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Full text of "Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane"

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Dr.  S.  P.  BcwdUeK 

HARTABD  MEDICAL 

BOSTON,  MASS. 


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|l|i|fuilii0te  in  $mtmimt 


In  Qemeinscliaft  mit 

S.  Exner,  £.  Hering,  J.  y.  Kries, 
Th,  Lipps,  G.  E.  Müller,  C.  Pelman,  W.  Preyer, 

C.  Stampf 

herausgegeben  von 

Herrn.  Ebbinghans  und  Arthnr  Eonig. 


Zehnter  Band. 


Hamburg  und  Leipzig, 
Verlag  von  Leopold  Voss. 

1896. 


HARVAttCi  l'Nlvcil#l7Y 
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4\ 


Draek  der  VerUgsmnstalt  und  Druckerei  Aetien-Oesellseliaft 
(rennalt  J.  F.  Blehter)  in  Hamburg. 


Inhaltsverzeichnis. 


Abhandlungen. 

Seite 

G.  E.  Müller.    Zur  Psychophysik  der  Gesichtsempfindungen  . .  1  u.  821 

GiTiLLBBT.    Über  das  Augenmafs  der  seitlichen  Netzhautteile 88 

Alois  Höflbb.    Krümmungskontrast 99 

£.  W.  ScBiPTüRB.    Untersuchungen  über  die  geistige  Entwickelung 

der  Schulkinder 161 

BiGHABD  HENinG.    Eutstchung  und  Bedeutung  der  Synopsien 188 

Alois  Höflbb.    Zur   Analyse   der  Vorstellungen   von  Abstand  und 

Bicbtung 238 

WiLiBALD  A.  Naobl.    Über   die  Wirkung   des  chlorsauren  Kali  auf 

den  Geschmackssinn 236 

RioHABD    HiLBBBT.    Über   das    Irisieren    sehr   grob    ornamentierter  \ 

Fl&chen  bei  gleichzeitigem  Auftreten  von  Simultankontrast .^j^^240_...^_..     ;-t"v_c  ^     - 

Ratmond  DoDGB.    Beschreibung  eines  neuen  Chronographen *  414   q^   .r  -^   ■  ^^ 

F.  G.  Mülleb-Ltbb.  Über  Kontrast  und  Konfluzion.  (Zweiter  Artikel)  421   ^ 
WiLiBALD    A.    Nagel.    Über    J.    vo»    Ubxkülls    vergleichend-siimes-  k  5  ^  f 

physiologische  Untersuchung  No.  1 482 

Litteratnrberieht. 

I.  Allgemeines. 

Th.  Zibben.    Leitfaden  der  physiologischen  Psychologie  in  15  Vori» 

lesungen 244 

SiBGMOHD  Exkeb.    Entwurf  zu  einer  physiologischen  Erklärung  der 

psychischen  Erscheinungen 109 

G.  Maibb.    Pädagogische  Psychologie  fELr  Schule  und  Haus 118 

Alfbbd  Binst.    Introduction  k  la  psychologie  ezp^rimentale 448 

G.  K.  Uphübs.    Psychologie  des  Erkennens  vom  empirischen  Stand- 

pxmkte 289 

G.  Tbumbüll  Ladd.    Philosophy  of  mind 256 

GoswiH  K.  Uphübs.    Die  psychologische  Grundfrage 244 

W.  Pbbybb.    Die  Seele  des  Kindes.   Beobachtxmgen  über  die  geistige 

Entwickelung  des  Menschen  in  den  ersten  Lebensjahren 245 

Minor  Studies  from  the  Psychological  Laboratory  of  Clark  University 

(C.  MiLEs,  A  study  of  individual  psychology) 446 


IV  Jnhaitsverzeichnis. 

Seite 

G.  W.  Fitz.    A  Location  Beactdon  Apparatus 448 

H.  MüNBTEBBERO.    Studies  from  the  Harvard  Psycbological  Labora- 

tory  (H.  MüKSTERBEBG  u.  W.  T.  Bush,  A  Psychometric  investi- 

gation  of  the  Psychophysic  law) 118 

Minor  Studies  from  tbe  Psychological  Laboratory  of  Clark  üniversity 

(E.  C.  Sanford,  Notes  on  new  apparatas) 448 

£.  Kraepelin.     Psycbologpische  Arbeiten 247 

BüDOLF  Lehmann.    Schopenhauer.    Ein  Beitrag  zur  Psychologie  der 

Metaphysik 246 

n.' Anatomie  der  nervösen  Zentralorgane. 
C.  Bbnda  und  Paula  Günther.    Histologischer  Handatlas 120 

nL  Physiologie  der  nenrösen  Zontralorgane. 

Georo  EEirth.  Die  Lokalisationstheorie  angewandt  auf  psycho- 
logische Probleme.    Beispiel:  Warum  sind  wir  zerstreut?....     269 

V.  Monakow.  Experimentelle  und  pathologisch-anatomische  Unter- 
suchungen über  die  Haubenregion,  den  Sehhügel  und  die  Begio 
subthalmioa  nebst  Beiträgen  zur  Kenntnis  früh  erworbener 
Groüsh  und  Kleinhirndefekte 260 

Allen  Starr.    The   muscular   sense  and  its  location  in  the  brain- 

cortex 121 

Fr.  Kiesow.  Versuche  mit  Mossos  Sphygmomanometer  über  die 
durch  psychische  Erregungen  hervorgerufenen  Veränderungen 
des  Blutdrucks  beim  Menschen 266 

L.  LuoiANi.  Ober  Ferriers  neue  Stadien  zur  Physiologie  des  Klein- 
hirns       265 

—    I  reoenti  studi  sulla  fisiologia  del  Cervelletto  secondo  il  Prof. 

David  Ferrier 265 

IV.  Sinnesempfindimgen.    Allgemeines. 

V.  Hbnsen.    Vortrag  gegen  den  sechsten  Sinn 124 

B.  HiLHERT.    Zur  Kenntnis  der  sogenannten  Doppelempfindungen  . .     121 
Minor  Studies  from  the  Psychological  Laboratory  of  Clark  Üniversity 
(A.  J.  Hamlin,  On  the  least  observable  interval  between  Stimuli 
addressed  to  disparate  senses  and  to  different  organs  of  the 
same  sense) 447 

V.  Physiologische  und  psychologische  Optik. 

L.  Pfaundler  u.  0.  Lummer.    Die  Lehre  vom  Licht  (Optik) 122 

BoRTSiBKiEWicz.    Weitere    Untersuchungen   über   den   feineren   Bau 

der  Netzhaut • 267 

Fr.  Dihmer.    Beiträge  zur  Anatomie  und  Physiologie  der  Macula 

lutea  des  Menschen 267 

BoRYBiBKiBWicz.    Erwiderung  auf  Dimmers  Angriffe 267 

Dimmer.    Entgegnung  an  Herrn  Prof.  Borysiekiewicz 267 


InhcUtsverzeichnif.  V 

Seite 

BoBYSiEKiBwicz.  Aütwort  auf  die  Entgegnung  des  Herrn  Dr.  Dihmeb,  •  267 
LiHDSAT  Johnbon.    Observations  on  the  Macula  Lutea.   I.  Histologj 

of  the  human  Macula. 267 

F.  Schanz,    Ein  Hornhautmikroskop 269 

—  Ein  Homhautmikroskop  und  ein  Netzhautfemrohr   mit  kon- 
axialer  Beleuchtung 269 

O.  SoHWEiochCR.    Zum  Akkommodations-Mechanismus 122 

—  Vorlesungen  über  den  Gebrauch  des  Augenspiegels 123 

G.  Trümbull  Ladd.    Direct  Control  of  the  Betinal  Field 123 

B.  Perlia.  Kbolls  stereoskopische  Bilder.  26  färb.  Taf.  mit  Ge- 
brauchsanweisung    273 

Contributions  from  the  Psychological  Laboratory  of  Columbia  College 

(S.  J.  Franz,  The  aftar-image  threshold) 258 

S.  BxROEL.    Über   die   Empfindlichkeit   der  Netzhautperipherie   für 

intermittierende  Beizung 271 

S.  Epstein.    Über  ein  neues  Perimeter 270 

H.  MüiiSTERBERO.   Studics  from  the  Harvard  Psychological  Laboratory 

(H.  MüNSTBRBERO,  A  Stcrcoscope  without  mirrors  or  prisms.) .  120 

VI.  Physiologische  und  psychologisclie  Akustik. 

Alprbd  M.  Mayer.    Besearches  in  Acoustics 449 

£.  Sauberschwarz.    Interferenz  versuche  mit  Vokalklängen 274 

L.  Hermann.    Über  das  Wesen  der  Vokale 449 

J.  Bernstein.  Über  das  angebliche  Hören  labyrinthloser  Tauben  . .  274 
J.  BiCH.  Ewald.    Zur  Physiologie  des  Labyrinthes.   IV.  Mitteilung. 

Die  Beziehungen  des  Grofshims  zum  Tonuslabyrinth 278 

HoLOER  Mtgind.    Taubstummheit 124 

Victor  ürbantschitsch.    Über  Hörübungen  bei  Taubstummheit  und 

bei  Ertaubung  im  späteren  Lebensalter 275 

Vn.  Die  übrigen  spezifischen  Slxmesempfindimgen. 

M.  VON  Frey.    Beiträge  zur  Physiologie  des  Schmerzsinnes 129 

—  Zweite  Mitteilung 129 

WiLEBALD  A.  Naobl.    Die   Sensibilität  der  Conjunctiva  und  Cornea 

des  menschlichen  Auges 129 

—  Zur  Prüfung  des  Drucksinnes 129 

M.  VON  Frey.  Beiträge  zur  Sinnesphysiologie  der  Haut.  Dritte  Mit- 
teilung    129 

O.  0.  Motschutkowsky.  Ein  Apparat  zur  Prüfung  der  Schmerz- 
empfindung der  Haut.  —  Algesiometer 280 

Hess.    Algesiometer  von  Dr.  Motschütkowsky  —   Algesimeter  von 

Dr.  Hess 280 

Contributions  from  the  Psychological  Laboratory  of  Columbia  College 

(H.  Griffing,  Experiments  on  dermal  sensations) 258 

Fr.  EliEsow.    Untersuchungen  über  Temperaturempfindungen 276 


VI  InhcUtsverzeichms, 

Seite 

Alfred  Blecheb.    Über  die  Empfindung  des  Widerstandes 281 

GoLDscHEiDER  Und   Blbcher.     Versuche   über    die   Empfindung  des 

Widerstandes 281 


H.  ZwAARDEMAKSB.    Die  Fhysiologie  des  Geruches 450 

Eo.  Aronsohn.    Versuch  einer  Nomenklatur  der   Geruchsqualitäten    288 


Fr.   SLiesow.     Beiträge   zur   physiologischen   Psychologie   des   Ge- 
schmackssinnes       127 

VnL  Eanm,  Zeit,  Bewegung,  Zahl. 

WiLH.  FiLEHNE.    Die  Form  des  Himmelsgewölbes 462 

H.  W.  Enox.      On    the   quantitative    determination    of  an   optical 

Illusion 465 

K.  Watanabe.     On   the    quantitative   determination   of  an    optical 

illusion 466 

C.  S.  Parrish.    The  cutaneous  estimation  of  open  and  filled  space    465 

A.  BiNET.    La  mesure  des  illusions  visuelles  chez  les  enfants 465 

J.  LoEB.    Über  den  Nachweis  von  Kontrasterscheinungen  im  Gebiete 

der  Baumempfindungen  des  Auges 465 

H.  Münsterbbro.  Studies  from  the  Harvard  Psychological  Laboratorj 

(H.  McNSTBBBEBO  and  A.  H.  Pierre,  Localisation  of  sound)  . . .  255 
V.  Henri  und  G.  Tawney.  Über  die  Trugwahmehmung  zweier  Punkte 

bei  der  Berührung  eines  Punktes  der  Haut 280 

A.  Bi5et.    Reverse  Illusions  of  Orientation 143 

H.  MüNSTERBEBO.    Studics  from  the  Harvard  Psychological  Laboratory 

(H.  MüNSTEBBEBG  u.  A.  E.  T.  Wylie,  Optical  Time-content) . . .     119 

Hbbbebt  Niohols.    Our  notions  of  number  and  space 140 

Meumanv.    Berichtigung  zu  dem  Beferat  von  Schümann  Über  „Mbü- 

MANN,  Beiträge  zur  Psychologie  des  Zeitsinns^ 158 

F.  ScHTTUANN.    Eine  Erwiderung 818 

DL  Bewnlatsein  und  ünbewuTstes.    Anfinerksamkeit.    Selüaf. 

Ellen  Bliss  Talbot.    The  doctrine  of  conscious  Clements 288 

Graeftjnder.    Traum  und  Traumdeutungf 466 

Harrt  E.  Kohn.    Zur  Theorie  der  Aufmerksamkeit.    Abhandlungen 
zur  Philosophie   und   ihrer  Geschichte.    Herausgegeben  von 

Benno  Erdmann 288 

AiiEXANDER  F.  Shand.    An  analysis  of  attention 144 

Minor  Studies  from  the  Psychological  Laboratory  of  Clark  University 

(A.  H.  Daniels.    The  memory  after-image  and  attention) 447 

H.  Münsterberq.    Studies  from  the  Harvard  Psychological  Labora- 
tory.    (H.  Münsterbbro  u.  N.  Kozaki,   The  intensifying  effect 

of  attention) 117 

John  Gribr  Hieben.    Sensory  Stimulation  by  attention 288 


InhaUwerzeidmia,  VI  I 

Seite 
H.  Gribsbach.    Über  Beziehungen  zwischen  geistiger  Ermüdung  und 
Empfindungsvermögen   der   Haut.     Auch   separat  unter  dem 
Titel :  Energetik  und  Hygiene  des  Nervensystems  in  der  Schule    277 

X.  Übung,  Assoziation  und  OodächtniB. 

KiRKF ATRICK.    An  cxperimeutal  study  of  memory 144 

H.  MüNSTERBEBG.    Studies  from  the  Harvard  Psychological  Labora- 

torj  (M.  W.  Galkiks,  Association) 255 

—  Studies  from  the  Harvard  Psychological  Laboratory  (H.  Mtm- 
STERBBRO  u.  J.  BiOHAM,  Msmory) 116 

—  Studies  from  the  Harvard  Psychological  Laboratory  (J.  Btohah, 
Memory) 254 

John  A.  Bergströv.    The  Belation  of  the  Interference  to  the  Practice 

Effect  of  an  Association 467 

XI.  Vorstellnngen  und  Intelligens. 

Edmüni)  Montgomert.    The  Integration  of  mind 294 

Wellesley  College  Psychological  Studies  (C.  C.  Netbrs,  Br.  Jastrow 

on  Community  of  ideas  of  men  and  women) 289 

H.  Münstbrbeko.    Studies  from  the  Harvard  Psychological  Labora- 
tory (H.  MüNSTERBERO  aud  W.  W.  Campbell.    The  motor  power 

of  idea) 252 

A.  Botet  et  V.  Henri.    De  la  suggestibilit^  naturelle  chez  les  enfants  469 
Kasimir  Twardowski.    Zur  Lehre  vom  Lihalt  und  Gegenstand  der 

Vorstellungen 468 

W.  James.    The  Knowing  of  Things  Together. . .  • 295 

J.  SoüBT.    La  Vision  mentale 260 

Julien  Pioobr.    La  vie  et  la  pens6e.    Essai   de  conception   exp^ri- 

mentale 445 

A.  C.  Armstrono  jr.    The  Imagery  of  American  Students 145 

Th.  Floübnot.    De  l'action  du  milieu  sur  Tid^ation 295 

—  ün  cas  de  personnification 295 

—  De  rin£uence   de   la   perception  visuelle  des  corps  sur  leur 
poids  apparent 295 

Xn.  aeftthle. 

Dadid  Irons.    Descartes  and  modern  Theories  of  Emotion 471 

H.  Münsterbero.     Studies  from  the  Harvard  Psychological  Labora- 
tory (E.  PiERCE.    Aesthetics  of  simple  forms.    Symmetry.)  . . .  255 

0.  A.  Strono.    The  psychology  of  pain 302 

Jonas    Cohn.     Experimentelle   Untersuchungen    über   die   GefUhls- 

"betonung  der  Farben,  Helligkeiten  und  ihrer  Kombinationen  303 

Zm.  Bewegungen  und  Handlungen. 

W.  WüKDT.    Zur  Beurteilung  der  zusammengesetzten  Beaktionen  . .     150 
£.£rabpelin  und  Jul.  Merkel.  Beobachtungen  bei  zusammengesetzten 

Beaktionen 150 


Vni  Inhaltsverzeichnis, 

Seite 
J.  J.  VA9  BiEBVLiBT.    Über    den   Einflufs   der   Geschwindigkeit    des 

Pulses  auf  die  Zeitdauer  der  Reaktionszeit  bei  Sohalleindrüoken  116 
H.  £.  EteRiiTG.    Beitrag  zur  Frage  der  gleichzeitigen  Th&tigkeit  anta- 
gonistisch wirkender  Muskeln 804 

KuDOLF  Merinoeb  Und  Karl  Mater.    Versprechen  und  Verlesen ....  905 

6.  Verriebt.    Les  bases  physiologiques  de  la  parole  rhythm^e 471 

XIV.  Neuro-  und  PsyehoiMtkologie. 

P.  J.  MöBius.    Neurologische  Beitrage.    IV.  Heft 308 

Breuer  u.  Frbud.     Studien  über  Hysterie 308 

R.  VON  Krafft-Ebino.    Nervosität  und  neurasthenische  Zustände . . .  163 
Albert  Eülekburg.    Sexuale   Neuropathie.    Genitale   Neurosen  und 

Neuropsychosen  der  Männer  und  Frauen 809 

Heinrich  Schüschny.    Über  die  Nervosität  der  Schuljugend 806 

AüousT  Forel.    Der  Hypnotismus ^ 163 

K.  Schaffer.    Suggestion  und  Beflex 309 


Max  Herz.     Kritische    Psychiatrie.     KANrische    Studien   über    die 

Störungen  und  den  Milsbrauch  der  reinen  spekulativen  Vernunft  311 
C.  Wbrnicke.  Arbeiten  aus  der  psychiatrischen  Klinik  in  Breslau.  154 
Eduard  Hitzio.    Über  den  Querulantenwahnsinn,  seine  nosologische 

Stellung  und  seine  forensische  Bedeutung 312 

Wellesley  College  Psychological  Studios  (M.  B.  Simmonb,  Prevalence 

of  Paramnesia) 289 

C.  L.  Dana.    A  case  of  Amnesia  or  „Double  Consciousness'' 315 

C.  Bbrnardini  u.  A.  Perugia.  Le  funzioni  di  relazione  nella  demenza  314 
William  Hirsch.    Betrachtungen    über   die   Jungfrau   Ton    Orleans 

vom  Standpunkte  der  Irrenheilkunde 164 

XV.  Sozialpsychologie,  Sittlichkeit  und  Verbrechen. 

Georg  Simmsl.    Einleitung  in   die   Moralwissenschaft.    Eine  Kritik 

der  ethischen  Grundbegriffe 473 

Alexius  Meinong.    Psychologisch-ethische  Untersuchungen  zur  Wert- 
lehre       145 

—    Über  Werthaltung  und  Wert 149 

S.  Beichard.    Az  erkölcsi  6rzes  (Der  moralische  Sinn) 297 

Enrico  Fsrri.    Sozialismus  und  moderne  Wissenschaft 316 

C.  LoifSROSo.    Der   Antisemitismus   und   die   Juden  im  Lichte   der 

m 

modernen  Wissenschaft 15ö 

Namenregister 481 


Zur  Psychophysik  der  Gesichtsempfindungen. 

Von 

G.  E.  Müller. 

Kapitel  1. 

Die  psyehophysischen  Axiome  und  ihre  Anwendung  anf  die 

Gesiehtsenipflndangen. 

§  1.   Die  vier  ersten  Axiome  der  Psychophysik. 

Die  Psychophysik  setzt  nicht  blofs  die  Gültigkeit  der  in 
der  Physik  und  Chemie  gelehrten,  auf  das  Verhalten  der  Materie 
bezüglichen  Axiome  voraus,  sondern  fufst  aufserdem  auf  ge- 
wissen ihr  eigentümlichen  Axiomen,  welche  die  Wechsel- 
beziehung zwischen  den  psychischen  Zuständen  und  den  ihnen 
entsprechenden  materiellen  Vorgängen  betreffen.  Man  kann 
zur  Zeit  fünf  solche  Axiome  der  Psychophysik  unterscheiden,^ 
von  denen  die  ersten  vier  die  folgenden  sind,  während  das 
fünfte  Axiom  erst  in  §  5  zur  Darstellung  gelangt. 

1.  Jedem  Zustande  des  Bewufstseins  liegt  ein  materieller 
Vorgang,  ein  sogenannter  psychophysischer  Prozefs,  zu  Grunde, 
an  dessen  Stattfinden  das  Vorhandensein  des  Bewufstseins- 
zustandes  geknüpft  ist.  (Dafs  jedem  psj'chophysischen  Prozesse 
ein  Bewufstseinszustand  entspricht,  besagt  die  Definition  des 
psychophysischen  Prozesses;  vergl.  S.  4). 

2.  Einer  Gleichheit,  Ähnlichkeit,  Verschiedenheit  der  Be- 
schaffenheit der  Empfindungen  —  von  den  übrigen  psychischen 
Zuständen,  von  denen  gleiches  gilt,  wie  von  den  Empfindungen, 
kann    hier  und  im  folgenden  abgesehen  werden    —  entspricht 


'  Die  Zahl  ist  einigermarsen  willkürlich.  Man  kann  dieselbe  ver- 
ringern oder  erhohen,  indem  man  mehrere  der  angeführten  Axiome 
zusammenlegt,  bezw.  das  eine  oder  andere  derselben  zerlegt. 

ZeitsehrUl  für  Psychologe  X.  1 


2  G.  E.  Müller. 

mm  ^^^  

eine  Gleichheit,  Ähnlichkeit,  Verschiedenheit  der  Beschaffenheit' 
der  psychophysischen  Prozesse,  und  umgekehrt.  Und  zwar 
entspricht  einer  gröfseren  oder  geringeren  Ähnlichkeit  der 
Empfindungen  auch  eine  gröfsere,  bezw.  geringere  Ähnlichkeit 
der  psychophysischen  Prozesse,  und  umgekehrt. 

3.  Besitzen  die  Änderungen,  welche  eine  Empfindung  durch- 
läuft, dieselbe  Richtung,  oder  sind  die  Unterschiede,  die  zwischen 
einer  Beihe  gegebener  Empfindungen  ,  bestehen,  von  gleicher 
Richtung,  so  besitzen  auch  die  Änderungen,  welche  der  psycho- 
physische  Prozefs  durchläuft,  oder  die  Unterschiede  der  ge- 
gebenen psychophysischen  Prozesse  gleiche  Richtung.  Ebenso 
entsprechen  auch  Änderungen  oder  Unterschieden  des  psycho- 
physischen Prozesses,  welche  gleiche  Richtung  besitzen,  stets 
Empfindungsänderungen  oder  -unterschiede  von  gleicher  Rich- 
tung. Ist  also  eine  Empfindung  in  n-facher  Richtung  variabel^ 
so  mufs  auch  der  zu  Grunde  liegende  psychophysische  Prozefs 
in  n-facher  Richtung  veränderlich  sein,  und  umgekehrt. 

4.  Die  Richtungen,  in  denen  eine  Empfindung  verändert 
werden  kann,  sind  von  verschiedener  Art.  Führt  die  Richtung, 
in  welcher  die  Empfindung  verändert  wird,  zum  Nullpunkte  hin, 
d.  h.  wird  bei  fortgesetzter  Änderung  der  Empfindung  in  dieser 
Richtung  schliefslich  der  Punkt  des  völligen  Schwindens  der 
Empfindung  erreicht,  so  sagt  man,  dafs  die  Empfindung  bei 
ihrer  Veränderung  eine  Abnahme  ihrer  Intensität  erleide. 
Ist  die  Veränderung  genau  die  Umkehrung  einer  solchen, 
welche  als  Abnahme  der  Empfindungsintensität  bezeichnet  wird, 
so  spricht  man  von  einer  Zunahme  der  Empfindungs- 
intensität. Unter  den  verschiedenen  Richtungen  der  Ver- 
änderlichkeit einer  Empfindung,  welche  zum  Nullpunkte  hin- 
führen, nimmt  diejenige  eine  hervorragende  Stellung  ein,  in 
welcher  die  Empfindung  bei  stetiger  Änderung  den  Nullpunkt 

*  Von  der  Beschaffenheit  des  psychophysischen  Prozesses  —  und 
das  entsprechende  gilt  von  der  Beschaffenheit  der  Empfindung  —  ist 
hier  in  einem  weiteren  (die  Qualität  und  Intensität  umfassenden)  Sinne 
die  Bede.  Die  Beschaffenheit  des  psychophysischen  Prozesses  hat  in- 
dessen nichts  zu  thun  mit  dem  Orte,  wo  sich  dieser  Prozefs  vollzieht. 
Psychophysische  Prozesse,  die  sich  nur  durch  den  Ort,  an  welchem  sie 
stattfinden,  voneinander  unterscheiden,  sind  hinsichtlich  ihrer  Beschaffen- 
heit völlig  gleich,  genau  ebenso  wie  psychophysische  Vorg&nge,  die  sich 
nur  durch  die  Zeit,  zu  welcher  sie  sich  abspielen,  voneinander  unter- 
scheiden. 


Zur  Psychophysik  der  Gesichtsenipfindungen.  3 

auf  dem  kürzesten  Wege,  d.  h.  mit  Dorchlaufung  der 
geringsten  Anzahl  von  Zwischenempfindungen,  erreicht.  Wird 
die  Empfindung  in  dieser  oder  der  genau  entgegengesetzten 
Kichtung  verändert,  so  liegt  eine  reine  Intensitäts- 
änderung der  Empfindung  vor.  Wird  die  Empfindung  in 
einer  der  übrigen  zum  Nullpunkte  hin-  oder  vom  Nullpunkte 
wegfahrenden  Richtungen  verändert,  so  ist  die  Empfindungs- 
änderung gemischter  Art,  d.  h.  eine  solche,  welche  neben 
der  Intensität  auch  noch  die  Qualität  der  Empfindung  betrifft. 
Als  eine  rein  qualitative  wird  die  Empfindungsänderung 
dann  bezeichnet,  wenn  sie  in  einer  Richtung  stattfindet,  die 
weder  zum  Nullpunkte  hin-,  noch  von  demselben  hinwegführt. 

So  viel  zur  Verständigung  darüber,  was  wir  unter  einer 
Änderung  der  Empfindungsintensität  oder  Empfindungsqualität 
verstehen.     Weiteres  hierher  G-ehöriges  findet  sich  in  §  6. 

Es  gilt  nun  der  Satz  (viertes  psychophysisches  Axiom), 
dafs  jeder  qualitativen  Änderung  der  Empfindung  auch  eine 
quaUtative  Änderung  des  psychophysischen  Prozesses  entspricht, 
und  umgekehrt,  und  dafs  bei  einer  Erhöhung  oder  Minderung 
der  Empfindungsintensität  auch  die  Intensität  des  psycho- 
physischen Prozesses^  anwächst,  bezw.  sich  verringert,  und  um- 
gekehrt. Ist  die  Qualitätsänderung  oder  die  Intensitätsände- 
rung, welche  die  Empfindung  erfahrt,  eine  reine,  so  betrifft 
auch  die  Änderung  des  psychophysischen  Prozesses  lediglich 
die  Qualität,  bezw.  lediglich  die  Intensität  desselben,  und  um- 
gekehrt. 

Wie  leicht  zu  erkennen,  stehen  die  hier  angefahrten  vier 
Axiome  in  dem  Verhältnisse  zu  einander,  dafs  immer  das  nach- 
folgende Axiom  das  vorhergehende  in  bestimmter  Weise  näher 
ergänzt.  Man  kann  es  einfacher  finden,  den  Inhalt  dieser 
Andorne  in  der  aUgemeinen  Behauptung  eiies  psychophysischen 
Parallelismus  kurz  zusammenzufassen.  Es  ist  aber  zweck- 
mäisiger,  die  Sätze,  welche  zusammengenommen  dieses  all- 
gemeine Prinzip  des  psychophysischen  Parallelismus  ausmachen, 


^  Die  Begriffe  der  Intensität  und  Qualität  sind  hinsichtlich  des 
psychophysischen  Prozesses  ganz  analog  zu  definieren,  wie  hinsichtlich 
der  Empfindung.  Die  Intensität  eines  psychophysischen  Prozesses  nimmt 
ab,  wenn  derselbe  sich  in  einer  zum  Nullpunkte  führenden  Richtung 
ändert.  Weiteres  üher  die  Intensität  des  psychophysischen  Prozessef» 
folgt  in  §  3. 

1* 


4  G.  E.  Mülle)'. 

einzeln  zu  formulieren  und  hervorzuheben.  Denn  der  Ausdruck 
^psychophysisoher  Parallelismus ^  ist  viel  zu  unbestimmt  und 
läfst,  wie  z.  B.  die  Ausführungen  des  §  3  zeigen  werden,  Aus- 
legungen zu,  die  wir  nioht  zu  teilen  vermögen  oder  wenigstens 
ftlr  sehr  unsicher  halten.  Auch  haben  manche  Forscher,  und 
zwar  auch  solche  von  hervorragender  Art,  welche  den  Paral- 
lelismus zwischen  Psychischem  und  Physischem  im  allgemeinen 
anerkennen,  thatsächlich  doch  gegen  das  eine  oder  andere 
unserer  fünf  psychophysischen  Axiome  verstofsen. 

Was  den  Begriff  des  psychophysischen  Prozesses  anbelangt,  so 
kann  man  in  Hinblick  auf  die  Thatsache,  dafs  nicht  jedwede  Hirn- 
erregung  von  einem  Zustande  unseres  Bewafstseins  begleitet  ist,  Hirn- 
erregung  und  psychophysischen  Prozefs  nicht  identifizieren,  sondern 
mufs  den  letzteren  als  einen  solchen  innerhalb  unseres  Q-ehirnes  sich 
abspielenden  materiellen  Vorgang  definieren,  welcher  von  einer  Empfin- 
dung oder  einem  sonstigen  Zustande  unseres  Bewufstseins  begleitet  ist. 
Hierbei  ist  prinzipiell  die  Möglichkeit  nicht  zu  Übersehen,  dafs  der 
psychophysische  Prozefs  nur  ein  Teil  desjenigen  mehr  oder  weniger 
komplizierten  Vorganges  (sog.  Erregungsvorganges)  sei,  der  sich  bei 
Vorhandensein  einer  Empfindung  oder  eines  sonstigen  psychischen  Zü- 
standes  in  irgendwelchen  Himteilen  abspielt.  Nehmen  wir  beispiels- 
halber an,  die  Hirnerregung  sei  ein  von  elektrischen  Veränderungen  be- 
gleiteter chemischer  Prozefs,  und  es  sei  nur  die  demselben  entsprechende 
elektrische  Veränderung  für  das  Verhalten  unserer  Empfindungen  mafs- 
gebend,  so  würden  wir  nicht  den  ganzen  Erregungsvorgang,  sondern  nur 
diese  elektrische  Begleiterscheinung  als  den  psychophysischen  Prozefs 
zu  bezeichnen  haben.  Nur  fOr  die  letztere,  nicht  aber  für  den  ganzen 
Erregungs Vorgang  brauchten  alsdann  die  obigen  Axiome  gültig  zu  sein. 
So  könnten  z.  B.  verschiedenen  Erreg^ungs Vorgängen  gleiche  Empfindungen 
entsprechen,  falls  nur  die  elektrischen  Begleiterscheinungen  der  Erregungs- 
vorgänge dieselben  wären. 

Hält  man  an  dem  obigen  Begriffe  des  psychophysischen  Prozesses 
fest,  so  zeigt  sich,  dafs  das  oben  an  vierter  Stelle  aufgestellte  Axiom 
keinerlei  Entscheidung  darüber  enthält,  ob  der  betreffende  Hirnvorgang 
bei  jedem  beliebigen  Intensitätswerte  oder  (im  Sinne  Fechnbbs)  erst  von 
einem  bestimmten  Schwellenwerte  seiner  Intensität  ab  Empfindung  mit 
sich  zu  führen  vermag.  Denn  obiges  Axiom  besagt  nur,  dafs,  solange  als 
der  Himvorgang  die  Eigentümlichkeit  besitzt,  eine  Empfindung  mit  sich 
zu  führen,  jeder  beliebigen  Verstärkung  oder  Schwächung  desselben  eine 
Erhöhung,  bezw.  Verringerung  der  Empfindungsintensität  entspricht  Ob 
aber  der  Hirn  Vorgang  jene  Eigentümlichkeit,  psychophysischer  Prozefs 
zu  sein,  prinzipiell  schon  bei  jeder  beliebigen  Intensität  besitzen  kann, 
bleibt  völlig  dahingestellt. 


Zur  Fsychophysik  der  Gesichtsempfin^ngen. 


§2.  ünannelimbarkeit  eines  vonHEBiNa  aufgestellten 

psychophysischen  Satzes. 

Die  obigen  psychophysischen  Axiome  oder  wenigstens  ein 
Teil  derselben  liegen  stillschweigend  oder  mehr  oder  weniger 
deutlich  ausgesprochen  gewissen  Betrachtungen  von  Lotzb 
(Kleine  Schriften^  herausgegeben  von  Peipers.  2.  S.  30f.,  Medic, 
Psychol.  S.  217),  Fbchneb  (Elemente  der  Psychophysik.  2.  S.  224flf: 
und  anderwärts),  Mach  (Ärch.  f.  Anat.  u.  Physiol.  1865.  S.  634  f., 
Wien.  Ber,  52.  1865. 11.  S.  320  f.),  Heeing  (Zur  Lehre  vom  LichU 
sinne,  S.  76)  u.  a.  zu  Grunde.  Der  von  dem  letztgenannten 
Forscher  (a.  a.  0.  S.  77,  83  f.)  aufgestellte  Satz,  dafs  „psycho- 
physische  Prozesse  von  sehr  verschiedener  Gröfse  dieselbe  Em- 
pfindung geben  können,  weil  es  überall  nicht  auf  die  absolute 
Gröfse  dieser  Prozesse,  sondern  lediglich  auf  ihr  gegenseitiges 
Verhältnis  ankommt ^^^  dafs  also  z.  B.  einer  und  derselben  Grau- 
empfindung verschiedene  absolute  Intensitäten  der  WeiTserregung 
und  Schwarzerregung  entsprechen  können,  erscheint  uns  in- 
dessen unhaltbar.  Man  denke  sich  eine  Anzahl  psychophysischer 
Prozesse  mit  bestimmten  gegenseitigen  Intensitätsverhältnissen 
gegeben  und  hierauf  ohne  Veränderung  dieser  ihrer  gegen- 
seitigen Intensitätsverhältnisse  allmählich  bis  auf  den  Nullpunkt 
verringert.  Soll  nun  bei  dieser  Verringerung  der  Intensitäten 
sämtlicher  Partialprozesse  die  Empfindung  ganz  unverändert 
bleiben?  Soll  im  Widerspruche  zu  dem  Prinzipe  der  Kon- 
tinuität ein  Erfolg  der  Intensitätsänderung  des  zusammen- 
gesetzten psychophysischen  Prozesses  auf  der  psychischen  Seite 
erst  in  dem  Momente  eintreten,  wo  sämtliche  Partialprozesse 
den  NuUpunkt  erreichen,  indem  in  diesem  Momente  die  Em- 
pfindung ihren  bisher  unveränderten  Intensitätswert  plötzlich 
mit  dem  Nullwerte  vertauscht?  Wir  meinen,  dafs  auch  die 
psychophysische  Gesetzmäfsigkeit  keine  Sprünge  kennt.  Hebings 
obiger  Satz  widerspricht  offenbar  dem  vierten  unserer  psycho- 
physischen Axiome,  nach  welchem  einer  Änderung  eines  (ein- 
fachen oder  zusammengesetzten)  psychophysischen  Prozesses, 
welche  in  einer  zum  Nullpunkte  hinfahrenden  Bichtung  statt- 
findet, eine  Änderung  der  Empfindung,  die  gleichfalls  in  einer 
zum  Nullpunkte  hinfahrenden  Bichtung  stattfindet,  entsprechen 
mnfs.    Überdies  sprechen  auch  die  Erfahrungen  auf  dem  Gebiete 


6  G.  E.  Müller. 

des  Hörsinnes  keineswegs  für  den  Satz,  dafs  eine  Klangempfin dang 
völlig  anverändert  bleibe,  wenn  man  die  den  Partialtönen  ent- 
sprechenden psychophysischen  Prozesse  in  gleichen  Verhältnissen 
verstäifke  oder  schwäche. 

Es  empfiehlt  sich  nicht,  dem  obigen  Satze  Hebings  gegen- 
über geltend  zu  machen,  daXis  derselbe  gegen  das  zweite  unserer 
Axiome,  nach  welchem  einer  Verschiedenheit  der  psycho- 
physischen  Prozesse  stets  auch  eine  solche  der  Empfindungen 
entsprechen  müsse,  verstofse.  Denn  man  könnte  leicht  er- 
widern, dafs,  wie  wir  oben  die  örtlichen  Verschiedenheiten  der 
psychophysischen  Prozesse  für  psychophysisch  bedeutungslos 
erklärt  haben,  vielleicht  auch  diejenige  Verschiedenheit  zusammen- 
gesetzter psychophysischer  Vorgänge,  welche  nur  in  einer 
Verschiedenheit  der  absoluten  Intensitäten  der  sie  zusammen- 
setzenden Partialprozesse,  nicht  aber  in  einer  Verschiedenheit 
der  gegenseitigen  Intensitätsverhältnisse  der  letzteren  bestehe, 
für  psychophysisch  irrelevant  zu  betrachten  sei.  Man  mufs 
jenem  Satze  Herings  in  der  obigen  Weise  das  Prinzip  der 
Kontinuität  und  unser  viertes  Axiom,  sowie  die  Erfahrungen 
anderer  Sinnesgebiete  entgegenstellen.  Eine  der  Hauptaufgaben 
dieser  Untersuchungen  ist  es,  die  HEBiNOsche  Theorie  der  G-egen- 
färben  so  zu  modifizieren,  dafs  sie  jenes  hier  angefochtenen 
Satzes  Herings  nicht  mehr  bedarf. 

§  3.  Vom  physischen  Korrelate  der  Empfindungs- 
intensität. 

Da  alle  Empfindungen  Intensität  besitzen,  so  müssen  nach 
dem  vierten  der  obigen  Axiome  auch  alle  psychophysischen 
Prozesse  prinzipiell  in  solcher  Sichtung  verändert  werden 
können,  dafs  bei  Fortsetzung  der  Änderung  in  dieser  Bichtung 
schliefslich  der  Nullpunkt  erreicht  wird. 

Einer  solchen  zum  Nullpunkte  führenden  Veränderung  kann 
jeder  psychophysische  Prozefs  prinzipiell  auf  doppelte  Weise 
unterworfen  werden,  insofern  er  erstens  in  allen  Teilen  seiner 
Ausbreitung  eine  (nach  der  lebendigen  Kraft  der  Bewegungen 
oder  in  anderer  Weise  zu  bemessende)  Stärke  besitzt,  und  in- 
sofern er  zweitens  sich  über  gewisse  Partien  des  Zentralorganes 
erstreckt,  also  eine  gewisse  Ausbreitung  besitzt,  die  man  sich 
prinzipiell  bis  zum  Werte  Null  verringert  denken  kann. 


Zur  Psychophysik  der  Gesichtsempfindungen.  ^ 

Es  fragt  sich  nun,  ob  wir  uns  die  Intensität  der  Empfin- 
dung von  der  Stärke  oder  von  der  räumliclien  Ausbreitung  des 
psychophysischen  Prozesses  oder  von  beiden  Faktoren  zugleicli 
abhängig  zu  denken  haben. 

Im  allgemeinen  hat  man  sich  mit  dieser  Frage  bisher  nur 
sehr  wenig  beschäftigt.  Ein  eigentümlicher,  wenn  auch  nicht 
glüokHcher,  Versuch,  zu  zeigen,  dafs  die  Empfindungsintensität 
ihr  Korrelat  nicht  in  der  Stärke  der  Nervenerregung,  sondern 
in  der  Ausbreitung  derselben  innerhalb  des  Zentralorganes  (in 
der  Zahl  der  an  der  Erregung  beteiligten  Ganglienzellen)  be- 
sitze, ist  seiner  Zeit  von  Bernstein  gemacht  worden,  um  die 
von  Fechner  angenommene  logarithmische  Beziehung  der 
Empfindungsintensität  zur  Beizstärke  zu  erklären.  (Man  ver- 
gleiche hierüber  meine  Schrift  y^Zur  Grundlegung  der  Psycho- 
pAy«i«.  S.  374  ff.). 

Fechneb  {Elemente  der  Psychophysik,  2.  S.  224  ff.,  In  Sachen 
der  Psychophysik,  S.  204  ff.)  denkt  sich  die  Empfindungs- 
intensität sowohl  von  der  Stärke,  als  auch  von  der  Ausbreitung 
des  psychophysischen  Prozesses  abhängig.  Denn  seiner  Ansicht 
nach  hängt  die  Empfindungsintensität  von  der  Summe  von 
lebendiger  Kraft  oder  von  der  Summe  von  Geschwindigkeiten 
oder  von  Beschleunigungen  ab,  welche  während  einer  endlichen 
Zeit  von  sämtlichen  Teilchen  entwickelt  werden,  die  an  dem 
als  ein  Schwingungsvorgang  vorzustellenden  psychophysischen 
Prozesse  beteiligt  sind.  „Nach  dieser  Auffassung,^  bemerkt 
Fechneb,  „hängt  die  Intensität  der  Empfindung  wesentlich  mit 
von  der  Zahl  der  dazu  beitragenden  Teilchen  ab,  und  es  kann 
eine  gröfsere  Amplitude  der  Schwingung  durch  eine  gröfsere 
Zahl  Teüchen,  die  mit  kleinerer  Amplitude  schwingen,  ersetzt 
werden  ....  Hierin  Uegt  unstreitig  eines  der  wichtigsten 
Mittel,  mit  den  unsichtbar  kleinen  Bewegungen  in  unseren 
Nerven  und  Gehirn  doch  grolse  psychische  Leistungen  hervor- 
zubringen. Wenn  blofs  ein  Nerventeilchen  innerlich  schwänge, 
80  müiste  es  unstreitig  in  ungeheurer  Amplitude  schwingen, 
um  den  Glockenton  in  derselben  Stärke  wiederzugeben,  in  der 
wir  ihn  jetzt  hören ** 

Eine  nähere  und  tiefer  gehende  Angabe  darüber,  wonach 
eigentlich  die  Stärke  des  psychophysischen  Prozesses  zu  be- 
messen sei,  kann  bei  dem  gegenwärtigen  dürftigen  Zustande 
unseres    Wissens    nicht    mit    gutem    Gewissen     unternommen 


8  G,E.  Müller, 

werben.  Wie  oben  angedeutet,  hat  schon  Fechneb  geschwankt, 
ob  die  Stärke,  welche  der  psychophysische  Prozefs  in  einem 
gegebenen  Baumelemente  besitzt,  nach  der  lebendigen  Kraft 
oder  nach  den  Geschwindigkeiten  oder  nach  den  Beschleunigungen 
. —  man  kann  aber  auch  noch  an  ganz  andere  Oröfsen  denken 
—  der  in  diesem  Kaumelemente  vorhandenen,  an  dem  psycho- 
physischen  Prozesse  beteiligten  materiellen  Bestandteile  zu 
bemessen  sei.  Auf  jeden  Fall  hat  man  bei  Betrachtungen 
dieser  Art  zunächst  nicht  von  der  Stärke  der  psychophysischen 
Thätigkeit  schlechtweg,  sondern  von  der  Stärke  zu  reden, 
welche  die  psychophysische  Thätigkeit  in  einem  bestimmten 
Baumelemente  (von  endlicher  Gröfse)  zu  einem  bestimmten 
Zeitpunkte  besitzt.  Und  die  Stärke,  welche  die  psychophysische 
Thätigkeit  in  einem  Baumelemente  besitzt,  hat  man  nach  dem 
Werte  zu  bemessen,  den  der  innerhalb  des  betreffenden  Zeit- 
teilchens in  diesem  Baumelemente  sich  abspielende  psycho- 
physische Prozefs  bei  unverändertem  Fortdauern  während  der 
Zeiteinheit  für  eine  bestimmte,  allerdings  noch  nicht  genauer 
angebbare,  physikalische  oder  chemische  Gröfse  (wie  die 
lebendige  Kraft  von  Bewegungen  oder  die  Gröfse  eines 
chemischen  Umsatzes)  ergeben  würde. 

Notwendig  erhebt  sich  nun  aber  die  Frage,  welche  psycho- 
physische Bedeutung  die  Zahl  der  Baumelemente  besitze,  in 
denen  der  psychophysische  Prozefs  mit  gleicher  oder  ver- 
schiedener Stärke  bestehe,  oder,  kurz  gesagt,  die  Frage,  was 
das  psychische  Korrelat  der  Ausbreitung  der  psychophysischen 
Thätigkeit  sei.  In  dieser  Hinsicht  kann  man  auf  folgende 
Betrachtung  kommen.  Es  sei  ein  psychophysischer  Prozefs 
mit  einer  bestimmten  Ausbreitung  gegeben,  und  zwar 
besitze  derselbe  der  Einfachheit  halber  in  allen  Teilen  seiner 
Ausdehnung  die  gleiche  Stärke.  Alsdann  kann  ich  denselben 
erstens  dadurch  auf  den  Nullpunkt  herabbringen,  dafs  ich  die 
Stärke  desselben  in  allen  Teilen  seiner  Ausbreitung  allmählich 
auf  Null  herabbringe.  Diese  Abschwächung  des  psycho- 
physischen Prozesses  hat  ihr  psychisches  Korrelat  in  einer 
Abnahme  der  Empfindungsintensität,  die  schliefslich  mit  dem 
völligen  Schwinden  der  Empfindung  endigt.  Zweitens  kann 
ich  jenen  psychophysischen  Prozefs  auch  dadurch  auf  den 
Nullpunkt  herabbringen,  dafs  ich  die  Ausbreitung  desselben 
allmählich  immer  mehr  verringere.     Auch  hierbei   erhalten  wir 


Zur  Päychophyaik  der  Gesichtsempfindungen,  9 

eine  Reihe  von  Empfindungen,  die  uns  schliefslich  zum  Null- 
punkt führt.  Aber  entsprechend  dem  umstände,  dafs  in  den 
beiden  betrachteten  Fällen  die  Reihe  von  Zuständen,  welche 
der  psychophysisohe  Prozefs  bis  zum  Nullpunkte  hin  durchläuft, 
eine  verschiedene  ist,  muTs  auch  die  Reihe  von  Empfindungeui 
welche  bis  zum  Nullpunkte  hin  durchlaufen  wird,  in  beiden 
Fällen  von  verschiedener  Art  sein.  Es  giebt  also  sozusagen 
zwei  verschiedene  Arten  von  Empfindungsintensität,  oder  besser, 
neben  der  Intensität  der  Empfindungen,  welche  ihr  Korrelat 
in  der  Stärke  des  psychophysischen  Prozesses  besitzt,  giebt  es 
noch  eine  andere,  gleichfalls  zum  Nullpunkte  fährende  Dimension 
der  Empfindungen,  welche  ihr  Korrelat  in  der  Ausbreitung 
der  psychophysischen  Thätigkeit  besitzt,  und  welche  etwa  als 
die  Mächtigkeit  der  Empfindungen  bezeichnet  werden  könnte. 
Dafs  diese  letztere  Dimension  sich  der  Aufmerksamkeit  bisher 
ganz  entzogen  hat,  kann  einfach  daran  liegen,  dafs  der  psycho- 
physisohe Prozefs,  wenigstens  so  lange,  als  seine  Art  dieselbe 
bleibt,  immer  nahezu  die  gleiche  Ausbreitung  besitzt,  so  dafs 
diejenige  Veränderlichkeit  der  Empfindung,  die  auf  der  prinzipiell 
bestehenden  (aber  thatsächlich  sich  nicht  geltend  machenden) 
Veränderlichkeit  der  Ausbreitung  des  psychophysichen  Pro- 
zesses beruht,  in  unserer  Erfahrung  überhaupt  nicht  zu  Tage 
treten  kann.  Es  kann  aber  auch  sein,  dafs,  wenigstens  inner- 
halb gewisser  Grenzen,  die  Ausbreitung  des  psychophysischen 
Prozesses  gleichzeitig  mit  der  Stärke  desselben  anwächst,  so 
dafs  mit  den  Änderungen  der  Empfindungsintensität  zugleich 
Änderungen  jener  Mächtigkeit  einhergehen.  Weil  aber  diese 
Änderungen  der  Intensität  und  Mächtigkeit  der  Empfindungen 
immer  in  gleicher  Weise  miteinander  verbunden  sind,  und 
niemals  der  Fall  vorkommt,  dafs  sich  bei  gleichbleibender 
Intensität  einer  Empfindung  die  Mächtigkeit  derselben  ver- 
ändert, oder  umgekehrt,  so  kommen  wir  nicht  zu  einer  Sonderung 
jener  beiden  Dimensionen  der  Empfindung.  Nur  der  sog. 
Lebhaftigkeitsunterschied,  den  man  zwischen  einer  Empfindung 
und  dem  ihr  entsprechenden  Vorstellungsbilde  beobachtet,  und 
den  man  vielfach  nicht  geneigt  ist,  in  eine  Linie  mit  dem 
Intensiiätsunterschiede  zweier  Empfindungen  zu  stellen»  ist 
vielleicht  als  ein  Unterschied  aufzufassen,  der  wesentlich  auf 
einer  Verschiedenheit  der  Ausbreitung  des  psychophysischen 
Prozesses  beruht. 


10  G.E,  Müller. 

Gedanken  der  im  Vorstehenden  angedeuteten  Art,  die 
nicht  weiter  ausgeführt  werden  sollen,  erscheinen  einfach  und 
plausibel,  solange  man  immer  nur  den  Fall  voraussetzt,  dafs 
der  psychophysische  Prozefs  in  allen  Teilen  seiner  Ausbreitung 
dieselbe  Stärke  besitze,  und  sich  nun  entweder  die  Stärke  oder 
die  Ausbreitung  desselben  oder  beide  zugleich  variiert  denkt. 
Ihre  Durchführung  stöfst  aber  auf  Schwierigkeiten,  sobald 
man  dazu  übergeht,  sich  den  Fall  zurechtzulegen,  wo  die 
psychophysische  Thätigkeit  in  den  verschiedenen  Teilen  ihrer 
Ausbreitung  verschiedene  Stärke  besitzt.  Soll  sich  dann  jene 
Mächtigkeit  der  Empfindung  lediglich  nach  der  Ausbreitung 
des  psychophysischen  Prozesses  bestimmen,  ganz  unabhängig 
davon,  wie  grofs  die  Stärke  desselben  in  den  einzelnen  Baum- 
teilchen ist?  Es  scheint  also  die  FECHNEBsche  Ansicht  den 
Vorzug  zu  verdienen,  nach  welcher  die  Ausbreitung  des  psycho- 
physischen  Prozesses  ihr  psychisches  Korrelat  nicht  an  einer 
von  der  Empfindungsintensität  verschiedenen  Dimension  der 
Empfindung  besitzt,  sondern  eine  Vergröfserung  oder  Ver- 
ringerung jener  Ausbreitung  psychophysisch  völlig  äquivalent 
ist  einer  ohne  Veränderung  der  Ausbreitung  des  psychophysischen 
Prozesses  stattfindenden,  bestimmten  Erhöhung,  bez.Verringerung 
der  Stärke  desselben.^  Nach  dieser  Auffassung  ist  die  Em- 
pfindungsintensität abhängig  von  der  Summe  der  Werte,  welche 
die  Stärke  des  psychophysischen  Prozesses  in  den  verschiedenen 
Teilen  der  Ausbreitung  des  letzteren  besitzt.  Der  Wert  dieser 
Summe  ist  also  dasjenige,  was  wir  unter  dem  Werte  der 
Intensität  des  psychophysischen  Prozesses  zu  verstehen 
haben.  Inwieweit  überhaupt  eine  Variation  der  Ausbreitung 
des  psychophysischen  Prozesses  in  Wirklichkeit  stattfindet, 
kann  man  bei  der  hier  angedeuteten  Auffassung  zunächst  dahin- 
gestellt sein  lassen. 

Die  Annahme,  dafs  die  Intensität  des  psychophysischen 
Prozesses  sich  wesentlich  nach  der  Anzahl   von  Baumteilchen 


^  Aus  leicht  ersichtliclieii  Q-rUnden  können  (wenigstens  bei  dem 
gegenwärtigen  Stande  unseres  Wissens)  Beobachtungen  darüber,  wie  sich 
die  Empfindung  eines  und  desselben  Gesichts-  oder  Gehörsreizes  einerseits 
bei  einäugigem,  andererseits  bei  zweiäugigem  Sehen,  bezw.  einerseits  bei 
einohrigem,  andererseits  bei  zweiohrigem  Hören  verhält,  zur  Entscheidung 
zwischen  dieser  FEOHNERschen  Ansicht  und  der  vorher  angedeuteten, 
anderen  Ansicht  nicht  dienen. 


Zur  Pisychophysik  der  Gesichtsempfindungen.  11 

bestimme,  in  denen  er  sich  abspielt,  wird  übrigens,  wenn  aucli 

nicht  ausgesprochenermafsen,   stets   dann  gemacht,   wenn  man 

den  psychophysisohen  Prozefs    als   einen   chemischen  Vorgang 

ansieht.  Denn  alsdann  mufs  man  die  Intensität  dieses  Prozesses 

für  um  so  gröfser  erklären,  je  beträchtlicher  unter  sonst  gleichen 

Verhältnissen    die    Anzahl    der    Moleküle    oder    der    Gruppen 

zusammengeratener  Moleküle   ist,    an    denen  er  sich   vollzieht, 

d.  h.  je   gröfser   die  Zahl   der  Baumteilchen  ist,   in   denen   er 

sich  abspielt. 

Zu  der  beliebten  Bedewendimg.  dafs  ein  allgemeiner  Parallelismus 
zwischen  dem  Psychischen  und  Physischen  existiere,  stimmt  die  Fbghnsr- 
sche  Ansicht,  welche  wir  im  Vorstehenden  als  die  mindestens  zur  Zeit 
vorzuziehende  hezeichnet  haben,  nicht  gerade  in  ganz  besonderem  Mafse. 
Denn  ein  psychophysischer  Prozefs  von  der  Ausbreitung  a  und  der  (in 
allen  Teilen  seiner  Ausbreitung  gleichen)  Stärke  s  ist  nicht  dasselbe,  wie 

der  qualitativ  gleiche  Prozefs  von  der  Ausbreitung  —  und  der  Stärke  n  *, 

wo  n  einen  beliebigen,  von  1  verschiedenen  Wert  besitzt,  und  doch  soll 
nach  jener  Ansicht  in  beiden  Fällen  ganz  dieselbe  Empfindung  vorhanden 
sein.  Die  Behauptung  eines  allgemeinen  psychophysisohen  Parallelismus 
geht  in  ihrer  Allgemeinheit  eben  gerade  auf  die  interessanteren  Punkte 
nicht  näher  ein,  kann  sogar  zu  Fehlgriffen  verleiten  und  mufs  notwendig 
durch  eine  Beihe  speziellerer  Sätze  erläutert  werden.  Auch  unser  obiges 
drittes  Axiom  (S.  2)  findet  erst  durch  die  vorstehenden  Ausführungen 
eine  notwendige  Ergänzung,  insofern  die  letzteren  besagen,  dafs  eine^ 
Zunahme  oder  Abnahme  der  Ausbreitung  des  psychophysisohen  Prozesses 
und  eine  Steigerung,  bezw.  Verringerung  der  Stärke,  welche  derselbe 
in  den  verschiedenen  Teilen  seiner  Ausbreitung  besitzt,  als  Veränderungen 
von  gleicher  Bichtung  anzusehen  sind. 

Man  ist  vielfach  geneigt  gewesen,  als  das  physische  Korrelat  der- 
jenigen Eigentümlichkeit  unserer  Gesichtsempfindungen,  welche  in  dem 
Ausgedehnt-  oder  Ausgebreitetsein  der  Farbe  besteht,  einfach  die  ob- 
jektive Ausbreitung  und  räumliche  Anordnung  der  den  Farbenempfin- 
dungen zu  Grunde  liegenden  Nervenerregungen  anzusehen.  Hierzu  ist 
erstens  zu  bemerken,  dafs  eine  solche  Auffassung  erst  dann  als  haltbar 
angesehen  werden  könnte,  wenn  es  gewifs  wäre,  dafs  auch  in  allen 
übrigen  Sinnesgebieten,  deren  Nervenerregungen  ja  unzweifelhaft  ebenso 
wie  diejenigen  des  Gesichtssinnes  mit  einer  gewissen  Ausdehnung  und 
raumlichen  Anordnung  im  Gehirne  stattfinden,  die  Empfindungsqualitäten 
als  ausgedehnt  empfunden  werden.  Femer  ist  ja  doch  nicht  sozusagen 
nur  ein  durch  die  erregten  Himmassen  gelegter  flächenhafter  Querschnitt 
psychophysisch  wirksam,  sondern  ein  psychophysischer  Prozefs,  der  sich 
nach  allen  drei  Dimensionen  des  Baumes  erstreckt,  liegt  unserer  Em- 
pfindung zu  Grunde.  Wenn  also  die  räumlichen  Eigenschaften  und 
Verhältnisse  der  psychophysischen  Prozesse  sich  wirklich  sozusagen 
•bne  weiteres  in  die  räumlichen  Eigenschaften  und  Verhältnisse  unserer 


12  G.R  Müller. 

Empfindungen  übersetzten,  so  müTsten  die  Farbenqualitäten  und  sonstige 
sinnliche  Qualitäten  nicht  blofs  mit  einer  gewissen  Ausdehnung,  sondern 
gleichzeitig   noch   mit   einer   Erstreckung  in  die  dritte  Dimension ,   mit 
einer  gewissen  Dicke  empfunden  werden.    Endlich  erhebt  sich  noch  die 
Frage,  wie  man  sich  vom  Standpunkte  der  hier  bekämpften  Ansicht  aus 
damit  auseinandersetzen  wolle,   daTs   unsere  Wahmehmungsbilder  keine 
Diskontinuitäten  erkennen  lassen,  welche  der  Zusammensetzung  der  psycho- 
physisch  wirksamen  erregten  Massen  aus  diskreten  Teilchen,  der  Trennung 
derselben  durch  Bindegewebe  und  Blutgefäfse,  der  Scheidung  der  beiden 
Sehsphären   des  Grofshirns   durch  die  mediane  Himspalte  u.  dergl.  m. 
entsprechen.    Uns   scheint   es   ganz   unmöglich,   zur   Zeit  eine    psycho- 
physische  Deckung   für   das   räumliche  Element  unserer  Empfindungen 
zu  gewinnen.    Und  es  erscheint  aussichtslos,   an   dieses   Grundproblem 
der  räumlichen  Wahrnehmung  heranzugehen,  bevor  die  psychophysische 
Forschung  über  andere,    einfachere  Probleme  sichere  Auskunft,  auf  der 
man    fufsen   kann,  gebracht   und    auch   das   psychologische    Denken   in 
mancherlei  Hinsicht  noch  weitere  Fortschritte  gemacht  hat.    Vielleicht 
sind  überhaupt  unsere  Erkenntnismittel  von  der  Art,   dafs   wir  niemals 
dazu   kommen   können,   solche  Anschauungen   von  der  Materie  zu  ent- 
wickeln, welche  .uns   erlauben,  für  das  räumliche  Element  unserer  Em- 
pfindungen in  einleuchtender  Weise  das  physische  Korrelat  anzugeben. 
Es   kann   aber    auch    sein,    dafs    hier    Schwierigkeiten    ganz    anderen 
Ursprunges  vorliegen. 

Hinsichtlich  der  Lokalzeichentheorie  Lotzbs  mag  hier  beiläufig 
erinnert  werden,  dafs  sie  ganz  wesentlich  auf  der  spiritualistischen 
Voraussetzung  beruht,  dafs  die  Vorstellungsassoziation  aus  einer  Eigen- 
tümlichkeit der  Seele  entspringe  und  nicht  auf  eine  physiologische  Asso- 
ziation rückführbar  sei.  Jetzt,  wo  wir  in  dieser  Beziehung  besser 
unterrichtet  und  genötigt  sind,  den  psychischen  Assoziationen  und 
Reproduktionen  physiologische  Assoziationen  und  Reproduktionen  unter- 
zulegen, haben  wir  keinen  Grund,  eventuell  vor  der  Annahme  zurück- 
zuschrecken, dafs  zwei  ganz  gleiche  Empfindungen,  welche  durch  Reizung 
zweier  verschiedener  Lokalitäten  des  Sinnesorganes  hervorgerufen 
werden,  trotz  ihrer  völligen  Gleichheit  verschieden  lokalisiert  werden 
können,  d.  h.  verschiedene  zu  ihrer  Lokalisierung  dienliche  Vorstellungen 
reproduzieren  können.  Nach  unseren  gegenwärtigen  Anschauungen 
hängen  die  Vorstellungen,  welche  eine  Empfindung  reproduziert,  von 
den  physiologischen  Assoziationen  ab,  welche  der  ihr  zu  Grunde  liegende 
Nervenprozefs  eingeht.  Und  ein  luid  derselbe  sensorische  Nervenprozefs 
kann  in  zwei  oder  mehr  Fällen,  in  denen  er  von  verschiedenen  Stellen 
des  Sinnesorganes  aus  hervorgerufen  wird,  sich  mit  ganz  verschiedenen, 
gleichzeitig  oder  unmittelbar  nach  ihm  erweckten,  Nervenerregungen 
assoziieren,  so  dafs  er  späterhin  je  nach  der  Lokalität  der  Reizungsstelle 
verschiedene  zur  Lokalisierung  der  ihm  entsprechenden  Empfindung 
dienliche  Vorstellungen  reproduzieren  kann.  Eine  Erregung,  welche  von 
einem  anderen  Orte  des  Sinnesorganes  aus  hervorgerufen  wird  als  eine 
zweite  Erregung  von  gleicher  Bescha£Penheit,  ist  eben  physiologisch 
etwas   anderes,   pflanzt    sich   auf  anderen  Bahnen  fort  und  kann  andere 


Zur  Psychophysik  der  GesichUteynp findungen.  13 

Assoziationsbahnen  beschreiten,  als  jene  zweite  Erregung.  Ebenso  ist 
der  Fall,  wo  eine  zusammengesetzte  Erregung  aus  einer  links  erweckten 
schwächeren  und  rechts  erweckten  stärkeren  Erregung  (z.  B  Gehörs- 
erregung) besteht,  physiologisch  sehr  wesentlich  von  dem  Falle  ver- 
schieden, wo  die  linke  Erregung  die  stärkere  und  die  rechte  Erregung 
die  schwächere  ist.  Von  dem  hier  angedeuteten  Standpunkte  aus  erscheint 
z.  B.  für  die  Erklärung  unserer  (allerdings  nur  mäfsig  entwickelten) 
Fähigkeit,  eine  Tonquelle  auf  Grund  der  durch  sie  erweckten  Gehörs- 
eindrücke richtig  nach  rechts  oder  links  u.  s.  w.  zu  lokalisieren,  nicht 
die  Annahme  erforderlich,  dafs  sich  die  durch  das  rechte  Ohr  und  die 
durch  das  linke  Ohr  vermittelten  Gehörseindrücke  durch  irgend  eine 
von  der  Lokalität  des  erregten  Ohres  abhängige  Modifikation  ihrer  Be- 
schaffenheit, durch  ein  sogenanntes  Lokalzeiohen  oder  lokales  Moment 
voneina,nder  unterschieden.^  Diese  Eindrücke  können  (gleichen  Beiz 
und  gleiche  Erregbarkelt  vorausgesetzt)  einander  völlig  gleich  sein. 
Für  die  Lokalisation  der  Schallquelle  genügt  es,  dafs  die  Nervenprozesse, 
welche  den  Schallempfindungen  zu  Grunde  liegen,  je  nach  der  Lage  der 
Schallquelle  (je  nach  dem  Intensitätsverhältnisse,  das  zwischen  den  Er- 
regungen beider  Gehörsorgane  besteht)  verschiedene  andere  Nervenprozesse 
reproduzieren,  deren  psychisches  Korrelat  in  den  die  richtige  Lokalisation 
der  Schallquelle  ausmachenden  Vorstellungen  besteht.  Diese  letzteren 
Vorstellungen  müssen  freilich,  wenigstens  zum  Teile,  eine  gewisse  Ver- 
schiedenheit besitzen. 

§4.  Einfache  und  zusammengesetzte    psychophysische 

.  Prozesse. 

Die  psycbophysischen  Prozesse  sind  entweder  einfache 
oder  Mischprozesse.  Ein  einfacher  psychophysischer 
Prozefs  ist  ein  solcher,  den  die  psychophysische  Betrachtung 
nicht  genötigt  ist,  in  mehrere  Teilvorgänge  zu  zerlegen,  der 
also  entweder  wirklich  einfacher  Natur  ist  oder  nur  aus  solchen 
Teilvorgängen  besteht,  welche  als  psychophysische  Prozesse 
in  unserer  Erfahrung  niemals  voneinander  getrennt  vorkommen, 
ja  sogar  auch  niemals  in  anderen  Intensitätsverhältnissen  mit- 
einander  vermischt  vorkommen.    Hingegen  bezeichnen  wir  einen 


*  Ob  diese  Annahme  durch  anderweite  (dem  Gebiete  der  allgemeinen 
Physiologie  angehörende)  Gesichtspunkte  erfordert  wird,  soll  hier  dahin- 
gestellt bleiben.  Macht  man  die  Annahme,  dafs  die  Lokalisation  der 
Schallquellen  im  wesentlichen  auf  den  Tastempfindungen  der  beiden 
Trommelfelle  beruhe,  so  gilt  natürlich  gleichfalls  der  Satz,  dafs  diese 
Lokal] sation  an  und  für  sich  keinen  genügenden  Grund  für  die  Behaup- 
timg hergiebt,  dafs  die  Trommelfellempfindungen  des  rechten  und  des 
linken  Ohres  sich  durch  ein  besonderes  lokales  Moment  voneinander 
unterschieden. 


14  (?.  E-  MüUer. 

psychophysischen  Prozefs  als  einen  zusammengesetzten 
oder  Mischprozefs,  wenn  er  aus  zwei  oder  mehr  Vorgängen 
besteht,  welche  als  psyohophysische  Prozesse  auch  voneinander 
getrennt  oder  wenigstens  in  wechselnden  Intensitätsverhältnissen 
miteinander  vermischt  in  unserer  Erfahrung  vorkommen. 

Eine  Empfindung,  welcher  ein  einfacher  psychophysischer 
Prozefs  entspricht,  soll  eine  reine  Empfindung  oder  Grund- 
empfindung heifsen,  eine  solche  hingegen,  welcher  ein 
psychophysischer  Mischprozefs  zu  Grunde  liegt,  soll  als  eine 
unreine  Empfindung  oder  Mischempfindung  bezeichnet 
werden.  Es  ist  wohl  zu  beachten,  dafs  eine  Mischempfindung, 
ebenso  wie  eine  reine  Empfindung,  eine  einfache  Empfindung 
ist,  die  nicht  als  ein  Komplex  mehrerer  Empfindungen  oder  als 
eine  aus  mehreren  Teilempfinduneen  zusammengesetzte  Em- 
pfiBdnng  abgesehen  werden  darf. 

Angenommen  z.B.,  es  käme  in  unserer  Erfahrung  diejenige 
Empfindung  vor,  welcher  ausschliefslich  eine  Weifserregung 
(im  Sinne  von  Hebings  Theorie)  ohne  jede  Beimischung  einer 
anderen  Erregung  entspricht,  so  würden  wir  diese  Empfindung 
als  eine  Grundempfindung  und  den  ihr  zu  Grunde  liegenden 
psychophysischen  Prozefs  als  einen  einfachen  bezeichnen,  ohne 
durch  diese  Bezeichnungen  die  Möglichkeit  ganz  auszuschliefsen, 
dafs  die  Weifserregung  thatsächlich  ein  ziemlich  komplizierter 
Vorgang  sei.  Wir  würden  mit  diesen  Bezeichnungen  nur  be- 
haupten, dafs  entweder  die  Weifserregung  wirklich  einfacher 
Art  sei  oder  wenigstens  in  unserer  Erfahrung  keine  Empfin- 
dung vorkomme,  deren  psychophysischen  Prozefs  wir  uns  als 
einen  solchen  vorzustellen  hätten,  der  in  seiner  Ganzheit  oder 
einem  Teile  nach  aus  einem  Teilvorgange  der  Weifserregung 
bestehe  oder  aus  ganz  denselben  Teilvorgängen,  wie  die  Weifs- 
erregung, nur  mit  anderen  Intensitätsverhältnissen  derselben 
zu  einander,  zusammengesetzt  sei. 

Hingegen  würden  wir  eine  Empfindung,  welcher  ein  aus 
Weifserregung  und  Blauerregung  zusammengesetzter  psycho- 
physischer Vorgang  entspricht,  als  eine  Mischempfindung  (aber 
nicht  als  eine  zusammengesetzte  Empfindung)  bezeichnen,  weil 
dieser  psyohophysische  Prozefs  aus  Teilvorgängen  besteht,  die 
als  psyohophysische  Prozesse  auch  voneinander  getrennt  oder 
wenigstens  in  den  verschiedensten  Intensitätsverhältnissen  mit- 
einander vermischt  in  unserer  Erfahrung  vorkommen. 


Zur  Psychophysik  der  Gesichtsempfindungen,  15 

In  Kürze  läuft  also  die  üntersclieiduBg  von  einfachen  und 
zusammengesetzten  psychophysisolien  Prozessen,  von  G-rund- 
empfindungen  und  Mischempfindungen,  darauf  hinaus,  dafs  von 
den  psychophysischen  Prozessen  der  ersteren  Benennungsweise 
zur  Zeit  nicht  nachweisbar  ist,  dafs  sie  zusammengesetzter 
Natur  sind,  während  wir  gute  Gründe  haben,  diejenigen  der 
zweiten  Benennungsweise  als  zusammengesetzte  (aus  zwei  oder 
mehr  Partialprozessen  bestehende)  Vorgänge  anzusehen.  Es 
verhält  sich  mithin  mit  dieser  Unterscheidung  ganz  ähnlich, 
wie  mit  der  Unterscheidung  zwischen  chemischen  Elementen 
und  chemischen  Verbindungen.  Denn  auch  die  chemischen 
Momente  sind  nicht  Stoffe,  deren  einfache  Natur  wir  mit 
Sicherheit  behaupten  können,  sondern  nur  Stoffe,  von  denen 
zur  Zeit  nicht  nachgewiesen  ist,  dafs  sie  zusammengesetzter 
Art  sind.  Wie  femer  trotz  dieser  Relativität  des  Begriffes 
chemisches  Element  die  Unterscheidung  zwischen  chemischen 
Elementen  und  chemischen  Verbindungen  für  die  Chemie  not- 
wendig ist,  so  ist  auch  die  Unterscheidung  von  einfachen  und 
zusammengesetzten  psychophysischen  Prozessen,  von  Grund- 
empfindungen und  Mischempfindungen,  für  die  Psychophysik 
erforderUch,  obwohl  wir  nicht  behaupten  können,  dafs  die  den 
Grundempfindungen  entsprechenden  psychophysischen  Vor- 
gänge auch  für  eine  über  unser  jetziges  Wissen  hiaausgehende, 
letzte  Betrachtung  als  einfache  psychophysische  Prozesse  an- 
zusehen seien. 

§  5.  Das  fünfte   psychophysische   Axiom. 

Hinsichtlich  der  Mischempfindungen  erhebt  sich  nun  die 
wichtige  Frage,  in  welcher  Weise  sich  die  Qualität  einer  Misch- 
empfindung nach  den  Qualitäten  und  Intensitäten  der  ihr  zu 
Grunde  liegenden  psychophysischen  Partialprozesse  bestimme. 
Auf  diese  Frage  antworten  die  folgenden  Darlegungen,  welche 
das  fünfte  Axiom  der  Psychophysik  enthalten. 

Es  seien  a  und  b  die  Intensitäten  der  beiden  qualitativ  ver- 
schiedenen, einfachen  psychophysischen  Partialprozesse,  welche 
einer  Mischempfindung  /»  zu  Grunde  liegen,  und  a  sei  die  reine 
Empfindung,  welche  der  Partialprozefs  von  der  Intensität  a 
isoliert  genommen  hervorrufen  würde,  und  ft  sei  die  reine  Em- 
pfindung, welche  der  Partialprozefs  von  der  Intensität  b  einzeln 


16  G.  E.  Müüer. 

genommen  erwecken  würde.  Alsdann  ist  die  Misohempfindnng  fi 
sowohl  jener  Empfindung  a,  als  anch  dieser  Empfindung  ß  in 
gewissem  Grade  ähnlich,  und  zwar  bestimmt  sich  der  Qrad 
der  Ähnlichkeit,  welche  f$  zn  a  und  zu  ß  besitzt,  in  folgender 
Weise  nach  den  Intensitäten  und  Qualitäten  der  beiden  psycho- 
physischen  Partialprozesse. 

Der  Grad  der  Ähnlichkeit,  welche  die  Mischempfindung  fA 
zur  Empfindung  a  oder  ß  besitzt,  möge  kurz  mit  Äfjtaj  bezw.  Af/^ß 
bezeichnet  werden.  Fingiert  man  nun  den  Fall,  dals  die  Em- 
pfindungen a  und  ß  ohne  jede  in  Betracht  kommende  Ähnlich- 
keit zu  einander  seien,  so  bieten  sich  als  die  einfachsten  und 
plausibelsten  folgende  zwei  Formeln  dar: 

^"«-d^» »> 

^""-^i 2>- 

Setzt  man  b=  0,  so  geht  die  Ähnlichkeit  von  /»  zu  a  in  völlige 
Gleichheit  über,  indem  Afia  =  1  wird.  Das  Entsprechende 
gilt   für    den  Fall,    wo  a  =  ö  ist.      Ist  a  =  6,  so  ftUt  Afjta  = 

Aaß  =  ^  aus. 

Sind  jedoch  die  beiden  Grundempfindungen  a  und  ß  ein- 
ander in  merkbarem  Grade  ähnlich,  so  bedarf  das  Vorstehende 
einer  wesentlichen  Ergänzung.  Der  Grad  der  Ähnlichkeit  der 
Empfindung  a  zur  Empfindung  ß  soll  dem  obigen  entsprechend 
durch  Aaß  dargestellt  werden,  wo  Aaß  ein  nur  von  den  Quali- 
täten der  beiden  Empfindungen  a  und  ß,  nicht  aber  von  den 
Intensitäten  derselben  abhängiger,  echter  Bruch  ist,  welcher 
der  Einheit  um  so  näher  steht,  je  ähnlicher  a  dem  ß  ist.  Be- 
zeichnen wir  femer  den  Grad  der  Ähnlichkeit  von  ß  zaa  mit  Aßa^ 
so  gilt  zunächst  ofi^enbar  die  Gleichung: 

Aaß  =  Aßa 3). 

Der  Grad  der  Ähnlichkeit  ferner,  in  welcher  die  Mischempfindung 
ju,  der  jene  beiden  den  Grundempfiindungen  a  und  ß  ent- 
sprechenden Partialprozesse  von  den  Intensitäten  a  und  b  ge- 
meinschaftlich zu  Grunde  liegen,  zu  der  Empfindung  er  steht, 
wird  durch  die  Gleichung  dargestellt: 


Zur  Fsychaphyaik  der  Gesichtsempfindungen.  17 

a-\-Aßa.b 
^^"=       a  +  b      *^- 

Ebenso  gilt  für  die  Ähnlichkeit  von  /a  zu  ß  die  Grleichung: 

.            b  +  Aaß .  a 
^^^=       a  +  b      ^^- 

Hinsichtlich  der  GrröCse  Aaß  oder  Aßa,  welche  als  der  Ähnlich- 
keitskoeffizient von  a  in  Beziehung  auf/J,  bezw.  von  ß  in 
Beziehung  auf  a,  bezeichnet  werden  kann,  braucht  nicht  erst 
noch  bemerkt  zu  werden,  dafs  sie  stets  nur  positive  Werte  be- 
sitzen kann.  Negative  Werte  eines  Ähnlichkeitskoeffizienten 
sind  sinnlos. 

Die  Notwendigkeit,  von  den  Formeln  1)  und  2)  zu  den 
Formeln  4)  und  5)  überzugehen,  ergiebt  sich  ohne  weiteres 
daraus,  dafs  sich  der  Wert  von  Afia  der  Einheit  um  so  mehr 
nahem  mufs,  je  ähnlicher  ß  dem  a  wird,  je  mehr  sich  also 
Aßa  der  Einheit  nähert.  Dieses  Verhalten  findet  seinen  Aus- 
druck in  Gleichung  4),  nicht  aber  in  Gleichung  1).  Es  kann 
überhaupt  als  das  Richtigere  erscheinen,  sogleich  mit  der  Auf- 
stellung obiger  Gleichungen  4)  und  5)  zu  beginnen  und 
Gleichungen  1)  und  2)  als  diejenigen  darzustellen,  die  sich  für 
den  Grenzfall  völliger  Disparatheit  von  a  und  /*,  wo  Aßa  ==  0 
ist,  ergeben. 

Die  vorstehenden  Betrachtungen  lassen  sich  nun  leicht  für 
den  Fall  verallgemeinem,  dafs  der  Mischempfindung  (a  nicht 
blofs  2,  sondern  3  oder  mehr  psychophysische  Partialprozesse 
von  den  Intensitäten  a,  &,  c  .  .  .,  denen  isoliert  genommen  die 
reinen  Empfindungen  a,  /9,  /  .  .  .  entsprechen,  zu  Grunde  liegen. 
In  diesem  Falle  gelten  die  Gleichungen: 

.            a  -\-  Aßa  .  b  +  Aya  .  c  . . .  ^., 

^A*«  = a  +  b  +  c... ^) 

,  b  +  Aceß  .  a -\- Äyß  .  c  .  .  .  _ 

^'"^^ — r+b  +  c... — '^ 

u.  s.  w. 

Die  vorstehenden  Gleichungen  6)  und  7)  samt  den  ent- 
sprechenden Gleichungen  für  A/jty,  Agiä  u.  s.  w.  können  als  ein 
kurzer  Ausdruck  des  fünften  psychophysischen  Axioms 
angesehen  werden.  Sie  stellen  uns  die  Qualität  der  Misch- 
empfindung fjt   in  ihrer  Abhängigkeit    von    der    Beschafi*enheit 

Zeitaehrift  für  Psychologie  X.  2 


1 8  6?.  E,  Müller, 

und  den  Inten sitäts Verhältnissen  der  ihr  zu  Grunde  liegenden 
psychophysischen  Partialprozesse  dar. 

Natürlich  kann  eine  Mischempfindung  fi  einer  reinen  Em- 
pfindung a  auch  dann  ähnlich  sein,  wenn  keiner  der  ihr  zu 
Grunde  liegenden  Partialprozesse  dem  psychophysischen  Prozesse, 
welcher  der  Empfindung  a  entspricht,  qualitativ  gleich  ist, 
sondern  einer  oder  mehrere  jener  Partialprozesse  diesem  letzteren 
Prozesse  nur  ähnlich  sind.  Auch  diesem  Falle  wird  obige 
Gleichung  6)  gerecht,  indem  man  alsdann  in  derselben  die 
Gröfse  a  gleich  Null  zu  setzen  hat. 

Für  den  Fall,  dafs  die  Empfindungen  a,  fi,  y  .  .  .  als  zu  ein- 
ander disparat  angesehen  werden  können,  oder  wenigstens  a 
als  disparat  zm  ß,y^d  , , ,  angesehen  werden  darf,^  geht  Gleichung 
6)  über  in  die  einfachere  Gleichung: 

^ficc  =  — r-^— i 8). 

Entsprechendes  gilt  von  den  Gleichungen  für  Äfiß^  AfAy  u.  s.  w. 

Das  auf  der  rechten  Seite  vorstehender  Gleichung  8)  dar- 
gestellte Verhältnis,  in  welchem  die  Intensität  eines  psycho- 
physischen Partialprozesses  zar  Summe  der  Intensitäten  aller 
vorhandenen  psychophysischen  Teilvorgänge  steht,  soll  kurz 
als  das  Gewicht  dieses  Partialprozesses  bezeichnet  werden. 

Bezeichnen  wir  mit  dA^a  die  Zunahme  von  Äfia^  die  einem 
bestimmten  Zuwüchse  da  von  a  entspricht,  so  ergiebt  sich  aus 
Gleichung  6),  wenn  wir  da  als  sehr  klein  ansetzen, 

dAfha 6(1  —  AficL)  +  c  (1  —  Aya)  ...  ^. 

~W  ~  (a  +  ft  +  c  .  .  .)«  ^' 

Das  Entsprechende  findet  sich  für      ,{*  ,      ,       u.  s.  w. 


*  Dafs  der  Fall,  wo  einer  Mischempfindung  völlig  disparate  psycho- 
physische  Partialprozesse  zu  Grunde  liegen,  in  unserer  Erfahrung  wirk- 
lich vorkäme,  wird  hier  nicht  im  mindesten  behauptet.  Dieser  Fall  ist 
hier  nur  deshalb  berücksichtigt,  weil  die  Ähnlichkeit  zwischen  zwei 
einer  Mischempfindung  zu  Gf^runde  liegenden  Partialprozessen  (und  mithin 
auch  zwischen  den  diesen  Partialprozessen  entsprechenden  zwei  G-rund- 
empfindungen)  in  manchen  Fällen  so  gering  ist,  dafs  sie  bei  verschiedene^;^ 
Betrachtungen  ohne  Nachteil  völlig  vernachlässigt  werden  kann  und  von 
obigen  Gleichungen  1),  2)  und  8)  getrost  Gebrauch  gemacht  werden  darf. 


Zur  Psychophysik  dtr  Gesichtsempfindungen.  19 

Ans  dieser  Gleichung  9)  ergiebt  sich,  abgesehen  von  anderen, 
leicht  ersichtlichen  Konsequenzen,  dafs  die  Ähnlichkeit  einer 
Mischempfindung  /i«  zu  der  Grundempfindung  a,  welche  einer 
der  ihr  zu  Grunde  liegenden  psychophysischen  Partialprozesse 
einzeln  genommen  hervorrufen  würde,  bei  einer  Erhöhung 
dieses  Partialprozesses  eine  Zunahme  erfahrt,  die  erstens  unter 
sonst  gleichen  Verhältnissen  um  so  geringer  ist,  je  intensiver 
dieser  Partialprozefs  bereits  ist,  und  die  zweitens  unter  sonst 
gleichen  umständen  um  so  geringer  ist,  je  ähnlicher  die  reinen 
Empfindungen  /Ä,  y  .  .  .,  welche  den  übrigen  vorhandenen  Partial- 
prozessen  entsprechen,  der  Grundempfindung  a  sind,  je  kleiner 
demgemäfs  die  Werte  der  Differenzen  (1  —  Aßa\  (l  —  Aya) 
u.  s.  w.  sind.  Aus  dem  zweiten  Teile  dieses  Satzes  ergiebt  sich 
z.  B.  folgendes.  Es  sei  eine  Weifserregung  von  der  Intensität 
w  und  aufserdem  eine  einfache  chromatische  Erregung  von  der 
Intensität  /  gegeben,  welcher  die  reine  Farbenempfindung  yi 
entspricht.  Der  Ähnlichkeitskoefiäzient  dieser  Farbenempfindung 
9)  in  Beziehung  auf  die  reine  Weüsempfindung  möge  kurz 
durch  A^  dargestellt  werden.  Alsdann  ist  die  Weifslichkeit 
der  Mischempfindung,    welche  jenen    beiden    psychophysischen 

Partialprozessen  entspricht,  nach  Gleichung  4)  gleich  r^r— 

zu  setzen,  und  der  Zuwuchs,  den  die  Weifslichkeit  dieser  Misch- 
empfindung bei  einer  Steigerung  von  w  um  dw  erfährt,  ist  nach 

Gleichung  9)  gleich  -^. —  ,   ^A — .     Da  nun  Ag>  offenbar  einen 

höheren  Wert  besitzt,  wenn  die  vorhandene  chromatische  Er- 
regung eine  Gelberregung  und  mithin  die  Empfindung  9  eine 
reine  Gelbempfindung  ist,  als  dann,  wenn  jene  Erregung  eine 
Blauerregung  und  mithin  9  eine  reine  Blauempfinduug  ist,  so 
folgt,  dafs  die  Weifslichkeit  der  Mischempfindung  bei  einer 
und  derselben  Erhöhung  der  gegebenen  Weifserregung  einen 
gröfseren  Zuwuchs  erfährt,  wenn  die  neben  der  Weifserregung 
noch  gegebene  chromatische  Erregung  von  der  Intensität  / 
eine  Blauerregung  ist,  als  dann,  wenn  dieselbe  eine  Gelb- 
erregung ist. 

Der  Aufstellung  der  obigen  Formeln  1)  bis  9)  liegt  selbst- 
verständlich (ebenso  wie  den  entsprechenden  Ausführungen  von 
Hbrikg)  nicht  die  Voraussetzung  zu  Grunde,  dafs  wir  die 
Ähnlichkeiten  von  Empfindungen  messen  könnten.      Wir  sind 

2* 


20  0,K  MüOer. 

vielmehr  nur  in  der  Lage,  in  gegebenen  Fällen  die  Merkbarkeit 
oder  ünmerkbarkeit,  das  Gröfter-  oder  Geringersein  von 
Empfindnngsähnlichkeiten  oder  Empfindongsonterschieden  be- 
haupten zu  können,  sowie  über  die  Richtung  von  Empfindnngs- 
unterschieden  urteilen  zu  können.  Zur  Erldarung  oder  Er- 
örterung von  Resultaten,  die  mittelst  dieser  unserer,  durchaus 
nicht  nach  jeder  Richtung  hin  scharf  entwickelten,  Fähigkeit 
erhalten  werden,  sollen  die  obigen  Formehi  (nebst  anderweiten 
Betrachtungen)  dienen.  Die  betreffenden  Thatsachen  können 
infolge  ihres  allgemeineren,  nicht  numerisch  bestimmten 
Charakters  auch  noch  auf  Grund  anderer  Formeln  erklärt  oder 
erörtert  werden.  Nur  sind  eben  die  obigen  Gleichungen  von 
allen  in  Betracht  kommenden  Formeln  weitaus  die  einfachsten 
und  deshalb  zu  bevorzugen.  Man  kann  natürlich  versuchen, 
den  Inhalt  der  obigen  Formeln,  soweit  er  wirklich  in  unserer 
Erfahrung  zu  Tage  tritt,  in  blofsen  Worten  auszudrücken.  In- 
dessen verliert  man  bei  einem  solchen  Versuche  durchaus  die 
Kürze,  Präzision  und  Durchsichtigkeit,  welche  ein  Vorteil  der 
mathematischen  Darstellungsweise  ist.  Man  versuche  z.  B.  nur 
einmal,  alle  diejenigen  gültigen  Sätze,  welche  in  Gleichung  9) 
enthalten  sind,  blofs  in  Worten  auszudrücken.  Nur  dann,  wenn 
es  sich  zeigen  sollte,  dafs  die  obigen  Formeln  auch  bei  einem 
ernsthafteren  Denken  auf  Mifsverständnis  oder  ungenügendes 
Verständnis  stofsen,  wird  es  angezeigt  sein,  zu  dem  umständ- 
lichen Geschäfte  überzugehen,  den  gesamten  wesentlichen  Inhalt 

derselben  nur  in  Worten  auszudrücken. 

Wenn  wir  den  obigen  Formeln  entsprechend  z.  B.  die  Weifslichkeit 
einer  schwarzweifsen  Mischempfindung  für  den  Fall,  dafs  die  Ähnlich- 
keit  der   reinen  Schwarz empfindung   zur    reinen  Weiisempfindung  ganz 

V) 

vernachlässigt  werden  kann,  gleich  — -r—  setzen,  wo  to  und  s  die  Intens!- 

täten  der  Weifs-  und  Schwarzerregung  darstellen,  so  kann  man  vielleicht 
fragen,    ob    es    nicht    ebenso    einfach    und    ebenso    plausibel   sei,     die 

w 

Weifslichkeit  einer  solchen  Empfindung  gleich  —  zu  setzen.     Hierzu  ist 

folgendes    zu    bemerken.      Setzt    man    die    Weifslichkeit    der    schwärz- 
te 
weifsen    Mischempfindung    gleich       ,    so    erhält  man  für  den  Fall,  wo 

8=0  wird  und  die  Misch  empfindung  in  die  reine  Weifsempfindung  über- 
geht, den  Weifslichkeitswert  od.  Geht  man  hingegen  von  unseren 
Formeln  aus,  so  erhält  man  in  diesem  Falle  den  Wert  l.  Von  vorn- 
herein kann  es  rein  als  Sache  der  Willkür  erscheinen,  ob  man  sich  für 
diese  oder  jene  Behandlungs weise  entscheide.    Ziehen  wir  indessen  die 


Zur  Psychophysik  der  Gesiehtsempfindungen,  21 

Erfahrung  in  Betracht,  so  kann  kein  Zweifel  obwalten,  wie  wir  uns  zu 
entscheiden   haben.     Man  setze  nämlich  die  WeiTslichkeit  der.  schwarz- 

weifsen  Misch empfindung  gleich  —  und  denke  sich  nun  8  bedeutend  ver- 

ändert,  z.  B.  verzehnfacht  oder  auf  ein  Zehntel  verringert,  so  mufs 
dieser  Änderung  von  8  eine  sehr  deutliche  Änderung  der  Weifslichkeit 
der  Mischempfindung  entsprechen,  welche  ihrem  relativen  Werte  nach 
ganz  unabhängig  davon  ist,  wie  gprofs  der  Wert  von  w  ist,  und  welche  ihrem 
absoluten  Werte  nach  um  so  gröfser  ist,  je  beträchtlicher  derWert  von  w  ist, 
welche  z.  B.  in  dem  Falle, wo  u;  tausendmal  gröfserist,  als«,  relativ  genommen 
gleich  grofs  und  absolut  genommen  sehr  viel  gröfser  ist,  als  in  dem 
Falle,  wo  w  gleich  grofs  gegeben  ist,  wie  8,  Es  ist  leicht  zu  erkennen, 
dafs  diese  Konsequenz  der  Erfahrung  durchaus  widerspricht.  Unsere  Er- 
fahrungen auf  diesem  Gebiete,  so  gprob  sie  auch  sind,  berechtigen  uns 
vollkommen  zu  der  Behauptung,  daüs  die  Qualität  einer  durch  zwei 
psychophysische  Partialprozesse  bewirkten  Mischempfindung  und  die 
Ähnlichkeit,  welche  die  letztere  zu  der  dem  einen  Partialprozesse  ent- 
sprechenden Grundempfindung  besitzt,  durch  eine  bestimmte  Verstärkung 
oder  Schwächung  des  anderen  Partialprozesses  eine  um  so  geringere 
Änderung  erfährt,  je  intensiver  jener  erstere  Partialprozefs  in  Vergleich 
zu  diesem  letzteren,  einer  Änderung  seiner  Stärke  zu  unterwerfenden 
Partialprozesse  ist.    Diesem  Verhalten  wird  man  gerecht,  wenn  man  die 

WeiÜBlichkeit    einer  schwarz  weifsen   Empfindung  gleich       .      setzt  und 

entsprechend  in  anderen  Fällen  verfährt,    nicht  aber  dann,    wenn  man 

w 
dieselbe  gleich  —  setzt.    Zu  einem  entsprechenden  Resultate  gelangt  man, 

wenn  man  davon  ausgeht,  dafs  bei  Bestimmung  der  Weifslichkeit  durch 

w 

das  Verhältnis  —  der  Zuwachs,  den  die  Weifslichkeit  bei  konstantem  s 

8  ' 

durch  eine  bestimmte  Erhöhung  von  w  erfährt,  ganz  unabhängig  von 
dem  bereits  vorhandenen  Werte  von  w  ausfällt.  — 

Aus  den  obigen  Ausführungen  ergiebt  sich,  dafs  eine  wahrgenommene 
qualitative  Ähnlichkeit  zweier  Empfindungen  zu  einander  sehr  ver- 
schiedenen Ursprunges  sein  kann.  Erstens  können  zwei  reine  Em- 
pfindungen  in  einer  für  uns  zur  Zeit  nicht  ableitbaren  Ähnlichkeit 
zu  einander  stehen  (wie  z.  B.  die  reine  Weifsempfindung  und  die  reine 
Gelbempfindung).  Zweitens  kann  eine  Mischempfindung  einer  reinen 
Empfindung  ähnlich  sein,  weil  der  dieser  letzteren  entsprechende  psycho- 
physische Prozefs  den  Partialprozessen,  welche  der  Mischempfindeng  zu 
Grunde  liegen,  mehr  oder  weniger  ähnlich  oder  gar  einem  derselben 
qualitativ  gleich  ist.  Drittens  können  zwei  Mischempfindungen  einander 
ähnlich  sein,  weil  einer  oder  mehrere  der  Partialprozesse,  welche  der 
einen  Empfindung  zu  Grunde  liegen,  qualitativ  gleich  oder  ähnlich  sind 
einem  oder  mehreren  der  Partialprozesse,  auf  denen  die  andere  Empfindung 
beruht.  Die  (einigermafsen  umständliche)  Aufstellung  der  Formeln  für  die 
verschiedenen  Fälle  von  gegenseitiger  Ähnlichkeit  zweier  Mischempfin- 
düngen  ist  zwar  schon  gegenwärtig  von  Interesse,  mufs  aber  der  Raum- 


22  G.  E.  Müller. 

m 

erspar nis  wegen  hier  ganz  unterlassen  werden  trotz  des  lebhaften  An- 
reizes, der  aus  ihrem  logischen  Interesse  und  dem  Umstände  entspringt, 
dafs  der  Ahnlichkeitskalkül,  soweit  von  einem  solchen  geredet  werden 
darf,  bei  Entwickelung  der  Formeln  fttr  die  gegenseitigen  Ähnlichkeiten 
von  Mischempfindungen  in  der  That  teilweise  seine  ganz  eigenen 
Wege  geht. 

Es  wird  späterhin  noch  näher  die  Rede  darauf  kommen,  dafs  wir 
es  im  Grebiete  des  Gesichtssinnes  vielleicht  niemals  mit  ganz  reinen  Em- 
pfindungen, sondern  nur  mit  Mischempfindungen  zu  thun  haben,  die  aller- 
dings in  manchen  Fällen  den  reinen  Empfindungen  mehr  oder  weniger 
nahestehen.  Wir  halten  es  für  überflüssig,  auseinanderzusetzen,  inwiefern 
nun  trotzdem  die  obigen  Formeln  1)  bis  9),  die  sich  fast  sämtlich  auf 
die  Ähnlichkeit  einer  Mischempfindung  zu  einer  reinen  Empfindung  be- 
ziehen, auch  für  das  Gebiet  des  Gesichtssinnes  ihren  Wert  besitzen.  — 

Unsere  obigen  Entwickelungen  knüpfen  innerlich  durchaus  [an  die 

Formeln  an,    welche  Hering   {Zur  Lehre  vom  LicJUsinne,    S.  57  ff.)  behufs 

Darstellung  der  Verwandtschaftsverhältnisse    der  Gesichtsempfindungen 

aufgestellt  hat.     Hering  (a.  a.  O.  S.  61)   setzt  „die  sog.  Helligkeit  einer 

schwarzweifsen   Empfindung   oder   den  Grad    ihrer  Verwandtschaft  mit 

w 
dem  reinen  Weifs"  gleich        .     ,   wo  «?  „die  weifse  Partialempfindung'* 

und  8  „die  schwarze  Partialempfindung"^  bezeichnet.  Diese  Bestimmung 
der  Helligkeit  entspricht  unseren  obigen  Gleichungen  1)  und  2).  Nur 
ist  die  Definition  der  Gröfsen  w  und  8,  unter  denen  wir  einfach  die  Intensi- 
täten der  beiden  psychophysischen  Partialprozesse  verstehen  würden, 
bei  Hering  psychologisch  gehalten.^  Ebenso  entspricht  es  unserer  obigen 
Gleichung  8),  wenn  Hering  (a.  a.  0.  S.  116  f.)  die  Bläue  einer  blau- 
schwarzweifsen  Empfindung  durch  das  Verhältnis  ausdrückt,  „in  welchem 


^  Man  definiert  jene  Gröfsen  w  und  s  psychologisch  in  unanfecht- 
barer und  Mifs Verständnissen  nicht  ausgesetzter  Weise,  wenn  man 
darunter  die  Intensität  der  reinen  Weifs-,  bezw.  reinen  Schwarz- 
empfindung  versteht,  welche  die  vorhandene  Weifs-,  bezw.  Schwarz- 
erregung isoliert  genommen  hervorrufen  würde. 

Auch  der  Ausdruck  Gewicht  wird  von  Hering,  abweichend  von 
unserer  obigen  Definition  (S.  18),   mehr  in   einem  psychologischen  Sinne 

fenommen.     Während   wir  von  dem  Gewichte  eines    psychophysischen 
'artialprozesses    reden,    spricht    Hering    von    dem   Gewichte    der   ent- 
sprechenden Empfindung. 

Beiläufig  sei  hier  darauf  aufmerksam  gemacht,    dafs  der  in  §  2  an- 

feführte  und  von  uns  angefochtene  psychophysische  Satz  Herings  von 
en  Ausführungen  desselben  über  die  Abhängigkeit  der  Qualität  einer 
Mischempfindung  von  den  Qualitäten  und  Intensitäten  der  psycho- 
physischen Partialprozesse  scharf  zu  trennen  ist,  was  uns  in  der  Dar- 
stellung Herings  nicht  genügend  hervorzutreten  scheint.  Denn  jeuer 
Satz  bezieht  sich  nicht  auf  die  Qualität,  sondern  auf  die  Intensität  der 
Mischempfindungen,  insofern  er  in  Abrede  stellt,  dafs  eine  Misch - 
empfindung  ihre  Intensität  ändere,  wenn  die  ihr  zu  Grunde  liegenden 
psychophysischen  Partialprozesse  in  gleichem  Verhältnisse  verstärkt 
oder  geschwächt  werden.  Man  kann  die  Eichtigkeit  dieses  Satzes 
bestreiten,  während  man  jenen  anderen  Aufstellungen  Herings  im  wesent- 
lichen zustimmt. 


Zur  Psydwphysik  der  Geaichtsemp findungen,  23 

das  blaae  Glied  zur  Summe  aller  drei  Glieder  steht".    Hingegen  stimmt 

es  nicht  zu  unseren  obigen   Formeln,   wenn  Hering  (a.  a.  0.  S.  117)  die 

w  +  0,bb 
Helligkeit  einer  Farbe,  z.  B.  eines  £lau,  gleich  — -r — -r-r  setzt,  wo  b  „das 

der  Grundfarbe  entsprechende  Glied"  darstellt,  so  dafs  die  Helligkeit 
einer  reinen  Blauempfindung  (fttr  welche  tc  =  8  =  0  ist)  und  überhaupt 
jeder  reinen  Farbenempfindung  gleich  J  erhalten  wird.  Bekanntlich  hat 
Hering  selbst  späterhin  {Pflüg er 8  Arch.  40.  1887.  S.  19,  und  49.  1891. 
S.  568 ff.,  Wien,  Ber.  98.  1889.  III.  S.  71  f.)  die  Anschauung,  dafs  die 
Helligkeit  aller  reinen  Farbenempfindungen  gleich  J,  d.  h.  gleich  der 
Helligkeit  der  neutralen  Grauempfindung  zu  setzen  sei,  aufgegeben  und 
den  vier  farbigen  Grundempfindungen  verschiedene  Grade  der  Verwandt- 
schaft zur  reinen  Weifsempfindung  zugeschrieben.  In  welcher  Weise 
nun  aber  die  von  ihm  früher  für  die  Verwandtschaftsverhältnisse  der 
Gesichtsempfindungen  aufgestellten  Formeln  zu  modifizieren  seien,  um 
den  verschiedenen  Ahnlichkeitsgraden,  die  zwischen  den  reinen  Gesichts- 
empfindungen bestehen,  gerecht  zu  werden,  hat  er  bisher  nicht  an- 
gegeben. Im  obigen  ist  der  Versuch  gemacht,  diese  Lücke  auszufüllen.  — 
Hinsichtlich  der  spezifischen  Helligkeit  der  Farben  mag  hier 
folgendes   bemerkt   werden;    Es   sei   zunächst   eine  schwarzweifse  Em- 

w 
pfindung  gegeben,  deren  Helligkeit  gleich        ,      ist,  wo  w  und  s  die  früher 

(S.  20)  angegebene  Bedeutung  besitzen.  Jetzt  werde  noch  ein  chro- 
matischer Partialprozefs  von  der  Intensität  f  den  beiden  bereits  vor- 
handenen psychophysischen  Partialprozessen  hinzugefügt.  Der  Ähn- 
lichkeitskoeffizient der  diesem  chromatischen  Prozesse  entsprechenden 
reinen  Farben empfin düng  in  Beziehung  auf  die  reine  Weilsempfindung 
sei  Atf.    Dann   wird    die  Helligkeit   der  Mischempfindung   nach  Hinzu- 

^v  -{-  Ä  'f.  f 
fugung  der  chromatischen  Erregung  gleich    — ^ — -j—:.    zu     setzen    sein. 

Dieser    neue  Helligkeitswert  ist  gröfser,    gleich  grofs  oder  kleiner,    als 

IC 

der  frühere,  durch  —, — ;   bestimmte    Helligkeitswert,    je    nachdem   A'p 

w 
gröfser,  gleich  grofs  oder  kleiner  als        .       ist.      Hieraus    ergiebt   sich, 

dafs  durch  Hinzufügung  einer  chromatischen  Erregung  zu  einer  seh  war  z- 
weifsen  Erregung  die  Helligkeit  der  entsprechenden  Empfindung  erhöht 
oder  verringert  wird,  je  nachdem  die  Helligkeit  der  anfänglich  vor- 
handenen schwarzweifsen  Empfindung  geringer  oder  gröfser  ist,  als  eine 
bestimmte  Helligkeit,  die  hier  kurz  als  die  kritische  Helligkeit 
bezeichnet  werden  mag.  Besitzt  die  Helligkeit  der  schwarzweifsen 
Empfindung  diesen  kritischen  Wert,  so  wird  an  der  Helligkeit  der 
Empfindung  durch  das  Hinzukommen  der  chromatischen  Erregung  nichts 
geändert.  Der  kritische  Helligkeitswert  der  schwarzweifsen  Empfindung 
ist  von  der  Qualität  der  hinzuzufügenden  chromatischen  Erregung  ab- 
hängig, und  zwar  um  so  geringer,  je  kleiner  A<ff  ist,  je  weniger  ähnlich 
also  die  dieser  chromatischen  Erregvmg  entsprechende  reine  Farben- 
empfindung der  reinen  Weifsempfindung  ist.     Nimmt  also  die  Helligkeit 


24  O'  E.  Müller. 

in   der  Eeihe   der   reinen  Farbenempfindungen  von  Glied   zu   Glied  zu, 
wenn  wir  dieselben  in  der  Reihenfolge  Blau,  Grün,  Bot,  Gelb  anordnen, 
so  ist  zu   behaupten,    dafs   die  kritische  Helligkeit  der  schwarz weifsen 
iknpfindung   für  Blau  den  geringsten   und  für  Gelb  den  höchsten  Wert 
besitzt.    Wir  dürfen  also  nicht  sagen,  dafs  das  Hinzukommen  einer  Blau- 
erregung  zu  einer  schwarzweifsen  Erregung  unter  allen  Umständen  ver- 
dunkelnd wirke,  sondern  dies  ist  nur  dann  der  Fall,  wenn  der  Helligkeits- 
wert der   schwarzweifsen   Empfindung   oberhalb    eines  gewissen,   aller- 
dings sehr   niedrigen,   Helligkeitswertes  liegt.     Andererseits  dürfen  wir 
auch  nicht  sagen,   dafs   das  Hinzukommen   einer  Gelberregung  zu  einer 
schwarzweifsen  Erregung  unter  allen  umständen  aufhellend  wirke.    Dies 
ist  vielmehr  nur  dann  der  Fall,  wenn  die  Helligkeit  der  schwarzweiXiBen 
Empfindung    unterhalb     eines    gewissen,     allerdings     ziemlich     hohen, 
Helligkeitswertes  liegt.     Dafs  das  Hinzukommen  einer  Blauerregung  zu 
einer  schwarzweifsen   Erregung  innerhalb  gewisser  Grenzen   aufhellend, 
das  Hinzukommen  einer  Gelberregung  innerhalb  gewisser  Grenzen  ver- 
dunkelnd wirken  mufs,   kann  man  sich,    ganz  unabhängig  von  unseren 
obigen  Formeln,   auch   durch   folgende  (schon  von   Hillebrand  in   ähn- 
licher Weise  angestellte)  einfache  Betrachtung  klar  machen.  Angenommen, 
es   sei   die   schwarzweifse   Empfindung  so   dunkel,   dafs   sie   der   reinen 
Schwarzempfindung  merkbar  gleicht,   so    führen  wir   diese  Empfindung 
durch   Hinzufügung   von   Blauerregung  und   immer  weiter   fortgesetzte 
Verstärkung  der  Blauerregung  aus  ihrem  Anfangszustande  allmählich  in 
einen  Zustand  über,  wo  sie  der  reinen  Blauempfindung  merkbar  gleicht.  Ist 
nun  wirklich  die  reine  Schwarzempfindung  dunkler,   als  die   reine  Blau- 
empfindung,  so    mufs   die  Operation  (die  Hinzufügung  und  allmähliche 
Verstärkung  der  Blauerregung),  durch  welche  wir   die  Empfindung  aus 
ihrem  Anfangszustande,   wo  sie  der  reinen  Schwarz empfindung  merkbar 
gleicht,  in  jenen  Endzustand,  wo  sie  der  reinen  Blauempfindung  merkbar 
gleich  ist,   überführen,   unter   diesen  Umständen  notwendig  aufhellend 
wirken.    Denken   wir   uns   andererseits   die    schwarzweifse   Empfindung 
mit   solcher    Helligkeit   gegeben,    dafs  sie   der    reinen  Weifsempfindung 
merkbar  gleicht,  und  nehmen  wir  nun  an,  dafs  diese  Empfindung  durch 
Hinzufügung   und   immer    weiter    fortgesetzte    Verstärkung    von     Gelb- 
erregung in  einen  Zustand  übergeführt  werde,  wo  sie  der  reinen  Gelb- 
empfindung merkbar  gleich  ist,   so  mufs  sich  die  Empfindung  bei  dieser 
Veränderung   verdunkeln,    falls  wirklich  die  reine  Weifsempfindung  für 
heller  zu  erklären  ist,  als  die  reine  Gelbempfindung.     Es  mufs  also  unter 
diesen  Umständen   die  Hinzufügung  und  Verstärkung  der  Gelberregung 
verdunkelnd  wirken. 

Soviel  über  die  Art  und  Weise,  wie  die  Betrachtungen  über  die 
spezifische  Helligkeit  der  Farben  an  unsere  obigen,  das  fünfte  psycho- 
physische  Axiom  betreffenden  Entwickelungen  anzuknüpfen  sind.  Diese 
Betrachtungen  über  die  spezifische  Helligkeit  der  Farben  sind 
gültig,  wenn  man  berechtigt  ist,  die  reinen  Farbenempfindungen  nicht 
als  disparat  zur  reinen  Weifsempfindung  anzusehen,  sondern  ihnen  ver- 
schiedene Grade  der  Verwandtschaft  zu  letzterer  Empfindung  zuzuschreiben. 
Und  wer  möchte  behaupten,    dafs   die    reinen  Farbenempfindungen  sich 


Zur  Psydiophysik  der  Gmchtsempfindungen.  25 

disparat  zur  reinen  Weifsempfindung  verhielten,  oder  in  Abrede  stellen, 
dafs  die  reine  Gelbempfindung  der  letzteren  Empfindung  ähnlicher  sei, 
als  die  reine  Blau empfin düng!  Aus  der  Triftigkeit,  welche  diese  Be- 
trachtungen an  und  für  sich  besitzen,  ergiebt  sich  aber  noch  nicht,  dafs 
die  Erscheinungen,  welche  Hering  und  Hillebrand  ausschliefslich  auf 
die  spezifische  Helligkeit  der  Farben  zurückgeführt  haben,  wirklich  aus- 
schliefslich oder  auch  nur  in  der  Hauptsache  in  solcher  Weise  zu 
erklären  seien.  Es  fehlt  uns  zur  Zeit  noch  an  genügenden  Unterlagen 
für  eine  quantitative  Abschätzung  der  Tragweite  der  obigen  Betrach- 
tungen. Wie  wir  weiterhin  näher  sehen  werden,  hat  v.  Kries  neuerdings 
versucht,  die  bisher  auf  die  spezifische  Helligkeit  zurückgeführten  Er- 
scheinungen durch  gewisse  histologisch-physiologische  Verhältnisse  zu 
erklären.  Man  kann  femer,  wie  im  §  26  gelegentlich  angedeutet 
werden  wird,  auch  noch  Gesichtspunkte  rein  chemisch-physikalischer 
Art  zur  Erklärung  jener  Erscheinungen  heranziehen.  Wie  man  sich 
diesen  beiden  letzteren  Erklärungsarten  gegenüber  zu  verhalten  habe, 
bleibt  hier  dahingestellt.  Es  kommt  uns  hier  nur  auf  die  Behauptung 
an,  dafs  die  oben  dargelegten  psychophysischen  Verhältnisse  an  den 
betreffenden  Erscheinungen  mitbeteiligt  sein  müssen,  wenn  wirklich  die 
reinen  Farbenempfindungen  der  reinen  Weifsempfindung  in  verschiedenen 
Graden  ähnlich  sind. 

§  6.     Von   der  Intensität  und  Eindringlichkeit 

der  Empfindungen. 

Dem  auf  S.  2  f.  Bemerkten  gemäfs  dient  der  Ausdruck 
Empfindungsintensität  dazu,  mit  Hülfe  der  Ausdrücke  Zunahme, 
Abnahme  u.  dergl.  zwei  einander  entgegengesetzte  Sichtungen 
zu  bezeichnen,  in  denen  die  Empfindung  verändert  werden 
kann.  Und  zwar  ist  die  Richtung  der  Veränderlichkeit,  welche 
einer  reinen  Abnahme  der  Empfindungsintensität  entspricht, 
dadurch  charakterisiert,  dafs  die  Empfindung  bei  stetiger 
Änderung  den  Nullpunkt  auf  dem  kürzesten  Wege,  d.  h.  mit 
Durchlaufung  der  geringsten  Anzahl  von  Zwischenempfindungen 
erreicht,  wenn  sie  in  dieser  Sichtung  sich  stetig  ändert. 

Schreiben  wir  einer  Empfindung  einen  bestimmten  Wert 
der  Intensität  zu,  so  verstehen  wir  darunter  die  Zahl  der  ver- 
schiedenen Empfindungen,  welche  durchlaufen  werden  würden, 
wenn  man  die  Empfindung  in  der  auf  dem  kürzesten  Wege 
zum  Nullpunkte  führenden  Bichtung  bis  zur  Erreichung  des 
Nullpunktes  stetig  verändern  würde.  Sagen  wir,  dafs  eine 
Empfindung  zwar  gleiche  Qualität,  aber  eine  gröfsere  Intensität 
besitze  als  eine  andere  Empfindung,  so  bedeutet  dies,  dafs, 
wenn  wir   die  erster e  Empfindung  in   der   auf  dem  kürzesten 


26  G.  E.  Müller. 

Wege  zum  Nullpunkte  führenden  Richtung  stetig  verändern 
würden,  alsdann  die  zweite  Empfindung  sich  unter  den  bei 
dieser  Veränderung  zu  durchlaufenden  Empfindungen  befinden 
würde.  Die  Zahl  der  Empfindungen,  welche  bei  einer  solchen, 
bis  zum  Nullpunkte  fortgesetzten,  stetigen  Intensitätsminderung 
einer  Empfindung  durchlaufen  werden,  ist  allerdings  stets  als 
unendlich  grofs  anzusehen.  Da  aber  auch  unendlich  grofse 
Zahlen  in  einem  endlichen  Verhältnisse  zu  einander  stehen 
können,  so  steht  jede  gegebene  Empfindung  zu  jeder  be- 
liebigen anderen  Empfindung  gleicher  oder  verschiedener 
Qualität  in  einem  bestimmten  Intensitätsverhältnisse. ^  Man 
deutet  den  hier  entwickelten  Begriff  der  Empfindungsintensität 
kurz,  wenn  auch  nicht  hinlänglich  genau,  an,  wenn  man  die 
Intensität  der  Empfindung  kurz  als  den  Abstand  derselben 
vom  Nullpunkte  definiert. 

Von  der  Empfindungsintensität  im  vorstehend  angegebenen 
Sinne  ist  die  Eindringlichkeit  der  Empfindungen  wohl  zu 
unterscheiden.  Die  Eindringlichkeit  betrifft  die  mehr  psycho- 
logische Seite  der  Empfindungen,  sie  scheint  sich  hauptsächlich 
nach  der  Macht  zu  bestimmen,  mit  welcher  die  Sinneseindrücke 
unsere  Aufmerksamkeit  auf  sich  ziehen,    und  könnte    daher  in 


^  Aus  der  Thatsache,  dafs  zwei  Empfindungen  in  einem  bestimmten 
Intensitäts Verhältnisse  zu  einander  stehen ,  ergiebt  sich  natürlich  noch 
nicht,  dafs  wir  im  stände  sind,  dieses  Intensitätsverhältnis  zu  bestimmen. 

Es  würde  natürlich  sehr  irrig  sein,  wenn  man  behaupten  würde, 
dafs  nach  obigem  die  Intensität  jeder  Empfindung  (entsprechend  der 
unendlichen  Zahl  bis  zum  Nullpunkt  hin  zu  durchlaufender  Empfin- 
dungen) unendlich  grofs  anzusetzen  sei.  Denn  ebenso,  wie  man  die 
Länge  einer  endlichen  Baumstrecke  nicht  für  unendlich  grofs  erklärt, 
weil  dieselbe  als  aus  unendlich  vielen  Punkten  oder  Längeninkrementen 
bestehend  angesehen  werden  kann,  sondern  nach  ihrem  Verhältnisse  zu 
der  als  Einheit  betrachteten  Länge  einer  bestimmten  Raumstrecke  be- 
mifst,  so  würde  man  auch  die  Intensität  einer  Empfindung  nach  ihrem 
Verhältnisse  zu  der  als  Einheit  betrachteten  Intensität  einer  bestimmten 
Empfindung  zu  bemessen  haben. 

Will  man,  statt  von  einer  unendlich  grofsen  Anzahl  von  Empfin- 
dungen, welche  bis  zum  Nullpunkte  hin  zu  durchlaufen  seien,  zu  reden, 
sich  etwas  anders  ausdrücken  (z.  B.  von  psychischen  Strecken  u.  dergl. 
reden),  so  würde  die  Sache  hierdurch  in  keiner  Weise  berührt.  Auf  die 
Eigentümlichkeit  des  Stetigen  einzugehen,  ist  hier  nicht  Anlafs.  Und  es 
ist  hier  gleichgültig,  wie  man  derselben  sprachlich  gerecht  zu  werden 
versucht.    Nur  darf  eben  die  Ausdrucksweise  nicht  zu  umständlich  sein. 


Zur  Paydkophysik  der  Gesichtsempfindungen,  27 

sachlicher  Hinsicht  nicht  unpassend  auch  als  die  Aufdringlich- 
keit der  Sinneseindrücke  bezeichnet  werden.  Sie  ist  schon 
von  Feohneb  gelegentlich  [In  Sachen  der  PsycJi&physik.  S.  126), 
wenn  auch  nicht  unter  der  Bezeichnung  der  Eindringlichkeit, 
als  der  „erregende  Einflufs  auf  das  Allgemeinbewufstsein,  die 
anziehende  Kraft  auf  die  Aufmerksamkeit^  charakterisiert 
worden.  Nimmt  die  Intensität  einer  Empfindung  zu,  ohne  dafs 
sich  die  Qualität  derselben  in  erheblichem  G-rade  ändert,  so 
wächst  zugleich  die  Eindringlichkeit.  Man  darf  aber  nicht 
den  Satz  aufstellen,  dafs  ganz  allgemein  der  gröfseren  Inten- 
sität der  Empfindung  auch  die  gröfsere  Eindringlichkeit  ent- 
spreche. Denn  es  erscheint  möglich,  dafs  sich  zwei  Empfin- 
dungen, falls  sie  von  verschiedener  Qualität  sind,  hinsicht- 
lich der  Eindringlichkeit  anders  zu  einander  verhalten,  als 
hinsichtlich  der  Intensität.  Die  Eindringlichkeit  einer  Em- 
pfindung ist,  wie  es  scheint,  nicht  blofs  von  der  Intensität  des 
psychophysischen  Prozesses  abhängig,  sondern  bestimmt  sich 
zugleich  auch  nach  der  Häufigkeit  der  betrefiFenden  Empfindung 
in  unserer  Erfahrung,  nach  dem  Gefühlswerte  derselben  und 
nach  anderen  derartigen  für  die  Erweckung  unserer  Aufmerk- 
samkeit wichtigen  Faktoren. 

Wenn  wir  die  Intensität  einer  Empfindung  kurz  als  die 
Zahl  der  Empfindungen  definieren,  welche  durchlaufen  werden 
würden,  wenn  man  die  Empfindung  auf  dem  kürzesten  Wege 
bis  zur  Erreichung  des  Nullpunktes  stetig  verändern  würde, 
so  wird  man  vielleicht  diese  Definition  zu  abstrakt  und  deshalb 
nicht  befriedigend  finden,  weil  sie  „das  Moment  der  Steigerung** 
u.  dergl.,  welches  man  empfinde,  wenn  man  von  einer 
schwächeren  Empfindung  zu  einer  stärkeren  übergehe,  nicht 
mit  zum  Ausdrucke  bringe.  Man  ist  eben  gewöhnt,  Intensität 
und  Eindringlichkeit  nicht  voneinander  zu  scheiden.  Jenes 
Moment  der  Steigerung  betrifft  die  Eindringlichkeit,  aber  nicht 
die  Intensität  der  Empfindungen.  Erhöhen  wir  die  Stärke 
eines  Sinnesreizes,  ohne  seine  Qualität  zu  verändern,  so  nimmt, 
wie  bereits  bemerkt,  infolge  der  Steigerung  des  psycho- 
physischen Prozesses  neben  der  Intensität  der  Empfindung 
zugleich  auch  die  Eindringlichkeit  derselben  zu,  die  begleitenden 
Nebeneindrücke,  zum  Teil  motorischen  Ursprunges,  gewinnen 
an  Zahl  und  Stärke  und  wirken  gleichfalls  im  Sinne  einer 
Erhöhung  der  Eindringlichkeit.     Es  ist  daher  (ganz  abgesehen 


28  <?.  E.  Maller. 

von  den  Bedenken,  die  darans  entspringen,  dafs  in  vielen 
Fällen  eine  Verändemng  der  Iteizstarke  zugleich  auch  eine 
qualitative  Änderung  der  Empfindung  zur  Folge  hat)  einiger- 
inafsen  bedenklich,  wenn  man  die  Resultate,  die  man  beim 
Operieren  mit  Empfindungen  erhält,  die  verschiedenen  Intensi- 
täten eines  Reizes  von  konstanter  Qualität  entsprechen,  stets 
ohne  weiteres  auf  die  Intensitätsunterschiede  dieser  Empfin- 
dungen bezieht.  Noch  bedenklicher  ist  es,  wenn  man  Ver- 
suche ansteUt,  bei  denen  Empfindungen  verschiedener  Qualität 
angeblich  hinsichtlich  ihrer  Intensität  miteinander  verglichen 
werden,  bei  denen  aber  in  Wahrheit  die  betreffenden  Empfin- 
dungen stets  nur  hinsichtlich  der  Eindringlichkeit  verglichen 
werden.  Denn  man  kann  zwei  Empfindungen  verschiedener 
Qualität,  z.  B.  eine  Botempfindung  und  eine  Grauempfindung, 
zwar  hinsichtlich  ihrer  Eindringlichkeit  einigermafsen  mit- 
einander vergleichen,  hat  hingegen  nicht  in  gleicher  Weise 
ein  Urteil  darüber,  ob  der  Abstand  vom  Nullpunkte  für 
diese  oder  jene  beider  Empfindungen  gröfser  sei.  Wir  über- 
lassen es  dem  Leser,  der  soeben  gemachten  Bemerkung, 
dafs  man  sich  hüten  müsse,  Dinge,  die  möglicherweise  oder 
gar  ganz  sicher  auf  die  Eindringlichkeit  der  Empfindungen  zu 
beziehen  sind,  ohne  weiteres  auf  die  Intensität  derselben  zu 
beziehen,  ihre  Anwendungen  auf  vorliegende  Versuche  und 
Untersuchungen  selbst  zu  geben. 

Im  Gebiete  des  Gesichtssinnes  hat  man  nicht  selten  sogar 
dreierlei  Dinge  zusammengeworfen,  nämlich  die  Intensität, 
Helligkeit  und  Eindringlichkeit.  Es  ist  zu  beachten,  dafs 
Helligkeitsvergleichungen  von  Gesichtsempfindungen,  die  durch 
Lichtreize  verschiedener  Qualität  bewirkt  sind,  leicht  dadurch 
in  fehlerhafter  Weise  beeinflufst  werden  können,  daüs  man  sich 
bei  seinem  Urteile  nicht  ausschliefslich  von  der  Helligkeit, 
sondern  mehr  oder  weniger  auch  von  der  Eindringlichkeit  der 
zu  vergleichenden  Empfindungen  beeinflussen  läfst.  IndividueUe 
Verschiedenheiten,  die  sich  bei  der  Helligkeitsvergleichung 
verschiedener  Farben  herausstellen,  können  zu  einem  gröfseren 
oder  geringeren  Teile  darauf  beruhen,  dafs  die  einen  Versuchs- 
personen sich  in  diesem  oder  jenem  Grade  von  der  Ein- 
dringlichkeit    beeinflussen     lassen.^      Schon     Hering    bemerkt 

^  Dafs  Gesicbtsempiin düngen,  die  durch  Lichtreize  von  verschiedener 
Qualität  bedingt  sind,  ebenso  wie  hinsichtlich  ihrer  Helligkeit  auch 
hinsichtlich  ihrer  Eindringlichkeit  miteinander  verglichen  werden  können» 


Zur  Fsychophysik  der  Geffichtsempfindtingen.  29 

gelegentlich  in  seiner  „Kritik  einer  Abhandlung  von  Dondbbs" 
{Lotos,  2.  1882.  8.  32),  die  Erfahrung  lehre,  „dafs  bei  Ver- 
gleichung  der  Helligkeiten  verschiedenfarbiger  Lichter  die 
Urteile  verschieden  ausfallen,  je  nachdem  sich  einer  dabei 
mehr  von  der  Energie  der  eigentlichen  Farbe  oder  mehr  von 
der  Weifslichkeit  der  farbigen  Empfindungen  leiten  läfst,  ganz 
abgesehen  von  anderen  individuellen  Verschiedenheiten«.  Hin- 
gegen hat  A.  König  in  seiner  Abhandlung  ,,Über  dm  Hellig- 
Jceitswert  der  Spektralfarben  bei  verschiedener  absoluter  Intetisität^ 
diese  Fehlerquelle  ganz  ignoriert  und  individuelle  Ver- 
schiedenheiten Botgrünblinder,  die  sich  bei  Helligkeitsver- 
gleichungen verschiedener  Spektralfarben  zeigten,  ohne  weiteres 
ausschliefslich  auf  die  physiologische  Seite  des  Sehaktes  bezogen 
und  sogar  zur  Entscheidung  theoretischer  Fragen  hinsichtlich 
der  letzteren  herangezogen!* 

Es  ist  zu  beachten,  dafs  vielleicht  gerade  solche  Individuen, 
deren  Farbensinn  sehr  schwach  ist,  bei  Helligkeitsvergleichungen 
verschiedenartiger  Lichter  sich  besonders  leicht  von  der  Ein- 
dringlichkeit der  letzteren  beeinflussen  lassen.  Denn  solche 
Personen  haben  weniger  Grelegenheit  und  Anlafs  als  Farben- 
tüchtige, sich  den  Unterschied  zwischen  Helligkeit  und  Ein- 
dringlichkeit klar  zu  machen,  einen  Unterschied,  der  eben  doch 
nur  dann  ohne  weiteres  sich  aufdrängt  oder  einleuchtet,  wenn 
man  gesättigte  Farbenempfindungen  mit  farblosen  Gesichts- 
empfindungen vergleicht,  z.  B.  eine  gesättigte  Rotempfindung 
mit  einer  schwarzweifsen  Empfindung  vergleicht,  welche  weit 
heller,  aber  zugleich  auch  weit  weniger  eindringlich  ist,  als 
die  Botempfindung.  Haben  wir  es  also  z.  B.  mit  einem  Indi- 
viduum zu  thun,  welches  des  Rotgrünsinnes  völlig  entbehrt 
und  den  Gelbblausinn  nur  in  sehr  abgeschwächtem  Grade 
besitzt,  so  ist  es  leicht  möglich,  dafs  dieses  Individuum  bei 
seinen  Helligkeitsvergleichungen  von  Spektralfarben  sich  durch 
die  höhere  Eindringlichkeit,  welche  eine  Anzahl  seiner  Farben- 
empfindungen infolge  ihrer,  wenn  auch  nur  schwachen,  Gelblich- 


und  dafs  man  bei  Vergleichung  ihrer  Helligkeiten  eine  Tendenz  über- 
winden mufs,  sich  von  ihren  Eindringliohkeiten  beeinflussen  zu  lassen, 
haben  uns  Versuche  gezeigt. 

^  Dafs  eine  gewisse  Konstanz  der  bei  solchen  Helligkeitsver- 
gleichungen von  einem  und  demselben  Individuum  gefällten  Urteile  die 
Beeinflussung  durch  die  Eindringlichkeit  und  Überhaupt  das  Bestehen 
konstanter  Fehler  nicht  ausschliefst,  bedarf  nicht  erst  der  Erwähnung. 


30  O.  E.  Müller, 

keit   besitzen,    beeinflussen   lasse,    so    dafs    es  das  Helligkeits- 
maximum    im    Spektrum    weiter    in    das    Gebiet    der    gelben 
Nuancen  hineinverlegt,   als   der  Fall  sein  würde,   wenn  es  sich, 
bei    seinem  Urteile   lediglich    durch    die  Helligkeitsverhältnisse 
der    wahrgenommenen    Lichteindrücke    bestimmen    liefse.      Es 
liegt  also  wiederum  nur  die  Vernachl&ssigung  eines  schon  von 
Hering  hinlänglich  hervorgehobenen  psychologischen  Gesichts- 
punktes vor,  wenn  A.  König  [diese  Zeitschrift  7.  1894.  S.  161  flf.) 
in  der  Thatsache,   dafs  bei  einem  rotgrünblinden  und  nur  mit 
einem  sehr  schwachen  Gelbblausinn  ausgestatteten  Individuum 
das  Maximum   der   spektralen  Helligkeitsverteilung    bedeutend 
weiter   nach  Gelb    hinliegend    gefunden  wurde,    als  bei  einem 
total  farbenblinden  Individuum,  ohne  weiteres  eine  Schwierigkeit 
erblickt,    deren    Hebung    auf  dem    Boden    der    gegenwärtigen 
Gestaltung  der  Herin  Gschen  Theorie  nicht  zu  ermöglichen  sei.^ 
Es  erübrigt  noch,  kurz  auf  die  Ausführungen  einzugehen, 
welche  Hering   [Zur  Lehre  vom  Lichtsinne.  S.  55  f.)  hinsichtlich 
der  Intensität  der  Gesichtsempfindungen  bietet.   Dieser  Forscher 
bemerkt,    dafs    die  Bezeichnungen  Intensität   oder  Stärke    auf 
die  schwarzweifse  Empfindungsreihe,    für  welche  sie  besonders 
häufig   benutzt  worden    seien,    nur   unter    der  Bedingung    an- 
wendbar  seien,    „dafs    man   jedem  einzelnen  Gliede  der  Keihe 
zwei   Intensitäten    zugesteht    und    das   Verhältnis    angiebt,    in 
welchem   hier    die  Intensitäten    der  beiden  Empfindungen   des 
Schwarz  und  Weifs  zu  einander  stehen  .  .  .  Wenn  den  einzelnen 
Stufen    der   schwarzweifsen    Empfiudungsreihe    eine  Intensität 
im    jetzt    üblichen    Sinne    des    Wortes    zugeschrieben    werden 
könnte,    so  müfste   es  denkbar  sein,    dafs  diese  Intensität  sich 
änderte;  denn   andernfalls   hätte  die  Anwendung  des  Begriffes 
der  Intensität  hier  gar  keinen  Sinn.     Wie  aber  soll  sich  z.  B. 
ein    bestimmtes    Grau    seiner   Intensität    nach    ändern?     Eine 


^  Auch  die  individuellen  Verschiedenheiten,  die  hinsichtlich  der 
Pigmentierung  der  Macula  lutea  oder  Augenlinse  bestehen,  müssen  sich 
bei  den  total  oder  annähernd  total  Farbenblinden  dahin  geltend  machen, 
hinsichtlich  der  Lage  des  Helligkeitsmaximums  im  Spektrum  individuelle 
Verschiedenheiten  zu  bewirken.  Ist  die  Pigmentierung  abnorm  stark, 
so  mufs  auch  die  Verschiebung,  welche  dieses  Helligkeitsmaximum  nach 
dem  langwelligen  Spektralende  hin  erf&hrt,  beträchtlich  sein.  Das 
obige  Versuchsresultat  Königs  läTst  sich  also  vom  Standpunkte  Hebinos 
aus  in  nicht  weniger  als  zweifacher  Weise  erklären ! 


Zur  Psychophy^ik  dc9'  Gesichtseinpfinduttgen,  31 

Änderung  ist,  abgesehen  von  der  Beimischung  anderer  Farben, 
nur  denkbar  durch  ein  deutlicheres  Hervortreten  des  in  ihm 
enthaltenen  Schwarz  oder  Weifs,  dadurch  aber  würde  das  ge- 
gebene G-rau  in  ein  anderes  Grau  verwandelt,  welches  in  der 
schwarzweifsen  Empfindungsreihe  weiter  nach  dem  Weifs  oder 
nach  dem  Schwarz  hin  liegt^. 

Die  Empfindung  einer  und  derselben  Graunuanoe  kommt 
in  der  That  in  unserer  Erfahrung  nicht  mit  merkbar  ver- 
schiedenen Intensitäten  vor.^  Dies  erklärt  sich  in  folgender 
Weise.  Wie  weiterhin  an  der  Hand  von  Thatsachen  näher 
bewiesen  werden  wird,  ist  in  den  zentralen  Teilen  des  Seh- 
organes  fortwährend  eine  endogene  Erregung  vorhanden^ 
welche  aus  WeiTserregung  und  Schwarzerregung  zusammen- 
gesetzt ist.  Wirkt  nun  ein  von  der  Netzhaut  her  kommender 
Antrieb  im  Sinne  einer  Steigerung  der  WeiTserregung,  so  wirkt 
er  nicht  gleichzeitig  im  Sinne  einer  Erhöhung  der  Schwarz- 
erregnng,  sondern,  entsprechend  dem  hier  in  Betracht  kommenden 
(weiterhin  näher  zu  behandelnden)  Antagonismus,  sogar  im 
Sinne  einer  Schwächung  der  letzteren  Erregung;  es  muTs  also 
die  Empfindung  ihre  Qualität  ändern,  indem  sie  weifslicher 
wird.  Wirkt  von  der  Netzhaut  her  ein  (etwa  durch  Kontrast- 
einflufs  bewirkter)  Antrieb  im  Sinne  einer  Steigerung  der 
Schwarzerregung,  so  wird  gleichzeitig  die  Weifserregung 
geschwächt;  es  mufs  also  die  Empfindung  ihre  Qualität  in  der 
Weise  verändern,  dafs  sie  schwärzlicher  wird.  Stellen  wir  für 
eine  bestimmte  Netzhautstelle  gleichzeitig  einen  Weifsreiz  und 
einen  Schwarzreiz  (letzteren  etwa  durch  Kontrast)  her,  so 
kommen  dieselben  infolge  des  zwischen  ihnen  bestehenden 
Antagonismus  nur  mit  der  DifiPerenz  ihrer  Intensitäten  entweder 
als  ein  Weifsreiz,  der  im  Sinne  einer  Erhöhung  der  Weifs- 
erregung und  Schwächung  der  Schwarzerregung  wirkt,  oder 
als  ein  Schwarzreiz,  der  in  umgekehrter  Bichtung  wirkt,  oder 
als  ein  Beiz  von  dem  Werte  0  zur  Geltung.  Thatsächlich 
können  wir  also  die  Empfindung  einer  und  derselben  Grau- 
nuance  deshalb  nicht  in  merkbar  verschiedenen  Intensitäten 
herstellen,  weil  wir  nicht  im  stände  sind,  durch  irgendwelche 
Beize  die  zentralen  Weils-  und  Schwarzerregungen  gleichzeitig 


^  Von  gewissen  Möglichkeiten,   die  späterhin  zur  Sprache  kommen 
werden,  ist  hier  abgesehen. 


32  G'  E.  Müller. 

in  gleichem  Verhältnisse  zu  erhöhen  oder  zu  schwächen,  und 
bei  jeder  Förderung  oder  Schwächung  der  einen  von  beiden 
Erregungen  zugleich  das  Intensitätsverhältnis  erhöhen,  bezw. 
verringern,  in  welchem  dieselbe  zu  der  anderen  Erregung 
steht.  Wäre  jene  endogene  Erregung  des  Zentralorganes  nicht 
vorhanden,  so  würden  wir  ebenso,  wie  etwa  die  Wärme-  oder 
Kälteempfindung,  auch  die  Empfindung  des  Weifsen  oder  des 
Schwarzen  in  verschiedenen  Intensitäten  herstellen  können.* 
Es  besteht  also  kein  Grund,  den  Empfindungen  der  schwarz- 
weiXsen  Beihe  die  Intensität  abzusprechen.  Jede  Empfindung 
dieser  Beihe  kann  prinzipiell,  wenn  auch  aus  dem  angegebenen 
Grunde  nicht  in  praxi,  auf  einem  kürzesten  Wege  stetig  auf 
den  Nullpunkt  übergeführt  werden.  Und  zwar  verhalten  sich 
die  Intensitäten  der  thatsächlich  vorkommenden  Empfindungen 
der  schwarzweifsen  Reihe  in  der  Weise,  dafs,  wenn  man  von 
der  Empfindung  eines  bestimmten  mittleren  Grau  ausgeht, 
alsdann  die  Intensität  nach  beiden  Seiten  hin  um  so  gröfser 
ist,  je  weiter  man  sich  von  jenem  mittleren  Grau  entfernt. 
In  gleicher  Weise  verhält  sich  die  Eindringlichkeit.  Nur 
erscheint  es  möglich,  dafs  gleichen  Intensitätsgraden  auf  der 
Seite  der  schwärzlichen  Nuancen  andere  Grade  der  Ein- 
dringlichkeit zugehören,  als  auf  der  Seite  der  weifslichen 
Nuancen;  es  erscheint  z.  B.  möglich,  dafs  eine  tiefschwarze 
Empfindung  eindringlicher  sei,  als  eine  weifsgraue  Empfindung 
von  gleicher  Intensität. 

HiLLEBKAND  (Wien.  Ber.  98.  1889.  III.  S.  89)  glaubt,  „das 
Bestehen  von  Intensitätsunterschieden  innerhalb  der  Gesichts- 
empfindungen überhaupt  in  Abrede  stellen"  zu  dürfen.  „Die 
Möglichkeit  einer  konstanten  Intensität,  die  eben  ihrer  Konstanz 


*  Wir  würden  aber  die  Grauempfindungen,  welche  den  Übergang 
von  der  reinen  Schwarzempfindung  zur  reinen  WeiTsemp findung  ver- 
mitteln, ebensowenig  keilnen,  wie  wir  jetzt  die  rotgrtlnen  und  gelbblauen 
Empfindungen  kennen.  Denn,  da  hinsichtlich  des  Weifs  und  Schwarz 
ein  ganz  analoger  Antagonismus  besteht,  wie  hinsichtlich  des  Rot  und 
Grün,  des  Gelb  und  Blau,  so  würden  wir  nicht  im  stände  sein,  neben 
der  Schwarzerregung  gleichzeitig  die  Weifserregung  hervorzurufen,  und 
umgekehrt. 

Auch  eine  Farbenempfindung  von  ganz  bestimmter  Qualität  können 
wir,  wie  leicht  ersichtlich,  wegen  jener  endogenen  Erregung  der  Seh- 
substanz nicht  in  verschiedenen  Intensitäten  herstellen.  Mit  der  In- 
tensität verändern  wir  hier  immer  zugleich  die  Qualität. 


Zur  Psychophysih  der  Gesichtsempfindungen.  33 

wegen  nie  bemerkt,  also  auch  nioht  direkt  empirisch  nach- 
gewiesen werden  könnte,  sondern  nur  etwa  auf  Grund 
deduktiver  Argumente  angenommen  werden  müfste^,  will  er 
bestehen  lassen.  Hierzu  ist  folgendes  zu  bemerken.  Man 
denke  sich  zu  jeder  der  verschiedenen  (aus  Schwarz-  und 
Weifserregung  zusammengesetzten)  Erregungen,  welche  den 
thatsächlich  vorkommenden  Empfindungen  der  schwarzweifsen 
Beihe  entsprechen,  eine  beliebige  chromatische  Erregung  von 
konstanter  Intensität  hinzugefügt.  Werden  dann  die  Em- 
pfindungen der  Beihe  sämtlich  in  gleichem  Grade  farbig 
erscheinen?  Keineswegs,  sondern  die  Farbigkeit  wird  am 
deutlichsten  bei  einem  mittleren  Grau  hervortreten  und  um  so 
mehr  zurücktreten,  je  weiter  man  sich  von  diesem  Grau  nach 
dem  Weifs  oder  Schwarz  hin  entfernt.  Es  ist  also  die  chro- 
matische Erregung  von  konstanter  Intensität  im  Verhältnisse 
zu  der  Erregung,  welche  einer  schwarzweifsen  Empfindung  zu 
Grunde  liegt,  um  so  schwächer,  je  weiter  die  schwarzweifse 
Empfindung  von  jener  mittleren  Grauempfindung  absteht,  d.  h. 
die  Erregungen,  welche  den  thatsächlich  vorkommenden  Em- 
pfindungen der  schwarzweifsen  Empfindungsreihe  zu  Grunde 
liegen,  verhalten  sich  so,  dafs  diese  Empfindungen  von  einer 
mittleren  Grauempfindung  aus  nach  beiden  Seiten  hin  an  In- 
tensität beträchtlich  zunehmen  müssen.  Die  HiLLBBRANDsche 
Annahme  einer  konstanten  Intensität  der  Gesichtsempfindungen 
wird  also  schon  durch  die  geläufige,  von  Hering  zu  wieder- 
holten Malen  (z.  B.  Pflügers  Ärch.  41,  1887.  S.  11)  hervor- 
gehobene Thatsache  widerlegt,  dafs  eine  und  dieselbe  chro-' 
matische  Erregung  der  Empfindung  einen  viel  höheren  Grad 
von  Farbigkeit  verleiht,  wenn  sie  zu  einer  Erregung  hinzukommt, 
die  einer  mittleren  Grauempfindung  entspricht,  als  dann,  wenn 
sie  zu  der  Erregung  hinzugefügt  wird,  die  einer  ausgeprägten 
Weifsempfindung  oder  Schwarzempfindung  zugehört. 

§  7.    Die  psychischen   Qualitätenreihen. 

Wenn  eine  Empfindung  sich  hinsichtlich  ihrer  Qualität 
ändert,  so  haben  wir  in  gewissem  Grade  ein  Urteil  darüber, 
ob  die  Änderung  der  Qualität  in  konstanter  oder  wechselnder 
Richtung  vor  sich  geht.  Wir  haben  ein  solches  Urteil  auch 
noch    dann,    wenn  die  Änderungen  der  Qualität   zugleich  von 

Zeitschrift  fUr  Psychologrie  X.  3 


34  G-  E.  MüOer. 

Änderungen  der  Empfindungsintensität  begleitet  sind.  So  fällen 
wir  z.  B.  trotz  der  Intensitätsunterschiede,  die  nach  obigem 
zwischen  den  verschiedenen  Gliedern  der  schwarzweiTsen  Em- 
pfindungsreihe bestehen,  mit  Sicherheit  das  urteil,  dafs  eine 
geradläufige,  d.  h.  in  konstanter  Richtung  vor  sich  gehende, 
Änderung  der  Empfindungsqualität  vor  sich  gehe,  wenn  die 
Empfindung  eines  tiefen  Schwarz  durch  die  verschiedenen 
Graunuancen  hindurch  in  die  Empfindung  eines  hellen  WeiTs 
übergeführt  werde. 

Wir  bezeichnen  eine  Beihe  von  Empfindungen,  in  welcher 
sich  die  Qualität  geradläufig  und  stetig  ändert,  kurz  als  eine 
psychische  Qualitätenreihe.  Eine  psychische  Qualitäten- 
reihe kann  prinzipiell  begrenzt  oder  prinzipiell  unbegrenzt 
erscheinen.  So  ist  die  Tonhöhenreihe  eine  prinzipiell  unbegrenzt 
erscheinende  Qualitätenreihe.  Wenn  es  auch  nicht  möglich  ist^ 
die  Tonhöhe  für  uns  ins  Unbegrenzte  zu  erhöhen  oder  zu 
vertiefen,  so  können  wir  doch  nicht  behaupten,  dafs  bei  der 
höchsten  oder  tiefsten  unserer  faktischen  Tonhöhen  oder  bei 
irgend  einer  anderen,  jenseits  der  Grenzen  unseres  Empfindens 
gelegenen  Tonhöhe  ein  prinzipiell  unüberschreitbarer  Abschlufs 
erreicht  sei.  Hingegen  ist  z.  B.  die  Beihe  der  schwarzweifsen 
Empfindungen  eine  prinzipiell  begrenzt  erscheinende  Qualitäten- 
reihe, weü  wir  uns  die  Empfindungsänderung,  die  in  einem 
Schwärzerwerden,  bezw.  Weifserwerden  der  Empfindung  besteht, 
nicht  über  die  reine  Schwarz-,  bezw.  Weifsempfindung  hinaus 
fortgesetzt  denken  können.  Hierbei  bleibt  ganz  dahingestellt, 
in  welchem  Grade  die  ausgeprägteste  der  in  unserer  Erfahrung 
vorkommenden  Schwarz-  oder  Weifsempfindungen  der  reinen 
Schwarz-,  bezw.  Weifsempfindung  nahesteht. 

Betreffs  der  anscheinenden  Unbegrenztheit  der  Tonhöhenreihe  ver- 
gleiche man  Stumpf,  Tonpaychologie.  1 .  S.  178  ff.  Wie  derselbe  in  einem 
Nachtrage  (2.  S.  660)  berichtigend  bemerkt,  hat  schon  Abistoxenus  die 
prinzipielle  Unbegrenztheit  der  Tonhöhenreihe  behauptet. 

In  begrifflicher  Hinsicht  mag  hier  beiläufig  daran  erinnert  werden, 
dafs  eine  Änderung  einer  einfachen  Empfindung,  mag  dieselbe  nun  eine 
Grundempfindong  oder  Mischempfindung  sein,  niemals  gleichzeitig  in 
mehreren  Richtungen  stattfinden  kann.  Denken  wir  uns  den  Fall,  dafs 
eine  reine  Weifsempfindung  durch  stetige  Änderung  auf  dem  kürzesten 
Wege  in  eine  intensivere  Empfindung  eines  weiTslichen  Blaugrtln  über- 
geführt werde,  so  ändert  sich  die  Empfindung  eben  in  derjenigen  Richtung, 
welche  von  jener  Weifsempfindung  zu  dieser  ungesättigten  Farben- 
empfindung führt.      Wir   dürfen   aber  nicht   etwa  sagen,  dafs  sich    die 


Zur  Psychophyeik  der  Gesichtsempfindungen,  35 

Empfindung,  ganz  abgesehen  von  ihrer  Intensitätsänderung,  gleichzeitig 
in  zwei  Bichtungen  verändere,  von  denen  die  eine  von  der  reinen  Weifs- 
empfindung  zur  reinen  Grünempfindung,  die  andere  aber  zur  reinen 
Blauempfindung  hinftLhre.  Wohl  aber  dürfen  wir  sagen,  dafs  sich  bei 
der  angegebenen  Empfindungsänderung  sowohl  die  Bläulichkeit,  als  auch 
die  Grünlichkeit,  sowie  auch  die  Weifslichkeit  und  die  Intensität  der 
Empfindung  ändere. 

Wenn  nach  obigem  eine  psychische  Qualitätenreihe  dadurch  charak- 
terisiert ist,  dafs  sich  in  ihr  die  Empfindungsqualität  in  geradläufiger 
Weise  stetig  ändert,  so  kann  man  dies  natürlich  auch  in  folgender  Weise 
ausdrücken:  Denken  wir  uns  alle  Glieder  einer  gegebenen  psychischen 
Qualitätenreihe  jäuf  gleiche  Intensität  gebracht,  so  ändert  sich  in  der 
so  erhaltenen  Empfindungsreihe  die  Empfindung  in  ganz  geradläufiger 
Weise.  Handelt  es  sich  mm  weiter  darum,  anzugeben,  was  unter 
einer  geradläufigen  Empfindungsänderung  zu  verstehen  sei,  so  ist  fol- 
gendes zu  sagen:  Die  Empfindungsänderung,  welche  dem  Durchlaufen 
einer  Beihe  von  Empfindungen  entspricht,  ist  eine  durchgängig  gerad- 
läufige, oder  die  Unterschiede,  welche  zwischen  den  aufeinanderfolgenden 
Gliedern  einer  (stetigen  oder  diskreten)  Empfindungsreihe  bestehen,  sind 
sämtlich  von  gleicher  Bichtung,  wenn  alle  Glieder  der  Beihe  in  derselben 
Beihenfolge  in  einer  Empfindungsreihe  vorkommen,  die  man  erhalten 
würde,  wenn  man  das  Anfangsglied  der  Beihe  auf  einem  kürzesten 
Wege  in  stetiger  Weise  in  das  Endglied  überführte. 

Ebenso,  wie  sich  aus  dem  früheren  (S.  25  f.)  ergiebt,  dafs  die  Inten- 
sitäten zweier  gegebener  Empfindungen  oder  auch  zwei  gegebene  Inten- 
sitätsunterschiede von  Empfindungen  in  einem  bestimmten  Gröfsen- 
verhältnisse  zu  einander  stehen,  scheint  auch  behauptet  werden  zu  dürfen, 
dafs  qualitative  Empfindungsunterschiede  in  einem  bestimmten  Gröfsen- 
verhältnisse  zu  einander  stehen  können.  Sind  a,  /?,  y,  d  einfache  Empfin- 
dungen von  verschiedener  Qualität,  aber  gleicher  Intensität,  so  verhält 
sich  der  qualitative  Unterschied  zwischen  a  und  ß  zu  dem  qualitativen 
Unterschiede  zwischen  y  und  cf,  wie  sich  die  Zahl  der  Empfindungen, 
welche  bei  der  auf  dem  kürzesten  Wege  stattfindenden  stetigen  Über- 
führung von  a  in  /9  durchlaufen  werden,  zu  der  Zahl  von  Empfindungen 
verhält,  welche  durchlaufen  werden,  wenn  man  y  auf  dem  kürzesten  Wege 
stetig  in  d  überführt.  Sind  die  Empfindungen  a,  ß,  y,  d  von  verschiedener 
Intensität,  so  entsprechen  ihre  qualitativen  Unterschiede  den  Zahlen  von 
Empfindungen,  welche  bei  ihrer  auf  dem  kürzesten  Wege  stattfindenden 
stetigen  Überführung  ineinander  durchlaufen  werden  würden,  wenn 
man  sie  zuvor  auf  gleiche  Intensität  gebracht  haben  würde.  Sind  jene 
Empfindungen  nicht  durch  stetige  Änderung  ineinander  überfQhrbar, 
also  völlig  heterogen  zu  einander,  so  kann,  wie  leicht  ersichtlich,  von 
einem  bestimmten  Gröisenverhältnisse,  in  welchem  der  Unterschied 
zwischen  a  und  ß  zu  dem  Unterschiede  zwischen  y  und  d  stehe,  nicht 
gesprochen  werden. 

Die  vorstehende  Betrachtung  findet  indessen  eine  gewisse  Schwierig- 
keit oder  bedarf  noch  einer  gewissen  Ergänzung  infolge  der  Thatsache, 
dafs,  wie  wir  im  folgenden  (S.  39)  sehen  werden,  unter    Umständen  eine 

3^ 


36  G.  E.  Müller, 

gegebene  Empfindung  auf  zwei  yenchiedenen  kürzesten  Wegen  in  eine 
andere  gegebene  Empfindung  flbergeftüirt  werden  kann. 

§  8.  Zwei    Möglichkeiten    hinsichtlich    der   psycho- 
physischen  Bepräsentation  einer  psychischen  Qua- 

litätenreihe. 


Nach  dem  dritten  und  vierten  psychophysischen 
mofs  der  geradlänfigen  und  allmählichen  Änderung,  welche 
die  Empfindungsqualität  beim  Durchlaufen  einer  QuaUtäten- 
reihe  erfahrt,  eine  allmähliche  Änderung  der  Qualität  des  psycho- 
physischen Prozesses  entsprecheui  welche  gleichfalls  von  gerad- 
läufiger Art  ist. 

Eine  solche  geradläufige  und  allmähliche  qualitative  Än- 
derung eines  psychophysischen  Prozesses  ist  auf  doppeltem 
Wege  möglich,  erstens  dadurch,  dals  sich  an  einem  einfachen 
psychophysischen  Prozesse  oder  an  mehreren  Partialprozessen 
nebeneinander  eine  geradläufige,  allmähliche  Änderung  quali- 
tativer  Art  (z.  B.  Änderung  der  Schwingungszahl)  vollzieht, 
zweitens  dadurch,  dafs  sich  die  Intensitäten  der  Theil- 
Vorgänge  eines  zusammengesetzten  psychophysischen  Vorganges 
in  der  Weise  ändern,  dafs  eine  allmähliche  und  geradläufi^e 
Änderung  der  Beschaffenheit  dieses  zusammengesetzten  Vor- 
ganges resultiert.  Denn  wenn  sich  z.  B.  ein  zusammengeset2ster 
psychophysischer  Prozefs,  der  aus  zwei  Teilvorgängen  (z.  B. 
Schwarzerregung  und  Weifserregung)  besteht,  in  der  Weise 
ändert,  dafs  der  eine  Teilvorgang  immer  stärker  in  Vergleich 
zum  anderen  wird,  so  mufs  dieser  Änderung  des  zusammen- 
gesetzten psychophysischen  Prozesses  nach  den  Darlegungen 
des  §  5  eine  geradläufige  Änderung  der  Empfindungsqualität 
entsprechen.  Die  beiden  Teilvorgänge,  die  durch  allmähliche 
Änderung  ihres  Intensitätsverhältnisses  eine  psychische  Quali- 
tätenreihe ergeben,  brauchen  keineswegs  immer  einfache  Vor- 
gänge zu  sein,  sondern  können  auch  selbst  beide  oder  einer 
von  ihnen  wiederum  zusammengesetzter  Art  sein.  Denken  wir 
uns  z.  B.  einen  psychophysischen  Prozels  einerseits  aus  Weifs- 
erregung und  andererseits  aus  einer  Mischerregung  bestehend, 
welche  in  einem  konstanten,  von  allen  Intensitätsänderungen 
unabhängigen  Verhältnisse  einerseits  aus  Blauerregung  und 
andererseits  aus  Eoterregung  zusammengesetzt  ist,  so  mufs 
bei  einer  geradläufigen  und  allmählichen  Änderung  des  Inten- 


Zwr  PisycTwphysik  der  Geaichtsempfindungen.  37 

siiätsverhältnisses,  in  welchem  die  WeiTserregong  zu  dieser 
Mischerregung  steht,  die  Qualität  der  entsprechenden  Misch- 
empfindnng  (weiTsliohen  Botblauempfindung)  gleichfalls  eine 
geradlänfige  und  allmähliche  Änderung  erfahren.  Femer  können, 
wenn  einer  psychischen  Qualitätenreihe  eine  geradläufige  und 
allmähliche  Änderung  des  Intensitätsverhältnisses  zweier 
(einfacher  oder  zusammengesetzter)  psychophysischer  Teil- 
vorgänge zu  Ghmnde  liegt,  neben  diesen  beiden  Teilvorgängen 
auch  noch  andere  Partialprozesse  vorhanden  sein,  die  sich  an 
der  Änderung  jenes  Intensitätsverhältnisses  direkt  nicht  be- 
teiligen. Wenn  sich  z.  B.  eine  weiTsliche  Botempfindung  durch 
die  gleich  weifslichen  rotblauen  Nuancen  hindurch  in  eine 
gleich  weiTsliche  Blauempfindung  umwandelt,  so  hat  diese  gerad- 
läufige Änderung  der  Empfindungsqualität  ihr  physisches  Kor- 
relat wesentUch  nur  an  der  geradläufigen  Änderung,  welche 
das  Intensitätsverhältnis  zwischen  der  Blau-  und  der  Bot- 
erregung  erfährt,  während  die  Weifserregung  und  Schwarz- 
erregung nur  insofern  ins  Spiel  gezogen  werden,  als  sie  stets 
diejenigen  Intensitätswerte  besitzen  müssen,  welche,  den  Ent- 
wickelungen  von  §  ö  gemäfs,  den  vorhandenen  Intensitätswerten 
der  Bot-  und  Blauerregung  gegenüber  erforderlich  sind,  um 
der  Empfindung  stets  den  gleichen  Grad  von  Weiislichkeit  und 
Schwärzlichkeit  zu  verleihen.  Endlich  kann  eine  psychische 
Qualitätenreihe  auch  noch  in  der  Weise  auf  einer  geradläufigen 
und  stetigen  Aenderung  des  Intensitätsverhältnisses  zweier 
(einfacher  oder  zusammengesetzter)  psychophysischer  Teil- 
vorgänge beruhen,  dafs  neben  diesen  beiden  noch  ein  dritter 
Teilvorgang  vorhanden  ist,  dessen  Intensität  im  Verlaufe 
der  Beihe  in  der  Weise  von  einem  endlichen  Anfangswerte 
aus  zu  einem  höheren  oder  geringeren  Endwerte  anwächst, 
bezw.  absinkt,  dafs  die  Ähnlichkeit,  welche  die  Glieder  der 
Qualitätenreihe  zu  derjenigen  Empfindung  besitzen,  welche 
dieser  dritte  Teilvorgang  allein  genommen  hervorrufen  würde, 
im  Verlaufe  der  Beihe  von  Glied  zu  Glied  immer  gröfser,  bezw. 
geringer  wird.  Dies  ist  z.  B.  der  Fall,  wenn  wir  von  einer 
rötlichen  Schwarzempfindung  aus  durch  die  entsprechenden 
H'uancen  von  rötlichem  Grau  hindurch  in  stetiger  und  gerad- 
läufiger Weise  zu  einer  Weifsempfindung  von  deutlich  gröfserer, 
bezw.  deutlich  geringerer  BötUchkeit  übergehen.  Es  kommen 
auch   Fälle  vor,  die  noch   komplizierter   sind,  als   der  soeben 


38  ö.  E,  Müller. 

erwähnte  Fall.  Man  denke  z.  B.  an  die  psychische  Qualitäten- 
reihe,  die  wir  erhalten,  wenn  wir  von  einer  rotblauen  Schwarz- 
empfindung in  stetiger  und  geradläufiger  Weise  zu  einer  Weifs- 
empfindung von  höherer  Rötlichkeit,  aber  geringerer  Bläulich- 
keit übergehen.  Für  das  Folgende  hat  ein  Eingehen  auf  diese 
komplizierteren  Fälle  kein  Interesse. 

Im  Grunde  beruht  jede  psychische  Qualitätenreihe,  welche 
nicht  durch  eine  stetige,  geradläufige  Änderung  der  Qualität 
eines  oder  mehrerer  einfacher,  psychophysischer  Prozesse  zu 
Stande  kommt,  wesentlich  darauf,  dafs  sich  das  Intensitäts- 
verhältnis zweier  (einfacher  oder  zusammengesetzter)  psycho- 
physischer Teilvorgänge  in  stetiger  und  geradläufiger  Weise 
ändert.  Jede  solche  Qaalitätenreihe  beginnt  prinzipiell  (wenn 
auch  vielleicht  nicht  in  unserer  Erfahrung)  mit  derjenigen 
Empfindung,  bei  welcher  der  erstere  dieser  beiden  psycho- 
physischen  Teilvorgänge  einen  endlichen  Intensitätswert  besitzt, 
hingegen  die  Intensität  des  zweiten  gleich  Null  ist,  und  erreicht 
bei  derjenigen  Empfindung  ihr  Ende,  wo  das  umgekehrte  der 
Fall  ist.  So  hat  auch  in  den  zuletzt  angeführten  Fällen,  wo 
wir  von  einer  rötlichen  Schwarzempfindung  zu  einer  Wei&- 
empfindung  von  gröfserer  oder  geringerer  Bötlichkeit  oder  von 
einer  rotblauen  Schwarzempfindung  zu  einer  Weifsempfinduug 
von  gröfserer  Bötlichkeit,  aber  geringerer  Bläulichkeit  über- 
gehen, die  Qualitätenreihe  ihren  Anfang  bei  derjenigen  Em- 
pfindung, bei  welcher  die  Intensität  der  Weifserregung  gleich 
Null  ist,  hingegen  die  Schwarzerregung  einen  endlichen  Inten- 
sitätswert besitzt,  und  ihr  Ende  bei  derjenigen  Empfindung, 
bei  welcher  das  umgekehrte  der  Fall  ist.  Denken  wir  uns 
die  Empfindungsreihe  über  eine  dieser  beiden  Grenzempfindungen 
hinaus  verlängert,  so  ist  dies  nur  dadurch  möglich«  dafs  wir 
von  der  betreffenden  Grenzempfindung  ab  die  Sichtung  der 
qualitativen  Empfindungsänderung  eine  andere  werden  lassen, 
also   in    eine    andere    QuaUtäteureihe   übergehen.^     Es    besitzt 

^  Denn  wenn  wir  t.  B.  von  einer  rötlichen  Schwarzempfindung  aus 
zunächst  zu  einer  Weifsempfindung  von  höherer  Rötlichkeit,  welcher 
nur  noch  Weifserregung  und  Roterregung  zu  Grunde  liegt,  in  stetiger 
und  geradläufiger  Weise  übergehen  und  alsdann  von  dieser  rötlichen 
Weifsempfindung  aus  in  der  Weise  weitergehen,  dafs  wir  die  'Roterregung 
noch  weiterhin  immer  stärker  in  Vergleich  zu  der  (gleichfalls  anwachsenden) 
Weifserregung  werden  lassen,  so  gehen  wir  hiermit  in  eine  zweite 
Qualitätenreihe,  nämlich  in  diejenige  der  weifsroten  Empfindungen,  über. 


2hir  Psychophysik  der  Gesichtsempfindungen,  39 

also  die  Eoterregung,  bezw.  ßoterregung  und  Blauerregung, 
'welche  in  den  soeben  erwähnten  Qualitätenreihen  neben  der 
Sohwarzerregung  und  Weifserregimg  ihre  Intensitäten  ändern, 
gewissermafsen  nur  eine  accessorische  Bedeutung.  Und  wir 
sind  in  der  That  zu  der  Behauptung  berechtigt,  dafs  jede 
psychische  Qualitätenreihe,  welche  nicht  durch  eine  stetige  und 
geradläufige,  qualitative  Änderung  eines  oder  mehrerer  einfacher 
psychophysischer  Prozesse  zu  stände  kommt,  wesentlich  auf 
der  geradläufigen  und  stetigen  Änderung  des  Intensitätsverhält- 
nisses zweier  (einfacheroderzusammengesetzter)psychophysischer 
Teilvorgänge  beruht. 

Nehmen  wir  an,  es  lasse  sich  ein  einfacher  psychophysischer 
Prozefs  a  durch  allmähliche  Änderung  seiner  Beschaffenheit  (z.  B. 
Schwingungszahl)  in  einen  anderen  einfachen  psychophysischen  Prozefs  b 
stetig  und  geradläufig  überführen,  so  ist  nach  obigem  neben  dieser  Art 
geradläungen  und  stetigen  Überganges  von  a  in  b  noch  eine  zweite  Art 
möglich,  bei  welcher  wir  zu  dem  anfänglich  allein  gegebenen  Vorgänge  a 
den  Vorgang  b  in  zunehmender  Intensität  unter  gleichzeitiger  Schwächung 
von  a  hinzufügen,  so  dafs  a  in  bestimmter  Weise  immer  schwächer  im 
Vergleich  zu  b  wird,  bis  wir  zuletzt  nur  noch  den  Vorgang  b  allein  übrig 
haben.  Bezeichnen  wir  nun  die  den  beiden  psychophysischen  Vorgängen 
a  und  b  zugehörigen  Empfindungen  mit  a  und  /9,  so  müssen  den  beiden 
soeben  angegebenen  Arten  geradläufiger  Änderung  des  psychophysischen 
Prozesses  offenbar  zwei  verschiedene  Arten  geradläufigen  Überganges 
der  Empfindung  a  in  die  Empfindung  ß  entsprechen.^  Und  es  ist  nun 
eine  ebenso  interessante  wie  schwierige  Aufgabe,  die  beiden  in  dieser 
Weise  entstehenden  Empfindungsreihen,  welche  von  dem  gleichen  Anfangs- 
gliede  zu  dem  gleichen  Endgliede  in  stetiger  und  geradläufiger,  aber 
doch  verschiedener  Weise  hinführen,  in  ihrer  psychologischen  Ver- 
schiedenheit ganz  zutreffend  zu  charakterisieren.  Man  kann  meinen, 
dieser  Aufgabe  durch  folgende  Betrachtung  näher  zu  treten. 

Wird  die  von  «  zu  ß  führende  Empfindungsreihe  dadurch  erhalten, 
dafs  sich  das  Intensitätsverhältnis  jener  beiden  psychophysischen  Teil- 
vorgänge in  geradläufiger  und  allmählicher  Weise  ändert,  so  wird  der 
in  der  Empfindungsreihe  stattfindende  Fortschritt  vollständig  dadurch 
charakterisiert,  dafs  man  sagt,  im  Verlaufe  der  Beihe  werde  die  Ähnlich- 
keit zu  a  immer  geringer  und  die  Ähnlichkeit  zu  ^  in  entsprechendem 
Mafse  immer  gröfser.  In  dem  anderen  Falle  hingegen,  wo  wir  von  der 
Empfindung  a  zu  der  Empfindung  ß  dadurch  gelangen,  dafs  ein  einfacher 
psychophysischer  Prozefs  seine  Qualität  in  geradläufiger  and  stetiger 
Weise  ändert  (oder  mehrere  einfache   psychophysische  Prozesse  neben- 


^  Es  braucht  nicht  erst  bemerkt  zu  werden,  dafs  diese  beiden  ver- 
schiedenen Arten  geradläufigen  Empfindungsüberganees  da,  wo  sie 
prinzipiell  möglich  sind,  nicht  auch  stets  in  unserer  Erfahrung  neben- 
einander vorkommen  müssen. 


40  G.  E.  MüUer. 

einander  ihre  Qualität  in  solcher  Weise  verändern),  wird  der  Fortschritt 
in  der  Beihe  nur  unzulänglich  charakterisiert,  wenn  wir  auf  die  Abnahme 
der  Ähnlichkeit  zu  a  und  Zunahme  der  Ähnlichkeit  zu  ß  verweisen; 
denn  jedes  Glied  der  Reihe  enthält  gewissermafsen  ein  ganz  besonderes 
Moment  in  Vergleich  zu  den  früheren  und  späteren  Gliedern  der  Beihe, 
obwohl  es  denselben  in  gröfserem  oder  geringerem  Grade  ähnlich  ist 
(ähnlich  wie  z.  B.  dann,  wenn  wir  die  Botempfindung,  Schwarzempfindung 
und  Weifsempfindung  nach  ihren  Verwandtschaftsverhältnissen  ordnen, 
die  Botempfindung  in  der  Mitte  zwischen  den  beiden  letzteren  Empfin- 
dungen steht  und  dennoch  zugleich  —  ganz  anders  als  die  Grau- 
empfindung —  ein  ganz   neues  Moment  in  Vergleich  zu  beiden  enthält)- 

Der  Umstand,  dafs  in  dem  ersteren  der  beiden  soeben  erörterten. 
Fälle  der  Fortschritt  in  der  Empfindungsreihe  vollständig  durch  die 
Abnahme  der  Ähnlichkeit  zum  Anfangsgi iede  und  die  entsprechende 
Zunahme  der  Ähnlichkeit  zum  Endgliede  charakterisiert  ist,  scheint  es 
nun  mit  sich  zu  bringen,  dafs  uns  in  diesem  Falle  die  Empfindungsreihe 
als  eine  prinzipiell  begrenzte  erscheint.  Allerdings  verhehlen  wir  uns 
nicht,  dafs  vielleicht  jenseits  des  empirischen  Endgliedes  (Anfangsgliedes) 
der  Beihe  noch  eine  Anzahl  von  Empfindungen  möglich  seien,  welche 
dem  Anfangsgliede  (Endgliede)  noch  unähnlicher  seien,  als  das  empirische 
Endglied  (Anfangsglied).  Allein  wir  sagen  uns  zugleich,  dafs,  wenn  die 
Beihe  jenseits  ihrer  empirischen  Grenzen  sich  nicht  völlig  hinsichtlich 
ihres  Charakters  und  der  Art  des  in  ihr  bestehenden  Fortschrittes 
ändern  solle,  die  über  die  empirischen  Grenzen  hinaus  verlängerte  Beihe 
hinsichtlich  der  Art  des  in  ihr  bestehenden  Fortschrittes  gleichfalls  voll- 
ständig dadurch  charakterisiert  sein  müsse,  dafs  von  Glied  zu  Glied  die 
Ähnlichkeit  zu  einer  als  Anfangsglied  der  Beihe  zu  betrachtenden 
Empfindung  abnimmt  und  die  Ähnlichkeit  zu  einer  anderen,  als  Endglied 
zu  betrachtenden  Empfindung  zunimmt.  Es  erscheint  uns  also  auch  die 
über  die  empirischen  Grenzen  hinaus  verlängerte  Beihe  als  eine  von 
einem  Anfangsgliede  zu  einem  Endgliede  reichende,  d.  h.  als  eine  begrenzte 
Beihe. 

Ist  hingegen  in  einer  in  der  Erfahrung  gegebenen  Empfindungs- 
reihe die  Art  des  von  Glied  zu  Glied  stattfindenden  Fortschrittes  nicht 
hinlänglich  dadurch  charakterisiert,  dafs  man  sagt,  es  werde  von  Glied 
zu  Glied  die  Ähnlichkeit  zu  dem  empirischen  Anfangsgliede  der  Beihe 
immer  geringer  und  die  Ähnlichkeit  zu  dem  empirischen  Endgliede  in 
entsprechendem  Grade  immer  gröfser,  sondern  besitzt  trotz  der  konstanten 
Bichtung  des  in  der  Beihe  bestehenden  qualitativen  Fortschrittes  jedes 
Glied  der  Beihe  ein  besonderes  Moment  in  Vergleich  zu  allen  übrigen 
Gliedern,  so  wird  uns  die  Beihe  als  eine  prinzipiell  unbegrenzte  er- 
scheinen, falls  uns  eben,  wie  bei  der  Tonhöhenreihe  der  Fall  ist,  die 
eigentümliche,  konstante  Art  des  in  der  Beihe  bestehenden  qualitativen 
Fortschrittes  irgendwie  zum  Bewufstsein  kommt  und  als  das  Wesentliche 
erscheint,  hingegen  die  im  Verlaufe  des  empirischen  Teiles  der  Reihe 
stattfindende  Abnahme  der  Ähnlichkeit  zu  dem  empirischen  Anfangsgliede 
und  ZunahYne  der  Ähnlichkeit  zu  dem  empirischen  Endgliede  als  ein 
nebensächliches    Merkmal    erscheint,    das    eine    Folge     der    konstanten 


Zur  Psychophysik  der  Oesichtsempfindutigen.  41 

Bichtung  jenes  qualitativen  Fortschrittes  sei.^  Wir  vermögen  in  solchem 
Falle  keinen  Grund  zu  erkennen,  weshalb  der  in  der  Eeihe  stattfindende 
qualitative  Fortschritt  bei  irgend  einer  Empfindung  seinen  Abschlufs 
finden  müsse,  und  so  erscheint  uns  die  Beihe  als  eine  prinzipiell  un- 
begrenzte. 

Denken  wir  uns  also  zwei  Empfindungsreihen  gegeben,  die  beide 
auf  geradl&ufige  Weise  von  einer  Empfindung  a  zu  einer  anderen  Em- 
pfindung ß  hinführen,  und  von  denen  die  erstere  auf  einer  geradläufigen 
qualitativen  Änderung  eines  oder  mehrerer  einfacher  psychophysischer 
Prozesse,  die  andere  aber  in  der  oben  angegebenen  Weise  auf  einer 
geradläufigen  Änderung  des  Intensitätsverhältnisses  zweier  psycho- 
physischer Teilvorgänge  beruht,  so  ist  der  Fortschritt  in  der  letzteren 
Beihe  für  uns  vollständig  dadurch  charakterisiert,  dafs  von  Glied  zu 
Glied  die  Ähnlichkeit  zu  dem  Anfangsgliede  a  abnimmt,  hingegen  die 
Ähnlichkeit  zu  dem  Endgliede  ß  anwächst.  Indem  wir  nun  der  Beihe 
diese  Art  von  Charakteristik  notwendigerweise  auch  für  den  Fall  einer 
Verlängerung  über  ihre  empirischen  Grenzen  hinaus  belassen,  erscheint 
uns  dieselbe  prinzipiell  begrenzt.  Die  erstere  Beihe  hingegen,  in  welcher 
jedes  Glied  sein  besonderes  Moment  in  Vergleich  zu  allen  übrigen 
Gliedern  der  Beihe  besitzt,  scheint  uns  infolge  eben  hiervon  durch  den 
Umstand,  dais  von  Glied  zu  Glied  die  Ähnlichkeit  zu  te  abnimmt  und 
die  Ähnlichkeit  zu  ß  zunimmt,  nur  unvollständig  charakterisiert.  Dieser 
Umstand  tritt  in  unserer  Auffassung  der  Beihe  sogar  völlig  zurück, 
falls  uns  durch  irgend  einen  psychologischen  Faktor  die  eigentümliche, 
konstante  Art  des  qualitativen  Fortschrittes,  der  in  der  Beihe  besteht, 
zum  Bewufstsein  kommt.  Indem  wir  in  diesem  Falle  die  wesentliche 
Eigentümlichkeit  der  Beihe  in  eben  jener  konstanten  Art  qualitativen 
Fortschrittes  erblicken  und  zugleich  nicht  einzusehen  vermögen,  weshalb 
jener  Fortschritt  bei  irgend  einer  Empfindung  ein  Ende  finden  müsse, 
erscheint  uns  die  Beihe  als  eine  prinzipiell  unbegrenzte.' 

Soviel  zur  psychologischen  Charakteristik  der  beiden  hier  er- 
örterten,   verschiedenen   Arten    von    Empfindungsreihen.     Eine   weitere 

*  Hinsichtlich  der  Tonhöhenreihe  vergleiche  man  die  im  wesent- 
lichen auf  dasselbe  hinauskommenden  Ausführungen  von  Stumpf  {Ton- 
Psychologie,  1.  S.  140  ff.,  178  ff.). 

'  Die  beiden  hier  unterschiedenen  Arten  von  Empfindungsreihen 
finden  sich  im  Gebiete  des  Hörsinnes  nebeneinander  verwirklicht,  wenn 
man  z.  B.  die  Empfindung  eines  einfachen  Tones  c  das  eine  Mal  so  in 
die  Empfindung  der  höheren  Oktave  c'  überführt,  dafs  man  durch  die 
zwischenliegenden  Tonhöhen  hindurchgeht,  das  andere  Mal  hingegen  so, 
dafs  man  dem  Tone  c  den  Ton  c'  mit  immer  wachsender  Intensität  und 
unter  gleichzeitiger  Abschwächung  von  c  hinzufügt,  bis  zuletzt  nur  noch 
der  Ton  &  vorhanden  ist.  Vorausgesetzt  wird  natürlich,  dafs  der 
Hörende  in  dem  zweiten  Falle  das  Eintreten  der  den  beiden  Teiltönen 
entsprechenden  einheitlichen  Klangempfindung  nicht  durch  eine  auf 
Heraushören  des  einen  der  beiden  Teiltöne  gerichtete  Anspannung  der 
sinnlichen  Aufmerksamkeit  verhindere.  Während  man  im  ersteren  Falle 
von  einer  Änderung  der  Tonhöhe  redet,  spricht  man  im  zweiten  von 
einer  Änderung  der  Klangfarbe.  Es  dürfte  in  mehrfacher  Hinsicht  von 
Interesse  sein,  im  Gebiete  des  Hörsinnes  über  diese  beiden  Arten  von 
Empfindungsreihen  vergleichende  Versuche  anzustellen. 


42  G.  E.  MüJler, 

Ausfahruog  der  hier  yersuchten  Gedankengänge  dürfte  erst  dann  an- 
gezeigt sein,  wenn  man  über  ein  eingehenderes  und  ausgedehnteres 
empirisches  Material  hinsichtlich  unserer  Auffassung  solcher  Empfindungs- 
reihen und  der  Art  des  in  ihnen  bestehenden  Fortschrittes  verfüget,  ins- 
besondere auch  mit  voller  Sicherheit  übersieht,  inwieweit  unsere  Auf- 
fassung bei  diesen  Dingen  durch  die  Kenntnis  der  Verhältnisse  der 
betreffenden  Beize  beeinfluist  wird. 

Natürlich  haben  wir  hier  ganz  von  denjenigen  Unterschieden  ab- 
gesehen, die  sich  zwischen  den  Empfindungsreihen  geltend  machen,  wenn 
man  die  Erfolge  der  auf  Analyse  von  Sinneseindrücken  gerichteten 
Thätigkeit  der  sinnlichen  Aufmerksamkeit  berücksichtigt.  Ist  die  Nerven- 
erregung, die  einem  Sinnesreize  entspricht,  einfacher  Art,  so  kann  die 
sinnliche  Aufmerksamkeit  diesem  Reize  gegenüber  sich  im  wesentlichen 
nur  in  der  Weise  geltend  machen,  dafs  sie  demselben  die  Ein- 
wirkung auf  das  Bewufstsein  entweder  erleichtert  oder  erschwert.  Falls 
es  sich  hingegen  um  einen  Sinneseindruck  handelt,  welchem  unter  ge- 
wöhnlichen Umständen  eine  aus  mehreren  Partiale rregungen  bestehende 
Mischerregung  und  eine  Mischempfindung  entspricht,  so  kann  unter 
Umständen  die  sinnliche  Aufmerksamkeit  diesen  Partialerregungen  gegen- 
über eine  bevorzugende  und  auswählende  Bolle  spielen  und  hierdurch 
die  Beschaffenheit  derjenigen  Nervenerregung,  welche  wirklich  zum. 
psychophysichen  Prozesse  wird,  mehr  oder  weniger  beeinflussen.  Die 
Leichtigkeit  und  Stärke,  mit  welcher  dieser  Einfiufs  der  sinnlichen 
Aufmerksamkeit  ausgeübt  werden  kann,  hängt  indessen  ganz  wesentlich 
davon  ab,  ob  die  dem  Sinneseindrucke  entsprechende  Mischerregung 
schon  an  der  äufsersten  Peripherie  der  sensorischen  Nervenbahn  in  jedem 
der  beteiligten  Neuronten  hervorgerufen  wird  (wie  dies  z.  B.  der  Fall 
ist,  wenn  durch  einfallendes  Licht  in  den  zu  einer  Netzhautstelle  ge- 
hörigen Sehnervenfasem  eine  aus  Weifserregung  und  ein  oder  zw^ei 
chromatischen  Erregpmgen  bestehende  Mischerregung  hervorgerufen  wird), 
oder  ob  (wie  bei  der  Einwirkung  von  Klängen  der  Fall  ist)  an  den  peri- 
pherischen Endigfungen  jedes  der  von  dem  Eindrucke  zunächst  getroffenen 
Neuronten  nur  eine  einfache  Erregung  bewirkt  wird,  und  die  unter  ge- 
wöhnlichen Umständen  auf  das  Bewufstsein  einwirkende  Mischerregung 
erst  durch  eine  Art  von  Wechselwirkung  oder  Zusammenwirken  dieser 
in  verschiedenen  Neuronten  hervorgerufenen  einfachen  Erregungen^  zu 
Stande  kommt.  Es  ist  physiologisch  nichts  weniger  als  unbegreiflich, 
dafs  im  letzteren  Falle  die  sinnliche  Aufmerksamkeit  die  Wechselwirkung 
oder  das  Zusammenwirken  der  Partialerregungen  verhältnismäfsig  leicht 
zu  brechen  oder  zu  modifizieren  vermag,  während  im  ersteren  Falle, 
einem  analytischen  Bemühen  der  sinnlichen  Aufmerksamkeit  ganz  andere 
Schwierigkeiten  gegenüberstehen.  Es  ist  einigermafsen  befremdend,  daJB 
man  auf  Grund  der  hier  angedeuteten  Thatsachen  der  sinnlichen  Auf- 
merksamkeit dazu  gekommen  ist,  den  Mischempfindungen,  welche  in  dem 


^  Dieses  Zusammenwirken  kann  in  verschiedener  Weise  gedacht 
werden.  Es  würde  uns  zu  weit  abführen,  wollten  wir  hier  näher  auf 
diesen  Punkt  eingehen. 


Zu/r  Paychophysik  der  Gesichtsempfindungen.  43 

zweiten  der  hier  unterschiedenen  Fälle  unter  gewöhnlichen  Umständen 
entstehen,  einen  ganz  anderen  (allerdings  nicht  hinlänglich  klar  be- 
stimmten) psychologischen  Charakter  zuzuschreiben,  als  den  im  ersteren 
Falle  eintretenden  Mischempfindungen.  Denn  der  Inhalt  oder  die  Be- 
schaffenheit einer  imter  gewöhnlichen  Umständen  auftretenden  Misch- 
empfindung hat  damit  gar  nichts  zu  thun,  welche  Wirkungen  eventuell 
eine  intensiy  auf  Analyse  gerichtete  sinnliche  Aufmerksamkeit  an  den 
der  Misohempfindung  zu  Grunde  liegenden  Partialerregungen  hat.  Es 
dürfte  nicht  allzu  schwer  sein,  die  Thatsachen  der  Klangempfindung  und 
Klanganalyse  an  der  Hand  der  modernen  Neurontentheorie  im  Sinne 
der  vorstehenden  Andeutungen  befriedigender  zu  erklären,  als  dies  durch 
ein  Operieren  mit  dem  Worte  Verschmelzung  geschieht. 

§  9.  Erörterung,  inwieweit  man  zwischen  den  beiden 
angeführten  Möglichkeiten  des  Zustandekommens 
einer  psychischen  Qualitätenreihe  entscheiden  könne. 

Nach  Vorstehendem  erhebt  sich  die  wichtige  Frage,  ob  es 
Gesichtspunkte  giebt,  mittelst  deren  wir  entscheiden  können,  ob 
eine  gegebene  psychische  Qualitätenreihe  auf  dem  ersteren 
oder  zweiten  der  beiden  oben  angegebenen  Wege  ihre  psycho- 
physische  Repräsentation  finde,  ob  sie,  auf  einer  geradläufigen 
allmählichen  Veränderung  der  Qualität  eines  oder  mehrerer 
einfacher  psychophysischer  Prozesse  oder  auf  einer  gerad- 
läufigen allmählichen  Änderung  des  Intensitätsverhältnisses 
zweier  (einfacher  oder  zusammengesetzter)  Partialprozesse  beruhe. 
Es  liegt  nahe,  diese  Frage  in  folgender  Weise  zu  beantworten. 

Beruht  die  psychische  Qualitätenreihe  darauf,  dafs  sich  das 
gegenseitige  Intensitätsverhältnis  zweier  psychophysischer  Teil- 
yorgänge  a  und  h  in  geradläufiger  und  allmählicher  Weise 
ändert,  so  ist  die  Reihe  der  Qualitäten,  welche  der  aus  diesen 
beiden  Vorgängen  zusammengesetzte  psychophysische  Prozefs 
besitzen  kann,  auf  der  einen  Seite  durch  das  Glied  begrenzt, 
wo  a  einen  endlichen  Wert  besitzt  und  i  gleich  0  ist,  und  auf  der 
änderen  Seite  durch  das  Glied,  wo  h  einen  endlichen  Wert 
besitzt  und  a  gleich  0  ist.  Es  ist  also  in  diesem  Falle  die 
Beihe  der  Qualitäten  des  psj^'chophysischen  Prozesses  eine 
prinzipiell  begrenzte,  und  mithin  ist  auch  die  entsprechende 
psychische  Qualitätenreihe  prinzipiell  begrenzt. 

Kommt  hingegen  die  psychische  Qualitätenreihe  durch  eine 
geradläufige  und  allmähliche  qualitative  Änderung  eines  oder 
mehrerer  einfacher  psychophysischer  Prozesse  zu  stände,  so  läfst 


44  0.  E.  Müller. 

sich  von  vornherein  nicht  sagen,  ob  die  psychische  Qualitäten- 
reihe  eine  begrenzte  oder  unbegrenzte  sein  werde.  Denn  es 
läfst  sich  nicht  behaupten,  dafs  jede  geradläufige  und  allmähliche 
Änderung  der  Qualität  eines  einfachen  psychophysischen  Pro- 
zesses in  gleicher  Weise  wie  die  Schwingungszahl  eines 
oszillatorischen  Vorganges  prinzipiell  unbegrenzt  sein  müsse. 
Es  sind  auch  solche  geradläufige  qualitative  Änderungen  ein- 
facher physischer  Vorgänge  möglich,  die  nur  bis  zu  gewissen 
Grenzpunkten  hin  stattfinden  können.  So  kann  man  sich  z.  B. 
die  geradlinige  Schwingung  eines  Punktes  durch  stetige 
Änderung  der  Schwingungsrichtung  ganz  allmählich  und  auf 
einem  kürzesten  Wege  in  diejenige  Schwingung  übergeführt 
denken,  welche  in  einer  zur  anfanglichen  Schwingungsrichtung 
senkrechten  Bichtung  stattfindet.^ 

Es  ergiebt  sich  mithin,  dafs  eine  prinzipiell  begrenzte 
psychische  Qualitätenreihe  von  vornherein  betrachtet  sowohl 
durch  eine  geradläufige  allmähliche  Änderung  des  Intensitäts- 
verhältnisses zweier  psychophysischer  Teilvorgänge,  als  auch 
dadurch  bedingt  sein  kann,  dafs  ein  oder  mehrere  einfache 
psychophysische  Prozesse  ihre  Qualität  in  konstanter  Bichtung 
allmählich    verändern.       Hingegen    kann    eine   prinzipiell   un- 

^  Auch  hier  ist  wiederum  eine  zweite  Art  des  stetigen  und  gerad- 
läufigen Oberganges  von  dem  Anfangsgliede  zum  Endgliede  möglich. 
Man  stelle  sich  vor,  dafs  sich  die  geradlinige  Schwingung  ganz  all* 
mählich  in  eine  Schwingung  verwandle,  die  in  einer  Ellipse  stattfindet, 
deren  grofse  Axe  in  die  Bichtung  der  anfänglichen  geradlinigen  Schwingung 
fällt.  Die  Exzentrizität  dieser  Ellipse  werde  immer  kleiner  und  kleiner, 
bis  die  Ellipse  zu  einem  Kreise  wird.  Hierauf  gehe  der  Kreis  in  eine 
Ellipse  über,  deren  grofse  Axe  senkrecht  zur  anfänglichen  Schwingungs- 
richtung steht,  und  diese  Ellipse  werde  immer  gestreckter  und  gestreckter, 
bis  sie  zuletzt  in  eine  zur  anfänglichen  Schwingungsrichtung  senkrecht 
stehende  Gerade  übergeht.  Setzt  man  beispielshalber  den  Fall,  die 
beiden  zu  einander  senkrecht  stehenden  geradlinigen  Schwingungen  seien 
psychophysische  Prozesse,  so  erhebt  sich  abermcds  die  Frage:  wie  unter- 
scheiden sich  die  beiden  psychischen  Qualitätenreihen,  die  man  erhält, 
wenn  man  von  der  einen  geradlinigen  Schwingung  das  eine  Mal  auf  die 
soeben  angedeutete  Weise,  das  andere  Mal  aber  auf  die  oben  angegebene 
Weise  zu  der  darauf  senkrecht  stehenden,  geradlinigen  Schwingung 
stetig  und  geradläufig  übergeht?  Unterschieden  der  Schwingungsrichtung 
kann  man  natürlich  nur  dann  eine  psychophysische  Bedeutung  zuschreiben, 
wenn  man  annimmt,  dafs  sich  mit  der  Schwingungsrichtung  zugleich  die 
räumliche  Beziehung  ändert,  in  welcher  das  schwingende  Teilchen  zu 
anderen  am  psychophysischen  Prozesse  beteiligten  Teilchen  steht. 


Zur  Psychophysik  der  Gesichtsempfindungen. 

begrenzte    psychische   Qualitätenreihe    nur    auf    dem  letzteren 
Wege  zu  Stande  kommen. 

Die  vorstehende  Betrachtung  ist  an  und  für  sich  einwands- 
frei,  leidet  aber  an  dem  Mangel,  dafs  sie  auf  die  in  unserer 
Erfahrung  vorkommenden  psychischen  Qualitätenreiheu  nicht 
anwendbar  ist.  Denn  wenn  eine  Qualitätenreihe  in  unserer 
Erfahrung  über  zwei  Endglieder  nicht  hinausgeht,  so  folgt 
hieraus  noch  nicht  ohne  weiteres,  dafs  die  Beihe  überhaupt 
über  jene  Endglieder  nicht  hinausgehen  könne;  aus  der  em- 
pirischen Begrenztheit  einer  Empfindungsreihe  folgt  noch  nicht 
ihre  prinzipielle  Begrenztheit.,  und  wenn  uns  eine  psychische 
Qualitätenreihe  prinzipiell  begrenzt  oder  unbegrenzt  erscheint, 
so  folgt  noch  nicht  ohne  weiteres,  dafs  sie  auch  wirklich  eine 
prinzipiell  begrenzte,  bezw.  unbegrenzte  Reihe  sei ;  ein  psycho- 
logischer Anschein  kann  auch  trügerisch  sein. 

Mit  Sätzen,  welche  sich  auf  prinzipiell  begrenzte  oder  un- 
begrenzte Qualitätenreihen  beziehen,  können  wir  also  nichts 
anfangen.  Wir  können  nur  von  solchen  Sätzen  Anwendung 
machen,  welche  ims  über  die  Beziehung  etwas  aussagen,  in 
welcher  der  psychologische  Eindruck  oder  Anschein 
der  prinzipiellen  Begrenztheit  oder  ünbegrenztheit  einer 
psychischen  Qualitätenreihe  zu  der  Art  des  psychophysichen 
Zustandekommens  derselben  steht,  und  hier  treten  nun  die 
Betrachtungen  in  Kraft,  die  wir  (um  den  G-ang  der  Erörterung 
nicht  an  dieser  Stelle  stören  zu  müssen)  bereits  in  derScblufs- 
anmerkung  des  vorigen  Paragraphen  angestellt  haben.  Aus 
jenen  Betrachtungen  scheint  sich  zu  ergeben,  dafs,  wenn  der 
in  einer  psychischen  Qualitätenreihe  bestehende  Fortschritt 
durch  die  von  Glied  zu  Glied  stattfindende  Abnahme  der 
Ähnlichkeit  zu  dem  empirischen  Anfangsgliede  und  entsprechende 
Zunal^me  der  Ähnlichkeit  zu  dem  empirischen  Endgliede  der 
Reihe  vollständig  charakterisiert  ist  und  uns  infolge  hiervon 
die  Reihe  als  eine  auch  prinzipieU  begrenzte  erscheint,  abdann 
die  Reihe  auf  .eine  geradläufige  uud  allmähliche  Änderung  des 
Intensitätsverhältnisses  zweier  psychophysischer  Partialprozesse 
zurückzuführen  ist.  Ist  hingegen  der  Portschritt  in  der 
Qualitätenreihe  durch  die  Abnahme  der  Ähnlichkeit  zum 
Anfangsgliede  und  Zunahme  der  Ähnlichkeit  zum  EndgUede 
nicht  vollständig  charakterisiert,  mit  welchem  Verhalten  sich 
(wenigstens  unter  gewissen  psychologischen  Bedingungen)  der  An- 


46  G.  E,  MüUer, 

schein  einer  prinzipiellen  ünbegrenztheit  der  Reihe  verknüpft,  so 
bemht  die  Qualitätenreihe  darauf,  dafs  sich  die  Qualität  eines 
oder  mehrerer  einfacher  psychophysischer  Prozesse  geradläufig 
und  aUmählich  ändert.^ 

Machen  wir  nun  von  vorstehenden  Sätzen  Anwendung,  so 
ergiebt  sich,  dafs  wir  Mach  unsere  Zustimmung  versagen  müssen, 
wenn  er  (Beiträge  jgur  Analyse  der  Empfindungen.  Jena.  1886. 
S.  121  f.)  meint,  dafs  zum  psychophysischen  Verständnisse  der 
Tonhöhenreihe  „die  Annahme  von  nur  zwei  Energien,  die 
durch  verschiedene  Schwingungszahlen  in  verschiedenem  Ver- 
hältnisse ausgelöst  werden",  genüge.  Entspräche  das  psycho- 
physische  Zustandekommen  der  Tonhöhenreihe  dieser  Ansicht 
Machs,  so  würde  sie  uns  hinsichtlich  des  in  ihr  bestehenden 
Fortschrittes  z.  B.  der  schwarzweifsen  Empfindungsreihe  ver- 
gleichbar und  ebenso  wie  diese  prinzipiell  begrenzt  erscheinen. 
In  Anwendung  auf  das  Gebiet  der  G-esichtsempfindungen 
ergiebt  sich  aus  den  vorstehenden  Sätzen,  dafs  alle  psychischen 
Qualitätenreihen  des  Gesichtssinnes  auf  ein  variables  Intensi- 
tätsverhältnis zweier  (einfacher  oder  zusammengesetzter)  psycho- 
physischer Teilvorgänge  zurückzufuhren  sind.  Denn  der  Fort- 
schritt in  allen  jenen  Qualitätenreihen,  die  vom  Schwarz  zum 
Weifs,  vom  Weifs  zum  Bot,  vom  Grün  zum  Blau  u.  s.  w. 
fuhren,  ist  durch  die  von  GUed  zu  Glied  stattfindende  Abnahme 
der  Ähnlichkeit  zum  AnfangsgUede  und  Zunahme  der  Ähnlich- 
keit zum  Endgliede  vollständig  charakterisiert;  und  alle  diese 
Qualitätenreihen  erscheinen  uns  dementsprechend  prinzipiell 
begrenzt. 

Bei  der  ünfertigkeit  und  Unsicherheit  indessen,  welche  den 
hier  zu  Grunde  gelegten  Betrachtungen  (der  Schlufsanmerkung 
des  vorigen  Paragraphen)  anhaftet,    haben   wir  uns  nach  noch 

^  Wie  leicht  zu  erkennen,  ist  es  nach  unseren  früheren  Aus- 
führungen nicht  völlig  ausgeschlossen,  dafs  eine  psychische  Qualitäten- 
reihe uns  prinzipiell  unbegrenzt  erscheine,  obwohl  sie  auf  einer  gerad- 
läufigen Änderung  eines  einfachen  psychophysischen  Prozesses  beruht, 
die  prinzipiell  nur  bis  zu  gewissen  Grenzpunkten  hin  stattfinden  kann. 
Denn  nicht  die  thatsächliche  Begrenztheit  oder  ünbegrenztheit  der  gerad- 
Iftufigen  Veränderlichkeit  des  zu  Grunde  liegenden  psychophysischen 
Prozesses,  sondern  nur  die  Art  des  in  der  psychischen  Qualitätenreihe 
stattfindenden  Fortschrittes  ist  nach  dem  Früheren  dasjenige,  wovon 
der  psychologische  Eindruck  der  prinzipiellen  Begrenztheit  oder  Ün- 
begrenztheit der  Beihe  abhängt. 


Zur  Psychaphysik  der  Gesichtsempfindungen,  47 

anderen  Gesichtspunkten  umzusehen,  welche  Auskunft  über  das 
psychophysische  Zustandekommen  der  psychischen  Qualitäten- 
reihen, insbesondere  derjenigen  des  Gesichtssinnes,  versprechen. 
Als  ein  solcher  Gesichtspunkt  bietet  sich  uns  der  folgende  dar. 
Beruht  eine  psychische  Qualitätenreihe  auf  einer  gerad- 
läufigen Änderung  des  Intensitätsverhältnisses  zweier  psycho- 
physischer  Teilvorgänge  a  und  6,  so  mufs  jedes  Glied  dieser 
Qualitätenreihe  (abgesehen  natürlich  von  den  beiden  Endgliedern) 
dadurch  hergestellt  werden  können,  dafs  man  die  psycho- 
physischen  Prozesse,  welche  zweien  oder  mehreren  das  betreffende 
Glied  zwischen  sich  einfassenden  Gliedern  entsprechen,  in  be- 
stimmten Intensitäts Verhältnissen  miteinander  kombiniert.  Denn 
wenn  einem  gegebenen  Gliede  der  Seihe  ein  bestimmtes  Ver- 
hältnis T-  entspricht,  so  mufs  dasselbe  z.  B.  auch  dadurch  her- 
gestellt werden  können,  dafs  man  zwei  psychophysische  Prozesse, 

deren  einer  durch  einen  höheren  und  deren  anderer  durch  einen 

d 
geringeren  Wert  des  Verhältnisses  j-  charakterisiert  ist,  in  be- 
stimmtem Stärkeverhältnisse  miteinander  kombiniert.  Kommt 
iüngegen  eine  psychische  Qualitätenreihe  durch  eine  gerad- 
läufige Änderung  der  Qualität  (z.  B.  Schwingungszahl)  eines 
oder  mehrerer  einfacher  psychophysischer  Prozesse  zu  stände, 
so  kann,  wie  leicht  ersichtlich,  der  psychophysische  Prozefs, 
welcher  einem  gegebenen  Gliede  der  Beihe  entspricht,  durch 
Kombination  der  psychophysisohen  Prozesse,  welche  zweien 
oder  mehreren  das  gegebene  Glied  zwischen  sich  einschliefsen- 
den Gliedern  der  Beihe  entsprechen,  in  keiner  Weise  hergestellt 
werden.  Wenn  also  Mach,  wie  oben  erwähnt,  die  Tonhöhen- 
reihe auf  ein  variables  Intensitätsverhältnis  zweier  psycho- 
physischer Teilvorgänge  zurückführt,  so  scheint  uns  diese  An- 
sicht auch  daran  zu  scheitern,  dafs  nach  derselben  jedes  Glied 
der  Tonhöhenreihe  auch  durch  Kombination  eines  beliebigen 
höheren  und  tieferen  Tones  müfste  hervorgerufen  werden  können, 
was   thatsächlich   nicht   der  Fall   ist.^     Hingegen   scheint   im 

^  Betrachtet  man  dagegen  die  früher  (S.  41)  erwähnte  Qualitftten- 
reihe,  welche  man  dadurch  erh&lt,  dafs  man  vom  Tone  c  durch  hlolke 
Änderung  der  Klangfarhe  zum  Tone  &  übergeht,  so  zeigt  sich,  dafs  jedes 
Glied  der  Beihe  dadurch  hergestellt  werden  kann,  dafs  man  die  Beize, 
welche  zweien  oder  mehreren   dasselbe  zwischen  sich  einschliefsenden 


48  G^  E.  MüUer. 

Gebiete  des  Gesichtssinnes  das  an  der  Tonhöhenreihe  vermifste 
Verhalten  zu  bestehen.  Denn  jedes  Glied  der  Qnalitätenreihe, 
welches  vom  Schwarz  zmn  Grün  oder  vom  WeiTs  zum  Bot 
oder  vom  Urrot  zmn  Urblan  u.  s.  w.  fuhrt,  können  wir  da- 
durch herstellen,  dafs  wir  die  fieize,  welche  den  beiden  End- 
gliedern der  Reihe  oder  überhaupt  zweien  oder  mehreren  das 
betreffende  Glied  zwischen  sich  einschliefsenden  Gliedern  der 
Beihe  entsprechen,  in  bestimmten  Stärkeverhältmssen  kom- 
binieren.^ 

Wenn  man  indessen  in  letzterem  Thatbestande  einen  voU- 
gültigen  Beweis  für  die  Behauptung  erblicken  würde,  dhb  im 
Gebiete  des  Gesichtssinnes  jede  psychische  Qualitätenreihe  auf 
ein  variables  Intensitätsverhältnis  zweier  psychophysischer  Teil- 
vorgänge ztirückzufuhren  sei,  so  würde  man  wiederum  die 
nötige  Vorsicht  vermissen  lassen.    Denn  zwischen  die  Lichtreize 

Oliedem  entsprechen,  in  bestimmten  Stftrkeverh&ltnissen  kombiniert. 
Hinsichtlich  der  Art  und  Weise,  wie  Mach  dem  hier  erhobenen  Einwände 
zn  begegnen  sucht,  vergleiche  man  dessen  Beiträge  eur  Anafyse  der  Emr 
pfindimgen,  S.  122  f.  Auf  die  sog.  resultierenden  Töne  (man  vergleiche 
z.  B.  Mbldk  in  Pflügers  Arch.  60.  1895.  S.  628  ff.)  braucht  hier  nicht  erst 
eingegangen  zu  werden. 

^  Wenn  man  die  Empfindung  eines  spektralen  Blaugrün  durch 
Kombination  des  spektralen  UrgrUn  und  Urblau  nicht  mit  ganz  dem- 
selben Sättigungsgrade  herstellen  kann,  so  l&fst  sich  dies  unschwer  dar- 
auf zurückführen,  dafs  die  Empfindungsreihe,  welche  (bei  normalen  Be- 
dingungen der  Beobachtung  der  Spektralfarben)  vom  spektralen  ürgrün 
zum  spektralen  TJrblau  führt,  infolge  der  Art  und  Weise,  wie  sich  in 
dieser  Spektralregion  die  Weifsvalenz  des  Lichtes  mit  der  Wellenl&nge 
ändert,  keine  wirkliche  psychische  Qualitätenreihe  darstellt,  d.  h.  keine 
Empfindungsreihe  ist,  in  welcher  sich  die  Qualität  ganz  geradläufig 
ändert.    Analoges  gilt  von  anderen  Spektralregionen. 

