologische und psychologisclie Akustik.
Alprbd M. Mayer. Besearches in Acoustics 449
£. Sauberschwarz. Interferenz versuche mit Vokalklängen 274
L. Hermann. Über das Wesen der Vokale 449
J. Bernstein. Über das angebliche Hören labyrinthloser Tauben . . 274
J. BiCH. Ewald. Zur Physiologie des Labyrinthes. IV. Mitteilung.
Die Beziehungen des Grofshims zum Tonuslabyrinth 278
HoLOER Mtgind. Taubstummheit 124
Victor ürbantschitsch. Über Hörübungen bei Taubstummheit und
bei Ertaubung im späteren Lebensalter 275
Vn. Die übrigen spezifischen Slxmesempfindimgen.
M. VON Frey. Beiträge zur Physiologie des Schmerzsinnes 129
— Zweite Mitteilung 129
WiLEBALD A. Naobl. Die Sensibilität der Conjunctiva und Cornea
des menschlichen Auges 129
— Zur Prüfung des Drucksinnes 129
M. VON Frey. Beiträge zur Sinnesphysiologie der Haut. Dritte Mit-
teilung 129
O. 0. Motschutkowsky. Ein Apparat zur Prüfung der Schmerz-
empfindung der Haut. — Algesiometer 280
Hess. Algesiometer von Dr. Motschütkowsky — Algesimeter von
Dr. Hess 280
Contributions from the Psychological Laboratory of Columbia College
(H. Griffing, Experiments on dermal sensations) 258
Fr. EliEsow. Untersuchungen über Temperaturempfindungen 276
VI InhcUtsverzeichms,
Seite
Alfred Blecheb. Über die Empfindung des Widerstandes 281
GoLDscHEiDER Und Blbcher. Versuche über die Empfindung des
Widerstandes 281
H. ZwAARDEMAKSB. Die Fhysiologie des Geruches 450
Eo. Aronsohn. Versuch einer Nomenklatur der Geruchsqualitäten 288
Fr. SLiesow. Beiträge zur physiologischen Psychologie des Ge-
schmackssinnes 127
VnL Eanm, Zeit, Bewegung, Zahl.
WiLH. FiLEHNE. Die Form des Himmelsgewölbes 462
H. W. Enox. On the quantitative determination of an optical
Illusion 465
K. Watanabe. On the quantitative determination of an optical
illusion 466
C. S. Parrish. The cutaneous estimation of open and filled space 465
A. BiNET. La mesure des illusions visuelles chez les enfants 465
J. LoEB. Über den Nachweis von Kontrasterscheinungen im Gebiete
der Baumempfindungen des Auges 465
H. Münsterbbro. Studies from the Harvard Psychological Laboratorj
(H. McNSTBBBEBO and A. H. Pierre, Localisation of sound) . . . 255
V. Henri und G. Tawney. Über die Trugwahmehmung zweier Punkte
bei der Berührung eines Punktes der Haut 280
A. Bi5et. Reverse Illusions of Orientation 143
H. MüNSTERBEBO. Studics from the Harvard Psychological Laboratory
(H. MüNSTEBBEBG u. A. E. T. Wylie, Optical Time-content) . . . 119
Hbbbebt Niohols. Our notions of number and space 140
Meumanv. Berichtigung zu dem Beferat von Schümann Über „Mbü-
MANN, Beiträge zur Psychologie des Zeitsinns^ 158
F. ScHTTUANN. Eine Erwiderung 818
DL Bewnlatsein und ünbewuTstes. Anfinerksamkeit. Selüaf.
Ellen Bliss Talbot. The doctrine of conscious Clements 288
Graeftjnder. Traum und Traumdeutungf 466
Harrt E. Kohn. Zur Theorie der Aufmerksamkeit. Abhandlungen
zur Philosophie und ihrer Geschichte. Herausgegeben von
Benno Erdmann 288
AiiEXANDER F. Shand. An analysis of attention 144
Minor Studies from the Psychological Laboratory of Clark University
(A. H. Daniels. The memory after-image and attention) 447
H. Münsterberq. Studies from the Harvard Psychological Labora-
tory. (H. Münsterbbro u. N. Kozaki, The intensifying effect
of attention) 117
John Gribr Hieben. Sensory Stimulation by attention 288
InhaUwerzeidmia, VI I
Seite
H. Gribsbach. Über Beziehungen zwischen geistiger Ermüdung und
Empfindungsvermögen der Haut. Auch separat unter dem
Titel : Energetik und Hygiene des Nervensystems in der Schule 277
X. Übung, Assoziation und OodächtniB.
KiRKF ATRICK. An cxperimeutal study of memory 144
H. MüNSTERBEBG. Studies from the Harvard Psychological Labora-
torj (M. W. Galkiks, Association) 255
— Studies from the Harvard Psychological Laboratory (H. Mtm-
STERBBRO u. J. BiOHAM, Msmory) 116
— Studies from the Harvard Psychological Laboratory (J. Btohah,
Memory) 254
John A. Bergströv. The Belation of the Interference to the Practice
Effect of an Association 467
XI. Vorstellnngen und Intelligens.
Edmüni) Montgomert. The Integration of mind 294
Wellesley College Psychological Studies (C. C. Netbrs, Br. Jastrow
on Community of ideas of men and women) 289
H. Münstbrbeko. Studies from the Harvard Psychological Labora-
tory (H. MüNSTERBERO aud W. W. Campbell. The motor power
of idea) 252
A. Botet et V. Henri. De la suggestibilit^ naturelle chez les enfants 469
Kasimir Twardowski. Zur Lehre vom Lihalt und Gegenstand der
Vorstellungen 468
W. James. The Knowing of Things Together. . . • 295
J. SoüBT. La Vision mentale 260
Julien Pioobr. La vie et la pens6e. Essai de conception exp^ri-
mentale 445
A. C. Armstrono jr. The Imagery of American Students 145
Th. Floübnot. De l'action du milieu sur Tid^ation 295
— ün cas de personnification 295
— De rin£uence de la perception visuelle des corps sur leur
poids apparent 295
Xn. aeftthle.
Dadid Irons. Descartes and modern Theories of Emotion 471
H. Münsterbero. Studies from the Harvard Psychological Labora-
tory (E. PiERCE. Aesthetics of simple forms. Symmetry.) . . . 255
0. A. Strono. The psychology of pain 302
Jonas Cohn. Experimentelle Untersuchungen über die GefUhls-
"betonung der Farben, Helligkeiten und ihrer Kombinationen 303
Zm. Bewegungen und Handlungen.
W. WüKDT. Zur Beurteilung der zusammengesetzten Beaktionen . . 150
£.£rabpelin und Jul. Merkel. Beobachtungen bei zusammengesetzten
Beaktionen 150
Vni Inhaltsverzeichnis,
Seite
J. J. VA9 BiEBVLiBT. Über den Einflufs der Geschwindigkeit des
Pulses auf die Zeitdauer der Reaktionszeit bei Sohalleindrüoken 116
H. £. EteRiiTG. Beitrag zur Frage der gleichzeitigen Th&tigkeit anta-
gonistisch wirkender Muskeln 804
KuDOLF Merinoeb Und Karl Mater. Versprechen und Verlesen .... 905
6. Verriebt. Les bases physiologiques de la parole rhythm^e 471
XIV. Neuro- und PsyehoiMtkologie.
P. J. MöBius. Neurologische Beitrage. IV. Heft 308
Breuer u. Frbud. Studien über Hysterie 308
R. VON Krafft-Ebino. Nervosität und neurasthenische Zustände . . . 163
Albert Eülekburg. Sexuale Neuropathie. Genitale Neurosen und
Neuropsychosen der Männer und Frauen 809
Heinrich Schüschny. Über die Nervosität der Schuljugend 806
AüousT Forel. Der Hypnotismus ^ 163
K. Schaffer. Suggestion und Beflex 309
Max Herz. Kritische Psychiatrie. KANrische Studien über die
Störungen und den Milsbrauch der reinen spekulativen Vernunft 311
C. Wbrnicke. Arbeiten aus der psychiatrischen Klinik in Breslau. 154
Eduard Hitzio. Über den Querulantenwahnsinn, seine nosologische
Stellung und seine forensische Bedeutung 312
Wellesley College Psychological Studios (M. B. Simmonb, Prevalence
of Paramnesia) 289
C. L. Dana. A case of Amnesia or „Double Consciousness'' 315
C. Bbrnardini u. A. Perugia. Le funzioni di relazione nella demenza 314
William Hirsch. Betrachtungen über die Jungfrau Ton Orleans
vom Standpunkte der Irrenheilkunde 164
XV. Sozialpsychologie, Sittlichkeit und Verbrechen.
Georg Simmsl. Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik
der ethischen Grundbegriffe 473
Alexius Meinong. Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Wert-
lehre 145
— Über Werthaltung und Wert 149
S. Beichard. Az erkölcsi 6rzes (Der moralische Sinn) 297
Enrico Fsrri. Sozialismus und moderne Wissenschaft 316
C. LoifSROSo. Der Antisemitismus und die Juden im Lichte der
m
modernen Wissenschaft 15ö
Namenregister 481
Zur Psychophysik der Gesichtsempfindungen.
Von
G. E. Müller.
Kapitel 1.
Die psyehophysischen Axiome und ihre Anwendung anf die
Gesiehtsenipflndangen.
§ 1. Die vier ersten Axiome der Psychophysik.
Die Psychophysik setzt nicht blofs die Gültigkeit der in
der Physik und Chemie gelehrten, auf das Verhalten der Materie
bezüglichen Axiome voraus, sondern fufst aufserdem auf ge-
wissen ihr eigentümlichen Axiomen, welche die Wechsel-
beziehung zwischen den psychischen Zuständen und den ihnen
entsprechenden materiellen Vorgängen betreffen. Man kann
zur Zeit fünf solche Axiome der Psychophysik unterscheiden,^
von denen die ersten vier die folgenden sind, während das
fünfte Axiom erst in § 5 zur Darstellung gelangt.
1. Jedem Zustande des Bewufstseins liegt ein materieller
Vorgang, ein sogenannter psychophysischer Prozefs, zu Grunde,
an dessen Stattfinden das Vorhandensein des Bewufstseins-
zustandes geknüpft ist. (Dafs jedem psj'chophysischen Prozesse
ein Bewufstseinszustand entspricht, besagt die Definition des
psychophysischen Prozesses; vergl. S. 4).
2. Einer Gleichheit, Ähnlichkeit, Verschiedenheit der Be-
schaffenheit der Empfindungen — von den übrigen psychischen
Zuständen, von denen gleiches gilt, wie von den Empfindungen,
kann hier und im folgenden abgesehen werden — entspricht
' Die Zahl ist einigermarsen willkürlich. Man kann dieselbe ver-
ringern oder erhohen, indem man mehrere der angeführten Axiome
zusammenlegt, bezw. das eine oder andere derselben zerlegt.
ZeitsehrUl für Psychologe X. 1
2 G. E. Müller.
mm ^^^
eine Gleichheit, Ähnlichkeit, Verschiedenheit der Beschaffenheit'
der psychophysischen Prozesse, und umgekehrt. Und zwar
entspricht einer gröfseren oder geringeren Ähnlichkeit der
Empfindungen auch eine gröfsere, bezw. geringere Ähnlichkeit
der psychophysischen Prozesse, und umgekehrt.
3. Besitzen die Änderungen, welche eine Empfindung durch-
läuft, dieselbe Richtung, oder sind die Unterschiede, die zwischen
einer Beihe gegebener Empfindungen , bestehen, von gleicher
Richtung, so besitzen auch die Änderungen, welche der psycho-
physische Prozefs durchläuft, oder die Unterschiede der ge-
gebenen psychophysischen Prozesse gleiche Richtung. Ebenso
entsprechen auch Änderungen oder Unterschieden des psycho-
physischen Prozesses, welche gleiche Richtung besitzen, stets
Empfindungsänderungen oder -unterschiede von gleicher Rich-
tung. Ist also eine Empfindung in n-facher Richtung variabel^
so mufs auch der zu Grunde liegende psychophysische Prozefs
in n-facher Richtung veränderlich sein, und umgekehrt.
4. Die Richtungen, in denen eine Empfindung verändert
werden kann, sind von verschiedener Art. Führt die Richtung,
in welcher die Empfindung verändert wird, zum Nullpunkte hin,
d. h. wird bei fortgesetzter Änderung der Empfindung in dieser
Richtung schliefslich der Punkt des völligen Schwindens der
Empfindung erreicht, so sagt man, dafs die Empfindung bei
ihrer Veränderung eine Abnahme ihrer Intensität erleide.
Ist die Veränderung genau die Umkehrung einer solchen,
welche als Abnahme der Empfindungsintensität bezeichnet wird,
so spricht man von einer Zunahme der Empfindungs-
intensität. Unter den verschiedenen Richtungen der Ver-
änderlichkeit einer Empfindung, welche zum Nullpunkte hin-
führen, nimmt diejenige eine hervorragende Stellung ein, in
welcher die Empfindung bei stetiger Änderung den Nullpunkt
* Von der Beschaffenheit des psychophysischen Prozesses — und
das entsprechende gilt von der Beschaffenheit der Empfindung — ist
hier in einem weiteren (die Qualität und Intensität umfassenden) Sinne
die Bede. Die Beschaffenheit des psychophysischen Prozesses hat in-
dessen nichts zu thun mit dem Orte, wo sich dieser Prozefs vollzieht.
Psychophysische Prozesse, die sich nur durch den Ort, an welchem sie
stattfinden, voneinander unterscheiden, sind hinsichtlich ihrer Beschaffen-
heit völlig gleich, genau ebenso wie psychophysische Vorg&nge, die sich
nur durch die Zeit, zu welcher sie sich abspielen, voneinander unter-
scheiden.
Zur Psychophysik der Gesichtsenipfindungen. 3
auf dem kürzesten Wege, d. h. mit Dorchlaufung der
geringsten Anzahl von Zwischenempfindungen, erreicht. Wird
die Empfindung in dieser oder der genau entgegengesetzten
Kichtung verändert, so liegt eine reine Intensitäts-
änderung der Empfindung vor. Wird die Empfindung in
einer der übrigen zum Nullpunkte hin- oder vom Nullpunkte
wegfahrenden Richtungen verändert, so ist die Empfindungs-
änderung gemischter Art, d. h. eine solche, welche neben
der Intensität auch noch die Qualität der Empfindung betrifft.
Als eine rein qualitative wird die Empfindungsänderung
dann bezeichnet, wenn sie in einer Richtung stattfindet, die
weder zum Nullpunkte hin-, noch von demselben hinwegführt.
So viel zur Verständigung darüber, was wir unter einer
Änderung der Empfindungsintensität oder Empfindungsqualität
verstehen. Weiteres hierher G-ehöriges findet sich in § 6.
Es gilt nun der Satz (viertes psychophysisches Axiom),
dafs jeder qualitativen Änderung der Empfindung auch eine
quaUtative Änderung des psychophysischen Prozesses entspricht,
und umgekehrt, und dafs bei einer Erhöhung oder Minderung
der Empfindungsintensität auch die Intensität des psycho-
physischen Prozesses^ anwächst, bezw. sich verringert, und um-
gekehrt. Ist die Qualitätsänderung oder die Intensitätsände-
rung, welche die Empfindung erfahrt, eine reine, so betrifft
auch die Änderung des psychophysischen Prozesses lediglich
die Qualität, bezw. lediglich die Intensität desselben, und um-
gekehrt.
Wie leicht zu erkennen, stehen die hier angefahrten vier
Axiome in dem Verhältnisse zu einander, dafs immer das nach-
folgende Axiom das vorhergehende in bestimmter Weise näher
ergänzt. Man kann es einfacher finden, den Inhalt dieser
Andorne in der aUgemeinen Behauptung eiies psychophysischen
Parallelismus kurz zusammenzufassen. Es ist aber zweck-
mäisiger, die Sätze, welche zusammengenommen dieses all-
gemeine Prinzip des psychophysischen Parallelismus ausmachen,
^ Die Begriffe der Intensität und Qualität sind hinsichtlich des
psychophysischen Prozesses ganz analog zu definieren, wie hinsichtlich
der Empfindung. Die Intensität eines psychophysischen Prozesses nimmt
ab, wenn derselbe sich in einer zum Nullpunkte führenden Richtung
ändert. Weiteres üher die Intensität des psychophysischen Prozessef»
folgt in § 3.
1*
4 G. E. Mülle)'.
einzeln zu formulieren und hervorzuheben. Denn der Ausdruck
^psychophysisoher Parallelismus ^ ist viel zu unbestimmt und
läfst, wie z. B. die Ausführungen des § 3 zeigen werden, Aus-
legungen zu, die wir nioht zu teilen vermögen oder wenigstens
ftlr sehr unsicher halten. Auch haben manche Forscher, und
zwar auch solche von hervorragender Art, welche den Paral-
lelismus zwischen Psychischem und Physischem im allgemeinen
anerkennen, thatsächlich doch gegen das eine oder andere
unserer fünf psychophysischen Axiome verstofsen.
Was den Begriff des psychophysischen Prozesses anbelangt, so
kann man in Hinblick auf die Thatsache, dafs nicht jedwede Hirn-
erregung von einem Zustande unseres Bewafstseins begleitet ist, Hirn-
erregung und psychophysischen Prozefs nicht identifizieren, sondern
mufs den letzteren als einen solchen innerhalb unseres Q-ehirnes sich
abspielenden materiellen Vorgang definieren, welcher von einer Empfin-
dung oder einem sonstigen Zustande unseres Bewufstseins begleitet ist.
Hierbei ist prinzipiell die Möglichkeit nicht zu Übersehen, dafs der
psychophysische Prozefs nur ein Teil desjenigen mehr oder weniger
komplizierten Vorganges (sog. Erregungsvorganges) sei, der sich bei
Vorhandensein einer Empfindung oder eines sonstigen psychischen Zü-
standes in irgendwelchen Himteilen abspielt. Nehmen wir beispiels-
halber an, die Hirnerregung sei ein von elektrischen Veränderungen be-
gleiteter chemischer Prozefs, und es sei nur die demselben entsprechende
elektrische Veränderung für das Verhalten unserer Empfindungen mafs-
gebend, so würden wir nicht den ganzen Erregungsvorgang, sondern nur
diese elektrische Begleiterscheinung als den psychophysischen Prozefs
zu bezeichnen haben. Nur fOr die letztere, nicht aber für den ganzen
Erregungs Vorgang brauchten alsdann die obigen Axiome gültig zu sein.
So könnten z. B. verschiedenen Erreg^ungs Vorgängen gleiche Empfindungen
entsprechen, falls nur die elektrischen Begleiterscheinungen der Erregungs-
vorgänge dieselben wären.
Hält man an dem obigen Begriffe des psychophysischen Prozesses
fest, so zeigt sich, dafs das oben an vierter Stelle aufgestellte Axiom
keinerlei Entscheidung darüber enthält, ob der betreffende Hirnvorgang
bei jedem beliebigen Intensitätswerte oder (im Sinne Fechnbbs) erst von
einem bestimmten Schwellenwerte seiner Intensität ab Empfindung mit
sich zu führen vermag. Denn obiges Axiom besagt nur, dafs, solange als
der Himvorgang die Eigentümlichkeit besitzt, eine Empfindung mit sich
zu führen, jeder beliebigen Verstärkung oder Schwächung desselben eine
Erhöhung, bezw. Verringerung der Empfindungsintensität entspricht Ob
aber der Hirn Vorgang jene Eigentümlichkeit, psychophysischer Prozefs
zu sein, prinzipiell schon bei jeder beliebigen Intensität besitzen kann,
bleibt völlig dahingestellt.
Zur Fsychophysik der Gesichtsempfin^ngen.
§2. ünannelimbarkeit eines vonHEBiNa aufgestellten
psychophysischen Satzes.
Die obigen psychophysischen Axiome oder wenigstens ein
Teil derselben liegen stillschweigend oder mehr oder weniger
deutlich ausgesprochen gewissen Betrachtungen von Lotzb
(Kleine Schriften^ herausgegeben von Peipers. 2. S. 30f., Medic,
Psychol. S. 217), Fbchneb (Elemente der Psychophysik. 2. S. 224flf:
und anderwärts), Mach (Ärch. f. Anat. u. Physiol. 1865. S. 634 f.,
Wien. Ber, 52. 1865. 11. S. 320 f.), Heeing (Zur Lehre vom LichU
sinne, S. 76) u. a. zu Grunde. Der von dem letztgenannten
Forscher (a. a. 0. S. 77, 83 f.) aufgestellte Satz, dafs „psycho-
physische Prozesse von sehr verschiedener Gröfse dieselbe Em-
pfindung geben können, weil es überall nicht auf die absolute
Gröfse dieser Prozesse, sondern lediglich auf ihr gegenseitiges
Verhältnis ankommt ^^^ dafs also z. B. einer und derselben Grau-
empfindung verschiedene absolute Intensitäten der WeiTserregung
und Schwarzerregung entsprechen können, erscheint uns in-
dessen unhaltbar. Man denke sich eine Anzahl psychophysischer
Prozesse mit bestimmten gegenseitigen Intensitätsverhältnissen
gegeben und hierauf ohne Veränderung dieser ihrer gegen-
seitigen Intensitätsverhältnisse allmählich bis auf den Nullpunkt
verringert. Soll nun bei dieser Verringerung der Intensitäten
sämtlicher Partialprozesse die Empfindung ganz unverändert
bleiben? Soll im Widerspruche zu dem Prinzipe der Kon-
tinuität ein Erfolg der Intensitätsänderung des zusammen-
gesetzten psychophysischen Prozesses auf der psychischen Seite
erst in dem Momente eintreten, wo sämtliche Partialprozesse
den NuUpunkt erreichen, indem in diesem Momente die Em-
pfindung ihren bisher unveränderten Intensitätswert plötzlich
mit dem Nullwerte vertauscht? Wir meinen, dafs auch die
psychophysische Gesetzmäfsigkeit keine Sprünge kennt. Hebings
obiger Satz widerspricht offenbar dem vierten unserer psycho-
physischen Axiome, nach welchem einer Änderung eines (ein-
fachen oder zusammengesetzten) psychophysischen Prozesses,
welche in einer zum Nullpunkte hinfahrenden Bichtung statt-
findet, eine Änderung der Empfindung, die gleichfalls in einer
zum Nullpunkte hinfahrenden Bichtung stattfindet, entsprechen
mnfs. Überdies sprechen auch die Erfahrungen auf dem Gebiete
6 G. E. Müller.
des Hörsinnes keineswegs für den Satz, dafs eine Klangempfin dang
völlig anverändert bleibe, wenn man die den Partialtönen ent-
sprechenden psychophysischen Prozesse in gleichen Verhältnissen
verstäifke oder schwäche.
Es empfiehlt sich nicht, dem obigen Satze Hebings gegen-
über geltend zu machen, daXis derselbe gegen das zweite unserer
Axiome, nach welchem einer Verschiedenheit der psycho-
physischen Prozesse stets auch eine solche der Empfindungen
entsprechen müsse, verstofse. Denn man könnte leicht er-
widern, dafs, wie wir oben die örtlichen Verschiedenheiten der
psychophysischen Prozesse für psychophysisch bedeutungslos
erklärt haben, vielleicht auch diejenige Verschiedenheit zusammen-
gesetzter psychophysischer Vorgänge, welche nur in einer
Verschiedenheit der absoluten Intensitäten der sie zusammen-
setzenden Partialprozesse, nicht aber in einer Verschiedenheit
der gegenseitigen Intensitätsverhältnisse der letzteren bestehe,
für psychophysisch irrelevant zu betrachten sei. Man mufs
jenem Satze Herings in der obigen Weise das Prinzip der
Kontinuität und unser viertes Axiom, sowie die Erfahrungen
anderer Sinnesgebiete entgegenstellen. Eine der Hauptaufgaben
dieser Untersuchungen ist es, die HEBiNOsche Theorie der G-egen-
färben so zu modifizieren, dafs sie jenes hier angefochtenen
Satzes Herings nicht mehr bedarf.
§ 3. Vom physischen Korrelate der Empfindungs-
intensität.
Da alle Empfindungen Intensität besitzen, so müssen nach
dem vierten der obigen Axiome auch alle psychophysischen
Prozesse prinzipiell in solcher Sichtung verändert werden
können, dafs bei Fortsetzung der Änderung in dieser Bichtung
schliefslich der Nullpunkt erreicht wird.
Einer solchen zum Nullpunkte führenden Veränderung kann
jeder psychophysische Prozefs prinzipiell auf doppelte Weise
unterworfen werden, insofern er erstens in allen Teilen seiner
Ausbreitung eine (nach der lebendigen Kraft der Bewegungen
oder in anderer Weise zu bemessende) Stärke besitzt, und in-
sofern er zweitens sich über gewisse Partien des Zentralorganes
erstreckt, also eine gewisse Ausbreitung besitzt, die man sich
prinzipiell bis zum Werte Null verringert denken kann.
Zur Psychophysik der Gesichtsempfindungen. ^
Es fragt sich nun, ob wir uns die Intensität der Empfin-
dung von der Stärke oder von der räumliclien Ausbreitung des
psychophysischen Prozesses oder von beiden Faktoren zugleicli
abhängig zu denken haben.
Im allgemeinen hat man sich mit dieser Frage bisher nur
sehr wenig beschäftigt. Ein eigentümlicher, wenn auch nicht
glüokHcher, Versuch, zu zeigen, dafs die Empfindungsintensität
ihr Korrelat nicht in der Stärke der Nervenerregung, sondern
in der Ausbreitung derselben innerhalb des Zentralorganes (in
der Zahl der an der Erregung beteiligten Ganglienzellen) be-
sitze, ist seiner Zeit von Bernstein gemacht worden, um die
von Fechner angenommene logarithmische Beziehung der
Empfindungsintensität zur Beizstärke zu erklären. (Man ver-
gleiche hierüber meine Schrift y^Zur Grundlegung der Psycho-
pAy«i«. S. 374 ff.).
Fechneb {Elemente der Psychophysik, 2. S. 224 ff., In Sachen
der Psychophysik, S. 204 ff.) denkt sich die Empfindungs-
intensität sowohl von der Stärke, als auch von der Ausbreitung
des psychophysischen Prozesses abhängig. Denn seiner Ansicht
nach hängt die Empfindungsintensität von der Summe von
lebendiger Kraft oder von der Summe von Geschwindigkeiten
oder von Beschleunigungen ab, welche während einer endlichen
Zeit von sämtlichen Teilchen entwickelt werden, die an dem
als ein Schwingungsvorgang vorzustellenden psychophysischen
Prozesse beteiligt sind. „Nach dieser Auffassung,^ bemerkt
Fechneb, „hängt die Intensität der Empfindung wesentlich mit
von der Zahl der dazu beitragenden Teilchen ab, und es kann
eine gröfsere Amplitude der Schwingung durch eine gröfsere
Zahl Teüchen, die mit kleinerer Amplitude schwingen, ersetzt
werden .... Hierin Uegt unstreitig eines der wichtigsten
Mittel, mit den unsichtbar kleinen Bewegungen in unseren
Nerven und Gehirn doch grolse psychische Leistungen hervor-
zubringen. Wenn blofs ein Nerventeilchen innerlich schwänge,
80 müiste es unstreitig in ungeheurer Amplitude schwingen,
um den Glockenton in derselben Stärke wiederzugeben, in der
wir ihn jetzt hören **
Eine nähere und tiefer gehende Angabe darüber, wonach
eigentlich die Stärke des psychophysischen Prozesses zu be-
messen sei, kann bei dem gegenwärtigen dürftigen Zustande
unseres Wissens nicht mit gutem Gewissen unternommen
8 G,E. Müller,
werben. Wie oben angedeutet, hat schon Fechneb geschwankt,
ob die Stärke, welche der psychophysische Prozefs in einem
gegebenen Baumelemente besitzt, nach der lebendigen Kraft
oder nach den Geschwindigkeiten oder nach den Beschleunigungen
. — man kann aber auch noch an ganz andere Oröfsen denken
— der in diesem Kaumelemente vorhandenen, an dem psycho-
physischen Prozesse beteiligten materiellen Bestandteile zu
bemessen sei. Auf jeden Fall hat man bei Betrachtungen
dieser Art zunächst nicht von der Stärke der psychophysischen
Thätigkeit schlechtweg, sondern von der Stärke zu reden,
welche die psychophysische Thätigkeit in einem bestimmten
Baumelemente (von endlicher Gröfse) zu einem bestimmten
Zeitpunkte besitzt. Und die Stärke, welche die psychophysische
Thätigkeit in einem Baumelemente besitzt, hat man nach dem
Werte zu bemessen, den der innerhalb des betreffenden Zeit-
teilchens in diesem Baumelemente sich abspielende psycho-
physische Prozefs bei unverändertem Fortdauern während der
Zeiteinheit für eine bestimmte, allerdings noch nicht genauer
angebbare, physikalische oder chemische Gröfse (wie die
lebendige Kraft von Bewegungen oder die Gröfse eines
chemischen Umsatzes) ergeben würde.
Notwendig erhebt sich nun aber die Frage, welche psycho-
physische Bedeutung die Zahl der Baumelemente besitze, in
denen der psychophysische Prozefs mit gleicher oder ver-
schiedener Stärke bestehe, oder, kurz gesagt, die Frage, was
das psychische Korrelat der Ausbreitung der psychophysischen
Thätigkeit sei. In dieser Hinsicht kann man auf folgende
Betrachtung kommen. Es sei ein psychophysischer Prozefs
mit einer bestimmten Ausbreitung gegeben, und zwar
besitze derselbe der Einfachheit halber in allen Teilen seiner
Ausdehnung die gleiche Stärke. Alsdann kann ich denselben
erstens dadurch auf den Nullpunkt herabbringen, dafs ich die
Stärke desselben in allen Teilen seiner Ausbreitung allmählich
auf Null herabbringe. Diese Abschwächung des psycho-
physischen Prozesses hat ihr psychisches Korrelat in einer
Abnahme der Empfindungsintensität, die schliefslich mit dem
völligen Schwinden der Empfindung endigt. Zweitens kann
ich jenen psychophysischen Prozefs auch dadurch auf den
Nullpunkt herabbringen, dafs ich die Ausbreitung desselben
allmählich immer mehr verringere. Auch hierbei erhalten wir
Zur Päychophyaik der Gesichtsempfindungen, 9
eine Reihe von Empfindungen, die uns schliefslich zum Null-
punkt führt. Aber entsprechend dem umstände, dafs in den
beiden betrachteten Fällen die Reihe von Zuständen, welche
der psychophysisohe Prozefs bis zum Nullpunkte hin durchläuft,
eine verschiedene ist, muTs auch die Reihe von Empfindungeui
welche bis zum Nullpunkte hin durchlaufen wird, in beiden
Fällen von verschiedener Art sein. Es giebt also sozusagen
zwei verschiedene Arten von Empfindungsintensität, oder besser,
neben der Intensität der Empfindungen, welche ihr Korrelat
in der Stärke des psychophysischen Prozesses besitzt, giebt es
noch eine andere, gleichfalls zum Nullpunkte fährende Dimension
der Empfindungen, welche ihr Korrelat in der Ausbreitung
der psychophysischen Thätigkeit besitzt, und welche etwa als
die Mächtigkeit der Empfindungen bezeichnet werden könnte.
Dafs diese letztere Dimension sich der Aufmerksamkeit bisher
ganz entzogen hat, kann einfach daran liegen, dafs der psycho-
physisohe Prozefs, wenigstens so lange, als seine Art dieselbe
bleibt, immer nahezu die gleiche Ausbreitung besitzt, so dafs
diejenige Veränderlichkeit der Empfindung, die auf der prinzipiell
bestehenden (aber thatsächlich sich nicht geltend machenden)
Veränderlichkeit der Ausbreitung des psychophysichen Pro-
zesses beruht, in unserer Erfahrung überhaupt nicht zu Tage
treten kann. Es kann aber auch sein, dafs, wenigstens inner-
halb gewisser Grenzen, die Ausbreitung des psychophysischen
Prozesses gleichzeitig mit der Stärke desselben anwächst, so
dafs mit den Änderungen der Empfindungsintensität zugleich
Änderungen jener Mächtigkeit einhergehen. Weil aber diese
Änderungen der Intensität und Mächtigkeit der Empfindungen
immer in gleicher Weise miteinander verbunden sind, und
niemals der Fall vorkommt, dafs sich bei gleichbleibender
Intensität einer Empfindung die Mächtigkeit derselben ver-
ändert, oder umgekehrt, so kommen wir nicht zu einer Sonderung
jener beiden Dimensionen der Empfindung. Nur der sog.
Lebhaftigkeitsunterschied, den man zwischen einer Empfindung
und dem ihr entsprechenden Vorstellungsbilde beobachtet, und
den man vielfach nicht geneigt ist, in eine Linie mit dem
Intensiiätsunterschiede zweier Empfindungen zu stellen» ist
vielleicht als ein Unterschied aufzufassen, der wesentlich auf
einer Verschiedenheit der Ausbreitung des psychophysischen
Prozesses beruht.
10 G.E, Müller.
Gedanken der im Vorstehenden angedeuteten Art, die
nicht weiter ausgeführt werden sollen, erscheinen einfach und
plausibel, solange man immer nur den Fall voraussetzt, dafs
der psychophysische Prozefs in allen Teilen seiner Ausbreitung
dieselbe Stärke besitze, und sich nun entweder die Stärke oder
die Ausbreitung desselben oder beide zugleich variiert denkt.
Ihre Durchführung stöfst aber auf Schwierigkeiten, sobald
man dazu übergeht, sich den Fall zurechtzulegen, wo die
psychophysische Thätigkeit in den verschiedenen Teilen ihrer
Ausbreitung verschiedene Stärke besitzt. Soll sich dann jene
Mächtigkeit der Empfindung lediglich nach der Ausbreitung
des psychophysischen Prozesses bestimmen, ganz unabhängig
davon, wie grofs die Stärke desselben in den einzelnen Baum-
teilchen ist? Es scheint also die FECHNEBsche Ansicht den
Vorzug zu verdienen, nach welcher die Ausbreitung des psycho-
physischen Prozesses ihr psychisches Korrelat nicht an einer
von der Empfindungsintensität verschiedenen Dimension der
Empfindung besitzt, sondern eine Vergröfserung oder Ver-
ringerung jener Ausbreitung psychophysisch völlig äquivalent
ist einer ohne Veränderung der Ausbreitung des psychophysischen
Prozesses stattfindenden, bestimmten Erhöhung, bez.Verringerung
der Stärke desselben.^ Nach dieser Auffassung ist die Em-
pfindungsintensität abhängig von der Summe der Werte, welche
die Stärke des psychophysischen Prozesses in den verschiedenen
Teilen der Ausbreitung des letzteren besitzt. Der Wert dieser
Summe ist also dasjenige, was wir unter dem Werte der
Intensität des psychophysischen Prozesses zu verstehen
haben. Inwieweit überhaupt eine Variation der Ausbreitung
des psychophysischen Prozesses in Wirklichkeit stattfindet,
kann man bei der hier angedeuteten Auffassung zunächst dahin-
gestellt sein lassen.
Die Annahme, dafs die Intensität des psychophysischen
Prozesses sich wesentlich nach der Anzahl von Baumteilchen
^ Aus leicht ersichtliclieii Q-rUnden können (wenigstens bei dem
gegenwärtigen Stande unseres Wissens) Beobachtungen darüber, wie sich
die Empfindung eines und desselben Gesichts- oder Gehörsreizes einerseits
bei einäugigem, andererseits bei zweiäugigem Sehen, bezw. einerseits bei
einohrigem, andererseits bei zweiohrigem Hören verhält, zur Entscheidung
zwischen dieser FEOHNERschen Ansicht und der vorher angedeuteten,
anderen Ansicht nicht dienen.
Zur Pisychophysik der Gesichtsempfindungen. 11
bestimme, in denen er sich abspielt, wird übrigens, wenn aucli
nicht ausgesprochenermafsen, stets dann gemacht, wenn man
den psychophysisohen Prozefs als einen chemischen Vorgang
ansieht. Denn alsdann mufs man die Intensität dieses Prozesses
für um so gröfser erklären, je beträchtlicher unter sonst gleichen
Verhältnissen die Anzahl der Moleküle oder der Gruppen
zusammengeratener Moleküle ist, an denen er sich vollzieht,
d. h. je gröfser die Zahl der Baumteilchen ist, in denen er
sich abspielt.
Zu der beliebten Bedewendimg. dafs ein allgemeiner Parallelismus
zwischen dem Psychischen und Physischen existiere, stimmt die Fbghnsr-
sche Ansicht, welche wir im Vorstehenden als die mindestens zur Zeit
vorzuziehende hezeichnet haben, nicht gerade in ganz besonderem Mafse.
Denn ein psychophysischer Prozefs von der Ausbreitung a und der (in
allen Teilen seiner Ausbreitung gleichen) Stärke s ist nicht dasselbe, wie
der qualitativ gleiche Prozefs von der Ausbreitung — und der Stärke n *,
wo n einen beliebigen, von 1 verschiedenen Wert besitzt, und doch soll
nach jener Ansicht in beiden Fällen ganz dieselbe Empfindung vorhanden
sein. Die Behauptung eines allgemeinen psychophysisohen Parallelismus
geht in ihrer Allgemeinheit eben gerade auf die interessanteren Punkte
nicht näher ein, kann sogar zu Fehlgriffen verleiten und mufs notwendig
durch eine Beihe speziellerer Sätze erläutert werden. Auch unser obiges
drittes Axiom (S. 2) findet erst durch die vorstehenden Ausführungen
eine notwendige Ergänzung, insofern die letzteren besagen, dafs eine^
Zunahme oder Abnahme der Ausbreitung des psychophysisohen Prozesses
und eine Steigerung, bezw. Verringerung der Stärke, welche derselbe
in den verschiedenen Teilen seiner Ausbreitung besitzt, als Veränderungen
von gleicher Bichtung anzusehen sind.
Man ist vielfach geneigt gewesen, als das physische Korrelat der-
jenigen Eigentümlichkeit unserer Gesichtsempfindungen, welche in dem
Ausgedehnt- oder Ausgebreitetsein der Farbe besteht, einfach die ob-
jektive Ausbreitung und räumliche Anordnung der den Farbenempfin-
dungen zu Grunde liegenden Nervenerregungen anzusehen. Hierzu ist
erstens zu bemerken, dafs eine solche Auffassung erst dann als haltbar
angesehen werden könnte, wenn es gewifs wäre, dafs auch in allen
übrigen Sinnesgebieten, deren Nervenerregungen ja unzweifelhaft ebenso
wie diejenigen des Gesichtssinnes mit einer gewissen Ausdehnung und
raumlichen Anordnung im Gehirne stattfinden, die Empfindungsqualitäten
als ausgedehnt empfunden werden. Femer ist ja doch nicht sozusagen
nur ein durch die erregten Himmassen gelegter flächenhafter Querschnitt
psychophysisch wirksam, sondern ein psychophysischer Prozefs, der sich
nach allen drei Dimensionen des Baumes erstreckt, liegt unserer Em-
pfindung zu Grunde. Wenn also die räumlichen Eigenschaften und
Verhältnisse der psychophysischen Prozesse sich wirklich sozusagen
•bne weiteres in die räumlichen Eigenschaften und Verhältnisse unserer
12 G.R Müller.
Empfindungen übersetzten, so müTsten die Farbenqualitäten und sonstige
sinnliche Qualitäten nicht blofs mit einer gewissen Ausdehnung, sondern
gleichzeitig noch mit einer Erstreckung in die dritte Dimension , mit
einer gewissen Dicke empfunden werden. Endlich erhebt sich noch die
Frage, wie man sich vom Standpunkte der hier bekämpften Ansicht aus
damit auseinandersetzen wolle, daTs unsere Wahmehmungsbilder keine
Diskontinuitäten erkennen lassen, welche der Zusammensetzung der psycho-
physisch wirksamen erregten Massen aus diskreten Teilchen, der Trennung
derselben durch Bindegewebe und Blutgefäfse, der Scheidung der beiden
Sehsphären des Grofshirns durch die mediane Himspalte u. dergl. m.
entsprechen. Uns scheint es ganz unmöglich, zur Zeit eine psycho-
physische Deckung für das räumliche Element unserer Empfindungen
zu gewinnen. Und es erscheint aussichtslos, an dieses Grundproblem
der räumlichen Wahrnehmung heranzugehen, bevor die psychophysische
Forschung über andere, einfachere Probleme sichere Auskunft, auf der
man fufsen kann, gebracht und auch das psychologische Denken in
mancherlei Hinsicht noch weitere Fortschritte gemacht hat. Vielleicht
sind überhaupt unsere Erkenntnismittel von der Art, dafs wir niemals
dazu kommen können, solche Anschauungen von der Materie zu ent-
wickeln, welche .uns erlauben, für das räumliche Element unserer Em-
pfindungen in einleuchtender Weise das physische Korrelat anzugeben.
Es kann aber auch sein, dafs hier Schwierigkeiten ganz anderen
Ursprunges vorliegen.
Hinsichtlich der Lokalzeichentheorie Lotzbs mag hier beiläufig
erinnert werden, dafs sie ganz wesentlich auf der spiritualistischen
Voraussetzung beruht, dafs die Vorstellungsassoziation aus einer Eigen-
tümlichkeit der Seele entspringe und nicht auf eine physiologische Asso-
ziation rückführbar sei. Jetzt, wo wir in dieser Beziehung besser
unterrichtet und genötigt sind, den psychischen Assoziationen und
Reproduktionen physiologische Assoziationen und Reproduktionen unter-
zulegen, haben wir keinen Grund, eventuell vor der Annahme zurück-
zuschrecken, dafs zwei ganz gleiche Empfindungen, welche durch Reizung
zweier verschiedener Lokalitäten des Sinnesorganes hervorgerufen
werden, trotz ihrer völligen Gleichheit verschieden lokalisiert werden
können, d. h. verschiedene zu ihrer Lokalisierung dienliche Vorstellungen
reproduzieren können. Nach unseren gegenwärtigen Anschauungen
hängen die Vorstellungen, welche eine Empfindung reproduziert, von
den physiologischen Assoziationen ab, welche der ihr zu Grunde liegende
Nervenprozefs eingeht. Und ein luid derselbe sensorische Nervenprozefs
kann in zwei oder mehr Fällen, in denen er von verschiedenen Stellen
des Sinnesorganes aus hervorgerufen wird, sich mit ganz verschiedenen,
gleichzeitig oder unmittelbar nach ihm erweckten, Nervenerregungen
assoziieren, so dafs er späterhin je nach der Lokalität der Reizungsstelle
verschiedene zur Lokalisierung der ihm entsprechenden Empfindung
dienliche Vorstellungen reproduzieren kann. Eine Erregung, welche von
einem anderen Orte des Sinnesorganes aus hervorgerufen wird als eine
zweite Erregung von gleicher Bescha£Penheit, ist eben physiologisch
etwas anderes, pflanzt sich auf anderen Bahnen fort und kann andere
Zur Psychophysik der GesichUteynp findungen. 13
Assoziationsbahnen beschreiten, als jene zweite Erregung. Ebenso ist
der Fall, wo eine zusammengesetzte Erregung aus einer links erweckten
schwächeren und rechts erweckten stärkeren Erregung (z. B Gehörs-
erregung) besteht, physiologisch sehr wesentlich von dem Falle ver-
schieden, wo die linke Erregung die stärkere und die rechte Erregung
die schwächere ist. Von dem hier angedeuteten Standpunkte aus erscheint
z. B. für die Erklärung unserer (allerdings nur mäfsig entwickelten)
Fähigkeit, eine Tonquelle auf Grund der durch sie erweckten Gehörs-
eindrücke richtig nach rechts oder links u. s. w. zu lokalisieren, nicht
die Annahme erforderlich, dafs sich die durch das rechte Ohr und die
durch das linke Ohr vermittelten Gehörseindrücke durch irgend eine
von der Lokalität des erregten Ohres abhängige Modifikation ihrer Be-
schaffenheit, durch ein sogenanntes Lokalzeiohen oder lokales Moment
voneina,nder unterschieden.^ Diese Eindrücke können (gleichen Beiz
und gleiche Erregbarkelt vorausgesetzt) einander völlig gleich sein.
Für die Lokalisation der Schallquelle genügt es, dafs die Nervenprozesse,
welche den Schallempfindungen zu Grunde liegen, je nach der Lage der
Schallquelle (je nach dem Intensitätsverhältnisse, das zwischen den Er-
regungen beider Gehörsorgane besteht) verschiedene andere Nervenprozesse
reproduzieren, deren psychisches Korrelat in den die richtige Lokalisation
der Schallquelle ausmachenden Vorstellungen besteht. Diese letzteren
Vorstellungen müssen freilich, wenigstens zum Teile, eine gewisse Ver-
schiedenheit besitzen.
§4. Einfache und zusammengesetzte psychophysische
. Prozesse.
Die psycbophysischen Prozesse sind entweder einfache
oder Mischprozesse. Ein einfacher psychophysischer
Prozefs ist ein solcher, den die psychophysische Betrachtung
nicht genötigt ist, in mehrere Teilvorgänge zu zerlegen, der
also entweder wirklich einfacher Natur ist oder nur aus solchen
Teilvorgängen besteht, welche als psychophysische Prozesse
in unserer Erfahrung niemals voneinander getrennt vorkommen,
ja sogar auch niemals in anderen Intensitätsverhältnissen mit-
einander vermischt vorkommen. Hingegen bezeichnen wir einen
* Ob diese Annahme durch anderweite (dem Gebiete der allgemeinen
Physiologie angehörende) Gesichtspunkte erfordert wird, soll hier dahin-
gestellt bleiben. Macht man die Annahme, dafs die Lokalisation der
Schallquellen im wesentlichen auf den Tastempfindungen der beiden
Trommelfelle beruhe, so gilt natürlich gleichfalls der Satz, dafs diese
Lokal] sation an und für sich keinen genügenden Grund für die Behaup-
timg hergiebt, dafs die Trommelfellempfindungen des rechten und des
linken Ohres sich durch ein besonderes lokales Moment voneinander
unterschieden.
14 (?. E- MüUer.
psychophysischen Prozefs als einen zusammengesetzten
oder Mischprozefs, wenn er aus zwei oder mehr Vorgängen
besteht, welche als psyohophysische Prozesse auch voneinander
getrennt oder wenigstens in wechselnden Intensitätsverhältnissen
miteinander vermischt in unserer Erfahrung vorkommen.
Eine Empfindung, welcher ein einfacher psychophysischer
Prozefs entspricht, soll eine reine Empfindung oder Grund-
empfindung heifsen, eine solche hingegen, welcher ein
psychophysischer Mischprozefs zu Grunde liegt, soll als eine
unreine Empfindung oder Mischempfindung bezeichnet
werden. Es ist wohl zu beachten, dafs eine Mischempfindung,
ebenso wie eine reine Empfindung, eine einfache Empfindung
ist, die nicht als ein Komplex mehrerer Empfindungen oder als
eine aus mehreren Teilempfinduneen zusammengesetzte Em-
pfiBdnng abgesehen werden darf.
Angenommen z.B., es käme in unserer Erfahrung diejenige
Empfindung vor, welcher ausschliefslich eine Weifserregung
(im Sinne von Hebings Theorie) ohne jede Beimischung einer
anderen Erregung entspricht, so würden wir diese Empfindung
als eine Grundempfindung und den ihr zu Grunde liegenden
psychophysischen Prozefs als einen einfachen bezeichnen, ohne
durch diese Bezeichnungen die Möglichkeit ganz auszuschliefsen,
dafs die Weifserregung thatsächlich ein ziemlich komplizierter
Vorgang sei. Wir würden mit diesen Bezeichnungen nur be-
haupten, dafs entweder die Weifserregung wirklich einfacher
Art sei oder wenigstens in unserer Erfahrung keine Empfin-
dung vorkomme, deren psychophysischen Prozefs wir uns als
einen solchen vorzustellen hätten, der in seiner Ganzheit oder
einem Teile nach aus einem Teilvorgange der Weifserregung
bestehe oder aus ganz denselben Teilvorgängen, wie die Weifs-
erregung, nur mit anderen Intensitätsverhältnissen derselben
zu einander, zusammengesetzt sei.
Hingegen würden wir eine Empfindung, welcher ein aus
Weifserregung und Blauerregung zusammengesetzter psycho-
physischer Vorgang entspricht, als eine Mischempfindung (aber
nicht als eine zusammengesetzte Empfindung) bezeichnen, weil
dieser psyohophysische Prozefs aus Teilvorgängen besteht, die
als psyohophysische Prozesse auch voneinander getrennt oder
wenigstens in den verschiedensten Intensitätsverhältnissen mit-
einander vermischt in unserer Erfahrung vorkommen.
Zur Psychophysik der Gesichtsempfindungen, 15
In Kürze läuft also die üntersclieiduBg von einfachen und
zusammengesetzten psychophysisolien Prozessen, von G-rund-
empfindungen und Mischempfindungen, darauf hinaus, dafs von
den psychophysischen Prozessen der ersteren Benennungsweise
zur Zeit nicht nachweisbar ist, dafs sie zusammengesetzter
Natur sind, während wir gute Gründe haben, diejenigen der
zweiten Benennungsweise als zusammengesetzte (aus zwei oder
mehr Partialprozessen bestehende) Vorgänge anzusehen. Es
verhält sich mithin mit dieser Unterscheidung ganz ähnlich,
wie mit der Unterscheidung zwischen chemischen Elementen
und chemischen Verbindungen. Denn auch die chemischen
Momente sind nicht Stoffe, deren einfache Natur wir mit
Sicherheit behaupten können, sondern nur Stoffe, von denen
zur Zeit nicht nachgewiesen ist, dafs sie zusammengesetzter
Art sind. Wie femer trotz dieser Relativität des Begriffes
chemisches Element die Unterscheidung zwischen chemischen
Elementen und chemischen Verbindungen für die Chemie not-
wendig ist, so ist auch die Unterscheidung von einfachen und
zusammengesetzten psychophysischen Prozessen, von Grund-
empfindungen und Mischempfindungen, für die Psychophysik
erforderUch, obwohl wir nicht behaupten können, dafs die den
Grundempfindungen entsprechenden psychophysischen Vor-
gänge auch für eine über unser jetziges Wissen hiaausgehende,
letzte Betrachtung als einfache psychophysische Prozesse an-
zusehen seien.
§ 5. Das fünfte psychophysische Axiom.
Hinsichtlich der Mischempfindungen erhebt sich nun die
wichtige Frage, in welcher Weise sich die Qualität einer Misch-
empfindung nach den Qualitäten und Intensitäten der ihr zu
Grunde liegenden psychophysischen Partialprozesse bestimme.
Auf diese Frage antworten die folgenden Darlegungen, welche
das fünfte Axiom der Psychophysik enthalten.
Es seien a und b die Intensitäten der beiden qualitativ ver-
schiedenen, einfachen psychophysischen Partialprozesse, welche
einer Mischempfindung /» zu Grunde liegen, und a sei die reine
Empfindung, welche der Partialprozefs von der Intensität a
isoliert genommen hervorrufen würde, und ft sei die reine Em-
pfindung, welche der Partialprozefs von der Intensität b einzeln
16 G. E. Müüer.
genommen erwecken würde. Alsdann ist die Misohempfindnng fi
sowohl jener Empfindung a, als anch dieser Empfindung ß in
gewissem Grade ähnlich, und zwar bestimmt sich der Qrad
der Ähnlichkeit, welche f$ zn a und zu ß besitzt, in folgender
Weise nach den Intensitäten und Qualitäten der beiden psycho-
physischen Partialprozesse.
Der Grad der Ähnlichkeit, welche die Mischempfindung fA
zur Empfindung a oder ß besitzt, möge kurz mit Äfjtaj bezw. Af/^ß
bezeichnet werden. Fingiert man nun den Fall, dals die Em-
pfindungen a und ß ohne jede in Betracht kommende Ähnlich-
keit zu einander seien, so bieten sich als die einfachsten und
plausibelsten folgende zwei Formeln dar:
^"«-d^» »>
^""-^i 2>-
Setzt man b= 0, so geht die Ähnlichkeit von /» zu a in völlige
Gleichheit über, indem Afia = 1 wird. Das Entsprechende
gilt für den Fall, wo a = ö ist. Ist a = 6, so ftUt Afjta =
Aaß = ^ aus.
Sind jedoch die beiden Grundempfindungen a und ß ein-
ander in merkbarem Grade ähnlich, so bedarf das Vorstehende
einer wesentlichen Ergänzung. Der Grad der Ähnlichkeit der
Empfindung a zur Empfindung ß soll dem obigen entsprechend
durch Aaß dargestellt werden, wo Aaß ein nur von den Quali-
täten der beiden Empfindungen a und ß, nicht aber von den
Intensitäten derselben abhängiger, echter Bruch ist, welcher
der Einheit um so näher steht, je ähnlicher a dem ß ist. Be-
zeichnen wir femer den Grad der Ähnlichkeit von ß zaa mit Aßa^
so gilt zunächst ofi^enbar die Gleichung:
Aaß = Aßa 3).
Der Grad der Ähnlichkeit ferner, in welcher die Mischempfindung
ju, der jene beiden den Grundempfiindungen a und ß ent-
sprechenden Partialprozesse von den Intensitäten a und b ge-
meinschaftlich zu Grunde liegen, zu der Empfindung er steht,
wird durch die Gleichung dargestellt:
Zur Fsychaphyaik der Gesichtsempfindungen. 17
a-\-Aßa.b
^^"= a + b *^-
Ebenso gilt für die Ähnlichkeit von /a zu ß die Grleichung:
. b + Aaß . a
^^^= a + b ^^-
Hinsichtlich der GrröCse Aaß oder Aßa, welche als der Ähnlich-
keitskoeffizient von a in Beziehung auf/J, bezw. von ß in
Beziehung auf a, bezeichnet werden kann, braucht nicht erst
noch bemerkt zu werden, dafs sie stets nur positive Werte be-
sitzen kann. Negative Werte eines Ähnlichkeitskoeffizienten
sind sinnlos.
Die Notwendigkeit, von den Formeln 1) und 2) zu den
Formeln 4) und 5) überzugehen, ergiebt sich ohne weiteres
daraus, dafs sich der Wert von Afia der Einheit um so mehr
nahem mufs, je ähnlicher ß dem a wird, je mehr sich also
Aßa der Einheit nähert. Dieses Verhalten findet seinen Aus-
druck in Gleichung 4), nicht aber in Gleichung 1). Es kann
überhaupt als das Richtigere erscheinen, sogleich mit der Auf-
stellung obiger Gleichungen 4) und 5) zu beginnen und
Gleichungen 1) und 2) als diejenigen darzustellen, die sich für
den Grenzfall völliger Disparatheit von a und /*, wo Aßa == 0
ist, ergeben.
Die vorstehenden Betrachtungen lassen sich nun leicht für
den Fall verallgemeinem, dafs der Mischempfindung (a nicht
blofs 2, sondern 3 oder mehr psychophysische Partialprozesse
von den Intensitäten a, &, c . . ., denen isoliert genommen die
reinen Empfindungen a, /9, / . . . entsprechen, zu Grunde liegen.
In diesem Falle gelten die Gleichungen:
. a -\- Aßa . b + Aya . c . . . ^.,
^A*« = a + b + c... ^)
, b + Aceß . a -\- Äyß . c . . . _
^'"^^ — r+b + c... — '^
u. s. w.
Die vorstehenden Gleichungen 6) und 7) samt den ent-
sprechenden Gleichungen für A/jty, Agiä u. s. w. können als ein
kurzer Ausdruck des fünften psychophysischen Axioms
angesehen werden. Sie stellen uns die Qualität der Misch-
empfindung fjt in ihrer Abhängigkeit von der Beschafi*enheit
Zeitaehrift für Psychologie X. 2
1 8 6?. E, Müller,
und den Inten sitäts Verhältnissen der ihr zu Grunde liegenden
psychophysischen Partialprozesse dar.
Natürlich kann eine Mischempfindung fi einer reinen Em-
pfindung a auch dann ähnlich sein, wenn keiner der ihr zu
Grunde liegenden Partialprozesse dem psychophysischen Prozesse,
welcher der Empfindung a entspricht, qualitativ gleich ist,
sondern einer oder mehrere jener Partialprozesse diesem letzteren
Prozesse nur ähnlich sind. Auch diesem Falle wird obige
Gleichung 6) gerecht, indem man alsdann in derselben die
Gröfse a gleich Null zu setzen hat.
Für den Fall, dafs die Empfindungen a, fi, y . . . als zu ein-
ander disparat angesehen werden können, oder wenigstens a
als disparat zm ß,y^d , , , angesehen werden darf,^ geht Gleichung
6) über in die einfachere Gleichung:
^ficc = — r-^— i 8).
Entsprechendes gilt von den Gleichungen für Äfiß^ AfAy u. s. w.
Das auf der rechten Seite vorstehender Gleichung 8) dar-
gestellte Verhältnis, in welchem die Intensität eines psycho-
physischen Partialprozesses zar Summe der Intensitäten aller
vorhandenen psychophysischen Teilvorgänge steht, soll kurz
als das Gewicht dieses Partialprozesses bezeichnet werden.
Bezeichnen wir mit dA^a die Zunahme von Äfia^ die einem
bestimmten Zuwüchse da von a entspricht, so ergiebt sich aus
Gleichung 6), wenn wir da als sehr klein ansetzen,
dAfha 6(1 — AficL) + c (1 — Aya) ... ^.
~W ~ (a + ft + c . . .)« ^'
Das Entsprechende findet sich für ,{* , , u. s. w.
* Dafs der Fall, wo einer Mischempfindung völlig disparate psycho-
physische Partialprozesse zu Grunde liegen, in unserer Erfahrung wirk-
lich vorkäme, wird hier nicht im mindesten behauptet. Dieser Fall ist
hier nur deshalb berücksichtigt, weil die Ähnlichkeit zwischen zwei
einer Mischempfindung zu Gf^runde liegenden Partialprozessen (und mithin
auch zwischen den diesen Partialprozessen entsprechenden zwei G-rund-
empfindungen) in manchen Fällen so gering ist, dafs sie bei verschiedene^;^
Betrachtungen ohne Nachteil völlig vernachlässigt werden kann und von
obigen Gleichungen 1), 2) und 8) getrost Gebrauch gemacht werden darf.
Zur Psychophysik dtr Gesichtsempfindungen. 19
Ans dieser Gleichung 9) ergiebt sich, abgesehen von anderen,
leicht ersichtlichen Konsequenzen, dafs die Ähnlichkeit einer
Mischempfindung /i« zu der Grundempfindung a, welche einer
der ihr zu Grunde liegenden psychophysischen Partialprozesse
einzeln genommen hervorrufen würde, bei einer Erhöhung
dieses Partialprozesses eine Zunahme erfahrt, die erstens unter
sonst gleichen Verhältnissen um so geringer ist, je intensiver
dieser Partialprozefs bereits ist, und die zweitens unter sonst
gleichen umständen um so geringer ist, je ähnlicher die reinen
Empfindungen /Ä, y . . ., welche den übrigen vorhandenen Partial-
prozessen entsprechen, der Grundempfindung a sind, je kleiner
demgemäfs die Werte der Differenzen (1 — Aßa\ (l — Aya)
u. s. w. sind. Aus dem zweiten Teile dieses Satzes ergiebt sich
z. B. folgendes. Es sei eine Weifserregung von der Intensität
w und aufserdem eine einfache chromatische Erregung von der
Intensität / gegeben, welcher die reine Farbenempfindung yi
entspricht. Der Ähnlichkeitskoefiäzient dieser Farbenempfindung
9) in Beziehung auf die reine Weüsempfindung möge kurz
durch A^ dargestellt werden. Alsdann ist die Weifslichkeit
der Mischempfindung, welche jenen beiden psychophysischen
Partialprozessen entspricht, nach Gleichung 4) gleich r^r—
zu setzen, und der Zuwuchs, den die Weifslichkeit dieser Misch-
empfindung bei einer Steigerung von w um dw erfährt, ist nach
Gleichung 9) gleich -^. — , ^A — . Da nun Ag> offenbar einen
höheren Wert besitzt, wenn die vorhandene chromatische Er-
regung eine Gelberregung und mithin die Empfindung 9 eine
reine Gelbempfindung ist, als dann, wenn jene Erregung eine
Blauerregung und mithin 9 eine reine Blauempfinduug ist, so
folgt, dafs die Weifslichkeit der Mischempfindung bei einer
und derselben Erhöhung der gegebenen Weifserregung einen
gröfseren Zuwuchs erfährt, wenn die neben der Weifserregung
noch gegebene chromatische Erregung von der Intensität /
eine Blauerregung ist, als dann, wenn dieselbe eine Gelb-
erregung ist.
Der Aufstellung der obigen Formeln 1) bis 9) liegt selbst-
verständlich (ebenso wie den entsprechenden Ausführungen von
Hbrikg) nicht die Voraussetzung zu Grunde, dafs wir die
Ähnlichkeiten von Empfindungen messen könnten. Wir sind
2*
20 0,K MüOer.
vielmehr nur in der Lage, in gegebenen Fällen die Merkbarkeit
oder ünmerkbarkeit, das Gröfter- oder Geringersein von
Empfindnngsähnlichkeiten oder Empfindongsonterschieden be-
haupten zu können, sowie über die Richtung von Empfindnngs-
unterschieden urteilen zu können. Zur Erldarung oder Er-
örterung von Resultaten, die mittelst dieser unserer, durchaus
nicht nach jeder Richtung hin scharf entwickelten, Fähigkeit
erhalten werden, sollen die obigen Formehi (nebst anderweiten
Betrachtungen) dienen. Die betreffenden Thatsachen können
infolge ihres allgemeineren, nicht numerisch bestimmten
Charakters auch noch auf Grund anderer Formeln erklärt oder
erörtert werden. Nur sind eben die obigen Gleichungen von
allen in Betracht kommenden Formeln weitaus die einfachsten
und deshalb zu bevorzugen. Man kann natürlich versuchen,
den Inhalt der obigen Formeln, soweit er wirklich in unserer
Erfahrung zu Tage tritt, in blofsen Worten auszudrücken. In-
dessen verliert man bei einem solchen Versuche durchaus die
Kürze, Präzision und Durchsichtigkeit, welche ein Vorteil der
mathematischen Darstellungsweise ist. Man versuche z. B. nur
einmal, alle diejenigen gültigen Sätze, welche in Gleichung 9)
enthalten sind, blofs in Worten auszudrücken. Nur dann, wenn
es sich zeigen sollte, dafs die obigen Formeln auch bei einem
ernsthafteren Denken auf Mifsverständnis oder ungenügendes
Verständnis stofsen, wird es angezeigt sein, zu dem umständ-
lichen Geschäfte überzugehen, den gesamten wesentlichen Inhalt
derselben nur in Worten auszudrücken.
Wenn wir den obigen Formeln entsprechend z. B. die Weifslichkeit
einer schwarzweifsen Mischempfindung für den Fall, dafs die Ähnlich-
keit der reinen Schwarz empfindung zur reinen Weiisempfindung ganz
V)
vernachlässigt werden kann, gleich — -r— setzen, wo to und s die Intens!-
täten der Weifs- und Schwarzerregung darstellen, so kann man vielleicht
fragen, ob es nicht ebenso einfach und ebenso plausibel sei, die
w
Weifslichkeit einer solchen Empfindung gleich — zu setzen. Hierzu ist
folgendes zu bemerken. Setzt man die Weifslichkeit der schwärz-
te
weifsen Mischempfindung gleich , so erhält man für den Fall, wo
8=0 wird und die Misch empfindung in die reine Weifsempfindung über-
geht, den Weifslichkeitswert od. Geht man hingegen von unseren
Formeln aus, so erhält man in diesem Falle den Wert l. Von vorn-
herein kann es rein als Sache der Willkür erscheinen, ob man sich für
diese oder jene Behandlungs weise entscheide. Ziehen wir indessen die
Zur Psychophysik der Gesiehtsempfindungen, 21
Erfahrung in Betracht, so kann kein Zweifel obwalten, wie wir uns zu
entscheiden haben. Man setze nämlich die WeiTslichkeit der. schwarz-
weifsen Misch empfindung gleich — und denke sich nun 8 bedeutend ver-
ändert, z. B. verzehnfacht oder auf ein Zehntel verringert, so mufs
dieser Änderung von 8 eine sehr deutliche Änderung der Weifslichkeit
der Mischempfindung entsprechen, welche ihrem relativen Werte nach
ganz unabhängig davon ist, wie gprofs der Wert von w ist, und welche ihrem
absoluten Werte nach um so gröfser ist, je beträchtlicher derWert von w ist,
welche z. B. in dem Falle, wo u; tausendmal gröfserist, als«, relativ genommen
gleich grofs und absolut genommen sehr viel gröfser ist, als in dem
Falle, wo w gleich grofs gegeben ist, wie 8, Es ist leicht zu erkennen,
dafs diese Konsequenz der Erfahrung durchaus widerspricht. Unsere Er-
fahrungen auf diesem Gebiete, so gprob sie auch sind, berechtigen uns
vollkommen zu der Behauptung, daüs die Qualität einer durch zwei
psychophysische Partialprozesse bewirkten Mischempfindung und die
Ähnlichkeit, welche die letztere zu der dem einen Partialprozesse ent-
sprechenden Grundempfindung besitzt, durch eine bestimmte Verstärkung
oder Schwächung des anderen Partialprozesses eine um so geringere
Änderung erfährt, je intensiver jener erstere Partialprozefs in Vergleich
zu diesem letzteren, einer Änderung seiner Stärke zu unterwerfenden
Partialprozesse ist. Diesem Verhalten wird man gerecht, wenn man die
WeiÜBlichkeit einer schwarz weifsen Empfindung gleich . setzt und
entsprechend in anderen Fällen verfährt, nicht aber dann, wenn man
w
dieselbe gleich — setzt. Zu einem entsprechenden Resultate gelangt man,
wenn man davon ausgeht, dafs bei Bestimmung der Weifslichkeit durch
w
das Verhältnis — der Zuwachs, den die Weifslichkeit bei konstantem s
8 '
durch eine bestimmte Erhöhung von w erfährt, ganz unabhängig von
dem bereits vorhandenen Werte von w ausfällt. —
Aus den obigen Ausführungen ergiebt sich, dafs eine wahrgenommene
qualitative Ähnlichkeit zweier Empfindungen zu einander sehr ver-
schiedenen Ursprunges sein kann. Erstens können zwei reine Em-
pfindungen in einer für uns zur Zeit nicht ableitbaren Ähnlichkeit
zu einander stehen (wie z. B. die reine Weifsempfindung und die reine
Gelbempfindung). Zweitens kann eine Mischempfindung einer reinen
Empfindung ähnlich sein, weil der dieser letzteren entsprechende psycho-
physische Prozefs den Partialprozessen, welche der Mischempfindeng zu
Grunde liegen, mehr oder weniger ähnlich oder gar einem derselben
qualitativ gleich ist. Drittens können zwei Mischempfindungen einander
ähnlich sein, weil einer oder mehrere der Partialprozesse, welche der
einen Empfindung zu Grunde liegen, qualitativ gleich oder ähnlich sind
einem oder mehreren der Partialprozesse, auf denen die andere Empfindung
beruht. Die (einigermafsen umständliche) Aufstellung der Formeln für die
verschiedenen Fälle von gegenseitiger Ähnlichkeit zweier Mischempfin-
düngen ist zwar schon gegenwärtig von Interesse, mufs aber der Raum-
22 G. E. Müller.
m
erspar nis wegen hier ganz unterlassen werden trotz des lebhaften An-
reizes, der aus ihrem logischen Interesse und dem Umstände entspringt,
dafs der Ahnlichkeitskalkül, soweit von einem solchen geredet werden
darf, bei Entwickelung der Formeln fttr die gegenseitigen Ähnlichkeiten
von Mischempfindungen in der That teilweise seine ganz eigenen
Wege geht.
Es wird späterhin noch näher die Rede darauf kommen, dafs wir
es im Grebiete des Gesichtssinnes vielleicht niemals mit ganz reinen Em-
pfindungen, sondern nur mit Mischempfindungen zu thun haben, die aller-
dings in manchen Fällen den reinen Empfindungen mehr oder weniger
nahestehen. Wir halten es für überflüssig, auseinanderzusetzen, inwiefern
nun trotzdem die obigen Formeln 1) bis 9), die sich fast sämtlich auf
die Ähnlichkeit einer Mischempfindung zu einer reinen Empfindung be-
ziehen, auch für das Gebiet des Gesichtssinnes ihren Wert besitzen. —
Unsere obigen Entwickelungen knüpfen innerlich durchaus [an die
Formeln an, welche Hering {Zur Lehre vom LicJUsinne, S. 57 ff.) behufs
Darstellung der Verwandtschaftsverhältnisse der Gesichtsempfindungen
aufgestellt hat. Hering (a. a. O. S. 61) setzt „die sog. Helligkeit einer
schwarzweifsen Empfindung oder den Grad ihrer Verwandtschaft mit
w
dem reinen Weifs" gleich . , wo «? „die weifse Partialempfindung'*
und 8 „die schwarze Partialempfindung"^ bezeichnet. Diese Bestimmung
der Helligkeit entspricht unseren obigen Gleichungen 1) und 2). Nur
ist die Definition der Gröfsen w und 8, unter denen wir einfach die Intensi-
täten der beiden psychophysischen Partialprozesse verstehen würden,
bei Hering psychologisch gehalten.^ Ebenso entspricht es unserer obigen
Gleichung 8), wenn Hering (a. a. 0. S. 116 f.) die Bläue einer blau-
schwarzweifsen Empfindung durch das Verhältnis ausdrückt, „in welchem
^ Man definiert jene Gröfsen w und s psychologisch in unanfecht-
barer und Mifs Verständnissen nicht ausgesetzter Weise, wenn man
darunter die Intensität der reinen Weifs-, bezw. reinen Schwarz-
empfindung versteht, welche die vorhandene Weifs-, bezw. Schwarz-
erregung isoliert genommen hervorrufen würde.
Auch der Ausdruck Gewicht wird von Hering, abweichend von
unserer obigen Definition (S. 18), mehr in einem psychologischen Sinne
fenommen. Während wir von dem Gewichte eines psychophysischen
'artialprozesses reden, spricht Hering von dem Gewichte der ent-
sprechenden Empfindung.
Beiläufig sei hier darauf aufmerksam gemacht, dafs der in § 2 an-
feführte und von uns angefochtene psychophysische Satz Herings von
en Ausführungen desselben über die Abhängigkeit der Qualität einer
Mischempfindung von den Qualitäten und Intensitäten der psycho-
physischen Partialprozesse scharf zu trennen ist, was uns in der Dar-
stellung Herings nicht genügend hervorzutreten scheint. Denn jeuer
Satz bezieht sich nicht auf die Qualität, sondern auf die Intensität der
Mischempfindungen, insofern er in Abrede stellt, dafs eine Misch -
empfindung ihre Intensität ändere, wenn die ihr zu Grunde liegenden
psychophysischen Partialprozesse in gleichem Verhältnisse verstärkt
oder geschwächt werden. Man kann die Eichtigkeit dieses Satzes
bestreiten, während man jenen anderen Aufstellungen Herings im wesent-
lichen zustimmt.
Zur Psydwphysik der Geaichtsemp findungen, 23
das blaae Glied zur Summe aller drei Glieder steht". Hingegen stimmt
es nicht zu unseren obigen Formeln, wenn Hering (a. a. 0. S. 117) die
w + 0,bb
Helligkeit einer Farbe, z. B. eines £lau, gleich — -r — -r-r setzt, wo b „das
der Grundfarbe entsprechende Glied" darstellt, so dafs die Helligkeit
einer reinen Blauempfindung (fttr welche tc = 8 = 0 ist) und überhaupt
jeder reinen Farbenempfindung gleich J erhalten wird. Bekanntlich hat
Hering selbst späterhin {Pflüg er 8 Arch. 40. 1887. S. 19, und 49. 1891.
S. 568 ff., Wien, Ber. 98. 1889. III. S. 71 f.) die Anschauung, dafs die
Helligkeit aller reinen Farbenempfindungen gleich J, d. h. gleich der
Helligkeit der neutralen Grauempfindung zu setzen sei, aufgegeben und
den vier farbigen Grundempfindungen verschiedene Grade der Verwandt-
schaft zur reinen Weifsempfindung zugeschrieben. In welcher Weise
nun aber die von ihm früher für die Verwandtschaftsverhältnisse der
Gesichtsempfindungen aufgestellten Formeln zu modifizieren seien, um
den verschiedenen Ahnlichkeitsgraden, die zwischen den reinen Gesichts-
empfindungen bestehen, gerecht zu werden, hat er bisher nicht an-
gegeben. Im obigen ist der Versuch gemacht, diese Lücke auszufüllen. —
Hinsichtlich der spezifischen Helligkeit der Farben mag hier
folgendes bemerkt werden; Es sei zunächst eine schwarzweifse Em-
w
pfindung gegeben, deren Helligkeit gleich , ist, wo w und s die früher
(S. 20) angegebene Bedeutung besitzen. Jetzt werde noch ein chro-
matischer Partialprozefs von der Intensität f den beiden bereits vor-
handenen psychophysischen Partialprozessen hinzugefügt. Der Ähn-
lichkeitskoeffizient der diesem chromatischen Prozesse entsprechenden
reinen Farben empfin düng in Beziehung auf die reine Weilsempfindung
sei Atf. Dann wird die Helligkeit der Mischempfindung nach Hinzu-
^v -{- Ä 'f. f
fugung der chromatischen Erregung gleich — ^ — -j—:. zu setzen sein.
Dieser neue Helligkeitswert ist gröfser, gleich grofs oder kleiner, als
IC
der frühere, durch —, — ; bestimmte Helligkeitswert, je nachdem A'p
w
gröfser, gleich grofs oder kleiner als . ist. Hieraus ergiebt sich,
dafs durch Hinzufügung einer chromatischen Erregung zu einer seh war z-
weifsen Erregung die Helligkeit der entsprechenden Empfindung erhöht
oder verringert wird, je nachdem die Helligkeit der anfänglich vor-
handenen schwarzweifsen Empfindung geringer oder gröfser ist, als eine
bestimmte Helligkeit, die hier kurz als die kritische Helligkeit
bezeichnet werden mag. Besitzt die Helligkeit der schwarzweifsen
Empfindung diesen kritischen Wert, so wird an der Helligkeit der
Empfindung durch das Hinzukommen der chromatischen Erregung nichts
geändert. Der kritische Helligkeitswert der schwarzweifsen Empfindung
ist von der Qualität der hinzuzufügenden chromatischen Erregung ab-
hängig, und zwar um so geringer, je kleiner A<ff ist, je weniger ähnlich
also die dieser chromatischen Erregvmg entsprechende reine Farben-
empfindung der reinen Weifsempfindung ist. Nimmt also die Helligkeit
24 O' E. Müller.
in der Eeihe der reinen Farbenempfindungen von Glied zu Glied zu,
wenn wir dieselben in der Reihenfolge Blau, Grün, Bot, Gelb anordnen,
so ist zu behaupten, dafs die kritische Helligkeit der schwarz weifsen
iknpfindung für Blau den geringsten und für Gelb den höchsten Wert
besitzt. Wir dürfen also nicht sagen, dafs das Hinzukommen einer Blau-
erregung zu einer schwarzweifsen Erregung unter allen Umständen ver-
dunkelnd wirke, sondern dies ist nur dann der Fall, wenn der Helligkeits-
wert der schwarzweifsen Empfindung oberhalb eines gewissen, aller-
dings sehr niedrigen, Helligkeitswertes liegt. Andererseits dürfen wir
auch nicht sagen, dafs das Hinzukommen einer Gelberregung zu einer
schwarzweifsen Erregung unter allen umständen aufhellend wirke. Dies
ist vielmehr nur dann der Fall, wenn die Helligkeit der schwarzweiXiBen
Empfindung unterhalb eines gewissen, allerdings ziemlich hohen,
Helligkeitswertes liegt. Dafs das Hinzukommen einer Blauerregung zu
einer schwarzweifsen Erregung innerhalb gewisser Grenzen aufhellend,
das Hinzukommen einer Gelberregung innerhalb gewisser Grenzen ver-
dunkelnd wirken mufs, kann man sich, ganz unabhängig von unseren
obigen Formeln, auch durch folgende (schon von Hillebrand in ähn-
licher Weise angestellte) einfache Betrachtung klar machen. Angenommen,
es sei die schwarzweifse Empfindung so dunkel, dafs sie der reinen
Schwarzempfindung merkbar gleicht, so führen wir diese Empfindung
durch Hinzufügung von Blauerregung und immer weiter fortgesetzte
Verstärkung der Blauerregung aus ihrem Anfangszustande allmählich in
einen Zustand über, wo sie der reinen Blauempfindung merkbar gleicht. Ist
nun wirklich die reine Schwarzempfindung dunkler, als die reine Blau-
empfindung, so mufs die Operation (die Hinzufügung und allmähliche
Verstärkung der Blauerregung), durch welche wir die Empfindung aus
ihrem Anfangszustande, wo sie der reinen Schwarz empfindung merkbar
gleicht, in jenen Endzustand, wo sie der reinen Blauempfindung merkbar
gleich ist, überführen, unter diesen Umständen notwendig aufhellend
wirken. Denken wir uns andererseits die schwarzweifse Empfindung
mit solcher Helligkeit gegeben, dafs sie der reinen Weifsempfindung
merkbar gleicht, und nehmen wir nun an, dafs diese Empfindung durch
Hinzufügung und immer weiter fortgesetzte Verstärkung von Gelb-
erregung in einen Zustand übergeführt werde, wo sie der reinen Gelb-
empfindung merkbar gleich ist, so mufs sich die Empfindung bei dieser
Veränderung verdunkeln, falls wirklich die reine Weifsempfindung für
heller zu erklären ist, als die reine Gelbempfindung. Es mufs also unter
diesen Umständen die Hinzufügung und Verstärkung der Gelberregung
verdunkelnd wirken.
Soviel über die Art und Weise, wie die Betrachtungen über die
spezifische Helligkeit der Farben an unsere obigen, das fünfte psycho-
physische Axiom betreffenden Entwickelungen anzuknüpfen sind. Diese
Betrachtungen über die spezifische Helligkeit der Farben sind
gültig, wenn man berechtigt ist, die reinen Farbenempfindungen nicht
als disparat zur reinen Weifsempfindung anzusehen, sondern ihnen ver-
schiedene Grade der Verwandtschaft zu letzterer Empfindung zuzuschreiben.
Und wer möchte behaupten, dafs die reinen Farbenempfindungen sich
Zur Psydiophysik der Gmchtsempfindungen. 25
disparat zur reinen Weifsempfindung verhielten, oder in Abrede stellen,
dafs die reine Gelbempfindung der letzteren Empfindung ähnlicher sei,
als die reine Blau empfin düng! Aus der Triftigkeit, welche diese Be-
trachtungen an und für sich besitzen, ergiebt sich aber noch nicht, dafs
die Erscheinungen, welche Hering und Hillebrand ausschliefslich auf
die spezifische Helligkeit der Farben zurückgeführt haben, wirklich aus-
schliefslich oder auch nur in der Hauptsache in solcher Weise zu
erklären seien. Es fehlt uns zur Zeit noch an genügenden Unterlagen
für eine quantitative Abschätzung der Tragweite der obigen Betrach-
tungen. Wie wir weiterhin näher sehen werden, hat v. Kries neuerdings
versucht, die bisher auf die spezifische Helligkeit zurückgeführten Er-
scheinungen durch gewisse histologisch-physiologische Verhältnisse zu
erklären. Man kann femer, wie im § 26 gelegentlich angedeutet
werden wird, auch noch Gesichtspunkte rein chemisch-physikalischer
Art zur Erklärung jener Erscheinungen heranziehen. Wie man sich
diesen beiden letzteren Erklärungsarten gegenüber zu verhalten habe,
bleibt hier dahingestellt. Es kommt uns hier nur auf die Behauptung
an, dafs die oben dargelegten psychophysischen Verhältnisse an den
betreffenden Erscheinungen mitbeteiligt sein müssen, wenn wirklich die
reinen Farbenempfindungen der reinen Weifsempfindung in verschiedenen
Graden ähnlich sind.
§ 6. Von der Intensität und Eindringlichkeit
der Empfindungen.
Dem auf S. 2 f. Bemerkten gemäfs dient der Ausdruck
Empfindungsintensität dazu, mit Hülfe der Ausdrücke Zunahme,
Abnahme u. dergl. zwei einander entgegengesetzte Sichtungen
zu bezeichnen, in denen die Empfindung verändert werden
kann. Und zwar ist die Richtung der Veränderlichkeit, welche
einer reinen Abnahme der Empfindungsintensität entspricht,
dadurch charakterisiert, dafs die Empfindung bei stetiger
Änderung den Nullpunkt auf dem kürzesten Wege, d. h. mit
Durchlaufung der geringsten Anzahl von Zwischenempfindungen
erreicht, wenn sie in dieser Sichtung sich stetig ändert.
Schreiben wir einer Empfindung einen bestimmten Wert
der Intensität zu, so verstehen wir darunter die Zahl der ver-
schiedenen Empfindungen, welche durchlaufen werden würden,
wenn man die Empfindung in der auf dem kürzesten Wege
zum Nullpunkte führenden Bichtung bis zur Erreichung des
Nullpunktes stetig verändern würde. Sagen wir, dafs eine
Empfindung zwar gleiche Qualität, aber eine gröfsere Intensität
besitze als eine andere Empfindung, so bedeutet dies, dafs,
wenn wir die erster e Empfindung in der auf dem kürzesten
26 G. E. Müller.
Wege zum Nullpunkte führenden Richtung stetig verändern
würden, alsdann die zweite Empfindung sich unter den bei
dieser Veränderung zu durchlaufenden Empfindungen befinden
würde. Die Zahl der Empfindungen, welche bei einer solchen,
bis zum Nullpunkte fortgesetzten, stetigen Intensitätsminderung
einer Empfindung durchlaufen werden, ist allerdings stets als
unendlich grofs anzusehen. Da aber auch unendlich grofse
Zahlen in einem endlichen Verhältnisse zu einander stehen
können, so steht jede gegebene Empfindung zu jeder be-
liebigen anderen Empfindung gleicher oder verschiedener
Qualität in einem bestimmten Intensitätsverhältnisse. ^ Man
deutet den hier entwickelten Begriff der Empfindungsintensität
kurz, wenn auch nicht hinlänglich genau, an, wenn man die
Intensität der Empfindung kurz als den Abstand derselben
vom Nullpunkte definiert.
Von der Empfindungsintensität im vorstehend angegebenen
Sinne ist die Eindringlichkeit der Empfindungen wohl zu
unterscheiden. Die Eindringlichkeit betrifft die mehr psycho-
logische Seite der Empfindungen, sie scheint sich hauptsächlich
nach der Macht zu bestimmen, mit welcher die Sinneseindrücke
unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und könnte daher in
^ Aus der Thatsache, dafs zwei Empfindungen in einem bestimmten
Intensitäts Verhältnisse zu einander stehen , ergiebt sich natürlich noch
nicht, dafs wir im stände sind, dieses Intensitätsverhältnis zu bestimmen.
Es würde natürlich sehr irrig sein, wenn man behaupten würde,
dafs nach obigem die Intensität jeder Empfindung (entsprechend der
unendlichen Zahl bis zum Nullpunkt hin zu durchlaufender Empfin-
dungen) unendlich grofs anzusetzen sei. Denn ebenso, wie man die
Länge einer endlichen Baumstrecke nicht für unendlich grofs erklärt,
weil dieselbe als aus unendlich vielen Punkten oder Längeninkrementen
bestehend angesehen werden kann, sondern nach ihrem Verhältnisse zu
der als Einheit betrachteten Länge einer bestimmten Raumstrecke be-
mifst, so würde man auch die Intensität einer Empfindung nach ihrem
Verhältnisse zu der als Einheit betrachteten Intensität einer bestimmten
Empfindung zu bemessen haben.
Will man, statt von einer unendlich grofsen Anzahl von Empfin-
dungen, welche bis zum Nullpunkte hin zu durchlaufen seien, zu reden,
sich etwas anders ausdrücken (z. B. von psychischen Strecken u. dergl.
reden), so würde die Sache hierdurch in keiner Weise berührt. Auf die
Eigentümlichkeit des Stetigen einzugehen, ist hier nicht Anlafs. Und es
ist hier gleichgültig, wie man derselben sprachlich gerecht zu werden
versucht. Nur darf eben die Ausdrucksweise nicht zu umständlich sein.
Zur Paydkophysik der Gesichtsempfindungen, 27
sachlicher Hinsicht nicht unpassend auch als die Aufdringlich-
keit der Sinneseindrücke bezeichnet werden. Sie ist schon
von Feohneb gelegentlich [In Sachen der PsycJi&physik. S. 126),
wenn auch nicht unter der Bezeichnung der Eindringlichkeit,
als der „erregende Einflufs auf das Allgemeinbewufstsein, die
anziehende Kraft auf die Aufmerksamkeit^ charakterisiert
worden. Nimmt die Intensität einer Empfindung zu, ohne dafs
sich die Qualität derselben in erheblichem G-rade ändert, so
wächst zugleich die Eindringlichkeit. Man darf aber nicht
den Satz aufstellen, dafs ganz allgemein der gröfseren Inten-
sität der Empfindung auch die gröfsere Eindringlichkeit ent-
spreche. Denn es erscheint möglich, dafs sich zwei Empfin-
dungen, falls sie von verschiedener Qualität sind, hinsicht-
lich der Eindringlichkeit anders zu einander verhalten, als
hinsichtlich der Intensität. Die Eindringlichkeit einer Em-
pfindung ist, wie es scheint, nicht blofs von der Intensität des
psychophysischen Prozesses abhängig, sondern bestimmt sich
zugleich auch nach der Häufigkeit der betrefiFenden Empfindung
in unserer Erfahrung, nach dem Gefühlswerte derselben und
nach anderen derartigen für die Erweckung unserer Aufmerk-
samkeit wichtigen Faktoren.
Wenn wir die Intensität einer Empfindung kurz als die
Zahl der Empfindungen definieren, welche durchlaufen werden
würden, wenn man die Empfindung auf dem kürzesten Wege
bis zur Erreichung des Nullpunktes stetig verändern würde,
so wird man vielleicht diese Definition zu abstrakt und deshalb
nicht befriedigend finden, weil sie „das Moment der Steigerung**
u. dergl., welches man empfinde, wenn man von einer
schwächeren Empfindung zu einer stärkeren übergehe, nicht
mit zum Ausdrucke bringe. Man ist eben gewöhnt, Intensität
und Eindringlichkeit nicht voneinander zu scheiden. Jenes
Moment der Steigerung betrifft die Eindringlichkeit, aber nicht
die Intensität der Empfindungen. Erhöhen wir die Stärke
eines Sinnesreizes, ohne seine Qualität zu verändern, so nimmt,
wie bereits bemerkt, infolge der Steigerung des psycho-
physischen Prozesses neben der Intensität der Empfindung
zugleich auch die Eindringlichkeit derselben zu, die begleitenden
Nebeneindrücke, zum Teil motorischen Ursprunges, gewinnen
an Zahl und Stärke und wirken gleichfalls im Sinne einer
Erhöhung der Eindringlichkeit. Es ist daher (ganz abgesehen
28 <?. E. Maller.
von den Bedenken, die darans entspringen, dafs in vielen
Fällen eine Verändemng der Iteizstarke zugleich auch eine
qualitative Änderung der Empfindung zur Folge hat) einiger-
inafsen bedenklich, wenn man die Resultate, die man beim
Operieren mit Empfindungen erhält, die verschiedenen Intensi-
täten eines Reizes von konstanter Qualität entsprechen, stets
ohne weiteres auf die Intensitätsunterschiede dieser Empfin-
dungen bezieht. Noch bedenklicher ist es, wenn man Ver-
suche ansteUt, bei denen Empfindungen verschiedener Qualität
angeblich hinsichtlich ihrer Intensität miteinander verglichen
werden, bei denen aber in Wahrheit die betreffenden Empfin-
dungen stets nur hinsichtlich der Eindringlichkeit verglichen
werden. Denn man kann zwei Empfindungen verschiedener
Qualität, z. B. eine Botempfindung und eine Grauempfindung,
zwar hinsichtlich ihrer Eindringlichkeit einigermafsen mit-
einander vergleichen, hat hingegen nicht in gleicher Weise
ein Urteil darüber, ob der Abstand vom Nullpunkte für
diese oder jene beider Empfindungen gröfser sei. Wir über-
lassen es dem Leser, der soeben gemachten Bemerkung,
dafs man sich hüten müsse, Dinge, die möglicherweise oder
gar ganz sicher auf die Eindringlichkeit der Empfindungen zu
beziehen sind, ohne weiteres auf die Intensität derselben zu
beziehen, ihre Anwendungen auf vorliegende Versuche und
Untersuchungen selbst zu geben.
Im Gebiete des Gesichtssinnes hat man nicht selten sogar
dreierlei Dinge zusammengeworfen, nämlich die Intensität,
Helligkeit und Eindringlichkeit. Es ist zu beachten, dafs
Helligkeitsvergleichungen von Gesichtsempfindungen, die durch
Lichtreize verschiedener Qualität bewirkt sind, leicht dadurch
in fehlerhafter Weise beeinflufst werden können, daüs man sich
bei seinem Urteile nicht ausschliefslich von der Helligkeit,
sondern mehr oder weniger auch von der Eindringlichkeit der
zu vergleichenden Empfindungen beeinflussen läfst. IndividueUe
Verschiedenheiten, die sich bei der Helligkeitsvergleichung
verschiedener Farben herausstellen, können zu einem gröfseren
oder geringeren Teile darauf beruhen, dafs die einen Versuchs-
personen sich in diesem oder jenem Grade von der Ein-
dringlichkeit beeinflussen lassen.^ Schon Hering bemerkt
^ Dafs Gesicbtsempiin düngen, die durch Lichtreize von verschiedener
Qualität bedingt sind, ebenso wie hinsichtlich ihrer Helligkeit auch
hinsichtlich ihrer Eindringlichkeit miteinander verglichen werden können»
Zur Fsychophysik der Geffichtsempfindtingen. 29
gelegentlich in seiner „Kritik einer Abhandlung von Dondbbs"
{Lotos, 2. 1882. 8. 32), die Erfahrung lehre, „dafs bei Ver-
gleichung der Helligkeiten verschiedenfarbiger Lichter die
Urteile verschieden ausfallen, je nachdem sich einer dabei
mehr von der Energie der eigentlichen Farbe oder mehr von
der Weifslichkeit der farbigen Empfindungen leiten läfst, ganz
abgesehen von anderen individuellen Verschiedenheiten«. Hin-
gegen hat A. König in seiner Abhandlung ,,Über dm Hellig-
Jceitswert der Spektralfarben bei verschiedener absoluter Intetisität^
diese Fehlerquelle ganz ignoriert und individuelle Ver-
schiedenheiten Botgrünblinder, die sich bei Helligkeitsver-
gleichungen verschiedener Spektralfarben zeigten, ohne weiteres
ausschliefslich auf die physiologische Seite des Sehaktes bezogen
und sogar zur Entscheidung theoretischer Fragen hinsichtlich
der letzteren herangezogen!*
Es ist zu beachten, dafs vielleicht gerade solche Individuen,
deren Farbensinn sehr schwach ist, bei Helligkeitsvergleichungen
verschiedenartiger Lichter sich besonders leicht von der Ein-
dringlichkeit der letzteren beeinflussen lassen. Denn solche
Personen haben weniger Grelegenheit und Anlafs als Farben-
tüchtige, sich den Unterschied zwischen Helligkeit und Ein-
dringlichkeit klar zu machen, einen Unterschied, der eben doch
nur dann ohne weiteres sich aufdrängt oder einleuchtet, wenn
man gesättigte Farbenempfindungen mit farblosen Gesichts-
empfindungen vergleicht, z. B. eine gesättigte Rotempfindung
mit einer schwarzweifsen Empfindung vergleicht, welche weit
heller, aber zugleich auch weit weniger eindringlich ist, als
die Botempfindung. Haben wir es also z. B. mit einem Indi-
viduum zu thun, welches des Rotgrünsinnes völlig entbehrt
und den Gelbblausinn nur in sehr abgeschwächtem Grade
besitzt, so ist es leicht möglich, dafs dieses Individuum bei
seinen Helligkeitsvergleichungen von Spektralfarben sich durch
die höhere Eindringlichkeit, welche eine Anzahl seiner Farben-
empfindungen infolge ihrer, wenn auch nur schwachen, Gelblich-
und dafs man bei Vergleichung ihrer Helligkeiten eine Tendenz über-
winden mufs, sich von ihren Eindringliohkeiten beeinflussen zu lassen,
haben uns Versuche gezeigt.
^ Dafs eine gewisse Konstanz der bei solchen Helligkeitsver-
gleichungen von einem und demselben Individuum gefällten Urteile die
Beeinflussung durch die Eindringlichkeit und Überhaupt das Bestehen
konstanter Fehler nicht ausschliefst, bedarf nicht erst der Erwähnung.
30 O. E. Müller,
keit besitzen, beeinflussen lasse, so dafs es das Helligkeits-
maximum im Spektrum weiter in das Gebiet der gelben
Nuancen hineinverlegt, als der Fall sein würde, wenn es sich,
bei seinem Urteile lediglich durch die Helligkeitsverhältnisse
der wahrgenommenen Lichteindrücke bestimmen liefse. Es
liegt also wiederum nur die Vernachl&ssigung eines schon von
Hering hinlänglich hervorgehobenen psychologischen Gesichts-
punktes vor, wenn A. König [diese Zeitschrift 7. 1894. S. 161 flf.)
in der Thatsache, dafs bei einem rotgrünblinden und nur mit
einem sehr schwachen Gelbblausinn ausgestatteten Individuum
das Maximum der spektralen Helligkeitsverteilung bedeutend
weiter nach Gelb hinliegend gefunden wurde, als bei einem
total farbenblinden Individuum, ohne weiteres eine Schwierigkeit
erblickt, deren Hebung auf dem Boden der gegenwärtigen
Gestaltung der Herin Gschen Theorie nicht zu ermöglichen sei.^
Es erübrigt noch, kurz auf die Ausführungen einzugehen,
welche Hering [Zur Lehre vom Lichtsinne. S. 55 f.) hinsichtlich
der Intensität der Gesichtsempfindungen bietet. Dieser Forscher
bemerkt, dafs die Bezeichnungen Intensität oder Stärke auf
die schwarzweifse Empfindungsreihe, für welche sie besonders
häufig benutzt worden seien, nur unter der Bedingung an-
wendbar seien, „dafs man jedem einzelnen Gliede der Keihe
zwei Intensitäten zugesteht und das Verhältnis angiebt, in
welchem hier die Intensitäten der beiden Empfindungen des
Schwarz und Weifs zu einander stehen . . . Wenn den einzelnen
Stufen der schwarzweifsen Empfiudungsreihe eine Intensität
im jetzt üblichen Sinne des Wortes zugeschrieben werden
könnte, so müfste es denkbar sein, dafs diese Intensität sich
änderte; denn andernfalls hätte die Anwendung des Begriffes
der Intensität hier gar keinen Sinn. Wie aber soll sich z. B.
ein bestimmtes Grau seiner Intensität nach ändern? Eine
^ Auch die individuellen Verschiedenheiten, die hinsichtlich der
Pigmentierung der Macula lutea oder Augenlinse bestehen, müssen sich
bei den total oder annähernd total Farbenblinden dahin geltend machen,
hinsichtlich der Lage des Helligkeitsmaximums im Spektrum individuelle
Verschiedenheiten zu bewirken. Ist die Pigmentierung abnorm stark,
so mufs auch die Verschiebung, welche dieses Helligkeitsmaximum nach
dem langwelligen Spektralende hin erf&hrt, beträchtlich sein. Das
obige Versuchsresultat Königs läTst sich also vom Standpunkte Hebinos
aus in nicht weniger als zweifacher Weise erklären !
Zur Psychophy^ik dc9' Gesichtseinpfinduttgen, 31
Änderung ist, abgesehen von der Beimischung anderer Farben,
nur denkbar durch ein deutlicheres Hervortreten des in ihm
enthaltenen Schwarz oder Weifs, dadurch aber würde das ge-
gebene G-rau in ein anderes Grau verwandelt, welches in der
schwarzweifsen Empfindungsreihe weiter nach dem Weifs oder
nach dem Schwarz hin liegt^.
Die Empfindung einer und derselben Graunuanoe kommt
in der That in unserer Erfahrung nicht mit merkbar ver-
schiedenen Intensitäten vor.^ Dies erklärt sich in folgender
Weise. Wie weiterhin an der Hand von Thatsachen näher
bewiesen werden wird, ist in den zentralen Teilen des Seh-
organes fortwährend eine endogene Erregung vorhanden^
welche aus WeiTserregung und Schwarzerregung zusammen-
gesetzt ist. Wirkt nun ein von der Netzhaut her kommender
Antrieb im Sinne einer Steigerung der WeiTserregung, so wirkt
er nicht gleichzeitig im Sinne einer Erhöhung der Schwarz-
erregnng, sondern, entsprechend dem hier in Betracht kommenden
(weiterhin näher zu behandelnden) Antagonismus, sogar im
Sinne einer Schwächung der letzteren Erregung; es muTs also
die Empfindung ihre Qualität ändern, indem sie weifslicher
wird. Wirkt von der Netzhaut her ein (etwa durch Kontrast-
einflufs bewirkter) Antrieb im Sinne einer Steigerung der
Schwarzerregung, so wird gleichzeitig die Weifserregung
geschwächt; es mufs also die Empfindung ihre Qualität in der
Weise verändern, dafs sie schwärzlicher wird. Stellen wir für
eine bestimmte Netzhautstelle gleichzeitig einen Weifsreiz und
einen Schwarzreiz (letzteren etwa durch Kontrast) her, so
kommen dieselben infolge des zwischen ihnen bestehenden
Antagonismus nur mit der DifiPerenz ihrer Intensitäten entweder
als ein Weifsreiz, der im Sinne einer Erhöhung der Weifs-
erregung und Schwächung der Schwarzerregung wirkt, oder
als ein Schwarzreiz, der in umgekehrter Bichtung wirkt, oder
als ein Beiz von dem Werte 0 zur Geltung. Thatsächlich
können wir also die Empfindung einer und derselben Grau-
nuance deshalb nicht in merkbar verschiedenen Intensitäten
herstellen, weil wir nicht im stände sind, durch irgendwelche
Beize die zentralen Weils- und Schwarzerregungen gleichzeitig
^ Von gewissen Möglichkeiten, die späterhin zur Sprache kommen
werden, ist hier abgesehen.
32 G' E. Müller.
in gleichem Verhältnisse zu erhöhen oder zu schwächen, und
bei jeder Förderung oder Schwächung der einen von beiden
Erregungen zugleich das Intensitätsverhältnis erhöhen, bezw.
verringern, in welchem dieselbe zu der anderen Erregung
steht. Wäre jene endogene Erregung des Zentralorganes nicht
vorhanden, so würden wir ebenso, wie etwa die Wärme- oder
Kälteempfindung, auch die Empfindung des Weifsen oder des
Schwarzen in verschiedenen Intensitäten herstellen können.*
Es besteht also kein Grund, den Empfindungen der schwarz-
weiXsen Beihe die Intensität abzusprechen. Jede Empfindung
dieser Beihe kann prinzipiell, wenn auch aus dem angegebenen
Grunde nicht in praxi, auf einem kürzesten Wege stetig auf
den Nullpunkt übergeführt werden. Und zwar verhalten sich
die Intensitäten der thatsächlich vorkommenden Empfindungen
der schwarzweifsen Reihe in der Weise, dafs, wenn man von
der Empfindung eines bestimmten mittleren Grau ausgeht,
alsdann die Intensität nach beiden Seiten hin um so gröfser
ist, je weiter man sich von jenem mittleren Grau entfernt.
In gleicher Weise verhält sich die Eindringlichkeit. Nur
erscheint es möglich, dafs gleichen Intensitätsgraden auf der
Seite der schwärzlichen Nuancen andere Grade der Ein-
dringlichkeit zugehören, als auf der Seite der weifslichen
Nuancen; es erscheint z. B. möglich, dafs eine tiefschwarze
Empfindung eindringlicher sei, als eine weifsgraue Empfindung
von gleicher Intensität.
HiLLEBKAND (Wien. Ber. 98. 1889. III. S. 89) glaubt, „das
Bestehen von Intensitätsunterschieden innerhalb der Gesichts-
empfindungen überhaupt in Abrede stellen" zu dürfen. „Die
Möglichkeit einer konstanten Intensität, die eben ihrer Konstanz
* Wir würden aber die Grauempfindungen, welche den Übergang
von der reinen Schwarzempfindung zur reinen WeiTsemp findung ver-
mitteln, ebensowenig keilnen, wie wir jetzt die rotgrtlnen und gelbblauen
Empfindungen kennen. Denn, da hinsichtlich des Weifs und Schwarz
ein ganz analoger Antagonismus besteht, wie hinsichtlich des Rot und
Grün, des Gelb und Blau, so würden wir nicht im stände sein, neben
der Schwarzerregung gleichzeitig die Weifserregung hervorzurufen, und
umgekehrt.
Auch eine Farbenempfindung von ganz bestimmter Qualität können
wir, wie leicht ersichtlich, wegen jener endogenen Erregung der Seh-
substanz nicht in verschiedenen Intensitäten herstellen. Mit der In-
tensität verändern wir hier immer zugleich die Qualität.
Zur Psychophysih der Gesichtsempfindungen. 33
wegen nie bemerkt, also auch nioht direkt empirisch nach-
gewiesen werden könnte, sondern nur etwa auf Grund
deduktiver Argumente angenommen werden müfste^, will er
bestehen lassen. Hierzu ist folgendes zu bemerken. Man
denke sich zu jeder der verschiedenen (aus Schwarz- und
Weifserregung zusammengesetzten) Erregungen, welche den
thatsächlich vorkommenden Empfindungen der schwarzweifsen
Beihe entsprechen, eine beliebige chromatische Erregung von
konstanter Intensität hinzugefügt. Werden dann die Em-
pfindungen der Beihe sämtlich in gleichem Grade farbig
erscheinen? Keineswegs, sondern die Farbigkeit wird am
deutlichsten bei einem mittleren Grau hervortreten und um so
mehr zurücktreten, je weiter man sich von diesem Grau nach
dem Weifs oder Schwarz hin entfernt. Es ist also die chro-
matische Erregung von konstanter Intensität im Verhältnisse
zu der Erregung, welche einer schwarzweifsen Empfindung zu
Grunde liegt, um so schwächer, je weiter die schwarzweifse
Empfindung von jener mittleren Grauempfindung absteht, d. h.
die Erregungen, welche den thatsächlich vorkommenden Em-
pfindungen der schwarzweifsen Empfindungsreihe zu Grunde
liegen, verhalten sich so, dafs diese Empfindungen von einer
mittleren Grauempfindung aus nach beiden Seiten hin an In-
tensität beträchtlich zunehmen müssen. Die HiLLBBRANDsche
Annahme einer konstanten Intensität der Gesichtsempfindungen
wird also schon durch die geläufige, von Hering zu wieder-
holten Malen (z. B. Pflügers Ärch. 41, 1887. S. 11) hervor-
gehobene Thatsache widerlegt, dafs eine und dieselbe chro-'
matische Erregung der Empfindung einen viel höheren Grad
von Farbigkeit verleiht, wenn sie zu einer Erregung hinzukommt,
die einer mittleren Grauempfindung entspricht, als dann, wenn
sie zu der Erregung hinzugefügt wird, die einer ausgeprägten
Weifsempfindung oder Schwarzempfindung zugehört.
§ 7. Die psychischen Qualitätenreihen.
Wenn eine Empfindung sich hinsichtlich ihrer Qualität
ändert, so haben wir in gewissem Grade ein Urteil darüber,
ob die Änderung der Qualität in konstanter oder wechselnder
Richtung vor sich geht. Wir haben ein solches Urteil auch
noch dann, wenn die Änderungen der Qualität zugleich von
Zeitschrift fUr Psychologrie X. 3
34 G- E. MüOer.
Änderungen der Empfindungsintensität begleitet sind. So fällen
wir z. B. trotz der Intensitätsunterschiede, die nach obigem
zwischen den verschiedenen Gliedern der schwarzweiTsen Em-
pfindungsreihe bestehen, mit Sicherheit das urteil, dafs eine
geradläufige, d. h. in konstanter Richtung vor sich gehende,
Änderung der Empfindungsqualität vor sich gehe, wenn die
Empfindung eines tiefen Schwarz durch die verschiedenen
Graunuancen hindurch in die Empfindung eines hellen WeiTs
übergeführt werde.
Wir bezeichnen eine Beihe von Empfindungen, in welcher
sich die Qualität geradläufig und stetig ändert, kurz als eine
psychische Qualitätenreihe. Eine psychische Qualitäten-
reihe kann prinzipiell begrenzt oder prinzipiell unbegrenzt
erscheinen. So ist die Tonhöhenreihe eine prinzipiell unbegrenzt
erscheinende Qualitätenreihe. Wenn es auch nicht möglich ist^
die Tonhöhe für uns ins Unbegrenzte zu erhöhen oder zu
vertiefen, so können wir doch nicht behaupten, dafs bei der
höchsten oder tiefsten unserer faktischen Tonhöhen oder bei
irgend einer anderen, jenseits der Grenzen unseres Empfindens
gelegenen Tonhöhe ein prinzipiell unüberschreitbarer Abschlufs
erreicht sei. Hingegen ist z. B. die Beihe der schwarzweifsen
Empfindungen eine prinzipiell begrenzt erscheinende Qualitäten-
reihe, weü wir uns die Empfindungsänderung, die in einem
Schwärzerwerden, bezw. Weifserwerden der Empfindung besteht,
nicht über die reine Schwarz-, bezw. Weifsempfindung hinaus
fortgesetzt denken können. Hierbei bleibt ganz dahingestellt,
in welchem Grade die ausgeprägteste der in unserer Erfahrung
vorkommenden Schwarz- oder Weifsempfindungen der reinen
Schwarz-, bezw. Weifsempfindung nahesteht.
Betreffs der anscheinenden Unbegrenztheit der Tonhöhenreihe ver-
gleiche man Stumpf, Tonpaychologie. 1 . S. 178 ff. Wie derselbe in einem
Nachtrage (2. S. 660) berichtigend bemerkt, hat schon Abistoxenus die
prinzipielle Unbegrenztheit der Tonhöhenreihe behauptet.
In begrifflicher Hinsicht mag hier beiläufig daran erinnert werden,
dafs eine Änderung einer einfachen Empfindung, mag dieselbe nun eine
Grundempfindong oder Mischempfindung sein, niemals gleichzeitig in
mehreren Richtungen stattfinden kann. Denken wir uns den Fall, dafs
eine reine Weifsempfindung durch stetige Änderung auf dem kürzesten
Wege in eine intensivere Empfindung eines weiTslichen Blaugrtln über-
geführt werde, so ändert sich die Empfindung eben in derjenigen Richtung,
welche von jener Weifsempfindung zu dieser ungesättigten Farben-
empfindung führt. Wir dürfen aber nicht etwa sagen, dafs sich die
Zur Psychophyeik der Gesichtsempfindungen, 35
Empfindung, ganz abgesehen von ihrer Intensitätsänderung, gleichzeitig
in zwei Bichtungen verändere, von denen die eine von der reinen Weifs-
empfindung zur reinen Grünempfindung, die andere aber zur reinen
Blauempfindung hinftLhre. Wohl aber dürfen wir sagen, dafs sich bei
der angegebenen Empfindungsänderung sowohl die Bläulichkeit, als auch
die Grünlichkeit, sowie auch die Weifslichkeit und die Intensität der
Empfindung ändere.
Wenn nach obigem eine psychische Qualitätenreihe dadurch charak-
terisiert ist, dafs sich in ihr die Empfindungsqualität in geradläufiger
Weise stetig ändert, so kann man dies natürlich auch in folgender Weise
ausdrücken: Denken wir uns alle Glieder einer gegebenen psychischen
Qualitätenreihe jäuf gleiche Intensität gebracht, so ändert sich in der
so erhaltenen Empfindungsreihe die Empfindung in ganz geradläufiger
Weise. Handelt es sich mm weiter darum, anzugeben, was unter
einer geradläufigen Empfindungsänderung zu verstehen sei, so ist fol-
gendes zu sagen: Die Empfindungsänderung, welche dem Durchlaufen
einer Beihe von Empfindungen entspricht, ist eine durchgängig gerad-
läufige, oder die Unterschiede, welche zwischen den aufeinanderfolgenden
Gliedern einer (stetigen oder diskreten) Empfindungsreihe bestehen, sind
sämtlich von gleicher Bichtung, wenn alle Glieder der Beihe in derselben
Beihenfolge in einer Empfindungsreihe vorkommen, die man erhalten
würde, wenn man das Anfangsglied der Beihe auf einem kürzesten
Wege in stetiger Weise in das Endglied überführte.
Ebenso, wie sich aus dem früheren (S. 25 f.) ergiebt, dafs die Inten-
sitäten zweier gegebener Empfindungen oder auch zwei gegebene Inten-
sitätsunterschiede von Empfindungen in einem bestimmten Gröfsen-
verhältnisse zu einander stehen, scheint auch behauptet werden zu dürfen,
dafs qualitative Empfindungsunterschiede in einem bestimmten Gröfsen-
verhältnisse zu einander stehen können. Sind a, /?, y, d einfache Empfin-
dungen von verschiedener Qualität, aber gleicher Intensität, so verhält
sich der qualitative Unterschied zwischen a und ß zu dem qualitativen
Unterschiede zwischen y und cf, wie sich die Zahl der Empfindungen,
welche bei der auf dem kürzesten Wege stattfindenden stetigen Über-
führung von a in /9 durchlaufen werden, zu der Zahl von Empfindungen
verhält, welche durchlaufen werden, wenn man y auf dem kürzesten Wege
stetig in d überführt. Sind die Empfindungen a, ß, y, d von verschiedener
Intensität, so entsprechen ihre qualitativen Unterschiede den Zahlen von
Empfindungen, welche bei ihrer auf dem kürzesten Wege stattfindenden
stetigen Überführung ineinander durchlaufen werden würden, wenn
man sie zuvor auf gleiche Intensität gebracht haben würde. Sind jene
Empfindungen nicht durch stetige Änderung ineinander überfQhrbar,
also völlig heterogen zu einander, so kann, wie leicht ersichtlich, von
einem bestimmten Gröisenverhältnisse, in welchem der Unterschied
zwischen a und ß zu dem Unterschiede zwischen y und d stehe, nicht
gesprochen werden.
Die vorstehende Betrachtung findet indessen eine gewisse Schwierig-
keit oder bedarf noch einer gewissen Ergänzung infolge der Thatsache,
dafs, wie wir im folgenden (S. 39) sehen werden, unter Umständen eine
3^
36 G. E. Müller,
gegebene Empfindung auf zwei yenchiedenen kürzesten Wegen in eine
andere gegebene Empfindung flbergeftüirt werden kann.
§ 8. Zwei Möglichkeiten hinsichtlich der psycho-
physischen Bepräsentation einer psychischen Qua-
litätenreihe.
Nach dem dritten und vierten psychophysischen
mofs der geradlänfigen und allmählichen Änderung, welche
die Empfindungsqualität beim Durchlaufen einer QuaUtäten-
reihe erfahrt, eine allmähliche Änderung der Qualität des psycho-
physischen Prozesses entsprecheui welche gleichfalls von gerad-
läufiger Art ist.
Eine solche geradläufige und allmähliche qualitative Än-
derung eines psychophysischen Prozesses ist auf doppeltem
Wege möglich, erstens dadurch, dals sich an einem einfachen
psychophysischen Prozesse oder an mehreren Partialprozessen
nebeneinander eine geradläufige, allmähliche Änderung quali-
tativer Art (z. B. Änderung der Schwingungszahl) vollzieht,
zweitens dadurch, dafs sich die Intensitäten der Theil-
Vorgänge eines zusammengesetzten psychophysischen Vorganges
in der Weise ändern, dafs eine allmähliche und geradläufi^e
Änderung der Beschaffenheit dieses zusammengesetzten Vor-
ganges resultiert. Denn wenn sich z. B. ein zusammengeset2ster
psychophysischer Prozefs, der aus zwei Teilvorgängen (z. B.
Schwarzerregung und Weifserregung) besteht, in der Weise
ändert, dafs der eine Teilvorgang immer stärker in Vergleich
zum anderen wird, so mufs dieser Änderung des zusammen-
gesetzten psychophysischen Prozesses nach den Darlegungen
des § 5 eine geradläufige Änderung der Empfindungsqualität
entsprechen. Die beiden Teilvorgänge, die durch allmähliche
Änderung ihres Intensitätsverhältnisses eine psychische Quali-
tätenreihe ergeben, brauchen keineswegs immer einfache Vor-
gänge zu sein, sondern können auch selbst beide oder einer
von ihnen wiederum zusammengesetzter Art sein. Denken wir
uns z. B. einen psychophysischen Prozels einerseits aus Weifs-
erregung und andererseits aus einer Mischerregung bestehend,
welche in einem konstanten, von allen Intensitätsänderungen
unabhängigen Verhältnisse einerseits aus Blauerregung und
andererseits aus Eoterregung zusammengesetzt ist, so mufs
bei einer geradläufigen und allmählichen Änderung des Inten-
Zwr PisycTwphysik der Geaichtsempfindungen. 37
siiätsverhältnisses, in welchem die WeiTserregong zu dieser
Mischerregung steht, die Qualität der entsprechenden Misch-
empfindnng (weiTsliohen Botblauempfindung) gleichfalls eine
geradlänfige und allmähliche Änderung erfahren. Femer können,
wenn einer psychischen Qualitätenreihe eine geradläufige und
allmähliche Änderung des Intensitätsverhältnisses zweier
(einfacher oder zusammengesetzter) psychophysischer Teil-
vorgänge zu Ghmnde liegt, neben diesen beiden Teilvorgängen
auch noch andere Partialprozesse vorhanden sein, die sich an
der Änderung jenes Intensitätsverhältnisses direkt nicht be-
teiligen. Wenn sich z. B. eine weiTsliche Botempfindung durch
die gleich weifslichen rotblauen Nuancen hindurch in eine
gleich weiTsliche Blauempfindung umwandelt, so hat diese gerad-
läufige Änderung der Empfindungsqualität ihr physisches Kor-
relat wesentUch nur an der geradläufigen Änderung, welche
das Intensitätsverhältnis zwischen der Blau- und der Bot-
erregung erfährt, während die Weifserregung und Schwarz-
erregung nur insofern ins Spiel gezogen werden, als sie stets
diejenigen Intensitätswerte besitzen müssen, welche, den Ent-
wickelungen von § ö gemäfs, den vorhandenen Intensitätswerten
der Bot- und Blauerregung gegenüber erforderlich sind, um
der Empfindung stets den gleichen Grad von Weiislichkeit und
Schwärzlichkeit zu verleihen. Endlich kann eine psychische
Qualitätenreihe auch noch in der Weise auf einer geradläufigen
und stetigen Aenderung des Intensitätsverhältnisses zweier
(einfacher oder zusammengesetzter) psychophysischer Teil-
vorgänge beruhen, dafs neben diesen beiden noch ein dritter
Teilvorgang vorhanden ist, dessen Intensität im Verlaufe
der Beihe in der Weise von einem endlichen Anfangswerte
aus zu einem höheren oder geringeren Endwerte anwächst,
bezw. absinkt, dafs die Ähnlichkeit, welche die Glieder der
Qualitätenreihe zu derjenigen Empfindung besitzen, welche
dieser dritte Teilvorgang allein genommen hervorrufen würde,
im Verlaufe der Beihe von Glied zu Glied immer gröfser, bezw.
geringer wird. Dies ist z. B. der Fall, wenn wir von einer
rötlichen Schwarzempfindung aus durch die entsprechenden
H'uancen von rötlichem Grau hindurch in stetiger und gerad-
läufiger Weise zu einer Weifsempfindung von deutlich gröfserer,
bezw. deutlich geringerer BötUchkeit übergehen. Es kommen
auch Fälle vor, die noch komplizierter sind, als der soeben
38 ö. E, Müller.
erwähnte Fall. Man denke z. B. an die psychische Qualitäten-
reihe, die wir erhalten, wenn wir von einer rotblauen Schwarz-
empfindung in stetiger und geradläufiger Weise zu einer Weifs-
empfindung von höherer Rötlichkeit, aber geringerer Bläulich-
keit übergehen. Für das Folgende hat ein Eingehen auf diese
komplizierteren Fälle kein Interesse.
Im Grunde beruht jede psychische Qualitätenreihe, welche
nicht durch eine stetige, geradläufige Änderung der Qualität
eines oder mehrerer einfacher, psychophysischer Prozesse zu
Stande kommt, wesentlich darauf, dafs sich das Intensitäts-
verhältnis zweier (einfacher oder zusammengesetzter) psycho-
physischer Teilvorgänge in stetiger und geradläufiger Weise
ändert. Jede solche Qaalitätenreihe beginnt prinzipiell (wenn
auch vielleicht nicht in unserer Erfahrung) mit derjenigen
Empfindung, bei welcher der erstere dieser beiden psycho-
physischen Teilvorgänge einen endlichen Intensitätswert besitzt,
hingegen die Intensität des zweiten gleich Null ist, und erreicht
bei derjenigen Empfindung ihr Ende, wo das umgekehrte der
Fall ist. So hat auch in den zuletzt angeführten Fällen, wo
wir von einer rötlichen Schwarzempfindung zu einer Wei&-
empfindung von gröfserer oder geringerer Bötlichkeit oder von
einer rotblauen Schwarzempfindung zu einer Weifsempfinduug
von gröfserer Bötlichkeit, aber geringerer Bläulichkeit über-
gehen, die Qualitätenreihe ihren Anfang bei derjenigen Em-
pfindung, bei welcher die Intensität der Weifserregung gleich
Null ist, hingegen die Schwarzerregung einen endlichen Inten-
sitätswert besitzt, und ihr Ende bei derjenigen Empfindung,
bei welcher das umgekehrte der Fall ist. Denken wir uns
die Empfindungsreihe über eine dieser beiden Grenzempfindungen
hinaus verlängert, so ist dies nur dadurch möglich« dafs wir
von der betreffenden Grenzempfindung ab die Sichtung der
qualitativen Empfindungsänderung eine andere werden lassen,
also in eine andere QuaUtäteureihe übergehen.^ Es besitzt
^ Denn wenn wir t. B. von einer rötlichen Schwarzempfindung aus
zunächst zu einer Weifsempfindung von höherer Rötlichkeit, welcher
nur noch Weifserregung und Roterregung zu Grunde liegt, in stetiger
und geradläufiger Weise übergehen und alsdann von dieser rötlichen
Weifsempfindung aus in der Weise weitergehen, dafs wir die 'Roterregung
noch weiterhin immer stärker in Vergleich zu der (gleichfalls anwachsenden)
Weifserregung werden lassen, so gehen wir hiermit in eine zweite
Qualitätenreihe, nämlich in diejenige der weifsroten Empfindungen, über.
2hir Psychophysik der Gesichtsempfindungen, 39
also die Eoterregung, bezw. ßoterregung und Blauerregung,
'welche in den soeben erwähnten Qualitätenreihen neben der
Sohwarzerregung und Weifserregimg ihre Intensitäten ändern,
gewissermafsen nur eine accessorische Bedeutung. Und wir
sind in der That zu der Behauptung berechtigt, dafs jede
psychische Qualitätenreihe, welche nicht durch eine stetige und
geradläufige, qualitative Änderung eines oder mehrerer einfacher
psychophysischer Prozesse zu stände kommt, wesentlich auf
der geradläufigen und stetigen Änderung des Intensitätsverhält-
nisses zweier (einfacheroderzusammengesetzter)psychophysischer
Teilvorgänge beruht.
Nehmen wir an, es lasse sich ein einfacher psychophysischer
Prozefs a durch allmähliche Änderung seiner Beschaffenheit (z. B.
Schwingungszahl) in einen anderen einfachen psychophysischen Prozefs b
stetig und geradläufig überführen, so ist nach obigem neben dieser Art
geradläungen und stetigen Überganges von a in b noch eine zweite Art
möglich, bei welcher wir zu dem anfänglich allein gegebenen Vorgänge a
den Vorgang b in zunehmender Intensität unter gleichzeitiger Schwächung
von a hinzufügen, so dafs a in bestimmter Weise immer schwächer im
Vergleich zu b wird, bis wir zuletzt nur noch den Vorgang b allein übrig
haben. Bezeichnen wir nun die den beiden psychophysischen Vorgängen
a und b zugehörigen Empfindungen mit a und /9, so müssen den beiden
soeben angegebenen Arten geradläufiger Änderung des psychophysischen
Prozesses offenbar zwei verschiedene Arten geradläufigen Überganges
der Empfindung a in die Empfindung ß entsprechen.^ Und es ist nun
eine ebenso interessante wie schwierige Aufgabe, die beiden in dieser
Weise entstehenden Empfindungsreihen, welche von dem gleichen Anfangs-
gliede zu dem gleichen Endgliede in stetiger und geradläufiger, aber
doch verschiedener Weise hinführen, in ihrer psychologischen Ver-
schiedenheit ganz zutreffend zu charakterisieren. Man kann meinen,
dieser Aufgabe durch folgende Betrachtung näher zu treten.
Wird die von « zu ß führende Empfindungsreihe dadurch erhalten,
dafs sich das Intensitätsverhältnis jener beiden psychophysischen Teil-
vorgänge in geradläufiger und allmählicher Weise ändert, so wird der
in der Empfindungsreihe stattfindende Fortschritt vollständig dadurch
charakterisiert, dafs man sagt, im Verlaufe der Beihe werde die Ähnlich-
keit zu a immer geringer und die Ähnlichkeit zu ^ in entsprechendem
Mafse immer gröfser. In dem anderen Falle hingegen, wo wir von der
Empfindung a zu der Empfindung ß dadurch gelangen, dafs ein einfacher
psychophysischer Prozefs seine Qualität in geradläufiger and stetiger
Weise ändert (oder mehrere einfache psychophysische Prozesse neben-
^ Es braucht nicht erst bemerkt zu werden, dafs diese beiden ver-
schiedenen Arten geradläufigen Empfindungsüberganees da, wo sie
prinzipiell möglich sind, nicht auch stets in unserer Erfahrung neben-
einander vorkommen müssen.
40 G. E. MüUer.
einander ihre Qualität in solcher Weise verändern), wird der Fortschritt
in der Beihe nur unzulänglich charakterisiert, wenn wir auf die Abnahme
der Ähnlichkeit zu a und Zunahme der Ähnlichkeit zu ß verweisen;
denn jedes Glied der Reihe enthält gewissermafsen ein ganz besonderes
Moment in Vergleich zu den früheren und späteren Gliedern der Beihe,
obwohl es denselben in gröfserem oder geringerem Grade ähnlich ist
(ähnlich wie z. B. dann, wenn wir die Botempfindung, Schwarzempfindung
und Weifsempfindung nach ihren Verwandtschaftsverhältnissen ordnen,
die Botempfindung in der Mitte zwischen den beiden letzteren Empfin-
dungen steht und dennoch zugleich — ganz anders als die Grau-
empfindung — ein ganz neues Moment in Vergleich zu beiden enthält)-
Der Umstand, dafs in dem ersteren der beiden soeben erörterten.
Fälle der Fortschritt in der Empfindungsreihe vollständig durch die
Abnahme der Ähnlichkeit zum Anfangsgi iede und die entsprechende
Zunahme der Ähnlichkeit zum Endgliede charakterisiert ist, scheint es
nun mit sich zu bringen, dafs uns in diesem Falle die Empfindungsreihe
als eine prinzipiell begrenzte erscheint. Allerdings verhehlen wir uns
nicht, dafs vielleicht jenseits des empirischen Endgliedes (Anfangsgliedes)
der Beihe noch eine Anzahl von Empfindungen möglich seien, welche
dem Anfangsgliede (Endgliede) noch unähnlicher seien, als das empirische
Endglied (Anfangsglied). Allein wir sagen uns zugleich, dafs, wenn die
Beihe jenseits ihrer empirischen Grenzen sich nicht völlig hinsichtlich
ihres Charakters und der Art des in ihr bestehenden Fortschrittes
ändern solle, die über die empirischen Grenzen hinaus verlängerte Beihe
hinsichtlich der Art des in ihr bestehenden Fortschrittes gleichfalls voll-
ständig dadurch charakterisiert sein müsse, dafs von Glied zu Glied die
Ähnlichkeit zu einer als Anfangsglied der Beihe zu betrachtenden
Empfindung abnimmt und die Ähnlichkeit zu einer anderen, als Endglied
zu betrachtenden Empfindung zunimmt. Es erscheint uns also auch die
über die empirischen Grenzen hinaus verlängerte Beihe als eine von
einem Anfangsgliede zu einem Endgliede reichende, d. h. als eine begrenzte
Beihe.
Ist hingegen in einer in der Erfahrung gegebenen Empfindungs-
reihe die Art des von Glied zu Glied stattfindenden Fortschrittes nicht
hinlänglich dadurch charakterisiert, dafs man sagt, es werde von Glied
zu Glied die Ähnlichkeit zu dem empirischen Anfangsgliede der Beihe
immer geringer und die Ähnlichkeit zu dem empirischen Endgliede in
entsprechendem Grade immer gröfser, sondern besitzt trotz der konstanten
Bichtung des in der Beihe bestehenden qualitativen Fortschrittes jedes
Glied der Beihe ein besonderes Moment in Vergleich zu allen übrigen
Gliedern, so wird uns die Beihe als eine prinzipiell unbegrenzte er-
scheinen, falls uns eben, wie bei der Tonhöhenreihe der Fall ist, die
eigentümliche, konstante Art des in der Beihe bestehenden qualitativen
Fortschrittes irgendwie zum Bewufstsein kommt und als das Wesentliche
erscheint, hingegen die im Verlaufe des empirischen Teiles der Reihe
stattfindende Abnahme der Ähnlichkeit zu dem empirischen Anfangsgliede
und ZunahYne der Ähnlichkeit zu dem empirischen Endgliede als ein
nebensächliches Merkmal erscheint, das eine Folge der konstanten
Zur Psychophysik der Oesichtsempfindutigen. 41
Bichtung jenes qualitativen Fortschrittes sei.^ Wir vermögen in solchem
Falle keinen Grund zu erkennen, weshalb der in der Eeihe stattfindende
qualitative Fortschritt bei irgend einer Empfindung seinen Abschlufs
finden müsse, und so erscheint uns die Beihe als eine prinzipiell un-
begrenzte.
Denken wir uns also zwei Empfindungsreihen gegeben, die beide
auf geradl&ufige Weise von einer Empfindung a zu einer anderen Em-
pfindung ß hinführen, und von denen die erstere auf einer geradläufigen
qualitativen Änderung eines oder mehrerer einfacher psychophysischer
Prozesse, die andere aber in der oben angegebenen Weise auf einer
geradläufigen Änderung des Intensitätsverhältnisses zweier psycho-
physischer Teilvorgänge beruht, so ist der Fortschritt in der letzteren
Beihe für uns vollständig dadurch charakterisiert, dafs von Glied zu
Glied die Ähnlichkeit zu dem Anfangsgliede a abnimmt, hingegen die
Ähnlichkeit zu dem Endgliede ß anwächst. Indem wir nun der Beihe
diese Art von Charakteristik notwendigerweise auch für den Fall einer
Verlängerung über ihre empirischen Grenzen hinaus belassen, erscheint
uns dieselbe prinzipiell begrenzt. Die erstere Beihe hingegen, in welcher
jedes Glied sein besonderes Moment in Vergleich zu allen übrigen
Gliedern der Beihe besitzt, scheint uns infolge eben hiervon durch den
Umstand, dais von Glied zu Glied die Ähnlichkeit zu te abnimmt und
die Ähnlichkeit zu ß zunimmt, nur unvollständig charakterisiert. Dieser
Umstand tritt in unserer Auffassung der Beihe sogar völlig zurück,
falls uns durch irgend einen psychologischen Faktor die eigentümliche,
konstante Art des qualitativen Fortschrittes, der in der Beihe besteht,
zum Bewufstsein kommt. Indem wir in diesem Falle die wesentliche
Eigentümlichkeit der Beihe in eben jener konstanten Art qualitativen
Fortschrittes erblicken und zugleich nicht einzusehen vermögen, weshalb
jener Fortschritt bei irgend einer Empfindung ein Ende finden müsse,
erscheint uns die Beihe als eine prinzipiell unbegrenzte.'
Soviel zur psychologischen Charakteristik der beiden hier er-
örterten, verschiedenen Arten von Empfindungsreihen. Eine weitere
* Hinsichtlich der Tonhöhenreihe vergleiche man die im wesent-
lichen auf dasselbe hinauskommenden Ausführungen von Stumpf {Ton-
Psychologie, 1. S. 140 ff., 178 ff.).
' Die beiden hier unterschiedenen Arten von Empfindungsreihen
finden sich im Gebiete des Hörsinnes nebeneinander verwirklicht, wenn
man z. B. die Empfindung eines einfachen Tones c das eine Mal so in
die Empfindung der höheren Oktave c' überführt, dafs man durch die
zwischenliegenden Tonhöhen hindurchgeht, das andere Mal hingegen so,
dafs man dem Tone c den Ton c' mit immer wachsender Intensität und
unter gleichzeitiger Abschwächung von c hinzufügt, bis zuletzt nur noch
der Ton & vorhanden ist. Vorausgesetzt wird natürlich, dafs der
Hörende in dem zweiten Falle das Eintreten der den beiden Teiltönen
entsprechenden einheitlichen Klangempfindung nicht durch eine auf
Heraushören des einen der beiden Teiltöne gerichtete Anspannung der
sinnlichen Aufmerksamkeit verhindere. Während man im ersteren Falle
von einer Änderung der Tonhöhe redet, spricht man im zweiten von
einer Änderung der Klangfarbe. Es dürfte in mehrfacher Hinsicht von
Interesse sein, im Gebiete des Hörsinnes über diese beiden Arten von
Empfindungsreihen vergleichende Versuche anzustellen.
42 G. E. MüJler,
Ausfahruog der hier yersuchten Gedankengänge dürfte erst dann an-
gezeigt sein, wenn man über ein eingehenderes und ausgedehnteres
empirisches Material hinsichtlich unserer Auffassung solcher Empfindungs-
reihen und der Art des in ihnen bestehenden Fortschrittes verfüget, ins-
besondere auch mit voller Sicherheit übersieht, inwieweit unsere Auf-
fassung bei diesen Dingen durch die Kenntnis der Verhältnisse der
betreffenden Beize beeinfluist wird.
Natürlich haben wir hier ganz von denjenigen Unterschieden ab-
gesehen, die sich zwischen den Empfindungsreihen geltend machen, wenn
man die Erfolge der auf Analyse von Sinneseindrücken gerichteten
Thätigkeit der sinnlichen Aufmerksamkeit berücksichtigt. Ist die Nerven-
erregung, die einem Sinnesreize entspricht, einfacher Art, so kann die
sinnliche Aufmerksamkeit diesem Reize gegenüber sich im wesentlichen
nur in der Weise geltend machen, dafs sie demselben die Ein-
wirkung auf das Bewufstsein entweder erleichtert oder erschwert. Falls
es sich hingegen um einen Sinneseindruck handelt, welchem unter ge-
wöhnlichen Umständen eine aus mehreren Partiale rregungen bestehende
Mischerregung und eine Mischempfindung entspricht, so kann unter
Umständen die sinnliche Aufmerksamkeit diesen Partialerregungen gegen-
über eine bevorzugende und auswählende Bolle spielen und hierdurch
die Beschaffenheit derjenigen Nervenerregung, welche wirklich zum.
psychophysichen Prozesse wird, mehr oder weniger beeinflussen. Die
Leichtigkeit und Stärke, mit welcher dieser Einfiufs der sinnlichen
Aufmerksamkeit ausgeübt werden kann, hängt indessen ganz wesentlich
davon ab, ob die dem Sinneseindrucke entsprechende Mischerregung
schon an der äufsersten Peripherie der sensorischen Nervenbahn in jedem
der beteiligten Neuronten hervorgerufen wird (wie dies z. B. der Fall
ist, wenn durch einfallendes Licht in den zu einer Netzhautstelle ge-
hörigen Sehnervenfasem eine aus Weifserregung und ein oder zw^ei
chromatischen Erregpmgen bestehende Mischerregung hervorgerufen wird),
oder ob (wie bei der Einwirkung von Klängen der Fall ist) an den peri-
pherischen Endigfungen jedes der von dem Eindrucke zunächst getroffenen
Neuronten nur eine einfache Erregung bewirkt wird, und die unter ge-
wöhnlichen Umständen auf das Bewufstsein einwirkende Mischerregung
erst durch eine Art von Wechselwirkung oder Zusammenwirken dieser
in verschiedenen Neuronten hervorgerufenen einfachen Erregungen^ zu
Stande kommt. Es ist physiologisch nichts weniger als unbegreiflich,
dafs im letzteren Falle die sinnliche Aufmerksamkeit die Wechselwirkung
oder das Zusammenwirken der Partialerregungen verhältnismäfsig leicht
zu brechen oder zu modifizieren vermag, während im ersteren Falle,
einem analytischen Bemühen der sinnlichen Aufmerksamkeit ganz andere
Schwierigkeiten gegenüberstehen. Es ist einigermafsen befremdend, daJB
man auf Grund der hier angedeuteten Thatsachen der sinnlichen Auf-
merksamkeit dazu gekommen ist, den Mischempfindungen, welche in dem
^ Dieses Zusammenwirken kann in verschiedener Weise gedacht
werden. Es würde uns zu weit abführen, wollten wir hier näher auf
diesen Punkt eingehen.
Zu/r Paychophysik der Gesichtsempfindungen. 43
zweiten der hier unterschiedenen Fälle unter gewöhnlichen Umständen
entstehen, einen ganz anderen (allerdings nicht hinlänglich klar be-
stimmten) psychologischen Charakter zuzuschreiben, als den im ersteren
Falle eintretenden Mischempfindungen. Denn der Inhalt oder die Be-
schaffenheit einer imter gewöhnlichen Umständen auftretenden Misch-
empfindung hat damit gar nichts zu thun, welche Wirkungen eventuell
eine intensiy auf Analyse gerichtete sinnliche Aufmerksamkeit an den
der Misohempfindung zu Grunde liegenden Partialerregungen hat. Es
dürfte nicht allzu schwer sein, die Thatsachen der Klangempfindung und
Klanganalyse an der Hand der modernen Neurontentheorie im Sinne
der vorstehenden Andeutungen befriedigender zu erklären, als dies durch
ein Operieren mit dem Worte Verschmelzung geschieht.
§ 9. Erörterung, inwieweit man zwischen den beiden
angeführten Möglichkeiten des Zustandekommens
einer psychischen Qualitätenreihe entscheiden könne.
Nach Vorstehendem erhebt sich die wichtige Frage, ob es
Gesichtspunkte giebt, mittelst deren wir entscheiden können, ob
eine gegebene psychische Qualitätenreihe auf dem ersteren
oder zweiten der beiden oben angegebenen Wege ihre psycho-
physische Repräsentation finde, ob sie, auf einer geradläufigen
allmählichen Veränderung der Qualität eines oder mehrerer
einfacher psychophysischer Prozesse oder auf einer gerad-
läufigen allmählichen Änderung des Intensitätsverhältnisses
zweier (einfacher oder zusammengesetzter) Partialprozesse beruhe.
Es liegt nahe, diese Frage in folgender Weise zu beantworten.
Beruht die psychische Qualitätenreihe darauf, dafs sich das
gegenseitige Intensitätsverhältnis zweier psychophysischer Teil-
yorgänge a und h in geradläufiger und allmählicher Weise
ändert, so ist die Reihe der Qualitäten, welche der aus diesen
beiden Vorgängen zusammengesetzte psychophysische Prozefs
besitzen kann, auf der einen Seite durch das Glied begrenzt,
wo a einen endlichen Wert besitzt und i gleich 0 ist, und auf der
änderen Seite durch das Glied, wo h einen endlichen Wert
besitzt und a gleich 0 ist. Es ist also in diesem Falle die
Beihe der Qualitäten des psj^'chophysischen Prozesses eine
prinzipiell begrenzte, und mithin ist auch die entsprechende
psychische Qualitätenreihe prinzipiell begrenzt.
Kommt hingegen die psychische Qualitätenreihe durch eine
geradläufige und allmähliche qualitative Änderung eines oder
mehrerer einfacher psychophysischer Prozesse zu stände, so läfst
44 0. E. Müller.
sich von vornherein nicht sagen, ob die psychische Qualitäten-
reihe eine begrenzte oder unbegrenzte sein werde. Denn es
läfst sich nicht behaupten, dafs jede geradläufige und allmähliche
Änderung der Qualität eines einfachen psychophysischen Pro-
zesses in gleicher Weise wie die Schwingungszahl eines
oszillatorischen Vorganges prinzipiell unbegrenzt sein müsse.
Es sind auch solche geradläufige qualitative Änderungen ein-
facher physischer Vorgänge möglich, die nur bis zu gewissen
Grenzpunkten hin stattfinden können. So kann man sich z. B.
die geradlinige Schwingung eines Punktes durch stetige
Änderung der Schwingungsrichtung ganz allmählich und auf
einem kürzesten Wege in diejenige Schwingung übergeführt
denken, welche in einer zur anfanglichen Schwingungsrichtung
senkrechten Bichtung stattfindet.^
Es ergiebt sich mithin, dafs eine prinzipiell begrenzte
psychische Qualitätenreihe von vornherein betrachtet sowohl
durch eine geradläufige allmähliche Änderung des Intensitäts-
verhältnisses zweier psychophysischer Teilvorgänge, als auch
dadurch bedingt sein kann, dafs ein oder mehrere einfache
psychophysische Prozesse ihre Qualität in konstanter Bichtung
allmählich verändern. Hingegen kann eine prinzipiell un-
^ Auch hier ist wiederum eine zweite Art des stetigen und gerad-
läufigen Oberganges von dem Anfangsgliede zum Endgliede möglich.
Man stelle sich vor, dafs sich die geradlinige Schwingung ganz all*
mählich in eine Schwingung verwandle, die in einer Ellipse stattfindet,
deren grofse Axe in die Bichtung der anfänglichen geradlinigen Schwingung
fällt. Die Exzentrizität dieser Ellipse werde immer kleiner und kleiner,
bis die Ellipse zu einem Kreise wird. Hierauf gehe der Kreis in eine
Ellipse über, deren grofse Axe senkrecht zur anfänglichen Schwingungs-
richtung steht, und diese Ellipse werde immer gestreckter und gestreckter,
bis sie zuletzt in eine zur anfänglichen Schwingungsrichtung senkrecht
stehende Gerade übergeht. Setzt man beispielshalber den Fall, die
beiden zu einander senkrecht stehenden geradlinigen Schwingungen seien
psychophysische Prozesse, so erhebt sich abermcds die Frage: wie unter-
scheiden sich die beiden psychischen Qualitätenreihen, die man erhält,
wenn man von der einen geradlinigen Schwingung das eine Mal auf die
soeben angedeutete Weise, das andere Mal aber auf die oben angegebene
Weise zu der darauf senkrecht stehenden, geradlinigen Schwingung
stetig und geradläufig übergeht? Unterschieden der Schwingungsrichtung
kann man natürlich nur dann eine psychophysische Bedeutung zuschreiben,
wenn man annimmt, dafs sich mit der Schwingungsrichtung zugleich die
räumliche Beziehung ändert, in welcher das schwingende Teilchen zu
anderen am psychophysischen Prozesse beteiligten Teilchen steht.
Zur Psychophysik der Gesichtsempfindungen.
begrenzte psychische Qualitätenreihe nur auf dem letzteren
Wege zu Stande kommen.
Die vorstehende Betrachtung ist an und für sich einwands-
frei, leidet aber an dem Mangel, dafs sie auf die in unserer
Erfahrung vorkommenden psychischen Qualitätenreiheu nicht
anwendbar ist. Denn wenn eine Qualitätenreihe in unserer
Erfahrung über zwei Endglieder nicht hinausgeht, so folgt
hieraus noch nicht ohne weiteres, dafs die Beihe überhaupt
über jene Endglieder nicht hinausgehen könne; aus der em-
pirischen Begrenztheit einer Empfindungsreihe folgt noch nicht
ihre prinzipielle Begrenztheit., und wenn uns eine psychische
Qualitätenreihe prinzipiell begrenzt oder unbegrenzt erscheint,
so folgt noch nicht ohne weiteres, dafs sie auch wirklich eine
prinzipiell begrenzte, bezw. unbegrenzte Reihe sei ; ein psycho-
logischer Anschein kann auch trügerisch sein.
Mit Sätzen, welche sich auf prinzipiell begrenzte oder un-
begrenzte Qualitätenreihen beziehen, können wir also nichts
anfangen. Wir können nur von solchen Sätzen Anwendung
machen, welche ims über die Beziehung etwas aussagen, in
welcher der psychologische Eindruck oder Anschein
der prinzipiellen Begrenztheit oder ünbegrenztheit einer
psychischen Qualitätenreihe zu der Art des psychophysichen
Zustandekommens derselben steht, und hier treten nun die
Betrachtungen in Kraft, die wir (um den G-ang der Erörterung
nicht an dieser Stelle stören zu müssen) bereits in derScblufs-
anmerkung des vorigen Paragraphen angestellt haben. Aus
jenen Betrachtungen scheint sich zu ergeben, dafs, wenn der
in einer psychischen Qualitätenreihe bestehende Fortschritt
durch die von Glied zu Glied stattfindende Abnahme der
Ähnlichkeit zu dem empirischen Anfangsgliede und entsprechende
Zunal^me der Ähnlichkeit zu dem empirischen Endgliede der
Reihe vollständig charakterisiert ist und uns infolge hiervon
die Reihe als eine auch prinzipieU begrenzte erscheint, abdann
die Reihe auf .eine geradläufige uud allmähliche Änderung des
Intensitätsverhältnisses zweier psychophysischer Partialprozesse
zurückzuführen ist. Ist hingegen der Portschritt in der
Qualitätenreihe durch die Abnahme der Ähnlichkeit zum
Anfangsgliede und Zunahme der Ähnlichkeit zum EndgUede
nicht vollständig charakterisiert, mit welchem Verhalten sich
(wenigstens unter gewissen psychologischen Bedingungen) der An-
46 G. E, MüUer,
schein einer prinzipiellen ünbegrenztheit der Reihe verknüpft, so
bemht die Qualitätenreihe darauf, dafs sich die Qualität eines
oder mehrerer einfacher psychophysischer Prozesse geradläufig
und aUmählich ändert.^
Machen wir nun von vorstehenden Sätzen Anwendung, so
ergiebt sich, dafs wir Mach unsere Zustimmung versagen müssen,
wenn er (Beiträge jgur Analyse der Empfindungen. Jena. 1886.
S. 121 f.) meint, dafs zum psychophysischen Verständnisse der
Tonhöhenreihe „die Annahme von nur zwei Energien, die
durch verschiedene Schwingungszahlen in verschiedenem Ver-
hältnisse ausgelöst werden", genüge. Entspräche das psycho-
physische Zustandekommen der Tonhöhenreihe dieser Ansicht
Machs, so würde sie uns hinsichtlich des in ihr bestehenden
Fortschrittes z. B. der schwarzweifsen Empfindungsreihe ver-
gleichbar und ebenso wie diese prinzipiell begrenzt erscheinen.
In Anwendung auf das Gebiet der G-esichtsempfindungen
ergiebt sich aus den vorstehenden Sätzen, dafs alle psychischen
Qualitätenreihen des Gesichtssinnes auf ein variables Intensi-
tätsverhältnis zweier (einfacher oder zusammengesetzter) psycho-
physischer Teilvorgänge zurückzufuhren sind. Denn der Fort-
schritt in allen jenen Qualitätenreihen, die vom Schwarz zum
Weifs, vom Weifs zum Bot, vom Grün zum Blau u. s. w.
fuhren, ist durch die von GUed zu Glied stattfindende Abnahme
der Ähnlichkeit zum AnfangsgUede und Zunahme der Ähnlich-
keit zum Endgliede vollständig charakterisiert; und alle diese
Qualitätenreihen erscheinen uns dementsprechend prinzipiell
begrenzt.
Bei der ünfertigkeit und Unsicherheit indessen, welche den
hier zu Grunde gelegten Betrachtungen (der Schlufsanmerkung
des vorigen Paragraphen) anhaftet, haben wir uns nach noch
^ Wie leicht zu erkennen, ist es nach unseren früheren Aus-
führungen nicht völlig ausgeschlossen, dafs eine psychische Qualitäten-
reihe uns prinzipiell unbegrenzt erscheine, obwohl sie auf einer gerad-
läufigen Änderung eines einfachen psychophysischen Prozesses beruht,
die prinzipiell nur bis zu gewissen Grenzpunkten hin stattfinden kann.
Denn nicht die thatsächliche Begrenztheit oder ünbegrenztheit der gerad-
Iftufigen Veränderlichkeit des zu Grunde liegenden psychophysischen
Prozesses, sondern nur die Art des in der psychischen Qualitätenreihe
stattfindenden Fortschrittes ist nach dem Früheren dasjenige, wovon
der psychologische Eindruck der prinzipiellen Begrenztheit oder Ün-
begrenztheit der Beihe abhängt.
Zur Psychaphysik der Gesichtsempfindungen, 47
anderen Gesichtspunkten umzusehen, welche Auskunft über das
psychophysische Zustandekommen der psychischen Qualitäten-
reihen, insbesondere derjenigen des Gesichtssinnes, versprechen.
Als ein solcher Gesichtspunkt bietet sich uns der folgende dar.
Beruht eine psychische Qualitätenreihe auf einer gerad-
läufigen Änderung des Intensitätsverhältnisses zweier psycho-
physischer Teilvorgänge a und 6, so mufs jedes Glied dieser
Qualitätenreihe (abgesehen natürlich von den beiden Endgliedern)
dadurch hergestellt werden können, dafs man die psycho-
physischen Prozesse, welche zweien oder mehreren das betreffende
Glied zwischen sich einfassenden Gliedern entsprechen, in be-
stimmten Intensitäts Verhältnissen miteinander kombiniert. Denn
wenn einem gegebenen Gliede der Seihe ein bestimmtes Ver-
hältnis T- entspricht, so mufs dasselbe z. B. auch dadurch her-
gestellt werden können, dafs man zwei psychophysische Prozesse,
deren einer durch einen höheren und deren anderer durch einen
d
geringeren Wert des Verhältnisses j- charakterisiert ist, in be-
stimmtem Stärkeverhältnisse miteinander kombiniert. Kommt
iüngegen eine psychische Qualitätenreihe durch eine gerad-
läufige Änderung der Qualität (z. B. Schwingungszahl) eines
oder mehrerer einfacher psychophysischer Prozesse zu stände,
so kann, wie leicht ersichtlich, der psychophysische Prozefs,
welcher einem gegebenen Gliede der Beihe entspricht, durch
Kombination der psychophysisohen Prozesse, welche zweien
oder mehreren das gegebene Glied zwischen sich einschliefsen-
den Gliedern der Beihe entsprechen, in keiner Weise hergestellt
werden. Wenn also Mach, wie oben erwähnt, die Tonhöhen-
reihe auf ein variables Intensitätsverhältnis zweier psycho-
physischer Teilvorgänge zurückführt, so scheint uns diese An-
sicht auch daran zu scheitern, dafs nach derselben jedes Glied
der Tonhöhenreihe auch durch Kombination eines beliebigen
höheren und tieferen Tones müfste hervorgerufen werden können,
was thatsächlich nicht der Fall ist.^ Hingegen scheint im
^ Betrachtet man dagegen die früher (S. 41) erwähnte Qualitftten-
reihe, welche man dadurch erh<, dafs man vom Tone c durch hlolke
Änderung der Klangfarhe zum Tone & übergeht, so zeigt sich, dafs jedes
Glied der Beihe dadurch hergestellt werden kann, dafs man die Beize,
welche zweien oder mehreren dasselbe zwischen sich einschliefsenden
48 G^ E. MüUer.
Gebiete des Gesichtssinnes das an der Tonhöhenreihe vermifste
Verhalten zu bestehen. Denn jedes Glied der Qnalitätenreihe,
welches vom Schwarz zmn Grün oder vom WeiTs zum Bot
oder vom Urrot zmn Urblan u. s. w. fuhrt, können wir da-
durch herstellen, dafs wir die fieize, welche den beiden End-
gliedern der Reihe oder überhaupt zweien oder mehreren das
betreffende Glied zwischen sich einschliefsenden Gliedern der
Beihe entsprechen, in bestimmten Stärkeverhältmssen kom-
binieren.^
Wenn man indessen in letzterem Thatbestande einen voU-
gültigen Beweis für die Behauptung erblicken würde, dhb im
Gebiete des Gesichtssinnes jede psychische Qualitätenreihe auf
ein variables Intensitätsverhältnis zweier psychophysischer Teil-
vorgänge ztirückzufuhren sei, so würde man wiederum die
nötige Vorsicht vermissen lassen. Denn zwischen die Lichtreize
Oliedem entsprechen, in bestimmten Stftrkeverh<nissen kombiniert.
Hinsichtlich der Art und Weise, wie Mach dem hier erhobenen Einwände
zn begegnen sucht, vergleiche man dessen Beiträge eur Anafyse der Emr
pfindimgen, S. 122 f. Auf die sog. resultierenden Töne (man vergleiche
z. B. Mbldk in Pflügers Arch. 60. 1895. S. 628 ff.) braucht hier nicht erst
eingegangen zu werden.
^ Wenn man die Empfindung eines spektralen Blaugrün durch
Kombination des spektralen UrgrUn und Urblau nicht mit ganz dem-
selben Sättigungsgrade herstellen kann, so l&fst sich dies unschwer dar-
auf zurückführen, dafs die Empfindungsreihe, welche (bei normalen Be-
dingungen der Beobachtung der Spektralfarben) vom spektralen ürgrün
zum spektralen TJrblau führt, infolge der Art und Weise, wie sich in
dieser Spektralregion die Weifsvalenz des Lichtes mit der Wellenl&nge
ändert, keine wirkliche psychische Qualitätenreihe darstellt, d. h. keine
Empfindungsreihe ist, in welcher sich die Qualität ganz geradläufig
ändert. Analoges gilt von anderen Spektralregionen.
In Hinblick auf das soeben Bemerkte kann man folgende ganz all-
gemeine Frage aufwerfen. Es sei gegeben eine Mischempfindung E (z. B.
eine schwarzweifse Grünempfindung), welche auf den psychophysischen
Teilvorgängen a^h, c . * » beruht, und eine andere Mischempfindung E'
(z. B. eine Blauempfindung von geringerer Weifslichkeit und gröfserer
Schwärzlichkeit), welcher die psychophysischen Teilvorgänge a', &', c' . . .
zu Grunde liegen, von denen einer oder mehrere die gleiche Qualität
und auch Intensität besitzen können, wie einer, bezw. mehrere jener Vor-
gänge a,hy c . , . Diese beiden Empfindungen E und E seien durch eine
stetige Beihe von Empfindungen verbunden, denen nur solche psycho-
physische Prozesse zu Grunde liegen, welche die Qualität jener Vor-
gänge a, 6, c . . . a', 5', c' . . . besitzen. Wie müssen sich nun im Fortschritte
der von E zu E hinführenden Empfindungsreihe die gegenseitigen
Zfwr P9yc?iaphp8%k dar Gesichtaempfindungen. 49
und die psyohophysischen Prozesse des Sehorganes schieben
sich die chemischen Netahautprozesse ein. Und der hier er-
wähnte Thatbestand läfst sich, wie leicht zu erkennen, auch in
der Weise voUkommen erklären, dafs man jede x>sychi0che
Qualitätttireihe des Gesichtssinnes an£ eine geradlänfige Ände-
rung des Intensit&ts Verhältnisses zweier (einfacher oder zusammen-
gesetzter) Netzhautprozesse, welcher eine geradläufige Ände-
rung der Qualität des zugehörigen psychophysisohen Prozesses
entspreche, zurückführt, hierbei aber ganz dahingestellt sein
läist, welcher Art diese geradläufige Änderung des psyoho-
physischen Prozesses sei, ob sie die Qualität eines oder mehrerer
einfacher Vorgänge oder das Intensitätsverhältnis zweier Teü-
Yorgänge betreffe.
Die Unsicherheit, die nach dem Bisherigen hinsichtlich der
psychophysisohen Deutung einer gegebenen psychischen
Qualitätenreihe vielleicht noch besteht, schwindet, sobald man
^tensitätsverhältnisse der psychophysischen Teilvorg&nge verhalten,
damit die Empfindungsreihe wirklich eine psychische Qualitätenreihe
sei? Eine Antwort erhält man z. B. anf dem Wege, dafs man an unsere
Bemerkung (S. 35 f.) anknüpft, es sei die Empfindungsänderung, welche
dem Durchlaufen einer Qualitätenreihe entspricht, durchgängig gerad-
läufiger Art, falls man sich sämtliche Glieder der Beihe auf gleiche
Intensität gebracht denke. Man denke sich also für jedes Glied der von
M zu E' hinfahrenden Empfindungsreihe die absoluten Intensitäten der
zu Grunde liegenden psychophysischen Teilvorg&nge ohne Änderung der
gegenseitigen Intensitätsrerhältnisse dieser Vorgänge so geändert, dafs
sämtliche Empfindungen der Beihe eine und dieselbe Intensität besitzen.
Dann mufs sich in der so erhaltenen Empfindungsreihe die Empfindung
ganz geradläufig ändern, wenn die gegebene, von ^ zu ^ führende Em-
pfindungsreihe wirklich eine psychische Qualitätenreihe ist. Fragt man
nun weiter, wie sich die psychophysischen Prozesse, die einer stetigen
Empfindungsreihe zu Grunde liegen, verhalten müssen, damit in dieser
Beihe die Empfindungsänderung ganz geradläufig erfolge, so erhält man
hierauf die Antwort, wenn man von dem Satze ausgeht, dafs jedem
geradläufigen, d. h. kürzesten und mithin einzigartigen
stetigen Übergange zwischen zwei Empfindungen auch ein
einzigartiger stetiger Übergang zwischen den zwei zu-
gehörigen psychophysischen Prozessen entsprechen mufs,
und umgekehrt.
Bei dem beschränkten Zwecke dieser Abhandlung ist es uns un-
möglich, auf diese und andere bisher fast ganz vernachlässigte Punkte
der allgemeinen Psychophysik näher einzugehen. Es muis uns hier
genügen, angedeutet zu haben, dafs die oben aufgeworfene Frage in der
That eine prinzipielle Antwort zuläfst.
ZeitMhrlft llir Psychologie X. 4
50 G. E. Müller.
triftige Gründe hat, die psychophysischen Prozesse des be-
treffenden Sinnesgebietes als chemische Vorgänge anzusehen.
Denn es ist unmöglich, eine durch zahllose Zwischenstufen
hindurchgehende, geradläufige Änderung der Qualität eines
chemischen Prozesses sich anders vorzustellen, als so, dafs man
diesen Prozefs aus zwei Teilvorgängen bestehen läfst, deren
Intensitätsverhältnis sich allmählich ändert. Geht man also
(mit Herino) von der Voraussetzung aus, dafs die psycho-
physischen Vorgänge des Sehorganes chemischer Natur seien,
so hat man im Gebiete des Gesichtssinnes jede psychische
Qualitätenreihe auf ein variables Intensitätsverhältnis zweier
(einfacher oder zusammengesetzter) psychophysischer Teil-
vorgänge zurückzuführen.
Entsprechendes, wie für den Fall, dafs die psychophysischen
Prozesse des betreffenden Sinnesgebietes als chemische Vorgänge
anzusehen sind, gilt für den Fall, dafs wenigstens von den
peripherischen Vorgängen (z. B. den Netzhautprozessen), welche
die unmittelbaren Ursachen der sensorischen Nervenerregungen
sind, feststeht, dafs sie chemischer Art sind, und zugleich an-
genommen werden darf, dafs jeder geradläufigen und allmählichen
Änderung der Beschaffenheit der Nervenerregung auch eine
geradläufige und allmähliche Änderung der Beschaffenheit des
peripherischen Vorganges zu Grunde liegt. Besteht zwischen
der Nervenerregung und dem peripherischen Vorgange eine
Beziehung der soeben angegebenen Art, so mufs jeder gerad-
läufigen und allmählichen Änderung der Empfindungsqualität
eine geradläufige und allmähliche qualitative Änderung nicht
blofs der Nervenerregimg, sondern auch des peripherischen
Vorganges entsprechen. Eine geradläufige und allmähliche
Änderung des letzteren Vorganges kann aber, wenn dieser
chemischer Art ist, nicht anders zu stände kommen, als so, dafs
sich das Intensitätsverhältnis zweier ihn zusammensetzender
Partialprozesse in konstanter Bichtung allmählich ändert.
Gehen wir also von der gegenwärtig allgemein geteilten
Voraussetzung^ aus, dafs die durch die Lichtstrahlen in der
Netzhaut hervorgerufenen, die Entstehung der Sehnerven-
^ Man vergleiche hierüber z. B. Bbsvstxik, Untersuchungen über den
Erregungswrgang im Nerven- und Muskelsystem. Heidelberg 1871. S. 131 ff^
KüBNB in Hermanns Handb. d Physiol III. 1. S. 287 f.
Zur Psychophysik der Gesichtsempfindungen, 51
erregungen vermittelnden Prozesse (Netzhautprozesse) chemischer
Art seien, und machen wir zweitens (die Frage, welcher Art
eigentlich die Sehnervenerregungen seien, ganz beiseite lassend)
die fast selbstverständliche Annahme, dafs jeder geradläufigen
und allmähHchen qualitativen Änderung der Sehnervenerregung
eine gleichfalls geradläufige und allmähliche qualitative
Änderung des Netzhautprozesses zu Grunde liege, so kommen
wir zu dem wichtigen Satze: jede Keihe von Gesichts-
empfindungen, welche eine Qualitätenreihe bildet,
mufs auf einem Netzhautprozesse beruhen, der aus
zwei (einfachen oder zusammengesetzten) chemischen
Teilvorgängen besteht, deren Intensitätsverhältnis
sich geradläufig und allmählich ändert.
Was die zweite der bei Ableitung dieses Satzes zu Grunde
gelegten, vorstehends angeführten Voraussetzungen anbelangt,
so nehmen wir also z. B. an, dafs, wenn eine Blauempfindung
durch die entsprechenden rotblauen Nuancen hindurch all-
mählich in eine Botempfindung übergehe, alsdann dieser
geradläufigen «nd allmähüchen Änderung der Empfindunga-
qualität eine gleichfalls geradläufige und allmähliche qualitative
Änderung nicht blofs der Nervenerregung, sondern auch des
Netzhautprozesses zu Grunde liege. Diese Annahme ist
zweifellos diejenige, welche den Prinzipien wissenschaftlicher
Methodologie gemäis zunächst zu Grunde zu legen und nur
dann aufeugeben ist, wenn sich zeigt, dafs ihre Zugrundelegung
zu unüberwindbaren Schwierigkeiten führt, oder dafs eine
andere, an und für sich kompliziertere, Annahme dennoch bei
Berücksichtigung aller zu erklärender Erscheinungen schneller
und einfacher zum Ziele fuhrt. Von der Plausibilität dieser
Annahme überzeugt man sich am besten dadurch, dafs man
sich die Absurdität einer gegenteiligen Annahme vergegen-
wärtigt, z.B. der Annahme, dafs in dem soeben angeführten
Falle (des Überganges von einer Blauempfindung zu einer Bot-
empfindung) die Geradläufigkeit der qualitativen Änderung der
Empfindung und Sehnervenerregung dadurch zu stände komme,
dafs die qualitative Änderung des Netzhautvorganges bald in
dieser bald in jener Bichtong stattfinde.
Die hier in Bede stehende, von uns oben zu Grunde ge-
legte Annahme findet nun überdies noch eine beachtenswerte
Bestätigung in der früher (S. 48) erwähnten Thatsache, dafs
52 ^. E. MüOer.
m Gebiete des G-esichtseiimes jedes mittlere Glied einer
peychiechen Qnalitätenreilie dadurch hergestellt werden kann,
dafs man die Beize, welche zweien oder mehreren das betreffende
Glied zwischen sich einschliefsenden Gliedern der Seihe ent-
sprechen, in bestimmten StärkcTerhältnissen miteinander kom-
biniert. Denn macht man die Yoranssetzimgy daCs z. B. der
Qoalitätenreihe, welche von einer Nuance des ürrot zur
gleichhellen Nuance des ürgelb hinfUirt, eine qualitative
Änderung des Netzhautprozesses zu Grunde liege, welche nicht
gänzlich in einer und derselben Bichtung stattfinde, sondern
etwa anfanglich darin bestehe, dafs ein chemischer Prozefs a immer
schwächer, hingegen ein zu a hinzugefügter Prozels b immer
stärker werde, bis schliefslich b nur noch allein übrig sei, und
hierauf darin bestehe, dafs b immer schwächer, hingegen ein
zu b hinzugefügter chemischer Prozels e immer stärker werde,
bis schliefslich nur noch c vorhanden sei, so ist nur durch An-
nahme komplizierterer Verhältnisse die Thatsache erklärbar,
dafs wir durch Kombination der beiden Beize, welche, einzeln ge-
nommen, die beiden Netzhautprozesse a und c hervormfen,
dieselbe Nervenerregung und Empfindung bewirken können^
welche der von a und c wesentlich verschiedene Netzhaut-
prozefs &, einzeln genommen, zur Folge hat. Hingegen erklärt
sich die Thatsache, dafs jedes Glied der erwähnten Empfindungs-
reihe durch geeignete Kombination der Beize, welche zweien
oder mehreren das gegebene Glied zwischen sich einschliefsenden
Gliedern der Beihe entsprechen, hervorgerufen werden kann,
ohne weiteres und in einfachster Weise, wenn man annimmt,
dafs diese Empfindungsreihe, wie überhaupt jede psychische
Qualitätenreihe des Gesichtssinnes, in ihrer ganzen Erstreckung
darauf beruht, dafs sich das Intensitätsverhältnis zweier Netz-
hautprozesse in konstanter Bichtung ändert.^
' Es würde natürlich auf einem argen MisYerstandnisse und völliger
Verständnislosigkeit für psychopbysische Dinge beruhen, wenn man dem
obigen die Ansicht entnehmen wollte, es müsse jeder Beihe qualitativ
yerschiedener Sinnesreize, welche die Eigentümlichkeit besitzt, dafs die
Empfindung jedes mittleren Gliedes durch geeignete Kombination zweier
oder mehrerer dasselbe zwischen sich einschliefsender Glieder hervor-
gerufen werden kann, eine Beihe von Nervenerregungen und Empfindungen
entsprechen, in welcher sich die Qualität geradläufig ändert. Über die
qualitativen Verhältnisse unserer Empfindungen können uns nur direkte
Vergleichungen der Empfindungen selbst und ihrer Unterschiede, niemals
Ztir P8ychop?i^8ik der Gesichtsempfindungen. 53
Wenn wir oben behauptet haben, dafs eine geradläufige und all-
mähliche qualitative Änderung eines chemischen Vorganges nur dann
möglich sei, wenn derselbe aus zwei Teilvorgängen, deren Intensitäts-
verhältnis variabel sei, bestehe, so haben wir dabei ganz von der
Möglichkeit abgesehen, dals der betreffende chemische Prozefs oszilla-
torischer Art, d. h. ein chemischer Vorgang sei, dessen Lebhaftigkeit
periodisch auf- und abschwelle, oder welcher aus einer Beihe schnell
aufeinanderfolgender gleichartiger chemischer Umsetzungen bestehe,
die durch kurze Intervalle, in denen chemische Büokbildung stattfinde,
voneinander getrennt seien. Da an einem solchen chemischen Vorgange
die Dauer und der zeitliche Verlauf der einzelnen chemischen Umsetzungen
in ähnlicher Weise variabel sind, wie an einem rein physikalischen
Schwingungsprozesse die Schwingungsdauer und die Schwingungsform
veränderlich sind, so würde man einen solchen Vorgang für einen
chemischen Prozefs erklären können, der nicht durch das Intensitäts-
verhältnis zweier bestimmter Teilvorgänge charakterisiert sei und dennoch
in stetiger und .geradläufiger Weise hinsichtlich seiner Beschaffenheit
variiert werden könne. Man kann die Frage aufwerfen, ob die Quali-
tfttenreihe der Tonhöhen durch solche chemische Oszillationsvorgänge
psychophjsisch zu deuten sei.^ Für das Gebiet des Q-esichtssinnes hin-
gegen kommt die Annahme, dafs die Netzhautprozesse oder die psyoho-
physisch«n Vorgänge chemische Oszillationen seien, deren Dauer und
zeitlicher Verlauf von der Art des einwirkenden Lichtes abhänge, schon
vom chemisch-physikalischen und physiologischen Standpunkte aus über-
haupt nicht in Betracht.
Angenommen, es stehe für ein Sinnesgebiet fest, dafs die psycho-
physischen Prozesse desselben chemischer Art sind, und es sei zugleich
die Möglichkeit ausgeschlossen, dafs diese Prozesse chemische Oszilla-
tionsvorgänge im obigen Sinne seien, so müssen dem früher Bemerkten
gemäfs in diesem Sinnesgebiete alle psychischen Qualitätenreihen prin-
zipiell begrenzter Art sein und auch den psychologischen Eindruck
prinzipieller Begrenztheit mit sich führen.
§ 10. Ableitang der seohs retinalen G-rundprozesse.
Wir gehen nun d«zn über, von dem oben aufgestellten
Satze, dafs jede psychische Qualitätenreihe des Gesichtssinnes
anf zwei (einfache oder zusammengesetzte) Netzhautprozesse,
Aber irgendwelche Versuchsresultate Auskunft geben, welche die physio
logische Vertretbarkeit eines Sinnesreizes durch einen (einfachen oder
zusammengesetzten) anderen Sinnesreiz betreffen. Wohl aber können
Besultate der letzteren Art, wie sich aus obigem ergiebt, für die Deutung
des physiologischen Zustandekommens einer Empfindungsreihe, von
welcher auf Grund der inneren Wahrnehmung feststeht, dals sie
eine psychische Qualit&tenreihe im früher angegebenen Sinne darstellt,
Yon Wichtigkeit sein.
^ Man vergleiche L. Hermann in Pflügers Ärch, 56. 1894. S. 497 f.
54 G. E. MüUer.
deren Intensitäts Verhältnis variabel sei, zurückgeführt werden
müsse, die gehörige Anwendung zu machen.
An erster Stelle tritt uns da die Seihe der schwarzweifsen
Empfindungen entgegen, die vom tiefsten Schwarz durch die
verschiedenen Abstufungen des Grau zum hellsten Weifs führt.
Diese Qualitätenreihe führen wir auf zwei chemische Netzhaut -
prozesse, einen Weifsprozefs und einen Schwarzprozefs, zurück,
die, je nach den Intensitätswerten, welche sie besitzen, bald
dieses, bald jenes Glied der schwarzweifsen Empfindungsreihe
zur Folge haben.
Jede schwarzweifse Empfindung ist indessen nicht blofs
ein Glied der schwarzweifsen Empfiudungsreihe, sondern
zugleich auch noch AnfangsgUed zahlloser anderer QuaHtäten-
reihen, deren jede zu der Empfindung eines gesättigtsten Farben-
tones hinführt. So stellt die Reihe der Empfindungen, welche
von einer gegebenen Weifsempfindung durch die rötlichen
Weifsempfindungen und weifslichen Botempfindungen hindurch
allmählich zu der gesättigtsten Botempfindung hinfuhrt, eine
Empfindungsreihe dar, in welcher die Änderung der Empfindungs-
qualität allmählich und geradläufig vor sich geht. Eine Beihe
gleicher Art stellt die Empfindungsreihe dar, welche von der-
selben Weifsempfindung aus durch die rotblauen Weifs-
empfindungen und weifslichen Botblauempfindungen hindurch
ohne Veränderung des Farbentones zu der gesättigtsten Botblau-
empfindung hinftlhrt. Das Gleiche gilt von der Beihe der
weiisgelben, weifsgrünen, weifs-grünblauen u. s.w. Empfindungen.
Jede von diesen zahllosen weifsfarbigen Empfindungsreihen
stellt eine (prinzipiell begrenzt erscheinende) psychische Quali-
tätenreihe dar. Es ist hier völlig irrelevant, dafs die ge-
sättigtsten der in unserer Erfahrung vorkommenden Farben-
empfindungen als absolut gesättigt nicht angesehen werden
dürfen. Das Wesentliche ist hier nur die Thatsache, dafs jede
schwarzweifse Empfindung das Anfangsglied zahlloser Em-
pfindungsreihen ist, in deren jeder dieÄnderung der Empfindungs-
qualität geradläufig und allmählich vor sich geht. Dem obigen
Satze gemäfs haben wir jede dieser psychischen Qualitätenreihen
auf ein variables Intensitätsverhältnis zweier retinaler Teil-
vorgänge zurückzuführen, deren einer ein chromatischer Prozefs
ist, und deren anderer ein aus Weifsprozefs und Schwarzprozefs
zusammengesetzter Vorgang ist. Handelt es sich (bei einer
Zur Fsychophysik der Cresichtsempfindungen. 55
prinzipiellen Betrachtung) um die Qnalitätenreihen, welche von
der reinen Weifsempfindung oder reinen Schwarzempfindung
ausgehen, so kommt natürlich ein Bestandteil des letzteren
Vorganges in Wegfall.
Es fragt sich nun, inwieweit jener erstere Prozefs, der
chromatische Prozefs, einfacher oder zusammengesetzter Art
ist. Auf diese Frage erhalten wir die Antwort, wenn wir uns
alle diejenigen Farbenempfindungen, welche einen ganz be-
stimmten Weifslichkeitsgrad und einen ganz bestimmten
Schwärzlichkeitsgrad besitzen, aus denjenigen der soeben er-
Tirähnten, von den schwarzweifsen Empfindungen zu den ge-
sättigtsten Farbenempfindungen hinfährenden Qualitätenreihen,
in denen sie vorkommen, herausgenommen und alsdann alle
diese Farbenempfindungen von gleicher WeifsUchkeit und
gleicher SohwärzUchkeit nach ihren Verwandtschaftsverhältnissen
in Qualitätenreihen angeordnet denken. Alsdanii erhalten wir
— mögen wir den konstanten Weifslichkeitsgrad und den
konstanten Schwärzlichkeitsgrad (der auch annähernd gleich 0
sein kann) in dieseh oder jenen Werten wählen — vier
Qualitätenreihen, nämlich die Beihen der rotgelben, gelbgrünen,
grünblauen und blauroten Empfindungen. Denn wenn wir von
einer Botempfindung durch die gleich weifslichen und gleich
schwärzlichen rotgelben Empfindungen hindurch zu der
Oelbempfindung von gleichfalls gleicher WeifsUchkeit und
Schwärzlichkeit übergehen, so ist die Änderung der Empfindungs-
qualität sowohl allmählich, als auch geradläufig. Das Gleiche
gilt für den Fall, dafs wir von einer Gelbempfindung unter
Beibehaltung desselben WeifsUohkeits- und Schwärzlichkeits-
grades durch die gelbgrünen Farbentöne hindurch zu der ent-
sprechenden Grünempfindung übergehen, u. s. w. Jede von
jenen vier Qualitätenreihen haben wir nun dem obigen Satze
gemäfs auf ein variables Intensitätsverhältnis zweier chemischer
Netzhautprozesse zurückzufuhren. So haben wir z. B. die rot-
gelbe Qualitätenreihe psychophysisch dahin zu deuten, dafs im
Verlaufe der Reihe der Gelbprozefs in Vergleich zum Bot-
prozesse immer stärker werde, während der Weifsprozefs und
der Schwarzprozefs immer gerade diejenigen Intensitätswerte
besäfsen, welche den vorhandenen Intensitäten des Botprozesses
und Gelbprozesses gegenüber erforderlich seien, damit sämtlichen
Gliedern der Empfindungsreihe der gleiche Grad von WeifsUch-
keit und von Schwärzlichkeit zukomme.
56 G. E, MMer.
Es lassen sich also die farbigen, d. h. nicht zu der schwarz-
weif sen Empfindungsreihe selbst gehörigen, Bestandteile der
Qnalit&tenreihen, welche von den schwarzweifsen Empfindungen
aus zu den Empfindungen der gesättigtsten Farbentöne hin*'
fEQiren, auch in der Weise anordnen, dafs man sie zu Qualitaten-
reihen zusammenfügt, deren jeder ein bestimmter, konstanter
Weifslichkeitsgrad und Schwftrzlichkeitsgrad eigentümlich ist.
und alle die Qualitätenreihen, die man bei dieser letzteren
Anordnungsweise erhält, sind entweder Reihen rotgelber oder
gelbgrüner oder grünblauer oder blauroter Empfindungen von
konstantem Weifslichkeits- und Schwärzlichkeitsgrade.^ Da
nun die farblosen und farbigen Bestandteile der Qualitäten-
reihen, welche yon den schwarzweifsen Empfindungen aus zu
den Empfindungen der gesättigtsten Farbentöne hinAihren, die
G^esamtheit aller unserer Oesichtsempfindungen darstellen, so
kommen wir mithin auf Grund des Satzes, dafs jede psychische
Qualitätenreihe des Gesichtssinnes auf zwei hinsichtlich ihrer
Intensitäten variable chemische Netzhautprozesse zurückzufahren
ist, zu dem wichtigen Resultate, dafs der Gesamtheit
unserer Gesichtsempfindungen eechsNetzhautprozesse
zu Grunde liegen, die wir kurz als den Weifs-,
Schwarz-, Bot-, Gelb-, Grün- und Blauprozefs zu be-
zeichnen haben, weil ihnen in dem Falle, dafs jeder
von ihnen ganz allein und ohne Mitwirkung endogener
Erregungsursachen für den Zustand der Sehsubstanz
der Grofshirnrinde mafsgebend wäre, eine reine
Weifs-, Schwarz-, Eot-, Gelb-, Grün- und Blau-
empfindung in unserem Bewufstsein entsprechen
würde.
' Wie leicht ersicbtlich, hängt der Umfang einer soldien rotgelben«
gelbgrünen, grünblauen oder blauroten Empfindungsreihe (d. h. die Zahl
der die Beihe bildenden Empfindungen) von dem konstanten Weiüslichkeita-
und Schw&rzlichkeitsgrade der Reihe ab. Je mehr an einer solchen
Reihe die Ähnlichkeit zu einer bestimmten schwarzweiüsen Empfindung
hervortritt, desto mehr nähert sich der Umfang der Reihe dem Falle,
wo er auf ein einziges Glied, nämlich eben die betreffende schwarzweifse
Empfindung, zusaanmenschrumpft. Es liefae sich aber die hier in Rede
stehenden Empfindungsreihen an der Hand unserer bisherigen Ent-
wickelungen noch einiges sagen und fragen, doch würde es die Geduld
des Lesers zu sehr auf das Spiel setzen, wollten wir auf diese (fUr die
obige Beweisführung im Grunde irrelevanten) Dinge näher eingehen.
Zur Psychqphysik der Gesichtsempfinckingen. 57
Geht man yon der Yoranssetznng ans, dafs die psych o-
physischen Prozesse der Sehsnbstanz chemischer Natur seien,
8o kommt man dem auf S. 50 Bemerkten gemäfs in ganz
analoger Wei^e, wie wir im vorstehenden die sechs retinalen
Ghtmdprozesse abgeleitet haben, aber ohne einer bestimmten
Annahme hinsichtlich der Beziehung zwischen Sehnerven-
erregnng und Netzhautprozefs zu bedürfen, notwendig zu der
Sohlufsfolgerung, dafs unseren Gesichtsempfindungen sechs
psychophysische Grundprozesse, eine Weifserr^ung, Schwarz-
err^ung u. s. w., zu Grunde liegen.
Wie sicli aus dem auf 8. 81 f. Bemerkten leicht ergiebt, steht die
Sache hinsichtlich der Abhängigkeit der schwarasweifBen Empflndungs-
reihe von den entsprechenden Netzhautprozessen etwas anders, als hin-
sichtlich der übrigen Qualitätenreihen des Gesichtssinnes, z. B. der
weiXsroten und rotblauen Beihen. Es würde indessen für den Leser nur
zu ermüdenden Weitläufigkeiten der Darstellung geführt haben, wenn
wir im vorstehenden und nachfolgenden diese Sonderstellung der
achwarsweifsen Empfindungsreihe jedesmal näher berücksichtigt hätten.
Der Versuch, die schwarzweiDge Empfindungsreihe auf einen einzigen
Netzhautprozefs zurückzuführen, welcher nach Mafsgabe seiner Intensität
auf die endogene Weifserregung der zentralen Sehsubstanz verstärkend,
hingegen auf die Schwarzerregung derselben abschwächend wirke,
scheitert schon für eine oberflächliche Betrachtung daran, dafs alsdann
die Erkläruiig der negativen Nachbilder und anderer Erscheinungen für
die farblosen Empfindungen ganz anders zu halten wäre als für die
farbigen Empfindungen. Der Leser wird sich aus den nachstehenden
Entwickelungen alles dasjenige, was wir in Beziehung auf ^en der-
artigen Versuch zu sagen hätten, leicht selbst herausnehmen.
§ 11. Ergänzende Bemerkungen zu vorstehender
Ableitung der sechs retinalen Grundprozesse.
Ehe wir nun dazu übergehen, die Gründe anzufahren, die
för die Annahme eines antagonistischen Verhältnisses zwischen
je zweien der obigen sechs retinalen Grundprozesse sprechen,
und die Konsequenzen zu entwickeln, die sich aus dem Wesen
dieser antagonistischen Beziehungen und der Art und Weise,
wie jene Grundprozesse durch die Lichtstrahlen ausgelöst
werden, ftkr ^e Theorie der Gesichtsempfindungen ergeben,
haben wir zunächst in diesem und den nachfolgenden Para-
graphen dieses Kapitels den bisherigen Entwickelungen behufs
Abwehr von Mafsverständnissen und behufs näherer Begründung
und genauerer Präzisierung wichtigerer Punkte einige ergänzende
und erläuternde Bemerkungen zuzufügen.
58 G. E. Müller,
Wie ein Rückblick auf das Bisherige leicht ergiebt, fufst
unsere Ableitung der sechs retinalen Q-rundprozesse lediglich
erstens auf den psychophysischen Axiomen, zweitens auf der
Annahme einer chemischen Natur der Netzhautprozesse, drittens
auf der Voraussetzung, dai's jeder geradläufigen und alhnäh-
lichen Änderung der Qualität der Sehnervenerregung eine
gleichfalls geradläufige und allmähliche Änderung der Qualität
des Netzhautprozesses zu Grunde liegt, und viertens auf der
V'^oraussetzung, dafs wir, wenigstens im Gebiete des Gesichts-
sinnes, diejenigen Empfindungsreihen, welohe psychische
Qualitätenreihen sind, d. h. in denen sich die Empfindungs-
qualität geradläufig und allmählich ändert, als solche zu er-
kennen vermögen.
Hiemach wird unsere Ableitung der sechs retinalen Gh*und-
prozesse nicht von den Einwänden getroffen, welche man gegen
die von Mach und Hering gegebenen Ableitungen der sechs
Grundfarben erhoben hat. Mach (Wien. Ber. 52. 1865. 11.
S. 320 f.) legt seiner Ableitung der sechs Grundfarben den
Satz zu Grunde: „Wenn ein psychischer Vorgang sich auf rein
psychologischem Wege in eine Mehrheit von Qualitäten a, 6, c
auflösen läfst, so entsprechen diesem eine ebensogrofse Zahl
verschiedener physischer Prozesse a, fi, y.*^ Hiergegen hat
V. Kribs (Die Gesichtsempfindungen und ihre Analyse. S. 41.
Leipzig 1882) nicht mit unrecht eingewandt, dafs sich z. B.
das Orange nicht in die Qualitäten Bot und Gelb zerlegen
lasse. „Man nehme eine gleichmäfsig orangegefUrbte Fläche
und probiere, das Bot und das Gelb herauszusehen, so wie man
aus einem Accord seine einzelnen Töne heraushört. Ich für
meinen Teil finde das vollkommen unmöglich, die Empfindung
bleibt fclr mich eine vollkommen einfache, von einer Zerlegung
ist keine Bede.**
Hering drückt sich in der Begel dahin aus, dafs eine
Mischempfindung an die betreffenden Grundempfindungen,
z. B. die Empfindung des Violett an die Empfindungen von
Bot und Blau „erinnere'^. Allein man kann einwerfen, dafs,
wenn Violett an Bot erinnere, auch umgekehrt das Bot an
Violett erinnere. An etwas erinnern, Verwandtsein u. dergl.
seien eben wechselseitige Verhältnisse. Es lasse sich aas
der Thatsache, dafs Violett an Bot und Blau erinnert, ebenso-
wenig etwas schliefsen, wie aus der Thatsache, dals Bot an
Ziir Psychophysik der Gesichtsempfindungen. 59
Violett und Orange erinnern kann. Auch erinnere z. B. der
Ton e an den Ton d und /', und doch schliefse man hier nicht,
daTs der Empfindung des Tones e ein psychophysischer Prozefs
zu. Grunde liege, welcher aus den Nervenerregungen zusammen-
gesetzt sei, die dem d und f entsprechen.
Auf S. 19 seiner Abhandlung j^Zur Erklärung der Farben-
blindheit aus der Theorie der Gegenfarben^ bemerkt Hkrino,
„dafs jedem das Violett zugleich dem Blau und Bot verwandt
oder ähnlich erscheint, dais er gleichsam beide Farben darin
zugleich sieht, und dafs er es deshalb unbedenklich als Blau-
rot oder Botblau bezeichnet. . . . Beines Gelb dagegen wird
niemand als Botgrün oder Grünrot bezeichnen. ** . . . Dieser
Auslassung gegenüber kann man einwenden, dafs der Abstand
zwischen dem Violett einerseits und dem Bot oder Blau
andererseits nicht mit dem Abstände zwischen Gelb einerseits
und Bot oder Grün andererseits zu vergleichen sei, sondern
mit dem Abstände zwischen Gelb einerseits und Gelbrot oder
Gelbgrün andererseits. Es fragt sich nun: erscheint das Gelb
dem Gelbrot und Gelbgrün nicht in gleichem Grade verwandt,
wie das Violett dem Blau und Bot verwandt erscheint? Und
was berechtigt dazu, die absolut gesättigte Violettempfindung
für eine Mischempfindung, die absolut gesättigte Gelbempfin-
dting hingegen für eine Grundempfindung zu halten?