In  Hinblick  auf  das  soeben  Bemerkte  kann  man  folgende  ganz  all- 
gemeine Frage  aufwerfen.  Es  sei  gegeben  eine  Mischempfindung  E  (z.  B. 
eine  schwarzweifse  Grünempfindung),  welche  auf  den  psychophysischen 
Teilvorgängen  a^h,  c  .  *  »  beruht,  und  eine  andere  Mischempfindung  E' 
(z.  B.  eine  Blauempfindung  von  geringerer  Weifslichkeit  und  gröfserer 
Schwärzlichkeit),  welcher  die  psychophysischen  Teilvorgänge  a',  &',  c'  .  .  . 
zu  Grunde  liegen,  von  denen  einer  oder  mehrere  die  gleiche  Qualität 
und  auch  Intensität  besitzen  können,  wie  einer,  bezw.  mehrere  jener  Vor- 
gänge a,hy  c .  ,  .  Diese  beiden  Empfindungen  E  und  E  seien  durch  eine 
stetige  Beihe  von  Empfindungen  verbunden,  denen  nur  solche  psycho- 
physische  Prozesse  zu  Grunde  liegen,  welche  die  Qualität  jener  Vor- 
gänge a,  6,  c  . . .  a',  5',  c' . . .  besitzen.  Wie  müssen  sich  nun  im  Fortschritte 
der   von    E  zu   E    hinführenden   Empfindungsreihe    die    gegenseitigen 


Zfwr  P9yc?iaphp8%k  dar  Gesichtaempfindungen.  49 

und  die  psyohophysischen  Prozesse  des  Sehorganes  schieben 
sich  die  chemischen  Netahautprozesse  ein.  Und  der  hier  er- 
wähnte Thatbestand  läfst  sich,  wie  leicht  zu  erkennen,  auch  in 
der  Weise  voUkommen  erklären,  dafs  man  jede  x>sychi0che 
Qualitätttireihe  des  Gesichtssinnes  an£  eine  geradlänfige  Ände- 
rung des  Intensit&ts Verhältnisses  zweier  (einfacher  oder  zusammen- 
gesetzter) Netzhautprozesse,  welcher  eine  geradläufige  Ände- 
rung der  Qualität  des  zugehörigen  psychophysisohen  Prozesses 
entspreche,  zurückführt,  hierbei  aber  ganz  dahingestellt  sein 
läist,  welcher  Art  diese  geradläufige  Änderung  des  psyoho- 
physischen Prozesses  sei,  ob  sie  die  Qualität  eines  oder  mehrerer 
einfacher  Vorgänge  oder  das  Intensitätsverhältnis  zweier  Teü- 
Yorgänge  betreffe. 

Die  Unsicherheit,  die  nach  dem  Bisherigen  hinsichtlich  der 
psychophysisohen  Deutung  einer  gegebenen  psychischen 
Qualitätenreihe  vielleicht  noch  besteht,  schwindet,  sobald  man 

^tensitätsverhältnisse  der  psychophysischen  Teilvorg&nge  verhalten, 
damit  die  Empfindungsreihe  wirklich  eine  psychische  Qualitätenreihe 
sei?  Eine  Antwort  erhält  man  z.  B.  anf  dem  Wege,  dafs  man  an  unsere 
Bemerkung  (S.  35  f.)  anknüpft,  es  sei  die  Empfindungsänderung,  welche 
dem  Durchlaufen  einer  Qualitätenreihe  entspricht,  durchgängig  gerad- 
läufiger Art,  falls  man  sich  sämtliche  Glieder  der  Beihe  auf  gleiche 
Intensität  gebracht  denke.  Man  denke  sich  also  für  jedes  Glied  der  von 
M  zu  E'  hinfahrenden  Empfindungsreihe  die  absoluten  Intensitäten  der 
zu  Grunde  liegenden  psychophysischen  Teilvorg&nge  ohne  Änderung  der 
gegenseitigen  Intensitätsrerhältnisse  dieser  Vorgänge  so  geändert,  dafs 
sämtliche  Empfindungen  der  Beihe  eine  und  dieselbe  Intensität  besitzen. 
Dann  mufs  sich  in  der  so  erhaltenen  Empfindungsreihe  die  Empfindung 
ganz  geradläufig  ändern,  wenn  die  gegebene,  von  ^  zu  ^  führende  Em- 
pfindungsreihe wirklich  eine  psychische  Qualitätenreihe  ist.  Fragt  man 
nun  weiter,  wie  sich  die  psychophysischen  Prozesse,  die  einer  stetigen 
Empfindungsreihe  zu  Grunde  liegen,  verhalten  müssen,  damit  in  dieser 
Beihe  die  Empfindungsänderung  ganz  geradläufig  erfolge,  so  erhält  man 
hierauf  die  Antwort,  wenn  man  von  dem  Satze  ausgeht,  dafs  jedem 
geradläufigen,  d.  h.  kürzesten  und  mithin  einzigartigen 
stetigen  Übergange  zwischen  zwei  Empfindungen  auch  ein 
einzigartiger  stetiger  Übergang  zwischen  den  zwei  zu- 
gehörigen psychophysischen  Prozessen  entsprechen  mufs, 
und  umgekehrt. 

Bei  dem  beschränkten  Zwecke  dieser  Abhandlung  ist  es  uns  un- 
möglich, auf  diese  und  andere  bisher  fast  ganz  vernachlässigte  Punkte 
der  allgemeinen  Psychophysik  näher  einzugehen.  Es  muis  uns  hier 
genügen,  angedeutet  zu  haben,  dafs  die  oben  aufgeworfene  Frage  in  der 
That  eine  prinzipielle  Antwort  zuläfst. 

ZeitMhrlft  llir  Psychologie  X.  4 


50  G.  E.  Müller. 

triftige  Gründe  hat,  die  psychophysischen  Prozesse  des  be- 
treffenden Sinnesgebietes  als  chemische  Vorgänge  anzusehen. 
Denn  es  ist  unmöglich,  eine  durch  zahllose  Zwischenstufen 
hindurchgehende,  geradläufige  Änderung  der  Qualität  eines 
chemischen  Prozesses  sich  anders  vorzustellen,  als  so,  dafs  man 
diesen  Prozefs  aus  zwei  Teilvorgängen  bestehen  läfst,  deren 
Intensitätsverhältnis  sich  allmählich  ändert.  Geht  man  also 
(mit  Herino)  von  der  Voraussetzung  aus,  dafs  die  psycho- 
physischen  Vorgänge  des  Sehorganes  chemischer  Natur  seien, 
so  hat  man  im  Gebiete  des  Gesichtssinnes  jede  psychische 
Qualitätenreihe  auf  ein  variables  Intensitätsverhältnis  zweier 
(einfacher  oder  zusammengesetzter)  psychophysischer  Teil- 
vorgänge zurückzuführen. 

Entsprechendes,  wie  für  den  Fall,  dafs  die  psychophysischen 
Prozesse  des  betreffenden  Sinnesgebietes  als  chemische  Vorgänge 
anzusehen  sind,  gilt  für  den  Fall,  dafs  wenigstens  von  den 
peripherischen  Vorgängen  (z.  B.  den  Netzhautprozessen),  welche 
die  unmittelbaren  Ursachen  der  sensorischen  Nervenerregungen 
sind,  feststeht,  dafs  sie  chemischer  Art  sind,  und  zugleich  an- 
genommen werden  darf,  dafs  jeder  geradläufigen  und  allmählichen 
Änderung  der  Beschaffenheit  der  Nervenerregung  auch  eine 
geradläufige  und  allmähliche  Änderung  der  Beschaffenheit  des 
peripherischen  Vorganges  zu  Grunde  liegt.  Besteht  zwischen 
der  Nervenerregung  und  dem  peripherischen  Vorgange  eine 
Beziehung  der  soeben  angegebenen  Art,  so  mufs  jeder  gerad- 
läufigen und  allmählichen  Änderung  der  Empfindungsqualität 
eine  geradläufige  und  allmähliche  qualitative  Änderung  nicht 
blofs  der  Nervenerregimg,  sondern  auch  des  peripherischen 
Vorganges  entsprechen.  Eine  geradläufige  und  allmähliche 
Änderung  des  letzteren  Vorganges  kann  aber,  wenn  dieser 
chemischer  Art  ist,  nicht  anders  zu  stände  kommen,  als  so,  dafs 
sich  das  Intensitätsverhältnis  zweier  ihn  zusammensetzender 
Partialprozesse  in  konstanter  Bichtung  allmählich  ändert. 

Gehen  wir  also  von  der  gegenwärtig  allgemein  geteilten 
Voraussetzung^  aus,  dafs  die  durch  die  Lichtstrahlen  in  der 
Netzhaut    hervorgerufenen,    die    Entstehung    der    Sehnerven- 


^  Man  vergleiche  hierüber  z.  B.  Bbsvstxik,  Untersuchungen  über  den 
Erregungswrgang  im  Nerven-  und  Muskelsystem.  Heidelberg  1871.  S.  131  ff^ 
KüBNB  in  Hermanns  Handb.  d  Physiol  III.  1.  S.  287  f. 


Zur  Psychophysik  der  Gesichtsempfindungen,  51 

erregungen  vermittelnden  Prozesse  (Netzhautprozesse)  chemischer 
Art  seien,  und  machen  wir  zweitens  (die  Frage,  welcher  Art 
eigentlich  die  Sehnervenerregungen  seien,  ganz  beiseite  lassend) 
die  fast  selbstverständliche  Annahme,  dafs  jeder  geradläufigen 
und  allmähHchen  qualitativen  Änderung  der  Sehnervenerregung 
eine  gleichfalls  geradläufige  und  allmähliche  qualitative 
Änderung  des  Netzhautprozesses  zu  Grunde  liege,  so  kommen 
wir  zu  dem  wichtigen  Satze:  jede  Keihe  von  Gesichts- 
empfindungen, welche  eine  Qualitätenreihe  bildet, 
mufs  auf  einem  Netzhautprozesse  beruhen,  der  aus 
zwei  (einfachen  oder  zusammengesetzten)  chemischen 
Teilvorgängen  besteht,  deren  Intensitätsverhältnis 
sich  geradläufig  und  allmählich  ändert. 

Was  die  zweite  der  bei  Ableitung  dieses  Satzes  zu  Grunde 
gelegten,  vorstehends  angeführten  Voraussetzungen  anbelangt, 
so  nehmen  wir  also  z.  B.  an,  dafs,  wenn  eine  Blauempfindung 
durch  die  entsprechenden  rotblauen  Nuancen  hindurch  all- 
mählich in  eine  Botempfindung  übergehe,  alsdann  dieser 
geradläufigen  «nd  allmähüchen  Änderung  der  Empfindunga- 
qualität  eine  gleichfalls  geradläufige  und  allmähliche  qualitative 
Änderung  nicht  blofs  der  Nervenerregung,  sondern  auch  des 
Netzhautprozesses  zu  Grunde  liege.  Diese  Annahme  ist 
zweifellos  diejenige,  welche  den  Prinzipien  wissenschaftlicher 
Methodologie  gemäis  zunächst  zu  Grunde  zu  legen  und  nur 
dann  aufeugeben  ist,  wenn  sich  zeigt,  dafs  ihre  Zugrundelegung 
zu  unüberwindbaren  Schwierigkeiten  führt,  oder  dafs  eine 
andere,  an  und  für  sich  kompliziertere,  Annahme  dennoch  bei 
Berücksichtigung  aller  zu  erklärender  Erscheinungen  schneller 
und  einfacher  zum  Ziele  fuhrt.  Von  der  Plausibilität  dieser 
Annahme  überzeugt  man  sich  am  besten  dadurch,  dafs  man 
sich  die  Absurdität  einer  gegenteiligen  Annahme  vergegen- 
wärtigt, z.B.  der  Annahme,  dafs  in  dem  soeben  angeführten 
Falle  (des  Überganges  von  einer  Blauempfindung  zu  einer  Bot- 
empfindung) die  Geradläufigkeit  der  qualitativen  Änderung  der 
Empfindung  und  Sehnervenerregung  dadurch  zu  stände  komme, 
dafs  die  qualitative  Änderung  des  Netzhautvorganges  bald  in 
dieser  bald  in  jener  Bichtong  stattfinde. 

Die  hier  in  Bede  stehende,  von  uns  oben  zu  Grunde  ge- 
legte Annahme  findet  nun  überdies  noch  eine  beachtenswerte 
Bestätigung   in    der  früher  (S.  48)  erwähnten  Thatsache,   dafs 


52  ^.  E.  MüOer. 

m  Gebiete  des  G-esichtseiimes  jedes  mittlere  Glied  einer 
peychiechen  Qnalitätenreilie  dadurch  hergestellt  werden  kann, 
dafs  man  die  Beize,  welche  zweien  oder  mehreren  das  betreffende 
Glied  zwischen  sich  einschliefsenden  Gliedern  der  Seihe  ent- 
sprechen, in  bestimmten  StärkcTerhältnissen  miteinander  kom- 
biniert. Denn  macht  man  die  Yoranssetzimgy  daCs  z.  B.  der 
Qoalitätenreihe,  welche  von  einer  Nuance  des  ürrot  zur 
gleichhellen  Nuance  des  ürgelb  hinfUirt,  eine  qualitative 
Änderung  des  Netzhautprozesses  zu  Grunde  liege,  welche  nicht 
gänzlich  in  einer  und  derselben  Bichtung  stattfinde,  sondern 
etwa  anfanglich  darin  bestehe,  dafs  ein  chemischer  Prozefs  a  immer 
schwächer,  hingegen  ein  zu  a  hinzugefügter  Prozels  b  immer 
stärker  werde,  bis  schliefslich  b  nur  noch  allein  übrig  sei,  und 
hierauf  darin  bestehe,  dafs  b  immer  schwächer,  hingegen  ein 
zu  b  hinzugefügter  chemischer  Prozels  e  immer  stärker  werde, 
bis  schliefslich  nur  noch  c  vorhanden  sei,  so  ist  nur  durch  An- 
nahme komplizierterer  Verhältnisse  die  Thatsache  erklärbar, 
dafs  wir  durch  Kombination  der  beiden  Beize,  welche,  einzeln  ge- 
nommen, die  beiden  Netzhautprozesse  a  und  c  hervormfen, 
dieselbe  Nervenerregung  und  Empfindung  bewirken  können^ 
welche  der  von  a  und  c  wesentlich  verschiedene  Netzhaut- 
prozefs  &,  einzeln  genommen,  zur  Folge  hat.  Hingegen  erklärt 
sich  die  Thatsache,  dafs  jedes  Glied  der  erwähnten  Empfindungs- 
reihe durch  geeignete  Kombination  der  Beize,  welche  zweien 
oder  mehreren  das  gegebene  Glied  zwischen  sich  einschliefsenden 
Gliedern  der  Beihe  entsprechen,  hervorgerufen  werden  kann, 
ohne  weiteres  und  in  einfachster  Weise,  wenn  man  annimmt, 
dafs  diese  Empfindungsreihe,  wie  überhaupt  jede  psychische 
Qualitätenreihe  des  Gesichtssinnes,  in  ihrer  ganzen  Erstreckung 
darauf  beruht,  dafs  sich  das  Intensitätsverhältnis  zweier  Netz- 
hautprozesse in  konstanter  Bichtung  ändert.^ 

'  Es  würde  natürlich  auf  einem  argen  MisYerstandnisse  und  völliger 
Verständnislosigkeit  für  psychopbysische  Dinge  beruhen,  wenn  man  dem 
obigen  die  Ansicht  entnehmen  wollte,  es  müsse  jeder  Beihe  qualitativ 
yerschiedener  Sinnesreize,  welche  die  Eigentümlichkeit  besitzt,  dafs  die 
Empfindung  jedes  mittleren  Gliedes  durch  geeignete  Kombination  zweier 
oder  mehrerer  dasselbe  zwischen  sich  einschliefsender  Glieder  hervor- 
gerufen werden  kann,  eine  Beihe  von  Nervenerregungen  und  Empfindungen 
entsprechen,  in  welcher  sich  die  Qualität  geradläufig  ändert.  Über  die 
qualitativen  Verhältnisse  unserer  Empfindungen  können  uns  nur  direkte 
Vergleichungen  der  Empfindungen  selbst  und  ihrer  Unterschiede,  niemals 


Ztir  P8ychop?i^8ik  der  Gesichtsempfindungen.  53 

Wenn  wir  oben  behauptet  haben,  dafs  eine  geradläufige  und  all- 
mähliche qualitative  Änderung  eines  chemischen  Vorganges  nur  dann 
möglich  sei,  wenn  derselbe  aus  zwei  Teilvorgängen,  deren  Intensitäts- 
verhältnis variabel  sei,  bestehe,  so  haben  wir  dabei  ganz  von  der 
Möglichkeit  abgesehen,  dals  der  betreffende  chemische  Prozefs  oszilla- 
torischer Art,  d.  h.  ein  chemischer  Vorgang  sei,  dessen  Lebhaftigkeit 
periodisch  auf-  und  abschwelle,  oder  welcher  aus  einer  Beihe  schnell 
aufeinanderfolgender  gleichartiger  chemischer  Umsetzungen  bestehe, 
die  durch  kurze  Intervalle,  in  denen  chemische  Büokbildung  stattfinde, 
voneinander  getrennt  seien.  Da  an  einem  solchen  chemischen  Vorgange 
die  Dauer  und  der  zeitliche  Verlauf  der  einzelnen  chemischen  Umsetzungen 
in  ähnlicher  Weise  variabel  sind,  wie  an  einem  rein  physikalischen 
Schwingungsprozesse  die  Schwingungsdauer  und  die  Schwingungsform 
veränderlich  sind,  so  würde  man  einen  solchen  Vorgang  für  einen 
chemischen  Prozefs  erklären  können,  der  nicht  durch  das  Intensitäts- 
verhältnis zweier  bestimmter  Teilvorgänge  charakterisiert  sei  und  dennoch 
in  stetiger  und  .geradläufiger  Weise  hinsichtlich  seiner  Beschaffenheit 
variiert  werden  könne.  Man  kann  die  Frage  aufwerfen,  ob  die  Quali- 
tfttenreihe  der  Tonhöhen  durch  solche  chemische  Oszillationsvorgänge 
psychophjsisch  zu  deuten  sei.^  Für  das  Gebiet  des  Q-esichtssinnes  hin- 
gegen kommt  die  Annahme,  dafs  die  Netzhautprozesse  oder  die  psyoho- 
physisch«n  Vorgänge  chemische  Oszillationen  seien,  deren  Dauer  und 
zeitlicher  Verlauf  von  der  Art  des  einwirkenden  Lichtes  abhänge,  schon 
vom  chemisch-physikalischen  und  physiologischen  Standpunkte  aus  über- 
haupt nicht  in  Betracht. 

Angenommen,  es  stehe  für  ein  Sinnesgebiet  fest,  dafs  die  psycho- 
physischen  Prozesse  desselben  chemischer  Art  sind,  und  es  sei  zugleich 
die  Möglichkeit  ausgeschlossen,  dafs  diese  Prozesse  chemische  Oszilla- 
tionsvorgänge  im  obigen  Sinne  seien,  so  müssen  dem  früher  Bemerkten 
gemäfs  in  diesem  Sinnesgebiete  alle  psychischen  Qualitätenreihen  prin- 
zipiell begrenzter  Art  sein  und  auch  den  psychologischen  Eindruck 
prinzipieller  Begrenztheit  mit  sich  führen. 

§  10.   Ableitang  der  seohs  retinalen  G-rundprozesse. 

Wir  gehen  nun  d«zn  über,  von  dem  oben  aufgestellten 
Satze,  dafs  jede  psychische  Qualitätenreihe  des  Gesichtssinnes 
anf  zwei   (einfache  oder  zusammengesetzte)  Netzhautprozesse, 

Aber  irgendwelche  Versuchsresultate  Auskunft  geben,  welche  die  physio 
logische  Vertretbarkeit  eines  Sinnesreizes  durch  einen  (einfachen  oder 
zusammengesetzten)  anderen  Sinnesreiz  betreffen.  Wohl  aber  können 
Besultate  der  letzteren  Art,  wie  sich  aus  obigem  ergiebt,  für  die  Deutung 
des  physiologischen  Zustandekommens  einer  Empfindungsreihe,  von 
welcher  auf  Grund  der  inneren  Wahrnehmung  feststeht,  dals  sie 
eine  psychische  Qualit&tenreihe  im  früher  angegebenen  Sinne  darstellt, 
Yon  Wichtigkeit  sein. 

^  Man  vergleiche  L.  Hermann  in  Pflügers  Ärch,  56.   1894.    S.  497  f. 


54  G.  E.  MüUer. 

deren  Intensitäts Verhältnis  variabel  sei,  zurückgeführt  werden 
müsse,  die  gehörige  Anwendung  zu  machen. 

An  erster  Stelle  tritt  uns  da  die  Seihe  der  schwarzweifsen 
Empfindungen  entgegen,  die  vom  tiefsten  Schwarz  durch  die 
verschiedenen  Abstufungen  des  Grau  zum  hellsten  Weifs  führt. 
Diese  Qualitätenreihe  führen  wir  auf  zwei  chemische  Netzhaut - 
prozesse,  einen  Weifsprozefs  und  einen  Schwarzprozefs,  zurück, 
die,  je  nach  den  Intensitätswerten,  welche  sie  besitzen,  bald 
dieses,  bald  jenes  Glied  der  schwarzweifsen  Empfindungsreihe 
zur  Folge  haben. 

Jede  schwarzweifse  Empfindung  ist  indessen  nicht  blofs 
ein  Glied  der  schwarzweifsen  Empfiudungsreihe,  sondern 
zugleich  auch  noch  AnfangsgUed  zahlloser  anderer  QuaHtäten- 
reihen,  deren  jede  zu  der  Empfindung  eines  gesättigtsten  Farben- 
tones hinführt.  So  stellt  die  Reihe  der  Empfindungen,  welche 
von  einer  gegebenen  Weifsempfindung  durch  die  rötlichen 
Weifsempfindungen  und  weifslichen  Botempfindungen  hindurch 
allmählich  zu  der  gesättigtsten  Botempfindung  hinfuhrt,  eine 
Empfindungsreihe  dar,  in  welcher  die  Änderung  der  Empfindungs- 
qualität allmählich  und  geradläufig  vor  sich  geht.  Eine  Beihe 
gleicher  Art  stellt  die  Empfindungsreihe  dar,  welche  von  der- 
selben Weifsempfindung  aus  durch  die  rotblauen  Weifs- 
empfindungen und  weifslichen  Botblauempfindungen  hindurch 
ohne  Veränderung  des  Farbentones  zu  der  gesättigtsten  Botblau- 
empfindung hinftlhrt.  Das  Gleiche  gilt  von  der  Beihe  der 
weiisgelben,  weifsgrünen,  weifs-grünblauen  u.  s.w.  Empfindungen. 
Jede  von  diesen  zahllosen  weifsfarbigen  Empfindungsreihen 
stellt  eine  (prinzipiell  begrenzt  erscheinende)  psychische  Quali- 
tätenreihe dar.  Es  ist  hier  völlig  irrelevant,  dafs  die  ge- 
sättigtsten der  in  unserer  Erfahrung  vorkommenden  Farben- 
empfindungen als  absolut  gesättigt  nicht  angesehen  werden 
dürfen.  Das  Wesentliche  ist  hier  nur  die  Thatsache,  dafs  jede 
schwarzweifse  Empfindung  das  Anfangsglied  zahlloser  Em- 
pfindungsreihen ist,  in  deren  jeder  dieÄnderung  der  Empfindungs- 
qualität geradläufig  und  allmählich  vor  sich  geht.  Dem  obigen 
Satze  gemäfs  haben  wir  jede  dieser  psychischen  Qualitätenreihen 
auf  ein  variables  Intensitätsverhältnis  zweier  retinaler  Teil- 
vorgänge zurückzuführen,  deren  einer  ein  chromatischer  Prozefs 
ist,  und  deren  anderer  ein  aus  Weifsprozefs  und  Schwarzprozefs 
zusammengesetzter  Vorgang   ist.     Handelt    es    sich   (bei    einer 


Zur  Fsychophysik  der  Cresichtsempfindungen.  55 

prinzipiellen  Betrachtung)  um  die  Qnalitätenreihen,  welche  von 
der  reinen  Weifsempfindung  oder  reinen  Schwarzempfindung 
ausgehen,  so  kommt  natürlich  ein  Bestandteil  des  letzteren 
Vorganges  in  Wegfall. 

Es    fragt   sich   nun,    inwieweit  jener  erstere  Prozefs,    der 
chromatische  Prozefs,    einfacher    oder   zusammengesetzter   Art 
ist.     Auf  diese  Frage  erhalten  wir  die  Antwort,  wenn  wir  uns 
alle    diejenigen  Farbenempfindungen,    welche    einen    ganz    be- 
stimmten    Weifslichkeitsgrad     und     einen     ganz     bestimmten 
Schwärzlichkeitsgrad    besitzen,    aus    denjenigen  der  soeben  er- 
Tirähnten,    von    den  schwarzweifsen  Empfindungen  zu  den  ge- 
sättigtsten Farbenempfindungen  hinfährenden  Qualitätenreihen, 
in   denen  sie   vorkommen,    herausgenommen  und   alsdann   alle 
diese    Farbenempfindungen    von    gleicher    WeifsUchkeit    und 
gleicher  SohwärzUchkeit  nach  ihren  Verwandtschaftsverhältnissen 
in  Qualitätenreihen  angeordnet  denken.     Alsdanii  erhalten  wir 
—    mögen    wir    den    konstanten    Weifslichkeitsgrad    und    den 
konstanten  Schwärzlichkeitsgrad  (der  auch  annähernd  gleich  0 
sein    kann)    in     dieseh    oder   jenen    Werten    wählen    —    vier 
Qualitätenreihen,  nämlich  die  Beihen  der  rotgelben,  gelbgrünen, 
grünblauen  und  blauroten  Empfindungen.     Denn  wenn  wir  von 
einer  Botempfindung   durch    die  gleich  weifslichen  und  gleich 
schwärzlichen     rotgelben     Empfindungen     hindurch     zu     der 
Oelbempfindung    von    gleichfalls     gleicher    WeifsUchkeit    und 
Schwärzlichkeit  übergehen,  so  ist  die  Änderung  der  Empfindungs- 
qualität sowohl  allmählich,   als  auch  geradläufig.     Das  Gleiche 
gilt   für   den  Fall,    dafs  wir  von   einer  Gelbempfindung   unter 
Beibehaltung    desselben  WeifsUohkeits-   und   Schwärzlichkeits- 
grades  durch  die  gelbgrünen  Farbentöne  hindurch  zu  der  ent- 
sprechenden  Grünempfindung   übergehen,    u.  s.  w.     Jede    von 
jenen  vier  Qualitätenreihen  haben  wir  nun  dem  obigen  Satze 
gemäfs  auf  ein  variables  Intensitätsverhältnis  zweier  chemischer 
Netzhautprozesse  zurückzufuhren.     So  haben  wir  z.  B.  die  rot- 
gelbe Qualitätenreihe  psychophysisch  dahin  zu  deuten,  dafs  im 
Verlaufe   der  Reihe    der  Gelbprozefs   in  Vergleich   zum   Bot- 
prozesse immer  stärker  werde,   während  der  Weifsprozefs  und 
der  Schwarzprozefs   immer   gerade   diejenigen  Intensitätswerte 
besäfsen,  welche  den  vorhandenen  Intensitäten  des  Botprozesses 
und  Gelbprozesses  gegenüber  erforderlich  seien,  damit  sämtlichen 
Gliedern  der  Empfindungsreihe  der  gleiche  Grad  von  WeifsUch- 
keit und  von  Schwärzlichkeit  zukomme. 


56  G.  E,  MMer. 

Es  lassen  sich  also  die  farbigen,  d.  h.  nicht  zu  der  schwarz- 
weif sen  Empfindungsreihe  selbst  gehörigen,  Bestandteile  der 
Qnalit&tenreihen,  welche  von  den  schwarzweifsen  Empfindungen 
aus  zu  den  Empfindungen  der  gesättigtsten  Farbentöne  hin*' 
fEQiren,  auch  in  der  Weise  anordnen,  dafs  man  sie  zu  Qualitaten- 
reihen  zusammenfügt,  deren  jeder  ein  bestimmter,  konstanter 
Weifslichkeitsgrad  und  Schwftrzlichkeitsgrad  eigentümlich  ist. 
und  alle  die  Qualitätenreihen,  die  man  bei  dieser  letzteren 
Anordnungsweise  erhält,  sind  entweder  Reihen  rotgelber  oder 
gelbgrüner  oder  grünblauer  oder  blauroter  Empfindungen  von 
konstantem  Weifslichkeits-  und  Schwärzlichkeitsgrade.^  Da 
nun  die  farblosen  und  farbigen  Bestandteile  der  Qualitäten- 
reihen, welche  yon  den  schwarzweifsen  Empfindungen  aus  zu 
den  Empfindungen  der  gesättigtsten  Farbentöne  hinAihren,  die 
G^esamtheit  aller  unserer  Oesichtsempfindungen  darstellen,  so 
kommen  wir  mithin  auf  Grund  des  Satzes,  dafs  jede  psychische 
Qualitätenreihe  des  Gesichtssinnes  auf  zwei  hinsichtlich  ihrer 
Intensitäten  variable  chemische  Netzhautprozesse  zurückzufahren 
ist,  zu  dem  wichtigen  Resultate,  dafs  der  Gesamtheit 
unserer  Gesichtsempfindungen eechsNetzhautprozesse 
zu  Grunde  liegen,  die  wir  kurz  als  den  Weifs-, 
Schwarz-,  Bot-,  Gelb-,  Grün-  und  Blauprozefs  zu  be- 
zeichnen haben,  weil  ihnen  in  dem  Falle,  dafs  jeder 
von  ihnen  ganz  allein  und  ohne  Mitwirkung  endogener 
Erregungsursachen  für  den  Zustand  der  Sehsubstanz 
der  Grofshirnrinde  mafsgebend  wäre,  eine  reine 
Weifs-,  Schwarz-,  Eot-,  Gelb-,  Grün-  und  Blau- 
empfindung in  unserem  Bewufstsein  entsprechen 
würde. 


'  Wie  leicht  ersicbtlich,  hängt  der  Umfang  einer  soldien  rotgelben« 
gelbgrünen,  grünblauen  oder  blauroten  Empfindungsreihe  (d.  h.  die  Zahl 
der  die  Beihe  bildenden  Empfindungen)  von  dem  konstanten  Weiüslichkeita- 
und  Schw&rzlichkeitsgrade  der  Reihe  ab.  Je  mehr  an  einer  solchen 
Reihe  die  Ähnlichkeit  zu  einer  bestimmten  schwarzweiüsen  Empfindung 
hervortritt,  desto  mehr  nähert  sich  der  Umfang  der  Reihe  dem  Falle, 
wo  er  auf  ein  einziges  Glied,  nämlich  eben  die  betreffende  schwarzweifse 
Empfindung,  zusaanmenschrumpft.  Es  liefae  sich  aber  die  hier  in  Rede 
stehenden  Empfindungsreihen  an  der  Hand  unserer  bisherigen  Ent- 
wickelungen  noch  einiges  sagen  und  fragen,  doch  würde  es  die  Geduld 
des  Lesers  zu  sehr  auf  das  Spiel  setzen,  wollten  wir  auf  diese  (fUr  die 
obige  Beweisführung  im  Grunde  irrelevanten)  Dinge  näher  eingehen. 


Zur  Psychqphysik  der  Gesichtsempfinckingen.  57 

Geht   man   yon   der  Yoranssetznng  ans,    dafs  die  psych  o- 

physischen  Prozesse   der  Sehsnbstanz   chemischer  Natur  seien, 

8o   kommt  man   dem    auf  S.  50   Bemerkten    gemäfs    in   ganz 

analoger  Wei^e,    wie  wir  im  vorstehenden   die  sechs  retinalen 

Ghtmdprozesse   abgeleitet  haben,   aber  ohne  einer  bestimmten 

Annahme    hinsichtlich    der    Beziehung    zwischen    Sehnerven- 

erregnng  und  Netzhautprozefs  zu  bedürfen,   notwendig  zu  der 

Sohlufsfolgerung,     dafs    unseren    Gesichtsempfindungen    sechs 

psychophysische  Grundprozesse,  eine  Weifserr^ung,  Schwarz- 

err^ung  u.  s.  w.,  zu  Grunde  liegen. 

Wie  sicli  aus  dem  auf  8.  81  f.  Bemerkten  leicht  ergiebt,  steht  die 
Sache  hinsichtlich  der  Abhängigkeit  der  schwarasweifBen  Empflndungs- 
reihe  von  den  entsprechenden  Netzhautprozessen  etwas  anders,  als  hin- 
sichtlich der  übrigen  Qualitätenreihen  des  Gesichtssinnes,  z.  B.  der 
weiXsroten  und  rotblauen  Beihen.  Es  würde  indessen  für  den  Leser  nur 
zu  ermüdenden  Weitläufigkeiten  der  Darstellung  geführt  haben,  wenn 
wir  im  vorstehenden  und  nachfolgenden  diese  Sonderstellung  der 
achwarsweifsen  Empfindungsreihe  jedesmal  näher  berücksichtigt  hätten. 
Der  Versuch,  die  schwarzweiDge  Empfindungsreihe  auf  einen  einzigen 
Netzhautprozefs  zurückzuführen,  welcher  nach  Mafsgabe  seiner  Intensität 
auf  die  endogene  Weifserregung  der  zentralen  Sehsubstanz  verstärkend, 
hingegen  auf  die  Schwarzerregung  derselben  abschwächend  wirke, 
scheitert  schon  für  eine  oberflächliche  Betrachtung  daran,  dafs  alsdann 
die  Erkläruiig  der  negativen  Nachbilder  und  anderer  Erscheinungen  für 
die  farblosen  Empfindungen  ganz  anders  zu  halten  wäre  als  für  die 
farbigen  Empfindungen.  Der  Leser  wird  sich  aus  den  nachstehenden 
Entwickelungen  alles  dasjenige,  was  wir  in  Beziehung  auf  ^en  der- 
artigen Versuch  zu  sagen  hätten,  leicht  selbst  herausnehmen. 

§  11.   Ergänzende  Bemerkungen  zu  vorstehender 
Ableitung  der  sechs  retinalen  Grundprozesse. 

Ehe  wir  nun  dazu  übergehen,  die  Gründe  anzufahren,  die 
för  die  Annahme  eines  antagonistischen  Verhältnisses  zwischen 
je  zweien  der  obigen  sechs  retinalen  Grundprozesse  sprechen, 
und  die  Konsequenzen  zu  entwickeln,  die  sich  aus  dem  Wesen 
dieser  antagonistischen  Beziehungen  und  der  Art  und  Weise, 
wie  jene  Grundprozesse  durch  die  Lichtstrahlen  ausgelöst 
werden,  ftkr  ^e  Theorie  der  Gesichtsempfindungen  ergeben, 
haben  wir  zunächst  in  diesem  und  den  nachfolgenden  Para- 
graphen dieses  Kapitels  den  bisherigen  Entwickelungen  behufs 
Abwehr  von  Mafsverständnissen  und  behufs  näherer  Begründung 
und  genauerer  Präzisierung  wichtigerer  Punkte  einige  ergänzende 
und  erläuternde  Bemerkungen  zuzufügen. 


58  G.  E.  Müller, 

Wie  ein  Rückblick  auf  das  Bisherige  leicht  ergiebt,  fufst 
unsere  Ableitung  der  sechs  retinalen  Q-rundprozesse  lediglich 
erstens  auf  den  psychophysischen  Axiomen,  zweitens  auf  der 
Annahme  einer  chemischen  Natur  der  Netzhautprozesse,  drittens 
auf  der  Voraussetzung,  dai's  jeder  geradläufigen  und  alhnäh- 
lichen  Änderung  der  Qualität  der  Sehnervenerregung  eine 
gleichfalls  geradläufige  und  allmähliche  Änderung  der  Qualität 
des  Netzhautprozesses  zu  Grunde  liegt,  und  viertens  auf  der 
V'^oraussetzung,  dafs  wir,  wenigstens  im  Gebiete  des  Gesichts- 
sinnes, diejenigen  Empfindungsreihen,  welohe  psychische 
Qualitätenreihen  sind,  d.  h.  in  denen  sich  die  Empfindungs- 
qualität geradläufig  und  allmählich  ändert,  als  solche  zu  er- 
kennen vermögen. 

Hiemach  wird  unsere  Ableitung  der  sechs  retinalen  Gh*und- 
prozesse  nicht  von  den  Einwänden  getroffen,  welche  man  gegen 
die  von  Mach  und  Hering  gegebenen  Ableitungen  der  sechs 
Grundfarben  erhoben  hat.  Mach  (Wien.  Ber.  52.  1865.  11. 
S.  320  f.)  legt  seiner  Ableitung  der  sechs  Grundfarben  den 
Satz  zu  Grunde:  „Wenn  ein  psychischer  Vorgang  sich  auf  rein 
psychologischem  Wege  in  eine  Mehrheit  von  Qualitäten  a,  6,  c 
auflösen  läfst,  so  entsprechen  diesem  eine  ebensogrofse  Zahl 
verschiedener  physischer  Prozesse  a,  fi,  y.*^  Hiergegen  hat 
V.  Kribs  (Die  Gesichtsempfindungen  und  ihre  Analyse.  S.  41. 
Leipzig  1882)  nicht  mit  unrecht  eingewandt,  dafs  sich  z.  B. 
das  Orange  nicht  in  die  Qualitäten  Bot  und  Gelb  zerlegen 
lasse.  „Man  nehme  eine  gleichmäfsig  orangegefUrbte  Fläche 
und  probiere,  das  Bot  und  das  Gelb  herauszusehen,  so  wie  man 
aus  einem  Accord  seine  einzelnen  Töne  heraushört.  Ich  für 
meinen  Teil  finde  das  vollkommen  unmöglich,  die  Empfindung 
bleibt  fclr  mich  eine  vollkommen  einfache,  von  einer  Zerlegung 
ist  keine  Bede.** 

Hering  drückt  sich  in  der  Begel  dahin  aus,  dafs  eine 
Mischempfindung  an  die  betreffenden  Grundempfindungen, 
z.  B.  die  Empfindung  des  Violett  an  die  Empfindungen  von 
Bot  und  Blau  „erinnere'^.  Allein  man  kann  einwerfen,  dafs, 
wenn  Violett  an  Bot  erinnere,  auch  umgekehrt  das  Bot  an 
Violett  erinnere.  An  etwas  erinnern,  Verwandtsein  u.  dergl. 
seien  eben  wechselseitige  Verhältnisse.  Es  lasse  sich  aas 
der  Thatsache,  dafs  Violett  an  Bot  und  Blau  erinnert,  ebenso- 
wenig etwas    schliefsen,  wie  aus  der  Thatsache,    dals  Bot    an 


Ziir  Psychophysik  der  Gesichtsempfindungen.  59 

Violett  und  Orange  erinnern  kann.  Auch  erinnere  z.  B.  der 
Ton  e  an  den  Ton  d  und  /',  und  doch  schliefse  man  hier  nicht, 
daTs  der  Empfindung  des  Tones  e  ein  psychophysischer  Prozefs 
zu.  Grunde  liege,  welcher  aus  den  Nervenerregungen  zusammen- 
gesetzt sei,  die  dem  d  und  f  entsprechen. 

Auf  S.  19  seiner  Abhandlung  j^Zur  Erklärung  der  Farben- 
blindheit aus  der  Theorie  der  Gegenfarben^  bemerkt  Hkrino, 
„dafs  jedem  das  Violett  zugleich  dem  Blau  und  Bot  verwandt 
oder  ähnlich  erscheint,  dais  er  gleichsam  beide  Farben  darin 
zugleich  sieht,  und  dafs  er  es  deshalb  unbedenklich  als  Blau- 
rot oder  Botblau  bezeichnet.  .  .  .  Beines  Gelb  dagegen  wird 
niemand  als  Botgrün  oder  Grünrot  bezeichnen.  **  .  .  .  Dieser 
Auslassung  gegenüber  kann  man  einwenden,  dafs  der  Abstand 
zwischen  dem  Violett  einerseits  und  dem  Bot  oder  Blau 
andererseits  nicht  mit  dem  Abstände  zwischen  Gelb  einerseits 
und  Bot  oder  Grün  andererseits  zu  vergleichen  sei,  sondern 
mit  dem  Abstände  zwischen  Gelb  einerseits  und  Gelbrot  oder 
Gelbgrün  andererseits.  Es  fragt  sich  nun:  erscheint  das  Gelb 
dem  Gelbrot  und  Gelbgrün  nicht  in  gleichem  Grade  verwandt, 
wie  das  Violett  dem  Blau  und  Bot  verwandt  erscheint?  Und 
was  berechtigt  dazu,  die  absolut  gesättigte  Violettempfindung 
für  eine  Mischempfindung,  die  absolut  gesättigte  Gelbempfin- 
dting  hingegen  für  eine  Grundempfindung  zu  halten? 

Mustern  wir  die  Gesichtsempfindungen  einzeln  in  be- 
liebiger Aufeinanderfolge,  so  erscheinen  sie  uns  sämtlich  sozu- 
sagen von  gleicher  Dignität.  Man  sieht  es  sozusagen  keiner 
Gesichtsempfindung  ohne  weiteres  an,  ob  sie  eine  ausgeprägte 
Mischempfindung  oder  mit  gröfserer  oder  geringerer  Annähe- 
rung eine  Grundempfindung  ist.  Man  mufs  die  Gesichts- 
empfindungen zu  Qualitätenreihen  anordnen,  dann  zeigt  sich 
der  Unterschied  zwischen  den  mittleren  Gliedern  und  den 
Endgliedern  dieser  Beihen,  und  dann  kommt  man  unter  den 
oben  wieder  in  Erinnerung  gebrachten  Voraussetzungen  noir 
wendig  zur  Annahme  von  sechs  retinalen  Grundprozessen,  die 
in  dem  Falle,  dafs  jeder  von  ihnen  ganz  allein  für  den 
Erregungszustand  der  Sehsubstanz  mafsgebend  wäre,  die 
Empfindung  des  reinen  Weifs,  Schwarz,  Bot  u.  s.  w.  zur 
Folge   haben  würden.^    Wenn   man    blofs    das  Vorhandensein 

^  Es  braucht  nicht  nochmals   in  Erinnerung  gebracht  zu  werden, 
dafs  wegen   der  früher  erwähnten  endogenen  Erregung  der  Sehsubstanz 


60  6?.  B'  MüXUr. 

and  die  quantitativen  Verhältnisse  der  Ähnlichkeiten  oder  Ver- 
schiedenheiten der  Oesichtsempfindungen  berücksichtigt,  ge- 
winnt man  (mittelst  der  sog.  subjektiven  Methode)  keinen 
sicheren  und  unanfechtbaren  Ausgangspunkt  für.  die  Sechs- 
farbentheorie. Man  muTs  zugleich  die  Sichtung  gegebener 
qualitativer  unterschiede  oder  Änderungen  der  Q-esichts- 
empfindungen  berücksichtigen,  um  zu  einem  solchen  Ausgangs- 
punkte zu  gelangen.  Man  mufs  sagen :  wenn  ich  vom 
Bot  zum  Orange  und  vom  Orange  zum  Gelb  übergehe,  so 
findet  die  Änderung  der  Empfindungsqualität  in  beiden  Fällen 
in  gleicher  Bichtung  statt.  Dasselbe  geschieht,  wenn  ich  vom 
Gelb  zum  Gelbgrün  und  von  diesem  zum  Grün  übergehe,  u.  s.  w. 
Es  bilden  also  die  (gleich  weiTslichen  und  gleich  schwärzlichen) 
rotgelben,  gelbgrünen  u.  s.  w.  Empfindungen  psychische 
Qualitätenreihen  im  früher  angegebenen  Sinne.  Gehe  ich  hin- 
gegen vom  Orange  zum  Gelb  und  dann  vom  Gelb  zum  Gelb- 
grün, oder  zuerst  vom  Gelbgrün  zum  Grün  und  dann  vom 
Grün  zum  Blaugrün  über,  so  ist  die  Änderung  der  Empfindungs- 
qualität im  zweiten  Falle  von  anderer  Bichtung,  als  im  ersteren 
Falle.  Es  sind  also  die  Farbenempfindungen,  die  vom  Orange 
zum  Gelbgrün  oder  vom  Gelbgrün  zum  Blaugrün  führen,  nicht 
tS-lieder  einer  und  derselben  Qualitätenreihe. 

Die  Bichtigkeit  unserer  Ableitung  der  sechs  retinalen 
Grundprozesse  hängt  offenbar  ganz  wesentlich  davon  ab,  ob 
wir  überhaupt  die  Fähigkeit  besitzen,  die  Bichtungen  gegebener 
qualitativer  Empfindungsunterschiede  mit  gewisser  Sicherheit 
zu  vergleichen,  und  bejahenden  Falles  davon,  ob  wir  von  dieser 
Fähigkeit  einen  richtigen  Gebrauch  gemacht  haben,  als  wir 
die  Beihen  der  rotgelben,  gelbgrünen,  grünblauen,  blauroten 
Empfindungen  für  Empfindungsreihen  erklärten,  in  denen  sich 
die  Qualität  geradläufig  ändere. 

Was  zunächst  die  erstere  Frage  anbelangt,  so  dürfte  das 
Bestehen  der  in  Frage  stehenden  Fähigkeit  sich  bereits  hin- 
länglich aus  der  Übereinstimmung  und  Sicherheit  ergeben,  mit 
der  wir  urteilen,  dafs  eine  geradläufige  Änderung  der  Empfin- 

xLod  wegen  der  Weifsvalenzen  der  farbigen  Lichter  eine  reine  Rot-, 
Gelb-,  Grün-  oder  Blauempfindung  in  unserer  Erfahrung  überhaupt  nicht 
vorkommt,  und  dafs  dieses  Nichtvorkommen  der  vier  chromatischen 
Grundempfindungen  für  unsere  Ableitung  der  sechs  retinalen  Grund- 
prozesse durchaus  belanglos  ist. 


Zur  Psychophysik  der  Creaichtsempfindungen.  61 

dnngsqualität  eintrete,  wenn  wir  vom  tiefsten  Schwarz  duroh 
die  verschiedenen  Abstufungen  des  Grau  hindurch  zum  reinen 
WeiTs,  vom  Blau  durch  die  entsprechenden  blauweilsen  Nuancen 
hindurch  zum  reinen  Weifs,  vom  Bot  durch  die  entsprechenden 
rotgrauen  Nuancen  hindurch  zum  Grau  übergehen  u.  dergl.  m. 
AuQh  an  unsere  Beurteilung  der  Tonhöhenreihe  als  einer  gerad- 
l&ufigen  Empfindungsreihe  ist  hier  zu  erinnern. 

Es  fragt  sich  also  nur  noch,  ob  speziell  die  von  uns  ^nter- 
schiedenen  Beihen  der  (gleich  weifslichen  und  gleich  schwärz- 
lichen) rotgelben,  gelbgrünen,  grünblauen  und  blauroten  Em- 
pfindungen wirklich  Empfindungsreihen  sind,  in  denen  sich  die 
Empfindungsqualität  geradläufig  ändert.  Diese  Frage  kann 
nur  durch  die  Beobachtung  entschieden  werden.  Behufs  Ent- 
scheidung derselben  darf  man  sich  nicht  an  eine  Beobachtung 
des  Sonnenspektrums  halten,  das  vor  allem  wegen  der  zwischen 
seinen  verschiedenen  Teilen  bestehenden  Helligkeitsunterschiede 
zu  diesem  Zwecke  völlig  unbrauchbar  ist.  Man  stelle  sich 
vielmehr  durchFarbenkreisel  oder  mittels  durchsichtiger  farbiger 
Papiere,  deren  Helligkeiten  man  durch  untergelegte  weiTse, 
graue  oder  schwärzliche  Papiere  reguliert,  ein  Bot,  ein  Orange, 
ein  Gelb  und  ein  Gelbgrün  von  annähernd  gleichen  Hellig- 
keiten her.  Dann  vergleiche  man  zuerst  die  drei  Farben  Bot, 
Orange,  Gelb  und  hierauf  die  drei  Farben  Orange,  Gelb,  Gelb- 
grün miteinander  und  frage  sich,  wie  sich  beide  Beihen  von 
je  drei  Farben  hinsichtlich  der  zwischen  ihren  Gliedern  be- 
stehenden Unterschiede  verhalten.  Man  wird  zu  dem  Besultate 
kommen,  dafs  in  der  Beihe  Bot,  Orange,  Gelb  die  Empfin- 
dungsänderung beim  Übergange  vom  ersten  zum  zweiten  GUede 
in  der  gleichen  Bichtung  erfolgt,  wie  beim  Übergange  vom 
zweiten  zum  dritten  GUede,  hingegen  in  der  Beihe  Orange, 
Gelb,  Gelbgrün  die  Empfindungsänderung  beim  Übergange  vom 
zweiten  zum  dritten  Gliede  von  anderer  Bichtung  ist,  als  beim 
Übergange  vom  ersten  zum  zweiten  Gliede.  Zu  den  entsprechenden 
Besultaten  gelangt  man,  wenn  man  die  Farbenreihen  Grün,  Grün- 
blau, Blau  und  Grünblau,  Blau,  Blaurot  oder  die  Beihen  Blau, 
Blaurot,  Bot  und  Blaurot,  Bot,  Orange  mit  einander  vergleicht. 
Eleganter  noch  sind  natürlich  die  Versuche,  wenn  man  jede 
der  miteinander  zu  vergleichenden  Farbenreihen  aus  je  fünf 
oder  sieben  Gliedern  bestehen  läfst,  also  z.  B.  die  Beihe,  welche 
aus    Bot,    gelblichem   Bot,  mittlerem    Orange,    rötlichem    Gelb 


62  O,  E.  Müller. 

und  Gelb  besteht,  mit  der  Reihe  vergleicht,  welche  aus  mitt- 
lerem Orange,  rötlichem  Gelb,  Gelb,  grünlichem  Gelb  und 
mittlerem  Gelbgrün  besteht.  Wer  sich  durch  Versuche  der  hier 
angedeuteten  Art  nicht  davon  überzeugen  kann,  dafs  die  Reihen 
der  rotgelben,  gelbgrünen,  grünblauen  und  blauroten  Empfin- 
dungen wirklich  Qualitätenreihen  im  früher  angegebenen  Sinne 
darstellen,  —  dem  ist  einfach  nicht  zu  helfen  (falls  ihm  nicht 
etwa  durch  Versuche  der  im  nächsten  Paragraphen  anzugebenden 
Art  doch  noch  geholfen  werden  kann). 

Wenn  wir  behaupten,  es  bestehe  die  Fähigkeit,  die  Eich- 
tungen von  Empfindungsunter  schieden  miteinander  zu  ver- 
gleichen, so  behaupten  wir  natürlich  nicht,  dafs  dieses  Ver- 
mögen eine  unendlich  grofse  Feinheit  besitze,  und  uns  jede 
minimale  Abweichung  von  der  Geradläufigkeit  einer  Empfin- 
dungsänderung merkbar  sein  müsse,  und  noch  weniger  bestreiten 
wir,  dafs  die  Ausübung  jenes  Vermögens  durch  Vorurteile, 
welche  auf  irrigen  Theorien,  auf  Verwechselungen  physika- 
lischer und  psychophysischer  Verhältnisse  u.  dergl.  beruhen, 
verhindert  oder  irregeleitet  werden  könne.  Wir  haben  es  erlebt, 
dafs  lange  Zeit  hindurch  sogar  von  Forschem  ersten  Banges 
der  Übergang  von  der  Schwarzempfindung  zur  Weifsempfindung 
als  eine  blofse  Änderung  der  Empfindungsintensität  aufgefafst 
und  dargestellt  worden  ist,  was  uns  heutzutage  fast  unbegreiflich 
erscheinen  will.  Wir  dürfen  uns  daher  nicht  wundem,  wenn 
uns  noch  heutzutage  die  inhaltlichen  Beziehungen  der  ge- 
sättigten Farbenempfindungen  vielfach  in  unzutreffender  oder 
unzulänglicher  Weise  geschildert  werden.^ 


^  Es  ist  nicht  gerade  ein  sehr  saohgemäfses  Verfahren,  wenn  man 
z.  B.  ohne  weiteres  zwar  die  Reihe  der  rotweifsen  Empfindungen,  die 
vom  gesättigten  Bot  zum  reinen  Weifs  fahrt,  durch  eine  gerade  Linie, 
hingegen  die  Reihe  der  rotgelben  Empfindungen,  die  vom  gesättigten 
Rot  zum  gesättigten  Gelh  führt,  durch  eine  krumme  Linie  darstellt. 
Es  gehört  nicht  viel  Beobachtungsschärfe  zu  der  Erkenntnis,  daDs  beide 
Empfindungsreihen  durchaus  von  gleicher  Art  sind. 

Man  kann  die  inhaltlichen  Beziehungen  sämtlicher  Farbenempfin- 
dungen überhaupt  nicht  durch  räumliche  Schemata  vollständig  und 
ein  wandsfrei  darstellen.  Denkt  man  sich  z.  B.  die  vier  Grundfarben 
Bot,  Gelb,  Grün,  Blau  in  dieser  Reihenfolge  an  den  vier  Ecken  eines 
Rechteckes  stehend  und  die  Übergangsstufen  zwischen  ihnen  durch  die 
Seiten  des  Rechteckes  dargestellt,  so  ist  zwar  richtig  zur  Darstellung 
gebracht,  dals  die  Richtung  der  Empfindungsänderung  in  der  rotgelben 


Zur  FsychophyHk  der  Gesichtsempfindungen.  63 

Wir  brauchen  femer  nach  dem  Bisherigen  nicht  weiter 
anszuführen,  dafs  unsere  Ableitung  der  sechs  retinalen  Grund- 
prozesse nicht  im  mindesten  von  dem  Einwände  betroffen  wird, 
dafs  wir  im  Spektrum  die  dem  Urgelb,  Urgrün  oder  Urblau 
entsprechenden  Stellen  nicht  mit  absoluter  Sicherheit  bezeichnen 
könnten.  Wird  uns  die  Qualitätenreihe,  die  von  einem  gegebenen 
Schwarz  durch  die  verschiedenen  Abstufungen  des  Grau  hindurch 
ganz  allmählich  zu  einem  ausgeprägten  Weifs  führt,  und  in 
unmittelbarem  Anschlüsse  hieran  die  Qualitätenreihe,  welche 
von  diesem  Weifs  aus  durch  die  verschiedenen  rotweifsen 
Nuancen  hindurch  ganz  allmählich  zu  einem  ziemlich  gesät- 
tigten Bot  führt,  vorgeführt,  und  werden  wir  hierbei  aufgefordert, 
den  Punkt  genau  zu  bezeichnen,  wo  dem  weifsem  Lichte  soeben 
noch  kein  Bot  zugesetzt  worden  sei,  so  werden  wir  nicht  im 
Stande  sein,  diesen  Punkt  mit  untrüglicher  Sicherheit  zu  be- 
zeichnen. Aber  trotz  dieser  UnvoUkommenheit  wird  es  nie- 
mandem einfallen,  sein  Urteil,  dafs  die  vorgeführte  Schar 
von  Empfindungen  aus  zwei  Beihen  bestehe,  die  sich  durch  die 
Bichtung  der  in  ihnen  stattfindenden  Änderung  der  Empfin- 
dnngsqualität  voneinander  unterschieden,  und  die  ihren  Schei- 
dungspunkt bei  ungefähr  der  und  der  Empfindung  besäfsen, 
für  ein  auf  Selbsttäuschung  beruhendes  zh  halten.  Was  in 
diesem  Falle  gilt,  gilt  aber  natürlich  auch  dann,  wenn  die 
vorgeführte   Schar   von    Empfindungen  z.  B.  aus    den   beiden 


Farbenreihe  eine  andere  ist,  als  in  der  gelbgrünen,  in  dieser  eine  andere 
als  in  der  gprünblauen,  u.  s.  w.  Aber,  streng  genommen,  müTste  man  aus 
dieser  Darstellung  herauslesen,  dafs  die  Empfindungsänderung  beim 
Übergange  vom  Bot  zum  Gelb  genau  dieselbe  sei  wie  beim  Übergange 
vom  Blau  zum  Grün,  und  beim  Übergang  vom  Gelb  zum  Grün  dieselbe  sei, 
wie  beim  Übergänge  vom  Bot  zum  Blau ;  denn  es  liegen  ja  je  zwei  Seiten  des 
Beehteckes  in  gleicher  Bichtung.  Auch  würde  diese  Darstellung  zu  der 
durchaus  nicht  unanfechtbaren  Schlufsf  olgerung  veranlassen  können,  dafs 
die  Zahl  der  Zwischenempfindungen,  die  von  der  Gelbempfindung  direkt 
zur  Grünempfindung  überführen,  gleich  grofs  sei,  wie  die  Zahl  der  Empfin- 
dungen, die  den  direkten  Übergang  von  der  Botempfindung  zur  Blauempfin- 
dung bilden,  u.  a.  m.  Wir  haben  also  in  §  10,  wo  es  sich  darum  handelte,  die 
Gesamtheit  unserer  Gesiohtsempfindungen  zu  einem  System  von  Quali- 
t&tenreihen  anzuordnen,  mit  gutem  Grunde  von  einer  Bezugnahme  auf 
r&nmliche  Darstellungen  des  Farbensystems  ganz  Abstand  genommen. 
Über  die  Verwirrungen,  die  bisher  durch  die  Farbentafeln  angerichtet 
worden  sind,  bat  sieb  bekanntlich  Hebivo  in  seiner  Abhandlung:  «Über 
Newtons  Gesetz  der  Farbenmischung**  (S. 49 ff.)  eingehend  ge&uXsert. 


64  6f.  E.  Müller. 

Beihen  der  rotgelben  und  der  gelbgrünen  Empfindungen  besteht, 
und  wir  aufgefordert  werden,  den  Scheidungspunkt  dieser  beiden 
Beihen  genau  zu  bestimmen.  Das  Unsichere  und  Schwankende 
unserer  Bestimmungen  dieses  Punktes  ist  damn  nicht  im  min« 
desten  ein  Beweis  gegen  die  Behauptung,  dais  die  Beihe  der 
gelbgrünen  Empfindungen  durch  die  Bichtung  der  in  ihr  statt- 
findenden Änderung  der  Empfindungsqualität  von  der  Beihe 
der  rotgelben  Empfindungen  wesentlich  verschieden  sei.  Der 
hier  berührte  Mangel  hat  seinen  Grund  lediglich  darin,  dais 
wir  nicht  jeden  beliebig  kleinen  Empfindungsunterschiad 
erkennen  und  noch  weniger  alle  beliebig  kleinen  Empfindungs- 
unterschiede hinsichtlich  ihrer  Bichtung  miteinander  ver- 
gleichen können.  Wäre  unser  Vermögen  in  dieser  Beaiehung 
vollkommen,  so  würden  wir  den  Scheidungspunkt  zweier 
Qualitätenreihen  (der  natürlich  aus  physiologischen  Gtründen 
lu  verschiedenen  Fällen  bei  verschiedenen  äuiseren  Beizen 
gegßben  sein  kann)  auch  stets  nut  untrüglicher  Sicherheit 
bezeichnen  können,  unsere  Ableitung  der  sechs  retinalen  Grund- 
prozesse  wird  aber  durch  die  ünvoUkommenheiten,  welche  unsere 
Fähigkeit  der  Erkennung  und  Yergleichung  von  Empfindungs- 
unterschieden besitzt,  und  die  aus  diesen  ÜnvoUkommenheiten 
entspringenden  Mängel  ebensowenig  widerlegt,  wie  eine  physi- 
kalische Theorie,  welche  aus  Beobachtungen  über  gerad-  und 
krummlinige  Bewegungen  abgeleitet  ist,  dadurch  widerlegt 
wird,  daTs  wir  nicht  jede  minimale  Abweichung  einer  Bewegung 
von  ihrer  bisherigen  Bichtung  erkennen,  und  dais  es  sogar 
Fälle  giebt,  wo  sich  eine  Anzahl  von  Beobachtern  darüber 
herumstreitet,  ob  ein  in  der  Feme  gesehener  Körper  ruhe,  sich 
annähere  oder  entferne. 

Ein  wenig  einsichtiges  Denken  wird  nun  vielleicht  ein- 
wenden, dafs,  wenn  wir  in  Hinblick  auf  unsere  soeben  erwähnte 
ün&higkeit  der  Yergleichung  minimaler  Empfindungsunter- 
schiede aus  jeder  der  in  Betracht  kommenden  Empfindungs- 
reihen nur  eine  beschränkte  Anzahl  von  Gliedern  (nach  dem 
oben  erwähnten  Versuchsverfahren  etwa  gar  nur  drei  oder  fünf 
Glieder)  herausgriffen  und  unser  urteil  über  die  G^radläufigkeit 
oder  üngeradläufigkeit  der  betreffenden  Beihen  nur  auf  die 
Eindrücke  stützten,  die  wir  beim  Durchlaufen  dieser  wenigen 
herausgegriffenen  Glieder  der  Beihen  erhielten,  wir  alsdann 
gar   keine   Gewähr  dafClr  besäfsen,   dafs  uns  eine  von  uns  als 


Zur  Fsychophysik  der  GesichUsemp findungen,  65 

geradläufig  erklärte  Empfindungsreihe  auch  dann  noch  als  eine 
durchgängig  geradläufige  Reihe  erscheinen  würde,  wenn  wir 
nicht  hloÜs  einige  wenige,  sondern  sämtliche  Glieder  derselben 
hinsichtlich  der  Richtung  der  zwischen  ihnen  bestehenden 
Unterschiede  miteinander  rergleichen  könnten.  Es  genügt, 
diesem  Einwände  gegenüber  folgendes  zu  bemerken.  An- 
genommen, es  sei  uns  eine  Linie  gegeben,  von  der  wir  jedes- 
mal nur  einige  Punkte  hinsichtlich  der  Richtung,  in  welcher 
sie  zu  einander  liegen,  miteinander  vergleichen  können,  so 
werden  wir  doch  mit  gutem  Rechte  die  gegebene  Linie  für 
eine  in  ihrer  ganzen  Erstreckung  geradläufige  erklären,  wenn  sich^ 
zeigt,  dafs  jedesmal,  wo  wir  einige  beliebige  Punkte  der  Linie 
herausgreifen  und  hinsichtlich  ihrer  gegenseitigen  Lagen  ver- 
gleichen, diese  beliebig  herausgegrififenen  Punkte  in  einer 
G-eraden  liegen.  Das  Entsprechende  gilt  in  unserem  Falle.  Wir 
halten  z.  B.  die  Änderung  der  Empfindungsqualität  in  der  ganzen 
rotgelben  Reihe  für  eine  geradläufige,  weil  wir  jedesmal,  wo 
wir  beliebige  drei,  vier,  fünf  oder  mehr  Glieder  dieser  Reihe 
herausgreifen  und,  richtig  angeordnet,  miteinander  vergleichen, 
den  Eindruck  haben,  dafs  die  Empfindungsänderung  von  GUed 
zu  Glied  in  derselben  Richtung  stattfinde. 

Wenn  wir  uns  im  bisherigen  auf  unsere  Fähigkeit,  gegebene 
Empfindungsunterschiede  hinsichtlich  ihrer  Richtung  miteinan- 
der zu  vergleichen,  gestützt  haben,  so  halten  wir  uns  deshalb 
nicht  für  verpflichtet,  nun  auch  sofort  an  dieser  Stelle  noch  iii 
eine  psychologische  Untersuchung  dieser  Fähigkeit  und  Er- 
örterung aller  damit  näher  zusammenhängender  Fragen  ein- 
zugehen. .Erstens  verbietet  sich  eine  solche  Abschweifung  aus 
Rücksichten  der  Raumersparnis.  Und  zweitens  würde  es 
deshalb  unzweckmäfsig  sein,  jene  psychologischen  Unter- 
suchungen in  diese  psychophysischen  Entwickelungen  ein- 
zumengen, weil  alsdann  leicht  der  Anschein  entstehen  könnte, 
als  ob  die  Richtigkeit  dieser  letzteren  Entwickelungen  von  der 
Richtigkeit  jener  psychologischen  Untersuchungen  abhängig 
wäre.  Eine  Theorie  der  Fähigkeit,  gegebene  Empfindungs- 
unterschiede hinsichtlich  ihrer  Richtung  zu  vergleichen,  kann 
irrig  oder  unvollständig  sein,  während  die  praktische  Hand- 
habung dieser  Fähigkeit  völlig  richtig  ist.  Auf  die  Dauer 
freüich  darf  sich  die  Psychophysik  einer  psychologischen  Unter- 
suchung dieser  Fähigkeit  nicht  entziehen. 

Z«ittelifift  fttr  Psjchdloffie  X.  5 


66  G,  E.  MüUer. 

Von  den  Gesichtspunkten,  die  bei  der  hier  erwähnten  psychologischen 
Untersuchung  zu  berücksichtigen  sind,  mag  hier  beil&ufigerweise  der 
folgende  erwähnt  werden.  Wir  können  bei  einer  psychischen  Fähigkeit 
eine  allgemeinere  Gesetzmäfsigkeit  und  einen  allgemeineren  Typus,  der 
sich  bei  verschiedenen  Individuen  gewissermafsen  nur  nach  den  ver- 
schiedenen Werten  der  betreffenden  Konstanten  differenziert,  nur  dann 
mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  erwarten,  wenn  es  sich  um  eine  Fähigkeit 
handelt,  die  eine  biologische  Bedeutung  besitzt,  d.  h.  deren  wir  iia 
Kampfe  ums  Dasein  zu  unserem  besseren  Fortkommen  bedürfen.  Stellen 
wir  die  Versuchspersonen  vor  psychologische  Aufgaben,  die  in  der  Praxis 
*des  Lebens  gar  nicht  vorkommen,  und  für  die  wir  von  Haus  aus  so- 
zusagen gar  nicht  bestimmt  sind,  so  wird  sich  der  eine  der  Aufgaben 
mittelst  dieser,  der  andere  mittelst  jener  Kunstgriffe  oder  Q-esichtspunkte 
mit  mehr  oder  weniger  Willkür  entledigen,  und  allgemeingültige  Gesetz- 
mäfsigkeiten  sind  von  vornherein  nicht  zu  erwarten.  £s  fragt  sich  also 
auch  hinsichtlich  der  oben  erwähnten  Fähigkeit  der  Vergleichung  ge- 
gebener Empfindungsunterschiede  nach  ihrer  Richtung,  inwieweit  sich 
dieselbe  als  eine  Fähigkeit  von  biologischer  Bedeutung  darstelle  oder 
wenigstens  ohne  weiteres  auf  eine  solche  Fähigkeit  zurückführen  lasse. 
Wie  wenig  man  sich  bisher  vergegenwärtigt  hat,  dafs  die  experimentelle 
Psychologie  in  erster  Linie  diejenigen  psychischen  Fähigkeiten  zu  unter- 
suchen hat,  die  eine  biologische  Bedeutung  besitzen,  ergiebt  schon  ein 
flüchtiger  Überblick  über  die  Litteratur  dieser  Disziplin.  — 

Wir  haben  oben  (S.  61)  als  ein  Beispiel  dafür,  dafs  wir  über  die 
Bichtung  von  Empfindungsunterschieden  zu  urteilen  vermögen,  die  That- 
Sache  angeführt,  dafs  uns  die  Tonhöhenreihe  als  eine  geradläufige  Reihe 
erscheint.  Li  letzter  Linie  stimmen  die  auf  diese  Thatsache  bezüglichen 
Ausführungen  von  Stumpf  {Tonpspychologie,  1.  S.  140 ff.)  mit  unserer  Auf- 
fassung derselben  überein.  Wenn  indessen  Stumpf  (S.  142  ff.)  zugiebt, 
dafs  man  durch  blofse  Vergleichung  von  Ähnlichkeitsgraden  gleichfalls 
zu  der  Erkenntnis  der  eindimensionalen  Natur  der  Tonhöhenreihe  ge- 
langen könne,  so  dürfte  diese  Konzession  nicht  haltbar  sein.  Der  Satz : 
Das  Gebiet  der  Tonhöhen  besitzt  nur  eine  Dimension,  ist  nicht,  wie 
Stumpf  meint,  mit  dem  Satze  identisch,  „dafs  von  je  drei  Tönen  unter 
allen  Umständen  nur  einer  der  mittlere  sein  kann^^  Betrachten  wir 
z.  6.  die  Farbenreihe,  welche  vom  Rot  auf  dem  kürzesten  Wege  (durch 
weifsliches  Rot  hindurch)  zum  mittleren  Weifsrot  und  von  diesem  auf 
dem  kürzesten  Wege  (durch  weifsliches  Rotblau  hindurch)  zum  mittleren 
Weifsblau  führt,  so  kann  von  je  drei  Gliedern  dieser  Reihe  auch  immer 
nur  eines  das  mittlere  sein,  und  doch  wird  es  uns  nicht  einfallen,  diese 
Reihe  für  eine  eindimensionale  zu  erklären;  denn  die  qualitative 
Änderung  besitzt  beim  Übergänge  vom  Weifsrot  zum  Weifsblau  eine  ganz 
andere  Richtung  als  beim  Obergange  vom  Rot  zum  Weifsrot.  Zum  Be- 
griffe einer  eindimensionalen  Reihe  gehört  nicht  blofs  das  Merkmal,  daüis 
der  Grad  der  Ähnlichkeit  zwischen  zwei  Gliedern  um  so  geringer  ist,  je 
gröfser  ihr  Abstand  in  der  Reihe  ist,  sondern  vielmehr  das  Merkmal, 
dafs  die  Richtung  des  Unterschiedes  zwischen  den  aufeinanderfolgenden 
Gliedern  der  Reihe  stets  dieselbe  ist.    Die  blofse  Fähigkeit,  Ähnlichkeits- 


Zur  F^ychophysik  der  Geskhtsenipfindungen,  67 

grade  miteinander  zu  yergleiohen,  kann  uns  zwar  darüber  belehren,  ob 
an  einer  gegebenen  Empfindungsreihe  das  erstere  Merkmal  vorhanden 
ist,  nicht  aber  auch  darüber,  wie  es  mit  dem  Vorhandensein  des  zweiten 
Merkmales  steht  (dessen  Bestehen  zugleich  das  Vorhandensein  des 
ersteren  Merkmales  einschliefst,  während  das  Umgekehrte  nicht  gilt). 
£s  ist  also  schon  von  vornherein  ohne  weiteres  zu  behaupten,  dafs  der 
Eindruck  der  Eindimensionalitftt  der  Tonhöhenreihe  nur  dadurch  zu 
Stande  kommen  kann,  da/s  wir  die  Konstanz  der  Richtung  der  in  der 
Reihe  stattfindenden  qualitativen  Änderung  erkennen.  Beschränkt  man 
den  Begriff  einer  eindimensionalen  Reihe  nur  auf  das  erstere  der  beiden 
oben  angeführten  Merkmale,  so  kommt  man  zu  dem  absurden  Resultate, 
dafs  ebenso  wie  die  Reihe,  welche  vom  Rot  durch  Weifsrot  zum  reinen 
WeiCs  föhrt,  auch  die  obige  Reihe,  welche  vom  Ret  durch  Weifsrot  zum 
Weifsblau  führt,  eine  eindimensionale  Reihe  ist,  und  dals  beide  ein- 
dimensionalen Reihen  trotz  ihrer  Verschiedenheit  die  eine  Hälfte  ihres 
Verlaufes  gemeinsam  haben! 

§  12.     Von  der  besonderen  Stellung, 

welche    die    sechs    Grundfarben,     insbesondere    auch 

hinsichtlich   der   sprachlichen   Bezeichnung, 

im  Farbensysteme  einnehmen. 

Man  fafst  die  inhaltlichen  Beziehungen  der  G-esichts- 
empfindungen  gelegentlich  so  auf,  als  bestehe  zwischen  den 
Orundfarben  der  Sechsfarbentheorie  und  den  Mischfarben 
lediglich  der  unterschied,  dafs  die  ersteren  Farben  aus  irgend 
welchen  äuTseren  Gründen  im  Verlaufe  der  sprachlichen  Ent- 
wickelung  selbständige  und  einfache  Bezeichnungen  erlangt 
hätten,  während  die  übrigen  Farben  im  allgemeinen  nur 
zusammengesetzter  Bezeichnungen  teilhaftig  geworden  seien, 
welche,  wie  die  Ausdrücke  gelbrot,  violett,  orangefarbig,  ent- 
weder die  Bezeichnungen  der  benachbarten  Grundfarben  in 
sich  einschliefsen  oder  an  die  Namen  bestimmter  Gegenstände 
anknüpfen,  welche  charakteristische  Träger  der  betreffenden 
Übergangsfarben  sind.  Hierher  gehört  z.  B.  die  Darstellung, 
welche  Wundt  [Phüos,  Studien,  4.  1888.  S.  323,  342  ff.,  Grund- 
jBÜge  d,  physiöl.  PsychoL  1.  1893.  S.  487f.)  über  die  inhaltlichen 
Beziehungen  der  Gesichtsempfindungen  und  die  Grundvoraus- 
setzungen der  Sechsfarbentheorie  giebt.  Nach  Wundt  sollen 
letzterer  Theorie  unausgesprochen  zwei  Hülfssätze  zu  Grunde 
liegen,  von  denen  der  erstere  laute :  „Fundamental  verschieden 
sind  solche  Lichtqualitäten,  die  in  der  Sprache  einen  generisch 
verschiedenen  Ausdruck  erhalten  haben.  ^     Dieser  Satz  liefere 


68  O.  E.  MüUer. 

der  erwähnten  Theorie  die  vier  Hauptfarben,  Bot,  Gelb,  Grün 
und  Blau,  und  die  zwei  Qualitäten  des  Farblosen,  Weifs  und 
Schwarz.  Der  zweite  HtQfssatz  laute:  „Jede  Lichtqualität, 
welche  nicht  fundamentaler  Art  ist,  besteht  aus  einer  Mischung 
je  zweier  einander  nächstgelegener  Fundamentalqualitäten.^ 
Die  bevorzugte  Stellung,  welche  die  vier  Grundfarben  hin- 
sichtlich der  sprachlichen  Bezeichnungsweise  im  Farbensysteme 
besitzen,  leitet  Wündt  daraus  ab,  dafs  es,  abgesehen  vom 
Weifs  und  Schwarz,  zwei  Lichtqualitäten  gebe,  die  in  der 
Natur  eine  bevorzugte  Bolle  spielen,  nämlich  das  Blau  des 
Himmels  und  das  Grün  der  Vegetation.  „Neben  ihnen  nimmt 
noch  das  Bot  des  Blutes  einen  vielleicht  mehr  durch  seinen 
intensiven  Gefühlswert,  «Js  durch  extensive  Verbreitung  aus- 
gezeichneten Bang  ein ....  Auch  das  Gelb  gehört,  als  Farbe 
der  herbstlichen  Vegetation,  des  Wüsten-  und  Dünensandes  u.  s.w., 
zu  den  verbreitetsten  Färbungen  der  Natur.  ^ 

Dafs  die  wirklichen  Grundlagen,  auf  welche  eine  Ab- 
leitung der  Sechsfarbentheorie  mittelst  sogenannter  subjektiver 
Analyse  zu  gründen  ist,  von  diesen  Auslassungen  Wündts  über- 
haupt nicht  berührt  werden,  bedarf  nach  dem  Bisherigen  keiner 
weiteren  Ausführung.  Wenn  Wündt  behauptet,  daik  dieser 
Theorie  unausgesprochenei-weise  die  beiden  oben  angeftLhrten 
Hülfssätze  zu  Grunde  lägen,  so  ist  daran  zu  erinnern,  dafs  nicht 
der  mindeste  Anlafs  für  die  Behauptung  vorliegt,  es  sei  die 
Existenz  der  beiden  Bezeichnungen  Grau  und  Braun,  welche 
von  den  übrigen  Farbenbezeichnungen  ebenso  „generifich  ver- 
schieden'^ sind,  wie  etwa  die  beiden  Bezeichnungen  Schwarz 
und  Weifs,  den  beiden  Forschern  Mach  und  Hebiko  ganz  ent- 
gangen. Es  ist  aber  keinem  von  beiden  eingefallen,  wegen 
der  sprachlichen  Besonderheit  der  Ausdrücke  Grau  und  Braun 
denselben  zwei  Grundempfindungen  entsprechen  zu  lassen. 

Der  Anschauung  gegenüber,  nach  welcher  eine  beliebige 
Vierzahl  genügend  weit  voneinander  abstehender  Übergaags- 
farben,  z.  B.  das  mittlere  Gelbrot,  Gelbgrün,  Grünblau  und 
Botblau,  genau  dieselbe  Bolle,  wdche  jetzt  den  vier  Grund- 
farben Bot,  Gelb,  Grün  und  Blau  zukommt,  im  Farbensystem 
spielen  würden,  wenn  ihnen  das  Los  zu  teil  geworden  wäre, 
besondere  einfache  Bezeichnungen  durch  die  Sprache  zu 
erhalten,  dieser  nach  obigem  auch  von  Witndt  geteilten  An- 
schauung gegenüber  dürfte  es  sich  empfehlen,    hier  noch  kurz 


Zur  Psychophysik  der  Gesichtsempfindungen.  69 

auseinaDder  zu  setzen,  inwiefern  jene  vier  Grundfarben  that- 
säcblicli  eine  wesentlich  andere  Holle  im  Farbensystem  spielen, 
als  z.  B.  die  genannten  vier  mittleren  Übergangsfarben,  und 
inwiefern  der  Umstand,  dafs  wir  gerade  für  jene  vier  Grund- 
farben einfache  sprachliche  Bezeichnungen  haben,  ganz  wesent- 
lich mit  der  besonderen  Stellung  jener  Grundfarben  zusammen- 
Mngt. 

Zunächst  ist  hier  an  den  schon  im  bisherigen  hervor- 
gehobenen Umstand  zu  erinnern,  dafs,  wenn  wir  von  einer 
Grundfarbe  durch  die  entsprechenden  Zwischenstufen  hindurch 
zu  einer  benachbarten  Grundfarbe,  z.  B.  vom  Bot  durch  die 
gelbroten  Farbentöne  hindurch  zum  Gelb,  übergehen,  wir  den 
Eindruck  durchgängiger  Geradläufigkeit  der  qualitativen  Em- 
pfindungsänderung haben.  Gehen  wir  hingegen  von  einer 
mittleren  Übergangsfarbe  zu  einer  benachbarten  mittleren 
TJbergangsfarbe,  z.  B.  vom  mittleren  Gelbrot  durch  Gelb  hin- 
durch zum  mittleren  Gelbgrün,  über,  so  haben  wir  den  Eindruck, 
dafs  die  qualitative  Empfindungsänderung  ihre  Bichtung 
wechsle.  In  einem  Systeme  von  Farbenempfindungen  gleicher 
WeifsUchkeit  und  Schwärzlichkeit  stellen  sich  uns  also  die  vier 
Grundfarben  als  die  Anfangs-  und  Endglieder,  hingegen  jene 
vier  Übergangsfarben  als  die  mittleren  Glieder  der  gegebenen 
psychischen  QuaUtätenreihen  dar.  Ebenso  erscheinen  uns  in 
der  Beihe  der  farblosen  Empfindungen  das  Schwarz  und  das 
WeiTs  als  die  Endglieder,  hingegen  die  Nuancen  des  Grau  als 
mittlere  Glieder. 

Femer  ist  hier  auf  folgendes  die  Aufmerksamkeit  zu 
richten.  Nach  der  z.  B.  von  "Wundt  vertretenen  Ansicht,  welche 
die  gesättigten  Farbenempfindungen  durch  eine  Kreislinie  dar- 
zustellen pflegt,  in  welcher  weder  die  vier  Grundfarben  noch 
sonstige  Farben  eine  besondere  Stellung  einnehmen,  muTs  der 
qualitative  unterschied,  der  zwischen  zwei  benachbarten  Grund- 
farben besteht,  durchschnittlich  von  gleicher  Gröfse  sein,  wie 
der  unterschied,  der  zwischen  zwei  benachbarten  mittleren 
Übergangsfarben    besteht.^     Diese  Konsequenz  steht   aber   in 

^  Nimmt  man  an,  dafs  der  qualitative  unterschied  zwischen  zwei 
benachbarten  Grundfarben  (z.  B.  zwischen  Rot  und  Gelh)  von  konstanter 
Ghr&ise  sei,  so  ist  (nach  der  oben  erwähnten  Ansicht)  dem  Unterschiede 
zwischen  zwei  benachbarten  mittleren  Übergangsfarben  (z.B.  zwischen 
dem  mittleren  Gelbrot  und  dem  mittleren  Gelbgrün)  notwendig  dieselbe 


70  ö.  E.  Müller. 

sohroffem  Widerspruche  zu  der  Erfahrung.  Man  stelle  sich 
mittelst  rotierender  Scheiben  oder  auf  sonstige  Weise  in  ge- 
wissem Abstände  voneinander  das  mittlere  Gelbrot  und  das 
mittlere  Gelbgrün  und  in  demselben  Abstände  voneinander 
auch  noch  das  reine  ßot  und  das  reine  Gelb  her,  und  zwar 
alle  vier  Farben  in  möglichst  gleichen  Helligkeiten  (Herstellung 
der  Farben  von  beiden  Seiten  her,  Berücksichtigung  des  Kon- 
trastes, der  Baumlage  u.  s.  w.).  Alsdann  vergleiche  man  den 
Unterschied,  der  zwischen  den  beiden  ersteren  Farben  (mittleren 
Übergangsfarben)  besteht,  hinsichtlich  seiner  Gröfse  mit  dem 
unterschiede,  der  zwischen  den  beiden  letzteren  Farben  (Grund- 
farben) besteht.  Man  wird  finden,  dafs  mit  voller  Sicherheit 
behauptet  werden  darf,  der  letztere  unterschied  sei  bedeutend 
gröfser,  als  der  erstere.  Der  Unterschied  zwischen  dem  fiot 
und  dem  Gelb  erscheint  gewissermafsen  wie  eine  weite  Kluft 
in  Vergleich  zu  dem  Unterschiede  zwischen  den  beiden  ersteren 
Farben.^  Zu  dem  entsprechenden  Besultate  gelangt  man,  wenn 
man  den  Unterschied  zwischen  mittlerem  Blaugrün  und  mittlerem 
Blaurot  von  gleicher  Helligkeit  mit  dem  Unterschiede  ver- 
gleicht, der  zwischen  den  gleich  hellen  Nuancen  des  Urgrün 
und  Urblau  besteht  u.  dergl.  m.  Kurz,  so  vielen  (nicht  erst 
anzuführenden)  Schwierigkeiten  und  Ungenauigkeiten  man  auch 
bei  Versuchen  der  hier  angedeuteten  Art  ausgesetzt  ist,  immer 
zeigt  sich  (wenn  auch  in  den  verschiedenen  Fällen  mit  ver- 
schiedener Deutlichkeit),  dafs  der  Unterschied  zwischen 
zwei  benachbarten  Grundfarben  gröfser  ist,  als  der 
Unterschied    zwischen  zwei  benachbarten   mittleren 


konstante  Gröfse  zuzuschreiben.  Setzt  man  in  Übereinstimmung  mit 
der  ganz  unsticbhaltigen  Darlegung  von  Wundt  (G-rundgüge  d,  physM, 
Psychol,  1898.  1.  S.  485  f.)  den  ünterscMed  zwischen  Gelb  und  Grün  gleich 
grofs,  wie  den  Unterschied  zwischen  Grün  und  Blau,  hingegen  kleiner 
als  den  unterschied  zwischen  Blau  und  Rot,  und  gröfser  als  den  Unt-er- 
schied  zwischen  Gelb  und  Bot  an,  so  fällt  der  Unterschied  zwischen 
mittlerem  Blaurot  und  mittlerem  Gelbrot  kleiner  aus,  als  der  Unter- 
schied zwischen  Bot  und  Blau,  aber  gröfser  als  der  Unterschied 
zwischen  Bot  und  Gelb;  der  Unterschied  zwischen  mittlerem  Gelbrot 
und  mittlerem  GelbgrOn  ist  gleichfalls  gröfser  als  der  Unterschied 
zwischen  Bot  und  Gelb,  u.  s.  w. 

'  Nach  WuNDTS  Darstellimgen  hingegen  ist,  wie  schon  oben  erwähnt, 
der  Unterschied  zwischen  Bot  und  Gelb  sogar  kleiner  als  der  Unter- 
schied zwischen  mittlerem  Gelbrot  und  mittlerem  Gelbgrün  ! 


Zur  Fsychophysik  der  Gesichtsempfindungen.  71 

tJbergangsfarben.  Niemals  zeigt  sich  das  Gegenteil 
Dieses  Resultat  ist  mit  der  oben  erwähnten,  z.  B.  von  Wündt 
vertretenen  Ansicht  völlig  unvereinbar,  hingegen  ist  es  eine 
selbstverständliche  Konsequenz  desjenigen,  was  wir  hinsichtlich 
der  inhaltlichen  Beziehungen  der  Farbenempfindungen  und 
ihrer  G-ruppierimg  zu  psychischen  Qualitätenreihen  behauptet 
haben.  Denkt  man  sich  die  chromatischen  vier  G-rund- 
empfindungen  zunächst  einmal  ganz  disparat  zu  einander,  so  ist 
nach  den  in  §  5  von  uns  gegebenen  Entwickelungen  die 
Ähnlichkeit  zwischen  der  reinen  Botempfindung  und  der  reinen 
Oelbempfindung  gleich  0,  hingegen  die  Ähnlichkeit  der  mittleren 
Oelbrotempfindung,  sowie  der  mittleren  Gelbgrünempfindung 
zur  reinen  Gelbempfindung  gleich  ^  zu  setzen  Und  diese 
mittleren  Übergangsempfindungen,  die  beide  zur  reinen  Gelb- 
empfindung die  Ähnlichkeit  ^  besitzen,  müssen  notwendig  auch 
zu  einander  eine  deutliche  Ähnlichkeit  (deren  Grad  gleich  ^  X  ^ 
zu  setzen  ist)  besitzen.  Nun  sind  allerdings  die  reinen  Farben- 
empfindimgen  keineswegs  disparat  zu  einander.  Auch  ist  zu 
bedenken,  dafs  jeder  der  beobachteten  Farbenempfindungen 
noch  Weifserregung  und  Schwarzerregung  zu  Grunde  liegt.  Es 
besitzen  also  z.  B.  bei  dem  oben  zuerst  erwähnten  Versuche 
die  hergestellte  Eotempfindung  und  Gelbempfindung  noch  eine 
merkbare  Ähnlichkeit  zu  einander.  Da  nun  aber  die  beiden 
soeben  erwähnten  Faktoren  (die  Ähnlichkeit  der  reinen  Farben- 
empfindungen zu  einander  und  die  Beimischung  von  Weifs- 
erregung  und  Schwarzerregung)  auch  an  den  Empfindungen 
der  beiden  mittleren  Übergangsfarben  (des  mittleren  Gelbrot 
und  mittleren  Gelbgrün)  sich  im  Sinne  einer  Steigerung  ihrer 
gegenseitigen  ÄhnHchkeit  geltend  machen,  so  kann  durch  die- 
selben nicht  verhindert  werden,  dafs  der  Unterschied  zwischen 
letzteren  beiden  Empfindungen  geringer  ausfällt,  als  der  Unter- 
schied zwischen  den  Empfindungen  des  Bot  und  des  Gelb. 
Wir  brauchen  diesen  Punkt  wohl  nicht  weiter  auszufahren. 
Es  dürfte  bereits  hinlänglich  einleuchten,  dafs  Beobachtungen 
der  oben  erwähnten  Art  (nebst  Beobachtungen  von  der  auf 
S.  61)  erwähnten  Art)  einen  Beweis  für  die  Bichtigkeit  der- 
jenigen Ansichten  liefern,  die  wir  hinsichtlich  der  inhaltlichen 
Beziehungen  der  Farbenempfindungen  vertreten  haben,  und 
mithin  einen  Beweis  für  die  Sechsfarbentheorie  darbieten. 


72  G,  E.  Müller. 

Bemerkenswert   ist,   dafs   bei  Beobachtungen   der   oben   erwähnten 
Art   der   unterschied   zwischen   den   beiden   mittleren   Übergangsfarben 
ganz   unmittelbar,   d.  h.  auch  ohne  vorausgegangene  Beflexioni  geringer 
erscheint,   als  der  Unterschied  zwischen  den  beiden  Grundfarben.     Sind 
z.  B.  gegeben  mittleres  Blaugrün  imd  mittleres  Botblau  einerseits,    Blau 
und  Grün  andererseits,  so  erscheint  der  Unterschied  zwischen  den  beiden 
ersteren   Farben    geringer,    als    der   Unterschied   zwischen    den    beiden 
letzteren  Farben,  auch  wenn  man  sich  dessen  gar  nicht  bewuist  geworden 
ist,  dafs  die  beiden  ersteren  Farben  einen  gewissen  Grad  von  Bläulichkeit 
gemeinsam  haben,  und  die  Frage,  weshalb  diese  beiden  Farben  einander 
ähnlicher  seien,  nicht  sofort  zu  beantworten  vermag.   Ferner  mufs  hervor- 
gehoben werden,  dafs  der  höhere  Grad  gegenseitiger  Ähnlichkeit,  den  die 
beiden  mittleren  Übergan gsfarbeu  in  Vergleich  zu  den  beiden  Grundfarben 
besitzen,  in  besonders  deutlichem  Grade  hervortritt  bei  dem  Versuche,  die 
Helligkeiten  der  beiden  Übergangsfarben  oder  Grundfarben   miteinander 
zu  vergleichen,   bezw.  dem  Versuche,   diese  Farben   in   gleichen  Hellig- 
keiten   herzustellen.      Während    z.  B.    die    Helligkeitsvergleichung    von 
mittlerem  Gelbrot  und  mittlerem  Gelbgrün  keine  erheblichen  Schwierig- 
keiten macht,   stölst  die  Helligkeitsvergleichung  von  Rot  und  Gelb  auf 
grofse  Schwierigkeit   und  Unsicherheit.     Es   dürfte   nicht   schwer   sein, 
dies   durch   quantitative   Bestimmung   der   Variabilität   des   Urteiles    in 
beiden  Fällen   ganz    objektiv   festzustellen.    Was   endlich  den  Umstand 
anbelangt,  dafs  das  oben  erwähnte  Resultat  in  den  verschiedenen  mög- 
lichen Fällen  nicht  mit  gleicher  Deutlichkeit  hervortritt,  so  ist  folgendes 
zu    bemerken.     Die    gegenseitige    Ähnlichkeit    zwischen    zwei    Misch- 
empfindungen,   deren    einer    eine   Erregung  a   und   eine   Erregung  b    zu 
Grunde  liegen,  und  deren  anderer  dieselbe  Erregung  b  und  eine  Erregung  e 
zu  Grunde  liegen,  häng^  nicht  blofs  davon  ab,  wie  intensiv  die  in  beiden 
Fällen  vorhandene  Erregung  b  im  Verhältnis  zu  der  Erregung  a,  bezw.  c 
st,    sondern    bestimmt   sich   aufserdem  auch  noch  danach,   in  welchem 
Grade  die  beiden  Erregungen  a  und  o  oder  die   Empfindungen  a  und  /, 
welche  dieselben,  isoliert  genommen,  hervorrufen  würden,  einander  ähnlich 
sind.     Je  ähnlicher  diese  beiden  Empfindungen  «  und  y   einander   sind, 
desto   ähnlicher   fallen   unter  sonst  gleichen  Verhältnissen  (bei  gleichen 
Intensitäten  von  a,  b  und  c)  die  beiden  Mischempfindungen  aus«    Auch  der 
Grad  der  Ähnlichkeit,  welche  die  Empfindungen  a  und  y  zu  der  Empfindung /9 
besitzen,  die  der  Erregungsvorgang  6,   isoliert  genommen,   hervorrufen 
würde,   kommt  in  gleichem  Sinne  in  Betracht.    Berücksichtigt  man  nun 
das    soeben   Bemerkte,    so    begreift    man    leicht,    weshalb   bei    gleicher 
Helligkeit  mittleres  Gelbrot  und  mittleres  Gelbgrün  einander  verwandter 
erscheinen,   als    mittleres   Gelbrot   und   mitteres   Blaurot,    und   weshalb 
dementsprechend  das  oben  erwähnte  Versuchsresultat  deutlicher  hervor- 
tritt,   wenn    man    den    Unterschied    zwischen    mittlerem    G^lbrot    und 
mittlerem    Gelbcprün    mit    dem    Unterschiede    zwischen    Rot    und    Gelb 
vergleicht,  als  dann,  wenn  man  den  Unterschied  zwischen  mittlerem  Blaurot 
und  Gelbrot  mit  dem  Unterschiede  zwischen  Rot  imd  Blau  vergleicht.    Die 
reine  Gelbempfindung  und  die  reine  Blauempfindung  sind  eben  einander 
weniger  ähnlich,  als  die  reine  Rotempfindung  und  reine  Grünempfindung. 


Zur  Psychophysik  der  Gesichtsempfindungen,  73 

Weiter  kann  auf  diese  Dinge  hier  nicht  eingegangen  werden.  Man 
erkennt  leicht,  dafs  sich  in  dem  hier  betretenen  Gebiete  noch  mancherlei 
Anwendungen  und  Bestätigungen  für  die  in  §  5  gegebenen  Ent Wickelungen 
finden  lassen  werden.  Eine  kurze  und  präzise  Behandlung  aller  dieser 
Dinge  dürfte  aber  erst  dann  möglich  sein,  wenn  man  sich  auf  die  fQr 
die  gegenseitigen  Ähnlichkeiten  der  Misch empfindungen  aufzustellenden 
Formeln  beziehen  kann,  deren  Entwickelung  wir  der  Baumerspamis 
halber  in  dieser  Abhandlung  unterlassen  mufsten. 

Wir  wenden  uns  nun  noch  zur  Beantwortung  der  für  den 
Psycbopliysiker  nicht  ganz  unwichtigen  Frage,  wie  die  be- 
sondere Stellung,  welche  die  sechs  Grundfarben  hinsichtlich 
der  sprachlichen  Bezeichnung  gegenüber  den  übrigen  Farben 
auiser  Grau  und  Braun  einnehmen,  zu  erklären  sei. 

Dafs  dasjenige,  was  Wundt  nach  dem  oben  Angeführten 
in  dieser  Beziehung  vorbringt,  unstichhaltig  ist,  und  Argumen- 
tationen von  der  Axt  der  obigen  WüNDTschen  Argumentation 
sich  für  die  Bevorzugung  fast  jeder  beliebigen  Yierzahl  oder 
sonstigen  AngtRhl  genügend  weit  voneinander  abstehender 
Farben  vorbringen  liefsen,  bedarf  kaum  besonderer  Ausführung. 
Die  Vegetation  läfst  uns  vielleicht  noch  öfter  wie  Grün  das 
Gelbgrün  erblicken.  Die  herbstliche  Vegetation  bietet  uns 
neben  dem  Gelb  noch  eine  ganze  Reihe  farbiger,  z.  B.  purpur- 
farbiger, Eindrücke,  die  unsere  Aufmerksamkeit  stark  erwecken. 
Die  Färbungen  der  für  den  Menschen  und  sein  Fortkommen 
im  £ampfe  ums  Dasein  wichtigen  Tierarten,  Blüten,  Früchte, 
Metalle  u.  dergl.,  sowie  die  Farben  des  Meeres  wollen  auch 
bedacht  sein.^  Inwieweit  die  Farbe  des  Dünensandes 
gerade  das  Gelb  und  die  Farbe  des  (arteriellen  oder  venösen!) 
Blutes  gerade  das  Rot  und  nicht  ebenso  auch  eine  Übergangs- 
farbe repräsentiere,  soll  nicht  weiter  untersucht  werden.  Wäre 
fbr  die  Bezeichnung  der  Grundfarben  durch  einfache  Namen 
der  umstand  mafsgebend  gewesen,  dafs  gewisse  Träger  dieser 
Farben  in  der  Natur  eine  hervorragende  Bolle  spielen,  so  wäre 
zu  vermuten,  dafs  jene  einfachen  Namen  der  Grundfarben  durch 
Anknüpfung  an  die  Bezeichnungen  jener  hervorragenden 
Träger  der  Grundfarben  entstanden  seien,  dafs  also  z.  B.  blau 
ursprünglich    soviel    wie   himmelfarben   bedeutet    habe.       Mit 


*  Thatsächlich  sind  auch  zahlreiche  Farbenbenennungen  von  den 
Namen  von  Metallen,  Früchten  u.  dergl.  sowie  von  dem  Namen  des 
Meeres  abgeleitet.  Man  vergleiche  z.  6.  Grakt  Allbn,  Der  Farbenswn, 
Leipzig  1880.  S.  241  ff. 


74  G.  E.  Müller. 

dieser  Vermatang  stiinnien  aber  die  Resultate  der  etymo- 
logischen Forschung  keineswegs  überein  (man  vergleiche 
0.  Weise,  Die  Farbenbezeichnungen  der  Indogermanen,  in 
Bezjsenbergers  Beiträgen  aur  Kunde  der  indogermanischen  Sprachen, 
2.  1878.  S.  273  flf.). 

Wir  glauben,  dafs  man  die  hier  in  Bede  stehende  Frage 
von  einem  ganz  anderen  Oesichtspxmkte  aus  zu  behandeln  hat. 
Es  ist  hier  an  ein  allgemeines  Prinzip  zu  erinnern,  welches 
die  Sprache  dann  befolgt,  wenn  es  sich  um  eine  Beihe  koor- 
dinierter, allmählich  ineinander  übergehender  Eigenschaften 
handelt,  in  welcher  sich  die  Änderung  oder  der  Fortschritt 
fortwährend  in  derselben  Sichtung  vollzieht,  und  in  welcher 
demgemäfs  die  Verschiedenheit  zweier  Glieder  um  so  gröfser 
ist,  je  weiter  sie  in  der  Beihe  von  einander  abstehen.  Handelt 
es  sich  um  eine  solche  Beihe  von  Eigenschaften,  so  pflegt  die 
Sprache  in  erster  Linie  besondere  einfache  Bezeichnungen  nur 
für  die  beiden  Endteile  oder  Aufsenteile  der  Beihe  zu  schaffen, 
niemals  aber  etwa  den  mittleren  Teil  der  Beihe  zuerst  mit 
einem  einfachen,  besonderen  Namen  zu  belegen.  Denn  nicht 
das  Mittlere,  DurchschnittUche  fordert  in  erster  Linie  eine 
Benennung  heraus,  sondern  dasjenige,  was  von  dem  Mittleren 
abweicht  und  hierdurch  in  unerwarteter  Weise  wirkt  oder  die 
Aufmerksamkeit  besonders  fesselt.  Die  Gültigkeit  des  hier 
angeführten  Prinzips  ergiebt  sich  hinlänglich,  wenn  wir  an  Be- 
nennungen, wie  die  folgenden,  erinnern:  grofs— klein,  alt — ^jung, 
hart— weich,  scharf — stumpf,  stark — schwach,  dick—dünn,  lang 
— ^kurz,  hoch — niedrig  u.  dergl.  m.  Indem  nun  die  Sprache 
das  bei  der  Erschaffung  dieser  Bezeichnungen  befolgte  Prinzip 
auch  bei  den  durch  den  Gesichtssinn  gegebenen  Qualitäten- 
reihen anwendet,  und  zwar  sparsamerweise  nur  för  diejenigen 
Qualitätenreihen  je  zwei  Bezeichnungen  schafft,  deren  Glieder 
nicht  auch  als  mittlere  Glieder  anderer  Qualitätenreihen  vor- 
kommen und  mithin  mit  Hülfe  der  for  diese  anderen  Quali- 
tätenreihen geschaffenen  Bezeichnungen  umschrieben  werden 
können,^  kommt  sie  notwendig  dazu,  die  sechs  besonderen  ein- 

^  Eine  Qualitätenreihe  ist  z.  B.  auch  die  Beihe,  welche  vom  mittleren 
Weifsrot  zum  gleich  weifslichen  Gelb  führt.  Würde  die  Sprache  auch 
für  die  Endteile  dieser  Qualitätenreihe,  also  ftir  WeÜBrot  und  Weüsgelb, 
besondere  Bezeichnungen  schaffen,  so  würde  sie  nicht  sparsam  yerfahren, 
da  ja  das  Weifsrot  und  Weifsgelb,  die  überdies  ihrer  geringen  Sättigung 


Zur  FBychophysik  der  Geaichtsemp findungen.  75 

fachen  Farbenbezeichnungen  Schwarz,  Weifs,  Rot,  Gelb,  Grün, 
Blau  zu  erschaffen. 

Da  durch  die  Schriften  von  G-bioeb,  Magnus  u.  a.  und  die- 
jenigen Untersuchungen,  welche  zur  Widerlegung  der  von 
diesen  Forschem  geäufserten,  irrigen  Ansichten  über  die  ge- 
schichtliche Entwickelung  des  Farbensinnes  gedient  haben,  das 
Wissen  von  einer  historischen  Entwickelung  der  Farben- 
bezeichnungen und  ihrer  Bedeutungen  selbst  in  ein  gröfseres 
Publikum  gedrungen  ist,  so  brauchen  wir  an  dieser  Stelle 
nicht  noch  hervorzuheben,  dafs  das  oben  angefahrte  Prinzip 
natürlich  nicht  ein  Prinzip  ist,  das  die  Sprache  sozusagen  von 
Anbeginn  an  schon  bei  der  ersten  Erschaffung  von  Farben- 
bezeichnungen streng  befolgt  hat,  sondern  vielmehr  nur  ein 
Prinzip  ist,  das  sich  im  Laufe  der  historischen  Entwickelung 
der  menschlichen  Intelligenz  und  Beobachtungsgabe  immer 
mehr  an  der  Art  und  Weise  geltend  gemacht  hat,  wie  die  ur- 
sprünglich auf  ganz  primitivem  Wege  durch  Anknüpfung  an 
diese  oder  jene  Wurzeln  oder  Bezeichnungen  entstandenen 
Farbennamen  (vergl.  0.  Weise,  a.  a.  O.)  in  ihrer  Bedeutung 
verschoben,  eingeengt  oder  fixiert  oder  in  ihrer  Anzahl  ver- 
ändert wurden,  bis  eben  schliefslich  der  jetzige  Zustand  er<- 
reicht  war. 

Die  nach  dem  obigen  Prinzipe  erschaffenen  Bezeichnungen 
tüx  die  Endteile  einer  der  oben  charakterisierten  Beihen  von 
Eigenschaften  können  natürlich  den  Bedürfnissen  des  praktischen 
Lebens  oder  auch  der  Wissenschaft  nicht  auf  die  Dauer  ge- 
nügen. Die  Sprache  sieht  sich  vielfach  genötigt,  den  Schatz 
ihrer  Bezeichnungen  für  die  verschiedenen  Teile  einer  solchen 
Seihe  in  dieser  oder  jener  Weise  zu  vermehren.  Die  alier- 
äufsersten  und  die  mittleren  Teile  der  B«ihe  werden  durch  be- 
sondere Vorwörtchen  oder  Vorsilben  wie  „sehr"  und  „mittel" 
(sehr  grofs,  mittelgrofs)  oder  durch  besondere  zusammengesetzte 
Ausdrücke  (wie  Gelbrot  und  ürrot)  gekennzeichnet,  oder  man 
knüpft  auch  bei  Bezeichnung  bestimmter  speziellerer  Modi- 
fikationen der  betreffenden  Eigenschaft  an  bestimmte  charakte- 
ristische Träger   eben    dieser  Modifikationen    an  (veilchenblau, 

wegen  die  Aufmerksamkeit  weniger  erwecken,  auch  als  mittlere  Glieder 
der  beiden  vom  Weils  zum  Bot  und  Gelb  fahrenden  Qualitätenreihen 
vorkommen  und  mithin  durch  die  sowieso  zu  erschaffenden  Bezeichnungen 
far  Weifs,  Bot  und  Gelb  umschrieben  werden  können. 


76  0.  E.  Müller. 

rosenrot).  Endlich  kommt  es  vor,  dafs  sich  auch  noch  be- 
sondere einfache  Bezeichnungen  für  den  mittleren  Teil  einer 
solchen  Reihe  einstellen.  Hierfür  bieten  uns  die  beiden  Be- 
zeichnungen grau  und  braun  ein  Beispiel.^ 

Es  ist  selbstverständlich  nicht  unsere  Sache,  sondern  Auf- 
gabe einer  sprachwissenschaftlichen  Untersuchung,  die  im  vor- 
stehenden angedeuteten  Gesichtspunkte  sowohl  in  ihrer  all- 
gemeineren Bedeutung,  als  auch  in  speziellerer  Anwendung  auf 
die  Farbenbezeichnungen  näher  auszuführen  und  zu  ergänzen. 
Versuchen  wir  nach  den  vorstehenden  Bemerkungen  die  uns 
hier  allein  interessierende  Frage  zu  beantworten,  welche  Be- 
deutung dem  Vorhandensein  besonderer  einfacher  Bezeich- 
nungen für  die  Qualitäten  weifs,  schwarz,  rot  gelb,  grün,  blau 
in  psychophysischer  Hinsicht  zuzuschreiben  sei,  so  ist  kurz 
folgendes  zu  sagen. 

Das  Vorhandensein  dieser  Bezeichnungen  erklärt  sich  in 
völlig  ungezwungener  Weise  aus  einem  Prinzipe,  welches  die 
entwickelte  Sprache  bei  ihren  Benennungen  allgemein  befolgt, 
und  dessen  allgemeiner  Befolgung  die  sich  entwickelnde  Sprache 
sich  immer  mehr  annähert,  sobald  man  davon  ausgeht,  dals 
das  System  der  Farbenempfindungen  sich  in  der  auf  S.  54  ff. 
von  uns  angegebenen  Weise  in  Scharen  von  Qualitätenreihen 
gliedert.  Das  Vorhandensein  jener  Farbenbezeichnungen  be- 
stätigt also  in  der  That  in  gewissem  Mafse  unsere  Ansicht 
darüber,  wie  das  System  der  Farbenempfindungen  sich  zu 
Qualitätenreihen  gliedere,  d.  h.  diejenige  Ansicht,  auf  welcher 
unsere  Ableitung  der  sechs  retinalen  Grundprozesse  fufst. 

Ebensowenig,  wie  die  Beziehungen  stumpf—  spitz,  hart 
—  weich  u.  s.  w.  nur  zur  Bezeichnung  der  betreffenden  Extreme 
(des  extrem  Harten,  extrem  Spitzen  u.  s.  w.)  dienen,  bezeichnen 
die  Farbennamen  rot,  gelb,  grün,  blau  nur  das  Urrot,  Urgelb, 

^  Je  geringer  die  Verwandtschaft  zwischen  den  beiden  Endgliedern 
einer  psychischen  Qualitätenreihe  ist,  und  je  gröfser  demgemftfs  der 
Abstand  des  mittleren  Gliedes  von  den  beiden  Endgliedern  ist,  desto 
eher  wird  die  Sprache  Veranlassung  nehmen,  ftlr  den  mittleren  Teil  der 
Reihe  eine  besondere  einfache  Bezeichnung  zu  schaffen.  Da  nun  WeiXs 
und  Gelb  dem  Schwarz  weniger  verwandt  sind  als  Bot,  Grün  und  Blau, 
so  steht  es  offenbar  auch  in  einem  gewissen  Zusammenhange  zu  den 
inhaltlichen  Beziehungen  unserer  Gesichtsempfindimgen,  dafs  gerade  für 
den  mittleren  Teil  der  weifsschwarzen  und  der  gelbschwarzen  Keihe 
zwei  besondere  einfache  Bezeichnungen  bestehen. 


Zur  Psychophysik  der  Gesichtsempfindungen.  77 

XTrgrün,  ürblau  der  HERiNQschen  Theorie.  Das  Entsprechende 
gUt  natürUch  auch  von  den  Bezeichnungen  weifs  und  schwarz. 
Diese  Farbennamen  dienen  vielmehr  zur  Bezeichnung  nicht 
genau  abgrenzbarer  Gruppen  von  Farben,  die  sich  um  diejenigen 
Farben  herumscharen,  deren  Empfindungen  unter  allen  in 
unserer  Erfahrung  vorkommenden  Gesichtsempfindungen  .  den 
betreffenden  Grundempfindungen  am  nächsten  stehen.  Dafs  es 
aber  überhaupt  möglich  ist,  die  Aufgabe  einer  Bestimmung  des 
TJrrot,  Urgelb,  Urgrän  oder  Urblau  zu  stellen  und  mit  gewisser 
(wenn  auch  wegen  der  UnvoUkommenheit  unserer  in  Betracht 
kommenden  psychischen  Fähigkeit  nicht  vollkommener)  Sicher- 
heit zu  lösen,  ^  hängt  wiederum  mit  der  Art  und  Weise  zu- 
sammen, wie  sich  das  System  unserer  Gesichtsempfindungen  zu 
Qualitätenreihen  gliedert.  Dieser  Gliederungsweise  gemäfs  ist 
z.  B.  unter  dem  Urrot  gar  nichts  anderes  zu  verstehen,  als  das- 
jenige Bot,  welches  Anfangsglied  (oder  Endglied)  sowohl  der 
blauroten,  als  auch  der  rotgelben  Empfindungsreihe  ist,  in 
welchem  also  sowohl  die  Ähnlichkeit  zum  Blau,  als  auch  die 
Ähnlichkeit  zum  Gelb  ein  Minimum  ist.  Geht  man  hingegen 
von  der  Anschauung  aus,  dafs  die  Änderung  der  Empfindungs- 
qnalität  (entsprechend  der    bekannten  Darstellung    der  Farben 


'  Man  vergleiche  hierzu  z.  B.  Hebiko  :  Über  indwiduelle  Verschieden- 
heiten des  Farbensinnes,  S.  153  ff.  Dafs  nicht  blos  Hbbing  und  seine  Schüler 
der  oben  erwähnten  Aufgabe  ihren  gpiten  Sinn  abzugewinnen  wissen, 
zeigen  z.  B.  die  Ausführungen  von  Kibschbcaien  in  Wundts  Philos,  Siudien, 
8. 1893.  S.  211  fP.,  in  denen  von  dem  „reinen  Blau^'  die  Bede  ist  und  unter 
Anderem  behauptet  wird,  dafs  dasselbe  in  der  Natur  fast  gar  nicht  vor- 
konune,  weder  der  Farbe  des  Himmels,  noch  der  Farbe  gewisser  Blumen 
u.  dergl.  ganz  gleiche.  Vom  Standpunkte  der  WuNDTschen  Ansicht  aus, 
nach  welcher  das  Blau  seine  besondere  einfache  Benennung  Überhaupt 
nur  dem  Umstände  verdankt,  dais  es  in  der  Natur  besonders  häufig  oder 
herTorragend  vertreten  ist,  muTs  diese  Auslassung  EIirschmanns  in 
höchstem  Grade  anstöDsig  erscheinen.  —  Bekanntlich  ist  Hebino  zu  dem 
Besultate  gekommen,  dals  das  Bot  des  Sonnenspektrums  in  seiner  ganzen 
Ausdehnung  gelblich  seL  Diese  Behauptung  hat  Anstofs  erweckt,  es  ist 
aber  in  dem  ganzen  Gebiete  der  Psychophysik  wohl  noch  keine  Be-. 
hauptnng  durch  die  Erfahrung  nachträglich  glänzender  bestätigt  worden, 
als  eben  diese  Behauptung  Hbbinos  (es  sei  denn,  dafs  man  die  erfahrungs- 
mäfsigen  Bestätigungen  gewisser  anderweiter  Sätze  oder  Konsequenzen 
der  HBBiNGSchen  Theorie  für  noch  eklatanter  ansehe).  Denn  in  dem  von 
voK  Hippel  {Ärch»  f,  Ophfh,  27.  1881.  3.  S.  47  £P.)  genauer  untersuchten 
Falle  einseitiger   partieller  Farbenblindheit  (Rotgrünblindheit)   hat   sich 


78  G.  E.  Müller. 

durch  •inen  Kreis)  beim  Durchlaufen  der  rotgelben,  gelbgrünen 
u.  s.  w.  Farbentöne  fortw&hrend  ihre  Richtung  ändere,  und 
dafs  nur  das  häufige  Vorhandensein  gewisser,  jetzt  nicht  mehr 
ganz  sicher  festzustellender,  farbiger  Objekte  dazu  Veranlassung 
gegeben  habe,  gewisse,  nicht  genau  abgrenzbare  Gruppen  von 
Farben  durch  iJie  einfachen  Bezeichnungen  rot,  gelb,  grün,  blau 
auszuzeichnen,  so  entbehrt  die  Aufgabe  der  Herstellung  des 
ürrot,  ürgelb,  ürgrün,  ürblau  einer  genügenden  Bestimmtheit. 
Will  man  von  den  hier  angestellten  Betrachtungen  An- 
wendung auf  die  übrigen  Sinnesgebiete  machen  und  schliefsen, 
dafs  es  sich  mit  den  einfachen  Qualitätsbeziehungen,  die  da- 
selbst bestehen,  ähnlich  verhalten  müsse,  wie  mit  den  einfachen 
Bezeichnungen  der  sechs  Grundfarben,  so  ist  zu  bedenken,  dafs 
erstens,  wie  die  Bezeichnungen  grau  und  braun  darthun,  ge- 
legentlich auch  für  die  mittleren  Teile  einer  Qualitätenreihe  be- 
sondere einfache  Bezeichnungen  auftreten.  Zweitens  —  imd 
dies  ist  die  Hauptsache  —  ist  zu  beachten,  dafs  unsere  Sprache 
weit  entfernt  davon  sein  dürfte,  diejenige  Entwickelungsstufe, 
welche  sie  hinsichtlich  der  Bezeichnung  der  Farben  erreicht 
hat,  auch  hinsichtlich  der  Bezeichnung  aller  anderen  Arten 
sinnlicher  Qualitäten    schon    erreicht   zu  haben.     Ein  gewisser 


ja  gezeigt,  dafs  der  Patient  mit  dem  farbenblinden  Auge  das  Spektral- 
rot ohne  „irgend  nennenswerte  Verkürzung  des  Spektrums  am  roten 
Ende"  gelb  sab.  »Der  Kranke  sieht  nicht  nur  die  Kaliumlinie  (yon  ihm 
gelb  genannt),  sondern  auch  noch  die  Rubidiumlinie  y  jenseits  der 
FRAüivHOFEBschen  Linie  A  (auf  der  Spektraltafel  ron  Buksen  und  Kirch- 
HOFF  bei  15  gelegen)  und  bezeichnet  sie  als  schwach  gelb.**  Die  von 
Hbiung  dem  Spektralrot  zugeschriebene  G^lbvalenz  ist  hierdurch 
(sowie  auch  noch  durch  andere  Beobachtungsthatsachen)  nachgewiesen. 
Wenn  bei  dem  Patienten  von  Hippels  eine  unbedeutende  Verkürzung 
des  Spektrums  an  dem  roten  £nde  vorhanden  war,  so  erklärt  sich 
dies  vollkommen  daraus,  dafs,  wie  von  Hippel  (a.  a.  O.  S.  50)  aus- 
drücklich konstatiert  hat,  sowohl  die  Gelb-  und  Blauempfindlichkeit,  als 
auch  die  Weifsempfindlichkeit  in  dem  farbenblinden  Auge  in  Vergleich 
zu  dem  farbentüchtigen  Auge  etwas  herabgesetzt  war.  Eine  Herab- 
setzung der  G-elb-  und  der  Weifserregbarkeit  mufs  aber  für  ein  rotgrün- 
blindes  Auge  notwendig  mit  einer  Verkürzung  des  roten  Spektralendes 
verbunden  sein.  Wie  von  Kries  (Die  Gesichtsempfindungen.  S.  153)  es  trotz- 
dem, dafs  er  die  neuerliche  Mitteilung  von  E^ppels  kannte,  fertig  ge- 
bracht hat,  zu  behaupten,  dafs  Hebinos  Theorie  die  in  diesem  Falle 
beobachtete  Verkürzung  des  Spektrums  nicht  zu  erkl&ren  vermöge, 
bleibt  hiemach  unerfindlich. 


2^r  Fsychophysik  der  Gesichtsempfindungen. 


79 


henristisoher  Wert  dürfte  indessen  trotzalledem  einer  Berück* 
siolitigang  der  einfachen  Qualitätsbezeichnangen,  die  anfserhalb 
des  Gebiets  des  Gesichtssinnes  vorkommen,  nicht  abzusprechen 
sein. 

§  13.   Die  Stetigkeit  der  psychischen  Qualitäten- 

reihen. 

Zu  dem  Begriffe  der  psychischen  Qualitätenreihe  gehört 
dem  Früheren  gemäfsi  dafs  die  qualitative  Empfindungs- 
änderung  nicht  blofs  geradläufig,  sondern  auch  stetig  erfolgt. 
Hiergegen  kann  man  nun  im  Sinne  ziemlich  häufiger  Deu- 
tungen der  ünterschiedsschwelle  geltend  machen,  dafs  von 
einer  Stetigkeit  der  Empfindungsänderung  nicht  geredet  werden 
dürfe,  weil  sich  der  Thatsaohe  der  ünterschiedsschwelle  gemäfs 
die  Empfindung  bei  einer  Änderung  der  Beizstärke  oder  Beiz- 
qualität nur  sprungweise  ändere.  Diesem  Einwände  gegenüber 
ist  ein-  und  für  €dlemal  kurz  folgendes  zu  bemerken. 

Es  stelle  in  nachstehender  Zeichnung  die  Abscisse  die 
Beizstärke,  die  Ordinate   die  zugehörige  Empfindungsintensität 


9 


f 


und  mithin  die  treppenartige  Linie  abcdefg  im  Sinne  der 
soeben  erwähnten  Annahme  einer  nur  sprungweise  stattfindendes 
Empfindungsänderung  einen  Teil  der  Linie  der  Empfindungs- 
intensitäten dar.  Alsdann  müfste  der  Wert  der  ünterschieds- 
schwelle ein  Maximum  sein,  wenn  die  Empfindungsintensität 
einen  der  Werte  besitzt,  welche  den  Punkten  a,  c,  e,  g  (mit 
denen  die  horizontalen  Linienstücke  beginnen)  entsprechen,  hin- 
gegen ein  Minimum,  wenn  die  Empfindungsintensität  einen  der- 
jenigen Werte  besitzt,  welche  den  Punkten  ft,  df,  f  (den  End- 
punkten der  horizontalen  Linienstücke)  entsprechen.    Es  müfste 


80  6?.  E.  Müll€i\ 

also  nach  der  erwähnten  Deutung  der  ünterschiedsschwelle  der 
Wert  der  letzteren  trotz  aller  zufalliger  Fehlervorgänge  sich 
bei  exakten  Versuchen  als  ein  solcher  darstellen,  der  bei 
wachsender  ßeizstärke  periodisch  zu  einem  Minimum  absinkt 
und  dann  plötzlich  wieder  zu  einem  Maximum  aufspringt,  wo- 
von in  Wirklichkeit  nicht  die  Bede  sein  kann.^ 

Man  könnte  nun  vielleicht  behaupten,  dafs  die  Vorstellung 
einer  Empfindungsreihe,  in  welcher  sich  die  Intensität  oder 
Qualität  stetig  ändere,  mindestens  für  das  G-ebiet  des  Gesichts- 
sinnes aus  folgendem  Grunde  unzulässig  sei.  Eine  von  aufsen 
erweckte  Sehnervenerregung  könne  nur  dadurch  an  Stärke  ge- 
winnen, dafs  die  Zahl  der  Moleküle  oder  Gruppen  zusammen- 
geratener Moleküle,  welche  in  der  lichtempfindlichen  Netzhaut- 
schicht durch  die  Lichtstrahlen  chemisch  verändert  werden, 
eine  gröfsere  werde.  Da  nun  die  Zahl  dieser  sich  chemisch 
verändernden  Moleküle  oder  Molekülgruppen  nicht  stetig  zu- 
nehmen könne,  sondern  immer  um  eine  oder  mehrere  Einheiten 
anwachsen  müsse,  so  könne  auch  von  einer  stetigen  Erhöhung 
der  Stärke  der  Sehnervenerregung  und  der  Intensität  der  ent- 
sprechenden Gesichtsempfindung  keine  Bede  sein.  Sehe  man 
ferner  die  psychophysischen  Prozesse  der  Sehsubstanz  direkt 
selbst  als  chemische  Vorgänge  an,  deren  Intensität  sich  nach 
der  Zahl  der  jeweilig  sich  chemisch  verändernden  Moleküle  oder 
Molekülgruppen  bestimme,  so  ergebe  sich  schon  hieraus  ohne 
weiteres,  dafs  im  Gebiete  des  Gesichtssinnes  von  einem  stetigen 
Wachstume  der  Erregungsstärke  und  der  Empfindungsintensität 


*  Wenn  Ebbikohaus  (diese  Zeitschrift  1.  1890.  S.  476)  die  ünter- 
schiedsschwelle a)s  „ein  Analogen  der  Beibung'^  auffafst  und  sie  auf 
einem  Tr&gheitswiderstande  beruhen  l&fst,  „welchen  die  nervOse  Substanz 
irgendwo  jeder  Abänderting  der  in  ihr  jeweilig  etablierten  Prozesse  ent- 
gegensetzt*', so  scheint  uns  diese  Deutung  nicht  der  Thatsache  gerecht 
zu  werden,  dafs  sich  die  Unterschiedsschwelle  nicht  blofs  bei  Ab&nderung 
der  Intensität  oder  Qualität  eines  gegebenen  Beizes  zeigt,  sondern  auch 
dann,  wenn  wir  zwei  hinsichtlich  der  Intensität  oder  Qualität  nur  sehr 
wenig  verschiedene  Beize  gleichzeitig  nebeneinander  auf  verschiedene 
Stellen  desselben  Sinnesorganes  einwirken  lassen,  oder  wenn  wir  zwei 
Sinnesreize  miteinander  vergleichen,  die  durch  einen  Zeitraum,  wo  die 
Erregung  unterbrochen  ist,  voneinander  getrennt  sind.  Es  dürfte  z.  B. 
schwer  halten,  das  Bestehen  der  ünterschiedsschwelle  bei  Versuchen 
mit  hintereinander  gehobenen  Gewichten  vom  Standpunkte  dieser  Ebbing- 
H Aussehen  Ansicht  aus  befriedigend  zu  erklären. 


Zur  Tsychophysik  der  Gesichtsempfindungen.  81 

auch  vom  rein  prinzipiellen  Standpunkte  aus  nicht  gesprochen 
werden  dürfe,  und  mithin  auch  eine  stetige  Veränderlichkeit 
des  Intensitätsverhältnisses  zweierpsychophysischer  Teilvorgänge 
nicht  angenommen  werden  dürfe. 

Vorstehender  Einwand  erledigt  sich  durch  die  Bemerkung, 
dafs  auch  der  chemische  Prozefs  kein  Vorgang  ist,  der  an 
dem  betreffenden  Moleküle  oder  einer  Molekülgruppe  auf  einmal 
mit  seiner  vollen  Intensität  vorhanden  ist  und  dann  plötzlich 
ganz  verschwindet.  Derselbe  entwickelt  sich  vielmehr  vom 
Nullpunkte  aus  allmählich  bis  zu  einem  bestimmten  Maximal- 
werte seiner  Intensität  und  klingt  dann  allmählich  wieder  bis 
zum  Nullpunkte  ab.*  Nur  infolge  des  ümstandes,  dafs  wir  in 
Ermangelung  bestimmterer  Vorstellungen  vom  Wesen  des 
chemischen  Vorganges  gewohnt  sind,  denselben  kurz  durch 
den  betreffenden  Anfangszustand  und  Endzustand  der  be- 
teiligten Stoffe  zu  charakterisieren,  haben  wir  eine  Neigung, 
das  aUmähliche  Anklingen  und  Abklingen  des  an  einem  Moleküle 
oder  Molekülaggregate  sich  abspielenden  chemischen  Vorganges 
ganz  zu  übersehen.  Berücksichtigt  man  nun  aber  dieses  An- 
klingen und  Abklingen,  so  ist  es  nicht  schwer,  sich  eine 
absolut  stetige  Veränderlichkeit  der  Intensität  eines  (an  sehr 
vielen  Molekülen  oder  Molekülgruppen  sich  abspielenden) 
photochemischen  Netzhautprozesses,  sowie  auch  der  Sehnerven- 
erregung und  der  entsprechenden  Empfindung  zu  konstruieren. 
Betreffs  der  Intensität  der  Sehnervenerregung  kommt  übrigens 
in  dieser  Hinsicht  noch  in  Betracht,  dafs  dieselbe  nicht  blofs 
von  der  Zahl  der  Moleküle  oder  Molekülgruppen,  die  in  der 
lichtempfindlichen  Netzhautschicht  durch  das  Licht  chemisch 
verändert  werden,  und  von  der  Art  und  Weise  abhängt,  wie 
sich  in  dem  betrachteten  Zeitelemente  die  verschiedenen  Phasen 
der  chemischen  Veränderung  auf  jene  Zahl  von  Molekülen  oder 
Molekülgruppen  verteilen,  sondern  aufserdem  auch  noch  von 
den  (stetig  veränderlichen)  Abständen  abhängig  ist,  welche 
jene  Moleküle  oder  Molekülgruppen  von  den  durch  sie   zu  er- 


^  um  sich  hiervon  zu  überzeugen,  denke  man  sich  z.  B.  den  Fall, 
dafs  der  betrejQPende  chemische  Vorgang  im  Sinne  der  AusfCQirungen, 
welche  neuerdings  Bolopf  {Zeitschr,  f.  physik,  Chemie,  13.  1894.  S.  364) 
über  das  Wesen  gewisser  photochemischer  Prozesse  gegeben  hat,  darauf 
beruhe,  daüis  die  elektrische  Ladung  eines  Ion  auf  ein  anderes  Atom 
übergehe. 

Zeitsekrift  für  Ps/ebologie  X.  6 


82  G.  E.  MÜUer. 

regenden  Teilchen  nervöser  Natur  trennen.  Zum  Überflusse 
mag  bemerkt  werden,  dafs,  wie  leicht  zu  erkennen,  die  Triftig- 
keit unserer  früheren  Entwiokelungen  im  Gründe  gar  nicht 
einmal  davon  abhängig  ist,  daüs  eine  absolut  stetige  Veränder- 
lichkeit der  Sehnervenerregungen  und  Netzhautprosesse  kon- 
struierbar sei.  Und  zum  Schlüsse  mag  noch  daran  erinnert 
werden,  dafs  eine  eingehendere  Erörterung  des  soeben  ab- 
gehandelten Einwandes  und  vieler  anderer  psychophysischer 
Punkte  auch  noch  des  ümstandes  zu  gedenken  haben  würde, 
dafs  die  Intensitäten  und  Qualitäten,  welche  wir  den  Empfin- 
dungen zuschreiben,  und  hinsichtlich  deren  wir  dieselben  mit- 
einander vergleichen,  niemals  solche  Intensitäten  und  Quali- 
täten sind,  welche  dieselben  während  eines  minimalen  Zeitteilchens 
besitzen,  sondern  vielmehr  solche,  welche  denselben  während 
eines  Zeitraumes  von  endlicher  Länge  gewissermafsen  durch- 
schnittlich zukommen. 

(Fortsetzung  folgt.) 


über   das  Augeumars   der  seitlichen  Netzhautteile. 

Von 
Stabsarzt  Dr.  G-uillery 

in  Köln. 

Bei  Gelegenheit  einer  anderen  Untersuchung  hatte  ich  mir 
die  Frage  vorzulegen,  ob  die  Fähigkeit  der  Ghröfsenschätzung 
auf  der  Netzhautperipherie  eine  andere  ist,  als  in  dem  Zentrum, 
insbesondere,  wie  weit  das  WEBEBsche  Gesetz  hier  Gültigkeit 
beansprucht,  um  einen  solchen  Vergleich  zwischen  Peripherie 
und  Zentrum  ziehen  zu  können,  mülste  man  zunächst  darüber 
im  Klaren  sein,  wie  sich  das  letztere  selbst  in  dieser  Hinsicht 
verhält.  Nur  wenn  wir  hier  etwas  Gesetzmäfsiges  finden,  wird 
sich  ein  erspriefslioher  Vergleich  mit  der  Peripherie  anstellen 
lassen.  Die  Durchsicht  der  Litteratur  ergiebt  nun  aber,  dafs 
diese  Voraussetzung  bisher  noch  sehr  wenig  erfüllt  ist  und 
bis  in  die  neueste  Zeit  die  verschiedenen  üntersucher,  nament- 
lich in  Bezug  auf  das  WESEBsche  Gesetz,  zu  gerade  entgegen- 
gesetzten Ergebnissen  gekommen  sind.  Webeb^  selbst  be- 
hauptete zwar,  dafs  das  Gesetz  auch  für  die  Länge  von  Linien, 
die  wir  mit  dem  Gesichte  unterscheiden  können,  zutrifft,  und 
suchte  dies  dadurch  zu  beweisen,  dafs  er  den  kleinsten  Unter- 
schied bestimmte,  welcher  erforderlich  ist,  damit  zwei  nachein- 
ander betrachtete  Linien  noch  als  verschieden  grofs  erkannt 
werden  können.  Er  fand  dabei,  dafs  dies  noch  eben  der  Fall 
war,  wenn  die  Längen  sich  verhielten  wie  100:  101,  und  dafs 
dieses  Verhältnis  für  jede  beliebige  Länge  dasselbe  sein  mufs. 
Spätere  Beobachter  haben  sich  dieses  Verfahrens  im  allgemeinen 
nicht  mehr  bedient,  sondern  sind  mit  Hülfe  der  Methode  der 
richtigen  und  falschen  Fälle  und  besonders  der  mittleren  Fehler 
an  die  Frage  herangetreten. 


>  Waoner,  Handvmterh.  d.  Physiol  HI.  2.  Abtl.  S.  559. 

6» 


84  Guillery. 

Der^  letzteren  bediente  sich.  HEaELMAYEB,^  welcher  auch 
eine  ungefähre  Bestätigung  des  WEBEBschen  Gesetzes  fand, 
doch  waren  seine  Versuche  sowohl  ihrer  Art,  als  ihrer  geringen 
Zahl  nach  nicht  geeignet,  die  Sache  zu  entscheiden.  Die 
Frage  wurde  wieder  aufgenommen  von  Fechneb  und  Volkmann, 
von  denen  ersterer'  einen  bis  auf  die  Spitzen  verdeckten  Zirkel 
auf  eine  Spannweite  von  10,  20,  30  und  40  halben  pariser 
Dezimallinien  einstellte  und  nunmehr  die  Spitzen  eines  zweiten, 
ebensolchen  Zirkels  auf  dieselbe  Entfernung  zu  bringen  suchte, 
während  letzterer  die  Abstände  von  parallel  gespannten  Fäden 
den  gegebenen  Abständen  von  10,  20,  40,  80,  120,  160,  200, 
240  mm  nach  dem  Augenmafse  gleichmachte.  Nach  der 
Methode  der  mittleren  Fehler  fanden  beide  Forscher,  dafs  das 
WEBEBsche  Gesetz  zutraf,  'd.  h.  also,  dafs  der  Fehler  immer 
denselben  Bruchteil  der  gegebenen  Distanz  ausmachte,  und 
zwar  bei  Fechneb  V«-1i  bei  Volkmann  Vss  (in  späteren  Ver- 
suchen Vioi.i).  Ähnlich  wie  bei  anderen  physiologischen  Seizen 
ergab  sich  aber  eine  untere  Grenze,  jenseits  welcher  das  Gesetz 
nicht  mehr  zutraf.  Bei  mikrometrischen  Distanzen  von  0,2 
bis  3,6  mm  fanden  nämlich  Volkmann  und  Appel,  dafs  diese 
Proportionalität  nicht  mehr  hervortrat.  Fechneb  sucht  dies 
durch  Zerlegung  der  mittleren  Fehler  in  zwei  Komponenten 
zu  erklären,  von  denen  er  die  eine  als  die  VoLKMANNsche  Kon- 
stante, die  andere  als  die  WEBEBsche  Variable  bezeichnet. 
Letztere  entspricht  dem  WEBEBschen  Gesetze,  bleibt  also  den 
vorgelegten  Längen  proportional ,  während  die  erstere  sich 
nicht  ändert.  Als  wahrscheinlich  nimmt  er  an,  dals  diese  auch^ 
bei  den  gröfseren  Distanzen  im  Spiele  sei,  aber  gegen  dieselben 
wegen  ihrer  Kleinheit  verschwinde.  Weiterhin  dürfte  bei  den 
ganz  kleinen  Abständen  der  Einflufs  der  Lradiation,  welcher 
sich  hier  stärker  geltend  machen  mufs,  das  Ergebnis  trüben. 
Die  Versuche  waren  binokular  und  ohne  bestimmte  Augen- 
Stellung  vorgenommen. 

Die  Tabelle  von  Mach'  dagegen  spricht  nicht  zu  Gunsten 
des  WEBEBschen  Gesetzes.  Er  teilte  ein»*  gegebene  horizontale 
Strecke  in  veränderlichem  Verhältnisse  in  zwei  Abschnitte  und 
verfuhr  dann  nach  dem  Augenmafse  ebenso  mit  einer  zweiten, 

*  Vierordts  Arch,  XI. 
'  P^chophysik,  Bd.  I. 

•  Sit2g8.-Ber,  d.  Wim.  Äkad.  2.  Abtl.  XLIH.  Jan.  1861. 


über  das  Äugentnaß  der  seitlichen  Netzhautteile,  85 

gleich  langen.    Die  mittleren  variablen  Fehler,  welche  er  fand, 
eeigen  nichts  Gesetzmäfsiges. 

Späterhin  wurden  diese  Versuche  von  Chopin^  wieder 
nachgeprüft,  welcher  ebenfalls  das  WEBBRsche  Gesetz  nicht 
gültig  fand.  Er  verfuhr  in  der  Weise,  dafs  binokular  und  bei 
uneingeschränkten  Augenbewegungen  zu  beiden  Seiten  einer  ' 
gegebenen  Distanz  dieselbe  abgetragen  wurde.  Dabei  zeigte 
sich  bei  Zunahme  der  Distanzen  zunächst  eine  Abnahme 
des  relativen  Fehlers  und  dann  *  wiederum  eine  Zunahme. 
Im  wesentlichen  dasselbe  Ergebnis  wurde  beobachtet  bei 
Schätzungen  aus  dem  Gedächtnisse,  nur  trat  der  Wechsel  von 
Zu-  und  Abnahme  erst  bei  gröfseren  Distanzen  ein.  Es  bezieht 
sich  dies  auf  horizontale  Längen.  Für  vertikale  dagegen  giebt 
er,  abgesehen  von  den  kleinsten,  zu,  dafs  die  relative  Gröfse 
des  Fehlers  im  allgemeinen  dieselbe  bleibt,  also  dem  WEBERschen 
Gesetze  nicht  widerspricht. 

Fischer'  hinwiederum  stellt  sich  auf  Seite  von  Fechner 
und  VoLKMANN  und  erklärt  Chodins  Ergebciisse  zum  Teil  durch 
einen  Bechenfehler,  zum  Teil  hält  er  sie  für  zufällige.  Da 
seine  Versuche  bereits  das  peripherische  Sehen  mit  berück- 
sichtigen, werden  wir  auf  dieselben  weiter  unten  zurück* 
kommen. 

Neuerdings  hat  nun  Higier'  in  einer  sehr  ausföhrlichen 
Arbeit  auf  Veranlassung  von  Prof.  Krapelin  die  Frage  noch- 
mals einer  eingehenden  Prüfung  unterzogen  und  hierbei,  aufser 
der  Methode  der  mittleren  Fehler,  auch  die  der  richtigen  und 
falschen  Fälle,  kombiniert  mit  dem  Prinzipe  der  Minimal- 
änderungen,  femer  die  Methode  der  doppelten  und  mehrfachen 
Reize  benutzt.  Die  Beobachtungen  wurden  monokular  gemacht, 
und  befand  sich  das  Auge  in  Primärstellung,  50  cm  von  dem 
betreffenden  Objekte  entfernt.  Ob  das  Auge  fixiert  ist  oder 
sich  frei  bewegen  darf,  erwies  sich  nicht  als  gleichgültig,  da 
der  mittlere  Fehler  im  ersteren  Falle  viel  gröfsere  Werte  zeigte* 
Bei  allen  Verbuchen  ergab  sich  aber,  dafs  der  Fehler  nicht 
proportional  den  gegebenen  Längen  wächst,  sondern  derselbe 
erreichte    ein    Maximum    zwischen    20   und  100  mm,    und    ein 


*  Ärch,  f.  Ophthaim.  XXIII.  1. 

'  Ibid.  XXXVII.  1. 

'  Inang.-Dissert.  Dorpat  1890. 


86  GhUUery. 

zweites  bei  200  mm.  Auch  ontersdeht  Hioier  die  einsohlägigen 
Tabellen  Münstebbebos  ^  (welche  mir  im  Original  nicht  zur 
Verfügung  stehen)  einer  abfUligen  Kritik,  indem  er  hervorhebt, 
dals  deren  mittlere  variable  Fehler  viel  zu  grofse  Schwankungen 
aufweisen,  als  dafs  sie  zu  Gunsten  des  WsEEBschen  G-esetzes 
verwertet  werden  könnten,  wie  der  Autor  will. 

Diese  Untersuchungen  mit  fixierter  Augenstellung  bedeuten 
offenbar  zum  Teil  schon  eine  Prüfung  des  Augenmafses  der 
peripheren  Teile,  indem  das  Netzhautbild  der  verglichenen 
Längen  die  Stelle  des  deutlichsten  Sehens  mehr  oder  weniger 
überragt  und  nur  exzentrische  Stellen  von  demselben  erregt 
werden.  Hioieb  experimentierte  mit  einer  schmalen  leuchtenden 
Linie,  die  durch  einen  herabhängenden  Draht  in  zwei  Teile 
geteilt  war.  Der  Blick  fiel  ungefUir  auf  den  Berührungspunkt 
der  beiden  Teüe,  und  wurden  dieselben  nunmehr  durch  seit- 
liche Schieber  gleichzumachen  gesucht.  Dafs  hierbei  die 
Schätzung  schwerer  wurde  und  demgemäfs  die  Fehler  gröfser 
ausfielen,  als  bei  bewegtem  Auge,  erklärt  er  durch  den  Mangel 
der  Linervationsgefühle.  Es  ist  aber  auch  eine  bekannte  That- 
Sache,*  dafs  wir  kleine  Unterschiede  am  besten  bemerken, 
wenn  wir  abwechselnd  die  Mitte  zweier  Linien  fixieren,  wodurch 
die  zu  vergleichenden  Gegenstände  hintereinander  auf  dieselben 
Punkte  der  Netzhautoberfläche  fallen,  welches  Hülfsmittel  bei 
fixiertem  Auge  natürlich  fehlt.  Wir  werden  auf  den  Einflufs 
der  Augenbewegungen  noch  näher  zurückkommen. 

Als  „Gröfsenschätzungen  im  Gesichtsfeld"  bezeichnet  Fiscuee 
(1.  c.)  seine  Versuche,  und  einzelne  von  ihnen  sind  auch  solche 
im  strengeren  Sinne  des  Wortes,  insofern  die  geschätzten 
Objekte  ihr  Bild  vollständig  auf  der  Peripherie  entwerfen  und 
das  Zentrum  nicht  mit  beanspruchen.  Es  sind  dies  diejenigen, 
wo  von  drei  Bruchstücken  einer  Linie  das  mittlere  fixiert  und 
die  beiden  äofseren  miteinander  verglichen  werden,  femer 
solche,  bei  welchen  eine  Linie,  deren  einer  Endpunkt  fixiert 
wird,  halbiert  werden  soll,  so  dafs  also  die  eine  Hälfte  voll- 
ständig peripher  liegt,  die  andere  zum  Teil.  Eine  unmittelbare 
Yergleichung  des  zentralen  und  peripheren  Sehens  fand  aber 
nur   in   beschränktem  Mafse    statt,    da    die  Netzhautbüder  der 


*  Beitr.  z.  experiment  Psychol  1889.  11. 

•  TON  Helmholtz,  Physiol  OpHk.  2.  Aufl.  S.  688. 


Üf>er  das  Äugenmaß  der  seitlichen  Netzhautteüe,  87 

betreffenden  Linien  immer  noch  in  die  nähere  Umgebung  der 
Macula  fielen  und  überhaupt  zu  nahe  aneinandergrenzten, 
als  dafs  wesentliche  Verschiedenheiten  durch  die  Lage  als 
solche  sich  hätten  herausstellen  können.  Ln  Gegensatze  zu 
den  vorhergenannten  Autoren  kommt  nun  Fischer  wieder  zu 
dem  Ergebnisse,  dafs  das  WEBBBsche  Gesetz  fär  das  Augen- 
mafs  zutreffe»  was  aber  aus  seinen  Zahlen  keineswegs  überall 
hervorgeht.  Ja,  er  findet,  wie  schon  oben  bemerkt,  dafs  auch 
Chopins  Tabellen  mehr  für  als  gegen  das  Gesetz  sprechen. 
Bei  Winkelhalbierungen  dagegen  hat  sich  ihm  dasselbe  wieder 
nicht  bestätigt. 

Gehen  wir  auf  die  Versuche  etwas  näher  ein,  so  kommen 
für  die  Beurteilung  des  Augenmafses  der  Netzhautperipherie 
am  meisten  diejenigen  in  Betracht,  bei  welchen  ein  zentrales 
und  ein  peripheres  Stück  eines  Sehfeldsradius  unter  Fixierung 
des  zentralen  Endpunktes  des  ersteren  verglichen  werden.  Es 
fand  sich  hierbei  stets  ein  konstanter  Fehler,  welcher  in 
doppelter  Weise  sich  geltend  machte.  Erstens  wurde  das 
periphere  Ende  stets  unterschätzt,  also  zu  grofs  eingestellt, 
was  nicht  nur  durch  die  infolge  der  peripheren  Lage  statt- 
findende Verkleinerung  des  Sehwinkels  zu  erklären  war,  sondern 
auch  unter  Anrechnung  der  hieraus  sich  ergebenden  Differenz 
blieb  immer  noch  ein  konstanter  Fehler  übrig.  Zweitens  ver- 
hielten sich  die  einzelnen  Abschnitte  des  Sehfeldes  verschieden, 
insofern  die  Gröfse  des  konstanten  Fehlers  ganz  regelmäfsig 
mit  der  Richtung  des  gegebenen  Radius  wechselte.  Derselbe 
war,  wenn  man  den  Versuch  für  die  Arme  eines  senkrecht 
stehenden,  im  Durchschnittspunkte  fixierten  Kreuzes  ausföhrte, 
am  kleinsten  für  den  linken,  etwas  gröfser  fUr  den  unteren, 
weit  stärker  für  den  rechten,  am  bedeutendsten  für  den  oberen. 
Es  gelten  diese  letzteren  Angaben  für  das  rechte  Auge.  Ln 
Sehfelde  des  linken  war  der  konstante  Fehler  ganz  analog, 
nur  dafs  der  rechte  und  der  linke  Arm  sich  umgekehrt  ver- 
hielten. Bei  diesen  Angaben  ist  am  auffälligsten,  dafs  der 
linke  Arm  kleiner  taxiert  wurde,  als  der  untere,  also  ein 
horizontaler  kleiner,  als  ein  vertikaler,  während  sonst  von  allen 
Autoren,  welche  senkrechte  und  wagerechte  Linien  verglichen 
haben,  das  Gegenteil  angegeben  wird.  So  soll  nach  Wündt 
der  Unterschied  bis  zu  Vs  der  horizontalen  Strecke  betragen 
können,  Chodin  fand  ihn  wechselnd  nach  der  Länge  der  Linien 


88  GuiUery, 

von  Vei— V95,  VON  Helmholtz  von  Veo — Vao.  Fischeb  selbst  hat 
in  anderen  Versuchen,  bei  welchen  ein  senkrechter  und  ein 
wagerechter  Kreuzarm  verglichen  wird,  diese  Angaben  der 
letzteren  Autoren  bestätigt.  Der  Fehler  fand  sich  bei  den 
wagerechten  Armen  gröfser,  wenn  zwischen  den  beiden  zu  ver- 
gleichenden Stücken  noch  ein  Zwischenraum  gelassen  wurde. 
Bei  dieser  Modifikation  schien  er  aber  abzunehmen,  wenn  das 
zentrale  Stück  oder  der  Zwischenraum  gröfser,  die  Lage  der 
verglichenen  Teile  also  peripherischer  wurde,  jedoch  war  das 
letztere  nicht  immer  deutlich,  weil  das  Urteil  über  die  Gröfsen- 
verhältnisse  dabei  überhaupt  ein  sehr  unbestimmtes  wurde. 
Zumal  für  die  Messungen  am  äu&eren  und  noch  mehr  am 
oberen  Arme  hält  Fischeb  die  Unbestimmtheit  der  Gröfsen- 
schätzung  für  noch  bedeutender,  als  sie  durch  den  variablen 
Fehler  ausgedrückt  wurde,  welcher  letztere  in  Bezug  auf  die 
Lage  der  verglichenen  Teile  im  übrigen  dasselbe  Verhalten 
zeigte,  wie  der  konstante. 

Die  Zahl  derjenigen  Versuche,  welche  sich  mit  einer  Ver- 
gleichung  des  zentralen  und  peripheren  AugenmaXses  be- 
schäftigen, ist  daher,  wenn  ich  nicht  andere  Arbeiten  übersehen 
habe,  vorläufig  noch  eine  sehr  geringe.  Sollten  noch  sonstig^ 
Angaben  über  diese  Frage  vorliegen,  so  dürften  meine  Versuche 
immerhin  als  weiterer  Beitrag  ihre  Berechtigung  haben.  Soviel 
scheint  aus  dem  Bisherigen  hervorzugehen,  dafs  irgend  welche 
auffalligen  Unterschiede  zwischen  Peripherie  und  Zentrum  nicht 
bestehen,  und  werden  die  vorhandenen  hauptsächlich  auf  die 
gröfsere  Undeutlichkeit  des  Bildes  und  die  daraus  sich  er- 
gebende Unsicherheit  zurückgeführt.  Über  diese  Unsicherheit 
selbst,  über  die  Grenzen,  bei  welchen  sie  anfängt,  sich  störend 
bemerkbar  zu  machen,  und  über  ihr  Verhalten  in  verschiedenen 
Abständen  vom  Zentrum  habe  ich  in  der  Litteratur  überhaupt 
keine  genaueren  Angaben  vorfinden  können,  von  ELblmholtz^ 
vergleicht  diese  Unsicherheit  mit  derjenigen,  welche  entsteht, 
wenn  man  die  Gröfse  einer  Linie  schätzen  will,  auf  welche 
man  nicht  scharf  akkommodiert  hat.  Die  Breite  einer  solchen 
Linie,  sagt  er,  ist  gar  nicht  zu  schätzen,  ihre  Länge  sehr  un- 
vollkommen, dagegen  wohl  ihre  Bichtung.  Dafs  aber  über- 
haupt im  indirekten  Sehen  eine  gewisse  Schätzung  möglich  ist, 


»  Pht^l.  OpHh  2.  Aufl.  S.  697. 


über  dcis  Augenmafs  der  seitlichen  Netzhautteile,  89 

beweist  ihm  die  richtige  Beurteilung  der  PuBKiNj£scheii  Ader- 
figor. 

Wenn  es  thatsächlich  so  schwierig  ist,  eine  Linie  zu 
schätzen,  worauf  man  nicht  akkommodiert,  worüber  ich  selbst 
keine  Versuche  gemacht  habe,  so  möchte  ich  behaupten,  dafs 
der  gewählte  Vergleich  kein  sehr  glücklicher  ist,  da  thatsächlich 
noch  bis  zu  beträchtlicher  Entfernung  vom  Zentrum  ziemlich 
genaue  Schätzungen  möglich  sind.  Auf  den  Grad  der  Bestimmt- 
heit, welcher  sich  aus  der  Grölse  des  variablen  Fehlers  ergeben 
mufs,  soll  unten  näher  eingegangen  werden.  Dabei  koimte  ich 
nicht  einmal  finden,  dafs  erst  nach  gröfserer  Übung  sich  eine 
gewisse  Sicherheit  erlangen  läfst,  insofern  meine  ersten  Ver- 
suche von  den  späteren  keine  wesentliche  Abweichung  zeigten. 
Nach  Fischer  ist  der  gegenseitige  Abstand  der  beiden  ver- 
glichenen Längen  (der  übrigens  in  seinen  Versuchen  verhältnis- 
mäfsig  gering  war),  nicht  von  wesentlichem  Einflüsse,  wohl 
aber  die  Abweichung  ihrer  Lage  von  der  geraden  Linie.  Dieser 
letztere  Einflufs  müfste  sich  bei  meinen  Versuchen  sehr  be- 
merklich gemacht  haben,  da  die  verglichenen  Distanzen  stets 
einander  parallel  waren.  Die  Anordnung  war  nämlich  die,  dafs 
ein  Auge  bei  Verschlufs  des  anderen  auf  eine  gegebene  senk- 
rechte oder  wagerechte  Distanz  gerichtet  war  und  ich  mich 
nun  bemühte,  in  verschiedenen  Abständen  vom  Zentrum  eine 
zweite  Distanz,  welche  der  ersteren  parallel  lief,  dieser  gleich 
zu  machen.  Es  wurden  hierfür  zwei  Abstände  gewählt.  Zu- 
nächst derjenige,  welcher  die  äufserste  Grenze  bildete,  bei 
welcher  mir  überhaupt  noch  ein  hinreichend  genaues  Erkennen 
der  betreffenden  Linie  möglich  war.  Nach  längerem  Prüfen 
fand  ich,  dafs  diese  Grenzen  für  mein  Auge  nach  innen  und 
aufsen  bei  ca.  50^,  nach  oben  und  unten  bei  ca.  40^  lagen. 
Nächstdem  wählte  ich  zum  Vergleiche  noch  einen  näheren 
Abstand,  und  zwar  30^.  Der  einzige  wesentliche  unterschied, 
der  sich  hierbei  gegen  die  vorher  gewählte  Lage  ergab,  war 
der,  dafs  die  variablen  Fehler  wegen  der  gröfseren  Deutlich- 
keit des  Objektes  etwas  weniger  schwankten.  Nach  diesen 
Vorversuchen  wurde  alsdann  ein  mittlerer  Abstand  von  35^ 
gewählt  und  für  diesen  eine  gröfsere  Anzahl  von  Vergleichungen 
in  den  vier  Hauptmeridianen  angestellt.  Damit  die  periphere 
Linie  dieselbe  Entfernung  vom  Auge  beibehielt,  wie  die  zentrale, 


90  GuiUeryr 

worden  sie  nicht  auf  einer  ebenen  Fläche,  sondern  gleich  am 
Perimeter  angebracht,  so  dafs  alle  durch  Ungleichheit  des 
Sehwinkels  entstehenden  Störungen  und  ermüdenden  Be- 
rechnungen vermieden  wurden.  Sehr  geeignet  schien  mir  f^r 
diesen  Zweck  das  ScHWEiooEBsche  Perimeter,  teils  weil  es 
wegen  seiner  Handlichkeit  immer  leicht  in  die  beste  Beleuchtung 
zu  bringen  war,  teils  wegen  des  geringen  Badius  (15  cm), 
welcher  der  Deutlichkeit  der  Bilder  zu  statten  kam,  und  endlich, 
weil  die  Stücke  Karton,  auf  welchen  die  betreffenden  Linien 
aufgezeichnet  waren,  sich  bequem  auf  dem  schmalen  Metall- 
bogen aufstecken  und  in  jedem  beliebigen  Abstände  befestigen 
liefsen.  Hinter  dem  Perimeter  bot  sich  dem  Blicke  eine  gleich- 
mäfsig  graue  Fläche  dar. 

In  der  Mitte  dieses  Perimeters  wurde  also  ein  Stück  Karton 
angebracht,  welches  eine  Linie  von  bestimmter  Länge  zeigte. 
In  dem  gewünschten  Abstände  vom  Zentrum  befand  sich  ein 
zweiter  Karton  mit  einer  nicht  abgemessenen,  der  ersteren 
parallelen  Linie,  welche  dem  Auge  zunächst  durch  einen  auf 
dem  vorigen  nach  Art  eines  Schiebers  angebrachten  anderen 
Karton,  der  nur  eine  weifse  Fläche  zeigte,  verdeckt  war. 
Nunmehr  wurde  die  in  dem  Perimeterzentrum  befindliche  Linie 
fixiert,  wobei  dem  Auge  gestattet  war,  in  der  Ausdehnung  der- 
selben beliebig  hin  und  her  zu  gleiten,  und  der  Schieber  des 
zweiten  Kartons  so  weit  abgezogen,  bis  die  in  der  Peripherie 
sichtbar  gewordene  Linie  der  ersteren  gleich  erschien.  Nach 
der  umgekehrten  Anordnung,  dafs  von  einer  gröfseren  Länge 
ausgegangen  und  diese  bis  zu  einer  gegebenen  Distanz  ver- 
kleinert worden  wäre,  habe  ich  keine  Versuche  angestellt.  Zur 
Messung  der  Fehldistanz  hatte  ich  eine  Mafseinteilung  auf  ein 
Oelatineblatt  eingeritzt,  welche  vermittelst  einer  Transversalen 
eine  Ablesung  bis  zu  0,01  mm  gestattete.  Dieselbe  wurde 
unmittelbar  auf  die  zu  messende  Distanz  aufgelegt  und  war 
wegen  der  Durchsichtigkeit  des  Mafsstabes  die  gesuchte  G-röfse 
sofort  abzulesen. 

Die  gegebene  Distanz  sowie  die  Fehldistanz  standen  jedes^' 
mal  zu  dem  betreffenden  Meridiane  senkrecht,  so  dafs  sie  durch 
denselben  ungefähr  halbiert  wurden,  also  für  den  horizontalen 
Meridian  standen  die  verglichenen  Distanzen  senkrecht,  für 
den  vertikalen  wagerecht,   und  zwar  in  dem  angegebenen  Ab- 


Ober  das  Äugenmafs  der  seitUchen  Netzhautteile.  91 

Stande  von  35^.  Peripherie  und  Zentrum^  befanden  sich  dem- 
nach unter  gleichen  Bedingungen,  welche  einen  unmittelbaren 
Vergleich  ermöglichten,  indem  für  die  gegebene  Länge  nur  die 
zentralen  Netzhautelemente,  für  die  verglichene  nur  die  peri- 
pheren in  Anspruch  genommen  wurden.  Der  Einfluis  der 
Augenbewegungen  muTste  sich,  soweit  er  überhaupt  in  Frage 
kommt,  für  beide  in  gleicher  Weise  geltend  machen.  Es  wurden 
gewählt  die  Distanzen  2,  4,  8,  16,  32,  64  mm  und  mit  jeder  ein- 
zelnen in  den  vier  Hauptmeridianen  je  80  Versuche,  also  im  ganzen 
1920  Vergleichungen,  angestellt.  War  das  WEBEBsche  Q-esetz 
richtig,  so  mufsten  die  relativen  mittleren  Fehler  für  aUe 
Distanzen  gleich  bleiben.     Betrachten  wir  nun  die  Ergebnisse. 

Mittlere  Fehldistanz  aus  je  80  Versuchen. 


2  mm 

4  mm 

8  mm 

16  mm 

32  mm 

64  mm 

J 

. .     2.1119 

47215 

8.81 

16.699 

31.9815 

65.131 

A 

. .      2.0175 

4.5475 

8.4135 

16.3505 

32.0835 

65.381 

0 

. .     2.824 

4.8385 

8.672 

16.981 

32.6425 

65.421 

U 

. .      2.270 

4.6995 

8.412 

17.0735 

83.5685 

65.2685. 

Diese  Tabelle  ergiebt,  dafs  der  konstante  Fehler  bis  auf 
einige  Ausnahme  stets  positiv  war,  und  zwar  fast  durchweg 
auf  der  inneren  Hälfte  des  Sehfeldes  gröfser,  als  auf  der 
äuüseren,  auf  der  oberen  gröfser,  als  auf  der  unteren.  Die 
Peripherie wärts  gelegenen  Distanzen  werden  also  den  zentralen 
gegenüber  entschieden  unterschätzt,  was  von  mehreren  Autoren 
bereits  angegeben  ist,  am  deutlichsten  aber  aus  den  Versuchen 
von  FiscHEB  hervorgeht.  Wenn  er  ein  Kreuz,  dessen  Arme 
auf  ein  bestimmtes  Mafs  eingestellt  werden  sollten,  in  die 
untere  oder  obere  Sehfeldhälfte  brachte,  so  fiel  der  dem 
Zentrum  zunächst  liegende  senkrechte  Arm  am  kleinsten  aus 
und  der  am  weitesten  peripheriewärts  reichende  am  firöfsten, 
während  die  wagereohten  Lhfc  nur  rftumüoh.  sondern  auch 
der  Oröfse  nach  zwischen  beiden  standen.  (Die  betrefienden 
Linien  erstreckten  sich  auch  hier  nicht  weit  in  die  Peripherie.) 
Er  glaubt,    dafs  sich   hierin  eine  scheinbare  Zusammenziehung 


^  Natürlich  Dicht  das  Zentrum  im  strengsten  Sinne  des  Wortes,  da 
das  Netshautbild  einer  Linie  von  nur  einiger  Ausdehnung  immer  schon 
teilweise  auTserhalb  der  Fovea  liegt. 


92  Guülery, 

des  Sehfeldes  offenbart,  deren  Gröfse  von  der  Mitte  nach  dem 
Bande  hin  anscheinend  geradlinig,  aber  in  den  verschiedenen 
Richtungen  verschieden  steil  ansteigt.  Diese  Eigentümlichkeit 
des  Sehfeldes  würde  sich  vermutlich  bei  allen  Beobachtern 
finden,  wenn  nur  in  geeigneter  Weise  daraufhin  untersucht 
würde.  Nach  dem  Ergebnisse  der  oben  erwähnten  Vorversuche 
habe  ich  allerdings  auch  den  Eindruck  gewonnen,  dafs  die 
Unterschätzung  einer  Distanz  nach  der  Peripherie  hin  immer 
mehr  das  Ergebnis  beeinfluTst,  insofern  bei  den  in  50^  Abstand 
angestellten  Versuchen  die  mittlere  Fehldistanz  gröfser  ausfiel, 
als  bei  den  in  30^.  Immerhin  scheint  aber  auch  bei  Schätzungen, 
welche  mit  Hülfe  des  Netzhautzentrums  vorgenommen  werden, 
der  konstante  Fehler  meist  positiv  zu  sein,  so  dafs  eine  grund- 
sätzliche Verschiedenheit  zwischen  Zentrum  und  Peripherie  sich 
hieraus  nicht  ergiebt. 

Fischer  findet  den  Einflufs  dieser  Sehfeldzusammenziehung 
so  bedeutend,  dafs  sogar  die  sonst  übliche  ünterschätzung 
horizontaler  Linien  gegenüber  den  vertikalen  durch  denselben 
überkompensiert  wird,  insofern  in  dem  obigen  Beispiele  der 
peripheriewärts  gelegene  vertikale  Kreuzarm  gröfser  eingestellt 
wird,  als  die  dem  Zentrum  näheren  horizontalen.  Im  übrigen 
findet  sich  die  Unterschätzung  von  horizontalen  Distanzen 
auch  in  meiner  obigen  Tabelle  deutlich  ausgesprochen.  Nach 
oben  und  unten  fallen  die  betreffenden  Längen,  welche  nach 
der  Versuchsanordnung  eine  horizontale  Sichtung  hatten,  immer 
gröfser  aus,  als  die  vertikalen  nach  innen  und  aufsen.  Am 
gröfsten  ist  der  konstante  Fehler  im  allgemeinen  in  der  Rich- 
tung nach  oben,  so  dafs  man  nach  Fischer  annehmen  müfste, 
dafs  die  Sehfeldzusammenziehung  hier  am  meisten  zur  Geltung 
kommt.  Delboeuf  ist,  soweit  ich  übersehen  kann,  der  einzige, 
der  in  Bezug  auf  das  Verhältnis  der  vertikalen  Distanzen  zu  den 
horizontalen  zu  dem  umgekehrtenBrgebnisse  kommt,  imGegensatze 
zu  WuNDT,  Helmholtz,  Fischeru.  a.,  wobei  Fischer  allerdings  die 
oben  erwähnte  Einschränkung  macht,  dafs  die  mehr  oder  weniger 
peripherische  Lage  das  Resultat  umkehren  kann.  „Nach  den 
Einstellungen  erwiesen  sich,  gleichviel  welche  Stücke  des  nach 
oben  oder  unten  vom  Fixierpunkte  liegenden  Kreuzes  zu  ver- 
gleichen waren,  die  wagerechten  Arme  als  zu  lang  gegenüber 
dem  zentralen  senkrechten,  der  periphere  senkrechte  aber  noch 
länger.     So  habe  ich  es  in  einer  grofsen  Anzahl  von  Versuchen 


Übel'  das  Äugenmafs  der  seitlichen  Netzhautteik.  93 

regelmäfsig  gefunden;  um  ein  Beispiel  zu  geben,  führe  ich  an, 
dafs  sich  nach  je  40  Einstellungen  in  der  unteren  Sehfeldhälfte 
des  rechten  Auges  der  zentrale  senkrechte,  der  äufsere  wage- 
rechte und  der  peripherische  senkrechte  Arm  zu  einander  ver- 
hielten wie  100  :  106  :  lll.**  —  Aus  meiner  Tabelle  ergiebt  sich 
indessen,  dafs  auch  bei  gleichem  Abstande^  vom  Zentrum  die 
horizontalen  Distanzen  immer  zu  grofs  eingestellt  werden. 

Für  die  Beurteilung  des  Verhaltens  zum  WEBERschen  Ge- 
setze kommen  indessen  nur  die  variablen  Fehler  in  Betracht, 
und  ergeben  deren  Mittelzahlen  folgende  Tabelle : 

2  mm         4  mm         8  mm        16  mm       32  mm       64  mm 

J 0.2533  0.4490  0.677  0.9973  1.685  2.5929 

^ 0.2901  0.4525  0.5731  0.8298  1.4956  2.2287 

O 0.3679  0.5213  0.871  0.0987  1.9022  2.8508 

"ü 0.2674  0.3803  0.6956  1.026  2.0836  2.4537 

Die  variablen  Fehler  zeigen  hier  im  allgemeinen  ein  vom 
konstanten  ganz  unabhängiges  Verhalten,  was  ja  auch  ihrer 
Bedeutung  entspricht.  Nur  finden  sich  ebenfalls  in  der  Rich- 
tung nach  oben  mit  nur  einer  Ausnahme  die  gröfsten  Werte, 
d.  h.  also :  die  Schätzung  ist  in  der  unteren  Hälfte  der  Netzhaut 
am  unsichersten.  Daraus  erklärt  sich  vielleicht  auch  das  ent- 
sprechende Verhalten  des  konstanten  Fehlers,  wenn  man  an- 
nimmt, dafs  die  Neigung  zur  Unterschätzung  sich  in  der 
Bichtung  nach  oben  infolge  der  gröfseren  Unsicherheit  der 
Bestimmung  am  deutlichsten  bemerkbar  macht.  In  der  oberen 
Netzhauthälfte  ist  dagegen  die  Unbestimmtheit  nicht  gröfser, 
zum  Teil  sogar  kleiner,  als  in  den  seitlichen  Teilen,  was  wohl 
mehr  oder  weniger  auf  Rechnung  der  bekannten  Thatsache  zu 
setzen  ist,  dafs  die  Vergleichung  von  horizontalen  Distanzen 
im  allgemeinen  genauer  ist,  als  die  von  vertikalen.  Jedenfalls 
ergiebt  sich  hieraus,  dafs  selbst  bei  geringer  Sehschärfe  noch 
ziemlich  genaue  Schätzungen  möglich  sind,  da  nach  den 
neuesten  Angaben  von  Webtheim^  die  Sehschärfe  bei  35^ 
Abstand  vom  Zentrum  0.002 — 0.05  beträgt,  wenn  die  zentrale 
=  1  gesetzt  wird.  Ein  Blick  auf  diese  Tabelle  lehrt  aber  auch, 
dafs  das  WEBEBsche  Gesetz  nicht  zutriflPb.  Die  mittleren 
variablen  Fehler  müfsten,  wenn  sie  immer  denselben  Bruchteil 


'  Diese  Zeitschrift  Bd.  VII.  Heft  2  u.  3. 


94  GuiUery. 

der  gegebenen  Distanz  darstellten,  sich  ebenso  verhalten  wie 
diese  selbst,  d.  h.  die  zu  jeder  folgenden  Distanz  gehörenden 
müXsten  doppelt  so  grofs  sein  wie  die  vorhergehenden.  Das 
stimmt  annähernd  für  die  ersten  Distanzen,  doch  wird  das 
Verhältnis  ein  immer  kleineres  mit  der  Znnahme  derselben. 
Noch  dentlicher  ist  dies,  wenn  man  die  relativen  mittleren 
Fehler  ausrechnet,  d.  h.  die  mittleren  variablen  Fehler,  dividiert 
durch  die  Gröfse  der  Distanz  selbst. 

2  mm        4  mm         8  mm        16  mm       32  mm       64  mm 

J 0.1266  0.1122  0.0846  0.0628  0.0526  0.0406 

A 0.146  0.1131  0.0716  0.0518  0.0467  0.0348 

O 0.1889  0.1303  0.109  0.0686  0.0594  0.0445 

U 0.1837  0.145  0.0889  0.0641  0.0651  0.0383 

Diese  Werte  müfsten  dem  WBBEBsohen  Gesetze  zufolge 
untereinander  übereinstimmen,  was,  wie  wir  sehen,  aber  nur 
für  die  beiden  ersten  Längen  in  befiiedigender  Weise  zutrifft. 
Je  gröfser  dieselben  werden,  um  so  mehr  nehmen  die  Werte  der 
Tabelle  ab.  Die  Fehler  der  Schätzung  wachsen  also  durchaus 
nicht  proportional  den  Distanzen,  sondern  in  viel  geringerem 
Mafse. 

In  Bezug  auf  das  Nichteintreffen  des  WEBEBschen  G-esetzes 
finde  ich  mich  also  in  Übereinstimmung  mit  Chodin  und  Higi£B| 
welche  das  Augenmafs  der  zentralen  Netzhautelemente  prüften. 
Nur  kann  ich  die  von  ihnen  angegebenen  Schwankungen  nicht 
koiLBtatieren,  indem  sich  bei  mir  von  Anfang  an  eine  Abnahme 
der  Werte  bemerklich  machte,  während  die  beiden  genannten 
Autoren  einen  Wechsel  von  Zu-  und  Abnahme  in  bestimmten 
Grenzen  beobachteten. 

Es  ist  auffallig,  dafs  im  Gegensatze  zu  Fechkeb  und 
Volkmann,  welche  das  WEBEBsche  Gesetz  bei  Augenmafs- 
versuchen  vollkommen  bestätigt  fanden,  fast  alle  späteren 
Autoren  sich  nicht  davon  überzeugen  konnten.  Feghneb  selbst 
hält  sich  übrigens  zu  einem  [Rückschlüsse  auf  die  Empfindungs- 
kreise der  Netzhaut  im  Sinne  Webebs  durch  seine  Resultate 
nicht  für  berechtigt,  sondern  glaubt,  dafs  vielmehr  die  Augen- 
bewegungen die  Hauptrolle  spielen.  Er  sagt  ausdrücklich, 
dafs,  da  bei  den  betreffenden  Versuchen  die  Augenbewegungen 
nicht  ausgeschlossen  waren,  durch  dieselben  nichts  bewiesen 
werde,  da  das  Muskelgefühl  hierbei  das  Ausschlaggebende  sein 


über  das  Augenmafk  der  seitlichen  Netehautteiie,  95 

könne.  Diesen  EinfluTs  der  Augenbewegrmgen  fand  auch 
HiGiEB,  ohne  denselben  eingehender  £U  prüfen.  Er  überzeugte 
sich  aber,  dafs  sowohl  der  konstante  wie  der  variable  Fehler 
bei  fixiertem  Auge  den  regelmäfsigen,  bei  beweglichem  Auge 
festgestellten  Verlauf  nicht  mehr  beibehalten.  Er  vermutet 
daher  auch,  dafs  die  Gesetzmäfsigkeit  im  Verlaufe  der  Fehler 
auf  einem  analogen  Verlaufe  in  der  Muskelempfindung  beruhe. 
Fällt  die  letztere,  wie  es  bei  fixiertem  Auge  geschieht,  aus, 
oder,  was  wahrscheinlicher  ist,  wird  die  entsprechende  Muskel- 
bewegungsempfindung ohne  eine  thatsächlich  erfolgende  Be- 
wegung der  mit  ihr  eng  verbundenen  Lichtempfindung  reflek- 
torisch hinzuassoziiert,  so  genügt  das  Erinnerungsbild  der  früher 
vollzogenen  Bewegung  zur  Genauigkeit  der  Schätzung  durch- 
aus nicht  in  dem  MaX*se,  wie  die  direkte  Bewegungswahmehmung. 
Auf  diese  Weise  könnten  durch  Muskelanomalien,  z.  B.  In- 
suffizienz der  Intemi,  konstante  Fehler  in  die  Beobachtung 
hineinkommen,  worauf  bei  derartigen  Untersuchungen  immer 
zu  achten  wäre.  Münstebbebg  macht  die  Angabe,  dafs  bei 
seinen  Vergleichungen  der  variable  Fehler  4,3  ^/o  betrug,  wenn 
das  Auge  ruhig  gehalten  wurde,  und  nur  2,1  Vo  bei  beweglichem. 
Trotz  seiner  Versuche  ist  daher  Fechner  selbst  von  einer 
Deutung  derselben  zu  Q-unsten  des  WEBEBschen  Gesetzes 
keineswegs  überzeugt.  Er  erwägt,  dafs  nach  demselben  grofse 
Linien  gegen  kleine  in  einem  logarithmiBchen  Verhältnisse 
verkürzt  erscheinen  müfsten,  aber  eine  doppelt  so  lange  Linie 
werde  von  einem  guten  Augenmafse  auch  doppelt  so  lang 
taxiert,  und  dies  selbst  noch  im  Nachbilde,  wo  Bewegungen 
das  urteil  nicht  mitbestimmen  können.  Während  er  also  für 
die  Verwirklichung  des  WEBEBschen  Gesetzes  geneigt  ist,  den 
Augen bewegungen  eine  Bolle  zuzuschreiben,  könnte  man  aus 
der  letzteren  Bemerkung  schlief sen,  dafs  beim  Fehlen  derselben 
das  Augenmafs  sich  von  dem  Zwange  dieses  Gesetzes  frei 
machen  kann.  Hebing^  dagegen  hält  die  Zuhülfenahme  von 
Innervationsgefählen  überhaupt  für  überflüssig  und  schliefst 
dies  aus  der  Art,  wie  die  Vergleichung  stattfindet.  Wie  bereits 
oben  bemerkt,  ist  dieselbe  am  sichersten,  wenn  man  abwechselnd 
die  Mitte  der  zu  vergleichenden  Strecken  fixiert,  so  dafs  die 
betreflende  Netzhautstrecke  nacheinander,  wie  ein  Zirkel,  bald 


^  Hermaivn,  Handbuch  d.  JPhysiol.  Bd.  III.  1. 


96  Guillery. 

auf  die  eine,  bald  auf  die  andere  Objektstrecke  übertragen 
wird  (von  Helmholtz).  Ebenso  werde  der  Parallelismus  zweier 
Linien  am  besten  geprüft,  indem  man  den  Blick  in  der  Mitte 
zwischen  beiden  hingleiten  läfst,  und  die  G-leichheit  zweier 
Winkel,  wenn  ihre  Schenkel  parallel  liegen,  so  dafs  man  ihre 
Bilder  nacheinander  auf  dieselbe  Netzhautstelle  bringen  kann. 
Indessen,  wenn  einmal  Augenbewegungen  stattfinden,  so  ist 
doch  nicht  mit  Gewifsheit  zu  sagen,  dafs  die  Innervations- 
gefühle  gar  keine  Bolle  spielen,  namentlich  im  Eü.nblick  auf 
die  Unterschiede,  welche  bei  Untersuchung  mit  beweglichem 
und  mit  fixiertem  Blicke  sich  herausgestellt  haben.  Neuerdings 
hat  VON  Kbies  ^  versucht,  diesen  Einflufs  der  Augenbewegungen 
für  sich  allein  zu  ermitteln.  Er  verfuhr  in  der  Weise,  dafs  er 
einen  feinen  Zeiger  auf  einem  Schieber  befestigte  und  denselben 
eine  Exkursion  von  einer  gewissen,  nach  dem  Gedächtnisse 
geschätzten  Strecke  machen  liefs,  wobei  ihm  der  Blick  folgte, 
so  dafs  also  nur  immer  der  eine  Endpunkt  der  durchlaufenen 
Strecke  sichtbar  war.  Der  variable  Fehler  betrug  im  Durch- 
schnitte 3.26  ^/o,  so  dafs  also  mit  Hülfe  der  Augenbewegungen 
allein  schon  eine  ziemlich  genaue  Schätzung  möglich  ist,  wenn- 
gleich der  variable  Fehler  fast  den  doppelten  Wert  desjenigen 
erreichte,  der  bei  Mitwirkung  des  indirekten  Sehens  gefunden 
wurde.  Dieser  Einflufs  des  indirekten  Sehens  ist  leicht  erklärlich, 
weil  das  gleichzeitige  Übersehen  der  gesamten  Strecke  eine 
wesentliche  Erleichterung  für  das  Urteil  sein  mufs. 

Abgesehen  von  der  Frage,  ob  das  WEBE&sche  Gesetz 
zutriflFb,  ist  aber  auch  die  theoretische  Erklärung,  welche  Weber 
dem  Tastmafse  wie  dem  Augenmafse  zu  Grunde  legt,  vielfach 
bestritten  worden.  Er  nahm  bekanntlich  an,  dafs  die  Distanz 
zwischen  zwei  berührten  oder  vom  Lichte  getrofifenen  Punkten 
auf  der  Haut  oder  Netzhaut  nach  Mafsgabe  gröfser  oder  kleiner 
empfunden  wird,  als  die  Anzahl  der  sog.  Empfindungskreise 
gröfser  oder  kleiner  ist,  welche  zwischen  den  gereizten  Punkten 
liegen,  wobei  unter  Empfindungskreis  jede  Stelle  der  Haut 
oder  Netzhaut  verstanden  wird,  welche  mit  Zweigen  derselben 
elementaren  Nervenfaser  versorgt  wird,  oder  jede  Vereinigung 
solcher  Zweige  selbst.  Demgegenüber  hatte  schon  Panum 
darauf  hingewiesen,  dafs  die  seitlichen  Netzhautteile  alles  ebenso- 

*  Beiträge  zur  Psychologie  und  Physiologie  der  Sinnesorgane.  Festschrift 
m  V.  Helmholtz^  70.  Geburtstage,    Hamburg  1891, 


über  das  Äugenmciß  der  eeiÜicJien  NetzhautteiU.  97 

grofs  sehen,  wie  das  Zentrum,  welches  auf  gleichem  Flächen- 
ranme  viel  mehr  empfindende  Punkte  hat.  Ob  er  sich  hiervon 
thatsächlich  durch  Versuche  überzeugt  hat,  findet  sich  an  den 
betrefienden  Stellen,  nicht  erwähnt.  Fechneb  ist  die  Bichtigkeit 
dieser  Behauptung  zweifelhaft;  er  hat  den  Eindruck,  dafs  die 
Ausdehuung  eines  hellen  Gegenstandes  bei  Abwendung  des 
Blickes  im  indirekten  Sehen  zusammenschwindet  und  bei  Tttxr 
Wendung  in  direkter  Fixation  sich  wieder  erweitert.  Dies 
erinnert  an  den  bekannten  Versuch  Webebs  mit  zwei  Zirkel- 
spitzen, die  man  über  die  Haut  von  einer  feiner  organisierten 
2U  einer  weniger  empfindlichen  Stelle  hingleiten  läfst,  wobei 
bekanntlich  der  Eindruck  entsteht,  als  ob  sie  sich  voneinander 
entfernten.  Eine  solche  Empfindung  hat  man  aber  auch  nicht 
annähernd,  wenn  man  das  Netzhautbild  eines  Gegenstandes 
von  der  Peripherie  nach  dem  Zentrum  wandern  läfst.  Die 
Zahl  der  Empfindungskreise  allein  kann  daher  nicht  das  Mafs- 
gebende  sein,  wie  übrigens  auch  schon  daraus  folgt,  dafs, 
wenn  man  die  Entfernung  eines  Gegenstandes  vom  Auge  ver- 
doppelt, derselbe  darum  doch  nicht  halb  so  grofs  erscheint 
(Fechneb).  Das  ürteü  wird  offenbar  durch  die  Erfahrung  und 
unbewufste  Schlufsfolgerungen  beeinflufst.  Auch  v.  Helmholtz 
sagt,  dafs  es  eine  unzulässige  Erweiterung  der  WEBEBschen 
Theorie  von  den  Empfindungskreisen  ist,  wenn  man  diesen 
Kreisen  überall  dieselbe  Gröfse  zuschreiben  und  sie  als  elementare 
Mafseinheiten  der  Baumabmessungen  benutzen  will.  Für  das 
Auge  würde  aus  einer  solchen  Annahme  folgen,  dafs  die  ganze 
Peripherie  des  Sehfeldes  in  allen  Dimensionen  relativ  viel 
kleiner  erscheinen  müfste,  als  Objekte  von  gleicher  Winkel- 
gröfse  in  der  Mitte  des  Sehfeldes.  Vor  allen  Dingen  ist  aber 
auch  f&r  das  Tastmafs  selbst  das  Zutre£Pen  des  WEBEBschen 
Gesetzes  nicht  unbestritten  und  daher  der  ganze  Vergleich 
überhaupt  von  zweifelhaftem  Werte.  Die  Versuche,  welche 
Fechneb  an  der  Stirn  angestellt  hat,  ergeben  keine  auch  nur 
annähernde  Proportionalität  der  reinen  Fehler  mit  den  Di- 
stanzen. Sie  nehmen  im  allgemeinen  viel  langsamer  und  über 
gewisse  Grenzen  hinaus  oder  in  gröfseren  Intervallen  gar  nicht 
mit  den  Distanzen  zu,  so  dafs  sie  auch  nicht,  wie  bei  den 
mikrometrischen  Augenmafsversuchen,  aus  einer  den  Distanzen 
proportionalen  und  aus  einer  konstanten  Komponente  zusammen- 
gesetzt werden  können. 

Zeltsebrift  fttr  Pgyeholoffle  X.  7 


98  GuiUery. 

Der  Vorgang  ist  also  jedenfalls  ein  sehr  komplizierter  und 
weder  durch  die  WssEBsclien  Voraussetzungen,  noch  durch  die 
Augenbewegungen  aUein  zu  erklären.  Letzteres  ergiebt  sich 
auch  aus  meinen  Versuchen  schon  dadurch,  daXs  jene  bei  allen 
Schätzungen  in  gleicher  Weise  unbehindert  waren  und  doch 
ganz  konstante  Verschiedenheiten  hervortraten,  sowohl  nach 
der  Bichtung  der  Distanzen,  als  nach  ihrer  Lage  im  Sehfelde, 
Indem  ich  auf  alle  Hypothesen  verzichte,  fasse  ich  die  Er- 
gebnisse dahin  zusammen,  dafs: 

1.  das  Augen  mafs  in  den  peripheren  Teilen  des  Sehfeldes 
keine  wesentlichen  Abweichungen  zeigt  geg^iüber  den  mittleren, 
dafs  vielmehr  bestimmte  Eigentümlichkeiten,  wie  z.  B.  die 
ünterschätzung  horizontaler  Distanzen,  für  die  Peripherie  eben«- 
falls  gelten; 

2.  das  WEBERsche  Gesetz  sich  nicht  als  zutreffend  er- 
wiesen hat. 


K  •'  ^-• 


Krümmungskontrast 

Von 

Dr.  Alois  Höfler, 

Professor  an  der  k.  k.  Theredianischen  Akademie  in  Wien 
und  Privatdozent  an  der  Universität  Wien, 

(Mit  4  Figuren  im  Text.) 

An  den  Vorgebäuden  der  niederösterreichischen  Landes- 
irrenanstalt in  Wien  findet  sich  als  architektonisches  Motiv 
ein  Spitzbogen,  welcher  in  nachstehenden  Figuren  1  und  2  nach 
Photographien  reproduziert  ist,  die  zum  Zwecke  dieser  Mit- 
teilung angefertigt  worden  sind.^  Mir  war  nämlich  an  diesem 
Spitzbogen  vor  mehreren  Jahren  aufgefallen,  dafs  er  auf  den 
ersten  Blick  an  der  Spitze  von  zwei  nach  unten  konvexen 
Kurven  (in  der  Weise  mancher  maurischer  Bogen)  abgeschlossen 
zu  sein  scheint,  während,  wie  schon  genaues  Hinsehen  zeigt 
(wenn  auch  nicht  ganz  leicht  und  für  verschiedene  Personen, 
die  ich  aufmerksam  machte,  überhaupt  nicht  ganz  zweifellos),' 
die  Begrenzungslinien  bis  zur  Spitze  völlig  gerade  sind. 
Wenigstens    ergab    sich    bei  einer    direkten  Prüfung   der  Be- 

^  Ich  sage  hier  Herrn  Dozenten  Dr.  0.  Bodenstein  meinen  Dank  ftlr 
die  Anfertigung  der  Photographien,  den  Herren  Primarien  Dr.  Stab- 
LiNOEB  und  Dr.  Bubenik  dafür,  dafs  sie  durch  Werkleute  die  Geradheit  der 
fraglichen  Linien  feststellen  liefsen. 

'  Über  dem  einen  der  Bogen  befindet  sich  ein  nachträglich  an- 
gebrachtes Blechdach,  welches  wirklich  an  der  Spitze  die  besprochene 
Elrümmung  besitzt.  Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  dafs  der  Verfertiger 
des  Blechdaches  dem  Eindruck  der  scheinbaren  Krümmung  des  Mauer- 
werkes unterlegen  ist  und  im  Stil  zu  bleiben  glaubte,  wenn  er  sie  im 
Dache  nachahmte,  wenn  auch  in  vielleicht  bewuTster  Übertreibung. 
Desgleichen  findet  sich  auch  im  Bahmenwerk  der  Fenster,  das  ja  wahr- 
scheinlich auch  erst  nach  dem  Mauerwerk  und  diesem  angepafst  an- 
gefertigt wurde,  einige  Male  eine  wirkliche  Krümmung  an  der  Spitze, 
aber  nicht  ganz  konsequent  —  es  ist,  wie  wenn  hier  das  Urteil  des 
Zeichners  der  Bahmen  beim  freien  Nachbilden  des  Mauerbogens  ge- 
schwankt hätte. 

7* 


100  ^foi«  Jföfler. 

grenznngslinien  keinerlei  merklich«  Abweichimg  von  der  Ge- 
raden ;  und  auch  auf  den  Photographien,  sowie  auf  beistehenden 
^Fachbildungen  weist  daa  Lineal  das  Nichtvorhandensein  einer 
dem  Schein  entsprechenden  konvexen  Krümmung  nach. 


Fig.  1. 

Eine  Erklärung  der  scheinbaren  Krümmung,  welche  in 
Pigor  3  etwas  übertrieben  durch  die  punktierte  Linie  de'  an- 
gedeutet ist,  ergäbe  sich  sofort  daraus,  dafs,  wenn  beim 
Übergang  aus  dem  vertikalen  Teil  ah  durch  die  nach  unten 
konkave  Krümmung  bei  &c  in  den  schiefen  Teil  des  Bandes  cd 
gleichsam  der  Blick   sich  durch  letzteren   längs  einer  Geraden 


Krikmmungshmtratt.  101 

geftlhrt  fiililt,  dieaer  Übergang  aus  dem  Enrnmien  ins  Gerade 
überschätzt  wird,  wie  beim  simultanen  Farbenkontrast  nach 
HBLHBOLTzscher  Erklämng.  Nennen  wir  die  Erümmimg  bei  be 
eine  negative  (weil  der  zweite  Differentialquotient  der  auf  das 


Fiff.  2. 

Koordinatensystem  OXY  bezogenen  Kurve  daselbst  negativ 
ist),  so  ist  die  Krümmung  von  c  bis  d  gleich  Nalt,  von  d  bis  e, 
bozw.  e'  wird  sie  positiv. 

Angesichts  der  Thatsache,  dafs  Eelmholtz'  psychologische 
Theorie  des  simultanen  Kontrastes  durch  Herings  physiologische 
einen  starken  Angriff  erfahren  hat,    sei   auch   die  angedeutete 


102 


AJüis  Höfler, 


Erklärung  der  Erscheinung  zunächst  nur  als  eine  mögliche 
mitgeteilt.  Nichtsdestoweniger  dürfte  für  das,  was  an  der 
Beobachtung  unter  vorläufiger  Femhaltung  womöglich  jeder 
Theorie  eine  Thatsache  ist,  die  Bezeichnung  ^Krümmungs- 
kontrast^  immerhin  noch  passend  gefunden  werden.  Der 
Gedanke  an  eine  Ähnlichkeit  mit  der  Täuschung  durch  Zöllners 
Figuren^  liegt  nahe,  sei  aber,  weil  ebenfalls  sogleich  auf 
theoretische  Deutung  führend,  nur  erwähnt,  insofern  er  die 
bei  ihrer  Variierung  gemachten  Erfahrungen  für  unsere  Er- 
scheinung nutzbar  zu  machen  anregt. 

Die  Thatsache  giebt  nämlich  ebenfalls  vor  allen  Erklärungs- 
versuchen Stoff  zur  mannigfachen  experimentellen  Vari- 
ierung. 1.  Wie  lange  darf  die  Gerade 
ce  im  Vergleich  zur  Länge  des  Bogens 
bc  oder  seines  Krümmungshalbmessers 
sein,  damit  überhaupt  noch  ein  Schein 
von  Krümmung  von  d  bis  c'  sich  ein- 
stelle? 2.  Bei  welcher  Neigung  der  ce 
gegen  die  Horizontale,  oder  was  das- 
selbe ist,  bei  welchem  Gradmafs  des 
Bogens  hc  wird  der  Schein  am  stärk- 
sten ?  3.  Läfst  sich  der  Schein  vielleicht 
-^  steigern,  indem  man  nicht  konstante 
(Kreis-)  Krümmung,  sondern  eine  in  be- 
stimmter Weise  variable  längs  bc  anwendet?  4.  Ist  dieser 
Schein  daran  gebunden,  dafs  sich  die  Linie  abcde  jen- 
seits von  der  Symmetrieaxe  (die  durch  e\\  OT  geht)  wieder- 
hole? Eine  Verstärkung  durch  solche  Symmetrie  ist  ja  von 
vornherein  wahrscheinlich.  Wieviel  von  dem  Schein  der  Zu- 
spitzung kommt  aber  6.  auf  Eechnung  des  Sichschneidens 
zweier  Geraden    unter   einem  Winkel?    6.  Was  geschieht,  je 


6- 


Fig.  3. 


*  Auf  das  ihnen  und  verwandten  Erscheinungen  zu  Grunde  liegende 
„Falschsehen  schiefer  Winkel**  (Hering,  Hermanns  Handbuch,  III.Bd. 
1.  T.,  S.  372,  580  u.  a.)  wendet  Hblmholtz  (PhysioLOpt  I.  Aufl.  S.  571)  den 
Ausdruck  „Kontrast  für  Eichtungen"  an.  (Vergl.  auch  MunroKO,  Bei- 
träge zur  Theorie  der  psychischen  Analyse,  diese  Zeitachr,  VI.  Bd.  S.  347, 
Anm.)  Rein  mathematisch  genommen  verhielten  sich  Bichtungs-  und 
Krümmungskontrast  wie  endliche  Differenzen  und  Differential- 
quotienten der  die  „Richtungen"  darstellenden  ersten  Differential- 
quotienten,    Vergl.  aber  die  unten  angeführten  Worte  von  Mach. 


Krümimingshontraat.  103 

nachdem  dieser  Winkel  ein  stumpfer  oder  spitzer  ist?  Das 
Gesetz,  dafs  stumpfe  Winkel  unter-,  spitze  überschätzt  werden, 
kompUsdert  sich  hier  mit  der  unter  2  genannten  Yariierung; 
wann  fördernd,  wann  hemmend?  7.  Mit  Bücksicht  auf  die 
Thatsache,  dafs  der  Schein  der  Bichtungsverschiedenheit 
beim  ZOLLNBRschen  Muster  am  stärksten  wird,  wenn  die 
Längslinie  45^  gegen  die  Medianebene  des  Beschauers  ein- 
schliefst, liegt  die  Frage  nahe,  ob  der  Schein  der  Ejrümmung 
bei  de^  am  stärksten  ist  bei  vertikaler  Kopfhaltung  des 
Beschauers,  allgemeiner:  bei  Parallelismus  der  Symmetrie- 
aze  der  Figur  und  der  Längsaxe  des  Beschauers,  oder  bei 
welchem  Winkel  beider  Bichtungen?  8.  Die  Figuren  wären 
teils  zu  zeichnen,  teils  (um  Begrenzungslinien  ohne  Dicke  zu 
haben)  aus  Papier  auszuschneiden  und  dieses  auf  andersfarbigen 
Ghrund   zu   legen    (vielleicht   liefsen   sich    auch  Schatten   von 


Fig,  4. 

Drähten  unter  wechselnder  Projektion  anwenden).  9.  Welchen 
Einfluis  hat  die  absolute  Gröfse,  10.  welchen  der  Abstand  vom 
Auge,  11.  bei  monokularem,  binokularem  Sehen,  12.  bei 
ruhendem,  bewegtem  Auge  u.  s.  f.?  13.  Auch  andere  Ver- 
bindungen und  Geraden  zeigen  die  Kontrasterscheinungen.  So 
sind  z.  B.  für  mich  die  in  Fig.  4  an  den  Kreisbogen  an- 
gesetzten Geraden  sehr  auffallend  nach  oben  konkav. 

Da  für  die  experimentelle  Behandlung  dieser  und  ein- 
schlägiger Fragen  (welche  mir  von  Herren,  die  an  dem  psycho- 
logischen Laboratorium  in  Graz  arbeiten,  in  Aussicht  gestellt 
worden  ist)  voraussichtlich  während  der  Experimente  selbst  sich 
die  passendste  Fragestellung  erst  ergeben  wird,  so  mögen  nur 
noch  einige  allgemeinere  Bemerkungen  über  die  theoretische 
Tragweite  des  Thatsachenkomplexes  hier  stattfinden. 

Vor- allem  ist  bemerkenswert  der  Umstand,  dafs  die  Kontrast- 
wirkung hier  stattfindet  zwischen  Yorstellungsinhalten,  die  man 
nur  sehr  uneigentlich  noch  wird  Empfindungsinhalte  nennen 
können:  findet  doch  konkave  und  konvexe  Ejümmung  erst  in 


104  Alois  Höfler. 

dem  negativen  bezw.  positiven  Vorzeichen  zweiter  Differential» 
quotienten  ihren  adäquaten  begrifflichen  Ausdruck.  Nun  bricht 
sich  allerdings  mehr  und  mehr  die  Einsicht  Bahn,  dafs  viele 
von  sehr  primitiven  Inhalten,  die  man  zuerst  unbedenklich 
Empfindungsinhalte  nennen  mochte,  diesen  Namen  nicht  ver- 
dienen, sondern  dais  z.  B.  schon  eine  einfache  Baumstrecke 
als  solche  nur  beim  Hinzutreten  von  Distanz  Vorstellungen^  im 
BewuMsein  vorhanden  ist:  „unter  Distanz^  aber  verstehen  wir, 
das  Wort  hier  in  einem  für  manche  ungewohnt  weiteren  Sinne 
nehaiiend,  nicht  blofs  räumliche  und  zeitliche,  sondern  aacli 
qualitative  und  solche  der  Intensität,  und  definieren  das  Wort: 
Grade  der  Unähnliohkeit."  (Stumpf,  Tanpsychol.  I.  Bd.  S.  57). 

Da  überdies  nach  Ehrenfels*  jede  räumliche  Gestalt,  also 
auch  schon  die  Strecke,  eine  „Gestaltsqualität^  darstellt,  muTs 
dies  um  so  mehr  von  Ejrümmung  gelten ;  ja  es  dürften  die  un- 
mittelbar anschaulichen  Bilder  von  konkaver  oder  konvexer 
Krümmung'  sogar  besonders  geeignet  sein,  jenen  Namen,  den 


^  Hierhergehöriges  soll  ein  nächster  Aufsatz  „Zur  Analyse  der  Vor- 
stellungen von  Abstand  und  Richtung^'  behandeln. 

'  Yergl.  diese  Zeitschr,  II.  Bd.  S.  245  ff.  den  Bericht  über  Ehrbnfkls' 
„Gestaltsqualitäten"  (Vief^teüahrschr.  f.  wisa,  Fhihs.  1B90.  S.  249—292) 
in  dem  Aufsatze  von  Meinonq  „Zur  Psychologie  der  Komplexionen 
und  Relationen." 

'  Zu  den  Stellen,  von  denen  Ehbenfels  eingangs  seines  Aufsatzes 
sagt:  „Als  Ausgangspunkt  hierzu  ergaben  sich  mir  wie  von  selbst  in  der 
Schrift  von  E.  Mach,  jyBfiiträge  zur  Analyse  der  Empfindungen^  (Jena  1886), 
eine  Beihe  von  Bemerkungen  und  Hinweisen,  welchen  ich,  obgleich  sie 
in  einem  ganz  anderen  Zusammenhange  entstanden  zu  sein  scheinen, 
dennoch  eine  wesentliche  Festigung  meiner  Ansichten  über  die  hier  dar- 
zulegenden Verhältnisse  verdanke"  —  gehört  wohl  wesentlich  auch  die 
folgende  (Mach,  S.  47,  48):  „Die  physiologische  Bedeutung  der  Richtung 
einer  betrachteten  Geraden  oder  eines  Kurvenelements  können  wir  uns 
noch  durch  folgende  Betrachtung  vermitteln.  Es  sei  y  =  f  {x)  die 
Gleichung  einer  ebenen  Kurve.    Durch  den  blofsen  Anblick  können  wir 

d  \i  — 

den  Verlauf  der  Werte  von  -—■  an   der  Kurve   absehen,   denn  dieselben 

ax 

sind   durch    deren  Steigung   bestimmt,   und  auch  über  die  Werte  von 

j-^  giebt  das  Auge  qualitativen  Aufschlufs,  denn  sie  sind  durch  die 
dx 

Krümmung  der  Kurve  charakterisiert.  Es  liegt  die  Frage  nahe, 
warum  man  über  die  Werte  von  -j-^,  -j-^  u.  s.  w.  nicht  ebenso  unmittel- 
bar etwas  aussagen  kann.     Die  Antwort  ist  einfach.    Man  sieht  natür- 


Krümmungskontrast  lOö 

Ehbbnvbls  den  von  ihm  entdeckten  Vorstellungsgebilden  ge- 
geben hat  und  den  er  dann-  zu  Gunsten  des  von  Meinong  vor- 
geschlagenen Namens  ^fundierte  Inhalte^  aufgegeben  hat, 
zu  illustrieren ;  denn  gerade  bei  Konvexität  und  Konkavität  drängt 


lieh  nicht  die  Differentialquotienten,  welche  Yerstandessache  sind,  sondern 
man  sieht  die  Bichtung  der  Kurven  demente  und  die  Abweichung 
der  Bichtung  eines  Elementes  von  jener  eines  anderen/' 

Wie  Ehrbnfels  (a.  a.  0.  S.  250)  bezüglich  Machs  Terminus 
„Empfindung^  in  solchen  Fällen  allgemein  bemerkt,  kann  auch 
speziell  von  „Sehen^  der  Krümmung  nur  so  die  Bede  sein,  dafs 
„der  Verfasser  .  .  lediglich  die  Unmittelbarkeit  des  Eindruckes  im 
Aage  hatte  und  dessen  Unabhängigkeit  von  jeglicher  intellektuellen 
Verarbeitung  durch  das  Subjekt  hervorzuheben  gewillt  war.**  In 
diesem  Sinne  nun  ist  es  z.  B.  eine  von  mir  durch  Umfragen 
oft  erprobte,  aber  von  der  Schulgeometrie,  wie  es  scheint,  nicht  beachtete 
Thatsache,  dafs  von  allen  „Definitionen''  des  Kreisen  die,  er  sei  die  „Linie 
konstanter  Krümmung",  der  ganz  unbefangenen  Auffassung  j edesmal 
bei  weitem  am  nächsten  liegt  (viel  näher,  als  die  nach  „konstanten 
Badien'').  Es  dürfte  sich  Machs  Bemerkung  aber  noch  etwas  erweitem 
lassen,  indem  wir  zunächst  doch  auch  für  endliche  Unterschiede 
von  Krümmungen  noch  eine  sehr  sichere  unmittelbare  Auffassung  haben ; 
und  auch  für  stetige  Änderung  der  Krümmung  fehlt  dem  geschulten 
Auge  der  „Blick"  keineswegs.  Wir  erfassen  z.  B.  die  Gleichmäfsigkeit 
des  Abnehmens  der  Krümmung  einer  durch  r  =  ^.ff  definierten  Archi- 
medischen Spirale  wohl  kaum  schlechter,  als  etwa  die  Gleichmäfsigkeit 
eines  Crescendo  (Stumpf,  TanpsychoL  I.  S.  393);  dafs  freilich  hier  die 
Proportionalität  nicht  mehr  Krümmungshalbmesser  und  Bogenlänge, 
sondern  Badiusrector  und  Polarwinkel  betrifft,  dürfte  wohl  für  die 
meisten  schon  unter  der  Unterschiedsschwelle  liegen.  (Messende  Versuche 
hierüber  und  über  das  folgende  wär^n  erst  anzustellen.)  Aber  auch 
Krämmungsänderungen,  die  nach  komplizierteren  Gesetzen  erfolgen,  also 
dritte  Differential  quotienten,  werden  vom  geschulten  Blick  in  ihrer  be- 
sonderen Gesetzmäfsigkeit  erfafst;  so  unterscheidet  jeder  Geometer  die 
parabolische  Krümmung  auf  den  ersten  Blick  von  der  hyperbolischen 
(wenigstens  an  Stellen,  die  nicht  zu  nahe  beim  Scheitel  liegen)  —  und 
es  ist  ja  wohl  auch  hier  wieder,  wie  beim  Kreis^  die  Krümmung,  welche 
vorwiegend  zum  unmittelbaren  Gestaltenbild  beiträgt.  —  Dafs  alles 
Gesagte  nur  dasjenige  Mafs  von  Genauigkeit  quantitativer  Bestimmungen 
verträgt,  wie  sie  anschaulichen  Vorstellungen  (richtiger:  Vergleichungen 
solcher)  im  günstigsten  Falle  zukommt,    versteht  sich  von  selbst;    auch 

schon  dafs  -^  =  0,  d.  h.  eine  Gerade,   erkennen  wir  ja  als  solche  durch 

„Sehen''  nur  unter  dem  Vorbehalt  untermerklicher  „Buckel**. 

Nur  vorläufig   führe   ich  hier  an,  dafs  sich  die  ganze  Betrachtung 
vom  Geometrischen   auf  das  Phoronomische  übertragen  läist:    auch  die 


106  Ahis  Höfler. 

sicliaiis  das  Qualitative  innerhalb  des  Bäumlichen^  besonders  leb- 
haft auf.  Doch  dies  nur  nebenbei.  Was  für  uns  an  der  Thatsache 
des  Krümmungskontrastes  besonders  bemerkenswert  erscheint, 
ist  der  Umstand,  dafs  überhaupt  das  Kontrastverhältnis  mit 
einer  anschaulichen  Lebendigkeit,  wie  es,  wenn  zwischen  wirk- 
lichen Empfindungsinhalten  wie  Farben  auftretend,  zu  Herings 
physiologischer  Theorie  führen  konnte,  auch  hier,  also  zwischen 
Yorstellungsinhalten  sich  wirksam  zeigt,  für  die  man  eine 
Modifikation  durch  physiologische  Beeinflussung  schwer  denken 
kann.     Insoweit  es  überhaupt  ohne  theoretische  Vorwegnähme 

Analoga  zu  j^  und  ^,  nämlich  die  Geschwindigkeit  -jr   und    die 

Beschleunigung   ^werden  von  uns  als  Gestaltqualitäten  erfaM, 

—  sofern  wir  uns  nicht  gewöhnt  haben,  auf  imsere  von  Kindheit  geläufigen 
Anschauungsbilder  groiser,  kleiner,  wachsender . .  Geschwindigkeiten  zu 
Gunsten  der  rein  abstrakten  Definition  der  Mechanik:  „Geschwindigkeit 
ist  der  Weg  in  der  Zeit  1^  u.  dergl.  zu  verzichten.  EHRExrELs'  Theorie 
der  Gestaltsqualitäten  hat  mir  für  das,  was  ich  seit  zwanzig  Jahren  als 
einen  Mangel  der  herkömmlichen  Darstellungen  der  Mechanik  fühlte, 
den  vorläufig  wenigstens  mich  selbst  überzeugenden  Gesichtspunkt  zu 
künftigen  „psychologischen  und  logischen  Analysen^  dieser  und  mancher 
anderen  Grundbegriffe  der  theoretischen  Mechanik  gegeben. 

Während  ich  dies  niederschreibe  [—  es  war  im  Februar  1894 ;  ich 
habe  die  Publikation  bis  jetzt  verschoben,  da  ich  den  Baum  der  Zeit- 
schrift durch  die  zwei  Artikel  „Psychische  Arbeit^  sehr  in  Anspruch 
genommen  hatte],  finde  ich  hierher  gehörige  Andeutungen  in  dem  soeben 
erschienenen  Hefte  dieser  Zeitschr,  (VI.  Bd.  S.  472)  von  Scbipture  unter  dem 
Terminus  Anderungsempfindlichkeit  (Geschwimdigkeits-,  Beschleu- 
nigungsempfindlichkeit) mitgeteilt. 

^  Es  ist  nur  cum  grano  salis  zu  nehmen,  wenn  oft  Qualität, 
Intensität,  räumliche  und  zeitliche  Bestimmungen  wie  ein£Eush 
koordinierte  Inhalte  aufgezählt  werden  (von  Stumpf,  z.  B.  Baum- 
vorateüung,  Tonpsychohgie  an  verschiedenen  Stellen,  von  mir  in 
meiner  Logik  1890  u.  a.).  Es  giebt  eben  Qualitäten  auch  innerhalb  des 
Bäumlichen,  wie  oben  gesagt,  und  sogar  Qualitäten  innerhalb  der  Quali- 
täten; z.B.  das  Eigentümliche  von  Heifs  und  Lau  innerhalb  der  Wärme- 
qualität; die  „spezifische  Helligkeit''  (—  in  der  diesen  Titel  führenden 
Arbeit  hat  Hillebband  jedenfalls  übersehen,  dafs  schon  Schopshhaüeb, 
Sehen  und*  Farben,  %  5,  von  einem  „jeder  Farbe  wesentlichen  und  eigen- 
tümlichen Grad  von  Helle  oder  Dunkelheit"  spricht)  neben  dem  Farbenton 
und  der  Sättigung,  welche  „Helligkeit"  keineswegs  als  Intensität  an- 
gesprochen werden  kann  (ohne  dafs  hiermit  schon  Hebino  beigestimmt 
sein  müiste,  welcher  gar  keine  eigentliche  Intensität  der  Lichtempfin- 
dungen will  gelten  lassen). 


Krümmimgskantrast.  107 

von  spezielleren  Versachsergebnissen  erlaubt  ist,  denKrümmungs- 
zum  Farben-  (bezw.  Helligkeits-)  Kontrast  in  Analogie  zu 
setzen,  entspricht  der  Bogen  bc  der  induzierenden  Farbe,  die 
Gerade  de  dem  grauen  Grande,  auf  welchem  die  Kontrastfarbe 
induziert  wird.  (Dafs  hier  ein  Stück  der  Geraden,  nämlich  cd 
ungeändert  bleibt  und  das* Kontrastphänomen  sich  erst  von  d 
an  geltend  macht,  stört  die  Analogie  freilich  bedenklich;  ob 
die  Bedenken  unüberwindlich  sind,  müfsten  erst  Versuche 
darüber  zeigen,  wie  weit  sich  d  verkürzen,  etwa  auf  Null 
bringen  läfst  (wozu  Figuren  wie  4  einen  Ausgangspunkt  bieten). 
Hält  man  sich  an  die  durch  unser  Portal  gegebenen  Mafse,  so 
wird  man  den  Eündruck  haben,  dafs  der  Blick  Gelegenheit 
haben  müfste,  erst  ein  Stück  sich  längs  einer  Geraden  vor- 
geführt zu  fahlen  —  was  wieder  keine  Theorie  über  Augen- 
bewegung u.  dergl.  einschliefsen  soll,  immerhin  aber  im  Sinne 
von  LiPPs  Theorie*  gedeutet  werden  könnte  —  um  dann,  wenn 
er  längs  dieses  Stückes  den  Eindruck  vom  Nullwert  der  Krüm- 
mung empfangen  hat,  durch  den  Schein  der  entgegengesetzten 
Krümmung  gegen  die  von  bc  reagieren  zu  können.  Für  die 
grofse  Streitfrage,  ob  psychologische  oder  physiologische  Er- 
klärung des  simultanen  Farbenkontrastes,  möchte  wenigstens 
ein  neuer  Wahrscheinlichkeitsgrund  für  erstere  Erklärungsweise 
darin  liegen,  dafs  es  einen  i^cht  wohl  physiologisch  zu  er- 
klärenden Kontrast  nicht  erst  zwischen  Biesen  und  Zwergen 
(den  auch  Hering  als  psychologisch  gelten  läfst,  vielleicht,  weil 
hier  neben  dem  Auffassen  der  stark  verschiedenen  Gröfsen 
als  solcher  doch  auch  schon  eine  kaum  vollständig  zu  analy- 
sierende Beziehung  zwischen  der  „Gröfse^als  rein  geometrischem 
Bestimmungsstück  und  spezifisch  menschlicher  Gröfse  mit  ihren 
Extremen  „Riesigkeit*'  *  und  „Winzigkeit*^  in  Betracht  kommt), 
sondern  dafs  es  psychologischen  Kontrast  schon  zwischen  Inhalten 
giebt,  die  wie  die  Krümmung  immer  noch  sehr  primitiver  Natur, 
aber  doch  schon  nicht  mehr  Sinnesinhalte  sind.  Ganz  nebenbei 
bemerkt,  müfste  sich  ja  aber  die  psychologische  und  die  physio- 
logische Erklärung  überhaupt  nicht  ausschliefsen,  da  sie  doch 

'  Yergl.  diese  Zeitschr.  HI.  Bd.   S.  198  fF. 

*  Ich  habe  Viertefjahrsschr.  /*.  wiss.  FkOos.  1883,  S.  484,  auf  den  Unter- 
schied von  „quantitas^  und  „magnitudo^  als  auf  einen  hingewiesen,  der 
geeignet  ist,  das  Dogma  von  der  „Relativität  aller  G-röfse*'  in  die  richtigen 
Schranken  zu  bringen.    Desgleichen  meine  Logik  (1890)  S.  61. 


108  Alois  EöfUr, 

beide  einen  umstand  namhaft  machten,  der  mit  dem  anderen 
nicht  unverträglich  ist.  Ob  ein  solcher  Vermittelungsvorschlag 
annehmbar  ist,  könnten  freilich  wieder  erst  Versuche  von  der 
Art  des  von  Hering  {Lichtsinn^  S.  22)  ersonnenen  zeigen, 
welcher  die  Analogie  zum  Kontrast  Biese — Zwerg  dadurch  in  die 
Enge  treibt,  dafs  wir  „den  Menschen  von  mittlerer  Gröfse  neben 
dem  Biesen  im  strengsten  Sinne  des  Wortes  plötzlich  zu- 
sammenschrumpfen sehen"  müfsten.  Sollte  im  ^Krümmungs- 
kontrast"  wirklich  ein  physiologisches  Motiv  (etwa  Augen - 
bewegung  —  allenfalls  auch  Muskelempfindung  davon)  und  ein 
psychologisches  (etwa  Lipps  Ästhetische  Faktoren)  zusammen- 
wirken, so  wären  für  die  Abgrenzung,  was  des  einen  und  was 
des  anderen  ist,  erst  so  feine  differenzierende  Versuche  auszu- 
denken, wie  der  erwähnte  HsRiNGsche. 

So  viel  aber  dürfte  heute  schon  zu  sagen  sein,  dafs  unsere 
Thatsache,  wie  auch  ihre  Erklärung  ausfalle,  durch  die  ebenfsJls 
thatsächliche  Konsequenz  über  ein  blofs  isoliertes  Interesse 
hinausreiche,  indem  sich  Ehrbnfels'  Gestaltsqualitäten  wieder 
in  einer  Hinsicht  den  Empfindungsinhalten  analog,  nämlich  dem 
Kontrastverhältnis  unterliegend,  erweisen,  wodurch  dieser 
Krümmungskontrast  uns  wieder  in  seiner  Weise  Ähnlichkeiten 
und  Unterschieden  primärer  und  fundierter  Inhalte  näher 
bringt. 


Litteraturbericht. 


SiEGMUND  EzNER.  Eütworf  ZU  61x161  physiologiBclidn  Erklärung  der 
psychi8eh6n  Srsc1i6inimg6Xi.  I.  Teil.  Mit  63  Abbildungen.  Leipzig  u. 
Wien.    Franz  Deuticke.  1894.  380  S. 

Das  Buch  erbebt  den  Anspruch  auf  eine  ganz  besondere  Beachtung. 
Denn  es  stellt  sich  die  Aufgabe,  die  Erldärbarkeit  der  psychischen  Er- 
scheinungen nachzuweisen,  und  zwar  die  widerspruchslose  Erklftrbarkeit 
aller  psychischen  Erscheinungen.  E.  beabsichtigt,  ;,die  wichtigsten 
psychischen  Erscheinungen  auf  die  Abstufungen  von  Erregungszuständen 
der  Nerven  und  Nervenzentren,  demnach  alles,  was  uns  im  Bewufstsein 
als  Mannigfaltigkeit  erscheint,  auf  quantitative  Verhältnisse  und  auf  die 
Verschiedenheit  der  zentralen  Verbindungen  von  sonst  wesentlich  gleich- 
artigen Nerven  und  Zentren  zurückzuführen^. 

Nach  einer  kurzen,  durch  zahlreiche  Abbildungen  erläuterten  ana- 
tomischen Übersicht  über  das  gesamte  Zentralnervensystem  giebt  £.  zu- 
nächst eine  physiologische  Einleitung.  Er  geht  von  der  Thatsache  aus, 
dafs  jede  sensorische  Erregung  in  der  grauen  Substanz  in  eine  grofse 
Anzahl  von  Teilbewegungen  umgesetzt  wird,  welche  nach  den  ver- 
schiedenen Nervenzentren  ausstrahlen  und  so  auch  zu  motorischen 
Zentren  gelangen  können.  Die  Bichtungen,  nach  welchen  hin  die  Er- 
regung ausstrahlt,  sowie  die  Stärke  jeder  einzelnen  Teilerregung  wird 
teils  bedingt  durch  angeborene  „Verwandtschaft^  zwischen  den  einzelnen 
Nervenzentren,  welche  Verwandtschaft  am  einfachsten  als  durch  die 
gprOfsere  oder  geringere  Dicke  der  verbindenden  Nervenfaser  gegeben 
aufgefafst  wird ;  teils  sind  es  die  Vorgänge  der  Hemmung  und  Bahnung, 
welche  die  Verteilung  der  Erregung  in  der  grauen  Substanz  nach  Ort 
und  Grölse  regeln.  E.  bespricht  die  Beflezbewegungen,  die  Mitempfin- 
dungen, die  Summation  der  Reize,  derzufolge  aufeinander  in  derselben 
Bichtung,  oder  aber  auch  von  verschiedenen  Bichtungen  herkommende, 
an  sich  zu  schwache  Erregungen  eine  Ganglienzelle  dem  Moment  der 
Entladung  immer  mehr  nähern  und  schliefslich  die  letztere  herbei- 
führen können.  Die  Entladung  selbst  ist  ein  Auslösungsvorgang.  Ge- 
schieht die  Entladung  einer  gröfseren  Anzahl  motorischer  Ganglienzellen 
gleichzeitig  und  vollständig,  so  kommt  es  zu  einer  einmaligen  zuckungs- 
artigen Kontraktion  der  dazu  gehörigen  Muskeln ;  sind  die  miteinander 
verknüpften  Ganglienzellen  eines  Nervenkemes  dagegen  derart  beschaffen, 
dafs  sie  sich  nicht  auf  einmal  vollständig  entladen,  dafs  aufserdem  die 
Entladung  jeder  einzelnen  Zelle  die  übrigen  wieder  dem  Entladungsmoment 


110  LiUeraturbericht 

nähert,  so  dals  eine  ganze  Anzahl  von  Einzelentladungen  —  ein  Peloton- 
feuer der  Ganglienzellen  —  aufeinanderfolgt,  so  kommt  eine  tetanische 
Muskelaktion  zu  stände.  Die  verschiedenen  Nervenkeme  im  Bücken- 
und  verlängerten  Marke  beeinflussen  einander  gegenseitig,  und  zwar 
zeitlich  verschieden  durch  angeborene  Verwandtschaft ;  dadurch  kommen 
die  verschiedenen  Arten  der  Bewegung  bei  demselben,  wie  bei  ver- 
schiedenen Tieren  zu  stände.  Auch  durch  die  gleichzeitigen  sensorischen 
Einflüsse  werden  die  Bewegungen  mannigfach  abgeändert  und  durch 
den  Wegfall  der  ersteren  in  manchen  Fällen  unmöglich  gemacht  (Senso- 
mobilität). 

Dieses  subkortikale  Getriebe  wird  durch  die  von  der  B[imrinde 
kommenden  Erregungen  willkürlich  beeinfluTst.  Die  Begulierung  der 
Bewegungen  rückt  um  so  mehr  aus  den  subkortikalen  Zentren  in  die  Hirn- 
rinde, je  höher  ein  Tier  intellektuell  steht;  doch  ist  stets,  selbst  bei  ein- 
fachen willkürlichen  Bewegpingen,  der  gesamte  subkortikale  Mechanismus 
mit  in  Thätigkeit.  Die  kortikale  Begulierung  besteht  darin,  daiÜs  wir 
uns  den  Effekt  der  beabsichtigten  Bewegung  vorstellen  und  so  die  sub- 
kortikale Bahn  zwischen  den  sensorischen  und  motorischen  Ganglienzellen 
in  den  sub kortikalen  Zentren,  dadurch  dafs  wir  gleichzeitig  von  der 
Binde  her  beide  ansprechen,  leichter  erregbar  machen. 

Die  willkürliche,  also  von  der  Hirnrinde  ausgehende  Erregung  eines 
subkortikalen  sensorischen  Nervenzentrums,  also  die  Herstellung  eines 
der  Entladung  näheren  Zustandes  in  dessen  Zellen  unter  gleichzeitig 
bewirkter  Hemmting  der  anderen  Nervenzentren,  ist  die  Aufmerk- 
samkeit. 

Die  Empfindung  ist  ein  Anteil  eines  Sinneseindruckes,  der  nur  mehr 
Qualität,  Intensität  und  eventuell  Lokalzeichen  unterscheiden  läfst.  Mit 
dem  Steigen  der  Beize  ändert  sich  nicht  nur  die  Intensität,  sondern 
auch  die  Qualität  der  Empfindung.  Die  Empfindungen  sind  primär  oder 
sekundär,  je  nachdem  sie  durch  die  Erregung  einer  einzigen  Nervenfaser 
oder  durch  die  Wechselwirkung  zweier  oder  mehrerer  in  nervösen 
Organen  ablaufenden  Erregungen  entsteht.  Die  Gefühle  sind  Empfin- 
dungen, welche,  an  innere  Organe  geknüpft,  sekundär,  teils  infolge 
zentripetaler,  teils  infolge  zentrifugaler  Erregungen,  entstehen ;  sie  be- 
stehen aus  Empfindungen  in  der  Brusthöhle  und  aus  Muskelgefühlen, 
welche  dem  Drange,  festzuhalten  oder  wegzuschieben,  entsprechen ;  als 
Gefühlszentren  sind  die  entsprechenden  subkortikalen  Muskelzentren 
aufzufassen. 

Die  Wahrnehmung  ist  ein  einheitlicher  Erregungskomplex,  welcher 
durch  das  Bewufstsein  in  Empfindungen  aufgelöst  werden  kann.  Auch 
das  Organ  des  Bewufstseins  besteht  aus  Nervenbahnen:  alle  Erschei- 
nungen der  Qualitäten  und  Quantitäten  von  bewufsten  Empfindungen, 
Wahrnehmungen  und  Vorstellungen  lassen  sich  zuräckführen  auf  quanti- 
tativ variable  Erregungen  verschiedener  Anteile  dieser  Summe  von 
Bahnen.  Zwei  Empfindungen  sind  für  das  Bewufstsein  gleich,  wenn 
durch  den  Sinnesreiz  dieselben  Bindenbahnen  in  demselben  Mafse  in  Er- 
regung versetzt  werden.  Zwei  Empfindungen  sind  ähnlich,  wenn  wenig- 
stens ein  Teil  der  in  beiden  Fällen  erregten  Bindenbahnen  identisch  iBt. 


LitteraturbencJU.  111 

Die  Qaalitftt  der  Empfindung  und  ihr  Lokalzeiohen  sind  demnach  das 
Resultat  der  Erregungen  yerschiedener  Bahnen  der  Grofshimrinde. 

Das  Wiedererkennen  der  Erregung  einer  schon  früher  einmal  er- 
regten Bahn  wird  hewirkt  einmal  durch  das-^rinzip  des  „Ausfahrens^^ 
▼on  Bahnen  und  zweitens  dadurch,  dafs  gleichzeitig  mit  jeder  Erregung 
andere  früher  gleichzeitig  einmal  in  Erregung  gewesene  Bahnen  mit 
anklingen. 

Die  Vorstellung  ist,  wie  die  Wahrnehmung,  ein  vom  Bewufstsein 
erfalster  Erregungskomplez  in  der  Hirnrinde;  nur  ist  bei  der  Wahr- 
nehmung stets  noch  die  Einstrahlung  der  Sinnesnerven  in  die  Hirnrinde 
mit  erregt,  bei  der  Vorstellung  nicht.  Aufserdem  wirkt  die  Aufmerksam- 
keit (attentionelle  Bahnung)  in  beiden  Fällen  in  entgegengesetzter  Eich- 
tung.  Das  Wechseln  der  Vorstellungen  geschieht  deswegen,  weil  die 
Ganglienzellen  des  Gehirns  nur  einen  kleinen  Vorrat  an  potentieller 
Energie  haben  und  sich  bald  erschöpfen,  so  dafs  die  Erregung  dann  auf 
andere  verwandte  Bahnen  übergeht. 

Die  den  Schluis  des  Buches  bildenden  Erörterungen  über  die  Er- 
scheinungen der  Intelligenz  lassen  sich  nicht  gut  in  Kürze  ausziehen. 
Erwähnt  sei  nur  noch  E.'s  Auffassung  von  den  Instinkten.  Dieselben 
werden  gebildet  durch  die  im  Laufe  der  Jahrtausende  befestigte  und 
schliefslich  vererbte  Prädisposition  zur  assoziativen  Verknüpfung  be- 
stimmter Gefühle  mit  bestimmten  Vorstellungsgruppen;  sie  dienen  zum 
Schutze  des  Individuums,  zum  Vorteile  der  direkten  Nachkommenschaft 
und  zum  Vorteile  der  Sozietät. 

Die  im  Eingange  wiedergegebene  Absicht  des  Autors  wird  in  dem 
Buche  nicht  erreicht.  Bei  einer  Beihe  von  Fragen  stellt  E.  nur  das 
Problem  auf,  ohne  einen  ernsthaften  Versuch  einer  Lösung  zu  machen. 
An  mancher  anderen  Stelle,  wo  eine  wirkliche  Erklärung  versucht  wird, 
sieht  man  sich  veranla&t,  ein  grofses  Fragezeichen  dazu  zu  setzen.  Das 
liegt  freilich  zu  einem  guten  Teile  in  der  Schwierigkeit  des  Stoffes,  der 
sich  bei  dem  heutigen  Stande  unserer  Kenntnisse  oft  schon  dem  Ver- 
suche der  Erklärung  widersetzt.  Dazu  kommt,  dafs  auf  der  einen  Seite 
das  Buch  mit  einer  Menge  von  Überflüssigem  bepackt  ist,  welches,  so 
interessant  es  an  sich  sein  mag,  für  die  grundlegenden  Auseinander- 
setzungen ohne  Wert  ist,  während  auf  der  anderen  Seite  Dinge  von 
Wichtigkeit,  bei  denen  man  eine  ausführlichere  Auseinandersetzung 
gern  gesehen  hätte,  kurz  abgebrochen  oder  eben  nur  angedeutet  sind. 
Femer  verliert  sich  E.  in  einer  Unmenge  von  Details,  und  indem  er  einen 
grofsen  Teil  seiner  Beweisführung  in  Beispielen  giebt,  bleiben  die  Haupt- 
gesichtspunkte, auf  deren  Betonung  es  besonders  angekommen  wäre, 
häufig  im  Hintergrunde.  So  erfordert  es,  noch  dazu  bei  der  nicht  überall 
sehr  durchsichtigen  Schreibweise,  eine  ziemliche  Mühe,  sich  durch  das 
Buch  hindurchzuarbeiten. 

Diese  Unklarheit  in  der  Schreibweise  ist  aber  offenbar  wiederum 
zu  einem  grofsen  Teile  in  der  Schwierigkeit  des  Stoffes  begründet,  denn 
bei  einem  tieferen  Eintauchen  in  die  Ideen  des  Buches  ergiebt  sich, 
dafs  der  Autor  selber  über  das,  was  er  zu  erklären  versucht,  nicht  zu 
voller  Klarheit  durchgedrungen  ist.     Solange   sich  E.  im  Subkortikalen 


112  Litteraiurbencht 

befindet,  in  der  physiologischen  Einleitung,  also  auf  einem  Gehiete,  auf 
dem  er  selbst  so  vieles  Experimentelle  geleistet  hat,  kann  man  ihm,  ohne 
sich  mit  all  seinen  Anschauungen  einverstanden  zu  erklären,  überallhin 
mit  Verständnis  folgen.  Sobald  E.  aber  zur  Hirnrinde  aufsteigt  und  hier 
im  Gebiete  des  BewuTstseins  die  Nutzanwendungen  zu  ziehen  versucht, 
versagt  der  Mechanismus. 

Es  ist  natürlich  unmöglich,  in  dem  engen  Baume  einer  Besprechung 
dies  eingehend  nachzuweisen.  Es  sei  daher  nur  Einzelnes  hervor- 
gehoben. 

Mit  dem  „Bewuistsein'^  beschäftigt  sich  £.  im  ganzen  auf  57*  Seiten. 
E.  sagt :  „Indem  eine  Wahrnehmung  oder  Vorstellung  sich  assoziativ 
mit  gewissen  anderen  Vorstellungen  verbindet,  die  im  Gedächtnisse 
ruhen,  sagen  wir,  sie  trete  ins  Bewufstsein,  oder  werde  vom  BewuTstsein 
erfafst.  Diese  Gruppe  anderer  Vorstellungen  bilden  das  Bewuistsein.'' 
Nun  folgen  eine  Beihe  von  Auseinandersetzungen  und  Beispielen,  welche 
sich  ausschliefslich  auf  das  Selbstbewufstsein  beziehen,  welches  bei  £. 
ungefähr  dem  MsTNEBTschen  sekundären  Ich  entspricht.  Dann  steht: 
^So  löst  sich,  scheint  mir,  das  Rätsel  des  Bewufstseins.^  E.  scheint 
indessen  durch  diese  Erklärung  selbst  nicht  ganz  befriedigt  zu  sein,  denn 
er  giebt  sofort  auf  der  nächsten  Seite  eine  neue:  „Wenn  ein  Erregungs- 
komplex in  meiner  Gehirnrinde  eine  gewisse  Ausbreitung  erreicht  .  .  . 
und  dadurch  jene  Bahnen  mit  in  die  Erregung  einbezogen  hat,  w^elche 
bei  selbst  erlebten  Ereignissen  in  bedeutende  Erregung  geraten  waren, 
welche  durch  die  alltäglichen  Wahrnehmungen  meiner  Angehörigen, 
meiner  Beschäftigung,  meiner  Andenken  an  vergangene  Jahre  in  Thätig- 
keit  geraten  tind  deshalb  fast  immer  gebahnt  sind,  kurz  welche  der  Vor- 
stellung des  Ichs  angehören;  wenn  durch  die  Mannigfaltigkeit  der  er- 
regten Fasern  auch  die  Erregung  selbst  im  intercellulären  Tetanus  an 
Intensität  zunimmt,  somit  dieser  Erregungskomplex  die  schon  oft  er^ 
wähnte  Eigentümlichkeit  angenommen  hat,  schwächere  Erregungen  zu 
hemmen,  dann  sage  ich,  die  Vorstellung  ist  im  „Bewufstsein*'.  Danach 
könnte  eine  mathematische  Formel  sich  niemals  im  Bewufstsein  be- 
finden. Beiläufig  findet  der  Begriff  der  Hemmung  weder  hier,  noch 
anderswo  eine  Erklärung;  er  wird  einfach  als  Thatsache  hingenommen. 

Ebenso  ist  alles  verunglückt,  was  mit  der  schwierigsten  psychischen 
Frage,  derjenigen  nach  der  Natur  der  Lust-  und  ünlustgefühle  zusammen- 
hängt. E.  giebt  ein  Schema,  welches  zur  Not  die  subkortikalen 
Vorgänge  beim  Schmerz  zu  erklären  im  stände  ist,  aber  auf  die  sonstigen 
ünlustgefühle  und  gar  auf  die  Lust  durchaus  unanwendbar  ist.  Daraus 
erschliefst  er  ein  subkortikales  Lust-  und  ein  desgl.  Unlustzentrum.-  — 
es  sind  das,  wie  schon  erwähnt,  Muskelgefühlszentren;  während  er  nun 
alles  Bewufstsein  in  die  Binde  verlegt,  läfst  er  zwischen  in  der  Binde 
gelegenen  Vorstellungen  und  subkortikal  gelegenen  Gefühlen  sich 
Assoziationsbahnen  ausschleifen,  und  behandelt  nunmehr  die  subkortikalen 
Zentren  i^aturgemäfs,  wie  wenn  sie  Sitze  von  Bewufstsein  wären. 

Subkortikale  Beflexe,  wie  das  Augenschlielsen  beim  Berühren  der 
Hornhaut,  läfst  E.  sich  phylogenetisch  aus  willkürlichen  Bewegungen 
entwickeln !    Noch  böser  ist  die  in  der  Inhaltsübersicht  schon  angeführte 


Litteraturbericht.  113 

Vererbung  der  Verbindung  von  Gefühlen  —  Instinkten  —  mit  Vor- 
tftellimgen,  oder  wenigstens  die  Vererbung  der  Geneigtheit,  der  Prär 
disposition  zu  solchen  Assoziationen.  Die  Furcht  vor  der  Nacht  und 
besonders  vor  dem  Alleinsein  in  der  Nacht  ist  aus  den  Erfahrungen  der 
letzten  Tausende  von  Generationen  ererbt.  —  ^Da  gab  es  noch  Bären 
und  Wölfe  im  Walde,  die  bekanntlich  bei  Nacht  vor  dem  Menschen  in 
weit  geringerem  Grade  Scheu  haben,  als  bei  Tage,  wie  das  bei  allen 
Nachttieren  der  Fall  ist.**  — !  — 

Am  weitesten  aber  von  naturwissenschaftlicher  Art  der  Auffassung 
entfernt  sich  E.  mit  der  Annahme,  dafs  in  den  im  wesentlichen  auch 
seiner  Meinung  nach  kausal  bedingten  Vorstellungsketten  Willensakte 
beteiligt  seien,  allerdings  „in  weit  geringerem  Grade,  als  man  vorauszu- 
setzen pflegt'^  „Ein  Erregungsvorganif  erzeugt  nach  den  bestehenden 
Verwandtschaften  einen  zweiten  Erregungsprozefs,  und  so  geht  es  fort, 
ohne  dafs  wir  willkürlich  einen  eingreifenden  Einflufs  auf  den  Ablauf 
ausoutlben  pflegen''.  —  Pflegen!  —  „Diese  Willensakte  spielen  aber  eine 
untergeordnete  Bolle.  Auf  ihre  Natur  kann  ich  hier  noch  nicht  ein- 
gehen.**   Es  geschieht  —  sehr  begreiflich  —  auch  später  nicht. 

Gegen  den  Schlufs  wird  das  Buch  immer  unverständlicher.  Auf  den 
letzten  anderthalb  Seiten  erörtert  E.  die  Natur  des  Willens  und  ver- 
ivechselt  dabei  die  Natur  mit  der  Energie  desselben. 

Diese  Proben  mögen  genügen. 

E.  erwähnt  in  der  Einleitung,  dafs  er  seit  25  Jahren  der  Erklär- 
barkeit der  psychischen  Vorgänge  nachgehe,  und  dafs  sich  der  Versuch 
-einer  Erklärung  derselben  mehr  und  mehr  zu  seiner  Lebensaufgabe  ge- 
staltet habe.  Diese  Lebensaufgabe  ist  in  dem  vorliegenden  Buche  noch 
nicht  gelöst.  H.  Sachs  (Breslau). 

O.  Maibb.  Pädagogische  Psychologie  für  Schule  und  Haus.  Gotha,  F.  A. 
Perthes.    1894.    316  S. 

„Wozu  aber  schon  wieder  eine  neue  pädagogische  Psychologie? 
Wir  haben  treffliche  Werke:  Babtbls  giebt  breite  Ausführungen  nach 
LoTZB,  Baümakk  grofse  Ideen,  Döbpfbld  mahnt  dringend,  den  Lehrstoff 
-denkend  durchzuarbeiten,  Mabtig  führt  klar  und  anschaulich  in  die 
Elemente  ein,  Ostebmakn  wehrt  HESBABTSche  Einseitigkeiten  ab,  Pfistbbeb 
zeigt  eine  reiche  Bildergalerie  pädagogischer  Meisterwerke,  Stbümpbll 
arbeitet  das  HsBBABTsche  Begriffssystem  aufs  neue  geistvoll  durch.  Aber 
es  fehlt  eine  Arbeit,  welche  den  Ertrag  der  Forschtmg  der  letzten  Jahr- 
iEohnte,  namentlich  mit  Bücksicht  auf  die  Physiologie,  zu  nützen  sucht, 
ohne  das  Erprobte  und  gewisse  Alte  preisziigeben  lind  ohne  von  der 
Experimentalpsychologie,  insbesondere  der  französischen,  die  sich  mehr 
mit  dem  kranken  Menschen  beschäftigt,  allzuviel  zu  erwarten.^ 

Diese  Stelle  des  Vorworts  giebt  den  Gesichtspunkt  an,  von  dem 
wir  die  neue  pädagogische  Psychologie  für  Schule  und  Haus  zu  be- 
urteilen haben. 

Man  kann  nicht  sagen,  dafs  der  Verfasser  in  seinem  Urteile  über 
die  vorliegende  pädagogisch-psychologische  Litteratur  zu  strenge  sei; 
Andere  würden  leicht  weiter  gehen  und  z.  B.  Babtels  Buch  über  Lotzb 

Zeltsohrift  fftr  Psychologie  X.  8 


1 14  Litteraturbericht, 

oder  die  Samml-ang  Pfisterebs  kaum  zu  den  trefflichen  Werken  rechnen« 
Auch  der  Berichterstatter  hat  schon  früher  wiederholt  und  mit  Bedauern 
hervorgehohen,  dafs  es  an  einer  pftdagogischen  Psychologie  fehle,  in 
der  die  neueren  Forschungsergebnisse  ausgiebig  berücksichtigt  w&ren. 

Der  Grund  für  diesen  Mangel,  der  vielfach  empfänden  wird,  ist 
ziicht  schwer  einzusehen.  „Ohne  das  gewisse  und  erprobte  Alte  preis- 
zugeben'^t  kann  man  doch  wohl  sagen,  dafs  die  Psychologie  eine  recht 
junge  Wissenschaft  sei,  in  der  es  im  einzelnen  noch  gar  sehr  der 
Klärung  bedürfe.  Diese  notwendige  Klärung  setzt  aber  eine  Übersicht 
Über  die  auf  serordentlich  zahlreichen  gröfseren  und  kleineren,  überdies 
noch  vielfach  verstreuten  Untersuchungen  voraus,  zu  deren  Gewinnung 
die  Mittel  nicht  für  jeden  zu  erwerben  sind,  der  den  guten  Willen  dazu 
hat.  Dem  Verfasser  aber  mufs  zugestanden  werden,  dafs  er  diese  Über- 
sicht in  einem  Grade  besitzt,  den  man  bei  Pädagogen,  die  auf  diesem 
Gebiete  schriftstellerisch  thätig  sind,  leider  nur  selten  antrifft,  und  so 
darf  sein  Buch  als  ein  einigermalsen  brauchbares  Hülfsmittel  zur  Orien« 
tierung  über  die  psychologische  Arbeit  der  letzten  Jahrzehnte  recht 
wohl  bezeichnet  werden. 

Nun  geht  aber  des  Verfassers  Absicht  nicht  allein  dahin,  in  psycho- 
logischer Beziehung  zu  orientieren,  was  ihm  so  ziemlich  gelungen  ist, 
sondern  sie  richtet  sich  darauf,  eine  Fortbildung  der  Pädagogik  auf 
psychologischer  Grundlage  zu  bieten  oder  doch  wenigstens  einzuleiten, 
was  ihm  durchaus  nicht  gelungen  ist.  —  Es  giebt  in  der  Gegenwart  nur 
eine  pädagogische  Bichtung,  die  aus  der  Psychologie  in  konsequenter 
und  durchgreifender  Weise  Nutzen  gezogen  oder  doch  Nutzen  zu  ziehen 
versucht  hat  —  die  Schule  Hebbarts«  Ihr  erklärt  der  Verfasser  den 
Krieg,  indem  er  sagt:  „Es  ist  keine  Frage,  dafs  der  Anspruch,  den  die 
sogenannte  HEBBARTsche  pädagogische  Schule  erhebt,  die  ausschlieMich 
.wissenschaftliche  zu  sein,  und  das  Ansehen,  dessen  sie  sich  fortwährend 
in  der  pädagogischen  Welt  erfreut,  geeignet  ist,  die  Pädagogik  um  allen 
wissenschaftlichen  Kredit  zu  bringen^  (S.  9).  Das  klingt  scharf  genug 
und  wird  noch  verschärft  durch  den  Umstand,  dafs  die  Worte  in  Sperr- 
druck gesetzt  sind. 

Angesichts  dieser  Schärfe  ist  es  in  Rücksicht  auf  Femerstehende 
geboten,  einem  Irrtum  zu  begegnen,  der  durch  die  ÄuXserung  des  Ver- 
fassers leicht  hervorgerufen  werden  könnte,  wenn  sie  unbeanstandet 
bliebe.  Man  darf  durchaus  nicht  annehmen,  dafs  die  pädagogische  Schule 
SDbbbarts  der  Ansicht  sei,  aufser  der  von  ihr  vertretenen  Lehre  kOnne 
es  eine  wissenschaftliche  Pädagogik  überhaupt  nicht  geben;  nur  das 
eine  behauptet  sie,  und  auch  viele  ihrer  Gegner  haben  es  ausgesprochen, 
dafs  es  ein  anderes,  in  gleichem  Mafse  psychologisch  durchgebildetes 
Erziehungssystem  bis  jetzt  nicht  gebe.  Dem  wird  auch  Maieb  kaum 
widersprechen.  Der  Berichterstatter  selbst,  obwohl  er  sich  zur  päda- 
gogischen Schule  Hbbbabts  zählt,  kann  nach  seinen  Ausführungen  in 
Bd.  Vm,  S.  104  ff.  dieser  Zeitschrift  nicht  in  den  Verdacht  kommen,  als 
sei  er  mit  dem  Stande  der  Dinge  in  seiner  Bichtung  vollständig  zufrieden 
und  fordere  für  sie  allgemeine  Anerkennung  und  Bescheidung.  Er  mag 
aber,  mit  Maier  zu  reden,    das  erprobte  Alte  nicht  preisgeben,    bis  ihm. 


Litteraturbericht  115 

etwas  Neues  als  Ersatz  geboten  wird,  und  das  hat  auch  Maikb  nicht 
gethan,  ja  er  hat  an  den  pädagogischen  Folgerungen  der  HERBABTschen 
Schule  nicht  einmal  eine  wirklich  einschneidende  Kritik  geübt,  die  ge-> 
wils  nicht  ohne  jeden  Nutzen  gewesen  wäre. 

Die  Beweise  hierfür  sind  nicht  schwer  zu  erbringen.  Was  den 
Unterricht  anlangt,  so  braucht  man  blofs  von  dem  etwas  eigentümlichen 
Zugeständnisse  Kenntnis  zu  nehmen,  „dafs  derselbe  bei  aller  ausschlag-» 
gebenden  Bedeutung  des  mächtigen  Gottes  Eros  (?)  durch  den  Weg  der 
Vorstellungen  geht  und  so  viele  Männer  der  Schule  Hbrbarts  praktisch 
im  Segen  arbeiten^  (S.  9),  sowie  von  der  Thatsache,  dafs  wirklich  neue 
pädagogische  Folgerungen  aus  der  vorgetragenen  Psychologie  gar  nicht 
gezogen  werden.  Aber  auch  in  der  Lehre  von  der  Erziehung  im  engeren 
Sinne,  der  Gefühls-  und  Willensbildung,  findet  man  bei  genauerem  Zu- 
sehen nur  die  Vorstellungen  als  Hebel  aller  pädagogischen  Thätigkeit 
bezeichnet.  Wir  sagen  ausdrücklich  bei  genauerem  Zusehen,  denn  der 
Verfasser  liebt  bei  seinen  Aasführungen  häufig  einen  leichten  Nebel, 
den  der  Blick  durchdringen  mufs,  um  zu  erkennen,  was  dahinter  steckt. 
Wo  bleibt  da  die  Veranlassung  zu  den  harten  Worten,  die  der  Verfasser 
über  die  Pädagogik  Herbabts  und  seiner  Schule  ausgesprochen  hat? 
Man  könnte  ihm  allenfalls  zugestehen,  dafs  erziehliche  Mafsnahmen 
überhaupt  nicht  die  weitreichende  Macht  haben,  welche  man  ihnen  in 
der  HEBBABTschen  Schule  hin  und  wieder  wohl  zutraut,  aber  an  ihrer 
Bichtigkeit  innerhalb  des  Möglichen  ändert  das  doch  nichts. 

So  sehen  wir  also,  dafs  Maieb  ebensowenig,  wie  kürzlich  Bubkhabdt 
in  seinen  „Psychologischen  Skizzen"  aus  der  neueren  Psychologie  einen 
wesentlichen  Vorteil  für  die  Entwickelung  der  Pädagogik  zu  ziehen 
gewufst  hat.  Der  Grund  liegt  darin,  dafs  die  neuere  Psychologie  bei 
Maieb  nicht  eigentlich  verwertet,  sondern  mehr  referierend  behandelt 
ist.  Der  Verfasser  hat  ziir  pädagogischen  Verwertung  auch  eine  viel  zu 
schwankende  eigene  Stellung.  Das  verrät  er  schon  im  Vorworte,  wo  er 
erst  erklärt,  dafs  es  an  einer  Arbeit  fehle,  „die  den  Ertrag  der  letzten 
Jahrzehnt«  namentlich  mit  Bücksicht  auf  die  Physiologie  zu  nützen 
sucht'',  gleich  darauf  aber  von  der  Experimentalpsychologie  „nicht  all- 
zuviel" erwartet.  Bei  dieser  Halbheit  kann  es  nur  verwunderlich  er- 
scheinen, dafs  der  Verfasser  dennoch  das  Bedürfnis  gehabt  hat,  der 
pädagogischen  Welt  ein  neues  Buch  vorzulegen,  das  den  neueren  psycho- 
logischen Forschungen  entsprechen  soll. 

Der  Berichterstatter,  obwohl  Herbartianer,  hat  von  den  Forschungs- 
ergebnissen der  letzten  Jahrzehnte,  die  für  ihn  (für  Maieb  nicht?)  mit 
denen  der  Experimentalpsychologie  so  ziemlich  zusammenfallen,  doch 
eine  viel  günstigere  Ansicht  bezüglich  ihrer  Verwertbarkeit  in  päda- 
gogischer Hinsicht,  wenn  er  auch  bis  auf  weiteres  bezweifeln  mufs,  dafs 
sich  auf  sie  ein  originelles  pädagogisches  System,  das  dem  HEBBABTschen 
überlegen  wäre,  gründen  läfst.  Er  würde  es  beispielsweise  für  recht 
nützlich  halten,  wenn  Untersuchungen  wie  die  von  Ebbinohaüs,  Binbt 
und  Henbi  (L'Annie  psycJiologiqae.  1894)  über  das  Gedächtnis,  wie  ferner 
die  von  Mosso,  Ssikorsky,  Bubgerstbin,  Kraepelin  u.  a.  über  die  Ermüdung 
auf  die  Pädagogik  nach  den  verschiedensten  Eichtungen  erschöpfend 

8* 


116  Litteraturherichi. 

angewandt  würden.  Nicht  minder  fruchtbar  erscheinen  ihm  die  neuer- 
dings 80  zahlreichen  Beiträge  zur  Individualpsychologie  fär  die  Päda- 
gogik zu  sein,  ganz  besonders  diejenigen,  welche  psychopathische 
Grenzzustände  behandeln.  Man  müfste  sich  zu  diesem  Zwecke  allerdings 
yon  dem  auch  bei  Maier  vorhandenen  Vorurteile  freimachen,  als  handle 
es  sich  hier  um  abnorme  Zustände,  aus  denen  weder  für  die  Psychologie 
noch  für  die  Pädagogik  viel  zu  lernen  sei.  Unseres  Erachtens  liegt  in 
der  Vernachlässigung  dieser  Gebiete  der  hauptsächlichste  Grund  daftbr, 
dafs  ganz  besonders  die  Lehre  von  der  Zucht,  d.  i.  der  Erziehung  im 
engeren  Sinne,  gar  nicht  von  der  Stelle  rücken  will. 

Soviel  zum  Inhalte  des  MxiEBSchen  Buches.  Was  nun  die  Anlage 
und  die  Darstellungsform  betrifft,  so  ist  es  nur  für  solche  lesbar,  die  in 
der  Psychologie  keine  Neulinge  mehr  sind.  Wie  weit  es  sich  ftür  den 
Hausgebrauch,  d.  h.  doch  wohl  für  Eltern,  eignet,  versteht  sich  hiemach 
von  selbst.  Ufer  (Altenburg). 

J.  J.  van  BiERVLiET.    Über  den  EiniiiirB  der  Gesehiwindigkeit  des  Pnlses 
anf  die  Zeitdauer  der  ReakÜonsBeit  bei  Bchalleindrtteken.    Pkilos. 

Stud,  XI.  S.  125—134.  (1894). 
Die  sehr  zahlreichen,  an  elf  Versuchspersonen  angestellten  Ver- 
suche, deren  Pulsfrequenz  jedesmal  vor  Beginn  der  Versuche  genau  fest- 
gestellt wurde,  bestanden  in  einfachen  sensoriellen  Reaktionen  auf  den 
Ton  eines  Schallhammers.  Das  Ergebnis  war,  dafs  bis  auf  eine  Person, 
die  sich  umgekehrt  verhielt,  die  Beaktionszeiten  mit  zunehmender  Puls- 
frequenz abnahmen.  A.  Pilzecker  (Göttingen). 

Hugo  Münsterberg.  Stndies  ftom  the  Harvard  Psychological  Laboratory. 
Paychol  Bev.  Vol.  I.  S.  34—60.  1894. 
A.  Memory.  (With  the  assistance  of  Mr.  J.  Bioham.) 
Um  die  Beteiligung  disparater  Sinnesgebiete  beim  Vorgange  der 
Wiedererinnerung  festzustellen,  insonderheit,  um  zu  bestimmen,  ob  die- 
selben hierbei  unabhängig  voneinander  wirken  oder  sich  gegenseitig 
hemmen  oder  einander  unterstützend  beeinflussen,  führte  M.  w&hrend 
des  Winters  1892 — 1893  an  fünf  Personen  in  je  50  Arbeitsstunden  eine 
Beihe  von  Versuchen  aus,  in  welchen  kleine,  aus  verschieden  gefärbtem 
Papier  gefertigte  Quadrate  und  ebenso  weifse,  mit  schwarzen  Ziffern 
beklebte  Kartons  von  gleicher  Form  und  Gröfse  vor  einem  dunklen 
Hintergrunde  zu  Serien  von  10—20  Einzel  Vorstellungen  so  verbunden 
wurden,  dafs  dieselben  unter  mannigfacher  Variierung  des  Inhalts  simultan 
oder  successiv  als  Gesichts-  oder  Gehörseindrücke  oder  als  beides 
zugleich  von  den  Versuchspersonen  innerhalb  einer  konstant  erhaltenen 
Zeit  von  zwei  Sekunden  für  jeden  Einzel  versuch  erfafst  werden  konnten. 
Um  assoziative  Faktoren  bei  der  Beproduktion  dieser  Eindrücke  mög- 
lichst auszuschalten,  hatten  die  letzteren  dieselbe  mittelst  entsprechender 
Quadrate  von  3Vs  cm  Seitenlänge  (ob  die  Gröfse  des  vorhandenen  Ver- 
suchsobjekte dieselbe  war,  ist  aus  den  Angaben  nicht  genau  ersichtlich. 
Bef.)  sogleich  nach  Schlufs  jeder  Versuchsreihe  unter  Beobachtung  ver- 
schiedener   Vorsichtsmafsregeln.    besonders    bei    Vermeidung    mnemo- 


Litteraturberieht  117 

teclmischer  Hülfsmittel  sofort  auszuführen.  Die  hierbei  begangenen 
falschen  Anordnungen  wurden  als  Fehler  angesehen  und  diese,  nach 
Prozentsätzen  berechnet,  als  Mafsstab  für  die  Besnltate  der  einzelnen 
Versuchsreihen  verwertet.  Auf  diese  Weise  gelangte  Verfasser  zu 
folgenden  Endergebnissen : 

1.  Sind  zwei  Sinnesgebiete  bei  der  Wiedererinnerung  von  Vorstellungen 
beteiligt,  so  hindern  sie  sich  gegenseitig. 

2.  Isoliert  übertrifft  das  visuelle  Gedächtnis  bei  weitem  das  auditive^ 
kombiniert  überwiegt  das  letztere. 

3.  Durch  engere  Kombination  verschiedener  Vorstellungsinhalte  wird 
die  Beproduktion  erschwert. 

4.  Eine  beiden  Sinnen  gleichzeitig  dargebotene  Vorstellungsreihe  wird 
leichter  reproduziert,  als  wenn  diese  von  jedem  derselben  einzeln 
aufgenommen  wurde. 

5.  Simultan  erzeugte  Vorstellungen  werden  leichter  reproduziert,  als 
successiv  hervorgerufene. 

6.  The  Intensifying  Effect  of  Attention.  (With the assistance 
of  Mr.  N.  KozAKi.) 

Je  zwei  durch  Licht-  und  Schallintensitäten,  sowie  durch  Heben 
von  Gewichten  und  durch  Distanzunterschiede  zweier  Punkte  hervor- 
gerufene .Sinneseindrücke  von  mäfsiger  Stärke  wurden  derart  verglichen, 
dafs  die  Aufmerksamkeit  auf  den  einen  derselben  eingestellt  und  von 
dem  anderen  abgelenkt  wird  Um  die  Ablenkung  der  Aufmerksamkeit 
kontrollieren  zu  können,  liefs  Verfasser  die  Versuchspersonen  vor  und 
während  der  Beizeinwirkung  gegebene  Zahlengröfsen  addieren.  Di^se 
wurden  während  der  optischen  Eindrücke  von  einer  anderen  Person,  bei 
den  GehOrseindrücken  von  der  Versuchsperson  selbst  gelesen.  (Über  die 
Verwendung  des  Verfahrens  während  des  Hebens  der  Gewichte  fehlt 
die  Angabe.  Bef.)  Als  Mafs  für  die  zu  vergleichenden  Distanz- 
unterschiede diente  die  Intensität  der  Bewegungsempfindungen  der  Augen. 
Die  für  diesen  Zweck  verwandten  Punkte  waren  von  weifser  Farbe  und 
befanden  sich  auf  einem  quadratisch  geformten  Tuchschirm  von  80  cm 
Seitenlänge.  Die  Entfernungen  dieser  beiden  bis  zum  Beginn  des  Ver- 
suches verdeckt  gehaltenen  Punkte  konnten  durch  eine  auf  der  Bückseite 
des  Schirmes  angebrachte  Schraubenvorrichtung  verändert  und  zahlen- 
mäfsig  bestimmt  werden  {Beitr.  z,  experiment.  Psychol.  Heft  IV).  Bei  einem 
Normalreize  von  30  cm  betrugen  die  Vergleichdistanzen  27,5,  28,  28,5  bis 
32,5  cm.  Als  Lichteindruck  diente  ein  aus  den  weifsen  und  schwarzen 
3ektoren  zweier  Botationsscheiben  gemischtes  Grau,  das  ebenfalls  bis 
zum  Beginn  des  Versuches  verdeckt  blieb.  Beim  Normalreize  waren  dem 
Schwarz  in  diesem  Falle  90^,  bei  den  Vergleichsreizen  dagegen  65,  70,  75 
bis  115^  Grad  Weifs  zugemischt.  Der  Schalleindruck  wurde  durch  eine 
bis  zum  Versuche  von  einem  Elektromagneten  gehaltene  und  dann  auf 
eine  Ebenholzplatte  fallende  Metallkugel  erzeugt.  Beim  Normalschall 
betrug  die  Fallhöhe  50  cm,  ^  bei  den  Vergleichsreizen  35,  40  bis  65  cm. 
Ein  Signalreiz  ging  diesen  Versuchen  regelmäfsig  vorauf.  Für  das  Heben 
von  Gewichten  wurde  ein  trichterförmiges  Gefäfs  benutzt,  das,  während 
das  Gelenk  der  Ellenbeuge  auf  einem  Tische  ruhte,  vom  Zeigefinger  und 


118  lAtteratwrhencht 

Daumen  erfarst,  ohne  Bewegung  des  Handgelenks  gehoben  wurde.  Ein 
Gewicht  von  SOO  g  diente  als  Normalreiz,  die  Vergleichsgewichte  be- 
trugen 250,  260  bis  350  g.  Das  Eigengewicht  des  Apparates  war  in 
jedem  Falle  in  den  genannten  Gewich tsgröfsen  mit  eingeschlossen.  Die 
Gesamtsumme  der  Einzelversuche  war  auf  fünf  Versuchspersonen  ver- 
teilt. Die  Urteile  wurden  in  richtige  und  falsche  geteilt  und  nach  Pro- 
zenten berechnet.  Eine  der  Abhandlung  eingefügte  Tabelle  enthält  die 
näheren  Angaben  dieser  so  erhaltenen  Werte.  Als  Hauptergebnis  seiner 
Versuche  giebt  Verfasser  an,  „dafs  alle  Reize  relativ  schwächer  erscheinen, 
wenn  die  Aufmerksamkeit  von  Anfang  an  auf  sie  gerichtet  ist*'.  -  Die 
einzige  Ausnahme  von  dieser  Hegel  bildete  bei  zwei  Beobachtern  die 
Beurteilimg  der  grauen  Scheiben«  doch  ist  Verfasser  geneigt,  diese  Er- 
scheinung dem  Umstände  zuzuschreiben,  dafs  der  Helligkeitswechsel 
einer  grauen  Scheibe  der  physikalischen  Veränderung  subjektiv  nicht 
immer  parallel  verläuft,  sondern  die  Zunahme  der  Verdunkelung  psycho- 
logisch ebensowohl  als  Zusatz  einer  positiven  Qualität  betrachtet  werden 
kann.  Im  übrigen  deutet  Verfasser  seine  Resultate  im  Sinne  seiner  als 
bekannt  vorauszusetzenden  Theorien. 

C.  A  Psychometric  Investigation  of  the  Psychophysic 
Law.    (With  the  assistance  of  Mr.  W.  T.  Bush.) 

M.  verläfst  die  Methode  der  eben  merklichen  Unterschiede,  um  auf 
Grund  früherer  Ausführungen  mittelst  der  von  ihm  schon  früher 
beschriebenen  Methode  der  Kettenreaktion  {Beiir,  e,  experiment  Psychol. 
Heft  IV.  S.  40  ff.)  zu  zeigen,  dafs  wir  in  der  relativen  Leichtig- 
keit, mit  der  wir  zeitlich  die  Unterschiede  (qualitative,  wie  intensive) 
zwischen  zwei  gegebenen  Sinnesreizen  bestimmen  können,  auch  ein 
objektives  Mafs  für  die  subjektiven  Unterschiede  derselben  besäfisen. 
„Wir  sollten  die  Unterschiede  zwischen  zwei  Paaren  von  Beizintensitäten 
als  gleich  bezeichnen,  wenn  gleiche  Zeiten  für  ihre  Unterscheidung 
nötig  sind/  Die  Gültigkeit  des  psychophysischen  Gesetzes  mufs  sich 
nach  Verfasser  beispielsweise  zeigen,  wenn  die  zur  Unterscheidung 
zweier  Gewichte  von  100  und  200  g  nötige  Zeit  gleich  derjenigen  ist, 
welche  bis  zur  Feststellung  eines  Intensitätsunterschiedes  zwischen 
20Ö  und  400  Grammgewichten  verstreicht.  Die  zu  vergleichenden  Beiz- 
objekte waren  für  [den  vorliegenden  Fall  auf  weiTsem  Grunde  schwarz 
gezeichnete  Strecken,  deren  Längenunterschiede  jedoch  stets  deutlich 
wahrnehmbar  waren.  Auf  den  letzten  Punkt  legt  Verfasser  dem  ver- 
änderten Versuchs  verfahren  entsprechend  in  erster  Linie  Gewicht.  Die 
Anordnung  war  bei  der  Ausführung  der  Versuche  aufserdem  so  ge- 
troffen, dafs  die  Vergleichsstrecken  mittelst  einer  mit  den  Beaktions- 
tasten  in  Verbindung  stehenden  elektromagnetischen  Vorrichtung  durch 
eine  in  einen  schwarzgefärbten  quadratischen  Schirm  von  50  cm  Seiten- 
länge geschnittene,  bis  zum  Momente  der  Beurteilung  verdeckt  gehaltene 
Öffnung  von  6  cm  Durchmesser  gezeigt  wurden,  bis  zu  welcher  Zeit  die 
Versuchspersonen  angewiesen  waren,  auf  den  vor  ihnen  befindliehen 
Normalreiz  zu  blicken.  Für  den  Betrieb  dieser  Einrichtung  genügte 
ebenso,  wie  für  den  des  benutzten  Chronoskops  je  eine  Batterie.  (Eine 
nähere   Angabe    über  die   Art    der   verwandten   Elemente    fehlt.      Bef.) 


LiUeraturberieht  119 

Verfasser  legte  den  Scbätztingsversuchen  zunächst  Beizgruppen  von 
2,5 — 6—7,6;  4 — 6—6  und  4,6 — 5 — 6,6  mm  Streckenlänge  zu  Grunde,  von 
denen  jede  sodann  wieder  viermal  vervielfacht  wurde  (1=^2,6—6 — 7,6; 
6—10 — 16 ;  7,5—15—22,6 ;  10-  20—36  mm),  so  dafs  im  ganzen  zwölf  Qruppen 
von  Beizgröfsen  zur  Beurteilung  gelangten.  Da  in  jeder  einzelnen  dieser 
so  entstandenen  zwölf  Gruppen  20  Einzelversuohe  angestellt  wurden  und 
fünf  Personen  an  den  Beobachtungen  teilnahmen,  so  ergaben  sich  für  die 
während  des  Winters  1892 — 1893  ausgeführten  Untersuchungen  im  ganzen 
3600  Beaktionen.  Nach  Elimination  der  in  die  Ergebnisse  der  vorliegend 
verwandten  Wahlreaktionen  eingehenden  Faktoren  glaubt  Verfasser  aus 
den  erhaltenen  Durchschnittswerten  die  annähernde  Gültigkeit  des 
psyohophysischen  Gesetzes  für  die  Beurteilung  optischer  Distanzen  darthun 
zu  können.  Die  gewonnenen  Einzelwerte  sind  der  Arbeit  in  einer 
zusammenfassenden  Tabelle  eingefügt.  Dafs  die  Gültigkeit  dieses  Ge- 
setzes nur  eine  annähernde  sein  kann,  erklärt  sich  nach  Verfasser  aus 
der  Natur  der  Versuchsanordnung,  indem  mit  dem  Längenzuwachs  der 
gegebenen  Strecken  die  Schwierigkeit  der  Unterscheidung  sich  ver* 
mindere.  „In  jeder  Gruppe  sehen  wir,  dafs  die  Zeiten  um  so  kleiner 
werden,  je  gröfser  die  das  zu  Grunde  liegende  Verhältnis  vervielfachende 
Zahl  wird/'  Verfasser  schliefst:  »Für  unsere  subjektive  Unterscheidung 
ist  daher  die  stärkere  Wirkung  der  relativen  Beizunterschiede  konstant 
beeinfluTst  durch  die  schwächere  Wirkung  der  absoluten.  "^ 

Verfasser  stellte  ähnliche  psychometrische  Untersuchungen  mit  Ge* 
Wichten,  Klängen  und  verschiedenen  Lichtquellen  an,  die  aber  derzeit 
noch  nicht  abgeschlossen  waren. 

D.  Optical  Time-content.  (With  the  assistance  of  Mr.  A.  B.  T. 
Wyus.) 

Verfasser  hebt  zunächst  die  für  den  Zeitsinn  in  Betracht  kommenden 
Fragen  hervor  und  sucht  sodann  unter  Hinweis  auf  seine  Abhandlung 
in  Beitr.  g.  experiment.  PsychoL  Heft  IV.  S.  89  die  von  ihm  über  das  Zeit- 
urteil aufgestellte  Theorie,  nach  welcher  das  Wesen  desselben  lediglich 
auf  die  die  Thätigkeit  gewisser  Muskelgruppen  begleitenden  Empfindungen 
zurückzuführen  sei,  durch  die  Mitteilung  neuer  Versuchsergebnisse  zu 
verifizieren.  Verfasser  fügt  diesen  Ausführungen  noch  die  weitere  Be- 
merkung hinzu,  dafs  die  von  E.  Meümank  gegen  seine  Theorie  erhobenen 
Einwände  {Phihs.  Stud.  Bd.  Vm.  S.  442  £P.  Bef )  ihn  von  der  Biohtig- 
keit  derselben  nur  noch  mehr  überzeugt  hätten.  (?)  Die  Versuchs- 
anordnung war  für  den  vorliegenden  Fall  dahin  abgeändert,  dafs  die  zu 
beurteilenden  Zeitstrecken  nicht  wie  frtLher  durch  Gehörs-,  sondern 
dieses  Mal  durch  G^sichtseindrücke  (mit  Ziffern  und  Buchstaben  be« 
schriebene,  sowie  farbige  Papiere  verschiedener  Helligkeitsstufen}  aus- 
gefüllt wurden.  Die  letzteren  waren  auf  die  schwarz  bezogene  Trommel 
eines  Lunwiosschen  Kymographions  geklebt  und  wurden  dem  Auge  der 
Versuchsperson  durch  eine  in  einen  ebenfalls  schwarz  bezogenen  Schirm 
geschnittene  quadratische  Ofbung  von  1  cm  Seitenlänge  hindurch,  hinter 
welcher  die  Kymographiontrommel  mit  einer  Geschwindigkeit  von  1  cm 
in  der  Sekunde  rotierte,  dargeboten.  Bei  konstant  erhaltener  Normal* 
zeit,  der  auf  der  rotierenden  Trommel  eine  Länge  von  10  cm  entsprach, 


120  LUteraturbencht 

variierten  die  Yergleichszeiten  zwischen  einer  solchen  von  7  bis  13  cm. 
Dabei  wurden  die  letzteren  in  den  einander  folgenden  Versuchsreihen 
sowohl  als  erster,  wie  als  zweiter  Eindruck  beurteilt.  Das  Ergebnis 
dieser  Untersuchung  fafst  Verfasser  selber  dahin  zusammen,  „dafs  die 
Zeitstrecken,  ohne  dafs  auf  die  Anzahl  der  dargebotenen  Eindrücke 
Bücksicht  genommen  wird,  um  so  kürzer  erscheinen,  je  mehr  die  Auf- 
merksamkeit von  dem  optisch  ausgeftdlten  Inhalte  derselben  angezogen 
und  infolgedessen  von  der  Beobachtung  der  durch  die  körperlichen  Ver- 
änderungen bedingten  subjektiven  Erscheinungen  abgelenkt  wird**.  Am 
Schlüsse  der  Abhandlung  stellt  Verfasser  sodann  noch  eine  theoretische 
Erörterung  über  den  Zeitsinn  in  Aussicht,  in  welcher  auch  die  bei  den 
vorliegenden  Versuchen  gesammelten  subjektiven  Erfahrungen  der  ein- 
seinen  Teilnehmer  verwertet  werden  sollen. 

E.  A  Stereoscope  without  mirrors  or  Prisms. 

Auf  'Grund  des  Prinzips  der  stroboskopischen  Scheiben  be- 
schreibt M.  eine  Einrichtung,  durch  welche  unter  anderem  auch  die 
stereoskopische  Vereinig^ung  successiver  Eindrücke  möglich  gemacht 
wird.  Diese  Vorrichtung  besteht  in  einem  gröfseren  Rotationsapparat, 
der  an  seiner  verlängerten  Axe  in  verschiebbarem  Abstände  vom  Mittel- 
punkte des  Apparates  aus  jederseits  eine  Pappscheibe  von  25  cm  Durch, 
messer  trägt.  Die  vordere,  dem  Beobachter  zugekehrte  dieser  beiden 
Scheiben  ist  mit  den  für  den  Durchblick  bestimmten  Spalten  versehen, 
während  sich  auf  der  hinteren  die  zu  vereinigenden  Bilder  befinden. 
Die  vordere  Scheibe  ist  aufserdem  schwarz  bezogen.  Die  Spalten  der- 
selben sind  in  zwei  konzentrisch  übereinander  verlaufenden  Reihen  so 
angeordnet,  dafs  einer  unteren  Spalte  jedesmal  eine  obere  folgt.  Die 
Länge  dieser  Spalten  beträgt  in  M.'s  Anordnung  5  cm,  die  Breite  der- 
selben am  äufseren  Rande  für  die  untere  Spalte  8,  fQr  die  obere  5  mm: 
die  übrige  Weite  derselben  folgt  dem  Verlaufe  der  Radien. 

Aufser  der  Verwendung  seines  Apparates  für  die  praktischen 
Zwecke  des  Unterrichts  in  den  Schulen  erhofft  M.  auch  für  die  psycho- 
logische Forschung  von  demselben  vielseitige  Vorteile,  so  in  Fragen, 
wie  die  nach  dem  binokularen  Sehen  im  allgemeinen,  dem  stereoskopischen 
Sehen,  der  Farbenmischung,  den  Kontrasterscheinungen  etc. 

Eine  beigegebene  Lichtdrucktafel  veranschaulicht  den  Gebrauch 
des  Apparates.  Fribdr,  Kiesow  (Leipzig). 


C.  Benda  und  Paula  Güktheb.   Histologischer  HandaÜas.   Eine  Sammlung 
mikroskopischer  Zeichnungen  nach  dem  Präparat  für  den  Gebrauch 
bei   praktischen  Übungen.    60  Tafeln   mit  Text    Leipzig  und  Wien. 
Franz  Deuticke.    1895. 
Der  Atlas  ist  aus  der  Praxis  heraus  entstanden.    Er  soll  bei  den 
Kursen  der  normalen  Gewebelehre   dem  Schüler  als  Hfilfsmittel  dienen, 
ihm   das  Verständnis   der  angefertigten  mikroskopischen  Präparate   er- 
leichtern.   Diesen   Zweck   dürfte   der   Atlas   vollkommen  erreichen;    er 
dürfte  auch  denen  von  Nutzen  sein,  welche  in  ihrem  späteren  medixini* 


Litteraiurberieht.  121 

sehen  Leben  gelegentlich  normale  oder  auch  pathologische  Präparate 
anfertigen.  Die  Zeichnungen  sind  nicht  schematisiert  und  so  gut,  als  sie 
sich  ohne  Zuhülfenahme  der  Farbe  herstellen  lassen.  Der  Text  ist  auf 
die  allernötigsten  Angaben  über  die  Präparationsmethode  und  die  Stärke 
der  Vergröfserung  beschränkt. 

Jedem  Spezialisten  wird  in  einem  derartigen  Werke  natürlich  das 
eine  oder  das  andere  fehlen.  So  vermifst  der  Referent  eine  nach  Nissl 
gefllrbte  Ganglienzelle,  sowie  einen  nach  Wbigbrt  oder  Pal  geflUrbten 
Schnitt  der  Q-rofshimrinde,  während  ihm  die  Tafeln  47  und  48  mit  ihren 
nur  ganz  unbedeutend  vergröfserten  Durchschnitten  durch  Bückenmark 
imd  Bimstamm  nicht  in  den  Bahmen  eines  histologischen  Atlanten 
hineinzugeboren  scheinen.  Die  Aufnahme  der  letzteren  wird  wohl 
durch  die  praktische  Erfahrung  im  Kurse  veranlaXst  sein. 

H.  Sachs  (Breslau). 

Ai«LZN  Starr.  The  mtisciilar  sense  and  its  location  in  tlie  briain-cortez. 
JP^OmL  äw.  n.  1.  S.  32-36.  (1895.) 

Die  Beobachtung  über  MuskelsinnstOrung  ist  an  einem  jungen 
Menschen  gemacht,  der  nach  einem  Fall  im  flinfben  Lebensjahre  an  reiz- 
barer Schwäche  und  nach  einem  zweiten  Fall  im  16.  Jahre  an  fixem 
Kopfschmerz  litt.  Diese  Beschwerden  exacerbierten  periodisch  und 
führten,  wenn  sehr  intensiv,  zu  häufigen  Anfällen  von  Tobsucht  mit 
nachfolgender  Amnesie,  die  unter  Bromkaligebrauch  seltener  wurden. 

Der  Schädel  wurde  an  der  empfindlichsten  Stelle  trepaniert,  an 
einer  Stelle,  die  (am  Gehirn)  zwei  Zoll  hinter  der  Bolandschen  Furche 
und  anderthalb  Zoll  nach  links  von  der  Medianebene  lag,  also  etwa  in 
der  Mitte  des  Scheitellappens.  Es  wurde  eine  an  der  Trepanationsstelle 
direkt  auf  der  Hirnoberfläche  liegende,  'A  Zoll  im  Durchmesser 
haltende  „vaskuläre''  Geschwulst  entfernt. 

Die  Heilung  verlief  reaktionslos,  aber  unmittelbar  nach  der  Operation 
liefs  sich  ein  völliger  Verlust  des  Muskelsinnes  an  Unterarm  und  Hand 
rechts  konstatieren ;  das  Lagegefühl  fehlte,  alle  willkürlichen  Bewegungen 
waren  eigentümlich  ungeschickt.  Taktile,  thermische  und  schmerzweckende 
Beize  wurden  normal  empfunden,  die  Muskelkraft  war  unverändert. 
Nach  drei  Wochen  begann  eine  binnen  drei  Monaten  zu  völliger  Heilung 
führende  Besserung.  Kurella  (Brieg.) 


B.  HiLBERT.  Zur  Kenntnis  der  sogenannten  Doppelempfindnngen.  Knapp 
u.  Schweiggers  Ärch.  f.  Augenheilkde.  Bd.  XXXL  S.  44—49. 
Unter  Doppelempfindungen  versteht  man  Empfindungen,  die,  infolge 
Beizung  eines  Sinnesnerven  entstehend,  nicht  auf  diesen  beschränkt 
bleiben,  sondern  gleichzeitig  Sensationen  im  Gebiete  eines  zweiten 
Sinnesnerven  hervorrufen.  Bisher  wurden  folgende  Arten  von  Doppel- 
empfindungen beobachtet:  1.  Farben-  und  Form  Vorstellungen  bei  Schall- 
empfindungen; 2.  Sehall  Vorstellungen  bei  Lichtwahmehmungen ;  3.  Farben- 
vorstellungen bei  Geruchsempfindungen;  4.  Farbenvorstellungen  bei  Ge- 


122  Litteraturbericht 

sclimacksempfinduQgen;  5.  Farben-  und  Form  Vorstellungen  bei  Sclimerz-, 
Temperatur-  und  Tastempfindungen;  6.  Farben-  und  Lichtyorstellungen 
beim  Sehen  von  Formen. 

Verfasser  berichtet  über  eine  neue  von  ihm  beobachtete  Form. 
Ein  Herr  hat  seit  frühester  Jugend  fast  täglich  folgende  ausgesprochene 
Empfindung:  Sobald  er  im  Einschlafen  ist  und  zufällig  die  Wanduhr 
schlägt,  sieht  er  bei  jedem  Schlage  ein  schön  rosa  gefärbtes  Flammen- 
büschel  von  kegelförmiger,  deutlich  begrenzter  Gestalt.  Die  Länge  des 
Phänomens  beträgt  etwa  einen  Fufs. 

Der  Fall  scheint  eine  gute  Stütze  für  die  Erklärung  der  Doppel- 
empfindungen nach  der  atavistischen  Theorie  im  DxRWiNschen  Sinne  zu 
sein.  Das  Auftreten  gerade  im  Halbschlaf  läfst  schliefsen,  dafs,  während 
diese  Empfindungen  sonst  infolge  der  Aufmerksamkeit  des  Individuums 
unterdrückt  werden,  bei  Ausschaltung  des  Bewufstseins  die  ehemalige 
anatomische  und  physiologische  Einheit  vom  Gesichts-  und  Gehörs- 
zentrum sich  in  der  Weise  dokumentiert,  dafs  ein  Reiz  zwei  Em- 
pfindungen auslöst.  B.  Greeff  (Berlin). 


L.  Pfjlükdleb  u.  O.  Lümmeb.  Die  Lehre  Tom  Licht  (Optik).  Zweite  Liefe- 
rung. (Müller 'Fouillet 8  Lehrbuch  der  Physik.  9.  Aufl.  Bd.  2.  Abtl.  1. 
Lfg.  2.)  Braunschweig.  F.  Vieweg  &  Sohn.  1895.  316  S. 
Das,  was  wir  bei  der  Besprechung  der  ersten  Lieferung  des  vor- 
liegenden Werkes  (Bd.  VII,  S.  408)  gesagt  haben,  triflft  sowohl  in  seinem 
Tadel,  wie  in  seinem  Lobe  auch  für  die  zweite  Lieferung  zu.  Auf 
Einzelheiten  des  Buches  einzugehen,  ist  hier  nicht  der  Ort,  da  sein 
Inhalt  im  wesentlichen,  abgesehen  von  dem  elften  Kapitel,  „das  Au^e 
imd  die  Gesichtsempfindungen'',  nur  eine  —  freilich  sehr  wichtige  —  Hülfs- 
wissenschaft  des  von  unserer  Zeitschrift  vertretenen  Gebietes  behandelt. 
In  §  226  des  eben  genannten  Kapitels  fällt  uns  als  eine  Lücke  auf,  dafii 
nur  das  Ophthalmometer  von  Helmholtz,  nicht  aber  der  gleichen  Zwecken 
dienende  Apparat  von  Jayal  erwähnt  wird.  Das  jAVALsche  Ophthalmo- 
meter ist  in  fast  allen  Universitäts-Augenkliniken  und  auch  einer 
grolsen  Zahl  von  Privatkliniken  in  Gebrauch  und  wird  fleifsig  benutzt, 
während  das  HELiiHOLTzsche  Ophthalmometer  nur  selten  vorhanden  ist 
und  überdies  fast  stets  wohlverwahrt  im  Apparatenschranke  steht,  wo  es 
dann  von  der  jüngeren  Ophthalmologen-Generation  mit  jener  geheiminis- 
vollen  Scheu  betrachtet  wird,  welche  ihr  alle  diejenigen  Apparate  ein- 
flöfsen,  deren  Benutzung  das  Aufschlagen  einer  Logarithmentafel  er* 
fordert.  Es  wäre  wünschenswert,  dafs  die  Beschreibung  des  jAVALSchen 
Ophthalmometers  an  einer  späteren  geeigneten  Stelle  (etwa  bei  den 
Mefsapparaten,  welche  die  Doppelbrechung  benutzen)  nachgeholt  würde« 

Arthub  König. 

0.   ScHWBiaGER.     Zum   AkkommodatioiLs •  Mechanismus.      Knapp    und 
Schweiggirs  Ärch.  f.  Äugenheilkde,   Bd.  XXX.  S.  275—276. 
Bei  der  Extraktion  des  Altersstars  kommt  es  gelegentlich  vor,  dafs 
sofort  nach  Beendigung  des  Schnittes  durch   Fressen   von    selten   des 


Litteraturhericht  123 

Patienten  die  Linse  nebst  unverletzter  Kapsel  aus  dem  Auge  geschleudert 
wird.  Q-ewöhnlicli  zeigt  dabei  die  Linse  ihre  steile  flache  Form ;  gelegent- 
lich bemerkte  Verfasser  aber,  dafs  bei  Verflüssigung  der  Corticalis ,  die 
mit  unversehrter  Kapsel  aus  dem  Auge  geworfene  Linse  die  runde  Form 
zeigte,  welche  man  bei  jugendlichen  Individuen  post  mortem  vorfindet. 
Da  nun  eine  verflüssigte  Corticalis  eine  besondere  Elastizität  nicht  haben 
kann,  erklärt  sich  die  Thatsache  lediglich  aus  der  Elastizität  der  Linsen- 
kapsel, und  es  ist  ja  auch  begreiflich,  dafs  eine  in  sich  geschlossene  und 
mit  weichem  Inhalt  angefüllte  elastische  Membran  naturgemäfs  die 
Kugelgestalt  annehmen  mufs,  wenn  sie  nicht  durch  einen  Gegenzug 
daran  verhindert  wird.  Aus  der  gröfseren  Dicke  der  vorderen  Kapsel 
erklärt  sich  dann  auch  ihre  stärkere  Wölbung  bei  der  Akkommodation. 

Die  bei  der  Akkommodation  nachweisbare  Fbrmveränderung  der 
Linse  wird  gewöhnlich  darauf  bezogen,  dafs  die  Linsen  Substanz  bestrebt 
sei,  sich  der  Kugelgestalt  anzunähern,  doch  hält  Verfasser  auf  Ghrund 
obiger  Beobachtung  die  Elastizität  der  Linsenkapsel  für  ausreichend, 
während  die  Linse  selbst  dabei  wohl  mehr  eine  passive  Bolle  spielt. 

Solange  die  Linse  jugendlich  und  weich  ist  und  einer  Form- 
veränderung nur  wenig  Widerstand  leistet,  überwiegt  die  Elastizität  der 
Kapsel;  wenn  aber  die  Linse  allmählich  härter  wird,  setzt  sie  der  Kapsel 
einen  mehr  und  mehr  wachsenden  Widerstand  entgegen.  Kommt  es 
dann  bei  Cataracta  zu  Verflüssigung  der  Corticalis,  so  überwiegt  wieder 
die  Elastizität  der  Kapsel,  und  sie  nähert  sich  der  Kugelgestalt,  sobald 
sie  nicht  mehr  durch  die  Zonula  gespannt  erhalten  wird. 

B.  Gbebff  (Berlin). 

C.  ScHWBioosR.    Vorlesungen  über  den  Gebranch  des  Angenspiegels,  als 

ein  Lehrbuch  der  Ophthalmoskopie  für  Studierende  und  Ärzte  bear- 
beitet und  erweitert  von  B.  Gbeeff.  Vm  und  161  S.  Wiesbaden. 
J.  F.  Bergmann,  1895. 

Vor  30  Jahren  an  der  Klinik  von  v.  Graefb  gehaltene  Vorlesungen 
ScHWE^öOERS  hat  der  Bearbeiter  bis  auf  den  heutigen  Standpunkt  fort- 
geftLhrt.  Es  sind  also  namentlich  die  neueren  Augenspiegel  und  andere 
Hülfsapparäte,  die  Methoden  der  objektiven  Befraktionsmessung,  darunter 
auch  die  Skiaskopie,  hinzugekommen,  die  klar  und  gründlich  erörtert 
werden.  Eine  Schilderung  des  so  überaus  vielgestaltigen  normalen  Augen- 
spiegelbildes, sowie  der  Elrankheitsbilder  mit  anatomischen  Erklärungen, 
vielen  Skizzen  und  Abbildungen  hat  ebenfalls  Greeff  hinzugefügt.  Da 
die  Vorlesungen  mit  einer  elementaren  Spiegel-  und  Linsenlehre  be- 
ginnen, bildet  das  Ganze  ein  systematisches  Lehrbuch  der  Ophthalmo- 
skopie, in  dem  nichts,  was  für  die  Praxis  von  Bedeutung  ist,  fehlt. 

Cl.  Du  Bois-Beymokd. 

G.  Tbuxbull  Ladd.    Direct  Oontrol  of  the  Retinal  Field.    Psychol,  Bev» 
I,  4  S.  851-355.    (1894.) 

Der  Verfasser  hatte  vor  einigen  Jahren  die  Beobachtung  gemacht, 
dafs  er  eine  gewisse  willkürliche  Gewalt  über  Form  und  Farbe  des 
Eigenlichtes  bei  geschlossenen  Augen  besitze.  TJm  der  Sache  näher 
nachzugehen,  besonders,  um  zu  sehen,  ob  diese  Fähigkeit  eine  allgemeine 


124  LittertUurberieht 

sei,  liefs  er  eine  gröfsere  Anzahl  (16)  seiner  Schüler  darüber  Versuche 
anstellen.  Diese  bestanden  einfach  darin,  dafs  die  Augen  geschlossen 
und  nach  gänzlichem  Verschwinden  der  Nachbilder  der  Wille  andauernd 
und  gespannt  darauf  gerichtet  wurde,  dafs  das  Eigenlicht  eine  bestimmte 
einfache  Gestalt,  gewöhnlich  ein  Kreuz,  wohl  auch  von  bestimmter  Farbe, 
annehme. 

Die  psychologische  Bildung  der  Versuchspersonen  schützte  nach 
des  Verfassers  Versicherung  vor  Mifsverständnis  und  Täuschung.  Das 
Besultat  war  folgendes:  Vier  Personen  konnten  das  gewünschte  Ziel 
überhaupt  nicht  erreichen;  doch  soll  von  denselben  den  Versuch  nur 
eine  mit  der  nötigen  Ausdauer  angestellt  haben.  Neun  hatten  einen 
teilweisen,  drei  einen  wahrhaft  überraschenden,  auffallend  günstigen 
Erfolg.  Über  diese  letzten  zwölf  F&llc  berichtet  der  Verfasser  aus- 
führlich. WiTASEK  (Graz). 


V.  Hensen.  Vortrag  gegen  den  Bechsten  Sinn.  Ärch.  f.  Ohrenheäkde. 
1894.  Bd.  XXXV.  S.  161. 
Hensen  ist  trotz  der  zahlreichen  schwerwiegenden  Indizienbeweise, 
welche  die  neueste  Zeit  zu  Gunsten  der  statischen  Funktion  des  Ohres 
gebracht  hat,  auf  dem  alten  Standpunkte  der  Physiologie  vor  den  funda- 
mentalen Versuchen  von  Flourens  stehen  geblieben.  Er  wendet  sich  mit 
Schärfe  gegen  Ewalds  Versuche  und  Schlüsse,  ohne  ihn  jedoch  zu  wider- 
legen. Letzteres  gilt  um  so  mehr  auch  von  den  übrigen  Autoren,  als  die- 
selben kaum  erwähnt  werden.  Als  ein  gewichtiger  Grund  gegen  den 
sechsten  Sinn  wird  angeführt,  dafs  taubstumme  Kinder  sich  in  Bezug 
auf  Statik  nicht  so  abnorm  verhielten,  wie  sie  der  Theorie  nach  müTsten. 
Diese  auf  blofse  gelegentliche  Eindrücke  gestützte  Behauptung  ist  in- 
zwischen durch  Brück  (vgl.  diese  Zeitschr.  Bd.  IX.  S.  296.)  glänzend  wider- 
legt. Femer  wird  unter  ähnlichen  Bemerk\ingen  auch  die  Thatsache 
gegen  den  sechsten  Sinn  ins  Feld  gefClhrt,  dafs  selbst  Personen  mit  ganz 
normalen  Gehörorganen  (als  Beispiel  führt  H.  sich  selbst  an)  an  steilen 
Gebirgspartien  schwindelig  werden!  Vergegenwärtigt  man  sich  gegen- 
über solcher  Art  von  Kritik  die  aufserordentlich  mühsamen  jahrelangen 
Forschungen,  die  minutiöse  Vorsicht  in  Experimenten  und  Schlüssen 
seitens  der  Gegenpartei,  so  dürfte  schwerlich  durch  H.'s  Vortrag  ein 
Anhänger  des  sechsten  Sinnes  von  seinem  Glauben  bekehrt  werden. 

Schaefer  (Bostock). 

Holgee  Mygind.  Taubstummheit.  Berlin  und  Leipzig,  Oscar  Coblentz, 
1894.  278  S. 
Das  vorliegende  Werk  verdient  nicht  blofs  in  den  Kreisen  der 
Ohrenärzte,  sondern  auch  in  denen  der  Taubstummenpädagogen  ernste 
Beachtung.  In  der  Einleitung  imd  dem  1.  Kapitel:  „Ätiologie  und 
Pathogenese  **  findet  ein  grofses  statistisches  Material  eine  streng  kritische 
Bearbeitung  in  Bezug  auf  die  wichtigsten  Fragen  der  Taubstumm- 
heit,   die    zum    Teil    von    eminent    praktischer    Bedeutung    sind.      Be- 


Litteraturbericht  125 

sondere  Sorgfalt  hat  der  Verfasser  den  Abschnitten  über  Erblichkeit 
und  Blutsverwandtschaft  zu  teil  werden  lassen,  deren  Einflufs  auf  die 
Pathogenese  der  Taubstummheit  über  jeden  Zweifel  festgestellt  wird. 
Unter  den  Gehimkrankheiten  spielt  die  Meningitis  cerebro-spinalis  die 
Hauptrolle  als  Ursache  der  Taubstummheit.  Nach  den  von  HARTMAifN 
veröffentlichten  Untersuchungen  Wilhelios  waren  in  den  Jahren  1874 — 75 
26,8Vo  aller  in  Pommern-Erfurt  lebenden  Taubstummen  infolge  des 
epidemischen  Genickkrampfes  ertaubt.  Unter  den  akuten  Infektions- 
krankheiten ist  das  Scharlachfieber  als  eine  sehr  häufige  Ursache  der 
Taubheit  im  Kindesalter  bekannt.  Das  als  Folge  des  Scharlachfiebers 
auftretende  Labyrinthleiden  kann  entstehen,  ohne  dafs  eine  Entzündung 
der  Trommelhohle  das  Verbindungsglied  bildet;  „man  ist  deshalb  vielleicht 
berechtigt,  das  Labyrinthleiden  als  eine  „Metastase^  aufzufassen,  ähnlich 
wie  z.  B.  das  während  des  Scharlachfiebers  auftretende  Nierenleiden.** 
Ahnlich  verhält  es  sich  mit  der  Pathogenese  der  Taubheit  während  der 
Mjisern.  Von  Literesse  ist  die  Beobachtung,  dafs  die  skarlatinöse  Taub- 
heit von  Gleichgewichtsstörungen  begleitet  sein  kann,  die  zweifellos  von 
einem  Entzündungsprozefs  im  Labyrinthe  (und  namentlich  in  den  halb- 
zirkelförmigen  Kanälen)  herrühren. 

Im  2.  Kapitel :  „Pathologie  und  Anatomie'^  werden  die  verschiedenen 
Abschnitte  des  Gehörorgans  erörtert,  in  denen  durch  Sektionen  von  Taub- 
stummen Abnormitäten   nachgewiesen   sind.    Wegen   der  Fülle  des  hier 
angesammelten  Materials  müssen  wir  uns  auf  die  Angabe  einiger  inter- 
essanter Details  beschränken,  im  übrigen  aber  auf  das  angeführte  Kapitel 
verweisen.    Im  Mittelohr   finden  sich  am  häufigsten  pathologische  Ver- 
änderungen  am   runden  Fenster.    Dieselben   bestehen  entweder   in  Ver- 
engungen des  Fensters  oder  in  einer  Ausfüllung  der  Nische  des  Fensters 
durch  Bindegewebe,  oder  endlich  in  Veränderungen  der  das  Fenster  normal 
verschliefsenden  Membranen.    Auffallend  häufig  fehlt  das  runde  Fenster 
ganz  oder  ist  durch  Knochensubstanz  verschlossen.    Aus  einem  vom  Ver- 
fasser untersuchten  Falle  geht  übrigens  hervor,   dafs  ein  Verschlufs  des 
runden  Fensters  nicht  an  und  für  sich  totale  Taubheit  hervorruft.   Häufig 
finden  sich  jedoch  daneben  bedeutende  pathologische  Veränderungen  des 
inneren  Ohres,    Knochenablagerungen   in   den  Labyrinthhöhlen  und   be- 
sonders in  der  Schnecke,  welche  Überreste  einer  von  der  Trommelhöhle 
ausgehenden  und  sich  nach  dem  Labyrinth  fortpfianzenden  Entzündung 
sind.    Das  bei  Taubstummen  wiederholt  beobachtete  „Fehlen  des  ganzen 
Labyrinths"  ftlhrt  Verfasser  im  Gegensatz  zu  Schwarzb  und  Moos  nicht 
auf  eine  Hemmungsbildung,  sondern  auf  eine  Ablagerung  von  Knochen- 
gewebe in  den  Hohlräumen  des  Labyrinths  als  Besultat  einer  nach  der 
Geburt  auftretenden  Otitis  intima  (Voltolini)  zurück,   wodurch  die  nor- 
malen   Konturen    vollständig    verschwinden    können.     Bei   erhaltenem 
Labyrinth  sind   die  Bogengänge  am  häufigsten  der  Sitz   pathologischer 
Veränderungen  (54Vo  aller  Taubstummensektionen)  und  in  nicht  weniger 
als  V5  sämtlicher  Sektionsberichte   mit  positivem  Besultat  die  einzigen 
Abschnitte  des  Labyrinths,    in  denen  pathologische  Veränderungen  sich 
vorfinden,   eine  Thatsache,   die   in   merkwürdigem   Gegensatze   zu   dem 
Ergebnis  der  EwALDSchen  Versuche  steht,  dafs  die  Funktion  der  Bogen- 


1 26  LüteraturbericJU. 

gänge  hauptsächlich  mit  dem  „Tonuslabyrintb",  weniger  oder  vielleicht 
gar  nicht  mit  dem  „Hörlabyrinth'*  verknüpft  ist.    Dieses  eigentümliche 
Verhältnis  sucht  Verfasser  dadurch  zu  erklären,   dafs  aus  irgend  einem 
Grunde,   z.  B.  wegen   der   Enge  der  Kanäle,    „Beste  labyrinthöser  £nt« 
Zündung  in  diesem  Abschnitte  sich  am  leichtesten  organisieren  und  sich 
mikroskopisch   nachweisen  lassen,    femer  dafs  eine  sehr  grofse  Anzahl 
der  Sektionen  von  Taubstummen  aus  älterer  Zeit,  wo  die  mikroskopische 
Untersuchung  noch  wenig  entwickelt  war,   stammen'^    Da  übrigens  bei 
Taubstummen  häufig  Gleichgewichtsstörungen  vorkommen,  so  sieht  Ver- 
fasser in  den  oben  angeführten  Thatsachen  keinen  Widerspruch  mit  der 
bekannten  EwALDSchen  Theorie.    Die  verschiedenen  patholog^chen  Ver- 
änderungen der  Schnecke,  darunter  am  häufigsten  Ausfüllung  derselben 
mit  Knochen-  oder  Kalkgewebe,   sind   nur  in   einer  kleinen  Anzahl  der 
Fälle  auf  diese  allein  begrenzt,    zumeist  sind  gleichzeitig  Abnormitäten 
in  den  übrigen  Abschnitten  des  Labyrinths  zu  konstatieren.    Wichtig  ist 
der  Umstand,   dafs  hierbei  häufig  auch  Spuren  oder  Überreste  von  Ent- 
zündungen im  Mittelohr  gefunden  wurden.    Das  vollständige  Fehlen  des 
Hömerven    ist   in   zwei  Fällen   unzweifelhaft  festgestellt.     Andere  Ab- 
normitäten betreffen  den  Ursprung  des  Acusticus,  vollkommenes  Fehlen 
oder    schwache   Entwickelung    der    Striae    acusticae,    endlich    als    die 
häufigste    pathologische    Veränderung    des    Hörnerven    Atrophie    oder 
Degeneration   seines   Stammes    oder   der  Endzweige.     Da  pathologische 
Veränderungen  des  Zentralnervensystems,  von  rein  zufälligen  Leiden  ab- 
gesehen, sehr  selten  durch  Sektionen  Taubstummer  nachgewiesen  sind, 
so  wenden  wir  uns  sogleich  dem  nächsten  Kapitel :  „Symptome  und  Folge- 
zustände*' zu.    Hier  interessiert  zunächst  die  Angabe,  dafs  ungef&hr  die 
Hälfte  sämtlicher  Taubstummen  als  Total  taube  angesehen  werden  müssen, 
während    sich    bei    den    anderen    Gehörsfragmente    nachweisen     lassen. 
Totaltaube   sind   bei  Taubgewordenen   häufiger,   als  bei  Taubgeborenen, 
Was  speziell  die  Stummheit  anbelangt,  so  sieht  sich  Verfasser  veranl&Tst, 
dieselbe  in  vielen  Fällen  als  ein  der  Taubheit  koordiniertes  Symptom  auf- 
zufassen; gelingt   es,   wie  Verfasser   im   folgenden   Kapitel   an    einigen 
Fällen   nachweist«   die   scheinbar  totale  Taubheit  [durch  otiatrische  Be- 
handlung zu  heben,  so  stellt  sich  die  Sprache  normalerweise  von  selbst 
ein.    Die   günstigen  Besultate,   welche  durch  rechtzeitige  ärztliche  Ein- 
griffe bei  Taubstummen  erzielt  worden  sind,   veranlafsten  Verfasser  am 
Schlüsse   seiner  Arbeit   zu   der  Forderung,    „alle  Kinder   mit  Taubheit, 
welche  Taubstummheit  hervorrufen  kann  oder  schon  hervorgerufen  hat, 
einer    methodischen   Untersuchung    des    Ohres    und    der    angrenzenden 
Schleimhäute   za   unterziehen   und   eventuell    die   konstatierten    Krank- 
heiten einer  Behandlung  zu  unterwerfen.**     Dürfte  sich  schon  durch  diese 
Mafsregel    eine    nicht   unbedeutende   Verringerimg   der   Taubstummheit 
ergeben,  so  will  Referent  nicht  versäumen,  auf  die  wichtigen  Heilerfolge 
Urbantschitschs   bei   hochgradig  Schwerhörigen,   DL*ektors  S.  HELiiBB  in 
Fällen   „psychischer  Taubheit**    hinzuweisen.     Gerade   zu    einer  Zeit,    in 
welcher   die  bisherige  Methodik   des  Taubstummenunterrichtes   so  viel- 
fache Anfechtungen  erfährt,  würden  die  Taubstummenlehrer  ihrer  Sache 
den  gröfsten  Dienst  erweisen,  wenn   sie  sich  mit  den  oben  angeführten 


LiUeraturbertcht  1 27 

Methoden   genau  vertraut  machten   und  dieselben,   wo  immer  möglich, 
bei  ihren  Zöglingen  in  Anwendung  brächten. 

Theodor  Hellbb  (Wien). 


Fb.  K1B8OW..  Beitrftge  zur  physiologischen  Psychologie  des  Geschmacks- 
sinnes.    (Fortsetzung.)    PhHos.  Stud.  X.  S.  523— &62.  (1894.) 

Die  vorliegende  Fortsetzung  behandelt  als  Kapitel  m  „Die  Qualität 
der  Geschmacksempfindungen".  Die  Feststellung  der  reinen 
Oesohmacksqualitäten  wird  dadurch  erheblich  erschwert,  dafs  sich  den 
meisten  Geschmackssensationen  Tasteindrücke,  vielen  auch  Geruchs- 
eindrücke beimischen,  die  oft  nicht  ganz  leicht  von  jenen  zu  trennen 
sind.  K.  gelangte  zu  dem  Ergebnis,  dafs  alle  unsere  Geschmacks- 
eindrücke von  Tastsensationen  begleitet  sind,  am  ausgeprägtesten  der 
saure  Geschmack,  bei  welchem  schon  unterhalb  der  Gesohmacksschwelle 
sehwach  adstringierende  Wirkung  sich  bemerken  läfst,  welche  mit  stei- 
gender Konzentration  zunimmt,  schlief slich  schmerzhaft  brennend  wird 
und  den  Geschmackseindruck  übertönt.  Beim  Salzigen  tritt  die  Tast- 
empfindung erst  diesseits  der  Geschmacksschwelle  als  schwach  brennende 
Begleitempfindung  auf;  sie  vermag  die  Geschmacksempfindung  hier  nie 
ganz  zu  übertönen.  Auch  das  Süfse  imd  Bittere  findet  K.  regelmäfsig 
von  iTastsensationen  begleitet  und  führt  als  Beispiel  den  schlüpfrigen 
glatten  Eindruck  starker  Zuckerlösungen  an.  Auch  ätzende,  reizende 
Empfindungen  kann  Zucker  auslösen.  Beim  Bitteren  sind  nach  K.  die 
Schwellenwerte  deutlich  von  einer  Sensation  des  Fettigen  begleitet, 
höhere  Konzentrationen  von  Chinin  Verbindungen  können  wiederum 
brennend  empfunden  werden. 

Die  Frage,  ob  das  Alkalische  eine  besondere  Geschmacksqualität 
sei  oder  nicht,  läfst  der  Verfasser  vorläufig  noch  o£fen,  stellt  aber  Mit- 
teilung der  Ergebnisse  einer  planmäfsigen  Untersuchung  hierüber  in 
Aussicht,  womit  in  der  That  einem  dringenden  Bedürfnisse  entsprochen 
würde. 

Yoipi  erheblichem  Einflüsse  auf  die  Geschmacksempfindungen  sind 
Assoziationen  und  eine  gewisse  Eigentümlichkeit  des  Geschmacksorganes, 
infolge  deren  schwache  Geschmacksein  drücke  von  einem  den  einzelnen 
Begionen  des  Mundes  eigentümlichen  Beigeschmäcke  begleitet  werden, 
wodurch  die  vom  Verfasser  sog.  „Doppelempfindungen"  zu  stände  kommen. 
Schon  Beizung  mit  destilliertem  Wasser  pflegt  von  Geschmackseindrücken 
begleitet  zu  sein,  die  an  der  Zungenbasis  übereinstimmend  bei  mehreren 
Personen  den  Charakter  des  Bitteren  trugen,  während  der  gleiche  Reiz 
an  der  Zungenspitze  einzelner  Personen  als  süfs,  am  Zungenrande  als 
säuerlich  erschien  (auch  der  Referent  befindet  sich  in  diesem  Falle).  Die 
den  einzelnen  Zungenteilen  spezifischen  Geschmäcke  treten  auch  neben 
den  abklingenden,  durch  den  adäquaten  Beiz  ausgelösten  Geschmäcken 
auf  und  wirken  als  Nachgeschmack  fort,  wenn  jene  bereits  ver- 
schwunden sind. 

Mechanische  Beizimg  der  Zungenbasis  mit  einem  Glasstabe  erregt 


128  LitteTaturhericht, 

bei  vielen  Personen  bitteren  Geschmack;   in    den   anderen  Zungenteilen 
wird  auf  diese  Weise  kein  Geschmack  ausgelöst. 

Bei  Schwellenbestimmungen  findet  man  oft,  dafs  vor  dem  Auftreten 
der  adäquaten  Geschmacksempfindung  unbestimmte  Geschmackseindrücke 
auftreten,  die  zuweilen  eine  gewisse  Begelmäfsigkeit  zeigen.  Z.  B.  bei 
Applikation  von  Salz  hat  mah  zunächst  den  Eindruck,  dafs  ein  be- 
stimmter Geschmacksstoff  appliziert  sei,  ohne  dais  man  denselben  jedoch 
zu  erkennen  vermag.  Kurz  vor  der  Schwelle  geht  dann  die  Empfindung 
durch  SüTs  hindurch,  und  dann  erst  tritt  die  adäquate  Empfindung  des 
Salzigen  auf. 

Auffallender  noch  sind  die  Assoziationen  mit  Gerüchen,  die  dann 
auftreten,  wenn  ein  bestimmter  Geschmack  kürzere  Zeit  zuvor  gleich- 
zeitig mit  einem  bestimmten  Gerüche  eingewirkt  hatte,  oder  auch  dann, 
wenn  ein  intensiver  Geruch  einige  Zeit  zuvor  perzipiert  worden  war. 
Verfasser  erinnert  hier  auch  an  die  jedem  Mediziner  bekannten  Nach- 
wirkungen des  Präpariersaalgeruches.  (Ob  in  der  Mehrzahl  dieser  Fälle 
nicht  in  der  Nasenhöhle  zurückgebliebene  Biechstoffpartikelchen,  aLio 
ein  objektiv  vorhandener  adäquater  Beiz  die  Hauptrolle  spielen  sollte  ?  Bef.) 

Von  besonderem  Interesse  sind  die  Untersuchungen  des  Verfassers 
über  Kontrasterscheinungen  auf  dem  Gebiete  des  Geschmackes.  K.  führt 
den  Kontrast  mit  Wükdt  auf  zentrale  Vorgänge  zurück.  Die  Thatsache, 
dafs  er  selbst,  wie  frühere  Untersucher,  Geschmackskontraste  kon- 
statieren konnte,  verwendet  K.  zur  Widerlegung  des  OzHBWALLsohen 
Satzes,  dafs  die  bisher  als  verschiedene  Qualitäten  innerhalb  des 
Geschmackssinnes  aufgefafsten  Wahrnehmungen,  Süfs,  Bitter,  Salzig, 
Sauer,  in  Wahrheit  ebensoviele  getrennte  Sinne  bedeuten.  Auf  die 
hierbei  berührten  Fragen  von  der  spezifischen  Energie  beabsichtigt  der 
Verfasser  im  vierten  Kapitel  seiner  Arbeit  einzugehen. 

Existieren  im  Gebiete  des  Geschmackssinnes  Kontrast  Verhältnisse, 
so  mufs  sich  dies  darin  offenbaren,  dafs:  1.  eine  indifferente  Flüssigkeit, 
destilliertes  Wasser,  durch  den  Kontrast  in  eine  bestimmt  wahrnehm- 
bare Qualität  verwandelt  wird,*  2.  mufs  eine  imterhalb  der  Schi^elle 
liegende  Qualität  auf  diese  Weise  über  dieselbe  gehoben  werden ;  3.  muis 
eine  bereits  übermerkliche  Empfindung  durch  den  Kontrast  verstärkt 
werden. 

Die  Einzelheiten  der  interessanten  Versuche  lassen  sich  hier  in 
Kürze  nicht  mitteilen,  die  Hauptsache  ist,  dals,  abgesehen  von  einzelnen 
Personen,  bei  denen  wegen  zu  geringer  Empfindlichkeit  des  Geschmacks- 
organes  überhaupt  kein  Kontrast  auftrat,  mannigfaltige  Kontrast- 
erscheinungen festgestellt  werden  konnten. 

Salz  hebt  Süfs  deutlicher,  als  umgekehrt;  die  Kontrastwirkung  tritt 
am  Zungenrande,  wie  an  der  Spitze  auf,  simultan,  wie  successiv.  Z.  B. 
0,37«  NaCl  an  einem  Zungenrande  appliziert,  liefs  destilliertes  Wasser 
am  anderen  Bande  schwach  süfs  erscheinen,  0,5  7o  Na  Ol  deutlich  und 
stärker  süfs  u.  s.  f.  Ebenso  wurde  eine  an  und  für  sich  nicht  merklich 
süfse  Zuckerlösung  durch  Kontrast  mit  Kochsalz  deutlich  süfs.  Eine 
IVoige  Zuckerlösung,  die  an  sich  schon  deutlich  süfs  ist,  wurde  durch 
0,4  bis  0,87«  Na  Gl  am  anderen  Zungenrande  noch  erheblich  süDser. 


IMteratwbericht  129 

Während  Salz  destilliertes  Wasser  in  Süfs  überführt,  führt  Süfs 
da^elbe  im  allgemeinen  in  die  eigene  Qualit&t  über,  d.  h.  Zucker  an 
einem  Zungenrande  l&fst  Wasser  am  anderen  Rande  ebenfalls  süfs  er- 
scheinen, zum  Teil  auch  salzig  und  bittersalzig. 

In  ähnlicher  Weise,  wie  Süfs  und  Salzig,  kontrastieren  Salzig 
und  Sauer,  SüTs  und  Sauer,  letztere  nur  bei  sucoessiver  Applikation  auf 
der  gleichen  Schmeckfiäche,  die  beiden  ersten  Paare  aufserdem  auch  bei 
simultaner  Beizung  homologer  Zungenteile. 

Innerhalb  der  Beihen  Süfs-Bitter,  Sauer-Bitter  konnte  kein  kon- 
träres Verhältnis  nachgewiesen  werden,  doch  kommen  vielleicht  individuell 
begrenzte  Kontraste  vor.  W.  Nagel  (Freiburg). 

M.  VON  FacT.  Beiträge  inr  PhsTsiologie  des  Schmensimies.  Ber,  d.  math.* 
phys,  Klasse  d.  Sachs.  Ges.  d.  Wiss.  z,  Leipzig.  Sitzung  vom  2.  Juli  1894. 
(S.  185—196.) 

Zweite  Mitteilung.    Sitzung  vom  8.  Dezember  1894.    (S.  283—296.) 

Willibald  A.  Naobl.    Die  Sensibilität  der  Oonjnnctivä  und  Oomea  den 

menaeUielien  Auges.    Pflüg  er  s  Ärch.  Bd.  59.  S.  563—595.  (1895.) 
—  Zur  Prüfung  des  Dmcksinnes.    Pflüg  er  s  Ärch.   Bd.  59.  S.  595—603. 

(1895.) 
M.  VON  Fbet.  Beiträge  sor  Sinnesphysiologie  der  Hant.  Dritte  Mit- 
teilung. Ber.  d.  math.-phys,  Klasse  d.  Sachs.  Ges.  d.  Wiss.  z,  Leipzig. 
Sitzung  vom  4.  März  1895.  (S.  166  -184.) 
Von  Fbet  geht  aus  von  der  Erfahrung,  dafs  leichte  Einwirkungen 
auf  die  Haut  als  Druck  und  Berührung,  stärkere  dagegen  als  Schmerz 
empfunden  werden.  Eine  nähere  Erwägung  führt  ihn  zu  der  Annahme, 
daljs  die  Verschiedenheit  dieser  Empfindtmgen  nicht  auf  Intensitäts> 
unterschiede  im  Erregungszustande  eines  und  desselben  nervösen  Apparates 
zurückgeführt  werden  könne,  sondern  dafs  dieselbe  nach  den  Forderungen 
der  Lehre  von  der  spezifischen  Energie  der  Sinnesorgane  an  besondere 
Endapparate  getrennter  Nervenstämme  gebunden  sein  müsse  und  dafs 
wir  daher  auch  in  dieser  Beziehung  spezifisch  verschiedene  „Sinnes- 
punkte^  der  Körperoberfläche  zu  unterscheiden  hätten.  Für  die  Zu- 
gehörigkeit dieser  Hautpunkte  zu  verschiedenen  nervösen  Systemen  einen 
exakten  Beweis  zu  liefern,  ist  vorzugsweise  die  Aufgabe  der  erst- 
genannten VON  FBBTschen  Berichte.  Verfasser  glaubt,  diesen  Nachweis 
einmal  aus  den  Ergebnissen  von  Schwell  bestimmungen,  sodann  aber  auch 
HUB  Qualitätsunterschieden,  die  sich  in  dem  Charakter  der  durch  die 
betreffenden  Sinnespunkte  vermittelten  Empfindungen  aufweisen  lassen, 
erbringen  zu  können.  Dementsprechend  suchte  von  Fbet  ein  Versuchs- 
verfahren auszubilden,  welches  bei  der  Möglichkeit,  die  Intensität  der 
verwandten  Beize  leicht  zu  variieren,  den  letzteren  zugleich  immer  nur 
eine  sehr  geringe  Angriffsfläche  darbieten  durfte.  Um  diese  Bedingungen 
allseitig  erfüllen  zu  können,  wurde  als  Beizmittel  eine  Serie  verschieden 
starker  Haare  benutzt,  von  denen  jedes  bei  einer  Länge  von  20—40  cm 
an  das  eine  Ende  je  eines  8  cm  langen,  bei  den  Versuchen  als  Handhabe 
dienenden  Holzstäbchens  senkrecht  zu  dessen  Achse  aufgeklebt  war. 

Die  Einwirkung  eines  solchen  Haares  auf  die  Haut  läfst  sich,  wie 

Zeitichrift  fttr  Psychologie  X.  9 


130  LittertUurberichU 

Verfasser  zeigt,   über   einen  gewissen  Maximalwert  nicht  hinauftreiben, 
weil    das    ursprünglich    senkrecht    zur   Haut    aufgesetzte    Haar    sich 
zunehmend   krümmt  und  schliefslich  abgleitet.    Ebenso  ist  bei  Prüfung 
auf  der  Wage  die  Wirkung  eines  solchen  Haares   nach   oben  begrenzt 
durch  das   Gewicht,   welches   es    eben  noch  zu  heben  vermag.    Diese 
Maximalleistung  eines  gegebenen  Haares  nennt  Verfasser  seine  ,,Kraft" ; 
durch   Division  mit   der  mikroskopisch   gemessenen  Querschnittsfläcbe 
erh&lt   er  den  „Druck''  des  Haares  oder  die  auf  die  Querschnittseinheit 
wirkende  Kraft.   Für  die  schwächsten  Drucke  wurden  Kokonfäden,  sowie 
Kinder-  und  Frauenhaare,   f%br   die   stärksten  Barthaare  und  Schweins- 
borsten benutzt.    Die  in  Frage  kommenden  Gewichte  bewegten  sich  von 
1 — 2  Dekagramm  bis  herab  zu  1  mg  und  Bruchteilen  eines  solchen.     Für 
gröfsere  Belastungen  genügte  eine  Tafelwage,  für  geringere  mufste  die 
chemische   Wage    benutzt    werden.     Wiederholte   Prüfungen   desselben 
Haares  ergaben  nur  um  wenige  Prozente  schwankende  Werte,  „wodurch 
bewiesen  ist,  dafs  seine  Stellung  des  Haares,   in  welcher  es  am  besten 
geeignet  ist,  den  Druck  der  Hand  auf  die  Unterlage  zu  übertragen,  ohne 
Schwierigkeit  zu  finden  und  festzuhalten  ist**.    Die  in  den  Versuchen  in 
Betracht  kommenden  Drucke  bewegten   sich  zwischen   den  Werten  0,3 
und  300  g/mm«. 

Nach   Besprechung    der    im   Vorstehenden    kurz    wiedergegebenen 
Versuchsanordnung  gliedert  Verfasser  den  in  der  ersten  Mitteilung  dar- 
gebotenen   Stoff    nach     Versuchen    mit   minimalen    und    mit    über- 
minimalen Beizen.    Als   den   minimalsten   Druckwert,   der   überhaupt 
empfunden  wiurde,  konnte  Verfasser  denjenigen  von  0,8g/mm'  bestimmen. 
Es  gilt  für  denselben  jedoch  die  Einschränkung,   dafs   derselbe    nur  an 
einzelnen  Pimkten  der  Cornea  und  auch  dann  nur  als  „eine  ganz  leioh  te 
Empfindung"  wahrgenommen  wurde.    Für  alle  anderen  Teile  der  Körper- 
oberfläche   lag    derselbe    unterhalb   der  Beizschwelle,    solange  die    Be- 
rührung von  Haaren  vermieden  wurde.    Verfasser  legt  auf  diesen  letzten 
Umstand    besonderes  Gewicht.    Da  die  Behaarung   den   empfindlichsten 
Tastapparat   des  Körpers  repräsentiert,   so    nimmt   auch    der    in   Bede 
stehende  Druckwert  wieder  den  Charakter  eines  Übermerklichen  Schwellen- 
wertes an,  sobald  man  mit  demselben  ein  Körperhaar  berührt.     An  haar- 
frei^n  Stellen  haben  nach  der  beigegebenen  Tabelle  die  Conjunctiva  bulbi, 
femer  Zunge,  Nase  und  Lippen   nächst  der  Cornea   die  geringsten,   die 
Lendengegend,  die  Glans  penis  und  die  Fufssohle  dagegen  die  höchsten 
Schwellenwerte.    Erstere   wurden   bei  2 — 2,6,   letztere   bei   48,    114   tmd 
250    g/mm*    gefunden.      Für     diese    Unterschiede    in    den    gefundenen 
Schwellenwerten  der  einzelnen  Körperteile  macht  Verfasser  neben  der  un- 
gleichen Dicke  der  Epidermis  die  Verschiedenheit  in  der  Verteilung  und  Aus- 
breitung der  Nerven  geltend.    Mit  Bezug  auf  den  letzterwähnten  Punkt 
führt  Verfasser  aus,   dafs  trotz   der  geringen  Querschnittsfläche    seiner 
Beizhaare  (Vsoo — Vie  mm'),   deren  Durchmesser  also  in  jedem  Falle  weit 
hinter  den^  eines  WESBRschen  Tastkreises  zurückbleibt,  eine  Summati on 
durch  Beizung  benachbarter  Nervenenden  dennoch  nicht  ausgeschlossen 
sei.     „Man  wird  nach  der  anatomischen  Kenntnis  von  der  Verteilung  der 
Nerven  in  der  Haut  annehmen  müssen,  dafs  zu  einer  Hautstelle,  welche 


Litteraturherü^.  131 

fär  die  Lokalisation  eine  Einheit  darstellt,  mehr  als  eine  Nervenfibrille 
gehört  Mag  es  dann  auch  für  die  Ortsbestimmung  gleichgültig  sein,  ob 
eine  grOisere  oder  geringere  Zahl  dieser  Fibrillen  getroffen  wird,  so 
braucht  doch  dasselbe  nicht  für  die  Intensität  der  resultierenden  Em- 
pfindung zu  gelten.  LäTst  man  die  Vorstellung  zu,  dafs  die  Heizung 
einer  Anzahl  derartiger  Nervenfibrillen  zwar  nicht  mehr  isoliert  empfunden, 
wohl  aber  summiert  wird,  so  w&re  die  niedrige  Beizschwelle  nerven- 
reicher  Bezirke  verständlich.*'  Umgekehrt  bleibt  die  Beizung  mit  über- 
merklichen Werten  nach  Verfasser  nicht  unter  allen  Umständen  auf 
einen  Tastkreis  im  WBBSRschen  Sinne  beschränkt.  Von  zwei  Haaren  von 
fast  gleichem  Druck  (26  und  28  g/mm*),  deren  Widerstände  und  Quer- 
schnittsflächen jedoch  verschieden  waren  (90  und  440  mg  Widerstand  bei 
bezw.  34  und  163  mm'  •  10-^  Querschnittsfläche)  wurde  das  steifere  Haar 
auf  dem  roten  Lippensaum  stärker  empfunden.  Eine  genauere  Beob- 
achtung ergab,  dafs  beide  Beizhaare  auf  der  Schleimhaut  eine  Ein- 
stülpung bewirkten,  von  denen  aber  die  durch  das  steifere  Haar  ver- 
ursachte den  doppelten  Durchmesser  von  derjenigen  besafs,  die  das 
schwächere  erzeugte,  eine  Entfernung,  in  der  zwei  Zirkelspitzen  auf 
dieser  Hautstelle  bereits  als  getrennte  Eindrücke  wahrgenommen  werden. 
„£b  kommt  somit  neben  dem  Druck  eines  Beizhaares  seine  wirkende 
Pläche  für  den  Erfolg  in  Betracht  in  einem  Umfange,  welcher  von  der 
Beschaffenheit  der  gereizten  Hautstelle  abhängig  ist."  Die  Schnellig- 
keit, in  der  man  ein  Beizhaar  auf  eine  Hautstelle  aufsetzt,  ist  nach  den 
vom  Verfasser  gewonnenen  Erfahrungen  für  den  Erfolg  des  Versuches 
ohne  Bedeutung. 

Die  Versuche  mit  überminimalen  Beizen  wurden  auf  der  Haut 
xmd  am  Auge  ausgeführt. 

Nachdem  Verfasser  zunächst  die  schon  früher  gemachte  Beobachtung, 
dafs  auf  kleinstem  Baume  einer  Hautfläche  neben  erregbaren  Punkten 
auch  nichterregbare  sich  befänden,  durchaus  bestätigt  gefunden,  gelangte 
er  bei  der  Weiterführung  seiner  Versuche  zu  dem  Ergebnisse,  dafs  auch 
unter  den  ersteren  zwei  qualitativ  verschiedene  Arten  zu  unterscheiden 
seien,  von  denen  die  einen  als  Druck-,  die  anderen  als  Schmerzpunkte 
von  ihm  bezeichnet  werden.  Beide  Arten  von  Punkten  unterscheiden 
sich  aulser  der  ihnen  spezifischen  Empfindung,  wie  bereits  eingangs 
erwähnt,  durch  die  Höhe  der  Beizschwelle,  bei  welcher  sie  erregt  werden. 
Beagierteu  die  Druckpunkte  (Verfasser  beschreibt  die  Untersuchung  eines 
Hautstückes  seiner  eigenen  Wade  von  1  qcm,  auf  welcher  er  15  Druck- 
punkte bestimmen  konnte)  bei  Drucken,  die  zwischen  8 — 33  g/mm*  lagen, 
so  bedurfte  es  für  die  Erregung  der  Schmerzpunkte  gewöhnlich  eines 
Heizwertes  von  über  200  g/mm',  nur  in  einzelnen  Fällen  konnte  dieser 
bei  100  g/'mm*  bestimmt  werden.  Die  Druckpunkte  liegen  nach  Ver- 
fasser „sämtlich  in  unmittelbarer  Nähe  der  Haarbälge."  Die 
durch  die  Druckpunkte  vermittelte  Empfindung  wird  als  kömig,  die  der 
Schmerzpunkte  als  stechend  bezeichnet.  Verfasser  äufsert  sich  selbst 
hierüber:  „Stöfst  man  eine  feine  Nadel  in  diese  Punkte  (Schmerz- 
punkte. Bef.),  so  schwillt  die  schmerzhafte  Empfindung  zu  erheblicher, 
oft  schwer   erträglicher   Stärke    an   und   strahlt  aus  nach  Fläche   und 

9* 


132  Litteraturbericht 

Tiefe.  Dagegen  ist  der  Einstich  in  die  zuerst  bezeichneten  Druckpunkte 
in  der  Aegel  schmerzlos,  man  hat  eine  ganz  oberflächlich  projizierte  und 
scharf  umschriebene,  starke,  punktartige  Druckempfindung,  fOr  welche 
GoLDSCHBiDBB  nicht  unpassend  den  Ausdruck  „körniges  GefühP  ge- 
braucht hat.**  Auf  den  nicht  erregbaren  Punkten  rief  die  Nadel  (die 
Verfasser  noch  auf  dem  Schleifsteine  nachzuspitzen  empfiehlt),  „nur  eine 
ganz  diffuse  Berührungsempfindung^  hervor,  welche  toh  Ebbt  aus  „der 
ziemlich  ausgedehnten  Deformation  der  Haut''  zu  erklären  sucht.  Ver- 
fasser bemerkt  femer,  dals  sich  (besonders  an  den  Haarbälgen,  das  Aus- 
reiTsen  der  Haare  verursacht  Schmerz)  Druck-  und  Schmerzempfindungen 
oft  verbinden,  und  zieht  aus  seinen  Beobachtungen  den  Schlufs:  „Dais 
beide  Empfindimgen  verschiedenen  nervösen  Gebilden  angehören,  dürfte 
nach  den  geschilderten  Beobaehtungen  nicht  zweifelhaft  sein.  Die  An- 
nahme besonderer  Nerven  und  Endapparate  für  Schmerz-  und  Druck- 
empfindung schlieist  ihre  gegenseitige  Durchflechtung,  bezw.  eng  benach- 
barte Lagerung  nicht  aus.''  Das  „Gefühl  des  Juckens  und  KitzeLns"  ist 
YOir  Frbt  geneigt,  als  „sekundäre  Empfindung*^  aufzufassen,  „vermittelt 
durch  Reflexe,  welche  von  den  Tastnerven  auf  die  GeflUse  übergreifen.'^ 
An  der  Cornea  und  der  Conjtmctiva  bulbi  will  Verfasser  nur 
Schmerzempfindungen  beobachtet  haben,  doch  liegt  die  Schmerzschwelle 
an  diesen  Stellen  beträchtlich  tiefer,  als  an  der  übrigen  Körperoberfläche. 
Verfasser  konnte  dieselbe  an  der  Cornea  beiO,3g/mm',  an  der  Coigunctiva 
bei  2  g/mm'  bestimmen.  Dabei  zeigten  sich  auch  hier  in  beiden  Fällen  neben 
den  erregbaren  Punkten  auch  unerregbare.  Letztere  waren  an  der  Cornea 
bis  zu  26,  an  der  Conjunctiva  bis  zu  einem  Druck  von  116  g/mm*  nach- 
weisbar. Im  ersten  Falle  konnte  diese  Untersuchung  wegen  des  heftig 
auftretenden  Lidreflexes  nicht  weiter  fortgesetzt  werden.  Verfasser  fügt 
hinzu:  „Der  Cornea  (und  Conjunctiva)  eigentümlich  ist  femer  die  Er- 
scheinung, dafs  ein  nicht  weit  über  die  Schwelle  liegender  Beiz  (1  bis 
5  g/mm*  für  die  Cornea)  an  vielen  Punkten  im  ersten  Moment  der  Be- 
rührung nicht  gefühlt  wird,  dals  aber  bei  andauernder  Berührung 
Schmerzempfindung  auftritt,  die  entweder  nach  einigen  Sekunden  wieder 
verschwindet,  oder,  was  häufiger  der  Fall,  so  weit  anschwillt,  dafs  die 
Beizimg  unterbrochen  werden  muis.  Nimmt  man  das  Haar  fort,  so  läfst 
sich  an  der  Berührungsstelle  eine  Delle,  eine  umschriebene  Bauhigkeit 
der  Comeafläohe  bemerken.  Es  wird  also  die  Vorstellung  g^erechtfertigt 
sein,  dafs  ein  Beiz,  der  die  Nervenenden  nicht  unmittelbar  trifft  oder 
für  deren  direkte  Erregung  zu  schwach  ist,  wirksam  werden  kann,  wenn 
er  durch  Schädigung  des  Epithels  oder  Störungen  des  S&fbestromes  im 
Gewebe  chemische  Alterationen  hervorruft.^  Die  eigentümliche  Färbung 
der  Schmerzempfindung  auf  der  Cornea  und  Conjunctiva  glaubt  Ver- 
fasser noch  aus  einem  Vergleiche  mit  der  bei  gleichem  Druck  (etwa 
16  g/mm*)  auf  dem  Augenlide  ausgelösten  „Druckempfindung"  darthun 
zu  können.  Eine  letzte  Bemerkung  dieser  Abhandlung,  dafs  Cornea  und 
Conjunctiva  keine  Temperaturempfindungen  besitzen,  ist  in  der  dritten 
Mitteilung  (s.  u.)  wesentlich  modifiziert.  Verfasser  schliefst,  dafs  der 
Trigeminus  von  seinen  zentripetalen  Fasern  nur  Schmerznerven  in  Cornea 
und  Coiigunctiva  sendet,  und  verweist  auf  andere  ungleiche  Verteilung^i 


LitteraturberuJht  138 

sensibler  Nerven,  wie  auf  die  von  Weber  an  der  Iris  und  .den  daran 
^machten  Beobachtungen,  sowie  auf  die  vom  Referenten  gefundene 
schmerzfreie  Stelle  der  Backenschleimhaut.  Aus  einer  kurzen  Zusammen- 
fassung der  Ergebnisse  am  Schlüsse  der  Arbeit  sei  nur  noch  der  zweite 
Punkt  mit  des  Verfassers  eigenen  Worten  wiedergegeben:  „Es  giebt 
gröfsere  Flächen,  welche  Druck,  aber  nicht  Schmerz,  und  andere,  welche 
nur  Schmerz  empfinden.  Letztere  Orte  haben  demgemftfs  nur  eine  ein- 
zige Beizschwelle,  welche  nicht  höher  zu  liegen  braucht  als  die  Druck- 
schwelle der  Haut  und  sogar  beträchtlich  tiefer  liegen  kann  (Cornea). 

Ich  schliefse  daraus,  dais  die  Schmerzempfindung  durch  besondere 
Einrichtungen,  Schmerzpunkte  und  Schmerznerven  vermittelt  wird.^ 

In  der  zweiten  der  oben  erwähnten  Mitteilungen  weist  yok  Fbet 
zunächst  nach,  daXs  auch  die  „Schmerzpunkte^  bei  mechanischer  Beizung 
an  den  verschiedenen  Körperteilen  unter  sich  verschiedene  Schwellen 
besitzen.  Nach  der  beigegebenen  tabellarischen  Übersicht  wurde  auf  der 
Cornea  der  niedrigste,  auf  den  Fingerspitzen  dagegen  der  höchste 
Schwellenwert  gefunden.  Ersterer  liegt  bei  0,2  g/mm',  letzterer  bei 
300  g/mm*.  Mittlere  Werte  ergaben  Versuche  auf  dem  Fufsrücken 
(50  g/mm^,  dem  Handrücken  (100  g/mm*)  und  der  Hohlhand  (180  g/mm*). 
Verfasser  bemerkt  jedoch  zu  diesen  Angaben,  dafs  dieselben  nur  einen 
ungeflihren  Wert  besitzen,  und  empfiehlt  eine  genauere  Nachprüfung  der 
betreffenden  Körperteile.  Neben  der  Höhe  des  absoluten  Druckes  ist 
for  die  Bestimmung  der  Schmerzschwelle  nach  Verfasser  auch  die  Dauer 
des  einwirkenden  Beizes  in  Büoksicht  zu  ziehen.  Ferner  konnte  Ver* 
fasser  beobachten,  dais  das  Schwellenverhältnis  beider  Arten  von  Sinnes- 

(^^ruckschv^elle  \ 
^-r r — 77  I  für   die   einzelnen  Körperteile 
Schmerzschwelle/  '^ 

keine  konstante  bedeutet.  Während  es  an  den  Fingerspitzen  auf  den 
Wert  von  Vso  —  Vioo  herabgeht,  beträgt  es  für  den  Ober-  und  Unterarm  V». 
Die  Nachprüfung  an  verschiedenen  Tagen  ergab  imter  sonst  gleichen 
Bedingungen  für  beide  Sinnesqualitäten  ziemlich  konstante  Schwellend- 
werte,  doch  wurde  der  absolute  Wert  derselben  nach  vok  Freys  Beob- 
achtungen sowohl  durch  einwirkende  Kälte,  wie  durch  Kneipen,  Beibe» 
und  Kratzen  der  betreffenden  HautsteUe  variiert.  Spannung  der  Haut 
erhöhte  die  Druckschwelle  am  linken  Mittelfinger  auf  das  Sechzehnfache. 
Auiserdem  ist  Verfasser  geneigt,  auch  der  Übung  und  Aufmersamkeit 
für  das  Herabsinken  der  Beizschwellen  eine  Bedeutung  zuzuschreiben. 
Indem  Verfasser  der  Verteilung  der  erwähnten  Sinnesptmkte  weitere 
Aufmerksamkeit  widmete,  konnte  er  die  mit  Bezug  auf  die  Orts- 
bestimmung der  Druckpunkte  bereits  gemachten  Angaben  dahin -ver- 
vollständigen, daifs  sich  dieselben  sämtlich  auf  der  „Luvseite"  der  Haare 
befinden.  ,^egt  man  eine  zur  Hautoberfläche  senkrechte  Ebene  durch 
das  Haar,  so  bildet  der  Haarbalg  mit  der  Epidermis  nach  der  einen 
Seite  einen  spitzen,  nach  der  anderen  einen  stumpfen  Winkel.  Auf  der 
Seite  des  spitzen  Winkels,  dort,  wo  der  Haarbalg  der  Epidermis  zunächst 
liegt,  findet  sich  die  Stelle,  wo  ein  Druck,  der  in  der  ganzen  übrigen 
Umgebung  des  Haares  nicht  gefühlt  wird,  von  der  charakteristischen 
Berührungsempfindung  begleitet  ist."    Die  schwächsten  Druckreize  treten 


134  Litteraturbericht 

bei  Berührung  des  Haares  selber  in  Wirksamkeit,  die  Schwelle  liegt  in 
diesem  Falle  jedesmal  unterhalb  derjenigen,  die  bei  direkter  Berührung 
des  Balges  erzielt  wird.  Bei  stetiger  Verkürzung  des  Haares  durch  die 
Schere  näherte  sich  dessen  Schwelle  immer  mehr  der  des  Balges,  bis  sie 
bei  glatt  rasiertem  Haare  mit  dieser  zusanunenfiel.  Verfasser  schliefst 
aus  dieser  Beobachtung,  „dafs  in  beiden  Fällen  dasselbe  Organ  gereizt 
wird,  vom  Haare  aus,  der  Hebelwirkung  entsprechend,  aber  mit  ge- 
ringeren Kräften.**  „Die  Haare  des  Körpers  müssen  daher  ganz  allgemein, 
nicht  nur  die  bei  gewissen  Säugetieren  vorkommenden  sog.  Tasthaare, 
als  Sinnesapparate,  speziell  als  Organe  des  Drucksinnes  aufgefa£st 
werden.**  Der  gleiche  Wechsel  von  Druck-,  Schmerz-  und  unerregbaren 
Punkten  liefs  sich  auch  auf  den  nicht  behaarten  Teilen  des  Körpers, 
nach  Verfasser  57o  der  gesamten  Körperoberfläche,  nachweisen.  Da  für 
die  Lage  der  Schmerzpunkte  kein  auf  serliches  Kennzeichen  vorhanden 
ist,  so  konnten  diese  nur  durch  den  Vergleich  bestimmt  werden. 

Eine  Prüfung  der  in  Bede  stehenden  Sinnespunkte  bei  unipolarer 
elektrischer  Beizung  ergab  zunächst,  dafs  die  Schwelle  für  die  Schmerz- 
punkte in  diesem  Falle  unterhalb  der  der  Druckpunkte  lag.  rtDi&  Em- 
pfindung ist  stehend,  frei  von  jeder  Tast-  oder  Druckempfindung  und 
ununterbrochen  andauernd.**  »Die  schmerzhaften  Punkte  sind  durch 
empfindungslose  Strecken  voneinander  getrennt  und  zeigen  keine  feste 
Beziehung  zu  den  ELaarbälgen.**  „Aufsetzen  der  Elektrode  auf  einen 
Haarbalg,  bezw.  auf  die  Austrittsstelle  eines  Haares  kann  schmerzhaft 
sein,  ist  es  in  der  Regel  aber  nicht.**  Die  bei  elektrischer  Beizung  auf 
den  Druckpunkten  ausgelöste  Empfindung  bezeichnet  Verfasser  als 
Schwirren  oder  Hämmern.  „Sie  entbehrt  des  unangenehmen  Charakters^ 
welcher  der  Beizung  der  Schmerzpunkte  eigentümlich  ist.**  „Man  hat 
den  Eindruck,  als  ob  eine  schwingende  Stimmgabel  dem  gereizten  Punkte 
Stöfse  versetzte.**  Wurde  bei  verstärktem  Stromdurchgang  die  Elektrode 
verschoben,  so  konnte  Verfasser  in  der  deutlichsten  Perzeption  der  Em- 
pfindung eine  Richtung  verfolgen,  welche  Erscheinung  er  dahin  deutet, 
„dafs  durch  die  Elektrode  der  Verlauf  der  Drucknerven  auf  die  Haut- 
oberfläche projiziert  wird.**  Die  gleiche  Beobachtung  machte  Verfasser 
bei  den  Schmerzpunkten.  Ob  bei  elektrischer  Reizung  die  Endapparate 
oder  nicht  vielmehr  deren  zutretende  Nerven  gereizt  werden,  zumal  die 
letzteren  so  leicht  erregbar  sind,  läfst  Verfasser  dahingestellt,  er  füg^ 
dieser  Ausführung  nur  die  Bemerkung  hinzu :  „Es  zeigt  sich  darin  recht 
deutlich,  dafs  in  der  Organisation  des  Körpers  elektrische  Reizung  nicht 
vorgesehen  ist,  oder  mit  anderen  Worten,  dafs  der  elektrische  Reiz 
eigentlich  ein  un  physiologischer  ist.**  Eine  besondere  Beachtung  ver- 
dienen die  Verhältnisse,  welche  bei  faradischer  Reizung  Körperstellen, 
wie  die  Hohlhand,  die  Zunge,  der  Gaumen,  die  Wangenschleimhaut,  das 
Zahnfleisch,  die  Zähne  und  die  Oonjunctiva  aufweisen.  An  der  Hohl- 
hand dringt  der  Strom  nach  des  Verfassers  Ergebnissen  nur  an  begünstigten 
Stellen,  wie  an  den  Mündungsstellen  der  Schweifsdrüsen,  in  hinreichender 
Dichte  ein,  um  die  schwirrende  Druckempfindung  zu  erzeugen.  Die 
Punkte  wurden  auf  diese  Weise  dementsprechend  in  gröfseren  Abständen 
als    bei   Anwendung    mechanischer    Reize    gefunden.     Bei    der    schon 


Litteraturbericht.  135 

erwähnten  Stelle  der  Backenschleimhaut  konnte  der  ätrom  so  verstärkt 
werden,  „dafs  die  Muskeln  der  Wange  in  heftigsten  Tetanus  geraten  und 
die  £rregung  bis  in  den  Oberkiefer  ausstrahlt,  ohne  dafs  eine  Spur  von 
Schmerzhaftigkeit  an  der  Applikationsstelle  der  Elektrode  auftritt.^  Die 
Empfindlichkeit  an  den  verschiedenen  Teilen  der  Zunge  entspricht  im 
allgemeinen  den  vom  Beferenten  bei  mechanischer  Beizung  dieses  Körper- 
teiles festgestellten  Verhältnissen  (Fhilos,  Stud,  Bd.  IX).  An  den  Zähnen 
und  der  Conjunctiva  erzeugte  die  elektrische  Beizung  nur  Schmerz- 
empfindungen, die  Empfindungen  waren  hier  nicht  intermittierend. 

Auf  den  Druckpunkten  konnten  130  Stromstöfse  in  der  Sekunde 
noch  unterschieden  werden,  während  die  Zahl  derselben  auf  den  Schmerz- 
punkten auf  5  herabsinken  mufste,  um  eine  Art  Intermittenz  der 
Schmerzhaftigkeit  bemerklich  zu  machen.  Verfasser  vergleicht  diesen 
kontinuierlichen  Vorgang  in  der  Erregung  der  Schmerzpunkte  dem 
Tetanus  des  Muskels. 

Indem  Verfasser  sich  zum  Schlüsse  dieser  Abhandlung  auf  die  von 
MisBs,  YAN  GsHucHTCN  Und  Obbu  Veröffentlichten  anatomischen  Befunde 
bezieht,  gelangt  er  zu  dem  Besultate,  dafs  die  freien  Nervenendigungen 
zwischen  den  Epithelzellen  (Iberall  die  Schmerzempfindung  vermitteln, 
und  dafs  als  Organe'  des  Drucksinnes  aufser  den  Haarbälgen  die 
MsssKERSohen  Körperchen  anzusehen  sind.  ^Ihre  vom  Entdecker  unter- 
suchte räumliche  Ausbreitung  entspricht  den  aus  den  Versuchsergebnissen 
aufzustellenden  Forderungen.*' 

In  der  dritten  der  oben  erwähnten  Abhandlungen  unterwirft 
W.  Nagel  die  durch  von  Frey  mit  Bezug  auf  die  Sensibilität  der  Con- 
junctiva und  Cornea  ausgeftlhrten  Versuche  und  die  aus  denselben 
resultierenden  Befunde,  wie  sie  im  Vorstehenden  wiedergegeben  sein 
dürften,  auf  Grund  von  Nachprüfungen,  die  er  an  sich  selbst  und  anderen 
Personen  anstellte,  einer  eingehenden  Elritik.  Verfasser  bestreitet,  dals 
auf  genannten  Körperteilen  ausschliefslich  schmerzhafte  Empfindungen 
auslösbar  sind.  „Vielmehr  können  erstens  Berührungen  sowohl  auf  der 
Conjunctiva,  wie  auf  der  Cornea  ohne  jeden  schmerzhaften  oder  auch 
nur  belästigenden  Gefühlston  wahrgenommen  werden.  Und  zweitens  läfst 
sich  ebenfalls  an  beiden  Orten  eine  ganz  prägnante  Kälteempfindung 
hervorrufen.''  Auf  der  Conjunctiva  bulbi  konnte  Verfasser  mittelst  eine 
feinen  Fischbeinsonde,  an  deren  einem  Ende  sich  ein  längliches  Knöpfchen 
von  etwa  Vsmm  Dicke  befand,  wie  mit  jedem  anderen  glatten,  aber 
abgerundeten  Gegenstande,  auch  mittelst  eines  spitzen  angefeuchteten 
Pinsels,  selbst  mit  dem  angefeuchteten  Finger  und  den  von  FasTschen 
Beizhaaren  sowohl  BerÜhrungs-  wie  Schmerzempfindungen  erzeugen,  je 
nach  dem  Stärkegrade,  mit  welchem  die  genannten  Beizmittel  mit  der 
Conjunctiva  in  Berührung  kamen.  „Ein  leises  Streichen  mit  der  Spitze 
des  senkrecht  zum  Bulbus  gestellten  (weichen)  Haares  ist  bei  mir,  wenn 
überhaupt  wahrnehmbar,  stets  schmerzlos.  Dabei  beobachtet  man,  dafs 
ein  Haar,  dessen  einfache  Berührung  nicht  empfunden  wird,  bei  der 
Bewegung  wahrgenommen  wird.^*  Die  schmerzhafte  Berührung  der 
erwähnten  Fischbeinsonde  bedingt  ein  senkrechtes  Aufsetzen  derselben 
auf  den  Bulbus,   so  dafs  die  Angriffsstelle  von  möglichst  geringem  Um- 


136  lAtUraturberkhi. 

fange  war.  Das  Aufsetzen  des  trockenen  Pinsels  mit  einzelnen  hervor* 
stehenden  Haaren  verursachte  ebenfalls  Schmerz.  Die  schmerzlose  Be- 
rührung der  Cornea  scheint  nach  Verfasser  bei  verschiedenen  Menschen 
verschieden  leicht  erzielbar.  Auf  seiner  eigenen  Cornea  erzeugte  ein  mit 
«inem  Beishaar  von  0,08  mm  Durchmesser  ausgeübter  Druck  „im  ersten 
Moment  sehr  deutlich  eine  nicht  schmerzhafte  Empfindung  von  geringer 
Intensität,**  der  sich  (wie  Verfasser  meint,  wohl  infolge  der  ungleich* 
mlUsig  zitternden  und  schwankenden  Berührung)  eine  Kitzelempfindung 
beimischen  konnte,  bei  der  mehrere  Sekunden  andauernden  gleichen 
Beizung  aber  trat  im  voy  FaEYSchen  Siime  Schmerz  auf.  Eine  gleichfalls 
schmerzlose  Empfindung  konnte  Verfasser  auf  der  Cornea  durch  Nach« 
ahmung  des  dieselbe  normalerweise  stets  schmerzlos  berührenden  Lid- 
s<Alages  hervorrufen,  indem  er  über  dieselbe  mit  einem  weichen,  in 
0,6Voiger  und  bis  auf  40—50°  C.  erw&rmter  Kochsalzlösung  getränkten 
Pinsel  strich.  Den  anfangs  auftretenden  Befiez  gelingt  es,  durch  Obung 
zu  unterdrücken.  »Liegt  nun  der  Pinsel,  schwimmend  nals  von  der 
Kochsalzlösung,  der  Cornea  ani  so  fehlt  jegliche  Empfindung.  Drückt 
-man  ihn  dagegen  etwas  stärker  auf  oder  bewegt  ihn  hin  und  her,  so 
tritt  neben  vorübergehenden,  ganz  leichten  Schmerzempfindungen  (1)  ab 
und  zu  eine  deutliche,  nicht  schmerzhafte  Sensation  auf.  Im  allgemeinen 
aber  wird  von  der  ganzen  Berührung  und  Bewegung  überraschend  wenig 
empfunden.**  Andererseits  hält  Verfasser  die  Frage,  wie  ein  nicht 
stehendes,  in  schonender  Weise  aufgesetztes  Haar  die  Cornea  nach 
einigen  Sekunden  schmerzhaft  reizen  kann,  für  eine  der  dunkelsten  auf 
diesem  Gebiete.  Indem  er  in  der  von  FazTschen  Ansicht,  nach  welcher 
in  diesem  Falle  auf  der  Cornea  eine  kleine  Delle  entsteht  und  so  der  das 
Nervenende  nicht  direkt  trefiTende  Beiz  „durch  Schädigung  des  Epithels 
oder  Störungen  des  Säftestromes  im  Gewebegemische  Alterationen, 
hervorruft**,  keine  befriedigende  Erklärung  findet,  glaubt  er,  dieses  nach- 
trägUche  Auftreten  des  Schmerzes  nach  Gold80heid£BS  Vorgang  mehr 
als  ein  „Summationsphänomen**  auffassen  zu  müssen.  Von  Fbbts  Fehler 
liegt  nach  Nagbl  in  dessen  Methode,  indem  derselbe  diejenige,  welche 
er  für  die  Prüfung  des  Drucksinnes  der  äufseren  Haut  verwandte,  un- 
verändert auf  die  Untersuchung  so  empfindlicher  Teile,  wie  Conjunctiva 
und  Cornea,  übertrug.  «Eine  senkrechte  Berührung  mit  einem  Haare 
ist  für  die  Coigunctiva,  was  für  die  Haut  ein  Nadelstich  ist.** 

Verfasser  untersuchte  ferner  die  Empfindlichkeit  der  Coi^junctiv» 
und  Cornea  für  thermische,  chemische  und  elektrische  Beizung.  Aus 
einer  Zusammenfassung  der  durch  manche  Einzelbeobachtung  inter^ 
essanten  Abhandlung  sei  noch  folgendes  hervorgehoben: 

„Sowohl  Coigunctiva  wie  Cornea  vermögen  zwar  Wärme  und  Kälte 
zu  „unterscheiden**,  aber  nur  die  Kaltberührung  erzeugt  neben  der 
Berührungsempfindung  eine  spezifische  Temperaturempfindung,  Warm- 
empfindung aber  erscheint  als  temperaturlos,  als  nicht-kalt,  wenn  sie 
nicht  so  hochgpradig  ist,  dals  Schmerz  auftritt. 

Unfähigkeit  auch  zur  Kälteempfindung  ist  in  einem  Falle,  bei  sonst 
intakter  Sensibilität,  konstatiert;  das  Vorkommen  ausgeprägter  Wärme- 
exapfindung  ist  noch  fraglich,  jedenfalls  ist  es  selten.  Schwache  An- 
deutungen von  Hitzegefühl  kommen  vor. 


LiUeraturbericht  137 

Die  Häufigkeit  der  auästhetischen  Punkte,  namentlich  der  Cornea, 
wechselt  bei  den  einzelnen  Individuen. 

Die  Conjunctiva  des  unteren  Lides  verh&lt  sich  wie  die  Coigunotiva 
bulbi.    Die  Umscblagefalte  ist  für  Berührungen  weniger  empfindlich. 

Die  K&lteempfindung  geht  hier  leicht  ins  Schmerzhafte  über. 
Wftnaeempfindung  fehlt.  Die  Coigunctiva  des  oberen  Lides,  künstlich 
ektropioniert,  ist  fast  unempfindlich  für  Berührung  und  Temperatur.  Die 
Plica  semilunaris  hat  die  gleichen  sensiblen  Eigenschaften  wie  die 
Conjunctiya  bulbi.  Die  Caruncula  nimmt  sowohl  Wärme  wie  K&lte  in 
dar  Mehrzahl  der  F&lle  deutlich  wahr. 

Im  Zustande  der  Entzündung  der  Conjunctiva  ist  die  Wahrnehmungs- 
fähigkeit f&r  Berührung  wie  für  K&lte  stark  herabgesetzt,  dagegen 
besteht  Hyperalgesie  namentlich  gegen  chemische  Beize  (auch  den  des 
Wassers). 

Ein  Lufbstrom,  der  die  Conjunctiva  und  Cornea  trifit,  wird  als  kalt 
empfunden,  gleichviel  ob  er  heifs  oder  kalt  ist.  Sehr  heifse  Luft  erzeugt 
neben  der  Kftlteempfindung  Schmerz,  keine  Wärmeempflndung.  Die 
Karunkel  nimmt  wie  die  Haut  einen  warmen  Luftstrom  als  warm  wahr. 

Der  LidschluDsreflez  tritt  bei  Berührung  der  Cornea  und  Conjunctiva 
mit  einem  warmen  Gegenstande  weit  weniger  stark  auf,  als  bei  Be- 
rührung mit  einem  kalten  Gegenstande.  Eine  Berührung  an  Stellen 
der  Cornea  und  Conjunctiva,  welche  zur  Empfindung  unf&hig  sind^ 
erzeugt  niemals  Lidschlufsreflex.  Der  Beis  des  Induktionsstromes  wird 
(im  Gegensatz  zur  Zunge)  auf  Conjunctiva  und  Cornea  als  ein  kontinuier- 
licher, stechender  Schmerz  empfanden.  Die  Beizschwelle  der  Conjunctiva 
liegt  höher,  als  auf  der  Zunge." 

Verfasser  schliefst  seine  Abhandlung  mit  der  Behauptung,  dafs 
Tov  Frbt  das  Vorhandensein  besonderer  Schmerznerven  und  Schmerz- 
siimeseigane  nicht  in  überzeugender  Weise  nachgewiesen  habe. 

In  der  der  vorstehend  besprochenen  unmittelbar  nachgestellten 
Arbeit  j^^tr  Prüfumg  des  DmehntUMS***  unterwirft  Naobl  die  yov  FaBTSche 
Methode  der  Sensibilitätsmesaungen  mittelst  der  oben  erwähnten  Beiz- 
haare einer  eingehenden  Kritik.  Verfasser  fafst  die  Ergebnisse  seiner 
in  dieser  Beziehung  angestellten  Nachprüfungen  am  Schlüsse  selber  in 
den  folgenden  Satz  zusammen :  „Die  vom  ton  Fbbt  angegebene  Methode 
der  Prüfung  des  Drucksinnes  mittelst  der  Applikation  kleinster  wahr- 
nehmbarer Druckreize  durch  senkrecht  aufgedrückte  „Beizhaare^  von 
bekanntem  Biegungswiderstande  ist  nur  unter  der  Bedingung  zur  Fest- 
stellung absoluter  und  relativer  Zahlenwerte  fCür  die  Empfindlichkeit  der 
verschiedenen  Hautregionen  anzuwenden,  dafs  nicht  der  auf  die  Flächen- 
einheit berechnete  Druck,  sondern  die  in  Grammen  erforderliche  Kraft 
zur  Besümmung  des  Beiswertes  benutzt  wird.**  Im  letzteren  Falle 
erkennt  der  Verfasser  in  dem  vok  FasTschen  Verfahren  eine  Methode, 
die  besonders  dem  Neuropathologen  bei  Sensibilitätsprüfungen  von  hohem 
Werte  sein  müsse. 

Der  dritte  der  ton  FazTSchen  Berichte  umfafst  zunächst  die 
Beeultate,  die  sich  bei  weiteren  Untersuchungen  über  die  Temperatur- 
empfinduBgen  des  Auges  ergeben  hatten.  Nach  diesen  mit  dem  \Referenten 
zusammen  angestellten  Versuchen,  die  im  wesentlichen  bereits  vor  der 


138  Litteraturhericht 

NAGBLSchen  Veröffentlichung  abgeschlossen  waren,  besitzt  die  Cornea 
keine  Temperaturempfindungen,  die  Conjunctiva  dagegen  nur  Kalt- 
empfindungen. Bevorzugt  sind  in  dieser  Beziehung  der  Cornealrand 
und  die  nächst  angrenzenden  Teile  der  Conjunctiva,  in  gröfserer  Anzahl 
befinden  sich  die  Kaltpunkte  auTserdem  in  der  Nähe  der  Conjunctival- 
gef&fse.  Die  Angabe  Donaldsoks,  nach  welcher  durch  Kokainvergiftung 
des  Auges  nur  die  Schmerzempfindlichkeit  aufgehoben  werde,  die 
Temperaturempfindung  dagegen  erhalten  bleibe,  konnte  nicht  bestätig^ 
werden,  vielmehr  zeigte  sich  neben  der  ersteren  Empfindungsqualitftt 
auch  die  letztere  herabgesetzt  oder  ganz  aufgehoben.  Etwas  abweichend 
von  dieser  Begel  bestimmte  ton  Fbet  das  Verhalten  der  Kaltpunkte  des 
Cornealrandes,  welche  nach  seiner  Beobachtung  „noch  deutlich  reagieren 
können,  wenn  die  Sohmerzhaftigkeit  an  dieser  Stelle  bereits  stark  herab- 
gesetzt ist.''  Für  den  Nachweis  von  Kälteptmkten  wurden  Lametta- 
streifen und  dünne  Kupferdrähte  mit  angeschmolzenen  Endkölbohen  ver- 
wandt, f%Lr  denjenigen  von  Wärmeempfindungen  in  erwärmtes  Vaselin 
getauchte  und  an  das  eine  Ende  eines  Drahtstückes  geklebte  Watte- 
röllchen. Da  DoNALDSON  auch  Wärmeempfindungen  für  das  Auge  nach- 
gewiesen hat  und  Verfasser  in  der  Nähe  der  temporalen  und  nasalen 
Augenwinkel  das  gänzliche  Fehlen  derselben  mit  absoluter  Bestimmt- 
heit nicht  darzuthun  vermochte  (Referent  empfand  überall  auf  der 
Conjunctiva  bulbi  nicht  warm.  Vergl.  oben  die  NAOBLSchen  Angaben), 
so  vermutet  Verfasser  hier  individuelle  Verschiedenheiten.  (Jedenfalls 
dürfte  das  Fehlen  der  Warmempfindung  an  dieser  Stelle  ein  bedeutsames 
Argument  für  die  Annahme  getrennter  nervöser  Apparate  för  diese 
beiden  Empfindungsqualitäten  sein.  Bef.)  Als  paradoxe  Kaltempfindung 
bezeichnet  yov  Frey  die  Erscheinung,  dafs  Kaltpunkte  durch  Beissung 
mit  einem  erwärmten  Cylinder  erst  bei  Temperaturen  von  über  40  bis 
45^  C.  mit  der  ihnen  spezifischen  Empfindung  tmd  sodann  nicht  bei 
direkter,  sondern  nur  bei  etwas  seitlicher  Berührung  ansprechen.  Da 
TON  Fbey  selber  bemerkt,  dafs  die  ^paradoxe  Erregung  der  Kaltpunkte 
„nicht  zu  den  leicht  beobachtbaren  Erscheinungen  gehört^,  so  bedarf 
diese  Beobachtung  noch  einer  sorgfältigen  Nachprüfung  und  Bestätigung. 

In  einer  längeren  Anmerkung  sind  die  von  Naobl  gegen  des  Ver- 
fassers Methode  zur  Bestimmung  des  Unterschiedes  von  Druck-  und 
Schmerzpunkten  erhobenen  Einwürfe  diskutiert.  Verfasser  schreibt: 
„Wenn  Herr  Naoel  sagt,  dafs  Beizhaare  ungleichen  Druckes,  aber 
gleicher  Kraft  gleich  empfunden  werden,  so  ist  dieser  Satz  oder  dessen 
Umkehrung  in  solcher  Allgemeinheit  hingestellt  ebenso  unrichtig,  wie 
es  sein  Gegenteil  sein  würde.  Wie  die  vorstehenden  Erörterungen 
zeigen,  hängt  der  Erfolg  durchaus  ab  von  den  speziellen  Versuchs- 
bedingungen (Kraft  und  Querschnitt  der  Beizhaare,  gereizte  Hautstelle, 
Art  der  Sinnespunkte,  ob  Schwellenreize  etc.),  welche  bekannt  sein 
müssen,  wenn  die  Ergebnisse  in  irgend  einer  Bichtung  verwertbar  sein 
sollen.*' 

Im  weiteren  Verlaufe  seiner  Mitteilungen  präzisiert  Verfasser  noch- 
mals den  Ausdruck  „Druckempfindung^,  veranlafst  durch  die  Aussagen 
mancher  Personen,  die  auch  auf  den  Schmerzpunkten  Berührung  wahr- 


Litteraturherichi .  1 39 

zunehmeD  behaupteten.  Bei  erneuter  Prüfung  der  Druckpunkte  erwies 
sich  auch  der  konstante  Strom  im  obigen  Sinne  wirksam,  namentlich 
rief  derselbe  auf  der  Lippenschleimhaut  die  dieser  Hautstelle  eigen- 
tümliche intermittierende  Empfindung  hervor.  Zum  Verständnisse  der 
▼ON  FfiBYSchen  Unterscheidung  von  Druck-  und  Schmerzpunkten  ist  das 
Auseinanderhalten  der  von  ihm  angegebenen  Charakteristika  für  beide 
Arten  von  Punkten  unerlälslich.  Wenn  aber  eine  Anzahl  von  Personen, 
zu  denen  Beferent  selbst  gehört  (vergl.  auch  Nagel),  neben  diesen  beiden 
Empfindungsqualitftten  noch  eine  dritte  Art  von  Empfindungen  unter- 
schieden und  diese  als  Berührungsempfindung  bezeichneten,  so  liegt  auf 
der  Hand,  dals  auch  diese  letztere  einer  genaueren  Präzisierung  bedarf. 
Es  kann  deswegen  nicht  genügen,  wenn  Verfasser  es  in  jedermanns  Be- 
lieben stellt,  „was  er  unter  einer  Berührungsempfindung  verstehen  will.'' 
Referent  fügt  hinzu,  dafs  er  an  jeder  Stelle  des  Körpers  Berührungs- 
empfindungen beobachten  kann,  auch  an  den  Temperaturpunkten,  wenn- 
gleich dieselbe  hier  durch  die  spezifische  Empfindung  übertönt  werden 
und  erst  zur  Wahrnehmung  gelangen  kann,  wenn  die  letztere  erblafst 
oder  aber  die  betreffenden  Punkte  bereits  in  das  Stadium  der  sog.  Er- 
müdung getreten  sind.  In  keinem  Falle  dürfte  aber  wohl,  wie  dem 
Referenten  scheint,  die  einmal  im  Goldscheidbb-yon  FsBTSchen  Sinne  als 
„körniges Gefühl,  „ intermittierende,  schwirrende  Empfindung^  bezeichnete 
Druckempfindung  mit  der  mehr  diffusen,  obwohl  darum  nicht  schlecht  lokali- 
sierten Berührungsempfindung  ohne  weiteres  identifiziert  werden.  Kann 
im  physikalischen  Sinne  jede  Affektion  der  Hautoberfläche  durch  äufsere 
Reize  als  Berührung  bezeichnet  werden,  so  erfordert  doch  die  psycho- 
logische Analyse  eine  letzte  konsequente  Durchführung  der  begrifflichen 
Fixierung  der  durch  jene  Reizung  hervorgerufenen  Empfindungsinhalte. 
Eine  eingehende  Berücksichtigung  widmete  der  Verfasser  der  Unter- 
suchung des  männlichen  Gliedes.  Dam  ach  fehlen  an  der  Glans  penis  die 
Druckpunkte.  „Der  seinerzeit  bestimmte  Schwellenwert  ist  die  Schmerz- 
schwelle.'' Die  Übrige  Haut  des  Gliedes  besitzt  neben  Schmerzpunkten 
auch  Druckpunkte.  Reich  an  Druckpunkten  ist  das  Frenulum.  Die 
Untersuchung  der  Temperaturempfindungen  ergab  hier  mit  Bezug  auf 
die  Verteilung  der  Temperaturpunkte  ein  Anwachsen  derselben  von  der 
Wurzel  nach  dem  Rande  der  Vorhaut  hin.  Eichelhals  und  Cornea 
glandis  gehören  zu  den  temperatur empfindlichsten  Stellen  des  mensch- 
lichen Körpers.  „Der  Temperatursinn  der  Eichel  ist  vorwiegend  Kälte- 
sinn, neben  dem  Reichtum  an  Kaltpunkten  fällt  auf  die  Intensität 
der  Empfindung,  die  sie  auszulösen  im  stände  sind.  Von  dem  Eichel- 
wulst gegen  die  Mündung  der  Harnröhre  nimmt  die  Empfindlichkeit  für 
Temperaturen  rasch  ab,  um  in  der  Mitte  zwischen  beiden  Orten  nahezu 
Null  zu  werden.''  Verfasser  bezieht  auf  die  letzte  Beobachtung  die  An- 
gabe Dkssoirs,  wonach  die  Eichel  temperaturempfindlich  sei.  In  hervor- 
ragender Weise  zeigten  die  Kältepunkte  der  Eichel  die  Fähigkeit  der 
paradoxen  Erregung.  „Brennend  heiTse  Gegenstände  werden  intensiv 
kalt  und  zugleich  schmerzhaft  brennend  empfunden.  Nur  in  der  Gegend 
der  Hamröhrenmündung  läfst  sich  auch  bei  Flächenreizung  (fiächen- 
hafte  Berührung   mit   erwärmten  Metallstäbchen  wurde   an  der  Eichel 


140  Litteraturbericht 

meist  kalt  empfunden)  Wärmeempfindung  auslösen/^  In  der  Kollmakv- 
sehen  Poliklinik  konnte  Verfasser  diese  Beobachtung  an  13  Versuchs- 
personen in  zehn  Fällen  mit  positivem  Besultate  nachprüfen.  ^Beizung 
der  Druckpunkte  des  Gliedes  kann  mit  wollüstigen  Empfindungen  ver- 
k]](äpft  sein.''  Je  nachdem  die  besprochenen  , Sinnespunkte''  auf  der 
Körperoberflftche  vereinzelt  oder  in  Kombinationen  vorkommen,  unter- 
scheidet Verfasser  Unionen,  Binionen  und  Temionen.  Die  Union  be- 
zeichnet ausschliefslich  schmerzempfindende  Orte  (Cornea,  Zähne),  zu  den 
Binionen  gehören  sowohl  Orte  mit  Schmerz-  und  Temperaturempfindung 
(Bandteil  der  Cornea,  Conjunctiva,  Glans  penis),  als  auch  solche  mit 
Druck-  und  Temperatursinn  (Mundhöhle  mit  wesentlichen  Ein- 
schränkungen). Das  Temion  (Temperatur-,  Druck-  und  Schmerz- 
empfindung) findet  sich  auf  allen  übrigen  Gebieten  der  Körperoberfläche. 
Indem  Verfasser  am  Schlüsse  der  Abhandlung  noch  die  Frage 
erwägt,  welches  die  noch  gänzlich  unbekannten  Organe  der  Temperatur- 
empfindungen sein  könnten,  gelangt  er  auf  Grund  histologischer  Unter- 
suchungen dazu,  die  letzteren  zu  den  sog.  KaAussschen  Endkolben  und 
den  von  Burpivi  beschriebenen  Körperchen  in  Beziehung  zu  setzen. 
Danach  sind  die  Endkolben  „wahrscheinlich  die  Organe  der  Kalt- 
empfindung."  Ebenso  scheint  dem  Verfasser  „eine  Beziehung  der  Endi- 
gungen BuFFiNis  zum  Wärmesinn  einigermafsen  wahrscheinlich.*'  Doch 
will  Verfasser  diese  Mitteilung  nur  als  eine  vorläufige  Vermutung  auf- 
gefafst  wissen  und  macht  die  letzte  Entscheidung  dieser  Frage  von 
weiteren  Untersuchungen  abhängig,  mit  denen  er  gegenwärtig  noch 
beschäftigt  ist.  Friedk.  Kibbow  (Leipzig). 


Herbebt  Nichols.  Onr  notions  of  nnmber  and  space.  Boston.  Ginn  & 
Comp.  1894.  VI  u.  201  S. 
Nichols  macht  eine  grofse  Anzahl  von  Experimenten  auf  dem  Gebiete 
des  Tastsinns.  Er  läfst  bei  in  gerader  Linie  angeordneten  Spitzen  die 
Zahl  der  Punkte  und  ihre  Entfernung,  bei  in  Dreiecken  und  Quadraten 
angeordneten  aufserdem  noch  die  Figur  beurteilen.  Die  Gröfse  der 
geraden  Linien  war  1 — 3  (beim  Unterleib  —5)  cm,  die  Zahl  der  Spitzen 
2 — 5  (beim  Unterleib  — 7),  bei  den  Figuren  war  die  Seitenlänge  so  groXs 
wie  diese  Distanzen,  die  Punktzahlen  bei  Dreiecken  3,  4,  6,  7,  bei  Qua- 
draten 4,  5,  8,  9.  Daneben  machte  er  Versuche  mit  Kanten,  hohlen  und 
massiven  Dreiecken,  Quadraten  und  Kreisen.  Es  wurden  vier  Versuchs- 
personen an  Zunge,  Stirn,  Unterarm  und  Unterleib  untersucht.  Die 
Apparate  wurden  meist  auf  der  Haut  hin-  und  hergeschoben;  nur  in 
einigen  Beihen  wurden  sie  dreimal  auf  dieselbe  Stelle  aufgesetzt.  Femer 
wurden  auch  Figuren  durch  einen  bewegten  Stift  auf  die  Haut  gezeichnet 
und  dabei  Druckstärke  und  Schnelligkeit  der  Bewegung  in  allerdings 
nicht  genau  kontrollierter  Weise  verändert. 

Leider  scheint  die  Verteilxmg  der  Versuche  auf  die  einzelnen  Tage 
nicht  in  der  sonst  (seit  Fechner)  üblichen  Weise  reguliert  worden  zu 
sein.    Daher  sind  die  Einflüsse  der  Übung,  Ermüdung,  Einstellung  nicht 


Liäeraiurbericht  141 

zu  beurteilen.  Die  zur  Kontrolle  der  Übung  angestellte  Wiederholung 
einer  Versuchsreihe  kann  dafür  nicht  entschädigen.  Zu  bedauern  ist 
auch,  daüs  die  individuellen  Differenzen  der  Beobachter  und  ihre  Selbst>- 
wahrnehmungen  während  der  Versuche  nicht  berüchsichtigt  worden  sind. 
Bei  der  Berechnung  der  Versuchsergebnisse  ist  ein  etwas  sonderbares 
Verfahren  eingeschlagen  worden.  Es  wird  jedesmal  die  Zahl  der  auf 
100  kommenden  richtigen  Fälle  und  die  procentual  berechnete  Fehler- 
gröfse  (nach  algebraischer  Summe,  also  der  konstante  Fehler)  mitgeteilt. 
Die  mittlere  V^ariation  wird  nirgends  angegeben,  von  genaueren  Mit- 
teilungen über  Fehlerverteilung  etc.  ist  erst  recht  keine  Bede.  Es  fehlt 
also  vollständig  an  einem  Mafsstabe  für  die  G-enauigkeit  der  Urteile. 
Denn  die  Zahl  der  richtigen  Fälle  kann  als  solcher  Mafsstab  nur  dienen, 
&lls  als  Antwort  lediglich  „ja*'  oder  „nein"",  lesp.  „gröfser**,  „kleiner'', 
„gleich''  gefordert  wird,  nicht  aber,  wie  hier,  eine  Zahlangabe.  Zu  allen 
diesen  Miüsständen  gesellt  sich  bei  der  Beurteilung  der  Distanzen  noch 
ein  anderer,  dessen  der  Verfasser  nirgends  Erwähnung  thut.  Er  läist  die 
Distanzen  in  Gentimetem  abschätzen.  Nun  sind  wir  an  Distanzschätzungen 
auf  der  Haut  gar  nicht,  am  wenigsten  aber  in  exaktem  Maise  gewöhnt. 
Es  muTs  also  hier  eine  Dressur  der  Versuchspersonen  stattgefunden 
haben ;  eine  solche  ist  an  sich  gewifs  nicht  verwerflich,  mufs  aber  jeden- 
falls nach  Art,  Ausdehnung  und  Wirkung  genau  mitgeteilt  und  kon- 
troUiert  werden.  Dies  unterbleibt  hier  völlig.  Von  den  methodologischen 
Bedenken  gegen  Distanzurteile  in  exaktem  Maise  überhaupt  sei  hierbei 
abgesehen. 

Trotz  alledem  ergeben  sich  aus  den  Tabellen  eine  Anzahl  von  inter- 
essanten Beziehungen.    Die  wichtigsten  derselben  sind: 

Je  länger  die  Distanz,  desto  genauer  sind  die  Urteile.  Es  ist  dabei 
nicht  zu  übersehen,  in  wie  engen  Grenzen  der  Verfasser  dieses  G-esetz 
erwiesen  hat.    Bei  gröfseren  Distanzen  würde  es  wohl  umschlagen. 

Bei  kleineren  Distanzen  wird  die  Zahl  der  Punkte  stärker  über- 
sehätzt. NiCHOLS  schiebt  dies  darauf,  daüs  die  Unsicherheit  vergröisert, 
daher  eine  Tendenz  zu  allen  möglichen  Urteilen,  auch  zu  solchen,  die, 
wie  der  Beobachter  weifs,  nicht  möglich  sind,  hevorgerufen  wird.  Dies 
bedingt  die  Tendenz  zu  den  höchsten  möglichen  Urteilen.  Mir  scheint 
diese  Erklärung  gekünstelt.  Sollte  es  sich  nicht  vielleicht  einfach  darum 
handeln,  dafs  der  Eindruck  dem  kontinuierlichen  genähert  erscheint, 
also  die  Punktzahl  höher  geschätzt  wird? 

Je  gröXser  die  Zahl  der  Spitzen  ist,  um  so  höher  wird  die  Distanz 
geschätzt.  Die  Zahl  der  Punkte  wird  bei  Dreiecken  und  Quadraten 
besser  geschätzt,  als  bei  geraden  Linien.  Dreiecke  werden  kleiner  als 
Kreise,  diese  kleiner  als  Quadrate  beurteilt.  Bei  mit  einem  Stifte  auf 
die  Haut  gezeichneten  Figuren  sind  die  Urteile  bei  leichter  und  schneller 
Führung  kürzer,  als  bei  schwerer  und  langsamer. 

Am  Schlüsse  des  Buches  (S.  156—176)  werden  noch  zwei  Experimental- 
reihen  mitgeteilt.  In  der  einen  werden  stets  zwei  Nadeln  in  wechselndem 
(von  sebr  kleinem  ansteigenden)  Abstände  angewendet;  dazwischen  dann 
gelegentlich  eine  einzelne  Nadel,  von  deren  Vorhandensein  der  Beob- 
achter  keine  Kenntnis   hat.    Er   glaubt   nun   statt  einer  Nadel  zwei  zu 


142  Litteraturhericht 

empfinden,   und  giebt   denselben   bestimmte   Richtung  und  Entfernung 
Die  Entfernung  wechselt  mit   der  Hautstelle   und  entspricht  etwa  dem 
Schwellenwerte.    Es   handelt  sich   hier  um  einen  Fall  von  Suggestions- 
wirkung.   Wichtiger   erscheint   der  letzte  Versuch,   der  leider  nicht  ge- 
nügend durchgeführt  ist.    Es  handelt  sich  um  Einübung  falscher  Baum- 
Yorstellungen   auf  der  Haut  des  Unterleibs.    Durch  einen  geschickt  er- 
dachten Apparat  wird  der  Beobachter  in  die  Täuschung  versetzt,   dafs 
ein    gereizter    Punkt   auf    der    Verbindungslinie    zweier   anderer    liegt, 
während  er  sich  in  Wahrheit  3  cm  von  derselben  entfernt  befindet.  ,  Die 
Täuschung  gelang  gut.    Leider  sind  die  Distanzen  im  Vergleich  zu  den 
Schwellenwerten  zu  klein,  als  dafs  der  Versuch  beweiskräftig  sein  könnte. 
Der  Verfasser  hat  sich  nun  aber  nicht  damit  begnügt,  die  Resultate 
seiner  Versuche   mitzuteilen,   er   benutzt   dieselben   vielmehr   als   Beleg 
einer  umfassenden  Theorie.    Diese  Seite  der  Arbeit  ist  es,  welche   den 
allgemein   gehaltenen   Titel   rechtfertigt.    Es  erischeint  von   vornherein 
als   ein   verfehltes  unternehmen,   eine  Theorie   der  Zahl-  und   Distanz- 
schätzung auf  Versuche  mit  passiv  empfangenen  Hauteindrücken  zu  be- 
gründen.   Wie   unklar   auch    dies   ganze  Gebiet  noch   sein  mag,   daran 
jedenfalls  zweifelt  kein  Urteilsfähiger  mehr,  dafs  Wahrnehmungen  von 
Entfernungen  auf  der  Hautoberfläche  eine  ungemein  geringe  und  sekun- 
däre Bolle  spielen.   Für  den  Sehenden  ist  dies  eigentlich  selbstverständlich. 
Für   die  Blinden   sei   auf  die  Forschungen  TTTaT.T.Tg«g   verwiesen.    {Phikm. 
Stud,  11.  Bd.)    Nach  denselben  tastet  der  Blinde  fast  durchweg  mit  be- 
wegter Hand,  und  wenn  er  beim  sog.  synthetischen  Tasten  das  ruhende 
Glied  benutzt,  so  scheinen  ihn  mehr  die  Gelenk-,  als  die  Hautempfindungen 
zu  leiten.    Da  es  also  keinen  Sinn  hat,  über  imsere  Begriffe  von  Baum 
und   Zahl   durch   die   trotz   aller  Mängel   verdienstlichen  Versuche    des 
Verfassers   etwas   entscheiden   zu   wollen,    kann   man   sich   bei   der  Be- 
sprechung der  Theorie  kurz  fassen.     Die  Grundvoraussetzung  derselben 
ist,  dafs  alle  gleichzeitigen  Eindrücke  ununterscheidbar  zusammenfli eisen, 
wenn   sie   nicht   bereits  vorher   zeitlich  getrennt  erfahren  worden  sind. 
Diese  vielverbreitete  Ansicht  empfiehlt  sich  durch  ihre  Einfachheit,    ist 
aber   ganz   willkürlich.     Zeitlich   getrennte  Beize   geben   nun   die  Vor- 
stellung der  Zahl,  zeitlich  kontinuierlich  verlaufende  die  der  Distanz.   Diese 
eigentlich  zeitlich  aufeinanderfolgenden  Beizen  entnommenen  Kategorien 
werden   dann   auf  gleichzeitige   übertragen.    Wenn  zwei  Punkte  häufig 
getrennt   nacheinander   gereizt  worden   sind,   erweckt  ihre  gleichzeitige 
Beizung  die  Vorstellung  der  Zweiheit.   Alle  Schätzung  von  Distanzen  auf 
der  Haut  ist  eigentlich  eine  Schätzung  von  Bewegungszeiten,  wobei  aber 
dies  Mittelglied  nicht  benutzt  ist.    Dafs  bei  Beizung  von  zwei  isolierten 
Punkten  die  grade  Verbindungslinie  geschätzt  wird,  beruht  darauf,  dals 
weitaus  am  häufigsten  entlang  dieser  Linie  die  Bewegung  verlief.    Voraus- 
setzung dieser  ganzen  Konstruktion  ist,  dafs  die  Strecke  zwischen  zwei 
beliebigen  Punkten,  z,  B.  der  Stirn  oder  des  Unterleibs,  sehr  häufig  mit 
voller  Aufmerksamkeit  auf  die  Bewegungszeit  zurückgelegt  worden  ist. 
Wenn  Nichols  dies  an  sich  erfahren  (nicht  etwa  seiner  Theorie  wegen 
konstruiert)  hat,  so  wäre  er  eine  psychologische  Merkwürdigkeit. 

Die  einzelnen  Versuchsergebnisse  werden  nun  nach  dieser  Theorie 


Litteraturbericht  143 

erklärt.  Dafs  sie  sich  mit  mehr  oder  weniger  Zwang  mit  derselben  ver- 
einigen lassen,  mag  zugegeben  werden.  Beweisend  würden  sie  nur  dann 
sein,  wenn  ihre  Unvereinbarkeit  mit  jeder  anderen  Theorie  naohgewiesen 
wftre,  oder  wenn  wenigstens  gezeigt  würde,  dafs  nach  der  angenommenen 
Theorie  gerade  nur  diese  Ergebnisse  zu  erwarten  wären.  Im  letEsteren 
Falle  könnte  man  wenigstens  von  einer  wahrscheinlichen  und  zweck- 
mftfsigen  Hypothese  reden.    Beides  ist  hier  unterlassen. 

J.  GoHü  (Berlin). 

A.  BiNBT.     Reverse   lUoBions    of    Orientation.     (Le    renversement    de 
Torientation.)    JP^ychol  Bev.   I,  4.  S.  837—860.   (1894.) 

Der  Artikel  liefert  einen  Beitrag  zur  Psychologie  der  räumlichen 
Orientierung,  indem  er  Täuschungen,  die  bei  derselben  bisweilen  auf- 
treten, mitteilt  und  einer  kurzen  Besprechung  unterzieht. 

Der  Verfasser  hält  nämlich  drei  verschiedene  Orientierungszustände 
auseinander:  1.  Jemand  ist  im  Besitze  eines  Orientierungssystems;  neu 
sich  darbietende  Anhaltspunkte  bestätigen  und  befestigen  es.  2.  Jemand 
ist  über  die  Lage  verschiedener  ihm  bekannter,  aber  gegenwärtig  seiner 
Wahrnehmung  entzogener  Objekte  augenblicklich  ganz  im  unklaren; 
ein  etwa  sich  darbietender  Anhaltspunkt  wird  aufgegriffen  und  führt 
völlige  Orientierung  herbei.  3.  Jemand  nimmt  einen  Anhaltspunkt  wahr 
und  findet  ihn  im  Widerspruch  mit  seinem  bisher  festgehaltenen 
Orientierungssystem.  Aber  das  falsche  System,  obwohl  als  solches 
erkannt,  behauptet  sich  noch  einige  Zeit  mit  mehr  oder  weniger  Hart- 
näckigkeit. 

Diesen  letzten  Fall,  den  eigentlichen  Gegenstand  des  Artikels,  glaubt 
nun  der  Verfasser  für  einen  besonders  merkwürdigen  psychischen  That- 
bestand  halten  zu  müssen.  Er  hat  bei  an  wissenschaftliche  Beobachtung 
gewohnten  Männern  nach  derartigen  Erfahrungen  Umfrage  gehalten  und 
teilt  nun  eine  ziemliche  Beihe  solcher  Fälle  von  „renversement", 
„reversal  of  orientation"  ausführlich  mit.  So  erzählt  er  z.  B.  von  einem 
seiner  häufigen  Kreuz-  und  Quergänge  in  den  Sälen  und  Halleü  des 
Louvre:  „ . . .  Ich  näherte  mich  dem  Fenster  in  der  Absicht,  einen  Augen- 
blick auf  den  Quai  zu  sehen,  und  da  hatte  ich  plötzlich  das  Gefahl  von 
„reversal".  Ich  sah  die  Seine  vor  mir  von  links  nach  rechts  fliefsen; 
aber  das  schien  mir  ganz  verkehrt,  denn  in  der  Stellung,  In  der  ich 
mich  selbst  befand,  sollte  die  Seine,  wie  ich  dachte,  in  der  entgegen- 
gesetzten Richtung  fliefsen:  die  Landschaft  schien  umgedreht  zu  sein." 
Dabei  stellte  sich  —  auch  nach  dem  Zeugnisse  der  meisten  anderen 
Berichterstatter  -—  ein  höchst  peinliches  GefQhl  ein,  man  sei  ganz 
verwirrt,  könne  sich  kaum  zurechtfinden  und  die  doch  greifbare  Wahr- 
nehmung nur  schwer  verstehen.  Beaumis  teilt  mit,  dafs  er  gelegentlich 
seiner  wiederholten  Eisenbahnfahrten  von  Paris  nach  Nancy  bei  der 
Annäherung  an  letztere  Station  jedesmal  plötzlich  die  Empfindung  hatte, 
als  müsse  sich  die  Fahrtrichtung  in  die  entgegengesetzte  geändert  haben. 
Ein  anderer  Gewährsmann  besteigt  das  Dampf  boot,  um  ^iach  Auteuil  zu 
fahren,  und  ist  nun  über  die  Bichtung,  in  der  an  ihm  —  das  Boot  hatte 
sich,   ohne   dafs   er   daran   dachte,   gewendet  —  die   Gebäude   am   IJfer 


X44  lAtteratwrbericht 

vocfiberkommeiif  erstaunt  und  verblüfft,  obwohl  er  g;anz  gut  weiis,  dafis 
es  bei  dieser  Fahrt  nicht  anders  sein  kOnne.  Und  so  dasselbe  bei  den 
verschiedensten  Gelegenheiten:  beim  Erwachen  am  Morgen,  beim  Ver- 
lassen oder  Besteigen  des  Eisenbahnzuges,  bei  Omnibusfahrten,  bei  Kreuz* 
und  Quergängen  durch  wohlbekannte  StraTsen  der  Stadt  u.  s.  w. 

Nach  einer  zusammenfassenden  Übersicht  über  die  mitgeteilten 
Beobachtungen ,  in  der  besonders  auf  die  Mitwirkung  sowohl  bewuister 
als  unbewuTster  Urteile  hingewiesen  wird,  beschliefst  Binbt  seine  Aus- 
führungen mit  der  Bemerkung,  dafs  dieses  interessante  Phänomen,  be- 
sonders nach  der  Frage,  ob  ihm  nicht  eine  teilweise  Störung  eines  Sinnes- 
organes, möglicherweise  der  halbzirkelfbrmigen  Kanäle,  zu  Ghrunde  liege» 
weiterer  Untersuchung  bedürfe.  Witabbc  (Graz). 

Alexander  F.  Shakd.  An  aBAlysis  of  attention.  Mind.  N.  S.  III.  S.  449—474* 
(1894). 
Verfasser  glaubt,  in  vorliegender  Arbeit  eine  Zweideutigkeit  in  den 
heutigen  psychologischen  Theorien  der  Aufmerksamkeit  aufzuzeigen, 
welche  das  Objekt  der  Aufmerksamkeit  häufig  mit  dieser  selbst  ver- 
wechselten, welche  sich  durch  verkehrte  Selbstbeobachtung  verleiten 
liefsen,  ein  Anwachsen  der  Vorstellungen  und  Empfindungen  an  Intensität 
und  Klarheit  durch  die  Aufmerksamkeit  konstatieren  zu  wollen  u.  dergl. 
Nicht  die  Vorstellungen  würden  klarer  bei  darauf  gerichteter  Aufmerk- 
samkeit, sondern  unser  Bewufstsein  von  ihnen,  und  eben  dieses  letztere 
sei  die  Aufmerksamkeit,  die  in  sich  die  Apperzeption  umfasse.  Nach 
einer  gegen  Lotze,  Wundt  und  Ward  gerichteten  Polemik  faTst  Shand 
zum  SchluTs  seinen  Standpunkt,  wie  folgt,  zusammen:  „Drei  Sätze  müssen", 
sagt  er,  „über  alle  erörterten  Nebenergebnisse  gestellt  werden.  Der  erste, 
dalis  die  überwiegende  Klarheit,  in  welcher  die  Aufmerksamkeit  besteht, 
nicht  allgemein  zu  finden  ist  in  der  Klarheit  der  Vorstellungen  oder 
Empfindungen,  auf  welche  aufgemerkt  wird,  noch  in  dem  Prozesse, 
welcher  diese  Klarheit  bewirkt.  Der  zweite  ist  der,  dafs  sie  allein  zu 
finden  ist  in  unserem  Bewufstsein  davon,  als  einem  Zusatzbestandteil,  der 
nicht  identisch  ist  mit  den  Vorstellungen  und  sich  nicht  darin  auflösen 
oder  davon  abstrahieren  läfst.  Der  dritte  Satz  besagt,  dafs  dieser  Be- 
standteil in  jedem  Augenblick,  in  dem  er  wirklich  und  thätig  ist|  auch 
ganz  direkt  gefühlt  und  erfahren  wird,  wie  eine  Sinnesempfindung." 

A.  PiLZBCKSB  (Göttingen). 

KiRKPATBicK.  An  experimental  study  of  momory.  Ps^fcM.  JBev.  L  S.  602 
bis  609.  (1894). 
Die  in  pädagogischer  Hinsicht  nicht  uninteressanten,  an  Schul- 
kindern verschiedener  Stufen  angestellten  Versuche  ergaben,  dafs  die 
Namen  gesehener  Objekte  besser  im  Gedächtnis  aufbewahrt  werden,  als 
geschriebene  Namen,  letztere  besser  als  nur  gehörte  Namen.  Worte,  die 
eine  einfache,  dem  Gesichtssinn  angehörende  Vorstellung  erwecken, 
haften  besser,  als  die  dem  Gebiete  der  Gehörsvorstellungen  entnommenen 
Namen,  und  ebenso  besser,  als  Namen  von  gewöhnlichen,  möglichst  deutlich 
vorgestellten   konkreten   Dingen.     Wichtig   ist  das  Ergebnis   der   nach 


Litteraturbericht  145 

drei  Tagen  yorgenommenen  Gedächtnisprüf ung:  von  den  durch  Klang- 
bild oder  Schriftbild  bewirkten  Eindrücken  haftete  nur  noch  der  siebente 
Teil  dessen,  was  durch  das  Vorzeigen  der  Gegenstände  selbst  ins  Ge- 
dächtnis aufgenommen  worden  war. 

Einige  zum  SchluTs  angestellte  Versuche  über  das  Wiedererkennen 
führten  Verfasser  zu  dem  Besultat,  die  Fähigkeit  des  Wiedererkennens 
ftLr  den  Durchschnittsschüler  als  doppelt  so  grofs  anzunehmen,  wie  die 
des  Wiedererinnems.  A.  Pilzeckeb  (GOttingen). 


A.  C.  Abmstbono  jr.  The  Imagery  of  American  Stadents.  (With  the 
assistance  of  Mr.  C.  H.  Judd.)  PsychoL  Bev,  I.  5.  S.  496  — 605.  (1894.). 
Verfasser  unterzog  die  von  Fbancis  Galton  in  seinem  Buche  „In- 
quiries  mto  Human  Facidtt/^  über  die  Fähigkeit  der  Visual  isation  bei  ver- 
schiedenen Personen  veröffentlichten  Untersuchungen  einer  Nachprüfung 
an  amerikanischen  Studenten,  welche  in  der  letzten  Hälfte  ihrer  Studien- 
zeit standen  und  durchschnittlich  20 — 22  Jahre  alt  waren.  Wie  die  sta- 
tistische Methode  Galtoks  im  allgemeinen  verwandte  Armstrong  auch 
die  von  diesem  aufgesteUten  und  in  genanntem  Werke  mitgeteilten  Fragen. 
Aufserdem  verwertete  Verfasser  eine  Beihe  von  Besultaten,  welche  Prof. 
H.  F.  OsBORN,  Columbia  College,  in  gleichem  Sinne  gesammelt  und  ihm 
für  seinen  Zweck  überlassen  hatte.  Unter  eingehenderer  Erörterung 
derjenigen  Besultate,  die  sich  auf  die  GALTONSchen  Fragen  1—6,  sowie 
9  und  10  beziehen,  teilt  Verfasser  mit,  dafs  er  die  als  bekannt  voraus- 
zusetzenden Ergebnisse  Galtons  bestätigt  fand,  und  fügt  nur  hinzu,  dafs 
er  aufser  dem  auffallenden  Einflüsse,  den  die  Aufmerksamkeit  in  ihren 
verschiedenen  Stadien  auf  die  Visualisation  ausübte,  aus  seinen  Besul- 
taten  erkannte,  dais  diese  Fähigkeit  bei  seinen  Versuchspersonen  in 
stärkerem  Grade  entwickelt  war  als  bei  denjenigen,  an  denen  Galton 
seine  Beobachtungen  anstellte.  A.  scheint  geneigt,  anzunehmen,  dafs 
eine  gröfsere  Befähigung,  in  mehr  abstrakten  Formen  zu  denken,  eine 
Verringerung  des  Visualisationsvermögens  bedinge,  und  dafs  das  letztere 
aus  dem  gleichen  Grunde  mit  zunehmendem  Alter  eine  Abschwächung 
erfahren  könne.  Wie  weit  die  gefundenen  individuellen  Unterschiede 
im  vorliegenden  Falle  auf  die  erstere  dieser  Vermutungen  zurückzu- 
führen sind,  konnte  aus  einem  Vergleiche  derselben  mit  der  nach  den 
Fähigkeiten  der  einzelnen  Versuchspersonen  geordneten  Bangliste  („ihe 
Standard  of  scholarsMp  as  tested  hy  coüege  gradea^)  nicht  mit  Sicherheit  ent- 
schieden werden.  Am  Schlüsse  der  Abhandlung  empfiehlt  Verfasser, 
anscheinend  aus  dem  gleichen  Interesse,  eine  Wiederholung  der  Unter- 
suchung an  weiblichen  Studenten.  Einige  in  dieser  Hinsicht  angestellte 
Vorversuche  rechtfertigten  die  Annahme,  dafs  die  Visualisationsfähigkeit 
bei  den  letzteren  stärker  entwickelt  ist  als  bei  Männern. 

Friedr.  Kiesow  (Leipzig). 

Albxiüs  Meinono.  Psychologisch-ethische  üntersnchimgen  zur  Wertlehre. 
Graz,  Leuschner  k  Lubensky,  1894.  232  S. 
Der  Titel  des  Buches  erweckt  falsche  Vorstellungen.    Unter  Wert- 
lehre versteht  man  nach  dem  allgemeinen  Sprachgebrauche  die  Unter- 

ZeiUchiift  fär  Psychologie  Z.  10 


146  Litteraturbericht, 

suohung  der  ökonomischen  Werte.  Über  diese  aber  will  der  YerfEisser 
nicht  handeln,  sondern  nur  die  psychologische  Seite  aller  Werte,  dann 
die  ethische  betrachten. 

Es  wird  zunächst  festgestellt,  dafs  die  ^^Nützlichkeit"  den  Wert 
nicht  bestimmt,  sondern  umgekehrt  von  ihm  bestimmt  wird.  Auch  das 
Begehren  findet  den  Wert  schon  vor,  schafft  ihn  nicht.  Bleibt  also  nur 
das  Gefühl  als  Quelle  des  Wertes  übrig.  Alle  Wertgefühle  sind  Ezistenz- 
gefühle,  beziehen  sich  nicht  auf  Erdichtetes.  Dadurch  werden  die 
ästhetischen  Gefühle  und,  wie  sich  aus  einem  späteren  Abschnitte  zeigt, 
auch  alle  „WissensgefQhle^^  die  in  dem  Gefallen  am  logischen  Prozesse 
und  gewonnenen  Ergebnisse  bestehen,  von  der  vorliegenden  Untersuchung 
ausgeschlossen. 

Wo  das  Wertobjekt  nicht  \mmittelbar  das  Wertgefühl  verursacht, 
ist  ein  urteil  über  die  Existenz  des  Wertobjektes  Ursache  des  Wert- 
gefühles (S.  21);  dieses,  das  Haupturteil,  kann  durch  allerlei  Nebenurteile 
über  wertvolle  Beziehungen  des  Objektes  modifiziert  werden.  Auch  die 
Nichtexistenz  kann  Gegenstand  eines  Urteils  und  damit  Ursache  eines 
Gefühles  sein.  Da  der  Verfasser  die  physischen  Objekte  beiseite  lassen 
und  sich  auf  die  psychischen  Objekte  (?!)  beschränken  will,  die 
Wertgefühle  liefern  (S.  39),  so  kann  er  sagen  (S.  31):  Wertgefühle  sind 
Urteilsgefühle.    Das  sinnliche  Gefühl  ist  kein  Wertgefühl  (S.  40). 

Als  psychologische  Thatsachen  fallen  nun  die  Wertgefühle  xmter 
die  Kategorien:  „aktuell  und  dispositionell,  egoistisch,  altruistisch'', 
oder  sie  sind  zu  unterscheiden  nach  ihrem  Zusammenhange  mit  den  vier 
Klassen  der  psychischen  Thatsachen:  Vorstellen,  Urteilen,  Fühlen,  Be- 
gehren, und  nach  ihrer  Beziehung  auf  Gegenwärtiges  oder  Zukünftiges. 
Dabei  schreckt  der  Verfasser  sogar  vor  dem  Ausdrucke :  „GefühlsgefühP 
nicht  zurück.  Er  meint  damit  die  Gefühle,  die  in  uns  durch  Gefühle 
anderer  (z.  B.  ihr  Mitleid)  erweckt  werden. 

Von  allen  diesen  Momenten  hat  die  Unterscheidung  „egoistisch- 
altruistisch'' eine  spezielle  Wichtigkeit,  weil  sie  ethisch  bedeutsam  ist. 
M.  hat  sehr  recht,  wenn  er  die  Gefühle,  die  sich  auf  den  alter  beziehen, 
für  durchaus  nicht  mystisch  oder  wunderbar  hält,  sondern  es  für  not- 
wendig erachtet,  dafs  von  allen  Objekten  die  uns  ähnlichsten,  d.  h.  die 
anderen  Menschen  unser  Werthalten  besonders  auf  sich  lenken.  Er 
wendet  sich  mit  Recht  gegen  das  oberflächliche,  immer  noch  populäre 
Dogma,  es  gebe  im  Grunde  kein  anderes  als  egoistisches  Begehren,  und 
könne  keins  geben  (S.  42,  43,  96,  97). 

Es  ist  also  eine  psychologische  Thatsache,  nicht  wunderbarer  als 
alle  anderen,  dafs  unsere  WoUungsziele  entweder  positiv  altruistisch 
=  gut,  oder  negativ  altruistisch  =  böse,  oder  egoistisch  ==  moralisch 
indifferent  sind.  Aber  selten  sind  die  Ziele  so  rein  und  eindeutig 
bestimmt;  in  der  Regel  ist  mit  dem  einen  zugleich  ein  anderes,  oder  sind 
mehrere  andere  mit  ihm  verbunden.  Das  Faktische  sind  WoUungsbinome 
oder  -polynome,  die  man  auch,  da  jedes  bewufste  Wollen  von  einem 
Plane  ausgeht,  Projektbinome  oder  -polynome  nennen  kann.  Die  Binome, 
als  die  im  Leben  häufigste  Komplikation,  unterzieht  M.  einer  besonderen 
Untersuchung,  bei  der  er  algebraische  Symbolik  anwendet :  g  =  eigenes 


Litteraturhericht  147 

Gut,  y  =  fremdes  Gut,  u  =  eigenes  Übel,  v  =  fremdes  Übel.  Da  beide 
Paare  vom  egoistischen  (e,  17),  altruistischen  (a,  a)  oder  neutralen  (n,  y) 
Standpunkte  gewollt  werden  können,  so  ergeben  sich  zwölf  fundamentale 
moralische  Werte:  ge,  ga,  gn,  y^^  yn,  yy,  ue,  ua,  un,  vtj,  ««,  vy.  Die  häu- 
figsten Projektbinome  sind  yu,  d.  h.  der  Fall,  in  dem  ich  fremdes  Gut 
mit  eigenem  Übel  oder  Opfer  verbinden  mufs,  und  —gv^  d.h.  der  Fall, 
wo  ich,  um  ein  eignes  Gut  zu  erreichen,  ein  fremdes  Übel  herbeiführen 
muTs.     ( —  ist  Zeichen   des  Negativ  -  Altruistischen.)     Den   moralischen 

Wert  der  Wollung  des  nach  yu  Handelnden  erhält  man  =  C-^,    wobei 

C  9 die  unbekannte,  durch  die  Beschaffenheit  der  Einheiten  bedingte 
Proportionalitäts- Konstante"  bedeutet,  d.h.,  je  gröfser  das  meinerseits 
geopferte,  je  geringer  das  dem  anderen  dadurch  zu  teil  gewordene  Gut 
ist,   desto   höher   der   moralische  Wert  der  Handlung.    Für  — gv  erh&lt 

man  in  derselben  Weise  —  C  — .  d.  h.,  je  geringer  das  eigene  Interesse  ist, 

das  ich  nicht  zum  Opfer  bringe,  und  je  gröfser  das  fremde,  das  auf  dem 
Spiele  steht,  desto  gröfser  wird  der  Unwert  meiner  Handlung. 

Wenn  dem  Beferenten  noch  „die  durch  die  Beschaffenheit  der  Ein- 
heiten bedingten  unbekannten  Proportionalitäts-Konstanten"  neben  den 

Proportionen  —  und  ~  verständlich  sind,  da  qualitative  Unterschiede  darin 

stecken  können,  so  ist  ihm  doch   eine  weitere  Zugabe  unverständlich. 

Wenn  nämlich   in  der  obigen  Formel  W  (Wert)  =  C—  g  =^0  genonmien 

Y 

wird,  so  wird  der  Wert  =  0,  d.  h.,  wenn  ich  eines  anderen  Gut  ohne 
Opfer  meinerseits  fördere,  ist  die  Handlimg  nicht  verdienstlich;  dies  ist, 
wie  dem  Beferenten  scheint,  vollkonmien  richtig,  die  Handlung  kann 
physikalisch,  gewissermafsen  zufällig  verdienstlich  sein,  aber  nicht 
moralisch,  in  dem  Sinne,  wie  M.,  wesentlich  mit  Kant  übereinstimmend, 
die  Moralität  auffafst.  M.  aber  meint:  „bei  Einführxmg  der  Grenzwerte 
von  g  zeigen  sich  unsere  Formeln  in  ihrer  rechnerischen  Konsequenz  zu 
streng  . . .  und  wir  müssen  darauf  bedacht  sein,  sie  zu  mildem".  Die 
Milderung  geschieht  nxm,   indem   zu  g  ein  konstanter  Summand,   ein  c, 

hinzugefügt  wird,  so  dafs  wir  für  yu  erhalten:  W=^C- .    Wenn  dann 

Y 

1«,  das  erlittene  Übel,  und  also  auch  ^,  das  aufgegebene  Gut,  =  0  wird, 

ist    der   Wert    doch    immer    noch    C— :   ebenso  wird  die  zweite  Formel 

Y 
durch  ZufÜgung  von  c'  zu  g  „gemildert",  damit  nicht,  wer  selbst,  wo  er 

ohne  jedes  Opfer   seinerseits   es   könnte,   dem   anderen   nicht  hilft,   für 

unendlich  unmoralisch  erklärt  werde.    Diese  Erklärung  wäre  aber  nach 

des  Referenten  Ansicht  durchaus  berechtigt  und  im  Sinne  des  Verfassers 

konsequent.    Es  wäre  ein  Beispiel  dessen,   was  Kant  die  böse  Willkür 

nennt.    (Beligion  innerhalb  der  Grenzen  der  blofsen  Vernunft 

ed.  Ejbchmann,  S.  23.) 

Eine  weitere,   dem  Beferenten  willkürlich  scheinende  „Milderung" 

tritt   ein  für   den  Fall,   dafs  g^^y  angenonamen  wird  und   beide  mit- 


148  LUteraturbericht, 

einander  parallel  variieren,  so  dafs  in  der  ersten  Wertformel  herauskäme 

y  ~\~  c 
C^—^ — .    Aus   dieser  Formel   würde   dann   folgen:   je   gröfser   das   dem 

anderen  zugewendete  Gut  y^  desto  geringer  der  moralisclie  Wert  der 
Handlung.  Weil  dem  die  Erfahrung  widerspricht,  wird  auf  einmal  ein 
unbekanntes  und   durchaus  unbegründetes  k  als  Potenz-Exponent  für  g 

eingeführt  und  die  Wertformel  nochmals  umgeändert  in  C  . 

Y 

Was  würde  man  in  der  Physik  zu  einer  Formel  sagen,  die,  nachdem 
sie  auf  Grund  des  thatsächlichen  Verhaltens  aufgestellt  ist,  fortwährend 
fremder,  durch  nichts  begpihideter  Werte  als  neuer  Zusätze  bedürfte, 
um  die  Thatsachen  zu  decken?  Etwa,  wenn  die  Formel  der  lebendigen 
Kraft  =s=  )fnv'  plötzlich,  ohne  das  neue  Moment  zu  erklären,  in  )m^v* 
umgewandelt  würde?  Die  ersten  beiden  „Milderungen^  sind  überflüssig. 
Die  Werte  für  den  Grenzfall  (g  =  0)  scheinen  dem  Beferenten,  wie  schon 
bemerkt,  ganz  richtig.  Die  zweite  Milderung  durch  den  Exponenten  k 
ist  auch  überflüssig,  wenn  das  Binom  yu  konsequent  den  Sinn  behält, 
den  es  nach  der  ihm  zu  Grunde  gelegten  Wirklichkeit  hat,  nämlich: 
dafs  ein  fremdes  Gut  mit  eigenem  Übel  erkauft  wurde.  Dafs  g  =^Y^  ist 
dann  eine  unmögliche  Voraussetzung,  da  eben  nicht  g^  sondern  u  that- 
sächlich  vorhanden  ist,  und  y  nicht  =  ^,  sondern  =>  — g  etwa  gleich 
einem  Minus  eigenen  Gutes  sein  kann. 

In  analoger  Weise,  wie  die  Binome  yu  und  — gv^  werden  die  Binome 
gy  und  —  vu  behandelt. 

Das,  was  psychologisch  der  Wert-  oder  ünwertgröfse  entspricht,  ist 
die  Gesinnung,  das  Wohlwollen  oder  die  Gleichgültigkeit  des  Handelnden 
gegen  den  alter.  Neben  dem  Wohlwollen  wird,  wie  dem  Beferenten 
scheint,  ohne  genügende  Anknüpfung  auch  die  Gerechtigkeit  behandelt 
und  als  Anteilsgleichheit,  d.  h.  Gleichheit  des  Interesses  für  die  Fremden, 
bestimmt. 

Wer  ist  aber  das  Subjekt  der  Werthaltungen,  das  die  Werturteile 
ausspricht?  —  Nicht  ego,  noch  alter ^  die  handeln,  sondern  die  ganze 
umgebende  Gesamtheit.  Damit  erhalten  die  sittlichen  Handlungen  einen 
neuen  Wert,  als  Antriebe  zur  Nachahmung.  Dieser  ihr  „Wirkungswert** 
wird  auch  noch  zum  Teil  mit  algebraischen  Symbolen  behandelt.  Einen 
solchen  Wirkungswert  hat  auch  das  „Sollen^,  das,  gegenüber  dem 
„Dispositionswert"  der  Gesinnung  im  allgemeinen,  den  Aktualitätswert 
der  einzelnen  Wollung  bildet,  und  wird  von  diesem  Gesichtspunkte  aus, 
also  in  seiner  sozialen  Bedeutung,  beleuchtet. 

Von  der  Bestimmung  der  ethischen  Werte  und  Unwerte  gewinnt 
M.  die  Mittel,  um  das  Problem  der  Anrechnung  und  Zurechnung  zu 
lösen.  Die  Anrechnung  fragt,  wie  die  Gesinnung  des  Handelnden  be- 
schaffen, die  Zurechnung  fragt,  in  welchem  Mafse  die  Handlung  Ausdruck 
der  Gesinnung  war.  Mit  Becht  bemerkt  M.,  dafs  die  Freiheit  für  die 
Zurechnung  nicht  unentbehrlich  ist.  ),Wo  ein  Wertvolles  (ethische  Ge- 
sinnung) fehlt,  besteht  Mangel,  nicht  Freiheit."  Denn  die  metaphysische 
Willensfreiheit  hebt  zwar  das  „Ich  kann  nicht"  auf,  aber  damit  eigentlich 
auch  das  „Ich  kann".  Vorhanden  ist  nur  die  Freiheit,  die  man  besser 
Spontaneität  nennen  möchte,  nur  das  zu  thun,  was  den  Neigungen,  der 


Litteraturbericht  149 

Persönlichkeit  des  Handelnden  entspricht.  Das  Bewnfstsein  davon  ist 
von  hohem  ethischen  Werte. 

Ehensowenig,  wie  die  Zurechnung ,  glaubt  M.,  die  Allgemeinheit  der 
ethischen  Gesetze  aufgehen  zu  müssen.  Denn  das  eigentliche  Wert- 
subjekt, weil  Subjekt  der  Werthaltung,  ist  ja  die  umgebende  Gesamtheit. 
£s  giebt  keine  individuelle  Ethik,  nur  eine  soziale. 