Mustern wir die Gesichtsempfindungen einzeln in be-
liebiger Aufeinanderfolge, so erscheinen sie uns sämtlich sozu-
sagen von gleicher Dignität. Man sieht es sozusagen keiner
Gesichtsempfindung ohne weiteres an, ob sie eine ausgeprägte
Mischempfindung oder mit gröfserer oder geringerer Annähe-
rung eine Grundempfindung ist. Man mufs die Gesichts-
empfindungen zu Qualitätenreihen anordnen, dann zeigt sich
der Unterschied zwischen den mittleren Gliedern und den
Endgliedern dieser Beihen, und dann kommt man unter den
oben wieder in Erinnerung gebrachten Voraussetzungen noir
wendig zur Annahme von sechs retinalen Grundprozessen, die
in dem Falle, dafs jeder von ihnen ganz allein für den
Erregungszustand der Sehsubstanz mafsgebend wäre, die
Empfindung des reinen Weifs, Schwarz, Bot u. s. w. zur
Folge haben würden.^ Wenn man blofs das Vorhandensein
^ Es braucht nicht nochmals in Erinnerung gebracht zu werden,
dafs wegen der früher erwähnten endogenen Erregung der Sehsubstanz
60 6?. B' MüXUr.
and die quantitativen Verhältnisse der Ähnlichkeiten oder Ver-
schiedenheiten der Oesichtsempfindungen berücksichtigt, ge-
winnt man (mittelst der sog. subjektiven Methode) keinen
sicheren und unanfechtbaren Ausgangspunkt für. die Sechs-
farbentheorie. Man muTs zugleich die Sichtung gegebener
qualitativer unterschiede oder Änderungen der Q-esichts-
empfindungen berücksichtigen, um zu einem solchen Ausgangs-
punkte zu gelangen. Man mufs sagen : wenn ich vom
Bot zum Orange und vom Orange zum Gelb übergehe, so
findet die Änderung der Empfindungsqualität in beiden Fällen
in gleicher Bichtung statt. Dasselbe geschieht, wenn ich vom
Gelb zum Gelbgrün und von diesem zum Grün übergehe, u. s. w.
Es bilden also die (gleich weiTslichen und gleich schwärzlichen)
rotgelben, gelbgrünen u. s. w. Empfindungen psychische
Qualitätenreihen im früher angegebenen Sinne. Gehe ich hin-
gegen vom Orange zum Gelb und dann vom Gelb zum Gelb-
grün, oder zuerst vom Gelbgrün zum Grün und dann vom
Grün zum Blaugrün über, so ist die Änderung der Empfindungs-
qualität im zweiten Falle von anderer Bichtung, als im ersteren
Falle. Es sind also die Farbenempfindungen, die vom Orange
zum Gelbgrün oder vom Gelbgrün zum Blaugrün führen, nicht
tS-lieder einer und derselben Qualitätenreihe.
Die Bichtigkeit unserer Ableitung der sechs retinalen
Grundprozesse hängt offenbar ganz wesentlich davon ab, ob
wir überhaupt die Fähigkeit besitzen, die Bichtungen gegebener
qualitativer Empfindungsunterschiede mit gewisser Sicherheit
zu vergleichen, und bejahenden Falles davon, ob wir von dieser
Fähigkeit einen richtigen Gebrauch gemacht haben, als wir
die Beihen der rotgelben, gelbgrünen, grünblauen, blauroten
Empfindungen für Empfindungsreihen erklärten, in denen sich
die Qualität geradläufig ändere.
Was zunächst die erstere Frage anbelangt, so dürfte das
Bestehen der in Frage stehenden Fähigkeit sich bereits hin-
länglich aus der Übereinstimmung und Sicherheit ergeben, mit
der wir urteilen, dafs eine geradläufige Änderung der Empfin-
xLod wegen der Weifsvalenzen der farbigen Lichter eine reine Rot-,
Gelb-, Grün- oder Blauempfindung in unserer Erfahrung überhaupt nicht
vorkommt, und dafs dieses Nichtvorkommen der vier chromatischen
Grundempfindungen für unsere Ableitung der sechs retinalen Grund-
prozesse durchaus belanglos ist.
Zur Psychophysik der Creaichtsempfindungen. 61
dnngsqualität eintrete, wenn wir vom tiefsten Schwarz duroh
die verschiedenen Abstufungen des Grau hindurch zum reinen
WeiTs, vom Blau durch die entsprechenden blauweilsen Nuancen
hindurch zum reinen Weifs, vom Bot durch die entsprechenden
rotgrauen Nuancen hindurch zum Grau übergehen u. dergl. m.
AuQh an unsere Beurteilung der Tonhöhenreihe als einer gerad-
l&ufigen Empfindungsreihe ist hier zu erinnern.
Es fragt sich also nur noch, ob speziell die von uns ^nter-
schiedenen Beihen der (gleich weifslichen und gleich schwärz-
lichen) rotgelben, gelbgrünen, grünblauen und blauroten Em-
pfindungen wirklich Empfindungsreihen sind, in denen sich die
Empfindungsqualität geradläufig ändert. Diese Frage kann
nur durch die Beobachtung entschieden werden. Behufs Ent-
scheidung derselben darf man sich nicht an eine Beobachtung
des Sonnenspektrums halten, das vor allem wegen der zwischen
seinen verschiedenen Teilen bestehenden Helligkeitsunterschiede
zu diesem Zwecke völlig unbrauchbar ist. Man stelle sich
vielmehr durchFarbenkreisel oder mittels durchsichtiger farbiger
Papiere, deren Helligkeiten man durch untergelegte weiTse,
graue oder schwärzliche Papiere reguliert, ein Bot, ein Orange,
ein Gelb und ein Gelbgrün von annähernd gleichen Hellig-
keiten her. Dann vergleiche man zuerst die drei Farben Bot,
Orange, Gelb und hierauf die drei Farben Orange, Gelb, Gelb-
grün miteinander und frage sich, wie sich beide Beihen von
je drei Farben hinsichtlich der zwischen ihren Gliedern be-
stehenden Unterschiede verhalten. Man wird zu dem Besultate
kommen, dafs in der Beihe Bot, Orange, Gelb die Empfin-
dungsänderung beim Übergange vom ersten zum zweiten GUede
in der gleichen Bichtung erfolgt, wie beim Übergange vom
zweiten zum dritten GUede, hingegen in der Beihe Orange,
Gelb, Gelbgrün die Empfindungsänderung beim Übergange vom
zweiten zum dritten Gliede von anderer Bichtung ist, als beim
Übergange vom ersten zum zweiten Gliede. Zu den entsprechenden
Besultaten gelangt man, wenn man die Farbenreihen Grün, Grün-
blau, Blau und Grünblau, Blau, Blaurot oder die Beihen Blau,
Blaurot, Bot und Blaurot, Bot, Orange mit einander vergleicht.
Eleganter noch sind natürlich die Versuche, wenn man jede
der miteinander zu vergleichenden Farbenreihen aus je fünf
oder sieben Gliedern bestehen läfst, also z. B. die Beihe, welche
aus Bot, gelblichem Bot, mittlerem Orange, rötlichem Gelb
62 O, E. Müller.
und Gelb besteht, mit der Reihe vergleicht, welche aus mitt-
lerem Orange, rötlichem Gelb, Gelb, grünlichem Gelb und
mittlerem Gelbgrün besteht. Wer sich durch Versuche der hier
angedeuteten Art nicht davon überzeugen kann, dafs die Reihen
der rotgelben, gelbgrünen, grünblauen und blauroten Empfin-
dungen wirklich Qualitätenreihen im früher angegebenen Sinne
darstellen, — dem ist einfach nicht zu helfen (falls ihm nicht
etwa durch Versuche der im nächsten Paragraphen anzugebenden
Art doch noch geholfen werden kann).
Wenn wir behaupten, es bestehe die Fähigkeit, die Eich-
tungen von Empfindungsunter schieden miteinander zu ver-
gleichen, so behaupten wir natürlich nicht, dafs dieses Ver-
mögen eine unendlich grofse Feinheit besitze, und uns jede
minimale Abweichung von der Geradläufigkeit einer Empfin-
dungsänderung merkbar sein müsse, und noch weniger bestreiten
wir, dafs die Ausübung jenes Vermögens durch Vorurteile,
welche auf irrigen Theorien, auf Verwechselungen physika-
lischer und psychophysischer Verhältnisse u. dergl. beruhen,
verhindert oder irregeleitet werden könne. Wir haben es erlebt,
dafs lange Zeit hindurch sogar von Forschem ersten Banges
der Übergang von der Schwarzempfindung zur Weifsempfindung
als eine blofse Änderung der Empfindungsintensität aufgefafst
und dargestellt worden ist, was uns heutzutage fast unbegreiflich
erscheinen will. Wir dürfen uns daher nicht wundem, wenn
uns noch heutzutage die inhaltlichen Beziehungen der ge-
sättigten Farbenempfindungen vielfach in unzutreffender oder
unzulänglicher Weise geschildert werden.^
^ Es ist nicht gerade ein sehr saohgemäfses Verfahren, wenn man
z. B. ohne weiteres zwar die Reihe der rotweifsen Empfindungen, die
vom gesättigten Bot zum reinen Weifs fahrt, durch eine gerade Linie,
hingegen die Reihe der rotgelben Empfindungen, die vom gesättigten
Rot zum gesättigten Gelh führt, durch eine krumme Linie darstellt.
Es gehört nicht viel Beobachtungsschärfe zu der Erkenntnis, daDs beide
Empfindungsreihen durchaus von gleicher Art sind.
Man kann die inhaltlichen Beziehungen sämtlicher Farbenempfin-
dungen überhaupt nicht durch räumliche Schemata vollständig und
ein wandsfrei darstellen. Denkt man sich z. B. die vier Grundfarben
Bot, Gelb, Grün, Blau in dieser Reihenfolge an den vier Ecken eines
Rechteckes stehend und die Übergangsstufen zwischen ihnen durch die
Seiten des Rechteckes dargestellt, so ist zwar richtig zur Darstellung
gebracht, dals die Richtung der Empfindungsänderung in der rotgelben
Zur FsychophyHk der Gesichtsempfindungen. 63
Wir brauchen femer nach dem Bisherigen nicht weiter
anszuführen, dafs unsere Ableitung der sechs retinalen Grund-
prozesse nicht im mindesten von dem Einwände betroffen wird,
dafs wir im Spektrum die dem Urgelb, Urgrün oder Urblau
entsprechenden Stellen nicht mit absoluter Sicherheit bezeichnen
könnten. Wird uns die Qualitätenreihe, die von einem gegebenen
Schwarz durch die verschiedenen Abstufungen des Grau hindurch
ganz allmählich zu einem ausgeprägten Weifs führt, und in
unmittelbarem Anschlüsse hieran die Qualitätenreihe, welche
von diesem Weifs aus durch die verschiedenen rotweifsen
Nuancen hindurch ganz allmählich zu einem ziemlich gesät-
tigten Bot führt, vorgeführt, und werden wir hierbei aufgefordert,
den Punkt genau zu bezeichnen, wo dem weifsem Lichte soeben
noch kein Bot zugesetzt worden sei, so werden wir nicht im
Stande sein, diesen Punkt mit untrüglicher Sicherheit zu be-
zeichnen. Aber trotz dieser UnvoUkommenheit wird es nie-
mandem einfallen, sein Urteil, dafs die vorgeführte Schar
von Empfindungen aus zwei Beihen bestehe, die sich durch die
Bichtung der in ihnen stattfindenden Änderung der Empfin-
dnngsqualität voneinander unterschieden, und die ihren Schei-
dungspunkt bei ungefähr der und der Empfindung besäfsen,
für ein auf Selbsttäuschung beruhendes zh halten. Was in
diesem Falle gilt, gilt aber natürlich auch dann, wenn die
vorgeführte Schar von Empfindungen z. B. aus den beiden
Farbenreihe eine andere ist, als in der gelbgrünen, in dieser eine andere
als in der gprünblauen, u. s. w. Aber, streng genommen, müTste man aus
dieser Darstellung herauslesen, dafs die Empfindungsänderung beim
Übergange vom Bot zum Gelb genau dieselbe sei wie beim Übergange
vom Blau zum Grün, und beim Übergang vom Gelb zum Grün dieselbe sei,
wie beim Übergänge vom Bot zum Blau ; denn es liegen ja je zwei Seiten des
Beehteckes in gleicher Bichtung. Auch würde diese Darstellung zu der
durchaus nicht unanfechtbaren Schlufsf olgerung veranlassen können, dafs
die Zahl der Zwischenempfindungen, die von der Gelbempfindung direkt
zur Grünempfindung überführen, gleich grofs sei, wie die Zahl der Empfin-
dungen, die den direkten Übergang von der Botempfindung zur Blauempfin-
dung bilden, u. a. m. Wir haben also in § 10, wo es sich darum handelte, die
Gesamtheit unserer Gesiohtsempfindungen zu einem System von Quali-
t&tenreihen anzuordnen, mit gutem Grunde von einer Bezugnahme auf
r&nmliche Darstellungen des Farbensystems ganz Abstand genommen.
Über die Verwirrungen, die bisher durch die Farbentafeln angerichtet
worden sind, bat sieb bekanntlich Hebivo in seiner Abhandlung: «Über
Newtons Gesetz der Farbenmischung** (S. 49 ff.) eingehend ge&uXsert.
64 6f. E. Müller.
Beihen der rotgelben und der gelbgrünen Empfindungen besteht,
und wir aufgefordert werden, den Scheidungspunkt dieser beiden
Beihen genau zu bestimmen. Das Unsichere und Schwankende
unserer Bestimmungen dieses Punktes ist damn nicht im min«
desten ein Beweis gegen die Behauptung, dais die Beihe der
gelbgrünen Empfindungen durch die Bichtung der in ihr statt-
findenden Änderung der Empfindungsqualität von der Beihe
der rotgelben Empfindungen wesentlich verschieden sei. Der
hier berührte Mangel hat seinen Grund lediglich darin, dais
wir nicht jeden beliebig kleinen Empfindungsunterschiad
erkennen und noch weniger alle beliebig kleinen Empfindungs-
unterschiede hinsichtlich ihrer Bichtung miteinander ver-
gleichen können. Wäre unser Vermögen in dieser Beaiehung
vollkommen, so würden wir den Scheidungspunkt zweier
Qualitätenreihen (der natürlich aus physiologischen Gtründen
lu verschiedenen Fällen bei verschiedenen äuiseren Beizen
gegßben sein kann) auch stets nut untrüglicher Sicherheit
bezeichnen können, unsere Ableitung der sechs retinalen Grund-
prozesse wird aber durch die ünvoUkommenheiten, welche unsere
Fähigkeit der Erkennung und Yergleichung von Empfindungs-
unterschieden besitzt, und die aus diesen ÜnvoUkommenheiten
entspringenden Mängel ebensowenig widerlegt, wie eine physi-
kalische Theorie, welche aus Beobachtungen über gerad- und
krummlinige Bewegungen abgeleitet ist, dadurch widerlegt
wird, daTs wir nicht jede minimale Abweichung einer Bewegung
von ihrer bisherigen Bichtung erkennen, und dais es sogar
Fälle giebt, wo sich eine Anzahl von Beobachtern darüber
herumstreitet, ob ein in der Feme gesehener Körper ruhe, sich
annähere oder entferne.
Ein wenig einsichtiges Denken wird nun vielleicht ein-
wenden, dafs, wenn wir in Hinblick auf unsere soeben erwähnte
ün&higkeit der Yergleichung minimaler Empfindungsunter-
schiede aus jeder der in Betracht kommenden Empfindungs-
reihen nur eine beschränkte Anzahl von Gliedern (nach dem
oben erwähnten Versuchsverfahren etwa gar nur drei oder fünf
Glieder) herausgriffen und unser urteil über die G^radläufigkeit
oder üngeradläufigkeit der betreffenden Beihen nur auf die
Eindrücke stützten, die wir beim Durchlaufen dieser wenigen
herausgegriffenen Glieder der Beihen erhielten, wir alsdann
gar keine Gewähr dafClr besäfsen, dafs uns eine von uns als
Zur Fsychophysik der GesichUsemp findungen, 65
geradläufig erklärte Empfindungsreihe auch dann noch als eine
durchgängig geradläufige Reihe erscheinen würde, wenn wir
nicht hloÜs einige wenige, sondern sämtliche Glieder derselben
hinsichtlich der Richtung der zwischen ihnen bestehenden
Unterschiede miteinander rergleichen könnten. Es genügt,
diesem Einwände gegenüber folgendes zu bemerken. An-
genommen, es sei uns eine Linie gegeben, von der wir jedes-
mal nur einige Punkte hinsichtlich der Richtung, in welcher
sie zu einander liegen, miteinander vergleichen können, so
werden wir doch mit gutem Rechte die gegebene Linie für
eine in ihrer ganzen Erstreckung geradläufige erklären, wenn sich^
zeigt, dafs jedesmal, wo wir einige beliebige Punkte der Linie
herausgreifen und hinsichtlich ihrer gegenseitigen Lagen ver-
gleichen, diese beliebig herausgegrififenen Punkte in einer
G-eraden liegen. Das Entsprechende gilt in unserem Falle. Wir
halten z. B. die Änderung der Empfindungsqualität in der ganzen
rotgelben Reihe für eine geradläufige, weil wir jedesmal, wo
wir beliebige drei, vier, fünf oder mehr Glieder dieser Reihe
herausgreifen und, richtig angeordnet, miteinander vergleichen,
den Eindruck haben, dafs die Empfindungsänderung von GUed
zu Glied in derselben Richtung stattfinde.
Wenn wir uns im bisherigen auf unsere Fähigkeit, gegebene
Empfindungsunterschiede hinsichtlich ihrer Richtung miteinan-
der zu vergleichen, gestützt haben, so halten wir uns deshalb
nicht für verpflichtet, nun auch sofort an dieser Stelle noch iii
eine psychologische Untersuchung dieser Fähigkeit und Er-
örterung aller damit näher zusammenhängender Fragen ein-
zugehen. .Erstens verbietet sich eine solche Abschweifung aus
Rücksichten der Raumersparnis. Und zweitens würde es
deshalb unzweckmäfsig sein, jene psychologischen Unter-
suchungen in diese psychophysischen Entwickelungen ein-
zumengen, weil alsdann leicht der Anschein entstehen könnte,
als ob die Richtigkeit dieser letzteren Entwickelungen von der
Richtigkeit jener psychologischen Untersuchungen abhängig
wäre. Eine Theorie der Fähigkeit, gegebene Empfindungs-
unterschiede hinsichtlich ihrer Richtung zu vergleichen, kann
irrig oder unvollständig sein, während die praktische Hand-
habung dieser Fähigkeit völlig richtig ist. Auf die Dauer
freüich darf sich die Psychophysik einer psychologischen Unter-
suchung dieser Fähigkeit nicht entziehen.
Z«ittelifift fttr Psjchdloffie X. 5
66 G, E. MüUer.
Von den Gesichtspunkten, die bei der hier erwähnten psychologischen
Untersuchung zu berücksichtigen sind, mag hier beil&ufigerweise der
folgende erwähnt werden. Wir können bei einer psychischen Fähigkeit
eine allgemeinere Gesetzmäfsigkeit und einen allgemeineren Typus, der
sich bei verschiedenen Individuen gewissermafsen nur nach den ver-
schiedenen Werten der betreffenden Konstanten differenziert, nur dann
mit einiger Wahrscheinlichkeit erwarten, wenn es sich um eine Fähigkeit
handelt, die eine biologische Bedeutung besitzt, d. h. deren wir iia
Kampfe ums Dasein zu unserem besseren Fortkommen bedürfen. Stellen
wir die Versuchspersonen vor psychologische Aufgaben, die in der Praxis
*des Lebens gar nicht vorkommen, und für die wir von Haus aus so-
zusagen gar nicht bestimmt sind, so wird sich der eine der Aufgaben
mittelst dieser, der andere mittelst jener Kunstgriffe oder Q-esichtspunkte
mit mehr oder weniger Willkür entledigen, und allgemeingültige Gesetz-
mäfsigkeiten sind von vornherein nicht zu erwarten. £s fragt sich also
auch hinsichtlich der oben erwähnten Fähigkeit der Vergleichung ge-
gebener Empfindungsunterschiede nach ihrer Richtung, inwieweit sich
dieselbe als eine Fähigkeit von biologischer Bedeutung darstelle oder
wenigstens ohne weiteres auf eine solche Fähigkeit zurückführen lasse.
Wie wenig man sich bisher vergegenwärtigt hat, dafs die experimentelle
Psychologie in erster Linie diejenigen psychischen Fähigkeiten zu unter-
suchen hat, die eine biologische Bedeutung besitzen, ergiebt schon ein
flüchtiger Überblick über die Litteratur dieser Disziplin. —
Wir haben oben (S. 61) als ein Beispiel dafür, dafs wir über die
Bichtung von Empfindungsunterschieden zu urteilen vermögen, die That-
Sache angeführt, dafs uns die Tonhöhenreihe als eine geradläufige Reihe
erscheint. Li letzter Linie stimmen die auf diese Thatsache bezüglichen
Ausführungen von Stumpf {Tonpspychologie, 1. S. 140 ff.) mit unserer Auf-
fassung derselben überein. Wenn indessen Stumpf (S. 142 ff.) zugiebt,
dafs man durch blofse Vergleichung von Ähnlichkeitsgraden gleichfalls
zu der Erkenntnis der eindimensionalen Natur der Tonhöhenreihe ge-
langen könne, so dürfte diese Konzession nicht haltbar sein. Der Satz :
Das Gebiet der Tonhöhen besitzt nur eine Dimension, ist nicht, wie
Stumpf meint, mit dem Satze identisch, „dafs von je drei Tönen unter
allen Umständen nur einer der mittlere sein kann^^ Betrachten wir
z. 6. die Farbenreihe, welche vom Rot auf dem kürzesten Wege (durch
weifsliches Rot hindurch) zum mittleren Weifsrot und von diesem auf
dem kürzesten Wege (durch weifsliches Rotblau hindurch) zum mittleren
Weifsblau führt, so kann von je drei Gliedern dieser Reihe auch immer
nur eines das mittlere sein, und doch wird es uns nicht einfallen, diese
Reihe für eine eindimensionale zu erklären; denn die qualitative
Änderung besitzt beim Übergänge vom Weifsrot zum Weifsblau eine ganz
andere Richtung als beim Obergange vom Rot zum Weifsrot. Zum Be-
griffe einer eindimensionalen Reihe gehört nicht blofs das Merkmal, daüis
der Grad der Ähnlichkeit zwischen zwei Gliedern um so geringer ist, je
gröfser ihr Abstand in der Reihe ist, sondern vielmehr das Merkmal,
dafs die Richtung des Unterschiedes zwischen den aufeinanderfolgenden
Gliedern der Reihe stets dieselbe ist. Die blofse Fähigkeit, Ähnlichkeits-
Zur F^ychophysik der Geskhtsenipfindungen, 67
grade miteinander zu yergleiohen, kann uns zwar darüber belehren, ob
an einer gegebenen Empfindungsreihe das erstere Merkmal vorhanden
ist, nicht aber auch darüber, wie es mit dem Vorhandensein des zweiten
Merkmales steht (dessen Bestehen zugleich das Vorhandensein des
ersteren Merkmales einschliefst, während das Umgekehrte nicht gilt).
£s ist also schon von vornherein ohne weiteres zu behaupten, dafs der
Eindruck der Eindimensionalitftt der Tonhöhenreihe nur dadurch zu
Stande kommen kann, da/s wir die Konstanz der Richtung der in der
Reihe stattfindenden qualitativen Änderung erkennen. Beschränkt man
den Begriff einer eindimensionalen Reihe nur auf das erstere der beiden
oben angeführten Merkmale, so kommt man zu dem absurden Resultate,
dafs ebenso wie die Reihe, welche vom Rot durch Weifsrot zum reinen
WeiCs föhrt, auch die obige Reihe, welche vom Ret durch Weifsrot zum
Weifsblau führt, eine eindimensionale Reihe ist, und dals beide ein-
dimensionalen Reihen trotz ihrer Verschiedenheit die eine Hälfte ihres
Verlaufes gemeinsam haben!
§ 12. Von der besonderen Stellung,
welche die sechs Grundfarben, insbesondere auch
hinsichtlich der sprachlichen Bezeichnung,
im Farbensysteme einnehmen.
Man fafst die inhaltlichen Beziehungen der G-esichts-
empfindungen gelegentlich so auf, als bestehe zwischen den
Orundfarben der Sechsfarbentheorie und den Mischfarben
lediglich der unterschied, dafs die ersteren Farben aus irgend
welchen äuTseren Gründen im Verlaufe der sprachlichen Ent-
wickelung selbständige und einfache Bezeichnungen erlangt
hätten, während die übrigen Farben im allgemeinen nur
zusammengesetzter Bezeichnungen teilhaftig geworden seien,
welche, wie die Ausdrücke gelbrot, violett, orangefarbig, ent-
weder die Bezeichnungen der benachbarten Grundfarben in
sich einschliefsen oder an die Namen bestimmter Gegenstände
anknüpfen, welche charakteristische Träger der betreffenden
Übergangsfarben sind. Hierher gehört z. B. die Darstellung,
welche Wundt [Phüos, Studien, 4. 1888. S. 323, 342 ff., Grund-
jBÜge d, physiöl. PsychoL 1. 1893. S. 487f.) über die inhaltlichen
Beziehungen der Gesichtsempfindungen und die Grundvoraus-
setzungen der Sechsfarbentheorie giebt. Nach Wundt sollen
letzterer Theorie unausgesprochen zwei Hülfssätze zu Grunde
liegen, von denen der erstere laute : „Fundamental verschieden
sind solche Lichtqualitäten, die in der Sprache einen generisch
verschiedenen Ausdruck erhalten haben. ^ Dieser Satz liefere
68 O. E. MüUer.
der erwähnten Theorie die vier Hauptfarben, Bot, Gelb, Grün
und Blau, und die zwei Qualitäten des Farblosen, Weifs und
Schwarz. Der zweite HtQfssatz laute: „Jede Lichtqualität,
welche nicht fundamentaler Art ist, besteht aus einer Mischung
je zweier einander nächstgelegener Fundamentalqualitäten.^
Die bevorzugte Stellung, welche die vier Grundfarben hin-
sichtlich der sprachlichen Bezeichnungsweise im Farbensysteme
besitzen, leitet Wündt daraus ab, dafs es, abgesehen vom
Weifs und Schwarz, zwei Lichtqualitäten gebe, die in der
Natur eine bevorzugte Bolle spielen, nämlich das Blau des
Himmels und das Grün der Vegetation. „Neben ihnen nimmt
noch das Bot des Blutes einen vielleicht mehr durch seinen
intensiven Gefühlswert, «Js durch extensive Verbreitung aus-
gezeichneten Bang ein .... Auch das Gelb gehört, als Farbe
der herbstlichen Vegetation, des Wüsten- und Dünensandes u. s.w.,
zu den verbreitetsten Färbungen der Natur. ^
Dafs die wirklichen Grundlagen, auf welche eine Ab-
leitung der Sechsfarbentheorie mittelst sogenannter subjektiver
Analyse zu gründen ist, von diesen Auslassungen Wündts über-
haupt nicht berührt werden, bedarf nach dem Bisherigen keiner
weiteren Ausführung. Wenn Wündt behauptet, daik dieser
Theorie unausgesprochenei-weise die beiden oben angeftLhrten
Hülfssätze zu Grunde lägen, so ist daran zu erinnern, dafs nicht
der mindeste Anlafs für die Behauptung vorliegt, es sei die
Existenz der beiden Bezeichnungen Grau und Braun, welche
von den übrigen Farbenbezeichnungen ebenso „generifich ver-
schieden'^ sind, wie etwa die beiden Bezeichnungen Schwarz
und Weifs, den beiden Forschern Mach und Hebiko ganz ent-
gangen. Es ist aber keinem von beiden eingefallen, wegen
der sprachlichen Besonderheit der Ausdrücke Grau und Braun
denselben zwei Grundempfindungen entsprechen zu lassen.
Der Anschauung gegenüber, nach welcher eine beliebige
Vierzahl genügend weit voneinander abstehender Übergaags-
farben, z. B. das mittlere Gelbrot, Gelbgrün, Grünblau und
Botblau, genau dieselbe Bolle, wdche jetzt den vier Grund-
farben Bot, Gelb, Grün und Blau zukommt, im Farbensystem
spielen würden, wenn ihnen das Los zu teil geworden wäre,
besondere einfache Bezeichnungen durch die Sprache zu
erhalten, dieser nach obigem auch von Witndt geteilten An-
schauung gegenüber dürfte es sich empfehlen, hier noch kurz
Zur Psychophysik der Gesichtsempfindungen. 69
auseinaDder zu setzen, inwiefern jene vier Grundfarben that-
säcblicli eine wesentlich andere Holle im Farbensystem spielen,
als z. B. die genannten vier mittleren Übergangsfarben, und
inwiefern der Umstand, dafs wir gerade für jene vier Grund-
farben einfache sprachliche Bezeichnungen haben, ganz wesent-
lich mit der besonderen Stellung jener Grundfarben zusammen-
Mngt.
Zunächst ist hier an den schon im bisherigen hervor-
gehobenen Umstand zu erinnern, dafs, wenn wir von einer
Grundfarbe durch die entsprechenden Zwischenstufen hindurch
zu einer benachbarten Grundfarbe, z. B. vom Bot durch die
gelbroten Farbentöne hindurch zum Gelb, übergehen, wir den
Eindruck durchgängiger Geradläufigkeit der qualitativen Em-
pfindungsänderung haben. Gehen wir hingegen von einer
mittleren Übergangsfarbe zu einer benachbarten mittleren
TJbergangsfarbe, z. B. vom mittleren Gelbrot durch Gelb hin-
durch zum mittleren Gelbgrün, über, so haben wir den Eindruck,
dafs die qualitative Empfindungsänderung ihre Bichtung
wechsle. In einem Systeme von Farbenempfindungen gleicher
WeifsUchkeit und Schwärzlichkeit stellen sich uns also die vier
Grundfarben als die Anfangs- und Endglieder, hingegen jene
vier Übergangsfarben als die mittleren Glieder der gegebenen
psychischen QuaUtätenreihen dar. Ebenso erscheinen uns in
der Beihe der farblosen Empfindungen das Schwarz und das
WeiTs als die Endglieder, hingegen die Nuancen des Grau als
mittlere Glieder.
Femer ist hier auf folgendes die Aufmerksamkeit zu
richten. Nach der z. B. von "Wundt vertretenen Ansicht, welche
die gesättigten Farbenempfindungen durch eine Kreislinie dar-
zustellen pflegt, in welcher weder die vier Grundfarben noch
sonstige Farben eine besondere Stellung einnehmen, muTs der
qualitative unterschied, der zwischen zwei benachbarten Grund-
farben besteht, durchschnittlich von gleicher Gröfse sein, wie
der unterschied, der zwischen zwei benachbarten mittleren
Übergangsfarben besteht.^ Diese Konsequenz steht aber in
^ Nimmt man an, dafs der qualitative unterschied zwischen zwei
benachbarten Grundfarben (z. B. zwischen Rot und Gelh) von konstanter
Ghr&ise sei, so ist (nach der oben erwähnten Ansicht) dem Unterschiede
zwischen zwei benachbarten mittleren Übergangsfarben (z.B. zwischen
dem mittleren Gelbrot und dem mittleren Gelbgrün) notwendig dieselbe
70 ö. E. Müller.
sohroffem Widerspruche zu der Erfahrung. Man stelle sich
mittelst rotierender Scheiben oder auf sonstige Weise in ge-
wissem Abstände voneinander das mittlere Gelbrot und das
mittlere Gelbgrün und in demselben Abstände voneinander
auch noch das reine ßot und das reine Gelb her, und zwar
alle vier Farben in möglichst gleichen Helligkeiten (Herstellung
der Farben von beiden Seiten her, Berücksichtigung des Kon-
trastes, der Baumlage u. s. w.). Alsdann vergleiche man den
Unterschied, der zwischen den beiden ersteren Farben (mittleren
Übergangsfarben) besteht, hinsichtlich seiner Gröfse mit dem
unterschiede, der zwischen den beiden letzteren Farben (Grund-
farben) besteht. Man wird finden, dafs mit voller Sicherheit
behauptet werden darf, der letztere unterschied sei bedeutend
gröfser, als der erstere. Der Unterschied zwischen dem fiot
und dem Gelb erscheint gewissermafsen wie eine weite Kluft
in Vergleich zu dem Unterschiede zwischen den beiden ersteren
Farben.^ Zu dem entsprechenden Besultate gelangt man, wenn
man den Unterschied zwischen mittlerem Blaugrün und mittlerem
Blaurot von gleicher Helligkeit mit dem Unterschiede ver-
gleicht, der zwischen den gleich hellen Nuancen des Urgrün
und Urblau besteht u. dergl. m. Kurz, so vielen (nicht erst
anzuführenden) Schwierigkeiten und Ungenauigkeiten man auch
bei Versuchen der hier angedeuteten Art ausgesetzt ist, immer
zeigt sich (wenn auch in den verschiedenen Fällen mit ver-
schiedener Deutlichkeit), dafs der Unterschied zwischen
zwei benachbarten Grundfarben gröfser ist, als der
Unterschied zwischen zwei benachbarten mittleren
konstante Gröfse zuzuschreiben. Setzt man in Übereinstimmung mit
der ganz unsticbhaltigen Darlegung von Wundt (G-rundgüge d, physM,
Psychol, 1898. 1. S. 485 f.) den ünterscMed zwischen Gelb und Grün gleich
grofs, wie den Unterschied zwischen Grün und Blau, hingegen kleiner
als den unterschied zwischen Blau und Rot, und gröfser als den Unt-er-
schied zwischen Gelb und Bot an, so fällt der Unterschied zwischen
mittlerem Blaurot und mittlerem Gelbrot kleiner aus, als der Unter-
schied zwischen Bot und Blau, aber gröfser als der Unterschied
zwischen Bot und Gelb; der Unterschied zwischen mittlerem Gelbrot
und mittlerem GelbgrOn ist gleichfalls gröfser als der Unterschied
zwischen Bot und Gelb, u. s. w.
' Nach WuNDTS Darstellimgen hingegen ist, wie schon oben erwähnt,
der Unterschied zwischen Bot und Gelb sogar kleiner als der Unter-
schied zwischen mittlerem Gelbrot und mittlerem Gelbgrün !
Zur Fsychophysik der Gesichtsempfindungen. 71
tJbergangsfarben. Niemals zeigt sich das Gegenteil
Dieses Resultat ist mit der oben erwähnten, z. B. von Wündt
vertretenen Ansicht völlig unvereinbar, hingegen ist es eine
selbstverständliche Konsequenz desjenigen, was wir hinsichtlich
der inhaltlichen Beziehungen der Farbenempfindungen und
ihrer G-ruppierimg zu psychischen Qualitätenreihen behauptet
haben. Denkt man sich die chromatischen vier G-rund-
empfindungen zunächst einmal ganz disparat zu einander, so ist
nach den in § 5 von uns gegebenen Entwickelungen die
Ähnlichkeit zwischen der reinen Botempfindung und der reinen
Oelbempfindung gleich 0, hingegen die Ähnlichkeit der mittleren
Oelbrotempfindung, sowie der mittleren Gelbgrünempfindung
zur reinen Gelbempfindung gleich ^ zu setzen Und diese
mittleren Übergangsempfindungen, die beide zur reinen Gelb-
empfindung die Ähnlichkeit ^ besitzen, müssen notwendig auch
zu einander eine deutliche Ähnlichkeit (deren Grad gleich ^ X ^
zu setzen ist) besitzen. Nun sind allerdings die reinen Farben-
empfindimgen keineswegs disparat zu einander. Auch ist zu
bedenken, dafs jeder der beobachteten Farbenempfindungen
noch Weifserregung und Schwarzerregung zu Grunde liegt. Es
besitzen also z. B. bei dem oben zuerst erwähnten Versuche
die hergestellte Eotempfindung und Gelbempfindung noch eine
merkbare Ähnlichkeit zu einander. Da nun aber die beiden
soeben erwähnten Faktoren (die Ähnlichkeit der reinen Farben-
empfindungen zu einander und die Beimischung von Weifs-
erregung und Schwarzerregung) auch an den Empfindungen
der beiden mittleren Übergangsfarben (des mittleren Gelbrot
und mittleren Gelbgrün) sich im Sinne einer Steigerung ihrer
gegenseitigen ÄhnHchkeit geltend machen, so kann durch die-
selben nicht verhindert werden, dafs der Unterschied zwischen
letzteren beiden Empfindungen geringer ausfällt, als der Unter-
schied zwischen den Empfindungen des Bot und des Gelb.
Wir brauchen diesen Punkt wohl nicht weiter auszufahren.
Es dürfte bereits hinlänglich einleuchten, dafs Beobachtungen
der oben erwähnten Art (nebst Beobachtungen von der auf
S. 61) erwähnten Art) einen Beweis für die Bichtigkeit der-
jenigen Ansichten liefern, die wir hinsichtlich der inhaltlichen
Beziehungen der Farbenempfindungen vertreten haben, und
mithin einen Beweis für die Sechsfarbentheorie darbieten.
72 G, E. Müller.
Bemerkenswert ist, dafs bei Beobachtungen der oben erwähnten
Art der unterschied zwischen den beiden mittleren Übergangsfarben
ganz unmittelbar, d. h. auch ohne vorausgegangene Beflexioni geringer
erscheint, als der Unterschied zwischen den beiden Grundfarben. Sind
z. B. gegeben mittleres Blaugrün imd mittleres Botblau einerseits, Blau
und Grün andererseits, so erscheint der Unterschied zwischen den beiden
ersteren Farben geringer, als der Unterschied zwischen den beiden
letzteren Farben, auch wenn man sich dessen gar nicht bewuist geworden
ist, dafs die beiden ersteren Farben einen gewissen Grad von Bläulichkeit
gemeinsam haben, und die Frage, weshalb diese beiden Farben einander
ähnlicher seien, nicht sofort zu beantworten vermag. Ferner mufs hervor-
gehoben werden, dafs der höhere Grad gegenseitiger Ähnlichkeit, den die
beiden mittleren Übergan gsfarbeu in Vergleich zu den beiden Grundfarben
besitzen, in besonders deutlichem Grade hervortritt bei dem Versuche, die
Helligkeiten der beiden Übergangsfarben oder Grundfarben miteinander
zu vergleichen, bezw. dem Versuche, diese Farben in gleichen Hellig-
keiten herzustellen. Während z. B. die Helligkeitsvergleichung von
mittlerem Gelbrot und mittlerem Gelbgrün keine erheblichen Schwierig-
keiten macht, stölst die Helligkeitsvergleichung von Rot und Gelb auf
grofse Schwierigkeit und Unsicherheit. Es dürfte nicht schwer sein,
dies durch quantitative Bestimmung der Variabilität des Urteiles in
beiden Fällen ganz objektiv festzustellen. Was endlich den Umstand
anbelangt, dafs das oben erwähnte Resultat in den verschiedenen mög-
lichen Fällen nicht mit gleicher Deutlichkeit hervortritt, so ist folgendes
zu bemerken. Die gegenseitige Ähnlichkeit zwischen zwei Misch-
empfindungen, deren einer eine Erregung a und eine Erregung b zu
Grunde liegen, und deren anderer dieselbe Erregung b und eine Erregung e
zu Grunde liegen, häng^ nicht blofs davon ab, wie intensiv die in beiden
Fällen vorhandene Erregung b im Verhältnis zu der Erregung a, bezw. c
st, sondern bestimmt sich aufserdem auch noch danach, in welchem
Grade die beiden Erregungen a und o oder die Empfindungen a und /,
welche dieselben, isoliert genommen, hervorrufen würden, einander ähnlich
sind. Je ähnlicher diese beiden Empfindungen « und y einander sind,
desto ähnlicher fallen unter sonst gleichen Verhältnissen (bei gleichen
Intensitäten von a, b und c) die beiden Mischempfindungen aus« Auch der
Grad der Ähnlichkeit, welche die Empfindungen a und y zu der Empfindung /9
besitzen, die der Erregungsvorgang 6, isoliert genommen, hervorrufen
würde, kommt in gleichem Sinne in Betracht. Berücksichtigt man nun
das soeben Bemerkte, so begreift man leicht, weshalb bei gleicher
Helligkeit mittleres Gelbrot und mittleres Gelbgrün einander verwandter
erscheinen, als mittleres Gelbrot und mitteres Blaurot, und weshalb
dementsprechend das oben erwähnte Versuchsresultat deutlicher hervor-
tritt, wenn man den Unterschied zwischen mittlerem G^lbrot und
mittlerem Gelbcprün mit dem Unterschiede zwischen Rot und Gelb
vergleicht, als dann, wenn man den Unterschied zwischen mittlerem Blaurot
und Gelbrot mit dem Unterschiede zwischen Rot imd Blau vergleicht. Die
reine Gelbempfindung und die reine Blauempfindung sind eben einander
weniger ähnlich, als die reine Rotempfindung und reine Grünempfindung.
Zur Psychophysik der Gesichtsempfindungen, 73
Weiter kann auf diese Dinge hier nicht eingegangen werden. Man
erkennt leicht, dafs sich in dem hier betretenen Gebiete noch mancherlei
Anwendungen und Bestätigungen für die in § 5 gegebenen Ent Wickelungen
finden lassen werden. Eine kurze und präzise Behandlung aller dieser
Dinge dürfte aber erst dann möglich sein, wenn man sich auf die fQr
die gegenseitigen Ähnlichkeiten der Misch empfindungen aufzustellenden
Formeln beziehen kann, deren Entwickelung wir der Baumerspamis
halber in dieser Abhandlung unterlassen mufsten.
Wir wenden uns nun noch zur Beantwortung der für den
Psycbopliysiker nicht ganz unwichtigen Frage, wie die be-
sondere Stellung, welche die sechs Grundfarben hinsichtlich
der sprachlichen Bezeichnung gegenüber den übrigen Farben
auiser Grau und Braun einnehmen, zu erklären sei.
Dafs dasjenige, was Wundt nach dem oben Angeführten
in dieser Beziehung vorbringt, unstichhaltig ist, und Argumen-
tationen von der Axt der obigen WüNDTschen Argumentation
sich für die Bevorzugung fast jeder beliebigen Yierzahl oder
sonstigen AngtRhl genügend weit voneinander abstehender
Farben vorbringen liefsen, bedarf kaum besonderer Ausführung.
Die Vegetation läfst uns vielleicht noch öfter wie Grün das
Gelbgrün erblicken. Die herbstliche Vegetation bietet uns
neben dem Gelb noch eine ganze Reihe farbiger, z. B. purpur-
farbiger, Eindrücke, die unsere Aufmerksamkeit stark erwecken.
Die Färbungen der für den Menschen und sein Fortkommen
im £ampfe ums Dasein wichtigen Tierarten, Blüten, Früchte,
Metalle u. dergl., sowie die Farben des Meeres wollen auch
bedacht sein.^ Inwieweit die Farbe des Dünensandes
gerade das Gelb und die Farbe des (arteriellen oder venösen!)
Blutes gerade das Rot und nicht ebenso auch eine Übergangs-
farbe repräsentiere, soll nicht weiter untersucht werden. Wäre
fbr die Bezeichnung der Grundfarben durch einfache Namen
der umstand mafsgebend gewesen, dafs gewisse Träger dieser
Farben in der Natur eine hervorragende Bolle spielen, so wäre
zu vermuten, dafs jene einfachen Namen der Grundfarben durch
Anknüpfung an die Bezeichnungen jener hervorragenden
Träger der Grundfarben entstanden seien, dafs also z. B. blau
ursprünglich soviel wie himmelfarben bedeutet habe. Mit
* Thatsächlich sind auch zahlreiche Farbenbenennungen von den
Namen von Metallen, Früchten u. dergl. sowie von dem Namen des
Meeres abgeleitet. Man vergleiche z. 6. Grakt Allbn, Der Farbenswn,
Leipzig 1880. S. 241 ff.
74 G. E. Müller.
dieser Vermatang stiinnien aber die Resultate der etymo-
logischen Forschung keineswegs überein (man vergleiche
0. Weise, Die Farbenbezeichnungen der Indogermanen, in
Bezjsenbergers Beiträgen aur Kunde der indogermanischen Sprachen,
2. 1878. S. 273 flf.).
Wir glauben, dafs man die hier in Bede stehende Frage
von einem ganz anderen Oesichtspxmkte aus zu behandeln hat.
Es ist hier an ein allgemeines Prinzip zu erinnern, welches
die Sprache dann befolgt, wenn es sich um eine Beihe koor-
dinierter, allmählich ineinander übergehender Eigenschaften
handelt, in welcher sich die Änderung oder der Fortschritt
fortwährend in derselben Sichtung vollzieht, und in welcher
demgemäfs die Verschiedenheit zweier Glieder um so gröfser
ist, je weiter sie in der Beihe von einander abstehen. Handelt
es sich um eine solche Beihe von Eigenschaften, so pflegt die
Sprache in erster Linie besondere einfache Bezeichnungen nur
für die beiden Endteile oder Aufsenteile der Beihe zu schaffen,
niemals aber etwa den mittleren Teil der Beihe zuerst mit
einem einfachen, besonderen Namen zu belegen. Denn nicht
das Mittlere, DurchschnittUche fordert in erster Linie eine
Benennung heraus, sondern dasjenige, was von dem Mittleren
abweicht und hierdurch in unerwarteter Weise wirkt oder die
Aufmerksamkeit besonders fesselt. Die Gültigkeit des hier
angeführten Prinzips ergiebt sich hinlänglich, wenn wir an Be-
nennungen, wie die folgenden, erinnern: grofs— klein, alt — ^jung,
hart— weich, scharf — stumpf, stark — schwach, dick—dünn, lang
— ^kurz, hoch — niedrig u. dergl. m. Indem nun die Sprache
das bei der Erschaffung dieser Bezeichnungen befolgte Prinzip
auch bei den durch den Gesichtssinn gegebenen Qualitäten-
reihen anwendet, und zwar sparsamerweise nur för diejenigen
Qualitätenreihen je zwei Bezeichnungen schafft, deren Glieder
nicht auch als mittlere Glieder anderer Qualitätenreihen vor-
kommen und mithin mit Hülfe der for diese anderen Quali-
tätenreihen geschaffenen Bezeichnungen umschrieben werden
können,^ kommt sie notwendig dazu, die sechs besonderen ein-
^ Eine Qualitätenreihe ist z. B. auch die Beihe, welche vom mittleren
Weifsrot zum gleich weifslichen Gelb führt. Würde die Sprache auch
für die Endteile dieser Qualitätenreihe, also ftir WeÜBrot und Weüsgelb,
besondere Bezeichnungen schaffen, so würde sie nicht sparsam yerfahren,
da ja das Weifsrot und Weifsgelb, die überdies ihrer geringen Sättigung
Zur FBychophysik der Geaichtsemp findungen. 75
fachen Farbenbezeichnungen Schwarz, Weifs, Rot, Gelb, Grün,
Blau zu erschaffen.
Da durch die Schriften von G-bioeb, Magnus u. a. und die-
jenigen Untersuchungen, welche zur Widerlegung der von
diesen Forschem geäufserten, irrigen Ansichten über die ge-
schichtliche Entwickelung des Farbensinnes gedient haben, das
Wissen von einer historischen Entwickelung der Farben-
bezeichnungen und ihrer Bedeutungen selbst in ein gröfseres
Publikum gedrungen ist, so brauchen wir an dieser Stelle
nicht noch hervorzuheben, dafs das oben angefahrte Prinzip
natürlich nicht ein Prinzip ist, das die Sprache sozusagen von
Anbeginn an schon bei der ersten Erschaffung von Farben-
bezeichnungen streng befolgt hat, sondern vielmehr nur ein
Prinzip ist, das sich im Laufe der historischen Entwickelung
der menschlichen Intelligenz und Beobachtungsgabe immer
mehr an der Art und Weise geltend gemacht hat, wie die ur-
sprünglich auf ganz primitivem Wege durch Anknüpfung an
diese oder jene Wurzeln oder Bezeichnungen entstandenen
Farbennamen (vergl. 0. Weise, a. a. O.) in ihrer Bedeutung
verschoben, eingeengt oder fixiert oder in ihrer Anzahl ver-
ändert wurden, bis eben schliefslich der jetzige Zustand er<-
reicht war.
Die nach dem obigen Prinzipe erschaffenen Bezeichnungen
tüx die Endteile einer der oben charakterisierten Beihen von
Eigenschaften können natürlich den Bedürfnissen des praktischen
Lebens oder auch der Wissenschaft nicht auf die Dauer ge-
nügen. Die Sprache sieht sich vielfach genötigt, den Schatz
ihrer Bezeichnungen für die verschiedenen Teile einer solchen
Seihe in dieser oder jener Weise zu vermehren. Die alier-
äufsersten und die mittleren Teile der B«ihe werden durch be-
sondere Vorwörtchen oder Vorsilben wie „sehr" und „mittel"
(sehr grofs, mittelgrofs) oder durch besondere zusammengesetzte
Ausdrücke (wie Gelbrot und ürrot) gekennzeichnet, oder man
knüpft auch bei Bezeichnung bestimmter speziellerer Modi-
fikationen der betreffenden Eigenschaft an bestimmte charakte-
ristische Träger eben dieser Modifikationen an (veilchenblau,
wegen die Aufmerksamkeit weniger erwecken, auch als mittlere Glieder
der beiden vom Weils zum Bot und Gelb fahrenden Qualitätenreihen
vorkommen und mithin durch die sowieso zu erschaffenden Bezeichnungen
far Weifs, Bot und Gelb umschrieben werden können.
76 0. E. Müller.
rosenrot). Endlich kommt es vor, dafs sich auch noch be-
sondere einfache Bezeichnungen für den mittleren Teil einer
solchen Reihe einstellen. Hierfür bieten uns die beiden Be-
zeichnungen grau und braun ein Beispiel.^
Es ist selbstverständlich nicht unsere Sache, sondern Auf-
gabe einer sprachwissenschaftlichen Untersuchung, die im vor-
stehenden angedeuteten Gesichtspunkte sowohl in ihrer all-
gemeineren Bedeutung, als auch in speziellerer Anwendung auf
die Farbenbezeichnungen näher auszuführen und zu ergänzen.
Versuchen wir nach den vorstehenden Bemerkungen die uns
hier allein interessierende Frage zu beantworten, welche Be-
deutung dem Vorhandensein besonderer einfacher Bezeich-
nungen für die Qualitäten weifs, schwarz, rot gelb, grün, blau
in psychophysischer Hinsicht zuzuschreiben sei, so ist kurz
folgendes zu sagen.
Das Vorhandensein dieser Bezeichnungen erklärt sich in
völlig ungezwungener Weise aus einem Prinzipe, welches die
entwickelte Sprache bei ihren Benennungen allgemein befolgt,
und dessen allgemeiner Befolgung die sich entwickelnde Sprache
sich immer mehr annähert, sobald man davon ausgeht, dals
das System der Farbenempfindungen sich in der auf S. 54 ff.
von uns angegebenen Weise in Scharen von Qualitätenreihen
gliedert. Das Vorhandensein jener Farbenbezeichnungen be-
stätigt also in der That in gewissem Mafse unsere Ansicht
darüber, wie das System der Farbenempfindungen sich zu
Qualitätenreihen gliedere, d. h. diejenige Ansicht, auf welcher
unsere Ableitung der sechs retinalen Grundprozesse fufst.
Ebensowenig, wie die Beziehungen stumpf— spitz, hart
— weich u. s. w. nur zur Bezeichnung der betreffenden Extreme
(des extrem Harten, extrem Spitzen u. s. w.) dienen, bezeichnen
die Farbennamen rot, gelb, grün, blau nur das Urrot, Urgelb,
^ Je geringer die Verwandtschaft zwischen den beiden Endgliedern
einer psychischen Qualitätenreihe ist, und je gröfser demgemftfs der
Abstand des mittleren Gliedes von den beiden Endgliedern ist, desto
eher wird die Sprache Veranlassung nehmen, ftlr den mittleren Teil der
Reihe eine besondere einfache Bezeichnung zu schaffen. Da nun WeiXs
und Gelb dem Schwarz weniger verwandt sind als Bot, Grün und Blau,
so steht es offenbar auch in einem gewissen Zusammenhange zu den
inhaltlichen Beziehungen unserer Gesichtsempfindimgen, dafs gerade für
den mittleren Teil der weifsschwarzen und der gelbschwarzen Keihe
zwei besondere einfache Bezeichnungen bestehen.
Zur Psychophysik der Gesichtsempfindungen. 77
XTrgrün, ürblau der HERiNQschen Theorie. Das Entsprechende
gUt natürUch auch von den Bezeichnungen weifs und schwarz.
Diese Farbennamen dienen vielmehr zur Bezeichnung nicht
genau abgrenzbarer Gruppen von Farben, die sich um diejenigen
Farben herumscharen, deren Empfindungen unter allen in
unserer Erfahrung vorkommenden Gesichtsempfindungen . den
betreffenden Grundempfindungen am nächsten stehen. Dafs es
aber überhaupt möglich ist, die Aufgabe einer Bestimmung des
TJrrot, Urgelb, Urgrän oder Urblau zu stellen und mit gewisser
(wenn auch wegen der UnvoUkommenheit unserer in Betracht
kommenden psychischen Fähigkeit nicht vollkommener) Sicher-
heit zu lösen, ^ hängt wiederum mit der Art und Weise zu-
sammen, wie sich das System unserer Gesichtsempfindungen zu
Qualitätenreihen gliedert. Dieser Gliederungsweise gemäfs ist
z. B. unter dem Urrot gar nichts anderes zu verstehen, als das-
jenige Bot, welches Anfangsglied (oder Endglied) sowohl der
blauroten, als auch der rotgelben Empfindungsreihe ist, in
welchem also sowohl die Ähnlichkeit zum Blau, als auch die
Ähnlichkeit zum Gelb ein Minimum ist. Geht man hingegen
von der Anschauung aus, dafs die Änderung der Empfindungs-
qnalität (entsprechend der bekannten Darstellung der Farben
' Man vergleiche hierzu z. B. Hebiko : Über indwiduelle Verschieden-
heiten des Farbensinnes, S. 153 ff. Dafs nicht blos Hbbing und seine Schüler
der oben erwähnten Aufgabe ihren gpiten Sinn abzugewinnen wissen,
zeigen z. B. die Ausführungen von Kibschbcaien in Wundts Philos, Siudien,
8. 1893. S. 211 fP., in denen von dem „reinen Blau^' die Bede ist und unter
Anderem behauptet wird, dafs dasselbe in der Natur fast gar nicht vor-
konune, weder der Farbe des Himmels, noch der Farbe gewisser Blumen
u. dergl. ganz gleiche. Vom Standpunkte der WuNDTschen Ansicht aus,
nach welcher das Blau seine besondere einfache Benennung Überhaupt
nur dem Umstände verdankt, dais es in der Natur besonders häufig oder
herTorragend vertreten ist, muTs diese Auslassung EIirschmanns in
höchstem Grade anstöDsig erscheinen. — Bekanntlich ist Hebino zu dem
Besultate gekommen, dals das Bot des Sonnenspektrums in seiner ganzen
Ausdehnung gelblich seL Diese Behauptung hat Anstofs erweckt, es ist
aber in dem ganzen Gebiete der Psychophysik wohl noch keine Be-.
hauptnng durch die Erfahrung nachträglich glänzender bestätigt worden,
als eben diese Behauptung Hbbinos (es sei denn, dafs man die erfahrungs-
mäfsigen Bestätigungen gewisser anderweiter Sätze oder Konsequenzen
der HBBiNGSchen Theorie für noch eklatanter ansehe). Denn in dem von
voK Hippel {Ärch» f, Ophfh, 27. 1881. 3. S. 47 £P.) genauer untersuchten
Falle einseitiger partieller Farbenblindheit (Rotgrünblindheit) hat sich
78 G. E. Müller.
durch •inen Kreis) beim Durchlaufen der rotgelben, gelbgrünen
u. s. w. Farbentöne fortw&hrend ihre Richtung ändere, und
dafs nur das häufige Vorhandensein gewisser, jetzt nicht mehr
ganz sicher festzustellender, farbiger Objekte dazu Veranlassung
gegeben habe, gewisse, nicht genau abgrenzbare Gruppen von
Farben durch iJie einfachen Bezeichnungen rot, gelb, grün, blau
auszuzeichnen, so entbehrt die Aufgabe der Herstellung des
ürrot, ürgelb, ürgrün, ürblau einer genügenden Bestimmtheit.
Will man von den hier angestellten Betrachtungen An-
wendung auf die übrigen Sinnesgebiete machen und schliefsen,
dafs es sich mit den einfachen Qualitätsbeziehungen, die da-
selbst bestehen, ähnlich verhalten müsse, wie mit den einfachen
Bezeichnungen der sechs Grundfarben, so ist zu bedenken, dafs
erstens, wie die Bezeichnungen grau und braun darthun, ge-
legentlich auch für die mittleren Teile einer Qualitätenreihe be-
sondere einfache Bezeichnungen auftreten. Zweitens — imd
dies ist die Hauptsache — ist zu beachten, dafs unsere Sprache
weit entfernt davon sein dürfte, diejenige Entwickelungsstufe,
welche sie hinsichtlich der Bezeichnung der Farben erreicht
hat, auch hinsichtlich der Bezeichnung aller anderen Arten
sinnlicher Qualitäten schon erreicht zu haben. Ein gewisser
ja gezeigt, dafs der Patient mit dem farbenblinden Auge das Spektral-
rot ohne „irgend nennenswerte Verkürzung des Spektrums am roten
Ende" gelb sab. »Der Kranke sieht nicht nur die Kaliumlinie (yon ihm
gelb genannt), sondern auch noch die Rubidiumlinie y jenseits der
FRAüivHOFEBschen Linie A (auf der Spektraltafel ron Buksen und Kirch-
HOFF bei 15 gelegen) und bezeichnet sie als schwach gelb.** Die von
Hbiung dem Spektralrot zugeschriebene G^lbvalenz ist hierdurch
(sowie auch noch durch andere Beobachtungsthatsachen) nachgewiesen.
Wenn bei dem Patienten von Hippels eine unbedeutende Verkürzung
des Spektrums an dem roten £nde vorhanden war, so erklärt sich
dies vollkommen daraus, dafs, wie von Hippel (a. a. O. S. 50) aus-
drücklich konstatiert hat, sowohl die Gelb- und Blauempfindlichkeit, als
auch die Weifsempfindlichkeit in dem farbenblinden Auge in Vergleich
zu dem farbentüchtigen Auge etwas herabgesetzt war. Eine Herab-
setzung der G-elb- und der Weifserregbarkeit mufs aber für ein rotgrün-
blindes Auge notwendig mit einer Verkürzung des roten Spektralendes
verbunden sein. Wie von Kries (Die Gesichtsempfindungen. S. 153) es trotz-
dem, dafs er die neuerliche Mitteilung von E^ppels kannte, fertig ge-
bracht hat, zu behaupten, dafs Hebinos Theorie die in diesem Falle
beobachtete Verkürzung des Spektrums nicht zu erkl&ren vermöge,
bleibt hiemach unerfindlich.
2^r Fsychophysik der Gesichtsempfindungen.
79
henristisoher Wert dürfte indessen trotzalledem einer Berück*
siolitigang der einfachen Qualitätsbezeichnangen, die anfserhalb
des Gebiets des Gesichtssinnes vorkommen, nicht abzusprechen
sein.
§ 13. Die Stetigkeit der psychischen Qualitäten-
reihen.
Zu dem Begriffe der psychischen Qualitätenreihe gehört
dem Früheren gemäfsi dafs die qualitative Empfindungs-
änderung nicht blofs geradläufig, sondern auch stetig erfolgt.
Hiergegen kann man nun im Sinne ziemlich häufiger Deu-
tungen der ünterschiedsschwelle geltend machen, dafs von
einer Stetigkeit der Empfindungsänderung nicht geredet werden
dürfe, weil sich der Thatsaohe der ünterschiedsschwelle gemäfs
die Empfindung bei einer Änderung der Beizstärke oder Beiz-
qualität nur sprungweise ändere. Diesem Einwände gegenüber
ist ein- und für €dlemal kurz folgendes zu bemerken.
Es stelle in nachstehender Zeichnung die Abscisse die
Beizstärke, die Ordinate die zugehörige Empfindungsintensität
9
f
und mithin die treppenartige Linie abcdefg im Sinne der
soeben erwähnten Annahme einer nur sprungweise stattfindendes
Empfindungsänderung einen Teil der Linie der Empfindungs-
intensitäten dar. Alsdann müfste der Wert der ünterschieds-
schwelle ein Maximum sein, wenn die Empfindungsintensität
einen der Werte besitzt, welche den Punkten a, c, e, g (mit
denen die horizontalen Linienstücke beginnen) entsprechen, hin-
gegen ein Minimum, wenn die Empfindungsintensität einen der-
jenigen Werte besitzt, welche den Punkten ft, df, f (den End-
punkten der horizontalen Linienstücke) entsprechen. Es müfste
80 6?. E. Müll€i\
also nach der erwähnten Deutung der ünterschiedsschwelle der
Wert der letzteren trotz aller zufalliger Fehlervorgänge sich
bei exakten Versuchen als ein solcher darstellen, der bei
wachsender ßeizstärke periodisch zu einem Minimum absinkt
und dann plötzlich wieder zu einem Maximum aufspringt, wo-
von in Wirklichkeit nicht die Bede sein kann.^
Man könnte nun vielleicht behaupten, dafs die Vorstellung
einer Empfindungsreihe, in welcher sich die Intensität oder
Qualität stetig ändere, mindestens für das G-ebiet des Gesichts-
sinnes aus folgendem Grunde unzulässig sei. Eine von aufsen
erweckte Sehnervenerregung könne nur dadurch an Stärke ge-
winnen, dafs die Zahl der Moleküle oder Gruppen zusammen-
geratener Moleküle, welche in der lichtempfindlichen Netzhaut-
schicht durch die Lichtstrahlen chemisch verändert werden,
eine gröfsere werde. Da nun die Zahl dieser sich chemisch
verändernden Moleküle oder Molekülgruppen nicht stetig zu-
nehmen könne, sondern immer um eine oder mehrere Einheiten
anwachsen müsse, so könne auch von einer stetigen Erhöhung
der Stärke der Sehnervenerregung und der Intensität der ent-
sprechenden Gesichtsempfindung keine Bede sein. Sehe man
ferner die psychophysischen Prozesse der Sehsubstanz direkt
selbst als chemische Vorgänge an, deren Intensität sich nach
der Zahl der jeweilig sich chemisch verändernden Moleküle oder
Molekülgruppen bestimme, so ergebe sich schon hieraus ohne
weiteres, dafs im Gebiete des Gesichtssinnes von einem stetigen
Wachstume der Erregungsstärke und der Empfindungsintensität
* Wenn Ebbikohaus (diese Zeitschrift 1. 1890. S. 476) die ünter-
schiedsschwelle a)s „ein Analogen der Beibung'^ auffafst und sie auf
einem Tr&gheitswiderstande beruhen l&fst, „welchen die nervOse Substanz
irgendwo jeder Abänderting der in ihr jeweilig etablierten Prozesse ent-
gegensetzt*', so scheint uns diese Deutung nicht der Thatsache gerecht
zu werden, dafs sich die Unterschiedsschwelle nicht blofs bei Ab&nderung
der Intensität oder Qualität eines gegebenen Beizes zeigt, sondern auch
dann, wenn wir zwei hinsichtlich der Intensität oder Qualität nur sehr
wenig verschiedene Beize gleichzeitig nebeneinander auf verschiedene
Stellen desselben Sinnesorganes einwirken lassen, oder wenn wir zwei
Sinnesreize miteinander vergleichen, die durch einen Zeitraum, wo die
Erregung unterbrochen ist, voneinander getrennt sind. Es dürfte z. B.
schwer halten, das Bestehen der ünterschiedsschwelle bei Versuchen
mit hintereinander gehobenen Gewichten vom Standpunkte dieser Ebbing-
H Aussehen Ansicht aus befriedigend zu erklären.
Zur Tsychophysik der Gesichtsempfindungen. 81
auch vom rein prinzipiellen Standpunkte aus nicht gesprochen
werden dürfe, und mithin auch eine stetige Veränderlichkeit
des Intensitätsverhältnisses zweierpsychophysischer Teilvorgänge
nicht angenommen werden dürfe.
Vorstehender Einwand erledigt sich durch die Bemerkung,
dafs auch der chemische Prozefs kein Vorgang ist, der an
dem betreffenden Moleküle oder einer Molekülgruppe auf einmal
mit seiner vollen Intensität vorhanden ist und dann plötzlich
ganz verschwindet. Derselbe entwickelt sich vielmehr vom
Nullpunkte aus allmählich bis zu einem bestimmten Maximal-
werte seiner Intensität und klingt dann allmählich wieder bis
zum Nullpunkte ab.* Nur infolge des ümstandes, dafs wir in
Ermangelung bestimmterer Vorstellungen vom Wesen des
chemischen Vorganges gewohnt sind, denselben kurz durch
den betreffenden Anfangszustand und Endzustand der be-
teiligten Stoffe zu charakterisieren, haben wir eine Neigung,
das aUmähliche Anklingen und Abklingen des an einem Moleküle
oder Molekülaggregate sich abspielenden chemischen Vorganges
ganz zu übersehen. Berücksichtigt man nun aber dieses An-
klingen und Abklingen, so ist es nicht schwer, sich eine
absolut stetige Veränderlichkeit der Intensität eines (an sehr
vielen Molekülen oder Molekülgruppen sich abspielenden)
photochemischen Netzhautprozesses, sowie auch der Sehnerven-
erregung und der entsprechenden Empfindung zu konstruieren.
Betreffs der Intensität der Sehnervenerregung kommt übrigens
in dieser Hinsicht noch in Betracht, dafs dieselbe nicht blofs
von der Zahl der Moleküle oder Molekülgruppen, die in der
lichtempfindlichen Netzhautschicht durch das Licht chemisch
verändert werden, und von der Art und Weise abhängt, wie
sich in dem betrachteten Zeitelemente die verschiedenen Phasen
der chemischen Veränderung auf jene Zahl von Molekülen oder
Molekülgruppen verteilen, sondern aufserdem auch noch von
den (stetig veränderlichen) Abständen abhängig ist, welche
jene Moleküle oder Molekülgruppen von den durch sie zu er-
^ um sich hiervon zu überzeugen, denke man sich z. B. den Fall,
dafs der betrejQPende chemische Vorgang im Sinne der AusfCQirungen,
welche neuerdings Bolopf {Zeitschr, f. physik, Chemie, 13. 1894. S. 364)
über das Wesen gewisser photochemischer Prozesse gegeben hat, darauf
beruhe, daüis die elektrische Ladung eines Ion auf ein anderes Atom
übergehe.
Zeitsekrift für Ps/ebologie X. 6
82 G. E. MÜUer.
regenden Teilchen nervöser Natur trennen. Zum Überflusse
mag bemerkt werden, dafs, wie leicht zu erkennen, die Triftig-
keit unserer früheren Entwiokelungen im Gründe gar nicht
einmal davon abhängig ist, daüs eine absolut stetige Veränder-
lichkeit der Sehnervenerregungen und Netzhautprosesse kon-
struierbar sei. Und zum Schlüsse mag noch daran erinnert
werden, dafs eine eingehendere Erörterung des soeben ab-
gehandelten Einwandes und vieler anderer psychophysischer
Punkte auch noch des ümstandes zu gedenken haben würde,
dafs die Intensitäten und Qualitäten, welche wir den Empfin-
dungen zuschreiben, und hinsichtlich deren wir dieselben mit-
einander vergleichen, niemals solche Intensitäten und Quali-
täten sind, welche dieselben während eines minimalen Zeitteilchens
besitzen, sondern vielmehr solche, welche denselben während
eines Zeitraumes von endlicher Länge gewissermafsen durch-
schnittlich zukommen.
(Fortsetzung folgt.)
über das Augeumars der seitlichen Netzhautteile.
Von
Stabsarzt Dr. G-uillery
in Köln.
Bei Gelegenheit einer anderen Untersuchung hatte ich mir
die Frage vorzulegen, ob die Fähigkeit der Ghröfsenschätzung
auf der Netzhautperipherie eine andere ist, als in dem Zentrum,
insbesondere, wie weit das WEBEBsche Gesetz hier Gültigkeit
beansprucht, um einen solchen Vergleich zwischen Peripherie
und Zentrum ziehen zu können, mülste man zunächst darüber
im Klaren sein, wie sich das letztere selbst in dieser Hinsicht
verhält. Nur wenn wir hier etwas Gesetzmäfsiges finden, wird
sich ein erspriefslioher Vergleich mit der Peripherie anstellen
lassen. Die Durchsicht der Litteratur ergiebt nun aber, dafs
diese Voraussetzung bisher noch sehr wenig erfüllt ist und
bis in die neueste Zeit die verschiedenen üntersucher, nament-
lich in Bezug auf das WESEBsche Gesetz, zu gerade entgegen-
gesetzten Ergebnissen gekommen sind. Webeb^ selbst be-
hauptete zwar, dafs das Gesetz auch für die Länge von Linien,
die wir mit dem Gesichte unterscheiden können, zutrifft, und
suchte dies dadurch zu beweisen, dafs er den kleinsten Unter-
schied bestimmte, welcher erforderlich ist, damit zwei nachein-
ander betrachtete Linien noch als verschieden grofs erkannt
werden können. Er fand dabei, dafs dies noch eben der Fall
war, wenn die Längen sich verhielten wie 100: 101, und dafs
dieses Verhältnis für jede beliebige Länge dasselbe sein mufs.
Spätere Beobachter haben sich dieses Verfahrens im allgemeinen
nicht mehr bedient, sondern sind mit Hülfe der Methode der
richtigen und falschen Fälle und besonders der mittleren Fehler
an die Frage herangetreten.
> Waoner, Handvmterh. d. Physiol HI. 2. Abtl. S. 559.
6»
84 Guillery.
Der^ letzteren bediente sich. HEaELMAYEB,^ welcher auch
eine ungefähre Bestätigung des WEBEBschen Gesetzes fand,
doch waren seine Versuche sowohl ihrer Art, als ihrer geringen
Zahl nach nicht geeignet, die Sache zu entscheiden. Die
Frage wurde wieder aufgenommen von Fechneb und Volkmann,
von denen ersterer' einen bis auf die Spitzen verdeckten Zirkel
auf eine Spannweite von 10, 20, 30 und 40 halben pariser
Dezimallinien einstellte und nunmehr die Spitzen eines zweiten,
ebensolchen Zirkels auf dieselbe Entfernung zu bringen suchte,
während letzterer die Abstände von parallel gespannten Fäden
den gegebenen Abständen von 10, 20, 40, 80, 120, 160, 200,
240 mm nach dem Augenmafse gleichmachte. Nach der
Methode der mittleren Fehler fanden beide Forscher, dafs das
WEBEBsche Gesetz zutraf, 'd. h. also, dafs der Fehler immer
denselben Bruchteil der gegebenen Distanz ausmachte, und
zwar bei Fechneb V«-1i bei Volkmann Vss (in späteren Ver-
suchen Vioi.i). Ähnlich wie bei anderen physiologischen Seizen
ergab sich aber eine untere Grenze, jenseits welcher das Gesetz
nicht mehr zutraf. Bei mikrometrischen Distanzen von 0,2
bis 3,6 mm fanden nämlich Volkmann und Appel, dafs diese
Proportionalität nicht mehr hervortrat. Fechneb sucht dies
durch Zerlegung der mittleren Fehler in zwei Komponenten
zu erklären, von denen er die eine als die VoLKMANNsche Kon-
stante, die andere als die WEBEBsche Variable bezeichnet.
Letztere entspricht dem WEBEBschen Gesetze, bleibt also den
vorgelegten Längen proportional , während die erstere sich
nicht ändert. Als wahrscheinlich nimmt er an, dals diese auch^
bei den gröfseren Distanzen im Spiele sei, aber gegen dieselben
wegen ihrer Kleinheit verschwinde. Weiterhin dürfte bei den
ganz kleinen Abständen der Einflufs der Lradiation, welcher
sich hier stärker geltend machen mufs, das Ergebnis trüben.
Die Versuche waren binokular und ohne bestimmte Augen-
Stellung vorgenommen.
Die Tabelle von Mach' dagegen spricht nicht zu Gunsten
des WEBEBschen Gesetzes. Er teilte ein»* gegebene horizontale
Strecke in veränderlichem Verhältnisse in zwei Abschnitte und
verfuhr dann nach dem Augenmafse ebenso mit einer zweiten,
* Vierordts Arch, XI.
' P^chophysik, Bd. I.
• Sit2g8.-Ber, d. Wim. Äkad. 2. Abtl. XLIH. Jan. 1861.
über das Äugentnaß der seitlichen Netzhautteile, 85
gleich langen. Die mittleren variablen Fehler, welche er fand,
eeigen nichts Gesetzmäfsiges.
Späterhin wurden diese Versuche von Chopin^ wieder
nachgeprüft, welcher ebenfalls das WEBBRsche Gesetz nicht
gültig fand. Er verfuhr in der Weise, dafs binokular und bei
uneingeschränkten Augenbewegungen zu beiden Seiten einer '
gegebenen Distanz dieselbe abgetragen wurde. Dabei zeigte
sich bei Zunahme der Distanzen zunächst eine Abnahme
des relativen Fehlers und dann * wiederum eine Zunahme.
Im wesentlichen dasselbe Ergebnis wurde beobachtet bei
Schätzungen aus dem Gedächtnisse, nur trat der Wechsel von
Zu- und Abnahme erst bei gröfseren Distanzen ein. Es bezieht
sich dies auf horizontale Längen. Für vertikale dagegen giebt
er, abgesehen von den kleinsten, zu, dafs die relative Gröfse
des Fehlers im allgemeinen dieselbe bleibt, also dem WEBERschen
Gesetze nicht widerspricht.
Fischer' hinwiederum stellt sich auf Seite von Fechner
und VoLKMANN und erklärt Chodins Ergebciisse zum Teil durch
einen Bechenfehler, zum Teil hält er sie für zufällige. Da
seine Versuche bereits das peripherische Sehen mit berück-
sichtigen, werden wir auf dieselben weiter unten zurück*
kommen.
Neuerdings hat nun Higier' in einer sehr ausföhrlichen
Arbeit auf Veranlassung von Prof. Krapelin die Frage noch-
mals einer eingehenden Prüfung unterzogen und hierbei, aufser
der Methode der mittleren Fehler, auch die der richtigen und
falschen Fälle, kombiniert mit dem Prinzipe der Minimal-
änderungen, femer die Methode der doppelten und mehrfachen
Reize benutzt. Die Beobachtungen wurden monokular gemacht,
und befand sich das Auge in Primärstellung, 50 cm von dem
betreffenden Objekte entfernt. Ob das Auge fixiert ist oder
sich frei bewegen darf, erwies sich nicht als gleichgültig, da
der mittlere Fehler im ersteren Falle viel gröfsere Werte zeigte*
Bei allen Verbuchen ergab sich aber, dafs der Fehler nicht
proportional den gegebenen Längen wächst, sondern derselbe
erreichte ein Maximum zwischen 20 und 100 mm, und ein
* Ärch, f. Ophthaim. XXIII. 1.
' Ibid. XXXVII. 1.
' Inang.-Dissert. Dorpat 1890.
86 GhUUery.
zweites bei 200 mm. Auch ontersdeht Hioier die einsohlägigen
Tabellen Münstebbebos ^ (welche mir im Original nicht zur
Verfügung stehen) einer abfUligen Kritik, indem er hervorhebt,
dals deren mittlere variable Fehler viel zu grofse Schwankungen
aufweisen, als dafs sie zu Gunsten des WsEEBschen G-esetzes
verwertet werden könnten, wie der Autor will.
Diese Untersuchungen mit fixierter Augenstellung bedeuten
offenbar zum Teil schon eine Prüfung des Augenmafses der
peripheren Teile, indem das Netzhautbild der verglichenen
Längen die Stelle des deutlichsten Sehens mehr oder weniger
überragt und nur exzentrische Stellen von demselben erregt
werden. Hioieb experimentierte mit einer schmalen leuchtenden
Linie, die durch einen herabhängenden Draht in zwei Teile
geteilt war. Der Blick fiel ungefUir auf den Berührungspunkt
der beiden Teüe, und wurden dieselben nunmehr durch seit-
liche Schieber gleichzumachen gesucht. Dafs hierbei die
Schätzung schwerer wurde und demgemäfs die Fehler gröfser
ausfielen, als bei bewegtem Auge, erklärt er durch den Mangel
der Linervationsgefühle. Es ist aber auch eine bekannte That-
Sache,* dafs wir kleine Unterschiede am besten bemerken,
wenn wir abwechselnd die Mitte zweier Linien fixieren, wodurch
die zu vergleichenden Gegenstände hintereinander auf dieselben
Punkte der Netzhautoberfläche fallen, welches Hülfsmittel bei
fixiertem Auge natürlich fehlt. Wir werden auf den Einflufs
der Augenbewegungen noch näher zurückkommen.
Als „Gröfsenschätzungen im Gesichtsfeld" bezeichnet Fiscuee
(1. c.) seine Versuche, und einzelne von ihnen sind auch solche
im strengeren Sinne des Wortes, insofern die geschätzten
Objekte ihr Bild vollständig auf der Peripherie entwerfen und
das Zentrum nicht mit beanspruchen. Es sind dies diejenigen,
wo von drei Bruchstücken einer Linie das mittlere fixiert und
die beiden äofseren miteinander verglichen werden, femer
solche, bei welchen eine Linie, deren einer Endpunkt fixiert
wird, halbiert werden soll, so dafs also die eine Hälfte voll-
ständig peripher liegt, die andere zum Teil. Eine unmittelbare
Yergleichung des zentralen und peripheren Sehens fand aber
nur in beschränktem Mafse statt, da die Netzhautbüder der
* Beitr. z. experiment Psychol 1889. 11.
• TON Helmholtz, Physiol OpHk. 2. Aufl. S. 688.
Üf>er das Äugenmaß der seitlichen Netzhautteüe, 87
betreffenden Linien immer noch in die nähere Umgebung der
Macula fielen und überhaupt zu nahe aneinandergrenzten,
als dafs wesentliche Verschiedenheiten durch die Lage als
solche sich hätten herausstellen können. Ln Gegensatze zu
den vorhergenannten Autoren kommt nun Fischer wieder zu
dem Ergebnisse, dafs das WEBBBsche Gesetz fär das Augen-
mafs zutreffe» was aber aus seinen Zahlen keineswegs überall
hervorgeht. Ja, er findet, wie schon oben bemerkt, dafs auch
Chopins Tabellen mehr für als gegen das Gesetz sprechen.
Bei Winkelhalbierungen dagegen hat sich ihm dasselbe wieder
nicht bestätigt.
Gehen wir auf die Versuche etwas näher ein, so kommen
für die Beurteilung des Augenmafses der Netzhautperipherie
am meisten diejenigen in Betracht, bei welchen ein zentrales
und ein peripheres Stück eines Sehfeldsradius unter Fixierung
des zentralen Endpunktes des ersteren verglichen werden. Es
fand sich hierbei stets ein konstanter Fehler, welcher in
doppelter Weise sich geltend machte. Erstens wurde das
periphere Ende stets unterschätzt, also zu grofs eingestellt,
was nicht nur durch die infolge der peripheren Lage statt-
findende Verkleinerung des Sehwinkels zu erklären war, sondern
auch unter Anrechnung der hieraus sich ergebenden Differenz
blieb immer noch ein konstanter Fehler übrig. Zweitens ver-
hielten sich die einzelnen Abschnitte des Sehfeldes verschieden,
insofern die Gröfse des konstanten Fehlers ganz regelmäfsig
mit der Richtung des gegebenen Radius wechselte. Derselbe
war, wenn man den Versuch für die Arme eines senkrecht
stehenden, im Durchschnittspunkte fixierten Kreuzes ausföhrte,
am kleinsten für den linken, etwas gröfser fUr den unteren,
weit stärker für den rechten, am bedeutendsten für den oberen.
Es gelten diese letzteren Angaben für das rechte Auge. Ln
Sehfelde des linken war der konstante Fehler ganz analog,
nur dafs der rechte und der linke Arm sich umgekehrt ver-
hielten. Bei diesen Angaben ist am auffälligsten, dafs der
linke Arm kleiner taxiert wurde, als der untere, also ein
horizontaler kleiner, als ein vertikaler, während sonst von allen
Autoren, welche senkrechte und wagerechte Linien verglichen
haben, das Gegenteil angegeben wird. So soll nach Wündt
der Unterschied bis zu Vs der horizontalen Strecke betragen
können, Chodin fand ihn wechselnd nach der Länge der Linien
88 GuiUery,
von Vei— V95, VON Helmholtz von Veo — Vao. Fischeb selbst hat
in anderen Versuchen, bei welchen ein senkrechter und ein
wagerechter Kreuzarm verglichen wird, diese Angaben der
letzteren Autoren bestätigt. Der Fehler fand sich bei den
wagerechten Armen gröfser, wenn zwischen den beiden zu ver-
gleichenden Stücken noch ein Zwischenraum gelassen wurde.
Bei dieser Modifikation schien er aber abzunehmen, wenn das
zentrale Stück oder der Zwischenraum gröfser, die Lage der
verglichenen Teile also peripherischer wurde, jedoch war das
letztere nicht immer deutlich, weil das Urteil über die Gröfsen-
verhältnisse dabei überhaupt ein sehr unbestimmtes wurde.
Zumal für die Messungen am äu&eren und noch mehr am
oberen Arme hält Fischeb die Unbestimmtheit der Gröfsen-
schätzung für noch bedeutender, als sie durch den variablen
Fehler ausgedrückt wurde, welcher letztere in Bezug auf die
Lage der verglichenen Teile im übrigen dasselbe Verhalten
zeigte, wie der konstante.
Die Zahl derjenigen Versuche, welche sich mit einer Ver-
gleichung des zentralen und peripheren AugenmaXses be-
schäftigen, ist daher, wenn ich nicht andere Arbeiten übersehen
habe, vorläufig noch eine sehr geringe. Sollten noch sonstig^
Angaben über diese Frage vorliegen, so dürften meine Versuche
immerhin als weiterer Beitrag ihre Berechtigung haben. Soviel
scheint aus dem Bisherigen hervorzugehen, dafs irgend welche
auffalligen Unterschiede zwischen Peripherie und Zentrum nicht
bestehen, und werden die vorhandenen hauptsächlich auf die
gröfsere Undeutlichkeit des Bildes und die daraus sich er-
gebende Unsicherheit zurückgeführt. Über diese Unsicherheit
selbst, über die Grenzen, bei welchen sie anfängt, sich störend
bemerkbar zu machen, und über ihr Verhalten in verschiedenen
Abständen vom Zentrum habe ich in der Litteratur überhaupt
keine genaueren Angaben vorfinden können, von ELblmholtz^
vergleicht diese Unsicherheit mit derjenigen, welche entsteht,
wenn man die Gröfse einer Linie schätzen will, auf welche
man nicht scharf akkommodiert hat. Die Breite einer solchen
Linie, sagt er, ist gar nicht zu schätzen, ihre Länge sehr un-
vollkommen, dagegen wohl ihre Bichtung. Dafs aber über-
haupt im indirekten Sehen eine gewisse Schätzung möglich ist,
» Pht^l. OpHh 2. Aufl. S. 697.
über dcis Augenmafs der seitlichen Netzhautteile, 89
beweist ihm die richtige Beurteilung der PuBKiNj£scheii Ader-
figor.
Wenn es thatsächlich so schwierig ist, eine Linie zu
schätzen, worauf man nicht akkommodiert, worüber ich selbst
keine Versuche gemacht habe, so möchte ich behaupten, dafs
der gewählte Vergleich kein sehr glücklicher ist, da thatsächlich
noch bis zu beträchtlicher Entfernung vom Zentrum ziemlich
genaue Schätzungen möglich sind. Auf den Grad der Bestimmt-
heit, welcher sich aus der Grölse des variablen Fehlers ergeben
mufs, soll unten näher eingegangen werden. Dabei koimte ich
nicht einmal finden, dafs erst nach gröfserer Übung sich eine
gewisse Sicherheit erlangen läfst, insofern meine ersten Ver-
suche von den späteren keine wesentliche Abweichung zeigten.
Nach Fischer ist der gegenseitige Abstand der beiden ver-
glichenen Längen (der übrigens in seinen Versuchen verhältnis-
mäfsig gering war), nicht von wesentlichem Einflüsse, wohl
aber die Abweichung ihrer Lage von der geraden Linie. Dieser
letztere Einflufs müfste sich bei meinen Versuchen sehr be-
merklich gemacht haben, da die verglichenen Distanzen stets
einander parallel waren. Die Anordnung war nämlich die, dafs
ein Auge bei Verschlufs des anderen auf eine gegebene senk-
rechte oder wagerechte Distanz gerichtet war und ich mich
nun bemühte, in verschiedenen Abständen vom Zentrum eine
zweite Distanz, welche der ersteren parallel lief, dieser gleich
zu machen. Es wurden hierfür zwei Abstände gewählt. Zu-
nächst derjenige, welcher die äufserste Grenze bildete, bei
welcher mir überhaupt noch ein hinreichend genaues Erkennen
der betreffenden Linie möglich war. Nach längerem Prüfen
fand ich, dafs diese Grenzen für mein Auge nach innen und
aufsen bei ca. 50^, nach oben und unten bei ca. 40^ lagen.
Nächstdem wählte ich zum Vergleiche noch einen näheren
Abstand, und zwar 30^. Der einzige wesentliche unterschied,
der sich hierbei gegen die vorher gewählte Lage ergab, war
der, dafs die variablen Fehler wegen der gröfseren Deutlich-
keit des Objektes etwas weniger schwankten. Nach diesen
Vorversuchen wurde alsdann ein mittlerer Abstand von 35^
gewählt und für diesen eine gröfsere Anzahl von Vergleichungen
in den vier Hauptmeridianen angestellt. Damit die periphere
Linie dieselbe Entfernung vom Auge beibehielt, wie die zentrale,
90 GuiUeryr
worden sie nicht auf einer ebenen Fläche, sondern gleich am
Perimeter angebracht, so dafs alle durch Ungleichheit des
Sehwinkels entstehenden Störungen und ermüdenden Be-
rechnungen vermieden wurden. Sehr geeignet schien mir f^r
diesen Zweck das ScHWEiooEBsche Perimeter, teils weil es
wegen seiner Handlichkeit immer leicht in die beste Beleuchtung
zu bringen war, teils wegen des geringen Badius (15 cm),
welcher der Deutlichkeit der Bilder zu statten kam, und endlich,
weil die Stücke Karton, auf welchen die betreffenden Linien
aufgezeichnet waren, sich bequem auf dem schmalen Metall-
bogen aufstecken und in jedem beliebigen Abstände befestigen
liefsen. Hinter dem Perimeter bot sich dem Blicke eine gleich-
mäfsig graue Fläche dar.
In der Mitte dieses Perimeters wurde also ein Stück Karton
angebracht, welches eine Linie von bestimmter Länge zeigte.
In dem gewünschten Abstände vom Zentrum befand sich ein
zweiter Karton mit einer nicht abgemessenen, der ersteren
parallelen Linie, welche dem Auge zunächst durch einen auf
dem vorigen nach Art eines Schiebers angebrachten anderen
Karton, der nur eine weifse Fläche zeigte, verdeckt war.
Nunmehr wurde die in dem Perimeterzentrum befindliche Linie
fixiert, wobei dem Auge gestattet war, in der Ausdehnung der-
selben beliebig hin und her zu gleiten, und der Schieber des
zweiten Kartons so weit abgezogen, bis die in der Peripherie
sichtbar gewordene Linie der ersteren gleich erschien. Nach
der umgekehrten Anordnung, dafs von einer gröfseren Länge
ausgegangen und diese bis zu einer gegebenen Distanz ver-
kleinert worden wäre, habe ich keine Versuche angestellt. Zur
Messung der Fehldistanz hatte ich eine Mafseinteilung auf ein
Oelatineblatt eingeritzt, welche vermittelst einer Transversalen
eine Ablesung bis zu 0,01 mm gestattete. Dieselbe wurde
unmittelbar auf die zu messende Distanz aufgelegt und war
wegen der Durchsichtigkeit des Mafsstabes die gesuchte G-röfse
sofort abzulesen.
Die gegebene Distanz sowie die Fehldistanz standen jedes^'
mal zu dem betreffenden Meridiane senkrecht, so dafs sie durch
denselben ungefähr halbiert wurden, also für den horizontalen
Meridian standen die verglichenen Distanzen senkrecht, für
den vertikalen wagerecht, und zwar in dem angegebenen Ab-
Ober das Äugenmafs der seitUchen Netzhautteile. 91
Stande von 35^. Peripherie und Zentrum^ befanden sich dem-
nach unter gleichen Bedingungen, welche einen unmittelbaren
Vergleich ermöglichten, indem für die gegebene Länge nur die
zentralen Netzhautelemente, für die verglichene nur die peri-
pheren in Anspruch genommen wurden. Der Einfluis der
Augenbewegungen muTste sich, soweit er überhaupt in Frage
kommt, für beide in gleicher Weise geltend machen. Es wurden
gewählt die Distanzen 2, 4, 8, 16, 32, 64 mm und mit jeder ein-
zelnen in den vier Hauptmeridianen je 80 Versuche, also im ganzen
1920 Vergleichungen, angestellt. War das WEBEBsche Q-esetz
richtig, so mufsten die relativen mittleren Fehler für aUe
Distanzen gleich bleiben. Betrachten wir nun die Ergebnisse.
Mittlere Fehldistanz aus je 80 Versuchen.
2 mm
4 mm
8 mm
16 mm
32 mm
64 mm
J
. . 2.1119
47215
8.81
16.699
31.9815
65.131
A
. . 2.0175
4.5475
8.4135
16.3505
32.0835
65.381
0
. . 2.824
4.8385
8.672
16.981
32.6425
65.421
U
. . 2.270
4.6995
8.412
17.0735
83.5685
65.2685.
Diese Tabelle ergiebt, dafs der konstante Fehler bis auf
einige Ausnahme stets positiv war, und zwar fast durchweg
auf der inneren Hälfte des Sehfeldes gröfser, als auf der
äuüseren, auf der oberen gröfser, als auf der unteren. Die
Peripherie wärts gelegenen Distanzen werden also den zentralen
gegenüber entschieden unterschätzt, was von mehreren Autoren
bereits angegeben ist, am deutlichsten aber aus den Versuchen
von FiscHEB hervorgeht. Wenn er ein Kreuz, dessen Arme
auf ein bestimmtes Mafs eingestellt werden sollten, in die
untere oder obere Sehfeldhälfte brachte, so fiel der dem
Zentrum zunächst liegende senkrechte Arm am kleinsten aus
und der am weitesten peripheriewärts reichende am firöfsten,
während die wagereohten Lhfc nur rftumüoh. sondern auch
der Oröfse nach zwischen beiden standen. (Die betrefienden
Linien erstreckten sich auch hier nicht weit in die Peripherie.)
Er glaubt, dafs sich hierin eine scheinbare Zusammenziehung
^ Natürlich Dicht das Zentrum im strengsten Sinne des Wortes, da
das Netshautbild einer Linie von nur einiger Ausdehnung immer schon
teilweise auTserhalb der Fovea liegt.
92 Guülery,
des Sehfeldes offenbart, deren Gröfse von der Mitte nach dem
Bande hin anscheinend geradlinig, aber in den verschiedenen
Richtungen verschieden steil ansteigt. Diese Eigentümlichkeit
des Sehfeldes würde sich vermutlich bei allen Beobachtern
finden, wenn nur in geeigneter Weise daraufhin untersucht
würde. Nach dem Ergebnisse der oben erwähnten Vorversuche
habe ich allerdings auch den Eindruck gewonnen, dafs die
Unterschätzung einer Distanz nach der Peripherie hin immer
mehr das Ergebnis beeinfluTst, insofern bei den in 50^ Abstand
angestellten Versuchen die mittlere Fehldistanz gröfser ausfiel,
als bei den in 30^. Immerhin scheint aber auch bei Schätzungen,
welche mit Hülfe des Netzhautzentrums vorgenommen werden,
der konstante Fehler meist positiv zu sein, so dafs eine grund-
sätzliche Verschiedenheit zwischen Zentrum und Peripherie sich
hieraus nicht ergiebt.
Fischer findet den Einflufs dieser Sehfeldzusammenziehung
so bedeutend, dafs sogar die sonst übliche ünterschätzung
horizontaler Linien gegenüber den vertikalen durch denselben
überkompensiert wird, insofern in dem obigen Beispiele der
peripheriewärts gelegene vertikale Kreuzarm gröfser eingestellt
wird, als die dem Zentrum näheren horizontalen. Im übrigen
findet sich die Unterschätzung von horizontalen Distanzen
auch in meiner obigen Tabelle deutlich ausgesprochen. Nach
oben und unten fallen die betreffenden Längen, welche nach
der Versuchsanordnung eine horizontale Sichtung hatten, immer
gröfser aus, als die vertikalen nach innen und aufsen. Am
gröfsten ist der konstante Fehler im allgemeinen in der Rich-
tung nach oben, so dafs man nach Fischer annehmen müfste,
dafs die Sehfeldzusammenziehung hier am meisten zur Geltung
kommt. Delboeuf ist, soweit ich übersehen kann, der einzige,
der in Bezug auf das Verhältnis der vertikalen Distanzen zu den
horizontalen zu dem umgekehrtenBrgebnisse kommt, imGegensatze
zu WuNDT, Helmholtz, Fischeru. a., wobei Fischer allerdings die
oben erwähnte Einschränkung macht, dafs die mehr oder weniger
peripherische Lage das Resultat umkehren kann. „Nach den
Einstellungen erwiesen sich, gleichviel welche Stücke des nach
oben oder unten vom Fixierpunkte liegenden Kreuzes zu ver-
gleichen waren, die wagerechten Arme als zu lang gegenüber
dem zentralen senkrechten, der periphere senkrechte aber noch
länger. So habe ich es in einer grofsen Anzahl von Versuchen
Übel' das Äugenmafs der seitlichen Netzhautteik. 93
regelmäfsig gefunden; um ein Beispiel zu geben, führe ich an,
dafs sich nach je 40 Einstellungen in der unteren Sehfeldhälfte
des rechten Auges der zentrale senkrechte, der äufsere wage-
rechte und der peripherische senkrechte Arm zu einander ver-
hielten wie 100 : 106 : lll.** — Aus meiner Tabelle ergiebt sich
indessen, dafs auch bei gleichem Abstande^ vom Zentrum die
horizontalen Distanzen immer zu grofs eingestellt werden.
Für die Beurteilung des Verhaltens zum WEBERschen Ge-
setze kommen indessen nur die variablen Fehler in Betracht,
und ergeben deren Mittelzahlen folgende Tabelle :
2 mm 4 mm 8 mm 16 mm 32 mm 64 mm
J 0.2533 0.4490 0.677 0.9973 1.685 2.5929
^ 0.2901 0.4525 0.5731 0.8298 1.4956 2.2287
O 0.3679 0.5213 0.871 0.0987 1.9022 2.8508
"ü 0.2674 0.3803 0.6956 1.026 2.0836 2.4537
Die variablen Fehler zeigen hier im allgemeinen ein vom
konstanten ganz unabhängiges Verhalten, was ja auch ihrer
Bedeutung entspricht. Nur finden sich ebenfalls in der Rich-
tung nach oben mit nur einer Ausnahme die gröfsten Werte,
d. h. also : die Schätzung ist in der unteren Hälfte der Netzhaut
am unsichersten. Daraus erklärt sich vielleicht auch das ent-
sprechende Verhalten des konstanten Fehlers, wenn man an-
nimmt, dafs die Neigung zur Unterschätzung sich in der
Bichtung nach oben infolge der gröfseren Unsicherheit der
Bestimmung am deutlichsten bemerkbar macht. In der oberen
Netzhauthälfte ist dagegen die Unbestimmtheit nicht gröfser,
zum Teil sogar kleiner, als in den seitlichen Teilen, was wohl
mehr oder weniger auf Rechnung der bekannten Thatsache zu
setzen ist, dafs die Vergleichung von horizontalen Distanzen
im allgemeinen genauer ist, als die von vertikalen. Jedenfalls
ergiebt sich hieraus, dafs selbst bei geringer Sehschärfe noch
ziemlich genaue Schätzungen möglich sind, da nach den
neuesten Angaben von Webtheim^ die Sehschärfe bei 35^
Abstand vom Zentrum 0.002 — 0.05 beträgt, wenn die zentrale
= 1 gesetzt wird. Ein Blick auf diese Tabelle lehrt aber auch,
dafs das WEBEBsche Gesetz nicht zutriflPb. Die mittleren
variablen Fehler müfsten, wenn sie immer denselben Bruchteil
' Diese Zeitschrift Bd. VII. Heft 2 u. 3.
94 GuiUery.
der gegebenen Distanz darstellten, sich ebenso verhalten wie
diese selbst, d. h. die zu jeder folgenden Distanz gehörenden
müXsten doppelt so grofs sein wie die vorhergehenden. Das
stimmt annähernd für die ersten Distanzen, doch wird das
Verhältnis ein immer kleineres mit der Znnahme derselben.
Noch dentlicher ist dies, wenn man die relativen mittleren
Fehler ausrechnet, d. h. die mittleren variablen Fehler, dividiert
durch die Gröfse der Distanz selbst.
2 mm 4 mm 8 mm 16 mm 32 mm 64 mm
J 0.1266 0.1122 0.0846 0.0628 0.0526 0.0406
A 0.146 0.1131 0.0716 0.0518 0.0467 0.0348
O 0.1889 0.1303 0.109 0.0686 0.0594 0.0445
U 0.1837 0.145 0.0889 0.0641 0.0651 0.0383
Diese Werte müfsten dem WBBEBsohen Gesetze zufolge
untereinander übereinstimmen, was, wie wir sehen, aber nur
für die beiden ersten Längen in befiiedigender Weise zutrifft.
Je gröfser dieselben werden, um so mehr nehmen die Werte der
Tabelle ab. Die Fehler der Schätzung wachsen also durchaus
nicht proportional den Distanzen, sondern in viel geringerem
Mafse.
In Bezug auf das Nichteintreffen des WEBEBschen G-esetzes
finde ich mich also in Übereinstimmung mit Chodin und Higi£B|
welche das Augenmafs der zentralen Netzhautelemente prüften.
Nur kann ich die von ihnen angegebenen Schwankungen nicht
koiLBtatieren, indem sich bei mir von Anfang an eine Abnahme
der Werte bemerklich machte, während die beiden genannten
Autoren einen Wechsel von Zu- und Abnahme in bestimmten
Grenzen beobachteten.
Es ist auffallig, dafs im Gegensatze zu Fechkeb und
Volkmann, welche das WEBEBsche Gesetz bei Augenmafs-
versuchen vollkommen bestätigt fanden, fast alle späteren
Autoren sich nicht davon überzeugen konnten. Feghneb selbst
hält sich übrigens zu einem [Rückschlüsse auf die Empfindungs-
kreise der Netzhaut im Sinne Webebs durch seine Resultate
nicht für berechtigt, sondern glaubt, dafs vielmehr die Augen-
bewegungen die Hauptrolle spielen. Er sagt ausdrücklich,
dafs, da bei den betreffenden Versuchen die Augenbewegungen
nicht ausgeschlossen waren, durch dieselben nichts bewiesen
werde, da das Muskelgefühl hierbei das Ausschlaggebende sein
über das Augenmafk der seitlichen Netehautteiie, 95
könne. Diesen EinfluTs der Augenbewegrmgen fand auch
HiGiEB, ohne denselben eingehender £U prüfen. Er überzeugte
sich aber, dafs sowohl der konstante wie der variable Fehler
bei fixiertem Auge den regelmäfsigen, bei beweglichem Auge
festgestellten Verlauf nicht mehr beibehalten. Er vermutet
daher auch, dafs die Gesetzmäfsigkeit im Verlaufe der Fehler
auf einem analogen Verlaufe in der Muskelempfindung beruhe.
Fällt die letztere, wie es bei fixiertem Auge geschieht, aus,
oder, was wahrscheinlicher ist, wird die entsprechende Muskel-
bewegungsempfindung ohne eine thatsächlich erfolgende Be-
wegung der mit ihr eng verbundenen Lichtempfindung reflek-
torisch hinzuassoziiert, so genügt das Erinnerungsbild der früher
vollzogenen Bewegung zur Genauigkeit der Schätzung durch-
aus nicht in dem MaX*se, wie die direkte Bewegungswahmehmung.
Auf diese Weise könnten durch Muskelanomalien, z. B. In-
suffizienz der Intemi, konstante Fehler in die Beobachtung
hineinkommen, worauf bei derartigen Untersuchungen immer
zu achten wäre. Münstebbebg macht die Angabe, dafs bei
seinen Vergleichungen der variable Fehler 4,3 ^/o betrug, wenn
das Auge ruhig gehalten wurde, und nur 2,1 Vo bei beweglichem.
Trotz seiner Versuche ist daher Fechner selbst von einer
Deutung derselben zu Q-unsten des WEBEBschen Gesetzes
keineswegs überzeugt. Er erwägt, dafs nach demselben grofse
Linien gegen kleine in einem logarithmiBchen Verhältnisse
verkürzt erscheinen müfsten, aber eine doppelt so lange Linie
werde von einem guten Augenmafse auch doppelt so lang
taxiert, und dies selbst noch im Nachbilde, wo Bewegungen
das urteil nicht mitbestimmen können. Während er also für
die Verwirklichung des WEBEBschen Gesetzes geneigt ist, den
Augen bewegungen eine Bolle zuzuschreiben, könnte man aus
der letzteren Bemerkung schlief sen, dafs beim Fehlen derselben
das Augenmafs sich von dem Zwange dieses Gesetzes frei
machen kann. Hebing^ dagegen hält die Zuhülfenahme von
Innervationsgefählen überhaupt für überflüssig und schliefst
dies aus der Art, wie die Vergleichung stattfindet. Wie bereits
oben bemerkt, ist dieselbe am sichersten, wenn man abwechselnd
die Mitte der zu vergleichenden Strecken fixiert, so dafs die
betreflende Netzhautstrecke nacheinander, wie ein Zirkel, bald
^ Hermaivn, Handbuch d. JPhysiol. Bd. III. 1.
96 Guillery.
auf die eine, bald auf die andere Objektstrecke übertragen
wird (von Helmholtz). Ebenso werde der Parallelismus zweier
Linien am besten geprüft, indem man den Blick in der Mitte
zwischen beiden hingleiten läfst, und die G-leichheit zweier
Winkel, wenn ihre Schenkel parallel liegen, so dafs man ihre
Bilder nacheinander auf dieselbe Netzhautstelle bringen kann.
Indessen, wenn einmal Augenbewegungen stattfinden, so ist
doch nicht mit Gewifsheit zu sagen, dafs die Innervations-
gefühle gar keine Bolle spielen, namentlich im Eü.nblick auf
die Unterschiede, welche bei Untersuchung mit beweglichem
und mit fixiertem Blicke sich herausgestellt haben. Neuerdings
hat VON Kbies ^ versucht, diesen Einflufs der Augenbewegungen
für sich allein zu ermitteln. Er verfuhr in der Weise, dafs er
einen feinen Zeiger auf einem Schieber befestigte und denselben
eine Exkursion von einer gewissen, nach dem Gedächtnisse
geschätzten Strecke machen liefs, wobei ihm der Blick folgte,
so dafs also nur immer der eine Endpunkt der durchlaufenen
Strecke sichtbar war. Der variable Fehler betrug im Durch-
schnitte 3.26 ^/o, so dafs also mit Hülfe der Augenbewegungen
allein schon eine ziemlich genaue Schätzung möglich ist, wenn-
gleich der variable Fehler fast den doppelten Wert desjenigen
erreichte, der bei Mitwirkung des indirekten Sehens gefunden
wurde. Dieser Einflufs des indirekten Sehens ist leicht erklärlich,
weil das gleichzeitige Übersehen der gesamten Strecke eine
wesentliche Erleichterung für das Urteil sein mufs.
Abgesehen von der Frage, ob das WEBE&sche Gesetz
zutriflFb, ist aber auch die theoretische Erklärung, welche Weber
dem Tastmafse wie dem Augenmafse zu Grunde legt, vielfach
bestritten worden. Er nahm bekanntlich an, dafs die Distanz
zwischen zwei berührten oder vom Lichte getrofifenen Punkten
auf der Haut oder Netzhaut nach Mafsgabe gröfser oder kleiner
empfunden wird, als die Anzahl der sog. Empfindungskreise
gröfser oder kleiner ist, welche zwischen den gereizten Punkten
liegen, wobei unter Empfindungskreis jede Stelle der Haut
oder Netzhaut verstanden wird, welche mit Zweigen derselben
elementaren Nervenfaser versorgt wird, oder jede Vereinigung
solcher Zweige selbst. Demgegenüber hatte schon Panum
darauf hingewiesen, dafs die seitlichen Netzhautteile alles ebenso-
* Beiträge zur Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane. Festschrift
m V. Helmholtz^ 70. Geburtstage, Hamburg 1891,
über das Äugenmciß der eeiÜicJien NetzhautteiU. 97
grofs sehen, wie das Zentrum, welches auf gleichem Flächen-
ranme viel mehr empfindende Punkte hat. Ob er sich hiervon
thatsächlich durch Versuche überzeugt hat, findet sich an den
betrefienden Stellen, nicht erwähnt. Fechneb ist die Bichtigkeit
dieser Behauptung zweifelhaft; er hat den Eindruck, dafs die
Ausdehuung eines hellen Gegenstandes bei Abwendung des
Blickes im indirekten Sehen zusammenschwindet und bei Tttxr
Wendung in direkter Fixation sich wieder erweitert. Dies
erinnert an den bekannten Versuch Webebs mit zwei Zirkel-
spitzen, die man über die Haut von einer feiner organisierten
2U einer weniger empfindlichen Stelle hingleiten läfst, wobei
bekanntlich der Eindruck entsteht, als ob sie sich voneinander
entfernten. Eine solche Empfindung hat man aber auch nicht
annähernd, wenn man das Netzhautbild eines Gegenstandes
von der Peripherie nach dem Zentrum wandern läfst. Die
Zahl der Empfindungskreise allein kann daher nicht das Mafs-
gebende sein, wie übrigens auch schon daraus folgt, dafs,
wenn man die Entfernung eines Gegenstandes vom Auge ver-
doppelt, derselbe darum doch nicht halb so grofs erscheint
(Fechneb). Das ürteü wird offenbar durch die Erfahrung und
unbewufste Schlufsfolgerungen beeinflufst. Auch v. Helmholtz
sagt, dafs es eine unzulässige Erweiterung der WEBEBschen
Theorie von den Empfindungskreisen ist, wenn man diesen
Kreisen überall dieselbe Gröfse zuschreiben und sie als elementare
Mafseinheiten der Baumabmessungen benutzen will. Für das
Auge würde aus einer solchen Annahme folgen, dafs die ganze
Peripherie des Sehfeldes in allen Dimensionen relativ viel
kleiner erscheinen müfste, als Objekte von gleicher Winkel-
gröfse in der Mitte des Sehfeldes. Vor allen Dingen ist aber
auch f&r das Tastmafs selbst das Zutre£Pen des WEBEBschen
Gesetzes nicht unbestritten und daher der ganze Vergleich
überhaupt von zweifelhaftem Werte. Die Versuche, welche
Fechneb an der Stirn angestellt hat, ergeben keine auch nur
annähernde Proportionalität der reinen Fehler mit den Di-
stanzen. Sie nehmen im allgemeinen viel langsamer und über
gewisse Grenzen hinaus oder in gröfseren Intervallen gar nicht
mit den Distanzen zu, so dafs sie auch nicht, wie bei den
mikrometrischen Augenmafsversuchen, aus einer den Distanzen
proportionalen und aus einer konstanten Komponente zusammen-
gesetzt werden können.
Zeltsebrift fttr Pgyeholoffle X. 7
98 GuiUery.
Der Vorgang ist also jedenfalls ein sehr komplizierter und
weder durch die WssEBsclien Voraussetzungen, noch durch die
Augenbewegungen aUein zu erklären. Letzteres ergiebt sich
auch aus meinen Versuchen schon dadurch, daXs jene bei allen
Schätzungen in gleicher Weise unbehindert waren und doch
ganz konstante Verschiedenheiten hervortraten, sowohl nach
der Bichtung der Distanzen, als nach ihrer Lage im Sehfelde,
Indem ich auf alle Hypothesen verzichte, fasse ich die Er-
gebnisse dahin zusammen, dafs:
1. das Augen mafs in den peripheren Teilen des Sehfeldes
keine wesentlichen Abweichungen zeigt geg^iüber den mittleren,
dafs vielmehr bestimmte Eigentümlichkeiten, wie z. B. die
ünterschätzung horizontaler Distanzen, für die Peripherie eben«-
falls gelten;
2. das WEBERsche Gesetz sich nicht als zutreffend er-
wiesen hat.
K •' ^-•
Krümmungskontrast
Von
Dr. Alois Höfler,
Professor an der k. k. Theredianischen Akademie in Wien
und Privatdozent an der Universität Wien,
(Mit 4 Figuren im Text.)
An den Vorgebäuden der niederösterreichischen Landes-
irrenanstalt in Wien findet sich als architektonisches Motiv
ein Spitzbogen, welcher in nachstehenden Figuren 1 und 2 nach
Photographien reproduziert ist, die zum Zwecke dieser Mit-
teilung angefertigt worden sind.^ Mir war nämlich an diesem
Spitzbogen vor mehreren Jahren aufgefallen, dafs er auf den
ersten Blick an der Spitze von zwei nach unten konvexen
Kurven (in der Weise mancher maurischer Bogen) abgeschlossen
zu sein scheint, während, wie schon genaues Hinsehen zeigt
(wenn auch nicht ganz leicht und für verschiedene Personen,
die ich aufmerksam machte, überhaupt nicht ganz zweifellos),'
die Begrenzungslinien bis zur Spitze völlig gerade sind.
Wenigstens ergab sich bei einer direkten Prüfung der Be-
^ Ich sage hier Herrn Dozenten Dr. 0. Bodenstein meinen Dank ftlr
die Anfertigung der Photographien, den Herren Primarien Dr. Stab-
LiNOEB und Dr. Bubenik dafür, dafs sie durch Werkleute die Geradheit der
fraglichen Linien feststellen liefsen.
' Über dem einen der Bogen befindet sich ein nachträglich an-
gebrachtes Blechdach, welches wirklich an der Spitze die besprochene
Elrümmung besitzt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dafs der Verfertiger
des Blechdaches dem Eindruck der scheinbaren Krümmung des Mauer-
werkes unterlegen ist und im Stil zu bleiben glaubte, wenn er sie im
Dache nachahmte, wenn auch in vielleicht bewuTster Übertreibung.
Desgleichen findet sich auch im Bahmenwerk der Fenster, das ja wahr-
scheinlich auch erst nach dem Mauerwerk und diesem angepafst an-
gefertigt wurde, einige Male eine wirkliche Krümmung an der Spitze,
aber nicht ganz konsequent — es ist, wie wenn hier das Urteil des
Zeichners der Bahmen beim freien Nachbilden des Mauerbogens ge-
schwankt hätte.
7*
100 ^foi« Jföfler.
grenznngslinien keinerlei merklich« Abweichimg von der Ge-
raden ; und auch auf den Photographien, sowie auf beistehenden
^Fachbildungen weist daa Lineal das Nichtvorhandensein einer
dem Schein entsprechenden konvexen Krümmung nach.
Fig. 1.
Eine Erklärung der scheinbaren Krümmung, welche in
Pigor 3 etwas übertrieben durch die punktierte Linie de' an-
gedeutet ist, ergäbe sich sofort daraus, dafs, wenn beim
Übergang aus dem vertikalen Teil ah durch die nach unten
konkave Krümmung bei &c in den schiefen Teil des Bandes cd
gleichsam der Blick sich durch letzteren längs einer Geraden
Krikmmungshmtratt. 101
geftlhrt fiililt, dieaer Übergang aus dem Enrnmien ins Gerade
überschätzt wird, wie beim simultanen Farbenkontrast nach
HBLHBOLTzscher Erklämng. Nennen wir die Erümmimg bei be
eine negative (weil der zweite Differentialquotient der auf das
Fiff. 2.
Koordinatensystem OXY bezogenen Kurve daselbst negativ
ist), so ist die Krümmung von c bis d gleich Nalt, von d bis e,
bozw. e' wird sie positiv.
Angesichts der Thatsache, dafs Eelmholtz' psychologische
Theorie des simultanen Kontrastes durch Herings physiologische
einen starken Angriff erfahren hat, sei auch die angedeutete
102
AJüis Höfler,
Erklärung der Erscheinung zunächst nur als eine mögliche
mitgeteilt. Nichtsdestoweniger dürfte für das, was an der
Beobachtung unter vorläufiger Femhaltung womöglich jeder
Theorie eine Thatsache ist, die Bezeichnung ^Krümmungs-
kontrast^ immerhin noch passend gefunden werden. Der
Gedanke an eine Ähnlichkeit mit der Täuschung durch Zöllners
Figuren^ liegt nahe, sei aber, weil ebenfalls sogleich auf
theoretische Deutung führend, nur erwähnt, insofern er die
bei ihrer Variierung gemachten Erfahrungen für unsere Er-
scheinung nutzbar zu machen anregt.
Die Thatsache giebt nämlich ebenfalls vor allen Erklärungs-
versuchen Stoff zur mannigfachen experimentellen Vari-
ierung. 1. Wie lange darf die Gerade
ce im Vergleich zur Länge des Bogens
bc oder seines Krümmungshalbmessers
sein, damit überhaupt noch ein Schein
von Krümmung von d bis c' sich ein-
stelle? 2. Bei welcher Neigung der ce
gegen die Horizontale, oder was das-
selbe ist, bei welchem Gradmafs des
Bogens hc wird der Schein am stärk-
sten ? 3. Läfst sich der Schein vielleicht
-^ steigern, indem man nicht konstante
(Kreis-) Krümmung, sondern eine in be-
stimmter Weise variable längs bc anwendet? 4. Ist dieser
Schein daran gebunden, dafs sich die Linie abcde jen-
seits von der Symmetrieaxe (die durch e\\ OT geht) wieder-
hole? Eine Verstärkung durch solche Symmetrie ist ja von
vornherein wahrscheinlich. Wieviel von dem Schein der Zu-
spitzung kommt aber 6. auf Eechnung des Sichschneidens
zweier Geraden unter einem Winkel? 6. Was geschieht, je
6-
Fig. 3.
* Auf das ihnen und verwandten Erscheinungen zu Grunde liegende
„Falschsehen schiefer Winkel** (Hering, Hermanns Handbuch, III.Bd.
1. T., S. 372, 580 u. a.) wendet Hblmholtz (PhysioLOpt I. Aufl. S. 571) den
Ausdruck „Kontrast für Eichtungen" an. (Vergl. auch MunroKO, Bei-
träge zur Theorie der psychischen Analyse, diese Zeitachr, VI. Bd. S. 347,
Anm.) Rein mathematisch genommen verhielten sich Bichtungs- und
Krümmungskontrast wie endliche Differenzen und Differential-
quotienten der die „Richtungen" darstellenden ersten Differential-
quotienten, Vergl. aber die unten angeführten Worte von Mach.
Krümimingshontraat. 103
nachdem dieser Winkel ein stumpfer oder spitzer ist? Das
Gesetz, dafs stumpfe Winkel unter-, spitze überschätzt werden,
kompUsdert sich hier mit der unter 2 genannten Yariierung;
wann fördernd, wann hemmend? 7. Mit Bücksicht auf die
Thatsache, dafs der Schein der Bichtungsverschiedenheit
beim ZOLLNBRschen Muster am stärksten wird, wenn die
Längslinie 45^ gegen die Medianebene des Beschauers ein-
schliefst, liegt die Frage nahe, ob der Schein der Ejrümmung
bei de^ am stärksten ist bei vertikaler Kopfhaltung des
Beschauers, allgemeiner: bei Parallelismus der Symmetrie-
aze der Figur und der Längsaxe des Beschauers, oder bei
welchem Winkel beider Bichtungen? 8. Die Figuren wären
teils zu zeichnen, teils (um Begrenzungslinien ohne Dicke zu
haben) aus Papier auszuschneiden und dieses auf andersfarbigen
Ghrund zu legen (vielleicht liefsen sich auch Schatten von
Fig, 4.
Drähten unter wechselnder Projektion anwenden). 9. Welchen
Einfluis hat die absolute Gröfse, 10. welchen der Abstand vom
Auge, 11. bei monokularem, binokularem Sehen, 12. bei
ruhendem, bewegtem Auge u. s. f.? 13. Auch andere Ver-
bindungen und Geraden zeigen die Kontrasterscheinungen. So
sind z. B. für mich die in Fig. 4 an den Kreisbogen an-
gesetzten Geraden sehr auffallend nach oben konkav.
Da für die experimentelle Behandlung dieser und ein-
schlägiger Fragen (welche mir von Herren, die an dem psycho-
logischen Laboratorium in Graz arbeiten, in Aussicht gestellt
worden ist) voraussichtlich während der Experimente selbst sich
die passendste Fragestellung erst ergeben wird, so mögen nur
noch einige allgemeinere Bemerkungen über die theoretische
Tragweite des Thatsachenkomplexes hier stattfinden.
Vor- allem ist bemerkenswert der Umstand, dafs die Kontrast-
wirkung hier stattfindet zwischen Yorstellungsinhalten, die man
nur sehr uneigentlich noch wird Empfindungsinhalte nennen
können: findet doch konkave und konvexe Ejümmung erst in
104 Alois Höfler.
dem negativen bezw. positiven Vorzeichen zweiter Differential»
quotienten ihren adäquaten begrifflichen Ausdruck. Nun bricht
sich allerdings mehr und mehr die Einsicht Bahn, dafs viele
von sehr primitiven Inhalten, die man zuerst unbedenklich
Empfindungsinhalte nennen mochte, diesen Namen nicht ver-
dienen, sondern dais z. B. schon eine einfache Baumstrecke
als solche nur beim Hinzutreten von Distanz Vorstellungen^ im
BewuMsein vorhanden ist: „unter Distanz^ aber verstehen wir,
das Wort hier in einem für manche ungewohnt weiteren Sinne
nehaiiend, nicht blofs räumliche und zeitliche, sondern aacli
qualitative und solche der Intensität, und definieren das Wort:
Grade der Unähnliohkeit." (Stumpf, Tanpsychol. I. Bd. S. 57).
Da überdies nach Ehrenfels* jede räumliche Gestalt, also
auch schon die Strecke, eine „Gestaltsqualität^ darstellt, muTs
dies um so mehr von Ejrümmung gelten ; ja es dürften die un-
mittelbar anschaulichen Bilder von konkaver oder konvexer
Krümmung' sogar besonders geeignet sein, jenen Namen, den
^ Hierhergehöriges soll ein nächster Aufsatz „Zur Analyse der Vor-
stellungen von Abstand und Richtung^' behandeln.
' Yergl. diese Zeitschr, II. Bd. S. 245 ff. den Bericht über Ehrbnfkls'
„Gestaltsqualitäten" (Vief^teüahrschr. f. wisa, Fhihs. 1B90. S. 249—292)
in dem Aufsatze von Meinonq „Zur Psychologie der Komplexionen
und Relationen."
' Zu den Stellen, von denen Ehbenfels eingangs seines Aufsatzes
sagt: „Als Ausgangspunkt hierzu ergaben sich mir wie von selbst in der
Schrift von E. Mach, jyBfiiträge zur Analyse der Empfindungen^ (Jena 1886),
eine Beihe von Bemerkungen und Hinweisen, welchen ich, obgleich sie
in einem ganz anderen Zusammenhange entstanden zu sein scheinen,
dennoch eine wesentliche Festigung meiner Ansichten über die hier dar-
zulegenden Verhältnisse verdanke" — gehört wohl wesentlich auch die
folgende (Mach, S. 47, 48): „Die physiologische Bedeutung der Richtung
einer betrachteten Geraden oder eines Kurvenelements können wir uns
noch durch folgende Betrachtung vermitteln. Es sei y = f {x) die
Gleichung einer ebenen Kurve. Durch den blofsen Anblick können wir
d \i —
den Verlauf der Werte von -—■ an der Kurve absehen, denn dieselben
ax
sind durch deren Steigung bestimmt, und auch über die Werte von
j-^ giebt das Auge qualitativen Aufschlufs, denn sie sind durch die
dx
Krümmung der Kurve charakterisiert. Es liegt die Frage nahe,
warum man über die Werte von -j-^, -j-^ u. s. w. nicht ebenso unmittel-
bar etwas aussagen kann. Die Antwort ist einfach. Man sieht natür-
Krümmungskontrast lOö
Ehbbnvbls den von ihm entdeckten Vorstellungsgebilden ge-
geben hat und den er dann- zu Gunsten des von Meinong vor-
geschlagenen Namens ^fundierte Inhalte^ aufgegeben hat,
zu illustrieren ; denn gerade bei Konvexität und Konkavität drängt
lieh nicht die Differentialquotienten, welche Yerstandessache sind, sondern
man sieht die Bichtung der Kurven demente und die Abweichung
der Bichtung eines Elementes von jener eines anderen/'
Wie Ehrbnfels (a. a. 0. S. 250) bezüglich Machs Terminus
„Empfindung^ in solchen Fällen allgemein bemerkt, kann auch
speziell von „Sehen^ der Krümmung nur so die Bede sein, dafs
„der Verfasser . . lediglich die Unmittelbarkeit des Eindruckes im
Aage hatte und dessen Unabhängigkeit von jeglicher intellektuellen
Verarbeitung durch das Subjekt hervorzuheben gewillt war.** In
diesem Sinne nun ist es z. B. eine von mir durch Umfragen
oft erprobte, aber von der Schulgeometrie, wie es scheint, nicht beachtete
Thatsache, dafs von allen „Definitionen'' des Kreisen die, er sei die „Linie
konstanter Krümmung", der ganz unbefangenen Auffassung j edesmal
bei weitem am nächsten liegt (viel näher, als die nach „konstanten
Badien''). Es dürfte sich Machs Bemerkung aber noch etwas erweitem
lassen, indem wir zunächst doch auch für endliche Unterschiede
von Krümmungen noch eine sehr sichere unmittelbare Auffassung haben ;
und auch für stetige Änderung der Krümmung fehlt dem geschulten
Auge der „Blick" keineswegs. Wir erfassen z. B. die Gleichmäfsigkeit
des Abnehmens der Krümmung einer durch r = ^.ff definierten Archi-
medischen Spirale wohl kaum schlechter, als etwa die Gleichmäfsigkeit
eines Crescendo (Stumpf, TanpsychoL I. S. 393); dafs freilich hier die
Proportionalität nicht mehr Krümmungshalbmesser und Bogenlänge,
sondern Badiusrector und Polarwinkel betrifft, dürfte wohl für die
meisten schon unter der Unterschiedsschwelle liegen. (Messende Versuche
hierüber und über das folgende wär^n erst anzustellen.) Aber auch
Krämmungsänderungen, die nach komplizierteren Gesetzen erfolgen, also
dritte Differential quotienten, werden vom geschulten Blick in ihrer be-
sonderen Gesetzmäfsigkeit erfafst; so unterscheidet jeder Geometer die
parabolische Krümmung auf den ersten Blick von der hyperbolischen
(wenigstens an Stellen, die nicht zu nahe beim Scheitel liegen) — und
es ist ja wohl auch hier wieder, wie beim Kreis^ die Krümmung, welche
vorwiegend zum unmittelbaren Gestaltenbild beiträgt. — Dafs alles
Gesagte nur dasjenige Mafs von Genauigkeit quantitativer Bestimmungen
verträgt, wie sie anschaulichen Vorstellungen (richtiger: Vergleichungen
solcher) im günstigsten Falle zukommt, versteht sich von selbst; auch
schon dafs -^ = 0, d. h. eine Gerade, erkennen wir ja als solche durch
„Sehen'' nur unter dem Vorbehalt untermerklicher „Buckel**.
Nur vorläufig führe ich hier an, dafs sich die ganze Betrachtung
vom Geometrischen auf das Phoronomische übertragen läist: auch die
106 Ahis Höfler.
sicliaiis das Qualitative innerhalb des Bäumlichen^ besonders leb-
haft auf. Doch dies nur nebenbei. Was für uns an der Thatsache
des Krümmungskontrastes besonders bemerkenswert erscheint,
ist der Umstand, dafs überhaupt das Kontrastverhältnis mit
einer anschaulichen Lebendigkeit, wie es, wenn zwischen wirk-
lichen Empfindungsinhalten wie Farben auftretend, zu Herings
physiologischer Theorie führen konnte, auch hier, also zwischen
Yorstellungsinhalten sich wirksam zeigt, für die man eine
Modifikation durch physiologische Beeinflussung schwer denken
kann. Insoweit es überhaupt ohne theoretische Vorwegnähme
Analoga zu j^ und ^, nämlich die Geschwindigkeit -jr und die
Beschleunigung ^werden von uns als Gestaltqualitäten erfaM,
— sofern wir uns nicht gewöhnt haben, auf imsere von Kindheit geläufigen
Anschauungsbilder groiser, kleiner, wachsender . . Geschwindigkeiten zu
Gunsten der rein abstrakten Definition der Mechanik: „Geschwindigkeit
ist der Weg in der Zeit 1^ u. dergl. zu verzichten. EHRExrELs' Theorie
der Gestaltsqualitäten hat mir für das, was ich seit zwanzig Jahren als
einen Mangel der herkömmlichen Darstellungen der Mechanik fühlte,
den vorläufig wenigstens mich selbst überzeugenden Gesichtspunkt zu
künftigen „psychologischen und logischen Analysen^ dieser und mancher
anderen Grundbegriffe der theoretischen Mechanik gegeben.
Während ich dies niederschreibe [— es war im Februar 1894 ; ich
habe die Publikation bis jetzt verschoben, da ich den Baum der Zeit-
schrift durch die zwei Artikel „Psychische Arbeit^ sehr in Anspruch
genommen hatte], finde ich hierher gehörige Andeutungen in dem soeben
erschienenen Hefte dieser Zeitschr, (VI. Bd. S. 472) von Scbipture unter dem
Terminus Anderungsempfindlichkeit (Geschwimdigkeits-, Beschleu-
nigungsempfindlichkeit) mitgeteilt.
^ Es ist nur cum grano salis zu nehmen, wenn oft Qualität,
Intensität, räumliche und zeitliche Bestimmungen wie ein£Eush
koordinierte Inhalte aufgezählt werden (von Stumpf, z. B. Baum-
vorateüung, Tonpsychohgie an verschiedenen Stellen, von mir in
meiner Logik 1890 u. a.). Es giebt eben Qualitäten auch innerhalb des
Bäumlichen, wie oben gesagt, und sogar Qualitäten innerhalb der Quali-
täten; z.B. das Eigentümliche von Heifs und Lau innerhalb der Wärme-
qualität; die „spezifische Helligkeit'' (— in der diesen Titel führenden
Arbeit hat Hillebband jedenfalls übersehen, dafs schon Schopshhaüeb,
Sehen und* Farben, % 5, von einem „jeder Farbe wesentlichen und eigen-
tümlichen Grad von Helle oder Dunkelheit" spricht) neben dem Farbenton
und der Sättigung, welche „Helligkeit" keineswegs als Intensität an-
gesprochen werden kann (ohne dafs hiermit schon Hebino beigestimmt
sein müiste, welcher gar keine eigentliche Intensität der Lichtempfin-
dungen will gelten lassen).
Krümmimgskantrast. 107
von spezielleren Versachsergebnissen erlaubt ist, denKrümmungs-
zum Farben- (bezw. Helligkeits-) Kontrast in Analogie zu
setzen, entspricht der Bogen bc der induzierenden Farbe, die
Gerade de dem grauen Grande, auf welchem die Kontrastfarbe
induziert wird. (Dafs hier ein Stück der Geraden, nämlich cd
ungeändert bleibt und das* Kontrastphänomen sich erst von d
an geltend macht, stört die Analogie freilich bedenklich; ob
die Bedenken unüberwindlich sind, müfsten erst Versuche
darüber zeigen, wie weit sich d verkürzen, etwa auf Null
bringen läfst (wozu Figuren wie 4 einen Ausgangspunkt bieten).
Hält man sich an die durch unser Portal gegebenen Mafse, so
wird man den Eündruck haben, dafs der Blick Gelegenheit
haben müfste, erst ein Stück sich längs einer Geraden vor-
geführt zu fahlen — was wieder keine Theorie über Augen-
bewegung u. dergl. einschliefsen soll, immerhin aber im Sinne
von LiPPs Theorie* gedeutet werden könnte — um dann, wenn
er längs dieses Stückes den Eindruck vom Nullwert der Krüm-
mung empfangen hat, durch den Schein der entgegengesetzten
Krümmung gegen die von bc reagieren zu können. Für die
grofse Streitfrage, ob psychologische oder physiologische Er-
klärung des simultanen Farbenkontrastes, möchte wenigstens
ein neuer Wahrscheinlichkeitsgrund für erstere Erklärungsweise
darin liegen, dafs es einen i^cht wohl physiologisch zu er-
klärenden Kontrast nicht erst zwischen Biesen und Zwergen
(den auch Hering als psychologisch gelten läfst, vielleicht, weil
hier neben dem Auffassen der stark verschiedenen Gröfsen
als solcher doch auch schon eine kaum vollständig zu analy-
sierende Beziehung zwischen der „Gröfse^als rein geometrischem
Bestimmungsstück und spezifisch menschlicher Gröfse mit ihren
Extremen „Riesigkeit*' * und „Winzigkeit*^ in Betracht kommt),
sondern dafs es psychologischen Kontrast schon zwischen Inhalten
giebt, die wie die Krümmung immer noch sehr primitiver Natur,
aber doch schon nicht mehr Sinnesinhalte sind. Ganz nebenbei
bemerkt, müfste sich ja aber die psychologische und die physio-
logische Erklärung überhaupt nicht ausschliefsen, da sie doch
' Yergl. diese Zeitschr. HI. Bd. S. 198 fF.
* Ich habe Viertefjahrsschr. /*. wiss. FkOos. 1883, S. 484, auf den Unter-
schied von „quantitas^ und „magnitudo^ als auf einen hingewiesen, der
geeignet ist, das Dogma von der „Relativität aller G-röfse*' in die richtigen
Schranken zu bringen. Desgleichen meine Logik (1890) S. 61.
108 Alois EöfUr,
beide einen umstand namhaft machten, der mit dem anderen
nicht unverträglich ist. Ob ein solcher Vermittelungsvorschlag
annehmbar ist, könnten freilich wieder erst Versuche von der
Art des von Hering {Lichtsinn^ S. 22) ersonnenen zeigen,
welcher die Analogie zum Kontrast Biese — Zwerg dadurch in die
Enge treibt, dafs wir „den Menschen von mittlerer Gröfse neben
dem Biesen im strengsten Sinne des Wortes plötzlich zu-
sammenschrumpfen sehen" müfsten. Sollte im ^Krümmungs-
kontrast" wirklich ein physiologisches Motiv (etwa Augen -
bewegung — allenfalls auch Muskelempfindung davon) und ein
psychologisches (etwa Lipps Ästhetische Faktoren) zusammen-
wirken, so wären für die Abgrenzung, was des einen und was
des anderen ist, erst so feine differenzierende Versuche auszu-
denken, wie der erwähnte HsRiNGsche.
So viel aber dürfte heute schon zu sagen sein, dafs unsere
Thatsache, wie auch ihre Erklärung ausfalle, durch die ebenfsJls
thatsächliche Konsequenz über ein blofs isoliertes Interesse
hinausreiche, indem sich Ehrbnfels' Gestaltsqualitäten wieder
in einer Hinsicht den Empfindungsinhalten analog, nämlich dem
Kontrastverhältnis unterliegend, erweisen, wodurch dieser
Krümmungskontrast uns wieder in seiner Weise Ähnlichkeiten
und Unterschieden primärer und fundierter Inhalte näher
bringt.
Litteraturbericht.
SiEGMUND EzNER. Eütworf ZU 61x161 physiologiBclidn Erklärung der
psychi8eh6n Srsc1i6inimg6Xi. I. Teil. Mit 63 Abbildungen. Leipzig u.
Wien. Franz Deuticke. 1894. 380 S.
Das Buch erbebt den Anspruch auf eine ganz besondere Beachtung.
Denn es stellt sich die Aufgabe, die Erldärbarkeit der psychischen Er-
scheinungen nachzuweisen, und zwar die widerspruchslose Erklftrbarkeit
aller psychischen Erscheinungen. E. beabsichtigt, ;,die wichtigsten
psychischen Erscheinungen auf die Abstufungen von Erregungszuständen
der Nerven und Nervenzentren, demnach alles, was uns im Bewufstsein
als Mannigfaltigkeit erscheint, auf quantitative Verhältnisse und auf die
Verschiedenheit der zentralen Verbindungen von sonst wesentlich gleich-
artigen Nerven und Zentren zurückzuführen^.
Nach einer kurzen, durch zahlreiche Abbildungen erläuterten ana-
tomischen Übersicht über das gesamte Zentralnervensystem giebt £. zu-
nächst eine physiologische Einleitung. Er geht von der Thatsache aus,
dafs jede sensorische Erregung in der grauen Substanz in eine grofse
Anzahl von Teilbewegungen umgesetzt wird, welche nach den ver-
schiedenen Nervenzentren ausstrahlen und so auch zu motorischen
Zentren gelangen können. Die Bichtungen, nach welchen hin die Er-
regung ausstrahlt, sowie die Stärke jeder einzelnen Teilerregung wird
teils bedingt durch angeborene „Verwandtschaft^ zwischen den einzelnen
Nervenzentren, welche Verwandtschaft am einfachsten als durch die
gprOfsere oder geringere Dicke der verbindenden Nervenfaser gegeben
aufgefafst wird ; teils sind es die Vorgänge der Hemmung und Bahnung,
welche die Verteilung der Erregung in der grauen Substanz nach Ort
und Grölse regeln. E. bespricht die Beflezbewegungen, die Mitempfin-
dungen, die Summation der Reize, derzufolge aufeinander in derselben
Bichtung, oder aber auch von verschiedenen Bichtungen herkommende,
an sich zu schwache Erregungen eine Ganglienzelle dem Moment der
Entladung immer mehr nähern und schliefslich die letztere herbei-
führen können. Die Entladung selbst ist ein Auslösungsvorgang. Ge-
schieht die Entladung einer gröfseren Anzahl motorischer Ganglienzellen
gleichzeitig und vollständig, so kommt es zu einer einmaligen zuckungs-
artigen Kontraktion der dazu gehörigen Muskeln ; sind die miteinander
verknüpften Ganglienzellen eines Nervenkemes dagegen derart beschaffen,
dafs sie sich nicht auf einmal vollständig entladen, dafs aufserdem die
Entladung jeder einzelnen Zelle die übrigen wieder dem Entladungsmoment
110 LiUeraturbericht
nähert, so dals eine ganze Anzahl von Einzelentladungen — ein Peloton-
feuer der Ganglienzellen — aufeinanderfolgt, so kommt eine tetanische
Muskelaktion zu stände. Die verschiedenen Nervenkeme im Bücken-
und verlängerten Marke beeinflussen einander gegenseitig, und zwar
zeitlich verschieden durch angeborene Verwandtschaft ; dadurch kommen
die verschiedenen Arten der Bewegung bei demselben, wie bei ver-
schiedenen Tieren zu stände. Auch durch die gleichzeitigen sensorischen
Einflüsse werden die Bewegungen mannigfach abgeändert und durch
den Wegfall der ersteren in manchen Fällen unmöglich gemacht (Senso-
mobilität).
Dieses subkortikale Getriebe wird durch die von der B[imrinde
kommenden Erregungen willkürlich beeinfluTst. Die Begulierung der
Bewegungen rückt um so mehr aus den subkortikalen Zentren in die Hirn-
rinde, je höher ein Tier intellektuell steht; doch ist stets, selbst bei ein-
fachen willkürlichen Bewegpingen, der gesamte subkortikale Mechanismus
mit in Thätigkeit. Die kortikale Begulierung besteht darin, daiÜs wir
uns den Effekt der beabsichtigten Bewegung vorstellen und so die sub-
kortikale Bahn zwischen den sensorischen und motorischen Ganglienzellen
in den sub kortikalen Zentren, dadurch dafs wir gleichzeitig von der
Binde her beide ansprechen, leichter erregbar machen.
Die willkürliche, also von der Hirnrinde ausgehende Erregung eines
subkortikalen sensorischen Nervenzentrums, also die Herstellung eines
der Entladung näheren Zustandes in dessen Zellen unter gleichzeitig
bewirkter Hemmting der anderen Nervenzentren, ist die Aufmerk-
samkeit.
Die Empfindung ist ein Anteil eines Sinneseindruckes, der nur mehr
Qualität, Intensität und eventuell Lokalzeichen unterscheiden läfst. Mit
dem Steigen der Beize ändert sich nicht nur die Intensität, sondern
auch die Qualität der Empfindung. Die Empfindungen sind primär oder
sekundär, je nachdem sie durch die Erregung einer einzigen Nervenfaser
oder durch die Wechselwirkung zweier oder mehrerer in nervösen
Organen ablaufenden Erregungen entsteht. Die Gefühle sind Empfin-
dungen, welche, an innere Organe geknüpft, sekundär, teils infolge
zentripetaler, teils infolge zentrifugaler Erregungen, entstehen ; sie be-
stehen aus Empfindungen in der Brusthöhle und aus Muskelgefühlen,
welche dem Drange, festzuhalten oder wegzuschieben, entsprechen ; als
Gefühlszentren sind die entsprechenden subkortikalen Muskelzentren
aufzufassen.
Die Wahrnehmung ist ein einheitlicher Erregungskomplex, welcher
durch das Bewufstsein in Empfindungen aufgelöst werden kann. Auch
das Organ des Bewufstseins besteht aus Nervenbahnen: alle Erschei-
nungen der Qualitäten und Quantitäten von bewufsten Empfindungen,
Wahrnehmungen und Vorstellungen lassen sich zuräckführen auf quanti-
tativ variable Erregungen verschiedener Anteile dieser Summe von
Bahnen. Zwei Empfindungen sind für das Bewufstsein gleich, wenn
durch den Sinnesreiz dieselben Bindenbahnen in demselben Mafse in Er-
regung versetzt werden. Zwei Empfindungen sind ähnlich, wenn wenig-
stens ein Teil der in beiden Fällen erregten Bindenbahnen identisch iBt.
LitteraturbencJU. 111
Die Qaalitftt der Empfindung und ihr Lokalzeiohen sind demnach das
Resultat der Erregungen yerschiedener Bahnen der Grofshimrinde.
Das Wiedererkennen der Erregung einer schon früher einmal er-
regten Bahn wird hewirkt einmal durch das-^rinzip des „Ausfahrens^^
▼on Bahnen und zweitens dadurch, dafs gleichzeitig mit jeder Erregung
andere früher gleichzeitig einmal in Erregung gewesene Bahnen mit
anklingen.
Die Vorstellung ist, wie die Wahrnehmung, ein vom Bewufstsein
erfalster Erregungskomplez in der Hirnrinde; nur ist bei der Wahr-
nehmung stets noch die Einstrahlung der Sinnesnerven in die Hirnrinde
mit erregt, bei der Vorstellung nicht. Aufserdem wirkt die Aufmerksam-
keit (attentionelle Bahnung) in beiden Fällen in entgegengesetzter Eich-
tung. Das Wechseln der Vorstellungen geschieht deswegen, weil die
Ganglienzellen des Gehirns nur einen kleinen Vorrat an potentieller
Energie haben und sich bald erschöpfen, so dafs die Erregung dann auf
andere verwandte Bahnen übergeht.
Die den Schluis des Buches bildenden Erörterungen über die Er-
scheinungen der Intelligenz lassen sich nicht gut in Kürze ausziehen.
Erwähnt sei nur noch E.'s Auffassung von den Instinkten. Dieselben
werden gebildet durch die im Laufe der Jahrtausende befestigte und
schliefslich vererbte Prädisposition zur assoziativen Verknüpfung be-
stimmter Gefühle mit bestimmten Vorstellungsgruppen; sie dienen zum
Schutze des Individuums, zum Vorteile der direkten Nachkommenschaft
und zum Vorteile der Sozietät.
Die im Eingange wiedergegebene Absicht des Autors wird in dem
Buche nicht erreicht. Bei einer Beihe von Fragen stellt E. nur das
Problem auf, ohne einen ernsthaften Versuch einer Lösung zu machen.
An mancher anderen Stelle, wo eine wirkliche Erklärung versucht wird,
sieht man sich veranla&t, ein grofses Fragezeichen dazu zu setzen. Das
liegt freilich zu einem guten Teile in der Schwierigkeit des Stoffes, der
sich bei dem heutigen Stande unserer Kenntnisse oft schon dem Ver-
suche der Erklärung widersetzt. Dazu kommt, dafs auf der einen Seite
das Buch mit einer Menge von Überflüssigem bepackt ist, welches, so
interessant es an sich sein mag, für die grundlegenden Auseinander-
setzungen ohne Wert ist, während auf der anderen Seite Dinge von
Wichtigkeit, bei denen man eine ausführlichere Auseinandersetzung
gern gesehen hätte, kurz abgebrochen oder eben nur angedeutet sind.
Femer verliert sich E. in einer Unmenge von Details, und indem er einen
grofsen Teil seiner Beweisführung in Beispielen giebt, bleiben die Haupt-
gesichtspunkte, auf deren Betonung es besonders angekommen wäre,
häufig im Hintergrunde. So erfordert es, noch dazu bei der nicht überall
sehr durchsichtigen Schreibweise, eine ziemliche Mühe, sich durch das
Buch hindurchzuarbeiten.
Diese Unklarheit in der Schreibweise ist aber offenbar wiederum
zu einem grofsen Teile in der Schwierigkeit des Stoffes begründet, denn
bei einem tieferen Eintauchen in die Ideen des Buches ergiebt sich,
dafs der Autor selber über das, was er zu erklären versucht, nicht zu
voller Klarheit durchgedrungen ist. Solange sich E. im Subkortikalen
112 Litteraiurbencht
befindet, in der physiologischen Einleitung, also auf einem Gehiete, auf
dem er selbst so vieles Experimentelle geleistet hat, kann man ihm, ohne
sich mit all seinen Anschauungen einverstanden zu erklären, überallhin
mit Verständnis folgen. Sobald E. aber zur Hirnrinde aufsteigt und hier
im Gebiete des BewuTstseins die Nutzanwendungen zu ziehen versucht,
versagt der Mechanismus.
Es ist natürlich unmöglich, in dem engen Baume einer Besprechung
dies eingehend nachzuweisen. Es sei daher nur Einzelnes hervor-
gehoben.
Mit dem „Bewuistsein'^ beschäftigt sich £. im ganzen auf 57* Seiten.
E. sagt : „Indem eine Wahrnehmung oder Vorstellung sich assoziativ
mit gewissen anderen Vorstellungen verbindet, die im Gedächtnisse
ruhen, sagen wir, sie trete ins Bewufstsein, oder werde vom BewuTstsein
erfafst. Diese Gruppe anderer Vorstellungen bilden das Bewuistsein.''
Nun folgen eine Beihe von Auseinandersetzungen und Beispielen, welche
sich ausschliefslich auf das Selbstbewufstsein beziehen, welches bei £.
ungefähr dem MsTNEBTschen sekundären Ich entspricht. Dann steht:
^So löst sich, scheint mir, das Rätsel des Bewufstseins.^ E. scheint
indessen durch diese Erklärung selbst nicht ganz befriedigt zu sein, denn
er giebt sofort auf der nächsten Seite eine neue: „Wenn ein Erregungs-
komplex in meiner Gehirnrinde eine gewisse Ausbreitung erreicht . . .
und dadurch jene Bahnen mit in die Erregung einbezogen hat, w^elche
bei selbst erlebten Ereignissen in bedeutende Erregung geraten waren,
welche durch die alltäglichen Wahrnehmungen meiner Angehörigen,
meiner Beschäftigung, meiner Andenken an vergangene Jahre in Thätig-
keit geraten tind deshalb fast immer gebahnt sind, kurz welche der Vor-
stellung des Ichs angehören; wenn durch die Mannigfaltigkeit der er-
regten Fasern auch die Erregung selbst im intercellulären Tetanus an
Intensität zunimmt, somit dieser Erregungskomplex die schon oft er^
wähnte Eigentümlichkeit angenommen hat, schwächere Erregungen zu
hemmen, dann sage ich, die Vorstellung ist im „Bewufstsein*'. Danach
könnte eine mathematische Formel sich niemals im Bewufstsein be-
finden. Beiläufig findet der Begriff der Hemmung weder hier, noch
anderswo eine Erklärung; er wird einfach als Thatsache hingenommen.
Ebenso ist alles verunglückt, was mit der schwierigsten psychischen
Frage, derjenigen nach der Natur der Lust- und ünlustgefühle zusammen-
hängt. E. giebt ein Schema, welches zur Not die subkortikalen
Vorgänge beim Schmerz zu erklären im stände ist, aber auf die sonstigen
ünlustgefühle und gar auf die Lust durchaus unanwendbar ist. Daraus
erschliefst er ein subkortikales Lust- und ein desgl. Unlustzentrum.- —
es sind das, wie schon erwähnt, Muskelgefühlszentren; während er nun
alles Bewufstsein in die Binde verlegt, läfst er zwischen in der Binde
gelegenen Vorstellungen und subkortikal gelegenen Gefühlen sich
Assoziationsbahnen ausschleifen, und behandelt nunmehr die subkortikalen
Zentren i^aturgemäfs, wie wenn sie Sitze von Bewufstsein wären.
Subkortikale Beflexe, wie das Augenschlielsen beim Berühren der
Hornhaut, läfst E. sich phylogenetisch aus willkürlichen Bewegungen
entwickeln ! Noch böser ist die in der Inhaltsübersicht schon angeführte
Litteraturbericht. 113
Vererbung der Verbindung von Gefühlen — Instinkten — mit Vor-
tftellimgen, oder wenigstens die Vererbung der Geneigtheit, der Prär
disposition zu solchen Assoziationen. Die Furcht vor der Nacht und
besonders vor dem Alleinsein in der Nacht ist aus den Erfahrungen der
letzten Tausende von Generationen ererbt. — ^Da gab es noch Bären
und Wölfe im Walde, die bekanntlich bei Nacht vor dem Menschen in
weit geringerem Grade Scheu haben, als bei Tage, wie das bei allen
Nachttieren der Fall ist.** — ! —
Am weitesten aber von naturwissenschaftlicher Art der Auffassung
entfernt sich E. mit der Annahme, dafs in den im wesentlichen auch
seiner Meinung nach kausal bedingten Vorstellungsketten Willensakte
beteiligt seien, allerdings „in weit geringerem Grade, als man vorauszu-
setzen pflegt'^ „Ein Erregungsvorganif erzeugt nach den bestehenden
Verwandtschaften einen zweiten Erregungsprozefs, und so geht es fort,
ohne dafs wir willkürlich einen eingreifenden Einflufs auf den Ablauf
ausoutlben pflegen''. — Pflegen! — „Diese Willensakte spielen aber eine
untergeordnete Bolle. Auf ihre Natur kann ich hier noch nicht ein-
gehen.** Es geschieht — sehr begreiflich — auch später nicht.
Gegen den Schlufs wird das Buch immer unverständlicher. Auf den
letzten anderthalb Seiten erörtert E. die Natur des Willens und ver-
ivechselt dabei die Natur mit der Energie desselben.
Diese Proben mögen genügen.
E. erwähnt in der Einleitung, dafs er seit 25 Jahren der Erklär-
barkeit der psychischen Vorgänge nachgehe, und dafs sich der Versuch
-einer Erklärung derselben mehr und mehr zu seiner Lebensaufgabe ge-
staltet habe. Diese Lebensaufgabe ist in dem vorliegenden Buche noch
nicht gelöst. H. Sachs (Breslau).
O. Maibb. Pädagogische Psychologie für Schule und Haus. Gotha, F. A.
Perthes. 1894. 316 S.
„Wozu aber schon wieder eine neue pädagogische Psychologie?
Wir haben treffliche Werke: Babtbls giebt breite Ausführungen nach
LoTZB, Baümakk grofse Ideen, Döbpfbld mahnt dringend, den Lehrstoff
-denkend durchzuarbeiten, Mabtig führt klar und anschaulich in die
Elemente ein, Ostebmakn wehrt HESBABTSche Einseitigkeiten ab, Pfistbbeb
zeigt eine reiche Bildergalerie pädagogischer Meisterwerke, Stbümpbll
arbeitet das HsBBABTsche Begriffssystem aufs neue geistvoll durch. Aber
es fehlt eine Arbeit, welche den Ertrag der Forschtmg der letzten Jahr-
iEohnte, namentlich mit Bücksicht auf die Physiologie, zu nützen sucht,
ohne das Erprobte und gewisse Alte preisziigeben lind ohne von der
Experimentalpsychologie, insbesondere der französischen, die sich mehr
mit dem kranken Menschen beschäftigt, allzuviel zu erwarten.^
Diese Stelle des Vorworts giebt den Gesichtspunkt an, von dem
wir die neue pädagogische Psychologie für Schule und Haus zu be-
urteilen haben.
Man kann nicht sagen, dafs der Verfasser in seinem Urteile über
die vorliegende pädagogisch-psychologische Litteratur zu strenge sei;
Andere würden leicht weiter gehen und z. B. Babtels Buch über Lotzb
Zeltsohrift fftr Psychologie X. 8
1 14 Litteraturbericht,
oder die Samml-ang Pfisterebs kaum zu den trefflichen Werken rechnen«
Auch der Berichterstatter hat schon früher wiederholt und mit Bedauern
hervorgehohen, dafs es an einer pftdagogischen Psychologie fehle, in
der die neueren Forschungsergebnisse ausgiebig berücksichtigt w&ren.
Der Grund für diesen Mangel, der vielfach empfänden wird, ist
ziicht schwer einzusehen. „Ohne das gewisse und erprobte Alte preis-
zugeben'^t kann man doch wohl sagen, dafs die Psychologie eine recht
junge Wissenschaft sei, in der es im einzelnen noch gar sehr der
Klärung bedürfe. Diese notwendige Klärung setzt aber eine Übersicht
Über die auf serordentlich zahlreichen gröfseren und kleineren, überdies
noch vielfach verstreuten Untersuchungen voraus, zu deren Gewinnung
die Mittel nicht für jeden zu erwerben sind, der den guten Willen dazu
hat. Dem Verfasser aber mufs zugestanden werden, dafs er diese Über-
sicht in einem Grade besitzt, den man bei Pädagogen, die auf diesem
Gebiete schriftstellerisch thätig sind, leider nur selten antrifft, und so
darf sein Buch als ein einigermalsen brauchbares Hülfsmittel zur Orien«
tierung über die psychologische Arbeit der letzten Jahrzehnte recht
wohl bezeichnet werden.
Nun geht aber des Verfassers Absicht nicht allein dahin, in psycho-
logischer Beziehung zu orientieren, was ihm so ziemlich gelungen ist,
sondern sie richtet sich darauf, eine Fortbildung der Pädagogik auf
psychologischer Grundlage zu bieten oder doch wenigstens einzuleiten,
was ihm durchaus nicht gelungen ist. — Es giebt in der Gegenwart nur
eine pädagogische Bichtung, die aus der Psychologie in konsequenter
und durchgreifender Weise Nutzen gezogen oder doch Nutzen zu ziehen
versucht hat — die Schule Hebbarts« Ihr erklärt der Verfasser den
Krieg, indem er sagt: „Es ist keine Frage, dafs der Anspruch, den die
sogenannte HEBBARTsche pädagogische Schule erhebt, die ausschlieMich
.wissenschaftliche zu sein, und das Ansehen, dessen sie sich fortwährend
in der pädagogischen Welt erfreut, geeignet ist, die Pädagogik um allen
wissenschaftlichen Kredit zu bringen^ (S. 9). Das klingt scharf genug
und wird noch verschärft durch den Umstand, dafs die Worte in Sperr-
druck gesetzt sind.
Angesichts dieser Schärfe ist es in Rücksicht auf Femerstehende
geboten, einem Irrtum zu begegnen, der durch die ÄuXserung des Ver-
fassers leicht hervorgerufen werden könnte, wenn sie unbeanstandet
bliebe. Man darf durchaus nicht annehmen, dafs die pädagogische Schule
SDbbbarts der Ansicht sei, aufser der von ihr vertretenen Lehre kOnne
es eine wissenschaftliche Pädagogik überhaupt nicht geben; nur das
eine behauptet sie, und auch viele ihrer Gegner haben es ausgesprochen,
dafs es ein anderes, in gleichem Mafse psychologisch durchgebildetes
Erziehungssystem bis jetzt nicht gebe. Dem wird auch Maieb kaum
widersprechen. Der Berichterstatter selbst, obwohl er sich zur päda-
gogischen Schule Hbbbabts zählt, kann nach seinen Ausführungen in
Bd. Vm, S. 104 ff. dieser Zeitschrift nicht in den Verdacht kommen, als
sei er mit dem Stande der Dinge in seiner Bichtung vollständig zufrieden
und fordere für sie allgemeine Anerkennung und Bescheidung. Er mag
aber, mit Maier zu reden, das erprobte Alte nicht preisgeben, bis ihm.
Litteraturbericht 115
etwas Neues als Ersatz geboten wird, und das hat auch Maikb nicht
gethan, ja er hat an den pädagogischen Folgerungen der HERBABTschen
Schule nicht einmal eine wirklich einschneidende Kritik geübt, die ge->
wils nicht ohne jeden Nutzen gewesen wäre.
Die Beweise hierfür sind nicht schwer zu erbringen. Was den
Unterricht anlangt, so braucht man blofs von dem etwas eigentümlichen
Zugeständnisse Kenntnis zu nehmen, „dafs derselbe bei aller ausschlag-»
gebenden Bedeutung des mächtigen Gottes Eros (?) durch den Weg der
Vorstellungen geht und so viele Männer der Schule Hbrbarts praktisch
im Segen arbeiten^ (S. 9), sowie von der Thatsache, dafs wirklich neue
pädagogische Folgerungen aus der vorgetragenen Psychologie gar nicht
gezogen werden. Aber auch in der Lehre von der Erziehung im engeren
Sinne, der Gefühls- und Willensbildung, findet man bei genauerem Zu-
sehen nur die Vorstellungen als Hebel aller pädagogischen Thätigkeit
bezeichnet. Wir sagen ausdrücklich bei genauerem Zusehen, denn der
Verfasser liebt bei seinen Aasführungen häufig einen leichten Nebel,
den der Blick durchdringen mufs, um zu erkennen, was dahinter steckt.
Wo bleibt da die Veranlassung zu den harten Worten, die der Verfasser
über die Pädagogik Herbabts und seiner Schule ausgesprochen hat?
Man könnte ihm allenfalls zugestehen, dafs erziehliche Mafsnahmen
überhaupt nicht die weitreichende Macht haben, welche man ihnen in
der HEBBABTschen Schule hin und wieder wohl zutraut, aber an ihrer
Bichtigkeit innerhalb des Möglichen ändert das doch nichts.
So sehen wir also, dafs Maieb ebensowenig, wie kürzlich Bubkhabdt
in seinen „Psychologischen Skizzen" aus der neueren Psychologie einen
wesentlichen Vorteil für die Entwickelung der Pädagogik zu ziehen
gewufst hat. Der Grund liegt darin, dafs die neuere Psychologie bei
Maieb nicht eigentlich verwertet, sondern mehr referierend behandelt
ist. Der Verfasser hat ziir pädagogischen Verwertung auch eine viel zu
schwankende eigene Stellung. Das verrät er schon im Vorworte, wo er
erst erklärt, dafs es an einer Arbeit fehle, „die den Ertrag der letzten
Jahrzehnt« namentlich mit Bücksicht auf die Physiologie zu nützen
sucht'', gleich darauf aber von der Experimentalpsychologie „nicht all-
zuviel" erwartet. Bei dieser Halbheit kann es nur verwunderlich er-
scheinen, dafs der Verfasser dennoch das Bedürfnis gehabt hat, der
pädagogischen Welt ein neues Buch vorzulegen, das den neueren psycho-
logischen Forschungen entsprechen soll.
Der Berichterstatter, obwohl Herbartianer, hat von den Forschungs-
ergebnissen der letzten Jahrzehnte, die für ihn (für Maieb nicht?) mit
denen der Experimentalpsychologie so ziemlich zusammenfallen, doch
eine viel günstigere Ansicht bezüglich ihrer Verwertbarkeit in päda-
gogischer Hinsicht, wenn er auch bis auf weiteres bezweifeln mufs, dafs
sich auf sie ein originelles pädagogisches System, das dem HEBBABTschen
überlegen wäre, gründen läfst. Er würde es beispielsweise für recht
nützlich halten, wenn Untersuchungen wie die von Ebbinohaüs, Binbt
und Henbi (L'Annie psycJiologiqae. 1894) über das Gedächtnis, wie ferner
die von Mosso, Ssikorsky, Bubgerstbin, Kraepelin u. a. über die Ermüdung
auf die Pädagogik nach den verschiedensten Eichtungen erschöpfend
8*
116 Litteraturherichi.
angewandt würden. Nicht minder fruchtbar erscheinen ihm die neuer-
dings 80 zahlreichen Beiträge zur Individualpsychologie fär die Päda-
gogik zu sein, ganz besonders diejenigen, welche psychopathische
Grenzzustände behandeln. Man müfste sich zu diesem Zwecke allerdings
yon dem auch bei Maier vorhandenen Vorurteile freimachen, als handle
es sich hier um abnorme Zustände, aus denen weder für die Psychologie
noch für die Pädagogik viel zu lernen sei. Unseres Erachtens liegt in
der Vernachlässigung dieser Gebiete der hauptsächlichste Grund daftbr,
dafs ganz besonders die Lehre von der Zucht, d. i. der Erziehung im
engeren Sinne, gar nicht von der Stelle rücken will.
Soviel zum Inhalte des MxiEBSchen Buches. Was nun die Anlage
und die Darstellungsform betrifft, so ist es nur für solche lesbar, die in
der Psychologie keine Neulinge mehr sind. Wie weit es sich ftür den
Hausgebrauch, d. h. doch wohl für Eltern, eignet, versteht sich hiemach
von selbst. Ufer (Altenburg).
J. J. van BiERVLiET. Über den EiniiiirB der Gesehiwindigkeit des Pnlses
anf die Zeitdauer der ReakÜonsBeit bei Bchalleindrtteken. Pkilos.
Stud, XI. S. 125—134. (1894).
Die sehr zahlreichen, an elf Versuchspersonen angestellten Ver-
suche, deren Pulsfrequenz jedesmal vor Beginn der Versuche genau fest-
gestellt wurde, bestanden in einfachen sensoriellen Reaktionen auf den
Ton eines Schallhammers. Das Ergebnis war, dafs bis auf eine Person,
die sich umgekehrt verhielt, die Beaktionszeiten mit zunehmender Puls-
frequenz abnahmen. A. Pilzecker (Göttingen).
Hugo Münsterberg. Stndies ftom the Harvard Psychological Laboratory.
Paychol Bev. Vol. I. S. 34—60. 1894.
A. Memory. (With the assistance of Mr. J. Bioham.)
Um die Beteiligung disparater Sinnesgebiete beim Vorgange der
Wiedererinnerung festzustellen, insonderheit, um zu bestimmen, ob die-
selben hierbei unabhängig voneinander wirken oder sich gegenseitig
hemmen oder einander unterstützend beeinflussen, führte M. w&hrend
des Winters 1892 — 1893 an fünf Personen in je 50 Arbeitsstunden eine
Beihe von Versuchen aus, in welchen kleine, aus verschieden gefärbtem
Papier gefertigte Quadrate und ebenso weifse, mit schwarzen Ziffern
beklebte Kartons von gleicher Form und Gröfse vor einem dunklen
Hintergrunde zu Serien von 10—20 Einzel Vorstellungen so verbunden
wurden, dafs dieselben unter mannigfacher Variierung des Inhalts simultan
oder successiv als Gesichts- oder Gehörseindrücke oder als beides
zugleich von den Versuchspersonen innerhalb einer konstant erhaltenen
Zeit von zwei Sekunden für jeden Einzel versuch erfafst werden konnten.
Um assoziative Faktoren bei der Beproduktion dieser Eindrücke mög-
lichst auszuschalten, hatten die letzteren dieselbe mittelst entsprechender
Quadrate von 3Vs cm Seitenlänge (ob die Gröfse des vorhandenen Ver-
suchsobjekte dieselbe war, ist aus den Angaben nicht genau ersichtlich.
Bef.) sogleich nach Schlufs jeder Versuchsreihe unter Beobachtung ver-
schiedener Vorsichtsmafsregeln. besonders bei Vermeidung mnemo-
Litteraturberieht 117
teclmischer Hülfsmittel sofort auszuführen. Die hierbei begangenen
falschen Anordnungen wurden als Fehler angesehen und diese, nach
Prozentsätzen berechnet, als Mafsstab für die Besnltate der einzelnen
Versuchsreihen verwertet. Auf diese Weise gelangte Verfasser zu
folgenden Endergebnissen :
1. Sind zwei Sinnesgebiete bei der Wiedererinnerung von Vorstellungen
beteiligt, so hindern sie sich gegenseitig.
2. Isoliert übertrifft das visuelle Gedächtnis bei weitem das auditive^
kombiniert überwiegt das letztere.
3. Durch engere Kombination verschiedener Vorstellungsinhalte wird
die Beproduktion erschwert.
4. Eine beiden Sinnen gleichzeitig dargebotene Vorstellungsreihe wird
leichter reproduziert, als wenn diese von jedem derselben einzeln
aufgenommen wurde.
5. Simultan erzeugte Vorstellungen werden leichter reproduziert, als
successiv hervorgerufene.
6. The Intensifying Effect of Attention. (With the assistance
of Mr. N. KozAKi.)
Je zwei durch Licht- und Schallintensitäten, sowie durch Heben
von Gewichten und durch Distanzunterschiede zweier Punkte hervor-
gerufene .Sinneseindrücke von mäfsiger Stärke wurden derart verglichen,
dafs die Aufmerksamkeit auf den einen derselben eingestellt und von
dem anderen abgelenkt wird Um die Ablenkung der Aufmerksamkeit
kontrollieren zu können, liefs Verfasser die Versuchspersonen vor und
während der Beizeinwirkung gegebene Zahlengröfsen addieren. Di^se
wurden während der optischen Eindrücke von einer anderen Person, bei
den GehOrseindrücken von der Versuchsperson selbst gelesen. (Über die
Verwendung des Verfahrens während des Hebens der Gewichte fehlt
die Angabe. Bef.) Als Mafs für die zu vergleichenden Distanz-
unterschiede diente die Intensität der Bewegungsempfindungen der Augen.
Die für diesen Zweck verwandten Punkte waren von weifser Farbe und
befanden sich auf einem quadratisch geformten Tuchschirm von 80 cm
Seitenlänge. Die Entfernungen dieser beiden bis zum Beginn des Ver-
suches verdeckt gehaltenen Punkte konnten durch eine auf der Bückseite
des Schirmes angebrachte Schraubenvorrichtung verändert und zahlen-
mäfsig bestimmt werden {Beitr. z, experiment. Psychol. Heft IV). Bei einem
Normalreize von 30 cm betrugen die Vergleichdistanzen 27,5, 28, 28,5 bis
32,5 cm. Als Lichteindruck diente ein aus den weifsen und schwarzen
3ektoren zweier Botationsscheiben gemischtes Grau, das ebenfalls bis
zum Beginn des Versuches verdeckt blieb. Beim Normalreize waren dem
Schwarz in diesem Falle 90^, bei den Vergleichsreizen dagegen 65, 70, 75
bis 115^ Grad Weifs zugemischt. Der Schalleindruck wurde durch eine
bis zum Versuche von einem Elektromagneten gehaltene und dann auf
eine Ebenholzplatte fallende Metallkugel erzeugt. Beim Normalschall
betrug die Fallhöhe 50 cm, ^ bei den Vergleichsreizen 35, 40 bis 65 cm.
Ein Signalreiz ging diesen Versuchen regelmäfsig vorauf. Für das Heben
von Gewichten wurde ein trichterförmiges Gefäfs benutzt, das, während
das Gelenk der Ellenbeuge auf einem Tische ruhte, vom Zeigefinger und
118 lAtteratwrhencht
Daumen erfarst, ohne Bewegung des Handgelenks gehoben wurde. Ein
Gewicht von SOO g diente als Normalreiz, die Vergleichsgewichte be-
trugen 250, 260 bis 350 g. Das Eigengewicht des Apparates war in
jedem Falle in den genannten Gewich tsgröfsen mit eingeschlossen. Die
Gesamtsumme der Einzelversuche war auf fünf Versuchspersonen ver-
teilt. Die Urteile wurden in richtige und falsche geteilt und nach Pro-
zenten berechnet. Eine der Abhandlung eingefügte Tabelle enthält die
näheren Angaben dieser so erhaltenen Werte. Als Hauptergebnis seiner
Versuche giebt Verfasser an, „dafs alle Reize relativ schwächer erscheinen,
wenn die Aufmerksamkeit von Anfang an auf sie gerichtet ist*'. - Die
einzige Ausnahme von dieser Hegel bildete bei zwei Beobachtern die
Beurteilimg der grauen Scheiben« doch ist Verfasser geneigt, diese Er-
scheinung dem Umstände zuzuschreiben, dafs der Helligkeitswechsel
einer grauen Scheibe der physikalischen Veränderung subjektiv nicht
immer parallel verläuft, sondern die Zunahme der Verdunkelung psycho-
logisch ebensowohl als Zusatz einer positiven Qualität betrachtet werden
kann. Im übrigen deutet Verfasser seine Resultate im Sinne seiner als
bekannt vorauszusetzenden Theorien.
C. A Psychometric Investigation of the Psychophysic
Law. (With the assistance of Mr. W. T. Bush.)
M. verläfst die Methode der eben merklichen Unterschiede, um auf
Grund früherer Ausführungen mittelst der von ihm schon früher
beschriebenen Methode der Kettenreaktion {Beiir, e, experiment Psychol.
Heft IV. S. 40 ff.) zu zeigen, dafs wir in der relativen Leichtig-
keit, mit der wir zeitlich die Unterschiede (qualitative, wie intensive)
zwischen zwei gegebenen Sinnesreizen bestimmen können, auch ein
objektives Mafs für die subjektiven Unterschiede derselben besäfisen.
„Wir sollten die Unterschiede zwischen zwei Paaren von Beizintensitäten
als gleich bezeichnen, wenn gleiche Zeiten für ihre Unterscheidung
nötig sind/ Die Gültigkeit des psychophysischen Gesetzes mufs sich
nach Verfasser beispielsweise zeigen, wenn die zur Unterscheidung
zweier Gewichte von 100 und 200 g nötige Zeit gleich derjenigen ist,
welche bis zur Feststellung eines Intensitätsunterschiedes zwischen
20Ö und 400 Grammgewichten verstreicht. Die zu vergleichenden Beiz-
objekte waren für [den vorliegenden Fall auf weiTsem Grunde schwarz
gezeichnete Strecken, deren Längenunterschiede jedoch stets deutlich
wahrnehmbar waren. Auf den letzten Punkt legt Verfasser dem ver-
änderten Versuchs verfahren entsprechend in erster Linie Gewicht. Die
Anordnung war bei der Ausführung der Versuche aufserdem so ge-
troffen, dafs die Vergleichsstrecken mittelst einer mit den Beaktions-
tasten in Verbindung stehenden elektromagnetischen Vorrichtung durch
eine in einen schwarzgefärbten quadratischen Schirm von 50 cm Seiten-
länge geschnittene, bis zum Momente der Beurteilung verdeckt gehaltene
Öffnung von 6 cm Durchmesser gezeigt wurden, bis zu welcher Zeit die
Versuchspersonen angewiesen waren, auf den vor ihnen befindliehen
Normalreiz zu blicken. Für den Betrieb dieser Einrichtung genügte
ebenso, wie für den des benutzten Chronoskops je eine Batterie. (Eine
nähere Angabe über die Art der verwandten Elemente fehlt. Bef.)
LiUeraturberieht 119
Verfasser legte den Scbätztingsversuchen zunächst Beizgruppen von
2,5 — 6—7,6; 4 — 6—6 und 4,6 — 5 — 6,6 mm Streckenlänge zu Grunde, von
denen jede sodann wieder viermal vervielfacht wurde (1=^2,6—6 — 7,6;
6—10 — 16 ; 7,5—15—22,6 ; 10- 20—36 mm), so dafs im ganzen zwölf Qruppen
von Beizgröfsen zur Beurteilung gelangten. Da in jeder einzelnen dieser
so entstandenen zwölf Gruppen 20 Einzelversuohe angestellt wurden und
fünf Personen an den Beobachtungen teilnahmen, so ergaben sich für die
während des Winters 1892 — 1893 ausgeführten Untersuchungen im ganzen
3600 Beaktionen. Nach Elimination der in die Ergebnisse der vorliegend
verwandten Wahlreaktionen eingehenden Faktoren glaubt Verfasser aus
den erhaltenen Durchschnittswerten die annähernde Gültigkeit des
psyohophysischen Gesetzes für die Beurteilung optischer Distanzen darthun
zu können. Die gewonnenen Einzelwerte sind der Arbeit in einer
zusammenfassenden Tabelle eingefügt. Dafs die Gültigkeit dieses Ge-
setzes nur eine annähernde sein kann, erklärt sich nach Verfasser aus
der Natur der Versuchsanordnung, indem mit dem Längenzuwachs der
gegebenen Strecken die Schwierigkeit der Unterscheidung sich ver*
mindere. „In jeder Gruppe sehen wir, dafs die Zeiten um so kleiner
werden, je gröfser die das zu Grunde liegende Verhältnis vervielfachende
Zahl wird/' Verfasser schliefst: »Für unsere subjektive Unterscheidung
ist daher die stärkere Wirkung der relativen Beizunterschiede konstant
beeinfluTst durch die schwächere Wirkung der absoluten. "^
Verfasser stellte ähnliche psychometrische Untersuchungen mit Ge*
Wichten, Klängen und verschiedenen Lichtquellen an, die aber derzeit
noch nicht abgeschlossen waren.
D. Optical Time-content. (With the assistance of Mr. A. B. T.
Wyus.)
Verfasser hebt zunächst die für den Zeitsinn in Betracht kommenden
Fragen hervor und sucht sodann unter Hinweis auf seine Abhandlung
in Beitr. g. experiment. PsychoL Heft IV. S. 89 die von ihm über das Zeit-
urteil aufgestellte Theorie, nach welcher das Wesen desselben lediglich
auf die die Thätigkeit gewisser Muskelgruppen begleitenden Empfindungen
zurückzuführen sei, durch die Mitteilung neuer Versuchsergebnisse zu
verifizieren. Verfasser fügt diesen Ausführungen noch die weitere Be-
merkung hinzu, dafs die von E. Meümank gegen seine Theorie erhobenen
Einwände {Phihs. Stud. Bd. Vm. S. 442 £P. Bef ) ihn von der Biohtig-
keit derselben nur noch mehr überzeugt hätten. (?) Die Versuchs-
anordnung war für den vorliegenden Fall dahin abgeändert, dafs die zu
beurteilenden Zeitstrecken nicht wie frtLher durch Gehörs-, sondern
dieses Mal durch G^sichtseindrücke (mit Ziffern und Buchstaben be«
schriebene, sowie farbige Papiere verschiedener Helligkeitsstufen} aus-
gefüllt wurden. Die letzteren waren auf die schwarz bezogene Trommel
eines Lunwiosschen Kymographions geklebt und wurden dem Auge der
Versuchsperson durch eine in einen ebenfalls schwarz bezogenen Schirm
geschnittene quadratische Ofbung von 1 cm Seitenlänge hindurch, hinter
welcher die Kymographiontrommel mit einer Geschwindigkeit von 1 cm
in der Sekunde rotierte, dargeboten. Bei konstant erhaltener Normal*
zeit, der auf der rotierenden Trommel eine Länge von 10 cm entsprach,
120 LUteraturbencht
variierten die Yergleichszeiten zwischen einer solchen von 7 bis 13 cm.
Dabei wurden die letzteren in den einander folgenden Versuchsreihen
sowohl als erster, wie als zweiter Eindruck beurteilt. Das Ergebnis
dieser Untersuchung fafst Verfasser selber dahin zusammen, „dafs die
Zeitstrecken, ohne dafs auf die Anzahl der dargebotenen Eindrücke
Bücksicht genommen wird, um so kürzer erscheinen, je mehr die Auf-
merksamkeit von dem optisch ausgeftdlten Inhalte derselben angezogen
und infolgedessen von der Beobachtung der durch die körperlichen Ver-
änderungen bedingten subjektiven Erscheinungen abgelenkt wird**. Am
Schlüsse der Abhandlung stellt Verfasser sodann noch eine theoretische
Erörterung über den Zeitsinn in Aussicht, in welcher auch die bei den
vorliegenden Versuchen gesammelten subjektiven Erfahrungen der ein-
seinen Teilnehmer verwertet werden sollen.
E. A Stereoscope without mirrors or Prisms.
Auf 'Grund des Prinzips der stroboskopischen Scheiben be-
schreibt M. eine Einrichtung, durch welche unter anderem auch die
stereoskopische Vereinig^ung successiver Eindrücke möglich gemacht
wird. Diese Vorrichtung besteht in einem gröfseren Rotationsapparat,
der an seiner verlängerten Axe in verschiebbarem Abstände vom Mittel-
punkte des Apparates aus jederseits eine Pappscheibe von 25 cm Durch,
messer trägt. Die vordere, dem Beobachter zugekehrte dieser beiden
Scheiben ist mit den für den Durchblick bestimmten Spalten versehen,
während sich auf der hinteren die zu vereinigenden Bilder befinden.
Die vordere Scheibe ist aufserdem schwarz bezogen. Die Spalten der-
selben sind in zwei konzentrisch übereinander verlaufenden Reihen so
angeordnet, dafs einer unteren Spalte jedesmal eine obere folgt. Die
Länge dieser Spalten beträgt in M.'s Anordnung 5 cm, die Breite der-
selben am äufseren Rande für die untere Spalte 8, fQr die obere 5 mm:
die übrige Weite derselben folgt dem Verlaufe der Radien.
Aufser der Verwendung seines Apparates für die praktischen
Zwecke des Unterrichts in den Schulen erhofft M. auch für die psycho-
logische Forschung von demselben vielseitige Vorteile, so in Fragen,
wie die nach dem binokularen Sehen im allgemeinen, dem stereoskopischen
Sehen, der Farbenmischung, den Kontrasterscheinungen etc.
Eine beigegebene Lichtdrucktafel veranschaulicht den Gebrauch
des Apparates. Fribdr, Kiesow (Leipzig).
C. Benda und Paula Güktheb. Histologischer HandaÜas. Eine Sammlung
mikroskopischer Zeichnungen nach dem Präparat für den Gebrauch
bei praktischen Übungen. 60 Tafeln mit Text Leipzig und Wien.
Franz Deuticke. 1895.
Der Atlas ist aus der Praxis heraus entstanden. Er soll bei den
Kursen der normalen Gewebelehre dem Schüler als Hfilfsmittel dienen,
ihm das Verständnis der angefertigten mikroskopischen Präparate er-
leichtern. Diesen Zweck dürfte der Atlas vollkommen erreichen; er
dürfte auch denen von Nutzen sein, welche in ihrem späteren medixini*
Litteraiurberieht. 121
sehen Leben gelegentlich normale oder auch pathologische Präparate
anfertigen. Die Zeichnungen sind nicht schematisiert und so gut, als sie
sich ohne Zuhülfenahme der Farbe herstellen lassen. Der Text ist auf
die allernötigsten Angaben über die Präparationsmethode und die Stärke
der Vergröfserung beschränkt.
Jedem Spezialisten wird in einem derartigen Werke natürlich das
eine oder das andere fehlen. So vermifst der Referent eine nach Nissl
gefllrbte Ganglienzelle, sowie einen nach Wbigbrt oder Pal geflUrbten
Schnitt der Q-rofshimrinde, während ihm die Tafeln 47 und 48 mit ihren
nur ganz unbedeutend vergröfserten Durchschnitten durch Bückenmark
imd Bimstamm nicht in den Bahmen eines histologischen Atlanten
hineinzugeboren scheinen. Die Aufnahme der letzteren wird wohl
durch die praktische Erfahrung im Kurse veranlaXst sein.
H. Sachs (Breslau).
Ai«LZN Starr. The mtisciilar sense and its location in tlie briain-cortez.
JP^OmL äw. n. 1. S. 32-36. (1895.)
Die Beobachtung über MuskelsinnstOrung ist an einem jungen
Menschen gemacht, der nach einem Fall im flinfben Lebensjahre an reiz-
barer Schwäche und nach einem zweiten Fall im 16. Jahre an fixem
Kopfschmerz litt. Diese Beschwerden exacerbierten periodisch und
führten, wenn sehr intensiv, zu häufigen Anfällen von Tobsucht mit
nachfolgender Amnesie, die unter Bromkaligebrauch seltener wurden.
Der Schädel wurde an der empfindlichsten Stelle trepaniert, an
einer Stelle, die (am Gehirn) zwei Zoll hinter der Bolandschen Furche
und anderthalb Zoll nach links von der Medianebene lag, also etwa in
der Mitte des Scheitellappens. Es wurde eine an der Trepanationsstelle
direkt auf der Hirnoberfläche liegende, 'A Zoll im Durchmesser
haltende „vaskuläre'' Geschwulst entfernt.
Die Heilung verlief reaktionslos, aber unmittelbar nach der Operation
liefs sich ein völliger Verlust des Muskelsinnes an Unterarm und Hand
rechts konstatieren ; das Lagegefühl fehlte, alle willkürlichen Bewegungen
waren eigentümlich ungeschickt. Taktile, thermische und schmerzweckende
Beize wurden normal empfunden, die Muskelkraft war unverändert.
Nach drei Wochen begann eine binnen drei Monaten zu völliger Heilung
führende Besserung. Kurella (Brieg.)
B. HiLBERT. Zur Kenntnis der sogenannten Doppelempfindnngen. Knapp
u. Schweiggers Ärch. f. Augenheilkde. Bd. XXXL S. 44—49.
Unter Doppelempfindungen versteht man Empfindungen, die, infolge
Beizung eines Sinnesnerven entstehend, nicht auf diesen beschränkt
bleiben, sondern gleichzeitig Sensationen im Gebiete eines zweiten
Sinnesnerven hervorrufen. Bisher wurden folgende Arten von Doppel-
empfindungen beobachtet: 1. Farben- und Form Vorstellungen bei Schall-
empfindungen; 2. Sehall Vorstellungen bei Lichtwahmehmungen ; 3. Farben-
vorstellungen bei Geruchsempfindungen; 4. Farbenvorstellungen bei Ge-
122 Litteraturbericht
sclimacksempfinduQgen; 5. Farben- und Form Vorstellungen bei Sclimerz-,
Temperatur- und Tastempfindungen; 6. Farben- und Lichtyorstellungen
beim Sehen von Formen.
Verfasser berichtet über eine neue von ihm beobachtete Form.
Ein Herr hat seit frühester Jugend fast täglich folgende ausgesprochene
Empfindung: Sobald er im Einschlafen ist und zufällig die Wanduhr
schlägt, sieht er bei jedem Schlage ein schön rosa gefärbtes Flammen-
büschel von kegelförmiger, deutlich begrenzter Gestalt. Die Länge des
Phänomens beträgt etwa einen Fufs.
Der Fall scheint eine gute Stütze für die Erklärung der Doppel-
empfindungen nach der atavistischen Theorie im DxRWiNschen Sinne zu
sein. Das Auftreten gerade im Halbschlaf läfst schliefsen, dafs, während
diese Empfindungen sonst infolge der Aufmerksamkeit des Individuums
unterdrückt werden, bei Ausschaltung des Bewufstseins die ehemalige
anatomische und physiologische Einheit vom Gesichts- und Gehörs-
zentrum sich in der Weise dokumentiert, dafs ein Reiz zwei Em-
pfindungen auslöst. B. Greeff (Berlin).
L. Pfjlükdleb u. O. Lümmeb. Die Lehre Tom Licht (Optik). Zweite Liefe-
rung. (Müller 'Fouillet 8 Lehrbuch der Physik. 9. Aufl. Bd. 2. Abtl. 1.
Lfg. 2.) Braunschweig. F. Vieweg & Sohn. 1895. 316 S.
Das, was wir bei der Besprechung der ersten Lieferung des vor-
liegenden Werkes (Bd. VII, S. 408) gesagt haben, triflft sowohl in seinem
Tadel, wie in seinem Lobe auch für die zweite Lieferung zu. Auf
Einzelheiten des Buches einzugehen, ist hier nicht der Ort, da sein
Inhalt im wesentlichen, abgesehen von dem elften Kapitel, „das Au^e
imd die Gesichtsempfindungen'', nur eine — freilich sehr wichtige — Hülfs-
wissenschaft des von unserer Zeitschrift vertretenen Gebietes behandelt.
In § 226 des eben genannten Kapitels fällt uns als eine Lücke auf, dafii
nur das Ophthalmometer von Helmholtz, nicht aber der gleichen Zwecken
dienende Apparat von Jayal erwähnt wird. Das jAVALsche Ophthalmo-
meter ist in fast allen Universitäts-Augenkliniken und auch einer
grolsen Zahl von Privatkliniken in Gebrauch und wird fleifsig benutzt,
während das HELiiHOLTzsche Ophthalmometer nur selten vorhanden ist
und überdies fast stets wohlverwahrt im Apparatenschranke steht, wo es
dann von der jüngeren Ophthalmologen-Generation mit jener geheiminis-
vollen Scheu betrachtet wird, welche ihr alle diejenigen Apparate ein-
flöfsen, deren Benutzung das Aufschlagen einer Logarithmentafel er*
fordert. Es wäre wünschenswert, dafs die Beschreibung des jAVALSchen
Ophthalmometers an einer späteren geeigneten Stelle (etwa bei den
Mefsapparaten, welche die Doppelbrechung benutzen) nachgeholt würde«
Arthub König.
0. ScHWBiaGER. Zum AkkommodatioiLs • Mechanismus. Knapp und
Schweiggirs Ärch. f. Äugenheilkde, Bd. XXX. S. 275—276.
Bei der Extraktion des Altersstars kommt es gelegentlich vor, dafs
sofort nach Beendigung des Schnittes durch Fressen von selten des
Litteraturhericht 123
Patienten die Linse nebst unverletzter Kapsel aus dem Auge geschleudert
wird. Q-ewöhnlicli zeigt dabei die Linse ihre steile flache Form ; gelegent-
lich bemerkte Verfasser aber, dafs bei Verflüssigung der Corticalis , die
mit unversehrter Kapsel aus dem Auge geworfene Linse die runde Form
zeigte, welche man bei jugendlichen Individuen post mortem vorfindet.
Da nun eine verflüssigte Corticalis eine besondere Elastizität nicht haben
kann, erklärt sich die Thatsache lediglich aus der Elastizität der Linsen-
kapsel, und es ist ja auch begreiflich, dafs eine in sich geschlossene und
mit weichem Inhalt angefüllte elastische Membran naturgemäfs die
Kugelgestalt annehmen mufs, wenn sie nicht durch einen Gegenzug
daran verhindert wird. Aus der gröfseren Dicke der vorderen Kapsel
erklärt sich dann auch ihre stärkere Wölbung bei der Akkommodation.