Überblickt  man  den  Gang  der  Ausführungen  des  Verfassers,  so 
scheint  es,  als  habe  er  etwas  Ähnliches  geben  wollen,  wie  die  englischen 
Utilitarier  in  ihrem  „hedonistic  calculus''  gethan  haben.  Wie  diese 
eine  Schätzung  jeder  Handlung  nach  der  Summe  der  verursachten  Lust 
anstrebten,  so  verlangt  er  eine  Schätzung  des  moralischen  Wertes  nach 
dem  Mafse  des  Verzichtes  auf  Güter  und  der  Übernahme  von  Übeln. 
Vielleicht  meinte  er  dabei,  auch  heute  gelte  noch,  was  Kant  von  seiner 
Zeit  erzählt:  „Unter  allem  Bäsonnieren  ist  aber  keines,  was  mehr  den 
Beitritt  der  Personen,  die  sonst  bei  allem  Vernünfteln  bald  Langeweile 
haben,  erregt,  und  eine  gewisse  Lebhaftigkeit  in  die  Gesellschaft  bringt, 
als  das  über  den  sittlichen  Wert  dieser  oder  jener  Handlung,  dadurch 
der  Charakter  irgend  einer  Person  ausgemacht  werden  solP.  (Kant. 
Kritik  der  praktischen  Vemnuft  Herausgegeben  von  Kehrbaoh.   S.  183.) 

M.'s  Buch  ist  ein  erstmaliger  wissenschaftlicher  Versuch  der 
ethischen  Messung.  Aber  abgesehen  von  den  bedenklichen,  oben  erwähnten 
„Milderungen",  die  der  Verfasser  an  seinen  Formeln  vornimmt,  kann 
der  Referent  zweierlei  Wünsche  nicht  unterdrücken:  1.  fehlt  in  der 
psychologischen  Erklärung  des  Wertgefühles  die  Assoziation  als  mit- 
wirkender Faktor.  Wenn  M.  als  Beispiel  eines  wertvollen  Objektes 
anführt  den  „Brief  eines  verstorbenen  Freundes''  (S.  19),  so  konnte  ihn 
dieses  Beispiel  darauf  führen,  dafs  nicht  nur  das  Urteil,  sondern  auch  die 
Mitwirkung  der  in  verschiedenstem  Grade  bewuisten  assoziierten  Vor- 
stellungen den  affektiven  Wert  erzeugt.  Auch  was  er  S.  58  „objektlose'' 
Furcht  nennt,  gehört  hierher.  Der  Satz:  „Wertgefühle  sind  ürteils- 
gefühle"  sagt  zu  viel,  da  M.  meint:  „nur  Urteilsgefühle*'.  —  2.  glaubt 
der  Heferent,  der  Verfasser  hätte  seinem  Buche  gröfsere  Präzision, 
Durchsichtigkeit  und  Geschlossenheit  verliehen,  wenn  er  nicht,  von  der 
Peripherie  ausgehend,  sich  der  zentralen  grundlegenden  Thatsache  näherte, 
sondern  von  dem  Elementarphänomen,  dem  Gefühl,  ausgehend,  die  ab- 
geleiteten Thatsachen  in  stetigem  Zusammenhange  entwickelte.  Gerade 
eine  genaue  Psychologie  des  Gefühls  vermifst  man.  Das  „ Urteilsgefühl " 
ist  keine  so  einfache  psychologische  Erscheinung,  dafs  man  sie  nicht  nach 
allen  Seiten  abgrenzen  müiste.  Lidessen  der  Verfasser  bezeichnet  selbst 
sein  Buch  als  Anfang  und  Versuch ;  möge  er  bald  die  Fortsetzung  folgen 
lassen.  P.  Barth  (Leipzig). 

A.  Meinono.  Über  Werthaltung  und  Wert.  Arch,  f.  systemat  PMlos,  Bd.  I. 
Heft  3.  S.  327-346.  (1895.) 

Li  diesem  Aufsatze  hat  A.  Meinono  zu  seinem  oben  angezeigten 
Buche  eine  Ergänzung  gegeben. 

Die  Gesundheit  ist  für  den  normalen  Menschen  von  grofsem  Werte, 
das  Gefühl  davon  ist  gering,  infolgedessen  auch  die  Werthaltung.  Also 
ist  der  Wert  eines  Objektes  keineswegs  proportional  seiner  Werthaltung. 


150  Litteraturbericht 

Woher  diese  Versohiedenheit?  —  Weil  der  Wert  nicht  nur  ein  unmittel- 
barer, sondern  auch  ein  „Wirkungswert"  ist.  Und  dieser  beruht  nicht 
blofs  auf  den  Wirkungen  des  vorhandenen  Objektes,  sondern  auch  auf 
denen,  die  ausfallen  würden,  wenn  es  nicht  vorhanden  wäre,  also 
nicht  nur  auf  der  Existenz  des  Objektes,  ^  sondern  auch  auf  dem  Urteile 
über  seine  Nicht-Existenz.  Die  Nicht-Existenz  aber,  die  eine  Teilursache 
des  Wirkungswertes,  kann  nicht  direkt  das  Gefühl  erregen,  dem  die 
Werthaltung  genau  entspricht,  sondern  nur  in  sehr  indirekter  Weise. 
Die  vorgestellte  Nicht-Existenz  kann  nur  beim  Schwanken  zwischen  sich 
ausschliefsenden  Objekten  für  die  Wahl  des  einen  gegen  das  andere 
mit  ins  Gewicht  fallen.  Auf  diese  Weise,  als  Verstärkung  der  Wahl- 
motive, kann  ein  Negatives,  ein  vorgestelltes  Fehlen,  sich  zu  einem 
Positiven,  dem  Werte  des  Vorhandenen,  summieren.  Das  Gefähl  also, 
durch  das  die  Werthaltung  bestimmt  wird,  kann  nur  affiziert  werden 
durch  die  Existenz  des  Objektes.  Der  Intellekt  aber,  der  den  Wert 
bestimmt,  kann  affiziert  werden  auch  durch  die  Nicht-Existenz  des 
Objektes.  Aus  dieser  Verschiedenheit  ergiebt  sich  der  GrGfsenunterschied 
zwischen  Werthaltung  und  Wert. 

Auch  hier  kann  Beferent  nur  den  oben  ausgesprochenen  Wunsch 
wiederholen.  Die  ganze  Kasuistik  der  Werthaltung  der  Objekte  scheint 
ihm  etwas  äufserlichf  mehr  eine  Grundlage  einer  ethischen  Gesetzgebung, 
als  eine  Entwickelung  psychologischer  Thatsachen  und  Gesetze.  Eine 
solche  müfste  nicht  vom  Objekte  und  vom  Urteile,  sondern  von  ein- 
fachen Vorstellungen  und  den  sie  begleitenden  Gefühlen  ausgehen.  Denn 
auch,  wo  das  Objekt  wertlos  ist,  giebt  es  psychische  Werte,  von  denen 
doch  Meinong  allein  sprechen  will.  An  einem  Kartenspiel  teilnehmend  — 
auch  einem  solchen,  das  nicht  um  Geld  oder  anderen  Vorteil  geht  — , 
legt  man  dem  Vorhandensein  oder  Fehlen  einer  Karte  viel  Wert  bei. 
Die  ganze  Wertuntersuchung  scheint  dem  Beferenten  nur  eine  Abteilung 
der  Psychologie  des  Gefühles,  des  bisher  dunkelsten  Teiles  des  Seelen- 
lebens. Von  ihr  hätte  Mbii^ono  ausgehen  müssen,  von  Untersuchungen 
über  den  Gefühlston  sinnlicher  und  reproduzierter  Vorstellungen  und 
ihrer  mannigfaltigen  Verbindungen,  von  seiner  Modifikation  durch 
Assoziation,  von  seinem  Verhältnis  zum  Bewufstsein  und  Selbst- 
bewufstsein,  zum  Willen  u.  dergl.  So  wäre  er  von  der  organischen 
Wurzel  der  Wertthatsachen  ausgegangen  und  hätte  ihre  mannigfache 
Verzweigung  scharf  beleuchten  können,  während  er  jetzt  mitten  im 
Geäste  derselben  sitzt.  Denn  das  „Urteilsgefühl",  von  dem  er  ausgeht, 
ist  kein  einfacher,  sondern  ein  sehr  vieldeutiger  Begriff. 

P.  Barth  (Leipzig). 


W.  WüNDT.    Zur  Benrtellimg  der  zasammengesetzten  Beaküonexi.    JPhUos. 

Stud.    Bd.  X,  4.  S.  485—498.  (1894.) 
E.  Kbaepelin  und  Jül.  Merkel.    Beobachtungen  bei  zusammengesetzten 

Reaktionen.    Philos.  Stud.    Bd.  X,  4.  S.  499—506.  (1894.) 
Bekanntlich  hat  Wundts  Theorie  der  zusammengesetzten  Reaktionen 
von  mancher  Seite   Einwendungen   erfahren,    die,   ohne  sich  von  deren 


lAtteraturhericht  151 

Geiste  erheblich  zu  entfernen,  immerhin  einige  der  wichtigsten  Punkte 
betrefPen.  W.  giebt  nun,  von  Kraepeijn  und  Merkel  nachdrücklichst 
unterstützt,  eine  zusammenfassende  Entgegnung  darauf.  Der  Versuch 
einer  kritischen  Würdigung  derselben,  sollte  er  nur  einigermafsen  mit 
dem  der  Sache  und  dem  Verfasser  gebührenden  Ernst  unternommen 
werden,  müfste  den  Babmen  eines  Beferates  weit  überschreiten;  ich  will 
mich  also  der  Zustimmung  und  des  Widerspruchs  gänzlich  enthalten  und 
auf  übersichtliche  Wiedergabe  des  wesentlichen  Inhalts  der  beiden 
Artikel  beschränken. 

A.  Erkennungsreaktionen.  Erster  Einwand:  Eine  Vergleiohung 
der  bei  den  Erkennungsreaktionen  gewonnenen  Besultate  mit  denen  einer 
einfachen  sensoriellen  Beaktion  ist  unzulässig,  weil  die  sensorielle  Vor- 
bereitung in  beiden  Fällen  eine  wesentlich  verschiedene  ist;  von  den 
Unterschiedswerten  zwischen  beiden  A.kten  wird  ein  unbestimmbarer 
Teil  auf  die  Verschiedenheit  der  sensoriellen  Adaptation  kommen.  —  Da- 
'  geg^n  sucht  W.  nachzuweisen,  dafs  der  Unterschied  der  gefundenen 
Zeiten  nicbt  auf  eine  dem  Eindruck  des  Objektes  vorausgehende  Ver- 
schiedenheit der  Vorbereittmg,  sondern  nur  auf  die  Verschiedenheit  des 
dem  Eindruck  folgenden  Vorganges  zurückgeführt  werden  könne. 

Zweiter  Einwand:  Bei  einem  einfachen  sensoriellen  Beaktions- 
versuch  folgt  dem  einfachen,  zuvor  bekannten  Eindruck  die  „Auffassung* 
desselben,  und  bei  einer  Erkennungsreaktion  folgt  dem  unbekannten  und 
eventuell  mehr  oder  weniger  zusammengesetzten  Eindruck  ebenfalls  eine 
9 Auffassung''  desselben;  warum  in  beiden  Fällen  Auffassung  und  Auf- 
fassung wesentlich  verschieden  seien,  ist  nicht  einzusehen.  —  Wündts 
Entgegung :  „DaDs  . . .  der  psychische  Vorgang,  der  sich  nach  der  Ein- 
wirkung eines  bestinmiten  erwarteten  Eindrucks  von  bekannter  Qualität, 
und  derjenige,  der  sich  nach  der  Einwirkung  eines  nicht  zuvor  gegebenen 
Eindruckes  entwickelt,  einer  und  derselbe  sei,  —  von  dieser  Behauptung 
kann  ich,  wenn  sie  sich  auf  Selbstbeobachtung  beruft,  nur  sagen,  dafs 
sie  nach  dem  Zeugnis  meiner  eigenen  Selbstbeobachtung  falsch  ist,  und 
dafs  es,  wie  ich  glaube,  im  ganzen  Bereich  psychologischer  Beobachtung 
wenig  Dinge  giebt,  von  denen  sich  ein  unbefangener  Beobachter  leichter 
überzeugen  kann,  als  davon,  dafs  Auffassung  und  Auffassung  sehr  ver* 
schiedene  Vorgänge  sein  können.  .*^  —  An  dieser  Stelle  kann  ich  mir 
eine  kurze  Zwischenbemerkung  eben  um  ihrer  Kürze  willen,  nicht 
versagen,  da  sie  vielleicht  geeignet  ist,  den  Unterschied  zwiscben 
diesen  beiden  „Auffassungen''  sachlich  sowohl  als  terminologisch 
deutlich  zu  charakterisieren:  Die  einfache,  sensorielle  Beaktion  ver- 
langt blofs  ein  Existenz ial-,  die  Erkennungsreaktion  aufser  diesem 
noch  das  Benennungsurteil.  Man  vergleiche  dazu  folgende  Äufserung 
Kkaepeliks,  die  übrigens  in  dem  den  Unterschiedsreaktionen  gewidmeten 
Abschnitte  seiner  Mitteilungen  enthalten  ist:  „Darum  glaube  ich  auch, 
nach  dem  Eintritte  des  äuTseren  Eindruckes  in  das  Bewufstsein  noch 
einen  besonderen  Akt  des  Wiedererkennens,  eben  die  Unter- 
scheidung, annehmen  zu  müssen.  Bei  den  Versuchen  habe  ich 
deutlicb  das  Gefühl,  dafs  ich  mir  gewissermafsen  erst  darüber  Bechen- 
schaft  gebe,  welcher  Beiz  es  eigentlich  gewesen  ist,  während  ich  bei 


152  Litteraiurherieht. 

der  einfachen  Beaktion  die  besondere  sinnliche  Qualität  des 
Beizes  nicht  weiter  beachte,  sondern  mich  zufrieden  gebe,  dai^ 
es  eben  „der  Beiz''  gewesen  ist.'* 

B.  ünterscheidungsreaktionen.  Einwand:  Bei  den  ünter- 
scheidungsreaktionen  liegt  gar  keine  ^^Unterscheidung''  im  Sinne  des 
gewöhnlichen  Sprachgebrauches  vor.  WirnnTs  Entgegnung:  „,..  da  es 
sich  bei  der  angedeuteten  Versuchsanordnung  offenbar  um  Bedingpmgen* 
handelt,  die  in  einem  wesentlichen  Punkt  von  den  bei  den  Erkennungs- 
reaktionen obwaltenden  abweichen,  so  weifs  ich  nicht,  wie  ich  mir 
anders  helfen  soll,  als  durch  die  Wahl  dieses,  wenn  auch  unzulänglichen 
Wortes Dafs  es  sich  übrigens  bei  den  sog.  ünterscheidungs- 
reaktionen lediglich  lun  Erkennungsreaktionen  unter  erleichternden  Be- 
dingungen handelt,  ist  einleuchtend. '^ 

C.  Wahlversuche.  Erster  Einwand:  Der  Zustand  der  Vor- 
bereitung ist  bei  den  Wahlversuchen  ein  von  dem  bei  allen  anderen 
Beaktionen  völlig  verschiedener,  da  in  die  vorausgehende  Erwartung 
die  Vorstellung  der  Verknüpfung  des  Eindruckes  mit  der  auszuführenden 
Bewegung  eingeht.  —  W.  entgegnet,  dafs  diese  Störung  bei  Ungeübten 
wohl  eintritt,  bei  Geübten  aber,  wie  er  auf  Grund  eigener  Erfahrung 
weifs,  vollständig  überwunden  wird.  Damit  stimmt  auch  die  ebenfalls 
auf  Selbstbeobachtung  gegründete  Mitteilung  Mebksls  überein. 

Zweiter  Einwand:  Wahlreaktion  ist  überhaupt  ein  unzulässiger 
Begriff,  weil  es  einen  Vorgang  der  Wahl  gar  nicht  giebt ;  ein  Schwanken 
zwischen  verschiedenen  Bewegungsmöglichkeiten  kann  nur  auf  einem 
augenblicklichen  Versagen  des  Gedächtnisses  beruhen,  nicht  auf  einem 
wirklichen  Wahlakt ;  sobald  die  zureichende  Übung  eingetreten  ist,  kann 
vollends  von  Wahl  nicht  mehr  die  Bede  sein,  denn  dann  müssen  alle 
Beaktionen  automatisch  werden.  —  Wundts  Entgegnung:  Diese  Be- 
hauptung „entspricht  nicht  den  wirklichen  Erfahrungen,  wie  sie  bei  der 
sorgfältigen  und  fortgesetzten  Ausführung  der  Versuche  gemacht 
werden  ....  dafs  jede  eingeübte  Wahlhandlung  notwendig  zu  einer  auto- 
matischen Bewegung  wird,  das  mufs  ich  auf  Grund  meiner  eigenen 
Beobachtung  auf  das  entschiedenste  bestreiten,  und  gerade  den  Wahl- 
versuchen entnehme  ich  die  Erfahrungen,  die  dies  beweisen."  —  Auch 
in  diesem  Punkte  wird  Wüin)TS  Berufung  auf  die  Selbsbeobachtung  durch 
die  Mitteilungen  Kraepelins  und  Merkels  aufs  kräftigste  unterstützt. 

D.  Assoziations versuche.  Einwand:  Die  Beaktion  kann  in  sehr 
verschiedenen  Stadien  der  Entwickelung  der  Beproduktion  erfolgen,  so 
dafs  man  keine  Gewähr  hat,  bei  diesen  Versuchen  wirklich  die  Zeit  bis 
zum  Auftreten  der  assoziierten  Vorstellung  zu  messen.  —  Auch  dem 
widerspricht  W.  auf  Grund  der  Selbstbeobachtung  entschieden:  „Die 
Beaktion  erfolgt . . .  sofort  nach  der  Apperzeption  der  reproduzierten 
Vorstellung."  Und  auch  in  diesem  Punkte  hat  er  die  Aussagen 
Kbaepeliiys  auf  seiner  Seite.  Witasek  (Graz). 


Lüteraturherieht,  153 

B.  YOH  EiiAPVT-EBDro.    NerrositSrt  und  nevnuitlieiüsclie  Zustände.    Spee. 

Faihol  ti.  Thercg^).  von  Dr.  H.  Nothkagel.    Xu.  Band.    2.  Teil.    Wien, 

A.  Holder.  1895.  201  S. 
NoTHKAGBL  hat  fOr  sein  grofses  Sammelwerk  die  Bearbeitung  der 
Nervosität  in  die  bewährten  Hände  Krafft-Ebinos  gelegt  und  dem  Alt- 
meister  klinischer  Darstellung   dadurch  Gelegenheit   gegeben,   die  Zahl 
seiner  Lehrbücher  um  ein  weiteres  zu  vermehren. 

Wie  bei  Erafft-Ebing  nicht  anders  zu  erwarten,  giebt  er  in  voller 
Beherrschung  des  gewaltig  angewachsenen  Materials  eine  Übersicht 
Aber  das  Neueste  und  Beste,  was  zur  Zeit  über  diese  Zustände  bekannt 
ist,  und  er  trägt  in  der  eingehenden  Berücksichtigung  der  Behandlung 
den  Bedürfnissen  des  praktischen  Arztes  besondere  Bechnung.  Nachdem 
er  zunächst  Begriff  und  Wesen  der  Nervosität  einer  kürzeren  Be- 
trachtung unterzogen  hat,  geht  er  in  ausführlicher  Darstellung  auf  die 
Neurasthenie  ein,  auf  ihre  Ätiologie  und  Symptome,  um  mit  einer 
Schilderung  ihrer  Krankheitsbilder  zu  schliefsen.  Das  Buch  eignet  sich 
als  Lehrbuch,  bei  der  Überfülle  an  Material  und  dem  knappen  Stile, 
nicht  zu  einem  Beferate.  um  so  geeigneter  aber  ist  es,  uns  in  das 
Verständnis  dieser  Zustände  einzuführen  und  uns  als  Wegweiser  zu 
ihrer  Erkenntnis  und  Behandlung  zu  dienen.  Pblman. 

August  Fobbl.  Der  Hsrpnotismus.  3.  verbesserte  Auflage.  Mit  Ad- 
notationen  von  Dr.  0.  Vogt,  Assistent  an  der  psychiatrischen  Klinik 
zu  Leipzig.  1895. 
Die  vorletzte,  zweite,  Auflage  des  FoRELSchen  Buches  ist  in  dieser 
Zeitschrift  bereits  besprochen  worden.  Es  genüge  deshalb  eine  kurze 
Empfehlung  der  neuen  Ausgabe.  Die  Anerkennung  der  Suggestionslehre 
in  der  Medizin  hat  noch  schwer  zu  kämpfen  mit  der  Abneigung  gegen 
alles,  was  nicht  streng  „naturwissenschaftlich^^  erscheint.  Das  ist,  wenn- 
gleich zu  bedauern,  doch  begreiflich.  Die  Grundlage  des  Kypnotismus 
bildet  die  Psychologie,  die  man  immer  noch  nicht  als  Zweig  der  Natur- 
wissenschaft gelten  lassen  will,  —  als  ob  die  Natur  den  Menschen  nur 
als  leibliches  und  nicht  vor  allem  als  seelisches  Wesen  erschaffen  hätte! 
Solange  die  medizinische  Forschung  auf  dem  Boden  des  reinen 
Materialismus  verharrt,  wird  sie  einer  Lehre,  die  dem  Spiritualismus  so 
reichliche  Zugeständnisse  macht,  abhold  bleiben.  Möchte  diese  Einseitig- 
keit wenigstens  nicht  zu  dem  Fehler  verführen,  mit  aprioristischen 
Schlagworten  ein  wissenschaftliches  Gebiet  abzuthun,  dessen  Bedeutung 
auch  der  Gegner  nicht  tmterschätzen  wird. 

FoBELs  Werk  eignet  sich  zum  Studium  deshalb  so  vorzüglich,  weil 
es,  ohne  weitschweifig  zu  sein  (es  umfaist  wenig  mehr  als  200  Seiten), 
doch  in  der  Wesen  Tiefe  dringt.  Dieses  Lob  kann  man  nicht  allen 
Erzeugnissen  der  jüngsten,  stark  angewachsenen  Suggestionslitteratur 
spenden.  Die  neueren  kleinen  Kompendien  haben  manchmal  über  der 
rein  therapeutisch-praktischen  Seite  die  theoretische  gar  zu  sehr  ver- 
nachlässigt. Aber  gerade,  solange  die  Suggestionslehre  noch  nicht  die 
verdiente  Anerkennung  gefunden,  ist  ein  ernsteres  Eingehen  auf  die 
physiologische  Seite  der  Frage  wünschenswert.    Im  wesentlichen  gleicht 


164  LiUeratwfhericht, 

die  3.  Auflage  den  beiden  vorangegangenen.  Nea  sind,  von  zahlreichen 
Verbesserungen,  Streichungen  und  HinxufEkgungen  abgesehen,  ins- 
besondere einige  kleinere  Aufsätze  von  Vogt,  unter  denen  namentlich 
ein  psychophysiologischer  Erklärungsversuch  der  Suggestion  Beachtung 
verdient.  Scholz  (Bonn). 

C.  Webnicks.  Arbeiten  ans  der  psychiatrischen  Klinik  in  Breslau, 
n.  Heft  Leipzig,  TmEMs.  1895.  127  S.  XXI  Tafeln. 
Dieses  zweite  Heft  der  Arbeiten  aus  der  Breslauer  psychiatrischen 
Klinik  enthält  4  Aufsätze;  der  erste,  von  Kekklsb,  beschäftigt  sich  mit 
einer  bisher  imbeachtet  gebliebenen  Form  von  Krampfan  fällen  bei 
progressiver  Paralyse,  nämlich  solchen,  die  mit  rhythmischen, 
dem  Puls  synchronen  Zuckungen  einhergehen.  Der  Heraus- 
geber selbst  bringt  als  Beitrag  zur  Lokalisation  der  Vorstellungen 
zwei  Fälle  von  Bindenläsion,  die  beide  als  Hauptsymptom  eine 
Tastlähmung  der  rechten  Hand  mit  relativ  geringer  Störung  der  Sensi- 
bilität imd  der  feineren  Motilität  aufweisen.  Die  Tastlähmung  (Verlust 
der  Fähigkeit,  Gegenstände  durch  Tasten  wiederzuerkennen)  erklärt 
Webkicke  ans  dem  Verlust  der  Tastvorstellungen,  d.  h.  der  Erinnerungs- 
bilder der  stets  (bei  denselben  Dingen)  in  gleichbleibender  Anordnung 
und  Beihenfolge  wiederkehrenden  Tastempfindungen  konkreter  Gegen- 
stände. Die  Tastlähmung  mufste  in  beiden  Fällen  auf  eine  Zerstörung 
an  dem  sogenannten  mittleren  Drittel  der  Zentralwindungen,  besonders 
aber  der  hinteren,  zurückgeführt  werden,  und  so  hat  die  klinische 
Beobachtung  wiederum  ein  Himgebiet  festgestellt,  dessen  Zerstörung 
mit  dem  Verlust  einer  bestimmten  Art  von  Vorstellungen  einhergeht, 
während  dies  bisher  nur  hinsichtlich  zweier  Gebiete  sicher  erkannt 
worden  war,  nämlich  hinsichtlich  der  BKOCASchen  Windung  für  die 
Bewegungvorstellungen  der  Sprache  und  hinsichtlich  der  linken  ersten 
Schläfen  Windung  für  die  Klangbilder  der  Worte. 

Die  beiden  letzten  Arbeiten  enthalten  pathologisch -anatomische 
Untersuchungen  über  dasGehirndes  FöRSTEBschen  „Bindenblinden* 
von  Sachs  und  des  LissAUEBSchen  Falles  von  Seelen blindheit  von 
Hahn.  Pebetti  (Grafenberg). 


WOiLiAM  HiBscH.  Betrachtangen  über  die  Jnngfran  von  Orleans  vom 
Standpunkte  der  Irrenheilknnde.    Berlin  1895.  0.  Coblentz.  35  S. 

An  Schriften  über  das  wundersame  Mädchen  von  Domremy  ist  gerade 
kein  Mangel,  und  ebensowenig  läfst  sich  behaupten,  dafs  wir  wesentlich 
klüger  dadurch  geworden  sind. 

Von  den  einen  als  eine  Heilige  in  den  BLimmel  erhoben,  wird  sie 
von  den  anderen  für  eine  Verrückte  erklärt,  und  gerade  für  den 
Psychiater  von  Fach  mag  es  nicht  leicht  sein,  zu  einem  anderen  Schlüsse 
zu  gelangen. 

Wenn  wir  in  dem  Auftreten  von  Sinnestäuschungen  ein  Symptom 
sehen,   das  sich  nur  bei  Geisteskranken  findet,   dann  allerdings  ist  eine 


LitteraturbtiichL  155 

andere  Anschauung  nicht  gut  möglich,  da  Johanna  unzweifelhaft  halluzi- 
niert hat.  Andererseits  aber  haben  so  tüchtige  Psychiater,  wie  Hagen, 
Bbibrre  DB  BoisHONT  u.  a.  m.,  kein  Bedenken  getragen,  die  Jungfrau  trotz 
ihrer  EEalluzinationen  für  geistesgesund  oder  doch  wenigstens  nicht  für 
geisteskrank  zu  erklären. 

Dafs  HiBSCH  diese  Frage  durch  seine  Broschüre  der  Entscheidung 
n&her  gebracht  habe,  läfst  sich  nicht  behaupten.  Erkrankte  Johanna 
wirklich,  wie  Hirsch  es  annimmt,  mit  13  Jahren  an  Wahnideen  und 
Halluzinationen,  war  sie  thatsächlich  in  einer  so  frühen  Zeit  ihres  Lebens 
schon  geisteskrank,  dann  würde  eine  so  frühzeitige  Erkrankung  aller 
Erfahrung  nach  ihre  weitere  geistige  Entwickelung  gehemmt  haben  und 
die  Kranke  in  Schwachsinn  versunken  sein,  während  sich  umgekehrt 
ihre  geistige  Kraft  mit  ihren  höheren  Zielen  entwickelt  und  ihre  höchste 
Kraft  und  Entäufserung  in  dem  Kampfe  um  ihr  Leben  erreicht. 

Zwei  volle  Monate  dauerte  ihr  Prozefs,  und  täglich  wurde  sie  von 
60  geistlichen  Beisitzern  verhört.  In  diesen  Verhören  entfaltete  das 
einfache  Mädchen,  das  nicht  lesen  und  schreiben  kann,  eine  solche 
geistige  Kraft  und  Gewandtheit,  dafs  sie  die  Bewunderung  ihrer  Gegner 
erweckt,  und  wenn  diese  auch  Kinder  ihrer  Zeit,  und  diese  Zeit  eine 
gottserbärmliche  war,  so  geht  doch  das  eine  klar  daraus  hervor,  dafs 
Johanna  ihren  Gegnern  zum  mindesten  gewachsen,  wenn  nicht  gar  Über- 
legen war. 

Schwachsinnig  war  sie  demnach  sicherlich  nicht,  und  wie  Hirsch 
ihr  als  Verrücktheit  anrechnen  will,  was  ihre  ganze  Zeit  und  Umgebung 
mit  ihr  glaubte  und  für  wahr  hielt,  will  mir  auch  nicht  recht  scheinen. 
Mit  denselben  Beweisgründen  müfste  man  noch  ganz  andere  Leute  für 
verrückt  erklären,  die  ebenfalls  Sinnestäuschungen  gehabt  und  im  Sinne 
ihrer  Zeit  gedacht  und  gehandelt  haben. 

Was  Hirsch  ungelöst  gelassen  hat,  wird  voraussichtlich  noch  manchen 
Berufenen  und  Unberufenen  in  die  Schranken  rufen.  Schickt  sich  doch 
das  fromme  Frankreich  an,  die  bereits  selig  Gesprochene  in  den  Beigen 
der  Heiligen  einzureihen,  was  dem  Advokaten  des  Teufels  Gelegenheit 
geben  wird,  die  alte  Frage  nochmals  gründlich  zu  erörtern. 

Pelman. 

C.  LoMBRoso.  Der  Antisemitismiia  und  die  Juden  im  Lichte  der  modernen 

Wissenschaft.    Autorisirte  deutsche  Übersetzung  von  Dr.  H.  Kurblla. 

Leipzig.    Georg  H.  Wigands  Verlag.    1894.     114  S. 

Die  Juden  sind  nicht  reine  Semiten,   sondern   aus   einer  Mischung 

mit  vorwiegend  arischen   Volkselementen  hervorgegangen.     Der  grofse 

Prozentsatz  von  Brachycephalie  unter  den  Juden  ist  eine  Erbschaft  des 

alten  Volkes  der  Hethiter,  das  bereits  etwa  2000  Jahre  v.  Oh.  eine  hoch-» 

entwickelte  Kultur  besafs,  die  Blondhaarigkeit  bei  den  Juden  entstammt 

zum  grofsen  Teile  der  im  alten  Testamente  mehrfach  erwähnten,  in  den 

Nachlassen  ihrer   Kultur  noch   heute   an   der  nordafrikanischen  Küste 

nachweisbaren  Völkerschaft  der  Amoriter,   die   spezifisch  jüdische  Nase 

ist  das  Produkt  einer  Kreuzung  mit  Armeniern.  Den  reinen  alt-semitischen 

Typus  bewahren  in  Sprache,  Schädelform,  Teint  und  Nasenbildung  nur 


156  Lüteraturbencht. 

noch  die  Beduinen  Südarabiens.  Die  kurze,  kleine  Nase  dieser  Völker- 
stämme ist  die  eigentlich  semitische.  Den  Einflufs  der  Rassenkreuzung 
zeigt  das  jüdische  Volk  ebenso  wie  denjenigen  des  Klimawechsels  auch 
im  weiteren  Verlaufe  seiner  Geschichte.  So  erklärt  sich  das  glatte, 
feine,  blonde  Haar,  das  blaue  Auge  und  die  hohe  Stirn  des  englischen 
Juden  aus  einer  Mischung  des  Volkes  mit  den  Angelsachsen,  aus  dem 
gleichen  Grunde  der  Rassenkreuzung  sind  die  Juden  in  *Piemont  rund- 
kOpfig  und  blondhaarig,  besitzen  diejenigen  Venetiens  einen  viereckigen, 
länglichen  Schädel  und  schwarzes  Haar,  ist  die  Haut  der  Juden  in 
der  Oase  üaregh  schwarz  wie  die  der  Neger  etc.  Die  Defekte  des 
jüdischen  Charakters  sind  eine  Resultante  der  Geschichte;  furchtbar 
und  unerbittlich  war  die  Auslese,  die  gerade  dieses  Volk  im  Laufe  der 
Jahrhunderte  zu  bestehen  hatte.  Überall  aber,  wo  man  ihm  seither 
Freiheit  gewährte  und  eine  Kreuzung  desselben  mit  anderen  Kulturvölkern 
zuliefs,  hat  es  am  Fortschritte  der  Kulturentwickelung  in  hervor^ 
ragendem  MaTse  teilgenommen.  Der  Antisemitismus  ist  ein  Übel,  das 
nur  ein  Wiedererwachen  primitiver  Regungen  bedeutet  und  den  nie- 
drigsten menschlichen  Leidenschaften  entspringt.  Würde  derselbe  im 
Laufe  der  nächsten  5  oder  6  Jahrhunderte  aussterben,  so  würden  die 
Juden,  auiser  vielleicht  in  barbarischen  Ländern,  bis  auf  Fragmente  in 
den  übrigen  Kulturvölkern  aufgegangen  sein.  Das  Judentum  mufs  den 
„äufseren  Putz  seines  Kultus"  abstreifen.  Juden  und  Christen  müssen 
ihre  gegenseitigen  Vorurteile  aufgeben  und  sich  zu  einer  neuen  Religion 
vereinen,  die,  die  Lehren  des  Vatikans  wie  der  Propheten  preisgebend, 
unter  Anerkennung  der  wissenschaftlichen  Errungenschaften  die  schon 
von  Christus  verkündete  neue  soziale  Idee  auf  ihre  Fahne  schreibt;  nur 
im  sozialen  Urchristianismus  kann  die  Frage  ihre  vollgültige  Lösung 
finden. 

Hiermit  dürften  die  leitenden  Gedanken,  die  der  Verfasser  in  den 
13  Kapiteln  der  vorliegenden  Studie  weiter  ausgeführt  hat,  der  Haupt- 
sache nach  kurz  wiedergegeben  sein.  Die  Resultate  einiger  weiterer 
Untersuchungen  sind  in  einem  Anhange  unter  den  Titeln:  Anthropometrie 
der  Turiner  Juden,  zur  Demographie  der  italienischen  Juden,  Unter- 
suchung alter  Schädel  von  Phöniciem  und  Israeliten  zusammengestellt. 
Eine  kephalometrische  Tabelle  umfafst  am  Schlüsse  des  Werkes  die  Er- 
gebnisse der  an  172  lebenden  Einwohnern  Turins,  worunter  82  jüdischen 
Ursprungs,  nach  Lombrosos  Methode  angestellten  Messungen. 

Der  Verfasser  hat  auch  für  diese  Untersuchung  wiederum  eine  be- 
wundernswerte Fülle  von  Material  verwandt.  Die  Schrift  ist  vielseitig  an- 
regend, wie  alles,  was  Lombroso  geschrieben  hat,  bietet  aber  ebenso  auch 
wieder  zu  mancherlei  Einwänden  Anlafs.  Wenn  es  z.B.  dem  Verfasser  Ernst 
sein  konnte  mit  der  Annahme  einer  ihm  von  einem  gewissen  Dr.  H.  Fosca- 
LANOE  aus  Bukarest  mitgeteilten  Beobachtung,  nach  welcher  der  Antisemitis- 
mus in  naher  Beziehung  zu  den  Folgeerscheinungen  der  Syphilis  stehen 
soll,  so  zwar,  dafs  er  die  Behauptung  seines  Korrespondenten  nicht 
unbedingt  für  die  seinige  erklärt,  aber  dieselbe  dennoch  der  Diskussion 
und  der  Nachprüfung  für  würdig  hält,  so  darf  die  Frage  erlaubt  sein, 
ob  der  unparteiische  Standpunkt,   den  er  eingangs  innehalten  zu  wollen 


Litteraturbericht,  157 

beabsichtigt,  wirklieb  überall  in  seiner  Reinheit  gewahrt  blieb.  Eine 
gelegentliche  ÄuTserung  des  Fürsten  Bismabck,  die  der  Verfasser  zu 
Gunsten  der  Rassenkreuzung  zitiert,  konnte  nach  einer  Anmerkung  des 
Übersetzers  in  ihrer  Authentizität  yon  diesem  nicht  kontrolliert  werden 
und  musste  deshalb  aus  dem  Italienischen  rückübersetzt  werden.  Es 
mufste  von  höchstem  Interesse  sein,  zu  erfahren,  wie  sich  diese  brennende 
Frage  der  Gegenwart,  der  gegenüber  es  dem  Einzelnen  oft  schwer 
fallt,  sich  die  richtige  Stellungnahme  zu  erringen,  gerade  im  Kopfe 
LoMBROso's  gestaltete,  aber  angesichts  solcher  Thatbestände  darf  sich  der 
Herr  Verfasser  nicht  wundem,  wenn  man  sein  Buch  schliefslich  doch 
▼erstimmt  beiseite  legt.  Von  wissenschaftlichem  Werte  bleibt,  dafs  der 
Verfasser  die  Frage  zu  einer  ethnologischen  und  vOlkerpsychologischen 
gewandelt  hat. 

Zu  bedauern  ist  femer  der  Ton,  den  der  Herr  Übersetzer,  der  in  höchst 
verdienstvoller  Weise  schon  so  manches  Buch  der  fremdländischen 
liitteratur  dem  deutschen  Leserkreise  zu  eigen  machte,  in  seiner  Vor- 
rede zu  dem  vorstehend  besprochenen  Werke  anschlägt.  Kann  man  in 
Deutschland  wirklich  von  einem  Antilombrosismus  in  gleichem  oder  in 
nur  ähnlichem  Sinne  wie  von  einem  Antisemitismus  reden?  Lombrosos 
Verdienste  wird  weder  die  Mit-,  noch  die  Nachwelt  verkennen.  Wenn 
aber  die  deutsche  Wissenschaft  von  ihm  vor  allen  Dingen  eine  kritische 
Behandlung  des  jeweils  verwerteten  Materials  verlangt  und  je  nach 
der  Beachtung  dieses  Momentes  zu  seinen  Hypothesen  Stellung  nimmt, 
so  wird  man  nicht  anstehen  dürfen,  hierin  nur  eine  berechtigte  Forderung 
zu  erkennen.  Führt  doch  gerade  Herr  Kurblla  an  einem  andern 
Orte  aus  {Entartung  und  Genie  VIII),  dafs  Lombroso,  ein  Genie,  zu  messen 
sei  mit  dem  Mafse,  womit  er  selber  dieses  gemessen,  obwohl  K.  hierunter 
den  dem  Genius  konstant  anhaftenden  Zusatz  des  unbegreiflichen  ver- 
steht und  an  jener  Stelle  trotzdem  für  die  Richtigkeit  der  Theorie 
seines  Meisters  eintritt,  und  kann  Herr  Kurella  doch  am  Schlüsse 
seiner  Vorrede  selber  nicht  umhin,  zu  erklären,  dafs  er  nicht  alle  in  der 
vorliegenden  Schrift  vom  Verfasser  gezogenen  Schlufsfolgerungen  unbe- 
dingt annehme,  „am  wenigsten  alle  seine  Urteile  über  deutsche  öffent- 
liche Zustände^,  obwohl  er  sich  „in  der  Tendenz  und  dem  Q^ftLhls- 
charakter''  des  Werkes  mit  dem  Verfasser  einig  weifs.  Was  die  Über- 
setzung als  solche  betrifft,  so  hat  Kürblla  durch  dieselbe  sein  Talent 
wiederum  in  glänzender  Weise  bethätigt. 

Frisör.  Kibsow  (Leipzig). 


Berichtlgiiiig. 


lnäemvorigenB9jiäedk8erZeü8chnft(Bd,lX»8.297ff,)]iatJyT.  ScHuiLLinr 
eine  Besprechung  meiner  „Beiträge  zur  Psychologie  des  Zeitsinns**  ge- 
geben, die  mich  zu  einigen  sachlichen  Berichügimgen  nötigt. 

Es  ist  zuerst  eine  unkorrekte  Wiedergabe  meiner  Meinung,  wenn 
ScHUMA^m  behauptet:  „Was  dann  die  Zeiturteile  betrifft,  so  sollen  di&* 
selben  immer  aus  einer  unmittelbaren  Wahrnehmung  der  „Dauer",  bezw. 
„Aufeinanderfolge"  hervorgehen"  u.  s.  w.  Abgesehen  davon,  dafs  dieser 
ganze  Absatz  bis  zu  den  Worten  „entstehen  können"  ein  Muster  logisch 
unkorrekter  Ausdrucksweise  ist,  so  scheint  es  Schuhaitn  gänzlich  ent- 
gangen zu  sein,  dafs  ich  meine  sämtlichen  theoretischen  Ausführungen 
darauf  gerichtet  habe,  zwischen  einer  allgemeinen  Psychologie  der  Zeit- 
wahmehmung  und  einer  speziellen  Analyse  der  Vorgänge,  die  bei  der 
Bildung  bestimmter  Zeiturteile  unter  gegebenen  Versuohsbedingungen 
beteiligt  sind ,  zu  unterscheiden.  Schumann  macht  diese  Unterscheidung 
allerdings  nicht;  daraus  datiert  für  ihn  nicht  das  Becht,  sie  bei  mir  zu 
übersehen.  Über  die  Art  und  Weise  des  Zustandekommens  bestimmter 
Zeiturteile  unter  den  konkreten  Umständen  des  Zeitsinnversuchs  habe 
ich  mich  gemäfs  dem  ganzen  Plan  meiner  Untersuchung  überhaupt  noch 
nicht  äufsem  können;  was  ich  angegeben  habe,  ist  nur  die  allgemeine 
psychologische  Grundlage  der  Möglichkeit  einer  gesonderten  Beur* 
teilung  zeitlicher  Verhältnisse  unserer  Bewufstseinsvorgänge.  Nach 
Schümanns  Darstellung  mufs  es  scheinen,  wie  wenn  ich  diese  grundlegende 
Unterscheidung  ebenso  übersehen  hätte,  wie  meine  Vorgänger.  (Vergl. 
u.  a.  S.  501,  503  ff.  Philaa.  Stud,  VIII.) 

Es  ist  femer  eine  starke  sachliche  Unrichtigkeit,  wenn  Schumann 
in  dem  folgenden  Absatz  behauptet,  dais  die  Täuschung  des  Zeiturteils, 
welche  darin  besteht,  dafs  ein  von  intensiveren  Schalleindrücken  be- 
grenztes Zeitintervall  relativ  zu  kurz  erscheint,  von  mir  erklärt  werde 
„aus  der  längeren  Dauer  der  von  intensiveren  Beizen  hervorgerufenen 
Empfindungen^^  Ich  habe  vielmehr  für  diese  und  alle  anderen  aus  der 
Intensitätsverschiedenheit  der  die  Intervalle  begrenzenden  Empfindungen 
entspringenden  Täuschungen  eine  ganze  Beihe  von  Erklärungs- 
möglichkeiten gegen  einander  abgewogen,  indem  ich  je  nach 
den  Umständen  fünf  bis  sechs  und  mehr  Ursachen  annehme,  welche 
zusammen  diese  Effekte  hervorbringen  können;  nämlich  die  „Schall- 
verschmelzuQg",  gewisse  assoziative  Faktoren,  „die  stärkere  Be- 
schäftigung   der  Aufmerksamkeit^,    Uberraschungseffekte,    und 


Berief  Fügung.  159 

spezifisch  rhythmische  Einflüsse.  (Vergl.  u.  a.  Philos,  Stud,  IX.  S.  288f. 
298ff.)  Ja,  die  ganze  Tendenz  meiner  zweiten  Arbeit  geht  darauf  aus, 
diese  verschiedenen  Ursachen  auf  den  Grad  ihrer  Beteiligung  hin  zu 
kontrollieren.  Wenn  nun  Schuhaiht  ganz  beliebig  eine  dieser  Erkl&rungs- 
möglichkeiten  herausgreift  und  als  y^die  meinige^  hinstellt,  so  dürfte 
das  wohl  das  Mafs  erlaubter  Vereinfachung  einer  referierten  Arbeit  über- 
schreiten. 

Es  ist  femer  eine  unkorrekte  Wiedergabe  meiner  Absichten,  wenn 
ScHUMAiTN  sagt:  „Die  bisher  mitgeteilten  experimentellen  Untersuchungen 
behandeln  den  EinfluXs,  welchen  die  Intensität  und  Qualität  der  be- 
grenzenden Signale  auf  die  Schätzung  des  zwischenliegenden  Intervalls 
ausüben.^  Wie  die  Überschrift  Seite  269  sagt,  habe  ich  bisher  nur  den 
Einfluis  der  Intensität  und  des  Intensitätswechsels  der  be- 
grenzenden Empfindungen  feststellen  wollen,  und  jedermann,  der  diesen 
Teil  meiner  Arbeit  liest,  mufs  sehen,  dafs  in  den  wenigen  Fällen,  wo  ich 
einen  Qualitätswechsel  der  „Signale"  (»der  Empfindungen*'  würde  ich  in 
meiner  Terminologie  sagen)  herbeiführe,  dies  lediglich  geschieht,  um  die 
bei  dem  Intensitätswechsel  wirksamen  Faktoren  herauszubringen, 
also  z.  B.  wie  auf  S.  301 ,  um  den  bei  dem  Intensitätswechsel  beständig 
mitwirkenden  rhythmischen  Effekt  zu  eliminieren.  Über  den  Einflufs  der 
Qualität  der  Empfindungen  auf  die  Zeitschätzung  habe  ich  vielmehr  eine 
besondere  Veröffentlichung  vor,  die  hauptsächlich  ihrer  grofsen  tech- 
nischen Schwierigkeiten  wegen  bisher  nicht  zum  Abschlufs  gebracht 
wurde. 

In  zwei  Punkten  sehe  ich  mich  aufserdem  genötigt,  gegen  die  Kürze 
des  ScHUMAHNschen  Beferates  zu  protestieren.  Beferenten  haben  ihre 
Grundsätze  —  aber  wenn  man  in  dem  Bericht  über  eine  wissenschaftliche 
Arbeit  die  Hauptabsichten  des  Verfassers  übergeht,  so  dürfte  das  wohl 
nicht  dem  allgemeinen  Zweck  des  Beferierens  entsprechen.  Und  die 
beiden  Grundgedanken  meiner  Zeitsinnarbeit  sind  allerdings  von  Sghühann 
mit  keinem  Wort  angedeutet.  Der  erste  ist  dieser,  dafs  ich  mehr  als 
eine  Analyse  einzelner  Fälle  von  Zeiturteilen  beabsichtigte,  indem  ich 
eine  allgemeine  Psychologie  der  bisher  so  gänzlich  vernachlässigten 
Zeitwahrnehmung  überhaupt  zu  geben  vorhabe,  zu  der  ich  S.  503  ff.  in 
meiner  ersten  Veröffentlichung  in  Kürze  das  Programm  entwickelt  habe 
imd  zu  der  alle  meine  Einzeluntersuchungen  einzelne  „Beiträge"  liefern 
sollen. 

Sodann  habe  ich  zum  ersten  Male  (auch  in  Schümanns  Arbeit:  Über 
die  SckäUnmg  kleiner  Zeitgrößen  findet  sich  keine  Andeutung  darüber) 
die  prinzipielle  Frage  aufgeworfen,  ob  es  denn  überhaupt  einen  vernünf- 
tigen Sinn  habe,  bei  „Zeitsinn versuchen"  der  bisher  üblichen  Art  so 
ohne  weiteres  die  Gültigkeit  des  WESEBSchen  Gesetzes  prüfen  zu  wollen 
(vergl.  u.  a.  S.  506  u.  509  meines  ersten  Artikels).  Die  „Zeiten"  werden 
unserem  Bewufstsein  nur  repräsentiert  mittelst  der  Empfindungen,  Vor- 
stellungen u.  s.  w.,  welche  als  Träger  zeitlicher  Erlebnisse  jeweils 
funktionieren  und  als  deren  Zeitverhältnisse  wir  überhaupt  nur  unsere 
zeitlichen  Erlebnisse  besitzen.  Infolgedessen  findet  hier  überhaupt  nicht 
eine  einfache  Abhängigkeit  dieser  zeitlichen  Erlebnisse  von  den  Beizen 


160  Benchtigung. 

statt,  sondern  zwischen  den  Beizern  und  den  Zeitverhältnissen,  die  wir 
beurteilen,  stehen  die  Empfindungen  und  sonstigen  Vorgänge,  deren  Zeit- 
verhftltnisse  wir  im  einzelnen  Falle  innerlich  wahrnehmen.  Die  Be- 
ziehung der  Zeitverhältnisse  zu  den  Beizen  ist  also  eine  noch  y er- 
mitteitere, als  die  der  Empfindungen  zu  den  Beizen,  und  das  macht 
nach  meiner  Meinung  Voruntersuchungen  darüber  nötig,  ob  nicht  der 
Zeitverlauf  der  Empfindungen  (mit  welchen  wir  im  Zeitsinn  versuch  die 
Intervalle  herstellen)  selbst,  und  vielleicht  auch  gewisse  Eigenschaften 
der  Empfindungen,  ihre  Beziehungen  zu  den  Aufmerksamkeitsvorgftngen 
u.  a.  m.,  diese  Beziehung  der  Zeiten  zu  den  Beizen  zu  einer  so  kom- 
plizierten machen,  dafs  eine  Anwendung  des  WEBssschen  Q-esetzes  hier 
von  vornherein  ausgeschlossen  scheint. 

Die  Untersuchung  dieser  Vorfrage  sollte  der  zweite  Hauptzweck 
meiner  Zeitsinnversuche  sein.  Ich  glaube,  es  ist  nicht  zu  viel  beansprucht, 
wenn  ich  diese  beiden  Gedanken  in  einem,  wenn  auch  noch  so  kurzen, 
Beferat  über  meine  Zeitsinnarbeit  nicht  übergangen  zu  sehen  wünsche. 

Meümamn  (Leipzig). 


Untersuchungen 
über  die  geistige  Bntwickelung  der  Schulkinder. 

Von 

E.   W.    SCRIPTÜRB, 
Yale  University. 

Mit  20  Fig:uren  im  Text. 

Obwohl  ausgedehnte  statistische  Messungen  über  die  Körper- 
verhältnisse der  Schulkinder  schon  von  den  Physiologen  und 
Anthropologen  gemacht  worden  sind,  hat  man  über  das 
Wachstum  der  geistigen  Fähigkeiten  bei  Schulkindern  meisten- 
teils nur  allgemeine,  der  experimentellen  Grundlage  entbehrende 
Betrachtungen  angestellt.  Um  diese  Lücke  auszufüllen,  habe 
ich  psychologische  Messungen  an  den  Schulkindern  der  Stadt 
New  Haven,  Conn.,  ü.  S.  A.,  anstellen  lassen.  Dieselben  sind 
unter  meiner  Leitung  von  Dr.  Ph.  J.  A.  Gilbert  ausgeführt 
worden.  Der  ausführliche  Bericht  über  die  gesammelten  That- 
Sachen  ist  in  meinen  Studien  erschienen.^  Eine  allgemeine 
Bearbeitung  des  Materials  vom  Standpunkte  des  Psychologen 
werde  ich  hier  zu  geben  versuchen. 

Versuchsmethoden. 

Zwölfhundert  Kinder  aus  den  Volksschulen  New  Havens, 
Gönn.,  IT. S.A.,  im  Alter  von  6  bis  17  Jahren,  fast  genau  50  Knaben 
und  50  Mädchen  jedes  Jahrganges,  wurden  acht  Prüfungen 
unterzogen.  Es  wurden  nämlich  untersucht :  1.  Muskelsinn,  2.  Em« 
pfindlichkeit  für  Helligkeitsunterschiede,  3.  EinfluTs  der 
Suggestion,  4.  Schnelligkeit  bei  willkürlichen  Bewegungen, 
5.  Ermüdung  bei  denselben,  6.  Zeit  einer  einfachen  Reaktion, 
7.  Zeit  einer  Reaktion  mit  Unterscheidung  und  Wahl,  8.  Zeit- 
schätzung. 

^  Gilbert,  Besearches  on  the  mental  and  physical  development  of 
school-  children.  Stud,  from  the  Yale  Psychol,  Lab.    1894.  IL  40. 

ZelUchrift  für  Psychologie  Z.  11 


162  E'  W.  Scripture. 

Bei  einer  anderen  Gelegenheit  wurde  9.  die  Empfindlich- 
keit für  Tonändemng  bestimmt  —  freilich  dnrch  wenig  zahl- 
reiche Versuche. 

Bei  der  Ausgleichung  der  Messungen  ist  als  Mittel  der 
von  Laplace^  theoretisch  diskutierte  und  von  Fbchner'  für 
KoUektivgegenstände  vorgeschlagene  Zentralwert  gebraucht 
worden.  Die  Eigenschaften  dieses  Mittels  habe  ich  von 
praktischen  Gesichtspunkten  aus  eingehend  erläutert.' 

Den  Zentralwert  f&r  eine  Beihe  von  n  Messungsergebnissen 

bestimmt  man  dadurch,  dafs  man,  von  dem  numerisch  gröfsten 

(resp.  kleinsten)  anfangend,  die  Besultate  der  Gröfse  nach  bis 

n  4-  1 
zum  — ~— ten  Resultate  abzählt.     Dieser  Zentral  wert  wird  als 

Mittel  statt  des  arithmetischen  Mittels  gebraucht.  Er  hat 
nicht  nur  viele  Vorzüge  vor  dem  arithmetischen  Mittel,  sondern 
ist  auch,  theoretisch  betrachtet,  für  statistische  Messungen  der 
allein  richtige  Mittelwert. 

Aufser  dem  Mittelwert  kann  man  auch  die  mittlere  Variation 
der  einzekien  Beobachtungen  als  charakteristische  Gröfere 
gebrauchen.  Bei  Versuchen  6,  7  und  8  sind  zehn  Einzel- 
messungen auf  jedes  Kind  gemacht.  In  diesem  Falle  hat  mcux 
also  die  mittlere  Variation  der  Einzelmessungen  fiir  jedes  Kind 
und  auch  die  mittlere  Variation  der  Mittelwerte  von  dem  Mittel- 
wert für  das  betreffende  Alter.  Für  die  anderen  Versuche  fällt 
die  erste  mittlere  Variation  weg. 

Die  ganze  Berechnungsweise  ist  also  folgende.    Es  sei 

•  •  • 

die  ursprüngliche  Einzelmessung  für  die  Kinder  des  Alters  r, 
wo  alle  a   sich   auf  das  erste  Kind  beziehen,   alle  h  auf  das 


^  Laplace,  Memoire  sur  la  probabilit^  des  causes  par  les  ^vönements. 
Mkm,  de  Math,  et  de  Phys.  par  divers  Soßoants,  Acad,  Par,,  xvL  621  (686). 
Paris  1774. 

"*  Fechneb.  Über  den  Ausgangswert  der  kleinsten  Abweiohungs- 
snmme.    AbJumdL  d,  fnath.-phy8.  KL  d,  k.  aächs.  Ges.  d,  Wiss.  1878.  XL  1.  (19.) 

'  Scripture,  On  mean  yalues  for  direct  measurements.  Stud.  fram 
the  YaU  PsychoU  Lab.  1894.  11.  1. 


Untersuchungen  über  die  geistige  Entwickehmg  der  Schulkinder.        163 

zweite,  n.  s.  w.  Es  wird  zuerst  der  Zentralwert  der  Eiuzel- 
messnngen  bestimmt.  Als  Ausdruck  für  diese  Bestimmungs- 
weise fähre  ich  ein  Cg,  =  /*«  (^i^  ^»  •  •  -^  ^)-  Hier  bedeuten 
^17  ^s'  •  •  •}  ^«  die  Einzelmessungen,  und  (7«  den  Zentralwert  für 
diese  Messungen.  Das  Symbol  fo  giebt  an,  dafs  C  aus  der  Oten 
Potenz  von  x  gewonnen  wird.    Wir  haben  also 

Ca  =  /o  {flu    Äj>    •  •  •>    öii)> 

Der  Kontrastwert  für  das  betreffende  Alter  r  ist  also 

Cr  =  fo  (Cui   Ci,   . . .,    C/). 

Die  persönlichen  mittlerenVariationen  sind  die  arithmetischen 
Mittel  aus  den  einfachen  Abweichungen. 

Wenn  wir  die  mittlere  Variation  der  Messungsreihe  x  durch 
D.  =  /j  [x)  andeuten,  haben  wir 

^.  =  /i  (k  -  G.I  [at-0.l  .  . .,  K-  6J) 

•         •  • 

i>.=MPi-c.],  R-ci], ...,  [4-0,]). 

Das  arithmetische  Mittel  f^  wird  für  diese  Berechnung 
gebraucht,  weil  es  gegenüber  dem  Zentralwert  dieselbe  Stelle 
einnimmt,  wie  das  Fehlerquadrat  gegenüber  dem  arithmetischen 
Mittel. 

Diese  persönlichen  mittleren  Variationen  sind  meistens  Aus- 
drücke für  die  ürteilsunsicherheit  und  Willensunregelmäfsigkeit 
des  Kindes.  Es  wird  dabei  vorausgesetzt,  dais  der  mittlere 
Fehler  des  zur  Prüfung  gebrauchten  Apparates  verhältnismäfsig 
sehr  klein  ist. 

Die  persönliche  mittlere  Variation  für  das  Alter  r  wird  als 
Zentralwert  D,  aus  D.,  D^  •  •  ,  Di  genommen,  also 

Bei  den  Versuchen,  z.  B.  1  bis  5,  wo  nur  eine  Messung 
auf  jedes  Kind  gemacht  wurde,  hat  man  keine  persönliche 
mittlere  Variation,  und  die  Bestimmung  von  D  bleibt  aus. 

11* 


164  E.  W.  Scripture. 

Die  statistische  mittlere  Variation  ist  ein  Ausdnick  für  die 
Homogeneität  der  jeweilig  zusammen  verrechneten  Kinder.  Sie 
wird  für  das  Alter  r  folgendermafsen  bestimmt: 

1.  Unterschiedsempfindlichkeit  für  gehobene  Ge- 
wichte. Der  Apparat  bestand  aus  10  Pappzylindem,  23  mm  im 
Durchmesser  und  38  mm  in  der  Länge,  mit  Blei  und  Pappe 
gefüllt.  Der  leichteste  wog  82  g;  die  anderen  unterschieden 
sich  durch  successive  Stufen  von  2  g,  der  schwerste  wog  also 
100  g.  Das  leichteste  Gewicht  wurde  als  Normalgewicht  ge- 
hoben, und  das  Kind  sollte  ausprobieren,  welcher  Zylinder  von 
demselben  Gewicht  wie  das  Normalgewicht  war.  Man  erhält 
dadurch  eine  Ziffer  für  die  ünterschiedsschwelle.  Die  genaueren 
Methoden  für  die  Bestimmung  der  ünterschiedschwelle  kann 
und  darf  man  bei  solchen  statistischen  Untersuchungen  nicht 
anwenden.  Die  Genauigkeit  der  Methoden  ist  dem  geringeren 
Grade  der  ürteilssicherheit  angepafst. 

Die  Besultate  sind  in  folgender  Tabelle  I  zusammengefafst. 


Ta 

belle 

I. 

Gehobene  Gewichte. 

A 

M 

E 

B 

G 

6 

14.8 

5.2 

13.0 

16.8 

7 

13.6 

4.4 

13.2 

13.2 

8 

11.4 

4.6 

12.2 

11.0 

9 

10.0 

4.4 

ld.2 

10.0 

10 

8.8 

4.4 

8.6 

9.2 

11 

8.6 

3.8 

10.2 

7.6 

12 

7.2 

3.0 

7.6 

7.6 

13 

5.4 

3.0 

6.0 

5.6 

14 

5.6 

8.0 

5.2 

7.2 

15 

6.8 

2.2 

6.2 

7.2 

16 

6.6 

2.4 

6.0 

6.8 

17 

5.8 

2.6 

6.0 

6.4 

A,  Alter. 

M^  eben  merklicher  unterschied  in  Gramm  für  das  betreffende  Alter. 
Ef   statistische  mittlere  Variation. 

B,  eben  merklicher  Unterschied,  Knaben  allein. 
G,   eben  merklicher  Unterschied,  Mädchen  allein. 


Untersuchungen  über  die  geistige  Entwkkehmg  der  Sehulkinder.        165 
Die  Besultate  finden  in  Fig.  1  graphischen  Ausdruck. 


Fig.  1. 

unbemerkte  Gewichtsunterschiede. 

Knaben. 

Mädchen. 

Knaben  und  Mädchen. 

Die  Unterschiedsempfindlichkeit  wächst  also  ungefähr 
proportional  dem  Alter  bis  etwa  zum  13.  oder  14.  Jahre,  nach 
welchem  das  Kind  wenig  gewinnt  oder  sogar  verliert. 

Die  Homogeneität  der  Anzahl  Kinder  in  Bezug  auf  die 
ünterschiedsempfindlichkeit  für  Gewichte  wächst  bis  etwa  zum 
15.  Jahre.     (Fig.  2.) 


Fig.  2. 
Statistische  mittlere  Variation,  unbemerkte  G-ewichtsunterschiede. 


166  E.  W.  Soripture. 

■ 

2.  ünterschiedsempfindliohkeit  für  Helligkeit. 
Zehn  Kreisstüoke  aus  rotem  Tuoh  von  3  cm  Durchmesser 
waxen  so  gefärbt,  dafs  sie  eine  eng  abgestufte  Reihe  bildeten. 
Der  hellste  Kreis  war  dem  Eönde  vorgelegt,  und  man  verlangte, 
es  solle  alle  ganz  gleichen  Kreise  auswählen.  Die  Anzahl  der 
gewählten  Kreise  giebt  eine  Zahl  für  die  ünterschiedsempfind- 
liohkeit des  Kindes. 

Die  Resultate  sind  in  Tabelle  11  und  in  Figg.  3  und  4 
wiedergegeben. 

Tabelle  H. 
Helligkeitsunterschi  ede . 


Ä 

K 

E 

B 

G 

6 

9.6 

1.8 

8.8 

9.6 

7 

9.0 

2.1 

8.3 

9.6 

8 

8.3 

2.3 

9.6 

7.0 

9 

6.8 

2.2 

6.1 

6.6 

10 

5.4 

1.9 

6.0 

5.2 

11 

5.4 

1.7 

6.0 

4.9 

12 

5.1 

1.5 

4.8 

5.1 

13 

4.6 

1.7 

5.2 

4.1 

14 

4.7 

1.4 

4.8 

4.6 

15 

4.4 

1.1 

4.1 

4.6 

16 

4.3 

1.3 

4.3 

4.0 

17 

3.9 

1.4 

4.0 

4.9 

Ä,  Alter. 

K,  Anzahl  der  unbemerkten  ünterschiedsstufen. 

E,  statistische  mittlere  Variation. 

B,  Unterschiedsstufen,  Knaben  allein. 

G,  f,  Mädchen  allein. 

In  Bezug  auf  die  Homogeneität  der  Kinder  findet  man  fast 
keinen  unterschied  unter  den  verschiedenen  Altem.     (Fig.  4.) 

3.  Macht  der  Suggestion.  Das  speziell  gewählte  Beispiel 
einer  Suggestion  war  der  EinfluTs  der  gesehenen  G-röfse  eines 
Objekts  auf  die  Schätzung  seines  G-ewichtes  durch  den  Muskel- 
sinn. Der  Apparat  bestand  aus  einer  Beihe  zylindrischer 
Gewichte^  E^.  5,  von  28  mm  Länge.  14  Gewichte,  ^Einheits- 
reihe^,  waren  alle  von  35  mm  Durchmesser,  aber  unterschieden 
sich  voneinander  durch  ihre  Schwere;  das  leichteste  wog  15  g 
und  das  schwerste  80  g.  Ganz  ohne  Kenntnis  dieser  Thatsache 
mufste  das  Kind  durch  Probieren   dasjenige  Gewicht  aus  der 


Unterwchungen  über  die  geistige  Entwickelung  der  Schulkinder,       167 


^ 


\ 


/^ 


// 


/y 


Fig.  3. 

Unbemerkte  Helligkeitsunterschiede. 

Knaben. 

Mädchen. 

Knaben  und  Mädchen. 


-TT 


f  y  7ä  7/  7*  Ä?  7y  7r  7g  y 

Fig^  4. 
Statistische  mittlere  Variation  fUr  unbemerkte  Helligkeitsunterschiede. 


d 

o 

S5 


■o 


53 


0000000 

15      20     2S      d$      ^      ^      4S 

ooooooo 

50      55      60      05      10      15      $0 

Fig.  5. 

Suggestionsklötze. 


168  E.  W.  Scripture. 

Einheitsreihe  wählen,  welches  gleich  schwer  wie  ein  anderes 
G-ewicht  von  22  mm  Durchmesser,  und  auch  dasjenige,  welches 
gleich  schwer  wie  eines  von  82  mm  Durchmesser,  erschien. 

Für  die  Einheitsreihe  haben  wir  also  14  Gewichte  von 
konstantem  Durchmesser  ^  =  35  mm  und  von  den  Schweren 

Pi  =  15g;  P2  =  20g;  ...;  Pu  =  80& 
mit  dem  konstanten  unterschied 

Für  das  kleinste  Gewicht  war  der  Durchmesser  d  =  22  mm 
und  die  Schwere  w  =  bbg. 

Für  das  gröfste  war  der  Durchmesser  D  =  82  mm  und  die 
Schwere  w  =  öb  g. 

Das  Urteil  des  Kindes  war:  das  Gewicht  dw  sei  gleich 
einem  Gewicht  d!p»,  und  das  Gewicht  Dw  sei  gleich  einem  Ge- 
wicht Spi. 

Die  thatsächlichen  Unterschiede  im  Gewicht  waren 
Vjt=p^  —  w  und  Vi  =  pi  —  w.  Die  Gröfsen  Vj,  und  Vi  sind  die 
Resultate  der  Gröfsenunterschiede  der  betreflfenden  Zylinder 
(d.  h.  die  Verkennung  jener  Gewichtsgröfsen  beruht  auf  dem 
Einflufs  der  Verschiedenheit  der  Raumgröfse).  Da  alle  Zylinder 
von  der  gleichen  Länge  waren,  sind  die  Gröfsenunterschiede 
durch  die  Unterschiede  in  Flächeninhalt  der  Zylinderenden 
auszudrücken,  namentUch 


und 


«.=j(<j«-d*) 


«.  =  J  (D*  -  d*). 


Der  Gesamtunterschied  zwischen  dem  gröfsten  und  kleinsten 
Zylinder  ist  also  5=Wi  +  w,,  und  das  Resultat  dieses  Unter- 
schiedes ist  H=>  Vt  -h  Vi.  Die  Gröfse  jff  wird  unmittelbar  durch 
den  Gewichtsunterschied  zwischen  den  zwei  Zylindern  be- 
stimmt, welche  das  Kind  als  gleich  dem  kleinen  und  dem 
grofsen  auswählt. 

Die  Gröfse  H  ist  eine  Funktion  des  Gröfsenunterschiedes 
und  des  Alters,  also  H=f(S,Ä).     Wir  nehmen  S  konstant  zu 


üntermchimgen  über  die  geistige  Eniwickelung  der  Schulkinder,       169 

J  (82«  —  22»)  =  1037  qmm. 

Der    Ansdrack    der    Funktion    H=f(Ä)    findet    sieh    in 
Tabelle  III  und  in  Fig.  6. 


T 

abelle 

m. 

Einflufs  der  Suggestion 

• 

A 

H 

B 

B 

G 

6 

42.0 

17.0 

43.5 

42.5 

7 

45.0 

15.5 

43.5 

43.5 

8 

47.5 

13.5 

45.0 

49.5 

9 

50.0 

10.5 

50.0 

49.5 

10 

43.5 

12.5 

40.0 

44.0 

11 

40.0 

11.5 

38.5 

40.0 

12 

40.5 

9.0 

38.0 

41.0 

13 

38.0 

9.0 

87.0 

38.0 

14 

34.5 

9.5 

31.0 

33.5 

15 

35.0 

10.5 

33.0 

38.0 

16 

34.5 

10.0 

32.0 

38.5 

17 

27.0 

12.0 

25.0 

31.0 

A,  Alter. 

H,  Emflufs  der  Suggestion  in  Gramm,  Knaben  und  Mädohen. 

Ey  statistische  mittlere  Variation. 

Bf  EinfluTs  der  Suggestion,  Knaben. 

G,        „  „  „  Mädchen. 


Fig,  6. 

EinfluTs  der  Suggestion. 

Knaben. 

.  — . —  Mädchen. 

Knaben  und  Mädchen, 


170 


E,  W.  Scripture. 


7?  //  /i  /j 

Fig.  7. 
Statistische  mittlere  Variation  für  SaggestionseinfluXs. 

Die  Homogeseität  der  untersuchten  Kinder  blieb  fast 
durchaus  konstant.  Die  Mädchen  sind  von  der  Suggestion  in 
fast  jedem  Altef  mehr  beeinflufst  als  die  Knaben. 

4.  Schnellste  Wiederholung  von  Bewegungen. 
Das  Kind  sollte  auf  den  Knopf  eines  kleinen,  leicht  beweglichen 
elektrischen  Schlüssels  möglichst  schnell,  aber  leicht  schlagen. 

Dieser  Schlüssel,  n  in  Fig.  8,  ist  mit  einem  EwALDschen 
Chronoskop  (oder  Zähler)  verbunden,  welches  die  Zahl  der 
Schläge  angiebt.  Dadurch  wurde  die  Anzahl'  der  Schläge 
während  5  Sekunden  bestimmt. 


Fig.  8. 
Apparat  zur  Bestimmung  1.  der  Anzahl  schnell  wiederholter  Bewegangen, 
2.  der  einfachen  Reaktionszeit,  3.  der  ünterscheidungs-  und  Wahlzeit  und 

4.  der  Zeitschätzung. 


Unteravckungen  über  die  geistige  Entwickehmg  der  Schulkinder.        171 

Tabelle  lY  und  Figg.  9  und  10  geben  die  Besultate.  Die 
Sjiaben  leisten  in  jedem  Alter  ausnahmslos  mehr  als  die 
Madchen.    Die  Homogeneität  ist  fast  konstant. 


Ta 

belle 

IV. 

Schnell  wiederholte 

Bewegungen. 

A 

T 

E 

B 

G 

6 

20.8 

2.4 

21.0 

19.7 

7 

22.5 

2.9 

22.8 

21.2 

■ 

8 

24.4 

2.9 

24.9 

23.9 

9 

25.4 

2.5 

25.8 

25.0 

10 

27.0 

2.8 

27.7 

26.9 

11 

29.0 

3.3 

29.7 

27.8 

12 

29.9 

3.3 

80.3 

29.6 

13 

28.9 

2.8 

29.8 

28.1 

14 

30.0 

3.6 

31.2 

28.0 

15 

31.1 

3.0 

31.3 

29.8 

16 

32.1 

3.3 

83.0 

31.8 

17 

33.8 

2.9 

35.0 

31.5 

A,  Alter. 

T,  Zahl  der  Schl&ge  während  5  Sekunden,  Knaben  und  Mädchen» 

E,  statistische  mittlere  Variation. 

JB,  Zahl  der  Schl&ge,  Sjiaben  allein: 

Gt  Zahl  der  Schl&ge,  M&dchen  allein. 


5.  Ermüdung.  Nach  dem  vorangegangenen  Versuch  liefs 
man  das  E[ind  ohne  unterbrechen  weiter  schlagen.  Nachdem  es 
40  Sekunden  geschlagen  hatte,  nahm  man  wieder  eine  Bestimmung 
der  Anzahl  der  Schlage  während  5Sekunden  vor.  Man  hat  also  ftr 
jedes  Eand  zwei  Bestimmungen:  einmal  die  Anzahl  der  Schl&ge 
w&hrend  5  Sekunden  zu  Anfang  und  dann  die  Anzahl  während 
5  Sekunden  zu  Ende  einer  Periode  von  45  Sekunden.  Ein 
Yergleich  der  zwei  Bestimmungen  gewährt  ein  urteil  über  die 
Wirkung  der  Ermüdung. 

In  Tabelle  V  geben  die  Zahlen  den  Prozentverlust  w&hrend 
der  letzten  Periode  im  Vergleich  mit  der  ersten.  Die  graphische 
Darstellung  wird  in  Figg.  11  und  12  gegeben. 

Die  Knaben  ermüden  viel  schneller,  als  die  Mädchen. 

Die  Homogeneität  der  Kinder  wächst  mit  zunehmendem 
Alter. 


172 


E,  W.  Scripture. 


Tabelle  V. 

Ermüdung  bei  schnell  wiederholten 


Ä 

6 

7 

8 

9 

10 

11 

12 

13 

14 

15 

16 

17 


F 

21.4 
21.0 
24.0 
21.0 
22.0 
200 
16.0 
14.5 
14.0 
12.7 
14.7 
13.8 


E 

8.1 
8.9 
7.3 
7.1 
7.5 
6.2 
6.3 
6.4 
6.5 
5.8 
5.2 
5.3 


B 

22.8 
22.5 
24.7 
22.5 
22.7 
20.3 
18.0 
16.8 
17.8 
13.8 
15.3 
14.5 


Bewegungen. 
G 

21.3 
20.2 
23.3 
20.7 
19.0 
18.0 
14.0 
14.7 
12.0 
11.5 
11.7 
13.5 


Af  Alter. 

F,  Prozentverlust,  Knaben  und  Mädchen. 

E,  statistische  mittlere  Variation. 

B,  Prozentverlust,  Knaben  allein. 

O,  „  Mädchen,     „    . 


Ftg,  9, 
Zahl  der  Bewegungen. 

Knaben. 

Mädchen. 

Knaben  und  Mädchen. 


ünteratichtmgen  über  die  geistige  Entwickelung  der  Schulkinder,       173 


Fig.  10. 
Statistische  mittlere  Variation  der  Zahl  der  Bewegungen. 


//  y*  ti  ^7y 

¥ig,  11. 

Ermüdung  bei  schnell  wiederholten  Bewegungen. 

Knaben. 

.  —  Mädchen. 

Knaben  und  Mädchen. 


'7 


6.  Eeaktionszeit.  Mit  dem  EwALBschen  Zähler  H^  der 
Stimmgabel  J.,  dem  Exponierapparat  (7  und  dem  Schlüssel  jB(Pig.  8) 
sind  Messungen  der  Zeit  einer  einfachen  Beaktion  auf  Licht  ge- 
macht worden.  Da  zehn  Messungen  auf  jedes  Kind  gemacht 
-wurden,  entspricht  die  Art  der  Ausgleichung  vollständig  dem 
oben  entwickelten  Schema. 

Wir  haben  also  hier  auch  eine  mittlere  Variation  für  jedes 
Individuum,  welche  als  ein  Ausdruck  der  persönlichen  Begel- 
mäJGsigkeit  aufgefafst  werden  kann. 


174 


Beraltate  sind  in  Tabelle  VI  enthalten;  die  Zahlen 
sind  in  Hnndertstel-Seknnden  gegeben.  Um  ein  Beispiel  des 
Unterschieds  zwischen  arithmetischem  Mittel  und  Zentralwert 
zn  zeigen,  wurden  f&r  diese  Tabelle  beide  ausgerechnet.  Das 
arithmetische  Mittel  ist  durchweg  gröfser  als  der  Zentralwert; 
dies  zeigt  das  Vorhandensein  von  einzelnen,  sehr  divergierenden, 
groXsen  Werten  unter  den  Zahlen.  Dieser  unterschied  zwischen 
arithmetischem  Mittel  und  Zentralwert  ist  schon  ab  Mais 
der  vorhandenen  ünregelm&Isigkeiten  gebraucht  worden ;  er  hat 
aber  keinen  Vorzug  vor  der  statistischen  mittleren  Variation. 


T — J^-^y 

Fig.  12. 
Statistische  mittlere  Variation  bei  der  Ermüdung  für  schnell  wiederholte 

Bewegungen. 


Ta 

belle 

VI. 

Reaktionsseit. 

A 

Ta 

Tp 

B 

E 

B 

G 

6 

31.7 

29.5 

5.6 

6.0 

28.2 

29.5 

7 

30.9 

29.2 

5.4 

5.5 

26.7 

31^ 

8 

28.7 

26.2 

4.9 

8.9 

24.5 

26.0 

9 

26.9 

25.0 

4.1 

4.1 

24.3 

25.5 

10 

23.8 

21.5 

4.2 

3.6 

21.0 

22.5 

11 

21.0 

19.5 

3.7 

3.4 

18.5 

20.6 

12 

20.7 

18.7 

3.6 

3.1 

17.8 

19.8 

18 

20.5 

18.7 

S.3 

3.0 

17.8 

20.5 

14 

19.1 

18.0 

3.0 

2.9 

18.0 

18.7 

15 

18.4 

17.2 

3.0 

2.7 

16.7 

18.9 

16 

17.0 

15.5 

2.8 

2.8 

14.7 

17.2 

17 

17.0 

15.5 

3.0 

3.3 

14.7 

16.3 

IMienuckungen  Über  die  geistige  Entwickelung  der  Schulkinder.        175 


n 


n 


n 


A,  Alter. 

Ta,  Beaktionszeit  in  Vioo  Sek.,  arithm.  Mittel,  Knaben  und  M&dclien. 
Tpj  „  Zentralwert,     . 

D,    persönliche  mittlere  Variation. 
JB,    statistiBclie        „  „ 

B,  Beaktionazeit  für  ELnaben. 
G,  n  n    Mädchen. 


Fig.  13. 
Reaktionszeit. 


Knaben. 

.  — .  — .  — .  M&dchen. 
Knaben  nnd  Mädchen. 


•  •  ——  ■  • 


« 


n 


arithmetisches  Mittel. 


176 


E.  W.  Scripture, 


f 


-TT 


/J 


-TT 


"7r  ^ 


Fig.  14. 
Mittlere  Variationen  bei  Beaktionszeit. 

Knaben,  statistische  mittlere  Variation. 

Mädchen,        „  „  „ 

Knaben  und  Mädchen,  statistische  mittlere  Variation. 

Persönliche  mittlere  Variation. 


7.  Beaktion  mit  Unterscheidung  und  Wahl.  Das 
Kind  sollte  auf  eine  blaue  Farbe  reagieren,  dagegen  auf  eine 
rote  ruhig  bleiben.  Der  einfachen  Beaktion  waren  also  zwei 
Vorgänge,  die  Unterscheidung  zwischen  zwei  Objekten  und  die 
Wahl  zwischen  Bewegung  und  Buhe,  hinzugefügt. 

Die  Besultate  sind  in  Tabelle  YII  und  Figg.  15  und  16 
gegeben.     Die  Zahlen  sind  Vioo  Sekunden. 


Ta 

belle 

vn. 

Beaktionszeit  mit 

Unterscheidung 

;  und  Wahl. 

A 

Tp 

Ta 

D 

E 

B 

G 

6 

52.5 

55.8 

10.2 

6.0 

53.5 

51.0 

7 

53.0 

54.1 

9.4 

8.1 

49.0 

52.8 

8 

47.8 

48.8 

8.5 

6.5 

48.0 

47.5 

9 

45.0 

47.5 

8.1 

6.8 

44.5 

46.0 

10 

41.0 

42.2 

7.3 

4.9 

40.0 

41.5 

11 

38.5 

40.5 

7.0 

5.8 

38.7 

38.8 

12 

37.0 

38.9 

6.1 

5.5 

38.5 

87.0 

18 

39.5 

39.9 

6.2 

5.8 

36.0 

41.5 

14 

36.5 

36.3 

6.5 

4.9 

86.7 

35.5 

15 

33.5 

34.8 

5.9 

4.9 

31.1 

34.5 

16 

32.5 

34.0 

5.4 

4.3 

31.5 

35.0 

17 

31.2 

32.1 

5.4 

4.0 

30.5 

31.5 

A,    Alter. 

Tp,  Zeit  in 

Vioo  Sekunden, 

Zentralwerte. 

Ta,     »      V 

ff 

r 

arithmetisches  Mittel. 

Untersuchungen  über  die  geistige  Entwichelung  der  Schulkinder,        \  l'J 


D,  persönliclie  mittlere  Variation. 

E,  statistische         „  „ 
B,  Zeit  für  Knaben. 
G,       „      »     Mädchen. 


n         n 


3H 


T 


/ 


TT 


// 


•^ 


/y 


■7j=- 


'* 


Fig,  15. 


Reaktionszeit  mit  Unterscheidung  und  Wahl. 


Knaben. 

— ,  — .  — .  — .  Mädchen. 
Knaben  und  Mädchen. 


n 


» 


Zeittchrifl  für  Pgychologie  X. 


arithmetisches  Mittel. 

12 


178 


E.  W.  Seripture. 


—     •      •     -- 


Fig.  16. 
Beaktionszeit  mit  Unterscheidung  und  Wahl. 
. .    Statistische  mittlere  Variation,  Slnaben. 
— .  n  ff  tt  M&dchen. 

y,  „  „  Knaben  und  M&dchen. 

. .   Persönliche  mittlere  Variation. 


8.  Zeitschätzung.  Mittelst  des  EwALDschen  Zähler? 
konnte  ein  Ton  von  100  v.  d.  erzeugt  werden.  Dieser  Ton 
dauerte  zwei  Sekunden  lang.  Gleich  danach  fing  der  Ton 
wieder  an.  Das  Kind  sollte  durch  Druck  auf  einen  Knopf  den 
zweiten  Ton  aufhören  lassen,  sobald  er  eben  so  lange  als  der 
erste  gedauert  hat.  Zehn  Versuche  wurden  mit  jedem  Kinde 
gemacht. 

Die  Normalzeit  war  also  zwei  Sekunden.  Die  Tabelle  Yin 
giebt  an,  um  wie  viele  Vio»  Sekunden  der.  zweite  Ton  zu 
kurz  war. 


Tab 

eile 

vm. 

Zeitschätzung. 

A 

Ep 

Ea 

D 

E 

B 

G 

6 

62.0 

56.7 

24.6 

28.4 

56.5. 

67.0 

7 

66.5 

59.6 

27.9 

20.2 

63.5 

68.5 

8 

54.3 

52.7 

28.6 

22.8 

48.5 

57.0 

9 

60.0 

56.2 

23.0 

23.5 

47.5 

73.5 

10 

48.5 

48.9 

20.2 

18.1 

48.5 

46.5 

Untersuchungen  Über  die  geistige  Entwickehmg  der  Schulkinder.        179 


41.0 

44.2 

20.8 

18.2 

40.6 

41.0 

dO*0 

41.6 

17.6 

21.3 

36.8 

37.6 

a8.o 

36^ 

17.9 

21.4 

24.6    . 

36.0 

30.0 

36.9 

18.7 

16.1 

31.6 

31.0 

98.0 

37.6 

18.0 

19.4 

34.6 

39.0 

44.0 

41.6 

16.6 

16.7 

38.0 

49.0 

36.5 

39.9 

13.8 

16.8 

34.0 

40.0 

11 

12 
13 
14 
16 
16 
17 

A,  Alter. 

Ep,  Zahl  der  Vioo  Sek.,    um  welche  der  zweite  Ton  |zu  kurz  war; 

Zentralwerte. 
Soy  dasselbe,  arithmetisches  MitteL 
D,    persönliche  mittlere  Variation. 
Ef    statistische        „  „ 

B,  dasselbe  wie  Ep,  aber  fär  Knaben  allein. 
G,         „  „      „        „       ,,    M&dchen 


n 


12* 


^ 


180 


E.  W.  Seri^iwrt. 


Zeitsoh&tzung. 

Knaben. 

•  —  .  —  .  —  •  M&doh6n. 
Knaben  und  Mftdchen. 


arithmetiscbes  Mittel. 


Fig.  18. 
Zeitschätzung. 
Statistische  mittlere  Variation,  Knaben. 
ft  V  V  Mftdchen. 

n  n  n         Knaben  und  Mftdchen. 

Persönliche  mittlere  Variation. 


9.  Empfindlichkeit  für  Tonänderung.  Es  wurde 
jedes  mal  der  Ton  Ä  =  435  v.  d.  durch  Anblasen  einer  Zungen- 
pfeife (Fig.  19)  hervorgerufen.  Mittelst  Bewegung  des  Zeigers 
wurde  die  Tonhöhe  allmählich  geändert.  Das  Kind  sollte  an- 
geben, wann  es  eine  Änderung  merkte.  Dies  war  also  eine 
Bestimmung  der  Änderungsempfindlichkeit.  ^ 

Die  Resultate  sind  weniger  zahlreich  als  die  vorhergehenden 
und  sind  zu  einer  anderen  Zeit  gewonnen. 


^  ScBiPTUBB,  Ober  die  Änderungsempfindlichkeit.    Diese  Zeiischr,  1894. 
VI.  S.  472. 


I 


üntersuchwngtn  über  die  geistige  Entwickehmg  der  Schulkinder.       181 


Fig.  19. 


Tabelle  IX. 

Tonänderung. 

A 

T 

E 

D 

6 

12.3 

1.4 

1.8 

7 

9.1 

0.9 

3.6 

8 

6.8 

0.9 

1.3 

9 

4.8 

1.1 

1.1 

10 

6.2 

0.7 

0.8 

11 

4.8 

1.1 

0.9 

12 

4.1 

1.0 

0.5 

13 

3.7 

1.3 

0.5 

14 

3.5 

1.0 

1.0 

15 

5.0 

1.0 

1.1 

16 

4.0 

0.9 

0.7 

17 

— 

— 

18 

2.6 

0.7 

0.9 

19 

2.4 

0,8 

0.6 

Aj  Alter. 

Ty  eben  merkliche  Änderung,  in  Zweiundreifsigstel  einer  Tonstufe« 

jE",  statistische  mittlere  Variation. 

1>,  persönliche  mittlere  Variation. 


Der   Verlauf   der    eben    merklichen    Tonänderung    ist    in 
Fig.  20  veranscliauliolit. 


182 


E.  W.  Scfriplimre. 


«Till**  AhrtMj^tM'  C»A 


1 — n — TT 


-K—ir 


"Tf — ^ 


^ce 


Fig.  20. 


Allgemeine  Bemerkungen. 

Zahlreiche  Einzelthatsachen  in  Bezug  auf  Lebensalter,  Q-e- 
schlecht  u.  s.  w.  findet  man  leicht  beim  Studium  der  Tabellen 
und  Figuren.  Im  allgemeinen  wachsen  die  geistigen  Fähig- 
keiten zwischen  den  Lebensaltem  6  und  17,  zuerst  schnell  und 
dann  langsamer,  mit  wachsendem  Alter.  In  fast  allen  geistigen 
Fähigkeiten  findet  man  eine  plötzliche  Veränderung  um  das 
Alter  von  13  bis  15. 

Diese  Veränderungen  sind  total  verschieden  von  den  Ver- 
änderungen in  Gewicht,  G-röfse  und  Lungeninhalt.  Diese 
Homogeneität  der  Eander  bleibt  konstant  oder  bessert  sich  um 
ein  wenig  für  alle  geistigen  Eigenschaften.  Dagegen  wird  sie 
in  Bezug  auf  Q-ewicht  und  Gröfse  stets  schlechter  bis  zum 
14.  Jahre,  nach  welchem  eine  Besserung  eintritt.  In  Bezug 
auf  Gröfse  war  diese  Besserung  eine  sehr  bedeutende.  In 
Bezug  auf  Lungeninhalt  wird  die  Homogeneität  stets  geringer. 


Entstehung  und  Bedeutung  der  Synopsien. 

Von 

BlOHARD   HenNIO 
in  Berlin. 

Mit  7  Fi^ren  im  Text. 

Einleitung. 

Unter  „Synästhesie*^  versteht  man  die  „Mitempfindungen" 
eines  nicht  gereizten  Sinnes  bei  äoJGseren  Einwirkungen,  welche 
dem  Empfindungsgebiete  eines  anderen  Sinnes  angehören.  Bei 
weitem  die  häufigste  von  allen  Synästhesien  ist  die  sogenannte 
^Synopsie",  die  Erregung  des  Gesichtssinnes  bei  Schall-, 
Gefühls-,  Geruchs-  oder  Geschmacksreizen,  femer  aber  auch  bei 
Vorstellung  abstrakter  Gegenstände.  Mit  diesen  S3niopsien 
hat  sich  am  eingehendsten  Flourkoy  beschäftigt  in  seinem 
Buch:  jfDes  phinomenes  de  Synopsis^,  In  diesem  Werke  werden 
die  sehr  mannigfaltigen  Erscheinungen  der  Synopsie  besprochen 
und  systematisch  in  Untergruppen  eingeteilt. 

Die  wichtigste  Einteilung  der  synoptischen  Erscheinungen 
ist  die  in  Farben-  und  Baumempfindungen,  und  zwar  bestehen 
diese  Baumempfindungen  in  der  Wahrnehmung  von  Linien, 
Kurven,  Diagrammen  etc.  und  finden  sich  mit  wenigen  Aus- 
nahmen nur  bei  Vorstellung  abstrakter  Gegenstände  (selten  bei 
akustischen,  nur  einmal  bei  Geruchs-,  nie  bei  Geschmacksreizen 
beobachtet),  während  Farbenempfindungen  schon  bei  allen  Arten 
der  Sinneseindrücke  wahrgenommen  sind,  doch  sind  auch  hier 
Geschmacks-,  Gefühls-  und  Geruchssinn  am  seltensten  durch 
Synopsien  vertreten.  Auf  das  Vorkommen  der  chromatischen 
Synopsien  hat  schon  Feghnbb  1876  hingewiesen,  ebenso  Nuss- 
BAUBfiSR  in  mehreren  kleineren  Arbeiten  der  70er  Jahre,  und 
Blbülbr  und  Lehmann  haben  sich  1881  in  einem  ausführlicheren 
Werke:  j^2hoangsmäf8%ge  Lichtempfindungen  durch  SchaW  sehr  ein- 


184  Bichard  Hennig, 

gehend  mit  diesen  Erscheinungen  beschäftigt ;  den  Diagrammen 
und  den  verwandten  Phänomenen  hat  sich  hingegen  erst  1883 
Galton    zugewandt    in    seinem   Buch:     y^Inquiries  into   human 

Es  fragt  sich  nun,  wie  derartige  Vorstellungen,  die  ebenso 
unbekannt  und  wenig  beachtet,  wie  häufig  vorkommend  sind, 
entstehen.  Für  die  chromatischen  Synopsien  (Photismen)  ist 
diese  Frage  durch  Bleuler  und  Lehmann  einerseits,  durch 
Flou&not  andererseits  grofsenteils  beantwortet  worden.  Man 
könnte  die  chromatischen  Synopsien  vielleicht  in  zwei  greise 
Untergruppen  teilen:  in  physiologische  und  in  psycho- 
logische Synopsien.  unter  den  ersteren  verstehe  ich 
solche,  welche  durch  physiologische  Prozesse  bedingt  sind  und 
im  eigentlichsten  Sinne  des  Wortes  „zwangsmäüsig^  sind,  so 
dafs  sie  auch  ohne  Zuthun  der  Überlegung  zu  stände  kommen 
würden,  unter  den  anderen  solche,  welche  durch  eine  urteils- 
mäfsig  entstandene,  aber  sehr  enge  und  untrennbare  Ver- 
knüpfung einer  Farbenvorstellung  mit  einem  nicht-visuellen 
Begriff  bedingt  werden. 

I.  Die  chromatischen  Synopsien. 

1.  Die    „physiologischen**  Photismen. 

Die  physiologischen  Synopsien  müssen  darauf  beruhen, 
dafs  die  Sehnerven  bei  gewissen  Schalleindrücken  in  Mit- 
erregung geraten.  Schon  Bleuler  und  Lehmann  haben  diese 
Erklärung  gegeben  und  weisen  auf  andere  Fälle  von  Mit- 
schwingungen nicht  gereizter  Nerven  hin  (a.  a.  0.  S.  58,  Anm.): 
„So  wird  der  Kitzel  in  der  Nase  beim  Blick  in  die  Sonne,  der  Zahn- 
schmerz oder  das  Frösteln  beim  Anhören  gewisser  Töne  durch 
Übergang  eines  Beizes  vom  Opticus-,  resp.  Acusticus-Zentrum 
auf  das  Zentrum  des  Trigeminus  erklärt.^  Dais  derartige  Mitr 
empfindungen  sich  in  sehr  intensiver  Weise  in  ganz  bestimmten, 
leicht  reizbaren  Nerven  geltend  machen  können,  beweist  eine 
von  Billboth  an  sich  selbst  gemachte  Beobachtung,  welche 
in  einem  seiner  in  der  y^Deutschen  Rundschau^  (Oktober  1894)  ver- 
öffentlichten Aufsätze  aus  seinem  Nachlafs:  „  Wer  ist  musikalisch?^ 
als  Eirläuterung  fär   synoptische  Erscheinungen  mitgeteilt  ist.^ 

^  Diese  wertvolle  Arbeit  ist  auch  selbständig  im  Verlag  von  Gebrüder 
Paetel  in  Berlin  erschienen. 


Entstehung  und  Bedeutung  der  Synopsien,  185 

Billroth  erzählt,  er  habe  einst,  als  in  einem  Konzert  eine 
Sängerin  mit  grofser  Sicherheit  das  zweigestrichene  b  um  einen 
vollen  viertel  Ton  zu  tief  einsetzte,  einen  heftigen  Schmerz  in 
einem  Zahn  empfunden,  welcher  ihm  bis  dahin  völlig  intakt 
zu  sein  schien.  Als  er  den  Zahn  aber  daraufhin  untersuchen 
liefs,  zeigte  es  sich,  dafs  er  kariös  geworden  war. 

Nur  selten  freilich  sind  die  Mitschwingungen  des  nervus 
opticus  bei  nicht-visuellen  Beizen  so  stark,  dafs  es  zu  that- 
sächlichen  Gesichtsempfindungen,  gleichsam  Halluzinationen, 
kommt,  doch  sind  auch  solche  Fälle  schon  mehrfach  berichtet 
worden.  Hierher  gehört  z.  B.  der  von  G-buber  mitgeteilte 
und  von  Flournoy  zitierte  Fall  eines  rumänischen  Professors: 
dieser  hatte  sehr  komplizierte  und  merkwürdige  Farbenempfin- 
dungen beim  Nennen  von  Zahlen,  welche  in  wunderbarster 
Weise  mathematisch  angeordnet  waren,  und  so  scharf,  dafs  ihre 
Gröfsenverhältnisse  bis  auf  Millimeter  genau  gemessen  werden 
konnten.  Bemerkenswert  ist  auch  das  Beispiel  jenes  Engländers, 
welcher  beim  Hören  eines  bestimmten,  akustisch  wirkungs- 
vollen Wortes  (three)  eine  rote  Fläche  so  deutlich  vor  sich  sah, 
dafs  eine  thatsächlich  vorhandene  gelbe  Fläche  sich  für  ihn 
orange  färbte. 

Meist  aber  werden  die  Mitschwingungen  des  nervus  opticus 
nur  so  geringfügig  sein,  dafs  nur  eine  Tendenz  besteht,  einen 
nicht-visuellen  Beiz  in  die  Sprache  des  Gesichts  zu  übersetzen, 
ohne  dafs  damit  irgend  eine  Direktive  für  die  Einzelheiten  der 
Synopsien  gegeben  ist.  In  manchen  Familien  neigt  jedes 
Individuum  in  ausgesprochenster  Weise  zu  Synopsien,  in 
anderen  kein  einziges ;  nie  aberzeigt  es  sich,  dafs  die  Formen 
der  Synopsien  sich  bei  mehreren  Mitgliedern  einer  Familie 
dermafsen  ähneln,  dafs  man  eine  Vererbung  derselben  annehmen 
müfste.  Nur  die.  Tendenz  zur  Synopsie  kann  daher 
vererbbar  sein,  hier  aber  ist  der  Einflufs  der  Vererbung 
auch  unverkennbar  und  unzweifelhaft;  am  deutlichsten  tritt  er 
in  den  ersten  sechs  von  Blbulbr  und  Lehmann  beschriebenen 
Fällen  hervor,  welche  alle  an  Personen  derselben  Familie  beob- 
achtet wurden.  Zu  genau  demselben  Resultat  hinsichtlich  der 
Vererbungsfrage  ist  Floubnoy  gekommen,  welcher  auf  Seite  204 
seines  Werkes  sagt:  ^^Für  den  Augenblick  neige  ich  zu  der 
Ansicht,  dafs  die  Vererbung,  welche  allmächtig  in  Bezug  auf 
die  allgemeine  Veranlagung  ist,  gewöhnlich  wenig  Einflufs  auf 


186  Bichard  Hennig, 

die  konkreten  Einzelheiten  hat."  Die  Tendenz  zur  Synopsie 
beruht  eben  auf  angeborenen  physiologischen 
Eigenschaften  irgend  welcher  Art,  die  Details  hin- 
gegen bilden  sich  erst  allmählich  im  Laufe  des 
individuellen  Lebens  aus  und  beruhen  gröfstenteils  auf 
Yerstandesurteilen.  Erworbene  Eigenschaften  aber  sind  nach 
der  Lehre  August  Wbismanns  nicht  vererbbar  oder,  wenn 
man  sich  selbst  nicht  auf  den  extremen  Standpunkt  Weismakns 
stellen  will,  doch  mindestens  nur  in  verschwindend  wenigen 
Fällen  vererbbar;  am  allerwenigsten  wird  man  also  eine  Ver- 
erbung der  erworbenen  Synopsien  erwarten  können,  welche 
nicht  nur  ganz  bedeutungslos  für  die  Existenzf&higkeit  des 
Individuums  sind,  sondern  sogar  den  meisten  Personen  niemals 
deutlich  zum  Bewufstsein  kommen. 

In  die  durch  rein  physiologische  Prozesse  bedingten  chro- 
matischen   S3niopsien    ist   schon    eine    gewisse   Gesetzmäfsig- 
keit     hineingebracht    worden.     Jede    Statistik    über   Farben- 
empfindungen   bei    Vokalen    zeigt   aufs    deutlichste,    dafs    den 
„dumpfen"  Vokalen  die  dunkelsten,  den  „hellen**  Vokalen  auch 
die   hellsten   Farben   mit   Vorliebe    entsprechen,    so    dafs    die 
Farben  immer  heller  werden,   je  weiter  man   in  der  akustisch 
geordneten  Reihenfolge  der  Vokale  u,   o,  a,  e,  i  fortschreitet. 
Allerdings  mufs  bemerkt  werden,    dafs  immerhin  im  einzelnen 
recht   zahlreiche   Ausnahmen   von    dieser    Begel    vorkommen, 
dennoch  aber  ergiebt  sich  mit  Sicherheit  das  Qesetz:  je  zahl- 
reichere und  lautere  Obertöne  ein  akustischer  Jäeiz 
enthält,  um  so  intensiver  und  heller  ist  zumeist   die 
begleitende  Farbenempfindung.     Schmetternde  oder  gar 
schrille  Töne,  Geräusche  und  Schreie,  wie  z.  B.  der  Klang  der 
Piccoloflöte,    das    Pfeifen    einer  Lokomotive,    das    Krähen    des 
Hahnes,    der  Schrei  des  Pfauen,    rufen  wohl  fast  ausnahmslos 
rote  oder  gelbe  Photismen  von  meist  beträchtlicher  Intensität 
hervor.    Auch  der  sehr  charakteristische  Klang  der  Trompete,  in 
welchem  Instrument  die  Obertöne    am  schärfsten    nächst    der 
Piccoloflöte  hervortreten,  erweckte  ausschliefslich  rote  und  gelbe 
Farbenempfindungen,    ebenso    wie    der    Vokal,     welcher    dem 
strahlenden  Klange  der  Trompete  am  nächsten   kommt,    das  a 
(mit  „traterata"  sucht  man  ja  den  Trompetenklang  am  genauesten 
gU  reproduzieren)  gern  als  rot    angegeben  wird.     Die    tieferen 
Blechinstrumente,  Posaunen  und  Tuben,  geben  zwar  auch  nach 


Entstehung  und  Bedeutung  der  Synopsien,  lg7 

den  vorliegenden  Angaben  meist  eraen  roten  Klang  von  sich, 
jedoch  schon  mit  einem  starken  Stich  ins  Violette,  bezw. 
Schwarze  (korrespondierende  Vokale :  o,  ou,  u).  Der  sanfte  Ton 
der  Flöte,  welcher  eine  nur  geringe  Anzahl  von  Obertönen 
enthält,  wird  vorzugsweise  mit  der  beruhigenden  blauen  Farbe 
identifiziert  (Vokal:  ö  bis  ü).  Die  Töne  der  Orgel  und  des 
Fagots  (Vokal:  ou,  bezw.  das  schwedische  ä  oder  die  Aussprache 
des  a  im  englischen  Wort  small)  entsprechen  düsteren,  farb- 
losen Gesichtseindrücken,  schwarz  oder  grau.  Nebenbei  sei 
darauf  hingewiesen,  dafs  die  betonte  Silbe,  zumal  der  betonte 
Vokal,  im  Namen  eines  musikalischen  Instrumentes,  in  den 
meisten  Fällen  den  charakteristischen  Klang  desselben  schildert* 

Die  Angaben  verschiedener  Individuen  über  ihre  Farben- 
empfindungen varüeren  zwar  beim  gleichen  akustischen  Objekt 
sehr  stark,  und  gerade  bei  den  einfachsten  akustischen  Beizen, 
den  Vokalen,  finden  sich  die  allerstärksten  Differenzen  in  den 
Synopsien,  *  nichtsdestoweniger  wird  ein  und  dasselbe  Indivi- 
duum allen  Klängen,  deren  physiologische  Wirkung  eine  ähn- 
liche sein  mufs,  auch  eine  mehr  oder  weniger  übereinstimmende 
Farbe  zuschreiben.  Der  eine  empfindet  z.  B.  Vokale  und  Klänge 
mit  scharfen  Obertönen  stets  als  rot  oder  gelb,  der  andere 
jedoch  durchweg  als  grün.  Wo  derartige  Differenzen  vor- 
kommen, da  wird  man  im  allgemeinen  beobachten  können,  dafs 
alle  Schalleindrücke  von  einem  Individuum  um  eine  Nuance 
dunkler,  bezw.  heller  empfunden  werden,  als  vom  anderen. 
Derartige  durchgängige  Difi*erenzen  würden  gerade  um  so  mehr 
auf  eine  physiologische  Entstehung  der  betreff*enden  chroma- 
tischen Synopsien  schliefsen  lassen,  da  sich  bei  einer  psycho- 
logischen Entstehungsursache,  also  einer  mehr  oder  weniger 
willkürlichen  Auffassung  der  akustischen  Beize,  schwerlich 
gleichmäfsige  Differenzen  für  alle  Schälle  ergeben  und  erklären 
würden. 

Eines  der  interessantesten  Kapitel  aus  dem  Gebiete  der 
physiologischen  Synopsien,  die  Farbenempfindungen  bei  be- 
stimmten Tonarten,  welche  es  zuweilen  zu  gestatten  scheinen, 
lediglich  an  der  ins  Bewufstsein  tretenden  Farbe  die  jeweilige 

*  Der  Grund  dafür  wird  darin  liegen,  dafs  bei  dem  einen  der  nervus 
opticus  leichter  miterregt  werden  kann,  als  beim  anderen.  Auch  ein 
Sehlag  aufs  Auge  ruft  bei  einigen  Individuen  stets  gelbe,  bei  anderen 
stets  rote  Farbenempfindungen  hervor. 


188  Bichard  Hennig, 

Tonart  zu  erkennen,  möchte  ich  hier  übergehen,  erstens,  weil 
noch  zu  wenig  Material  darüber  vorliegt,  und  weil  ich  selbst 
bisher  erst  sehr  wenig  derartige  Angaben  sammeln  konnte, 
zweitens  aber  auch,  weil  ich  hoffe,  in  einer  beabsichtigten 
Untersuchung  über  Tonarten-Charakteristik  darauf  eingehend 
zurückzukommen.  Ich  möchte  aber  an  dieser  Stelle  die  Bitte 
aussprechen,  dafs  alle  Leser,  welche  Mitteilungen  über  derartige, 
sehr  seltene  Erscheinungen  zu  machen  im  stände  sind,  sie  mir 
durch  die  gütige  Vermittelung  der  Redaktion  dieser  Zeitschrift 
zukommen  lassen. 

Den  Schlufs  dieser  Betrachtungen  über  die  physiologischen 
Photismen  mögen  zwei  Bemerkungen  bilden,  welche  sieb  in 
dem  Werke  von  Bleuler  und  Lehmann  (S.  50  und  51)  finden: 
„Es  ist  also  nicht  auszuschliefsen ,  dafs  die  Doppel- 
empfindungen in  der  Anlage  bei  jedem  Menschen  vorhanden 
sind,  dafs  sie  aber  bei  der  Mehrzahl  durch  die  übrigen  Ein- 
drücke des  Lebens  mit  der  Zeit  verwischt  werden,  resp.  nicht 
zum  Bewufstsein  kommen  können.^  „Dafs  eine  gewisse  Anlage 
zu  Sekundärempfindangen  bei  allen  Menschen  vorhanden  ist, 
scheint  femer  die  Allgemeinverständlichkeit  der  Ausdrücke: 
„Helle  Töne",  „spitze  Töne",  „scharfes  Zischen",  „dumpfe 
Klänge",  „dumpfe  Gefühle",  „scharfe  Gerüche  und  Geschmäcke", 
„schreiende  Farben"  anzudeuten."  (Die  Bezeichnungen  „Parben- 
ton"  und  „Tonfarbe"  gehören  hingegen  nicht  hierher.)  Diese 
Bezeichnungen  sind  keineswegs  konventionell,  sondern  basieren 
auf  völlig  vorurteilslosen  Empfindungen,  welche  gerade  die 
physiologische  Herkunft  mancher  Synopsien  deutlich  zu  be- 
weisen scheinen.  Stumpf  erzählt  z.  B.  in  seiner  y^Tonpsychohgie^ 
(Bd.  II,  S.  531),  dafs  sein  4V2Jähriges  Söhnchen,  als  es  eine 
von  zwei  Kindertrompeten  geschenkt  erhalten  sollte,  diejenige 
wählte,  welche  einen  Ton  tiefer  als  die  andere  gestimmt  war, 
mit  den  Worten:  „Ich  will  die  dunklere  haben." 

2.    Die  „psychologischen"  Photismen. 

Wenden  wir  uns  nun  den  psychologischen  Photismen  zu! 
Während  bei  den  physiologischen  Synopsien  der  Farbeneindruck 
die  unmittelbare,  notwendige  Folge  des  akustischen  Reizes 
war,  sind  die  psychologischen  Synopsien  unwillkürlich  erfunden, 
um  einem  Gehirn,  welches  sich  rein  abstrakte  Gegenstände  schlecht 
vorstellen   kann,    ein  gewissermafsen   konkretes    Anschauungs- 


Entstehung  und  Bedeutung  der  Synopsien.  189« 

mittel  zu  gewähren.  Ich  habe  daher  auch  gefunden,  dafs  Leute, 
die  sich  viel  mit  abstrakten  Gegenständen  beschäftigen/'zumal 
Mathematiker,  am  wenigsten  und  seltensten  zu  Synopsien  neigen. 

Die  Entstehung:  der  psycholosrischen  Synopsien  im  all- 
gemeinen  beruht,  wie  ges^  auf  Urteilaüberti^gen.  auf 
9 Assoziationen",  um  einen  Ausdruck  Flournots  zu  gebrauchen. 
Flournot  unterscheidet  insgesamt  drei  Arten  der  Assoziationen, 
die  „Gefuhlsideenassoziation",  die  „gewöhnliche  Assoziation"  und 
die  „privilegierte  Assoziation".  „Die  Gefühlsassoziation  ist  die- 
jenige, welche  zwei  Wahrnehmungen  unter  sich  verknüpft,  nicht 
infolge  von  qualitativer  Ähnlichkeit,  noch  vermöge  ihres  regel- 
mäTsigen  oder  häufigen  Zusammentreffens  im  Bewufstsein, 
sondern  durch  die  Analogie  ihres  aufsergewöhnlichen  Charakters." 
Wenn  man  die  von  mir  gemachte  Einteilung  in  physiologische 
und  psychologische  festhält,  so  sind  die  Synopsien  durch 
Gefühlsassoziation,  für  die  sich  im  vorigen  Abschnitte  zahl- 
reiche Beispiele  finden,  wohl  durchweg  solche  physiologischer 
Art.  „Die  habituelle  Assoziation  ist  diejenige,  durch  welche 
zwei  Dinge,  welche  sich  beständig  oder  gewöhnlich  ver- 
einigt zeigen,  im  Geiste  schliefslich  verbinden  und  ein  un- 
lösliches Ganzes  bilden Die  privilegierte  Assoziation  ist 

diejenige,  durch  welche  in  unseren  Gedanken  gewisse  Dinge 
eng  verbunden  sind,  nur  weil  einmal,  vielleicht  nur  ein  ein- 
ziges Mal,  ihre  Verbindung  uns  lebhaft  getroffen  und  eine 
unzerstörbare  Spur  in  unserem  Nervensystem  zurückgelassen  hat." 

Für  diese  beiden  letzten  Assoziationen  sei  zunächst  je  ein 
Beispiel  gegeben.  Dsts  Wesen  der  habituellen  Assoziation  wird 
am  klarsten  dargelegt  durch  die  Synopsien  einer  von  Flournot 
be&agten  Dame,  welche  den  Klang  des  Klaviers  als  schwarz 
und  weifs  empfand,  den  der  Violine  als  holzbraun,  den  der 
Blechinstrumente  als  gelb.  Die  Bedeutung  der  privilegierten 
Assoziation  hingegen  zeigt  sich  recht  deutlich  in  den  Angaben 
eines  Herrn  im  BLSüLER-LEHMANNschen  Werk  (laufende  No.  58). 
Dieser  erklärte,  bei  dem  Gedanken  an  Sonntag  eine  blaue,  an 
Mittwoch  eine  weifse  Farbe  zu  empfinden,  und  bemerkte  dazu: 
„Ich  erinnere  mich  ganz  bestimmt,  dafs  ich  als  kleiner  Knabe 
sonntags  lange  Zeit  schön  königsblau  gekleidet  war  ..... 
Als  ich  einst  mit  meiner  Mutter  reiste,  fragte  ich  dieselbe, 
was  für  einen  Tag  wir  hätten.  Es  hiefs  „Mittwoch",  und  in 
demselben    Augenblick    fuhren   wir    an    einem   weifsen   Hause 


190  Biehard  Hennig. 

vorbei,  an  dessen  Ecke  eine  Bolle  (etwa  zum  Aufziehen  einer 
Laterne)  befestigt  war.  Seitdem  erweckte  mir  der  Mittwoch 
noch  lange  Zeit,  worüber  meine  Mutter  oft  lachte,  die  Vorstellung 
eines  weifsen  Hauses  mit  einer  Bolle  daran,  die  später  all- 
mähUch  einfach  zu  weifs  verblafste."  (A.  a.  O.  S.  33.) 

Sowohl  die  habituellen,  wie  die  privilegierten  Assoziationen 
führen  natürlich  ausschliefslich  zu  psychologischen  Synopsien. 
Als  habituelle  Assoziationen  muTs  man  auch  die  nicht  seltenen 
Erscheinungen  betrachten,  dafs  Farbenbezeichnungen  auf  den 
in  ihnen  vorkommenden  Vokal  bestimmend  einwirken,  daüs  a 
aus  diesem  Grunde  z.  B.  als  schwarz  empfunden  wird,  e  ab 
gelb,  0  als  rot  u.  s.  w.  Besonders  bei  statistischen  Unter- 
suchungen über  die  Häufigkeit  der  einzelnen  Farben  bei  den  ver- 
schiedenen Vokalen  und  Diphtongen  mufs  dieser  Faktor  sehr 
berücksichtigt  werden,  da  er  leicht  das  Besultat  beträchtlich 
trüben  kann. 

Eine  interessante  habituelle  Assoziation  bei  bestimmten, 
sehr  eindrucksvollen  und  charakteristischen  Musikstücken  wird 
von  Bleuler  und  Lehmann  angegeben:  Ein  22 jähriger,  sehr 
musikalischer  Studiosus  der  Philosophie  empfindet  den  Q-esang 
der  Bheintöchter  zu  Beginn  des  „Bheingold^  (Klavierauszug 
S.  b,  Zeile  4  und  5)  als  blafsgrün,  offenbar,  weil  der  G-edanke 
an  den  grünen  Bhein,  bezw.  die  charakteristisch  grüne  Beleuch- 
tung der  Bühne  in  diesem  Moment  am  stärksten  wirken.  Die 
Musik  zu  Beginn  des  „Feuerzaubers"  (Walküre,  Klavierauszug, 
S.  269,  Zeile  3  bis  S.  270,  Zeile  1),  zumal  der  letzte  Takt  der 
Zeile  4  und  6  auf  S.  269,  rufen  die  Empfindung  grellrot  her- 
vor. Die  zweite  Zeile  auf  S.  266  der  „Walküre"  vom  fünften 
Takt  an  wird  als  glänzend  hellgrau  angegeben;  es  handelt  sich 
um  jene  wunderbaren,  unendlich  ergreifenden,  absteigenden 
Harmoniefolgen,  welche  erklingen,  während  Wotan  die  Walküre 
in  Schlaf  küfst.  Der  Gedanke  an  das  Fallen  in  Schlaf,  das 
Vergessen  aller  Seelenpein,  das  in  unübertreflFlicher  Weise  durch 
jene  genialen  Akkordfolgen  wiedergegeben  wird,  kann  aller- 
dings bei  musikalisch  und  synoptisch  empfänglichen  Personen 
den  Gedanken  an  Grau  jedesmal  hervorrufen.  Im  übrigen 
aber  sind  die  habituellen  Assoziationen  natürlich  relativ  selten 
und  bedeutungslos,  die  privilegierten  sind  es  daher  allein,  welche 
uns  im  folgenden  noch  beschäftigen  werden.  Selbstverständlich 
sind    die    Wirkungen    der    verschiedenen    Assoziationen    nicht 


Entstehung  und  Bedeutung  der  Sgnopsien.  191 

immer  ohne  weiteres  zu  erkennen,  und  oft  wird  man  im  Zweifel 
sein,  ob  man  es  mit  einer  privilegierten  oder  Gefühlsassoziation, 
einer  psychologischen  oder  physiologischen  Synopsie  zu  thun  hat. 
Nur  gar  zu  leicht  verblassen  die  Vorstellungen,  welche  auf  die 
Farbenempfindung  bestimmend  einwirkten,  und  man  ist  nicht 
mehr  im  stände,  sich  zu  erinnern,  welche  privilegierte  Assoziation, 
und  ob  überhaupt  eine  solche  vorliegt.  Bleuler  und  Lehmann 
meinen  zwar,  dafs  Farbenempfindungen  bei  Buchstaben  z.  B., 
welche  durch  Eigentümlichkeiten  des  ÄBCr-'BvLohes  hervorgerufen 
wurden  (sie  kennen  nur  zwei  solche  Fälle)  sich  charakteristisch 
von  anderen  Photismen  unterscheiden,  doch  bin  ich  persönlich 
nicht  geneigt,  mich  dieser  Ansicht  anzuschliefsen.  Man  findet 
zu  oft  Fälle,  in  denen  Personen  zweifelhaft  sind,  ob  sie  die 
Farben  ihrer  Photismen  auf  irgend  ein  früheres  Erlebnis,  eine 
bestimmte  privilegierte  Assoziation  zurückführen  dürfen  oder 
nicht ;  auch  ist  mir  noch  nie  von  Personen,  welche  einige  ihrer 
Farbenphotismen  mit  Sicherheit  analysieren  konnten  (Böte  des 
Sonntags  durch  die  gewöhnlich  rote  Färbung  der  betreffenden 
Daten  am  Kalender,  Böte  des  A  durch  ein  Buchstabenspiel, 
in  dem  der  Buchstabe  Ä  von  roten  Bösen  umgeben  war,  Z  ge- 
streift wegen  des  Wortes  „Zebra^  u.  s.  w.)  die  Angabe  gemacht 
worden,  dafs  diese  Photismen  sich  von  zahlreichen  anderen 
unterschieden,  welche  bei  ihnen  sicherlich  physiologischen 
Ursprungs  sind. 

Es  ist  auch  nur  zu  natürlich,  dafs  die  Erinnerung  an  die 
Veranlassung  zu  den  jeweiligen  psychologischen  Synopsien  bald 
erlischt,  da  die  Photismen  zumeist  erst  dann  beachtet  werden, 
wenn  von  anderer  Seite  darauf  hingewiesen  wird.  Ein  guter 
Freund  von  mir  hat  früher  längere  Zeit  den  Ton  der  Klarinette 
als  blau  empfunden,  weil  ihn  einmal  eine  Stelle  zu  Beginn  der 
ScHUBBRTschen  H-moU  Symphonie,  wo  die  Klarinette  allein  hoch 
über  den  anderen  Instrumenten  schwebt,  an  den  klaren,  blauen 
Himmel  erinnert  hatte,  der  sich  über  der  Erde  ausspannt.  Wie 
leicht  hätte  die  Erinnerung  an  die  Ursache  dieses  Photißmas 
verloren  gehen  können!  Und  ähnlich  wird  ^es  mit  zahllosen 
anderen  psychologischen  Synopsien  sich  verhalten. 

Ehe  wir  die  chromatischen  Synopsien  verlassen,  mufs  noch 
auf  eine  sekundäre  Möglichkeit  ihrer  Entstehung  hingewiesen 
werden,  welche  sich  keiner  der  drei  FLOURNOYschen  Assoziationen 
zuzählen  läfst.     Es  ist  möglich,    dafs  ein  besonders  intensiver 


192  Richard  Hennig. 

Farbeneindruck  von  einem  Buchstaben  oder  einer  Zahl  auf 
andere  Q-egenstände  übertragen  wird,  welche  in  irgend  einer, 
wenn  auch  noch  so  geringfügigen  Beziehung  dazu  stehen. 
Einen  besonders  anschaulichen  und  eigenartigen  Beleg  hierfxir 
bietet'  mein  jüngerer  Bruder  Bruno,  welcher  gegenwärtig 
15  Jahre  alt  ist:  Die  Zahl  7  erscheint  ihm  grün;  dieser  um- 
stand bewirkt,  dafs  auch  alle  Vielfachen  von  7  grün  gef&rbt 
oder  doch  mit  Grün  gemischt  sind.  14  giebt  er  als  grün  an, 
21  als  grün  und  gelb  (gelb,  weil  ihm  die  Zahl  3  ^  gelb  bis  hell- 
braun erscheint),  28  als  rot  und  grün  (8  empfindet  er  rot),  35 
als  etwas  grün  (5  ist  farblos),  42  als  grün  und  braun  (6'  ist 
braun),  49  als  grün  und  blau  (9  hält  er  für  blau),  56  als  grün 
und  rot  (rot  wegen  der  8^),  63  als  etwas  braun  (das  Braun  über- 
wiegt hier  wohl,  weil  sowohl  der  3,  wie  der  6  diese  Farbe  zu 
eigen  ist),  70—79  als  grün.  Aufserdem  aber  legt  er  auch  dem 
September  und  der  Septima  eine  grüne  Farbe  bei  wegen  des 
darin  enthaltenen  Septem.  Dieses  letzte  Beispiel  beweist  auch, 
dafs  sich  zuweilen  die  chromatischen  Synopsien  noch  recht 
spät,  in  diesem  Falle  in  der  Sexta  oder  Quinta  entwickeln«' 
Auch  dem  April  legt  er  eine  grünliche  Färbung  bei  aus  einem 
sicherlich  sehr  komplizierten  Ghrunde.  Ein  anderer  Bruder  von 
mir  hat  nämlich  am  27.  April  Geburtstag,  jener  wurde  des- 
halb früher  durch  das  Wort  April  zunächst  an  den  27.  dieses 
Monats  erinnert,  und  da  ihm  diese  Zahl  wegen  der  darin  vor- 
kommenden 7  grün  erschien,  übertrug  er  die  Färbung  auf  den 
ganzen  Monat. 

In  so  ausgeprägter,  sonderbarer  Weise  werden  sich  die 
Übertragungen  nur  selten  geltend  machen,  gewöhnlich  sind  sie 
einfacherer  Natur,  etwa  derart,  dafs  ein  bestimmter  Buchstabe 
oder  mehrere  dem  ganzen  Worte  eine  Farbe  verleihen.  Z.  B.  giebt 
mir  mein  eben  erwähnter  Bruder  Bruno  an,  der  Name  Ernst 
sei  für  ihn  grün  gefärbt,  weil  er  dem  r  und  dem  t  diese  Farbe 
beüege. 


»  21  =  8.  7,  42  =  e.  7,  56  =  8.  7. 

*  So  giebt  mir  auch  mein  19j ähriger  Bruder  Ernst  an,  dafs  die 
„klare,  wasserblaue"  Farbe,  welche  er  dem  Buchstaben  a  beilegt,  erst 
seit  etwa  4  Jahren  für  ihn  existiere ;  zurückzuführen  sei  sie  wahrschein- 
lich auf  den  „Wagalaweia" -Gesang  der  Bheintöchter  im  „Bheingold'' , 
welchen  er  im  September  1891  kennen  lernte. 


Entstehung  utul  Bedeutung  der  Synopsien.  193 

II.   Die  Diagramm-Synopsien. 

Wenden  wir  uns  nunmehr  zu  dem  weit  reichhaltigeren 
Thema  der  geometrischen^  Synopsien,  speziell  der  Diagramme! 
Das  Wesen  der  Diagramme  für  Zahlen  (Galtons  „number  forms^), 
der  wichtigsten  dieser  Art,  beschreibt  Floubkoy  sehr  gut  folgen  der- 
maiaen:  „Jedesmal,  wenn  die  Person,  welche  diese  Eigentüm- 
lichkeit besitzt,  an  eine  Zahl  denkt,  sieht  sie  plötzlich  und 
automatisch  im  Felde  ihres  geistigen  Gesichtsfeldes  eine  be- 
stimmte und  unveränderte  Stelle,  auf  welcher  jede  Zahl  eine 
bestimmte  Stellung  einnimmt.  Diese  Stelle  kann  in  einer  Linie 
bestehen  oder  in  einer  Beihe  von  Ziffern,  die  in  einer  gewissen 
Stellung  angeordnet  sind  oder  in  einer  Art  von  besonderer 
Farbe.^  Nicht  nur  für  die  Zahlen  giebt  es  Diagramme,  sondern 
auch  für  Buchstaben,  Wochentage,  Monate,  Tagesstunden, 
Jahreszahlen  u.  s.  w. 

Um  solchen  Personen,  welche  derartige  Diagramme  nicht 
kennen  —  Bleuler  und  Lehmann  nennen  sie  „Negative^  — 
und  welche  nur  gar  zu  oft  in  unberechtigter  Weise  über  solche 
Yorstellungen  spotten,  das  Wesen  und  die  Entstehung  derselben 
verständlich  zu  machen,  sei  es  mir  gestattet,  an  folgendes  zu 
erinnern:  Jedesmal,  wenn  uns  von  einer  Person  oder 
einem  Gegenstande  gesprochen  wird,  sehen  wir  das 
Objekt  in  allerdings  sehr  unbestimmten  umrissen: 
vor  unserem  geistigen  Auge.  Fast  niemals  kommt  uns 
dieser  Prozeis  zum  Bewulstsein,  und  doch  ist  es,  wenn  man  die 
Bedeutung  des  Wortes  Baum  z.  B.  verstehen  will,  unumgänglich 
notwendig,  dafs  man  ein  derartiges  Objekt  oder  doch  einen 
Teil  desselben  sich  geistig  reproduziert'.  Wir  sehen  hier  das 
Lokalisationsbedürfiiis  im  ersten  Stadium  vor  uns. 

Selbst  Ansätze  zu  Diagrammen  wird  man  wohl  bei  den 
meisten  Menschen  finden:  speziell  beim  Gedanken  an  Gedrucktes 

^  Es  handelt  sich  bei  diesen  natürlich  ausschliefslich  um  psycho- 
logische Synopsien.  Überhaupt  ist  hier  die  Bezeichnung  „Synopsie'^  nur 
berechtigt,  wenn  man  jede  Übersetzung  in  die  Sprache  des  Gesichts  als 
solche  definiert. 

*  Blindgeborene  werden  sich  vermutlich,  um  die  Bedeutung  eines 
Wortes  zu  erfassen,  vorstellen  müssen,  wie  der  bezeichnete  Gegenstand 
anzufühlen  ist.  Ob  bei  ihnen  die  Vorstellung  abstrakter  Gegenstände 
unter  umständen  Prozesse  bedingt  (im  Tastsinn),  welche  den  Synopsien 
janalog  sind,  vermag  ich  nicht  zu  sagen. 

Zeitschrift  für  Psychologie  X.  13 


194  Richard  Henmg. 

oder  Geschriebenes,  mit  dem  man  oft  zu  thun  hat  und  das  man 
immer  in  gleicher  Weise  angeordnet  vorfindet,^  etwa  weil  man 
immer  dasselbe  Exemplar  benutzt,  wird  die  bestimmte  Baum- 
empfindung der  aufgeschlagenen  Buchseite  mit  der  jeweiligen 
bekannten  Lokalisation  des  Schriftstückes  vorschweben.  So  sehe 
ich  beim  Gedanken  an  eine  griechische  Verbalform  stets  die  Stelle 
der  KRüGBKschen  griechischen  Grammatik  vor  mir,  an  welcher 
die  entsprechende  Form  des  Paradigmas  kvw  steht.  Das  Aktiv 
nimmt  die  rechte  Seite  des  vorgestellten  aufgeschlagenen  Buches 
ein,  das  Passiv  die  Bückseite  dieses  Blattes  und  das  Medium 
den  dritten  Teil  der  nächstfolgenden  Seite,  alles  genau  in  der 
Anordnung,  wie  ich  sie  beim  Lernen  der  Formen  von  Iva  mir 
eingeprägt  habe.  Ebenso  sehe  ich  viele  lateinische  Formen 
und  Begeln,  ebenso  HoBAzische  Oden  in  Gedanken  immer  da, 
wo  ich  sie  gedruckt  bezw.  geschrieben  so  oft  gesehen  habe. 
Es  ist  mir  absolut  unmöglich,  die  betreffende  Verbalform  etc. 
getrennt  von  ihrer  bestimmten  Lokalisationsempfindung  mir 
vorzustellen.  SelbstverständUch  genügt  auch  zur  Entstehung 
der  Lokalisationsformen  unter  Umständen  ein  einziger  erster 
Eindruck  statt  des  oft  wiederholten.  Spätere  abweichende  Em- 
pfindungen können  die  erste,  wenn  diese  sich  fest  eingeprägt 
hat,  nicht  mehr  beeinflussen. 

Diese  einfacheLokalisationsempfindung  steigert  sich  nun  sehr 
häufig  zu  Diagrammformen,  in  welchen  auch  abstrakte  Begriffe 
verschiedenster  Art  angeordnet  erscheinen.  Es  kann  von  vorn- 
herein kaum  einem  Zweifel  unterliegen,  dafs  die  Diagramme  ihre 
Gestalt  ausschliefsUch  und  unter  allen  umständen  persönlichen 
Erlebnissen  ihres  Besitzers,  zumeist  aus  früher  Kindeszeit, 
verdanken,  dennoch  ist  es  fast  nie  möglich,  sich  über  die  Ur- 
sachen, welche  den  Diagrammen  ihre  Gestalt  geben,  Eechen- 
schaft  abzulegen.  Unter  den  Hunderten  von  Diagrammen, 
welche  Flournoy  studiert  hat,  fand  sich  nur  ein  einziges  (ein 
Zahlendiagramm),  dessen  Entstehung  sich  mit  Sicherheit  an- 
geben liefs,  indem  sein  Besitzer  es  auf  einen  Traum  zurück- 
zuführen im  stände  war.  Eine  Beihe  anderer  Diagramme 
konnte  nur  vermutungsweise,  die  überwiegende  Mehrzahl  aber 
gar  nicht  auf  bestimmte  Ursachen  reduziert  werden.     Es   darf 

^  Beim  Gedanken  an  Länder  pflegt  man,  da  andere  Anhaltspunkte 
fehlen,  die  betrefiPende  geographische  Karte  vor  seinem  geistigen  Auge 
zu  sehen. 


Entstehung  und  Bedeutung  der  Synopsie^i,  195 

daher  nicht  wunder  nehmen,  wenn  manche,  die  mit  Weismanns 
Lehren  nicht  vertraut  waren,  an  ein  Angeborensein  bezw.  eine 
Vererbung  der  Diagrammformen  glaubten. 

Galton  führt  in  seinem  Werke  eine  gröfsere  Anzahl  von  Bei- 
spielen und  Abbildungen  vor,  welche  nach  seinem  Daforhalten 
den  Einflufs  der  Vererbung  von  Diagrammformen  beweisen.  Wenn 
man  sich  aber  seine  Beispiele  betrachtet,  so  sind  es  eigentlich  nur 
zwei  (Figg.  55  und  56  einerseits,  59  und  60  andererseits),  bei 
welchen  die  Ähnlichkeiten  die  Unähnlichkeiten  dermafsen  über- 
wiegen, dafs  man  einen  blofsen  Zufall  wohl  ausschliefsen  mufs. 
Ist  man  deshalb  aber  gezwungen,  bei  diesen  Fällen  von  einer  Ver- 
erbung zu  sprechen,  zumal  es  sich  nur  um  eine  Ähnlichkeit, 
nicht  im  entferntesten  aber  um  eine  Identität  handelt?  Im 
einen  Fall  besteht  die  Ähnlichkeit  zwischen  Vater  und  Sohn, 
im  anderen  zwischen  Bruder  und  Schwester.  Schon  Flournot, 
der  nur  die  Tendenz  zur  Synopsie  für  vererbbar  hält  und  selbst 
niemals  einen  Fall  beobachtet  hat,  welcher  in  derselben  Familie 
so  starke  Übereinstimmungen  aufgewiesen  hätte,  wie  sie  in 
den  GALTONschen  Beispielen  sich  finden,  warnt  vor  übereilten 
Schlüssen  hinsichtlich  der  Vererbung  der  Synopsien.  Er 
spricht  schon  auf  Seite  204  von  den  „Wirkungen  derselben  Um- 
gebung, der  Nachahmung  u.  s.  w.^,  ohne  aber  diesen  wichtigen 
Punkt  genügend  stark  zu  betonen.  Der  Hauptgrund  für 
Ähnlichkeiten  in  den  Synopsien  derselben  Familie  ist  natürlich 
in  den  „Wirkungen  derselben  Umgebung"  zu  suchen.  Die 
gleichen  Lehrbücher,  welche  die  Kinder  benutzen,  die  gleiche 
Landschaft,  bezw.  der  gleiche  Stadtteil,  wo  die  Kinder  auf- 
wachsen u.  s.  w.,  müssen  natürlich  zuweilen  Ähnlichkeiten  inner- 
halb  derselben  Familie  bedingen,  die  Übereinstimmungen  zwischen 
Geschwistern  sind  daher  auch  auffallender  und  häufiger,  als  die 
zwischen  Eltern  und  Kindern.  Auch  zwischen  meinen  Synopsien 
und  denen  meiner  Geschwister  bestehen  einige  recht  aufiBllende 
Ähnlichkeiten.  Da  ich  nun  in  der  glücklichen  Lage  bin,  eine 
relativ  grofse  Anzahl  dieser  Synopsien,  zum  Teil  sogar  die  er-^ 
wähnten  Übereinstimmungen,  auf  bestimmte  Ursachen  zurück- 
zufahren, so  sei  es  mir  gestattet,  im  folgenden  mich  eingehender 
über  eine  Beihe  von  Synopsien  in  meiner  Famihe  zu  verbreiten. 

Ich  selbst  neige,  ebenso  wie  meine  Geschwister,  in  selten 
starkem  Mafse  zu  Diagrammempfindungen.  Floubnot  kennt 
Diagramme    für    das    Alphabet,    die    Zahlen,    die   Monate,    die 

13* 


196  Eichard  Hennig, 

Wochentage,  die  Tagesstiinden  und  die  Weltgeschichte,  und  es 
acheint,  als  ob  ein  gleichzeitiges  Auftreten  von  mehr  als  vier 
derartigen  Diagrammen  zu  den  Seltenheiten  gehört.  Ich  nun 
habe  für  alle  sechs  aufgezählten  Objekte  je  ein  charakteristisches 
Diagramm,  auüserdem  noch  für  die  griechischen  Verbalformen 
und  die  Schulklassen,  einer  meiner  Brüder  auch  für  die  Bücher 
des  alten  Testaments.  Farbeneindrücke,  chromatische  Syn- 
opsien,  kenne  ich  merkwürdiger  weise  gar  nicht,  während  maine 
Geschwister  auch  dazu  in  hohem  Grade  disponiert  sind.  Wohl 
aber  sehe  ich  meine  Diagramme  ausnahmslos  in  verschiedenea 
Tagesbeleuchtungen,  vom  grellsten  Sonnenlicht  bis  zum  tiefsten 
Schatten,  bezw.  zur  nächtlichen  Dunkelheit. 

Die  Entstehung  meines  alphabetischen  Diagramms  kann 
ich  mit  völligster  Sicherheit  angeben,  ohne  auch  nur  im  ge- 
ringsten mit  Vermutungen  zu  operieren.  Ich  sehe  das  Alphabet 
in  grofsen  lateinischen  Buchstaben  vor  meinem  geistigen  Auge 
in  folgender  Anordnung  und  Gröfse: 


ABCDEFG 
HIJELMN 
0  P  Q  »  S  T 
U V WXTZ 


Die  erste  Beihe  scheint  mir  im  Schatten  zu  liegen,  gegen 
Schlufs  wie  von  einer  Art  Beflezlicht  der  zweiten,  von  leicht 
abgeblendetem  Sonnenlicht  ziemlich  hell  erleuchteten  Heihe 
getroffen,  in  der  dritten  herrscht  wieder  tiefer  Schatten,  der, 
immer  mehr  zunehmend,  bei  den  Buchstaben  R  bis  T  ein 
Maximum  der  Dunkelheit  hervorruft;  die  letzte  Beihe  ist  etwas 
heller,  wird  aber  durch  den  Schatten  der  oberen  Beihe  von 
dem  Sonnenlichte  nicht  getroffen.  Dafs  die  beiden  letzten 
Beihen  einen  Buchstaben  weniger  haben,  als  die  beiden  ersten, 
entgeht  mir  völlig;  da  ich  nur  allenfalls  gleichzeitig  mit  einem 


Entstehung  und  Bedeutung  der  Synopsien.  197 

Buchstaben  die  in  derselben  Beihe  liegenden  bemerke,  nicht 
die  damnter-  und  darüberstehenden,  so  scheint  mir  jede  Beihe 
gleich  viel  Buchstaben  zu  besitzen.  Ich  sehe  das  Diagramm 
nicht  vertikal,  sondern  horizontal  vor  mir  ausgebreitet  und 
iuhle  mich  beim  Ghedanken  an  einen  bestimmten  Buchstaben 
gleichsam  darüber  schwebend,   den  Blick  nach  unten  gewandt. 

Ich  entsinne  mich  nun  mit  Bestimmtheit,  dals  sich  in  einer 
Reihe  von  einfachen  Zeichenvorlagen,  die  ich  als  etwa  vier- 
jähriger Junge  besafs,  ein  Alphabet  vorfand,  welches  genau 
mit  der  Anordnung  meines  jetzigen  Diagramms  in  allen  Einzel- 
heiten übereinstimmte,  und  es  kann  gar  keinem  Zweifel  unter- 
liegen, dafs  mein  Diagramm,  das  ich  vom  ersten  Augenblick 
meines  Lesens  an  besessen  zu  haben  glaube,  in  jener  Zeichen- 
vorlage, nach  der  ich  noch  dazu  die  Buchstaben  des  Alphabets 
lernte,  ihre  Entstehungsursache  findet.  Daraus  erklärt  sich 
auch  in  überraschender  Weise  der  Umstand,  dafs  ich  mir  das 
Diagramm  liegend  und  mich  darüber  schwebend  vorsteUe. 
Woher  freiHch  die  bedeutenden  Verschiedenheiten  der  Be- 
leuchtungseffekte stammen,  vermag  ich  nicht  anzugeben. 

Schwieriger  ist  eine  Diskussion  meines  Zahlendiagramms, 
welche  aber  insofern  wertvoll  ist,  als  ich  hier  auch  den  Grund 
der  verschiedenartigen  Helligkeiten  angeben  kann.  Die  An- 
ordnung der  Zahlen  ist  ungefähr  derart,  wie  sie  untenstehende 
Figuren  la  und  b  veranschaulichen,  allerdings  nur  sehr  ungefähr, 
denn  es  finden  sich  noch  zahlreiche  kleine  Krümmungen  und 
Biegungen,  die  ich  mit  geistigem  Auge  sehe,  ohne  sie  doch 
bei  einem  raschen  Überblick  über  die  ganze  Zahlenreihe,  wie 
er  zur  Reproduktion  der  Figur  nötig  ist,  wiedergeben  zu 
können.  Die  Einzelheiten  der  Hunderte,  der  Tausende  etc. 
sind  genau  dieselben,  wie  des  ersten  Hunderts,  Tausends  etc. 
Beim  Gedanken  an  ein  bestimmtes  Hundert  (Tausend)  erscheint 
mir  die  Entfernung  bis  zum  nächsten  zuerst  durchaus  nicht 
gröfser,  als  die  der  entsprechenden  Einer,  Zehner  etc. ;  die  Ent- 
fernung von  2000  bis  3000  z.  B.  ist  nur  wenig  gröfser,  als  die 
von  20  bis  30,  erst  bei  ein  wenig  längerem  Denken  an  die 
Zahl  —  sagen  wir  z.  B.  2347  —  sehe  ich  die  Einzelheiten  des 
ersten  Hunderts  zwischen  2300  und  2400  hervortreten.  Es  ist, 
als  ob  ich  durch  ein  Mikroskop  schaue  und  nun  den  Zwischen- 
laum  von  2300  bis  2400  plötzlich  mit  hundert  neuen,  genau 
gleich  grofsen^,    gleich  angeordneten  und  analog  beleuchteten 

^  Die  Gröfse  jede-c  einzelnen  Zahl  ist  etwa  1—2  cm. 


198  Bichard  Hermig. 

Zahlen  erfüllt  sehe,  die  mir  nur  ein  wenig  entfernter  und 
unter  einem  etwas  schrägeren  Gesichtswinkel  zu  stehen  scheinen, 
als  die  Zahlen  des  ersten  Hunderts.  Nichtsdestoweniger 
erscheint  mir  die  Entfernung  von  2300  bis  2400  kaum  wesent- 
lich geändert  gegen  vorher.  Die  Beleuchtung  wird  von  100 
bis  10000  in  erster  Linie  durch  die  Helligkeit  der  ersten,  bezw. 
beiden  ersten  Zahlen,  in  zweiter  durch  die  der  beiden  letzten 
bestimmt,  von  10000  bis  100000  nur  durch  die  Helligkeit  der 


IS^sefvr'hjäb 


^"^ 


•^    *rn* 


Mein  Zahlen-Urdiagramm. 
Das  Auge  schwebt  über  dem  langsam  ansteigenden  Diagram.m  und  nimmt 

nur  die  n&chste  Umgebung  einer  Zahl  wahr. 

Fig.  la. 

beiden  ersten  Ziffern,  während  über  100  000  deutliche  Helligkeits- 
eindrücke fehlen.  Nur  100  bis  1000  erscheint  ausnahmsweise 
wesentlich  dunkler  als  1  bis  10,  1000  bis  2000  beträchtlich  heller 
als  10  bis  20  (beides  verursacht  durch  Eindrücke  der  Welt- 
geschichte), von  2000  bis  10000  und  andererseits  von  10000  bis 
100000  entspricht  die  Beleuchtung  der  beiden  ersten  Stellen 
stets  derjenigen  der  entsprechenden  zweistelligen  Zahl  des  ersten 


^tstehung  und  Bedeutung  der  Sgnopsien. 


199 


in   einer 


Hunderts.     Die  Zahlen    steigen    langsam    aber  stetig 
Spirale  aufwärts. 

Sohon  aus  dem  Gesagten  ergiebt  sich  mit  genügender  Deut- 
lichkeit, dafs  die  Anordnung  und  Beleuchtung  des  ganzen  Dia- 
gramms lediglich  auf  der  Beschaffenheit  der  ersten  hundert  Zahlen 
beruht,  welche  in  den  höheren  Zahlen  nur  immer  reproduziert  und 
kombiniert  werden.  Es  kommt  also  nur  darauf  an,  die  Entstehung 


woooy 


wo 


7000 


'3000 


zooo 


Mein  vollständiges  Zahlendiagramm  in  (sehr  ungefähren)  umrissen. 
Die  Einzelheiten  des  Ürdiagramms  wiederholen  sich  in  jedem  einzelnen 
Jahrhundert.  Die  Spirale  mu£s  als  aufsteigend  gedacht  werden.  That- 
sächlich  sehe  ich  das  Diagramm  nicht  in  seiner  Gesamtheit,  wie  es 
hier  aufgezeichnet  wurde,  da  ich  nur  die  nähere  Umgehung  einer  Zahl 
bemerke,  während  alles  übrige  dem  Gesichtskreis  entschwindet. 

Fig,  Ib. 

dieses  ürdiagramms  für  die  Zahlen  1 — 100  zu  bestimmen,  und 
loh  glaube,  dafür  die  Ursachen  nachweisen  zu  können: 

Als  ich  zwei  Jahre  alt  war,  zogen  meine  Eltern  nach  der 
Potsdamerstrafse    67    in    Berlin.      Für    den,    der  die    Berliner 


200  Bichard  Hennig. 

Lokalitäten  kennt,  füge  ich  hinzu,  dafs  dieses  Haus  zwischen 
der  Bülow-  und  der  heutigen  Winterfeldstrafse  liegt,  welche 
letztere  damals  noch  völlig  unbebaut  war.  Schon  in  meinem 
dritten  Lebensjahre  nun  beschäftigte  ich  mich,  wie  die  Tagebuch- 
aufzeichnungen meiner  Mutter  aus  jener  Zeit  ergeben,  viel 
und  gern,  ja  leidenschaftlich  gern  mit  Zahlen,  eine  Liebhaberei, 
die  mir  zum  Teil  noch  heute  anhaftet.  Auf  m^en  häufigen 
Spaziergängen  jener  Zeit  nun,  die  sich  zumeist  auf  der  west- 
lichen Seite  der  Potsdamerstrafse  zwischen  dem  botanischen 
Garten  und  der  Lützowstrafse  bewegten,  waren  mir  nach  den 
Berichten  meiner  Mutter  die  Hausnummern  am  wichtigsten. 
Der  Eindruck,  den  die  einzelnen  Häuser  auf  mich 
machten,  ihr  helles  oder  dunkles  Äufsere,  hat  nun 
die  charakteristischen  Eigentümlichkeiten  meines 
Zahlendiagr ammes  bedingt. 

Bevor  ich  den  Beweis  für  diese  Behauptung  erbringe, 
mufs  ich  noch  über  die  Beleuchtung  meines  Diagramms 
ein  paar  Worte  sprechen.  Die  Zahlen  von  1  bis  10  scheinen 
mir  in  mäfsigem  Schatten  zu  liegen,  der  'sich  jenseits  der  10 
sehr  verstärkt,  um  von  15  bis  19  noch  einmal  einer  etwas 
gröfseren  Helligkeit  Platz  zu  machen.  Von  20  bis  26  herrscht 
Schatten,  der  von  27  an  einer  starken  Beleuchtung  langsam 
zu  weichen  beginnt,  deren  Ursprung  in  dem  hellen  Sonnen- 
licht zu  suchen  ist,  welches  die  erste  Hälfte  der  Dreifsiger 
mit  einem  Maximum  bei  SS  überflutet.  Dann  nimmt  die  Hellig- 
keit ab,  um  einem  Schatten  Platz  zu  machen,  der  sich  bis  56 
erstreckt.  Von  57  an  ist  abermals  der  Widerschein  des 
intensiv  hellen  Sonnenlichtes  zu  bemerken,  welches  dann  die 
Sechziger  kennzeichnet  mit  einem  Maximum  zwischen  65  und 
67.  Auf  diese  stärkste  HelUgkeit  folgt  dann  mit  dem  Knick 
der  Kurve  bei  70  tiefes  Dunkel,  das  bei  77  bis  79  fast  ebenso 
stark  wird,  wie  bei  den  düstersten  Stellen  zwischen  10  bis  13 
und  bei  55.  Die  Achtziger  erscheinen  mir  in  der  Mittags- 
beleuchtung eines  mit  leichter  Wolkendecke  überzogenen  Winter- 
himmels, von  90  an  nimmt  die  Helligkeit  bis  zur  100  wieder 
ab.  Innerhalb  der  Hunderte  und  der  Tausende  wiederholen 
sich  die  Beleuchtungen  ebenso  genaii  wie  die  Form  der  Kurven, 
nur  gewinnen  auch  die  Zahlen,  welche  die  Hunderte,  bezw. 
Tausende  bezeichnen,  EinfluTs  auf  den  Gesamteindruck,  und 
das    erste   Jahrtausend    erscheint    ausnahmsweise    betrachtlioh 


Entstehung  und  Bedeutung  der  Synapaien,  201 

dunkler  als  das  ganze  zweite.  Das  Maximum  der  Helligkeit 
innerhalb  der  beiden  ersten  Jahrtausende  liegt  bei  1666  u.  s.  w. 

Woher  kommt  nun  diese  scharf  ausgeprägte  Beleuchtung 
und  die  originelle  Kurvenform  ?  Ich  glaube,  diese  Frage  völlig 
beantworten  zu  können:  Nummer  1  der  Potsdamerstrafse  liegt 
am  Potsdamer  Platz;  bei  einem  Gang  durch  die  Potsdamer- 
strafse hat  man  bei  den  ersten  Häusern  noch  das  Gefühl,  den 
hellen  Platz  hinter  sich  zu  haben,  infolgedessen  sehe  ich  meine 
ersten  Zahlen  nur  in  leichtem,  langsam  zunehmenden  Schatten; 
allmählich  aber  wird  die  Strafse  relativ  dunkel  durch  Bäume 
und  (damals)  dunkle  Häuserfarben,  gegenüber  von  No.  18 
und  19  mündet  die  Eichhomstrafse  ein,  wodurch  wohl  der 
etwas  hellere  Eindruck  an  dieser  Stelle  des  Diagramms  zu 
erklären  ist.  Nun  wäre  freilich  zu  erwarten,  dafs  der  breite, 
helle  Zwischenraum,  welcher  zwischen  den  Häusern  23  und  24 
durch  den  Landwehrkanal  und  die  Potsdamer  Brücke  geschaffen 
wird,  sich  im  Diagramm  durch  sehr  grofse  Helligkeit  geltend 
gemacht  hätte,  eine  Voraussetzung,  die  nicht  erfüllt  ist.  Diese 
einssige  Differenz  in  den  analogen  Beleuchtungsverhältnissen 
erklärt  sich  nun  aber  wohl  einmal  daher,  dafs  man  beim  Gang 
über  die  Brücke  den  Zusammenhang  zwischen  den  Hausnummern 
SU  vergessen  pflegt,  zweitens  daher,  dafs  mein  Diagramm 
zwischen  1  und  30  nicht  so  scharf  ausgebildet  ist,  wie  zwischen 
SO  und  70,  aus  dem  Grunde,  weil  meine  frühesten  Spazier- 
gänge als  Kind  sich  verhältnismäfsig  selten  über  Potsdamer- 
strafse 30  hinaus  erstreckten. 

Die  grofse  Helligkeit  in  der  ersten  Hälfte  der  Dreifsiger 
mufs  bedingt  sein  durch  das  Einmünden  der  sehr  hellen  Lützow- 
strafse  zwischen  No.  33  und  34.  Schon  bei  No.  28  etwa  be- 
merkt man  die  Strafse,  daher  erstreckt  sich  der  Reflex  der 
Helligkeit  im  Diagramm  bis  etwa  zu  dieser  Zahl.  Der  Grund, 
weshalb  sich  die  Helligkeit  bei  33  mir  dermafsen  eingeprägt 
hat,  rührt  wohl  daher,  dafs  ich  damals  recht  häufig  im  Hause 
No.  33  zu  verkehren  pflegte«  Die  nächsten  Querstrafsen,  die 
Steglitzer-  und  Kurfürstenstrafse,  machten  bei  weitem  nicht 
einen  so  hellen  Eindruck,  wie  die  Lützowstrafse,  hauptsächlich, 
weil  sie  von  dunkel  gefärbten  Häusern  umgeben  waren,  ihr 
Einflufs  macht  sich  daher  auch  in  einer  etwas  helleren  Färbung 
um  die  48  herum  geltend.  Von  No.  Ö6  an  aber  bemerkt  man 
die  ungewöhnlich    breite    und    helle  Bülowstrafse,    welche    die 


202  Bichard  Hennig. 

Häuser  No.  58  und  59  trennt;  daher  das  Ansteigen  der  Hellig- 
keit! Die  nächstfolgenden  Häuser  von  62  bis  66  zeigten  zu 
meiner  Zeit  grofsenteils  einen  viUenartigen  Charakter,  waren 
durch  ziemlich  grofse  Zwischenräume  voneinander  getrennt 
und  von  freundlicher  Helligkeit.  Daher  rührt  die  gleichmälsige 
Helligkeit  über  die  gesamten  Sechziger,  das  Maximum  liegt 
natürlicherweise  in  der  Nähe  der  67,  da  ich  in  dieser  G-egend 
wohnte  und  sie  am  häufigsten  bei  Sonnenschein  zu  sehen  Gelegen- 
heit hatte.  Bei  No.  74  nun  unterbricht  der  dunkle  botanische 
Garten  die  Zahlenreihe,  welche  dann  auf  der  anderen  (Ost-) 
Seite  der  Strafse  rückläufig  wieder  einsetzt.  Aus  diesem  Um- 
stände erklärt  sich  der  merkwürdige,  sehr  scharfe  Knick  bei  70 
des  Diagramms,  welcher  fast  einen  vollen  Bechten  beträgt.^ 
Dals  der  Knick  nicht  bei  74  zu  finden,  sondern  auf  Zehner 
abgerundet  ist,  ist  nicht  auffallend.  Die  hellere  Beleuchtung 
der  Achtziger,  zumal  bei  87  bis  89,  erklärt  sich  daraus,  dafs 
meiner  Wohnung  schräg  gegenüber  No.  88,  damals  ein  kleines, 
sehr  helles  Haus,  noch  obendrein  an  der  Ecke  der  Alvensleben- 
strafse,  lag.  Die  übrigen  Häusernummern,  von  90  an,  beachtete 
ich  als  Kind  kaum,  da  sie  auf  der  von  mir  seltener  frequen- 
tierten anderen  Seite  der  Stralse  sich  befanden, 

Es  wäre  überaus  sonderbar,  wenn  die  Übereinstimmungen 
meines  Diagramms  mit  der  genannten  Beschaffenheit  der  Strafse 
rein  zufälliger  Art  sein  sollten.  Da  mir  die  meisten  meiner 
Zahlen  auTserdem  noch  einen  bestimmten  Charakterausdruok 
zu  haben  scheinen,  konnte  ich  daran  kürzlich  die  Überein- 
stimmung bestimmter  Zahlen  mit  dem  Eindruck,  welchen  die 
betreffenden  Häuser  auf  mich  als  Ejind  gemacht  haben,'  kon- 
trollieren, und  ich  war  selbst  überrascht  von  der  fast  völligen 
Identität. 

Wenn  trotzdem  an  der  Bedeutung  der  Strafse  für  die  Ent- 
stehung des  Diagramms  i^och  Zweifel  bestehen  sollten,  da  ich 
den  Zusammenhang  völlig  vergessen  hatte  und  mir  erst  kürzlich 
während  der  Beschäftigung  mit  der  Synopsie  wieder  klar  dar- 


^  Dafs  der  Knick  ungefllhr  einen  rechten  Winkel  beträgt,  erklärt 
sich  wohl  daher,  dafs  man,  um  mit  der  Zahlenreihe  fortzuschreiten,  an 
dieser  Stelle  senkrecht  zur  bisherigen  Bichtung  den  Damm  überschreiten 
müTste. 

*  Als  Kind  ist  man  ja  für  die  geringsten  derartigen  Eindrücke  in 
der  hervorragendsten  Weise  empfänglich. 


Entstehung  und  Bedeutung  der  Synopsiefi.  203 

über  geworden  bin,  wenn  also  trotzdem  noch  Zweifel  besteheu, 
so  müssen  auch  diese  schwinden,  da  mein  um  zwei  Jahre  jün- 
gerer Bruder  Ernst,  der  seine  Kinderzeit  ebenfalls  in  der 
Potsdamerstraf se  verlebte,  unabhängig  von  mir  erklärt  hUt, 
die  Thatsache,  dafs  in  seinem  Zahlendiagramm  30  bis  70  in 
einer  geraden  Linie  liegen,  während  sich  bei  70  ein  auffallender 
Knick  befindet,  glaube  er  auf  Einfiüsse  der  Potsdamerstrafse 
zurückfahren  zu  müssen. 

Das  Diagramm  meines  dritten  Bruders  Bruno,  der  seine 
erstenKinderjahre  nicht  mehr  in  der  Potsdamerstrafse  verbrachte, 
weist  derartige  Züge  nicht  auf.  Wir  waren  bald  nach  seiner 
Geburt  in  die  Nümbergerstrafse  in  unmittelbare  Nähe  des 
zoologischen  Gartens  gezogen,  den  wir  sehr  oft,  fast  täglich 
besuchten,  uxid  er  giebt  mir  nun  an,  dafs  sein  Zahlendiagramm 
den  Gängen  des  zoologischen  Gartens  folgte.  Besonders  her- 
vortretend sei  ein  Knick  zwischen  den  Zahlen  28  bis  32;  diese 
fünf  Zahlen  seien  halbkreisförmig  angeordnet,  der  Grund 
dafür  sei  zweifellos  in  der  Beschafifenheit  des  Känguruh- 
hauses zu  suchen,  welches  mit  den  genannten  Ziffern  versehen 
gewesen  sei,  und  um  welches  der  Promenadenweg  kreisförmig 
herumlaufe. 

Nach  diesen  Angaben  kann  es  wohl  kaum  noch  einem 
Zweifel  unterliegen,  dafs  es  unbedingt  Eindrücke  der  ersten 
Kindheit  sein  müssen,  welche  bei  jedem  Menschen  die  Form 
seiner  Diagramme  bedingen.  Es  wäre  ja  auch  überaus  ab- 
geschmackt, sich  die  Formen  als  angeboren  und  vererbbar 
vorzustellen;  aber  alles  Psychische,  über  dessen  Entstehung 
man  im  unklaren  ist,  pflegt  man  ja  leider  stets  ohne  weiteres 
als  angeborene  Fähigkeit  zu  betrachten. 

Für  alle,  welche  mit  Diagrammen  begabt  sind  und  welche 
eventuell  den  Versuch  machen,  sie  auf  Erlebnisse  der  ersten 
Kinderzeit  zurückzuführen,  mufs  ich  bemerken,  dafs  ein  solcher 
Versuch  ungleich  schwieriger  ist,  als  man  vermuten  sollte.^ 
Gerade,  weil  man  so  viele  Jahre  und  Jahrzehnte  seine  Dia- 
gramme gar    nicht   beachtet   und  über   die  Zeit   und  Art   der 

*  £b  ist  dies  ja  auch  nicht  wunderbar,  da  die  Eindrücke  der  Dia- 
gramme zu  unbestimmt  und  zu  wenig  fafsbar,  ich  möchte  sagen,  schemen- 
haft sind.  Es  ist  mir  z.  B.  unmöglich,  anzugeben,  ob  ich  in  meinen 
Diagrammen,  mit  Ausnahme  des  Buchstabeudiagramms,  die  Zahlen, 
Namen  der  Monate,  Wochentage  etc.  gedruckt  sehe,    oder   ob   ich   blois 


204  Richard  Hennig. 

Entstehung  völlig  im  unklaren  ist,  ist  es  yielfach  ganz  un- 
möglich, Anhaltspunkte  für  eine  Erklärung  zu  finden.  Mein 
sehr  viel  gebrauchtes  und  ungemein  deutliches  Monatsdiagramm, 
ebenso  mein  Diagramm  für  die  Tagesstunden  ist  mir  trots 
angestrengten  Nachdenkens  wochen-,  ja  monatelang  hindurch 
rätselhaft  geblieben;  erst  ganz  kürzlich  gelang  es  mir,  sie  als 
etwas  modifizierte,  zum  Teil  präzisiertere  Abarten  meines  Zahlen- 
diagramms zu  erkennen,  und  die  Entstehung  meines  Wochen- 
diagramms ist  mir  trotz  seiner  Einfachheit  erst  klar  geworden, 
als  diese  Arbeit  fast  beendet  war. 

Einige  beachtenswerte  Einzelheiten  in  meinen  Diagrammen 
möchte  ich  noch  anführen,  da  sie  manchen  Einblick  in  jene 
eigenartigen  Verhältnisse  gestatten: 

Mein  Zahlendiagramm  leistet  mir  noch  mannigfache  andere 
Dienste:  ich  sehe  aUe  Ereignisse  der  Geschichte  in  derselben 
Weise  nach  ihren  Jahreszahlen  angeordnet,  wobei  mir  die 
Jahre  vor  Christi  Geburt  ebenso  wie  die  negativen  Zahlen 
vom  Nullpunkte  aus  nach  -  der  entgegengesetzten  Seite  in  genau 
derselben  Anordnung  zu  verlaufen  scheinen,  wie  die  positiven, 
nur  dafs  die  Zahlen  —  1  bis  — 10  eine  Krümmung  in  entgegen- 
gesetztem Sinne  aufweisen,  so  dafs  sie  ein  Spiegelbild  der  ent- 
sprechenden positiven  Zahlen  sind.^ 

Ferner  sehe  ich  sowohl  wie  mein  Bruder  Ernst  Geld- 
stücke und  Geldwerte  nach  der  Anzahl  in  Pfennigen,  die  Ge- 
wichte nach  der  Anzahl  der  Pfunde  auf  dem  gleichen  Diagramm, 
femer  ich  allein  die  Berge  nach  ihrer  Höhe  in  Metern,  wobei 
mir  dann  das  Zahlendiagramm  seltsamerweise  immer  gerade 
ihre  Spitzen  zu  berühren  scheint,  denn  ich  erwähnte  schon,  dafs 
das  Zahlendiagramm  nicht  horizontal  liegt,  sondern  in  weitem 
Bogen  allmählich,  aber  stetig  aufsteigt. 


die  Stellen  wahrnehme,  in  welche  sie  lokalisiert  werden.  Auch  die 
Photismen  sind  zuweilen  ganz  unbestimmt :  mein  Bruder  Edwin  (13  Jahre), 
der  viele  Angaben  mit  grofser  Bestimmtheit  machte,  erklärte,  i  sei  „blau 
oder  grün  oder  silbern". 

^  Auch  meinem  Bruder  Ernst  erscheinen  die  negatiTen  Zahlen  in 
der  gleichen  Krümmung,  wie  seine  positiven,  nur  die  ersten  30  haben 
eine  entgegengesetzte  Krümmung  und  sind  ein  Spiegelbild  der  positiven. 
Bei  meinen  anderen  beiden  Brüdern  sind  die  negativen  Zahlen  ab- 
weichend von  den  positiven  und  gröfstenteils  völlig  unbestimmt  und 
verwaschen,  während  sie  bei  mir  völlig  identisch  sind  und  mit  genau 
den  gleichen  Beletichtungseffekten  wie  die  positiven  versehen  sind. 


EnUtekimg  und  Bedeutung  der  Synopsien. 


206 


Die  Anordnung   der  Monate   (Fig.  2)^   und   Tagesstunden 
(Fig.  3)    bezeiclinet   eine   ungefähre    Reproduktion    der    zwölf 


«^f  j)ezer^''' 


Mein  Monatsdiagramm. 
Fig.  2a. 

ersten  Zahlen    des  Zahlendiagramms,    nur   ist    die  Erümmung 
weit  sch&rfer  ausgeprägt,  zumal  wegen  eines  Kniokes  zwisohen 

'  Fig.  2a  veranschaulicht  das  Monatsdiagramm  in  grobem  ümrils, 
2b  die  sekundären  Kurven  innerhalb  jedes  einzelnen  Monats.  Wie  ich 
erst  w&hrend  des  Zeichnens  von  Fig.  2b  nach  Beendigung  der  gansen 
Arbeit  bemerke,  sind  auch  die  Daten  im  Monat  ganz  genau  wie  die  Zahlen 
im  Zahlendiagramm  angeordnet. 


206  Eicfiard  Hennig, 

9  und  10  (September  und  Oktober,  bezw.  9  und  10  Uhr),  der 
im  Zahlendiagramm  nur  angedeutet  ist.  Die  Beleuchtung  der 
Monate  weicht  völlig  ab  von  der  des  Zahlendiagramms.  Die 
Wintermonate  erscheinen  (wohl  infolge  des  Gedankens  an 
Schnee)  relativ  heller,  als  die  Sommermonate.  Im  Januar  bis 
März  herrscht  (abgesehen  von  den  Helligkeitsunterschieden 
innerhalb  der  Monate,  wo  mir  stets  die  zweite  Dekade  relativ 
hell,  die  dritte  relativ  dunkel  vorkommt)  die  Beleuchtung  eines 
trüben  Wintermittags.  Der  April  wird  recht  dunkel  (etwa  in- 
folge einer  Erinnerung  an  ßegenwolken?);  der  Mai  wird  etwas 
heller  und  hat  entschiedene  Sommerbeleruchtung,  er  erweckt 
eine  Idee  von  Sonnenstrahlen,  welche  durch  dichtes  Laub  ab- 
geblendet werden,  so  dafs  er  einen  sehr  schwachen  grünlichen 
Schimmer  erhält.  Der  Juni  wird  noch  heller,  und  der  Juli 
erscheint  dann  von  vollster  Sommersonnenglut  übergössen,  in 
seiner  Mitte  liegt  das  Helligkeitsmaximum,  der  August 

/"So     bringt  beträchtlich  dunklere  Färbung  und  noch  mehr 

t20        ^^^   September,    welcher    dasselbe  Aussehen  wie  der 

\  April    hat.      Nach    dem    scharfen    Knick    um    einen 

/  Winkel   von    etwa    60 — 70®,   welcher    zwischen    dem 

.  30.  September  und  dem  1.  Oktober  liegt,  bringt  der 

'    *^"  Oktober  wieder  volle   Winterbeleuchtung,    die    aber 

wesentlich  heller  als  die  der  ersten  Monate  ist.  Die  folgenden 
Monate  verdunkeln  sich  mehr  und  mehr,  und  die  letzten  acht 
Tage  des  Dezember  bringen  das  gröfste  Dunkel  (wahrscheinlich, 
weil  sie  mit  Vorliebe  als  „dunkelste  Zeit  des  Jahres"  bezeichnet 
werden),  gleichsam,  als  ob  das  Weihnachtsfest  und  der  Jahres- 
schluTs  sie  wie  Mauern  vor  jeder  Beleuchtung  schützen.  Das 
Diagramm  läuft  nicht  in  sich  zurück,  wahrscheinlich,  weil  die 
seiner  Zeit  viel  von  mir  betrachteten  Abreifskalender  in  jedem 
Jahre  ihr  Aussehen  wechselten,  vielmehr  bilden  mehrere  Jahre 
hintereinander  eine  periodisch  verlaufende  Kurve,  welche  bei 
flüchtigem  Überblick  eine  entfernte  Ähnlichkeit  mit  einer 
Sinuskurve  hat. 

Das  Diagramm  für  die  Tagesstunden  ist  einzig  in  seiner 
Art.  Erstens  steht  es  schräg  aufrecht  mit  der  Zeit  von  etwa 
10 — 11  Uhr  vormittags  als  Basis.  Zweitens  läuft  es  in  sich 
zurück,  da  es  sich  aus  zwei  genau  zu  einander  passenden,  an- 
nähernd gleichen  Stücken  zusammensetzt.  Oft  betrachte  ich 
es   auch  von  unten  aus,   indem  ich  vor  seiner  Basis  zu  stehen 


Entstdmng  und  Bedeutung  der  Synopsien, 


207 


glaube,  wälirend  ich  bei  den  bisher  genannten  mehr  oder 
weniger  horizontalen  Diagrammen  stets  darüber  zu  schweben 
schien.  Von  10 — 4  ühr  herrscht  die  der  jeweiligen  Tagesstunde 
entsprechende  Sommersonnenbeleuohtung  mit  einem  Maximum 
der  Helligkeit  zwischen  2  und  3  Uhr.  Von  4  Uhr  an  wird 
es  bedeutend  dunkler,  doch  zeigt  zumal  die  Zeit  zwischen 
7   und   8  Uhr   noch    die    charakteristisch   helle   Sommerabend- 


J)ieserTheü  istso  öbmkei, 
ddss  errvur  schwer  zw 
erJceTum 

,9 


3\grösste 


^     70    11 


Mein  Diagramm  für  die  Tagesstunden. 

Fig.  3. 


beleuohtung.  Erst  von  9  Uhr  an  fängt  das  Dunkel  der  Nacht 
an,  10  Uhr  ruft  einen  deutlichen  Schimmer  von  Laternen- 
licht hervor,  10 — 12  Uhr  wird  dann  so  dunkel,  dafs  sie 
sich  dem  Blick  fast  ganz  entziehen.  Sehr  langsam  wird  es 
heller,  um  4  Uhr  morgens  tritt  ein  ganz  schwacher  Schimmer 
auf,  der  aber  nur  wenig  zunimmt  bis  6  Uhr.  6 — 7  Uhr  ist 
mit  einem  Male  wieder  fast  ganz  dunkel,  und  erst  gegen  9  Uhr 


208  Richard  Hmnig, 

macht  das  allmählich  abnehmende  Dunkel  der  richtigen  Tages- 
beleuchtong  Platz.  Man  sieht,  wie  die  einzelnen  Tagesstandea 
durch  die  jeweilig  charakteristischen  Jahreszeiten  beeinflußt 
sind.  In  den  Morgenstunden  ist  die  winterliche  Beleuchtung, 
in  den  Mittag-  und  Abendstunden  die  sommerliche  am  eindruck»- 
Tollsten.  Aus  der  Form  des  Diagramms  läfst  sich  mit  ziem- 
licher Sicherheit  der  Schlufs  ziehen,  dafs  es  entstanden  sein 
muTs,  bevor  ich  die  Uhr  kennen  lernte,  da  sonst  deren  Be- 
schaffenheit wohl  ausschlaggebend  auf  die  Form  des  Diagramms 
gewirkt  hätte.  In  manchen  Diagrammen,  nicht  nur  fELr  Tages- 
stunden, sondern  auch  für  Zahlen,  ist  übrigens  der  Einfluls 
des  Ziffernblattes  auf  die  Anfangsgestalt  des  Diagramms    un- 


^J 


dunkel 


ä' 


5^ 


6- 


Mein  Wochentagsdiagramm. 
Die  Dunkelheit  nimmt  von  Montag  an  stetig  ab,   bis   der  Sonntag  das 

Maximum  der  Helligkeit  bietet. 

Fig  4. 

verkennbar   (so  z.  B.   in   den   von  Galton   angeführten  Fällen 
No.  20,  35  und  37). 

Die  Wochentage  (Fig.  4)  endlich  liegen  horizontal  und 
nebeneinander  vor  mir  auf  einer  leicht  gekrümmten  Linie,  wie 
die  beigegebene  Figur  zeigt.  Von  Montag  bis  Donnerstag 
herrsc'ht  starkes  Dunkel,  dann  wird  es*  heller,  der  Sonntag 
erstrahlt  im  schönsten  Sonnenschein  und  sticht  gewaltig  gegen 
den  Montag  ab.  Zweier  privilegierter  Assoziationen  sei  dabei 
noch  Erwähnung  gethan.  Der  Montag  erinnert  mich  zuweilen 
an  ein  Bild,  das  ich  ab  kleiner  Knabe  besals,  ein  Jägerhaus 
in  einem  dunklen  Walde  (vielleicht  rührt  daher  die  besonders 
dunkle  Färbung  des  Tages  ?) ;  der  Grund  dafür  liegt  darin,  dafs 
unter   dem  Giebel  jenes  Försterhauses   eine  kreisrunde  Dach- 


Entstehung  und  Bedeutung  der  Synopsien.  209 

loke  abgebildet  war,  welche  mich,  wie  ich  noch  genau  weUs, 
an  den  Vollmond  erinnerte.  Beim  Sonnabend  hingegen  kommt 
mir  manchmal  der  G-edanke  an  rote  Wölkchen  in  Abend- 
beleuchtnng,  und  ich  entsinne  mich,  dafs  ein  Kinderbuch  die 
Ursache  davon  ist,  in  welchem  es  hiefs,  die  Engel  müfsten 
des  Sonnabends  alles,  was  am  Himmel  ist,  zum  Sonntag  patzen ; 
der  Text  war  obendrein  durch  ein  entsprechendes  Bild  erläutert, 
auf  welchem  rote  Wölkchen  abgebildet  waren.  Das  Urbild  des 
Diagramms  müssen  die  üblichen  Stundenpläne  in  den  Aufgabe- 
büchem  sein,  wie  ich  sie  von  der  untersten  Yorschulklasse  an 
benutzte.  Und  zwar  war  den  Tagen  Montag  bis  Mittwoch 
die  linke,  den  Tagen  Donnerstag  bis  Sonnabend  die  rechte 
Seite  des  aufgeschlagenen  Buches  angewiesen.  Da  nun  femer 
das  Tageslicht,  wenn  man  schreibt,  zumeist  von  der  linken 
Seite  kommt  und  die  linke  Seite  im  ersten  Teil  eines  karto- 
nierten  Buches  gewöhnlich  etwas  emporsteht,  so  dafs  sie 
weniger  vom  Licht  getroffen  wird,  als  die  rechte,  ist  es  zu 
erklären,  dafs  Montag  bis  Mittwoch  oder  Donnerstag  weit 
dunkler  erscheinen,  als  die  übrigen  Tage.  Dieser  Umstand, 
dals  die  linke  Seite  beim  Schreiben  stets  etwas  weniger  Licht 
empf&ngt,  als  die  rechte,  hat  in  mir  übrigens  ein  für  allemal 
die  Vorstellung  erweckt,  die  linke  Seite  in  Schreibheften 
(charakteristischerweise  aber  nicht  in  gedruckten  Büchern)  sei 
dunkel,  die  rechte  hell.  Da  aulserdem  die  sechs  in  einer  Linie 
gedruckten  Wochentage,  sobald  die  eine  Seite  sich  etwas 
erhebt,  eine  leicht  gekrümmte  Kurve  zu  bilden  scheinen,  dürfte 
auch  die  Krümmung  meiner  Wochentagskurve  zu  erklären  sein. 
Die  Einordnung  des  Sonntags  und  die  Verknüpfung  der  Wochen 
untereinander  ist  natürlich  willkürliche  Erfindung  und  Zuthat. 
Um  so  plausibler  ist  mir  diese  Erklärung,  als  meine  Schwester 
Erna  ein  genau  gleich  angeordnetes  und  gekrümmtes,  freilich 
noch  farbig  (Montag  schwarz,  Dienstag  gelblich,  Mittwoch 
schwärzlich,  Donnerstag  braun,  Freitag  gelblich,  Sonnabend 
rosa  bis  braun,  Sonntag  infolge  von  Eindrücken  des  Abreifs- 
kalenders  rot)  ausgeschmücktes  Wochentagsdiagramm  hat, 
während  der  Sonntag  hier  unter  der  Mitte  der  anderen  Tage 
liegt  und  so  ein  in  sich  selbst  zurücklaufendes  Diagramm  ver- 
ursacht. 

Mein  jüngster  Bruder  Edwin  und  meine  noch  etwas  jüngere 
Schwester  Erna  haben  beide  merkwürdigerweise  für  die  Woche 

ZeitBohrift  für  Psychologie  X.  14 


210  Richard  Hennig. 

sowohl,  wie  für  das  Jahr  Diagramme,  welche  den  meinen  sehr 
ähneln.  Nur  in  dem  Hauptpunkt  weichen  beide  gerade  ab,  sie 
laufen  plötzlich  in  sich  zurück,  der  Sonntag,  bezw.  die  letzte 
Woche  des  Jahres  müssen  den  grofsen  Zwischenraum  zwischen 
den  Enden  ausfüllen.  Untereinander  sind  ihre  Diagramme 
ungemein  ähnlich,  wenngleich  ich  ausdrücklich  hervorheben 
mufs,  dafs  sie  durchaus  noch  nicht  identisch  sind,  auch  in  den 
begleitenden  chromatischen  Synopsien  weichen  sie  ab.  Meine 
Schwester  hat  merkwürdigerweise  aufser  den  Parbenempfin- 
dungen  noch  genau  dieselben  Sonnenlicht-  und  Schatten- 
eindrücke in  mehreren  Diagrammen,  wie  ich.  Es  ist  dies  um  so 
auffallender,  als  derartige  Beleuchtungseffekte  nur  sehr  selten 
auftreten,  Flournoy  kennt  nur  wenige  Fälle,  Galton  nur  einen 
(No.  42).  Nichtsdestoweniger  kann  auch  diese  Übereinstimmung 
nur  auf  einem  Zufall  beruhen,  da  die  Beleuchtungen  der  Details 
völlig  voneinander  abweichen. 

Von  sonstigen  bemerkenswerten  Diagrammen,  die  mir  bei 
meinen  Nachforschungen  aufgestofsen  sind,  seien  nur  noch  die 
interessantesten  hervorgehoben,  soweit  sie  weitere  Schlüsse 
gestatten  oder  ganz  einzigartig  sind:  Galtons  Fig.  65  stellt 
ein  Diagramm  dar,  auf  welchem  Gra^s  und  Bäume  gesehen 
werden ;  dafs  hier  bestimmte  Jugendeindrücke  mitspielen  müssen, 
kann  wohl  kaum  einem  Zweifel  unterliegen,  ebenso  bei  ver- 
schiedenen anderen,  im  selben  Werke  angeführten  Beispielen, 
von  denen  ich  nur  noch  Fig.  67  erwähnen  will,  welche  die 
ersten  12  Zahlen  als  12  hohe  Bergspitzen  darstellt. 

Sehr  merkwürdig  ist  die  Angabe  eines  meiner  Bekannten, 
dafs  er  alle  Diagramme  gleichzeitig  sieht ;  die  Zahlen  verlaufen 
vertikal  und  ganz  geradlinig  nach  oben^  die  Woche,  die  Buch- 
staben und  mit  etwas  nach  rechts  verschobenem  Anfangspunkt 
auch  die  Monate  horizontal  nach  rechts,  die  Tagesstunden 
endKch  vertikal  nach  unten,  so  dafs  die  gesamten  Diagramme 
eine  Art  Koordinatensystem  bilden,  in  dessen  Nullpunkt  sich 
der  Beschauer  befindet.  Da  diese  Art,  sich  Diagramme  vorzu- 
stellen, völlig  vereinzelt  dasteht,  möchte  ich  es  nicht  unter- 
lassen, die  ungefähre  Abbildung  dieser  sonderbaren  Vorstellung 


*  Die  negativen  Zahlen  dagegen  verlaufen  (infolge  einer  ent- 
sprechenden, einmaligen  Darstellung  an  der  Schultafel)  horizontal  in  der- 
selben Richtung  wie  Wochentage,  Buchstaben  und  Monate. 


Entstehung  und  Bedeutung  der  Synopfden. 


211 


beiznf&gen  (Fig  5).  In  allen  anderen  Fällen,  die  ich  kennen 
gelernt  habe,  waren  ausnahmslos  alle  Diagramme  aufs  schärfste 
von  einandergesondert,  auch  die  nächstverwandten,  wie  Jahres- 
zahlen, Monate,  Wochentage  u.  s.  w.,  ja  es  war  sogar  unmöglich, 
bei  dem  Gedanken  an  ein  Diagramm  gleichzeitig  an  ein  anderes 
zu  denken. 

Mein    schon    mehrfach   erwähnter  Bruder  Ernst    sieht   in 
seinem  Tagesstunden-Diagramm,  welches  annähernd  elliptische 


Monate 


Buchstäbejh 
Woche 


Fig  5. 


Form  hat,  die  Windrose  angeordnet,  wie  er  auch  sonst  beim 
Vorstellen  irgend  welcher  Gegenden  gern  die  Himmelsrich- 
tungen sich  hinzudenkt.  Er  schreibt  mir  darüber:  „Noch 
mache  ich  Dich  darauf  aufmerksam,  dafs  ich  bei  jeder  ört- 
lichen Vorstellung,  z.  B.  beim  Lesen  von  Romanen,  Dich- 
tungen etc.,  stets  die  Lage  der  Himmelsrichtungen  mit  hinzu- 
denke, und  dafs  es  mich  aufserordentlich  stört,  wenn  der 
Dichter  in  ein  nach  Osten  gelegenes  Zimmer  die  Abendsonne 
scheinen    läfst   u.  s.  w.     Mufs   ich    mich   mit  den  vom  Dichter 

14* 


212  BicKard  Hennig, 

gedachten  Himmelsrichtungen  aussöhnen,  so  rücke  ich  ent- 
weder die  Sonne,  den  Mond  etc.,  oder  ich  mnfs  das  ganze  bis- 
herige Bild  zerstören  und  mir  ein  neues  ausdenken.  Es  giebt 
wenige  Geschichten,  wo  ich  nicht  zu  solchem  Ortswechsel  ge- 
nötigt bin,  am  schlimmsten  war  es  im  zweiten  Teil  von  »Soll  und 
Haben",  wo  ich  das  Schlofs  des  Baron  ßothsattel  mit  der 
gröfsten  Mühe  um  180^  drehen  mufste  u.  s.  w.  Auch  mein 
Tagesstunden-Diagramm  hat  seine  Himmelsrichtungeni  nur  dals 
sonderbarerweise  Mittemacht  nach  Süden  liegt.  ^  Sehe  ich  d4e 
Morgenstunden  an,  so  sehe  ich  die  Sonne,  die  im  O  aufgeht, 
die  Vormittags-,  Mittags-  und  Nachmittagsstunden  über  sehe 
ich  sie  nicht,  aber  wohl  bei  den  Abendstunden  von  6  bis 
etwa  8,  die  von  den  roten  Strahlen  der  im  W  untergehenden 
Sonne  getroflfen  werden." 

Als  eine  weitere  Eigentümlichkeit  will  ich  noch  erwähnen, 
dafs  mein  Bruder  Ernst  die  Beisen,  welche  er  als  Schüler  in 
jedem  Jahre  während  der  grofsen  Ferien  unternahm,  nicht,  wie 
es  wohl  die  meisten  thun  würden,  in  sein  Jahreszahlen-Diagramm 
einordnet,  sondern  in  sein  Diagramm  für  die  Schulklassen. 

Bevor  ich  mich  nun  zum  wichtigsten  Teile  dieser  Arbeit, 
d&T  Bedeutung  der  Synopsien,  wende,  möchte  ich  noch  auf 
eine  besondere  Art  der  Synopsien  hinweisen,  welche  bisher 
fast  ganz  übersehen  ist,  auf  welche  auch  ich  nur  insoweit  ein- 
gehen will,  als  sie  in  mein  Thema  pafst,  und  die  überhaupt 
noch  einer  gründlichen  Durchforschung  bedarf.  Ich  meine  die 
Erscheinung,  dafs  man  sich  manche  abstrakte,  besonders 
philosophische  Begriffe,  zuweilen  auch  bestimmte  Sammel- 
begriffe für  konkrete  G-egenstände  (Mensch),  solange  kein 
anderer  Anhaltspunkt  gegeben  ist,  in  einer  festliegenden  kon- 
kreten Form  vorstellt.  Auch  hier  kann  es  vorkommen,  dafs 
die  Form  der  Vorstellung  durch  Fortfallen  einer  Beihe  von 
Zwischengliedern  der  Ideenassoziation  gar  keine  Beziehung 
zu  dem  Vorzustellenden  zu  haben  scheint.  Floubnoy  berichtet, 
dafs  er  selbst  bei  dem  Gedanken  an  das  Wort  Seele  ein  Dreieck 
oder  einen  Kegel  sieht,  welcher  Körper  mit  nach  vom  gerich- 
teter Spitze  im  leeren  Baume  emporzufliegen  scheint.  Der 
Grund  dieser   seltsamen  Gedankenassoziation  war  ihm,   wie  er 


^  Und  zwar  sind  es  die  Breitseiten  der  Ellipse,  welche  nach  Nord 
und  Süd  gerichtet  sind. 


Entstehung  und  Bedeutung  der  8ynqp8ien.  213 

berichtet,  trotz  angestrengten  Nachdenkens  lange  Zeit  unklar, 
bis  er  schlierslioh  bemerkte,  dafs  der  Aocent  circonflexe  auf 
dem  ersten  Bachstaben  des  französischen  Wortes  äme  die 
Ursache  seiner  Yorstellnng  sei.  Meine  Mutter  denkt  beim 
Worte  Gott  an  eine  helle  Wolke,  ich  selbst  an  ein  freundliches 
Yollmondsgesicht  auf  einem  menschlichen  Körper,  das  auf  die 
Erde  herabschaut;  bei  mir  ist  der  Grund  dieser  Personifikation 
wieder  in  einem  meiner  ersten  Kinderbücher  zu  suchen,  wo 
der  Mond  personifiziert  gedacht  und  dementsprechend  auf  den 
Wolken  thronend  abgebildet  war.  Einem  meiner  Bekannten, 
Herrn  stud.  med.  Pollack,  ruft  der  Gedanke  an  die  Erhaltung 
der  Kraft  die  Erinnerung  an  eine  Küchenuhr  wach,  weil  an 
ihren  Pendeln  ihm  zuerst  das  Wesen  jenes  Naturgesetzes  klar 
gemacht  wurde. 

Den  Montag  stellt  er  sich  „voU^  vor,  offenbar,  weil  ihm 
das  Wort  Vollmond  vorschwebt,  den  Dienstag  „mager,  wie 
eine  Lanze^,  während  der  Donnerstag  ihm  den  Eindruck  eines 
Thores  erweckt.  Die  letssten  beiden  Vorstellungen  entstammen 
natürlich  Einflüssen  der  germanischen  Mythologie,  die  freilich 
in  der  seltsamsten  Weise  vom  ünterbewuTstsein  umgeformt 
worden  sind:  der  Dienstag  ist  bekanntlich  dem  Kriegsgott 
(daher  die  Lanzen)  Ziu,  der  Donnerstag  dem  Thor  geweiht. 

Wie  deutlich  solche  Vorstellungen  werden  können,  zeigt 
die  Angabe  desselben  Herrn,  dafs  das  Wort  Mensch  ihm  die 
Vorstellung  eines  vierzigjährigen  Mannes  mit  grofsem  Filzhut 
erwecke,  dessen  Krempe  rechts  hoch  steht,  links  niedergebogen  ist. 

Doch  nicht  nur  privilegierte  Assoziationen,  wie  sie  in  den 
bisherigen  Beispielen  wirkten,  können  bei  derartigen  Synopsien 
im  Spiele  sein,  sondern  auch  habituelle.  Als  eine  solche  ist 
z.  B.  die  Vorstellung  der  Fabeldrachen  als  Papierdraohen  mit 
entsprechendem  Gesicht  etc.  zu  betrachten,  vielleicht  auch  die 
Vorstellung  des  Zweckes  als  Bindfaden,  wie  sie  derselbe  Herr 
PoLLAOK  empfibndet. 

Ich  will  mich  nicht  weiter  in  diese  Materie  vertiefen, 
welche  einer  eingehenden  Sonderuntersuchung  würdig  ist. 
Möge  es  hiermit  genug  sein  mit  den  Betrachtungen  über  die 
Entstehung  der  Synopsien,  und  wenden  wir  uns  nunmehr  ihrer 
Bedeutung  zu. 


214  Riehard  Hennig. 


III.   Bedeutang  der  Synopsien. 

Wenn  wir  von  einer  Bedeutung  der  Synopsien  sprechen, 
so  ist  dabei  nicht  etwa  an  pathologische  Erscheinungen  zu 
denken,  denn  schon  Bleulbr  und  Lehmann  haben  mit  Bestimmt- 
heit behauptet  und  statistisch  nachgewiesen,  dafs  in  degene- 
rierten Familien  die  Synopsien  genau  ebenso  häufig  vorkommen, 
wie  in  anderen,  und  dafs  ihnen  eine  psychopathische 
Bedeutung  nicht  zukommt.  Auch  Flournoy  kommt 
zu  demselben  Eesultat  und  fafst  sein  Urteil  in  die  folgenden 
Worte  zusammen:  „Wenn  man  will,  ist  die  Erscheinung 
anormal  im  Sinne  von  selten  und  ausnahmsweise,  vollkommen 
normal  im  Sinne  von  nicht  pathologisch,  harmlos  und  be- 
gründet auf  ganz  und  gar  physiologischen  Vorgängen,  gerade 
so  wie  die  schlaferzeugenden  Halluzinationen,  die  Mehr- 
Fingerigkeit,  die  Fähigkeit,  die  Ohren  willkürlich  zu  bewegen, 
und  andere  auffallende  Anomalien."  Alle  Urteile,  *  welche  im 
Vorkommen  von  Synopsien  eine  Anlage  zu  Geisteskrankheiten  etc. 
sehen  wollen,  sind  vollständig  laienhaft  und  beruhen  auf  abso- 
luter Unkenntnis  der  Thatsachen,  ganz  abgesehen  davon,  dafs 
sonst  reichlich  die  Hälfte  der  Kulturmenschheit  psychopathisch 
belastet  wäre.  Wenn  ich  hier  also  von  einer  Bedeutung  der 
Synopsien  rede,  so  habe  ich  einen  praktischen  Nutzen  derselben 
im  Auge. 

Sicherlich  werden  alle  „Negativen",  ja  sogar  der  gröfste  Teil 
der  „Positiven"  sehr  verwundert  sein,  dafs  ein  solcher  praktischer 
Nutzen  der  Synopsien  bestehen  soll.  Im  allgemeinen  werden 
sie  der  Ansicht  sein,  soweit  nicht  rein  wissenschaftliches  Interesse 
vorliege,  sei  es  völlig  zwecklos,  sich  mit  den  Synopsien  zu  be- 
schäftigen. Keine  der  bisherigen  Untersuchungen  hat  einen 
wesentlichen  Nutzen  der  Synopsien  hervorgehoben  oder  auch 
nur  gewürdigt,  ich  glaube  aber,  an  einem  bestimmten  Beispiele 
beweisen  zu  können,  dafs  sie  nicht  nur  für  mnemo- 
technische Zwecke  von  einem  ganz  unschätzbaren 
We  rte  sein  können,  sondern  dafs  sie  sogar  geeignet 
sind,  mittelbar  auf  die  Geistesentwickelung  und 
-beschäftigung  nachhaltig  einzuwirken. 

Den  chromatischen  Synopsien  wird  freilich  nur  ausnahms- 
weise eine  Bedeutung  der  angegebenen  Art  zuzusprechen  sein. 


Entstehung  und  Bedeutung  der  Synopsien,  215 

Galton  berichtet  von  einer  Dame,  welche  sich  ihrer  Photismen 
bediente,  um  die  richtige  Orthographie  mancher  Worte  zu  finden. 
Floubnoy  erzählt  von  einem  Maler,  welcher  seiner  Violine 
Töne  entlockte,  um  passende  Farben  für  seine  Gemälde  zu 
finden.  Grüber  teilt  mit,  dafs  ein  Bariton  die  feinsten  Nuancie- 
rungen seiner  Stimme  nach  Beinen  Chromatismen  bestimmte.^ 
Doch  wenn  man  noch  das  schon  erwähnte  Erkennen  von  Tonarten 
durch  Farben  eindrücke  hinzurechnet,  sind  hiermit  meines  Wissens 
alle  Fälle  erschöpft,  in  denen  ein  wesentlicher  Nutzen  chroma- 
tischer Synopsien  nachgewiesen  wurde.  Im  Gegensatz  hierzu 
berichtet  Flovrnoy  auch  von  beträchtlichen  Belästigungen  infolge 
lebhafter  chromatischer  Synopsien:  eine  Dame  wurde  durch 
das  mannigfache  Farbengeflimmer  beim  Lesen  begreiflicher- 
weise aufserordentlich  gestört.  Wenn  derartige  Belästigungen 
nicht  die  Regel  bilden,  sondern  vielmehr  nur  in  diesem  einzigen 
Falle  bisher  beobachtet  sind,  so  hegt  dies  wohl  daran,  dafs 
die  Farbenempfindungen  meist  erst  bei  längerer  Dauer  akusti- 
scher Seize  oder  bei  intensiverer  Aufmerksamkeit  auf  die  Buch- 
staben, Zahlen  etc.  ins  Bewufstsein  treten,  bei  flüchtigem  Lesen 
oder  Hören  aber  latent  bleiben. 

Dafs  dagegen  die  Diagrammempfindungen,  in  welchen  aUe 
wissenswerten  Zahlen-  etc.  Angaben  des  Gedächtnisses  lokalisiert 
und  systematisch  eingeordnet  sind,  eine  wesentliche  mnemo- 
technische Hülfe  darbieten  müssen,  wird  selbst  den  Negativen 
nicht  unwahrscheinlich  dünken.  Flournoy,  der  selbst  zu  den 
Negativen  gehört,  erkennt  sogar,  allein  durch  sein  logisches 
Gefühl,  nicht  durch  bestimmte  Erfahrungen  geleitet,  schon  fast 
die  ganze  hohe  Bedeutung  der  geometrischen  Synopsien  und 
thut  auf  S.  193  den  bemerkenswerten  Ausspruch :  „Ich  beneide 
eine  solche  Fähigkeit,  welche  einzigartig  helfen  mufs,  um  die 
Zeiträume  zu  überfliegen  und  Ordnung  in  die  Dinge  zu  bringen. 
Li  ähnlicher  Weise  ist  der  Besitz  eines  chronologischen  Dia- 
grammes,  selbst  wenn  es  nur  angedeutet  ist,  von  nicht  geringer 
Hülfe  für  das  Gedächtnis  an  Ereignisse.^ 

Ich  möchte  z.  B.  aus  Beobachtungen,  die  ich  gemacht  habe, 
schliefsen,  dafs  die  Besitzer  von  Zahlendiagrammen  im  all- 
gemeinen nicht  nur  ein  besseres  Zahlengedächtnis  haben,  sondern 

^  Die  beiden  letzten  Fälle  sind  übrigens  glänzende  Beweise  für  die 
Feinheit  und  Bestimmtheit,  mit  welcher  optische  Prozesse  auf  akustische 
Keise  folgen. 


216  Bkha/rd  Hemig. 

auch  weit  bessere  Kopfirechner  zu  sein  pflegen,  als  die  Negativen. 
Schon  oben  hatte  ich  G-elegenheit,  darauf  hinzuweisen,  dafs 
Mathematiker,  welche  viel  mit  abstrakten  Gegenständen  zu 
thun  haben,  relativ  selten  Diagranmie  besitzen.  Sollte  sich 
nicht  daraus  vielleicht  die  bekannte  Thatsache  erklären  lassen, 
dafs  gute  Mathematiker  überraschend  oft  die  denkbar  schlechte- 
sten Kopfrechner  sind? 

Wenn  man  schon  nach  dem  bisher  G  esagten  einen  günstigen 
Einfluis  der  Diagramme  auf  das  Geistesleben  kaum  wird  be- 
zweifeln dürfen,  so  eröffnet  der  im  folgenden  zu  berichtende 
Fall  ganz  ungeahnte  Einblicke  in  die  Entstehung  mancher 
scheinbarer  hervorragenden  „Begabung^n^.  Es  handelt  sich 
um  einen  nahen  Verwandten  und  sehr  guten  Bekannten  von 
mir,  welcher  für  Zahlen  ein  ungewöhnliches,  für  Daten  ein 
ganz  abnorm  ausgebildetes  Gedächtnis  besitzt.  Von  den  un- 
wichtigsten Ereignissen  der  Geschichte  oder,  besser  noch,  seines 
eigenen  Lebens  kann  er  zuweilen  mit  einer  solchen  Bestimmt- 
heit und  Treffsicherheit  Datum  und  Jahreszahl  angeben,  dafs 
er  selbst  nicht  selten  darüber  erstaunt.  Von  den  wichtigeren 
Ereignissen  der  Weltgeschichte,  soweit  sie  sich  genau  datieren 
lassen,  dürften  relativ  wenige  zu  finden  sein,  zumal  unter  den 
kriegerischen  (mit  diesen  beschäftigte  er  sich  als  Knabe  am 
liebsten  und  häufigsten),  deren  Daten  und  Jahre  er  nicht  „auf 
Anhieb^  angeben  kann.  Geburts-  und  Todestage  berühmter 
Persönlichkeiten  pflegt  er  ebenfalls  mit  überraschender  Präzisität 
anzugeben,  er  konnte  mir  z.  B.  ohne  jede  Vorbereitung  die 
Todestage  und  -jähre  der  gesamten  deutschen  Herrscher  von 
Friedrich  I.  Barbarossa  bis  zu  Ludwig  dem  Baiern  fehlerlos 
angeben,  selbst  die  von  Otto  IV.  und  Friedrich  dem  Schönen 
mit  einziger  Ausnahme  Konrads  IV.,  femer  die  Tage  aller 
berühmteren  Schlachten  dieser  Epoche  (Legnano,  Bouvines, 
Cortenuova,  Wahlstatt,  Fossalta,  Benevent,  Tagliacozzo,  March- 
feld,  GöUheim,  Lucka,  Mühldorf)  u.  s.  w.  Es  ist  dies  nur  eine 
Stichprobe,  und  es  muTs  ausdrücklich  betont  werden,  dafs  er 
in  anderen  Epochen  der  Weltgeschichte  ebenso  bezw.  doch 
fast  ebenso  bewandert  ist.  Die  sämtlichen  Schlachten  Friedriolis 
des  Grofsen  oder  die  Napoleons  des  Grofsen  seit  seinem  Zuge 
nach  Ägypten  aufzuzählen  nach  Jahr  und  Tag,  ist  thatsächlich 
eine  Elleinigkeit  für  ihn,  ebenso  leicht  aber  wufste  er  bei  einer 
Probe,  der  er  sich  unterzog,  auch  die  Geburts-  und  Sterbetage 


Entstehung  und  Bedeutung  der  Synopsien.  217 

und  -jähre  folgender  berühmter  Personen,  welche  nicht  Staats- 
m&nner  oder  Feldherren  waren,  fehlerlos  anzugeben:  Co  per- 
nicns,  Luther,  Tasso,  Baoon,  Shakespeare,  Galilei, 
Kepler,  Paul  Gerhard,  Newton,  Joh.  Seb.  Bach,  Voltaire» 
Kant,  Lessing,  Moses  Mendelssohn,  Wieland,  Herder, 
Goethe,  Schiller,  der  beiden  HnmboldtS;  Mozart,  Bee- 
thoven, Tegner,  Meyerbeer,  Carl  Loewe,  H.  v.  Kleist, 
Schubert,  Heine,  Felix  Mendelssohn,  Lenau,  Darwin, 
Wagner,  Freiligrath,  Geibel,  Scheffel,  Helmholtz, 
Heinr.  Hertz  und  vieler  Anderer. 

über  diese  merkwürdige  Fähigkeit  hat  er  sich  selbst 
folgendermafsen  schriftlich  geäufsert:  „Auf  der  Schule  zeichnete 
ich  mich  im  Kopfrechnen  und  in  der  Mathematik  nicht  gerade 
auffallend  aus,  trotzdem  ich  wohl  von  mir  behaupten  kann, 
das  Durchschnittsmafs  stets  überragt  zu  haben.  Ich  glaube 
auch,  bei  etwas  mehr  Fleifs  und  weniger  Unaufmerksamkeit 
hätte  ich  ein  sehr  tüchtiger  Mathematiker  werden  können. 
Der  ungewöhnliche  Gang  der  Entwickelung  erstreckte  sich 
nach  wie  vor  auf  das  Gedächtnis  Ar  Zahlen.  Der  Geschichts- 
unterricht des  Gymnasiums  reizte  mich  ganz  besonders,  und 
schon  in  der  Quinta  und  Quarta  war  ich  bei  manchen  meiner 
Lehrer  daflir  bekannt,  alle  wichtigen  Geschichtszahlen  zu  wissen. 
Gesohichtswerke,  besonders  solche,  in  denen  recht  viele  Zahlen 
vorkamen,verschlang  ich  mit  nicht  weniger  Begierde,  als  Indianer- 
bücher. Dabei  war  es  bemerkenswert,  dafs  es  eigentlich  nur 
die  Zahlen  waren,  die  mich  so  sehr  interessierten;  für  den  Zu- 
sammenhang der  einzelnen  Ereignisse,  Yerfassungsgeschichteetc. 
zeigte  ich  durchaus  nicht  viel  mehr  Verständnis,  als  man  es 
gewöhnlich  findet.  Dagegen  behielt  ich  Jahreszahl  und  Datum 
auch  von  solchen  Ereignissen,  die  mich  gar  nichts  weiter  an- 
gingen  und  so  unbedeutend  wie  nur  mögUch  waren.  Nur 
selten  kam  es  vor,  dals  ich  eine  schon  gewuTste  Zahl  wieder 
vergafs  oder  verwechselte.  Dexmoch  habe  ich  mich  während 
meiner  Schulzeit  auch  nicht  einen  Augenblick  hingesetzt,  um 
Geschichtszahlen  zu  „ochsen'^,  nur  sehr  selten  brauchte  ich  mir 
überhaupt  erst  vorzunehmen,  eine  Zahl  behalten  zu  wollen, 
und  in  den  noch  selteneren  Fällen,  wo  ich  unter  den  zum 
Lernen  aufgegebenen  Zahlen  eine  fand,  die  ich  noch  nicht 
wuiste,  genügte  ein  einziger  Blick  darauf,  um  sie  dauernd  mir 
einzuprägen.     So    ist  es  denn  gekommen,    dafs   ich  von    fast 


218  Bichard  Hennig.    . 

allen  wichtigen  und  einer  groJCsen  Menge  unwichtiger,  ja  neben- 
sächlicher Ereignisse  Jahreszahl  und  Datum  ohne  weiteres 
sofort  angeben  kann.^ 

Den  Grund  für  dieses  seltene  Zahlengedächtnis 
sucht  mein  Gewährsmann  einzig  und  allein  in  der 
Form  se  iner  Diagramme  (er  besitzt  solche  für  Zahlen,  Monate, 
■Wochentage,  Tagesstunden  und  Buchstaben).  Chromatische 
Synopsien  kennt  er  nicht.  Der  Hauptgrund  für  die  leichte 
Unterscheidbarkeit  der  zahllosen  Daten  der  Weltgeschichte  liegt 
aber  seiner  Meinung  nach  in  gewissen  Charakterzügen,  bezw. 
Gesichtseindrücken,  welche  ihm  die  einfachen  wie  die  zwei- 
stelligen Zahlen  imd  Daten  zu  haben  scheinen.  Es  handelt 
sich  hier  also  um  eine  Art  von  Personifikation  bezw.  Charakte- 
risierung der  Zahlen,  wie  sie  zuweilen  bei  verschiedenen  Indi- 
viduen vorkommt.  Flgürnoy  führt  mehrere  diesbezügliche  Fälle 
an ;  bei  einer  von  ihm  befragten  Dame  ging  diese  Erscheinung 
so  weit,  dafs  sie  nicht  nur  die  Zahlen  in  männliche  und  weib- 
liche teilte,  sondern  u.  a.  auch  angab,  9  sei  der  Ehemann  der  8, 
er  liebe  es,  alle  möglichen  Arzneien  einzunehmen,  und  mache 
ganz  den  Eindruck  eines  eingebildeten  Kranken  u.  s.  w.  Auch 
bei  dem  von  mir  schon  mehrfach  erwähnten  Herrn  Pollack 
zeigen  sich  solche  Eigentümlichkeiten:  1  und  5  sind  männlich, 

2,  4,  8  und  9  weiblich,  1  ist  ein  Kind,  3  ein  „frecher  Junge^,^ 
6  macht  ihm  einen  weichlichen  Eindruck.  Schon  Galton  war 
mit  dieser  Erscheinung  vertraut,  denn  er  sagt  auf  S.  144  von 
den  Ziffern:  „Sie  werden  oft  von  Kindern  personifiziert  und 
ihnen  Charaktere  beigelegt  (dramatised),  vielleicht  wegen  eines 
Grundes,  der  im  Einmaleins  mitspielt,  vielleicht  auch  infolge 
einer  eigentümlichen  Assoziation  mit  ihrem  Aussehen  oder 
ihrem  Klang.  ^ 

Auch  mein  Gewährsmann  erinnert  sich,  daXs  ihm  einige 
einstellige  Ziffern'  schon  in  der  ersten  Zeit,  wo  er  sich  mit 
Zahlen  beschäftigte,  einen  Charakter  zu  haben  schienen,  so  die 

3,  ö,  6  und  9  einen  heiteren,  während  ihm  die  4  etwas  furcht« 
einflöfsend  aussah,  weil  ihr  erster  Strich  den  Gedanken  an  eine 
drohend     emporgehobene    Keule    erweckte.      Der    Charakter- 


*  Vielleicht  wegen  der  Ähnlichkeit  mit  dem  Worte  „dreist"? 
'  Nur  die  Zahlzeichen.    BOmische  Ziffern  erwecken  den  Eindruck 
nicht. 


Entst^mng  und  Bedeutung  der  Synopsien,  219 

eindruck  der  Zahlzeichen  hat  sich  im  Laufe  der  Jahre  kaum 
merklich  verändert,  nur  ist  er  verblafst,  während  derjenige 
der  Monatsdaten  an  Intensität  beträchtlich  zugenommen  hat. 
über  den  Eindrack  der  Zahlen  schreibt  mein  Gewährsmann 
folgendes :  „Mir  scheint  ein  jedes  Zahlzeichen  einen  bestimmten 
G-esichtsausdruok  zu  besitzen:  die  1  einen  gleichgültigen,  die  2 
einen  ernsten,  die  3  einen  heiteren,  die  4  einen  energischen, 
die  5  einen  stillvergnügten,  die  6  einen  schelmischen,^  die  7 
einen  zornigen,  die  S  einen  eingebildeten,  die  9  einen  klug 
überlegenden,  die  0  einen  verschlossenen  Gesichtsausdruck.' 

,,Da  es  in  psychologischer  Hinsicht  wünschenswert  sein 
dürfte,  noch  weiteres  derartiges  Material  zu  sammeln,  will  ich 
noch  erwähnen,  dafs  auch  viele  zweistellige  Zahlen,  besonders, 
soweit  sie  im  Datum  noch  Anwendung  finden,  wieder  einen 
ganz  eigenartigen  Eindruck  auf  mich  ausüben,  so  besonders 
die  14  (selbstbewufst),  die  18  (heroisch,  wohl  wegen  der  zahl- 
reichen Siege,  die  in  der  preufsischen  Geschichte  an  Daten  mit 
dieser  Zahl  erfochten  wurden),  die  19  (schwermütig),  die  20  ist 
mir  geradezu  verhafst  (wegen  mehrerer  schwerer  Unglücksfalle, 
die  mich  an  solchen  Tagen  trafen),  auch  die  24  und  28  sind 
mir  —  wenn  ich  so  sagen  darf  —  unsympathisch  (aus  ähnüchem 
Grunde),  die  81  scheint  mir  besonders  anheimelnd  zu  sein 
(mein  Geburts-  und  Lieblingshaus  trägt  diese  Nummer),  und 
so  könnte  ich  noch  manche  andere  Beispiele  anfuhren,  für  die 
ich  teilweise  auch  die  Begründung  anzugeben  weiTs.  Übrigens 
will  ich  bemerken,  dafs  die  charakteristischen  Eigentümlich- 
keiten nichts  fest  Gegebenes  sind,  sondern  dafs  sie  sich  selbst 
jetzt  noch  manchmal  in  geringen  Grenzen  ändern.^ 

Diese  letzte  Bemerkung  bezieht  sich  nach  einer  späteren 
Erklärung  nur  auf  die  Daten,  deren  Ausdruck  durch  jedes 
wichtige  neue  Erlebnis  beeinflufst  werden  kann.     Früher  (vor 

^  Diesen  Eindruck  schreibt  er  dem  Umstände  zu,  dafs  die  6  im 
Gegensatz  zu  allen  anderen  Zahlen  eine  nach  rechts  geöffnete  Kurve  hat. 

*  Eine  Unterscheidung  in  männliche  und  weibliche  Individuen  kennt 
er  nicht,  doch  meint  er,  wenn  er  sich  zu  einer  Entscheidung  zwinge,  so 
könnte  er  alle  Ziffern  nur  fEir  männlich  halten.  Übrigens  teilt  mir 
mein  Bruder  Ernst  mit,  dafs  die  Italiener  ihren  Buchstaben  verschiedene 
Geschlechter  beilegen,  „wobei  teils  provinzielle,  teils  individuelle  Unter- 
scheidungen mafsgebend  sind:  die  Einen  betrachten  sie  alle  als  mann- 
Uchj  die  Anderen  alle  als  weiblich,  und  wieder  Andere  machen  Unter- 
schiede nach  dem  Endvokale  des  Buchstabennamens^^ 


220  Biehard  Hennig. 

sechs  bis  sieben  Jahren  ungefähr)  waren  seine  liebsten  Monats- 
tage der  4,y  7.,  14.,  19.  nnd  26.,  heut  sind  ihm  der  1.,  8.,  13., 
18.)  22.  nnd  27.  mindestens  ebenso  lieb.  Doch  sind  ihm  in 
einigen  Monaten  einzelne  dieser  Tage  weit  lieber,  als  in  anderen. 
Er  erklärt,  vielen  Daten  mit  einer  geradezu  heftigen  Sympathie 
bezw.  Antipathie  gegenüberzustehen,  anderen  hinwiederum 
gleichgültiger,  aber  jedes  Datum  macht  einen  bestimmten,  unr 
verkennbaren  Eindruck,  der  im  wesentlichen  bestimmt  werden 
kann  durch  hervorragendere  Ereignisse,  welche  an  diesem  Tage 
stattfanden.  Vor  Jahresfrist  (Juli  1894)  schrieb  er  darüber: 
„Mein  Lieblingsmonat  ist  der  Dezember  (natürlich  wegen  der 
Weihnachtszeit),  mein  Lieblingsdatum  augenblicklich  der  1.  No^ 
vember^  (aus  hier  nicht  näher  zu  erörternden  Gründen).  Ich 
empfinde  für  die  Daten  Sympathie,  Antipathie  oder  Gleich- 
gültigkeit, wie  Menschen  gegenüber.  Wenn  von  Caesar  be- 
richtet wird,  das  Lesen  in  der  Grammatik,  eine  Beschäftigung, 
die  von  anderen  Menschen  als  etwas  unangenehmes,  oder  doch 
mindestens  nicht  als  etwas  Wünschenswertes  empfunden  wird, 
habe  ihm  ein  besonderes  Vergnügen  bereitet,  so  kann  ich  von 
mir  behaupten,  dafs  ich  eine  eigentümliche  Freude  daran  em- 
pfinde, ganze  Tafeln  von  Zahlen,  etwa  von  Logarithmen,  oder 
noch  lieber  von  Daten  zu  —  studieren.^ 

Es  muTs  dazu  noch  bemerkt  werden,  dafs  das  Gedächtnis 
meines  Gewährsmannes  für  andere  Gegenstände  durchaus  von 
der  gewöhnlichen  Art  ist,  es  ist  also  ganz  einseitig  entwickelt; 
um  so  deutlicher  beweist  dies,  dafs  lediglich  in  der  originellen 
Form  der  Synopsien  der  Grund  jener,  „Begabung"  gesucht 
werden  kann.  Es  muTs  ausdrücklich  hervorgehoben  werden, 
dafs  Ereignisse,  welche  an  sympathischen  Daten  eintraten, 
ungleich  leichter  behalten  werden,  als  andere. 

Seine  ganze  Geistesentwickelung  ist  wesentlich  von  jener 
merkwürdigen  Fähigkeit  beeinfluTst  worden.  Da  er  von  Beruf 
Meteorologe  ist,  so  beschäftigt  er  sich  am  liebsten  mit  historisch- 
statistischen  Gegenständen  dieses  Gebietes,  aber  auch  jede 
andere  Datumangabe  auf  Jahr  und  Tag  genau  ist  ihm  stets 
willkommen,  da  sie  stets  nicht  nur  seinen  Verstand,  sondern 
auch  sein  Gemüt  beschäftigt. 

1  Jetzt,  im  Jali  1895,  möchte  er  diese  Aussage  nicht  mehr  mit 
solcher  Bestimmtheit  machen.  In  früheren  Zeiten  (1888)  war  der  19.  De- 
zember sein  Lieblingsdatum. 


Entstehung  und  Bedeutung  der  Synopsien.  221 

Sonderbar  ist  es,  dafs  bei  ihm  die  Diagramme  für  Daten, 
Jahreszahlen  etc.,  trotz  ihrer  so  engen  Beziehungen  zu  einander, 
immer  als  völlig  gesondert  empfunden  werden.  Wenn  ein  Er- 
eignis nach  Jahreszahl  und  Datum  angegeben  wird,  so  wird 
es  doppelt  lokalisiert,  im  Jahres-  und  im  Monatsdiagramm. 
Wenn  er  z.  B.  von  der  Scblacht  bei  Gravelingen  (13.  Juli  1558) 
hört  —  bei  diesem  Datum  bemerkte  er  zuerst  die  Trennung 
der  Diagramme  —  so  sieht  er  etwa  in  seinem  Zahlendiagramm 
die  Stelle  zwischen  1558  und  1559,  dann  scheint  dies  Diagramm 
zurückzutreten  und  zu  verschwinden,  dafür  erscheint  an  genau 
derselben  Stelle  das  Datendiagramm  im  Gesichtsfelde  mit  dem 
13.  Juli  im  Vordergründe.  Wird  hingegen  ein  Ereignis  auf 
Wochentag  und  Tageszeit  genau  angegeben,  z.B.  Friedrich 
der  G-rofse  starb  Donnerstag  den  17.  August  1786,  morgens 
21^  20^  so  erscheint  etwa  nach  dem  Jahreszahlen-  und  Daten- 
diagramm ganz  unabhängig  von  ihnen  das  Wochentags-,  und 
dann  abermals  gesondert  das  Tageszeitdiagramm. 

Nicht  immer  geht  der  Prozefs  in  dieser  Weise  von  statten, 
es  kommen  Variationen  vor,  zumal  wenn  ein  Bestandteil  der 
genauen  Zeitangabe  (meist  handelt  es  sich  jß.  nur  um  Jahr 
und  Datum)  besonders  hervortritt.  Manchmal  aber,  wenn 
anfangs  das  Gedächtnis  zu  versagen  scheint,  ist  auch  der 
Eindruck  vorhanden,  als  ob  plötzlich  eine  innere  Stimme  das 
Fehlende  zuflüsterte.  So  erzählt  er  z.  B.,  dafs  er  kürzlich  des 
Morgens  wach  im  Bette  liegend  an  Moses  Mendelssohn 
dachte.  Er  wufste  seinen  Todestag  und,  dafs  er  im  selben 
Jahre  wie  Lessing  geboren  sei;  auf  den  genauen  G-eburtstag 
aber  konnte  er  sich  trotz  längeren  Nachdenkens  nicht  besinnen. 
Da  mit  einem  Male,  blitzartig,  durchzuckte  ihn  der  Gedanke: 
,6.  September^,  als  ob  er  einen  Anderen  diese  Worte  aus- 
sprechen hörte,  und  im  selben  Moment  war  er  auch  über  die 
Hichtigkeit  dieser  Angabe  nicht  mehr  im  geringsten  im  Zweifel. 
Ähnliche  Beispiele  hat  er  oft  an  sich  beobachtet. 

Dieser  von  mir  ausführlich  mitgeteilte  Fall  kann  als 
typisches  Beispiel  für  die  hohe  Bedeutung  angesehen  werden, 
-welche  zuweilen  den  Synopsien  zukommt.  Er  dürfte  zur 
Genüge  beweisen,  dafs  diese  seltsamen  Erscheinungen  ernster 
Beachtung  wert  sind,  und  dafs  sie  nicht  nur  als  wissenschaft- 
liche Spielerei  und  als  interessante  Unterhaltung  angesehen 
irerden  dürfen.    Vielleicht  können  weitere  Selbstbeobachtungen 


^,J- 


222  Biehard  Hennig. 

der  zalillosen  „Positiven**  neues,  wichtiges  Material  sowohl 
über  die  Entstehung  wie  über  die  Bedeutung  der  Synopsien 
herbeischaffen.  Ich  möchte  glauben,  dafs  man  dadurch  manchen 
beachtenswerten  Einblick  in  das  noch  so  unbekannte  Wesen 
der  psychischen  Funktionen  und  die  Entwickelung  so  mancher 
scheinbar  angeborener  Fähigkeiten  erhält. 


Zur  Analyse 
der  Vorstellungen  von  Abstand  und  Eichtung, 

Von 
Dr.  AiiOis  HöFLBB. 

In  einem  Vortrage  über  „Unlösbare  Probleme**,  den  Pro- 
fessor Geoenbaueb  vergangenen  Sommer  in  der  Philosophisclien 
Gesellschaft  an  der  Universität  zu  Wien  gehalten  hat,  begründete 
der  Vortragende  durch  ein  eigenartiges  erkenntnistheoretisches 
Motiv,*  warum  man  für  die  Lösung  von  Problemen,  wie  die 
Quadratur  des  Zirkels,  die  Trisectio  anguli  u.  dergl.  sich  selber 
solche  Bedingungen  auferlegt,    durch   die    sie    erst   zu    „unlös- 


^  „Wir  lassen  uns  bei  der  Aufstellung  der  erwähnten  beschränkenden 
Bedingungen  durch  das  Prinzip  leiten,  die  Probleme,  die  in  einem  Ge- 
biete auftauchen,  zu  lösen,  ohne  Mittel  zu  gebrauchen,  die  aulserhalb 
der  Grenzen  dieses  Gebietes  liegen  (Wahl  der  einfachsten  Mittel,  etwa 
gleich  dem  MACHschen  Prinzip  der  Ökonomie  in  der  Natur).  Dazu 
kommt  in  diesem  Falle  noch,  dafs  den  Alten  nur  die  Geometrie  des 
liineales  und  Zirkels  als  Geometrie  galt/*  —  F.  Klein  formuliert  in 
seiner  Festschrift  „  Vorträge  über  ausgewählte  Fragen  der  Elew^entargeomeirie" 
(1895)  auf  S.  2  die  Frage.  ^^^^  drückt  sich  in  der  Sprache  . .  der  Algebra 
und  Analysis  . .  die  Verwendung  von  Lineal  und  Zirkel  zur  Konstruktion 
aus?  Die  Notwendigkeit  dieser  Gedankenwendung  („Anlehnung  an 
Algebra  und  Analysis^O  liegt  darin,  dafs  die  Elementargeometrie  keine 
allgemeine  Methode,  keinen  „„Algorithmus"^  besitzt,  wie  die  letzt- 
genannten beiden  Disziplinen/'  Es  folgt  dann  auf  S.  3  der  Hauptsatz: 
„Ein  analytischer  Ausdruck  ist  dann  luid  nur  dann  mit  Zirkel  und  Lineal 
konstruier  bar,  wenn  er  aus  bekannten  Gröfsen  durch  eine  endliche  An- 
zahl rationaler  Operationen  und  Quadratwurzeln  abzuleiten  ist."  — 
Durch  solche  Zuordnung  zu  einem  abgegrenzten  algebraischen  Operations- 
komplex  kann  offenbar  die  geometrische  „Kaprice^  auf  Zirkel  und 
Lineal  eine  sachliche  Beohtfertigung  erhalten ;  zu  den  oben  im  Text 
(Puakt  5)  gegebenen  steht  sie  in  einer  Art  Koordinationsverhältnis« 
indem  alle  Berufung  auf  Algebra  in  das  geometrische  Gebiet  ebenso  ein 
„disknryes'^  Element  hineinträgt,  wie  das  der  obigen  Aufzeigung  von 
„Verschiedenheitsrelations-Komponenten'^  als  solcher. 


224  ^l^  Höfter. 

baren^  werden;  nämlich  z.  B.  den  Ejreisonifang  nicht  einfach 
durch  ein  umgeschlongenes  Meüsband  in  Verhältnis  zum 
Durchmesser  zu  setzen;  fiir  die  Trisectio  nicht  Hyperbeln  als 
Hülfslinien  zuzulassen,  sondern  nur  gerade  Linien  und  Kreise. 

Da  ich  meinerseits  schon  vor  längerer  Zeit^  einen  keines- 
wegs erst  erkenntnistheorethischen  oder  allgemein  logisch- 
methodologischen  Grund  für  jenes  scheinbar  so  kapriziöse 
antike  Postulat  der  Beschränkung  auf  Gerade  und  Kreis  (Lineal 
und  Zirkel)  sngedeutet  habe,  und  dieser  Grund  einfach  auf  die 
psychologische  Analyse  der  Begriffe  „Abstand^  und  „Sichtung*' 
zurückgeht,  so  möchte  ich  bei  dieser  Veranlassung  jene  Analyse 
hiermit  bekannt  machen. 

Für  die  vier  Punkte  A  A^Ä^A^  mögen  die  Abstände  A  A^ 
und  AA^  einander  gleich  sein,  und  die  Bichtungen  AA^  und 
A  A^  einander  gleich  sein  (d.  h.  es  mögen  A  A^A^  in  einer 
Geraden  liegen). 


Wenn  ich  nun,  ohne  von  den  hiermit  festgestellten  und 
bei  der  Anfertigung  der  Figur  befolgten  Bedingungen  schon 
in  abstracto  irgend  etwas  zu  wissen,  die  Figur  anblicke,  so 
habe  ich  die  Vorstellung  von  vier  Örtem.  Vergleiche  ich 
nun  („primär")  der  Beihe  nach  die  örter  A  und  A^,  sodann 
A  und  A^^  sodann  A  und  A^,  so  erkenne  ich  das  Bestehen  von 
drei  Verschiedenheitsrelationen,  also  mit  Benutzung  der 
Zeichen,'  welche  ich  in  meiner  Logik^  §  25,  eingeführt  habe: 

Aqj^A^  A^A^  ^^8-^3- 


^  In  der  Anzeige  von  Zindlers  „Beiträge  zur  Theorie  der  mathe- 
matischen Erkenntnis'',  Vierteüahrsschr,  f.  wies*  Philas.  1890.  S.  508. 

'  Entsprechend  dem  Gedanken  (oder  doch  dem  Ausdruck),  dafs  die 
Belation  „zwischen"  den  Fundamenten  (Terminis,  Gliedern)  bestehe,  ist 
allgemein  zu  schreiben:  äqB;  z.  B.  speziell  bei  Notwendigkeitsrelationeo 
G(tF(db*  a.  0.  §  58).  All  das  ist  nichts  als  eine  Ausdehnung  des  „Zwischen"- 
Setzens  der  Zeichen  =,  >,  <  fü.r  das  Ergebnis  der  Vergleichung  spiesiell 
Yon  Gröfsen. 


Zur  Analyse  der  Vorstellungen  von  Abstand  ufid  Richtung,  225 

Vergleiche  ich  nun  weiter  wieder  die  drei  Belationen 
Ci  9s  ^8  selbst  (sekundäre  Vergleichung),  so  erkenne  ich,  dafs 
sich  jede  derselben  selbst  wieder  in  zwei  Verschiedenheits* 
relationen  spalten,  sozusagen  in  zwei  Komponenten  oder 
„Seiten"  zerlegen  läfst,  was  wir  durch 


bezeichnen  wollen.  Hierbei  ist  natürlich  +  nioht  das  Zeichen 
für  mathematische  Addition,  sondern  eben  nur  für  psycho- 
logisches Zusammengesetztsein;  und  mit  diesem  „zusammen- 
gesetzt'' (wie  mit  den  Wörtern  „Komponenten",  „Seiten")  soll 
auch  wieder  nicht  gesagt  sein,  dafs  ihnen  eine  „Thätigkeit 
des  Zusammensetzens"  ^  vorausgegangen  sei,  sondern  nur,  dafs 
sich  jedes  der  q  analysieren  läfst  in  ein  q^  und  ein  q'\  —  Um 
eben  dieser  analysierenden  Thätigkeit  den  Weg  zu  zeigen, 
können  am  besten  nochmalige  tertiäre  Vergleichungen  dienen, 
welche  uns  sagen,  dafs  folgende  ßelationskomponenten  einander 
gleich,  bezw.  voneinander  verschieden  sind: 

p/  gleich  p/  f/  verschieden  von  p,' 

(woraus  nebenbei  folgt:  q/    verschieden  von  ^3"^) 

p/' verschieden  von  ^/  ^1"  gleich  ^3" 

(woraus  nebenbei  folgt:  pg"  verschieden  von  ^3"). 

Natürlich  will  all  das  Bisherige  sich  keineswegs  den  An- 
schein geben,  als  wolle  es  einem  erst  beibringen,  was  Abstand 
und  Sichtung  ist,  sondern  die  Analyse  zeigt  nur  auf,  wie  weit 
der  Psycholog  eben  diese  seine  Analyse  treiben  mufs,  um  aus 
längst  erworbenen  Vorstellungen  das  Abstands-,  bezw.  Rich- 
tungselement rein  herauszupräparieren. 

Wir  können  aber  auf  diesem  Wege  vom  anschaulichen  zum 
diskursiven  Denken  noch  einen  Schritt  vorwärts  gehen,  indem 
wir  beachten,  dafs  es  in  dem  uns  wohl  vertrauten  Begriffe  des 
Abstandes  liegt,'  dafs  z.  B.  die  Distanz  von  Wien  bis  Hamburg 

*  Inwiefern  der  Ausdruck  „zusammengesetzt''  immer  wieder  irre 
fuhrt,  habe  ich  jüngst  wieder  in  der  Anzeige  der  Psychologie  von 
HöFFDnrG  zu  konstatieren  gehabt.    (Diese  Zeitschr.  IX.  S.  258.) 

*  Es  sei  hier  der  Ausdruck  „in  dem  Begriff  liegen"  nicht  so  sehr 
wegen  seiner  Beliebtheit  als  der  Kürze  wegen  gestattet.  Wie  so  häufig 
ist  er  auch  in  ohiger  Anwendung  (trotz  Kants  analytischer  Urteile) 
durchaus  ungenau,    denn  man  kann  alles,   was  zum  Begriff  der  Distanz 

ZeltMlirift  fttr  PS3reh«loflr*e  X.  16 


226  'itois  Höfitr. 

gleich  ist  der  Distanz  von  Hamburg  bis  Wien,  dais  dagegen 
die  Bichtimg  einer  Beise  von  der  einen  Stadt  znr  anderen  ent- 
gegengesetzt ist  der  der  Bückreise.  Mit  Benntznng  des  in 
meiner  Logik  eingeführten  Begriffes  nmkehrbarer,  bezw. 
nicht  umkehrbarer  Belationen'  können  wir  dann  geradezu 
„definieren" : 

Abstand  ist  die  umkehrbare  Komponente  — , 
Bichtnng  ist  die  nicht  umkehrbare  Komponente 
der  Yerscbiedenheitsrelation  zweier  Orte.  — 

Zu  vorstehender  Analyse  und  ihrem  B^ebnis  sind  noch 
folgende  Bemerkungen  zu  machen: 

1.  Was  oben  als  tertiäre  Yergleichung  bezeichnet  wurde, 
ist  in  seinem  Ergebnis  nicht  etwa  wie  die  primäre  (und  mit  dem 
unter  2.  zu  erörternden  Vorbehalt  auch  die  sekxmdäre]  Yer- 
gleichung für  die  Begriffe  Abstand  und  Bichtnng  konstitutiv; 
sie  tragen  nicht  zum  logischen'  Inhalt  dieser  Begriffe  bei, 
sondern  sind  nur  ein  psychologisches,  sozusagen  didaktisches 
Hfil&mittel,  der  abstrahierenden  Aufinerksamkeit  den  Weg  zn 
weisen,  wie  sie  das  Auseinanderhalten  der  zwei  Komponenten 
(f  und  ff"  anstellen  soll.  Demgem&is  sind  auch  tax  diese  Be- 
griffe nicht  etwa  vier  Punkte  A  Ä^  Ä^  A^  obligat,  sondern  nur 
zwei  Örter  A  und  B.  Wer  sich  die  Yorstellungen  von  diesen 
zwei  „absoluten"  Örtem  gebildet  bat,  sie  als  verschieden  erkennt 
und  die  Yerschiedenheit  in  ihre  zwei  Komponenten  spaltet,  findet 

gehört,  vollsULndig  und  ftusfUhrlich  vi>rst«U«ii,  ohne  die  Eigenschaft  der 
ümkehrbarkeit  mit  vonnistellen;  sondeni  nnr,  wenn  die  Frage  nach 
Cmkehrbarkeit  oder  Nicht- umkehrbar keit  der  DisUuureUtJon  aufgeworfen 
wird,  kuia  nur  dasjenige  Urteil  evident  sein,  welches  eotficheidet :  aie 
ist  umkehrbar. 

'  Z.  B.  die  Relation  des  Freundes  Eum  Freonde  ist  («rein")  umkehr- 
bar, die  des  Herrn  nun  Diener  nicht.  In  Zeichen  A^B,  B^A;  dagegen 
AfB,  BfA  Bemerkenswert  tat,  wie  die  Sprache  hier  durch  gleiche 
besw.  verschiedene  Beseicimungen  der  Relationsglieder  selbst  diesen 
Unterschied  viel  koosequenter  als  manche  andere  gaoE  gewils  nicht 
minder  wichtige  anzudeuten  pfl^t. 

'  " B  AuiCkssung  des  Abstraktionsproiesses  vorausgesetat, 

lieren  iwar  durch  eine  Mehrheit  ähnlicher  Substrate 
ibtert  wird,  immerhin  aber  auch  schon  angesichts 
I  immer  noch  psychologisch  »osföhrbar  bleibt.  Die 
ich  einerseits  gegen  die  Oemeinbildertheorie,  anderer- 
^n^logik. 


Zwr  Afuüyse  der  Vorstellungen  von  Abstand  tmd  Bichtung,  227 

in  der  einen  von  ihne^  Das  in  begrifflicher  Bestimmtheit  wiedery 
was  er  längst  vor  solcher  Analyse  im  auTsergeometrischen  wie 
im  geometrischen  Sprachgebrauch  als  „Abstand^  der  zwei 
Orter  bezeichnen  und  verwenden  gelernt  hatte;  und  ebenso  in 
der  anderen  Das,  was  man  die  „Bichtung^  nennt,  nach  welcher 
hin  von  Ä  aus  das  B  (und  umgekehrt  von  B  aus  das  Ä)  liegt. 
Es  läfst  sich  nur  eben,  wenn  auf  jenes  didaktische  Hülfsmittel 
der  tertiären  Vergleichung  verzichtet  wird,  der  abstrahierenden 
Aufmerksamkeit  der  Weg  durch  nichts  mehr  weisen;  womit 
nicht  gesagt  ist,  dafs  sie  ihn  nicht  selber  findet,  und:  Wenn 
sie  ihn  gefunden  hat,  kann  man  ohne  das  didaktische  Hülfs- 
mittel nicht  weiter  „sagen^,  was  Abstand,  was  ILichtung  ist; 
aber  natürlich  hat  man  es  auch  bei  Zuhülfenahme  der  tertiären 
Vergleichungen  im  Grunde  nicht  „gesagt".  —  Das  „diskursive" 
Charakterisieren  der  beiden  Komponenten  gegeneinander  kann 
hier  so  wenig  wie  irgendwo  das  anschauliche  Erfalsthaben 
ersetzen. 

2.  Ist  nicht  ebenso,  wie  das  tertiäre,  auch  schon  das 
sekundäre  Vergleichen  für  das  Zustandekommen  der  abstrakten 
Yorstellungselemente  Abstand  und  Bichtung  logisch  entbehrlich? 
Als  sekundäre  Vergleichung  war  oben  bezeichnet  worden  das 
Vergleichen  je  zweier  der  Belationen  q^  q^  q^.  Der  Erfolg  dieses 
Vergleichens  sollte  sein  das  „Sich-spalten"  jeder  dieser  drei 
Belationen  in  das  betrefiende  q'  und  q'\  Insoweit  dieses  Sich- 
spalten in  uns  sich  vollzieht,  dank  dem  Vergleichen  von  q^ 
und  Q^j  von  q^  und  ^3,  von  ^  und  ^3,  gilt  in  der  That  das 
unter  1  über  die  tertiären  Vergleichungen  Gesagte.  Es  ist 
nicht  logisch  wesentlich,  ja  kaum  psychologisch  unentbehrlich. 
Aber  das  „Sich- spalten"  selbst  —  was  ist  es?  —  Erinnern  wir 
uns  an  die  von  Meinung,  Stumpf  u.  A.  wiederholt  betonte 
Thatsache,  dafs  nicht  alle  Ähnlichkeit  reinlich  in  ein  Element 
voller  Gleichheit  und  ein  anderes  voller  Ungleichheit  auf- 
zulösen ist,  wie  man  so  lange  geglaubt  hatte.  Wenn  ich  nun 
aber  einen  der  Fälle,  wo  sich  solche  Sonderung  in  der  That 
vollziehen  läfst,  z.  B.  dafs  die  rote  Kugel  dem  roten  Würfel 
der  Farbe  nach  gleich,  der  Gestalt  nach  ungleich  ist,  mir  ver- 
gegenwärtige —  zeigt  sich  da  nicht,  dafs  ich  neben,  ja  „in" 
denjenigen  Vergleichen,  die  hier  zum  Auseinanderhalten  einer 
partiellen  Gleichheit  und  einer  partiellen  Verschiedenheit  führen, 
eben  noch  einmal  schon,  z.  B.  an  der  Kugel,  das  Farbenelement 

15* 


228  Äiois  Höfter. 

mit  dem  Gestaltelement  verglichen  haben  mufs,  um  sie  einander 
80  unähnlich  zu  finden,  dafs  sie  eben  ganz  schroff  auseinander- 
treten, als  species  „heterogener*^  gen  er  a  erkannt  werden?  — 
Aber  selbst  zugegeben,  dafs  man  zu  solchem  Auseinandertreten, 
sei  es  immer,  sei  es  manchmal,  einen  eigenen  Vergleichungsakt 
entbehrlich  finde:  wird  man  gerade  in  unserem  Falle,  wo  inner- 
halb der  einen  Ortsverschiedenheit  q  die  beiden  Yerschiedenheits- 
komponenten  q^  und  q'^  gegeneinander  abzusondern  sind  — 
wird  man  hier  es  vermeiden  können,  wenigstens  nach  voll- 
zogener Analyse  noch  einen  vergleichenden  Blick  auf  das  eine 
Element  „Abstand*' einerseits,  auf  das  andere  Element  „Richtung*' 
andererseits  zu  werfen,  um  es  im  Bewufstsein  festzuhalten, 
dafs  und  inwiefern  sie  verschieden  sind?  Schliefslich  sind,  was 
wir  „Komponenten**  oder  „Seiten**  nannten,  doch  auch  wieder 
species  desselben  genus  „Ortsverschiedenheit**,  und  wer  wird 
species  gegeneinander  abgrenzen  ohne  jenen  vergleichenden 
Blick?  —  Also  die  im  „Spalten**  je  eines  q  in  sein  q^  und  ^" 
gelegene  Yergleichung  ist  es,  die,  genau  genommen,  unter  obigem 
Ausdruck  „sekundäre**  Vergleichung  verstanden  werden  mufs. 
3.  "Wenn  hiernach  die  primäre  (und  sekundäre)  Vergleichung 
für  das  Zustandekommen  der  Vorstellungen  von  Abstand  und 
Sichtung  und  ihr  Auseinanderhalten  als  aUein  wesentUch  übrig 
bleibt,  80^  wird  nun  natürhch  eingewendet  werden,  dafs,  was 
wir  die  primäre  Vergleichung  nannten,  eigentlich  doch  selbst 
schon  eine  sekundäre  sei.  Denn  die  Örter  Äj  A^^  Ä^,  Ä^  oder 
A  und  B  wurden  ja  im  vorstehenden  stillschweigend  immer 
als  „absolute**  Örter  behandelt  (und  einmal  sogar  geradezu  als 
solche  bezeichnet).  Es  sei  aber  doch  eine  ausgemachte  That- 
sache,  dafs,  wenn  schon  nicht,  wie  nach  der  allgemeinsten 
B>elativitätslehre  „Alles  relativ**  sei,  dies  doch  zum  mindesten 
von  Ortem  kaum  jemand  in  Zweifel  ziehe.  Auch  irgend  ein 
absoluter  Ort  sei  uns  ja  nur  vorstellbar  durch  Beziehung  auf 
unseren  eigenen  Leib.  —  Es  soll  natürlich  hier  nicht  versucht 
werden,  zu  einem  so  uralten  Theorem  auf  Q-rund  von  Allgemein- 
heiten Stellung  zu  nehmen.  Aber  auch  den  Belativisten  darf 
der  Gedanke  einmal  zur  Erwägung  empfohlen  werden,  ob  wir 
nicht  vielmehr  gerade  umgekehrt  den  Ort  unseres  Leibes, 
speziell  des  so  schwer  dingfest  zu  machenden  „Baumzentrums** ^ 

^  Hering  (HBRMAmr,  Handtoörterhuch  UI,  1.  S.  392  Anm.)  hebt  an  der 
entscheidenden   Stelle,   wo   er   mit   dem    fundamentalen    „Gesetz    der 


Zur  Analyse  der  Voraiefkmgen  non  Abstand  und  Bichtung.  229 

( —  wo  soll  es  liegen:  an  der  Nasenwurzel,  wie  weit  hinter  ihr?) 
durch  Beziehung  auf  äuTsere  Örter  vorstellen,  welche  letztere 
ihrerseits  ohne  Beziehung  auf  den  Leib  vorgestellt  werden 
können  (d.  h.  so,  dafs  dies  nicht  eine  logisch  widersprechende 
Forderung  einschliefst)  und  wenigstens  manchmal  auch  wirk- 
Hch  so  vorgestellt  werden.  —  Wie  es  sich  aber  auch  mit  der 
logischen  Möglichkeit  und  der  psychologischen  Thatsächlichkeit 
absoluter  Ortsvorstellungen  verhalte:  in  den  doppelt  relativen 
Inhalt  der  Vorstellungen  von  Abstand  und  Richtung  geht 
doch  jene  Relativität  nicht  ein;  wir  können  sie,  wenn  auch 
sie  schon  an  den  Vorstellungen  der  Belationsglieder  Ä  und  B 
beteiligt  ist,  mit  einer  etwas  sonderbaren,  aber  manchmal  sich 
zweckmäfsig  ^  erweisenden  Bezeichnung  höchstens  als  die  „nullte^ 
Vergleichung  bezeichnen,  so  dafs  es  im  übrigen  bei  den  Tenninis 
primäre  und  sekundäre  Vergleichung  verbleiben  kann. 

Nebenbei  bemerkt,  führt  die  Zählung  der  einem  scheinbar 
so  einfachen  Begriff,  wie  dem  des  Winkels,  zu  G-runde  liegenden 
Vergleichungsrelationen  natürlich  um  so  mehr  zu  unerwartet 
grofsen  Zahlen,  wenn  wir  beachten,  dafs  „Winkel  =  Bichtungs- 
unterschied  zweier  Geraden"  ( —  die  beliebte  Definition  Winkel 
=  Winkelblatt  scheint  mir  unhaltbar)  und  dafs  Gerade  =  Linie 
konstanter  Bichtung.  Um  so  mehr  bei  den  Begriffen  von 
Krümmung  als  gesetzmäfsigem  Bichtungs Wechsel  u.  dergl.  m. 
Vom  hierher  Gehörigen  für  dieses  Mal  nur  das  Folgende: 

4.  Es  ist  zuzugestehen,  dafs  es  nicht  ebenso  ungezwungen 
klingt,  schon  angesichts  zweier  Punkte  Ä  und  B  von 
„Bichtung",  wie  von  „Abstand"  zusprechen.    Es  mag  manchem 

identischen  Sehrichtungen''  den  Begriff  des  „imaginären  Ein- 
auges'*  (Cyklopenauges)  einführt,  selbst  hervor,  „dafs  die  Lage  des 
hinzugedachten  [„hinzu''  —  doch  wohl  zu  den  örtem  des  äufseren 
Baumes,  des  Sehraumes]  Ausgangspunktes  der  Sehrichtungslinien  eine 
variable  ist  und  dafs  man  sich  denselben  sogar  manchmal  hinter  dem 
JEopfe  zu  denken  hat"  [ —  zu  „denken",  also  nicht,  wie  man  es  von 
einem  unentbehrlichen  Relationsgrund  erwarten  sollte,  mit  dem  äufseren 
Orte  zugleich  anschaulich  vorzustellen  —  d.  i.  zu  „sehen"  nach  Herinqs 
Gegenüberstellung  von  „Sehen"  und  „Denken",  vgl.  z.  B.  a.  a.  0.  S.  344]. 
^  So  ist  es  bequem,  in  der  Entwickelung  von  (a-^-by  das  an  der 
Spitze  stehende  Glied  als   das   nullte,   das  darauffolgende  im  Hinblick 

auf  den   Koeffizienten   (?j  als   das  erste,   das  folgende  mit  (^  als  das 

zweite  u.  s.  f.  zu  bezeichnen.  —  Desgleichen  den  ersten  Partialton  als 
nullten  Oberten  u.  dergl.  m. 


230  Alois  Höfler. 

soheinen,  als  gehöre  zu  einer  vollstäDdigen  Yorstellong  von 
Eichtung  die  Vorstellung  von  der  Geraden.  Der  Einwurf  würde 
aber  doch  einigermafsen  erinnern  an  das  Bedenken,  ob  nicht  auch 
^Abstand''  schon  eine  komplete  Gerade,  nämlich  eine  ^Strecke^ 
bedeute.  Letzteren  Einwurf  glaube  ich  schon  bei  früherer 
Gelegenheit^  entkräftet  zu  haben.  Aber  auch  betreffs  der 
Bichtung  steht  doch  so  viel  aulser  Zweifel,  dafs,  wenn  es 
überhaupt  einen  Sinn  hat,  zu  sagen,  A^  liege  in  Bezug  auf  Ä 
in  derselben  Bichtung  wie  A^  in  Bezug  auf  A,  dies  die  Be- 
stimmung: Aj  A^j  A^  liegen  in  einer  Geraden,  logisch  ersetzt; 
wobei  aber  letzteres,  das  Beden  von  Geraden,  insofern  Über- 
flüssiges in  die  Betrachtung  hereinbringt,  als  an  der  Lage  von 
Aj  J.J,  A^  nichts  geändert  wäre,  wenn  wir  beliebig  lange  Stücke 
des  Punktcontinuums,  welches  die  Gerade  darstellt,  uns  weg- 
gelassen denken.  Wogegen  umgekehrt,  wenn  der  Begriff  einer 
nur  zwei  Punkte  benötigenden  Bichtung  zugegeben  wird,  sich 
die  Gerade  in  der  That  definieren'  läfst  als  das  Continuum, 
innerhalb  dessen  je  zwei  beliebige  Punkte  immer  „dieselbe^ 
Bichtung  haben;  was  wieder  genauer  so  auszudrücken  ist,  dafs 
je  zwei  Punkte  in  Bezug  aufeinander  die  gleiche'  Bichtung 
haben,  wie  je  zwei  andere  Punkte.  (Von  dem  Nichtumkehr- 
barsein  der  Bichtungsrelation  ist  in  letzterer  Formulierung 
abgesehen;  will  man  es  berücksichtigen  und  zum  Ausdruck 
bringen,  so  fällt  dieser  noch  etwas  schwerfälliger  aus,  als  es 
in  einer  so  weit  gehenden  Analyse  notgedrungen  immer  sein 
wird.) 


'  In  der  oben  (Anm.  2)  zitierten  Anzeige.  S.  497. 

'  Mit  der  von  mir  vertretenen  (vergl.  Viertefjiihresschr,  f,  wüs.  Pküos, 
1885.  S.  860,  von  Kerbt,  ib.  S.  491,  angegriffenen)  Definition:  „Die  Gerade 
ist  die  nicht- Krumme"  vertrftgt  sich  obige,  indem  die  Anschauung 
von  EjTumm  bei  der  Übersetzung  aus  Diskursive  auf  die  Verschiedenheit 
der  Bichtungs-Belationen  zwischen  je  zwei  Paaren  von  Punkten  (oder 
wenigstens  drei  Punkten)  fQhrt.  Dabei  setzt  natürlich  wieder  diese  Be- 
vorzugung der  Verschiedenheit  vor  der  Gleichheit  voraus,  dafs  man 
„Gleich  als  Ni  c  h t- v e  r  s ch  i e d en",  nicht  etwa  Verschiedenheit  als  Nicht- 
gleichheit  definiere;  lauter  Dinge,  die  eine  zusammenhängende  Begrün- 
dung' so  gewiÜI  verdienen,  als  sie  hier  zu  weit  führen  würde. 

'  Die  Unterscheidung  von  gleich  und  identisch  vorausgesetzt, 
welche  durch  die  Unzukömmlichkeit  des  Satzes:  „Alle  Soldaten  „des- 
selben*' Begimentes  haben  „dieselbe*'  Uniform"  illustriert  wird  (vergL 
meine  Logik.  %  25  im  Anschlufs  an  Mznrovas  BelaHonstheone). 


Zur  Analyse  der  Vorateütmgen  von  Abstand  und  Richtung,  231 

5.  Alles  Vorstehende  zugegeben,  hellt  sich  nun  die  eingangs 
berührte  Sonderbarkeit  des  Postulates,  man  dürfe  bei  „rein^ 
geometrischen  Konstruktionen  nur  Zirkel  und  Lineal  benutzen, 
in  folgender  Weise  auf  —  ja  man  fängt  überhaupt  erst  zu 
begreifen  an,  was  es  für  einen  Beiz  hat,  ins  endlose  die  Be- 
stimmungsstücke für  Dreieckskonstruktionen  u.  dergl.  —  und 
zwar  nicht  etwa  nur  in  Schülerübungen  —  zu  variieren.  Habe 
ich  nämlich  die  Lage  eines  Punktes  durch  den  Schnittpunkt 
zweier  Kreise  bestimmt,  so  heiTst  das,  ich  habe  gezeigt,  wie 
man  einen  Ort  rein  durch  Benutzung  von  AbStands- 
Relationen  „indirekt  vorstellen  kann;  und  das  gleiche 
beim  Schnittpunkt  zweier  Geraden  rein  durch  Bichtniigs- 
Belationen.  Auch  die  noch  kapriziösere  Forderung  der 
Konstruktionen  von  Masoheroni  und  Steiner,  nur  den  Zirkel 
zu  benutzen  (und  desgleichen  die  von  Brianchon  nur  das  Lineal) 
erklärt  sich  hiermit  von  selbst.^  —  Natürlich  soll  nicht  gesagt 
sein,  dafs  dieses  rein  logische  Motiv  das  alleinige  sei;  die 
Psychologie  des  Sportes  hätte  -—  wie  bei  so  vielen  „Aufgaben" 
mathematischer  und  nicht-mathematischer  Art  —  vielleicht 
thatsächlich  häufig  noch  wirksamere  zu  nennen.  Auch  sieht 
es  sich  sonderbar  genug  an,  dafs  der  einer  Konstruktions- 
aufgäbe  nachsinnende  ernste  Denker  nicht  wissen  sollte,  „was'' 
er  hierbei  eigentlich  wolle  —  Vorstellungsinhalte  auf  Grund 
wohl  definierter  Relationen  zuwege  bringen,  wie  es  der  Psycholog 
und  Logiker  in  seiner  Sprache  nennt.  Aber  gerade,  wenn 
derart  zu  stände  gebrachte  Yorstellungsinhalte  so  viel  Markantes 
haben,  dafs  sie  auch  dem  erkenntnistheoretisch  nicht  G-eschulten, 
sondern  sogleich  praktisch  Erkennenden  als  erstrebenswerte 
Ziele  seiner  Erkenntnisarbeit  insoweit  deutlich  sicli  darstellen, 
dafs  sie,  ohne  von  ihm  analysiert  zu  sein,  als  Ziele  festgehalten 
werden  können,  ist  dies  für  den  Psychologen  selbst  wieder 
eine  Bestätigung,  dafs  derlei  Vorstellungsinhalten  eine  ganz 
auffiLllige  Bolle  im  Denken  zukommen  mufs.  Li  der  That 
braucht  der  an  psychologische  Beflexion  Gewöhnte  nur  einmal 


^  Dafs  Mascheboni  wie  Bbiakobon  ausdrücklicli  praktische  Zwecke 
vor  Augen  hatten  (vgl.  KlIein,  a.  a.  O.  [S.  223  Anm.  1],  S.  26),  thut  der 
theoretischen  Bedeuttamkeit  ihrer  Methoden  natürlich  ehenfalls  keinen 
Eintrag. 


232  -^tow  Höfltr, 

auf  die  Thatsache  des  „indirekten  Vorstellens"  ^  anfinerksam 
gemacht  zu  sein,  um  es  gar  nicht  andera  zu  erwarten,  als  dafs 
ihm  derlei  Yorstellungsgebilde  allenthalben  begegnen  werden. 
Hat  man  sich  vollends  einmal  darüber  Rechenschaft  gegeben, 
wie  sehr  Arithmetik  imd  Geometrie  von  ihren  elementarsten 
G-rundlagen  an  es  mit  Belationsurteilen  über  Vorstellungsinhalte 
zu  thun  haben,  die  ihrerseits  selbst  wesentlich  nur  durch 
Relationen  definiert  sind,^  so  wird  es  nicht  wunder  nehmen , 
wenn  ein  so  beträchtlicher  Teil  mathematischen  Denkens,  wie 
es  das  sogenannte  Konstruieren  ist  (und  noch  allgemeiner  alle 
„synthetische^,  speziell  auch  die  „neuere*^  Geometrie  gegenüber 
der  „analytischen^)  sich  für  die  psychologische  und  logische 
Analyse  geradezu  als  eine  Theorie  des  indirekten  Vor- 
stellens  mittelst  möglichst  weit  analysierter  Bela- 
tions demente  herausstellt. 

6.  Nachdem  bisher  so  viel  vom  Auseinanderhalten  der 
Belationskomponenten  „Abstand^  und  „Eichtung'^  die  ßede 
war,  sei  kurz  hingewiesen  auf  die  eigenartige  Methode  der 
„Vektoren^,  in  welchem  Begriff  jene  zwei  Elemente  sozusagen 
kunstgerecht  wied  er  vereinigt,  nämhch  nach  ausdrücklichem 
Auseinanderhalten  diesmal  wirklich  zu  einem  neuen  Begriffs- 
gebilde „zusammengesetzt^  sind  —  eine  Synthese  nach  der 
Analyse.  Dafs  rein  mathematische  Theorien,  wie  die  der  räum- 
lichen Darstellung  komplexer  Zahlen,  an  jenen  psychologischen 
Analysen  und  Synthesen  nicht  minder  interessiert  sind  als  die 

^  Zuerst  theoretisch  analysiert  und  auf  Grund  dessen  mit  obigem 
Terminus  versehen  von  Medtono,  Relationstheorie  (1881),  S.  87  [667].  —  Es 
scheint  mir  nicht  überflüssig,  die  Erinnerung  an  die  Provenienz  dieses 
Terminus  (der,  wie  sich  gezeigt  hat,  einem  sehr  verbreiteten  Bedürfnis 
entgegenkam)  wachzuerhalten.  —  Jüngst  schreibt  nämlich  Dr.  EnUi  Koch 
Das  Bewufstsein  der  Transcendene  oder  der  Wirklichkeit,  Ein  psychologischer 
Versuch,  1896.  —  S.  88]:  „Wir  kommen  zu  den  . .  indirekten  Vorstellungen* 
die  auch  K.  Twardowski  bespricht . .  (im  Anschlüsse  an  Kerbt). **  Hier- 
nach erscheint  Terminus  und  Definition  Kkrby  zugeschrieben.  Wollte 
der  Leser  Kochs  die  „terti&re  Vergleichung''  der  Citate  vornehmen,  so 
f&nde  er  freilich,  dafs  Kerbt  für  die  fragliche  Begriffsbestimmung  richtig 
MBn^oKG  als  Urheber  genannt  hatte. 

'  Meuiovq,  Belationstheorie,  S.  89  [669]:  „Man  sieht  auf  den  ersten 
Blick,  wie  die  ganze  Mathematik,  da  es  hier  um  möglichste  Allgemein- 
heit, daher  Unabhängigkeit  von  speziellen  Gröfsen  zu  thun  ist,  geradezu 
in  erster  Linie  sich  mit  Fällen  dieser  Art  zu  beschäftigen  hat."  —  Bei- 
spiele: a  =  6,  a^=c\  b  =  c  u.  dergl. 


Zwr  Analyse  der  Voratdkmgen  von  Abstand  tmd  Bichtung,  233 

physikalischen  Vorstellungen,  z.  B.  von  Geschwindigkeiten,  die 
ihrerseits  nicht  nur  „G-röfse^,  sondern  auch  „Richtung^  haben, 
darf  die  Psychologie  nicht  so  sehr  behaupten  als  —  hoffen;  denn 
schliefslich  ist's  auch  hier  eine  Tbatsachenfrage,  aber  hoffent- 
lich auch  nur  eine  Frage  der  Zeit,  dafs  Mathematiker  und 
Physiker  inne  werden,  wie  sie,  wenn  sie  nur  wirklich  soweit 
als  möglich  analysieren  wollen,  sich  von  ihrem  direkten 
Forschungsgebiete,  den  physischen  Phänomenen  ( —  die 
„Zahlen^  freilich  hier  nicht  inbegriffen)  sich  eben  an  die 
Analysen  ihrer  eigenen  Yorstellungsgebilde  gewiesen  sehen; 
was  dann  seine  besondere  Technik  —  die  psychologische,  nicht 
die  mathematische  und  physikalische  als  solche  —  voraussetzt. 
7.  Dafs,  wo  im  Bisherigen  ausschliefslich  von  Örtem  die 
Sede  war,  anstatt  der  Baumdaten  vielfach  Intensitäten,  Quali- 
täten und  sonst  etwa  aufzuzeigende  Yorstellungselemente  (nicht 
nur  innerhalb  physischer,  sondern  wohl  auch  gar  psychischer 
Inhalte)  in  Betracht  zu  ziehen  wären,  bedarf  für  den  an  die 
räumliche  Symbolisierung  gewöhnten  Psychologen  keiner 
weiteren  Begründung;  betitelte  sich  doch  z.  B.  eine  der 
letzten  Arbeiten  Helmholtz'  in  dieser  Zeitschr.j  III.  Bd., 
„Kürzeste  Linien  im  Farbensystem'',  wobei  nicht  nur  Abstands-, 
sondern  ebenso  Bichtungsrelationen  zwischen  Farbeninhalten 
als  solchen  das  Thema  bildeten.  Aber  freilich  ist  damit,  dais 
die  Aufgabe  aufser  Zweifel  steht,  noch  lange  nicht  ihre  Lösung 
gegeben    und  mag  fernerhin   noch  manches  ebenso  schwierige 

^  Yergl.  z.  B.  die  erstaunlich  einfache  und  dabei  weitreichende  An- 
wendung in  Maxwblls  Matter  and  motian,  deutsch  von  FLsiscmj,  SubetanM 
und  Bewegung,  Inwiefern  der  BegrifP  des  nSectors''  trotz  der  Fruchtbar- 
keit an  Erfolgen  uns  nicht  der  logischen  Verpflichtung  überhebt,  uns 
bewoTst  zu  bleiben,  dafs  das  Hineintragen  des  Bichtungsmerkmales  in 
die  G-eschwindigkeitsvorstellung  doch  ni!^  eine  künstliche  ist,  habe  ich 
angedeutet  in  dem  Aufsatz  „Zur  vergleichenden  Analyse  der  Ableitung 
für  Begriff  und  GrOfse  der  zentripetalen  Beschleunigung",  Zeitsckr.  f,  d. 
phfysik  u.  ehem.  ühterr.  U,  Jahrg.  1889.  S.  281.  Das  Eingeständnis  solcher 
Künstlichkeit  kann  für  die  Psychologie  wichtig  werden,  wenn  sie  an 
eine  endgültige  Analyse,  z.  B.  des  Geschwindigkeitsbegriffes,  geht, 
welchem  nun  einmal  —  trotz  aller  Definitionsfreiheit  —  die  Elemente 
Weglängen  und  Zeitlängen  nebst  der  zwischen  ihnen  sich  herausbildenden 
gGestaltsqualität"  (vergL  die  genannte  Zeitschrift.  YIII.  Jahrg.  1895. 
inniger  angehören,  als  das  Eichtungselement.  Die  Ausführung  dieser 
Andeutungen  hoffe  ich  in  nicht  zu  langer  Zeit  anderwärts  geben  zu 
können. 


234  ÄM8  Höfler. 

als  lehrreiche  Problem  einschliefsen,  das  aber  ohne  Zurück- 
gehen auf  letzte  Belationsdaten  wohl  kaum  eine  endgültige 
Lösung  überhaupt  erwarten  darf. 


Nachtrag.  Zur  Zeit  der  Drucklegung  dieser  Mitteilung 
(30.  Oktober  1895)  hielt  Professor  Siomund  Exneb  in  der  Philo- 
sophischen Gesellschaft  an  der  Universität  Wien  einen  Vortrag 
„über  Eiohtungsempfindungen.«  -  Dieser  Terminus 
könnte  einen  Widerspruch  zu  enthalten  scheinen  gegen  die 
ganze  obige  psychologische  Analyse,  welche  in  den  Vor- 
stellungen von  Abstand  und  Richtung  sogleich  Belationen, 
nämlich  gehäufte  Vergleichungsrelationen,  aufwies.  So  gewifs 
aber  die  Gleichheit  oder  die  Verschiedenheit  (z.  B.  zweier 
Tonhöhen)  als  solche  nicht  selbst  „e mp  f un den''  (gehört)  werden, 
sondern  angesichts  zweier  (Ton-)Empfindungen  (oder  aber  zweier 
Erinnerungsvorstellungen  von  den  Tonhöhen)  erst  durch  den 
besonderen  Vorgang  des  y^Vergleichens*^  zu  unserem  Bewuist- 
sein  gebracht  werden  kann,  so  gewifs  sind  die  von  mir  auf- 
gezeigten Relation  8  demente  des  Bichtungsbegriffes  keine 
Empfindungselemente.  —  Der  Titel  des  Vortrages  besagte 
aber  auch  nicht  —  wie  sich  aus  dem  Inhalte  des  Vortrages 
ergeben  hat  — ,  dafs  die  Richtungen  empfunden  werden, 
sondern  er  wies  auf  diejenigen  Empfindungsgattungen  und  -arten 
hin  (z.  B.  Muskelempfindungen),  an  welche  sich  —  wie  ich 
in  meiner  Terminologie  sagen  mnfs  -  die  Eiohtungs- 
relationen  mit  Vorliebe  geknüpft  erweisen  —  genauer:  welche 
in   uns  Richtungsvorstellungen   und  Richtungsurteile  auslösen. 


(Tber  die  Wirkung  des  chlorsauren  Kali 
auf  den  Geschmackssinn. 

Von 

Privatdozent  Dr.  Wilibald  A.  Nagel 

in  Freiburg  i.  Br. 

Das  Kaliumchlorat  (Kali  chlorioum  der  Apotheken)  besitzt 
eine  eigentftmliche  Wirknng  auf  das  Geschmaoksorgan,  bezüg- 
lich deren  ich  in  der  Litteratnr  vergeblich  nach  einer  Erwäh- 
nung gesucht  habe.  Schon  vor  vielen  Jahren  war  es  mir  auf- 
gefallen, dafs,  wenn  ich  wegen  einer  A£Eektion  des  Bachens 
oder  Halses  eine  Lösung  von  chlorsaurem  Kali  als  Gurgel- 
wasser benutzt  hatte  und  danach  den  Mund  mit  reinem  Wasser 
ausspülte  oder  auch  einige  Zeit  nachher  zufällig  Wasser  trank, 
dieses  auffallend  süfs  schmeckte. 

Da  in  neuerer  Zeit  Kontrasterscheinungen  auf  dem  Gebiete 
des  Geschmackssinnes  in  unzweideutiger  Weise  festgestellt 
worden  sind  und  die  erwähnte  Beobachtung  zu  jenen  in  einer 
gewissen  Beziehung  steht  (wovon  unten  näheres),  schien  mir 
ein  kurzer  Hinweis  auf  sie  nicht  überflüssig. 

Das  Kaliumchlorat  ist  in  kaltem  Wasser  nur  langsam 
löslich,  und  zwar  in  16  Teilen  Wasser;  in  heifsem  Wasser  löst 
es  sich  erheblich  leichter  und  in  gröfserer  Menge  (in  drei  Teilen 
siedenden  Wassers).  Zur  therapeutischen  Verwendung  wird 
eine  fünfprozentige  Lösung  empfohlen;  zu  meinen  Versuchen 
nahm  ich  meist  schwächere  Lösungen,  gewöhnlich  1%. 

Diese  Lösung  hat  für  mich,  wenn  ich  sie  in  kleiner  Quan- 
tität in  den  Mund  bringe,  so  gut  wie  gar  keinen  Geschmack. 
Gurgelt  man  damit,  oder  trinkt  man  einen  Schluck  davon,  so 
tritt  diejenige  Geschmacksempfindung  auf,  die  sich  bei  einer 
kalt   gesättigten  Lösung  auch  schon   dann    bemerklich  macht, 


236  Wüühdld  Ä.  Nagel 

wenn  man  ein  kleines  Quantum  derselben  in  den  Mund  nimmt. 
Die  Empfindung  ist  schwer  zu  beschreiben,  am  bezeichnendsten 
ist  noch  der  Ausdruck  ^fade^.  Sehr  ähnlich  schmeckt  mir  eine 
schwache  Sodalösung. 

Eine  der  bekannten  und  wohl  charakterisierten  Geschmacks- 
qualitäten, süfs,  sauer,  bitter,  salzig,  kommt  dabei  zunächst 
nicht  zum  Ausdruck.  Andeutungsweise  ist  dies  aber  der  Fall, 
wenn  man  die  kalt  gesättigte  Lösung  ein  wenig  im  Munde  hin 
und  her  bewegt  und  sie  einige  Zeit  darin  behält.  Die  hierbei 
auftretenden  Empfindungen  sind  jedoch  sehr  wechsehid  (die 
verschiedenen  schmeckenden  Partien  des  Mundes  reagieren  offen- 
bar in  ungleicher  Weise);  bald  empfindet  man  etwas  Bitter- 
liches, bald  auch,  namentlich  an  den  Zungenrändem,  einen 
leicht  säuerlichen  Geschmack,  wie  er  bei  vielen,  in  der  That 
nicht  sauer  reagierenden  Stoffen  (Gerstenschleim  etc.)  oft  zur 
Beobachtung  kommt.  Auch  von  ganz  schwach  salzigen  und 
süfslichen  Empfindungen  möchte  man  ab  und  zu  reden.  Der 
ganze  Eindruck  ist,  wie  gesagt,  höchst  wechselnd,  dabei  von 
geringer  Intensität  und  Deutlichkeit. 

An  der  Zungenspitze,  besonders  an  Stellen  minimaler  Kon- 
tinuitätstrennungen der  Schleimhaut  der  Zunge,  Lippen  oder 
Wangen,  macht  sich  nach  einiger  Zeit  ein  empfindliches  Brennen 
und  Stechen  bemerklich,  welches  namentlich  bei  einer  in  der 
Wärme  gesättigten  Lösung  fast  nie  ausbleibt.  Es  beruht  auf 
der  aus  Gbützners  Untersuchungen^  bekannten  starken  Beiz- 
wirkung der  Kalisalze  auf  sensible  Nerven,  speziell  auf  ver- 
letzte Hautparüen. 

Entfernt  man  die  Flüssigkeit  aus  dem  Munde,  so  bleibt 
eine  kurze  Zeit  hindurch  nur  der  Geschmack  oder  —  ich 
möchte  es  lieber  unbestimmter  ausdrücken  —  der  Eindruck  des 
Faden  zurück,  übrigens  in  wenig  ausgeprägter  Weise. 

Nimmt  man  jetzt  reines  Quellwasser  (oder  auch  destilliertes 
Wasser)  in  den  Mund,  so  hat  dieses  einen  deutlich  süfsen 
Geschmack,  den  ich,  soweit  sich  derartige  Empfindungen 
lokalisieren  lassen,  vorzugsweise  an  den  seitlichen  Zungen- 
rändem zu  empfinden  glaube. 

Es  ist  nicht  die  reine  Süfsigkeit  des  Zuckers  oder  Saccharins, 


^  Über   die   chemische  Reizung  sensibler  Nerven.    Pflüg  er s   Arch. 
f.  d.  ges.  PiyHol      Bd.  58.    1894.    S.  69—104. 


« 

Vher  die  Wirkung  des  chlor$auren  Kali  auf  den  Geschmackssinn.      237 

welche  hierbei  auftritt;  eher  nooh  fühle  ich  mich  an  den 
Geschmack  stark  verdünnten  G-lycerins  erinnert,  am  meisten  an 
denjenigen  einer  süfsen,  dabei  ganz  leicht  säuerlichen  Limonade. 
Wenn  auch  das  Sülse  entschieden  im  Vordergründe  steht,  ist 
doch  stets  eine  Andeutung  säuerlichen  G-eschmackes  zu  be- 
merken. Diese  Thatsache,  wie  überhaupt  die  ganze  Erschei- 
nung, ist  mir  auch  von  verschiedenen  Personen,  welche  den 
Versuch  in  gleicher  Weise  anstellten,  bestätigt  worden. 

Auffallend  ist  mir,  dafs  bei  den  sehr  zahlreichen  Versuchen, 
die  ich  in  dieser  Hinsicht  an  mir  selbst  machte,  ab  und  zu  ein 
völliges  Ausbleiben  des  süTsen  Geschmackes  des  Wassers  zu 
konstatieren  war,  ohne  dafs  es  mir  gelungen  wäre,  den  Grund 
dieser  ünregelmäfsigkeit  in  allen  Fällen  aufzufinden.  Das  nur 
liefs  sich  feststellen,  dafs  vorheriges  Kauchen  den  Versuch 
fast  stets  mifslingen  liefs.  Ähnliches  scheint  Kiesow  bei  seinen 
Kontrastversuchen  ^  bemerkt  zu  haben,  denn  er  giebt  ausdrück- 
lich an,  dafs  seine  Versuchspersonen  sich  vor  den  Versuchen 
des  Hauchens  enthielten. 

Das  Kaliumnitrat,  dessen  Lösung  deutlich  bitter  schmeckt, 
läfst  nachher  genommenes  Wasser  ebenfalls  schwach  süfs- 
sauer  erscheinen;  das  Saure  tritt  hier  verhältnismäfsig  mehr 
hervor,  als  beim  Chlorat,  doch  ist  die  ganze  Erscheinung  er- 
heblich weniger  ausgeprägt,  die  Latensität  des  süfslichen  Ge- 
schmackes geringer.  Aufserdem  wird  der  bittere  Geschmack 
hier  noch  als  Nachgeschmack  empfunden,  was  an  sich  schon 
den  süfsen  Geschmack  undeutlicher  werden  läfst. 

Nachdem  Kiesow  (a.  ob.  0.)  der  Nachweis  gelungen  ist,  dafs 
im  Gebiete  des  Geschmackssinnes  Kontrasterscheinungen  vor- 
kommen, indem  Süfs  und  Salzig,  Süfs  und  Sauer  im  Kontrast- 
verhältnis zu  einander  stehen,  liegt  es  nahe,  daran  zu  denken, 
ob  die  hier  geschilderte  Erscheinung  auch  auf  Kontrast  zurück- 
zuführen sei.  Ich  glaube  jedoch,  dafs  der  Name  Kontrast,  auf 
unseren  Fall  angewandt,  nicht  an  seinem  rechten  Platze  wäre, 
wenn  auch  eine  innere  Verwandtschaft  der  beiden  Erscheinungen 
nicht  ohne  weiteres  von  der  Hand  zu  weisen  sein  dürfte. 

Für  die  Auffassung  als  Kontrast  könnte  geltend   gemacht 


*  Beiträge  zur  physiologischen  Psychologie  des  Geschmacksinnes. 
Ihiloa.  Stud.,  herausgeg.  von  W.  Wündt.  10.  Bd.  1894.  S.  329-369  u. 
8.  B2S— 562. 


238  WüUbald  A.  Nagel. 

werden,  dafs  reines  Wasser  bekazmtlioh  (auch  Eiesows  Ver- 
suche haben  dies  gezeigt)  schon  an  und  für  sich  für  manche 
Menschen  einen  leicht  süfslichen  Geschmack  besitzt.  Wird 
derselbe  nun  durch  einen  vorher  applizierten  oder  gleichzeitig 
einwirkenden  andersartigen  Gesohmacksreiz  entschieden  ge- 
hoben und  verstärkt,  so  kann  man  dies  als  Kontrast  bezeichnen. 

Widersinnig  aber  erschiene  es,  wollte  man  die  gleiche  Be- 
zeichnungsweise auch  da  anwenden,  wo  ein  Sto£P,  der  selbst 
gar  keine  oder  fast  gar  keine  Geschmacksempfindung  auslöst, 
einen  erheblichen  Einflufs  auf  den  Geschmack  eines  nach- 
träglich einwirkenden  Stoffes  ausübt;  die  hervorgerufene 
Empfindung  ist,  wie  erwähnt,  entschieden  stärker,  als  die 
hervorrufende.  Ich  möchte  hier  noch  ausdrücklich  darauf 
hinweisen,  dafs  eine  schwache  Ealiumchloratlösung  (Vs  bis 
1  %),  die  nahezu  geschmackslos  ist,  den  süTsen  Geschmack  des 
nachher  genommenen  Wassers  weit  deutlicher  hervortreten 
läfst,  als  eine  annähernd  gesättigte  Lösung  mit  deutlich  bitterlich- 
fadem Geschmack. 

Dazu  kommt,  dafs,  wie  Eiesow  fand,  gerade  das  Bittere 
von  den  Eontrastbeziehungen,  welche  zwischen  den  anderen 
Geschmacksqualitäten  bestehen ,  ausgeschlossen  ist ,  und 
andererseits  das  Bittere  diejenige  Geschmacksqualität  ist,  die 
man  dem  Ealiumchlorat  noch  am  ehesten  zuschreiben  könnte. 
Salzig  schmeckt  es  jedenfalls  nicht. 

Chlorkalium  erregt  wahren  Geschmackskontrast,  ähnlich, 
wie  es  E^ibsow  vom  Chlomatrium  beschrieben  hat ;  es  schmeckt 
deutlich  salzig  und  läfst  nachher  genommenes  Wasser  schwach 
süfslich  erscheinen.  Die  Intensität  des  süfsen  Geschmackes  ist  aber 
hier  viel  geringer,  als  die  des  kontrasterregenden  salzigen,  um- 
gekehrt wie  beim  Chlorat.  Auch  erstreckt  sich  die  Wirkungs- 
dauer auf  eine  ganz  kurze  Zeit,  während  das  durch  Ealium- 
chlorat in  veränderten  Zustand  versetzte  Geschmacksorgan 
diesen  Zustand  oft  längere  Zeit  bewahrt.  Mir  ist  es  schon 
wiederholt  vorgekommen,  dafs  ich  zufäUig  eine  halbe  oder  ganze 
Stunde  nach  dem  Gurgeln  Wasser  trank,  ohne  mich  der  vorher- 
gegangenen Anwendung  des  Chlorates  zu  entsinnen;  ich  war 
dann  überrascht  von  dem  süfsen  Geschmack  des  Wassers. 

Dies  wird  man  nicht  wohl  Eontrast  nennen  können;  man 
wi!rd  vielleicht  zweckmäfsiger  von  einer  temporären  um- 
Stimmung  des  Geschmacksapparates  sprechen  können, 


über  die  Wirkung  des  cMoraawren  Kali  auf  den  Geschmackssinn.      239 

womit  über  das  innere  Wesen  des  Vorganges  ein  urteil  nicht 
ausgesprochen  ist. 

EiBSOWs  Versuche  weisen  auf  cerebrale  Entstehung  der 
Geschmackskontraste  hin,  während  die  ümstimmung  durch 
Kaliumchlorat  wohl  als  peripher  bedingt  anzusehen  ist. 

Nicht  ohne  Interesse  ist  die  Kombination  der  Wirkung  des 
Ealiumchlorates  mit  der  bekannten  der  Qymnemablätter. 
Kaue  ich  ein  Stückchen  eines  solchen  Blattes,  bis  die  Süfs- 
empfindungsfähigkeit  aufgehoben  ist,  und  nehme  jetzt  die 
Ohioratlösung  in  den  Mund,  so  ist  der  fade  Geschmack  zwar 
noch  vorhanden,  doch  noch  undeutlicher,  als  sonst.  Das  nach- 
her genommene  Wasser  aber  schmeckt  jetzt  nicht  mehr  süfs 
mit  leicht  säuerlichem  Beiklange,  sondern  deutlich  sauer  und 
etwas  adstringierend. 


über 

das  Irisieren  sehr  grob  ornamentierter  Flächen 

bei   gleichzeitigem   Aufreten   von   Simultankontrast 

Von 

Dr.   ElOHARD   HiLBBRT 
in  Sensburg. 

Bekanntlich  beruht  das  Irisieren  der  Perlmutter  and  ähn- 
licher schillernder  Gegenstände,  z.  B.  des  bekannten  Schiller- 
falters, Apatura  Iris  L.,  der  Argynnisarten,  der  Flügeldecken 
vieler  Käfer,  mancher  Vogelfedem,  der  Fisch-  und  mancher 
Beptilienschuppen,  des  Schillerspats  (Katzenauge)  und  einiger 
Metalloxyde  auf  Interferenz  der  auf  solche  Körper  fallenden 
Lichtstrahlen.  Das  dabei  auftretende  Farbenspiel  beruht  auf 
folgender  Eigentümlichkeit  der  irisierenden  Körper :  jede  schil- 
lernde Fläche  ist  von  nicht  gleichmäfsiger  Struktur  (im  physi- 
kalischen Sinne);  sie  besteht  aus  Schichten  von  verschiedenem 
Lichtbrechungsvermögen  und  verschiedener  Transparenz.  Weil 
nun  infolge  dieser  optischen  Differenzen  das  auffallende  Licht 
unter  verschiedenen  Winkeln  reflektiert  wird  und  auch  bis  in 
verschiedene  Tiefen  eindringt,  so  interferieren  die  reflektierten 
Lichtstrahlen  und  bewirken  in  oTem  Auge  des  Beobachters  die 
Empfindung  des  Irisierens.^ 

Das  Irisieren  organischer  Körper  wird  auTserdem  auch  noch 
durch  die  rauhe  Oberfläche  derselben  verstärkt:  die  einzelnen 
Elemente  solcher  irisierenden  Flächen  liegen  nicht  in  einer 
Ebene  und  bewirken  dadurch  das  Zustandekommen  des  Frbbnsl- 
schen  Spiegelversuches  im  kleinen. 

Bei  allen  oben  beispielsweise  angeführten  irisierenden 
Körpern  sind   die  Dimensionen  der  optisch  verschieden  gear- 

^  Vergl.  WüLLKER,  Lehrbuch  der  Eccperimental-Ph!^^  Leipzig  1875. 
Bd.  n.    8.  Üb, 


über  das  Irisieren  sehr  grob  ornamentierter  Flächen.  241 

teten  Schichten,  resp.  der  unter  verschiedenen  Winkeln  an- 
geordneten Oberflächen  demente  von  mikroskopischer  Kleinheit. 
Das  Schillern  des  Schillerspats  ist  sogar  um  so  auffallender, 
je  besser  seine  Oberfläche  geschliffen  und  poliert  ist. 

um  so  auffallender  war  mir  daher  die  Beobachtung  des 
Irisierens  an  einem  aus  Hoklatten  konstruierten  G-artenzaun. 
Die  Konstruktion  des  Zaunes  ist  folgende:  In  je  1  m  Ab- 
stand voneinander  sind  senkrecht  stehende  Pfähle  in  die 
Erde  eingegraben,  welche  auch  etwa  1  m  hoch  über  die 
Erdoberfläche  hinausragen.  Diese  Pfähle  sind  nun  oben  und 
unten  durch  Querleisten  verbunden,  so  dafs  sich  zwischen  je 
zweien  derselben  ein  Quadrat  befindet.  Die  so  gebildeten 
Quadrate  sind  dann  in  der  Weise  mit  nach  innen  flachen,  nach 
aufsen  abgerundeten  Latten  (der  Querschnitt  derselben  stellt 
mithin  einen  Halbkreis  dar)  benagelt,  dafs  ihre  Längsrichtung 
abwechselnd  im  ersten  Quadrat  von  rechts  oben  nach  links 
unten,  im  zweiten  von  links  oben  nach  rechts  unten  und  so 
fort  verläuft.  Der  Durchmesser  dieser  Latten  beträgt  etwa 
3  cm;  ebensoviel  ihr  Abstand  voneinander. 

Qeht  man  nun  an  einem  solchen  Zaune  bei  heller  Tagesbeleuch- 
tung seitlich  vorüber,  so  erscheint  derselbe  (in  spitzem  Winkel 
betrachtet)  lebhaft  schillernd  und  glänzend,  und  man  bemerkt 
neben  dem  Lrisieren  noch  ein  lebhaftes  Farbenspiel.  Die  einzelnen 
quadratischen  Abschnitte  des  Zaunes  sind  nämlich  nicht  von 
gleicher  Farbe  (obwohl  alle  schillern),  sondern  es  folgen  immer 
abwechselnd  bläuliche  und  gelbliche  Quadrate.  Diese  Färbung 
ist  aber  nicht  für  die  einzelnen  Quadrate  konstant,  wie  die 
Fortsetzung  dieser  Betrachtung  ergiebt.  Geht  man  nämlich 
an  diesem  Zaune  in  entgegengesetzter  Richtung  vorbei,  so  er- 
scheinen die  vorher  bläulich  schillernden  Quadrate  gelblich, 
die  gelblich  schillernden  bläulich  schillernd. 

Die  Sache  ist  nun  wohl  in  folgender  Weise  zu  erklären: 
die  konvex-cylindrischen  Oberflächen  der  Zaunlatten  dispergieren 
das  auffallende  Licht,  entsprechend  den  bekannten  katoptrischen 
Gesetzen,  nach  allen  zur  Axe  des  Cylinders  senkrechten  Sich- 
tungen. Dadurch  entstehen  Interferenzphänomene,  die  in  den 
Augen  des  Beobachters  den  Eindruck  des  Irisierens  hervor- 
rufen: es  bewirken  mithin  diese  doch  verhältnismäfsig  sehr 
groben  Reliefs  ein  dem  Irisieren  der  eingangs  genannten 
Körper  analoges  Phänomen. 

Z«itMfartft  Ar  Piyoholoirie  X.  16 


242 


Bichard  Hubert 


Was  nun  die  Ursache  der  verschiedenen,  und  zwar  komple- 
mentären, Färbung  der  einsebien  Quadrate  und  den  Wechsel 
dieser  Färbung,  je  nachdem  man  den  Zaun  von  rechts  oder 
links  her  betrachtet,  betrifft,  so  glaube  ich  dieses  so  erklären 
zu  können:  diejenigen  Quadrate,  deren  Latten  man  mehr  von 
oben  her  sieht,  reflektieren  hauptsächlich  das  Blau  des  Himmels 
und  irisieren  daher  bläulich ;  die  dazwischenliegenden  Quadrate 
erscheinen  nun  nach  dem  bekannten  Gesetze  vom  Antagonismus 
der  Farben  infolge  von  Simultankontrast  gelblich.  Diese  Er- 
klärung erscheint  mir  um  so  mehr  ausreichend,  als  bei  Be- 
trachtung des  Zaunes  von  der  entgegengesetzten  Seite  her 
das  Phänomen  umgekehrt  erscheint,  und  zwar  deshalb,  weil 
diejenigen  Zaunlatten,  welche  man,  von  dereinen  Seite  betrachtet, 
mehr  von  oben  sieht,  von  der  entgegengesetzten  Seite  aus  ge- 
sehen, mehr  ihre  unteren  Flächen  zeigen,  und  umgekehrt. 

Auf  diese  Weiset  erklärt  sich  sowohl  die  Komplementär- 
färbung wie  der  Wechsel,  oder  besser:  die  Umkehrung  dieser 
Erscheinung  bei  den  einzelnen  Quadraten,  je  nachdem  man  die 
Sache  von  der  einen  oder  anderen  Seite  her  betrachtet. 

Die  natürliche  Farbe  des  Zaunes  (direkt  imd  von  vom 
betrachtet)  ist  hellgrau,  eine  Farbe,  wie  sie  Holzwerk,  das 
längere  Zeit  den  Einflüssen  der  Witterung  ausgesetzt  ist,  an- 
zunehmen pflegt. 

Schliefslich  will  ich  noch  bemerken,  dafs  das  beschriebene 
Phänomen  um  so  schöner  und  glänzender  erscheint,  je  schneller 
der  Beobachter  an  dem  betreffenden  Zaune  vorbeigeht. 

Eine  ähnliche  physiologisch-optische  Beobachtung  ist  mir 
bisher  nicht  bekannt  geworden;  auch  findet  sich  nichts  der- 
gleichen in  der  zweiten  Auflage  von  Helmholtz'  j^Physidogischer 
Optik^.  Daher  glaube  ich  annehmen  zu  dürfen,  dafs  die  soeben 
beschriebene  eigentümliche  Art  des  Irisierens  einer  so  grob 
ornamentierten  Fläche  bisher  noch  nicht  beobachtet  worden  ist. 


Bei  Übersendung  der  Korrektur  dieses  Aufsatzes  machte 
mich  Herr  Prof.  KOnig  darauf  aufmerksam,  dafs  in  dem  oben 
beschriebenen  Versuch  wahrscheinlich  das  sog.  farbige  Ab- 
klingen der  Nachbilder  in  Wirksamkeit  trete.  Herr  Prof.  K. 
schliefst   dieses  daraus,    „dafs   die  Erscheinung  nur  dann  auf- 


über  das  Irisieren  sehr  grob  ornamentierter  Flächen.  24tS 

tritt,  wenn  man  an  dem  Zaun  vorbeigeht,  wenn  also  die 
optischen  Bilder  immer  auf  andere  Teile  der  Netzhaut  zu  liegen 
kommen."  DaTs  die  Bewegung  und  der  durch  dieselbe  ver- 
ursachte beständige  Wechsel  der  Netzhauteindrücke  zum  Zustande- 
kommen des  Irisierens  notwendig  ist,  dürfte  wohl  klar  sein; 
ich  kann  mir  aber  nicht  vorstellen,  dafs  bei  einer,  im  hellen 
Tageslicht  durchaus  nicht  blendenden  Erscheinung  das  Phänomen 
des  Abklingens  der  Farben  eintreten  könne.  Der  allerdings 
dabei  zu  stände  kommende  Simultankontrast  scheint  mir  nicht 
hinreichend  intensiv  zu  sein,  um  ein  farbiges  Abklingen  hervoi^ 
zurufen,  da  die  ganze  Erscheinung  bei  heller,  aber  durchaus  nicht 
blendender  Beleuchtung,  bei  vollkommener  Adaptation  und 
bei  permanent  offenen  Augen  zu  beobachten  ist.  Cfr.  Helhholtz, 
Ph^siol  Optik,  n«  Aufl.,  S.  620  ff. 


16* 


Litteraturbericht. 


G08WIN  K,  ÜPHUEs.  Die  psychologische  Qnmdftage.  Monaiah,  d.  Comemus- 
GeaeUach.  Jahrg.  1895.  März-Aprilheft.  S.  97—115. 
Die  psychologische  Grundfrage  ist  nach  dem  Verfasser  diese:  Wie 
kommt  das  Kind  von  dem  ursprünglichen  Komplex  von 'Gefühlen  und 
Empfindungen  zum  Bewufstsein  des  Ichs  und  der  Dinge?  Zur  Beantwortung 
derselben  gehört  eine  nähere  Bestimmung  dessen,  was  das  Ich  und  die 
Dinge  sind,  und  diese  kann  nur  vom  Standpunkte  des  gewöhnlichen 
Bewufstseins  geliefert  werden.  Letzteres  versteht  unter  Dingen  das, 
was  nicht  Bewufstsein,  also  nicht  Empfindung  und  Gefühl  ist,  unter 
dem  Ich  „die  Gruppe  zusammengehörender  Bewufstseinsvorgänge,  die 
durch  das  Bewufstsein  ihrer  Zusammengehörigkeit  miteinander  und  mit 
diesem  Bewufstsein  ihrer  Zusammengehörigkeit  charakterisiert  sind''  (S.  4). 
Hiemach  wird  die  Grundfrage  folgendermafsen  beantwortet.  Das 
Bewufstsein  von  Dingen  kann  nur  „durch  das  Gegenstandsbewufstsein  in 
seinen  beiden  Formen  als  Reflexion  und  Erinnerung  oder  Wissen  um  die 
gegenwärtigen  und  vergangenen  Bewufstseinsvorgänge  und  als  Wahr- 
nehmung oder  Wissen  um  etwas,  das  nicht  Bewufstseinsvorgang  ist,  zu 
Stande  kommen"  (S.  7).  „Es  wird  am  geratensten  sein,  jedenfalls  ist  es 
einwandsfrei,  wenn  wir  annehmen,  dafs  das  Bewufstsein  von  dem 
Transcendenten  [das  Gegenstandsbewufstsein]  in  den  Gesichts-  und  Tast- 
empfindungen   zu  Stande  kommt,    obgleich  wir  diesen  Empfindungen 

das  nicht  ansehen  können^  (S.  13).  Über  die  Entstehung  des  Ichbewufst- 
seins  verlautet  wenig.  Es  scheint  nach  S.  16,  dafs  das  Bewufstsein  der 
Zusammengehörigkeit  die  Grundlage  dafür  bildet.  Kritische  Betrachtungen 
allgemeiner  und  spezieller  Art  über  Ziehen,  Behicke,  Twabdowski  und  den 
Beferenten,  sowie  mehrfacher  Hinweis  auf  die  ausführlichere  Behandlung 
der  gleichen  Probleme  in  des  Verfassers  Psychologie  des  Erkeftnens  durch- 
setzen den  mitgeteilten  Gedankengang. 

Eine  Kritik  dieser  Wortpsychologie  erscheint  hier  überflüssig,  und 
so  bleibt  es  dem  Beferenten  auch  erspart,  über  die  merkwürdige  Polemik 
die  der  Verfasser  gegen  ihn  gerichtet  hat,  ein  Wort  verlieren  zu  müssen- 

O.  KüLPK  (Würzburg). 

Th.  Ziehen.  Leitfaden  der  physiologischen  Psychologie  in  1^  Vorlesungen 

Dritte   vermehrte   und  verbesserte  Auflage.    Jena  1896.    G.  Fischer. 

IV  u.  238  S.  mit  21  Abb.  im  Text. 

Das  abermalige  Erscheinen  einer  neuen  Auflage  (vergl.  diese  Zeitachr. 

Bd.  n.  S.  301  und  Bd.  V.  S.  385)  beweist,  welchen  Anklang  dieser  Leitfaden 

gefunden  hat.    Ebenso  wie  in  der  vorigen  Auflage  sind  auch  jetzt  durch- 


Litteraturbericht  245 

gftngig  die  neueren  Ergebnisse  nachgetragen  und  die  Litteraturhinweise 
vermehrt.  An  einzelnen  Stellen  sind  aber  auch  grOfsere  Zusätze  gemacht 
worden ;  z.  B.  ist  in  der  3.  Vorlesung  das  Verhältnis  von  Reiz  zu  Empfindung 
weiter  erörtert ;  in  der  4.  Vorlesung  finden  wir  einen  neuen  Abschnitt  über 
das  Gleichgewicht,  den  Durst,  den  Hunger  und  die  Sättigung,  in  der 
7.  Vorlesung  über  die  Nachbilder  und  die  Dauer  von  Empfindungen  und 
Vonstellungen,  in  der  9.  Vorlesung  über  die  Urteile,  während  in  der 
14.  Vorlesung  manches  Über  die  Beaktionszeiten  hinzugefügt,  manches 
aber  auch  wesentlich  umgestaltet  ist.  Arthub  König. 

W.  Prbyer.  Die  Seele  des  Kindes.  Beobachtungen  über  die  geistiga 
Bntwickelung  des  Menschen  in  den  ersten  Lebensjahren.  Vierte 
Auflage.  XVI.  und  462  S.  Th.  Griebens  Verlag  (L.  Fernau),  Leipzig  1896. 
Preis  Mk.  8  (in  Halbfranzband  Mk.  10).  —  Selbstanzeige. 
Diese  neue  Bearbeitung  unterscheidet  sich  von  der  dritten  Auflage 
(vergl.  ^Uese  ZeUftchrift  I.  S.  206)  hauptsächlich  durch  die  konzisere  Form. 
Dem  Wunsche  des  Verfassers,  alle  von  ihm  gesammelten  eigenen  und 
fremden  Beobachtungen  zur  Fsychogenesis  in  der  vierten  Auflage  zu 
verwerten,  standen  so  gewichtige  Bedenken  praktischer  Art  gegenüber, 
namentlich  die  dazu  erforderliche  Ausdehnung  auf  zwei  Bände  von  dem 
umfang  des  vorliegenden  und  die  Notwendigkeit,  photographische  Auf- 
nahmen in  gröfserer  Anzahl  beizugeben,  dafs  darauf  vorerst  verzichtet 
wurde  imd  vielmehr  eine  Verminderung  des  ümfanges  durch  kleineren 
Druck  eines  Teiles  des  Textes,  durch  Fortlassen  weniger  wichtiger 
Beobachtungen  und  Streichen  einer  grofsen  Menge  entbehrlicher  WOrter 
erstrebt  und  erreicht  worden  ist.  Der  wesentliche,  thatsächliche  und 
theoretische  Inhalt  des  Buches  hat  aber  nicht  nur  keine  Kürzung  er- 
fahren, sondern  manchen  Zusatz  erhalten.  Freilich  wäre  der  in  des 
Verfassers  Schrift  „Die  geistige  Entwickehmg  in  der  ersten  Kindheitj  nebst 
Anweisungen  für  Eltern,  dieselbe  eu  beobachten*'  (Union,  Stuttgart  1898) 
behauptete  minderwertige  psychische  Zustand  des  seelenblinden 
(eigentlich  raumblinden),  seelentauben  Menschenkindes  in  den  ersten 
Lebenswochen,  ebenso  wie  die  Binden- Ageusie  und  Binden-Anosmie  des- 
selben und  die  mangelhafte  Ausbildung  der  Fühlsphäre  des  Neugeborenen, 
einer  ausführlicheren  Darstellung  wohl  wert.  Alle  diese  durch  Krank- 
heit beim  Erwachsenen  und  das  künstlich  am  Tier  angestellte  Experi- 
ment hervorgerufenen  Defekte  sind  beim  Neugeborenen  und  ganz  jungen 
Säugling  Normalzustände.  Hier  müssen  aber  erst  die  Untersuchung  der 
morphologischen  Entwickelung  des  Gehirns  sogleich  nach  der  Geburt, 
die  vergleichende  Psychologie  und  die  hingehendste  Beschäftigung  mit 
dem  kleinen  Kinde  mehr  Thatsachen  zu  Tage  fördern,  als  es  dem  Verfasser 
vergönnt  war. 

Als  eine  Verbesserung  in  formaler  Hinsicht  ist,  aufser  dem  knapperen 
Stil,  die  übersichtlichere  Anordnung  zu  bezeichnen,  und  zwar  besonders 
in  dem  Kapitel  über  die  Entwickelungsgeschichte  des  Sprechens  und 
in  dem  über  die  ungleichen  Fortschritte  verschiedener  Kinder  bei  der 
Spraeherwerbang.  Die  „Gemütsbewegungen**  sind  von  den  „Qemein- 
geftlhlen''  (Organgefühlen)  abgetrennt  worden. 


246  LUteraturberieht 

Das  sehr  ausführliche  Sachregister  hat  der  Sohn  des  Verfassers, 
dessen  erste  geistige  Entwickelung  in  den  Jahren  1877^80  Yorzngsweise 
in  diesem  Buche  beschriehen  wurde,  angefertigt. 

Die  chronologische  Übersicht  der  psyohogenetisch  wichtigen  That- 
sachen  fS.  413 — 445),  welche  nicht  allein  Mütter,  sondern  auch  Kinder^ 
ärzte  sehr  nützlich  gefunden  haben,  wurde  deshalb  beibehalten  und  mit 
Bücksicht  auf  die  neue  Paginierung  genau  revidiert.  Wer  dieselbe  aber 
zu  eigenen  Beobachtungen  benutzen  will,  wird  wesentliche  Ergänzungen 
in  des  Verfassers  „ÄrUeitung  wir  Führumg  eines  Tagebuches  über  die  geistige 
Entwickdung  kleiner  Kinder  von  der  Geburt  an*^  (S.  139 — 201  der  vorhin  er- 
wähnten Schrift)  finden. 

BuDOLF  Lehmann.  Sokofbvhaüsk.  Bin  Beitrag  nr  Psychologie  der 
Metaphysik.  Berlin,  Weidmannsche  Buchhandlung.  1894.  200  S 
4  Ml. 
Psychologie  der  Metaphysik  ist  die  Methode,  eine  Metaphjrsik 
psychologisch  aus  der  Eigenart  ihres  Schöpfers  und  aus  seiner  Zeit  zu 
erklären.  Jeder  Metaphysiker  ist  ein  kulturgeschichtliches  und  psycho- 
logisches Problem,  und  es  lälst  sich  mit  Becht  erwarten,  dals  dies  an 
einem  Denker  (wie  hier  an  Schopenhauer)  gelöste  Problem  durch  Inhalt 
und  Methode  der  Untersuchung  auch  anderen  Fällen  zu  gute  kommt. 
Untersuchungen  dieser  Art  sind  ein  Zeichen,  dals  die  etwas  hypnotisierte 
Sehätzung  des  „milieu^  bei  der  geschichtlichen  Erkenntnis  der  richtigeren 
Methode  Platz  zu  machen  beginnt,  welche  der  Eigenart  bedeutender 
Menschen  wieder  mehr  Gewicht  beilegt,  um  ihre  Wirksamkeit  zu  er- 
klären. Und  selbst  wenn  sich  herausstellen  sollte,  dafs  wir  immer  noch 
mehr  begreifen,  wie  solche  Menschen  wirken,  als  dafs  sie  auftreten 
mufsten,  so  haben  wir  doch  durch  diese  Psychologie  der  Methaphysik 
alles  gethan,  was  bei  der  approximativen  Natur  des  geschichtlichen  £r- 
kennens  möglich  ist.  Während  eine  Klasse  von  Philosophen  wesentlich 
zur  Forschung  durch  einen  Zweifel,  eine  Frage  angeregt  wird,  gehört 
ScH.  zu  den  anderen,  welche,  von  einer  genialen  Anschauimg  ausgehend, 
diese  zu  einem  philosophischen  Weltbilde  zu  gestalten  suchen.  Um  ihn 
zu  verstehen,  haben  wir  zunächst  zu  fragen,  wie  sich  Charakter  und 
Leben  in  seiner  Lehre  spiegeln.  Sein  wildes,  heftiges,  egoistisches,  un- 
ruhig gequältes  Temperament  drängte  ihn,  in  der  Gedankenstille  der 
Kontemplation  jene  Welt,  die  ihm  unangenehmes  Beizmittel  und  Schreck- 
nis war,  in  die  reinen  Formen  der  Abstraktion  aufzulösen  imd  eine 
brennende  Begierde,  wie  z.  B.  den  Ehrgeiz,  durch  die  Überlegung  zu  be- 
schwichtigen, dals  nicht  eigentlich  der  Buhm,  sondern  das,  wodurch 
man  ihn  verdient,  das  Wertvolle  sei.  Da  aber,  wie  der  Verfasser  über- 
zeugend darlegt,  nicht  der  ästhetische,  sondern  der  moralische  Gedanke 
das  Zentrum  des  Systems  von  Sch.  bildet,  so  mufste  er  sich  mit  dem 
Gegensatz  von  Gut  und  Böse  abfinden.  Die  psychologische  Methode 
fragt  nun  hier  wieder:  was  ist  der  selbstgedaohte,  selbsterlebte  Inhalt 
mit  dem  der  Philosoph  die  beiden  Begriffe  erfüllt?  Seine  eigene  Er- 
fahrung gab  ihm  die  Antwort,  dals  böse  im  Grunde  ein  überaus  heftiger^ 
weit  über  die  Bejahung  des  eigenen  Lebens  hinausgehender  Wille  zum 


Litteraiurbericht  247 

Leben  ist.  Bas  G-ute  wird  also  zunächst  Beruhigung  diesea  Willens 
durch  Kontemplation  sein.  Da  wir  aber  durch  Erfahrung  und  ,,Phan* 
tasie*^  auch  fremdes  Leid  zu  würdigen  verstehen,  so  wandeln  sich  alle 
erkannten  Qualen  leicht  in  empfundene.  Folglich  ist  blolse  Kon- 
templation kein  genügendes  Heilmittel  gegen  die  Welt;  das  ethische  Ziel 
wird  vielmehr  eine  Linderung  fremder  Leiden,  eine  Förderung  fremden 
Wohles  aus  Mitleid  sein.  Noch  besser  freilich  wäre  es,  wenn  das  Mit< 
leid  durch  Beseitigung  alles  Wollene  gegenstandslos  würde.  Kurz:  die 
ScHOPENHAUBBS  Philosophic  im  tiefsten  Grunde  bestimmende  Triebfeder 
ist  das  Streben  nach  Befreiung  von  starken  und  peinigenden  Instinkten. 
Über  ScH.  hinaus  ist  es  aber  femer  für  das  Wesen  des  metaphysischen 
Denkens  überhaupt  belehrend,  dafs  die  erkenntnistheoretischen  und 
psychologischen  BegrifiPe  und  Gedankenzüge  der  Vernunfbkritik  ins  Meta- 
physische hinübergezogen  und  umgedeutet  werden,  so  dals  er  das  kritisch 
Negative  Kants  in  ein  positiv  Metaphysisches  verwandelt.  Als  all- 
gemeinsten Trieb  dafür  werden  wir  die  Neigung  jedes  rechtschaffenen 
Metaphysikers  ansehen  müssen,  das  Problem  des  Wandels  und  Vergehens, 
alle  Erscheinungen  der  Welt  bis  zu  einem  letzten  Grunde  zu  verfolgen, 
bei  dem  wir  Anker  werfen  können.  Da  auch  Sch.  die  Welt  aus  dem 
menschlichen  Geiste  verstehen  will  und  ihm  das  Selbstbewufstsein  Quelle 
metaphysischer  Welterklärung  ist,  so  darf  es  nicht  wunder  nehmen,  dafs 
er  rein  psychologischen  Erkenntnissen  Geltung  über  die  Erfahnmg  hinaus 
giebt,  und  dafs  bei  ihm  Psychologie  und  Metaphysik  ineinander  ver- 
fliefsen.  Endlich  kommen  für  Erklärimg  seiner  Philosophie  geschicht- 
liche Verhältnisse  in  Betracht,  wie  der  Kampf  zwischen  Bomantik  und 
Bationalismus.  Wer  den  Willen  als  das  Böse  betrachtet,  hat  an  sich 
Neigung  für  den  Pessimismus;  über  diese  persönliche  Anschauung 
hinaus  war  aber  nach  Ansicht  des  Verfassers  der  Pessimismus  eine  ge- 
schichtliche Notwendigkeit,  eine  Beaktion  der  moralischen  gegen  die 
ästhetische  Weltanschauung,  ein  Widerspruch  gegen  eine  allzu  freund- 
liche und  einseitig  das  Helle  hervorhebende  Betrachtungsweise. 

Die,  wie  mir  scheint,  wohldurchdachte  und  anziehende  Darstellung 
des  Verfassers  zerfällt  auiser  einer  Einführung  in  die  vier  Kapitel: 
1.  Persönlichkeit  und  Philosophie,  2.  Romantik  und  Bationalismus^ 
3.  Monismus  und  Ethik,  4.  die  Methode  Schopenhaübbs,  so  dafs  der  erste 
und  vierte  Abschnitt  hauptsächlich  zur  psychologischen  Erklärung  dieser 
Metaphysik  beiträgt.  Zu  der  auch  vom  Verfasser  abgelehnten  Behaup- 
tung, Sch.  habe  das  Wesen  der  Musik  zu  erleuchten  gewufst,  wie  keiner 
vor  ihm,  kann  man  den  Verfasser  S.  171  f.  und  den  Aufsatz  „Über 
ScHOPENHAUEBS  Thsoric  von  der  Musik^  in  Gottschalls  Zeitschrift  Unsere 
Zeit.  1880.  S.  730—748,  vergleichen.  K.  Bruchmank. 

E.  Kraspelin.  Psychologische  Arbeiten.  Bd.  1.  Heftl.  Leipzig,  W.  Engel- 
mann. 1895.  208  S. 
Das  vorliegende  erste  Heft  enthält  einen  Aufsatz  Kbaepeldts  und  zwei 
Arbeiten  seiner  Schüler.  Ersterer  ist  betitelt:  ^Der psychologische  Versuch 
in  der  Psychiatrie,^  Die  Zweckmäfsigkeit  der  Einführung  des  psycho- 
logischen Versuches  in  die  Psychiatrie  ist  unbestreitbar.     Dagegen  ist 


248  LiUeraturberkht. 

entschiedener  Protest  einzulegen,  wenn  K.  im  Vollbewnfstsein  seines 
Heidelberger  Laboratoriums  den  psychologischen  Versuch  überhaupt  und 
speziell  in  der  Psychiatrie  von  kostspieligen  Laboratoriumseinrichtungen 
geradezu  abhängig  macht.  Es  ist  dies  nur  dazu  geeignet,  den  Psychiater 
von  psychologischen  Versuchen  abzuschrecken.  Grolse  Laboratorien 
sind  wünschenswert,  f&r  manche  spezielle  Zwecke  auch  unerl&fslich,  fQr 
viele  Zwecke-  und  gerade  für  diejenigen  des  Psychiaters  genügen  zu- 
nächst viel  einfachere  Vorrichtungen.  K.  sollte  doch  die  einseitige, 
spezielle  Beschränkung  auf  einige  wenige  zeitmessende,  kostspielige  Vor- 
richtungen erfordernde  Probleme,  welche  für  seine  psychologischen  Ar- 
beiten charakteristisch  und  fOr  seine  Richtung  so  irreführend  gewesen 
ist,  nicht  der  ganzen  Psychologie  und  ebensowenig  und  erst  recht  nicht 
der  Psychiatrie  zumuten.  Oder  bedurfte  es  z.  B.  zu  der  ausgezeichneten 
Arbeit  von  Ebbdtohaus  über  das  Gedächtnis  oder  zu  den  Arbeiten  von 
SciuFTüRE,  MüKSTRRBEBG  Und  vielen  anderen  über  den  Verlauf  der  Ideen- 
assoziation eines  Laboratoriums  mit  grofsen  technischen  Hülfsmitteln? 
Noch  mehr,  auch  zahlreiche  messende  Versuche  lassen  sich  mit  aus- 
reichender Genauigkeit  auch  ohne  kostspielige  Apparate  ausführen.  Die 
Chronoskop-Psychologie  Kraepbliks  ist  doch  eben  nur  ein  ganz  be- 
schränkter Teil  der  experimentellen  Psychologie.  Der  Hochmut  gegen« 
über  der  solche  Apparate  nicht  verwendenden  Psychologie  ist  also  ganz 
unangebracht. 

K.  widerlegt  sich  übrigens  im  weiteren  selbst,  indem  er  Wege  an- 
giebt,  welche  psychologische  Versuche  ohne  viele  Apparate  bei  Geistes- 
kranken ermöglichen.  Freilich  haben  andere  vor  ihm  hierzu  schon  viel 
exaktere  Wege  eingeschlagen.    K.  schlägt  vor,  zu  bestimmen : 

1.  Die  geistige  Leistungsfähigkeit,  welche  „durch  die  Ge- 
schwindigkeit gemessen  wird,  mit  welcher  sich  die  verschiedensten  ein* 
fachen  psychischen  Vorgänge  abspielen^. 

2.  Die  Übungsfähigkeit,  welche  durch  die  Zunahme  der 
Leistungsfähigkeit  unter  dem  Einflufs  der  Arbeit  gemessen  wird. 

3.  Die  Übungsfestigkeit,  welche  sich  in  der  Erhöhung  der 
Leistungsfähigkeit  nach  längerer  Arbeitspause  ausdrückt. 

4.  Die  Leistungsfähigkeit  des  Spezialgedächtnisses. 

5.  Die  Anregbarkeit,  welche  zu  messen  ist  in  der  Abnahme  der 
Leistungsfähigkeit,  welche  durch  das  Einschieben  einer  Pause  von  minde- 
stens 15—30  Minuten  gegenüber  dem  ununterbrochenen  Fortarbeiten 
herbeigeführt  wird. 

6.  Die  Ermüdbarkeit  (Abnahme  der  Leistungsfähigkeit  bei  länger 
fortgesetzter  Arbeit). 

7.  Die  Erholungsfähigkeit,  welche  sich  aus  dem  Stande  der 
Leistungsfähigkeit  zu  einer  bestimmten  Zeit  nach  einem  Ermüdungs- 
versuch ergiebt. 

8.  Die  Schlaftiefe. 

9.  Die  Ablenkbarkeit,  welche  aus  der  Herabsetzung  der 
Leistungsfähigkeit  unter  erstmaliger  Einwirkung  bestimmter  Störungen 
erkennbar  ist. 

10.    Die   Gewöhnungsfähigkeit,   welche   sich  nach  dem  Stande 


lAtteraturhericM,  249 

der   Leistungsfähigkeit   bei   längerer   Einwirkung   jener   Störungen    be- 
messen läf^t. 

Die   Aufnahme   des    „psychischen   Status   praesens^  gestaltet   sich 
nach  K.  nun  folgendermafsen : 

1.  Versuchstag:  Einstündiges  schriftliches  Addieren  einstelliger  Zahlen 

—  viertelstündige  Pause  —  viertelstündiges  Addieren. 

2.  Versuchstag:  Viertelstündiges  Addieren  —  viertelstündige  Pause  — 
viertelstündiges  Addieren  —  halbstündiges  Addieren  mit  gleich- 
zeitiger Ablenkung  durch  Vorlesen. 

3.  Versuchstag:  Viertelstündiges  Addieren  —  5  Minuten  Pause  — 
viertelstündiges  Addieren.  —  Je  5  Minuten  Aufschreiben:  1.  be- 
liebiger Hauptwörter,  femer  solcher  Dinge,  welche  2.  lebhafte 
Farben  besitzen,  3.  Geräusche  erzeugen,  4.  Lust  oder  5.  Unlust 
erregen,  endlich  6.  solcher,  welche  nicht  sinnlich  wahrnehmbar  sind 

4.  Versuchstag:  Einstündiges  Auswendiglernen  zwölfsteUiger  Zahlen 

—  viertelstündige  Pause  —  viertelstündiges  Auswendiglernen. 

5.  Versuchstag:  Viertelstündiges  Auswendiglernen  —  viertelstündige 
Pause  —  viertelstündiges  Lernen  —  Wiederholung  des  Aufschreibe- 
versuches vom  dritten  Tage,  unter  möglichster  Erneuerung  der 
gleichen  Vorstellungen  aus  dem  Gedächtnisse. 

Und  damit  soll  ein  „psychischer  Status*'  gegeben  sein!  Ich  hoffe, 
dafs  möglichst  wenige  Psychologen  und  Psychiater  auf  diesen  Status 
hineinfallen.  Übersieht  K.  denn  ganz,  dafs  sein  Grandmals  für  die 
intellektuelle  Leistungsfllhigkeit  ganz  unbrauchbar  ist?  Jeder  Kauf- 
mann, welcher  viel  Bücher  zu  führen  und  daher  zu  rechnen  gewohnt 
ist,  wird  K.  durch  seine  Leistungsfähigkeit  überraschen.  Auch  die  Ab- 
lenkbarkeit,  die  Ermüdbarkeit  etc.  sind  in  derselben  Weise  von  der 
Lebensbeschäftigung  und  den  Lebensgewohnheiten  abhängig.  Solche 
Feststellungen  haben  daher  in  dieser  rohen  Form  weder  für  die  Er- 
kennung des  normalen  noch  des  krankhaften  Seelenlebens  irgendwelchen 
Zweck.  Der  Gedanke,  die  Ermüdbarkeit  etc.  festzustellen,  ist  in  keiner 
Weise  neu,  die  von  K.  vorgeschlagene  Methode  herzlich  schlecht.  Sie 
ist  eine  Karrikatur  der  bekannten  EsBiNGHAUSschen  Versuche.  Dabei 
rede  ich  noch  gar  nicht  von  der  Durchführbarkeit.  Die  meisten  „Ver- 
suche" werden  je  nach  dem  guten  Willen,  Interesse  etc.  des  Individuums 
völlig  verschieden  ausfallen.  Auch  in  dieser  Beziehung  erweist  sich  das 
Resultat  also  von  Bedingungen  abhängt,  deren  Messung  und  Eliminie- 
rung unmöglich,  deren  Feststellung  aber  auch  ganz  ohne  Zweck  und 
Interesse  ist.  Und  nun  gar  bei  Geisteskranken;  selbst  bei  den  leichtesten 
Formen  geistiger  Erkrankung  würden  die  Nebenbedingungen  (guter 
Wille,  Interesse,  Geduld,  Zwischengedanken  etc.)  so  störend  einwirken, 
dals  keine  der  vermeintlichen  Entwickelungen  irgendwie  zuverlässig 
wäre.  Also  hatte  Beferent  doch  wohl  recht,  wenn  er  zur  Vorsicht  mit 
solchen  Versuchen  mahnte.  Übrigens  hätte  K.  diese  Mahnung  zur  Vor- 
sicht auch  bei  seinem  Lehrer  Witndt  finden  können. 

Kein  Wunder,  dafs  bei  dieser  Methode  die  seltsamsten  Resultate 
zu  Tage  treten.  So  finden  Kraefblik  und  Aschapfenbübo,  dafs  bei  der 
Ideenflucht  der  Manie  gar  keine  Beschleunigung  des  Vorstellungsablaufes 


250  LitteraUmhericht. 

vorliegt.  Natürlich !  Der  Maniakus  soll  eine  Viertelstunde  oder  eine 
ganze  Stunde  rechnen  und  wird  dies  vor  lauter  Zwischen  Vorstellungen 
nur  langsam  zu  stände  hringen.  Aber  läuft  jemand  deshalb  nicht 
schnell,  weil  er  in  einem  auf  gezwängten,  unbequemen  Schuhwerk  nicht 
schnell  laufen  kann?  Der  Vorstellungsablauf  des  Maniakus  ist  beschleunigt, 
und  nur  wenn  man  ihn  zum  Durchlaufen  einer  bestimmten  Vorstellungsreihe 
zwingt,  wird  diese  Beschleunigung  verdeckt.  Die  ganze  Widersinnigkeit 
der  Methode  tritt  hier  recht  grell  zu  Tage.  Damit  fällt  auch  der  „Ein- 
fall'^ Kraepklins,  dafs  die  Ideenflucht  nur  Ausdruck  einer  Erregbarkeits- 
steigerung auf  dem  Gebiete  der  motorischen  Sprachvorstellungen  ist.  Ganz 
ebenso  verhält  es  sich  mit  der  Hyperprosexie.  Wenn  man  freilich  unter 
Aufmerksamkeit  die  auf  eine  Schreibtafel  des  Laboratoriumstisches  ge- 
richtete „Apperzeption^  versteht,  so  hat  der  Maniakus  keine  Hyper- 
prosexie. Wenn  man  aber  unter  Aufmerksamkeit  die  elektive  An- 
knüpfung von  Vorstellungen  an  einzelne  Sinnesempflndungen  versteht, 
so  hat  er  Hyperprosexie.  Dafs  darunter  die  Konzentrationsfähigkeit 
leidet  und  ein  fortwährendes  Abschweifen  zu  stände  kommt,  hat  Referent 
selbst  betont.  K.  scheint  zu  glauben,  dafs  die  Vorsilbe  Hyper  eine  Ver- 
vollkommnung der  Leistung  ausdrücke.  Wie  er  sich  leicht  bei  anderen 
Wörtern  überzeugen  kann,  ist  dies  nicht  der  Fall. 

Dabei  ist  es  gar  nicht  so  sehr  schwer,  feinere  Beobachtungen  an 
Kranken  zu  machen.  Man  muTs  nur  bessere  Methoden  wählen.  So 
erinnere  ich  nur  an  die  Beobachtungen  Webnickbs.  So  hat  Beferent 
schon  seit  vielen  Jahren  die  Merkfähigkeit  z.  B.  für  Zahlen  nach  be- 
sonderer Methode  geprüft.  Auch  motorische  Ermüdungskurven  haben 
andere  und  ich  mit  Hülfe  besonderer  Methoden  schon  in  vielen  Fällen 
gewonnen.  Es  hat  gar  keinen  Zweck,  dies  besonders  zu  erwähnen.  Zahl- 
reiche Psychiater  stellen  solche  und  ähnliche  Versuche  an,  welche  den 
rohen  Beobachtungen,  welche  K.  für  das  Laboratorium  empfiehlt  und  auf 
Grund  deren  er  den  psychologischen  Versuch  monopolisiert  zu  haben 
glaubt,  weit  überlegen  sind. 

Erheblich  wertvoller  ist  der  zweite  Aufsatz  von  OeHsy,  welcher 
sich  betitelt:  „JBi3>eriifimfe/2ß  Studien  xwr  Indmdualp8ychologi$."^  Um  die 
individuelle  Beschaffenheit  des  Wahrnehmungsvorganges  zu  ermitteln, 
stellte  Verfasser  den  Versuchspersonen  die  Aufgabe,  Buchstaben  in  einem 
gedruckten  Buche  zu  zählen  oder  bestimmte  Buchstaben  zu  suchen  oder 
Korrekturen  zu  lesen.  Zum  Studium  des  Gedächtnisses  liefs  Verfasser 
sinnlose  Silbenreihen  oder  auch  Zahlenreihen  lernen,  zum  Studium  des 
Assoziationsvorganges  einstellige  Zahlenreihen  addieren,  zur  Prüfung  der 
motorischen  Funktionen  Diktat  schreiben  und  halblaut  lesen.  Die  Vor- 
aussetzung eines  ungefähr  gleichen  Grades  der  Übung  in  diesen  Funk- 
tionen ist  allerdings  nicht  einmal  für  „Lidividuen  von  gleicher  Bildung^ 
zutreffend.  Denn  wenn  man  auch  zugeben  wollte,  dafs  Individuen  von 
gleicher  Bildung  gleich  viel  gelesen  haben,  so  wird  doch  noch  in 
Betracht  kommen,  ob  das  einzelne  Individuum  gewöhnt  ist,  rasch  zu 
lesen.  Ich  habe  mich  selbst  überzeugt,  dafs  in  dieser  Richtung  enorme 
Differenzen  bestehen.  Die  einfache  Methode  der  Messung  der  Geschwindig- 
keit ist  in  Original  nachzulesen.    Die  Resultate  sind  folgende: 


Lüteraturbericht  251 

Um  einen  Buchstaben  zu  apperzipieren  und  durch  das  Aussprechen 
einer  Zahl  darauf  zu  reagieren,  sind  im  Mittel  406  a  erforderlich  (10  Ver- 
suchspersonen;  mittlere  Abweichung  der  einzelnen  Versuchspersonen 
von  der  für  sämtliche  gefundenen  Zählzeit  64,2  c,  mittlere  Variation  fUr 
die  einzelne  Versuchsperson  17,1  a).  Wurden  die  Buchstaben  in  Gruppen 
zu  je  3  gezählt,  so  ergab  sich  pro  Buchstaben  im  Mittel  nur  323  <r. 
Stets  wurde  lateinischer  Druck  verwendet. 

Zu  einer  Addition  wurden  durchschnittlich  1244  <r  gebraucht.  Die 
mittlere  Schwankungsbreite  aller  Personen  betrug  219,0  <r,  die  mittlere 
Variation  durchschnittlich  68  «r.^ 

Die  Schreibezeit  betrug  pro  Buchstaben  435  tf  bei  einer  mittleren 
Schwankungsbreite  von  68  a  und  einer  durchschnittlichen  mittleren 
Variation  von  11,4  o.  Dieselben  Werte  für  die  Lesezeit  betrugen  pro 
Silbe  138  <r,  7,7  <r  und  4,7  a  (deutscher  Druck !). 

Die  mittlere  Lern  zeit  pro  Zahl  betrug  9,6  Sekunden  (mittlere 
Schwankungsbreite  3,3  Sek.,  mittlere  Variation  1,4  Sek.),  die  mittlere 
Lernzeit  pro  Silbe  (sinnlose  Beihen)  11,8  Sek.  (mittlere  Schwankungs- 
breite 2,99  Sek.,  mittlere  Variation  3,24  Sek.). 

Interessant  sind  die  Ergebnisse  bezüglich  des  Einflusses  der  Übung 
und  der  Ermüdung.  So  hat  0.  den  Grad  der  Übung  bemessen  nach 
der  Differenz  des  Leistungsmaidmums  mit  dem  vorausgegangenen 
Leistungsminimum,  den  Grad  der  Ermüdung  nach  der  Differenz  desselben 
Leistungsmazimums  mit  dem  schlieisliohen  Leistungsminimum.  Beide 
zeigten,  ebenso  wie  der  Zeitpunkt  der  Maximalleistung,  groise  individuelle 
Schwankungen.  Der  Ubungsgprad  und  die  mittlere  Variation  zeigen 
bei  allen  Funktionen  (ausgenommen  das  Silbenlernen)  einen  bemerkens- 
werten Parallelismns,  welchen  Verfasser  S.  138  in  ansprechender  Weise 
zn  erklären  sucht.  In  mehr  als  50%  aller  Versuche  treten  initiale 
Schwankungen  der  Leistungsfähigkeit  auf,  welche  auf  Adaptation  der 
Aufmerksamkeit  zu  beziehen  sind.  Weiter  treten  meist  schon  gegen  Ende 
der  Übungsphase,  häufig  aber  auch  erst  in  der  Ermüdungsphase  Schwan- 
kungen auf,  welche  mit  wachsender  Ermüdung  sich  zunächst  ver- 
grOijsem,  bei  genügend  langer  Dauer  des  Versuches  aber  schliefslich 
wieder  kleiner  werden.  —  Durch  wiederholte  Übung  wird  der  Übungs- 
grad (in  dem  oben  angegebenen  Sinne)  ebenso  wie  der  Ermüdungsgrad 
kleiner.  Die  Übungsphase  wird  verkürzt,  die  Maximalleistung  tritt 
früher  ein. 

In  einer  Schlufserörterung  versucht  0.  nachzuweisen,  dafs  auf  dem 
Allgegebenen  Wege  eine  einigermafsen  zutreffende  Vorstellung  von  der 
individuellen  Leistungsfähigkeit  auf  psychischem  Gebiete  erhalten 
werden  könne. 

Die  dritte  und  letzte  Arbeit  von  S.  Bettmaitk  beschäftigt  sich  mit 
der    fiBeeif^husimg    einfacher  psychischer    Vorgänge    durch     körperliche    imd 


^  Die  J^orrektur  der  Zahlen  auf  S.  114  hält  Beferent,  wenn  auch 
Verfasser  in  der  Anmerkung  sie  selbst  angiebt,  für  ganz  ungehörig.  Auch 
„nicht  hineinpassende  Werte^  gehören  so,  wie  sie  sind,  m  die  Tabelle. 
Es  wäre  höchst  bedauerlich,  wenn  die  KBASPELiNsche  Schule  hier  eine 
Art  „Methode  der  Minimaländerungen '^  einführen  wollte. 


252  LitteraturberichU 

geistige  Arbeit^,  Von  diskontinuierlichen  Messungen  wurden  nur  Wahl- 
und  Wortreaktionen  benutzt;  als  kontinuierliche  Arbeit  diente  das  Addieren 
sowie  das  Auswendiglernen  zwölf  stelliger  Zahlenreihen.  Als  Ermüdungs- 
arbeit  wurde  speziell  ein  zweistündiger  Marsch  oder  einstündiges  Addieren 
gewählt.  Näheres  über  die  Anordnung  der  Experimente  und  die  Ver- 
wertung der  Zahlen  ist  im  Original  nachzulesen.  Als  Versuchsperson 
fungierte  nur  der  Verfasser  selbst.  Die  Hauptergebnisse  sind  folgende  : 
Körperliche  Anstrengung  schädigt  die  geistige  Leistungsfähigkeit  mehr 
als  geistige  Arbeit  (in  der  gewählten  Dosierung!).  Die  geistige  Lähmung 
giebt  sich  nach  beiden  Arbeitsformen  in  der  Verlängerung  der  Erkennungs-, 
Wahl-  und  Assoziationszeiten,  in  der  Schwächung  des  Gedächtnisses  und 
der  Herabsetzung  der  Übungsfähigkeit  kund.  Bei  dieser  Sachlage  können 
Turnstunden  und  Spaziergänge  nicht  als  Erholung  vor  geistiger  Arbeit 
betrachtet  werden.  Auf  motorischem  G-ebiete  ergab  sich  ein  qualitativer 
Unterschied.  Da  nämlich  nach  körperlicher  Arbeit  auffällig  oft  Fehl- 
reaktionen auftraten,  nimmt  B.  an,  dafs  die  motorische  körperliche  An- 
strengung zu  einer  zentralen  motorischen  Erregung  führt.  Nach  geistiger 
Arbeit,  die  keinen  starken  motorischen  Anreiz  bringt,  fehlt  diese  Er- 
regung nicht  nur  gänzlich,  sondern  die  geistige  Arbeit  ist  sogar  im 
Stande,  auf  die  schon  vorhandene  motorische  Erregung  deutlich  hemmend 
zu  wirken.  Die  motorische  Erregung  verschwand  rascher  wieder,  als  die 
geistige  Lähmung;  ihr  Abklingen,  konnte  durch  eine  eingeschobene 
geistige  Arbeit  wesentlich  beschleunigt  werden.  Während  die  genannten 
Ermddungsarbeiten  zu  keiner  nachhaltigen  Schädigung  der  geistigen 
Leistungsfähigkeit  führten,  liefs  sich  der  Einflufs  einer  sehr  starken 
Ermüdung  (Nachtversuch)  namentlich  auf  die  Wahlreaktionen  noch 
mehrere  Tage  hindurch  in  abnehmender  Stärke  verfolgen,  obwohl  die 
Nachwirkung  nach  dem  subjektiven  Urteil  der  Versuchsperson  längst 
überwunden  war.  Ziehen  (Jena). 

Hugo  Münstbrbbro.  Studie»  firom  the  Harvard  Psychologieal  Labora- 
tory  (II).    Fsychol  JBcü.  I.  6  (1895). 

A.  H.  Münsterberg  and  W.  W.  Campbell.  The  Motor  Power 
of  Idea.    S.  441—453. 

Ein  Physiker  hatte  Münsterbero  vor  zehn  Jahren  mitgeteilt,  dafs, 
wenn  man  20  Sekunden  lang  in  eine  helle  Flamme  blicke,  die  Augen 
schliefse  und  den  Kopf  um  45^  wende,  das  Nachbild  der  Flamme  sodann 
in  der  Bichtung  der  Kopfdrehung  erscheine,  dafs  dasselbe  unter  gleichen 
Bedingungen  aber  in  der  Richtung  der  objektiven  Lichtquelle  gesehen 
werde,  wenn  die  Augen  nur  während  einer  Sekunde  dem  Lichte  aus- 
gesetzt würden.  Münsterberg  konnte  die  Beobachtung  bestätigen,  er- 
kannte aber  alsbald,  dafs  man  von  dieser  Erscheinung  nicht,  wie  der 
Betreffende  wollte,  auf  einen  zentralen  Ursprung  der  Nachbilder  schliefsen 
dürfe ,  sondern  dafs  dieselbe  auf  die  Beteiligung  der  Augenbewegungen 
zurückzuführen  sei.  Öffnete  er  die  Augen  nach  vollzogener  Kopfdre- 
hung, so  entsprach  die  Stellung  derselben  in  beiden  Fällen  der  Bichtung 
des  vordem  gesehenen  Nachbildes.  Münsterberg  erkannte  aber  auch 
sogleich,   dafs   der  Versuch  einen  instruktiven  Fall  für  die  Mefsbarkeit 


Litteratwbericht  253 

▼OD  Muskelreaktionen  darbiete,  welche  ohne  EinfluTs  des  Willens  bei  Sinnes- 
eindrüoken  entstehen.  Ausgehend  von  der  Annahme,  dafs  der  die  Augen- 
bewegung verursachende  Lichtreiz  nach  einem  Zeitraum  von  einer  Se- 
kunde intensiver  wirke  als  nach  20  Sekunden,  suchen  nun  die  Verfasser 
durch  exakte  Weiterfuhrung  des  beschriebenen  Versuches  die  näheren 
Besiehungen  zwischen  optischen  Eindrucken  und  unwillkürlichen  Augen- 
beweg^ungen  festzustellen,  insbesondere  die  Abhängigkeit  derselben  von 
der  Zeitdauer  des  Lichtreizes,  von  qualitativen  Modifikationen  des- 
selben und  von  dem  wiederholten  Einflüsse  eines  gleichen  Eindruckes 
zu  bestimmen.  Indem  sie  aus  ihren  Besultaten  auf  alle  diese  Fragen 
eine  Antwort  erhalten,  wenn  gröfstenteils  auch  nur  die,  dafs  sich  durch 
die  Versuchsanordnung  sehr  genau  individuelle  unterschiede  bestimmen 
lieXsen,  eröffnet  sich  ihnen  unter  Erwägung  des  ümstandes,  „dafs  diese 
durch  einen  Beiz  erzeugte  motorische  Energie  der  wesentliche  Faktor 
des  komplizierten  motionellen  Zustandes  ist,  welchen  wir  Aufmerksam- 
keit nennen/^  für  die  psychophysische  Untersuchung  der  Aufmerksamkeit, 
ihrer  Intensität,  ihrer  Fluktuationen  etc.  eine  Methode,  „welche  uns  von 
dem  zweifelhaften  und  engbegrenzten  Studium  der  ebenmerklichen  Em- 
pfindungen befreit,  und  welche  von  den  einfachsten  optischen  Empfin- 
dungen bis  zu  den  höchsten,  durch  optische  Eindrücke  hervorgerufenen 
Funktionen  eine  endlose  Variation  gestattet."  Man  fährt  fort:  „Für  den 
Mechanismus  des  automatischen  Impulses  ist  eine  Methode  exakter  For- 
schung gewonnen,  welche  uns  gestattet,  jene  individuellen  Unterschiede 
zu  analysieren,  welche  sich  eben  in  unseren  Tabellen  in  so  entschei- 
dender Weise  zeigen  und  welche  für  das  Verständnis  der  Unterschiede 
in  den  zentralen  geistigen  Vorgängen  aufserordentlich  wichtig  erscheinen." 
Die  Versuchsanordnung  gestattete  eine  gradweise  Bestimmung  des 
Drehungswinkels  für  Kopf  und  Augen.  Die  verwandten  optischen  Ein- 
drücke bestanden  in  Zahlen,  Buchstaben,  Wörtern,  Bildern,  Farben  und 
Photographien  und  waren  teils  einfacher,  teils  zusammengesetzter  Natur. 
Zur  Begulierung  der  zur  Fixation  der  Objekte  festgesetzten  Zeit,  sowie 
zur  Auslösung  der  nötigen  Signale  diente  ein  ScHUMANNscher  Zeitsinn- 
apparat. Die  Fixationszeiten  waren  1,  2,  3  und  4  Sekunden.  Der  Unter- 
suchung dienten  sechs  Versuchspersonen,^  zwei  dieser  letzteren  waren 
die  Verfasser.  Vergleicht  man  nun  die  dem  Texte  eingefügten  Tabellen, 
so  ergiebt  sich,  dafs  der  erwartete  Einflufs  der  Zeit  des  einwirkenden 
optischen  Beizes  auf  die  resultierende  Augenbewegung  nur  bei  Herrn 
MüNBTBRBBBO  sclbcr,  hier  freilich  mit  einer  auffallenden  Begelmäisigkeit 
zutrifft.  Dies  wird  auch  zugestanden,  aber  „dieser  Unterschied  der 
Ergebnisse  spricht  nicht  gegen  die  Methode,  im  Gegenteil;  diese 
Tabellen  beweisen,  dais  individuelle  Differenzen,  welche  auf  keine  an- 
dere Weise  statuiert  werden  können,  leicht  mit  Hülfe  dieser  Methode 
gefunden  werden.^  Man  sollte  nun  meinen,  aus  diesen  Besultaten 
mtlsse  die  Pflicht  erwachsen,  das  Phänomen  auch  an  anderen  Per- 
sonen nachzuprüfen;   erst  wenn  sich  herausstellen  würde,   dafs  es  auch 


^  Obwohl   nur  von   dreien  volle  Versuchsreihen  aufgenommen  und 
verwertet  sind. 


254  Litteratiirbericht 

an  aBderen  und  mehreren  Beobachtern  mit  ann&hemder  Begelmftisigkeit 
nachweisbar  ist,  sollte  man  auf  individuelle  unterschiede  schlieisen 
dürfen,  aber  dieser  Gedanke  wird  nicht  diskutiert.  Es  ist  nur  gesagt, 
dafs  die  Versuche  einer  Übung  bedürften,  und  d&fs  Münsterbebo  diese 
bereits  besessen,  wie  femer,  dafs  die  anderen  Personen  dieselbe  erlang- 
ten. Wir  erfahren  aber  nichts  N&heres  über  die  nicht  registrierten  An- 
gaben der  drei  anderen  Versuchspersonen.  Es  wird  ferner  darauf  auf- 
merksam gemacht,  dafs  sich  nicht  jeder  für  die  Versuche  eigne,  insbesondere 
nicht  derjenige,  der  sehr  gut  zu  visualisieren  vermöge.  —  MüirsTsaBBRO  wird 
nie  umhin  können,  zugestehen  zu  müssen,  dafs  er  selber  keine  einwandfreie 
Versuchsperson  abgeben  konnte,  und  dafs  der  Verdacht  autosuggestiver 
Einflüsse  bei  ihm  gerechtfertigt  ist.  Eine  Begelmäfsigkeit  erkennt  man 
freilich  aus  den  Tabellen  insofern,  als  einfache  Eindrücke  den  schwächsten, 
zusammengesetzte  den  stärksten  motorischen  Einflufs  besafsen,  und  ebenso, 
dafs  derselbe  durch  Wiederholung  des  Eindrucks  abgeschwächt  wurde. 
Es  ist  aber  nicht  erwiesen,  wie  weit  die  zunehmende  Übung  der  beiden 
anderen  Versuchspersonen  allmählich  zur  Autosuggestion  wurde.  Es  wäre 
aufserdem  wünschenswert  gewesen,  wenn  nicht  nur  die  Durchschnitts- 
werte verwertet  wären,  sondern  wenn  die  Verfasser  wenigstens  auch  die 
Grenzen  der  Einzelwerte  angegeben  hätten,  obwohl  bei  Münstbbbebg  selber 
in  einigen  Fällen  keine  Schwankungen  derselben  vorgekommen  sein 
können. 

B.    John  Btoham.    Memory.  (IL)    S.  453—461. 

Die  Arbeit  bildet  die  Fortsetzung  der  bereits  im  1.  Hefte  der  Psyck. 
Bev.  mitgeteilten  Versuche.  Verfasser  sucht  den  Einflufs  der  zwischen 
der  Aufnahme  und  der  Erinnenmg  eines  Eindrucks  verstreichenden  Zeit 
zu  bestimmen  und  verwandte  für  diesen  Zweck  leere  und  ausgefüllte 
Zeitintervalle,  sowie  simultane  und  successive  Beize.  Aus  den 
Ergebnissen  seien  folgende  Punkte  hervorgehoben:  Je  länger  die  aus- 
gefüllte Zwischenzeit,  um  so  schärfer  ist  im  allgemeinen  das  Gedächtnis. 
Für  alle  verwandten  Zeitintervalle  gilt,  dafs  Zahlen  besser  als  Farben, 
diese  besser  als  Formen,  Formen  wiederum  besser  als  Wörter  und  diese 
leichter  als  Silben  erinnert  werden.  Aufserdem  wurden  Zahlen  nach  zehn 
Sekunden  leichter  als  nach  zwei  Sekunden  erinnert,  ebenso  Silben  nach 
30  Sekunden  leichter  als  nach  zwei  oder  zehn  Sekunden.  Wörter  und 
Silben  wurden  andererseits  auch  leichter  vergessen  als  Zahlen,  Farben 
und  Formen.  Das  Gedächtnis  ist  um  so  treuer,  je  schneller  es  arbeitet, 
die  Anzahl  der  Fehler  nahm  regelmäfsig  zu  mit  der  für  die  Erinnerung 
nötigen  Zeit.  Mit  Bezug  auf  die  Verwendung  ausgefüllter  Zwischen- 
zeiten ergab  sich,  dafs  akustische  Eindrücke  die  Wiedererinnerung  mehr 
erschweren  als  optische.  Diese  Angaben  resultierten  aus  Versuchen,  in 
denen  die  Zwischenzeit  nicht  über  60  Sekunden  hinaus  ausgedehnt  wurde. 
Einige  weitere  Versuche  stellte  Verfasser  mit  zwei  Zwischenzeiten  von 
2  und  24  Stunden  Dauer  an.  Es  ergab  sich,  dais  auch  hier  die  An- 
zahl der  Fehler  mit  der  Zunahme  der  Zeit  in  direktem  Verhältnis  stand. 
Der  Untersuchung  dienten  sechs  Versuchspersonen,  von  denen  eine  in 
besonders  hohem  Mafse  die  Fähigkeit  zu  visualisieren  besafs,  vier  visua- 
lisierten  nur  Formen  oder  Farben  oder  beides,  eine  vermochte  überhaupt 


Litteratwrhericht  255 

nicht  ZQ  Tisualißieren.    Weitere  Mitteiltmgen  über  kompliziertere  Verhält- 
nisee  werden  in  Aussicht  gestellt. 

C.  H.  MüNBTBiiBERO  and  ARTHUR  H.  Pierre.  The  Localization  of 
Sonnd.    S.  461—476. 

Nach  einer  Besprechung  der  von  Stumpf,  Pretek,  v.  Krisb,  Bloch 
u.  A.  über  die  Lokalisation  von  Gehörswahmehmungen  aufgestellten 
Theorien  suchen  die  Verfasser  auf  Grund  experimenteller  Untersuchungen 
den  Nachweis  zu  erbringen,  dafs  dieselben  nicht  aufrecht  zu  erhalten 
seien,  und  daiSi  trotz  der  individuellen  Differenzen  in  den  aus  den  Ver- 
suchen resultierenden  Angaben  die  MüHBTERBSResche  Erklärungsweise 
(Kombination  von  Gehörs-  nnd  Bewegungsempfindungen  —  Beitr.  II,  S.  182) 
die  gröfste  Wahrscheinlichkeit  für  sich  habe. 

D.  Mary  Whiton  Calkins.     Association.  (I.)    8.  476—483. 

Die  Verfasserin  referiert  in  Kürze  über  eine  grofse  Anzahl  von  Ver- 
suchen, welche  angestellt  wurden,  um  die  relative  Bedeutung  sowohl 
der  Häufigkeit,  mit  der  ein  bestimmter  Eindruck  in  einer  gegebenen 
Versuchsreihe  wiederkehrt,  als  auch  des  Zeitpunktes,  welchen  derselbe 
in  einer  Beihenfolge  von  Eindrücken  einnimmt,  wie  endlich  die  Leb- 
haftigkeit, mit  der  derselbe  auftritt,  für  das  Zustandekommen  von  Asso- 
ziationen festzustellen.  Die  hiefür  verwandten  Ausdrücke  sind  frequency, 
recency,  earliness,  vividness.  Sie  zeigte  ihren  Versuchspersonen  durch 
eine  Schirmüfinung  verschiedene  Farbentafeln  mit  unmittelbar  nachfol- 
genden Zahlenvorstellungen  und  suchte  in  einer  zweiten  Beihe  bei  ver- 
änderter Anordnung  der  einzelnen  Pigmente  und  ohne  nachfolgende 
Zahlenbilder  zu  bestimmen,  in  welchen  Fällen  für  eine  gewisse  Farbe 
die  im  ersten  Falle  nachfolgende  Zahlen  Vorstellung  assoziiert  würde. 
Weitere,  das  Gebiet  des  Gehörsinns  betreffende  Versuche  dieser  Art 
werden  in  Aussicht  gestellt. 

£.  Edgar  Pierce.  Aesthetics  of  Simple  Forms.  (I.)  Symmetry. 
8.  483—795. 

Verfasser  benutzte  als  Apparat  eine  schwarz  bezogene,  quadratisch 
geformte  Hartgummiplatte  von  ungefähr  1  m  Seitenlänge,  in  welcher 
sich  zur  Aufnahme  einer  aus  1  cm  breiten  Zinkstäben  hergerichteten 
Schlittenvorrichtung  in  einem  Abstand  von  5  cm  über  die  ganze  Fläche 
parallel  verlaufende  Einschnitte  befanden.  Die  Vorrichtung  wurde  von 
der  dem  Beobachter  abgewandten  Seite  aus  mittelst  Schnurlaufs  bedient. 
Zur  Ablesung  der  für  die  Versuche  in  Betracht  kommenden  Abstände 
der  Zinkstäbe  voneinander  diente  ein  ebenfalls  an  der  Bückseite  der 
Platte  angebrachter  Millimetermaisstab.  Auf  die  Zinkstäbe  wurden  die 
in  jedem  einzelnen  Falle  zu  beurteilenden  Formen  aufgeklebt.  Aufser- 
dem  konnte  der  in  einem  Dunkelzimmer  aufgestellte  und  durch  künst- 
liches Licht  erleuchtete  Apparat  in  seiner  Stellung  beliebig  verändert 
werden,  so  dafs  die  einzelnen  elementaren  Gebilde  dem  Auge  der  Ver- 
suchsperson sowohl  in  horizontaler,  wie  in  vertikaler  und  jeder  belie- 
bigen schrägen  Bichtung  dargeboten  werden  konnten.  Die  Anzahl  dieser 
schlittenartig  verschiebbaren  Zinkstäbe  konnte  ebenfalls  je  nach  Bedarf 
vermehrt  oder  vermindert  werden.  Verfasser  benutzte  für  die  vorlie- 
genden Versuche  niemals  mehr  als  sechs  Zinkstäbe.  Der  Untersuchung 
dienten  im  ganzen  sechs  Versuchspersonen. 


256  LitteraiurherichL 

Indem  Verfasser  unter  Benutzung  einfacher  Linien  zunftckst  die 
Wirkung  des  goldenen  Schnittes  mit  symmetrisch  angeordneten  Ver- 
hältnissen vergleichen  liefs,  gelangte  er  zu  dem  Resultat,  dafs  bei  drei 
Linien  das  Verhältnis  des  goldenen  Schnittes,  bei  vier  und  fünf  die 
Symmetrie  und  bei  sechs  und  mehr  Linien  wiederum  die  erstere  Teilung 
bevorzugt  wurde.  Verfasser  erklärt  diese  Erscheinung  aus  dem  Umstände, 
dafs  ftir  die  ästhetische  Wirkung,  neben  der  Bevorsugung  einer  Ver- 
schiedenheit in  der  Anordnung  der  Einzeleindrücke,  vor  allen  Dingen  die 
Möglichkeit,  dieselben  zu  einer  Gesamtvorfitellung  zu  verknüpfen,  erhalten 
bleiben  müsse.  Bei  vertikal  übereiuandergelagerten  Linien  stören  asso- 
ziative Einflüsse  die  Beurteilung  des  Eindrucks.  Mit  der  symmetrischen 
Anordnung  assoziierte  sich  hier  die  Vorstellung  des  Umkippens. 

In  einer  zweiten  Beihe  von  Versuchen  konnte  Verfasser  feststellen, 
dafs  auch  bei  Linien  von  ungleicher  Länge  die  Vorstellung  der  Sym- 
metrie und  des  Gleichgewichts  erhalten  blieb,  wenn  sich  dieselben  in 
ungleichen  Abständen  von  einer  gegebenen  Mittellinie  befanden.  So 
ergab  sich  z.  B.,  dafs,  wenn  eine  10  cm  lange  Linie  8  cm  von  der  einen 
Seite  einer  20  cm  langen  Mittellinie  gerückt  war,  eine  Linie  von  5  cm 
Länge  für  diesen  Fall  durchschnittlich  24  cm  von  der  anderen  Seite 
derselben  entfernt  werden  mulste  (Minimalabstand  16,9  cm,  Maximal- 
abstand 29,1  cm).  Weniger  übereinstimmende  Urteile  erzielte  Verfasser, 
wenn  er  bei  diesen  Versuchen  die  Längen  der  einzelnen  Linien  konstant 
liefs  und  statt  dessen  die  Breite  derselben  variierte. 

In  einer  letzten  Versuchsordnung  verwandte  Verfasser  kompli- 
ziertere Verhältnisse,  indem  er  einmal  verschiedene  Formen  (Linien 
von  verschiedenen  Längen  und  Breiten,  Quadrate,  Sterne  etc.)  kombi- 
nierte und  dieselben  sodann  unter  mannigfacher  Variierung  im  Einzelnen 
in  sechs  verschiedenen  Farben  beurteilen  liefs.  Obwohl  betreffs  der 
Einzelangaben  auf  das  Original  verwiesen  werden  muis,  sei  noch  hervor- 
gehoben, dafs  Verfasser  bei  diesen  Versuchen  trotz  mancher  individueller 
Differenzen  aus  den  Angaben  dennoch  gewisse  Konstanten  gewann.  Mit 
Bezug  auf  die  verwandten  Farben  konnte  z.  B.  festgestellt  werden,  dafs 
die  dunkleren  (blau,  kastanienbraun  und  grün)  von  einem  gegebenen 
Zentrum  weiter  entfernt  werden  muTsten  als  die  helleren  (weifs,  rot  und 
orange),  um  für  die  symmetrische  Anordnung  einen  Ersatz  zu  bieten. 
Soweit  nicht  assoziative  Einflüsse  nachweisbar  sind,  sucht  Verfasser  die 
erhaltenen  Besultate  auf  die  Bewegungsempfindungen  der  Augen  zurück- 
zuführen. },Das  allgemeine  Gesetz  scheint  zu  sein,  dais  dem  Gefühl  der 
Symmetrie  Genüge  gethan  ist,  wenn  beide  (Seiten-)  Teile  Augenbewe- 
gungen von  gleicher  Energie  erfordern;  diese  Energie  wächst  mit  der 
Entfernung  vom  Zentrum  oder  dem  Gröfsenzuwachs  (larger  size)  des 
Objekts  und  mit  der  gröfseren  Helligkeit  der  Farbe." 


Frieor.  Kibsow  (Leipzig 


.> 


G.  Trükbull  Ladd.    Philosophy  of  mind.    An  Essay  in  the  metaphysics  of 
paychohgy,    New  York,  Ch.  Scribners  Sons,  1895.    412  S. 

L.  sucht  zunächst  nachzuweisen,  dafs  eine  Psychologie  ohne  Meta- 
physik ein  Unding  ist,    und   dafs   auch  solche  Psychologen,  welche  die 


LiUeraturbericht.  257 

Metaphysik  ganz  aus  der  Psyohologie  verbannt  wissen  wollten,  allent- 
halben metaphysische  Hypothesen  einmengen.  Diejenige  provisorische 
metaphysische  Voraussetzung,  welche  Ladd  selbst  die  natür^chste  scheint, 
geht  dahin,  dais  ein  wirkliches  Seelenwesen  existiert  (S.  55).  Der  £nd-. 
zweck  der  Psychologie  ist,  die  Natur  und  Entwickelung  dieses  Seelen* 
Wesens  in  seinen  Beziehungen  zu  anderen  Wesen  zu  verstehen  (S.  64). 
Damit  ist  sie  zugleich  eine  „üniversalpropädeutik"  für  die  Philosophie  i 
indem  sie  notwendig  zu  philosophischen  Problemen  führt.  Epistemologie, 
Metaphysik,  Naturphilosophie  sind  Hauptabschnitte  dieser  von  der 
Psychologie  angeregten  Philosophie.  L.  bezeichnet  einen  weiteren. 
Hauptabschnitt  als  „Philosophy  ofmind^'  und  versteht  darunter  na- 
mentlich die  philosophische  Behandlung  derjenigen  von  der  Psychologie 
angeregten  Probleme,  welche  sich  auf  das  sog.  Selbstbewufstsein  be- 
ziehen (S.  81). 

Die  Hauptsätze  dieser  LADDSchen  Philosophy  of  mind  sind  folge  nde 
Alle  Bewulstseinserscheinungen  sind  nicht  nur  als  verschiedene  Inhalte,: 
sondern  auch  als  verschiedene  Funktionsformen  aufzufassen.  Jeder 
Bewulstseinszustand  darf  nicht  nur  als  ein  passiver  Bewufstseinsinhalt, 
sondern  mafs  stets  auch  als  ein  aktiver,  unterscheidender  Prozefs  auf- 
gefaTst  werden.  Selbstbewuistsein  ist  nur  mögliöh  als  Selbstthätigkeit. 
Die  einzige  verständliche,  unzweifelhafte  Bealität  der  Seele  liegt  in  ihrem 
„Pürsichsein",  in  dem  augenblicklichen  Selbstbewuistsein,  in  der  Er- 
innerung an  früheres  Selbstbewuistsein  und  in  dem  Schluis  auf  ein  kon. 
tinuierlich  bis  heute  sich  erstreckendes  Selbstbewuistsein  (S.  147).  So 
erkennt  die  Seele  fortwährend  ihre  eigene  Wirklichkeit.  Die  wirkliche 
Identität  von  irgend  Etwas  (trotz  aller  Veränderungen)  besteht  nach  L. 
darin,  dals  seine  Selbstthätigkeit  sich  in  allen  seinen  Beziehungen  zu 
anderen  Dingen  „einer  immanenten  Idee  konform^  zeigt.  Schon,  das 
Bewulstsein,  „Subjekt  von  Veränderungen  zu  sein",  involviert  zugleich  das 
Bewulstsein  der  Dieselbigkeit.  um  auch  für  die  Zustände  der  Hypnose 
\md  namentlich  des  sog.  doppelten  oder  alternierenden  Bewulstseins 
seine  Lehre  der  persönlichen  Identität  aufrechterhalten  zu  können, 
macht  L.  ausgiebigen  Gebrauch  von  der  Annahme  eines  psychischen 
Automatismus  und  einer  Spaltung  des  Ichs.  Für  letztere  wird  natürlich 
Dbssoir  zitiert.  Aber  auch  £a.nts  intelligibles  Ich  muls  Zeugnis  zu 
Gunsten  der  Ich -Spaltung  ablegen.  In  analoger  Weise,  wie  die  Die- 
selbigkeit, besitzt  die  Seele  auch  Einheit.  Das  Seelenleben  des  einzelnen 
stellt  die  Verwirklichung  eines  individuellen  Planes  dar.  Die  Seelen 
verschiedener  Individuen  sind  auch  dem  Grade  nach  verschieden. 

Das  Problem  Mind  and  Body  wird  in  dem  Sinne  behandelt,  in 
welchem  L.  bereits  seine  Bsychology,  deacripHve  and  explanatary,  geschrieben 
hat.  Der  Verstand  kann  die  Welt  nur  als  ein  System  aufeinander 
wirkender  Wesen  auffassen.  Körper  und  Seele  sind  zwei  verschiedene 
Wesen.  Der  Monismus  wird  verworfen,  obwohl  Verf.  gelegentlich  auf 
die  Möglichkeit  einer  höheren  Einheit  selbst  etwas  mystisch  anspielt 
(S.  257,  284  u.  318,  sowie  Kap.  11  u.  12).  Zwischen  den  seelischen  Vor- 
gängen imd  den  materiellen  Prozessen  im  Gehirn  besteht  eine  kausale 
Belation.    Allerdings  heilst  es  an  anderer  Stelle  auch  wieder:  die  auto- 

Zeitschrlfl  fUr  Pijcholoflrle  X.  17 


258  Litteraturhericht 

matische  (d.  h.  hier  die  zentral  entstandene,  nicht  durch  peripherische 
Reize  ausgelöste)  Thätigkeit  des  Nervensystems  ist  das  hesondere   phy- 
sische Korrelat  des  aktiven  Bewufstseins  (S.  268).   Verf.  hätte  von  seinem 
eigenen  Standpunkte   statt  „Korrelat'*   wohl   „Wirkung**    sagen    müssen. 
Einige  Seiten  weiter  sagt  L.  ausdrücklich:  die  vorstellenden  BewuTstseins- 
zustände  (ideating  states  of  consciousness)  rufen  die  entsprechenden   Zu- 
stände (appropriate  conditions)  in  den  Gehirnzentren  hervor  und  bedingen 
durch  Vermittelung  der  letzteren  Bewegungen.    Selbst  bei  den  einfachen 
Nachahmungsbewegungen  des  Kindes  wirkt  das  Bewafstsein  mit.     Das 
affektive  Bewufstsein  ruft  in  analoger  Weise  die  Ausdrucksbewegungen 
im  weitesten  Sinne  hervor.     Das  wollende  Bewafstsein  endlich  (conative 
aspect  of  consciousness)  bedingt  die  Bewegungen  des  Aufmerkens,    die 
sog.  Wahlbewegungen  u.  s.  f. 

Die    Kapitel    „Materialism    and    Spiritualism**    und    „Monism     and 
Dualism**  bringen  keine  wesentlichen  neuen  Argumente.     L.  bleibt    bei 
dem   Dualismus   zwischen  Mind   und  Body.     Die   gröfsten  Erfolge    der 
physiologischen  Psychologie  vermögen  diesen  Dualismus  nur  in  wissen- 
schaftlicherer Form  zum  Ausdruck  zu  bringen,  aber  nicht  zu  beseitige  n* 
S.  286  (The  human  body  is  a  vast .  .  etc.)  findet  sich  nochmals  eiae  sehr 
bequeme  Zusammenstellung  der  Grundansichten  Ljldds.     Sein  gesamter 
Standpunkt  ist  demjenigen,  welchen  Behmke  neuerdings  in  seiner  Psycho- 
logie  vertreten   hat,  sehr   nahe  verwandt.     Die  Begründung  und  Aus- 
führung ist  nicht  im  entferntesten  so  klar,  tief  und  konsequent,  wie    be^ 
Bkhmke.    Einzelne   kritische  Gänge   sind    hingegen   Laod   ausgezeichnet 
gelungen,  so  z.  B.  die  Kritik  der  HöFFDivaschen  Identitätshypothese   im 
10.  Kapitel  u.  a.  m.    Leider  unterscheidet  L.  diese  und  andere  monistische 
Hypothesen   nicht  immer   so    scharf   von    der  Hypothese    des    psyoho- 
physischen   Parallelismus,   wie  auf  S.  3i5.     Oft  vermengt   er   beide   in 
seiner  Polemik  in  ganz  ungerechtfertigter  Weise.    Die  für  seinen  Dua- 
lismus unerläMiche  gegenseitige  Einwirkung  von  Seele  auf  Körper  und 
umgekehrt   erscheint  La.dd   nicht   unverständlicher,  als   die   Einwirkung 
eines  chemischen  Elements  auf  ein  anderes.    Körper  uad  Seele  sind  wie 
die  Elemente   der   Chemie   fundamentelly  different  kinds   of  beings.  — 
Die   Schlufskapitel   (,,Origin   and   Permanence   of   mind"*    und  „Place    of 
man's  mind   in  nature'O   gehen   weit  über  alle  Psychologie    hinaus    un 
können  daher  hier  füglich  unberücksichtigt  bleiben. 

Ziehen  (Jena). 

Contribations  from  the  Psycliological  Laboratory  of  Oolnmbia  Ooll3g  e. 
ni.    P^chol,  Bev.  II.  S.  125-136. 

Harold  Griffing,    Experiments  on  Dermal  Sensations. 

Der  Artikel  ist  nur  ein  Auszug  aus  der  Dissertation  des  Verfasssrs 
„On  Sensations  from  Pressure  and  Impact**  (Sappl.  Monograph.  N'o.  1    to 
the  PgychoL  Bev.)  und  berichtet  ganz   kurz  über  mannigfaltige  Versuche, 
welche  Gewichtsschätzungen  unter  Variation  der  Intensitäten,  der  Keizungs- 
stellen,  der  Reizungsflächen,  der  Fallhöhe,  und  Ähnliches  zum  Gegenstande 
hatten. 

Sh.  J.  Franz,  The  After-Image  Threshold. 


Litteraturbericht  259 

F.  untersuclite,  welche  Intensitäts-,  zeitlichen  und  GröIsenverhältniMe 
ein  optischer  Beiz  haben  mufs,  um  ein  Nachbild  zu  erzeugen,  und  fand : 

1.  Bei  einer  Sekunde  Expositionszeit  und  0,08  Kerzensiärke  muTste 
der  Beiz,  der  30  cm  vom  Auge  entfernt  war,  eine  Flächengröfse  von 
4  qmm  haben, 

2.  bei  einer  belichteten  Fläche  von  64  qmm  und  0,08  Kerzenstärke 
des  Beizes  mufste  er  0,01  Sekunde  dauern, 

3.  bei  einer  belichteten  Fläche  von  64  qmm  und  einer  Sekunde  £z- 
positionszeit  mufste  er  eine  Intensität  von  0,01  Kerzen  haben,  — 

um  in  75^0  aller  Fälle  ein  Nachbild  zu  erzeugen. 

W.  Stern  (Berlin). 


Gzone  Hibth.  Die  LokaliBaüonstlieorie  angewandt  anf  psychologiBclia 
Probleme.  Beispiel:  Wamm  sind  wir  lerstreut?  Mit  einer  Ein- 
leitung von  L.  Edinobb.  2.  vermehrte  Aufl.  München  18d5.  G.  Hirths 
Verlag.    112  S. 

Der  Verfasser  hatte  es  sich  zur  Aufgabe  gestellt,  an  einem  Bei- 
spiele zu  zeigen,  wie  er  sich  die  Möglichkeit  einer  Befruchtung  der 
Psychologie  durch  die  Lokalisationstheorie  denke,  und  er  hatte  die 
Frage  der  Zerstreutheit  deshalb  gewählt,  weil  dieser  in  psychologischer 
sowohl  als  psychiatrischer  und  neuropathischer  Beziehung  höchst  inter- 
essanten Frage  bisher  wenig  Aufmerksamkeit  geschenkt  worden  war. 

Die  erste  Auflage  hatte  seiner  Zeit  in  dieser  Zeitechr,  (Bd.  VIII.  S.  119) 
durch  EDiNeBB  eine  eingehende  Besprechung  gefunden,  auf  die  um  so  eher 
verwiesen  werden  kann,  als  sie  der  zweiten  Auflage  als  Einleitimg  vor- 
gedruckt ist. 

HiBTB  schreitet  in  dieser  zweiten  Auflage  weiter  auf  dem  von  ihm 
eingeschlagenen  Wege  vor,  mit  der  Erbschaft  metaphysischer  An- 
schauungen in  psychologischen  Fragen  zu  brechen  und  an  ihre  Stelle 
die  Errungenschaften  anatomischer  Forschungen  zu  setzen. 

Zunächst  berücksichtigt  er  die  neuesten  Entdeckungen  auf  dem  Ge- 
biete der  Himanatomie,  des  weiteren  benutzt  er  die  früher  von  ihm  auf- 
gestellte Lehre  von  den  Merksystemen,  um  sie  auf  eine  ganze  Beihe  neuer 
Betrachtimgen  auszudehnen. 

Es  ist  geradezu  erstaunlich,  welche  Fülle  neuer  Anschauungen  sich 
uns  an  der  Hand  der  HiBTHSchen  Ausführungen  eröflnet,  und  wie  leicht 
sie  sich  unter  dem  Einflüsse  seiner  geistvollen  Darstellung  in  unser  Ver- 
ständnis einschmeicheln,  sei  es  nun,  dafs  er  eine  Erklärung  der  zwie- 
sjMiltigen  Charaktere  versucht,  oder  dals  er  sich  an  die  höchsten  Probleme 
des  Bechts,  den  Irrtum,  die  Zurechnungsfähigkeit  oder  gar  an  die  Todes- 
strafe heranwagt. 

Das  Buch  referieren  zu  wollen,  heifst  eigentlich,  ihm  Unrecht  thun, 
und  so  bleibt  uns  nichts  übrig,  als  es  —  und  zwar  recht  angelegentlich  — 
zu  empfehlen. 

Pblmab. 

17* 


260  Litteraturbericht. 

J.  SouBT.  La  Yision  mentale.  Bev.  philoa.  Bd.  39.  S.  1—30  u.  163—183. 
(Jan.  u.  Febr.  1895.) 

S.,  weloher  bereits  zu  wiederholten  Malen  vorzügliche  Übersichten 
über  die  Litteratur  der  Hirnanatomie  und  Himphysiologie  gegeben  hat, 
bespricht  im  vorliegenden  Aufsatze  die  neuesten  Forschungen  über  die 
Anatomie  und  Physiologie  der  Sehbahn.  In  dem  Abschnitt  über  die 
peripherische  Opticusbahn  wird  man  eine  Angabe  über  die  Bedeutung 
der  in  derselben  nach  vielen  Autoren  enthaltenen  zentrifugalleitenden 
Fasern  vermissen.  Die  zentrifugalen  Fasern,  welche  von  der  kortikalen 
Sehsph&re  zu  den  vorderen  Vierhügeln  verlaufen,  werden  für  die  Muhk- 
sehen  Augenbewegungen  der  Sehsphäre  in  Anspruch  genommen.  Für 
die  zentrifugalen  Fasern  der  peripherischen  Bahn  ist  eine  solche  Er- 
klärung  natürlich  ausgeschlossen.  Ein  Hinweis  auf  die  Arbeiten  Engel- 
MAHvs  und  Nahmmachbbs  findet  sich  im  Schlulskapitel.  Aueh  die  Arbeit 
OoLüoois  hatte  hier  Erwähnung  verdient  {A$inaU  di  Nevrologia),  In  dem 
Abschnitte  über  den  Pupillarreflex  hfttte  Beferent  etwas  mehr  Vorsicht 
gegenüber  der  MEKDBLSchen  Annahme,  wonach  das  Ganglion  habenulae 
Beflexzentrum  dei*  Pupillarbewegungen  ist,  gewünscht.  Mit  besonderer 
Ausführlichkeit  berichtet  S.  über  die  Lehre  vom  Parietalauge. 

G-egen  die  bekannten  GoLxzschen  Versuche  erhebt  S.  ganz  ähnliche 
Einwände,  wie  sie  Mukk  und  Beferent  (in  dieser  Zeitschrift)  geltend  ge- 
macht haben.  Besonders  gut  gelungen  ist  auch  der  vergleichend-physio- 
logische Abschnitt  (Kapitel  7  und  zum  Teil  auch  8). 

Nicht  kann  Beferent  die  Behauptung  im  Schlufskapitel  zugeben,  es 
sei  eine  „doctrine  re^ue^S  ^^^  ^®  Stäbchen  die  reinen  Lichtempfindungen, 
die  Zapfen  die  Farbenempfindungen  vermitteln.  —  Die  Zellen  des  zweiten 
GoLGischen  Typus  in  den  Lobi  optici  fafst  S.  als  „Assoziationsneurome'' 
auf.  Sie  ermöglichen,  dafs  die  Erregung  einer  einzigen  Opticusfaser  auf 
mehrere  Zellen  des  optischen  Zentrums  in  den  Lobi  optici  über- 
tragen wird. 

Zur  ersten  Orientierung  kann  die  Abhandlung  durchaus  empfohlen 
werden.  Zibhbk  (Jena.) 

V.   Monakow.     Experimentelle    und    pathologisch -anatomische    Unter- 
suchungen über  die  Haubenregion ,  den  Sehhttgel  nnd   die  Regio 
snbthalmica  nebst  Beiträgen  cur  Kenntnis  firtth  erworbener  GroXb- 
nnd  Eleinhimdefekte.    Arch.  f.  Psychiatr.  XXVII.   Hft.  1  u.  2.    Auch 
separat:  Berlin,  Hirschwald.  1895.  219  S.  u.  7  Taf. 
M.  hat  sich  bemüht,  in  möglichst  vollständiger  Weise  alle  diejenigen 
Hirnteile,   für   deren  Existenz   die  Litaktheit  des   Grofshims  eine  Be- 
dingung  ist,  zusammenzustellen.    Er  nennt   solche   vom  Groishim  ab- 
hängigen  Teile   auch   kurz   „Grofshimanteile^^    Die  Einleitung,  welche 
Sehhügel   und   Begio   subthalmica   von  Katze,   Hund  und  Mensch  ana- 
tomisch   beschreibt,   ergiebt   folgendes.     Im  Sehhügel  ist   aufser   dem 
vorderen   Kern   (=  Tuberculum  anterius),   dem  medialen  und  dem  late- 
ralen eine   in  vier  Nebenkeme  zerfallende   „ventrale   Kemgruppe"  zu 
unterscheiden.   Hierzu  kommt  ein  „hinterer  Kern",  der  sich  ventral  vom 
Pulvinar  keilförmig  zwischen  Corpus  geniculatum  ext.  und  int.  einschiebt. 


lAtteraturberidit  261 

Die  ventrale  Lage  des  Corp.  geuicul.  ext.  beim  Menschen  (im  Gegensatz 
zur  dorsalen  bei  Katze  und  Hund)  ist  auf  die  starke  Entwickelung  des 
PttlTinars  zurückzuftlbren.  Die  Linsenkemschlinge  zerlegt  Verfasser  in 
drei  Faserzüge;  einen  Übergang  der  Linsenkemfaserting  in  die  Mark- 
massen des  roten  Kerns  and  in  die  Schleife  konnte  er  nicht  mit  Sicherheit 
wahrnehmen. 

Die  Ezperimentaluntersuchüngen  beziehen  sich  zunächst  auf 
die  Abtragung  einer  Grofhirnhemisphäre  bei  neugeborenen  Tieren.  Ein 
Hund  wurde  sechs  Monate,  nachdem  ihm  der  gröfste  Teil  der  rechten 
Grofshimhemisphftre  abgetragen  worden  war,  getötet  und  das  Gehirn 
untersucht.  £s  wurde  festgestellt,  daJDs  von  der  rechten  Grofshimhemi- 
Sphäre  nur  das  Stimende  einsohliefslich  des  Lobus  olfactorius,  ein  Teil 
des  Gyrus  sigmoideus,  ein  Teil  des  Gyrus  fomicatus,  der  üncus  nebst 
Mandelkern  und  einige  Teile  des  Linsenkems  verschont  worden  waren. 
Der  Hund  hatte  folgende  Symptome  gezeigt:  Fallen  nach  rechts,  Neigung 
zu  Beitbahnbewegungen  nach  rechts,  allgemeine  symmetrische  Wachs- 
tumshemmung, üngelehrigkeit,  ünreinlichkeit  und  linksseitige  Hemi- 
anopsie. Die  von  Hitzig  und  Mukk  beschriebenen  motorischen  und 
sensiblen  Störungen  bestanden  anfangs,  bildeten  sich  aber  später  zurück. 
Das  Tier  lernte  schliefslich  auch  seine  Vorderpfote  zu  verschiedenen 
komplizierten  Verrichtungen  benutzen,  doch  blieb  die  rechte  und  teil- 
weise auch  die  linke  Vorderpfote  zeitlebens  plump  und  ungeschickt. 
Per  Gang  wurde  allmählich  ganz  normal,  doch  glitt  das  Tier  auf  glattem 
Boden,  namentlich  mit  den  linken  Extremitäten,  leicht  aus.  An  einer 
neugeborenen  Katze  wurde  eine  ähnliche  Operation  vorgenommen.  Der 
anatomische  Befund  ergab  keine  Degeneration  des  Ganglion  habe- 
nulae,  des  MEmrsBTschen  Bündels,  der  Taenia  thalami  und  des  zentralen 
Höhlengraus.  Die  degenerierenden  Abschnitte  teilt  M.  in  direkte  und 
indirekte  Groishimanteile  ein.  Erstere  degenerieren  völlig  schon 
"wenige  Wochen  nach  der  Operation,  letztere  verkümmern  nur  teilweise, 
d.  h.  ihre  Elemente  büfsen  ihre  normale  Form  nur  partiell  ein  und  er- 
fahren eine  Volumsreduktion.  Im  Sehhügel  sind  der  vordere,  hintere, 
mediale  und  laterale  Kern,  sowie  das  Pulvinar  völlig  degeneriert  und 
imd  daher  als  direkte  Grofshimanteile  aufzufassen,  während  die  ven- 
tralen Kerngruppen  nur  partiell  degenerieren,  also  indirekte  Grofshim- 
anteile sind.  Zu  letzteren  gehört  auch  der  mediale  Kern  des  Corpus 
mamillare.  Eine  kleine  Anzahl  ziemlich  normaler  Zellen  bleibt  stets  in 
den  beiden  Corpora  geniculata  zurück,  welche  Bindenregion  man  auch 
zerstören  mag.  Weiterhin  gehören  zu  den  direkten  Grofshirnanteilen 
des  Mittelhims  der  LüYSsche  Körper,  die  Linsenkemschlinge,  die  Faser- 
massen  des  Fufses  (Monakow  bezeichnet  letzteren  unzweckmäfsig  alsPedun- 
culus),  die  Substantia  nigra  und,  wenigstens  teilweise,  das  oberflächliche 
Grau  des  vorderen  Vierhügels,  zu  den  indirekten  der  rote  Kern  der  Haube, 
der  hintere  Vierhügel,  die  sog.  Haubenstrahlung,  die  FoBBLSchen  Hauben- 
fascikel,  die  Schleifenschioht  und  der  Arm  des  hinteren  Vierhügels. 
Chmz  unabhängig  vom  Grofshim  sind  namentlich  das  Grau  der  Formatio 
reticularis,  das  mittlere  Ghrau  des  vorderen  Vierhügels,  das  zentrale 
Höhlengrau,   der   laterale   Schleifenkem,   sowie   die   Augenmuskelkeme. 


262  Lüteraturberiehi. 

Im  Hinterhim  gehört  die  graue  Substanz  der  Brücke  im  wesentlichen 
zu  den  direkten  Grofshimanteilen ;  doch  bleibt  eine  Beihe  der  mehr 
medial  und  ventral  gelegenen  Ganglienzellengruppen  verschont.  BEier- 
nach  scheint  das  Brückengrau  im  Hinterhirn  eine  teilweise  ganz  ähnliche 
Rolle  wie  die  Sehhügelkeme  im  Zwischenhirn  zu  spielen.  Im  Zusammen- 
hange mit  der  Degeneration  des  Brückengraus  steht  die  partielle  Atrophie 
des  gekreuzten  Brückenarms  und  die  allgemeine  Volums  Verkleinerung 
der  gekreuzten  filleinhirnhemisphftre.  Daher  sind  Brückenarm  und 
Kleinhimhemisphftren  zu  den  indirekten  Grofshimanteilen  zu  rechnen. 
Zu  denselben  gehört  auch  der  Bindearm,  in  dem  sich  eine  gekreuzte 
Atrophie  fand.  Der  Trapezkem,  die  obere  Olive,  die  Bogenfasem,  das 
Corpus  trapezoides,  die  innere  Abteilung  des  Kleinhirnstiels  ^  und  sämt- 
liche im  Hinterhim  entspringende  Hirnnerven  nebst  ihren  Kernen  sind 
vom  Grofshim  unabhängig. 

In  der  Oblongata  läfst  die  mediale  Abteilung  des  BuBOACHschen  und 
die  kaudale  des  GoLLSchen  Kerns  einfache  Atrophie  (Volumsverkleinerung 
einzelner  Zellen)  oder  Sklerose  erkennen;  zu  völliger  Resorption  und  zu 
einem  Zerfall  in  strukturlose  Schollen,  wie  im  Sehhügel,  kommt  es 
niemals.  Direkte  Grofshirnanteile  sind  nicht  mehr  sicher  nachzuweisen. 
Die  Hälfte  der  Ganglienzellen  der  beiden  Kerne  war  überhaupt  ganz 
intakt.  Eine  teilweise  Atrophie  und  Sklerose  zeigen  sich  auch  in  der 
Ganglienzellengruppe  des  Processus  reticularis  des  Cervikalmarkes,  deren 
Zusammenhang  mit  der  Pyramidenbahn  Verfasser  schon  früher  dargethan 
hatte.  Die  linke  Pyramidenbahn  des  Rückenmarkes  fehlte  vollständig; 
es  erklärt  sich  dies  offenbar  daraus,  dafs  die  vom  Messer  verschont 
gebliebenen  Abschnitte  des  Gyrus  sigmoideus  doch  von  ihren  Stabkranz- 
fasern völlig  abgetrennt  worden  waren.  Eine  Differenz  zwischen  beiden 
Vorderhömem  bestand,  wenigstens  im  Cervikalmark ,  nirgends.  Das 
gekreuzte  Hinterhom  schien  namentlich  in  seinem  vorderen  Teile  (Über- 
gang zum  Vorderhom)  „ärmer  an  Substantia  gelatinosa"  zu  sein. 

Mit  diesen  Befunden  stimmt  die  Thatsache  überein,  dais  bei  den 
Fischen,  entsprechend  dem  Mangel  eines  ganglienzellenhaltigen  Grofshim- 
mantels,  die  Grofshirnanteile  des  Zwischenhims  (Kerne  des  Sehhügels) 
völlig  fehlen,  und  dafs  das  Grau  des  Zwischenhims  fast  ausschliefslich 
aus  dem  Ganglion  habenulae  und  dem  zentralen  Höhlengrau  besteht, 
d.  h.  aus  solchen  Gebilden,  die  durch  eine  Grofshirnabtragung  bei 
höheren  Säugern  nicht  im  geringsten  beeinträchtigt  werden.  Bei  dem 
Frosch  und  der  Eidechse,  denen  schon  eine  einfache  Hirnrinde  zukommt, 
finden  sich  die  ersten  Zellanhäufungen  im  Zwischenhirn,  welche  an  die 
Kerne  des  Sehhügels  erinnern.  In  der  phylogenetischen  Entwiokelung 
der  Tierreihe  grenzt  sich  wahrscheinlich  zuerst  das  Corpus  geniculatum 
ext.,  dann  der  ventrale  Sehhügelkem  ab.  Anders  verhalten  sich  bei  den 
niederen  Vertebraten  die  den  indirekten  Grofshimanteilen  der  Säuger 
entsprechenden  Grofshimteile,  z.  B.  der  Lobus  opticus  und  das  Grau  der 
Brücke.    Diese  Regionen  sind  relativ  viel  mächtiger  entwickelt,    als  bei 


stiel.    Die  Einzelbeschreibung  ist  bezüglich  dieses  Stieles  nicht  genau.  \ 


Gemeint   ist  vom  Verfasser  S.  60  offenbar  der  untere  Kleinhirn- 


Litteraturbericht  263 

den  höheren  Vertebraten.  Hiernach  und  naoh  den  physiologischen 
Untersuchungen  von  Steineb  liegt  es  nahe,  anzunehmen,  dafs  diese 
Regionen,  wenigstens  das  Dach  des  Mittelhims,  eine  „Vereinigung  dessen 
darstellen,  was  bei  höheren  Säugern  teils  in  der  Binde  des  vorderen 
YierhOgels  (Grofshirnanteile),  teils  in  der  Binde  des  Occipitallappens 
getrennt  liegt^.  So  würde  es  verständlich,  dals  Knochenfische  nach 
Abtragung  des  Grofshims  noch  fllhig  bleiben,  das  Gesehene  psychisch 
zu  verwerten.  So  erklärt  es  sich  auch,  dafs  ^  der  vordere  Vierhügel 
(Lobus  opticus)  in  der  Tier  reihe  aufwärts  an  Volum  und  auch  an  Kom- 
pliziertheit des  Baues  abnimmt. 

Die  übrigen  Untersuchungen  M.'s  beziehen  sich  auf  partielle  Binden- 
ezstirpationen  (Gyrus  sigmoideus,  Gyrus  coronarius  und  anliegender 
Teil  des  Gyrus  suprasplenialis,  Temporallappen,  Uncus  etc.).  AuTserdem 
standen  ihm  die  Gehirne  von  fünf  Hunden  und  einem  A£Pen  zur  Ver- 
fügfung,  welchen  Münk  die  Sehsphäre  beiderseits  abgetragen  hatte.  Der 
bereits  früher  vom  Verfasser  für  das  Kaninchengehim  nachgewiesene 
wichtige  Satz,  dafs  je  nach  Verschiedenheit  des  Sitzes  des  Bindendefektes 
verschiedene  Kerne  des  Sehhügels  degenerieren,  und  zwar  in  zienüich 
umschriebener  Weise,  gilt  auch  für  Hund  und  Katze.  Es  handelt  sich 
bald  um  eine  echte  sekundäre  Degeneration  (Nekrose  der  Elemente),  bald 
um  einfache  Atrophie.  Zwischen  beiden  Formen  besteht  nur  ein  gra- 
dueller Unterschied.  Selbst  zwischen  dem  sekundären  Prozefs  nach 
Abtragungen  bei  neugeborenen  und  bei  erwachsenen  Tieren  besteht  kein 
Gegensatz;  der  Unterschied  ist  nur  der,  dafs  bei  erwachsen  operierten 
Tieren  der  degenerative  Vorgang  viel  langsamer,  unter  derberen  und 
ausgedehnteren  Nflurbenbildungen,  sowie  unter  mangelhafter  Aufsaugung 
der  Entartungsprodukte  abläuft.  Bei  Katze  und  Hund  zerfällt  der  Seh- 
hügel (mit  Adnexen)  nach  I^onakow  in  15  Abschnitte,  deren  jedem  ein 
bestimmtes,  allerdings  nicht  ganz  scharf  abgegrenztes  Bindenfeld  zu- 
geordnet ist.  Bei  dem  Kaninchen  hat  M.  früher  nur  fünf,  resp.  sieben 
beschrieben.  Ich  werde  im  folgenden  die  15  Abschnitte  kurz  aufzählen, 
jedoch   die   topographischen  Angaben  nur  sehr  abgekürzt  wiedergeben. 

1.  und  2.  Zonen  der  beiden  medialen  Kemgruppen;  sie  entsprechen 
der  Bumpf-  und  Nackenregion  Munks. 

3.  Zone  des  vorderen  ventralen  Kerns;  sie  entspricht  der  Vorder- 
beinregion. 

4.  Zone  des  medial- ventralen  Kerns ;  entspricht  der  Hinterbeinregion. 

5.  Zone  des  zentral-ventralen  Kerns;  entspricht  zum  Teil  der  Kopf- 
region. 

6.  Zone  des  lateral- ventralen  Kerns;  entspricht  gleichfalls  zum  Teil 
der  Kopfregion. 

7.  Zone  des  Tuberoulum  anterius;  entspricht  der  Augenregion. 

8.  Zone  des  vorderen  lateralen  Kerns;  liegt  ebenfalls  zum  Teil 
innerhalb  der  Kopfregion. 

9.  Zone  des  dorsal-lateralen  Kerns;  sie  entspricht  dem  zweiten 
Fünftel  (von  vorn  gerechnet)  des  Gyrus  suprasylvius. 

10.  Zone  des  ventral-lateralen  Kerns;  sie  grenzt  medialwärts  an 
die  vorige. 


264  LiUertUurhmcht. 

11.  Zone  des  hinteren  Kerns;  lieg^  in  der  Ohrregion  Muhks. 

12.  Zone  des  Pulvinars;  nimmt  das  dritte  Fünftel  des  Gyrus  Ute* 
ralis  ein. 

18.  Zone  des  corp.  genic.  ext. ;  f&llt  gröfstenteils  mit  der  MuvKschen 
8ehsph&re  zusammen. 

14.  Zone  des  Corp«  genic.  int.;  fällt  gröfstenteils  mit  der  Hör 
Sphäre  zusammen. 

15.  Zone  des  Corp.  mammillare ;  liegt  im  Uncus  und  im  Gebiet  des 
Ammonshoms. 

Leider  wird  durch  einen  unpräzisen  Gebrauch  der  Windungs- 
bezeichnimgen,  bezw.  durch  Widersprüche  zwischen  Figur  (62a)  und 
Text  das  Verständnis  der  topographischen  Angaben  erschwert. 

Zwei  klinische  und  pathologisch-anatomische  Beob- 
achtungen über  früh  erworbene  Grofshim defekte  bei  dem  Menschen 
schlieiken  sich  an  die  experimentellen  Untersuchungen  an.  Im  ersten 
Falle  handelte  es  sich  um  einen  alten  primären  £rweichungsherd  in  der 
unteren  und  zum  Teil  auch  mittleren  Stimwindong.  Sekundäre  Dege- 
neration fand  sich  im  vorderen  Schenkel  der  inneren  Kapsel,  im  medialen 
Abschnitt  des  Pedunoulus,  im  vorderen  ventralen  Sehhügelkem,  in  der 
medialen  Kemgruppe  des  Sehhügels  und  in  der  sog.  Zona  incerta  (ven- 
traler Teil  der  Begio  subthalamica);  die  übrigen  Sehhügelkeme,  sowie 
die  Pyramide  waren  intakt.  Im  zweiten  Falle  handelte  es  sich  um  einen 
Im  sechsten  Lebensmonat  erworbenen  Defekt  der  untersten  Stimwindung, 
des  Operculums,  der  obersten  Schlaf enwindung,  der  Insel  und  des  Putamens 
iinks.  Während  des  Lebens  bestand  das  Bild  der  cerebralen  Binden- 
lähmung. Hemiparese  xmd  Hemiatrophie,  Kontraktur  des  rechten 
Arms,  Athetose,  epileptische  Anfälle  und  hochgradiger  Schwachsinn 
waren  die  Hauptsymptome.  Trotz  Zerstörung  des  Sprachzentrums 
bestand  weder  Worttaubheit  noch  ausgesprochene  motorische  Aphasie, 
jedoch  eine  erhebliche  grammatische  Akataphasie.  Die  mikroskopische 
Untersuchung  ergab  eine  scharf  abgegrenzte  Degeneration  des  Stiels  des 
Corpus  genic.  int.  und  dieses  Körpers  selbst,  eine  partielle  Degeneralaon 
der  Linsenkemschlinge  und  des  Lirrsschen  Körpers,  der  ventralen  Kem- 
gruppen,  des  vorderen  ventralen  Kerns  und  der  medialen  Kemgruppe 
des  Sehhügels.  Auf  Grund  seiner  Tierbeobachtungen  bezieht  Verfasser 
die  Atrophie  der  ventralen  Sehhügelkemgruppen  auf  den  Operculum- 
defekt,  die  Atrophie  des  vorderen  ventralen  und  des  medialen  Sehhügel- 
kems  auf  die  Zerstörung  der  Stimwindungen.  In  der  Haube  fimd  sich 
eine  erhebliche  Atrophie  der  Schleife,  der  Haubenstrahlung,  sowie  des 
roten  Kerns.  Der  rechte  Bindearm  zeigte  eine  ganz  einfache  sekundäre 
Atrophie  (Verschmälerung  der  einzelnen  Faserindividuen).  Die  Substantia 
nigra  war  partiell  degeneriert.  Der  FuTs  des  Himstiels  zeigte  namentlich 
am  medialen  und  lateralen  Bande  intensivere  degenerative  Veränderungen ; 
die  beiden  degenerierten  Segmente  standen  durch  einen  degenerierten 
Streifen,  welcher  den  dorsalsten  Band  des  Fufses  einnahm,  in  Verbindung. 
Endlich  ergab  sich  eine  beträchtliche  Degeneration  in  der  linken  FuXs- 
schleife  und  im  Arme  des  linken  hinteren  Vierhügels. 

Der  mühevollen  und  ergebnisreichen,  übrigens  noch  der  Fortsetzung 


Liiieratufbencht.  265 

Larrenden  Arbeit  des  Verfassers  sind  60  vorztkglich  ausgefallene  Abbil- 
dungen beigegeben.  Zibebn  (Jena). 

Tj.  LvoiAin.  Ober  Fbbbibbs  neue  Stadien  snr  Psychologie  des  KleinhiniB. 

Kritik  und  Berichtigung.  Biohg.  CmUraJhl  Bd.  XV.  No.  9.  u.  10.  (1.  ICai 

1896.) 
—  I  recenti  stadi  snlla  flsiologia  del  Oenrelletto  secondo  il  Prof.  Dayii) 

Ferbibr.  Bectificazioni  e  repliche.  Bw,  di  Frematria,  Vol.  XXI.  Fase.  1. 

S.  1—27.  (1895.) 
Gelehrte  Streitschriften  bieten  in  der  Begel  f&r  den  minder  Be- 
teiligten keine  anmutige  Unterhaltung,  obgleich  sie  für  die  Klftrung  der 
strittigen  Sache  von  Belang  und  lehrreich  sein  können.  In  letzterer 
Hinsicht  verdient  der  Fall  Luciani  contra  Fbbribr  besondere  Beachtung, 
da  Fbbiuer,  der  Herausfordernde,  nur  mit  seinem  gewichtigen  Namen 
gedeckt  und  mit  gebrechlichen  Waffen  gegen  einen  mit  dem  vollen 
Bttstseug  erprobter  Thatsachen  gewappneten  Gegner  auf  den  Kampfplate 
des  Duells  tritt.  Niemand,  auch  Fbrribb  nicht,  macht  LüoiAin  das 
Verdienst  streitig,  als  der  erste  den  Weg  gefunden  zu  haben,  wie  man, 
nach  Zerstörung  des  Kleinhirns,  jahrelang  die  Versuchstiere  am  Leben 
erhalten,  ihr  Verhalten  danach  studieren  und  aus  den  gewonnenen 
Erfahrungen  Schlüsse  auf  die  physiologische  Bedeutung  des  Kleinhirns 
ziehen  kOnne.  Jedermann  muls  einsehen,  daXs  das  einen  enormen 
Fortschritt  für  die  Kleinhimphysiologie  bedeutet,  die  bis  dahin  nur 
in  einem  Gemisch  von  unbewiesenen  Vermutungen  bestand.  Nur  Fbrbibb 
meint,  im  Widerspruche  mit  sich  selbst,  dafs  Vülpiavs  Ausspruch  (im  Jahre 
18M):  „Die  Frage  nach  den  Funktionen  des  Kleinhirns  sei  noch  weit 
davon,  definitiv  gelöst  zu  sein**,  auch  auf  den  jetzigen  Standpunkt  unserer 
Kenntnisse  passe.  Selbstverständlich  ist  Luciani  darüber  entrüstet,  weist 
ihm  nach,  wie  er  zwar  den  direkten,  nicht  gekreuzten  EinfluTs  des 
Kleinhirns  auf  die  entsprechende  Körperhftlfte  zugiebt,  die  fundamentale 
Thatsaohe  aber,  dafs  der  Kleinhimeinflufs  auf  alle  willkürlichen  Muskeln, 
vorzugsweise  auf  die  der  hinteren  Extremitäten  sich  erstreckt,  über- 
sieht. Fbrribb  leugpiet  die  von  Luciani  behauptete  Konstanz  der 
BotatioxiiBerscheinungen  von  der  operierten  nach  der  gesunden 
Seite  auf  Grund  eigener  Experimente;  Luciani  weist  ihm  sofort*  mittelst 
zu  diesem  Behufe  eigens  angestellter  Versuche  an  kauterisierten  Tieren, 
nach,  dafs  das  Gegenteil  nur  eine  Folge  der  die  Nachbarteile  reizenden 
Kauterisation,  nicht  aber  der  reinlich  ausgeführten  Exstirpation  durch 
das  Messer  ist.  Mehr  noch  als  die  irritativen  Erscheinungen,  die 
Luciani  in  der  tonischen  Extension  imd  Flexion  (nicht  Kontraktur) 
erkennt,  bemängelt  Ferribr  die  Ausfallserscheinungen,  die  drei 
Gruppen  von  Asthenie,  Atonie  und  Astasie,  auf  denen  das  Bild  der 
Kleinhirnataxie  nach  Luciani  beruht  —  und  meint,  dafs  sie  in 
Wirklichkeit  nicht  vorhanden,  sondern  das  Ergebnis  konstruktiver 
Spekulation  seien.  Gegen  die  Astasie  auf  der  verletzten  Seite  ist 
Fbbbixr  noch  ziemlich  gnädig;  die  »von  Lüciani  aber  so  häufig  beob- 
achtete Asthenie*'  will  er  nicht  gelten  lassen.  Luciani,  dem  es  besonders 
darauf  ankam,   direkte  Beweise   für   das  wirkliche  Vorhandensein  jeder 


266  Litteraturberichi. 

der  drei  Gruppen  zu  ermitteln,  fClhrt  für  die  Hemianästhesie  eines 
der  Kleinhimhälfte  beraubten  Hundes  ein  schönes  Beispiel  beim 
Schwimmen  des  letzteren  an  und  zeigt  daran,  dafs  FsRBiBifc  die  Frage 
gänzlich  mifsverstanden  habe.  Noch  unbarmherziger  verfiihrt  Fbbbier 
gegen  die  Atonie,  worauf  Luciakt  wiederum  mit  einem  Beispiel  beim 
Fressen  eines  Hundes  erwidert.  Dagegen  zieht  Fbbbibr  die  Sehnenreflexe 
ins  Spiel,  die  mit  der  Sache  gar  nichts  zu  thun  haben.  Endlich  fährt 
Febbibb  noch  den  Philosophen  Hbbbert  Spencbr  ins  Feld,  der  im  Kleinhirn 
das  Doppelorgan  der  Koordination  im  Räume  und  im  Groishim  das  der 
Koordination  in  der  Zeit  erkennt,  und  den  Dr.  Jaiibs  Boss,  der  den 
Kommentar  zu  Spencbbs  Hypothese  geliefert  hat  —  wogegen  Luciani 
nichts  einzuwenden  hat,  der  sich  vielmehr  damit  begpoügt,  dafs  auch 
andere,  wie  Fbbbier  selbst,  den  tonischen  oder  kontinuierlichen 
Einflufs  des  Kleinhirns  auf  alle  motorischen  Vorgpftnge,  direkt  oder 
mittelst  der  anderen  Cerebro- Spinalzentren,  anerkennen.  Das  Kleinhirn 
ist  auch  für  Febbieb  nicht  mehr  das  Organ  für  das  Gleichgewicht, 
noch  sieht  er  in  ihm  einen  Haufen  unbewufster  Zentren  fQr  Beflex- 
anpassung  behufs  Herstellung  des  ins  Schwanken  geratenen  Gleich- 
gewichtes. 

Es  ist  LuciANi  nicht  zu  verdenken,  dafs  er  mit  einer  gewissen 
Animosität  gegen  Anfechtungen  seines  Verdienstes  von  Seiten  derer 
loszieht,  die  als  Autoritäten  unter  den  Sachverständigen  auf  dem  Gebiete 
der  Nervenphysiologie  gelten,  wenn  man  erwägt,  mit  wie  rastloser,  acht 
Jahre  dauernder  Thätigkeit  er  die  unbestritten  erste  wissenschaftliche 
Grundlage  zur  weiteren  Erforschung  eines  Gegenstandes  geschaffen  hat, 
wo  Vorurteile  und  Hypothesen  bislang  ihr  Spiel  trieben.  Dalüs  weitere 
Fortschritte  auf  diesem  Boden  mögUoh  und  erwünscht  sind,  leugnet 
LuciANi  am  allerwenigsten.  Jahre  werden  aber  darüber  hingehen,  ehe 
einer  oder  der  andere  Forscher,  ausgerüstet  mit  der  feinen  Beobachtungs- 
gabe und  dem  Scharfsinne  LucianiSi  über  ein  genügendes  Material  verfügt, 
um  ihm  die  volle  Anerkennung  verschaflPen,  geschweige  die  Pfeiler  seines 
Gebäudes  umstürzen  zu  können.  Frabnkbl. 

Fr.  K1E8OW.    Versuche  mit  Mouos  Sphygmomaiiometar  über  die  durch 
psychische  Erregunfen  herTorgerafenen  Verttndeniiigwi  des  Blvi- 
drncks  beim  Menschen.    PhüosapK  Stud,  1895.  XL  1  S.  41—61.  Auch: 
Ärch.  Ital  de  BioL  XXm.  S.  198—211. 
Verfasser   hat   mit    dem   Mossoschen    Sphygmomanometer,    dessen 
Konstruktion   er  genau  beschreibt  und  durch  eine  Abbildung  erläutert, 
Versuche  über  die  durch   psychische  Erregungen  hervorgerufenen  Blut- 
druckänderungen  angestellt.    Er   kam  zu  dem  Besultate,   dafs  nicht  bei 
allen  Menschen  Beeinflussungen  in  der  angedeuteten  Bichtung  zu  ersielen 
sind.    Während  zahlreiche  Versuchspersonen  auf  psychische  Erregungen 
(Lösung  von  Beohenaufgaben,  Geruchs-,  Geschmacks-,  Gehörs-,  Gesichts- 
reize etc.)  mit  Steigerung,  hie  und  da  auch  mit  Senkung  der  Blutdraok- 
kurve  reagierten,   zeigten   Personen    mit   auffallend   ruhiger  Gkemütsart 
eine  derartige  Beeinflussung  nicht.  W.  Gohkbtxik  (Berlin). 


Litteraturbericht.  267 

1.  Bo&YsiBKiEwicz.    Weitere  Untersnchiuigen  ttber  den  feineren  Ban  der 
Netzliant.    Leipzig  u.  Wien,   F.  DeuUoke.    1894.   64  S. 

2.  Fb.  Dimmbb.   Beiträge  snr  Anatomie  nnd  Physiologie  der  Macnla  lutea 
des  Menschen.    Leipzig  u.  Wien,   F.  Deutioke.   1894.  133  S. 

8.  BoBYBiEKiEwicz.    ErwideHUig  auf  Dimmbbs  Angrüfe.    Wien,  med.  matter. 
1894.  S.  303. 

4.  Djmmrk.  Entgegnung  an  Herrn  Prof.  Bortsibkiewioz.  Wien.  med.  Blätter, 

1894.  S.  319. 

5.  Bobtsibkiewicz.    Antwort  auf  die  Entgegnung  des  Herrn  Dr.  Dncnui. 

Wien,  med,  Blätter,  1894.  S.  851. 

6.  Lna>8AY  Johnson.    Observations  on  the  Biacula  Lutea.  I.  Histology  of 

the  human  Macula.  Archiv  of  Üphiftalm,  Vol.  XXIV.  No.  3.  (1894.)  — 
Deutsche  Übersetzung  in  Knapp- Schweiggers  Ärch,  ßr  Augenheiücde, 
XXXn.  S.  66—75.  (1896.) 

BoBTsiBKiB¥aGz  macht  uns  mit  einer  Fülle  neuer  Entdeckungen  über 
den  Bau  der  Betina  und  den  Zusammenhang  der  retinalen  Elemente  be- 
kannt. Mit  Staunen  wird  derjenige,  welcher  sich  etwas  näher  mit  der 
Anatomie  der  Retina  beschäftigt  hat,  lesen,  wie  In  dieser  Arbeit  fast 
alle  durch  H.  Mülleb,  Hbnle,  M.  Schultze  und  andere  klassische  Autoren 
festgestellten  Thatsachen  mit  Leichtigkeit  über  den  Haufen  geworfen 
werden,  nicht  etwa  durch  Anwendung  neuer  Methoden  oder  Lösung  alter 
Probleme,  sondern  durch  Untersuchungen,  welche  in  ganz  ähnlicher 
Weise,  besonders  unter  Anwendung  der  Osmiumsäure,  schon  von  M.  Schultzk 
U.A.  vorgenommen  sind.  Hätte  B.  mit  seinen  neuen  Lehren  recht,  so 
wäre  es  unbegreiflich,  wie  sich  unsere  Klassiker  in  fast  allen  Punkten 
so  irren  konnten.  Es  wird  aber  wolü  den  meisten  nach  der  Lektüre  des 
Buches  von  B.  wie  dem  Referenten  gehen,  dafs  sie  sich  in  ihrem  Glauben 
an  der  alten,  sonst  noch  von  Niemandem  angezweifelten  Lehre  über  den 
Bau  der  Retina  nicht  erschüttert  fühlen,  trotz  des  Buches  von  B.,  in  dem 
es  übrigens  an  inneren  Widersprüchen  und  Unmöglichkeiten  nicht  fehlt. 

Wir  wollen  dem  Leser  jedoch  einige  Proben  aus  der  Arbeit  B.'s 
nicht  vorenthalten: 

„Die  Stäbchen  und  Zapfen  sind  nicht  als  Endorgane  der  Nervenfasern 
anausehen,  sondern  dieselben  sind  „zweifellos*^  eine  direkte  Fortsetzung 
der  MüLLEBSchen  Fasern. 

Stäbchen  und  Zapfen  sind  gleich  lang. 

Li  der  Fovea  centralis  kommen  ausschlieislich  „Stäbchen*'  vor. 

Die  MüLLBBSchen  Fasern  stellen  Schläuche  dar,  welche  un verzweigt 
durch  die  ganze  Dicke  der  Netzhaut  verlaufen. 

Die  lichtempfindenden  Teile  der  Netzhaut  sind  innerhalb  des 
MüiXBBSchen  Schlauches  zu  suchen." 

Ln  Gegensatz  zu  dieser  Arbeit  können  wir  Dimbiers  Untersuchungen 
als  einen  wichtigen  und  bedeutenden  Fortschritt  in  unserer  Kenntnis 
von  dem  Bau  und  der  Funktion  der  Macula  lutea  begrüfsen. 

Der  erste  Teil  der  Arbeit  behandelt  die  Anatomie  der  Retina  in  der 
€kgend  der  Macula  lutea.  Ver£ftsser  bespricht  zuerst  nach  eigenen 
Untersucbimgen  die  Form  und  Gröfse  der  Fovea  centralis,  er  weicht  in 
seinen  Angaben  zum  Teil  etwas  von  denen  der  Autoren  ab. 


268  LUteratufherieht. 

Die  Fovea  ist  eine  meist  querovale ,  oft  aber  anch  kreisrunde  Ver- 
tiefung, die  gewöhnlich  grOfser,  selten  um  ein  geringes  kleiner  ist,  als 
die  Papille.  (Gemessen  im  horizontalen  Durchmesser  von  dem  Punkte, 
an  welchem  die  Eineenkung  der  inneren  Netzhautoberfläohe  beginnt, 
1,1—2,0  mm.)  Umgeben  wird  die  Fovea  von  einer  wallartigen  Verdickung 
der  Netzhaut,  welche  am  nasalen  Bande  am  mächtigsten  ist. 

Die  Einsenkung  der  inneren  Netzhautoberfläche  vom  Bande  der 
Fovea  gegen  ihre  Mitte  erfolgt  in  Form  einer  schiefen  Ebene  unter  einem 
Winkel  von  etwa  15— 25« 

Die  Foveola  ist  eine  stark  nach  vom  konkav  gekrümmte  Fläche  von 
0,12—0,3  mm  Durchmesser  an  der  tiefsten  Stelle  der  Fovea. 

Verfasser  beschreibt  sodann  das  Verhalten  der  einzelnen  Netzhaut- 
schichten an  der  Fovea  centralis  und  deren  Umgebung. 

Es  findet  sich  am  Bande  der  Fovea  konstant  eine  Zunahme  der 
gangliösen  Schichten.  Dagegen  zeigen  die  retikulären  Schichten  keine 
Zunahme.  In  der  Mitte  der  Fovea  verschwinden  stets  die  beiden  reti- 
kulären Schichten,  manchmal  auch  die  gangliösen  (Ganglienzellen, 
Spongioblasten,  bipolare  Körner)  Schichten. 

Die  äufseren  Kömer  sind  im  Bereiche  der  Macula,  abgesehen  von 
den  zentralen  Partien  derselben,  konstant  etwas  dtUiner,  als  in  den 
benachbarten  Partien  der  Betina.  Dann  nimmt  sie  aber  gegen  die  Mitte 
der  Fovea  wieder  zu,  ganz  entsprechend  der  dort  erfolgenden  Abnahme 
der  Zapfenfaserschicht.  In  der  Mitte  der  Foveola  ist  sie  wieder  dtinner. 
Niemals  fehlt  sie  ganz. 

Die  Zapfen  in  der  Gegend  der  Macula  sind  länger  und  schlanker,  als 
die  aus  anderen  Partien  der  Betina.  Sie  erreichen  in  der  Mitte  der 
Fovea  jene  Länge,  die  die  Stäbchen  sonst  in  den  hintersten  Partien  der 
Betina  besitzen. 

Ein  besonderes  Kapitel  handelt  über  die  gelbe  Farbe  der  Macula 
lutea.  Verfasser  kommt  zu  folgendem  Besultat:  Die  gelbe  Färbung  der 
Betina,  welche  wir  als  Macula  lutea  bezeichnen,  findet  sich  auch  an  der 
dünnsten  Stelle,  am  Grunde  der  Fovea.  Sie  erscheint  uns  hier  schwächer, 
nicht  deswegen,  weil  hier  die  Färbung  geringer  ist,  sondern  weil  hier 
die  die  gelbe  Farbe  zeigende  Gehirnschicht  sehr  dünn  ist.  Die  gelbe 
Färbung  erstreckt  sich,  allmählich  abnehmend,  in  die  Umgebung  bis  gegen 
den  Band  der  Fovea  oder  noch  etwas  über  denselben  hinaus. 

Im  zweiten,  physiologischen,  Teil  werden  die  entoptischen  Erschei- 
nungen in  der  Gegend  der  Macula  lutea  behandelt.  Es  würde  hier  zu 
weit  führen,  den  vielfachen  Untersuchungen  und  Schlüssen  des  Verfassers 
zu  folgen.  D.  kommt  zu  dem  Schlufs,  dafs  die  lichtempfindenden  Stellen 
nicht  in  der  der  äufseren  Faser  schiebt  unmittelbar  anliegenden  äufseren 
Körnerschicht,  sondern  nur  in  der  Stäbchenzapfenschicht  gesucht  werden 
können. 

Das  Vorhandensein  der  gelben  Farbe  auch  im  Grunde  der  Fovea 
entspricht  auch  den  physiologischen  Thatsachen.  Die  Untersuchungen  von 
M.  SoHULTZE,  Prbyer,  Hebing  und  Sachs  haben  gezeigt,  dafs  die  gelbe 
Farbe  der  Macula  alle  homogenen  Lichter  vom  Gelbgrün  bis  zum  Violett 
absorbiert,  und  zwar  desto  stärker,  je  kleiner  die  Wellenlänge  ist. 


Litteraturbericht  269 

Der  Arbeit  sind  schöne  Abbildungen  beigegeben. 

Aus  dem  Vorhergehenden  ist  ersichtlich,  dafs  Borysiekikwioz  und 
DmuBR  mit  ihren  Ansichten  vielfach  nicht  übereinstimmen.  In  den 
Wien,  med  Blättern  hat  daraufhin  ein  mehrfacher  Wortwechsel  zwischen 
beiden  Autoren  stattgefunden,  worin  jeder  Autor  seine  Ansicht  vertritt. 
Neue  Thatsachen  werden  nicht  mehr  vorgebracht. 

Lindsat  Johnson  schildert  in  dem  ersten  Teil  seiner  mit  grolsem 
Fleiise  ausgeftLhrten  Arbeit  die  Anatomie  der  ftufsersten  Schichten  der 
Retina.  Der  Arbeit  sind  zehn  sehr  gute  Mikrophotographien  nach  histo- 
logischen Schnitten  beigegeben.  Die  Ansichten  und  Schilderungpen  des 
Autors  weichen  in  wesentlichen  Punkten  von  dem  Hergebrachten  ab. 

Die  Qlasmembran  der  Chorioidea  bildet  die  Q-renze  der  Ohorioidea 
nach  der  Betina  zu.  Auf  diese  folgt  nach  innen  zu  ein  schmaler  Lymphraum 
der  also  nach  aufsen  zu  von  der  Glasmembran,  nach  innen  zu  von  einer 
besonderen  Membran  begrenzt  wird,  die  Verfasser  die  Membrana  terminans 
retinae  nennt.  Darauf  folgt  die  hexagonale  Pigmentschicht,  welche  innig 
mit  der  Chorioidea  verwachsen,  entwickelungsgeschichtlich  jedoch  zur 
Betina  gehört.  Verfasser  unterscheidet  in  ihr  zwei  Übereinanderliegende 
Schichten:  1.  die  gelatinöse  Schicht.  Johnson  bekämpft  die  ge* 
wohnliche  Ansicht,  dafs  die  hexagonale  Pigmentschicht  aus  sechseckigen^ 
mit  Kernen  versehenen  Zellen  bestehe,  nirgends  und  niemals  sind  Zell- 
grenzen zu  sehen,  er  glaubt  deshalb,  dafs  es  eine  gelatinöse  Matrix  sei, 
in  der  die  Pigmentkömehen  um  Kugeln  herum  in  sechseckiger  Form 
eingelagert  seien;  die  Kugeln  sind  keine  Zellkerne,  sondern  Gebilde, 
welche  mit  dem  Sehen  in  enger  Beziehung  stehen.  Die  Kugeln  liegen 
überall  gleich  weit  voneinander,  in  der  Macula  lutea  liegen  sie  sehr  dicht^ 
80  dafs  sie  sich  fast  her  Uhren.  ^Nach  innen  zu  folgt  2.  die  Schicht  der 
Pigmentkristalle.  Es  sind  dunkle  Kristalle  von  Pigment,  welche, 
zu  Klumpen  geballt,  in  einem  feinem  Netzwerk  frei  beweglich  liegen. 
Dieses  Netzwerk  geht  von  der  St&bchenschicht  aus,  dringt  bis  in  die 
gelatinöse  Schicht  ein  und  endet  mit  kolbigen  Anschwellungen  in  der 
Mitte  der  oben  genannten  Kugeln.  In  dieser  kolbigen  Anschwellung 
in  den  Kugeln  ist  wohl  das  letzte  Endglied  der  Sehnerven- 
fasern zu  suchen.  Grbbff. 

1.  F.  Schanz.  Ein Hornhantmlkroskop.  Zehendera  Manatsblf.Augmheükde, 

Bd.  XXXL  S.  99-103.  (1893.) 