Die bei der Akkommodation nachweisbare Fbrmveränderung der
Linse wird gewöhnlich darauf bezogen, dafs die Linsen Substanz bestrebt
sei, sich der Kugelgestalt anzunähern, doch hält Verfasser auf Ghrund
obiger Beobachtung die Elastizität der Linsenkapsel für ausreichend,
während die Linse selbst dabei wohl mehr eine passive Bolle spielt.
Solange die Linse jugendlich und weich ist und einer Form-
veränderung nur wenig Widerstand leistet, überwiegt die Elastizität der
Kapsel; wenn aber die Linse allmählich härter wird, setzt sie der Kapsel
einen mehr und mehr wachsenden Widerstand entgegen. Kommt es
dann bei Cataracta zu Verflüssigung der Corticalis, so überwiegt wieder
die Elastizität der Kapsel, und sie nähert sich der Kugelgestalt, sobald
sie nicht mehr durch die Zonula gespannt erhalten wird.
B. Gbebff (Berlin).
C. ScHWBioosR. Vorlesungen über den Gebranch des Angenspiegels, als
ein Lehrbuch der Ophthalmoskopie für Studierende und Ärzte bear-
beitet und erweitert von B. Gbeeff. Vm und 161 S. Wiesbaden.
J. F. Bergmann, 1895.
Vor 30 Jahren an der Klinik von v. Graefb gehaltene Vorlesungen
ScHWE^öOERS hat der Bearbeiter bis auf den heutigen Standpunkt fort-
geftLhrt. Es sind also namentlich die neueren Augenspiegel und andere
Hülfsapparäte, die Methoden der objektiven Befraktionsmessung, darunter
auch die Skiaskopie, hinzugekommen, die klar und gründlich erörtert
werden. Eine Schilderung des so überaus vielgestaltigen normalen Augen-
spiegelbildes, sowie der Elrankheitsbilder mit anatomischen Erklärungen,
vielen Skizzen und Abbildungen hat ebenfalls Greeff hinzugefügt. Da
die Vorlesungen mit einer elementaren Spiegel- und Linsenlehre be-
ginnen, bildet das Ganze ein systematisches Lehrbuch der Ophthalmo-
skopie, in dem nichts, was für die Praxis von Bedeutung ist, fehlt.
Cl. Du Bois-Beymokd.
G. Tbuxbull Ladd. Direct Oontrol of the Retinal Field. Psychol, Bev»
I, 4 S. 851-355. (1894.)
Der Verfasser hatte vor einigen Jahren die Beobachtung gemacht,
dafs er eine gewisse willkürliche Gewalt über Form und Farbe des
Eigenlichtes bei geschlossenen Augen besitze. TJm der Sache näher
nachzugehen, besonders, um zu sehen, ob diese Fähigkeit eine allgemeine
124 LittertUurberieht
sei, liefs er eine gröfsere Anzahl (16) seiner Schüler darüber Versuche
anstellen. Diese bestanden einfach darin, dafs die Augen geschlossen
und nach gänzlichem Verschwinden der Nachbilder der Wille andauernd
und gespannt darauf gerichtet wurde, dafs das Eigenlicht eine bestimmte
einfache Gestalt, gewöhnlich ein Kreuz, wohl auch von bestimmter Farbe,
annehme.
Die psychologische Bildung der Versuchspersonen schützte nach
des Verfassers Versicherung vor Mifsverständnis und Täuschung. Das
Besultat war folgendes: Vier Personen konnten das gewünschte Ziel
überhaupt nicht erreichen; doch soll von denselben den Versuch nur
eine mit der nötigen Ausdauer angestellt haben. Neun hatten einen
teilweisen, drei einen wahrhaft überraschenden, auffallend günstigen
Erfolg. Über diese letzten zwölf F&llc berichtet der Verfasser aus-
führlich. WiTASEK (Graz).
V. Hensen. Vortrag gegen den Bechsten Sinn. Ärch. f. Ohrenheäkde.
1894. Bd. XXXV. S. 161.
Hensen ist trotz der zahlreichen schwerwiegenden Indizienbeweise,
welche die neueste Zeit zu Gunsten der statischen Funktion des Ohres
gebracht hat, auf dem alten Standpunkte der Physiologie vor den funda-
mentalen Versuchen von Flourens stehen geblieben. Er wendet sich mit
Schärfe gegen Ewalds Versuche und Schlüsse, ohne ihn jedoch zu wider-
legen. Letzteres gilt um so mehr auch von den übrigen Autoren, als die-
selben kaum erwähnt werden. Als ein gewichtiger Grund gegen den
sechsten Sinn wird angeführt, dafs taubstumme Kinder sich in Bezug
auf Statik nicht so abnorm verhielten, wie sie der Theorie nach müTsten.
Diese auf blofse gelegentliche Eindrücke gestützte Behauptung ist in-
zwischen durch Brück (vgl. diese Zeitschr. Bd. IX. S. 296.) glänzend wider-
legt. Femer wird unter ähnlichen Bemerk\ingen auch die Thatsache
gegen den sechsten Sinn ins Feld gefClhrt, dafs selbst Personen mit ganz
normalen Gehörorganen (als Beispiel führt H. sich selbst an) an steilen
Gebirgspartien schwindelig werden! Vergegenwärtigt man sich gegen-
über solcher Art von Kritik die aufserordentlich mühsamen jahrelangen
Forschungen, die minutiöse Vorsicht in Experimenten und Schlüssen
seitens der Gegenpartei, so dürfte schwerlich durch H.'s Vortrag ein
Anhänger des sechsten Sinnes von seinem Glauben bekehrt werden.
Schaefer (Bostock).
Holgee Mygind. Taubstummheit. Berlin und Leipzig, Oscar Coblentz,
1894. 278 S.
Das vorliegende Werk verdient nicht blofs in den Kreisen der
Ohrenärzte, sondern auch in denen der Taubstummenpädagogen ernste
Beachtung. In der Einleitung imd dem 1. Kapitel: „Ätiologie und
Pathogenese ** findet ein grofses statistisches Material eine streng kritische
Bearbeitung in Bezug auf die wichtigsten Fragen der Taubstumm-
heit, die zum Teil von eminent praktischer Bedeutung sind. Be-
Litteraturbericht 125
sondere Sorgfalt hat der Verfasser den Abschnitten über Erblichkeit
und Blutsverwandtschaft zu teil werden lassen, deren Einflufs auf die
Pathogenese der Taubstummheit über jeden Zweifel festgestellt wird.
Unter den Gehimkrankheiten spielt die Meningitis cerebro-spinalis die
Hauptrolle als Ursache der Taubstummheit. Nach den von HARTMAifN
veröffentlichten Untersuchungen Wilhelios waren in den Jahren 1874 — 75
26,8Vo aller in Pommern-Erfurt lebenden Taubstummen infolge des
epidemischen Genickkrampfes ertaubt. Unter den akuten Infektions-
krankheiten ist das Scharlachfieber als eine sehr häufige Ursache der
Taubheit im Kindesalter bekannt. Das als Folge des Scharlachfiebers
auftretende Labyrinthleiden kann entstehen, ohne dafs eine Entzündung
der Trommelhohle das Verbindungsglied bildet; „man ist deshalb vielleicht
berechtigt, das Labyrinthleiden als eine „Metastase^ aufzufassen, ähnlich
wie z. B. das während des Scharlachfiebers auftretende Nierenleiden.**
Ahnlich verhält es sich mit der Pathogenese der Taubheit während der
Mjisern. Von Literesse ist die Beobachtung, dafs die skarlatinöse Taub-
heit von Gleichgewichtsstörungen begleitet sein kann, die zweifellos von
einem Entzündungsprozefs im Labyrinthe (und namentlich in den halb-
zirkelförmigen Kanälen) herrühren.
Im 2. Kapitel : „Pathologie und Anatomie'^ werden die verschiedenen
Abschnitte des Gehörorgans erörtert, in denen durch Sektionen von Taub-
stummen Abnormitäten nachgewiesen sind. Wegen der Fülle des hier
angesammelten Materials müssen wir uns auf die Angabe einiger inter-
essanter Details beschränken, im übrigen aber auf das angeführte Kapitel
verweisen. Im Mittelohr finden sich am häufigsten pathologische Ver-
änderungen am runden Fenster. Dieselben bestehen entweder in Ver-
engungen des Fensters oder in einer Ausfüllung der Nische des Fensters
durch Bindegewebe, oder endlich in Veränderungen der das Fenster normal
verschliefsenden Membranen. Auffallend häufig fehlt das runde Fenster
ganz oder ist durch Knochensubstanz verschlossen. Aus einem vom Ver-
fasser untersuchten Falle geht übrigens hervor, dafs ein Verschlufs des
runden Fensters nicht an und für sich totale Taubheit hervorruft. Häufig
finden sich jedoch daneben bedeutende pathologische Veränderungen des
inneren Ohres, Knochenablagerungen in den Labyrinthhöhlen und be-
sonders in der Schnecke, welche Überreste einer von der Trommelhöhle
ausgehenden und sich nach dem Labyrinth fortpfianzenden Entzündung
sind. Das bei Taubstummen wiederholt beobachtete „Fehlen des ganzen
Labyrinths" ftlhrt Verfasser im Gegensatz zu Schwarzb und Moos nicht
auf eine Hemmungsbildung, sondern auf eine Ablagerung von Knochen-
gewebe in den Hohlräumen des Labyrinths als Besultat einer nach der
Geburt auftretenden Otitis intima (Voltolini) zurück, wodurch die nor-
malen Konturen vollständig verschwinden können. Bei erhaltenem
Labyrinth sind die Bogengänge am häufigsten der Sitz pathologischer
Veränderungen (54Vo aller Taubstummensektionen) und in nicht weniger
als V5 sämtlicher Sektionsberichte mit positivem Besultat die einzigen
Abschnitte des Labyrinths, in denen pathologische Veränderungen sich
vorfinden, eine Thatsache, die in merkwürdigem Gegensatze zu dem
Ergebnis der EwALDSchen Versuche steht, dafs die Funktion der Bogen-
1 26 LüteraturbericJU.
gänge hauptsächlich mit dem „Tonuslabyrintb", weniger oder vielleicht
gar nicht mit dem „Hörlabyrinth'* verknüpft ist. Dieses eigentümliche
Verhältnis sucht Verfasser dadurch zu erklären, dafs aus irgend einem
Grunde, z. B. wegen der Enge der Kanäle, „Beste labyrinthöser £nt«
Zündung in diesem Abschnitte sich am leichtesten organisieren und sich
mikroskopisch nachweisen lassen, femer dafs eine sehr grofse Anzahl
der Sektionen von Taubstummen aus älterer Zeit, wo die mikroskopische
Untersuchung noch wenig entwickelt war, stammen'^ Da übrigens bei
Taubstummen häufig Gleichgewichtsstörungen vorkommen, so sieht Ver-
fasser in den oben angeführten Thatsachen keinen Widerspruch mit der
bekannten EwALDSchen Theorie. Die verschiedenen patholog^chen Ver-
änderungen der Schnecke, darunter am häufigsten Ausfüllung derselben
mit Knochen- oder Kalkgewebe, sind nur in einer kleinen Anzahl der
Fälle auf diese allein begrenzt, zumeist sind gleichzeitig Abnormitäten
in den übrigen Abschnitten des Labyrinths zu konstatieren. Wichtig ist
der Umstand, dafs hierbei häufig auch Spuren oder Überreste von Ent-
zündungen im Mittelohr gefunden wurden. Das vollständige Fehlen des
Hömerven ist in zwei Fällen unzweifelhaft festgestellt. Andere Ab-
normitäten betreffen den Ursprung des Acusticus, vollkommenes Fehlen
oder schwache Entwickelung der Striae acusticae, endlich als die
häufigste pathologische Veränderung des Hörnerven Atrophie oder
Degeneration seines Stammes oder der Endzweige. Da pathologische
Veränderungen des Zentralnervensystems, von rein zufälligen Leiden ab-
gesehen, sehr selten durch Sektionen Taubstummer nachgewiesen sind,
so wenden wir uns sogleich dem nächsten Kapitel : „Symptome und Folge-
zustände*' zu. Hier interessiert zunächst die Angabe, dafs ungef&hr die
Hälfte sämtlicher Taubstummen als Total taube angesehen werden müssen,
während sich bei den anderen Gehörsfragmente nachweisen lassen.
Totaltaube sind bei Taubgewordenen häufiger, als bei Taubgeborenen,
Was speziell die Stummheit anbelangt, so sieht sich Verfasser veranl&Tst,
dieselbe in vielen Fällen als ein der Taubheit koordiniertes Symptom auf-
zufassen; gelingt es, wie Verfasser im folgenden Kapitel an einigen
Fällen nachweist« die scheinbar totale Taubheit [durch otiatrische Be-
handlung zu heben, so stellt sich die Sprache normalerweise von selbst
ein. Die günstigen Besultate, welche durch rechtzeitige ärztliche Ein-
griffe bei Taubstummen erzielt worden sind, veranlafsten Verfasser am
Schlüsse seiner Arbeit zu der Forderung, „alle Kinder mit Taubheit,
welche Taubstummheit hervorrufen kann oder schon hervorgerufen hat,
einer methodischen Untersuchung des Ohres und der angrenzenden
Schleimhäute za unterziehen und eventuell die konstatierten Krank-
heiten einer Behandlung zu unterwerfen.** Dürfte sich schon durch diese
Mafsregel eine nicht unbedeutende Verringerimg der Taubstummheit
ergeben, so will Referent nicht versäumen, auf die wichtigen Heilerfolge
Urbantschitschs bei hochgradig Schwerhörigen, DL*ektors S. HELiiBB in
Fällen „psychischer Taubheit** hinzuweisen. Gerade zu einer Zeit, in
welcher die bisherige Methodik des Taubstummenunterrichtes so viel-
fache Anfechtungen erfährt, würden die Taubstummenlehrer ihrer Sache
den gröfsten Dienst erweisen, wenn sie sich mit den oben angeführten
LiUeraturbertcht 1 27
Methoden genau vertraut machten und dieselben, wo immer möglich,
bei ihren Zöglingen in Anwendung brächten.
Theodor Hellbb (Wien).
Fb. K1B8OW.. Beitrftge zur physiologischen Psychologie des Geschmacks-
sinnes. (Fortsetzung.) PhHos. Stud. X. S. 523— &62. (1894.)
Die vorliegende Fortsetzung behandelt als Kapitel m „Die Qualität
der Geschmacksempfindungen". Die Feststellung der reinen
Oesohmacksqualitäten wird dadurch erheblich erschwert, dafs sich den
meisten Geschmackssensationen Tasteindrücke, vielen auch Geruchs-
eindrücke beimischen, die oft nicht ganz leicht von jenen zu trennen
sind. K. gelangte zu dem Ergebnis, dafs alle unsere Geschmacks-
eindrücke von Tastsensationen begleitet sind, am ausgeprägtesten der
saure Geschmack, bei welchem schon unterhalb der Gesohmacksschwelle
sehwach adstringierende Wirkung sich bemerken läfst, welche mit stei-
gender Konzentration zunimmt, schlief slich schmerzhaft brennend wird
und den Geschmackseindruck übertönt. Beim Salzigen tritt die Tast-
empfindung erst diesseits der Geschmacksschwelle als schwach brennende
Begleitempfindung auf; sie vermag die Geschmacksempfindung hier nie
ganz zu übertönen. Auch das Süfse imd Bittere findet K. regelmäfsig
von iTastsensationen begleitet und führt als Beispiel den schlüpfrigen
glatten Eindruck starker Zuckerlösungen an. Auch ätzende, reizende
Empfindungen kann Zucker auslösen. Beim Bitteren sind nach K. die
Schwellenwerte deutlich von einer Sensation des Fettigen begleitet,
höhere Konzentrationen von Chinin Verbindungen können wiederum
brennend empfunden werden.
Die Frage, ob das Alkalische eine besondere Geschmacksqualität
sei oder nicht, läfst der Verfasser vorläufig noch o£fen, stellt aber Mit-
teilung der Ergebnisse einer planmäfsigen Untersuchung hierüber in
Aussicht, womit in der That einem dringenden Bedürfnisse entsprochen
würde.
Yoipi erheblichem Einflüsse auf die Geschmacksempfindungen sind
Assoziationen und eine gewisse Eigentümlichkeit des Geschmacksorganes,
infolge deren schwache Geschmacksein drücke von einem den einzelnen
Begionen des Mundes eigentümlichen Beigeschmäcke begleitet werden,
wodurch die vom Verfasser sog. „Doppelempfindungen" zu stände kommen.
Schon Beizung mit destilliertem Wasser pflegt von Geschmackseindrücken
begleitet zu sein, die an der Zungenbasis übereinstimmend bei mehreren
Personen den Charakter des Bitteren trugen, während der gleiche Reiz
an der Zungenspitze einzelner Personen als süfs, am Zungenrande als
säuerlich erschien (auch der Referent befindet sich in diesem Falle). Die
den einzelnen Zungenteilen spezifischen Geschmäcke treten auch neben
den abklingenden, durch den adäquaten Beiz ausgelösten Geschmäcken
auf und wirken als Nachgeschmack fort, wenn jene bereits ver-
schwunden sind.
Mechanische Beizimg der Zungenbasis mit einem Glasstabe erregt
128 LitteTaturhericht,
bei vielen Personen bitteren Geschmack; in den anderen Zungenteilen
wird auf diese Weise kein Geschmack ausgelöst.
Bei Schwellenbestimmungen findet man oft, dafs vor dem Auftreten
der adäquaten Geschmacksempfindung unbestimmte Geschmackseindrücke
auftreten, die zuweilen eine gewisse Begelmäfsigkeit zeigen. Z. B. bei
Applikation von Salz hat mah zunächst den Eindruck, dafs ein be-
stimmter Geschmacksstoff appliziert sei, ohne dais man denselben jedoch
zu erkennen vermag. Kurz vor der Schwelle geht dann die Empfindung
durch SüTs hindurch, und dann erst tritt die adäquate Empfindung des
Salzigen auf.
Auffallender noch sind die Assoziationen mit Gerüchen, die dann
auftreten, wenn ein bestimmter Geschmack kürzere Zeit zuvor gleich-
zeitig mit einem bestimmten Gerüche eingewirkt hatte, oder auch dann,
wenn ein intensiver Geruch einige Zeit zuvor perzipiert worden war.
Verfasser erinnert hier auch an die jedem Mediziner bekannten Nach-
wirkungen des Präpariersaalgeruches. (Ob in der Mehrzahl dieser Fälle
nicht in der Nasenhöhle zurückgebliebene Biechstoffpartikelchen, aLio
ein objektiv vorhandener adäquater Beiz die Hauptrolle spielen sollte ? Bef.)
Von besonderem Interesse sind die Untersuchungen des Verfassers
über Kontrasterscheinungen auf dem Gebiete des Geschmackes. K. führt
den Kontrast mit Wükdt auf zentrale Vorgänge zurück. Die Thatsache,
dafs er selbst, wie frühere Untersucher, Geschmackskontraste kon-
statieren konnte, verwendet K. zur Widerlegung des OzHBWALLsohen
Satzes, dafs die bisher als verschiedene Qualitäten innerhalb des
Geschmackssinnes aufgefafsten Wahrnehmungen, Süfs, Bitter, Salzig,
Sauer, in Wahrheit ebensoviele getrennte Sinne bedeuten. Auf die
hierbei berührten Fragen von der spezifischen Energie beabsichtigt der
Verfasser im vierten Kapitel seiner Arbeit einzugehen.
Existieren im Gebiete des Geschmackssinnes Kontrast Verhältnisse,
so mufs sich dies darin offenbaren, dafs: 1. eine indifferente Flüssigkeit,
destilliertes Wasser, durch den Kontrast in eine bestimmt wahrnehm-
bare Qualität verwandelt wird,* 2. mufs eine imterhalb der Schi^elle
liegende Qualität auf diese Weise über dieselbe gehoben werden ; 3. muis
eine bereits übermerkliche Empfindung durch den Kontrast verstärkt
werden.
Die Einzelheiten der interessanten Versuche lassen sich hier in
Kürze nicht mitteilen, die Hauptsache ist, dals, abgesehen von einzelnen
Personen, bei denen wegen zu geringer Empfindlichkeit des Geschmacks-
organes überhaupt kein Kontrast auftrat, mannigfaltige Kontrast-
erscheinungen festgestellt werden konnten.
Salz hebt Süfs deutlicher, als umgekehrt; die Kontrastwirkung tritt
am Zungenrande, wie an der Spitze auf, simultan, wie successiv. Z. B.
0,37« NaCl an einem Zungenrande appliziert, liefs destilliertes Wasser
am anderen Bande schwach süfs erscheinen, 0,5 7o Na Ol deutlich und
stärker süfs u. s. f. Ebenso wurde eine an und für sich nicht merklich
süfse Zuckerlösung durch Kontrast mit Kochsalz deutlich süfs. Eine
IVoige Zuckerlösung, die an sich schon deutlich süfs ist, wurde durch
0,4 bis 0,87« Na Gl am anderen Zungenrande noch erheblich süDser.
IMteratwbericht 129
Während Salz destilliertes Wasser in Süfs überführt, führt Süfs
da^elbe im allgemeinen in die eigene Qualit&t über, d. h. Zucker an
einem Zungenrande l&fst Wasser am anderen Rande ebenfalls süfs er-
scheinen, zum Teil auch salzig und bittersalzig.
In ähnlicher Weise, wie Süfs und Salzig, kontrastieren Salzig
und Sauer, SüTs und Sauer, letztere nur bei sucoessiver Applikation auf
der gleichen Schmeckfiäche, die beiden ersten Paare aufserdem auch bei
simultaner Beizung homologer Zungenteile.
Innerhalb der Beihen Süfs-Bitter, Sauer-Bitter konnte kein kon-
träres Verhältnis nachgewiesen werden, doch kommen vielleicht individuell
begrenzte Kontraste vor. W. Nagel (Freiburg).
M. VON FacT. Beiträge inr PhsTsiologie des Schmensimies. Ber, d. math.*
phys, Klasse d. Sachs. Ges. d. Wiss. z, Leipzig. Sitzung vom 2. Juli 1894.
(S. 185—196.)
Zweite Mitteilung. Sitzung vom 8. Dezember 1894. (S. 283—296.)
Willibald A. Naobl. Die Sensibilität der Oonjnnctivä und Oomea den
menaeUielien Auges. Pflüg er s Ärch. Bd. 59. S. 563—595. (1895.)
— Zur Prüfung des Dmcksinnes. Pflüg er s Ärch. Bd. 59. S. 595—603.
(1895.)
M. VON Fbet. Beiträge sor Sinnesphysiologie der Hant. Dritte Mit-
teilung. Ber. d. math.-phys, Klasse d. Sachs. Ges. d. Wiss. z, Leipzig.
Sitzung vom 4. März 1895. (S. 166 -184.)
Von Fbet geht aus von der Erfahrung, dafs leichte Einwirkungen
auf die Haut als Druck und Berührung, stärkere dagegen als Schmerz
empfunden werden. Eine nähere Erwägung führt ihn zu der Annahme,
daljs die Verschiedenheit dieser Empfindtmgen nicht auf Intensitäts>
unterschiede im Erregungszustande eines und desselben nervösen Apparates
zurückgeführt werden könne, sondern dafs dieselbe nach den Forderungen
der Lehre von der spezifischen Energie der Sinnesorgane an besondere
Endapparate getrennter Nervenstämme gebunden sein müsse und dafs
wir daher auch in dieser Beziehung spezifisch verschiedene „Sinnes-
punkte^ der Körperoberfläche zu unterscheiden hätten. Für die Zu-
gehörigkeit dieser Hautpunkte zu verschiedenen nervösen Systemen einen
exakten Beweis zu liefern, ist vorzugsweise die Aufgabe der erst-
genannten VON FBBTschen Berichte. Verfasser glaubt, diesen Nachweis
einmal aus den Ergebnissen von Schwell bestimmungen, sodann aber auch
HUB Qualitätsunterschieden, die sich in dem Charakter der durch die
betreffenden Sinnespunkte vermittelten Empfindungen aufweisen lassen,
erbringen zu können. Dementsprechend suchte von Fbet ein Versuchs-
verfahren auszubilden, welches bei der Möglichkeit, die Intensität der
verwandten Beize leicht zu variieren, den letzteren zugleich immer nur
eine sehr geringe Angriffsfläche darbieten durfte. Um diese Bedingungen
allseitig erfüllen zu können, wurde als Beizmittel eine Serie verschieden
starker Haare benutzt, von denen jedes bei einer Länge von 20—40 cm
an das eine Ende je eines 8 cm langen, bei den Versuchen als Handhabe
dienenden Holzstäbchens senkrecht zu dessen Achse aufgeklebt war.
Die Einwirkung eines solchen Haares auf die Haut läfst sich, wie
Zeitichrift fttr Psychologie X. 9
130 LittertUurberichU
Verfasser zeigt, über einen gewissen Maximalwert nicht hinauftreiben,
weil das ursprünglich senkrecht zur Haut aufgesetzte Haar sich
zunehmend krümmt und schliefslich abgleitet. Ebenso ist bei Prüfung
auf der Wage die Wirkung eines solchen Haares nach oben begrenzt
durch das Gewicht, welches es eben noch zu heben vermag. Diese
Maximalleistung eines gegebenen Haares nennt Verfasser seine ,,Kraft" ;
durch Division mit der mikroskopisch gemessenen Querschnittsfläcbe
erh< er den „Druck'' des Haares oder die auf die Querschnittseinheit
wirkende Kraft. Für die schwächsten Drucke wurden Kokonfäden, sowie
Kinder- und Frauenhaare, f%br die stärksten Barthaare und Schweins-
borsten benutzt. Die in Frage kommenden Gewichte bewegten sich von
1 — 2 Dekagramm bis herab zu 1 mg und Bruchteilen eines solchen. Für
gröfsere Belastungen genügte eine Tafelwage, für geringere mufste die
chemische Wage benutzt werden. Wiederholte Prüfungen desselben
Haares ergaben nur um wenige Prozente schwankende Werte, „wodurch
bewiesen ist, dafs seine Stellung des Haares, in welcher es am besten
geeignet ist, den Druck der Hand auf die Unterlage zu übertragen, ohne
Schwierigkeit zu finden und festzuhalten ist**. Die in den Versuchen in
Betracht kommenden Drucke bewegten sich zwischen den Werten 0,3
und 300 g/mm«.
Nach Besprechung der im Vorstehenden kurz wiedergegebenen
Versuchsanordnung gliedert Verfasser den in der ersten Mitteilung dar-
gebotenen Stoff nach Versuchen mit minimalen und mit über-
minimalen Beizen. Als den minimalsten Druckwert, der überhaupt
empfunden wiurde, konnte Verfasser denjenigen von 0,8g/mm' bestimmen.
Es gilt für denselben jedoch die Einschränkung, dafs derselbe nur an
einzelnen Pimkten der Cornea und auch dann nur als „eine ganz leioh te
Empfindung" wahrgenommen wurde. Für alle anderen Teile der Körper-
oberfläche lag derselbe unterhalb der Beizschwelle, solange die Be-
rührung von Haaren vermieden wurde. Verfasser legt auf diesen letzten
Umstand besonderes Gewicht. Da die Behaarung den empfindlichsten
Tastapparat des Körpers repräsentiert, so nimmt auch der in Bede
stehende Druckwert wieder den Charakter eines Übermerklichen Schwellen-
wertes an, sobald man mit demselben ein Körperhaar berührt. An haar-
frei^n Stellen haben nach der beigegebenen Tabelle die Conjunctiva bulbi,
femer Zunge, Nase und Lippen nächst der Cornea die geringsten, die
Lendengegend, die Glans penis und die Fufssohle dagegen die höchsten
Schwellenwerte. Erstere wurden bei 2 — 2,6, letztere bei 48, 114 tmd
250 g/mm* gefunden. Für diese Unterschiede in den gefundenen
Schwellenwerten der einzelnen Körperteile macht Verfasser neben der un-
gleichen Dicke der Epidermis die Verschiedenheit in der Verteilung und Aus-
breitung der Nerven geltend. Mit Bezug auf den letzterwähnten Punkt
führt Verfasser aus, dafs trotz der geringen Querschnittsfläche seiner
Beizhaare (Vsoo — Vie mm'), deren Durchmesser also in jedem Falle weit
hinter den^ eines WESBRschen Tastkreises zurückbleibt, eine Summati on
durch Beizung benachbarter Nervenenden dennoch nicht ausgeschlossen
sei. „Man wird nach der anatomischen Kenntnis von der Verteilung der
Nerven in der Haut annehmen müssen, dafs zu einer Hautstelle, welche
Litteraturherü^. 131
fär die Lokalisation eine Einheit darstellt, mehr als eine Nervenfibrille
gehört Mag es dann auch für die Ortsbestimmung gleichgültig sein, ob
eine grOisere oder geringere Zahl dieser Fibrillen getroffen wird, so
braucht doch dasselbe nicht für die Intensität der resultierenden Em-
pfindung zu gelten. LäTst man die Vorstellung zu, dafs die Heizung
einer Anzahl derartiger Nervenfibrillen zwar nicht mehr isoliert empfunden,
wohl aber summiert wird, so w&re die niedrige Beizschwelle nerven-
reicher Bezirke verständlich.*' Umgekehrt bleibt die Beizung mit über-
merklichen Werten nach Verfasser nicht unter allen Umständen auf
einen Tastkreis im WBBSRschen Sinne beschränkt. Von zwei Haaren von
fast gleichem Druck (26 und 28 g/mm*), deren Widerstände und Quer-
schnittsflächen jedoch verschieden waren (90 und 440 mg Widerstand bei
bezw. 34 und 163 mm' • 10-^ Querschnittsfläche) wurde das steifere Haar
auf dem roten Lippensaum stärker empfunden. Eine genauere Beob-
achtung ergab, dafs beide Beizhaare auf der Schleimhaut eine Ein-
stülpung bewirkten, von denen aber die durch das steifere Haar ver-
ursachte den doppelten Durchmesser von derjenigen besafs, die das
schwächere erzeugte, eine Entfernung, in der zwei Zirkelspitzen auf
dieser Hautstelle bereits als getrennte Eindrücke wahrgenommen werden.
„£b kommt somit neben dem Druck eines Beizhaares seine wirkende
Pläche für den Erfolg in Betracht in einem Umfange, welcher von der
Beschaffenheit der gereizten Hautstelle abhängig ist." Die Schnellig-
keit, in der man ein Beizhaar auf eine Hautstelle aufsetzt, ist nach den
vom Verfasser gewonnenen Erfahrungen für den Erfolg des Versuches
ohne Bedeutung.
Die Versuche mit überminimalen Beizen wurden auf der Haut
xmd am Auge ausgeführt.
Nachdem Verfasser zunächst die schon früher gemachte Beobachtung,
dafs auf kleinstem Baume einer Hautfläche neben erregbaren Punkten
auch nichterregbare sich befänden, durchaus bestätigt gefunden, gelangte
er bei der Weiterführung seiner Versuche zu dem Ergebnisse, dafs auch
unter den ersteren zwei qualitativ verschiedene Arten zu unterscheiden
seien, von denen die einen als Druck-, die anderen als Schmerzpunkte
von ihm bezeichnet werden. Beide Arten von Punkten unterscheiden
sich aulser der ihnen spezifischen Empfindung, wie bereits eingangs
erwähnt, durch die Höhe der Beizschwelle, bei welcher sie erregt werden.
Beagierteu die Druckpunkte (Verfasser beschreibt die Untersuchung eines
Hautstückes seiner eigenen Wade von 1 qcm, auf welcher er 15 Druck-
punkte bestimmen konnte) bei Drucken, die zwischen 8 — 33 g/mm* lagen,
so bedurfte es für die Erregung der Schmerzpunkte gewöhnlich eines
Heizwertes von über 200 g/mm', nur in einzelnen Fällen konnte dieser
bei 100 g/'mm* bestimmt werden. Die Druckpunkte liegen nach Ver-
fasser „sämtlich in unmittelbarer Nähe der Haarbälge." Die
durch die Druckpunkte vermittelte Empfindung wird als kömig, die der
Schmerzpunkte als stechend bezeichnet. Verfasser äufsert sich selbst
hierüber: „Stöfst man eine feine Nadel in diese Punkte (Schmerz-
punkte. Bef.), so schwillt die schmerzhafte Empfindung zu erheblicher,
oft schwer erträglicher Stärke an und strahlt aus nach Fläche und
9*
132 Litteraturbericht
Tiefe. Dagegen ist der Einstich in die zuerst bezeichneten Druckpunkte
in der Aegel schmerzlos, man hat eine ganz oberflächlich projizierte und
scharf umschriebene, starke, punktartige Druckempfindung, fOr welche
GoLDSCHBiDBB nicht unpassend den Ausdruck „körniges GefühP ge-
braucht hat.** Auf den nicht erregbaren Punkten rief die Nadel (die
Verfasser noch auf dem Schleifsteine nachzuspitzen empfiehlt), „nur eine
ganz diffuse Berührungsempfindung^ hervor, welche toh Ebbt aus „der
ziemlich ausgedehnten Deformation der Haut'' zu erklären sucht. Ver-
fasser bemerkt femer, dals sich (besonders an den Haarbälgen, das Aus-
reiTsen der Haare verursacht Schmerz) Druck- und Schmerzempfindungen
oft verbinden, und zieht aus seinen Beobachtungen den Schlufs: „Dais
beide Empfindimgen verschiedenen nervösen Gebilden angehören, dürfte
nach den geschilderten Beobaehtungen nicht zweifelhaft sein. Die An-
nahme besonderer Nerven und Endapparate für Schmerz- und Druck-
empfindung schlieist ihre gegenseitige Durchflechtung, bezw. eng benach-
barte Lagerung nicht aus.'' Das „Gefühl des Juckens und KitzeLns" ist
YOir Frbt geneigt, als „sekundäre Empfindung*^ aufzufassen, „vermittelt
durch Reflexe, welche von den Tastnerven auf die GeflUse übergreifen.'^
An der Cornea und der Conjtmctiva bulbi will Verfasser nur
Schmerzempfindungen beobachtet haben, doch liegt die Schmerzschwelle
an diesen Stellen beträchtlich tiefer, als an der übrigen Körperoberfläche.
Verfasser konnte dieselbe an der Cornea beiO,3g/mm', an der Coigunctiva
bei 2 g/mm' bestimmen. Dabei zeigten sich auch hier in beiden Fällen neben
den erregbaren Punkten auch unerregbare. Letztere waren an der Cornea
bis zu 26, an der Conjunctiva bis zu einem Druck von 116 g/mm* nach-
weisbar. Im ersten Falle konnte diese Untersuchung wegen des heftig
auftretenden Lidreflexes nicht weiter fortgesetzt werden. Verfasser fügt
hinzu: „Der Cornea (und Conjunctiva) eigentümlich ist femer die Er-
scheinung, dafs ein nicht weit über die Schwelle liegender Beiz (1 bis
5 g/mm* für die Cornea) an vielen Punkten im ersten Moment der Be-
rührung nicht gefühlt wird, dals aber bei andauernder Berührung
Schmerzempfindung auftritt, die entweder nach einigen Sekunden wieder
verschwindet, oder, was häufiger der Fall, so weit anschwillt, dafs die
Beizimg unterbrochen werden muis. Nimmt man das Haar fort, so läfst
sich an der Berührungsstelle eine Delle, eine umschriebene Bauhigkeit
der Comeafläohe bemerken. Es wird also die Vorstellung g^erechtfertigt
sein, dafs ein Beiz, der die Nervenenden nicht unmittelbar trifft oder
für deren direkte Erregung zu schwach ist, wirksam werden kann, wenn
er durch Schädigung des Epithels oder Störungen des S&fbestromes im
Gewebe chemische Alterationen hervorruft.^ Die eigentümliche Färbung
der Schmerzempfindung auf der Cornea und Conjunctiva glaubt Ver-
fasser noch aus einem Vergleiche mit der bei gleichem Druck (etwa
16 g/mm*) auf dem Augenlide ausgelösten „Druckempfindung" darthun
zu können. Eine letzte Bemerkung dieser Abhandlung, dafs Cornea und
Conjunctiva keine Temperaturempfindungen besitzen, ist in der dritten
Mitteilung (s. u.) wesentlich modifiziert. Verfasser schliefst, dafs der
Trigeminus von seinen zentripetalen Fasern nur Schmerznerven in Cornea
und Coiigunctiva sendet, und verweist auf andere ungleiche Verteilung^i
LitteraturberuJht 138
sensibler Nerven, wie auf die von Weber an der Iris und .den daran
^machten Beobachtungen, sowie auf die vom Referenten gefundene
schmerzfreie Stelle der Backenschleimhaut. Aus einer kurzen Zusammen-
fassung der Ergebnisse am Schlüsse der Arbeit sei nur noch der zweite
Punkt mit des Verfassers eigenen Worten wiedergegeben: „Es giebt
gröfsere Flächen, welche Druck, aber nicht Schmerz, und andere, welche
nur Schmerz empfinden. Letztere Orte haben demgemftfs nur eine ein-
zige Beizschwelle, welche nicht höher zu liegen braucht als die Druck-
schwelle der Haut und sogar beträchtlich tiefer liegen kann (Cornea).
Ich schliefse daraus, dais die Schmerzempfindung durch besondere
Einrichtungen, Schmerzpunkte und Schmerznerven vermittelt wird.^
In der zweiten der oben erwähnten Mitteilungen weist yok Fbet
zunächst nach, daXs auch die „Schmerzpunkte^ bei mechanischer Beizung
an den verschiedenen Körperteilen unter sich verschiedene Schwellen
besitzen. Nach der beigegebenen tabellarischen Übersicht wurde auf der
Cornea der niedrigste, auf den Fingerspitzen dagegen der höchste
Schwellenwert gefunden. Ersterer liegt bei 0,2 g/mm', letzterer bei
300 g/mm*. Mittlere Werte ergaben Versuche auf dem Fufsrücken
(50 g/mm^, dem Handrücken (100 g/mm*) und der Hohlhand (180 g/mm*).
Verfasser bemerkt jedoch zu diesen Angaben, dafs dieselben nur einen
ungeflihren Wert besitzen, und empfiehlt eine genauere Nachprüfung der
betreffenden Körperteile. Neben der Höhe des absoluten Druckes ist
for die Bestimmung der Schmerzschwelle nach Verfasser auch die Dauer
des einwirkenden Beizes in Büoksicht zu ziehen. Ferner konnte Ver*
fasser beobachten, dais das Schwellenverhältnis beider Arten von Sinnes-
(^^ruckschv^elle \
^-r r — 77 I für die einzelnen Körperteile
Schmerzschwelle/ '^
keine konstante bedeutet. Während es an den Fingerspitzen auf den
Wert von Vso — Vioo herabgeht, beträgt es für den Ober- und Unterarm V».
Die Nachprüfung an verschiedenen Tagen ergab imter sonst gleichen
Bedingungen für beide Sinnesqualitäten ziemlich konstante Schwellend-
werte, doch wurde der absolute Wert derselben nach vok Freys Beob-
achtungen sowohl durch einwirkende Kälte, wie durch Kneipen, Beibe»
und Kratzen der betreffenden HautsteUe variiert. Spannung der Haut
erhöhte die Druckschwelle am linken Mittelfinger auf das Sechzehnfache.
Auiserdem ist Verfasser geneigt, auch der Übung und Aufmersamkeit
für das Herabsinken der Beizschwellen eine Bedeutung zuzuschreiben.
Indem Verfasser der Verteilung der erwähnten Sinnesptmkte weitere
Aufmerksamkeit widmete, konnte er die mit Bezug auf die Orts-
bestimmung der Druckpunkte bereits gemachten Angaben dahin -ver-
vollständigen, daifs sich dieselben sämtlich auf der „Luvseite" der Haare
befinden. ,^egt man eine zur Hautoberfläche senkrechte Ebene durch
das Haar, so bildet der Haarbalg mit der Epidermis nach der einen
Seite einen spitzen, nach der anderen einen stumpfen Winkel. Auf der
Seite des spitzen Winkels, dort, wo der Haarbalg der Epidermis zunächst
liegt, findet sich die Stelle, wo ein Druck, der in der ganzen übrigen
Umgebung des Haares nicht gefühlt wird, von der charakteristischen
Berührungsempfindung begleitet ist." Die schwächsten Druckreize treten
134 Litteraturbericht
bei Berührung des Haares selber in Wirksamkeit, die Schwelle liegt in
diesem Falle jedesmal unterhalb derjenigen, die bei direkter Berührung
des Balges erzielt wird. Bei stetiger Verkürzung des Haares durch die
Schere näherte sich dessen Schwelle immer mehr der des Balges, bis sie
bei glatt rasiertem Haare mit dieser zusanunenfiel. Verfasser schliefst
aus dieser Beobachtung, „dafs in beiden Fällen dasselbe Organ gereizt
wird, vom Haare aus, der Hebelwirkung entsprechend, aber mit ge-
ringeren Kräften.** „Die Haare des Körpers müssen daher ganz allgemein,
nicht nur die bei gewissen Säugetieren vorkommenden sog. Tasthaare,
als Sinnesapparate, speziell als Organe des Drucksinnes aufgefa£st
werden.** Der gleiche Wechsel von Druck-, Schmerz- und unerregbaren
Punkten liefs sich auch auf den nicht behaarten Teilen des Körpers,
nach Verfasser 57o der gesamten Körperoberfläche, nachweisen. Da für
die Lage der Schmerzpunkte kein auf serliches Kennzeichen vorhanden
ist, so konnten diese nur durch den Vergleich bestimmt werden.
Eine Prüfung der in Bede stehenden Sinnespunkte bei unipolarer
elektrischer Beizung ergab zunächst, dafs die Schwelle für die Schmerz-
punkte in diesem Falle unterhalb der der Druckpunkte lag. rtDi& Em-
pfindung ist stehend, frei von jeder Tast- oder Druckempfindung und
ununterbrochen andauernd.** »Die schmerzhaften Punkte sind durch
empfindungslose Strecken voneinander getrennt und zeigen keine feste
Beziehung zu den ELaarbälgen.** „Aufsetzen der Elektrode auf einen
Haarbalg, bezw. auf die Austrittsstelle eines Haares kann schmerzhaft
sein, ist es in der Regel aber nicht.** Die bei elektrischer Beizung auf
den Druckpunkten ausgelöste Empfindung bezeichnet Verfasser als
Schwirren oder Hämmern. „Sie entbehrt des unangenehmen Charakters^
welcher der Beizung der Schmerzpunkte eigentümlich ist.** „Man hat
den Eindruck, als ob eine schwingende Stimmgabel dem gereizten Punkte
Stöfse versetzte.** Wurde bei verstärktem Stromdurchgang die Elektrode
verschoben, so konnte Verfasser in der deutlichsten Perzeption der Em-
pfindung eine Richtung verfolgen, welche Erscheinung er dahin deutet,
„dafs durch die Elektrode der Verlauf der Drucknerven auf die Haut-
oberfläche projiziert wird.** Die gleiche Beobachtung machte Verfasser
bei den Schmerzpunkten. Ob bei elektrischer Reizung die Endapparate
oder nicht vielmehr deren zutretende Nerven gereizt werden, zumal die
letzteren so leicht erregbar sind, läfst Verfasser dahingestellt, er füg^
dieser Ausführung nur die Bemerkung hinzu : „Es zeigt sich darin recht
deutlich, dafs in der Organisation des Körpers elektrische Reizung nicht
vorgesehen ist, oder mit anderen Worten, dafs der elektrische Reiz
eigentlich ein un physiologischer ist.** Eine besondere Beachtung ver-
dienen die Verhältnisse, welche bei faradischer Reizung Körperstellen,
wie die Hohlhand, die Zunge, der Gaumen, die Wangenschleimhaut, das
Zahnfleisch, die Zähne und die Oonjunctiva aufweisen. An der Hohl-
hand dringt der Strom nach des Verfassers Ergebnissen nur an begünstigten
Stellen, wie an den Mündungsstellen der Schweifsdrüsen, in hinreichender
Dichte ein, um die schwirrende Druckempfindung zu erzeugen. Die
Punkte wurden auf diese Weise dementsprechend in gröfseren Abständen
als bei Anwendung mechanischer Reize gefunden. Bei der schon
Litteraturbericht. 135
erwähnten Stelle der Backenschleimhaut konnte der ätrom so verstärkt
werden, „dafs die Muskeln der Wange in heftigsten Tetanus geraten und
die £rregung bis in den Oberkiefer ausstrahlt, ohne dafs eine Spur von
Schmerzhaftigkeit an der Applikationsstelle der Elektrode auftritt.^ Die
Empfindlichkeit an den verschiedenen Teilen der Zunge entspricht im
allgemeinen den vom Beferenten bei mechanischer Beizung dieses Körper-
teiles festgestellten Verhältnissen (Fhilos, Stud, Bd. IX). An den Zähnen
und der Conjunctiva erzeugte die elektrische Beizung nur Schmerz-
empfindungen, die Empfindungen waren hier nicht intermittierend.
Auf den Druckpunkten konnten 130 Stromstöfse in der Sekunde
noch unterschieden werden, während die Zahl derselben auf den Schmerz-
punkten auf 5 herabsinken mufste, um eine Art Intermittenz der
Schmerzhaftigkeit bemerklich zu machen. Verfasser vergleicht diesen
kontinuierlichen Vorgang in der Erregung der Schmerzpunkte dem
Tetanus des Muskels.
Indem Verfasser sich zum Schlüsse dieser Abhandlung auf die von
MisBs, YAN GsHucHTCN Und Obbu Veröffentlichten anatomischen Befunde
bezieht, gelangt er zu dem Besultate, dafs die freien Nervenendigungen
zwischen den Epithelzellen (Iberall die Schmerzempfindung vermitteln,
und dafs als Organe' des Drucksinnes aufser den Haarbälgen die
MsssKERSohen Körperchen anzusehen sind. ^Ihre vom Entdecker unter-
suchte räumliche Ausbreitung entspricht den aus den Versuchsergebnissen
aufzustellenden Forderungen.*'
In der dritten der oben erwähnten Abhandlungen unterwirft
W. Nagel die durch von Frey mit Bezug auf die Sensibilität der Con-
junctiva und Cornea ausgeftlhrten Versuche und die aus denselben
resultierenden Befunde, wie sie im Vorstehenden wiedergegeben sein
dürften, auf Grund von Nachprüfungen, die er an sich selbst und anderen
Personen anstellte, einer eingehenden Elritik. Verfasser bestreitet, dals
auf genannten Körperteilen ausschliefslich schmerzhafte Empfindungen
auslösbar sind. „Vielmehr können erstens Berührungen sowohl auf der
Conjunctiva, wie auf der Cornea ohne jeden schmerzhaften oder auch
nur belästigenden Gefühlston wahrgenommen werden. Und zweitens läfst
sich ebenfalls an beiden Orten eine ganz prägnante Kälteempfindung
hervorrufen.'' Auf der Conjunctiva bulbi konnte Verfasser mittelst eine
feinen Fischbeinsonde, an deren einem Ende sich ein längliches Knöpfchen
von etwa Vsmm Dicke befand, wie mit jedem anderen glatten, aber
abgerundeten Gegenstande, auch mittelst eines spitzen angefeuchteten
Pinsels, selbst mit dem angefeuchteten Finger und den von FasTschen
Beizhaaren sowohl BerÜhrungs- wie Schmerzempfindungen erzeugen, je
nach dem Stärkegrade, mit welchem die genannten Beizmittel mit der
Conjunctiva in Berührung kamen. „Ein leises Streichen mit der Spitze
des senkrecht zum Bulbus gestellten (weichen) Haares ist bei mir, wenn
überhaupt wahrnehmbar, stets schmerzlos. Dabei beobachtet man, dafs
ein Haar, dessen einfache Berührung nicht empfunden wird, bei der
Bewegung wahrgenommen wird.^* Die schmerzhafte Berührung der
erwähnten Fischbeinsonde bedingt ein senkrechtes Aufsetzen derselben
auf den Bulbus, so dafs die Angriffsstelle von möglichst geringem Um-
136 lAtUraturberkhi.
fange war. Das Aufsetzen des trockenen Pinsels mit einzelnen hervor*
stehenden Haaren verursachte ebenfalls Schmerz. Die schmerzlose Be-
rührung der Cornea scheint nach Verfasser bei verschiedenen Menschen
verschieden leicht erzielbar. Auf seiner eigenen Cornea erzeugte ein mit
«inem Beishaar von 0,08 mm Durchmesser ausgeübter Druck „im ersten
Moment sehr deutlich eine nicht schmerzhafte Empfindung von geringer
Intensität,** der sich (wie Verfasser meint, wohl infolge der ungleich*
mlUsig zitternden und schwankenden Berührung) eine Kitzelempfindung
beimischen konnte, bei der mehrere Sekunden andauernden gleichen
Beizung aber trat im voy FaEYSchen Siime Schmerz auf. Eine gleichfalls
schmerzlose Empfindung konnte Verfasser auf der Cornea durch Nach«
ahmung des dieselbe normalerweise stets schmerzlos berührenden Lid-
s<Alages hervorrufen, indem er über dieselbe mit einem weichen, in
0,6Voiger und bis auf 40—50° C. erw&rmter Kochsalzlösung getränkten
Pinsel strich. Den anfangs auftretenden Befiez gelingt es, durch Obung
zu unterdrücken. »Liegt nun der Pinsel, schwimmend nals von der
Kochsalzlösung, der Cornea ani so fehlt jegliche Empfindung. Drückt
-man ihn dagegen etwas stärker auf oder bewegt ihn hin und her, so
tritt neben vorübergehenden, ganz leichten Schmerzempfindungen (1) ab
und zu eine deutliche, nicht schmerzhafte Sensation auf. Im allgemeinen
aber wird von der ganzen Berührung und Bewegung überraschend wenig
empfunden.** Andererseits hält Verfasser die Frage, wie ein nicht
stehendes, in schonender Weise aufgesetztes Haar die Cornea nach
einigen Sekunden schmerzhaft reizen kann, für eine der dunkelsten auf
diesem Gebiete. Indem er in der von FazTschen Ansicht, nach welcher
in diesem Falle auf der Cornea eine kleine Delle entsteht und so der das
Nervenende nicht direkt trefiTende Beiz „durch Schädigung des Epithels
oder Störungen des Säftestromes im Gewebegemische Alterationen,
hervorruft**, keine befriedigende Erklärung findet, glaubt er, dieses nach-
trägUche Auftreten des Schmerzes nach Gold80heid£BS Vorgang mehr
als ein „Summationsphänomen** auffassen zu müssen. Von Fbbts Fehler
liegt nach Nagbl in dessen Methode, indem derselbe diejenige, welche
er für die Prüfung des Drucksinnes der äufseren Haut verwandte, un-
verändert auf die Untersuchung so empfindlicher Teile, wie Conjunctiva
und Cornea, übertrug. «Eine senkrechte Berührung mit einem Haare
ist für die Coigunctiva, was für die Haut ein Nadelstich ist.**
Verfasser untersuchte ferner die Empfindlichkeit der Coi^junctiv»
und Cornea für thermische, chemische und elektrische Beizung. Aus
einer Zusammenfassung der durch manche Einzelbeobachtung inter^
essanten Abhandlung sei noch folgendes hervorgehoben:
„Sowohl Coigunctiva wie Cornea vermögen zwar Wärme und Kälte
zu „unterscheiden**, aber nur die Kaltberührung erzeugt neben der
Berührungsempfindung eine spezifische Temperaturempfindung, Warm-
empfindung aber erscheint als temperaturlos, als nicht-kalt, wenn sie
nicht so hochgpradig ist, dals Schmerz auftritt.
Unfähigkeit auch zur Kälteempfindung ist in einem Falle, bei sonst
intakter Sensibilität, konstatiert; das Vorkommen ausgeprägter Wärme-
exapfindung ist noch fraglich, jedenfalls ist es selten. Schwache An-
deutungen von Hitzegefühl kommen vor.
LiUeraturbericht 137
Die Häufigkeit der auästhetischen Punkte, namentlich der Cornea,
wechselt bei den einzelnen Individuen.
Die Conjunctiva des unteren Lides verh< sich wie die Coigunotiva
bulbi. Die Umscblagefalte ist für Berührungen weniger empfindlich.
Die K<eempfindung geht hier leicht ins Schmerzhafte über.
Wftnaeempfindung fehlt. Die Coigunctiva des oberen Lides, künstlich
ektropioniert, ist fast unempfindlich für Berührung und Temperatur. Die
Plica semilunaris hat die gleichen sensiblen Eigenschaften wie die
Conjunctiya bulbi. Die Caruncula nimmt sowohl Wärme wie K<e in
dar Mehrzahl der F&lle deutlich wahr.
Im Zustande der Entzündung der Conjunctiva ist die Wahrnehmungs-
fähigkeit f&r Berührung wie für K<e stark herabgesetzt, dagegen
besteht Hyperalgesie namentlich gegen chemische Beize (auch den des
Wassers).
Ein Lufbstrom, der die Conjunctiva und Cornea trifit, wird als kalt
empfunden, gleichviel ob er heifs oder kalt ist. Sehr heifse Luft erzeugt
neben der Kftlteempfindung Schmerz, keine Wärmeempflndung. Die
Karunkel nimmt wie die Haut einen warmen Luftstrom als warm wahr.
Der LidschluDsreflez tritt bei Berührung der Cornea und Conjunctiva
mit einem warmen Gegenstande weit weniger stark auf, als bei Be-
rührung mit einem kalten Gegenstande. Eine Berührung an Stellen
der Cornea und Conjunctiva, welche zur Empfindung unf&hig sind^
erzeugt niemals Lidschlufsreflex. Der Beis des Induktionsstromes wird
(im Gegensatz zur Zunge) auf Conjunctiva und Cornea als ein kontinuier-
licher, stechender Schmerz empfanden. Die Beizschwelle der Conjunctiva
liegt höher, als auf der Zunge."
Verfasser schliefst seine Abhandlung mit der Behauptung, dafs
Tov Frbt das Vorhandensein besonderer Schmerznerven und Schmerz-
siimeseigane nicht in überzeugender Weise nachgewiesen habe.
In der der vorstehend besprochenen unmittelbar nachgestellten
Arbeit j^^tr Prüfumg des DmehntUMS*** unterwirft Naobl die yov FaBTSche
Methode der Sensibilitätsmesaungen mittelst der oben erwähnten Beiz-
haare einer eingehenden Kritik. Verfasser fafst die Ergebnisse seiner
in dieser Beziehung angestellten Nachprüfungen am Schlüsse selber in
den folgenden Satz zusammen : „Die vom ton Fbbt angegebene Methode
der Prüfung des Drucksinnes mittelst der Applikation kleinster wahr-
nehmbarer Druckreize durch senkrecht aufgedrückte „Beizhaare^ von
bekanntem Biegungswiderstande ist nur unter der Bedingung zur Fest-
stellung absoluter und relativer Zahlenwerte fCür die Empfindlichkeit der
verschiedenen Hautregionen anzuwenden, dafs nicht der auf die Flächen-
einheit berechnete Druck, sondern die in Grammen erforderliche Kraft
zur Besümmung des Beiswertes benutzt wird.** Im letzteren Falle
erkennt der Verfasser in dem vok FasTschen Verfahren eine Methode,
die besonders dem Neuropathologen bei Sensibilitätsprüfungen von hohem
Werte sein müsse.
Der dritte der ton FazTSchen Berichte umfafst zunächst die
Beeultate, die sich bei weiteren Untersuchungen über die Temperatur-
empfinduBgen des Auges ergeben hatten. Nach diesen mit dem \Referenten
zusammen angestellten Versuchen, die im wesentlichen bereits vor der
138 Litteraturhericht
NAGBLSchen Veröffentlichung abgeschlossen waren, besitzt die Cornea
keine Temperaturempfindungen, die Conjunctiva dagegen nur Kalt-
empfindungen. Bevorzugt sind in dieser Beziehung der Cornealrand
und die nächst angrenzenden Teile der Conjunctiva, in gröfserer Anzahl
befinden sich die Kaltpunkte auTserdem in der Nähe der Conjunctival-
gef&fse. Die Angabe Donaldsoks, nach welcher durch Kokainvergiftung
des Auges nur die Schmerzempfindlichkeit aufgehoben werde, die
Temperaturempfindung dagegen erhalten bleibe, konnte nicht bestätig^
werden, vielmehr zeigte sich neben der ersteren Empfindungsqualitftt
auch die letztere herabgesetzt oder ganz aufgehoben. Etwas abweichend
von dieser Begel bestimmte ton Fbet das Verhalten der Kaltpunkte des
Cornealrandes, welche nach seiner Beobachtung „noch deutlich reagieren
können, wenn die Sohmerzhaftigkeit an dieser Stelle bereits stark herab-
gesetzt ist.'' Für den Nachweis von Kälteptmkten wurden Lametta-
streifen und dünne Kupferdrähte mit angeschmolzenen Endkölbohen ver-
wandt, f%Lr denjenigen von Wärmeempfindungen in erwärmtes Vaselin
getauchte und an das eine Ende eines Drahtstückes geklebte Watte-
röllchen. Da DoNALDSON auch Wärmeempfindungen für das Auge nach-
gewiesen hat und Verfasser in der Nähe der temporalen und nasalen
Augenwinkel das gänzliche Fehlen derselben mit absoluter Bestimmt-
heit nicht darzuthun vermochte (Referent empfand überall auf der
Conjunctiva bulbi nicht warm. Vergl. oben die NAOBLSchen Angaben),
so vermutet Verfasser hier individuelle Verschiedenheiten. (Jedenfalls
dürfte das Fehlen der Warmempfindung an dieser Stelle ein bedeutsames
Argument für die Annahme getrennter nervöser Apparate för diese
beiden Empfindungsqualitäten sein. Bef.) Als paradoxe Kaltempfindung
bezeichnet yov Frey die Erscheinung, dafs Kaltpunkte durch Beissung
mit einem erwärmten Cylinder erst bei Temperaturen von über 40 bis
45^ C. mit der ihnen spezifischen Empfindung tmd sodann nicht bei
direkter, sondern nur bei etwas seitlicher Berührung ansprechen. Da
TON Fbey selber bemerkt, dafs die ^paradoxe Erregung der Kaltpunkte
„nicht zu den leicht beobachtbaren Erscheinungen gehört^, so bedarf
diese Beobachtung noch einer sorgfältigen Nachprüfung und Bestätigung.
In einer längeren Anmerkung sind die von Naobl gegen des Ver-
fassers Methode zur Bestimmung des Unterschiedes von Druck- und
Schmerzpunkten erhobenen Einwürfe diskutiert. Verfasser schreibt:
„Wenn Herr Naoel sagt, dafs Beizhaare ungleichen Druckes, aber
gleicher Kraft gleich empfunden werden, so ist dieser Satz oder dessen
Umkehrung in solcher Allgemeinheit hingestellt ebenso unrichtig, wie
es sein Gegenteil sein würde. Wie die vorstehenden Erörterungen
zeigen, hängt der Erfolg durchaus ab von den speziellen Versuchs-
bedingungen (Kraft und Querschnitt der Beizhaare, gereizte Hautstelle,
Art der Sinnespunkte, ob Schwellenreize etc.), welche bekannt sein
müssen, wenn die Ergebnisse in irgend einer Bichtung verwertbar sein
sollen.*'
Im weiteren Verlaufe seiner Mitteilungen präzisiert Verfasser noch-
mals den Ausdruck „Druckempfindung^, veranlafst durch die Aussagen
mancher Personen, die auch auf den Schmerzpunkten Berührung wahr-
Litteraturherichi . 1 39
zunehmeD behaupteten. Bei erneuter Prüfung der Druckpunkte erwies
sich auch der konstante Strom im obigen Sinne wirksam, namentlich
rief derselbe auf der Lippenschleimhaut die dieser Hautstelle eigen-
tümliche intermittierende Empfindung hervor. Zum Verständnisse der
▼ON FfiBYSchen Unterscheidung von Druck- und Schmerzpunkten ist das
Auseinanderhalten der von ihm angegebenen Charakteristika für beide
Arten von Punkten unerlälslich. Wenn aber eine Anzahl von Personen,
zu denen Beferent selbst gehört (vergl. auch Nagel), neben diesen beiden
Empfindungsqualitftten noch eine dritte Art von Empfindungen unter-
schieden und diese als Berührungsempfindung bezeichneten, so liegt auf
der Hand, dals auch diese letztere einer genaueren Präzisierung bedarf.
Es kann deswegen nicht genügen, wenn Verfasser es in jedermanns Be-
lieben stellt, „was er unter einer Berührungsempfindung verstehen will.''
Referent fügt hinzu, dafs er an jeder Stelle des Körpers Berührungs-
empfindungen beobachten kann, auch an den Temperaturpunkten, wenn-
gleich dieselbe hier durch die spezifische Empfindung übertönt werden
und erst zur Wahrnehmung gelangen kann, wenn die letztere erblafst
oder aber die betreffenden Punkte bereits in das Stadium der sog. Er-
müdung getreten sind. In keinem Falle dürfte aber wohl, wie dem
Referenten scheint, die einmal im Goldscheidbb-yon FsBTSchen Sinne als
„körniges Gefühl, „ intermittierende, schwirrende Empfindung^ bezeichnete
Druckempfindung mit der mehr diffusen, obwohl darum nicht schlecht lokali-
sierten Berührungsempfindung ohne weiteres identifiziert werden. Kann
im physikalischen Sinne jede Affektion der Hautoberfläche durch äufsere
Reize als Berührung bezeichnet werden, so erfordert doch die psycho-
logische Analyse eine letzte konsequente Durchführung der begrifflichen
Fixierung der durch jene Reizung hervorgerufenen Empfindungsinhalte.
Eine eingehende Berücksichtigung widmete der Verfasser der Unter-
suchung des männlichen Gliedes. Dam ach fehlen an der Glans penis die
Druckpunkte. „Der seinerzeit bestimmte Schwellenwert ist die Schmerz-
schwelle.'' Die Übrige Haut des Gliedes besitzt neben Schmerzpunkten
auch Druckpunkte. Reich an Druckpunkten ist das Frenulum. Die
Untersuchung der Temperaturempfindungen ergab hier mit Bezug auf
die Verteilung der Temperaturpunkte ein Anwachsen derselben von der
Wurzel nach dem Rande der Vorhaut hin. Eichelhals und Cornea
glandis gehören zu den temperatur empfindlichsten Stellen des mensch-
lichen Körpers. „Der Temperatursinn der Eichel ist vorwiegend Kälte-
sinn, neben dem Reichtum an Kaltpunkten fällt auf die Intensität
der Empfindung, die sie auszulösen im stände sind. Von dem Eichel-
wulst gegen die Mündung der Harnröhre nimmt die Empfindlichkeit für
Temperaturen rasch ab, um in der Mitte zwischen beiden Orten nahezu
Null zu werden.'' Verfasser bezieht auf die letzte Beobachtung die An-
gabe Dkssoirs, wonach die Eichel temperaturempfindlich sei. In hervor-
ragender Weise zeigten die Kältepunkte der Eichel die Fähigkeit der
paradoxen Erregung. „Brennend heiTse Gegenstände werden intensiv
kalt und zugleich schmerzhaft brennend empfunden. Nur in der Gegend
der Hamröhrenmündung läfst sich auch bei Flächenreizung (fiächen-
hafte Berührung mit erwärmten Metallstäbchen wurde an der Eichel
140 Litteraturbericht
meist kalt empfunden) Wärmeempfindung auslösen/^ In der Kollmakv-
sehen Poliklinik konnte Verfasser diese Beobachtung an 13 Versuchs-
personen in zehn Fällen mit positivem Besultate nachprüfen. ^Beizung
der Druckpunkte des Gliedes kann mit wollüstigen Empfindungen ver-
k]](äpft sein.'' Je nachdem die besprochenen , Sinnespunkte'' auf der
Körperoberflftche vereinzelt oder in Kombinationen vorkommen, unter-
scheidet Verfasser Unionen, Binionen und Temionen. Die Union be-
zeichnet ausschliefslich schmerzempfindende Orte (Cornea, Zähne), zu den
Binionen gehören sowohl Orte mit Schmerz- und Temperaturempfindung
(Bandteil der Cornea, Conjunctiva, Glans penis), als auch solche mit
Druck- und Temperatursinn (Mundhöhle mit wesentlichen Ein-
schränkungen). Das Temion (Temperatur-, Druck- und Schmerz-
empfindung) findet sich auf allen übrigen Gebieten der Körperoberfläche.
Indem Verfasser am Schlüsse der Abhandlung noch die Frage
erwägt, welches die noch gänzlich unbekannten Organe der Temperatur-
empfindungen sein könnten, gelangt er auf Grund histologischer Unter-
suchungen dazu, die letzteren zu den sog. KaAussschen Endkolben und
den von Burpivi beschriebenen Körperchen in Beziehung zu setzen.
Danach sind die Endkolben „wahrscheinlich die Organe der Kalt-
empfindung." Ebenso scheint dem Verfasser „eine Beziehung der Endi-
gungen BuFFiNis zum Wärmesinn einigermafsen wahrscheinlich.*' Doch
will Verfasser diese Mitteilung nur als eine vorläufige Vermutung auf-
gefafst wissen und macht die letzte Entscheidung dieser Frage von
weiteren Untersuchungen abhängig, mit denen er gegenwärtig noch
beschäftigt ist. Friedk. Kibbow (Leipzig).
Herbebt Nichols. Onr notions of nnmber and space. Boston. Ginn &
Comp. 1894. VI u. 201 S.
Nichols macht eine grofse Anzahl von Experimenten auf dem Gebiete
des Tastsinns. Er läfst bei in gerader Linie angeordneten Spitzen die
Zahl der Punkte und ihre Entfernung, bei in Dreiecken und Quadraten
angeordneten aufserdem noch die Figur beurteilen. Die Gröfse der
geraden Linien war 1 — 3 (beim Unterleib —5) cm, die Zahl der Spitzen
2 — 5 (beim Unterleib — 7), bei den Figuren war die Seitenlänge so groXs
wie diese Distanzen, die Punktzahlen bei Dreiecken 3, 4, 6, 7, bei Qua-
draten 4, 5, 8, 9. Daneben machte er Versuche mit Kanten, hohlen und
massiven Dreiecken, Quadraten und Kreisen. Es wurden vier Versuchs-
personen an Zunge, Stirn, Unterarm und Unterleib untersucht. Die
Apparate wurden meist auf der Haut hin- und hergeschoben; nur in
einigen Beihen wurden sie dreimal auf dieselbe Stelle aufgesetzt. Femer
wurden auch Figuren durch einen bewegten Stift auf die Haut gezeichnet
und dabei Druckstärke und Schnelligkeit der Bewegung in allerdings
nicht genau kontrollierter Weise verändert.
Leider scheint die Verteilxmg der Versuche auf die einzelnen Tage
nicht in der sonst (seit Fechner) üblichen Weise reguliert worden zu
sein. Daher sind die Einflüsse der Übung, Ermüdung, Einstellung nicht
Liäeraiurbericht 141
zu beurteilen. Die zur Kontrolle der Übung angestellte Wiederholung
einer Versuchsreihe kann dafür nicht entschädigen. Zu bedauern ist
auch, daüs die individuellen Differenzen der Beobachter und ihre Selbst>-
wahrnehmungen während der Versuche nicht berüchsichtigt worden sind.
Bei der Berechnung der Versuchsergebnisse ist ein etwas sonderbares
Verfahren eingeschlagen worden. Es wird jedesmal die Zahl der auf
100 kommenden richtigen Fälle und die procentual berechnete Fehler-
gröfse (nach algebraischer Summe, also der konstante Fehler) mitgeteilt.
Die mittlere V^ariation wird nirgends angegeben, von genaueren Mit-
teilungen über Fehlerverteilung etc. ist erst recht keine Bede. Es fehlt
also vollständig an einem Mafsstabe für die G-enauigkeit der Urteile.
Denn die Zahl der richtigen Fälle kann als solcher Mafsstab nur dienen,
&lls als Antwort lediglich „ja*' oder „nein"", lesp. „gröfser**, „kleiner'',
„gleich'' gefordert wird, nicht aber, wie hier, eine Zahlangabe. Zu allen
diesen Miüsständen gesellt sich bei der Beurteilung der Distanzen noch
ein anderer, dessen der Verfasser nirgends Erwähnung thut. Er läist die
Distanzen in Gentimetem abschätzen. Nun sind wir an Distanzschätzungen
auf der Haut gar nicht, am wenigsten aber in exaktem Maise gewöhnt.
Es muTs also hier eine Dressur der Versuchspersonen stattgefunden
haben ; eine solche ist an sich gewifs nicht verwerflich, mufs aber jeden-
falls nach Art, Ausdehnung und Wirkung genau mitgeteilt und kon-
troUiert werden. Dies unterbleibt hier völlig. Von den methodologischen
Bedenken gegen Distanzurteile in exaktem Maise überhaupt sei hierbei
abgesehen.
Trotz alledem ergeben sich aus den Tabellen eine Anzahl von inter-
essanten Beziehungen. Die wichtigsten derselben sind:
Je länger die Distanz, desto genauer sind die Urteile. Es ist dabei
nicht zu übersehen, in wie engen Grenzen der Verfasser dieses G-esetz
erwiesen hat. Bei gröfseren Distanzen würde es wohl umschlagen.
Bei kleineren Distanzen wird die Zahl der Punkte stärker über-
sehätzt. NiCHOLS schiebt dies darauf, daüs die Unsicherheit vergröisert,
daher eine Tendenz zu allen möglichen Urteilen, auch zu solchen, die,
wie der Beobachter weifs, nicht möglich sind, hevorgerufen wird. Dies
bedingt die Tendenz zu den höchsten möglichen Urteilen. Mir scheint
diese Erklärung gekünstelt. Sollte es sich nicht vielleicht einfach darum
handeln, dafs der Eindruck dem kontinuierlichen genähert erscheint,
also die Punktzahl höher geschätzt wird?
Je gröXser die Zahl der Spitzen ist, um so höher wird die Distanz
geschätzt. Die Zahl der Punkte wird bei Dreiecken und Quadraten
besser geschätzt, als bei geraden Linien. Dreiecke werden kleiner als
Kreise, diese kleiner als Quadrate beurteilt. Bei mit einem Stifte auf
die Haut gezeichneten Figuren sind die Urteile bei leichter und schneller
Führung kürzer, als bei schwerer und langsamer.
Am Schlüsse des Buches (S. 156—176) werden noch zwei Experimental-
reihen mitgeteilt. In der einen werden stets zwei Nadeln in wechselndem
(von sebr kleinem ansteigenden) Abstände angewendet; dazwischen dann
gelegentlich eine einzelne Nadel, von deren Vorhandensein der Beob-
achter keine Kenntnis hat. Er glaubt nun statt einer Nadel zwei zu
142 Litteraturhericht
empfinden, und giebt denselben bestimmte Richtung und Entfernung
Die Entfernung wechselt mit der Hautstelle und entspricht etwa dem
Schwellenwerte. Es handelt sich hier um einen Fall von Suggestions-
wirkung. Wichtiger erscheint der letzte Versuch, der leider nicht ge-
nügend durchgeführt ist. Es handelt sich um Einübung falscher Baum-
Yorstellungen auf der Haut des Unterleibs. Durch einen geschickt er-
dachten Apparat wird der Beobachter in die Täuschung versetzt, dafs
ein gereizter Punkt auf der Verbindungslinie zweier anderer liegt,
während er sich in Wahrheit 3 cm von derselben entfernt befindet. , Die
Täuschung gelang gut. Leider sind die Distanzen im Vergleich zu den
Schwellenwerten zu klein, als dafs der Versuch beweiskräftig sein könnte.
Der Verfasser hat sich nun aber nicht damit begnügt, die Resultate
seiner Versuche mitzuteilen, er benutzt dieselben vielmehr als Beleg
einer umfassenden Theorie. Diese Seite der Arbeit ist es, welche den
allgemein gehaltenen Titel rechtfertigt. Es erischeint von vornherein
als ein verfehltes unternehmen, eine Theorie der Zahl- und Distanz-
schätzung auf Versuche mit passiv empfangenen Hauteindrücken zu be-
gründen. Wie unklar auch dies ganze Gebiet noch sein mag, daran
jedenfalls zweifelt kein Urteilsfähiger mehr, dafs Wahrnehmungen von
Entfernungen auf der Hautoberfläche eine ungemein geringe und sekun-
däre Bolle spielen. Für den Sehenden ist dies eigentlich selbstverständlich.
Für die Blinden sei auf die Forschungen TTTaT.T.Tg«g verwiesen. {Phikm.
Stud, 11. Bd.) Nach denselben tastet der Blinde fast durchweg mit be-
wegter Hand, und wenn er beim sog. synthetischen Tasten das ruhende
Glied benutzt, so scheinen ihn mehr die Gelenk-, als die Hautempfindungen
zu leiten. Da es also keinen Sinn hat, über imsere Begriffe von Baum
und Zahl durch die trotz aller Mängel verdienstlichen Versuche des
Verfassers etwas entscheiden zu wollen, kann man sich bei der Be-
sprechung der Theorie kurz fassen. Die Grundvoraussetzung derselben
ist, dafs alle gleichzeitigen Eindrücke ununterscheidbar zusammenfli eisen,
wenn sie nicht bereits vorher zeitlich getrennt erfahren worden sind.
Diese vielverbreitete Ansicht empfiehlt sich durch ihre Einfachheit, ist
aber ganz willkürlich. Zeitlich getrennte Beize geben nun die Vor-
stellung der Zahl, zeitlich kontinuierlich verlaufende die der Distanz. Diese
eigentlich zeitlich aufeinanderfolgenden Beizen entnommenen Kategorien
werden dann auf gleichzeitige übertragen. Wenn zwei Punkte häufig
getrennt nacheinander gereizt worden sind, erweckt ihre gleichzeitige
Beizung die Vorstellung der Zweiheit. Alle Schätzung von Distanzen auf
der Haut ist eigentlich eine Schätzung von Bewegungszeiten, wobei aber
dies Mittelglied nicht benutzt ist. Dafs bei Beizung von zwei isolierten
Punkten die grade Verbindungslinie geschätzt wird, beruht darauf, dals
weitaus am häufigsten entlang dieser Linie die Bewegung verlief. Voraus-
setzung dieser ganzen Konstruktion ist, dafs die Strecke zwischen zwei
beliebigen Punkten, z, B. der Stirn oder des Unterleibs, sehr häufig mit
voller Aufmerksamkeit auf die Bewegungszeit zurückgelegt worden ist.
Wenn Nichols dies an sich erfahren (nicht etwa seiner Theorie wegen
konstruiert) hat, so wäre er eine psychologische Merkwürdigkeit.
Die einzelnen Versuchsergebnisse werden nun nach dieser Theorie
Litteraturbericht 143
erklärt. Dafs sie sich mit mehr oder weniger Zwang mit derselben ver-
einigen lassen, mag zugegeben werden. Beweisend würden sie nur dann
sein, wenn ihre Unvereinbarkeit mit jeder anderen Theorie naohgewiesen
wftre, oder wenn wenigstens gezeigt würde, dafs nach der angenommenen
Theorie gerade nur diese Ergebnisse zu erwarten wären. Im letEsteren
Falle könnte man wenigstens von einer wahrscheinlichen und zweck-
mftfsigen Hypothese reden. Beides ist hier unterlassen.
J. GoHü (Berlin).
A. BiNBT. Reverse lUoBions of Orientation. (Le renversement de
Torientation.) JP^ychol Bev. I, 4. S. 837—860. (1894.)
Der Artikel liefert einen Beitrag zur Psychologie der räumlichen
Orientierung, indem er Täuschungen, die bei derselben bisweilen auf-
treten, mitteilt und einer kurzen Besprechung unterzieht.
Der Verfasser hält nämlich drei verschiedene Orientierungszustände
auseinander: 1. Jemand ist im Besitze eines Orientierungssystems; neu
sich darbietende Anhaltspunkte bestätigen und befestigen es. 2. Jemand
ist über die Lage verschiedener ihm bekannter, aber gegenwärtig seiner
Wahrnehmung entzogener Objekte augenblicklich ganz im unklaren;
ein etwa sich darbietender Anhaltspunkt wird aufgegriffen und führt
völlige Orientierung herbei. 3. Jemand nimmt einen Anhaltspunkt wahr
und findet ihn im Widerspruch mit seinem bisher festgehaltenen
Orientierungssystem. Aber das falsche System, obwohl als solches
erkannt, behauptet sich noch einige Zeit mit mehr oder weniger Hart-
näckigkeit.
Diesen letzten Fall, den eigentlichen Gegenstand des Artikels, glaubt
nun der Verfasser für einen besonders merkwürdigen psychischen That-
bestand halten zu müssen. Er hat bei an wissenschaftliche Beobachtung
gewohnten Männern nach derartigen Erfahrungen Umfrage gehalten und
teilt nun eine ziemliche Beihe solcher Fälle von „renversement",
„reversal of orientation" ausführlich mit. So erzählt er z. B. von einem
seiner häufigen Kreuz- und Quergänge in den Sälen und Halleü des
Louvre: „ . . . Ich näherte mich dem Fenster in der Absicht, einen Augen-
blick auf den Quai zu sehen, und da hatte ich plötzlich das Gefahl von
„reversal". Ich sah die Seine vor mir von links nach rechts fliefsen;
aber das schien mir ganz verkehrt, denn in der Stellung, In der ich
mich selbst befand, sollte die Seine, wie ich dachte, in der entgegen-
gesetzten Richtung fliefsen: die Landschaft schien umgedreht zu sein."
Dabei stellte sich — auch nach dem Zeugnisse der meisten anderen
Berichterstatter -— ein höchst peinliches GefQhl ein, man sei ganz
verwirrt, könne sich kaum zurechtfinden und die doch greifbare Wahr-
nehmung nur schwer verstehen. Beaumis teilt mit, dafs er gelegentlich
seiner wiederholten Eisenbahnfahrten von Paris nach Nancy bei der
Annäherung an letztere Station jedesmal plötzlich die Empfindung hatte,
als müsse sich die Fahrtrichtung in die entgegengesetzte geändert haben.
Ein anderer Gewährsmann besteigt das Dampf boot, um ^iach Auteuil zu
fahren, und ist nun über die Bichtung, in der an ihm — das Boot hatte
sich, ohne dafs er daran dachte, gewendet — die Gebäude am IJfer
X44 lAtteratwrbericht
vocfiberkommeiif erstaunt und verblüfft, obwohl er g;anz gut weiis, dafis
es bei dieser Fahrt nicht anders sein kOnne. Und so dasselbe bei den
verschiedensten Gelegenheiten: beim Erwachen am Morgen, beim Ver-
lassen oder Besteigen des Eisenbahnzuges, bei Omnibusfahrten, bei Kreuz*
und Quergängen durch wohlbekannte StraTsen der Stadt u. s. w.
Nach einer zusammenfassenden Übersicht über die mitgeteilten
Beobachtungen , in der besonders auf die Mitwirkung sowohl bewuister
als unbewuTster Urteile hingewiesen wird, beschliefst Binbt seine Aus-
führungen mit der Bemerkung, dafs dieses interessante Phänomen, be-
sonders nach der Frage, ob ihm nicht eine teilweise Störung eines Sinnes-
organes, möglicherweise der halbzirkelfbrmigen Kanäle, zu Ghrunde liege»
weiterer Untersuchung bedürfe. Witabbc (Graz).
Alexander F. Shakd. An aBAlysis of attention. Mind. N. S. III. S. 449—474*
(1894).
Verfasser glaubt, in vorliegender Arbeit eine Zweideutigkeit in den
heutigen psychologischen Theorien der Aufmerksamkeit aufzuzeigen,
welche das Objekt der Aufmerksamkeit häufig mit dieser selbst ver-
wechselten, welche sich durch verkehrte Selbstbeobachtung verleiten
liefsen, ein Anwachsen der Vorstellungen und Empfindungen an Intensität
und Klarheit durch die Aufmerksamkeit konstatieren zu wollen u. dergl.
Nicht die Vorstellungen würden klarer bei darauf gerichteter Aufmerk-
samkeit, sondern unser Bewufstsein von ihnen, und eben dieses letztere
sei die Aufmerksamkeit, die in sich die Apperzeption umfasse. Nach
einer gegen Lotze, Wundt und Ward gerichteten Polemik faTst Shand
zum SchluTs seinen Standpunkt, wie folgt, zusammen: „Drei Sätze müssen",
sagt er, „über alle erörterten Nebenergebnisse gestellt werden. Der erste,
dalis die überwiegende Klarheit, in welcher die Aufmerksamkeit besteht,
nicht allgemein zu finden ist in der Klarheit der Vorstellungen oder
Empfindungen, auf welche aufgemerkt wird, noch in dem Prozesse,
welcher diese Klarheit bewirkt. Der zweite ist der, dafs sie allein zu
finden ist in unserem Bewufstsein davon, als einem Zusatzbestandteil, der
nicht identisch ist mit den Vorstellungen und sich nicht darin auflösen
oder davon abstrahieren läfst. Der dritte Satz besagt, dafs dieser Be-
standteil in jedem Augenblick, in dem er wirklich und thätig ist| auch
ganz direkt gefühlt und erfahren wird, wie eine Sinnesempfindung."
A. PiLZBCKSB (Göttingen).
KiRKPATBicK. An experimental study of momory. Ps^fcM. JBev. L S. 602
bis 609. (1894).
Die in pädagogischer Hinsicht nicht uninteressanten, an Schul-
kindern verschiedener Stufen angestellten Versuche ergaben, dafs die
Namen gesehener Objekte besser im Gedächtnis aufbewahrt werden, als
geschriebene Namen, letztere besser als nur gehörte Namen. Worte, die
eine einfache, dem Gesichtssinn angehörende Vorstellung erwecken,
haften besser, als die dem Gebiete der Gehörsvorstellungen entnommenen
Namen, und ebenso besser, als Namen von gewöhnlichen, möglichst deutlich
vorgestellten konkreten Dingen. Wichtig ist das Ergebnis der nach
Litteraturbericht 145
drei Tagen yorgenommenen Gedächtnisprüf ung: von den durch Klang-
bild oder Schriftbild bewirkten Eindrücken haftete nur noch der siebente
Teil dessen, was durch das Vorzeigen der Gegenstände selbst ins Ge-
dächtnis aufgenommen worden war.
Einige zum SchluTs angestellte Versuche über das Wiedererkennen
führten Verfasser zu dem Besultat, die Fähigkeit des Wiedererkennens
ftLr den Durchschnittsschüler als doppelt so grofs anzunehmen, wie die
des Wiedererinnems. A. Pilzeckeb (GOttingen).
A. C. Abmstbono jr. The Imagery of American Stadents. (With the
assistance of Mr. C. H. Judd.) PsychoL Bev, I. 5. S. 496 — 605. (1894.).
Verfasser unterzog die von Fbancis Galton in seinem Buche „In-
quiries mto Human Facidtt/^ über die Fähigkeit der Visual isation bei ver-
schiedenen Personen veröffentlichten Untersuchungen einer Nachprüfung
an amerikanischen Studenten, welche in der letzten Hälfte ihrer Studien-
zeit standen und durchschnittlich 20 — 22 Jahre alt waren. Wie die sta-
tistische Methode Galtoks im allgemeinen verwandte Armstrong auch
die von diesem aufgesteUten und in genanntem Werke mitgeteilten Fragen.
Aufserdem verwertete Verfasser eine Beihe von Besultaten, welche Prof.
H. F. OsBORN, Columbia College, in gleichem Sinne gesammelt und ihm
für seinen Zweck überlassen hatte. Unter eingehenderer Erörterung
derjenigen Besultate, die sich auf die GALTONSchen Fragen 1—6, sowie
9 und 10 beziehen, teilt Verfasser mit, dafs er die als bekannt voraus-
zusetzenden Ergebnisse Galtons bestätigt fand, und fügt nur hinzu, dafs
er aufser dem auffallenden Einflüsse, den die Aufmerksamkeit in ihren
verschiedenen Stadien auf die Visualisation ausübte, aus seinen Besul-
taten erkannte, dais diese Fähigkeit bei seinen Versuchspersonen in
stärkerem Grade entwickelt war als bei denjenigen, an denen Galton
seine Beobachtungen anstellte. A. scheint geneigt, anzunehmen, dafs
eine gröfsere Befähigung, in mehr abstrakten Formen zu denken, eine
Verringerung des Visualisationsvermögens bedinge, und dafs das letztere
aus dem gleichen Grunde mit zunehmendem Alter eine Abschwächung
erfahren könne. Wie weit die gefundenen individuellen Unterschiede
im vorliegenden Falle auf die erstere dieser Vermutungen zurückzu-
führen sind, konnte aus einem Vergleiche derselben mit der nach den
Fähigkeiten der einzelnen Versuchspersonen geordneten Bangliste („ihe
Standard of scholarsMp as tested hy coüege gradea^) nicht mit Sicherheit ent-
schieden werden. Am Schlüsse der Abhandlung empfiehlt Verfasser,
anscheinend aus dem gleichen Interesse, eine Wiederholung der Unter-
suchung an weiblichen Studenten. Einige in dieser Hinsicht angestellte
Vorversuche rechtfertigten die Annahme, dafs die Visualisationsfähigkeit
bei den letzteren stärker entwickelt ist als bei Männern.
Friedr. Kiesow (Leipzig).
Albxiüs Meinono. Psychologisch-ethische üntersnchimgen zur Wertlehre.
Graz, Leuschner k Lubensky, 1894. 232 S.
Der Titel des Buches erweckt falsche Vorstellungen. Unter Wert-
lehre versteht man nach dem allgemeinen Sprachgebrauche die Unter-
ZeiUchiift fär Psychologie Z. 10
146 Litteraturbericht,
suohung der ökonomischen Werte. Über diese aber will der YerfEisser
nicht handeln, sondern nur die psychologische Seite aller Werte, dann
die ethische betrachten.
Es wird zunächst festgestellt, dafs die ^^Nützlichkeit" den Wert
nicht bestimmt, sondern umgekehrt von ihm bestimmt wird. Auch das
Begehren findet den Wert schon vor, schafft ihn nicht. Bleibt also nur
das Gefühl als Quelle des Wertes übrig. Alle Wertgefühle sind Ezistenz-
gefühle, beziehen sich nicht auf Erdichtetes. Dadurch werden die
ästhetischen Gefühle und, wie sich aus einem späteren Abschnitte zeigt,
auch alle „WissensgefQhle^^ die in dem Gefallen am logischen Prozesse
und gewonnenen Ergebnisse bestehen, von der vorliegenden Untersuchung
ausgeschlossen.
Wo das Wertobjekt nicht \mmittelbar das Wertgefühl verursacht,
ist ein urteil über die Existenz des Wertobjektes Ursache des Wert-
gefühles (S. 21); dieses, das Haupturteil, kann durch allerlei Nebenurteile
über wertvolle Beziehungen des Objektes modifiziert werden. Auch die
Nichtexistenz kann Gegenstand eines Urteils und damit Ursache eines
Gefühles sein. Da der Verfasser die physischen Objekte beiseite lassen
und sich auf die psychischen Objekte (?!) beschränken will, die
Wertgefühle liefern (S. 39), so kann er sagen (S. 31): Wertgefühle sind
Urteilsgefühle. Das sinnliche Gefühl ist kein Wertgefühl (S. 40).
Als psychologische Thatsachen fallen nun die Wertgefühle xmter
die Kategorien: „aktuell und dispositionell, egoistisch, altruistisch'',
oder sie sind zu unterscheiden nach ihrem Zusammenhange mit den vier
Klassen der psychischen Thatsachen: Vorstellen, Urteilen, Fühlen, Be-
gehren, und nach ihrer Beziehung auf Gegenwärtiges oder Zukünftiges.
Dabei schreckt der Verfasser sogar vor dem Ausdrucke : „GefühlsgefühP
nicht zurück. Er meint damit die Gefühle, die in uns durch Gefühle
anderer (z. B. ihr Mitleid) erweckt werden.
Von allen diesen Momenten hat die Unterscheidung „egoistisch-
altruistisch'' eine spezielle Wichtigkeit, weil sie ethisch bedeutsam ist.
M. hat sehr recht, wenn er die Gefühle, die sich auf den alter beziehen,
für durchaus nicht mystisch oder wunderbar hält, sondern es für not-
wendig erachtet, dafs von allen Objekten die uns ähnlichsten, d. h. die
anderen Menschen unser Werthalten besonders auf sich lenken. Er
wendet sich mit Recht gegen das oberflächliche, immer noch populäre
Dogma, es gebe im Grunde kein anderes als egoistisches Begehren, und
könne keins geben (S. 42, 43, 96, 97).
Es ist also eine psychologische Thatsache, nicht wunderbarer als
alle anderen, dafs unsere WoUungsziele entweder positiv altruistisch
= gut, oder negativ altruistisch = böse, oder egoistisch == moralisch
indifferent sind. Aber selten sind die Ziele so rein und eindeutig
bestimmt; in der Regel ist mit dem einen zugleich ein anderes, oder sind
mehrere andere mit ihm verbunden. Das Faktische sind WoUungsbinome
oder -polynome, die man auch, da jedes bewufste Wollen von einem
Plane ausgeht, Projektbinome oder -polynome nennen kann. Die Binome,
als die im Leben häufigste Komplikation, unterzieht M. einer besonderen
Untersuchung, bei der er algebraische Symbolik anwendet : g = eigenes
Litteraturhericht 147
Gut, y = fremdes Gut, u = eigenes Übel, v = fremdes Übel. Da beide
Paare vom egoistischen (e, 17), altruistischen (a, a) oder neutralen (n, y)
Standpunkte gewollt werden können, so ergeben sich zwölf fundamentale
moralische Werte: ge, ga, gn, y^^ yn, yy, ue, ua, un, vtj, ««, vy. Die häu-
figsten Projektbinome sind yu, d. h. der Fall, in dem ich fremdes Gut
mit eigenem Übel oder Opfer verbinden mufs, und —gv^ d.h. der Fall,
wo ich, um ein eignes Gut zu erreichen, ein fremdes Übel herbeiführen
muTs. ( — ist Zeichen des Negativ - Altruistischen.) Den moralischen
Wert der Wollung des nach yu Handelnden erhält man = C-^, wobei
C 9 die unbekannte, durch die Beschaffenheit der Einheiten bedingte
Proportionalitäts- Konstante" bedeutet, d.h., je gröfser das meinerseits
geopferte, je geringer das dem anderen dadurch zu teil gewordene Gut
ist, desto höher der moralische Wert der Handlung. Für — gv erh<
man in derselben Weise — C — . d. h., je geringer das eigene Interesse ist,
das ich nicht zum Opfer bringe, und je gröfser das fremde, das auf dem
Spiele steht, desto gröfser wird der Unwert meiner Handlung.
Wenn dem Beferenten noch „die durch die Beschaffenheit der Ein-
heiten bedingten unbekannten Proportionalitäts-Konstanten" neben den
Proportionen — und ~ verständlich sind, da qualitative Unterschiede darin
stecken können, so ist ihm doch eine weitere Zugabe unverständlich.
Wenn nämlich in der obigen Formel W (Wert) = C— g =^0 genonmien
Y
wird, so wird der Wert = 0, d. h., wenn ich eines anderen Gut ohne
Opfer meinerseits fördere, ist die Handlimg nicht verdienstlich; dies ist,
wie dem Beferenten scheint, vollkonmien richtig, die Handlung kann
physikalisch, gewissermafsen zufällig verdienstlich sein, aber nicht
moralisch, in dem Sinne, wie M., wesentlich mit Kant übereinstimmend,
die Moralität auffafst. M. aber meint: „bei Einführxmg der Grenzwerte
von g zeigen sich unsere Formeln in ihrer rechnerischen Konsequenz zu
streng . . . und wir müssen darauf bedacht sein, sie zu mildem". Die
Milderung geschieht nxm, indem zu g ein konstanter Summand, ein c,
hinzugefügt wird, so dafs wir für yu erhalten: W=^C- . Wenn dann
Y
1«, das erlittene Übel, und also auch ^, das aufgegebene Gut, = 0 wird,
ist der Wert doch immer noch C— : ebenso wird die zweite Formel
Y
durch ZufÜgung von c' zu g „gemildert", damit nicht, wer selbst, wo er
ohne jedes Opfer seinerseits es könnte, dem anderen nicht hilft, für
unendlich unmoralisch erklärt werde. Diese Erklärung wäre aber nach
des Referenten Ansicht durchaus berechtigt und im Sinne des Verfassers
konsequent. Es wäre ein Beispiel dessen, was Kant die böse Willkür
nennt. (Beligion innerhalb der Grenzen der blofsen Vernunft
ed. Ejbchmann, S. 23.)
Eine weitere, dem Beferenten willkürlich scheinende „Milderung"
tritt ein für den Fall, dafs g^^y angenonamen wird und beide mit-
148 LUteraturbericht,
einander parallel variieren, so dafs in der ersten Wertformel herauskäme
y ~\~ c
C^—^ — . Aus dieser Formel würde dann folgen: je gröfser das dem
anderen zugewendete Gut y^ desto geringer der moralisclie Wert der
Handlung. Weil dem die Erfahrung widerspricht, wird auf einmal ein
unbekanntes und durchaus unbegründetes k als Potenz-Exponent für g
eingeführt und die Wertformel nochmals umgeändert in C .
Y
Was würde man in der Physik zu einer Formel sagen, die, nachdem
sie auf Grund des thatsächlichen Verhaltens aufgestellt ist, fortwährend
fremder, durch nichts begpihideter Werte als neuer Zusätze bedürfte,
um die Thatsachen zu decken? Etwa, wenn die Formel der lebendigen
Kraft =s= )fnv' plötzlich, ohne das neue Moment zu erklären, in )m^v*
umgewandelt würde? Die ersten beiden „Milderungen^ sind überflüssig.
Die Werte für den Grenzfall (g = 0) scheinen dem Beferenten, wie schon
bemerkt, ganz richtig. Die zweite Milderung durch den Exponenten k
ist auch überflüssig, wenn das Binom yu konsequent den Sinn behält,
den es nach der ihm zu Grunde gelegten Wirklichkeit hat, nämlich:
dafs ein fremdes Gut mit eigenem Übel erkauft wurde. Dafs g =^Y^ ist
dann eine unmögliche Voraussetzung, da eben nicht g^ sondern u that-
sächlich vorhanden ist, und y nicht = ^, sondern => — g etwa gleich
einem Minus eigenen Gutes sein kann.
In analoger Weise, wie die Binome yu und — gv^ werden die Binome
gy und — vu behandelt.
Das, was psychologisch der Wert- oder ünwertgröfse entspricht, ist
die Gesinnung, das Wohlwollen oder die Gleichgültigkeit des Handelnden
gegen den alter. Neben dem Wohlwollen wird, wie dem Beferenten
scheint, ohne genügende Anknüpfung auch die Gerechtigkeit behandelt
und als Anteilsgleichheit, d. h. Gleichheit des Interesses für die Fremden,
bestimmt.
Wer ist aber das Subjekt der Werthaltungen, das die Werturteile
ausspricht? — Nicht ego, noch alter ^ die handeln, sondern die ganze
umgebende Gesamtheit. Damit erhalten die sittlichen Handlungen einen
neuen Wert, als Antriebe zur Nachahmung. Dieser ihr „Wirkungswert**
wird auch noch zum Teil mit algebraischen Symbolen behandelt. Einen
solchen Wirkungswert hat auch das „Sollen^, das, gegenüber dem
„Dispositionswert" der Gesinnung im allgemeinen, den Aktualitätswert
der einzelnen Wollung bildet, und wird von diesem Gesichtspunkte aus,
also in seiner sozialen Bedeutung, beleuchtet.
Von der Bestimmung der ethischen Werte und Unwerte gewinnt
M. die Mittel, um das Problem der Anrechnung und Zurechnung zu
lösen. Die Anrechnung fragt, wie die Gesinnung des Handelnden be-
schaffen, die Zurechnung fragt, in welchem Mafse die Handlung Ausdruck
der Gesinnung war. Mit Becht bemerkt M., dafs die Freiheit für die
Zurechnung nicht unentbehrlich ist. ),Wo ein Wertvolles (ethische Ge-
sinnung) fehlt, besteht Mangel, nicht Freiheit." Denn die metaphysische
Willensfreiheit hebt zwar das „Ich kann nicht" auf, aber damit eigentlich
auch das „Ich kann". Vorhanden ist nur die Freiheit, die man besser
Spontaneität nennen möchte, nur das zu thun, was den Neigungen, der
Litteraturbericht 149
Persönlichkeit des Handelnden entspricht. Das Bewnfstsein davon ist
von hohem ethischen Werte.
Ehensowenig, wie die Zurechnung , glaubt M., die Allgemeinheit der
ethischen Gesetze aufgehen zu müssen. Denn das eigentliche Wert-
subjekt, weil Subjekt der Werthaltung, ist ja die umgebende Gesamtheit.
£s giebt keine individuelle Ethik, nur eine soziale.
Überblickt man den Gang der Ausführungen des Verfassers, so
scheint es, als habe er etwas Ähnliches geben wollen, wie die englischen
Utilitarier in ihrem „hedonistic calculus'' gethan haben. Wie diese
eine Schätzung jeder Handlung nach der Summe der verursachten Lust
anstrebten, so verlangt er eine Schätzung des moralischen Wertes nach
dem Mafse des Verzichtes auf Güter und der Übernahme von Übeln.
Vielleicht meinte er dabei, auch heute gelte noch, was Kant von seiner
Zeit erzählt: „Unter allem Bäsonnieren ist aber keines, was mehr den
Beitritt der Personen, die sonst bei allem Vernünfteln bald Langeweile
haben, erregt, und eine gewisse Lebhaftigkeit in die Gesellschaft bringt,
als das über den sittlichen Wert dieser oder jener Handlung, dadurch
der Charakter irgend einer Person ausgemacht werden solP. (Kant.
Kritik der praktischen Vemnuft Herausgegeben von Kehrbaoh. S. 183.)
M.'s Buch ist ein erstmaliger wissenschaftlicher Versuch der
ethischen Messung. Aber abgesehen von den bedenklichen, oben erwähnten
„Milderungen", die der Verfasser an seinen Formeln vornimmt, kann
der Referent zweierlei Wünsche nicht unterdrücken: 1. fehlt in der
psychologischen Erklärung des Wertgefühles die Assoziation als mit-
wirkender Faktor. Wenn M. als Beispiel eines wertvollen Objektes
anführt den „Brief eines verstorbenen Freundes'' (S. 19), so konnte ihn
dieses Beispiel darauf führen, dafs nicht nur das Urteil, sondern auch die
Mitwirkung der in verschiedenstem Grade bewuisten assoziierten Vor-
stellungen den affektiven Wert erzeugt. Auch was er S. 58 „objektlose''
Furcht nennt, gehört hierher. Der Satz: „Wertgefühle sind ürteils-
gefühle" sagt zu viel, da M. meint: „nur Urteilsgefühle*'. — 2. glaubt
der Heferent, der Verfasser hätte seinem Buche gröfsere Präzision,
Durchsichtigkeit und Geschlossenheit verliehen, wenn er nicht, von der
Peripherie ausgehend, sich der zentralen grundlegenden Thatsache näherte,
sondern von dem Elementarphänomen, dem Gefühl, ausgehend, die ab-
geleiteten Thatsachen in stetigem Zusammenhange entwickelte. Gerade
eine genaue Psychologie des Gefühls vermifst man. Das „ Urteilsgefühl "
ist keine so einfache psychologische Erscheinung, dafs man sie nicht nach
allen Seiten abgrenzen müiste. Lidessen der Verfasser bezeichnet selbst
sein Buch als Anfang und Versuch ; möge er bald die Fortsetzung folgen
lassen. P. Barth (Leipzig).
A. Meinono. Über Werthaltung und Wert. Arch, f. systemat PMlos, Bd. I.
Heft 3. S. 327-346. (1895.)
Li diesem Aufsatze hat A. Meinono zu seinem oben angezeigten
Buche eine Ergänzung gegeben.
Die Gesundheit ist für den normalen Menschen von grofsem Werte,
das Gefühl davon ist gering, infolgedessen auch die Werthaltung. Also
ist der Wert eines Objektes keineswegs proportional seiner Werthaltung.
150 Litteraturbericht
Woher diese Versohiedenheit? — Weil der Wert nicht nur ein unmittel-
barer, sondern auch ein „Wirkungswert" ist. Und dieser beruht nicht
blofs auf den Wirkungen des vorhandenen Objektes, sondern auch auf
denen, die ausfallen würden, wenn es nicht vorhanden wäre, also
nicht nur auf der Existenz des Objektes, ^ sondern auch auf dem Urteile
über seine Nicht-Existenz. Die Nicht-Existenz aber, die eine Teilursache
des Wirkungswertes, kann nicht direkt das Gefühl erregen, dem die
Werthaltung genau entspricht, sondern nur in sehr indirekter Weise.
Die vorgestellte Nicht-Existenz kann nur beim Schwanken zwischen sich
ausschliefsenden Objekten für die Wahl des einen gegen das andere
mit ins Gewicht fallen. Auf diese Weise, als Verstärkung der Wahl-
motive, kann ein Negatives, ein vorgestelltes Fehlen, sich zu einem
Positiven, dem Werte des Vorhandenen, summieren. Das Gefähl also,
durch das die Werthaltung bestimmt wird, kann nur affiziert werden
durch die Existenz des Objektes. Der Intellekt aber, der den Wert
bestimmt, kann affiziert werden auch durch die Nicht-Existenz des
Objektes. Aus dieser Verschiedenheit ergiebt sich der GrGfsenunterschied
zwischen Werthaltung und Wert.
Auch hier kann Beferent nur den oben ausgesprochenen Wunsch
wiederholen. Die ganze Kasuistik der Werthaltung der Objekte scheint
ihm etwas äufserlichf mehr eine Grundlage einer ethischen Gesetzgebung,
als eine Entwickelung psychologischer Thatsachen und Gesetze. Eine
solche müfste nicht vom Objekte und vom Urteile, sondern von ein-
fachen Vorstellungen und den sie begleitenden Gefühlen ausgehen. Denn
auch, wo das Objekt wertlos ist, giebt es psychische Werte, von denen
doch Meinong allein sprechen will. An einem Kartenspiel teilnehmend —
auch einem solchen, das nicht um Geld oder anderen Vorteil geht — ,
legt man dem Vorhandensein oder Fehlen einer Karte viel Wert bei.
Die ganze Wertuntersuchung scheint dem Beferenten nur eine Abteilung
der Psychologie des Gefühles, des bisher dunkelsten Teiles des Seelen-
lebens. Von ihr hätte Mbii^ono ausgehen müssen, von Untersuchungen
über den Gefühlston sinnlicher und reproduzierter Vorstellungen und
ihrer mannigfaltigen Verbindungen, von seiner Modifikation durch
Assoziation, von seinem Verhältnis zum Bewufstsein und Selbst-
bewufstsein, zum Willen u. dergl. So wäre er von der organischen
Wurzel der Wertthatsachen ausgegangen und hätte ihre mannigfache
Verzweigung scharf beleuchten können, während er jetzt mitten im
Geäste derselben sitzt. Denn das „Urteilsgefühl", von dem er ausgeht,
ist kein einfacher, sondern ein sehr vieldeutiger Begriff.
P. Barth (Leipzig).
W. WüNDT. Zur Benrtellimg der zasammengesetzten Beaküonexi. JPhUos.
Stud. Bd. X, 4. S. 485—498. (1894.)
E. Kbaepelin und Jül. Merkel. Beobachtungen bei zusammengesetzten
Reaktionen. Philos. Stud. Bd. X, 4. S. 499—506. (1894.)
Bekanntlich hat Wundts Theorie der zusammengesetzten Reaktionen
von mancher Seite Einwendungen erfahren, die, ohne sich von deren
lAtteraturhericht 151
Geiste erheblich zu entfernen, immerhin einige der wichtigsten Punkte
betrefPen. W. giebt nun, von Kraepeijn und Merkel nachdrücklichst
unterstützt, eine zusammenfassende Entgegnung darauf. Der Versuch
einer kritischen Würdigung derselben, sollte er nur einigermafsen mit
dem der Sache und dem Verfasser gebührenden Ernst unternommen
werden, müfste den Babmen eines Beferates weit überschreiten; ich will
mich also der Zustimmung und des Widerspruchs gänzlich enthalten und
auf übersichtliche Wiedergabe des wesentlichen Inhalts der beiden
Artikel beschränken.
A. Erkennungsreaktionen. Erster Einwand: Eine Vergleiohung
der bei den Erkennungsreaktionen gewonnenen Besultate mit denen einer
einfachen sensoriellen Beaktion ist unzulässig, weil die sensorielle Vor-
bereitung in beiden Fällen eine wesentlich verschiedene ist; von den
Unterschiedswerten zwischen beiden A.kten wird ein unbestimmbarer
Teil auf die Verschiedenheit der sensoriellen Adaptation kommen. — Da-
' geg^n sucht W. nachzuweisen, dafs der Unterschied der gefundenen
Zeiten nicbt auf eine dem Eindruck des Objektes vorausgehende Ver-
schiedenheit der Vorbereittmg, sondern nur auf die Verschiedenheit des
dem Eindruck folgenden Vorganges zurückgeführt werden könne.
Zweiter Einwand: Bei einem einfachen sensoriellen Beaktions-
versuch folgt dem einfachen, zuvor bekannten Eindruck die „Auffassung*
desselben, und bei einer Erkennungsreaktion folgt dem unbekannten und
eventuell mehr oder weniger zusammengesetzten Eindruck ebenfalls eine
9 Auffassung'' desselben; warum in beiden Fällen Auffassung und Auf-
fassung wesentlich verschieden seien, ist nicht einzusehen. — Wündts
Entgegung : „DaDs . . . der psychische Vorgang, der sich nach der Ein-
wirkung eines bestinmiten erwarteten Eindrucks von bekannter Qualität,
und derjenige, der sich nach der Einwirkung eines nicht zuvor gegebenen
Eindruckes entwickelt, einer und derselbe sei, — von dieser Behauptung
kann ich, wenn sie sich auf Selbstbeobachtung beruft, nur sagen, dafs
sie nach dem Zeugnis meiner eigenen Selbstbeobachtung falsch ist, und
dafs es, wie ich glaube, im ganzen Bereich psychologischer Beobachtung
wenig Dinge giebt, von denen sich ein unbefangener Beobachter leichter
überzeugen kann, als davon, dafs Auffassung und Auffassung sehr ver*
schiedene Vorgänge sein können. .*^ — An dieser Stelle kann ich mir
eine kurze Zwischenbemerkung eben um ihrer Kürze willen, nicht
versagen, da sie vielleicht geeignet ist, den Unterschied zwiscben
diesen beiden „Auffassungen'' sachlich sowohl als terminologisch
deutlich zu charakterisieren: Die einfache, sensorielle Beaktion ver-
langt blofs ein Existenz ial-, die Erkennungsreaktion aufser diesem
noch das Benennungsurteil. Man vergleiche dazu folgende Äufserung
Kkaepeliks, die übrigens in dem den Unterschiedsreaktionen gewidmeten
Abschnitte seiner Mitteilungen enthalten ist: „Darum glaube ich auch,
nach dem Eintritte des äuTseren Eindruckes in das Bewufstsein noch
einen besonderen Akt des Wiedererkennens, eben die Unter-
scheidung, annehmen zu müssen. Bei den Versuchen habe ich
deutlicb das Gefühl, dafs ich mir gewissermafsen erst darüber Bechen-
schaft gebe, welcher Beiz es eigentlich gewesen ist, während ich bei
152 Litteraiurherieht.
der einfachen Beaktion die besondere sinnliche Qualität des
Beizes nicht weiter beachte, sondern mich zufrieden gebe, dai^
es eben „der Beiz'' gewesen ist.'*
B. ünterscheidungsreaktionen. Einwand: Bei den ünter-
scheidungsreaktionen liegt gar keine ^^Unterscheidung'' im Sinne des
gewöhnlichen Sprachgebrauches vor. WirnnTs Entgegnung: „,.. da es
sich bei der angedeuteten Versuchsanordnung offenbar um Bedingpmgen*
handelt, die in einem wesentlichen Punkt von den bei den Erkennungs-
reaktionen obwaltenden abweichen, so weifs ich nicht, wie ich mir
anders helfen soll, als durch die Wahl dieses, wenn auch unzulänglichen
Wortes Dafs es sich übrigens bei den sog. ünterscheidungs-
reaktionen lediglich lun Erkennungsreaktionen unter erleichternden Be-
dingungen handelt, ist einleuchtend. '^
C. Wahlversuche. Erster Einwand: Der Zustand der Vor-
bereitung ist bei den Wahlversuchen ein von dem bei allen anderen
Beaktionen völlig verschiedener, da in die vorausgehende Erwartung
die Vorstellung der Verknüpfung des Eindruckes mit der auszuführenden
Bewegung eingeht. — W. entgegnet, dafs diese Störung bei Ungeübten
wohl eintritt, bei Geübten aber, wie er auf Grund eigener Erfahrung
weifs, vollständig überwunden wird. Damit stimmt auch die ebenfalls
auf Selbstbeobachtung gegründete Mitteilung Mebksls überein.
Zweiter Einwand: Wahlreaktion ist überhaupt ein unzulässiger
Begriff, weil es einen Vorgang der Wahl gar nicht giebt ; ein Schwanken
zwischen verschiedenen Bewegungsmöglichkeiten kann nur auf einem
augenblicklichen Versagen des Gedächtnisses beruhen, nicht auf einem
wirklichen Wahlakt ; sobald die zureichende Übung eingetreten ist, kann
vollends von Wahl nicht mehr die Bede sein, denn dann müssen alle
Beaktionen automatisch werden. — Wundts Entgegnung: Diese Be-
hauptung „entspricht nicht den wirklichen Erfahrungen, wie sie bei der
sorgfältigen und fortgesetzten Ausführung der Versuche gemacht
werden .... dafs jede eingeübte Wahlhandlung notwendig zu einer auto-
matischen Bewegung wird, das mufs ich auf Grund meiner eigenen
Beobachtung auf das entschiedenste bestreiten, und gerade den Wahl-
versuchen entnehme ich die Erfahrungen, die dies beweisen." — Auch
in diesem Punkte wird Wüin)TS Berufung auf die Selbsbeobachtung durch
die Mitteilungen Kraepelins und Merkels aufs kräftigste unterstützt.
D. Assoziations versuche. Einwand: Die Beaktion kann in sehr
verschiedenen Stadien der Entwickelung der Beproduktion erfolgen, so
dafs man keine Gewähr hat, bei diesen Versuchen wirklich die Zeit bis
zum Auftreten der assoziierten Vorstellung zu messen. — Auch dem
widerspricht W. auf Grund der Selbstbeobachtung entschieden: „Die
Beaktion erfolgt . . . sofort nach der Apperzeption der reproduzierten
Vorstellung." Und auch in diesem Punkte hat er die Aussagen
Kbaepeliiys auf seiner Seite. Witasek (Graz).
Lüteraturherieht, 153
B. YOH EiiAPVT-EBDro. NerrositSrt und nevnuitlieiüsclie Zustände. Spee.
Faihol ti. Thercg^). von Dr. H. Nothkagel. Xu. Band. 2. Teil. Wien,
A. Holder. 1895. 201 S.
NoTHKAGBL hat fOr sein grofses Sammelwerk die Bearbeitung der
Nervosität in die bewährten Hände Krafft-Ebinos gelegt und dem Alt-
meister klinischer Darstellung dadurch Gelegenheit gegeben, die Zahl
seiner Lehrbücher um ein weiteres zu vermehren.
Wie bei Erafft-Ebing nicht anders zu erwarten, giebt er in voller
Beherrschung des gewaltig angewachsenen Materials eine Übersicht
Aber das Neueste und Beste, was zur Zeit über diese Zustände bekannt
ist, und er trägt in der eingehenden Berücksichtigung der Behandlung
den Bedürfnissen des praktischen Arztes besondere Bechnung. Nachdem
er zunächst Begriff und Wesen der Nervosität einer kürzeren Be-
trachtung unterzogen hat, geht er in ausführlicher Darstellung auf die
Neurasthenie ein, auf ihre Ätiologie und Symptome, um mit einer
Schilderung ihrer Krankheitsbilder zu schliefsen. Das Buch eignet sich
als Lehrbuch, bei der Überfülle an Material und dem knappen Stile,
nicht zu einem Beferate. um so geeigneter aber ist es, uns in das
Verständnis dieser Zustände einzuführen und uns als Wegweiser zu
ihrer Erkenntnis und Behandlung zu dienen. Pblman.
August Fobbl. Der Hsrpnotismus. 3. verbesserte Auflage. Mit Ad-
notationen von Dr. 0. Vogt, Assistent an der psychiatrischen Klinik
zu Leipzig. 1895.
Die vorletzte, zweite, Auflage des FoRELSchen Buches ist in dieser
Zeitschrift bereits besprochen worden. Es genüge deshalb eine kurze
Empfehlung der neuen Ausgabe. Die Anerkennung der Suggestionslehre
in der Medizin hat noch schwer zu kämpfen mit der Abneigung gegen
alles, was nicht streng „naturwissenschaftlich^^ erscheint. Das ist, wenn-
gleich zu bedauern, doch begreiflich. Die Grundlage des Kypnotismus
bildet die Psychologie, die man immer noch nicht als Zweig der Natur-
wissenschaft gelten lassen will, — als ob die Natur den Menschen nur
als leibliches und nicht vor allem als seelisches Wesen erschaffen hätte!
Solange die medizinische Forschung auf dem Boden des reinen
Materialismus verharrt, wird sie einer Lehre, die dem Spiritualismus so
reichliche Zugeständnisse macht, abhold bleiben. Möchte diese Einseitig-
keit wenigstens nicht zu dem Fehler verführen, mit aprioristischen
Schlagworten ein wissenschaftliches Gebiet abzuthun, dessen Bedeutung
auch der Gegner nicht tmterschätzen wird.
FoBELs Werk eignet sich zum Studium deshalb so vorzüglich, weil
es, ohne weitschweifig zu sein (es umfaist wenig mehr als 200 Seiten),
doch in der Wesen Tiefe dringt. Dieses Lob kann man nicht allen
Erzeugnissen der jüngsten, stark angewachsenen Suggestionslitteratur
spenden. Die neueren kleinen Kompendien haben manchmal über der
rein therapeutisch-praktischen Seite die theoretische gar zu sehr ver-
nachlässigt. Aber gerade, solange die Suggestionslehre noch nicht die
verdiente Anerkennung gefunden, ist ein ernsteres Eingehen auf die
physiologische Seite der Frage wünschenswert. Im wesentlichen gleicht
164 LiUeratwfhericht,
die 3. Auflage den beiden vorangegangenen. Nea sind, von zahlreichen
Verbesserungen, Streichungen und HinxufEkgungen abgesehen, ins-
besondere einige kleinere Aufsätze von Vogt, unter denen namentlich
ein psychophysiologischer Erklärungsversuch der Suggestion Beachtung
verdient. Scholz (Bonn).
C. Webnicks. Arbeiten ans der psychiatrischen Klinik in Breslau,
n. Heft Leipzig, TmEMs. 1895. 127 S. XXI Tafeln.
Dieses zweite Heft der Arbeiten aus der Breslauer psychiatrischen
Klinik enthält 4 Aufsätze; der erste, von Kekklsb, beschäftigt sich mit
einer bisher imbeachtet gebliebenen Form von Krampfan fällen bei
progressiver Paralyse, nämlich solchen, die mit rhythmischen,
dem Puls synchronen Zuckungen einhergehen. Der Heraus-
geber selbst bringt als Beitrag zur Lokalisation der Vorstellungen
zwei Fälle von Bindenläsion, die beide als Hauptsymptom eine
Tastlähmung der rechten Hand mit relativ geringer Störung der Sensi-
bilität imd der feineren Motilität aufweisen. Die Tastlähmung (Verlust
der Fähigkeit, Gegenstände durch Tasten wiederzuerkennen) erklärt
Webkicke ans dem Verlust der Tastvorstellungen, d. h. der Erinnerungs-
bilder der stets (bei denselben Dingen) in gleichbleibender Anordnung
und Beihenfolge wiederkehrenden Tastempfindungen konkreter Gegen-
stände. Die Tastlähmung mufste in beiden Fällen auf eine Zerstörung
an dem sogenannten mittleren Drittel der Zentralwindungen, besonders
aber der hinteren, zurückgeführt werden, und so hat die klinische
Beobachtung wiederum ein Himgebiet festgestellt, dessen Zerstörung
mit dem Verlust einer bestimmten Art von Vorstellungen einhergeht,
während dies bisher nur hinsichtlich zweier Gebiete sicher erkannt
worden war, nämlich hinsichtlich der BKOCASchen Windung für die
Bewegungvorstellungen der Sprache und hinsichtlich der linken ersten
Schläfen Windung für die Klangbilder der Worte.
Die beiden letzten Arbeiten enthalten pathologisch -anatomische
Untersuchungen über dasGehirndes FöRSTEBschen „Bindenblinden*
von Sachs und des LissAUEBSchen Falles von Seelen blindheit von
Hahn. Pebetti (Grafenberg).
WOiLiAM HiBscH. Betrachtangen über die Jnngfran von Orleans vom
Standpunkte der Irrenheilknnde. Berlin 1895. 0. Coblentz. 35 S.
An Schriften über das wundersame Mädchen von Domremy ist gerade
kein Mangel, und ebensowenig läfst sich behaupten, dafs wir wesentlich
klüger dadurch geworden sind.
Von den einen als eine Heilige in den BLimmel erhoben, wird sie
von den anderen für eine Verrückte erklärt, und gerade für den
Psychiater von Fach mag es nicht leicht sein, zu einem anderen Schlüsse
zu gelangen.
Wenn wir in dem Auftreten von Sinnestäuschungen ein Symptom
sehen, das sich nur bei Geisteskranken findet, dann allerdings ist eine
LitteraturbtiichL 155
andere Anschauung nicht gut möglich, da Johanna unzweifelhaft halluzi-
niert hat. Andererseits aber haben so tüchtige Psychiater, wie Hagen,
Bbibrre DB BoisHONT u. a. m., kein Bedenken getragen, die Jungfrau trotz
ihrer EEalluzinationen für geistesgesund oder doch wenigstens nicht für
geisteskrank zu erklären.
Dafs HiBSCH diese Frage durch seine Broschüre der Entscheidung
n&her gebracht habe, läfst sich nicht behaupten. Erkrankte Johanna
wirklich, wie Hirsch es annimmt, mit 13 Jahren an Wahnideen und
Halluzinationen, war sie thatsächlich in einer so frühen Zeit ihres Lebens
schon geisteskrank, dann würde eine so frühzeitige Erkrankung aller
Erfahrung nach ihre weitere geistige Entwickelung gehemmt haben und
die Kranke in Schwachsinn versunken sein, während sich umgekehrt
ihre geistige Kraft mit ihren höheren Zielen entwickelt und ihre höchste
Kraft und Entäufserung in dem Kampfe um ihr Leben erreicht.
Zwei volle Monate dauerte ihr Prozefs, und täglich wurde sie von
60 geistlichen Beisitzern verhört. In diesen Verhören entfaltete das
einfache Mädchen, das nicht lesen und schreiben kann, eine solche
geistige Kraft und Gewandtheit, dafs sie die Bewunderung ihrer Gegner
erweckt, und wenn diese auch Kinder ihrer Zeit, und diese Zeit eine
gottserbärmliche war, so geht doch das eine klar daraus hervor, dafs
Johanna ihren Gegnern zum mindesten gewachsen, wenn nicht gar Über-
legen war.
Schwachsinnig war sie demnach sicherlich nicht, und wie Hirsch
ihr als Verrücktheit anrechnen will, was ihre ganze Zeit und Umgebung
mit ihr glaubte und für wahr hielt, will mir auch nicht recht scheinen.
Mit denselben Beweisgründen müfste man noch ganz andere Leute für
verrückt erklären, die ebenfalls Sinnestäuschungen gehabt und im Sinne
ihrer Zeit gedacht und gehandelt haben.
Was Hirsch ungelöst gelassen hat, wird voraussichtlich noch manchen
Berufenen und Unberufenen in die Schranken rufen. Schickt sich doch
das fromme Frankreich an, die bereits selig Gesprochene in den Beigen
der Heiligen einzureihen, was dem Advokaten des Teufels Gelegenheit
geben wird, die alte Frage nochmals gründlich zu erörtern.
Pelman.
C. LoMBRoso. Der Antisemitismiia und die Juden im Lichte der modernen
Wissenschaft. Autorisirte deutsche Übersetzung von Dr. H. Kurblla.
Leipzig. Georg H. Wigands Verlag. 1894. 114 S.
Die Juden sind nicht reine Semiten, sondern aus einer Mischung
mit vorwiegend arischen Volkselementen hervorgegangen. Der grofse
Prozentsatz von Brachycephalie unter den Juden ist eine Erbschaft des
alten Volkes der Hethiter, das bereits etwa 2000 Jahre v. Oh. eine hoch-»
entwickelte Kultur besafs, die Blondhaarigkeit bei den Juden entstammt
zum grofsen Teile der im alten Testamente mehrfach erwähnten, in den
Nachlassen ihrer Kultur noch heute an der nordafrikanischen Küste
nachweisbaren Völkerschaft der Amoriter, die spezifisch jüdische Nase
ist das Produkt einer Kreuzung mit Armeniern. Den reinen alt-semitischen
Typus bewahren in Sprache, Schädelform, Teint und Nasenbildung nur
156 Lüteraturbencht.
noch die Beduinen Südarabiens. Die kurze, kleine Nase dieser Völker-
stämme ist die eigentlich semitische. Den Einflufs der Rassenkreuzung
zeigt das jüdische Volk ebenso wie denjenigen des Klimawechsels auch
im weiteren Verlaufe seiner Geschichte. So erklärt sich das glatte,
feine, blonde Haar, das blaue Auge und die hohe Stirn des englischen
Juden aus einer Mischung des Volkes mit den Angelsachsen, aus dem
gleichen Grunde der Rassenkreuzung sind die Juden in *Piemont rund-
kOpfig und blondhaarig, besitzen diejenigen Venetiens einen viereckigen,
länglichen Schädel und schwarzes Haar, ist die Haut der Juden in
der Oase üaregh schwarz wie die der Neger etc. Die Defekte des
jüdischen Charakters sind eine Resultante der Geschichte; furchtbar
und unerbittlich war die Auslese, die gerade dieses Volk im Laufe der
Jahrhunderte zu bestehen hatte. Überall aber, wo man ihm seither
Freiheit gewährte und eine Kreuzung desselben mit anderen Kulturvölkern
zuliefs, hat es am Fortschritte der Kulturentwickelung in hervor^
ragendem MaTse teilgenommen. Der Antisemitismus ist ein Übel, das
nur ein Wiedererwachen primitiver Regungen bedeutet und den nie-
drigsten menschlichen Leidenschaften entspringt. Würde derselbe im
Laufe der nächsten 5 oder 6 Jahrhunderte aussterben, so würden die
Juden, auiser vielleicht in barbarischen Ländern, bis auf Fragmente in
den übrigen Kulturvölkern aufgegangen sein. Das Judentum mufs den
„äufseren Putz seines Kultus" abstreifen. Juden und Christen müssen
ihre gegenseitigen Vorurteile aufgeben und sich zu einer neuen Religion
vereinen, die, die Lehren des Vatikans wie der Propheten preisgebend,
unter Anerkennung der wissenschaftlichen Errungenschaften die schon
von Christus verkündete neue soziale Idee auf ihre Fahne schreibt; nur
im sozialen Urchristianismus kann die Frage ihre vollgültige Lösung
finden.
Hiermit dürften die leitenden Gedanken, die der Verfasser in den
13 Kapiteln der vorliegenden Studie weiter ausgeführt hat, der Haupt-
sache nach kurz wiedergegeben sein. Die Resultate einiger weiterer
Untersuchungen sind in einem Anhange unter den Titeln: Anthropometrie
der Turiner Juden, zur Demographie der italienischen Juden, Unter-
suchung alter Schädel von Phöniciem und Israeliten zusammengestellt.
Eine kephalometrische Tabelle umfafst am Schlüsse des Werkes die Er-
gebnisse der an 172 lebenden Einwohnern Turins, worunter 82 jüdischen
Ursprungs, nach Lombrosos Methode angestellten Messungen.
Der Verfasser hat auch für diese Untersuchung wiederum eine be-
wundernswerte Fülle von Material verwandt. Die Schrift ist vielseitig an-
regend, wie alles, was Lombroso geschrieben hat, bietet aber ebenso auch
wieder zu mancherlei Einwänden Anlafs. Wenn es z.B. dem Verfasser Ernst
sein konnte mit der Annahme einer ihm von einem gewissen Dr. H. Fosca-
LANOE aus Bukarest mitgeteilten Beobachtung, nach welcher der Antisemitis-
mus in naher Beziehung zu den Folgeerscheinungen der Syphilis stehen
soll, so zwar, dafs er die Behauptung seines Korrespondenten nicht
unbedingt für die seinige erklärt, aber dieselbe dennoch der Diskussion
und der Nachprüfung für würdig hält, so darf die Frage erlaubt sein,
ob der unparteiische Standpunkt, den er eingangs innehalten zu wollen
Litteraturbericht, 157
beabsichtigt, wirklieb überall in seiner Reinheit gewahrt blieb. Eine
gelegentliche ÄuTserung des Fürsten Bismabck, die der Verfasser zu
Gunsten der Rassenkreuzung zitiert, konnte nach einer Anmerkung des
Übersetzers in ihrer Authentizität yon diesem nicht kontrolliert werden
und musste deshalb aus dem Italienischen rückübersetzt werden. Es
mufste von höchstem Interesse sein, zu erfahren, wie sich diese brennende
Frage der Gegenwart, der gegenüber es dem Einzelnen oft schwer
fallt, sich die richtige Stellungnahme zu erringen, gerade im Kopfe
LoMBROso's gestaltete, aber angesichts solcher Thatbestände darf sich der
Herr Verfasser nicht wundem, wenn man sein Buch schliefslich doch
▼erstimmt beiseite legt. Von wissenschaftlichem Werte bleibt, dafs der
Verfasser die Frage zu einer ethnologischen und vOlkerpsychologischen
gewandelt hat.
Zu bedauern ist femer der Ton, den der Herr Übersetzer, der in höchst
verdienstvoller Weise schon so manches Buch der fremdländischen
liitteratur dem deutschen Leserkreise zu eigen machte, in seiner Vor-
rede zu dem vorstehend besprochenen Werke anschlägt. Kann man in
Deutschland wirklich von einem Antilombrosismus in gleichem oder in
nur ähnlichem Sinne wie von einem Antisemitismus reden? Lombrosos
Verdienste wird weder die Mit-, noch die Nachwelt verkennen. Wenn
aber die deutsche Wissenschaft von ihm vor allen Dingen eine kritische
Behandlung des jeweils verwerteten Materials verlangt und je nach
der Beachtung dieses Momentes zu seinen Hypothesen Stellung nimmt,
so wird man nicht anstehen dürfen, hierin nur eine berechtigte Forderung
zu erkennen. Führt doch gerade Herr Kurblla an einem andern
Orte aus {Entartung und Genie VIII), dafs Lombroso, ein Genie, zu messen
sei mit dem Mafse, womit er selber dieses gemessen, obwohl K. hierunter
den dem Genius konstant anhaftenden Zusatz des unbegreiflichen ver-
steht und an jener Stelle trotzdem für die Richtigkeit der Theorie
seines Meisters eintritt, und kann Herr Kurella doch am Schlüsse
seiner Vorrede selber nicht umhin, zu erklären, dafs er nicht alle in der
vorliegenden Schrift vom Verfasser gezogenen Schlufsfolgerungen unbe-
dingt annehme, „am wenigsten alle seine Urteile über deutsche öffent-
liche Zustände^, obwohl er sich „in der Tendenz und dem Q^ftLhls-
charakter'' des Werkes mit dem Verfasser einig weifs. Was die Über-
setzung als solche betrifft, so hat Kürblla durch dieselbe sein Talent
wiederum in glänzender Weise bethätigt.
Frisör. Kibsow (Leipzig).
Berichtlgiiiig.
lnäemvorigenB9jiäedk8erZeü8chnft(Bd,lX»8.297ff,)]iatJyT. ScHuiLLinr
eine Besprechung meiner „Beiträge zur Psychologie des Zeitsinns** ge-
geben, die mich zu einigen sachlichen Berichügimgen nötigt.
Es ist zuerst eine unkorrekte Wiedergabe meiner Meinung, wenn
ScHUMA^m behauptet: „Was dann die Zeiturteile betrifft, so sollen di&*
selben immer aus einer unmittelbaren Wahrnehmung der „Dauer", bezw.
„Aufeinanderfolge" hervorgehen" u. s. w. Abgesehen davon, dafs dieser
ganze Absatz bis zu den Worten „entstehen können" ein Muster logisch
unkorrekter Ausdrucksweise ist, so scheint es Schuhaitn gänzlich ent-
gangen zu sein, dafs ich meine sämtlichen theoretischen Ausführungen
darauf gerichtet habe, zwischen einer allgemeinen Psychologie der Zeit-
wahmehmung und einer speziellen Analyse der Vorgänge, die bei der
Bildung bestimmter Zeiturteile unter gegebenen Versuohsbedingungen
beteiligt sind , zu unterscheiden. Schumann macht diese Unterscheidung
allerdings nicht; daraus datiert für ihn nicht das Becht, sie bei mir zu
übersehen. Über die Art und Weise des Zustandekommens bestimmter
Zeiturteile unter den konkreten Umständen des Zeitsinnversuchs habe
ich mich gemäfs dem ganzen Plan meiner Untersuchung überhaupt noch
nicht äufsem können; was ich angegeben habe, ist nur die allgemeine
psychologische Grundlage der Möglichkeit einer gesonderten Beur*
teilung zeitlicher Verhältnisse unserer Bewufstseinsvorgänge. Nach
Schümanns Darstellung mufs es scheinen, wie wenn ich diese grundlegende
Unterscheidung ebenso übersehen hätte, wie meine Vorgänger. (Vergl.
u. a. S. 501, 503 ff. Philaa. Stud, VIII.)
Es ist femer eine starke sachliche Unrichtigkeit, wenn Schumann
in dem folgenden Absatz behauptet, dais die Täuschung des Zeiturteils,
welche darin besteht, dafs ein von intensiveren Schalleindrücken be-
grenztes Zeitintervall relativ zu kurz erscheint, von mir erklärt werde
„aus der längeren Dauer der von intensiveren Beizen hervorgerufenen
Empfindungen^^ Ich habe vielmehr für diese und alle anderen aus der
Intensitätsverschiedenheit der die Intervalle begrenzenden Empfindungen
entspringenden Täuschungen eine ganze Beihe von Erklärungs-
möglichkeiten gegen einander abgewogen, indem ich je nach
den Umständen fünf bis sechs und mehr Ursachen annehme, welche
zusammen diese Effekte hervorbringen können; nämlich die „Schall-
verschmelzuQg", gewisse assoziative Faktoren, „die stärkere Be-
schäftigung der Aufmerksamkeit^, Uberraschungseffekte, und
Berief Fügung. 159
spezifisch rhythmische Einflüsse. (Vergl. u. a. Philos, Stud, IX. S. 288f.
298ff.) Ja, die ganze Tendenz meiner zweiten Arbeit geht darauf aus,
diese verschiedenen Ursachen auf den Grad ihrer Beteiligung hin zu
kontrollieren. Wenn nun Schuhaiht ganz beliebig eine dieser Erkl&rungs-
möglichkeiten herausgreift und als y^die meinige^ hinstellt, so dürfte
das wohl das Mafs erlaubter Vereinfachung einer referierten Arbeit über-
schreiten.
Es ist femer eine unkorrekte Wiedergabe meiner Absichten, wenn
ScHUMAiTN sagt: „Die bisher mitgeteilten experimentellen Untersuchungen
behandeln den EinfluXs, welchen die Intensität und Qualität der be-
grenzenden Signale auf die Schätzung des zwischenliegenden Intervalls
ausüben.^ Wie die Überschrift Seite 269 sagt, habe ich bisher nur den
Einfluis der Intensität und des Intensitätswechsels der be-
grenzenden Empfindungen feststellen wollen, und jedermann, der diesen
Teil meiner Arbeit liest, mufs sehen, dafs in den wenigen Fällen, wo ich
einen Qualitätswechsel der „Signale" (»der Empfindungen*' würde ich in
meiner Terminologie sagen) herbeiführe, dies lediglich geschieht, um die
bei dem Intensitätswechsel wirksamen Faktoren herauszubringen,
also z. B. wie auf S. 301 , um den bei dem Intensitätswechsel beständig
mitwirkenden rhythmischen Effekt zu eliminieren. Über den Einflufs der
Qualität der Empfindungen auf die Zeitschätzung habe ich vielmehr eine
besondere Veröffentlichung vor, die hauptsächlich ihrer grofsen tech-
nischen Schwierigkeiten wegen bisher nicht zum Abschlufs gebracht
wurde.
In zwei Punkten sehe ich mich aufserdem genötigt, gegen die Kürze
des ScHUMAHNschen Beferates zu protestieren. Beferenten haben ihre
Grundsätze — aber wenn man in dem Bericht über eine wissenschaftliche
Arbeit die Hauptabsichten des Verfassers übergeht, so dürfte das wohl
nicht dem allgemeinen Zweck des Beferierens entsprechen. Und die
beiden Grundgedanken meiner Zeitsinnarbeit sind allerdings von Sghühann
mit keinem Wort angedeutet. Der erste ist dieser, dafs ich mehr als
eine Analyse einzelner Fälle von Zeiturteilen beabsichtigte, indem ich
eine allgemeine Psychologie der bisher so gänzlich vernachlässigten
Zeitwahrnehmung überhaupt zu geben vorhabe, zu der ich S. 503 ff. in
meiner ersten Veröffentlichung in Kürze das Programm entwickelt habe
imd zu der alle meine Einzeluntersuchungen einzelne „Beiträge" liefern
sollen.
Sodann habe ich zum ersten Male (auch in Schümanns Arbeit: Über
die SckäUnmg kleiner Zeitgrößen findet sich keine Andeutung darüber)
die prinzipielle Frage aufgeworfen, ob es denn überhaupt einen vernünf-
tigen Sinn habe, bei „Zeitsinn versuchen" der bisher üblichen Art so
ohne weiteres die Gültigkeit des WESEBSchen Gesetzes prüfen zu wollen
(vergl. u. a. S. 506 u. 509 meines ersten Artikels). Die „Zeiten" werden
unserem Bewufstsein nur repräsentiert mittelst der Empfindungen, Vor-
stellungen u. s. w., welche als Träger zeitlicher Erlebnisse jeweils
funktionieren und als deren Zeitverhältnisse wir überhaupt nur unsere
zeitlichen Erlebnisse besitzen. Infolgedessen findet hier überhaupt nicht
eine einfache Abhängigkeit dieser zeitlichen Erlebnisse von den Beizen
160 Benchtigung.
statt, sondern zwischen den Beizern und den Zeitverhältnissen, die wir
beurteilen, stehen die Empfindungen und sonstigen Vorgänge, deren Zeit-
verhftltnisse wir im einzelnen Falle innerlich wahrnehmen. Die Be-
ziehung der Zeitverhältnisse zu den Beizen ist also eine noch y er-
mitteitere, als die der Empfindungen zu den Beizen, und das macht
nach meiner Meinung Voruntersuchungen darüber nötig, ob nicht der
Zeitverlauf der Empfindungen (mit welchen wir im Zeitsinn versuch die
Intervalle herstellen) selbst, und vielleicht auch gewisse Eigenschaften
der Empfindungen, ihre Beziehungen zu den Aufmerksamkeitsvorgftngen
u. a. m., diese Beziehung der Zeiten zu den Beizen zu einer so kom-
plizierten machen, dafs eine Anwendung des WEBssschen Q-esetzes hier
von vornherein ausgeschlossen scheint.
Die Untersuchung dieser Vorfrage sollte der zweite Hauptzweck
meiner Zeitsinnversuche sein. Ich glaube, es ist nicht zu viel beansprucht,
wenn ich diese beiden Gedanken in einem, wenn auch noch so kurzen,
Beferat über meine Zeitsinnarbeit nicht übergangen zu sehen wünsche.
Meümamn (Leipzig).
Untersuchungen
über die geistige Bntwickelung der Schulkinder.
Von
E. W. SCRIPTÜRB,
Yale University.
Mit 20 Fig:uren im Text.
Obwohl ausgedehnte statistische Messungen über die Körper-
verhältnisse der Schulkinder schon von den Physiologen und
Anthropologen gemacht worden sind, hat man über das
Wachstum der geistigen Fähigkeiten bei Schulkindern meisten-
teils nur allgemeine, der experimentellen Grundlage entbehrende
Betrachtungen angestellt. Um diese Lücke auszufüllen, habe
ich psychologische Messungen an den Schulkindern der Stadt
New Haven, Conn., ü. S. A., anstellen lassen. Dieselben sind
unter meiner Leitung von Dr. Ph. J. A. Gilbert ausgeführt
worden. Der ausführliche Bericht über die gesammelten That-
Sachen ist in meinen Studien erschienen.^ Eine allgemeine
Bearbeitung des Materials vom Standpunkte des Psychologen
werde ich hier zu geben versuchen.
Versuchsmethoden.
Zwölfhundert Kinder aus den Volksschulen New Havens,
Gönn., IT. S.A., im Alter von 6 bis 17 Jahren, fast genau 50 Knaben
und 50 Mädchen jedes Jahrganges, wurden acht Prüfungen
unterzogen. Es wurden nämlich untersucht : 1. Muskelsinn, 2. Em«
pfindlichkeit für Helligkeitsunterschiede, 3. EinfluTs der
Suggestion, 4. Schnelligkeit bei willkürlichen Bewegungen,
5. Ermüdung bei denselben, 6. Zeit einer einfachen Reaktion,
7. Zeit einer Reaktion mit Unterscheidung und Wahl, 8. Zeit-
schätzung.
^ Gilbert, Besearches on the mental and physical development of
school- children. Stud, from the Yale Psychol, Lab. 1894. IL 40.
ZelUchrift für Psychologie Z. 11
162 E' W. Scripture.
Bei einer anderen Gelegenheit wurde 9. die Empfindlich-
keit für Tonändemng bestimmt — freilich dnrch wenig zahl-
reiche Versuche.
Bei der Ausgleichung der Messungen ist als Mittel der
von Laplace^ theoretisch diskutierte und von Fbchner' für
KoUektivgegenstände vorgeschlagene Zentralwert gebraucht
worden. Die Eigenschaften dieses Mittels habe ich von
praktischen Gesichtspunkten aus eingehend erläutert.'
Den Zentralwert f&r eine Beihe von n Messungsergebnissen
bestimmt man dadurch, dafs man, von dem numerisch gröfsten
(resp. kleinsten) anfangend, die Besultate der Gröfse nach bis
n 4- 1
zum — ~— ten Resultate abzählt. Dieser Zentral wert wird als
Mittel statt des arithmetischen Mittels gebraucht. Er hat
nicht nur viele Vorzüge vor dem arithmetischen Mittel, sondern
ist auch, theoretisch betrachtet, für statistische Messungen der
allein richtige Mittelwert.
Aufser dem Mittelwert kann man auch die mittlere Variation
der einzekien Beobachtungen als charakteristische Gröfere
gebrauchen. Bei Versuchen 6, 7 und 8 sind zehn Einzel-
messungen auf jedes Kind gemacht. In diesem Falle hat mcux
also die mittlere Variation der Einzelmessungen fiir jedes Kind
und auch die mittlere Variation der Mittelwerte von dem Mittel-
wert für das betreffende Alter. Für die anderen Versuche fällt
die erste mittlere Variation weg.
Die ganze Berechnungsweise ist also folgende. Es sei
• • •
die ursprüngliche Einzelmessung für die Kinder des Alters r,
wo alle a sich auf das erste Kind beziehen, alle h auf das
^ Laplace, Memoire sur la probabilit^ des causes par les ^vönements.
Mkm, de Math, et de Phys. par divers Soßoants, Acad, Par,, xvL 621 (686).
Paris 1774.
"* Fechneb. Über den Ausgangswert der kleinsten Abweiohungs-
snmme. AbJumdL d, fnath.-phy8. KL d, k. aächs. Ges. d, Wiss. 1878. XL 1. (19.)
' Scripture, On mean yalues for direct measurements. Stud. fram
the YaU PsychoU Lab. 1894. 11. 1.
Untersuchungen über die geistige Entwickehmg der Schulkinder. 163
zweite, n. s. w. Es wird zuerst der Zentralwert der Eiuzel-
messnngen bestimmt. Als Ausdruck für diese Bestimmungs-
weise fähre ich ein Cg, = /*« (^i^ ^» • • -^ ^)- Hier bedeuten
^17 ^s' • • •} ^« die Einzelmessungen, und (7« den Zentralwert für
diese Messungen. Das Symbol fo giebt an, dafs C aus der Oten
Potenz von x gewonnen wird. Wir haben also
Ca = /o {flu Äj> • • •> öii)>
Der Kontrastwert für das betreffende Alter r ist also
Cr = fo (Cui Ci, . . ., C/).
Die persönlichen mittlerenVariationen sind die arithmetischen
Mittel aus den einfachen Abweichungen.
Wenn wir die mittlere Variation der Messungsreihe x durch
D. = /j [x) andeuten, haben wir
^. = /i (k - G.I [at-0.l . . ., K- 6J)
• • •
i>.=MPi-c.], R-ci], ..., [4-0,]).
Das arithmetische Mittel f^ wird für diese Berechnung
gebraucht, weil es gegenüber dem Zentralwert dieselbe Stelle
einnimmt, wie das Fehlerquadrat gegenüber dem arithmetischen
Mittel.
Diese persönlichen mittleren Variationen sind meistens Aus-
drücke für die ürteilsunsicherheit und Willensunregelmäfsigkeit
des Kindes. Es wird dabei vorausgesetzt, dais der mittlere
Fehler des zur Prüfung gebrauchten Apparates verhältnismäfsig
sehr klein ist.
Die persönliche mittlere Variation für das Alter r wird als
Zentralwert D, aus D., D^ • • , Di genommen, also
Bei den Versuchen, z. B. 1 bis 5, wo nur eine Messung
auf jedes Kind gemacht wurde, hat man keine persönliche
mittlere Variation, und die Bestimmung von D bleibt aus.
11*
164 E. W. Scripture.
Die statistische mittlere Variation ist ein Ausdnick für die
Homogeneität der jeweilig zusammen verrechneten Kinder. Sie
wird für das Alter r folgendermafsen bestimmt:
1. Unterschiedsempfindlichkeit für gehobene Ge-
wichte. Der Apparat bestand aus 10 Pappzylindem, 23 mm im
Durchmesser und 38 mm in der Länge, mit Blei und Pappe
gefüllt. Der leichteste wog 82 g; die anderen unterschieden
sich durch successive Stufen von 2 g, der schwerste wog also
100 g. Das leichteste Gewicht wurde als Normalgewicht ge-
hoben, und das Kind sollte ausprobieren, welcher Zylinder von
demselben Gewicht wie das Normalgewicht war. Man erhält
dadurch eine Ziffer für die ünterschiedsschwelle. Die genaueren
Methoden für die Bestimmung der ünterschiedschwelle kann
und darf man bei solchen statistischen Untersuchungen nicht
anwenden. Die Genauigkeit der Methoden ist dem geringeren
Grade der ürteilssicherheit angepafst.
Die Besultate sind in folgender Tabelle I zusammengefafst.
Ta
belle
I.
Gehobene Gewichte.
A
M
E
B
G
6
14.8
5.2
13.0
16.8
7
13.6
4.4
13.2
13.2
8
11.4
4.6
12.2
11.0
9
10.0
4.4
ld.2
10.0
10
8.8
4.4
8.6
9.2
11
8.6
3.8
10.2
7.6
12
7.2
3.0
7.6
7.6
13
5.4
3.0
6.0
5.6
14
5.6
8.0
5.2
7.2
15
6.8
2.2
6.2
7.2
16
6.6
2.4
6.0
6.8
17
5.8
2.6
6.0
6.4
A, Alter.
M^ eben merklicher unterschied in Gramm für das betreffende Alter.
Ef statistische mittlere Variation.
B, eben merklicher Unterschied, Knaben allein.
G, eben merklicher Unterschied, Mädchen allein.
Untersuchungen über die geistige Entwkkehmg der Sehulkinder. 165
Die Besultate finden in Fig. 1 graphischen Ausdruck.
Fig. 1.
unbemerkte Gewichtsunterschiede.
Knaben.
Mädchen.
Knaben und Mädchen.
Die Unterschiedsempfindlichkeit wächst also ungefähr
proportional dem Alter bis etwa zum 13. oder 14. Jahre, nach
welchem das Kind wenig gewinnt oder sogar verliert.
Die Homogeneität der Anzahl Kinder in Bezug auf die
ünterschiedsempfindlichkeit für Gewichte wächst bis etwa zum
15. Jahre. (Fig. 2.)
Fig. 2.
Statistische mittlere Variation, unbemerkte G-ewichtsunterschiede.
166 E. W. Soripture.
■
2. ünterschiedsempfindliohkeit für Helligkeit.
Zehn Kreisstüoke aus rotem Tuoh von 3 cm Durchmesser
waxen so gefärbt, dafs sie eine eng abgestufte Reihe bildeten.
Der hellste Kreis war dem Eönde vorgelegt, und man verlangte,
es solle alle ganz gleichen Kreise auswählen. Die Anzahl der
gewählten Kreise giebt eine Zahl für die ünterschiedsempfind-
liohkeit des Kindes.
Die Resultate sind in Tabelle 11 und in Figg. 3 und 4
wiedergegeben.
Tabelle H.
Helligkeitsunterschi ede .
Ä
K
E
B
G
6
9.6
1.8
8.8
9.6
7
9.0
2.1
8.3
9.6
8
8.3
2.3
9.6
7.0
9
6.8
2.2
6.1
6.6
10
5.4
1.9
6.0
5.2
11
5.4
1.7
6.0
4.9
12
5.1
1.5
4.8
5.1
13
4.6
1.7
5.2
4.1
14
4.7
1.4
4.8
4.6
15
4.4
1.1
4.1
4.6
16
4.3
1.3
4.3
4.0
17
3.9
1.4
4.0
4.9
Ä, Alter.
K, Anzahl der unbemerkten ünterschiedsstufen.
E, statistische mittlere Variation.
B, Unterschiedsstufen, Knaben allein.
G, f, Mädchen allein.
In Bezug auf die Homogeneität der Kinder findet man fast
keinen unterschied unter den verschiedenen Altem. (Fig. 4.)
3. Macht der Suggestion. Das speziell gewählte Beispiel
einer Suggestion war der EinfluTs der gesehenen G-röfse eines
Objekts auf die Schätzung seines G-ewichtes durch den Muskel-
sinn. Der Apparat bestand aus einer Beihe zylindrischer
Gewichte^ E^. 5, von 28 mm Länge. 14 Gewichte, ^Einheits-
reihe^, waren alle von 35 mm Durchmesser, aber unterschieden
sich voneinander durch ihre Schwere; das leichteste wog 15 g
und das schwerste 80 g. Ganz ohne Kenntnis dieser Thatsache
mufste das Kind durch Probieren dasjenige Gewicht aus der
Unterwchungen über die geistige Entwickelung der Schulkinder, 167
^
\
/^
//
/y
Fig. 3.
Unbemerkte Helligkeitsunterschiede.
Knaben.
Mädchen.
Knaben und Mädchen.
-TT
f y 7ä 7/ 7* Ä? 7y 7r 7g y
Fig^ 4.
Statistische mittlere Variation fUr unbemerkte Helligkeitsunterschiede.
d
o
S5
■o
53
0000000
15 20 2S d$ ^ ^ 4S
ooooooo
50 55 60 05 10 15 $0
Fig. 5.
Suggestionsklötze.
168 E. W. Scripture.
Einheitsreihe wählen, welches gleich schwer wie ein anderes
G-ewicht von 22 mm Durchmesser, und auch dasjenige, welches
gleich schwer wie eines von 82 mm Durchmesser, erschien.
Für die Einheitsreihe haben wir also 14 Gewichte von
konstantem Durchmesser ^ = 35 mm und von den Schweren
Pi = 15g; P2 = 20g; ...; Pu = 80&
mit dem konstanten unterschied
Für das kleinste Gewicht war der Durchmesser d = 22 mm
und die Schwere w = bbg.
Für das gröfste war der Durchmesser D = 82 mm und die
Schwere w = öb g.
Das Urteil des Kindes war: das Gewicht dw sei gleich
einem Gewicht d!p», und das Gewicht Dw sei gleich einem Ge-
wicht Spi.
Die thatsächlichen Unterschiede im Gewicht waren
Vjt=p^ — w und Vi = pi — w. Die Gröfsen Vj, und Vi sind die
Resultate der Gröfsenunterschiede der betreflfenden Zylinder
(d. h. die Verkennung jener Gewichtsgröfsen beruht auf dem
Einflufs der Verschiedenheit der Raumgröfse). Da alle Zylinder
von der gleichen Länge waren, sind die Gröfsenunterschiede
durch die Unterschiede in Flächeninhalt der Zylinderenden
auszudrücken, namentUch
und
«.=j(<j«-d*)
«. = J (D* - d*).
Der Gesamtunterschied zwischen dem gröfsten und kleinsten
Zylinder ist also 5=Wi + w,, und das Resultat dieses Unter-
schiedes ist H=> Vt -h Vi. Die Gröfse jff wird unmittelbar durch
den Gewichtsunterschied zwischen den zwei Zylindern be-
stimmt, welche das Kind als gleich dem kleinen und dem
grofsen auswählt.
Die Gröfse H ist eine Funktion des Gröfsenunterschiedes
und des Alters, also H=f(S,Ä). Wir nehmen S konstant zu
üntermchimgen über die geistige Eniwickelung der Schulkinder, 169
J (82« — 22») = 1037 qmm.
Der Ansdrack der Funktion H=f(Ä) findet sieh in
Tabelle III und in Fig. 6.
T
abelle
m.
Einflufs der Suggestion
•
A
H
B
B
G
6
42.0
17.0
43.5
42.5
7
45.0
15.5
43.5
43.5
8
47.5
13.5
45.0
49.5
9
50.0
10.5
50.0
49.5
10
43.5
12.5
40.0
44.0
11
40.0
11.5
38.5
40.0
12
40.5
9.0
38.0
41.0
13
38.0
9.0
87.0
38.0
14
34.5
9.5
31.0
33.5
15
35.0
10.5
33.0
38.0
16
34.5
10.0
32.0
38.5
17
27.0
12.0
25.0
31.0
A, Alter.
H, Emflufs der Suggestion in Gramm, Knaben und Mädohen.
Ey statistische mittlere Variation.
Bf EinfluTs der Suggestion, Knaben.
G, „ „ „ Mädchen.
Fig, 6.
EinfluTs der Suggestion.
Knaben.
. — . — Mädchen.
Knaben und Mädchen,
170
E, W. Scripture.
7? // /i /j
Fig. 7.
Statistische mittlere Variation für SaggestionseinfluXs.
Die Homogeseität der untersuchten Kinder blieb fast
durchaus konstant. Die Mädchen sind von der Suggestion in
fast jedem Altef mehr beeinflufst als die Knaben.
4. Schnellste Wiederholung von Bewegungen.
Das Kind sollte auf den Knopf eines kleinen, leicht beweglichen
elektrischen Schlüssels möglichst schnell, aber leicht schlagen.
Dieser Schlüssel, n in Fig. 8, ist mit einem EwALDschen
Chronoskop (oder Zähler) verbunden, welches die Zahl der
Schläge angiebt. Dadurch wurde die Anzahl' der Schläge
während 5 Sekunden bestimmt.
Fig. 8.
Apparat zur Bestimmung 1. der Anzahl schnell wiederholter Bewegangen,
2. der einfachen Reaktionszeit, 3. der ünterscheidungs- und Wahlzeit und
4. der Zeitschätzung.
Unteravckungen über die geistige Entwickehmg der Schulkinder. 171
Tabelle lY und Figg. 9 und 10 geben die Besultate. Die
Sjiaben leisten in jedem Alter ausnahmslos mehr als die
Madchen. Die Homogeneität ist fast konstant.
Ta
belle
IV.
Schnell wiederholte
Bewegungen.
A
T
E
B
G
6
20.8
2.4
21.0
19.7
7
22.5
2.9
22.8
21.2
■
8
24.4
2.9
24.9
23.9
9
25.4
2.5
25.8
25.0
10
27.0
2.8
27.7
26.9
11
29.0
3.3
29.7
27.8
12
29.9
3.3
80.3
29.6
13
28.9
2.8
29.8
28.1
14
30.0
3.6
31.2
28.0
15
31.1
3.0
31.3
29.8
16
32.1
3.3
83.0
31.8
17
33.8
2.9
35.0
31.5
A, Alter.
T, Zahl der Schl&ge während 5 Sekunden, Knaben und Mädchen»
E, statistische mittlere Variation.
JB, Zahl der Schl&ge, Sjiaben allein:
Gt Zahl der Schl&ge, M&dchen allein.
5. Ermüdung. Nach dem vorangegangenen Versuch liefs
man das E[ind ohne unterbrechen weiter schlagen. Nachdem es
40 Sekunden geschlagen hatte, nahm man wieder eine Bestimmung
der Anzahl der Schlage während 5Sekunden vor. Man hat also ftr
jedes Eand zwei Bestimmungen: einmal die Anzahl der Schl&ge
w&hrend 5 Sekunden zu Anfang und dann die Anzahl während
5 Sekunden zu Ende einer Periode von 45 Sekunden. Ein
Yergleich der zwei Bestimmungen gewährt ein urteil über die
Wirkung der Ermüdung.
In Tabelle V geben die Zahlen den Prozentverlust w&hrend
der letzten Periode im Vergleich mit der ersten. Die graphische
Darstellung wird in Figg. 11 und 12 gegeben.
Die Knaben ermüden viel schneller, als die Mädchen.
Die Homogeneität der Kinder wächst mit zunehmendem
Alter.
172
E, W. Scripture.
Tabelle V.
Ermüdung bei schnell wiederholten
Ä
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
F
21.4
21.0
24.0
21.0
22.0
200
16.0
14.5
14.0
12.7
14.7
13.8
E
8.1
8.9
7.3
7.1
7.5
6.2
6.3
6.4
6.5
5.8
5.2
5.3
B
22.8
22.5
24.7
22.5
22.7
20.3
18.0
16.8
17.8
13.8
15.3
14.5
Bewegungen.
G
21.3
20.2
23.3
20.7
19.0
18.0
14.0
14.7
12.0
11.5
11.7
13.5
Af Alter.
F, Prozentverlust, Knaben und Mädchen.
E, statistische mittlere Variation.
B, Prozentverlust, Knaben allein.
O, „ Mädchen, „ .
Ftg, 9,
Zahl der Bewegungen.
Knaben.
Mädchen.
Knaben und Mädchen.
ünteratichtmgen über die geistige Entwickelung der Schulkinder, 173
Fig. 10.
Statistische mittlere Variation der Zahl der Bewegungen.
// y* ti ^7y
¥ig, 11.
Ermüdung bei schnell wiederholten Bewegungen.
Knaben.
. — Mädchen.
Knaben und Mädchen.
'7
6. Eeaktionszeit. Mit dem EwALBschen Zähler H^ der
Stimmgabel J., dem Exponierapparat (7 und dem Schlüssel jB(Pig. 8)
sind Messungen der Zeit einer einfachen Beaktion auf Licht ge-
macht worden. Da zehn Messungen auf jedes Kind gemacht
-wurden, entspricht die Art der Ausgleichung vollständig dem
oben entwickelten Schema.
Wir haben also hier auch eine mittlere Variation für jedes
Individuum, welche als ein Ausdruck der persönlichen Begel-
mäJGsigkeit aufgefafst werden kann.
174
Beraltate sind in Tabelle VI enthalten; die Zahlen
sind in Hnndertstel-Seknnden gegeben. Um ein Beispiel des
Unterschieds zwischen arithmetischem Mittel und Zentralwert
zn zeigen, wurden f&r diese Tabelle beide ausgerechnet. Das
arithmetische Mittel ist durchweg gröfser als der Zentralwert;
dies zeigt das Vorhandensein von einzelnen, sehr divergierenden,
groXsen Werten unter den Zahlen. Dieser unterschied zwischen
arithmetischem Mittel und Zentralwert ist schon ab Mais
der vorhandenen ünregelm&Isigkeiten gebraucht worden ; er hat
aber keinen Vorzug vor der statistischen mittleren Variation.
T — J^-^y
Fig. 12.
Statistische mittlere Variation bei der Ermüdung für schnell wiederholte
Bewegungen.
Ta
belle
VI.
Reaktionsseit.
A
Ta
Tp
B
E
B
G
6
31.7
29.5
5.6
6.0
28.2
29.5
7
30.9
29.2
5.4
5.5
26.7
31^
8
28.7
26.2
4.9
8.9
24.5
26.0
9
26.9
25.0
4.1
4.1
24.3
25.5
10
23.8
21.5
4.2
3.6
21.0
22.5
11
21.0
19.5
3.7
3.4
18.5
20.6
12
20.7
18.7
3.6
3.1
17.8
19.8
18
20.5
18.7
S.3
3.0
17.8
20.5
14
19.1
18.0
3.0
2.9
18.0
18.7
15
18.4
17.2
3.0
2.7
16.7
18.9
16
17.0
15.5
2.8
2.8
14.7
17.2
17
17.0
15.5
3.0
3.3
14.7
16.3
IMienuckungen Über die geistige Entwickelung der Schulkinder. 175
n
n
n
A, Alter.
Ta, Beaktionszeit in Vioo Sek., arithm. Mittel, Knaben und M&dclien.
Tpj „ Zentralwert, .
D, persönliche mittlere Variation.
JB, statistiBclie „ „
B, Beaktionazeit für ELnaben.
G, n n Mädchen.
Fig. 13.
Reaktionszeit.
Knaben.
. — . — . — . M&dchen.
Knaben nnd Mädchen.
• • —— ■ •
«
n
arithmetisches Mittel.
176
E. W. Scripture,
f
-TT
/J
-TT
"7r ^
Fig. 14.
Mittlere Variationen bei Beaktionszeit.
Knaben, statistische mittlere Variation.
Mädchen, „ „ „
Knaben und Mädchen, statistische mittlere Variation.
Persönliche mittlere Variation.
7. Beaktion mit Unterscheidung und Wahl. Das
Kind sollte auf eine blaue Farbe reagieren, dagegen auf eine
rote ruhig bleiben. Der einfachen Beaktion waren also zwei
Vorgänge, die Unterscheidung zwischen zwei Objekten und die
Wahl zwischen Bewegung und Buhe, hinzugefügt.
Die Besultate sind in Tabelle YII und Figg. 15 und 16
gegeben. Die Zahlen sind Vioo Sekunden.
Ta
belle
vn.
Beaktionszeit mit
Unterscheidung
; und Wahl.
A
Tp
Ta
D
E
B
G
6
52.5
55.8
10.2
6.0
53.5
51.0
7
53.0
54.1
9.4
8.1
49.0
52.8
8
47.8
48.8
8.5
6.5
48.0
47.5
9
45.0
47.5
8.1
6.8
44.5
46.0
10
41.0
42.2
7.3
4.9
40.0
41.5
11
38.5
40.5
7.0
5.8
38.7
38.8
12
37.0
38.9
6.1
5.5
38.5
87.0
18
39.5
39.9
6.2
5.8
36.0
41.5
14
36.5
36.3
6.5
4.9
86.7
35.5
15
33.5
34.8
5.9
4.9
31.1
34.5
16
32.5
34.0
5.4
4.3
31.5
35.0
17
31.2
32.1
5.4
4.0
30.5
31.5
A, Alter.
Tp, Zeit in
Vioo Sekunden,
Zentralwerte.
Ta, » V
ff
r
arithmetisches Mittel.
Untersuchungen über die geistige Entwichelung der Schulkinder, \ l'J
D, persönliclie mittlere Variation.
E, statistische „ „
B, Zeit für Knaben.
G, „ » Mädchen.
n n
3H
T
/
TT
//
•^
/y
■7j=-
'*
Fig, 15.
Reaktionszeit mit Unterscheidung und Wahl.
Knaben.
— , — . — . — . Mädchen.
Knaben und Mädchen.
n
»
Zeittchrifl für Pgychologie X.
arithmetisches Mittel.
12
178
E. W. Seripture.
— • • --
Fig. 16.
Beaktionszeit mit Unterscheidung und Wahl.
. . Statistische mittlere Variation, Slnaben.
— . n ff tt M&dchen.
y, „ „ Knaben und M&dchen.
. . Persönliche mittlere Variation.
8. Zeitschätzung. Mittelst des EwALDschen Zähler?
konnte ein Ton von 100 v. d. erzeugt werden. Dieser Ton
dauerte zwei Sekunden lang. Gleich danach fing der Ton
wieder an. Das Kind sollte durch Druck auf einen Knopf den
zweiten Ton aufhören lassen, sobald er eben so lange als der
erste gedauert hat. Zehn Versuche wurden mit jedem Kinde
gemacht.
Die Normalzeit war also zwei Sekunden. Die Tabelle Yin
giebt an, um wie viele Vio» Sekunden der. zweite Ton zu
kurz war.
Tab
eile
vm.
Zeitschätzung.
A
Ep
Ea
D
E
B
G
6
62.0
56.7
24.6
28.4
56.5.
67.0
7
66.5
59.6
27.9
20.2
63.5
68.5
8
54.3
52.7
28.6
22.8
48.5
57.0
9
60.0
56.2
23.0
23.5
47.5
73.5
10
48.5
48.9
20.2
18.1
48.5
46.5
Untersuchungen Über die geistige Entwickehmg der Schulkinder. 179
41.0
44.2
20.8
18.2
40.6
41.0
dO*0
41.6
17.6
21.3
36.8
37.6
a8.o
36^
17.9
21.4
24.6 .
36.0
30.0
36.9
18.7
16.1
31.6
31.0
98.0
37.6
18.0
19.4
34.6
39.0
44.0
41.6
16.6
16.7
38.0
49.0
36.5
39.9
13.8
16.8
34.0
40.0
11
12
13
14
16
16
17
A, Alter.
Ep, Zahl der Vioo Sek., um welche der zweite Ton |zu kurz war;
Zentralwerte.
Soy dasselbe, arithmetisches MitteL
D, persönliche mittlere Variation.
Ef statistische „ „
B, dasselbe wie Ep, aber fär Knaben allein.
G, „ „ „ „ ,, M&dchen
n
12*
^
180
E. W. Seri^iwrt.
Zeitsoh&tzung.
Knaben.
• — . — . — • M&doh6n.
Knaben und Mftdchen.
arithmetiscbes Mittel.
Fig. 18.
Zeitschätzung.
Statistische mittlere Variation, Knaben.
ft V V Mftdchen.
n n n Knaben und Mftdchen.
Persönliche mittlere Variation.
9. Empfindlichkeit für Tonänderung. Es wurde
jedes mal der Ton Ä = 435 v. d. durch Anblasen einer Zungen-
pfeife (Fig. 19) hervorgerufen. Mittelst Bewegung des Zeigers
wurde die Tonhöhe allmählich geändert. Das Kind sollte an-
geben, wann es eine Änderung merkte. Dies war also eine
Bestimmung der Änderungsempfindlichkeit. ^
Die Resultate sind weniger zahlreich als die vorhergehenden
und sind zu einer anderen Zeit gewonnen.
^ ScBiPTUBB, Ober die Änderungsempfindlichkeit. Diese Zeiischr, 1894.
VI. S. 472.
I
üntersuchwngtn über die geistige Entwickehmg der Schulkinder. 181
Fig. 19.
Tabelle IX.
Tonänderung.
A
T
E
D
6
12.3
1.4
1.8
7
9.1
0.9
3.6
8
6.8
0.9
1.3
9
4.8
1.1
1.1
10
6.2
0.7
0.8
11
4.8
1.1
0.9
12
4.1
1.0
0.5
13
3.7
1.3
0.5
14
3.5
1.0
1.0
15
5.0
1.0
1.1
16
4.0
0.9
0.7
17
—
—
18
2.6
0.7
0.9
19
2.4
0,8
0.6
Aj Alter.
Ty eben merkliche Änderung, in Zweiundreifsigstel einer Tonstufe«
jE", statistische mittlere Variation.
1>, persönliche mittlere Variation.
Der Verlauf der eben merklichen Tonänderung ist in
Fig. 20 veranscliauliolit.
182
E. W. Scfriplimre.
«Till** AhrtMj^tM' C»A
1 — n — TT
-K—ir
"Tf — ^
^ce
Fig. 20.
Allgemeine Bemerkungen.
Zahlreiche Einzelthatsachen in Bezug auf Lebensalter, Q-e-
schlecht u. s. w. findet man leicht beim Studium der Tabellen
und Figuren. Im allgemeinen wachsen die geistigen Fähig-
keiten zwischen den Lebensaltem 6 und 17, zuerst schnell und
dann langsamer, mit wachsendem Alter. In fast allen geistigen
Fähigkeiten findet man eine plötzliche Veränderung um das
Alter von 13 bis 15.
Diese Veränderungen sind total verschieden von den Ver-
änderungen in Gewicht, G-röfse und Lungeninhalt. Diese
Homogeneität der Eander bleibt konstant oder bessert sich um
ein wenig für alle geistigen Eigenschaften. Dagegen wird sie
in Bezug auf Q-ewicht und Gröfse stets schlechter bis zum
14. Jahre, nach welchem eine Besserung eintritt. In Bezug
auf Gröfse war diese Besserung eine sehr bedeutende. In
Bezug auf Lungeninhalt wird die Homogeneität stets geringer.
Entstehung und Bedeutung der Synopsien.
Von
BlOHARD HenNIO
in Berlin.
Mit 7 Fi^ren im Text.
Einleitung.
Unter „Synästhesie*^ versteht man die „Mitempfindungen"
eines nicht gereizten Sinnes bei äoJGseren Einwirkungen, welche
dem Empfindungsgebiete eines anderen Sinnes angehören. Bei
weitem die häufigste von allen Synästhesien ist die sogenannte
^Synopsie", die Erregung des Gesichtssinnes bei Schall-,
Gefühls-, Geruchs- oder Geschmacksreizen, femer aber auch bei
Vorstellung abstrakter Gegenstände. Mit diesen S3niopsien
hat sich am eingehendsten Flourkoy beschäftigt in seinem
Buch: jfDes phinomenes de Synopsis^, In diesem Werke werden
die sehr mannigfaltigen Erscheinungen der Synopsie besprochen
und systematisch in Untergruppen eingeteilt.
Die wichtigste Einteilung der synoptischen Erscheinungen
ist die in Farben- und Baumempfindungen, und zwar bestehen
diese Baumempfindungen in der Wahrnehmung von Linien,
Kurven, Diagrammen etc. und finden sich mit wenigen Aus-
nahmen nur bei Vorstellung abstrakter Gegenstände (selten bei
akustischen, nur einmal bei Geruchs-, nie bei Geschmacksreizen
beobachtet), während Farbenempfindungen schon bei allen Arten
der Sinneseindrücke wahrgenommen sind, doch sind auch hier
Geschmacks-, Gefühls- und Geruchssinn am seltensten durch
Synopsien vertreten. Auf das Vorkommen der chromatischen
Synopsien hat schon Feghnbb 1876 hingewiesen, ebenso Nuss-
BAUBfiSR in mehreren kleineren Arbeiten der 70er Jahre, und
Blbülbr und Lehmann haben sich 1881 in einem ausführlicheren
Werke: j^2hoangsmäf8%ge Lichtempfindungen durch SchaW sehr ein-
184 Bichard Hennig,
gehend mit diesen Erscheinungen beschäftigt ; den Diagrammen
und den verwandten Phänomenen hat sich hingegen erst 1883
Galton zugewandt in seinem Buch: y^Inquiries into human
Es fragt sich nun, wie derartige Vorstellungen, die ebenso
unbekannt und wenig beachtet, wie häufig vorkommend sind,
entstehen. Für die chromatischen Synopsien (Photismen) ist
diese Frage durch Bleuler und Lehmann einerseits, durch
Flou¬ andererseits grofsenteils beantwortet worden. Man
könnte die chromatischen Synopsien vielleicht in zwei greise
Untergruppen teilen: in physiologische und in psycho-
logische Synopsien. unter den ersteren verstehe ich
solche, welche durch physiologische Prozesse bedingt sind und
im eigentlichsten Sinne des Wortes „zwangsmäüsig^ sind, so
dafs sie auch ohne Zuthun der Überlegung zu stände kommen
würden, unter den anderen solche, welche durch eine urteils-
mäfsig entstandene, aber sehr enge und untrennbare Ver-
knüpfung einer Farbenvorstellung mit einem nicht-visuellen
Begriff bedingt werden.
I. Die chromatischen Synopsien.
1. Die „physiologischen** Photismen.
Die physiologischen Synopsien müssen darauf beruhen,
dafs die Sehnerven bei gewissen Schalleindrücken in Mit-
erregung geraten. Schon Bleuler und Lehmann haben diese
Erklärung gegeben und weisen auf andere Fälle von Mit-
schwingungen nicht gereizter Nerven hin (a. a. 0. S. 58, Anm.):
„So wird der Kitzel in der Nase beim Blick in die Sonne, der Zahn-
schmerz oder das Frösteln beim Anhören gewisser Töne durch
Übergang eines Beizes vom Opticus-, resp. Acusticus-Zentrum
auf das Zentrum des Trigeminus erklärt.^ Dais derartige Mitr
empfindungen sich in sehr intensiver Weise in ganz bestimmten,
leicht reizbaren Nerven geltend machen können, beweist eine
von Billboth an sich selbst gemachte Beobachtung, welche
in einem seiner in der y^Deutschen Rundschau^ (Oktober 1894) ver-
öffentlichten Aufsätze aus seinem Nachlafs: „ Wer ist musikalisch?^
als Eirläuterung fär synoptische Erscheinungen mitgeteilt ist.^
^ Diese wertvolle Arbeit ist auch selbständig im Verlag von Gebrüder
Paetel in Berlin erschienen.
Entstehung und Bedeutung der Synopsien, 185
Billroth erzählt, er habe einst, als in einem Konzert eine
Sängerin mit grofser Sicherheit das zweigestrichene b um einen
vollen viertel Ton zu tief einsetzte, einen heftigen Schmerz in
einem Zahn empfunden, welcher ihm bis dahin völlig intakt
zu sein schien. Als er den Zahn aber daraufhin untersuchen
liefs, zeigte es sich, dafs er kariös geworden war.
Nur selten freilich sind die Mitschwingungen des nervus
opticus bei nicht-visuellen Beizen so stark, dafs es zu that-
sächlichen Gesichtsempfindungen, gleichsam Halluzinationen,
kommt, doch sind auch solche Fälle schon mehrfach berichtet
worden. Hierher gehört z. B. der von G-buber mitgeteilte
und von Flournoy zitierte Fall eines rumänischen Professors:
dieser hatte sehr komplizierte und merkwürdige Farbenempfin-
dungen beim Nennen von Zahlen, welche in wunderbarster
Weise mathematisch angeordnet waren, und so scharf, dafs ihre
Gröfsenverhältnisse bis auf Millimeter genau gemessen werden
konnten. Bemerkenswert ist auch das Beispiel jenes Engländers,
welcher beim Hören eines bestimmten, akustisch wirkungs-
vollen Wortes (three) eine rote Fläche so deutlich vor sich sah,
dafs eine thatsächlich vorhandene gelbe Fläche sich für ihn
orange färbte.
Meist aber werden die Mitschwingungen des nervus opticus
nur so geringfügig sein, dafs nur eine Tendenz besteht, einen
nicht-visuellen Beiz in die Sprache des Gesichts zu übersetzen,
ohne dafs damit irgend eine Direktive für die Einzelheiten der
Synopsien gegeben ist. In manchen Familien neigt jedes
Individuum in ausgesprochenster Weise zu Synopsien, in
anderen kein einziges ; nie aberzeigt es sich, dafs die Formen
der Synopsien sich bei mehreren Mitgliedern einer Familie
dermafsen ähneln, dafs man eine Vererbung derselben annehmen
müfste. Nur die. Tendenz zur Synopsie kann daher
vererbbar sein, hier aber ist der Einflufs der Vererbung
auch unverkennbar und unzweifelhaft; am deutlichsten tritt er
in den ersten sechs von Blbulbr und Lehmann beschriebenen
Fällen hervor, welche alle an Personen derselben Familie beob-
achtet wurden. Zu genau demselben Resultat hinsichtlich der
Vererbungsfrage ist Floubnoy gekommen, welcher auf Seite 204
seines Werkes sagt: ^^Für den Augenblick neige ich zu der
Ansicht, dafs die Vererbung, welche allmächtig in Bezug auf
die allgemeine Veranlagung ist, gewöhnlich wenig Einflufs auf
186 Bichard Hennig,
die konkreten Einzelheiten hat." Die Tendenz zur Synopsie
beruht eben auf angeborenen physiologischen
Eigenschaften irgend welcher Art, die Details hin-
gegen bilden sich erst allmählich im Laufe des
individuellen Lebens aus und beruhen gröfstenteils auf
Yerstandesurteilen. Erworbene Eigenschaften aber sind nach
der Lehre August Wbismanns nicht vererbbar oder, wenn
man sich selbst nicht auf den extremen Standpunkt Weismakns
stellen will, doch mindestens nur in verschwindend wenigen
Fällen vererbbar; am allerwenigsten wird man also eine Ver-
erbung der erworbenen Synopsien erwarten können, welche
nicht nur ganz bedeutungslos für die Existenzf&higkeit des
Individuums sind, sondern sogar den meisten Personen niemals
deutlich zum Bewufstsein kommen.
In die durch rein physiologische Prozesse bedingten chro-
matischen S3niopsien ist schon eine gewisse Gesetzmäfsig-
keit hineingebracht worden. Jede Statistik über Farben-
empfindungen bei Vokalen zeigt aufs deutlichste, dafs den
„dumpfen" Vokalen die dunkelsten, den „hellen** Vokalen auch
die hellsten Farben mit Vorliebe entsprechen, so dafs die
Farben immer heller werden, je weiter man in der akustisch
geordneten Reihenfolge der Vokale u, o, a, e, i fortschreitet.
Allerdings mufs bemerkt werden, dafs immerhin im einzelnen
recht zahlreiche Ausnahmen von dieser Begel vorkommen,
dennoch aber ergiebt sich mit Sicherheit das Qesetz: je zahl-
reichere und lautere Obertöne ein akustischer Jäeiz
enthält, um so intensiver und heller ist zumeist die
begleitende Farbenempfindung. Schmetternde oder gar
schrille Töne, Geräusche und Schreie, wie z. B. der Klang der
Piccoloflöte, das Pfeifen einer Lokomotive, das Krähen des
Hahnes, der Schrei des Pfauen, rufen wohl fast ausnahmslos
rote oder gelbe Photismen von meist beträchtlicher Intensität
hervor. Auch der sehr charakteristische Klang der Trompete, in
welchem Instrument die Obertöne am schärfsten nächst der
Piccoloflöte hervortreten, erweckte ausschliefslich rote und gelbe
Farbenempfindungen, ebenso wie der Vokal, welcher dem
strahlenden Klange der Trompete am nächsten kommt, das a
(mit „traterata" sucht man ja den Trompetenklang am genauesten
gU reproduzieren) gern als rot angegeben wird. Die tieferen
Blechinstrumente, Posaunen und Tuben, geben zwar auch nach
Entstehung und Bedeutung der Synopsien, lg7
den vorliegenden Angaben meist eraen roten Klang von sich,
jedoch schon mit einem starken Stich ins Violette, bezw.
Schwarze (korrespondierende Vokale : o, ou, u). Der sanfte Ton
der Flöte, welcher eine nur geringe Anzahl von Obertönen
enthält, wird vorzugsweise mit der beruhigenden blauen Farbe
identifiziert (Vokal: ö bis ü). Die Töne der Orgel und des
Fagots (Vokal: ou, bezw. das schwedische ä oder die Aussprache
des a im englischen Wort small) entsprechen düsteren, farb-
losen Gesichtseindrücken, schwarz oder grau. Nebenbei sei
darauf hingewiesen, dafs die betonte Silbe, zumal der betonte
Vokal, im Namen eines musikalischen Instrumentes, in den
meisten Fällen den charakteristischen Klang desselben schildert*
Die Angaben verschiedener Individuen über ihre Farben-
empfindungen varüeren zwar beim gleichen akustischen Objekt
sehr stark, und gerade bei den einfachsten akustischen Beizen,
den Vokalen, finden sich die allerstärksten Differenzen in den
Synopsien, * nichtsdestoweniger wird ein und dasselbe Indivi-
duum allen Klängen, deren physiologische Wirkung eine ähn-
liche sein mufs, auch eine mehr oder weniger übereinstimmende
Farbe zuschreiben. Der eine empfindet z. B. Vokale und Klänge
mit scharfen Obertönen stets als rot oder gelb, der andere
jedoch durchweg als grün. Wo derartige Differenzen vor-
kommen, da wird man im allgemeinen beobachten können, dafs
alle Schalleindrücke von einem Individuum um eine Nuance
dunkler, bezw. heller empfunden werden, als vom anderen.
Derartige durchgängige Difi*erenzen würden gerade um so mehr
auf eine physiologische Entstehung der betreff*enden chroma-
tischen Synopsien schliefsen lassen, da sich bei einer psycho-
logischen Entstehungsursache, also einer mehr oder weniger
willkürlichen Auffassung der akustischen Beize, schwerlich
gleichmäfsige Differenzen für alle Schälle ergeben und erklären
würden.
Eines der interessantesten Kapitel aus dem Gebiete der
physiologischen Synopsien, die Farbenempfindungen bei be-
stimmten Tonarten, welche es zuweilen zu gestatten scheinen,
lediglich an der ins Bewufstsein tretenden Farbe die jeweilige
* Der Grund dafür wird darin liegen, dafs bei dem einen der nervus
opticus leichter miterregt werden kann, als beim anderen. Auch ein
Sehlag aufs Auge ruft bei einigen Individuen stets gelbe, bei anderen
stets rote Farbenempfindungen hervor.
188 Bichard Hennig,
Tonart zu erkennen, möchte ich hier übergehen, erstens, weil
noch zu wenig Material darüber vorliegt, und weil ich selbst
bisher erst sehr wenig derartige Angaben sammeln konnte,
zweitens aber auch, weil ich hoffe, in einer beabsichtigten
Untersuchung über Tonarten-Charakteristik darauf eingehend
zurückzukommen. Ich möchte aber an dieser Stelle die Bitte
aussprechen, dafs alle Leser, welche Mitteilungen über derartige,
sehr seltene Erscheinungen zu machen im stände sind, sie mir
durch die gütige Vermittelung der Redaktion dieser Zeitschrift
zukommen lassen.
Den Schlufs dieser Betrachtungen über die physiologischen
Photismen mögen zwei Bemerkungen bilden, welche sieb in
dem Werke von Bleuler und Lehmann (S. 50 und 51) finden:
„Es ist also nicht auszuschliefsen , dafs die Doppel-
empfindungen in der Anlage bei jedem Menschen vorhanden
sind, dafs sie aber bei der Mehrzahl durch die übrigen Ein-
drücke des Lebens mit der Zeit verwischt werden, resp. nicht
zum Bewufstsein kommen können.^ „Dafs eine gewisse Anlage
zu Sekundärempfindangen bei allen Menschen vorhanden ist,
scheint femer die Allgemeinverständlichkeit der Ausdrücke:
„Helle Töne", „spitze Töne", „scharfes Zischen", „dumpfe
Klänge", „dumpfe Gefühle", „scharfe Gerüche und Geschmäcke",
„schreiende Farben" anzudeuten." (Die Bezeichnungen „Parben-
ton" und „Tonfarbe" gehören hingegen nicht hierher.) Diese
Bezeichnungen sind keineswegs konventionell, sondern basieren
auf völlig vorurteilslosen Empfindungen, welche gerade die
physiologische Herkunft mancher Synopsien deutlich zu be-
weisen scheinen. Stumpf erzählt z. B. in seiner y^Tonpsychohgie^
(Bd. II, S. 531), dafs sein 4V2Jähriges Söhnchen, als es eine
von zwei Kindertrompeten geschenkt erhalten sollte, diejenige
wählte, welche einen Ton tiefer als die andere gestimmt war,
mit den Worten: „Ich will die dunklere haben."
2. Die „psychologischen" Photismen.
Wenden wir uns nun den psychologischen Photismen zu!
Während bei den physiologischen Synopsien der Farbeneindruck
die unmittelbare, notwendige Folge des akustischen Reizes
war, sind die psychologischen Synopsien unwillkürlich erfunden,
um einem Gehirn, welches sich rein abstrakte Gegenstände schlecht
vorstellen kann, ein gewissermafsen konkretes Anschauungs-
Entstehung und Bedeutung der Synopsien. 189«
mittel zu gewähren. Ich habe daher auch gefunden, dafs Leute,
die sich viel mit abstrakten Gegenständen beschäftigen/'zumal
Mathematiker, am wenigsten und seltensten zu Synopsien neigen.
Die Entstehung: der psycholosrischen Synopsien im all-
gemeinen beruht, wie ges^ auf Urteilaüberti^gen. auf
9 Assoziationen", um einen Ausdruck Flournots zu gebrauchen.
Flournot unterscheidet insgesamt drei Arten der Assoziationen,
die „Gefuhlsideenassoziation", die „gewöhnliche Assoziation" und
die „privilegierte Assoziation". „Die Gefühlsassoziation ist die-
jenige, welche zwei Wahrnehmungen unter sich verknüpft, nicht
infolge von qualitativer Ähnlichkeit, noch vermöge ihres regel-
mäTsigen oder häufigen Zusammentreffens im Bewufstsein,
sondern durch die Analogie ihres aufsergewöhnlichen Charakters."
Wenn man die von mir gemachte Einteilung in physiologische
und psychologische festhält, so sind die Synopsien durch
Gefühlsassoziation, für die sich im vorigen Abschnitte zahl-
reiche Beispiele finden, wohl durchweg solche physiologischer
Art. „Die habituelle Assoziation ist diejenige, durch welche
zwei Dinge, welche sich beständig oder gewöhnlich ver-
einigt zeigen, im Geiste schliefslich verbinden und ein un-
lösliches Ganzes bilden Die privilegierte Assoziation ist
diejenige, durch welche in unseren Gedanken gewisse Dinge
eng verbunden sind, nur weil einmal, vielleicht nur ein ein-
ziges Mal, ihre Verbindung uns lebhaft getroffen und eine
unzerstörbare Spur in unserem Nervensystem zurückgelassen hat."
Für diese beiden letzten Assoziationen sei zunächst je ein
Beispiel gegeben. Dsts Wesen der habituellen Assoziation wird
am klarsten dargelegt durch die Synopsien einer von Flournot
be&agten Dame, welche den Klang des Klaviers als schwarz
und weifs empfand, den der Violine als holzbraun, den der
Blechinstrumente als gelb. Die Bedeutung der privilegierten
Assoziation hingegen zeigt sich recht deutlich in den Angaben
eines Herrn im BLSüLER-LEHMANNschen Werk (laufende No. 58).