2.  —  Ein  Homhantmikroskop  nnd  ein  Netzhautfemrohr  mit  konaadaler 
Beleuchtimg.    Arch,  f.  Augenlieiüode.  XXXI.  3.  S.  265—272.  (1896.) 

Bei  der  Benutzung  der  bisherigen  Homhautlupen  und  -mikroskope 
besteht  ein  erschwerender  Umstand  darin,  dafs  der  Beobachter  gleich- 
zeitig auch  für  die  richtige  Beleuchtung  der  betrachteten  Stelle  sorgen 
moCs.  In  der  ersten  Abhandlung  wird  uns  nun  ein  Homhautmikroskop 
von  10 — SOfacher  Vergröfserung  beschrieben,  das  an  einem  kreisförmigen 
Bügel  eine  Bohre  trägt,  welche  in  ihrem  Innern  eine  elektrische  Glühlampe 
und  ein  Linsensystem  enthält.  Die  Röhre  kann  an  dem  Bügel  ver- 
schoben werden,  so  dals  sie  mit  der  Axe  des  Mikroskopes  Winkel  von 
20 — 60^   einschliefst;    stets  aber  ist   sie  so  gerichtet,    dafs  der  aus  ihr 


270  Litteratwrbericht 

heraustretende  Beleuchtungskegel  die  Axe  des  Mikroskopes  in  dem- 
jenigen Punkte  schneidet,  auf  welchen  dieses  eingestellt  ist.  Dadurch 
ist  der  Beobachter  der  Sorge  für  die  richtige  Beleuchtung  der  be- 
trachteten Homhautstelle  Überhoben.  Er  kann  sie  durch  Verschiebung 
des  Linsensystems  in  der  Beleuchtungsröhre  verstärken  und  verringern 
und  kann  auch  die  Bichtung  der  Incidenz  innerhalb  der  genannten 
G-renzen  variieren.  Für  viele  Fälle  ist  es  aber  wünschensv^ert,  dafs  die 
Beleuchtung  genau  in  der  Richtung  auffällt,  in  welcher  die  Beobachtung 
stattfindet,  also  mit  dem  Mikroskop  konaxial  ist.  In  der  zweiten  Ab- 
handlung wird  nun  eine  von  dem  Verfasser  und  S.  Czapski  konstruierte 
Modifikation  des  eben  erwähnten  Apparates  beschrieben,  welche  auch 
dieses  ermöglicht.  Zu  dem  Zwecke  ist  das  Beleuchtungsrohr  parallel 
und  dicht  neben  dem  Mikroskope  angebracht.  Ein  rechtwinkliges  gleich- 
seitiges Prisma  wirft  durch  totale  Beflexion  die  austretenden  Strahlen 
auf  einen  planen,  durchbrochenen  und  um  45*^  gegen  die  Axe  des  Mikro- 
skopes geneigten  Spiegel,  dessen  Öffnung  sich  gerade  vor  dem  Objektiv 
befindet.  Somit  fallen  die  Axen  des  Beleuchtungskegels  und  des  Mikro- 
skopes zusammen.  Es  ist  nun  ersichtlich,  dafs  man  dieses  selbe  Prinzip 
auch  zur  Betrachtung  der  lebenden  Netzhaut  verwenden  kann,  sobald 
man  an  Stelle  des  Mikroskopes  ein  Femrohr  setzt,  dessen  Einstellung 
dann  auch  zugleich  die  Bestimmung  des  Refraktionszustandes  des  unter- 
suchten Auges  ermöglicht.  Eine  ausführlichere  Beschreibung  dieses 
Netzhautfemrohres  wird  noch  nicht  gegeben,  da  die  vorliegende  kurze 
Mitteilung  nur  zur  Wahrung  der  Priorität  dienen  soll. 

Arthur  König. 

S.  Epstbin.  Ober  ein  neues  Perimeter.  Zeitsdfr.f.ImtnnHentenkde.  Jahrg.  XV. 
S.  400-402.  (1895.) 
Die  bisher  konstruierten  Perimeter  haben  den  Mangel,  dafs  es  der 
Versuchsperson  oftmals  schwer  wird,  den  Fixationspunkt  dauernd  fest- 
zuhalten und  die  seitlich  zur  Prüfung  gestellten  Objekte  nicht  mit  dem 
Ort  des  deutlichsten  Sehens  aufzusuchen.  Um  diesen  Übelstand  zu  beseitigen, 
ist  das  von  dem  Verfasser  konstruierte  Perimeter  fQr  den  Gebrauch  im 
Dunkeln  bestimmt.  Das  Fixationsobjekt  wird  durch  ein  kleines  Licht 
erzeugt,  das  durch  eine  die  Drehungsaxe  des  Apparates  bildende  Röhre 
hindurehscheint.  Der  drehbare  Halbkreis  hat  einen  Schlitz,  in  dem  sich 
zwei  mit  Beflektoren  versehene  elektrische  Glühlämpchen  verschieben 
lassen.  Die  vordere  Seite  jedes  Beflektors  ist  durch  einen  sog.  photo- 
graphischen Momentverschlufs  abgesperrt  und  kann  aulserdem  auch  noch 
mit  farbigen  Gläsern  und  Diaphragmen  von  verschiedener  Gröfse  ver- 
deckt werden.  Letztere  sind  auch  je  nach  Bedarf  bei  dem  Fixations- 
zeichen  anzubringen.  Der  Untersucher  kann  nun  im  peripheren  Gesichts- 
felde des  Untersuchten  plötzlich  farbige  Punkte  von  verschiedenem 
Durchmesser  aufleuchten  und  wieder  verschwinden  lassen.  Um  eventueller 
Simulation  auf  die  Spur  zu  kommen ,  ist  es  möglich ,  dafs  dieses  Auf- 
leuchten je  nach  Belieben  mit  oder  ohne  Geräusch  geschieht. 

Arthur  König. 


Litteraturbericht  27 1 

S.  Be&obl.    Über  die  Empfindliclikeit  der  Netshantperlpherie  für  inter- 
mittierende Beiinng.    Diasert  Breslau  1895.  36  S. 

Der  experimentelle  Teil  dieser  Arbeit  fördert  au/ser  einer  Bestätigung 
der  sattsam  bekannten  Thatsaobe,  dafs  die  Peripherie  ftlr  intermittierende 
Beizung  empfindlicher  sei  als  das  Zentrum,  wenig  von  Bedeutung  zu 
Tage;  höchstens  sind  noch  einige  Angaben  über  die  Lage  des  Empfind- 
liohkeitsmazimums  auf  dem  nasalen  und  temporalen,  dem  oberen  und 
unteren  Teile  der  Peripherie  und  über  die  EmpfiDdlichkeit  fUr  ver- 
schiedene Farben  erwähnenswert.  Ein  Versuch,  die  Anzahl  der  Inter- 
missionen  festzustellen,  bei  welcher  in  den  verschiedenen  Fällen  die 
Empfindlichkeitsgrenze  erreicht  wurde  —  meines  Erachtens  das  einzige 
Mittel  zu  einer  exakten  Messung  der  einschlägigen  Verhältnisse  —  ist 
vom  Verfasser  gar  nicht  gemacht  worden,  wäre  auch  bei  der  unvoll- 
kommenen Anordnung  der  Experimente  erfolglos  geblieben.  Verfasser 
rechtfertigt  diesen  Mangel  an  Exaktheit  damit,  dafs  komplizierte  Vor- 
kehrungen und  Apparate,  welche  das  Auge  unter  Bedingungen  bringen, 
wie  sie  bei  dem  gewöhnlichen  Sehakte  nicht  vorkommen,  die  Natürlich- 
keit, und  man  möchte  sagen  Lebenswahrheit  (!)  der  Versuche  beeinträch- 
tigen, ein  Grundsatz,  der  sehr  bequem  ist«  aber  das  Wesen  des  Experi- 
ments völlig  verkennt.  Vor  allem  leidet  jedoch  die  Versuchsanordnung 
von  vornherein  an  einem  Hauptmangel,  der  eine  besondere  Erwähnung 
verdient,  weil  er  einerseits  auf  die  theoretische  Bewertung  der  B^sultate 
von  schädigendem  Einflüsse  ist,  und  weil  andererseits  Wiederholungen 
desselben  naheliegen,  wenn  nicht  mit  Nachdruck  auf  ihn  hingewiesen 
wird.  Es  ist  dies  die  Benutzung  von  rotierenden  Scheiben  zur 
Messung  der  Empfindlichkeit  für  intermittierende  Beize.  Schon  einmal, 
in  meinem  Beferat  über  die  (dem  Verfasser  unbekannte)  wertvolle  Arbeit 
Masses  (diese  Zeitschr,  VII.  S.  214)  deutete  ich  diese  Nachteile  an.  Wenn 
eine  Scheibe  mit  verschiedenfarbigen  Sektoren  an  meinem  Auge  vorüber- 
streicht, se  nehme  ich  wahr:  1.  an  ein  und  derselben  Stelle  der  Netzhaut 
einen  beständigen  Helligkeitswechsel,  2.  eine  Konturenbewegung,  d.  h. 
die  Verschiebung  eines  Bildes  über  verschiedene  Netzhautpartien  hin. 
Was  hat  nun  Bebgbl  gemessen  ?  Die  Empfindlichkeit  für  den  Helligkeits- 
wechsel? Oder  ftir  die  Bewegung?  Oder  beides?  Er  selbst  wird  sich 
hierüber  nicht  ganz  klar.  An  mehreren  Stellen  spricht  er  von  der 
pgröfseren  Empfindlichkeit  der  Netzhautperipherie,  fClr  ,Bewegungen*, 
ftlr  intermittierende  Reize**,  als  ob  dies  dasselbe  wäre;  er  braucht  oft 
für  sein  Untersuchungsobjekt  den  xmglücklichen  Terminus  „Bewegungs- 
empfindung**, zieht  auch  die  AuBERTSchen  Untersuchungen  Über  diesen 
Gegenstand  herbei,  die  ein  ganz  anderes  Problem  behandeln  (nämlich 
die  langsamste  wahrnehmbare  Lokomotion,  während  es  sich  hier  um 
die  schnellste  wahrnehmbare  Aufeinanderfolge  handelt). 

In  seinem  theoretischen  Teile  freilich  sucht  B.  zu  beweisen,  dafs 
in  der  That  beide  Wahmehmimgselemente,  die  Helligkeitsänderung  an 
einer  bestimmten  Netzhautstelle  und  die  Verschiebung  über  eine  ganze 
Netzhautstrecke,  zusammenwirkten,  um  die  höhere  Empfindlichkeit  der 
Peripherie  herbeizuftLhren. 

Der  erste  Teil  dieses  theoretischen  Exkurses  ist,   wenn  auch  rein 


272  LitteraturbenetU. 

hypothetisch,  so  doch  immerhin  diskutabel:  die  leichtere  Dissimilation 
nne  Assimilation  der  Sehsubstanz  in  den  in  der  Peripherie  dominierenden 
St&bchen  bewirke  eine  kürzere  Dauer  der  Nachwirkung  des  einzelnen 
Beizes  und  daher  eine  nicht  so  leicht  eintretende  Verschmelzung 
successiver  Eindrücke.  Der  zweite  Teil  dagegen  ist  völlig  verfehlt:  weil 
in  der  Peripherie  die  Sehzellen  viel  weniger  dicht  gelagert  sind  und 
zudem  „nur  sieben  spezifische  Sehzellen  durch  eine  einzige  Nervenfaser 
mit  dem  Bewufstseinsorgan  in  Verbindung  stehen'',  soll  die  Verschmelzung 
der  successiven  Eindrücke  erschwert  sein.  Warum?  «Hier  wird*',  sagt 
Verfasser,  „die  Bewegung  des  Objektes  schon  eine  viel  schnellere  sein 
können,  um  von  dem  einen  durch  eine  Nervenfaser  mit  dem  Gehirn  in 
Verbindung  stehenden  lichtperzipierenden  Element,  bezw.  der  einen 
Gruppe  von  Elementen  zur  anderen  zu  gelangen.^  Sehr  richtig;  aber 
was  bat  der  längere  Weg  von  einem  „Empfindungskreis"  zum  anderen 
mit  unserem  Problem  zu  thun?  Mögen  die  Beizungen  zweier  benach- 
barter Empfindungskreise  noch  so  schnell  aufeinanderfolgen,  ja  sogar 
simultan  geschehen,  sie  werden  stets  zwei  gesonderte  Eindrücke  in  uns 
erwecken.  Aber  hören  wir  weiter:  „Es  muTs  also  in  den  peripherischen 
Teilen  der  Netzhaut  von  dem  Bilde,  welches  die  rotierende  Scheibe 
erzeugt,  ein  gröfserer  Baum  durchlaufen  werden,  um  eine  einzige  Wahr- 
nehmung hervorzurufen;  daher  wird  bei  schneller  Bewegung  die  Wahr- 
nehmung von  gesonderten  Eindrücken  in  der  Peripherie  besser  und  deut- 
licher stattfinden,  als  im  Zentrum.^'  Dies  „daher'*  ist  höchst  merk- 
würdig; denn  gerade  die  entgegengesetzte  Folgerung  wäre  richtig:  je 
gröfser  das  Gebiet,  dessen  Eindrücke  zu  einer  Wahrnehmung  sich 
kombinieren,  um  so  geringer  die  Geschwindigkeit,  welche  notwendig  ist, 
um  die  daran  vorbeistreichenden  Beize   zur  Verschmelzung  zu  bringen. 

Ich  bin  auf  die  eigenartigen  Gedankensprünge  des  Verfassers  des- 
wegen näher  eingegangen,  um  zu  zeigen,  dafs  auch  hier  wieder  der 
Versuch,  der  Netzhautperipherie  ein  spezifisches  Vermögen  für  die 
Wahrnehmung  von  Bewegungen  zuvindizieren,  miisglückt  ist.  EEatte 
sich  in  einem  anderen  Falle  (siehe  diese  ^Zeitschrift  VII.  S.  349  u.  362)  die 
Irradiation  als  zureichende  Ursache  von  Erscheinungen  bewiesen,  die 
man  für  die  Existenz  besonderer  „Bewegungsempfindungen"  in  der  Neta^ 
hautperipherie  in  Anspruch  nahm,  so  haben  wir  für  vorliegendes 
Problem  in  einer  gröfseren  Empfindlichkeit  der  Peripherie  ftir  Hellig- 
keitswechsel nicht  nur  einen  hervorragenden,  sondern  den  alleinigen 
Grund  aller  bei  intermittierenden  Beizen  beobachteten  Erscheinungen 
zu  sehen.  Und  diese  gröfsere  Empfindlichkeit  beruht  wohl,  darin  stimme 
ich  mit  Bbrobl  überein,  auf  der  schnelleren  Ermüdung  und  Erholung 
jener  Betinagebiete. 

Noch  ein  verfehlter  Erklärungsversuch  B.'s  sei  in  Kürze  richtig 
gestellt.  Wenn  die  Umdrehungsgeschwindigkeit  der  Scheibe  schon  so 
grofs  war,  dafs  die  Sektoren  völlig  oder  fast  völlig  verschmolzen  waren, 
machte  sich  in  dem  Moment,  da  er  den  Blick  wandte,  d.  h.  zwischen 
zentralem  und  indirektem  Sehen  wechselte,  eine  eigentümliche  Er- 
scheinung geltend,  die  ich  übrigens  aus  eigener  Erfahrung  durchaus 
bestätigen  kann.     „In  diesem  Augenblick^,  sagt  B.,  „tauchte  der  farbige 


UtterahtrbmcM.  273 

Sektor  scharf  gesobieden  toxi  seiner  Umgehung  ftVrmlioh  wie  ein  Blitiä 
auf  .und  verschwand  dann  plötzlich  wieder,**  £r  erklärt  dies  damit,  dafs 
„der  Verhrauch  der  Sehsahstanz  an  einer  Stelle  in  der  Nachharsohafb 
einen  stärkeren  Ersatz  hervorruft  Aber  der  wahre  Grand  liegt  ja 
doch  so  viel  n&her!  Die  Verschmelzung  h&ngt  ab  nicht  von  der 
absoluten  Umdrehungsgeschwindigkeit  der  Scheibe,  sondern  von  der 
Geschwindigkeit,  mit  der  sich  die  Scheibe  gegen  das  Auge  verschiebt. 
Diese  Verschiebung  ist  aber  in  dem  Moment,  da  sich  das  Auge  bewegt, 
fi!lr  gewisse  Stellen  der  Scheibe  eine  viel  geringere,  weil  das  Auge 
mit  ihnen  mitgeht!  Daher  in  diesem  Moment  der  viel  deutlichere 
Eindruck  der  einzelnen  Sektoren!  Herr  Bbbobl  wird  auch  finden,  daik 
jenes  Phänomen  erstens  nur  bei  verh&ltnism&lkig  schnellen  Blick- 
Wendungen  und  zweitens  nur  an  derjenigen  Seite  der  Scheibe  auftritt» 
deren. Bewegung  mit  der  des  Auges  gleichgerichtet  ist. 

W.  Stkbn  (Berlin). 

•/ 
B.  Pbrua.   Kboll*s  stereoskopische  Bilder.   26  färb.  Taf.  mit  Gebrauchs- 
■    aikweisung.     Dritte  verb.  Aufl.    Hamburg  u.  Leipzig.     Leopold  Voss. 

1895. 
Das  abermalige  Erscheinen  einer  neuen  Auflage  dieser  stereio- 
skopischen  Bilder  spricht  für  die  groüse  Verbreitung,  die  sie  gefanden 
haben.  Sie  sind  bestimmt  fQr  den  Gebrauch  zeitweilig  schielender 
Kinder,  welche  durch  die  mit  den  Tafeln  vorzunehmenden  Übungen  die 
fehlerhafte  Stellung  ihrer  Augen  allmfthlich  dauernd  korrigieren  sollen. 
fei  der  neuen  Auflage  war  der  leitende  Gesichtspunkt  im  wesentlichen 
doTi  den  Glhrieb  zur  stereoskopischen  Verschmelzung  der  Bildh&lften  mehr 
als  bisher  zu  verst&rken.  Diesem  Zwecke  dienen  12  neae  Tafeln,  welche 
teils  Bilder  mit  kongruenten  Haupt-  und  inkongruenten  Nebenfiguren, 
teils  nach  demselben  Grundsatze  dargestellte  Schriftvorlagen  enthalten. 
Ein  neu  hinzugekommenes  Bild  ermdglicht  eine  Veränderung  des  Ab- 
Standes  seiner  Hälffcen.  Abthub  König. 


J.  BiGH.  Ewald.     Zar   Physiologie   des   Labyrinthes.     IV.   Mitteilung. 
.    Die  Beziehiingen  des  Orolkhims  lum  Tonnslabyrinth.  Teilweise  naoh 

Versuchen  von  Ida  H,  Htdb.    Pflüg  er  s  Ärch.  f,  d.  ges.  Physiol  Bd.  60. 

S.  492-606.  (1896.) 
Nach  der  einseitigen  Exstirpation  des  „Tonuslabyrinthes"  (vgl.  die 
früheren  Arbeiten  des  Autors)  bei  Tauben  tritt  eine  typische  Köpf- 
verdrehung auf.  Dieselbe  beginnt  nicht  sofort  nach  der  Operation,  und 
Endet  nicht  beständig^  sondern  nur  anfallsweise  statt.  Die  Ursache 
hierftlr  ist  die,  dals  das  Tier  sich  seinem  abnormen  Zustande  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  adaptiert  Unter  Adaptation  versteht  Verfasser 
hierbei  „diejenigen  Vornahmen  des  Tieres,  welche  den  Zweck  haben, 
die  eingetretene  Störung  zu  kompensieren,  und  bei  welchen  nur  solche 
Mittel  zur  Anwendung  kommen,  welche  in  gleicher  Weise  auch  vom 
npnnalen  Tiere  gebraucht  werden**«    Femer  übt  der  .Funktionsausfall 

SSellMltrift  Ar  Ptyeholosie  X.  18 


27^  LiUeratmberieht 

deiB  'Tonuslabyrinthes  nicht  sofort  seine  ganze  Wirkung  ans,  sondern 
-wird  diirch  einen  nur  allmählich  abnehmenden  Beiaszostand  des  OctaVm«^ 
Stammes  selbst  teilweise  ausgeglichen.  Schliefslich  hören  die  Eopf- 
verdrehungen  ganz  wieder  auf,  indem  sich  „allmählich  die  Art  der 
InnerTation  auch  für  die  willkärlichen  Muskelbewegungen  ändert,  so 
dafii  die  fehlende  Einwirkung  des  Tonuslabyrinthes  auch  bei  willkOr« 
liehen  Anstrengungen  ausgeglichen  wird^.  Nach  den  unter  Leitung  des 
Y^assers  yov  Htdb  ausgeführten  Untersuchungen  zu  schlieXIsen,  ist  es 
da3  Grofshim,  yon  dem  solche  „Ersatzerscheinungen"  vermittelt  werden. 
Denn  bei  grofshirnlosen  Tauben  dehnte  sich  die  Epoche  der  Kopf- 
verdrehungen  bis  zum  Tode  aus,  und  überhaupt  werden  alle  Ersatä« 
erscheinungen  deutlich  Termindert,  wenn  auch  gemäfs  der  geringen 
Ausbildung  der  Grofshimzentren  nur  in  geringem  umfange. 

SCHABFXB  (BoStOOk). 

« 

J.  Bebnbtein.  über  das  angebliche  Hören  labyrinthloser  Tanben.  Pflügers 
Arch.  f,  d.  ges,  Physiol  Bd.  61.  S.  113—122.  (1896.) 
Aufgabe  der  Untersuchung  ist  es,  das  „angebliche  HOren  labyrinth- 
loser Tauben"  zu  widerlegen.  Im  Anschlüsse  an  seine  bereits  früher 
geäufserten  Bedenken  giebt  Verfasser  zunächst  seiner  Überzeugung 
Ausdruck,  dafs  Ewald  und  Wündt  ihre  Hörversuche  an  labyrinthlosen 
Tauben  zu  einer  Zeit  angestellt  hätten,  wo  der  Acusticus  bereits  auf- 
steigend degeneriert  war.  Aulserdem  ist  der  SchalierzeugpmgsmethodA 
dieser  Autoren  der  Vorwurf  zu  machen,  dalb  höchst  wahrscheinlich 
Tasterregungen  —  nämlich  Mitschwingen  der  Federn  —  mit  ins  Sptel 
kamen;  eine  Fehlerquelle,  welche  Verfasser  in  seinen  Schuisyersuchen 
ausgeschlossen  hatte. 

Als  definitiv  entscheidend  führt  B.  folgenden  Versuch  an.  Wenn 
man  einer  normalen  Taube  einen  längeren  Gummischlauch  in  den  Gehör- 
gang einführt  und  durch  diesen  Schlauch  dem  Ohre  Töne  oder  Geräusehe 
zuleitet,  so  reagiert  das  Tier  prompt,  eine  labyrinthlose  unter  den  gleichen 
Umständen  aber  nie.  Dagegen  reagieren  sowohl  operierte,  wie  un- 
operierte  Tauben  gleich  gut,  wenn  man  gewisse  Schallqualitäten  in 
solcher  Nähe  erzeuget,  dafs  die  Haut  von  den  Vibrationen  getroffen 
werden  kann.  Daher  glaubt  Verfasser  „ erwiesen  zu  haben,  dafs,  wena 
bei  labyrinthlosen  Tauben  irgend  welche  Schallreaktionen  auftreten, 
diese  nicht  durch  den  Stumpf  des  HömerTony  sondern  durch  sensible 
Organe  der  Haut  vermittelt  werden.**  Schabfer  (Bestock). 

E.  Saübbbsohwarz.  Interferenzvenmcho  mit  VokalkläagtA.  Pfiüg^rB 
Ardi,  f.  d.  ges,  Physiol  Bd.  61.  S.  1-81.  (1896.) 
Nach  geschichtlichen  Vorbemerkungen  berichtet  Verfasser  über 
seine  eigenen  Versuche,  welche  sich  eng  an  frühere  Untersuchungen 
▼on  Gbützubb  anschliefsen.  Letzterer  stellte  bereits  früher  Versuehe 
darüber  an,  was  aus  einem  Vokal  wird,  wenn  bestimmte  Teiltöne  aus 
ihm  abgeschwächt  oder  ausgeschaltet  werden,  und  benutate  das«  aueraft 
den  bekannten  Apparat  von  NöBBSiiBEBO,  dann  einen  einfacheren  tob 
andttrer  Konstruktion,  in  welchem .  der  Ton  durch  seine  eigenea,  aus 


lÄtteraiiiiHrberieht  275 

6iii«jr¥era€()ilo8senQnSeitonrölire3ttrükgeworfenen  Beflexwellen  g^sckwftebt 
besw.  vernichtet  wird.  Für  die  Versuehe  des  Verfassers  irarde  die  Vor* 
riobtoog  nocli  besonders  verToUkonunnet.  Als  Besultat  der  gsAie« 
TJntersacbiiBg  ergab  sieb  folgendes.  Die  Wegnahme  des  Qrundtones 
und  der  ungeradzabligen  Teiltöne  schädigt  die  Vokale  in  verschiedener 
Weise:  A  am  wenigsten,  17  am  meisten,  die  anderen  in  mittlerem  Grade. 
Die  Seh&digang  nimmt  zu  mit  der  Höhe,  in  der  der  Vokal  gesangen 
wird.  Die  Auslöschung  der  (HEBMAimschen)  Formanten  ist  ebenfalls  f  Qv 
alle  Vokale  von  grofsem,  aber  nicht  fUr  alle  von  gleichem  Einflasse. 
Danaeh  müssen  wohl  für  die  Charakterisierung  der  Vokale  neben  dem 
absoluten  Moment  auch  noch  gewisse  andere  (relative)  Momente  an- 
genommen werden,  die  bei  einigen  Vokalen  in  stärkerer,  bei  anderen  in 
schwächerer  Weise  ihren  bestimmenden  Einflufs  ausüben«  Hier  wäre 
asu  achten  „auf  das  Stärkeverhältnis  des  Grundtones  zu  einem  oder 
mehreren  seiner  Obertöne,  oder  auf  das  Stärke  Verhältnis  verschiedener 
Obertöne  zu  einander,  das  sog.  Verstärkungsmoment,  oder  ihre  absolute 
Anaabl,  oder  schlieiSilich  auf  die  mehr  oder  weniger  grofse  musikalische 
Entfernung  der  Obertöne  vom  Grundtone  und  voneinander.*' 

SCHABFBB  (BoStOOk). 

VicaoR  Urbaktscbitbch.  Über  Hörttbnngen  bei  Taabstnmmheit  und  bei 
Brtaabiing  im  späteren  Lebensalter.  Wien,  TJrban  ft  Schwarzenberg. 
1896.  136  S. 
Verfasser  hat  wiederholt  in  der  medizinischen  Fachpresse,  zuletzt 
in  der  Sektion  für  Ohrenheilkunde  der  66.  Versammlung  deutscher  Natur- 
forseher  und  Ärzte,  von  der  Möglichkeit  gehandelt,  durch  methodische 
Übungen  die  Hörfähigkeit  bei  hochgradig  Schwerhörigen  zu  erhöhoi. 
Im  vorliegenden  Werk  finden  wir  die  in  den  versehiedenen  Publikationen 
zeyratreuten  Angaben  einheitlich  zusammengefaXst,  durch  neue  Beitrl^e 
erweitert  und  anhangsweise  mit  einem  kurzen  Auszug  der  Eiranken- 
geechiohten  versehen,  der  die  vorausgehenden  Ausführungen  au  verdeut- 
lichen bestimmt  ist.  Den  leitenden  Gedanken  der  methodischen  Hör- 
Übungen  präzisiert  Verfasser  folgendermalsen :  „Wodurch  könnte  aulaer 
den  bisher  gewöhnlich  angewendeten  Mitteln  die  akustische  Thätigkeit 
direkt  angeregt  werden?  Nun  ist  ja  doch  der  grofse  EinfloÜB  bekannt, 
den  die  Massage  und  methodische  Körper  Übungen  auf  Muskel-  und  Nerven* 
erkrankungen  zu  nehmen  vermögen,  und  es  liegt  daher  auch  der  Gtodanke 
nahe,  ob  nksht  bei  manchem,  sonst  nicht  weiter  behebbaren  Sehallleitungs- 
oder  Schallperzeptionsleiden  durch  eine  der  Wirkungsweise  des  erkrankten 
Organs  in  erster  Linie  zukommende  Art,  nämlich  durch  eine  Hörgym- 
naalik,  die  Thätigkeit  des  mangelhaft  funktionierenden,  jo,  selbst  toü* 
weise  defekten  Hörorgans  gesteigert  werden  könne.'*  Günstige  Erfolge 
haben  die  methodischen  Hörübungen  namentlich  bei  Ertaubung  durch 
MiMDgitis  cMrebro-spinalis  ergeben,  unter  den  durch  Seavlatina  und 
Diphtherie  ertaubten  Personen  erwiesen  sich  bei  einigen  die  akustischen 
Übvngen  als  wirkungslos.  Betrefb  des  praktischen  Wertes  der  Hör- 
übungen kommt  zunächst  deren  Einflufs  auf  die  Aussprache  in  Betradlit. 
Wätffead  die  Sprache  der  TaubsiomaMn,  die  vom  Munde  ablesend  reden 

18* 


276  Läagraturbenekt. 

gelernt  haben ,  einen  oft  unangenehm  harten ,  jeder  Modulation  entbeh- 
renden Charakter  tr&gt,  nimmt  die  Stimme  der  durch  Hörübungen  beein- 
fluDsten  Taubstummen  häufig  den  normalen  Klangcharakter  an,  so  dafs 
dieselben  auch  von  fremden  Personen  ohne  Mühe  verstanden  werden 
können.  Femer  ist  es  durch  eine  Verbesserung  des  Gehörs  auch  leicht, 
„die  Taubstummen  mit  Vokalgehör  allm&hlich  an  den  Dialekt  zu  ge- 
wöhnen, der  bei  der  ländlichen  Bevölkerung  die  Hanptschwierigkeit  far 
den  mündlichen  Verkehr  mit  den  Taubstummen  bildet**.  Schlieislich  ist 
noch  hervorzuheben,  dals  jede  noch  so  geringe  Besserung  des  Hörver- 
mögens  im  gewöhnlichen  Verkehr  von  groüsem  Werte  ist,  da  hierdurch 
manche  Gefahren  vermieden  werden  können,  die  der  körperlichen  Sicher- 
heit der  Taubstummen  im  öffentlichen  Leben  drohen. 

Theodor  Hellbr  (Wien). 


Fb.  Kibsow.  üntenrachungan  über  Temperatarempflndungen.  Erste  Mit- 
teUung.    Phüoscph.  Stud,    XI.  1.  S.  135—145.    (1895.) 

Jene  Bichtung  der  Sinnesphysiologie,  welche  bestrebt  ist,  das 
Gesetz  der  spezifischen  Sinnesenergien  in  extremer  Weise  und  speziell 
auch  für  die  einzelnen  Empfindungsqualitäten  innerhalb  eines  Sinnes 
durcluniführen,  kann,  ob  sie  gleich  zahlreiche  und  bedeutende  Vertreter 
zählt,  doch  heute  nicht  als  die  unbedingt  herrschende  bezeichnet  werden. 
Es  ist  vor  allen  Wüitdt  und  seine  Schule,  welche  sich,  bei  Anerkennung 
des  richtigen  Kernes  in  dem  Satze  von  den  spezifischen  Sinnesenergien, 
den  modernen  Umgestaltungen  und  Erweiterungen  jener  Lehre  gegen- 
über vorsichtig  zurückhaltend,  teilweise  auch  ablehnend  verhalten  und 
dadurch  ein  wirksames  Gegengewicht  gegen  jene  in  der  That  oft  zu 
weit  gehenden  Bestrebungen  gebildet  haben.  Von  besonderem  Interesse 
ist  es  daher,  wenn  jetzt  gerade  von  dieser  Seite  diejenigen  Teile  der 
Sinnesphysiologie  eingehende  Berücksichtigung  finden,  welche  für  die 
Klärung  der  Fragen  der  spezifischen  Energie  mehr  Aussieht  bieten,  als 
die  bisher  mit  besonderer  Vorliebe  behandelten  beiden  höchsten  Sinne; 
ich  meine  die  niederen  Sinne,  insbesondere  den  Geschmacks-  und  den 
Temperatursinn,  über  welche  Fr.  Kibsow  schon  einige  wertvolle  Ab- 
handlungen geliefert  und  weitere  in  Aussicht  gestellt  hat. 

Die  oben  genannte  Schrift  über  Temperaturempfindungen  stellt 
sich  als  erstes  Glied  einer  Beihe  diesen  Gegenstand  betreffender  Ab- 
handlungen dar.  Sie  bringt  zunächst  im  wesentlichen  eine  Bestätigung 
der  BLiz-'GoLDsoHsiDEBschen  Besultate.  Kiesow  findet  die  Annahme 
getrennter  Empfindungspunkte  durchaus  bestätigt  und  konnte  deren 
Konstanz  über  längere  Zeiten  hin  (bis  zu  iVt  Monaten  bis  jetzt)  bestätigien. 
Femer  fand  Kibso'w  wie  Goldscheideb  zwischen  den  eigentlichen  S^te- 
und  Wärmepunkten  Zonen,  in  denen  ein  intensiver  Temperaturreniz  zwar 
anfangs  nicht  empfunden  wird,  allmählich  aber  doch  zur  Wahmehmiüig 
gelangt,  wofür  eine  befriedigende  Erklärung  noch  nicht  gegeben  Werden 
kimnte.     •..■■>:  r  >  ^ 

'    Die  Frage  niach  dei^  spezifischen  Natur  der  Tempevaturp«n:kte- bejÄht 


LiUeratufheneht.  277 

delr  Yerfaflser,  d»  er  die  betreffetiden  Punkte  auf  inadäquate  BeLse 
(Dtujck  mit  Hblzstäbclies,  Nadelstioli,  faradisehe  B^izting)  mitdeTihaeii 
spedfisolien  Empfindung  reagieren  sah.  Doch  waren  diese  Versuche  mit 
Schwierigkeiten  verknüpft,  sie  gaben  oft,  namentlich  anfangs,  un:^ 
befriedigende  Besultate;  es  gehörte  längere  Übung  dassu,  um  die  spesit 
fische  Empfindung  durch  inad&quate  Beizung  auszulösen.  . 

Es  wäre  von  Interesse,  wenn  Herr  Kissoir  über  diese  Yersucihe: 
noch  näheres  mitteilen  wttx*de|  speziell  darüber,  ob  die  Versuchspersonell 
über  die  bei  der  inadäquaten  Beizung  ;bu  erwartenden  Empfindongenf 
5intenichtet  waren  oder  nicht.  Referent  hat  ganz  ähnliche  Unter* 
su^hungen  in  gr.oDser  Zahl  angestellt  und  dabei  Gelegenheit  gehabt,  den 
ungeheuren  Einfinfs  der  (unbewufsten  und  Unbeabsijohtigten)  Suggeotloa 
und  Autosuggestion  auf  derartige  Urteile  kennen  zu  leimen.'  Besultate 
reiner  Selbstbeobachtung  ohne  weitere  Kautißlen  wären  hiei^  nicht  über-, 
«engend. 

Über  eine,  ofiPenbar  untör  Vermeidung  von  Suggestion  ausgeftlhrte 
Versuchsserie  an  Mr.  Jüdd  beribhtet>  der  Verfasset  näher:  es  wurden 
W  Versuche  mit  fkradischer  Beizuiig  von  Kältepunkten, ''  ebensoyiele 
an  Wärtnepünkten  genkacht;  <  hierbei .  fielen  auf  die  Kältepunkte  45,  auf 
die  Wärmepimkte  32  richtige  :Urteile.  Wegen  ;der  hietb^  und  bei  den 
Übrigen  Versuchen  mit  inadäquater  Beizung  angewandten  Vorsichts- 
:maf8]^egeln  zur  Vermeidung  uiabeabsichtigter  Beizeffekte  .mufis  auf  das 
Original  verwiesen  werden. 

.Bemerkenswert  ist  endlich,  dalb  der  Verfasser  Wärmepunkte  durch 
Käitereiz,  Kältepunkte  durch  Wärmereiz  erregen  konnte;  die  schwachen 
Beisie,  mit  denen  er  die  Pankte  aufsuchte,  lösten  :  in  vielen  Fällen  die 
^nen  inadäquate  Empfindung  aus. 

.  Kälte  auf  Wärmepunkte  appliziert,  erzeugte  niemals  Kaltidmpfinduag, 
dagegen  wurde  kaum  ein  Kältepunkt  gefunden,  der  nicht  fähig  gewesen 
wäre,  Wärme  (von  47  bis  60^  an)  zu  perzipieren.  Weitere  Untersuchungen 
übei<=  dieses  interessante  Verhalt^i  werden  in  Aussicht  gestellt.  Beferent 
kann  ^dasselbe  übrigexus  nach' früheren  eigenen  Untersuchungen  durchaus 
bestätigen,  hat  aber  daraus  den  Schlufs  gezogen,'  dafs  die  Wärmewahr» 
nehmung  nicht  in  der  Weise  punktförmig  verteilt  sei,  vne  .die  Kälte- 
Wahrnehmung.  Im  Gegensätze  zu  den  scharf  abgrenzbaren  Kältepunkten 
erscheinen  dem  Beferenten  die  Bezirke,  der  Wärmeperzeption  ungleich 
versehwommener,  teilweise  in  difihise  Verbreitung  übergehend,  wie  dies 
auch  schon  von  anderer  Seite  beschrieben  worden  ist. 

W.  Nagbl  (Freiburg). 

H.  Gbibsbach.     Über  Besiehimgan  swischen  geistiger  Brmttdiing  und 

I    Bmpfindungsvermögen   der  Haut.    Arch.  f.  Hygiene.  Bd;  24.  Heft  2. 

:S.  124— 212.   (1895.)    Auch  separat  unter  dem  Titel:  Bnergetik  und 

'  Hjgiene  des  NerTensysteais  in  der  Schale.    München  und  Leipzig. 

.    Oldenbourg.  1895.  97  S. 

:  Verfasser  beabsichtigt,  in  den  vorliegenden  Mitteilungen  einen 
Abechnitt  der  Nervenenergetik  während  des  Sohullebens  (Zu  behandeln; 
und-  empfiehlt  gleichzeitig,   derartige'  Untersuchungen  förtziAsetzen  und 


278  Litferaiwimi<^. 

dieselben  auf  alle  für  dafi  jugendliche  Alter  in  Betracht  kommenden 
EntwiökelungsBtufen,  die  bis  sum  Ende  des  17.  Lebensjahres  reichen 
und  durch  den  Eintritt  in  das  8.  und  14.  Lebensjahr  markiert  sind,  aus- 
sudehnen.  Nach  Besprechung  der  von  Mosso  und  Sikorskt  fUr  das 
Studium  der  Ermlldungserscheinungen  ausgebildeten  Methoden  und  der 
Abänderungen,  welche  das  Verfahren  Sikobskts  durch  BmuwBstnnr, 
HAmran,  Lasbk  und  KnjLBPSLnr  erfahren  hat,  bespricht  Verfasser  seine 
eigene  Methode,  die  fllr  den  ▼orliegendqn  Zweck  wesentliche  Vorteile 
bietet  und  im  ganaen  eine  Anwendung  der  Maüsbestimmung  der  WsMift- 
sehen  Empfindungskreise  auf  die  yerschiedenen  Stadien  der  Ermddung 
ist.  „Sie  fuISit  auf  der  von  mir  beobachteten,  bisher,  wie  es  scheint, 
unbekannten  Thatsache,  dafs  Himermtldung  die  8ensibilit&t  der  Haut 
herabsetzt.''  „Da  die  Aufmerksamkeit  im  Augenblicke  des  Versuches 
einen  Terkleinemden  Einflufs  auf  die  physiologischen  Empfindungskreise 
ausübt,  so  ist  es  sehr  begreiflich,  dafs  geistig  ermüdete  Personen,  die 
mit  Bunehmender  Abspannung  immer  weniger  Aufmerksamkeit  besitzen, 
eine  entsprechende  VergrOikerung  der  physiologischen  Empfindungskreise 
seigen.  Daher  liegt  in  der  PrtLfung  des  Empfindungsvermögens  der 
Haut  mittelst  des  als  Ästhesiometer  dienenden  Zirkels  eine  Methode  zur 
Ermittelung  geistiger  Ermüdung,  und  die  bei  der  Prüfung  erhaltenen, 
in  irgend  einem  MaCssystem  ausgedrückten  Zahlenwerte,  verglichen  mit 
denjenigen,  welche  sich  im  Zustande  physiologischen  Gleichgewiehtes 
bei  der  Prüfung  ergeben,  bilden  ein  Mafs  für  den  Grad  der  Ermüdung.* 
Die  Versuche  wurden  an  Schülern  der  versohiedenen  Klassen  des 
Ojrmnasiums  und  der  Oberrealsehule  in  Mülhausen,  femer  an  jungen 
Leuten,  die  in  einer  mechanischen  Weberei  und  in  Maschinen- 
werkstätten beschäftigt  waren,  an  Lehrlingen  mit  g^ter  Schulbildung, 
sowie  an  einigen  Lehrern  ausgeführt.  Die  Versuchsstellen  der  Körper- 
oberfläche waren:  Glabella,  Jochbein,  Nasenspitze,  Bot  der  Unterlippe^ 
Daumenballen  der  rechten  B^nd  und  Kuppe  des  rechten  Zeigefingers 
(Fingerbeere).  Die  Messungen  wurden  des  Morgens  und  am  Nachmittage 
vor  dem  Beginn  und  nach  Sohlufs  der  Arbeit  (bei  den  Lehrern  Tor 
und  nach  dem  Unterrichte),  angestellt,  doch  wurden  dieselben  bei  den 
Schülern  nach  jeder  einzelnen  Lehrstunde  wiederholt.  Ebenso  konnte 
Verfasser  seine  Versuche  auf  die  Zeit  während  eines  schriftlichen  und 
mündlichen  Examens  ausdehnen.  Verfasser  benutzte  für  seine  Menwrtigen 
sowohl  scharfe,  wie  kugelförmig  abgestumpfte  Zirkelspitzen;  die  letstorsn 
ergaben  im  allgemeinen  etwas  gröfsere  Werte.  Beide  Werte  sind  in 
den  zahlreichen,  dem  Tekte  eingefügten  Tabellen  nebeneinandergestellt. 
Die  physiologischen  Normalen  wurden  für  die  genannten  Hautstellen 
an  arbeitsfreien  Sonn-  und  Feiertagen  gewonnen.  Dabei  zeigte  sieh, 
daft  Schwankungen  der  Sensibilität  entweder  nicht  oder  nur  in  geringem 
G^de  vorkamen.  Von  Interesse  ist  femer,  da&  die  gefundenen  Normal- 
werte kleiner,  als  die  bisher  gefundenen  sind.  Verfasser  schreibt  dies 
dem  Umstände  zu,  dads  die  geistige  Ermüdung  bei  den  bisherigen  Ver- 
suchen nicht  genügend  in  Rücksicht  gesogen  wurde.  Ob  diese  physio- 
logischen Normalen  beim  männliohen  und  w^blichen  Gtesohleohle  ver- 
sohiedone  Werte  aufweisen,  läM  Verfissser  unentsohieden,  bei  Soiittlbtm, 


Utteraiurbericht  279 

di«  zwisohen  dem  Tollendeten  11.  und  19.  Lebensjahre  standen^  zeigten 
sich  nur  geringe  Versohiedenheiten.  Verfasser  beobachtete  femer  auch 
bei  seinen  Versuchen  die  unter  dem  Namen  Vezierfehler  bekannt«  Er- 
scheinung, wie  auch,  dafs  zuweilen  eine  Verringerung  der  Distanzen  als 
Vergröfsernng,  und  umgekehrt,  empfunden  wurde,  fOgt  aber  hinzu,  dafs 
diese  Störungen  nur  nach  mehrstündigem  Unterrichte  und  nie  in  arbeits- 
freien Zeiten  auftraten.  Aeferent  kann  zu  dieser  Beobachtung  bemerken, 
dafe  er  lange  Zeit  an  Hautsinnesuntersuchungen  teilnahm  und  hierbei 
nur  in  ermüdetem  Zustande,  für  gewöhnlich  aber  nie  Vexierfehler  beging. 
Dieselben  zeigten  sich  nach  angestrengten  Arbeitstagen  an  den  Abend- 
standen einige  Male  sogar  in  auffallender  Weise.  Die  Beobachtung 
wie  die  Schlufsfolgerung  des  Verfassers  dürften  durch  diese  kurze  Mit- 
teilung eine  Bestätigung  erfahren. 

Aus  den  interessanten  Ergebnissen  der  Untersuchung  seien  folgende 
Punkte  hervorgehoben.  Verfasser  konnte  beobachten,  „dafs  das  Em- 
pfindungsvermögen durch  mechanische  Th&tigkeit  weit  weniger  als 
durch  geistige  Thfttigkeit  beeinträchtigt  wird,  und  dafs,  wenn  eine  Ver- 
minderung bei  mechanischer  Thätigkeit  eintritt,  diese  hauptsächlich 
lokal  ist  und  sich  auf  Anstrengung  einzelner,  unter  der  Haut  gelegener 
Muskeln  zurückführen  läfsf.  Nach  einer  Stunde  geistiger  Anstrengung 
tritt  bereits  eine  erhebliche  Herabsetzung  des  Empfindimgsvermögens 
ein.  Bei  anderen  Personen  tritt  eine  so  bedeutende  geistige  Ermüdung, 
wie  sie  während  des  Schullebens  beobachtet  wird,  nicht  auf.  „Sobald 
die  Konzentration  der  Hirnthätigkeit  auf  ein  bestimmtes  Arbeitsgebiet 
Aachlälst,  beginnt  die  Erholung,  imd  mit  ihr  kehrt  die  normale  Sensi- 
bilität der  Haut  allmählich  zurück.'^  „Durch  energische  und  anhaltende 
geistige  Thätigkeit.  ohne  genügende  Erholungspausen,  scheint  das  £m- 
f»findungsvermögen  dauernd  herabgesetzt  zu  werden ;  es  kann  daher  eine 
-davemd  verminderte  Sensibilität  ein  diagnostisches  Mittel  für  geistige 
Oberbürdung  sein.  Vor  dem  Beginn  des  Morgenunterriehts  fand  Vei^ 
ÜMser  annähernde  Werte  wie  an  freien  Arbeitstagen,  beim  Beginn  der 
.Nachmittagsstunden  hatte  eine  völlige  Erholung  nicht  stattgefunden, 
wähirend  des  Unterrichts  schwächte  sich  die  Sensibilität  um  das  drei- 
fache ab.  Bemerkt  sei  femer  noch,  dafs  Verfasser  den  Grad  der  Er- 
müdung, der  durch  die  einzelnen  Unterrichtsfächer  bedingt  ist,  in  Kurven 
darstellte,  bei  denen  die  Malszahlen  als  Abscissen  und  die  Messungs- 
aeiten  als  Orditiaten  genommen  sind.  Verfasser  gelang^  sohliefslich  ^ta 
d«m  Endresultat,  dafs  eine  Überbürdung  des  jugendlichen  Alters  durch 
den  Schulunterricht  nicht  mehr  geleugnet  werden  kann.  „Wenn  nun 
die  im  vorangegangenen  ausgeführten  Methoden  zur  Ermittelung  geistiger 
Ermüdung  nicht  gänzlich  imzureichend  sind,  und  wenn  zahlreiche  Beob- 
achtungen in  Bezug  auf  pathologische  Zustände  nicht  trügen,  dann 
steht  es  fest,  dafs  kein  Schulknabe  und  selbst  kein  Er- 
wachsener, ohne  Gefahr  für  seine  Gesundheit,  tagein  tag- 
aus geistig  so  lange  zu  arbeiten  im  stände  ist,,  wie  es  der 
liestige  höhere  Unterricht  bei  strenger  Durchführung  er- 
lieischt.^  VerfMser  erblickt  in  den  nervösen  Zuständen  derSohüler 
die.  ersten  Vorboten  des  „unheimlichen,  prot^usartigen  Gespensties 


280  Litteratitrbeneht 

K^uraatbenie",   an   denen'  die  liöutigen    gebildeten'  Stinde   mehr   odJer 
Weniger  alle  leiden. 

Es  bedarf  keines  weiteren  Hinweises,  däfs  die  vorliegende»  Ab- 
handlung die  gröfste  Beachtimg  verdient.  Kann  das  lediglich  für  die 
Zwecke  der  Schulhygiene  dnrohgef&hrte  Versuchsverfahren,  wie  Ver- 
fasser selber  andeutet,  auch  nicht  den  Werl  exakter  psychologischer 
.Methodik  beanspruchen,  so  wird  dennoch  auch  die  speadellere  psycho- 
logische Forschung  aus  der  Untersuchung  nach  manchen  Seiten-  hin 
wertvolle  Anregung  empfangen.  Fbibdiw  Kibsow  (Leipzig). 

O.  O.  MoTsoHUTKowsKT    Büi  Appaxat  sor  Frttfimg  der  Schmersempliiidiuig 
der  Haut.  —  Algesiometer.    Nemvl   Cmtralbl    XIV.  4.    S.  146--15S. 
(1896.) 
Hbss.    Altfeaiometer   Ton  Dr.  Motsohütxowskt   —    Algeslmeter  von 
Dr.  HB88.    Ebenda.   No.  12.  S.  548—649. 
Daft    Unzuträgliche    der    bisherigen    Methoden    zur    Prüfung    der 
Schmerzempfindlichkeit  der  Haut  (z.  B.   mittelst   des   BjCBNSTBöMSchen 
Algesiometers)  veranla£st  M.  zur  Konstruktion  eines  neuen,  diesem  Zwecke 
dienenden  Apparates.    Derselbe  berührt  die  zu  prüfende  Haut  mit  einem 
flach  konvexen  Knopfe  von  1  cm  Durchmesser.    Wird  derselbe  auf  die 
Haut  aufgedrückt,  so  kommt  aus  seiner  zentralen  Durchbohrung  ^ine 
.1  mm   dicke   Stahlnadel  zum   Vorschein,    welche   in   einem  scharf  ge- 
schliffenen, 1  mm  hohen  Konus  endigt.   Der  Grad  der  Schmerzempfindlieh- 
keit  wird  zahlenmäiSsig  bestimmt  nach   der  Tiefe,   bis  zu  welcher  die 
Nadel    in   die   Haut'  eingedrückt   werden    mufs,    damit  eben   Schmers 
eintritt,    und    diese   Tiefe   wiederum    l&fst   sich   an  der   Schraube   des 
Apparates  regulieren  und  in  Zehntelmillimetem  ablesen. 

Die  mittelst  dieses  Apparates  erhaltenen  Empfindlichkeiten  weichen 
von  den  mit  derBsBMHABDTSchen  elektrischen  Beizung  und  dem  BjOrnstbO^ 
sehen  Algesiometer  gefundenen  erheblich  ab.  Bezüglich  der  vorl&ufig 
mitgeteilten  Einzelresultate  wäre  das  Original  nachzulesen.  (Von  bedeo- 
,tendein,  schwer  in  Rechnung  zu  bringendem,  Einflüsse  dürfte  die  Spannung 
der  untersuchten  Haut  und  die  Härte  der  unter  derselben  liegenden  Teile 
sein,    Bef.) 

•Hbss  weist  darauf  hin,  dafs  er  das  von  M.  verwandte  Prinzip  der 
Sensibilitätsmessung  nach  der  Tiefe  des  zur  Schmerzerzeugung  nötigen 
JSinstiches  schon  bei  einem  von  ihm  früher  konstruierten  und  be- 
schriebenen Apparate  zur  Anwendung  gebracht  hat.  Hess  teilt  mit, 
inwiefern  zwischen  seinem  und  M.*s  Apparat  kleine  Unterschiede  bestehen, 
und  giebt  zu,  dafs  M.'s  Algesiometer  zur  G-ewinnung  präziserer  Besoltate 
geeigneter  erscheint.  W.  Naoel  (Freiburg). 

V.  H«HBi  und  G.  Tawiibi^    Über  die  Tmgwahmehmang  zweier  PalEte 

bei  .der  Berflhnmg  eines  Punktes  der  Haut.    Fhüos.  SML    Bd.  XL 

Hefta   a  894— 406.  (1896.) 

Berührung  eines  Punktes  der  Haut  niit  einer  Spitze  ruft  zuweilen 

die   als   ,, Vexierfehler ^    bezeichnete.  Iliusion    der    Berührung   an    zwei 

Punkten   hervor.     Die  Verfasser    haben   diese    Erscheinung   eingehend 


LüteraturheHeht.  281 

imteärgbcht  tmd  sind  su  dem  Ergebnis  gelsngt,  daüs  dieselbe'  zunächst 
▼on  physiologischen  Beding^ongen  (wahrscheinlich  denNerrenyerbindungen 
des  berührten  Punktes)  abh&ngt,  dafs  sie  aber  durch  psychische  Vor- 
gftnge,  wie  Wissen  und  Erwartung,  beeinflufst  wird. 

Es  wurden  zwei  Arten  von  Versuchsreihen  ausgeführt:  reine 
Vexier  reihen,  wo  stets  nur  ein  Punkt  berührt  wurde,  und  gemischte 
Ve  kl  er  reihen,  wo  bald  eine,  bald  zwei  Stellen  der  Haut  bertthrt 
wurden.  Abweichend  yon  früheren  Ähnlichen  Untersuchungen,  wurde 
Ton  dian  Versuchspersonen  Terlangt,  die  Wahmehmxug  zu  beschreiben, 
anzugeben,  in  welcher  Bichtung  die  beiden  Punkte  zu.  einander  lagen,  ob 
beide'  gleich  stairk  und  qualitativ  gleich  eknpfunden.  wurden  oder  nicht, 
ob  sie  durch  eine  Linie  verbunden  -erschienen  oder  nicht. 

Bei  Vergleichung  der  Veiderfehler  an  zwei  verschiedenen  Punkten 
(der  Vorderseite  des  Unterarmes)  war  die  Zahl  der  Vezierfehler  Ab. 
beiden  Punkteki  nicht  merklich  verschieden,  dagegen  ergaben  sich  be- 
stimmte konstante  Verschiedenheiten  hinsichtlich  der  scheinbaren  Lage 
der  beiden  wahrgenommenen  Berührungspunkte  zu  einander,  sowie  auch 
liinsichtlibh  des  Verhältnisses  der  scheinbaren  Intensitäten.  .Es  zeigte 
sich 'deutlich,  dafs  ^e  Vexiierfehler  in  gewissen  konstanten  Beziehungen 
zu  den  berührten  Punkten  stehen;  sie  sind  also  an  den  peripheren 
'Vorgang  gebunden. 

Bei  reinen  Vexierreihen  war  die  relative  Zahl  der  Vexierfehler 
grOi^er,  als  bei  den  gemischten  Reihen. 

:  Bei  den  bisher  erwähnten  Versuchen  wufsten  die  Versuchspersonen 
nicht,  ob  thatsäoblich  eine  oder  sewei  Spitsen  ihre  Haut  berührten.  Einen 
erheblichen  EinfluTs  auf  das  Ergebnis  hatte  es,  wenn  man  vor  dem  Ver- 
suche den  Beiz,  den  man  ausüben  wollte,  also  eine  Spitze  oder  zwei 
Spitzen  von  bestimmtem  Abstände,  der  Versuchsperson-  zeigte«  Der 
nachher  wirklich  ausgeübte  fteiz  konnte  dann  dem  Suggerierten  gleich 
Xidep  von  ihm  verschieden  gemadäit  werden.  Im  letzteren  Falle  wurde 
.sebr'häutig^eine  thatsächlich  einfache  Berührung  doppelt  empfunden, 
wenn  zuvor  zwei  Spitzen  gezeigt  worden  waren,  und  zwar  richtete  sieh 
"det  «cheinbare  Abstand  der  beiden  Berührungen  nach  dem  Abstände 
jento  beiden  vorgezeigten  Spitzen.  Die  Wahrnehmung  der  beiden  Be- 
rührungen und  ihres  Abstandes  war  also  suggeriert./  Doch  kam  es  auch 
■Yotj  dafs  eine  thatsäoblich  einfache  und  auch  als  einfach  erwartete  Be^ 
rührung  bestimmt  als  doppelt  empfunden  wurde,  selbst  unter  der  Kon- 
trolle^ des  Gesichte  :      I   .  W.  Naobl  (Freiburg). 

,  •  ,        .  ■ 

•     •  ■         .      ,     .     ■ 

1.  AX.PBXD  Blbchbr.    über  die  Smpllndiuig  des  Widerstandes.    Dissert. 
Berlin  (C.  Vogte  Buchdruoketei).  1893.    41  8.  ^ 

2.  OoinscHBiDEK  und  BLsensR.  Versuche  über  die  Bmpflndung  des  Wider- 
.      Standes.    Du  Bois*  AnAi  1698.    S.  536-619. 

Die  zweite  Abhandlung  stellt  nur  einen  Auszug  aus  der  ersten  dar. 
Wir- beschränken  uns  dither  zumeist  auf  die  Besprechung  dieser. 

Unter  ,^Wider Standsempfindung"  verstehen  die  Verfasser  eine 
^u  dem  Miiskelsinne  .gehj5rige  Empfindung,  deren  Qualität  am  meisten 
der  Druckempfindung  ähnlich   ist,   deren  Intensität  einen  Maisstab'  für 


282  lAHeraburberidU. 

die  Koexistenz  der  KOrper  abgiebt,  wie  die  ganze  Empfindung  bei  der 
Ermittelung  der  Objekte  eine  hervorragende  Bolle  spielt.  Sie  entstellt 
wesentlich  in  den  Gelenken,  indem  die  hier  endenden  Nerven  duroh  den 
StoXs,  welchen  das  tastende  Glied  erleidet,  affiziert  werden. 

Die  Grundlage  der  vorliegenden  Abhandlungen  bildet  die  sogemannte 
,,paradoxe  Wider  st  andsempfindung".  Senkt  man  nftmlioh  ver- 
mittelst der  oberen  Extremit&t  resp.  eines  ihrer  Glieder  ein  Gewicht, 
welches  «n  einem  Faden  befestigt  ist,  so  empfindet  man  im  Auganblioke 
des  Aufstofsens  des  Gewichtes  auf  einer  festen  Grundlage  einen  Wider- 
stand, den  ioan  ins  Gewicht  verlegt.  Der  Faden  wurde  um  zwei  Bollen 
l^ftlhrt  und  dann  vermittelst  eines  Bandes  an  dem  Gliede  befestigt, 
welches  seinerseits  zur  Vermeidung  der  Hautsensation  mit  einer  GnmMi- 
manschette  umkleidet  war.  Unter  Variation  sowohl  des  bewegenden 
Gelenkes  [Senkung  a)  im  Schultei^,  b)  im  Ellenbogen-,  c)  im  MetflJcarpo- 
phalangealgelenk]  als  auch  des  Aufbftngepunktes  (an  der  L,  11.,  ELL  Pha- 
lange  des  Zeigefingers,  an  der  Hand,  10  ein  vom  Handgelenk  entfernt) 
wurden  verschiedene  Schwellenwerte  der  Widerstandsempfindung  er- 
mittelt,  d.  h.  diejenigen  Gewichte,  bei  deren  Senkung  unter  acht 
viermal  eine  undeutliche  und  die  anderen  vier  Male  keine 
empfindung  eintrat.  Das  Geräusch  wie  das  Sehen  des  Aufsetzeaä  dee 
Gewichtes  war  verhindert;  die  Senkungsgeschwindigkeit  war  4 — 5.«m^  in 
der  Sekunde,  d4  hierbei  die  Widerstandsempfindung  am  deutlichsten  ist. 

Es  zeigte  sich  nun,  dafs  die  Widerstandsempfindung  um 
so  gröfser  oder  das  Gewicht  des  Schwellenwertes .  am  so 
kleiner  ist,  je  distaler  das  Glied  ist,  an  dem  der  Faden  sich 
befand. 

Den  Grund  hiervon  finden  die  Verfasser,  welche  auch  die  Beageftiteii 
waren,  nicht  etwa  in  der  verschiedenen  Schwere  der  Manschetten  je  aaoh 
der  GrOfse  des  Auf  hängegliedes.  Denn  liefe  man  die  hierdui«li  ver^ 
ursachte  Belastung  unverändert,  indem  gleichzeitig  mehrere  Glieder  mit 
den  zugehörigen  Manschetten  bekleidet  waren,  so  ergab  sich  bei  Variation 
des  Aufh&ngepunktes  ebenfalls  obiges  Gesetz.  Vielmehr  ist  einerseits 
an  die  Verschiedenheit  der  Hebell&ngen  in  dem  ganzen  bewegten 
Armteile,  andererseits  an  die  anatomischen  Verhältnisse  zu  denkeii. 
Letztere  bestehen  vor  allem  darin,  dafs  die  distalen  Glieder  kOrser, 
dünner  und  daher  leichter  sind;  auch  besitzen  sie  eine  ktlrsere  Heb^- 
länge.  Die  einzelnen  Glieder  sind  ziemlich  gleichgestellt,  aber  die  Widsr- 
standsempfindung  entsteht  durch  die  Summe  der  Empfindungen,  welohe 
die  einzelnen  Glieder  verursachen.  Je  gröfser  diese  Summe  ist,  desto 
deutlicher  ist  die  ganze  Empfindung.  Die  Widerstandsempfindung  selbst 
erklärt  Bischer  durch  ein  alleiniges  Wirken  der  sog.  „FixiArungs- 
kraft".  Die  ganze  Kraft  des  bewegenden  Muskels  läist  sich  nämlioli  in 
eine  senkrecht  zur  Längsaxe  des  Gliedes  wirkende  „Bewegungskraft*'» 
welohe  beim  Aufistofsen  unwirksam  gemacht  wird,  uiid  in  eine  in  der 
Biohtung  der  Längsaxe  des  Gliedes  wirkende  „Fixierungskraft'', 


^  Es  ist  wohl  nur  ein  Druckfehler,  wenn  in  der  zweiten  AbhsnAlung 
6nm  in  der  Sekunde  angegeben  werden.  >  j 


Litteratufbmcht.  283 

auch  nach  dem  Aufsetsen  fortwirkt,  zerlegen.    Letztere  verursacht  einen 
Gelenkdmck  nnd  damit  die  Widerstandsempfindung. 

Die  Hautsensibilitftt  fanden  die  Verfasser  im  Q-egensatz  zu  den 
früheren  Yersncben  Gk>LD8CREn)SR8  beteiligt.  Denn  liefsen  sie  die  Man« 
schetten  in  Wegfall,  so  schwanden  die  Variationen  des  Schwellenwertes 
je  nach  Änderung  des  Aufh&ngepunktes  und  des  bewegenden  Ghelenkes. 
Die  Hautreizung  war  dann  bei  dem  Aufsetzen  des  Gewichtes  eine  zwie- 
fache: eine  Druckabnahme  an  der  oberen  Hautpartie,  von  der  sich 
das  Aufhängeband  entfernte,  und  eine  Druckzunahme  an  der  unteren 
Hantpartie,  an  die  das  Band  anschlug.  Durch  zweckmässige  Änderungen 
der  Versuche  wiesen  Verfasser  nach,  dafs  beide  Beize  in  Betracht 
kommen. 

Vorliegende  Abhandlung  ist  sowohl  in  Bezug  auf  Versuchsanordnung 
wie  Verwertung  der  Versuche  durchaus  exakt  und  gewissenhaft.  Mit 
Recht  beanspruchen  fOr  sie  die  Verfasser  ein  sinnesphysiologisches  wie 
auch  psychologisches  Interesse.  Kur  wäre  mit  Bücksicht  auf  letzteres 
zu  wünschen,  dafs  Blcchbr  nicht  Widerstandsempfindung  und  Wider- 
standsgefühl  promiscue  gebrauchte.  Gerade  die  strenge  Unterscheidung 
von  ^Empfindung"  und  „GefÜhP  fordert  mit  Becht  die  moderne  Psycho- 
logie nachdrücklichst.  Dals  eine  Änderung  der  festen  Grundlage  sich 
nach  den  Angaben  in  der  zweiten  Abhandlung  nicht  ermöglichen  lielS| 
ist  Zu  bedauern.  Denn  es  ist  eine  nicht  zu  unterschätzende  Fehlerquelle, 
wenn  Beagent  ungefähr  weifs,  bei  welcher  Lage  der  Glieder  das  Auf- 
setzen erfolgen  mufs.  Auch  wäre  es  für  die  ganze  Erklärung  des  Wesens 
der  Widerstandsempfindung  von  Wichtigkeit,  genau  festzustellen,  wann 
jene  paradoxe  Widerstandsempfindung  sich  einstellt,  ob  gleichzeitig  mit 
dem  Aufsetzen  des  Gewichtes  oder  nach  diesem,  und  in  letzterem  Falle, 
wie  lange  nach  dem  Aufsetzen.  Jedenfalls  finde  ich  die  Erklärung  durch 
die  „Fixierungskraft"  nicht  überzeugend.  Merkwürdigerweise  ist  sie  auch 
in  der  zweiten  Abhandlung  gar  nicht  erwähnt. 

Arthur  Wbbschnbr  (Berlin). 

£n.  Aeovsohk.     Vennieh    einer    NomenklAtar    der    Otmchsanalitftteft. 

Vortrag,    gehalten   in   der  laryngologischen   Sektion   des   XI.  int^fi- 

nationalen  Kongresses  in  Bom  1894.    Arch.  f.  Laryngol*  «.  BhinoL   II. 

8.  42-47.  1894. 

Anknüpfend   an  seine  frühere  Abhandlung   (Experimentelle  ünter- 

snohungen  zur  Physiologie  des  Geruchs.    Du  Bois  Beymonda  Arek.  f. 

PhyuioL  1886)  hebt  Verfasser  zunächst  hervor,  dafs  er  in  derselben  bereits 

die  verschiedenartige  Energie  der  einzelnen  Geruchsfasem  nachgewiesen 

und  daraus  die  Folgerung  gezogen   habe,   „dafs   alle  die   Geräche,  ftlr 

welche  ein  perzipierendes  Element  in  den  OifaotoriusfiBMern  geAinden  ist, 

auch  zusammengehören  und   zu   einer  Siasse    von   Gerüchen   vereinigt 

werden  können^.   Von  diesem  G^ichtspunkte  aus  sei  ihm  schon  daknals 

der   Versuch    einer   Nomenklatur  der  verschiedenen   Geruohsqualitäten 

nicht  erfolglos  erschienen.    Als  Beispiel  eines  solchen  Versuches  führt 

Verfasser  an:  „Webn  z.  B.  bei  bestehender  Geruchsschwäche  für  Schwefel- 

aaUBonium  auch  Schwefelwasserstoff  und  Brom«  und  Ohlorwassoirsteff 


284  LiUeraturheriM. 

nieHt  gerochen  werden,  andere  Gerftche  aber  dabei  ungeschwftcht  werden 
(Ansfallmethode),  so  ist  es  klar,  dals  die  Gerüche  der  genannten  yier 
Körper  als  gleichartige  zn  betrachten  sind;  wenn  bei  völliger  Gemchs- 
schwftche  ftür  Ol.  jüniperi  auch  Ol.  carvi  nicht  erkannt  wird,  so  gehören 
auch  diese  beiden  Gerüche  in  eine  Klasse.^ 

Ebenso  erweist  es  sich  für  die  EHassifizierong  der  in  Bede  stehenden 
Empfindungen  nach  Verfasser  als  zweckmäfsig,  die  durch  komplizierte 
Körper  ausgelösten  Gt»rüche  stets  auf  Ähnliche,  durch  Körper  von  be- 
kannter  chemischer  Konstitution  bewirkte,  zurückzuftlhren.  Die  letzt- 
gefundene  Empfindung  soll  dann  als  Grundgeruch  und  Beprftsentant 
dieser  so  gefundenen  Gerubhsqualitftt  dienen.  Hierbei  verkennt  Ver- 
fasser jedoch  nicht  die  Schwierigkeiten,  die  sich  der  Ausführung  dieses 
Vorschlages  infolge  der  zur  Zeit  noch  nicht  genügend  erkannten  Natur 
vieler  riechbarer  Körper  gegenw&rtig  noch  entgegenstellen.  Neben  den  von 
ihm  selbst  angestellten  Beobachtungen  verweist  Verfasser  sodann  auf  die 
Versuche  von  Pasbt,  insonderheit  auf  diejenigen,  die  von  dem  letzteren  über 
die  Benzoesäure  mitgeteilt  sind  (Passt,  Sur  l'odeur  de  Tacide  benzoique 
(Bemarques  sur  les  corps  inodores).  Campt  rend.  1.  Mai  1898),  aus 
welchen  hervorgehe,  dafs  die  Biechbarkeit  eines  Körpers  (l'ötant  odorant 
nach  Passt)  von  besonderen  Umständen  abhänge.  So  ist  nach  Passts 
Versuchen  die  Benzoesäure  nur  in  Wasser  oder  Alkohol  gelöst  riechbar, 
,nicht  in  reinem  oder  krystallisiertem  Zustande.  Nach  Verfasser  tritt 
der  Geruch  derselben  ebenfalls  hervor,  wenn  man  sie  mittelst  einer 
indifferenten  Lösung  zur  Begio  olfactoria  leitet.  Passt  fand  femer  alle 
Parfüms  tmriechbar,  „wenn  sie  nicht  gerade  bei  der  Geruchsprobe 
durch  hohe  Temperatur  in  einen  sehr  flüchtigen  Zustand  übergeführt 
sind''.  Verfasser  fährt  fort:  „Es  ist  übrigens  schon  lange  bekannt  und 
findet  sich  auch  in  meiner  Arbeit  erwähnt^  dafs  die  aromatischen  Kräuter 
im  trockenen  Zustande  einen  nur  schwachen,  bezw.  gar  keinen  Gemcli 
besitzen,  dagegen  einen  •  deutlichen  und  ziemlich  starken  Geruch  ver- 
breitein, wenn  sie  angefeuchtet  sind.  Aufser  durch  Anfeuchtung  und 
Erwärmung  ist  der  Etat  odorant  eines  Körpers  auch  in  der  Weise  zu 
studieren,  dafs  wir  ihn  direkt  vermittelst  einer  indifferenten  Lösung  an 
die  Begio  olfactoria  bringen. **  Natriumsulfat  hat  in  dieser  BehandlungH- 
i9>eiBe  nach  Verfasser  einen  „brenzligen  Geruch^,  bei  Schwefelsäure, 
Phosphorsäure,  Soda,  Magnesiumsulfat,  Kupfersulfat,  Kali  hypermang. 
konnten  ebenfalls  „eigenartige  Gerüche**  nachgewiesen  werden.  Ver- 
fasser fordert  femer,  auch  die  Veränderungen  in  Bücksicht  zu  ziehen, 
welche  die  Teile  eines  Versuchskörpers  auf  dem  Wege  zur  Nase  er- 
fahrien.  Nach  Sohökbbin  riecht  z.  B.  nicht  der  Phosphor  als  solcher, 
sondern  nur  das  von  ihm  gebildete  Ozon  und  die  phosphorische  Säure. 
J7ach  anderen  sind  die  Metalle  nur  in  ihren  Verbindungen  riechbar,  an 
sich  aber,  wie  auch  alle  chemischen  Elemente,  geruchlos.  Aus  diesem 
lietzterwähnten  Befunde  schliefst  Verfasser  mit  Becht,  .dafs  keines  der 
biä  jetzt  bekannten  chemischen  Elemente  als  Bepräsentant  einer  Geruchs- 
klasse  gelten  könne.  Die  wirkliche  Anzahl  der  Geruchsklassen  kann 
nach  Verfasser  erst  ermittelt  werden,  „wenn  nach  der  Ansfallmethode 
•das  Verhältnis  aller  riechbaren  Körper  zu  einander  und  zu  den  perapte- 


Liiteratwrbmehi.  285 

renden  Elementen  in  den  Olfaotorinsfasem  festgestellt  ist*'.  Ist  es  dem 
Verfasser  auch  wahrscheinlich,  dafs  wir  mehr  Grandgerüche  als  Grund« 
färben  anzunehmen  haben,  so  glaubt  er  doch,  dais  sich  analog  dei' 
allm&hlichen  Reduktion  der  Geschmacksqualitftten  auf  schliefslich  vier 
Grundgeschmäcke  auch  im  Gebiete  des  Geruchssinnes  „eine  ungef&hr 
gleiche  Anzahl"  von  Bezeichnungen  für  die  Verschiedenheiten  dieser 
Sinnesempfindungen  als  ausreichend  erweist. 

Verfasser  bezieht  sich  sodann  auf  die  von  Lnmi  herrührende  bekannte 
Einteilung  der  Gerüche  in  sieben  Klassen  (LiinrA,  ÄmoeniUUes  academicae^ 
1766.  A.  ni.  p.  183),  sowie  auf  die  von  Hallbk,  HbriistjLdt,  Sch&adkr, 
80BBBTER,  Pfavf,  Lokgst  und  Buchbb  mit  Bezug  auf  eine  Klassifizierung 
der  Geruchsqualitäten  gemachten  Versuche  und  Vorschläge,  und  hält 
den  Zeitpunkt  für  gekommen«  wo  die  besonders  von  Buoher  gestellte 
Forderung  einer  bestimmten  Nomenklatur  der  Geruchsempfindungen 
realisiert  werden  könnte.  Das  aus  Büchbrs  Bepertortum  der  Pharmeusie 
1831  mitgeteilte  Zitat  lautet:  „Spezifische  Ausdrücke  für  spezifische 
Eigenschaften  sind  auf  diesem  Felde  sehr  selten  und  fehlen  ganz,  und 
die  Bestimmungen  werden  hier  meistens  von  dem  Namen  der  Körper, 
bei  denen  dieser  oder  jener  Geruch  vorkommt,  entlehnt.  Man  mufs 
also,  wenn  man  hier  weiter  kommen  will,  entweder  neue  Benennungen 
für  gewisse  Gerüche  schaffen  oder  sich  über  die  Wahl  der  Gegenstände, 
deren  Namen  zur  Bezeichnung  gewisser  Geruchsverhältnisse  dienen  soll, 
verständigen.  Als  spezifische  Ausdrucke  werden  gewöhnlich  angesehen 
die  Benennungen  wohlriechend,  gewürzhaft,  reizend,  übelriechend,  nar- 
kotisch, sauersüfis,  dumpf,  brandig,  mucös,  stjptisch,  nauseös,  balsamisch, 
aromatisch  u.  s.  w.  ( —  faulich,  putride,  mulstrig,  brenzlig  — ) ;  allein 
mehrere  davon,  als  z.  B.  wohl-  oder  übelriechend  scheinen  mir,  insofern 
Sie  sich  entweder  auf  die  Gefühle  von  Lust  und  Unlust  oder  auf  das 
Geschmacksvermögen  beziehen,  nicht  richtig  zu  sein.  Überhaupt  sind 
die  meisten  Geruchsnamen  entlehnt  von  1.  Wirkungen  der  Stoffe  auf 
andere  Sinne,  z.  B.  süTs,  sauer,  bitter  (vom  Geschmack),  oder  stechend, 
milde,  flüssig  u.  s.  w.  (vom  Gefühlssinn},  —  2.  Wirkungen  auf  das  Em- 
pfindungsvermögen für  Lust  und  Unlust  als  unangenehm,  wohlriechend 
n.  s.  w.,  —  S.  Wirkungen  auf  gewisse  Organe,  als  erstickend,  Husten 
erregend  (vom  Atmungsorgan},  Thränen  erregend,  Augen  reizend 
(Gesichtsorgan}  und  ekelhaft  (vom  Verdauungsorgan}". 

Der  vorstehend  mitgeteilten  BucHSBSchen  Alternative  entnimmt 
Verfasser  für  seinen  eigenen  Versuch,  zu  einer  neuen  Nomenklatur  der 
Geruchsklassen  zu  gelangen,  den  ersten  Punkt,  indem  er  (wie  er  im 
wesentlichen  schon  früher  ausführte)  in  den  sogenannten  chemischen 
Zeichen  der  einzelnen  riechbaren  Körper  die  Grundlage  für  eine  all- 
g«nein  gültige  Benennung  der  Geruchsqualitäten  gefunden  zu  haben 
glaubt.  Verfasser  schlägt  sodann  vier  Regeln  vor,  nach  denen  die  neuen 
Bezeichnungen  gebildet  werden  sollen.  Danach  soll  1.  das  für  eine 
Gemehsqualität  zu  verwendende  Eigenschaftswort  aus  dem  das  chemische 
Zeichen  repräsentierenden  Buchstaben  und  den  diesen  zugesetzten  Ziffern 
güsammengesetzt  werden,  wobei  die  letzteren  der  Beihenfolge  deä' 
Alphabets  entsprechend  wieder  in  Buchstaben  umzusetzen   sind   (l:=a, 


286  LUUratwbtricht, 

2-=  b,  3  =  c  n,  8.  f.)  Nach  dieser  Begel  würde  der  Campfer,  der  zugieiek 
als  BeprikseDtant  von  Gerüchen,  wie  Eukalyptus,  Terebenthin,  OL  Thyini, 
Valerianae,  Bosmarini  gilt,  entsprechend  seiner  Formel  CiJB.^fi  den 
Namen  Cipho  erbalten.  Den  Anfangsbuchstaben  der  neuen  Bezeich- 
nung bildet  dabei  2.  immer  der  erate  Buchstabe  des  ohemlschea 
Zeichens.  Sind  die  letzteren  nur  Konsonanten,  so  sollen  3.  zu  dieaea 
Vokale  so  hinzugefügt  werden,  „dafs  sie  mit  ihrem  Klange  ungefUr  die 
Nuance  des  betreffenden  Geruches  innerhalb  der  Klasse  wiedergeben^. 
So  schlägt  Verfasser  vor,  dafs  a  als  Grundvokal  in  einem  Grundgeruoh 
vorherrschen  soll,  e  und  o  sind  einzuschieben,  „wenn  der  betreffende 
Geruch  keine  besondere  Nuance  innerhalb  einer  Klasse  hat*',  %  bezeichnet 
ein  besonders  prickelndes  Gefühl  (Ammoniak),  oe  und  eu  drücken  Wohl- 
geruch (Bosengeruch),  u,  ä  und  au  einen  schlechten  Geruch  (Schwefel« 
ammonium,  putride  Substanzen)  aus,  ei  bezeichnet  einen  herben,  scharfeii 
Geruch  (Schwefelsäure).  Die  Endigungen  der  so  gebildeten  Eigen- 
schaftswörter sollen  sich  dann  4.  nach  den  in  den  einzelnen  Sprachen 
üblichen  Begeln  richten,  so  dafs  im  Deutschen  die  Endigungen  lieh,  ig, 
isch  u.  s.  w.,  im  Französischen  dagegen  als,  ien,  ique  u.  s.  w.  und  ebenso 
im  Lateinischen  und  Griechischen  die  diesen  Sprachen  eigentümlichen 
Endigungen  der  vorhin  angegebenen  Namenform  anzufügen  sind. 

Nach  diesen  Begeln  wird  Natriumhydrat  als  Bepräsentant  aller 
„brenzligen  und  sengerigen  Gerüche''  vorgeschlagen.  Die  Formel  NAOH 
läTst  das  Adjektiv  nahog  oder  naholig  entstehen,  die  feineren  Nuancie- 
rungen sind  durch  nahelich,  nahilich  oder  nahaulich  auszudrücken.  Blau^ 
säure  vertritt  nach  Verfasser  den  Geruch  vieler  Früchte.  Nach  der 
Formel  HON  oder  HCy  laust  sich  das  Adjectivum  hacylich  oder  haoyn 
bilden,  und  die  Blausäure  hat  demnach  einen  hacynen  Geruch,  der  Apfel,  die 
Mandarine  haben  einen  hecynen  resp.  hicynen  Geruch.*'  Verfasser  schlieist 
den   Vortrae  mit  anderen   Farad igpnen,   von   denen  nur  noch   das  ala 

cadahknolx^  ?^   bezeichnete   Amylnitrit,   das    als    cedohlich    eingeführte 

Karbol  und  das  als  <^isoh<^  J^^     riechende  Menthol  erwähnt  werden  mögen. 

Obwohl  die  Anregung,  welche  Verfasser  durch  seine  Vorschläge, 
zu  einer  Nomenklatur  der  Geruchsklassen  zu  gelangen,  zweifellos  ge- 
geben hat,  voll  anerkannt  und  zugestanden  werden  muis,  dürfte  doch 
andererseits  die  Undurchführbarkeit  seines  Systems  ebenfalls  kaum  einem 
Zweifel  begegnen.  Indem  er  sich  einseitig  an  die  Forderung  Bochbbs 
hält,  läfst  er  die  andern  vortrefflichen  Winke,  die  derselbe  Autor,  wie  aus 
obigem  Zitate  ersichtlich,  in  seinen  Ausführungen  giebt,  auiser  acht 
und  sucht  statt  dessen  für  die  Qualitäten  des  Geruchssinnes  eine  neue 
Sprache  einzufuhren,  von  der  es  schwer  hält,  zu  glauben,  dais  sie  von 
allen,  die  durch  ihr  spezielles  Studium  nicht  gerade  in  engere  B^ 
Ziehungen  zu  den  Naturwissenschaften  gebracht  sind,  jemals  verstanden 
und  gebraucht  werden  würde.  Verfasser  verliert  somit  einmal  den  Z«« 
sammenhang  mit  der  allgemeinen  Volkssprache,  von  dw  sich  die  Wiaaen- 
Schaft  in  Fällen  wie  der  vorliegende  nicht  so  weit  entfernen  dürfte,  itJk 
dieselbe  ihr  nicht  zu  folgen  vermiß.  In  dieser  pflegt  die  Wisaenaghaft 
sonst   ihre  Bezeichnungen  vorzufinden  und   sie  sodann   begrifflich   zu 


lAtteratwrberieht.  287 

fixiereii.  Oder  sollen  die  neuen  Benennungen  des  Herrn  Verfassers  nur 
termini  technici  sein?  Warum  aber  dann  hier  die  Ausnahme  von  anderen 
SiimeJBgebieten  ?  Es  erseheint  daher  dem  Referenten  richtiger,  wenn 
man,  wie  bereits  Bdgher  vorschlägt,  beim  Mangel  spezifischer  Ausdrücke 
ftkr  die  einzelnen  Geruchsqualitäten  die  Namen  von  dem  den  jeweiligen 
Geraoh  erzeugenden  Körper  entlehnt.  Besteht  doch  noch  innerhalb  des 
Geschmacksinnes  die  Bezeichnung  salzig,  soll  heifsen  wie  Salz  schmeckend, 
und  ähnlich  werden  ursprünglich  die  meisten  Bezeichnungen  für  unsere 
Sinnciiempfindangen  von  konkreten  Gegenständen  oder  von  anschau- 
liehen Vorgängen  entlehnt  sein.  Zum  anderen  entfernt  sich  Ver- 
fasser bei  seinen  Klassifizierungsversuohen  von  dem  Wege,  den  die 
Wissenschaft  bei  der  Analysierung  anderer  Sinnesgebiete  bereits  mit 
Erfolg  eingeschlagen  hat  und  der  auch  für  das  Verständnis  des  Geruchs* 
Sinnes  nach  der  Auffassung  des  Referenten  allein  zum  Ziele  führen  kann. 
In  dieser  Beziehung  haben  bereits  Buohbb  richtige  Wege  vorg<>schwebt, 
wenn  er  die  dem  Geschmacks-  und  Gefühls-,  besser  Tastsinn  zugehörigen 
Komponenten  von  dem  Gebiete  des  Gerachssinnes  ausgeschlossen  wissen 
will.  Auf  dem  gleichen  Wege  ist  die  Analyse  des  Geschmackssinnes 
bei  vier  Grund empfindungen  angelangt.  Von  hier  aus  sollte  auch  die 
Analysierung  der  Geruchaqualitäten  ihren  Anfaog  nehmen.  Ist  dieser 
Schritt  einmal  gethan  und  wissen  wir  genau,  wie  viel  einer  gemeinhin 
dem  Geruchssinne  zugeschriebenen  Empfindung  dem  Tastsinne,  eventuell 
auch  dem  Geschmacksinne  zufällt,  so  wird  die  Einteilung  der  zurück- 
bleibenden reinen  Geruchsempfindongen  um  ein  wesentliches  er- 
leichtert sein. 

Beferent  möchte  dem  Vorstehenden  noch  kurz  eine  Beobachtung 
hinzufügten,  die  er  bei  Gelegenheit  seiner  Untersuchung  über  die  Wirkung 
des  Kokains  und  der  Gymnemasäure  auf  die  Schleimhaut  der  Zunge 
und  des  Mundraumes  (Philos.  Sind.  Bd.  IX.)  auch  über  die  Wirkung  des 
Kokains  auf  die  Geruchsempfindungen  machen  konnte.  Nachdem  die 
Nasenschleimhaut  möglichst  weit  hinauf  mit  Kokain  bepinselt  und 
ebenso  die  hintere  Bachenwand  bebandelt  war,  konnte  er  bemerken,  dafs 
auch  die  Geruchsempfindung  bedeutend  abgeschwächt  und  für  einzelne 
Gernche  ganz  aufgehoben  war.  Die  vei*schiedenen  Grade  der  Kokainisie- 
rung  wirkten  auf  die  Geruchsempfindungen  scheinbar  ebenfalls  in  ver- 
schiedener Weise.  Da  man  diese  Untersuchungen  schwer  ohne  sach- 
kundige Assistenz  machen  kann  und  diese  dem  Referenten  seither 
nicht  in  genügender  Weise  zur  Verfügung  stand,  so  konnte  dieser 
Befund  bisher  nicht  weiter  verfolgt  werden,  doch  ist  anzunehmeu,  dals 
das  Kokain  ebenso,  wie  andere  Anästhetika  (die  Wirkung  der  Gymnema- 
riiure  hat  Referent  in  dieser  Beziehung  nicht  geprüft)  für  die  Erforschung 
des  Geruchssinnes  nicht  unwichtige  Dienste  leisten  dürfte. 

Fbikdb.  Kibsow  (Leipzig). 


288  Litieratmhencht, 

Ell»  Bli88  Talbot.  The  doetrin«  of  coaadoiis  el«m«iita.  JPMw«  IZor- 
IV«  8.  154—166.  (M&rs  1895.) 
Die  moderne  Lebre  von  den  Bewufstaeinseleinentenanteisclieidofeaieh. 
TOB  früheren  Versuchen  dadurch,  dals  sie  sich  von  metaphjsischen  Voi:sus- 
setsungen  freihält,  und  dals  sie  die  Elemente  als  Ausgangspunkte  hin- 
nimmt, ohne  durch  „Vermögen^  scheinbare  ErklArungen  zu  schaffion. 
Sie  steht  in  einem  interessanten  WechselyerhAltnis  mit  der  experimentellen 
Methode.  Sie  erkl&rt  das  psychologische  Element  für  einen  elementaten 
Prosefs.  Die  Bedeutung  der  neuen  Lehre  liegt  fast  mehr'  in  dem,  was 
sie  verspricht,  als  in  dem,  was  sie  geleistet  hat.  Hervorsuheben  sind 
die  Bemühungen  des  Verfassers  um  die  Sauberkeit  der  Terminologie. 

J.  CoHv  (Berlin). 

JoHH  Gbqcb  Hibbbn.  Sensory  stimnlation  by  attention.  Psych.  Reo.  II. 
S.  369—375.  (JuU  1895). 
Ein  ursprünglich  für  taub  gehaltenes  Kind  zeigt  allm&hlich,  dafs 
es  normales  Gehör  besitzt,  aber  nur,  wenn  es  den  Eindrücken  Aufmerk- 
samkeit zuwendet.  Das  jetzt  acht  Jahre  alte  M&dchen  hat  spät  sprechen 
gelernt,  zeigt  im  Ohr  keinen  Defekt.  Sie  hört  alle  Gespräche,  die 
ihr  Interesse  erregen,  aber  keine  über  gleichgültige  Gegenstände.  Ganz 
unmöglich  ist  es,  sie  zum  Hören  zu  bringen,  sobald  irgend  etwas  Anderes 
ihr  Interesse  abzieht.  Dieser  pathologische  Fall  wird  von  Hibbbm  mit 
der  normalen  Sinnesschärfung  durch  die  Aufmerksamkeit  und  mit  gewissen 
Erscheinungen  bei  Hysterischen  zusammengestellt.  Der  Fall  ist  ihm 
von  sehr  zuverlässiger  Seite  mitgeteilt  und  von  Ärzten  bestätigt.  Er 
erweckt  ungewöhnliches  Interesse  und  läfst  das  Fehlen  genauerer  An- 
gaben (die  freilich  nur  durch  eigene  Beobachtung  zu  gewinnen  wären 
und  dem  Verfasser  wohl  unmöglich  waren)  um  so  mehr  bedauern. 

J.  CoHN  (Berlin). 


Hxbbt  £.  KoHN.  Zur  Theorie  der  Anftnerksamkeit.  Ähhaanähmgen 
Philosophie  und  ihrer  Geschichte.  Herausgegeben  von  Benno  Erdnuam. 
Heft  V.  Niemeyer,  Halle  1895.  48  S. 
Die  wesentliche  These  der  vorliegenden  Abhandlung  ist  die  Identität 
von  Aufmerksamkeit  und  BewuTstsein.  „Keine  Aufmerksamkeit  auf  einen 
Gegenstand  richten,  bedeutet,  kein  Bewufstsein  desselben  haben ;  gperinge 
Aufmerksamkeit  auf  ihn  lenken,  bedeutet  schwaches  oder  unklares 
Bewufstsein  von  ihm  besitzen.  Wenn  unsere  Aufmerksamkeit  auf  diesen 
Gegenstand  kona^entriert  ist,  im  strengsten  Sinne  des  Wortes,  so  sind  wir 
uns  nur  des  einen  Gegenstandes  bewuist^  (S.  27.)  Es  giebt  keinen 
prinzipiellen,  sondern  nur  einen  graduellen  unterschied  zwischen 
Bewulstsseininhalten  mit  und  solchen  ohne  Aufmerksamkeit.  Es  ist  schade, 
dais  K.,  der  sonst  seine  Ansichten  polemisch  entwickelt,  die  Einwftnde 
von  Lipps:  g^en  die  Annahme  von  Bewufstseinsgraden  nicht  berück- 
sichtigt hat.  Besonders  ausführlich  wird  die  Annahme  eines  besonderen 
Gefühles,  welches  die  Aufmerksamkeit  begleiten  sollte,  bekämpft.  Unter 
diese  Kategorie  fallen  die  Ansichten  von  Fechkbb,  James,  Stumpf  und 
WuBDT.  Die  Verschiedenheit  der  „Gefühle^  bei  den  einzelnen  Psycho- 
logen wird  nicht  mit  Unrecht  hervorgehoben.    Einer  der  Haupteinwände 


Litteraturbericht.  289 

KoHKS  aber  ist  unstichlialtig.  Er  meint,  ein  Gefühl,  das  die  Aufmerksam- 
keit begleite,  müsse  selbst  mit  Aufmerksamkeit  wahrgenommen  sein,, 
also  von  der  Betrachtung  des  aufmerksam  angeschauten  Gegenstandes 
ablenken.  Die  bek&mpften  Forscher  könnten  erwidern,  dals  gerade  hierin 
GeflÜile  und  Vorstellungen  sich  unterscheiden.  Gefühle  verlieren  im 
Gegenteil,  wenn  eine  Anspannxmg  des  Willens  sich  auf  ihre  Verdeut- 
lichung richtet.  In  der  Theorie  der  Apperzeption  nfthert  sich  Verfasser  den 
Herbartianem.  Das  Zusammenwirken  von  Perzeptions-  und  Apperzep- 
tionsmassen wird  an  einigen  Beispielen  recht  anschaulich  geschildert. 
Die  Durchführung  dieser  Beispiele  ist  psychophysich  gehalten. 

J.  OoHN  (Berlin). 

WaUasley  College  Psyehological  Stndies.   Directed  by  Mabt  W.  Calkdts. 
CoBDHLiA  0.  Nbvebs  :   Dr.  Jastbow  on  Community  of  ideas  of  men  and 
women.  Maboabbt  B.  SmiiONs:   Prevalence  of  Paramnesia.  Psychol.  Bev. 
Vol.  n.  July  1896.    S.  863—868. 
Jastbow  hatte  durch  Versuche  zu  ermitteln  geglaubt,  dafs  Frauen 
bei  Assoziationen  mehr  gemeinsame  (bei  verschiedenen  Individuen  über- 
einstimmende) Worte  gebrauchen,  als  Männer,  und  daiÜ9  sie  gewisse  Gebiete 
(Haushalt,  Essen)  bevorzugen,  abstrakte  Ausdrücke  seltener  gebrauchen. 
Bei  Wiederholung  der  Versuche  an  Studentinnen  des  Wellesley  College 
konnten   diese  Besultate   nicht  bestätigt  werden.    Positive  Ergebnisse 
worden  nicht  gewonnen,  vor  ver&ähter  Verallgemeinerung  wird  —  wohl 
mit  Becht  —  gewarnt. 

Die  zweite  kurze  Mitteilung  bezieht  sich  auf  Erinnerungst&uschungen 
bei  Assoziationen  von  Zahlen  an  Farben,  die  vorher  zusammen  gezeigt 
waren.  Es  werden  nach  dem  subjektiven  Gefühl  weit  häufiger  falsche 
Fälle  für  richtig  (noch  viel  häufiger  für  zweifelhaft),  als  richtige  für 
falsch  gehalten.  J.  Cohn  (Berlin), 


G.  K.  Ufhuxs.  Psychologie  des  Erkennens  vom  empirischen  Sla&d- 
pmikte.  I.  Bd.  Leipzig,  Engelmann,  1898.  318  S. 
In  der  Absicht,  eine  Bewufstseins-  und  Wahmehmungstheorie  zu 
geben  und  dadurch  die  Entstehung  des  Weltbildes  in  dem  gewöhzilichen 
Bewuistsein  zu  erklären,  bestimmt  Verfasser  zunächst  das  „Verhältnis 
der  Psychologie  zu  den  übrigen  philosophischen  Disciplinen*' 
derart,  dais  erstere  die  Voraussetzung  und  Grundlage  der  letzteren  bildet. 
In  sehr  losem  Zusammenhange  mit  dem  eigentlichen  Thema  fügt  er  an 
diesen  Abschnitt  eine  Darlegung  der  „Entstehung  des  Begriffes  der 
Seele  in  der  Philosophie  der  Griechen^,  wobei  lediglich  die  vor- 
sokratische  Zeit  berücksichtigt  und  dem  Kenner  der  Geschichte  der 
griechischen  Philosophie  nur  wenig  Neues  geboten  wird.  Ein  grOfseres 
Interesse  beanspruchen  die  nächstfolgenden  Ausführungen,  welche  „Unser 
Weltbild**  betreffen.  In  Konsequenz  des  empiristischen  Standpunktes, 
welchen  Verfasser  einnimmt,  leugnet  er  die  Existenz  irgend  welcher 
Apriorischen  Erkenntniselemente.    Naturding  ist  das  Undurchdring- 

Zcilidirill  Ar  Psychologie  X.  19 


290  lAUeralurherichU 

liohe  oder  im  Baum  Koexistierende,  während  mit  Naturyorgang  das 
in  der  Zeit  Sucoedierende  bezeichnet  wird.  Für  beide  Begriffe  ist  das 
Bewufstsein  der  Zusammengehörigkeit  der  Teile  wichtig,  welches 
durch  das  wiederholte  und  reg^lmäfsige  Zusammen-  und  Nacheinander-^ 
auftreten  der  Empfindungen  entsteht.  Als  ein  Überrest  des  Animismus  ist 
der  aus  den  MuskelgeftLhlen  stammende  Begriff  „Kraft"  aufzufassen  und 
durch  den  der  Zusammengehörigkeit  der  Teile  zusammengesetzter  Vor^ 
gftnge  unter  einander  und  des  ersten  Teiles  mit  dem  Dinge  selbst  zu  er- 
setzen. Natur  überhaupt  begreift  das  Transscendente  unter  sich, 
welches  nicht  fnur  den  Gegensatz,  sondern  auch  Gegenstand  des 
Bewufstseins  bildet,  wenn  auch  insofern  eine  Übereinstimmung  zwischen 
beiden  besteht,  als  das  Transscendente  in  dem  Bewufstseinsvorgange 
erst  seinen  Ausdruck  findet.  Diese  Übereinstimmung  ist  zunächst  und 
unmittelbar  nur  Sache  der  Überzeugung  und  selbst  mittelbar 
nicht  durch  eine  sichere,  sondern  nur  wahrscheinliche  Einsieht 
zu  erkennen,  welche  auf  der  Einrichtung  des  Bewufstseins,  in  den 
Vorgängen  das  Transscendente  uns  zu  vergegenwärtigen,  beruht.  Von 
gleichem  Gesichtspunkte  aus  werden  auch  noch  andere  Begriffe  definiert. 
So  wird  die  „Eigenschaft"  auf  den  räumlichen  Zusammenhang,  die 
„Erfahrungsthatsaohe"  auf  die  Zusammengehörigkeit  der  Teile 
von  Dingen  oder  Vorgängen  ftir  einen  einzelnen  Fall  zurückgeführU 
während  das  Naturgesetz  eine  derartige  Zusammengehörigkeit  ftLr 
alle  Fälle  bezeichnet.  Unter  den  Naturgesetzen  ist  wiederum  zu 
unterscheiden  zwischen  Substanzgesetzen  (Veränderungs-,  Bewegung»« 
und  Entwickelungsgesetzen)  und  Kausalitätsgesetzen,  bei  denen 
die  Verändertmg  oder  Bewegung  zweier  verschiedener  Dinge  in  Betracht 
kommt.  Der  Begriff  der  Ursache  selbst  ist  mit  dem  der  Kraft 
verwandt  und  ebenfalls  durch  den  der  Zusammengehörigkeit  zu 
ersetzen.  Eine  wichtige  Bolle  in  dem  Zustandekommen  unseres  Welt* 
bildes  spielen  die  Hypothesen,  d.  h.  Annahmen,  welche  mit  den  Em- 
pfindungen nicht  übereinstimmen.  Berechtigt  sind  sie  nur  bei  einem 
Widerspruche  der  Empfindungen  oder  der  Vorstellungen  und  Gedanken. 
Den  Schluss  der  125  Seiten  langen  Einleitung  bildet  ein  Abschnitt  über 
„Begriff  und  Methode  der  Psychologie  des  Erkennens^.  Das 
Erkennen  ist  auf  das  Transscendente  gerichtet  und  wird  von  der  Psy- 
chologie in  der  Art  seines  Zustandekommens  ohne  Rücksicht  darauf,  ob 
es  nur  ein  vermeintliches  oder  wirkliches  Erkennen  des  Transscendeoten 
ist,  untersucht.  Da  es  eine  BewuTstseinsthatsache  ist,  so  wird  es  unter 
Ausschlufs  alles  Metaphysischen  auf  analytisch-deskriptivem  Wege  «r- 
forscht.  Es  ist  somit  die  Psychologie  zunächst  nur  Individualpsychologie, 
infolge  der  empfundenen  oder  vorgestellten  Ausdrucksbewegungen  sind 
jedoch  auch  ohne  metaphysische  Voraussetzungen  fremde  BewuTstseine 
anzunehmen.  Den  Ausgangspunkt  bildet  die  allgemeinste  Eigenschaft 
der  Bewufstheit,  das  Ziel  besteht  in  der  Aufstellung  von  Klassenbegriffen 
durch  Aufdeckung  von  Ähnlichkeiten  und  in  der  Konstatierung  von  Ab- 
hängigkeiten, insofern  die  Bewufstseinsvorgange  eine  Stufenfolge  bilden, 
bei  der  ein  Glied  häufig  das  andere  bedingt.  Obgleich  die  genetische 
Methode  der  Metaphysik  eigen  ist,  macht  auch  die  Psychologie  von  ihr 


Litteraiurbericht  291 

Gebrauch,  wenn  sie  innerhalb  der  BewuTstseinsvorgänge  Glieder  als  Be- 
dingungen postuliert,   die  auf  analytischem  Wege  nicht  zu  finden  dnd. 

Die  eigentliche  Ausführung  seines  Themas  beginnt  Verfasser  mit  einer 
Festlegung  des  Begriffes  „Bewufstsein^,  das  drei  verschiedene  Be- 
deutungen annehmen  kann.  Zunächst  ist  es  als  Bewufstheit  das 
„Gattungsmerkmal"  und  insofern  ein  „logischer  Bestandteil"  der  Be- 
wuTstseinsvorgänge. Sodann  aber  bezeichnet  es  kleinere  Gruppen  von 
zusammengehörigen  Bewuistseinsvorgängen,  welche  durch  Beflexion  über 
gegenwärtige  und  Erinnerung  vergangener  Bewufstseinsthatsachen  ent- 
stehen. Drittens  giebt  es  auch  ein  Gegenstandsbewufst^ein,  ein  Wissen 
um  einen  Gegenstand,  d.  h.  um  ein  von  dem  Bewufstseinsvorgange  Ver- 
schiedenes. Der  Zusammenhang  der  Bewufstseinsvorgange  untereinander 
ist  das  eigentlich  individualisierende  Merkmal. 

Eine  Art  des  Gegenstandsbewufstseins  ist  die  Wahrnehmung,  die 
Transscendentes  in  ursprünglichen  Empfindungen  vergegenwärtigt.  Sie 
ist  1.)  ein  nicht  namentliches,  d.  h.  durch  Vorstellungen  vermitteltes 
Wissen,  2)  ein  nur  eingliedriger  Vorgang,  da  die  Trennung  des  wahr- 
genommenen Gegenstandes  vom  Wahrnehmungsorgane  und  Wahr- 
nehmungsvorgange erst  eine  Folge  der  Beflexion  über  die  Wahrnehmung 
ist,  und  auch  die  Beziehung  des  Bewuijstseins  auf  das  Transscendente 
nur  implicite  vorhanden  ist  und  der  Wahrnehmung  als  Eigenschaft  zu- 
kommt, abgesehen  davon,  ob  etwas  Transscendentes  wirklich  existiert 
oder  nicht;  3.)  eine  Anschauung,  bei  der  nichts  vom  Gegenstande 
bejaht  oder  verneint  wird,  sondern  dieser  geistig  so  erfafst  wird,  wie  er 
sich  in  dem  Anschauungsmittel  darstellt.  Aus  der  letzteren  Thatsache 
folgt  die  Berechtigung  des  Phänomenalismus,  von  welchem  jedoch 
der  Agnostizismus,  eine  metaphysische  Theorie,  wohl  zu  trennen  ist. 
Eine  Einsicht  in  die  Wahrheit  unserer  Wahrnehmungen  ist  überhaupt 
unmöglich,  nur  über  ihre  Wahrscheinlichkeit  giebt  das  Wahr 
nehmungsurteil  Aufschlufs. 

Der  letzte  Hauptteil  des  Werkes  behandelt  die  „Entstehung 
unseres  Weltbildes".  Die  Dingvorstellungen  vermitteln  zunächst 
nur  die  Muskel-  und  Gelenkempfindungen;  die  Gesichts-  und  anderen 
Empfindungen  vermögen  es  nur  durch  ihre  Assoziation  mit  den 
Tastempfindungen.  Dafs  auch  in  dem  Transscendenten  zwischen  Ding 
und  Nicht-Ding  zu  unterscheiden  ist,  hat  einen  dreifachen  Grund : 
a)  mit  den  Dingvorstellungen  zugleich  vermittelt  oft  das  nämliche 
Körperglied  Wahrnehmungen  anderer  Gegenstände;  b)  die  Intensität 
der  letzteren  hängt  oft  von  der  Nähe  der  Dinge  ab;  c)  das  Bewulst- 
sein  der  Zusammengehörigkeit  der  Eigenschaften  mit  dem  zugehörigen 
Dinge  ist  ein  ganz  eigentümliches,  nicht  durch  Assoziation  ge- 
wonnenes. Alle  Dinge  sind  wegen  ihrer  Eigenörtlichkeit,  an  der  auch 
die  Eigenschaften  teilhaben,  zxmächst  individuell.  Hierdurch  entsteht 
die  Vorstellung  der  Selbigkeit  eines  durch  mehrere  Sinne  wahr- 
genommenen Gegenstandes.  Auf  der  Vorstellung  der  Selbigkeit  früher 
und  jetzt  wahrgenommener  Gegenstände  beruht  wiederum  die  Vorstellung 
der  Fortdauer,  für  welche  die  Erinnerung  vereint  mit  dem  Wieder- 
erkennen nötig  ist.    Voraussetzung  hierbei  ist  nur  die  Fortdauer  unseres 

19* 


292  lAtteraturbericht 

Körpers,  nicht  die  unseres  BewuTstseins.  Dafs  Andere  und  wir  denselben 
Gegenstand  wahrnehmen,   wissen  wir   bei   Tönen,   Gerüchen  und   Tem- 
peraturen daher,  dafs  diese  Wahrnehmungen  an  einen  bestimmten  Baum 
gebunden  sind.    Schwierigkeit  bieten  nur  die  Gesichtsempfindungen,  bei 
denen  man  auf  die  Stellung  der  Augen  Bücksicht  nehmen  mufs,  welche 
wir  an  Anderen  mit  den  Greifbewegungen  verbunden  wahrnehmen  und 
bei  uns  selbst  daher  vorstellen.    Eine  Übereinstimmung  zwischen  den 
an  Anderen  wahrgenommenen  und  an  uns  vorgestellten  Augenstellungen 
belehrt  uns  nun  darüber,  dafs  die  Anderen  und  wir  den  nämlichen  Gegen- 
stand sehen.  — Ausdehnung  ist  „eine  Summe  gleichartiger,  gleichzeitiger, 
wechselseitig  zusammenhängender,  aber  nicht  einander  bedingender  Teile, 
die  wir  uns  in   Empfindungen    vergegenwärtigen^.    Die  Verschmelzung 
der  Teile  in  eine  einheitliche  Empfindung  verhindern  die  f%Lr  jeden  Teil 
charakteristischen  Muskel-  und  Gelenkempfindungen,  welche  beim  Tasten 
mit  bewegter  Hand,   bezw.  beim   Sehen   mit  bewegtem  Auge   mit  den 
Druck-,    bezw.    Gesichtsempfindungen   verbunden    und    daher    auch  bei 
übender   Hand  und  ruhendem   Auge   noch   wirksam  sind.     Tastbilder 
haben  drei  Dimensionen,  da  sich  die  Gelenkempfindungen  j  e  nach  der 
Beugung  der  Finger  unterscheiden;  Gesichtsbilder  erlangen  sie  erst  durch 
die  Assoziation  mit]den Tastempfindungen,  namentlich  bei  Greif  bewegungen. 
Das  Bewufstsein  des  der  Ausdehnung  eigenen  Zusammenhanges  der  Teile 
kommt   daher,   dafs    die    zugehörigen  Muskel-  und  Gelenkempfindungen 
ein   kontinuierlich    abgestuftes  System   bilden.    Zu   der  Vorstellung  der 
Gestalt   und   der    gegenseitigen  Entfernung    der   Dinge  gelangen  wir 
durch  die  Griffe  ins  Leere  beim  ümtasten  des  Gegenstandes.    Die  Ent- 
fernung   der    Gegenstände    von   uns   nehmen    wir    wahr    durch   Tast- 
empfindungen beim  Ausstrecken  der  Hand,  die  B  ich  tun g  der  Entfernung 
ist    bedingt    durch     die    Verschiedenheit    der    Gelenkempfindungen,    je 
nachdem    der  Gegenstand   oben   oder  unten,   rechts  oder  links  etc.  sich 
befindet;    für   die  Gesichtsempfindungen   kommt  wieder   die  Assoziation 
mit    den    Tastempfindungen    bei    Greifbewegungen    in    Betracht.     Die 
Wahrnehmung  der    Bewegung   ist   ein   einheitlicher,   in   einem  Zeit- 
momente sich  vollziehender  Vorgang;  es  wird  nämlich  der  Übergang  von 
einem  Orte   in  den   anderen  wahrgenommen,   da  die  mit  den  Tast-  und 
Gesichtsempfindungen   assoziierten,    den   Hand-   und   Augenbewegungen 
entsprechenden  En^pfindungen  ein  kontinuierlich  abgestuftes  System  von 
Bewegungen   bilden.      Auch   bei   ruhendem  Auge    und  ruhender   Hand 
werden  Bewegungen  wahrgenommen  infolge  der  Assoziation  der  hierbei 
entstehenden  Tast-    und  Gesichtsempfindungen  mit  denen  bei   bewegter 
Hand    und    bewegtem    Auge.      Die    Bewegungen    des    eigenen    Körpers 
werden  in  gleicher  Weise  wahrgenommen,  wie  die  anderer  Gegenstände. 
Da    Empfindungen   und    Gegenstände    unlöslich    miteinander   ver- 
bunden sind,  so  werden  erstere  an  den  Ort  letzterer  verleg^  (Projektions- 
theorie).    Indes  geschieht  dieses  nur  in  Gedanken,  indem  sich,  die  Vor- 
stellung  von    dem   Vorhandensein    der   Empfindungen    in   dem    eigenen 
Körper   einstellt   und  dann   dieser  an  den  Ort  der  Gegenstände  versetzt 
wird.    Gegen  die  Obj  ektivations-  und  Belativitätstheorie,  welche 
beide  letzten  Endes  eine  Theorie  bilden  und  mit  der  Projektionstheorie 


lAUeraturbericht  293 

verwandt  sind,  ist  einzuwenden,  dafs  weder  eine  Übertragung  der  Em- 
pfindung auf  die  Gegenstände,  noch  eine  Verweohselung  beider  in  der 
Wahrnehmung  selbst  vorgenommen  wird. 

Zum  Schlufs  sucht  Verfasser  die  Thatsachen  der  Generalisation, 
Abstraktion  und  Reflexion  zu  erklären.  Die  ersten  allgemeinen 
Vorstellungen  sind  die  den  Gesichts-,  Gehörs-,  Geruchs-,  Geschmacksr 
und  Temperaturwahmehmungen  entsprechenden,  bei  welchen  wir  von 
den  xnit  ihnen  verbundenen,  ihre  Gegenstände  individualisierenden  Ding- 
vorstellungen absehen.  Die  allgemeinen  Vorstellungen  von  einem  Ding  e 
und  seinem  Orte  kommen  dadurch  zu  stände,  dafs  einerseits  die  Zeit- 
vorstellung bei  den  Tastwahmehmungen  keine  Bolle  spielt,  andererseits 
die  Gegenstände  in  einer  Entfernung  vorgestellt  werden,  in  der  sie 
bequem  gefafst  werden  können,  so  dafs  auch  von  den  örtlichen  Ver- 
schiedenheiten abstrahiert  wird.  Die  abstrahierende  Thätigkeit  selbst 
aber,  welche  in  einem  Fehlen  oder  in  einer  einseitigen  Bichtung  der 
Aufmerksamkeit  besteht,  rührt  daher,  dafs  die  Vorstellungen  unbestimm- 
ter und  verschwommener  Wahrnehmungen  über  die  gröfsere  Bestimmt- 
heit gegenwärtiger  Wahmehmimgen  hinwegsehen  lassen  imd  so  die  V^r- 
gegenwärtigung  verschiedener  Gegenstände  durch  die  gleiche  Wahr- 
nehmung ermöglichen.  Mit  jeder  Wahrnehmung  ist  bereits  eine  zwiefache, 
natürliche  Abstraktion  verbunden:  a)  von  der  Empfindung  als  einem 
BewuXstseins vorgange,  b)  von  einigen  Seiten  des  Inhalts.  Eine  künst- 
liche Abstraktion  tritt  beim  Bilden  der  Individual-  oder  Allgemein- 
begriffe ein,  wo  eine  Beflexion,  und  zwar  eine  ontologische,  auf 
das  Transscendente  bezügliche  nötig  ist.  Eine  andere  Art  der  Beflexion 
ist  die  psychologische,  welche  die  BewuTstseins Vorgänge  betrifft 
Man  kann  nämlich  von  der  Zusammengehörigkeit  aller  Bewuistseins- 
vorgänge  absehen,  wie  dies  regelmäfsig  bei  der  einfachen  Kenntnisnahme 
geschieht.  Auf  diese  Weise  entstehen  allgemeine  Vorstellungen  von 
Bewufstseins Vorgängen,  deren  Individualisierung  ja  gerade  in  der  Zu- 
sammengehörigkeit besteht. 

Dies  sind  die  hauptsächlichsten  Ergebnisse  des  vorliegenden  Werkes, 
da  die  als  Anhang  beigegebenen  Ausführungen  über  die  „Bewufstseins- 
und  Wahrnehmungstheorien  des  Piaton  und  Aristoteles**  fast 
ausschliefslich  in  das  Gebiet  der  Geschichte  der  Philosophie  gehören. 
Es  ist  ohne  weiteres  zuzugeben,  daiÜs  Verfasser  in  sehr  sorgfältiger  und 
exakter  Weise  bestrebt  war,  seiner  Aufgabe  gerecht  zu  werden.  Schon 
äuiserlich  erkennt  man  dies  an  der  recht  ausführlichen  und  die  ein- 
schlägige Litteratur  ziemlich  eingehend,  wenn  auch  nicht  erschöpfend 
berücksichtigenden  Anmerkungen,  welche  hinter  jedem  Abschnitte  folgen. 
Ganz  besonders  anerkennenswert  in  dieser  Beziehung  ist  das  geradezu 
mustergültige  „Namen-  und  Sachregister*'.  Neben  der  Sorgfalt  und 
dem  Fleifse  muGs  auch  hervorgehoben  werden,  dals  Verfasser  in  scharfer, 
konsequenter  und  selbständiger  Weise  seine  Probleme  durchdenkt.  So 
bildet  namentlich  der  Abschnitt  über  die  „Entstehung  unseres  Welt- 
bildes" mancherlei  Interessantes  und  Anregendes.  Leider  ist  nur  dieses 
nicht  immer  der  Fall.  Gar  oft  gefällt  sich  Verfasser  in  tmfruchtbaren 
Definitionen,   in  der  Erfindung  neuer  Termini  für  längst  bekannte  That- 


294  lAtteraturhericht. 

Sachen  und  in  der  Aufstellung  unbewiesener  Behauptungen.  Auch  kann 
man  ihn  nicht  von  dem  Vorwurfe  freisprechen,  hier  und  da  allzu  ein- 
seitig vorgegangen  zu  sein.  So  sind  bei  der  „Entstehung  unseres  Welt- 
bildes" vielfach  die  Tastwahmehmungen  in  ihrer  Bedeutung  tlbersch&tzt 
und  einseitig  berücksichtigt  worden.  Oft  ist  auch  der  Empirismus  in 
allzu  gekünstelter  und  gewaltsamer  Weise  durchgeführt  und  zu  einem 
wenig  überzeugenden  Sensualismus  ausgeartet.  So  scheint  es  mir  schon 
recht  unzulänglich,  wo  nicht  gar  oberflächlich,  wenn  Verfasser  die  An- 
nahme apriorischer  Erkenntnismomente  als  eine  „überflüssige  Ver- 
doppelung**  bezeichnet,  weil  doch  ^die  besondere  Beschaffenheit  der 
Empfindungen  in  den  einzelnen  Fällen  die  ftlr  diese  Fälle  passenden 
Ideen  in  uns  wecken  müDste*'.  Ebensowenig  befriedigt  ans  dem  an- 
gegebenen Grunde  die  Art  und  Weise^  in  der  die  Entstehung  der  G^ne- 
ralisierung,  Abstraktion  und  Beflexion  erklärt  wird.  Indes  würde  es 
über  den  Bahmen  einer  kurzen  Besprechung  hinausgehen,  mit  dem  Ver- 
fasser über  all  die  einzelnen  Sätze,  welche  angriffsf&hig  sind,  zu  rechten. 
Es  sei  daher  nur  noch  auf  einen  Mangel  seiner  Arbeit  hingewiesen,  der 
für  den  Leser  äufnerst  störend  ist,  nämlich  die  Darstellungsweise.  Es 
kostet  nicht  geringe  Mühe,  sich  mit  dem  Gedankengange  des  Verfassers 
vertraut  zu  machen.  Selbst  seine  einfachsten  Ideen  werden  sehr  schwer 
fafslich,  teils  wegen  eines  eigentümlichen  Satzbaues,  teils  wegen  der 
Sucht,  die  sonst  üblichen  psychologischen  Termini  zu  meiden.  Es  mufs 
dies  um  so  mehr  auffallen,  als  Verfasser  sagt:  '„Meine  Absicht  war,  ein 
Buch  zu  schaffen,  das  auch  meinen  Zuhörern  schon  in  den  ersten  Se- 
mestern von  Nutzen  sein  könnte.''  Da  Verfasser  noch  einen  zweiten 
Band,  in  dem  eine  XJrteilstheorie  und  auf  Grund  derselben  eine  fhrklftrung 
der  Entstehung  unseres  Sprachbewufstseins  versucht  werden  soll,  und 
eine  Psychologie  des  Willens  ankündigt,  so  halte  ich  es  für  meine  Pflicht, 
eine  klarere  und  leichter  verständliche  Ausdrucksweise  im  Interesse  der 
Leser  zu  wünschen.  Arthur  Wkbschner  (Berlin). 

Edmund  Montoomsbt.  The  Integration  of  mind.  Mind.  N.  S.  Vol.  IV. 
S.  306-319.  (Juli  1895.) 
Der  anregende  Aufsatz  beschäftigt  sich  mit  der  „Frage  der  Fragen*". 
Alle  unsere  geistigen  Erlebnisse  haben  nur  momentane  Existenz.  Sie 
vergehen,  ohne  je  wiederzukehren.  Können  wir  aus  ihnen  rechtmälsig 
auf  das  schliefsen,  was  ihnen  als  dauerndes  Substrat  zu  Grunde  liegt? 
Können  wir  einen  gültigen  Begriff  der  aufserbewufsten  Existenz  bilden, 
in  der  die  zeitlich  vorüberrauschenden  Bewufstseinsvorgänge  in  einer 
verborgenen  Art  und  Weise  aufbewahrt  bleiben?  Von  fremdem  Bewufst- 
sein  haben  wir  keine  direkte  Kenntnis.  Was  wir  von  anderen  Wesen 
erfahren,  erscheint  toto  genere  verschieden  von  der  inneren  Existenz  des 
Bewufstseins.  Mit  der  Lösung  des  fein  gestellten  Problems  macht  es 
sich  der  Verfasser  aber  doch  etwas  leicht.  Er  läfst  das  körperlich- 
geistige Substrat  und  die  organische  Entwickelung  einspringen.  Damit 
ist  aber  nach  Ansicht  vieler  Denker  die  Frage  umgangen,  nicht  gelöst. 
Die  verschiedenen  Modifikationen  der  Annahme  eines  eigenen  geistigen 
Substrats,   die  auch  von  Anhängern  des  Parallelismus   unternommenen 


LiU&raHtrbericht.  295 

Kanstruktionen  der  psychischen  Seite  hätten  eine  gründlichere  Beleuchtung 
verdient.  Auf  die  Einzelheiten  des  knapp  und  klar  dargelegten  G-edanken- 
ganges  einxugehen,  ist  in  diesem  Beferate  nicht  der  Ort.  £s  hedttrfte 
dlua  gründlicher  prinzipieUer  Auseinandersetzungen.  Hervorgehoben 
lawfs  werden,  dais  die  S.  315  gegebene  Kaht- Auffassung  denn  doch  dem 
gpvoisen  Denker  nicht  gerecht  wird,  obgleich  sich  diese  Art  der  Populari- 
sierung  seiner  Gedanken  noch  immer  breit  macht. 

J.  OoHN  (Berlin). 

W.  James.  Tha  Knowing  of  Tbingg  Together.  PsychoL  Bev.  IL  S.  105—124. 
(1895.) 

Jakbs  schildert  uns  hier  in  einem  Tortrage  die  verschiedenen  Stand- 
punkte, von  denen  aus  bisher  eine  Erkl&rung  der  synthetischen  Ver- 
einigung mehrerer  Bewulstseinsinhalte  (der  Auffassung  des  „Zusammen") 
vsKSucht  worden  ist  Er  betrachtet  kritisch  die  Bolle,  die  der  Auf- 
merksamkeit» dem  G-edftchtnis,  dem  SelbstbewuXstsein,  der  individuellen 
«■d  der  Weltseele  und  anderen  Faktoren  zu  jenem  Endzweck  vindiziert 
liosden  ist,  ohne  seinerseits  den  Versuch  einer  positiven  Lösung  des 
Piohlems  machen  zu  wollen;  besonders  wendet  er  sich  gegen  die 
Assoziationisten  einerseits,  gegen  die  Verteidiger  eines  einheitlichen 
Saelenwesens  andererseits.  Bemerkenswert  ist  ein  Gest&ndnis,  das  er 
zam  SchluXs  macht:  Hatte  er  früher  geleugnet,  dafs  die  Frage,  wie  wir 
aar  Auffassung  des  „Zusammen**  kommen,  überhaupt  in  eine  Psychologie 
—  i^als  Naturwissenschaft  betrachtet  —  hineingehöre,  so  ist  er  jetzt 
anderen  Sinnes  geworden,  da  die  strikte  Ausschliefsung  metaphysischer 
und  erkenntnis-theoretischer  Betrachtungen  aus  psychologischen  Arbeiten 
unmöglich  sei. 

Oberraschen  muJis  bei  Jambs  die  Bemerkung  (S.  114):  „Die  Er- 
sakeinungen  der  Dissoziation  des  Bewufstseins,  mit  denen  uns  die  neueren 
ÜBtarsuchungen  über  hypnotische,  hysterische  und  Traumzustände  be- 
kaant  gemacht  haben,  werfen  mehr  neues  Lieht  auf  die  menschliche 
Natnr,  als  die  Arbeiten  aller  psychophysischen  Laboratorien  zusammen- 
genommen.'' W.  Stesk  (Berlin). 

1.  Tb.  Flournot.  De  l'aotioB  du  milien  sur  Tidtotion.  L'annü  pstfcM. 
L   8.  180-190.  (1895.) 

2.  — -  Un  eas  de  persennüloatlon.    Ebenda  S.  191^197. 

8.  —  De  riniluenee  de  la  perceptlon  Tisaelle  das  oorps  sur  leor  poids 
ayparent.  Ebenda  S.  198^908. 
1.  Welchen  Einflufs  übt  das  „milieu  psychologique"  —  die  Summe 
allea  dessen,  das  im  fraglichen  Augenblick  die  Sinne  treffen  kann  oder 
kuiB  vorher  treffen  konnte  —  auf  den  Vorstellungsverlauf  aus?  Zur 
Beantwortung  dieser  Frage  l&fst  Floüshot  nach  der  Anweisung  Bnrinrs 
seine  Versuchsperson  1.  zehn  Handlungen  nennen,  die  sie  in  dem  Zimmer, 
•in  dem  sie  sich  eben  befindet,  ausführen  könnte;  3.  in  einem  Zug  zehn 
Wdxter  aufschreiben ;  3.  möglichst  rasch  zehn  Zeichnungen  entwerfen.  — 
Aas  der  ersten  Aufgabe  ergab  sich  gar  nichts.  Aus  der  zweiten  und 
dritten,   da^  87.27o  der  Wörter  und  15.7V«  der  Zeichnungen  unter  dem 


296  LUteraturhericht 

Einflüsse  des  milieu  entstandeD  sind,  während  13.t  Wörter  und  41.1  Zeich- 
nungen vom  Hundert  der  „Individualit&t^  (Ghewohnheiten,  jüngst  ver- 
gangene Erlehnisse)  entsprangen  und  der  Best  unerklärt  hlieh.  —  Eine 
Beantwortung  der  Frage,  welche  Vorstellungen  unter  dem  Einfluls  einer 
bestimmten  Umgebung  am  leichtesten  und  schnellsten  in  uns  entstünden, 
hält  Floübhot,  im  Gegensatz  zu  Binbt,  auf  diesem  Weg^  für  aus- 
geschlossen, wie  er  sich  überhaupt  der  ganzen  Tersuchsanordnung  g^egen- 
über  ziemlich  skeptisch  verhält;  und  ich  meine,  mit  vollem  Beoht. 

2.  Floubhot  berichtet  über  einen  jener  Fälle  von  Synopsie,  die 
darin  bestehen,  dafs  irgend  ein  Wort  regelmäfsig  die  anschauliche  Vor- 
stellung einer  mit  diesem  in  gar  keinem  Zusammenhang  stehenden 
Person  hervorruft.  Ein  Herr  E.  F.  hat  u.  a;  auch  für  die  Wochentage 
derartige,  sehr  lebhafte  „Personifikationen' ,  z.  B.  Dienstag:  Ein  lachender 
Mann,  der,  sich  bückend  und  die  Hand  zwischen  den  Beinen  durch- 
steckend, etwas  hinter  ihm  liegendes  stiehlt;  bedeckter  ELimmel.  Freitag: 
Derselbe  Mann,  den  gestohlenen  Gegenstand  zu  Markte  tragend;  heiterer 
Himmel.  —  Die  Erklärungen,  die  Floxtbnot  von  manchen  Einzelheiten 
in  den  Angaben  des  M.  E.  F.  giebt,  sind  so  selbstverständlich,  daHs  man 
sich  beinahe  fragt,  ob  solche  Dinge  denn  wirklich  gedruckt  werden 
müssen.  Dieselbe  ^Natürlichkeit  und  Selbstverständlichkeit  gereicht 
jedoch  der  Erklärung  des  Gesamtphänomens  (S.  194)  zur  Empfehlung. 
Danach  ist  aber  die  Personifikation  gar  nichts  Anderes,  als  eine  etwas 
auffallendere  Bethätigung  der  allergewöhnlichsten  Gesetze  des  Vor- 
stellungsverlaufes, und  deshalb  glaube  ich  auch,  dais  man  ihr,  wie  der 
Synopsie  überhaupt,  ebenso  der  audition  coloröe  und  allen  den  hierher- 
gehörigen Dingen  im  Verhältnis  zu  ihrer  doch  nur  untergeordneten  Bedeu- 
tung von  mancher  Seite  zu  viel  Ehre  anthut. 

8.  Der  Verfasser  schlägt  als  greifbaren  Beweis  für  die  Nichtexistenz 
einer  Innervationsempfindung  folgenden  Versuch  vor.  Man  stelle  einer 
unvoreingenommenen  Person  die  Aufgabe,  eine  Gruppe  von  verschieden 
gprofsen  Körpern,  die  thatsächlich  gleich  schwer  sind,  nach  deren  Gewicht 
zu  ordnen.  In  der  Begel  kommt  dabei  eine  Beihenfolge  heraus,  die  im 
grofsen  und  ganzen  mit  der  der  Volumina  übereinstimmt,  und  zwar  so, 
dafs  der  gröfste  die  Stelle  des  leichtesten  Körpers  einnimmt.  GHlbe  es 
Innervationsempfindungen,  so  müfste,  meint  Floubnot,  wenn  schon  nicht 
die  Gleichheit  der  Gewichte  erkannt  werden,  so  doch  wenigstens  der 
umgekehrte  Irrtum  Platz  gpreifen.  —  Solche  Versuche  wurden  mit  50  Per- 
sonen angestellt;  42  davon  setzten  den  gröisten  Körper,  dessen  Volum 
21  Mal  so  grofs  war  als  das  des  kleinsten,  als  leichtesten  an,  45  den 
kleinsten  als  schwersten,  und  nur  eine  einzige  Person  erkannte  die 
Gleichheit  der  Gewichte.  —  Die  Täuschung  blieb  auch  bestehen,  wenn 
durch  das  Heben  an  einem  Faden  die  Art  der  Berührung  aller  Köiper 
mit  der  Hand  die  gleiche  war;  sie  verminderte  sich  bei  geschlossenen 
Augen.  Zur  Untersuchung  der  Gröfse  und  der  Hartnäckigkeit  der 
Täuschung  wurden  Nebenversuche  gemacht,  die  teilweise  sehr  interessante 
und  merkwürdige  Ergebnisse  hatten.  —  Die  Erklärung  der  Täuschung 
baut  Flournot  auf  zwei  Voraussetzungen  auf,  von  denen  die  eine  die 
bekannte   MüLLSR-ScmiMANNsche    Hypothese    „Über   die   psychologischen 


Lüteraturhericht  297 

Chnindlagen  der  Vergleichang  gehobener  Gewichte^  (Pflüg er s  Arch,  1889) 
ist,  die  andere  aber  verlangt,  dafs  die  Intensität  des  unbewnrsten 
lentralen  Bewegongsimpnlses  sich  automatisch  nach  dem  wahrscheinlichen 
Gewicht  des  zu  hebenden  Körpers  richte.       ^  Witasbk  (Graz). 

6.  BncHARD.    As  erkttlesi  örsös  (Dar  moralische  Sinn).    Budapest  1894. 
Leo  B^vai.    95  S.    (Selbstbericht.) 

Die  Untersuchung  befeUTst  sich  mit  dem  ethischen  Gefühl  zugleich 
Ton  der  psychologischen  und  von  der  physiologischen  Seite;  sie  geht  von 
dem  Prinzip  aus,  dais  jeder  psychische  Vorgang  die  andere  Seite  eines 
Nervenprozesses  ist,  und  dals  die  Erklärung  eines  jeden,  auch  des  kompli- 
ziertesten psychischen  Phänomens  nur  möglich  ist,  unter  gleichzeitiger 
Berücksichtigung  der  physiologischen  und  der  psychologischen  Seite  der 
Thatsachen. 

Der  Ausgangspunkt  der  Abhandlung  ist  die  Grundthese,  dafs  beim 
Vorstellen  eines  Gefühls  oder  einer  Handlung  im  Nervensystem  Prozesse 
vor  sich  gehen,  welche  denjenigen  ähnlich  sind,  die  beim  wirklichen 
iSmpfinden  desselben  Gefühls  und  beim  wirklichen  Vollbringen  derselben 
Handlung  im  Nervensystem  statthaben. 

Dies  wird  bewiesen  durch  die  bekannten  Erfahrungsthatsachen,  daJb 
z.  B.  das  Vorstellen  des  Lachens  oder  Weinens  an  und  für  sich  und  ohne 
dais  der  Wille  hierauf  gerichtet  wäre ,  die  Stimmung  des  Lachens  oder 
Weinens,  und  sogar,  wenn  das  Vorstellen  lebhaft  genug  ist,  das  lächelnde 
oder  betrübte  Gesicht,  also  die  Anfangsbewegungen  des  Lachens  oder 
Weinens  verursacht,  oder  dafs  das  lebhafte  Vorstellen  des  Fechtens  oder 
des  Kampfes  die  Anfangsbewegungen  des  Kampfes  nach  sich  zieht.  Auch 
auf  deduktivem  Wege  läXst  sich  diese  Grundthese  beweisen.  Da  einem 
psychischen  Zustande,  also  auch  dem  Vorstellen  eines  Gefühls  oder  einer 
Handlung,  ein  Nervenprozefs  zu  Grunde  liegen  mufs,  so  folgt  hieraus, 
daüs,  insoweit  der  eine  psychische  Zustand,  nämlich  das  Vorstellen  einer 
Handlung  oder  eines  Gefühls,  dem  anderen,  dem  Handeln  oder  Empfinden, 
ähnlich  ist,  auch  der  zu  Grunde  liegende  Nervenprozefs  dem  anderen 
ähnlich  sein  mufs. 

Aus  dieser  Grund these  folgt  die  Erklärung  des  Phänomens  der 
Nachahmung,  d.  h.  die  Thatsache,  dass  es  gewisse  Handlungen  giebt,  in 
Bezug  auf  welche  der  das  Vorstellen  begleitende  Nervenprozefs  unter 
günstigen  Umständen  die  motorische  Struktur  in  Bewegung  setzt  und 
auf  diese  Weise  die  Nachahmung  nach  sich  zieht.  Hier  folgt  eine 
Polemik  gegen  die  BxiNSche  Auffassung  der  Nachahmung.  Nach  Bain 
hängt  die  Nachahmung  damit  zusammen,  dals  die  Vollbringung  der  nach- 
geahmten Handlung  öfters  gesehen  wurde,  wogegen  die  Thatsache 
spricht,  dafs  auch  solche  Handlungen  nachgeahmt  werden  können,  die 
nicht  gesehen,  sondern  nur  vorgestellt  worden  sind. 

Aus  derselben  Grundthese  folgt  in  einer  anderen  Bichtung  die  Er- 
klärung des  Phänomens  der  Sympathie,  und  zwar  abweichend  von 
deijenigen  Hxbbert  Spenobbs.  Nach  dessen  Auffassung  würde  die  Sym- 
pathie aus  dem  herden weisen  Zusammenleben  und  daraus  zu  erklären 
sein,  dalh  die  Freuden  und  Schmerzen  viele  Mitglieder  der  Herde  zugleich 


298  LitUraHirberu^t 

treffen.  Hiergegen  wird  eingewandt,  dais  es  eine  Sympathie  auch  betreffi 
solcher  Freuden  und  Schmerzen  giebt,  die  nicht  herdenweise,  sondern 
nur  einzelweise  auftreten,  und  dafs  das  Charakteristische  der  Sympathie 
gerade  das  ist,  da£s  sie  auf  auf  jede  Art  Yon  Freuden  und  Schmusen 
reagiert. 

Aus  derselben  Grundthese  wird  endlich  das  ethische  (moralische) 
Gefühl  erklärt,  und  zwar  so,  dafs  der  diesem  Gefühle  zu  Grunde  liegende 
Nervenprozefs  die  hohe  Kompliziertheit  yieler  einzelnen  miteinander 
verknüpften  Nervenprozesse  ist,  welche  das  Vorstellen  menschlicher 
Handlungen  und  GefCLhle  begleiten. 

Das  ethische  Gefühl  wird  als  ein  Gefühl  des  Schmerzes  oder  der 
Freude  aufgefaist,  und  es  wird  der  Unterschied  dieses  Gefühls  von 
anderen  Schmerzens-,  resp.  Freudegefühlen,  und  besonders  der  TTnter- 
schied  zwischen  diesen  und  den  ihnen  am  meisten  Ähnlichen  ästhetischen 
Schmerzens-  und  Freudegefühlen  ausgeführt.  Das  Ergebnis  der  Aus- 
Alhrung  ist,  dafs  beide,  das  ästhetische  sowie  auch  das  ethische  G^ahl, 
Lust-  und  XJnlustgefühle  des  höheren  Teiles  des  Organismus  sind,  and 
zwar,  wenn  wir  berechtigt  sind,  im  Organismus  einen  fühlenden  und 
denkenden  (sensorischen)  und  einen  bewegenden,  handelnden  (motorischen) 
Teil  zu  unterscheiden,  können  wir  das  ästhetische  Gefähl  als  Lust  und 
Unlust  der  fühlenden  und  denkenden,  und  das  ethische  Gefühl  als  Lust 
und  Unlust  der  handelnden  Struktur  betrachten. 

Die  Entstehung  des  Gefühls  der  ethischen  Freude  resp.  des  ethischen 
Schmerzes  wird  in  folgenden  Betrachtungen  entwickelt:  Stellen  wir 
uns  vor,  es  habe  jemand  eine  herzhafte  That  vollbracht,  so  laufen  in 
unserem  Nervensystem  ähnliche  Nervenvorgänge  ab,  als  hätten  wir  die 
That  selbst  vollbracht.  Und  da  das  Vollbringen  der  That  mit  angenehmen 
Nervenvorgängen  einhergegangen  sein  würde,  — •  beim  Vorstellen  aber 
diesen  ähnliche  Nervenvorgäuge  entstehen,  so  geht  das  Vorstellen  einer 
herzhaften  That  durch  Entstehen  der  ähnlichen  Nervenprozesse  mit  dem 
Gefühle  der  Lust  einher.  Dieses  Lustgefühl  unterscheidet  sich  von  den 
gewöhnlichen  Lustgefühlen  dadurch,  dais  es  mit  komplizierten  Handlungs- 
vorstellungen verbunden  und  in  komplizierter  Weise  auftritt  und  hier- 
durch als  ein  spezielles  Lustgefühl,  als  ethisches  (moralisches)  Lustgefühl, 
gekennzeichnet  ist.  Nehmen  wir  des  weiteren  an,  dais  wir  erfahren,  es  hätte 
jemand  gestohlen.  Li  diesem  Falle  wird  das  Vorstellen  des  Stehlens  mit 
unangenehmen  Empfindungen,  mit  ethischer  Unlust  verbunden  sein,  vor 
allem  aus  dem  Grunde,  dafs  unser  Organismus,  resp.  die  Natur  un- 
serer Seele  eine  derartige  ist,  dafs  die  faktische  Ausübung  dep 
Stehlens  für  uns  mit  Unlust  verbunden  wäre  imd  beim  Vorstellen 
des  Stehlens  die  unlusterregenden  Nervenprozesse  ablaufen.  In  diesem 
Falle  wird  aber  die  Unlust  noch  in  gewissem  Grade  durch  einen 
anderen  Umstand  vermehrt,  nämlich  dadurch,  dais  wir  neben  dem  Akte  des 
Stehlens  uns  auch  noch  den  Seelenzustand  des  Bestohlenen,  die  Unan- 
nehmlichkeiten und  Leiden  vorstellen,  die  ihm  der  Diebstahl  verursacht. 
Betrachten  wir  alle  diese  Seelenzustände  vom  psychophysiologischen 
Standpunkte,  d.  h.  ziehen  wir  in  Betracht,  dafs  die  Vorstellung  aller 
dieser    als  Folgen  der   ersten  Handlung  auftauchenden  Seelenzustände 


Litteraiurbericht  299 

aucli  Nervenvorgänge  mit  sich  ziehen,  so  ist  es  klar,  dafs  in  uns  ein 
yielfaoh  zusammengesetzter  Seelenprozefs  und  natürlich  ebenso  vielfach 
zusammengesetzter  Nervenprozels  abläuft,  welcher  aus  Vorstellungen  von 
vielen  Handlimgen  und  Gefühlen,  verbunden  mit  komplizierten  schmerzens- 
voUen  Seelen-  und  Nervenvorgängen,  besteht.  Dies  ist  ein  Zustand  eines 
komplizierteren  ethischen  Schmerzensgefühles,  welche  gröXisere  Kom- 
pliziertheit natürlich  auch  bei  ethischen  Freudegeföhlen  auftreten  kann. 

Des  weiteren  wird  die  noch  grOfsere  Kompliziertheit  des  ethischen 
OefÜhls  auf  ähnliche  Weise  abgeleitet,  und  untersucht,  von  welchen 
Umständen  der  Grad  des  ethischen  Gefühls  abhängt,  d.  h.  wovon  der 
Umstand  abhängt,  dals  wir  die  ethische  Lust  und  Unlust  in  Bezug  auf 
manche  Handlungen  resp.  auf  manche  Personen  stärker  oder  schwächer 
als  in  Bezug  auf  andere  empfinden.  Als  Ergebnis  wird  gefunden ,  dals 
der  Grad  der  ethischen  Lust  und  Unlust  einesteils  von  der  Menge  der 
vorgestellten  Handlungen  und  Empfindungen  und  andererseits  von  ihrer 
Intensität  abhängt.  Hieraus  und  aus  den  Gesetzen  der  Ideenassoziation 
werden  die  Thatsachen  abgeleitet,  dafs  die  ethischen  Gefühle  in  Bezug 
auf  uns  selbst  oder  auf  uns  nahestehende  Leute  ceteris  paribus 
stärker  sind,  dafs  die  zielbewuisten  menschlichen  Handlungen  ceteris 
paribus  ein  intensiveres  ethisches  Gefühl  verursachen  als  die  übrigen, 
und  dals  endlich  die  höhere  Kultur  ebenfalls,  im  Falle  die  übrigen 
Umstände  gleich  sind,  einen  höheren  Grad  des  ethischen  Gefühls  mit 
sich  bringt. 

Hiemach  wird  ausgeführt,  dafs  die  Definitonen  der  Philosophen, 
welche  die  sittlichen  und  unsittlichen  Handlungen  zum  Gegenstand 
hatten,  fehlschlugen,  weil  die  Beurteilung  der  menschlichen  Handlungen 
in  Bezug  auf  Sittlichkeit  davon  abhängt,  ob  sie  die  sittliche  Unlust  oder 
Lust  wachrufen,  und  dals  die  Definition  also  hiervon  ausgehen  mufs, 
und  es  folgt  eine  Ausführung  über  die  Definitionen  von  Bentham  und 
Hbebebt  SP£NCBR. 

Hierauf  geht  die  Abhandlung  auf  die  Folgen  des  ethischen  Gefühls 
über,  nämlich  auf  die  Gesetze  der  BLandlungen,  die  infolge  der  ethischen 
Lust  oder  Unlust  durch  die  Menschen  vollbracht  werden.  Das  ethische 
Oefühl  hat  nämlich  auTser  der  Empfindung  der  Lust  und  Unlust  auch 
ein  emotionelles  Moment,  welches  die  Ursache  davon  ist,  dafs  der 
Mensch,  in  dem  es  erwacht,  in  vielen  Fällen  gewisse  Handlungen  voll- 
bringt, oder  wenigstens  den  Wunsch  hat,  gewisse  BLandlungen  zu  voll- 
bringen —  was  nichts  anderes  ist,  als  das  Anfangstadium  des  VoUbringens. 
Wenn  wir  dieses  emotionelle  Moment  des  ethischen  Gefühles  analysieren 
wollen,  müssen  wir  von  der  allgemeinen  Erscheinung  ausgehen,  dals 
jede  intensivere  Empfindung  sich  in  irgend  einer  Handlung 
kundzugeben  strebt.  Diese  Erscheinung  ist  es,  die  sich  darin  kund- 
giebt,  dafs  wir  bei  groXser  Freude  frohlocken,  die  Hände  zusammen- 
schlagen, auf  und  ab  gehen,  bei  grofsem  Schmerz  hingegen  weinen, 
seufzen,  die  Hände  ringen,  bei  grolser  Aufregung  Dinge  zertrümmern, 
toben.  Die  physiologische  Seite  dieser  psychischen  Erscheinimg  ist  sehr 
einfach  zu  erklären :  Da  der  motorische  Teil  des  menschlichen  Organismus 
durch  Prozesse  des  Nervensystems  in  Bewegung  gebracht  wird,   so   ist 


300  lAtteraturbericht. 

es  nattbrlich ,  dais  Nervenprozesse,  die  in  grofser  Zahl  und  Intensit&t 
auftreten,  den  motorischen  Teil  des  Organismus  leicht  in  Beweg^ong  yer- 
setzen  werden.  Nun  entspricht  aber  dem  Seelenzustande  grofser  Freude 
oder  grofsen  Schmerzes  vom  physiologischen  Standpunkte  aus  ein  Auf- 
treten zahlreicher  Nervenvorgftnge  im  Organismus,  und  so  ist  es  klar, 
dafs  die  diesem  Seelenzustande  entsprechenden  physiologischen  Vorginge 
den  motorischen  Teil  des  Organismus  leicht  in  Bewegung  setzen.  Es 
ist  zwar  möglich,  dafs  ein  Freude-  oder  Schmerzgefahl  sich  nicht  in 
Bewegung  kundgeben  wird,  sei  es,  weil  es  nicht  genfigend  stark  ist,  um 
den  Organismus  in  Bewegung  zu  setzen,  sei  es,  weil  andere  organische 
Vorgänge  die  Bewegung  hindern,  —  immer  aber  finden  wir,  bei  jedem  inten- 
siveren GefQhle,  —  ob  es  schmerzlich  oder  freudig  — ,  dafs  es  die  Tendenz 
besitzt,  sich  in  Bewegung  kundzugeben,  und  dafs  diese  Tendenz  um  so 
stärker  ist,  je  intensiver  die  Empfindung  ist. 

Es  hat  dieser  fCkr  G-eftLhle  jeder  Art  unbedingt  gültige  Satz  auch 
für  das  ethische  Gefahl  Geltung.  Das  ethische  Gefühl  ist  auch  eine 
Art  des  Lust-  oder  UnlustgefOhles ,  welchem  im  Organismus  das  Auf- 
treten gewisser  Nervenvorgänge  entspricht.  Es  sind  also  diese,  das 
Wesen  des  ethischen  Gefühles  bildenden  Nerven  Vorgänge,  im  Falle  ge- 
nügender Intensität,  ebenso  im  stände,  den  motorischen  Apparat  in  Be- 
wegung zu  setzen,  als  jede  andere  Art  des  Lust-  oder  UnlustgefÜhles. 
So  finden  wir  denn  auch,  dafs  der  intensive  ethische  Schmerz  in^  zornigem 
Gesichtsausdrucke,  in  leidenschaftlichen  Körperbewegungen,  —  die  inten- 
sive ethische  Freude  in  frohem  Gesichtsausdrucke  und  freudiger  körper- 
licher Bewegung  sich  kundgeben,  die  in  grofsem  Mafse  anderen  Freude- 
oder Schmerzkundgebungen  ähnlich  sind.  Nehmen  wir  z.  B.  den  Fall 
an,  dafs  jemand  vor  unseren  Augen  mifshandelt  werde.  In  solchen 
Fällen  ist  das  auftretende  ethische  ünlustgefähl  sehr  intensiv  und 
ähnlich  demjenigen,  welches  bei  Mifshandlung  unserer  eigenen  Person 
auftreten  würde.  Es  wird  sich  dieses  intensive  Gefühl,  —  indem  es  durch 
die  intensiven  Nervenvorgänge  den  motorischen  Teil  des  Organismus  in 
Bewegung  setzt,  —  in  Beweg^ung  kundgeben,  und  zwar  werden  die  so 
entstehenden  Bewegungen  infolge  der  Ähnlichkeit  der  Nervenvorg^ge 
weniger  intensiv,  aber  immerhin  in  gewissem  Grade  denen  ähnlich  sein, 
welche  bei  Mifshandlung  unserer  eigenen  Person  entstehen  würden.  D.  h* 
es  treten  in  uns  bei  Mifshandlungen ,  die  an  unseren  Mitmenschen 
verübt  werden,  der  Bachsucht  ähnliche  ethische  Erregungen  auf.  Wir 
blicken  mit  Zorn  auf  den  Verüber  der  Brutalität,  und  ist  die  Erregung 
genügend  intensiv,  so  werden  wir  ihn  auch  angreifen.  In  komplizierteren 
Fällen  wird  es  von  mehreren  Faktoren  abhängen,  welcher  Art  die 
Handlung  ist,  in  welcher  sich  ein  ethisches  Gefühl  kundgiebt  oder 
kundzugeben  trachtet.  Es  ist  nämlich  erstens  das  auftretende  ethische 
Gefühl  in  gewissem  Grade  demjenigen  ähnlich,  welches  durch  einfaches 
Vorstellen  des  Aktes  der  Mifshandlung  entsprechen  würde,  wird  also 
die  Tendenz  haben,  Handlungen  der  einfachen  Bache  zu  veranlassen;  es 
entsteht  aber  zweitens  durch  das  Vorstellen  der  Folgen  der  Handlxmg 
im  Organismus  eine  zweite  Gruppe  von  Nervenvorgängen,  welche  die 
Wirkung  der  ersten  Gruppe  modifiziert,  wodurch  die  komplizierten  Hand- 


Litteraturbericht  3U1 

limgen  der  Strafe  entstehen,  welche  Ausfluls  des  aufwallenden  Baohe- 
i;;ef&hls  sind,  die  durch  das  Vorstellen  der  Folgen,  also  durch  andere 
zugleich  auftauchende  Nervenvorgftnge  modifiziert  werden.  So  wie  der 
intensive  ethische  Schmerz  in  Bache  und  Strafbegier,  bezw.  in  VoU- 
f&hren  r&chender  oder  strafender  Handlungen,  so  giebt  sich  die  intensive 
«thische  Freude  in  DankesgefQhl  und  im  Wunsche  oder  Vollführen 
dankbarer  Handlungen  kund. 

Diese  strafenden  und  lohnenden  Handlungen  sind  in  gewissem  Grade 
denen  Ähnlich,  die  derjenige  vollführt,  dem  die  Handlung  die  Freude 
oder  den  Schmerz  unmittelbar  verursacht  hatte,  und  zwar  wird  diese 
Ähnlichkeit  um  so  gröfser  sein,  aus  je  einfacheren  Elementen  imser  ethisches 
GefQhl  besteht.  Aus  je  komplizierteren  Elementen  unser  ethisches  GefUhl 
hesteht,  aus  desto  komplizierteren  Nervenvorg&ngen  gehen  auch  die 
Handlungen  der  Bache  oder  des  Dankes  hervor,  und  um  so  weniger 
werden  sie  den  primitiven  Handlungen  der  Bache  oder  des  Dankes 
gleichen,  unbeschadet  der  Ähnlichkeit  des  Grundcharakters  beider  auch 
in  den  kompliziertesten  Fällen.  Untersuchen  wir  die  gewöhnlich  zu 
beobachtenden  Kundgebungsarten  des  Dankes  und  der  Bachbegier,  so 
sehen  wir,  dafs  sowohl  die  eine  wie  die  andere  sich  nicht  in  der  Mehr- 
zahl, sondern  nur  in  der  Minderzahl  der  Fälle  in  Handlungen  kundgiebt. 
Wir  nehmen  die  Mehrzahl  der  moralischen  oder  unmoralischen  Hand- 
ungen zur  Kenntnis,  ohne  sie  zu  belohnen  bezw.  zu  bestrafen,  und 
offenbart  sich  unsere  ethische  Erregung  zumeist  immer  in  der  blassen 
Form  des  Wunsches,  die  That  zu  bestrafen  oder  zu  belohnen,  oder  in 
der  noch  blasseren  Form  der  Meinimg,  die  That  verdiene  Dank  bezw. 
Strafe,  welche  Seelenzustände  auch  nichts  anderes  sind,  als  weniger 
intensive  Erscheinungsformen  des  zum  Handeln  führenden  Seelenzustandes. 
Der  eine  Grund  dessen,  dafs  diese  Begierden  nicht  von  rächenden  oder 
dankbaren  Handlungen  gefolgt  werden,  liegt  darin,  dafs  andere  neben 
dem  ethischen  Gefühl  verlaufende  Seelenprozesse  das  Vollbringen  der 
Handlung  hindern,  gerade  so,  wie  solche  Handlungsvorgänge  bei  der 
Kundgebung  auch  anderer  Gefühle  durch  Handlungen  vorkommen.  So 
wie  es  vorkommt,  daXs  ein  himgpriger  Mensch  nicht  ifst,  infolge  der 
Überlegung,  dafs  das  Essen  seiner  Gesundheit  schädlich  sein  könnte,  so 
geschieht  es  auch,  dais  die  Baohbegier  nicht  in  rächenden  Handlungen  aus- 
bricht, weil  wir  vor  den  Folgen  derselben  zurückscheuen,  und  so 
wie  es,  um  bei  demselben  Beispiel  zu  bleiben,  geschieht,  dafs  ein 
Hungriger  wenig  oder  gar  nicht  ifst,  weil  sein  Sparsamkeitstrieb  stärker 
ist  als  sein  Hungergefühl,  so  geschieht  es  auch,  dafs  die  dankbaren  oder 
rächenden  Handlungen  eine  Modifikation  erleiden  oder  unterbleiben,  weil 
andere,  vom  ethischen  Gefühle  unabhängige  oder  demselben  entgegen- 
gesetzte Begierden  und  Erregungen  konkurrieren  oder  überwiegen. 

Hierauf  folgt  wieder  eine  Polemik  gegen  Bain,  nach  dessen  Definition 
sich  der  Ausdruck  der  Moralität  auf  einen  Kreis  der  Handlungen  bezieht, 
der  durch  die  Sanktion  der  Strafe  erzwungen  wird.  Es  wird  hiergegen 
ausgeführt,  dafs  diese  Definition  das  ethische  Gefühl  nicht  von  der  wesent- 
lichen Seite  erfafst,  \md  dafs  sie  auch  darin  mangelhaft  ist,  dafs  sie  den 
Begriff  der  Moralität  n\ir  an  den  Begriff  der  Strafe  knüpft  imd  den 
Begriff  der  Dankbarkeit  ganz  beiseite  liefs. 


302  Litteraturhericht 

Diese  Einseitigkeit  der  Definition  Bains  ist  aber  dorcli  eine  Eigen- 
schaft des  ethischen  Gefühls  erklärlich,  die  einer  Erwähnung  wert  ist. 
Es  ist  nämlich  nicht  abzuleugnen,  dafs  die  Empfindung  der  ethischen 
Freude  und  das  auf  die  moralische  That  bezügliche  Dankbarkeitsgefühl 
weniger  intensir  ist,  als  das  Gefühl  des  ethischen  Schmerzes  oder  das 
auf  die  Missethat  bezügliche  Rachegefühl,  und  dafs  die  Handlungen,  die 
wir  aus  Dankbarkeit  vollbringen,  kleiner  an  Zahl  und  Bedeutung  sind, 
als  jene,  die  wir  aus  Bachbegier  Tollbringen.  Als  eine  Folge  dieses 
Phänomens  ist  es  auch  zu  betrachten,  dafs,  während  das  staatlich 
organisierte  Strafsystem  eine  grofse  Organisation,  Strafkodexe,  Gerichts- 
barkeiten, Gefängnisse  und  Exekutoren  besitzt,  das  staatlich  organisierte 
Belohnungssystem  sich  auf  die  Institution  yon  einigen  Auszeichnungen, 
Tugendpreise  und  Fleifsprämien,  beschränkt.  Die  Beobachtung  solcher 
Thatsachen  konnte  es  sein,  die  die  Aufmerksamkeit  Bains  und  vieler 
Anderer  ablenkte,  so  dafs  sie  den  Begriff  der  Moral  nur  mit  dem  der 
Strafe  verknüpft  sahen  und  ihren  Zusammenhang  mit  dem  Begriff  der 
Belohnung  nicht  bemerkten. 

Die  allgemeinen  Erscheinungen  der  Gefühle  geben  auch  in  Bezug 
auf  diese  Eigenschaft  des  ethischen  Gefühls  Aufschlufs.  Die  Bewegungen 
und  Handlungen,  die  infolge  von  Schmerzen  auftauchen,  sind  überhaupt 
intensiver  als  die,  die  infolge  von  Lustgefühlen  auftauchen.  Der 
Schmerzensschrei  ist  gpröfser  als  der  Freudenschrei,  das  Weinen  ist  eine 
intensivere  Aktion  als  das  Lachen,  das  Zusammenzucken  des  Schmerzes 
ist  eine  intensivere  Bewegung  als  das  Frohlocken.  Eine  Kundgebung 
dieses  allgemeinen  Gesetzes  ist  es  auch,  dafs  die  infolge  des  ethischen 
Schmerzes  auftretende  Bachbegier  und  rächenden  Handlungen  intensiver, 
zahlreicher  und  von  gröfserer  Bedeutung  sind  als  die  infolge  der 
ethischen  Freude  auftretende  Dankempfindung  und  dankbaren  Hand- 
lungen. Ein  Korrelat  des  erwähnten  psychophysiologischen  Gesetzes 
ist  auch,  dafs,  je  intensiver  das  Gefühl,  d.  h.  je  intensiver  der  begleitende 
Nervenvorgang  ist,  desto  intensiver  der  motorische  Teil  des  Organis- 
mus in  Bewegung  gesetzt  wird.  Diese  Belativität  der  emotionellen 
Äufserung  der  Gefühle  ist  auch  in  Bezug  auf  das  ethische  Lust-  und 
Unlustgefühl  gültig,  und  also  folgt,  dafs  jede  Handlung,  insoweit  sie  das 
moralische  Gefühl  der  Mitmenschen  erregt,  also  selbst  moralisch  gut  ist, 
eine  dankbare  und,  insoweit  sie  selbst  unmoralisch  ist,  eine  strafende 
Handlung  nach  sich  zieht,  oder  wenigstens  nach  sich  zu  ziehen  die  Tendenz 
besitzt.  Diese  Belation  der  Handlungen  der  Bache  und  Belohnung 
zu  der  Moralität  der  verursachenden  Handlung  ist  der  Begriff  der 
Gerechtigkeit. 

Hierauf  wird  noch  die  biologische  und  evolutioneile  Bedeutung  des 
ethischen  Gefühls  und  Spencers  Wunsch  nach  einem  sittlichen  Kodex 
besprochen. 

C.  A.  Stbong.    The  psyehology  of  pain.    PsychoL  Rev.   Vol.  IL  Juli  1895. 
S.  329—347. 
Verfasser  bekämpft   die  Theorie,   welche  den   Schmerz    als    einen 
Bestandteil   von   Empfindungen    betrachtet.    Er  'unterscheidet   dabei  in 


lAUeraiurbericfU.  303 

durchaus  korrekter  Weise  „Unlust**  (displeasure)  und  „Schmerz"  (pain), 
welcher  entsteht,  wenn  die  Haut  geschnitten  oder  gebrannt  wird.  Nur 
um  den  letzteren  handelt  es  sich  für  ihn.  Er  sieht  in  demselben  eine 
besondere  Empfindungsqualität,  welche  aber  nicht  notwendig  an  besondere 
Nervenfasern  gebunden  ist.  Seine  Beweise  entnimmt  er  teils  den  patho- 
logischen Beobachtungen  (Analgesia  und  Hyperalgesia),  teils  dem  normalen 
Zustand.  Besonders  auf  dem  ersteren  G-ebiete  werden  interessante  Einzel- 
heiten vorgebracht,  welche  den  Aufsatz,  auch  abgesehen  von  seiner 
theoretischen  Bedeutung,  höchst  lesenswert  machen. 

J.  CoHN  (Berlin.) 

Jonas  Gohn.  Experimentelle  ünterBachongen  ttber  die  GefiUüsbetonimg 
der  Farben,  Helligkeiten  nnd  ihrer  Kombinationen.  Philos.  Stud.  Bd.  X. 
S.  662—603.  (1894.) 

Den  Hauptinhalt  der  auf  Versuchen  im  WuNDTSchen  Institute  be- 
ruhenden Arbeit  bildet  die  Ermittelung  des  Wohlgefallens  an  der  Kom- 
bination von  zwei  Farben ;  zwölf  der  im  Institute  arbeitenden  Praktikanten 
bildeten  die  Versuchspersonen.  Der  Beobachter  safs  in  einem  an  der 
Bück  wand  offenen  Kasten,  dessen  Wände  aus  schwarzem  Tuch  bestanden. 
In  der  vorderen  Wand  waren  in  gleicher  Höhe,  10  cm  voneinander 
entfernt,  rechteckige  Löcher  von  4:5cmGrörse  angebracht;  in  jede  der 
Öffnungen  kamen  zwei  verschieden  gef&rbte  Gelatineplatten.  Der  Beob- 
achter hatte  nun,  möglichst  unter  Ausschlufs  aller  Beflexion  und  As- 
soziation, den  „augenblicklichen  Gef&hlseindruck  wiederzugeben'',  zu 
sagen,  ob  die  Kombination  rechts  oder  die  links  besser  gefiel,  oder 
ob  der  Effekt  beider  gleich  sei.  Urteile,  wie  „unentschieden*',  wurden 
analog  den  Gleichheitsurteilen  betrachtet.  Die  Urteile  wurden  proto- 
kolliert, die  Aussagen  mehrerer  Beobachter  addiert  und  die  so  ermittelten 
Zahlen  graphisch  dargestellt,  indem  die  Zahlen  der  Vorzugsurteile  die 
Ordinaten  darstellten.  Die  Abscisse  der  Kurve  wurde  durch  Abwickelung 
eines  eigens  konstruierten  Farbenkreises  gewonnen.  Um  diesen  zu  kon~ 
struieren,  lieis  0.  die  eine  Hälfte  des  Kreises  mit  einem  Bot  von  660  f^f* 
Wellenlänge  beginnen  und  einem  Blaugrün  von  494  f^fi  schliefsen ;  die 
restierenden  180^  wurden  dann  durch  den  Komplementarismus  bestimmt ; 
die  Wellenlängen  zwischen  494  und  480  /nfj^  nahmen  70^  des  Farben- 
kreises ein. 

Innerhalb  einer  Versuchsreihe  wurde  eine  einzelne  Grundfarbe  mit 
allen  anderen  disponiblen  Farbentönen  kombiniert. 

FOr  eine  grofse  Zahl  von  Versuchen  wurden  folgende  Gelatineplatten 

verwendet: 

Wellenlänge  Ort 

Zusammenhang  ^        .      -n    i_     •_    • 

^  in  f»^  im  Farbenkreise 

1  Blatt  Purpur,  1  Scharhuchrot        670.680  0"» 

2  Scharlachrot 668.645  5« 

1  Scharlach,  1  Bosa,  3  Orange  682.622  16<> 
7  Orange 616.608  36» 

2  Orange,  4  Gelb 600.600  60* 

11  Gelb 588.586  76* 


304  Litteraiurberidit 

„  ,  Wellenlänge  Ort 

Zasammenhang  .  ^        •      n    i.     i.    • 

^  IQ  ^/<  im  Farbenkreise 

2  Grün,  4  Gelb 664.  lOÖ* 

4örttn 649.646  125» 

2  BUugrttn 611.614  166° 

1  Gelb,  2  Blau 490.484  220» 

3  BUu 470.472  270*» 

2  Blau,  1  Violett 469.467  272» 

8  Violett 446.436  286« 

1  Purpur,  1  Violett 320» 

2  Purpur,  2  Bosa 336» 

Die  Prüfung  des  Wohlgefallens  an  den  einzelnen  Farben  ist  nur 
kurz  behandelt.  XJm  bei  den  urteilen  über  Kombinationen  die  beiden 
wichtigsten  Faktoren:  das  Wohlgefallen  an  der  Einzelfarbe  und  das  an 
dem  Zusammenwirken  zweier,  „gewissermafsen  voneinander  trennen  zu 
können^,  wurde  jede  Farbe  der  benutzten  Beihe  einmal  zur  Grundfarbe 
gemacht  und  aus  den  so  erhaltenen  Kurven  eine  Mittelkurve  konstruiert, 
indem  aus  den  auf  jeden  der  Abscissenpunkte  fallenden  Ordinaten  das 
arithmetische  Mittel  gezogen  wurde.  Dabei  begann  die  Abscisse  jedes- 
mal an  dem  Orte  der  Grundfarbe  im  Farbenkreis. 

Als  Besultate  seiner  Versuche  bezeichnet  0.  im  wesentlichen  Fol- 
gendes: 

1.  Von  zwei  Nuancen  derselben  Farbe  gefiült  die  ges&ttigtere  besser 
auch  unter  mehreren  verschiedenen  Farben  werden  die  satteren  bevor- 
zugt.   Am  seltensten  wird  das  Gelb,  auch  das  ganz  gesättigte,  bevorzugt. 

2.  Die  Kombination  von  zwei  Farben  ist  um  so  wohlgefälliger,  je 
weiter  die  Komponenten  voneinander  verschieden  sind. 

3.  Zwei  farblose  Helligkeiten  (Gbrau)  passen  um  so  besser  zusanunen, 
Je  verschiedener  sie  sind. 

4.  Kombiniert  man  eine  Farbe  mit  Grau  verschiedener  Helligkeit, 
oder  mit  einer  anderen,  in  ihrer  Helligkeit  variierenden  Farbe,  so  wird 
üer  gröisere  Helligkeitsunterschied  vorgezogen. 

In  §  12  erörtert  C.  kurz  die  groDse  Zahl  variabler  und  schwer  zu 
übersehender  Nebeneinflüsse,  welche  störend  wirken.  In  der  That  sind 
dieselben  so  zahlreich,  dais  Beferent  zweifeln  muss,  ob  die  von  0.  auf- 
geworfenen Fragen  durch  Experimente  am  erwachsenen  gebildeten  Manne 
ihrer  Antwort  n&her  gebracht  werden  können.         Kurella  (Brieg). 


• 


H.  E.  Hbbing.  Beitrag  zur  Frage  der  gleichieitigen  Thfttigkeit  ant- 
agonistisch wirkender  Muskeln.  Zeitschr.  f,  HeiOde.  (1896).  Bd.  XVI. 
Duchenne,  Brücke,  Beaunis  und  Dement  haben  die  Behauptung  auf- 
gestellt und  durch  kritische  Erwägungen  und  experimentelle  Bemühungen 
zu  sttLtzen  versucht,  dais  bei  der  willkürlichen  Innervation  eines  Muskels 
stets  auch  der  Antagonist  in  mäfsigem  Grade  innerviert  werde,  um  so 
.die  Intensität   der   resultierenden  Bewegung  zu  regulieren.  —  Verfasser 


LUterahirhencht  S05 

besoblols,  diese  Behauptung  naolizuprüfeii,  und  ging  dabei  Ton  folgendet 
Überleg^g  aus:  Werden  bei  einer  gewollten  Bewegung  die  Antagonisten 
mit  innerviert,  welche«  allein  wirkend,  eine  der  beabsichtigten  entgegen- 
gesetzt gerichtete  Bewegung  herbeiführen  würden,  so  müfste,  falls  die- 
jenigen Muskeln  gelähmt  sind,  welche  im  Sinne  der  gewollten  Bewegung 
wirken,  die  vermeintliche,  gleichzeitige  Aktion  der  Antagonisten  eine 
der  gewollten  entgegengerichtete  —  wenn  auch  relativ  schwächere  — 
Bewegung  des  betreffenden  Körperteiles  herbeifElhren. 

Als  Versuchsperson  diente  dem  Verfasser  ein  26jfthriger  Mann, 
welcher  an  Bleilähmung  litt,  und  an  dessen  rechter,  oberer  Extremität 
Bur  Zeit  des  Versuches  folgende  Muskeln  funktionsunfähig,  elektrisch 
onerregbar  und  stark  atrophisch  waren:  Eztensor  digit.  comm.,  Indicator, 
Extensor  digit.  minimi,  Extensor  pollic.  longus  und  brevis,  Extensor 
carpi  radialis  longus  und  brevis,  Ulnaris  extemus. 

Wurde  dieser  Patient  aufgefordert,  die  Hand  zu  strecken  (dorsal 
au  flektierenX  so  trat  keine  Spur  einer  Bewegung  —  speziell  keine  Volar- 
flexion  —  ein,  ein  deutlicher  Beweis  dafär,  dafs  keine  —  auch  durch 
feine  graphische  Methoden  nachweisbare  —  Innervation  der,  willkürlich 
völlig  funktionsfähigen,  Volarfiexoren  stattfand.  —  Ebenso  war,  wenn 
PatiMit  aufgefordert  wurde,  die  ersten  Phalangen  zu  strecken,  keine 
Flexion  derselben  infolge  unwillkürlicher  Innervation  der  Interossei  und 
Liumbricales  wahrzunehmen. 

Verfasser  schliefst  hieraus,  dafs  im  Gegensatz  zu  Duchenne,  Brücke  etc. 
die  alte  Theorie  Galbns  zu  Becht  besteht,  welche  besagt:  Die  anta- 
gonistischen Muskeln  sind  während  der  willkürlichen  Bewegung  unthäüg 
und  ausschliefslich  passiv.  Aktiv  zusammenwirkend  mit  anderen  Muskeln, 
w^erden  sie  nur  beteiliget,  um  die  einmal  angenommenen  Stellungen  fest- 
zuhalten. W.  OoHNSTEiN  (Berlin). 

ItuDOLT  Mbrinoeb  uud  £abl  Matxb.  Versprechen  und  Verlesen.  Eine 
psychologisch  -  linguistische  Studie.  Stuttgart,  G.  J.  Göschensche 
Verlagshandlung.  1896.  204  S. 
Das  normalerweise  vorkommende  Versprechen  und  Verlesen  ist  wieder- 
holt —  namentlich  im  Dienste  der  Assoziationslehre  —  zum  Gegenstand 
psychologischer  Untersuchungen  gemacht  worden.  Aber  während  sich 
hier  die  Sprech-  und  Lesefehler  aus  planmäfsig  angeordneten  und  durch- 
getOhrten  Experimenten  ergeben,  entnehmen  die  Verfasser  ihre  Beispiele 
xnm  gröfsten  Teile  dem  ungezwungenen  Verkehr  eines  Freundeskreises, 
der  durchweg  aus  gebildeten  und  sprachgewandten  Männern  bestand. 
Eine  vergleichende  Untersuchung  der  Sprech  fehler  führt  zu  dem 
Resultate:  „dafs  man  sich  nicht  regellos  verspricht,  sondern  dafs  die 
häufigeren  Arten,  sich  zu  versprechen,  auf  gewisse  Formeln  gebracht 
werden  können.  Mit  der  Begelmäfsigkeit  der  Sprechfehler  gewinnen 
dieselben  an  Bedeutung,  sie  müssen  durch  konstante  psychische  Kräfte 
bedingt  sein,  und  so  werden  sie  zu  einem  Untersachungsgebiet  für  Natur- 
forscher und  Sprachforscher,  die  von  ihnen  Licht  für  den  psychischen 
Spreehmechanismus  erwarten  dürfen."  Die  Lesefehler  der  Gesunden 
jteigen  viel  Ähnlichkeit  mit  den  Sprechfehlem  und  lassen  sich  daher  in 

Zdtsdirift  Ar  Pijchologie  X.  20 


306  LiiteraUtrbenchL 

dieselben  Kategorien  einordnen  wie  die  letzteven;  Für  die  Lesefehlec  der 
.Geist^kranken,  namentlich  der  Paralytiker,  ergeben  sich  folgende  All- 
gemeine Gesichtspunkte:  1.  die  Wurzel  vokale  werden  am  leichtesten  ricbtäg 
erkannt;  2.  das  Accentschema  des  Wortes  bleibt  oft  auch  bei  sonstiger 
yer&9idemng;  3.  von  den  Konsonanten  wird  der  Wortanlaut,  resp.  der 
Anlaut  der  hochbetonten  Silbe,  am  besten  erfafst  und  wiedergegeben. 
Im  folgenden  ist  eine  Betrachtung  über  die  Intensität  und  den  relativen 
Wert  der  inneren  Sprachlaute  bemerkenswert.  „Wenn  man  wissen  will, 
welchem  Laute  eines  Wortes  die  höchste  Intensit&t  zukommt,  so  beob- 
achte man  sich  beim  Suchen  nach  einem  vergessenen  Worte,  z.  B.  eiüem 
Kamen.  Was  zuerst  wieder  ins  Bewufstsein  kommt,  hatte  jedenfalls  die 
grölste  Intensität  vor  dem  Vergessen."  Als  „höchstwertige'^  Laute 
werden  angeführt  der  Anlaut  der  Wurzelsilbe,  der  Wortanlaut  und  jdie 
betonten  Vokale.  Was  die  Verfasser  übrigens  'unter  „Wertigkeit''  önee 
Lautes  verstehen,  erscheint  hier  nicht  deutlich  genug  hervorgehoben. 
Im  letzten  Abschnitt  wird  der  sehr  glückliche  Versuch  gemacht,';  mit 
Hülfe  der  aus  der  Betrachtung  der  Sprechfehler  gewonnenen^  .Ail- 
schauungen  einige  Sprach phftnomene  zu  erkl&ren.  Es  kann  auf  Gnind 
der  jangeführten  Daten  kaum  einem  Zweifel  unterliegen,  dals  die  Splr^h- 
fehler  .in  vielen  Fällen  der  normalen  Spracheutwickelung  gleichsam  den 
Weg  weisen,  eine  Thatsache,  der  auch  Paul  in  seinen  „PrinMipienderSpraek' 
geachichte'*  Bechnung  trägt.  Thbooob  Hsllbr  (Wien). 


Hbiitrich  Sohusohky.  über  die  Nervosität  der  SchnUncend.  Jena, 
G.  Fischer.  1896.  81  S. 

Wenn  auch  der  zwischen  Ärzten  und  Pädagogen  entbrannte  Streit 
um  die  Schule  zur  Zeit  nicht  mehr  mit  der  alten  Heftigkeit  geführt 
wird,  und  wenn  er  in  ruhige  Bahnen  einlenktet,  so  haben  die  Versuche 
der  ersteren,  eine  bessernde  Hand  anzulegen;  keineswegs  nachgelassen. 
Sie  werden  in  stiller  Arbeit  fortgesetzt,  und  sind,  was  die  gröfste  Be- 
achtung verdient,  von  selten  der  ^Pädagogen  aufgegriffen  und  unterstützt 
worden. 

So  haben  uns  die  letzten  Jahre  die  vortrefflichen  Arbeiten  von 
Ejuepeun,  aber  auch  die  von  Bübgbbstbin,  von  Ufbb  u.  a.  m.  gebracht. ; 

Die  vorliegende  kleine  Schrift  reiht  sich  diesen  Vorgängern  in 
würdiger  Weise  an.  Sie  vermehrt  und  verstärkt  das  Material,  welches 
von  ärztlicher  Seite  gegen  das  bisherige  System  des  Unterrichtes  -bei- 
gebracht wurde,  m  nicht  unbedeutendem  Mafse,  und  der  Verfasser  faikt 
als  praktischer  Schularzt  —  er  ist  Schularzt  und  Professor  an  der  König- 
lich Ungarischen  Staatsoberrealschule  im  V.  Bezirk  zu  Budapest  —  seine 
Ausstellungen  in  ganz  bestimmten  Forderungen  zusammen,  durch  welche 
er  der  Nervosität  der  Schuljugend  entgegentreten  will. 

SoHüscHKT  stützt  seine  Folgerungen  auf  die  Ergebnisse  einer  Üiitelv 
suchung,  die  er  an  205  Schülern  seioer  Schule  anstellte.  Da  ein  Be- 
fragen der  Kinder  und  ihrer  Eltern  zu  keinen  befriedigenden  Ergebnissen 
führte,   hielt   er  sich   lediglich  an   die   persönliche  Untersucihung  der 


Lit(eraiurhmc7U,  307 

Kindef ,  bei  welchei^  er  in  49,6*/o  sog.  Entartangszeiclien  fand,  d.  li, 
AbWeiolmngen  von'  der'  normlJen  körperlichen  Bildung,  die  man  als 
beloben  einer  erblichen  Entartung,  einer  angeborenen  Anlage  zu  Gehim- 
und  Nervenleiden  aüffafst. 

Es  ist  dies  sowie  die  fernerhin  bei  51,7®/o  ermittelten  ausgesprochenen 
nervösen  Symptome  eine  geradezu  erschreckende  Höhe  des  Prozent- 
sattfes»  die  ihre  Erklärung  allerdings  zum  Teil  in  dem  umstände  findet, 
dals  69,7Vo  aller  Sch&ller  Israeliten  waren,  bei  denen  die  erbliche  Anlage 
und  Entartung  eine  höhere  Bolle  spielt. 

Daikr  und  inwieweit  die  Schule  in  jenen  51,7%  nervöser  Kinder  ein 
Teil  der  Schuld  trifft,  geht  des  weiteren  aus  dem  Umstände  hervor,  dafs 
in  den  unteren  vier  Klassen  46,4V*  an  nervösen  Symptomen  litten,  und 
dafs  dieser  immerhin  hohe  Prozentsatz  in  den  vier  oberen  Klassen  auf 
577o  stieg. 

Abgesehen  von  den  Schäden,  die  mit  der  Schule  imd  ihrem  Systeme 
in  einem  direkten  Zusammenhemge  stehen,  ist  es  besonders  die  b&us- 
licjie  ^Srziehung,  und  hier  wieder  der  Genufs  geistiger  Getränke,  die  in 
Betxaoht  kommen. 

Man  kann  sich  zur  Trinkerfrage  stellen  wie  man  will,  und  man 
braucht  nicht  gerade  ein  Abstinenzler  zu  sein,  um  dennodi.  die  Über- 
zeugung zu  haben,  dafs  der  Alkohol  für  Kinder  kein  passendes  Ge- 
tränk sei  Es  ergiebt  sich  hieraus  für  uns  die  gebieterische  Forderung, 
der  mifsbräuchlichen  Darreichung  geistiger  Getränke  an  Kinder  mit  allen 
uns  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  entgegenzutreten,  und  an  Gelegenheit 
hierzu  fehlt  es  auch  bei  uns  leider  nicht,  wenn  auch  der  Mifsbrauch  bei 
uns  kaum  den  gleichen  umfang  angenommen  hat,  wie  wir  dies  von  Pest 
erfahren,  wo  Schüschvt  bei  49,7%  aller  Schüler  den  GenuXs  geistiger 
Gtetränke  nachweisen  konnte. 

Die  Hauptschuld  der  Schule  ist  nach  Schusghny  in  dem  Umstände 
gelegen,  dafs  der  Unterricht  von  Fachleuten  erteilt  wird  und  die  Zahl 
der  Schüler  eine  zu  grofse  ist.  Es  ist  sowohl  die  Lehrmethode  als  auch 
das  Schülermaterial,  die  in  gleicher  Weise  nachteilig  wirken,  von  den 
anderen  Schädlichkeiten,  wie  den  Hausarbeiten,  dem  Mangel  an  Schlaf 
und  anderen  Dingen  untergeordneter  Natur  zu  schweigen. 

Der  Kernpunkt  der  ganzen  Angelegenheit  liegt  selbstverständlich 
in  der  Beantwortung  von  Frage  No.  IV :  Wodurch  wird  die  Nervosität 
der  Schuljugend  verhindert? 

ScHüscHinr  fafst  die  Beantwortung  dahin  zusammen,  dais  ein  groiser 
Teil  der  Schüler  mit  nervöser  Disposition  in  die  Schule  kommt,  auf 
welcher  Grundlage  sich  die  nervösen  Symptome  entwickeln.  Je  länger 
der  Schulbesuch  dauert,  um  so  mehr  nimmt  die  Zahl  jener  Schüler  zu, 
die  an  nervösen  Symptomen  leiden.  Nervöse  Erscheinungen  stellen  sich 
ikber  auch  bei  solchen  Schülern  ein,  die  ohne  nervöse  Disposition  in  die 
Schule  kommen« 

Da  aber  die  Schule  unentbehrlich  ist,  so  müssen  wir  danach  trachten, 
dafis  nervöse  Erscheinungen  durch  sie  nicht  hervorgerufen  werden,  dafs 
die  Faktoren  beseitigt  werden,  welche  sie  zeitigen. 

-  Der  Kampf  gegen   die  Nervosität  mufs  im  Eltemhause  begonnen 

20* 


308  Littemiurberu^t. 

werden  durch  rationelle  Erziehnng  undErnfthrang.  Pflicht  der  Schule  ist  es, 
mitzukämpfen  und  alles  aufzubieten  zur  Pflege  und  Erhaltung  der  Qesimd- 
hext  und  Lernfähigkeit  der  Jugend.  Dies  könnte  sie  erreichen  durch 
Abschaffung  des  Faohlehrerystems,  wesentliche  Verminderung  der  Baus- 
arbeit,  gröfsere  Sorgfalt  fGLr  alle  hygienischen  Vorschriften,  insbesondere 
für  angemessenen  Turnunterricht,  und  durch  Forderung  der  schul- 
ärztlichen Institution,  sowie  endlich  durch  Unterricht  in  der  Gesund- 
heitslehre  des  Schülers. 

Dals  wir  zur  Zeit  noch  nicht  so  weit  sind,  ist  ebenso  unbestreitbar, 
als  dafs  wir  mit  aller  Macht  dahin  streben  müssen,  diesen  Forderungen 
Geltung  zu  verschaffen,  und  das  wird  geschehen,  wenn  von  anderer  Seite 
mit  gleichem  Eifer  und  mit  ähnlicher  Sachkenntnis  dafür  eingetreten 
wird,  wie  dies  Schusohky  hier  gethan.  Pblmah. 

P.  J.  MöBiüs.  Neurologische  Beiträge.  IV.  Heft.  Ober  ▼erBChiedena 
Formen  der  Neuritis.  —  Über  verseliiedene  AngenmnskelstOnmgeiL 
Leipzig.  1895.  J.  A.  Barth.  1895.  216  S. 

Das  neueHefb  der  „Neurologtachen  Beiträge''  enthält  die  Sammlung  der 
Arbeiten,  die  Verfasser  über  Neuritis  und  Augen muskelst^rungen  in  der 
Zeit  Yon  1882  ab  an  verschiedenen  Stellen  veröffentlicht  hat. 

Alle  diese  Arbeiten  behandeln  rein  neurologische  Themata,  weshalb 
von  einer  Skizzierung  ihres  Inhaltes  abgesehen  werden  muls.  Dals  die 
Lektüre  des  Buches  eine  angenehme  ist,  braucht  dem,  der  die  Vorzüge 
der  MöBiusschen  Schreibart  kennt,  nicht  erst  versichert  zu  werden. 
Interessant  ist,  dafs  die  zum  Teil  schon  recht  weit  zurückliegenden 
Arbeiten  bis  auf  Kleinigkeiten  auch  heute  noch  vollauf  zu  Becht  be- 
stehen, ein  Beweis  nicht  nur  für  die  vorzügliche  Beherrschung  des 
Stoffes,  sondern  auch  für  die  weise  Vorsicht,  mit  der  sich  Verfasser  auf 
dem  hypothetischen  Gebiete  bewegt  hat.  W.  Webbr  (Bonn). 

Bbbvbb  und  Fkeitd.  Stadien  über  HjTBterie.  F.  Deuticke,  1895.  Leipzig 
und  Wien.  269  S. 
Die  Verfasser  geben  im  vorliegenden  Werke,  was  sie  in  ihrer  vor- 
läufigen Biitteilung  „Ober  den  psychischen  Mechanismus  hysterischer 
Phänomene*'  1893  im  Neural.  Centraiibl.  1  und  2  versprochen  haben.  An 
der  Hand  von  fünf  ausführlichen  und  zum  Teil  hoch  interessanten 
Krankengeschichten  gelangen  sie  zur  Ansicht  von  Bihbt  und  Javbt,  dais 
die  Abspaltung  eines  Teiles  der  psychischen  Thätigkeit  (Spaltung  der 
Psyche)  die  Hauptursache  der  Hysterie  ist.  Während  aber  die  genannten 
Franzosen  diese  Spaltung  als  Folge  originärer  geistiger  Schwäche  auf- 
fassen, weil  in  diesen  Fällen  die  synthetische  Thätigkeit  des  Gehirns  in 
ihrer  Entwickelung  unter  der  Norm  bleibt,  —  behaupten  Verfasser,  daüs 
die  Spaltung  des  BewuCstseins  nicht  eintritt,  weil  die  betreffenden 
Kranken  schwachsinnig  sind,  sondern  sie  erscheinen  schwachsinnig,  weil 
ihre  psychische  Thätigkeit  geteilt  ist  und  dem  bewuDsten  Denken  nur 
ein  Teil  der  Leistungsfähigkeit  zur  Verfügung  steht.  Doch  ist  die 
Spaltung  keine  vollständige.  Die  unbewufsten  Vorstellungen  beeinflussen 
auch  das  wache  Denken,  sie  beeinflussen  die  Assoziation,  lassen  einzelne 
Vorstellungen  lebhafter  vortreten,  drängen  gewisse  Vorstellungsgrnppen 


LiUeratmrbmeht  301} 

inuner  in  den  Vordergmnd,  beherrschen  Gemütslage  und  Stimmung  u.  s.  w. 
Die  Spaltung  der  Psyche  bedingt  übrigens  auch  eine  gewisse  geistige 
Schw&ohe,  auf  welcher  wiederum  die  SuggestibÜitftt  beruht.  —  Die 
Einzelheiten  der  Arbeit  eignen  sich  leider  nicht  für  ein  kurzes  Beferat, 
ihr  nftheres  Studium  kann  jedem,  der  sich  fQr  psychologische  Fragen 
interessiert,  empfohlen  werden.  Umffbnbach  (Bonn)« 

Albbrt  Eulenbusg.  Bemale  Neuroyatliie.  Genitale  Neurosen  und  Neu- 
Topsychosen  der  Männer  und  Frauen.  Leipzig,  F.  C.  W.  VogeL 
1S95.  16i  S. 

Seit  Kbafft-Ebirg  seine  vielleicht  zu  viel  verbreitete  Psychopathia 
sexualis  auf  den  Markt  brachte,  lassen  seine  Lorbeeren  so  manche  Andere 
nicht  ruhen,  und  wenn  sie  es  auch  —  imd  warum  sollten  wir  es  ihnen 
nicht  glauben,  da  sie  es  doch  sagen?  —  nur  mit  Widerwillen  gethan, 
so  haben  sie  sich  dennoch  der  müh-  und  dornenvollen  Aufgabe  in  der 
HofEnuDg  unterzogen,  etwas  zu  unserer  Belehrung  beizutragen. 

Dais  dies  auch  in  dem  vorliegenden  Falle  zutrifft,  soll  nicht  in 
Abrede  gestellt  werden.  Der  Verfasser  legt  uns  hier  die  Ergebnisse 
einer  geradezu  staunenswerten  Belesenheit  in  der  einschlägigen  Litteratur 
und  einer  jedenfalls  ebenso  langen  wie  eingehenden  Beschäftigung  mit 
den  hier  in  Frage  kommenden  Zuständen  in  einer  Form  vor,  die  es  uns 
keinen  Augenblick  vergessen  läfst,  däfs  wir  es  mit  einem  wissenschaft- 
lichen Werke  und  mit  der  Absicht  des  Belehrens,  des  Helfens  und 
Heilens  zu  thun  haben. 

Seine  Aufgabe  war  die  Darstellung  der  sexualen  Neurasthenie, 
d.  h.  derjenigen  neurasthenischen  Zustände,  bei  denen  die  Symptome  der 
reizbaren  Schwäche,  die  exzessive  Erregbarkeit  und  leichte  Erschöpf  bar- 
keit  im  Bereiche  der  genitalen  Nerven  und  im  Zusammenhange  mit  den 
Erscheinungen  des  sexualen  Lebens  primär  oder  besonders  ausgeprägt 
und  überwiegend  hervortreten.  Er  hat  absichtlich  den  Namen  der 
Neuropathie  und  nicht  die  ihm  zu  eng  dünkende  Bezeichnung  der 
Psychopathie  gewählt,  weil  diese  Zustände  auch  bei  psychisch  nicht 
kranken  Personen  vorkommen.  Was  das  nun  alles  für  sonderbare  Zu* 
stände  sind,  wie  sie  sich  äu&em,  wo,  wann  und  wie  sie  zu  erkennen  und 
zu  behandeln  sind,  das  mag  man  in  dem  Buche  selber  nachlesen. 

Nur  kurz  möchte  ich  zustimmend  darauf  hinweisen,  dafs  die 
Kasuistik,  die  in  diesen  Werken  sonst  wohl  eine  etwas  reichliche  Bolle 
spielt,  auf  das  allemotwendigste  beschränkt  wurde,  und  die  im  Grunde 
recht  wenig  anmutenden  Selbstbekenntnisse  geschlechtlich  abnorm 
besaiteter  Seelen  vorteilhaft  durch  ihre  Abwesenheit  glänzen. 

PZLMAN. 

K.  SoHAFFKR.  Buggestion  und  Beflez.  Eine  kritisch-experimentelle  Studie 
über  die  Beflexphänomene  des  HypnoÜsmus.    Jena.    Gustav  Fischer. 
1895.  113  S. 
In  dem  Streit  um  die  Auffassung  des  Hypnotismus  hat  bekanntlich 
die  Schule  von  Nancy  den  Sieg  davongetragen:   Hypnose  ist  gleich- 
bedeutend mit  Suggestion,  alle  hypnotischen  Erscheinungen  sind  psychische, 


310  LUteratiMrbencht 

• 

d.  h.  Wirkungen  einer  bis  aufisi  ftoTserste  gesteigerten  Suggestibilität. 
Somatische  Erscheinungen,  wie  sie  Cwutxxyt  als  kutane-  und  neuro* 
muskuläre  Übererregbarkeit  beschrieben,  und  wie  sie  in  einzelnen  Fällen 
auch  Yon  anderen  Experimentatoren,  Heidbithain,  Grützvsb  und  Bbbokb, 
beobachtet  sind,  stellen  nichts  weiter  dar,  als  Kimstprodukte  und  lasseii 
sich  ebenfalls  auf  Suggestion  zurü.ckführen.  Das  Wesen  der  Hypnose 
ist  Suggesübilitftt. 

Aber  die  Pariser  Schule  ist  nicht  ganz  mit  Becht  in  den  Hinter- 
grund gedr&ngt  worden.  Mag  man  auch  zugeben,  dalSs  jene  dr^  Phasen 
des  „Grand  Hypnotisme",  wie  sie  Ohargot  in  der  Salpdtri&re  gelehrt,  mehr 
oder  weniger  Wirkungen  der  Dressur  sind,  —  ganz  allein  die  intra- 
hypnotischen Kontrakturen  auf  Suggestion  beruhen  lassen  zu  wollen, 
geht  nicht  an.  Es  muDs  yielmehr  ein  anderer  Faktor  mit  in  Beohnung 
gezogen  werden :  die  physiologische  Beflexwirkung.  Diese  hat  Verfasser 
einer  genauen  Betrachtung  unterworfen,  nachdem  vor  ihm  zwei  andere 
ungarische  Forscher,  Höotbs  und  LAürKNAüsa,  den  Grund  gelegt. 

Um  zu  beweisen,  dals  es  sich  bei  der  Erzeugung  solcher  Kon- 
trakturen, d.  h.  muskulärer  Übererregbarkeit,  in  der  That  nicht  um 
Suggestipn  handelt,  mufste  diese  yor  allem  ausgeschlossen  werden.  In 
welcher  Weise  dies  geschehen,  sowie  den  Verlauf  der  sehj.  vorsichtig 
ausgeführten  Experimente  selbst  mag  man  im  Original  durchsehen.  Hier 
interessieren  vor  alleiii  die  Besultate,  imd  diese  gehen  eben  dahin,  diifs 
die  bisher  als  Suggestivwirkungen  auf gefafsten  somatischen  Erscheinungen 
nur  als  rein  physiologische  Beflexph&nomene,  und  zwar  kortikalen  Ur- 
sprunges, betrachtet  werden  dürfen. 

Damit  aber  ist  zugleiph  eine  neue  Theorie  des  hypnotischen  Zu- 
standes  Überhaupt  geschaffen.  Das  Wesen  der  Hypnose  liegt,  wie  auch 
bisher  stets  anerkannt,  in  einer  Assoziationsstörung.  Nach  W^nrot 
erzeugt  der  Befehl,  eine  Handlung  zu  vollbringen,  ohne  weiteres  in 
dem  Hypnotisierten  die  Vorstellung  dieser  Handlung;  jede  Vorstellung 
einer  Bewegung  aber  ist  von  dem  Triebe  begleitet,  die  Bewegung  aus? 
zuführen.  Das  normale  Bewuistsein  unterdrückt  diesen  Trieb,  das 
hypnotische  leistet  ihm  widerstandslos  Folge,  weil  er  nicht  durch  ander- 
weitige Assoziationen  unterdrückt  wird.  Hypnose  ist  also  eine  mehr 
oder  weniger  vollständige  Hemmung  der  Assoziation,  Einwirkung  und 
Handlung  erscheinen  in  engster  Verknüpfung.  Da  aber  diese  primäre, 
direkte  Assoziation  den  Stempel  eines  Beflexes  an  sich  trägt,  so  darf 
man  sagen:  die  Handlungen  Hypnotisierter  sind  kortikale  Beflex- 
handlungen.  Mag  es  sich  dabei  um  somatische  oder  um  psychische 
Phänomene  handeln,  alle  sind  als  Beflexe  der  Hirnrinde  aufzufassen.  Je 
hochgradiger  die  zentrale  Hemmung  sinkt,  desto  mehr  treten  die 
letzteren  hinter  den  ersteren  zurück,  und  es  entstehen  jene  Formen 
muskulärer  Übererregbarkeit,  jene  seltsamen  Kontrakturen,  die  sich  vor 
allem  bei  den  durch  Mangel  zentraler  Hemmung,  ausgezeichneten 
Hysterischen  finden. 

Demgemäfs  aber  kann  auch  ein  wirklicher  Unterschied  zwischen 
den  Erscheinungen  der  sog.  Suggestibilität  und  Beflexibilität  nicht  mehr 
aufrechterhalten  werden.  Beide  haben  vielmehr  eine  gemeinsame  Gnmd- 


LiUeratwrberichU  311 

lUsaelie,  —  gehemmto,  resp^  unmittelbare,  primäre  Assoziation!  Dissid' 
Tuldet  das  kardinale  Symptom  der  Hypnose:  ihr  äoTseres  Zeiohen  auf 
jiP^ehischem''  Gebiete  ist  die  Suggestibilitftt,  auf  ,,somati8ohem^  die> 
neuro-  und  sensomnskuläre  Übererregbarkeit. 

• 

Die  Litteratar  des  Hypnotismns  ist  um  ein  wertvolles  Buch  be- 
reiehert  worden.  Der  Fachmann  wird  nicht  umhin  können,  dasselbe 
aufmerksam  zu  studieren;  es  bringt  Neues,  Beachtenswertes  und  darch 
sahireiche  Experimente  Gestütztes.  Beigefügt  sind  sechs,  Tafeln  in 
Iiiöhtdruck;  die  Bilder  sind  vorzüglich  ausgeführt  und  erhöhen  das 
Verständnis  für  die  Auffassung  der  etwas  komplizierten  Versuche. 

Scholz  (Bonn). 

MaxHkbz.  Kritische  Psychiatrie.  KAVrische  Studien  ttb^  die  Stömn^n 
und  den  Miftbranch  der  reinen  Bpeknlativen  Vemnnft.  Wicin, 
Xieipzig,  Teschen.  1895; 
'  unter  den  medizinischen  Einzelwissenschaften  nimmt  die  Psychiatrie 
eine  gesonderte  Stellung  ein.  Die  körperlichen  und  geistigen  Er- 
scheinungen leiten  die  Forschung  gleichsam  auf  zwei  Gebiete,  deren 
beider  Erkenntnis  notwendig,  deren  Natur  aber  so  verschieden  ist,  daik 
eine  Betrachtung  unter  gemeinsamen  Gesichtspunkten  bis  jetzt  noch  nicht 
gewonnen  ist.  Die  Mehrzahl  der  Forscher  wird  den  aussichtsreicheren 
W^  der  naturwissenschaftlichen  Methode  einschlagen,  unbekümmert  der 
Thatsache,  dafs  gerade  -dort,  wo  sich  die  wichtigste  Frage,  die  nach 
dem  Zusammenhang  des  Physischen  und  Psychischen,  erhebt,  unsf 
Anatomie  und  Physiologie  im  Stich  lassen.  Die  Kenntnis  der  gesunden 
seelischen  Funktionen  aber  ist  die  Vorbedingung  für  die  Beurteilung 
der  kranken.  Das  Bewufstsein  daher  von  der  TJnentbehrlichkeit  der 
Psychologie,  zugleich  aber  die  Befürchtung,  auf  dem  unsicheren  Boden 
det'  empirielosen,  rein  abstrakten  Betrachtung  auf  Abwege  zu  geraten, 
wie  zu  den  Zeiten  B[binboths  und  Idxlebs,  liefsen  einen  neuen  Wissens- 
zweig erstehen,  eine  Verbindung  der  Psychologie  und  Naturwissenschaft, 
die  Psychophysik. 

f  Verfäjsser  hat  den  Schritt  gewagt,  zur  Philosophie  im  eigentlichen' 
Sinne,  zur  kritischen  Philosophie,  zurückzukehren  und  sie  für  die 
Psychiatrie  nutzbar  zu  machen.  Aber  er  schafft  dadurch  nicht  einen 
Gegensatz  zu  den  beiden  anderen  Wissenszweigen,  sondern  eine  Er- 
gänzung und  Bereicherung.  Seitdem  Kamt  der  empirischen  Forschung 
und  ihrer  transcendentalen  Auffassung  die  richtigen  Wege  gewiesen,  ist 
eine  Kollision  nicht  mehr  möglich.  So  ist  auch  das  Verhältnis  der 
Psychophysik  zur  kritischen  Philosophie  gegeben :  die  erstere  beschäftigt 
sich  mit  der  Verarbeitung  des  empirischen  Materials  durch  die  Denk- 
gesetze, die  zweite  mit  der  Erforschung  der  (empirielosen)  Denkgesetzd 
selber,  —  oder  anders  ausgedrückt:  nicht  das,  was  die  seelische  Maschiue 
aus  dem  ihr  von  den  Sinnen  gelieferten  Bohstöff  fabriziert,  sondern  der 
Gang  der  Maschine  selbst,  das  begriffliche  Denken  imd  seine  formalen 
Veriiältnisse,  wird  Gegenstand  des  Studiums. 

■*   So  nahe  im  Grunde  der  Gedanke  liegt,   die  kritisch^philosophischie 
Ifeiliode  -  auch   auf  die  Störungen   der  reixlen  Vemunfb  auszudehnen, 


312  LiUeraiurhenthL 

so  iat  der  Versuch  des  Verfassers  neu.  Die  Gründe  dafür  liegen  nioht 
nur  in  der  Schwierigkeit  der  Behandlung  des  Stoffes,  sondern  vor  allem 
auch  in  der  Ahneig^ng,  welche  heutsutage  gegen  alles^  was  den  positiven 
Wissenschaften  fern  steht,  herrscht.  Man  sieht  hinter  der  spekulativen 
Philosophie  vielfach  noch  ein  Gedankensystem,  welches  mit  verworrenen 
und  geheimnisvollen  Begriffen  spielt,  sich  in  Spitzfindigkeiten  verliert 
und  der  exakten  Forschung  zum  mindesten  gleichgültig  gegenübersteht. 
Mag  der  Psychiater  darüber  denken,  wie  er  will,  —  entbehren  kann  er 
die  Philosophie  nicht,  sofern  es  ihm  Ernst  um  seine  Wissenschaft  ist« 
und  sei  es  auch  nur  in  Form  der  modernen,  zwar  leicht  verständlichen, 
aber  doch  recht  angreifbaren  Assoziationslehre. 

Verfasser  hat  übrigens  gethan,  was  in  seiner  Macht  stand,  um  dem 
Leser  das  Verständnis  der  behandelten  Materie  zu  erleichtem.  Jedem 
Kapitel  schickt  er  als  Einleitung  eine  kurze  Betrachtung  diesbezüglicher 
S&tze  der  KAnrschen  „reinen  Vernunft^  voraus,  so  dais  die  Vorkenntnis 
KuiTs  nicht  unbedingt  erforderlich  ist.  Freilich  bleibt  die  Lektüre 
noch  immer  schwierig  genug,  und  Verfasser  hat  recht,  wenn  er  sagt, 
daÜB  man  „sich  nur  mit  dem  Aufgebot  all  seiner  Aufmerksamkeit  und 
Kritik  in  einem  so  dunklen  Gebiete  zurechtfinden  kann^.  Aber  das 
liegt,  wie  gesagt,  an  der  Wahl  des  Stoffes,  nicht  an  seiner  Behandlung. 
Klar  und  einleuchtend  ist  das  Werkchen  geschrieben,  und  wenn  es  sich 
wirklich  bestätigen  sollte,  dals  Verfasser,  wie  er  —  hoffentlich  irrtüm- 
licherweise —  andeutet,  auf  keinen  allzu  grofsen  Leserkreis  reohnen 
dürfe,  so  mag  er  sich  mit  dem  Schicksal  so  manches  anderen  Philosophen 
trösten.  Unbestreitbar  bleibt  ihm  das  Verdienst,  der  Psychiatrie  einea 
Weg  neu  erschlossen  zu  haben,  dessen  Bedeutung  kein  Verständiger 
unterschätzen  wird.  Scholz.  (Bonn). 

Eduard  Hrrzio.  Über  den  QuarnlaatenwahnBinn,  seine  nosologiaQh* 
Stellung  und  seine  forensische  Bedentnng.  Eine  Abhandlung  für 
Arzte  und  Juristen.    Leipzig,  F.  0.  W.  Vogel.  1895.  146  S. 