Dieser erklärte, bei dem Gedanken an Sonntag eine blaue, an
Mittwoch eine weifse Farbe zu empfinden, und bemerkte dazu:
„Ich erinnere mich ganz bestimmt, dafs ich als kleiner Knabe
sonntags lange Zeit schön königsblau gekleidet war .....
Als ich einst mit meiner Mutter reiste, fragte ich dieselbe,
was für einen Tag wir hätten. Es hiefs „Mittwoch", und in
demselben Augenblick fuhren wir an einem weifsen Hause
190 Biehard Hennig.
vorbei, an dessen Ecke eine Bolle (etwa zum Aufziehen einer
Laterne) befestigt war. Seitdem erweckte mir der Mittwoch
noch lange Zeit, worüber meine Mutter oft lachte, die Vorstellung
eines weifsen Hauses mit einer Bolle daran, die später all-
mähUch einfach zu weifs verblafste." (A. a. O. S. 33.)
Sowohl die habituellen, wie die privilegierten Assoziationen
führen natürlich ausschliefslich zu psychologischen Synopsien.
Als habituelle Assoziationen muTs man auch die nicht seltenen
Erscheinungen betrachten, dafs Farbenbezeichnungen auf den
in ihnen vorkommenden Vokal bestimmend einwirken, daüs a
aus diesem Grunde z. B. als schwarz empfunden wird, e ab
gelb, 0 als rot u. s. w. Besonders bei statistischen Unter-
suchungen über die Häufigkeit der einzelnen Farben bei den ver-
schiedenen Vokalen und Diphtongen mufs dieser Faktor sehr
berücksichtigt werden, da er leicht das Besultat beträchtlich
trüben kann.
Eine interessante habituelle Assoziation bei bestimmten,
sehr eindrucksvollen und charakteristischen Musikstücken wird
von Bleuler und Lehmann angegeben: Ein 22 jähriger, sehr
musikalischer Studiosus der Philosophie empfindet den Q-esang
der Bheintöchter zu Beginn des „Bheingold^ (Klavierauszug
S. b, Zeile 4 und 5) als blafsgrün, offenbar, weil der G-edanke
an den grünen Bhein, bezw. die charakteristisch grüne Beleuch-
tung der Bühne in diesem Moment am stärksten wirken. Die
Musik zu Beginn des „Feuerzaubers" (Walküre, Klavierauszug,
S. 269, Zeile 3 bis S. 270, Zeile 1), zumal der letzte Takt der
Zeile 4 und 6 auf S. 269, rufen die Empfindung grellrot her-
vor. Die zweite Zeile auf S. 266 der „Walküre" vom fünften
Takt an wird als glänzend hellgrau angegeben; es handelt sich
um jene wunderbaren, unendlich ergreifenden, absteigenden
Harmoniefolgen, welche erklingen, während Wotan die Walküre
in Schlaf küfst. Der Gedanke an das Fallen in Schlaf, das
Vergessen aller Seelenpein, das in unübertreflFlicher Weise durch
jene genialen Akkordfolgen wiedergegeben wird, kann aller-
dings bei musikalisch und synoptisch empfänglichen Personen
den Gedanken an Grau jedesmal hervorrufen. Im übrigen
aber sind die habituellen Assoziationen natürlich relativ selten
und bedeutungslos, die privilegierten sind es daher allein, welche
uns im folgenden noch beschäftigen werden. Selbstverständlich
sind die Wirkungen der verschiedenen Assoziationen nicht
Entstehung und Bedeutung der Sgnopsien. 191
immer ohne weiteres zu erkennen, und oft wird man im Zweifel
sein, ob man es mit einer privilegierten oder Gefühlsassoziation,
einer psychologischen oder physiologischen Synopsie zu thun hat.
Nur gar zu leicht verblassen die Vorstellungen, welche auf die
Farbenempfindung bestimmend einwirkten, und man ist nicht
mehr im stände, sich zu erinnern, welche privilegierte Assoziation,
und ob überhaupt eine solche vorliegt. Bleuler und Lehmann
meinen zwar, dafs Farbenempfindungen bei Buchstaben z. B.,
welche durch Eigentümlichkeiten des ÄBCr-'BvLohes hervorgerufen
wurden (sie kennen nur zwei solche Fälle) sich charakteristisch
von anderen Photismen unterscheiden, doch bin ich persönlich
nicht geneigt, mich dieser Ansicht anzuschliefsen. Man findet
zu oft Fälle, in denen Personen zweifelhaft sind, ob sie die
Farben ihrer Photismen auf irgend ein früheres Erlebnis, eine
bestimmte privilegierte Assoziation zurückführen dürfen oder
nicht ; auch ist mir noch nie von Personen, welche einige ihrer
Farbenphotismen mit Sicherheit analysieren konnten (Böte des
Sonntags durch die gewöhnlich rote Färbung der betreffenden
Daten am Kalender, Böte des A durch ein Buchstabenspiel,
in dem der Buchstabe Ä von roten Bösen umgeben war, Z ge-
streift wegen des Wortes „Zebra^ u. s. w.) die Angabe gemacht
worden, dafs diese Photismen sich von zahlreichen anderen
unterschieden, welche bei ihnen sicherlich physiologischen
Ursprungs sind.
Es ist auch nur zu natürlich, dafs die Erinnerung an die
Veranlassung zu den jeweiligen psychologischen Synopsien bald
erlischt, da die Photismen zumeist erst dann beachtet werden,
wenn von anderer Seite darauf hingewiesen wird. Ein guter
Freund von mir hat früher längere Zeit den Ton der Klarinette
als blau empfunden, weil ihn einmal eine Stelle zu Beginn der
ScHUBBRTschen H-moU Symphonie, wo die Klarinette allein hoch
über den anderen Instrumenten schwebt, an den klaren, blauen
Himmel erinnert hatte, der sich über der Erde ausspannt. Wie
leicht hätte die Erinnerung an die Ursache dieses Photißmas
verloren gehen können! Und ähnlich wird ^es mit zahllosen
anderen psychologischen Synopsien sich verhalten.
Ehe wir die chromatischen Synopsien verlassen, mufs noch
auf eine sekundäre Möglichkeit ihrer Entstehung hingewiesen
werden, welche sich keiner der drei FLOURNOYschen Assoziationen
zuzählen läfst. Es ist möglich, dafs ein besonders intensiver
192 Richard Hennig.
Farbeneindruck von einem Buchstaben oder einer Zahl auf
andere Q-egenstände übertragen wird, welche in irgend einer,
wenn auch noch so geringfügigen Beziehung dazu stehen.
Einen besonders anschaulichen und eigenartigen Beleg hierfxir
bietet' mein jüngerer Bruder Bruno, welcher gegenwärtig
15 Jahre alt ist: Die Zahl 7 erscheint ihm grün; dieser um-
stand bewirkt, dafs auch alle Vielfachen von 7 grün gef&rbt
oder doch mit Grün gemischt sind. 14 giebt er als grün an,
21 als grün und gelb (gelb, weil ihm die Zahl 3 ^ gelb bis hell-
braun erscheint), 28 als rot und grün (8 empfindet er rot), 35
als etwas grün (5 ist farblos), 42 als grün und braun (6' ist
braun), 49 als grün und blau (9 hält er für blau), 56 als grün
und rot (rot wegen der 8^), 63 als etwas braun (das Braun über-
wiegt hier wohl, weil sowohl der 3, wie der 6 diese Farbe zu
eigen ist), 70—79 als grün. Aufserdem aber legt er auch dem
September und der Septima eine grüne Farbe bei wegen des
darin enthaltenen Septem. Dieses letzte Beispiel beweist auch,
dafs sich zuweilen die chromatischen Synopsien noch recht
spät, in diesem Falle in der Sexta oder Quinta entwickeln«'
Auch dem April legt er eine grünliche Färbung bei aus einem
sicherlich sehr komplizierten Ghrunde. Ein anderer Bruder von
mir hat nämlich am 27. April Geburtstag, jener wurde des-
halb früher durch das Wort April zunächst an den 27. dieses
Monats erinnert, und da ihm diese Zahl wegen der darin vor-
kommenden 7 grün erschien, übertrug er die Färbung auf den
ganzen Monat.
In so ausgeprägter, sonderbarer Weise werden sich die
Übertragungen nur selten geltend machen, gewöhnlich sind sie
einfacherer Natur, etwa derart, dafs ein bestimmter Buchstabe
oder mehrere dem ganzen Worte eine Farbe verleihen. Z. B. giebt
mir mein eben erwähnter Bruder Bruno an, der Name Ernst
sei für ihn grün gefärbt, weil er dem r und dem t diese Farbe
beüege.
» 21 = 8. 7, 42 = e. 7, 56 = 8. 7.
* So giebt mir auch mein 19j ähriger Bruder Ernst an, dafs die
„klare, wasserblaue" Farbe, welche er dem Buchstaben a beilegt, erst
seit etwa 4 Jahren für ihn existiere ; zurückzuführen sei sie wahrschein-
lich auf den „Wagalaweia" -Gesang der Bheintöchter im „Bheingold'' ,
welchen er im September 1891 kennen lernte.
Entstehung utul Bedeutung der Synopsien. 193
II. Die Diagramm-Synopsien.
Wenden wir uns nunmehr zu dem weit reichhaltigeren
Thema der geometrischen^ Synopsien, speziell der Diagramme!
Das Wesen der Diagramme für Zahlen (Galtons „number forms^),
der wichtigsten dieser Art, beschreibt Floubkoy sehr gut folgen der-
maiaen: „Jedesmal, wenn die Person, welche diese Eigentüm-
lichkeit besitzt, an eine Zahl denkt, sieht sie plötzlich und
automatisch im Felde ihres geistigen Gesichtsfeldes eine be-
stimmte und unveränderte Stelle, auf welcher jede Zahl eine
bestimmte Stellung einnimmt. Diese Stelle kann in einer Linie
bestehen oder in einer Beihe von Ziffern, die in einer gewissen
Stellung angeordnet sind oder in einer Art von besonderer
Farbe.^ Nicht nur für die Zahlen giebt es Diagramme, sondern
auch für Buchstaben, Wochentage, Monate, Tagesstunden,
Jahreszahlen u. s. w.
Um solchen Personen, welche derartige Diagramme nicht
kennen — Bleuler und Lehmann nennen sie „Negative^ —
und welche nur gar zu oft in unberechtigter Weise über solche
Yorstellungen spotten, das Wesen und die Entstehung derselben
verständlich zu machen, sei es mir gestattet, an folgendes zu
erinnern: Jedesmal, wenn uns von einer Person oder
einem Gegenstande gesprochen wird, sehen wir das
Objekt in allerdings sehr unbestimmten umrissen:
vor unserem geistigen Auge. Fast niemals kommt uns
dieser Prozeis zum Bewulstsein, und doch ist es, wenn man die
Bedeutung des Wortes Baum z. B. verstehen will, unumgänglich
notwendig, dafs man ein derartiges Objekt oder doch einen
Teil desselben sich geistig reproduziert'. Wir sehen hier das
Lokalisationsbedürfiiis im ersten Stadium vor uns.
Selbst Ansätze zu Diagrammen wird man wohl bei den
meisten Menschen finden: speziell beim Gedanken an Gedrucktes
^ Es handelt sich bei diesen natürlich ausschliefslich um psycho-
logische Synopsien. Überhaupt ist hier die Bezeichnung „Synopsie'^ nur
berechtigt, wenn man jede Übersetzung in die Sprache des Gesichts als
solche definiert.
* Blindgeborene werden sich vermutlich, um die Bedeutung eines
Wortes zu erfassen, vorstellen müssen, wie der bezeichnete Gegenstand
anzufühlen ist. Ob bei ihnen die Vorstellung abstrakter Gegenstände
unter umständen Prozesse bedingt (im Tastsinn), welche den Synopsien
janalog sind, vermag ich nicht zu sagen.
Zeitschrift für Psychologie X. 13
194 Richard Henmg.
oder Geschriebenes, mit dem man oft zu thun hat und das man
immer in gleicher Weise angeordnet vorfindet,^ etwa weil man
immer dasselbe Exemplar benutzt, wird die bestimmte Baum-
empfindung der aufgeschlagenen Buchseite mit der jeweiligen
bekannten Lokalisation des Schriftstückes vorschweben. So sehe
ich beim Gedanken an eine griechische Verbalform stets die Stelle
der KRüGBKschen griechischen Grammatik vor mir, an welcher
die entsprechende Form des Paradigmas kvw steht. Das Aktiv
nimmt die rechte Seite des vorgestellten aufgeschlagenen Buches
ein, das Passiv die Bückseite dieses Blattes und das Medium
den dritten Teil der nächstfolgenden Seite, alles genau in der
Anordnung, wie ich sie beim Lernen der Formen von Iva mir
eingeprägt habe. Ebenso sehe ich viele lateinische Formen
und Begeln, ebenso HoBAzische Oden in Gedanken immer da,
wo ich sie gedruckt bezw. geschrieben so oft gesehen habe.
Es ist mir absolut unmöglich, die betreffende Verbalform etc.
getrennt von ihrer bestimmten Lokalisationsempfindung mir
vorzustellen. SelbstverständUch genügt auch zur Entstehung
der Lokalisationsformen unter Umständen ein einziger erster
Eindruck statt des oft wiederholten. Spätere abweichende Em-
pfindungen können die erste, wenn diese sich fest eingeprägt
hat, nicht mehr beeinflussen.
Diese einfacheLokalisationsempfindung steigert sich nun sehr
häufig zu Diagrammformen, in welchen auch abstrakte Begriffe
verschiedenster Art angeordnet erscheinen. Es kann von vorn-
herein kaum einem Zweifel unterliegen, dafs die Diagramme ihre
Gestalt ausschliefsUch und unter allen umständen persönlichen
Erlebnissen ihres Besitzers, zumeist aus früher Kindeszeit,
verdanken, dennoch ist es fast nie möglich, sich über die Ur-
sachen, welche den Diagrammen ihre Gestalt geben, Eechen-
schaft abzulegen. Unter den Hunderten von Diagrammen,
welche Flournoy studiert hat, fand sich nur ein einziges (ein
Zahlendiagramm), dessen Entstehung sich mit Sicherheit an-
geben liefs, indem sein Besitzer es auf einen Traum zurück-
zuführen im stände war. Eine Beihe anderer Diagramme
konnte nur vermutungsweise, die überwiegende Mehrzahl aber
gar nicht auf bestimmte Ursachen reduziert werden. Es darf
^ Beim Gedanken an Länder pflegt man, da andere Anhaltspunkte
fehlen, die betrefiPende geographische Karte vor seinem geistigen Auge
zu sehen.
Entstehung und Bedeutung der Synopsie^i, 195
daher nicht wunder nehmen, wenn manche, die mit Weismanns
Lehren nicht vertraut waren, an ein Angeborensein bezw. eine
Vererbung der Diagrammformen glaubten.
Galton führt in seinem Werke eine gröfsere Anzahl von Bei-
spielen und Abbildungen vor, welche nach seinem Daforhalten
den Einflufs der Vererbung von Diagrammformen beweisen. Wenn
man sich aber seine Beispiele betrachtet, so sind es eigentlich nur
zwei (Figg. 55 und 56 einerseits, 59 und 60 andererseits), bei
welchen die Ähnlichkeiten die Unähnlichkeiten dermafsen über-
wiegen, dafs man einen blofsen Zufall wohl ausschliefsen mufs.
Ist man deshalb aber gezwungen, bei diesen Fällen von einer Ver-
erbung zu sprechen, zumal es sich nur um eine Ähnlichkeit,
nicht im entferntesten aber um eine Identität handelt? Im
einen Fall besteht die Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn,
im anderen zwischen Bruder und Schwester. Schon Flournot,
der nur die Tendenz zur Synopsie für vererbbar hält und selbst
niemals einen Fall beobachtet hat, welcher in derselben Familie
so starke Übereinstimmungen aufgewiesen hätte, wie sie in
den GALTONschen Beispielen sich finden, warnt vor übereilten
Schlüssen hinsichtlich der Vererbung der Synopsien. Er
spricht schon auf Seite 204 von den „Wirkungen derselben Um-
gebung, der Nachahmung u. s. w.^, ohne aber diesen wichtigen
Punkt genügend stark zu betonen. Der Hauptgrund für
Ähnlichkeiten in den Synopsien derselben Familie ist natürlich
in den „Wirkungen derselben Umgebung" zu suchen. Die
gleichen Lehrbücher, welche die Kinder benutzen, die gleiche
Landschaft, bezw. der gleiche Stadtteil, wo die Kinder auf-
wachsen u. s. w., müssen natürlich zuweilen Ähnlichkeiten inner-
halb derselben Familie bedingen, die Übereinstimmungen zwischen
Geschwistern sind daher auch auffallender und häufiger, als die
zwischen Eltern und Kindern. Auch zwischen meinen Synopsien
und denen meiner Geschwister bestehen einige recht aufiBllende
Ähnlichkeiten. Da ich nun in der glücklichen Lage bin, eine
relativ grofse Anzahl dieser Synopsien, zum Teil sogar die er-^
wähnten Übereinstimmungen, auf bestimmte Ursachen zurück-
zufahren, so sei es mir gestattet, im folgenden mich eingehender
über eine Beihe von Synopsien in meiner Famihe zu verbreiten.
Ich selbst neige, ebenso wie meine Geschwister, in selten
starkem Mafse zu Diagrammempfindungen. Floubnot kennt
Diagramme für das Alphabet, die Zahlen, die Monate, die
13*
196 Eichard Hennig,
Wochentage, die Tagesstiinden und die Weltgeschichte, und es
acheint, als ob ein gleichzeitiges Auftreten von mehr als vier
derartigen Diagrammen zu den Seltenheiten gehört. Ich nun
habe für alle sechs aufgezählten Objekte je ein charakteristisches
Diagramm, auüserdem noch für die griechischen Verbalformen
und die Schulklassen, einer meiner Brüder auch für die Bücher
des alten Testaments. Farbeneindrücke, chromatische Syn-
opsien, kenne ich merkwürdiger weise gar nicht, während maine
Geschwister auch dazu in hohem Grade disponiert sind. Wohl
aber sehe ich meine Diagramme ausnahmslos in verschiedenea
Tagesbeleuchtungen, vom grellsten Sonnenlicht bis zum tiefsten
Schatten, bezw. zur nächtlichen Dunkelheit.
Die Entstehung meines alphabetischen Diagramms kann
ich mit völligster Sicherheit angeben, ohne auch nur im ge-
ringsten mit Vermutungen zu operieren. Ich sehe das Alphabet
in grofsen lateinischen Buchstaben vor meinem geistigen Auge
in folgender Anordnung und Gröfse:
ABCDEFG
HIJELMN
0 P Q » S T
U V WXTZ
Die erste Beihe scheint mir im Schatten zu liegen, gegen
Schlufs wie von einer Art Beflezlicht der zweiten, von leicht
abgeblendetem Sonnenlicht ziemlich hell erleuchteten Heihe
getroffen, in der dritten herrscht wieder tiefer Schatten, der,
immer mehr zunehmend, bei den Buchstaben R bis T ein
Maximum der Dunkelheit hervorruft; die letzte Beihe ist etwas
heller, wird aber durch den Schatten der oberen Beihe von
dem Sonnenlichte nicht getroffen. Dafs die beiden letzten
Beihen einen Buchstaben weniger haben, als die beiden ersten,
entgeht mir völlig; da ich nur allenfalls gleichzeitig mit einem
Entstehung und Bedeutung der Synopsien. 197
Buchstaben die in derselben Beihe liegenden bemerke, nicht
die damnter- und darüberstehenden, so scheint mir jede Beihe
gleich viel Buchstaben zu besitzen. Ich sehe das Diagramm
nicht vertikal, sondern horizontal vor mir ausgebreitet und
iuhle mich beim Ghedanken an einen bestimmten Buchstaben
gleichsam darüber schwebend, den Blick nach unten gewandt.
Ich entsinne mich nun mit Bestimmtheit, dals sich in einer
Reihe von einfachen Zeichenvorlagen, die ich als etwa vier-
jähriger Junge besafs, ein Alphabet vorfand, welches genau
mit der Anordnung meines jetzigen Diagramms in allen Einzel-
heiten übereinstimmte, und es kann gar keinem Zweifel unter-
liegen, dafs mein Diagramm, das ich vom ersten Augenblick
meines Lesens an besessen zu haben glaube, in jener Zeichen-
vorlage, nach der ich noch dazu die Buchstaben des Alphabets
lernte, ihre Entstehungsursache findet. Daraus erklärt sich
auch in überraschender Weise der Umstand, dafs ich mir das
Diagramm liegend und mich darüber schwebend vorsteUe.
Woher freiHch die bedeutenden Verschiedenheiten der Be-
leuchtungseffekte stammen, vermag ich nicht anzugeben.
Schwieriger ist eine Diskussion meines Zahlendiagramms,
welche aber insofern wertvoll ist, als ich hier auch den Grund
der verschiedenartigen Helligkeiten angeben kann. Die An-
ordnung der Zahlen ist ungefähr derart, wie sie untenstehende
Figuren la und b veranschaulichen, allerdings nur sehr ungefähr,
denn es finden sich noch zahlreiche kleine Krümmungen und
Biegungen, die ich mit geistigem Auge sehe, ohne sie doch
bei einem raschen Überblick über die ganze Zahlenreihe, wie
er zur Reproduktion der Figur nötig ist, wiedergeben zu
können. Die Einzelheiten der Hunderte, der Tausende etc.
sind genau dieselben, wie des ersten Hunderts, Tausends etc.
Beim Gedanken an ein bestimmtes Hundert (Tausend) erscheint
mir die Entfernung bis zum nächsten zuerst durchaus nicht
gröfser, als die der entsprechenden Einer, Zehner etc. ; die Ent-
fernung von 2000 bis 3000 z. B. ist nur wenig gröfser, als die
von 20 bis 30, erst bei ein wenig längerem Denken an die
Zahl — sagen wir z. B. 2347 — sehe ich die Einzelheiten des
ersten Hunderts zwischen 2300 und 2400 hervortreten. Es ist,
als ob ich durch ein Mikroskop schaue und nun den Zwischen-
laum von 2300 bis 2400 plötzlich mit hundert neuen, genau
gleich grofsen^, gleich angeordneten und analog beleuchteten
^ Die Gröfse jede-c einzelnen Zahl ist etwa 1—2 cm.
198 Bichard Hermig.
Zahlen erfüllt sehe, die mir nur ein wenig entfernter und
unter einem etwas schrägeren Gesichtswinkel zu stehen scheinen,
als die Zahlen des ersten Hunderts. Nichtsdestoweniger
erscheint mir die Entfernung von 2300 bis 2400 kaum wesent-
lich geändert gegen vorher. Die Beleuchtung wird von 100
bis 10000 in erster Linie durch die Helligkeit der ersten, bezw.
beiden ersten Zahlen, in zweiter durch die der beiden letzten
bestimmt, von 10000 bis 100000 nur durch die Helligkeit der
IS^sefvr'hjäb
^"^
•^ *rn*
Mein Zahlen-Urdiagramm.
Das Auge schwebt über dem langsam ansteigenden Diagram.m und nimmt
nur die n&chste Umgebung einer Zahl wahr.
Fig. la.
beiden ersten Ziffern, während über 100 000 deutliche Helligkeits-
eindrücke fehlen. Nur 100 bis 1000 erscheint ausnahmsweise
wesentlich dunkler als 1 bis 10, 1000 bis 2000 beträchtlich heller
als 10 bis 20 (beides verursacht durch Eindrücke der Welt-
geschichte), von 2000 bis 10000 und andererseits von 10000 bis
100000 entspricht die Beleuchtung der beiden ersten Stellen
stets derjenigen der entsprechenden zweistelligen Zahl des ersten
^tstehung und Bedeutung der Sgnopsien.
199
in einer
Hunderts. Die Zahlen steigen langsam aber stetig
Spirale aufwärts.
Sohon aus dem Gesagten ergiebt sich mit genügender Deut-
lichkeit, dafs die Anordnung und Beleuchtung des ganzen Dia-
gramms lediglich auf der Beschaffenheit der ersten hundert Zahlen
beruht, welche in den höheren Zahlen nur immer reproduziert und
kombiniert werden. Es kommt also nur darauf an, die Entstehung
woooy
wo
7000
'3000
zooo
Mein vollständiges Zahlendiagramm in (sehr ungefähren) umrissen.
Die Einzelheiten des Ürdiagramms wiederholen sich in jedem einzelnen
Jahrhundert. Die Spirale mu£s als aufsteigend gedacht werden. That-
sächlich sehe ich das Diagramm nicht in seiner Gesamtheit, wie es
hier aufgezeichnet wurde, da ich nur die nähere Umgehung einer Zahl
bemerke, während alles übrige dem Gesichtskreis entschwindet.
Fig, Ib.
dieses ürdiagramms für die Zahlen 1 — 100 zu bestimmen, und
loh glaube, dafür die Ursachen nachweisen zu können:
Als ich zwei Jahre alt war, zogen meine Eltern nach der
Potsdamerstrafse 67 in Berlin. Für den, der die Berliner
200 Bichard Hennig.
Lokalitäten kennt, füge ich hinzu, dafs dieses Haus zwischen
der Bülow- und der heutigen Winterfeldstrafse liegt, welche
letztere damals noch völlig unbebaut war. Schon in meinem
dritten Lebensjahre nun beschäftigte ich mich, wie die Tagebuch-
aufzeichnungen meiner Mutter aus jener Zeit ergeben, viel
und gern, ja leidenschaftlich gern mit Zahlen, eine Liebhaberei,
die mir zum Teil noch heute anhaftet. Auf m^en häufigen
Spaziergängen jener Zeit nun, die sich zumeist auf der west-
lichen Seite der Potsdamerstrafse zwischen dem botanischen
Garten und der Lützowstrafse bewegten, waren mir nach den
Berichten meiner Mutter die Hausnummern am wichtigsten.
Der Eindruck, den die einzelnen Häuser auf mich
machten, ihr helles oder dunkles Äufsere, hat nun
die charakteristischen Eigentümlichkeiten meines
Zahlendiagr ammes bedingt.
Bevor ich den Beweis für diese Behauptung erbringe,
mufs ich noch über die Beleuchtung meines Diagramms
ein paar Worte sprechen. Die Zahlen von 1 bis 10 scheinen
mir in mäfsigem Schatten zu liegen, der 'sich jenseits der 10
sehr verstärkt, um von 15 bis 19 noch einmal einer etwas
gröfseren Helligkeit Platz zu machen. Von 20 bis 26 herrscht
Schatten, der von 27 an einer starken Beleuchtung langsam
zu weichen beginnt, deren Ursprung in dem hellen Sonnen-
licht zu suchen ist, welches die erste Hälfte der Dreifsiger
mit einem Maximum bei SS überflutet. Dann nimmt die Hellig-
keit ab, um einem Schatten Platz zu machen, der sich bis 56
erstreckt. Von 57 an ist abermals der Widerschein des
intensiv hellen Sonnenlichtes zu bemerken, welches dann die
Sechziger kennzeichnet mit einem Maximum zwischen 65 und
67. Auf diese stärkste HelUgkeit folgt dann mit dem Knick
der Kurve bei 70 tiefes Dunkel, das bei 77 bis 79 fast ebenso
stark wird, wie bei den düstersten Stellen zwischen 10 bis 13
und bei 55. Die Achtziger erscheinen mir in der Mittags-
beleuchtung eines mit leichter Wolkendecke überzogenen Winter-
himmels, von 90 an nimmt die Helligkeit bis zur 100 wieder
ab. Innerhalb der Hunderte und der Tausende wiederholen
sich die Beleuchtungen ebenso genaii wie die Form der Kurven,
nur gewinnen auch die Zahlen, welche die Hunderte, bezw.
Tausende bezeichnen, EinfluTs auf den Gesamteindruck, und
das erste Jahrtausend erscheint ausnahmsweise betrachtlioh
Entstehung und Bedeutung der Synapaien, 201
dunkler als das ganze zweite. Das Maximum der Helligkeit
innerhalb der beiden ersten Jahrtausende liegt bei 1666 u. s. w.
Woher kommt nun diese scharf ausgeprägte Beleuchtung
und die originelle Kurvenform ? Ich glaube, diese Frage völlig
beantworten zu können: Nummer 1 der Potsdamerstrafse liegt
am Potsdamer Platz; bei einem Gang durch die Potsdamer-
strafse hat man bei den ersten Häusern noch das Gefühl, den
hellen Platz hinter sich zu haben, infolgedessen sehe ich meine
ersten Zahlen nur in leichtem, langsam zunehmenden Schatten;
allmählich aber wird die Strafse relativ dunkel durch Bäume
und (damals) dunkle Häuserfarben, gegenüber von No. 18
und 19 mündet die Eichhomstrafse ein, wodurch wohl der
etwas hellere Eindruck an dieser Stelle des Diagramms zu
erklären ist. Nun wäre freilich zu erwarten, dafs der breite,
helle Zwischenraum, welcher zwischen den Häusern 23 und 24
durch den Landwehrkanal und die Potsdamer Brücke geschaffen
wird, sich im Diagramm durch sehr grofse Helligkeit geltend
gemacht hätte, eine Voraussetzung, die nicht erfüllt ist. Diese
einssige Differenz in den analogen Beleuchtungsverhältnissen
erklärt sich nun aber wohl einmal daher, dafs man beim Gang
über die Brücke den Zusammenhang zwischen den Hausnummern
SU vergessen pflegt, zweitens daher, dafs mein Diagramm
zwischen 1 und 30 nicht so scharf ausgebildet ist, wie zwischen
SO und 70, aus dem Grunde, weil meine frühesten Spazier-
gänge als Kind sich verhältnismäfsig selten über Potsdamer-
strafse 30 hinaus erstreckten.
Die grofse Helligkeit in der ersten Hälfte der Dreifsiger
mufs bedingt sein durch das Einmünden der sehr hellen Lützow-
strafse zwischen No. 33 und 34. Schon bei No. 28 etwa be-
merkt man die Strafse, daher erstreckt sich der Reflex der
Helligkeit im Diagramm bis etwa zu dieser Zahl. Der Grund,
weshalb sich die Helligkeit bei 33 mir dermafsen eingeprägt
hat, rührt wohl daher, dafs ich damals recht häufig im Hause
No. 33 zu verkehren pflegte« Die nächsten Querstrafsen, die
Steglitzer- und Kurfürstenstrafse, machten bei weitem nicht
einen so hellen Eindruck, wie die Lützowstrafse, hauptsächlich,
weil sie von dunkel gefärbten Häusern umgeben waren, ihr
Einflufs macht sich daher auch in einer etwas helleren Färbung
um die 48 herum geltend. Von No. Ö6 an aber bemerkt man
die ungewöhnlich breite und helle Bülowstrafse, welche die
202 Bichard Hennig.
Häuser No. 58 und 59 trennt; daher das Ansteigen der Hellig-
keit! Die nächstfolgenden Häuser von 62 bis 66 zeigten zu
meiner Zeit grofsenteils einen viUenartigen Charakter, waren
durch ziemlich grofse Zwischenräume voneinander getrennt
und von freundlicher Helligkeit. Daher rührt die gleichmälsige
Helligkeit über die gesamten Sechziger, das Maximum liegt
natürlicherweise in der Nähe der 67, da ich in dieser G-egend
wohnte und sie am häufigsten bei Sonnenschein zu sehen Gelegen-
heit hatte. Bei No. 74 nun unterbricht der dunkle botanische
Garten die Zahlenreihe, welche dann auf der anderen (Ost-)
Seite der Strafse rückläufig wieder einsetzt. Aus diesem Um-
stände erklärt sich der merkwürdige, sehr scharfe Knick bei 70
des Diagramms, welcher fast einen vollen Bechten beträgt.^
Dals der Knick nicht bei 74 zu finden, sondern auf Zehner
abgerundet ist, ist nicht auffallend. Die hellere Beleuchtung
der Achtziger, zumal bei 87 bis 89, erklärt sich daraus, dafs
meiner Wohnung schräg gegenüber No. 88, damals ein kleines,
sehr helles Haus, noch obendrein an der Ecke der Alvensleben-
strafse, lag. Die übrigen Häusernummern, von 90 an, beachtete
ich als Kind kaum, da sie auf der von mir seltener frequen-
tierten anderen Seite der Stralse sich befanden,
Es wäre überaus sonderbar, wenn die Übereinstimmungen
meines Diagramms mit der genannten Beschaffenheit der Strafse
rein zufälliger Art sein sollten. Da mir die meisten meiner
Zahlen auTserdem noch einen bestimmten Charakterausdruok
zu haben scheinen, konnte ich daran kürzlich die Überein-
stimmung bestimmter Zahlen mit dem Eindruck, welchen die
betreffenden Häuser auf mich als Ejind gemacht haben,' kon-
trollieren, und ich war selbst überrascht von der fast völligen
Identität.
Wenn trotzdem an der Bedeutung der Strafse für die Ent-
stehung des Diagramms i^och Zweifel bestehen sollten, da ich
den Zusammenhang völlig vergessen hatte und mir erst kürzlich
während der Beschäftigung mit der Synopsie wieder klar dar-
^ Dafs der Knick ungefllhr einen rechten Winkel beträgt, erklärt
sich wohl daher, dafs man, um mit der Zahlenreihe fortzuschreiten, an
dieser Stelle senkrecht zur bisherigen Bichtung den Damm überschreiten
müTste.
* Als Kind ist man ja für die geringsten derartigen Eindrücke in
der hervorragendsten Weise empfänglich.
Entstehung und Bedeutung der Synopsiefi. 203
über geworden bin, wenn also trotzdem noch Zweifel besteheu,
so müssen auch diese schwinden, da mein um zwei Jahre jün-
gerer Bruder Ernst, der seine Kinderzeit ebenfalls in der
Potsdamerstraf se verlebte, unabhängig von mir erklärt hUt,
die Thatsache, dafs in seinem Zahlendiagramm 30 bis 70 in
einer geraden Linie liegen, während sich bei 70 ein auffallender
Knick befindet, glaube er auf Einfiüsse der Potsdamerstrafse
zurückfahren zu müssen.
Das Diagramm meines dritten Bruders Bruno, der seine
erstenKinderjahre nicht mehr in der Potsdamerstrafse verbrachte,
weist derartige Züge nicht auf. Wir waren bald nach seiner
Geburt in die Nümbergerstrafse in unmittelbare Nähe des
zoologischen Gartens gezogen, den wir sehr oft, fast täglich
besuchten, uxid er giebt mir nun an, dafs sein Zahlendiagramm
den Gängen des zoologischen Gartens folgte. Besonders her-
vortretend sei ein Knick zwischen den Zahlen 28 bis 32; diese
fünf Zahlen seien halbkreisförmig angeordnet, der Grund
dafür sei zweifellos in der Beschafifenheit des Känguruh-
hauses zu suchen, welches mit den genannten Ziffern versehen
gewesen sei, und um welches der Promenadenweg kreisförmig
herumlaufe.
Nach diesen Angaben kann es wohl kaum noch einem
Zweifel unterliegen, dafs es unbedingt Eindrücke der ersten
Kindheit sein müssen, welche bei jedem Menschen die Form
seiner Diagramme bedingen. Es wäre ja auch überaus ab-
geschmackt, sich die Formen als angeboren und vererbbar
vorzustellen; aber alles Psychische, über dessen Entstehung
man im unklaren ist, pflegt man ja leider stets ohne weiteres
als angeborene Fähigkeit zu betrachten.
Für alle, welche mit Diagrammen begabt sind und welche
eventuell den Versuch machen, sie auf Erlebnisse der ersten
Kinderzeit zurückzuführen, mufs ich bemerken, dafs ein solcher
Versuch ungleich schwieriger ist, als man vermuten sollte.^
Gerade, weil man so viele Jahre und Jahrzehnte seine Dia-
gramme gar nicht beachtet und über die Zeit und Art der
* £b ist dies ja auch nicht wunderbar, da die Eindrücke der Dia-
gramme zu unbestimmt und zu wenig fafsbar, ich möchte sagen, schemen-
haft sind. Es ist mir z. B. unmöglich, anzugeben, ob ich in meinen
Diagrammen, mit Ausnahme des Buchstabeudiagramms, die Zahlen,
Namen der Monate, Wochentage etc. gedruckt sehe, oder ob ich blois
204 Richard Hennig.
Entstehung völlig im unklaren ist, ist es yielfach ganz un-
möglich, Anhaltspunkte für eine Erklärung zu finden. Mein
sehr viel gebrauchtes und ungemein deutliches Monatsdiagramm,
ebenso mein Diagramm für die Tagesstunden ist mir trots
angestrengten Nachdenkens wochen-, ja monatelang hindurch
rätselhaft geblieben; erst ganz kürzlich gelang es mir, sie als
etwas modifizierte, zum Teil präzisiertere Abarten meines Zahlen-
diagramms zu erkennen, und die Entstehung meines Wochen-
diagramms ist mir trotz seiner Einfachheit erst klar geworden,
als diese Arbeit fast beendet war.
Einige beachtenswerte Einzelheiten in meinen Diagrammen
möchte ich noch anführen, da sie manchen Einblick in jene
eigenartigen Verhältnisse gestatten:
Mein Zahlendiagramm leistet mir noch mannigfache andere
Dienste: ich sehe aUe Ereignisse der Geschichte in derselben
Weise nach ihren Jahreszahlen angeordnet, wobei mir die
Jahre vor Christi Geburt ebenso wie die negativen Zahlen
vom Nullpunkte aus nach - der entgegengesetzten Seite in genau
derselben Anordnung zu verlaufen scheinen, wie die positiven,
nur dafs die Zahlen — 1 bis — 10 eine Krümmung in entgegen-
gesetztem Sinne aufweisen, so dafs sie ein Spiegelbild der ent-
sprechenden positiven Zahlen sind.^
Ferner sehe ich sowohl wie mein Bruder Ernst Geld-
stücke und Geldwerte nach der Anzahl in Pfennigen, die Ge-
wichte nach der Anzahl der Pfunde auf dem gleichen Diagramm,
femer ich allein die Berge nach ihrer Höhe in Metern, wobei
mir dann das Zahlendiagramm seltsamerweise immer gerade
ihre Spitzen zu berühren scheint, denn ich erwähnte schon, dafs
das Zahlendiagramm nicht horizontal liegt, sondern in weitem
Bogen allmählich, aber stetig aufsteigt.
die Stellen wahrnehme, in welche sie lokalisiert werden. Auch die
Photismen sind zuweilen ganz unbestimmt : mein Bruder Edwin (13 Jahre),
der viele Angaben mit grofser Bestimmtheit machte, erklärte, i sei „blau
oder grün oder silbern".
^ Auch meinem Bruder Ernst erscheinen die negatiTen Zahlen in
der gleichen Krümmung, wie seine positiven, nur die ersten 30 haben
eine entgegengesetzte Krümmung und sind ein Spiegelbild der positiven.
Bei meinen anderen beiden Brüdern sind die negativen Zahlen ab-
weichend von den positiven und gröfstenteils völlig unbestimmt und
verwaschen, während sie bei mir völlig identisch sind und mit genau
den gleichen Beletichtungseffekten wie die positiven versehen sind.
EnUtekimg und Bedeutung der Synopsien.
206
Die Anordnung der Monate (Fig. 2)^ und Tagesstunden
(Fig. 3) bezeiclinet eine ungefähre Reproduktion der zwölf
«^f j)ezer^'''
Mein Monatsdiagramm.
Fig. 2a.
ersten Zahlen des Zahlendiagramms, nur ist die Erümmung
weit sch&rfer ausgeprägt, zumal wegen eines Kniokes zwisohen
' Fig. 2a veranschaulicht das Monatsdiagramm in grobem ümrils,
2b die sekundären Kurven innerhalb jedes einzelnen Monats. Wie ich
erst w&hrend des Zeichnens von Fig. 2b nach Beendigung der gansen
Arbeit bemerke, sind auch die Daten im Monat ganz genau wie die Zahlen
im Zahlendiagramm angeordnet.
206 Eicfiard Hennig,
9 und 10 (September und Oktober, bezw. 9 und 10 Uhr), der
im Zahlendiagramm nur angedeutet ist. Die Beleuchtung der
Monate weicht völlig ab von der des Zahlendiagramms. Die
Wintermonate erscheinen (wohl infolge des Gedankens an
Schnee) relativ heller, als die Sommermonate. Im Januar bis
März herrscht (abgesehen von den Helligkeitsunterschieden
innerhalb der Monate, wo mir stets die zweite Dekade relativ
hell, die dritte relativ dunkel vorkommt) die Beleuchtung eines
trüben Wintermittags. Der April wird recht dunkel (etwa in-
folge einer Erinnerung an ßegenwolken?); der Mai wird etwas
heller und hat entschiedene Sommerbeleruchtung, er erweckt
eine Idee von Sonnenstrahlen, welche durch dichtes Laub ab-
geblendet werden, so dafs er einen sehr schwachen grünlichen
Schimmer erhält. Der Juni wird noch heller, und der Juli
erscheint dann von vollster Sommersonnenglut übergössen, in
seiner Mitte liegt das Helligkeitsmaximum, der August
/"So bringt beträchtlich dunklere Färbung und noch mehr
t20 ^^^ September, welcher dasselbe Aussehen wie der
\ April hat. Nach dem scharfen Knick um einen
/ Winkel von etwa 60 — 70®, welcher zwischen dem
. 30. September und dem 1. Oktober liegt, bringt der
' *^" Oktober wieder volle Winterbeleuchtung, die aber
wesentlich heller als die der ersten Monate ist. Die folgenden
Monate verdunkeln sich mehr und mehr, und die letzten acht
Tage des Dezember bringen das gröfste Dunkel (wahrscheinlich,
weil sie mit Vorliebe als „dunkelste Zeit des Jahres" bezeichnet
werden), gleichsam, als ob das Weihnachtsfest und der Jahres-
schluTs sie wie Mauern vor jeder Beleuchtung schützen. Das
Diagramm läuft nicht in sich zurück, wahrscheinlich, weil die
seiner Zeit viel von mir betrachteten Abreifskalender in jedem
Jahre ihr Aussehen wechselten, vielmehr bilden mehrere Jahre
hintereinander eine periodisch verlaufende Kurve, welche bei
flüchtigem Überblick eine entfernte Ähnlichkeit mit einer
Sinuskurve hat.
Das Diagramm für die Tagesstunden ist einzig in seiner
Art. Erstens steht es schräg aufrecht mit der Zeit von etwa
10 — 11 Uhr vormittags als Basis. Zweitens läuft es in sich
zurück, da es sich aus zwei genau zu einander passenden, an-
nähernd gleichen Stücken zusammensetzt. Oft betrachte ich
es auch von unten aus, indem ich vor seiner Basis zu stehen
Entstdmng und Bedeutung der Synopsien,
207
glaube, wälirend ich bei den bisher genannten mehr oder
weniger horizontalen Diagrammen stets darüber zu schweben
schien. Von 10 — 4 ühr herrscht die der jeweiligen Tagesstunde
entsprechende Sommersonnenbeleuohtung mit einem Maximum
der Helligkeit zwischen 2 und 3 Uhr. Von 4 Uhr an wird
es bedeutend dunkler, doch zeigt zumal die Zeit zwischen
7 und 8 Uhr noch die charakteristisch helle Sommerabend-
J)ieserTheü istso öbmkei,
ddss errvur schwer zw
erJceTum
,9
3\grösste
^ 70 11
Mein Diagramm für die Tagesstunden.
Fig. 3.
beleuohtung. Erst von 9 Uhr an fängt das Dunkel der Nacht
an, 10 Uhr ruft einen deutlichen Schimmer von Laternen-
licht hervor, 10 — 12 Uhr wird dann so dunkel, dafs sie
sich dem Blick fast ganz entziehen. Sehr langsam wird es
heller, um 4 Uhr morgens tritt ein ganz schwacher Schimmer
auf, der aber nur wenig zunimmt bis 6 Uhr. 6 — 7 Uhr ist
mit einem Male wieder fast ganz dunkel, und erst gegen 9 Uhr
208 Richard Hmnig,
macht das allmählich abnehmende Dunkel der richtigen Tages-
beleuchtong Platz. Man sieht, wie die einzelnen Tagesstandea
durch die jeweilig charakteristischen Jahreszeiten beeinflußt
sind. In den Morgenstunden ist die winterliche Beleuchtung,
in den Mittag- und Abendstunden die sommerliche am eindruck»-
Tollsten. Aus der Form des Diagramms läfst sich mit ziem-
licher Sicherheit der Schlufs ziehen, dafs es entstanden sein
muTs, bevor ich die Uhr kennen lernte, da sonst deren Be-
schaffenheit wohl ausschlaggebend auf die Form des Diagramms
gewirkt hätte. In manchen Diagrammen, nicht nur fELr Tages-
stunden, sondern auch für Zahlen, ist übrigens der Einfluls
des Ziffernblattes auf die Anfangsgestalt des Diagramms un-
^J
dunkel
ä'
5^
6-
Mein Wochentagsdiagramm.
Die Dunkelheit nimmt von Montag an stetig ab, bis der Sonntag das
Maximum der Helligkeit bietet.
Fig 4.
verkennbar (so z. B. in den von Galton angeführten Fällen
No. 20, 35 und 37).
Die Wochentage (Fig. 4) endlich liegen horizontal und
nebeneinander vor mir auf einer leicht gekrümmten Linie, wie
die beigegebene Figur zeigt. Von Montag bis Donnerstag
herrsc'ht starkes Dunkel, dann wird es* heller, der Sonntag
erstrahlt im schönsten Sonnenschein und sticht gewaltig gegen
den Montag ab. Zweier privilegierter Assoziationen sei dabei
noch Erwähnung gethan. Der Montag erinnert mich zuweilen
an ein Bild, das ich ab kleiner Knabe besals, ein Jägerhaus
in einem dunklen Walde (vielleicht rührt daher die besonders
dunkle Färbung des Tages ?) ; der Grund dafür liegt darin, dafs
unter dem Giebel jenes Försterhauses eine kreisrunde Dach-
Entstehung und Bedeutung der Synopsien. 209
loke abgebildet war, welche mich, wie ich noch genau weUs,
an den Vollmond erinnerte. Beim Sonnabend hingegen kommt
mir manchmal der G-edanke an rote Wölkchen in Abend-
beleuchtnng, und ich entsinne mich, dafs ein Kinderbuch die
Ursache davon ist, in welchem es hiefs, die Engel müfsten
des Sonnabends alles, was am Himmel ist, zum Sonntag patzen ;
der Text war obendrein durch ein entsprechendes Bild erläutert,
auf welchem rote Wölkchen abgebildet waren. Das Urbild des
Diagramms müssen die üblichen Stundenpläne in den Aufgabe-
büchem sein, wie ich sie von der untersten Yorschulklasse an
benutzte. Und zwar war den Tagen Montag bis Mittwoch
die linke, den Tagen Donnerstag bis Sonnabend die rechte
Seite des aufgeschlagenen Buches angewiesen. Da nun femer
das Tageslicht, wenn man schreibt, zumeist von der linken
Seite kommt und die linke Seite im ersten Teil eines karto-
nierten Buches gewöhnlich etwas emporsteht, so dafs sie
weniger vom Licht getroffen wird, als die rechte, ist es zu
erklären, dafs Montag bis Mittwoch oder Donnerstag weit
dunkler erscheinen, als die übrigen Tage. Dieser Umstand,
dals die linke Seite beim Schreiben stets etwas weniger Licht
empf&ngt, als die rechte, hat in mir übrigens ein für allemal
die Vorstellung erweckt, die linke Seite in Schreibheften
(charakteristischerweise aber nicht in gedruckten Büchern) sei
dunkel, die rechte hell. Da aulserdem die sechs in einer Linie
gedruckten Wochentage, sobald die eine Seite sich etwas
erhebt, eine leicht gekrümmte Kurve zu bilden scheinen, dürfte
auch die Krümmung meiner Wochentagskurve zu erklären sein.
Die Einordnung des Sonntags und die Verknüpfung der Wochen
untereinander ist natürlich willkürliche Erfindung und Zuthat.
Um so plausibler ist mir diese Erklärung, als meine Schwester
Erna ein genau gleich angeordnetes und gekrümmtes, freilich
noch farbig (Montag schwarz, Dienstag gelblich, Mittwoch
schwärzlich, Donnerstag braun, Freitag gelblich, Sonnabend
rosa bis braun, Sonntag infolge von Eindrücken des Abreifs-
kalenders rot) ausgeschmücktes Wochentagsdiagramm hat,
während der Sonntag hier unter der Mitte der anderen Tage
liegt und so ein in sich selbst zurücklaufendes Diagramm ver-
ursacht.
Mein jüngster Bruder Edwin und meine noch etwas jüngere
Schwester Erna haben beide merkwürdigerweise für die Woche
ZeitBohrift für Psychologie X. 14
210 Richard Hennig.
sowohl, wie für das Jahr Diagramme, welche den meinen sehr
ähneln. Nur in dem Hauptpunkt weichen beide gerade ab, sie
laufen plötzlich in sich zurück, der Sonntag, bezw. die letzte
Woche des Jahres müssen den grofsen Zwischenraum zwischen
den Enden ausfüllen. Untereinander sind ihre Diagramme
ungemein ähnlich, wenngleich ich ausdrücklich hervorheben
mufs, dafs sie durchaus noch nicht identisch sind, auch in den
begleitenden chromatischen Synopsien weichen sie ab. Meine
Schwester hat merkwürdigerweise aufser den Parbenempfin-
dungen noch genau dieselben Sonnenlicht- und Schatten-
eindrücke in mehreren Diagrammen, wie ich. Es ist dies um so
auffallender, als derartige Beleuchtungseffekte nur sehr selten
auftreten, Flournoy kennt nur wenige Fälle, Galton nur einen
(No. 42). Nichtsdestoweniger kann auch diese Übereinstimmung
nur auf einem Zufall beruhen, da die Beleuchtungen der Details
völlig voneinander abweichen.
Von sonstigen bemerkenswerten Diagrammen, die mir bei
meinen Nachforschungen aufgestofsen sind, seien nur noch die
interessantesten hervorgehoben, soweit sie weitere Schlüsse
gestatten oder ganz einzigartig sind: Galtons Fig. 65 stellt
ein Diagramm dar, auf welchem Gra^s und Bäume gesehen
werden ; dafs hier bestimmte Jugendeindrücke mitspielen müssen,
kann wohl kaum einem Zweifel unterliegen, ebenso bei ver-
schiedenen anderen, im selben Werke angeführten Beispielen,
von denen ich nur noch Fig. 67 erwähnen will, welche die
ersten 12 Zahlen als 12 hohe Bergspitzen darstellt.
Sehr merkwürdig ist die Angabe eines meiner Bekannten,
dafs er alle Diagramme gleichzeitig sieht ; die Zahlen verlaufen
vertikal und ganz geradlinig nach oben^ die Woche, die Buch-
staben und mit etwas nach rechts verschobenem Anfangspunkt
auch die Monate horizontal nach rechts, die Tagesstunden
endKch vertikal nach unten, so dafs die gesamten Diagramme
eine Art Koordinatensystem bilden, in dessen Nullpunkt sich
der Beschauer befindet. Da diese Art, sich Diagramme vorzu-
stellen, völlig vereinzelt dasteht, möchte ich es nicht unter-
lassen, die ungefähre Abbildung dieser sonderbaren Vorstellung
* Die negativen Zahlen dagegen verlaufen (infolge einer ent-
sprechenden, einmaligen Darstellung an der Schultafel) horizontal in der-
selben Richtung wie Wochentage, Buchstaben und Monate.
Entstehung und Bedeutung der Synopfden.
211
beiznf&gen (Fig 5). In allen anderen Fällen, die ich kennen
gelernt habe, waren ausnahmslos alle Diagramme aufs schärfste
von einandergesondert, auch die nächstverwandten, wie Jahres-
zahlen, Monate, Wochentage u. s. w., ja es war sogar unmöglich,
bei dem Gedanken an ein Diagramm gleichzeitig an ein anderes
zu denken.
Mein schon mehrfach erwähnter Bruder Ernst sieht in
seinem Tagesstunden-Diagramm, welches annähernd elliptische
Monate
Buchstäbejh
Woche
Fig 5.
Form hat, die Windrose angeordnet, wie er auch sonst beim
Vorstellen irgend welcher Gegenden gern die Himmelsrich-
tungen sich hinzudenkt. Er schreibt mir darüber: „Noch
mache ich Dich darauf aufmerksam, dafs ich bei jeder ört-
lichen Vorstellung, z. B. beim Lesen von Romanen, Dich-
tungen etc., stets die Lage der Himmelsrichtungen mit hinzu-
denke, und dafs es mich aufserordentlich stört, wenn der
Dichter in ein nach Osten gelegenes Zimmer die Abendsonne
scheinen läfst u. s. w. Mufs ich mich mit den vom Dichter
14*
212 BicKard Hennig,
gedachten Himmelsrichtungen aussöhnen, so rücke ich ent-
weder die Sonne, den Mond etc., oder ich mnfs das ganze bis-
herige Bild zerstören und mir ein neues ausdenken. Es giebt
wenige Geschichten, wo ich nicht zu solchem Ortswechsel ge-
nötigt bin, am schlimmsten war es im zweiten Teil von »Soll und
Haben", wo ich das Schlofs des Baron ßothsattel mit der
gröfsten Mühe um 180^ drehen mufste u. s. w. Auch mein
Tagesstunden-Diagramm hat seine Himmelsrichtungeni nur dals
sonderbarerweise Mittemacht nach Süden liegt. ^ Sehe ich d4e
Morgenstunden an, so sehe ich die Sonne, die im O aufgeht,
die Vormittags-, Mittags- und Nachmittagsstunden über sehe
ich sie nicht, aber wohl bei den Abendstunden von 6 bis
etwa 8, die von den roten Strahlen der im W untergehenden
Sonne getroflfen werden."
Als eine weitere Eigentümlichkeit will ich noch erwähnen,
dafs mein Bruder Ernst die Beisen, welche er als Schüler in
jedem Jahre während der grofsen Ferien unternahm, nicht, wie
es wohl die meisten thun würden, in sein Jahreszahlen-Diagramm
einordnet, sondern in sein Diagramm für die Schulklassen.
Bevor ich mich nun zum wichtigsten Teile dieser Arbeit,
d&T Bedeutung der Synopsien, wende, möchte ich noch auf
eine besondere Art der Synopsien hinweisen, welche bisher
fast ganz übersehen ist, auf welche auch ich nur insoweit ein-
gehen will, als sie in mein Thema pafst, und die überhaupt
noch einer gründlichen Durchforschung bedarf. Ich meine die
Erscheinung, dafs man sich manche abstrakte, besonders
philosophische Begriffe, zuweilen auch bestimmte Sammel-
begriffe für konkrete G-egenstände (Mensch), solange kein
anderer Anhaltspunkt gegeben ist, in einer festliegenden kon-
kreten Form vorstellt. Auch hier kann es vorkommen, dafs
die Form der Vorstellung durch Fortfallen einer Beihe von
Zwischengliedern der Ideenassoziation gar keine Beziehung
zu dem Vorzustellenden zu haben scheint. Floubnoy berichtet,
dafs er selbst bei dem Gedanken an das Wort Seele ein Dreieck
oder einen Kegel sieht, welcher Körper mit nach vom gerich-
teter Spitze im leeren Baume emporzufliegen scheint. Der
Grund dieser seltsamen Gedankenassoziation war ihm, wie er
^ Und zwar sind es die Breitseiten der Ellipse, welche nach Nord
und Süd gerichtet sind.
Entstehung und Bedeutung der 8ynqp8ien. 213
berichtet, trotz angestrengten Nachdenkens lange Zeit unklar,
bis er schlierslioh bemerkte, dafs der Aocent circonflexe auf
dem ersten Bachstaben des französischen Wortes äme die
Ursache seiner Yorstellnng sei. Meine Mutter denkt beim
Worte Gott an eine helle Wolke, ich selbst an ein freundliches
Yollmondsgesicht auf einem menschlichen Körper, das auf die
Erde herabschaut; bei mir ist der Grund dieser Personifikation
wieder in einem meiner ersten Kinderbücher zu suchen, wo
der Mond personifiziert gedacht und dementsprechend auf den
Wolken thronend abgebildet war. Einem meiner Bekannten,
Herrn stud. med. Pollack, ruft der Gedanke an die Erhaltung
der Kraft die Erinnerung an eine Küchenuhr wach, weil an
ihren Pendeln ihm zuerst das Wesen jenes Naturgesetzes klar
gemacht wurde.
Den Montag stellt er sich „voU^ vor, offenbar, weil ihm
das Wort Vollmond vorschwebt, den Dienstag „mager, wie
eine Lanze^, während der Donnerstag ihm den Eindruck eines
Thores erweckt. Die letssten beiden Vorstellungen entstammen
natürlich Einflüssen der germanischen Mythologie, die freilich
in der seltsamsten Weise vom ünterbewuTstsein umgeformt
worden sind: der Dienstag ist bekanntlich dem Kriegsgott
(daher die Lanzen) Ziu, der Donnerstag dem Thor geweiht.
Wie deutlich solche Vorstellungen werden können, zeigt
die Angabe desselben Herrn, dafs das Wort Mensch ihm die
Vorstellung eines vierzigjährigen Mannes mit grofsem Filzhut
erwecke, dessen Krempe rechts hoch steht, links niedergebogen ist.
Doch nicht nur privilegierte Assoziationen, wie sie in den
bisherigen Beispielen wirkten, können bei derartigen Synopsien
im Spiele sein, sondern auch habituelle. Als eine solche ist
z. B. die Vorstellung der Fabeldrachen als Papierdraohen mit
entsprechendem Gesicht etc. zu betrachten, vielleicht auch die
Vorstellung des Zweckes als Bindfaden, wie sie derselbe Herr
PoLLAOK empfibndet.
Ich will mich nicht weiter in diese Materie vertiefen,
welche einer eingehenden Sonderuntersuchung würdig ist.
Möge es hiermit genug sein mit den Betrachtungen über die
Entstehung der Synopsien, und wenden wir uns nunmehr ihrer
Bedeutung zu.
214 Riehard Hennig.
III. Bedeutang der Synopsien.
Wenn wir von einer Bedeutung der Synopsien sprechen,
so ist dabei nicht etwa an pathologische Erscheinungen zu
denken, denn schon Bleulbr und Lehmann haben mit Bestimmt-
heit behauptet und statistisch nachgewiesen, dafs in degene-
rierten Familien die Synopsien genau ebenso häufig vorkommen,
wie in anderen, und dafs ihnen eine psychopathische
Bedeutung nicht zukommt. Auch Flournoy kommt
zu demselben Eesultat und fafst sein Urteil in die folgenden
Worte zusammen: „Wenn man will, ist die Erscheinung
anormal im Sinne von selten und ausnahmsweise, vollkommen
normal im Sinne von nicht pathologisch, harmlos und be-
gründet auf ganz und gar physiologischen Vorgängen, gerade
so wie die schlaferzeugenden Halluzinationen, die Mehr-
Fingerigkeit, die Fähigkeit, die Ohren willkürlich zu bewegen,
und andere auffallende Anomalien." Alle Urteile, * welche im
Vorkommen von Synopsien eine Anlage zu Geisteskrankheiten etc.
sehen wollen, sind vollständig laienhaft und beruhen auf abso-
luter Unkenntnis der Thatsachen, ganz abgesehen davon, dafs
sonst reichlich die Hälfte der Kulturmenschheit psychopathisch
belastet wäre. Wenn ich hier also von einer Bedeutung der
Synopsien rede, so habe ich einen praktischen Nutzen derselben
im Auge.
Sicherlich werden alle „Negativen", ja sogar der gröfste Teil
der „Positiven" sehr verwundert sein, dafs ein solcher praktischer
Nutzen der Synopsien bestehen soll. Im allgemeinen werden
sie der Ansicht sein, soweit nicht rein wissenschaftliches Interesse
vorliege, sei es völlig zwecklos, sich mit den Synopsien zu be-
schäftigen. Keine der bisherigen Untersuchungen hat einen
wesentlichen Nutzen der Synopsien hervorgehoben oder auch
nur gewürdigt, ich glaube aber, an einem bestimmten Beispiele
beweisen zu können, dafs sie nicht nur für mnemo-
technische Zwecke von einem ganz unschätzbaren
We rte sein können, sondern dafs sie sogar geeignet
sind, mittelbar auf die Geistesentwickelung und
-beschäftigung nachhaltig einzuwirken.
Den chromatischen Synopsien wird freilich nur ausnahms-
weise eine Bedeutung der angegebenen Art zuzusprechen sein.
Entstehung und Bedeutung der Synopsien, 215
Galton berichtet von einer Dame, welche sich ihrer Photismen
bediente, um die richtige Orthographie mancher Worte zu finden.
Floubnoy erzählt von einem Maler, welcher seiner Violine
Töne entlockte, um passende Farben für seine Gemälde zu
finden. Grüber teilt mit, dafs ein Bariton die feinsten Nuancie-
rungen seiner Stimme nach Beinen Chromatismen bestimmte.^
Doch wenn man noch das schon erwähnte Erkennen von Tonarten
durch Farben eindrücke hinzurechnet, sind hiermit meines Wissens
alle Fälle erschöpft, in denen ein wesentlicher Nutzen chroma-
tischer Synopsien nachgewiesen wurde. Im Gegensatz hierzu
berichtet Flovrnoy auch von beträchtlichen Belästigungen infolge
lebhafter chromatischer Synopsien: eine Dame wurde durch
das mannigfache Farbengeflimmer beim Lesen begreiflicher-
weise aufserordentlich gestört. Wenn derartige Belästigungen
nicht die Regel bilden, sondern vielmehr nur in diesem einzigen
Falle bisher beobachtet sind, so hegt dies wohl daran, dafs
die Farbenempfindungen meist erst bei längerer Dauer akusti-
scher Seize oder bei intensiverer Aufmerksamkeit auf die Buch-
staben, Zahlen etc. ins Bewufstsein treten, bei flüchtigem Lesen
oder Hören aber latent bleiben.
Dafs dagegen die Diagrammempfindungen, in welchen aUe
wissenswerten Zahlen- etc. Angaben des Gedächtnisses lokalisiert
und systematisch eingeordnet sind, eine wesentliche mnemo-
technische Hülfe darbieten müssen, wird selbst den Negativen
nicht unwahrscheinlich dünken. Flournoy, der selbst zu den
Negativen gehört, erkennt sogar, allein durch sein logisches
Gefühl, nicht durch bestimmte Erfahrungen geleitet, schon fast
die ganze hohe Bedeutung der geometrischen Synopsien und
thut auf S. 193 den bemerkenswerten Ausspruch : „Ich beneide
eine solche Fähigkeit, welche einzigartig helfen mufs, um die
Zeiträume zu überfliegen und Ordnung in die Dinge zu bringen.
Li ähnlicher Weise ist der Besitz eines chronologischen Dia-
grammes, selbst wenn es nur angedeutet ist, von nicht geringer
Hülfe für das Gedächtnis an Ereignisse.^
Ich möchte z. B. aus Beobachtungen, die ich gemacht habe,
schliefsen, dafs die Besitzer von Zahlendiagrammen im all-
gemeinen nicht nur ein besseres Zahlengedächtnis haben, sondern
^ Die beiden letzten Fälle sind übrigens glänzende Beweise für die
Feinheit und Bestimmtheit, mit welcher optische Prozesse auf akustische
Keise folgen.
216 Bkha/rd Hemig.
auch weit bessere Kopfirechner zu sein pflegen, als die Negativen.
Schon oben hatte ich G-elegenheit, darauf hinzuweisen, dafs
Mathematiker, welche viel mit abstrakten Gegenständen zu
thun haben, relativ selten Diagranmie besitzen. Sollte sich
nicht daraus vielleicht die bekannte Thatsache erklären lassen,
dafs gute Mathematiker überraschend oft die denkbar schlechte-
sten Kopfrechner sind?
Wenn man schon nach dem bisher G esagten einen günstigen
Einfluis der Diagramme auf das Geistesleben kaum wird be-
zweifeln dürfen, so eröffnet der im folgenden zu berichtende
Fall ganz ungeahnte Einblicke in die Entstehung mancher
scheinbarer hervorragenden „Begabung^n^. Es handelt sich
um einen nahen Verwandten und sehr guten Bekannten von
mir, welcher für Zahlen ein ungewöhnliches, für Daten ein
ganz abnorm ausgebildetes Gedächtnis besitzt. Von den un-
wichtigsten Ereignissen der Geschichte oder, besser noch, seines
eigenen Lebens kann er zuweilen mit einer solchen Bestimmt-
heit und Treffsicherheit Datum und Jahreszahl angeben, dafs
er selbst nicht selten darüber erstaunt. Von den wichtigeren
Ereignissen der Weltgeschichte, soweit sie sich genau datieren
lassen, dürften relativ wenige zu finden sein, zumal unter den
kriegerischen (mit diesen beschäftigte er sich als Knabe am
liebsten und häufigsten), deren Daten und Jahre er nicht „auf
Anhieb^ angeben kann. Geburts- und Todestage berühmter
Persönlichkeiten pflegt er ebenfalls mit überraschender Präzisität
anzugeben, er konnte mir z. B. ohne jede Vorbereitung die
Todestage und -jähre der gesamten deutschen Herrscher von
Friedrich I. Barbarossa bis zu Ludwig dem Baiern fehlerlos
angeben, selbst die von Otto IV. und Friedrich dem Schönen
mit einziger Ausnahme Konrads IV., femer die Tage aller
berühmteren Schlachten dieser Epoche (Legnano, Bouvines,
Cortenuova, Wahlstatt, Fossalta, Benevent, Tagliacozzo, March-
feld, GöUheim, Lucka, Mühldorf) u. s. w. Es ist dies nur eine
Stichprobe, und es muTs ausdrücklich betont werden, dafs er
in anderen Epochen der Weltgeschichte ebenso bezw. doch
fast ebenso bewandert ist. Die sämtlichen Schlachten Friedriolis
des Grofsen oder die Napoleons des Grofsen seit seinem Zuge
nach Ägypten aufzuzählen nach Jahr und Tag, ist thatsächlich
eine Elleinigkeit für ihn, ebenso leicht aber wufste er bei einer
Probe, der er sich unterzog, auch die Geburts- und Sterbetage
Entstehung und Bedeutung der Synopsien. 217
und -jähre folgender berühmter Personen, welche nicht Staats-
m&nner oder Feldherren waren, fehlerlos anzugeben: Co per-
nicns, Luther, Tasso, Baoon, Shakespeare, Galilei,
Kepler, Paul Gerhard, Newton, Joh. Seb. Bach, Voltaire»
Kant, Lessing, Moses Mendelssohn, Wieland, Herder,
Goethe, Schiller, der beiden HnmboldtS; Mozart, Bee-
thoven, Tegner, Meyerbeer, Carl Loewe, H. v. Kleist,
Schubert, Heine, Felix Mendelssohn, Lenau, Darwin,
Wagner, Freiligrath, Geibel, Scheffel, Helmholtz,
Heinr. Hertz und vieler Anderer.
über diese merkwürdige Fähigkeit hat er sich selbst
folgendermafsen schriftlich geäufsert: „Auf der Schule zeichnete
ich mich im Kopfrechnen und in der Mathematik nicht gerade
auffallend aus, trotzdem ich wohl von mir behaupten kann,
das Durchschnittsmafs stets überragt zu haben. Ich glaube
auch, bei etwas mehr Fleifs und weniger Unaufmerksamkeit
hätte ich ein sehr tüchtiger Mathematiker werden können.
Der ungewöhnliche Gang der Entwickelung erstreckte sich
nach wie vor auf das Gedächtnis Ar Zahlen. Der Geschichts-
unterricht des Gymnasiums reizte mich ganz besonders, und
schon in der Quinta und Quarta war ich bei manchen meiner
Lehrer daflir bekannt, alle wichtigen Geschichtszahlen zu wissen.
Gesohichtswerke, besonders solche, in denen recht viele Zahlen
vorkamen,verschlang ich mit nicht weniger Begierde, als Indianer-
bücher. Dabei war es bemerkenswert, dafs es eigentlich nur
die Zahlen waren, die mich so sehr interessierten; für den Zu-
sammenhang der einzelnen Ereignisse, Yerfassungsgeschichteetc.
zeigte ich durchaus nicht viel mehr Verständnis, als man es
gewöhnlich findet. Dagegen behielt ich Jahreszahl und Datum
auch von solchen Ereignissen, die mich gar nichts weiter an-
gingen und so unbedeutend wie nur mögUch waren. Nur
selten kam es vor, dals ich eine schon gewuTste Zahl wieder
vergafs oder verwechselte. Dexmoch habe ich mich während
meiner Schulzeit auch nicht einen Augenblick hingesetzt, um
Geschichtszahlen zu „ochsen'^, nur sehr selten brauchte ich mir
überhaupt erst vorzunehmen, eine Zahl behalten zu wollen,
und in den noch selteneren Fällen, wo ich unter den zum
Lernen aufgegebenen Zahlen eine fand, die ich noch nicht
wuiste, genügte ein einziger Blick darauf, um sie dauernd mir
einzuprägen. So ist es denn gekommen, dafs ich von fast
218 Bichard Hennig. .
allen wichtigen und einer groJCsen Menge unwichtiger, ja neben-
sächlicher Ereignisse Jahreszahl und Datum ohne weiteres
sofort angeben kann.^
Den Grund für dieses seltene Zahlengedächtnis
sucht mein Gewährsmann einzig und allein in der
Form se iner Diagramme (er besitzt solche für Zahlen, Monate,
■Wochentage, Tagesstunden und Buchstaben). Chromatische
Synopsien kennt er nicht. Der Hauptgrund für die leichte
Unterscheidbarkeit der zahllosen Daten der Weltgeschichte liegt
aber seiner Meinung nach in gewissen Charakterzügen, bezw.
Gesichtseindrücken, welche ihm die einfachen wie die zwei-
stelligen Zahlen imd Daten zu haben scheinen. Es handelt
sich hier also um eine Art von Personifikation bezw. Charakte-
risierung der Zahlen, wie sie zuweilen bei verschiedenen Indi-
viduen vorkommt. Flgürnoy führt mehrere diesbezügliche Fälle
an ; bei einer von ihm befragten Dame ging diese Erscheinung
so weit, dafs sie nicht nur die Zahlen in männliche und weib-
liche teilte, sondern u. a. auch angab, 9 sei der Ehemann der 8,
er liebe es, alle möglichen Arzneien einzunehmen, und mache
ganz den Eindruck eines eingebildeten Kranken u. s. w. Auch
bei dem von mir schon mehrfach erwähnten Herrn Pollack
zeigen sich solche Eigentümlichkeiten: 1 und 5 sind männlich,
2, 4, 8 und 9 weiblich, 1 ist ein Kind, 3 ein „frecher Junge^,^
6 macht ihm einen weichlichen Eindruck. Schon Galton war
mit dieser Erscheinung vertraut, denn er sagt auf S. 144 von
den Ziffern: „Sie werden oft von Kindern personifiziert und
ihnen Charaktere beigelegt (dramatised), vielleicht wegen eines
Grundes, der im Einmaleins mitspielt, vielleicht auch infolge
einer eigentümlichen Assoziation mit ihrem Aussehen oder
ihrem Klang. ^
Auch mein Gewährsmann erinnert sich, daXs ihm einige
einstellige Ziffern' schon in der ersten Zeit, wo er sich mit
Zahlen beschäftigte, einen Charakter zu haben schienen, so die
3, ö, 6 und 9 einen heiteren, während ihm die 4 etwas furcht«
einflöfsend aussah, weil ihr erster Strich den Gedanken an eine
drohend emporgehobene Keule erweckte. Der Charakter-
* Vielleicht wegen der Ähnlichkeit mit dem Worte „dreist"?
' Nur die Zahlzeichen. BOmische Ziffern erwecken den Eindruck
nicht.
Entst^mng und Bedeutung der Synopsien, 219
eindruck der Zahlzeichen hat sich im Laufe der Jahre kaum
merklich verändert, nur ist er verblafst, während derjenige
der Monatsdaten an Intensität beträchtlich zugenommen hat.
über den Eindrack der Zahlen schreibt mein Gewährsmann
folgendes : „Mir scheint ein jedes Zahlzeichen einen bestimmten
G-esichtsausdruok zu besitzen: die 1 einen gleichgültigen, die 2
einen ernsten, die 3 einen heiteren, die 4 einen energischen,
die 5 einen stillvergnügten, die 6 einen schelmischen,^ die 7
einen zornigen, die S einen eingebildeten, die 9 einen klug
überlegenden, die 0 einen verschlossenen Gesichtsausdruck.'
,,Da es in psychologischer Hinsicht wünschenswert sein
dürfte, noch weiteres derartiges Material zu sammeln, will ich
noch erwähnen, dafs auch viele zweistellige Zahlen, besonders,
soweit sie im Datum noch Anwendung finden, wieder einen
ganz eigenartigen Eindruck auf mich ausüben, so besonders
die 14 (selbstbewufst), die 18 (heroisch, wohl wegen der zahl-
reichen Siege, die in der preufsischen Geschichte an Daten mit
dieser Zahl erfochten wurden), die 19 (schwermütig), die 20 ist
mir geradezu verhafst (wegen mehrerer schwerer Unglücksfalle,
die mich an solchen Tagen trafen), auch die 24 und 28 sind
mir — wenn ich so sagen darf — unsympathisch (aus ähnüchem
Grunde), die 81 scheint mir besonders anheimelnd zu sein
(mein Geburts- und Lieblingshaus trägt diese Nummer), und
so könnte ich noch manche andere Beispiele anfuhren, für die
ich teilweise auch die Begründung anzugeben weiTs. Übrigens
will ich bemerken, dafs die charakteristischen Eigentümlich-
keiten nichts fest Gegebenes sind, sondern dafs sie sich selbst
jetzt noch manchmal in geringen Grenzen ändern.^
Diese letzte Bemerkung bezieht sich nach einer späteren
Erklärung nur auf die Daten, deren Ausdruck durch jedes
wichtige neue Erlebnis beeinflufst werden kann. Früher (vor
^ Diesen Eindruck schreibt er dem Umstände zu, dafs die 6 im
Gegensatz zu allen anderen Zahlen eine nach rechts geöffnete Kurve hat.
* Eine Unterscheidung in männliche und weibliche Individuen kennt
er nicht, doch meint er, wenn er sich zu einer Entscheidung zwinge, so
könnte er alle Ziffern nur fEir männlich halten. Übrigens teilt mir
mein Bruder Ernst mit, dafs die Italiener ihren Buchstaben verschiedene
Geschlechter beilegen, „wobei teils provinzielle, teils individuelle Unter-
scheidungen mafsgebend sind: die Einen betrachten sie alle als mann-
Uchj die Anderen alle als weiblich, und wieder Andere machen Unter-
schiede nach dem Endvokale des Buchstabennamens^^
220 Biehard Hennig.
sechs bis sieben Jahren ungefähr) waren seine liebsten Monats-
tage der 4,y 7., 14., 19. nnd 26., heut sind ihm der 1., 8., 13.,
18.) 22. nnd 27. mindestens ebenso lieb. Doch sind ihm in
einigen Monaten einzelne dieser Tage weit lieber, als in anderen.
Er erklärt, vielen Daten mit einer geradezu heftigen Sympathie
bezw. Antipathie gegenüberzustehen, anderen hinwiederum
gleichgültiger, aber jedes Datum macht einen bestimmten, unr
verkennbaren Eindruck, der im wesentlichen bestimmt werden
kann durch hervorragendere Ereignisse, welche an diesem Tage
stattfanden. Vor Jahresfrist (Juli 1894) schrieb er darüber:
„Mein Lieblingsmonat ist der Dezember (natürlich wegen der
Weihnachtszeit), mein Lieblingsdatum augenblicklich der 1. No^
vember^ (aus hier nicht näher zu erörternden Gründen). Ich
empfinde für die Daten Sympathie, Antipathie oder Gleich-
gültigkeit, wie Menschen gegenüber. Wenn von Caesar be-
richtet wird, das Lesen in der Grammatik, eine Beschäftigung,
die von anderen Menschen als etwas unangenehmes, oder doch
mindestens nicht als etwas Wünschenswertes empfunden wird,
habe ihm ein besonderes Vergnügen bereitet, so kann ich von
mir behaupten, dafs ich eine eigentümliche Freude daran em-
pfinde, ganze Tafeln von Zahlen, etwa von Logarithmen, oder
noch lieber von Daten zu — studieren.^
Es muTs dazu noch bemerkt werden, dafs das Gedächtnis
meines Gewährsmannes für andere Gegenstände durchaus von
der gewöhnlichen Art ist, es ist also ganz einseitig entwickelt;
um so deutlicher beweist dies, dafs lediglich in der originellen
Form der Synopsien der Grund jener, „Begabung" gesucht
werden kann. Es muTs ausdrücklich hervorgehoben werden,
dafs Ereignisse, welche an sympathischen Daten eintraten,
ungleich leichter behalten werden, als andere.
Seine ganze Geistesentwickelung ist wesentlich von jener
merkwürdigen Fähigkeit beeinfluTst worden. Da er von Beruf
Meteorologe ist, so beschäftigt er sich am liebsten mit historisch-
statistischen Gegenständen dieses Gebietes, aber auch jede
andere Datumangabe auf Jahr und Tag genau ist ihm stets
willkommen, da sie stets nicht nur seinen Verstand, sondern
auch sein Gemüt beschäftigt.
1 Jetzt, im Jali 1895, möchte er diese Aussage nicht mehr mit
solcher Bestimmtheit machen. In früheren Zeiten (1888) war der 19. De-
zember sein Lieblingsdatum.
Entstehung und Bedeutung der Synopsien. 221
Sonderbar ist es, dafs bei ihm die Diagramme für Daten,
Jahreszahlen etc., trotz ihrer so engen Beziehungen zu einander,
immer als völlig gesondert empfunden werden. Wenn ein Er-
eignis nach Jahreszahl und Datum angegeben wird, so wird
es doppelt lokalisiert, im Jahres- und im Monatsdiagramm.
Wenn er z. B. von der Scblacht bei Gravelingen (13. Juli 1558)
hört — bei diesem Datum bemerkte er zuerst die Trennung
der Diagramme — so sieht er etwa in seinem Zahlendiagramm
die Stelle zwischen 1558 und 1559, dann scheint dies Diagramm
zurückzutreten und zu verschwinden, dafür erscheint an genau
derselben Stelle das Datendiagramm im Gesichtsfelde mit dem
13. Juli im Vordergründe. Wird hingegen ein Ereignis auf
Wochentag und Tageszeit genau angegeben, z.B. Friedrich
der G-rofse starb Donnerstag den 17. August 1786, morgens
21^ 20^ so erscheint etwa nach dem Jahreszahlen- und Daten-
diagramm ganz unabhängig von ihnen das Wochentags-, und
dann abermals gesondert das Tageszeitdiagramm.
Nicht immer geht der Prozefs in dieser Weise von statten,
es kommen Variationen vor, zumal wenn ein Bestandteil der
genauen Zeitangabe (meist handelt es sich jß. nur um Jahr
und Datum) besonders hervortritt. Manchmal aber, wenn
anfangs das Gedächtnis zu versagen scheint, ist auch der
Eindruck vorhanden, als ob plötzlich eine innere Stimme das
Fehlende zuflüsterte. So erzählt er z. B., dafs er kürzlich des
Morgens wach im Bette liegend an Moses Mendelssohn
dachte. Er wufste seinen Todestag und, dafs er im selben
Jahre wie Lessing geboren sei; auf den genauen G-eburtstag
aber konnte er sich trotz längeren Nachdenkens nicht besinnen.
Da mit einem Male, blitzartig, durchzuckte ihn der Gedanke:
,6. September^, als ob er einen Anderen diese Worte aus-
sprechen hörte, und im selben Moment war er auch über die
Hichtigkeit dieser Angabe nicht mehr im geringsten im Zweifel.
Ähnliche Beispiele hat er oft an sich beobachtet.
Dieser von mir ausführlich mitgeteilte Fall kann als
typisches Beispiel für die hohe Bedeutung angesehen werden,
-welche zuweilen den Synopsien zukommt. Er dürfte zur
Genüge beweisen, dafs diese seltsamen Erscheinungen ernster
Beachtung wert sind, und dafs sie nicht nur als wissenschaft-
liche Spielerei und als interessante Unterhaltung angesehen
irerden dürfen. Vielleicht können weitere Selbstbeobachtungen
^,J-
222 Biehard Hennig.
der zalillosen „Positiven** neues, wichtiges Material sowohl
über die Entstehung wie über die Bedeutung der Synopsien
herbeischaffen. Ich möchte glauben, dafs man dadurch manchen
beachtenswerten Einblick in das noch so unbekannte Wesen
der psychischen Funktionen und die Entwickelung so mancher
scheinbar angeborener Fähigkeiten erhält.
Zur Analyse
der Vorstellungen von Abstand und Eichtung,
Von
Dr. AiiOis HöFLBB.
In einem Vortrage über „Unlösbare Probleme**, den Pro-
fessor Geoenbaueb vergangenen Sommer in der Philosophisclien
Gesellschaft an der Universität zu Wien gehalten hat, begründete
der Vortragende durch ein eigenartiges erkenntnistheoretisches
Motiv,* warum man für die Lösung von Problemen, wie die
Quadratur des Zirkels, die Trisectio anguli u. dergl. sich selber
solche Bedingungen auferlegt, durch die sie erst zu „unlös-
^ „Wir lassen uns bei der Aufstellung der erwähnten beschränkenden
Bedingungen durch das Prinzip leiten, die Probleme, die in einem Ge-
biete auftauchen, zu lösen, ohne Mittel zu gebrauchen, die aulserhalb
der Grenzen dieses Gebietes liegen (Wahl der einfachsten Mittel, etwa
gleich dem MACHschen Prinzip der Ökonomie in der Natur). Dazu
kommt in diesem Falle noch, dafs den Alten nur die Geometrie des
liineales und Zirkels als Geometrie galt/* — F. Klein formuliert in
seiner Festschrift „ Vorträge über ausgewählte Fragen der Elew^entargeomeirie"
(1895) auf S. 2 die Frage. ^^^^ drückt sich in der Sprache . . der Algebra
und Analysis . . die Verwendung von Lineal und Zirkel zur Konstruktion
aus? Die Notwendigkeit dieser Gedankenwendung („Anlehnung an
Algebra und Analysis^O liegt darin, dafs die Elementargeometrie keine
allgemeine Methode, keinen „„Algorithmus"^ besitzt, wie die letzt-
genannten beiden Disziplinen/' Es folgt dann auf S. 3 der Hauptsatz:
„Ein analytischer Ausdruck ist dann luid nur dann mit Zirkel und Lineal
konstruier bar, wenn er aus bekannten Gröfsen durch eine endliche An-
zahl rationaler Operationen und Quadratwurzeln abzuleiten ist." —
Durch solche Zuordnung zu einem abgegrenzten algebraischen Operations-
komplex kann offenbar die geometrische „Kaprice^ auf Zirkel und
Lineal eine sachliche Beohtfertigung erhalten ; zu den oben im Text
(Puakt 5) gegebenen steht sie in einer Art Koordinationsverhältnis«
indem alle Berufung auf Algebra in das geometrische Gebiet ebenso ein
„disknryes'^ Element hineinträgt, wie das der obigen Aufzeigung von
„Verschiedenheitsrelations-Komponenten'^ als solcher.
224 ^l^ Höfter.
baren^ werden; nämlich z. B. den Ejreisonifang nicht einfach
durch ein umgeschlongenes Meüsband in Verhältnis zum
Durchmesser zu setzen; fiir die Trisectio nicht Hyperbeln als
Hülfslinien zuzulassen, sondern nur gerade Linien und Kreise.
Da ich meinerseits schon vor längerer Zeit^ einen keines-
wegs erst erkenntnistheorethischen oder allgemein logisch-
methodologischen Grund für jenes scheinbar so kapriziöse
antike Postulat der Beschränkung auf Gerade und Kreis (Lineal
und Zirkel) sngedeutet habe, und dieser Grund einfach auf die
psychologische Analyse der Begriffe „Abstand^ und „Sichtung*'
zurückgeht, so möchte ich bei dieser Veranlassung jene Analyse
hiermit bekannt machen.
Für die vier Punkte A A^Ä^A^ mögen die Abstände A A^
und AA^ einander gleich sein, und die Bichtungen AA^ und
A A^ einander gleich sein (d. h. es mögen A A^A^ in einer
Geraden liegen).
Wenn ich nun, ohne von den hiermit festgestellten und
bei der Anfertigung der Figur befolgten Bedingungen schon
in abstracto irgend etwas zu wissen, die Figur anblicke, so
habe ich die Vorstellung von vier Örtem. Vergleiche ich
nun („primär") der Beihe nach die örter A und A^, sodann
A und A^^ sodann A und A^, so erkenne ich das Bestehen von
drei Verschiedenheitsrelationen, also mit Benutzung der
Zeichen,' welche ich in meiner Logik^ § 25, eingeführt habe:
Aqj^A^ A^A^ ^^8-^3-
^ In der Anzeige von Zindlers „Beiträge zur Theorie der mathe-
matischen Erkenntnis'', Vierteüahrsschr, f. wies* Philas. 1890. S. 508.
' Entsprechend dem Gedanken (oder doch dem Ausdruck), dafs die
Belation „zwischen" den Fundamenten (Terminis, Gliedern) bestehe, ist
allgemein zu schreiben: äqB; z. B. speziell bei Notwendigkeitsrelationeo
G(tF(db* a. 0. § 58). All das ist nichts als eine Ausdehnung des „Zwischen"-
Setzens der Zeichen =, >, < fü.r das Ergebnis der Vergleichung spiesiell
Yon Gröfsen.
Zur Analyse der Vorstellungen von Abstand ufid Richtung, 225
Vergleiche ich nun weiter wieder die drei Belationen
Ci 9s ^8 selbst (sekundäre Vergleichung), so erkenne ich, dafs
sich jede derselben selbst wieder in zwei Verschiedenheits*
relationen spalten, sozusagen in zwei Komponenten oder
„Seiten" zerlegen läfst, was wir durch
bezeichnen wollen. Hierbei ist natürlich + nioht das Zeichen
für mathematische Addition, sondern eben nur für psycho-
logisches Zusammengesetztsein; und mit diesem „zusammen-
gesetzt'' (wie mit den Wörtern „Komponenten", „Seiten") soll
auch wieder nicht gesagt sein, dafs ihnen eine „Thätigkeit
des Zusammensetzens" ^ vorausgegangen sei, sondern nur, dafs
sich jedes der q analysieren läfst in ein q^ und ein q'\ — Um
eben dieser analysierenden Thätigkeit den Weg zu zeigen,
können am besten nochmalige tertiäre Vergleichungen dienen,
welche uns sagen, dafs folgende ßelationskomponenten einander
gleich, bezw. voneinander verschieden sind:
p/ gleich p/ f/ verschieden von p,'
(woraus nebenbei folgt: q/ verschieden von ^3"^)
p/' verschieden von ^/ ^1" gleich ^3"
(woraus nebenbei folgt: pg" verschieden von ^3").
Natürlich will all das Bisherige sich keineswegs den An-
schein geben, als wolle es einem erst beibringen, was Abstand
und Sichtung ist, sondern die Analyse zeigt nur auf, wie weit
der Psycholog eben diese seine Analyse treiben mufs, um aus
längst erworbenen Vorstellungen das Abstands-, bezw. Rich-
tungselement rein herauszupräparieren.
Wir können aber auf diesem Wege vom anschaulichen zum
diskursiven Denken noch einen Schritt vorwärts gehen, indem
wir beachten, dafs es in dem uns wohl vertrauten Begriffe des
Abstandes liegt,' dafs z. B. die Distanz von Wien bis Hamburg
* Inwiefern der Ausdruck „zusammengesetzt'' immer wieder irre
fuhrt, habe ich jüngst wieder in der Anzeige der Psychologie von
HöFFDnrG zu konstatieren gehabt. (Diese Zeitschr. IX. S. 258.)
* Es sei hier der Ausdruck „in dem Begriff liegen" nicht so sehr
wegen seiner Beliebtheit als der Kürze wegen gestattet. Wie so häufig
ist er auch in ohiger Anwendung (trotz Kants analytischer Urteile)
durchaus ungenau, denn man kann alles, was zum Begriff der Distanz
ZeltMlirift fttr PS3reh«loflr*e X. 16
226 'itois Höfitr.
gleich ist der Distanz von Hamburg bis Wien, dais dagegen
die Bichtimg einer Beise von der einen Stadt znr anderen ent-
gegengesetzt ist der der Bückreise. Mit Benntznng des in
meiner Logik eingeführten Begriffes nmkehrbarer, bezw.
nicht umkehrbarer Belationen' können wir dann geradezu
„definieren" :
Abstand ist die umkehrbare Komponente — ,
Bichtnng ist die nicht umkehrbare Komponente
der Yerscbiedenheitsrelation zweier Orte. —
Zu vorstehender Analyse und ihrem B^ebnis sind noch
folgende Bemerkungen zu machen:
1. Was oben als tertiäre Yergleichung bezeichnet wurde,
ist in seinem Ergebnis nicht etwa wie die primäre (und mit dem
unter 2. zu erörternden Vorbehalt auch die sekxmdäre] Yer-
gleichung für die Begriffe Abstand und Bichtnng konstitutiv;
sie tragen nicht zum logischen' Inhalt dieser Begriffe bei,
sondern sind nur ein psychologisches, sozusagen didaktisches
Hfil&mittel, der abstrahierenden Aufinerksamkeit den Weg zn
weisen, wie sie das Auseinanderhalten der zwei Komponenten
(f und ff" anstellen soll. Demgem&is sind auch tax diese Be-
griffe nicht etwa vier Punkte A Ä^ Ä^ A^ obligat, sondern nur
zwei Örter A und B. Wer sich die Yorstellungen von diesen
zwei „absoluten" Örtem gebildet bat, sie als verschieden erkennt
und die Yerschiedenheit in ihre zwei Komponenten spaltet, findet
gehört, vollsULndig und ftusfUhrlich vi>rst«U«ii, ohne die Eigenschaft der
ümkehrbarkeit mit vonnistellen; sondeni nnr, wenn die Frage nach
Cmkehrbarkeit oder Nicht- umkehrbar keit der DisUuureUtJon aufgeworfen
wird, kuia nur dasjenige Urteil evident sein, welches eotficheidet : aie
ist umkehrbar.
' Z. B. die Relation des Freundes Eum Freonde ist («rein") umkehr-
bar, die des Herrn nun Diener nicht. In Zeichen A^B, B^A; dagegen
AfB, BfA Bemerkenswert tat, wie die Sprache hier durch gleiche
besw. verschiedene Beseicimungen der Relationsglieder selbst diesen
Unterschied viel koosequenter als manche andere gaoE gewils nicht
minder wichtige anzudeuten pfl^t.
' " B AuiCkssung des Abstraktionsproiesses vorausgesetat,
lieren iwar durch eine Mehrheit ähnlicher Substrate
ibtert wird, immerhin aber auch schon angesichts
I immer noch psychologisch »osföhrbar bleibt. Die
ich einerseits gegen die Oemeinbildertheorie, anderer-
^n^logik.
Zwr Afuüyse der Vorstellungen von Abstand tmd Bichtung, 227
in der einen von ihne^ Das in begrifflicher Bestimmtheit wiedery
was er längst vor solcher Analyse im auTsergeometrischen wie
im geometrischen Sprachgebrauch als „Abstand^ der zwei
Orter bezeichnen und verwenden gelernt hatte; und ebenso in
der anderen Das, was man die „Bichtung^ nennt, nach welcher
hin von Ä aus das B (und umgekehrt von B aus das Ä) liegt.
Es läfst sich nur eben, wenn auf jenes didaktische Hülfsmittel
der tertiären Vergleichung verzichtet wird, der abstrahierenden
Aufmerksamkeit der Weg durch nichts mehr weisen; womit
nicht gesagt ist, dafs sie ihn nicht selber findet, und: Wenn
sie ihn gefunden hat, kann man ohne das didaktische Hülfs-
mittel nicht weiter „sagen^, was Abstand, was ILichtung ist;
aber natürlich hat man es auch bei Zuhülfenahme der tertiären
Vergleichungen im Grunde nicht „gesagt". — Das „diskursive"
Charakterisieren der beiden Komponenten gegeneinander kann
hier so wenig wie irgendwo das anschauliche Erfalsthaben
ersetzen.
2. Ist nicht ebenso, wie das tertiäre, auch schon das
sekundäre Vergleichen für das Zustandekommen der abstrakten
Yorstellungselemente Abstand und Bichtung logisch entbehrlich?
Als sekundäre Vergleichung war oben bezeichnet worden das
Vergleichen je zweier der Belationen q^ q^ q^. Der Erfolg dieses
Vergleichens sollte sein das „Sich-spalten" jeder dieser drei
Belationen in das betrefiende q' und q'\ Insoweit dieses Sich-
spalten in uns sich vollzieht, dank dem Vergleichen von q^
und Q^j von q^ und ^3, von ^ und ^3, gilt in der That das
unter 1 über die tertiären Vergleichungen Gesagte. Es ist
nicht logisch wesentlich, ja kaum psychologisch unentbehrlich.
Aber das „Sich- spalten" selbst — was ist es? — Erinnern wir
uns an die von Meinung, Stumpf u. A. wiederholt betonte
Thatsache, dafs nicht alle Ähnlichkeit reinlich in ein Element
voller Gleichheit und ein anderes voller Ungleichheit auf-
zulösen ist, wie man so lange geglaubt hatte. Wenn ich nun
aber einen der Fälle, wo sich solche Sonderung in der That
vollziehen läfst, z. B. dafs die rote Kugel dem roten Würfel
der Farbe nach gleich, der Gestalt nach ungleich ist, mir ver-
gegenwärtige — zeigt sich da nicht, dafs ich neben, ja „in"
denjenigen Vergleichen, die hier zum Auseinanderhalten einer
partiellen Gleichheit und einer partiellen Verschiedenheit führen,
eben noch einmal schon, z. B. an der Kugel, das Farbenelement
15*
228 Äiois Höfter.
mit dem Gestaltelement verglichen haben mufs, um sie einander
80 unähnlich zu finden, dafs sie eben ganz schroff auseinander-
treten, als species „heterogener*^ gen er a erkannt werden? —
Aber selbst zugegeben, dafs man zu solchem Auseinandertreten,
sei es immer, sei es manchmal, einen eigenen Vergleichungsakt
entbehrlich finde: wird man gerade in unserem Falle, wo inner-
halb der einen Ortsverschiedenheit q die beiden Yerschiedenheits-
komponenten q^ und q'^ gegeneinander abzusondern sind —
wird man hier es vermeiden können, wenigstens nach voll-
zogener Analyse noch einen vergleichenden Blick auf das eine
Element „Abstand*' einerseits, auf das andere Element „Richtung*'
andererseits zu werfen, um es im Bewufstsein festzuhalten,
dafs und inwiefern sie verschieden sind? Schliefslich sind, was
wir „Komponenten** oder „Seiten** nannten, doch auch wieder
species desselben genus „Ortsverschiedenheit**, und wer wird
species gegeneinander abgrenzen ohne jenen vergleichenden
Blick? — Also die im „Spalten** je eines q in sein q^ und ^"
gelegene Yergleichung ist es, die, genau genommen, unter obigem
Ausdruck „sekundäre** Vergleichung verstanden werden mufs.
3. "Wenn hiernach die primäre (und sekundäre) Vergleichung
für das Zustandekommen der Vorstellungen von Abstand und
Sichtung und ihr Auseinanderhalten als aUein wesentUch übrig
bleibt, 80^ wird nun natürhch eingewendet werden, dafs, was
wir die primäre Vergleichung nannten, eigentlich doch selbst
schon eine sekundäre sei. Denn die Örter Äj A^^ Ä^, Ä^ oder
A und B wurden ja im vorstehenden stillschweigend immer
als „absolute** Örter behandelt (und einmal sogar geradezu als
solche bezeichnet). Es sei aber doch eine ausgemachte That-
sache, dafs, wenn schon nicht, wie nach der allgemeinsten
B>elativitätslehre „Alles relativ** sei, dies doch zum mindesten
von Ortem kaum jemand in Zweifel ziehe. Auch irgend ein
absoluter Ort sei uns ja nur vorstellbar durch Beziehung auf
unseren eigenen Leib. — Es soll natürlich hier nicht versucht
werden, zu einem so uralten Theorem auf Q-rund von Allgemein-
heiten Stellung zu nehmen. Aber auch den Belativisten darf
der Gedanke einmal zur Erwägung empfohlen werden, ob wir
nicht vielmehr gerade umgekehrt den Ort unseres Leibes,
speziell des so schwer dingfest zu machenden „Baumzentrums** ^
^ Hering (HBRMAmr, Handtoörterhuch UI, 1. S. 392 Anm.) hebt an der
entscheidenden Stelle, wo er mit dem fundamentalen „Gesetz der
Zur Analyse der Voraiefkmgen non Abstand und Bichtung. 229
( — wo soll es liegen: an der Nasenwurzel, wie weit hinter ihr?)
durch Beziehung auf äuTsere Örter vorstellen, welche letztere
ihrerseits ohne Beziehung auf den Leib vorgestellt werden
können (d. h. so, dafs dies nicht eine logisch widersprechende
Forderung einschliefst) und wenigstens manchmal auch wirk-
Hch so vorgestellt werden. — Wie es sich aber auch mit der
logischen Möglichkeit und der psychologischen Thatsächlichkeit
absoluter Ortsvorstellungen verhalte: in den doppelt relativen
Inhalt der Vorstellungen von Abstand und Richtung geht
doch jene Relativität nicht ein; wir können sie, wenn auch
sie schon an den Vorstellungen der Belationsglieder Ä und B
beteiligt ist, mit einer etwas sonderbaren, aber manchmal sich
zweckmäfsig ^ erweisenden Bezeichnung höchstens als die „nullte^
Vergleichung bezeichnen, so dafs es im übrigen bei den Tenninis
primäre und sekundäre Vergleichung verbleiben kann.
Nebenbei bemerkt, führt die Zählung der einem scheinbar
so einfachen Begriff, wie dem des Winkels, zu G-runde liegenden
Vergleichungsrelationen natürlich um so mehr zu unerwartet
grofsen Zahlen, wenn wir beachten, dafs „Winkel = Bichtungs-
unterschied zweier Geraden" ( — die beliebte Definition Winkel
= Winkelblatt scheint mir unhaltbar) und dafs Gerade = Linie
konstanter Bichtung. Um so mehr bei den Begriffen von
Krümmung als gesetzmäfsigem Bichtungs Wechsel u. dergl. m.
Vom hierher Gehörigen für dieses Mal nur das Folgende:
4. Es ist zuzugestehen, dafs es nicht ebenso ungezwungen
klingt, schon angesichts zweier Punkte Ä und B von
„Bichtung", wie von „Abstand" zusprechen. Es mag manchem
identischen Sehrichtungen'' den Begriff des „imaginären Ein-
auges'* (Cyklopenauges) einführt, selbst hervor, „dafs die Lage des
hinzugedachten [„hinzu'' — doch wohl zu den örtem des äufseren
Baumes, des Sehraumes] Ausgangspunktes der Sehrichtungslinien eine
variable ist und dafs man sich denselben sogar manchmal hinter dem
JEopfe zu denken hat" [ — zu „denken", also nicht, wie man es von
einem unentbehrlichen Relationsgrund erwarten sollte, mit dem äufseren
Orte zugleich anschaulich vorzustellen — d. i. zu „sehen" nach Herinqs
Gegenüberstellung von „Sehen" und „Denken", vgl. z. B. a. a. 0. S. 344].
^ So ist es bequem, in der Entwickelung von (a-^-by das an der
Spitze stehende Glied als das nullte, das darauffolgende im Hinblick
auf den Koeffizienten (?j als das erste, das folgende mit (^ als das
zweite u. s. f. zu bezeichnen. — Desgleichen den ersten Partialton als
nullten Oberten u. dergl. m.
230 Alois Höfler.
soheinen, als gehöre zu einer vollstäDdigen Yorstellong von
Eichtung die Vorstellung von der Geraden. Der Einwurf würde
aber doch einigermafsen erinnern an das Bedenken, ob nicht auch
^Abstand'' schon eine komplete Gerade, nämlich eine ^Strecke^
bedeute. Letzteren Einwurf glaube ich schon bei früherer
Gelegenheit^ entkräftet zu haben. Aber auch betreffs der
Bichtung steht doch so viel aulser Zweifel, dafs, wenn es
überhaupt einen Sinn hat, zu sagen, A^ liege in Bezug auf Ä
in derselben Bichtung wie A^ in Bezug auf A, dies die Be-
stimmung: Aj A^j A^ liegen in einer Geraden, logisch ersetzt;
wobei aber letzteres, das Beden von Geraden, insofern Über-
flüssiges in die Betrachtung hereinbringt, als an der Lage von
Aj J.J, A^ nichts geändert wäre, wenn wir beliebig lange Stücke
des Punktcontinuums, welches die Gerade darstellt, uns weg-
gelassen denken. Wogegen umgekehrt, wenn der Begriff einer
nur zwei Punkte benötigenden Bichtung zugegeben wird, sich
die Gerade in der That definieren' läfst als das Continuum,
innerhalb dessen je zwei beliebige Punkte immer „dieselbe^
Bichtung haben; was wieder genauer so auszudrücken ist, dafs
je zwei Punkte in Bezug aufeinander die gleiche' Bichtung
haben, wie je zwei andere Punkte. (Von dem Nichtumkehr-
barsein der Bichtungsrelation ist in letzterer Formulierung
abgesehen; will man es berücksichtigen und zum Ausdruck
bringen, so fällt dieser noch etwas schwerfälliger aus, als es
in einer so weit gehenden Analyse notgedrungen immer sein
wird.)
' In der oben (Anm. 2) zitierten Anzeige. S. 497.
' Mit der von mir vertretenen (vergl. Viertefjiihresschr, f, wüs. Pküos,
1885. S. 860, von Kerbt, ib. S. 491, angegriffenen) Definition: „Die Gerade
ist die nicht- Krumme" vertrftgt sich obige, indem die Anschauung
von EjTumm bei der Übersetzung aus Diskursive auf die Verschiedenheit
der Bichtungs-Belationen zwischen je zwei Paaren von Punkten (oder
wenigstens drei Punkten) fQhrt. Dabei setzt natürlich wieder diese Be-
vorzugung der Verschiedenheit vor der Gleichheit voraus, dafs man
„Gleich als Ni c h t- v e r s ch i e d en", nicht etwa Verschiedenheit als Nicht-
gleichheit definiere; lauter Dinge, die eine zusammenhängende Begrün-
dung' so gewiÜI verdienen, als sie hier zu weit führen würde.
' Die Unterscheidung von gleich und identisch vorausgesetzt,
welche durch die Unzukömmlichkeit des Satzes: „Alle Soldaten „des-
selben*' Begimentes haben „dieselbe*' Uniform" illustriert wird (vergL
meine Logik. % 25 im Anschlufs an Mznrovas BelaHonstheone).
Zur Analyse der Vorateütmgen von Abstand und Richtung, 231
5. Alles Vorstehende zugegeben, hellt sich nun die eingangs
berührte Sonderbarkeit des Postulates, man dürfe bei „rein^
geometrischen Konstruktionen nur Zirkel und Lineal benutzen,
in folgender Weise auf — ja man fängt überhaupt erst zu
begreifen an, was es für einen Beiz hat, ins endlose die Be-
stimmungsstücke für Dreieckskonstruktionen u. dergl. — und
zwar nicht etwa nur in Schülerübungen — zu variieren. Habe
ich nämlich die Lage eines Punktes durch den Schnittpunkt
zweier Kreise bestimmt, so heiTst das, ich habe gezeigt, wie
man einen Ort rein durch Benutzung von AbStands-
Relationen „indirekt vorstellen kann; und das gleiche
beim Schnittpunkt zweier Geraden rein durch Bichtniigs-
Belationen. Auch die noch kapriziösere Forderung der
Konstruktionen von Masoheroni und Steiner, nur den Zirkel
zu benutzen (und desgleichen die von Brianchon nur das Lineal)
erklärt sich hiermit von selbst.^ — Natürlich soll nicht gesagt
sein, dafs dieses rein logische Motiv das alleinige sei; die
Psychologie des Sportes hätte -— wie bei so vielen „Aufgaben"
mathematischer und nicht-mathematischer Art — vielleicht
thatsächlich häufig noch wirksamere zu nennen. Auch sieht
es sich sonderbar genug an, dafs der einer Konstruktions-
aufgäbe nachsinnende ernste Denker nicht wissen sollte, „was''
er hierbei eigentlich wolle — Vorstellungsinhalte auf Grund
wohl definierter Relationen zuwege bringen, wie es der Psycholog
und Logiker in seiner Sprache nennt. Aber gerade, wenn
derart zu stände gebrachte Yorstellungsinhalte so viel Markantes
haben, dafs sie auch dem erkenntnistheoretisch nicht G-eschulten,
sondern sogleich praktisch Erkennenden als erstrebenswerte
Ziele seiner Erkenntnisarbeit insoweit deutlich sicli darstellen,
dafs sie, ohne von ihm analysiert zu sein, als Ziele festgehalten
werden können, ist dies für den Psychologen selbst wieder
eine Bestätigung, dafs derlei Vorstellungsinhalten eine ganz
auffiLllige Bolle im Denken zukommen mufs. Li der That
braucht der an psychologische Beflexion Gewöhnte nur einmal
^ Dafs Mascheboni wie Bbiakobon ausdrücklicli praktische Zwecke
vor Augen hatten (vgl. KlIein, a. a. O. [S. 223 Anm. 1], S. 26), thut der
theoretischen Bedeuttamkeit ihrer Methoden natürlich ehenfalls keinen
Eintrag.
232 -^tow Höfltr,
auf die Thatsache des „indirekten Vorstellens" ^ anfinerksam
gemacht zu sein, um es gar nicht andera zu erwarten, als dafs
ihm derlei Yorstellungsgebilde allenthalben begegnen werden.
Hat man sich vollends einmal darüber Rechenschaft gegeben,
wie sehr Arithmetik imd Geometrie von ihren elementarsten
G-rundlagen an es mit Belationsurteilen über Vorstellungsinhalte
zu thun haben, die ihrerseits selbst wesentlich nur durch
Relationen definiert sind,^ so wird es nicht wunder nehmen ,
wenn ein so beträchtlicher Teil mathematischen Denkens, wie
es das sogenannte Konstruieren ist (und noch allgemeiner alle
„synthetische^, speziell auch die „neuere*^ Geometrie gegenüber
der „analytischen^) sich für die psychologische und logische
Analyse geradezu als eine Theorie des indirekten Vor-
stellens mittelst möglichst weit analysierter Bela-
tions demente herausstellt.
6. Nachdem bisher so viel vom Auseinanderhalten der
Belationskomponenten „Abstand^ und „Eichtung'^ die ßede
war, sei kurz hingewiesen auf die eigenartige Methode der
„Vektoren^, in welchem Begriff jene zwei Elemente sozusagen
kunstgerecht wied er vereinigt, nämhch nach ausdrücklichem
Auseinanderhalten diesmal wirklich zu einem neuen Begriffs-
gebilde „zusammengesetzt^ sind — eine Synthese nach der
Analyse. Dafs rein mathematische Theorien, wie die der räum-
lichen Darstellung komplexer Zahlen, an jenen psychologischen
Analysen und Synthesen nicht minder interessiert sind als die
^ Zuerst theoretisch analysiert und auf Grund dessen mit obigem
Terminus versehen von Medtono, Relationstheorie (1881), S. 87 [667]. — Es
scheint mir nicht überflüssig, die Erinnerung an die Provenienz dieses
Terminus (der, wie sich gezeigt hat, einem sehr verbreiteten Bedürfnis
entgegenkam) wachzuerhalten. — Jüngst schreibt nämlich Dr. EnUi Koch
Das Bewufstsein der Transcendene oder der Wirklichkeit, Ein psychologischer
Versuch, 1896. — S. 88]: „Wir kommen zu den . . indirekten Vorstellungen*
die auch K. Twardowski bespricht . . (im Anschlüsse an Kerbt). ** Hier-
nach erscheint Terminus und Definition Kkrby zugeschrieben. Wollte
der Leser Kochs die „terti&re Vergleichung'' der Citate vornehmen, so
f&nde er freilich, dafs Kerbt für die fragliche Begriffsbestimmung richtig
MBn^oKG als Urheber genannt hatte.
' Meuiovq, Belationstheorie, S. 89 [669]: „Man sieht auf den ersten
Blick, wie die ganze Mathematik, da es hier um möglichste Allgemein-
heit, daher Unabhängigkeit von speziellen Gröfsen zu thun ist, geradezu
in erster Linie sich mit Fällen dieser Art zu beschäftigen hat." — Bei-
spiele: a = 6, a^=c\ b = c u. dergl.
Zwr Analyse der Voratdkmgen von Abstand tmd Bichtung, 233
physikalischen Vorstellungen, z. B. von Geschwindigkeiten, die
ihrerseits nicht nur „G-röfse^, sondern auch „Richtung^ haben,
darf die Psychologie nicht so sehr behaupten als — hoffen; denn
schliefslich ist's auch hier eine Tbatsachenfrage, aber hoffent-
lich auch nur eine Frage der Zeit, dafs Mathematiker und
Physiker inne werden, wie sie, wenn sie nur wirklich soweit
als möglich analysieren wollen, sich von ihrem direkten
Forschungsgebiete, den physischen Phänomenen ( — die
„Zahlen^ freilich hier nicht inbegriffen) sich eben an die
Analysen ihrer eigenen Yorstellungsgebilde gewiesen sehen;
was dann seine besondere Technik — die psychologische, nicht
die mathematische und physikalische als solche — voraussetzt.
7. Dafs, wo im Bisherigen ausschliefslich von Örtem die
Sede war, anstatt der Baumdaten vielfach Intensitäten, Quali-
täten und sonst etwa aufzuzeigende Yorstellungselemente (nicht
nur innerhalb physischer, sondern wohl auch gar psychischer
Inhalte) in Betracht zu ziehen wären, bedarf für den an die
räumliche Symbolisierung gewöhnten Psychologen keiner
weiteren Begründung; betitelte sich doch z. B. eine der
letzten Arbeiten Helmholtz' in dieser Zeitschr.j III. Bd.,
„Kürzeste Linien im Farbensystem'', wobei nicht nur Abstands-,
sondern ebenso Bichtungsrelationen zwischen Farbeninhalten
als solchen das Thema bildeten. Aber freilich ist damit, dais
die Aufgabe aufser Zweifel steht, noch lange nicht ihre Lösung
gegeben und mag fernerhin noch manches ebenso schwierige
^ Yergl. z. B. die erstaunlich einfache und dabei weitreichende An-
wendung in Maxwblls Matter and motian, deutsch von FLsiscmj, SubetanM
und Bewegung, Inwiefern der BegrifP des nSectors'' trotz der Fruchtbar-
keit an Erfolgen uns nicht der logischen Verpflichtung überhebt, uns
bewoTst zu bleiben, dafs das Hineintragen des Bichtungsmerkmales in
die G-eschwindigkeitsvorstellung doch ni!^ eine künstliche ist, habe ich
angedeutet in dem Aufsatz „Zur vergleichenden Analyse der Ableitung
für Begriff und GrOfse der zentripetalen Beschleunigung", Zeitsckr. f, d.
phfysik u. ehem. ühterr. U, Jahrg. 1889. S. 281. Das Eingeständnis solcher
Künstlichkeit kann für die Psychologie wichtig werden, wenn sie an
eine endgültige Analyse, z. B. des Geschwindigkeitsbegriffes, geht,
welchem nun einmal — trotz aller Definitionsfreiheit — die Elemente
Weglängen und Zeitlängen nebst der zwischen ihnen sich herausbildenden
gGestaltsqualität" (vergL die genannte Zeitschrift. YIII. Jahrg. 1895.
inniger angehören, als das Eichtungselement. Die Ausführung dieser
Andeutungen hoffe ich in nicht zu langer Zeit anderwärts geben zu
können.
234 ÄM8 Höfler.
als lehrreiche Problem einschliefsen, das aber ohne Zurück-
gehen auf letzte Belationsdaten wohl kaum eine endgültige
Lösung überhaupt erwarten darf.
Nachtrag. Zur Zeit der Drucklegung dieser Mitteilung
(30. Oktober 1895) hielt Professor Siomund Exneb in der Philo-
sophischen Gesellschaft an der Universität Wien einen Vortrag
„über Eiohtungsempfindungen.« - Dieser Terminus
könnte einen Widerspruch zu enthalten scheinen gegen die
ganze obige psychologische Analyse, welche in den Vor-
stellungen von Abstand und Richtung sogleich Belationen,
nämlich gehäufte Vergleichungsrelationen, aufwies. So gewifs
aber die Gleichheit oder die Verschiedenheit (z. B. zweier
Tonhöhen) als solche nicht selbst „e mp f un den'' (gehört) werden,
sondern angesichts zweier (Ton-)Empfindungen (oder aber zweier
Erinnerungsvorstellungen von den Tonhöhen) erst durch den
besonderen Vorgang des y^Vergleichens*^ zu unserem Bewuist-
sein gebracht werden kann, so gewifs sind die von mir auf-
gezeigten Relation 8 demente des Bichtungsbegriffes keine
Empfindungselemente. — Der Titel des Vortrages besagte
aber auch nicht — wie sich aus dem Inhalte des Vortrages
ergeben hat — , dafs die Richtungen empfunden werden,
sondern er wies auf diejenigen Empfindungsgattungen und -arten
hin (z. B. Muskelempfindungen), an welche sich — wie ich
in meiner Terminologie sagen mnfs - die Eiohtungs-
relationen mit Vorliebe geknüpft erweisen — genauer: welche
in uns Richtungsvorstellungen und Richtungsurteile auslösen.
(Tber die Wirkung des chlorsauren Kali
auf den Geschmackssinn.
Von
Privatdozent Dr. Wilibald A. Nagel
in Freiburg i. Br.
Das Kaliumchlorat (Kali chlorioum der Apotheken) besitzt
eine eigentftmliche Wirknng auf das Geschmaoksorgan, bezüg-
lich deren ich in der Litteratnr vergeblich nach einer Erwäh-
nung gesucht habe. Schon vor vielen Jahren war es mir auf-
gefallen, dafs, wenn ich wegen einer A£Eektion des Bachens
oder Halses eine Lösung von chlorsaurem Kali als Gurgel-
wasser benutzt hatte und danach den Mund mit reinem Wasser
ausspülte oder auch einige Zeit nachher zufällig Wasser trank,
dieses auffallend süfs schmeckte.
Da in neuerer Zeit Kontrasterscheinungen auf dem Gebiete
des Geschmackssinnes in unzweideutiger Weise festgestellt
worden sind und die erwähnte Beobachtung zu jenen in einer
gewissen Beziehung steht (wovon unten näheres), schien mir
ein kurzer Hinweis auf sie nicht überflüssig.
Das Kaliumchlorat ist in kaltem Wasser nur langsam
löslich, und zwar in 16 Teilen Wasser; in heifsem Wasser löst
es sich erheblich leichter und in gröfserer Menge (in drei Teilen
siedenden Wassers). Zur therapeutischen Verwendung wird
eine fünfprozentige Lösung empfohlen; zu meinen Versuchen
nahm ich meist schwächere Lösungen, gewöhnlich 1%.
Diese Lösung hat für mich, wenn ich sie in kleiner Quan-
tität in den Mund bringe, so gut wie gar keinen Geschmack.
Gurgelt man damit, oder trinkt man einen Schluck davon, so
tritt diejenige Geschmacksempfindung auf, die sich bei einer
kalt gesättigten Lösung auch schon dann bemerklich macht,
236 Wüühdld Ä. Nagel
wenn man ein kleines Quantum derselben in den Mund nimmt.
Die Empfindung ist schwer zu beschreiben, am bezeichnendsten
ist noch der Ausdruck ^fade^. Sehr ähnlich schmeckt mir eine
schwache Sodalösung.
Eine der bekannten und wohl charakterisierten Geschmacks-
qualitäten, süfs, sauer, bitter, salzig, kommt dabei zunächst
nicht zum Ausdruck. Andeutungsweise ist dies aber der Fall,
wenn man die kalt gesättigte Lösung ein wenig im Munde hin
und her bewegt und sie einige Zeit darin behält. Die hierbei
auftretenden Empfindungen sind jedoch sehr wechsehid (die
verschiedenen schmeckenden Partien des Mundes reagieren offen-
bar in ungleicher Weise); bald empfindet man etwas Bitter-
liches, bald auch, namentlich an den Zungenrändem, einen
leicht säuerlichen Geschmack, wie er bei vielen, in der That
nicht sauer reagierenden Stoffen (Gerstenschleim etc.) oft zur
Beobachtung kommt. Auch von ganz schwach salzigen und
süfslichen Empfindungen möchte man ab und zu reden. Der
ganze Eindruck ist, wie gesagt, höchst wechselnd, dabei von
geringer Intensität und Deutlichkeit.
An der Zungenspitze, besonders an Stellen minimaler Kon-
tinuitätstrennungen der Schleimhaut der Zunge, Lippen oder
Wangen, macht sich nach einiger Zeit ein empfindliches Brennen
und Stechen bemerklich, welches namentlich bei einer in der
Wärme gesättigten Lösung fast nie ausbleibt. Es beruht auf
der aus Gbützners Untersuchungen^ bekannten starken Beiz-
wirkung der Kalisalze auf sensible Nerven, speziell auf ver-
letzte Hautparüen.
Entfernt man die Flüssigkeit aus dem Munde, so bleibt
eine kurze Zeit hindurch nur der Geschmack oder — ich
möchte es lieber unbestimmter ausdrücken — der Eindruck des
Faden zurück, übrigens in wenig ausgeprägter Weise.
Nimmt man jetzt reines Quellwasser (oder auch destilliertes
Wasser) in den Mund, so hat dieses einen deutlich süfsen
Geschmack, den ich, soweit sich derartige Empfindungen
lokalisieren lassen, vorzugsweise an den seitlichen Zungen-
rändem zu empfinden glaube.
Es ist nicht die reine Süfsigkeit des Zuckers oder Saccharins,
^ Über die chemische Reizung sensibler Nerven. Pflüg er s Arch.
f. d. ges. PiyHol Bd. 58. 1894. S. 69—104.
«
Vher die Wirkung des chlor$auren Kali auf den Geschmackssinn. 237
welche hierbei auftritt; eher nooh fühle ich mich an den
Geschmack stark verdünnten G-lycerins erinnert, am meisten an
denjenigen einer süfsen, dabei ganz leicht säuerlichen Limonade.
Wenn auch das Sülse entschieden im Vordergründe steht, ist
doch stets eine Andeutung säuerlichen G-eschmackes zu be-
merken. Diese Thatsache, wie überhaupt die ganze Erschei-
nung, ist mir auch von verschiedenen Personen, welche den
Versuch in gleicher Weise anstellten, bestätigt worden.
Auffallend ist mir, dafs bei den sehr zahlreichen Versuchen,
die ich in dieser Hinsicht an mir selbst machte, ab und zu ein
völliges Ausbleiben des süTsen Geschmackes des Wassers zu
konstatieren war, ohne dafs es mir gelungen wäre, den Grund
dieser ünregelmäfsigkeit in allen Fällen aufzufinden. Das nur
liefs sich feststellen, dafs vorheriges Kauchen den Versuch
fast stets mifslingen liefs. Ähnliches scheint Kiesow bei seinen
Kontrastversuchen ^ bemerkt zu haben, denn er giebt ausdrück-
lich an, dafs seine Versuchspersonen sich vor den Versuchen
des Hauchens enthielten.
Das Kaliumnitrat, dessen Lösung deutlich bitter schmeckt,
läfst nachher genommenes Wasser ebenfalls schwach süfs-
sauer erscheinen; das Saure tritt hier verhältnismäfsig mehr
hervor, als beim Chlorat, doch ist die ganze Erscheinung er-
heblich weniger ausgeprägt, die Latensität des süfslichen Ge-
schmackes geringer. Aufserdem wird der bittere Geschmack
hier noch als Nachgeschmack empfunden, was an sich schon
den süfsen Geschmack undeutlicher werden läfst.
Nachdem Kiesow (a. ob. 0.) der Nachweis gelungen ist, dafs
im Gebiete des Geschmackssinnes Kontrasterscheinungen vor-
kommen, indem Süfs und Salzig, Süfs und Sauer im Kontrast-
verhältnis zu einander stehen, liegt es nahe, daran zu denken,
ob die hier geschilderte Erscheinung auch auf Kontrast zurück-
zuführen sei. Ich glaube jedoch, dafs der Name Kontrast, auf
unseren Fall angewandt, nicht an seinem rechten Platze wäre,
wenn auch eine innere Verwandtschaft der beiden Erscheinungen
nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen sein dürfte.
Für die Auffassung als Kontrast könnte geltend gemacht
* Beiträge zur physiologischen Psychologie des Geschmacksinnes.
Ihiloa. Stud., herausgeg. von W. Wündt. 10. Bd. 1894. S. 329-369 u.
8. B2S— 562.
238 WüUbald A. Nagel.
werden, dafs reines Wasser bekazmtlioh (auch Eiesows Ver-
suche haben dies gezeigt) schon an und für sich für manche
Menschen einen leicht süfslichen Geschmack besitzt. Wird
derselbe nun durch einen vorher applizierten oder gleichzeitig
einwirkenden andersartigen Gesohmacksreiz entschieden ge-
hoben und verstärkt, so kann man dies als Kontrast bezeichnen.
Widersinnig aber erschiene es, wollte man die gleiche Be-
zeichnungsweise auch da anwenden, wo ein Sto£P, der selbst
gar keine oder fast gar keine Geschmacksempfindung auslöst,
einen erheblichen Einflufs auf den Geschmack eines nach-
träglich einwirkenden Stoffes ausübt; die hervorgerufene
Empfindung ist, wie erwähnt, entschieden stärker, als die
hervorrufende. Ich möchte hier noch ausdrücklich darauf
hinweisen, dafs eine schwache Ealiumchloratlösung (Vs bis
1 %), die nahezu geschmackslos ist, den süTsen Geschmack des
nachher genommenen Wassers weit deutlicher hervortreten
läfst, als eine annähernd gesättigte Lösung mit deutlich bitterlich-
fadem Geschmack.
Dazu kommt, dafs, wie Eiesow fand, gerade das Bittere
von den Eontrastbeziehungen, welche zwischen den anderen
Geschmacksqualitäten bestehen , ausgeschlossen ist , und
andererseits das Bittere diejenige Geschmacksqualität ist, die
man dem Ealiumchlorat noch am ehesten zuschreiben könnte.
Salzig schmeckt es jedenfalls nicht.
Chlorkalium erregt wahren Geschmackskontrast, ähnlich,
wie es E^ibsow vom Chlomatrium beschrieben hat ; es schmeckt
deutlich salzig und läfst nachher genommenes Wasser schwach
süfslich erscheinen. Die Intensität des süfsen Geschmackes ist aber
hier viel geringer, als die des kontrasterregenden salzigen, um-
gekehrt wie beim Chlorat. Auch erstreckt sich die Wirkungs-
dauer auf eine ganz kurze Zeit, während das durch Ealium-
chlorat in veränderten Zustand versetzte Geschmacksorgan
diesen Zustand oft längere Zeit bewahrt. Mir ist es schon
wiederholt vorgekommen, dafs ich zufäUig eine halbe oder ganze
Stunde nach dem Gurgeln Wasser trank, ohne mich der vorher-
gegangenen Anwendung des Chlorates zu entsinnen; ich war
dann überrascht von dem süfsen Geschmack des Wassers.
Dies wird man nicht wohl Eontrast nennen können; man
wi!rd vielleicht zweckmäfsiger von einer temporären um-
Stimmung des Geschmacksapparates sprechen können,
über die Wirkung des cMoraawren Kali auf den Geschmackssinn. 239
womit über das innere Wesen des Vorganges ein urteil nicht
ausgesprochen ist.
EiBSOWs Versuche weisen auf cerebrale Entstehung der
Geschmackskontraste hin, während die ümstimmung durch
Kaliumchlorat wohl als peripher bedingt anzusehen ist.
Nicht ohne Interesse ist die Kombination der Wirkung des
Ealiumchlorates mit der bekannten der Qymnemablätter.
Kaue ich ein Stückchen eines solchen Blattes, bis die Süfs-
empfindungsfähigkeit aufgehoben ist, und nehme jetzt die
Ohioratlösung in den Mund, so ist der fade Geschmack zwar
noch vorhanden, doch noch undeutlicher, als sonst. Das nach-
her genommene Wasser aber schmeckt jetzt nicht mehr süfs
mit leicht säuerlichem Beiklange, sondern deutlich sauer und
etwas adstringierend.
über
das Irisieren sehr grob ornamentierter Flächen
bei gleichzeitigem Aufreten von Simultankontrast
Von
Dr. ElOHARD HiLBBRT
in Sensburg.
Bekanntlich beruht das Irisieren der Perlmutter and ähn-
licher schillernder Gegenstände, z. B. des bekannten Schiller-
falters, Apatura Iris L., der Argynnisarten, der Flügeldecken
vieler Käfer, mancher Vogelfedem, der Fisch- und mancher
Beptilienschuppen, des Schillerspats (Katzenauge) und einiger
Metalloxyde auf Interferenz der auf solche Körper fallenden
Lichtstrahlen. Das dabei auftretende Farbenspiel beruht auf
folgender Eigentümlichkeit der irisierenden Körper : jede schil-
lernde Fläche ist von nicht gleichmäfsiger Struktur (im physi-
kalischen Sinne); sie besteht aus Schichten von verschiedenem
Lichtbrechungsvermögen und verschiedener Transparenz. Weil
nun infolge dieser optischen Differenzen das auffallende Licht
unter verschiedenen Winkeln reflektiert wird und auch bis in
verschiedene Tiefen eindringt, so interferieren die reflektierten
Lichtstrahlen und bewirken in oTem Auge des Beobachters die
Empfindung des Irisierens.^
Das Irisieren organischer Körper wird auTserdem auch noch
durch die rauhe Oberfläche derselben verstärkt: die einzelnen
Elemente solcher irisierenden Flächen liegen nicht in einer
Ebene und bewirken dadurch das Zustandekommen des Frbbnsl-
schen Spiegelversuches im kleinen.
Bei allen oben beispielsweise angeführten irisierenden
Körpern sind die Dimensionen der optisch verschieden gear-
^ Vergl. WüLLKER, Lehrbuch der Eccperimental-Ph!^^ Leipzig 1875.
Bd. n. 8. Üb,
über das Irisieren sehr grob ornamentierter Flächen. 241
teten Schichten, resp. der unter verschiedenen Winkeln an-
geordneten Oberflächen demente von mikroskopischer Kleinheit.
Das Schillern des Schillerspats ist sogar um so auffallender,
je besser seine Oberfläche geschliffen und poliert ist.
um so auffallender war mir daher die Beobachtung des
Irisierens an einem aus Hoklatten konstruierten G-artenzaun.
Die Konstruktion des Zaunes ist folgende: In je 1 m Ab-
stand voneinander sind senkrecht stehende Pfähle in die
Erde eingegraben, welche auch etwa 1 m hoch über die
Erdoberfläche hinausragen. Diese Pfähle sind nun oben und
unten durch Querleisten verbunden, so dafs sich zwischen je
zweien derselben ein Quadrat befindet. Die so gebildeten
Quadrate sind dann in der Weise mit nach innen flachen, nach
aufsen abgerundeten Latten (der Querschnitt derselben stellt
mithin einen Halbkreis dar) benagelt, dafs ihre Längsrichtung
abwechselnd im ersten Quadrat von rechts oben nach links
unten, im zweiten von links oben nach rechts unten und so
fort verläuft. Der Durchmesser dieser Latten beträgt etwa
3 cm; ebensoviel ihr Abstand voneinander.
Qeht man nun an einem solchen Zaune bei heller Tagesbeleuch-
tung seitlich vorüber, so erscheint derselbe (in spitzem Winkel
betrachtet) lebhaft schillernd und glänzend, und man bemerkt
neben dem Lrisieren noch ein lebhaftes Farbenspiel. Die einzelnen
quadratischen Abschnitte des Zaunes sind nämlich nicht von
gleicher Farbe (obwohl alle schillern), sondern es folgen immer
abwechselnd bläuliche und gelbliche Quadrate. Diese Färbung
ist aber nicht für die einzelnen Quadrate konstant, wie die
Fortsetzung dieser Betrachtung ergiebt. Geht man nämlich
an diesem Zaune in entgegengesetzter Richtung vorbei, so er-
scheinen die vorher bläulich schillernden Quadrate gelblich,
die gelblich schillernden bläulich schillernd.
Die Sache ist nun wohl in folgender Weise zu erklären:
die konvex-cylindrischen Oberflächen der Zaunlatten dispergieren
das auffallende Licht, entsprechend den bekannten katoptrischen
Gesetzen, nach allen zur Axe des Cylinders senkrechten Sich-
tungen. Dadurch entstehen Interferenzphänomene, die in den
Augen des Beobachters den Eindruck des Irisierens hervor-
rufen: es bewirken mithin diese doch verhältnismäfsig sehr
groben Reliefs ein dem Irisieren der eingangs genannten
Körper analoges Phänomen.
Z«itMfartft Ar Piyoholoirie X. 16
242
Bichard Hubert
Was nun die Ursache der verschiedenen, und zwar komple-
mentären, Färbung der einsebien Quadrate und den Wechsel
dieser Färbung, je nachdem man den Zaun von rechts oder
links her betrachtet, betrifft, so glaube ich dieses so erklären
zu können: diejenigen Quadrate, deren Latten man mehr von
oben her sieht, reflektieren hauptsächlich das Blau des Himmels
und irisieren daher bläulich ; die dazwischenliegenden Quadrate
erscheinen nun nach dem bekannten Gesetze vom Antagonismus
der Farben infolge von Simultankontrast gelblich. Diese Er-
klärung erscheint mir um so mehr ausreichend, als bei Be-
trachtung des Zaunes von der entgegengesetzten Seite her
das Phänomen umgekehrt erscheint, und zwar deshalb, weil
diejenigen Zaunlatten, welche man, von dereinen Seite betrachtet,
mehr von oben sieht, von der entgegengesetzten Seite aus ge-
sehen, mehr ihre unteren Flächen zeigen, und umgekehrt.
Auf diese Weiset erklärt sich sowohl die Komplementär-
färbung wie der Wechsel, oder besser: die Umkehrung dieser
Erscheinung bei den einzelnen Quadraten, je nachdem man die
Sache von der einen oder anderen Seite her betrachtet.
Die natürliche Farbe des Zaunes (direkt imd von vom
betrachtet) ist hellgrau, eine Farbe, wie sie Holzwerk, das
längere Zeit den Einflüssen der Witterung ausgesetzt ist, an-
zunehmen pflegt.
Schliefslich will ich noch bemerken, dafs das beschriebene
Phänomen um so schöner und glänzender erscheint, je schneller
der Beobachter an dem betreffenden Zaune vorbeigeht.
Eine ähnliche physiologisch-optische Beobachtung ist mir
bisher nicht bekannt geworden; auch findet sich nichts der-
gleichen in der zweiten Auflage von Helmholtz' j^Physidogischer
Optik^. Daher glaube ich annehmen zu dürfen, dafs die soeben
beschriebene eigentümliche Art des Irisierens einer so grob
ornamentierten Fläche bisher noch nicht beobachtet worden ist.
Bei Übersendung der Korrektur dieses Aufsatzes machte
mich Herr Prof. KOnig darauf aufmerksam, dafs in dem oben
beschriebenen Versuch wahrscheinlich das sog. farbige Ab-
klingen der Nachbilder in Wirksamkeit trete. Herr Prof. K.
schliefst dieses daraus, „dafs die Erscheinung nur dann auf-
über das Irisieren sehr grob ornamentierter Flächen. 24tS
tritt, wenn man an dem Zaun vorbeigeht, wenn also die
optischen Bilder immer auf andere Teile der Netzhaut zu liegen
kommen." DaTs die Bewegung und der durch dieselbe ver-
ursachte beständige Wechsel der Netzhauteindrücke zum Zustande-
kommen des Irisierens notwendig ist, dürfte wohl klar sein;
ich kann mir aber nicht vorstellen, dafs bei einer, im hellen
Tageslicht durchaus nicht blendenden Erscheinung das Phänomen
des Abklingens der Farben eintreten könne. Der allerdings
dabei zu stände kommende Simultankontrast scheint mir nicht
hinreichend intensiv zu sein, um ein farbiges Abklingen hervoi^
zurufen, da die ganze Erscheinung bei heller, aber durchaus nicht
blendender Beleuchtung, bei vollkommener Adaptation und
bei permanent offenen Augen zu beobachten ist. Cfr. Helhholtz,
Ph^siol Optik, n« Aufl., S. 620 ff.
16*
Litteraturbericht.
G08WIN K, ÜPHUEs. Die psychologische Qnmdftage. Monaiah, d. Comemus-
GeaeUach. Jahrg. 1895. März-Aprilheft. S. 97—115.
Die psychologische Grundfrage ist nach dem Verfasser diese: Wie
kommt das Kind von dem ursprünglichen Komplex von 'Gefühlen und
Empfindungen zum Bewufstsein des Ichs und der Dinge? Zur Beantwortung
derselben gehört eine nähere Bestimmung dessen, was das Ich und die
Dinge sind, und diese kann nur vom Standpunkte des gewöhnlichen
Bewufstseins geliefert werden. Letzteres versteht unter Dingen das,
was nicht Bewufstsein, also nicht Empfindung und Gefühl ist, unter
dem Ich „die Gruppe zusammengehörender Bewufstseinsvorgänge, die
durch das Bewufstsein ihrer Zusammengehörigkeit miteinander und mit
diesem Bewufstsein ihrer Zusammengehörigkeit charakterisiert sind'' (S. 4).
Hiemach wird die Grundfrage folgendermafsen beantwortet. Das
Bewufstsein von Dingen kann nur „durch das Gegenstandsbewufstsein in
seinen beiden Formen als Reflexion und Erinnerung oder Wissen um die
gegenwärtigen und vergangenen Bewufstseinsvorgänge und als Wahr-
nehmung oder Wissen um etwas, das nicht Bewufstseinsvorgang ist, zu
Stande kommen" (S. 7). „Es wird am geratensten sein, jedenfalls ist es
einwandsfrei, wenn wir annehmen, dafs das Bewufstsein von dem
Transcendenten [das Gegenstandsbewufstsein] in den Gesichts- und Tast-
empfindungen zu Stande kommt, obgleich wir diesen Empfindungen
das nicht ansehen können^ (S. 13). Über die Entstehung des Ichbewufst-
seins verlautet wenig. Es scheint nach S. 16, dafs das Bewufstsein der
Zusammengehörigkeit die Grundlage dafür bildet. Kritische Betrachtungen
allgemeiner und spezieller Art über Ziehen, Behicke, Twabdowski und den
Beferenten, sowie mehrfacher Hinweis auf die ausführlichere Behandlung
der gleichen Probleme in des Verfassers Psychologie des Erkeftnens durch-
setzen den mitgeteilten Gedankengang.
Eine Kritik dieser Wortpsychologie erscheint hier überflüssig, und
so bleibt es dem Beferenten auch erspart, über die merkwürdige Polemik
die der Verfasser gegen ihn gerichtet hat, ein Wort verlieren zu müssen-
O. KüLPK (Würzburg).
Th. Ziehen. Leitfaden der physiologischen Psychologie in 1^ Vorlesungen
Dritte vermehrte und verbesserte Auflage. Jena 1896. G. Fischer.
IV u. 238 S. mit 21 Abb. im Text.
Das abermalige Erscheinen einer neuen Auflage (vergl. diese Zeitachr.
Bd. n. S. 301 und Bd. V. S. 385) beweist, welchen Anklang dieser Leitfaden
gefunden hat. Ebenso wie in der vorigen Auflage sind auch jetzt durch-
Litteraturbericht 245
gftngig die neueren Ergebnisse nachgetragen und die Litteraturhinweise
vermehrt. An einzelnen Stellen sind aber auch grOfsere Zusätze gemacht
worden ; z. B. ist in der 3. Vorlesung das Verhältnis von Reiz zu Empfindung
weiter erörtert ; in der 4. Vorlesung finden wir einen neuen Abschnitt über
das Gleichgewicht, den Durst, den Hunger und die Sättigung, in der
7. Vorlesung über die Nachbilder und die Dauer von Empfindungen und
Vonstellungen, in der 9. Vorlesung über die Urteile, während in der
14. Vorlesung manches Über die Beaktionszeiten hinzugefügt, manches
aber auch wesentlich umgestaltet ist. Arthub König.
W. Prbyer. Die Seele des Kindes. Beobachtungen über die geistiga
Bntwickelung des Menschen in den ersten Lebensjahren. Vierte
Auflage. XVI. und 462 S. Th. Griebens Verlag (L. Fernau), Leipzig 1896.
Preis Mk. 8 (in Halbfranzband Mk. 10). — Selbstanzeige.
Diese neue Bearbeitung unterscheidet sich von der dritten Auflage
(vergl. ^Uese ZeUftchrift I. S. 206) hauptsächlich durch die konzisere Form.
Dem Wunsche des Verfassers, alle von ihm gesammelten eigenen und
fremden Beobachtungen zur Fsychogenesis in der vierten Auflage zu
verwerten, standen so gewichtige Bedenken praktischer Art gegenüber,
namentlich die dazu erforderliche Ausdehnung auf zwei Bände von dem
umfang des vorliegenden und die Notwendigkeit, photographische Auf-
nahmen in gröfserer Anzahl beizugeben, dafs darauf vorerst verzichtet
wurde imd vielmehr eine Verminderung des ümfanges durch kleineren
Druck eines Teiles des Textes, durch Fortlassen weniger wichtiger
Beobachtungen und Streichen einer grofsen Menge entbehrlicher WOrter
erstrebt und erreicht worden ist. Der wesentliche, thatsächliche und
theoretische Inhalt des Buches hat aber nicht nur keine Kürzung er-
fahren, sondern manchen Zusatz erhalten. Freilich wäre der in des
Verfassers Schrift „Die geistige Entwickehmg in der ersten Kindheitj nebst
Anweisungen für Eltern, dieselbe eu beobachten*' (Union, Stuttgart 1898)
behauptete minderwertige psychische Zustand des seelenblinden
(eigentlich raumblinden), seelentauben Menschenkindes in den ersten
Lebenswochen, ebenso wie die Binden- Ageusie und Binden-Anosmie des-
selben und die mangelhafte Ausbildung der Fühlsphäre des Neugeborenen,
einer ausführlicheren Darstellung wohl wert. Alle diese durch Krank-
heit beim Erwachsenen und das künstlich am Tier angestellte Experi-
ment hervorgerufenen Defekte sind beim Neugeborenen und ganz jungen
Säugling Normalzustände. Hier müssen aber erst die Untersuchung der
morphologischen Entwickelung des Gehirns sogleich nach der Geburt,
die vergleichende Psychologie und die hingehendste Beschäftigung mit
dem kleinen Kinde mehr Thatsachen zu Tage fördern, als es dem Verfasser
vergönnt war.
Als eine Verbesserung in formaler Hinsicht ist, aufser dem knapperen
Stil, die übersichtlichere Anordnung zu bezeichnen, und zwar besonders
in dem Kapitel über die Entwickelungsgeschichte des Sprechens und
in dem über die ungleichen Fortschritte verschiedener Kinder bei der
Spraeherwerbang. Die „Gemütsbewegungen** sind von den „Qemein-
geftlhlen'' (Organgefühlen) abgetrennt worden.
246 LUteraturberieht
Das sehr ausführliche Sachregister hat der Sohn des Verfassers,
dessen erste geistige Entwickelung in den Jahren 1877^80 Yorzngsweise
in diesem Buche beschriehen wurde, angefertigt.
Die chronologische Übersicht der psyohogenetisch wichtigen That-
sachen fS. 413 — 445), welche nicht allein Mütter, sondern auch Kinder^
ärzte sehr nützlich gefunden haben, wurde deshalb beibehalten und mit
Bücksicht auf die neue Paginierung genau revidiert. Wer dieselbe aber
zu eigenen Beobachtungen benutzen will, wird wesentliche Ergänzungen
in des Verfassers „ÄrUeitung wir Führumg eines Tagebuches über die geistige
Entwickdung kleiner Kinder von der Geburt an*^ (S. 139 — 201 der vorhin er-
wähnten Schrift) finden.
BuDOLF Lehmann. Sokofbvhaüsk. Bin Beitrag nr Psychologie der
Metaphysik. Berlin, Weidmannsche Buchhandlung. 1894. 200 S
4 Ml.
Psychologie der Metaphysik ist die Methode, eine Metaphjrsik
psychologisch aus der Eigenart ihres Schöpfers und aus seiner Zeit zu
erklären. Jeder Metaphysiker ist ein kulturgeschichtliches und psycho-
logisches Problem, und es lälst sich mit Becht erwarten, dals dies an
einem Denker (wie hier an Schopenhauer) gelöste Problem durch Inhalt
und Methode der Untersuchung auch anderen Fällen zu gute kommt.
Untersuchungen dieser Art sind ein Zeichen, dals die etwas hypnotisierte
Sehätzung des „milieu^ bei der geschichtlichen Erkenntnis der richtigeren
Methode Platz zu machen beginnt, welche der Eigenart bedeutender
Menschen wieder mehr Gewicht beilegt, um ihre Wirksamkeit zu er-
klären. Und selbst wenn sich herausstellen sollte, dafs wir immer noch
mehr begreifen, wie solche Menschen wirken, als dafs sie auftreten
mufsten, so haben wir doch durch diese Psychologie der Methaphysik
alles gethan, was bei der approximativen Natur des geschichtlichen £r-
kennens möglich ist. Während eine Klasse von Philosophen wesentlich
zur Forschung durch einen Zweifel, eine Frage angeregt wird, gehört
ScH. zu den anderen, welche, von einer genialen Anschauimg ausgehend,
diese zu einem philosophischen Weltbilde zu gestalten suchen. Um ihn
zu verstehen, haben wir zunächst zu fragen, wie sich Charakter und
Leben in seiner Lehre spiegeln. Sein wildes, heftiges, egoistisches, un-
ruhig gequältes Temperament drängte ihn, in der Gedankenstille der
Kontemplation jene Welt, die ihm unangenehmes Beizmittel und Schreck-
nis war, in die reinen Formen der Abstraktion aufzulösen imd eine
brennende Begierde, wie z. B. den Ehrgeiz, durch die Überlegung zu be-
schwichtigen, dals nicht eigentlich der Buhm, sondern das, wodurch
man ihn verdient, das Wertvolle sei. Da aber, wie der Verfasser über-
zeugend darlegt, nicht der ästhetische, sondern der moralische Gedanke
das Zentrum des Systems von Sch. bildet, so mufste er sich mit dem
Gegensatz von Gut und Böse abfinden. Die psychologische Methode
fragt nun hier wieder: was ist der selbstgedaohte, selbsterlebte Inhalt
mit dem der Philosoph die beiden Begriffe erfüllt? Seine eigene Er-
fahrung gab ihm die Antwort, dals böse im Grunde ein überaus heftiger^
weit über die Bejahung des eigenen Lebens hinausgehender Wille zum
Litteraiurbericht 247
Leben ist. Bas G-ute wird also zunächst Beruhigung diesea Willens
durch Kontemplation sein. Da wir aber durch Erfahrung und ,,Phan*
tasie*^ auch fremdes Leid zu würdigen verstehen, so wandeln sich alle
erkannten Qualen leicht in empfundene. Folglich ist blolse Kon-
templation kein genügendes Heilmittel gegen die Welt; das ethische Ziel
wird vielmehr eine Linderung fremder Leiden, eine Förderung fremden
Wohles aus Mitleid sein. Noch besser freilich wäre es, wenn das Mit<
leid durch Beseitigung alles Wollene gegenstandslos würde. Kurz: die
ScHOPENHAUBBS Philosophic im tiefsten Grunde bestimmende Triebfeder
ist das Streben nach Befreiung von starken und peinigenden Instinkten.
Über ScH. hinaus ist es aber femer für das Wesen des metaphysischen
Denkens überhaupt belehrend, dafs die erkenntnistheoretischen und
psychologischen BegrifiPe und Gedankenzüge der Vernunfbkritik ins Meta-
physische hinübergezogen und umgedeutet werden, so dals er das kritisch
Negative Kants in ein positiv Metaphysisches verwandelt. Als all-
gemeinsten Trieb dafür werden wir die Neigung jedes rechtschaffenen
Metaphysikers ansehen müssen, das Problem des Wandels und Vergehens,
alle Erscheinungen der Welt bis zu einem letzten Grunde zu verfolgen,
bei dem wir Anker werfen können. Da auch Sch. die Welt aus dem
menschlichen Geiste verstehen will und ihm das Selbstbewufstsein Quelle
metaphysischer Welterklärung ist, so darf es nicht wunder nehmen, dafs
er rein psychologischen Erkenntnissen Geltung über die Erfahnmg hinaus
giebt, und dafs bei ihm Psychologie und Metaphysik ineinander ver-
fliefsen. Endlich kommen für Erklärimg seiner Philosophie geschicht-
liche Verhältnisse in Betracht, wie der Kampf zwischen Bomantik und
Bationalismus. Wer den Willen als das Böse betrachtet, hat an sich
Neigung für den Pessimismus; über diese persönliche Anschauung
hinaus war aber nach Ansicht des Verfassers der Pessimismus eine ge-
schichtliche Notwendigkeit, eine Beaktion der moralischen gegen die
ästhetische Weltanschauung, ein Widerspruch gegen eine allzu freund-
liche und einseitig das Helle hervorhebende Betrachtungsweise.
Die, wie mir scheint, wohldurchdachte und anziehende Darstellung
des Verfassers zerfällt auiser einer Einführung in die vier Kapitel:
1. Persönlichkeit und Philosophie, 2. Romantik und Bationalismus^
3. Monismus und Ethik, 4. die Methode Schopenhaübbs, so dafs der erste
und vierte Abschnitt hauptsächlich zur psychologischen Erklärung dieser
Metaphysik beiträgt. Zu der auch vom Verfasser abgelehnten Behaup-
tung, Sch. habe das Wesen der Musik zu erleuchten gewufst, wie keiner
vor ihm, kann man den Verfasser S. 171 f. und den Aufsatz „Über
ScHOPENHAUEBS Thsoric von der Musik^ in Gottschalls Zeitschrift Unsere
Zeit. 1880. S. 730—748, vergleichen. K. Bruchmank.
E. Kraspelin. Psychologische Arbeiten. Bd. 1. Heftl. Leipzig, W. Engel-
mann. 1895. 208 S.
Das vorliegende erste Heft enthält einen Aufsatz Kbaepeldts und zwei
Arbeiten seiner Schüler. Ersterer ist betitelt: ^Der psychologische Versuch
in der Psychiatrie,^ Die Zweckmäfsigkeit der Einführung des psycho-
logischen Versuches in die Psychiatrie ist unbestreitbar. Dagegen ist
248 LiUeraturberkht.
entschiedener Protest einzulegen, wenn K. im Vollbewnfstsein seines
Heidelberger Laboratoriums den psychologischen Versuch überhaupt und
speziell in der Psychiatrie von kostspieligen Laboratoriumseinrichtungen
geradezu abhängig macht. Es ist dies nur dazu geeignet, den Psychiater
von psychologischen Versuchen abzuschrecken. Grolse Laboratorien
sind wünschenswert, f&r manche spezielle Zwecke auch unerl&fslich, fQr
viele Zwecke- und gerade für diejenigen des Psychiaters genügen zu-
nächst viel einfachere Vorrichtungen. K. sollte doch die einseitige,
spezielle Beschränkung auf einige wenige zeitmessende, kostspielige Vor-
richtungen erfordernde Probleme, welche für seine psychologischen Ar-
beiten charakteristisch und fOr seine Richtung so irreführend gewesen
ist, nicht der ganzen Psychologie und ebensowenig und erst recht nicht
der Psychiatrie zumuten. Oder bedurfte es z. B. zu der ausgezeichneten
Arbeit von Ebbdtohaus über das Gedächtnis oder zu den Arbeiten von
SciuFTüRE, MüKSTRRBEBG Und vielen anderen über den Verlauf der Ideen-
assoziation eines Laboratoriums mit grofsen technischen Hülfsmitteln?
Noch mehr, auch zahlreiche messende Versuche lassen sich mit aus-
reichender Genauigkeit auch ohne kostspielige Apparate ausführen. Die
Chronoskop-Psychologie Kraepbliks ist doch eben nur ein ganz be-
schränkter Teil der experimentellen Psychologie. Der Hochmut gegen«
über der solche Apparate nicht verwendenden Psychologie ist also ganz
unangebracht.
K. widerlegt sich übrigens im weiteren selbst, indem er Wege an-
giebt, welche psychologische Versuche ohne viele Apparate bei Geistes-
kranken ermöglichen. Freilich haben andere vor ihm hierzu schon viel
exaktere Wege eingeschlagen. K. schlägt vor, zu bestimmen :
1. Die geistige Leistungsfähigkeit, welche „durch die Ge-
schwindigkeit gemessen wird, mit welcher sich die verschiedensten ein*
fachen psychischen Vorgänge abspielen^.
2. Die Übungsfähigkeit, welche durch die Zunahme der
Leistungsfähigkeit unter dem Einflufs der Arbeit gemessen wird.
3. Die Übungsfestigkeit, welche sich in der Erhöhung der
Leistungsfähigkeit nach längerer Arbeitspause ausdrückt.
4. Die Leistungsfähigkeit des Spezialgedächtnisses.
5. Die Anregbarkeit, welche zu messen ist in der Abnahme der
Leistungsfähigkeit, welche durch das Einschieben einer Pause von minde-
stens 15—30 Minuten gegenüber dem ununterbrochenen Fortarbeiten
herbeigeführt wird.
6. Die Ermüdbarkeit (Abnahme der Leistungsfähigkeit bei länger
fortgesetzter Arbeit).
7. Die Erholungsfähigkeit, welche sich aus dem Stande der
Leistungsfähigkeit zu einer bestimmten Zeit nach einem Ermüdungs-
versuch ergiebt.
8. Die Schlaftiefe.
9. Die Ablenkbarkeit, welche aus der Herabsetzung der
Leistungsfähigkeit unter erstmaliger Einwirkung bestimmter Störungen
erkennbar ist.
10. Die Gewöhnungsfähigkeit, welche sich nach dem Stande
lAtteraturhericM, 249
der Leistungsfähigkeit bei längerer Einwirkung jener Störungen be-
messen läf^t.
Die Aufnahme des „psychischen Status praesens^ gestaltet sich
nach K. nun folgendermafsen :
1. Versuchstag: Einstündiges schriftliches Addieren einstelliger Zahlen
— viertelstündige Pause — viertelstündiges Addieren.
2. Versuchstag: Viertelstündiges Addieren — viertelstündige Pause —
viertelstündiges Addieren — halbstündiges Addieren mit gleich-
zeitiger Ablenkung durch Vorlesen.
3. Versuchstag: Viertelstündiges Addieren — 5 Minuten Pause —
viertelstündiges Addieren. — Je 5 Minuten Aufschreiben: 1. be-
liebiger Hauptwörter, femer solcher Dinge, welche 2. lebhafte
Farben besitzen, 3. Geräusche erzeugen, 4. Lust oder 5. Unlust
erregen, endlich 6. solcher, welche nicht sinnlich wahrnehmbar sind
4. Versuchstag: Einstündiges Auswendiglernen zwölfsteUiger Zahlen
— viertelstündige Pause — viertelstündiges Auswendiglernen.
5. Versuchstag: Viertelstündiges Auswendiglernen — viertelstündige
Pause — viertelstündiges Lernen — Wiederholung des Aufschreibe-
versuches vom dritten Tage, unter möglichster Erneuerung der
gleichen Vorstellungen aus dem Gedächtnisse.
Und damit soll ein „psychischer Status*' gegeben sein! Ich hoffe,
dafs möglichst wenige Psychologen und Psychiater auf diesen Status
hineinfallen. Übersieht K. denn ganz, dafs sein Grandmals für die
intellektuelle Leistungsfllhigkeit ganz unbrauchbar ist? Jeder Kauf-
mann, welcher viel Bücher zu führen und daher zu rechnen gewohnt
ist, wird K. durch seine Leistungsfähigkeit überraschen. Auch die Ab-
lenkbarkeit, die Ermüdbarkeit etc. sind in derselben Weise von der
Lebensbeschäftigung und den Lebensgewohnheiten abhängig. Solche
Feststellungen haben daher in dieser rohen Form weder für die Er-
kennung des normalen noch des krankhaften Seelenlebens irgendwelchen
Zweck. Der Gedanke, die Ermüdbarkeit etc. festzustellen, ist in keiner
Weise neu, die von K. vorgeschlagene Methode herzlich schlecht. Sie
ist eine Karrikatur der bekannten EsBiNGHAUSschen Versuche. Dabei
rede ich noch gar nicht von der Durchführbarkeit. Die meisten „Ver-
suche" werden je nach dem guten Willen, Interesse etc. des Individuums
völlig verschieden ausfallen. Auch in dieser Beziehung erweist sich das
Resultat also von Bedingungen abhängt, deren Messung und Eliminie-
rung unmöglich, deren Feststellung aber auch ganz ohne Zweck und
Interesse ist. Und nun gar bei Geisteskranken; selbst bei den leichtesten
Formen geistiger Erkrankung würden die Nebenbedingungen (guter
Wille, Interesse, Geduld, Zwischengedanken etc.) so störend einwirken,
dals keine der vermeintlichen Entwickelungen irgendwie zuverlässig
wäre. Also hatte Beferent doch wohl recht, wenn er zur Vorsicht mit
solchen Versuchen mahnte. Übrigens hätte K. diese Mahnung zur Vor-
sicht auch bei seinem Lehrer Witndt finden können.
Kein Wunder, dafs bei dieser Methode die seltsamsten Resultate
zu Tage treten. So finden Kraefblik und Aschapfenbübo, dafs bei der
Ideenflucht der Manie gar keine Beschleunigung des Vorstellungsablaufes
250 LitteraUmhericht.
vorliegt. Natürlich ! Der Maniakus soll eine Viertelstunde oder eine
ganze Stunde rechnen und wird dies vor lauter Zwischen Vorstellungen
nur langsam zu stände hringen. Aber läuft jemand deshalb nicht
schnell, weil er in einem auf gezwängten, unbequemen Schuhwerk nicht
schnell laufen kann? Der Vorstellungsablauf des Maniakus ist beschleunigt,
und nur wenn man ihn zum Durchlaufen einer bestimmten Vorstellungsreihe
zwingt, wird diese Beschleunigung verdeckt. Die ganze Widersinnigkeit
der Methode tritt hier recht grell zu Tage. Damit fällt auch der „Ein-
fall'^ Kraepklins, dafs die Ideenflucht nur Ausdruck einer Erregbarkeits-
steigerung auf dem Gebiete der motorischen Sprachvorstellungen ist. Ganz
ebenso verhält es sich mit der Hyperprosexie. Wenn man freilich unter
Aufmerksamkeit die auf eine Schreibtafel des Laboratoriumstisches ge-
richtete „Apperzeption^ versteht, so hat der Maniakus keine Hyper-
prosexie. Wenn man aber unter Aufmerksamkeit die elektive An-
knüpfung von Vorstellungen an einzelne Sinnesempflndungen versteht,
so hat er Hyperprosexie. Dafs darunter die Konzentrationsfähigkeit
leidet und ein fortwährendes Abschweifen zu stände kommt, hat Referent
selbst betont. K. scheint zu glauben, dafs die Vorsilbe Hyper eine Ver-
vollkommnung der Leistung ausdrücke. Wie er sich leicht bei anderen
Wörtern überzeugen kann, ist dies nicht der Fall.
Dabei ist es gar nicht so sehr schwer, feinere Beobachtungen an
Kranken zu machen. Man muTs nur bessere Methoden wählen. So
erinnere ich nur an die Beobachtungen Webnickbs. So hat Beferent
schon seit vielen Jahren die Merkfähigkeit z. B. für Zahlen nach be-
sonderer Methode geprüft. Auch motorische Ermüdungskurven haben
andere und ich mit Hülfe besonderer Methoden schon in vielen Fällen
gewonnen. Es hat gar keinen Zweck, dies besonders zu erwähnen. Zahl-
reiche Psychiater stellen solche und ähnliche Versuche an, welche den
rohen Beobachtungen, welche K. für das Laboratorium empfiehlt und auf
Grund deren er den psychologischen Versuch monopolisiert zu haben
glaubt, weit überlegen sind.
Erheblich wertvoller ist der zweite Aufsatz von OeHsy, welcher
sich betitelt: „JBi3>eriifimfe/2ß Studien xwr Indmdualp8ychologi$."^ Um die
individuelle Beschaffenheit des Wahrnehmungsvorganges zu ermitteln,
stellte Verfasser den Versuchspersonen die Aufgabe, Buchstaben in einem
gedruckten Buche zu zählen oder bestimmte Buchstaben zu suchen oder
Korrekturen zu lesen. Zum Studium des Gedächtnisses liefs Verfasser
sinnlose Silbenreihen oder auch Zahlenreihen lernen, zum Studium des
Assoziationsvorganges einstellige Zahlenreihen addieren, zur Prüfung der
motorischen Funktionen Diktat schreiben und halblaut lesen. Die Vor-
aussetzung eines ungefähr gleichen Grades der Übung in diesen Funk-
tionen ist allerdings nicht einmal für „Lidividuen von gleicher Bildung^
zutreffend. Denn wenn man auch zugeben wollte, dafs Individuen von
gleicher Bildung gleich viel gelesen haben, so wird doch noch in
Betracht kommen, ob das einzelne Individuum gewöhnt ist, rasch zu
lesen. Ich habe mich selbst überzeugt, dafs in dieser Richtung enorme
Differenzen bestehen. Die einfache Methode der Messung der Geschwindig-
keit ist in Original nachzulesen. Die Resultate sind folgende:
Lüteraturbericht 251
Um einen Buchstaben zu apperzipieren und durch das Aussprechen
einer Zahl darauf zu reagieren, sind im Mittel 406 a erforderlich (10 Ver-
suchspersonen; mittlere Abweichung der einzelnen Versuchspersonen
von der für sämtliche gefundenen Zählzeit 64,2 c, mittlere Variation fUr
die einzelne Versuchsperson 17,1 a). Wurden die Buchstaben in Gruppen
zu je 3 gezählt, so ergab sich pro Buchstaben im Mittel nur 323 <r.
Stets wurde lateinischer Druck verwendet.
Zu einer Addition wurden durchschnittlich 1244 <r gebraucht. Die
mittlere Schwankungsbreite aller Personen betrug 219,0 <r, die mittlere
Variation durchschnittlich 68 «r.^
Die Schreibezeit betrug pro Buchstaben 435 tf bei einer mittleren
Schwankungsbreite von 68 a und einer durchschnittlichen mittleren
Variation von 11,4 o. Dieselben Werte für die Lesezeit betrugen pro
Silbe 138 <r, 7,7 <r und 4,7 a (deutscher Druck !).
Die mittlere Lern zeit pro Zahl betrug 9,6 Sekunden (mittlere
Schwankungsbreite 3,3 Sek., mittlere Variation 1,4 Sek.), die mittlere
Lernzeit pro Silbe (sinnlose Beihen) 11,8 Sek. (mittlere Schwankungs-
breite 2,99 Sek., mittlere Variation 3,24 Sek.).
Interessant sind die Ergebnisse bezüglich des Einflusses der Übung
und der Ermüdung. So hat 0. den Grad der Übung bemessen nach
der Differenz des Leistungsmaidmums mit dem vorausgegangenen
Leistungsminimum, den Grad der Ermüdung nach der Differenz desselben
Leistungsmazimums mit dem schlieisliohen Leistungsminimum. Beide
zeigten, ebenso wie der Zeitpunkt der Maximalleistung, groise individuelle
Schwankungen. Der Ubungsgprad und die mittlere Variation zeigen
bei allen Funktionen (ausgenommen das Silbenlernen) einen bemerkens-
werten Parallelismns, welchen Verfasser S. 138 in ansprechender Weise
zn erklären sucht. In mehr als 50% aller Versuche treten initiale
Schwankungen der Leistungsfähigkeit auf, welche auf Adaptation der
Aufmerksamkeit zu beziehen sind. Weiter treten meist schon gegen Ende
der Übungsphase, häufig aber auch erst in der Ermüdungsphase Schwan-
kungen auf, welche mit wachsender Ermüdung sich zunächst ver-
grOijsem, bei genügend langer Dauer des Versuches aber schliefslich
wieder kleiner werden. — Durch wiederholte Übung wird der Übungs-
grad (in dem oben angegebenen Sinne) ebenso wie der Ermüdungsgrad
kleiner. Die Übungsphase wird verkürzt, die Maximalleistung tritt
früher ein.
In einer Schlufserörterung versucht 0. nachzuweisen, dafs auf dem
Allgegebenen Wege eine einigermafsen zutreffende Vorstellung von der
individuellen Leistungsfähigkeit auf psychischem Gebiete erhalten
werden könne.
Die dritte und letzte Arbeit von S. Bettmaitk beschäftigt sich mit
der fiBeeif^husimg einfacher psychischer Vorgänge durch körperliche imd
^ Die J^orrektur der Zahlen auf S. 114 hält Beferent, wenn auch
Verfasser in der Anmerkung sie selbst angiebt, für ganz ungehörig. Auch
„nicht hineinpassende Werte^ gehören so, wie sie sind, m die Tabelle.
Es wäre höchst bedauerlich, wenn die KBASPELiNsche Schule hier eine
Art „Methode der Minimaländerungen '^ einführen wollte.
252 LitteraturberichU
geistige Arbeit^, Von diskontinuierlichen Messungen wurden nur Wahl-
und Wortreaktionen benutzt; als kontinuierliche Arbeit diente das Addieren
sowie das Auswendiglernen zwölf stelliger Zahlenreihen. Als Ermüdungs-
arbeit wurde speziell ein zweistündiger Marsch oder einstündiges Addieren
gewählt. Näheres über die Anordnung der Experimente und die Ver-
wertung der Zahlen ist im Original nachzulesen. Als Versuchsperson
fungierte nur der Verfasser selbst. Die Hauptergebnisse sind folgende :
Körperliche Anstrengung schädigt die geistige Leistungsfähigkeit mehr
als geistige Arbeit (in der gewählten Dosierung!). Die geistige Lähmung
giebt sich nach beiden Arbeitsformen in der Verlängerung der Erkennungs-,
Wahl- und Assoziationszeiten, in der Schwächung des Gedächtnisses und
der Herabsetzung der Übungsfähigkeit kund. Bei dieser Sachlage können
Turnstunden und Spaziergänge nicht als Erholung vor geistiger Arbeit
betrachtet werden. Auf motorischem G-ebiete ergab sich ein qualitativer
Unterschied. Da nämlich nach körperlicher Arbeit auffällig oft Fehl-
reaktionen auftraten, nimmt B. an, dafs die motorische körperliche An-
strengung zu einer zentralen motorischen Erregung führt. Nach geistiger
Arbeit, die keinen starken motorischen Anreiz bringt, fehlt diese Er-
regung nicht nur gänzlich, sondern die geistige Arbeit ist sogar im
Stande, auf die schon vorhandene motorische Erregung deutlich hemmend
zu wirken. Die motorische Erregung verschwand rascher wieder, als die
geistige Lähmung; ihr Abklingen, konnte durch eine eingeschobene
geistige Arbeit wesentlich beschleunigt werden. Während die genannten
Ermddungsarbeiten zu keiner nachhaltigen Schädigung der geistigen
Leistungsfähigkeit führten, liefs sich der Einflufs einer sehr starken
Ermüdung (Nachtversuch) namentlich auf die Wahlreaktionen noch
mehrere Tage hindurch in abnehmender Stärke verfolgen, obwohl die
Nachwirkung nach dem subjektiven Urteil der Versuchsperson längst
überwunden war. Ziehen (Jena).
Hugo Münstbrbbro. Studie» firom the Harvard Psychologieal Labora-
tory (II). Fsychol JBcü. I. 6 (1895).
A. H. Münsterberg and W. W. Campbell. The Motor Power
of Idea. S. 441—453.
Ein Physiker hatte Münsterbero vor zehn Jahren mitgeteilt, dafs,
wenn man 20 Sekunden lang in eine helle Flamme blicke, die Augen
schliefse und den Kopf um 45^ wende, das Nachbild der Flamme sodann
in der Bichtung der Kopfdrehung erscheine, dafs dasselbe unter gleichen
Bedingungen aber in der Richtung der objektiven Lichtquelle gesehen
werde, wenn die Augen nur während einer Sekunde dem Lichte aus-
gesetzt würden. Münsterberg konnte die Beobachtung bestätigen, er-
kannte aber alsbald, dafs man von dieser Erscheinung nicht, wie der
Betreffende wollte, auf einen zentralen Ursprung der Nachbilder schliefsen
dürfe , sondern dafs dieselbe auf die Beteiligung der Augenbewegungen
zurückzuführen sei. Öffnete er die Augen nach vollzogener Kopfdre-
hung, so entsprach die Stellung derselben in beiden Fällen der Bichtung
des vordem gesehenen Nachbildes. Münsterberg erkannte aber auch
sogleich, dafs der Versuch einen instruktiven Fall für die Mefsbarkeit
Litteratwbericht 253
▼OD Muskelreaktionen darbiete, welche ohne EinfluTs des Willens bei Sinnes-
eindrüoken entstehen. Ausgehend von der Annahme, dafs der die Augen-
bewegung verursachende Lichtreiz nach einem Zeitraum von einer Se-
kunde intensiver wirke als nach 20 Sekunden, suchen nun die Verfasser
durch exakte Weiterfuhrung des beschriebenen Versuches die näheren
Besiehungen zwischen optischen Eindrucken und unwillkürlichen Augen-
beweg^ungen festzustellen, insbesondere die Abhängigkeit derselben von
der Zeitdauer des Lichtreizes, von qualitativen Modifikationen des-
selben und von dem wiederholten Einflüsse eines gleichen Eindruckes
zu bestimmen. Indem sie aus ihren Besultaten auf alle diese Fragen
eine Antwort erhalten, wenn gröfstenteils auch nur die, dafs sich durch
die Versuchsanordnung sehr genau individuelle unterschiede bestimmen
lieXsen, eröffnet sich ihnen unter Erwägung des ümstandes, „dafs diese
durch einen Beiz erzeugte motorische Energie der wesentliche Faktor
des komplizierten motionellen Zustandes ist, welchen wir Aufmerksam-
keit nennen/^ für die psychophysische Untersuchung der Aufmerksamkeit,
ihrer Intensität, ihrer Fluktuationen etc. eine Methode, „welche uns von
dem zweifelhaften und engbegrenzten Studium der ebenmerklichen Em-
pfindungen befreit, und welche von den einfachsten optischen Empfin-
dungen bis zu den höchsten, durch optische Eindrücke hervorgerufenen
Funktionen eine endlose Variation gestattet." Man fährt fort: „Für den
Mechanismus des automatischen Impulses ist eine Methode exakter For-
schung gewonnen, welche uns gestattet, jene individuellen Unterschiede
zu analysieren, welche sich eben in unseren Tabellen in so entschei-
dender Weise zeigen und welche für das Verständnis der Unterschiede
in den zentralen geistigen Vorgängen aufserordentlich wichtig erscheinen."
Die Versuchsanordnung gestattete eine gradweise Bestimmung des
Drehungswinkels für Kopf und Augen. Die verwandten optischen Ein-
drücke bestanden in Zahlen, Buchstaben, Wörtern, Bildern, Farben und
Photographien und waren teils einfacher, teils zusammengesetzter Natur.
Zur Begulierung der zur Fixation der Objekte festgesetzten Zeit, sowie
zur Auslösung der nötigen Signale diente ein ScHUMANNscher Zeitsinn-
apparat. Die Fixationszeiten waren 1, 2, 3 und 4 Sekunden. Der Unter-
suchung dienten sechs Versuchspersonen,^ zwei dieser letzteren waren
die Verfasser. Vergleicht man nun die dem Texte eingefügten Tabellen,
so ergiebt sich, dafs der erwartete Einflufs der Zeit des einwirkenden
optischen Beizes auf die resultierende Augenbewegung nur bei Herrn
MüNBTBRBBBO sclbcr, hier freilich mit einer auffallenden Begelmäisigkeit
zutrifft. Dies wird auch zugestanden, aber „dieser Unterschied der
Ergebnisse spricht nicht gegen die Methode, im Gegenteil; diese
Tabellen beweisen, dais individuelle Differenzen, welche auf keine an-
dere Weise statuiert werden können, leicht mit Hülfe dieser Methode
gefunden werden.^ Man sollte nun meinen, aus diesen Besultaten
mtlsse die Pflicht erwachsen, das Phänomen auch an anderen Per-
sonen nachzuprüfen; erst wenn sich herausstellen würde, dafs es auch
^ Obwohl nur von dreien volle Versuchsreihen aufgenommen und
verwertet sind.
254 Litteratiirbericht
an aBderen und mehreren Beobachtern mit ann&hemder Begelmftisigkeit
nachweisbar ist, sollte man auf individuelle unterschiede schlieisen
dürfen, aber dieser Gedanke wird nicht diskutiert. Es ist nur gesagt,
dafs die Versuche einer Übung bedürften, und d&fs Münsterbebo diese
bereits besessen, wie femer, dafs die anderen Personen dieselbe erlang-
ten. Wir erfahren aber nichts N&heres über die nicht registrierten An-
gaben der drei anderen Versuchspersonen. Es wird ferner darauf auf-
merksam gemacht, dafs sich nicht jeder für die Versuche eigne, insbesondere
nicht derjenige, der sehr gut zu visualisieren vermöge. — MüirsTsaBBRO wird
nie umhin können, zugestehen zu müssen, dafs er selber keine einwandfreie
Versuchsperson abgeben konnte, und dafs der Verdacht autosuggestiver
Einflüsse bei ihm gerechtfertigt ist. Eine Begelmäfsigkeit erkennt man
freilich aus den Tabellen insofern, als einfache Eindrücke den schwächsten,
zusammengesetzte den stärksten motorischen Einflufs besafsen, und ebenso,
dafs derselbe durch Wiederholung des Eindrucks abgeschwächt wurde.
Es ist aber nicht erwiesen, wie weit die zunehmende Übung der beiden
anderen Versuchspersonen allmählich zur Autosuggestion wurde. Es wäre
aufserdem wünschenswert gewesen, wenn nicht nur die Durchschnitts-
werte verwertet wären, sondern wenn die Verfasser wenigstens auch die
Grenzen der Einzelwerte angegeben hätten, obwohl bei Münstbbbebg selber
in einigen Fällen keine Schwankungen derselben vorgekommen sein
können.
B. John Btoham. Memory. (IL) S. 453—461.
Die Arbeit bildet die Fortsetzung der bereits im 1. Hefte der Psyck.
Bev. mitgeteilten Versuche. Verfasser sucht den Einflufs der zwischen
der Aufnahme und der Erinnenmg eines Eindrucks verstreichenden Zeit
zu bestimmen und verwandte für diesen Zweck leere und ausgefüllte
Zeitintervalle, sowie simultane und successive Beize. Aus den
Ergebnissen seien folgende Punkte hervorgehoben: Je länger die aus-
gefüllte Zwischenzeit, um so schärfer ist im allgemeinen das Gedächtnis.
Für alle verwandten Zeitintervalle gilt, dafs Zahlen besser als Farben,
diese besser als Formen, Formen wiederum besser als Wörter und diese
leichter als Silben erinnert werden. Aufserdem wurden Zahlen nach zehn
Sekunden leichter als nach zwei Sekunden erinnert, ebenso Silben nach
30 Sekunden leichter als nach zwei oder zehn Sekunden. Wörter und
Silben wurden andererseits auch leichter vergessen als Zahlen, Farben
und Formen. Das Gedächtnis ist um so treuer, je schneller es arbeitet,
die Anzahl der Fehler nahm regelmäfsig zu mit der für die Erinnerung
nötigen Zeit. Mit Bezug auf die Verwendung ausgefüllter Zwischen-
zeiten ergab sich, dafs akustische Eindrücke die Wiedererinnerung mehr
erschweren als optische. Diese Angaben resultierten aus Versuchen, in
denen die Zwischenzeit nicht über 60 Sekunden hinaus ausgedehnt wurde.
Einige weitere Versuche stellte Verfasser mit zwei Zwischenzeiten von
2 und 24 Stunden Dauer an. Es ergab sich, dais auch hier die An-
zahl der Fehler mit der Zunahme der Zeit in direktem Verhältnis stand.
Der Untersuchung dienten sechs Versuchspersonen, von denen eine in
besonders hohem Mafse die Fähigkeit zu visualisieren besafs, vier visua-
lisierten nur Formen oder Farben oder beides, eine vermochte überhaupt
Litteratwrhericht 255
nicht ZQ Tisualißieren. Weitere Mitteiltmgen über kompliziertere Verhält-
nisee werden in Aussicht gestellt.
C. H. MüNBTBiiBERO and ARTHUR H. Pierre. The Localization of
Sonnd. S. 461—476.
Nach einer Besprechung der von Stumpf, Pretek, v. Krisb, Bloch
u. A. über die Lokalisation von Gehörswahmehmungen aufgestellten
Theorien suchen die Verfasser auf Grund experimenteller Untersuchungen
den Nachweis zu erbringen, dafs dieselben nicht aufrecht zu erhalten
seien, und daiSi trotz der individuellen Differenzen in den aus den Ver-
suchen resultierenden Angaben die MüHBTERBSResche Erklärungsweise
(Kombination von Gehörs- nnd Bewegungsempfindungen — Beitr. II, S. 182)
die gröfste Wahrscheinlichkeit für sich habe.
D. Mary Whiton Calkins. Association. (I.) 8. 476—483.
Die Verfasserin referiert in Kürze über eine grofse Anzahl von Ver-
suchen, welche angestellt wurden, um die relative Bedeutung sowohl
der Häufigkeit, mit der ein bestimmter Eindruck in einer gegebenen
Versuchsreihe wiederkehrt, als auch des Zeitpunktes, welchen derselbe
in einer Beihenfolge von Eindrücken einnimmt, wie endlich die Leb-
haftigkeit, mit der derselbe auftritt, für das Zustandekommen von Asso-
ziationen festzustellen. Die hiefür verwandten Ausdrücke sind frequency,
recency, earliness, vividness. Sie zeigte ihren Versuchspersonen durch
eine Schirmüfinung verschiedene Farbentafeln mit unmittelbar nachfol-
genden Zahlenvorstellungen und suchte in einer zweiten Beihe bei ver-
änderter Anordnung der einzelnen Pigmente und ohne nachfolgende
Zahlenbilder zu bestimmen, in welchen Fällen für eine gewisse Farbe
die im ersten Falle nachfolgende Zahlen Vorstellung assoziiert würde.
Weitere, das Gebiet des Gehörsinns betreffende Versuche dieser Art
werden in Aussicht gestellt.
£. Edgar Pierce. Aesthetics of Simple Forms. (I.) Symmetry.
8. 483—795.
Verfasser benutzte als Apparat eine schwarz bezogene, quadratisch
geformte Hartgummiplatte von ungefähr 1 m Seitenlänge, in welcher
sich zur Aufnahme einer aus 1 cm breiten Zinkstäben hergerichteten
Schlittenvorrichtung in einem Abstand von 5 cm über die ganze Fläche
parallel verlaufende Einschnitte befanden. Die Vorrichtung wurde von
der dem Beobachter abgewandten Seite aus mittelst Schnurlaufs bedient.
Zur Ablesung der für die Versuche in Betracht kommenden Abstände
der Zinkstäbe voneinander diente ein ebenfalls an der Bückseite der
Platte angebrachter Millimetermaisstab. Auf die Zinkstäbe wurden die
in jedem einzelnen Falle zu beurteilenden Formen aufgeklebt. Aufser-
dem konnte der in einem Dunkelzimmer aufgestellte und durch künst-
liches Licht erleuchtete Apparat in seiner Stellung beliebig verändert
werden, so dafs die einzelnen elementaren Gebilde dem Auge der Ver-
suchsperson sowohl in horizontaler, wie in vertikaler und jeder belie-
bigen schrägen Bichtung dargeboten werden konnten. Die Anzahl dieser
schlittenartig verschiebbaren Zinkstäbe konnte ebenfalls je nach Bedarf
vermehrt oder vermindert werden. Verfasser benutzte für die vorlie-
genden Versuche niemals mehr als sechs Zinkstäbe. Der Untersuchung
dienten im ganzen sechs Versuchspersonen.
256 LitteraiurherichL
Indem Verfasser unter Benutzung einfacher Linien zunftckst die
Wirkung des goldenen Schnittes mit symmetrisch angeordneten Ver-
hältnissen vergleichen liefs, gelangte er zu dem Resultat, dafs bei drei
Linien das Verhältnis des goldenen Schnittes, bei vier und fünf die
Symmetrie und bei sechs und mehr Linien wiederum die erstere Teilung
bevorzugt wurde. Verfasser erklärt diese Erscheinung aus dem Umstände,
dafs ftir die ästhetische Wirkung, neben der Bevorsugung einer Ver-
schiedenheit in der Anordnung der Einzeleindrücke, vor allen Dingen die
Möglichkeit, dieselben zu einer Gesamtvorfitellung zu verknüpfen, erhalten
bleiben müsse. Bei vertikal übereiuandergelagerten Linien stören asso-
ziative Einflüsse die Beurteilung des Eindrucks. Mit der symmetrischen
Anordnung assoziierte sich hier die Vorstellung des Umkippens.
In einer zweiten Beihe von Versuchen konnte Verfasser feststellen,
dafs auch bei Linien von ungleicher Länge die Vorstellung der Sym-
metrie und des Gleichgewichts erhalten blieb, wenn sich dieselben in
ungleichen Abständen von einer gegebenen Mittellinie befanden. So
ergab sich z. B., dafs, wenn eine 10 cm lange Linie 8 cm von der einen
Seite einer 20 cm langen Mittellinie gerückt war, eine Linie von 5 cm
Länge für diesen Fall durchschnittlich 24 cm von der anderen Seite
derselben entfernt werden mulste (Minimalabstand 16,9 cm, Maximal-
abstand 29,1 cm). Weniger übereinstimmende Urteile erzielte Verfasser,
wenn er bei diesen Versuchen die Längen der einzelnen Linien konstant
liefs und statt dessen die Breite derselben variierte.
In einer letzten Versuchsordnung verwandte Verfasser kompli-
ziertere Verhältnisse, indem er einmal verschiedene Formen (Linien
von verschiedenen Längen und Breiten, Quadrate, Sterne etc.) kombi-
nierte und dieselben sodann unter mannigfacher Variierung im Einzelnen
in sechs verschiedenen Farben beurteilen liefs. Obwohl betreffs der
Einzelangaben auf das Original verwiesen werden muis, sei noch hervor-
gehoben, dafs Verfasser bei diesen Versuchen trotz mancher individueller
Differenzen aus den Angaben dennoch gewisse Konstanten gewann. Mit
Bezug auf die verwandten Farben konnte z. B. festgestellt werden, dafs
die dunkleren (blau, kastanienbraun und grün) von einem gegebenen
Zentrum weiter entfernt werden muTsten als die helleren (weifs, rot und
orange), um für die symmetrische Anordnung einen Ersatz zu bieten.
Soweit nicht assoziative Einflüsse nachweisbar sind, sucht Verfasser die
erhaltenen Besultate auf die Bewegungsempfindungen der Augen zurück-
zuführen. },Das allgemeine Gesetz scheint zu sein, dais dem Gefühl der
Symmetrie Genüge gethan ist, wenn beide (Seiten-) Teile Augenbewe-
gungen von gleicher Energie erfordern; diese Energie wächst mit der
Entfernung vom Zentrum oder dem Gröfsenzuwachs (larger size) des
Objekts und mit der gröfseren Helligkeit der Farbe."
Frieor. Kibsow (Leipzig
.>
G. Trükbull Ladd. Philosophy of mind. An Essay in the metaphysics of
paychohgy, New York, Ch. Scribners Sons, 1895. 412 S.
L. sucht zunächst nachzuweisen, dafs eine Psychologie ohne Meta-
physik ein Unding ist, und dafs auch solche Psychologen, welche die
LiUeraturbericht. 257
Metaphysik ganz aus der Psyohologie verbannt wissen wollten, allent-
halben metaphysische Hypothesen einmengen. Diejenige provisorische
metaphysische Voraussetzung, welche Ladd selbst die natür^chste scheint,
geht dahin, dais ein wirkliches Seelenwesen existiert (S. 55). Der £nd-.
zweck der Psychologie ist, die Natur und Entwickelung dieses Seelen*
Wesens in seinen Beziehungen zu anderen Wesen zu verstehen (S. 64).
Damit ist sie zugleich eine „üniversalpropädeutik" für die Philosophie i
indem sie notwendig zu philosophischen Problemen führt. Epistemologie,
Metaphysik, Naturphilosophie sind Hauptabschnitte dieser von der
Psychologie angeregten Philosophie. L. bezeichnet einen weiteren.
Hauptabschnitt als „Philosophy ofmind^' und versteht darunter na-
mentlich die philosophische Behandlung derjenigen von der Psychologie
angeregten Probleme, welche sich auf das sog. Selbstbewufstsein be-
ziehen (S. 81).
Die Hauptsätze dieser LADDSchen Philosophy of mind sind folge nde
Alle Bewulstseinserscheinungen sind nicht nur als verschiedene Inhalte,:
sondern auch als verschiedene Funktionsformen aufzufassen. Jeder
Bewulstseinszustand darf nicht nur als ein passiver Bewufstseinsinhalt,
sondern mafs stets auch als ein aktiver, unterscheidender Prozefs auf-
gefaTst werden. Selbstbewuistsein ist nur mögliöh als Selbstthätigkeit.
Die einzige verständliche, unzweifelhafte Bealität der Seele liegt in ihrem
„Pürsichsein", in dem augenblicklichen Selbstbewuistsein, in der Er-
innerung an früheres Selbstbewuistsein und in dem Schluis auf ein kon.
tinuierlich bis heute sich erstreckendes Selbstbewuistsein (S. 147). So
erkennt die Seele fortwährend ihre eigene Wirklichkeit. Die wirkliche
Identität von irgend Etwas (trotz aller Veränderungen) besteht nach L.
darin, dals seine Selbstthätigkeit sich in allen seinen Beziehungen zu
anderen Dingen „einer immanenten Idee konform^ zeigt. Schon, das
Bewulstsein, „Subjekt von Veränderungen zu sein", involviert zugleich das
Bewulstsein der Dieselbigkeit. um auch für die Zustände der Hypnose
\md namentlich des sog. doppelten oder alternierenden Bewulstseins
seine Lehre der persönlichen Identität aufrechterhalten zu können,
macht L. ausgiebigen Gebrauch von der Annahme eines psychischen
Automatismus und einer Spaltung des Ichs. Für letztere wird natürlich
Dbssoir zitiert. Aber auch £a.nts intelligibles Ich muls Zeugnis zu
Gunsten der Ich -Spaltung ablegen. In analoger Weise, wie die Die-
selbigkeit, besitzt die Seele auch Einheit. Das Seelenleben des einzelnen
stellt die Verwirklichung eines individuellen Planes dar. Die Seelen
verschiedener Individuen sind auch dem Grade nach verschieden.