Von  Querulanten  ist  in  der  letzten  Zeit  so  viel  die  Bede  gewesea, 
und  mehr  noch  haben  sie  sich  in  der  Tagespresse  einen  so  grofsen 
Baum  erschrieben,  die  Welt  mit  ihren  Geistesprodnkten  derart  über- 
schwemmt, dais  es  wohl  gerechtfertigt  war,  dem  Querulantentam  etwas 
näher  auf  den  Leib  zu  rücken  und  einmal  nachzusehen,  wie  grola  di« 
Bolle  sei,  welche  der  Wahnsinn  dabei  spielt. 

Wenn  dies  alsdann  von  einer  so  berufenen  Seite  geschieht,  wie  es 
hier  der  Fall  ist,  und  wenn  der  richtige  Meister  seine  Aufgabe  in  einer 
so  vorzüglichen  Weise  lOst,  wie  er  es  in  dem  vorliegenden  Werke  gethan^ 
dann  wird  man  am  Ende  den  Herren  von  der  querulierenden  Fraktion 
noch  Dank  wissen,  dals  sie,  wenn  auch  unbeabsichtigt,  Hrrsio  die  Ver* 
anlassung  zu  seinem  Buche  gegeben  haben. 

Unzweifelhaft  ist  das  BechtsbewuTstsein  eine  der  tiefsten  Empfin* 
düngen  im  Menschen  und  Bechtskränkung  daher  ein  wichtiger  Antrieb 
zur  Beaktion.  Da  nun  bekanntlich  die  Ansichten  über  Becht  und 
Unrecht  mitunter  sehr  voneinander  abweichen  und  bei  Kläger  und  Be- 
klagtem nicht  selten  grundverschieden  sind,  so   kann  es   nictht  fehten. 


Litteraturberieht,  318 

dafs  die  Ptotei,  die  z.  B.  in  einem  Prozesse  verliert,  dies  als  ein  Unrecht 
empfindet,  nnd  nicht  gewillt,  sich  dabei  zu  beruhigen,  daraus  Veranlassung 
an  neuen  Klagen,  neuen  Prozessen  schöpft. 

Die  Lust  am  Querulieren  braucht  deshalb  nicht  von  vornherein 
Inrankhaft  zu  sein  und  dies  selbst  dann  nicht,  wenn  die  Denkweise  des 
Queriüanten  eine  gesetzwidrige  und  sein  Handeln  je  nach  Umst&nden 
Bogar  zu  einem  verbrecherischen  geworden  ist. 

Krankheit  wird  sein  Thun  und  Treiben  nicht  durch  das  Querulieren 
an  sich,  sondern  durch  die  begleitenden  Umstände,  welche  den  Charakter 
und  Gtoist  des  betreffenden  Individuums  in  seioer  Totalität  als  krankhaft 
erscheinen'  lassen. 

Der  Querulant  würde  nicht  in  oft  so  sinnloser  Weise  gegen  seine 
eigene  Existenz  wüten,  wenn  ihn  nicht  die  ihn  stachelnde,  der  Be- 
richtigung durch  das  Zeugnis  der  Sinne  und  der  Vernunft  unzugängliche 
und  darum  wahnsnnige  Überzeugung,  dafs  er  in  seinem  Hechte  sei  und 
siegen  müsse,  dazu  zwänge. 

Hierin,  in  dem  Mifsverhältnisse,  das  in  der  Ausbildung  völlig  un- 
begründeter Beeinträchtigungsideen  zu  den  äuTseren  Vorgängen  zu  Tage 
tritt,  liegt  der  Beweis,  dafs  es  nicht  die  äuDseren  Umstände,  sondern  die 
abnorme  psychische  Beschaffenheit  des  Querulanten  selber  ist,  die  seinem 
Verhalten  zu  Grunde  liegt,  und  dafs  er  sich  in  seinem  gesamten  Denken 
und  Thun  wesentlich  von  der  Geistesthätigkeit  eines  Gesunden  entfernt. 

Die  Wahnvorstellungen  der  Querulanten  sind  auf  den  Typus  der 
Verfolgpingsideen  mit  einer  Beimischung  von  Überschätzungsideen  zurück- 
zuführen. —  Die  Krankheit  ist  demnach  der  primären  Verrücktheit 
zuxuzählen  und  zweckmäüsigerweise  als  die  querulierende  Form  der 
primären  Verrücktheit  zu  bezeichnen.  Sie  ist  als  solche  eine  tiefgehende 
Erkrankung  der  ganzen  psychischen  Persönlichkeit,  nicht  etwa  eine 
Steigerung  berechtigter  Interessen  oder  das  Gebaren  eines  nicht  geistes- 
kranken Fanatikers,  obwohl  das  charakteristischte  Symptom  in  einer 
scheinbar  isoliert  bestehenden  Beeinträchtigungsidee  besteht.  Dabei 
kann  sich  der  Kranke  vernünftig  unterhalten  und  zeitweise  normaler 
Geschäftsäufserungen  fähig  sein. 

Meist  aber  erstreckt  sich  die  Idee  der  Beeinträchtiguug  auch  auf 
andere  Kreise,  und  stets  werden  im  Laufe  der  Erkrankung  neue  und 
immer  mehr  Personen  in  den  Kreis  der  Verfolgung  hineingezogen,  wenn 
sie  auch  nur  im  Gegensatze  zu  den  Interessen  des  Querulanten  zu  stehen 
scheinen.  Dieser  Beziehungswahn  wird  kaum  jemals  fehlen,  und  da 
er  seinen  Grund  in  einer  krankhaft  bedingten  Unlustempfindung  hat,  so 
ist  ein  Zustandekommen  der  daraus  gezogenen  Schlüsse  ohne  eine  tief- 
gehende Störung  der  Verstandesthätigkeit  gar  nicht  denkbar. 

Zu  diesen  Beeinträchtigungsideen  tritt  von  vornherein  ein  aus- 
gesprochener Gröfsenwahn  und  ein  eigentümlicher  Zustand  des  Gedächt- 
nisses, ein  Mangel  an  Beproduktionstreue  bei  sonst  vortrefflichem 
Gedächtnis.  Genauigkeit  und  inhaltliche  Richtigkeit  fehlen,  und  dieser 
Fehler  der  krankhaft  veränderten  Apperzeption  und  Gedankenbildung 
untereoheidet  sich  von  der  bewulsten  Lüge,  die  im  übrigen  nicht  ans- 
geeeUoBsen   ist     Die  Krankheit  beschränkt  sich  daher  nichts  weniger 


314  IMeratmberkhL 

als  auf  die  ProdaktioD  einer  isolierten  Idee,  einer  IConomanie::  Gres 
wohnlich  besteht  eine  Menge  derartiger  Wahnideen,  wfthrend,  znmal  im 
Beginne  der  Krankheit,  solche  Assosdationsreihen,  die  mit  den  Wahn- 
vorstellungen in  keinem  Zusammenhange  stehen,  formell  wie  inhaltlich 
normal  gebildet  werden  können. 

Diese  Bef&higuqg  wird  jedoch  im  Laufe  der  Zeit  in  der  Erkrankung 
eine  immer  grölsere  Einbuise  erleiden,  je  mehr  cerebrale  Systeme,  in^den, 
Elrankheitsprozefs  hineingezogen  werden  und  bei  der  gemeinsamen 
Gedankenarbeit  nicht  l&nger  mehr  zur  Verwertung  kommen.  Die  im 
Anfange  nicht  immer  leichte  Diagnose  wird  alsdann  auf  keine  Schwietig- 
keiten  mehr  stofsen,  und  die  angeblichen  Opfer  psychiatrischer  Gewalt- 
thfttigkeit  und  richterlicher  Ungerechtigkeit  werden  sich  endlich  sogar 
in  den  Augen  der  „unabh&ngigen  Laien**  als  das  entpuppen,  was  sie 
wirklich  sind,  d.  h.  als  geisteskrank,  wenn  es  diesen  unabhängigen  Laien 
überhaupt  darum  zu  thun  wäre,  sich  überzeugen  zu  lassen. 

Aus  der  bisherigen*  Darstellung  ergi^bt  sich  die  forensische  Be- 
deutung des  Qnerulantenwahnes  und  die  gegen  ihn  einzuschlagenden 
Maisnahmen.  Insofern,  als  die  psychische  Entftufserung  der  Kranken 
auf  anatomischen  Veränderungen  des  Gehirnes  beruhen  muls,  ist.  der 
geisteskranke  Querulant  als  unfrei  anzusehen  und  für  seine  Handlungen 
nicht  yerantwortlich  zu  machen. 

Andererseits  muls  grade  der  Querulant  als  ein  Torzugsweise  der 
Gesellschaft  gefährlicher,  als  ein  antisozialer  Geisteskranker  bezeichnet 
werden,  und  die  gegen  ihn  in  Anwendung  zu  bringenden  MaXsnahmen 
werden  nicht  durch  die  Geistesstörung  an  sich,  sondern  durch  einen 
gewissen  Grad  derselben  oder  durch  gewisse,  mit  den  Verhältnissen  der 
Geisteskranken  yerbundenen  umstände  begründet. 

HrrsiGs  Buch  ist  vorzugsweise  geeignet,  auf  dem  noch  vielfAch 
dunklen  oder  doch  zum  wenigsten  umstrittenen  (Gebiete  des  Querulanten- 
wahnes Klarheit  zu  schaffen,  und  wenn  es  ihm  gelingt,  seine  An^ 
schauungen  zur  allgemeinen  Geltung  zu  bringen,  dann  werden  wir  ein« 
ganze  Anzahl  sog.  Sensationsprozesse  und  ebensoviele  Märtyrer  der 
heutigen  Bechts-  und  Irrenpflege  weniger  und  eine  entsprechende  Zahl 
von  Geisteskranken  mehr  haben.  Man  würde  irren,  wenn  man  hiermit 
den  Inhalt  des  Buches  für  erschöpft  hielte.  Vielleicht  liegt  sogar  der 
Hauptwert  in  den  mannigfaltigen  Erörterungen  mehr  allgemeiner  Natur 
und  in  den  weiten  Ausblicken,  die  uns  Hitzig  nach  den  verschiedenstea 
Seiten  hin  eröffnet. 

Wird  man  ihnen  auch  nicht  überall  und  unbedingt  beistimmen^  sa 
folgt  man  ihnen  doch  gerne  bis  zum  Schlüsse,  und  wir  werden  ihm 
unsere  Anerkennung  für  die  Anregung  nicht,  versagen,  die  wir  ihm  und 
seinem  vortrefiäichen  Buche  verdanken.  Pblmah. 

0.  BxBNABDiKi  und  A.  Pbbuoia.    Le  ftansioni  di  lelasione  nella  demonia. 

Äw.  di  Freniatria.  Vol.  XXI.  S.  120—136.  (1895.)  i 

Angeregt  durch  Pbtbazzanis  und  VASttAiiza  Arbeit :  über  Läsionen 

des:  Rückenmarkes  bei  Demenz  haben  die  Verfasser  im  psychiatrisohen 

InsÜtu^e  zu  Be^o  Untersuchungen  über  den  etwaigen  Zusamrofinhang 


fÄtteroHurberieht  315 

der  sensibeln  und  motorischeii  Funktionsstörungen  mx%  derartigen  De- 
generationen bei  80  Individuen  (54  M&nnern,  26  Weibern)  angestellt, 
deren  Demenz  das  Ausgangsstadium  von  Manie,  Melancholie,  Paranoia 
u.  a-  m.  gebildet  hat.  Trots  der  grofsen  Schwierigkeit  der  sogar  bei  Ge- 
soiiden,  um  wieviel  mehr  bei  Stumpfsinnigen,  besondere  Sorgfalt  err 
fordernden  Mafsnahmen  lieOsen  sich  doch  einige  nicht  unwichtige  That- 
Sachen  bei  der  Mehrzahl  der  Kranken  erheben.    So: 

1.  Geringe  Sohmerzempfindliohkeit  der  Haut  gegen  Stiche  und  sehr 
ausgesprochen  gering  für  elektrische  Beize,  wfthrend  die  sonstigen  Moda- 
litäten des  Tastgefahles,  wie  auch  die  Sinnesorgane,  im  ganzen  bei  den 
Dementen  wenig  leiden.  Ob  indes  jene  Hypalgesie  auf  Degeneration 
der  zentripetalen  Leitungswege  oder  ausschliefslich  auf  Bindenl&sion 
zuTückaufahren  ist,  bleibt  zweifelhaft. 

2.  Hypokinese:  Fehlen  des  Muskeltonus  einer  Gesichtshälfte; 
spricht  entschieden  für  den  Ausfall  der  psycho -motorischen  Zentren, 
während  die  Parakinesen:  Zittern  der  Zunge  und  Hände,  auf  unregel- 
mälkigen  Verlauf  des  Nervenstromes  durch  die  Bückenmarkfasem  infolge 
von  Degeneration  der  Hinterstränge  hinweisen.  Dafür  spräche 
auch  die 

3.  paradoxe  Muskelreaktion  bei  Galvanisation,  wenn  nicht  die 
hochgradige  Inanition  der  Dementen  zu  erwägen  wäre.        Fbaenkzl. 

G.  L.  Dana.    A  case  of  Amnesia  or  „Double  Oonscionsness*'.    I^choL 

Bev,  I.  S.  670-680.  (1894.) 
Ein  24 jähriger  Mann  gerät  nach  einer  Leuchtgasvergiftung  auf 
acht  Tage  in  einen  Zustand  von  Yerfolgungsdelirium.  Am  achten  Tage 
wird  er  ruhig,  zeigt  aber  Verlust  des  Gedächtnisses  für  das  eigene  Vor- 
leben, kennt  den  Zweck  alltäglicher  Gegenstände  nicht,  hat  „einen  sehr 
beschränkten  Sprachschatz**,  kann  nur  alltägliche  Worte  brauchen  und 
nur  die  einfachste,  auf  anwesende  Objekte  bezügliche  Unterhaltung  ver- 
stehen. Beim  Besuch  der  Eltern  und  Geschwister  erkannte  er  dieselben 
nicht,  auch  beim  Besuch  der  Braut  fehlte  ein  Wiedererkennen  (wie  Dana 
meint),  jedoch  sagte  er  bei  ihrem  Besuch,  er  hätte  sie  immer  gekannt 
und  hätte  den  dringenden  Wunsch,  dafs  sie  bei  ihm  bliebe;  dabei  wufste 
er  nicht,  was  Ehe  und  Heirat  ist.  Er  konnte  nicht  lesen,  kannte  Buch- 
staben und  Zahlen  nicht,  lernte  aber  bald  lesen  und  einfache  Sätze/die  aus 
gewöhnlichen  Worten  bestanden,  zu.  schreiben.  Zwei  Monate  später 
konnte  er  in  der  Zeitung  nur  einfache  Berichte  über  alltägliche  Vorfälle 
lesen;  schnell  lernte  er  wieder  rechnen  und  Billard  spielen;  zugleich 
lernte  er  schnell  Handfertigkeiten,  die  ihm  früher  seiner  Ungeschicklich- 
keit wegen  fremd  geblieben  waren.  Der  Charakter  zeigte  dieselben  Züge, 
wie  vor  der  Krankheit.  Im  übrigen  war  er  »ganz  wie  ein  Mensch  mit 
kräftigem  Gehirn,  der  in  eine  neue  Welt  geraten  ist  und  alles  erst  lernen 
muls*'.  Dabei  schien  er  ein  Gefühl  zu  haben,  sich  in  einem  abnormen 
Znstande  zu  befinden. 

■  Aus  der  Schilderung  des  Zustandes  ist  als  wichtig  hervorzuheben, 
dafs  ke^ie  Sensibilitäts-  oder  sensorische  Störungen  bestanden,  dagegen 
Z/^hßß  von  lähmungsartiger  Schwäche  der  Vaspmotoren  der  Haut* 


816  LüteratmberichU 

Genau  drei  Monate  nach  dem  Einsetzen  der  Krankheit,  nnmittelbar 
nach  einem  Besuche  bei  seiner  Braut,  die  eine  Verschlimmerung  zu  be- 
merken glaubte,  sagte  er  plötzlich  seinem  Begleiter,  die  eine  Hälfte 
seines  Kopfes  prickle;  darauf  wurde  er  sohl&frig  und  wurde  in  be- 
nommenem Zustande  zu  Bett  gebracht,  wo  er  bald  einschlief.  Nach  ein 
paar  Stunden  wachte  er  auf  und  „hatte  seine  Erinnerungen  völlig  wiedar"; 
er  erinnerte  sich  genau  an  alles,  was  der  Erkrankung  voraufgegangen 
War;  hier  hörten  seine  Erinnerungen  auf,  er  wufste  nichts  yon  den  drei 
Monaten  seiner  Krankheit,  erkannte  kein  Objekt,  keine  Person  aus  dieser 
Zeit.  Er  nahm  seine  frtthere  Beschäftigung  wieder  auf  und  ist  seither 
▼öllig  normal  geblieben. 

D.  macht  in  diesem  Falle  die  Annahme,  da&  die  langen  Assoziations- 
bahnen durch  Leuchtgas  leitungsunfähig  gemacht  worden  wären,  und 
ferner,  dafs  „die  Assoziationsbahnen,  welche  gewöhnliche  sensorische 
Sindenterritorien  mit  seit  langer  Zeit  aufgespeicherten  Erinnerungen 
verbinden,  nur  durch  ein  hochdifferenziertes  Vermögen  der  Nervenzellen 
in  Aktion  gebracht  werden  können'*.  Diese  Aktion  wäre  in  Fällen,  wie 
der  vorliegende,  aufgehoben. 

Wertvoller  als  diese  Spekulationen  ist  sein  Hinweis  darauf,  dals 
bei  Kohlenoxydvergiftungen  öfters  die  Erinnerung  fCkr  das  mehrere  Tage 
vor  denselben  Erlebte  verschwindet.  Kürella  (Brieg). 


£muco  Fhrbi.  BoiiaUsmiis  und  moderne  Wissenschalt.  Übersetzt  und 
ergänzt  von  Dr.  Haus  Kubella.  (Bibliothek  fE^  Sozialwissenscbafk. 
Bd.  V.)  Leipzig,  Georg  H.  Wigands  Verlag.  1895.  189  S. 
Im  L  Teil  —  Darwinismus  und  Sozialismus  —  knüpft  der 
Verfasser  zunächst  an  die  bekannte  Diskussion  an,  welche  sich  im  An- 
schlüsse an  einen  von  Ebnst  Haeckbl  im  Jahre  1877  vor  der  deutschen 
Naturforscherversammlung  zu  München  zum  Zwecke  der  Verbreitung 
der  DABwiNschen  Theorie  gehaltenen  Vortrage  zwischen  diesem  und 
ViscHow  entspann,  und  in  welcher  ersterer  den  Einwurf  Vibchows,  der 
Darwinismus  führe  unmittelbar  zum  Sozialismus,  dadurch  zu  entkräften 
suchte,  dafs  er  in  beiden  Anschauungen  unausgleichbare  Gegensätze 
nachweisen  zu  können  glaubte,  indem  er  dem  ihm  gemachten  Vorwurfe 
entgegenhielt,  dafs,  wie  der  Darwinismus  die  natürlich  beding^te  Un- 
gleichheit der  Individuen,  sowie  das  Unterliegen  der  Mehrzahl  im 
Kampfe  ums  Dasein  nachweise  und  nur  den  Besten  oder  Bestangepafsten 
ein  Überleben  zusichere,  im  letzteren  Falle  also  einen  aristokratischen 
Prozefs  individueller  Auslese  bedeute,  so  im  Gegenteil  der  Sozialismus 
die  Forderung  der  absoluten  Gleichheit  aller  für  alle  erhebe,  sowie  die 
Möglichkeit  der  Erhaltung  aller  im  Daseinskampfe  lehre  und  statt  der 
Selektion  weniger  Auserwählter  eine  demokratisch  kollektivistische  Nivel- 
lierung erstrebe. 

Verfasser  erkennt  in  dieser  Streitfrage  Vibohow  die  gröisere  Seher, 
gäbe  zu.  Indem  er  aber  nur  dem  Sozialismus  im  MABzschen  Sinn^^ 
Berechtigung   zuspricht,    sucht     er    durchzuführen,    dafis    derselbe   un- 


Lüteraturhericht.  317 

beschadet  seines  Wertes  nicht  nur  in  keinem  Gegensatze  zur  Selektions- 
theorie stehe,  sondern  dafs  der  Darwinismus  gerade  „eine  der  grund- 
legendsten wissenschaftlichen  Unterlagen  des  Sozialismus  bildet''  und  daüli 
der  letztere  »nur  ein  Teil  der  logischen  und  natürlichen  Deszendenz  des 
Determinismus  und  ein  Zwillingsbruder  der  Entwickelungslehre  Spisnobbb 
ist.**  Verfasser  behandelt  des  weiteren  das  Verh&ltnis  des  Sozialismus  zum 
religiösen  Glauben,  sowie  das  des  Individiuums  zur  Art  und  sucht  im 
letzten  Abschnitte  eine  Parallele  zwischen  dem  in  der  Entwickelung  der 
Lebewesen  bestehenden  Daseins-  und  dem  in  sozialistischer  Beziehung 
von  Kabl  Mabx  aufgestellten  Gesetze  des  Klassenkampfes  nachzuweisen. 

Im  II.  Teil  —  Entwickelungslehre  und  Sozialismus  —  be- 
bandelt Verfasser  in  drei  Abschnitten  die  Nationalökonomie  und  den 
Sozialismus  im  Lichte  der  Entwickelungslehre,  das  Gesetz  des  anscheinen- 
den Rückschritts  und  das  KoUektiveigentum,  die  soziale  Entwickelung 
und  die  individuelle  Freiheit,  und  sucht  sodann  die  Bevolution  und  den 
Umsturz,  sowie  die  Bestrebungen  des  Anarchismus  vom  Standpunkte 
des  Sozialismus  aus  zu  beleuchten.  Febbi  wird  nicht  müde,  immer 
wieder  hervorzuheben,  dals  er  den  Sozialismus  früherer  Jahrzehnte,  den 
er  als  einen  sentimentalen,  unwissenschaftlichen,  utopistischen  bezeichnet, 
verwirft  und  nur  in  dem  von  Marx  vertretenen  wissenschaftlichen  den 
naturgem&fsen  Werdegang  der  allgemeinen  Entwickelungslehre  wieder- 
erkennt. Es  mufs  femer  die  entschiedene  Stellung  anerkannt  werden, 
welche  Fbbri  dem  Sozialismus  gegenüber  dem  Anarchismus  und  dessen 
persönlichen  Obergriffen  zuweist,  und  welche  er  selber  einimmt.  Als 
Beweis  dieser  Stellungnahme  zitiert  Verfasser  das  Manifest,  welches 
nach  der  Ermordung  Sadi  Camots  am  27.  Juni  im  Mailänder  ^SecoW^ 
von  einer  sozialistischen  Arbeiterpartei  Italiens  veröffentlicht  wurde. 

Im  m.  Teil—  Soziologie  und  Sozialismus  —  sucht  Verfasser 
zunächst  zu  zeigen,  daÜs  sich  die  an  den  Namen  Auouste  Comtks  gebundene 
Wissenschaft  der  Soziologie  seit  ihren  ersten  deskriptiven  Leistungen 
in  einem  Stadium  des  Stillstandes  befinde  (der  tote  Punkt  der  Soziologie), 
die  konsequente  Anwendung  des  Darwinismus  und  der  Entwickelungs- 
lehre auf  die  Gesellschaftswissenschaft  müsse,  wie  er  glaube  nach- 
gewiesen zu  haben,  unvermeidlich  zum  Sozialismus  führen.  Im  letzten 
Abschnitte  des  Buches  wird  sodann  Mabx  als  der  eigentliche  Ergftnzer 
von  SpsfCBB  und  Dabwih  dargestellt. 

Die  Übersetzung  des  Werkes  darf  als  eine  musterg^tige  bezeichnet 
werden.  Fbude.  Kibsow  (Leipzig). 


Eine  firwidemng. 


,  In  dem  vorigen  Heft  dteeer  Zeit9chnft  (Bd.  X.  S.  l&8ff.)  hat  Dr.  MEUHAjnr 
gegen  einen  Bericht  protestiert,  den  ich  in  einem  der  früheren  Hefte 
.CBd.  IX.  S.  297  ff.)  von  seinen  Beürägen  eur  PBychologie  des  Zeitsinns  gegeben 
habe.  Er  behauptet,  der  Bericht  enthalte  starke  sachliche  Unrichtig- 
keiten und  übergehe  Grundgedanken  seiner  Arbeit. 

Da  dem  Referat  eine  ganz  ausführliche  Besprechung  in  dieser  Zeit- 
schrift nachfolgen  soll,  so  habe  ich  es  besonders  karz  gemacht  und  nur 
die  wichtigsten  Punkte  hervorgehoben.  Daus  ich  dabei  0-edanken  un- 
erwähnt gelassen  habe,  die  Meümaitn  ftlr  besonders  wichtig  hält,  ist  bei 
der  Verschiedenheit  unserer  Ansichten  nicht  zu  verwundem.  Es  würde 
mich  zu  weit  führen,  wollte  ich  hier  in  dieser  Beziehung  die  Kurse 
meines  Referates  verteidigen.  Dagegen  möchte  ich  die  anderen  Vor- 
.würfe  nicht  ruhig  auf  mir  sitzen  lassen. 

Erstens  soll  ich  Msuhajins  Ansichten  über  das  Zustandekommen 
4er  Zeiturteile  unkorrekt  wiedergegeben  haben.  Es  sei  von  mir  über- 
sehen, daCs  er  seine  sämtlichen  theoretische^  Ausführungen  darauf 
gerichtet  habe,  zwischen  einer  allgemeinen  Psychologie  der  Zeitwahr- 
nehmung und  einer  speziellen  Analyse  der  Vorgänge,  die  bei  der  Bildung 
]i^estimmter  Zeiturteile  unter  gegebenen  Versuchsbedingungen  beteiligt 
sind,  zu  unterscheiden.  Über  die  Art  und  Weise  des  Zustandekommens 
bestimmter  Zeiturteile  unter  den  konkreten  Umständen  des  Zeitsinn- 
yersuchs  habe  er  sich  gemäfs  dem  ganzen  Plan  seiner  Untersuchung 
Oberhaupt  noch  nicht  äufsem  können;  was  er  angegeben  habe,  sei  nur 
die  allgemeine  psychologische  Grundlage  der  Möglichkeit  einer  ge- 
sonderten Beurteilung  zeitlicher  Verhältnisse  unserer  Bewulstseins- 
Vorgänge.^  —  Mir  ist  es  unklar,  wie  man  erst  ganz  allgemein  Sätze  über 
das  Zustandekommen  von  Zeiturteilen  aufstellen  (vergl.  Pkilos.  Stud.  YJLIJL 
S.  488  u.  505)  und  nachher  behaupten  kann,  über  die  Art  des  Zustande- 
kommens von  Zeiturteilen  unter  den  konkreten  Verhältnissen 
des  Zeitsinnversuchs  nichts  ausgesagt  zu  haben.  Sätze,  welche  die  Ent- 
stehung von  Zeiturteilen  betreffen,  gelten  entweder  für  die  konkreten 
Umstände  oder  überhaupt  nicht,  da  ein  Zeiturteil  selbstverständlich 
nur   unter   konkreten   Umständen  zu  stände  kommt.    Die  betreffenden 


^  Die  betreffende  Stelle  meines  Beferats  soll  auCserdem  „ein  Muster 
logisch  unkorrekter  Ausdrucksweise^  sein.  Ich  überlasse  dem  Leser 
die  Entscheidung,  ob  er  diesen  von  Msumaitn  nicht  näher  begründeten 
Vorwurf  berechtigt  findet. 


Mne  Erwiderung.  319 

SStze  fküre  ich  hier'  wörüioh  an  (vergl.  Vm.  JS.  488):  „Entweder 
die  ifeStliclien  Verhältnisse  unserer  Erlebnisse  selbst  werden  Objekt 
deft  jaufmerksamen  f^erzeption,  dann  kommt  eine  unmittelbare  Aus- 
sage-über  Zeitverhältnisse  zu.  stände.  Oder  unsere  Aufmerksamkeit 
wird  yon  den  Ereignissen  gefesselt,  von  den  Empfindungen,  Vor- 
stellungen, ihrem  Weohsel  u.  s.  w.  Dann  tritt  der  zeitliche  Inhalt 
ebenso  für  unser  BewuXstsein  zurück,  wie  irgend  ein  anderer  psychischer 
Inhalt,  von  dem  sich  die  Aufmerksamkeit  gänzlich  abgewendet  hat. 
Wollen  wir  jetzt  eine  Zeitaussage  über  die  zeitlichen  Verhältnisse 
unserer  Erlebnisse  machen,  so  sind  wir  auf  gewisse  Merkmale  der  Er- 
eignisse angewiesen,  die  wir  entweder  mit  einem  bewufsten  Indizien- 
sohlufs  oder  rein  assoziativ  auf  Grund  früherer  Erfahrungen  zeitlich 
deuten  können.  Das  letztere  nenne  ich  eine  mittelbare  oder  vermittelte 
Zeitaussage.''  Hiermit  ist  deutlich  ausgesprochen,  dafs  bei  ^ aufmerk- 
samer Perzeption''  der  zeitlichen  Verhältnisse  selbst  ein  unmittelbares 
Zeitarteil  entstehen  soll,  bei  einer  Abwendung  der  Aufmerksamkeit  von 
den  zeitlichen  Verhältnissen  dagegen  ein  mittelbares.  Da  diese  Sätze 
in  keiner  V7eise  eingeschränkt  sind,  habe  ich  angenommen,  dafs  sie  für 
alle  konkreten  Umstände  gelten  sollten,  und  habe  dieser  Annahme  gemälla 
referiert. 

Zweitens  soll  ich  von  den  verschiedenen  von  Meumakh  für  eine 
bestimmte  Täuschung  angeführten  Erklärungsmöglichkeiten  ganz  beliebig 
etne-einzige  herausgegriffen  und  als  die  seinige  hingestellt  haben.  Für 
die  fragliche  Täuschung,  welche  darin  besteht,  dafs  ein  von  intensiveren 
SchäUeindrüoken  begrenztes  Intervall  kürzer  erscheint,  als  ein  anderes, 
vTelchei^  objektiv  gleich  grofs,  aber  von  schwächeren  Signalen  begrenzt 
ist,  tmd  für  alle  anderen  aus  der  Intensitätsverschiedenheit  der  be- 
-gren^enden  Empfindungen  entspringenden  Täuschungen  habe  er  je  nach 
den  ümiständen  fünf  bis  sechs  und  mehr  Ursachen  luigenommen,  welche 
zusammen '  die  Effekte-'  hervorbringen  könnten,  nämlich  die  Schall- 
verschmelzung, gewisse  assoziative  Faktoren,  die  stärkere  Beschäftigung 
der  Aufmerksamkeit,  Oberraschungseffekte  und  spezifisch  rhythmische 
Einflüsse.  —  Wie  wenig  dieser  Vorwurf  begründet  ist,  erhellt  aus 
Folgendem.  Bei  der  Besprechimg  der  Versuche  (vergl.  Fhüoa,  Stud.  IX. 
S.  274 f.  S.  286—288),  durch  welche  die  Täuschung  konstatiert  ist,  wird 
als  einzige  Ursache  für  die  subjektive  Verkürzung  der  von  intensiveren 
Signalen  begrenzten  Zeit  die  „grölsere  Schall  Verschmelzung**  angegeben. 
Allerdings  werden  noch  zwei  von  den  Faktoren,  die  Meüvank  in  seiner 
Berichtigung  erwähnt,  zur  Erklärung  eines  Besultates,  welches  sich 
unter  ganz  speziellen  Umständen  ergeben  hat,  herangezogen,  nämlich 
die  stärkere  Beschäftigung  der  Aufmerksamkeit  und  ein  assoziativer 
Faktor.  Aber  diese  beiden  Faktoren  bewirken  nicht,  dafs  das  von 
intensiveren  Schalleindrücken  begrenzte  Intervall  kürzer  erscheint,  sie 
haben  vielmehr  gerade  die  entgegengesetzte  Wirkung  (vergl. 
IX.  S.  288).  Die  letzten  beiden  Faktoren,  welche  Mbumahn  in  seiner 
Berichtigung  noch  anführt,  „Überraschungseffekte**  und  „spezifisch 
rhythmische  Einflüsse**  werden  bei  Besprechung  der  Versuche  überhaupt 
nieht  erwähnt.     Erst  am  Schlüsse  des  Artikels  (IX.  S.  805)  wird  ganz 


320  jB^ 

unmotiviert  die  Behauptung  aufgestellt,  dafs  auch  bei  der  hier  in  Frage 
kommenden  Tftnechung  die  rhythmische  Auffassung  von  Kinflufa  sei. 
Während  aber  bei  aUen  anderen  Versuehen  durch  Selbstbeobachtung  eine 
rhythmische  Auffassung  festgestellt  ist,  wird  eine  solche  bei  der  Dis- 
kussion derjenigen  Versuche,  durch  welche  die  relative  Verkürxnng  des 
von  intensiveren  Signalen  begrenzten  Intervalls  konstatiert  ist,  mit 
keinem  Worte  erw&hnt.  Was  endlich  die  Überraschung  (vergl.  IX.  S.  206) 
anbetrifft,  so  bleibt  dem  Leser  vollständig  überlassen,  su  vermuten,  dafe 
sie  bei  den  betreffenden  Versuchen  mitgewirkt  habe.  Hat  sie  aber  mii- 
gewirkt, so  kann  sie  nur  den  verkürzenden  Einflufs  der  Sehali- 
verschmelzung zum  Teil  aufgehoben  haben,  da  nach  MainiAim 
das  Intervall,  welches  einem  intensiven,  Überraschung  hervorrufenden 
Signale  nachfolgt,  verlängert  erscheint.  Thatsächlich  hat  also  Mbü- 
MAKN  nicht  fünf,  sondern  nur  zwei  Faktoren  zur  Erklärung  herangeaog«i. 
Von  diesen  beiden  Faktoren  habe  ich  nicht  einen  beliebigen,  sondern 
denjenigen,  dessen  Wirkung  allein  wirklich  konstatiert  ist,  in  meinem 
Beferate  unter  einer  anderen  Bezeichnung-  angeführt,  denn  mit  der 
„längeren  Dauer  der  intensiveren  Empfindungen^  ist  die  „stärken»  Yer- 
schmelzung'^  derselben  gegeben.  Es  geht  denmach  aus  dem  Angeführten 
hervor,  dais  Mbukahn  seinen  schweren  Vorwurf  auf  Grund  einer 
„starken^  Unkenntnis  des  Inhalts  seiner  eigenen  Arbeit  er- 
hoben hat. 

Der  dritte  und  letzte  Vorwurf  betrifft  ein  unbedeutendes  Veraehen. 
loh  habe  gesagt :  „Die  bisher  mitgeteilten  experimentellen  Untersuchungen 
behandeln  den  Einflufs,  welchen  die  Intensität  und  Qualität  der  be- 
grenzenden Signale  auf  die  Schätzung  ausüben*^  Direkt  falsch  ist  diese 
Angabe  nicht,  da  ja  thatsächlich  neben  dem  Einflüsse  der  Intensität 
auch  ein  solcher  der  Qualität  untersucht  ist.  Ich  gebe  aber  zu,  dais  es 
korrekter  gewesen  wäre,  wenn  ich  nur  von  einem  Einflüsse  der  Intensität 
gesprochen  hätte.  F.  SomncAinr  (Berlin). 


Zur  Psychophysik  der  Gesichtsempfindungen. 

Von  / 

G.    E.    MÜLLEK. 

Kapitel  2. 
Der  Aiitagoiiismas  der  Netzhaatprozesse. 

§  H-   Die  Annahme   antagonistischer  Valenzen  und 
die  Komponenten theorie  des  Weifsprozesses. 

Sehr  auffallend  ist  die  Thatsache,  dafs,  während  rotgelbe, 
^elbgrüne,  grünblaue  und  blaurote  Empfindungen  in  mannig- 
faltigen Nuancen  und  Abstufungen  vorkommen,  rotgrüne  und 
^elbblaue  Empfindungen  in  unserer  Erfahrung  niemals  auftreten. 
Behufs  Erklärung  dieses  Sachverhaltes  und  spezieller  der  That- 
3ache,  dafs  zwei  Lichtreize,  von  denen  der  eine,  allein  genommen, 
die  Empfindung  von  Urrot  oder  Urgelb,  der  andere  die  Em- 
pfindung von  Urgrün  bezw.  Urblau  zur  Folge  hat,  bei  gleich- 
zeitiger Einwirkung,  auf  dieselbe  Stelle  der  Netzhaut  je  nach 
ihrem  Intensitätsverhältnisse  entweder  eine  weifsliche  Bot-  oder 
Grün-  bezw.  Gelb-  oder  Blauempfindung  oder  eine  farblose 
Empfindung,  aber  eben  niemals  eine  rotgrüne  bezw.  gelb- 
blaue Empfindung  zur  Folge  haben,  nehmen  wir  Folgendes  an. 

Jedes  farbige  Licht  besitzt  neben  seiner  chromatischen 
Yalenz  oder  seinen  beiden  chromatischen  Yalenzeu  noch  eine 
Weifsvalenz.  Nun  sind  der  Eotprozefs  und  der  Grünprozefs 
und  ebenso   auch   der  Gelbprozefs  und   der  Blauprozefs*  Vor- 


^  £s  mag  hier  noch  besonders  darauf  aufmerksam  gemacht  werden, 
-dafs  wir  unter  einem  Weils-, . Rot-,  Gelb-  u.  s.  w.  Prozesse  stets  nur 
einen  in  den  lichtempfindlichen  Schichten  der  Netzhaut  sich 
abspielenden  chemischen  Vorgang,  hingegen  unter  einer  Weifs-,  Bot-, 
Oelb-  u.  s.  w.  Erregung  stets  einen  durch  einen  solchen  retinalen 
Prozels  im  Sehnerven  hervorgerufenen  Erregungs Vorgang  verstehen. 

Zeitgchrift  für  Paycholoerie  X.  21 


322  G,  E.  Müller. 

gange  I  die  in  einem  Verhältnisse  gewissen  Gegensatzes  zu 
einander  stehen,  so  dafs  ein  mit  einer  Botvalenz  oder  Gelb* 
Valenz  begabter  Beiz  als  solcher  in  entgegengesetzter  Bichtnng 
wirkt,  wie  ein  mit  einer  Grünvalenz  bezw.  Blauvalenz  begabter 
Beiz.  Wifkt  also  rotes  und  grünes  Licht  gleichzeitig  auf  dieselbe 
Netzhautstelle,  so  wirken  sich  beide  Lichtreize  insofern,  als 
der  eine  Botvalenz  und  der  andere  Grünvalenz  besitzt,  entgegen. 
Hingegen  verstärken  sie  sich  gegenseitig  in  ihren  Wirkungen 
insofern,  als  sie  beide  Weilsvalenz  besitzen.  Demgemäfs  müssen 
sie  je  nach  ihrem  Intensitätsverhältnisse  neben  einem  relativ 
verstärkten  Weifsprozesse  entweder  nur  einen  Botprozefs  oder 
nur  einen  Grünprozefs  hervorrufen  oder,  falls  sich  die  beiden 
antagonistischen  Valenzen  gegenseitig  gerade  aufheben,  über- 
haupt nur  einen  Weifsprozefs  zur  Folge  haben.  Entsprechendes 
gilt  von  dem  gleichzeitigen  Einwirken  gelben  und  blauen  Lichtes. 

Man  kann  dieser  Auffassung,  welche  kurz  als  die  An- 
nahme antagonistischer  Valenzen  bezeichnet  werden 
kann,  eine  andere,  etwa  als  die  Komponententheorie  des 
Weifs Prozesses  zu  bezeichnende  Ansicht  gegenüberstellen, 
nach  welcher  eine  durch  gemischtes  Licht  hervorgerufene  Weiü- 
empfindung  nicht  auf  gegenseitiger  Hemmung  der  chromatischen 
Valenzen  der  Partiallichter,  sondern  vielmehr  darauf  beruht, 
dafs  die  chromatischen  Valenzen  der  Partiallichter,  die  einer 
besonderen  Weifsvalenz  überhaupt  entbehren,  irgendwie  zu 
wirklicher  Thätigkeit  und  positiver  Zusammen  Wirkung  gelangen. 

Diese  Komponententheorie  muTs  natürlich,  wenn  sie  über- 
haupt in  Bücksicht  gezogen  werden  soll,  so  formuliert  werden, 
dafs  sie  nicht  in  Widerspruch  zu  dem  fünften  unserer  psycho- 
physischen  Axiome  (vergl.  §  5)  steht.  Würde  man  z,  B.  sagen, 
der  Weifsempfindung,  welche  bei  gleichzeitiger  Einwirkung 
gelben  und  blauen  Lichtes  entstehe,  liege  ein  psychophysischer 
Mischvorgang  zu  Grunde,  welcher  zu  gleichen  Teilen  aus 
Gelberregung  und  Blauerregung  bestehe,  so  würde  zu  erwidern 
sein,  dafs  ebenso,  wie  in  dem  Falle,  wo  eine  Boterregung  und 
eine  gleich  intensive  Gelberregung  gegeben  ist,  eine  rotgelbe 
Empfindung  vorhanden  ist,  welche  sowohl  der  reinen  Bot- 
empfindung, als  auch  der  reinen  Gelbempfindung  ausgeprägt 
ähnlich  ist,  auch  in  dem  Falle,  wo  eine  Gelberregung  und  eine 
gleich  intensive  Blauerregung  gegeben  Ist,  eine  gelbblaue,  nicht 
aber  eine  farblose  Empfindung  vorhanden  sein  mufs. 


Zur  JPsycKophysik  der  Gesichtsempfindungen.  S23 

Man  vermeidet  den  Widerspruch  zum  fünften  Axiome,  wenn 
man  die  Eomponententheorie  z.  B.  in  folgender  Form  vor- 
trägt. Der  Eotprozefs  und  der  Q-rünprozefs  —  das  Entsprechende 
gUt  von  dem  G-elbprozesse  und  Blauprozesse  —  sind  Prozesse, 
deren  jeder  aus  zwei  aufeinanderfolgenden  Teilvorgängen  besteht. 
Bei  jedem  dieser  Prozesse  tritt  nämlich  zunächst  eine  Spaltung 
gewisser  komplisderter  Moleküle  ein.  Hierauf  entstehen  aus  den 
Produkten  dieser  chemischen  Spaltung  neue  Moleküle,  welche 
von  anderer  Art  sind,  als  die  der  Spaltung  unterlegenen  Moleküle. 
17atürlich  gehen  Spaltung  und  Neubildung  an  verschiedenen 
Punkten  gleichzeitig  nebeneinander  her.  Der  wesentlichere, 
fiir  das  Verhalten  des  Sehnerven  mafsgebende  Teilvorgang  ist 
nicht  die  Spaltung,  sondern  dieNeubüdung  mittelst  derSpaltungs- 
Produkte.  Wirken  nun  rotes  und  grünes  Licht  gleichzeitig  auf 
dieselbe  Netzhautstelle  ein,  so  bewirkt  zwar  jeder  von  beiden 
Xiichtreizen  den  ihm  entsprechenden  Spaltungsprozefs,  an  diesen 
schliefst  sich  aber  nicht  der  sonst  dazu  gehörige  (den  wesenir 
lichen  Teil  des  Bot-  bezw.  Grünprozesses  ausmachende)  Yor-^ 
gang  chemischer  Neubildung  an,  sondern  die  durch  beide 
liichtreize  bewirkten  Spaltungen  fuhren  gemeinsam  zu  einem 
iganz  neuen  chemischen  Yerbindungsvorgange,  welcher  den 
Weifsprozefs  in  seinem  wesentlichen  Teile  darstellt. 

Wir  führen  die  hier  angedeutete  Form  der  Komponenten- 
theorie nicht  weiter  aus,  sondern  gehen  sofort  dazu  über,  zu 
zeigen,  dafs  eine  Komponententheorie  des  Weifsprozesses,  mag 
man  sie  nun  so  oder  so  gestalten,  mit  einer  Beihe  von  That- 
sachen  imd  Gesetzen,  deren  Erklärung  sich  vom  Standpunkte 
der  Annahme  antagonistischer  Valenzen  aus  ganz  von  selbst 
ergiebt,  teils  gar  nicht,  teils  nur  mittelst  sehr  wenig  befrie- 
digender, erzwungener  Hülfshypothesen  in  Einklang  gebracht 
werden  kann. 

§  15.  Die  Komponententheorie  ist  unverträglich  mit 
dem  Satze,  dafs  die  subjektive  Gleichheit  zweier 
Lichter  von  dem  Ermüdungszustande  des  Sehorgans 

unabhängig  ist. 

Wir  führen  gleich  an  erster  Stelle  dasjenige  Argument  an, 
welches,  allein  genommen,  bereits  vollständig  zur  Beseitigung 
der  Komponententheorie  genügt. 

Wie  VON  Kribs  und  Hering  gezeigt  haben,  gilt  allgemein 

21* 


324  O'  JS'  MüHer. 

der  Satz,  dafs  zwei  Lichter,  welche  objektiv  verschieden  siad, 
dem  unermüdeten  Auge  aber  gleich  erscheinen,  dem  irgendwie 
ermüdeten  Auge  zwar  beide  verändert,  stets  aber  untereinander 
wieder  gleich  erscheinen.^  Dieser  Satz,  auf  dessen  hohe  theo- 
retische Bedeutung  vok  Kbxbs  aufmerksam  gemacht  hat,  ist 
nach  der  Annahme  antagonistischer  Valenzen  ganz  selbst- 
verständlich. Bezeichnen  wir  mit  r,  g,  e,'  b  den  Wert  der 
roten,  grünen,  gelben,  blauen  Valenz,  welche  einem  Mischlichte 
gemäjQs  seiner  Zusammensetzung  aus  roten,  gelben  u.  s.  w. 
Lichtstrahlen  zuzuschreiben  ist,  so  kommt  dasselbe  infolge  des 
Antagonismus,  der  zwischen  der  roten  und  grünen  Valenz  be- 
steht, für  die  rotgrünempfindlichen  Substanzen  überhaupt  nur 
mit  der  Differenz  r — g  zur  Geltung.  Je  nach  dem  Vorzeichen 
und  der  absoluten  Q-rofse  dieser  Differenz  wird  entweder  ein 
Botprozefs  oder  ein  Grünprozefs  von  gröfserer  oder  geringerer 
Intensität  oder  (falls  r  —g  =  0  ist)  weder  ein  Bot-,  noch  ein 
Grünprozefs  durchs  das  Licht  erweckt  werden.  Ebenso  kommt 
das  letztere  für  die  gelbblauempfindlichen  Substanzen  niu:  mit 
der  Differenz  e — h  zur  Geltung,  ganz  unabhängig  davon,  wie 
grofs  die  absoluten  Werte  von  e  und  h  sind.  Bezeichnen  wir 
die  Differenzen  r — g  und  c — h  kurz  als  die  wirksamen  Diffe- 
renzen der  chromatischen  Valenzen,  so  können  wir  also 
kurz  sagen,  dafs,  wenn  zwei  Lichter  bei  gleicher  Erregbarkeit 
der  von  ihnen  betroffenen  Netzhautstellen  einander  gleich  er- 
scheinen, ihnen  gleiche  Werte  der  Weifsvalenz  und  der  wirk- 
samen Differenzen  der  chromatischen  Valenzan  zugehören.    Es 

'  Man  vergleiche  ton  Krixs  im  Ärch,  /*.  Anat  u.  PhysioL  1878. 
S.  603  if.,  Die  G-esichtbempfio düngen  und  ihre  Analyse,  S.  109  ff.;  Hbbiko, 
Über  Newtons  GeseU,  S.  89  AT.,  ferner  in  Pflügers  Ärch,  41.  1887. 
S.  41  f.  und  42.  1888.  S.  492  ff.  Wenn  von  Kbies  neuerdings  (diese  Z^i- 
Schrift  9.  1895.  S.  89  ff.)  zu  dem  Besultate  kommt,  dais  die  far  hohe  Inten- 
sitäten geltenden  Farhengleichungen  hei  Ahschwächung  aller  Lichter 
und  Dankeladaptation  in  dem  Sinne  unrichtig  werden,  dais  dasjenige 
Gemisch,  welches  die  gröfsere  Stähchenvalenz  hesitzt,  einen  Überschufs 
von  farbloser  Helligkeit  erhält,  so  wird  hiermit,  streng  genommen,  eine 
Abweichung  von  dem  obigen  Satze  behauptet.  Wie  leicht  zu  erkennen, 
wird  indessen  hierdurch  die  Gültigkeit  dieses  Satzes  in  derjenigen  Hin- 
sicht, auf  die  es  uns  im  obigen  ankommt,  nicht  berührt.  Für  das  Netz- 
hautzentrum erkennt  von  Kbies  den  obigen  Satz  auch  jetzt  noch  als 
unbedingt  giltig  an. 

'  Das  Gelb  wird  in  dieser  Abhandlung  durch  den  Buchstaben  e 
repräsentiert,  weil  das  g  schon  durch  Grün  in  Beschlag  gelegt  ist. 


Zur  Psychophysik  der  Gesichtsefnpfindungen.  326 

Tersteht  sicli  nun  ganz  von  selbst,  dals  die  subjektive  Gleicli- 
lieit  beider  Lichter  erhalten  bleibt,  wenn  die  {Erregbarkeit  der 
beiden  Netzhautstellen,  auf  welche  sie  mit  ihreii  gleichen  Weifs- 
Valenzen  und  ihren  gleichen  Differenzen  der  chromatischen 
Yalenzen  wirken,  in  einer  für  beide  Netzhautstellen  gleichen 
Weise  verändert  wird. 

Hingegen  scheitert  eine  Komponententheorie  der  in  Sede 
stehenden  Art^  unwiderruflich  an  dem  obigen  Erfahrungssatze. 
Angenommen  z.  B.,  wir  lassen  zunächst  bei  neutraler  Stimmung 
des  Auges  zwei  gleich  aussehende,  weiTse  Lichter  einwirken, 
von  denen  das  eine  eine  Gelbvalenz  und  Blauvalenz,  das 
andere  aber  aufserdem  noch  eine  Botvalenz  und  Grünvalenz 
besitzt,  und  wir  ermüden  hierauf  das  Auge  für  Bot,  so  können 
nach  der  Komponententheorie  dem  in  dieser  Weise  ermüdeten 
Auge  die  beiden  Lichter  nicht  mehr  gleich  erscheinen.  Denn 
die  Wirkungen,  welche  die  Botvalenz  und  die  Grünvalenz  des 
zweiten  Lichtes  nach  der  Komponententheorie  haben,  müssen 
durch  die  vollzogene  Ermüdung  für  Bot  wesentlich,  und  zwar 
im  gegenteiligen  Sinne,  beeinflufst  sein,  während  für  das  erstere 
Licht  eine  entsprechende  Beeinflussung  seiner  Wirkungen  nicht 
stattgefunden  hat.  Nach  der  Komponententheorie  kommt  jedes 
Licht  mit  allen  seinen  Valenzen  zur  positiven  Wirksamkeit. 
Habe  ich  also  zwei  gleich  aussehende  MischUchter,  welche  nicht 
dieselben  Valenzen  besitzen,  und  verändere  ich  nun  die  Erreg- 
barkeit für  eine  Valenz,  welche  nur  dem  einen  Mischlichte 
oder  beiden  Mischlichtem  mit  verschiedenem  Werte  zu- 
kommt, so  kann  das  gleiche  Aussehen  beider  Mischlichter 
nicht  mehr  bestehen  bleiben.  ELingegen  kommt  nach  der  An- 
nahme antagonistischer  Valenzen  jedes  der  beiden  Mischlichter 
nur  mit  seiner  Weilsvalenz  und  den  Differenzen  seiner  chro- 
matischen Valenzen  zur  aktuellen  Wirksamkeit.  Ermüde  ich 
das  Auge  für  eine  Valenz,   welche  nur   dem  einen  Mischlichte 


^  D.  h.  eine  Komponententheorie,  welche  (im  Hinblick  auf  die  von 
uns  im  ersten  Kapitel  angeführten  oder  andere  Beweisgründe)  vier  chro* 
matische  Grundprozesse  der  Netzhaut  und  vier  chromatische  Valenzen 
der  Lichter  annimmt.  Die  YoTTNO-HELMHOLTzsche  Theorie,  welche  zu  dem 
obigen  Satze  in  Einklang  steht,  ist  gleichfalls  eine  Komponententheorie 
des  Weifsprozesses,  kommt  aber  wegen  ihrer  groben  Widersprüche  zu 
den  psychophysischen  Axiomen  und  zu  zahlreichen  Erfahrungsthatsachen 
überhaupt  nicht  in  Betracht. 


326  G'  E.  Müüer. 

zakommt,  so  bleibt  trotzdem  das  gleiche  Aussehen  beider  Misch- 
lichter erhalten,  weil  diese  Valenz  dadurch  völlig  kompensiert 
nnd  wirkungslos  gemacht  ist,  dafs  das  Mischlicht,  welchem 
sie  zukommt,  die  ihr  entgegengesetzte  Valenz  in  genau  der- 
selben Stärke  besitzt.  Entsprechendes  gilt  fär  den  Fall,  dafs 
wir  das  Auge  für  eine  Valenz  ermüden,  welche  den  beiden 
Mischlichtem  mit  verschiedenen  Werten  zukommt. 

§  16.  Die  Komponententheorie  wird  dem  Eintreten 
und  Verhalten  des  Weifsprozesses  bei  Farbenblind- 
heit,   insbesondere    den    beiden    HESSschen    Sätzen, 

nicht  gerecht. 

Die  Eomponententheorie  ist  femer  nicht  in  befriedigenden 
Eiuklang  zu  der  Thatsache  zu  bringen,  dafs  bei  (peripherischer 
oder  individueller)  totaler  Farbenblindheit  der  Weifsprozefs  noch 
vorhanden  ist,  während  die  chromatischen  Prozesse  völlig  fehlen. 
Denn,  wenn  wirklich  der  Weifsprozefs  im  Sinne  der  Eomponenten- 
theorie durch  ein  positives  Zusammenwirken  chromatischer 
Valenzen  zu  stände  käme,  so  wäre  zu  erwarten,  dafs  in  Fällen^ 
wo  die  chromatischen  Prozesse  der  Netzhaut  nicht  mehr  hervor- 
gerufen werden  können,  auch  der  Weifsprozefs  gänzlich  aus- 
bleibe. Ebenso  wäre  zu  erwarten,  dafs  in  Fällen,  wo  nur  die 
roten  und  grünen  (nur  die  gelben  und  blauen)  Valenzen  die 
ihnen  entsprechenden  chromatischen  Prozesse  nicht  hervorzu- 
rufen vermögen,  auch  die  Kombination  einer  roten  und  grünen 
(gelben  und  blauen)  Valenz  unfähig  sei,  den  Weüsprozefs  zu 
bewirken. 

Man  kann  meinen,  dafs  die  Komponententheorie  dem  hier 
erhobenen  Einwände  entzogen  werden  könne,  wenn  man  die- 
selbe einer,  allerdings  recht  wesentlichen,  Modifikation  unter- 
werfe, nämlich  so  gestalte,  dafs  nach  derselben  zwei  Arten  der 
Erweckung  des  Weifsprozesses  vorkommen.  Man  habe  anzu- 
nehmen, dafs  letzterer  Prozefs  erstens  dadurch  bewirkt  werde, 
dafs  sämtliche  Lichtreize  mittelst  einer  ihnen  in  verschiedenem 
Grade  zukommenden  Weifsvalenz  direkt  Weifsprozefs  hervor- 
rufen. Zweites  könne  aber  der  Weifsprozefs  auch  durch  ein 
positives  Zusammenwirken  der  farbigen  Valenzen  zweier  oder 
mehrerer  Lichtreize  bewirkt  werden.  Was  speziell  das  Ver- 
halten der  verschiedenen  Netzhautzonen  anbelange,  so  trete 
die  zweite  Art   der  Entstehung  des  Weifsprozesses   hinter   die 


Zur  Psychophysik  der  Ghsichtsempfindungen.  327 

erstere  tun  so  mehr  zurück,  je  weiter  man  auf  der  Netzhaut 
nach  der  Peripherie  hinschreite,  entsprechend  dem  Umstände, 
dafs  die  farbigen  Valenzen  der  Lichter  bei  zunehmendem  Ab- 
stände von  der  Fovea  immer  mehr  an  Wirkung  verlieren.  Auf 
der  äufsersten  Netzhautzone  sei  eine  Erweckung  des  Weifs- 
prozesses überhaupt  nur  noch  auf  die  erstere  Art  (mittelst  der 
Weifsvalenzen  der  Lichter)  möglich. 

G-egen  die  hier  angedeutete  Form  der  Komponententheorie 
ist  einzuwenden,  dafs  sie  zwei  auf  das  Verhalten  der  ver- 
schiedenen  Netzhautzonen  bezüglichen,  von  Hbss  {Arch.  f. 
Ophihalm.  35.  4.  S.  1  ff.)  aufgestellten,^  wichtigen  Sätzen  nicht 
in  befriedigender  Weise  gerecht  zu  werden  vermag.  Der  erstere 
dieser  beiden  Sätze  besagt,  dafs  eine  Farbengleichung,  welche 
für  die  innerste  extramakulare  Netzhautzone  hergestellt  worden 
ist,  auf  allen  übrigen  extramakularen,  farbentüchtigen  und 
farbenblinden,  Netzhautzonen  bestehen  bleibt.^  Der  zweite 
Hssssche  Satz  lautet  (in  der  Ausdrucksweise  der  HsBiKGschen 
Theorie)  dahin,  dafs  die  Weifsvalenzen  der  farbigen  Lichter  für 
die  farbentüchtigen  extramakularen  Netzhautstellen  ganz  die- 
selben Werte  besitzen,  wie  für  die  farbenschwachen  und 
farbenblinden  Netzhautstellen.  Man  denke  sich  z.  B.  folgenden 
(von  Hess  ausgeführten)  Versuch.  Es  seien  ein  rotes  und  ein 
grünes  Licht,  deren  jedes  auf  der  rotgrünblinden  Netzhautzone 
ganz  farblos  erscheint,  mit  einem  solchen  gegenseitigen  Liten- 
sitätsverhältnisse  gegeben,  dafs  sie  bei  ihrer  Vermischung  auf 


^  Auch  Hebivg  {Arch,  f.  Ophihalm.  35.  4.  S.  74  und  36. 1.  S.  264)  äufsert 
sich  auf  Grund  seiner  experimentellen  Erfahrungen  bestätigend  zu  den 
YOQ  Hess  aufgestellten  Sätzen. 

*  In  leicht  erkenntlicher  Beziehung  zu  diesem  (von  Hess  nicht  blois 
mittelst  Pigmentfarben,  sondern  auch  mittelst  Spektralfarben  erwiesenen) 
Satze  steht  auch  die  folgende  Beobachtung  von  Hbkivo  (Arch,  /*.  Ophthakn, 
36.  3.  S.  21  f.)  Dieser  Forscher  untersuchte  eine  Patientin,  deren  eines 
Auge  gesund  war,  und  deren  anderes  Auge  sich  in  seinen  zentralen 
Teilen  ganz  so  verhielt,  wie  sich  eine  annähernd  rotgrünblinde  peri- 
pherische Zone  des  normalen  Auges  verhält.  Das  kranke  Auge  war 
nahezu  rotgrttnblind  und  besafs  einen  geschwächten  Blaugelbsinn.  Wurde 
nun  ftLr  das  Zentrum  des  gesunden  Auges  eine  Farbengleichung  zwischen 
spektralem  Bot  und  Gelbgrün  einerseits  und  spektralem  Gelb  nebst  zu- 
gesetztem WeiXs  andererseits  oder  zwischen  spektralem  Violett  und  Grün- 
gelb 'einerseits  und  weifsem  Tageslichte  andererseits  hergestellt,  so  galt 
dann  die  hergestellte  Gleichung  auch  für  das  Zentrum  des  kranken 
Auges. 


328  G.  E.  MmUr. 

einer  färben  tüchtigen  extrainakularen  Netzhantstelle  gan2 
farblos  gran  erscheinen.  Man  bestimme  nnn  sowohl  f&r  das 
Bot,  als  auch  für  das  Grün  dasjenige  Weifs,  dem  es  anf  der 
rotgrünblinden  Netzhaatzone  völlig  äquivalent  ist.  Dann  ist 
die  Summe  dieser  beiden  auf  der  rotgrünblinden  Zone  be- 
stimmten WeiTswerte  des  roten  und  grünen  Lichtes  gleich  dem 
WeiTswerte,  den  man  auf  einer  farbentüchtigen,  eztramakularen 
Netzhautstelle  für  das  aus  dem  roten  und  grünen  Lichte 
zusammengesetzte  Grau  erhält. 

Dafs  die  Eomponententheorie  auch  in  der  oben  angegebenen 
Modifikation  die  Gültigkeit  dieser  beiden  HESSschen  Sätze  nicht 
befriedigend   zu  erklären  vermag,    bedarf  nicht    erst   weiterer 
Ausführung.     Wenn    der  Weifsprozefs   in  den  farbentüchtigen 
Netzhautzonen  auch  nur  zu  einem  Teile  seiner  Intensität  dadurch 
entsteht,    dafs    die    chromatischen    Valenzen    der   betreffenden 
Lichter  sich  thatsächlich  als  wirksam   erweisen,    so    ist  zu  er- 
warten,  dafs  jede  für  eine  farbentüchtige  extramakulare  Netz- 
hautstelle hergestellte  Gleichung  zwischen  zwei  Mischlichtem, 
von  denen  das  eine  Rot-  und  Grünvalenzen  besitzt,  das  andere 
aber    nicht,     oder    welche     die     verschiedenen    chromatischen 
Valenzen    in    verschiedenen  Stärke  Verhältnissen    besitzen    (also 
z.  B.  eine  Gleichung  zwischen  einem  aus  rotem  und  blaugrünem 
Spektrallichte    bestehenden  Weifs    einerseits    und    einem    aus 
rein  gelbem  und  rein  blauem  Spektrallichte  bestehenden  Weifs 
andererseits),    zu    einer   Ungleichung    werde,   sobald    man    die 
Mischlichter  auf  Netzhautteile  einwirken  lasse,  wo  die  Kot-  und 
die  Grünvalenzen   nachweislich  nicht  mehr  wirksam  sind.     Es 
ist   also    dann  nichts    weniger    als  die  Gültigkeit  des  erstefen 
der    beiden    obigen    Sätze    zu    erwarten.     Entsprechendes    gilt 
hinsichtlich  des  zweiten  Satzes.    Denn,  wenn  z.  B.  ein  Bot  und 
ein  Grün  auf  der  rotgrünblinden  Zone  der  Netzhaut  nur  mittelst 
ihrer  Weifsvalenzen  Weifsprozefs  erwecken,   auf  den  mittleren 
Netzhautteilen   hingegen    aufserdem   noch  durch    ein   positives 
Zusammenwirken    ihrer    chromatischen   Valenzen    Weifsprozefs 
hervorrufen,    so  ist  nichts  weniger  als    dies  zu  erwarten,    dafs 
beide  Farben  bei  gleichzeitiger  Einwirkung  auf  eine   und  die- 
selbe farbentüchtige  extramakulare  Netzhautstelle  einen  Weifs- 
wert ergeben,    welcher    gleich  ist  der  Summe  der  Weifswerte, 
welche  beide  Farben,  einzeln  genommen,  auf  der  rotgrünblinden 
Netzhautzone  besitzen. 


Zur  Psychophysik  der  Gesichtsempfindungen,  329 

Es  erweist  sich  also  die  Komponententheorie  als  unfähig, 
die  Thatsache  in  befriedigender  Weise  zu  erklären,  dafs  in 
Fällen,  wo  die  chromatischen  Valenzen  wirkungslos  sind,  dennoch 
der  Weifsprozefs  ausgelöst  werden  kann.  Und  unterwirft  man 
die  Komponententheorie,  um  sie  diesem  Einwände  zu  entziehtn^ 
der  oben  angegebenen  oder  anderen  ähnlichen  wesentlichen 
Modifikationen,^  so  erweist  sie  sich  immeir  noch  als  unfähig, 
der  Gültigkeit  der  beiden  obigen,  von  Hess  festgestellten  Sätze 
in  befidedigender  Weise  gerecht  zu  werden.  Ganz  anders  hin- 
gegen die  Annahme  antagonistischer  Valenzen !  Da  nach  dieser 
Annahme  der  Weifsprozefs  überhaupt  nicht  auf  einer  Wirksam- 
keit der  chromatischen  Valenzen  beruht,  so  ist  es  nach  derselben 
nichts  weniger  als  befremdend,  dafs  der  Weifsprozefs  auch 
noch  in  solchen  Fällen  ausgelöst  werden  kann,  wo  die  Wirksam- 
keit der  chromatischen  Valenzen  versagt.  Da  femer  nach  dieser 
Annahme  jedes  Licht  nur  mit  seiner  Weifsvalenz  und  den 
Differenzen  seiner  chromatischen  Valenzen  (den  Differenzen 
r — g  und  e — b)  zur  Wirksamkeit  gelangt,  und  mithin  eine  auf 
einer  farbentücbtigen  extramakularen  Netzhautstelle  hergestellte 
Gleichung  zwischen  zwei  Mischlichtem  darauf  beruht,  dafs 
beiden  Lichtem  die  gleiche  Weifsvalenz  und  gleiche  Differenzen 
r — g  und  e — b  zugehören,  so  begreift  sich  ohne  weiteres,  dafs 
eine  solche  Gleichung  auch  noch  dann  bestehen  bleibt,  wenn 
man  beide  Lichter  auf  mehr  peripheriewärts  gelegene  Netzhaut- 
stellen wirken  läfst,  auf  denen  die  für  beide  Lichter  gleichen 
Differenzen  r — g  und  e—b  nur  eine  verringerte  oder  überhaupt 
gar  keine  Wirksamkeit  zu  entfalten  vermögen.  Es  ist  also  die 
Gültigkeit  des  ersten  HESSschen  Satzes  nach  der  Annahme 
antagonistischer  Valenzen  ohne  weiteres  begreiflich.  Das  Gleiche 
gilt  von  dem  zweiten  HESSschen  Satze.  Da  nach  der  Annahme 
antagonistischer  Valenzen    die  Erweckung   des  Weifsprozesses 

^  Nur  der  Eaumerspamis  halber  sehen  wir  davon  ab,  auch  noch 
an  anderen  Modifikationen  der  KompoDententheorie  zu  zeigen,  dafs  sie 
durchaus  unfähig  ist,  die  Gültigkeit  der  beiden  HESsschen  Sätze  be- 
friedigend zu  erklären.  Diese  Unfähigkeit  haftet  der  Komponententheorie 
in  jeder  beliehigen  Form  und  bei  jeder  beliebigen  Anzfihl  angenommener 
chromatischer  Valenzen  an.  Hinsichtlich  der  völligen  Hülflosigkeit,  in 
der  sich  z.  B.  auch  die  YouNGhHsLMHOLTzsche  Theorie  den  Thatsachen  der 
peripheren  Farbenschwäche  und  Farbenblindheit  gegenüber  befindet, 
vergleiche  man  die  Ausführungen  von  Hering  im  Arck,  f,  Ophthalm.  35. 
1889.  4.  S.  63  ff. 


330  ^-  E*  Müüer. 

durch  ein  gegebenes  Licht  absolut  nicht  von  einer  Wirksamkeit 
der  chromatischen  Valenzen  abhängt,  so  begreift  es  sich  ohne 
weiteres,  dafs  der  Weifswert  eines  Lichtes  auf  einer  farben- 
schwachen oder  farbenblinden  Netzhautstelle  derselbe  ist,  wie 
auf  einer  farbentüchtigen  extramakularen  Netzhautstelle. 

Wie    bekamit,    erscheinen    einem    fQr    Dunkel   adaptierten    Ange 
(Dunkelauge)  alle  farbigen  Lichter  bei  genügend  geringer  Intensit&t  farb- 
los, aber  in  verschiedenen  Helligkeiten,  die  in  Beziehung  auf  die  Hellig- 
keit   eines    unter    den    gleichen    Umständen    wahrgenommenen    Weifs 
gemessen   werden   können.     Bestimmt  man    nun   nach   der  auf  diesem 
Verhalten  fufsenden  zweiten  Methode^  die  Weiiswerte  mehrerer  farbiger 
Lichter,   welche   bei   gleichzeitiger  Einwirkung  auf  eine   und   dieselbe 
Stelle  der  im  gewöhnlichen  Zustande  befindlichen  (d.  h.  nicht  an  Dunkel 
adaptierten)  Netzhaut  eine  Weifsempfindung  zur  Folge  haben,  so  gilt  der 
von  HiLLEBBAND  (TFtm.  Ber,  98.  1889.  UI.  S.  116)   „durch  eine  sehr  sorg- 
fältige   Versuchsreihe    erwiesene^   (Hxbisq)    ganz    dem    obigen   zweiten 
Hzssschen  Satze  entsprechende  Satz,   daXs  die  Weifsempfindung,  welche 
eine  Kombination  farbiger  Lichter  bei  gewöhnlichem  Zustande  der  Netz- 
haut hervorruft,  gleich  ist  der  Weifsempfindung,  welche  der  Summe  der 
Weifswerte  dieser  Lichter  entspricht.    Die  Erklärung  dieses  Satzes  und 
der  Thatsache,  dafs  überhaupt  dem  Dunkelauge  die  verschiedenen  Farben 
bei  genügender  Abschwächung  ganz  farblos  erscheinen,  bereitet  der  An- 
nahme antagonistischer  Valenzen  nichts  weniger  als  Schwierigkeiten,  ^e 
hier,   wo   die  Anschauungen  HEBmes  als  bekannt  vorausgesetzt  werden, 
nicht   erst   ausgeführt   zu  werden  braucht.    Ganz  anders  hingegen  die 
Komponententheorie.     Schon  die  einfache  Thatsache,  dafs  dem  Dunkel" 
äuge  die  farbigen  Lichter  bei  schwachen  Litensitäten  farblos  erscheinen, 
kann  vom  Standpunkte   dieser  Theorie   aus   nur  dann   erklärt   werden, 
wenn  man  dieselbe  wesentlich  modifiziert,  etwa  in  der  oben  angegebenen 
Weise  zwei  Arten  der  Erweckung  des  Weilsprozesses  annimmt,   erstens 
ein  Entstehen  desselben  durch  positives  Zusammenwirken  chroiaatischer 
Valenzen   und  zweitens  eine  Erweckung  desselben  durch  Weilsvalenzen, 
die  den  Lichtern  neben  ihren  chromatischen  Valenzen  noch  zukommen. 
Mag  man  aber  auch  die  Komponententheorie  in  der  soeben  angedeuteten 
oder  irgend  einer  anderen  Weise  modifizieren,  so  bleibt  sie,   wie  nicht 
weiter  ausg^fUhrt  zu  werden  braucht,  dennoch  unfähig,  eine  befriedigende 
einfache  Erklärung  für  die  Gültigkeit  des  obigen  HjLLEBRAVDschen  Satzes 
zu  geben. 

Im  vorstehenden  ist  vorausgesetzt  worden,  dafs  die  strenge  Gültig 
keit  des  HiLLBBBAia>schen  Satzes  über  allen  Zweifel  erhaben  seL  Nach 
den  Thatsachen  und  Gesichtspunkten,  welche  ton  Kbibb  (diese  Zeitacknfi 
Bd.  IX.  S.  81  ff.)  neuerdings  geltend  gemacht  hat,  kann  man  indessen  eine 
Bevision  des  auf  diesen  Satz  bezüglichen  Thatbestandes  für  wünschenswert 


^  Die  erste  Methode  der  Bestimmung  der  Weifsvalenzen  ist  die  oben 
(S.  327  f.)  erwähnte,  welche  auf  der -Farbenblindheit  der  peripherischen 
Netzhautzonen  beruht. 


Zur  Psychophysik'  der  Gesichtsempfindungen.  S31 

halten.  Auch  erscheint  die  von  Hillebrand  angewandte  Methode  einer 
Verschärfung  nicht  unzugänglich.  Unter  diesen  Umständen  darf  auf  den 
HiLLBBRANDSchen  Satz  nicht  das  gleiche  Gewicht  gelegt  werden,  wie  auf 
die  heiden  Hsssschen  Sätze,  die  (nur  für  das  an  das  Helle  adaptierte 
Auge  aufgestellt  und  erprobt),  wie  wir  Später  sehen  werden,  mit  dem 
wirklich  Thatsächlichen.  was  von  Krics  vorgebracht  hat,  völlig  vereinbar 
sind.  Es  erschien  uns  aber  wichtig,  bei  dieser  Gelegenheit  die  Bedeutung 
in  Erinnerung  zu  bringen,  welche  dem  von  den  Gegnern  der  HsBuraschen 
Theorie  bisher  fast  ohne  Ausnahme  und  ohne  Angabe  von  Gründen 
ignorierten  HiLLEBBANDSchen  Satze  eventuell  zukommt. 

§  17.  Die  Annahme  antagonistischer  Valenzen  findet 
eine  Stütze  in  dem  Eintreten  der  negativen  Nach- 
bilder, sowie  in  dem  Bestehen  der  Begel,  dafs  mit 
einer  Schädigung  der  Bot-  oder  Gelberregbarkeit 
eine  entsprechende  Schädigung  der  Grün-  bezw.  Blau- 
erregbarkeit verbunden  ist,  und  umgekehrt. 

Ein  wesentlicher  Vorzug  der  Annahme  der  antagonistischen 
Valenzen  besteht  ferner  darin,  dafs  rie,  wie  aUerdings  erst  im 
nachfolgenden  (§21  und  27)  näher  gezeigt  werden  wird,  das 
Eintreten  der  negativen  Nachbilder  ohne  jede  weitere  Hülfs- 
hypothese  (lediglich  auf  Grund  der  Gültigkeit  des  Gesetzes  der 
chemischen  Massenwirkung)  erklärt  und  überdies  auch  als  eine 
zweckmäfsige  Einrichtung  erscheinen  läfst.  Von  keiner  Form 
der  Komponententheorie  kann  das  Gleiche  behauptet  werden.  — 

Endlich  bieten  die  Erscheinungen  der  Farbenschwäche  und 
Farbenblindheit  noch  in  einer  ganz  anderen  Weise,  als  in  §  16 
geltend  gemacht  worden  ist,  der  Annahme  antagonistischer 
Valenzen  eine  Stütze.  Wie  bekannt,  gilt  nicht  blofs  bei  der 
peripherischen,  sondern  auch  bei  der  individuellen  Farben- 
blindheit oder  Farbenschwäche  die  Begel,  dafs  mit  dem  Fehlen 
oder  Herabgesetztsein  der  Boterregbarkeit  zugleich  ein  Fehlen 
bezw.  Herabgesetztsein  der  Grünerregbarkeit  verbunden  ist,  und 
umgekehrt,  und  dafs,  wo  die  Blauerregbarkeit  verringert  oder 
ganz  aufgehoben  ist,  sich  auch  eine  entsprechende  Schädigung 
der  Gelberregbarkeit  findet,  und  umgekehrt.  Nach  der  Annahme 
antagonistischer  Valenzen  begreift  sich  dieses  Verhalten  ganz 
ohne  weiteres.  Denn,  wenn  wirklich  der  Botprozefs  und  der 
Grünprozefs  —  das  Entsprechende  gilt  von  dem  Gelb-  und  dem 
Blauprozesse  —  Vorgänge  entgegengesetzter  Art  sixid,  d.  h. 
Vorgänge,    die  sich  an  den  gleichen  Substraten  in  entgegen- 


332  G,  E,  Mülhr, 

gesetzter  Bichtung  vollziehen,  so  verstellt  es  sicli  ganz  von 
selbst,  dafs  bei  völligem  Felüen  oder  dürftigem  Vorhandensein 
jener  Substrate  mit  der  Hoterregbarkeit  zugleich  auch  die  Grün- 
erregbarkeit ausfallt  oder  herabgesetzt  ist,  und  umgekehrt. 
Nun  steht  es  allerdings  fest,  dafs  viele  Fälle  von  Farben- 
schwäche und  Farbenblindheit  nicht  auf  einer  Funktionsstörung 
der  lichtempfindlichen  Netzhautschicht,  sondern  auf  einer  Schä- 
digung oder  Schwäche  des  nervösen  Teiles  des  Sehorganes 
beruhen.^  Bedenken  wir  aber,  dafs  entgegengesetzten  Netzhaut- 
prozessen auch  entgegengesetzte  Wirkungen  im  Sehnerven 
entsprechen  müssen,  dafs  also  ebenso  wie  der  Botprozefs  und 
Grünprpzefs  auch  die  Boterregung  und  Grünerregung  Vorgänge 
sind,  die  an  gleichen  Substraten  durch  Kräfte  entgegen- 
gesetzter Art  hervorgerufen  werden,  so  begreift  es  sich  leicht, 
dafs  auch  in  denjenigen  Fällen  von  Störung  des  Farbensinnes, 
welche  auf  Veränderung  irgend  eines  nervösen  Teiles  des  Seh- 
organes  beruhen,  die  oben  erwähnte  Begel  gilt. 

Aus  der  Annahme  antagonistischer  Valenzen  läfst  sich  also 
das  Bestehen  der  obigen  Begel  ohne  weiteres  ableiten.  EQn- 
gegen  gilt  nicht  das  Gleiche  von  der  Komponententheorie. 
Wie  nicht  erst  weiter  ausgeführt  zu  werden  braucht,  vermag 
die  letztere  dem  Bestehen  obiger  Begel  nur  mittelst  besonderer, 

erzwungener  Hülfshypothesen  gerecht  zu  werden.  — 

Fälle  von  Farbenblindheit,  welche  sich  auch  bei  einer  mit  voller 
Sorgfalt  und  Sachkenntnis  angestellten  Untersuchung  als  zu  obiger 
Eegel  nicht  stimmend  erweisen,  können  darauf  beruhen,  dafs  der  Zutritt 
gewisser  Lichtarten  zur  lichtempfindlichen  Netzhautschicht  durch  eine 
abnorm  starke  Pigmentierung  der  Macula  lutea  oder  der  Augenlins« 
oder  durch  pathologische  Vorgänge,  welche  in  den  vor  den  lichtempfind- 
lichen Apparaten  befindlichen  Netzhautschichten  stattgefunden  haben,* 
bedeutend  erschwert  ist.  Oder  es  können  infolge  pathologischer  oder 
sonstiger  anomaler  Vorgänge  Stoffe  in  der  lichtempfindlichen  Netzhaut- 
schicht Torhanden  sein,  welche  die  in  letzterer  eintretenden  Wirkungen 
(und  Nachwirkungen)  gewisser  Lichtstrahlen  beeinträchtigen  oder  modi- 


^  Man  vergleiche  hierüber  z.  B.  die  Darlegungen  von  Stbffan  im 
Ärch.  f.  Ophthalm,  27.  2.   S.  Iff. 

*  Dafs  manche  der  sog.  positiven  Skotome  in  pathologisch  ent- 
standenen Trübungen  der  vor  den  lichtempfindlichen  Apparaten  befind- 
lichen Netzhautschichten  ihren  G-rund  haben,  scheint  sich  in  der  That 
aus  den  Untersuchungen  von  Treitel  (Arch.  f,  C^hthalm,  31.  1.  S.  259  ff^ 
zu  ergeben.  Natürlich  können  solche  Trübungen  je  nach  ihrer  Ent- 
stehungsart und  Beschaffenheit  die  Durchlässigkeit  der  betreffenden 
Netzhautschichten  bald  mehr  für  diese,  bald  mehr  für  jene  Lichtarten 
beeinträchtigen. 


Zur  Psychophysik  der  Gesichtsempfindungen.  383 

fizieren,  oder  noch  andere  derartige  leicht  konstruierbare  Ursachen  im 
Spiele  sein.  Dafs  solche  rein  zentral  bedingte  Störungen  des  Farben- 
sinnes, wie  sie  z.  B.  bei  der  Hysterie  und  in  der  Hypnose  vorkommen 
oder  vorzukommen  scheinen,  sich  der  obigen  Begel  nicht  zu  fügen 
brauchen,  bedarf  nicht  erst  weiterer  Ausführung. 

Man  ist  indessen  bisher,  infolge  von  Nichtbeachtung  wichtiger  (im 
wesentlichen  in  den .  Darlegimgen  Hebings  enthaltener)  Gesichtspunkte, 
mit  der  Statuierung  von  Fällen  von  Farbenblindheit,  welche  zu  der 
obigen  Regel  nicht  in  Einklang  zu  bringen  seien,  allzuschnell  bei  der 
Hand  gewesen.  Zu  den  Umständen,  welche  bei  der  Deutung  der  an 
einem  Farbenblinden  oder  Farbenschwachen  erhaltenen  Besultate  leicht 
irreführen  können,  gehört  z.  B.  die  Thatsache,  dafs  die  WeiTs Valenzen 
der  verschiedenen  Spektralfarben  sehr  verschieden^  Werte  besitzen. 
Denkt  man  sich  z.  B.  ein  Individuum,  welches  gelbblaublind  und  sehr 
rotgrünschwach,  aber  von  normaler  Weilserregbarkeit  ist,  so  erscheint 
es  leicht  möglich,  dafs  von  demselben  das  mit  einer  nur  sehr  schwachen 
Weifsvalenz  begabte  Spektralrot  noch  mit  einer  deutlichen  Beimischung 
von  Bot  gesehen  werde,  während  das  durch  eine  starke  Weifsvalenz 
ausgezeichnete  Spektralgrün  gar  keine  Spur  von  Grün  erkennen  läfst, 
weil  eben  der  schwache  Grünprozefs  gegen  den  gleichzeitigen  starken 
Weifsprozefs  ganz  zurücktritt.  Man  hat  alsdann  einen  Fall,  wo  scheinbar 
von  allen  Farbenempfänglichkeiten  im  Gegensatze  zu  obiger  Eegel 
nur  noch  die  Boterregbarkeit  erhalten  ist,  während  in  Wirklichkeit  der 
Sachverhalt  ganz  regulärer  Art  ist  und  die  Grünerregbarkeit  noch  im 
gleichen  €h:ade  besteht,  wie  die  Boterregbarkeit.  Denken  wir  uns  ein 
Individuum,  dessen  Botgrünsinn  und  dessen  Gelblausinn  in  sehr  hohen 
Graden  herabgesetzt  sind,  so  erscheint  es  leicht  möglich,  dafs  dasselbe 
zwar  unter  günstigen  Umständen  noch  die  Farben  Bot,  Gelb  und  Blau 
wahrnehme,  aber  Grün  wegen  seiner  hohen  Weifsvalenz  nicht  in  seiner 
Farbe  erkenne.  Auch  dieser  Fall  ist  ein  solcher,  der  nur  scheinbar  der 
obigen  Begel  widerspricht.^  Ganz  allgemein  ist  Folgendes  zu  sagen: 
Wenn  ein  Fall  von  Farbenschwäche  oder  Farbenblindheit  vorliegt,  in 
welchem  der  Anschein  vorhanden  ist,  dals  die  Erregbarkeiten  für  zwei 
antagonistische  Valenzen  nicht  in  gleichem  Grade  herabgesetzt  seien,  so 
hat  man  behufs  Gewinnung  eines  sicheren  Urteiles  darüber,  ob  der  Fall 
regulärer  oder  irregulärer  Art  sei,  die  verschiedenen  Sonder valenzen 
jeder  bei  den  Versuchen  benutzten  Farbe  sorgfältig  in  Bechnuug  zu 
setzen   und   zuzusehen,   ob   jener  Anschein  nicht  lediglich   dadurch    be. 


^  Von  der  hier  erwähnten  Art  ist  z.  B.  der  von  Stepfan  (Ärch.  f. 
Ophthälm.  27.  2.  S.  11  ff.)  beschriebene  und  irrtümlich  als  in  Widerspruch 
zu  Hebings  Theorie  stehend  aufgefafste  Fall.  Der  Farbensinn  des  Pa- 
tienten beschränkte  sich  darauf,  dafs  Bot,  Gelb  und  Blau  erkannt  wurden, 
wenn  dieselben  entweder  auf  hellweifsem  Grunde  oder  in  grofsen  hell 
beleuchteten  Flächen  vorgehalten  wurden.  Der  Einflufs  des  hellweifsen 
Grundes  erklärt  sich,  beiläufig  bemerkt,  daraus,  dafs  derselbe  durch 
Kontrastwirkung  dazu  diente,  die  Weifsvalenzen  der  beobachteten  Farben 
weniger  zur  Geltung  kommen  zu  lassen.  Aber  für  Grün  blieb  die  WeLGs- 
valenz  auch  unter  diesen  Umständen  noch  zu  übermächtig  im  Vergleich 
zur  Grünvalenz. 


334  G.  E.  Müller. 

wirkt  sei,  dafs  man  jene  beiden  Valenzen  in  ungleichen  St&rkegraden 
oder  in  yerschiedener  Begleitung  durch  andere  Valenzen  hat  auf  die 
Netzhaut  einwirken  lassen.  Hierbei  hat  man  dann  unter  ümst&nden 
auch  etwas  feinere  Fragen  zu  berücksichtigen,  z.  B.  die  Frage,  ob  die 
Beimischung  einer  schwachen  Bot-  oder  Gelberregung  zu  einer  Kombi- 
nation von  Weifs^  und  Schwarzerregung  gleich  gut  erkennbar  sei,  wie 
die  Beimischung  einer  gleich  intensiven  Grün-,  bezw.  Blauerregping  zu 
der  gleichen  Kombination  von  Vt^eifs-  und  Schwarzerregung. 

L&fst  man  Hich  vollends  auf  die  Benennungen  ein,  welche  die  Farben- 
blinden oder  Farbenschwachen  den  vorgeführten  Farben  zu  teil  werden 
lassen,  so  ist  die  Zahl  der  Gesichtspunkte  und  Möglichkeiten,  die  in 
Betracht  kommen,  kaum  zu  erschöpfen.  Wir  begnügen  uns  damit,  bei- 
spielshalber nur  eine  dieser  Möglichkeiten  zu  erwähnen.  Angenommen, 
es  sei  ein  Individuum  gegeben,  dessen  Botgrünsinn  nur  schwach  ist, 
während  der  Gelbblausinn  in  Vergleich  dazu  noch  beträchtlich  ist,  so 
ist  es  leicht  möglich,  dafs  dasselbe  bei  Betrachtung  des  Sonnenspektrums 
die  roten  Spektralfarben  als  gelb,  hingegen  die  Gegend  des  spektralen 
ürgrün  als  grün  bezeichne,  obwohl  die  vorhandene  Störung  des  Farben- 
sinnes von  völlig  regulärer  Art  ist.  Denn  die  roten  Spektralfarben  er- 
scheinen einem  solchen  Patienten  infolge  ihrer  Gelbvalenz  vorwiegend 
gelblich  und  werden  daher  von  demselben  (wenn  er  nicht  zuvor  dahin 
erzogen  und  angewiesen  worden  ist,  zwischen  den  verschiedenen  Tönen 
des  Gelblichen  bei  seinen  Benennungen  scharf  zu  unterscheiden)  gans 
naturgemäfs  als  gelb  bezeichnet.  Das  spektrale  TJrgrün  wird  gemäfs 
seiner  hohen  Weiisvalenz  von  dem  Patienten  weiTslich  oder  graulich 
mit  -einem  Stich  ins  Grünliche  gesehen.  Da  nun  aber  die  Farbigkeit 
einer  Empfindung  im  allgemeinen  die  apperzeptive  Aufmerksamkeit  mehr 
auf  sich  zieht,  als  die  WeiTslichkeit  oder  Graulichkeit  (wie  man  sich 
an  stark  weifslichen  Nuancen  verschiedener  Farben,  z.  B.  des  Lila  und 
Rosa,  leicht  überzeugen  kann),  so  kann  es  leicht  geschehen,  dafs  der 
Patient  das  spektrale  TJrgrQn  und  seine  nächste  Umgebung  unbedenklich 
als  grün  bezeichnet.  Die  Möglichkeit  hiervon  erscheint  noch  gröfser, 
wenn  wir  bedenken,  dafs  in  dem  Patieilten  durch  den  Anblick  der  übrigen, 
ausgeprägter  farbig  erscheinenden,  Teile  des  Sonnenspektrums  (und  unter 
Umständen  auch  durch  seine  Kenntnis  des  normalen  Aussehens  des 
Sonnenspektrums  und  durch  noch  andere  Faktoren)  eine  mehr  oder 
weniger  starke  Tendenz  erweckt  wird,  auch  den  Eindruck  der  Gegend 
des  spektralen  Urgrün  als  einen  farbigen  und  mit  einem  Farbennamen 
zu  bezeichnenden  aufzufassen.^ 

Die  Vorsicht,  die  durch  die  hier  angedeuteten  Gesichtspunkte  bei 
der  Untersuchung  von  Störungen  des  Farbensinnes  und  bei  der  Deutung 
der  bei  solchen  Untersuchungen  erhaltenen  Besultate  geboten  erscheint, 


^  Natürlich  wird  es  gelegentlich  auch  vorkommen,  dafs  ein  Patient 
der  oben  angegebenen  Art  die  Gegend  des  spektralen  Urgrün  als  gprau 
(oder  weifs)  oezeichnet,  weil  ihm  die  geringe  Farbigkeit  desselben  (z.  B. 
infolge  einer  geringen  Empfänglichkeit  für  den  Gemhlswert  der  Farben) 
keinen  besonderen  Eindruck  macht  und  er  überhaupt  nicht  gewohnt  ist, 
zwischen  den  verschiedenen  Arten  des  Graulichen  fein  zu  unserscheiden. 


Zur  Fsychophysik  der  Gesichtsempfindungen.  335 

ist,  wie  schon  angedeutet,  bisher  nur  allzu  oft  unterlassen  worden.   Selbst 
EBBnroHAVS  (diese  Zeitschr,  Bd.  V.  S.  219)  ist  der  Versuchung  unterlegen, 
einen  Ton  Hebing  (Ärch»  /*.  Ophihalm,  36.  3.  S.  10  £P.)  berichteten  Fall  ein- 
seitiger Störung  des  Farbensinnes,   in  welchem  die  Patientin   mit   dem 
erkrankten  Auge   in   einem   Spektrum  von   mäfsiger  Helligkeit  nur  die 
drei  Farben  Gelb,   Grün  und  Blau  zu  sehen  behauptete,   für  einen  Fall 
zu    erklären,    welcher,  vom  Standpunkte   der  KKBiNOschen  Theorie   aus 
betrachtet,  irregulärer  Art  sei.    Unseres  £rachtens  liegt  aber  nicht  der 
geringste  Anlafs  vor,  diesen  Fall  anders  aufzufassen,  als  ihn  der  Beob- 
achter des  Falles  aufgefafst  hat,  welcher  zu  dem  Resultat  kommt,  dafs 
in   diesem  Falle   der  Sinn  für  Bot  und  der  Sinn  für  Grün  in  gleichem 
Grade  herabgesetzt  seien.    Denn,  als  das  Gesichtsfeld  eines  kleinen,  mit 
einem  Spektralapparate  verbundenen  Femrohres  nacheinander    mit  ver- 
schiedenen homogenen  Lichtern  erleuchtet  wurde,   bezeichnete   die  nur 
mit  dem  erkrankten  Auge  beobachtende  Patientin  nach  den  Mitteilungen 
HxBiNGs  (S.  15)  ein  Licht  von  630  ^a/a  mittlerer  Wellenlänge  als  gelbrot 
oder   mennigrot,   Licht   von  600  fjifÄ  als   orange  und  Lichter   zwischen 
500 — 490  fifi  (Gegend  des  XJrgrün)  bald  als  grau,  bald  als  grünlich  grau. 
Grofse  rote  Papierflächen  wurden  laut  Hbbinos  Mitteilung  (S.  16  f.)  von 
dem  erkrankten  Auge  auch  bei  geringer  Sättigung  noch  richtig  in  ihrer 
Farbe  erkannt,  und  (S.  19)  eine  sattrote  (keine  Gelbvalenz  enthaltende) 
Scheibe  wurde  von  demselben  Auge  noch  in  einem  Abstände  von  12,2® 
vom  Fixationspunkte  richtig  als  rot  erkannt.^    Wir  vermögen  hiemach 
nicht  zu  erkennen»  worauf  man  die  Ansicht  von  einer  Irregularität  dieses 
Falles   zu  stützen   vermöge.    Dafs  die  Behauptung  der  Versuchsperson, 
im  Spektrum  nur  Gelb,  Grtin  und  Blau  wahrzunehmen,   eine  Stütze  für 
diese  Ansicht  nicht   abzugeben   vermag,   braucht  nach   dem  oben  Aus- 
geführten nicht  weiter  dargelegt  zu  werden,   zumal   da   die   soeben  er- 
wähnten Beobachtungen,  bei  denen  die  verschiedenen  Teile  des  Sonnen- 
spektrums nacheinander  zur  Einwirkung  auf  das  kranke  Auge  gebracht 
und  von  der  Patientin  benannt  wurden,   ganz  deutlich  zeigen,   dafs   die 
gelblich   empfundenen   roten  Spektrallichter   genau   so  mit  einem  Stich 
ins  Bötliche  empfunden  wurden,   wie    die    (zuweilen  nur   als  grau   be- 
zeichnete!) graulich   erscheinende  Gegend  des  spektralen  ürgrün   einen 
Stich  ins  Granliche  besals. 

Ebensowenig,  wie  den  soeben  erörterten  Fall  von  Farbenblindheit, 
vermögen  wir  den  von  Hess  (Arch.  f,  Ophtfuilm.  86. 3.  S.  24  ff.)  beschriebenen 
Fall  halbseitiger  Farbensinnstörung  und  den  von  STBPrAK  beobachteten, 
schon  auf  S.  333  von  uns  charakterisierten  Fall  mit  Ebbikohaüs  als  solche 


Alsdann  wird  der  Patient  behaupten,  im  Sonnenspektrum  nur  Gelb,  Grau 
und  Blau  wahrzunehmen,  obwohl  sein  Botgrünsinn  noch  keineswegs 
völlig  erloschen  ist,  wie  sich  z.  B.  durch  Versuche  mit  einem  gar  keine 
Gelbvalenz  und  eine  möglichst  schwache  Weifsvalenz  besitzenden  Bot 
leicht  nachweisen  lassen  würde. 

^  Mit  diesen  Mitteilungen  Hebivgs  vergleiche  man  die  unglaubliche 
Behauptung  von  Wündt  {Grundzüge  der  physiöl.  Psychol.  1893.  1.  S.  510), 
dafs  in  dem  hier  in  Eede  stehenden,  von  Hebing  beobachteten  Falle 
„vollständige  Botblindheit"  bestanden  habe,  während  die  Empfindlichkeit 
für  Grün  nur  vermindert  gewesen  sei. 


336  G.E.MüiUr. 

anzuerkennen,  die  auf  Grund  der  vorliegenden  Mitteilungen  fOr  Fälle 
irregulärer  Art  zu  erklären  seien.  Der  Baumerspamis  halber  dürfen 
wir  uns  wohl  nach  den  vorstehenden  Ausführungen  von  einer  besonderen 
Bechtfertigung  dieser  Behauptung  dispensieren. 

Bei  KiRSCHMAKN  {Wundts  PMlos,  Stud.  8.  1893.  S.  229}  findet  sich 
gleichfalls  die  Bemerkung,  dais  gegen  die  Ansicht  Hebivgs,  nach  welcher 
das  Fehlen  einer  Qualität  in  der  Empfindungsreihe  notwendigerweise 
auch  den  Verlust  der  Komplementärfarbe  mit  sich  bringe,  auch  der  von 
Heuno  selbst  berichtete  Fall  einseitiger  Farbensinnstörung  spreche, 
„wo  im  Spektrum  bei  grofser  Helligkeit  zwar  nur  die  Farben  Gelb  und 
Blau,  bei  geringer  Helligkeit  aber  Gelb,  Grün  und  Blau  gesehen  wurden''. 
Die  (mehrfach  Mifsverständnis  oder  Unkenntnis  der  HsRiKoschen  Aus- 
führungen und  Anschauungen  verratenden)  Untersuchungen,  welche 
Kirschmann  selbst  über  die  individuelle  und  peripherische  Farbenblindheit 
angestellt  hat,  zeigen,  sowohl  in  ihrer  ganzen  Methodik,  als  auch  in  der 
Art  des  Schlösseziehens,  nicht  im  entferntesten  eine  genügende  Berück- 
sichtigung der  oben  angedeuteten  und  anderer  Gesichtspunkte.  Es  ist 
daher  kein  Wunder,  dafs  Kirschmank  zu  einer  Beihe  von  Sätzen  gelangt 
ist,  die  zu  den  von  Hering  und  seinen  Schülern  erhaltenen  Ergebnissen 
nicht  in  Einklang  stehen. 

§  18.    Beispiele  entgegengesetzter  photochemischer 
Wirkungen  verschiedener  Lichtarten. 

Mit  Vorstehendem  schliefst  unsere  Darlegung  der  gegen 
die  Komponententheorie  und  für  die  Annahme  antagonistischer 
Valenzen  sprechenden  Beweisgründe.  Dafs  diese  Darlegung 
vollständig  sei,  wird  hier  nicht  im  mindesten  behauptet,^  wohl 
aber,  dafs  sie  dazu  genüge,  den  im  Nachstehenden  gemachten 
Versuch  einer  weiteren  Verfolgung  der  letzteren  Annahme  als 
wissenschaftlich  geboten  erscheinen  zu  lassen.  In  erster  Linie 
wird  es  sich  für  uns  im  Nachstehenden  darum  handeln  müssen, 
das  Wesen  des  Gegensatzes,  den  wir  zwischen  je  zweien  der 
sechs  retinalen  Grundprozesse  und  je  zweien  der  vier  chro- 
matischen Valenzen  annehmen,    näher   zu  erläutern.     Ehe  wir 

^  So  kann  man  z.  B.  unschwer  aus  dem  Inhalte  von  §  31  und  §  32 
zwei  neue  Beweisgründe  für  die  Annahme  antagonistischer  Valenzen 
ableiten.  Ferner  kann  man  daran  denken,  auch  auf  den  Gesichtspunkt 
zurückzugreifen,  der  dem  Einwände  zu  Grunde  liegt,  den  Hering  auf 
S.  16  f.  seiner  „Kritik  einer  Abhandlung  von  D anders"  gegen  die  Koni- 
ponententheorie  erhoben  hat.  Eine  Veröffentlichung  der  Vers achsresul täte, 
auf  welche  HfiRiNO  in  dieser  Auslassung  hindeutet,  erscheint  uns  durchaus 
erwünscht.  Einstweilen  soll  von  einer  Verfolgung  dieses  Gesichtspunktes 
abgesehen  werden. 


Zur  Psyehophynk  der  Ghskhtsempfindungm.  337 

dazu  übergehen,  mag  indessen  hier  einleitenderweise  daran 
erinnert  werden,  dafs  die  Annahme,  es  könnten  die  photo- 
chemischen  Wirkungen  verschiedener  Lichtarten  in  einem 
antagonistischen  Verhältnisse  zu  einander  stehen,  keineswegs 
etwas  unerhörtes,  sondern  vielmehr  eine  Annahme  ist,  für  die 
sich  zahlreiche  Beispiele  aus  der  Praxis  der  experimentierenden 
Naturwissensohafb  und  Technik  anführen  lassen.  So  berichtet 
z.  B.  B.  Ed.  Liesegang  {Photogr,  Arck.  No.  668.  April  1891. 
S.  117)  unter  Bezugnahme  auf  Hebinos  Theorie  über  folgenden 
Versuch:  „Eine  Silberplatte  wurde  mit  Chlorsilber  überzogen 
und  dieses  am  Lichte  violett  gefärbt.  Sie  wurde  mit  einer  reinen 
Silberplatte  in  ein  Glasgefafs  mit  sehr  verdünnter  Schwefel- 
säure gestellt,  und  die  beiden  Platten  durch  ein  Galvanometer 
verbunden.  Bestrahlte  man  nun  die  Silberchlorürschicht  mit 
blauem  Lichte,  so  wurde  die  Platte  positiv,  bei  Bestrahlung 
mit  rotem  negativ.  Litensives  rotes  und  schwaches  blaues  Licht, 
gleichzeitig  auf  die  Platte  geworfen,  konnte  sich  in  seinen 
Wirkungen  aufbeben.^  «Femer  ist  festgestellt,  dafs  Guajak  durch 
violette  Strahlen  xmter  Oxydation  gebläut,  durch  rote  unter 
Beduktion  gelb  gefärbt  wird,  und  wenn  auch  die  Behauptungen 
von  Chastaino  {Ann.  de  chim.  et  de  phys.  Särie  5.  T.  11.  1877. 
8. 145  ff.),  welcher  einen  photochemischen  Antagonismus  zwischen 
den  brechbareren  und  weniger  brechbaren  Lichtstrahlen  in 
weitem  Umfange  nachgewiesen  zu  haben  glaubt,  und  ähnliche 
Ansichten  früherer  Forscher  (z.  B.  Dayy)  zum  TeU  nicht  halt- 
bar sind,  so  läfst  sich  doch  „im  allgemeinen  sagen,  dafs  das 
rote  Licht  auf  metallische  Verbindungen  meistens  oxydierend, 
das  violette  Licht  hingegen  meistens  reduzierend  wirkt^.^  Auch 
das  Ergebnis,  zu  welchem  E.  Wiedemann  und  G.  C.  Schmidt 
(Wiedemanns  Ann.  56.  1895.  S.  225  f.)  hinsichtlich  der  durch 
infrarote  Strahlen  bewirkbaren  Auslöschung  der  durch  Kathoden-, 
Licht-  oder  Entladungsstrahlen  erzeugten  Fähigkeit  zu  thermo- 
luminiszieren  gelangt  sind,  mag  hier  angeführt  werden: 
^ünter  dem  Einflüsse  der  erregenden  Strahlen  entstehen  aus 
dem  ursprünglichen  Körper  A  andere  Körper  B  mit  Absorptions- 
banden, die  von  denen  des  ursprünglichen  Körpers  abweichen 


^  Man  vergleiche  Ed£B,  Ausfuhrl  Handb,  d,  Photogr.  2.  Aufl.  I.  1. 
S.  160  ff.  (wo  mehrfache  Beispiele  von  photochemischem  Antagonismus 
verschiedener  Lichtstrahlen  angefahrt  sind)  und  S.  180;  Ostwald,  Lehrb. 
d.  aügem.  Chemie.  1893.  2.  S.  1085;  Nernst,  Theoretische  Chemie.  S.  672. 

ZeftMhrifk  fBr  Psychologie  X.  22 


338  G.KJÜüUer, 

und  im  Infrarot  liegen;  Strahlen,  welche  den  Absorptionsbanden 
im  Körper  B  entsprechen,  bedingen  die  Bäckverwandltmg  von 
B  in'  die  ursprüngliche  Substanz.^  > 

Will  man  in  Hinblick  auf  die  Zwei-  oder  Dreizahl  der 
SondervaliBiizen ,  die  wir  einer  und  derselben  Lichtart  zu» 
scfareiben,  auch  dafür  Beispiele  aus  der  experimentellen  Physik 
oder  Technik  angeföhrt  haben,  dafs  eine  und  dieselbe  Lichtart 
bei  Einwirkung  auf  ein  aus  mehreren  Stoffen  zusammen^ 
gesetztes  System  entsprechend  den  verschiedenen  Bestandteilen 
dieses  Systems  gleichzeitig  und  nebeneinander  verschiedene 
photoohemische  Vorgänge  hervorrufen  könne,  so  vergleiche 
man  Edbr,  a.  a.  0.  S.  247 — 260,  oder  auch  Hänkbls  TJnter- 
*  suchungen  über  photochemische  Ströme  (Wiedemanns  Ann.  1. 
1877.  S.  402  ff.,  insbesondere  S.  415  ff.). 

Wenn  wir  endlich  eine  BotvcJenz  nicht  Uofs  den  roten^ 
sondern  auch  den  violetten  Strahlen  zuschr^ben,  so  findet 
auch  dies  seine  Analogie  in  zahlreichen  durch  die  physikalische 
tind  photographische  Forschung  festgestellten  F&Uen,  wo  die- 
jenigen Strahlen,  welche  eine  bestimmte  photochemische  Ver- 
änderung einer  gegebenen  Substanz  überhaupt  hervorrufen 
oder  eine  solche  Veränderung  mit  maximaler  Ausgiebigkeit 
bewirken,  zwei  verschiedenen,  von  einander  getrennten  Be- 
gionen  des  Sonnenspektrums'  angehören  (Beispiele  z.  B.  bei 
Edbr,  a.  a.  0.  S.  158,  161,  26S  unten). 


Kapitel  3. 
Theorie  der  Netzhantprozesse. 

§  19.  Antagonistische  Netzhautprozesse  als  entgegen- 
gesetzte chemische  Beaktionen. 

„Man  war  früher  wohl  häufig  der  Meinung,  dafs  die  um- 
kehrbaren Reaktionen  zu  den  Ausnahmen  gehören,  oder  dafs 
man  zwei  verschiedene  Erlassen  von  Reaktionen  zu  unterscheiden 
habe,  die  umkehrbaren  und  die  nicht  umkehrbaren;  allein  eine 
derartige  scharfe  Grenze  existiert  durchaus  nicht,  und  es  kann 
keinem  Zweifel  unterliegen,  dafs  es  sich  bei  geeigueter  Versuchs- 
anordnung  immer  wird    erreichen  lassen,    diJs   eine  Reaktion 


Zu/r  Pisychophysik  der  Geaiehtaempfindungen.  339 

bald  in  der  einen,  bald  in  der  entgegengesetzten  Bichtong  Yor 
sich  geht,  d.  h.,  dafs  im  Prinzip  jede-  Reaktion  timkehrbar  ist^ 
(Nbrnst,  a.  a.  0.  S.  342).  In  Hinblick  auf  diesen  Sachverhalt 
fassen  wir  den  Antagonismus,  der  zwischen  je  zweien  der 
retinalen  Grondprozesse  besteht,  als  den  G-egensatz  auf,  der 
zwischen  zwei  chemischen  Reaktionen  besteht,  von  denen  die 
eine  die  ümkehrung  der  anderen  ist. 

Es  bestehe  also  z.  B.  eine  fT- Reaktion  (Weifsreaktion), 
ganz  allgemein  ausgedrückt,  darin,  dafs  a  Moleküle  eines  Stoffes^ 
und  fi  Moleküle  eines  Stoffes  B  und  y  Moleküle  eines  Stoffes  G 
u.  s.  w.  zusammentreten,  um  a'  Moleküle  eines  Stoffes  Ä*^ 
ß'  Moleküle  eines  Stoffes  £',  /'  Moleküle  eines  Stoffes  O  u.  s.  w. 
zu  bilden.  Alsdann  besteht  eine  fi^Reaktion  (Schwarzreaktion) 
darin,  daijs  a'  Moleküle  des  Stoffes  Ä\  ß'  Moleküle  des  Stoffes  S' 
u.  s.  w.  zusammentreten,  um  a  Moleküle  des  Stoffes  Ayß  Mole- 
küle des  Stoffes  B  u.  s.  w.  zu  bilden.  Es  gilt  also  die 
Reaktionsgleichung  ^ 

aA  +  ßB  +  yC.,.  :^  a'Ä'  +  ß'B'+Z  O .(1) 

Geht  die  Umwandlung  im  Sinne  dieser  Reaktionsgleichung 
von  links  nach  rechts  vor  sich,  so  ist  eine  TF-Reaktion  gegeben. 
Geht  sie  von  rechts  nach  links  vor  sich,  so  handelt  es  sich 
um  eine .  iS^-Reaktion. 

Ganz  dahingestellt  bleibt  hier,  welche  Kompliziertheit  die 
TF-  und  die  iS-Reaktionen  besitzen,  wie  grofs  also  die  Zahl  der 
Glieder  auf  der  rechten  und  auf  der  linken  Seite  der  Gleichung 
ist,  und  welche  Werte  den  Koeffizienten  a,  er',  ß^  ß*  u.  s.  w. 
(die  selbstverständlich  immer  kleine  ganze  Zahlen  sind)  zu- 
kommen. Die  in  der  betrachteten  Schicht  vorhandenen  Moleküle 
von  den  Arten  -4,  B,  C, . .  oder  ^',  J?',  (7. . .  sollen  züsaitnmeil- 
genommen  kurz  als  das  vorhandene  TF- Material,  bezw. 
/9-Material  bezeichnet  werden.  Als  einzelne  betrachtet,  werden 
die  Stoffe  A^  Bj  C. . .  oder  A*j  B\  C^  . .  als  die  Komponenten 
des   TT-Materiales,  bezw.  iS^-Materiales  bezeichnet. 

Es  sei  nun  eine  lichtempfindliche  Schicht  der  Nd^aut 
gegeben,  welche  in  allen  ihr^n  Teilen  die  gleiche  Beschaffenheit 
besitzt  (chemisch  homogen  ist),  und '  in  welcher  sich  '  def 
TT-^Prozefs  mit  einer  überall  gleich  hohen  Intensität  und  ebenso 
auch  der  /S^-Prozefs  mit  überall  gleicher  Intensität  abspicjlt. 
Alsdann  kann  die  Intensität  I^  mit  welcher  sich  der  Tf^Prozefs 

22* 


340  O,  E.  Müller. 

während  des  Zeitelementes  dt  in  dieser  Schicht  abspielt,  offenbar 
gleich  der  Zahl  von  TF- Beaktionen  gesetzt  werden,  welche 
während  des  Zeitelementes  dt  in  einer  Schicht  der  betrachteten 
Art  stattfinden  würden,  wenn  das  Yolmnen  derselben  der 
Yolomeneinheit  gleich  wäre.  Nach  dem  Gesetze  der  chemischen 
Massen  Wirkung^  gilt  dann  die  Gleichung: 

Hier  besitzen  a,  ß^  y. . .  die  oben  angegebene  Bedeutung, 
V  ist  das  Volumen  der  Schicht,  a,  &,  c. . .  sind  die  in  der  be- 
trachteten Schicht  vorhandenen,  in  Grammmolekeln  aus- 
gedrückten Massen  der  Stoffe  A^  B^  C  . .,  und  K^  ist  eine  von 
der  Temperatur  und  anderen  Faktoren  abhängige  Konstante, 
welche  ihrer  Bedeutung  gemäfs  passend  als  die  Geschwindig- 
keitskonstante des  TF- Prozesses  bezeichnet  wird  und  die 
Zahl  der  TT- Beaktionen  darstellt,  welche  sich  während  der 
Zeiteinheit  in  einer  Schiebt  der  betrachteten  Art  vollziehen 
wurden,  wenn  ihr  Volumen  gleich  der  Volumeneinheit  und 
in  ihr  je  eine  Grammmolekel  von  den  Stoffen  Ä^  B,  C, , .  vor- 
handen wäre.' 

In  gleicher  Weise  findet  sich  ftLr  die  Intensität  /,,  mit 
welcher  sich  der  ^-Prozefs  während  des  Zeitelementes  dt  in 
der  betrachteten  Schicht  abspielt,  die  Gleichung: 

y^  ^•~         i;«  ^-P'+T^.. 

wo  a',  fi\  y'  '  "  d^^  obige  Bedeutung  besitzen,  a',  h',  c' . . .  die 
in  Grammmolekeln  ausgedrückten,  in  der  Schicht  vorhandenen 
Massen  der  Stoffe  A\  B%  C. . .  sind,  und  K^  die  Geschwindig- 
keitskonstante des  /8^-Prozesses  darstellt. 


^  Man  vergleiche  hierzu  eventuell  Kernst,  a.  a.  O.  S.  840  ff.  DaDs  die 
lichtempfindlichen  Schichten  der  Netzhaut,  streng  genommen,  sowohl  aus 
physikalischen  Gründen  (vergl.  Nbutst,  a.  a.  O.  S.  579),  als  auch  aus 
physiologischen  Gründen  nicht  als  völlig  homogene  chemische  Systeme 
betrachtet  werden  dürfen,  ist  für  das  Wesentliche  der  obigen  £nt« 
Wickelungen  völlig  gleichgültig« 

*  Da  es  sich  hier  nur  um  eine  theoretische  Betrachtung  und  nicht 
um  die  Aufstellung  von  Formeln  handelt,  welche  zu  genauen  quantitativen 
Prüfungen  verwandt  werden  sollen,  so  braucht  man  die  in  einer  Schicht 


Zwf  JPsychophysik  der  OeHchtsempfindungen,  341 

Da  im  Folgenden  eine  besondere  Berucksiclitigang  einzelner 
Komponenten  des  W^  oder  iS-Materials  zunächst  nicht  in  Frage 
kommt,  80  kann  man  Gleichung  (2)  und  (3)  auch  in  folgender, 
abgekürzter  Form  benutzen: 

I^  =  JE« .  Myg  .dt (4) 

l  =  K. .  M.  .  cU (6) 

wo 

zu  setzen  ist. 

Die  Betrachtungen  und  Formeln,  die  wir  hinsichtlich  des 
TF-Prozesses  einerseits  und  iS^Prozesses  andererseits  entwickelt 
haben,  gelten  nun  selbstverständlich  in  entsprechender  Weise 
auch  für  den  Botprozefs  und  Grünprozefs,  Gelbprozefs  und 
Blauprozefs.  Um  die  Formeln  zu  erhalten,  die  für  die  Intensi- 
täten der  chromatischen  Netzhautprozesse  gelten,  hat  man  in 
den  vorstehenden  Gleichungen  (2)  bis  (5)  nur  die  Indices  w  und  s 
durch  die  Indices  r  und  g^  bezw.  e'  und  h  zu  ersetzen. 
Natürlich  hat  man  mit  der  Möglichkeit  zu  rechnen,  dafs  die 
für  die  drei  Paare  entgegengesetzter  Netzhautprozesse  gültigen 
Reaktionsgleichungen  verschiedene  Grade  der  Kompliziertheit 
besitzen,  daJGs  also  in  Gleichung  (1)  die  Werte  der  Koeffizienten 

Uj  fi^  Y  "  ^\  ß\  y'  '  • '  ^^d  <li®  Zahlen  der  auf  der  rechten  und 
linken  Seite  stehenden  Glieder  verschiedene  sind,  je  nachdem 
es  sich  um  W-  und  iS-Prozefs,  Br  und  (7-ProzeIs  oder  E-  und 
i3-Prozefs  handelt. 


vorhandene  Intensität  eines  Netzhautprozesses  nicht  durch  den  in 
G-rammen  ausgedrückten  Stoffumsats  der  betreffenden  Art  zu 
definieren,  welcher  während  des  betrachteten  Zeitelementes  in  der  ge- 
gebenen Schicht  stattfindet  (genauer:  welcher  während  der  Zeiteinheit 
innerhalb  einer  der  Volumeneinheit  gleichen  Schicht  stattfinden  würde, 
wenn  die  während  des  betrachteten  Zeitelementes  in  der  gegebenen 
Schicht  vorhandenen  Umstände  während  der  Zeiteinheit  unverändert  in  | 

einer  der  Volumeneiuheit  gleichen  Schicht  andauern  würden),  sondern 
kann  dieselbe  in  der  obigen  Weise  auch  einfach  durchdieZahlder  1 

stattfindenden    Reaktionen    von    der   betreffenden  Art    definieren* 
Für  die  psychophysische  Erörterung  ist  die  letztere  Definition  geeigneter. 
*  Vergl.  die  Anmerkung  2  auf  S.  d24. 


342  G.E.  Miäler. 


§  20.     Die  Ketzhautprozesse  beim  Buhezustande. 
Die  unterschiede    des  Farbigen   und  des  Farblosen 

in  psychophysischer  Hinsicht. 

Wir  ziehen  zunächst  wiederum  nm*  das  Verhalten  des 
TF-Prozesses  und  ^-Prozesses  in  Betracht,  indem  wir  uns  dabei 
auf  die  obige  Beaktionsgleichung  (1)  beziehen. 

Ist  eine  lichtempfindliche  Netzhautschicht  jeglicher  ßeiz- 
einwirkung  entzogen,  so  werden  dennoch  in  derselben  infolge 
der  Wärmebewegung  fortwährend  an  verschiedenen  Punkten 
a  Moleküle  von  der  Art  A  und  ß  Moleküle  von  der  Art  B  u.  s.  w. 
in  der  Weise  zusammenstofsen  und  in  ihrem  Bestände  gelöst 
werden,  dafs  sie  als. Substrat  einer  TT-Beaktion  dienen,  und 
ebensp  werden  auch  fortwährend  an  einzelnen  Stellen  der 
Schicht  a  Moleküle  der  Art  A*  und  ß"  Moleküle  der  Art  B'  u.  s.  w. 
in  der  Weise  zusammei^treffen,  dafs  sie  als  Substrat  einer 
iS^-Beaktion  dienen.  £»  wird  also  in  der  Schicht  trotz  der 
Femhaitang  jeglichen  Beizes  fortwährend  sowohl  TT-Prozefs 
als  auch  ^-Prozefs  stattfinden. 

Nach  Gleichung  (4)  und  (5)  ist  der  Intensitätsunterschied, 
der  zwischen  dem  vorhandenen  TP^Prozesse  und  jS-Prozesse 
besteht,  durch  folgende  Gleichung  bestimmt: 

(6)  I^^l~{K^.M^  —  K..M.)dt 

Die  Bichtung  und  Gröfse  dieser  Diflterenz  I„  —  /«  ist  in 
verschiedener  Hinsicht  von  wesentlicher  Bedeutung.  Gemä£9 
der  auf  S.  339  dargelegten  Beziehung  zwischen  den  W--  und 
iS-Beaktionen  läuft  jede  TT-Beaktion  auf  die*  Bildung  von 
/S-Material  und  jede  S-Beaktion  auf  die  Bildung  von  TT-Material 
hinaus.  Mithin  wird,  wenn  die  Differenz  i«  —  J,  positiv  ist,  in 
jedem  Zeitelemente  mehr  TF^Material  verbraucht  als  gebildet, 
hingegen  mehr  /S-Material  gebildet  als  verbraucht.  Ist/«  —  /. 
negativ,  so  verhält  es  sich  gerade  umgekehrt.  Ist  endlich 
I»  —  /,  gleich  ö,  so  wird  in  jedem  Zeitteilchen  ebensoviel 
TT-Material  und  5-Material  gebildet    wie  verbraucht. 

Setzen  wir  den  Fall,  es  sei  in  der  sich  selbst  überlassenen 
Netzhautschicht  anfangs  /«>/.,  so  wird  infolge  des  Umstandes, 
dafs  mehr  TT-Material  verbraucht  als  gebildet  wird,  das  vor- 
handene TF-Material  abnehmen,    hingegen    das  5-Material  zu- 


Zur  Psychophysik  der  Gesichtsempfindungen.  343. 

nehmen,  so  dafs  in  obiger  Gleichung  (6)  die  Groise  M^  sich 
verringert,  hingegen  Jf.  anwächst.  Infolge  hiervon  wird  die 
Differenz  I^  —  J.  immer  kleiner  werden,  bis  sie  schliefslich  dem 
Werte  0  merkbar  gleich  wird.  Entsprechend  muTs  es  sich  ver- 
halten, wenn  anfangs  I^<Z1,  ist*  Dann  wird  in  Gleichung  (Q) 
die  Gröfse  üf,  immer  geringer,  hingegen  JfC  immer  gröfser,  bis 
sohliefslioh  der  Punkt  erreicht  wird^  wo  I^  merkbar  gleich  i« 
ist.  £&  strebt  also  eine  sich  selbst  überlassene  Netz- 
hautschioht,  für  welche  die  Differenz  .7«,  —  J,  zu* 
nächst  einen  positiven  oder' negativen,  endlichen 
Wert  besitzt,  mit  immer  getinger  werdender  Ge- 
schwindigkeit einem  Zustande  des  Gleichgewichtes 
zwischen  TT-,  und  iS-Beaktionen  zu. 

Das  Vorstehende  bedarf  indessen  noch  einer  wesentlichen 
Ergänzong.     Es  ist  daran  zu  erinnern,  dafs  eine  irgendwie  aus 
dem    Gleichgewichtszustande   zwischen  Wr   und   jS-Beaktionen 
verschobene    Netzhautschicht    nach  Entfernung    der   Ursache 
dieser  Verschiebung   niemals  nur  in  der  Weise  jenem  Gleich- 
gewichtszustande wieder  zustrebt,  dafs  ihr  Verhalten  lediglich 
durch    das    Gesetz   der    chemischen   Massenwirkung    bestimmt 
wird.     In  Wirklichkeit  wird   ihr  Verhalten  zugleich  mit  durch 
die  Wechselwirkung  bestimmt,   in  welcher  _  sie  zu  den  benach- 
barten .Netzhautteilen  und   zu   dem  Blutstrome  steht.     Wenn 
wir   uns  femer :  auch  noch   so   sehr  bemühen,    alle  Beize  von 
unserer   Netzhaut    abzuhalten,    so   bleibt    dieselbe    doch   noch 
allerhand  zufälligen  Einflüssen  ausgesetzt,  welche  von  unseren. 
Augenbewegungen  und  anderen,  inneren  Faktoren  herrühren. 
Die  obige  Differenz  I^  —  /»ist  aber  nicht  nur  insofern  von- 
Wichtigkeit,    als   von   ihrem  Vorzeichen  und  absoluten  Werte 
die  Wirkung  abhängt,  welche  die  nebeneinander,  stattfindenden 
TT- und  i9-Beaktionen  für  die  vorhandenen  Mengen  von  W-  und 
von.  iS^Material  haben,    sondern   ist   aufserdem   auch  noch   in 
direkt  psychophysischer  Hinsicht  von  wesentlicher  Bedeutung. 
Wie  nämlich  schon  ohne  weiteres  einleuchten   dürfte,  können 
entgegengesetzte  Netzhautprozesse  nur  mit  der  Differenz  ihrer 
Intensitäten    zur    Einwirkung    auf   den    Sehnerven    kommen. 
Je  nachdem  also  /« —  J«  .positiv  oder  negativ  ist,    wird   durch 
die    Einwirkung    der    Netzhautprozesse    die    endogene    Weifs- 
erregung der  zentralen  Sehsubstanz  erhöht  oder  verringert  und 
die    endogene    Schwarzerregung    geschwächt    oder    verstärkt 


344  (?.  E.  Müller. 

(vergl.  §  6,  S.  31).  Ist  Z, —  /.  gleich  (?,  so  wird  die  endogene  Er- 
regung der  Sehsnbstanz  durch  die  W-  und  /S-Beaktionen  der 
Netzhaut  überhaupt  nicht  beeinflufst. 

Wie  nicht  weiter  ausgeführt  zu  werden  braucht,  gelten 
die  in  Beziehung  auf  den  W-  und  S^Prozetä  angestellten,  vor- 
stehenden Betrachtungen  in  entsprechender  Weise  auch  für  die 
beiden  anderen  Paare  entgegengesetzter  Netzhautprozesse.  Ist 
die  Differenz  Ir  —  Ig  positiv,  so  entspringt  aus  den  in  der  be- 
treffenden Netzhautschicht  sich  abspielenden  R-  und  G^Be- 
aktionen  eine  Vermehrung  des  Ci^-Materials  und  Verminderung 
des  i{-Materia]s  und  zugleich  eine  Beeinflussung  des  Sehnerven 
von  der  Art,  dafs  Boterregung  in  demselben  entsteht.  Ist 
Ir — /,  negativ,  so  wirken  die  stattfindenden  J2-  und  G^Beaktionen 
im  Sinne  einer  Vermehrung  des  i{-Materiales  und  Verringerung 
des  6r-Materiales  und  zugleich  im  Sinne  der  Enstehung  von 
Grünerregung  in  den  Sehnervenfasem. 

Im  wesentlichen  besteht  zwischen  den  Netzhautprozessen 
und  Nervenerregungen,  welche  den  farblosen  Empfindungen  zu 
Grunde  liegen,  einerseits  und  den  chromatischen  Netzhaut- 
prozessen und  Sehnervenerregungen  andererseits  nur  in  drei- 
facher Hinsicht  ein  unterschied.  Erstens  besteht  in  nutritiver 
Hinsicht  ein  allerdings  durchgreifender  Unterschied,  von  welchem 
in  §  22  näher  gehandelt  werden  wird.  Zweitens  besteht  der 
unterschied,  dafs  wir  die  Intensität  jedes  der  vier  chromatischen 
Netzhautprozesse  direkt  durch  einwirkendes  Licht  steigern 
können,  während  wir  die  Intensität  des  ^-Prozesses  mittelst 
keinerlei  Lichtart  direkt  erhöhen  können,  ^  sondern  uns  behufs 
einer  Steigerung  dieses  Prozesses  des  Einflusses  des  Kontrastes 
bedienen  müssen.  Endlich  drittens  besteht  der  unterschied,  dafs 
die  endogene  Erregung  der  zentralen  Sehsubstanz  im  wesentlichen 
nur  aus  WeiTserregung  und  Schwarzerregung  zusammengesetzt 
ist,  so  dafs  uns  nicht  die  gelbblauen  und  rotgrünen,  wohl  aber 
die  grauen  Empfindungen  bekannt  sind,  und  jede  vorhandene 
Differenz  i, — /,  sich  nicht  sowohl  dahin  geltend  macht,  in  der 
Sehsubstanz  Weifserregung  oder  Schwarzerregung  zu  erwecken, 
als  vielmehr  dahin,  die  in  der  Sehsubstanz  vorhandene  Weifs- 
erregung und  Schwarzerregung  in  ihren  Intensitäten  zu  ver- 
ändern. Natürlich  soll  die  Vermutung,  dafs  die  endogene 
Erregung  der  Sehsubstanz  im  Grunde  nicht  blofs  aus  WeÜB- 
erregung  und  Schwarzerregung,  sondern  aufserdem  auch  noch 


Zur  Psychophifsik  der  GesichUempfindungen,  345 

aus  vier  chromatischen  Erregungen  bestehe,  dafs  aber  diese 
letzteren  vier  Komponenten  im  Vergleich  zu  den  beiden  ersteren 
nur  sehr  schwach  seien,  durch  das  soeben  Bemerkte  keines- 
wegs ausgeschlossen  sein.  Nur  daran  mufs  festgehalten  werden, 
dafs  (wenigstens  unter  normalen  Verhältnissen)  jede  der  vier 
chromatischen  Komponenten  der  endogenen  Erregung  der  Seh- 
Substanz  wegen  des  starken  Überwiegens  der  beiden  nicht- 
chromatischen Komponenten  ein  so  geringes  Q-ewicht  (vergl. 
§  5,  S.  18)  besitzt,  dafs  sie  den  Charakter  der  Gesichtsempfindung, 
die  bei  neutraler  Stimmung  der  Netzhaut^  und  Nichtbestehen 
irgendwelcher  innerer  (z.  B.  mechanischer)  Beizungen  der  ner- 
vösen Sehbahn  vorhanden  ist,  nicht  in  sicher  erkennbarer  Weise 
zu  beeinflussen  vermag  und  mithin  bei  unseren  Untersuchungen, 
wenigstens  bis  auf  weiteres,  ganz  vernachlässigt  werden  kann. 
Wäre  die  endogene  Erregung  der  Sehsubstanz  in  gleichem 
Mafse  wie  aus  Weifserregung  und  Schwarzerregung  auch  noch 
aus  Boterregung  und  Grünerregung  zusammengesetzt,  so  würde 
derselben  eine  deutlich  rotgrüne  Grauempfindung  entsprechen, 
und  die  Einwirkung  von  rotem  (grünem)  Lichte  würde  dazu 
dienen,  die  Bötlichkeit  (Grünlichkeit)  dieser  Empfindung  zu 
steigern  und  die  Grünlichkeit  (Bötlichkeit)  derselben  zu  ver- 
ringern, ganz  ebenso  wie  thatsächlich  die  Einwirkung  von 
weifsem  Lichte  dazu  dient,  die  Weifslichkeit  der  Empfindung 
zu  erhöhen   und  die  Schwärzlichkeit  derselben  zu  vermindern. 

§  21.     Die  Wirkungen  der  Lichtreize. 
Die   positiven   und   negativen   Nachbilder. 

Wir  setzen  den  Fall,  es  wirke  weifses  Licht  auf  eine  in 
neutraler  Stimmung  befindliche  Netzhautschicht  ein,  und  fragen 
uns,  welcher  Art  der  Erfolg  dieser  Lichtwirkung  in  der  be- 
troffenen lichtempfindlichen  Schicht  sei.  Es  liegt  nahe,  in 
Beantwortung  dieser  BVage  das  Folgende  zu  sagen. 

Durch    die   Lichteinwirkung    wird    die    Geschwindigkeits- 


^  Bei  neatraler  Stimmung  der  Netzhaut  sind  die  drei  Differenzen 
Im  —  Lj  Ir  —  Ig  und  L  —  Ih  sämtlich  gleich  0,  so  dafs  der  Sehnerv  von  der 
Netzhaut  her  gar  keine  Beeinflussung  erfährt  Dafs  diese  neutrale  Stimmung 
der  Netzhaut  wegen  der  zufälligen  und  unregelmäfsigen  inneren  Ein- 
flüsse (des  Blutstromes  u.  dergl.)»  denen  die  Netzhaut  fortwährend  aus- 
gesetzt bleibt,  niemals  völlig  hergestellt  werden  kann,  zeigt  das  sog. 
subjektive  Eigenlicht  des  Dunkelauges. 


346  G.E.  Müller.  , 

konstante  desTF-Prozesses,  die  Konstante  £^;  obiger  Gldichung  (4), 
erhöht/  hingegen  K^  die  GeschwindigkeitskonstaiXte  des  S-Pro^ 
zesses,  verringert.  Denn  Licht,  welches  eine  bestimmte 
Reaktion  (z.B.  die  Zersetzung  von  Molekülen  einer  bestimmten 
Art)  fördert,  muTs  gleichzeitig  die  entgegengesetzte  Reaktion 
(die  Neubildung  von  Molekülen  ebenderselben  Art)  beeinträch- 
tigen. Infolge  der  durch  das  Licht  bewirkten  Erhöhung  von 
K^  und  Verringerung  von  K^  nimmt  gemäls  obiger  G-leichung  (6) 
die  Differenz  /„  —  I,j  deren  Wert  anfanglich  gleich  ö  war, 
einen  positiven  Wert  an,  und  demgemäfs  nimmt  die  Weilslich- 
keit  der  Empfindung  zu,  hingegen  die  Schwärzlichkeit  der- 
selben ab,  wir  nehmen  ein  mehr  oder  weniger  helles,  graues 
oder  weifses  Objekt  im  Sehfelde  wahr. 

Das  Überwiegen  der  TT-Beaktionen  über  die  ^Beaktionen, 
das  während  der  Lichteinwirkung  stattfindet,  ist  (trotz  der 
Mitwirkung  des  Blutstromes)  mit  einer  Abnahme  des  TT^Materiales 
und  Zunahme  des  S-Materiales,  einer  Verringerung  der  Qtö£^ 
M„  und  Erhöhung  von  Jf,  verbunden.  Wird  nun  die  Licht- 
einwirkung plötzUch  beendet,  so  kehren  die  Eonstanten  K^  und 
Z.  wieder  zu  ihren  anfänglichen  Werten  (ihren  Ruhewerten) 
zurück.  Aber  schon  bevor  sie  dieselben  völlig  wieder  erreicht 
haben,  müssen  infolge  der  durch  die  vorherige  Lichteinwirkung 
bewirkten  Erhöhung  von  M,  und  Verringerung  von  JC  die 
iS'-Beaktionen  über  die  TF-Beaktionen  überwiegen.  Kurze  Zeit 
nach  Beendigung  der  Lichteinwirkung  besitzt  also  die  Differenz 
i — i  einen  negativen  Wert,  die  Empfindung  ist  zu  einer 
vorwiegend  schwärzlichen  geworden,  wir  beobachten  das  negative 
Nachbild  des  vorher  wahrgenommenen  weifsen  Objektes.  Je 
länger  die  Betrachtung  des  letzteren  gedauert  hat,  und  je  heller 
dasselbe  war,  desto  mehr  mul's  bei  Aufhören  der  Betrachtung 
desselben  das  iSMaterial  vermehrt  und  das  TT-Material  ver- 
ringert  sein,  desto  ausgeprägter  mufs  also  das  negative. Nach- 
bild ausfallen.  Und  da  mit  dem  Grade  der  eingetretenen  Ver- 
mehrung des  5-Materiales  und  Verringerung  des  TF-Materiales 
zugleich  die  Zeit  zunimmt,  welche  verfUefsen  mufs,  damit  sich 
das  Gleichgewicht  zwischen  den  TF-  und  den  iS^-Beaktionen 
wiederherstellt,  so  wird  mit  der  Dauer  der  Betrachtung  des 
weifsen  Objektes  und  mit  der  Helligkeit  des  letzteren  zugleich 
auch  die  Dauer  des  negativen  Nachbildes  zunehmen. 

^  Man  vergleiche  eyentuell  Nbbnst,  a.  a.  0.  S.  679. 


Zur  Paychophysik  der  Gesichtsempfindungen,  347 

Obwohl  die  vorstehenden  Entwickelangen  für  das  Eintreten 
und  Verhalten  der  negativen  Nachbilder  eine  befriedigende 
Erklärung  geben,  so  können  wir  dieselben  doch  nicht .  als 
genügend  ansehen.  Denn  sie  bieten  uns  weder  für  das  all- 
mähliche Anklingen  unserer  Gesichtsempfindungen,  noch  für 
das  allmähliche  Abklingen  derselben,  d.  h.  die  positiven  Nach- 
bilder, eine  Erklärung.  Sucht  man  dem  allmählichen  Anklingen 
und  Abklingen  unserer  Gesichtsempfindungen  dadurch  gerecht 
zu  werden,  dafs  man  sagt,  die  einem  gegebenen  Lichtreize 
entsprechende  Erhöhung  von  K^  und  Verringerung  von  K,  ent- 
wickele sich  allmählich  und  klinge  nur  allmählich  ab,  so  ist 
dies  nur  eine  nochmalige,  etwas  mehr  mathematisch  gehaltene 
Erzählung  der  beiden  in  Bede  stehenden  Yerhaltungsweisen, 
nicht  aber  eine  reale  Erklärung  derselben. 

Wir  erklären  das  bei  Einwirkung  weüsen  Lichtes  statt- 
findende allmähliche  Anklingen  des  TT-Prozesses  in  ähnlicher 
Weise,  wie  man  gegenwärtig  in  der  physikalischen  Chemie  die 
photochemische  Induktion,  d.  h.  die  Thatsache  erklärt,  „dafs 
häufig  das  Licht  anfanglich  nur  langsam  wirkt  und  erdt  nach 
einiger  Zeit  zur  vollen  Wirksamkeit  gelangt^.  Man  erklärt 
letztere  Thatsache  dadurch,  dafs  das  Licht  die  seiner  Ein- 
wirkung ausgesetzten  chemischen  Stofie  nicht  unmittelbar  in 
den  zur  Beobachtung  kommenden  Endzustand  überfuhrt,  sondern 
erst  einen  gewissen  Zwischenzustand  bewirkt,  von  dem  aus  die 
Überfahrang  in  jenen  Endzustand  stattfindet.'  Wir  nehmen 
also  an,  dafs  das  weifse  Licht  zunächst  auf  ein  gewisses 
chemisches  Material,  welches  kurz  als  das  iV- Material  (Neben- 
material)  bezeichnet  werden  möge,  einwirkt.  Aus  diesem 
Materiale  entsteht  durch  die  Lichteinwirkung  das  T7- Material 
oder  wenigstens  ein  Teil  der  Komponenten  des  TT-Materiales. 
Diese  chemische  Umwandlung  ist  ohne  merkbaren  Einflufs  auf 
den  Sehnerven.  Erst  wenn  sich  das  TF-Material  in  5-Material 
umwandelt,  ist  ein  TT-Prozefs  gegeben,  der  in  der  früher  an- 
gegebenen Weise  auf  den  Sehnerven  wirkt.  Bezeichnen  wir 
mit  I^  die  Intensität  jener  Umwandlung  von  ^-Material  in 
Tf^-Material  oder  in  gewisse  Komponenten  des  TF-Materiales, 
mit  K^  die  Geschwindigkeitskonstante  dieser  Umwandlung,  und 
legen  wir  der  Gröfse  M^  dieselbe  Bedeutung  in  Beziehung  auf 


^  Man  vergleiche  Kernst,  a.  a.  0.  S.  575  f.,  Ostwald,  a.  a.  O.  S.  1060  ff. 


3^  Q,  E.  JaüOer. 

das  JV-Material  bei,  welche  die  GröiBen  Jf«  und  üf«  in  Beziehimg 
auf  das  W-  und  fif-Material  besitzen,  so  tritt  also  zu  unseren 
beiden  obigen  Gleichungen  (4)  und  (5)  noch  die  folgende  hinzu: 

(7)  /,==Z,.Jf..dt 

wo  K^  mit  der  Stärke  des  einwirkenden  weifsen  Lichtes  zunimmt. 
Ebenso  wie  sich  ^-Material  in  TF-Material  verwandelt, 
wandelt  sich,  wenigstens  beim  Suhezustande,  infolge  der 
Wärmebewegung  fortwährend  W-Material  in  iV-Material  um. 
Hierfür  gilt  die  Gleichung: 

8)  I^  =  K^.M^.  dt. 

wo  lu  die  Intensität  und  K^  die  Geschwindigkeitskonstante 
dieser  Umwandlung  bedeutet  und  M^  eine  Gröfse  ist,  die  (ent- 
sprechend der  Bedeutung  von  M^  M,  und  Jlf«)  von  den  Mengen 
abhängig  ist,  in  denen  die  Stoffe,  die  durch  die  photochemische 
Zersetzung  des  ^-Materiales  entstehen,  und  von  denen  mindestens 
ein  Teil  mit  der  Gesamtheit  oder  einem  Teile  der  Komponentem 
des  TT-Materiales  identisch  ist,^  in  der  lichtempfindlichen  Netz- 
hautschicht vorhanden  sind. 

Aus  Gleichung  (7)  und  (8)  folgt 

(9)  In—Iu  =  (An .  M^—S:^  M^)  dt 

Je  nachdem  diese  Differenz  I^ — /«  einen  positiven  oder 
negativen  Wert  besitzt,  überwiegt  die  Umwandlung  von  N' 
Material  in  TF-Material  über  den  entgegengesetzten  Vorgang 
oder  findet  das  Gegenteü  statt. 


*  Nehmen  wir  beispielshalber  an,  es  seien  an  dem  H^-Prozesse  nur 
drei  Stoffe  A,  B,  C  beteiligt,  so  ist  die  einfachste  Annahme,  die  hinsichtlich 
der  durch  das  Licht  bewirkten  Umwandlung  des  ^-Materialen  gemacht 
werden  kann,  die  Annahme,  dafs  die  bei  dieser  Umwandlung  entstehenden 
Moleküle  sämtlichen  drei  Stoffarten  A,  B,  C  und  nicht  noch  irgend  einer 
anderen  Molekülart  angehören.  Es  ist  aber  zweitens  auch  möglich,  dafs 
die  photochemische  Umwandlung  des  ^-Materiales  auiser  solchen  Mole- 
külen, die  den  Arten  A,  j?,  C  angehören,  noch  eine  oder  mehrere  Arten 
von  Molekülen  liefert,  die  bei  dem  TT-Prozesse  keinerlei  Verwendung 
finden.  Endlich  drittens  erscheint  es  möglich,  dafs  an  dem  TT-Prozesse 
nicht  blofs  solche  Stoffe  beteiligt  sind,  die  durch  die  photochemische 
Umwandlung  des  i^-Materiales  geliefert  werden,  sondern  aufserdem  auch 
noch  ein  oder  mehrere  Stoffe,  die  fortwährend  in  genügender  Menge  in 
der  lichtempfindlichen  Netzhautschicht   vorhanden   sind,   dafs  also  z.  B. 


Zur  Paychapkysik  der  Gesichtsempfindungen,  349 

Befindet  sich  nun  die  betrachtete  Netzhautschicht  in  völlig 
neutraler  Stimmung,  so  wird  zwar  fortwährend  infolge  der 
Wärmebewegung  ^-Material  in  TF-Material  und  TT-Material  in 
iS-Material  umgesetzt,  und  ebenso  finden  fortwährend  die  diesen 
Vorgängen  entgegengesetzten  beiden  Umwandlungsprozesse 
statt,  aber  diese  vier  chemischen  Vorgänge  vollziehen  sich  in 
der  Weise,  dafs  zwischen  je  zwei  einander  entgegengesetzten 
Vorgängen  völliges  Oleiohgewicht  besteht,  so  dafs  I^ — i=Zi — lu 
=  0  ist. 

Wirkt  jetzt  wei£ses  Licht  ein,  so  nimmt  K^  sofort  um  einen 
bestimmten  Betrag  zu,  während  JS^  sich  um  einen  entsprechenden 
Betrag  verringert.  Infolge  hiervon  nimmt  das  TT-Material  zu, 
der  Tf-Prozefs  gewinnt  an  Intensität,  die  Di£ferenz  i» — I^  wird 
positiv,  die  Weifslichkeit  der  Empfindung  beginnt  zu  steigen; 
Dieses  Stadiumder  aufsteigenden  Beiz  Wirkung,  während 
dessen  das  TT-Material  und  die  (positive)  Di£Perenz  i. — /,  zu- 
nimmt, dauert  so  lange  an,  bis  der  Verlust,  den  die  Menge  des 
TF-Materiales  infolge  des  Überwiegens  der  TT-Beaktionen  über 
die  S-Beaktionen  in  einem  Zeitteilchen  erleidet,  dem  Zuwüchse 
gleich  geworden  ist,  den  dieselbe  in  dem  gleichen  Zeitteilchen 
dadurch  erfährt,  dafs  die  Umwandlung  des  iV^-Materiales  in 
TF-Material  über  den  umgekehrten  Umwandlungsprozefs  über- 
wiegt. Ist  jener  Punkt  der  maximalen  Beizwirkung 
erreicht,  so  nimmt  alsdann  I„ — I,  allmählich  wieder  ab,  weil 
trotz  der  Wirksamkeit  des  Blutstromes  das  ^-Material  und 
mithin    auch   das    TT-Material   sich   verringert,   hingegen   das 


zwar  die  Stoffe  A  und  B  Stoffe  sind,  welche,  sei  es  ausschliefslich  oder 
in  Verbindung  mit  noch  anderen  Molekülarten,  durch  die  photochemische 
Umwandlung  des  A^Materiales  entstehen,  hingegen  der  Stoff  C  eine 
Molekttlart  darstellt,  die  fortwährend  in  genügender  Menge  vorhanden 
ist  und  nicht  erst  durch  die  Einwirkung  des  Lichtes  auf  das  iV-Material 
entsteht. 

Es  würde  natürlich  zu  grofse  Weitläufigkeiten  mit  sich  gebracht 
haben,  wenn  wir  in  unserer  Darstellung  stets  jede  der  hier  erwähnten 
Möglichkeiten  besonders  hätten  berücksichtigen  wollen.  Der  Kürze 
halber  werden  wir  uns  also  im  Folgenden  in  der  Weise  ausdrücken,  dalk 
wir  sagen,  unter  dem  Einflüsse  des  Lichtes  wandle  sich  iV^-Material  in 
IT-Material  um,  und  nach  Beseitigung  des  Lichtreizes  finde  eine  über- 
wiegende Umwandlung  von  TF-Material  in  2V-Material  statt,  ohne  damit 
behaupten  zu  wollen,  dafs  von  den  im  Vorstehenden  angeführten  Möglich- 
keiten gerade  die  erstgenannte  die  in  der  Netshaut  verwirklichte  sei. 


350  G,  E.  Müller. 

jS-Material  znnimint  (Stadium  der  absteigenden  Eeiz- 
wirkung). 

Beendigen  wir  die  Liohtreizung  zu  irgend  einem  Zeitpunkte, 
9ei  es  des  Aufstiegs-,  sei  es  des  Abstiegsstadiums,  so  sinken  K^ 
und  K^  sofort  auf  ihre  Bubewerte  zurück,  während  die  durch 
die  vorherige  Belichtung  bewirkte  Verschiebung  der  Mengen- 
verhältnisse des  N-,  W'  und  jS^Materiales  sieh  nur  aUmählich 
ausgleichen  kann.  Obwohl  von  dem  Momente  der  Beizunter- 
brechung ab  die  Umwandlung  von  TF-Material  iu  JV-Material 
über  den  entgegengesetzten  Umwandlungsvorgang  überwiegt, 
also  In — Iu  einen  negativen  Wert  besitzt,  so  behält  doch  7» — 2, 
noch  eine  Zeitlang  einen,  allerdings  fortwährend  sinkenden, 
positiven  Wert,  d.  h.  wir  beobachten  ein  positives  Nachbild 
des  vorher  wahrgenommenen,  weifsen  objektiven  Vorbildes.* 
Dieses  positive  Nachbild  dauert  so  lange  an,  bis  der  Punkt 
der  Umkehrung  des  Nachbildes,  bei  welchem  i.— /.  =  0 
ist,  erreicht  ist.  Da  bei  Erreichung  dieses  Punktes  das  Gleich- 
gewicht zwischen  der  Umwandlung  von  TF-Material  in  iV-Material 
und  dem  entgegengesetzten  Vorgange  noch  nicht  eingetreten 
ist,  sondern  /« — 2»  noch  immer  einen  negativen  Wert  besitzt, 
so  nimmt  jetzt  die  Differenz  I^ — /,  einen  negativen  Wert  an, 
d.  h.  das  negative  Nachbild  stellt  sich  ein. 

Versuchen  wir  nun  weiter,  die  Konsequenzen  zu  entwickeln, 
die  sich  von  dem  hier  eingenommenen  Standpunkte  physikalisch- 
chemischer Betrachtung  ans  unter  einstweiliger  Vernachlässigung 
der  nachher  zu  erwähnenden,  sehr  stark  mit  eingreifenden 
physiologischen  Faktoren  hinsichtlich  der  Dauer  und  des  Ver- 
laufes des  positiven  und  negativen  Nachbildes  ergeben,  so 
zeigt  sich  Folgendes: 

Wird  die  Lichteinwirkung  bereits  während  des  Stadiums 
der  aufsteigenden  Beizwirkung  unterbrochen,  so  mufs  das  posi- 
tive Nachbild  um  so  länger  andauern,  je  gröfser  die  Dauer 
der  Lichteinwirkung  war.    Denn  die  Dauer  des  positiven  Nach- 


^  Wie  die  Erfahrung  zeigt,  ist  der  Übergang  des  objektiven  Vor- 
bildes in  das  positive  Nachbild  ein  ganz  allmählicher.  Demgem&Is 
haben  wir  anzunehmen,  dafs  die  Lichteinwirkung  in  der  oben  angegebenen 
Weise  nur  die  Konstanten  ÜT«  und  JBT«  beeinflufst.  Fände  beim  Obergange 
vom  objektiven  Vorbilde  zum  positiven  Nachbilde  ein  j&her  Absturz 
statt,  so  wftrde  man  anzunehmen  haben,  dafs  durch  die  Lichteinwirkung 
auch  Kw  erhöht  und  JT«  verringert  würde. 


Zwr  Psychophysik  der  OeMUsempfindungen.  351 

bilde»  ist  unter  sonst  gleichen  IJniständen  um  so  gröfser,  je 
mehr  die  Anfspeicherang  von  TT-Matenal,  die  während  der 
Lachteinwirkong  stattgefunden  hat,  über  die  während  derselben 
Zeit  geschehene  Aufspeicherung  von  iS-Material  überwiegt,  je 
grofser  im  Momente  der  Beizunterbrechung  die  Differenz 
I^  —  J«  ist.  Nun  überwiegt,  wie  wir  oben  gesehen  haben, 
während  des  ganzen  Aufstiegsstadiums  der  Zuwuchs,  den  das 
TT-Material  durch  die  vom  Lichte  geförderte  Umwandlung  des 
^«Materiales  während  eines  Zeitteilchens  erfährt,  über  die  Ein- 
buTse,  welche  das  TF-Mäterial  während  des  gleichen  Zeitteilchens 
dadurch  erleidet,  dafs  die  Neubildung  von  iS-Material  aus  W- 
Material  über  den  entgegengesetzten  Vorgang  überwiegt.  Es 
nimmt  also  während  des  ganzen  Aufstiegsstadiums  das  TF- 
Material  schneller  zu;  als  das  iS-Material,  und  demgemäfs  mufs, 
wenn  wir  die  Beizung  in  einem  Momente  dieses  Stadiums  unter- 
brechen, die  Differenz  I^  —  i,  im  Momente  der  Beizunterbrechung 
um  so  gröfser  sein  und  das  positive  Nachbild  um  so  länger 
dauernd  ausfallen,  in  einem  je  späteren  Zeitpunkte  des  Auf- 
stiegsstadiums die  Beizunterbrechung  stattfindet.^ 

Findet  die  Lichtunterbrechung  erst  während  des  Stadiums 
der  absteigenden  Beizwirkung  statt,  so  mufs  offenbar  das 
positive  Nachbild  um  so  kürzer  ausfallen,  in  einem  je  späteren 
Zeitpunkte  dieses  Abstiegsstadiums  die  Lichtunterbrechung 
geschieht.  Denn,  wie  wir  wissen,  wird  im  Verlaufe  letzteren 
Stadiums  die  Menge  des  S-Materiales  immer  gröfser,  hingegen 
die  Menge  des  ^-Materiales,  mithin  auch  des  TT-Materiales  immer 
geringer,  so  dafs  die  Differenz  I^  —  J,  im  Momente  der  Beiz- 
unterbrechung um  so  geringer  ist,  je  später  die  letztere  statt- 
findet. 

Dafs  die  Geschwindigkeit,  mit  welcher  die  dem  positiven 
Nachbilde  zu  Grunde  liegende  Differenz  I^  —  J,  abklingt,  eine 
Allmählich  abnehmende  sein  mufs,  mag  die  Beizunterbrechung 
während  des  Aufstiegs-  oder  während  des  Abstiegsstadiums 
stattfinden,  braucht  nicht  erst  weiter  ausgeführt  zu  werden. 


^  Ganz  genau  braucht  indessen  die  Dauer  der  Lichteinwirkung,  bei 
welcher  die  Dauer  des  positiven  Nachbildes  ihr  Maximum  erreicht,  mit 
der  Dauer  des  Aufstiegsstadiums  nicht  übereinzustimmen,  weil  im  Ver- 
laufe dieses  Stadiums  mit  dem  Werte  der  positiven  Differenz  J»  —  1$  zu- 
gleich der  absolute  Wert  wächst,  den  die  negative  Differenz  In  —  I»  un- 
mittelbar nach  der  Lichtunterbrechung  besitzt. 


302  O.  E.  Müaer. 

Hinsiohtlich  des  negativen  Nachbildes  ergiebt  sich  ohne 
weiteres,  dafs  dasselbe  ganz  allgemein  um  so  ausgeprägter  und 
länger  andauernd  ausfallen  muTs,  je  später  die  Beizunterbrechung 
stattfindet.  Die  demselben  zu  Grunde  liegende  negative  Diffe- 
renz I^  —  /«  muTs  ihrem  absoluten  Werte  nach  mit  fortwährend 
abnehmender  Geschwindigkeit  anwachsen  und  hierauf  mit  gleich- 
falls fortwährend  abnehmender  Geschwindigkeit  wieder  auf  den 
Nullpunkt  herabsinken. 

Es  ist  nicht  schwer,  von  dem  hier  verfolgten  Standpunkte 
physikalisch-chemischer  Betrachtung  aus  nun  auch  noch  die 
Abhängigkeit  zu  erörtern,  in  welcher  der  Verlauf  der  Nach- 
bilder zur  Beizintensität  und  anderen  derartigen  Faktoren  stehen 
mufs.  Es  scheint  uns  indessen  weit  mehr  angezeigt  zu  sein, 
hier  darauf  hinzuweisen,  daJGs,  wenn  auch  die  Thatsache,  dafs 
die  Weifsempfindung  bei  Unterbrechung  der  Beizung  nicht 
sofort  schwindet,  sondern  als  sog.  positives  Nachbild  allmählich 
abklingt,  ganz  im  Sinne  der  obigen  Ausführungen  durch  die 
von  dem  Beize  bewirkte  Anhäufung  von  TF-Material  zu  er- 
klären ist  und  auch  die  Erklärung  der  negativen  Nachbilder 
in  erster  Linie  auf  den  im  obigen  angedeuteten  Gesichtspunkten 
zu  fufsen  hat,  dennoch  eine  vollständige  Theorie  der  Erschei- 
nungen des  Anklingens  der  Gesichtsempfindungen  und  der 
positiven  und  negativen  Nachbilder  ohne  eine  genaue  Kenntnis 
und  Berücksichtigung  zweier  bisher  hier  noch  nicht  erwähnter 
physiologischer  Faktoren  nicht  gegeben  werden  kann.  Diese 
Faktoren  sind  erstens  die  Wechselwirkung  der  verschiedenen 
Netzhautstellen  oder  die  indirekte  Beizung  der  Netzhaut- 
stellen (so  soll  im  Folgenden  die  von  einer  direkt  durch  Licht 
erregten  Netzhautstelle  durch  sog.  Kontrastwirkung  auf  die 
benachbarten  Stellen  ausgeübte  Beizung  bezeichnet  werden), 
und  zweitens  die  nutritiven  Vorgänge  in  der  Netzhaut.  Auf 
die  letzteren  kommen  wir  im  nächsten  Paragraphen  näher  zu 
sprechen.  Hinsichtlich  der  Art  und  Weise,  wie  hier  die  Wechsel- 
wirkung der  Netzhautstellen  in  Betracht  kommt,  mag  kurz 
Folgendes  bemerkt  werden. 

Indem  wir  hier  sogleich  an  die  von  Hess  angestellten 
Untersuchungen  über  die  bei  kurzdauernder  Beizung  des  Seh- 
organes  auftretenden  Nachbilder  (Pflügers  Ärch.  49.  1891. 
S.  190  ff.,  Ärch  f.  Op/Uhalm.  40.  2.  S.  259  ff.)  anknüpfen,  nehmen 
wir  an,  dafs  eine  Scheibe  auf  dunklem  Grunde  nur  kurze  Zeit 


Zur  Rychophy8ik  der  Qesiehtaempfindungen.  363 

(riü  Sekunde  oder  weniger)  sichtbar  gemacht  werde.  Alsdann 
wird  während  der  Belichtnng,  entsprechend  dem  xnn  die  weifse 
Scheibe  hemm  erscheinenden  Dankelhofe,  in  der  Umgebung 
derjenigen  Netzhantstellen,  anf  denen  sich  die  weiTse  Scheibe 
abbildet»  der  S^Prozefs  erhöht  und  der  TF'-Prozefs  geschwächt.^ 
Verliefen  nun  nach  Beendigung  der  Belichtung  die  Netzhaut- 
prozesse in  den  verschiedenen  Netzhautstellen  ganz  unabhängig 
voneinander,  so  würde  das  primäre  Bild  der  weifsen  Scheibe 
von  einem  positiven  Nachbilde  gefolgt  sein,  das  dem  oben  Be- 
merkten gemäfs  verhältnismäfsig  schnell  abliefe,'  um  einem 
negativen  Nachbilde  Platz  zu  machen.  Der  Dunkelhof  femer 
würde  sich  nach  Beendigung  der  Belichtung  mehr  oder  weniger 


*  Wird  in  einer  Netzhautstelle  durch  einen  indirektein  Beiz  eine 
Änderung  der  Differenz  J«  —  /«  in  positiver  oder  negativer  Bichtung 
bewirkt,  so  kann  diese  Änderung  entweder  dadurch  zu  stände  kommen, 
dals  der  indirekte  Beiz  ganz  analog  wirkt  wie  ein  Lichtreis,  d.  h.  die 
Konstanten  Kn  und  £»yUnd  zwar  die  eine  in  dem  entgegengesetzten  Sinne, 
wie  die  andere,  beeinflafst  und  hierdurch  auf  mittelbarem  Wege  auch 
auf  das  Mengenverhältnis  zwischen  den  W-  und  £^-Beaktionen  wirkt, 
oder  aber  der  indirekte  Beiz  beeinflufst  letzteres  Mengenverhältnis  ganz 
unmittelbar  dadurch,  dafs  er  die  Werte  der  Konstanten  JTw  und  JT«,  und 
i&war  den  einen  in  positiver,  den  anderen  in  negativer  Bichtung,  ver- 
ändert. Die  nicht  unwichtige  Frage,  auf  welchem  der  beiden  hier  an« 
gedeuteten  Wege  ein  indirekter  Beiz  seine  Wirksamkeit  entfalte,  soll 
hier  ganz  beiseite  gelassen  werden.  Für  uns  genügt  hier  der  umstand, 
dals  in  jedem  Falle,  wo  durch  einen  indirekten  Beiz  in  einer  Netzhaut- 
stelle die  Differenz  I^  —  J,  vom  Nullpunkte  aus  in  positiver  oder  nega- 
tiver Bichtung  verschoben  ist,  nach  Schwinden  des  indirekten  Beises 
entweder  sofort  oder  mehr  oder  weniger  bald  (je  nachdem  die  Wirksam- 
keit dieses  Beizes  auf  dem  zweiten  oder  ersteren  der  soeben  angedeuteten 
Wege  zu  Stande  kommt)  in  ebenderselben  Netzhautstelle  ein  Ausgleichungs- 
vorgang eintreten  muTs,  während  dessen  7»  —  L  das  entgegengesetzte 
Vorzeichen  besitzt,  wie  zuvor  während  des  Vorhandenseins  des  indirekten 
Beizes. 

'  Denn  die  Zeit  von  ji^  Sekunde  ist  klein  im  Vergleich  zu  der  zur 
Erreichung  der  maximalen  Beizwirkung  erforderlichen  Zeit,  die  bei  den 
einschlagenden  Untersuchungen  von  Exvjbb  {Wien.  Ber,  68.  1868.  S.  616) 
je  nach  der  Lichtstärke  0,12  bis  0,29  Sekunden  betrug.  Wie  sich  aus 
unseren  obigen  Bntwickelungen  leicht  erg^ebt,  verm(Vgen  wir  aus  ver- 
schiedenen Gründen  die  Ansicht  von  Hbss  nicht  zu  teilen,  dafs  aus  der 
kurzen  Dauer,  welche  das  erste  positive  Nachbild  bei  den  von  ihm  be- 
nutzten, sehr  geringen  Werten  der  Beizdauer  besais,  auf  eine  ähnliche 
Kürze  des  ersten  positiven  Nachbildes  bei  höheren  Werten  der  Beiz- 
daner  zu  schlieisen  sei. 

ZeitichTifl  fttr  Piyeholoffie  X.  23 


354  ö*  E.Müüer. 

I  VI 

fiiclmell  aufhellen   und   einem   allmählich  wieder   abklingenden; 
Bilde  eines  Lichthofes. Platz  machen.     Thatsächlich  findet  nun, 
aher  die  gegenseitige  Beeinflussung  der  verschiedenen  Netzhaut-. 
iM^ellen  auch  noch   dann  statt,  wenn  die  in  denselben  sich  iab-r. 
spielenden  Prozesse  nur  auf  den  Nachwirkungen  vorausgegangener 
direkter  oder  indirekter  Beize  beruhen,    und   zwar   hängt   die 
Sichtung  und  Stärke,  in  welcher  sich  die  der  weifsen  Scheiber 
i^nd  die  dem  Dunkelhofe  entsprechenden  Netzhautstellen  w&hroad' 
des  Ablaufes  der  positiven  und   negativen  Nachbilder  geg^i- 
seitig  beeinflussen,  selbstverständlich  von  dem  zeitlichen  Verlaufe, 
der  nach  Schlufs  der  Belichtung  in  diesen  NetSEhautstellen  sich; 
abspielenden  Netzhautprozesse  ab.     Nehmen  wir  z.  B.  an,  daC»^ 
nach  Schlufs  der  Belichtung  der  Lichthof,  welcher  das  negative. 
Nachbild    des  vorher  wahrgenommenen  Dunkelhofes   darstellt, 
sich  sehr  bald  und  schnell  entwickle,  so  dafs  er  das  Maximum 
seiner  Helligkeit  zu  einer  Zeit  besitze,    wo  das  positive  Nach- 
bild   der  weifsen  Scheibe,   wenn   es  ganz  ungestört  hätte  ver- 
laufen können,    noch  keineswegs    ganz   abgeklungen  wäre,    so 
werden  die  dem  hellen  Lichthofe  zu  Qrunde  liegenden  Netzhaat- 
prozesse  durch  die  von  ihnen  ausgehenden  indirekten  Iteize  das . 
Nachbild  der  Scheibe  verdunkeln,  imd  diese  Verdunkelung  wird 
so  lange  andauern,  als  der  helle  Lichthof  deutlich  wahrnehmbar 
ist.     Nach  Schwinden    des   letzteren  wird  in  den  der  Scheibe 
entsprechenden  Netzhautstellen  infolge  der  Wirkungen,,  welche 
die  von   dem  hellen  Lichthofe   ausgehenden  indirekten   Beize 
auf  die  Mengenverhältnisse  des  ^-,   W-  und  S^-Materiales  aus-^ 
geübt  haben,  ein  Ausgleichungs Vorgang  eintreten,  welchem  ein ' 
deutliches  zweites  positives  Nachbild   der  Scheibe   entspricht, ' 
ein  Nachbild,,  das  seinerseits  wiederum  durch  indirekte  Beizung 
das  Bild    eines   umgebenden  Dunkelhofes    hervorruft.     Lifolge 
dieser  letzteren  Wirkung  ist  in  dem  Momente,    wo  das  zweite 
positive  Nachbüd  der  Scheibe  abgeklungen  ist,  in  den  Netzhaut* 
stellen,   welche  der  Umgebung  der  Scheibe  entsprechen,    eine 
solche  Verschiebung    der  Mengenverhältnisse  des  N^y  W-  und 
^-Materielles  bewirkt,    dafs  in   diesen  Netzhautstellen  ein  Au»- 
gleichungsvorgang  stattfindet,  welchem  ein  abermaliges  Auftreten 
des  Lichthofes,  wenn  auch  mit  geringerer  Helligkeit,  entspricht. 
Dieser  Lichthof  bewirkt    durch'  die  von  ihm  ausgehenden  in- 
direkten Beize  wiederum    ein  zweites    negatives  Nachbild    der 
Scheibe,    dessen  Dunkelheit  allerdings  nicht  so  ausgeprägt,  ist^ 


Zur  Fsychophynk  der  Oesichtaempfindwtgen.  355 

wie  diejenige  des  ej^sten  negativen  Naohbildes  der  Scheibe  war. 
Dieses  zweite  negative  Nachbild  der  Scheibe  ist  infolge  der^ 
ihm  entsprechenden  Yerschiebang  der  Mengenverhältnisse  des 
N'^  TT-  und  iS^Materiales  notwendig  von  einem,  wenn  auch 
vielleicht  nur  noch  undeutlichen,  dritten  positiven  Nachbilde 
der  Scheibe  begleitet  u.  s.  w. 

Es   ist  ganz  unmöglich,  der  Kompliziertheit  der  Yerhält«^^ 
nisse,   welche    durch   die  Wechselwirkung   der  Netzhautstellen 
f&r  den  Ablauf  der  Nachbilder  geschaffen  werden,  init  Worten 
genügend  gerecht  zu  werden.     Man   muTs    sich  hier   mit   un-. 
voUst&ndigenAndeutungendessen,  worauf  es  ankommt,  begnügen.- 
Es  würde  vollends  ins  üngemessene  führen,  wenn  man  auf  die 
Zahl  verschiedener  Möglichkeiten,    die  hier  von  vornherein  in 
Betracht  kommen,   näher   eingehen  wollte.^    Das  Vorstehende 
muTs  genügen,   um   zu  zeigen,    dafs    es  doch  sehr  unüberlegt 
sein   würde,   wenn   man   aus   Beobachtungen,   bei   denen   ein 
wiederholtes  Auftreten   eines   positiven   und   negativen  Nachr 
bildes  konstatiert  wurde,    ohne  weiteres  einen  Einwand  gegen 
unsere    obigen    chemisch-physikalischen   Darlegungen    ableiten 
wollte,  aus  denen  zwar  ein  einmaliges  Auftreten  eines  positiven . 
und   eines   negativen   Nachbildes   in   völlig   zwangloser  Weise.: 
folge,  nicht  aber  ein  wiederholtes  Auftreten  solcher  Nachbilder 
abgeleitet  werden  könne.     Wir  sind  mehr  als  weit  davon  ent- 
fernt, zu  meinen,  dafs  sich  der  Ablauf  unserer  Netzhautprozesse 
ohne  Mitberücksichtigung   der   indirekten   Beize   und   anderer, 
physiologischer  Faktoren  vollständig  konstruieren  lasse. 

Nach  monokularer  Betrachtung   einer  Lichtfl&ohe  wird  natürlich 
der  Verlauf  der  Nachbilder  durch  den  Wettstreit  der  Sehfelder  gestört, 
wie  YOK  Kbibs  (Analyse  der  Qeiichisempfindungen,  6. 119)  hervorgehoben  hat^  > 
Hinsichtlich     des     yielfach    miXsverstandenen    Einflusses    der    Augen- 
bewegungen und  Lidschlftge  auf  den  Verlauf  der  Nachbilder  vergleiche. 


^  So  erhält  man  z.  B.  ein  wiederholtes  Auftreten  des  positiven 
Nachbildes  der  Scheibe  auch  dann,  wenn  man  den  hellcQ  Lichthof, 
welcher  das  erste .  negative  Nachbild  des  Dnnkelhofes  darstellt,  das 
Mawnum  seiner  Helligkeit  in  dem  Momente  erreichen  l&ist,  wo  das 
erste  positive  Nachbild  der  Scheibe,  wenn  es  ganz  ungest^^rt  hätte  ab- 
laufen können,  gerade  vollständig  abgeklungen  wäre,  u.  dergl.  m.  Nur 
der  Kürze  halber  haben  wir  femer  im  Obigen  ganz  davon  abgesehen, 
da£B  die  den  verschiedenen  Teilen  der  weifsen  Scheibe  entsprechenden 
Netzhautstellen  sich  niemals  sämtlich  in  genau  denselben  Zuständen 
befinden. 

23* 


356  G.  E.  MMer, 

man  Hsbiko,  diese  Zeitsehr.  Bd.  I.  S.  21  und  vor  i^em  Areh,  f.  OpiMuiim. 
XXXVn.  3.  S.  15  fF. 

Beruht  das  wiederholte  Auftreten  der  Nachhilder  wesentlich  auf 
den  indirekten  Reizungen,  so  muOs  es  sich  natürlich  hinsichtlich  seiner 
Einzelheiten  nach  der  Intensität,  Dauer  und  Ausdehnung  der  Licht- 
reizungen hestimmen.  Hieran  dttrfte  die  experimentelle  Prüfung  der 
ohigen  Vermutungen,  die  deshalb,  weil  sie  keine  neuen  Vorgänge  zur 
Erklärung  heranziehen,  in  erster  Linie  in  Betracht  kommen,  anzuknüpfen 
haben.  Versuche,  bei  denen  behufs  Ausschliefsung  jeglichen  Kontrastes 
in  der  ganzen  Ausdehnung  beider  Netzh&ute  überall  die  gleichen  Netz- 
hautprozesse hervorgerufen  werden,  lassen  sich  leider,  wie  bekannt,  schon 
aus  äufseren  Gründen  kaum  effektuieren  und  stofsen  aufserdem  auch 
noch  wegen  der  anatomisch-physiologischen  Verschiedenheiten  der 
Netzhautstellen  auf  Schwierigkeiten. 

Es  ist  nicht  ganz  zu  billigen,  wenn  man  Versuche,  bei  denen  ein 
Lichtobjekt  sehr  kurze  Zeit  beleuchtet  und  dann  der  Wechsel  der 
Nachbilder  beobachtet  wird,  ganz  in  eine  Linie  mit  Versuchen  stellt, 
bei  denen  sich  ein  Lichtobjekt  sehr  schnell  durch  das  Gesichtsfeld  be- 
wegt und  das  Bild  beobachtet  wird,  das  aus  den  Nachwirkungen  ent- 
springt, die  das  Objekt  in  den  von  ihm  der  Reihe  nach  direkt  gereizten 
Netzhautstellen  hinterläfst.  Man  übersieht  hierbei,  dafs  die  indirekten 
Reizungen  sich  bei  beiden  Arten  von  Versuchen  anders  verhalten,  dais 
insbesondere  durch  die  indirekten  Reizungen,  welche  bei  den  Versuchen 
der  zweiten  Art  das  sich  bewegende  Netzhautbild  des  Lichtobjektes 
auf  die  soeben  von  ihm  durchlaufenen  und  die  sogleich  von  ihm  zu 
durchlaufenden  Netzhautstellen  ausübt,  ein  wesentlicher  Unterschied 
beider  Versuchsarten  gegeben  ist.  Eine  andere  Fehlerquelle  entspringt 
für  Versuche  der  zweiten  Art  aus  der  Zeit,  welche  die  Wanderung  der 
Aufmerksamkeit  von  einer  Netzhautstelle  zu  einer  anderen  in  Anspruch 
nimmt  (man  vergleiche  den  von  Mach  angestellten  und  in  seinen  Bei- 
trägen gur  Analyse  der  Empfindungen,  S.  106  f.,  mitgeteilten  Versuch). 

Der  Raumersparnis  halber  mufs  von  einer  weiteren  Erörterung  der 
Wechselwirkung  der  Netzhautstellen,  die  ja  in  mancherlei  Beziehung 
einen  Untersuchungsgegenstand  für  sich  bildet,  hier  abgesehen  werden. 

Ebenso  ist  es  nicht  möglich,  hier  auf  die  Kompliziertheit  der  Ver- 
hältnisse einzugehen,  die  in  dem  Falle,  wo  das  einwirkende  Licht  nicht 
blofs  eine,  sondern  zwei  oder  drei  Valenzen  enthält,  für  den  Ablauf 
unserer  Empfindungen  und  Nachempfindungen  daraus  entspringt,  dafs 
die  von  den  verschiedenen  Valenzen  in  der  lichtempfindlichen  Netzhaut- 
schicht hervorgerufenen  Wirkungen  und  Nachwirkungen  einen  wesent- 
lich verschiedenen  zeitlichen  Verlauf  nehmen  können  und  sich  je  nach 
der  Stärke  und  Dauer  der  Lichteinwirkung  in  verschiedener  Weise 
miteinander  kombinieren  und  überdies  auch  die  Wirkungen,  welche 
die  verschiedenen  Valenzen  infolge  der  Wechselwirkung  der  Netzhaut- 
stellen in  den  der  gereizten  Netzhautpartie  benachbarten  Netzhautstellen 
haben,  in  entsprechender  Weise  einen  verschiedenen  Verlauf  nehmen 
können.  Zu  den  aus  diesen  komplizierten  Verhältnissen  entspringenden 
Nachbilderscheinungen  gehört  das  farbige  Abklingen  der  Gesichts- 


Zur  PBycJu^hyM  der  Gegkhtsempfindungen.  357 

empfindungen,  welches  lacht  von  angeblich  weiXser,   thatsAchlich  aber 
doch  farbiger  Beschaffenheit  (Hebino)  hervorraft. 

Bei  Erklärung  der  Erscheinungen  des  successiven  Kon* 
t  rast  es  hat  man  selbstverst&ndlich  in  erster  linie  davon  auszugehen, 
dals  Ketshautstellen,  in  denen  durch  einen  Lichtreiz  direkt  oder  indirekt 
die  Mengenyerhftltaisse  des  N-,  TT-  und  S-Materiales  in  Vergleich  au  den 
ihnen  bei  neutraler  Stimmung  zukommenden  Werten  verschoben  sind^ 
auf  einen  zweiten  Beiz  entsprechend  anders  reagieren  müssen,  als  bei 
neutraler  Stimmung.  Aufserdem  hat  man  nach  dem  Vorgange  Hbrinos 
(Zur  Lehre  vom  Lkhtsinne.  S.  96  ff.)  noch  die'  hier  eine  sehr  wesentliche 
Bolle  spielende  Wechselwirkung  der  Netzhautstellen  zu  berücksichtigen.^ 
Eine  eingehendere  Erörterung  des  successiven  Kontrastes  führt  aller- 
dings  noch,  zur  Verfolgung  einer  Beihe  speziellerer  Fri^en  (z.  B.  auch 
der  in  der  Anmerkung  1  zu  S.  868  von  uns  angedeuteten  Frage),  auf  die 
indessen  in  dieser  Abhandlung  nicht  eingegangen  werden  kann.  Auch 
auf  eine  spätere  Gelegenheit  müssen  wir  das  Eingehen  auf  eine  gelegent* 
liehe  Bemerkung  Hbbikos  (Pflügers  Areh,  41.  1887.  S,82)  verschieben, 
dafs  gewisse  positive  farbige  Nachbilder  durch  weiXses  Lieht  in  komple* 
mentär  gefärbte  umgekehrt  werden  könnten,  eine  Bemerkung,  von  der 
ihrer  ganzen  Fassung  nach  nicht  sicher  zu  erkennen  ist,  ob  sie  als  eine 
endgültige  aufgefafst  werden  soll,  die  aber  (trotz  ihrer  Eingeschränkt- 
heit und  trotz  der  Mehrdeutigkeit  eines  ihr  entsprechenden  That- 
beetandes)  leicht  als  Stütze  eines  Einwandes  gegen  unsere  bisherige 
Entwickelungen  benutst  werden  könnte. 

Es  wird  Zeit,   dafs  wir  endlich  eine  Frage  beaoitworteni 

die   der  Leser   schon   längst    im   stillen   gestellt   haben   wird, 

nämlich    die   Frage,    wie    wir    das    An-    and    Abklingen    der 

chromatischen  Netzhautprozesse  erklären.    Betrachten  wir  z.  B. 

das  An-  und  Abklingen  des  Ü-Prozesses,  so  erklärt  sich  dasselbe 

diu'ansy   dafs   das   rote  Licht   die  Umwandlung   eines   zu   dem 

R-  und  G-Materiale  zugehörigen  Nebenmateriales  in  12-Material 

fordert.    Lifolge  dieser  Vermehrung  des  iZ-Mateiiales  erlangen 

die  iZ-Beaktionen  das  Übergewicht  über  die  G^-Beaktionen,  die 

Differenz  X-  —  -^  nimmt  einen  positiven  Wert  an,  u.  s.  w.    Nach 

Unterbrechung  der  Einwirkung  des  roten  Lichtes   besitzt  die 

Differenz!  X-  —  ^g  zunächst  noch   einen   positiven  Wert.    Bald 

aber  wird  sie  negativ,  weil  nach  Schwinden  des  roten  Lichtes 


^  Nachschrift  bei  der  Korrektur:  Hätte  ich  es  fü.r  möglich  gehalten, 
dals  HsBiUGS  Ausftlhrungen  Über  das  Zustandekommen  der  Erscheinungen 
der  simultanen  und  successiven  Lichtinduktion  und  des  successiven 
Kontrastes  auf  einen  so  erstaunlichen  Mangel  an  Verständnis  stoXsen 
könnten,  wie  in  den  „Beiträgen  zur  Psychologie  und  Philosophie''  von  Götz 
Mabtiüb  (Leipzig,  1896)  hervorgetreten  ist,  so  würde  ich  vielleicht  diese 
Erscheinungen  an  dem  einen  oder  anderen  Beispiele  auf  Ghrund  der  hier 
entwickelten  Anschauungen  näher  erörtert  haben. 


358  G.  E.  Müller, 

die  ümwandlang  von  JS- Material  in  Nebenmaterial  über  den 
entgegengesetzten  Vorgang  überwiegt  und  infolgedessen  das 
i2-Material  sich  schnell  verringert.  Wenn  wir  in  dieser  Weise 
das  An-  und  Abklingen  des  i?- Prozesses  ganz  nach  Analogie 
des  An-  und  Abklingens  des  TT- Prozesses  erklären,  so  eihebt 
sich  indessen  die  Frage,  wie  nun  im  Falle  der  Einwirkung 
grünen  Lichtes  das  An-  und  Abklingeii  des  Cr -Prozesses  zu 
erklären  sei.  Diese  Frage  beantwortet  sich  sehr  einfach  in 
folgender  Weise. 

Macht  sich  die  Botvalenz  eines  Lichtes  dahin  geltend,  dafs  das 
zum  R'  und  ä^-Materiale  zugehörige  Nebenmaterial  (welches  natür- 
lich von  dem  zum  W-  und  S^Materiale  zugehörigen  Nebenmateriale 
verschieden  ist)  sich  in  reichlicherem  Mafse  in  JB-Material  um- 
wandelt, so  mufs  dem  früheren  gemäfs  eine  Grünvalenz  g^mau  die 
-entgegengesetzte  Wirkung  haben,  d.  h.  die  Umwandlung  von 
JB-Material  in  iV^  Material  befördern.  Diese  durch  das  grüne 
Licht  bewirkte  Verminderung  des  JS-Materiales  hat  aber  (wenn 
das  Licht  die  Netzhaut  bei  neutraler  Stimmung  trifft)  not- 
wendig zur  Folge,  dafa  die  6r-Beaktionen  das  Übergewicht  Über 
die  l^Beaktionen  gewinnen,  also  X  —  X  einen  negativen  Wert 
Äimimmt.  Der  absolute  Wert  letzterer  Differenz  und  die  davon 
abhängige  6r- Erregung  des  Sehnerven  erreichen  ihr  Maximum, 
wenn  die  durch  das  grüne  Licht  in  eine^  Zeitteüche^  be- 
wirkte Abnahme  des  JR^Materiales  gleich  geworden  ist  dem 
Zuwüchse,  den  das  Ü-Material  in  demselben  Zeitteilchen  dutch 
das  Übergewicht  der  G^-Eeaktionen  über  die  Jt- Reaktionen 
erfährt.  Wird  die  Einwirkung  des  grünen  Lichtes  unterbrochen, 
so  dauert  zunächst  jenes  Übergewicht  der  G^-Beaktionen  noch 
"eine-  Zeitlang  an.  Es  wird  aber  infolge  des  ümstandes,  dafd 
jetzt  die  Umwandlung  von  iV- Material  in  ü- Material  über  den 
Entgegengesetzten  Vorgang  stark  überwiegt,  immer  geringer 
und  schlägt  schliefslich  in  ein  Übergewicht  der  12-Beaktionen  um.^ 

Es  bleibt  also  trotz  der  Hereinziehung  der  photochemischen 
Induktion   in   den   von    uns    angenommenen  Mechanismus  der 


*  Es  ist  natürlich  auch  mOglich,  dafs  sich  die  Sache  hinsichtlich 
der  J3-  und  (7-Eeaktionen  genau  umgekehrt  verh&lt,  als  wir  im  Obi^n 
beispielshalber  angenommen  haben,  d.  h.  es  ist  auch  möglich,  dals  das 
^-Material  durch  grünes  Licht  in  (^Material  verwandelt  wird,  und  rotes 
Licht  dahin  wirkt,  das  (7-Material  in  ^-Material  zu  verwandeln.  Aach 
beim  weifsen  Lichte  ist  die  entsprechende  andere  Möglichkeit  Torhanden. 


Zfwr  Psychopfiysik  der  Gesichtsempfindungen.  369 

Netzhaütprozesse  durchaus  bei  unseren  früheren  S&tzen,  däfs 
eine  Bot-  und  eine  Grünvalenz,  eine  Gelb-  und  eine  Blauvalenz 
in  entgegengesetzter  Biohtung  auf  die  betreffenden  lichtempfind- 
lichen Substanzen  wirken,  und  dafs  ebenso  der  B-  und  O-,  E- 
und  J5-,  S-  und  TT-Prozefs  entgegengesetzte  Vorgänge  -  sind.^ 
Das  eigentümliche,  neue  Ergebnis  der  vorstehenden  Betracht 
tungen  ist  nur  die  Erkenntnis,  dafs  die  ^Einwirkung  der  Licht- 
strahlen auf  den  Sehnerven  nicht  durch  die  chemischen  Ybr^ 
gänge  erfolgt,  welche  die  Lichtstrahlen  direkt  selbst  hervor^ 
rufen,  sondern  vielmehr  dadurch,  dafs- die  vom  Lichte  bewirkten 
chemischen  Umwandlungen  infolge  des  Gesetzes  der  chemischen 
Massenwirkung  das  Gleichgewicht  zwischen  solchen  chemischeii 
Vorgängen  entgegengesetzter  Art  stören,  die  nach  Mafsgabe 
des  Vorzeichens  und  des  absoluten  Wertes  ihres  Intensitätsunter- 
schiedes  den  Sehnerven  zu  erregen  vermögen.  Wenn  man  bedenkt; 
dafs  die  Netzhautprozesse,  welche  den  positiven  und  negativen 
Nachbüdem  zu  Grunde  liegen,  unmöglich  Vorgänge  sein  können^ 
welche  direkt  selbst  durch  Lichstrahlen  hervorgerufen  werden, 
und   andererseit»  beachtet,    dafs   den  Prinzipien   wissenschafb- 


Ss  ist' möglich,  dafs  dasselbe  dazu  dieint,  die  Umwandlung  von  5-Material 
in  ^-Material  zu  fördern,  und  hierdurch  ein  Überwiegen  der  TF-Beaktianen 
über  die  j^Beaktionen  bewirkt.  Doch-  soll  der  Kürze  halber  im  Polgenden 
stets  nur  die  Annahme  zu  G-runde  gelegt  werden,  dafs  weifses,  bezw. 
rotes  Licht  dahin  wirke,  das  betreffende  ^-Material  in  TT-,  bezw. 
^-Material  zu  verwaiideln. 

^  Von  yomheröin  ist  neben  der  oben  von  lus  vertretenen  -  Auf* 
fassuBg  noch  eine  andere  in  Betracht  zu  ^ehen,  nach  welcher  z.  B.  deiv 
i^Prozefs  und  der  G^ProzefB  gleichfalls  entgegengesetzte  chemische 
Vorgftnge  sind,  die  nur  gemäfs  der  Differenz  ihrer  Intensit&ten  auf  den 
Sehnerven  wirken,  aber  die  Botvalenzen  ui^d  Grünvalenzen  nicht  als 
einander  direkt  entgegengesetzte  Kr&fte  bezeichnet  werden  dürfen,  insofern 
eine  Botvalenz  die  Umwandlung  eities  bestimmten  Nebenmateriales  in' 
2^-Material  fördere,  eine  Grünvalenz  aber  die  Umwandlung  eines  bestimmten, 
anderen  Nebenmateriales  in  6^Material  beschleunige,  ohne  einer  etwa 
gleichzeitig  vorhandenen  Botvalenz  in  ihrem  Einflüsse  auf  die  Umwandlung 
jenes  dtsteren  Neoenmaterials  in  i{-Material  direkt  entgegenzuwirken, 
tmd  ohne  ihrerseits  von  einer  etwa  gleichzeitig  vorhandenen  Botvalenz 
in  ihrem  Einflüsse  auf  die  Umwandlung  des  zweiten  Nebenmateriales  in- 
^^Material  direkt  irgendwie  behemmt  zvi  werden.  Die  hiermit  angedeutete' 
Ansicht  scheitert  indessen,  wie  nicht  weiter  ausgeführt  zu  werden  braucht, 
unwiderruflich  an  dem  bereits  in  §  15  angeführten  vok  KREBsschen  Satze, 
da&  die  subjektive  Gleichheit  zweier  Lichter  von  dem  ErmüdnngszHStande! 
des  Sehorg^es  unabh&ngig  ist. 


360  Q'  E.  MüUer. 

lieber  Methodologie  gemäJGs  nnser  Bestreben  darauf  gericbtdt 
sein  mufs,  wenn  ea  irgend  angebt,  der  gleichen  Empfindung 
und  Sebnervenerregung,  mag  es  siob  nun  um  eine  einem  vor* 
bandenen  Licbtreize  entsprechende  Empfindung  oder  um  ein 
positives  oder  negatives  Nachbild  handeln,  stets  die  gleiche 
Erregungsursache  in  der  Netzbaut  entsprechen  zu  lassen,  so 
wird  man  sich  einer  weiteren  vorteilhaften  Seite  unserer  The<»ie 
bewufst  werden.  Denn  nach  unserer  Theorie  beruht  eine 
bestimmte  Gesichtsempfindung,  mag  sie  nun  einem  noch  vor- 
handenen Lichtreize  entsprechen  oder  ein  positives  oder  nega- 
tives Nachbild  sein,  stets  nur  auf  dem  Vorhandensein  bestimmter 
Intensitätsunterschiede  entgegengesetzter  Netzhautprozesse,  wobei 
es  ganz  gleichgültig  ist,  wie  die  Verschiebungen  der  Mengen- 
verhältnisse gewisser  Stoffe,  die  diesen  Intensitätsunterschieden 
zu  Gfrunde  liegen,  herbeigefährt  worden  sind,  insbesondere 
auch  ganz  gleichgültig  ist,  ob  der  dieselbe  bewirkt  habende 
Lichtreiz  noch  vorhanden  ist  oder  nicht.  — 

Wird  ein  chemischer  Prozefs  durch  Licht  nicht  unmittelbar, 
sondern  mittelbar  auf  dem  Wege  der  photochemischen  Liduktion 
bewirkt,  so  mufs  eine  gewisse,  wenn  auch  vielleicht  nur  sehr 
geringe,  2eit  nach  Beginn  der  Lichteinwirkung  verflieJben, 
bevor  der  chemische  Prozefs  in  einem  fftr  ans  merkbaren  Grade 
hervorgerufen  ist.  Hiemach  liegt  es  nahe,  die  von  S.  Fuchs 
{Pflügers  Arch,  56. 1894.  S.408  ff.,  Centralblf.  PhysM.  8.  S.  829ff.) 
gefundene  Thatsache,  dafs  die  photoelektrische  Schwankung  in 
der  Netshaut  erst  eine  melsbare  Zeit  nach  Begian  der  Licht- 
einwirkung beginnt,  in  Zusammenhang  zu  der  Art  und  Weise 
zu  bringen,  wie  nach  unseren  vorstehenden  Ausführungen  die  auf 
den  Sehnerven  wirkenden  Netzhautprozesse  hervorgerufen  werden. 
Man  muls  indessen  hinsichtlich  der  Frage,  in  welcher  Beziehung 
die  photoelektrischen  Schwankungen  der  Netzhaut  zu  den  auf  den 
Sehnerven  einwirkenden  Netzhautprozessen  stehen,  zur  2ieit  noch 
eine  etwas  zurückhaltende  Stellung  einnehmen,  da  bei  Einwir- 
kung von  Licht  gar  mancherlei  in  der  Netzhaut  geschieht  und 
das  elektromotorische  Verhalten  der  Netzhaut  wegen  der 
Schwierigkeiten,  xuit  denen  die  betreffenden  Versuche  zu  kämpfen 
haben,  noch  nicht  in  genügend  vielen  Beziehungen  erforscht  ist,^ 

*  Man  vergleiche   z.  B.  die  Bemerkung  von  KOmni   and  Snenma  in 
Heidelb.  Unters.  (ürUermthungen  aus  dem  phjfsiologischen  Jugfilute  der 

versUät  Heidelberg).  4«  S.  137  f. 


2Sur  Fsychophytik  der  Oeskhtsempfindungen,  861 

tmd  die  zur  Zeit  yorliegenden  Besultate  überhaupt  nioht 
an  der  Netzhaut  des  Menschen,  sondern  an  den  Netzhäuten 
verschiedener  Tierarten  gewonnen  sind,  betreffs  deren  wir  eine 
genügende  Kenntnis  des  Verlaufes  und  der  verschiedenen  Arten 
der  in  ihnen  erweckten  Sehnervenerregungen  und  Gesichts- 
empfindungen nicht  besitzen.  Eis  mag  genügen,  hier  daran  zu 
erinnern,  dais  nach  den  von  Kühne  und  Steiner  (a.  a.  0. 3.  S.  375  f.) 
am  Dunkelfrosche  angestellten  Versuchen  bei  genügender  Lang- 
samkeit der  Entstehung  eines  Lichtreizes  in  der  Netzhaut  „keine 
darch  die  Schwankung  bemeikbare  Erregung  stattfindet ^^^  anderer* 
seits  aber  unsere  Qesichtsempfindungen  bei  gleichen  Versuchs- 
bedingungen ein  diesem  Versuchsreeultate  ganz  entsprechendes 
Verhalten  nicht  zeigen. 

Da  wir  im  Vorstehenden  angenommen  haben,  dais  die  durch  Licht 
in  der  Netshaat  hervorgerufenen  chemischen  Ver&nderungen  solche  sind, 
die  nach  Entfernung  des  Lichtes  wieder  rückgängig  werden,  hingegen 
die  neneste  eingehende  Untersuchung  der  photochemischen  Erscheinungen, 
Blmlieh  diejenige  von  Bolofp  (Zeüaehr,  f.  pkifaik.  Chemie.  13. 1894.  S.  327  ff., 
insbesondere  S.  865),  photochemisohe  Vorgänge,  welche  im  Dunkeln  rUck* 
i^&K  gemacht  werden  könnten,  nicht  hat  konstatieren  können,  so 
dürfte  es  angezeigt 'sein,  hier  folgenden  physikalisch-chemisohen  Exkurs 
anzufügen. 

Die  Stoffgemische,  auf  deren  chemische  Zusammensetzung  Licht 
yerftndemd  einwirkt,  sind  von  doppelter  Art.  Die  einen  befinden  sich 
auch  vor  der  Einwirkung  des  Lichtes  nicht  im  Zustande  chemischen 
Gleichgewichtes.  Doch  ist  der  Unterschied  der  (Geschwindigkeiten,  mit 
denen  die  entgegengesetzten  Beaktionen  vor  sich  gehen,  absolut  ge- 
nommen, sehr  gering,  so  dais  die  im  Dunkeln  stattfindende  langsame 
Veränderung  der  chemischen  Zusammensetzung  der  gewöhnlichen  Beob- 
achtung  nur  wenig  merkbar  ist.  Wirkt  aber  geei^etes  Licht  auf  ein 
solches  Gemisch  ein,  so  werden  die  Geschwindigkeitskonstanten  der  ein- 
ander eatgegengesetsten  Beaktionen  in  der  Weise  verändert,  dafs  die 
zuvor  minimale  Geschwindigkeitsdifferenz  dieser  Beaktionen  einen  er- 
heblichen Wert  annimmt  und  auch  innerhalb  einer  verhftltnismajbig 
kurzen  Zeit  eine  merkbare  Veränderung  der  chemischen  Zusammen* 
Setzung  bewirkt  wird.  Gemische  dieser  Art  nehmen  nach  Entfernung 
des  Lichtes  ihre  anfängliche  Beschaffenheit  nicht  wieder  an.  Denn 
die  Lichteinwirkung  hat  ja  nur  dazu  gedient,  das  Gtemisch  in  der 
Biehtung  des  von  ihm  auch  vor  der  Lichteinwirkung,  wenn  auch  nur 
mit  sehr  geringer  Geschwindigkeit,  angestrebten  chemischen  Gleich- 
gewichtszustandes zu  verändern.  Die  lichtempfindlichen  Gemische  dieser 
Art  sind  in  gewissem  Sinne  einem  Gemische  von  Wasserstoff  und  Sauer- 
stoff vergleichbar,  das  ,,man,  wie  viele  Versuche  geseigt  haben,  jahre- 
lang im  zogeschmolzenen  Glasballon  aufbewahren  kann,  ohne  da£s  merk- 
liche Wasserbildung  eintritt.    Trotzdem  sind  die  beiden  Gase  keineswegs 


362  •     O.K  Müller. 

im  Gleichgewicht,  sondern  wir  haben  AUe  G-rtinde  sn  der  Annahme,  da£i 
bei  gewöhnlicher  Temperatur  die  Beaktion  eben  nur  zu  langgam  vor 
sich  geht,  um  in  einem  der  Beobachtung  zugänglichen  Zeitraum  nach- 
gewiesen werden  zu  können".  Läfst  man  eine  hohe  Temperatur  auf  das 
Gemenge  von  Wasserstoff  und  Sauerstoff  Wirken,  so  findet  plötzHch 
eine  schnelle  Veränderung  in  der  Biohtung  des  auch  bei  gewöhnlicher 
Temperatur,  allerdings  nur  sehr  schwach,  angestrebten  Gleichgewichts- 
zustandes statt,  es  bildet  sich  Wasser,  das  auch  nach  Wiederherstellung 
des  anfangs  vorhandenen,  niederen  Temperaturgrades  imverändert  wetter- 
besteht. 

Zu  den  lichtempfindlichen  Gemischen  dieser  ersteren  Art,  deren 
betreffende  chemische  Veränderungen  in  schwachem  Grade  auch  im 
Dunkeln  vor  sich  gehen  und  im  Dunkeln,  nicht  rückgängig  werden, 
gehören  die  von  Boloff.  in  obiger  Veröffentlichung  behandelten  oder  in 
Betracht  geisogenen  Gemische. 

Die  lichtempfindlichen  Gemische  der  zweiten  Art  befinden  sich  vor 
Einwirkung  des  Lichtes  wenigstens  annähernd  im  Zustande  chemischen 
Gleichgewichts.  Die  Einwirkung  des  Lichtes  verändert  die  Geschwindig* 
keltskonstanten  der  einander  entgegengesetzten  Beaktionen  und  stört  so 
den  vorhandenen  Gleichgewichtszustand.  Sobald  aber  die  Lioht- 
einwirkung  aufhört,  nehmen  jene  Geschwindigkeitskonstanten  wieder 
ihre  anfänglichen  Werte  an,  und  das  Gemisch  strebt  wieder  den  anfängt 
liehen  Gleichgewichtszustand  an,  den  es  nach  gewisser  Zeit  auch  wieder 
erreicht. 

Zu  den  lichtempfindlichen  Gemischen  dieser  Art  gehören  einige 
von  B.  Ed.  LiBssoANO^  neuerdings  untersuchte  Substanzen.  Derselbe  be- 
richtet z.  B.  folgendes:  ^Eine  halbgefQllte  Flasche  Bhodaniduminium 
(19^  B6)  . . .  färbte  sich,  als  ich  sie  aus  dem  Dunkelzimmer  ins  zerstreute 
Tageslicht  brachte,  bald  hellrot.  Lis  Dunkle  zurückgebracht,  verlor  sie 
diese  Färbung  schon  nach  einer  Minute  wieder.  In  der  Sonne  nahm  die 
Verbindung  eine  intensive  Botfärbung  an,  welche  nach  1  bis  2  Minuten 
ihr  Maadmum  erreicht  hatte.  Auch  diese  intensive  Färbung  verschwand 
vollkommen  nach  spätestens  2  Minuten 'im  Dunkeln.  Schon  beim  Beschatten 
der  Flasche  mit  der  Hand  machte  sich  eine  Verminderung  der  Intensität 
bemerkbar.  Ich  habe  den  Versuch  mit  derselben  Flüssigkeit  mehr  als 
zwanzig  Male  ausgeführt,  ohne  dafs  eine  Verminderung  der  Empfindlich« 
keit  eingetreten  wäre."  Auch  manche  frühere  Mitteütmgen  anderer 
Forscher  dürften  hierher  gehören.  „Molybdänsäure,  gelöst  in  verdünnter 
Schwefelsäure,  soll  sich  im  Sonnenlichte  bläuen,  im  Finstem  wieder  ent^ 
färben''  (Edeb,  a.  a.  0.  I.  1.  S.  169).  „Ghl^rsilber,  in  eine  Glasröhre  ein- 
geschmolzen, wird  im  Sonnenlichte  violett  (Dissoziation  von  Chlor),  in 
der  Dunkelheit  nimmt  es  das  abgeschiedene  Ohlor  wieder  auf  und  wird 
weiTs"  (Eder,  ebenda.  S.  175)  u.  a.  m. 

Natürlich  muTs  es  auch  lichtempfindliche  Gemische  g^eben,   welche. 

^  Liesegangs  Fhotogr.  Arch.  1893. 10.  Hefb.  S.  145ff.;  12.  Heft  S.  177 £ 
Auf  <liese  Versuche  Liesboakos  bin  ich  durch  Herrn  Bolofp  aufioierksam 
gemacht  worden;  - 


Zur  Psychophysik  4/&r  Ge9kht8empfindungen.  363 

«inen  Übergang  zwischen  den  beiden  soeben  erörterten  Gemisoharten 
.bilden,  insofern  sie  sich  vor  der  Lichteinwirki^ig .  nicht  im  Zustande 
annähernden  chemischen  Gleichgewichts  befinden)  andererseits  aber 
durch  die  Lichteinwirkung  (bei  genügender  Stärke  und  Andauer  der- 
selben) in  dem  Grade  chemisch  verändert  werden,  daTs  sie  nach  Wieder- 
lierstellung  der  Dunkelheit  eine  merkbare  partielle  BückbUdung  erfahren . 
Dafs  eine  durch  Licht  bewirkte  oder  beförderte  chemische 
Reaktion  ebenso  wie  jede  andere  chemische  Beaktion  umkehrbar  ist, 
und  dafs  es  also  im  Grunde  stets  nur  von  dem  Verhältnisse,  in 
welchem  die  Masse  der  bei  einer  ,photochemischen  Beaktion  entstandenen 
Beaktionsprodukte  zu  der  Masse  der  im  Sinne  dieser  Beaktion  um- 
wandelbaren, aber  thatsächlidh  nicht  umgewandelten  Stoffe  steht, 
abhängig  ist,  ob  ein  Teil  jener  Beaktionsprodukte  nach  Beseitigung 
des  Lichtes  zurückrerwandelt  wird  oder  nicht,  ergiebt  sich  auch  aus 
der  Thatsache  der  sog.  chemischen  Sensibilisation,  d.  h.  aus  der  That- 
sache,  dafs  eine  äem  lichtempfindlichen  Körper  beigemengte  Substanz, 
welche  eines  der'  bei  der  photochemischen  Beaktion  entstehenden  Pro- 
dukte bindet,  hierdurch  die  Geschwindigkeit  letzterer  Beaktion  be- 
fördert, indem  es  eben  die:  Büokbildung  unmöglich  macht  (Nxbnst,  a.  a.  O. 
S.  572).  Ferüer  ist  hier  daran  zu  erizmem,  daHs  nach  den  Untersuchungen 
von  E.  WiSDEMAKK  Und  G.  C.  Schmidt  {Wiedemanns  Ann,  54. 1895..  S.  604ff. 
xmd  56.  1895.  S.  201  ff.)  die  Erscheinungen  der  Chemiluminiscenz  in  einer 
Anzahl  von  Fällen  darauf  beruhen,  dafs  die  durch  Licht  (oder  Käthoden- 
'strahlen)  bewirkte  chemische  Änderung  nach  Beseitigung  des  Lichtes 
unter  Lichterzeugung  rückgängig  wird.  Das  Phospihorescenzlicht  fester 
Lösungen  beruht  darauf,  dafs  die  durch  die  auffallenden  Strahlen  von- 
einander getrennten  Bestandteile  (Jonen)  gar  nicht  oder  doch  nur  wenig 
aus  der  gegenseitigen  Wirkungssphäre  kommen  und  sich  demgemäls  nach 
dein  Aüniören  der  Bestrahlung  sehr  schnell  wieder  miteinander  ver- 
einen. Überhaupt  spielt^  nach  den  Untersuchungen  der  genannten 
S^orScher  bei  den  Erscheinungen  der  Luminiscenz  die  Bückbildung  der 
durch  vorherige  Bestrahlung  entstandenen  Beaktionsprodukte  eine  grofse 
Bolle.  Auch  schon  gewisse  Beobachtungen  von  AaRHsmüs,  welche  die 
Leitungsfähigkeit  der  dilbersalze  während  und  nach  der  Belichtung 
betreffen,  weisen  nach  der  Ansicht  obiger  Forscher  darauf  hin,  dafs 
^unter  dem  Einflufs  einer  Bestrahlung  eine  Jonisierung  eintreten  kann, 
die  nachher  wieder  zurückgeht**. 