Das Problem Mind and Body wird in dem Sinne behandelt, in
welchem L. bereits seine Bsychology, deacripHve and explanatary, geschrieben
hat. Der Verstand kann die Welt nur als ein System aufeinander
wirkender Wesen auffassen. Körper und Seele sind zwei verschiedene
Wesen. Der Monismus wird verworfen, obwohl Verf. gelegentlich auf
die Möglichkeit einer höheren Einheit selbst etwas mystisch anspielt
(S. 257, 284 u. 318, sowie Kap. 11 u. 12). Zwischen den seelischen Vor-
gängen imd den materiellen Prozessen im Gehirn besteht eine kausale
Belation. Allerdings heilst es an anderer Stelle auch wieder: die auto-
Zeitschrlfl fUr Pijcholoflrle X. 17
258 Litteraturhericht
matische (d. h. hier die zentral entstandene, nicht durch peripherische
Reize ausgelöste) Thätigkeit des Nervensystems ist das hesondere phy-
sische Korrelat des aktiven Bewufstseins (S. 268). Verf. hätte von seinem
eigenen Standpunkte statt „Korrelat'* wohl „Wirkung** sagen müssen.
Einige Seiten weiter sagt L. ausdrücklich: die vorstellenden BewuTstseins-
zustände (ideating states of consciousness) rufen die entsprechenden Zu-
stände (appropriate conditions) in den Gehirnzentren hervor und bedingen
durch Vermittelung der letzteren Bewegungen. Selbst bei den einfachen
Nachahmungsbewegungen des Kindes wirkt das Bewafstsein mit. Das
affektive Bewufstsein ruft in analoger Weise die Ausdrucksbewegungen
im weitesten Sinne hervor. Das wollende Bewafstsein endlich (conative
aspect of consciousness) bedingt die Bewegungen des Aufmerkens, die
sog. Wahlbewegungen u. s. f.
Die Kapitel „Materialism and Spiritualism** und „Monism and
Dualism** bringen keine wesentlichen neuen Argumente. L. bleibt bei
dem Dualismus zwischen Mind und Body. Die gröfsten Erfolge der
physiologischen Psychologie vermögen diesen Dualismus nur in wissen-
schaftlicherer Form zum Ausdruck zu bringen, aber nicht zu beseitige n*
S. 286 (The human body is a vast . . etc.) findet sich nochmals eiae sehr
bequeme Zusammenstellung der Grundansichten Ljldds. Sein gesamter
Standpunkt ist demjenigen, welchen Behmke neuerdings in seiner Psycho-
logie vertreten hat, sehr nahe verwandt. Die Begründung und Aus-
führung ist nicht im entferntesten so klar, tief und konsequent, wie be^
Bkhmke. Einzelne kritische Gänge sind hingegen Laod ausgezeichnet
gelungen, so z. B. die Kritik der HöFFDivaschen Identitätshypothese im
10. Kapitel u. a. m. Leider unterscheidet L. diese und andere monistische
Hypothesen nicht immer so scharf von der Hypothese des psyoho-
physischen Parallelismus, wie auf S. 3i5. Oft vermengt er beide in
seiner Polemik in ganz ungerechtfertigter Weise. Die für seinen Dua-
lismus unerläMiche gegenseitige Einwirkung von Seele auf Körper und
umgekehrt erscheint La.dd nicht unverständlicher, als die Einwirkung
eines chemischen Elements auf ein anderes. Körper uad Seele sind wie
die Elemente der Chemie fundamentelly different kinds of beings. —
Die Schlufskapitel (,,Origin and Permanence of mind"* und „Place of
man's mind in nature'O gehen weit über alle Psychologie hinaus un
können daher hier füglich unberücksichtigt bleiben.
Ziehen (Jena).
Contribations from the Psycliological Laboratory of Oolnmbia Ooll3g e.
ni. P^chol, Bev. II. S. 125-136.
Harold Griffing, Experiments on Dermal Sensations.
Der Artikel ist nur ein Auszug aus der Dissertation des Verfasssrs
„On Sensations from Pressure and Impact** (Sappl. Monograph. N'o. 1 to
the PgychoL Bev.) und berichtet ganz kurz über mannigfaltige Versuche,
welche Gewichtsschätzungen unter Variation der Intensitäten, der Keizungs-
stellen, der Reizungsflächen, der Fallhöhe, und Ähnliches zum Gegenstande
hatten.
Sh. J. Franz, The After-Image Threshold.
Litteraturbericht 259
F. untersuclite, welche Intensitäts-, zeitlichen und GröIsenverhältniMe
ein optischer Beiz haben mufs, um ein Nachbild zu erzeugen, und fand :
1. Bei einer Sekunde Expositionszeit und 0,08 Kerzensiärke muTste
der Beiz, der 30 cm vom Auge entfernt war, eine Flächengröfse von
4 qmm haben,
2. bei einer belichteten Fläche von 64 qmm und 0,08 Kerzenstärke
des Beizes mufste er 0,01 Sekunde dauern,
3. bei einer belichteten Fläche von 64 qmm und einer Sekunde £z-
positionszeit mufste er eine Intensität von 0,01 Kerzen haben, —
um in 75^0 aller Fälle ein Nachbild zu erzeugen.
W. Stern (Berlin).
Gzone Hibth. Die LokaliBaüonstlieorie angewandt anf psychologiBclia
Probleme. Beispiel: Wamm sind wir lerstreut? Mit einer Ein-
leitung von L. Edinobb. 2. vermehrte Aufl. München 18d5. G. Hirths
Verlag. 112 S.
Der Verfasser hatte es sich zur Aufgabe gestellt, an einem Bei-
spiele zu zeigen, wie er sich die Möglichkeit einer Befruchtung der
Psychologie durch die Lokalisationstheorie denke, und er hatte die
Frage der Zerstreutheit deshalb gewählt, weil dieser in psychologischer
sowohl als psychiatrischer und neuropathischer Beziehung höchst inter-
essanten Frage bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden war.
Die erste Auflage hatte seiner Zeit in dieser Zeitechr, (Bd. VIII. S. 119)
durch EDiNeBB eine eingehende Besprechung gefunden, auf die um so eher
verwiesen werden kann, als sie der zweiten Auflage als Einleitimg vor-
gedruckt ist.
HiBTB schreitet in dieser zweiten Auflage weiter auf dem von ihm
eingeschlagenen Wege vor, mit der Erbschaft metaphysischer An-
schauungen in psychologischen Fragen zu brechen und an ihre Stelle
die Errungenschaften anatomischer Forschungen zu setzen.
Zunächst berücksichtigt er die neuesten Entdeckungen auf dem Ge-
biete der Himanatomie, des weiteren benutzt er die früher von ihm auf-
gestellte Lehre von den Merksystemen, um sie auf eine ganze Beihe neuer
Betrachtimgen auszudehnen.
Es ist geradezu erstaunlich, welche Fülle neuer Anschauungen sich
uns an der Hand der HiBTHSchen Ausführungen eröflnet, und wie leicht
sie sich unter dem Einflüsse seiner geistvollen Darstellung in unser Ver-
ständnis einschmeicheln, sei es nun, dafs er eine Erklärung der zwie-
sjMiltigen Charaktere versucht, oder dals er sich an die höchsten Probleme
des Bechts, den Irrtum, die Zurechnungsfähigkeit oder gar an die Todes-
strafe heranwagt.
Das Buch referieren zu wollen, heifst eigentlich, ihm Unrecht thun,
und so bleibt uns nichts übrig, als es — und zwar recht angelegentlich —
zu empfehlen.
Pblmab.
17*
260 Litteraturbericht.
J. SouBT. La Yision mentale. Bev. philoa. Bd. 39. S. 1—30 u. 163—183.
(Jan. u. Febr. 1895.)
S., weloher bereits zu wiederholten Malen vorzügliche Übersichten
über die Litteratur der Hirnanatomie und Himphysiologie gegeben hat,
bespricht im vorliegenden Aufsatze die neuesten Forschungen über die
Anatomie und Physiologie der Sehbahn. In dem Abschnitt über die
peripherische Opticusbahn wird man eine Angabe über die Bedeutung
der in derselben nach vielen Autoren enthaltenen zentrifugalleitenden
Fasern vermissen. Die zentrifugalen Fasern, welche von der kortikalen
Sehsph&re zu den vorderen Vierhügeln verlaufen, werden für die Muhk-
sehen Augenbewegungen der Sehsphäre in Anspruch genommen. Für
die zentrifugalen Fasern der peripherischen Bahn ist eine solche Er-
klärung natürlich ausgeschlossen. Ein Hinweis auf die Arbeiten Engel-
MAHvs und Nahmmachbbs findet sich im Schlulskapitel. Aueh die Arbeit
OoLüoois hatte hier Erwähnung verdient {A$inaU di Nevrologia), In dem
Abschnitte über den Pupillarreflex hfttte Beferent etwas mehr Vorsicht
gegenüber der MEKDBLSchen Annahme, wonach das Ganglion habenulae
Beflexzentrum dei* Pupillarbewegungen ist, gewünscht. Mit besonderer
Ausführlichkeit berichtet S. über die Lehre vom Parietalauge.
G-egen die bekannten GoLxzschen Versuche erhebt S. ganz ähnliche
Einwände, wie sie Mukk und Beferent (in dieser Zeitschrift) geltend ge-
macht haben. Besonders gut gelungen ist auch der vergleichend-physio-
logische Abschnitt (Kapitel 7 und zum Teil auch 8).
Nicht kann Beferent die Behauptung im Schlufskapitel zugeben, es
sei eine „doctrine re^ue^S ^^^ ^® Stäbchen die reinen Lichtempfindungen,
die Zapfen die Farbenempfindungen vermitteln. — Die Zellen des zweiten
GoLGischen Typus in den Lobi optici fafst S. als „Assoziationsneurome''
auf. Sie ermöglichen, dafs die Erregung einer einzigen Opticusfaser auf
mehrere Zellen des optischen Zentrums in den Lobi optici über-
tragen wird.
Zur ersten Orientierung kann die Abhandlung durchaus empfohlen
werden. Zibhbk (Jena.)
V. Monakow. Experimentelle und pathologisch -anatomische Unter-
suchungen über die Haubenregion , den Sehhttgel nnd die Regio
snbthalmica nebst Beiträgen cur Kenntnis firtth erworbener GroXb-
nnd Eleinhimdefekte. Arch. f. Psychiatr. XXVII. Hft. 1 u. 2. Auch
separat: Berlin, Hirschwald. 1895. 219 S. u. 7 Taf.
M. hat sich bemüht, in möglichst vollständiger Weise alle diejenigen
Hirnteile, für deren Existenz die Litaktheit des Grofshims eine Be-
dingung ist, zusammenzustellen. Er nennt solche vom Groishim ab-
hängigen Teile auch kurz „Grofshimanteile^^ Die Einleitung, welche
Sehhügel und Begio subthalmica von Katze, Hund und Mensch ana-
tomisch beschreibt, ergiebt folgendes. Im Sehhügel ist aufser dem
vorderen Kern (= Tuberculum anterius), dem medialen und dem late-
ralen eine in vier Nebenkeme zerfallende „ventrale Kemgruppe" zu
unterscheiden. Hierzu kommt ein „hinterer Kern", der sich ventral vom
Pulvinar keilförmig zwischen Corpus geniculatum ext. und int. einschiebt.
lAtteraturberidit 261
Die ventrale Lage des Corp. geuicul. ext. beim Menschen (im Gegensatz
zur dorsalen bei Katze und Hund) ist auf die starke Entwickelung des
PttlTinars zurückzuftlbren. Die Linsenkemschlinge zerlegt Verfasser in
drei Faserzüge; einen Übergang der Linsenkemfaserting in die Mark-
massen des roten Kerns and in die Schleife konnte er nicht mit Sicherheit
wahrnehmen.
Die Ezperimentaluntersuchüngen beziehen sich zunächst auf
die Abtragung einer Grofhirnhemisphäre bei neugeborenen Tieren. Ein
Hund wurde sechs Monate, nachdem ihm der gröfste Teil der rechten
Grofshimhemisphftre abgetragen worden war, getötet und das Gehirn
untersucht. £s wurde festgestellt, daJDs von der rechten Grofshimhemi-
Sphäre nur das Stimende einsohliefslich des Lobus olfactorius, ein Teil
des Gyrus sigmoideus, ein Teil des Gyrus fomicatus, der üncus nebst
Mandelkern und einige Teile des Linsenkems verschont worden waren.
Der Hund hatte folgende Symptome gezeigt: Fallen nach rechts, Neigung
zu Beitbahnbewegungen nach rechts, allgemeine symmetrische Wachs-
tumshemmung, üngelehrigkeit, ünreinlichkeit und linksseitige Hemi-
anopsie. Die von Hitzig und Mukk beschriebenen motorischen und
sensiblen Störungen bestanden anfangs, bildeten sich aber später zurück.
Das Tier lernte schliefslich auch seine Vorderpfote zu verschiedenen
komplizierten Verrichtungen benutzen, doch blieb die rechte und teil-
weise auch die linke Vorderpfote zeitlebens plump und ungeschickt.
Per Gang wurde allmählich ganz normal, doch glitt das Tier auf glattem
Boden, namentlich mit den linken Extremitäten, leicht aus. An einer
neugeborenen Katze wurde eine ähnliche Operation vorgenommen. Der
anatomische Befund ergab keine Degeneration des Ganglion habe-
nulae, des MEmrsBTschen Bündels, der Taenia thalami und des zentralen
Höhlengraus. Die degenerierenden Abschnitte teilt M. in direkte und
indirekte Groishimanteile ein. Erstere degenerieren völlig schon
"wenige Wochen nach der Operation, letztere verkümmern nur teilweise,
d. h. ihre Elemente büfsen ihre normale Form nur partiell ein und er-
fahren eine Volumsreduktion. Im Sehhügel sind der vordere, hintere,
mediale und laterale Kern, sowie das Pulvinar völlig degeneriert und
imd daher als direkte Grofshimanteile aufzufassen, während die ven-
tralen Kerngruppen nur partiell degenerieren, also indirekte Grofshim-
anteile sind. Zu letzteren gehört auch der mediale Kern des Corpus
mamillare. Eine kleine Anzahl ziemlich normaler Zellen bleibt stets in
den beiden Corpora geniculata zurück, welche Bindenregion man auch
zerstören mag. Weiterhin gehören zu den direkten Grofshirnanteilen
des Mittelhims der LüYSsche Körper, die Linsenkemschlinge, die Faser-
massen des Fufses (Monakow bezeichnet letzteren unzweckmäfsig alsPedun-
culus), die Substantia nigra und, wenigstens teilweise, das oberflächliche
Grau des vorderen Vierhügels, zu den indirekten der rote Kern der Haube,
der hintere Vierhügel, die sog. Haubenstrahlung, die FoBBLSchen Hauben-
fascikel, die Schleifenschioht und der Arm des hinteren Vierhügels.
Chmz unabhängig vom Grofshim sind namentlich das Grau der Formatio
reticularis, das mittlere Ghrau des vorderen Vierhügels, das zentrale
Höhlengrau, der laterale Schleifenkem, sowie die Augenmuskelkeme.
262 Lüteraturberiehi.
Im Hinterhim gehört die graue Substanz der Brücke im wesentlichen
zu den direkten Grofshimanteilen ; doch bleibt eine Beihe der mehr
medial und ventral gelegenen Ganglienzellengruppen verschont. BEier-
nach scheint das Brückengrau im Hinterhirn eine teilweise ganz ähnliche
Rolle wie die Sehhügelkeme im Zwischenhirn zu spielen. Im Zusammen-
hange mit der Degeneration des Brückengraus steht die partielle Atrophie
des gekreuzten Brückenarms und die allgemeine Volums Verkleinerung
der gekreuzten filleinhirnhemisphftre. Daher sind Brückenarm und
Kleinhimhemisphftren zu den indirekten Grofshimanteilen zu rechnen.
Zu denselben gehört auch der Bindearm, in dem sich eine gekreuzte
Atrophie fand. Der Trapezkem, die obere Olive, die Bogenfasem, das
Corpus trapezoides, die innere Abteilung des Kleinhirnstiels ^ und sämt-
liche im Hinterhim entspringende Hirnnerven nebst ihren Kernen sind
vom Grofshim unabhängig.
In der Oblongata läfst die mediale Abteilung des BuBOACHschen und
die kaudale des GoLLSchen Kerns einfache Atrophie (Volumsverkleinerung
einzelner Zellen) oder Sklerose erkennen; zu völliger Resorption und zu
einem Zerfall in strukturlose Schollen, wie im Sehhügel, kommt es
niemals. Direkte Grofshirnanteile sind nicht mehr sicher nachzuweisen.
Die Hälfte der Ganglienzellen der beiden Kerne war überhaupt ganz
intakt. Eine teilweise Atrophie und Sklerose zeigen sich auch in der
Ganglienzellengruppe des Processus reticularis des Cervikalmarkes, deren
Zusammenhang mit der Pyramidenbahn Verfasser schon früher dargethan
hatte. Die linke Pyramidenbahn des Rückenmarkes fehlte vollständig;
es erklärt sich dies offenbar daraus, dafs die vom Messer verschont
gebliebenen Abschnitte des Gyrus sigmoideus doch von ihren Stabkranz-
fasern völlig abgetrennt worden waren. Eine Differenz zwischen beiden
Vorderhömem bestand, wenigstens im Cervikalmark , nirgends. Das
gekreuzte Hinterhom schien namentlich in seinem vorderen Teile (Über-
gang zum Vorderhom) „ärmer an Substantia gelatinosa" zu sein.
Mit diesen Befunden stimmt die Thatsache überein, dais bei den
Fischen, entsprechend dem Mangel eines ganglienzellenhaltigen Grofshim-
mantels, die Grofshirnanteile des Zwischenhims (Kerne des Sehhügels)
völlig fehlen, und dafs das Grau des Zwischenhims fast ausschliefslich
aus dem Ganglion habenulae und dem zentralen Höhlengrau besteht,
d. h. aus solchen Gebilden, die durch eine Grofshirnabtragung bei
höheren Säugern nicht im geringsten beeinträchtigt werden. Bei dem
Frosch und der Eidechse, denen schon eine einfache Hirnrinde zukommt,
finden sich die ersten Zellanhäufungen im Zwischenhirn, welche an die
Kerne des Sehhügels erinnern. In der phylogenetischen Entwiokelung
der Tierreihe grenzt sich wahrscheinlich zuerst das Corpus geniculatum
ext., dann der ventrale Sehhügelkem ab. Anders verhalten sich bei den
niederen Vertebraten die den indirekten Grofshimanteilen der Säuger
entsprechenden Grofshimteile, z. B. der Lobus opticus und das Grau der
Brücke. Diese Regionen sind relativ viel mächtiger entwickelt, als bei
stiel. Die Einzelbeschreibung ist bezüglich dieses Stieles nicht genau. \
Gemeint ist vom Verfasser S. 60 offenbar der untere Kleinhirn-
Litteraturbericht 263
den höheren Vertebraten. Hiernach und naoh den physiologischen
Untersuchungen von Steineb liegt es nahe, anzunehmen, dafs diese
Regionen, wenigstens das Dach des Mittelhims, eine „Vereinigung dessen
darstellen, was bei höheren Säugern teils in der Binde des vorderen
YierhOgels (Grofshirnanteile), teils in der Binde des Occipitallappens
getrennt liegt^. So würde es verständlich, dals Knochenfische nach
Abtragung des Grofshims noch fllhig bleiben, das Gesehene psychisch
zu verwerten. So erklärt es sich auch, dafs ^ der vordere Vierhügel
(Lobus opticus) in der Tier reihe aufwärts an Volum und auch an Kom-
pliziertheit des Baues abnimmt.
Die übrigen Untersuchungen M.'s beziehen sich auf partielle Binden-
ezstirpationen (Gyrus sigmoideus, Gyrus coronarius und anliegender
Teil des Gyrus suprasplenialis, Temporallappen, Uncus etc.). AuTserdem
standen ihm die Gehirne von fünf Hunden und einem A£Pen zur Ver-
fügfung, welchen Münk die Sehsphäre beiderseits abgetragen hatte. Der
bereits früher vom Verfasser für das Kaninchengehim nachgewiesene
wichtige Satz, dafs je nach Verschiedenheit des Sitzes des Bindendefektes
verschiedene Kerne des Sehhügels degenerieren, und zwar in zienüich
umschriebener Weise, gilt auch für Hund und Katze. Es handelt sich
bald um eine echte sekundäre Degeneration (Nekrose der Elemente), bald
um einfache Atrophie. Zwischen beiden Formen besteht nur ein gra-
dueller Unterschied. Selbst zwischen dem sekundären Prozefs nach
Abtragungen bei neugeborenen und bei erwachsenen Tieren besteht kein
Gegensatz; der Unterschied ist nur der, dafs bei erwachsen operierten
Tieren der degenerative Vorgang viel langsamer, unter derberen und
ausgedehnteren Nflurbenbildungen, sowie unter mangelhafter Aufsaugung
der Entartungsprodukte abläuft. Bei Katze und Hund zerfällt der Seh-
hügel (mit Adnexen) nach I^onakow in 15 Abschnitte, deren jedem ein
bestimmtes, allerdings nicht ganz scharf abgegrenztes Bindenfeld zu-
geordnet ist. Bei dem Kaninchen hat M. früher nur fünf, resp. sieben
beschrieben. Ich werde im folgenden die 15 Abschnitte kurz aufzählen,
jedoch die topographischen Angaben nur sehr abgekürzt wiedergeben.
1. und 2. Zonen der beiden medialen Kemgruppen; sie entsprechen
der Bumpf- und Nackenregion Munks.
3. Zone des vorderen ventralen Kerns; sie entspricht der Vorder-
beinregion.
4. Zone des medial- ventralen Kerns ; entspricht der Hinterbeinregion.
5. Zone des zentral-ventralen Kerns; entspricht zum Teil der Kopf-
region.
6. Zone des lateral- ventralen Kerns; entspricht gleichfalls zum Teil
der Kopfregion.
7. Zone des Tuberoulum anterius; entspricht der Augenregion.
8. Zone des vorderen lateralen Kerns; liegt ebenfalls zum Teil
innerhalb der Kopfregion.
9. Zone des dorsal-lateralen Kerns; sie entspricht dem zweiten
Fünftel (von vorn gerechnet) des Gyrus suprasylvius.
10. Zone des ventral-lateralen Kerns; sie grenzt medialwärts an
die vorige.
264 LiUertUurhmcht.
11. Zone des hinteren Kerns; lieg^ in der Ohrregion Muhks.
12. Zone des Pulvinars; nimmt das dritte Fünftel des Gyrus Ute*
ralis ein.
18. Zone des corp. genic. ext. ; f&llt gröfstenteils mit der MuvKschen
8ehsph&re zusammen.
14. Zone des Corp« genic. int.; fällt gröfstenteils mit der Hör
Sphäre zusammen.
15. Zone des Corp. mammillare ; liegt im Uncus und im Gebiet des
Ammonshoms.
Leider wird durch einen unpräzisen Gebrauch der Windungs-
bezeichnimgen, bezw. durch Widersprüche zwischen Figur (62a) und
Text das Verständnis der topographischen Angaben erschwert.
Zwei klinische und pathologisch-anatomische Beob-
achtungen über früh erworbene Grofshim defekte bei dem Menschen
schlieiken sich an die experimentellen Untersuchungen an. Im ersten
Falle handelte es sich um einen alten primären £rweichungsherd in der
unteren und zum Teil auch mittleren Stimwindong. Sekundäre Dege-
neration fand sich im vorderen Schenkel der inneren Kapsel, im medialen
Abschnitt des Pedunoulus, im vorderen ventralen Sehhügelkem, in der
medialen Kemgruppe des Sehhügels und in der sog. Zona incerta (ven-
traler Teil der Begio subthalamica); die übrigen Sehhügelkeme, sowie
die Pyramide waren intakt. Im zweiten Falle handelte es sich um einen
Im sechsten Lebensmonat erworbenen Defekt der untersten Stimwindung,
des Operculums, der obersten Schlaf enwindung, der Insel und des Putamens
iinks. Während des Lebens bestand das Bild der cerebralen Binden-
lähmung. Hemiparese xmd Hemiatrophie, Kontraktur des rechten
Arms, Athetose, epileptische Anfälle und hochgradiger Schwachsinn
waren die Hauptsymptome. Trotz Zerstörung des Sprachzentrums
bestand weder Worttaubheit noch ausgesprochene motorische Aphasie,
jedoch eine erhebliche grammatische Akataphasie. Die mikroskopische
Untersuchung ergab eine scharf abgegrenzte Degeneration des Stiels des
Corpus genic. int. und dieses Körpers selbst, eine partielle Degeneralaon
der Linsenkemschlinge und des Lirrsschen Körpers, der ventralen Kem-
gruppen, des vorderen ventralen Kerns und der medialen Kemgruppe
des Sehhügels. Auf Grund seiner Tierbeobachtungen bezieht Verfasser
die Atrophie der ventralen Sehhügelkemgruppen auf den Operculum-
defekt, die Atrophie des vorderen ventralen und des medialen Sehhügel-
kems auf die Zerstörung der Stimwindungen. In der Haube fimd sich
eine erhebliche Atrophie der Schleife, der Haubenstrahlung, sowie des
roten Kerns. Der rechte Bindearm zeigte eine ganz einfache sekundäre
Atrophie (Verschmälerung der einzelnen Faserindividuen). Die Substantia
nigra war partiell degeneriert. Der FuTs des Himstiels zeigte namentlich
am medialen und lateralen Bande intensivere degenerative Veränderungen ;
die beiden degenerierten Segmente standen durch einen degenerierten
Streifen, welcher den dorsalsten Band des Fufses einnahm, in Verbindung.
Endlich ergab sich eine beträchtliche Degeneration in der linken FuXs-
schleife und im Arme des linken hinteren Vierhügels.
Der mühevollen und ergebnisreichen, übrigens noch der Fortsetzung
Liiieratufbencht. 265
Larrenden Arbeit des Verfassers sind 60 vorztkglich ausgefallene Abbil-
dungen beigegeben. Zibebn (Jena).
Tj. LvoiAin. Ober Fbbbibbs neue Stadien snr Psychologie des KleinhiniB.
Kritik und Berichtigung. Biohg. CmUraJhl Bd. XV. No. 9. u. 10. (1. ICai
1896.)
— I recenti stadi snlla flsiologia del Oenrelletto secondo il Prof. Dayii)
Ferbibr. Bectificazioni e repliche. Bw, di Frematria, Vol. XXI. Fase. 1.
S. 1—27. (1895.)
Gelehrte Streitschriften bieten in der Begel f&r den minder Be-
teiligten keine anmutige Unterhaltung, obgleich sie für die Klftrung der
strittigen Sache von Belang und lehrreich sein können. In letzterer
Hinsicht verdient der Fall Luciani contra Fbbribr besondere Beachtung,
da Fbbiuer, der Herausfordernde, nur mit seinem gewichtigen Namen
gedeckt und mit gebrechlichen Waffen gegen einen mit dem vollen
Bttstseug erprobter Thatsachen gewappneten Gegner auf den Kampfplate
des Duells tritt. Niemand, auch Fbrribb nicht, macht LüoiAin das
Verdienst streitig, als der erste den Weg gefunden zu haben, wie man,
nach Zerstörung des Kleinhirns, jahrelang die Versuchstiere am Leben
erhalten, ihr Verhalten danach studieren und aus den gewonnenen
Erfahrungen Schlüsse auf die physiologische Bedeutung des Kleinhirns
ziehen kOnne. Jedermann muls einsehen, daXs das einen enormen
Fortschritt für die Kleinhimphysiologie bedeutet, die bis dahin nur
in einem Gemisch von unbewiesenen Vermutungen bestand. Nur Fbrbibb
meint, im Widerspruche mit sich selbst, dafs Vülpiavs Ausspruch (im Jahre
18M): „Die Frage nach den Funktionen des Kleinhirns sei noch weit
davon, definitiv gelöst zu sein**, auch auf den jetzigen Standpunkt unserer
Kenntnisse passe. Selbstverständlich ist Luciani darüber entrüstet, weist
ihm nach, wie er zwar den direkten, nicht gekreuzten EinfluTs des
Kleinhirns auf die entsprechende Körperhftlfte zugiebt, die fundamentale
Thatsaohe aber, dafs der Kleinhimeinflufs auf alle willkürlichen Muskeln,
vorzugsweise auf die der hinteren Extremitäten sich erstreckt, über-
sieht. Fbrribb leugpiet die von Luciani behauptete Konstanz der
BotatioxiiBerscheinungen von der operierten nach der gesunden
Seite auf Grund eigener Experimente; Luciani weist ihm sofort* mittelst
zu diesem Behufe eigens angestellter Versuche an kauterisierten Tieren,
nach, dafs das Gegenteil nur eine Folge der die Nachbarteile reizenden
Kauterisation, nicht aber der reinlich ausgeführten Exstirpation durch
das Messer ist. Mehr noch als die irritativen Erscheinungen, die
Luciani in der tonischen Extension imd Flexion (nicht Kontraktur)
erkennt, bemängelt Ferribr die Ausfallserscheinungen, die drei
Gruppen von Asthenie, Atonie und Astasie, auf denen das Bild der
Kleinhirnataxie nach Luciani beruht — und meint, dafs sie in
Wirklichkeit nicht vorhanden, sondern das Ergebnis konstruktiver
Spekulation seien. Gegen die Astasie auf der verletzten Seite ist
Fbbbixr noch ziemlich gnädig; die »von Lüciani aber so häufig beob-
achtete Asthenie*' will er nicht gelten lassen. Luciani, dem es besonders
darauf ankam, direkte Beweise für das wirkliche Vorhandensein jeder
266 Litteraturberichi.
der drei Gruppen zu ermitteln, fClhrt für die Hemianästhesie eines
der Kleinhimhälfte beraubten Hundes ein schönes Beispiel beim
Schwimmen des letzteren an und zeigt daran, dafs FsRBiBifc die Frage
gänzlich mifsverstanden habe. Noch unbarmherziger verfiihrt Fbbbier
gegen die Atonie, worauf Luciakt wiederum mit einem Beispiel beim
Fressen eines Hundes erwidert. Dagegen zieht Fbbbibr die Sehnenreflexe
ins Spiel, die mit der Sache gar nichts zu thun haben. Endlich fährt
Febbibb noch den Philosophen Hbbbert Spencbr ins Feld, der im Kleinhirn
das Doppelorgan der Koordination im Räume und im Groishim das der
Koordination in der Zeit erkennt, und den Dr. Jaiibs Boss, der den
Kommentar zu Spencbbs Hypothese geliefert hat — wogegen Luciani
nichts einzuwenden hat, der sich vielmehr damit begpoügt, dafs auch
andere, wie Fbbbier selbst, den tonischen oder kontinuierlichen
Einflufs des Kleinhirns auf alle motorischen Vorgpftnge, direkt oder
mittelst der anderen Cerebro- Spinalzentren, anerkennen. Das Kleinhirn
ist auch für Febbieb nicht mehr das Organ für das Gleichgewicht,
noch sieht er in ihm einen Haufen unbewufster Zentren fQr Beflex-
anpassung behufs Herstellung des ins Schwanken geratenen Gleich-
gewichtes.
Es ist LuciANi nicht zu verdenken, dafs er mit einer gewissen
Animosität gegen Anfechtungen seines Verdienstes von Seiten derer
loszieht, die als Autoritäten unter den Sachverständigen auf dem Gebiete
der Nervenphysiologie gelten, wenn man erwägt, mit wie rastloser, acht
Jahre dauernder Thätigkeit er die unbestritten erste wissenschaftliche
Grundlage zur weiteren Erforschung eines Gegenstandes geschaffen hat,
wo Vorurteile und Hypothesen bislang ihr Spiel trieben. Dalüs weitere
Fortschritte auf diesem Boden mögUoh und erwünscht sind, leugnet
LuciANi am allerwenigsten. Jahre werden aber darüber hingehen, ehe
einer oder der andere Forscher, ausgerüstet mit der feinen Beobachtungs-
gabe und dem Scharfsinne LucianiSi über ein genügendes Material verfügt,
um ihm die volle Anerkennung verschaflPen, geschweige die Pfeiler seines
Gebäudes umstürzen zu können. Frabnkbl.
Fr. K1E8OW. Versuche mit Mouos Sphygmomaiiometar über die durch
psychische Erregunfen herTorgerafenen Verttndeniiigwi des Blvi-
drncks beim Menschen. PhüosapK Stud, 1895. XL 1 S. 41—61. Auch:
Ärch. Ital de BioL XXm. S. 198—211.
Verfasser hat mit dem Mossoschen Sphygmomanometer, dessen
Konstruktion er genau beschreibt und durch eine Abbildung erläutert,
Versuche über die durch psychische Erregungen hervorgerufenen Blut-
druckänderungen angestellt. Er kam zu dem Besultate, dafs nicht bei
allen Menschen Beeinflussungen in der angedeuteten Bichtung zu ersielen
sind. Während zahlreiche Versuchspersonen auf psychische Erregungen
(Lösung von Beohenaufgaben, Geruchs-, Geschmacks-, Gehörs-, Gesichts-
reize etc.) mit Steigerung, hie und da auch mit Senkung der Blutdraok-
kurve reagierten, zeigten Personen mit auffallend ruhiger Gkemütsart
eine derartige Beeinflussung nicht. W. Gohkbtxik (Berlin).
Litteraturbericht. 267
1. Bo&YsiBKiEwicz. Weitere Untersnchiuigen ttber den feineren Ban der
Netzliant. Leipzig u. Wien, F. DeuUoke. 1894. 64 S.
2. Fb. Dimmbb. Beiträge snr Anatomie nnd Physiologie der Macnla lutea
des Menschen. Leipzig u. Wien, F. Deutioke. 1894. 133 S.
8. BoBYBiEKiEwicz. ErwideHUig auf Dimmbbs Angrüfe. Wien, med. matter.
1894. S. 303.
4. Djmmrk. Entgegnung an Herrn Prof. Bortsibkiewioz. Wien. med. Blätter,
1894. S. 319.
5. Bobtsibkiewicz. Antwort auf die Entgegnung des Herrn Dr. Dncnui.
Wien, med, Blätter, 1894. S. 851.
6. Lna>8AY Johnson. Observations on the Biacula Lutea. I. Histology of
the human Macula. Archiv of Üphiftalm, Vol. XXIV. No. 3. (1894.) —
Deutsche Übersetzung in Knapp- Schweiggers Ärch, ßr Augenheiücde,
XXXn. S. 66—75. (1896.)
BoBTsiBKiB¥aGz macht uns mit einer Fülle neuer Entdeckungen über
den Bau der Betina und den Zusammenhang der retinalen Elemente be-
kannt. Mit Staunen wird derjenige, welcher sich etwas näher mit der
Anatomie der Retina beschäftigt hat, lesen, wie In dieser Arbeit fast
alle durch H. Mülleb, Hbnle, M. Schultze und andere klassische Autoren
festgestellten Thatsachen mit Leichtigkeit über den Haufen geworfen
werden, nicht etwa durch Anwendung neuer Methoden oder Lösung alter
Probleme, sondern durch Untersuchungen, welche in ganz ähnlicher
Weise, besonders unter Anwendung der Osmiumsäure, schon von M. Schultzk
U.A. vorgenommen sind. Hätte B. mit seinen neuen Lehren recht, so
wäre es unbegreiflich, wie sich unsere Klassiker in fast allen Punkten
so irren konnten. Es wird aber wolü den meisten nach der Lektüre des
Buches von B. wie dem Referenten gehen, dafs sie sich in ihrem Glauben
an der alten, sonst noch von Niemandem angezweifelten Lehre über den
Bau der Retina nicht erschüttert fühlen, trotz des Buches von B., in dem
es übrigens an inneren Widersprüchen und Unmöglichkeiten nicht fehlt.
Wir wollen dem Leser jedoch einige Proben aus der Arbeit B.'s
nicht vorenthalten:
„Die Stäbchen und Zapfen sind nicht als Endorgane der Nervenfasern
anausehen, sondern dieselben sind „zweifellos*^ eine direkte Fortsetzung
der MüLLEBSchen Fasern.
Stäbchen und Zapfen sind gleich lang.
Li der Fovea centralis kommen ausschlieislich „Stäbchen*' vor.
Die MüLLBBSchen Fasern stellen Schläuche dar, welche un verzweigt
durch die ganze Dicke der Netzhaut verlaufen.
Die lichtempfindenden Teile der Netzhaut sind innerhalb des
MüiXBBSchen Schlauches zu suchen."
Ln Gegensatz zu dieser Arbeit können wir Dimbiers Untersuchungen
als einen wichtigen und bedeutenden Fortschritt in unserer Kenntnis
von dem Bau und der Funktion der Macula lutea begrüfsen.
Der erste Teil der Arbeit behandelt die Anatomie der Retina in der
€kgend der Macula lutea. Ver£ftsser bespricht zuerst nach eigenen
Untersucbimgen die Form und Gröfse der Fovea centralis, er weicht in
seinen Angaben zum Teil etwas von denen der Autoren ab.
268 LUteratufherieht.
Die Fovea ist eine meist querovale , oft aber anch kreisrunde Ver-
tiefung, die gewöhnlich grOfser, selten um ein geringes kleiner ist, als
die Papille. (Gemessen im horizontalen Durchmesser von dem Punkte,
an welchem die Eineenkung der inneren Netzhautoberfläohe beginnt,
1,1—2,0 mm.) Umgeben wird die Fovea von einer wallartigen Verdickung
der Netzhaut, welche am nasalen Bande am mächtigsten ist.
Die Einsenkung der inneren Netzhautoberfläche vom Bande der
Fovea gegen ihre Mitte erfolgt in Form einer schiefen Ebene unter einem
Winkel von etwa 15— 25«
Die Foveola ist eine stark nach vom konkav gekrümmte Fläche von
0,12—0,3 mm Durchmesser an der tiefsten Stelle der Fovea.
Verfasser beschreibt sodann das Verhalten der einzelnen Netzhaut-
schichten an der Fovea centralis und deren Umgebung.
Es findet sich am Bande der Fovea konstant eine Zunahme der
gangliösen Schichten. Dagegen zeigen die retikulären Schichten keine
Zunahme. In der Mitte der Fovea verschwinden stets die beiden reti-
kulären Schichten, manchmal auch die gangliösen (Ganglienzellen,
Spongioblasten, bipolare Körner) Schichten.
Die äufseren Kömer sind im Bereiche der Macula, abgesehen von
den zentralen Partien derselben, konstant etwas dtUiner, als in den
benachbarten Partien der Betina. Dann nimmt sie aber gegen die Mitte
der Fovea wieder zu, ganz entsprechend der dort erfolgenden Abnahme
der Zapfenfaserschicht. In der Mitte der Foveola ist sie wieder dtinner.
Niemals fehlt sie ganz.
Die Zapfen in der Gegend der Macula sind länger und schlanker, als
die aus anderen Partien der Betina. Sie erreichen in der Mitte der
Fovea jene Länge, die die Stäbchen sonst in den hintersten Partien der
Betina besitzen.
Ein besonderes Kapitel handelt über die gelbe Farbe der Macula
lutea. Verfasser kommt zu folgendem Besultat: Die gelbe Färbung der
Betina, welche wir als Macula lutea bezeichnen, findet sich auch an der
dünnsten Stelle, am Grunde der Fovea. Sie erscheint uns hier schwächer,
nicht deswegen, weil hier die Färbung geringer ist, sondern weil hier
die die gelbe Farbe zeigende Gehirnschicht sehr dünn ist. Die gelbe
Färbung erstreckt sich, allmählich abnehmend, in die Umgebung bis gegen
den Band der Fovea oder noch etwas über denselben hinaus.
Im zweiten, physiologischen, Teil werden die entoptischen Erschei-
nungen in der Gegend der Macula lutea behandelt. Es würde hier zu
weit führen, den vielfachen Untersuchungen und Schlüssen des Verfassers
zu folgen. D. kommt zu dem Schlufs, dafs die lichtempfindenden Stellen
nicht in der der äufseren Faser schiebt unmittelbar anliegenden äufseren
Körnerschicht, sondern nur in der Stäbchenzapfenschicht gesucht werden
können.
Das Vorhandensein der gelben Farbe auch im Grunde der Fovea
entspricht auch den physiologischen Thatsachen. Die Untersuchungen von
M. SoHULTZE, Prbyer, Hebing und Sachs haben gezeigt, dafs die gelbe
Farbe der Macula alle homogenen Lichter vom Gelbgrün bis zum Violett
absorbiert, und zwar desto stärker, je kleiner die Wellenlänge ist.
Litteraturbericht 269
Der Arbeit sind schöne Abbildungen beigegeben.
Aus dem Vorhergehenden ist ersichtlich, dafs Borysiekikwioz und
DmuBR mit ihren Ansichten vielfach nicht übereinstimmen. In den
Wien, med Blättern hat daraufhin ein mehrfacher Wortwechsel zwischen
beiden Autoren stattgefunden, worin jeder Autor seine Ansicht vertritt.
Neue Thatsachen werden nicht mehr vorgebracht.
Lindsat Johnson schildert in dem ersten Teil seiner mit grolsem
Fleiise ausgeftLhrten Arbeit die Anatomie der ftufsersten Schichten der
Retina. Der Arbeit sind zehn sehr gute Mikrophotographien nach histo-
logischen Schnitten beigegeben. Die Ansichten und Schilderungpen des
Autors weichen in wesentlichen Punkten von dem Hergebrachten ab.
Die Qlasmembran der Chorioidea bildet die Q-renze der Ohorioidea
nach der Betina zu. Auf diese folgt nach innen zu ein schmaler Lymphraum
der also nach aufsen zu von der Glasmembran, nach innen zu von einer
besonderen Membran begrenzt wird, die Verfasser die Membrana terminans
retinae nennt. Darauf folgt die hexagonale Pigmentschicht, welche innig
mit der Chorioidea verwachsen, entwickelungsgeschichtlich jedoch zur
Betina gehört. Verfasser unterscheidet in ihr zwei Übereinanderliegende
Schichten: 1. die gelatinöse Schicht. Johnson bekämpft die ge*
wohnliche Ansicht, dafs die hexagonale Pigmentschicht aus sechseckigen^
mit Kernen versehenen Zellen bestehe, nirgends und niemals sind Zell-
grenzen zu sehen, er glaubt deshalb, dafs es eine gelatinöse Matrix sei,
in der die Pigmentkömehen um Kugeln herum in sechseckiger Form
eingelagert seien; die Kugeln sind keine Zellkerne, sondern Gebilde,
welche mit dem Sehen in enger Beziehung stehen. Die Kugeln liegen
überall gleich weit voneinander, in der Macula lutea liegen sie sehr dicht^
80 dafs sie sich fast her Uhren. ^Nach innen zu folgt 2. die Schicht der
Pigmentkristalle. Es sind dunkle Kristalle von Pigment, welche,
zu Klumpen geballt, in einem feinem Netzwerk frei beweglich liegen.
Dieses Netzwerk geht von der St&bchenschicht aus, dringt bis in die
gelatinöse Schicht ein und endet mit kolbigen Anschwellungen in der
Mitte der oben genannten Kugeln. In dieser kolbigen Anschwellung
in den Kugeln ist wohl das letzte Endglied der Sehnerven-
fasern zu suchen. Grbbff.
1. F. Schanz. Ein Hornhantmlkroskop. Zehendera Manatsblf.Augmheükde,
Bd. XXXL S. 99-103. (1893.)
2. — Ein Homhantmikroskop nnd ein Netzhautfemrohr mit konaadaler
Beleuchtimg. Arch, f. Augenlieiüode. XXXI. 3. S. 265—272. (1896.)
Bei der Benutzung der bisherigen Homhautlupen und -mikroskope
besteht ein erschwerender Umstand darin, dafs der Beobachter gleich-
zeitig auch für die richtige Beleuchtung der betrachteten Stelle sorgen
moCs. In der ersten Abhandlung wird uns nun ein Homhautmikroskop
von 10 — SOfacher Vergröfserung beschrieben, das an einem kreisförmigen
Bügel eine Bohre trägt, welche in ihrem Innern eine elektrische Glühlampe
und ein Linsensystem enthält. Die Röhre kann an dem Bügel ver-
schoben werden, so dals sie mit der Axe des Mikroskopes Winkel von
20 — 60^ einschliefst; stets aber ist sie so gerichtet, dafs der aus ihr
270 Litteratwrbericht
heraustretende Beleuchtungskegel die Axe des Mikroskopes in dem-
jenigen Punkte schneidet, auf welchen dieses eingestellt ist. Dadurch
ist der Beobachter der Sorge für die richtige Beleuchtung der be-
trachteten Homhautstelle Überhoben. Er kann sie durch Verschiebung
des Linsensystems in der Beleuchtungsröhre verstärken und verringern
und kann auch die Bichtung der Incidenz innerhalb der genannten
G-renzen variieren. Für viele Fälle ist es aber wünschensv^ert, dafs die
Beleuchtung genau in der Richtung auffällt, in welcher die Beobachtung
stattfindet, also mit dem Mikroskop konaxial ist. In der zweiten Ab-
handlung wird nun eine von dem Verfasser und S. Czapski konstruierte
Modifikation des eben erwähnten Apparates beschrieben, welche auch
dieses ermöglicht. Zu dem Zwecke ist das Beleuchtungsrohr parallel
und dicht neben dem Mikroskope angebracht. Ein rechtwinkliges gleich-
seitiges Prisma wirft durch totale Beflexion die austretenden Strahlen
auf einen planen, durchbrochenen und um 45*^ gegen die Axe des Mikro-
skopes geneigten Spiegel, dessen Öffnung sich gerade vor dem Objektiv
befindet. Somit fallen die Axen des Beleuchtungskegels und des Mikro-
skopes zusammen. Es ist nun ersichtlich, dafs man dieses selbe Prinzip
auch zur Betrachtung der lebenden Netzhaut verwenden kann, sobald
man an Stelle des Mikroskopes ein Femrohr setzt, dessen Einstellung
dann auch zugleich die Bestimmung des Refraktionszustandes des unter-
suchten Auges ermöglicht. Eine ausführlichere Beschreibung dieses
Netzhautfemrohres wird noch nicht gegeben, da die vorliegende kurze
Mitteilung nur zur Wahrung der Priorität dienen soll.
Arthur König.
S. Epstbin. Ober ein neues Perimeter. Zeitsdfr.f.ImtnnHentenkde. Jahrg. XV.
S. 400-402. (1895.)
Die bisher konstruierten Perimeter haben den Mangel, dafs es der
Versuchsperson oftmals schwer wird, den Fixationspunkt dauernd fest-
zuhalten und die seitlich zur Prüfung gestellten Objekte nicht mit dem
Ort des deutlichsten Sehens aufzusuchen. Um diesen Übelstand zu beseitigen,
ist das von dem Verfasser konstruierte Perimeter fQr den Gebrauch im
Dunkeln bestimmt. Das Fixationsobjekt wird durch ein kleines Licht
erzeugt, das durch eine die Drehungsaxe des Apparates bildende Röhre
hindurehscheint. Der drehbare Halbkreis hat einen Schlitz, in dem sich
zwei mit Beflektoren versehene elektrische Glühlämpchen verschieben
lassen. Die vordere Seite jedes Beflektors ist durch einen sog. photo-
graphischen Momentverschlufs abgesperrt und kann aulserdem auch noch
mit farbigen Gläsern und Diaphragmen von verschiedener Gröfse ver-
deckt werden. Letztere sind auch je nach Bedarf bei dem Fixations-
zeichen anzubringen. Der Untersucher kann nun im peripheren Gesichts-
felde des Untersuchten plötzlich farbige Punkte von verschiedenem
Durchmesser aufleuchten und wieder verschwinden lassen. Um eventueller
Simulation auf die Spur zu kommen , ist es möglich , dafs dieses Auf-
leuchten je nach Belieben mit oder ohne Geräusch geschieht.
Arthur König.
Litteraturbericht 27 1
S. Be&obl. Über die Empfindliclikeit der Netshantperlpherie für inter-
mittierende Beiinng. Diasert Breslau 1895. 36 S.
Der experimentelle Teil dieser Arbeit fördert au/ser einer Bestätigung
der sattsam bekannten Thatsaobe, dafs die Peripherie ftlr intermittierende
Beizung empfindlicher sei als das Zentrum, wenig von Bedeutung zu
Tage; höchstens sind noch einige Angaben über die Lage des Empfind-
liohkeitsmazimums auf dem nasalen und temporalen, dem oberen und
unteren Teile der Peripherie und über die EmpfiDdlichkeit fUr ver-
schiedene Farben erwähnenswert. Ein Versuch, die Anzahl der Inter-
missionen festzustellen, bei welcher in den verschiedenen Fällen die
Empfindlichkeitsgrenze erreicht wurde — meines Erachtens das einzige
Mittel zu einer exakten Messung der einschlägigen Verhältnisse — ist
vom Verfasser gar nicht gemacht worden, wäre auch bei der unvoll-
kommenen Anordnung der Experimente erfolglos geblieben. Verfasser
rechtfertigt diesen Mangel an Exaktheit damit, dafs komplizierte Vor-
kehrungen und Apparate, welche das Auge unter Bedingungen bringen,
wie sie bei dem gewöhnlichen Sehakte nicht vorkommen, die Natürlich-
keit, und man möchte sagen Lebenswahrheit (!) der Versuche beeinträch-
tigen, ein Grundsatz, der sehr bequem ist« aber das Wesen des Experi-
ments völlig verkennt. Vor allem leidet jedoch die Versuchsanordnung
von vornherein an einem Hauptmangel, der eine besondere Erwähnung
verdient, weil er einerseits auf die theoretische Bewertung der B^sultate
von schädigendem Einflüsse ist, und weil andererseits Wiederholungen
desselben naheliegen, wenn nicht mit Nachdruck auf ihn hingewiesen
wird. Es ist dies die Benutzung von rotierenden Scheiben zur
Messung der Empfindlichkeit für intermittierende Beize. Schon einmal,
in meinem Beferat über die (dem Verfasser unbekannte) wertvolle Arbeit
Masses (diese Zeitschr, VII. S. 214) deutete ich diese Nachteile an. Wenn
eine Scheibe mit verschiedenfarbigen Sektoren an meinem Auge vorüber-
streicht, se nehme ich wahr: 1. an ein und derselben Stelle der Netzhaut
einen beständigen Helligkeitswechsel, 2. eine Konturenbewegung, d. h.
die Verschiebung eines Bildes über verschiedene Netzhautpartien hin.
Was hat nun Bebgbl gemessen ? Die Empfindlichkeit für den Helligkeits-
wechsel? Oder ftir die Bewegung? Oder beides? Er selbst wird sich
hierüber nicht ganz klar. An mehreren Stellen spricht er von der
pgröfseren Empfindlichkeit der Netzhautperipherie, fClr ,Bewegungen*,
ftlr intermittierende Reize**, als ob dies dasselbe wäre; er braucht oft
für sein Untersuchungsobjekt den xmglücklichen Terminus „Bewegungs-
empfindung**, zieht auch die AuBERTSchen Untersuchungen Über diesen
Gegenstand herbei, die ein ganz anderes Problem behandeln (nämlich
die langsamste wahrnehmbare Lokomotion, während es sich hier um
die schnellste wahrnehmbare Aufeinanderfolge handelt).
In seinem theoretischen Teile freilich sucht B. zu beweisen, dafs
in der That beide Wahmehmimgselemente, die Helligkeitsänderung an
einer bestimmten Netzhautstelle und die Verschiebung über eine ganze
Netzhautstrecke, zusammenwirkten, um die höhere Empfindlichkeit der
Peripherie herbeizuftLhren.
Der erste Teil dieses theoretischen Exkurses ist, wenn auch rein
272 LitteraturbenetU.
hypothetisch, so doch immerhin diskutabel: die leichtere Dissimilation
nne Assimilation der Sehsubstanz in den in der Peripherie dominierenden
St&bchen bewirke eine kürzere Dauer der Nachwirkung des einzelnen
Beizes und daher eine nicht so leicht eintretende Verschmelzung
successiver Eindrücke. Der zweite Teil dagegen ist völlig verfehlt: weil
in der Peripherie die Sehzellen viel weniger dicht gelagert sind und
zudem „nur sieben spezifische Sehzellen durch eine einzige Nervenfaser
mit dem Bewufstseinsorgan in Verbindung stehen'', soll die Verschmelzung
der successiven Eindrücke erschwert sein. Warum? «Hier wird*', sagt
Verfasser, „die Bewegung des Objektes schon eine viel schnellere sein
können, um von dem einen durch eine Nervenfaser mit dem Gehirn in
Verbindung stehenden lichtperzipierenden Element, bezw. der einen
Gruppe von Elementen zur anderen zu gelangen.^ Sehr richtig; aber
was bat der längere Weg von einem „Empfindungskreis" zum anderen
mit unserem Problem zu thun? Mögen die Beizungen zweier benach-
barter Empfindungskreise noch so schnell aufeinanderfolgen, ja sogar
simultan geschehen, sie werden stets zwei gesonderte Eindrücke in uns
erwecken. Aber hören wir weiter: „Es muTs also in den peripherischen
Teilen der Netzhaut von dem Bilde, welches die rotierende Scheibe
erzeugt, ein gröfserer Baum durchlaufen werden, um eine einzige Wahr-
nehmung hervorzurufen; daher wird bei schneller Bewegung die Wahr-
nehmung von gesonderten Eindrücken in der Peripherie besser und deut-
licher stattfinden, als im Zentrum.^' Dies „daher'* ist höchst merk-
würdig; denn gerade die entgegengesetzte Folgerung wäre richtig: je
gröfser das Gebiet, dessen Eindrücke zu einer Wahrnehmung sich
kombinieren, um so geringer die Geschwindigkeit, welche notwendig ist,
um die daran vorbeistreichenden Beize zur Verschmelzung zu bringen.
Ich bin auf die eigenartigen Gedankensprünge des Verfassers des-
wegen näher eingegangen, um zu zeigen, dafs auch hier wieder der
Versuch, der Netzhautperipherie ein spezifisches Vermögen für die
Wahrnehmung von Bewegungen zuvindizieren, miisglückt ist. EEatte
sich in einem anderen Falle (siehe diese ^Zeitschrift VII. S. 349 u. 362) die
Irradiation als zureichende Ursache von Erscheinungen bewiesen, die
man für die Existenz besonderer „Bewegungsempfindungen" in der Neta^
hautperipherie in Anspruch nahm, so haben wir für vorliegendes
Problem in einer gröfseren Empfindlichkeit der Peripherie ftir Hellig-
keitswechsel nicht nur einen hervorragenden, sondern den alleinigen
Grund aller bei intermittierenden Beizen beobachteten Erscheinungen
zu sehen. Und diese gröfsere Empfindlichkeit beruht wohl, darin stimme
ich mit Bbrobl überein, auf der schnelleren Ermüdung und Erholung
jener Betinagebiete.
Noch ein verfehlter Erklärungsversuch B.'s sei in Kürze richtig
gestellt. Wenn die Umdrehungsgeschwindigkeit der Scheibe schon so
grofs war, dafs die Sektoren völlig oder fast völlig verschmolzen waren,
machte sich in dem Moment, da er den Blick wandte, d. h. zwischen
zentralem und indirektem Sehen wechselte, eine eigentümliche Er-
scheinung geltend, die ich übrigens aus eigener Erfahrung durchaus
bestätigen kann. „In diesem Augenblick^, sagt B., „tauchte der farbige
UtterahtrbmcM. 273
Sektor scharf gesobieden toxi seiner Umgehung ftVrmlioh wie ein Blitiä
auf .und verschwand dann plötzlich wieder,** £r erklärt dies damit, dafs
„der Verhrauch der Sehsahstanz an einer Stelle in der Nachharsohafb
einen stärkeren Ersatz hervorruft Aber der wahre Grand liegt ja
doch so viel n&her! Die Verschmelzung h&ngt ab nicht von der
absoluten Umdrehungsgeschwindigkeit der Scheibe, sondern von der
Geschwindigkeit, mit der sich die Scheibe gegen das Auge verschiebt.
Diese Verschiebung ist aber in dem Moment, da sich das Auge bewegt,
fi!lr gewisse Stellen der Scheibe eine viel geringere, weil das Auge
mit ihnen mitgeht! Daher in diesem Moment der viel deutlichere
Eindruck der einzelnen Sektoren! Herr Bbbobl wird auch finden, daik
jenes Phänomen erstens nur bei verh<nism&lkig schnellen Blick-
Wendungen und zweitens nur an derjenigen Seite der Scheibe auftritt»
deren. Bewegung mit der des Auges gleichgerichtet ist.
W. Stkbn (Berlin).
•/
B. Pbrua. Kboll*s stereoskopische Bilder. 26 färb. Taf. mit Gebrauchs-
■ aikweisung. Dritte verb. Aufl. Hamburg u. Leipzig. Leopold Voss.
1895.
Das abermalige Erscheinen einer neuen Auflage dieser stereio-
skopischen Bilder spricht für die groüse Verbreitung, die sie gefanden
haben. Sie sind bestimmt fQr den Gebrauch zeitweilig schielender
Kinder, welche durch die mit den Tafeln vorzunehmenden Übungen die
fehlerhafte Stellung ihrer Augen allmfthlich dauernd korrigieren sollen.
fei der neuen Auflage war der leitende Gesichtspunkt im wesentlichen
doTi den Glhrieb zur stereoskopischen Verschmelzung der Bildh&lften mehr
als bisher zu verst&rken. Diesem Zwecke dienen 12 neae Tafeln, welche
teils Bilder mit kongruenten Haupt- und inkongruenten Nebenfiguren,
teils nach demselben Grundsatze dargestellte Schriftvorlagen enthalten.
Ein neu hinzugekommenes Bild ermdglicht eine Veränderung des Ab-
Standes seiner Hälffcen. Abthub König.
J. BiGH. Ewald. Zar Physiologie des Labyrinthes. IV. Mitteilung.
. Die Beziehiingen des Orolkhims lum Tonnslabyrinth. Teilweise naoh
Versuchen von Ida H, Htdb. Pflüg er s Ärch. f, d. ges. Physiol Bd. 60.
S. 492-606. (1896.)
Nach der einseitigen Exstirpation des „Tonuslabyrinthes" (vgl. die
früheren Arbeiten des Autors) bei Tauben tritt eine typische Köpf-
verdrehung auf. Dieselbe beginnt nicht sofort nach der Operation, und
Endet nicht beständig^ sondern nur anfallsweise statt. Die Ursache
hierftlr ist die, dals das Tier sich seinem abnormen Zustande bis zu
einem gewissen Grade adaptiert Unter Adaptation versteht Verfasser
hierbei „diejenigen Vornahmen des Tieres, welche den Zweck haben,
die eingetretene Störung zu kompensieren, und bei welchen nur solche
Mittel zur Anwendung kommen, welche in gleicher Weise auch vom
npnnalen Tiere gebraucht werden**« Femer übt der .Funktionsausfall
SSellMltrift Ar Ptyeholosie X. 18
27^ LiUeratmberieht
deiB 'Tonuslabyrinthes nicht sofort seine ganze Wirkung ans, sondern
-wird diirch einen nur allmählich abnehmenden Beiaszostand des OctaVm«^
Stammes selbst teilweise ausgeglichen. Schliefslich hören die Eopf-
verdrehungen ganz wieder auf, indem sich „allmählich die Art der
InnerTation auch für die willkärlichen Muskelbewegungen ändert, so
dafii die fehlende Einwirkung des Tonuslabyrinthes auch bei willkOr«
liehen Anstrengungen ausgeglichen wird^. Nach den unter Leitung des
Y^assers yov Htdb ausgeführten Untersuchungen zu schlieXIsen, ist es
da3 Grofshim, yon dem solche „Ersatzerscheinungen" vermittelt werden.
Denn bei grofshirnlosen Tauben dehnte sich die Epoche der Kopf-
verdrehungen bis zum Tode aus, und überhaupt werden alle Ersatä«
erscheinungen deutlich Termindert, wenn auch gemäfs der geringen
Ausbildung der Grofshimzentren nur in geringem umfange.
SCHABFXB (BoStOOk).
«
J. Bebnbtein. über das angebliche Hören labyrinthloser Tanben. Pflügers
Arch. f, d. ges, Physiol Bd. 61. S. 113—122. (1896.)
Aufgabe der Untersuchung ist es, das „angebliche HOren labyrinth-
loser Tauben" zu widerlegen. Im Anschlüsse an seine bereits früher
geäufserten Bedenken giebt Verfasser zunächst seiner Überzeugung
Ausdruck, dafs Ewald und Wündt ihre Hörversuche an labyrinthlosen
Tauben zu einer Zeit angestellt hätten, wo der Acusticus bereits auf-
steigend degeneriert war. Aulserdem ist der SchalierzeugpmgsmethodA
dieser Autoren der Vorwurf zu machen, dalb höchst wahrscheinlich
Tasterregungen — nämlich Mitschwingen der Federn — mit ins Sptel
kamen; eine Fehlerquelle, welche Verfasser in seinen Schuisyersuchen
ausgeschlossen hatte.
Als definitiv entscheidend führt B. folgenden Versuch an. Wenn
man einer normalen Taube einen längeren Gummischlauch in den Gehör-
gang einführt und durch diesen Schlauch dem Ohre Töne oder Geräusehe
zuleitet, so reagiert das Tier prompt, eine labyrinthlose unter den gleichen
Umständen aber nie. Dagegen reagieren sowohl operierte, wie un-
operierte Tauben gleich gut, wenn man gewisse Schallqualitäten in
solcher Nähe erzeuget, dafs die Haut von den Vibrationen getroffen
werden kann. Daher glaubt Verfasser „ erwiesen zu haben, dafs, wena
bei labyrinthlosen Tauben irgend welche Schallreaktionen auftreten,
diese nicht durch den Stumpf des HömerTony sondern durch sensible
Organe der Haut vermittelt werden.** Schabfer (Bestock).
E. Saübbbsohwarz. Interferenzvenmcho mit VokalkläagtA. Pfiüg^rB
Ardi, f. d. ges, Physiol Bd. 61. S. 1-81. (1896.)
Nach geschichtlichen Vorbemerkungen berichtet Verfasser über
seine eigenen Versuche, welche sich eng an frühere Untersuchungen
▼on Gbützubb anschliefsen. Letzterer stellte bereits früher Versuehe
darüber an, was aus einem Vokal wird, wenn bestimmte Teiltöne aus
ihm abgeschwächt oder ausgeschaltet werden, und benutate das« aueraft
den bekannten Apparat von NöBBSiiBEBO, dann einen einfacheren tob
andttrer Konstruktion, in welchem . der Ton durch seine eigenea, aus
lÄtteraiiiiHrberieht 275
6iii«jr¥era€()ilo8senQnSeitonrölire3ttrükgeworfenen Beflexwellen g^sckwftebt
besw. vernichtet wird. Für die Versuehe des Verfassers irarde die Vor*
riobtoog nocli besonders verToUkonunnet. Als Besultat der gsAie«
TJntersacbiiBg ergab sieb folgendes. Die Wegnahme des Qrundtones
und der ungeradzabligen Teiltöne schädigt die Vokale in verschiedener
Weise: A am wenigsten, 17 am meisten, die anderen in mittlerem Grade.
Die Seh&digang nimmt zu mit der Höhe, in der der Vokal gesangen
wird. Die Auslöschung der (HEBMAimschen) Formanten ist ebenfalls f Qv
alle Vokale von grofsem, aber nicht fUr alle von gleichem Einflasse.
Danaeh müssen wohl für die Charakterisierung der Vokale neben dem
absoluten Moment auch noch gewisse andere (relative) Momente an-
genommen werden, die bei einigen Vokalen in stärkerer, bei anderen in
schwächerer Weise ihren bestimmenden Einflufs ausüben« Hier wäre
asu achten „auf das Stärkeverhältnis des Grundtones zu einem oder
mehreren seiner Obertöne, oder auf das Stärke Verhältnis verschiedener
Obertöne zu einander, das sog. Verstärkungsmoment, oder ihre absolute
Anaabl, oder schlieiSilich auf die mehr oder weniger grofse musikalische
Entfernung der Obertöne vom Grundtone und voneinander.*'
SCHABFBB (BoStOOk).
VicaoR Urbaktscbitbch. Über Hörttbnngen bei Taabstnmmheit und bei
Brtaabiing im späteren Lebensalter. Wien, TJrban ft Schwarzenberg.
1896. 136 S.
Verfasser hat wiederholt in der medizinischen Fachpresse, zuletzt
in der Sektion für Ohrenheilkunde der 66. Versammlung deutscher Natur-
forseher und Ärzte, von der Möglichkeit gehandelt, durch methodische
Übungen die Hörfähigkeit bei hochgradig Schwerhörigen zu erhöhoi.
Im vorliegenden Werk finden wir die in den versehiedenen Publikationen
zeyratreuten Angaben einheitlich zusammengefaXst, durch neue Beitrl^e
erweitert und anhangsweise mit einem kurzen Auszug der Eiranken-
geechiohten versehen, der die vorausgehenden Ausführungen au verdeut-
lichen bestimmt ist. Den leitenden Gedanken der methodischen Hör-
Übungen präzisiert Verfasser folgendermalsen : „Wodurch könnte aulaer
den bisher gewöhnlich angewendeten Mitteln die akustische Thätigkeit
direkt angeregt werden? Nun ist ja doch der grofse EinfloÜB bekannt,
den die Massage und methodische Körper Übungen auf Muskel- und Nerven*
erkrankungen zu nehmen vermögen, und es liegt daher auch der Gtodanke
nahe, ob nksht bei manchem, sonst nicht weiter behebbaren Sehallleitungs-
oder Schallperzeptionsleiden durch eine der Wirkungsweise des erkrankten
Organs in erster Linie zukommende Art, nämlich durch eine Hörgym-
naalik, die Thätigkeit des mangelhaft funktionierenden, jo, selbst toü*
weise defekten Hörorgans gesteigert werden könne.'* Günstige Erfolge
haben die methodischen Hörübungen namentlich bei Ertaubung durch
MiMDgitis cMrebro-spinalis ergeben, unter den durch Seavlatina und
Diphtherie ertaubten Personen erwiesen sich bei einigen die akustischen
Übvngen als wirkungslos. Betrefb des praktischen Wertes der Hör-
übungen kommt zunächst deren Einflufs auf die Aussprache in Betradlit.
Wätffead die Sprache der TaubsiomaMn, die vom Munde ablesend reden
18*
276 Läagraturbenekt.
gelernt haben , einen oft unangenehm harten , jeder Modulation entbeh-
renden Charakter tr>, nimmt die Stimme der durch Hörübungen beein-
fluDsten Taubstummen häufig den normalen Klangcharakter an, so dafs
dieselben auch von fremden Personen ohne Mühe verstanden werden
können. Femer ist es durch eine Verbesserung des Gehörs auch leicht,
„die Taubstummen mit Vokalgehör allm&hlich an den Dialekt zu ge-
wöhnen, der bei der ländlichen Bevölkerung die Hanptschwierigkeit far
den mündlichen Verkehr mit den Taubstummen bildet**. Schlieislich ist
noch hervorzuheben, dals jede noch so geringe Besserung des Hörver-
mögens im gewöhnlichen Verkehr von groüsem Werte ist, da hierdurch
manche Gefahren vermieden werden können, die der körperlichen Sicher-
heit der Taubstummen im öffentlichen Leben drohen.
Theodor Hellbr (Wien).
Fb. Kibsow. üntenrachungan über Temperatarempflndungen. Erste Mit-
teUung. Phüoscph. Stud, XI. 1. S. 135—145. (1895.)
Jene Bichtung der Sinnesphysiologie, welche bestrebt ist, das
Gesetz der spezifischen Sinnesenergien in extremer Weise und speziell
auch für die einzelnen Empfindungsqualitäten innerhalb eines Sinnes
durcluniführen, kann, ob sie gleich zahlreiche und bedeutende Vertreter
zählt, doch heute nicht als die unbedingt herrschende bezeichnet werden.
Es ist vor allen Wüitdt und seine Schule, welche sich, bei Anerkennung
des richtigen Kernes in dem Satze von den spezifischen Sinnesenergien,
den modernen Umgestaltungen und Erweiterungen jener Lehre gegen-
über vorsichtig zurückhaltend, teilweise auch ablehnend verhalten und
dadurch ein wirksames Gegengewicht gegen jene in der That oft zu
weit gehenden Bestrebungen gebildet haben. Von besonderem Interesse
ist es daher, wenn jetzt gerade von dieser Seite diejenigen Teile der
Sinnesphysiologie eingehende Berücksichtigung finden, welche für die
Klärung der Fragen der spezifischen Energie mehr Aussieht bieten, als
die bisher mit besonderer Vorliebe behandelten beiden höchsten Sinne;
ich meine die niederen Sinne, insbesondere den Geschmacks- und den
Temperatursinn, über welche Fr. Kibsow schon einige wertvolle Ab-
handlungen geliefert und weitere in Aussicht gestellt hat.
Die oben genannte Schrift über Temperaturempfindungen stellt
sich als erstes Glied einer Beihe diesen Gegenstand betreffender Ab-
handlungen dar. Sie bringt zunächst im wesentlichen eine Bestätigung
der BLiz-'GoLDsoHsiDEBschen Besultate. Kiesow findet die Annahme
getrennter Empfindungspunkte durchaus bestätigt und konnte deren
Konstanz über längere Zeiten hin (bis zu iVt Monaten bis jetzt) bestätigien.
Femer fand Kibso'w wie Goldscheideb zwischen den eigentlichen S^te-
und Wärmepunkten Zonen, in denen ein intensiver Temperaturreniz zwar
anfangs nicht empfunden wird, allmählich aber doch zur Wahmehmiüig
gelangt, wofür eine befriedigende Erklärung noch nicht gegeben Werden
kimnte. •..■■>: r > ^
' Die Frage niach dei^ spezifischen Natur der Tempevaturp«n:kte- bejÄht
LiUeratufheneht. 277
delr Yerfaflser, d» er die betreffetiden Punkte auf inadäquate BeLse
(Dtujck mit Hblzstäbclies, Nadelstioli, faradisehe B^izting) mitdeTihaeii
spedfisolien Empfindung reagieren sah. Doch waren diese Versuche mit
Schwierigkeiten verknüpft, sie gaben oft, namentlich anfangs, un:^
befriedigende Besultate; es gehörte längere Übung dassu, um die spesit
fische Empfindung durch inad&quate Beizung auszulösen. .
Es wäre von Interesse, wenn Herr Kissoir über diese Yersucihe:
noch näheres mitteilen wttx*de| speziell darüber, ob die Versuchspersonell
über die bei der inadäquaten Beizung ;bu erwartenden Empfindongenf
5intenichtet waren oder nicht. Referent hat ganz ähnliche Unter*
su^hungen in gr.oDser Zahl angestellt und dabei Gelegenheit gehabt, den
ungeheuren Einfinfs der (unbewufsten und Unbeabsijohtigten) Suggeotloa
und Autosuggestion auf derartige Urteile kennen zu leimen.' Besultate
reiner Selbstbeobachtung ohne weitere Kautißlen wären hiei^ nicht über-,
«engend.
Über eine, ofiPenbar untör Vermeidung von Suggestion ausgeftlhrte
Versuchsserie an Mr. Jüdd beribhtet> der Verfasset näher: es wurden
W Versuche mit fkradischer Beizuiig von Kältepunkten, '' ebensoyiele
an Wärtnepünkten genkacht; < hierbei . fielen auf die Kältepunkte 45, auf
die Wärmepimkte 32 richtige :Urteile. Wegen ;der hietb^ und bei den
Übrigen Versuchen mit inadäquater Beizung angewandten Vorsichts-
:maf8]^egeln zur Vermeidung uiabeabsichtigter Beizeffekte .mufis auf das
Original verwiesen werden.
.Bemerkenswert ist endlich, dalb der Verfasser Wärmepunkte durch
Käitereiz, Kältepunkte durch Wärmereiz erregen konnte; die schwachen
Beisie, mit denen er die Pankte aufsuchte, lösten : in vielen Fällen die
^nen inadäquate Empfindung aus.
. Kälte auf Wärmepunkte appliziert, erzeugte niemals Kaltidmpfinduag,
dagegen wurde kaum ein Kältepunkt gefunden, der nicht fähig gewesen
wäre, Wärme (von 47 bis 60^ an) zu perzipieren. Weitere Untersuchungen
übei<= dieses interessante Verhalt^i werden in Aussicht gestellt. Beferent
kann ^dasselbe übrigexus nach' früheren eigenen Untersuchungen durchaus
bestätigen, hat aber daraus den Schlufs gezogen,' dafs die Wärmewahr»
nehmung nicht in der Weise punktförmig verteilt sei, vne .die Kälte-
Wahrnehmung. Im Gegensätze zu den scharf abgrenzbaren Kältepunkten
erscheinen dem Beferenten die Bezirke, der Wärmeperzeption ungleich
versehwommener, teilweise in difihise Verbreitung übergehend, wie dies
auch schon von anderer Seite beschrieben worden ist.
W. Nagbl (Freiburg).
H. Gbibsbach. Über Besiehimgan swischen geistiger Brmttdiing und
I Bmpfindungsvermögen der Haut. Arch. f. Hygiene. Bd; 24. Heft 2.
:S. 124— 212. (1895.) Auch separat unter dem Titel: Bnergetik und
' Hjgiene des NerTensysteais in der Schale. München und Leipzig.
. Oldenbourg. 1895. 97 S.
: Verfasser beabsichtigt, in den vorliegenden Mitteilungen einen
Abechnitt der Nervenenergetik während des Sohullebens (Zu behandeln;
und- empfiehlt gleichzeitig, derartige' Untersuchungen förtziAsetzen und
278 Litferaiwimi<^.
dieselben auf alle für dafi jugendliche Alter in Betracht kommenden
EntwiökelungsBtufen, die bis sum Ende des 17. Lebensjahres reichen
und durch den Eintritt in das 8. und 14. Lebensjahr markiert sind, aus-
sudehnen. Nach Besprechung der von Mosso und Sikorskt fUr das
Studium der Ermlldungserscheinungen ausgebildeten Methoden und der
Abänderungen, welche das Verfahren Sikobskts durch BmuwBstnnr,
HAmran, Lasbk und KnjLBPSLnr erfahren hat, bespricht Verfasser seine
eigene Methode, die fllr den ▼orliegendqn Zweck wesentliche Vorteile
bietet und im ganaen eine Anwendung der Maüsbestimmung der WsMift-
sehen Empfindungskreise auf die yerschiedenen Stadien der Ermddung
ist. „Sie fuISit auf der von mir beobachteten, bisher, wie es scheint,
unbekannten Thatsache, dafs Himermtldung die 8ensibilit&t der Haut
herabsetzt.'' „Da die Aufmerksamkeit im Augenblicke des Versuches
einen Terkleinemden Einflufs auf die physiologischen Empfindungskreise
ausübt, so ist es sehr begreiflich, dafs geistig ermüdete Personen, die
mit Bunehmender Abspannung immer weniger Aufmerksamkeit besitzen,
eine entsprechende VergrOikerung der physiologischen Empfindungskreise
seigen. Daher liegt in der PrtLfung des Empfindungsvermögens der
Haut mittelst des als Ästhesiometer dienenden Zirkels eine Methode zur
Ermittelung geistiger Ermüdung, und die bei der Prüfung erhaltenen,
in irgend einem MaCssystem ausgedrückten Zahlenwerte, verglichen mit
denjenigen, welche sich im Zustande physiologischen Gleichgewiehtes
bei der Prüfung ergeben, bilden ein Mafs für den Grad der Ermüdung.*
Die Versuche wurden an Schülern der versohiedenen Klassen des
Ojrmnasiums und der Oberrealsehule in Mülhausen, femer an jungen
Leuten, die in einer mechanischen Weberei und in Maschinen-
werkstätten beschäftigt waren, an Lehrlingen mit g^ter Schulbildung,
sowie an einigen Lehrern ausgeführt. Die Versuchsstellen der Körper-
oberfläche waren: Glabella, Jochbein, Nasenspitze, Bot der Unterlippe^
Daumenballen der rechten B^nd und Kuppe des rechten Zeigefingers
(Fingerbeere). Die Messungen wurden des Morgens und am Nachmittage
vor dem Beginn und nach Sohlufs der Arbeit (bei den Lehrern Tor
und nach dem Unterrichte), angestellt, doch wurden dieselben bei den
Schülern nach jeder einzelnen Lehrstunde wiederholt. Ebenso konnte
Verfasser seine Versuche auf die Zeit während eines schriftlichen und
mündlichen Examens ausdehnen. Verfasser benutzte für seine Menwrtigen
sowohl scharfe, wie kugelförmig abgestumpfte Zirkelspitzen; die letstorsn
ergaben im allgemeinen etwas gröfsere Werte. Beide Werte sind in
den zahlreichen, dem Tekte eingefügten Tabellen nebeneinandergestellt.
Die physiologischen Normalen wurden für die genannten Hautstellen
an arbeitsfreien Sonn- und Feiertagen gewonnen. Dabei zeigte sieh,
daft Schwankungen der Sensibilität entweder nicht oder nur in geringem
G^de vorkamen. Von Interesse ist femer, da& die gefundenen Normal-
werte kleiner, als die bisher gefundenen sind. Verfasser schreibt dies
dem Umstände zu, dads die geistige Ermüdung bei den bisherigen Ver-
suchen nicht genügend in Rücksicht gesogen wurde. Ob diese physio-
logischen Normalen beim männliohen und w^blichen Gtesohleohle ver-
sohiedone Werte aufweisen, läM Verfissser unentsohieden, bei Soiittlbtm,
Utteraiurbericht 279
di« zwisohen dem Tollendeten 11. und 19. Lebensjahre standen^ zeigten
sich nur geringe Versohiedenheiten. Verfasser beobachtete femer auch
bei seinen Versuchen die unter dem Namen Vezierfehler bekannt« Er-
scheinung, wie auch, dafs zuweilen eine Verringerung der Distanzen als
Vergröfsernng, und umgekehrt, empfunden wurde, fOgt aber hinzu, dafs
diese Störungen nur nach mehrstündigem Unterrichte und nie in arbeits-
freien Zeiten auftraten. Aeferent kann zu dieser Beobachtung bemerken,
dafe er lange Zeit an Hautsinnesuntersuchungen teilnahm und hierbei
nur in ermüdetem Zustande, für gewöhnlich aber nie Vexierfehler beging.
Dieselben zeigten sich nach angestrengten Arbeitstagen an den Abend-
standen einige Male sogar in auffallender Weise. Die Beobachtung
wie die Schlufsfolgerung des Verfassers dürften durch diese kurze Mit-
teilung eine Bestätigung erfahren.
Aus den interessanten Ergebnissen der Untersuchung seien folgende
Punkte hervorgehoben. Verfasser konnte beobachten, „dafs das Em-
pfindungsvermögen durch mechanische Th&tigkeit weit weniger als
durch geistige Thfttigkeit beeinträchtigt wird, und dafs, wenn eine Ver-
minderung bei mechanischer Thätigkeit eintritt, diese hauptsächlich
lokal ist und sich auf Anstrengung einzelner, unter der Haut gelegener
Muskeln zurückführen läfsf. Nach einer Stunde geistiger Anstrengung
tritt bereits eine erhebliche Herabsetzung des Empfindimgsvermögens
ein. Bei anderen Personen tritt eine so bedeutende geistige Ermüdung,
wie sie während des Schullebens beobachtet wird, nicht auf. „Sobald
die Konzentration der Hirnthätigkeit auf ein bestimmtes Arbeitsgebiet
Aachlälst, beginnt die Erholung, imd mit ihr kehrt die normale Sensi-
bilität der Haut allmählich zurück.'^ „Durch energische und anhaltende
geistige Thätigkeit. ohne genügende Erholungspausen, scheint das £m-
f»findungsvermögen dauernd herabgesetzt zu werden ; es kann daher eine
-davemd verminderte Sensibilität ein diagnostisches Mittel für geistige
Oberbürdung sein. Vor dem Beginn des Morgenunterriehts fand Vei^
ÜMser annähernde Werte wie an freien Arbeitstagen, beim Beginn der
.Nachmittagsstunden hatte eine völlige Erholung nicht stattgefunden,
wähirend des Unterrichts schwächte sich die Sensibilität um das drei-
fache ab. Bemerkt sei femer noch, dafs Verfasser den Grad der Er-
müdung, der durch die einzelnen Unterrichtsfächer bedingt ist, in Kurven
darstellte, bei denen die Malszahlen als Abscissen und die Messungs-
aeiten als Orditiaten genommen sind. Verfasser gelang^ sohliefslich ^ta
d«m Endresultat, dafs eine Überbürdung des jugendlichen Alters durch
den Schulunterricht nicht mehr geleugnet werden kann. „Wenn nun
die im vorangegangenen ausgeführten Methoden zur Ermittelung geistiger
Ermüdung nicht gänzlich imzureichend sind, und wenn zahlreiche Beob-
achtungen in Bezug auf pathologische Zustände nicht trügen, dann
steht es fest, dafs kein Schulknabe und selbst kein Er-
wachsener, ohne Gefahr für seine Gesundheit, tagein tag-
aus geistig so lange zu arbeiten im stände ist,, wie es der
liestige höhere Unterricht bei strenger Durchführung er-
lieischt.^ VerfMser erblickt in den nervösen Zuständen derSohüler
die. ersten Vorboten des „unheimlichen, prot^usartigen Gespensties
280 Litteratitrbeneht
K^uraatbenie", an denen' die liöutigen gebildeten' Stinde mehr odJer
Weniger alle leiden.
Es bedarf keines weiteren Hinweises, däfs die vorliegende» Ab-
handlung die gröfste Beachtimg verdient. Kann das lediglich für die
Zwecke der Schulhygiene dnrohgef&hrte Versuchsverfahren, wie Ver-
fasser selber andeutet, auch nicht den Werl exakter psychologischer
.Methodik beanspruchen, so wird dennoch auch die speadellere psycho-
logische Forschung aus der Untersuchung nach manchen Seiten- hin
wertvolle Anregung empfangen. Fbibdiw Kibsow (Leipzig).
O. O. MoTsoHUTKowsKT Büi Appaxat sor Frttfimg der Schmersempliiidiuig
der Haut. — Algesiometer. Nemvl Cmtralbl XIV. 4. S. 146--15S.
(1896.)
Hbss. Altfeaiometer Ton Dr. Motsohütxowskt — Algeslmeter von
Dr. HB88. Ebenda. No. 12. S. 548—649.
Daft Unzuträgliche der bisherigen Methoden zur Prüfung der
Schmerzempfindlichkeit der Haut (z. B. mittelst des BjCBNSTBöMSchen
Algesiometers) veranla£st M. zur Konstruktion eines neuen, diesem Zwecke
dienenden Apparates. Derselbe berührt die zu prüfende Haut mit einem
flach konvexen Knopfe von 1 cm Durchmesser. Wird derselbe auf die
Haut aufgedrückt, so kommt aus seiner zentralen Durchbohrung ^ine
.1 mm dicke Stahlnadel zum Vorschein, welche in einem scharf ge-
schliffenen, 1 mm hohen Konus endigt. Der Grad der Schmerzempfindlieh-
keit wird zahlenmäiSsig bestimmt nach der Tiefe, bis zu welcher die
Nadel in die Haut' eingedrückt werden mufs, damit eben Schmers
eintritt, und diese Tiefe wiederum l&fst sich an der Schraube des
Apparates regulieren und in Zehntelmillimetem ablesen.
Die mittelst dieses Apparates erhaltenen Empfindlichkeiten weichen
von den mit derBsBMHABDTSchen elektrischen Beizung und dem BjOrnstbO^
sehen Algesiometer gefundenen erheblich ab. Bezüglich der vorl&ufig
mitgeteilten Einzelresultate wäre das Original nachzulesen. (Von bedeo-
,tendein, schwer in Rechnung zu bringendem, Einflüsse dürfte die Spannung
der untersuchten Haut und die Härte der unter derselben liegenden Teile
sein, Bef.)
•Hbss weist darauf hin, dafs er das von M. verwandte Prinzip der
Sensibilitätsmessung nach der Tiefe des zur Schmerzerzeugung nötigen
JSinstiches schon bei einem von ihm früher konstruierten und be-
schriebenen Apparate zur Anwendung gebracht hat. Hess teilt mit,
inwiefern zwischen seinem und M.*s Apparat kleine Unterschiede bestehen,
und giebt zu, dafs M.'s Algesiometer zur G-ewinnung präziserer Besoltate
geeigneter erscheint. W. Naoel (Freiburg).
V. H«HBi und G. Tawiibi^ Über die Tmgwahmehmang zweier PalEte
bei .der Berflhnmg eines Punktes der Haut. Fhüos. SML Bd. XL
Hefta a 894— 406. (1896.)
Berührung eines Punktes der Haut niit einer Spitze ruft zuweilen
die als ,, Vexierfehler ^ bezeichnete. Iliusion der Berührung an zwei
Punkten hervor. Die Verfasser haben diese Erscheinung eingehend
LüteraturheHeht. 281
imteärgbcht tmd sind su dem Ergebnis gelsngt, daüs dieselbe' zunächst
▼on physiologischen Beding^ongen (wahrscheinlich denNerrenyerbindungen
des berührten Punktes) abh&ngt, dafs sie aber durch psychische Vor-
gftnge, wie Wissen und Erwartung, beeinflufst wird.
Es wurden zwei Arten von Versuchsreihen ausgeführt: reine
Vexier reihen, wo stets nur ein Punkt berührt wurde, und gemischte
Ve kl er reihen, wo bald eine, bald zwei Stellen der Haut bertthrt
wurden. Abweichend yon früheren Ähnlichen Untersuchungen, wurde
Ton dian Versuchspersonen Terlangt, die Wahmehmxug zu beschreiben,
anzugeben, in welcher Bichtung die beiden Punkte zu. einander lagen, ob
beide' gleich stairk und qualitativ gleich eknpfunden. wurden oder nicht,
ob sie durch eine Linie verbunden -erschienen oder nicht.
Bei Vergleichung der Veiderfehler an zwei verschiedenen Punkten
(der Vorderseite des Unterarmes) war die Zahl der Vezierfehler Ab.
beiden Punkteki nicht merklich verschieden, dagegen ergaben sich be-
stimmte konstante Verschiedenheiten hinsichtlich der scheinbaren Lage
der beiden wahrgenommenen Berührungspunkte zu einander, sowie auch
liinsichtlibh des Verhältnisses der scheinbaren Intensitäten. .Es zeigte
sich 'deutlich, dafs ^e Vexiierfehler in gewissen konstanten Beziehungen
zu den berührten Punkten stehen; sie sind also an den peripheren
'Vorgang gebunden.
Bei reinen Vexierreihen war die relative Zahl der Vexierfehler
grOi^er, als bei den gemischten Reihen.
: Bei den bisher erwähnten Versuchen wufsten die Versuchspersonen
nicht, ob thatsäoblich eine oder sewei Spitsen ihre Haut berührten. Einen
erheblichen EinfluTs auf das Ergebnis hatte es, wenn man vor dem Ver-
suche den Beiz, den man ausüben wollte, also eine Spitze oder zwei
Spitzen von bestimmtem Abstände, der Versuchsperson- zeigte« Der
nachher wirklich ausgeübte fteiz konnte dann dem Suggerierten gleich
Xidep von ihm verschieden gemadäit werden. Im letzteren Falle wurde
.sebr'häutig^eine thatsächlich einfache Berührung doppelt empfunden,
wenn zuvor zwei Spitzen gezeigt worden waren, und zwar richtete sieh
"det «cheinbare Abstand der beiden Berührungen nach dem Abstände
jento beiden vorgezeigten Spitzen. Die Wahrnehmung der beiden Be-
rührungen und ihres Abstandes war also suggeriert./ Doch kam es auch
■Yotj dafs eine thatsäoblich einfache und auch als einfach erwartete Be^
rührung bestimmt als doppelt empfunden wurde, selbst unter der Kon-
trolle^ des Gesichte : I . W. Naobl (Freiburg).
, • , . ■
• • ■ . , . ■
1. AX.PBXD Blbchbr. über die Smpllndiuig des Widerstandes. Dissert.
Berlin (C. Vogte Buchdruoketei). 1893. 41 8. ^
2. OoinscHBiDEK und BLsensR. Versuche über die Bmpflndung des Wider-
. Standes. Du Bois* AnAi 1698. S. 536-619.
Die zweite Abhandlung stellt nur einen Auszug aus der ersten dar.
Wir- beschränken uns dither zumeist auf die Besprechung dieser.
Unter ,^Wider Standsempfindung" verstehen die Verfasser eine
^u dem Miiskelsinne .gehj5rige Empfindung, deren Qualität am meisten
der Druckempfindung ähnlich ist, deren Intensität einen Maisstab' für
282 lAHeraburberidU.
die Koexistenz der KOrper abgiebt, wie die ganze Empfindung bei der
Ermittelung der Objekte eine hervorragende Bolle spielt. Sie entstellt
wesentlich in den Gelenken, indem die hier endenden Nerven duroh den
StoXs, welchen das tastende Glied erleidet, affiziert werden.
Die Grundlage der vorliegenden Abhandlungen bildet die sogemannte
,,paradoxe Wider st andsempfindung". Senkt man nftmlioh ver-
mittelst der oberen Extremit&t resp. eines ihrer Glieder ein Gewicht,
welches «n einem Faden befestigt ist, so empfindet man im Auganblioke
des Aufstofsens des Gewichtes auf einer festen Grundlage einen Wider-
stand, den ioan ins Gewicht verlegt. Der Faden wurde um zwei Bollen
l^ftlhrt und dann vermittelst eines Bandes an dem Gliede befestigt,
welches seinerseits zur Vermeidung der Hautsensation mit einer GnmMi-
manschette umkleidet war. Unter Variation sowohl des bewegenden
Gelenkes [Senkung a) im Schultei^, b) im Ellenbogen-, c) im MetflJcarpo-
phalangealgelenk] als auch des Aufbftngepunktes (an der L, 11., ELL Pha-
lange des Zeigefingers, an der Hand, 10 ein vom Handgelenk entfernt)
wurden verschiedene Schwellenwerte der Widerstandsempfindung er-
mittelt, d. h. diejenigen Gewichte, bei deren Senkung unter acht
viermal eine undeutliche und die anderen vier Male keine
empfindung eintrat. Das Geräusch wie das Sehen des Aufsetzeaä dee
Gewichtes war verhindert; die Senkungsgeschwindigkeit war 4 — 5.«m^ in
der Sekunde, d4 hierbei die Widerstandsempfindung am deutlichsten ist.
Es zeigte sich nun, dafs die Widerstandsempfindung um
so gröfser oder das Gewicht des Schwellenwertes . am so
kleiner ist, je distaler das Glied ist, an dem der Faden sich
befand.
Den Grund hiervon finden die Verfasser, welche auch die Beageftiteii
waren, nicht etwa in der verschiedenen Schwere der Manschetten je aaoh
der GrOfse des Auf hängegliedes. Denn liefe man die hierdui«li ver^
ursachte Belastung unverändert, indem gleichzeitig mehrere Glieder mit
den zugehörigen Manschetten bekleidet waren, so ergab sich bei Variation
des Aufh&ngepunktes ebenfalls obiges Gesetz. Vielmehr ist einerseits
an die Verschiedenheit der Hebell&ngen in dem ganzen bewegten
Armteile, andererseits an die anatomischen Verhältnisse zu denkeii.
Letztere bestehen vor allem darin, dafs die distalen Glieder kOrser,
dünner und daher leichter sind; auch besitzen sie eine ktlrsere Heb^-
länge. Die einzelnen Glieder sind ziemlich gleichgestellt, aber die Widsr-
standsempfindung entsteht durch die Summe der Empfindungen, welohe
die einzelnen Glieder verursachen. Je gröfser diese Summe ist, desto
deutlicher ist die ganze Empfindung. Die Widerstandsempfindung selbst
erklärt Bischer durch ein alleiniges Wirken der sog. „FixiArungs-
kraft". Die ganze Kraft des bewegenden Muskels läist sich nämlioli in
eine senkrecht zur Längsaxe des Gliedes wirkende „Bewegungskraft*'»
welohe beim Aufistofsen unwirksam gemacht wird, uiid in eine in der
Biohtung der Längsaxe des Gliedes wirkende „Fixierungskraft'',
^ Es ist wohl nur ein Druckfehler, wenn in der zweiten AbhsnAlung
6nm in der Sekunde angegeben werden. > j
Litteratufbmcht. 283
auch nach dem Aufsetsen fortwirkt, zerlegen. Letztere verursacht einen
Gelenkdmck nnd damit die Widerstandsempfindung.
Die Hautsensibilitftt fanden die Verfasser im Q-egensatz zu den
früheren Yersncben Gk>LD8CREn)SR8 beteiligt. Denn liefsen sie die Man«
schetten in Wegfall, so schwanden die Variationen des Schwellenwertes
je nach Änderung des Aufh&ngepunktes und des bewegenden Ghelenkes.
Die Hautreizung war dann bei dem Aufsetzen des Gewichtes eine zwie-
fache: eine Druckabnahme an der oberen Hautpartie, von der sich
das Aufhängeband entfernte, und eine Druckzunahme an der unteren
Hantpartie, an die das Band anschlug. Durch zweckmässige Änderungen
der Versuche wiesen Verfasser nach, dafs beide Beize in Betracht
kommen.
Vorliegende Abhandlung ist sowohl in Bezug auf Versuchsanordnung
wie Verwertung der Versuche durchaus exakt und gewissenhaft. Mit
Recht beanspruchen fOr sie die Verfasser ein sinnesphysiologisches wie
auch psychologisches Interesse. Kur wäre mit Bücksicht auf letzteres
zu wünschen, dafs Blcchbr nicht Widerstandsempfindung und Wider-
standsgefühl promiscue gebrauchte. Gerade die strenge Unterscheidung
von ^Empfindung" und „GefÜhP fordert mit Becht die moderne Psycho-
logie nachdrücklichst. Dals eine Änderung der festen Grundlage sich
nach den Angaben in der zweiten Abhandlung nicht ermöglichen lielS|
ist Zu bedauern. Denn es ist eine nicht zu unterschätzende Fehlerquelle,
wenn Beagent ungefähr weifs, bei welcher Lage der Glieder das Auf-
setzen erfolgen mufs. Auch wäre es für die ganze Erklärung des Wesens
der Widerstandsempfindung von Wichtigkeit, genau festzustellen, wann
jene paradoxe Widerstandsempfindung sich einstellt, ob gleichzeitig mit
dem Aufsetzen des Gewichtes oder nach diesem, und in letzterem Falle,
wie lange nach dem Aufsetzen. Jedenfalls finde ich die Erklärung durch
die „Fixierungskraft" nicht überzeugend. Merkwürdigerweise ist sie auch
in der zweiten Abhandlung gar nicht erwähnt.
Arthur Wbbschnbr (Berlin).
£n. Aeovsohk. Vennieh einer NomenklAtar der Otmchsanalitftteft.
Vortrag, gehalten in der laryngologischen Sektion des XI. int^fi-
nationalen Kongresses in Bom 1894. Arch. f. Laryngol* «. BhinoL II.
8. 42-47. 1894.
Anknüpfend an seine frühere Abhandlung (Experimentelle ünter-
snohungen zur Physiologie des Geruchs. Du Bois Beymonda Arek. f.
PhyuioL 1886) hebt Verfasser zunächst hervor, dafs er in derselben bereits
die verschiedenartige Energie der einzelnen Geruchsfasem nachgewiesen
und daraus die Folgerung gezogen habe, „dafs alle die Geräche, ftlr
welche ein perzipierendes Element in den OifaotoriusfiBMern geAinden ist,
auch zusammengehören und zu einer Siasse von Gerüchen vereinigt
werden können^. Von diesem G^ichtspunkte aus sei ihm schon daknals
der Versuch einer Nomenklatur der verschiedenen Geruohsqualitäten
nicht erfolglos erschienen. Als Beispiel eines solchen Versuches führt
Verfasser an: „Webn z. B. bei bestehender Geruchsschwäche für Schwefel-
aaUBonium auch Schwefelwasserstoff und Brom« und Ohlorwassoirsteff
284 LiUeraturheriM.
nieHt gerochen werden, andere Gerftche aber dabei ungeschwftcht werden
(Ansfallmethode), so ist es klar, dals die Gerüche der genannten yier
Körper als gleichartige zn betrachten sind; wenn bei völliger Gemchs-
schwftche ftür Ol. jüniperi auch Ol. carvi nicht erkannt wird, so gehören
auch diese beiden Gerüche in eine Klasse.^
Ebenso erweist es sich für die EHassifizierong der in Bede stehenden
Empfindungen nach Verfasser als zweckmäfsig, die durch komplizierte
Körper ausgelösten Gt»rüche stets auf Ähnliche, durch Körper von be-
kannter chemischer Konstitution bewirkte, zurückzuftlhren. Die letzt-
gefundene Empfindung soll dann als Grundgeruch und Beprftsentant
dieser so gefundenen Gerubhsqualitftt dienen. Hierbei verkennt Ver-
fasser jedoch nicht die Schwierigkeiten, die sich der Ausführung dieses
Vorschlages infolge der zur Zeit noch nicht genügend erkannten Natur
vieler riechbarer Körper gegenw&rtig noch entgegenstellen. Neben den von
ihm selbst angestellten Beobachtungen verweist Verfasser sodann auf die
Versuche von Pasbt, insonderheit auf diejenigen, die von dem letzteren über
die Benzoesäure mitgeteilt sind (Passt, Sur l'odeur de Tacide benzoique
(Bemarques sur les corps inodores). Campt rend. 1. Mai 1898), aus
welchen hervorgehe, dafs die Biechbarkeit eines Körpers (l'ötant odorant
nach Passt) von besonderen Umständen abhänge. So ist nach Passts
Versuchen die Benzoesäure nur in Wasser oder Alkohol gelöst riechbar,
,nicht in reinem oder krystallisiertem Zustande. Nach Verfasser tritt
der Geruch derselben ebenfalls hervor, wenn man sie mittelst einer
indifferenten Lösung zur Begio olfactoria leitet. Passt fand femer alle
Parfüms tmriechbar, „wenn sie nicht gerade bei der Geruchsprobe
durch hohe Temperatur in einen sehr flüchtigen Zustand übergeführt
sind''. Verfasser fährt fort: „Es ist übrigens schon lange bekannt und
findet sich auch in meiner Arbeit erwähnt^ dafs die aromatischen Kräuter
im trockenen Zustande einen nur schwachen, bezw. gar keinen Gemcli
besitzen, dagegen einen • deutlichen und ziemlich starken Geruch ver-
breitein, wenn sie angefeuchtet sind. Aufser durch Anfeuchtung und
Erwärmung ist der Etat odorant eines Körpers auch in der Weise zu
studieren, dafs wir ihn direkt vermittelst einer indifferenten Lösung an
die Begio olfactoria bringen. ** Natriumsulfat hat in dieser BehandlungH-
i9>eiBe nach Verfasser einen „brenzligen Geruch^, bei Schwefelsäure,
Phosphorsäure, Soda, Magnesiumsulfat, Kupfersulfat, Kali hypermang.
konnten ebenfalls „eigenartige Gerüche** nachgewiesen werden. Ver-
fasser fordert femer, auch die Veränderungen in Bücksicht zu ziehen,
welche die Teile eines Versuchskörpers auf dem Wege zur Nase er-
fahrien. Nach Sohökbbin riecht z. B. nicht der Phosphor als solcher,
sondern nur das von ihm gebildete Ozon und die phosphorische Säure.
J7ach anderen sind die Metalle nur in ihren Verbindungen riechbar, an
sich aber, wie auch alle chemischen Elemente, geruchlos. Aus diesem
lietzterwähnten Befunde schliefst Verfasser mit Becht, .dafs keines der
biä jetzt bekannten chemischen Elemente als Bepräsentant einer Geruchs-
klasse gelten könne. Die wirkliche Anzahl der Geruchsklassen kann
nach Verfasser erst ermittelt werden, „wenn nach der Ansfallmethode
•das Verhältnis aller riechbaren Körper zu einander und zu den perapte-
Liiteratwrbmehi. 285
renden Elementen in den Olfaotorinsfasem festgestellt ist*'. Ist es dem
Verfasser auch wahrscheinlich, dafs wir mehr Grandgerüche als Grund«
färben anzunehmen haben, so glaubt er doch, dais sich analog dei'
allm&hlichen Reduktion der Geschmacksqualitftten auf schliefslich vier
Grundgeschmäcke auch im Gebiete des Geruchssinnes „eine ungef&hr
gleiche Anzahl" von Bezeichnungen für die Verschiedenheiten dieser
Sinnesempfindungen als ausreichend erweist.
Verfasser bezieht sich sodann auf die von Lnmi herrührende bekannte
Einteilung der Gerüche in sieben Klassen (LiinrA, ÄmoeniUUes academicae^
1766. A. ni. p. 183), sowie auf die von Hallbk, HbriistjLdt, Sch&adkr,
80BBBTER, Pfavf, Lokgst und Buchbb mit Bezug auf eine Klassifizierung
der Geruchsqualitäten gemachten Versuche und Vorschläge, und hält
den Zeitpunkt für gekommen« wo die besonders von Buoher gestellte
Forderung einer bestimmten Nomenklatur der Geruchsempfindungen
realisiert werden könnte. Das aus Büchbrs Bepertortum der Pharmeusie
1831 mitgeteilte Zitat lautet: „Spezifische Ausdrücke für spezifische
Eigenschaften sind auf diesem Felde sehr selten und fehlen ganz, und
die Bestimmungen werden hier meistens von dem Namen der Körper,
bei denen dieser oder jener Geruch vorkommt, entlehnt. Man mufs
also, wenn man hier weiter kommen will, entweder neue Benennungen
für gewisse Gerüche schaffen oder sich über die Wahl der Gegenstände,
deren Namen zur Bezeichnung gewisser Geruchsverhältnisse dienen soll,
verständigen. Als spezifische Ausdrucke werden gewöhnlich angesehen
die Benennungen wohlriechend, gewürzhaft, reizend, übelriechend, nar-
kotisch, sauersüfis, dumpf, brandig, mucös, stjptisch, nauseös, balsamisch,
aromatisch u. s. w. ( — faulich, putride, mulstrig, brenzlig — ) ; allein
mehrere davon, als z. B. wohl- oder übelriechend scheinen mir, insofern
Sie sich entweder auf die Gefühle von Lust und Unlust oder auf das
Geschmacksvermögen beziehen, nicht richtig zu sein. Überhaupt sind
die meisten Geruchsnamen entlehnt von 1. Wirkungen der Stoffe auf
andere Sinne, z. B. süTs, sauer, bitter (vom Geschmack), oder stechend,
milde, flüssig u. s. w. (vom Gefühlssinn}, — 2. Wirkungen auf das Em-
pfindungsvermögen für Lust und Unlust als unangenehm, wohlriechend
n. s. w., — S. Wirkungen auf gewisse Organe, als erstickend, Husten
erregend (vom Atmungsorgan}, Thränen erregend, Augen reizend
(Gesichtsorgan} und ekelhaft (vom Verdauungsorgan}".
Der vorstehend mitgeteilten BucHSBSchen Alternative entnimmt
Verfasser für seinen eigenen Versuch, zu einer neuen Nomenklatur der
Geruchsklassen zu gelangen, den ersten Punkt, indem er (wie er im
wesentlichen schon früher ausführte) in den sogenannten chemischen
Zeichen der einzelnen riechbaren Körper die Grundlage für eine all-
g«nein gültige Benennung der Geruchsqualitäten gefunden zu haben
glaubt. Verfasser schlägt sodann vier Regeln vor, nach denen die neuen
Bezeichnungen gebildet werden sollen. Danach soll 1. das für eine
Gemehsqualität zu verwendende Eigenschaftswort aus dem das chemische
Zeichen repräsentierenden Buchstaben und den diesen zugesetzten Ziffern
güsammengesetzt werden, wobei die letzteren der Beihenfolge deä'
Alphabets entsprechend wieder in Buchstaben umzusetzen sind (l:=a,
286 LUUratwbtricht,
2-= b, 3 = c n, 8. f.) Nach dieser Begel würde der Campfer, der zugieiek
als BeprikseDtant von Gerüchen, wie Eukalyptus, Terebenthin, OL Thyini,
Valerianae, Bosmarini gilt, entsprechend seiner Formel CiJB.^fi den
Namen Cipho erbalten. Den Anfangsbuchstaben der neuen Bezeich-
nung bildet dabei 2. immer der erate Buchstabe des ohemlschea
Zeichens. Sind die letzteren nur Konsonanten, so sollen 3. zu dieaea
Vokale so hinzugefügt werden, „dafs sie mit ihrem Klange ungefUr die
Nuance des betreffenden Geruches innerhalb der Klasse wiedergeben^.
So schlägt Verfasser vor, dafs a als Grundvokal in einem Grundgeruoh
vorherrschen soll, e und o sind einzuschieben, „wenn der betreffende
Geruch keine besondere Nuance innerhalb einer Klasse hat*', % bezeichnet
ein besonders prickelndes Gefühl (Ammoniak), oe und eu drücken Wohl-
geruch (Bosengeruch), u, ä und au einen schlechten Geruch (Schwefel«
ammonium, putride Substanzen) aus, ei bezeichnet einen herben, scharfeii
Geruch (Schwefelsäure). Die Endigungen der so gebildeten Eigen-
schaftswörter sollen sich dann 4. nach den in den einzelnen Sprachen
üblichen Begeln richten, so dafs im Deutschen die Endigungen lieh, ig,
isch u. s. w., im Französischen dagegen als, ien, ique u. s. w. und ebenso
im Lateinischen und Griechischen die diesen Sprachen eigentümlichen
Endigungen der vorhin angegebenen Namenform anzufügen sind.
Nach diesen Begeln wird Natriumhydrat als Bepräsentant aller
„brenzligen und sengerigen Gerüche'' vorgeschlagen. Die Formel NAOH
läTst das Adjektiv nahog oder naholig entstehen, die feineren Nuancie-
rungen sind durch nahelich, nahilich oder nahaulich auszudrücken. Blau^
säure vertritt nach Verfasser den Geruch vieler Früchte. Nach der
Formel HON oder HCy laust sich das Adjectivum hacylich oder haoyn
bilden, und die Blausäure hat demnach einen hacynen Geruch, der Apfel, die
Mandarine haben einen hecynen resp. hicynen Geruch.*' Verfasser schlieist
den Vortrae mit anderen Farad igpnen, von denen nur noch das ala
cadahknolx^ ?^ bezeichnete Amylnitrit, das als cedohlich eingeführte
Karbol und das als <^isoh<^ J^^ riechende Menthol erwähnt werden mögen.
Obwohl die Anregung, welche Verfasser durch seine Vorschläge,
zu einer Nomenklatur der Geruchsklassen zu gelangen, zweifellos ge-
geben hat, voll anerkannt und zugestanden werden muis, dürfte doch
andererseits die Undurchführbarkeit seines Systems ebenfalls kaum einem
Zweifel begegnen. Indem er sich einseitig an die Forderung Bochbbs
hält, läfst er die andern vortrefflichen Winke, die derselbe Autor, wie aus
obigem Zitate ersichtlich, in seinen Ausführungen giebt, auiser acht
und sucht statt dessen für die Qualitäten des Geruchssinnes eine neue
Sprache einzufuhren, von der es schwer hält, zu glauben, dais sie von
allen, die durch ihr spezielles Studium nicht gerade in engere B^
Ziehungen zu den Naturwissenschaften gebracht sind, jemals verstanden
und gebraucht werden würde. Verfasser verliert somit einmal den Z««
sammenhang mit der allgemeinen Volkssprache, von dw sich die Wiaaen-
Schaft in Fällen wie der vorliegende nicht so weit entfernen dürfte, itJk
dieselbe ihr nicht zu folgen vermiß. In dieser pflegt die Wisaenaghaft
sonst ihre Bezeichnungen vorzufinden und sie sodann begrifflich zu
lAtteratwrberieht. 287
fixiereii. Oder sollen die neuen Benennungen des Herrn Verfassers nur
termini technici sein? Warum aber dann hier die Ausnahme von anderen
SiimeJBgebieten ? Es erseheint daher dem Referenten richtiger, wenn
man, wie bereits Bdgher vorschlägt, beim Mangel spezifischer Ausdrücke
ftkr die einzelnen Geruchsqualitäten die Namen von dem den jeweiligen
Geraoh erzeugenden Körper entlehnt. Besteht doch noch innerhalb des
Geschmacksinnes die Bezeichnung salzig, soll heifsen wie Salz schmeckend,
und ähnlich werden ursprünglich die meisten Bezeichnungen für unsere
Sinnciiempfindangen von konkreten Gegenständen oder von anschau-
liehen Vorgängen entlehnt sein. Zum anderen entfernt sich Ver-
fasser bei seinen Klassifizierungsversuohen von dem Wege, den die
Wissenschaft bei der Analysierung anderer Sinnesgebiete bereits mit
Erfolg eingeschlagen hat und der auch für das Verständnis des Geruchs*
Sinnes nach der Auffassung des Referenten allein zum Ziele führen kann.
In dieser Beziehung haben bereits Buohbb richtige Wege vorg<>schwebt,
wenn er die dem Geschmacks- und Gefühls-, besser Tastsinn zugehörigen
Komponenten von dem Gebiete des Gerachssinnes ausgeschlossen wissen
will. Auf dem gleichen Wege ist die Analyse des Geschmackssinnes
bei vier Grund empfindungen angelangt. Von hier aus sollte auch die
Analysierung der Geruchaqualitäten ihren Anfaog nehmen. Ist dieser
Schritt einmal gethan und wissen wir genau, wie viel einer gemeinhin
dem Geruchssinne zugeschriebenen Empfindung dem Tastsinne, eventuell
auch dem Geschmacksinne zufällt, so wird die Einteilung der zurück-
bleibenden reinen Geruchsempfindongen um ein wesentliches er-
leichtert sein.
Beferent möchte dem Vorstehenden noch kurz eine Beobachtung
hinzufügten, die er bei Gelegenheit seiner Untersuchung über die Wirkung
des Kokains und der Gymnemasäure auf die Schleimhaut der Zunge
und des Mundraumes (Philos. Sind. Bd. IX.) auch über die Wirkung des
Kokains auf die Geruchsempfindungen machen konnte. Nachdem die
Nasenschleimhaut möglichst weit hinauf mit Kokain bepinselt und
ebenso die hintere Bachenwand bebandelt war, konnte er bemerken, dafs
auch die Geruchsempfindung bedeutend abgeschwächt und für einzelne
Gernche ganz aufgehoben war. Die vei*schiedenen Grade der Kokainisie-
rung wirkten auf die Geruchsempfindungen scheinbar ebenfalls in ver-
schiedener Weise. Da man diese Untersuchungen schwer ohne sach-
kundige Assistenz machen kann und diese dem Referenten seither
nicht in genügender Weise zur Verfügung stand, so konnte dieser
Befund bisher nicht weiter verfolgt werden, doch ist anzunehmeu, dals
das Kokain ebenso, wie andere Anästhetika (die Wirkung der Gymnema-
riiure hat Referent in dieser Beziehung nicht geprüft) für die Erforschung
des Geruchssinnes nicht unwichtige Dienste leisten dürfte.
Fbikdb. Kibsow (Leipzig).
288 Litieratmhencht,
Ell» Bli88 Talbot. The doetrin« of coaadoiis el«m«iita. JPMw« IZor-
IV« 8. 154—166. (M&rs 1895.)
Die moderne Lebre von den Bewufstaeinseleinentenanteisclieidofeaieh.
TOB früheren Versuchen dadurch, dals sie sich von metaphjsischen Voi:sus-
setsungen freihält, und dals sie die Elemente als Ausgangspunkte hin-
nimmt, ohne durch „Vermögen^ scheinbare ErklArungen zu schaffion.
Sie steht in einem interessanten WechselyerhAltnis mit der experimentellen
Methode. Sie erkl&rt das psychologische Element für einen elementaten
Prosefs. Die Bedeutung der neuen Lehre liegt fast mehr' in dem, was
sie verspricht, als in dem, was sie geleistet hat. Hervorsuheben sind
die Bemühungen des Verfassers um die Sauberkeit der Terminologie.
J. CoHv (Berlin).
JoHH Gbqcb Hibbbn. Sensory stimnlation by attention. Psych. Reo. II.
S. 369—375. (JuU 1895).
Ein ursprünglich für taub gehaltenes Kind zeigt allm&hlich, dafs
es normales Gehör besitzt, aber nur, wenn es den Eindrücken Aufmerk-
samkeit zuwendet. Das jetzt acht Jahre alte M&dchen hat spät sprechen
gelernt, zeigt im Ohr keinen Defekt. Sie hört alle Gespräche, die
ihr Interesse erregen, aber keine über gleichgültige Gegenstände. Ganz
unmöglich ist es, sie zum Hören zu bringen, sobald irgend etwas Anderes
ihr Interesse abzieht. Dieser pathologische Fall wird von Hibbbm mit
der normalen Sinnesschärfung durch die Aufmerksamkeit und mit gewissen
Erscheinungen bei Hysterischen zusammengestellt. Der Fall ist ihm
von sehr zuverlässiger Seite mitgeteilt und von Ärzten bestätigt. Er
erweckt ungewöhnliches Interesse und läfst das Fehlen genauerer An-
gaben (die freilich nur durch eigene Beobachtung zu gewinnen wären
und dem Verfasser wohl unmöglich waren) um so mehr bedauern.
J. CoHN (Berlin).
Hxbbt £. KoHN. Zur Theorie der Anftnerksamkeit. Ähhaanähmgen
Philosophie und ihrer Geschichte. Herausgegeben von Benno Erdnuam.
Heft V. Niemeyer, Halle 1895. 48 S.
Die wesentliche These der vorliegenden Abhandlung ist die Identität
von Aufmerksamkeit und BewuTstsein. „Keine Aufmerksamkeit auf einen
Gegenstand richten, bedeutet, kein Bewufstsein desselben haben ; gperinge
Aufmerksamkeit auf ihn lenken, bedeutet schwaches oder unklares
Bewufstsein von ihm besitzen. Wenn unsere Aufmerksamkeit auf diesen
Gegenstand kona^entriert ist, im strengsten Sinne des Wortes, so sind wir
uns nur des einen Gegenstandes bewuist^ (S. 27.) Es giebt keinen
prinzipiellen, sondern nur einen graduellen unterschied zwischen
Bewulstsseininhalten mit und solchen ohne Aufmerksamkeit. Es ist schade,
dais K., der sonst seine Ansichten polemisch entwickelt, die Einwftnde
von Lipps: g^en die Annahme von Bewufstseinsgraden nicht berück-
sichtigt hat. Besonders ausführlich wird die Annahme eines besonderen
Gefühles, welches die Aufmerksamkeit begleiten sollte, bekämpft. Unter
diese Kategorie fallen die Ansichten von Fechkbb, James, Stumpf und
WuBDT. Die Verschiedenheit der „Gefühle^ bei den einzelnen Psycho-
logen wird nicht mit Unrecht hervorgehoben. Einer der Haupteinwände
Litteraturbericht. 289
KoHKS aber ist unstichlialtig. Er meint, ein Gefühl, das die Aufmerksam-
keit begleite, müsse selbst mit Aufmerksamkeit wahrgenommen sein,,
also von der Betrachtung des aufmerksam angeschauten Gegenstandes
ablenken. Die bek&mpften Forscher könnten erwidern, dals gerade hierin
GeflÜile und Vorstellungen sich unterscheiden. Gefühle verlieren im
Gegenteil, wenn eine Anspannxmg des Willens sich auf ihre Verdeut-
lichung richtet. In der Theorie der Apperzeption nfthert sich Verfasser den
Herbartianem. Das Zusammenwirken von Perzeptions- und Apperzep-
tionsmassen wird an einigen Beispielen recht anschaulich geschildert.
Die Durchführung dieser Beispiele ist psychophysich gehalten.
J. OoHN (Berlin).
WaUasley College Psyehological Stndies. Directed by Mabt W. Calkdts.
CoBDHLiA 0. Nbvebs : Dr. Jastbow on Community of ideas of men and
women. Maboabbt B. SmiiONs: Prevalence of Paramnesia. Psychol. Bev.
Vol. n. July 1896. S. 863—868.
Jastbow hatte durch Versuche zu ermitteln geglaubt, dafs Frauen
bei Assoziationen mehr gemeinsame (bei verschiedenen Individuen über-
einstimmende) Worte gebrauchen, als Männer, und daiÜ9 sie gewisse Gebiete
(Haushalt, Essen) bevorzugen, abstrakte Ausdrücke seltener gebrauchen.
Bei Wiederholung der Versuche an Studentinnen des Wellesley College
konnten diese Besultate nicht bestätigt werden. Positive Ergebnisse
worden nicht gewonnen, vor ver&ähter Verallgemeinerung wird — wohl
mit Becht — gewarnt.
Die zweite kurze Mitteilung bezieht sich auf Erinnerungst&uschungen
bei Assoziationen von Zahlen an Farben, die vorher zusammen gezeigt
waren. Es werden nach dem subjektiven Gefühl weit häufiger falsche
Fälle für richtig (noch viel häufiger für zweifelhaft), als richtige für
falsch gehalten. J. Cohn (Berlin),
G. K. Ufhuxs. Psychologie des Erkennens vom empirischen Sla&d-
pmikte. I. Bd. Leipzig, Engelmann, 1898. 318 S.
In der Absicht, eine Bewufstseins- und Wahmehmungstheorie zu
geben und dadurch die Entstehung des Weltbildes in dem gewöhzilichen
Bewuistsein zu erklären, bestimmt Verfasser zunächst das „Verhältnis
der Psychologie zu den übrigen philosophischen Disciplinen*'
derart, dais erstere die Voraussetzung und Grundlage der letzteren bildet.
In sehr losem Zusammenhange mit dem eigentlichen Thema fügt er an
diesen Abschnitt eine Darlegung der „Entstehung des Begriffes der
Seele in der Philosophie der Griechen^, wobei lediglich die vor-
sokratische Zeit berücksichtigt und dem Kenner der Geschichte der
griechischen Philosophie nur wenig Neues geboten wird. Ein grOfseres
Interesse beanspruchen die nächstfolgenden Ausführungen, welche „Unser
Weltbild** betreffen. In Konsequenz des empiristischen Standpunktes,
welchen Verfasser einnimmt, leugnet er die Existenz irgend welcher
Apriorischen Erkenntniselemente. Naturding ist das Undurchdring-
Zcilidirill Ar Psychologie X. 19
290 lAUeralurherichU
liohe oder im Baum Koexistierende, während mit Naturyorgang das
in der Zeit Sucoedierende bezeichnet wird. Für beide Begriffe ist das
Bewufstsein der Zusammengehörigkeit der Teile wichtig, welches
durch das wiederholte und reg^lmäfsige Zusammen- und Nacheinander-^
auftreten der Empfindungen entsteht. Als ein Überrest des Animismus ist
der aus den MuskelgeftLhlen stammende Begriff „Kraft" aufzufassen und
durch den der Zusammengehörigkeit der Teile zusammengesetzter Vor^
gftnge unter einander und des ersten Teiles mit dem Dinge selbst zu er-
setzen. Natur überhaupt begreift das Transscendente unter sich,
welches nicht fnur den Gegensatz, sondern auch Gegenstand des
Bewufstseins bildet, wenn auch insofern eine Übereinstimmung zwischen
beiden besteht, als das Transscendente in dem Bewufstseinsvorgange
erst seinen Ausdruck findet. Diese Übereinstimmung ist zunächst und
unmittelbar nur Sache der Überzeugung und selbst mittelbar
nicht durch eine sichere, sondern nur wahrscheinliche Einsieht
zu erkennen, welche auf der Einrichtung des Bewufstseins, in den
Vorgängen das Transscendente uns zu vergegenwärtigen, beruht. Von
gleichem Gesichtspunkte aus werden auch noch andere Begriffe definiert.
So wird die „Eigenschaft" auf den räumlichen Zusammenhang, die
„Erfahrungsthatsaohe" auf die Zusammengehörigkeit der Teile
von Dingen oder Vorgängen ftir einen einzelnen Fall zurückgeführU
während das Naturgesetz eine derartige Zusammengehörigkeit ftLr
alle Fälle bezeichnet. Unter den Naturgesetzen ist wiederum zu
unterscheiden zwischen Substanzgesetzen (Veränderungs-, Bewegung»«
und Entwickelungsgesetzen) und Kausalitätsgesetzen, bei denen
die Verändertmg oder Bewegung zweier verschiedener Dinge in Betracht
kommt. Der Begriff der Ursache selbst ist mit dem der Kraft
verwandt und ebenfalls durch den der Zusammengehörigkeit zu
ersetzen. Eine wichtige Bolle in dem Zustandekommen unseres Welt*
bildes spielen die Hypothesen, d. h. Annahmen, welche mit den Em-
pfindungen nicht übereinstimmen. Berechtigt sind sie nur bei einem
Widerspruche der Empfindungen oder der Vorstellungen und Gedanken.
Den Schluss der 125 Seiten langen Einleitung bildet ein Abschnitt über
„Begriff und Methode der Psychologie des Erkennens^. Das
Erkennen ist auf das Transscendente gerichtet und wird von der Psy-
chologie in der Art seines Zustandekommens ohne Rücksicht darauf, ob
es nur ein vermeintliches oder wirkliches Erkennen des Transscendeoten
ist, untersucht. Da es eine BewuTstseinsthatsache ist, so wird es unter
Ausschlufs alles Metaphysischen auf analytisch-deskriptivem Wege «r-
forscht. Es ist somit die Psychologie zunächst nur Individualpsychologie,
infolge der empfundenen oder vorgestellten Ausdrucksbewegungen sind
jedoch auch ohne metaphysische Voraussetzungen fremde BewuTstseine
anzunehmen. Den Ausgangspunkt bildet die allgemeinste Eigenschaft
der Bewufstheit, das Ziel besteht in der Aufstellung von Klassenbegriffen
durch Aufdeckung von Ähnlichkeiten und in der Konstatierung von Ab-
hängigkeiten, insofern die Bewufstseinsvorgange eine Stufenfolge bilden,
bei der ein Glied häufig das andere bedingt. Obgleich die genetische
Methode der Metaphysik eigen ist, macht auch die Psychologie von ihr
Litteraiurbericht 291
Gebrauch, wenn sie innerhalb der BewuTstseinsvorgänge Glieder als Be-
dingungen postuliert, die auf analytischem Wege nicht zu finden dnd.
Die eigentliche Ausführung seines Themas beginnt Verfasser mit einer
Festlegung des Begriffes „Bewufstsein^, das drei verschiedene Be-
deutungen annehmen kann. Zunächst ist es als Bewufstheit das
„Gattungsmerkmal" und insofern ein „logischer Bestandteil" der Be-
wuTstseinsvorgänge. Sodann aber bezeichnet es kleinere Gruppen von
zusammengehörigen Bewuistseinsvorgängen, welche durch Beflexion über
gegenwärtige und Erinnerung vergangener Bewufstseinsthatsachen ent-
stehen. Drittens giebt es auch ein Gegenstandsbewufst^ein, ein Wissen
um einen Gegenstand, d. h. um ein von dem Bewufstseinsvorgange Ver-
schiedenes. Der Zusammenhang der Bewufstseinsvorgange untereinander
ist das eigentlich individualisierende Merkmal.
Eine Art des Gegenstandsbewufstseins ist die Wahrnehmung, die
Transscendentes in ursprünglichen Empfindungen vergegenwärtigt. Sie
ist 1.) ein nicht namentliches, d. h. durch Vorstellungen vermitteltes
Wissen, 2) ein nur eingliedriger Vorgang, da die Trennung des wahr-
genommenen Gegenstandes vom Wahrnehmungsorgane und Wahr-
nehmungsvorgange erst eine Folge der Beflexion über die Wahrnehmung
ist, und auch die Beziehung des Bewuijstseins auf das Transscendente
nur implicite vorhanden ist und der Wahrnehmung als Eigenschaft zu-
kommt, abgesehen davon, ob etwas Transscendentes wirklich existiert
oder nicht; 3.) eine Anschauung, bei der nichts vom Gegenstande
bejaht oder verneint wird, sondern dieser geistig so erfafst wird, wie er
sich in dem Anschauungsmittel darstellt. Aus der letzteren Thatsache
folgt die Berechtigung des Phänomenalismus, von welchem jedoch
der Agnostizismus, eine metaphysische Theorie, wohl zu trennen ist.
Eine Einsicht in die Wahrheit unserer Wahrnehmungen ist überhaupt
unmöglich, nur über ihre Wahrscheinlichkeit giebt das Wahr
nehmungsurteil Aufschlufs.
Der letzte Hauptteil des Werkes behandelt die „Entstehung
unseres Weltbildes". Die Dingvorstellungen vermitteln zunächst
nur die Muskel- und Gelenkempfindungen; die Gesichts- und anderen
Empfindungen vermögen es nur durch ihre Assoziation mit den
Tastempfindungen. Dafs auch in dem Transscendenten zwischen Ding
und Nicht-Ding zu unterscheiden ist, hat einen dreifachen Grund :
a) mit den Dingvorstellungen zugleich vermittelt oft das nämliche
Körperglied Wahrnehmungen anderer Gegenstände; b) die Intensität
der letzteren hängt oft von der Nähe der Dinge ab; c) das Bewulst-
sein der Zusammengehörigkeit der Eigenschaften mit dem zugehörigen
Dinge ist ein ganz eigentümliches, nicht durch Assoziation ge-
wonnenes. Alle Dinge sind wegen ihrer Eigenörtlichkeit, an der auch
die Eigenschaften teilhaben, zxmächst individuell. Hierdurch entsteht
die Vorstellung der Selbigkeit eines durch mehrere Sinne wahr-
genommenen Gegenstandes. Auf der Vorstellung der Selbigkeit früher
und jetzt wahrgenommener Gegenstände beruht wiederum die Vorstellung
der Fortdauer, für welche die Erinnerung vereint mit dem Wieder-
erkennen nötig ist. Voraussetzung hierbei ist nur die Fortdauer unseres
19*
292 lAtteraturbericht
Körpers, nicht die unseres BewuTstseins. Dafs Andere und wir denselben
Gegenstand wahrnehmen, wissen wir bei Tönen, Gerüchen und Tem-
peraturen daher, dafs diese Wahrnehmungen an einen bestimmten Baum
gebunden sind. Schwierigkeit bieten nur die Gesichtsempfindungen, bei
denen man auf die Stellung der Augen Bücksicht nehmen mufs, welche
wir an Anderen mit den Greifbewegungen verbunden wahrnehmen und
bei uns selbst daher vorstellen. Eine Übereinstimmung zwischen den
an Anderen wahrgenommenen und an uns vorgestellten Augenstellungen
belehrt uns nun darüber, dafs die Anderen und wir den nämlichen Gegen-
stand sehen. — Ausdehnung ist „eine Summe gleichartiger, gleichzeitiger,
wechselseitig zusammenhängender, aber nicht einander bedingender Teile,
die wir uns in Empfindungen vergegenwärtigen^. Die Verschmelzung
der Teile in eine einheitliche Empfindung verhindern die f%Lr jeden Teil
charakteristischen Muskel- und Gelenkempfindungen, welche beim Tasten
mit bewegter Hand, bezw. beim Sehen mit bewegtem Auge mit den
Druck-, bezw. Gesichtsempfindungen verbunden und daher auch bei
übender Hand und ruhendem Auge noch wirksam sind. Tastbilder
haben drei Dimensionen, da sich die Gelenkempfindungen j e nach der
Beugung der Finger unterscheiden; Gesichtsbilder erlangen sie erst durch
die Assoziation mit]den Tastempfindungen, namentlich bei Greif bewegungen.
Das Bewufstsein des der Ausdehnung eigenen Zusammenhanges der Teile
kommt daher, dafs die zugehörigen Muskel- und Gelenkempfindungen
ein kontinuierlich abgestuftes System bilden. Zu der Vorstellung der
Gestalt und der gegenseitigen Entfernung der Dinge gelangen wir
durch die Griffe ins Leere beim ümtasten des Gegenstandes. Die Ent-
fernung der Gegenstände von uns nehmen wir wahr durch Tast-
empfindungen beim Ausstrecken der Hand, die B ich tun g der Entfernung
ist bedingt durch die Verschiedenheit der Gelenkempfindungen, je
nachdem der Gegenstand oben oder unten, rechts oder links etc. sich
befindet; für die Gesichtsempfindungen kommt wieder die Assoziation
mit den Tastempfindungen bei Greifbewegungen in Betracht. Die
Wahrnehmung der Bewegung ist ein einheitlicher, in einem Zeit-
momente sich vollziehender Vorgang; es wird nämlich der Übergang von
einem Orte in den anderen wahrgenommen, da die mit den Tast- und
Gesichtsempfindungen assoziierten, den Hand- und Augenbewegungen
entsprechenden En^pfindungen ein kontinuierlich abgestuftes System von
Bewegungen bilden. Auch bei ruhendem Auge und ruhender Hand
werden Bewegungen wahrgenommen infolge der Assoziation der hierbei
entstehenden Tast- und Gesichtsempfindungen mit denen bei bewegter
Hand und bewegtem Auge. Die Bewegungen des eigenen Körpers
werden in gleicher Weise wahrgenommen, wie die anderer Gegenstände.
Da Empfindungen und Gegenstände unlöslich miteinander ver-
bunden sind, so werden erstere an den Ort letzterer verleg^ (Projektions-
theorie). Indes geschieht dieses nur in Gedanken, indem sich, die Vor-
stellung von dem Vorhandensein der Empfindungen in dem eigenen
Körper einstellt und dann dieser an den Ort der Gegenstände versetzt
wird. Gegen die Obj ektivations- und Belativitätstheorie, welche
beide letzten Endes eine Theorie bilden und mit der Projektionstheorie
lAUeraturbericht 293
verwandt sind, ist einzuwenden, dafs weder eine Übertragung der Em-
pfindung auf die Gegenstände, noch eine Verweohselung beider in der
Wahrnehmung selbst vorgenommen wird.
Zum Schlufs sucht Verfasser die Thatsachen der Generalisation,
Abstraktion und Reflexion zu erklären. Die ersten allgemeinen
Vorstellungen sind die den Gesichts-, Gehörs-, Geruchs-, Geschmacksr
und Temperaturwahmehmungen entsprechenden, bei welchen wir von
den xnit ihnen verbundenen, ihre Gegenstände individualisierenden Ding-
vorstellungen absehen. Die allgemeinen Vorstellungen von einem Ding e
und seinem Orte kommen dadurch zu stände, dafs einerseits die Zeit-
vorstellung bei den Tastwahmehmungen keine Bolle spielt, andererseits
die Gegenstände in einer Entfernung vorgestellt werden, in der sie
bequem gefafst werden können, so dafs auch von den örtlichen Ver-
schiedenheiten abstrahiert wird. Die abstrahierende Thätigkeit selbst
aber, welche in einem Fehlen oder in einer einseitigen Bichtung der
Aufmerksamkeit besteht, rührt daher, dafs die Vorstellungen unbestimm-
ter und verschwommener Wahrnehmungen über die gröfsere Bestimmt-
heit gegenwärtiger Wahmehmimgen hinwegsehen lassen imd so die V^r-
gegenwärtigung verschiedener Gegenstände durch die gleiche Wahr-
nehmung ermöglichen. Mit jeder Wahrnehmung ist bereits eine zwiefache,
natürliche Abstraktion verbunden: a) von der Empfindung als einem
BewuXstseins vorgange, b) von einigen Seiten des Inhalts. Eine künst-
liche Abstraktion tritt beim Bilden der Individual- oder Allgemein-
begriffe ein, wo eine Beflexion, und zwar eine ontologische, auf
das Transscendente bezügliche nötig ist. Eine andere Art der Beflexion
ist die psychologische, welche die BewuTstseins Vorgänge betrifft
Man kann nämlich von der Zusammengehörigkeit aller Bewuistseins-
vorgänge absehen, wie dies regelmäfsig bei der einfachen Kenntnisnahme
geschieht. Auf diese Weise entstehen allgemeine Vorstellungen von
Bewufstseins Vorgängen, deren Individualisierung ja gerade in der Zu-
sammengehörigkeit besteht.
Dies sind die hauptsächlichsten Ergebnisse des vorliegenden Werkes,
da die als Anhang beigegebenen Ausführungen über die „Bewufstseins-
und Wahrnehmungstheorien des Piaton und Aristoteles** fast
ausschliefslich in das Gebiet der Geschichte der Philosophie gehören.
Es ist ohne weiteres zuzugeben, daiÜs Verfasser in sehr sorgfältiger und
exakter Weise bestrebt war, seiner Aufgabe gerecht zu werden. Schon
äuiserlich erkennt man dies an der recht ausführlichen und die ein-
schlägige Litteratur ziemlich eingehend, wenn auch nicht erschöpfend
berücksichtigenden Anmerkungen, welche hinter jedem Abschnitte folgen.
Ganz besonders anerkennenswert in dieser Beziehung ist das geradezu
mustergültige „Namen- und Sachregister*'. Neben der Sorgfalt und
dem Fleifse muGs auch hervorgehoben werden, dals Verfasser in scharfer,
konsequenter und selbständiger Weise seine Probleme durchdenkt. So
bildet namentlich der Abschnitt über die „Entstehung unseres Welt-
bildes" mancherlei Interessantes und Anregendes. Leider ist nur dieses
nicht immer der Fall. Gar oft gefällt sich Verfasser in tmfruchtbaren
Definitionen, in der Erfindung neuer Termini für längst bekannte That-
294 lAtteraturhericht.
Sachen und in der Aufstellung unbewiesener Behauptungen. Auch kann
man ihn nicht von dem Vorwurfe freisprechen, hier und da allzu ein-
seitig vorgegangen zu sein. So sind bei der „Entstehung unseres Welt-
bildes" vielfach die Tastwahmehmungen in ihrer Bedeutung tlbersch&tzt
und einseitig berücksichtigt worden. Oft ist auch der Empirismus in
allzu gekünstelter und gewaltsamer Weise durchgeführt und zu einem
wenig überzeugenden Sensualismus ausgeartet. So scheint es mir schon
recht unzulänglich, wo nicht gar oberflächlich, wenn Verfasser die An-
nahme apriorischer Erkenntnismomente als eine „überflüssige Ver-
doppelung** bezeichnet, weil doch ^die besondere Beschaffenheit der
Empfindungen in den einzelnen Fällen die ftlr diese Fälle passenden
Ideen in uns wecken müDste*'. Ebensowenig befriedigt ans dem an-
gegebenen Grunde die Art und Weise^ in der die Entstehung der G^ne-
ralisierung, Abstraktion und Beflexion erklärt wird. Indes würde es
über den Bahmen einer kurzen Besprechung hinausgehen, mit dem Ver-
fasser über all die einzelnen Sätze, welche angriffsf&hig sind, zu rechten.
Es sei daher nur noch auf einen Mangel seiner Arbeit hingewiesen, der
für den Leser äufnerst störend ist, nämlich die Darstellungsweise. Es
kostet nicht geringe Mühe, sich mit dem Gedankengange des Verfassers
vertraut zu machen. Selbst seine einfachsten Ideen werden sehr schwer
fafslich, teils wegen eines eigentümlichen Satzbaues, teils wegen der
Sucht, die sonst üblichen psychologischen Termini zu meiden. Es mufs
dies um so mehr auffallen, als Verfasser sagt: '„Meine Absicht war, ein
Buch zu schaffen, das auch meinen Zuhörern schon in den ersten Se-
mestern von Nutzen sein könnte.'' Da Verfasser noch einen zweiten
Band, in dem eine XJrteilstheorie und auf Grund derselben eine fhrklftrung
der Entstehung unseres Sprachbewufstseins versucht werden soll, und
eine Psychologie des Willens ankündigt, so halte ich es für meine Pflicht,
eine klarere und leichter verständliche Ausdrucksweise im Interesse der
Leser zu wünschen. Arthur Wkbschner (Berlin).
Edmund Montoomsbt. The Integration of mind. Mind. N. S. Vol. IV.
S. 306-319. (Juli 1895.)
Der anregende Aufsatz beschäftigt sich mit der „Frage der Fragen*".
Alle unsere geistigen Erlebnisse haben nur momentane Existenz. Sie
vergehen, ohne je wiederzukehren. Können wir aus ihnen rechtmälsig
auf das schliefsen, was ihnen als dauerndes Substrat zu Grunde liegt?
Können wir einen gültigen Begriff der aufserbewufsten Existenz bilden,
in der die zeitlich vorüberrauschenden Bewufstseinsvorgänge in einer
verborgenen Art und Weise aufbewahrt bleiben? Von fremdem Bewufst-
sein haben wir keine direkte Kenntnis. Was wir von anderen Wesen
erfahren, erscheint toto genere verschieden von der inneren Existenz des
Bewufstseins. Mit der Lösung des fein gestellten Problems macht es
sich der Verfasser aber doch etwas leicht. Er läfst das körperlich-
geistige Substrat und die organische Entwickelung einspringen. Damit
ist aber nach Ansicht vieler Denker die Frage umgangen, nicht gelöst.
Die verschiedenen Modifikationen der Annahme eines eigenen geistigen
Substrats, die auch von Anhängern des Parallelismus unternommenen
LiU&raHtrbericht. 295
Kanstruktionen der psychischen Seite hätten eine gründlichere Beleuchtung
verdient. Auf die Einzelheiten des knapp und klar dargelegten G-edanken-
ganges einxugehen, ist in diesem Beferate nicht der Ort. £s hedttrfte
dlua gründlicher prinzipieUer Auseinandersetzungen. Hervorgehoben
lawfs werden, dais die S. 315 gegebene Kaht- Auffassung denn doch dem
gpvoisen Denker nicht gerecht wird, obgleich sich diese Art der Populari-
sierung seiner Gedanken noch immer breit macht.
J. OoHN (Berlin).
W. James. Tha Knowing of Tbingg Together. PsychoL Bev. IL S. 105—124.
(1895.)
Jakbs schildert uns hier in einem Tortrage die verschiedenen Stand-
punkte, von denen aus bisher eine Erkl&rung der synthetischen Ver-
einigung mehrerer Bewulstseinsinhalte (der Auffassung des „Zusammen")
vsKSucht worden ist Er betrachtet kritisch die Bolle, die der Auf-
merksamkeit» dem G-edftchtnis, dem SelbstbewuXstsein, der individuellen
«■d der Weltseele und anderen Faktoren zu jenem Endzweck vindiziert
liosden ist, ohne seinerseits den Versuch einer positiven Lösung des
Piohlems machen zu wollen; besonders wendet er sich gegen die
Assoziationisten einerseits, gegen die Verteidiger eines einheitlichen
Saelenwesens andererseits. Bemerkenswert ist ein Gest&ndnis, das er
zam SchluXs macht: Hatte er früher geleugnet, dafs die Frage, wie wir
aar Auffassung des „Zusammen** kommen, überhaupt in eine Psychologie
— i^als Naturwissenschaft betrachtet — hineingehöre, so ist er jetzt
anderen Sinnes geworden, da die strikte Ausschliefsung metaphysischer
und erkenntnis-theoretischer Betrachtungen aus psychologischen Arbeiten
unmöglich sei.
Oberraschen muJis bei Jambs die Bemerkung (S. 114): „Die Er-
sakeinungen der Dissoziation des Bewufstseins, mit denen uns die neueren
ÜBtarsuchungen über hypnotische, hysterische und Traumzustände be-
kaant gemacht haben, werfen mehr neues Lieht auf die menschliche
Natnr, als die Arbeiten aller psychophysischen Laboratorien zusammen-
genommen.'' W. Stesk (Berlin).
1. Tb. Flournot. De l'aotioB du milien sur Tidtotion. L'annü pstfcM.
L 8. 180-190. (1895.)
2. — - Un eas de persennüloatlon. Ebenda S. 191^197.
8. — De riniluenee de la perceptlon Tisaelle das oorps sur leor poids
ayparent. Ebenda S. 198^908.
1. Welchen Einflufs übt das „milieu psychologique" — die Summe
allea dessen, das im fraglichen Augenblick die Sinne treffen kann oder
kuiB vorher treffen konnte — auf den Vorstellungsverlauf aus? Zur
Beantwortung dieser Frage l&fst Floüshot nach der Anweisung Bnrinrs
seine Versuchsperson 1. zehn Handlungen nennen, die sie in dem Zimmer,
•in dem sie sich eben befindet, ausführen könnte; 3. in einem Zug zehn
Wdxter aufschreiben ; 3. möglichst rasch zehn Zeichnungen entwerfen. —
Aas der ersten Aufgabe ergab sich gar nichts. Aus der zweiten und
dritten, da^ 87.27o der Wörter und 15.7V« der Zeichnungen unter dem
296 LUteraturhericht
Einflüsse des milieu entstandeD sind, während 13.t Wörter und 41.1 Zeich-
nungen vom Hundert der „Individualit&t^ (Ghewohnheiten, jüngst ver-
gangene Erlehnisse) entsprangen und der Best unerklärt hlieh. — Eine
Beantwortung der Frage, welche Vorstellungen unter dem Einfluls einer
bestimmten Umgebung am leichtesten und schnellsten in uns entstünden,
hält Floübhot, im Gegensatz zu Binbt, auf diesem Weg^ für aus-
geschlossen, wie er sich überhaupt der ganzen Tersuchsanordnung g^egen-
über ziemlich skeptisch verhält; und ich meine, mit vollem Beoht.
2. Floubhot berichtet über einen jener Fälle von Synopsie, die
darin bestehen, dafs irgend ein Wort regelmäfsig die anschauliche Vor-
stellung einer mit diesem in gar keinem Zusammenhang stehenden
Person hervorruft. Ein Herr E. F. hat u. a; auch für die Wochentage
derartige, sehr lebhafte „Personifikationen' , z. B. Dienstag: Ein lachender
Mann, der, sich bückend und die Hand zwischen den Beinen durch-
steckend, etwas hinter ihm liegendes stiehlt; bedeckter ELimmel. Freitag:
Derselbe Mann, den gestohlenen Gegenstand zu Markte tragend; heiterer
Himmel. — Die Erklärungen, die Floxtbnot von manchen Einzelheiten
in den Angaben des M. E. F. giebt, sind so selbstverständlich, daHs man
sich beinahe fragt, ob solche Dinge denn wirklich gedruckt werden
müssen. Dieselbe ^Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit gereicht
jedoch der Erklärung des Gesamtphänomens (S. 194) zur Empfehlung.
Danach ist aber die Personifikation gar nichts Anderes, als eine etwas
auffallendere Bethätigung der allergewöhnlichsten Gesetze des Vor-
stellungsverlaufes, und deshalb glaube ich auch, dais man ihr, wie der
Synopsie überhaupt, ebenso der audition coloröe und allen den hierher-
gehörigen Dingen im Verhältnis zu ihrer doch nur untergeordneten Bedeu-
tung von mancher Seite zu viel Ehre anthut.
8. Der Verfasser schlägt als greifbaren Beweis für die Nichtexistenz
einer Innervationsempfindung folgenden Versuch vor. Man stelle einer
unvoreingenommenen Person die Aufgabe, eine Gruppe von verschieden
gprofsen Körpern, die thatsächlich gleich schwer sind, nach deren Gewicht
zu ordnen. In der Begel kommt dabei eine Beihenfolge heraus, die im
grofsen und ganzen mit der der Volumina übereinstimmt, und zwar so,
dafs der gröfste die Stelle des leichtesten Körpers einnimmt. GHlbe es
Innervationsempfindungen, so müfste, meint Floubnot, wenn schon nicht
die Gleichheit der Gewichte erkannt werden, so doch wenigstens der
umgekehrte Irrtum Platz gpreifen. — Solche Versuche wurden mit 50 Per-
sonen angestellt; 42 davon setzten den gröisten Körper, dessen Volum
21 Mal so grofs war als das des kleinsten, als leichtesten an, 45 den
kleinsten als schwersten, und nur eine einzige Person erkannte die
Gleichheit der Gewichte. — Die Täuschung blieb auch bestehen, wenn
durch das Heben an einem Faden die Art der Berührung aller Köiper
mit der Hand die gleiche war; sie verminderte sich bei geschlossenen
Augen. Zur Untersuchung der Gröfse und der Hartnäckigkeit der
Täuschung wurden Nebenversuche gemacht, die teilweise sehr interessante
und merkwürdige Ergebnisse hatten. — Die Erklärung der Täuschung
baut Flournot auf zwei Voraussetzungen auf, von denen die eine die
bekannte MüLLSR-ScmiMANNsche Hypothese „Über die psychologischen
Lüteraturhericht 297
Chnindlagen der Vergleichang gehobener Gewichte^ (Pflüg er s Arch, 1889)
ist, die andere aber verlangt, dafs die Intensität des unbewnrsten
lentralen Bewegongsimpnlses sich automatisch nach dem wahrscheinlichen
Gewicht des zu hebenden Körpers richte. ^ Witasbk (Graz).
6. BncHARD. As erkttlesi örsös (Dar moralische Sinn). Budapest 1894.
Leo B^vai. 95 S. (Selbstbericht.)
Die Untersuchung befeUTst sich mit dem ethischen Gefühl zugleich
Ton der psychologischen und von der physiologischen Seite; sie geht von
dem Prinzip aus, dais jeder psychische Vorgang die andere Seite eines
Nervenprozesses ist, und dals die Erklärung eines jeden, auch des kompli-
ziertesten psychischen Phänomens nur möglich ist, unter gleichzeitiger
Berücksichtigung der physiologischen und der psychologischen Seite der
Thatsachen.
Der Ausgangspunkt der Abhandlung ist die Grundthese, dafs beim
Vorstellen eines Gefühls oder einer Handlung im Nervensystem Prozesse
vor sich gehen, welche denjenigen ähnlich sind, die beim wirklichen
iSmpfinden desselben Gefühls und beim wirklichen Vollbringen derselben
Handlung im Nervensystem statthaben.
Dies wird bewiesen durch die bekannten Erfahrungsthatsachen, daJb
z. B. das Vorstellen des Lachens oder Weinens an und für sich und ohne
dais der Wille hierauf gerichtet wäre , die Stimmung des Lachens oder
Weinens, und sogar, wenn das Vorstellen lebhaft genug ist, das lächelnde
oder betrübte Gesicht, also die Anfangsbewegungen des Lachens oder
Weinens verursacht, oder dafs das lebhafte Vorstellen des Fechtens oder
des Kampfes die Anfangsbewegungen des Kampfes nach sich zieht. Auch
auf deduktivem Wege läXst sich diese Grundthese beweisen. Da einem
psychischen Zustande, also auch dem Vorstellen eines Gefühls oder einer
Handlung, ein Nervenprozefs zu Grunde liegen mufs, so folgt hieraus,
daüs, insoweit der eine psychische Zustand, nämlich das Vorstellen einer
Handlung oder eines Gefühls, dem anderen, dem Handeln oder Empfinden,
ähnlich ist, auch der zu Grunde liegende Nervenprozefs dem anderen
ähnlich sein mufs.
Aus dieser Grund these folgt die Erklärung des Phänomens der
Nachahmung, d. h. die Thatsache, dass es gewisse Handlungen giebt, in
Bezug auf welche der das Vorstellen begleitende Nervenprozefs unter
günstigen Umständen die motorische Struktur in Bewegung setzt und
auf diese Weise die Nachahmung nach sich zieht. Hier folgt eine
Polemik gegen die BxiNSche Auffassung der Nachahmung. Nach Bain
hängt die Nachahmung damit zusammen, dals die Vollbringung der nach-
geahmten Handlung öfters gesehen wurde, wogegen die Thatsache
spricht, dafs auch solche Handlungen nachgeahmt werden können, die
nicht gesehen, sondern nur vorgestellt worden sind.
Aus derselben Grundthese folgt in einer anderen Bichtung die Er-
klärung des Phänomens der Sympathie, und zwar abweichend von
deijenigen Hxbbert Spenobbs. Nach dessen Auffassung würde die Sym-
pathie aus dem herden weisen Zusammenleben und daraus zu erklären
sein, dalh die Freuden und Schmerzen viele Mitglieder der Herde zugleich
298 LitUraHirberu^t
treffen. Hiergegen wird eingewandt, dais es eine Sympathie auch betreffi
solcher Freuden und Schmerzen giebt, die nicht herdenweise, sondern
nur einzelweise auftreten, und dafs das Charakteristische der Sympathie
gerade das ist, da£s sie auf auf jede Art Yon Freuden und Schmusen
reagiert.
Aus derselben Grundthese wird endlich das ethische (moralische)
Gefühl erklärt, und zwar so, dafs der diesem Gefühle zu Grunde liegende
Nervenprozefs die hohe Kompliziertheit yieler einzelnen miteinander
verknüpften Nervenprozesse ist, welche das Vorstellen menschlicher
Handlungen und GefCLhle begleiten.
Das ethische Gefühl wird als ein Gefühl des Schmerzes oder der
Freude aufgefaist, und es wird der Unterschied dieses Gefühls von
anderen Schmerzens-, resp. Freudegefühlen, und besonders der TTnter-
schied zwischen diesen und den ihnen am meisten Ähnlichen ästhetischen
Schmerzens- und Freudegefühlen ausgeführt. Das Ergebnis der Aus-
Alhrung ist, dafs beide, das ästhetische sowie auch das ethische G^ahl,
Lust- und XJnlustgefühle des höheren Teiles des Organismus sind, and
zwar, wenn wir berechtigt sind, im Organismus einen fühlenden und
denkenden (sensorischen) und einen bewegenden, handelnden (motorischen)
Teil zu unterscheiden, können wir das ästhetische Gefähl als Lust und
Unlust der fühlenden und denkenden, und das ethische Gefühl als Lust
und Unlust der handelnden Struktur betrachten.
Die Entstehung des Gefühls der ethischen Freude resp. des ethischen
Schmerzes wird in folgenden Betrachtungen entwickelt: Stellen wir
uns vor, es habe jemand eine herzhafte That vollbracht, so laufen in
unserem Nervensystem ähnliche Nervenvorgänge ab, als hätten wir die
That selbst vollbracht. Und da das Vollbringen der That mit angenehmen
Nervenvorgängen einhergegangen sein würde, — • beim Vorstellen aber
diesen ähnliche Nervenvorgäuge entstehen, so geht das Vorstellen einer
herzhaften That durch Entstehen der ähnlichen Nervenprozesse mit dem
Gefühle der Lust einher. Dieses Lustgefühl unterscheidet sich von den
gewöhnlichen Lustgefühlen dadurch, dais es mit komplizierten Handlungs-
vorstellungen verbunden und in komplizierter Weise auftritt und hier-
durch als ein spezielles Lustgefühl, als ethisches (moralisches) Lustgefühl,
gekennzeichnet ist. Nehmen wir des weiteren an, dais wir erfahren, es hätte
jemand gestohlen. Li diesem Falle wird das Vorstellen des Stehlens mit
unangenehmen Empfindungen, mit ethischer Unlust verbunden sein, vor
allem aus dem Grunde, dafs unser Organismus, resp. die Natur un-
serer Seele eine derartige ist, dafs die faktische Ausübung dep
Stehlens für uns mit Unlust verbunden wäre imd beim Vorstellen
des Stehlens die unlusterregenden Nervenprozesse ablaufen. In diesem
Falle wird aber die Unlust noch in gewissem Grade durch einen
anderen Umstand vermehrt, nämlich dadurch, dais wir neben dem Akte des
Stehlens uns auch noch den Seelenzustand des Bestohlenen, die Unan-
nehmlichkeiten und Leiden vorstellen, die ihm der Diebstahl verursacht.
Betrachten wir alle diese Seelenzustände vom psychophysiologischen
Standpunkte, d. h. ziehen wir in Betracht, dafs die Vorstellung aller
dieser als Folgen der ersten Handlung auftauchenden Seelenzustände
Litteraiurbericht 299
aucli Nervenvorgänge mit sich ziehen, so ist es klar, dafs in uns ein
yielfaoh zusammengesetzter Seelenprozefs und natürlich ebenso vielfach
zusammengesetzter Nervenprozels abläuft, welcher aus Vorstellungen von
vielen Handlimgen und Gefühlen, verbunden mit komplizierten schmerzens-
voUen Seelen- und Nervenvorgängen, besteht. Dies ist ein Zustand eines
komplizierteren ethischen Schmerzensgefühles, welche gröXisere Kom-
pliziertheit natürlich auch bei ethischen Freudegeföhlen auftreten kann.
Des weiteren wird die noch grOfsere Kompliziertheit des ethischen
OefÜhls auf ähnliche Weise abgeleitet, und untersucht, von welchen
Umständen der Grad des ethischen Gefühls abhängt, d. h. wovon der
Umstand abhängt, dals wir die ethische Lust und Unlust in Bezug auf
manche Handlungen resp. auf manche Personen stärker oder schwächer
als in Bezug auf andere empfinden. Als Ergebnis wird gefunden , dals
der Grad der ethischen Lust und Unlust einesteils von der Menge der
vorgestellten Handlungen und Empfindungen und andererseits von ihrer
Intensität abhängt. Hieraus und aus den Gesetzen der Ideenassoziation
werden die Thatsachen abgeleitet, dafs die ethischen Gefühle in Bezug
auf uns selbst oder auf uns nahestehende Leute ceteris paribus
stärker sind, dafs die zielbewuisten menschlichen Handlungen ceteris
paribus ein intensiveres ethisches Gefühl verursachen als die übrigen,
und dals endlich die höhere Kultur ebenfalls, im Falle die übrigen
Umstände gleich sind, einen höheren Grad des ethischen Gefühls mit
sich bringt.
Hiemach wird ausgeführt, dafs die Definitonen der Philosophen,
welche die sittlichen und unsittlichen Handlungen zum Gegenstand
hatten, fehlschlugen, weil die Beurteilung der menschlichen Handlungen
in Bezug auf Sittlichkeit davon abhängt, ob sie die sittliche Unlust oder
Lust wachrufen, und dals die Definition also hiervon ausgehen mufs,
und es folgt eine Ausführung über die Definitionen von Bentham und
Hbebebt SP£NCBR.
Hierauf geht die Abhandlung auf die Folgen des ethischen Gefühls
über, nämlich auf die Gesetze der BLandlungen, die infolge der ethischen
Lust oder Unlust durch die Menschen vollbracht werden. Das ethische
Oefühl hat nämlich auTser der Empfindung der Lust und Unlust auch
ein emotionelles Moment, welches die Ursache davon ist, dafs der
Mensch, in dem es erwacht, in vielen Fällen gewisse Handlungen voll-
bringt, oder wenigstens den Wunsch hat, gewisse BLandlungen zu voll-
bringen — was nichts anderes ist, als das Anfangstadium des VoUbringens.
Wenn wir dieses emotionelle Moment des ethischen Gefühles analysieren
wollen, müssen wir von der allgemeinen Erscheinung ausgehen, dals
jede intensivere Empfindung sich in irgend einer Handlung
kundzugeben strebt. Diese Erscheinung ist es, die sich darin kund-
giebt, dafs wir bei groXser Freude frohlocken, die Hände zusammen-
schlagen, auf und ab gehen, bei grofsem Schmerz hingegen weinen,
seufzen, die Hände ringen, bei grolser Aufregung Dinge zertrümmern,
toben. Die physiologische Seite dieser psychischen Erscheinimg ist sehr
einfach zu erklären : Da der motorische Teil des menschlichen Organismus
durch Prozesse des Nervensystems in Bewegung gebracht wird, so ist
300 lAtteraturbericht.
es nattbrlich , dais Nervenprozesse, die in grofser Zahl und Intensit&t
auftreten, den motorischen Teil des Organismus leicht in Beweg^ong yer-
setzen werden. Nun entspricht aber dem Seelenzustande grofser Freude
oder grofsen Schmerzes vom physiologischen Standpunkte aus ein Auf-
treten zahlreicher Nervenvorgftnge im Organismus, und so ist es klar,
dafs die diesem Seelenzustande entsprechenden physiologischen Vorginge
den motorischen Teil des Organismus leicht in Bewegung setzen. Es
ist zwar möglich, dafs ein Freude- oder Schmerzgefahl sich nicht in
Bewegung kundgeben wird, sei es, weil es nicht genfigend stark ist, um
den Organismus in Bewegung zu setzen, sei es, weil andere organische
Vorgänge die Bewegung hindern, — immer aber finden wir, bei jedem inten-
siveren GefQhle, — ob es schmerzlich oder freudig — , dafs es die Tendenz
besitzt, sich in Bewegung kundzugeben, und dafs diese Tendenz um so
stärker ist, je intensiver die Empfindung ist.
Es hat dieser fCkr G-eftLhle jeder Art unbedingt gültige Satz auch
für das ethische Gefahl Geltung. Das ethische Gefühl ist auch eine
Art des Lust- oder UnlustgefOhles , welchem im Organismus das Auf-
treten gewisser Nervenvorgänge entspricht. Es sind also diese, das
Wesen des ethischen Gefühles bildenden Nerven Vorgänge, im Falle ge-
nügender Intensität, ebenso im stände, den motorischen Apparat in Be-
wegung zu setzen, als jede andere Art des Lust- oder UnlustgefÜhles.
So finden wir denn auch, dafs der intensive ethische Schmerz in^ zornigem
Gesichtsausdrucke, in leidenschaftlichen Körperbewegungen, — die inten-
sive ethische Freude in frohem Gesichtsausdrucke und freudiger körper-
licher Bewegung sich kundgeben, die in grofsem Mafse anderen Freude-
oder Schmerzkundgebungen ähnlich sind. Nehmen wir z. B. den Fall
an, dafs jemand vor unseren Augen mifshandelt werde. In solchen
Fällen ist das auftretende ethische ünlustgefähl sehr intensiv und
ähnlich demjenigen, welches bei Mifshandlung unserer eigenen Person
auftreten würde. Es wird sich dieses intensive Gefühl, — indem es durch
die intensiven Nervenvorgänge den motorischen Teil des Organismus in
Bewegung setzt, — in Beweg^ung kundgeben, und zwar werden die so
entstehenden Bewegungen infolge der Ähnlichkeit der Nervenvorg^ge
weniger intensiv, aber immerhin in gewissem Grade denen ähnlich sein,
welche bei Mifshandlung unserer eigenen Person entstehen würden. D. h*
es treten in uns bei Mifshandlungen , die an unseren Mitmenschen
verübt werden, der Bachsucht ähnliche ethische Erregungen auf. Wir
blicken mit Zorn auf den Verüber der Brutalität, und ist die Erregung
genügend intensiv, so werden wir ihn auch angreifen. In komplizierteren
Fällen wird es von mehreren Faktoren abhängen, welcher Art die
Handlung ist, in welcher sich ein ethisches Gefühl kundgiebt oder
kundzugeben trachtet. Es ist nämlich erstens das auftretende ethische
Gefühl in gewissem Grade demjenigen ähnlich, welches durch einfaches
Vorstellen des Aktes der Mifshandlung entsprechen würde, wird also
die Tendenz haben, Handlungen der einfachen Bache zu veranlassen; es
entsteht aber zweitens durch das Vorstellen der Folgen der Handlxmg
im Organismus eine zweite Gruppe von Nervenvorgängen, welche die
Wirkung der ersten Gruppe modifiziert, wodurch die komplizierten Hand-
Litteraturbericht 3U1
limgen der Strafe entstehen, welche Ausfluls des aufwallenden Baohe-
i;;ef&hls sind, die durch das Vorstellen der Folgen, also durch andere
zugleich auftauchende Nervenvorgftnge modifiziert werden. So wie der
intensive ethische Schmerz in Bache und Strafbegier, bezw. in VoU-
f&hren r&chender oder strafender Handlungen, so giebt sich die intensive
«thische Freude in DankesgefQhl und im Wunsche oder Vollführen
dankbarer Handlungen kund.
Diese strafenden und lohnenden Handlungen sind in gewissem Grade
denen Ähnlich, die derjenige vollführt, dem die Handlung die Freude
oder den Schmerz unmittelbar verursacht hatte, und zwar wird diese
Ähnlichkeit um so gröfser sein, aus je einfacheren Elementen imser ethisches
GefQhl besteht. Aus je komplizierteren Elementen unser ethisches GefUhl
hesteht, aus desto komplizierteren Nervenvorg&ngen gehen auch die
Handlungen der Bache oder des Dankes hervor, und um so weniger
werden sie den primitiven Handlungen der Bache oder des Dankes
gleichen, unbeschadet der Ähnlichkeit des Grundcharakters beider auch
in den kompliziertesten Fällen. Untersuchen wir die gewöhnlich zu
beobachtenden Kundgebungsarten des Dankes und der Bachbegier, so
sehen wir, dafs sowohl die eine wie die andere sich nicht in der Mehr-
zahl, sondern nur in der Minderzahl der Fälle in Handlungen kundgiebt.
Wir nehmen die Mehrzahl der moralischen oder unmoralischen Hand-
ungen zur Kenntnis, ohne sie zu belohnen bezw. zu bestrafen, und
offenbart sich unsere ethische Erregung zumeist immer in der blassen
Form des Wunsches, die That zu bestrafen oder zu belohnen, oder in
der noch blasseren Form der Meinimg, die That verdiene Dank bezw.
Strafe, welche Seelenzustände auch nichts anderes sind, als weniger
intensive Erscheinungsformen des zum Handeln führenden Seelenzustandes.
Der eine Grund dessen, dafs diese Begierden nicht von rächenden oder
dankbaren Handlungen gefolgt werden, liegt darin, dafs andere neben
dem ethischen Gefühl verlaufende Seelenprozesse das Vollbringen der
Handlung hindern, gerade so, wie solche Handlungsvorgänge bei der
Kundgebung auch anderer Gefühle durch Handlungen vorkommen. So
wie es vorkommt, daXs ein himgpriger Mensch nicht ifst, infolge der
Überlegung, dafs das Essen seiner Gesundheit schädlich sein könnte, so
geschieht es auch, dais die Baohbegier nicht in rächenden Handlungen aus-
bricht, weil wir vor den Folgen derselben zurückscheuen, und so
wie es, um bei demselben Beispiel zu bleiben, geschieht, dafs ein
Hungriger wenig oder gar nicht ifst, weil sein Sparsamkeitstrieb stärker
ist als sein Hungergefühl, so geschieht es auch, dafs die dankbaren oder
rächenden Handlungen eine Modifikation erleiden oder unterbleiben, weil
andere, vom ethischen Gefühle unabhängige oder demselben entgegen-
gesetzte Begierden und Erregungen konkurrieren oder überwiegen.
Hierauf folgt wieder eine Polemik gegen Bain, nach dessen Definition
sich der Ausdruck der Moralität auf einen Kreis der Handlungen bezieht,
der durch die Sanktion der Strafe erzwungen wird. Es wird hiergegen
ausgeführt, dafs diese Definition das ethische Gefühl nicht von der wesent-
lichen Seite erfafst, \md dafs sie auch darin mangelhaft ist, dafs sie den
Begriff der Moralität n\ir an den Begriff der Strafe knüpft imd den
Begriff der Dankbarkeit ganz beiseite liefs.
302 Litteraturhericht
Diese Einseitigkeit der Definition Bains ist aber dorcli eine Eigen-
schaft des ethischen Gefühls erklärlich, die einer Erwähnung wert ist.
Es ist nämlich nicht abzuleugnen, dafs die Empfindung der ethischen
Freude und das auf die moralische That bezügliche Dankbarkeitsgefühl
weniger intensir ist, als das Gefühl des ethischen Schmerzes oder das
auf die Missethat bezügliche Rachegefühl, und dafs die Handlungen, die
wir aus Dankbarkeit vollbringen, kleiner an Zahl und Bedeutung sind,
als jene, die wir aus Bachbegier Tollbringen. Als eine Folge dieses
Phänomens ist es auch zu betrachten, dafs, während das staatlich
organisierte Strafsystem eine grofse Organisation, Strafkodexe, Gerichts-
barkeiten, Gefängnisse und Exekutoren besitzt, das staatlich organisierte
Belohnungssystem sich auf die Institution yon einigen Auszeichnungen,
Tugendpreise und Fleifsprämien, beschränkt. Die Beobachtung solcher
Thatsachen konnte es sein, die die Aufmerksamkeit Bains und vieler
Anderer ablenkte, so dafs sie den Begriff der Moral nur mit dem der
Strafe verknüpft sahen und ihren Zusammenhang mit dem Begriff der
Belohnung nicht bemerkten.
Die allgemeinen Erscheinungen der Gefühle geben auch in Bezug
auf diese Eigenschaft des ethischen Gefühls Aufschlufs. Die Bewegungen
und Handlungen, die infolge von Schmerzen auftauchen, sind überhaupt
intensiver als die, die infolge von Lustgefühlen auftauchen. Der
Schmerzensschrei ist gpröfser als der Freudenschrei, das Weinen ist eine
intensivere Aktion als das Lachen, das Zusammenzucken des Schmerzes
ist eine intensivere Bewegung als das Frohlocken. Eine Kundgebung
dieses allgemeinen Gesetzes ist es auch, dafs die infolge des ethischen
Schmerzes auftretende Bachbegier und rächenden Handlungen intensiver,
zahlreicher und von gröfserer Bedeutung sind als die infolge der
ethischen Freude auftretende Dankempfindung und dankbaren Hand-
lungen. Ein Korrelat des erwähnten psychophysiologischen Gesetzes
ist auch, dafs, je intensiver das Gefühl, d. h. je intensiver der begleitende
Nervenvorgang ist, desto intensiver der motorische Teil des Organis-
mus in Bewegung gesetzt wird. Diese Belativität der emotionellen
Äufserung der Gefühle ist auch in Bezug auf das ethische Lust- und
Unlustgefühl gültig, und also folgt, dafs jede Handlung, insoweit sie das
moralische Gefühl der Mitmenschen erregt, also selbst moralisch gut ist,
eine dankbare und, insoweit sie selbst unmoralisch ist, eine strafende
Handlung nach sich zieht, oder wenigstens nach sich zu ziehen die Tendenz
besitzt. Diese Belation der Handlungen der Bache und Belohnung
zu der Moralität der verursachenden Handlung ist der Begriff der
Gerechtigkeit.
Hierauf wird noch die biologische und evolutioneile Bedeutung des
ethischen Gefühls und Spencers Wunsch nach einem sittlichen Kodex
besprochen.
C. A. Stbong. The psyehology of pain. PsychoL Rev. Vol. IL Juli 1895.
S. 329—347.
Verfasser bekämpft die Theorie, welche den Schmerz als einen
Bestandteil von Empfindungen betrachtet. Er 'unterscheidet dabei in
lAUeraiurbericfU. 303
durchaus korrekter Weise „Unlust** (displeasure) und „Schmerz" (pain),
welcher entsteht, wenn die Haut geschnitten oder gebrannt wird. Nur
um den letzteren handelt es sich für ihn. Er sieht in demselben eine
besondere Empfindungsqualität, welche aber nicht notwendig an besondere
Nervenfasern gebunden ist. Seine Beweise entnimmt er teils den patho-
logischen Beobachtungen (Analgesia und Hyperalgesia), teils dem normalen
Zustand. Besonders auf dem ersteren G-ebiete werden interessante Einzel-
heiten vorgebracht, welche den Aufsatz, auch abgesehen von seiner
theoretischen Bedeutung, höchst lesenswert machen.
J. CoHN (Berlin.)
Jonas Gohn. Experimentelle ünterBachongen ttber die GefiUüsbetonimg
der Farben, Helligkeiten nnd ihrer Kombinationen. Philos. Stud. Bd. X.
S. 662—603. (1894.)
Den Hauptinhalt der auf Versuchen im WuNDTSchen Institute be-
ruhenden Arbeit bildet die Ermittelung des Wohlgefallens an der Kom-
bination von zwei Farben ; zwölf der im Institute arbeitenden Praktikanten
bildeten die Versuchspersonen. Der Beobachter safs in einem an der
Bück wand offenen Kasten, dessen Wände aus schwarzem Tuch bestanden.
In der vorderen Wand waren in gleicher Höhe, 10 cm voneinander
entfernt, rechteckige Löcher von 4:5cmGrörse angebracht; in jede der
Öffnungen kamen zwei verschieden gef&rbte Gelatineplatten. Der Beob-
achter hatte nun, möglichst unter Ausschlufs aller Beflexion und As-
soziation, den „augenblicklichen Gef&hlseindruck wiederzugeben'', zu
sagen, ob die Kombination rechts oder die links besser gefiel, oder
ob der Effekt beider gleich sei. Urteile, wie „unentschieden*', wurden
analog den Gleichheitsurteilen betrachtet. Die Urteile wurden proto-
kolliert, die Aussagen mehrerer Beobachter addiert und die so ermittelten
Zahlen graphisch dargestellt, indem die Zahlen der Vorzugsurteile die
Ordinaten darstellten. Die Abscisse der Kurve wurde durch Abwickelung
eines eigens konstruierten Farbenkreises gewonnen. Um diesen zu kon~
struieren, lieis 0. die eine Hälfte des Kreises mit einem Bot von 660 f^f*
Wellenlänge beginnen und einem Blaugrün von 494 f^fi schliefsen ; die
restierenden 180^ wurden dann durch den Komplementarismus bestimmt ;
die Wellenlängen zwischen 494 und 480 /nfj^ nahmen 70^ des Farben-
kreises ein.
Innerhalb einer Versuchsreihe wurde eine einzelne Grundfarbe mit
allen anderen disponiblen Farbentönen kombiniert.
FOr eine grofse Zahl von Versuchen wurden folgende Gelatineplatten
verwendet:
Wellenlänge Ort
Zusammenhang ^ . -n i_ •_ •
^ in f»^ im Farbenkreise
1 Blatt Purpur, 1 Scharhuchrot 670.680 0"»
2 Scharlachrot 668.645 5«
1 Scharlach, 1 Bosa, 3 Orange 682.622 16<>
7 Orange 616.608 36»
2 Orange, 4 Gelb 600.600 60*
11 Gelb 588.586 76*
304 Litteraiurberidit
„ , Wellenlänge Ort
Zasammenhang . ^ • n i. i. •
^ IQ ^/< im Farbenkreise
2 Grün, 4 Gelb 664. lOÖ*
4örttn 649.646 125»
2 BUugrttn 611.614 166°
1 Gelb, 2 Blau 490.484 220»
3 BUu 470.472 270*»
2 Blau, 1 Violett 469.467 272»
8 Violett 446.436 286«
1 Purpur, 1 Violett 320»
2 Purpur, 2 Bosa 336»
Die Prüfung des Wohlgefallens an den einzelnen Farben ist nur
kurz behandelt. XJm bei den urteilen über Kombinationen die beiden
wichtigsten Faktoren: das Wohlgefallen an der Einzelfarbe und das an
dem Zusammenwirken zweier, „gewissermafsen voneinander trennen zu
können^, wurde jede Farbe der benutzten Beihe einmal zur Grundfarbe
gemacht und aus den so erhaltenen Kurven eine Mittelkurve konstruiert,
indem aus den auf jeden der Abscissenpunkte fallenden Ordinaten das
arithmetische Mittel gezogen wurde. Dabei begann die Abscisse jedes-
mal an dem Orte der Grundfarbe im Farbenkreis.
Als Besultate seiner Versuche bezeichnet 0. im wesentlichen Fol-
gendes:
1. Von zwei Nuancen derselben Farbe gefiült die ges&ttigtere besser
auch unter mehreren verschiedenen Farben werden die satteren bevor-
zugt. Am seltensten wird das Gelb, auch das ganz gesättigte, bevorzugt.
2. Die Kombination von zwei Farben ist um so wohlgefälliger, je
weiter die Komponenten voneinander verschieden sind.
3. Zwei farblose Helligkeiten (Gbrau) passen um so besser zusanunen,
Je verschiedener sie sind.
4. Kombiniert man eine Farbe mit Grau verschiedener Helligkeit,
oder mit einer anderen, in ihrer Helligkeit variierenden Farbe, so wird
üer gröisere Helligkeitsunterschied vorgezogen.
In § 12 erörtert C. kurz die groDse Zahl variabler und schwer zu
übersehender Nebeneinflüsse, welche störend wirken. In der That sind
dieselben so zahlreich, dais Beferent zweifeln muss, ob die von 0. auf-
geworfenen Fragen durch Experimente am erwachsenen gebildeten Manne
ihrer Antwort n&her gebracht werden können. Kurella (Brieg).
•
H. E. Hbbing. Beitrag zur Frage der gleichieitigen Thfttigkeit ant-
agonistisch wirkender Muskeln. Zeitschr. f, HeiOde. (1896). Bd. XVI.
Duchenne, Brücke, Beaunis und Dement haben die Behauptung auf-
gestellt und durch kritische Erwägungen und experimentelle Bemühungen
zu sttLtzen versucht, dais bei der willkürlichen Innervation eines Muskels
stets auch der Antagonist in mäfsigem Grade innerviert werde, um so
.die Intensität der resultierenden Bewegung zu regulieren. — Verfasser
LUterahirhencht S05
besoblols, diese Behauptung naolizuprüfeii, und ging dabei Ton folgendet
Überleg^g aus: Werden bei einer gewollten Bewegung die Antagonisten
mit innerviert, welche« allein wirkend, eine der beabsichtigten entgegen-
gesetzt gerichtete Bewegung herbeiführen würden, so müfste, falls die-
jenigen Muskeln gelähmt sind, welche im Sinne der gewollten Bewegung
wirken, die vermeintliche, gleichzeitige Aktion der Antagonisten eine
der gewollten entgegengerichtete — wenn auch relativ schwächere —
Bewegung des betreffenden Körperteiles herbeifElhren.
Als Versuchsperson diente dem Verfasser ein 26jfthriger Mann,
welcher an Bleilähmung litt, und an dessen rechter, oberer Extremität
Bur Zeit des Versuches folgende Muskeln funktionsunfähig, elektrisch
onerregbar und stark atrophisch waren: Eztensor digit. comm., Indicator,
Extensor digit. minimi, Extensor pollic. longus und brevis, Extensor
carpi radialis longus und brevis, Ulnaris extemus.
Wurde dieser Patient aufgefordert, die Hand zu strecken (dorsal
au flektierenX so trat keine Spur einer Bewegung — speziell keine Volar-
flexion — ein, ein deutlicher Beweis dafär, dafs keine — auch durch
feine graphische Methoden nachweisbare — Innervation der, willkürlich
völlig funktionsfähigen, Volarfiexoren stattfand. — Ebenso war, wenn
PatiMit aufgefordert wurde, die ersten Phalangen zu strecken, keine
Flexion derselben infolge unwillkürlicher Innervation der Interossei und
Liumbricales wahrzunehmen.
Verfasser schliefst hieraus, dafs im Gegensatz zu Duchenne, Brücke etc.
die alte Theorie Galbns zu Becht besteht, welche besagt: Die anta-
gonistischen Muskeln sind während der willkürlichen Bewegung unthäüg
und ausschliefslich passiv. Aktiv zusammenwirkend mit anderen Muskeln,
w^erden sie nur beteiliget, um die einmal angenommenen Stellungen fest-
zuhalten. W. OoHNSTEiN (Berlin).
ItuDOLT Mbrinoeb uud £abl Matxb. Versprechen und Verlesen. Eine
psychologisch - linguistische Studie. Stuttgart, G. J. Göschensche
Verlagshandlung. 1896. 204 S.
Das normalerweise vorkommende Versprechen und Verlesen ist wieder-
holt — namentlich im Dienste der Assoziationslehre — zum Gegenstand
psychologischer Untersuchungen gemacht worden. Aber während sich
hier die Sprech- und Lesefehler aus planmäfsig angeordneten und durch-
getOhrten Experimenten ergeben, entnehmen die Verfasser ihre Beispiele
xnm gröfsten Teile dem ungezwungenen Verkehr eines Freundeskreises,
der durchweg aus gebildeten und sprachgewandten Männern bestand.
Eine vergleichende Untersuchung der Sprech fehler führt zu dem
Resultate: „dafs man sich nicht regellos verspricht, sondern dafs die
häufigeren Arten, sich zu versprechen, auf gewisse Formeln gebracht
werden können. Mit der Begelmäfsigkeit der Sprechfehler gewinnen
dieselben an Bedeutung, sie müssen durch konstante psychische Kräfte
bedingt sein, und so werden sie zu einem Untersachungsgebiet für Natur-
forscher und Sprachforscher, die von ihnen Licht für den psychischen
Spreehmechanismus erwarten dürfen." Die Lesefehler der Gesunden
jteigen viel Ähnlichkeit mit den Sprechfehlem und lassen sich daher in
Zdtsdirift Ar Pijchologie X. 20
306 LiiteraUtrbenchL
dieselben Kategorien einordnen wie die letzteven; Für die Lesefehlec der
.Geist^kranken, namentlich der Paralytiker, ergeben sich folgende All-
gemeine Gesichtspunkte: 1. die Wurzel vokale werden am leichtesten ricbtäg
erkannt; 2. das Accentschema des Wortes bleibt oft auch bei sonstiger
yer&9idemng; 3. von den Konsonanten wird der Wortanlaut, resp. der
Anlaut der hochbetonten Silbe, am besten erfafst und wiedergegeben.
Im folgenden ist eine Betrachtung über die Intensität und den relativen
Wert der inneren Sprachlaute bemerkenswert. „Wenn man wissen will,
welchem Laute eines Wortes die höchste Intensit&t zukommt, so beob-
achte man sich beim Suchen nach einem vergessenen Worte, z. B. eiüem
Kamen. Was zuerst wieder ins Bewufstsein kommt, hatte jedenfalls die
grölste Intensität vor dem Vergessen." Als „höchstwertige'^ Laute
werden angeführt der Anlaut der Wurzelsilbe, der Wortanlaut und jdie
betonten Vokale. Was die Verfasser übrigens 'unter „Wertigkeit'' önee
Lautes verstehen, erscheint hier nicht deutlich genug hervorgehoben.
Im letzten Abschnitt wird der sehr glückliche Versuch gemacht,'; mit
Hülfe der aus der Betrachtung der Sprechfehler gewonnenen^ .Ail-
schauungen einige Sprach phftnomene zu erkl&ren. Es kann auf Gnind
der jangeführten Daten kaum einem Zweifel unterliegen, dals die Splr^h-
fehler .in vielen Fällen der normalen Spracheutwickelung gleichsam den
Weg weisen, eine Thatsache, der auch Paul in seinen „PrinMipienderSpraek'
geachichte'* Bechnung trägt. Thbooob Hsllbr (Wien).
Hbiitrich Sohusohky. über die Nervosität der SchnUncend. Jena,
G. Fischer. 1896. 81 S.
Wenn auch der zwischen Ärzten und Pädagogen entbrannte Streit
um die Schule zur Zeit nicht mehr mit der alten Heftigkeit geführt
wird, und wenn er in ruhige Bahnen einlenktet, so haben die Versuche
der ersteren, eine bessernde Hand anzulegen; keineswegs nachgelassen.
Sie werden in stiller Arbeit fortgesetzt, und sind, was die gröfste Be-
achtung verdient, von selten der ^Pädagogen aufgegriffen und unterstützt
worden.
So haben uns die letzten Jahre die vortrefflichen Arbeiten von
Ejuepeun, aber auch die von Bübgbbstbin, von Ufbb u. a. m. gebracht. ;
Die vorliegende kleine Schrift reiht sich diesen Vorgängern in
würdiger Weise an. Sie vermehrt und verstärkt das Material, welches
von ärztlicher Seite gegen das bisherige System des Unterrichtes -bei-
gebracht wurde, m nicht unbedeutendem Mafse, und der Verfasser faikt
als praktischer Schularzt — er ist Schularzt und Professor an der König-
lich Ungarischen Staatsoberrealschule im V. Bezirk zu Budapest — seine
Ausstellungen in ganz bestimmten Forderungen zusammen, durch welche
er der Nervosität der Schuljugend entgegentreten will.
SoHüscHKT stützt seine Folgerungen auf die Ergebnisse einer Üiitelv
suchung, die er an 205 Schülern seioer Schule anstellte. Da ein Be-
fragen der Kinder und ihrer Eltern zu keinen befriedigenden Ergebnissen
führte, hielt er sich lediglich an die persönliche Untersucihung der
Lit(eraiurhmc7U, 307
Kindef , bei welchei^ er in 49,6*/o sog. Entartangszeiclien fand, d. li,
AbWeiolmngen von' der' normlJen körperlichen Bildung, die man als
beloben einer erblichen Entartung, einer angeborenen Anlage zu Gehim-
und Nervenleiden aüffafst.
Es ist dies sowie die fernerhin bei 51,7®/o ermittelten ausgesprochenen
nervösen Symptome eine geradezu erschreckende Höhe des Prozent-
sattfes» die ihre Erklärung allerdings zum Teil in dem umstände findet,
dals 69,7Vo aller Sch&ller Israeliten waren, bei denen die erbliche Anlage
und Entartung eine höhere Bolle spielt.
Daikr und inwieweit die Schule in jenen 51,7% nervöser Kinder ein
Teil der Schuld trifft, geht des weiteren aus dem Umstände hervor, dafs
in den unteren vier Klassen 46,4V* an nervösen Symptomen litten, und
dafs dieser immerhin hohe Prozentsatz in den vier oberen Klassen auf
577o stieg.
Abgesehen von den Schäden, die mit der Schule imd ihrem Systeme
in einem direkten Zusammenhemge stehen, ist es besonders die b&us-
licjie ^Srziehung, und hier wieder der Genufs geistiger Getränke, die in
Betxaoht kommen.
Man kann sich zur Trinkerfrage stellen wie man will, und man
braucht nicht gerade ein Abstinenzler zu sein, um dennodi. die Über-
zeugung zu haben, dafs der Alkohol für Kinder kein passendes Ge-
tränk sei Es ergiebt sich hieraus für uns die gebieterische Forderung,
der mifsbräuchlichen Darreichung geistiger Getränke an Kinder mit allen
uns zu Gebote stehenden Mitteln entgegenzutreten, und an Gelegenheit
hierzu fehlt es auch bei uns leider nicht, wenn auch der Mifsbrauch bei
uns kaum den gleichen umfang angenommen hat, wie wir dies von Pest
erfahren, wo Schüschvt bei 49,7% aller Schüler den GenuXs geistiger
Gtetränke nachweisen konnte.
Die Hauptschuld der Schule ist nach Schusghny in dem Umstände
gelegen, dafs der Unterricht von Fachleuten erteilt wird und die Zahl
der Schüler eine zu grofse ist. Es ist sowohl die Lehrmethode als auch
das Schülermaterial, die in gleicher Weise nachteilig wirken, von den
anderen Schädlichkeiten, wie den Hausarbeiten, dem Mangel an Schlaf
und anderen Dingen untergeordneter Natur zu schweigen.
Der Kernpunkt der ganzen Angelegenheit liegt selbstverständlich
in der Beantwortung von Frage No. IV : Wodurch wird die Nervosität
der Schuljugend verhindert?
ScHüscHinr fafst die Beantwortung dahin zusammen, dais ein groiser
Teil der Schüler mit nervöser Disposition in die Schule kommt, auf
welcher Grundlage sich die nervösen Symptome entwickeln. Je länger
der Schulbesuch dauert, um so mehr nimmt die Zahl jener Schüler zu,
die an nervösen Symptomen leiden. Nervöse Erscheinungen stellen sich
ikber auch bei solchen Schülern ein, die ohne nervöse Disposition in die
Schule kommen«
Da aber die Schule unentbehrlich ist, so müssen wir danach trachten,
dafis nervöse Erscheinungen durch sie nicht hervorgerufen werden, dafs
die Faktoren beseitigt werden, welche sie zeitigen.
- Der Kampf gegen die Nervosität mufs im Eltemhause begonnen
20*
308 Littemiurberu^t.
werden durch rationelle Erziehnng undErnfthrang. Pflicht der Schule ist es,
mitzukämpfen und alles aufzubieten zur Pflege und Erhaltung der Qesimd-
hext und Lernfähigkeit der Jugend. Dies könnte sie erreichen durch
Abschaffung des Faohlehrerystems, wesentliche Verminderung der Baus-
arbeit, gröfsere Sorgfalt fGLr alle hygienischen Vorschriften, insbesondere
für angemessenen Turnunterricht, und durch Forderung der schul-
ärztlichen Institution, sowie endlich durch Unterricht in der Gesund-
heitslehre des Schülers.
Dals wir zur Zeit noch nicht so weit sind, ist ebenso unbestreitbar,
als dafs wir mit aller Macht dahin streben müssen, diesen Forderungen
Geltung zu verschaffen, und das wird geschehen, wenn von anderer Seite
mit gleichem Eifer und mit ähnlicher Sachkenntnis dafür eingetreten
wird, wie dies Schusohky hier gethan. Pblmah.
P. J. MöBiüs. Neurologische Beiträge. IV. Heft. Ober ▼erBChiedena
Formen der Neuritis. — Über verseliiedene AngenmnskelstOnmgeiL
Leipzig. 1895. J. A. Barth. 1895. 216 S.
Das neueHefb der „Neurologtachen Beiträge'' enthält die Sammlung der
Arbeiten, die Verfasser über Neuritis und Augen muskelst^rungen in der
Zeit Yon 1882 ab an verschiedenen Stellen veröffentlicht hat.
Alle diese Arbeiten behandeln rein neurologische Themata, weshalb
von einer Skizzierung ihres Inhaltes abgesehen werden muls. Dals die
Lektüre des Buches eine angenehme ist, braucht dem, der die Vorzüge
der MöBiusschen Schreibart kennt, nicht erst versichert zu werden.
Interessant ist, dafs die zum Teil schon recht weit zurückliegenden
Arbeiten bis auf Kleinigkeiten auch heute noch vollauf zu Becht be-
stehen, ein Beweis nicht nur für die vorzügliche Beherrschung des
Stoffes, sondern auch für die weise Vorsicht, mit der sich Verfasser auf
dem hypothetischen Gebiete bewegt hat. W. Webbr (Bonn).
Bbbvbb und Fkeitd. Stadien über HjTBterie. F. Deuticke, 1895. Leipzig
und Wien. 269 S.
Die Verfasser geben im vorliegenden Werke, was sie in ihrer vor-
läufigen Biitteilung „Ober den psychischen Mechanismus hysterischer
Phänomene*' 1893 im Neural. Centraiibl. 1 und 2 versprochen haben. An
der Hand von fünf ausführlichen und zum Teil hoch interessanten
Krankengeschichten gelangen sie zur Ansicht von Bihbt und Javbt, dais
die Abspaltung eines Teiles der psychischen Thätigkeit (Spaltung der
Psyche) die Hauptursache der Hysterie ist. Während aber die genannten
Franzosen diese Spaltung als Folge originärer geistiger Schwäche auf-
fassen, weil in diesen Fällen die synthetische Thätigkeit des Gehirns in
ihrer Entwickelung unter der Norm bleibt, — behaupten Verfasser, daüs
die Spaltung des BewuCstseins nicht eintritt, weil die betreffenden
Kranken schwachsinnig sind, sondern sie erscheinen schwachsinnig, weil
ihre psychische Thätigkeit geteilt ist und dem bewuDsten Denken nur
ein Teil der Leistungsfähigkeit zur Verfügung steht. Doch ist die
Spaltung keine vollständige. Die unbewufsten Vorstellungen beeinflussen
auch das wache Denken, sie beeinflussen die Assoziation, lassen einzelne
Vorstellungen lebhafter vortreten, drängen gewisse Vorstellungsgrnppen
LiUeratmrbmeht 301}
inuner in den Vordergmnd, beherrschen Gemütslage und Stimmung u. s. w.
Die Spaltung der Psyche bedingt übrigens auch eine gewisse geistige
Schw&ohe, auf welcher wiederum die SuggestibÜitftt beruht. — Die
Einzelheiten der Arbeit eignen sich leider nicht für ein kurzes Beferat,
ihr nftheres Studium kann jedem, der sich fQr psychologische Fragen
interessiert, empfohlen werden. Umffbnbach (Bonn)«
Albbrt Eulenbusg. Bemale Neuroyatliie. Genitale Neurosen und Neu-
Topsychosen der Männer und Frauen. Leipzig, F. C. W. VogeL
1S95. 16i S.
Seit Kbafft-Ebirg seine vielleicht zu viel verbreitete Psychopathia
sexualis auf den Markt brachte, lassen seine Lorbeeren so manche Andere
nicht ruhen, und wenn sie es auch — imd warum sollten wir es ihnen
nicht glauben, da sie es doch sagen? — nur mit Widerwillen gethan,
so haben sie sich dennoch der müh- und dornenvollen Aufgabe in der
HofEnuDg unterzogen, etwas zu unserer Belehrung beizutragen.
Dais dies auch in dem vorliegenden Falle zutrifft, soll nicht in
Abrede gestellt werden. Der Verfasser legt uns hier die Ergebnisse
einer geradezu staunenswerten Belesenheit in der einschlägigen Litteratur
und einer jedenfalls ebenso langen wie eingehenden Beschäftigung mit
den hier in Frage kommenden Zuständen in einer Form vor, die es uns
keinen Augenblick vergessen läfst, däfs wir es mit einem wissenschaft-
lichen Werke und mit der Absicht des Belehrens, des Helfens und
Heilens zu thun haben.
Seine Aufgabe war die Darstellung der sexualen Neurasthenie,
d. h. derjenigen neurasthenischen Zustände, bei denen die Symptome der
reizbaren Schwäche, die exzessive Erregbarkeit und leichte Erschöpf bar-
keit im Bereiche der genitalen Nerven und im Zusammenhange mit den
Erscheinungen des sexualen Lebens primär oder besonders ausgeprägt
und überwiegend hervortreten. Er hat absichtlich den Namen der
Neuropathie und nicht die ihm zu eng dünkende Bezeichnung der
Psychopathie gewählt, weil diese Zustände auch bei psychisch nicht
kranken Personen vorkommen. Was das nun alles für sonderbare Zu*
stände sind, wie sie sich äu&em, wo, wann und wie sie zu erkennen und
zu behandeln sind, das mag man in dem Buche selber nachlesen.
Nur kurz möchte ich zustimmend darauf hinweisen, dafs die
Kasuistik, die in diesen Werken sonst wohl eine etwas reichliche Bolle
spielt, auf das allemotwendigste beschränkt wurde, und die im Grunde
recht wenig anmutenden Selbstbekenntnisse geschlechtlich abnorm
besaiteter Seelen vorteilhaft durch ihre Abwesenheit glänzen.
PZLMAN.
K. SoHAFFKR. Buggestion und Beflez. Eine kritisch-experimentelle Studie
über die Beflexphänomene des HypnoÜsmus. Jena. Gustav Fischer.
1895. 113 S.
In dem Streit um die Auffassung des Hypnotismus hat bekanntlich
die Schule von Nancy den Sieg davongetragen: Hypnose ist gleich-
bedeutend mit Suggestion, alle hypnotischen Erscheinungen sind psychische,
310 LUteratiMrbencht
•
d. h. Wirkungen einer bis aufisi ftoTserste gesteigerten Suggestibilität.
Somatische Erscheinungen, wie sie Cwutxxyt als kutane- und neuro*
muskuläre Übererregbarkeit beschrieben, und wie sie in einzelnen Fällen
auch Yon anderen Experimentatoren, Heidbithain, Grützvsb und Bbbokb,
beobachtet sind, stellen nichts weiter dar, als Kimstprodukte und lasseii
sich ebenfalls auf Suggestion zurü.ckführen. Das Wesen der Hypnose
ist Suggesübilitftt.
Aber die Pariser Schule ist nicht ganz mit Becht in den Hinter-
grund gedr&ngt worden. Mag man auch zugeben, dalSs jene dr^ Phasen
des „Grand Hypnotisme", wie sie Ohargot in der Salpdtri&re gelehrt, mehr
oder weniger Wirkungen der Dressur sind, — ganz allein die intra-
hypnotischen Kontrakturen auf Suggestion beruhen lassen zu wollen,
geht nicht an. Es muDs yielmehr ein anderer Faktor mit in Beohnung
gezogen werden : die physiologische Beflexwirkung. Diese hat Verfasser
einer genauen Betrachtung unterworfen, nachdem vor ihm zwei andere
ungarische Forscher, Höotbs und LAürKNAüsa, den Grund gelegt.
Um zu beweisen, dals es sich bei der Erzeugung solcher Kon-
trakturen, d. h. muskulärer Übererregbarkeit, in der That nicht um
Suggestipn handelt, mufste diese yor allem ausgeschlossen werden. In
welcher Weise dies geschehen, sowie den Verlauf der sehj. vorsichtig
ausgeführten Experimente selbst mag man im Original durchsehen. Hier
interessieren vor alleiii die Besultate, imd diese gehen eben dahin, diifs
die bisher als Suggestivwirkungen auf gefafsten somatischen Erscheinungen
nur als rein physiologische Beflexph&nomene, und zwar kortikalen Ur-
sprunges, betrachtet werden dürfen.
Damit aber ist zugleiph eine neue Theorie des hypnotischen Zu-
standes Überhaupt geschaffen. Das Wesen der Hypnose liegt, wie auch
bisher stets anerkannt, in einer Assoziationsstörung. Nach W^nrot
erzeugt der Befehl, eine Handlung zu vollbringen, ohne weiteres in
dem Hypnotisierten die Vorstellung dieser Handlung; jede Vorstellung
einer Bewegung aber ist von dem Triebe begleitet, die Bewegung aus?
zuführen. Das normale Bewuistsein unterdrückt diesen Trieb, das
hypnotische leistet ihm widerstandslos Folge, weil er nicht durch ander-
weitige Assoziationen unterdrückt wird. Hypnose ist also eine mehr
oder weniger vollständige Hemmung der Assoziation, Einwirkung und
Handlung erscheinen in engster Verknüpfung. Da aber diese primäre,
direkte Assoziation den Stempel eines Beflexes an sich trägt, so darf
man sagen: die Handlungen Hypnotisierter sind kortikale Beflex-
handlungen. Mag es sich dabei um somatische oder um psychische
Phänomene handeln, alle sind als Beflexe der Hirnrinde aufzufassen. Je
hochgradiger die zentrale Hemmung sinkt, desto mehr treten die
letzteren hinter den ersteren zurück, und es entstehen jene Formen
muskulärer Übererregbarkeit, jene seltsamen Kontrakturen, die sich vor
allem bei den durch Mangel zentraler Hemmung, ausgezeichneten
Hysterischen finden.
Demgemäfs aber kann auch ein wirklicher Unterschied zwischen
den Erscheinungen der sog. Suggestibilität und Beflexibilität nicht mehr
aufrechterhalten werden. Beide haben vielmehr eine gemeinsame Gnmd-
LiUeratwrberichU 311
lUsaelie, — gehemmto, resp^ unmittelbare, primäre Assoziation! Dissid'
Tuldet das kardinale Symptom der Hypnose: ihr äoTseres Zeiohen auf
jiP^ehischem'' Gebiete ist die Suggestibilitftt, auf ,,somati8ohem^ die>
neuro- und sensomnskuläre Übererregbarkeit.
•
Die Litteratar des Hypnotismns ist um ein wertvolles Buch be-
reiehert worden. Der Fachmann wird nicht umhin können, dasselbe
aufmerksam zu studieren; es bringt Neues, Beachtenswertes und darch
sahireiche Experimente Gestütztes. Beigefügt sind sechs, Tafeln in
Iiiöhtdruck; die Bilder sind vorzüglich ausgeführt und erhöhen das
Verständnis für die Auffassung der etwas komplizierten Versuche.
Scholz (Bonn).
MaxHkbz. Kritische Psychiatrie. KAVrische Studien ttb^ die Stömn^n
und den Miftbranch der reinen Bpeknlativen Vemnnft. Wicin,
Xieipzig, Teschen. 1895;
' unter den medizinischen Einzelwissenschaften nimmt die Psychiatrie
eine gesonderte Stellung ein. Die körperlichen und geistigen Er-
scheinungen leiten die Forschung gleichsam auf zwei Gebiete, deren
beider Erkenntnis notwendig, deren Natur aber so verschieden ist, daik
eine Betrachtung unter gemeinsamen Gesichtspunkten bis jetzt noch nicht
gewonnen ist. Die Mehrzahl der Forscher wird den aussichtsreicheren
W^ der naturwissenschaftlichen Methode einschlagen, unbekümmert der
Thatsache, dafs gerade -dort, wo sich die wichtigste Frage, die nach
dem Zusammenhang des Physischen und Psychischen, erhebt, unsf
Anatomie und Physiologie im Stich lassen. Die Kenntnis der gesunden
seelischen Funktionen aber ist die Vorbedingung für die Beurteilung
der kranken. Das Bewufstsein daher von der TJnentbehrlichkeit der
Psychologie, zugleich aber die Befürchtung, auf dem unsicheren Boden
det' empirielosen, rein abstrakten Betrachtung auf Abwege zu geraten,
wie zu den Zeiten B[binboths und Idxlebs, liefsen einen neuen Wissens-
zweig erstehen, eine Verbindung der Psychologie und Naturwissenschaft,
die Psychophysik.
f Verfäjsser hat den Schritt gewagt, zur Philosophie im eigentlichen'
Sinne, zur kritischen Philosophie, zurückzukehren und sie für die
Psychiatrie nutzbar zu machen. Aber er schafft dadurch nicht einen
Gegensatz zu den beiden anderen Wissenszweigen, sondern eine Er-
gänzung und Bereicherung. Seitdem Kamt der empirischen Forschung
und ihrer transcendentalen Auffassung die richtigen Wege gewiesen, ist
eine Kollision nicht mehr möglich. So ist auch das Verhältnis der
Psychophysik zur kritischen Philosophie gegeben : die erstere beschäftigt
sich mit der Verarbeitung des empirischen Materials durch die Denk-
gesetze, die zweite mit der Erforschung der (empirielosen) Denkgesetzd
selber, — oder anders ausgedrückt: nicht das, was die seelische Maschiue
aus dem ihr von den Sinnen gelieferten Bohstöff fabriziert, sondern der
Gang der Maschine selbst, das begriffliche Denken imd seine formalen
Veriiältnisse, wird Gegenstand des Studiums.
■* So nahe im Grunde der Gedanke liegt, die kritisch^philosophischie
Ifeiliode - auch auf die Störungen der reixlen Vemunfb auszudehnen,
312 LiUeraiurhenthL
so iat der Versuch des Verfassers neu. Die Gründe dafür liegen nioht
nur in der Schwierigkeit der Behandlung des Stoffes, sondern vor allem
auch in der Ahneig^ng, welche heutsutage gegen alles^ was den positiven
Wissenschaften fern steht, herrscht. Man sieht hinter der spekulativen
Philosophie vielfach noch ein Gedankensystem, welches mit verworrenen
und geheimnisvollen Begriffen spielt, sich in Spitzfindigkeiten verliert
und der exakten Forschung zum mindesten gleichgültig gegenübersteht.
Mag der Psychiater darüber denken, wie er will, — entbehren kann er
die Philosophie nicht, sofern es ihm Ernst um seine Wissenschaft ist«
und sei es auch nur in Form der modernen, zwar leicht verständlichen,
aber doch recht angreifbaren Assoziationslehre.
Verfasser hat übrigens gethan, was in seiner Macht stand, um dem
Leser das Verständnis der behandelten Materie zu erleichtem. Jedem
Kapitel schickt er als Einleitung eine kurze Betrachtung diesbezüglicher
S&tze der KAnrschen „reinen Vernunft^ voraus, so dais die Vorkenntnis
KuiTs nicht unbedingt erforderlich ist. Freilich bleibt die Lektüre
noch immer schwierig genug, und Verfasser hat recht, wenn er sagt,
daÜB man „sich nur mit dem Aufgebot all seiner Aufmerksamkeit und
Kritik in einem so dunklen Gebiete zurechtfinden kann^. Aber das
liegt, wie gesagt, an der Wahl des Stoffes, nicht an seiner Behandlung.
Klar und einleuchtend ist das Werkchen geschrieben, und wenn es sich
wirklich bestätigen sollte, dals Verfasser, wie er — hoffentlich irrtüm-
licherweise — andeutet, auf keinen allzu grofsen Leserkreis reohnen
dürfe, so mag er sich mit dem Schicksal so manches anderen Philosophen
trösten. Unbestreitbar bleibt ihm das Verdienst, der Psychiatrie einea
Weg neu erschlossen zu haben, dessen Bedeutung kein Verständiger
unterschätzen wird. Scholz. (Bonn).
Eduard Hrrzio. Über den QuarnlaatenwahnBinn, seine nosologiaQh*
Stellung und seine forensische Bedentnng. Eine Abhandlung für
Arzte und Juristen. Leipzig, F. 0. W. Vogel. 1895. 146 S.
Von Querulanten ist in der letzten Zeit so viel die Bede gewesea,
und mehr noch haben sie sich in der Tagespresse einen so grofsen
Baum erschrieben, die Welt mit ihren Geistesprodnkten derart über-
schwemmt, dais es wohl gerechtfertigt war, dem Querulantentam etwas
näher auf den Leib zu rücken und einmal nachzusehen, wie grola di«
Bolle sei, welche der Wahnsinn dabei spielt.
Wenn dies alsdann von einer so berufenen Seite geschieht, wie es
hier der Fall ist, und wenn der richtige Meister seine Aufgabe in einer
so vorzüglichen Weise lOst, wie er es in dem vorliegenden Werke gethan^
dann wird man am Ende den Herren von der querulierenden Fraktion
noch Dank wissen, dals sie, wenn auch unbeabsichtigt, Hrrsio die Ver*
anlassung zu seinem Buche gegeben haben.
Unzweifelhaft ist das BechtsbewuTstsein eine der tiefsten Empfin*
düngen im Menschen und Bechtskränkung daher ein wichtiger Antrieb
zur Beaktion. Da nun bekanntlich die Ansichten über Becht und
Unrecht mitunter sehr voneinander abweichen und bei Kläger und Be-
klagtem nicht selten grundverschieden sind, so kann es nictht fehten.
Litteraturberieht, 318
dafs die Ptotei, die z. B. in einem Prozesse verliert, dies als ein Unrecht
empfindet, nnd nicht gewillt, sich dabei zu beruhigen, daraus Veranlassung
an neuen Klagen, neuen Prozessen schöpft.
Die Lust am Querulieren braucht deshalb nicht von vornherein
Inrankhaft zu sein und dies selbst dann nicht, wenn die Denkweise des
Queriüanten eine gesetzwidrige und sein Handeln je nach Umst&nden
Bogar zu einem verbrecherischen geworden ist.
Krankheit wird sein Thun und Treiben nicht durch das Querulieren
an sich, sondern durch die begleitenden Umstände, welche den Charakter
und Gtoist des betreffenden Individuums in seioer Totalität als krankhaft
erscheinen' lassen.
Der Querulant würde nicht in oft so sinnloser Weise gegen seine
eigene Existenz wüten, wenn ihn nicht die ihn stachelnde, der Be-
richtigung durch das Zeugnis der Sinne und der Vernunft unzugängliche
und darum wahnsnnige Überzeugung, dafs er in seinem Hechte sei und
siegen müsse, dazu zwänge.
Hierin, in dem Mifsverhältnisse, das in der Ausbildung völlig un-
begründeter Beeinträchtigungsideen zu den äuTseren Vorgängen zu Tage
tritt, liegt der Beweis, dafs es nicht die äuDseren Umstände, sondern die
abnorme psychische Beschaffenheit des Querulanten selber ist, die seinem
Verhalten zu Grunde liegt, und dafs er sich in seinem gesamten Denken
und Thun wesentlich von der Geistesthätigkeit eines Gesunden entfernt.
Die Wahnvorstellungen der Querulanten sind auf den Typus der
Verfolgpingsideen mit einer Beimischung von Überschätzungsideen zurück-
zuführen. — Die Krankheit ist demnach der primären Verrücktheit
zuxuzählen und zweckmäüsigerweise als die querulierende Form der
primären Verrücktheit zu bezeichnen. Sie ist als solche eine tiefgehende
Erkrankung der ganzen psychischen Persönlichkeit, nicht etwa eine
Steigerung berechtigter Interessen oder das Gebaren eines nicht geistes-
kranken Fanatikers, obwohl das charakteristischte Symptom in einer
scheinbar isoliert bestehenden Beeinträchtigungsidee besteht. Dabei
kann sich der Kranke vernünftig unterhalten und zeitweise normaler
Geschäftsäufserungen fähig sein.
Meist aber erstreckt sich die Idee der Beeinträchtiguug auch auf
andere Kreise, und stets werden im Laufe der Erkrankung neue und
immer mehr Personen in den Kreis der Verfolgung hineingezogen, wenn
sie auch nur im Gegensatze zu den Interessen des Querulanten zu stehen
scheinen. Dieser Beziehungswahn wird kaum jemals fehlen, und da
er seinen Grund in einer krankhaft bedingten Unlustempfindung hat, so
ist ein Zustandekommen der daraus gezogenen Schlüsse ohne eine tief-
gehende Störung der Verstandesthätigkeit gar nicht denkbar.
Zu diesen Beeinträchtigungsideen tritt von vornherein ein aus-
gesprochener Gröfsenwahn und ein eigentümlicher Zustand des Gedächt-
nisses, ein Mangel an Beproduktionstreue bei sonst vortrefflichem
Gedächtnis. Genauigkeit und inhaltliche Richtigkeit fehlen, und dieser
Fehler der krankhaft veränderten Apperzeption und Gedankenbildung
untereoheidet sich von der bewulsten Lüge, die im übrigen nicht ans-
geeeUoBsen ist Die Krankheit beschränkt sich daher nichts weniger
314 IMeratmberkhL
als auf die ProdaktioD einer isolierten Idee, einer IConomanie:: Gres
wohnlich besteht eine Menge derartiger Wahnideen, wfthrend, znmal im
Beginne der Krankheit, solche Assosdationsreihen, die mit den Wahn-
vorstellungen in keinem Zusammenhange stehen, formell wie inhaltlich
normal gebildet werden können.
Diese Bef&higuqg wird jedoch im Laufe der Zeit in der Erkrankung
eine immer grölsere Einbuise erleiden, je mehr cerebrale Systeme, in^den,
Elrankheitsprozefs hineingezogen werden und bei der gemeinsamen
Gedankenarbeit nicht l&nger mehr zur Verwertung kommen. Die im
Anfange nicht immer leichte Diagnose wird alsdann auf keine Schwietig-
keiten mehr stofsen, und die angeblichen Opfer psychiatrischer Gewalt-
thfttigkeit und richterlicher Ungerechtigkeit werden sich endlich sogar
in den Augen der „unabh&ngigen Laien** als das entpuppen, was sie
wirklich sind, d. h. als geisteskrank, wenn es diesen unabhängigen Laien
überhaupt darum zu thun wäre, sich überzeugen zu lassen.
Aus der bisherigen* Darstellung ergi^bt sich die forensische Be-
deutung des Qnerulantenwahnes und die gegen ihn einzuschlagenden
Maisnahmen. Insofern, als die psychische Entftufserung der Kranken
auf anatomischen Veränderungen des Gehirnes beruhen muls, ist. der
geisteskranke Querulant als unfrei anzusehen und für seine Handlungen
nicht yerantwortlich zu machen.
Andererseits muls grade der Querulant als ein Torzugsweise der
Gesellschaft gefährlicher, als ein antisozialer Geisteskranker bezeichnet
werden, und die gegen ihn in Anwendung zu bringenden MaXsnahmen
werden nicht durch die Geistesstörung an sich, sondern durch einen
gewissen Grad derselben oder durch gewisse, mit den Verhältnissen der
Geisteskranken yerbundenen umstände begründet.
HrrsiGs Buch ist vorzugsweise geeignet, auf dem noch vielfAch
dunklen oder doch zum wenigsten umstrittenen (Gebiete des Querulanten-
wahnes Klarheit zu schaffen, und wenn es ihm gelingt, seine An^
schauungen zur allgemeinen Geltung zu bringen, dann werden wir ein«
ganze Anzahl sog. Sensationsprozesse und ebensoviele Märtyrer der
heutigen Bechts- und Irrenpflege weniger und eine entsprechende Zahl
von Geisteskranken mehr haben. Man würde irren, wenn man hiermit
den Inhalt des Buches für erschöpft hielte. Vielleicht liegt sogar der
Hauptwert in den mannigfaltigen Erörterungen mehr allgemeiner Natur
und in den weiten Ausblicken, die uns Hitzig nach den verschiedenstea
Seiten hin eröffnet.
Wird man ihnen auch nicht überall und unbedingt beistimmen^ sa
folgt man ihnen doch gerne bis zum Schlüsse, und wir werden ihm
unsere Anerkennung für die Anregung nicht, versagen, die wir ihm und
seinem vortrefiäichen Buche verdanken. Pblmah.
0. BxBNABDiKi und A. Pbbuoia. Le ftansioni di lelasione nella demonia.
Äw. di Freniatria. Vol. XXI. S. 120—136. (1895.) i
Angeregt durch Pbtbazzanis und VASttAiiza Arbeit : über Läsionen
des: Rückenmarkes bei Demenz haben die Verfasser im psychiatrisohen
InsÜtu^e zu Be^o Untersuchungen über den etwaigen Zusamrofinhang
fÄtteroHurberieht 315
der sensibeln und motorischeii Funktionsstörungen mx% derartigen De-
generationen bei 80 Individuen (54 M&nnern, 26 Weibern) angestellt,
deren Demenz das Ausgangsstadium von Manie, Melancholie, Paranoia
u. a- m. gebildet hat. Trots der grofsen Schwierigkeit der sogar bei Ge-
soiiden, um wieviel mehr bei Stumpfsinnigen, besondere Sorgfalt err
fordernden Mafsnahmen lieOsen sich doch einige nicht unwichtige That-
Sachen bei der Mehrzahl der Kranken erheben. So:
1. Geringe Sohmerzempfindliohkeit der Haut gegen Stiche und sehr
ausgesprochen gering für elektrische Beize, wfthrend die sonstigen Moda-
litäten des Tastgefahles, wie auch die Sinnesorgane, im ganzen bei den
Dementen wenig leiden. Ob indes jene Hypalgesie auf Degeneration
der zentripetalen Leitungswege oder ausschliefslich auf Bindenl&sion
zuTückaufahren ist, bleibt zweifelhaft.
2. Hypokinese: Fehlen des Muskeltonus einer Gesichtshälfte;
spricht entschieden für den Ausfall der psycho -motorischen Zentren,
während die Parakinesen: Zittern der Zunge und Hände, auf unregel-
mälkigen Verlauf des Nervenstromes durch die Bückenmarkfasem infolge
von Degeneration der Hinterstränge hinweisen. Dafür spräche
auch die
3. paradoxe Muskelreaktion bei Galvanisation, wenn nicht die
hochgradige Inanition der Dementen zu erwägen wäre. Fbaenkzl.
G. L. Dana. A case of Amnesia or „Double Oonscionsness*'. I^choL
Bev, I. S. 670-680. (1894.)
Ein 24 jähriger Mann gerät nach einer Leuchtgasvergiftung auf
acht Tage in einen Zustand von Yerfolgungsdelirium. Am achten Tage
wird er ruhig, zeigt aber Verlust des Gedächtnisses für das eigene Vor-
leben, kennt den Zweck alltäglicher Gegenstände nicht, hat „einen sehr
beschränkten Sprachschatz**, kann nur alltägliche Worte brauchen und
nur die einfachste, auf anwesende Objekte bezügliche Unterhaltung ver-
stehen. Beim Besuch der Eltern und Geschwister erkannte er dieselben
nicht, auch beim Besuch der Braut fehlte ein Wiedererkennen (wie Dana
meint), jedoch sagte er bei ihrem Besuch, er hätte sie immer gekannt
und hätte den dringenden Wunsch, dafs sie bei ihm bliebe; dabei wufste
er nicht, was Ehe und Heirat ist. Er konnte nicht lesen, kannte Buch-
staben und Zahlen nicht, lernte aber bald lesen und einfache Sätze/die aus
gewöhnlichen Worten bestanden, zu. schreiben. Zwei Monate später
konnte er in der Zeitung nur einfache Berichte über alltägliche Vorfälle
lesen; schnell lernte er wieder rechnen und Billard spielen; zugleich
lernte er schnell Handfertigkeiten, die ihm früher seiner Ungeschicklich-
keit wegen fremd geblieben waren. Der Charakter zeigte dieselben Züge,
wie vor der Krankheit. Im übrigen war er »ganz wie ein Mensch mit
kräftigem Gehirn, der in eine neue Welt geraten ist und alles erst lernen
muls*'. Dabei schien er ein Gefühl zu haben, sich in einem abnormen
Znstande zu befinden.
■ Aus der Schilderung des Zustandes ist als wichtig hervorzuheben,
dafs ke^ie Sensibilitäts- oder sensorische Störungen bestanden, dagegen
Z/^hßß von lähmungsartiger Schwäche der Vaspmotoren der Haut*
816 LüteratmberichU
Genau drei Monate nach dem Einsetzen der Krankheit, nnmittelbar
nach einem Besuche bei seiner Braut, die eine Verschlimmerung zu be-
merken glaubte, sagte er plötzlich seinem Begleiter, die eine Hälfte
seines Kopfes prickle; darauf wurde er sohl&frig und wurde in be-
nommenem Zustande zu Bett gebracht, wo er bald einschlief. Nach ein
paar Stunden wachte er auf und „hatte seine Erinnerungen völlig wiedar";
er erinnerte sich genau an alles, was der Erkrankung voraufgegangen
War; hier hörten seine Erinnerungen auf, er wufste nichts yon den drei
Monaten seiner Krankheit, erkannte kein Objekt, keine Person aus dieser
Zeit. Er nahm seine frtthere Beschäftigung wieder auf und ist seither
▼öllig normal geblieben.
D. macht in diesem Falle die Annahme, da& die langen Assoziations-
bahnen durch Leuchtgas leitungsunfähig gemacht worden wären, und
ferner, dafs „die Assoziationsbahnen, welche gewöhnliche sensorische
Sindenterritorien mit seit langer Zeit aufgespeicherten Erinnerungen
verbinden, nur durch ein hochdifferenziertes Vermögen der Nervenzellen
in Aktion gebracht werden können'*. Diese Aktion wäre in Fällen, wie
der vorliegende, aufgehoben.
Wertvoller als diese Spekulationen ist sein Hinweis darauf, dals
bei Kohlenoxydvergiftungen öfters die Erinnerung fCkr das mehrere Tage
vor denselben Erlebte verschwindet. Kürella (Brieg).
£muco Fhrbi. BoiiaUsmiis und moderne Wissenschalt. Übersetzt und
ergänzt von Dr. Haus Kubella. (Bibliothek fE^ Sozialwissenscbafk.
Bd. V.) Leipzig, Georg H. Wigands Verlag. 1895. 189 S.
Im L Teil — Darwinismus und Sozialismus — knüpft der
Verfasser zunächst an die bekannte Diskussion an, welche sich im An-
schlüsse an einen von Ebnst Haeckbl im Jahre 1877 vor der deutschen
Naturforscherversammlung zu München zum Zwecke der Verbreitung
der DABwiNschen Theorie gehaltenen Vortrage zwischen diesem und
ViscHow entspann, und in welcher ersterer den Einwurf Vibchows, der
Darwinismus führe unmittelbar zum Sozialismus, dadurch zu entkräften
suchte, dafs er in beiden Anschauungen unausgleichbare Gegensätze
nachweisen zu können glaubte, indem er dem ihm gemachten Vorwurfe
entgegenhielt, dafs, wie der Darwinismus die natürlich beding^te Un-
gleichheit der Individuen, sowie das Unterliegen der Mehrzahl im
Kampfe ums Dasein nachweise und nur den Besten oder Bestangepafsten
ein Überleben zusichere, im letzteren Falle also einen aristokratischen
Prozefs individueller Auslese bedeute, so im Gegenteil der Sozialismus
die Forderung der absoluten Gleichheit aller für alle erhebe, sowie die
Möglichkeit der Erhaltung aller im Daseinskampfe lehre und statt der
Selektion weniger Auserwählter eine demokratisch kollektivistische Nivel-
lierung erstrebe.
Verfasser erkennt in dieser Streitfrage Vibohow die gröisere Seher,
gäbe zu. Indem er aber nur dem Sozialismus im MABzschen Sinn^^
Berechtigung zuspricht, sucht er durchzuführen, dafis derselbe un-
Lüteraturhericht. 317
beschadet seines Wertes nicht nur in keinem Gegensatze zur Selektions-
theorie stehe, sondern dafs der Darwinismus gerade „eine der grund-
legendsten wissenschaftlichen Unterlagen des Sozialismus bildet'' und daüli
der letztere »nur ein Teil der logischen und natürlichen Deszendenz des
Determinismus und ein Zwillingsbruder der Entwickelungslehre Spisnobbb
ist.** Verfasser behandelt des weiteren das Verh<nis des Sozialismus zum
religiösen Glauben, sowie das des Individiuums zur Art und sucht im
letzten Abschnitte eine Parallele zwischen dem in der Entwickelung der
Lebewesen bestehenden Daseins- und dem in sozialistischer Beziehung
von Kabl Mabx aufgestellten Gesetze des Klassenkampfes nachzuweisen.
Im II. Teil — Entwickelungslehre und Sozialismus — be-
bandelt Verfasser in drei Abschnitten die Nationalökonomie und den
Sozialismus im Lichte der Entwickelungslehre, das Gesetz des anscheinen-
den Rückschritts und das KoUektiveigentum, die soziale Entwickelung
und die individuelle Freiheit, und sucht sodann die Bevolution und den
Umsturz, sowie die Bestrebungen des Anarchismus vom Standpunkte
des Sozialismus aus zu beleuchten. Febbi wird nicht müde, immer
wieder hervorzuheben, dals er den Sozialismus früherer Jahrzehnte, den
er als einen sentimentalen, unwissenschaftlichen, utopistischen bezeichnet,
verwirft und nur in dem von Marx vertretenen wissenschaftlichen den
naturgem&fsen Werdegang der allgemeinen Entwickelungslehre wieder-
erkennt. Es mufs femer die entschiedene Stellung anerkannt werden,
welche Fbbri dem Sozialismus gegenüber dem Anarchismus und dessen
persönlichen Obergriffen zuweist, und welche er selber einimmt. Als
Beweis dieser Stellungnahme zitiert Verfasser das Manifest, welches
nach der Ermordung Sadi Camots am 27. Juni im Mailänder ^SecoW^
von einer sozialistischen Arbeiterpartei Italiens veröffentlicht wurde.
Im m. Teil— Soziologie und Sozialismus — sucht Verfasser
zunächst zu zeigen, daÜs sich die an den Namen Auouste Comtks gebundene
Wissenschaft der Soziologie seit ihren ersten deskriptiven Leistungen
in einem Stadium des Stillstandes befinde (der tote Punkt der Soziologie),
die konsequente Anwendung des Darwinismus und der Entwickelungs-
lehre auf die Gesellschaftswissenschaft müsse, wie er glaube nach-
gewiesen zu haben, unvermeidlich zum Sozialismus führen. Im letzten
Abschnitte des Buches wird sodann Mabx als der eigentliche Ergftnzer
von SpsfCBB und Dabwih dargestellt.
Die Übersetzung des Werkes darf als eine musterg^tige bezeichnet
werden. Fbude. Kibsow (Leipzig).
Eine firwidemng.
, In dem vorigen Heft dteeer Zeit9chnft (Bd. X. S. l&8ff.) hat Dr. MEUHAjnr
gegen einen Bericht protestiert, den ich in einem der früheren Hefte
.CBd. IX. S. 297 ff.) von seinen Beürägen eur PBychologie des Zeitsinns gegeben
habe. Er behauptet, der Bericht enthalte starke sachliche Unrichtig-
keiten und übergehe Grundgedanken seiner Arbeit.
Da dem Referat eine ganz ausführliche Besprechung in dieser Zeit-
schrift nachfolgen soll, so habe ich es besonders karz gemacht und nur
die wichtigsten Punkte hervorgehoben. Daus ich dabei 0-edanken un-
erwähnt gelassen habe, die Meümaitn ftlr besonders wichtig hält, ist bei
der Verschiedenheit unserer Ansichten nicht zu verwundem. Es würde
mich zu weit führen, wollte ich hier in dieser Beziehung die Kurse
meines Referates verteidigen. Dagegen möchte ich die anderen Vor-
.würfe nicht ruhig auf mir sitzen lassen.
Erstens soll ich Msuhajins Ansichten über das Zustandekommen
4er Zeiturteile unkorrekt wiedergegeben haben. Es sei von mir über-
sehen, daCs er seine sämtlichen theoretische^ Ausführungen darauf
gerichtet habe, zwischen einer allgemeinen Psychologie der Zeitwahr-
nehmung und einer speziellen Analyse der Vorgänge, die bei der Bildung
]i^estimmter Zeiturteile unter gegebenen Versuchsbedingungen beteiligt
sind, zu unterscheiden. Über die Art und Weise des Zustandekommens
bestimmter Zeiturteile unter den konkreten Umständen des Zeitsinn-
yersuchs habe er sich gemäfs dem ganzen Plan seiner Untersuchung
Oberhaupt noch nicht äufsem können; was er angegeben habe, sei nur
die allgemeine psychologische Grundlage der Möglichkeit einer ge-
sonderten Beurteilung zeitlicher Verhältnisse unserer Bewulstseins-
Vorgänge.^ — Mir ist es unklar, wie man erst ganz allgemein Sätze über
das Zustandekommen von Zeiturteilen aufstellen (vergl. Pkilos. Stud. YJLIJL
S. 488 u. 505) und nachher behaupten kann, über die Art des Zustande-
kommens von Zeiturteilen unter den konkreten Verhältnissen
des Zeitsinnversuchs nichts ausgesagt zu haben. Sätze, welche die Ent-
stehung von Zeiturteilen betreffen, gelten entweder für die konkreten
Umstände oder überhaupt nicht, da ein Zeiturteil selbstverständlich
nur unter konkreten Umständen zu stände kommt. Die betreffenden
^ Die betreffende Stelle meines Beferats soll auCserdem „ein Muster
logisch unkorrekter Ausdrucksweise^ sein. Ich überlasse dem Leser
die Entscheidung, ob er diesen von Msumaitn nicht näher begründeten
Vorwurf berechtigt findet.
Mne Erwiderung. 319
SStze fküre ich hier' wörüioh an (vergl. Vm. JS. 488): „Entweder
die ifeStliclien Verhältnisse unserer Erlebnisse selbst werden Objekt
deft jaufmerksamen f^erzeption, dann kommt eine unmittelbare Aus-
sage-über Zeitverhältnisse zu. stände. Oder unsere Aufmerksamkeit
wird yon den Ereignissen gefesselt, von den Empfindungen, Vor-
stellungen, ihrem Weohsel u. s. w. Dann tritt der zeitliche Inhalt
ebenso für unser BewuXstsein zurück, wie irgend ein anderer psychischer
Inhalt, von dem sich die Aufmerksamkeit gänzlich abgewendet hat.
Wollen wir jetzt eine Zeitaussage über die zeitlichen Verhältnisse
unserer Erlebnisse machen, so sind wir auf gewisse Merkmale der Er-
eignisse angewiesen, die wir entweder mit einem bewufsten Indizien-
sohlufs oder rein assoziativ auf Grund früherer Erfahrungen zeitlich
deuten können. Das letztere nenne ich eine mittelbare oder vermittelte
Zeitaussage.'' Hiermit ist deutlich ausgesprochen, dafs bei ^ aufmerk-
samer Perzeption'' der zeitlichen Verhältnisse selbst ein unmittelbares
Zeitarteil entstehen soll, bei einer Abwendung der Aufmerksamkeit von
den zeitlichen Verhältnissen dagegen ein mittelbares. Da diese Sätze
in keiner V7eise eingeschränkt sind, habe ich angenommen, dafs sie für
alle konkreten Umstände gelten sollten, und habe dieser Annahme gemälla
referiert.
Zweitens soll ich von den verschiedenen von Meumakh für eine
bestimmte Täuschung angeführten Erklärungsmöglichkeiten ganz beliebig
etne-einzige herausgegriffen und als die seinige hingestellt haben. Für
die fragliche Täuschung, welche darin besteht, dafs ein von intensiveren
SchäUeindrüoken begrenztes Intervall kürzer erscheint, als ein anderes,
vTelchei^ objektiv gleich grofs, aber von schwächeren Signalen begrenzt
ist, tmd für alle anderen aus der Intensitätsverschiedenheit der be-
-gren^enden Empfindungen entspringenden Täuschungen habe er je nach
den ümiständen fünf bis sechs und mehr Ursachen luigenommen, welche
zusammen ' die Effekte-' hervorbringen könnten, nämlich die Schall-
verschmelzung, gewisse assoziative Faktoren, die stärkere Beschäftigung
der Aufmerksamkeit, Oberraschungseffekte und spezifisch rhythmische
Einflüsse. — Wie wenig dieser Vorwurf begründet ist, erhellt aus
Folgendem. Bei der Besprechimg der Versuche (vergl. Fhüoa, Stud. IX.
S. 274 f. S. 286—288), durch welche die Täuschung konstatiert ist, wird
als einzige Ursache für die subjektive Verkürzung der von intensiveren
Signalen begrenzten Zeit die „grölsere Schall Verschmelzung** angegeben.
Allerdings werden noch zwei von den Faktoren, die Meüvank in seiner
Berichtigung erwähnt, zur Erklärung eines Besultates, welches sich
unter ganz speziellen Umständen ergeben hat, herangezogen, nämlich
die stärkere Beschäftigung der Aufmerksamkeit und ein assoziativer
Faktor. Aber diese beiden Faktoren bewirken nicht, dafs das von
intensiveren Schalleindrücken begrenzte Intervall kürzer erscheint, sie
haben vielmehr gerade die entgegengesetzte Wirkung (vergl.
IX. S. 288). Die letzten beiden Faktoren, welche Mbumahn in seiner
Berichtigung noch anführt, „Überraschungseffekte** und „spezifisch
rhythmische Einflüsse** werden bei Besprechung der Versuche überhaupt
nieht erwähnt. Erst am Schlüsse des Artikels (IX. S. 805) wird ganz
320 jB^
unmotiviert die Behauptung aufgestellt, dafs auch bei der hier in Frage
kommenden Tftnechung die rhythmische Auffassung von Kinflufa sei.
Während aber bei aUen anderen Versuehen durch Selbstbeobachtung eine
rhythmische Auffassung festgestellt ist, wird eine solche bei der Dis-
kussion derjenigen Versuche, durch welche die relative Verkürxnng des
von intensiveren Signalen begrenzten Intervalls konstatiert ist, mit
keinem Worte erw&hnt. Was endlich die Überraschung (vergl. IX. S. 206)
anbetrifft, so bleibt dem Leser vollständig überlassen, su vermuten, dafe
sie bei den betreffenden Versuchen mitgewirkt habe. Hat sie aber mii-
gewirkt, so kann sie nur den verkürzenden Einflufs der Sehali-
verschmelzung zum Teil aufgehoben haben, da nach MainiAim
das Intervall, welches einem intensiven, Überraschung hervorrufenden
Signale nachfolgt, verlängert erscheint. Thatsächlich hat also Mbü-
MAKN nicht fünf, sondern nur zwei Faktoren zur Erklärung herangeaog«i.
Von diesen beiden Faktoren habe ich nicht einen beliebigen, sondern
denjenigen, dessen Wirkung allein wirklich konstatiert ist, in meinem
Beferate unter einer anderen Bezeichnung- angeführt, denn mit der
„längeren Dauer der intensiveren Empfindungen^ ist die „stärken» Yer-
schmelzung'^ derselben gegeben. Es geht denmach aus dem Angeführten
hervor, dais Mbukahn seinen schweren Vorwurf auf Grund einer
„starken^ Unkenntnis des Inhalts seiner eigenen Arbeit er-
hoben hat.
Der dritte und letzte Vorwurf betrifft ein unbedeutendes Veraehen.
loh habe gesagt : „Die bisher mitgeteilten experimentellen Untersuchungen
behandeln den Einflufs, welchen die Intensität und Qualität der be-
grenzenden Signale auf die Schätzung ausüben*^ Direkt falsch ist diese
Angabe nicht, da ja thatsächlich neben dem Einflüsse der Intensität
auch ein solcher der Qualität untersucht ist. Ich gebe aber zu, dais es
korrekter gewesen wäre, wenn ich nur von einem Einflüsse der Intensität
gesprochen hätte. F. SomncAinr (Berlin).
Zur Psychophysik der Gesichtsempfindungen.
Von /
G. E. MÜLLEK.
Kapitel 2.
Der Aiitagoiiismas der Netzhaatprozesse.
§ H- Die Annahme antagonistischer Valenzen und
die Komponenten theorie des Weifsprozesses.
Sehr auffallend ist die Thatsache, dafs, während rotgelbe,
^elbgrüne, grünblaue und blaurote Empfindungen in mannig-
faltigen Nuancen und Abstufungen vorkommen, rotgrüne und
^elbblaue Empfindungen in unserer Erfahrung niemals auftreten.
Behufs Erklärung dieses Sachverhaltes und spezieller der That-
3ache, dafs zwei Lichtreize, von denen der eine, allein genommen,
die Empfindung von Urrot oder Urgelb, der andere die Em-
pfindung von Urgrün bezw. Urblau zur Folge hat, bei gleich-
zeitiger Einwirkung, auf dieselbe Stelle der Netzhaut je nach
ihrem Intensitätsverhältnisse entweder eine weifsliche Bot- oder
Grün- bezw. Gelb- oder Blauempfindung oder eine farblose
Empfindung, aber eben niemals eine rotgrüne bezw. gelb-
blaue Empfindung zur Folge haben, nehmen wir Folgendes an.
Jedes farbige Licht besitzt neben seiner chromatischen
Yalenz oder seinen beiden chromatischen Yalenzeu noch eine
Weifsvalenz. Nun sind der Eotprozefs und der Grünprozefs
und ebenso auch der Gelbprozefs und der Blauprozefs* Vor-
^ £s mag hier noch besonders darauf aufmerksam gemacht werden,
-dafs wir unter einem Weils-, . Rot-, Gelb- u. s. w. Prozesse stets nur
einen in den lichtempfindlichen Schichten der Netzhaut sich
abspielenden chemischen Vorgang, hingegen unter einer Weifs-, Bot-,
Oelb- u. s. w. Erregung stets einen durch einen solchen retinalen
Prozels im Sehnerven hervorgerufenen Erregungs Vorgang verstehen.
Zeitgchrift für Paycholoerie X. 21
322 G, E. Müller.
gange I die in einem Verhältnisse gewissen Gegensatzes zu
einander stehen, so dafs ein mit einer Botvalenz oder Gelb*
Valenz begabter Beiz als solcher in entgegengesetzter Bichtnng
wirkt, wie ein mit einer Grünvalenz bezw. Blauvalenz begabter
Beiz. Wifkt also rotes und grünes Licht gleichzeitig auf dieselbe
Netzhautstelle, so wirken sich beide Lichtreize insofern, als
der eine Botvalenz und der andere Grünvalenz besitzt, entgegen.
Hingegen verstärken sie sich gegenseitig in ihren Wirkungen
insofern, als sie beide Weilsvalenz besitzen. Demgemäfs müssen
sie je nach ihrem Intensitätsverhältnisse neben einem relativ
verstärkten Weifsprozesse entweder nur einen Botprozefs oder
nur einen Grünprozefs hervorrufen oder, falls sich die beiden
antagonistischen Valenzen gegenseitig gerade aufheben, über-
haupt nur einen Weifsprozefs zur Folge haben. Entsprechendes
gilt von dem gleichzeitigen Einwirken gelben und blauen Lichtes.
Man kann dieser Auffassung, welche kurz als die An-
nahme antagonistischer Valenzen bezeichnet werden
kann, eine andere, etwa als die Komponententheorie des
Weifs Prozesses zu bezeichnende Ansicht gegenüberstellen,
nach welcher eine durch gemischtes Licht hervorgerufene Weiü-
empfindung nicht auf gegenseitiger Hemmung der chromatischen
Valenzen der Partiallichter, sondern vielmehr darauf beruht,
dafs die chromatischen Valenzen der Partiallichter, die einer
besonderen Weifsvalenz überhaupt entbehren, irgendwie zu
wirklicher Thätigkeit und positiver Zusammen Wirkung gelangen.
Diese Komponententheorie muTs natürlich, wenn sie über-
haupt in Bücksicht gezogen werden soll, so formuliert werden,
dafs sie nicht in Widerspruch zu dem fünften unserer psycho-
physischen Axiome (vergl. § 5) steht. Würde man z, B. sagen,
der Weifsempfindung, welche bei gleichzeitiger Einwirkung
gelben und blauen Lichtes entstehe, liege ein psychophysischer
Mischvorgang zu Grunde, welcher zu gleichen Teilen aus
Gelberregung und Blauerregung bestehe, so würde zu erwidern
sein, dafs ebenso, wie in dem Falle, wo eine Boterregung und
eine gleich intensive Gelberregung gegeben ist, eine rotgelbe
Empfindung vorhanden ist, welche sowohl der reinen Bot-
empfindung, als auch der reinen Gelbempfindung ausgeprägt
ähnlich ist, auch in dem Falle, wo eine Gelberregung und eine
gleich intensive Blauerregung gegeben Ist, eine gelbblaue, nicht
aber eine farblose Empfindung vorhanden sein mufs.
Zur JPsycKophysik der Gesichtsempfindungen. S23
Man vermeidet den Widerspruch zum fünften Axiome, wenn
man die Eomponententheorie z. B. in folgender Form vor-
trägt. Der Eotprozefs und der Q-rünprozefs — das Entsprechende
gUt von dem G-elbprozesse und Blauprozesse — sind Prozesse,
deren jeder aus zwei aufeinanderfolgenden Teilvorgängen besteht.
Bei jedem dieser Prozesse tritt nämlich zunächst eine Spaltung
gewisser komplisderter Moleküle ein. Hierauf entstehen aus den
Produkten dieser chemischen Spaltung neue Moleküle, welche
von anderer Art sind, als die der Spaltung unterlegenen Moleküle.
17atürlich gehen Spaltung und Neubildung an verschiedenen
Punkten gleichzeitig nebeneinander her. Der wesentlichere,
fiir das Verhalten des Sehnerven mafsgebende Teilvorgang ist
nicht die Spaltung, sondern dieNeubüdung mittelst derSpaltungs-
Produkte. Wirken nun rotes und grünes Licht gleichzeitig auf
dieselbe Netzhautstelle ein, so bewirkt zwar jeder von beiden
Xiichtreizen den ihm entsprechenden Spaltungsprozefs, an diesen
schliefst sich aber nicht der sonst dazu gehörige (den wesenir
lichen Teil des Bot- bezw. Grünprozesses ausmachende) Yor-^
gang chemischer Neubildung an, sondern die durch beide
liichtreize bewirkten Spaltungen fuhren gemeinsam zu einem
iganz neuen chemischen Yerbindungsvorgange, welcher den
Weifsprozefs in seinem wesentlichen Teile darstellt.
Wir führen die hier angedeutete Form der Komponenten-
theorie nicht weiter aus, sondern gehen sofort dazu über, zu
zeigen, dafs eine Komponententheorie des Weifsprozesses, mag
man sie nun so oder so gestalten, mit einer Beihe von That-
sachen imd Gesetzen, deren Erklärung sich vom Standpunkte
der Annahme antagonistischer Valenzen aus ganz von selbst
ergiebt, teils gar nicht, teils nur mittelst sehr wenig befrie-
digender, erzwungener Hülfshypothesen in Einklang gebracht
werden kann.
§ 15. Die Komponententheorie ist unverträglich mit
dem Satze, dafs die subjektive Gleichheit zweier
Lichter von dem Ermüdungszustande des Sehorgans
unabhängig ist.
Wir führen gleich an erster Stelle dasjenige Argument an,
welches, allein genommen, bereits vollständig zur Beseitigung
der Komponententheorie genügt.
Wie VON Kribs und Hering gezeigt haben, gilt allgemein
21*
324 O' JS' MüHer.
der Satz, dafs zwei Lichter, welche objektiv verschieden siad,
dem unermüdeten Auge aber gleich erscheinen, dem irgendwie
ermüdeten Auge zwar beide verändert, stets aber untereinander
wieder gleich erscheinen.^ Dieser Satz, auf dessen hohe theo-
retische Bedeutung vok Kbxbs aufmerksam gemacht hat, ist
nach der Annahme antagonistischer Valenzen ganz selbst-
verständlich. Bezeichnen wir mit r, g, e,' b den Wert der
roten, grünen, gelben, blauen Valenz, welche einem Mischlichte
gemäjQs seiner Zusammensetzung aus roten, gelben u. s. w.
Lichtstrahlen zuzuschreiben ist, so kommt dasselbe infolge des
Antagonismus, der zwischen der roten und grünen Valenz be-
steht, für die rotgrünempfindlichen Substanzen überhaupt nur
mit der Differenz r — g zur Geltung. Je nach dem Vorzeichen
und der absoluten Q-rofse dieser Differenz wird entweder ein
Botprozefs oder ein Grünprozefs von gröfserer oder geringerer
Intensität oder (falls r —g = 0 ist) weder ein Bot-, noch ein
Grünprozefs durchs das Licht erweckt werden. Ebenso kommt
das letztere für die gelbblauempfindlichen Substanzen niu: mit
der Differenz e — h zur Geltung, ganz unabhängig davon, wie
grofs die absoluten Werte von e und h sind. Bezeichnen wir
die Differenzen r — g und c — h kurz als die wirksamen Diffe-
renzen der chromatischen Valenzen, so können wir also
kurz sagen, dafs, wenn zwei Lichter bei gleicher Erregbarkeit
der von ihnen betroffenen Netzhautstellen einander gleich er-
scheinen, ihnen gleiche Werte der Weifsvalenz und der wirk-
samen Differenzen der chromatischen Valenzan zugehören. Es
' Man vergleiche ton Krixs im Ärch, /*. Anat u. PhysioL 1878.
S. 603 if., Die G-esichtbempfio düngen und ihre Analyse, S. 109 ff.; Hbbiko,
Über Newtons GeseU, S. 89 AT., ferner in Pflügers Ärch, 41. 1887.
S. 41 f. und 42. 1888. S. 492 ff. Wenn von Kbies neuerdings (diese Z^i-
Schrift 9. 1895. S. 89 ff.) zu dem Besultate kommt, dais die far hohe Inten-
sitäten geltenden Farhengleichungen hei Ahschwächung aller Lichter
und Dankeladaptation in dem Sinne unrichtig werden, dais dasjenige
Gemisch, welches die gröfsere Stähchenvalenz hesitzt, einen Überschufs
von farbloser Helligkeit erhält, so wird hiermit, streng genommen, eine
Abweichung von dem obigen Satze behauptet. Wie leicht zu erkennen,
wird indessen hierdurch die Gültigkeit dieses Satzes in derjenigen Hin-
sicht, auf die es uns im obigen ankommt, nicht berührt. Für das Netz-
hautzentrum erkennt von Kbies den obigen Satz auch jetzt noch als
unbedingt giltig an.
' Das Gelb wird in dieser Abhandlung durch den Buchstaben e
repräsentiert, weil das g schon durch Grün in Beschlag gelegt ist.
Zur Psychophysik der Gesichtsefnpfindungen. 326
Tersteht sicli nun ganz von selbst, dals die subjektive Gleicli-
lieit beider Lichter erhalten bleibt, wenn die {Erregbarkeit der
beiden Netzhautstellen, auf welche sie mit ihreii gleichen Weifs-
Valenzen und ihren gleichen Differenzen der chromatischen
Yalenzen wirken, in einer für beide Netzhautstellen gleichen
Weise verändert wird.
Hingegen scheitert eine Komponententheorie der in Sede
stehenden Art^ unwiderruflich an dem obigen Erfahrungssatze.
Angenommen z. B., wir lassen zunächst bei neutraler Stimmung
des Auges zwei gleich aussehende, weiTse Lichter einwirken,
von denen das eine eine Gelbvalenz und Blauvalenz, das
andere aber aufserdem noch eine Botvalenz und Grünvalenz
besitzt, und wir ermüden hierauf das Auge für Bot, so können
nach der Komponententheorie dem in dieser Weise ermüdeten
Auge die beiden Lichter nicht mehr gleich erscheinen. Denn
die Wirkungen, welche die Botvalenz und die Grünvalenz des
zweiten Lichtes nach der Komponententheorie haben, müssen
durch die vollzogene Ermüdung für Bot wesentlich, und zwar
im gegenteiligen Sinne, beeinflufst sein, während für das erstere
Licht eine entsprechende Beeinflussung seiner Wirkungen nicht
stattgefunden hat. Nach der Komponententheorie kommt jedes
Licht mit allen seinen Valenzen zur positiven Wirksamkeit.
Habe ich also zwei gleich aussehende MischUchter, welche nicht
dieselben Valenzen besitzen, und verändere ich nun die Erreg-
barkeit für eine Valenz, welche nur dem einen Mischlichte
oder beiden Mischlichtem mit verschiedenem Werte zu-
kommt, so kann das gleiche Aussehen beider Mischlichter
nicht mehr bestehen bleiben. ELingegen kommt nach der An-
nahme antagonistischer Valenzen jedes der beiden Mischlichter
nur mit seiner Weilsvalenz und den Differenzen seiner chro-
matischen Valenzen zur aktuellen Wirksamkeit. Ermüde ich
das Auge für eine Valenz, welche nur dem einen Mischlichte
^ D. h. eine Komponententheorie, welche (im Hinblick auf die von
uns im ersten Kapitel angeführten oder andere Beweisgründe) vier chro*
matische Grundprozesse der Netzhaut und vier chromatische Valenzen
der Lichter annimmt. Die YoTTNO-HELMHOLTzsche Theorie, welche zu dem
obigen Satze in Einklang steht, ist gleichfalls eine Komponententheorie
des Weifsprozesses, kommt aber wegen ihrer groben Widersprüche zu
den psychophysischen Axiomen und zu zahlreichen Erfahrungsthatsachen
überhaupt nicht in Betracht.
326 G' E. Müüer.
zakommt, so bleibt trotzdem das gleiche Aussehen beider Misch-
lichter erhalten, weil diese Valenz dadurch völlig kompensiert
nnd wirkungslos gemacht ist, dafs das Mischlicht, welchem
sie zukommt, die ihr entgegengesetzte Valenz in genau der-
selben Stärke besitzt. Entsprechendes gilt fär den Fall, dafs
wir das Auge für eine Valenz ermüden, welche den beiden
Mischlichtem mit verschiedenen Werten zukommt.
§ 16. Die Komponententheorie wird dem Eintreten
und Verhalten des Weifsprozesses bei Farbenblind-
heit, insbesondere den beiden HESSschen Sätzen,
nicht gerecht.
Die Eomponententheorie ist femer nicht in befriedigenden
Eiuklang zu der Thatsache zu bringen, dafs bei (peripherischer
oder individueller) totaler Farbenblindheit der Weifsprozefs noch
vorhanden ist, während die chromatischen Prozesse völlig fehlen.
Denn, wenn wirklich der Weifsprozefs im Sinne der Eomponenten-
theorie durch ein positives Zusammenwirken chromatischer
Valenzen zu stände käme, so wäre zu erwarten, dafs in Fällen^
wo die chromatischen Prozesse der Netzhaut nicht mehr hervor-
gerufen werden können, auch der Weifsprozefs gänzlich aus-
bleibe. Ebenso wäre zu erwarten, dafs in Fällen, wo nur die
roten und grünen (nur die gelben und blauen) Valenzen die
ihnen entsprechenden chromatischen Prozesse nicht hervorzu-
rufen vermögen, auch die Kombination einer roten und grünen
(gelben und blauen) Valenz unfähig sei, den Weüsprozefs zu
bewirken.
Man kann meinen, dafs die Komponententheorie dem hier
erhobenen Einwände entzogen werden könne, wenn man die-
selbe einer, allerdings recht wesentlichen, Modifikation unter-
werfe, nämlich so gestalte, dafs nach derselben zwei Arten der
Erweckung des Weifsprozesses vorkommen. Man habe anzu-
nehmen, dafs letzterer Prozefs erstens dadurch bewirkt werde,
dafs sämtliche Lichtreize mittelst einer ihnen in verschiedenem
Grade zukommenden Weifsvalenz direkt Weifsprozefs hervor-
rufen. Zweites könne aber der Weifsprozefs auch durch ein
positives Zusammenwirken der farbigen Valenzen zweier oder
mehrerer Lichtreize bewirkt werden. Was speziell das Ver-
halten der verschiedenen Netzhautzonen anbelange, so trete
die zweite Art der Entstehung des Weifsprozesses hinter die
Zur Psychophysik der Ghsichtsempfindungen. 327
erstere tun so mehr zurück, je weiter man auf der Netzhaut
nach der Peripherie hinschreite, entsprechend dem Umstände,
dafs die farbigen Valenzen der Lichter bei zunehmendem Ab-
stände von der Fovea immer mehr an Wirkung verlieren. Auf
der äufsersten Netzhautzone sei eine Erweckung des Weifs-
prozesses überhaupt nur noch auf die erstere Art (mittelst der
Weifsvalenzen der Lichter) möglich.
G-egen die hier angedeutete Form der Komponententheorie
ist einzuwenden, dafs sie zwei auf das Verhalten der ver-
schiedenen Netzhautzonen bezüglichen, von Hbss {Arch. f.
Ophihalm. 35. 4. S. 1 ff.) aufgestellten,^ wichtigen Sätzen nicht
in befriedigender Weise gerecht zu werden vermag. Der erstere
dieser beiden Sätze besagt, dafs eine Farbengleichung, welche
für die innerste extramakulare Netzhautzone hergestellt worden
ist, auf allen übrigen extramakularen, farbentüchtigen und
farbenblinden, Netzhautzonen bestehen bleibt.^ Der zweite
Hssssche Satz lautet (in der Ausdrucksweise der HsBiKGschen
Theorie) dahin, dafs die Weifsvalenzen der farbigen Lichter für
die farbentüchtigen extramakularen Netzhautstellen ganz die-
selben Werte besitzen, wie für die farbenschwachen und
farbenblinden Netzhautstellen. Man denke sich z. B. folgenden
(von Hess ausgeführten) Versuch. Es seien ein rotes und ein
grünes Licht, deren jedes auf der rotgrünblinden Netzhautzone
ganz farblos erscheint, mit einem solchen gegenseitigen Liten-
sitätsverhältnisse gegeben, dafs sie bei ihrer Vermischung auf
^ Auch Hebivg {Arch, f. Ophihalm. 35. 4. S. 74 und 36. 1. S. 264) äufsert
sich auf Grund seiner experimentellen Erfahrungen bestätigend zu den
YOQ Hess aufgestellten Sätzen.
* In leicht erkenntlicher Beziehung zu diesem (von Hess nicht blois
mittelst Pigmentfarben, sondern auch mittelst Spektralfarben erwiesenen)
Satze steht auch die folgende Beobachtung von Hbkivo (Arch, /*. Ophthakn,
36. 3. S. 21 f.) Dieser Forscher untersuchte eine Patientin, deren eines
Auge gesund war, und deren anderes Auge sich in seinen zentralen
Teilen ganz so verhielt, wie sich eine annähernd rotgrünblinde peri-
pherische Zone des normalen Auges verhält. Das kranke Auge war
nahezu rotgrttnblind und besafs einen geschwächten Blaugelbsinn. Wurde
nun ftLr das Zentrum des gesunden Auges eine Farbengleichung zwischen
spektralem Bot und Gelbgrün einerseits und spektralem Gelb nebst zu-
gesetztem WeiXs andererseits oder zwischen spektralem Violett und Grün-
gelb 'einerseits und weifsem Tageslichte andererseits hergestellt, so galt
dann die hergestellte Gleichung auch für das Zentrum des kranken
Auges.
328 G. E. MmUr.
einer färben tüchtigen extrainakularen Netzhantstelle gan2
farblos gran erscheinen. Man bestimme nnn sowohl f&r das
Bot, als auch für das Grün dasjenige Weifs, dem es anf der
rotgrünblinden Netzhaatzone völlig äquivalent ist. Dann ist
die Summe dieser beiden auf der rotgrünblinden Zone be-
stimmten WeiTswerte des roten und grünen Lichtes gleich dem
WeiTswerte, den man auf einer farbentüchtigen, eztramakularen
Netzhautstelle für das aus dem roten und grünen Lichte
zusammengesetzte Grau erhält.
Dafs die Eomponententheorie auch in der oben angegebenen
Modifikation die Gültigkeit dieser beiden HESSschen Sätze nicht
befriedigend zu erklären vermag, bedarf nicht erst weiterer
Ausführung. Wenn der Weifsprozefs in den farbentüchtigen
Netzhautzonen auch nur zu einem Teile seiner Intensität dadurch
entsteht, dafs die chromatischen Valenzen der betreffenden
Lichter sich thatsächlich als wirksam erweisen, so ist zu er-
warten, dafs jede für eine farbentüchtige extramakulare Netz-
hautstelle hergestellte Gleichung zwischen zwei Mischlichtem,
von denen das eine Rot- und Grünvalenzen besitzt, das andere
aber nicht, oder welche die verschiedenen chromatischen
Valenzen in verschiedenen Stärke Verhältnissen besitzen (also
z. B. eine Gleichung zwischen einem aus rotem und blaugrünem
Spektrallichte bestehenden Weifs einerseits und einem aus
rein gelbem und rein blauem Spektrallichte bestehenden Weifs
andererseits), zu einer Ungleichung werde, sobald man die
Mischlichter auf Netzhautteile einwirken lasse, wo die Kot- und
die Grünvalenzen nachweislich nicht mehr wirksam sind. Es
ist also dann nichts weniger als die Gültigkeit des erstefen
der beiden obigen Sätze zu erwarten. Entsprechendes gilt
hinsichtlich des zweiten Satzes. Denn, wenn z. B. ein Bot und
ein Grün auf der rotgrünblinden Zone der Netzhaut nur mittelst
ihrer Weifsvalenzen Weifsprozefs erwecken, auf den mittleren
Netzhautteilen hingegen aufserdem noch durch ein positives
Zusammenwirken ihrer chromatischen Valenzen Weifsprozefs
hervorrufen, so ist nichts weniger als dies zu erwarten, dafs
beide Farben bei gleichzeitiger Einwirkung auf eine und die-
selbe farbentüchtige extramakulare Netzhautstelle einen Weifs-
wert ergeben, welcher gleich ist der Summe der Weifswerte,
welche beide Farben, einzeln genommen, auf der rotgrünblinden
Netzhautzone besitzen.
Zur Psychophysik der Gesichtsempfindungen, 329
Es erweist sich also die Komponententheorie als unfähig,
die Thatsache in befriedigender Weise zu erklären, dafs in
Fällen, wo die chromatischen Valenzen wirkungslos sind, dennoch
der Weifsprozefs ausgelöst werden kann. Und unterwirft man
die Komponententheorie, um sie diesem Einwände zu entziehtn^
der oben angegebenen oder anderen ähnlichen wesentlichen
Modifikationen,^ so erweist sie sich immeir noch als unfähig,
der Gültigkeit der beiden obigen, von Hess festgestellten Sätze
in befidedigender Weise gerecht zu werden. Ganz anders hin-
gegen die Annahme antagonistischer Valenzen ! Da nach dieser
Annahme der Weifsprozefs überhaupt nicht auf einer Wirksam-
keit der chromatischen Valenzen beruht, so ist es nach derselben
nichts weniger als befremdend, dafs der Weifsprozefs auch
noch in solchen Fällen ausgelöst werden kann, wo die Wirksam-
keit der chromatischen Valenzen versagt. Da femer nach dieser
Annahme jedes Licht nur mit seiner Weifsvalenz und den
Differenzen seiner chromatischen Valenzen (den Differenzen
r — g und e — b) zur Wirksamkeit gelangt, und mithin eine auf
einer farbentücbtigen extramakularen Netzhautstelle hergestellte
Gleichung zwischen zwei Mischlichtem darauf beruht, dafs
beiden Lichtem die gleiche Weifsvalenz und gleiche Differenzen
r — g und e — b zugehören, so begreift sich ohne weiteres, dafs
eine solche Gleichung auch noch dann bestehen bleibt, wenn
man beide Lichter auf mehr peripheriewärts gelegene Netzhaut-
stellen wirken läfst, auf denen die für beide Lichter gleichen
Differenzen r — g und e—b nur eine verringerte oder überhaupt
gar keine Wirksamkeit zu entfalten vermögen. Es ist also die
Gültigkeit des ersten HESSschen Satzes nach der Annahme
antagonistischer Valenzen ohne weiteres begreiflich. Das Gleiche
gilt von dem zweiten HESSschen Satze. Da nach der Annahme
antagonistischer Valenzen die Erweckung des Weifsprozesses
^ Nur der Eaumerspamis halber sehen wir davon ab, auch noch
an anderen Modifikationen der KompoDententheorie zu zeigen, dafs sie
durchaus unfähig ist, die Gültigkeit der beiden HESsschen Sätze be-
friedigend zu erklären. Diese Unfähigkeit haftet der Komponententheorie
in jeder beliehigen Form und bei jeder beliebigen Anzfihl angenommener
chromatischer Valenzen an. Hinsichtlich der völligen Hülflosigkeit, in
der sich z. B. auch die YouNGhHsLMHOLTzsche Theorie den Thatsachen der
peripheren Farbenschwäche und Farbenblindheit gegenüber befindet,
vergleiche man die Ausführungen von Hering im Arck, f, Ophthalm. 35.
1889. 4. S. 63 ff.
330 ^- E* Müüer.
durch ein gegebenes Licht absolut nicht von einer Wirksamkeit
der chromatischen Valenzen abhängt, so begreift es sich ohne
weiteres, dafs der Weifswert eines Lichtes auf einer farben-
schwachen oder farbenblinden Netzhautstelle derselbe ist, wie
auf einer farbentüchtigen extramakularen Netzhautstelle.
Wie bekamit, erscheinen einem fQr Dunkel adaptierten Ange
(Dunkelauge) alle farbigen Lichter bei genügend geringer Intensit&t farb-
los, aber in verschiedenen Helligkeiten, die in Beziehung auf die Hellig-
keit eines unter den gleichen Umständen wahrgenommenen Weifs
gemessen werden können. Bestimmt man nun nach der auf diesem
Verhalten fufsenden zweiten Methode^ die Weiiswerte mehrerer farbiger
Lichter, welche bei gleichzeitiger Einwirkung auf eine und dieselbe
Stelle der im gewöhnlichen Zustande befindlichen (d. h. nicht an Dunkel
adaptierten) Netzhaut eine Weifsempfindung zur Folge haben, so gilt der
von HiLLEBBAND (TFtm. Ber, 98. 1889. UI. S. 116) „durch eine sehr sorg-
fältige Versuchsreihe erwiesene^ (Hxbisq) ganz dem obigen zweiten
Hzssschen Satze entsprechende Satz, daXs die Weifsempfindung, welche
eine Kombination farbiger Lichter bei gewöhnlichem Zustande der Netz-
haut hervorruft, gleich ist der Weifsempfindung, welche der Summe der
Weifswerte dieser Lichter entspricht. Die Erklärung dieses Satzes und
der Thatsache, dafs überhaupt dem Dunkelauge die verschiedenen Farben
bei genügender Abschwächung ganz farblos erscheinen, bereitet der An-
nahme antagonistischer Valenzen nichts weniger als Schwierigkeiten, ^e
hier, wo die Anschauungen HEBmes als bekannt vorausgesetzt werden,
nicht erst ausgeführt zu werden braucht. Ganz anders hingegen die
Komponententheorie. Schon die einfache Thatsache, dafs dem Dunkel"
äuge die farbigen Lichter bei schwachen Litensitäten farblos erscheinen,
kann vom Standpunkte dieser Theorie aus nur dann erklärt werden,
wenn man dieselbe wesentlich modifiziert, etwa in der oben angegebenen
Weise zwei Arten der Erweckung des Weilsprozesses annimmt, erstens
ein Entstehen desselben durch positives Zusammenwirken chroiaatischer
Valenzen und zweitens eine Erweckung desselben durch Weilsvalenzen,
die den Lichtern neben ihren chromatischen Valenzen noch zukommen.
Mag man aber auch die Komponententheorie in der soeben angedeuteten
oder irgend einer anderen Weise modifizieren, so bleibt sie, wie nicht
weiter ausg^fUhrt zu werden braucht, dennoch unfähig, eine befriedigende
einfache Erklärung für die Gültigkeit des obigen HjLLEBRAVDschen Satzes
zu geben.
Im vorstehenden ist vorausgesetzt worden, dafs die strenge Gültig
keit des HiLLBBBAia>schen Satzes über allen Zweifel erhaben seL Nach
den Thatsachen und Gesichtspunkten, welche ton Kbibb (diese Zeitacknfi
Bd. IX. S. 81 ff.) neuerdings geltend gemacht hat, kann man indessen eine
Bevision des auf diesen Satz bezüglichen Thatbestandes für wünschenswert
^ Die erste Methode der Bestimmung der Weifsvalenzen ist die oben
(S. 327 f.) erwähnte, welche auf der -Farbenblindheit der peripherischen
Netzhautzonen beruht.
Zur Psychophysik' der Gesichtsempfindungen. S31
halten. Auch erscheint die von Hillebrand angewandte Methode einer
Verschärfung nicht unzugänglich. Unter diesen Umständen darf auf den
HiLLBBRANDSchen Satz nicht das gleiche Gewicht gelegt werden, wie auf
die heiden Hsssschen Sätze, die (nur für das an das Helle adaptierte
Auge aufgestellt und erprobt), wie wir Später sehen werden, mit dem
wirklich Thatsächlichen. was von Krics vorgebracht hat, völlig vereinbar
sind. Es erschien uns aber wichtig, bei dieser Gelegenheit die Bedeutung
in Erinnerung zu bringen, welche dem von den Gegnern der HsBuraschen
Theorie bisher fast ohne Ausnahme und ohne Angabe von Gründen
ignorierten HiLLEBBANDSchen Satze eventuell zukommt.
§ 17. Die Annahme antagonistischer Valenzen findet
eine Stütze in dem Eintreten der negativen Nach-
bilder, sowie in dem Bestehen der Begel, dafs mit
einer Schädigung der Bot- oder Gelberregbarkeit
eine entsprechende Schädigung der Grün- bezw. Blau-
erregbarkeit verbunden ist, und umgekehrt.
Ein wesentlicher Vorzug der Annahme der antagonistischen
Valenzen besteht ferner darin, dafs rie, wie aUerdings erst im
nachfolgenden (§21 und 27) näher gezeigt werden wird, das
Eintreten der negativen Nachbilder ohne jede weitere Hülfs-
hypothese (lediglich auf Grund der Gültigkeit des Gesetzes der
chemischen Massenwirkung) erklärt und überdies auch als eine
zweckmäfsige Einrichtung erscheinen läfst. Von keiner Form
der Komponententheorie kann das Gleiche behauptet werden. —
Endlich bieten die Erscheinungen der Farbenschwäche und
Farbenblindheit noch in einer ganz anderen Weise, als in § 16
geltend gemacht worden ist, der Annahme antagonistischer
Valenzen eine Stütze. Wie bekannt, gilt nicht blofs bei der
peripherischen, sondern auch bei der individuellen Farben-
blindheit oder Farbenschwäche die Begel, dafs mit dem Fehlen
oder Herabgesetztsein der Boterregbarkeit zugleich ein Fehlen
bezw. Herabgesetztsein der Grünerregbarkeit verbunden ist, und
umgekehrt, und dafs, wo die Blauerregbarkeit verringert oder
ganz aufgehoben ist, sich auch eine entsprechende Schädigung
der Gelberregbarkeit findet, und umgekehrt. Nach der Annahme
antagonistischer Valenzen begreift sich dieses Verhalten ganz
ohne weiteres. Denn, wenn wirklich der Botprozefs und der
Grünprozefs — das Entsprechende gilt von dem Gelb- und dem
Blauprozesse — Vorgänge entgegengesetzter Art sixid, d. h.
Vorgänge, die sich an den gleichen Substraten in entgegen-
332 G, E, Mülhr,
gesetzter Bichtung vollziehen, so verstellt es sicli ganz von
selbst, dafs bei völligem Felüen oder dürftigem Vorhandensein
jener Substrate mit der Hoterregbarkeit zugleich auch die Grün-
erregbarkeit ausfallt oder herabgesetzt ist, und umgekehrt.
Nun steht es allerdings fest, dafs viele Fälle von Farben-
schwäche und Farbenblindheit nicht auf einer Funktionsstörung
der lichtempfindlichen Netzhautschicht, sondern auf einer Schä-
digung oder Schwäche des nervösen Teiles des Sehorganes
beruhen.^ Bedenken wir aber, dafs entgegengesetzten Netzhaut-
prozessen auch entgegengesetzte Wirkungen im Sehnerven
entsprechen müssen, dafs also ebenso wie der Botprozefs und
Grünprpzefs auch die Boterregung und Grünerregung Vorgänge
sind, die an gleichen Substraten durch Kräfte entgegen-
gesetzter Art hervorgerufen werden, so begreift es sich leicht,
dafs auch in denjenigen Fällen von Störung des Farbensinnes,
welche auf Veränderung irgend eines nervösen Teiles des Seh-
organes beruhen, die oben erwähnte Begel gilt.
Aus der Annahme antagonistischer Valenzen läfst sich also
das Bestehen der obigen Begel ohne weiteres ableiten. EQn-
gegen gilt nicht das Gleiche von der Komponententheorie.
Wie nicht erst weiter ausgeführt zu werden braucht, vermag
die letztere dem Bestehen obiger Begel nur mittelst besonderer,
erzwungener Hülfshypothesen gerecht zu werden. —
Fälle von Farbenblindheit, welche sich auch bei einer mit voller
Sorgfalt und Sachkenntnis angestellten Untersuchung als zu obiger
Eegel nicht stimmend erweisen, können darauf beruhen, dafs der Zutritt
gewisser Lichtarten zur lichtempfindlichen Netzhautschicht durch eine
abnorm starke Pigmentierung der Macula lutea oder der Augenlins«
oder durch pathologische Vorgänge, welche in den vor den lichtempfind-
lichen Apparaten befindlichen Netzhautschichten stattgefunden haben,*
bedeutend erschwert ist. Oder es können infolge pathologischer oder
sonstiger anomaler Vorgänge Stoffe in der lichtempfindlichen Netzhaut-
schicht Torhanden sein, welche die in letzterer eintretenden Wirkungen
(und Nachwirkungen) gewisser Lichtstrahlen beeinträchtigen oder modi-
^ Man vergleiche hierüber z. B. die Darlegungen von Stbffan im
Ärch. f. Ophthalm, 27. 2. S. Iff.
* Dafs manche der sog. positiven Skotome in pathologisch ent-
standenen Trübungen der vor den lichtempfindlichen Apparaten befind-
lichen Netzhautschichten ihren G-rund haben, scheint sich in der That
aus den Untersuchungen von Treitel (Arch. f, C^hthalm, 31. 1. S. 259 ff^
zu ergeben. Natürlich können solche Trübungen je nach ihrer Ent-
stehungsart und Beschaffenheit die Durchlässigkeit der betreffenden
Netzhautschichten bald mehr für diese, bald mehr für jene Lichtarten
beeinträchtigen.
Zur Psychophysik der Gesichtsempfindungen. 383
fizieren, oder noch andere derartige leicht konstruierbare Ursachen im
Spiele sein. Dafs solche rein zentral bedingte Störungen des Farben-
sinnes, wie sie z. B. bei der Hysterie und in der Hypnose vorkommen
oder vorzukommen scheinen, sich der obigen Begel nicht zu fügen
brauchen, bedarf nicht erst weiterer Ausführung.
Man ist indessen bisher, infolge von Nichtbeachtung wichtiger (im
wesentlichen in den . Darlegimgen Hebings enthaltener) Gesichtspunkte,
mit der Statuierung von Fällen von Farbenblindheit, welche zu der
obigen Regel nicht in Einklang zu bringen seien, allzuschnell bei der
Hand gewesen. Zu den Umständen, welche bei der Deutung der an
einem Farbenblinden oder Farbenschwachen erhaltenen Besultate leicht
irreführen können, gehört z. B. die Thatsache, dafs die WeiTs Valenzen
der verschiedenen Spektralfarben sehr verschieden^ Werte besitzen.
Denkt man sich z. B. ein Individuum, welches gelbblaublind und sehr
rotgrünschwach, aber von normaler Weilserregbarkeit ist, so erscheint
es leicht möglich, dafs von demselben das mit einer nur sehr schwachen
Weifsvalenz begabte Spektralrot noch mit einer deutlichen Beimischung
von Bot gesehen werde, während das durch eine starke Weifsvalenz
ausgezeichnete Spektralgrün gar keine Spur von Grün erkennen läfst,
weil eben der schwache Grünprozefs gegen den gleichzeitigen starken
Weifsprozefs ganz zurücktritt. Man hat alsdann einen Fall, wo scheinbar
von allen Farbenempfänglichkeiten im Gegensatze zu obiger Eegel
nur noch die Boterregbarkeit erhalten ist, während in Wirklichkeit der
Sachverhalt ganz regulärer Art ist und die Grünerregbarkeit noch im
gleichen €h:ade besteht, wie die Boterregbarkeit. Denken wir uns ein
Individuum, dessen Botgrünsinn und dessen Gelblausinn in sehr hohen
Graden herabgesetzt sind, so erscheint es leicht möglich, dafs dasselbe
zwar unter günstigen Umständen noch die Farben Bot, Gelb und Blau
wahrnehme, aber Grün wegen seiner hohen Weifsvalenz nicht in seiner
Farbe erkenne. Auch dieser Fall ist ein solcher, der nur scheinbar der
obigen Begel widerspricht.^ Ganz allgemein ist Folgendes zu sagen:
Wenn ein Fall von Farbenschwäche oder Farbenblindheit vorliegt, in
welchem der Anschein vorhanden ist, dals die Erregbarkeiten für zwei
antagonistische Valenzen nicht in gleichem Grade herabgesetzt seien, so
hat man behufs Gewinnung eines sicheren Urteiles darüber, ob der Fall
regulärer oder irregulärer Art sei, die verschiedenen Sonder valenzen
jeder bei den Versuchen benutzten Farbe sorgfältig in Bechnuug zu
setzen und zuzusehen, ob jener Anschein nicht lediglich dadurch be.
^ Von der hier erwähnten Art ist z. B. der von Stepfan (Ärch. f.
Ophthälm. 27. 2. S. 11 ff.) beschriebene und irrtümlich als in Widerspruch
zu Hebings Theorie stehend aufgefafste Fall. Der Farbensinn des Pa-
tienten beschränkte sich darauf, dafs Bot, Gelb und Blau erkannt wurden,
wenn dieselben entweder auf hellweifsem Grunde oder in grofsen hell
beleuchteten Flächen vorgehalten wurden. Der Einflufs des hellweifsen
Grundes erklärt sich, beiläufig bemerkt, daraus, dafs derselbe durch
Kontrastwirkung dazu diente, die Weifsvalenzen der beobachteten Farben
weniger zur Geltung kommen zu lassen. Aber für Grün blieb die WeLGs-
valenz auch unter diesen Umständen noch zu übermächtig im Vergleich
zur Grünvalenz.
334 G. E. Müller.
wirkt sei, dafs man jene beiden Valenzen in ungleichen St&rkegraden
oder in yerschiedener Begleitung durch andere Valenzen hat auf die
Netzhaut einwirken lassen. Hierbei hat man dann unter ümst&nden
auch etwas feinere Fragen zu berücksichtigen, z. B. die Frage, ob die
Beimischung einer schwachen Bot- oder Gelberregung zu einer Kombi-
nation von Weifs^ und Schwarzerregung gleich gut erkennbar sei, wie
die Beimischung einer gleich intensiven Grün-, bezw. Blauerregping zu
der gleichen Kombination von Vt^eifs- und Schwarzerregung.
L&fst man Hich vollends auf die Benennungen ein, welche die Farben-
blinden oder Farbenschwachen den vorgeführten Farben zu teil werden
lassen, so ist die Zahl der Gesichtspunkte und Möglichkeiten, die in
Betracht kommen, kaum zu erschöpfen. Wir begnügen uns damit, bei-
spielshalber nur eine dieser Möglichkeiten zu erwähnen. Angenommen,
es sei ein Individuum gegeben, dessen Botgrünsinn nur schwach ist,
während der Gelbblausinn in Vergleich dazu noch beträchtlich ist, so
ist es leicht möglich, dafs dasselbe bei Betrachtung des Sonnenspektrums
die roten Spektralfarben als gelb, hingegen die Gegend des spektralen
ürgrün als grün bezeichne, obwohl die vorhandene Störung des Farben-
sinnes von völlig regulärer Art ist. Denn die roten Spektralfarben er-
scheinen einem solchen Patienten infolge ihrer Gelbvalenz vorwiegend
gelblich und werden daher von demselben (wenn er nicht zuvor dahin
erzogen und angewiesen worden ist, zwischen den verschiedenen Tönen
des Gelblichen bei seinen Benennungen scharf zu unterscheiden) gans
naturgemäfs als gelb bezeichnet. Das spektrale TJrgrün wird gemäfs
seiner hohen Weiisvalenz von dem Patienten weiTslich oder graulich
mit -einem Stich ins Grünliche gesehen. Da nun aber die Farbigkeit
einer Empfindung im allgemeinen die apperzeptive Aufmerksamkeit mehr
auf sich zieht, als die WeiTslichkeit oder Graulichkeit (wie man sich
an stark weifslichen Nuancen verschiedener Farben, z. B. des Lila und
Rosa, leicht überzeugen kann), so kann es leicht geschehen, dafs der
Patient das spektrale TJrgrQn und seine nächste Umgebung unbedenklich
als grün bezeichnet. Die Möglichkeit hiervon erscheint noch gröfser,
wenn wir bedenken, dafs in dem Patieilten durch den Anblick der übrigen,
ausgeprägter farbig erscheinenden, Teile des Sonnenspektrums (und unter
Umständen auch durch seine Kenntnis des normalen Aussehens des
Sonnenspektrums und durch noch andere Faktoren) eine mehr oder
weniger starke Tendenz erweckt wird, auch den Eindruck der Gegend
des spektralen Urgrün als einen farbigen und mit einem Farbennamen
zu bezeichnenden aufzufassen.^
Die Vorsicht, die durch die hier angedeuteten Gesichtspunkte bei
der Untersuchung von Störungen des Farbensinnes und bei der Deutung
der bei solchen Untersuchungen erhaltenen Besultate geboten erscheint,
^ Natürlich wird es gelegentlich auch vorkommen, dafs ein Patient
der oben angegebenen Art die Gegend des spektralen Urgrün als gprau
(oder weifs) oezeichnet, weil ihm die geringe Farbigkeit desselben (z. B.
infolge einer geringen Empfänglichkeit für den Gemhlswert der Farben)
keinen besonderen Eindruck macht und er überhaupt nicht gewohnt ist,
zwischen den verschiedenen Arten des Graulichen fein zu unserscheiden.
Zur Fsychophysik der Gesichtsempfindungen. 335
ist, wie schon angedeutet, bisher nur allzu oft unterlassen worden. Selbst
EBBnroHAVS (diese Zeitschr, Bd. V. S. 219) ist der Versuchung unterlegen,
einen Ton Hebing (Ärch» /*. Ophihalm, 36. 3. S. 10 £P.) berichteten Fall ein-
seitiger Störung des Farbensinnes, in welchem die Patientin mit dem
erkrankten Auge in einem Spektrum von mäfsiger Helligkeit nur die
drei Farben Gelb, Grün und Blau zu sehen behauptete, für einen Fall
zu erklären, welcher, vom Standpunkte der KKBiNOschen Theorie aus
betrachtet, irregulärer Art sei. Unseres £rachtens liegt aber nicht der
geringste Anlafs vor, diesen Fall anders aufzufassen, als ihn der Beob-
achter des Falles aufgefafst hat, welcher zu dem Resultat kommt, dafs
in diesem Falle der Sinn für Bot und der Sinn für Grün in gleichem
Grade herabgesetzt seien. Denn, als das Gesichtsfeld eines kleinen, mit
einem Spektralapparate verbundenen Femrohres nacheinander mit ver-
schiedenen homogenen Lichtern erleuchtet wurde, bezeichnete die nur
mit dem erkrankten Auge beobachtende Patientin nach den Mitteilungen
HxBiNGs (S. 15) ein Licht von 630 ^a/a mittlerer Wellenlänge als gelbrot
oder mennigrot, Licht von 600 fjifÄ als orange und Lichter zwischen
500 — 490 fifi (Gegend des XJrgrün) bald als grau, bald als grünlich grau.
Grofse rote Papierflächen wurden laut Hbbinos Mitteilung (S. 16 f.) von
dem erkrankten Auge auch bei geringer Sättigung noch richtig in ihrer
Farbe erkannt, und (S. 19) eine sattrote (keine Gelbvalenz enthaltende)
Scheibe wurde von demselben Auge noch in einem Abstände von 12,2®
vom Fixationspunkte richtig als rot erkannt.^ Wir vermögen hiemach
nicht zu erkennen» worauf man die Ansicht von einer Irregularität dieses
Falles zu stützen vermöge. Dafs die Behauptung der Versuchsperson,
im Spektrum nur Gelb, Grtin und Blau wahrzunehmen, eine Stütze für
diese Ansicht nicht abzugeben vermag, braucht nach dem oben Aus-
geführten nicht weiter dargelegt zu werden, zumal da die soeben er-
wähnten Beobachtungen, bei denen die verschiedenen Teile des Sonnen-
spektrums nacheinander zur Einwirkung auf das kranke Auge gebracht
und von der Patientin benannt wurden, ganz deutlich zeigen, dafs die
gelblich empfundenen roten Spektrallichter genau so mit einem Stich
ins Bötliche empfunden wurden, wie die (zuweilen nur als grau be-
zeichnete!) graulich erscheinende Gegend des spektralen ürgrün einen
Stich ins Granliche besals.
Ebensowenig, wie den soeben erörterten Fall von Farbenblindheit,
vermögen wir den von Hess (Arch. f, Ophtfuilm. 86. 3. S. 24 ff.) beschriebenen
Fall halbseitiger Farbensinnstörung und den von STBPrAK beobachteten,
schon auf S. 333 von uns charakterisierten Fall mit Ebbikohaüs als solche
Alsdann wird der Patient behaupten, im Sonnenspektrum nur Gelb, Grau
und Blau wahrzunehmen, obwohl sein Botgrünsinn noch keineswegs
völlig erloschen ist, wie sich z. B. durch Versuche mit einem gar keine
Gelbvalenz und eine möglichst schwache Weifsvalenz besitzenden Bot
leicht nachweisen lassen würde.
^ Mit diesen Mitteilungen Hebivgs vergleiche man die unglaubliche
Behauptung von Wündt {Grundzüge der physiöl. Psychol. 1893. 1. S. 510),
dafs in dem hier in Eede stehenden, von Hebing beobachteten Falle
„vollständige Botblindheit" bestanden habe, während die Empfindlichkeit
für Grün nur vermindert gewesen sei.
336 G.E.MüiUr.
anzuerkennen, die auf Grund der vorliegenden Mitteilungen fOr Fälle
irregulärer Art zu erklären seien. Der Baumerspamis halber dürfen
wir uns wohl nach den vorstehenden Ausführungen von einer besonderen
Bechtfertigung dieser Behauptung dispensieren.
Bei KiRSCHMAKN {Wundts PMlos, Stud. 8. 1893. S. 229} findet sich
gleichfalls die Bemerkung, dais gegen die Ansicht Hebivgs, nach welcher
das Fehlen einer Qualität in der Empfindungsreihe notwendigerweise
auch den Verlust der Komplementärfarbe mit sich bringe, auch der von
Heuno selbst berichtete Fall einseitiger Farbensinnstörung spreche,
„wo im Spektrum bei grofser Helligkeit zwar nur die Farben Gelb und
Blau, bei geringer Helligkeit aber Gelb, Grün und Blau gesehen wurden''.
Die (mehrfach Mifsverständnis oder Unkenntnis der HsRiKoschen Aus-
führungen und Anschauungen verratenden) Untersuchungen, welche
Kirschmann selbst über die individuelle und peripherische Farbenblindheit
angestellt hat, zeigen, sowohl in ihrer ganzen Methodik, als auch in der
Art des Schlösseziehens, nicht im entferntesten eine genügende Berück-
sichtigung der oben angedeuteten und anderer Gesichtspunkte. Es ist
daher kein Wunder, dafs Kirschmank zu einer Beihe von Sätzen gelangt
ist, die zu den von Hering und seinen Schülern erhaltenen Ergebnissen
nicht in Einklang stehen.
§ 18. Beispiele entgegengesetzter photochemischer
Wirkungen verschiedener Lichtarten.
Mit Vorstehendem schliefst unsere Darlegung der gegen
die Komponententheorie und für die Annahme antagonistischer
Valenzen sprechenden Beweisgründe. Dafs diese Darlegung
vollständig sei, wird hier nicht im mindesten behauptet,^ wohl
aber, dafs sie dazu genüge, den im Nachstehenden gemachten
Versuch einer weiteren Verfolgung der letzteren Annahme als
wissenschaftlich geboten erscheinen zu lassen. In erster Linie
wird es sich für uns im Nachstehenden darum handeln müssen,
das Wesen des Gegensatzes, den wir zwischen je zweien der
sechs retinalen Grundprozesse und je zweien der vier chro-
matischen Valenzen annehmen, näher zu erläutern. Ehe wir
^ So kann man z. B. unschwer aus dem Inhalte von § 31 und § 32
zwei neue Beweisgründe für die Annahme antagonistischer Valenzen
ableiten. Ferner kann man daran denken, auch auf den Gesichtspunkt
zurückzugreifen, der dem Einwände zu Grunde liegt, den Hering auf
S. 16 f. seiner „Kritik einer Abhandlung von D anders" gegen die Koni-
ponententheorie erhoben hat. Eine Veröffentlichung der Vers achsresul täte,
auf welche HfiRiNO in dieser Auslassung hindeutet, erscheint uns durchaus
erwünscht. Einstweilen soll von einer Verfolgung dieses Gesichtspunktes
abgesehen werden.
Zur Psyehophynk der Ghskhtsempfindungm. 337
dazu übergehen, mag indessen hier einleitenderweise daran
erinnert werden, dafs die Annahme, es könnten die photo-
chemischen Wirkungen verschiedener Lichtarten in einem
antagonistischen Verhältnisse zu einander stehen, keineswegs
etwas unerhörtes, sondern vielmehr eine Annahme ist, für die
sich zahlreiche Beispiele aus der Praxis der experimentierenden
Naturwissensohafb und Technik anführen lassen. So berichtet
z. B. B. Ed. Liesegang {Photogr, Arck. No. 668. April 1891.
S. 117) unter Bezugnahme auf Hebinos Theorie über folgenden
Versuch: „Eine Silberplatte wurde mit Chlorsilber überzogen
und dieses am Lichte violett gefärbt. Sie wurde mit einer reinen
Silberplatte in ein Glasgefafs mit sehr verdünnter Schwefel-
säure gestellt, und die beiden Platten durch ein Galvanometer
verbunden. Bestrahlte man nun die Silberchlorürschicht mit
blauem Lichte, so wurde die Platte positiv, bei Bestrahlung
mit rotem negativ. Litensives rotes und schwaches blaues Licht,
gleichzeitig auf die Platte geworfen, konnte sich in seinen
Wirkungen aufbeben.^ «Femer ist festgestellt, dafs Guajak durch
violette Strahlen xmter Oxydation gebläut, durch rote unter
Beduktion gelb gefärbt wird, und wenn auch die Behauptungen
von Chastaino {Ann. de chim. et de phys. Särie 5. T. 11. 1877.
8. 145 ff.), welcher einen photochemischen Antagonismus zwischen
den brechbareren und weniger brechbaren Lichtstrahlen in
weitem Umfange nachgewiesen zu haben glaubt, und ähnliche
Ansichten früherer Forscher (z. B. Dayy) zum TeU nicht halt-
bar sind, so läfst sich doch „im allgemeinen sagen, dafs das
rote Licht auf metallische Verbindungen meistens oxydierend,
das violette Licht hingegen meistens reduzierend wirkt^.^ Auch
das Ergebnis, zu welchem E. Wiedemann und G. C. Schmidt
(Wiedemanns Ann. 56. 1895. S. 225 f.) hinsichtlich der durch
infrarote Strahlen bewirkbaren Auslöschung der durch Kathoden-,
Licht- oder Entladungsstrahlen erzeugten Fähigkeit zu thermo-
luminiszieren gelangt sind, mag hier angeführt werden:
^ünter dem Einflüsse der erregenden Strahlen entstehen aus
dem ursprünglichen Körper A andere Körper B mit Absorptions-
banden, die von denen des ursprünglichen Körpers abweichen
^ Man vergleiche Ed£B, Ausfuhrl Handb, d, Photogr. 2. Aufl. I. 1.
S. 160 ff. (wo mehrfache Beispiele von photochemischem Antagonismus
verschiedener Lichtstrahlen angefahrt sind) und S. 180; Ostwald, Lehrb.
d. aügem. Chemie. 1893. 2. S. 1085; Nernst, Theoretische Chemie. S. 672.
ZeftMhrifk fBr Psychologie X. 22
338 G.KJÜüUer,
und im Infrarot liegen; Strahlen, welche den Absorptionsbanden
im Körper B entsprechen, bedingen die Bäckverwandltmg von
B in' die ursprüngliche Substanz.^ >
Will man in Hinblick auf die Zwei- oder Dreizahl der
SondervaliBiizen , die wir einer und derselben Lichtart zu»
scfareiben, auch dafür Beispiele aus der experimentellen Physik
oder Technik angeföhrt haben, dafs eine und dieselbe Lichtart
bei Einwirkung auf ein aus mehreren Stoffen zusammen^
gesetztes System entsprechend den verschiedenen Bestandteilen
dieses Systems gleichzeitig und nebeneinander verschiedene
photoohemische Vorgänge hervorrufen könne, so vergleiche
man Edbr, a. a. 0. S. 247 — 260, oder auch Hänkbls TJnter-
* suchungen über photochemische Ströme (Wiedemanns Ann. 1.
1877. S. 402 ff., insbesondere S. 415 ff.).
Wenn wir endlich eine BotvcJenz nicht Uofs den roten^
sondern auch den violetten Strahlen zuschr^ben, so findet
auch dies seine Analogie in zahlreichen durch die physikalische
tind photographische Forschung festgestellten F&Uen, wo die-
jenigen Strahlen, welche eine bestimmte photochemische Ver-
änderung einer gegebenen Substanz überhaupt hervorrufen
oder eine solche Veränderung mit maximaler Ausgiebigkeit
bewirken, zwei verschiedenen, von einander getrennten Be-
gionen des Sonnenspektrums' angehören (Beispiele z. B. bei
Edbr, a. a. 0. S. 158, 161, 26S unten).
Kapitel 3.
Theorie der Netzhantprozesse.
§ 19. Antagonistische Netzhautprozesse als entgegen-
gesetzte chemische Beaktionen.
„Man war früher wohl häufig der Meinung, dafs die um-
kehrbaren Reaktionen zu den Ausnahmen gehören, oder dafs
man zwei verschiedene Erlassen von Reaktionen zu unterscheiden
habe, die umkehrbaren und die nicht umkehrbaren; allein eine
derartige scharfe Grenze existiert durchaus nicht, und es kann
keinem Zweifel unterliegen, dafs es sich bei geeigueter Versuchs-
anordnung immer wird erreichen lassen, diJs eine Reaktion
Zu/r Pisychophysik der Geaiehtaempfindungen. 339
bald in der einen, bald in der entgegengesetzten Bichtong Yor
sich geht, d. h., dafs im Prinzip jede- Reaktion timkehrbar ist^
(Nbrnst, a. a. 0. S. 342). In Hinblick auf diesen Sachverhalt
fassen wir den Antagonismus, der zwischen je zweien der
retinalen Grondprozesse besteht, als den G-egensatz auf, der
zwischen zwei chemischen Reaktionen besteht, von denen die
eine die ümkehrung der anderen ist.
Es bestehe also z. B. eine fT- Reaktion (Weifsreaktion),
ganz allgemein ausgedrückt, darin, dafs a Moleküle eines Stoffes^
und fi Moleküle eines Stoffes B und y Moleküle eines Stoffes G
u. s. w. zusammentreten, um a' Moleküle eines Stoffes Ä*^
ß' Moleküle eines Stoffes £', /' Moleküle eines Stoffes O u. s. w.
zu bilden. Alsdann besteht eine fi^Reaktion (Schwarzreaktion)
darin, daijs a' Moleküle des Stoffes Ä\ ß' Moleküle des Stoffes S'
u. s. w. zusammentreten, um a Moleküle des Stoffes Ayß Mole-
küle des Stoffes B u. s. w. zu bilden. Es gilt also die
Reaktionsgleichung ^
aA + ßB + yC.,. :^ a'Ä' + ß'B'+Z O .(1)
Geht die Umwandlung im Sinne dieser Reaktionsgleichung
von links nach rechts vor sich, so ist eine TF-Reaktion gegeben.
Geht sie von rechts nach links vor sich, so handelt es sich
um eine . iS^-Reaktion.
Ganz dahingestellt bleibt hier, welche Kompliziertheit die
TF- und die iS-Reaktionen besitzen, wie grofs also die Zahl der
Glieder auf der rechten und auf der linken Seite der Gleichung
ist, und welche Werte den Koeffizienten a, er', ß^ ß* u. s. w.
(die selbstverständlich immer kleine ganze Zahlen sind) zu-
kommen. Die in der betrachteten Schicht vorhandenen Moleküle
von den Arten -4, B, C, . . oder ^', J?', (7. . . sollen züsaitnmeil-
genommen kurz als das vorhandene TF- Material, bezw.
/9-Material bezeichnet werden. Als einzelne betrachtet, werden
die Stoffe A^ Bj C. . . oder A*j B\ C^ . . als die Komponenten
des TT-Materiales, bezw. iS^-Materiales bezeichnet.
Es sei nun eine lichtempfindliche Schicht der Nd^aut
gegeben, welche in allen ihr^n Teilen die gleiche Beschaffenheit
besitzt (chemisch homogen ist), und ' in welcher sich ' def
TT-^Prozefs mit einer überall gleich hohen Intensität und ebenso
auch der /S^-Prozefs mit überall gleicher Intensität abspicjlt.
Alsdann kann die Intensität I^ mit welcher sich der Tf^Prozefs
22*
340 O, E. Müller.
während des Zeitelementes dt in dieser Schicht abspielt, offenbar
gleich der Zahl von TF- Beaktionen gesetzt werden, welche
während des Zeitelementes dt in einer Schicht der betrachteten
Art stattfinden würden, wenn das Yolmnen derselben der
Yolomeneinheit gleich wäre. Nach dem Gesetze der chemischen
Massen Wirkung^ gilt dann die Gleichung:
Hier besitzen a, ß^ y. . . die oben angegebene Bedeutung,
V ist das Volumen der Schicht, a, &, c. . . sind die in der be-
trachteten Schicht vorhandenen, in Grammmolekeln aus-
gedrückten Massen der Stoffe A^ B^ C . ., und K^ ist eine von
der Temperatur und anderen Faktoren abhängige Konstante,
welche ihrer Bedeutung gemäfs passend als die Geschwindig-
keitskonstante des TF- Prozesses bezeichnet wird und die
Zahl der TT- Beaktionen darstellt, welche sich während der
Zeiteinheit in einer Schiebt der betrachteten Art vollziehen
wurden, wenn ihr Volumen gleich der Volumeneinheit und
in ihr je eine Grammmolekel von den Stoffen Ä^ B, C, , . vor-
handen wäre.'
In gleicher Weise findet sich ftLr die Intensität /,, mit
welcher sich der ^-Prozefs während des Zeitelementes dt in
der betrachteten Schicht abspielt, die Gleichung:
y^ ^•~ i;« ^-P'+T^..
wo a', fi\ y' ' " d^^ obige Bedeutung besitzen, a', h', c' . . . die
in Grammmolekeln ausgedrückten, in der Schicht vorhandenen
Massen der Stoffe A\ B% C. . . sind, und K^ die Geschwindig-
keitskonstante des /8^-Prozesses darstellt.
^ Man vergleiche hierzu eventuell Kernst, a. a. O. S. 840 ff. DaDs die
lichtempfindlichen Schichten der Netzhaut, streng genommen, sowohl aus
physikalischen Gründen (vergl. Nbutst, a. a. O. S. 579), als auch aus
physiologischen Gründen nicht als völlig homogene chemische Systeme
betrachtet werden dürfen, ist für das Wesentliche der obigen £nt«
Wickelungen völlig gleichgültig«
* Da es sich hier nur um eine theoretische Betrachtung und nicht
um die Aufstellung von Formeln handelt, welche zu genauen quantitativen
Prüfungen verwandt werden sollen, so braucht man die in einer Schicht
Zwf JPsychophysik der OeHchtsempfindungen, 341
Da im Folgenden eine besondere Berucksiclitigang einzelner
Komponenten des W^ oder iS-Materials zunächst nicht in Frage
kommt, 80 kann man Gleichung (2) und (3) auch in folgender,
abgekürzter Form benutzen:
I^ = JE« . Myg .dt (4)
l = K. . M. . cU (6)
wo
zu setzen ist.
Die Betrachtungen und Formeln, die wir hinsichtlich des
TF-Prozesses einerseits und iS^Prozesses andererseits entwickelt
haben, gelten nun selbstverständlich in entsprechender Weise
auch für den Botprozefs und Grünprozefs, Gelbprozefs und
Blauprozefs. Um die Formeln zu erhalten, die für die Intensi-
täten der chromatischen Netzhautprozesse gelten, hat man in
den vorstehenden Gleichungen (2) bis (5) nur die Indices w und s
durch die Indices r und g^ bezw. e' und h zu ersetzen.
Natürlich hat man mit der Möglichkeit zu rechnen, dafs die
für die drei Paare entgegengesetzter Netzhautprozesse gültigen
Reaktionsgleichungen verschiedene Grade der Kompliziertheit
besitzen, daJGs also in Gleichung (1) die Werte der Koeffizienten
Uj fi^ Y " ^\ ß\ y' ' • ' ^^d <li® Zahlen der auf der rechten und
linken Seite stehenden Glieder verschiedene sind, je nachdem
es sich um W- und iS-Prozefs, Br und (7-ProzeIs oder E- und
i3-Prozefs handelt.
vorhandene Intensität eines Netzhautprozesses nicht durch den in
G-rammen ausgedrückten Stoffumsats der betreffenden Art zu
definieren, welcher während des betrachteten Zeitelementes in der ge-
gebenen Schicht stattfindet (genauer: welcher während der Zeiteinheit
innerhalb einer der Volumeneinheit gleichen Schicht stattfinden würde,
wenn die während des betrachteten Zeitelementes in der gegebenen
Schicht vorhandenen Umstände während der Zeiteinheit unverändert in |
einer der Volumeneiuheit gleichen Schicht andauern würden), sondern
kann dieselbe in der obigen Weise auch einfach durchdieZahlder 1
stattfindenden Reaktionen von der betreffenden Art definieren*
Für die psychophysische Erörterung ist die letztere Definition geeigneter.
* Vergl. die Anmerkung 2 auf S. d24.
342 G.E. Miäler.
§ 20. Die Ketzhautprozesse beim Buhezustande.
Die unterschiede des Farbigen und des Farblosen
in psychophysischer Hinsicht.
Wir ziehen zunächst wiederum nm* das Verhalten des
TF-Prozesses und ^-Prozesses in Betracht, indem wir uns dabei
auf die obige Beaktionsgleichung (1) beziehen.
Ist eine lichtempfindliche Netzhautschicht jeglicher ßeiz-
einwirkung entzogen, so werden dennoch in derselben infolge
der Wärmebewegung fortwährend an verschiedenen Punkten
a Moleküle von der Art A und ß Moleküle von der Art B u. s. w.
in der Weise zusammenstofsen und in ihrem Bestände gelöst
werden, dafs sie als. Substrat einer TT-Beaktion dienen, und
ebensp werden auch fortwährend an einzelnen Stellen der
Schicht a Moleküle der Art A* und ß" Moleküle der Art B' u. s. w.
in der Weise zusammei^treffen, dafs sie als Substrat einer
iS^-Beaktion dienen. £» wird also in der Schicht trotz der
Femhaitang jeglichen Beizes fortwährend sowohl TT-Prozefs
als auch ^-Prozefs stattfinden.
Nach Gleichung (4) und (5) ist der Intensitätsunterschied,
der zwischen dem vorhandenen TP^Prozesse und jS-Prozesse
besteht, durch folgende Gleichung bestimmt:
(6) I^^l~{K^.M^ — K..M.)dt
Die Bichtung und Gröfse dieser Diflterenz I„ — /« ist in
verschiedener Hinsicht von wesentlicher Bedeutung. Gemä£9
der auf S. 339 dargelegten Beziehung zwischen den W-- und
iS-Beaktionen läuft jede TT-Beaktion auf die* Bildung von
/S-Material und jede S-Beaktion auf die Bildung von TT-Material
hinaus. Mithin wird, wenn die Differenz i« — J, positiv ist, in
jedem Zeitelemente mehr TF^Material verbraucht als gebildet,
hingegen mehr /S-Material gebildet als verbraucht. Ist/« — /.
negativ, so verhält es sich gerade umgekehrt. Ist endlich
I» — /, gleich ö, so wird in jedem Zeitteilchen ebensoviel
TT-Material und 5-Material gebildet wie verbraucht.
Setzen wir den Fall, es sei in der sich selbst überlassenen
Netzhautschicht anfangs /«>/., so wird infolge des Umstandes,
dafs mehr TT-Material verbraucht als gebildet wird, das vor-
handene TF-Material abnehmen, hingegen das 5-Material zu-
Zur Psychophysik der Gesichtsempfindungen. 343.
nehmen, so dafs in obiger Gleichung (6) die Groise M^ sich
verringert, hingegen Jf. anwächst. Infolge hiervon wird die
Differenz I^ — J. immer kleiner werden, bis sie schliefslich dem
Werte 0 merkbar gleich wird. Entsprechend muTs es sich ver-
halten, wenn anfangs I^<Z1, ist* Dann wird in Gleichung (Q)
die Gröfse üf, immer geringer, hingegen JfC immer gröfser, bis
sohliefslioh der Punkt erreicht wird^ wo I^ merkbar gleich i«
ist. £& strebt also eine sich selbst überlassene Netz-
hautschioht, für welche die Differenz .7«, — J, zu*
nächst einen positiven oder' negativen, endlichen
Wert besitzt, mit immer getinger werdender Ge-
schwindigkeit einem Zustande des Gleichgewichtes
zwischen TT-, und iS-Beaktionen zu.
Das Vorstehende bedarf indessen noch einer wesentlichen
Ergänzong. Es ist daran zu erinnern, dafs eine irgendwie aus
dem Gleichgewichtszustande zwischen Wr und jS-Beaktionen
verschobene Netzhautschicht nach Entfernung der Ursache
dieser Verschiebung niemals nur in der Weise jenem Gleich-
gewichtszustande wieder zustrebt, dafs ihr Verhalten lediglich
durch das Gesetz der chemischen Massenwirkung bestimmt
wird. In Wirklichkeit wird ihr Verhalten zugleich mit durch
die Wechselwirkung bestimmt, in welcher _ sie zu den benach-
barten .Netzhautteilen und zu dem Blutstrome steht. Wenn
wir uns femer : auch noch so sehr bemühen, alle Beize von
unserer Netzhaut abzuhalten, so bleibt dieselbe doch noch
allerhand zufälligen Einflüssen ausgesetzt, welche von unseren.
Augenbewegungen und anderen, inneren Faktoren herrühren.
Die obige Differenz I^ — /»ist aber nicht nur insofern von-
Wichtigkeit, als von ihrem Vorzeichen und absoluten Werte
die Wirkung abhängt, welche die nebeneinander, stattfindenden
TT- und i9-Beaktionen für die vorhandenen Mengen von W- und
von. iS^Material haben, sondern ist aufserdem auch noch in
direkt psychophysischer Hinsicht von wesentlicher Bedeutung.
Wie nämlich schon ohne weiteres einleuchten dürfte, können
entgegengesetzte Netzhautprozesse nur mit der Differenz ihrer
Intensitäten zur Einwirkung auf den Sehnerven kommen.
Je nachdem also /« — J« .positiv oder negativ ist, wird durch
die Einwirkung der Netzhautprozesse die endogene Weifs-
erregung der zentralen Sehsubstanz erhöht oder verringert und
die endogene Schwarzerregung geschwächt oder verstärkt
344 (?. E. Müller.
(vergl. § 6, S. 31). Ist Z, — /. gleich (?, so wird die endogene Er-
regung der Sehsnbstanz durch die W- und /S-Beaktionen der
Netzhaut überhaupt nicht beeinflufst.
Wie nicht weiter ausgeführt zu werden braucht, gelten
die in Beziehung auf den W- und S^Prozetä angestellten, vor-
stehenden Betrachtungen in entsprechender Weise auch für die
beiden anderen Paare entgegengesetzter Netzhautprozesse. Ist
die Differenz Ir — Ig positiv, so entspringt aus den in der be-
treffenden Netzhautschicht sich abspielenden R- und G^Be-
aktionen eine Vermehrung des Ci^-Materials und Verminderung
des i{-Materia]s und zugleich eine Beeinflussung des Sehnerven
von der Art, dafs Boterregung in demselben entsteht. Ist
Ir — /, negativ, so wirken die stattfindenden J2- und G^Beaktionen
im Sinne einer Vermehrung des i{-Materiales und Verringerung
des 6r-Materiales und zugleich im Sinne der Enstehung von
Grünerregung in den Sehnervenfasem.
Im wesentlichen besteht zwischen den Netzhautprozessen
und Nervenerregungen, welche den farblosen Empfindungen zu
Grunde liegen, einerseits und den chromatischen Netzhaut-
prozessen und Sehnervenerregungen andererseits nur in drei-
facher Hinsicht ein unterschied. Erstens besteht in nutritiver
Hinsicht ein allerdings durchgreifender Unterschied, von welchem
in § 22 näher gehandelt werden wird. Zweitens besteht der
unterschied, dafs wir die Intensität jedes der vier chromatischen
Netzhautprozesse direkt durch einwirkendes Licht steigern
können, während wir die Intensität des ^-Prozesses mittelst
keinerlei Lichtart direkt erhöhen können, ^ sondern uns behufs
einer Steigerung dieses Prozesses des Einflusses des Kontrastes
bedienen müssen. Endlich drittens besteht der unterschied, dafs
die endogene Erregung der zentralen Sehsubstanz im wesentlichen
nur aus WeiTserregung und Schwarzerregung zusammengesetzt
ist, so dafs uns nicht die gelbblauen und rotgrünen, wohl aber
die grauen Empfindungen bekannt sind, und jede vorhandene
Differenz i, — /, sich nicht sowohl dahin geltend macht, in der
Sehsubstanz Weifserregung oder Schwarzerregung zu erwecken,
als vielmehr dahin, die in der Sehsubstanz vorhandene Weifs-
erregung und Schwarzerregung in ihren Intensitäten zu ver-
ändern. Natürlich soll die Vermutung, dafs die endogene
Erregung der Sehsubstanz im Grunde nicht blofs aus WeÜB-
erregung und Schwarzerregung, sondern aufserdem auch noch
Zur Psychophifsik der GesichUempfindungen, 345
aus vier chromatischen Erregungen bestehe, dafs aber diese
letzteren vier Komponenten im Vergleich zu den beiden ersteren
nur sehr schwach seien, durch das soeben Bemerkte keines-
wegs ausgeschlossen sein. Nur daran mufs festgehalten werden,
dafs (wenigstens unter normalen Verhältnissen) jede der vier
chromatischen Komponenten der endogenen Erregung der Seh-
Substanz wegen des starken Überwiegens der beiden nicht-
chromatischen Komponenten ein so geringes Q-ewicht (vergl.
§ 5, S. 18) besitzt, dafs sie den Charakter der Gesichtsempfindung,
die bei neutraler Stimmung der Netzhaut^ und Nichtbestehen
irgendwelcher innerer (z. B. mechanischer) Beizungen der ner-
vösen Sehbahn vorhanden ist, nicht in sicher erkennbarer Weise
zu beeinflussen vermag und mithin bei unseren Untersuchungen,
wenigstens bis auf weiteres, ganz vernachlässigt werden kann.
Wäre die endogene Erregung der Sehsubstanz in gleichem
Mafse wie aus Weifserregung und Schwarzerregung auch noch
aus Boterregung und Grünerregung zusammengesetzt, so würde
derselben eine deutlich rotgrüne Grauempfindung entsprechen,
und die Einwirkung von rotem (grünem) Lichte würde dazu
dienen, die Bötlichkeit (Grünlichkeit) dieser Empfindung zu
steigern und die Grünlichkeit (Bötlichkeit) derselben zu ver-
ringern, ganz ebenso wie thatsächlich die Einwirkung von
weifsem Lichte dazu dient, die Weifslichkeit der Empfindung
zu erhöhen und die Schwärzlichkeit derselben zu vermindern.
§ 21. Die Wirkungen der Lichtreize.
Die positiven und negativen Nachbilder.
Wir setzen den Fall, es wirke weifses Licht auf eine in
neutraler Stimmung befindliche Netzhautschicht ein, und fragen
uns, welcher Art der Erfolg dieser Lichtwirkung in der be-
troffenen lichtempfindlichen Schicht sei. Es liegt nahe, in
Beantwortung dieser BVage das Folgende zu sagen.
Durch die Lichteinwirkung wird die Geschwindigkeits-
^ Bei neatraler Stimmung der Netzhaut sind die drei Differenzen
Im — Lj Ir — Ig und L — Ih sämtlich gleich 0, so dafs der Sehnerv von der
Netzhaut her gar keine Beeinflussung erfährt Dafs diese neutrale Stimmung
der Netzhaut wegen der zufälligen und unregelmäfsigen inneren Ein-
flüsse (des Blutstromes u. dergl.)» denen die Netzhaut fortwährend aus-
gesetzt bleibt, niemals völlig hergestellt werden kann, zeigt das sog.
subjektive Eigenlicht des Dunkelauges.
346 G.E. Müller. ,
konstante desTF-Prozesses, die Konstante £^; obiger Gldichung (4),
erhöht/ hingegen K^ die GeschwindigkeitskonstaiXte des S-Pro^
zesses, verringert. Denn Licht, welches eine bestimmte
Reaktion (z.B. die Zersetzung von Molekülen einer bestimmten
Art) fördert, muTs gleichzeitig die entgegengesetzte Reaktion
(die Neubildung von Molekülen ebenderselben Art) beeinträch-
tigen. Infolge der durch das Licht bewirkten Erhöhung von
K^ und Verringerung von K^ nimmt gemäls obiger G-leichung (6)
die Differenz /„ — I,j deren Wert anfanglich gleich ö war,
einen positiven Wert an, und demgemäfs nimmt die Weilslich-
keit der Empfindung zu, hingegen die Schwärzlichkeit der-
selben ab, wir nehmen ein mehr oder weniger helles, graues
oder weifses Objekt im Sehfelde wahr.
Das Überwiegen der TT-Beaktionen über die ^Beaktionen,
das während der Lichteinwirkung stattfindet, ist (trotz der
Mitwirkung des Blutstromes) mit einer Abnahme des TT^Materiales
und Zunahme des S-Materiales, einer Verringerung der Qtö£^
M„ und Erhöhung von Jf, verbunden. Wird nun die Licht-
einwirkung plötzUch beendet, so kehren die Eonstanten K^ und
Z. wieder zu ihren anfänglichen Werten (ihren Ruhewerten)
zurück. Aber schon bevor sie dieselben völlig wieder erreicht
haben, müssen infolge der durch die vorherige Lichteinwirkung
bewirkten Erhöhung von M, und Verringerung von JC die
iS'-Beaktionen über die TF-Beaktionen überwiegen. Kurze Zeit
nach Beendigung der Lichteinwirkung besitzt also die Differenz
i — i einen negativen Wert, die Empfindung ist zu einer
vorwiegend schwärzlichen geworden, wir beobachten das negative
Nachbild des vorher wahrgenommenen weifsen Objektes. Je
länger die Betrachtung des letzteren gedauert hat, und je heller
dasselbe war, desto mehr mul's bei Aufhören der Betrachtung
desselben das iSMaterial vermehrt und das TT-Material ver-
ringert sein, desto ausgeprägter mufs also das negative. Nach-
bild ausfallen. Und da mit dem Grade der eingetretenen Ver-
mehrung des 5-Materiales und Verringerung des TF-Materiales
zugleich die Zeit zunimmt, welche verfUefsen mufs, damit sich
das Gleichgewicht zwischen den TF- und den iS^-Beaktionen
wiederherstellt, so wird mit der Dauer der Betrachtung des
weifsen Objektes und mit der Helligkeit des letzteren zugleich
auch die Dauer des negativen Nachbildes zunehmen.
^ Man vergleiche eyentuell Nbbnst, a. a. 0. S. 679.
Zur Paychophysik der Gesichtsempfindungen, 347
Obwohl die vorstehenden Entwickelangen für das Eintreten
und Verhalten der negativen Nachbilder eine befriedigende
Erklärung geben, so können wir dieselben doch nicht . als
genügend ansehen. Denn sie bieten uns weder für das all-
mähliche Anklingen unserer Gesichtsempfindungen, noch für
das allmähliche Abklingen derselben, d. h. die positiven Nach-
bilder, eine Erklärung. Sucht man dem allmählichen Anklingen
und Abklingen unserer Gesichtsempfindungen dadurch gerecht
zu werden, dafs man sagt, die einem gegebenen Lichtreize
entsprechende Erhöhung von K^ und Verringerung von K, ent-
wickele sich allmählich und klinge nur allmählich ab, so ist
dies nur eine nochmalige, etwas mehr mathematisch gehaltene
Erzählung der beiden in Bede stehenden Yerhaltungsweisen,
nicht aber eine reale Erklärung derselben.
Wir erklären das bei Einwirkung weüsen Lichtes statt-
findende allmähliche Anklingen des TT-Prozesses in ähnlicher
Weise, wie man gegenwärtig in der physikalischen Chemie die
photochemische Induktion, d. h. die Thatsache erklärt, „dafs
häufig das Licht anfanglich nur langsam wirkt und erdt nach
einiger Zeit zur vollen Wirksamkeit gelangt^. Man erklärt
letztere Thatsache dadurch, dafs das Licht die seiner Ein-
wirkung ausgesetzten chemischen Stofie nicht unmittelbar in
den zur Beobachtung kommenden Endzustand überfuhrt, sondern
erst einen gewissen Zwischenzustand bewirkt, von dem aus die
Überfahrang in jenen Endzustand stattfindet.' Wir nehmen
also an, dafs das weifse Licht zunächst auf ein gewisses
chemisches Material, welches kurz als das iV- Material (Neben-
material) bezeichnet werden möge, einwirkt. Aus diesem
Materiale entsteht durch die Lichteinwirkung das T7- Material
oder wenigstens ein Teil der Komponenten des TT-Materiales.
Diese chemische Umwandlung ist ohne merkbaren Einflufs auf
den Sehnerven. Erst wenn sich das TF-Material in 5-Material
umwandelt, ist ein TT-Prozefs gegeben, der in der früher an-
gegebenen Weise auf den Sehnerven wirkt. Bezeichnen wir
mit I^ die Intensität jener Umwandlung von ^-Material in
Tf^-Material oder in gewisse Komponenten des TF-Materiales,
mit K^ die Geschwindigkeitskonstante dieser Umwandlung, und
legen wir der Gröfse M^ dieselbe Bedeutung in Beziehung auf
^ Man vergleiche Kernst, a. a. 0. S. 575 f., Ostwald, a. a. O. S. 1060 ff.
3^ Q, E. JaüOer.
das JV-Material bei, welche die GröiBen Jf« und üf« in Beziehimg
auf das W- und fif-Material besitzen, so tritt also zu unseren
beiden obigen Gleichungen (4) und (5) noch die folgende hinzu:
(7) /,==Z,.Jf..dt
wo K^ mit der Stärke des einwirkenden weifsen Lichtes zunimmt.
Ebenso wie sich ^-Material in TF-Material verwandelt,
wandelt sich, wenigstens beim Suhezustande, infolge der
Wärmebewegung fortwährend W-Material in iV-Material um.
Hierfür gilt die Gleichung:
8) I^ = K^.M^. dt.
wo lu die Intensität und K^ die Geschwindigkeitskonstante
dieser Umwandlung bedeutet und M^ eine Gröfse ist, die (ent-
sprechend der Bedeutung von M^ M, und Jlf«) von den Mengen
abhängig ist, in denen die Stoffe, die durch die photochemische
Zersetzung des ^-Materiales entstehen, und von denen mindestens
ein Teil mit der Gesamtheit oder einem Teile der Komponentem
des TT-Materiales identisch ist,^ in der lichtempfindlichen Netz-
hautschicht vorhanden sind.
Aus Gleichung (7) und (8) folgt
(9) In—Iu = (An . M^—S:^ M^) dt
Je nachdem diese Differenz I^ — /« einen positiven oder
negativen Wert besitzt, überwiegt die Umwandlung von N'
Material in TF-Material über den entgegengesetzten Vorgang
oder findet das Gegenteü statt.
* Nehmen wir beispielshalber an, es seien an dem H^-Prozesse nur
drei Stoffe A, B, C beteiligt, so ist die einfachste Annahme, die hinsichtlich
der durch das Licht bewirkten Umwandlung des ^-Materialen gemacht
werden kann, die Annahme, dafs die bei dieser Umwandlung entstehenden
Moleküle sämtlichen drei Stoffarten A, B, C und nicht noch irgend einer
anderen Molekülart angehören. Es ist aber zweitens auch möglich, dafs
die photochemische Umwandlung des ^-Materiales auiser solchen Mole-
külen, die den Arten A, j?, C angehören, noch eine oder mehrere Arten
von Molekülen liefert, die bei dem TT-Prozesse keinerlei Verwendung
finden. Endlich drittens erscheint es möglich, dafs an dem TT-Prozesse
nicht blofs solche Stoffe beteiligt sind, die durch die photochemische
Umwandlung des i^-Materiales geliefert werden, sondern aufserdem auch
noch ein oder mehrere Stoffe, die fortwährend in genügender Menge in
der lichtempfindlichen Netzhautschicht vorhanden sind, dafs also z. B.
Zur Paychapkysik der Gesichtsempfindungen, 349
Befindet sich nun die betrachtete Netzhautschicht in völlig
neutraler Stimmung, so wird zwar fortwährend infolge der
Wärmebewegung ^-Material in TF-Material und TT-Material in
iS-Material umgesetzt, und ebenso finden fortwährend die diesen
Vorgängen entgegengesetzten beiden Umwandlungsprozesse
statt, aber diese vier chemischen Vorgänge vollziehen sich in
der Weise, dafs zwischen je zwei einander entgegengesetzten
Vorgängen völliges Oleiohgewicht besteht, so dafs I^ — i=Zi — lu
= 0 ist.
Wirkt jetzt wei£ses Licht ein, so nimmt K^ sofort um einen
bestimmten Betrag zu, während JS^ sich um einen entsprechenden
Betrag verringert. Infolge hiervon nimmt das TT-Material zu,
der Tf-Prozefs gewinnt an Intensität, die Di£ferenz i» — I^ wird
positiv, die Weifslichkeit der Empfindung beginnt zu steigen;
Dieses Stadiumder aufsteigenden Beiz Wirkung, während
dessen das TT-Material und die (positive) Di£Perenz i. — /, zu-
nimmt, dauert so lange an, bis der Verlust, den die Menge des
TF-Materiales infolge des Überwiegens der TT-Beaktionen über
die S-Beaktionen in einem Zeitteilchen erleidet, dem Zuwüchse
gleich geworden ist, den dieselbe in dem gleichen Zeitteilchen
dadurch erfährt, dafs die Umwandlung des iV^-Materiales in
TF-Material über den umgekehrten Umwandlungsprozefs über-
wiegt. Ist jener Punkt der maximalen Beizwirkung
erreicht, so nimmt alsdann I„ — I, allmählich wieder ab, weil
trotz der Wirksamkeit des Blutstromes das ^-Material und
mithin auch das TT-Material sich verringert, hingegen das
zwar die Stoffe A und B Stoffe sind, welche, sei es ausschliefslich oder
in Verbindung mit noch anderen Molekülarten, durch die photochemische
Umwandlung des A^Materiales entstehen, hingegen der Stoff C eine
Molekttlart darstellt, die fortwährend in genügender Menge vorhanden
ist und nicht erst durch die Einwirkung des Lichtes auf das iV-Material
entsteht.
Es würde natürlich zu grofse Weitläufigkeiten mit sich gebracht
haben, wenn wir in unserer Darstellung stets jede der hier erwähnten
Möglichkeiten besonders hätten berücksichtigen wollen. Der Kürze
halber werden wir uns also im Folgenden in der Weise ausdrücken, dalk
wir sagen, unter dem Einflüsse des Lichtes wandle sich iV^-Material in
IT-Material um, und nach Beseitigung des Lichtreizes finde eine über-
wiegende Umwandlung von TF-Material in 2V-Material statt, ohne damit
behaupten zu wollen, dafs von den im Vorstehenden angeführten Möglich-
keiten gerade die erstgenannte die in der Netshaut verwirklichte sei.
350 G, E. Müller.
jS-Material znnimint (Stadium der absteigenden Eeiz-
wirkung).
Beendigen wir die Liohtreizung zu irgend einem Zeitpunkte,
9ei es des Aufstiegs-, sei es des Abstiegsstadiums, so sinken K^
und K^ sofort auf ihre Bubewerte zurück, während die durch
die vorherige Belichtung bewirkte Verschiebung der Mengen-
verhältnisse des N-, W' und jS^Materiales sieh nur aUmählich
ausgleichen kann. Obwohl von dem Momente der Beizunter-
brechung ab die Umwandlung von TF-Material iu JV-Material
über den entgegengesetzten Umwandlungsvorgang überwiegt,
also In — Iu einen negativen Wert besitzt, so behält doch 7» — 2,
noch eine Zeitlang einen, allerdings fortwährend sinkenden,
positiven Wert, d. h. wir beobachten ein positives Nachbild
des vorher wahrgenommenen, weifsen objektiven Vorbildes.*
Dieses positive Nachbild dauert so lange an, bis der Punkt
der Umkehrung des Nachbildes, bei welchem i.— /. = 0
ist, erreicht ist. Da bei Erreichung dieses Punktes das Gleich-
gewicht zwischen der Umwandlung von TF-Material in iV-Material
und dem entgegengesetzten Vorgange noch nicht eingetreten
ist, sondern /« — 2» noch immer einen negativen Wert besitzt,
so nimmt jetzt die Differenz I^ — /, einen negativen Wert an,
d. h. das negative Nachbild stellt sich ein.
Versuchen wir nun weiter, die Konsequenzen zu entwickeln,
die sich von dem hier eingenommenen Standpunkte physikalisch-
chemischer Betrachtung ans unter einstweiliger Vernachlässigung
der nachher zu erwähnenden, sehr stark mit eingreifenden
physiologischen Faktoren hinsichtlich der Dauer und des Ver-
laufes des positiven und negativen Nachbildes ergeben, so
zeigt sich Folgendes:
Wird die Lichteinwirkung bereits während des Stadiums
der aufsteigenden Beizwirkung unterbrochen, so mufs das posi-
tive Nachbild um so länger andauern, je gröfser die Dauer
der Lichteinwirkung war. Denn die Dauer des positiven Nach-
^ Wie die Erfahrung zeigt, ist der Übergang des objektiven Vor-
bildes in das positive Nachbild ein ganz allmählicher. Demgem&Is
haben wir anzunehmen, dafs die Lichteinwirkung in der oben angegebenen
Weise nur die Konstanten ÜT« und JBT« beeinflufst. Fände beim Obergange
vom objektiven Vorbilde zum positiven Nachbilde ein j&her Absturz
statt, so wftrde man anzunehmen haben, dafs durch die Lichteinwirkung
auch Kw erhöht und JT« verringert würde.
Zwr Psychophysik der OeMUsempfindungen. 351
bilde» ist unter sonst gleichen IJniständen um so gröfser, je
mehr die Anfspeicherang von TT-Matenal, die während der
Lachteinwirkong stattgefunden hat, über die während derselben
Zeit geschehene Aufspeicherung von iS-Material überwiegt, je
grofser im Momente der Beizunterbrechung die Differenz
I^ — J« ist. Nun überwiegt, wie wir oben gesehen haben,
während des ganzen Aufstiegsstadiums der Zuwuchs, den das
TT-Material durch die vom Lichte geförderte Umwandlung des
^«Materiales während eines Zeitteilchens erfährt, über die Ein-
buTse, welche das TF-Mäterial während des gleichen Zeitteilchens
dadurch erleidet, dafs die Neubildung von iS-Material aus W-
Material über den entgegengesetzten Vorgang überwiegt. Es
nimmt also während des ganzen Aufstiegsstadiums das TF-
Material schneller zu; als das iS-Material, und demgemäfs mufs,
wenn wir die Beizung in einem Momente dieses Stadiums unter-
brechen, die Differenz I^ — i, im Momente der Beizunterbrechung
um so gröfser sein und das positive Nachbild um so länger
dauernd ausfallen, in einem je späteren Zeitpunkte des Auf-
stiegsstadiums die Beizunterbrechung stattfindet.^
Findet die Lichtunterbrechung erst während des Stadiums
der absteigenden Beizwirkung statt, so mufs offenbar das
positive Nachbild um so kürzer ausfallen, in einem je späteren
Zeitpunkte dieses Abstiegsstadiums die Lichtunterbrechung
geschieht. Denn, wie wir wissen, wird im Verlaufe letzteren
Stadiums die Menge des S-Materiales immer gröfser, hingegen
die Menge des ^-Materiales, mithin auch des TT-Materiales immer
geringer, so dafs die Differenz I^ — J, im Momente der Beiz-
unterbrechung um so geringer ist, je später die letztere statt-
findet.
Dafs die Geschwindigkeit, mit welcher die dem positiven
Nachbilde zu Grunde liegende Differenz I^ — J, abklingt, eine
Allmählich abnehmende sein mufs, mag die Beizunterbrechung
während des Aufstiegs- oder während des Abstiegsstadiums
stattfinden, braucht nicht erst weiter ausgeführt zu werden.
^ Ganz genau braucht indessen die Dauer der Lichteinwirkung, bei
welcher die Dauer des positiven Nachbildes ihr Maximum erreicht, mit
der Dauer des Aufstiegsstadiums nicht übereinzustimmen, weil im Ver-
laufe dieses Stadiums mit dem Werte der positiven Differenz J» — 1$ zu-
gleich der absolute Wert wächst, den die negative Differenz In — I» un-
mittelbar nach der Lichtunterbrechung besitzt.
302 O. E. Müaer.
Hinsiohtlich des negativen Nachbildes ergiebt sich ohne
weiteres, dafs dasselbe ganz allgemein um so ausgeprägter und
länger andauernd ausfallen muTs, je später die Beizunterbrechung
stattfindet. Die demselben zu Grunde liegende negative Diffe-
renz I^ — /« muTs ihrem absoluten Werte nach mit fortwährend
abnehmender Geschwindigkeit anwachsen und hierauf mit gleich-
falls fortwährend abnehmender Geschwindigkeit wieder auf den
Nullpunkt herabsinken.
Es ist nicht schwer, von dem hier verfolgten Standpunkte
physikalisch-chemischer Betrachtung aus nun auch noch die
Abhängigkeit zu erörtern, in welcher der Verlauf der Nach-
bilder zur Beizintensität und anderen derartigen Faktoren stehen
mufs. Es scheint uns indessen weit mehr angezeigt zu sein,
hier darauf hinzuweisen, daJGs, wenn auch die Thatsache, dafs
die Weifsempfindung bei Unterbrechung der Beizung nicht
sofort schwindet, sondern als sog. positives Nachbild allmählich
abklingt, ganz im Sinne der obigen Ausführungen durch die
von dem Beize bewirkte Anhäufung von TF-Material zu er-
klären ist und auch die Erklärung der negativen Nachbilder
in erster Linie auf den im obigen angedeuteten Gesichtspunkten
zu fufsen hat, dennoch eine vollständige Theorie der Erschei-
nungen des Anklingens der Gesichtsempfindungen und der
positiven und negativen Nachbilder ohne eine genaue Kenntnis
und Berücksichtigung zweier bisher hier noch nicht erwähnter
physiologischer Faktoren nicht gegeben werden kann. Diese
Faktoren sind erstens die Wechselwirkung der verschiedenen
Netzhautstellen oder die indirekte Beizung der Netzhaut-
stellen (so soll im Folgenden die von einer direkt durch Licht
erregten Netzhautstelle durch sog. Kontrastwirkung auf die
benachbarten Stellen ausgeübte Beizung bezeichnet werden),
und zweitens die nutritiven Vorgänge in der Netzhaut. Auf
die letzteren kommen wir im nächsten Paragraphen näher zu
sprechen. Hinsichtlich der Art und Weise, wie hier die Wechsel-
wirkung der Netzhautstellen in Betracht kommt, mag kurz
Folgendes bemerkt werden.
Indem wir hier sogleich an die von Hess angestellten
Untersuchungen über die bei kurzdauernder Beizung des Seh-
organes auftretenden Nachbilder (Pflügers Ärch. 49. 1891.
S. 190 ff., Ärch f. Op/Uhalm. 40. 2. S. 259 ff.) anknüpfen, nehmen
wir an, dafs eine Scheibe auf dunklem Grunde nur kurze Zeit
Zur Rychophy8ik der Qesiehtaempfindungen. 363
(riü Sekunde oder weniger) sichtbar gemacht werde. Alsdann
wird während der Belichtnng, entsprechend dem xnn die weifse
Scheibe hemm erscheinenden Dankelhofe, in der Umgebung
derjenigen Netzhantstellen, anf denen sich die weiTse Scheibe
abbildet» der S^Prozefs erhöht und der TF'-Prozefs geschwächt.^
Verliefen nun nach Beendigung der Belichtung die Netzhaut-
prozesse in den verschiedenen Netzhautstellen ganz unabhängig
voneinander, so würde das primäre Bild der weifsen Scheibe
von einem positiven Nachbilde gefolgt sein, das dem oben Be-
merkten gemäfs verhältnismäfsig schnell abliefe,' um einem
negativen Nachbilde Platz zu machen. Der Dunkelhof femer
würde sich nach Beendigung der Belichtung mehr oder weniger
* Wird in einer Netzhautstelle durch einen indirektein Beiz eine
Änderung der Differenz J« — /« in positiver oder negativer Bichtung
bewirkt, so kann diese Änderung entweder dadurch zu stände kommen,
dals der indirekte Beiz ganz analog wirkt wie ein Lichtreis, d. h. die
Konstanten Kn und £»yUnd zwar die eine in dem entgegengesetzten Sinne,
wie die andere, beeinflafst und hierdurch auf mittelbarem Wege auch
auf das Mengenverhältnis zwischen den W- und £^-Beaktionen wirkt,
oder aber der indirekte Beiz beeinflufst letzteres Mengenverhältnis ganz
unmittelbar dadurch, dafs er die Werte der Konstanten JTw und JT«, und
i&war den einen in positiver, den anderen in negativer Bichtung, ver-
ändert. Die nicht unwichtige Frage, auf welchem der beiden hier an«
gedeuteten Wege ein indirekter Beiz seine Wirksamkeit entfalte, soll
hier ganz beiseite gelassen werden. Für uns genügt hier der umstand,
dals in jedem Falle, wo durch einen indirekten Beiz in einer Netzhaut-
stelle die Differenz I^ — J, vom Nullpunkte aus in positiver oder nega-
tiver Bichtung verschoben ist, nach Schwinden des indirekten Beises
entweder sofort oder mehr oder weniger bald (je nachdem die Wirksam-
keit dieses Beizes auf dem zweiten oder ersteren der soeben angedeuteten
Wege zu Stande kommt) in ebenderselben Netzhautstelle ein Ausgleichungs-
vorgang eintreten muTs, während dessen 7» — L das entgegengesetzte
Vorzeichen besitzt, wie zuvor während des Vorhandenseins des indirekten
Beizes.
' Denn die Zeit von ji^ Sekunde ist klein im Vergleich zu der zur
Erreichung der maximalen Beizwirkung erforderlichen Zeit, die bei den
einschlagenden Untersuchungen von Exvjbb {Wien. Ber, 68. 1868. S. 616)
je nach der Lichtstärke 0,12 bis 0,29 Sekunden betrug. Wie sich aus
unseren obigen Bntwickelungen leicht erg^ebt, verm(Vgen wir aus ver-
schiedenen Gründen die Ansicht von Hbss nicht zu teilen, dafs aus der
kurzen Dauer, welche das erste positive Nachbild bei den von ihm be-
nutzten, sehr geringen Werten der Beizdauer besais, auf eine ähnliche
Kürze des ersten positiven Nachbildes bei höheren Werten der Beiz-
daner zu schlieisen sei.
ZeitichTifl fttr Piyeholoffie X. 23
354 ö* E.Müüer.
I VI
fiiclmell aufhellen und einem allmählich wieder abklingenden;
Bilde eines Lichthofes. Platz machen. Thatsächlich findet nun,
aher die gegenseitige Beeinflussung der verschiedenen Netzhaut-.
iM^ellen auch noch dann statt, wenn die in denselben sich iab-r.
spielenden Prozesse nur auf den Nachwirkungen vorausgegangener
direkter oder indirekter Beize beruhen, und zwar hängt die
Sichtung und Stärke, in welcher sich die der weifsen Scheiber
i^nd die dem Dunkelhofe entsprechenden Netzhautstellen w&hroad'
des Ablaufes der positiven und negativen Nachbilder geg^i-
seitig beeinflussen, selbstverständlich von dem zeitlichen Verlaufe,
der nach Schlufs der Belichtung in diesen NetSEhautstellen sich;
abspielenden Netzhautprozesse ab. Nehmen wir z. B. an, daC»^
nach Schlufs der Belichtung der Lichthof, welcher das negative.
Nachbild des vorher wahrgenommenen Dunkelhofes darstellt,
sich sehr bald und schnell entwickle, so dafs er das Maximum
seiner Helligkeit zu einer Zeit besitze, wo das positive Nach-
bild der weifsen Scheibe, wenn es ganz ungestört hätte ver-
laufen können, noch keineswegs ganz abgeklungen wäre, so
werden die dem hellen Lichthofe zu Qrunde liegenden Netzhaat-
prozesse durch die von ihnen ausgehenden indirekten Iteize das .
Nachbild der Scheibe verdunkeln, imd diese Verdunkelung wird
so lange andauern, als der helle Lichthof deutlich wahrnehmbar
ist. Nach Schwinden des letzteren wird in den der Scheibe
entsprechenden Netzhautstellen infolge der Wirkungen,, welche
die von dem hellen Lichthofe ausgehenden indirekten Beize
auf die Mengenverhältnisse des ^-, W- und S^-Materiales aus-^
geübt haben, ein Ausgleichungs Vorgang eintreten, welchem ein '
deutliches zweites positives Nachbild der Scheibe entspricht, '
ein Nachbild,, das seinerseits wiederum durch indirekte Beizung
das Bild eines umgebenden Dunkelhofes hervorruft. Lifolge
dieser letzteren Wirkung ist in dem Momente, wo das zweite
positive Nachbüd der Scheibe abgeklungen ist, in den Netzhaut*
stellen, welche der Umgebung der Scheibe entsprechen, eine
solche Verschiebung der Mengenverhältnisse des N^y W- und
^-Materielles bewirkt, dafs in diesen Netzhautstellen ein Au»-
gleichungsvorgang stattfindet, welchem ein abermaliges Auftreten
des Lichthofes, wenn auch mit geringerer Helligkeit, entspricht.
Dieser Lichthof bewirkt durch' die von ihm ausgehenden in-
direkten Beize wiederum ein zweites negatives Nachbild der
Scheibe, dessen Dunkelheit allerdings nicht so ausgeprägt, ist^
Zur Fsychophynk der Oesichtaempfindwtgen. 355
wie diejenige des ej^sten negativen Naohbildes der Scheibe war.
Dieses zweite negative Nachbild der Scheibe ist infolge der^
ihm entsprechenden Yerschiebang der Mengenverhältnisse des
N'^ TT- und iS^Materiales notwendig von einem, wenn auch
vielleicht nur noch undeutlichen, dritten positiven Nachbilde
der Scheibe begleitet u. s. w.
Es ist ganz unmöglich, der Kompliziertheit der Yerhält«^^
nisse, welche durch die Wechselwirkung der Netzhautstellen
f&r den Ablauf der Nachbilder geschaffen werden, init Worten
genügend gerecht zu werden. Man muTs sich hier mit un-.
voUst&ndigenAndeutungendessen, worauf es ankommt, begnügen.-
Es würde vollends ins üngemessene führen, wenn man auf die
Zahl verschiedener Möglichkeiten, die hier von vornherein in
Betracht kommen, näher eingehen wollte.^ Das Vorstehende
muTs genügen, um zu zeigen, dafs es doch sehr unüberlegt
sein würde, wenn man aus Beobachtungen, bei denen ein
wiederholtes Auftreten eines positiven und negativen Nachr
bildes konstatiert wurde, ohne weiteres einen Einwand gegen
unsere obigen chemisch-physikalischen Darlegungen ableiten
wollte, aus denen zwar ein einmaliges Auftreten eines positiven .
und eines negativen Nachbildes in völlig zwangloser Weise.:
folge, nicht aber ein wiederholtes Auftreten solcher Nachbilder
abgeleitet werden könne. Wir sind mehr als weit davon ent-
fernt, zu meinen, dafs sich der Ablauf unserer Netzhautprozesse
ohne Mitberücksichtigung der indirekten Beize und anderer,
physiologischer Faktoren vollständig konstruieren lasse.
Nach monokularer Betrachtung einer Lichtfl&ohe wird natürlich
der Verlauf der Nachbilder durch den Wettstreit der Sehfelder gestört,
wie YOK Kbibs (Analyse der Qeiichisempfindungen, 6. 119) hervorgehoben hat^ >
Hinsichtlich des yielfach miXsverstandenen Einflusses der Augen-
bewegungen und Lidschlftge auf den Verlauf der Nachbilder vergleiche.
^ So erhält man z. B. ein wiederholtes Auftreten des positiven
Nachbildes der Scheibe auch dann, wenn man den hellcQ Lichthof,
welcher das erste . negative Nachbild des Dnnkelhofes darstellt, das
Mawnum seiner Helligkeit in dem Momente erreichen l&ist, wo das
erste positive Nachbild der Scheibe, wenn es ganz ungest^^rt hätte ab-
laufen können, gerade vollständig abgeklungen wäre, u. dergl. m. Nur
der Kürze halber haben wir femer im Obigen ganz davon abgesehen,
da£B die den verschiedenen Teilen der weifsen Scheibe entsprechenden
Netzhautstellen sich niemals sämtlich in genau denselben Zuständen
befinden.
23*
356 G. E. MMer,
man Hsbiko, diese Zeitsehr. Bd. I. S. 21 und vor i^em Areh, f. OpiMuiim.
XXXVn. 3. S. 15 fF.
Beruht das wiederholte Auftreten der Nachhilder wesentlich auf
den indirekten Reizungen, so muOs es sich natürlich hinsichtlich seiner
Einzelheiten nach der Intensität, Dauer und Ausdehnung der Licht-
reizungen hestimmen. Hieran dttrfte die experimentelle Prüfung der
ohigen Vermutungen, die deshalb, weil sie keine neuen Vorgänge zur
Erklärung heranziehen, in erster Linie in Betracht kommen, anzuknüpfen
haben. Versuche, bei denen behufs Ausschliefsung jeglichen Kontrastes
in der ganzen Ausdehnung beider Netzh&ute überall die gleichen Netz-
hautprozesse hervorgerufen werden, lassen sich leider, wie bekannt, schon
aus äufseren Gründen kaum effektuieren und stofsen aufserdem auch
noch wegen der anatomisch-physiologischen Verschiedenheiten der
Netzhautstellen auf Schwierigkeiten.
Es ist nicht ganz zu billigen, wenn man Versuche, bei denen ein
Lichtobjekt sehr kurze Zeit beleuchtet und dann der Wechsel der
Nachbilder beobachtet wird, ganz in eine Linie mit Versuchen stellt,
bei denen sich ein Lichtobjekt sehr schnell durch das Gesichtsfeld be-
wegt und das Bild beobachtet wird, das aus den Nachwirkungen ent-
springt, die das Objekt in den von ihm der Reihe nach direkt gereizten
Netzhautstellen hinterläfst. Man übersieht hierbei, dafs die indirekten
Reizungen sich bei beiden Arten von Versuchen anders verhalten, dais
insbesondere durch die indirekten Reizungen, welche bei den Versuchen
der zweiten Art das sich bewegende Netzhautbild des Lichtobjektes
auf die soeben von ihm durchlaufenen und die sogleich von ihm zu
durchlaufenden Netzhautstellen ausübt, ein wesentlicher Unterschied
beider Versuchsarten gegeben ist. Eine andere Fehlerquelle entspringt
für Versuche der zweiten Art aus der Zeit, welche die Wanderung der
Aufmerksamkeit von einer Netzhautstelle zu einer anderen in Anspruch
nimmt (man vergleiche den von Mach angestellten und in seinen Bei-
trägen gur Analyse der Empfindungen, S. 106 f., mitgeteilten Versuch).
Der Raumersparnis halber mufs von einer weiteren Erörterung der
Wechselwirkung der Netzhautstellen, die ja in mancherlei Beziehung
einen Untersuchungsgegenstand für sich bildet, hier abgesehen werden.
Ebenso ist es nicht möglich, hier auf die Kompliziertheit der Ver-
hältnisse einzugehen, die in dem Falle, wo das einwirkende Licht nicht
blofs eine, sondern zwei oder drei Valenzen enthält, für den Ablauf
unserer Empfindungen und Nachempfindungen daraus entspringt, dafs
die von den verschiedenen Valenzen in der lichtempfindlichen Netzhaut-
schicht hervorgerufenen Wirkungen und Nachwirkungen einen wesent-
lich verschiedenen zeitlichen Verlauf nehmen können und sich je nach
der Stärke und Dauer der Lichteinwirkung in verschiedener Weise
miteinander kombinieren und überdies auch die Wirkungen, welche
die verschiedenen Valenzen infolge der Wechselwirkung der Netzhaut-
stellen in den der gereizten Netzhautpartie benachbarten Netzhautstellen
haben, in entsprechender Weise einen verschiedenen Verlauf nehmen
können. Zu den aus diesen komplizierten Verhältnissen entspringenden
Nachbilderscheinungen gehört das farbige Abklingen der Gesichts-
Zur PBycJu^hyM der Gegkhtsempfindungen. 357
empfindungen, welches lacht von angeblich weiXser, thatsAchlich aber
doch farbiger Beschaffenheit (Hebino) hervorraft.
Bei Erklärung der Erscheinungen des successiven Kon*
t rast es hat man selbstverst&ndlich in erster linie davon auszugehen,
dals Ketshautstellen, in denen durch einen Lichtreiz direkt oder indirekt
die Mengenyerhftltaisse des N-, TT- und S-Materiales in Vergleich au den
ihnen bei neutraler Stimmung zukommenden Werten verschoben sind^
auf einen zweiten Beiz entsprechend anders reagieren müssen, als bei
neutraler Stimmung. Aufserdem hat man nach dem Vorgange Hbrinos
(Zur Lehre vom Lkhtsinne. S. 96 ff.) noch die' hier eine sehr wesentliche
Bolle spielende Wechselwirkung der Netzhautstellen zu berücksichtigen.^
Eine eingehendere Erörterung des successiven Kontrastes führt aller-
dings noch, zur Verfolgung einer Beihe speziellerer Fri^en (z. B. auch
der in der Anmerkung 1 zu S. 868 von uns angedeuteten Frage), auf die
indessen in dieser Abhandlung nicht eingegangen werden kann. Auch
auf eine spätere Gelegenheit müssen wir das Eingehen auf eine gelegent*
liehe Bemerkung Hbbikos (Pflügers Areh, 41. 1887. S,82) verschieben,
dafs gewisse positive farbige Nachbilder durch weiXses Lieht in komple*
mentär gefärbte umgekehrt werden könnten, eine Bemerkung, von der
ihrer ganzen Fassung nach nicht sicher zu erkennen ist, ob sie als eine
endgültige aufgefafst werden soll, die aber (trotz ihrer Eingeschränkt-
heit und trotz der Mehrdeutigkeit eines ihr entsprechenden That-
beetandes) leicht als Stütze eines Einwandes gegen unsere bisherige
Entwickelungen benutst werden könnte.
Es wird Zeit, dafs wir endlich eine Frage beaoitworteni
die der Leser schon längst im stillen gestellt haben wird,
nämlich die Frage, wie wir das An- and Abklingen der
chromatischen Netzhautprozesse erklären. Betrachten wir z. B.
das An- und Abklingen des Ü-Prozesses, so erklärt sich dasselbe
diu'ansy dafs das rote Licht die Umwandlung eines zu dem
R- und G-Materiale zugehörigen Nebenmateriales in 12-Material
fordert. Lifolge dieser Vermehrung des iZ-Mateiiales erlangen
die iZ-Beaktionen das Übergewicht über die G^-Beaktionen, die
Differenz X- — -^ nimmt einen positiven Wert an, u. s. w. Nach
Unterbrechung der Einwirkung des roten Lichtes besitzt die
Differenz! X- — ^g zunächst noch einen positiven Wert. Bald
aber wird sie negativ, weil nach Schwinden des roten Lichtes
^ Nachschrift bei der Korrektur: Hätte ich es fü.r möglich gehalten,
dals HsBiUGS Ausftlhrungen Über das Zustandekommen der Erscheinungen
der simultanen und successiven Lichtinduktion und des successiven
Kontrastes auf einen so erstaunlichen Mangel an Verständnis stoXsen
könnten, wie in den „Beiträgen zur Psychologie und Philosophie'' von Götz
Mabtiüb (Leipzig, 1896) hervorgetreten ist, so würde ich vielleicht diese
Erscheinungen an dem einen oder anderen Beispiele auf Ghrund der hier
entwickelten Anschauungen näher erörtert haben.
358 G. E. Müller,
die ümwandlang von JS- Material in Nebenmaterial über den
entgegengesetzten Vorgang überwiegt und infolgedessen das
i2-Material sich schnell verringert. Wenn wir in dieser Weise
das An- und Abklingen des i?- Prozesses ganz nach Analogie
des An- und Abklingens des TT- Prozesses erklären, so eihebt
sich indessen die Frage, wie nun im Falle der Einwirkung
grünen Lichtes das An- und Abklingeii des Cr -Prozesses zu
erklären sei. Diese Frage beantwortet sich sehr einfach in
folgender Weise.
Macht sich die Botvalenz eines Lichtes dahin geltend, dafs das
zum R' und ä^-Materiale zugehörige Nebenmaterial (welches natür-
lich von dem zum W- und S^Materiale zugehörigen Nebenmateriale
verschieden ist) sich in reichlicherem Mafse in JB-Material um-
wandelt, so mufs dem früheren gemäfs eine Grünvalenz g^mau die
-entgegengesetzte Wirkung haben, d. h. die Umwandlung von
JB-Material in iV^ Material befördern. Diese durch das grüne
Licht bewirkte Verminderung des JS-Materiales hat aber (wenn
das Licht die Netzhaut bei neutraler Stimmung trifft) not-
wendig zur Folge, dafa die 6r-Beaktionen das Übergewicht Über
die l^Beaktionen gewinnen, also X — X einen negativen Wert
Äimimmt. Der absolute Wert letzterer Differenz und die davon
abhängige 6r- Erregung des Sehnerven erreichen ihr Maximum,
wenn die durch das grüne Licht in eine^ Zeitteüche^ be-
wirkte Abnahme des JR^Materiales gleich geworden ist dem
Zuwüchse, den das Ü-Material in demselben Zeitteilchen dutch
das Übergewicht der G^-Eeaktionen über die Jt- Reaktionen
erfährt. Wird die Einwirkung des grünen Lichtes unterbrochen,
so dauert zunächst jenes Übergewicht der G^-Beaktionen noch
"eine- Zeitlang an. Es wird aber infolge des ümstandes, dafd
jetzt die Umwandlung von iV- Material in ü- Material über den
Entgegengesetzten Vorgang stark überwiegt, immer geringer
und schlägt schliefslich in ein Übergewicht der 12-Beaktionen um.^
Es bleibt also trotz der Hereinziehung der photochemischen
Induktion in den von uns angenommenen Mechanismus der
* Es ist natürlich auch mOglich, dafs sich die Sache hinsichtlich
der J3- und (7-Eeaktionen genau umgekehrt verh<, als wir im Obi^n
beispielshalber angenommen haben, d. h. es ist auch möglich, dals das
^-Material durch grünes Licht in (^Material verwandelt wird, und rotes
Licht dahin wirkt, das (7-Material in ^-Material zu verwandeln. Aach
beim weifsen Lichte ist die entsprechende andere Möglichkeit Torhanden.
Zfwr Psychopfiysik der Gesichtsempfindungen. 369
Netzhaütprozesse durchaus bei unseren früheren S&tzen, däfs
eine Bot- und eine Grünvalenz, eine Gelb- und eine Blauvalenz
in entgegengesetzter Biohtung auf die betreffenden lichtempfind-
lichen Substanzen wirken, und dafs ebenso der B- und O-, E-
und J5-, S- und TT-Prozefs entgegengesetzte Vorgänge - sind.^
Das eigentümliche, neue Ergebnis der vorstehenden Betracht
tungen ist nur die Erkenntnis, dafs die ^Einwirkung der Licht-
strahlen auf den Sehnerven nicht durch die chemischen Ybr^
gänge erfolgt, welche die Lichtstrahlen direkt selbst hervor^
rufen, sondern vielmehr dadurch, dafs- die vom Lichte bewirkten
chemischen Umwandlungen infolge des Gesetzes der chemischen
Massenwirkung das Gleichgewicht zwischen solchen chemischeii
Vorgängen entgegengesetzter Art stören, die nach Mafsgabe
des Vorzeichens und des absoluten Wertes ihres Intensitätsunter-
schiedes den Sehnerven zu erregen vermögen. Wenn man bedenkt;
dafs die Netzhautprozesse, welche den positiven und negativen
Nachbüdem zu Grunde liegen, unmöglich Vorgänge sein können^
welche direkt selbst durch Lichstrahlen hervorgerufen werden,
und andererseit» beachtet, dafs den Prinzipien wissenschafb-
Ss ist' möglich, dafs dasselbe dazu dieint, die Umwandlung von 5-Material
in ^-Material zu fördern, und hierdurch ein Überwiegen der TF-Beaktianen
über die j^Beaktionen bewirkt. Doch- soll der Kürze halber im Polgenden
stets nur die Annahme zu G-runde gelegt werden, dafs weifses, bezw.
rotes Licht dahin wirke, das betreffende ^-Material in TT-, bezw.
^-Material zu verwaiideln.
^ Von yomheröin ist neben der oben von lus vertretenen - Auf*
fassuBg noch eine andere in Betracht zu ^ehen, nach welcher z. B. deiv
i^Prozefs und der G^ProzefB gleichfalls entgegengesetzte chemische
Vorgftnge sind, die nur gemäfs der Differenz ihrer Intensit&ten auf den
Sehnerven wirken, aber die Botvalenzen ui^d Grünvalenzen nicht als
einander direkt entgegengesetzte Kr&fte bezeichnet werden dürfen, insofern
eine Botvalenz die Umwandlung eities bestimmten Nebenmateriales in'
2^-Material fördere, eine Grünvalenz aber die Umwandlung eines bestimmten,
anderen Nebenmateriales in 6^Material beschleunige, ohne einer etwa
gleichzeitig vorhandenen Botvalenz in ihrem Einflüsse auf die Umwandlung
jenes dtsteren Neoenmaterials in i{-Material direkt entgegenzuwirken,
tmd ohne ihrerseits von einer etwa gleichzeitig vorhandenen Botvalenz
in ihrem Einflüsse auf die Umwandlung des zweiten Nebenmateriales in-
^^Material direkt irgendwie behemmt zvi werden. Die hiermit angedeutete'
Ansicht scheitert indessen, wie nicht weiter ausgeführt zu werden braucht,
unwiderruflich an dem bereits in § 15 angeführten vok KREBsschen Satze,
da& die subjektive Gleichheit zweier Lichter von dem ErmüdnngszHStande!
des Sehorg^es unabh&ngig ist.
360 Q' E. MüUer.
lieber Methodologie gemäJGs nnser Bestreben darauf gericbtdt
sein mufs, wenn ea irgend angebt, der gleichen Empfindung
und Sebnervenerregung, mag es siob nun um eine einem vor*
bandenen Licbtreize entsprechende Empfindung oder um ein
positives oder negatives Nachbild handeln, stets die gleiche
Erregungsursache in der Netzbaut entsprechen zu lassen, so
wird man sich einer weiteren vorteilhaften Seite unserer The<»ie
bewufst werden. Denn nach unserer Theorie beruht eine
bestimmte Gesichtsempfindung, mag sie nun einem noch vor-
handenen Lichtreize entsprechen oder ein positives oder nega-
tives Nachbild sein, stets nur auf dem Vorhandensein bestimmter
Intensitätsunterschiede entgegengesetzter Netzhautprozesse, wobei
es ganz gleichgültig ist, wie die Verschiebungen der Mengen-
verhältnisse gewisser Stoffe, die diesen Intensitätsunterschieden
zu Gfrunde liegen, herbeigefährt worden sind, insbesondere
auch ganz gleichgültig ist, ob der dieselbe bewirkt habende
Lichtreiz noch vorhanden ist oder nicht. —
Wird ein chemischer Prozefs durch Licht nicht unmittelbar,
sondern mittelbar auf dem Wege der photochemischen Liduktion
bewirkt, so mufs eine gewisse, wenn auch vielleicht nur sehr
geringe, 2eit nach Beginn der Lichteinwirkung verflieJben,
bevor der chemische Prozefs in einem fftr ans merkbaren Grade
hervorgerufen ist. Hiemach liegt es nahe, die von S. Fuchs
{Pflügers Arch, 56. 1894. S.408 ff., Centralblf. PhysM. 8. S. 829ff.)
gefundene Thatsache, dafs die photoelektrische Schwankung in
der Netshaut erst eine melsbare Zeit nach Begian der Licht-
einwirkung beginnt, in Zusammenhang zu der Art und Weise
zu bringen, wie nach unseren vorstehenden Ausführungen die auf
den Sehnerven wirkenden Netzhautprozesse hervorgerufen werden.
Man muls indessen hinsichtlich der Frage, in welcher Beziehung
die photoelektrischen Schwankungen der Netzhaut zu den auf den
Sehnerven einwirkenden Netzhautprozessen stehen, zur 2ieit noch
eine etwas zurückhaltende Stellung einnehmen, da bei Einwir-
kung von Licht gar mancherlei in der Netzhaut geschieht und
das elektromotorische Verhalten der Netzhaut wegen der
Schwierigkeiten, xuit denen die betreffenden Versuche zu kämpfen
haben, noch nicht in genügend vielen Beziehungen erforscht ist,^
* Man vergleiche z. B. die Bemerkung von KOmni and Snenma in
Heidelb. Unters. (ürUermthungen aus dem phjfsiologischen Jugfilute der
versUät Heidelberg). 4« S. 137 f.
2Sur Fsychophytik der Oeskhtsempfindungen, 861
tmd die zur Zeit yorliegenden Besultate überhaupt nioht
an der Netzhaut des Menschen, sondern an den Netzhäuten
verschiedener Tierarten gewonnen sind, betreffs deren wir eine
genügende Kenntnis des Verlaufes und der verschiedenen Arten
der in ihnen erweckten Sehnervenerregungen und Gesichts-
empfindungen nicht besitzen. Eis mag genügen, hier daran zu
erinnern, dais nach den von Kühne und Steiner (a. a. 0. 3. S. 375 f.)
am Dunkelfrosche angestellten Versuchen bei genügender Lang-
samkeit der Entstehung eines Lichtreizes in der Netzhaut „keine
darch die Schwankung bemeikbare Erregung stattfindet ^^^ anderer*
seits aber unsere Qesichtsempfindungen bei gleichen Versuchs-
bedingungen ein diesem Versuchsreeultate ganz entsprechendes
Verhalten nicht zeigen.
Da wir im Vorstehenden angenommen haben, dais die durch Licht
in der Netshaat hervorgerufenen chemischen Ver&nderungen solche sind,
die nach Entfernung des Lichtes wieder rückgängig werden, hingegen
die neneste eingehende Untersuchung der photochemischen Erscheinungen,
Blmlieh diejenige von Bolofp (Zeüaehr, f. pkifaik. Chemie. 13. 1894. S. 327 ff.,
insbesondere S. 865), photochemisohe Vorgänge, welche im Dunkeln rUck*
i^&K gemacht werden könnten, nicht hat konstatieren können, so
dürfte es angezeigt 'sein, hier folgenden physikalisch-chemisohen Exkurs
anzufügen.
Die Stoffgemische, auf deren chemische Zusammensetzung Licht
yerftndemd einwirkt, sind von doppelter Art. Die einen befinden sich
auch vor der Einwirkung des Lichtes nicht im Zustande chemischen
Gleichgewichtes. Doch ist der Unterschied der (Geschwindigkeiten, mit
denen die entgegengesetzten Beaktionen vor sich gehen, absolut ge-
nommen, sehr gering, so dais die im Dunkeln stattfindende langsame
Veränderung der chemischen Zusammensetzung der gewöhnlichen Beob-
achtung nur wenig merkbar ist. Wirkt aber geei^etes Licht auf ein
solches Gemisch ein, so werden die Geschwindigkeitskonstanten der ein-
ander eatgegengesetsten Beaktionen in der Weise verändert, dafs die
zuvor minimale Geschwindigkeitsdifferenz dieser Beaktionen einen er-
heblichen Wert annimmt und auch innerhalb einer verhftltnismajbig
kurzen Zeit eine merkbare Veränderung der chemischen Zusammen*
Setzung bewirkt wird. Gemische dieser Art nehmen nach Entfernung
des Lichtes ihre anfängliche Beschaffenheit nicht wieder an. Denn
die Lichteinwirkung hat ja nur dazu gedient, das Gtemisch in der
Biehtung des von ihm auch vor der Lichteinwirkung, wenn auch nur
mit sehr geringer Geschwindigkeit, angestrebten chemischen Gleich-
gewichtszustandes zu verändern. Die lichtempfindlichen Gemische dieser
Art sind in gewissem Sinne einem Gemische von Wasserstoff und Sauer-
stoff vergleichbar, das ,,man, wie viele Versuche geseigt haben, jahre-
lang im zogeschmolzenen Glasballon aufbewahren kann, ohne da£s merk-
liche Wasserbildung eintritt. Trotzdem sind die beiden Gase keineswegs
362 • O.K Müller.
im Gleichgewicht, sondern wir haben AUe G-rtinde sn der Annahme, da£i
bei gewöhnlicher Temperatur die Beaktion eben nur zu langgam vor
sich geht, um in einem der Beobachtung zugänglichen Zeitraum nach-
gewiesen werden zu können". Läfst man eine hohe Temperatur auf das
Gemenge von Wasserstoff und Sauerstoff Wirken, so findet plötzHch
eine schnelle Veränderung in der Biohtung des auch bei gewöhnlicher
Temperatur, allerdings nur sehr schwach, angestrebten Gleichgewichts-
zustandes statt, es bildet sich Wasser, das auch nach Wiederherstellung
des anfangs vorhandenen, niederen Temperaturgrades imverändert wetter-
besteht.
Zu den lichtempfindlichen Gemischen dieser ersteren Art, deren
betreffende chemische Veränderungen in schwachem Grade auch im
Dunkeln vor sich gehen und im Dunkeln, nicht rückgängig werden,
gehören die von Boloff. in obiger Veröffentlichung behandelten oder in
Betracht geisogenen Gemische.
Die lichtempfindlichen Gemische der zweiten Art befinden sich vor
Einwirkung des Lichtes wenigstens annähernd im Zustande chemischen
Gleichgewichts. Die Einwirkung des Lichtes verändert die Geschwindig*
keltskonstanten der einander entgegengesetzten Beaktionen und stört so
den vorhandenen Gleichgewichtszustand. Sobald aber die Lioht-
einwirkung aufhört, nehmen jene Geschwindigkeitskonstanten wieder
ihre anfänglichen Werte an, und das Gemisch strebt wieder den anfängt
liehen Gleichgewichtszustand an, den es nach gewisser Zeit auch wieder
erreicht.
Zu den lichtempfindlichen Gemischen dieser Art gehören einige
von B. Ed. LiBssoANO^ neuerdings untersuchte Substanzen. Derselbe be-
richtet z. B. folgendes: ^Eine halbgefQllte Flasche Bhodaniduminium
(19^ B6) . . . färbte sich, als ich sie aus dem Dunkelzimmer ins zerstreute
Tageslicht brachte, bald hellrot. Lis Dunkle zurückgebracht, verlor sie
diese Färbung schon nach einer Minute wieder. In der Sonne nahm die
Verbindung eine intensive Botfärbung an, welche nach 1 bis 2 Minuten
ihr Maadmum erreicht hatte. Auch diese intensive Färbung verschwand
vollkommen nach spätestens 2 Minuten 'im Dunkeln. Schon beim Beschatten
der Flasche mit der Hand machte sich eine Verminderung der Intensität
bemerkbar. Ich habe den Versuch mit derselben Flüssigkeit mehr als
zwanzig Male ausgeführt, ohne dafs eine Verminderung der Empfindlich«
keit eingetreten wäre." Auch manche frühere Mitteütmgen anderer
Forscher dürften hierher gehören. „Molybdänsäure, gelöst in verdünnter
Schwefelsäure, soll sich im Sonnenlichte bläuen, im Finstem wieder ent^
färben'' (Edeb, a. a. 0. I. 1. S. 169). „Ghl^rsilber, in eine Glasröhre ein-
geschmolzen, wird im Sonnenlichte violett (Dissoziation von Chlor), in
der Dunkelheit nimmt es das abgeschiedene Ohlor wieder auf und wird
weiTs" (Eder, ebenda. S. 175) u. a. m.
Natürlich muTs es auch lichtempfindliche Gemische g^eben, welche.
^ Liesegangs Fhotogr. Arch. 1893. 10. Hefb. S. 145ff.; 12. Heft S. 177 £
Auf <liese Versuche Liesboakos bin ich durch Herrn Bolofp aufioierksam
gemacht worden; -
Zur Psychophysik 4/&r Ge9kht8empfindungen. 363
«inen Übergang zwischen den beiden soeben erörterten Gemisoharten
.bilden, insofern sie sich vor der Lichteinwirki^ig . nicht im Zustande
annähernden chemischen Gleichgewichts befinden) andererseits aber
durch die Lichteinwirkung (bei genügender Stärke und Andauer der-
selben) in dem Grade chemisch verändert werden, daTs sie nach Wieder-
lierstellung der Dunkelheit eine merkbare partielle BückbUdung erfahren .
Dafs eine durch Licht bewirkte oder beförderte chemische
Reaktion ebenso wie jede andere chemische Beaktion umkehrbar ist,
und dafs es also im Grunde stets nur von dem Verhältnisse, in
welchem die Masse der bei einer ,photochemischen Beaktion entstandenen
Beaktionsprodukte zu der Masse der im Sinne dieser Beaktion um-
wandelbaren, aber thatsächlidh nicht umgewandelten Stoffe steht,
abhängig ist, ob ein Teil jener Beaktionsprodukte nach Beseitigung
des Lichtes zurückrerwandelt wird oder nicht, ergiebt sich auch aus
der Thatsache der sog. chemischen Sensibilisation, d. h. aus der That-
sache, dafs eine äem lichtempfindlichen Körper beigemengte Substanz,
welche eines der' bei der photochemischen Beaktion entstehenden Pro-
dukte bindet, hierdurch die Geschwindigkeit letzterer Beaktion be-
fördert, indem es eben die: Büokbildung unmöglich macht (Nxbnst, a. a. O.
S. 572). Ferüer ist hier daran zu erizmem, daHs nach den Untersuchungen
von E. WiSDEMAKK Und G. C. Schmidt {Wiedemanns Ann, 54. 1895.. S. 604ff.
xmd 56. 1895. S. 201 ff.) die Erscheinungen der Chemiluminiscenz in einer
Anzahl von Fällen darauf beruhen, dafs die durch Licht (oder Käthoden-
'strahlen) bewirkte chemische Änderung nach Beseitigung des Lichtes
unter Lichterzeugung rückgängig wird. Das Phospihorescenzlicht fester
Lösungen beruht darauf, dafs die durch die auffallenden Strahlen von-
einander getrennten Bestandteile (Jonen) gar nicht oder doch nur wenig
aus der gegenseitigen Wirkungssphäre kommen und sich demgemäls nach
dein Aüniören der Bestrahlung sehr schnell wieder miteinander ver-
einen. Überhaupt spielt^ nach den Untersuchungen der genannten
S^orScher bei den Erscheinungen der Luminiscenz die Bückbildung der
durch vorherige Bestrahlung entstandenen Beaktionsprodukte eine grofse
Bolle. Auch schon gewisse Beobachtungen von AaRHsmüs, welche die
Leitungsfähigkeit der dilbersalze während und nach der Belichtung
betreffen, weisen nach der Ansicht obiger Forscher darauf hin, dafs
^unter dem Einflufs einer Bestrahlung eine Jonisierung eintreten kann,
die nachher wieder zurückgeht**.
§ 22. Die Mitwirkung der nutritiven Vorgänge.
Anatomische, physiologische und pathologische Thatsachen
zeigen,^ dafs die normale Funktion der Netzhaut sehr wesent-^
^ If an vergleiche z.B. Kühne in Herinanns Handb. d. Physiol. 3. li,
S.287 und in HeideW. Unters, 2. S.46ff.; Ezitbb in Pflüg er 8 Ärch: 16. 1878.
S. 407ff. und 20; 1879. S. Gliff.; BsoäTEBEW im Newi)l, CmtraJbl, 1894.
S. 902 f.; femer vor allem die Zusammenstelliing von Eüobk Fick und
GüBBBB im Ärch, f, Ophthcdm. 36. 2. S. 281 ff.
364 G> B. MÜOer,
lieh von der durch den Blut- nnd Lymplistrom vennittelieii
Em&hrting derselben abh&ngig ist. Nach unserer Theorie
lälst sich dies leicht verstehen.
Nehmen wir an, es sei eine Netzhaatstelle während der
Dauer einer Lichteinwirkung lediglich auf sich selbst und das-
jenige Material an Sehstoffen angewiesen, das sich bei Beginn der
Lichteinwirkung in ihr befand, so würde der gegebene Licht"
reiz sehr bald ganz unwirksam fQr den Sehnerven werden.
Denn es würde z. B. welfses Licht das JT^Material sehr bald
fast ganz in TF-Material umgewandelt haben, und das 5-Material
würde infolge der Umsetzung von IT-Material sehr bald so
stark vermehrt sein, dafs J« — /, gleich 0 ist. Das Eintreten
letzteren Zustandes wird nun dadurch verhindert, dafs während
der Lichteinwirkung fortwährend neues ^-Material oder Stoffe,
mittelst deren neues .^-Material bereitet werden kann, nach
dem Schauplatze der photochemischen Prozesse hingefährt
werden (Stoffzufuhr) und zugleich auch ein Teil des neu
entstandenen iS-Materiales von dieser Stätte hinweggefahrt wird
(Stoffabfuhr). ^
Setzen wir also den Fall, dals weilses Licht von nicht über-
mäfisdger, d. h. pathologische Veränderungen bedingender, Stärke
ununterbrochen auf eine und dieselbe Netzhautstelle einwirke, so
wird die positive Differenz J« — 1„ nachdem sie ihren Maximal«
wert erreicht hat, dem früher S. S49 f. Bemerkten gemäfs infolge
der Verringerung, welche das ^-Material und demzufolge auch
das TF-Material erleidet, und infolge der Zunahme, welche
das 5-Material erfährt, zunächst immer weiter und weiter ab-
nehmen. Diese Abnahme wird aber durch die Zufuhr von N-
Material (oder zur Bildung von JV-Material geeigneten Stoffen)
und durch die Abfuhr von 5-Material immer mehr verlangsamt,
^ Dasjenige, was hier in Beziehung auf den Fall der Einwirkung
weiüMn Idchtes bemerkt worden ist, l&lst sich unschwer verallgemeinem.
Angenommen, es gebe Licht, welches genau entgegengesetzt wirkt wie
welTses Licht, also die Umwandlung von Ü^-Material in ^-Material
fördert, so würde während der Einwirkung solchen Lichtes ^-Material
abgeführt, hingegen /S-Material zugeführt werden. Ist an dem Tl^Pro-
sesse auTser solchen Stoffen, welche durch die photochemische Um-
wandlung des ^-Materiales entstehen, auch noch ein anderer, in der
lichtempfindlichen Netzhautschicht bereitliegender Stoff beteiligt, so kann
sich die Stoffzufuhr w&hrend der Einwirkung weifsen Lichtes auch noch
auf diesen letzteren Stoff erstrecken.
Zur Psychephysik der Gesichtsen^findungen. 365
um so mehr, da wir Grand zu der Annahme haben', dafis die
Thfttigkeit der nutritiven Vorgänge in den beiden soeben an-
gegebenen Bichtungen eine um so lebhaftere ist, je mehr durch
die Lichteinwirkung in der lichtempfindlichen Schicht der be-
troffenen Netzhautstelle das JV-Material bereits verringert und
das iS-Material bereits vermehrt ist.' Zuletzt muGs prinzipiell
ein Zustand erreicht werden, wo die Abnahme, die das N"
Material dem bestehenden positiven Werte von I^ — lu ont-
sprechend in einem Zeitteilchen erleidet, dem Zuwüchse, den
dasselbe durch die StoffzuAihr erfUirt, genau gleich geworden
ist, und ebenso die EinbuTse, welche das TT-Material dem vor-
handenen positiven Werte von Z» — L gemäfs erleidet^ dem Zu-
wüchse gleich ist, den dasselbe durch die chemische Umsetzung
von ^-Material erf&hrt, und endlich auch der Zuwuchs, der
dem /S-Material durch die chemische Umwandlung von TF-
Material zu teil wird, dem Dekremente gleich ist, welches das
erstere durch die Stoffabfuhr erleidet. Dieser Zustand des
stofflichen Gleichgewichtes, bei welchem die Abnahme
der Differenz /« — /, zu Ende gekommen ist, dürfte indessen in
Wirklichkeit niemals erreicht werden (abgesehen allenfalls von
Fällen, wo es sich um die Adaptation an eine Beleuchtung
von minimaler Intensit&t handelt.)' Der Eintritt von Augen-
^ Wie wesentlich sich der Verlauf der Gesichtsempfindumg, die einem
gegebenen Lichtreize entspricht , nach dem Verhalten der von der Blut-
sirkulation abh&ngigen nutritiven Vorgänge bestimmt, zeigen am besten
Beobachtungen, bei denen die Blutzirkulation im Auge durch Druck auf
den Augapfel mehr oder weniger herabgesetzt wird. Man vergleiche
Ezna, a. o. a. O., sowie M. Bkich in den JOiik MotuUsbL /*. AttgtnhmUcde,
12. 1874. S. 238 ff. Selbstverständlich werden die nutritiven Vorgänge
durch die bei Druck des Augapfels eintretende Hemmung der Blutzirkulation
nicht sofort völlig sistiert. Denn angenommen selbst, der Abschlufs des
Blutstromes sei ein vollständiger, so ist ja doch in dem Momente,
wo derAbschlufs eintritt, in diesen oder jenen Teilen, z. B. im Pigment-
epithele der Netzhaut oder in der St&bchen- und Zapfenschicht selbst,
bereits eine gewisse Menge solcher Stoffe abgelagert, die durch g^ewisse
Vorgänge in lichtempfindliches Material umgewandelt werden können.
Wäre man in der Lage, nicht blols die Blutzirkulation im Auge, sonidern
auch diese letzteren Umwandlungsvorgänge plötzUch völlig aufheben zu
kOxmen, so vrfirde sich der Verlauf der Gesichtsempfindungen noch in
einem ganz anderen Grade, als thatsächlich bei Herstellung der Druck-
biindheit der Fall ist, als von der Mitwirkung der nutritiven Vorgänge
abhängig erweisen.
* Die neutrale Stimmung der lichtempfindlichen Netzhautschicht
kann als derjenige Zustand der letzteren bezeichnet werden, bei welchem
366 G.E,MüUer,
bewegnngen n. dergl. und. 4er Einfluftf derjenigen Vorgänge,
welche den Erscheinungen des Simultankontrastes und der
simultanen Lichtinduktion zu Grunde liegen, greifen störend
oder modifizierend in den Ablauf der Netzhautprozesse ein, die
ein gegebener Lichtreiz hervorruft. Trotzdem dürfte es an-
gezeigt s^, hier einige Sätze hervorzuheben, die fär diesen
Zustand des stofflichen Gleichgewichtes gelten. Denn, wie leicht
ersichtlich, läfst sich der Lihalt dieser Sätze auch auf die-
jenigen Fälle übertragen, wo das Sinken der von einem
gegebenen Lichtreize erweckten Erregung zwar noch nicht
beendet, wohl aber doch schon bedeutend verlangsamt ist.
Ist der Satz richtig, dafs die nutritiven Vorgänge um so
lebhafter sind, je intensiver das gegebene Licht (das wir uns
der Einfachheit halber wieder als weifses Licht vorstellen wollen)
ist, so muTs bei erreichtem stofflichen Gleichgewicht die Differenz
J» — /, um 80 grölser sein; je intensiver das gegebene Licht ist.
Sind zwei verschiedenartige Valenzen (z. B. eine Botvalenz
und einB Weifsvalenz) gegeben, deren Wirksamkeit in dem
Sehepithele (der Stäbchen- und Zapfenschicht) durch die nutri-
tiven Vorgänge nicht in gleichem Grade gefördert wird , so
mufs bei erreichtem stofflichen Gleichgewichte derjenigen
Valenz, welche durch die nutritiven Vorgänge mehr begünstigt
wird, eine grölsere Wirkung (eine gröfsere Litensitätsdifferenz
zweier entgegengesetzter Netzhautprozesse) in der Netzhaut
entsprechen, selbst dann , wenn die Stärkegrade beider Valenzen
so . gewählt sind, dafs letztere im ersten Momente ihrer Ein-
wirkung gleich starke Wirkungen im Sehepithele erzielen.
Finden in zwei verschiedenen Netzhautstellen bei gleichem
Seize die nutritiven Vorgänge mit verschiedener Lebhaftigkeit
statt, so mufs bei erreichtem stofflichen Gleichgewichte dem
gleichen Beize in derjenigen Netzhautstelle, welche hinsichtlich
der nutritiven Vorgänge bevorzugt ist, eine gröüsere Wirkung
entsprechen, als in der anderen Netzhautstelle.
Ob nach Erreichung des stofflichen Gleichgewichtes bei
konstant bleibendem Lichtreize die Stoffzufuhr und Stoffabfahr
auf konstanter Höhß beharren würden, kann sehr bezweifelt
werden. Von vornherein kann man denken, dafs allmählich
ein Beiz nicht vorhanden ist und zugleich stoffliches Gleichgewicht
besteht.
1
Zwr JPsychophynk der OistChtsempfindungen. 367
ein iBtlahinen der in so einseitiger Weise ununterbrochen aus-
geübten £mährung8thätigkeit eintrete. Man kann aber auch
an ein Inzugkommeh in dieser Hinsicht denken oder es fCLr
selbstverständlich erklären, dafs die Lebhaftigkeit der nutritiven
Vorgänge von der Atemthätigkeit, der Nahrungsaufnahme
u. dergl. abhängige Schwenkungen erieide. Man kann die Frage
auf werfen, ob die unregelmäfsig wechselnden , hellen oder
dunklen Flecken, Wolken, Nebelballen, welche im Sehfelde des
Dunkelauges in so reichem Mafse auftreten^ nicht zu einem
wesentlichen Teile auf Schwankungen der hier in Bede
stehenden nutritiven Vorgänge beruhen. Denn nach Erreichung
des Zustandes des stofflichen Gleichgewichtes mufs jede ein-
tretende Schwankung der Stoffzufuhr oder Stoffabfuhr von
einer Schwankung der Netzhautprozesse und einer Änderung
der GesichtsempjBjidung begleitet sein, mag die Intensität des
vorhandenen Lichtreizes gleich 0 sein oder einen endlichen
Wert besitzen.^
Es ist zu beachten, dafs die durch einen Lichtreiz bewirkte
Steigerung der nutritiven Vorgänge beim Schwinden dieses
Beizes nicht mit einem Schlage rückgängig werden dürfte. Nach
Versuchen von Chauveau (a. a. O. S. 3Ö2) ist die Blutzirkulation
im Muskel am lebhaftesten in der Buhezeit, welche unmittelbar
auf vorherige Arbeit des Muskels folgt, und die vasomotorischen
Begleiterscheinungen einer längeren geistigen Anstrengung
dauern länger an, als diese Geistesanstrengung (Gley in Ärch,
de physiol. 13. 1881, S. 754). Nimmt man ähnliches für die der
Funktion des Sehepithels dienlichen nutritiven Vorgänge an,
so ergiebt sich, dafs diese Vorgänge auch den Verlauf der Nach-
bilder mehr oder weniger mit bestimmen müssen und eventuell
für die Erklärung dieser oder jener Eigentümlichkeit desselben
mit in Erwägung zu ziehen sind.
Aus dem Vorstehenden und unseren früheren Ent-
^ Wenn wir beim Blicken auf helle Gegenstände nicht entsprechende
Wolken oder Lichtballen auftauchen sehen, wie im Sehfelde des Dunkel-
auges, so kann man (abgesehen von anderen naheliegenden) z. B. in eine
Diskussion des WEBERSchen Gesetzes gehörigen Gesichtspunkten) hierin
ein Analogen der Thatsache erblicken, dafs die zuflllligen Schwankungen
der Lebhaftigkeit der im Muskel stattfindenden Blutzirkulation beim
Buhezustande des Muskels viel ausgiebiger sind, als bei der Thätigkeit
desselben. (OHAUTEiiu, Le iravail muaeuJaire. Paris, 1891. S, ^56 fT.).
368 ^. S* MülUr.
wickelimgen (S. 350) ergiebt sich, dafs der Wichtigkeit
gemäfs, welche für uns eine schnelle ErholnngsftLhigkeit des
Sehorganes besitzt, unser Auge die durch einen Lichtreia in
dem Sehepithele bewirkten stofflichen Veränderungen in
doppelter Weise auszugleichen sucht, erstens durch Bück-
bildung eines Teiles der Produkte der durch den Beiz direkt
und indirekt bewirkten chemischen Beaktionen (welche Bück-
bildung nach Aufhören des Beizes beginnt und dem negativen
Nachbilde zu Grunde liegt), und zweitens durch die
nutritiven Vorgänge, welche schon während der Ein-
wirkung des Beizee denjenigen Stoffen^ die durch denEinflufs
desselben verringert werden, Ersatzmaterial zuftLhren und zu-
gleich von denjenigen Stoffen, welche infolge der Beiz-
wirkung sich im Übermafs anhäufen, einen Teil nach aufsen
abführen. Sowohl diese letzteren Vorgänge, als auch jene
Bückbildung finden mit um so gröfserer Lebhaftigkeit statt, je
intensiver der betreffende Lichtreiz ist.
G-anz unentschieden können wir hier lassen, wo die Her-
stellung lichtempfindlicher Stoffe mittelst irgendwelcher dem
Ernährungsstrome entstammender Substanzen erfolgt, ob z. B
die lichtempfindlichen Stoffe bereits in dem Pigmentepithele
der Netzhaut bereitet werden und von hier aus durch irgendwelche
Kräfte in die Stäbchen- und Zapfenschicht gelangen oder etwa
erst in letzterer Schicht ihre definitive Formung erfahren.
Femer lassen wir hier ganz dahingestellt, was mit denjenigen
Beaktionsprodukten geschieht, die durch die Stoffabfuhr aus
der lichtempfindlichen Schicht der betroffenen Netzhautstelle
hin weggeführt werden. Es ist möglich, dafs dieselben oder
gewisse Komponenten derselben irgendwo mit Hülfe anderer
Substanzen wieder zum Aufbau von lichtempfindlichem
Materiale oder solchen Stoffen, die Vorstufen letzteren Materiales
sind, verwandt werden.
Was die oben erwähnte Zunahme der nutritiven Vorgänge
bei steigender Lichtstärke anbelangt, so kann dieselbe doppelten
Ursprunges sein. Erstens kann dieselbe eine Folge der Steige«
rung sein, welche die Thätigkeit des Sehepithels bei wachsender
Lichtstärke erfährt. Tritt z. B. (wie zu vermuten, aber unseres
Wissens noch nicht nachgewiesen ist) bei einer Lichtverstärkung
eine Steigerung der retinalen und chorioidealen Blutzirkulation
ein, so entsteht dieselbe infolge der erhöhten Thätigkeit des
2ur Psychophysik der Gesichtsempfindungen. 369
Sehepithels in ähnlicher Weise, wie auch sonst eine Erhöhnng
der Thätigkeit eines Organes eine Steigerung der Blntzirknlation
in demselben zur Folge hat. Zweitens kommt hier noch in
Betracht, dafs vielleicht das einwirkende Licht direkt selbst
(nicht blofs indirekt dnrch die von ihm bewirkte Steigerang
der Thätigkeit des Sehepithels) gewisse für die Schnelligkeit
der Emähmng des Sehepithels wichtige Vorgänge fördert. Wir
erinnern daran, dafs nach den Untersuchungen von Kühnb und
Mats das Fuscin bei Vorhandensein von Sauerstoff durch
Licht direkt zersetzt wird, sowie daran, dafs nach Versuchen
von Kühne {Heidelb. Unters, 2. S. 104 f.) die Hämoglobinzersetzung
durch Licht beschleunigt wird.
Ob der Säftestrom im Auge und die Ernährung des Seh-
epithels der Annahme von Eugen Fick und Gösbbr entsprechend
durch Bewegungen des Augapfels und der Augenlider ge«
fordert wird, ist zur Zeit noch nicht entschieden. —
Vergleicht man die drei optischen Spezialsinne hinsichtlich
der Lebhaftigkeit miteinander, mit welcher ihre Thätigkeit
durch die nutritiven Vorgänge unterstützt wird, so zeigt sich
die wichtige Thatsache, dafs in dieser Beziehung erstens der
Weifsschwarzsinn vor den beiden chromatischen Sinnen wesent-
lich bevorzugt ist, und zweitens unter den beiden letzteren der
Gelbblausinn vor dem Botgrünsinne begünstigt ist. Auf ersteres
weist, wie nach dem Obigen nicht weiter ausgeführt zu werden
braucht, die Thatsache hin, dafs die Empfindung eines farbigen
Lichtes bei längerer Einwirkung des letzteren auf eine und
dieselbe Netzhautstelle immer ungesättigter und weifslicher
wird, sowie die Thatsache, dafs alle Farbenempfindungen von
gewissen Stärkegraden des farbigen Lichtes ab sich bei weiterer
Steigerung des letzteren immer mehr der reinen Weifsempfindung
nähern. Dafs femer der Gelbblausinn in nutritiver Hinsicht
vor dem Botgrünsinne bevorzugt ist, folgt in entsprechender
Weise aus der Thatsache, dafs rotgelbes und rotblaues Licht
bei steigender Intensität oder verlängerter Einwirkungsdauer^
^ Vorausgesetzt ist hier, dals die Einwirkungsdauer stets länger
ist, als die Zeit, die zur Erreichung der maximalen Beizwirkung er-
forderlich ist. Die (mit den im Bisherigen entwickelten Anschauungen
wohl vereinharen) Änderungen, welche die Empfindungen der yerschiedenea
Parben bei ihrem Anküngen erfahren, sollen innerhalb dieser Ab^
handlung nicht mit zur Erörterung kommen.
Zeitiehrlft für Psychologie X. 24
870 ö. E, MüUer.
immer gelblicher, bezw. bläulicher wird; erst bei sehr hohen
Werten der Lichtstärke oder Einwirkongszeit tritt die soeben
erwähnte Annäherung an Weifs in den Vordergrund. Ebenso
werden die grünlichen Nuancen, je nachdem sie zum G-elb oder
zum Blau hinneigen, bei Steigerung der Intensität oder Ein-
wirkungszeit zunächst immer gelblicher bezw. bläulicher, so
dafs bei wachsender Lichtstärke des Sonnenspektrums das Gelb
und Blau sich immer weiter ausbreiten, hingegen das Orün
immer mehr eingengt wird.^ Nur Urrot und Urgfün gehen bei
fortgesetzter Verstärkung ohne Änderung des Farbentones in
immer weifslichere Nuancen über.
Möglicherweise steht mit der soeben besprochenen Beihenfolge, in
welcher die drei optischen Spezialsinne in nutritiver Hinsicht rangieren,
auch die Thatsache in Zusammenhang, dais bei fortgesetztem Druck auf
den Augapfel alle Farben zunächst ganz ähnliche Veränderungen ihres
Aussehens erleiden, wie sie bei Steigerung ihrer Intensität erfahren. Sie
gehen sämtlich teils direkt (z. B. reines Blau), teils indirekt (z. B. gelb-
liches Bot und gelbliches Grün durch Gelb hindurch) in GrauweiTs über,
bis schlielslich eine allgemeine Anästhesie der Netzhaut eintritt und nur
noch Finsternis empfunden wird (M. Beich, a. a. O. S. 247 ff., Kühne in
Heidelb, Unters, 2. S. 53 ff.)- Endlich liegt es nahe, auch die aus den Er-
scheinungen sowohl der peripherischen, als auch der individuellen
Farbenblindheit sich ergebende verschiedene Leichtigkeit, mit welcher
^ Bei sehr geringer Lichtstärke des Sonnnenspektrums scheinen
Bot und Grün unmittelbar aneinanderzustolsen ; je lichtstärker das
Spektrum gemacht wird, desto deutlicher und ausgebreiteter wird das
Gelb. Diese Thatsache ist Obigem gemäfs in folgender Weise zu deuten.
Die Botvalenzen und Grün Valenzen derjenigen rotgelben und grüngelben
Spektrallichter, welche dem ürgelb nicht sehr nahe stehen, üben auf
die Geschwindigkeitskonstanten der durch sie direkt beeinflulsbaren
Netzhautprozesse einen stärkeren Einfiufs aus, als die Gelbvalens auf
die Geschwindigkeitskonstanten der beiden durch sie direkt beeinfluTs-
baren, einander entgegengesetzten Netzhautprozesse ausübt. Demgemäfs
erscheinen diese Lichter bei geringer Intensität, wo auch der in nutritiver
Hinsicht schwache Botgrünsinn den an ihn gestellten Anforderungen
gewachsen ist, vorwiegend rot bezw. grün. Wird jedoch die Licht-
stärke gesteigert, so macht sich immer mehr der Umstand geltend, dafs
die Farbe, in welcher uns ein bestimmter Theil des Spektrums unter
gewöhnlichen Bedingungen der Beobachtung (d. h. bei nicht blofs momen-
taner Einwirkung des Spektrums) erscheint, sich nach der Beschaffen-
heit bestimmt, welche die durch die Farbe erweckten Netzhautprozesse
in einem Stadium' besitzen, wo sie den Punkt der maximalen Beiz-
wirkung bereits längst hinter sich haben und bereits wesentlich von
der ihr weiteres Abfallen verlangsamenden Mitwirkung der nutritiven
Vorgänge abhängen, und dafs eben diese nutritiven Vorgänge hin-
Zur Psychaphysik der Ge^icktsempfindungen. 371
die drei optisoken Spezialsiime Schwächungen erfahren oder gar ganss in
Wegfall kommen, hier anzuführen. Man kann meinen, es sei selbst-
verständlich, dafs bei Erschwerungen oder Mangelhaftigkeiten der Stoff-
zufuhr oder Stoffbereitung im Sehorgane oder wenigstens gewissen Teilen
desselben im allgemeinen derjenige Spezialsinn (der Botgrünsinn) am
ehesten und meisten geschwächt werde, für dessen Unterhaltung die
nutritiven Vorgänge überhaupt am wenigsten lebhaft eintreten, hingegen
derjenige Spezialsinn (der Weifsschwarzsinn) am wenigsten beeinträchtigt
werde, für dessen Unterhaltung der normale Organismus das reichlichste
Material zu beschaffen vermöge. Die Thatsache, dafs man beim Über-
gange vom Zentrum der Netzhaut zur Peripherie ganz dieselben Ver-
änderungen der Farbenempfindlichkeit konstatieren kann, die man im
Zentrum durch fortgesetzten Druck auf den Augapfel, also Erzeugung
von Blutleere, erzeugen kann, hat M. Keich (a. a. 0. S. 251 f.) zu der
Bemerkung veranlafst, dafs die peripheren Netzhautteile „immer ver-
hältnismäfsig arm an Blut'' seien. Indessen ist hier einige Zurück-
haltung, zum mindesten gewisse Einschränkung oder Ergänzung geboten.
Denn, dals viele Fälle von Farbenschwäche und Farbenblindheit in
Affektionen des Sehnerven oder noch zentralerer Teile ihren Ursprung
haben, ist sicher. Auch kann die Aimahme, dafs die totale Farbenblindheit,
soweit sie nicht durch Affektionen des Sehnerven oder zentralerer Teile
bedingt sei, einfach auf einem Wegfalle der Funktion der Zapfen be-
ruhe, als ausgeschlossen nicht gelten. —
Zum Schlüsse mag hier noch der Frage gedacht werden, ob die
Steigerung nutritiver Vorgänge, welche durch erhöhte Thätigkeit eines
der drei optischen Spezialsinne bewirkt ist, die beiden anderen Spezial-
sichtlich der Unterhaltung des Gelbprozesses weit leistungsfähiger
sind, als hinsichtlich des Rot- und Grünprozesses. Infolge letzteren
Verhaltens mufs bei Steigerung der Lichtstärke des Sonnenspektrums
der von einer rotgelben oder grüngelben Farbe erweckte GelbprozeCs,
soweit er für das Aussehen der Farbe mafsgebend ist, im Vergleich zu
dem von derselben Farbe hervorgerufenen Bot- bezw. Grünprozesse
immer stärker werden, mithin das Gelb im Spektrum immer deutlicher
und ausgebreiteter werden. Man darf also nicht den Einwand erheben
(vergl. Ebbikghaus, diese Zeitschrift Bd. V. S. 179 f.), dals nach den hier
vertretenen Anschauungen die bei steigender Lichtstärke des Spektrums
stattfindende Zunahme der Deutlichkeit und Ausdehnung des Gelb nur
dadurch erklärt werden könne, dafs „S^^^ entgegengesetzt allem, was
sonst bekannt ist'S die Einwirkung auf ein gewisses lichtempfindliches
Material, die sich bei schwachem Lichte schon bis zu einer gewissen
Grenze (Wellenlänge des Lichtes) erstreckt habe, bei Verstärkung des
Lichtes sich etwas von dieser Grenze zurückgezogen habe. Dafs sich
Erscheinungen, die der hier erörterten Erscheinung analog sind, an
photographischen Platten nicht beobachten lassen, ist nicht zu ver-
wundem. Denn die hier erörterte Erscheinung ist eben durch eine
Eigentümlichkeit der organisierten Substanzen, nämlich die Ernährung,
bedingt*
24*
372 ö^. «E. MüUer.
sume ganz unbeeinflulBt lasse. Wenn z. B. weiises Licht längere Zeit
hindurch auf die Netzhaut einwirkt, lassen dann die hierdurch ge-
steigerten nutritiven Vorgänge die Sehstoffe der beiden chromatischen
Spezialsinne ganz unverändert?
§ 23. Die retinalen Anpassnngsvorgänge.
Neben der Veränderlichkeit der Pupillenweite bestehen
nocb in der Netzhaut selbst Einrichtungen, welche dazu dienen,
die Wirknngsfahigkeit, welche gegebenes Licht den Sehstoffen
gegenüber besitzt, nach Mafsgabe der Stärke des Lichtes zu
modifizieren. Vorgänge in der Netzhaut, welche letztere
Wirkung haben, sollen kurz als retinale Anpassungs-
vorgänge bezeichnet werden. Dieselben sind von den er-
örterten nutritiven Vorgängen wohl zu unterscheiden. Denn
letztere betreffen nicht die Wirkungsfähigkeit, welche gegebenes
Licht in fieziehung auf die Sehstoffe besitzt, sondern die
Mengen, in denen das Licht diese Stoffe vorfindet.
Retinale Anpassungsvorgänge im soeben angegebenen Sinne
sind schon mehrfach angenommen worden. So vertritt z. B.
Kunkel {Pflügers Arck. 16. 1877. S. 38 f.) die Ansicht, dafs
die Netzhaut über Schutzvorrichtungen verf&ge, durch welche
sie sich vor tiefergehenden Veränderungen durch einwirkendes
Licht schütze. Er glaubt, dafs in den vor dem Sehepithele
gelegenen Schichten der Betina bei Einwirkung von Licht
„chemische Veränderungen, und zwar Trübungen der vorher
pelluciden Substanz, zu stände kommen, die natürlich das
Durchdringen von Licht bis zur letzten empfindlichen Schicht
erschweren^. Kühne bemerkt gelegentlich [Hermanns Handb.
d. Physiol 3. S. 328), dafs die eminente Lichtempfindlichkeit
des Sehpurpurs denselben keineswegs vor dem Verdachte be-
wahre, „nur ein für hinreichend intensives Licht veränderlicher
Farbenschirm zu sein, was für mit ihm gemischte, ebenfalls in
den Stäbchencylindern befindliche, wirkliche Sehstoffe die
gröfste Bedeutung haben könnte^. Li Anschlufs an diese Be-
merkung Kühnes mag sogleich daran erinnert werden, dafs
der gelbe Farbstoff der Macula lutea nach den Untersuchungen
desselben Forschers (ebenda. S. 291. 327. HeideTb. Unters. 2.
S. 128) „von nicht geringer Lichtempfindlichkeit ^, also ein
Farbenschirm ist, dessen Einflufs nicht ohne weiteres %ls von
Zur Psychophysik der Geskhtsempfindimgen. 373
der Datier, Stärke und Beschaffenheit der vorausgegangenen
Lichtreizungen ganz unabhängig vorgestellt werden darf.
Von verschiedenen Forschem ist die phototrope ße*
aktion des Pigmentepitheles als ein retinaler Anpassungs*
Vorgang angesehen worden (man vergleiche z. B. Schirmeb im
Arch. f. Ophihälm. 36. 4. S. 141 ff.). In der That läfst es die
physikalische Betrachtung nicht zweifelhaft erscheinen, dafs
dieser von der Stärke und Dauer der Lichteinwirkung ab-
hängige Vorgang „die Ausbreitung und Beflexion des Lichtes
in der musivischen Schicht der Netzhaut beschränke*^ (HeiiMholtz).
Auf eine solche Bedeutung der Pigmentwanderung weist ins-
besondere auch der umstand hin, dafis sich das Pigment bei
Einwirkung hinlänglich starken Lichtes auch hinter der End«
fläche der Stäbchen ausbreitet und durch Bedeckung derselben
die Menge des Lichtes verringert, das von der Chorioidea und
Sklerotika her reflektiert werden kann. Macht man hingegen
die von vornherein sich ebenfalls darbietende Annahme einer
wesentlichen nutritiven Bedeutung der Pigmentwanderung, so
erscheint nicht recht begreiflich, wie die Sehorgane albinotischer
Individuen denjenigen noch recht beträchtlichen Grad von
Leistungsfähigkeit besitzen können, den sie thatsächlich be-
kunden, wie z. B. derartige Individuen „bei mittlerer Beleuch-
tung oder bei Lampenlicht stundenlang ohne Beschwerden
arbeiten*' können (Schibm£b, a* a. 0. S. 145). Derartige
Leistungen erscheinen um so beachtenswerter, weil ja die Netz-
haut der Albinos infolge des Fehlens oder wenigstens Mangel-
haftseins der Pigmentierung der Iris und der Chorioidea bei
gleichen Beleuchtungsverhältnissen von bedeutend mehr ein-
fallendem Lichte und von bedeutend mehr von der Chorioidea
und Sklerotika her reflektiertem Lichte getroffen wird als die
Netzhaut der Normalen. Es erscheint also in der That nicht
gut möglich, die thatsächliche Leistungsfähigkeit des albino-
tischen Auges mit der Annahme in Einklang zu bringen, dafs
die Ernährung des Sehepitheles von der Pigmentwanderung
wesentlich abhängig sei. Hingegen erklärt sich die Lichtscheu
der Albinos und der umstand, dafs ihr Sehorgan schon bei
einer für das normale Auge noch gut erträglichen Andauer
oder Stärke der Beleuchtung nachteilig affiziert wird, in voll-
kommen befriedigender Weise, wenn man bedenkt, dafs die
Netzhaut der Albinos nicht blofs wegen des soeben erwähnten
374 G^ E. Müüer.
Fehlens oder ünziüängUohseins des Iris- und des Chorioidea-
pigmentes unter gleichen Verhältnissen stärker gereizt wird
als die Netzhaut des normalen Auges, sondern auch deshalb,
weil ihr das Pigment des Pigmentepitheles und der in der
Wanderung dieses Pigmentes bestehende Anpassungsvorgang
fehlt. Wenn nach den Beobachtungen von A. Eugen Fick
(Arch. f. OpJUhaJm. 37. 2. S. 11 ff.) die mittleren und unteren
Teile der Fröschnetzhaut reicher mit Fuscin ausgestattet sind
und eine stärkere Neigung zur Innenstellung dieses Pigmentes
zeigen als die oberen Teile, so begreift sich dies nach der hier
vertretenen Ansicht unschwer daraus, dafs jene Teile der Netz-
haut der Einwirkung starken Lichtes mehr ausgesetzt sind als
diese. ^ Die von demselben Forscher (a. a. 0. S. 8 ff.) gefundene
Thatsache femer, dafs „nach kurzer Belichtung die Innen-
steUung im Dunkeln sich weiter, bezw. überhaupt erst ent-
wickelt^, scheint uns nicht im mindesten gegen die hier ver-
tretene Ansicht von der Bedeutung der Pigmentwanderung zu
sprechen. Denn wenn ein retinaler Anpassungsvorgang von
der Dauer der Beleuchtung abhängig sein soll, so dals er sich
um so mehr entwickelt, je länger eine stärkere Beleuchtung an-
dauert, so muTs der jeweilig vorhandene Entwickelungsgrad
des Vorganges eine Funktion nicht blofs der vorhandenen,
sondern auch der vorausgegangenen Beleuchtungen sein. Nur
dadurch, dafs sich die Nachwirkungen der vorausgegangenen
Beleuchtungen mit der Wirkung der vorhandenen Beleuchtung
summieren, ist es möglich, dafs sich der Vorgang (bis zu einer
gewissen Grenze) um so mehr entwickelt, je länger eine Be-
leuchtung andauert. Die von A. Eugen Fick gefundene That-
sache, dafs eine Belichtung der Netzhaut in Beziehung auf die
Pigmentstellung noch in dem der Belichtung nachfolgenden
Zeitabschnitte nachwirkt, ist also ganz einfach eine notwendige
Bedingung dafür, dafs die Pigmentstellung von der Zeitdauer
der Belichtung abhängig sei. Zum Schlüsse mag hier noch
daran erinnert werden, dafs nach den üntersuchimgen Exnebs
^ Wenn femer nach demselben Forscher bei behinderter Atmung
des Frosches regelmäfsig stärkste Innenstellung des Pigmentes eintritt,
so ist dies oflPenbar einfach dahin zu deuten, dafs sich der Organismus
bei behinderter Atmung gegen jeden durch Licht, sei es direkt oder
indirekt, bewirkbaren Verbrauch von Sauerstoff möglichst zu schützen
sucht.
Zur Paychophysik der Gesichtaempfindungen. 375
gewissen Pigmentversoliiebungen, die in 2susammengesetzten
Angen bei Lichteinwirknng stattfinden und im Donkehi rück*
gängig werden, eine ganz ähnliche Bedeutung zukommt, als
wir hier der phototropen Beaktion des Pigmentepitheles zu-
geschrieben haben. ^
Wir kommen nun zu einem zweiten retinalen Anpassungs-
vorgange. Nach den Beobachtungen von Ewald und Kühne
und den genauen Messungen von von Hornbostel [Heiddh. Unters.
1. S. 409 ff.) bewirkt Licht „eine sehr auffSälligß Veränderung
an der Form der Stäbchen, welche sich kurz dahin zusammen-
fassen läfst, dafs kräftige Belichtung von genügender Dauer sie
verdickt, quellen macht, Dunkelheit sie wieder zum Schrumpfen
bringt und im Querdurchmesser sie wieder verkleinert^. Wie
eine Yolumenzunahme eines Stäbchens auf die Stärke eines in
demselben hervorzurufenden Netzhautprozesses, z. B. TT-Pro-
zesses, wirken mufs, läfst sich an der Hand unserer Formel (2)
auf S. 340 leicht erkennen. Die G-esamtstärke eines in einem
Stäbchen sich abspielenden TK-Prozesses (die Gesamtzahl der
in demselben stattfindenden TT-Beaktionen) ist offenbar gleich
i; X Z» zu setzen, wo v das Volumen des Stäbchens oder viel-
mehr des in Betracht kommenden Abschnittes desselben (AuGsen-
gliedes) und /« dem früheren entsprechend die in dem Stäbchen
bestehende Geschwindigkeit des TT-Prozesses bedeutet. Setzt
man nun in dem Produkt vxl» für I„, den auf der rechten
Seite der Gleichung (2) auf S. 340 stehenden Ausdruck ein, so
zeigt sich, dafs die Gesamtstärke des in einem Stäbchen statt-
findenden TT-Prozesses bei gleichem Werte der Geschwindigkeits-
konstanten K^ und bei gleichem Gehalte des Stäbchens an
TT-Material sich umgekehrt verhält wie der Wert t;«+P+Y...-i.
Ist also die TT-Beaktion eine unimolekulare Beaktion, mithin
«r==l, hingegen ft:=y ...= 0 zu setzen, so wird die Gesamt-
stärke des FF-Prozesses von einer Volumenänderung (Quellung.
oder Schrumpfung) des betreffenden Stäbchens nicht berührt.'
Sind aber zwei oder mehr Moleküle an einer TT-Beaktion
beteiligt, ist also a -\- ft -{- y . . .> l^ so nimmt die Zahl der
^ Man vergleiclie S. Exneb in Wien, Ber. 98. 1889. 3. Abtl. S. 143 ff.,
S. FüCHs, diese Zeitechr. 4. 1893. S. 360.
' Abgesehen ist hier von den wegen ihrer G-eringfügigkeit zu yer«
nachlässigenden, rein physikalischen (die Liohtabsorption u. dergl. be-
treffenden) Wirkungen, welche eine Volumenänderung eines Stäbchens hat.
376 G. E. Müller.
TF-Beaktionen, die sich in einem Stäbchen bei gleichem Werte
von K^ und gleichem Gehalte an TF-Material vollziehen, bei
einer Yolumenzunahme des Stäbchens ab, und zwar mnfs^ falls
die TT-Beaktion einigermafsen komplizierter Art ist^ einer nur
geringen Yolumenzunahme des Stäbchens schon eine sehr be-
deutende Abnahme der Stärke des TT-Prozesses entsprechen.*
Ebenso wie die Umwandlung von TP^Material in 5-Material
mufs auch die Umwandlung von ^^-Material in TV-Material
durch eine Yolumenzunahme der Stäbchen verlangsamt werden,
falls es sich dabei um eine Reaktion handelt, an der zwei oder
mehr Moleküle beteiligt sind. Nun mufs die Gesamtstärke des
TT-Prozesses, der einem gegebenen Lichtreize in einem Stäbchen
entspricht, durch eine Yolumenzunahme des letzteren sowohl
dann beeinträchtigt werden, wenn durch letztere die Ge-
schwindigkeit verringert wird, mit welcher sich das ^-Material
unter dem Einflüsse des Lichtes in TF-Material umwandelt, als
auch dann, wenn durch die Yolumenzunahme des Stäbchens
direkt die Geschwindigkeit vermindert wird, mit welcher die
Unwandlung von TF-Material in Ä-Material vor sich geht. Es
ist aber äuiserst unwahrscheinlich, dafs beide soeben erwähnte
ümwandlungsvorgänge unimolekulare Beaktionen seien und
mithin durch eine Yolumenänderung des Stäbchens nicht berührt
werden. Es dürfte sehr schwer fallen, einen die Erscheinungen
der photochemischen Induktion darbietenden photochemischen
Prozefs ausfindig zu machen, der aus zwei unmittelbar auf-
einanderfolgenden unimolekularen Beaktionen (Zersetzung und
nochmaliger Zersetzung der einen Art von Zersetzungsprodukten)
besteht. Folglich erscheint die Annahme gegeben^ dafs die
Yolumenzunahme eines Stäbchens mit einer Abnahme der
Gesamtstärke des TF-Prozesses (oder etwaigen sonstigen Netzhaut-
prozesses) verbunden ist, der einem gegebenen Lichtreize in
^ Das Entsprechende gilt natürlich von dem ^S-Prozesse. Der Einflufs,
den bei gegebenem Lichtreize eine Volumenzunahme des Stäbchens auf
die Differenz zwischen der Stärke des TT-Prozesses und derjenigen des
iS-Prozesses ausübt, bestimmt sich des näheren nach den Kompliziertheits-
graden der in Betracht kommenden chemischen Reaktionen (Umwandlung
von ^-Material in Tl^-Material, von TT-Material in iS-Material und um-
gekehrt). Wir halten es für überflüssig, die aus unseren früheren
Formeln leicht ableitbaren Folgen einer Volumenänderung der Stäbchen
hier sämtlich zu erwähnen.
Ziwr Psychophiysik der Gesiditsempfindungen, 377
dem Stäbchen entspricht, dafs also die bei zunehmender Be«
leuchtungsstärke eintretende Anschwellung der Stäbchen dazu
dient, bei starker Beleuchtung einen zu reichlichen Verbrauch
der Sehstoffe in den Stäbchen zu verhindern, und in ent-
sprechender Weise die bei herabgesetzter Beleuchtuug vor sich
gehende Schmmpfung der Stäbchen dazu dient, die Beizbarkeit
der Stäbchen gegenüber einwirkendem Lichte zu erhöhen.
Es fragt sich nun, wie der in einer Änderung des Quellungs-
grades der Stäbchen bestehende retinale Anpassungsvorgang
zu Stande kommt. Welcher Stoff läfst bei einwirkendem
starken Lichte durch seine Zersetzung und die osmotische
Wirkung der Produkte dieser Zersetzung die Stäbchen an-
schwellen? Man wird nicht geneigt sein, diese Funktion einem
Sehstoffe zuzuschreiben; denn es empfiehlt sich nicht, an-
zunehmen, dafs die Stäbchen einen Sehstoff enthalten, der sich
nicht auch in den Zapfen vorfinde, deren Aufsenglieder nach
dem zur Zeit vorliegenden bei Einwirkung starken Lichtes eine
Anschwellung nicht erfahren. Wir werden vielmehr diese
Funktion einem solchen Stoffe zuschreiben, den wir Anlafs
haben, nicht für einen Sehstoff anzusehen, und der aufserdem
die Eigentümlichkeit besitzt, zwar in den Stäbchen, nicht aber
auch in den Zapfen vorzukommen. Ein solcher Stoff ist der
Sehpurpur, der sich bekanntlich nur in den Aufsengliedern
der Stäbchen, nicht aber auch der Zapfen vorfindet, und hin-
sichtlich dessen aus verschiedenen Gründen zu schliefsen ist,
dafs er nicht als Sehstoff fungiert.
Zunächst ist in dieser Beziehung Folgendes anzuführen.
Wie Kühne (Heiddb, Unters. 2. S. 51 f.) gelegentlich hervorhebt,
ist vom Sehpurpur „die vollkommene Unabhängigkeit sowohl
des Bestandes, wie der Zersetzung durch Licht, von allen sog.
Lebensbedingungen, ja in gewissem Grade und innerhalb der
hier (d. h. bei Versuchen über Druckblindheit) in Betracht
kommenden kurzen Zeit sogar die Degeneration ohne Blut-
zufuhr zum Betinaepithel beim Säuger nachgewiesen. Ich
habe mich auch zum Überflüsse überzeugt, dafs der Sehpurpur
im Auge lebender Kaninchen durch Druck ohne Licht in
längerer Zeit nicht schwindet, und selbst bei Beleuchtungen
von der Intensität und Dauer, wie ich sie zu den Druck-
versuchen an meinem Auge benutzte, keine Veränderung
erkennen läfst". Es verhält sich also der Sehpurpur bei Druck
378 ^- -E' Müller.
auf den Angapfel nnd überhaupt hinsichtUoh seiner Abhängig-
keit vom Blntstrome ganz anders, als die Sehstoffe, ^ was allein
genügt, die Vermutung, der Sehpurpur sei ein Sehstoff, zu
einer unannehmbaren zu machen.
Diese Vermutung wird nun zweitens nicht empfehlens-
werter durch die Thatsache, dafs sich der Sehpurpur that-
sächlich nicht in allen Stäbchen vorfindet.' Ist der Sehpurpur
ein Stoff, auf dessen Zersetzung die Einwirkungen der Stäbchen
auf den Sehnerven oder wenigstens eine gewisse Art dieser
Einwirkungen beruhen, so erscheint die Thatsache, dafs der
Sehpurpur in den Stäbchen mancher Tierarten ganz fehlt,
mindestens befremdend. Hingegen erscheint diese Thatsache
leicht begreiflich, wenn man dem Sehpurpur nur die Bolle zu-
schreibt, als Vermittler eines retinalen Anpassungsvorganges
zu dienen. Dexm der Wegfall eines solchen Vorganges kann
durch eine vollkommenere Entwickelung der übrigen Ein-
richtungen, welche der sog. Adaptation des Auges an
die verschiedenen Helligkeiten dienen, sowie durch eine
bestimmte Art der Lebensbedingungen oder Lebensführung
leicht ausgeglichen werden. Wenn z. B. auch bei solchen
Tierarten, deren Stäbchen im allgemeinen purpurhaltig sind,
die im Umkreise der Ora serrata befindlichen Stäbchen des
Sehpurpurs ganz entbehren, so versteht sich dies unschwer
daraus, dafs letztere Stäbchen aus leicht ersichtlichem Grunde
überhaupt nur die Einwirkung schwacher Lichtreizungen er-
fahren und mithin der auf dem Sehpurpur beruhenden An-
passungseinrichtung gar nicht bedürfen.'
Endlich drittens ist hier noch daran zu erinnern, dafs das
thatsächliche Verhalten des Sehpurpurs nicht ssu demjenigen
stimmt, was die Erscheinungen des simultanen Kontrastes und
der simultanen und successiven Lichtinduktion über das Verhalten
der Sehstoffe lehren, falls man von der (z. B. auch von Ebbimohaus
^ Man beachte den von Exnbb in Pflüg er 8 ArcK 20. 1879. S. 826
geltend gemachten Versuch, der uns durchaus zu beweisen scheint, dals
bei der Druckblindheit eine Erschöpfung der Sehstoffe eintritt
' Man vergleiche Kühne in Reidelb. Unters. 1. S. 28 f. und 4. S. 282 f.,
sowie in Hermanns Handb. d. PkysioL 3. 1. S. 829.
' Es ist hervorzuheben, dafs sich die die Anschwellung der Stäbchen
bei Lichteinwirkung betreffenden Angaben von von Hobkbobtbl nur auf
die Stäbchen „des Centrum retinae^ beziehen.
Zur Psychophysik der C^eakhtaempfindungen. 879
geteilten) Annahme ausgeht^ daXs die soeben erwähnten Er-
scheinungen peripherischen ürspranges seien. Wäre der Seh-
pnrpnr ein Sehstoff, so müTste diesen Erscheinungen ent-
sprechend eine in einer begrenzten Netzhautstelle durch Licht
angeregte Zersetzung des Sehpurpurs auf das Verhalten des
in den benachbarten Netzhautstellen befindlichen Sehpurpurs
einen deutlich erkennbaren Einflufs ausüben. Falls z. B. die
Zersetzung des Sehpurpurs den in den Stäbchen sich ab-
1 spielenden TT-Prozefs darstellte, so müfste in dem Falle, wo
I sich ein auf einem weifsen Grunde befindliches schwarzes Feld
geraume Zeit hindurch auf einer stäbchenhaltigen Netzhaut-
stelle abbildet, in dem dem schwarzen Felde entsprechenden
Netzhautbezirke zunächst eine Erschwerung der Zersetzung
des Sehpurpurs imd eine Förderung der Neubildung oder
I Begeneration^ desselben eintreten (entsprechend dem Stadium,
wo das schwarze Feld durch sog. Kontrastwirkung ver-
dunkelt ist). Hierauf müfste nach kurzer Zeit ein Stadium
folgen, wo (entsprechend der Aufhellung jenes Feldes durch
die simultane Lichtinduktion) in ebendemselben Netzhautbezirke
eine merkbare Zersetzung von Sehpurpur stattfindet, eine Zer-
setzung, die sehr bald dieselbe Lebhaftigkeit besitzt, mit welcher
die Sehpurpurzersetzung in den dem wei(sen Ghrunde ent-
sprechenden Netzhautteilen stattfindet. In dem Momente end-
lich, wo das Auge der Lichteinwirkung entzogen wird, müfste
(der successiven Lichtinduktion entsprechend) in dem dem
schwarzen Felde entsprechenden Netzhautbezirke eine erheb-
liche Steigerung der bereits vorhandenen Sehpurpurzersetzung
eintreten — und es ist nicht abzusehen, wie es möglich sein
sollte, mittelst des Sehpurpurs ein Optogramm auf der Netz-
haut zu erhalten, das uns die Form des schwarzen Feldes
^ Genau genommeD, müfste der durch den Kontrast* bewirkten Ver-
dunkelung des schwarzen Feldes eine Förderung der Büokbildung
der Zersetzungsprodukte des Sehpurpurs entsprechen. Eine Kückbildung
letzterer Zersetzungsprodukte, wie eine solche auch zur Erklärung des
negativen Nachbildes anzunehmen sein würde, ist aber überhaupt bisher
nicht konstatiert ! Denn die anagenetische Begeneration des Sehpurpurs
ist nicht eine einfache Bückbildung von Zersetzungsprodukten, sondern
ein Vorgang, bei welchem zur Herstellung von Sehpurpur aalser ge-
wissen Zersetzungsprodukten desselben auch noch solche Stoffe ver-
wandt werden, die von dem Pigmentepithele her geliefert werden
(EüHNB in Hermann» Handb. d. Physiol. 3. 1. S. 317 ff.).
380 G. E. Müller.
deutlich wiedererkennen läfst ! Allgemeiner ansgedrückt, wäre
der Sehpurpur ein Sehstoff, so würde es wegen der Wechsel-
wirkung, in welcher die Sehstoffe benachbarter Netzhautstellen
zu einander stehen, nicht möglich sein, durch die Einwirkung
des Lichtes auf den Sehpurpur Optogramme zu erhalten, die
uns die Formen und Konturen der Gesichtsobjekte so deutlich
wiedergeben, wie dies durch die in geeigneter Weise her-
gestellten Optogramme thatsächlich geschieht.
Wir kommen also zu dem Besultate, dafs der Sehpurpur
nicht ein Sehstoff, sondern ein solcher Stoff
(Adaptationsstoff) ist, welcher der Adaptation des
Auges dient, indem er den Quellungsgrad der
Aufsenglieder^ der Stäbchen von der Stärke und
Dauer der Beleuchtung abhängig macht. Diese Auf-
fassung steht in einem bemerkenswerten Einklänge zu der
Thatsache, dafs nach den Beobachtungen von von Hornbostbl
erstens gründlich besonnte Frösche den kleinen Stäbchendurch-
messer der Dunkelfrösche nicht eher wieder zeigen, als bis der
Sehpurpur vollständig regeneriert ist, und zweitens in einer
Netzhaut, welche lange unter rotem Lichte gehalten worden
ist , eine Zunahme des Stäbchenquerschnittes nur dann
bemerkbar ist, wenn durch das rote Licht eine Bleichung des
Sehpurpurs erzielt worden ist. Ob schon das unmittelbare Zer^
Setzungsprodukt des Sehpurpurs, das Sehgelb, oder erst das
mittelbare Zersetzungsprodukt desselben, das Sehweifs, auf das
Volumen der Stäbchen verändernd einwirkt, kann hier dahin-
gestellt bleiben.
Wenn also wirklich, wie neuerdings geltend gemacht worden
ist, die Stäbchen einen Apparat darstellen, der durch seine
Fähigkeit zur Adaptation an geringe Helligkeiten zum Sehen
bei schwacher Beleuchtung besonders dienlich ist, so dürfte
dies, wenigstens zu einem Teile, darauf beruhen, dafs den
Stäbchen in dem Sehpurpur und dem Einflüsse, den der Zer-
setzungsgrad desselben auf das Stäbchenvolumen ausübt, eine
Einrichtung gegeben ist, mittelst deren sie die in ihnen an-
gehäuften Sehstoffe bei starker Beleuchtung vor einer reich-
* Die erwähnten Beobachtungen von von Hornbostbl ergeben nur,
dafs bei Belichtung die AuTsenglieder der Stabchen (in denen sich
bekanntlich der Sehpurpur befindet) anschwellen. Über das Verhalten
der Innenglieder geben diese Beobachtungen keine Auskunft.
2hir Psychophysik der Cfesichtaen^findungen. 381
lieberen Inanspruchnahine durch das Licht bewahren, bei
schwacher Beleuchtung hingegen dem Einflüsse des Lichtes
zugänglicher machen können.^ Der hier angedeuteten Aufgabe
wird natürlich der Sehpurpur noch besser genügen, wenn er
zugleich als ein Sensibilisator für in den Stäbchen vorhandene
Sehstoffe dient. Denn alsdann wird er bei andauernder starker
Beleuchtung entsprechend der Herabsetzung, welche seine Menge
erfahren hat, seine sensibüisatorische Wirkung verhältnismäisig
weit schwächer entfalten als bei schwacher Beleuchtung, wo
er in reicher Menge in den Stäbchen vorhanden ist. Wir
kommen auf diesen Punkt weiterhin (§ 26) näher zu sprechen.
Dafs es neben den beiden im Vorstehenden erörterten
Anpassimgseinrichtungen nicht noch andere Einrichtungen
gleichen Zweckes in der Retina gebe, wird hier keineswegs
behauptet. Welche Bedeutung die bei Lichteinwirkung ein-
tretende, anscheinend ohne eine Yolumenänderung vor sich
gehende Kontraktion der Zapfenmyoide besitze,' kssen wir
indessen hier dahingestellt. Wir gehen dazu über, nun zum
Schlüsse noch kurz anzudeuten, in welchen Beziehungen die
psychophysisehe Betrachtung der Gesichtsempflndungen das
Stattfinden der retinalen Anpassungsvorgänge wohl zu berück-
sichtigen hat.
^ Weim die Zapfen des gelben Fleckes durch das vorgelagerte
gelbe Pigment einen gewissen Schutz gegen starkes Licht besitzen, so
scheint dies als ein gewisser, allerdings nur sehr unvollkommener,
Ersatz für dasjenige angesehen werden zu müssen, was den Stäbchen der
Netzhautperipherie in dem Sehpurpur verliehen ist. — Über die Stärke
des Einflusses, den die Änderungen des Stächenvolumens auf die Stäbchen-
reizbarkeit ausüben, läfst sich zur Zeit nicht sicher urteilen, weil wir
erstens die Kompliziertheit der in Betracht kommenden chemischen
Beaktionen nicht kennen, und weil es zweitens nicht auf die direkt zur
Beobachtung kommende Yolumenänderung des gesamten Stäbchenaulsen-
gliedes ankommt, sondern auf die Yolumenänderung, welche die die Seh-
stoffe des Stäbchens enthaltende Lösung erfährt. Letztere Yolumen-
änderung kann weit grOfser sein als erstere.
* Die Abhandlung von van Gekderen Stobt {Ärch. f. Ophthäbn. 33. 8.
S. 229 ff.), die hinsichtlich des Yerhaltens der Stäbchen bei Liohteinwirkung
nur unabgeschlossenes bietet, sowie die daran sich ansohliefsenden Mit-
teilungen von Enoelmann {Congrhs d, sc. med,, Copenhagen. 1884. I;
Pflügera Arch. 35. 1885. S. 498 ff.) lassen eine Berücksichtigung, ja
auch nur Erwähnung der von den oben genannten Forschem gegebenen
lütteilungen über Stäbchenanschwellung bei Lichteinwirkung stark ver-
missen.
382 G,E Mütter.
In erster Linie kommen diese Vorgänge bei allen sog.
Adaptationserscheinungen des Sehorganes in Betracht. Wenn
sich das Auge einer gegebenen Beleuchtung adaptiert, so
besteht diese Adaptation nicht hloia darin, dafs die Pupille
ihre Weite verändert und die lichtempfindliche Netzhautschicht
in der früher (S. 364 f.) erörterten Weise dem Zustande des
stofflichen Gleichgewichtes zustrebt, sondern vor allem auch
in dem Stattfinden der retinalen Anpassungsvorgänge. Hierbei
ist zu beachten, dafs bei einer Lichteinwirkung, die nur einen
beschränkten Teil der Netzhaut trifft, auch die retinalen An-
passungsvorgänge nur auf diesen Netzhautteil beschränkt sind,^
während eine Veränderung der Weite der Pupille (und der
Lidspalte) immer alle Teile der Netzhaut zugleich betrifft.
Femer hat man bei allen Erscheinungen, die sich zunächst
als Ermüdungserscheinungen darstellen, damit zu rechnen, dafs
die retinalen Anpassungsvorgänge nach Aufhören der betreffenden
Lichtreizung nur allmählich rückgängig werden. Hat Licht
irgendwelcher Art längere Zeit hindurch auf eine Netzhautstelle
gewirkt, so wird auch nach Entfernung dieses Lichtes die
durch die retinalen Anpassungsvorgänge gesetzte Minder-
empfanglichkeit der betreffenden Netzhautstelle noch geraume
Zeit hindurch, wenn auch in aUmählich abnehmendem Mause,
fortdauern, und diese Minderempfanglichkeit wird nicht blofs
gegenüber einer erneuten Einwirkung desselben Lichtes, sondern
auch gegenüber der Einwirkung jedes beliebigen anders-
beschaffenen Lichtes bestehen, allerdings in einem von der
Wellenlänge oder Zusammensetzung des Lichtes nicht ganz
unabhängigen G-rade. Denn z. B. eine durch weifses Licht
bewirkte Pigmentverschiebung mufs die Empfanglichkeit nicht
blofs für weifses, sondern auch für jedes beliebige andere Licht
verringern. Hieraus erklären sich gewisse Beobachtungen von
VON Kbies ( Über den Einfluß der Adaptation auf Ltcht- und Farben*
empfindungen. S. 4 f.), nach denen eine längere Einwirkung von
weifsem Lichte nicht blofs für dieses, sondern auch für belie-
biges farbiges Licht eine verminderte Empfanglichkeit hinterlftlst.
Bekanntlich hat ENOELBfANN auf Grund von Beobachtungen
^ Das Entsprechende gilt, wie Exker (Wien. Ber. 98. 1889. 3. Abt.
S. 150) hervorgehoben hat, von den Pigxnentverschiebungen, die bei
Lichteinwirkung im Insektenauge eintreten.
Zwr Psychophysik der Gtakihtsempfindungen, 383
den Satz aufgestellt,^ dafs die phototrope Epithelreaktion tmd
die Kontraktion der Zapfenmyoide (beim Frosch) auoh bei
Seiznng des anderen Auges eintrete. In der That ist es eine
nicht unwichtige Frage, ob die retinalen Anpassungsvorgänge
des einen Auges von dem Zustande des anderen Auges mit
abhängig sind, etwa durch eine gleichzeitige Beizung des
letzteren merkbar an Ausgiebigkeit gewinnen. Ist letzteres der
Fall, so hat man auch bei Erörterung von mancherlei die
Wechselwirkung der beiden Sehorgane betreffenden Erscheinungen
(z. B. von Fbchnebs paradoxem Versuche) neben den anderen
in Betracht kommenden Faktoren das Verhalten der retinalen
Anpassungsvorgänge nicht ganz aufser Auge zu lassen.
Wir dürften das Ergebnis hier im G-ange befindlicher Unter-
suchungen antizipieren, wenn wir endlich noch darauf hinweisen,
dafs ein Teil der retinalen Anpassungsvorgänge (z. B. die
Pigmentwanderung) die indirekten Beizungen der betreffenden
Netzhautbezirke natürlich nicht ebenso beeinflufst, wie die direkten
Beizungen, und hierdurch Anlafs zu einer Beihe interessanter
Erscheinungen giebt.
§ 24. Ableitung des TALBOTschen G-esetzes und eines
verwandten Satzes.
Dafs sich eine psychophysische Gesetzmäfsigkeit unserer
Gesichtsempfindungen ganz glatt auf eine physikalisch-chemische
G-esetzmäfsigkeit der Netzhautprozesse ziurückfiihren lasse, ist
nach dem bisherigen nur dann zu erwarten, wenn die erstere
Gesetzmäfsigkeit unter Bedingungen zu Tage tritt, wo sich
die indirekten Beizungen, die nutritiven Prozesse und die
retinalen Anpassungsvorgänge merkbar konstant verhalten, mithin
die physikalisch-chemische Gesetzmäfsigkeit der Netzhautprozesse
durch ein Eingreifen letzterer drei Faktoren nicht verdeckt
werden kann. Dies ist z. B. der Fall, wenn wir eine aus einem
weifsen und einem (als ganz lichtlos zu betrachtenden) schwarzen
Sektor bestehende, sehr schnell rotierende Scheibe, deren weiTser
Sektor die Lichtstärke i und eine Winkelbreite von a Graden
^ Man vergleicbe die beiden in der Anmerkung 2 auf S. 381 angeführten
Abbandlungen von HvQjsutAJsnf, sowie Beiträge z, Peychol u. Fhysiol. der
Smnesorgane, Festechrift f. Heimholte. S. 197 ß. Widersprechen hat der
Behauptung Ekoblmajtns, soweit sie die Pigmentwanderung betrifft,
A. EüosN FiCK im Ärch. f. Ophthalm. 37. 2. S. 1 ff.
384 6?. E. MuOer.
besitzt, mit einer anderen derartigen Scheibe von gleicli schneller
Ilotation vergleichen, deren weifser Sektor die Lichtstärke ni
und die "Winkelbreite — besitzt, wo « > oder < 1 ist. In diesem
n
Falle gilt bekanntlich der TALBOTsche Satz ; die beiden Scheiben
erscheinen uns gleich hell. Der TALBOTsche Satz kann in
diesem und allen anderen Fällen seiner Gültigkeit unmöglich
auf einer besonderen Wirksamkeit der indirekten Reizungen,
der nutritiven Prozesse oder der retinalen Anpassungsvorgänge
beruhen. Diese Faktoren sind vielmehr für schnell rotierende
Scheiben, die uns bei gleichen Bedingungen der Beobachtung
trotz der verschiedenen Winkelbreiten und Helligkeiten ihrer
weifsen, grauen od er schwarzen Sektoren gleich hell erscheinen, als
gleich anzusetzen. Mithin mufs sich, wenn unsere Behandlungs weise
dieser Gegenstände richtig ist, die Gültigkeit des TALBOTschen
Satzes auf ein einfaches physikalisch-chemisches Gesetz zurück-
führen lassen. Dies ist in der That der Fall.
Wir knüpfen an das soeben angeführte Beispiel zweier
gleich schnell rotierender, aus einem weifsen und einem licht-
losen Sektor bestehender Scheiben an. Der weüse Sektor der
einen Scheibe besitze die Lichtstärke i und die Winkelbreite a.
Der weifse Sektor der anderen Scheibe besitze die Lichtstärke
n i. Und es soll nun die Frage beantwortet werden, welche
Winkelbreite derselbe erhalten mufs, damit beide Scheiben
gleich hell erscheinen.
Nach unseren früheren Ausführungen haben wir anzunehmen,
dafs beide Scheiben gleich hell erscheinen, wenn die von beiden
Scheiben ausgehenden Lichtstrahlen in den betroffenen Netz-
hautstellen während jeder Botation der Scheiben die gleiche
Menge von ^-Material in TF-Material umwandeln. Nun ist
durch zahlreiche Beobachtungen festgestellt,^ dafs Licht be-
stimmter Art, wenn es während der Zeit t mit der Intensität i
einwirkt, von einer gegebenen lichtempfindlichen Substanz die
gleiche Menge chemisch verändert, wie dann, wenn es während
der Zeit — mit der Intensität «.♦ einwirkt, wo n > oder < 1 sein
^ Obtwalü, a. a. 0. S. 1046 ff.; Nbrnst, a. a. 0. S. 678;ff.; Eder, a. a.
O. I. 1. S. 290 f. und II. S. 25 f., wo auch die gelegentlioli zur Beob-
achtung kommenden Abweichungen von ] dieser sog. photographischen
Reoiprocitätsregel näher behandelt sind.
Zinr Psycfiophyaik der Gesichtaempfindungen. 385
kann. Folglioh wird bei einer Botaüon beider Scheiben durch
den weüsen Sektor von der Lichtstärke i und der Winkel-
breite a die gleiche Menge von j^-Material in TF-Material um-
gewandelt werden wie durch den weifsen Sektor von der
Lichtstärke n.i, wenn sich bei einer Botation die Zeit, während
welcher der letztere Sektor auf eine Netzhautstelle wirkt, zu
der entsprechenden Einwirkungszeit des ersteren Sektors verhält
wie 1 : n, d. h. es muijs das Produkt von Winkelbreite und
Lichtstärke des weifsen Sektors für beide Scheiben gleich sein,
wenn sie gleich hell erscheinen sollen.
Es dürfte nicht nötig sein, den Nachweis, dafs das Talbot-
sehe Gesetz aus dem oben angeführten photochemischen Grund-
gesetze in einfacher Weise ableitbar sei, noch in gröfserer
Allgemeinheit (Bezugnahme auf die thatsächliche Lichtaus-
strahlung schwarzer Sektoren, Annahme einer Mehrzahl weifser
und schwarzerSektoren, ver^chiedenerBotationsgeschwindigkeiten
der Scheiben u. dergl. m.) zu führen. Erscheinen uns Scheiben
von gleicher Botationsgesch windigkeit, aber verschiedener
Winkelbreite und Lichtstärke ihrer Sektoren gleich hell, so
sind natürlich die Auf- und Abschwankungen, welche das TT-
Material und die Stärke des >F-Prozesses während der Dauer
•einer Botation erfährt, für die verschiedenen Scheiben von
verschiedener Steilheit und Höhe. Diese Auf- und Ab-
schwankungen und ihre Verschiedenheiten entziehen sich aber
infolge der ünvoUkommenheit unseres in Betracht kommenden
Unterscheidungsvermögens unserer Wahrnehmung. Auf eine
kritische Erörterung der Betrachtungen, die bisher, namentlich
von A. FiOK, an das TALBOTsche Gesetz angeknüpft worden
sind, müssen wir der Baumersparnis halber verzichten. —
Wir nehmen an, dafs weifse Lichter von verschiedener
Litensität, welche gleich grofse Netzhautstellen von gleicher
Erregbarkeit treffen, hinsichtlich ihrer sehr kleinen (d. h. nur
geringe Bruchteile der zur Erzielung der maximalen Beizwirkung
erforderlichen Zeiten darstellenden) Wirkungszeiten so bemessen
sind, dai^ die Produkte aus Lichtstärke und Wirkungszeit einen
und denselben Wert besitzen. Alsdann werden diese ver-
schiedenen Lichtintensitäten nach dem obigen photochemischen
Grundgesetze am Schlüsse ihrer Wirkungszeiten gleiche Mengen
von iV-Material in TT-Material umgewandelt haben. Es wird
Also alsdann allen Lichtintensitäten bei Aufhören ihrer Ein-
Zeitoehrift für Pijehtlogie X. 25
386 G. E. Müller.
Wirkung auf die Netzhaut die gleiche Menge vorhandenen W-
Materials,^ derselbe Wert der Differenz J» — 7« und derselbe
Verlauf des positiven Nachbildes entsprechen, und da nun die
Empfindungen sehr kurzdauernder Liohtreize uns gleich err
scheinen, wenn sie in dem der Beizbeendigung folgenden Stadium
(als positive Nachbilder) einen merkbar gleichen Verlauf nehm^i
— denn das Verhalten der Empfindungen während des Stadiums
ihres Anklingens entzieht sich unserer inneren Wahrnehmung ^^,
80 folgt, dafs infolge der Gültigkeit des oben erwähnten photd-
chemischen Grundgesetzes Empfindungen, welche von kurz-
dauernden, gleichartigen Lichtreizen verschiedener Stärke hervor-
gerufen werden, einander gleich erscheinen müssen, wenn das
Produkt aus Lichtstärke und Wirkungszeit konstant ist. Diesem
Satz kann sich aber, wie bereits angedeutet, nur bis zu gewissen
Grenzen hin als merkbar gültig erweisen. Werden die Wirkungs-
zeiten der Lichtreize gröfser, so macht sich die Wirksamkeit
der nutritiven Prozesse und der retinalen Anpassungsvorgänge
merkbar. Die nutritiven Vorgänge, welche Zeit zu ihrer vollen
Entwickelung bedürfen, werden sich vermutlich während der
Einwirkung eines Reizes, welcher stärker ist, als ein anderer
gleichartiger Beiz, dessen Wirkungszeit aber in entsprechendem
Verhältnisse kürzer ist, als die Wirkungszeit dieses schwächeren
Reizes, weniger geltend machen, als während der längeren
Einwirkungszeit dieses schwächeren Reizes, und von den
retinalen Anpassungsvorgängen ist mit Sicherheit zu behaupten,
dafs sie die Wirkungsfähigkeit des stärkeren Reizes mehr
^ Die Menge von TT-Material, die im Momente der Beendigung eines
Beizes vorhanden ist, bestimmt sich allerdings nicht blofs nach dem
Quantum von ^-Material, das während der Beizeinwirkung in TT-Material
verwandelt worden ist, sondern auch noch nach dem Quantum von W-
Material, das während derselben Zeit in /S^Material umgewandelt worden
ist. Wie sich indessen näher zeigen läfst, ist ftb: verschiedene weifse
Lichter, für welche das Produkt aus Wirkungszeit und Lichtstärke
konstant ist und mithin das erstere hier genannte Quantum den gleichen
Wert besitzt, auch das zweitgenannte Quantum (der Verlust, den das
TT-Material während der Beizeinwirkung durch die Umwandlung in S--
Material erleidet) merkbar konstant, falls nur die Wirkungszeiten
sämtlicher Lichter hinlänglich kurz genommen werden. Um Weit-
läufigkeiten zu vermeiden, mufsten wir im Obigen (sowie auch bei der
Ableitung des TALBOxschen Satzes) auf eine in alle Details gehende
mathematisch gehaltene Entwickelung verzichten und uns auf eine
Hervorhebung der wichtigsten Punkte beschränken.
Zuar I^chophysik der Geskhtsempfinduhgen. 387
beeinträohtigeiiy als diejenige des schwächeren Beizes. Mithin
steht zn vermuten, dafs, wenn man die Wirknngszeiten der
hinsichtlich ihrer Intensität verschiedenen Beize nicht mehr
sehr klein nimmt, behufs Erzielung gleich erscheinender Em-
pfindungen die Wirkungszeiten der Beize so bemessen sein
müssen, dafs das Produkt aus Lichtstärke und Wirkungszeit
um so gröfser ist, je intensiver der Beiz ist.
Wir gelangen also zu folgendem Besultate. Um mittelst
verschieden intensiver, kurzdauernder Lichtreize
gleich erscheinende Empfindungen zu erzielen^
müssen die Wirkungszeiten dieser Beize so bemessen
werden, dafs das Produkt aus Lichtstärke und
Wirkungszeit im allgemeinen um so geringer ist,
je schwächer der Lichtreiz ist. Je kleiner aber die
Wirkungszeiten der anscheinend gleiche Empfin-
dungen bewirkenden Beize sind, in desto geringerem
Grade zeigt sich der Wert. des Produktes aus Licht-
stärke und Wirkungszeit von der Lichtintensität
abhängig; und bei sehr kleinen Wirkungszeiten
kann als hinlänglich gültig der Satz angesehen
werden, dafs gleich erscheinenden Empfindungen
gleiche Werte jenes Produktes entsprechen.
Mit Vorstehendem stehen nun die thatsächlichen Ergebnisse
der einschlagenden Experimentaluntersuchungen in vollem Ein-
klänge. In erster Linie ist hier Kukkels Untersuchung „über
die Erregung der Netzhaut" (Pßügers Ärch. 16. 1877. S.27flf.)
zu erwähnen, welcher zu dem Besultate kommt: die Erregung
der Netzhaut ist eine Funktion des Produktes aus Beiz und
Zeitdauer der Einwirkung desselben, vorausgesetzt, dafs die
Wirkungszeiten der Beize nur kurz sind. Ist letztere Be-
dingung nicht erfallt, so entspricht nach Künkels Versuchen
der gleichen Empfindung ein um so gröXserer Wert des Pro-
duktes aus Lichtstärke und Wirkungszeit, je intensiver der
Lichtreiz ist. Der (um 0,03 Sekunden herum liegende) G-renzwert
der Wirkungszeit, jenseits dessen der obige Satz nicht mehr
gültig war, zeigte sich von der Stärke der benutzten Lichter
nicht ganz unabhängig, insofern er bei gröfserer Stärke der
letzteren etwas tiefer lag, als bei geringerer, was sich nach
unseren obigen Ausfuhrungen leicht begreift. Auch schon aus
einer früheren Abhandlung Kükkels {Pflügers Ard^, 9. 1874.
25*
388 O. E. Müller.
S. 197 ff., insbesondere S. 211 und 217) lassen sich einige (mit
farbigen Lichtem erhaltene) Yersuchsergebnisse anfahren, die
zu den vorstehend erwähnten Sesnltaten der späteren Unter-
snchnng dieses Forschers stimmen.
Femer ist hier der Versuche zu gedenken, welche Exneb
[Wien. Ber. 58. 1868. 2. Abt. S.623fF.) über die Abhängigkeit
anstellte, in welcher die zur Wahrnehmung eines Lichtreizes
erforderliche Zeit zur Stärke und Wirkungszeit des Beizes steht.
Die vorliegenden Resultate dieser Versuche stimmen durchaus
zu der Behauptung, dafs das Produkt aus Lichtstärke und
Länge der zur Wahrnehmung des Lichtes erforderlichen Zeit
konstant ist, solange die Wirkungszeiten der Beize sehr klein
sind (z. B. zwischen 0,005 und 0,017 Sekunden liegen), hingegen
bei längeren Wirkungszeiten um so gröfser ist, je intensiver der
Lichtreiz ist.
Endlich hat auch Bloch (nach Angabe von Chabpentieb)
den Satz, dafs einem konstanten Werte des Produktes aus Licht-
stärke und Wirkungszeit stets die gleiche Gesichtsempfindung
entspricht, für Wirkungszeiten von 0,00173 bis 0,058 Sekunden
bestätigt gefunden. Dasselbe fand Chabpentieb {Arch. de physid,
1890. S. 262 flf.) für Zeiten von 0,002 bis 0,125 Sekunden.
§ 25. Allgemeines über die mit chemischen Vorgängen
reagierenden erregbaren Systeme.
Besteht der Erregungsprozefs eines erregbaren Systemes
in einem chemischen Vorgänge bestimmter Art, so ist den von
uns früher (S. 340 £) aufgestellten Formeln entsprechend die
Gesamtstärke (S. 375) dieses Erregungsprozesses von drei
Faktoren abhängig, erstens von dem jeweiligen Werte K der
G^eschwindigkeitskonstante des Erregungsprozesses, zweitens
von den Mengen, in denen die verschiedenen Komponenten
des erregbaren Materiales vorhanden sind, und (falls an dem
Erregungsprozesse nicht blofs eine Molekülart beteiligt ist)
drittens auch noch von dem Volumen t?, in welchem sich diese
Stoffmengen enthalten finden.
Die Abhängigkeit des Erregungsprozesses von den vor-
handenen Mengen der Komponenten des erregbaren Materiales
pflegt man dadurch auszudrücken, dafs man von einer wechselnden
Erregbarkeit des Systemes redet. Ist an dem Erregungs-
prozesse nicht blols eine Molekülart, sondern mehrere Molekül-
Ztir Psychophifsik der Gesichtsempfindungen. S89
arten beteiligt, so kann, wie leicht ersichtlich, eine und die-
selbe Ändemng der Erregbarkeit (eine und dieselbe Änderung
des Wertes des Produktes a* . ftP . c^ . . . . S. 340) auf verschiedenen
Wegen zu stände kommen.
Vorgänge, welche den Wert von K beeinflussen, werden
als Beize bezeichnet. Dieselben sind positiv oder negativ, je
nachdem sie K im positiven oder negativen Sinne verändern.
Dasjenige, wonach der ßeizwert eines Vorganges bemessen
werden muTs, ist also die durch denselben bewirkte Ver-
änderung von K,
Wenn sich der Zustand eines erregbaren Gebildes in der
Weise ändert, dafs ein und derselbe Beizvorgang bei gleicher
Erregbarkeit (gleichem Werte des Produktes a* . 6^ . c^ . . .) eine
verschiedene Gesamtstärke des Erregungsprozesses zur Folge
hat, so reden wir von einer Änderung der Reizbarkeit
des Gebildes. Die Reizbarkeit eines Gebildes kann sich bei
konstant bleibender Erregbarkeit dadurch ändern, dafs sich
das Volumen des Gebildes ändert, wie wir früher (S. 37öff.)
an einem konkreten Beispiele gezeigt haben, oder dadurch,
dafs durch gewisse andere Veränderungen des Gebildes (Tem-
peraturänderung, Einführung von Substanzen, welche die
Lebhaftigkeit des Erregungsprozesses durch katalytische
Wirkung beeinflussen, u. dergl. m.) ein Zustand desselben ge-
scha£Fen wird, bei welchem einem gegebenen ßeize eine andere
Veränderung von f entspricht, als zuvor. Wie leicht ersichtlich,
unterscheidet sich eine Erhöhung der Reizbarkeit von einer
entsprechenden Steigerung der Erregbarkeit wesentlich dadurch,
dafs sie unter sonst gleichen umständen schneller zur Er-
schöpfung des Gebildes führt. Erhöhte Reizbarkeit stellt also
immer einen Zustand „reizbarer Schwäche^ dar. Das um-
gekehrte gilt von der verringerten Reizbarkeit.
Von den erregbaren Systemen der hier erörterten Art
sollen uns im Folgenden zwei wichtige, wesentlich voneinander
verschiedene Hauptarten interessieren. Ein System der ersten
Art ist dazu bestimmt, bei Gelegenheit einer Reizeinwirkung
eine Energiemenge nach auisen abzugeben^ welche die Energie-
menge, die dem Systeme bei der Reizeinwirkung zugeführt
worden ist, weit übertrifft . Ein System dieser Art (Arbeits-
system) ist also darch die Haupteigentümlichkeit charak-
terisiert, dafs sich der Energieinhalt des Systemes bei Statt-
390 G' ^' Müller.
finden des Erregungsprozesses beträchtlich verringert, oder
anders ausgedrückt, der Energieinhalt des erregbaren Materiales
ist bedeutend grölser, als der Energieinhalt der Erregungs-
produkte.
Die soeben erwähnte Eigentümliehkeit bringt es nun mit
sich, dafs schon beim Buhezustande die Geschwindigkeits-
konstante der Bückbildung der Erregungsprodukte in erregbares
Material im Vergleich zu der Geschwindigkeitskonstante des
Erregungsprozesses einen sehr geringen Wert besitzt,' so dafs
in Systemen dieser Art die unmittelbare Bückbiidung der
Erregungsprodukte überhaupt gar keine Bolle spielt. Arbeits-
systeme ersetzen Verluste an erregbarem Materiale dadurch,
dafs sie sich von aufsen chemische Energievorräte zuf&hren
lassen. Es werden dem betreffenden Gebilde Stoffe zugeführt,
die entweder bereits selbst erregbares Material darstellen oder
erst innerhalb des Gebildes, sei es unter Mitverwendung von
Erregungsprodukten, sei es ohne solche, zum Aufbau von erreg-
barem Material verwandt werden. Soweit die Erregungs-
produkte nicht die soeben angedeutete Verwendung finden,
werden sie aus dem Gebilde abgeführt. Die infolge der be-
schränkten Geschwindigkeit dieser Stoffabfuhr bei andauernder
oder schnell wiederholter Beizung stattfindende Anhäufung
von Erregungsprodukten in dem Gebilde dient zweckmäüsiger-
weise dazu, den weiteren Verbrauch von erregbarem Materiale
in dem geschwächten Organe einzuschränken, indem die Menge
angesammelter Erregungsprodukte durch katalytische Wirkung
die Geschwindigkeitskonstante des Erregungsprozesses auf
niedereu Werten erhält, also zu der verringerten Erregbarkeit
auch eine verminderte Beizbarkeit hinzufögt (hemmende
Wirkung der Ermüdungsstoffe auf die Muskelthätigkeit).*
Aus dem Vorstehenden ergiebt sich, dafs in Systemen der hier
^ Die schon ohne weiteres plausible Behauptung, dals in einem
Systeme der hier angedeuteten Art die Qeschwindigkeitskonstante der
Bückbildung der Erregungsprodukte einen relativ nur sehr geringen
Wert besitzen könne, läfst sich übrigens aus der von Nbbnst, a. a. 0.
S. 511 aufgestellten Gleichung für die bei einem chemischen Vorgänge
zu gewinnende maximale Arbeit streng ableiten.-
' Nimmt man im Sinne wiederholt geäuXserter Ansichten an, dafs
der Erregpmgsprozefs im Muskel mit Hülfe eines Fermentes vor sich
gehe, so hat man nach den Untersuchungen von Tammanh {ZeUschr, f,
physiol Chemie. 16. 1892. 8.271£P1) zu sagen, dafs die Anhäufung der Er-
Zur Bsychqphysik der GesidUsempfindungen, 391
üi Bede stehenden Art niemals Grleichgewiolit zwischen dem
S^n^gungsprozesse und der Bückbildung der Erregungsprodukte
besteht, sondern stets der erstere Vorgang weit überwiegt.
Allerdings ist beim Buhezustande die Lebhaftigkeit des Er-
regtmgsprozesses nur gering, weil die Geschwindigkeitskonstante
dieses Prozesses beim Buhezustande zwar grofs in Vergleich
zur Geschwindigkeitskonstante der Bückbildung der Erregungs^
Produkte, aber absolut genommen nur klein ist. Ein System
dieser Art verhält sich also ähnlich wie ein Gemisch von
Wasserstoff und Sauerstoff bei gewöhnlicher Temperatur (S. 361 f.).
Es stellt ein System dar, welches ohne Zufuhr fremder Energie
ein gewisses Quantum ftuiserer Arbeit zu leisten vermag. Bei
fehlender Einwirkung von Beizen könnte es jedoch dieses
Arbeitsquantum nur innerhalb äuiserst langer Zeit und blofs
in der Weise leisten, dafs die Arbeitsleistung zu jeder Zeit nur
minimal wäre. Die einwirkenden Beize dienen dazu, die Um-
setzung der Energie, welche das System abzugeben vermag,
zu beschleunigen und das System zu befähigen, in kurzen
Zeiten merkbare äufsere Arbeit zu leisten.
Endlich entspringt aus der oben angegebenen Haupt-
eigentümlichkeit dieser Arbeitssysteme, zu denen in erster
Linie der Muskel als kontraktiles Organ^ gehört, noch die
Eigenschaft, dafs sie nur in einer Weise thätig sein können,
nämlich nur durch solche Beize erregt werden, welche den
Umsatz des erregbaren Materiales von hohem Energieinhalt in
Erregungsprodukt von geringem Energieinhalt fördern. Beize,
welche diesen auslösenden Beizen genau entgegengesetzt sind,
können zwar, wenn sie mit den auslösenden Beizen zugleich
gegeben sind, nach Mafsgabe ihrer Stärke die Wirksamkeit
der auslösenden Beize hemmen» sind aber (bei den überhaupt
in Betracht kommenden Stärkegraden) nicht selbst im stände,
eine merkbare chemische Wirkung im Systeme zu haben, d. h. eine
reguDgsprodakte dahin wirkt, das Ferment in eine unwirksame Modifi-
kation umzuwandeln, ans der es durch die Fortschaffang der Erregungs-
produkte wieder in die wirksame Modifikation zurückgebracht wird.
^ D. h. insofern, als sich in ihm ein Vorgang abspielt, bei welchem
phemische Energie in mechanische umgesetzt wird. Ninunt man neben
diesem Vorgange noch einen „Beizleitungsprozefs'' im Muskel an, so hat
man den Muskel noch als Sitz eines anderweiten erregbaren Systemes
(ron nicht n&her bekannter Natur) anzusehen.
392 O. E. Müller.
merkbare Menge von Erregungsprodukten in erregbares Material
umzuwandeln.^
Ganz anders verhalten sich die Systeme der zweiten Art.
Dieselben dienen dazu, einen Beiz, welcher seiner Beschaffen-
heit gemäfs einen Sinnesnerven (oder ein sonstiges Organ) nicht
direkt zu erregen vermag, so umzuformen, dafs eine Erregung
in diesem Nerven hervorgerufen wird. Dieselben sind also
nicht Arbeits-, sondern Umformungssysteme. Da der
Organismus nicht unnötig grofse Energievorräte verbrauchen
läfst, so ändert sich der Energieinhalt eines ümformungs-
systemes nur wenig, wenn in ihm infolge eines Beizes ein
Grregungsprozefs stattfindet. Denn nur um Erzielung einer
bestimmten Qualität des Erregungsprozesses, nicht um Er-
zielung einer grofsen Energieabgabe handelt es sich bei der
Umformung, welche ein äufserer Beizvorgang in einem Systeme
dieser Art erfährt, und es wird der Erregungsprozefs eines
solchen Systemes vielfach ein Vorgang sein, bei welchem der
Energieinhalt des Systemes infolge der Beizeinwirkung zunimmt.
Aus dieser Eigentümlichkeit der ümformungssysteme, bei
eintretendem Erregungsprozesse eine nur geringe Änderung
des Energieinhaltes zu erfahren, folgt nun dem oben Bemerkten
gemäfs ohne weiteres, dafs die Geschwindigkeiiskonstante des
Erregungsprozesses und die Geschwindigkeitskonstante der
Bückbildung der Erregungsprodukte beim Buhezustande nicht
erheblich verschiedene Werte besitzen. Mithin besteht in einem
ümformungssysteme, das seit längerer Zeit sich selbst über-
lassen ist, Gleichgewicht zwischen dem Erregungsprozesse und
der Bückbildung der Erregungsprodukte, und nach beendeter
Beizeinwirkung spielt dem Gesetze der chemischen Massen-
wirkung gemäfs die Bückbildung der Erregungsprodukte eine
wesentliche Bolle; das System erholt sich zweckmäfsigerweise
nicht blofs durch Stoffzufuhr, sondern auch durch unmittelbare
Bückbildung eines Teiles der Erregungsprodukte.
Endlich unterscheiden sich die Umformungssysteme auch
' Eine aktive Elongation eines Muskels ist also nicht anders möglich,
als so, dafs der dieselbe bewirkende Beiz einen AuslOsungsreiz hemmt,
der bislang einen Kontraktionsznstand des Muskels bewirkte, oder so,
dafs der Muskel zwei Arbeitssysteme im obigen Sinne enthält, von denen
das eine bei seiner Erregung Kontraktion, das andere aber Elongation
des Muskels bewirkt.
Zur Psychophysik der Gesichtsempfindungen, 393
nooh dadurch von den Arbeitssystemen, dafs es ümformungs-
systpme von doppelter EeizempfiLnglichkeit geben kann, d. h.
Systeme, in denen diejenigen Stoffe, die für eine Art von Beizen
und einen Erregungsprozefs das Erregungsprodukt darsteUen,
zugleich f&r eine andere Art von Beizen das erregbare Material
bilden, das durch einen dem ersteren Erregungsprozesse genau
entgegengesetzten Prozels in diejenigen Stoffe verwandelt wird,
die f&r die Beize der ersteren Art das erregbare Material
bilden. Durch solche Umformungssysteme von doppelter Beiz-
empfänglichkeit wird mit dem geringsten stofflichen Auf-
wände erreicht, dafs in einem Sinnesgebiete verschiedenen
Beizarten mehrere Arten von Erregungsprozessen entsprechen
und mithin eine höhere ünterscheidungsfUiigkeit für die ver-
schiedenen Arten von Sinnesreizen besteht. Denn da mit dem
Vorhandenseineines erregbaren Materiales in einem Gebilde immer
zugleich das Vorhandensein einer gewissen Menge der zugehörigen
Erregungsprodukte verbunden ist, so wird offenbar mit dem
geringsten Aufwände von stofflichen Mitteln z. B. eine vier-
fache Beizempfänglichkeit, eine Vierzahl möglicher Erregungs-
prozesse erzielt, wenn in dem betreffenden Gebilde zwei Um-
formungssysteme von doppelter Beizempfänglichkeit (wie z. B.
der Botgrünsinn und der Gelbblausinn solche darstellen) vor-
handen sind. Wären in jeder farbentüchtigen SteUe unserer
Netzhaut nur drei erregbare Systeme von einfacher Beiz-
empf&nglichkeit vorhanden, so würde es nicht sechs, sondern
nur drei verschiedene Arten von Netzhautprozessen geben,
und unsere Fähigkeit, Gesichtsobjekte auf Grund ihrer ver-
schiedenen Färbungen voneinander zu unterscheiden, würde
zu unserem Nachteile eine viel geringere sein. Ein System
von doppelter Beizempf&nglichkeit ist insofern unvollkommen,
als es in gar keinen Erregungszustand versetzt wird, wenn ein
Beiz gleichzeitig mit einem anderen Beize gegeben ist, der
gleich stark, aber im entgegengesetzten Sinne auf das System
wirkt. Diesem Mangel ist im Gebiete unseres Gesichtssinnes
dadurch abgeholfen, dafs jedes farbige Licht neben seinen
chromatischen Valenzen noch eine Weifsvalenz besitzt, so dafs
in allen Fällen, wo sich farbige Valenzen gegenseitig kompen-
sieren, immerhin noch ein mehr oder weniger intensiver Beiz für
das TT-Material resultiert.
Das Vorstehende bedarf freilich in mancherlei Hinsicht
394 (7. JE. MÜUer.
noch der Ergänzung, wie sohon ein BtLckbliok auf dasjenige
zeigt, was wir im Bisherigen hinsichtlich der Netzhautprozesse
zu bemerken hatten (Zusammensetzung jedes durch einen Idcht-
reiz in der Netzhaut ausgelösten Vorganges aus zwei successiven
Teilprozessen u. a. m.), und wie auch der Umstand darthut,
dafs es neben den beiden hier erörterten Hauptarten no6li
andere Arten solcher erregbarer Systeme giebt^ die mit chemi-
schen Vorgängen reagieren (wir erinnern an den Apparat der
Kohlenstoffassimilation in den grünen Pflanzen). Trot:^ ihrer
ünvoUständigkeit dürfte indessen die vorstehende Skizze ihren
Zweck erreicht, nämlich zum Bewulstsein gebracht haben, daXs
die häufig gemachte Voraussetzung, die Lichtreize erlangten
die Fähigkeit, auf den Sehnerven zu wirken, durch Auslösung
relativ bedeutender, in der Netzhaut angehäufter chemischer
Spannkräfte, eine Voraussetzung ist, die weder auf eine all-
gemeine physikalisch-chemische Betrachtung der mit chemischen
Vorgängen reagierenden erregbaren Systeme noch auf biologische
Erwägungen gestützt werden kann. Man hat dasjenige, was von
den Muskeln und anderen zur Abgabe angesammelter Energie-
vorräte bestimmten Gebilden gilt, ohne die geringste Be-
rechtigung auf Gebilde von ganz anderer Bedeutung, nämlich
solche, die nur zur Umformung von Beizvorgängen dienen,
übertragen. In keinem Sinnesgebiete ist auch nur eine Spur
eines Beweises dafür gebracht, dafs die Sinnesreize — man
denke z. B. auch an die Gehörsreize! — unsparsamerweise
erst durch Auslösung beträchtlicher Spannkräfte die Fähigkeit
erlangen, die Sinnesnerven zu erregen. Es genügt, dafs die
Nervenerregungen da, wo es sich wirklich um Energieabgaben
handelt, im Muskel, im elektrischen Organe u. dergl., chemische
Spannkräfte' auslösen. Es hätte aber gar keinen Zweck, wenn
diese nur auslösenden und mithin einer besonderen Stärke
keineswegs bedürftigen Nervenerregungen auch ihrerseits selbst
erst durch einen beträchtlichen Verbrauch von Energieinhalten
hervorgerufen würden.
§ 26. Die optischen Valenzen und ihre Konstanz.
Den vorstehenden Darlegungen gemäfs ist der Beizwert,
den ein einwirkender Vorgang für einen unserer drei optischen
Spezialsinne besitzt, nach den Änderungen zu bemessen, die
er an den beiden durch Licht beeinflufsbaren Geschwindigkeits-
Zur Psychophysik der CMchtaemp findungen, 395
konstanten dieses Spezialsinnes su bewirken strebt und, falls
nicht ein in entgegengesetztem Sinne wirkender anderer Vor-
gang gleichzeitig gegeben ist, in der Tbat auch bewirkt. Ein
blanes Licht besitzt unter gegebenen umständen dieselbe WeiTs-
valenz, wie ein bestimmtes weifses Licht, wenn es unter eben
diesen Umständen dieselbe Veränderung der Konstanten K^
(vergl. S. 348) und mithin (da der Wert von K^ eine eindeutige
Funktion von JK^ ist) auch dieselbe Veränderung der Konstanten
JE» bewirkt, wie das weifse Licht. Natürlich hat die Bestimmung
der Weifsvalenz oder sonstigen Valenz eines gegebenen Lichtes
nur dann einen höheren Wert, wenn diese Bestimmung nicht
blofs für die umstände, unter denen die Bestimmung statt-
gefunden hat, sondern auch noch für andere Versuchs-
bedingungen gilt. Ob oder inwieweit ein solches Verhalten
nach den im Bisherigen entwickelten Anschauungen zu erwarten
sei, soll im Folgenden kurz erörtert werden.
Wir sehen zunächst von den thatsächlichen oder möglichen
anatomisch - physiologischen Komplikationen ganz ab und
nehmen an, dafs auch in rein physikalisch -chemischer Hin-
sicht die Verhältnisse ganz einfache lägen, dafs also photo-
chemische Nebenwirkungen der Lichtreize in der lichtempfind-
lichen Netzhautschicht, welche von EinfluTs auf die eigentlichen
Netzhautprozesse seien , sowie gegenseitige Beeinflussungen
einander nicht entgegengesetzter Netzhautprozesse (z. B. des
TT-Prozesses und des i^-Prozesses) in merkbarem Grade nicht
vorkämen.
Alsdann ist zu sagen, dais zwei verschiedene Lichter,
welche bei einer bestimmten Erregbarkeit eines der drei
optischen Spezialsinne die gleichen Änderungen der betreffenden
Oeschwindigkeitskonstanten dieses Spezialsinnes bewirken, auch
bei jeder beliebigen anderen Erregbarkeit desselben gleiche
Wirkungen auf jene Geschwindigkeitskonstanten ausüben
müssen. Es ist also alsdann der Satz aufzustellen, daüs die
Valenzen eines gegebenen Lichtes von den vorhandenen
Erregbarkeiten der betreffenden optischen Spezialsinne unab-
hängig sind. Femer ergiebt sich ohne weiteres, dals diese
Valenzen auch unabhängig sind von dem jeweiligen Volumen
des betroffenen lichtempfindlichen Gebildes. Hingegen läfst
sich nichts Sicheres darüber sagen, ob zwei verschiedene
Lichter, welche unter gegebenen Umständen die betreffenden
396 ^- E. MüUer.
Geschwindigkeitskonstanten eines optischen Spezialsinnes in
völlig gleicher Weise beeinflussen, sich in Beziehung auf diesen
Spezialsinn auch noch dann als völlig äquivalent erweisen
würden, wenn man die Beizbar keit des betreffenden Gebildes
auf anderem Wege als durch Änderung des Volumens ändern
würde, z. B. durch Erhöhung der Temperatur oder durch Ein-
führung katalytisch wirksamer Substanzen. Doch hat diese
Frage kein aktuelles Interesse.
Weit wichtiger ist die Frage, wie sich die Valenzen eines
Lichtes bei einer Intensitätsänderung des letzteren oder bei
Hinzufügung eines anderen Lichtes verhalten. Wenn zwei hin-
sichtlich ihrer Beschaffenheit oder Zusammensetzung ver-
schiedene Lichter in dem Falle, dafs jedes ganz allein auf die
betreffende Netzhautregion einwirkt, sich als völlig äquivalent
erweisen, mufs dann diese Äquivalenz auch noch dann be-
stehen, wenn wir jedem der beiden Lichter ein und dasselbe
dritte Licht hinzufügen? Wird femer die Äquivalenz beider
Lichter auch noch dann fortbestehen, wenn wir die Intensitäten
beider in gleichem Verhältnisse erhöhen oder verringern? Ist
es endlich von vomhereiS als völlig ausgeschlossen anzusehen,
dafs sich die Valenzen eines Lichtes bei einer Intensitätsänderung
des letzteren ihrer Zahl oder ihrer Qualität nach ändern, z. B.
die Gelbvalenz eines Lichtes bei einer Intensitätssteigerung des
letzteren schliefslich in eine Blauvalenz übergehe, oder ein mit
nur einer optischen Valenz begabtes Licht bei Erhöhung seiner
Intensität noch eine zweite (mit der bereits vorhandenen Valenz
verträgliche) Valenz erlange ? Auf diese Fragen läfst sich durch
blofse theoretische Überlegung eine sichere Antwort nicht ge-
winnen. Die theoretische Erwägung läfst hier die verschiedensten
Fälle möglich erscheinen, z. B. auch den Fall, dafs die Valenzen
der Lichter komplizierte, mit der Beschaffenheit des Lichtes
sich ändernde Funktionen der Lichtstärke seien, von der Art,
dafs auch Zahl und Qualität der Valenzen eines Lichtes bei
zunehmender Intensität des letzteren sich ändern. Anders stellt
sich die Sachlage dar, wenn wir die vorliegenden Ergebnisse
der experimentellen Forschung ins Auge fassen. Bei zahl-
reichen Versuchsreihen hat sich ergeben, dal's die durch Licht
von konstanter Quahtät bewirkte Änderung der Geschwindigkeits-
konstanten einer chemischen Umsetzung der Lichtstärke pro-
Zur Psychophysik der Gesichtsempfindungen, 397
portional geht* (Ostwald, a. a. 0. S. 1034 flf., S. 1046 ff., Nernst,
a. a. O. S. 579); und, soweit dieses Gesetz gilt, müssen Liohter
verschiedener Art, die bei gegebenen Intensitäten hinsichtlich
einer oder mehrerer Valenzen genau miteinander überein-
stimmen, diese Äquivalenz auch noch dann zeigen, wenn sie
in gleichem Verhältnisse verstärkt oder geschwächt werden.
Was femer das Verhalten der Valenzen eines Lichtes bei
Hinzufugung eines zweiten (einfachen oder zusammengesetzten)
Lichtes anbelangt, so kommt z. B. nach den Untersuchungen
von Pfeffer {Arh. d. bot. Inst, z, Würehurg. 1. 1871. S. 41 ff.)
jeder Spektralfarbe „eine spezifische Zersetzungskrafb für Kohlen-
säure zu, die dieselbe bleibt, gleichviel, ob die betreffenden
Strahlen fftr sich oder mit anderen kombiniert auf assimilations-
fahige Blätter einwirken*^. Und EwaijD und Kühne (Heiddb.
Unters. 1. S. 198 ff.) stellen auf G-rund ihrer Versuche den
Satz auf, „dafs die Wirkung einer gemischten Farbe auf den
Sehpurpur nur abhängig ist von der Summe der Wirkungen
der Spektralfarben, welche sie zusammensetzen^.
Nach Vorstehendem ist zu erwarten, dafs auch in unserem
Gebiete eine Konst-anz der optischen Valenzen bestehe,
d. h. dafs die optischen Valenzen eines Lichtes erstens unab-
hängig seien von den vorhandenen Erregbarkeiten der be-
treffenden optischen Spezialsinne und zweitens unabhängig
^ Bei diesen Versuchsreihen handelte es sich um lichtempfindliche
Gemische, welche der ersten der beiden auf S. 361 ff. erörterten Haupt-
arten solcher Gemische angehörten, bei denen also die Geschwindigkeits-
konstante der Rückbildung der photochemischen Beaktionsprodukte
wegen ihrer GeringftLgigkeit Oberhaupt nicht in Betracht kam. Handelt
es sich um ein photochemisches Gemisch der zweiten Hauptart, also
um ein solches, das sich vor der Lichteinwirkung in chemischem Gleich-
gewichte befindet, so kann nur die Änderung derjenigen Geschwindigkeits-
konstanten, deren A^rt durch das gegebene Licht eine Zunahme erfährt,
innerhalb weiterer Grenzen der Lichtstärke proportional gehen, nicht
aber auch die Ändenmg der anderen Geschwindigkeitskonstanten, deren
Wert sich bei steigender Lichtstärke immer mehr der Null nähert. Man
wird indessen in der Begel schon bei mäfsigen Lichtstärken von den
Änderungen dieser zweiten Konstanten ganz absehen können. Vor allem
aber kommt hier der Satz in Betracht, dafs in allen Fällen, wo jene
erstere Konstante einen und denselben "Wert besitzt, das Gleiche auch
▼on dieser zweiten Konstante gelten mufs, die eine eindeutige Funktion
jener ersteren ist.
398 ^* E' MüUer.
seien von den etwa gleichzeitig einwirkenden anderen Lichtem.'
Eine absolute Sicherheit dafür, dafs der zweite Teil dieses
Satzes von der Konstanz der Valenzen Gültigkeit besitze,
können uns allerdings die oben erwähnten Versuehsthatsachen
nicht gewähren. Denn die Zahl der photochemischen Beaktionen,
die in den uns hier interessierenden Beziehungen bisher unter«
sucht sind, ist im Vergleich zu der Zahl der bislang noch nicht
untersuchten nur gering. Es ist z. B. von denjenigen licht-
empfindlichen Gemischen, die durch die kurzwelligen Strahlen
des Sonnenspektrums in entgegengesetztem Sinne chemisch
verändert werden, als durch die langwelligen Strahlen, noch
kein einziges daraufhin untersucht, ob die sog. neutrale Begion
des Spektrums, welche das Gemisch ganz unbeeinflufst lafst,
bei zunehmender Lichtstärke hinsichtlich ihrer Lage und Aus-
dehnung ganz unverändert bleibt, oder nicht.
Im Vorstehenden ist die Voraussetzung gemacht worden,
dafs Netzhautprozesse, die einander nicht entgegengesetzt sind
und in einer und derselben Netzhautstelle sich abspielen, ganz
unabhängig voneinander verliefen. Diese Voraussetzung darf
aber nicht ohne weiteres zu Grunde gelegt werden. Setzen
wir z. B. den Fall, dafs eine Molekülart, welche durch den
iZ-Prozefs entsteht und mithin eine Komponente des G^-Materiales
bildet, zugleich eine Komponente des TT-Materiales sei, so mufs
nach dem Gesetze der chemischen Massenwirkung der einer
gegebenen WeiTsvalenz entsprechende TT-Prozels gefordert
^ In dem zweiten Teile dieses Satzes ist offenbar schon der Satz
enthalten, dafs die optischen Valenzen eines Lichtes bei einer Intensitäts-
zunähme des letzteren hinsichtlich ihrer Zahl imd Qualität sich nicht
ändern, wohl aber in ihrer Stärke der Lichtintensität proportional gehen,
so dafs zwei hinsichtlich einer oder mehrerer Valenzen miteinander
übereinstimmende Lichter diese Übereinstimmung auch dann noch zeigen,
wenn sie in gleichem Verhältnisse verstärkt oder geschwächt werden.
Denn, wenn z. B. an die Stelle eines gegebenen Lichtes ein anderes
Licht von völlig gleicher Qualität, aber der n-fachen Litensität tritt, wo
n > 1 und eine ganze Zahl ist, so denke man sich das zweite Licht in
n Lichter von der Stärke des ersteren zerlegt und wende auf jedes von
diesen n gleichartigen und gleichstarken Partiallichtem den Satz an,
dafs die Valenzen eines Lichtes von den gleichzeitig einwirkenden
anderen Lichtern unabhängig seien. Alsdann ergiebt sich ohne weiteres,
dafs sich bei Verstärkung des ersteren Lichtes auf das n-fache die
optischen Valenzen hinsichtlich ihrer Qualität und Zahl nicht ändern,
wohl aber hinsichtlich ihrer Stärke auf das n-fache erhöhen.
Ziwt PsychopJiyiik der Geaiehtsempfinäungm. 899
werden, wenn gleichzeitig eine Botvalenz einwirkt, liingegen
gesohwäoht werden, wenn gleichzeitig eine G-rünvalenz sich
geltend macht. Ist eine Komponente des TF-Materiales zugleich
eine Komponente des JS-Materiales, so mufs der TT-Prozefs
gefördert werden dnrch einen gleichzeitigen ^-Prozefs, beein-
trächtigt werden dnrch einen gleichzeitigen J^-Prozefs. Wie
man sieht, kann man von vornherein die Frage aufwerfen, ob
die Erscheinungen der spezifischen Helligkeit nicht zu einem Teile
auch darin ihren Grund hätten, dafs die chromatischen Prozesse
einerseits und der TT-Prozefs andererseits nicht ganz unabhängig
voneinander verliefen.^ Wie der Kundige unschwer erkennt,
kann man sich (zumal, wenn man bedenkt, dafs nach unseren
früheren Ausführungen jeder durch eine optische Valenz aus-
gelöste Netzhautvorgang aus zwei successiven Teilprozessen
besteht) von vornherein noch auf die verschiedenste Weise ein
gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis einander nicht entgegen-
gesetzter Netzhautprozesse konstruieren, indem man z. B. aus den
Beaktionsprodukten zweier oder mehrerer Netzhautprozesse
sekundäre Reaktionen, die nicht direkt auf den Sehnerven einzu-
wirken vermögen, hervorgehen läfst oder andere derartige An-
nahmen einführt.* Besondere Berücksichtigung mögen hier nur
noch die Wärmewirkungen der Netzhautprozesse finden. Wenn
auch den Ausführungen des vorigen Paragraphen gemäfs die (posi-
tiven oder negativen) Wärmetönungen der verschiedenen Netz-
häutprozesse nur unbeträchtlich sein können, so ist doch nicht
anzunehmen, dafs alle sechs retinalen G-rundprozesse ganz ohne
(positive oder negative) Wärmebildung verlaufen und in ihrem
Verlaufe von der vorhandenen Temperatur ganz unabhängig
sind. Findet also z. B. ein Netzhautprozefs, der mit positiver
Wärmebildung verbunden ist, in einer bestimmten Netzhaut-
stelle statt, so kann derselbe einen anderen an derselben Stelle
sich abspielenden Netzhautprozefs nicht absolut unbeeinflufst
lassen, sondern mufs denselben fördern oder beeinträchtigen.
^ Wie man leicht erkennt, muls im Falle einer solchen Ver-
UTsachung jener Erscheinungen auch noch der Satz gelten, daCs durch
einen gleichzeitigen TT-Prozefs die Differenz Ir — Ig oder J. — ü in
positivem Sinne gefördert wird. Femer mufs der ^-Prozefs zu den
chromatischen Netzhautprozessen in genau der entgegengesetzten Wechsel-
beziehung stehen, wie der TT-Prozefs.
* Man vergleiche hierzu Niritbt, a. a. O. S. 451 ff.
400 ^* E' Mütter,
je nachdem derselbe mit negativer oder positiver Wärme-
entwickelung verbunden ist. Prinzipiell mufs es also eine
gewisse gegenseitige Beeinflussung der Netzhautprozesse geben,
die auf den Wärmewirkungen derselben beruht. Es ist nur
sehr fraglich, ob dieselbe von merkbarer GrölSse ist.
Wir brauchen nicht weiter auszuführen, wie sehr sich
dann, wenn eine gegenseitige Beeinflussung der in einer und
derselben Netzhautstelle sich abspielenden, einander nicht
entgegengesetzten Prozesse in merkbarem Grade stattfindet,
die Dinge weit komplizierter gestalten, als bei Zugrundelegung
des Satzes von der Konstanz der Valenzen zunächst zu er-
warten ist. Denn alsdann hängt das Verhalten, welches
die Reizbarkeit oder die Erregbarkeit eines optischen Spezial-
sinnes während der Einwirkung einer auf diesen Spezialsinn
wirkenden optischen Valenz zeigt, von der Intensität und Art
der gleichzeitigen Heizungen der beiden anderen optischen
Spezialsinn e ab.
Eine ähnliche Kompliziertheit der Verhältnisse ist femer
auch für den Fall zu erwarten, dafs in der lichtempfindlichen
Netzhautschicht durch Lichteinwirkung aufser den eigentlichen
Netzhautprozessen noch eine Nebenwirkung hervorgerufen wird,
welche die Stärke jener Prozesse irgendwie zu beeinflussen
vermag. Wir erörtern diesen Fall sogleich an einem konkreten
Beispiele, indem wir uns auf die optische Sensibilisation^ beziehen.
Man nehme an, dafs die Erweckung des TF-Prozesses in den
Stäbchen hinsichtlich ihrer Ausgiebigkeit sehr wesentlich von
der vorhandenen Menge des Sehpurpurs, welcher als optischer
Sensibilisator wirke, abhängig sei. Die Bolle, welche der Seh-
purpur dem früher (S. 380 f.) Bemerkten gemäfs als Adaptations-
stoff spielt, sei dadurch vervollständigt, dafs ein und dasselbe
Licht, wenn es auf purpurarme Stäbchen wirkt, in denselben
eine nur mäfsige Zunahme der Qeschwindigkeitskonstanten K^
bewirkt, hingegen eine bedeutende Zunahme von K^ in den
Stäbchen zur Folge hat, wenn dieselben reichlichen Sehpurpur
enthalten. Alsdann wird, gemäfs den Veränderungen, welche
die optischen Sensibilisatoren an der spektralen Verteilung der
Lichtempfindlichkeiten der chemischen Gemische, denen sie
^ Man vergleiche über dieselbe £deb, a. a. O. I. 1. S. 251 £F. und II.
S. 37 ff.
Zur PBychophysik der Qesichtsempfindungm, 401
zagefügt sind, zu bewirken pflegen, die spektrale Verteilung
der für die Stäbchen bestehenden WeLfsvalenzen je nach dem
Purpurgehalte der Stäbchen etwas verschieden sein. Stellen
wir also zwei Lichter von verschiedener Wellenlänge in solchen
Intensitäten her» dafs sie bei geringem Purpurgehalte der
Stäbchen in diesen gleich intensive Tf^-Prozesse hervorrufen,
so werden beide Lichter eine völlige Gleichheit ihrer Stäbchen-
wirkungen nicht mehr erkennen lassen, wenn \m sie auf die
Netzhaut bei reichem Purpurgehalt der Stäbchen, d. h. bei
vollendeter Adaptation an das Dunkel, einwirken lassen. Ist
die Netzhaut an beträchtliche Helligkeit adaptiert, ist also der
Purpurgehalt der Stäbchen nur gering und von unmerkbarem.
Einflüsse auf die Stäbchenvalenzen der verschiedenen Lichter/
und bewegen sich die Intensitätsänderungen der Lichter bei
unseren Versuchen innerhalb solcher Grenzen, dafs der Adap-
tationszustand der Netzhaut nicht wesentlich verändert wird,
80 kann die Gleichheit zwischen den TT-Prozessen, die zwei
verschiedenartige Lichter in den Stäbchen hervorrufen, bei
einer in gleichem Verhältnisse stattfindenden Erhöhung oder
Schwächung beider Lichter bestehen bleiben, falls eben der
Satz von der Konstanz der Valenzen, ebenso wie für die
Zapfen, auch für die Stäbchen, soweit ihre Beaktionsweise
nicht durch die sensibilisatorische Wirkung des Sebpurpurs
beeinfluist ist, gilt. Macht man femer die zunächst gegebene
Annahme, dafs das i^-, TT- und iS-Material in den Stäbchen
von genau derselben Art sei, wie in den Zapfen, und dafs
demgemäfs die Weifsvalenzen der verschiedenen Lichtarten
für die Stäbchen, soweit die Thätigkeit der letzteren nicht
durch die soeben erwähnte Wirksamkeit des Sehpurpurs modi-
fiziert werde, dieselben seien wie für die Zapfen, so kommt man
zu dem Besultate, dafs zwar nicht für die an das Dunkel oder
nur schwache Helligkeiten adaptierte Netzhaut, wohl aber für
die an gröfsere Helligkeit adaptierte Netzhaut die beiden früher
(S. 327 ff.) erörterten Hsssschen Sätze gültig sein müssen.
^ Es ist zu beachten, dafs die optischen Sensibilisatoren die Licht-
Empfindlichkeiten der betreffenden Gemische bereits dann nur noch
unwesentlich beeinflussen, wenn die Mengen, in denen sie den letzteren
l>eigemischt sind, noch keineswegs minimal sind. £s ist also, um den
EinfluJDs des Sehpurpurs auf die Stäbchenyalenzen auszuschlieüsen, keines*
<weg8 eine vollständige Bleichung desselben nötig.
Zelttchrin Ar Ft7ehoI<«ie X. 26
402 G^ S' MMer.
Mit der vorstehenden Darlegung haben wir bereits den
Standpunkt rein physikalisch-chemischer Betrachtung verlassen
und sind in eine Berücksichtigung der anatomisoh-physio»
logischen Komplikationen eingetreten. Die retinalen Anpassungs*
Vorgänge, zu denen auch die von der Intensität und Dauer
der Lichteinwirkung abhängigen Änderungen der Stärke der
sensibilisatorischen Wirksamkeit des Sehpurpurs zu rechnen
sein würden, können in doppelter Weise bewirken, dafs eine
Konstanz der optischen Valenzen, die ohne das Eingreifen
derselben zu Tage treten wllrde, nicht voll zur Beobachtung
gelangt. Denn werden zwei physikalisch verschiedenartige,
aber bei den zunächst vorhandenen Intensitäten gleich er-
scheinende Lichter in gleichem Verhältnisse verstärkt^ so werden
die retinalen Anpassungseinrichtungen (z. B. das Pigment des
Pigmentepitheles und der Sehpurpur), welche hinsichtlich der
Stärke ihrer Wirksamkeit auch von der physikalischen Qualität
des einfallenden Lichtes abhängig sind,^ durch die Verstärkung
des einen der beiden Lichter im allgemeinen nicht in völlig
gleichem Malse beeinfluTst werden, wie durch die Verstärkung
des anderen Lichtes. Nehmen wir femer an, es riefen zwei
physikalisch verschiedenartige Lichter bei einem gegebenen
retinalen Anpassungszustande ganz dieselben Netzhautprozesse
hervor, so werden dieselben dann, wenn wir auf irgend einem
Wege einen wesentlich anderen retinalen Anpassungszustand
hergestellt haben, nicht mehr völlig gleiche Netzhautprozesse
bewirken, weil physikalisch verschiedene Lichter von einer und
derselben Änderung des retinalen Anpassungszustandes nicht
in völlig gleichem Mafse betroffen werden. So wird z. B. der
* Auch die phototrope Epitbelreaktion mufs von der physikalischen
Beschaffenheit des einwirkenden Lichtes und nicht von der Ait und
Stärke der durch das Licht erweckten Netzhautprozesse abhängen, wenn
sie durch das Licht direkt und nicht erst durch Yermittelung der Nets-
hautprozesse erweckt wird. Dafs die phototrope Epithelreaktion direkt^
durch das Licht hervorgerufen wird, folgt aber unseres Eracbtens aoa
der Herstellbarkeit epithelialer Optogramme (Kühne in Hermanns Handb^
d. JPhjfeiol. 3. !. S. 338). Würde diese Epithelreaktion erst durch die
Netzhautprozesse hervorgerufen, so müsfte sie auch durch die auf nur
indirekter Beizung beruhenden, den Erscheinungen des simultanen Kon-
trastee, der simultanen und successiven Lichtinduktion zu Grunde
liegenden Netzhautprozesse erweckt werden, und eine Erzeugung auch
nur einigermafsen deutlicher epithelialer Optogramme w&re unmöglich.
Zur Psyehophysik der Gesiehisempfindungen. 403
Übergang der Fuscinkörperohen ans einer Stellung in eine
andere die Einwirkung zweier phygikalisch yersohiedener Lichter
(für welohe die Absorption innerhalb des Pigmentes nicht völlig
dieselbe sein wird) nicht in absolnt gleichem Mafse beeinflussen,
mögen uns die beiden lichter bei der ersteren Stellung des
Pigmentes noch so sehr als yöUig gleich erschienen sein. Ein
noch besseres Beispiel für das soeben Bemerkte bietet uns der
TJmstandi dafs (wenn der Sehpurpnr die oben angedeutete
sensibilisatorische Bolle spielt) ein und dieselbe ausgiebige
Änderung des Purpurgehaltes der Stabchen die Stftbchenvalenzen
zweier physikalwch verschiedenartiger, aber anfengUch gleich
erscheinender Lichter im allgemeinen nicht in völlig gleichem
Mafse yerändem kann.
Üben die verschiedenen Lichter im Sinne des auf S. 869
Bemerkten direkt einen gewissen Einflufis auf die der Funktion
des Sehepithels dienenden nutritiven Vorgänge aus, so kommt
dieser Einfluis hier in ähnlicher Weise in Betracht, wie der
Einflufs der verschiedenen Lichter auf die retinalen Anpassungs«
apparate. Wie früher gesehen, bestimmt sich unser ürteü
über die Gleichheit oder Ungleichheit zweier Empfindungen
nach der Beschaffenheit und Stärke, welche diese Empfindungen
und die ihnen zu G-runde liegenden Netzhautprozesse in einem
Stadium besitzen, wo bereits die nutritiven Vorgänge merkbar
mit im Spiele sind. Werden also zwei physikalisch verschieden-
artige, aber subjektiv gleiche Lichter in gleichem Verhältnisse
verstärkt, so können sie nach dieser Verstärkung nur dann
noch völlig gleich erscheinen, wenn die Verstärkung des einen
Lichtes die nutritiven Vorgänge in völlig gleichem Mafse
berührt, wie die Verstärkung des anderen Lichtes, was nicht
ohne weiteres von vornherein angenommen werden darf.
Endlich ist hier auch noch an das Eingreifen der Fluorescenz
der Augenmedien und der Netzhaut zu erinnern. Nach den
Ausführungen von Eühne (Hermanns Handb. d. PkyskiL 3. 1.
S. 287 ff.) beruht die weifslichgrüne Fluorescenz der Netzhaut im
übervioletten (und vielleicht auch violetten) Lichte auf der
Anwesenheit des Schweifs. Je reichhcher die vorhandene
Menge von Schweifs ist, desto intensiver fällt jene Fluorescenz
aus. Nun denke man sich zwei Mischlichter, von denen das
eine überviolettes und violettes Licht enthält, das andere aber
nicht, und welche beide bei einem Zustande der Netzhaut, wo
26*
404 ^. E' Müller.
sehr wenig Sehweifs vorhanden ist, völlig gleiche Netzhaut-
prozesse zur Folge haben. Es ist klar, dafs beide Lichter bei
unveränderter oder in gleichem Verhältnisse geänderter In-
tensität nicht mehr ganz dieselben Netzhautprozesse hervor-
rufen können, wenn sie auf die Netzhaut bei einem Zustande
wirken, wo sehr viel Sehweifs vorhanden ist.^
Aus den bisherigen Entwickelungen dieses Paragraphen
ergiebt sich hinlängUch, wie unsagbar weit man fehlgreifen
würde, wenn man meinen würde, dals die in dieser Abhandlung
vertretenen Anschauungen Schwierigkeiten an Versuchs-
resultaten fönden, nach denen zwei physikalisch verschieden-
artige, zunächst subjektiv gleiche Lichter nach einer in gleichem
Verhältnisse vollzogenen Änderung ihrer Intensität oder nach
einer bestimmten Änderung des retinalen Anpassungszustandes
nicht mehr gleich erscheinen oder sonstige Abweichungen von
dem Satze von der Konstanz der Valenzen hervorzutreten
scheinen. Von den Gesichtspunkten, die wir im Vorstehenden
behufs Erklärung etwaiger Abweichungen von diesem Satze
entwickelt haben, sind allerdings manche nur gewisser
theoretischer Vollständigkeit halber erwähnt worden und um
zu zeigen, dafs man vom Standpunkte der in dieser Abhand-
lung vertretenen Anschauungen aus noch ganz anderen an-
scheinenden Abweichungen von jenem Satze gerecht werden
könnte, als thatsächlich vorzuliegen scheinen. Überblickt man
die gesamten zur Zeit vorliegenden Versuchsresultate, welche
sich auf die Frage der Konstanz der Valenzen beziehen, zumal
in der Beleuchtung, in welche sie neuerdings durch von Kbibs
gerückt worden sind, so hat man unseres Erachtens keinen
Grund, von folgender Anschauung abzugehen:
Die verschiedenen Arten der Netzhautprozesse vollziehen
sich in allen Zapfen oder Stäbchen, in denen sie sich über-
haupt abspielen, an ganz demselben chemisohen Materiale, sind
ihrem Wesen nach in allen Netzhautteilen dieselben. Befindet
sich, wie zu vermuten ist, in den Stäbchen nur iV-, TF- und
iS^Material, so sind doch diese Stoffe ihrem Wesen nach völlig
identisch mit dem in den Zapfen befindlichen i^-, TT- und
^-Materiale.
^ An den Einflofs, den die Pluorescenz der Augenmedien und der
Netzhaut auf die Valenzen der Lichter ausüben mufs, hat bereits Hebivo
{Über Newtons Gesetz der larbenimechung. S. 46) erinnert.
Zur Paychophytik der Gemchtaempfindungen. 405
Denkt man sich die Sehstoffe der Netzhaut ohne alle
anatomisch-physiologischen Komplikationen der Einwirkung
der verschiedenen Lichtarten ausgesetzt, so gut für dieselben,
wie vom physikalisch-chemischen Standpunkte aus zu erwarten
ist, der Satz von der Konstanz der Yalenziäi.
Alle zur Zeit bekannten anscheinenden Abweichungen von
diesem Satze lassen sich aus der Mitwirkung physiologischer
Faktoren, in erster Linie der retinalen Anpassungseinriohtungen,
erklären.
Sind die hier in Betracht kommenden Anpassungseinrich-
tungen und sonstigen physiologischen Faktoren an die Zapfen
und Stäbchen in verschiedener Weise verteilt, so ist zu er-
warten, dais auch die anscheinenden Abweichungen vom Satze
der konstanten Valenzen für beide Arten von Gebilden in ver-
schiedenem Grade bestehen.
Die beiden Hsssschen Sätze können nur insoweit gültig
sein, als von den soeben erwähnten physiologischen Faktoren
und Einrichtungen und ihrer verschiedenen Verteilung auf der
Netzhaut abgesehen werden kann. Dies ist nach den Versuchs-
resultaten von Hess bei an das Helle adaptierter Netzhaut
der Fall. Solauge der Adaptationszustand der an das Helle
adaptierten Netzhaut keine wesentlichen Änderungen erleidet,
erweisen sich die optischen Valenzen der Lichtei: auf allen
Teilen der extramakularen^ Netzhaut als dieselben, und
gleichzeitig zeigt sich eine zwischen zwei physikalisch ver-
schiedenen Lichtem hergestellte Gleichung auch noch nach
einer in gleichem Verhältnisse vollzogenen Litensitätsänderung
beider Lichter als gültig. Es tritt also dann die Konstanz der
optischen Valenzen, nicht verdeckt durch physiologische
Komplikationen, deutlich in die Beobachtung.
§ 27. Biologische Gesamtbetraohtung. <
Wir wollen hier noch in kurzer, zusammenfassender Weise
zeigen, wie diejenigen Einrichtungen des Sehorganes, zu deren
Annahme uns die bisherigen Betrachtungen geführt haben,
^ Da die Pigmentierung des gelben Fleckes dem früher (S. 381)
Bemerkten gemäis als eine, allerdings nur unvollkommene, Schutz-
Vorrichtung aufgefafst werden kann, so ist auch die Thatsaehe, dafs im
allgemeinen eine fOr eine extramakulare Netzhautstelle hergestellteFarhen-
406 ^- E' Müller.
dem Zwecke des Sehorganes entsprechen und geeignet sind,
uns im Kampfe ums Dasein zu fbrdem.
1. Es ist zweckmäfsigy dafs Gesichtsobjekte, die sich durch
die Beschaffenheit des von ihnen aasgestrahlten Lichtes unter-
scheiden, sich auch durch die Netzhautprozesse unterscheiden,
die sie in unserem Auge hervorrufen. Dieser Anforderung
wird um so besser entsprochen, je gröfser die Zahl der retinalen
Grundprozesse ist. Es ist mithin sehr zweckmäfsig, dals in
der Netzhaut dieselben Stoffe, die bei Auslösung eines chro-
matischen Netzhautprozesses als unmittelbare Produkte der
Lichteinwirkung entstehen, zugleich anderen Lichtstrahlen
gegenüber als erregbares Material fungieren. Der Organismus
erzielt auf solchem Wege mittelst des geringsten stoff*
liehen Aufwandes — denn wo ein erregbares Material vor-
lianden ist, ist das Mitvorhandensein der zugehörigen Erregungs-
produkte ganz von selbst gegeben — , daCs die Netzhaut mit
vier verschiedenen chromatischen Grundprozessen auf die Licht-
strahlen zu reagieren vermag.
Da Lichtstrahlen, die mit antagonistischen chromatischen
Valenzen begabt sind, sich bei gleichzeitiger Einwirkung auf
die chromatiBchen Sehstoffe gegenseitig hemmen und unter
Ümst&nden völlig kompensieren, so ist es zweckmäisig, dafs
neben den chromatischen Sehstoffen noch das erregbare Material
des WeiTsschwarzsinnes in der Netzhaut vorhanden ist, und
dafs alle Lichtstrahlen neben ihren chromatischen Valenzen
noch eine Weifsvalenz besitzen. Lifolge dieser Einrichtung
können solche Lichtgemische, welche infolge von Antagomsmus
zwischen den chromatischen Valenzen der Partiallichter far die
chromatischen Sehstoffe wirkungslos sind, immerhin noch durch
Erweckung von TT-Prozessen uns merkbar werden (vergl.
S. 393.)
2. Es ist zweckmäfsig, dafs sich das Sehorgan nach jeder
Lianspruchnahme möglichst schnell erhole. Dieser Anforderung
genügt die Netzhaut nicht blofs dadurch, dals in ihr, ähnlich
wie in anderen Organen, eine nach den jeweiligen Bedürfnissen
regulierte Stoffzufuhr und Stoffabfuhr stattfindet, sondern
gleiehong nicht zugleich für eine intramakulare Stelle gilt, darauf zorück-
sufähren, dais eine einem bestimmten Zwecke dienliche, physiologische
Einrichtung nicht allen Netihautstellen erteilt ist.
Zur Psychophysik der Gesichtsempfindimgen, 407
•auch dadurch, dafs in ihr nach Schwinden eines Beides ein
Teil der dnrch den Beiz geschaffenen Erregungsprodukte
unmittelbar zurückgebildet wird. Diese (dem negatiyen Nach-
bilde zu &runde liegende) Bückbildung der Erregungsprodukte
ist eine einfache Folge des Gesetzes der chemischen Massen-
wirkung.
3. Diese Bückbildung wird nun aber überdies zweckmäfsiger-
weise noch durch die indirekte Netzhautreizung gefordert.
Aufserdem dient die indirekte Netzhautreizung auch noch dazu,
die Erregbarkeit der zentraleren Netzhautstellen für die Ein-
wirkung eines bei einer Blickbewegung bevorstehenden Licht-
reizes gut vorzubereiten.
unser Sehorgan ist nicht dazu da, in das Sehfeld hinein-
zustarren, sondern dazu, durch eine geeignete Wanderung des
Blickes die einzelnen Gesichtsobjekte in ihren Besonderheiten
und Beziehungen näher zu erfassen. Angenommen nun z.B., wir
wenden unseren Blick einem seitlich von uns auf grauem
Grunde sich befindenden, gelben Objekte zu, so wird in der
Umgebung der jeweilig von dem gelben Objekte betroffenen
Netzhautstelle durch indirekte Beizung der Blauprozefs, d. h. die
Bildung von Gelbmaterial gefördert. Es dient also die indirekte
Beizung einerseits dazu, in denjenigen Netzhautstellen, welche
bei der Blickbewegung soeben durch das gelbe Objekt gereizt
worden sind, die Bückbildung der durch äiese Beizung ent-
standenen Erregungsprodukte in Gelbmaterial zu fördern, und
andererseits dazu, in denjenigen Netzhautstellen, denen die
Beizung durch das gelbe Licht bevorsteht, die Menge des
hierbei in Anspruch zu nehmenden Gelbmateriales zu steigern
(man vergleiche HERDfo, 2!ur Lehre vom Lichtsinn. S. 91 f.).
Steht man nicht auf dem Standpunkte derTheorie der Gegen-
farben, so kommen die vorstehende angedeuteten Gesichtspunkte
f%br eine biologische Verständlichmachung des Simultankontrastes
und der den negativen (komplementär gefärbten) Nachbildern zu
Grunde liegenden Vorgänge ganz in Wegfall. Wenn z. B.
DoNDEBS annimmt, dafs bei Stattfinden eines chromatischen Er-
regungsprozesses eine partielle Dissoziation der beteiligten Mole-
küle stattfinde, und dafs hierauf die bei diesem Vorgänge ent-
standenen Bestmoleküle gleichfalls noch der Dissoziation ver-
fielen (welch unnütze Ausgabe chemischer Spannkräfte!), welch
letzterer Vorgang dem komplementär gefärbten Nachbilde zu
408 G, K Mütter.
Grunde liege, so ist nach dieser Annahme der Vorgang, der
dem genannten Nachbilde zu Grunde liegt, nichts weniger
als zweclonäfsig.
Wie bereits Mach und Hering hervorgehoben haben, dient
der dem Simultankontraste zu Grunde liegende Mechanismus
auch noch dazu, die an und für sich schädlichen Wirkungen
des im Auge zerstreuten Lichtes zu kompensieren, und wirkt
auch unmittelbar dahin, die Helligkeitsunterschiede benach-
barter Lichtflächen deutlicher hervortreten zu lassen.^
4. Trotz der Einrichtungen, welche einer schnellen Er-
holung der Netzhaut dienen, ist es zweckmäfsig, dafs intensive
Lichter bei ihrer Einwirkung auf das Auge Schutzvorgänge
hervorrufen, welche die Wirksamkeit derselben auf die licht-
empfindliche Netzhautschicht verringern. Andererseits ist es zweck-
mäfsig, dafs bei andauernder stark herabgesetzter Beleuchtung
die Wirkungsfähigkeit, welche die Lichtstrahlen für die licht-
empfindliche Netzhautschicht besitzen, erhöht werde. Diesen
beiden Zwecken dienen neben anderen Einrichtungen (der
Variabilität der Pupillenweite und des Augenlidspaltes) die
^ Nach der Theorie der Gegenfarben ißt der Prozeis, der in einer
Netzhantstelle durch direkte Heizung entsteht, mit dem Prozesse, der in
der Umgebung dieser Stelle durch indirekte Reizung entsteht, durch
eine einfache Beziehung verknüpft: sie sind antagonistische Vorgänge.
Die physiologische Theorie des Zustandekommens des Simultankontrastes
hat hiemach nur die einfache Frage zu beantworten: auf welche Weise
oder nach Analogie welcher anderen physiologischen Erscheinungen hat
man die Thatsache zu erklären, dafs das Auftreten eines Netzhaut-
prozesses in einer Netzhautstelle in den benachbarten Netzhautstellen
den genau entgegengesetzten Netzhautprozeis hervorruft? Hingegen
besteht nach denjenigen Ansichten, die sich nicht auf dem Boden der
Theorie der Gegenfarben bewegen, zwischen einem chromatischen Pro-
zesse und dem ihm komplementären Prozesse im wesentlichen ,nur die
Beziehung, dafs beide Prozesse bei ihrem gleichzeitigen Gegebensein
in bestimmtem Jntensitätsverhältnisse die Empfindung von Weifs zur
Polge haben. Zwischen der Weifserregung und der Schwarzerregung
oder dem Weifsprozesse und dem Schwarzprozesse besteht nach diesen
Ansichten gar keine nähere Beziehung. Die meisten Vertreter der
letzteren schweigen sich überhaupt über die Schwarzempfindung ganz
AUS oder sehen in . seliger Unbefangenheit die Schwarzempfindung als
eine sehr wenig intensive Weifsempfindung an. Man kann zweifeln, ob
auf solche Anschauungen jemals eine physiologische Theorie der Kontrast-
erscheinungen werde aufgebaut werden können.
Zur Psychqphysik der Oesichtsempfindungen. 409
retinalen Anpassnngsvorgänge (die Pigmentwanderung, die
Bolle des Seiipurpurs).
5. Es ist zweckmäfsig, dais wir Gesichtsobjekte, die wir
früher' wahrgenommen und hinsichtlich ihrer Eigenschaften
und Wirkungen kennen gelernt haben, ohne weiteres auch
dann wiedererkennen, wenn sie uns bei anderer Beleuchtungs-
stärke, anderen Entfernungen -von uns oder bei in sonstiger
Beziehung veränderten Beobachtungsbedingungen wieder
entgegentreten (Prinzip der leichtesten Wiedererkennung).
Diesem Zwecke dienen diejenigen (hier nicht zu untersuchenden)
Einrichtungen, auf denen die annähernde Gültigkeit des
WsBSRschen Gesetzes und des Parallelgesetzes im Gebiete des
Gesichtssinnes beruht, sowie diejenigen Einrichtungen, auf
denen es beruht, dafs die subjektive Helligkeit eines Gesichts-
objektes bei monokularer und binokularer Betrachtung nahezu
dieselbe ist.^ Soll der hier erwähnte Zweck vollständig er-
reicht sein, so dürfen sich femer die Qualitäten und qualitativen
unterschiede der Gesichtsempfindungen, welche gegebene
Gesichtsobjekte oder Teile solcher Objekte erwecken, nicht
wesentlich ändern, wenn sich die Beleuchtungsstärke ändert.
Es wäre nichts weniger als zweckmäfsig, wenn sich z. B. ein
teils rotes, teils blaues Objekt bei Verstärkung der Beleuchtung
in ein teils gelbes, teils grünes Objekt verwandelte. Eine
Einrichtung, welche an und für sich im Sinne der soeben er-
wähnten Anforderung wirkt, ist die Konstanz der optischen
Valenzen. Allein, wie auch sonst dem obigen Prinzipe der
leichtesten Wiedererkennung nur annähernd und innerhalb
gewisser mittlerer Grenzen entsprochen wird, so auch hin-
sichtlich der soeben erwähnten, aus demselben entspringenden
Anforderung. Trotz der Konstanz der optischen Valenzen
wird letzterer Anforderung nur innerhalb gewisser Grenzen der
Beleuchtungsstärke hinlänglich genügt, und zwar hat diese
.ünvollkommenheit in verschiedenen umständen, zum Teil in
Kollisionen mit anderen Nützlichkeitsprinzipien, ihren Grund.
In erster Linie sind hier zu nennen der schon früher (S. 369 f.)
näher erörterte umstand, dafs die drei optischen Spezialsinne
bei ihrer Thätigkeit in verschiedenen Graden durch die nutritiven
^ Man vergleiche hierzu meine Schrift „Zur Grundlegung der Pifgdw-
jpÄy«*", S. 407.
410 O. E. Mauer.
Vorgänge unterstützt werden, femer die endogene Erregung
der aientralen Selisubstanz und die Vorgänge, welche bei ein-
tretender Adaptation an das Dunkel die Weilsvalenzen im
Vergleich zu den chromatlBchen Valenzen immer wirksamer
werden lassen.
Eine weitere Konsequenz des obigen Prinzipes der leichtesten
Wiedererkennung ist folgende: Soll es uns überhaupt möglich
sein, Gesichtsobjekte, die wir früher bei Tagesbeleuchtung
wahrgenommen haben, zu andereh Zeiten bei Tagesbeleuchtung
ohne weiteres wiederzuerkennen, so darf die Tagesbeleuchtung,
soweit sie für unser Sehorgan wirksam wird, hinsichtlich ihrer
Zusammensetzung aus Strahlen verschiedener Wellenlänge nicht
sehr veränderlich sein ; denn sonst würde uns ein und dasselbe
Objekt je nach der Tages- oder Jahreszeit oder je nach der
geographischen Lage des Ortes, wo wir uns befinden, in
wesentlich verschiedenen Färbimgen erscheinen und bei wieder-
holtem Auftauchen nur schwer und selten wiedererkennbar
sein. Nun ändert sich die Intensität der uns treffenden ultra-
violetten Strahlen mit dem Zustande der Atmosphäre nnd der
Höhe der Sonne über dem Horizonte weit mehr, als die Inten-
sität der eigentlichen Lichtstrahlen.^ Es würde daher, wenn
wir für XTltraviolett stark empfänglich wären, die Beschaffen-
heit der Tagesbeleuchtung und die Färbung, in welcher uns
ein und dasselbe Objekt erscheint, je nach dem Zustande der
Atmosphäre und je nach dem Stande der Sonne eine sehr
verschiedene sein und mithin dem obigen Prinzipe der leichtesteii
Wiedererkennung zu wenig entsprochen werden. Es läist sich
also aus letzterem Prinzipe auch unsere (annähernde) ün-
empfindlichkeit für Ultraviolett ableiten.'
^ Man vergleiche z. B. Eobr, a. a. O. I. 1. S. 338 ff.; B. Spitalbb in
Eders Jdh/rb, f. Photogr, 1888. S. 377 ff.; Abnxy, ebenda. 1893. S. 376. Da£s
die ultravioletten Strahlen je nach Jahreszeit nnd Tagesstunde heträcht-
liehe unterschiede nicht blofs quantitativer, sondern auch qualitativer
Art zeigen, haben schon Bunsbn und Boscos festgestellt (Poggendorfs
Ann. 101. 1867. S. 263).
* Einen zweiten Gesichtspunkt hat in dieser Hinsicht A. Fick
{Hermanns Handb. d. Physiol. 3. 1. S. 182) geltend gemacht. Er weist darauf
hin, daTs der Brechungsindex im Bereiche der ultravioletten Strahlen
sehr rasch mit der Schwingungszahl zunimmt, und dais mithin im Falle
einer erheblichen Empfindlichkeit f&r Ultraviolett die Deutlichkeit
unserer Bilder durch die chromatische Abweichung des brechenden
Zwr Psychophysik der Gesichtsempfindungen, 411
Wie bekannt, ist die Zusammensetzung des Tagesliehtes
ans den roten, gelben, grünen u. s. w. Liohtstrahlen zwar
-weniger schwankend, als die Stärke und Beschaffenheit des
ultrayioletten Lichtes, aber immerhin keineswegs konstant
(man vergleiche z. B. H. "W. Vogel in Eders Jahrb. f. Photogr,
1890. 8. 197 fi.). Die Erwägung dieser Thatsache läüst uns auch
dem umstände, dafs die beiden chromatischen Sinne hinsichtlich
der Erregbarkeit so sehr hinter dem Weifsschwarzsinne zurück-
stehen, eine zweckmäfsige Seite abgewizmen. Wäre letzterer
Sinn schwach, während die beiden chromatischen Sinne sich
so hinsichtlich ihrer Erregbarkeit verhielten, wie sich that-
säohlich der WeiCsschwarzsinn verhält, so würde uns z. B. ein
und dasselbe Objekt zu der einen Tagesstunde gelb mit einem
nur geringen Stich ins Weifsliche, zu einer anderen Tages-
stunde vorwiegend bläulich und zu anderen Stunden in noch
anderen Färbungen erscheinen, was dem obigen Prinzipe der
leichtesten Wiedererkennung direkt widerspräche. Das that-
sächliche Stärkeverhältnis zwischen dem Weifsschwarzsinn und
den beiden chromatischen Sinnen ist zweckmärsigerweise so
bemessen, dafs uns zwar solche Gesichtsobjekte, welche vor-
wiegend nur aus einer beschränkten Spektralregion Licht-
strahlen aussenden, durch die Besonderheit ihrer Färbung
erkennbar und wiedererkennbar werden, hingegen die zufälligen
Schwankungen der Beschaffenheit des Tageslichtes das Aus-
sehen der Gesichtsobjekte nicht wesentlich zu verändern ver-
mögen.
6. Die biologische Bedeutung der endogenen Erregung der
Sehsubstanz: Angenommen, es wäre in denjenigen Teilen der
zentralen Sehsubstanz, welche in Verbindung zu Netzhautstellen
stehen, die gegenwärtig gerade von keinem oder nur einem
minimalen Reize getroffen werden, ein psychophysischer Prozefs
Apparates merkbar beeinträchtigt sein würde. Für Tierarten, welche
hinsichtlich der Wahrnehmung der für sie wichtigen Objekte (infolge
schärferen Geruchssinnes u. dergl.) nicht in so wesentlichem Grade wie
die Menschen auf den Gesichtssinn angewiesen sind, kommt natürlich
der obige Gesichtspunkt weniger in Betracht. Inwieweit die manchen
niederen Tierarten zugeschriebene feinere Empfindlichkeit ftür atmo-
sphärische Veränderungen einfach auf die bei solchen Tierarten nach-
gewiesenermaXsen Yielfach Torhandene höhere Empfindlichkeit fttr die
▼en den Zuständen der Atmosphäre stark abhängigen ultrayioletten
Strahlen zurückzuführen ist, bleibt noch zu untersuchen.
412 0. E. Müller.
überhaupt nicht vorhanden, so wtLrden dunkle Gegenstande
des Sehfeldes Gefahr laufen, ebenso wie diejenigen Gegen-
stände, deren Bilder auf den blinden Fleck fallen, in unserer
Wahrnehmung ganz auszufallen.^ Da nun aber die Wahr-
nehmung des Daseins und der Bewegung oder Euhe der nur
wenig Licht ausstrahlenden Gegenstände durchaus in unserem
Interesse liegt, so besteht in jeder von der Netzhaut her nicht
gereizten Partie der zentralen Sehsubstanz eine S- und W*
Erregung, welche bewirken, dafs die entsprechenden Stellen des
Sehfeldes uns in einer grauen Nuance erscheinen. Sind in den
betre£Penden Netzhautstellen die Differenzen J^ — I„X- — Ig und
/,— Jj merkbar von Null verschieden, so wird die Erregung
der zentralen Sehsubstanz in der früher (S. 343 f.) angegebenen
Weise durch die Thätigkeit der Netzhaut modifiziert.
Inwieweit die endogene Erregung der Sehsubstanz auch
für die Entwickelung der Baumanschauung des Gesichtssinnes
von Bedeutung ist, soll hier nicht in Überlegung gezogen
werden.
7. Was endlich die biologische Bedeutung des Ümstandes
betrifft, dafs die auf den Sehnerven einwirkenden Netzhaut-
prozesse auf dem Wege der photochemischen Induktion
hervorgerufen werden und infolgedessen nicht sofort mit ihrer
vollen Intensität auftreten und plötzlich wieder schwinden,
sondern allmählich anklingen und abklingen, so ist hier an die
Bolle zu erinnern^ welche die positiven Nachbilder bei unserer
Bewegungswahmehmung spielen (man vergleiche W. Stkrn in
dieser Zeitschrift, 7. 1894. S. 363 ff.). Zweitens ist daran zu
erinnern, dafs eine intermittierende Beizung der Sinnesnerven,
insbesondere auch des Sehnerven, falls die Intermissionen ein-
ander schnell folgen, uns unangenehm und anscheinend auch
schädlich ist. Falls nun die Netzhautprozesse im Momente
* Erhebt man den Einwand, dafs, ganz abgesehen von der Licht-
zerstreuung im Auge, auch ein sehr dunkles Objekt noch eine gpewisse
Menge von Licht ausstrahle, so übersieht man, dafs der EinfluTs, den
ein dunkles Objekt auf die entsprechende Netzhautstelle ausübt, durch
die in entgegengesetztem Sinne sich geltend machende indirekte Beizung;
welche von benachbarten helleren Objekten ausgeht, leicht völlig
kompensiert werden kann, so dafs trotz der thatächlicben Lichtaus-
strahlung des dunklen Objektes . an der entsprechenden Netzhautstelle
1^ — 1,^=^ Ir—Ig = L—Ih = 0 ist.
Zur Psychophysik der Gesichtse^pfindwhgen. 413
des Auftretens der betreflPenden Beize ganz plötzlich in ihrer
vollen Stärke erstünden und im Momente des Aufhörens der
Beizung ebenso plötzUch wieder herabsänken, so würden wir
in vielen Fällen schon bei einer mäfsig schnellen Wanderung
des Blickes über eine Beihe verschiedener Gegenstände hin
eine Beizune von schroff intermittierender Art erfahren, was
nichts weniger als ^ Bückbewegungen auffordernd und z^^V-
mäfsig sein würde.
Hiermit möge diese biologische Betrachtung beendet sein.
Wir haben nicht Anlafs, auch noch andere Einrichtungen des
Sehorganei, die in keiner Beziehung zu den hier behandelten
psychophysischen Fragen stehen» etwa ausschliefslich der räum-
lichen Wahrnehmung dienen, in gleicher Hinsicht zu erörtern.'
^ Auf die biologische Bedeutung des zwischen dem Netzhautzentrum
und der Netzhautperipherie bestehenden Erregbarkeitsunterschiedes sind
wir nicht eingegangen, weil dieselbe schon von Anderen hinlänglich er-
örtert worden ist. Man vergleiche z. B. KnusoHXAKV in Wvndts Pküas.
Shid., 5. S. 490 f.
(SchlulB folgt.)
Beschreibnng eines neuen Chronographen.
Von
Saymoni) Dodge
z. Zt. Halle a. 8.
(Mit 2 AbMldnngen im Text)
Wälirend des Verlaufs einer Beihe von psychologischen
nnd psychophysiologischen Untersuchungen unter Leitung des
Herrn Prof. Benno Ebdmann an der Universität Halle wurde
es notwendig, eine gröfsere Anzahl genauer Zeitmessungen sn
machen.
Es erschien zweckmäJGsig, den Messungen eine leicht auf-
zubewahrende Form zu geben. Aus diesem Grunde, dann aber
auch, weil sehr verschiedene Zeiten innerhalb des Intervalles
von 1^' bis 0.001^' zu messen waren, schien das Hippsche
Chronoskop unanwendbar. Die Chronographen verschiedener
Arten, die zu solchen Zwecken geeignet sind, waren wegen
ihrer Herstellungspreise und des mit ihrer Benutzung ver-
bundenen Zeitverlustes ebenfalls ausgeschlossen.
unter diesen umständen entwarf ich den Plan eines ein-
fachen Chronographen, dessen Ausführung nach meinen Zeich-
nungen (durch den Präzisions-Mechaniker Wesselhöft-Halle
a. S.) die Zustimmung des Herrn Prof. B. Ebbmann und die
bereitwillige Unterstützung des Herrn Kurators der Universität
ermöglichte.
Der Chronograph hat sich in unseren Untersuchungen so
durchaus bewährt, dafs es zweckmäfsig erscheint, ihn weiteren
Kreisen zugänglich zu machen.
Das Instrument setzt sich aus einem Begistrierapparat
und einer elektromagnetisch armierten Stimmgabel zusammen.
Der Begistrierapparat (Fig. I) ruht auf einer festen
Unterlage von geschwärztem Holz, die ungefähr 25 cm lang
Saehreibung einet fMNOi Chronographen.
416 Itaymcmd Dodge,
und 18 cm breit ist. Etwa 9 cm von der einen schmalen Seite
entfernt, befinden sich 2 Hufeisen-Elektromagnete (M M)y deren
gegenseitiger Abstand durch die Schrauben ZZ reguliert
werden kann. Zwischen den Magneten befinden sich in horizon-
taler Lage zwei breite, dünne Messingstäbchen (S S)^ welche
unabhängig von einander vibrieren können. An ihnen sind,
den Magneten entsprechend, zwei Blättchen (Ä Ä) von weichem
Eisen als Anker befestigt. Die Messingstäbchen berühren durch
die Messerschneiden m die senkrechten Lager C C, und werden
durch eine starke Stahlfeder (F) an die senkrechtstehende
Stütze B gedrückt. Jedes von beiden ist also horizontal nur
in der Bichtung auf seinen Magneten innerhalb kleiner Q-renzen
um die senkrechte Axe aa beweglich.
An den Spitzen (EE) der Messingstäbchen sind dünne
Messingfederhalter befestigt. Diese sind so konstruiert, dais sie
einige Tropfen Tinte halten, welche nach dem Prinzip der
FüUfedem an die Spitze der Schreibfedem geleitet werden.
Diese Federn ruhen auf dem horizontalen Täfelchen T.
Vor dem Täfelchen stehen zwei wagerechte Walzen unter-
einander. Die obere Walze (W) rotiert, auf der Welle des
Bades H befestigt, mit diesem. Die untere, auf der Zeichnung
nicht sichtbare Walze wird durch die Messingfedem JP^ F" gegen
den unteren Teil der oberen Walze gedrückt.
Die Drehung des Bades (H) in der Bichtung des Pfeiles F
treibt einen zwischen die Walzen geschobenen Papierstreifen
auf der Ebene T unter den Federn b b vorbei. Durch das
gebogene Stäbchen T wird der Papierstreifen in die schräg
nach unten verlaufende Bahn N geleitet und durch die
horizontal verlaufende untere Fortsetzung dieser Bahn bei X
herausgeführt.
Durch einen Druck auf die Federn jF" F" vermittelst der
ü-förmigen, an ihnen befestigten Brücke B wird die untere
Walze so nach unten gedrückt, dafs die Bewegung des Papier-
streifens in jedem Augenblick unterbrochen werden kann. Der
Druck auf B wird in dem vorliegenden Instrument durch den
Finger ausgeübt. Er kann durch eine einfache Vorrichtung
auf elektromagnetischem Wege hergestellt werden.
Sind die Messingstäbchen in der Buhelage, so zeichnen
die Schreibfedern auf den bewegten Papierstreifen zwei parallele
G-erade. So oft auf G-rund der Auslösung eines Stromes die
BesehreHning eitus n€um Chronographen. 417
Anker Ton den Elektromagneten angezogto werden» antufcehen
an den Geraden Ansbnchtungen von entsprechender Länge.
Indem man den einen der Magneten in eine durch die
Schwingungen einer Stiznmgabel nnterbrochene Leitung einfügt,
seichnet die ihm zugehörige Schreibfeder die Schwingungskurve
der Stimmgabel auf das bewegte Papier. Wird der andere
Magnet einer zweiten Stromleitung eingefügt, so daüs der
Strom von d^[ zur Messung bestimmten Vorgängen unter-
brochen wird, so entstehen entsprechende Ausbuohtungeai, deren
Entfemimg von einander an der Stimmgabelkurve leicht ab-
gemessen werden kann.
Bei bekannter Schwingungszahl der Stimmgabel ist das
Zeitintervall einfach zu berechnen.
Im thatsächlichen Gebrauche waren abwechselnd eine
Stimmgabel von 250 Schwingungen in V\ und eine genau gehende
TThr, deren Echappement den Strom zweimal in jeder Sekunde
unterbrach, als Malsmittel benutzt. Die ühr wurde für die
Messung längerer Zeiten verwendet, bei denen eine Genauig-
keit bis zu 0.1'^ hinreichend war.
um die Stimmgabel dieser neuen Form des Begistrierens
anzupassen, ist es zweckmäfsig, zwei Eontakte zu benutzen.
Der eine dient als Eontakt für die Erhaltung der Stimm*
gabelschwingungen. Der andere dient der Übertragung auf
den Begistrierapparät, und wird so eingestellt, dafs der Strom-
schlufs erst im letzten Moment der Schwingung erfolgt. Dies
ist notwendig, damit ein hinreichender Wechsel der Intensität
des induzierten Magnetismus möglich wird.
Die Benutzung eines zweiten Eontakts bietet insofern einen
Vorteil, als . andernfalls die Amplitude der Anfangsschwingung
«ine sehr jprofse sein mufs, um die Berührung mit dem Queck«
ailber zu erreichen.
um zu prüfen, bis zu welchem Teil von V die Messungen zu-
verlässig sind, wurde folgende Eontroll versuche ausgeführt, unter
•ein mit Stahlschneide auf einem Stahllager ruhendes Pendel,
•dessen Bewegung stets von ein und demselben Punkt seines
Bogens aus erfolgt, waren zwei Stromunterbrecher (Fig. 11) an*
gebracht, die aus kleinen, leicht bewegbaren rechtwinkeligen.
Stückchen Messing (^ 8) bestehen. Diese sind um die Axen A A
drehbar. Indem die Pendelspitze die Spitze B schlägt, wird
<lie Leitung KAZM tmter brechen. B fällt nach unten und
Zeitschrift fftr Psjehologie X. 27
418
Baymond Dodge.
.^berührt das Quecksilber in Hj wodurch die Leitung KÄ BHÄ' M
hergestellt wird, welche wiederum unterbrochen wird, sobald
die Pendelspitze die Spitze B' berührt. In dieser Weise ent-
steht eine gleichmäfsige zweifache Unterbrechung. Indem die
Leitung (KM) durch den Begistrierapparat geführt wird, ge-
winnt man ein Mittel, die Zuverlässigkeit der Messungen zu
kontrollieren. In einer Beihe von 60 Versuchen waren jedes-
mal die Besultate so genau, wie die Möglichkeit der verr
gleichenden Messung mit dem Zirkel gestattet.
JB'
• •
e
H
•:«•*»
JÜLÄJLQ.
üüUjAflLOjiAgp
Fig, IL
In jedem Falle wurden nicht die Anfange der Ausbuchtung»
sondern ihre schärfer begrenzten Enden gemessen.
Die Stimmgabel hat die Schwingungszahl 250. Die An-
zahl der Schwingungen zwischen den beiden zur Kontrolle
dienenden Unterbrechungen durfte auf 34 Vs angesetzt werden,
denn in keinem Falle war es möglich, das Resultat der Messung
als 35 oder 34% Schwingungen zu bestimmen. Dafs eine
kleine Schwankung um die Gröfse von 3478 bemerkt wurde,
kann an meiner Unfähigkeit, die Teilung genau zu machen, oder
an einer Unzuverlässigkeit des Apparates innerhalb gewisser
Grenzen liegen. Dafs die Gesamtschwankung niemals ein
Achtel einer Schwingung überstieg, entspricht einer Zuvor*
ässigkeit der Zeitmessung bis zu 0.0005".
Beachreiifung eines tieueii Chronographen, 419
Für diese Messungen wurde eine Geschwindigkeit der Ber
wegung des Papierstreifens von etwa 70 om in 1^' benutzt. Jede
Doppelscliwingungskurve der Stimmgabel war also 2.8 nun. .
Eine obere Grenze der Geschwindigkeit, bei welcher die
Federn nicht mehr 2uverläXsig schreiben werden, ist von mir
nicht erreicht worden ; aber schon bei der obigen Geschwindig«>
»keit sind die Linien etwas schwach. Eine Geschwindigkeit
von 36 bis 5d cm in V giebt viel schönere, stärkere Linien^
und ftür Messungen bis zu 0.001'^ reicht sie vollständig aus.
Die Triebkraft, die zur Drehung des Bades H diente, war
durch eine drehende Welle gegeben, die durbh ein von einem
Gewicht getriebenes Schnurradwerk in Botation gesetzt war»
Obgleich die Geschwindigkeit der Bewegung des Papierstreifens
demnach nur innerhalb kleiner Zeiten konstant war, waren
ihre Änderungen doch so regelmäfsig, dafs sie durchaus be-
deutungslos blieben.
Wenn es notwendig wird, kann leicht ein Bäderwerk
zum Drehen der Walzen W mit dem Apparate verbunden
werden.
Ein solches Bäderwerk ist jetzt nach meiner Angabe von
dem Mechaniker Wesselhöft konstruiert worden, und wird
in der Abhandlung, die über unsere Untersuchungen berichten
soll, beschrieben werden.
Zwei nicht unbedeutende Mängel haften dem Ohrono*-
graphen an.
In der vorliegenden Form weist der Begistrierapparat nur
zwei Schreibfedem auf. Die eine registriert die Schwingungen
der Stimmgabel oder des Echappements im Uhrwerke; für die
Begistrierung des zu messenden Zeitintervalls bleibt daher nur
eine zweite zur Verfügung. Die genaueste Form eines solchen
Begistrierens wird durch zwei Unterbrechungen oder durch zwei
Kontakte erzengt. Die Herstellung dieser Bedingungen kann
technisch schwierig sein. Aus diesem Gh:iinde wird die Messung
von drei aufeinanderfolgenden Vorgängen noch schwieriger. >
Der zweite Mangel besteht in der Schwierigkeit, negative
Zeiten zu messen. Dafs diese Mängel aufzuheben sind, z. B.
durch die Anwendung noch einer Schreibfeder mit entsprechendem
Magneten, is^ ohne weiteres ersichtlich.
In diesem Falle wird am besten ein Stäbchen in der Längs-
richtung des Papierstreifens, die zwei anderen schräg zu dieser
27*
490 Suffmmi Dodge.
gsttallt, oad zwar so, dafs die Sohreibfedem einander möglichst
nahe stehen. Es ist mir jedoch zweifelhaft, ob eine solche
Komplikation des Instnimetttes zu empfehlen sei Erstens ist
die genauere Messung von negativen Zeiten bis jetst that-
sächlich von geringer Bedentung. Wenn es aber notwendig
wird, negative Zeiten zu bestimmen, so wird dies auch mit
Hülfe des vorliegenden Apparates in dem Falle ausfahrbar,
dals die ünterfarechnngen Zugleich bestimmte and versohiedane
Lftngen haben; sribstverständlioh aach dann, wenn mehr als
awei Vorgänge sn messen sind.
Wird eine dritte Schreibfeder hinzngef>, so wird das
InstnmLMit auch dadurch kompliziert, dafs ein Kontrollhammer
oder eine ähnliche Vorrichtung zur Kontrolle der gleichzeitigen
Bewegung der Stäbchen angebracht werden muis.
Als besondere Vorzüge des Instrumentes sind anzuerkennen :
Erstens, dafs es ein ebenso zuverlässiger wie einfacher and
leicht zu handhabender Chronograph ist. Seine leichte Be-
weglichkeit macht ihn zum allgemeinen Gebrauche im Institut,
sowie zu Demonstrationszwecken geeignet.
Zweitens, dafs er es möglich macht, feste, mit Tinte ge-
sc^uriebene Zeitkurven zu erlangen, die ohne weiteres aufbewahrt
werden können.
Drittens sind die Herstellungskosten unvergleichlich geringer,
als die irgend eines anderen Chronographen von gleicher Präzision.
Sie betragen für den einfachen Begistrierapparat etwa 50 Mark.
' Endlich ist sein beinahe unzerstörbarer, solider Bau gegen-
über dem ebenso verwickelten, wie leicht angreifbaren Bau
der jetzt gebräuchlichen Mechanismen kaum zu hoch zu schätzeiL
Auiser als Chronograph im engeren Sinne lä&t der Apparat
sioh zweokmälsig auch zu Kontrollversuchen verwenden. Z. B.
lassen sich mit seiner Hülfe Stimmgabeln einfach gegen ein-
ander auf ihre Sohwingungszahl prüfen.
Wir haben fOr unsere Versuche Leclanche-EUemente von
etwa 25 cm Höhe benutzt. Irgend welche anderen konstanten
Elemente sind dazu gleich gemgnet. Zu der einfachen Form sind
drei Ketten notwendig : die eine zur Erhaltung der Stimmgabel-
schwingungen, die zweite zur Übertragung der Schwingungen
auf den Begistrierapparat, die dritte zur Bewegung der »weiten
Schreibfeder. Bei allen unseren Messungen bestanden die erste
und dritte Kette aus je drei Elementen, die zweite Kette aus f&nf.
über Kontrast und Konfluxion.
(Zweiter Artikel.)
Von
F. C. MüIiLba--Ltbb.
(Mit 26 Figuren Im Text.)
Jn dieser Zeitsthrift Bd. XI, Heft 8/4 finde ioh eint Arbeit
von G. Hetmaks, in der tioh der Verfasaer, nach dem Vorgange
A. BiNETs,^ die Aufgabe stellt, die quantitativen Yerli<nisae
der Konfluxionstäuscbung doroh Messung an mner grdfieren
AnzaU von Individuen festzustellen.' Die Messungen Binets
und HsTMASs' beziehen sieh auf wohl alle Fragen, dia über
diese quantitativen Verhältnisse der Täuschung bis j^tzt auf*
geworfen und, zum Teil wenigstens, von verschiedenen Beob^
achtem in nicht ganz gleichlautender Weise beantwortet worden
waren, so dals wir jetzt ein Zahlenmaterial besitzen, das auch
auf die Theorie ein helleres Licht wirft, als es bisher der Ji^aU
war. Hetmans b^iutzt denn auch die Resultate dieser quan«
titativen Untersuchungen dazu, die Entstehung der Täuschung
aufzuklären, wobei er u. a. zu dem SehluTs kommt, dals die
von mir verteidigte Kontrast- und Konfluxionstheorie nidit
richtig sei. Diesem Teile der Arbeit, der zu Mifsverständnissen
mehrfach Veranlassung geben könnte, möchte leh eine kurze
Beeprechung widmen.
Es sind nicht weniger als sieben Einwände, die Hbymans
gegen die Konfluxionstheorie ins Treffen fahrt, deren Anzahl
sieh aber hti näherem Zusehen bedeutend vermindert, da vier
der Einwände sich überhaupt gar nicht auf die Konfluxions*
^ A. BiNBT, La mesure des illusions visuellss ohez les enfants. Ew,
pkilM. 1895. Juli-Heft. S. 11.
* G. riBYMAVS, Quantitative üntersnchungeii über das „optische
Paradoxon''. Diese Zeüschr. IX. 8. 221. 1895.
422 ^. C. Mütler-Lyer,
theorie beziehen, sondern auf eine Modifikation derselben, die
mir vollständig fremd ist, nnd die ich ebenfalls für leicht zu
widerlegen halte.
Meine tSrklärang lautete nämlich [Du Bois-Reymonds Arch.
f. Physiol 1889. Suppl. S. 266 und diese Zeitschr. IX. S. 2) :
„Man hält die beiden Linien für verschieden grofs, weil man
bei der Abschätzung nicht nur die beiden Linien, sondern
unwillkürlich auch einen Teil des zu beiden Seiten der-
selben abgegrenzten Baumes mit in Anschlag bringt."
Was wird nun bei Hbtmans aus diesen "Worten? (L. c.
S. 236):
„Was zuerst die . älteste, von Mülleb-Lyeb vorgetragene
Hypothese betrifft, nach welcher die „Koniiuxion** der Ver-
gleichslinien mit hinzugedachten gröfseren und kleineren
Nebenlinien der Täuschung zu Grunde liegen sollte^
Also an die Stelle des wirklich existierenden optischen
Reizes, von dem ich. spreche, treten nun bei Hetmans plötzlich
^hineingedachte NebenUnien^
Es war gerade ein Vorzug meiner Hypothese, dafs 9ie
nicht aus Hineingedachtem heraus erklärte, sondern, wie ich
zum ÜberfluTs mehrfach ausdrücklich betone (z. B. diese Zeiischr.
IX, S. 3, S. 8), sich nur auf die wirklichen optischen Beize
bezog, wie sie in der Figur unleugbar vorhanden sind. Auch
findet sich an keiner einzigen Stelle meiner beiden Arbeiten
äuct nur ein Wort von „hineingedaohten Nebenlinien^. Das
mufs wohl auch Heymans aufgefallen sein. Denn er zitiert
zum Beleg seiner Auffassung nicht etwa eine bestimmte
Stelle aus meinen Arbeiten, sondern diese in ihrem voUen
umfang, von der ersten bis zur letzten Seite (1. c. die Fu¬e
S. 236).
unter Zugmndelegung dieser Verwechselung läfst sich
nun allerdings manches gegen die Theorie vorbringen, wie sich
bald zeigen wird, wenn wir nun die verschiedenen Einwände
Heymans' einen nach dem anderen ins Auge fassen.
Der erste Einwand hat allerdings mit den „hineingedachten
Nebenlinien^ nichts zu thun; er lautet (S. 247. L c): Die
Konfluzionstheorie kann zwar das „Cosinusgesetz^ erklären,
aber nicht das „Maximumgesetz^.
Auf diese beiden, von Heymans aufgestellten Gesetze mufs
ich hier zunächst etwas näher eingehen.
über KowtrMt und Konfluxion. 423
Über die Abhängigkeit der Intensität der TäuiBohung von
der Winkelgröfse hätte ich in meiner ersten Abhandlung (1. c.
S. 263) den Satz aufgestellt: ^Läfst man den einen Schenkel:
eines Winkels von 0® bis 180^ wandern, so erscheinen die
beiden Schenkel um so länger, je.gröfser der Winkel wird.^
Die [Richtigkeit dieses ßatzes ist unterdessen mehrfach
(von Laska, fiBENTANO, Auebbagh) angefochten, worden.;
Heykans bestätigt und präzisiert ihn nun, indem er auf Grund-
lage seiner quantitativen Untersuchungen findet (1. c. S. 227),
„dafs die Täuschung von 90^ bis 10^ fortwährend zunimmt^,
und zwar so, „dafs eine nahezu vollständige Proportionalität
zwischen dem Cosinus des Schenkelwinkels und dem mittleren
Betrag ^ der Täuschung besteht^. Allerdings umfafst das
„Cosinusgesetz^ nicht alle FäUe der Täuschung, es gilt nur
für kurze Winkelschenkel, während sich bei längeren Schenkeln
eine davon abweichende Funktion ergiebt. Bedenkt man
aufserdem, mit welcher Vorsicht derartige mathematische
Formulierungen physiologischer Funktionen aufzunehmen sind
— ich erinnere nur an die zahlreichen sich widersprechenden
Funktionsgleichungen, die über die Abhängigkeit der relativen
TJnterschiedsempfindlichkeit von der absoluten Beizstärke auf-
gestellt worden sind — , so erscheint es fraglich, ob meine
Formulierung durch das „ Cosinusgesetz '^ wird ersetzt werden
können; jedenfalls ergeben, aber die Messungen Heymans' eine
wohl definitive Bestätigung. jenes Satzes.
Das zweite von Hetmans aufgestellte G-esetz, das „Maximum-
gesetzt, formuliert die Abhängigkeit der Intensität der Täuschung
von der Schenkellänge (1. c.S. 231): „Bei fortgesetzter Schenkel-
verlängerung nimmt allgemein die Täuschung anfangs zu,
erreicht dann ein Maximum und nimmt schliefslich wieder ab.^
Während nun, nach Hetmans, das Cosinusgesetz in guter
Übereinstimmung mit der Konfluxionstheorie steht, so soU das
Maximumgesetz damit durchaus unvereinbar sein. Heymans
giebt an, dafs ich „ausdrücklich die Erwartung ausgesprochen
hätte, dafis die Täuschung mit wachsender Schenkellänge fort-
während zunähme^, und zitiert als Beleg dafür eine Stelle aus
meiner ersten Arbeit; ^ aber er übergeht vollständig das ganze
sechste Elapitel meiner zweiten Arbeit, das von der Komplexität
der Trugmotive im allgemeinen und von dem Antagonismus
zwischen Kontrast und Konfluxion im besonderen handelte
424 F. C MmOar-Lfftr.
leb zeigte dort nicht nur, dafs eine Vermehnuig der SehenkeU
länge, bei gleidier Winkdgröfse, die MitteUinie in fSg. 2
ktkrsNT erscIiAinen läXst, als in Fig. 1, eondem ich Terauofate
^^Mi^>**i^^a0*i««Mk«M«**M^^
a
Figg. 1 u. 2.
auch diese Thatsache zu erklären durch den Nachweis, dafs
sich in den mit a bezeichneten Stellen ein gegen die Eonfltudon
antagonistisch wirkender Kontrast erhebt, da ja die beiden
Figg. 1 u. 2 sich sehr leicht auf meine sog. Fundamental-
kontrastfigur:
II M H
Figg, 3 u. 4.
zurückführen lassen u. s. w. (1. c. S. 13—15). Hätte Hstmaks
auch nur den Titel jener Abhandlung mit einiger Aufmerksam*
keit gelesen, so hätte er bemerken müisen, daCs darin keinem
wegs von Konfluxion allein, sondern Ton ,,Eontra8t und Kon-
fluxion*' die Bede ist, und hätte dieee ESnwendung überhaupt
nicht erheben können.
Zweiter Einwand. (8. 237. Figfe. 5 u. 6.) Hier stoisen
wir nun auf die „hineingedachten Nebenlinien*^, die nicht
weniger als vier Einwänden zum Stützpunkt dienen (nämlioh
No. 2, 4, 5 u. 6).
Figg, 5 u, 6.
In Fig. 5 ist der Baum über der Linie links durch zwei
Schenkel begrenzt, in Fig. 6 nach oben durch emen. und nach
unten durch einen Schenkel. Da nun in Fig. 5 der Saum
naeh oben ebensoviel einbüTst, wie in Fig. 6 teik nadb oben^
über Kontrast tmd Konfhueion,
425
teils nach nnteB, so ist nach der Konflozionetheorie zu erwarten^
dafe in Flg. 5 die T&oschung nngefilhr ebenso stark sein wird,
wie m JTiir. o.
Dae ist nun andi nach den Messungen HETMAm' that-
sachlich der Fall. Aber Hetmans' Schlafs ist folgender:
,, . . . w&hrend die Verhältnisse, welche nach Mülleb-Ltbb das
Hinzadenken angleicher Nebenlinien . . . dasAuftreten
der Tftnschang bedingen, in Fig. 5 vollständig gegeben sind,
fehlen sie in Fig. 6 durchaus.'' um „meine^ Theorie zu retten,
müfste ich mir also die schwarzen ParaUelUnien in Fig. 6
schief denken ; das müiste nun aber wieder einen entschiedenen
unterschied bezüglich der Intensität der Täuschung in Figg. 6
u. 6 bewirken, und da dies nicht der Fall ist, so ist die £j>n«
fluxionstheorie unrichtig. Denselben Schluls macht nun
Hetmanb noch dreimal.
Vierter Einwand. (L. o. S. 238.)
<
>
<
Fig 7,
In Fig. 7 ist der Baum nach oben und unten derart durch
parallele Senkrechte erweitert, dafs nun eine viel gröfsere
Anzahl von parallelen „Nebenlinien hineingedacht'' werden
können. Folglich müfsten diese Senkrechten die Täuschung
vermehren, was aber nicht der Fall ist. Also —
Fünfter Einwand (S. 289. Figg. 8—10).
Figg. 8 «. P.
In Figg. 8 u. 9 sind die Nebenlinien in Wirklichkeit ge-
zogen, trotzdem ist die Täuschung viel geringer, als wenn
Winkebehenkel angebracht sind.
426 J^* C. MüUer-Lyer.
Sollten vielleicht diese wirkliohen Kiebexüinieii . ^u dem
MiTsverständnis von den „hineingedachten Nebenlinien^
Veranlassnng gegeben haben? Ich wollte doch. damit zeigen
{Ardi, f. Physiol. 1. o. S. 266), dafs |,aach andere Baum-
nmgrenznngen um die Linie, ohne Winkelbüdung, fthnUche
Täuschungen herbeizuführen vermögen"; die parallelen I4ni6n
sollten also die Winkelsohenkel ersetzen.
DaXs bei dieser Art der Baumumgrenzung die Täuschung
schwächer ist, als bei der durch Winkelschenkel bewirkten,
lälst sich ebenso wie, dafs die Senkrechten in Fig. 7 keine
nennenswerte Veränderung hervorrufen, mit der Konfluxions-
theorie sehr wohl vereinen, da, {diese Zeitschr. ZK. S. 15) 7, enge
Nähe der Extensionen (die die Täuschung konstituieren) f&r
beide Trugmotive (nämlich für den Kontrast und die Kon-
fluxion) Voraussetzung ist". —
Sechster Einwand. (S. 240 1. c.)
Figg. 10 u, 11.
*
Hier sind die Schenkel weggelassen und ersetzt durch
vier den „nämlichen Baum" überspannende Nebenlinien;
diese Nebenlinien üben keinen wesentlichen EinfluTs aus.
Auch dieser Befund stimmt gut mit der Theorie überein.
Gerade weil der „Baum", auf den es hier ankommt, der
„nämliche" bleibt, wie Heymans selbst sagt, bleibt es auch
die Konfluxion.
Nun folgen noch zwei Einwände, die sich thatsächlich
gegen die Konfluxionstheorie und nicht gegen die Theorie von
den „hineingedachten Nebenlinien" richten (No. 3 u. 7).
Dritter Einwand. (S. 237/8.)
Wenn die Konfluxionstheorie richtig wäre, müfste die
Täuschung bei der Vergleichung von Eigg. 12 u. 13 ungefähr
über Kontrast und K(mfluxum. 427
ebenso grofs sein, wie bei derVergleicbung von Figg. 14a. 15.
Nun zeigt aber die Messung, dafs thatsächlich. die scheinbare
Verschiedenheit ' zwischen den beiden Yergleichslinien in
Figg. 12 n. 13 eine geringere ist, als in Figg: 14 u. 15; d. h.
die einwärtsgekehrten Schenkel in Fig. 12 sind für das Zu-
standekommen der Täuschung weniger wichtig, als eile nach
auswärts gekehrten Schenkel in Fig. 15.
Figg, 12—10.
A. BiNET, der übrigens diese Thatsache zuerst entdeckt
und beschrieben hat (1. c. S. 19), erklärt sie mittelst der Muskel-
theorie folgendermafsen : („S. 20) . . si on fait intervenir les
mouTements des yeux, on comprend bien que l'oeU, en suivant
la ligne principale de la Fig. 15, d6passe facilement les ex-
tremites de cette ligne pour suiyre les obliques, ce qui donne
rimpression d'une longueur de ligne plus grande que larealite;
on comprend aussi que ce mouvement exagere de l'oeil se
produise beaucoup moins facilement en sens inverse, pour la
Fig. 12, parceque dans ce demier cas le mouvement de l'oeil,
pour suivre les obliques, ne continue pas avec l'impulsion
acquise, mais doit changer brusquement de direction.'^
Diese Erklärung, so plausibel sie auf den ersten Blick iat,
scheint mir doch mehr auf eine Umschreibung hinauszulaufen;
man könnte in gleicher Weise, fast noch besser, das Gegenteil
erklären. Man würde dann sagen, dafs die Muskelbewegung
in Fig. 12 beim Abmessen der Vergleichslinie weit mehr ^ durch
die seitlichen Schenkel gestört werden müsse, als in Fig. 15,
weil in Fig. 12 diese Schenkel, in das Gesichtsfeld, auf dem
die „Abtastung^ vor sich geht, hineinragen, während sie in
Fig. 15 jenseits dieses Gesichtsfeldes liegen und deshalb, „wie
vorauszusehen war^, weniger störend wirken.
Ich möchte lieber die Erscheinung vorläufig unerklärt
lassen. Nach meinen Darlegungen über die „Komplexität der
Trugmotive ^ halte ich es, bei der grofsen Verschiedenheit
zwischen Figg. 12 u. 15, nicht für unwahrscheinlich, dbis hier
438
F. C. MMer-lAfer.
ein aooessorUchee Moment ins Spiel tritt, bo wie wir diee %. B.
bei den folgenden Figg. 16 n. 17, die Heshavs in genMi der-
selben Weise als Einwand geltend macht, mit yollkommener
Klarheit nachweisen können, nnd zwar, weil hier das acoeseo-
rische Moment bereits kekannt ist.
Siebenter Einwand. (S. 24iy
Figg. 16 u. 17.
li der Vergleichnng von a nnd b ergiebt sich ein kleinerer
scheinbarer unterschied zwischen den Yergleichsstrecken, als
zwischen c nnd d. Nach der Eonflnxionstheorie dürfte, wie
HmrMAKS meint, dieser unterschied nicht vorhanden sein.
Hier sind wir nnn, wie schon bemerkt, in der Lage, „das
accessorische Moment"" schon zn kennen ; es tritt hier znr eisten
eine zweite Tänschnng hinzu, die ich ebenfalls schon beschrieben
(im zweiten Kapitel meiner ersten Abhandlung, S. 267 — 969)
nnd die ich dort in dem Satze formuliert habe:
„Daus, wenn die Grenzlinien von Figuren unterbrochen
werden, sich dann auch die scheinbare Form der übrig-
bleibenden Grenzen ändert.^
Vergleicht man nämlich in der obigen Figur nicht nur a
mit b und c mit d, sondern auch a mit c und b mit d, so sieht
man auf den ersten Blick, dafs hier noch eine andere
Täuschung mit im Spiel ist: a erscheint länger als c nnd d
längOT alEi b.
Wodurch unterscheidet sich nun a von c? Durch zwei
Momente: erstens ist a schwarz und e weifs; zweitens hat a
alle seine Konturen, während bei c die Konturen oben und
unten fehlen.
Welches der beiden Momente verursacht die Täuohung?
Nun, die Schwarzf&rbung hätte ganz wegbleiben können, die
^ IHe wagereeliten Linien habe ich als überflüssig weggelassen.
über KantraH und Kcmflumon.
429
Tftasohimg mlit aossohliefalicli auf dem zweiten Moment, der
Kookttiriennig :
Figg. 18 u. 19.
Da diese Täusohnngen, die man kurz als Eontnrtäiischungen
bezeichnen könnte, vielleicht noch wenig bekannt geworden
sind, gestatte ich mir, aus meiner ersten Abhandlung einige
der Hauptrepr&sentanten zu reproduzieren (1. c. Taf. IX. Figg. 8,
9, 10, 11).
Fig. 20.
Figg. 21 u. 22.
In Fig. 20 scheint das Quadrat rechts höher und schm&ler
EU sein als das gleich grofse Quadrat links; die Täuschung
bleibt auch dann bestehen, wenn man die beiden Quadrate
auseinandernimmt. (Figg* 21 u. 22.)
In Fig. 23 hält man das Mittelfeld ebenfalls fGLr be-
deutend schmäler und höher, als das gleich grosse, aber ringsum
konturierte Mittelfeld in Fig. 24.
unterbricht man die Konturen eines Kreises an ' einer
oder mehreren Stellen (Figg. 25 u. 26), so bewirkt man dadurch
430
F. C. Müller-Lyer.
eine scheinbare Abflacliimg der übrigbleibenden Bogenteile;
infolgedessen hat man den Eindruck, als ob diese Bögen nicht
demselben, sondern gröfseren Kreisen zugehörten, und von ihren
•
Figg. 23 u. 24.
Verlängerungen erwartet man nicht, dafs sie kreisförmig in-
einander übergehen, sondern dafs sie sich unter stumpfen
Winkeln schneiden werden u. s. w.
Figg, 25 u. 26.
Aus allen diesen Täuschungen läfst sich also thatsächlich
der Satz abstrahieren: „dafs, wenn die Qrenzlinien einer
Figur unterbrochen werden, sich dann auch die
scheinbare Form der übrigbleibenden Grenzen ändert;
und zwar (möchte ich hier hinzufügen) findet in der
Sichtung der Unterbrechung eine scheinbare Ver-
längerung und in der darauf senkrechten Sichtung
eine scheinbare Verkürzung statt."
Bezüglich der Erklärung dieser Täuschung mufs ich hier
auf die zitierte Abhandlung verweisen, die ich besonders deneui
fjber Kontrast und Kanfluxion. 431
die „optische Paradoxa^ zu finden, zu erklären oder „ein-
zuführen^ wünschen, als Fundort bestens empfehlen kann.
Kehren wir nun wieder zu Fig. 16 zurück, so ergiebt das
Gesagte, dafs das Feld a länger erscheint als c, weil in jener
Figur, auXser dem Kontrast und der Konfluxion, ein drittes
Täuschungsprinzip auftritt; dafs somit der sich auf jene Figur
stützende Einwand ebensowenig stichhaltig ist, wie die sämt-
lichen vorhergehenden Einwände, die Heymaks gegen die
K^onfluzionstheorie geltend gemacht hat.
Heymans allerdings glaubt, durch seine Darlegungen die
Unrichtigkeit dieser Theorie „in genügender Weise festgestellt
zu haben^, und ist nun in der Lage, die unrichtige Erklärung
durch eine bessere zti ersetzen. Auf diese Erldärung, eine
modifizierte Augenmuskeltheorie, will ich hier nicht eingehen,
da soeben eine grdlsere Arbeit über Täuschungen^ aus dem
WüNBTschen Laboratorium erscheint, die wohl ebenfalls die
Muskeltheorie, wenn auch in anderer Form, vertreten dürfte,
und deren Besultate ich abwarten möchte. AuTserdem hat
HsYMANS die von mir gegen die Muskeltheorie erhobenen Ein-
wände nicht zu widerlegen versucht.
Noch eine SchluTsbemerkung. Hr. Hetmans behauptet,
dafs die von mir gefundenen Täuschungen durch Hm. Bbek-
TAKO „in die psychologische Besprechung eingeführt" worden
seien; auiserdem schreibt Hr. Heymans, beinahe auf jedem
Blatt seiner Abhandlung, diese Täuschungen Hm. Brentano zu.
Beide Behauptungen sind unrichtig. Den von mir im
Jahrgang 1889 des Du Bois-Reymondschen Ärch, f. Pkysiöl.
beschriebenen und in allen wesentlichen thatsächlichen
Beziehungen genau studierten Erscheinungen hat Hr. Bbentano
nichts weiter hinzugefügt (diese Zeitschr. 1 892), als eine Hypo-
these, die von sämtlichen nachfolgenden Bearbeitern, Hir. Heymans
mit eingeschlossen, für unzutreffend erklärt worden ist.
* Von Arxahd Thdsbt. Philos. Stud. (W. Wdiidt.) Bd. XL Heft 3.
über J. VON Ubxkülls
vergleichend-BinnesphyBiologische UntersHchimg No. 1.
Von
Dr. WiMBALD A. Nagbl,
Privatdozent der Physiologie in Freibarg i. Br.
Auf einen Angriff zn antvorten, wie ihn J. yojs UbzküIiL
kürzlich gegen mich gerichtet hat/ iat keine erfreuliche Auf-
gabe. Mag es auch, wie im vorliegenden Falle, ein leichtes
sein, die Kritik in allen ihren einzelnen Punkten sn wider-
legen, mag sie auch selbst ihre Schwädo^n deutlich genug
zeigen, der Angegriffene hat immer einen schweren Stand,
wenn die Kritik in der Weise geübt wird, wie es durch Herrn
VON ÜEXKÜLL geschah. Insbesondere gilt das von einer Art
des Angriffes, deren sich dieser Autor befleijGsigt hat, n&mlich
in höhnischen und verächtlichen Worten sich über Sätze aus
der kritisierten Arbeit zu äufsern, ohne dieselben anch
nur annähernd im Wortlaute anzuführen, wodurch
eine Kontrolle der Berechtigung der Kritik für den
Leser von vornherein unmöglich gemacht wird.^
' J. TON Uexküll, vergleichend-sinnesphysiologisolie Untersucliungen.
I. Über die Nahrungsaufnahme des Katzenhais. Zeitachr. f, Biologie,
Bd. XXXn. N. F. XIV. S. 548.
* Für manche Äufserung in der TlBXKOLLSchen Kritik mOchte es
freilich schwer halten, diejenige Stelle meiner Arbeit ftberhaupt aufzu-
finden, an welche Herr von üexküll beim Niederschreiben seiner Worte
gedacht haben könnte. Das gilt z. B. von den Säteen (S. 557): „Mag
die Organisation der Tiere auch noch soweit von der unsrigen abweichen,
was macht das aus ? wir kennen die äulseren Beize, folglich nach Naosl
auch die Empfindungen. **
Wo habe ich derartiges behauptet?
über J, V, üexküUs vergleichend-sinnesphysioiogische Untersuchung No. I. 433
Doppelt schwer fällt eine derartige Handlungsweise ms
Oewichti wenn, wie liier, das kritisierte Werk^ in den Händen
nur eines kleinen Teiles der Fachgenossen sein dürfte.
Als Beispiel einer solchen irreführenden Darstellung sei
die folgende Stelle angeführt. Auf S. 555 bezeichnet Herr von
Uexküll als charakteristisch für den theoretischen Teil meiner
Abhandlung „erstens die Art des Autors, mit wohlbegründeten
Definitionen, und zweitens die Art, mit unbegründeten That-
Sachen umzugehen^.
Es folgt der vernichtende Beleg:
„Elin Beispiel fürs erstere findet sich selbst im Auto-
referat des Verfassers [Bkl. CetUralbL 1894); dort wird das
Urteilsvermögen zu den abgeleiteten Sinnen gerechnet. Ich
fürchte, es bricht eine vollkommene Anarchie in unserem
Geistesleben aus, wenn man die gröfsten Geister, wie Kant
und Hblmholtz, so nonchalant beiseite stellen darf und die
Form unseres Denkens plötzUch zu den Sinnen rechnet, wenn
auch unter der verschämten Benennung der abgeleiteten Sinne.""
(S. 556.)
Ich kann diesem emphatischen Ergüsse gegenüber nur den
Wortlaut der betreffenden Stelle meines Autoreferates anführen:
Diese Sinne (mechanischen, chemischen etc. Sinn) „stelle
ich als die Primitivsinne denjenigen anderen Sinnen (ab-
geleiteten Sinnen) gegenüber, deren Thätigkeit schon die
Existenz gewisser weiterer psychischer Fähigkeiten (Lokali-
sationsvermögen, UrteUsvermögen) notwendigerweise voraus-
setzt (Gesichtssinn, Tastsinn, Gleichgewichtssinn etc).""
Ich überlasse es dem Urteile des Lesers, ob ich hiermit
das Urteilsvermögen zu den abgeleiteten Sinnen gerechnet
habe. Die zu kritisierende Arbeit mit Aufmerksamkeit zu lesen,
das ist doch wohl das Wenigste, was man von einem Kritiker
verlangen kann.^
^ Vergleichend physiologische und anatomische Untersuchungen über
den Geruch- und G-eschmackssinn und ihre Organe, mit einleitenden
Betrachtungen aus der allgemeinen vergleichenden Sinnesphysiologie.
Gekrönte Preisschrift. Bibhotheca Moologica, herausg. von Lbuckabt und
Chun. Heft 18. Stuttgart 1894. .
' Herrn von TJexkülls Kritik reiht sich würdig an eine andere, die
Herr Loeb vor einem Jahre gegen eine andere Arbeit von mir schrieb,
und welche durchgehends gegen Anschauungen polemisiert, welche
mir mindestens ebenso ferne liegen, wie Herrn Lobb. Nach seiner
Zeitichrift fUr Psychologe X. 28
434 Wilibald Ä, Nagel
Was im übrigen den Ton anbelangt, den Herr von UBXKüiiL
in seiner Schrift gegen mich anzuschlagen für gut befanden
hat, so kann ich nicht umhin, über denselben meine lebhafte
Verwunderung zu äuTsern. Es ist heutzutage keine Seltenheit,
wenn eine wissenschaftliche Diskussion im Laufe der Zeit einen
persönlichen und gehässigen Charakter annimmt. Mifsverständ-
nisse ohne eigentliches Verschulden der Beteiligten können
derartige Spannungen herbeiführen. Dafs aber ein Autor von
vornherein so sehr den Boden sachlicher Erörterung unter den
Füfsen verliert, und das ohne jeglichen erkennbaren Grund,
ist ungewöhnlich, zumal wenn es sich, wie in unserem Falle,
um einen Autor handelt, der sich mit eben dieser Kritik zum
ersten Male auf dem betreffenden Gebiete litterarisch bethätigt.
Herr von Uexküll motiviert seinen Angriff in folgender
Weise (S. 648) :
„Da dieses Werk seiner ganzen Anlage nach den Anspruch
erhebt, bahnbrechend in ein neues Gebiet einzutreten und be-
stimmend auf die Bichtung einzuwirken, die folgende Arbeiten
einschlagen sollen, so sehe ich mich wider Willen gezwungen (?),
in eine Diskussion der theoretischen Grundlagen dieses Werkes
einzutreten."
Woraus Herr von Uexküll die Berechtigung herleitet, über
die Ansprüche, welche ich für meine Arbeit überhaupt erhebe,
und über den genannten Anspruch im speziellen Vermutungen
zu äufsem, weifs ich nicht. Meine Absicht war, den zahlreich
vorliegenden Untersuchungen über den Geruchs- und Geschmacks-
sinn wirbelloser Landtiere gegenüber auch einmal Wassertiere
eigenen Aussage wünschte Herr Loeb auf seine, wie ihm schien, zu
wenig bekannt gewordenen frCLheren Untersuchungen hinzuweisen; eine
Kritik meiner Arbeit bot dazu willkommenen Anlafs.
Ich verzichte auf eine eingehende Berichtigung der hierbei mit
untergelaufenen üngenauigkeiten, da in jenem Falle kritisierte Arbeit
imd Kritik in der gleichen Zeitschrift {Pflüg er 8 Ärch, f, d, ges, FhysioL
£d. 57 bezw. 59; erschienen sind, und eine einfache - Vergleichung
des Wortlautes beider Schriften den Wert der LoEBSchen Kritik deutlich
zeigt. Auch fehlt es mir an Zeit, das schon einmal Gesagte einfach zu
wiederholen ; auf etwas anderes würde eine Berichtigung in diesem Falle
nicht hinauslaufen. Nur an einen Punkt möchte ich hier noch erinnern:
Ich habe mich gegen eine Verallgemeinerung meiner bei einzelnen Tier-
spezies gewonnenen Ergebnisse auf andere Spezies von vornherein und
mit gutem Grunde ausdrücklich verwahrt (vergl a. ob. O. S. 646. Mitte).
über J. V. Üexkülls cergleüJtend'SinnesphysiologiscJie üntersachung No. L 4S5
in ähnlicher Weise zu untersuchen. Da in der allgemeinen
Sinnesphysiologie und insbesondere in der Sinnesphysiologie
niederer Tiere hinsichtlich mancher fundamentaler Punkte
keineswegs Übereinstimmung der Autoren herrscht, vielmehr
eine erhebliche Verwirrung in diesen Fragen nicht zu verkennen
ist, hatte ich die Aufgabe, zu den vorliegenden Lehren Stellung
zu nehmen, gerade wie dies auch Herr von ITexküll zu
Beginn seiner Schrift nötig fand.
Das für mich (durch die Preisaufgabe) gegebene Thema
verlangte eine umfassendere Berücksichtigung der verschiedenen
Tierklassen, als sie bei ähnlichen Untersuchungen bisher im
allgemeinen üblich war. Hierdurch kam ich in einzelnen
Punkten zu Anschauungen, die, ohne isoliert zu stehen, von
den herkömmlichen teilweise abweichen. Ich war daher darauf
gefafst, dafs Biologen, die ihre sinnesphysiologischen Q-rund-
anschauungen, wie es vorkommt, unter Berücksichtigung nur
einer einzelnen Tierklasse sich gebildet hatten, Einwendungen
erheben würden. Auf einen Angriff in solcher Form freilich
war ich nicht gefafst.
Was nun den Inhalt der ÜEXKÜLLschen Schrift betrifft, so
setzt sich dieselbe zusammen aus einer Erörterung einiger
Prinzipienfragen aus dem Gebiete der allgemeinen Sinnes-
physiologie und der Mitteilung einiger Yersuchsergebnisse an
Haifischen, welche zum Beleg der im ersten Teile vor-
gebrachten Anschauungen dienen sollen.
Wenn Herr von üexküll sich einleitend zunächst über die
Subjektivität unseres Sinneslebens und über das Problematische
in der Annahme einer Tierseele ausspricht, so thut er damit,
was heutzutage die meisten Autoren thun, die über Tiersinnes-
physiologie schreiben und sich vor dem Odium eines Anthropo-
morphisten und Dualisten schützen wollen. Nötig war es kaum,
namentlich auch mir gegenüber nicht, der ich zu wiederholten
Malen ganz im gleichen Sinne mich geäufsert habe, wie jetzt
Herr von üexküll. Nur habe ich dann weiterhin konsequent ge-
handelt, indem ich suchte, aus der Einteilung und Unter-
scheidung der Sinne das subjektive Moment der spezifischen
Empfindung wegzulassen. Für Herrn von üexküll freilich, der
sich nur kritisch und negierend äufsem will, fällt diese Konse-
28*
436 Wüibald Ä. Nagei.
quenz, wie überhaupt jeder positive Vorschlag zur vorliegenden
Frage, weg. Es würde ja sonst die ganze Zusammenhang-
losigkeit seiner Kritik zu deutlich zu Tage treten müssen.
Sind uns die Empfindungen eines Tieres verschlossen, so
ist es unzulässig, auf deren spezifische Verschiedenheit eine
Unterscheidung der verschiedenen Sinne des Tieres gründen
zu wollen, und doch spricht man von den Sinnen eines Tieres,
von seinen Sinnesorganen — diese Bezeichnungen abzuschaffen,
ist undenkbar — , man spricht von mehreren Sinnen eines
Tieres, folglich mufs man dieselben nach irgend einem Prinzip
unterscheiden. Nach der Empfindungsform geht es, wie gesagt,
nicht, bleibt, soviel ich sehe, nur die Möglichkeit, die Sinne
und Sinnesorgane nach der adäquaten Beizform oder nach dem
morphologischen Werte des betreffenden anatomischen Q-ebildes
zu definieren.^
Das Letztere ist in der vergleichenden Anatomie und
Physiologie der Wirbeltiere üblich und im allgemeinen zweck-
mäfsig; da giebt es die morphologisch wohl charakterisierten
Himnerven mit ihren ebenso genau bestimmten Endorganen,
deren Homologie trotz histologischer und topographischer
Verschiedenheiten über allem Zweifel steht. Dafs man mit
diesem Prinzip aber schon in der Wirbeltierphysiologie in die
Brüche kommt, sowie man zu den Fischen absteigt, zeigt die
allbekannte Streitfrage über die Bedeutung der Hautsinnes-
organe der Fische (Seitenkanäle, Ampullen, Endknospen etc.).
Ähnliche Schwierigkeiten bietet, wie ich gezeigt zu haben
glaube, die Funktion des „Olfactorius'' der n^deren Wasser-
Wirbeltiere.
Bei den Wirbellosen fehlt uns nun gar das wichtige Hülfe-
mittel der Homologisierung mit menschlichen Sinnesorganen
vollkommen. Dafs es zulässig sei, bei Insekten, Schnecken
u. dergl. Tieren von Sinnen und Sinnesorganen zu sprechen,
* Die Unterscheidung der Sinnesorgane, die Herr von Ubxküll ver-
sucht, indem er von einem Sinnesorgan spricht, das den Beflex der
Nahnmgswittorung, und einem anderen, das den Reflex des Ausspeiens
auslöst, erweist sich auf den ersten Blick als eine unzulängliche, da
der Erfolg der Beizung eines Sinnesorganes in jenem speziellen Falle
und überhaupt nicht in einer einzigen bestimmten Beaktionsart
angebbar ist. Von einem Sinnesorgane aus können sehr verschiedene
Beaktionen ausgelöst werden.
über J. V, üexkülls vergleicJiend'SinnesphysiologiscJie Untersuchung No. L 437
wird aucli Herr von Uex&üll kaum bestreiten wollen; von Sinnen
einzelliger Geschöpfe aber zu sprechen, wie ich es (nach dem
Vorgange zahlreicher Autoren) gethan habe, — horribile dictu !
Ich möchte gern erfahren, an welchem Ponkte der Tier-
reihe man anfangen darf, von Sinnen zu sprechen. Es ist das
so bequem, vom stolzen Standpunkte des perfekten Kenners
der menschlichen Sinnesphysiologie die Versuche zu belächeln,
in den Wirrwarr der Sinnesphysiologie niederer Tiere ein gewisses
System zu bringen. Möchte doch ein solcher Kritiker einmal
zeigen, wie man es besser macht, möchte er die endlose Litteratur
über die Sinnesorgane niederer Tiere durchstudieren und sich
überzeugen, nach welchen Gesichtspunkten viele Zoologen,
natürlich unter Beiseitelassung jeglichen Experimentes, die
Sinnesorgane jener Tiere benennen. Es herrscht eine Ver-
wirrung, wie sie gröfser nicht sein könnte.
Es wird von Interesse sein, zu sehen, welches Prinzip der
Unterscheidung der Sinne Herr von üexküll in der Fortsetzung
seiner sinnesphysiologischen Untersuchungen anwenden wird.
Die Unterscheidung nach der adäquaten Beizform verschmäht
er offenbar, seiner ironischen Ausdrucksweise nach zu urteilen.
Das bis jetzt Vorliegende läüst seine Anschauungen in dieser
Hinsicht nur ahnen.
Besonderes Ärgernis giebt Herrn von Uexküll meine
Stellungnahme zu der Lehre von den spezifischen Sinnes-
energien. Bei seiner Kritik vermengt er fortwährend meine
Anschauungen mit denjenigen von Wundt. Für denjenigen,
der meine Arbeiten mit Aufmerksamkeit gelesen hat, brauche
ich kaum ausdrücklich zu bemerken, dafs ich in der Frage der
spezifischen Sinnesenergien nicht ganz auf dem Standpunkte
WuNDTs stehe. Ich bin weit entfernt davon, ein Gegner des
Grundgedankens der MüLLERschen Lehre zu sein. Nur finde
ich, dafs sich in die Lehre ein nnzweokmälsiger Dogmatismus
eingeschlichen hat und dieselbe jetzt zuweilen in einer Form
vorgebracht wird, in der sie aufhört, mit den Thatsachen in
Übereinstimmung zu bleiben. Dafs jeder Sinnesnerv auf jede
überhaupt wirksame Beizung mit einer einzigen unverändert
liehen Empfindung antworte, ist einfach nicht richtig, gerade
so wenig, wie es andererseits richtig ist, dafs die durch einen
438 WiKbald Ä. Nagel
Nerven vermittelte Empfindung allein von der Natur des ein-
wirkenden E>eizes abhängig sei.
Herr von Uexküll beruft sich mit Vorliebe auf Helmholtz.
Wenn er jedoch von der „Fundamentalthatsache^ spricht, ^dafs
die Empfindung gänzlich unabhängig ist von der Art des
Beizes, dagegen einzig abhängig ist von der Person des Neuron''
(S. 553), so klingt das etwas anders, als wenn Helmholtz schreibt
{Physiol Optik 2. Aufl. S. 234):
„[Da es sich mit den übrigen Sinnesnerven ebenso verhält,
so geht daraus hervor], dafs die Qualität der sinnlichen Em-
pfindung hauptsächlich von der eigentümlichen Beschaffenheit
des Nervenapparates abhängt, erst in zweiter Linie von der Be-
schaffenheit des wahrgenommenen Objektes. Zu dem Qualitäten-
kreise welches Sinnes die entstehende Empfindung gehört,
hängt sogar gar nicht von dem äufseren Objekte, sondern
ausschliefslich von der Art des getroffenen Nerven ab. Welche
besondere Empfindung aus dem betreffenden Qualitätenkreise
hervorgerufen wird, erst dies hängt auch von der Natur des
äufseren Objektes ab, welches die Empfindung erregt.^ ^
Diese Sätze in der Fassung von Helmholtz wird kein
Physiologe anfechten wollen, dem Satze in der Form, wie
ihn Herr von üexeüll wiedergiebt, wird keiner zustimmen
können.
Wenn, wie aus dem angeführten Citate nach Helmholtz
hervorgeht, schon in der Sinnesphysiologie des Menschen die
Annahme kaum zn umgehen ist, dafs in der Funktionsweise
des einzehien Sinnesnerven eine Variabilität innerhalb einer
gewissen Breite bestehe, so glaube ich auf der anderen Seite
wahrscheinlich gemacht zu haben, dafs bei niederen Tieren
die Spezialisierung für eine bestimmte Funktionsweise noch weit
weniger vorgeschritten ist, geradeso, wie überhaupt die Zellen
niederer Metazoen sich von dem Zustande der Protistenzellen
mit ihrer physiologischen Vielseitigkeit weniger entfernt haben,
als die hochdifi*erenzierten Zellen der höheren Wirbeltiere.
Eine wertvolle Stütze für meine Ansicht habe ich ganz neuer-
^ Dasselbe mit etwas anderen Worten habe ich in jenen beiden
Sätzen ausgesprochen, welche nach v. Uexküll einen so horrenden inneren
Widerspruch enthalten, „ohne dafs der Autor es merkte^. Herr
VON Helmholtz scheint den „Widerspruch" auch nicht „gemerkt'' zu
haben.
über J, V. UexküUs vergleickend-ainnesphyaiologische Untersuchung No, I. 439
dings durch die interessante Entdeckung Cubt Hebbsts^ erhalten,
welcher fand, dafs Krebse, denen man die Augen entfernt hat,
statt derselben Sinnesorgane vom Typus der Exebsantennen,
also typische Tastorgane, regenerieren, in welche der Stamm
des abgeschnitten Opticus hineinwächst, um jetzt an Stelle von
Facettenaugen Tasthaare zu innervieren.
Es ist im übrigen nicht meine Absicht, die von mir ver-
tretene Anschauung über die Funktionsweise der Sinnesorgane
niederer Tiere einer Kritik gegenüber zu verteidigen, welche
die vergleichend - anatomischen Thatsachen nicht berück-
sichtigt, auf Grund deren ich mir meine Anschauung gebildet
habe. Vom einseitig eingenommenen Standpunkte menschlicher
Sinnesphysiologie aus lassen sich diese Fragen nicht gerecht
beurteilen.
Es kommt dazu, dafs bei Herrn von Uexkülls rein
negativer Art von Polemik es gar nicht möglich ist, zu erkennen,
was er nun eigentlich an die Stelle der von mir gemachten
Vorschläge gesetzt wissen wiU. Von Empfindungen der Tiere
soll nicht gesprochen werden, Sinne dagegen sind zulässig;
die Unterscheidung derselben nach der Seizform verwirft er
jedoch. Sein eifriires Eintreten für das Prinzip der spezifischen
Energien in extremer Fassung in diesem Zusammenhange laut
vermuten, dafs er jegUche Modifikation desselben in seiner
Anwendung auf niedere Tiere ablehnt. Da aber jenes Gesetz
in der von Herrn von Uexküll befürworteten Form eine Aus-
sage über die einem Sinnesnerven zukommende Empfindungs-
qualität enthalt, vermag ich nicht einzusehen, wie es in der
vergleichenden Sinnesphysiologie überhaupt nur noch erwähnt
werden darf, wenn man die Forderung aufrecht erhalten will,
von Empfindungen der Tiere nicht zu sprechen.
Nachdem nun Herr von Uexküll in der mit dem Ge-
sagten wohl genügend gekennzeichneten Weise sein ver-
nichtendes Urteil über die verschiedenen Abschnitte des all-
gemeinen. Teiles meiner Arbeit gefallt und verkündet hat, geht
^ Über die Itegeneration von antennenähnlichen Organen an Stelle
von Augen. 1. Mitteilung. Archiv f. Entwickelungsmechanik. Bd. 2. 1896.
Heft 4.
440 Wüibald Ä. Nagel
er daran, ,, experimentell seine Auffassung zu begründen'^. Zu
diesem Zwecke teilt er Versuche an etlichen Katzen- und
Hundshaien mit, welche ihm
„klar bewiesen, dafs das Organ der Nasenschleimhaut ein
anderes ist, als das der Mundschleimhaut, weil es auf andere
adäquate Ileize reagiert und andere Beaktionen hervorruft
wie letzteres." (S. 560.)
Herr von Uexküll scheint zu glauben, dafs dieser Nach-
weis für mich sehr überraschend und unangenehm sein müsse.
In Wirklichkeit spräche ein solcher Nachweis, wenn er gültig
wäre (was er, wie ich sogleich zeigen werde, nicht ist), in
keiner Weise gegen meine Auffassung, er würde vielmehr eine
mir im höchsten Grade willkommene Ergänzung meiner Beob-
achtungen darstellen.
Herr von Uexküll hat wohl übersehen, dafs ich nicht
gesagt habe, das Endorgan des Olfactorius der Haie habe
mit der Witterung der Nahrung nichts zu thun, sondern ich
sagte, diese Funktion sei nicht erwiesen. Das ist ein ünter^
schied. Vergl. auf S. 191 «meiner Arbeit den Schlufssatz des
auf die Haifische bezüglichen Abschnittes:
„Am wahrscheinlichsten bleibt es immer, dafs die Nase
die Haifische beim Nahrungssuchen mittelst des chemischen
Sinnes leitet, erwiesen ist dies jedoch nicht."
Ferner auf S. 61 :
„Für mich ist die Annahme ausgeschlossen, dafs der erste
Hirnnerv der Fische die an der Luft riechbaren, flüchtigen
Stoffe wahrnehme. Dafs er der Wahrnehmung ganz der gleichen
Stoffe, welche den gewöhnlichen Beiz des Schmeckorganes
bilden, zu dienen habe, ist sehr unwahrscheinlich; wozu dann
zwei anatomisch getrennte und ungleiche Organe? Ich ver-
mute daher, dafs im sog. ßiechorgane der Fische und Wasser-
amphibien irgend eine noch unbekannte Teilfunktion des
chemischen Sinnes ihr Vermittelungsorgan habe, eine Funktion,
die jedenfalls nicht Siechen genannt werden kann, die aber
auch von der gewöhnüchen Thätigkeit des Schmeckens irgend-
wie abweichen mufs, zwar nicht durch den spezifischen Charakter
der Empfindung, aber durch die Bedingungen, unter welchen
das Organ in Thätigkeit tritt."
Was berechtigt Herrn von Uexküll demgegenüber (mit
Beziehung auf die Sinnesorgane in Mund und Nase) zu schreiben :
über J. V. üexküUs vergleicTiend-sinnesphysiologische Untersuchung No. I. 441
„Daher können sie beide auch nicht identisch sein, wie
Nagel das annimmt."?
Wozu diese Entstellung?
Dafs die Nahrungswitterung der Haie durch die Nase
vermittelt sei, ist, wie gesagt, auch durch Herrn von Uexktols
Versuch nicht bewiesen. Sein Versuch leidet am gleichen
Mangel, wie derjenige Steiners. Dafs Haie, denen die Nasen-
schleimhaut genommen ist, auf vorgelegte Nahrung nicht
reagierten, beweist zunächst nur, dafs sie in pathologischem
Zustande sich befanden, weiter nichts.
Bei Fortsetzung seiner vergleichend-physiologischen Unter-
suchungen wird Herr von Uexküll vielleicht noch die Er-
fahrung machen, die andere Experimentatoren auf diesem
Gebiete längst gemacht haben, dafs nach Verletzung eines
Tieres ein vorher wirksamer Beiz oft plötzlich unwirksam
erscheint, obgleich das dem betreffenden Reize entsprechende
Sinnesorgan von der Verletzung nicht betroffen war. Es ist
nicht zu bezweifeln, dafs von einer toten Sardine auch Stoffe
ins Wasser diffundieren, welche das chemische Sinnesorgan im
Munde eiregen. Bleiben an der Nase operierte Haie solcher
Nahrung gegenüber gleichgültig, so zeigt das ihre Abneigung
gegen Nahrungsaufnahme, nicht ihre Unfähigkeit, die Nahrung
wahrzunehmen. Gerade so verhielten sich Haie, die ich seiner-
zeit durch einen Schnitt an der Seite des Körpers unerheblich
verletzt hatte!
Unfafsbar ist mir, wie Herr von Uexküll glauben kann
durch den (mir nachgemachten) Versuch mit der Chininsardine
beweisen zu können, dafs Chinin auf die Nasenschleimhaut
nicht wirke, indem die Sardine von weitem zwar ge-
wittert und aufgesucht, nach dem Anbeifsen aber wieder aus-
gespien wurde. Meiner Meinung nach beweist dieser Versuch
nur, dafs entweder Chinin sich langsamer im Wasser verbreitet,
als gewisse Bestandteile des Fischfleisches, oder dafs seine ab-
stof sende Wirkung in rascherem Verhältnisse mit der Entfernung
abnimmt, als die anziehende Wirkung jener anderen Stoffe.
Auf ähnlich schwachen Füfsen steht Herrn von Uexkülls
Behauptung (S. 563):
„Das Sinnesorgan in der Nase ruft den Witterungsreflex
hervor, während das Sinnesorgan in der Mundschleimhaut den
Reflex des Ausspeiens auslöst.^
442 Wilibald Ä, Nagel
Ich erinnere an meine Versuche, in welchen die Fische die
Fähigkeit, Zuckerlösungen wahrzunehmen, deutlich bekundeten.
Zucker löst nicht den ßeflex der Ausspeiens aus, er wird im
Gegenteil gerne genommen. Es bleibt also Herrn von Uexküll
die Wahl, anzunehmen, dafs Zucker ein den „Witterungsreflex"
auslösender Beiz für die Nasenschleimhaut sei (was ihm kaum
sympathisch sein dürfte), oder dafs auch das Geschmacksorgan
im Munde sich an der Witterung der Nahrung beteUigt.
Zum Schlüsse noch ein paar Worte über die Tagblindheit
der Scyllien. Herr von UexkOll behauptet, ohne natürlich
meine Einwände auch nur im mindesten zu berücksichtigen,
geschweige denn zu widerlegen, die Tagblindheit der Haie
sei durchaus erwiesen. Beweis (S. 564):
„Beer hat in seiner schönen Arbeit über die Akkommoda-
tion des Fischauges auch das Auge eines Katzenhais abgebildet,
aus der (sie), wie sich jeder überzeugen kann, hervorgeht, dafs
die Pupille bis auf einen schmalen Spalt vollkommen
geschlossen ist."
Ich habe mich von dem Verhalten der Haipupille nicht
nur aus Bbbbs schöner Arbeit, sondern am lebenden Hai
unterrichtet, und das gleiche gesehen, was Beer abbildet:
einen schmalen, an beiden Enden etwas erweiterten Spalt.
Nur bin ich der Meinung, dafs ein Spalt geeignet sei, etwas
Licht durchzulassen. Herr von Uexküll scheint anderer Meinung
zu sein.
Den weiteren in Aussicht gestellten vergleichend- sinnes-
physiologischen Untersuchungen Herrn von Uexkülls sehe ich
mit einer gewissen Spannung entgegen.
Das Gesetz der spezifischen Sinnesenergien wird er darin
in extremer Fassung durchführen, er wird jedoch den Ausdruck
„spezifische Energie^ nur auf das Verhalten der Ganglien-
zellen zu den Empfindungsqualitäten anwenden imd
solche VerWässerungen des Begriffes nicht dulden, wie ich sie
mir zu schulden kommen liefs. Aussagen über die Empfin-
dungen der Tiere wird er gleichwohl aufs Strengste vermeiden.
Vielleicht gelingt Herrn von Uexküll das ohne inneren
Widerspruch.
Litteraturberich t .
Alfbed Binbt. Introduction ä la Psychologie expörimentale. Avec la
coUaboration de Mk. Phiuppb, Coitbtier et Victor Henri. Paris,
Alcan. 1894. 155 S.
Die Yorliegende „Einführung in die experimentelle Psychologie^^ ist
hervorgegangen aus der gemeinschaftlichen Arbeit des Personals des
Pariser Laboratoriums der Psychologie, unter „Approbation^ des Direktors
M. H. Beaükis. Das Buch giebt in neun Kapiteln einen Bericht über
die gegenwärtigen Laboratorien der Psychologie, über die psychologischen
Methoden und die Hauptgegenstände der psychologischen Forschung.
In dem ersten Kapitel: „Les laboratoires de Psychologie'^ lernen
wir zuerst das Laboratorium zu Paris kennen. Das Personal, die Apparate,
Gerätschaften. Sammlungen, die bisherigen Arbeiten werden mit etwas
kleinlicher Vollständigkeit vorgeführt. Sodann folgt der früher schon
an anderer Stelle veröffentlichte Bericht von Herrn V. Henri über die
„ausländischen Laboratorien'^ der sich hauptsächlich mit den deutschen
Listituten beschäftigt und mancherlei sachliche Unrichtigkeiten enthält.
Es tritt in diesem Bericht, ebenso wie in einigen der folgenden Kapitel,
die unverkennbare Tendenz hervor, die Leistungen des Auslandes etwas
herabzusetsen. Die sehr verschiedene Anzahl von Mitarbeitern in den
deutschen Laboratorien wird ausschliefslich durch die verschiedene
Möglichkeit, an den einzelnen Universitäten mit experimentell-psycho-
logischen Arbeiten den Doktorgrad zu machen, erklärt. Der nicht-
deutsche Leser mufs danach eine sehr niedrige Vorstellung von dem
ideal-wissenschaftlichen Literesse der jüngeren deutschen Psychologen-
welt gewinnen. Das Göttinger Laboratorium erhält die liebenswürdige
Charakteristik, dafs seine Apparate zwar sehr neu und schön seien, aber
meist unbenutzt in den Schränken ständen; das Bonner Laboratorium
wird in ganz unzutreffender Weise als ein blolser Ableger des Leipziger
Instituts charakterisiert.
Das zweite Kapitel: ,,Les m^thodes psychologiques** giebt einen
übermäfsig abgekürzten Bericht über die psychologischen Methoden.
Selbst für eine „Einführung'' sind diese Darstellungen zu dürftig. Ganz
gut aber nicht neu ist die allgemeine Einteilung in experimentelle Me-
thoden und Beobachtungsmethoden.
Das dritte Kapitel: „Les sensations, les perceptions, l'attention''
enthält in der Hauptsache das, was wir nennen würden die Psycho-
444 Lüteraturbericht
physik. An dem Beispiel der Untersuchungen über den Hautsinn werden
die psychophysischen Grundbegriffe, Verfahrungsweisen etc. klar gemacht.
Auch das ist alles etwas dürftig, und man stöfst auf zahlreiche Unrichtig-
keiten. Der Begriff der Schwelle (S. 35) ist geradezu falsch dargestellt.
Im allgemeinen herrscht gerade in diesen Ausführungen die Tendenz,
die „psychologues etrangers^', die „experimentateurs ^trangers" etwas
her abzudrücken. Vor allem sollen die „fremden" Psychologen die „Selbst-
beobachtung" ganz und gar vernachlässigt haben (S. 28ff.). Belegt wird
das durch eine phantasievolle Schilderung der üblichen Zeitsinn versuche.
Dieser Bericht ist geradezu den Thatsachen zuwiderlaufend. Der Mit-
verfasser V. Henri hätte Gelegenheit gehabt, zu sehen, dafs Referent z. B.
nicht drei, sondern bisweilen sieben und mehr Urteilsstufen verwendet,
imd dafs die Selbstbeobachtung in sehr systematischer Weise heran-
gezogen wurde; auch die Arbeit Schumanns über die Schätzung kleiner
Zeitgröfsen verwendet die Selbstaussagen der Beobachter in ausgiebiger
Weise. Auf wen pafst also diese Schilderang der Zeitsinnversuche
„fremder" Psychologen? Es sei mir aber hier gestattet, einige prinzi-
pielle Bemerkungen über die Verwendung der Selbstbeobachtung im
psychologischen Experiment zu machen, die vielleicht gegenüber der
schrankenlosen Wertschätzung derselben, wie sie Binet und Hbxbi hier
ausführen, am Platze sind. Sicherlich mufs die systematische Ver-
wendung der Selbstbeobachtung (richtiger der inneren Wahrnehmung)
beständig neben dem Experiment einhergehen, ja die Selbstaussage der
Versuchsperson kann uns manchmal erst die Ergebnisse des Versuchs
in einer Weise zu deuten helfen, wie es aus den objektiven experimen-
tellen Daten nie gelingen würde. Aber das beständige Ausfragen der
Beobachter bringt auch grofse Unzuträglichkeiten mit. Man züchtet
nicht selten künstlich falsche Urteilsgewohnheiten grofs, die fehlerhafte
Verwendung mittelbarer Kriterien, das Vorherrschen gewisser störender
Assoziationen und Vorurteile setzt sich durch das beständige Ausfragen
in dem Beobachter fest, während eine sich selbst überlassene Versuchs-
person in den meisten Fällen sehr bald die einfachste und objektivste
Art der Beobachtung herauszufinden pflegt. Die Verfasser können ver-
sichert sein, dafs zahlreiche „psychologues etrangers" die Vorsiclits-
mafsregeln, die bei der Verwendung der Selbstbeobachtung nötig sind,
seit Jahren kennen.
Den Inhalt der übrigen Kapitel können wir hier nur kurz über-
blicken, da sie durchweg dem Leser nichts Neues bieten werden. Als
das beste und originellste Kapitel erscheint uns das vierte mit der
Überschrift „Mouvements^. Der Ausdruck „psychologie des meuvements'',
den die Verfasser im Eingang desselben gebrauchen, erscheint uns etwas
schief; man spricht doch auch nicht von einer Psychologie der Heize.
Im ganzen aber zeigt sich in diesen Ausführungen über die Bedeutung
der Bewegungen und Bewegungsempfindungen und über die Methoden
zu ihrer Untersuchung die starke Seite der französischen experimen
teilen Psychologie, Die Arbeiten von Mabet und Dement, um nur diese
zu erwähnen, haben hierin eine vortreffliche Vorarbeit geleistet, und es
ist keine Frage, dafs in dieser Hinsicht, namentlich was die Technik
lAtteraiurbericht. 445
und Methoden zum Studium der Bewegungen betrifft, die französiscke
Psychologie einen gewissen Vorsprun^ hat.
Sehr ungleich ist der Wert der ausführlichen Darlegungen des
fünften Kapitels über das Gedächtnis. Die Verfasser beschweren sich
über eine Vernachlässigung der Gedächtnisphänomene, und als Beleg
wird angeführt, dafs z. B. in Wundts Psychologie (4. Aufl.) von laSO Seiten
nur 11 dem „Gedächtnis^ gewidmet wurden. Es ist allerdings dem
Referenten nicht fraglich, dafs die vorhandenen experimentellen Arbeiten
über das Gedächtnis in den Lehrbüchern der Psychologie bisher noch
nicht die nOtige theoretische Ausbeutung gefunden haben, aber die
Klage der Verfasser ist in der von ihnen erhobenen Form unberechtigt.
Sie übersehen dabei gänzlich, daXs sie selbst sehr vieles unter den Erlassen-
begriff „Gedächtnis^ bringen, was andere Psychologen unter anderen
Rubriken, wie Assoziationsgesetze und -Bedingungen, Beproduktions-
phänomene, Bewufstseinsumfang u. s. w., zu erörtern pflegen, und dafs
der Klassenbegriff „Gedächtnis" wegen seiner zu grofsen Allgemeinheit
und Unbestimmtheit überhaupt durch speziellere Termini ersetzt zu
werden beginnt. Erwähnen wollen wir noch aus diesem Kapitel die
Aufzählung der Gedächtnismethoden (S. 76 ff.), die sehr beachtenswert ist.
Aus dem Folgenden dürfte ferner die Behandlung der Methoden der
Beobachtung als vielfach originell zu erwähnen sein.
Die Schlufsbemerkungen (IX. Conclusion) äufsern einige Wünsche
nach Erweiterung der bisherigen psychologischen Praxis, die sich
mancher Psychologe zu Herzen nehmen könnte.
Das Werk enthält für eine „Einführung" eine zu grofse Zahl, zum
Teil selbst sinnstörender Druckfehler. £. Meumann (Leipzig).
Julien Pioobb. La Tie et la pens^e. Essai de conception expörimentale.
BibUothequ9 de philosopkie contemporaine, Paris. Felix Alcan. 1893. 263 S.
Unter diesem verheifsungsvollen Titel bietet der schon durch sein
Le Monde physique bekannte Verfasser eine wissenschaftliche Prüfung
und Läuterung der wichtigsten Prinzipien der Physiologie und Psycho-
logie und sucht auf Grund derselben als einer die Summe unserer Er-
fahrung abschliefsenden Synthese eine Lösung der bis jetzt falsch, oder
besser verfrüht, aufgestellten Frage nach dem Wesen des Bewufstseins
zu geben.
In geistreichen und anregenden Betrachtungen führt er das Phä-
nomen des Lebens durch eine Beihe kaum merklicher Übergänge zurück
auf die Ernährung, welche selbst nur als die Besultante physikalisch-
chemischer Vorgänge zu betrachten ist. Diese aber haben ihr Analogon
in der von Graham entdeckten Dialyse (Diffusion), der gegenseitigen Durch-
dringung von Gas und Flüssigkeit, ohne dafs sie chemisch aufeinander-
wirken.
Indem sich ihm so das Leben in letzter Linie lediglich als das
Ergebnis von Wirkung und Gegenwirkung physikalisch - chemischer
Molekular kräfte darstellt, gewinnt Verfasser die Brücke vom Anorga-
nischen zu dem nur scheinbar wesentlich verschiedenen Beiche des Or-
ganischen und findet Leben im ganzen Universum, ohne darum Hylozoist
446 Litteratwbericht,
zu sein. Denn einen substantiellen Träger des Lebens anerkennt er
nicht ; es giebt nur Lebenserscheinftngen. Wir haben nur lebende Materie,
welche von der sog. toten Materie zwar meist deutlich, aber nicht
wesentlich sich unterscheidet und gegen diese nur als Verbindung höheren
Grades mit ständig schwankendem Gleichgewicht der Kräfte zu betrachten
ist. Daraus ergeben sich die Hauptkennzeichen des Lebens, die Er-
nährung, das Wachstum, die Wiedererzeugung, die Fortpflanzung, die
Empfindung, der Instinkt, der Gedanke. Selbst die Spontaneität, welche
man gern als das Spezifikum des Lebens ansieht, läfst sich auf diese
einfachsten Verhältnisse zurückleiten.
Auf Einzelheiten dieser weit ausgreifenden Untersuchung kritisierend
oder auch nur referierend einzugehen, ist unmöglich. Alles in allem
betrachtet, erscheint das Buch als ein interessanter Versuch, das alte
Problem des Lebens mit neuen Mitteln zu lösen.
M. Offner (Aschaffenburg).
Minor Stnäies firom the Psychological Laboratory of Olark üniversity. TL
Americ. J<mm, of Fsychol VI. 4. S. 633—584. 1895.
Der vorliegende zweite Bericht aus dem unter E. C. Sanfords Leitung
stehenden Laboratorium enthält folgende Arbeiten:
1. Caroline Miles: A study of individual psjchology.
Die Verfasserin bietet einen Versuch, den Fragebogen der Psychologie
nutzbar zu machen; neben den auf diesem Wege zu Tage geförderten psycho-
logischen Erkenntnissen will sie gleichzeitig seine Methode fördern.
Das letztere Ziel hat sie kaum erreicht. Denn die wenigen methodischen
Anweisungen, die sich hie und da in die Arbeit eingestreut und am
Schlüsse derselben zusammengefaXst finden, sind weder neu, noch inhalts-
schwer. Dagegen zeigt die Arbeit einen schweren methodischen Fehler,
der sie beinahe zum Rang einer psychologischen Spielenei degradiert:
es ist weder Plan noch Ziel in dem Fragen. Alles Experimentieren
wird zu einem Tappen im Finstern und kann nur ganz zufällig Brauch-
bares zu Tage fördern, sobald es nicht einer ganz bestimmten Frage-
stellung angepafst ist; so verliert auch die Fragemethode ihren wissen-
schaftlichen Wert, wenn sie nicht von einem klar aufgestellten Problem
ausgeht und dieses vom Anfang bis zum Ende fest im Auge behält.
Aber daran denkt die Verfasserin nicht; da wird darauf losgefragt,
einmal ein bischen GeftLhl, dann ein bischen Aufmerksamkeit, dann ein
wenig Gedächtnis, und so fort, einmal das, dann das, und nirgends eine
Spur von einer Frage, der die Fragestellung dienen soll. Dabei kann
nicht geleugnet werden, dafs das Einzelne gut Überlegt iist; aber was
nützt das bei dem erwähnten Hauptmangel? So ist auch mit den in
grofser Zahl eingelaufenen Antworten kaum etwas anzufangen, abgesehen
davon, dafs sie sich meist so vager Ausdrücke bedienen, dafs der damit
gemeinte psychische Thatbestand keineswegs eindeutig bestimmt ist.
Was kann es z.B. nicht alles bedeuten, wenn auf die Frage: „Woran
unterscheiden Sie die linke Hand von der rechten?'' die Antwort
kommt: „An einem ünterschiedsgefühl^, oder „instinktmäfsig^ ! Viele
Fragen sind auch, weil sie sich mit zu komplizierten psychischen That-
LiUeraturhericht, 447
beständen beschäftigen, und die Antworten darauf wegen gänzlichen
Mangels aller Analyse schwer zu verwerten. ,,Wie zwingen Sie sich zu
einer unerwünschten Aibeit?'' „Geben Sie mir einige Dinge an, über
die Sie sich recht zu ärgern pflegen/* »jWie bekämpfen Sie Schlaflosig-
keit?" „Was waren Ihre Lieblingsspiele als Kind?" „Wovor fürchteten
Sie sich als Kind?*' u. s. w. und darauf als Antwort ein buntes Durch-
einander von allem Möglichen, das sich nur schwer ordnen, zu exakten
psychologischen Erkenntnissen wegen der Unmöglichkeit der Analyse
gar nicht verwerten läTst. Die Verfasserin giebt deis letztere indirekt
zu, indem sie sich, von einigen geringfügigen Ansätzen zu weiterer Ver-
wertung der Antworten abgesehen, mit diesen selbst begnügt: ein
Ertrag, der mit der Gröfse und Leistungsfähigkeit des in Bewegung
gesetzten Apparates in keinem Verhältnis steht. — Kurz, wir kennen
bereits bessere Beispiele von Anwendung der Fragemethode
2. A.H.Daniels: The memory after-image and attention.
Der Artikel berichtet über Versuche, die zur Bestimmung der Dauer
der Gedächtnisnachbilder angestellt wurden. Sie bestanden darin, dafs,
während die Versuchsperson, um das „assoziative'* Gedächtnis möglichst
auszuschalten, ihre ganze Aufmerksamkeit dem lauten Lesen einer inter*
essanten Geschichte zugewendet hält, vom Experimentator drei Ziffern
genannt werden, die ihm die Versuchsperson auf ein nach Ablauf einer
bestimmten Zeit gegebenes Zeichen zu wiederholen hat. Sehr schwierig
soll es dabei auch beim aufmerksamsten Lesen sein, dem vorzeitigen
Eindringen eines Erinnerungsbildes ins Bewufstsein zu entgehen, wo-
durch ja die Dauer der Reproduzierbarkeit des Gedäohtnisnaohbildes*
verlängert wird. Sie erreicht nämlich, wie D. gefunden hat, dabei 20",
während sie sonst höchstens 15" beträgt. Doch wird bemerkt, dafs diese
Zahlen die obere Grenze von Werten darstellen, welche von dem Mafs
der Aufmerksamkeit abhängen, mit dem der das Erinnerungsnachbild
erzeugende Eindruck aufgefafst wird; geschieht dieses Auffassen mit
vollständig abgelenkter Aufmerksamkeit, so kommt überhaupt kein
Erinnerungsnachbild zu stände. — Der Wert der sonst recht interessanten^
Arbeit ist entschieden beeinträchtigt durch die noch keineswegs klar
und eindeutig gefafsten Begriffe von „assoziativem Gedächtnis^ und
„Gedächtnisnachbild''.
3. A. J. Hamlin. On the l'east observable interval between
Stimuli adressed to disparate senses and to different organs
of the same sense.
Eine neuerliche Messung des kleinsten, noch merklichen Zeitintev-
valles zwischen Beizen verschiedener Sinne oder verschiedener Organe des-
selben Sinnes, und zwar bei verschiedenen Aufmerksamkeitszuständen,
war der Zweck der Versuche, über die Verfasserin berichtet. Die zeit-
liche Verteilung der Beize, als welche das Aufblitzen einer GEissLERSchen
Bohre, der Ton eines Telephons und ein leichter elektrischer Schlag
dienten, wurde durch einen Pendelstromunterbrecher reguliert. (Siehe
unten.) Zunächst wurden Versuche mit normaler (unforced) Aufmerksam-
keit ausgeführt. Die Ergebnisse derselben sind in übersichtlichen
Tabellen mit denen anderer Forscher zusammengestellt und verglichen.
448 Litteraturbericht.
Bemerkenswert sind die dabei zwischen den Intervallen einzelner Paare
allenthalben zu Tage tretenden konstanten Differenzen, welche der Ver-
fasserin im Gegensatz zu Exkeb das Heranziehen der längeren Dauer
des An- und Abklingens beim Auge zur Erklärung der hierhergehörigen
Thatsache bei Licht-Schallversuohen unnötig erscheinen lassen. —
Weitere Versuche wurden mit willkürlich und unwillkürlich eingestellter
Aufmerksamkeit ausgeführt; sie haben aber keine besonderen Besultate
ergeben; hervorgehoben wird, dals die willkürliche Aufmerksamkeit
durchaus nicht den Schein hervorruft, als ginge der von ihr getroffene
Beiz voran. — Schliefslich sucht sich die Verfasserin mit den diesen
Gegenstand betreffenden Ausführungen £xkebs {Pf lüg er 8 Arch. XI. 1875)
in Kürze auseinanderzusetzen.
4. E. C. Sakfobo. Notes on new apparatus.
a) The binocular stroboscope. Der Apparat demonstriert gleich-
zeitig den Einfiiufs der Konvergenz der Augenazen auf die Ausmessung
der Tiefendimension und die Verschmelzung eines Eindruckes des einen
Auges mit einem rasch darauffolgenden ähnlichen des anderen Auges
zu einer einzigen Empfindimg. Seine Konstruktion ist die der stroboskopi-
schen Scheiben, nur dafs er Schlitze für beide Augen trägt, die in der
Entfernung der Augendistanz voneinander angebracht sind, und deren
fiadien miteinander einen übrigens variierbaren Winkel bilden ; auch ist
es vorteilhaft, die Anzahl der öffiiungen für jedes Auge auf zwei
einander diametral gegenüberliegende zu beschränken. Als Objekt dient
das Spiegelbild eines in der Scheibe eingezeichneten Striches, der nun bei
der Betrachtung durch die Schlitze der rotierenden Scheibe nach vom
oder nach rückwärts geneigt erscheinen soll.
b) A model of the field of regard. Das Modell besteht aus zwei
Teilen. Der eine versinnbildlicht durch Drahtkreise, die den Horizont,
die Meridiane etc. darstellen, das sphärische, der zweite durch eine dazu
tangentiale Ebene das ebene Blickfeld. Die Schattenprojektion vom
Mittelpunkt jenes auf dieses zeigt in anschaulicher Weise den Zusammen-
hang zwischen beiden.
c) A simple adjus table stand. Einer jener Hülf sapparate, von deren
zweckmäfsiger Form oft so viel abhängt. Der hier in Bede stehende
dient als bequeme, nach Belieben verstellbare und nachgebende Armstütze.
d) The pendulum circuit breaker. Eine Gruppe von drei Strom-
unterbrechern, die mit einem Pendelchronoskop in Verbindung stehen
und durch dasselbe in regulierbaren Zeitabständen in Wirksamkeit ver-
setzt werden. Eine Prüfung des Apparates durch Stimmgabelschwingungen
ergab nach S.'s Mitteilung eine für die meisten Zwecke ausreichende
Genauigkeit. Witasek (Graz).
G. W. Fitz. A Location Beaction Apparatns. Psychol Bev. U. 1. S. 37—42.
(1895.
Verfasser beschreibt einen von ihm konstruierten Apparat, der dazu
dient, die Geschwindigkeit und Genauigkeit zu prüfen, mit der man im
Stande ist, ein durch Entfernen eines Schirmes an vorher nicht bekannt
gegebener Stelle plötzlich sichtbar werdendes Objekt mit der Finger-
Litteraturbericht 449
spitze zu berühren. Derselbe gestattet an zwei durch die Berührung
sich einstellenden Zeigern genaue Ablesung der GrOfse der Abweichung
der Berührungsstelle von dem zu berührenden Objekte und der Dauer
der zwischen dem Sichtbarwerden desselben und der Berührung ver-
flossenen Zeit. — Von den anscheinend zahlreichen Versuchen, die mit
dem Apparat angestellt wurden, ist nur wenig berichtet; hervorgehoben
wird, dafs Geschwindigkeit und Genauigkeit in keinem einfachen Ver-
hältnis stehen. Witasek (Graz.)
L. Hermann. Über das Wesen der Vokale. Pflügers Arch. f. d, ges,
Fhysiol, 1895. Bd. 61. S. 169—205.
Mittelst methodischer Verbesserungen setzt Verfasser seine Unter-
suchungen fort und findet zunächst hinsichtlich der unharmonischen
Bestandteile der Vokale, dafs sie anaperiodisch sind, d. h. sich in jeder
Periode, unabhängig einsetzend, wiederholen. Femer enthält die Unter-
suchung neue Kurven langer und kurzer Vokale und polemische Details
gegen Pifping und Hekben. Bezüglich der Einzelheiten mufs auf das
Original verwiesen werden. Sohaefbb (Bostock).
Alfbed M. Mayer. Besearches in Aconstics. FkOoa, Mag, 87. No. 226.
S. 259—288. 1894.
Die Abhandlung zerfällt in drei Teile. Der erste enthält die Er-
gebnisse einer Nachprüfung bereits früher von M. bezw. auf seine Ver-
anlassung hin gemachter Versuche, die Abhängigkeit der Nachempfindung
von der Tonhöhe zu ermitteln. Bei den früheren Versuchen war zwischen
einer tönenden Stimmgabel und einem entsprechend abgestimmten Kugel-
resonator eine mit Löchern versehene Scheibe angebracht. Vom Resonator
ftLhrte ein Schlauch zum Ohre. Es wurde nun festgestellt, wie schnell
die Scheibe rotieren mufs, wie kurz also wenigstens die Unterbrechung
des Tones sein mufste, um eine kontinuierliche Empfindung zu erzeugen.
Da die Ö£fnung des Resonators durch die Scheibe bei der Botation
periodisch verengt und erweitert wurde, so muDsten Variationstöne
entstehen, die störend auf die Beobachtung einwirkten. Infolgedessen
wurde bei den wiederholten Versuchen die Öffnung des Resonators dicht
an die Stimmgabel gebracht und die Leitung zum Ohre durch eine
rotierende Scheibe unterbrochen.
M. fand für die Dauer der Nachempfindung folgende Formel:
33000
^=[irF^ + i«]«'««i'
worin D die Dauer der Nachempfindung, N die Schwingungszahl des
untersuchten Tones ist (nach ganzen Schwingungen).
Der zweite Teil der Abhandlung handelt über das kleinste konso-
nante Litervall zwischen „ einfachen^ (Stimmgabel-)Tönen. Unter Konsonanz
versteht M. mit Helmholtz die Kontinuität, unter Dissonanz die Rauhig-
keit der Empfindung. So bilden nach M. die Stimmgabeltöne 256 und 314
Zeitschrift fUr Psrcholoflrie X. 29
450 Litteraturbericht.
ein konsonantes Intervall. Aus einer grofsen Zahl von ihm selbst und
von König in Paris gemachter Beobachtungen (Königs Ergebnisse sind
ebenfalls in dieser Abhandlung veröffentlicht) fand M. für das kleinste
konsonante Intervall bei Stimmgabeltönen innerhalb der Grenzen von
192 bis 2560 ganzen Schwingungen folgende Formel:
2,r-J,r . 10000
-^^•-^ ^42000 . _,
iV + 23
+ 23
worin N den tieferen Ton des Intervalls bezeichnet.
Der dritte Teil sucht einen Zusammenhang zwischen der Dauer
der Nachempfindung und dem kleinsten konsonanten Intervall nach-
zuweisen. Aus der Formel für das kleinste konsonante Intervall wurde
die Dauer der Nachempfindung berechnet, indem die Schwebungen einer
gleichen Anzahl von Unterbrechungen gleichgesetzt wurden. Die so
gefundenen Werte wurden mit den aus der Formel für die Dauer der Nach-
empfindungen erhaltenen verglichen. N wurde als das Mittel (welches
Mittel, sagt M. nicht) der Schwingungszahlen der Töne des Intervalls
angenommen. Der Vergleich zeigt, dafs in beiden Fällen die berechnete
Dauer der Nachempfindung nach der Tiefe zu sehr schnell wächst, nach
der Höhe zu sehr langsam abnimmt. Doch sind die aus der Formel für
das kleinste konsonante Intervall berechneten Werte ungefähr um ein
Drittel gröfser als die aus der Formel für die Dauer der Nachempfindung
bei unterbrochenen Tönen erhaltenen, was sich sehr einfach daraus
erklärt, dafs bei zwei gleichzeitigen Tönen keine wirklichen Unter-
brechungen, sondern nur Schwankungen der Schwingungsweite vorliegen.
Zum Schlüsse fügt M. noch einige Bemerkungen über das WEBERSche
Gesetz bei Tonstärken hinzu. Er neigt zu der Ansicht hin, dafs in
diesem Falle die Empfindung dem Heize proportional wachse.
Max Meter (Berlin).
H. ZwAARDEMAKBR. Die PhyBlologie des Gernches. Nach dem Manuskript
übersetzt von Dr. A. Jükker von Lakgeqo. Mit 28 Figuren im Text.
Leipzig, Verlag von Wilh. Engelmann. 1895. 324 Seiten.
Es war einer der lebhaftesten Wünsche Karl Ludwigs, dafs der
Geruchssinn einmal einer umfassenden Untersuchung unterzogen werden
möchte. „Welch eine wunderbare Funktion ist der Geruch," pflegte er
zu sagen, „wenn ich doch für dieses Gebiet einen jungen Freund begei-
stern könnte!" In Anbetracht dieses so oft von ihm ausgesprochenen
Wunsches erfüllte es mich schon bei der ersten Durchsicht des unlängst
erschienenen ZwAARDEMAXERSchen Werkes mit Wehmut, dafs der bis in sein
hohes Alter mit jugendfrischem Interesse alle Fortschritte der Wissen-
schaft verfolgende grofse Gelehrte gerade dieses Werk jahrelanger sorg-
fältiger Forschung und unermüdlichen Fleifses nicht mehr erleben sollte.
Das vorliegende Werk ist nicht die erste Veröffentlichung des Verfassers
auf diesem Gebiete, aber was bisher von ihm nur in Einzelschriften xmd
in holländischer Sprache erschienen und zudem noch nicht jedem zu-
gänglich war, ist hier zu einem einheitlichen Ganzen vereinigt worden.
Lüteraturbericht 451
Pas Werk beansprucht aucli nicht, durchweg endgültige Resultate zu
bringen oder die jeweils aufgeworfenen Fragen in jedem Falle in er-
schöpfender Weise zu behandeln oder zum Abschlufs zu bringen, aber
neben den mannigfachen Ergebnissen, die aus des Verfassers Unter-
suchimgen resultierten, sind der weiteren Forschung überall neue Ge-
sichtspunkte und Wege eröffiiet worden. Auijserdem hat der Verfasser
.die gesamte ältere und neuere Litteratur seines speziellen Forschungs-
gebietes benutzt und verwertet. Ein von Dr. C. Bbutbr verfaTstes Litte-
raturverzeichnifs CMorphol. Litt, über d. Geruchsorg. d.Vertebraten/' zuerst
erschienen in der 2jeit8chr, f. kUn, Med. 1892. Bd. 22) ist dem Werke als
Zugabe angehängt. Dasselbe umfafst, nach den einzelnen Teilen des
Organs geordnet, nicht weniger als 232 namhaft gemachte Schriften. Für
die Orientierung auf diesem Gebiete wird dasselbe von ganz besonderem
Werte sein. So dürfte mit der Veröffentlichung dieses Werkes in der That
LxmwiGs Wunsch zu einem guten Teile realisiert sein. Aus den Worten,
mit denen der Verfasser sein Werk einleitet, glaubt man fast Ludwigs
wunderbare Sprache wiederzuhören : „Vermöchte der Mensch sich in den
Gedankenkreis eines osmatischen Säugetieres zu versetzen, so würde er
ohne Zweifel Vorstellungen ganz anderer Art begegnen, als jenen, in
welchen sein eigenes Denken sich bewegt. Unsere zusammengesetzten
Gesichtsvorstellungen, so ungemein plastisch infolge des binokularen
Sehens, die verwickelten Klangvorstellungen, worin uns die Wahl der
Sprache fühlbar wird, sie maAgeln den Tieren fast gänzlich, und an
deren Stelle tritt eine wunderbare Welt von Geruchsvorstellungen, reich
haltiger und vielfältiger, als wir sie zu bilden im stände sind. Sie be
herrschen die Tierseele vermutlich in derselben Weise, wie uns die durch
Auge und Ohr vermittelten Eindrücke. Und kein Wunder, denn sie sind
innig mit den zwei, für das Tier wichtigsten, vitalen Forderungen ver-
bunden: der Ernährung imd dem Geschlechtstrieb.'* Das Geruchsorgan
des Menschen befindet sich sowohl in seinem zentralen, wie in seinem
peripheren Teile im Zustande der Bückbildung, das ist der Hauptgedanke,
den der Verfasser in dem einleitenden Kapitel seines Werkes auszuführen
sucht. Die TuBNEBSche Modifikation der BRocAschen Klassifikation accep-
tierend, reiht Verfasser den Menschen in die Klasse der mikrosmatischen
Säuger. .Die Eück- und Umbildung des Nasenskeletts wird an der Hand
der Arbeiten von Cabpentbr, Zückebkandl, Schwalbe, Seydel in überzeu-
gender Weise gezeigt-. Mit Bezug auf die Ausbreitung des Sinnesepithels
entscheidet sich Verfasser nach den Arbeiten y. Brunns für die bis dahin
von Max Schulze vertretene Ansicht, wonach dasselbe nicht einmal den
unteren Hand der oberen Muschel erreicht. Eine gröfsere Ausbreitung
des Sinnesepithels bis Über die mittlere Muschel, wie Schwalbe will, ist
nach Verfasser nur vorgetäuscht, und zwar durch die Pigmentation,
welche letztere nicht nur in den Stützzellen vorkommt, sondern sich auch
auf gewöhnliche Bindegewebszellen erstreckt, in keinem Falle aber mit
der Ausbreitung des Biechepithels zusammenfällt. „Das erwähnte Epithel
nimmt einen Baum von der Gröfse eines Fünfpfennigstückes sowohl an
der medialen als an der lateralen Wand des Biechepithels ein. Aufser-
dem ist es unmittelbar gegen das Dach der Nasenhöhle gelegen, in mög-
29»
452 Litteraturbericht.
liehst grofser Entfernung vom Nasenloch.^ Mit Bezug auf die Natur
der im peripheren Teile des Sinnceorgans gefundenen frei endigenden
Nervenfasern scheint Verfassersich keiner bestimmten Ansicht anschlieisen
zu wollen, sondern bemerkt nur, dafs dieselben nach den Anschau-
ungen Ram6n t Cajals und ton Bbükks dem Tiigeminus entstammen.
Trotz der unverkennbaren Bückbildung behält aber auch das mensch-
liche Geruchsorgan, wie Verfasser weiter auszuführen sucht, die ihm
bei allen osmatischen Säugern zugewiesene zweifache Aufgabe eines Hülfs-
mittels bei der Nahrungsaufnahme und die eines auf die Stimmung wir-
kenden, äuXsert affektiven Sinneswerkzeugs bei, es greift' sogar tiefer
in unser Leben ein, als wir gewöhnlich vermuten, und steht in der Schärfe
und Feinheit seiner Funktion dem Auge und Ohr wenig nach. „So leben
wir ebensogut in einer Welt von Gerüchen, wie in einer Welt von Licht
und Schall."
Das U. Kapitel umfalst „physikalische Bemerkungen über
Biech Stoffe". Indem Z. die dynamische Theorie verwirft, hält er an
der Annahme fest, dafs bei jeder Geruchswahmehmung notwendig Riech-
stoifpartikelchen vorhanden sein müssen, und sucht zu zeigen, dafs die
Loslösung dieser Biechmoleküle von der Oberfläche eines Biechkörpers
oder einer riechenden Flüssigkeit auf vierfache Weise vor sich gehen
kann, nämlich durch einfache Verdampfung, durch Oxydation, durch
„hydrolytische Spaltungen oder mehr zusammengesetzte Zersetzungen,
wie vielleicht beim Moschus" (die Ursache des Moschusgeruches ist viel-
leicht ein langsam frei werdendes Spaltungsprodukt), und endlich duröh
„Verteilung der riechenden Flüssigkeit in äulserst feine Tröpfchen, welche
später verdampfen oder in tropfbarer Form von dem Luftstrom mit-
geführt werden (Lieoeois)." Genauere Messungen stellte Verfasser in
dieser Beziehung mittelst eines selbst erfundenen und der Darstellung in
einer Zeichnung beigegebenen Apparates an, der aufser der Bestimmung
der Biechoberfläche auch die der Temperatur des Biechstoffes und der
Expositionsdauer zuliefs. Bei diesen Versuchen ergab sich, dafs die
Dauer der Exposition eines Geruchsstoffes im Verhältnis zur Länge einer
Atemphase von verschiedender Kürze war. Für eine Wachsoberfläche von
94 qmm betrug dieselbe beispielsweise 0,1 Sekunde. Durch Multipli-
kation dieser beiden Werte erhält Verfasser die von ihm 4)ezeichnete
»genetische Einheit*', die in diesem Falle = 9,4 qmm -Sekunden ist
Verf. weist darauf hin, dafs die so gewonnene Einheit eine nach dem
jedesmaligen Zustande des Sinnesorgans wechselnde physiologische Gröfse
ist. Vorausgesetzt wird bei dieser Bestimmung die freilich sehr wahr-
scheinliche , aber nicht absolut erwiesene Hypothese, „dafs die Menge der
riechenden Partikelchen, welche von einem Körper abgegeben werden,
bei unveränderlicher Oberfläche proportional sein wird der Zeit und bei
unveränderlicher Expositionsdauer der Oberfläche". Nach Besprechung
der Methode Ttkdalls sucht Verfasser unter Hinweis au^die Arbeiten
von Cloqubt, Bidder, von Vintsohoau und Fröhlich auf Grund selbst ange-
stellter Versuche das weitere Verhalten der von der Biechsubstanz los-
gelösten und in die Luft übergegangenen Partikelchen zu zeigen. Die
hierauf bezüglichen Ergebnisse sind am Schlüsse des Kapitels in folgende
LiUeraturbericht 453
Gesetze susammengefafst: „Die Fortpflanzung der Gerüche geschieht in
zylindrischen Bäumen oder Kanälen, wenn die Diffusion allein wirkt,
mit gleichmäfsiger Geschwindigkeit, z. B. von 1 — 10 cm in der Sekunde.
Der Wind kann eine Duftwolke meilenweit forthewegen, während die
Diffusiou ihr immer grOfsere Ausbreitung giebt. Die dritte Bewegungs-
kraft, das spezifische Gewicht, hat bei der Überbringung der Gerüche
einen geringen Anteil aus phylogenetisch erklärlichen Ursachen. ** (Nur
*die Gase, welche spezifisch schwerer sind, als die Luft, können von den
Säugetieren perzipiert werden.)
Aus dem III. Kapitel, „Der Mechanismus des Itiech^ns'', sei
hervorgehoben, dafs der Verfasser in der Frage, wie der Biechstoff zu
dem Sinnesepithel gelangt, die Ansicht vertritt, dais dies nicht unmitte]-
bari durch den Atmungsstrom geschieht, sondern dafs die Biechparti-
kelchen erst durch Diffusion an die Begio olfactoria gelangen. Verfasser
verwirft die Hypothese Joh. Müllers, nach welcher die Biechpartikel-
chen erst durch den die Begio olfactoria bedeckenden Schleim gelöst
werden und nur in diesem Zustande auf die Biechzellen wirken sollen.
Ebensowenig hält Verfasser durch die ABONsoHNschen Versuche für erwiesen,
dafs Lösungen als solche schon gerochen werden können. Dieser Be-
hauptung steht nach Z. entgegen, daXs Luftblasen in der Biechspalte
haften geblieben sein könnten und der Biechstoff auf diese Weise
wiederum nur in Gasform das Sinnesepithel getroffen hätte. Auf Grund
der Annahme, dafs stets nur Gase oder Dämpfe eine Geruohsempfindung
auslösen können, und dafs „feste oder flüssige Substanzen nur riechen,
insofern sie verdampf bar sind^^ ist gegen die AROKBOHKschen Versuche
bereits früher schon von WimDT der Einwand erhoben worden, „dafs bei
seinen Versuchen Dämpfe der Flüssigkeit in den Biechraum eindrangen^^
(^Physiol Bsyckol 4. Aufl. Bd. I. S. 442, 1.) Diese Bemerkung Wündts gegen
Abonsohks Behauptung ist von Zwaabdemakzb übersehen worden. Am
Schlüsse des Kapitels werden über den Mechanismus des Biechens vom
Verfasser folgende Schlufsfolgerungen gezogen:
„A) Beim Schnüffeln, d. i. beim unmittelbaren stofsweisen Ein-
führen der riechenden Luft in die Biechspalte, wenigstens in deren vor^
dersten oder untersten Teil: Ausbreitung der Luftwolke daselbst durch
Diffusion; Berührung der riechenden Moleküle in Gasform mit den
Flimmer härchen der Biechzellen.
B) Bei ruhigem Atmen: bogenförmige Strömung der Atem-
luft, als höchster Punkt von deren Bahn der Unterrand der mittleren
Muschel gilt — (Paulsen, Zwaabdemakbb) — oder der Unterrand der oberen
Muschel (Fbankb); — Aufsteigen der riechenden Moleküle durch Diffusion;
Berührung derselben in Dampfform mit den Flimmerhärchen der Biech-
zellen."
An die im vorstehenden Kapitel mitgeteilten Befunde anknüpfend^
verfolgt der Verfasser im IV. Kapitel — „Biechfelder und Atem-
flecken*' — weiter diejenigen Bezirke, aus welchen die Nase ihre Biech-
stoffe au&iimmt. Diese Untersuchungen verdienen um so mehr Beach-
tung , als die hier behandelten Fragen zum ersten Male eingehend erwogen
und ergründet sind. Die Bäume, aus denen wir riechen, und diejenigen,
454 Litteraturbericht
aus welchen wir atmen , sind danach nicht dieselben. Die ersteren
benennt Verfasser nach Analogie des Gesichtssinnes als Riechfelder.
Nehmen dieselben beim ruhigen Atmen gewöhnlich nur einen Teil des
in gleicher Höhe vollzogenen Durchschnitts des jederseitigen Atem*
kegeis ein, so konnte andererseits konstatiert werden, dafs dieselben beim
Schnobern infolge des durch die mehr gehobenen Nasenflügel bedingten
steileren Aufstiegs des Atmungsstromes einen weiteren Umkreis erhalten.
Zur Bestimmung dieser Thatsache verwandte Verfasser als Geruchsstoff
Nelkenöl, eine Substanz, die bei Erzeugung einer grofsen Empfindungs-
intensität nur eine geringe Diffusibilität besitzt. Das weitere Verfahren
zur Bestimmung des Biechfeldes bestand darin, dafs der Verfasser mit-
telst einer den GeruchsstofF enthaltenden PaAYAZscheu Spritze ein von
der Versuchsperson mit den Zähnen fixiertes Blatt Papier von der Unter-
seite aus nach allen Bichtungen hin durchbohrte und diejenigen Punkte,
an denen die Perzeption erfolgte, mittelst einer Bleifeder umrandete.
Auf diese Weise ergaben sich f(ir beide Nasenlöcher ziemlich sym-
metrische Felder, die von einem ca. 0,5 cm breiten geruchlosen Zwischen-
raum getrennt waren. Ebenso blieben in der Verlängerung des Nasen-
rückens, wie hart an der Oberlippe, Zonen frei, von welchen keine
Geruchsreize ausgingen. Bei einer einseitigen Facialislähmung ergab
sich, wie zu erwarten war, in Höhe der Verengung des Nasenloches
;auch eine Einschränkung des betreffenden Biechfeldes. Den Horizontal-
tdurchschnitt des Atemkegels erhielt der Verfasser, indem er auf einem
•unter die Nase gehaltenen Metallspieg^l den aus der letzteren strömenden
Atem auffing. Auch diese so entstehenden Atemflecke zeigten eine
gewisse Symmetrie. Aufserdem beobachtete der Verfasser, dafs jeder
der beiden Atemflecke während der Verdunstung durch eine schräg
nach hinten verlaufende Trennungslinie in einen Doppelfleck gespalten
wurde. Eine Zeichnung veranschaulicht diese Verhältnisse. Die Ent-
stehung dieser Doppelflecke ist Verfasser geneigt auf die Beteiligung der
unteren Nasenmuscheln zurückzuführen. Seine eigenen Worte «hierüber
lauten: „Es scheint mir nicht unwahrscheinlich, dafs die besagte Spal-
tung durch die unterste Nasenmuschel veranlafst wird und wir daher
hier einem Überrest jenes Zustandes begegnen, welcher sich bei den
makrosmatischen Säugetieren durch eine so hohe Entwickelung aus-
zeichnet. Man erinnere sich, wie beim Hund und bei «iner Anzahl anderer
Säugetiere die untere Muschel sich vielfach verzweig^ und den ganzen
Atmungsweg derartig anfüllt, dafs die Lufb gezwimgen wird, zwischen
und längs der zahlreichen Fächer hindurchzudringen. Man dürfte bei
den Tieren vielleicht Atmungsflecke mit mehrfacher Spaltung finden
Also wäre dies von mir entdeckte, beim Menschen konstante Vorkommen
dieser Trennungslinie eine Erinnerung an jenen Zustand." Aus dieser
Teilung des Atemfleckes in eine anteromediale und in eine postero-
laterale Hälfte suchte Verfasser sodann unter Hinweis auf die bei allen
Säugetieren sich findende Plica vestibuli zu zeigen, dafs der erstgenannte
Teil des Atemfleckes der über die untere Muschel hinströmenden Bahn
der Geruchswahrnehmungen und somit dem eigentlichen Blechfelde ent-
spricht.
Litteraturbericht 455
Die im Kapitel V unter der Überschrift „Das gustatorische
Biechen" mitgeteilten Thatsachen sind als bekannt vorauszusetzen.
Bemerkt sei nur noch, dafs die Behauptung des Verfassers, dafs die
{(gustatorische Funktion des Biechens bei den Tieren als fast rudimentär
bezeichnet werden müsse und scheinbar nur für den Menschen Bedeutung
habe, in dieser Allgemeinheit wohl noch des weiteren Nachweises
erfordern mOchte.
Von Interesse ist das VI. Kapitel, in welchem „die Olfaktometrie*
behandelt ist. Nach einer Besprechung der von Valentin, Fröhlich,
Fischer und Penzoi.dt, sowie von Dibbits zur Bestimmung der Biech-
schwelle ausgebildeten Methoden, welche der Verfasser für nicht aus-
reichend erklärt, beschreibt er das von ihm selbst für den gleichen Zweck
verwandte Verfahren. Der hierbei benutzte, vom Verfasser selber
erfundene Apparat, „Biechmesser" oder „Olfaktometer'' genannt, dürfte
aus früheren Mitteilungen bereits bekannt sein. Im wesentlichen besteht
derselbe aus einem den Biechstoff enthaltenden Zylinder, der über ein
graduiertes Bohr verschoben werden kann, dessen eines Ende fCLr die
Aufnahme in das Nasenloch ein wenig umgebogen ist. Letzteres ist
aufserdem durch einen kleinen, das andere Nasenloch verdeckenden
Schirm geführt, der wieder zur besseren Handhabung des Apparates an
einem hölzernen Griff befestigt ist. Durch eine Verschiebung des sog.
Biechzylinders kann demnach indirekt die Intensität des Biechsto£Pes
verändert werden. Als den einzigen variablen Faktor bei diesen Be-
stimmungen bezeichnet der Verfasser die Schnelligkeit des Luftstromes,
durch welchen der Geruchsstoff dem Sinnesepithel zugeführt wird. Da
aber die hieraus resultierenden Schwankungen sehr unbedeutend sind, so
glaubt der Verfasser, dieselben nicht berücksichtigen zu brauchen. Be-
dingung für den Gebrauch des Olfaktometers ist ein möglichst langsames
Aspirieren. Der Verfasser beschreibt noch einige Abänderungen des
Instrumentes und stellt dann das Gesetz auf, dafs die Geruchsstärke sich
proportional zur Länge des eingeschobenen Zylinderteiles verhält. Für
vulkanisierten Kautschuk entsprach z. B. das Minimum perceptibile für
ein normales Sinnesorgan einer Zylinderlänge von 0,7 cm. Verfasser
beschreibt sodann die Veränderungen, welche Charles Henry an seinem
Olfaktometer vornahm, und berichtet über den Streit, der hierüber
zwischen Henry und Passy entstanden ist (Compt. rend. d. Seanc. de la Soc.
de Biol. 6 et 20 F^vr. 1892). Z. stimmt den von Passy erhobenen Ein-
wänden in wesentlichen Punkten zu und hält dessen Verfahren für die
Bestimmung der Biechschwelle seiner einfachen Ausführung wegen für
einen grofsen Gewinn, doch will er bei der Verwendung desselben vier
Bedingungen erfüllt sehen, nämlich:
„1. nur Auflösungen in geruchlosem destilliertem Wasser zu ge-
brauchen (Passy verwandte Alkohohl als Lösungsmittel, wodurch
für manche Gerachsstoffe eine Kompensation herbeigeführt wird) ;
2. wenige kurze Einatmungen zu machen;
8. einen möglichst grofsen Kolben zu nehmen;
4. diese Methode nur für Biechstoffe anzuwenden, deren Dampf nur
wenig an den Wandungen kondensiert."
456 LitteraturberichU
Man wird dem Verfasser sowoM in diesen Forderungen wie auch
darin zustimmen müssen, dafs die von ihm beschriehene und verwandte
Methode gegenwärtig als die zweckmäfsigste angesehen werden muTs.
Der Verfasser verlangt von einer olfaktometrisohen Methode
1. „dafs sie gestattet, mit den schwächsten Beizen anzufangen und
erst allmählich zu den stärkeren überzugehen ;'*
2, „dafs man sehr schnell und in kontinuierlicher Beihe von den
schwächsten zu den stärksten Biechreizen steigen kann.^
Diese in der Psychologie als Methode der minimalen Änderungen
allbekannte Versuchsweise wird von Passy in der auf- wie absteigenden
Beihe verwandt. Er zieht aus den Endergebnissen das Mittel und
berechnet aus dem so gefundenen Wert nach Milligrammen das Quantum
des Biechstoffes, das in einem Liter Luft enthalten ist. Statt dessen
will Z. infolge der leichten Abstumpfung des Organs bei übermerklichen
Beizen nur die aufsteigende Beihe für die Bestimmung der Biechschwelle
verwertet wissen. Auch die von N. Saveliefp verwandte Methode hat
nach Z. den Nachteil, dafs die Untersuchung mit konzentrierten Beizen
beginnt.
Nachdem der Verfasser im VII. Kapitel ,,die technische Aus-
führung derBiechmessungen'' beschrieben, bespricht er im VUI. Ka-
pitel „die Norm der Geruchsschwäche und den Begriff der
Olfaktie". Verfasser diskutiert den von Thoma aufgestellten Begriff
der Norm. Fällt dieser mit dem arithmetischen Mittel zusammen, so
will Z. unterschieden wissen zwischen der Norm als dem am häufigsten
vorkommenden Wert und dem Mittel aus allen gefundenen Werten. Von
der „Schärfe^ des Geruchs Vermögens, d. h. dem Grade der Deutlichkeit,
in welchem minimale Beize und Intensitätsunterschiede wahrgenommen
werden, ist die „Feinheit'^ desselben für die Perzeption qualitativer Ver-
schiedenheiten zu unterscheiden. Die Ausdrücke „schlechte Nase** und
„schlechter Geruch^ fallen nicht zusammen. Die meisten Menschen
erfreuen sich eines normalen BiechvermOgens. „Viele an langwieriger
Bhinopharyngitis mit stark entwickelten adenoiden Vegetationen Leidende
zeigten nach Entleerung der überflüssigen Schleimmassen ein ziemlich
unbehindertes Biech vermögen.'' Die gewöhnliche Norm des Geruchs-
sinns zivilisierter Menschen wird von wilden Völkerstämmen zwar weit
übertroffen, doch beschränkt sich diese Superiorität auf bestimmte Arten
von Eindrücken und wird erst durch Übung erworben. Das Minimum
perceptibile betrachtet der Verfasser als die gewonnene Einheit und
führt dafür den schon erwähnten Begriff „Olfaktie'' ein. Wird die der
normalen Biechschärfe entsprechende Länge des olfaktometrisohen
Zylinders = 1 gesetzt, so ist, wenn n dem Minimum perceptibile ent-
spricht, durch den Bruch — die Biechschärfe einer Person in jedem ein-
zelnen Falle ausgedrückt. An einem Kautschuk-Olfaktometer entspricht
nach des Verfassers Ausführungen eine Olfaktie einer Zylinderlänge von
1 cm, dieselbe Länge drückt an einem Ammoniacum-Guttapercha*Biech-
messer jedoch 30 Olfaktien aus. Verfasser verfertigte seine Olfakto-
meter auj9 den eben genannten Stoffen, weil dieselben der Temperatur
LiUeraturbericht, 457
und anderen Einflüssen am meisten Widerstand leisten. Ähnlich wie
eine Thermometer einteilnng mnfs die Olfaktienskala von Zeit zu Zeit
kontfoUiert werden.
Das IX. Kapitel ist überschrieben: „Erhöhung und Herab-
setzung der normalen Biechschärfe**. Als Abweichungen von der
Norm der Geruchsschärfe bezeichnet der Verfasser:
„A) die durch Asymmetrie des Nasenskeletts verursachten Hyperosmien
und Anosmien;
B) die toxischen Hyperosmien und Anosmien, und
G) die nervOsen Hyperosmien und Anosmien."
Hervorgehoben sei aus diesem Kapitel noch, dafs der Verfasser
durch Einblasen von Kokainpulver in die Nase eine bedeutende Ab-
stumpfung der Biechfläche herbeiführen konnte* An dem Ammoniacum-
Guttapercha-Olfaktometer mufste der Biechzy linder eine Viertelstunde
nach dem Einblasen 9 cm ausgeschoben werden, bevor eine eben merkliche
Empfindung auftrat „Die Biechfläche war daher beträchtlich herab-
gestimmt, vielleicht zu einem 200 Mal niedrigeren Grade als vorher. **
Ebenso konnte der Verfasser die Herabsetzung der Biechschärfe an
.vielen anderen Substanzen nachweisen. Eine halbe Stunde nach der
Kokainvergiftung kehrte die Empfindlichkeit fortschreitend zurück. In
einem Falle trat nach der Kokainisierung der Nasenschleimhaut, und
nachdem diese bereits anästhetisch geworden war, eine beträchtliche Zu-
nahme der Geruchsschärfe ein. Der Verfasser glaubt, diese Erscheinung
zumeist aus dem Umstände erklären zu müssen, dafs der Zugang zur
Biechspalte durch das Einblasen des Kokains erweitert wurde, wie
dies in der Bhinoskopie häufig zu beobachten sei. „Diese Vermutung
wird durch die unmittelbare Besichtigung gestützt, welche einen deut-
lichen Abstand zwischen der mittleren Muschel und der Nasenscheide-
wand ans Licht bringt: natürlich ohne da£s daraus geschlossen werden
dürfte, die Hyperosmie müsse ganz und ausschliefslich dem mechanischen
Momente zuzuschreiben sein. Was wir über Kokainvergiftung im all-
gemeinen wissen, macht es vielmehr wahrscheinlich, dafs die Hyperosmie
auch auf einer Hyperästhesie des Sinnesorgans beruhe, die dann zugleich
mit dem begünstigenden Einflüsse eines geräumigeren Zuganges diese nicht
unbeträchtliche Verschärfung des Geruchsorgans hervorbrachte.*^ Nach
einer Viertelstunde war die Hyperosmie geschwunden, nach Verlauf
einer Stunde zeigte eine abermalige Messung jedoch eine fünffache Ver-
. grOfserung des Schwellenwertes, die Länge des ausgezogenen Biech-
zylinders betrug 2,6 cm. Es sei noch bemerkt, dafs die Kokaingabe im
ersten Falle eine 20^/oige, im letzteren eine 10^/oige war. Aus diesen
Beobachtungen zieht der Verfasser folgende Schlüsse:
„1. Kokain, in genügender Menge an dem oberen Teile der Nasen-
schleimhaut resorbiert, verursacht eine vorübergehende Anosmie.
2. Der Anosmie geht eine olfaktorische Hyperosmie voraus.
3. Die Anosmie gilt gleichzeitig für eine Anzahl Geruchsqualitäten.*'
Nach den Beobachtungen, die ich selber bei Versuchen mit Kokain
anstellen konnte, gebraucht dasselbe immer erst eine kurze Zeit, um zu
den nervösen Endorganen durchzudringen. Eine alleinige Ausnahme von
458 Litteräturbericht
dieser Regel machen nach meiner Erfahrung nur die Geschmacksknospen,
woselbst die Lösung unmittelbar nach der Applikation den Porus passieren
un4 die Wirkung hervorrufen kann. Da nun der Verfasser bei seilten
Versuchen das Kokain nicht in Lösungen, sondern in pulverisiertem
Zustande verwandte, so dürfte aufserdem noch eine gewisse Zeit
erforderlich sein, bis zu welcher dasselbe das Eiechepithel überhaupt zu
affizieren im stände ist, während seiner Auflösung und Wirkung in den
vorderen Teilen der Nasenschleimhaut von vornherein günstigere Be-
dingungen gestellt sind. Es dürfte daher doch wahrscheinlicher sein,
dafs die Hyperosmie im letzteren Beobachtungsfalle des Verfassers nicht
durch das Kokain direkt, sondern erst sekundär durch die infolge der
Kokainisierung der Schleimhaut herbeigeführte Erweiterung des Zu-
ganges zur Biechspalte bedingt wurde. Da die Zeit zwischen der
Applikation und der ersten Messung in beiden Beobachtungsfällen die
gleiche war (15 Min.), so dürfte der frühere Eintritt und die Verstärkung
der Anosmie im ersten Falle durch den weit gröfseren Grad der Vergiftung
verursacht sein (S. meine Abhandl. über Kokain und Gymnema. Fhilos. Stud^
Bd. IX.) Sollten die eben ausgesprochenen Vermutungen durch weitere Ver-
suche nicht bestätigt werden, so wird man hier grofse individuelle Ver-
schiedenheiten voraussetzen müssen, wie solche freilich bereits von
Ohrwall bei seinen wertvollen Geschmacksversuchen beobachtet wurden^
und wie sie auch nach den abweichenden Itesultaten, zu denen Dokaldsok
einerseits, sowie Nagel und ich selber andererseits bei der Kokainisierung
der Konjunktiva gelangten, in der That vorhanden zu sein scheinen.
Der Verfasser fügt diesen Ausführungen hinzu, dafs die Ergebnisse einiger
anderer Versuche in der Hauptsache mit den mitgeteilten Beobachtungen
übereinstimmten und nur graduelle Abweichungen zeigten. Eine aus-
führliche Mitteilung derselben wäre im Interesse der aufgeworfenen
Fragen wünschenswert gewesen. Ich darf wohl hier auf eine Notiz ver-
weisen (Besprechung von Abqnsohns Versach einer Nomenklatur der
Geruchsqualitäten. Diese Zeiischr, X. S. 283), in der ich bereits mit-
geteilt habe, dafs ich schon vor Jahren, freilich ohne genaue Messungen
anzustellen, den Einflufs des Kokains auf Geruchsempfindungen im Sinne
einer Abschwächung derselben konstatieren konnte.
Von hohem Interesse ist das X.Kapitel, welches „die Kompen-
sation der Gerüche" behandelt. Aus den in diesem Kapitel mit-
geteilten Versuchen geht unzweifelhaft hervor, dafs sich zwei Gerüche
gegenseitig schwächen und bis zur völligen Vernichtung kojnpensieren
können. Der Verfasser macht der Physiologie den Vorwurf, dafs sie ein
längst bekanntes Phänomen so wenig beachtete und sich bislang mit
einer allgemeinen Zurückführung desselben auf chemische Ursachen
begnügte. War ein solches gerechtfertigt, so lange sich noch die Par-
tikelchen der sich gegenseitig störenden Gerüche in der Luft oder in
einem der Nasenräume mischen konnten, so mufste die Erklärungs weise
fallen, sobald die gleiche Erscheinung bei getrennter Zuführung ver-
schiedener Geruchsstoffe in je eines der Nasenlöcher gleichfalls auftrat.
Der von dem Verfasser für diesen Zweck konstruierte doppelte Eiech-
messer, an welchem jedes einzelne Eiechrohr für die zu untersuchenden
Litteraturbericht 459
■Geruchsqoalit&ten nach Olfaktien geaioht war, gestattete eine leichte
Ausftilirung des Experimentes und liefs den Beweis zu, dafs die Kompen-
sation im erwähnten Falle eintrat. Der Verfasser beobachtete ferner,
dafs niemals. eine eigentliche Mischung der einzelnen Geruchsqualitftten
eintritt, sondern dais dieselben bis zur vollständigen Kompensation noch
getrennt empfunden wurden. Die mitgeteilten Beobachtungen werden in
folgende Schlufsfolgerungen zusammengefalst:
„1. Einige Geräche vernichten einander bei gegenseitiger Beobachtung.
2. Die Kompensation beruht auf physiologischen Ursachen.
3. Das Verhältnis der einander gegenseitig aufwägenden Bietohstärken
ist wahrscheinlich konstant.''
Da es Empfindungen, also psychische Elemente sind, die in diesen
Pällen gegenseitig aufeinander einwirken, und das Zustandekommen
dieser kompensatorischen Wirkung in das Zentralorgan verlegt werden
mufs, so würde diese Erscheinung wohl richtiger als psychisches Phänomen
Aufzufassen sein und nicht, wie der Verfasser will, in „die Kategorie
der physiologischen Phänomene^ gehören, zumal die physiologischen
Begleiterscheinungen im Gehirn kaum jemals direkt erkennbar sein
dürften. Die Beobachtung selber dürfte zu den bleibenden Verdiensten
ZWAARDEMAKBBS ZU ZählcU Seiu.
Nachdem der Verfasser im XI. Kapitel „die Odorimetrie'' (^ein
Seitenstück zur Olfaktometrie*^) behandelt und im Xu. Kapitel auf die
TJnterschiedsschwelle, die Beaktionszeit und die Ermüdung
näher eingegangen, erfolgt im XIII. Kapitel die „Klassifikation der
'Gerüche^. Verfasser bespricht die von Likwe, Poubcboy, Albbecht
VON Halles, Lobby, Fböhlich, sowie die kürzlich von Giessleb von
subjektiven Gesichtspunkten aus aufgestellten Klassifikationen. Mit
Bezug auf die von Letzterem in seinem „Wegweiser zu einer Psycho-
logie des Geruches^ mitgeteilten Ideen sei erwähnt, dafs der Ver-
fasser Gibsslers Klassifikation in die physiologische Nomenklatur über-
tragen wiedergeben zu können glaubt, als: „Gerüche mit Beflex; Ge-
rüche, mit Affekt; Gerüche, welche ohne nennenswerten Affekt allein nur
2U der Vorstellung eines konkreten Individuums, Gattung oder Objektes
führen^^ Diesem wird hinzugefügt: „Man wird bemerken, dalÜs, wie wichtig
Auch seine Beschreibungen zur Erlangung einer Orientierung in der
.Psychologie der Gerüche sind, seine Einteilung uns Physiologen nicht
weiter bringt. Und das ist auch natürlich, denn eine physiologische
Klassifikation soll nach der Qualität und nicht nach dem Affekt statt-
finden.^ Der verdienstvolle Herr Verfasser wird die Gegenbemerkung
nicht übel deuten, dais auch die Psychologie aus einer Stoffbehandlung,
wie sie Giessleb in so selbstbewufster Weise betreibt, keinen Nutzen zu
ziehen vermag, und dafs, wenn es einen Weg giebt, den die psychologische
Forschung nicht betreten darf, dies der von Giessleb gewiesene Irrweg
ist. * Auf Grenzgebieten, wie im vorliegenden Falle das Gebiet des
Geruchssinnes eines ist, werden vielmehr die beiden Wissenschaften, wie
dies bisher geschehen ist, auch femer zusammengehen müssen und zum
Teil sogar mit den gleichen Hülfsmitteln zu arbeiten haben, um erst aus
den gewonnenen Resultaten in das eigene Arbeitsgebiet zurückzunehmen.
460 Litterakarbericht
was zum Ausbau der spezielleren Aufgaben erspriefslich erscheint. In
diesem Sinne werden auch die Psychologen von den ZwAABDEicAKEBschen
Arbeiten reichen Nutzen ziehen, und das Interesse, welches die psycho-
logische Forschung gerade an der Untersuchung der sog. niederen Sinne
haben mufs, wird seinem Namen einen dauernden Platz in der psycho-
logischen Faohlitteratur sichern. — Während Gibssler die früheren
Arbeiten unberücksichtigt l&fst und die von Linke, Fröblich und
Alexander Bain getroffenen Einteilungen nur als historisch bemerkens-
wert bei ihm Erwähnung finden, ist Z. bemüht, überall an die Arbeiten
der grolBeif Vorgänger anzuknüpfen und deren Ergebnisse den gegen-
wärtigen Au£fassungen anzupassen. So geht der Verfasser bei seiner
Klassifikation der Gerüche zunächst auf das System Linnes zurück,
dessen sieben Geruchsklassen, den Forderungen der neueren Chemie ent-
sprechend, zwei weitere Klassen hinzugefügt werden. Diese neun
Klassen werden in eine erste Beihe, nämlich in die der »rein olfak-
torischen Gerüche^ zusammengefafst und werden bezeichnet als:
I. Odores aetherei (Lorry), II. O. aromatici (Linke), JH. O. fragrantes
(LiNNÄ), IV. 0. ambrosiaci (Linnä), V. O. alliacei (Likn:^), VI. O. empyreuma-
tici (Haller), VII. 0. hircini (Liknä), VIII. 0. tetri (LiKNi}und IX. O.nausei
(Linke). Von dieser Beihe der olfaktorischen Gerüche unterscheidet der
Verfasser, an Fröhlich anknüpfend, die der „scharfen Biechstoffe**
und fügt dieser die von ihm selbst abgegrenzte Beihe der „schmeck-
baren Biechstoffe" hinzu. Nachdem die ersterwähnte Beihe eine
ausführliche Besprechung erfahren, glaubt der Verfasser, dieselbe noch
auf zwei Abteilungen reduzieren zu können, von denen die erste (Klasse
I— IV) als die der „Nahrungsgerüche^ und die zweite (Klasse VI — IX)
als die der „Zersetzimgsgerüche^ ohne und mit Beflex bezeichnet wird.
Die Klassifikation Fröhlichs, dem wir den erstmaligen Versuch einer
Trennung zwischen reinen und mit Tastempfindungen gemischten Geruchs-
sensationen verdanken, glaubt der Verfasser durch die von ihm so
bezeichnete Beihe der schmeckbaren Biechstofie nur konsequent weiter
geführt zu haben. Zw. läfst die Möglichkeit offen, dafs manche Gerjich-
stofiPe „im gasförmigen Zustande vielleicht im Pharynx gekostet werden
könnten, und infolge dessen mit einer Geruchswahrnehmung eine schwache
Empfindung von Süfs, Sauer, Salzig oder Bitter sich verbinde", glaubt
aber im übrigen, die bei Geruchsempfindungen häufig mitwirkende
Geschmackskomponente auf assoziative Ursachen zurückführen zu müssen.
Man wird gegen beide Erklärungsweisen nichts einwenden können. Es
wäre aber von Interesse, wenn diese Verhältnisse durch experimentelle
Prüfung noch näher ermittelt würden. Mit Bezug auf den ersten Punkt
erlaube ich mir hinzuzufQgen, dafs ich den Duft mancher Blumen, wie
z. B.den der Lindenblüten, neben dem dieselben charakterisierenden Geruch
thatsächlich zu schmecken glaube und diese Empfindung in die hintere
Bachenwand lokalisiere. Ähnliche Erfahrungen möchten bei der Ent-
stehung der noch immer ziemlich weit verbreiteten Anschauung, dafs
alles, was riecht, zugleich auch schmeckt, nicht in letzter Linie mit-
gewirkt haben. Nicht zustimmen können wird man dem Verfasser, wenn
er bei Gelegenheit der Besprechung der scharfen Biechstoffe den Aus-
lAiteratwrbericht 461
druck Qefahlskomponente gegenüber dem einer Taetkomponente zu recht*
fertigen sucht. Der Verfasser ist sich freilich bewufst, dafs in der
Psychologie mit dem Worte GefCLhl die subjektive Begleilierscheinung
der Empfindung ausgedrückt wird, fügt aber dieser Bemerkung hinzu:
„Jedoch nicht wir sind daran schuld, dais dem Worte Gefühl zwei Be-
griffe entsprechen ! Obgleich dem Tastsinne nahe verwandt, ist die Em-
pfindung, welche die scharfen Eiechstoffe hervorrufen, zu sehr eigen-
tümlich, um mit einer Tast- oder Druckempfindung identifiziert zu
werden. Nut bei ihrer Steigerung bis zur BeizhOhe entsteht eine gewisse
Ähnlichkeit, indem die scharfe Empfindung dann als Kitzel erscheint.
Auf einer niederen Stufe der Beizintensität hingegen tritt ihre Eigenart
klar hervor.'' Dieser Argumentation steht die Thatsache entgegen, dafs
die Tastempfindungen überall auf der Körperoberfiäche eine eigenartige
Färbung besitzen, von denen die geschilderten Empfindungen der Nasen-
schleimhaut, deren vermittelnde Nerven zudem dem N. quintus an-
gehören» nach den eigenen Ausführungen des Verfassers doch kaum eine
prinzipielle Ausnahme bilden dürften. Warum deswegen der nun einmal
durch die psychologische Analyse fixierte Begriff für den subjektiven
Faktor des Empfindungsinhaltes, für den es keinen besseren Ausdruck
giebt, nicht ausschliefslich verwandt werden soll, ist nicht recht ein-
zusehen.* Es dürfte doch vielmehr die eindeutige begriffliche Fixation
der beiden Ausdrücke als eine Errungenschaft anerkannt werden müssen,
deren Wert nicht hoch genug anzuschlagen ist.
Es wird wohl noch einiger Zeit bedürfen, bis die Klassifizierung
der Geruchsqualitäten zum endgültigen Abschlüsse gediehen sein wird.
Ludwig glaubte, dafs wir hierin weiter kommen würden, wenn man sich
in Laboratorien, in denen viele Geruchsstoffe verwandt werden, so
namentlich in ParfOmeriefabriken entschliefsen könnte, die einzelnen
Stoffe auf die qualitativen Unterschiede der von denselben ausgelösten
Empfindungen sorgsam zu prüfen und nach dem Ausfall dieser Unter-
suchung zu ordnen. Sollte nicht das ausgehende Jahrhundert auch noch
diesen Triumph der Wissenschaft zu seinen Erfolgen verzeichnen dürfen'^
tun dadurch zugleich das Andenken an einen seiner gröüsten Männer zu
ehren, dem die Wissenschaft so viel verdankt, der in überaus wohl-
thuender, herzgewinnender Freundlichkeit das Beste seiner Gedanken
selbstlos seinen Schülern gab und der so vielen ihren Weg gewiesen hat?
Im Anschlüsse an die von Hatcraft aufgestellten Beihen, sowie an
die von Mendeljeff, Lothar Mbtbb, Jagqües Passt, W. H. Julius und
Tnn>ALL . gelieferten Arbeiten sucht der Verfasser im XIV. Kapitel auf
Grund olfaktometrischer und odorimetrischer Messungen die Beziehungen
zwischen ),Geruch und Chemismus*' nachzuweisen.
Im XV. Kapitel bespricht der Verfasser »die spezifischen
EnergiendesGeruchs*'. Es genüge hier im allgemeinen hervorzuheben,
dais der Verfasser sich auf die Seite der Anhänger der Lehre von der
spezifischen Energie der Sinnesorgane stellt und auf Grund von Ver-
suchen und unter Herbeiziehung von Fällen partieller Anosmie und
Parosmie zu ähnlichen Besultaten gelangt, wie Aronsohn nach der Ab-
stumpfungsmethode bereits gefunden hat.
462 lAtteraturbericht
Ein erster Anhang behandelt noch den chemischen Sinn der
niederen Tiere, ein zweiter die klinisch-neurologische Gerachs-
messung, während ein letzter das schon erwähnte Litteratur-
Verzeichnis umfafst. Aus der im ersten Anhang entworfenen Übersicht
über die von den einzelnen Forschern aufgestellten Ansichten sei noch
hervorgehoben, dafs der Verfasser das yon W. Nagel kürzlich so
energisch verteidigte „chemische Sinnesorgan*' nur fdr wirbellose Tiere
gelten lassen will, dais man diesen Begriff nach demselben jedoch auf-
geben müfste, • sobald man die Iteihe der Wirbeltiere betritt, und daüs es
nach unserer Kenntnis des anatomischen Baues der Fisch aase eine will-
kürliche Behauptung sei, anzunehmen, „dafs die Nasentaschen der Fische
nicht riechen, sondern schmecken''. Fbiedr. Kibsow.
WiLH. FiLEHvs. Die Form des Himmelsgewölbes. Pflüg er s Arch. f, d.
ges. Phyaiol Bd. 59. S. 279-308. 1894.
Es ist bekannt, dafs Sonne und Mond am Horizont gröfser er-
scheinen, als wenn sie hoch am Himmel stehen,* nicht minder bekannt
ist, dafs das „Himmelsgewölbe^^ uns gewöhnlich als ein abgeflachtes
in Uhrglasform erscheint. Diese beiden vielumstrittenen* optischen
Phänomene sucht der Verfasser durch eine Anzahl neuer Beobachtungen
zu erläutern und die sämtlichen hierher gehörenden Thatsachen aus
einem Prinzip zu erklären. Er ergänzt sogleich die erstgenannte Beob-
achtung durch die weitere, dafs auch die scheinbare Gröfse eines St.em-
bildes, „wenn es nahe dem Zenith kulminiert, wesentlich geringer ist,
als wenn.... es tiefen Stand am Himmel hat!*. Die Verschiedenheit in
der scheinbaren Gröfse von Sonne und Mond je nach ihrem Standort
-am Himmel erscheint daher nur als ein Spezialfall des allgemeinen
Gesetzes, dafs am Himmel die gleichen Winkelstücke dem Auge um so
gröfser erscheinen, je gröfser ihre Zenithdistanz ist.
Die bisherigen Erklärungsversuche fafst der Verfasser unter drei
Gesichtspunkten zusammen. Die erste Theorie („Vergleichstheorie**} b^
hauptet, dafs Sonne und Mond am Horizont unter gleichen Winkeln mit
entfernten Objekten auf dem Erdboden gesehen werden, wie Häuser,
Baumkronen u. s. w.; unwillkürlich bringen wir sie deshalb mit diesen
irdischen Objekten in Vergleich und halten sie für mehr als häusergrofs
u. s. w., was im Zenith nicht eintreten kann, wo solche Vergleichsobjekte
fehlen. Die zweite Theorie (wir möchten sie kurz „Entfernungstheorie''
kennen) behauptet, dafs die Entfemimg zwischen Auge und Horizont
uns weit gröiser erscheine als die Höhe des Zeniths, weil diese Ent-
fernung (nach Analogie der abgeteilten Linie) durch die zwischenliegenden
Objekte markiert ist. Indem so die Horizontpartie des Himmeis weiter
hinausgerückt wird als die Zenithpartie, erscheinen Sonne und Mond
gröfser, weil wir sie bei gleichem Gesichtswinkel für femer halten.
Der dritte Erklärungsversuch zieht Alles das * in Betracht, was man
'unter Luftperspektive zu begreifen pflegt: die Klarheit oder Trübung
der Atmosphäre, insbesondere Nebelerscheinungen, die Färbung entfernter
Litteraturbericht. 463
Gegenstände u. s. w. Da tiefstebende Gestirne eine längere Dunstschicht
zu passieren haben als hocbstebende, so verändern sie erstens ihre
Färbung (werden rot), und zweitens bekommen sie unbestimmtere Um-
risse. Alle drei Erklärungsversuche hält der Verfasser mit vollem Becht
fdr ungenügend. Die Vergleichstheorie wird von ihm hauptsäcblicb
dadurch bekämpft, dafs er andere, ihr direkt widerstreitende Beob-
achtungen mitteilt. Bei ungewöhnlich klarer Luft beobacbtete der Ver-
fasser einmal in Kalifornien den über den Bergen aufgehenden, fast
vollen und sehr intensiv hellen Mond vom Tbale aus. Er erschien ihm
in der Gröfse, die er auch sonßt bei dieser Zenithdistanz zu haben pflegt.
Die gleiche Beobachtung machte der Verfasser bei entsprechender Mond-
stellung, aber dunstiger Atmosphäre. Schon hiemach dürfte es scheinen,
dafs die Horizontnähe an sich das Entscheidende sei. Wenn der Ver-
fasser femer den Mond bei glatter See und bei dunkler Nacht, also ohne
alle irdischen Vergleichsobjekte, aufgehen sah, so erschien er ihm stets
bedeutend gröfser, als in der Nähe des Zeniths, ebenso die Sternbilder,
und auch die ührglasform des Himmelsgewölbes blieb in diesem Falle
die gleiche. Selbst wenn man überhaupt keinen Horizont sieht, wie auf
freiem Felde, in der Nähe einer mannshohen Mauer, oder wenn man sich
den Horizont einfach verdeckt, bleiben die erwähnten Täuschungen be-
stehen : und ,,wie käme man dazu, ein Sternbild mit Häusern oder Baum-
kronen zu vergleichen?'* Der Verfasser bekämpft sodann die Meinung
Herings, dafs die Kugelgestalt der Netzhaut es sei, die uns zur Wahr-
nehmung eines gewölbten Himmels nötige. Bei ruhigem Blick erscheine
uns das im Blickfeld befindliche Himmelsstück ^^wie eine Ebene senk-
recht zur Sehrichtung''. Erst wenn wir den Blick wandern lassen, ent-
stehe die Vorstellung der Wölbung, und diese komme daher, dafs uns
bei der Blick- bezw. Kopf bewegung von allen Seiten her immer der
gleiche Eindruck komme, wobei Erfahrungen an irdischen Gewölben zur
Bildung dieser Vorstellung mitwirken.
Die meisten gegen die Vergleichstheorie angeführten Thatsachen
widerlegen nach der Meinung des Verfassers auch die Entfernungstheorie.
So, wenn wir keinen Horizont sehen und doch den in Bede stehenden
Täuschungen verfallen.
Es bleibt nur die Erklärung mittelst des Zustandes der Atmosphäre.
Aber die Vergröfserung der durch Dunst und Nebel gesehenen Objekte
will FiLEHNz nur gelten lassen „für relativ dunkle Körper auf relativ
hellem Grunde, nicht aber für relativ helle Körper auf relativ dunklem
Grunde^. Stehe der lichtschwache Mond am hellen Abendhimmel, dann
und nur dann könne die Luft Perspektive vergröfsemd wirken. Die
Irradiation komme in diesem Falle den dunkleren Objekten zu gute.
Andererseits macht der Verfasser darauf aufmerksam, dafs die hoch-
stehende Sonne, wenn sie durch den Nebel scheint, sogar verkleinert ist.
Auch hier ist daher wiederum die Stellung am Himmel als die ausschlag-
gebende Ursache der scheinbaren Gröfse anzusehen, wozu als mitwirkende
Ursache in jenem einzelnen, vom Verfasser zugestandenen Falle die
Luftperspektive käme. Aber ein Experiment von Hblmholtz scheint
diesem Ergebnis zu widerstreiten. Versuchte nämlich Helmholtz mittelst
464 Litteraiurbericht.
•iner planparallelen Glasplatte das Bild des Mondes auf den Horizont
zu projizieren, so erschien der gespiegelte Mond keineswegs grölser.
Verfasser vermutete dalier hier einen Beobachtungsfehler. Er fand, dafs
es dabei gelingei^ mufs, die Phantasie so zu beherrschen, dafs man den
Mond auch wirklich ,,an den Horizont'^ sieht. Gelingt das, dann
^,erscheint'' der Mond „aber auch kolossal'^. (Man sehe die für den
Erfolg des Versuchs wesentlichen Vorsieh tsmafsregeln im Originale nach!)
Dasselbe bestätigen in viel einfacherer Weise Nachbilderversuche. Die
bekannten sehr lebhaften Nachbilder der Abendsonne, auf den Horizont
projiziert, erscheinen von gleicher Gröfse, wie die Sonne; nach dem
Zenith zu projiziert sind sie bedeutend kleiner; etwa so wie die Sonne
selbst in entsprechender Stellung.
Nunmehr glaubt der Verfasser, eine Erklärung aller genannten
Erscheinungen aus einem Prinzip vornehmen zu können. Halten wir
zunächst fest, dafs die Gewölbeform des Himmels ihm daher zu rühren
scheint, dafs uns bei bewegtem Blick von allen Seiten die gleichen Ein-
drücke kommen, so ist zu erklären, warum dies Gewölbe ein abgeplattetes
ist, warum gleiche Winkelstücke an demselben um so gröfser erscheinen,
je näher sie dem Horizont liegen, und warum Sternbilder, Sonne und
Mond mit der Annäherung an den Horizont gröfser werden. Der Ver-
fasser gewinnt nun sein Erklärungsprinzip an einigen interessanten
Versuchen, durch die zugleich einige weitere bekannte optische Erfah-
rungen eine neue und, wie Eeferent glaubt, zutreffende Erklärung er-
halten. Sie kommen alle darauf hinaus, dafs bei Umkehrung des Bildes
einer Landschaft, z. B. beim Durchblicken durch die Beine, beim Auf-
blicken, wenn man mit dem Kopf nach unten an einem Geländer oder
Beck hängt, oder bei Umkehrung mittelst Prismas oder durch Spiegelung
— die sämtlichen in Bede stehenden Täuschungen fast völlig ver-
schwinden. Gleiche Winkelstücke werden überall gleich grofs gesehen;
der Himmel ist eine Halbkugel, Sternbilder, Sonne und Mond behalten
am Horizont ihre Zenithgröfse. Gleichzeitig aber geht auch die Mög-
lichkeit der perspektivischen Deutung des Gesamtbildes der Landschaft
verloren, und zwar immer am vollständigsten für denjenigen Teil der
Landschaft, der durch geringe stereoskopische Verschiedenheiten den
Augen nur geringe Motive der Tiefendeutung darbietet, während der
Vordergrund meist perspektivisch richtig gesehen wird. Dieser Wegfall
der perspektivisch vertiefenden Deutung einerseits und das Aufhören
der in Bede stehenden Täuschung andererseits gelten nun sowohl für
den irdischen Horizont, wie für den Horizontteil des Himmels.
Daraus schliefst der Verfasser, dafs die perspektivisch vertiefende
Deutung des Erdhorizontes von uns auf den. Horizontteil des Himmels
übertragen wird, und dafs dies die Ursache der in Bede stehenden
Täuschungen ist. Der mit dem Gesichtsfeld unmittelbar in Kontinuität
stehende horizontale Teil des Himmels wird bei aufrechter Körper-
haltung ebensowohl wie unser irdischer Horizont „in horizontaler
Richtung perspektivisch vertieft" gesehen, bildet zusammen mit der
Horizontebene „einen horizontalen Hohlkörper". Es ist leicht zu sehen,
wie sich damit sowohl die Uhrglasform des Himmels, wie die scheinbare
Lüteraturbericht 465
Gröfse yon Sternbildern, Sonne und Mond — die an dieser perspek-
tivischen Interpretation teilnehmen — ans einem Prinzip erklären
lassen. E. Meumann (Leipzig).
H. W. Kkox. On the anantitatiye detenninstion of an optical illaBion.
Americ. Joum. of Fsychol VI. S. 413—421. (1894.)
B. Watakabb. On the qnantitatiTe determination of an oi^tical Ulnsion.
Ebda. S. 509-514. (1895.)
C. S. Parbish. The cntaneons estimation of open and fllled space.
Ebda. S. 514—523. (1895.)
A. BiNET. La mesure des Ulasiona vlsuellefl chez les enfanta. Beo. pkilos,
Bd. 40. S. 11-25. (1895.)
J. LoEB. Über den Nachweis von Kontrasterscheinnngen Im Gebiete
der Baumempllndungen des Anges. Fflügera Ärch, LX. S. 509—518.
(1895.)
Die beiden zuerst erwähnten Arbeiten beschäftigen sich mit der
Überschätzung einer durch Punkte eingeteilten im Vergleich mit einer
nicht eingeteilten Punktdistanz. Die Versuche (nach der Wahlmethode)
ergaben die Allgemeinheit der Täuschung bei verschiedenen Lagen und
Dimensionen (25 bis 40 mm); die Vermutung, dafs (bei unveränderter
Distanz der Einteilungspunkte) der Täuschungsbetrag in konstantem
Verhältnis zur Gröfse der Vergleichsdistanzen stehe ; und die Bestätigung
der Angabe Mellinghoffs, nach welcher eine durch einen Punkt halbierte
Punktdistanz unterschätzt statt überschätzt wird. Die theoretischen Über-
legungen, welche die beiden Verfasser mit diesen thatsächlichen Be-
stimmungen verbinden, sind dem Beferenten durchaus unverst*ändlich.
Aus der von Chodin und Volkhann festgestellten geringeren Genauigkeit
der Schätzung für vertikale als für horizontale Distanzen wird erklärt, dafs
(nicht die m. V. der Täuschungsbeträge, sondern) die Täuschungs-
beträge selbst bei vertikaler Figurlage gröfser sind als bei horizontaler ;
dagegen aus der annähernden Gleichheit der m. V. in jenen beiden
Pällen geschlossen, dafs die normale Überschätzung von Figuren im
oberen Teile des Gesichtsfeldes durch die vorliegende Täuschung auf-
gehoben werde. Jene erstere Erklärung ist einfach ungereimt; dieser
zweite Schlufs würde zwar an und für sich eine gewisse, mit Bücksicht
auf die hohen m. V. jedoch nur geringe Wahrscheinlichkeit ergeben,
ist aber vollkommen wertlos, da die einfache Vergleichung der in den
Tabellen gesondert eingetragenen Schätzungswerte bei oberer und imterer
Lage der variabeln Distanzen die Sache direkt entscheiden könnte. Die
Verfasser haben jedoch dieses gegebene Material unbenutzt gelassen! —
Dafs zwei üntersucher, welche an einem Universitätslaboratorium arbeiten,
sich solche Begriffsverwirrungen und Gedankenlosigkeiten zu Schulden
kommen lassen, ohne während des halben Jahres, welches das Erscheinen
der beiden Arbeiten trennt, etwas davon zu bemerken, ist nicht nur
unbegreiflich, sondern auch bedenklich.
Das Auftreten einer der vorhergehenden entgegengesetzten Täuschung
bei Tastwahmehmungen untersucht Pabbish. Die Volarfläche des Vorder-
armes wurde in longitudinaler Bichtung mittelst Hartgummistiften, welche
Zeitiehrift fQr Psychologie X. 30
466 Liiieraturbericht
in der Zahl von 2 bis 9 eine Strecke von 64 mm überspannten, gereizt, und
festgestellt, dafs mit wenig Ausnahmen ein mehr gefüllter einem weniger
gefüllten Baume gegenüber untersch&tzt wird. Die Erklärxmg soll in
einem durch Irradiation verursachten Sichzusammendrängen (bunching,
crowding) der Berührungspunkte zu suchen sein.
Birst hat durch Versuche (Wahlmethode) an 60 Schülern von 9
bis 14 Jahren festgestellt, dafs dieselben ausnahmslos der BasHTANOschen
Täuschung unterliegen. Der mittlere Täuschungsbetrag ist bei einer
kleineren Figur (konstante Vergleichslinie «» 2 cm) relativ grOfser, als
bei einer gleichförmigen gröfseren (konstante Vergleichslinie = 10 cm);
er ist bedeutend gröiser, wenn man eine Linie mit auswärts gekehrten
Schenkeln mit einer Linie ohne Schenkel, als wenn man eine solche mit
einer Linie mit einwärts gekehrten Schenkeln vergleicht (beide Besultate
kann Beferent auf Grund seiner seitdem veröffentlichten Versuche mit
Erwachsenen bestätigen). Im allgemeinen haben die Versuchspersonen
eine Ahnung von der Bichtung der Täuschung!
LoBB beschreibt einen interessanten Versuch. Bei fixierter Kopf-
lage betrachtet man einen rechts parallel zur Medianebene auf dem
Tische liegenden Pappdeckelstreifen und versucht, einen anderen ähnlichen
Streifen so einzustellen, dafs er in der Verlängerung jenes (etwa 20 cm
von ihm entfernt) zu liegen scheint. Wird nun ein dritter Streifen zur
rechten oder linken Seite parallel neben den zweiten gelegt, so erscheint
dieser zweite nicht mehr als die Verlängerung des ersteren, sondern um
3 bis 6 mm nach links oder rechts verschoben. Wenn die Streifen,
statt parallel, senkrecht zur Medianebene gestellt werden, läfst sich die
nämliche Erscheinung für Tiefenwerte nachweisen. „In allen diesen
Fällen ist die Änderung, welche der Baumwert einer Netzhautstelle
(oder deren Nervenapparate) durch die Erregung einer benachbarten
Netzhautstelle (oder deren Nervenapparate) erfährt, dem Vorzeichen nach
umgekehrt, wie die Differenz der Baumwerte der induzierenden und
beeinflufsten Netzhautstelle» also eine echte Kontrastwirkung." Bedingung
für das Auftreten derselben ist die Bichtung der Aufmerksamkeit auf
den induzierenden Streifen. Aus dem nämlichen Prinzip erklärt- der
Verfasser die tlberschätzung geteilter Punktdistanzen und spitzer Winkel^
'wogegen die Unterschätzung eines Kreises, dem ein kleinerer konzentrisch
eingeschrieben wird, wegen des demjenigen der Kontrastwirkung ent-
gegengesetzten Vorzeichens der Täuschung auf Akkommodations-
wirkungen zurückgeführt wird. — Beferent erlaubt sich noch zu bemerken,
dafs WuNDT (Physiol. Psychol. 11*. S. 146. Fig. 166) eine Täuschung erwähnt,
welche mit der hier besprochenen wesentlich identisch ist, von welcher
aber Wündt merkwürdigerweise sagt^ dafs die Kontrasthypothese sie
durchaus unerklärt lasse. (A. a. 0. S. 154.) Hbtmaks (Groningen).
Graffuxdeb. Traum und Traomdentmig. Hamburg 1894. 38 S. Aus Safnmhmg
gemeinverst toissensch. Vortr,
Der Hauptwert der vorliegenden Abhandlung liegt in der sorg-
fältigen Zusammenstellung der verschiedenen Arten der Verwendung,
LUteraiurhertchL 467
welche der Traum in den Alteren Beligionssystemen, im Traumorakel,
im Mittelalter bei der Geistlichkeit und den Astrologen, als Symbol im
Epos, in der Lyrik und im Drama gefunden hat. Der dieser Sammlung
vorausgehende Teil beschäftigt sich mit der Anführung einiger auf den
Traum bezüglicher wissenschaftlicher Ergebnisse. Leider scheint sich
der Verfasser nicht genau genug informiert zu haben, wenigstens
gebraucht er in seinem Drange nach Popularisierung bisweilen Bede-
wendungen, bei denen man keine richtige Vorstellung von den Vorgängen
bekommt. So ist es z. 6. ganz imwissenschaftlich, wenn er sagt, dafs
„bald diese, bald jene Stelle des Gehirns einseitig eine halbe Erleuchtung
erhält^. Falsch ist es, wenn er yon den Traumvorstellungen behauptet:
„Sie drängen sich dem Geiste auf als etwas, das er nicht schafft, sondern
das ohne sein Zuthun da ist.** Deun ohne das Zuthun des Geistes kann
auch im Traume keine Vorstellung entstehen. Gröfsere Präzisierung an
diesen imd anderen Stellen (S. 9, 11) würde den Wert der Arbeit erhöht
haben.
M. Gdbsslbb ^(Erfurt).
JoHB A. Bbbostböm. The Relation of the Interference to the Practice
Effect of an Aaaociation. Ämeric. Joum. of Psychol Vol. VI. No. 3.
S. 41-50. (1894.)
Bekanntlich haben limivs^vBXBA {Beiträge, H.4), sowie Müllbb und Schü-
mann {diese Zeitschrifly Bd. VL S. 173 ff.) den Nachweis geliefert, dafs an das
nämliche BewuXstseinselement (Vorstellung u. s. f.) sich mehr als blofs
eine Beihe assoziieren könne, und daik diese Assoziationen als Dis-
positionen latent bleiben und durch andere Beihen nicht zerstört werden.
B. hat diese Erscheinung einer eingehenderen Untersuchung mit Ex-
perimenten mittelst Elarten unterzogen, über deren Detail wir allerdings
bei der Kürze Torliegenden Aufsatzes, welcher wiederholt auf die frühere
ausführlichere Darlegung der Experimente zurückweist, kein rechtes
Bild bekommen.
Seine Ergebnisse decken sich im grofsen und ganzen mit denjenigen
der oben genannten Forscher. Auch B. findet, dafs die Assoziation, die
sich zuerst an ein Bewufstseinselement angeschlossen, nicht aufgehoben
wird durch eine an das gleiche Element später sich angliedernde Asso-
ziation, dafs also die Wirkung der Übung in einer Richtung nicht auf-
gehoben wird durch eine Übung in einer anderen, sondern unverändert
als Tendenz beharrt. Das Hereinwirken der zweiten Assoziationsreihe
der Übung in der anderen Bichtung stört zwar zu Anfang etwas und
erfordert gröfsere Arbeit, bewirkt aber, dafs die Assoziationen nach
beiden Richtungen viel fester werden. Es macht dabei keinen Unter-
schied, ob nur zwei Assoziationen an das eine Element sich knüpfen,
oder mehrere. Die Interferenzwirkung wird dadurch nicht gröfser. Sie
steht in einem konstanten Verhältnis zur Obungswirkung, ist ihr äqui-
valent. Die weiteren Schlüsse aber auf die Natur der zu Grunde
liegenden Nervenprozesse führten den Verfasser zu anderen Ansichten,
als MÖNBTERBERG U. A.
M. Offneb (Aschaffenburg).
30*
468 Litteraturbericht,
Kasimib TwiJu>owsKi. Zar Lehre Tom Inhalt und Gegenstand der Vor-
Btellnngen. Eine psychologische Untersuchung. Wien. Holder.
1894. 111 S.
Brentano hat bekanntlich Vorstellungsakt und Vorstellungsinhalt
(Gegenstand) scharf getrennt, in einer Weise, welche den entschiedenen
Widerspruch Müvstebbbbos und Natorps gefunden. Höflbr aber ging
einen Schritt weiter und unterschied in dem Ausdruck „Gegenstand''
(Objekt) zweierlei: einmal das An-sich-Bestehende, worauf unsere Geistes-
thätigkeit sich richtet, Vorstellungsgegenstand, und dann das in
uns bestehende Bild, richtiger Zeichen jenes Gegenstandes (= immanentes
und intentionales Objekt) Vorstellungsinhalt.
Die Betrachtung und Durchführung dieses Gegensatzes zwischen
Vorstellungsinhalt und Vorstellungsgegenstand neben dem Vorstellungs-
akt ist der Zweck der vorliegenden scharfsinnigen Untersuchung. Schon
der Name im weitesten Sinne (= kategorematisches Zeichen der alten
Logiker) hat eine jener Dreiteilung entsprechende dreifache Aufgabe:
1. in dem Hörenden einen bestimmten Vorstellungsinhalt zu er-
wecken; 2. ihm zu verraten, dafs der Sprechende selbst den gleichen
Vorstellungsakt bethätigt; 8. einen objektiven Gegenstand zu
nennen. „Vorgestellt^^ kann also zweierlei bedeuten, ähnlich wie
„gemalt^' in „gemaltes Bild^^ und „gemalte Landschaft". Ln ersten
Falle ist „gemalt^* (nicht gestochen oder radiert) nur determinierendes
Attribut, die Bedeutung des Ausdruckes nur erweiternd, ergänzend, im
zweiten Falle aber modifizierend, dieselbe vollständig ändernd, da
ja eine gemalte Landschaft keine wirkliche mehr ist. Dabei kann' ich
aber immer noch von der Landschaft, welche hier gemalt ist, als einer
wirklichen reden, etwa dafs ich einmal dort gewesen bin; in diesem.
Falle ist „gemalt" natürlich wieder blofs determinierend.
Ganz analog hat „vorstellen" ein doppeltes Objekt: einen vor-
gestellten Gegenstand und einen vorgestellten Inhalt. Der Inhalt wird
in der Vorstellung gedacht, vorgestellt, der Gegenstand durch die
Vorstellung (Zimmebmann).
Für die sog. gegenstandslosen Vorstellungen, wie Kentaur, vier-
eckiger Kreis — non-ens ist keine wirkliche Vorstellung — sucht T. in
gleicher Weise einen Gegenstand, der durch sie vorgestellt wird, nachzu-
weisen. Ob ihn aber der Weg, den er eingeschlagen, an das Ziel führt,
scheint recht fraglich. Und doch könnte er sein Prinzip retten. Für
derartige Vorstellungen als Ganze müTsten wir zwar auf einen Gegen-
stand verzichten, aber für die Teile desselben lielsen sich mühelos die
Gegenstände aufzeigen. Freilich ist für T. der Gegenstand der Vor-
stellungen, Urteile, Gefühle, Wollungen etwas vom Ding an sich, als der
unbekannten Ursache unserer Affektionen, Verschiedenes; sind doch z. B.
Mord, Gemütsruhe, Sinus Gegenstände, aber keine Dinge oder Sachen.
Kurz, Gegenstand ist ihm schliefslich alles, was ist, alle entia.
Entsprechend dem Unterschied zwischen Vorstellungsgegenstand
und Vorstellungsinhalt sind auch die beiderseitigen Bestandteile ver-
schieden, dürfen also nicht mit dem zweideutigen Terminus „Merkmal"
belegt werden. Teile des Vorstellungsinhaltes sind wieder Vorstellungs-
LiHeraiurbericht. 469
Inhalte, Teile des Vorstellungsgegenstandes wieder Vorstellungsgegen-
stände. Nur für letztere l&fst T. mit Bolzano und Übebweg den Ausdruck
,, Merkmal" gelten, für erstere schlägt er die Bezeichnung Vorstellungsteile
oder Vorstellung-Inhaltsteile vor. Dann aber kommen in Betracht die
Beziehungen dieser Teile, die sog. formalen Bestandteile, deren Gesamt-
heit die Form des Ganzen genannt wird, während man die anderen als
den Stoff bezeichnet, als die materialen Bestandteile.
Unter den weiteren Untersuchungen verdienen ganz besonderes
Interesse die Ausführungen des Verfassers über den Gegenstand der
allgemeinen Vorstellungen. Im Widerspruch mit allen Logikern,
den einen B. Erduann ausgenommen, stellt er den Satz auf, dafs es
Vorstellungen, zu denen eine Mehrheit von Gegenständen gehört, nicht
giebt. Durch die allgemeine Vorstellung wird das den Gegenständen
aller Einzelvorstellungen Gemeinsame als solches vorgestellt. Der Gegen-
stand einer solchen Vorstellung Ist dann allerdings nur ein Einziges,
spezifisch verschieden von dem der Einzel Vorstellung. Freilich ist die
allgemeine Vorstellung stets indirekt, unanschaulich. DaXs damit T. dem
psychologischen Befunde gerecht wird, möchten wir bezweifeln, wie denn
überhaupt in ihm der Psychologe von dem Logiker in den Hintergrimd
gedrückt wird.
Wenn wir also auch gestehen müssen, dafs uns die Aus-
führungen des Verfassers in ihrer Gesamtheit noch nicht überzeugt
haben, so haben wir doch den eindringenden Scharfsinn rückhaltlos
anzuerkennen, mit dem er auf die Bedeutung derartiger verwickelter
Fragen hingewiesen und zur Lösung und Klärung sein gut Teil bei-
getragen hat. Das ist ein Verdienst, das nicht geschmälert wird, auch
wenn die Ergebnisse seiner anregenden Forschungen, wie zu erwarten
steht, noch manchen Widerspruch erfahren werden.
M. Offner (Aschaffenburg).
A. BiKBT et V. Henri. De la Buggestibilit^ naturelle chez les enfants
Bev. phüos. 1894. No. 10. S. 337-347.
Die gewöhnlichen, durch hypnotischen Schlaf vermittelten Sug^
gestionen sind nach der Ansicht der Verfasser zu weit entfernt von den
analogen Suggestionsphänomenen des normalen Seelenlebens, als
dafs sie JEtÜckschlüsse auf die letzteren erlaubten, vor allem, weil bei
der „natürlichen Suggestion^ die Freiheit und Urteilsfähigkeit der beein-
flufsten Personen nicht aufgehoben sei; insbesondere die moralische
Einwirkung und Gegenwirkung des täglichen Lebens gleiche durchaus
nicht derjenigen, welche in der Hypnose erreicht werde. Deshalb wollen
die Verfasser die natürliche Suggestion untersuchen, wie sie z. B. der
Lehrer einer Schule auf die Kinder ausübt.
Die mitgeteilten Beobachtungen über Suggestibilität der Schul-
kinder durch den Lehrer haben die Verfasser bei Gelegenheit von Ver-
suchen über das visuelle Gedächtnis von Kindern gemacht (vergl. Rev.
pMlos. 1894. S. 348 ff. und Bev. gm. des sciences 1894. Märzhefk). Die Sug-
gestion bestand hier darin, dafs, wenn die Schüler eine vorher gezeigte
Linie von bestimmter Gröfse wieder aufzusuchen hatten, in dem Augen-
470 Litteraturbericht.
blick, in dem der Schüler eine bestimmte Linie angeben wollte, der
Experimentator die Frage an ihn richtete : „Sind Sie sicher, daüs das die
richtige Linie ist?^ Es sollte dabei vor allem der Einflufs des Alters
der Schüler, ihrer Bildangssufe, der Natur der geistigen Arbeit auf die
Suggestibilit&t festgestellt werden, unter drei Umständen wurde der
Effekt der Suggestion verfolgt: 1. Indem die Suggestion lediglich durch
die Anordnung der Versuche gegeben wurde; 2. indem die einzelnen
Kinder direkt angeredet wurden; 3. indem man eine gröfsere Anzahl
Schüler eine „kollektive", gleichzeitige Suggestion erfahren liefs, wobei
namentlich der Einflufs der gegenseitigen Nachahmung der Schüler
hervortreten mufste. Die Schüler gehörten drei verschiedenen Klassen
an und repräsentierten damit drei verschiedene Alters* und Bildungs-
stufen.
Im ersten Falle wurden dem Schüler Linien gezeigt, von denen er
eine bestinunte Länge einmal aus dem Gedächtnis, ein anderes Mal
bei direktem Vergleich mit dem Original in einem „tableau'' wieder
aufzusuchen hatte. Dies wurde zuerst ohne Suggestion einige Male
ausgeführt, worauf in den Suggestionsversuchen die dem Original ent*
sprechende Länge weggelassen wurde. Es fragte sich, ob die Kinder
sich dadurch bewegen liefsen, die nächst kleinere oder gröfsere Linie
zu bezeichnen. Augenscheinlich bedarf es dazu nicht nur gewisser sinn-
licher Fähigkeiten (Schärfe des Augenmafses u. s. w.), sondern vor
allem einer gewissen „hardiesse d'esprit", eines gewissen Selbstvertrauens,
das eben in erster Linie durch die Suggestion auf die Probe gestellt
wird. Um den Einflufs beider Arten von Faktoren zn trennen, schieden
die Verfasser bei den Suggestionsversuchen diejenigen Kinder aus, die
in den Vorversuchen die Liniengröfsen nicht richtig erkannt hatten.
Nun ergab sich bei 240 geprüften Schülern, dafs 88% der jüngsten
Klasse der Suggestion verfielen, dagegen nur 60% der mittleren und
47 % der höchsten Klasse. Die Gedächtnisunterschiede der Schüler
der entsprechenden Klassen waren dagegen weit geringere. Bei An-
wendung des direkten Vergleichs mit dem Original ergaben sich im
Mittel SS^/i Suggestionsfehler, bei der Gedächtnismethode 65%. Die
Gegenüberstellung der Ergebnisse beider Verfahrungsreihen trennt in
gewisser Weise die Suggestibilität durch Zaghaftigkeit und die durch
Gedächtnisschwäche. Man sieht, wie gerade die innere Unsicherheit
auf Grund schwachen Gedächtnisses stark für die Suggestion empfänglich
macht.
Der zweite Fall, Einwirkung durch Verbalsuggestion, d. h. durch
die Fragen: Sind Sie sicher? Ist es nicht die benachbarte Liniengröfse?
wurde bei 150 Kindern geprüft. Aus Anlafs der Fragen ändern ihre
Antwort von den Schülern der niederen Klasse: 89% bei gedächtnis-
mäfsigem Aufsuchen, bei direktem Vergleichen 74%, von dem mittleren
Kursus entsprechend 80 und 73%, von dem älteren 54 und 48%. Er-
staunlich ist der Unterschied der fortgeschritteneren Kinder von den
beiden anderen Klassen, fast die Hälfte unter den ersteren läfst sich
durch die Fragen nicht irre machen. Manche Einzelbeobachtungen, die
auf das auch von Mülles und Schttmann behandelte „Gef&hl des Aus-
Lit^aturhericht 471
wendigwissens^ einiges Licht werfen, sind interessant. Sehr auffallend
ist, dafs die Kinder, welche eine falsche Gröfse bezeichnet hatten, in der
Mehrzahl der Fälle durch die Suggestion auf das richtige Urteil gebracht
werden — ganz besonders beim Vergleich aus dem blofsen Ged&chtnis.
Im dritten Falle wurden Gruppen von Schülern geprüft, die in der
Begel zu vieren nebeneinander safsen. Es ergiebt sich eine geradezu
überraschende gegenseitige Beeinflussung der Schüler. Sie nimmt nur
wenig mit dem Alter ab.
Die Verfasser glauben, dafs sich mit solchen Versuchen ein ungefähres
Mafs des Widerstandes finden läfst, welchen das Gefühl der Gewifsheit
modifizierenden Einflüssen entgegensetzt. £. Meümanv (Leipzig).
David Iroks. Dbboabteb and modern Theories of Emotion. Phihs. Bev.
IV. 3. S. 290-302. (1895.)
Irons erwartet eine Förderung der modernen Diskussion der Affekte
durch ein Zurückgehen auf Descabtes. Die Darstellung, die Ibons von
den einschlägigen Erörterungen in Descabtes' Passians de Vätne giebt,
lafst aber einige Inkonsequenzen und ein Schwanken in den Anschauungen
D.'s erkennen, dem Irons selbst „negligence with regard to the psychical
characteristics of emotion as such" nachsagt. Die modernen Affekt-
theorien streift der Aufsatz nur ganz im Vorübergehen.
KuBBLLA (Brieg).
G. Vbrribst. Les bases physiologianes de la parole rhythmäe. Bev.
NSO'Scolast L No. 1. S. 39-52. 1894. und No. 2. S. 112-139.
Die Beobachtungen von Stricker u. A. über Tonusverftnderungen
und schwache Innervationen der Kehlkopfmuskulatur, welche die Wort-
vorstellungen begleiten, und vor allem die bekannten Versuche von
CuMBERLAKD über „Gedankenlesen^', endlich einige eigene Versuche über
Beziehungen zwischen Vorstellungen und Bewegungstendenzen veranlassen
den Verfasser zu folgenden Behauptungen: 1. „Jede Vorstellung von
einer Bewegung wird von einer Erregung der motorischen Zentren und
von einer zentrifugalen nervösen Welle begleitet, die eine Modifikation
des Tonus derjenigen Muskeln hervorrufb, die zur Ausfahrung der be-
treffenden Bewegung zusammenwirken müfsten. Jede Vorstellung von
einer Bewegung wird also von einem Beginn ihrer Ausführung begleitet,
die äufserlich latent bleibt, sich aber dem Experimentator fühlbar macht."
2. „Jede Vorstellung einer Linie, einer Richtung, einer Kontur, einer
Figur führt die Vorstellung von einer Bewegung herbei, die zum Zeichnen
dieser Linie nötig wäre, und sie bewirkt infolgedessen die entsprechenden
muskulären Veränderungen**. (S. 43.)
Eine ähnliche Wirkung haben auch die peripher ausgelösten Be-
wegungsempfindungen. Bewegungsempfindungen wirken als mo-
torische Beize, es genügt, einem Hypnotisierten die Hände zu falten, und
er macht alle weiteren Ausdrucksbewegungen eines Betenden, es genügt
— fügen wir hinzu — , einer ataktischen hysterischen Person den Arm
einige Male hinr und herzubewegen, und sie bewegt ihn spontan weiter.
Auch die Wahrnehmung von Bewegungen, der Anblick von
Bingern oder Schauspielern bringt entsprechende Bewegungstendenzen
472 Litteralurbericht,
im Zuschauer hervor, und der Verfasser behauptet mit Hecht, dals zahl-
reiche ästhetische EfiPekte der bildenden und redenden Künste auf solchen
Bewegungsantrieben beruhen.
Nicht zum mindesten auch gilt dasfClr das Wohlgefallen amBhythmus.
Die periodische Wiederkehr gleicher Bewegungsphasen ergiebt eine
Akkumulation ihrer Wirkungen. Was für die physiologischen Grund-
lagen des Versrhythmus speziell in Betracht kommt, sind die rhythmischen
Innervationen der Sprech- und Atemmuskulatur. Nun scheinen dem Ver-
fasser die oben erwähnten Thatsachen der latent bleibenden Mitinner-
vation für die Zungen-, Kehlkopf- und Atemmuskulatur ganz besondere
Bedeutung zu haben. Die unsere ganze Vorstellungsthätigkeit beständig
begleitenden Innervationen des gesamten Lautapparates sind nach seiner
Meinung ganz besonders lebhafte, bei einiger Aufmerksamkeit kommen
sie den meisten Menschen leicht zum Bewufstsein. In der Kindheit
seien sie am lebhaftesten, bei unkultivierten Menschen seien sie am
besten zu beobachten, wie denn auch das motorische Gedächtnis bei
Kindern und ungebildeten überwiege. Der Kindermund und der
Volksmund verwende deshalb in Liedern und Versen die Allitteration,
die als wesentlich motorisches Phänomen aufzufassen sei. Haben nun die
beständigen Bewegungsantriebe, die unser Vorstellen begleiten, eine
starke Beziehung zu unseren Gefühlen, so liegt in der elementaren Be-
ziehung der Worte als motorischer Vorgänge zu unserem Gefühlsleben
eine besondere Quelle der WohlgefUligkeit rhythmischer Wortver-
bindungen, die neben der gewöhnlich ausschlleMich beachteten Quelle
des Gefallens an Versen, nämlich dem Sinn des Gedichtes, eine ganz
besondere Hervorhebung verdient. Unabhängig von seiner Bedeutung
hat das Wort (und die Wortkombination) durch die Beziehung des mo-
torischen Apparates, der zu seiner Hervorbringung dient, zu unseren
Gefühlen eine Beihe von Eigenschaften, welche uns gefallen oder
beleidigen. Darauf beruht ein grofser Teil der Ästhetik des Wortes,
des Verses, des Versrhythmus.
£s müssen also einerseits die kinästhetischen Gefühle der Kehl-
kopfmuskulatur, andererseits die eigentümliche Begulierung der Atem-
holung diejenigen Faktoren sein, welche (ursprünglich vielleicht aus-
schlieJGslich) die Verstechnik und die Begeln ihrer wohlgefälligsten
Wirkungen bedingen. Die Cäsuren, die Länge der Verse und Vers-
abschnitte, aber auch die blofse Auswahl der Worte kommen dabei
speziell für die Atemregulierung in Betracht.
Es ist sehr schade, dafs der Verfasser, der Mediziner ist, nicht ein
tieferes Eindringen in den physiologischen Zusammenhang zwischen
rhythmischer Muskelbewegung, Atemregulierung u. s. w. einerseits und
Lust und Unlust andererseits versucht. Überraschend aber sind die sehr
zahlreichen Beispiele, die der Verfasser aus der Volks- und Elinderpoesie
zum Beleg seiner theoretischen Vorstellungen anführt. In diesen aus
allen Kultursprachen entlehnten Versen und Liedern, die zum Teil im
Sinne der Theorie ganz vortrefflich analysiert werden, dürfte der Haupt-
wert der Arbeit von Vbbsiest bestehen. E. Meümann (Leipzig).
Litieraturbericht 473
GsoRG SiuHEL. Elnleitnng in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der
etliischen GrundbegrüFe. In 2 Bänden. Zweiter Band. Hertz, Berlin
1893. 426 S.
Ebensoschwer wie aus dem ersten liefse sich ans diesem zweiten
Bande eines an merkwürdigen Einzelheiten reichen Werkes der be-
herrschende Gedanke herausfinden, wenn nicht die Vorrede uns hälfe, die
darauf hinweist, in jedem Kapitel sei es darauf abgesehen, an einem
oder an einigen ethischen Grundbegriffen zu zeigen, dafs darin mannig-
fache, oft entgegengesetzte Tendenzen und Denkmotive enthalten sind.
Das gemeinsame und endliche Ergebnis, für den Verfasser, besteht darin,
dafs die Ethik „ihr philosophisches Stadium verlassen^ und in eine
ganz und gar theoretische Wissenschaft sich verwandeln solle, der die
Beschreibung und Erklärung von Thatsachen obliege. Die „normative^'
Aufgabe wird also ausgeschieden, und, wenn wir richtig verstehen, auf
Grund dieser Kritik als unerfüllbar aufgegeben. — Die drei Kapitel des
Bandes handelil 1. über den kategorischen Imperativ, 2. über die Frei-
heit, 3. über Einheit und Widerstreit der Zwecke. Nach Umfang und
Inhalt zieht das mittlere am meisten die Aufmerksamkeit an sich. Der
Verfasser hat es verstanden, mit grofser Unbefangenheit an das vexierte
Thema heranzugehen. Seine scharfsinnige Erörterung zerfällt in vier
grofse Abschnitte. Zuerst soll die ethische Freiheit in ihrer Beziehung
zu anderen Begriffen der Freiheit und Unfreiheit entwickelt werden.
Der Gedankengang ist folgender: Die empirische Freiheit des Handelns
bildet den historischen Unterbau für die Vorstellung von der Freiheit
des Willens (134), obgleich diese auch in einem gewissen Gegensatze zu
jener gedacht wird. Wie das Wollen zum Handeln, so verhält sich zum
Wollen das Ich; die Idee des intelligibeln, aufserzeitlich gewollten
Charakters ist konsequenter Ausdruck dieser Zurückschiebung des
Problems (139). Aufrecht erhalten läfst sich solcher Begriff gegenüber
der kritischen Auflösung des Ich (143). Gewöhnlich wird aber (inner-
halb der Vertretung des Freiheitsbegriffes) das Ich mit der Vernunft
gleich gesetzt, die theoretische, determinierte „Sinnlichkeit*^ mit der prak-
tischen verwechselt (147 f.). Der wahre Sinn des durchdachten Freiheits-
begriffes ist allerdings der, dafs die Bestimmung durch vemunftmäfsige
Motive derjenigen durch sinnliche entgegengesetzt wird (150). Die Wert-
vorstellungen, die an das Ich und die an die Freiheit geknüpft werden,
zeigen sich überall parallel: hohe, wie niedrige Schätzung des Ich und
der Willkür (154). Im Grunde handelt es sich aber um Kompromisse
mit der anerkannten Wahrheit der Kausalität, das Ich oder die Vernunft
ist nur die Hypostase der Forderimg eines positiven Etwas hinter den
Thatsachen des WoUens. »Die Einzelheiten der empirischen Bedeutung
der Freiheit bilden wohl ein sehr viel reicheres und fruchtbareres Gebiet
für die Moralwissenschaft, als die metaphysische Frage nach der Freiheit
des Willens selbst, vor der jene bis jetzt sehr zu kurz gekommen sind''
(157). Die absolute Freiheit des Individuums wird meistens als ein Kampf
gegen äuTsere Ansprüche, als ein Freiwerden gedacht, welche Idee auch
mit der ethischen Freiheit sich gern verbindet; femer erscheint jene als
Mangel nicht jeder, sondern nur der bestimmt gerichteten und konse-
474 Litteraturhericht
quenten Determinierung, als Becht der Laune (158 f), bierdurcli aber im
Gegensatz zur philosophischen Idee der Freiheit, weil diese gerade in
der konsequenten einheitlichen Bichtung des Ich ihr Fundament hat
(160). In diesem Sinne hat Quetslet gemeint, dafs gerade die Freiheit
des Willens unsere Handlungen stetig und gleichmäfsig gestalte.^ Darin
kommt ein richtiger Gedanke zum Ausdruck, dessen Wahrheit im Gebiete
der empirischen Freiheit den häufigen Zusammenhang von Anarchie und
Despotismus zeigt (162). Die Unfreiheit bedeutet auch einen Willen,
aber denjenigen, der nur eine Minorität von Wollungen repräsentiert;
darum wird gerade die absolute Freiheit in ihrer zufälligen Einzelheit
häufig als Unfreiheit bezeichnet (166), das Wesen der Freiheit würde
dagegen in Bealisierung der Majorität der Wollungen bestehen (166). So
kommt in der Beziehung zum Freiheitsbegriffe, die ihnen gemeinsam ist,
eine Korrelation des loh und der objektiven Normen zum Ausdruck.
Als Freiheit wird der Gegensatz des Gleichgewichtzustandes der Seele
gegen das psychologische Überwiegen einer Vorstellung empfunden; das
freie Ich trifft seine Entscheidungen genau nach dem logischen Gewichte
seiner Objekte (168). Auch die empirische Freiheit ist nur da vorhanden,
wo zugleich Bindungen gegeben sind, wie die sittliche Autonomie im
Gehorsam gegen innere Begeln besteht (171). Weil ^Unfreiheit als
Bindung anderer Art regelmäfsig Befreiung von der bisherigen bedeutet,
so findet sich auch der psychologische Hang zur Unfreiheit oder
freiwilligen Unterwerfung in verschiedener Gestalt. Soziologisch
bemerkt man, dafs die gröfste persönliche Freiheit mit der Bindung
an die Gesetze des gröfsten sozialen Kreises in kausalem Ver-
hältnisse steht (176). Andererseits gehen gerade aus freien Thaten
die inneren Bindungen als Konsequenzen hervor: verpflichtende Kräfte
fixieren sowohl, als steigern die selbstgeschaffene Situation (179). Das
Schicksal macht uns verantwortlich, wo wir uns vielleicht vor unserem
Gewissen nicht mehr verantwortlich fühlen (182); dies wird metaphysisch
symbolisiert durch jene Vorstellung von der aufserzeitlichen Ergreifung
des intelligiblen Charakters (184). Die Gesetzmäfsigkeit eines Ganzen
verhält sich zur Freiheit im einzelnen, wie historische Gesamtbewegungen
zu ihren individuellen Trägern; welches Verhältnis sich 1. teleologisch
ausdrücken liefst: die Freiheit der einzelnen kann selbst ein Teil des
Weltsystems sein (186);— 2. statistisch in zwei Formen: a) die Schwin-
gungen der Einzelfreiheiten gleichen sich in grolsen Gruppen aus; dies
bedeutet eigentlich nur, dafs es für unser Erkennen, wenn es sich auf
^ Wenn der Verfasser hier generell einwendet, dafs die Statistik
doch gerade die Beständigkeit und Eegelmäfsigkeit in den durch
moralische Unzulänglichkeit und Unvernunft hervorgerufenen
Handlungen vor Au^en führe, so hoffen wir, dafs er dabei nicht gerade
an die Eheschlieisungen gedacht hat, die zu den wichtigsten Ob-
jekten statistischer Beobachtung gehören. Übrigens kenne ich nur
QüETELETS Ansicht vom freien Willen als einer accidentellen Ursache
von beschränkten und sich aufhebenden Wirkungen, während mir die
im Texte genannte Auffassung bei anderen Autoren allerdings begegnet
ist. Auf jene QuETELETSche Bestimmung gelangt der Verfasser seloer in
diesem Verlaufe S. 187 ff.
Litteraturberieht, 475
den Standpunkt des G-anzen stellt, gleichgültig ist, welche einzelnen
Teile des Oanzen es sind, die dessen notwendige Schicksale tragen (189);
b. es kann aber auch der soziale Kreis, von dem das statistische Q-esetz
gilt, als eine Einheit gedacht werden, deren innere Beziehungen ihre
Kräfte im Verhältnis der Teilnehmerzahl entwickeln (191). Hier fällt
nim vollends die Freiheit fort und wird vielmehr durch das statistische
Gesetz die soziale Wirkung eines Ganzen auf den Einzelnen, wenn auch
in roher Form, konstatiert (193). Femer unterscheidet sich scheinbar
die Gruppe vom Individuum durch Sicherheit, Zweckmäfsigkeit, Irrtums-
losigkeit ihrer Aktionen; dies beruht darauf, dafs die sozialen Handlungen
die primitiveren, älteren Triebe, Empfindungen, Vorstellungen der
Individuen zur Grundlage haben, woraus das Allgemeine und Notwendige
hervorgeht (194); ebenso verhält sich in der Einzelseele das Wesentliche
und Einheitliche zum Mannigfachen der einzelnen Handlungen. Diese
Betrachtung, dafs das Ganze notwendig, das Einzelne frei erscheine,
scheint der früheren zu widersprechen, wonach gerade allein das Ganze
der Persönlichkeit, das Ich, die Freiheit trage (202 ff.)* Indessen ergiebt
sich die Harmonie aus dem richtigen Begriffe relativer Notwendigkeit,
der gegenüber die Idee der philosophischen Willensfreiheit mit der
absoluten Notwendigkeit einer Causa sui zusammenfallen möchte : das
Ich gilt als Afikrokosmus (204 f.). — Der andere Abschnitt geht auf
die Begriffe der Zurechnung und VerantwoHung ein. Hier heifst es
überraschenderweise, dals Freiheit „in dem Sinne, der überhaupt einen
Sinn hat und nicht nur ein Unterschiebsei oder ein verschwommener
Deutungs versuch für einen ganz entgegengesetzten Gedanken ist, nur
den reinen, grundlosen Zufall bedeutet'' (207). Bei dieser Freiheit aber
ist ebensowenig eine Zurechnung möglich, wie bei der Annahme des
Determinismus .(211). Hingegen kann man die Freiheit aus der Ver-
antwortung herleiten (212): ein Individuum ist eben dann zurechnungs-
fähig, verantwortlich, wenn die strafende Beaktion auf seine That bei
ihm den Zweck der Strafe erreicht (213). Es mufs in ihm die Fähigkeit,
die Spannkraft auch zu anderem Handeln liegen, sonst wäre die Strafe
sinnlos (219). Psychologisch giebt es noch mehrere Quellen der Freiheits-
vorstellung (225 ff.); unser Handeln vollzieht sich auf Grund einer
Mischung des Glaubens an Determiniertheit und an Nichtdeterminiertheit
(281 ff.)' Ob alles verstehen = alles verzeihen sei? Mit der Schuld würde
doch auch die Veranlassung zur Verzeihung aufgehoben (288). Sittliche
Naturen gewähren den eigenen, am besten verstandenen, Handlungen
am schwersten Verzeihung; auch hält man gerade Selbsterkenntnis für
den Anfang der Versittlichung (239). Indessen ist vielfach die ün-
bewufstheit in der Entwickelung des Sittlichen zweckmäfsiger, als seine
Bewufstheit (240). Sittlich schwache Naturen empfinden Selbsterkenntnis
und Eeue als genügenden Tribut an die Moral (ibid.) — Im dritten Ab-
schnitt soll der Umfang skizziert werden, den der Freiheitsbegrifi'
empirischerweise decke. Wichtigste Fortsetzung und Erfüllung der
Freiheit tritt in dem Verhältnis des Ich zum äufseren Besitze ein (245).
Vermehrung des Besitzes ist zugleich Steigerung der Freiheit (251)
Freiheit kann auch als Selbstbeherrschung definiert werden. Herrschaft
476 Litteraiurbericht
über den eigenen Leib setzt sich fort in Herrschaft über ein Besitztum,
endlich in Herrschaft über andere Personen (253). Hinter der ersten
liegt noch die Freiheit der eigenen Seele gegenüber (257). Empfundener
Mangel der einen Form ftlhrt zu einer um so stärkeren Bestrebung nach
der anderen hin (ibid.) Die Gesellschaft begrenzt die äufseren Freiheiten
als Bechte und zugleich auch die Freiheit, auf sie zu verzichten (262).
Man kann das Freiheitsmaximum zum Moralprinzip machen (264). Ver-
teilung des Besitzes wird dadurch normiert (267), Selbstüberwindung
gerechtfertigt, aber auch begrenzt (271); ebenso die Tendenz auf blofse
objektive Kultur und Besitzsteigerung (273). Auch in Bezug auf das
Verhältnis des Ichs zu sich selber, seinen Vorstellungen und Über-
zeugungen, rechtfertigt und begprenzt das Prinzip den „Eigensinn" (275 ff.).
Auch der freieste Wille bedarf eines gewissen Widerstandes der Objekte
(278). Die völlige Bealisierung des Freiheitsmaximums würde seinen
Wert wieder aufheben (281). Dieses Prinzip, wie alle Versuche, die Sittlich-
keit auf einen einheitlichen Begriff zu bringen, ist im Grunde nichts
als Symbolisierung des sittlichen Thatbestandes (ibid.). — Der vierte Ab-
schnitt erörtert das Verhältnis der Willenshandlungen zur Erhaltung
der Kraft und dasjenige psychischer zu physischen Thatsachen über^
haupt; endlich das innere Wesen der Kausalität von BewuTstseins^
Vorgängen. Ein psychologisches Gesetz im Sinne der Na#urwissenschafb
ist bis jetzt noch nicht gefunden (392). Es scheint, dafs sich Gehim-
vorgänge mit psychischem Werte und solche ohne diesen Wert gegen-
seitig durchkreuzen, und diese Vermutung gewährt einen Unterbau für
die Meinung, die Vorstellung der Freiheit stamme daher, dafs wir die
Ursachen unseres Willens nicht kennen (297). Die Vorstellung einer
Unabhängigkeit der Wirkung beruht auch in der Thatsache ihres Über-
schusses über die Ursache (304). Die Annahme einer mechanisch zwin-
genden Notwendigkeit im Ablauf unserer Vorstellungen scheint ferner
den Wahrheitswert derselben in Frage zu stellen (304 f.)*
Soweit das mittlere (6.) Kapitel, über die umgebenden muXs ich
'mit einem kurzen Berichte mich begnügen. Das 5. prüft die von Kakt
geforderte Allgemeingültigkeit einer Handlungsweise, mit dem Ergebnisse,
dafs oft die Verallgemeinerung einer Norm ihr spezifisches Wesen ver-
nichte. Vom individualistischen und vom evolutionisti sehen Gedanken
aus wird die Notwendigkeit und der Wert des besonderen Handelns dagegen
gesetzt, die Versöhnung der Individualberechtigung mit dem kategorischen
Imperativ als wichtiges Problem beschrieben, die logische Bedeutung dea
Wollenkönnens diskutiert. Begriffe enthalten zugleich Forderungen. Der
Parallelismus zwischen praktischem und theoretischem Verhältnis des
Individuums zum ALÜgemeinen erfährt eingebende Betrachtung und in
Anknüpfung daran, was der Verfasser soziologischen Bealismus und Nomina-
lismus nennt, womit wieder Unterschiede der praktischen Gesinnung
psychologisch zusammengebracht werden, woraus sich mannigfache
Kombinationen der Denkungsarten und Willensrichtungen ergeben. —
Das 7. und Schlufskapitel erörtert zuerst den ethischen Monismus und
das Moralprinzip des guten Willens als durchführbare Formel dafür;
sodann das Verhältnis der Einheit der Zwecke sum Endzweck. „Wenn
Litteraturbericht 477
man einen einheitlichen Endzweck des Sittlichen überhaupt annimmt,
so mufs man zugleich eine in Wirklichkeit darauf gerichtete Welt-
entwickelung annehmen** (354). In der formalen Funktion der Zweck-
setzung soll dann ein Gemeinsames für die höheren Wollungen und
Werte gefunden werden; im Sittlichen sei ein gröfseres Quantum davon
vereinigt, als im Unsittlichen (369). Ferner wird der Begriff der Per-
sönlichkeit und ihre psychische Einheit untersucht und der Psychologie
die Aufgabe gestellt, die vorhandene Einheit und Gleiohmäfsigkeit des
persönlichen Seelenlebens zu erklären, die Analogie mit sozialen Körpern
dafür herangezogen, deren Einheitlichkeit wiederum der Beharrung
organischer Form bei dem Wechsel ihrer materiellen Teile vergleichbar
sei. — Endlich werden noch die Konflikte zwischen mehreren Pflichten-
reihen betrachtet. Hierbei wird das Tragische berührt und der Gegen-
satz zwischen Überlieferung und Kritik, Moral und Erkenntnis, prakti-
schem Charakter und Intellekt; das Nacheinander, Nebeneinander und
Übereinander der sozialen Kreise, worin die kollidierenden Pflichten
ihren Ursprung haben. Eine Steigerung der Konflikte ist vorauszusehen,
auch ihrer Vertiefung und Tragik (419, 421). Den monistischen Moral-
philosophien gegenüber ist Beschreibung der wirklichen Vorgänge des
sittlichen Lebens die wahre wissenschaftliche Aufgabe, wie auch in der
Vorrede dieses Bandes bedeutet wurde.
Das ganze hier geleistete Werk fordert Beurteilung, als Nachprüfung
und Miterforschung seiner vielen einzelnen Stücke. Wenn nun diese hier
nicht geschehen kann, so mag ich doch nicht von dem Werke scheiden,
ohne die gröfste Achtung vor der tiefen und vielseitigen Gedankenarbeit
auszusprechen, die darin aufgespeichert liegt. Wer immer, sei es dog-
matisch oder psychologisch, mit ethischen Begriffen sich beschäftigt,
wird mit Spannung dem Verfasser in seinen scharfen Zergliederungen,
feinen Beobachtungen, verheifsungreichen Andeutungen folgen und bei
wiederholtem Lesen um so mehr die Beife des Gehaltes, die Eleganz
der Form bewundern lernen. Dennoch wird man nun mit dem Ganzen
eigentlich nichts anzufangen wissen und sich nicht befriedigt finden,
wenn die Vorrede mit der Einheit des Prinzips, „man könnte sagen, der
methodischen Gesinnung'^ ^i® ^ ^^^ Kapiteln vorhanden sei, über ihren
sonst ungenügenden Zusammenhang trösten will, auch vielleicht die
„formale Gleichheit des Besultats, zu dem jedes für sich in Bezug auf
sein spezielles Thema" gelange, anzuerkennen sich weigern. Denn neben
jenem kritischen Ergebnis, das damit gemeint ist, flnden sich doch in
den meisten Kapiteln Ansätze zu positiven Begriffsbildungen, Moral-
prinzipien und Dogmen, die jedoch am Schlüsse wieder generell verneint
zu werden scheinen. Im allgemeinen hat die Beschäftigung mit diesem
Buche aufs neue die Erkenntnis in mir befestigt, dafs für negative wie
für positive Arbeit von dieser Art Definitionen der abzuhandelnden
Begriffe notwendig sind, die ihrer Natur nach nur auf willkürliche
Denkgebilde sich beziehen können. Die Vermischung der Analyse vor-
handener populärer oder philosophischer Begriffe mit solchen selbständigen
Operationen kann ich nicht für erfolgreich halten und möchte sie als
den Grundfehler dieser Schrift behaupten, der in dem Kapitel über die
478 Litteraturbericht
Freiheit vielleiclit am deutlichsten hervorleuchtet. Auch müfste ich
innerhalb dieses Kapitels in Bezug auf manche Einzelheiten Bedenken
und Widerspruch geltend machen und will wenigstens ein Beispiel davon
geben. Der Verfasser meint: alle Vorstellungen über Freiheit finden
gewissermafsen ihr Thema in der Vorstellung eines Ich, das sich zu dem
Willen selbst verhalte, wie dieser zu der ftufseren Erscheinung der
Handlung (138)) and: jene scheinbar tautologische Erkl&rung der inneren
Freiheit, dafs ich wollen kann was ich will, erhalte einen synthetischen
Sinn, indem der Ton auf das zweite Ich gelegt werde (137), nachdem er
vorher das Ich als „sogenanntes^* eingeführt hat und obgleich er dann es
problematisch läfst, ob es „eine durch alle möglichen sonstigen Inhalte
(aufser dem Willen) charakterisierte Individualität, ein Komplex von
Qualitäten, Gedanken und Gefühlen, vielleicht gar ein metaphysisches
Etwas sei**.
Ich behaupte dagegen : die Idee der Willensfreiheit beruht auf der
Meinung, dafs das Wollen als eine Art des Denkens eine Thätigkeit
sei, die in dem Sinne frei genannt wird, wie andere menschliche
Thätigkeiten, als gehen, schreiben, sprechen; womit gesagt werden soll,
dafs sie auch, und etwa in der Begel, durch den blofsen Wunsch, das bloüse
Gefallen des Subjektes erregt werden ; oder (ins Physiologische übersetzt),
dafs dies Kontraktionen willkürlicher Muskeln sind, d. h. solcher, die von
kortikalen Zentren ihre Energie beziehen. Und es ist, so verstanden — dafs
nämlich Wollen in diesem Satze zweierlei bedeutet — ganz richtig, was zuerst
HoBBBS als absurd verspottet hat, dafs man das Wollen wollen kann.
Wollen, nämlich beschliefsen, sich vorsetzen, ist eine freie Handlung,
die nur gewollt, d. i. gewünscht, mit einem bejahenden Gefühle empfunden
oder vorgestellt werden mufs, um zu erfolgen. Unsere natürliche, sozu-
sagen angeborene, Eeflezion sagt uns : der Hund hat Freiheit, zu laufen,
sich niederzustrecken, seine Stimmorgane zu gebrauchen u. s. w., der
Mensch hat aufser dieser und ähnlichen auch die Freiheit, sich denkend
selbst zu bestimmen, zu „woUen^^ Nicht die Freiheit oder das scheinbare
Vermögen, sich selbst zu bewegen, ist es, was den Menschen auszeichnet,
sondern das (in Worten) Denken, mithin auch das denkende Wollen.
Es wird selber durch Denken, d. h. durch Überlegung bestimmt^ aber
auch hierin mufs jedesmal ein Wunsch oder Gefallen entscheidend
wirken, und dies nennen wir mit dem gleichen Namen „Wille^. Nach
meiner Meinung hätte es unserem Verfasser, seinem Hauptgedanken
gemäfs, obgelegen, die Dlusion psychologisch und soziologisch zu er-
klären, dafs hier an irgend welchem Punkte eine Exemtion vom kausalem
Zusammenhange vorliege; hierüber bleibt vielleicht noch einiges zu
sagen übrig, wenn es auch zunächst wichtiger sein dürfte, einmal alles
Stichhaltige, was darüber gesagt worden ist, zusammenzustellen und zu
ordnen. Ausgehen mufs man doch wohl von dem Gegensatze, den das
naive Denken bildet zwischen Körpern, die bewegt werden, und Körpern,
die sich selbst bewegen; alsdann aber ist leicht begreiflich, warum das
erste wissenschaftliche Denken die Erklärung aus eigenem Willen für
vollkommener hält und die scheinbar spontanen Bewegungen toter
Körper darauf zurückzuführen sucht, wenn auch die umgekehrte Her^
Litteraturbericht, 479
leitung psychologischer Thatsachen aus mechanischen Kräften immer
damit konkurriert. Das Verhältnis heider zu einander ist ja für die
meisten wissenschaftlichen Denker auch heute noch prohlematisch, und
doch ist Entscheidung darüher unerläijslich, denn jene unmechanische
Idee der Bewegung von selber hat sich von altersher expliziert als
Herrschaft des G-eistes über den Körper, ist also viel mehr mit dem
allgemeineren Begriffe der Freiheit (des Handelns), als mit dem speziellen
Begriffe der Willensfreiheit verknüpft. Da£3 nun die allgemeine Th&tig-
keit des Geistes schlechthin ohne Ursachen geschehe, haben Philosophen
niemals strenge behauptet, wohl aber — was noch Lbibhiz wiederholt — ,
dafs diese psychologischen Ursachen nichts Zwingendes an sich haben,
dafs sie wohl sollicitieren, aber nicht necessitieren ; dies wird dann aus
subjektiver und menschlicher Erfahrung, aus dem Bewufstseiu der
Freiheit begründet, an das die Verteidiger als letzte und untrügliche
Instanz appellieren. Dies Bewuistsein aber behauptet in Wirklichkeit
nur die Freiheit des WoUens im oben angegebenen Sinne, der
nun verwechselt wird mit jenem allgemeinen Begriffe der Herrschaft
des Geistes. Zugegeben wird dann, dafs der Wille des Tieres
— wenn er nicht in mechanistischer Konsequenz gestrichen wird —
durch Vorstellungen notwendig bewegt werde, die von aufsen kommen;
der Mensch aber sei den Vorstellungen gegenüber frei durch Denken,
das von innen komme. Hieran hält sich nun fest der praktische Begriff
der Freiheit, der den Menschen, als denkenden, vernünftigen Herrn
seines Wollens und seiner Handlungen, verantwortlich macht, weil in
der That das denkende Wollen als eine letzte Thatsache gilt und als
Beweis für die Kenntnis der Pflicht, die den eigentlichen Bechtsgrund
der vernünftigen Strafe bildet. Nicht das Ich schlechthin, wie Herr
SiMiiEL meint, sondern das Ich mit dem Besitze des Gewissens, unter
Abstraktion von seinen übrigen Qualitäten, bildet den eigentlichen Zell-
kern in der Idee der Willensfreiheit. Das für sie charakteristische
Können im Gegensatze zum Müssen erhält durch diesen Begriff seinen
besonderen Sinn, nämlich den des Könnens als des Besitzes einer Kunst.
Man macht den Koch verantwortlich, weil er seiner Kunst mächtig
ist; wenn er Übles leistet, so weifs man, dafs sein lässiger oder böser
Wille Ursache ist; diese Ursache zu bekämpfen, ist notwendige Kon-
sequenz dessen, dafs man die gute Leistung will. So macht der Gesetz-
geber den Menschen verantwortlich, weil er der Kunst des gesetzmäisigen
Handelns mächtig, und weil die Übereinstimmimg seines Wollens mit
seinem Können als der normale und natürliche Fall gedacht wird. In
Wahrheit bedeutet nun ein solches Können, unter den dazu gehörigen
Bedingungen, eine hohe Wahrscheinlichkeit des Wollens und Thuns,
so dafs mit einiger Sicherheit darauf gerechnet wird. Wenn daher
dieses Können vorausgesetzt wird, so ist für die überlegene und richtende
Betrachtung nur das entsprechende oder widersprechende vernünftige
Wollen von irgend welchem Interesse, gar nicht, was no^h dahinter liegen
und jenes verursachen mag. Ihren Fehler begeht di;-.&e Betrachtung
erst, indem sie entweder diese Ursache — z. B. die besondere Beschaffen-
heit des individuellen Menschen — leugnet oder die thatsächliche Ver-
480 Litteraturbericht
bindung zwischen dieser und einem bestimmten Wollen für eine nicht
notwendige erklärt; welches letztere jeden Sinn haben kann, nur nicht
den der Exemtion eines einzelnen Faktums vom Kausalnexus. Herr
SiMHEL meint, Zurechnung und Verantwortung seien ebenso sinnlos unter
Annahme ursachloser, wie necessitierter Handlungen. Ich behaupte da-
gegen und damit, dafs die Praxis, jene Begriffe anwendend, ihrem Wesen
nach so unabhängig ist von diesen Theorien, wie die Annahme, mit der
sie allerdings steht und fällt, dafs es denkende Menschen giebt. Aller-
dings kann aber die tiefer dringende Analyse und die Einsicht der
Notwendigkeit zur Folge haben, dafs man nicht mehr — als Strafender —
blind auf den fremden Willen los wütet, sondern sich liebevoller mit
dessen Ursachen beschäftigt, wenn auch in gegebenen Fällen höchst
energische Bändigung geboten sein kann. Das Wesentliche des rechtlichen
oder moralischen Verantwortlichmachens liegt in der dadurch aus-
gesprochenen Gleichheit der Menschen, als der Exemplare ihres Be-
griffes/oder als dem Gesetze unterworfener Staatsbürger; darum ist der
König als Höherstehender ebensowenig im Bechte verantwortlich, wie
der Wahnsinnige als Tieferstehender.
Das rechtliche Verantwortlichmachen ist als ein künstliches Prä-
parat wenigstens dadurch kenntlich, dafs es ein Subjekt hat; es beruht
aber im moralischen Verantwortlichmachen, das kein solches Subjekt
hat, wenn nicht ein Gott dafür eingesetzt wird; die Vorstellung davon
ist aber so stark mit der Meinung vom freien Willen assoziiert, dafs es
psychologisch eine schwere Gewöhnung bedeutet, sie davon getrennt zu
denken und zu erkennen, dafs sie nur im Verhältnisse des Superior zum
Inferior und durch die Beziehung auf ein gegebenes Gesetz ihren ver-
nünftigen und unerschütterlichen Sinn, weil ihre Zweckmäfsigkeit als
eines Gerätes moralischen Zusammenlebens, besitzt. In dem Mafse aber,
als dieses aufhört und als in geringerem Umfange von einem gemein-
samen und anerkannten Sittengesetze die Bede sein kann, im gleichen
Mafse wird allerdings die Idee der moralischen Verantwortlichkeit zweck-
und sinnlos; die von ihr gesetzte Gleichheit offenbart sich desto mehr
als Unwahrheit. F. Tönnies (Hamburg).
Namenregister.
Fettgedruckte äeitensahlen besieben sich anf den Verftwser eloer Origlnalabhaiidlaiigf Beiten-
sahlen mit f anf den Verfasser eines reüMierten Boehes oder einer referierten Abhandlung.
Seitensablen mit * aaf den Verfasser eines Beferates, Seitenzahlen mit f* Anf eine Selbst-
anzeige und die Übrigen Seitenzahlen auf das Vorkommen im Text.
Abney 410.
Allen, Grant 73.
Allen Starr 121. f
Appel 84.
Aristoxenus 34.
Armstrong, A. 0.146. f
Aronsohn, £. 283 fP^f
453 ff.
Arrhenius 363.
Aschaffenburg 249.
Aubert 271.
Auerbach 423.
B.
Bain, A. 297 ff. 460.
Bartels 113.
Barth, P. 149.* 150.*
Baumann 113.
Beaunis 143. 304. 443.
Bechterew 363.
Beer 442.
Benda C, 120 f. t
Bentham 299.
Bemardini, C. 314 f. f
Bernhardt 280.
Bernstein, J. 7. 50. 274. t
Bergel, S. 271 f. t
Berger 310.
Bergström, J. A. 467. t
Bettmann, S. 251 f.
Bidder 451.
Biervliet, J. J. van 11 6. f
Bigham, J. 116.t 254. f
Billroth 184 f.
Binet, A. 115. 143 f. f
295f.308.421ff.443ff.t
466 f. t 469 f. t
Bismarck 157.
Bjömström 280.
Blecher, A. 281 ff. f
Bleuler 183 ff.
Blix 276.
Bloch 256. 388.
Bodenstein, C. 99.
BoismontjBrierre del55.
Bois-Beymond, CL da,
123.*
Bolzano 469.
Borysiekiewicz 267^ff.t
Brentano 423 ff. 466.468.
Breuer 308 f. f
Brianchon 231.
Brierre de Boismont 165.
Broca 154. 451.
Bruchmann, £. 247.*
Brück 124.
Brücke 304 f.
Brunn v. 451 f.
Bubenik 99.
Bücher 285 ff.
Bunsen 78. 410.
Burdach 262.
Burgerstein 115. 278.360.
Zeitschrift fttr Psychologie X.
Burkhardt 116.
Bush, W. T. 118. t
Bygham, J. 116.t 254. t
0.
Cajal, Bamön y 452.
Calkins,M.W.,265.t 289.
Campbell, W.W.,252.t
Carpenter 451.
Gharcot 310.
Charpentier 388.
Chastaing 337.
Ghauveau 367.
Ghodin 85 ff. 466. •
Ghun 433.
Gloquet 452.
Gomte, A. 317.
Courtier 443.
Gohn, J. 143.* 288.*
289.* 295.* 303.* 303 f. t
Gohn8tein,W. 266.* 305.*
Gumberland 471.
Gzapski, S. 270.
D.
Dana, G. L. 315 f. t
Daniels, A. H. 447. f
Darwin 122. 316 f.
Davy 337.
Delboeuf 92.
Demeny 304. 444.
31
482
Namenregister.
Descartes 471.
Dessoir 139. 367.
Dibbit 456.
Dimmer, Fr. 267 ff. t
Dodge, B. 414 ff.
Dörpfeld 113.
Donaldson 138. 468.
Donders 29. 336. 407.
Duchenne 304 f.
E.
Ebbinghaas 80. 115.
248 f. 335 ff.
Eder 387 ff.
Edinger, L. 269.
Ehrenfels 104 ff.
Engelmann 260. 381 ff.
Epstein, S. 270. t
Erdmann, B*. 414. 469.
Eulenbnrg, A. 309. f
Ewald, J. B. 124. 125.
170 ff. 273 f. t
Ewald, A. 375. 397.
Exner, S. 109 ff. f 234.
353 ff. 448.
P.
Fechner 4 ff. 84 ff. 140.
16?. 183. 288. 383.
Ferri, E. 316 f. f
Ferrier, D. 266 f.
Fick, A. 385. 410.
Fick, A. E. 363 ff.
Filehne, W. 462 ff. t
Fischer 85 ff. 465.
Fitz, ö. W. 448 f. t
Fleischl 233.
Flourens 124.
Flournoy, Th. 183 ff.
296 f. t
Förster 164.
Forel, A. 163 f. t 261.
Foscalance, H. 156.
Fourcroy 459.
Fr&nkel 266.* 315.*
Franke 453.
Franz, Sh. J. 258 f. f
Fraunhofer 78.
Fresnel 240.
Freud 308 f. t
Frey. M., von 129 ff.f
Fröhlich 452 ff.
Fuchs, S. 800 ff.
Galen 305.
Galton, F. 145. 184 ff.
Gegenbauer 228.
Gebuchten, yan 135.
Geiger 75.
Geilsler 447.
Genderen-Stort, van 881.
GieXsler, M. 459 f. 467.*
Gilbert, J. A. 161.
Gley 367.*
Goldscheider 132 ff. 276.
281 ff. t
Golgi 260.
GoU 262.
Goltz 260.
Graefe, v. 123.
Graffunder 466 f. f
Graham 445.
Greeff, B. 122.* 123.*
123. 269.«
Grier Hibben, J. 288. t
Griesbach, H. 277 ff. f
Griffing, H. 258. f
Gruber 185. 216.
Grützner 236. 274. 310.
Günther, P. 120 f. t
Gürber 363 ff.
Guillery 88 ff.
Häckel, E. 316.
Hagen 156.
Hahn 154.
Haller, A. v. 286. 459 f.
Hamlin, A. J. 447. f
Hankel 338.
Hartmann 126.
Haycraft 461.
Hegelmayer 84.
Heidenhain 310.
Heinroth 311.
Heller, S. 126.
Heller, Th. 127.* 142.
276.* 306.*
Helmholtz, v. 86 ff. 101 f.
122. 233. 242 f. 325 ff.
433 ff. 449. 463.
Henle 267.
Hennig, B. 188 ff.
Henri, V. 115. 280 f. t
443 f. 469 f. t
Henry, Gh. 455.
Hensen, Y. 124. f 449.
Herbart 113 ff.
Herbst, 0. 439.
Hering, E. 6 ff. 101 ff.
228 f. 268. 328 ff. 463.
Hering, H. E. 304 f. t
Hermann, L. 63. 95. 228.
276. 449.t
Hermst&dt 285.
Herz, M. 311 f.f
Heia 280. t 326 ff.
Heymans, G. 421 ff. 466.*
Hibben, J. Grier 288,t
Higier 85 ff.
Hilbert,B.121f.t240ff.
HiUebrand 24 ff. 106.
330 f.
V. Hippel 77 f.
Hirsch, W. 164 f. t
Hirth, G. 259. f
Hitzig, E. 261. 312 ff.f
Höffding 225. 258.
Höfler, A. 99 ff. 228 ff.
468.
Högyes 310.
Höpfner 278.
Horaz 194.
Hombostel, v. 375 ff.
Hyde, J. H. 273 f.
J.
James 288. 296. f
Janet 308.
Namenregister,
483
Javal 122.
Jastrow 289.
Ideler 311.
Johnson, Lindsay
267 ff. t
Irons, B. 471t.
Jndd, 0. H. 145. 277.
Julius, W. H. 461.
Kant 147 ff. 225. 247.
257. 295. 311 f. 433.
Kehrbach 149.
Kemmler 154.
Kerry 230 ff.
Kiesow, F. 120.* 127 f. t
140.* 145.* 157.* 237 ff.
266.* 266. t 276 f. f
280.» 287.* 317.* 462.»
Kirchhoff 78.
Kirchmann, v. 147.
Kirkpatrick 144 f. f
Kirschmann 77.336. 413.
Klein, F. 223. 231.
Knox, H. W. 465 f. t
Koch, E. 232.
König, A. 29 f. 122.* 242.
245.* 270.* 273.*
König, E. 450.
Kohn, H. E. 288 f. t
Kollmann 140.
Kozaki, N. 117.t
Kräpelin, E. 85. 115.
150 ff. t 247 ff. t 278.
306.
Kraffi^EbingjR. v. 153.t
309.
Krause 140.
Kries, t. 25 ff. 96. 255.
323 ff.
Kroll 273.
Krüger 194.
Kühne 50. 360 ff.
Külpe, 0. 244.*
Kunkel 872 ff.
Kurella 121.» 155 ff. 304.*
316.* 316. 471.*
Ladd,G.Trumbull 123 f .f
256 ff. t
Langegg, A.Junker von
450.
Laplace 162.
Laser 278.
Laska 423.
Laufenauer 310.
Lehmann 183 ff.
Lehmann, K. 246 f. f
Leuckart 483.
Li6geoi8 452.
Liesegang, B. E. 337 ff.
Linn6 285. 459 f.
Lindsay Johnson 267ff.t
Lissauer 154.
Lipps 107 f. 288.
Loeb, J. 433 f. 466 f. t
Lombroso, 0. 155 ff. f
Longet 285.
Lorry 459 f.
Lotze 5. 12. 113. 144.
Luciani, L. 265 f. t
Ludwig, K. 119. 450 ff-
Lummer, 0. 122. f
Luys 261 ff.
M.
Mach 5 ff. 84. 102 ff. 223.
408.
Magnus 75.
Maier, G. 113 ff. f
Marbe 271.
Marey 444.
Martig 113.
Martins, G. 357.
Marx, K. 316 f.
Mascheroni 231.
Mayer, A. M. 449 f. t
Mayer, K. 305 f. f
Mays 369.
Maxwell 233.
Meinong, A.102 ff.l45 ff.t
149 f. t 227 ff.
Meifsner 135.
Melde 48.
Mellinghoff 465.
Mendel 260.
Mendelejeff 461.
Meringer, E. 305 f. f
Merkel. J. 150 ff. t
Meumann, E. 119. 160.*
318 ff. 445.* 465.* 471.*
472.*
Meyer, L. 461.
Meyer, M. 450.*
Meynert 112. 261.
Mües, C. 446. f
Mises 135.
Möbius. P. J. 308. t
Monakow 260 ff. f
Montgomery, E.294f. t
Moos 125.
Mosso 115. 266. 278.
Motschutkowsky, O. 0.
280. t
Müller 437.
Müller, G. £. 1 ff. 296.
821 ff. 467. 470.
Müller, H. 267.
Müller, J. 453.
Müller-Lyer, F.0.421ff.
Müller-Pouillet 122.
Münsterberg, H. 86. 95.
116ff.t 248. 262ff.t
467. 468.
Munk 260. 261 ff.
Mygind, H. 124 ff. t
N.
Nagel, W. 129.* 129 ff. t
285 ff. 277.* 280.* 281.*
482 ff. 458 ff.
Nahmmacher 260.
Natorp 468.
Nemst 337 ff.
Nevers, C. 0. 289. f
Newton 63. 404.
Nichols, H. 140 ff. t
Nissl 121.
Nörremberg 274.
Nothnagel 153.
Nufsbaumer 183.
31*
484
Namenregister*
Oefarn 250 f.
öhrwall 128. 458.
Offner, M. 446.^ 467.*
469.*
Orru 135.
Osbom, H. F. 146.
Ostermann 118.
Ostwald 337 ff.
Pal 121.
Panmn 96.
Parrish, C. S. 465 f.f
Passy 284. 455 ff.
Paul 306.
Paulsen 453.
Pelman 158.* 155.* 269.*
308.* 309.» 314.*
Penzoldt 455.
Peretti 154.*
Perlia, R. 278. t
Perugia, A. 314 f. f
Petrazzani 314.
Pfaff 285.
Pfaundler, L. 1212. f
Pfeffer 397.
Pfisterer 113 f.
Philippe 443.
Pierce, E. 255 f. t
Pierre, A. H. 256. t
Pilzecker, A. 116.* 144.*
145.*
Pioger, J. 445 f. t
Pipping 449.
Pollack 218 ff.
Pravaz 454.
Preyer, W. 246 f.f* 256.
268.
Purkinje 89.
Quetelet 474.
B.
Bam6n y Cajal 462.
Rehmke 244. 268.
Beich, M. 365 ff.
Beichard, S. 297 ff.f*
Beuter, C. 451.
Boloff 81. 361 f.
Boscoe 410.
Bofs, J. 266.
Buffini 140.
8.
Sachs, M. 268.
Sachs, H. 113.* 121.*
154.
Sanford, E. 0. 446. 448.t
Sauberschwarz,£ 274 f.f
Savelieff, N. 466.
Schäfer 124.* 274.* 276.*
449.»
Schaffer, K. 309 ff. f
Schanz, F. 269 f.f
Schirmer 373.
Schmidt, G. C. 337 ff.
Schönbein 284.
Scholz 154.* 311.* S12.*
Schopenhauer 106. 246 f.
Schrader 285.
Schreyer 286.
Schnitze, M. 267 f. 451.
Schumann 158 ff. 253.
296. 320.* 444. 467. 470.
Schuschny, H. 306 ff. f
Schwalbe 451.
Schwarze 125.
Schweigger, C. 90.
122 f.f 128.t
Scripture, E. W. 106.
161 ff. 248.
Seydel 451.
Shand, A. F. 144. t
Sikorsky 115. 278.
Simmel, Gh. 473 ff. f
Simmons, M. B. 289. f
Soury, J. 260. t
Spencer, H. 266. 297 ff.
317.
Spitaler, B. 410.
Starlinger 99.
Starr, Allen 121. f
Steffan 382 ff.
Steiner 231. 263. 360 f.
441.
St«m, W. 259.* 273.*
295.* 412.
Stricker 471.
Streng, C. A. 802 f. t
Strttmpell 118.
Stumpf 34. ff. 104 ff. 188.
227. 256. 288.
T.
Talbot 383 ff.
Talbot, E. B. 288. t
Tamman 390.
Tawney, G. 280 f. t
Thiery, A. 431.
Thoma 466.
Tönnies, F. 480.*
Treitel 332.
Trumbull Ladd, G.
123 f. t 265 ff. t
Turner 451.
Twardowski, K. 232.
244. 468 ff. t
Tyndall 452 ff.
U.
Überweg 469.
Uexktül, J. V. 432 ff.
Ufer 116.* 306.
TJmpfenbach 309.*
Uphues, G. K. 244. t
289ff.t
UrbantscMtsch, V. 126.
275 f. t
V.
Valentin 455.
Vassale 314.
Verriest, G. 471 f. t
Vintschgau, v. 462.
Virchow 316.
Vogel, H. W. 411.
Vogt, 0. 153 f.
Volkmann 84 ff. 465.
VoltoUni 125.
Vulpian 266.
Namenregiater.
485
W.
Wagner, R. 83.
Ward 144.
Watanabe, E. 465 f. f
Weber, E. H. 83 ff.
130 ff. 159 f. 278. 367.
409. 450.
Weber, W. 308.*
Weigert 121.
Weise, 0. 74 f.
Weismann, A. 186 ff.
Wemicke, C. 154. t 250.
Wertheim 93.
Wiedemann, £. 337 ff.
Wilhelmi 125.
WitÄsek 124.* 144.^152.*
297.* 448.* 449.*
Wrescbner, A. 283.*
294.»
Wüllner 240.
Wimdfc, W. 67 ff. 87 ff.
128. 144. 150 ff. t 249.
274. 276. 288. 803. 335.
431. 437. 445. 453. 466.
Wylie, A. R. T. 119. f
Y.
Young 325 ff.
Ziehen, Tb. 244. 244 f. f
252.* 268.* 260.* 265.*
Zimmermann 468.
Zindler 224.
Zöllner 102 f.
Zuckerkand! 451.
Zwaardemaker, H.
450 ff. t
Dritter
in
München
4. bis 7. August 1896.
(Sekretariat : München, Max-Josephstr. 2, pari.)
Organisation.
Die BröffDimg des Kongresses findet statt Dienstag, den 4. August 1896, vor-
mittags, in der greisen Aula der kgl. Universität.
Zur Teilnalime an den Sitzungen des Kongresses sind eingeladen Gelehrte and
gebildete Personen, welche für die Förderung der Psychologie und für die Pflege per>
sönlicher Beziehungen unter den Psychologen verschiedener Nationalitäten Inter-
esse hegen.
Weibliche Mitglieder des Kongresses genieüsen dieselben Rechte, wie die
männlichen.
Fflr die Teilnalime an den Sitsnngen des Kongresses sind 15 Mark (in
Osten*. Währung 9 Gulden) zu entrichten. Als Quittung erhält jedes Mitglied eine
Teilnehmerkarte, welche berechtigt zum Zutritt zu den sämtlicben Sitzungen des Kon-
gresses, zum unentgeltlichen Bezüge des Tageblattes (mit dem Mitgliederverzeichnis),
sowie eines Exemplares des Kongrelsberichtes. Endlich gilt die Karte als Legitimation
bei den zu veranstaltenden FesSichkeiten und den hierbei für die KongreDsteilnehmer
stattfindenden Vergünstigungen.
Das Tageblatt, welches in 4 Nummern erscheint, dient zur Orientierung der
Gäste. Dasselbe enthält Mitteilungen über den Wohnungsnachweis, das Programm der
Vorträge und geselligen Veranstaltungen, das Verzeichnis der Mitglieder und eine Über-
sicht über die Münchener SehenswüiSigkeiten.
Als Kongrefssprachen gelten deutsch, fransösisch, englisch und italienisclu
Der Kongrefs erledigt seine Arbeiten in allgemeinen Sitzungen und Sektiona-
sitmngen. Die Einteilung der Sektionen richtet sich nach MaGsgabe der angemeldeten
Vorträge. Die Sitzungen finden statt in den Räumen der kgl. Universität.
Die Daner der Vorträge in den Sektionssitzungen ist auf 20 Minuten bemessen.
Mitglieder, welche an den Diskussionen teilnehmen, sind im Interesse einer korrekten
Wiedergabe ihrer Äulserungen gebeten, kurze Autoreferate während oder nach den
Sitzungen einzureichen. Zu diesem Zweck stehen Formulare zur Verfügung.
An sämtliche Gelehrte, welche auf dem Kongreüs Vorträge zu halten beabsichtigen,
ergeht das Ansuchen, die in Aussieht genommenen Themata schon jetst an-
zumelden, auTserdem eine kurze schriftliche Inhaltsangabe des Vortrages in der
Länge von 1—2 Druckseiten vor dem 15. Hai 1896 an das Sekretariat
(München, Maz-Josephstr. 2) einzusenden. Diese Auszüge werden nachgedruckt und
bei Beginn des Vortrages unter den Hörern verteilt, damit bei der Verschiedenheit der
KongreÜBSprachen das Verständnis für die Hörer erleichtert wird. Das Comit^ kann
keine Garantie übernehmen, dafs die später als 15. Mai 1896 angemeldeten Vorträge mit
in das Programm aufgenommen werden.
Das Sekretariat befindet sich vom 3. August an für die Dauer des Kongresses
in der kgl. Universität (Ludwigstrafse 17).
Dritter Interaatio&aler Konprs für FsycMoeie in lUen.
Arbeitsprogramm.
I. Psychophysiologie.
Auskunft Aber nachstehendes Arbeitsgebiet erteilen: Prof. Rüdinger (Arcostr. 10/1),
Prof. Graetz (Arcisstr. 8/1), Privatdozent Dr. Cremer (Findlingstr. lOb/2).
A) Anatomie und Physiologie des Gehirns und der Sinnesorgane (körperliche
Grundlagen des Seelenlebens). Formentwicklung der Kervenzentren, Lokalisations-
und Neuronenlehre, Leitungsbahnen und Bau des Gehirns. Psychologische
Funktion der Zentralteüe, Reflexe, Automatismus, Innervation, Spezifische Energien.
B) Psychophysik. Zusammenhang physischer Vorgänge mit psychischen. Psycho-
physische Methodik, Fechners Gesetz, Sinnesphysiologie (Muskelsinn, Hautsimi,
Gehörs- und Lichtempfindung, audition color^a), psychische Wirkungen bestimmter
Agentien (Arzneistoffe), Reaktionszeiten, Messung vegetativer Reaktionen (Atmung,
Pias, Muskelermüdung).
n. Psychologie des normalen Individuums.
Auskunft Aber nachstehendes Arbeitsgebiet erteilen: Prof. Lipps (Georgenstr. 18/1),
Privatdozent Dr. Cornelius (Herzog-Rudolphstr. 11/3), Dr. Weinmann
(Leopoldstr. 5).
Aufgaben, Methoden, Holfsmittel, Beobachtung und Experiment — Psychologie
der Sinnesempfindungen, Empfindung und Vorstellung, Gedächtnis imd
Reproduktion — Assoziationsgesetze, Verschmelzung — Bewufstsein und
UnbewuTstes, Anfimerksamkeit, Gewohnheit, Erwartung, Übung — Raum-
anschauung des Gesichts, des Getasts, der fibrigen Sinne, Tie&nbewuüstsein,
geometrisch-optische Täuschungen, Zeitanschauung.
Erkenntnislehre — Phantasiethätigkeit— Gefühlslehre, Gefühl und Empfindung,
sinnliche, ästhetische, ethische und logische Gefühle, Affekte, Gefühlsgesetze —
Willenslehre, Willensgefühl und Willenshandlung, Ausdrucksbewegungen, That-
Sachen der Ethik — Selbstbewufstsein, Entwickelung der Persönlichkeit,
individuelle Verschiedenheiten derselben.
Hypnotismus, Suggestionslehre, normaler Schlaf, Traumleben — psychischer
Automatismus, forensische und pädagogische Bedeutung der Suggestion, päda*
gogische Psychologie.
III. Psychopathologie.
Auskunft über nachstehendes Arbeitsgebiet erteilen: Prof. Dr. Grashey (Auerfeldstr. 6/1),.
Dr. Frhr. v. Schrenck-Notzing (Max-Josephstr. 2/1), Herr Edmund Parish
(Georgenstr. 25/1).
Bedeutung der Erblichkeit auf psycho-pathologischem Gebiet, Statistisches, Frag&
nach Vererbung erworbener Eigenschaften, psychische Beziehungen (leibliche und
seelische Vererbung), Erscheinungen der Entartung (Degeneration), psychopathische
Minderwertigkeit, Entartung und Genie. Sittliche und soziale Bedeutung der
Erblichkeit Beziehungen der Psychologie zum Kriminalrecht. Psycho-
Pathologie derSexualempfindungen. Grof se Neurosen (Hysterie, Epilepsie).
Altemierende Bewufstseinszustände, psychische Ansteckung, pathologische
Seite des Hypnotismus, pathologische Schlafzustände. Psychotherapie,
praktische Anwendung der Suggestion zu Heilzwecken. Verwandte Er*
scheinungen: Suggestion mentale, Telepathie, psychischer Transfert, inter-
nationale Halluzinationsstatistik. Einschlägiges aus dem Gebiete der Psychiatrie,
wie Sinnestäuschungen, Zwangsvorstellungen, Aphasie und verwandtes.
IV. Vergleichende Psychologie.
Auskunft über nachstehendes Arbeitsgebiet eiteilen: Prof. Dr. Ranke (Briennerstr.25/3},
Dr. G. Hirth (Luisenstr. 14/1), Dr. Fogt (Marsstr. 6/1).
Moralstatistisches. Seelenleben des Kindes. Die psychischen Funktionen der
Tiere. Völkerpsychologie und anthropologische Psychologie. Vergleichende
Sprach- und Scluriftforschung in ihrer Beziehung zur Psychologie.
Aufrufi
Die kgl. Preufsisclie Akademie der WiBsenschaften hat beschlossen,
eine vollständige, kritische Ausgabe der Werke Kants zu veranstalten.
Sie möchte hierdurch eine Ehrenschuld der Nation gegenüber ihrem
grofsen Philosophen abtragen. Daher glaubt sie für die Herstellung
der Vollständigkeit dieser Ausgabe auf die Unterstützung Aller
rechnen zu dürfen, welche irgend eine Kenntnis über bisher nicht
veröffentlichte Handschriften Kants besitzen. Aufser zusammen-
hängenden Manuskripten oder einzelnen Zetteln, die sehr zerstreut
worden sind, gehören zu diesen Handschriften Briefe von ihm und
an ihn, welche einzeln oder in Sammlungen sich finden können,
femer Kompendien, Handexemplare oder andere einst seiner Bibliothek
angehörige Bücher, soweit er in dieselben nach seiner Gewohnheit
Eintragungen gemacht hat, Nachschriften seiner Vorlesungen, deren
viele zirkuliert haben und die nicht immer durch seinen Namen
bezeichnet sind, endlich biographische Nachrichten über ihn. Jede
öffentliche Anstalt und jeder Privatmann, welcher der-
gleichen besitzt, wird gebeten, dem nationalen Unter-
nehmen durch Mitteilungen der bezeichneten Art hilfreich
zu sein. Auch blofse Nachweisungen, wo etwa solche
Hülfsmittel für die Ausgabe zu finden seien, werden
sehr erwünscht sein. Die Akademie hat eine Kommission zur
Leitung des Unternehmens eingesetzt, dieselbe ersucht, die ge-
wünschten Mitteilungen an das Sekretariat der kgl. Akademie
der Wissenschaften Berlin NW. üniversitätsstrafse 8
gelangen zu lassen.
Berlin im Februar 1896.
Die Eommission der E. Frenfs. Akaäemie der Wissenscbaftei für Heraosoalie
der Werke Kants.
Dilthey. Diels. Stumpf. Vahlen. Weinhold.