§  22.     Die  Mitwirkung  der  nutritiven  Vorgänge. 

Anatomische,  physiologische  und  pathologische  Thatsachen 
zeigen,^  dafs  die  normale  Funktion  der  Netzhaut  sehr  wesent-^ 


^  If an  vergleiche  z.B.  Kühne  in  Herinanns  Handb.  d.  Physiol.  3.  li, 
S.287  und  in  HeideW.  Unters,  2.  S.46ff.;  Ezitbb  in  Pflüg  er  8  Ärch:  16. 1878. 
S.  407ff.  und  20;  1879.  S.  Gliff.;  BsoäTEBEW  im  Newi)l,  CmtraJbl,  1894. 
S.  902 f.;  femer  vor  allem  die  Zusammenstelliing  von  Eüobk  Fick  und 
GüBBBB  im  Ärch,  f,  Ophthcdm.  36.  2.  S.  281  ff. 


364  G>  B.  MÜOer, 

lieh  von  der  durch  den  Blut-  nnd  Lymplistrom  vennittelieii 
Em&hrting  derselben  abh&ngig  ist.  Nach  unserer  Theorie 
lälst  sich  dies  leicht  verstehen. 

Nehmen  wir  an,  es  sei  eine  Netzhaatstelle  während  der 
Dauer  einer  Lichteinwirkung  lediglich  auf  sich  selbst  und  das- 
jenige Material  an  Sehstoffen  angewiesen,  das  sich  bei  Beginn  der 
Lichteinwirkung  in  ihr  befand,  so  würde  der  gegebene  Licht" 
reiz  sehr  bald  ganz  unwirksam  fQr  den  Sehnerven  werden. 
Denn  es  würde  z.  B.  welfses  Licht  das  JT^Material  sehr  bald 
fast  ganz  in  TF-Material  umgewandelt  haben,  und  das  5-Material 
würde  infolge  der  Umsetzung  von  IT-Material  sehr  bald  so 
stark  vermehrt  sein,  dafs  J«  —  /,  gleich  0  ist.  Das  Eintreten 
letzteren  Zustandes  wird  nun  dadurch  verhindert,  dafs  während 
der  Lichteinwirkung  fortwährend  neues  ^-Material  oder  Stoffe, 
mittelst  deren  neues  .^-Material  bereitet  werden  kann,  nach 
dem  Schauplatze  der  photochemischen  Prozesse  hingefährt 
werden  (Stoffzufuhr)  und  zugleich  auch  ein  Teil  des  neu 
entstandenen  iS-Materiales  von  dieser  Stätte  hinweggefahrt  wird 
(Stoffabfuhr).  ^ 

Setzen  wir  also  den  Fall,  dals  weilses  Licht  von  nicht  über- 
mäfisdger,  d.  h.  pathologische  Veränderungen  bedingender,  Stärke 
ununterbrochen  auf  eine  und  dieselbe  Netzhautstelle  einwirke,  so 
wird  die  positive  Differenz  J« — 1„  nachdem  sie  ihren  Maximal« 
wert  erreicht  hat,  dem  früher  S.  S49  f.  Bemerkten  gemäfs  infolge 
der  Verringerung,  welche  das  ^-Material  und  demzufolge  auch 
das  TF-Material  erleidet,  und  infolge  der  Zunahme,  welche 
das  5-Material  erfährt,  zunächst  immer  weiter  und  weiter  ab- 
nehmen. Diese  Abnahme  wird  aber  durch  die  Zufuhr  von  N- 
Material  (oder  zur  Bildung  von  JV-Material  geeigneten  Stoffen) 
und  durch  die  Abfuhr  von  5-Material  immer  mehr  verlangsamt, 

^  Dasjenige,  was  hier  in  Beziehung  auf  den  Fall  der  Einwirkung 
weiüMn  Idchtes  bemerkt  worden  ist,  l&lst  sich  unschwer  verallgemeinem. 
Angenommen,  es  gebe  Licht,  welches  genau  entgegengesetzt  wirkt  wie 
welTses  Licht,  also  die  Umwandlung  von  Ü^-Material  in  ^-Material 
fördert,  so  würde  während  der  Einwirkung  solchen  Lichtes  ^-Material 
abgeführt,  hingegen  /S-Material  zugeführt  werden.  Ist  an  dem  Tl^Pro- 
sesse  auTser  solchen  Stoffen,  welche  durch  die  photochemische  Um- 
wandlung des  ^-Materiales  entstehen,  auch  noch  ein  anderer,  in  der 
lichtempfindlichen  Netzhautschicht  bereitliegender  Stoff  beteiligt,  so  kann 
sich  die  Stoffzufuhr  w&hrend  der  Einwirkung  weifsen  Lichtes  auch  noch 
auf  diesen  letzteren  Stoff  erstrecken. 


Zur  Psychephysik  der  Gesichtsen^findungen.  365 

um  so  mehr,  da  wir  Grand  zu  der  Annahme  haben',  dafis  die 
Thfttigkeit  der  nutritiven  Vorgänge  in  den  beiden  soeben  an- 
gegebenen Bichtungen  eine  um  so  lebhaftere  ist,  je  mehr  durch 
die  Lichteinwirkung  in  der  lichtempfindlichen  Schicht  der  be- 
troffenen Netzhautstelle  das  JV-Material  bereits  verringert  und 
das  iS-Material  bereits  vermehrt  ist.'  Zuletzt  muGs  prinzipiell 
ein  Zustand  erreicht  werden,  wo  die  Abnahme,  die  das  N" 
Material  dem  bestehenden  positiven  Werte  von  I^ — lu  ont- 
sprechend  in  einem  Zeitteilchen  erleidet,  dem  Zuwüchse,  den 
dasselbe  durch  die  StoffzuAihr  erfUirt,  genau  gleich  geworden 
ist,  und  ebenso  die  EinbuTse,  welche  das  TT-Material  dem  vor- 
handenen positiven  Werte  von  Z» — L  gemäfs  erleidet^  dem  Zu- 
wüchse gleich  ist,  den  dasselbe  durch  die  chemische  Umsetzung 
von  ^-Material  erf&hrt,  und  endlich  auch  der  Zuwuchs,  der 
dem  /S-Material  durch  die  chemische  Umwandlung  von  TF- 
Material  zu  teil  wird,  dem  Dekremente  gleich  ist,  welches  das 
erstere  durch  die  Stoffabfuhr  erleidet.  Dieser  Zustand  des 
stofflichen  Gleichgewichtes,  bei  welchem  die  Abnahme 
der  Differenz  /« — /,  zu  Ende  gekommen  ist,  dürfte  indessen  in 
Wirklichkeit  niemals  erreicht  werden  (abgesehen  allenfalls  von 
Fällen,  wo  es  sich  um  die  Adaptation  an  eine  Beleuchtung 
von  minimaler  Intensit&t  handelt.)'    Der  Eintritt  von  Augen- 

^  Wie  wesentlich  sich  der  Verlauf  der  Gesichtsempfindumg,  die  einem 
gegebenen  Lichtreize  entspricht ,  nach  dem  Verhalten  der  von  der  Blut- 
sirkulation  abh&ngigen  nutritiven  Vorgänge  bestimmt,  zeigen  am  besten 
Beobachtungen,  bei  denen  die  Blutzirkulation  im  Auge  durch  Druck  auf 
den  Augapfel  mehr  oder  weniger  herabgesetzt  wird.  Man  vergleiche 
Ezna,  a.  o.  a.  O.,  sowie  M.  Bkich  in  den  JOiik  MotuUsbL  /*.  AttgtnhmUcde, 
12.  1874.  S.  238  ff.  Selbstverständlich  werden  die  nutritiven  Vorgänge 
durch  die  bei  Druck  des  Augapfels  eintretende  Hemmung  der  Blutzirkulation 
nicht  sofort  völlig  sistiert.  Denn  angenommen  selbst,  der  Abschlufs  des 
Blutstromes  sei  ein  vollständiger,  so  ist  ja  doch  in  dem  Momente, 
wo  derAbschlufs  eintritt,  in  diesen  oder  jenen  Teilen,  z.  B.  im  Pigment- 
epithele  der  Netzhaut  oder  in  der  St&bchen-  und  Zapfenschicht  selbst, 
bereits  eine  gewisse  Menge  solcher  Stoffe  abgelagert,  die  durch  g^ewisse 
Vorgänge  in  lichtempfindliches  Material  umgewandelt  werden  können. 
Wäre  man  in  der  Lage,  nicht  blols  die  Blutzirkulation  im  Auge,  sonidern 
auch  diese  letzteren  Umwandlungsvorgänge  plötzUch  völlig  aufheben  zu 
kOxmen,  so  vrfirde  sich  der  Verlauf  der  Gesichtsempfindungen  noch  in 
einem  ganz  anderen  Grade,  als  thatsächlich  bei  Herstellung  der  Druck- 
biindheit  der  Fall  ist,  als  von  der  Mitwirkung  der  nutritiven  Vorgänge 
abhängig  erweisen. 

*  Die  neutrale  Stimmung  der  lichtempfindlichen  Netzhautschicht 
kann  als  derjenige  Zustand  der  letzteren  bezeichnet  werden,  bei  welchem 


366  G.E,MüUer, 

bewegnngen  n.  dergl.  und.  4er  Einfluftf  derjenigen  Vorgänge, 
welche  den  Erscheinungen  des  Simultankontrastes  und  der 
simultanen  Lichtinduktion  zu  Grunde  liegen,  greifen  störend 
oder  modifizierend  in  den  Ablauf  der  Netzhautprozesse  ein,  die 
ein  gegebener  Lichtreiz  hervorruft.  Trotzdem  dürfte  es  an- 
gezeigt s^,  hier  einige  Sätze  hervorzuheben,  die  fär  diesen 
Zustand  des  stofflichen  Gleichgewichtes  gelten.  Denn,  wie  leicht 
ersichtlich,  läfst  sich  der  Lihalt  dieser  Sätze  auch  auf  die- 
jenigen Fälle  übertragen,  wo  das  Sinken  der  von  einem 
gegebenen  Lichtreize  erweckten  Erregung  zwar  noch  nicht 
beendet,  wohl  aber  doch  schon  bedeutend  verlangsamt  ist. 

Ist  der  Satz  richtig,  dafs  die  nutritiven  Vorgänge  um  so 
lebhafter  sind,  je  intensiver  das  gegebene  Licht  (das  wir  uns 
der  Einfachheit  halber  wieder  als  weifses  Licht  vorstellen  wollen) 
ist,  so  muTs  bei  erreichtem  stofflichen  Gleichgewicht  die  Differenz 
J» — /,  um  80  grölser  sein;  je  intensiver  das  gegebene  Licht  ist. 

Sind  zwei  verschiedenartige  Valenzen  (z.  B.  eine  Botvalenz 
und  einB  Weifsvalenz)  gegeben,  deren  Wirksamkeit  in  dem 
Sehepithele  (der  Stäbchen-  und  Zapfenschicht)  durch  die  nutri- 
tiven Vorgänge  nicht  in  gleichem  Grade  gefördert  wird ,  so 
mufs  bei  erreichtem  stofflichen  Gleichgewichte  derjenigen 
Valenz,  welche  durch  die  nutritiven  Vorgänge  mehr  begünstigt 
wird,  eine  grölsere  Wirkung  (eine  gröfsere  Litensitätsdifferenz 
zweier  entgegengesetzter  Netzhautprozesse)  in  der  Netzhaut 
entsprechen,  selbst  dann ,  wenn  die  Stärkegrade  beider  Valenzen 
so  .  gewählt  sind,  dafs  letztere  im  ersten  Momente  ihrer  Ein- 
wirkung gleich  starke  Wirkungen  im  Sehepithele  erzielen. 

Finden  in  zwei  verschiedenen  Netzhautstellen  bei  gleichem 
Seize  die  nutritiven  Vorgänge  mit  verschiedener  Lebhaftigkeit 
statt,  so  mufs  bei  erreichtem  stofflichen  Gleichgewichte  dem 
gleichen  Beize  in  derjenigen  Netzhautstelle,  welche  hinsichtlich 
der  nutritiven  Vorgänge  bevorzugt  ist,  eine  gröüsere  Wirkung 
entsprechen,  als  in  der  anderen  Netzhautstelle. 

Ob  nach  Erreichung  des  stofflichen  Gleichgewichtes  bei 
konstant  bleibendem  Lichtreize  die  Stoffzufuhr  und  Stoffabfahr 
auf  konstanter  Höhß  beharren  würden,  kann  sehr  bezweifelt 
werden.     Von    vornherein    kann   man  denken,  dafs  allmählich 


ein   Beiz    nicht  vorhanden  ist   und   zugleich  stoffliches  Gleichgewicht 
besteht. 


1 


Zwr  JPsychophynk  der  OistChtsempfindungen.  367 

ein  iBtlahinen  der  in  so  einseitiger  Weise  ununterbrochen  aus- 
geübten £mährung8thätigkeit  eintrete.  Man  kann  aber  auch 
an  ein  Inzugkommeh  in  dieser  Hinsicht  denken  oder  es  fCLr 
selbstverständlich  erklären,  dafs  die  Lebhaftigkeit  der  nutritiven 
Vorgänge  von  der  Atemthätigkeit,  der  Nahrungsaufnahme 
u.  dergl.  abhängige  Schwenkungen  erieide.  Man  kann  die  Frage 
auf  werfen,  ob  die  unregelmäfsig  wechselnden ,  hellen  oder 
dunklen  Flecken,  Wolken,  Nebelballen,  welche  im  Sehfelde  des 
Dunkelauges  in  so  reichem  Mafse  auftreten^  nicht  zu  einem 
wesentlichen  Teile  auf  Schwankungen  der  hier  in  Bede 
stehenden  nutritiven  Vorgänge  beruhen.  Denn  nach  Erreichung 
des  Zustandes  des  stofflichen  Gleichgewichtes  mufs  jede  ein- 
tretende Schwankung  der  Stoffzufuhr  oder  Stoffabfuhr  von 
einer  Schwankung  der  Netzhautprozesse  und  einer  Änderung 
der  GesichtsempjBjidung  begleitet  sein,  mag  die  Intensität  des 
vorhandenen  Lichtreizes  gleich  0  sein  oder  einen  endlichen 
Wert  besitzen.^ 

Es  ist  zu  beachten,  dafs  die  durch  einen  Lichtreiz  bewirkte 
Steigerung  der  nutritiven  Vorgänge  beim  Schwinden  dieses 
Beizes  nicht  mit  einem  Schlage  rückgängig  werden  dürfte.  Nach 
Versuchen  von  Chauveau  (a.  a.  O.  S.  3Ö2)  ist  die  Blutzirkulation 
im  Muskel  am  lebhaftesten  in  der  Buhezeit,  welche  unmittelbar 
auf  vorherige  Arbeit  des  Muskels  folgt,  und  die  vasomotorischen 
Begleiterscheinungen  einer  längeren  geistigen  Anstrengung 
dauern  länger  an,  als  diese  Geistesanstrengung  (Gley  in  Ärch, 
de  physiol.  13.  1881,  S.  754).  Nimmt  man  ähnliches  für  die  der 
Funktion  des  Sehepithels  dienlichen  nutritiven  Vorgänge  an, 
so  ergiebt  sich,  dafs  diese  Vorgänge  auch  den  Verlauf  der  Nach- 
bilder mehr  oder  weniger  mit  bestimmen  müssen  und  eventuell 
für  die  Erklärung  dieser  oder  jener  Eigentümlichkeit  desselben 
mit  in  Erwägung  zu  ziehen  sind. 

Aus     dem    Vorstehenden     und     unseren    früheren    Ent- 


^  Wenn  wir  beim  Blicken  auf  helle  Gegenstände  nicht  entsprechende 
Wolken  oder  Lichtballen  auftauchen  sehen,  wie  im  Sehfelde  des  Dunkel- 
auges, so  kann  man  (abgesehen  von  anderen  naheliegenden)  z.  B.  in  eine 
Diskussion  des  WEBERSchen  Gesetzes  gehörigen  Gesichtspunkten)  hierin 
ein  Analogen  der  Thatsache  erblicken,  dafs  die  zuflllligen  Schwankungen 
der  Lebhaftigkeit  der  im  Muskel  stattfindenden  Blutzirkulation  beim 
Buhezustande  des  Muskels  viel  ausgiebiger  sind,  als  bei  der  Thätigkeit 
desselben.   (OHAUTEiiu,  Le  iravail  muaeuJaire.  Paris,  1891.  S,  ^56  fT.). 


368  ^.  S*  MülUr. 

wickelimgen  (S.  350)  ergiebt  sich,  dafs  der  Wichtigkeit 
gemäfs,  welche  für  uns  eine  schnelle  ErholnngsftLhigkeit  des 
Sehorganes  besitzt,  unser  Auge  die  durch  einen  Lichtreia  in 
dem  Sehepithele  bewirkten  stofflichen  Veränderungen  in 
doppelter  Weise  auszugleichen  sucht,  erstens  durch  Bück- 
bildung  eines  Teiles  der  Produkte  der  durch  den  Beiz  direkt 
und  indirekt  bewirkten  chemischen  Beaktionen  (welche  Bück- 
bildung nach  Aufhören  des  Beizes  beginnt  und  dem  negativen 
Nachbilde  zu  Grunde  liegt),  und  zweitens  durch  die 
nutritiven  Vorgänge,  welche  schon  während  der  Ein- 
wirkung des  Beizee  denjenigen  Stoffen^  die  durch  denEinflufs 
desselben  verringert  werden,  Ersatzmaterial  zuftLhren  und  zu- 
gleich von  denjenigen  Stoffen,  welche  infolge  der  Beiz- 
wirkung sich  im  Übermafs  anhäufen,  einen  Teil  nach  aufsen 
abführen.  Sowohl  diese  letzteren  Vorgänge,  als  auch  jene 
Bückbildung  finden  mit  um  so  gröfserer  Lebhaftigkeit  statt,  je 
intensiver  der  betreffende  Lichtreiz  ist. 

G-anz  unentschieden  können  wir  hier  lassen,  wo  die  Her- 
stellung lichtempfindlicher  Stoffe  mittelst  irgendwelcher  dem 
Ernährungsstrome  entstammender  Substanzen  erfolgt,  ob  z.  B 
die  lichtempfindlichen  Stoffe  bereits  in  dem  Pigmentepithele 
der  Netzhaut  bereitet  werden  und  von  hier  aus  durch  irgendwelche 
Kräfte  in  die  Stäbchen-  und  Zapfenschicht  gelangen  oder  etwa 
erst  in  letzterer  Schicht  ihre  definitive  Formung  erfahren. 
Femer  lassen  wir  hier  ganz  dahingestellt,  was  mit  denjenigen 
Beaktionsprodukten  geschieht,  die  durch  die  Stoffabfuhr  aus 
der  lichtempfindlichen  Schicht  der  betroffenen  Netzhautstelle 
hin  weggeführt  werden.  Es  ist  möglich,  dafs  dieselben  oder 
gewisse  Komponenten  derselben  irgendwo  mit  Hülfe  anderer 
Substanzen  wieder  zum  Aufbau  von  lichtempfindlichem 
Materiale  oder  solchen  Stoffen,  die  Vorstufen  letzteren  Materiales 
sind,  verwandt  werden. 

Was  die  oben  erwähnte  Zunahme  der  nutritiven  Vorgänge 
bei  steigender  Lichtstärke  anbelangt,  so  kann  dieselbe  doppelten 
Ursprunges  sein.  Erstens  kann  dieselbe  eine  Folge  der  Steige« 
rung  sein,  welche  die  Thätigkeit  des  Sehepithels  bei  wachsender 
Lichtstärke  erfährt.  Tritt  z.  B.  (wie  zu  vermuten,  aber  unseres 
Wissens  noch  nicht  nachgewiesen  ist)  bei  einer  Lichtverstärkung 
eine  Steigerung  der  retinalen  und  chorioidealen  Blutzirkulation 
ein,   so   entsteht  dieselbe   infolge    der  erhöhten  Thätigkeit  des 


2ur  Psychophysik  der  Gesichtsempfindungen.  369 

Sehepithels  in  ähnlicher  Weise,  wie  auch  sonst  eine  Erhöhnng 
der  Thätigkeit  eines  Organes  eine  Steigerung  der  Blntzirknlation 
in  demselben  zur  Folge  hat.  Zweitens  kommt  hier  noch  in 
Betracht,  dafs  vielleicht  das  einwirkende  Licht  direkt  selbst 
(nicht  blofs  indirekt  dnrch  die  von  ihm  bewirkte  Steigerang 
der  Thätigkeit  des  Sehepithels)  gewisse  für  die  Schnelligkeit 
der  Emähmng  des  Sehepithels  wichtige  Vorgänge  fördert.  Wir 
erinnern  daran,  dafs  nach  den  Untersuchungen  von  Kühnb  und 
Mats  das  Fuscin  bei  Vorhandensein  von  Sauerstoff  durch 
Licht  direkt  zersetzt  wird,  sowie  daran,  dafs  nach  Versuchen 
von  Kühne  {Heidelb.  Unters,  2.  S.  104  f.)  die  Hämoglobinzersetzung 
durch  Licht  beschleunigt  wird. 

Ob  der  Säftestrom  im  Auge  und  die  Ernährung  des  Seh- 
epithels der  Annahme  von  Eugen  Fick  und  Gösbbr  entsprechend 
durch  Bewegungen  des  Augapfels  und  der  Augenlider  ge« 
fordert  wird,  ist  zur  Zeit  noch  nicht  entschieden.  — 

Vergleicht  man  die  drei  optischen  Spezialsinne  hinsichtlich 
der  Lebhaftigkeit  miteinander,  mit  welcher  ihre  Thätigkeit 
durch  die  nutritiven  Vorgänge  unterstützt  wird,  so  zeigt  sich 
die  wichtige  Thatsache,  dafs  in  dieser  Beziehung  erstens  der 
Weifsschwarzsinn  vor  den  beiden  chromatischen  Sinnen  wesent- 
lich bevorzugt  ist,  und  zweitens  unter  den  beiden  letzteren  der 
Gelbblausinn  vor  dem  Botgrünsinne  begünstigt  ist.  Auf  ersteres 
weist,  wie  nach  dem  Obigen  nicht  weiter  ausgeführt  zu  werden 
braucht,  die  Thatsache  hin,  dafs  die  Empfindung  eines  farbigen 
Lichtes  bei  längerer  Einwirkung  des  letzteren  auf  eine  und 
dieselbe  Netzhautstelle  immer  ungesättigter  und  weifslicher 
wird,  sowie  die  Thatsache,  dafs  alle  Farbenempfindungen  von 
gewissen  Stärkegraden  des  farbigen  Lichtes  ab  sich  bei  weiterer 
Steigerung  des  letzteren  immer  mehr  der  reinen  Weifsempfindung 
nähern.  Dafs  femer  der  Gelbblausinn  in  nutritiver  Hinsicht 
vor  dem  Botgrünsinne  bevorzugt  ist,  folgt  in  entsprechender 
Weise  aus  der  Thatsache,  dafs  rotgelbes  und  rotblaues  Licht 
bei  steigender  Intensität  oder  verlängerter  Einwirkungsdauer^ 


^  Vorausgesetzt  ist  hier,  dals  die  Einwirkungsdauer  stets  länger 
ist,  als  die  Zeit,  die  zur  Erreichung  der  maximalen  Beizwirkung  er- 
forderlich ist.  Die  (mit  den  im  Bisherigen  entwickelten  Anschauungen 
wohl  vereinharen)  Änderungen,  welche  die  Empfindungen  der  yerschiedenea 
Parben  bei  ihrem  Anküngen  erfahren,  sollen  innerhalb  dieser  Ab^ 
handlung  nicht  mit  zur  Erörterung  kommen. 

Zeitiehrlft  für  Psychologie  X.  24 


870  ö.  E,  MüUer. 

immer  gelblicher,  bezw.  bläulicher  wird;  erst  bei  sehr  hohen 
Werten  der  Lichtstärke  oder  Einwirkongszeit  tritt  die  soeben 
erwähnte  Annäherung  an  Weifs  in  den  Vordergrund.  Ebenso 
werden  die  grünlichen  Nuancen,  je  nachdem  sie  zum  G-elb  oder 
zum  Blau  hinneigen,  bei  Steigerung  der  Intensität  oder  Ein- 
wirkungszeit zunächst  immer  gelblicher  bezw.  bläulicher,  so 
dafs  bei  wachsender  Lichtstärke  des  Sonnenspektrums  das  Gelb 
und  Blau  sich  immer  weiter  ausbreiten,  hingegen  das  Orün 
immer  mehr  eingengt  wird.^  Nur  Urrot  und  Urgfün  gehen  bei 
fortgesetzter  Verstärkung   ohne  Änderung   des  Farbentones  in 

immer  weifslichere  Nuancen  über. 

Möglicherweise  steht  mit  der  soeben  besprochenen  Beihenfolge,  in 
welcher  die  drei  optischen  Spezialsinne  in  nutritiver  Hinsicht  rangieren, 
auch  die  Thatsache  in  Zusammenhang,  dais  bei  fortgesetztem  Druck  auf 
den  Augapfel  alle  Farben  zunächst  ganz  ähnliche  Veränderungen  ihres 
Aussehens  erleiden,  wie  sie  bei  Steigerung  ihrer  Intensität  erfahren.  Sie 
gehen  sämtlich  teils  direkt  (z.  B.  reines  Blau),  teils  indirekt  (z.  B.  gelb- 
liches Bot  und  gelbliches  Grün  durch  Gelb  hindurch)  in  GrauweiTs  über, 
bis  schlielslich  eine  allgemeine  Anästhesie  der  Netzhaut  eintritt  und  nur 
noch  Finsternis  empfunden  wird  (M.  Beich,  a.  a.  O.  S.  247  ff.,  Kühne  in 
Heidelb,  Unters,  2.  S.  53  ff.)-  Endlich  liegt  es  nahe,  auch  die  aus  den  Er- 
scheinungen sowohl  der  peripherischen,  als  auch  der  individuellen 
Farbenblindheit  sich  ergebende   verschiedene  Leichtigkeit,   mit  welcher 

^  Bei  sehr  geringer  Lichtstärke  des  Sonnnenspektrums  scheinen 
Bot  und  Grün  unmittelbar  aneinanderzustolsen ;  je  lichtstärker  das 
Spektrum  gemacht  wird,  desto  deutlicher  und  ausgebreiteter  wird  das 
Gelb.  Diese  Thatsache  ist  Obigem  gemäfs  in  folgender  Weise  zu  deuten. 
Die  Botvalenzen  und  Grün  Valenzen  derjenigen  rotgelben  und  grüngelben 
Spektrallichter,  welche  dem  ürgelb  nicht  sehr  nahe  stehen,  üben  auf 
die  Geschwindigkeitskonstanten  der  durch  sie  direkt  beeinflulsbaren 
Netzhautprozesse  einen  stärkeren  Einfiufs  aus,  als  die  Gelbvalens  auf 
die  Geschwindigkeitskonstanten  der  beiden  durch  sie  direkt  beeinfluTs- 
baren,  einander  entgegengesetzten  Netzhautprozesse  ausübt.  Demgemäfs 
erscheinen  diese  Lichter  bei  geringer  Intensität,  wo  auch  der  in  nutritiver 
Hinsicht  schwache  Botgrünsinn  den  an  ihn  gestellten  Anforderungen 
gewachsen  ist,  vorwiegend  rot  bezw.  grün.  Wird  jedoch  die  Licht- 
stärke gesteigert,  so  macht  sich  immer  mehr  der  Umstand  geltend,  dafs 
die  Farbe,  in  welcher  uns  ein  bestimmter  Theil  des  Spektrums  unter 
gewöhnlichen  Bedingungen  der  Beobachtung  (d.  h.  bei  nicht  blofs  momen- 
taner Einwirkung  des  Spektrums)  erscheint,  sich  nach  der  Beschaffen- 
heit bestimmt,  welche  die  durch  die  Farbe  erweckten  Netzhautprozesse 
in  einem  Stadium'  besitzen,  wo  sie  den  Punkt  der  maximalen  Beiz- 
wirkung bereits  längst  hinter  sich  haben  und  bereits  wesentlich  von 
der  ihr  weiteres  Abfallen  verlangsamenden  Mitwirkung  der  nutritiven 
Vorgänge    abhängen,    und    dafs    eben    diese    nutritiven   Vorgänge    hin- 


Zur  Psychaphysik  der    Ge^icktsempfindungen.  371 

die  drei  optisoken  Spezialsiime  Schwächungen  erfahren  oder  gar  ganss  in 
Wegfall  kommen,  hier  anzuführen.  Man  kann  meinen,  es  sei  selbst- 
verständlich, dafs  bei  Erschwerungen  oder  Mangelhaftigkeiten  der  Stoff- 
zufuhr oder  Stoffbereitung  im  Sehorgane  oder  wenigstens  gewissen  Teilen 
desselben  im  allgemeinen  derjenige  Spezialsinn  (der  Botgrünsinn)  am 
ehesten  und  meisten  geschwächt  werde,  für  dessen  Unterhaltung  die 
nutritiven  Vorgänge  überhaupt  am  wenigsten  lebhaft  eintreten,  hingegen 
derjenige  Spezialsinn  (der  Weifsschwarzsinn)  am  wenigsten  beeinträchtigt 
werde,  für  dessen  Unterhaltung  der  normale  Organismus  das  reichlichste 
Material  zu  beschaffen  vermöge.  Die  Thatsache,  dafs  man  beim  Über- 
gange vom  Zentrum  der  Netzhaut  zur  Peripherie  ganz  dieselben  Ver- 
änderungen der  Farbenempfindlichkeit  konstatieren  kann,  die  man  im 
Zentrum  durch  fortgesetzten  Druck  auf  den  Augapfel,  also  Erzeugung 
von  Blutleere,  erzeugen  kann,  hat  M.  Keich  (a.  a.  0.  S.  251  f.)  zu  der 
Bemerkung  veranlafst,  dafs  die  peripheren  Netzhautteile  „immer  ver- 
hältnismäfsig  arm  an  Blut''  seien.  Indessen  ist  hier  einige  Zurück- 
haltung, zum  mindesten  gewisse  Einschränkung  oder  Ergänzung  geboten. 
Denn,  dals  viele  Fälle  von  Farbenschwäche  und  Farbenblindheit  in 
Affektionen  des  Sehnerven  oder  noch  zentralerer  Teile  ihren  Ursprung 
haben,  ist  sicher.  Auch  kann  die  Aimahme,  dafs  die  totale  Farbenblindheit, 
soweit  sie  nicht  durch  Affektionen  des  Sehnerven  oder  zentralerer  Teile 
bedingt  sei,  einfach  auf  einem  Wegfalle  der  Funktion  der  Zapfen  be- 
ruhe, als  ausgeschlossen  nicht  gelten.  — 

Zum  Schlüsse  mag  hier  noch  der  Frage  gedacht  werden,  ob  die 
Steigerung  nutritiver  Vorgänge,  welche  durch  erhöhte  Thätigkeit  eines 
der  drei  optischen  Spezialsinne  bewirkt  ist,  die  beiden  anderen  Spezial- 


sichtlich der  Unterhaltung  des  Gelbprozesses  weit  leistungsfähiger 
sind,  als  hinsichtlich  des  Rot-  und  Grünprozesses.  Infolge  letzteren 
Verhaltens  mufs  bei  Steigerung  der  Lichtstärke  des  Sonnenspektrums 
der  von  einer  rotgelben  oder  grüngelben  Farbe  erweckte  GelbprozeCs, 
soweit  er  für  das  Aussehen  der  Farbe  mafsgebend  ist,  im  Vergleich  zu 
dem  von  derselben  Farbe  hervorgerufenen  Bot-  bezw.  Grünprozesse 
immer  stärker  werden,  mithin  das  Gelb  im  Spektrum  immer  deutlicher 
und  ausgebreiteter  werden.  Man  darf  also  nicht  den  Einwand  erheben 
(vergl.  Ebbikghaus,  diese  Zeitschrift  Bd.  V.  S.  179  f.),  dals  nach  den  hier 
vertretenen  Anschauungen  die  bei  steigender  Lichtstärke  des  Spektrums 
stattfindende  Zunahme  der  Deutlichkeit  und  Ausdehnung  des  Gelb  nur 
dadurch  erklärt  werden  könne,  dafs  „S^^^  entgegengesetzt  allem,  was 
sonst  bekannt  ist'S  die  Einwirkung  auf  ein  gewisses  lichtempfindliches 
Material,  die  sich  bei  schwachem  Lichte  schon  bis  zu  einer  gewissen 
Grenze  (Wellenlänge  des  Lichtes)  erstreckt  habe,  bei  Verstärkung  des 
Lichtes  sich  etwas  von  dieser  Grenze  zurückgezogen  habe.  Dafs  sich 
Erscheinungen,  die  der  hier  erörterten  Erscheinung  analog  sind,  an 
photographischen  Platten  nicht  beobachten  lassen,  ist  nicht  zu  ver- 
wundem. Denn  die  hier  erörterte  Erscheinung  ist  eben  durch  eine 
Eigentümlichkeit  der  organisierten  Substanzen,  nämlich  die  Ernährung, 
bedingt* 

24* 


372  ö^.  «E.  MüUer. 

sume  ganz  unbeeinflulBt  lasse.  Wenn  z.  B.  weiises  Licht  längere  Zeit 
hindurch  auf  die  Netzhaut  einwirkt,  lassen  dann  die  hierdurch  ge- 
steigerten  nutritiven  Vorgänge  die  Sehstoffe  der  beiden  chromatischen 
Spezialsinne  ganz  unverändert? 


§  23.     Die   retinalen   Anpassnngsvorgänge. 

Neben  der  Veränderlichkeit  der  Pupillenweite  bestehen 
nocb  in  der  Netzhaut  selbst  Einrichtungen,  welche  dazu  dienen, 
die  Wirknngsfahigkeit,  welche  gegebenes  Licht  den  Sehstoffen 
gegenüber  besitzt,  nach  Mafsgabe  der  Stärke  des  Lichtes  zu 
modifizieren.  Vorgänge  in  der  Netzhaut,  welche  letztere 
Wirkung  haben,  sollen  kurz  als  retinale  Anpassungs- 
vorgänge bezeichnet  werden.  Dieselben  sind  von  den  er- 
örterten nutritiven  Vorgängen  wohl  zu  unterscheiden.  Denn 
letztere  betreffen  nicht  die  Wirkungsfähigkeit,  welche  gegebenes 
Licht  in  fieziehung  auf  die  Sehstoffe  besitzt,  sondern  die 
Mengen,  in  denen  das  Licht  diese  Stoffe  vorfindet. 

Retinale  Anpassungsvorgänge  im  soeben  angegebenen  Sinne 
sind  schon  mehrfach  angenommen  worden.  So  vertritt  z.  B. 
Kunkel  {Pflügers  Arck.  16.  1877.  S.  38  f.)  die  Ansicht,  dafs 
die  Netzhaut  über  Schutzvorrichtungen  verf&ge,  durch  welche 
sie  sich  vor  tiefergehenden  Veränderungen  durch  einwirkendes 
Licht  schütze.  Er  glaubt,  dafs  in  den  vor  dem  Sehepithele 
gelegenen  Schichten  der  Betina  bei  Einwirkung  von  Licht 
„chemische  Veränderungen,  und  zwar  Trübungen  der  vorher 
pelluciden  Substanz,  zu  stände  kommen,  die  natürlich  das 
Durchdringen  von  Licht  bis  zur  letzten  empfindlichen  Schicht 
erschweren^.  Kühne  bemerkt  gelegentlich  [Hermanns  Handb. 
d.  Physiol  3.  S.  328),  dafs  die  eminente  Lichtempfindlichkeit 
des  Sehpurpurs  denselben  keineswegs  vor  dem  Verdachte  be- 
wahre, „nur  ein  für  hinreichend  intensives  Licht  veränderlicher 
Farbenschirm  zu  sein,  was  für  mit  ihm  gemischte,  ebenfalls  in 
den  Stäbchencylindern  befindliche,  wirkliche  Sehstoffe  die 
gröfste  Bedeutung  haben  könnte^.  Li  Anschlufs  an  diese  Be- 
merkung Kühnes  mag  sogleich  daran  erinnert  werden,  dafs 
der  gelbe  Farbstoff  der  Macula  lutea  nach  den  Untersuchungen 
desselben  Forschers  (ebenda.  S.  291.  327.  HeideTb.  Unters.  2. 
S.  128)  „von  nicht  geringer  Lichtempfindlichkeit ^,  also  ein 
Farbenschirm  ist,    dessen  Einflufs  nicht  ohne  weiteres  %ls  von 


Zur  Psychophysik  der  Geskhtsempfindimgen.  373 

der   Datier,    Stärke    und  Beschaffenheit  der  vorausgegangenen 
Lichtreizungen  ganz  unabhängig  vorgestellt  werden  darf. 

Von  verschiedenen  Forschem  ist  die  phototrope  ße* 
aktion  des  Pigmentepitheles  als  ein  retinaler  Anpassungs* 
Vorgang  angesehen  worden  (man  vergleiche  z.  B.  Schirmeb  im 
Arch.  f.  Ophihälm.  36.  4.  S.  141  ff.).  In  der  That  läfst  es  die 
physikalische  Betrachtung  nicht  zweifelhaft  erscheinen,  dafs 
dieser  von  der  Stärke  und  Dauer  der  Lichteinwirkung  ab- 
hängige Vorgang  „die  Ausbreitung  und  Beflexion  des  Lichtes 
in  der  musivischen  Schicht  der  Netzhaut  beschränke*^  (HeiiMholtz). 
Auf  eine  solche  Bedeutung  der  Pigmentwanderung  weist  ins- 
besondere auch  der  umstand  hin,  dafis  sich  das  Pigment  bei 
Einwirkung  hinlänglich  starken  Lichtes  auch  hinter  der  End« 
fläche  der  Stäbchen  ausbreitet  und  durch  Bedeckung  derselben 
die  Menge  des  Lichtes  verringert,  das  von  der  Chorioidea  und 
Sklerotika  her  reflektiert  werden  kann.  Macht  man  hingegen 
die  von  vornherein  sich  ebenfalls  darbietende  Annahme  einer 
wesentlichen  nutritiven  Bedeutung  der  Pigmentwanderung,  so 
erscheint  nicht  recht  begreiflich,  wie  die  Sehorgane  albinotischer 
Individuen  denjenigen  noch  recht  beträchtlichen  Grad  von 
Leistungsfähigkeit  besitzen  können,  den  sie  thatsächlich  be- 
kunden, wie  z.  B.  derartige  Individuen  „bei  mittlerer  Beleuch- 
tung oder  bei  Lampenlicht  stundenlang  ohne  Beschwerden 
arbeiten*'  können  (Schibm£b,  a*  a.  0.  S.  145).  Derartige 
Leistungen  erscheinen  um  so  beachtenswerter,  weil  ja  die  Netz- 
haut der  Albinos  infolge  des  Fehlens  oder  wenigstens  Mangel- 
haftseins der  Pigmentierung  der  Iris  und  der  Chorioidea  bei 
gleichen  Beleuchtungsverhältnissen  von  bedeutend  mehr  ein- 
fallendem Lichte  und  von  bedeutend  mehr  von  der  Chorioidea 
und  Sklerotika  her  reflektiertem  Lichte  getroffen  wird  als  die 
Netzhaut  der  Normalen.  Es  erscheint  also  in  der  That  nicht 
gut  möglich,  die  thatsächliche  Leistungsfähigkeit  des  albino- 
tischen Auges  mit  der  Annahme  in  Einklang  zu  bringen,  dafs 
die  Ernährung  des  Sehepitheles  von  der  Pigmentwanderung 
wesentlich  abhängig  sei.  Hingegen  erklärt  sich  die  Lichtscheu 
der  Albinos  und  der  umstand,  dafs  ihr  Sehorgan  schon  bei 
einer  für  das  normale  Auge  noch  gut  erträglichen  Andauer 
oder  Stärke  der  Beleuchtung  nachteilig  affiziert  wird,  in  voll- 
kommen befriedigender  Weise,  wenn  man  bedenkt,  dafs  die 
Netzhaut  der  Albinos  nicht  blofs  wegen  des  soeben  erwähnten 


374  G^  E.  Müüer. 

Fehlens  oder  ünziüängUohseins  des  Iris-  und  des  Chorioidea- 
pigmentes  unter  gleichen  Verhältnissen  stärker  gereizt  wird 
als  die  Netzhaut  des  normalen  Auges,  sondern  auch  deshalb, 
weil  ihr  das  Pigment  des  Pigmentepitheles  und  der  in  der 
Wanderung  dieses  Pigmentes  bestehende  Anpassungsvorgang 
fehlt.  Wenn  nach  den  Beobachtungen  von  A.  Eugen  Fick 
(Arch.  f.  OpJUhaJm.  37.  2.  S.  11  ff.)  die  mittleren  und  unteren 
Teile  der  Fröschnetzhaut  reicher  mit  Fuscin  ausgestattet  sind 
und  eine  stärkere  Neigung  zur  Innenstellung  dieses  Pigmentes 
zeigen  als  die  oberen  Teile,  so  begreift  sich  dies  nach  der  hier 
vertretenen  Ansicht  unschwer  daraus,  dafs  jene  Teile  der  Netz- 
haut  der  Einwirkung  starken  Lichtes  mehr  ausgesetzt  sind  als 
diese.  ^  Die  von  demselben  Forscher  (a.  a.  0.  S.  8  ff.)  gefundene 
Thatsache  femer,  dafs  „nach  kurzer  Belichtung  die  Innen- 
steUung  im  Dunkeln  sich  weiter,  bezw.  überhaupt  erst  ent- 
wickelt^, scheint  uns  nicht  im  mindesten  gegen  die  hier  ver- 
tretene Ansicht  von  der  Bedeutung  der  Pigmentwanderung  zu 
sprechen.  Denn  wenn  ein  retinaler  Anpassungsvorgang  von 
der  Dauer  der  Beleuchtung  abhängig  sein  soll,  so  dals  er  sich 
um  so  mehr  entwickelt,  je  länger  eine  stärkere  Beleuchtung  an- 
dauert, so  muTs  der  jeweilig  vorhandene  Entwickelungsgrad 
des  Vorganges  eine  Funktion  nicht  blofs  der  vorhandenen, 
sondern  auch  der  vorausgegangenen  Beleuchtungen  sein.  Nur 
dadurch,  dafs  sich  die  Nachwirkungen  der  vorausgegangenen 
Beleuchtungen  mit  der  Wirkung  der  vorhandenen  Beleuchtung 
summieren,  ist  es  möglich,  dafs  sich  der  Vorgang  (bis  zu  einer 
gewissen  Grenze)  um  so  mehr  entwickelt,  je  länger  eine  Be- 
leuchtung andauert.  Die  von  A.  Eugen  Fick  gefundene  That- 
sache, dafs  eine  Belichtung  der  Netzhaut  in  Beziehung  auf  die 
Pigmentstellung  noch  in  dem  der  Belichtung  nachfolgenden 
Zeitabschnitte  nachwirkt,  ist  also  ganz  einfach  eine  notwendige 
Bedingung  dafür,  dafs  die  Pigmentstellung  von  der  Zeitdauer 
der  Belichtung  abhängig  sei.  Zum  Schlüsse  mag  hier  noch 
daran  erinnert  werden,  dafs  nach  den  üntersuchimgen  Exnebs 


^  Wenn  femer  nach  demselben  Forscher  bei  behinderter  Atmung 
des  Frosches  regelmäfsig  stärkste  Innenstellung  des  Pigmentes  eintritt, 
so  ist  dies  oflPenbar  einfach  dahin  zu  deuten,  dafs  sich  der  Organismus 
bei  behinderter  Atmung  gegen  jeden  durch  Licht,  sei  es  direkt  oder 
indirekt,  bewirkbaren  Verbrauch  von  Sauerstoff  möglichst  zu  schützen 
sucht. 


Zur  Paychophysik  der  Gesichtaempfindungen.  375 

gewissen  Pigmentversoliiebungen,  die  in  2susammengesetzten 
Angen  bei  Lichteinwirknng  stattfinden  und  im  Donkehi  rück* 
gängig  werden,  eine  ganz  ähnliche  Bedeutung  zukommt,  als 
wir  hier  der  phototropen  Beaktion  des  Pigmentepitheles  zu- 
geschrieben haben.  ^ 

Wir  kommen  nun  zu  einem  zweiten  retinalen  Anpassungs- 
vorgange. Nach  den  Beobachtungen  von  Ewald  und  Kühne 
und  den  genauen  Messungen  von  von  Hornbostel  [Heiddh.  Unters. 
1.  S.  409  ff.)  bewirkt  Licht  „eine  sehr  auffSälligß  Veränderung 
an  der  Form  der  Stäbchen,  welche  sich  kurz  dahin  zusammen- 
fassen läfst,  dafs  kräftige  Belichtung  von  genügender  Dauer  sie 
verdickt,  quellen  macht,  Dunkelheit  sie  wieder  zum  Schrumpfen 
bringt  und  im  Querdurchmesser  sie  wieder  verkleinert^.  Wie 
eine  Yolumenzunahme  eines  Stäbchens  auf  die  Stärke  eines  in 
demselben  hervorzurufenden  Netzhautprozesses,  z.  B.  TT-Pro- 
zesses,  wirken  mufs,  läfst  sich  an  der  Hand  unserer  Formel  (2) 
auf  S.  340  leicht  erkennen.  Die  G-esamtstärke  eines  in  einem 
Stäbchen  sich  abspielenden  TK-Prozesses  (die  Gesamtzahl  der 
in  demselben  stattfindenden  TT-Beaktionen)  ist  offenbar  gleich 
i;  X  Z»  zu  setzen,  wo  v  das  Volumen  des  Stäbchens  oder  viel- 
mehr des  in  Betracht  kommenden  Abschnittes  desselben  (AuGsen- 
gliedes)  und  /«  dem  früheren  entsprechend  die  in  dem  Stäbchen 
bestehende  Geschwindigkeit  des  TT-Prozesses  bedeutet.  Setzt 
man  nun  in  dem  Produkt  vxl»  für  I„,  den  auf  der  rechten 
Seite  der  Gleichung  (2)  auf  S.  340  stehenden  Ausdruck  ein,  so 
zeigt  sich,  dafs  die  Gesamtstärke  des  in  einem  Stäbchen  statt- 
findenden TT-Prozesses  bei  gleichem  Werte  der  Geschwindigkeits- 
konstanten K^  und  bei  gleichem  Gehalte  des  Stäbchens  an 
TT-Material  sich  umgekehrt  verhält  wie  der  Wert  t;«+P+Y...-i. 
Ist  also  die  TT-Beaktion  eine  unimolekulare  Beaktion,  mithin 
«r==l,  hingegen  ft:=y ...=  0  zu  setzen,  so  wird  die  Gesamt- 
stärke des  FF-Prozesses  von  einer  Volumenänderung  (Quellung. 
oder  Schrumpfung)  des  betreffenden  Stäbchens  nicht  berührt.' 
Sind  aber  zwei  oder  mehr  Moleküle  an  einer  TT-Beaktion 
beteiligt,    ist   also  a  -\-  ft  -{-  y  . .  .>  l^    so   nimmt   die  Zahl  der 

^  Man  vergleiclie  S.  Exneb  in  Wien,  Ber.  98.  1889.  3.  Abtl.  S.  143  ff., 
S.  FüCHs,  diese  Zeitechr.  4.  1893.  S.  360. 

'  Abgesehen  ist  hier  von  den  wegen  ihrer  G-eringfügigkeit  zu  yer« 
nachlässigenden,  rein  physikalischen  (die  Liohtabsorption  u.  dergl.  be- 
treffenden) Wirkungen,  welche  eine  Volumenänderung  eines  Stäbchens  hat. 


376  G.  E.  Müller. 

TF-Beaktionen,  die  sich  in  einem  Stäbchen  bei  gleichem  Werte 
von  K^  und  gleichem  Gehalte  an  TF-Material  vollziehen,  bei 
einer  Yolumenzunahme  des  Stäbchens  ab,  und  zwar  mnfs^  falls 
die  TT-Beaktion  einigermafsen  komplizierter  Art  ist^  einer  nur 
geringen  Yolumenzunahme  des  Stäbchens  schon  eine  sehr  be- 
deutende Abnahme  der  Stärke  des  TT-Prozesses  entsprechen.* 
Ebenso  wie  die  Umwandlung  von  TP^Material  in  5-Material 
mufs  auch  die  Umwandlung  von  ^^-Material  in  TV-Material 
durch  eine  Yolumenzunahme  der  Stäbchen  verlangsamt  werden, 
falls  es  sich  dabei  um  eine  Reaktion  handelt,  an  der  zwei  oder 
mehr  Moleküle  beteiligt  sind.  Nun  mufs  die  Gesamtstärke  des 
TT-Prozesses,  der  einem  gegebenen  Lichtreize  in  einem  Stäbchen 
entspricht,  durch  eine  Yolumenzunahme  des  letzteren  sowohl 
dann  beeinträchtigt  werden,  wenn  durch  letztere  die  Ge- 
schwindigkeit verringert  wird,  mit  welcher  sich  das  ^-Material 
unter  dem  Einflüsse  des  Lichtes  in  TF-Material  umwandelt,  als 
auch  dann,  wenn  durch  die  Yolumenzunahme  des  Stäbchens 
direkt  die  Geschwindigkeit  vermindert  wird,  mit  welcher  die 
Unwandlung  von  TF-Material  in  Ä-Material  vor  sich  geht.  Es 
ist  aber  äuiserst  unwahrscheinlich,  dafs  beide  soeben  erwähnte 
ümwandlungsvorgänge  unimolekulare  Beaktionen  seien  und 
mithin  durch  eine  Yolumenänderung  des  Stäbchens  nicht  berührt 
werden.  Es  dürfte  sehr  schwer  fallen,  einen  die  Erscheinungen 
der  photochemischen  Induktion  darbietenden  photochemischen 
Prozefs  ausfindig  zu  machen,  der  aus  zwei  unmittelbar  auf- 
einanderfolgenden unimolekularen  Beaktionen  (Zersetzung  und 
nochmaliger  Zersetzung  der  einen  Art  von  Zersetzungsprodukten) 
besteht.  Folglich  erscheint  die  Annahme  gegeben^  dafs  die 
Yolumenzunahme  eines  Stäbchens  mit  einer  Abnahme  der 
Gesamtstärke  des  TF-Prozesses  (oder  etwaigen  sonstigen  Netzhaut- 
prozesses)   verbunden   ist,    der   einem  gegebenen  Lichtreize  in 


^  Das  Entsprechende  gilt  natürlich  von  dem  ^S-Prozesse.  Der  Einflufs, 
den  bei  gegebenem  Lichtreize  eine  Volumenzunahme  des  Stäbchens  auf 
die  Differenz  zwischen  der  Stärke  des  TT-Prozesses  und  derjenigen  des 
iS-Prozesses  ausübt,  bestimmt  sich  des  näheren  nach  den  Kompliziertheits- 
graden der  in  Betracht  kommenden  chemischen  Reaktionen  (Umwandlung 
von  ^-Material  in  Tl^-Material,  von  TT-Material  in  iS-Material  und  um- 
gekehrt). Wir  halten  es  für  überflüssig,  die  aus  unseren  früheren 
Formeln  leicht  ableitbaren  Folgen  einer  Volumenänderung  der  Stäbchen 
hier  sämtlich  zu  erwähnen. 


Ziwr  Psychophiysik  der  Gesiditsempfindungen,  377 

dem  Stäbchen  entspricht,  dafs  also  die  bei  zunehmender  Be« 
leuchtungsstärke  eintretende  Anschwellung  der  Stäbchen  dazu 
dient,  bei  starker  Beleuchtung  einen  zu  reichlichen  Verbrauch 
der  Sehstoffe  in  den  Stäbchen  zu  verhindern,  und  in  ent- 
sprechender Weise  die  bei  herabgesetzter  Beleuchtuug  vor  sich 
gehende  Schmmpfung  der  Stäbchen  dazu  dient,  die  Beizbarkeit 
der  Stäbchen  gegenüber  einwirkendem  Lichte  zu  erhöhen. 

Es  fragt  sich  nun,  wie  der  in  einer  Änderung  des  Quellungs- 
grades der  Stäbchen  bestehende  retinale  Anpassungsvorgang 
zu  Stande  kommt.  Welcher  Stoff  läfst  bei  einwirkendem 
starken  Lichte  durch  seine  Zersetzung  und  die  osmotische 
Wirkung  der  Produkte  dieser  Zersetzung  die  Stäbchen  an- 
schwellen? Man  wird  nicht  geneigt  sein,  diese  Funktion  einem 
Sehstoffe  zuzuschreiben;  denn  es  empfiehlt  sich  nicht,  an- 
zunehmen, dafs  die  Stäbchen  einen  Sehstoff  enthalten,  der  sich 
nicht  auch  in  den  Zapfen  vorfinde,  deren  Aufsenglieder  nach 
dem  zur  Zeit  vorliegenden  bei  Einwirkung  starken  Lichtes  eine 
Anschwellung  nicht  erfahren.  Wir  werden  vielmehr  diese 
Funktion  einem  solchen  Stoffe  zuschreiben,  den  wir  Anlafs 
haben,  nicht  für  einen  Sehstoff  anzusehen,  und  der  aufserdem 
die  Eigentümlichkeit  besitzt,  zwar  in  den  Stäbchen,  nicht  aber 
auch  in  den  Zapfen  vorzukommen.  Ein  solcher  Stoff  ist  der 
Sehpurpur,  der  sich  bekanntlich  nur  in  den  Aufsengliedern 
der  Stäbchen,  nicht  aber  auch  der  Zapfen  vorfindet,  und  hin- 
sichtlich dessen  aus  verschiedenen  Gründen  zu  schliefsen  ist, 
dafs  er  nicht  als  Sehstoff  fungiert. 

Zunächst  ist  in  dieser  Beziehung  Folgendes  anzuführen. 
Wie  Kühne  (Heiddb,  Unters.  2.  S.  51  f.)  gelegentlich  hervorhebt, 
ist  vom  Sehpurpur  „die  vollkommene  Unabhängigkeit  sowohl 
des  Bestandes,  wie  der  Zersetzung  durch  Licht,  von  allen  sog. 
Lebensbedingungen,  ja  in  gewissem  Grade  und  innerhalb  der 
hier  (d.  h.  bei  Versuchen  über  Druckblindheit)  in  Betracht 
kommenden  kurzen  Zeit  sogar  die  Degeneration  ohne  Blut- 
zufuhr  zum  Betinaepithel  beim  Säuger  nachgewiesen.  Ich 
habe  mich  auch  zum  Überflüsse  überzeugt,  dafs  der  Sehpurpur 
im  Auge  lebender  Kaninchen  durch  Druck  ohne  Licht  in 
längerer  Zeit  nicht  schwindet,  und  selbst  bei  Beleuchtungen 
von  der  Intensität  und  Dauer,  wie  ich  sie  zu  den  Druck- 
versuchen  an  meinem  Auge  benutzte,  keine  Veränderung 
erkennen  läfst".    Es  verhält  sich  also  der  Sehpurpur  bei  Druck 


378  ^-  -E'  Müller. 

auf  den  Angapfel  nnd  überhaupt  hinsichtUoh  seiner  Abhängig- 
keit vom  Blntstrome  ganz  anders,  als  die  Sehstoffe,  ^  was  allein 
genügt,  die  Vermutung,  der  Sehpurpur  sei  ein  Sehstoff,  zu 
einer  unannehmbaren  zu  machen. 

Diese  Vermutung  wird  nun  zweitens  nicht  empfehlens- 
werter durch  die  Thatsache,  dafs  sich  der  Sehpurpur  that- 
sächlich  nicht  in  allen  Stäbchen  vorfindet.'  Ist  der  Sehpurpur 
ein  Stoff,  auf  dessen  Zersetzung  die  Einwirkungen  der  Stäbchen 
auf  den  Sehnerven  oder  wenigstens  eine  gewisse  Art  dieser 
Einwirkungen  beruhen,  so  erscheint  die  Thatsache,  dafs  der 
Sehpurpur  in  den  Stäbchen  mancher  Tierarten  ganz  fehlt, 
mindestens  befremdend.  Hingegen  erscheint  diese  Thatsache 
leicht  begreiflich,  wenn  man  dem  Sehpurpur  nur  die  Bolle  zu- 
schreibt, als  Vermittler  eines  retinalen  Anpassungsvorganges 
zu  dienen.  Dexm  der  Wegfall  eines  solchen  Vorganges  kann 
durch  eine  vollkommenere  Entwickelung  der  übrigen  Ein- 
richtungen, welche  der  sog.  Adaptation  des  Auges  an 
die  verschiedenen  Helligkeiten  dienen,  sowie  durch  eine 
bestimmte  Art  der  Lebensbedingungen  oder  Lebensführung 
leicht  ausgeglichen  werden.  Wenn  z.  B.  auch  bei  solchen 
Tierarten,  deren  Stäbchen  im  allgemeinen  purpurhaltig  sind, 
die  im  Umkreise  der  Ora  serrata  befindlichen  Stäbchen  des 
Sehpurpurs  ganz  entbehren,  so  versteht  sich  dies  unschwer 
daraus,  dafs  letztere  Stäbchen  aus  leicht  ersichtlichem  Grunde 
überhaupt  nur  die  Einwirkung  schwacher  Lichtreizungen  er- 
fahren und  mithin  der  auf  dem  Sehpurpur  beruhenden  An- 
passungseinrichtung gar  nicht  bedürfen.' 

Endlich  drittens  ist  hier  noch  daran  zu  erinnern,  dafs  das 
thatsächliche  Verhalten  des  Sehpurpurs  nicht  ssu  demjenigen 
stimmt,  was  die  Erscheinungen  des  simultanen  Kontrastes  und 
der  simultanen  und  successiven  Lichtinduktion  über  das  Verhalten 
der  Sehstoffe  lehren,  falls  man  von  der  (z.  B.  auch  von  Ebbimohaus 


^  Man  beachte  den  von  Exnbb  in  Pflüg  er  8  ArcK  20.  1879.  S.  826 
geltend  gemachten  Versuch,  der  uns  durchaus  zu  beweisen  scheint,  dals 
bei  der  Druckblindheit  eine  Erschöpfung  der  Sehstoffe  eintritt 

'  Man  vergleiche  Kühne  in  Reidelb.  Unters.  1.  S.  28  f.  und  4.  S.  282  f., 
sowie  in  Hermanns  Handb.  d.  PkysioL  3. 1.  S.  829. 

'  Es  ist  hervorzuheben,  dafs  sich  die  die  Anschwellung  der  Stäbchen 
bei  Lichteinwirkung  betreffenden  Angaben  von  von  Hobkbobtbl  nur  auf 
die  Stäbchen  „des  Centrum  retinae^  beziehen. 


Zur  Psychophysik  der  C^eakhtaempfindungen.  879 


geteilten)  Annahme  ausgeht^  daXs  die  soeben  erwähnten  Er- 
scheinungen peripherischen  ürspranges  seien.  Wäre  der  Seh- 
pnrpnr  ein  Sehstoff,  so  müTste  diesen  Erscheinungen  ent- 
sprechend eine  in  einer  begrenzten  Netzhautstelle  durch  Licht 
angeregte  Zersetzung  des  Sehpurpurs  auf  das  Verhalten  des 
in  den  benachbarten  Netzhautstellen  befindlichen  Sehpurpurs 
einen  deutlich  erkennbaren  Einflufs  ausüben.  Falls  z.  B.  die 
Zersetzung  des  Sehpurpurs  den  in  den  Stäbchen  sich  ab- 
1  spielenden  TT-Prozefs   darstellte,   so    müfste  in  dem  Falle,  wo 

I  sich  ein  auf  einem  weifsen  Grunde  befindliches  schwarzes  Feld 

geraume  Zeit  hindurch  auf  einer  stäbchenhaltigen  Netzhaut- 
stelle abbildet,  in  dem  dem  schwarzen  Felde  entsprechenden 
Netzhautbezirke  zunächst  eine  Erschwerung  der  Zersetzung 
des  Sehpurpurs  imd  eine  Förderung  der  Neubildung  oder 
I  Begeneration^  desselben  eintreten  (entsprechend  dem  Stadium, 

wo  das  schwarze  Feld  durch  sog.  Kontrastwirkung  ver- 
dunkelt ist).  Hierauf  müfste  nach  kurzer  Zeit  ein  Stadium 
folgen,  wo  (entsprechend  der  Aufhellung  jenes  Feldes  durch 
die  simultane  Lichtinduktion)  in  ebendemselben  Netzhautbezirke 
eine  merkbare  Zersetzung  von  Sehpurpur  stattfindet,  eine  Zer- 
setzung, die  sehr  bald  dieselbe  Lebhaftigkeit  besitzt,  mit  welcher 
die  Sehpurpurzersetzung  in  den  dem  wei(sen  Ghrunde  ent- 
sprechenden Netzhautteilen  stattfindet.  In  dem  Momente  end- 
lich, wo  das  Auge  der  Lichteinwirkung  entzogen  wird,  müfste 
(der  successiven  Lichtinduktion  entsprechend)  in  dem  dem 
schwarzen  Felde  entsprechenden  Netzhautbezirke  eine  erheb- 
liche Steigerung  der  bereits  vorhandenen  Sehpurpurzersetzung 
eintreten  —  und  es  ist  nicht  abzusehen,  wie  es  möglich  sein 
sollte,  mittelst  des  Sehpurpurs  ein  Optogramm  auf  der  Netz- 
haut  zu    erhalten,    das    uns    die  Form    des    schwarzen  Feldes 


^  Genau  genommeD,  müfste  der  durch  den  Kontrast*  bewirkten  Ver- 
dunkelung des  schwarzen  Feldes  eine  Förderung  der  Büokbildung 
der  Zersetzungsprodukte  des  Sehpurpurs  entsprechen.  Eine  Kückbildung 
letzterer  Zersetzungsprodukte,  wie  eine  solche  auch  zur  Erklärung  des 
negativen  Nachbildes  anzunehmen  sein  würde,  ist  aber  überhaupt  bisher 
nicht  konstatiert !  Denn  die  anagenetische  Begeneration  des  Sehpurpurs 
ist  nicht  eine  einfache  Bückbildung  von  Zersetzungsprodukten,  sondern 
ein  Vorgang,  bei  welchem  zur  Herstellung  von  Sehpurpur  aalser  ge- 
wissen Zersetzungsprodukten  desselben  auch  noch  solche  Stoffe  ver- 
wandt werden,  die  von  dem  Pigmentepithele  her  geliefert  werden 
(EüHNB  in  Hermann»  Handb.  d.  Physiol.  3.  1.  S.  317 ff.). 


380  G.  E.  Müller. 

deutlich  wiedererkennen  läfst !  Allgemeiner  ansgedrückt,  wäre 
der  Sehpurpur  ein  Sehstoff,  so  würde  es  wegen  der  Wechsel- 
wirkung, in  welcher  die  Sehstoffe  benachbarter  Netzhautstellen 
zu  einander  stehen,  nicht  möglich  sein,  durch  die  Einwirkung 
des  Lichtes  auf  den  Sehpurpur  Optogramme  zu  erhalten,  die 
uns  die  Formen  und  Konturen  der  Gesichtsobjekte  so  deutlich 
wiedergeben,  wie  dies  durch  die  in  geeigneter  Weise  her- 
gestellten Optogramme  thatsächlich  geschieht. 

Wir  kommen  also  zu  dem  Besultate,  dafs  der  Sehpurpur 
nicht  ein  Sehstoff,  sondern  ein  solcher  Stoff 
(Adaptationsstoff)  ist,  welcher  der  Adaptation  des 
Auges  dient,  indem  er  den  Quellungsgrad  der 
Aufsenglieder^  der  Stäbchen  von  der  Stärke  und 
Dauer  der  Beleuchtung  abhängig  macht.  Diese  Auf- 
fassung steht  in  einem  bemerkenswerten  Einklänge  zu  der 
Thatsache,  dafs  nach  den  Beobachtungen  von  von  Hornbostbl 
erstens  gründlich  besonnte  Frösche  den  kleinen  Stäbchendurch- 
messer der  Dunkelfrösche  nicht  eher  wieder  zeigen,  als  bis  der 
Sehpurpur  vollständig  regeneriert  ist,  und  zweitens  in  einer 
Netzhaut,  welche  lange  unter  rotem  Lichte  gehalten  worden 
ist ,  eine  Zunahme  des  Stäbchenquerschnittes  nur  dann 
bemerkbar  ist,  wenn  durch  das  rote  Licht  eine  Bleichung  des 
Sehpurpurs  erzielt  worden  ist.  Ob  schon  das  unmittelbare  Zer^ 
Setzungsprodukt  des  Sehpurpurs,  das  Sehgelb,  oder  erst  das 
mittelbare  Zersetzungsprodukt  desselben,  das  Sehweifs,  auf  das 
Volumen  der  Stäbchen  verändernd  einwirkt,  kann  hier  dahin- 
gestellt bleiben. 

Wenn  also  wirklich,  wie  neuerdings  geltend  gemacht  worden 
ist,  die  Stäbchen  einen  Apparat  darstellen,  der  durch  seine 
Fähigkeit  zur  Adaptation  an  geringe  Helligkeiten  zum  Sehen 
bei  schwacher  Beleuchtung  besonders  dienlich  ist,  so  dürfte 
dies,  wenigstens  zu  einem  Teile,  darauf  beruhen,  dafs  den 
Stäbchen  in  dem  Sehpurpur  und  dem  Einflüsse,  den  der  Zer- 
setzungsgrad desselben  auf  das  Stäbchenvolumen  ausübt,  eine 
Einrichtung  gegeben  ist,  mittelst  deren  sie  die  in  ihnen  an- 
gehäuften Sehstoffe   bei  starker  Beleuchtung   vor   einer   reich- 

*  Die  erwähnten  Beobachtungen  von  von  Hornbostbl  ergeben  nur, 
dafs  bei  Belichtung  die  AuTsenglieder  der  Stabchen  (in  denen  sich 
bekanntlich  der  Sehpurpur  befindet)  anschwellen.  Über  das  Verhalten 
der  Innenglieder  geben  diese  Beobachtungen  keine  Auskunft. 


2hir  Psychophysik  der  Cfesichtaen^findungen.  381 

lieberen  Inanspruchnahine  durch  das  Licht  bewahren,  bei 
schwacher  Beleuchtung  hingegen  dem  Einflüsse  des  Lichtes 
zugänglicher  machen  können.^  Der  hier  angedeuteten  Aufgabe 
wird  natürlich  der  Sehpurpur  noch  besser  genügen,  wenn  er 
zugleich  als  ein  Sensibilisator  für  in  den  Stäbchen  vorhandene 
Sehstoffe  dient.  Denn  alsdann  wird  er  bei  andauernder  starker 
Beleuchtung  entsprechend  der  Herabsetzung,  welche  seine  Menge 
erfahren  hat,  seine  sensibüisatorische  Wirkung  verhältnismäisig 
weit  schwächer  entfalten  als  bei  schwacher  Beleuchtung,  wo 
er  in  reicher  Menge  in  den  Stäbchen  vorhanden  ist.  Wir 
kommen  auf  diesen  Punkt  weiterhin  (§  26)  näher  zu  sprechen. 
Dafs  es  neben  den  beiden  im  Vorstehenden  erörterten 
Anpassimgseinrichtungen  nicht  noch  andere  Einrichtungen 
gleichen  Zweckes  in  der  Retina  gebe,  wird  hier  keineswegs 
behauptet.  Welche  Bedeutung  die  bei  Lichteinwirkung  ein- 
tretende, anscheinend  ohne  eine  Yolumenänderung  vor  sich 
gehende  Kontraktion  der  Zapfenmyoide  besitze,'  kssen  wir 
indessen  hier  dahingestellt.  Wir  gehen  dazu  über,  nun  zum 
Schlüsse  noch  kurz  anzudeuten,  in  welchen  Beziehungen  die 
psychophysisehe  Betrachtung  der  Gesichtsempflndungen  das 
Stattfinden  der  retinalen  Anpassungsvorgänge  wohl  zu  berück- 
sichtigen hat. 

^  Weim  die  Zapfen  des  gelben  Fleckes  durch  das  vorgelagerte 
gelbe  Pigment  einen  gewissen  Schutz  gegen  starkes  Licht  besitzen,  so 
scheint  dies  als  ein  gewisser,  allerdings  nur  sehr  unvollkommener, 
Ersatz  für  dasjenige  angesehen  werden  zu  müssen,  was  den  Stäbchen  der 
Netzhautperipherie  in  dem  Sehpurpur  verliehen  ist.  —  Über  die  Stärke 
des  Einflusses,  den  die  Änderungen  des  Stächenvolumens  auf  die  Stäbchen- 
reizbarkeit  ausüben,  läfst  sich  zur  Zeit  nicht  sicher  urteilen,  weil  wir 
erstens  die  Kompliziertheit  der  in  Betracht  kommenden  chemischen 
Beaktionen  nicht  kennen,  und  weil  es  zweitens  nicht  auf  die  direkt  zur 
Beobachtung  kommende  Yolumenänderung  des  gesamten  Stäbchenaulsen- 
gliedes  ankommt,  sondern  auf  die  Yolumenänderung,  welche  die  die  Seh- 
stoffe des  Stäbchens  enthaltende  Lösung  erfährt.  Letztere  Yolumen- 
änderung kann  weit  grOfser  sein  als  erstere. 

*  Die  Abhandlung  von  van  Gekderen  Stobt  {Ärch.  f.  Ophthäbn.  33.  8. 
S.  229  ff.),  die  hinsichtlich  des  Yerhaltens  der  Stäbchen  bei  Liohteinwirkung 
nur  unabgeschlossenes  bietet,  sowie  die  daran  sich  ansohliefsenden  Mit- 
teilungen von  Enoelmann  {Congrhs  d,  sc.  med,,  Copenhagen.  1884.  I; 
Pflügera  Arch.  35.  1885.  S.  498  ff.)  lassen  eine  Berücksichtigung,  ja 
auch  nur  Erwähnung  der  von  den  oben  genannten  Forschem  gegebenen 
lütteilungen  über  Stäbchenanschwellung  bei  Lichteinwirkung  stark  ver- 
missen. 


382  G,E  Mütter. 

In  erster  Linie  kommen  diese  Vorgänge  bei  allen  sog. 
Adaptationserscheinungen  des  Sehorganes  in  Betracht.  Wenn 
sich  das  Auge  einer  gegebenen  Beleuchtung  adaptiert,  so 
besteht  diese  Adaptation  nicht  hloia  darin,  dafs  die  Pupille 
ihre  Weite  verändert  und  die  lichtempfindliche  Netzhautschicht 
in  der  früher  (S.  364  f.)  erörterten  Weise  dem  Zustande  des 
stofflichen  Gleichgewichtes  zustrebt,  sondern  vor  allem  auch 
in  dem  Stattfinden  der  retinalen  Anpassungsvorgänge.  Hierbei 
ist  zu  beachten,  dafs  bei  einer  Lichteinwirkung,  die  nur  einen 
beschränkten  Teil  der  Netzhaut  trifft,  auch  die  retinalen  An- 
passungsvorgänge nur  auf  diesen  Netzhautteil  beschränkt  sind,^ 
während  eine  Veränderung  der  Weite  der  Pupille  (und  der 
Lidspalte)  immer  alle  Teile  der  Netzhaut  zugleich  betrifft. 

Femer  hat  man  bei  allen  Erscheinungen,  die  sich  zunächst 
als  Ermüdungserscheinungen  darstellen,  damit  zu  rechnen,  dafs 
die  retinalen  Anpassungsvorgänge  nach  Aufhören  der  betreffenden 
Lichtreizung  nur  allmählich  rückgängig  werden.  Hat  Licht 
irgendwelcher  Art  längere  Zeit  hindurch  auf  eine  Netzhautstelle 
gewirkt,  so  wird  auch  nach  Entfernung  dieses  Lichtes  die 
durch  die  retinalen  Anpassungsvorgänge  gesetzte  Minder- 
empfanglichkeit  der  betreffenden  Netzhautstelle  noch  geraume 
Zeit  hindurch,  wenn  auch  in  aUmählich  abnehmendem  Mause, 
fortdauern,  und  diese  Minderempfanglichkeit  wird  nicht  blofs 
gegenüber  einer  erneuten  Einwirkung  desselben  Lichtes,  sondern 
auch  gegenüber  der  Einwirkung  jedes  beliebigen  anders- 
beschaffenen Lichtes  bestehen,  allerdings  in  einem  von  der 
Wellenlänge  oder  Zusammensetzung  des  Lichtes  nicht  ganz 
unabhängigen  G-rade.  Denn  z.  B.  eine  durch  weifses  Licht 
bewirkte  Pigmentverschiebung  mufs  die  Empfanglichkeit  nicht 
blofs  für  weifses,  sondern  auch  für  jedes  beliebige  andere  Licht 
verringern.  Hieraus  erklären  sich  gewisse  Beobachtungen  von 
VON  Kbies  ( Über  den  Einfluß  der  Adaptation  auf  Ltcht-  und  Farben* 
empfindungen.  S.  4  f.),  nach  denen  eine  längere  Einwirkung  von 
weifsem  Lichte  nicht  blofs  für  dieses,  sondern  auch  für  belie- 
biges farbiges  Licht  eine  verminderte  Empfanglichkeit  hinterlftlst. 

Bekanntlich  hat  ENOELBfANN  auf  Grund  von  Beobachtungen 


^  Das  Entsprechende  gilt,  wie  Exker  (Wien.  Ber.  98.  1889.  3.  Abt. 
S.  150)  hervorgehoben  hat,  von  den  Pigxnentverschiebungen,  die  bei 
Lichteinwirkung  im  Insektenauge  eintreten. 


Zwr  Psychophysik  der  Gtakihtsempfindungen,  383 

den  Satz  aufgestellt,^  dafs  die  phototrope  Epithelreaktion  tmd 
die  Kontraktion  der  Zapfenmyoide  (beim  Frosch)  auoh  bei 
Seiznng  des  anderen  Auges  eintrete.  In  der  That  ist  es  eine 
nicht  unwichtige  Frage,  ob  die  retinalen  Anpassungsvorgänge 
des  einen  Auges  von  dem  Zustande  des  anderen  Auges  mit 
abhängig  sind,  etwa  durch  eine  gleichzeitige  Beizung  des 
letzteren  merkbar  an  Ausgiebigkeit  gewinnen.  Ist  letzteres  der 
Fall,  so  hat  man  auch  bei  Erörterung  von  mancherlei  die 
Wechselwirkung  der  beiden  Sehorgane  betreffenden  Erscheinungen 
(z.  B.  von  Fbchnebs  paradoxem  Versuche)  neben  den  anderen 
in  Betracht  kommenden  Faktoren  das  Verhalten  der  retinalen 
Anpassungsvorgänge  nicht  ganz  aufser  Auge  zu  lassen. 

Wir  dürften  das  Ergebnis  hier  im  G-ange  befindlicher  Unter- 
suchungen antizipieren,  wenn  wir  endlich  noch  darauf  hinweisen, 
dafs  ein  Teil  der  retinalen  Anpassungsvorgänge  (z.  B.  die 
Pigmentwanderung)  die  indirekten  Beizungen  der  betreffenden 
Netzhautbezirke  natürlich  nicht  ebenso  beeinflufst,  wie  die  direkten 
Beizungen,  und  hierdurch  Anlafs  zu  einer  Beihe  interessanter 
Erscheinungen  giebt. 

§  24.     Ableitung  des  TALBOTschen   G-esetzes   und   eines 

verwandten  Satzes. 

Dafs  sich  eine  psychophysische  Gesetzmäfsigkeit  unserer 
Gesichtsempfindungen  ganz  glatt  auf  eine  physikalisch-chemische 
G-esetzmäfsigkeit  der  Netzhautprozesse  ziurückfiihren  lasse,  ist 
nach  dem  bisherigen  nur  dann  zu  erwarten,  wenn  die  erstere 
Gesetzmäfsigkeit  unter  Bedingungen  zu  Tage  tritt,  wo  sich 
die  indirekten  Beizungen,  die  nutritiven  Prozesse  und  die 
retinalen  Anpassungsvorgänge  merkbar  konstant  verhalten,  mithin 
die  physikalisch-chemische  Gesetzmäfsigkeit  der  Netzhautprozesse 
durch  ein  Eingreifen  letzterer  drei  Faktoren  nicht  verdeckt 
werden  kann.  Dies  ist  z.  B.  der  Fall,  wenn  wir  eine  aus  einem 
weifsen  und  einem  (als  ganz  lichtlos  zu  betrachtenden)  schwarzen 
Sektor  bestehende,  sehr  schnell  rotierende  Scheibe,  deren  weiTser 
Sektor  die  Lichtstärke  i  und  eine  Winkelbreite  von  a  Graden 


^  Man  vergleicbe  die  beiden  in  der  Anmerkung  2  auf  S.  381  angeführten 
Abbandlungen  von  HvQjsutAJsnf,  sowie  Beiträge  z,  Peychol  u.  Fhysiol.  der 
Smnesorgane,  Festechrift  f.  Heimholte.  S.  197  ß.  Widersprechen  hat  der 
Behauptung  Ekoblmajtns,  soweit  sie  die  Pigmentwanderung  betrifft, 
A.  EüosN  FiCK  im  Ärch.  f.  Ophthalm.  37.  2.  S.  1  ff. 


384  6?.  E.  MuOer. 

besitzt,  mit  einer  anderen  derartigen  Scheibe  von  gleicli  schneller 
Ilotation  vergleichen,   deren  weifser  Sektor  die  Lichtstärke  ni 

und  die  "Winkelbreite  —  besitzt,  wo  «  >  oder  <  1  ist.   In  diesem 

n 

Falle  gilt  bekanntlich  der  TALBOTsche  Satz ;  die  beiden  Scheiben 
erscheinen  uns  gleich  hell.  Der  TALBOTsche  Satz  kann  in 
diesem  und  allen  anderen  Fällen  seiner  Gültigkeit  unmöglich 
auf  einer  besonderen  Wirksamkeit  der  indirekten  Reizungen, 
der  nutritiven  Prozesse  oder  der  retinalen  Anpassungsvorgänge 
beruhen.  Diese  Faktoren  sind  vielmehr  für  schnell  rotierende 
Scheiben,  die  uns  bei  gleichen  Bedingungen  der  Beobachtung 
trotz  der  verschiedenen  Winkelbreiten  und  Helligkeiten  ihrer 
weifsen,  grauen  od  er  schwarzen  Sektoren  gleich  hell  erscheinen,  als 
gleich  anzusetzen.  Mithin  mufs  sich,  wenn  unsere  Behandlungs  weise 
dieser  Gegenstände  richtig  ist,  die  Gültigkeit  des  TALBOTschen 
Satzes  auf  ein  einfaches  physikalisch-chemisches  Gesetz  zurück- 
führen lassen.     Dies  ist  in  der  That  der  Fall. 

Wir  knüpfen  an  das  soeben  angeführte  Beispiel  zweier 
gleich  schnell  rotierender,  aus  einem  weifsen  und  einem  licht- 
losen Sektor  bestehender  Scheiben  an.  Der  weüse  Sektor  der 
einen  Scheibe  besitze  die  Lichtstärke  i  und  die  Winkelbreite  a. 
Der  weifse  Sektor  der  anderen  Scheibe  besitze  die  Lichtstärke 
n  i.  Und  es  soll  nun  die  Frage  beantwortet  werden,  welche 
Winkelbreite  derselbe  erhalten  mufs,  damit  beide  Scheiben 
gleich  hell  erscheinen. 

Nach  unseren  früheren  Ausführungen  haben  wir  anzunehmen, 
dafs  beide  Scheiben  gleich  hell  erscheinen,  wenn  die  von  beiden 
Scheiben  ausgehenden  Lichtstrahlen  in  den  betroffenen  Netz- 
hautstellen während  jeder  Botation  der  Scheiben  die  gleiche 
Menge  von  ^-Material  in  TF-Material  umwandeln.  Nun  ist 
durch  zahlreiche  Beobachtungen  festgestellt,^  dafs  Licht  be- 
stimmter Art,  wenn  es  während  der  Zeit  t  mit  der  Intensität  i 
einwirkt,  von  einer  gegebenen  lichtempfindlichen  Substanz  die 
gleiche  Menge  chemisch  verändert,  wie  dann,  wenn  es  während 

der  Zeit  —  mit  der  Intensität  «.♦  einwirkt,  wo  n  >  oder  <  1  sein 


^  Obtwalü,  a.  a.  0.  S.  1046  ff.;  Nbrnst,  a.  a.  0.  S.  678;ff.;  Eder,  a.  a. 
O.  I.  1.  S.  290  f.  und  II.  S.  25  f.,  wo  auch  die  gelegentlioli  zur  Beob- 
achtung kommenden  Abweichungen  von  ]  dieser  sog.  photographischen 
Reoiprocitätsregel  näher  behandelt  sind. 


Zinr  Psycfiophyaik  der  Gesichtaempfindungen.  385 

kann.  Folglioh  wird  bei  einer  Botaüon  beider  Scheiben  durch 
den  weüsen  Sektor  von  der  Lichtstärke  i  und  der  Winkel- 
breite a  die  gleiche  Menge  von  j^-Material  in  TF-Material  um- 
gewandelt werden  wie  durch  den  weifsen  Sektor  von  der 
Lichtstärke  n.i,  wenn  sich  bei  einer  Botation  die  Zeit,  während 
welcher  der  letztere  Sektor  auf  eine  Netzhautstelle  wirkt,  zu 
der  entsprechenden  Einwirkungszeit  des  ersteren  Sektors  verhält 
wie  1 :  n,  d.  h.  es  muijs  das  Produkt  von  Winkelbreite  und 
Lichtstärke  des  weifsen  Sektors  für  beide  Scheiben  gleich  sein, 
wenn  sie  gleich  hell  erscheinen  sollen. 

Es  dürfte  nicht  nötig  sein,  den  Nachweis,  dafs  das  Talbot- 
sehe  Gesetz  aus  dem  oben  angeführten  photochemischen  Grund- 
gesetze in  einfacher  Weise  ableitbar  sei,  noch  in  gröfserer 
Allgemeinheit  (Bezugnahme  auf  die  thatsächliche  Lichtaus- 
strahlung schwarzer  Sektoren,  Annahme  einer  Mehrzahl  weifser 
und  schwarzerSektoren,  ver^chiedenerBotationsgeschwindigkeiten 
der  Scheiben  u.  dergl.  m.)  zu  führen.  Erscheinen  uns  Scheiben 
von  gleicher  Botationsgesch  windigkeit,  aber  verschiedener 
Winkelbreite  und  Lichtstärke  ihrer  Sektoren  gleich  hell,  so 
sind  natürlich  die  Auf-  und  Abschwankungen,  welche  das  TT- 
Material  und  die  Stärke  des  >F-Prozesses  während  der  Dauer 
•einer  Botation  erfährt,  für  die  verschiedenen  Scheiben  von 
verschiedener  Steilheit  und  Höhe.  Diese  Auf-  und  Ab- 
schwankungen und  ihre  Verschiedenheiten  entziehen  sich  aber 
infolge  der  ünvoUkommenheit  unseres  in  Betracht  kommenden 
Unterscheidungsvermögens  unserer  Wahrnehmung.  Auf  eine 
kritische  Erörterung  der  Betrachtungen,  die  bisher,  namentlich 
von  A.  FiOK,  an  das  TALBOTsche  Gesetz  angeknüpft  worden 
sind,  müssen  wir  der  Baumersparnis  halber  verzichten.  — 

Wir  nehmen  an,  dafs  weifse  Lichter  von  verschiedener 
Litensität,  welche  gleich  grofse  Netzhautstellen  von  gleicher 
Erregbarkeit  treffen,  hinsichtlich  ihrer  sehr  kleinen  (d.  h.  nur 
geringe  Bruchteile  der  zur  Erzielung  der  maximalen  Beizwirkung 
erforderlichen  Zeiten  darstellenden)  Wirkungszeiten  so  bemessen 
sind,  dai^  die  Produkte  aus  Lichtstärke  und  Wirkungszeit  einen 
und  denselben  Wert  besitzen.  Alsdann  werden  diese  ver- 
schiedenen Lichtintensitäten  nach  dem  obigen  photochemischen 
Grundgesetze  am  Schlüsse  ihrer  Wirkungszeiten  gleiche  Mengen 
von  iV-Material  in  TT-Material  umgewandelt  haben.  Es  wird 
Also    alsdann    allen  Lichtintensitäten   bei  Aufhören   ihrer  Ein- 

Zeitoehrift  für  Pijehtlogie  X.  25 


386  G.  E.  Müller. 

Wirkung  auf  die  Netzhaut  die  gleiche  Menge  vorhandenen  W- 
Materials,^  derselbe  Wert  der  Differenz  J» — 7«  und  derselbe 
Verlauf  des  positiven  Nachbildes  entsprechen,  und  da  nun  die 
Empfindungen  sehr  kurzdauernder  Liohtreize  uns  gleich  err 
scheinen,  wenn  sie  in  dem  der  Beizbeendigung  folgenden  Stadium 
(als  positive  Nachbilder)  einen  merkbar  gleichen  Verlauf  nehm^i 
—  denn  das  Verhalten  der  Empfindungen  während  des  Stadiums 
ihres  Anklingens  entzieht  sich  unserer  inneren  Wahrnehmung  ^^, 
80  folgt,  dafs  infolge  der  Gültigkeit  des  oben  erwähnten  photd- 
chemischen  Grundgesetzes  Empfindungen,  welche  von  kurz- 
dauernden, gleichartigen  Lichtreizen  verschiedener  Stärke  hervor- 
gerufen werden,  einander  gleich  erscheinen  müssen,  wenn  das 
Produkt  aus  Lichtstärke  und  Wirkungszeit  konstant  ist.  Diesem 
Satz  kann  sich  aber,  wie  bereits  angedeutet,  nur  bis  zu  gewissen 
Grenzen  hin  als  merkbar  gültig  erweisen.  Werden  die  Wirkungs- 
zeiten der  Lichtreize  gröfser,  so  macht  sich  die  Wirksamkeit 
der  nutritiven  Prozesse  und  der  retinalen  Anpassungsvorgänge 
merkbar.  Die  nutritiven  Vorgänge,  welche  Zeit  zu  ihrer  vollen 
Entwickelung  bedürfen,  werden  sich  vermutlich  während  der 
Einwirkung  eines  Reizes,  welcher  stärker  ist,  als  ein  anderer 
gleichartiger  Beiz,  dessen  Wirkungszeit  aber  in  entsprechendem 
Verhältnisse  kürzer  ist,  als  die  Wirkungszeit  dieses  schwächeren 
Reizes,  weniger  geltend  machen,  als  während  der  längeren 
Einwirkungszeit  dieses  schwächeren  Reizes,  und  von  den 
retinalen  Anpassungsvorgängen  ist  mit  Sicherheit  zu  behaupten, 
dafs    sie    die    Wirkungsfähigkeit   des    stärkeren    Reizes    mehr 

^  Die  Menge  von  TT-Material,  die  im  Momente  der  Beendigung  eines 
Beizes  vorhanden  ist,  bestimmt  sich  allerdings  nicht  blofs  nach  dem 
Quantum  von  ^-Material,  das  während  der  Beizeinwirkung  in  TT-Material 
verwandelt  worden  ist,  sondern  auch  noch  nach  dem  Quantum  von  W- 
Material,  das  während  derselben  Zeit  in  /S^Material  umgewandelt  worden 
ist.  Wie  sich  indessen  näher  zeigen  läfst,  ist  ftb:  verschiedene  weifse 
Lichter,  für  welche  das  Produkt  aus  Wirkungszeit  und  Lichtstärke 
konstant  ist  und  mithin  das  erstere  hier  genannte  Quantum  den  gleichen 
Wert  besitzt,  auch  das  zweitgenannte  Quantum  (der  Verlust,  den  das 
TT-Material  während  der  Beizeinwirkung  durch  die  Umwandlung  in  S-- 
Material  erleidet)  merkbar  konstant,  falls  nur  die  Wirkungszeiten 
sämtlicher  Lichter  hinlänglich  kurz  genommen  werden.  Um  Weit- 
läufigkeiten zu  vermeiden,  mufsten  wir  im  Obigen  (sowie  auch  bei  der 
Ableitung  des  TALBOxschen  Satzes)  auf  eine  in  alle  Details  gehende 
mathematisch  gehaltene  Entwickelung  verzichten  und  uns  auf  eine 
Hervorhebung  der  wichtigsten  Punkte  beschränken. 


Zuar  I^chophysik  der  Geskhtsempfinduhgen.  387 

beeinträohtigeiiy  als  diejenige  des  schwächeren  Beizes.  Mithin 
steht  zn  vermuten,  dafs,  wenn  man  die  Wirknngszeiten  der 
hinsichtlich  ihrer  Intensität  verschiedenen  Beize  nicht  mehr 
sehr  klein  nimmt,  behufs  Erzielung  gleich  erscheinender  Em- 
pfindungen die  Wirkungszeiten  der  Beize  so  bemessen  sein 
müssen,  dafs  das  Produkt  aus  Lichtstärke  und  Wirkungszeit 
um  so  gröfser  ist,  je  intensiver  der  Beiz  ist. 

Wir  gelangen  also  zu  folgendem  Besultate.  Um  mittelst 
verschieden  intensiver,  kurzdauernder  Lichtreize 
gleich  erscheinende  Empfindungen  zu  erzielen^ 
müssen  die  Wirkungszeiten  dieser  Beize  so  bemessen 
werden,  dafs  das  Produkt  aus  Lichtstärke  und 
Wirkungszeit  im  allgemeinen  um  so  geringer  ist, 
je  schwächer  der  Lichtreiz  ist.  Je  kleiner  aber  die 
Wirkungszeiten  der  anscheinend  gleiche  Empfin- 
dungen bewirkenden  Beize  sind,  in  desto  geringerem 
Grade  zeigt  sich  der  Wert. des  Produktes  aus  Licht- 
stärke und  Wirkungszeit  von  der  Lichtintensität 
abhängig;  und  bei  sehr  kleinen  Wirkungszeiten 
kann  als  hinlänglich  gültig  der  Satz  angesehen 
werden,  dafs  gleich  erscheinenden  Empfindungen 
gleiche  Werte  jenes  Produktes  entsprechen. 

Mit  Vorstehendem  stehen  nun  die  thatsächlichen  Ergebnisse 
der  einschlagenden  Experimentaluntersuchungen  in  vollem  Ein- 
klänge. In  erster  Linie  ist  hier  Kukkels  Untersuchung  „über 
die  Erregung  der  Netzhaut"  (Pßügers  Ärch.  16.  1877.  S.27flf.) 
zu  erwähnen,  welcher  zu  dem  Besultate  kommt:  die  Erregung 
der  Netzhaut  ist  eine  Funktion  des  Produktes  aus  Beiz  und 
Zeitdauer  der  Einwirkung  desselben,  vorausgesetzt,  dafs  die 
Wirkungszeiten  der  Beize  nur  kurz  sind.  Ist  letztere  Be- 
dingung nicht  erfallt,  so  entspricht  nach  Künkels  Versuchen 
der  gleichen  Empfindung  ein  um  so  gröXserer  Wert  des  Pro- 
duktes aus  Lichtstärke  und  Wirkungszeit,  je  intensiver  der 
Lichtreiz  ist.  Der  (um  0,03  Sekunden  herum  liegende)  G-renzwert 
der  Wirkungszeit,  jenseits  dessen  der  obige  Satz  nicht  mehr 
gültig  war,  zeigte  sich  von  der  Stärke  der  benutzten  Lichter 
nicht  ganz  unabhängig,  insofern  er  bei  gröfserer  Stärke  der 
letzteren  etwas  tiefer  lag,  als  bei  geringerer,  was  sich  nach 
unseren  obigen  Ausfuhrungen  leicht  begreift.  Auch  schon  aus 
einer  früheren  Abhandlung  Kükkels   {Pflügers  Ard^,  9.  1874. 

25* 


388  O.  E.  Müller. 

S.  197  ff.,  insbesondere  S.  211  und  217)  lassen  sich  einige  (mit 
farbigen  Lichtem  erhaltene)  Yersuchsergebnisse  anfahren,  die 
zu  den  vorstehend  erwähnten  Sesnltaten  der  späteren  Unter- 
snchnng  dieses  Forschers  stimmen. 

Femer  ist  hier  der  Versuche  zu  gedenken,  welche  Exneb 
[Wien.  Ber.  58.  1868.  2.  Abt.  S.623fF.)  über  die  Abhängigkeit 
anstellte,  in  welcher  die  zur  Wahrnehmung  eines  Lichtreizes 
erforderliche  Zeit  zur  Stärke  und  Wirkungszeit  des  Beizes  steht. 
Die  vorliegenden  Resultate  dieser  Versuche  stimmen  durchaus 
zu  der  Behauptung,  dafs  das  Produkt  aus  Lichtstärke  und 
Länge  der  zur  Wahrnehmung  des  Lichtes  erforderlichen  Zeit 
konstant  ist,  solange  die  Wirkungszeiten  der  Beize  sehr  klein 
sind  (z.  B.  zwischen  0,005  und  0,017  Sekunden  liegen),  hingegen 
bei  längeren  Wirkungszeiten  um  so  gröfser  ist,  je  intensiver  der 
Lichtreiz  ist. 

Endlich  hat  auch  Bloch  (nach  Angabe  von  Chabpentieb) 
den  Satz,  dafs  einem  konstanten  Werte  des  Produktes  aus  Licht- 
stärke und  Wirkungszeit  stets  die  gleiche  Gesichtsempfindung 
entspricht,  für  Wirkungszeiten  von  0,00173  bis  0,058  Sekunden 
bestätigt  gefunden.  Dasselbe  fand  Chabpentieb  {Arch.  de  physid, 
1890.  S.  262  flf.)  für  Zeiten  von  0,002  bis  0,125  Sekunden. 

§  25.    Allgemeines  über  die  mit  chemischen  Vorgängen 

reagierenden  erregbaren  Systeme. 

Besteht  der  Erregungsprozefs  eines  erregbaren  Systemes 
in  einem  chemischen  Vorgänge  bestimmter  Art,  so  ist  den  von 
uns  früher  (S.  340 £)  aufgestellten  Formeln  entsprechend  die 
Gesamtstärke  (S.  375)  dieses  Erregungsprozesses  von  drei 
Faktoren  abhängig,  erstens  von  dem  jeweiligen  Werte  K  der 
G^eschwindigkeitskonstante  des  Erregungsprozesses,  zweitens 
von  den  Mengen,  in  denen  die  verschiedenen  Komponenten 
des  erregbaren  Materiales  vorhanden  sind,  und  (falls  an  dem 
Erregungsprozesse  nicht  blofs  eine  Molekülart  beteiligt  ist) 
drittens  auch  noch  von  dem  Volumen  t?,  in  welchem  sich  diese 
Stoffmengen  enthalten  finden. 

Die  Abhängigkeit  des  Erregungsprozesses  von  den  vor- 
handenen Mengen  der  Komponenten  des  erregbaren  Materiales 
pflegt  man  dadurch  auszudrücken,  dafs  man  von  einer  wechselnden 
Erregbarkeit  des  Systemes  redet.  Ist  an  dem  Erregungs- 
prozesse nicht  blols  eine  Molekülart,  sondern  mehrere  Molekül- 


Ztir  Psychophifsik  der  Gesichtsempfindungen.  S89 

arten  beteiligt,  so  kann,  wie  leicht  ersichtlich,  eine  und  die- 
selbe Ändemng  der  Erregbarkeit  (eine  und  dieselbe  Änderung 
des  Wertes  des  Produktes  a*  .  ftP  .  c^  . . . .  S.  340)  auf  verschiedenen 
Wegen  zu  stände  kommen. 

Vorgänge,  welche  den  Wert  von  K  beeinflussen,  werden 
als  Beize  bezeichnet.  Dieselben  sind  positiv  oder  negativ,  je 
nachdem  sie  K  im  positiven  oder  negativen  Sinne  verändern. 
Dasjenige,  wonach  der  ßeizwert  eines  Vorganges  bemessen 
werden  muTs,  ist  also  die  durch  denselben  bewirkte  Ver- 
änderung von  K, 

Wenn  sich  der  Zustand  eines  erregbaren  Gebildes  in  der 
Weise  ändert,  dafs  ein  und  derselbe  Beizvorgang  bei  gleicher 
Erregbarkeit  (gleichem  Werte  des  Produktes  a*  .  6^  .  c^  . . .)  eine 
verschiedene  Gesamtstärke  des  Erregungsprozesses  zur  Folge 
hat,  so  reden  wir  von  einer  Änderung  der  Reizbarkeit 
des  Gebildes.  Die  Reizbarkeit  eines  Gebildes  kann  sich  bei 
konstant  bleibender  Erregbarkeit  dadurch  ändern,  dafs  sich 
das  Volumen  des  Gebildes  ändert,  wie  wir  früher  (S.  37öff.) 
an  einem  konkreten  Beispiele  gezeigt  haben,  oder  dadurch, 
dafs  durch  gewisse  andere  Veränderungen  des  Gebildes  (Tem- 
peraturänderung, Einführung  von  Substanzen,  welche  die 
Lebhaftigkeit  des  Erregungsprozesses  durch  katalytische 
Wirkung  beeinflussen,  u.  dergl.  m.)  ein  Zustand  desselben  ge- 
scha£Fen  wird,  bei  welchem  einem  gegebenen  ßeize  eine  andere 
Veränderung  von  f  entspricht,  als  zuvor.  Wie  leicht  ersichtlich, 
unterscheidet  sich  eine  Erhöhung  der  Reizbarkeit  von  einer 
entsprechenden  Steigerung  der  Erregbarkeit  wesentlich  dadurch, 
dafs  sie  unter  sonst  gleichen  umständen  schneller  zur  Er- 
schöpfung des  Gebildes  führt.  Erhöhte  Reizbarkeit  stellt  also 
immer  einen  Zustand  „reizbarer  Schwäche^  dar.  Das  um- 
gekehrte gilt  von  der  verringerten  Reizbarkeit. 

Von  den  erregbaren  Systemen  der  hier  erörterten  Art 
sollen  uns  im  Folgenden  zwei  wichtige,  wesentlich  voneinander 
verschiedene  Hauptarten  interessieren.  Ein  System  der  ersten 
Art  ist  dazu  bestimmt,  bei  Gelegenheit  einer  Reizeinwirkung 
eine  Energiemenge  nach  auisen  abzugeben^  welche  die  Energie- 
menge, die  dem  Systeme  bei  der  Reizeinwirkung  zugeführt 
worden  ist,  weit  übertrifft .  Ein  System  dieser  Art  (Arbeits- 
system) ist  also  darch  die  Haupteigentümlichkeit  charak- 
terisiert,   dafs   sich  der  Energieinhalt  des  Systemes  bei  Statt- 


390  G'  ^'  Müller. 

finden  des  Erregungsprozesses  beträchtlich  verringert,  oder 
anders  ausgedrückt,  der  Energieinhalt  des  erregbaren  Materiales 
ist  bedeutend  grölser,  als  der  Energieinhalt  der  Erregungs- 
produkte. 

Die  soeben  erwähnte  Eigentümliehkeit  bringt  es  nun  mit 
sich,  dafs  schon  beim  Buhezustande  die  Geschwindigkeits- 
konstante der  Bückbildung  der  Erregungsprodukte  in  erregbares 
Material  im  Vergleich  zu  der  Geschwindigkeitskonstante  des 
Erregungsprozesses  einen  sehr  geringen  Wert  besitzt,'  so  dafs 
in  Systemen  dieser  Art  die  unmittelbare  Bückbiidung  der 
Erregungsprodukte  überhaupt  gar  keine  Bolle  spielt.  Arbeits- 
systeme ersetzen  Verluste  an  erregbarem  Materiale  dadurch, 
dafs  sie  sich  von  aufsen  chemische  Energievorräte  zuf&hren 
lassen.  Es  werden  dem  betreffenden  Gebilde  Stoffe  zugeführt, 
die  entweder  bereits  selbst  erregbares  Material  darstellen  oder 
erst  innerhalb  des  Gebildes,  sei  es  unter  Mitverwendung  von 
Erregungsprodukten,  sei  es  ohne  solche,  zum  Aufbau  von  erreg- 
barem Material  verwandt  werden.  Soweit  die  Erregungs- 
produkte nicht  die  soeben  angedeutete  Verwendung  finden, 
werden  sie  aus  dem  Gebilde  abgeführt.  Die  infolge  der  be- 
schränkten Geschwindigkeit  dieser  Stoffabfuhr  bei  andauernder 
oder  schnell  wiederholter  Beizung  stattfindende  Anhäufung 
von  Erregungsprodukten  in  dem  Gebilde  dient  zweckmäüsiger- 
weise  dazu,  den  weiteren  Verbrauch  von  erregbarem  Materiale 
in  dem  geschwächten  Organe  einzuschränken,  indem  die  Menge 
angesammelter  Erregungsprodukte  durch  katalytische  Wirkung 
die  Geschwindigkeitskonstante  des  Erregungsprozesses  auf 
niedereu  Werten  erhält,  also  zu  der  verringerten  Erregbarkeit 
auch  eine  verminderte  Beizbarkeit  hinzufögt  (hemmende 
Wirkung  der  Ermüdungsstoffe  auf  die  Muskelthätigkeit).* 
Aus  dem  Vorstehenden  ergiebt  sich,  dafs  in  Systemen  der  hier 

^  Die  schon  ohne  weiteres  plausible  Behauptung,  dals  in  einem 
Systeme  der  hier  angedeuteten  Art  die  Qeschwindigkeitskonstante  der 
Bückbildung  der  Erregungsprodukte  einen  relativ  nur  sehr  geringen 
Wert  besitzen  könne,  läfst  sich  übrigens  aus  der  von  Nbbnst,  a.  a.  0. 
S.  511  aufgestellten  Gleichung  für  die  bei  einem  chemischen  Vorgänge 
zu  gewinnende  maximale  Arbeit  streng  ableiten.- 

'  Nimmt  man  im  Sinne  wiederholt  geäuXserter  Ansichten  an,  dafs 
der  Erregpmgsprozefs  im  Muskel  mit  Hülfe  eines  Fermentes  vor  sich 
gehe,  so  hat  man  nach  den  Untersuchungen  von  Tammanh  {ZeUschr,  f, 
physiol  Chemie.   16.  1892.  8.271£P1)  zu  sagen,   dafs  die  Anhäufung  der  Er- 


Zur  Bsychqphysik  der  GesidUsempfindungen,  391 

üi  Bede  stehenden  Art  niemals  Grleichgewiolit  zwischen  dem 
S^n^gungsprozesse  und  der  Bückbildung  der  Erregungsprodukte 
besteht,  sondern  stets  der  erstere  Vorgang  weit  überwiegt. 
Allerdings  ist  beim  Buhezustande  die  Lebhaftigkeit  des  Er- 
regtmgsprozesses  nur  gering,  weil  die  Geschwindigkeitskonstante 
dieses  Prozesses  beim  Buhezustande  zwar  grofs  in  Vergleich 
zur  Geschwindigkeitskonstante  der  Bückbildung  der  Erregungs^ 
Produkte,  aber  absolut  genommen  nur  klein  ist.  Ein  System 
dieser  Art  verhält  sich  also  ähnlich  wie  ein  Gemisch  von 
Wasserstoff  und  Sauerstoff  bei  gewöhnlicher  Temperatur  (S.  361  f.). 
Es  stellt  ein  System  dar,  welches  ohne  Zufuhr  fremder  Energie 
ein  gewisses  Quantum  ftuiserer  Arbeit  zu  leisten  vermag.  Bei 
fehlender  Einwirkung  von  Beizen  könnte  es  jedoch  dieses 
Arbeitsquantum  nur  innerhalb  äuiserst  langer  Zeit  und  blofs 
in  der  Weise  leisten,  dafs  die  Arbeitsleistung  zu  jeder  Zeit  nur 
minimal  wäre.  Die  einwirkenden  Beize  dienen  dazu,  die  Um- 
setzung der  Energie,  welche  das  System  abzugeben  vermag, 
zu  beschleunigen  und  das  System  zu  befähigen,  in  kurzen 
Zeiten  merkbare  äufsere  Arbeit  zu  leisten. 

Endlich  entspringt  aus  der  oben  angegebenen  Haupt- 
eigentümlichkeit dieser  Arbeitssysteme,  zu  denen  in  erster 
Linie  der  Muskel  als  kontraktiles  Organ^  gehört,  noch  die 
Eigenschaft,  dafs  sie  nur  in  einer  Weise  thätig  sein  können, 
nämlich  nur  durch  solche  Beize  erregt  werden,  welche  den 
Umsatz  des  erregbaren  Materiales  von  hohem  Energieinhalt  in 
Erregungsprodukt  von  geringem  Energieinhalt  fördern.  Beize, 
welche  diesen  auslösenden  Beizen  genau  entgegengesetzt  sind, 
können  zwar,  wenn  sie  mit  den  auslösenden  Beizen  zugleich 
gegeben  sind,  nach  Mafsgabe  ihrer  Stärke  die  Wirksamkeit 
der  auslösenden  Beize  hemmen»  sind  aber  (bei  den  überhaupt 
in  Betracht  kommenden  Stärkegraden)  nicht  selbst  im  stände, 
eine  merkbare  chemische  Wirkung  im  Systeme  zu  haben,  d.  h.  eine 


reguDgsprodakte  dahin  wirkt,  das  Ferment  in  eine  unwirksame  Modifi- 
kation umzuwandeln,  ans  der  es  durch  die  Fortschaffang  der  Erregungs- 
produkte wieder  in  die  wirksame  Modifikation  zurückgebracht  wird. 

^  D.  h.  insofern,  als  sich  in  ihm  ein  Vorgang  abspielt,  bei  welchem 
phemische  Energie  in  mechanische  umgesetzt  wird.  Ninunt  man  neben 
diesem  Vorgange  noch  einen  „Beizleitungsprozefs''  im  Muskel  an,  so  hat 
man  den  Muskel  noch  als  Sitz  eines  anderweiten  erregbaren  Systemes 
(ron  nicht  n&her  bekannter  Natur)  anzusehen. 


392  O.  E.  Müller. 

merkbare  Menge  von  Erregungsprodukten  in  erregbares  Material 
umzuwandeln.^ 

Ganz  anders  verhalten  sich  die  Systeme  der  zweiten  Art. 
Dieselben  dienen  dazu,  einen  Beiz,  welcher  seiner  Beschaffen- 
heit gemäfs  einen  Sinnesnerven  (oder  ein  sonstiges  Organ)  nicht 
direkt  zu  erregen  vermag,  so  umzuformen,  dafs  eine  Erregung 
in  diesem  Nerven  hervorgerufen  wird.  Dieselben  sind  also 
nicht  Arbeits-,  sondern  Umformungssysteme.  Da  der 
Organismus  nicht  unnötig  grofse  Energievorräte  verbrauchen 
läfst,  so  ändert  sich  der  Energieinhalt  eines  ümformungs- 
systemes  nur  wenig,  wenn  in  ihm  infolge  eines  Beizes  ein 
Grregungsprozefs  stattfindet.  Denn  nur  um  Erzielung  einer 
bestimmten  Qualität  des  Erregungsprozesses,  nicht  um  Er- 
zielung einer  grofsen  Energieabgabe  handelt  es  sich  bei  der 
Umformung,  welche  ein  äufserer  Beizvorgang  in  einem  Systeme 
dieser  Art  erfährt,  und  es  wird  der  Erregungsprozefs  eines 
solchen  Systemes  vielfach  ein  Vorgang  sein,  bei  welchem  der 
Energieinhalt  des  Systemes  infolge  der  Beizeinwirkung  zunimmt. 

Aus  dieser  Eigentümlichkeit  der  ümformungssysteme,  bei 
eintretendem  Erregungsprozesse  eine  nur  geringe  Änderung 
des  Energieinhaltes  zu  erfahren,  folgt  nun  dem  oben  Bemerkten 
gemäfs  ohne  weiteres,  dafs  die  Geschwindigkeiiskonstante  des 
Erregungsprozesses  und  die  Geschwindigkeitskonstante  der 
Bückbildung  der  Erregungsprodukte  beim  Buhezustande  nicht 
erheblich  verschiedene  Werte  besitzen.  Mithin  besteht  in  einem 
ümformungssysteme,  das  seit  längerer  Zeit  sich  selbst  über- 
lassen ist,  Gleichgewicht  zwischen  dem  Erregungsprozesse  und 
der  Bückbildung  der  Erregungsprodukte,  und  nach  beendeter 
Beizeinwirkung  spielt  dem  Gesetze  der  chemischen  Massen- 
wirkung gemäfs  die  Bückbildung  der  Erregungsprodukte  eine 
wesentliche  Bolle;  das  System  erholt  sich  zweckmäfsigerweise 
nicht  blofs  durch  Stoffzufuhr,  sondern  auch  durch  unmittelbare 
Bückbildung  eines  Teiles  der  Erregungsprodukte. 

Endlich  unterscheiden  sich  die  Umformungssysteme  auch 


'  Eine  aktive  Elongation  eines  Muskels  ist  also  nicht  anders  möglich, 
als  so,  dafs  der  dieselbe  bewirkende  Beiz  einen  AuslOsungsreiz  hemmt, 
der  bislang  einen  Kontraktionsznstand  des  Muskels  bewirkte,  oder  so, 
dafs  der  Muskel  zwei  Arbeitssysteme  im  obigen  Sinne  enthält,  von  denen 
das  eine  bei  seiner  Erregung  Kontraktion,  das  andere  aber  Elongation 
des  Muskels  bewirkt. 


Zur  Psychophysik  der  Gesichtsempfindungen,  393 

nooh  dadurch  von  den  Arbeitssystemen,  dafs  es  ümformungs- 
systpme  von  doppelter  EeizempfiLnglichkeit  geben  kann,  d.  h. 
Systeme,  in  denen  diejenigen  Stoffe,  die  für  eine  Art  von  Beizen 
und  einen  Erregungsprozefs  das  Erregungsprodukt  darsteUen, 
zugleich  f&r  eine  andere  Art  von  Beizen  das  erregbare  Material 
bilden,  das  durch  einen  dem  ersteren  Erregungsprozesse  genau 
entgegengesetzten  Prozels  in  diejenigen  Stoffe  verwandelt  wird, 
die  f&r  die  Beize  der  ersteren  Art  das  erregbare  Material 
bilden.  Durch  solche  Umformungssysteme  von  doppelter  Beiz- 
empfänglichkeit  wird  mit  dem  geringsten  stofflichen  Auf- 
wände erreicht,  dafs  in  einem  Sinnesgebiete  verschiedenen 
Beizarten  mehrere  Arten  von  Erregungsprozessen  entsprechen 
und  mithin  eine  höhere  ünterscheidungsfUiigkeit  für  die  ver- 
schiedenen Arten  von  Sinnesreizen  besteht.  Denn  da  mit  dem 
Vorhandenseineines  erregbaren  Materiales  in  einem  Gebilde  immer 
zugleich  das  Vorhandensein  einer  gewissen  Menge  der  zugehörigen 
Erregungsprodukte  verbunden  ist,  so  wird  offenbar  mit  dem 
geringsten  Aufwände  von  stofflichen  Mitteln  z.  B.  eine  vier- 
fache Beizempfänglichkeit,  eine  Vierzahl  möglicher  Erregungs- 
prozesse erzielt,  wenn  in  dem  betreffenden  Gebilde  zwei  Um- 
formungssysteme von  doppelter  Beizempfänglichkeit  (wie  z.  B. 
der  Botgrünsinn  und  der  Gelbblausinn  solche  darstellen)  vor- 
handen sind.  Wären  in  jeder  farbentüchtigen  SteUe  unserer 
Netzhaut  nur  drei  erregbare  Systeme  von  einfacher  Beiz- 
empf&nglichkeit  vorhanden,  so  würde  es  nicht  sechs,  sondern 
nur  drei  verschiedene  Arten  von  Netzhautprozessen  geben, 
und  unsere  Fähigkeit,  Gesichtsobjekte  auf  Grund  ihrer  ver- 
schiedenen Färbungen  voneinander  zu  unterscheiden,  würde 
zu  unserem  Nachteile  eine  viel  geringere  sein.  Ein  System 
von  doppelter  Beizempf&nglichkeit  ist  insofern  unvollkommen, 
als  es  in  gar  keinen  Erregungszustand  versetzt  wird,  wenn  ein 
Beiz  gleichzeitig  mit  einem  anderen  Beize  gegeben  ist,  der 
gleich  stark,  aber  im  entgegengesetzten  Sinne  auf  das  System 
wirkt.  Diesem  Mangel  ist  im  Gebiete  unseres  Gesichtssinnes 
dadurch  abgeholfen,  dafs  jedes  farbige  Licht  neben  seinen 
chromatischen  Valenzen  noch  eine  Weifsvalenz  besitzt,  so  dafs 
in  allen  Fällen,  wo  sich  farbige  Valenzen  gegenseitig  kompen- 
sieren, immerhin  noch  ein  mehr  oder  weniger  intensiver  Beiz  für 
das  TT-Material  resultiert. 

Das    Vorstehende    bedarf  freilich  in   mancherlei  Hinsicht 


394  (7.  JE.  MÜUer. 

noch  der  Ergänzung,  wie  sohon  ein  BtLckbliok  auf  dasjenige 
zeigt,  was  wir  im  Bisherigen  hinsichtlich  der  Netzhautprozesse 
zu  bemerken  hatten  (Zusammensetzung  jedes  durch  einen  Idcht- 
reiz  in  der  Netzhaut  ausgelösten  Vorganges  aus  zwei  successiven 
Teilprozessen  u.  a.  m.),  und  wie  auch  der  Umstand  darthut, 
dafs  es  neben  den  beiden  hier  erörterten  Hauptarten  no6li 
andere  Arten  solcher  erregbarer  Systeme  giebt^  die  mit  chemi- 
schen Vorgängen  reagieren  (wir  erinnern  an  den  Apparat  der 
Kohlenstoffassimilation  in  den  grünen  Pflanzen).  Trot:^  ihrer 
ünvoUständigkeit  dürfte  indessen  die  vorstehende  Skizze  ihren 
Zweck  erreicht,  nämlich  zum  Bewulstsein  gebracht  haben,  daXs 
die  häufig  gemachte  Voraussetzung,  die  Lichtreize  erlangten 
die  Fähigkeit,  auf  den  Sehnerven  zu  wirken,  durch  Auslösung 
relativ  bedeutender,  in  der  Netzhaut  angehäufter  chemischer 
Spannkräfte,  eine  Voraussetzung  ist,  die  weder  auf  eine  all- 
gemeine physikalisch-chemische  Betrachtung  der  mit  chemischen 
Vorgängen  reagierenden  erregbaren  Systeme  noch  auf  biologische 
Erwägungen  gestützt  werden  kann.  Man  hat  dasjenige,  was  von 
den  Muskeln  und  anderen  zur  Abgabe  angesammelter  Energie- 
vorräte bestimmten  Gebilden  gilt,  ohne  die  geringste  Be- 
rechtigung auf  Gebilde  von  ganz  anderer  Bedeutung,  nämlich 
solche,  die  nur  zur  Umformung  von  Beizvorgängen  dienen, 
übertragen.  In  keinem  Sinnesgebiete  ist  auch  nur  eine  Spur 
eines  Beweises  dafür  gebracht,  dafs  die  Sinnesreize  —  man 
denke  z.  B.  auch  an  die  Gehörsreize!  —  unsparsamerweise 
erst  durch  Auslösung  beträchtlicher  Spannkräfte  die  Fähigkeit 
erlangen,  die  Sinnesnerven  zu  erregen.  Es  genügt,  dafs  die 
Nervenerregungen  da,  wo  es  sich  wirklich  um  Energieabgaben 
handelt,  im  Muskel,  im  elektrischen  Organe  u.  dergl.,  chemische 
Spannkräfte'  auslösen.  Es  hätte  aber  gar  keinen  Zweck,  wenn 
diese  nur  auslösenden  und  mithin  einer  besonderen  Stärke 
keineswegs  bedürftigen  Nervenerregungen  auch  ihrerseits  selbst 
erst  durch  einen  beträchtlichen  Verbrauch  von  Energieinhalten 
hervorgerufen  würden. 

§  26.    Die  optischen  Valenzen  und  ihre  Konstanz. 

Den  vorstehenden  Darlegungen  gemäfs  ist  der  Beizwert, 
den  ein  einwirkender  Vorgang  für  einen  unserer  drei  optischen 
Spezialsinne  besitzt,  nach  den  Änderungen  zu  bemessen,  die 
er  an  den  beiden  durch  Licht  beeinflufsbaren  Geschwindigkeits- 


Zur  Psychophysik  der  CMchtaemp findungen,  395 

konstanten  dieses  Spezialsinnes  su  bewirken  strebt  und,  falls 
nicht  ein  in  entgegengesetztem  Sinne  wirkender  anderer  Vor- 
gang gleichzeitig  gegeben  ist,  in  der  Tbat  auch  bewirkt.  Ein 
blanes  Licht  besitzt  unter  gegebenen  umständen  dieselbe  WeiTs- 
valenz,  wie  ein  bestimmtes  weifses  Licht,  wenn  es  unter  eben 
diesen  Umständen  dieselbe  Veränderung  der  Konstanten  K^ 
(vergl.  S.  348)  und  mithin  (da  der  Wert  von  K^  eine  eindeutige 
Funktion  von  JK^  ist)  auch  dieselbe  Veränderung  der  Konstanten 
JE»  bewirkt,  wie  das  weifse  Licht.  Natürlich  hat  die  Bestimmung 
der  Weifsvalenz  oder  sonstigen  Valenz  eines  gegebenen  Lichtes 
nur  dann  einen  höheren  Wert,  wenn  diese  Bestimmung  nicht 
blofs  für  die  umstände,  unter  denen  die  Bestimmung  statt- 
gefunden hat,  sondern  auch  noch  für  andere  Versuchs- 
bedingungen gilt.  Ob  oder  inwieweit  ein  solches  Verhalten 
nach  den  im  Bisherigen  entwickelten  Anschauungen  zu  erwarten 
sei,  soll  im  Folgenden  kurz  erörtert  werden. 

Wir  sehen  zunächst  von  den  thatsächlichen  oder  möglichen 
anatomisch  -  physiologischen  Komplikationen  ganz  ab  und 
nehmen  an,  dafs  auch  in  rein  physikalisch -chemischer  Hin- 
sicht die  Verhältnisse  ganz  einfache  lägen,  dafs  also  photo- 
chemische Nebenwirkungen  der  Lichtreize  in  der  lichtempfind- 
lichen Netzhautschicht,  welche  von  EinfluTs  auf  die  eigentlichen 
Netzhautprozesse  seien ,  sowie  gegenseitige  Beeinflussungen 
einander  nicht  entgegengesetzter  Netzhautprozesse  (z.  B.  des 
TT-Prozesses  und  des  i^-Prozesses)  in  merkbarem  Grade  nicht 
vorkämen. 

Alsdann  ist  zu  sagen,  dais  zwei  verschiedene  Lichter, 
welche  bei  einer  bestimmten  Erregbarkeit  eines  der  drei 
optischen  Spezialsinne  die  gleichen  Änderungen  der  betreffenden 
Oeschwindigkeitskonstanten  dieses  Spezialsinnes  bewirken,  auch 
bei  jeder  beliebigen  anderen  Erregbarkeit  desselben  gleiche 
Wirkungen  auf  jene  Geschwindigkeitskonstanten  ausüben 
müssen.  Es  ist  also  alsdann  der  Satz  aufzustellen,  daüs  die 
Valenzen  eines  gegebenen  Lichtes  von  den  vorhandenen 
Erregbarkeiten  der  betreffenden  optischen  Spezialsinne  unab- 
hängig sind.  Femer  ergiebt  sich  ohne  weiteres,  dals  diese 
Valenzen  auch  unabhängig  sind  von  dem  jeweiligen  Volumen 
des  betroffenen  lichtempfindlichen  Gebildes.  Hingegen  läfst 
sich  nichts  Sicheres  darüber  sagen,  ob  zwei  verschiedene 
Lichter,  welche  unter  gegebenen  Umständen  die  betreffenden 


396  ^-  E.  MüUer. 

Geschwindigkeitskonstanten  eines  optischen  Spezialsinnes  in 
völlig  gleicher  Weise  beeinflussen,  sich  in  Beziehung  auf  diesen 
Spezialsinn  auch  noch  dann  als  völlig  äquivalent  erweisen 
würden,  wenn  man  die  Beizbar keit  des  betreffenden  Gebildes 
auf  anderem  Wege  als  durch  Änderung  des  Volumens  ändern 
würde,  z.  B.  durch  Erhöhung  der  Temperatur  oder  durch  Ein- 
führung katalytisch  wirksamer  Substanzen.  Doch  hat  diese 
Frage  kein  aktuelles  Interesse. 

Weit  wichtiger  ist  die  Frage,  wie  sich  die  Valenzen  eines 
Lichtes  bei  einer  Intensitätsänderung  des  letzteren  oder  bei 
Hinzufügung  eines  anderen  Lichtes  verhalten.  Wenn  zwei  hin- 
sichtlich ihrer  Beschaffenheit  oder  Zusammensetzung  ver- 
schiedene Lichter  in  dem  Falle,  dafs  jedes  ganz  allein  auf  die 
betreffende  Netzhautregion  einwirkt,  sich  als  völlig  äquivalent 
erweisen,  mufs  dann  diese  Äquivalenz  auch  noch  dann  be- 
stehen, wenn  wir  jedem  der  beiden  Lichter  ein  und  dasselbe 
dritte  Licht  hinzufügen?  Wird  femer  die  Äquivalenz  beider 
Lichter  auch  noch  dann  fortbestehen,  wenn  wir  die  Intensitäten 
beider  in  gleichem  Verhältnisse  erhöhen  oder  verringern?  Ist 
es  endlich  von  vomhereiS  als  völlig  ausgeschlossen  anzusehen, 
dafs  sich  die  Valenzen  eines  Lichtes  bei  einer  Intensitätsänderung 
des  letzteren  ihrer  Zahl  oder  ihrer  Qualität  nach  ändern,  z.  B. 
die  Gelbvalenz  eines  Lichtes  bei  einer  Intensitätssteigerung  des 
letzteren  schliefslich  in  eine  Blauvalenz  übergehe,  oder  ein  mit 
nur  einer  optischen  Valenz  begabtes  Licht  bei  Erhöhung  seiner 
Intensität  noch  eine  zweite  (mit  der  bereits  vorhandenen  Valenz 
verträgliche)  Valenz  erlange  ?  Auf  diese  Fragen  läfst  sich  durch 
blofse  theoretische  Überlegung  eine  sichere  Antwort  nicht  ge- 
winnen. Die  theoretische  Erwägung  läfst  hier  die  verschiedensten 
Fälle  möglich  erscheinen,  z.  B.  auch  den  Fall,  dafs  die  Valenzen 
der  Lichter  komplizierte,  mit  der  Beschaffenheit  des  Lichtes 
sich  ändernde  Funktionen  der  Lichtstärke  seien,  von  der  Art, 
dafs  auch  Zahl  und  Qualität  der  Valenzen  eines  Lichtes  bei 
zunehmender  Intensität  des  letzteren  sich  ändern.  Anders  stellt 
sich  die  Sachlage  dar,  wenn  wir  die  vorliegenden  Ergebnisse 
der  experimentellen  Forschung  ins  Auge  fassen.  Bei  zahl- 
reichen Versuchsreihen  hat  sich  ergeben,  dal's  die  durch  Licht 
von  konstanter  Quahtät  bewirkte  Änderung  der  Geschwindigkeits- 
konstanten   einer  chemischen  Umsetzung   der  Lichtstärke  pro- 


Zur  Psychophysik  der  Gesichtsempfindungen,  397 

portional  geht*  (Ostwald,  a.  a.  0.  S.  1034  flf.,  S.  1046  ff.,  Nernst, 
a.  a.  O.  S.  579);  und,  soweit  dieses  Gesetz  gilt,  müssen  Liohter 
verschiedener  Art,  die  bei  gegebenen  Intensitäten  hinsichtlich 
einer  oder  mehrerer  Valenzen  genau  miteinander  überein- 
stimmen, diese  Äquivalenz  auch  noch  dann  zeigen,  wenn  sie 
in  gleichem  Verhältnisse  verstärkt  oder  geschwächt  werden. 
Was  femer  das  Verhalten  der  Valenzen  eines  Lichtes  bei 
Hinzufugung  eines  zweiten  (einfachen  oder  zusammengesetzten) 
Lichtes  anbelangt,  so  kommt  z.  B.  nach  den  Untersuchungen 
von  Pfeffer  {Arh.  d.  bot.  Inst,  z,  Würehurg.  1.  1871.  S.  41  ff.) 
jeder  Spektralfarbe  „eine  spezifische  Zersetzungskrafb  für  Kohlen- 
säure zu,  die  dieselbe  bleibt,  gleichviel,  ob  die  betreffenden 
Strahlen  fftr  sich  oder  mit  anderen  kombiniert  auf  assimilations- 
fahige  Blätter  einwirken*^.  Und  EwaijD  und  Kühne  (Heiddb. 
Unters.  1.  S.  198  ff.)  stellen  auf  G-rund  ihrer  Versuche  den 
Satz  auf,  „dafs  die  Wirkung  einer  gemischten  Farbe  auf  den 
Sehpurpur  nur  abhängig  ist  von  der  Summe  der  Wirkungen 
der  Spektralfarben,  welche  sie  zusammensetzen^. 

Nach  Vorstehendem  ist  zu  erwarten,  dafs  auch  in  unserem 
Gebiete  eine  Konst-anz  der  optischen  Valenzen  bestehe, 
d.  h.  dafs  die  optischen  Valenzen  eines  Lichtes  erstens  unab- 
hängig seien  von  den  vorhandenen  Erregbarkeiten  der  be- 
treffenden   optischen   Spezialsinne    und    zweitens   unabhängig 

^  Bei  diesen  Versuchsreihen  handelte  es  sich  um  lichtempfindliche 
Gemische,  welche  der  ersten  der  beiden  auf  S.  361  ff.  erörterten  Haupt- 
arten solcher  Gemische  angehörten,  bei  denen  also  die  Geschwindigkeits- 
konstante der  Rückbildung  der  photochemischen  Beaktionsprodukte 
wegen  ihrer  GeringftLgigkeit  Oberhaupt  nicht  in  Betracht  kam.  Handelt 
es  sich  um  ein  photochemisches  Gemisch  der  zweiten  Hauptart,  also 
um  ein  solches,  das  sich  vor  der  Lichteinwirkung  in  chemischem  Gleich- 
gewichte befindet,  so  kann  nur  die  Änderung  derjenigen  Geschwindigkeits- 
konstanten, deren  A^rt  durch  das  gegebene  Licht  eine  Zunahme  erfährt, 
innerhalb  weiterer  Grenzen  der  Lichtstärke  proportional  gehen,  nicht 
aber  auch  die  Ändenmg  der  anderen  Geschwindigkeitskonstanten,  deren 
Wert  sich  bei  steigender  Lichtstärke  immer  mehr  der  Null  nähert.  Man 
wird  indessen  in  der  Begel  schon  bei  mäfsigen  Lichtstärken  von  den 
Änderungen  dieser  zweiten  Konstanten  ganz  absehen  können.  Vor  allem 
aber  kommt  hier  der  Satz  in  Betracht,  dafs  in  allen  Fällen,  wo  jene 
erstere  Konstante  einen  und  denselben  "Wert  besitzt,  das  Gleiche  auch 
▼on  dieser  zweiten  Konstante  gelten  mufs,  die  eine  eindeutige  Funktion 
jener  ersteren  ist. 


398  ^*  E'  MüUer. 

seien  von  den  etwa  gleichzeitig  einwirkenden  anderen  Lichtem.' 
Eine  absolute  Sicherheit  dafür,  dafs  der  zweite  Teil  dieses 
Satzes  von  der  Konstanz  der  Valenzen  Gültigkeit  besitze, 
können  uns  allerdings  die  oben  erwähnten  Versuehsthatsachen 
nicht  gewähren.  Denn  die  Zahl  der  photochemischen  Beaktionen, 
die  in  den  uns  hier  interessierenden  Beziehungen  bisher  unter« 
sucht  sind,  ist  im  Vergleich  zu  der  Zahl  der  bislang  noch  nicht 
untersuchten  nur  gering.  Es  ist  z.  B.  von  denjenigen  licht- 
empfindlichen Gemischen,  die  durch  die  kurzwelligen  Strahlen 
des  Sonnenspektrums  in  entgegengesetztem  Sinne  chemisch 
verändert  werden,  als  durch  die  langwelligen  Strahlen,  noch 
kein  einziges  daraufhin  untersucht,  ob  die  sog.  neutrale  Begion 
des  Spektrums,  welche  das  Gemisch  ganz  unbeeinflufst  lafst, 
bei  zunehmender  Lichtstärke  hinsichtlich  ihrer  Lage  und  Aus- 
dehnung ganz  unverändert  bleibt,  oder  nicht. 

Im  Vorstehenden  ist  die  Voraussetzung  gemacht  worden, 
dafs  Netzhautprozesse,  die  einander  nicht  entgegengesetzt  sind 
und  in  einer  und  derselben  Netzhautstelle  sich  abspielen,  ganz 
unabhängig  voneinander  verliefen.  Diese  Voraussetzung  darf 
aber  nicht  ohne  weiteres  zu  Grunde  gelegt  werden.  Setzen 
wir  z.  B.  den  Fall,  dafs  eine  Molekülart,  welche  durch  den 
iZ-Prozefs  entsteht  und  mithin  eine  Komponente  des  G^-Materiales 
bildet,  zugleich  eine  Komponente  des  TT-Materiales  sei,  so  mufs 
nach  dem  Gesetze  der  chemischen  Massenwirkung  der  einer 
gegebenen    WeiTsvalenz     entsprechende    TT-Prozels     gefordert 

^  In  dem  zweiten  Teile  dieses  Satzes  ist  offenbar  schon  der  Satz 
enthalten,  dafs  die  optischen  Valenzen  eines  Lichtes  bei  einer  Intensitäts- 
zunähme  des  letzteren  hinsichtlich  ihrer  Zahl  imd  Qualität  sich  nicht 
ändern,  wohl  aber  in  ihrer  Stärke  der  Lichtintensität  proportional  gehen, 
so  dafs  zwei  hinsichtlich  einer  oder  mehrerer  Valenzen  miteinander 
übereinstimmende  Lichter  diese  Übereinstimmung  auch  dann  noch  zeigen, 
wenn  sie  in  gleichem  Verhältnisse  verstärkt  oder  geschwächt  werden. 
Denn,  wenn  z.  B.  an  die  Stelle  eines  gegebenen  Lichtes  ein  anderes 
Licht  von  völlig  gleicher  Qualität,  aber  der  n-fachen  Litensität  tritt,  wo 
n  >  1  und  eine  ganze  Zahl  ist,  so  denke  man  sich  das  zweite  Licht  in 
n  Lichter  von  der  Stärke  des  ersteren  zerlegt  und  wende  auf  jedes  von 
diesen  n  gleichartigen  und  gleichstarken  Partiallichtem  den  Satz  an, 
dafs  die  Valenzen  eines  Lichtes  von  den  gleichzeitig  einwirkenden 
anderen  Lichtern  unabhängig  seien.  Alsdann  ergiebt  sich  ohne  weiteres, 
dafs  sich  bei  Verstärkung  des  ersteren  Lichtes  auf  das  n-fache  die 
optischen  Valenzen  hinsichtlich  ihrer  Qualität  und  Zahl  nicht  ändern, 
wohl  aber  hinsichtlich  ihrer  Stärke  auf  das  n-fache  erhöhen. 


Ziwt  PsychopJiyiik  der  Geaiehtsempfinäungm.  899 

werden,  wenn  gleichzeitig  eine  Botvalenz  einwirkt,  liingegen 
gesohwäoht  werden,  wenn  gleichzeitig  eine  G-rünvalenz  sich 
geltend  macht.  Ist  eine  Komponente  des  TF-Materiales  zugleich 
eine  Komponente  des  JS-Materiales,  so  mufs  der  TT-Prozefs 
gefördert  werden  dnrch  einen  gleichzeitigen  ^-Prozefs,  beein- 
trächtigt werden  dnrch  einen  gleichzeitigen  J^-Prozefs.  Wie 
man  sieht,  kann  man  von  vornherein  die  Frage  aufwerfen,  ob 
die  Erscheinungen  der  spezifischen  Helligkeit  nicht  zu  einem  Teile 
auch  darin  ihren  Grund  hätten,  dafs  die  chromatischen  Prozesse 
einerseits  und  der  TT-Prozefs  andererseits  nicht  ganz  unabhängig 
voneinander  verliefen.^  Wie  der  Kundige  unschwer  erkennt, 
kann  man  sich  (zumal,  wenn  man  bedenkt,  dafs  nach  unseren 
früheren  Ausführungen  jeder  durch  eine  optische  Valenz  aus- 
gelöste Netzhautvorgang  aus  zwei  successiven  Teilprozessen 
besteht)  von  vornherein  noch  auf  die  verschiedenste  Weise  ein 
gegenseitiges  Abhängigkeitsverhältnis  einander  nicht  entgegen- 
gesetzter Netzhautprozesse  konstruieren,  indem  man  z.  B.  aus  den 
Beaktionsprodukten  zweier  oder  mehrerer  Netzhautprozesse 
sekundäre  Reaktionen,  die  nicht  direkt  auf  den  Sehnerven  einzu- 
wirken vermögen,  hervorgehen  läfst  oder  andere  derartige  An- 
nahmen einführt.*  Besondere  Berücksichtigung  mögen  hier  nur 
noch  die  Wärmewirkungen  der  Netzhautprozesse  finden.  Wenn 
auch  den  Ausführungen  des  vorigen  Paragraphen  gemäfs  die  (posi- 
tiven oder  negativen)  Wärmetönungen  der  verschiedenen  Netz- 
häutprozesse  nur  unbeträchtlich  sein  können,  so  ist  doch  nicht 
anzunehmen,  dafs  alle  sechs  retinalen  G-rundprozesse  ganz  ohne 
(positive  oder  negative)  Wärmebildung  verlaufen  und  in  ihrem 
Verlaufe  von  der  vorhandenen  Temperatur  ganz  unabhängig 
sind.  Findet  also  z.  B.  ein  Netzhautprozefs,  der  mit  positiver 
Wärmebildung  verbunden  ist,  in  einer  bestimmten  Netzhaut- 
stelle statt,  so  kann  derselbe  einen  anderen  an  derselben  Stelle 
sich  abspielenden  Netzhautprozefs  nicht  absolut  unbeeinflufst 
lassen,    sondern   mufs  denselben  fördern  oder  beeinträchtigen. 


^  Wie  man  leicht  erkennt,  muls  im  Falle  einer  solchen  Ver- 
UTsachung  jener  Erscheinungen  auch  noch  der  Satz  gelten,  daCs  durch 
einen  gleichzeitigen  TT-Prozefs  die  Differenz  Ir  —  Ig  oder  J.  —  ü  in 
positivem  Sinne  gefördert  wird.  Femer  mufs  der  ^-Prozefs  zu  den 
chromatischen  Netzhautprozessen  in  genau  der  entgegengesetzten  Wechsel- 
beziehung stehen,  wie  der  TT-Prozefs. 

*  Man  vergleiche  hierzu  Niritbt,  a.  a.  O.  S.  451  ff. 


400  ^*  E'  Mütter, 

je  nachdem  derselbe  mit  negativer  oder  positiver  Wärme- 
entwickelung verbunden  ist.  Prinzipiell  mufs  es  also  eine 
gewisse  gegenseitige  Beeinflussung  der  Netzhautprozesse  geben, 
die  auf  den  Wärmewirkungen  derselben  beruht.  Es  ist  nur 
sehr  fraglich,  ob  dieselbe  von  merkbarer  GrölSse  ist. 

Wir  brauchen  nicht  weiter  auszuführen,  wie  sehr  sich 
dann,  wenn  eine  gegenseitige  Beeinflussung  der  in  einer  und 
derselben  Netzhautstelle  sich  abspielenden,  einander  nicht 
entgegengesetzten  Prozesse  in  merkbarem  Grade  stattfindet, 
die  Dinge  weit  komplizierter  gestalten,  als  bei  Zugrundelegung 
des  Satzes  von  der  Konstanz  der  Valenzen  zunächst  zu  er- 
warten ist.  Denn  alsdann  hängt  das  Verhalten,  welches 
die  Reizbarkeit  oder  die  Erregbarkeit  eines  optischen  Spezial- 
sinnes  während  der  Einwirkung  einer  auf  diesen  Spezialsinn 
wirkenden  optischen  Valenz  zeigt,  von  der  Intensität  und  Art 
der  gleichzeitigen  Heizungen  der  beiden  anderen  optischen 
Spezialsinn  e  ab. 

Eine  ähnliche  Kompliziertheit  der  Verhältnisse  ist  femer 
auch  für  den  Fall  zu  erwarten,  dafs  in  der  lichtempfindlichen 
Netzhautschicht  durch  Lichteinwirkung  aufser  den  eigentlichen 
Netzhautprozessen  noch  eine  Nebenwirkung  hervorgerufen  wird, 
welche  die  Stärke  jener  Prozesse  irgendwie  zu  beeinflussen 
vermag.  Wir  erörtern  diesen  Fall  sogleich  an  einem  konkreten 
Beispiele,  indem  wir  uns  auf  die  optische  Sensibilisation^  beziehen. 
Man  nehme  an,  dafs  die  Erweckung  des  TF-Prozesses  in  den 
Stäbchen  hinsichtlich  ihrer  Ausgiebigkeit  sehr  wesentlich  von 
der  vorhandenen  Menge  des  Sehpurpurs,  welcher  als  optischer 
Sensibilisator  wirke,  abhängig  sei.  Die  Bolle,  welche  der  Seh- 
purpur dem  früher  (S.  380  f.)  Bemerkten  gemäfs  als  Adaptations- 
stoff spielt,  sei  dadurch  vervollständigt,  dafs  ein  und  dasselbe 
Licht,  wenn  es  auf  purpurarme  Stäbchen  wirkt,  in  denselben 
eine  nur  mäfsige  Zunahme  der  Qeschwindigkeitskonstanten  K^ 
bewirkt,  hingegen  eine  bedeutende  Zunahme  von  K^  in  den 
Stäbchen  zur  Folge  hat,  wenn  dieselben  reichlichen  Sehpurpur 
enthalten.  Alsdann  wird,  gemäfs  den  Veränderungen,  welche 
die  optischen  Sensibilisatoren  an  der  spektralen  Verteilung  der 
Lichtempfindlichkeiten    der    chemischen    Gemische,    denen   sie 


^  Man  vergleiche  über  dieselbe  £deb,  a.  a.  O.  I.  1.  S.  251  £F.  und  II. 
S.  37  ff. 


Zur  PBychophysik  der  Qesichtsempfindungm,  401 

zagefügt  sind,  zu  bewirken  pflegen,  die  spektrale  Verteilung 
der  für  die  Stäbchen  bestehenden  WeLfsvalenzen  je  nach  dem 
Purpurgehalte  der  Stäbchen  etwas  verschieden  sein.  Stellen 
wir  also  zwei  Lichter  von  verschiedener  Wellenlänge  in  solchen 
Intensitäten  her»  dafs  sie  bei  geringem  Purpurgehalte  der 
Stäbchen  in  diesen  gleich  intensive  Tf^-Prozesse  hervorrufen, 
so  werden  beide  Lichter  eine  völlige  Gleichheit  ihrer  Stäbchen- 
wirkungen nicht  mehr  erkennen  lassen,  wenn  \m  sie  auf  die 
Netzhaut  bei  reichem  Purpurgehalt  der  Stäbchen,  d.  h.  bei 
vollendeter  Adaptation  an  das  Dunkel,  einwirken  lassen.  Ist 
die  Netzhaut  an  beträchtliche  Helligkeit  adaptiert,  ist  also  der 
Purpurgehalt  der  Stäbchen  nur  gering  und  von  unmerkbarem. 
Einflüsse  auf  die  Stäbchenvalenzen  der  verschiedenen  Lichter/ 
und  bewegen  sich  die  Intensitätsänderungen  der  Lichter  bei 
unseren  Versuchen  innerhalb  solcher  Grenzen,  dafs  der  Adap- 
tationszustand der  Netzhaut  nicht  wesentlich  verändert  wird, 
80  kann  die  Gleichheit  zwischen  den  TT-Prozessen,  die  zwei 
verschiedenartige  Lichter  in  den  Stäbchen  hervorrufen,  bei 
einer  in  gleichem  Verhältnisse  stattfindenden  Erhöhung  oder 
Schwächung  beider  Lichter  bestehen  bleiben,  falls  eben  der 
Satz  von  der  Konstanz  der  Valenzen,  ebenso  wie  für  die 
Zapfen,  auch  für  die  Stäbchen,  soweit  ihre  Beaktionsweise 
nicht  durch  die  sensibilisatorische  Wirkung  des  Sebpurpurs 
beeinfluist  ist,  gilt.  Macht  man  femer  die  zunächst  gegebene 
Annahme,  dafs  das  i^-,  TT-  und  iS-Material  in  den  Stäbchen 
von  genau  derselben  Art  sei,  wie  in  den  Zapfen,  und  dafs 
demgemäfs  die  Weifsvalenzen  der  verschiedenen  Lichtarten 
für  die  Stäbchen,  soweit  die  Thätigkeit  der  letzteren  nicht 
durch  die  soeben  erwähnte  Wirksamkeit  des  Sehpurpurs  modi- 
fiziert werde,  dieselben  seien  wie  für  die  Zapfen,  so  kommt  man 
zu  dem  Besultate,  dafs  zwar  nicht  für  die  an  das  Dunkel  oder 
nur  schwache  Helligkeiten  adaptierte  Netzhaut,  wohl  aber  für 
die  an  gröfsere  Helligkeit  adaptierte  Netzhaut  die  beiden  früher 
(S.  327  ff.)  erörterten  Hsssschen  Sätze  gültig  sein  müssen. 


^  Es  ist  zu  beachten,  dafs  die  optischen  Sensibilisatoren  die  Licht- 
Empfindlichkeiten  der  betreffenden  Gemische  bereits  dann  nur  noch 
unwesentlich  beeinflussen,  wenn  die  Mengen,  in  denen  sie  den  letzteren 
l>eigemischt  sind,  noch  keineswegs  minimal  sind.  £s  ist  also,  um  den 
EinfluJDs  des  Sehpurpurs  auf  die  Stäbchenyalenzen  auszuschlieüsen,  keines* 
<weg8  eine  vollständige  Bleichung  desselben  nötig. 

Zelttchrin  Ar  Ft7ehoI<«ie  X.  26 


402  G^  S'  MMer. 

Mit  der  vorstehenden  Darlegung  haben  wir  bereits  den 
Standpunkt  rein  physikalisch-chemischer  Betrachtung  verlassen 
und  sind  in  eine  Berücksichtigung  der  anatomisoh-physio» 
logischen  Komplikationen  eingetreten.  Die  retinalen  Anpassungs* 
Vorgänge,  zu  denen  auch  die  von  der  Intensität  und  Dauer 
der  Lichteinwirkung  abhängigen  Änderungen  der  Stärke  der 
sensibilisatorischen  Wirksamkeit  des  Sehpurpurs  zu  rechnen 
sein  würden,  können  in  doppelter  Weise  bewirken,  dafs  eine 
Konstanz  der  optischen  Valenzen,  die  ohne  das  Eingreifen 
derselben  zu  Tage  treten  wllrde,  nicht  voll  zur  Beobachtung 
gelangt.  Denn  werden  zwei  physikalisch  verschiedenartige, 
aber  bei  den  zunächst  vorhandenen  Intensitäten  gleich  er- 
scheinende Lichter  in  gleichem  Verhältnisse  verstärkt^  so  werden 
die  retinalen  Anpassungseinrichtungen  (z.  B.  das  Pigment  des 
Pigmentepitheles  und  der  Sehpurpur),  welche  hinsichtlich  der 
Stärke  ihrer  Wirksamkeit  auch  von  der  physikalischen  Qualität 
des  einfallenden  Lichtes  abhängig  sind,^  durch  die  Verstärkung 
des  einen  der  beiden  Lichter  im  allgemeinen  nicht  in  völlig 
gleichem  Malse  beeinfluTst  werden,  wie  durch  die  Verstärkung 
des  anderen  Lichtes.  Nehmen  wir  femer  an,  es  riefen  zwei 
physikalisch  verschiedenartige  Lichter  bei  einem  gegebenen 
retinalen  Anpassungszustande  ganz  dieselben  Netzhautprozesse 
hervor,  so  werden  dieselben  dann,  wenn  wir  auf  irgend  einem 
Wege  einen  wesentlich  anderen  retinalen  Anpassungszustand 
hergestellt  haben,  nicht  mehr  völlig  gleiche  Netzhautprozesse 
bewirken,  weil  physikalisch  verschiedene  Lichter  von  einer  und 
derselben  Änderung  des  retinalen  Anpassungszustandes  nicht 
in  völlig  gleichem  Mafse  betroffen  werden.     So  wird  z.  B.  der 


*  Auch  die  phototrope  Epitbelreaktion  mufs  von  der  physikalischen 
Beschaffenheit  des  einwirkenden  Lichtes  und  nicht  von  der  Ait  und 
Stärke  der  durch  das  Licht  erweckten  Netzhautprozesse  abhängen,  wenn 
sie  durch  das  Licht  direkt  und  nicht  erst  durch  Yermittelung  der  Nets- 
hautprozesse  erweckt  wird.  Dafs  die  phototrope  Epithelreaktion  direkt^ 
durch  das  Licht  hervorgerufen  wird,  folgt  aber  unseres  Eracbtens  aoa 
der  Herstellbarkeit  epithelialer  Optogramme  (Kühne  in  Hermanns  Handb^ 
d.  JPhjfeiol.  3.  !.  S.  338).  Würde  diese  Epithelreaktion  erst  durch  die 
Netzhautprozesse  hervorgerufen,  so  müsfte  sie  auch  durch  die  auf  nur 
indirekter  Beizung  beruhenden,  den  Erscheinungen  des  simultanen  Kon- 
trastee, der  simultanen  und  successiven  Lichtinduktion  zu  Grunde 
liegenden  Netzhautprozesse  erweckt  werden,  und  eine  Erzeugung  auch 
nur  einigermafsen  deutlicher  epithelialer  Optogramme   w&re  unmöglich. 


Zur  Psyehophysik  der  Gesiehisempfindungen.  403 

Übergang  der  Fuscinkörperohen  ans  einer  Stellung  in  eine 
andere  die  Einwirkung  zweier  phygikalisch  yersohiedener  Lichter 
(für  welohe  die  Absorption  innerhalb  des  Pigmentes  nicht  völlig 
dieselbe  sein  wird)  nicht  in  absolnt  gleichem  Mafse  beeinflussen, 
mögen  uns  die  beiden  lichter  bei  der  ersteren  Stellung  des 
Pigmentes  noch  so  sehr  als  yöUig  gleich  erschienen  sein.  Ein 
noch  besseres  Beispiel  für  das  soeben  Bemerkte  bietet  uns  der 
TJmstandi  dafs  (wenn  der  Sehpurpnr  die  oben  angedeutete 
sensibilisatorische  Bolle  spielt)  ein  und  dieselbe  ausgiebige 
Änderung  des  Purpurgehaltes  der  Stabchen  die  Stftbchenvalenzen 
zweier  physikalwch  verschiedenartiger,  aber  anfengUch  gleich 
erscheinender  Lichter  im  allgemeinen  nicht  in  völlig  gleichem 
Mafse  yerändem  kann. 

Üben  die  verschiedenen  Lichter  im  Sinne  des  auf  S.  869 
Bemerkten  direkt  einen  gewissen  Einflufis  auf  die  der  Funktion 
des  Sehepithels  dienenden  nutritiven  Vorgänge  aus,  so  kommt 
dieser  Einfluis  hier  in  ähnlicher  Weise  in  Betracht,  wie  der 
Einflufs  der  verschiedenen  Lichter  auf  die  retinalen  Anpassungs« 
apparate.  Wie  früher  gesehen,  bestimmt  sich  unser  ürteü 
über  die  Gleichheit  oder  Ungleichheit  zweier  Empfindungen 
nach  der  Beschaffenheit  und  Stärke,  welche  diese  Empfindungen 
und  die  ihnen  zu  G-runde  liegenden  Netzhautprozesse  in  einem 
Stadium  besitzen,  wo  bereits  die  nutritiven  Vorgänge  merkbar 
mit  im  Spiele  sind.  Werden  also  zwei  physikalisch  verschieden- 
artige, aber  subjektiv  gleiche  Lichter  in  gleichem  Verhältnisse 
verstärkt,  so  können  sie  nach  dieser  Verstärkung  nur  dann 
noch  völlig  gleich  erscheinen,  wenn  die  Verstärkung  des  einen 
Lichtes  die  nutritiven  Vorgänge  in  völlig  gleichem  Mafse 
berührt,  wie  die  Verstärkung  des  anderen  Lichtes,  was  nicht 
ohne  weiteres  von  vornherein  angenommen  werden  darf. 

Endlich  ist  hier  auch  noch  an  das  Eingreifen  der  Fluorescenz 
der  Augenmedien  und  der  Netzhaut  zu  erinnern.  Nach  den 
Ausführungen  von  Eühne  (Hermanns  Handb.  d.  PkyskiL  3.  1. 
S.  287  ff.)  beruht  die  weifslichgrüne  Fluorescenz  der  Netzhaut  im 
übervioletten  (und  vielleicht  auch  violetten)  Lichte  auf  der 
Anwesenheit  des  Schweifs.  Je  reichhcher  die  vorhandene 
Menge  von  Schweifs  ist,  desto  intensiver  fällt  jene  Fluorescenz 
aus.  Nun  denke  man  sich  zwei  Mischlichter,  von  denen  das 
eine  überviolettes  und  violettes  Licht  enthält,  das  andere  aber 
nicht,  und  welche  beide  bei  einem  Zustande  der  Netzhaut,  wo 

26* 


404  ^.  E'  Müller. 

sehr  wenig  Sehweifs  vorhanden  ist,  völlig  gleiche  Netzhaut- 
prozesse zur  Folge  haben.  Es  ist  klar,  dafs  beide  Lichter  bei 
unveränderter  oder  in  gleichem  Verhältnisse  geänderter  In- 
tensität nicht  mehr  ganz  dieselben  Netzhautprozesse  hervor- 
rufen können,  wenn  sie  auf  die  Netzhaut  bei  einem  Zustande 
wirken,  wo  sehr  viel  Sehweifs  vorhanden  ist.^ 

Aus  den  bisherigen  Entwickelungen  dieses  Paragraphen 
ergiebt  sich  hinlängUch,  wie  unsagbar  weit  man  fehlgreifen 
würde,  wenn  man  meinen  würde,  dals  die  in  dieser  Abhandlung 
vertretenen  Anschauungen  Schwierigkeiten  an  Versuchs- 
resultaten fönden,  nach  denen  zwei  physikalisch  verschieden- 
artige, zunächst  subjektiv  gleiche  Lichter  nach  einer  in  gleichem 
Verhältnisse  vollzogenen  Änderung  ihrer  Intensität  oder  nach 
einer  bestimmten  Änderung  des  retinalen  Anpassungszustandes 
nicht  mehr  gleich  erscheinen  oder  sonstige  Abweichungen  von 
dem  Satze  von  der  Konstanz  der  Valenzen  hervorzutreten 
scheinen.  Von  den  Gesichtspunkten,  die  wir  im  Vorstehenden 
behufs  Erklärung  etwaiger  Abweichungen  von  diesem  Satze 
entwickelt  haben,  sind  allerdings  manche  nur  gewisser 
theoretischer  Vollständigkeit  halber  erwähnt  worden  und  um 
zu  zeigen,  dafs  man  vom  Standpunkte  der  in  dieser  Abhand- 
lung vertretenen  Anschauungen  aus  noch  ganz  anderen  an- 
scheinenden Abweichungen  von  jenem  Satze  gerecht  werden 
könnte,  als  thatsächlich  vorzuliegen  scheinen.  Überblickt  man 
die  gesamten  zur  Zeit  vorliegenden  Versuchsresultate,  welche 
sich  auf  die  Frage  der  Konstanz  der  Valenzen  beziehen,  zumal 
in  der  Beleuchtung,  in  welche  sie  neuerdings  durch  von  Kbibs 
gerückt  worden  sind,  so  hat  man  unseres  Erachtens  keinen 
Grund,  von  folgender  Anschauung  abzugehen: 

Die  verschiedenen  Arten  der  Netzhautprozesse  vollziehen 
sich  in  allen  Zapfen  oder  Stäbchen,  in  denen  sie  sich  über- 
haupt abspielen,  an  ganz  demselben  chemisohen  Materiale,  sind 
ihrem  Wesen  nach  in  allen  Netzhautteilen  dieselben.  Befindet 
sich,  wie  zu  vermuten  ist,  in  den  Stäbchen  nur  iV-,  TF-  und 
iS^Material,  so  sind  doch  diese  Stoffe  ihrem  Wesen  nach  völlig 
identisch  mit  dem  in  den  Zapfen  befindlichen  i^-,  TT-  und 
^-Materiale. 


^  An  den  Einflofs,  den  die  Pluorescenz  der  Augenmedien  und  der 
Netzhaut  auf  die  Valenzen  der  Lichter  ausüben  mufs,  hat  bereits  Hebivo 
{Über  Newtons  Gesetz  der  larbenimechung.  S.  46)  erinnert. 


Zur  Paychophytik  der  Gemchtaempfindungen.  405 

Denkt  man  sich  die  Sehstoffe  der  Netzhaut  ohne  alle 
anatomisch-physiologischen  Komplikationen  der  Einwirkung 
der  verschiedenen  Lichtarten  ausgesetzt,  so  gut  für  dieselben, 
wie  vom  physikalisch-chemischen  Standpunkte  aus  zu  erwarten 
ist,  der  Satz  von  der  Konstanz  der  Yalenziäi. 

Alle  zur  Zeit  bekannten  anscheinenden  Abweichungen  von 
diesem  Satze  lassen  sich  aus  der  Mitwirkung  physiologischer 
Faktoren,  in  erster  Linie  der  retinalen  Anpassungseinriohtungen, 
erklären. 

Sind  die  hier  in  Betracht  kommenden  Anpassungseinrich- 
tungen und  sonstigen  physiologischen  Faktoren  an  die  Zapfen 
und  Stäbchen  in  verschiedener  Weise  verteilt,  so  ist  zu  er- 
warten, dais  auch  die  anscheinenden  Abweichungen  vom  Satze 
der  konstanten  Valenzen  für  beide  Arten  von  Gebilden  in  ver- 
schiedenem Grade  bestehen. 

Die  beiden  Hsssschen  Sätze  können  nur  insoweit  gültig 
sein,  als  von  den  soeben  erwähnten  physiologischen  Faktoren 
und  Einrichtungen  und  ihrer  verschiedenen  Verteilung  auf  der 
Netzhaut  abgesehen  werden  kann.  Dies  ist  nach  den  Versuchs- 
resultaten von  Hess  bei  an  das  Helle  adaptierter  Netzhaut 
der  Fall.  Solauge  der  Adaptationszustand  der  an  das  Helle 
adaptierten  Netzhaut  keine  wesentlichen  Änderungen  erleidet, 
erweisen  sich  die  optischen  Valenzen  der  Lichtei:  auf  allen 
Teilen  der  extramakularen^  Netzhaut  als  dieselben,  und 
gleichzeitig  zeigt  sich  eine  zwischen  zwei  physikalisch  ver- 
schiedenen Lichtem  hergestellte  Gleichung  auch  noch  nach 
einer  in  gleichem  Verhältnisse  vollzogenen  Litensitätsänderung 
beider  Lichter  als  gültig.  Es  tritt  also  dann  die  Konstanz  der 
optischen  Valenzen,  nicht  verdeckt  durch  physiologische 
Komplikationen,  deutlich  in  die  Beobachtung. 

§  27.     Biologische  Gesamtbetraohtung.    < 

Wir  wollen  hier  noch  in  kurzer,  zusammenfassender  Weise 
zeigen,  wie  diejenigen  Einrichtungen  des  Sehorganes,  zu  deren 
Annahme   uns    die   bisherigen  Betrachtungen   geführt   haben, 


^  Da  die  Pigmentierung  des  gelben  Fleckes  dem  früher  (S.  381) 
Bemerkten  gemäis  als  eine,  allerdings  nur  unvollkommene,  Schutz- 
Vorrichtung  aufgefafst  werden  kann,  so  ist  auch  die  Thatsaehe,  dafs  im 
allgemeinen  eine  fOr  eine  extramakulare  Netzhautstelle  hergestellteFarhen- 


406  ^-  E'  Müller. 

dem  Zwecke   des   Sehorganes  entsprechen  und  geeignet  sind, 
uns  im  Kampfe  ums  Dasein  zu  fbrdem. 

1.  Es  ist  zweckmäfsigy  dafs  Gesichtsobjekte,  die  sich  durch 
die  Beschaffenheit  des  von  ihnen  aasgestrahlten  Lichtes  unter- 
scheiden, sich  auch  durch  die  Netzhautprozesse  unterscheiden, 
die  sie  in  unserem  Auge  hervorrufen.  Dieser  Anforderung 
wird  um  so  besser  entsprochen,  je  gröfser  die  Zahl  der  retinalen 
Grundprozesse  ist.  Es  ist  mithin  sehr  zweckmäfsig,  dals  in 
der  Netzhaut  dieselben  Stoffe,  die  bei  Auslösung  eines  chro- 
matischen Netzhautprozesses  als  unmittelbare  Produkte  der 
Lichteinwirkung  entstehen,  zugleich  anderen  Lichtstrahlen 
gegenüber  als  erregbares  Material  fungieren.  Der  Organismus 
erzielt  auf  solchem  Wege  mittelst  des  geringsten  stoff* 
liehen  Aufwandes  —  denn  wo  ein  erregbares  Material  vor- 
lianden  ist,  ist  das  Mitvorhandensein  der  zugehörigen  Erregungs- 
produkte ganz  von  selbst  gegeben  — ,  daCs  die  Netzhaut  mit 
vier  verschiedenen  chromatischen  Grundprozessen  auf  die  Licht- 
strahlen zu  reagieren  vermag. 

Da  Lichtstrahlen,  die  mit  antagonistischen  chromatischen 
Valenzen  begabt  sind,  sich  bei  gleichzeitiger  Einwirkung  auf 
die  chromatiBchen  Sehstoffe  gegenseitig  hemmen  und  unter 
Ümst&nden  völlig  kompensieren,  so  ist  es  zweckmäisig,  dafs 
neben  den  chromatischen  Sehstoffen  noch  das  erregbare  Material 
des  WeiTsschwarzsinnes  in  der  Netzhaut  vorhanden  ist,  und 
dafs  alle  Lichtstrahlen  neben  ihren  chromatischen  Valenzen 
noch  eine  Weifsvalenz  besitzen.  Lifolge  dieser  Einrichtung 
können  solche  Lichtgemische,  welche  infolge  von  Antagomsmus 
zwischen  den  chromatischen  Valenzen  der  Partiallichter  far  die 
chromatischen  Sehstoffe  wirkungslos  sind,  immerhin  noch  durch 
Erweckung  von  TT-Prozessen  uns  merkbar  werden  (vergl. 
S.  393.) 

2.  Es  ist  zweckmäfsig,  dafs  sich  das  Sehorgan  nach  jeder 
Lianspruchnahme  möglichst  schnell  erhole.  Dieser  Anforderung 
genügt  die  Netzhaut  nicht  blofs  dadurch,  dals  in  ihr,  ähnlich 
wie  in  anderen  Organen,  eine  nach  den  jeweiligen  Bedürfnissen 
regulierte    Stoffzufuhr    und    Stoffabfuhr    stattfindet,     sondern 


gleiehong  nicht  zugleich  für  eine  intramakulare  Stelle  gilt,  darauf  zorück- 
sufähren,  dais  eine  einem  bestimmten  Zwecke  dienliche,  physiologische 
Einrichtung  nicht  allen  Netihautstellen  erteilt  ist. 


Zur  Psychophysik  der  Gesichtsempfindimgen,  407 

•auch  dadurch,  dafs  in  ihr  nach  Schwinden  eines  Beides  ein 
Teil  der  dnrch  den  Beiz  geschaffenen  Erregungsprodukte 
unmittelbar  zurückgebildet  wird.  Diese  (dem  negatiyen  Nach- 
bilde zu  &runde  liegende)  Bückbildung  der  Erregungsprodukte 
ist  eine  einfache  Folge  des  Gesetzes  der  chemischen  Massen- 
wirkung. 

3.  Diese  Bückbildung  wird  nun  aber  überdies  zweckmäfsiger- 
weise  noch  durch  die  indirekte  Netzhautreizung  gefordert. 
Aufserdem  dient  die  indirekte  Netzhautreizung  auch  noch  dazu, 
die  Erregbarkeit  der  zentraleren  Netzhautstellen  für  die  Ein- 
wirkung eines  bei  einer  Blickbewegung  bevorstehenden  Licht- 
reizes gut  vorzubereiten. 

unser  Sehorgan  ist  nicht  dazu  da,  in  das  Sehfeld  hinein- 
zustarren,  sondern  dazu,  durch  eine  geeignete  Wanderung  des 
Blickes  die  einzelnen  Gesichtsobjekte  in  ihren  Besonderheiten 
und  Beziehungen  näher  zu  erfassen.  Angenommen  nun  z.B.,  wir 
wenden  unseren  Blick  einem  seitlich  von  uns  auf  grauem 
Grunde  sich  befindenden,  gelben  Objekte  zu,  so  wird  in  der 
Umgebung  der  jeweilig  von  dem  gelben  Objekte  betroffenen 
Netzhautstelle  durch  indirekte  Beizung  der  Blauprozefs,  d.  h.  die 
Bildung  von  Gelbmaterial  gefördert.  Es  dient  also  die  indirekte 
Beizung  einerseits  dazu,  in  denjenigen  Netzhautstellen,  welche 
bei  der  Blickbewegung  soeben  durch  das  gelbe  Objekt  gereizt 
worden  sind,  die  Bückbildung  der  durch  äiese  Beizung  ent- 
standenen Erregungsprodukte  in  Gelbmaterial  zu  fördern,  und 
andererseits  dazu,  in  denjenigen  Netzhautstellen,  denen  die 
Beizung  durch  das  gelbe  Licht  bevorsteht,  die  Menge  des 
hierbei  in  Anspruch  zu  nehmenden  Gelbmateriales  zu  steigern 
(man  vergleiche  HERDfo,  2!ur  Lehre  vom  Lichtsinn.  S.  91  f.). 

Steht  man  nicht  auf  dem  Standpunkte  derTheorie  der  Gegen- 
farben, so  kommen  die  vorstehende  angedeuteten  Gesichtspunkte 
f%br  eine  biologische  Verständlichmachung  des  Simultankontrastes 
und  der  den  negativen  (komplementär  gefärbten)  Nachbildern  zu 
Grunde  liegenden  Vorgänge  ganz  in  Wegfall.  Wenn  z.  B. 
DoNDEBS  annimmt,  dafs  bei  Stattfinden  eines  chromatischen  Er- 
regungsprozesses eine  partielle  Dissoziation  der  beteiligten  Mole- 
küle stattfinde,  und  dafs  hierauf  die  bei  diesem  Vorgänge  ent- 
standenen Bestmoleküle  gleichfalls  noch  der  Dissoziation  ver- 
fielen (welch  unnütze  Ausgabe  chemischer  Spannkräfte!),  welch 
letzterer  Vorgang  dem  komplementär  gefärbten  Nachbilde   zu 


408  G,  K  Mütter. 

Grunde  liege,  so  ist  nach  dieser  Annahme  der  Vorgang,  der 
dem  genannten  Nachbilde  zu  Grunde  liegt,  nichts  weniger 
als  zweclonäfsig. 

Wie  bereits  Mach  und  Hering  hervorgehoben  haben,  dient 
der  dem  Simultankontraste  zu  Grunde  liegende  Mechanismus 
auch  noch  dazu,  die  an  und  für  sich  schädlichen  Wirkungen 
des  im  Auge  zerstreuten  Lichtes  zu  kompensieren,  und  wirkt 
auch  unmittelbar  dahin,  die  Helligkeitsunterschiede  benach- 
barter Lichtflächen  deutlicher  hervortreten  zu  lassen.^ 

4.  Trotz  der  Einrichtungen,  welche  einer  schnellen  Er- 
holung der  Netzhaut  dienen,  ist  es  zweckmäfsig,  dafs  intensive 
Lichter  bei  ihrer  Einwirkung  auf  das  Auge  Schutzvorgänge 
hervorrufen,  welche  die  Wirksamkeit  derselben  auf  die  licht- 
empfindliche Netzhautschicht  verringern.  Andererseits  ist  es  zweck- 
mäfsig, dafs  bei  andauernder  stark  herabgesetzter  Beleuchtung 
die  Wirkungsfähigkeit,  welche  die  Lichtstrahlen  für  die  licht- 
empfindliche Netzhautschicht  besitzen,  erhöht  werde.  Diesen 
beiden  Zwecken  dienen  neben  anderen  Einrichtungen  (der 
Variabilität    der    Pupillenweite   und   des   Augenlidspaltes)    die 


^  Nach  der  Theorie  der  Gegenfarben  ißt  der  Prozeis,  der  in  einer 
Netzhantstelle  durch  direkte  Heizung  entsteht,  mit  dem  Prozesse,  der  in 
der  Umgebung  dieser  Stelle  durch  indirekte  Reizung  entsteht,  durch 
eine  einfache  Beziehung  verknüpft:  sie  sind  antagonistische  Vorgänge. 
Die  physiologische  Theorie  des  Zustandekommens  des  Simultankontrastes 
hat  hiemach  nur  die  einfache  Frage  zu  beantworten:  auf  welche  Weise 
oder  nach  Analogie  welcher  anderen  physiologischen  Erscheinungen  hat 
man  die  Thatsache  zu  erklären,  dafs  das  Auftreten  eines  Netzhaut- 
prozesses in  einer  Netzhautstelle  in  den  benachbarten  Netzhautstellen 
den  genau  entgegengesetzten  Netzhautprozeis  hervorruft?  Hingegen 
besteht  nach  denjenigen  Ansichten,  die  sich  nicht  auf  dem  Boden  der 
Theorie  der  Gegenfarben  bewegen,  zwischen  einem  chromatischen  Pro- 
zesse und  dem  ihm  komplementären  Prozesse  im  wesentlichen  ,nur  die 
Beziehung,  dafs  beide  Prozesse  bei  ihrem  gleichzeitigen  Gegebensein 
in  bestimmtem  Jntensitätsverhältnisse  die  Empfindung  von  Weifs  zur 
Polge  haben.  Zwischen  der  Weifserregung  und  der  Schwarzerregung 
oder  dem  Weifsprozesse  und  dem  Schwarzprozesse  besteht  nach  diesen 
Ansichten  gar  keine  nähere  Beziehung.  Die  meisten  Vertreter  der 
letzteren  schweigen  sich  überhaupt  über  die  Schwarzempfindung  ganz 
AUS  oder  sehen  in .  seliger  Unbefangenheit  die  Schwarzempfindung  als 
eine  sehr  wenig  intensive  Weifsempfindung  an.  Man  kann  zweifeln,  ob 
auf  solche  Anschauungen  jemals  eine  physiologische  Theorie  der  Kontrast- 
erscheinungen werde  aufgebaut  werden  können. 


Zur  Psychqphysik  der  Oesichtsempfindungen.  409 

retinalen    Anpassnngsvorgänge    (die    Pigmentwanderung,    die 
Bolle  des  Seiipurpurs). 

5.  Es  ist  zweckmäfsig,  dais  wir  Gesichtsobjekte,  die  wir 
früher'  wahrgenommen  und  hinsichtlich  ihrer  Eigenschaften 
und  Wirkungen  kennen  gelernt  haben,  ohne  weiteres  auch 
dann  wiedererkennen,  wenn  sie  uns  bei  anderer  Beleuchtungs- 
stärke, anderen  Entfernungen  -von  uns  oder  bei  in  sonstiger 
Beziehung  veränderten  Beobachtungsbedingungen  wieder 
entgegentreten  (Prinzip  der  leichtesten  Wiedererkennung). 
Diesem  Zwecke  dienen  diejenigen  (hier  nicht  zu  untersuchenden) 
Einrichtungen,  auf  denen  die  annähernde  Gültigkeit  des 
WsBSRschen  Gesetzes  und  des  Parallelgesetzes  im  Gebiete  des 
Gesichtssinnes  beruht,  sowie  diejenigen  Einrichtungen,  auf 
denen  es  beruht,  dafs  die  subjektive  Helligkeit  eines  Gesichts- 
objektes bei  monokularer  und  binokularer  Betrachtung  nahezu 
dieselbe  ist.^  Soll  der  hier  erwähnte  Zweck  vollständig  er- 
reicht sein,  so  dürfen  sich  femer  die  Qualitäten  und  qualitativen 
unterschiede  der  Gesichtsempfindungen,  welche  gegebene 
Gesichtsobjekte  oder  Teile  solcher  Objekte  erwecken,  nicht 
wesentlich  ändern,  wenn  sich  die  Beleuchtungsstärke  ändert. 
Es  wäre  nichts  weniger  als  zweckmäfsig,  wenn  sich  z.  B.  ein 
teils  rotes,  teils  blaues  Objekt  bei  Verstärkung  der  Beleuchtung 
in  ein  teils  gelbes,  teils  grünes  Objekt  verwandelte.  Eine 
Einrichtung,  welche  an  und  für  sich  im  Sinne  der  soeben  er- 
wähnten Anforderung  wirkt,  ist  die  Konstanz  der  optischen 
Valenzen.  Allein,  wie  auch  sonst  dem  obigen  Prinzipe  der 
leichtesten  Wiedererkennung  nur  annähernd  und  innerhalb 
gewisser  mittlerer  Grenzen  entsprochen  wird,  so  auch  hin- 
sichtlich der  soeben  erwähnten,  aus  demselben  entspringenden 
Anforderung.  Trotz  der  Konstanz  der  optischen  Valenzen 
wird  letzterer  Anforderung  nur  innerhalb  gewisser  Grenzen  der 
Beleuchtungsstärke  hinlänglich  genügt,  und  zwar  hat  diese 
.ünvollkommenheit  in  verschiedenen  umständen,  zum  Teil  in 
Kollisionen  mit  anderen  Nützlichkeitsprinzipien,  ihren  Grund. 
In  erster  Linie  sind  hier  zu  nennen  der  schon  früher  (S.  369  f.) 
näher  erörterte  umstand,  dafs  die  drei  optischen  Spezialsinne 
bei  ihrer  Thätigkeit  in  verschiedenen  Graden  durch  die  nutritiven 


^  Man  vergleiche  hierzu  meine  Schrift  „Zur  Grundlegung  der  Pifgdw- 
jpÄy«*",  S.  407. 


410  O.  E.  Mauer. 

Vorgänge  unterstützt  werden,  femer  die  endogene  Erregung 
der  aientralen  Selisubstanz  und  die  Vorgänge,  welche  bei  ein- 
tretender Adaptation  an  das  Dunkel  die  Weilsvalenzen  im 
Vergleich  zu  den  chromatlBchen  Valenzen  immer  wirksamer 
werden  lassen. 

Eine  weitere  Konsequenz  des  obigen  Prinzipes  der  leichtesten 
Wiedererkennung  ist  folgende:  Soll  es  uns  überhaupt  möglich 
sein,  Gesichtsobjekte,  die  wir  früher  bei  Tagesbeleuchtung 
wahrgenommen  haben,  zu  andereh  Zeiten  bei  Tagesbeleuchtung 
ohne  weiteres  wiederzuerkennen,  so  darf  die  Tagesbeleuchtung, 
soweit  sie  für  unser  Sehorgan  wirksam  wird,  hinsichtlich  ihrer 
Zusammensetzung  aus  Strahlen  verschiedener  Wellenlänge  nicht 
sehr  veränderlich  sein ;  denn  sonst  würde  uns  ein  und  dasselbe 
Objekt  je  nach  der  Tages-  oder  Jahreszeit  oder  je  nach  der 
geographischen  Lage  des  Ortes,  wo  wir  uns  befinden,  in 
wesentlich  verschiedenen  Färbimgen  erscheinen  und  bei  wieder- 
holtem Auftauchen  nur  schwer  und  selten  wiedererkennbar 
sein.  Nun  ändert  sich  die  Intensität  der  uns  treffenden  ultra- 
violetten Strahlen  mit  dem  Zustande  der  Atmosphäre  nnd  der 
Höhe  der  Sonne  über  dem  Horizonte  weit  mehr,  als  die  Inten- 
sität der  eigentlichen  Lichtstrahlen.^  Es  würde  daher,  wenn 
wir  für  XTltraviolett  stark  empfänglich  wären,  die  Beschaffen- 
heit der  Tagesbeleuchtung  und  die  Färbung,  in  welcher  uns 
ein  und  dasselbe  Objekt  erscheint,  je  nach  dem  Zustande  der 
Atmosphäre  und  je  nach  dem  Stande  der  Sonne  eine  sehr 
verschiedene  sein  und  mithin  dem  obigen  Prinzipe  der  leichtesteii 
Wiedererkennung  zu  wenig  entsprochen  werden.  Es  läist  sich 
also  aus  letzterem  Prinzipe  auch  unsere  (annähernde)  ün- 
empfindlichkeit  für  Ultraviolett  ableiten.' 


^  Man  vergleiche  z.  B.  Eobr,  a.  a.  O.  I.  1.  S.  338  ff.;  B.  Spitalbb  in 
Eders  Jdh/rb,  f.  Photogr,  1888.  S.  377  ff.;  Abnxy,  ebenda.  1893.  S.  376.  Da£s 
die  ultravioletten  Strahlen  je  nach  Jahreszeit  nnd  Tagesstunde  heträcht- 
liehe  unterschiede  nicht  blofs  quantitativer,  sondern  auch  qualitativer 
Art  zeigen,  haben  schon  Bunsbn  und  Boscos  festgestellt  (Poggendorfs 
Ann.  101.  1867.  S.  263). 

*  Einen  zweiten  Gesichtspunkt  hat  in  dieser  Hinsicht  A.  Fick 
{Hermanns  Handb.  d.  Physiol.  3. 1.  S.  182)  geltend  gemacht.  Er  weist  darauf 
hin,  daTs  der  Brechungsindex  im  Bereiche  der  ultravioletten  Strahlen 
sehr  rasch  mit  der  Schwingungszahl  zunimmt,  und  dais  mithin  im  Falle 
einer  erheblichen  Empfindlichkeit  f&r  Ultraviolett  die  Deutlichkeit 
unserer   Bilder    durch    die    chromatische    Abweichung    des    brechenden 


Zwr  Psychophysik  der  Gesichtsempfindungen,  411 

Wie  bekannt,  ist  die  Zusammensetzung  des  Tagesliehtes 
ans  den  roten,  gelben,  grünen  u.  s.  w.  Liohtstrahlen  zwar 
-weniger  schwankend,  als  die  Stärke  und  Beschaffenheit  des 
ultrayioletten  Lichtes,  aber  immerhin  keineswegs  konstant 
(man  vergleiche  z.  B.  H.  "W.  Vogel  in  Eders  Jahrb.  f.  Photogr, 
1890.  8. 197  fi.).  Die  Erwägung  dieser  Thatsache  läüst  uns  auch 
dem  umstände,  dafs  die  beiden  chromatischen  Sinne  hinsichtlich 
der  Erregbarkeit  so  sehr  hinter  dem  Weifsschwarzsinne  zurück- 
stehen, eine  zweckmäfsige  Seite  abgewizmen.  Wäre  letzterer 
Sinn  schwach,  während  die  beiden  chromatischen  Sinne  sich 
so  hinsichtlich  ihrer  Erregbarkeit  verhielten,  wie  sich  that- 
säohlich  der  WeiCsschwarzsinn  verhält,  so  würde  uns  z.  B.  ein 
und  dasselbe  Objekt  zu  der  einen  Tagesstunde  gelb  mit  einem 
nur  geringen  Stich  ins  Weifsliche,  zu  einer  anderen  Tages- 
stunde vorwiegend  bläulich  und  zu  anderen  Stunden  in  noch 
anderen  Färbungen  erscheinen,  was  dem  obigen  Prinzipe  der 
leichtesten  Wiedererkennung  direkt  widerspräche.  Das  that- 
sächliche  Stärkeverhältnis  zwischen  dem  Weifsschwarzsinn  und 
den  beiden  chromatischen  Sinnen  ist  zweckmärsigerweise  so 
bemessen,  dafs  uns  zwar  solche  Gesichtsobjekte,  welche  vor- 
wiegend nur  aus  einer  beschränkten  Spektralregion  Licht- 
strahlen aussenden,  durch  die  Besonderheit  ihrer  Färbung 
erkennbar  und  wiedererkennbar  werden,  hingegen  die  zufälligen 
Schwankungen  der  Beschaffenheit  des  Tageslichtes  das  Aus- 
sehen der  Gesichtsobjekte  nicht  wesentlich  zu  verändern  ver- 
mögen. 

6.  Die  biologische  Bedeutung  der  endogenen  Erregung  der 
Sehsubstanz:  Angenommen,  es  wäre  in  denjenigen  Teilen  der 
zentralen  Sehsubstanz,  welche  in  Verbindung  zu  Netzhautstellen 
stehen,  die  gegenwärtig  gerade  von  keinem  oder  nur  einem 
minimalen  Reize  getroffen  werden,  ein  psychophysischer  Prozefs 

Apparates  merkbar  beeinträchtigt  sein  würde.  Für  Tierarten,  welche 
hinsichtlich  der  Wahrnehmung  der  für  sie  wichtigen  Objekte  (infolge 
schärferen  Geruchssinnes  u.  dergl.)  nicht  in  so  wesentlichem  Grade  wie 
die  Menschen  auf  den  Gesichtssinn  angewiesen  sind,  kommt  natürlich 
der  obige  Gesichtspunkt  weniger  in  Betracht.  Inwieweit  die  manchen 
niederen  Tierarten  zugeschriebene  feinere  Empfindlichkeit  ftür  atmo- 
sphärische Veränderungen  einfach  auf  die  bei  solchen  Tierarten  nach- 
gewiesenermaXsen  Yielfach  Torhandene  höhere  Empfindlichkeit  fttr  die 
▼en  den  Zuständen  der  Atmosphäre  stark  abhängigen  ultrayioletten 
Strahlen  zurückzuführen  ist,  bleibt  noch  zu  untersuchen. 


412  0.  E.  Müller. 

überhaupt  nicht  vorhanden,  so  wtLrden  dunkle  Gegenstande 
des  Sehfeldes  Gefahr  laufen,  ebenso  wie  diejenigen  Gegen- 
stände, deren  Bilder  auf  den  blinden  Fleck  fallen,  in  unserer 
Wahrnehmung  ganz  auszufallen.^  Da  nun  aber  die  Wahr- 
nehmung  des  Daseins  und  der  Bewegung  oder  Euhe  der  nur 
wenig  Licht  ausstrahlenden  Gegenstände  durchaus  in  unserem 
Interesse  liegt,  so  besteht  in  jeder  von  der  Netzhaut  her  nicht 
gereizten  Partie  der  zentralen  Sehsubstanz  eine  S-  und  W* 
Erregung,  welche  bewirken,  dafs  die  entsprechenden  Stellen  des 
Sehfeldes  uns  in  einer  grauen  Nuance  erscheinen.  Sind  in  den 
betre£Penden  Netzhautstellen  die  Differenzen  J^ — I„X- — Ig  und 
/,— Jj  merkbar  von  Null  verschieden,  so  wird  die  Erregung 
der  zentralen  Sehsubstanz  in  der  früher  (S.  343  f.)  angegebenen 
Weise  durch  die  Thätigkeit  der  Netzhaut  modifiziert. 

Inwieweit  die  endogene  Erregung  der  Sehsubstanz  auch 
für  die  Entwickelung  der  Baumanschauung  des  Gesichtssinnes 
von  Bedeutung  ist,  soll  hier  nicht  in  Überlegung  gezogen 
werden. 

7.  Was  endlich  die  biologische  Bedeutung  des  Ümstandes 
betrifft,  dafs  die  auf  den  Sehnerven  einwirkenden  Netzhaut- 
prozesse auf  dem  Wege  der  photochemischen  Induktion 
hervorgerufen  werden  und  infolgedessen  nicht  sofort  mit  ihrer 
vollen  Intensität  auftreten  und  plötzlich  wieder  schwinden, 
sondern  allmählich  anklingen  und  abklingen,  so  ist  hier  an  die 
Bolle  zu  erinnern^  welche  die  positiven  Nachbilder  bei  unserer 
Bewegungswahmehmung  spielen  (man  vergleiche  W.  Stkrn  in 
dieser  Zeitschrift,  7.  1894.  S.  363  ff.).  Zweitens  ist  daran  zu 
erinnern,  dafs  eine  intermittierende  Beizung  der  Sinnesnerven, 
insbesondere  auch  des  Sehnerven,  falls  die  Intermissionen  ein- 
ander schnell  folgen,  uns  unangenehm  und  anscheinend  auch 
schädlich    ist.     Falls    nun    die    Netzhautprozesse   im  Momente 


*  Erhebt  man  den  Einwand,  dafs,  ganz  abgesehen  von  der  Licht- 
zerstreuung  im  Auge,  auch  ein  sehr  dunkles  Objekt  noch  eine  gpewisse 
Menge  von  Licht  ausstrahle,  so  übersieht  man,  dafs  der  EinfluTs,  den 
ein  dunkles  Objekt  auf  die  entsprechende  Netzhautstelle  ausübt,  durch 
die  in  entgegengesetztem  Sinne  sich  geltend  machende  indirekte  Beizung; 
welche  von  benachbarten  helleren  Objekten  ausgeht,  leicht  völlig 
kompensiert  werden  kann,  so  dafs  trotz  der  thatächlicben  Lichtaus- 
strahlung des  dunklen  Objektes .  an  der  entsprechenden  Netzhautstelle 
1^  —  1,^=^  Ir—Ig  =  L—Ih  =  0  ist. 


Zur  Psychophysik  der  Gesichtse^pfindwhgen.  413 

des  Auftretens  der  betreflPenden  Beize  ganz  plötzlich  in  ihrer 
vollen  Stärke  erstünden  und  im  Momente  des  Aufhörens  der 
Beizung  ebenso  plötzUch  wieder  herabsänken,  so  würden  wir 
in  vielen  Fällen  schon  bei  einer  mäfsig  schnellen  Wanderung 
des  Blickes  über  eine  Beihe  verschiedener  Gegenstände  hin 
eine  Beizune  von  schroff  intermittierender  Art  erfahren,  was 
nichts  weniger  als  ^  Bückbewegungen  auffordernd  und  z^^V- 
mäfsig  sein  würde. 

Hiermit  möge  diese  biologische  Betrachtung  beendet  sein. 
Wir  haben  nicht  Anlafs,  auch  noch  andere  Einrichtungen  des 
Sehorganei,  die  in  keiner  Beziehung  zu  den  hier  behandelten 
psychophysischen  Fragen  stehen»  etwa  ausschliefslich  der  räum- 
lichen Wahrnehmung  dienen,  in  gleicher  Hinsicht  zu  erörtern.' 

^  Auf  die  biologische  Bedeutung  des  zwischen  dem  Netzhautzentrum 
und  der  Netzhautperipherie  bestehenden  Erregbarkeitsunterschiedes  sind 
wir  nicht  eingegangen,  weil  dieselbe  schon  von  Anderen  hinlänglich  er- 
örtert worden  ist.  Man  vergleiche  z.  B.  KnusoHXAKV  in  Wvndts  Pküas. 
Shid.,  5.  S.  490  f. 

(SchlulB  folgt.) 


Beschreibnng  eines  neuen  Chronographen. 

Von 

Saymoni)  Dodge 

z.  Zt.  Halle  a.  8. 

(Mit  2  AbMldnngen  im  Text) 

Wälirend  des  Verlaufs  einer  Beihe  von  psychologischen 
nnd  psychophysiologischen  Untersuchungen  unter  Leitung  des 
Herrn  Prof.  Benno  Ebdmann  an  der  Universität  Halle  wurde 
es  notwendig,  eine  gröfsere  Anzahl  genauer  Zeitmessungen  sn 
machen. 

Es  erschien  zweckmäJGsig,  den  Messungen  eine  leicht  auf- 
zubewahrende Form  zu  geben.  Aus  diesem  Grunde,  dann  aber 
auch,  weil  sehr  verschiedene  Zeiten  innerhalb  des  Intervalles 
von  1^'  bis  0.001^'  zu  messen  waren,  schien  das  Hippsche 
Chronoskop  unanwendbar.  Die  Chronographen  verschiedener 
Arten,  die  zu  solchen  Zwecken  geeignet  sind,  waren  wegen 
ihrer  Herstellungspreise  und  des  mit  ihrer  Benutzung  ver- 
bundenen Zeitverlustes  ebenfalls  ausgeschlossen. 

unter  diesen  umständen  entwarf  ich  den  Plan  eines  ein- 
fachen Chronographen,  dessen  Ausführung  nach  meinen  Zeich- 
nungen (durch  den  Präzisions-Mechaniker  Wesselhöft-Halle 
a.  S.)  die  Zustimmung  des  Herrn  Prof.  B.  Ebbmann  und  die 
bereitwillige  Unterstützung  des  Herrn  Kurators  der  Universität 
ermöglichte. 

Der  Chronograph  hat  sich  in  unseren  Untersuchungen  so 
durchaus  bewährt,  dafs  es  zweckmäfsig  erscheint,  ihn  weiteren 
Kreisen  zugänglich  zu  machen. 

Das  Instrument  setzt  sich  aus  einem  Begistrierapparat 
und  einer  elektromagnetisch  armierten  Stimmgabel  zusammen. 

Der  Begistrierapparat  (Fig.  I)  ruht  auf  einer  festen 
Unterlage   von  geschwärztem  Holz,    die   ungefähr  25  cm  lang 


Saehreibung  einet  fMNOi  Chronographen. 


416  Itaymcmd  Dodge, 

und  18  cm  breit  ist.  Etwa  9  cm  von  der  einen  schmalen  Seite 
entfernt,  befinden  sich  2  Hufeisen-Elektromagnete  (M  M)y  deren 
gegenseitiger  Abstand  durch  die  Schrauben  ZZ  reguliert 
werden  kann.  Zwischen  den  Magneten  befinden  sich  in  horizon- 
taler Lage  zwei  breite,  dünne  Messingstäbchen  (S  S)^  welche 
unabhängig  von  einander  vibrieren  können.  An  ihnen  sind, 
den  Magneten  entsprechend,  zwei  Blättchen  (Ä  Ä)  von  weichem 
Eisen  als  Anker  befestigt.  Die  Messingstäbchen  berühren  durch 
die  Messerschneiden  m  die  senkrechten  Lager  C  C,  und  werden 
durch  eine  starke  Stahlfeder  (F)  an  die  senkrechtstehende 
Stütze  B  gedrückt.  Jedes  von  beiden  ist  also  horizontal  nur 
in  der  Bichtung  auf  seinen  Magneten  innerhalb  kleiner  Q-renzen 
um  die  senkrechte  Axe  aa  beweglich. 

An  den  Spitzen  (EE)  der  Messingstäbchen  sind  dünne 
Messingfederhalter  befestigt.  Diese  sind  so  konstruiert,  dais  sie 
einige  Tropfen  Tinte  halten,  welche  nach  dem  Prinzip  der 
FüUfedem  an  die  Spitze  der  Schreibfedem  geleitet  werden. 
Diese  Federn  ruhen  auf  dem  horizontalen  Täfelchen  T. 

Vor  dem  Täfelchen  stehen  zwei  wagerechte  Walzen  unter- 
einander. Die  obere  Walze  (W)  rotiert,  auf  der  Welle  des 
Bades  H  befestigt,  mit  diesem.  Die  untere,  auf  der  Zeichnung 
nicht  sichtbare  Walze  wird  durch  die  Messingfedem  JP^  F"  gegen 
den  unteren  Teil  der  oberen  Walze  gedrückt. 

Die  Drehung  des  Bades  (H)  in  der  Bichtung  des  Pfeiles  F 
treibt  einen  zwischen  die  Walzen  geschobenen  Papierstreifen 
auf  der  Ebene  T  unter  den  Federn  b  b  vorbei.  Durch  das 
gebogene  Stäbchen  T  wird  der  Papierstreifen  in  die  schräg 
nach  unten  verlaufende  Bahn  N  geleitet  und  durch  die 
horizontal  verlaufende  untere  Fortsetzung  dieser  Bahn  bei  X 
herausgeführt. 

Durch  einen  Druck  auf  die  Federn  jF"  F"  vermittelst  der 
ü-förmigen,  an  ihnen  befestigten  Brücke  B  wird  die  untere 
Walze  so  nach  unten  gedrückt,  dafs  die  Bewegung  des  Papier- 
streifens in  jedem  Augenblick  unterbrochen  werden  kann.  Der 
Druck  auf  B  wird  in  dem  vorliegenden  Instrument  durch  den 
Finger  ausgeübt.  Er  kann  durch  eine  einfache  Vorrichtung 
auf  elektromagnetischem  Wege  hergestellt  werden. 

Sind  die  Messingstäbchen  in  der  Buhelage,  so  zeichnen 
die  Schreibfedern  auf  den  bewegten  Papierstreifen  zwei  parallele 
G-erade.     So    oft   auf  G-rund  der  Auslösung  eines  Stromes  die 


BesehreHning  eitus  n€um  Chronographen.  417 

Anker  Ton  den  Elektromagneten  angezogto  werden»  antufcehen 
an  den  Geraden  Ansbnchtungen  von  entsprechender  Länge. 

Indem  man  den  einen  der  Magneten  in  eine  durch  die 
Schwingungen  einer  Stiznmgabel  nnterbrochene  Leitung  einfügt, 
seichnet  die  ihm  zugehörige  Schreibfeder  die  Schwingungskurve 
der  Stimmgabel  auf  das  bewegte  Papier.  Wird  der  andere 
Magnet  einer  zweiten  Stromleitung  eingefügt,  so  daüs  der 
Strom  von  d^[  zur  Messung  bestimmten  Vorgängen  unter- 
brochen wird,  so  entstehen  entsprechende  Ausbuohtungeai,  deren 
Entfemimg  von  einander  an  der  Stimmgabelkurve  leicht  ab- 
gemessen werden  kann. 

Bei  bekannter  Schwingungszahl  der  Stimmgabel  ist  das 
Zeitintervall  einfach  zu  berechnen. 

Im  thatsächlichen  Gebrauche  waren  abwechselnd  eine 
Stimmgabel  von  250  Schwingungen  in  V\  und  eine  genau  gehende 
TThr,  deren  Echappement  den  Strom  zweimal  in  jeder  Sekunde 
unterbrach,  als  Malsmittel  benutzt.  Die  ühr  wurde  für  die 
Messung  längerer  Zeiten  verwendet,  bei  denen  eine  Genauig- 
keit bis  zu  0.1'^  hinreichend  war. 

um  die  Stimmgabel  dieser  neuen  Form  des  Begistrierens 
anzupassen,  ist  es  zweckmäfsig,   zwei    Eontakte  zu  benutzen. 

Der  eine  dient  als  Eontakt  für  die  Erhaltung  der  Stimm* 
gabelschwingungen.  Der  andere  dient  der  Übertragung  auf 
den  Begistrierapparät,  und  wird  so  eingestellt,  dafs  der  Strom- 
schlufs  erst  im  letzten  Moment  der  Schwingung  erfolgt.  Dies 
ist  notwendig,  damit  ein  hinreichender  Wechsel  der  Intensität 
des  induzierten  Magnetismus  möglich  wird. 

Die  Benutzung  eines  zweiten  Eontakts  bietet  insofern  einen 
Vorteil,  als .  andernfalls  die  Amplitude  der  Anfangsschwingung 
«ine  sehr  jprofse  sein  mufs,  um  die  Berührung  mit  dem  Queck« 
ailber  zu  erreichen. 

um  zu  prüfen,  bis  zu  welchem  Teil  von  V  die  Messungen  zu- 
verlässig sind,  wurde  folgende  Eontroll  versuche  ausgeführt,  unter 
•ein  mit  Stahlschneide  auf  einem  Stahllager  ruhendes  Pendel, 
•dessen  Bewegung  stets  von  ein  und  demselben  Punkt  seines 
Bogens  aus  erfolgt,  waren  zwei  Stromunterbrecher  (Fig.  11)  an* 
gebracht,  die  aus  kleinen,  leicht  bewegbaren  rechtwinkeligen. 
Stückchen  Messing  (^  8)  bestehen.  Diese  sind  um  die  Axen  A  A 
drehbar.  Indem  die  Pendelspitze  die  Spitze  B  schlägt,  wird 
<lie  Leitung  KAZM  tmter brechen.    B  fällt  nach  unten  und 

Zeitschrift  fftr  Psjehologie  X.  27 


418 


Baymond  Dodge. 


.^berührt  das  Quecksilber  in  Hj  wodurch  die  Leitung  KÄ  BHÄ'  M 
hergestellt  wird,  welche  wiederum  unterbrochen  wird,  sobald 
die  Pendelspitze  die  Spitze  B'  berührt.  In  dieser  Weise  ent- 
steht eine  gleichmäfsige  zweifache  Unterbrechung.  Indem  die 
Leitung  (KM)  durch  den  Begistrierapparat  geführt  wird,  ge- 
winnt man  ein  Mittel,  die  Zuverlässigkeit  der  Messungen  zu 
kontrollieren.  In  einer  Beihe  von  60  Versuchen  waren  jedes- 
mal die  Besultate  so  genau,  wie  die  Möglichkeit  der  verr 
gleichenden  Messung  mit  dem  Zirkel  gestattet. 


JB' 


•        • 


e 


H 


•:«•*» 


JÜLÄJLQ. 


üüUjAflLOjiAgp 


Fig,  IL 


In  jedem  Falle  wurden  nicht  die  Anfange  der  Ausbuchtung» 
sondern  ihre  schärfer  begrenzten  Enden  gemessen. 

Die  Stimmgabel  hat  die  Schwingungszahl  250.  Die  An- 
zahl der  Schwingungen  zwischen  den  beiden  zur  Kontrolle 
dienenden  Unterbrechungen  durfte  auf  34 Vs  angesetzt  werden, 
denn  in  keinem  Falle  war  es  möglich,  das  Resultat  der  Messung 
als  35  oder  34%  Schwingungen  zu  bestimmen.  Dafs  eine 
kleine  Schwankung  um  die  Gröfse  von  3478  bemerkt  wurde, 
kann  an  meiner  Unfähigkeit,  die  Teilung  genau  zu  machen,  oder 
an  einer  Unzuverlässigkeit  des  Apparates  innerhalb  gewisser 
Grenzen  liegen.  Dafs  die  Gesamtschwankung  niemals  ein 
Achtel  einer  Schwingung  überstieg,  entspricht  einer  Zuvor* 
ässigkeit  der  Zeitmessung  bis  zu  0.0005". 


Beachreiifung  eines  tieueii  Chronographen,  419 

Für  diese  Messungen  wurde  eine  Geschwindigkeit  der  Ber 
wegung  des  Papierstreifens  von  etwa  70  om  in  1^'  benutzt.  Jede 
Doppelscliwingungskurve  der  Stimmgabel  war  also  2.8  nun.     . 

Eine  obere  Grenze  der  Geschwindigkeit,  bei  welcher  die 
Federn  nicht  mehr  2uverläXsig  schreiben  werden,  ist  von  mir 
nicht  erreicht  worden ;  aber  schon  bei  der  obigen  Geschwindig«> 
»keit  sind  die  Linien  etwas  schwach.  Eine  Geschwindigkeit 
von  36  bis  5d  cm  in  V  giebt  viel  schönere,  stärkere  Linien^ 
und  ftür  Messungen    bis   zu  0.001'^  reicht    sie  vollständig  aus. 

Die  Triebkraft,  die  zur  Drehung  des  Bades  H  diente,  war 
durch  eine  drehende  Welle  gegeben,  die  durbh  ein  von  einem 
Gewicht  getriebenes  Schnurradwerk  in  Botation  gesetzt  war» 
Obgleich  die  Geschwindigkeit  der  Bewegung  des  Papierstreifens 
demnach  nur  innerhalb  kleiner  Zeiten  konstant  war,  waren 
ihre  Änderungen  doch  so  regelmäfsig,  dafs  sie  durchaus  be- 
deutungslos blieben. 

Wenn  es  notwendig  wird,  kann  leicht  ein  Bäderwerk 
zum  Drehen  der  Walzen  W  mit  dem  Apparate  verbunden 
werden. 

Ein  solches  Bäderwerk  ist  jetzt  nach  meiner  Angabe  von 
dem  Mechaniker  Wesselhöft  konstruiert  worden,  und  wird 
in  der  Abhandlung,  die  über  unsere  Untersuchungen  berichten 
soll,  beschrieben  werden. 

Zwei  nicht  unbedeutende  Mängel  haften  dem  Ohrono*- 
graphen  an. 

In  der  vorliegenden  Form  weist  der  Begistrierapparat  nur 
zwei  Schreibfedem  auf.  Die  eine  registriert  die  Schwingungen 
der  Stimmgabel  oder  des  Echappements  im  Uhrwerke;  für  die 
Begistrierung  des  zu  messenden  Zeitintervalls  bleibt  daher  nur 
eine  zweite  zur  Verfügung.  Die  genaueste  Form  eines  solchen 
Begistrierens  wird  durch  zwei  Unterbrechungen  oder  durch  zwei 
Kontakte  erzengt.  Die  Herstellung  dieser  Bedingungen  kann 
technisch  schwierig  sein.  Aus  diesem  Gh:iinde  wird  die  Messung 
von  drei  aufeinanderfolgenden  Vorgängen  noch  schwieriger.  > 
Der  zweite  Mangel  besteht  in  der  Schwierigkeit,  negative 
Zeiten  zu  messen.  Dafs  diese  Mängel  aufzuheben  sind,  z.  B. 
durch  die  Anwendung  noch  einer  Schreibfeder  mit  entsprechendem 
Magneten,  is^  ohne  weiteres  ersichtlich. 

In  diesem  Falle  wird  am  besten  ein  Stäbchen  in  der  Längs- 
richtung des  Papierstreifens,  die  zwei  anderen  schräg  zu  dieser 

27* 


490  Suffmmi  Dodge. 


gsttallt,  oad  zwar  so,  dafs  die  Sohreibfedem  einander  möglichst 
nahe  stehen.  Es  ist  mir  jedoch  zweifelhaft,  ob  eine  solche 
Komplikation  des  Instnimetttes  zu  empfehlen  sei  Erstens  ist 
die  genauere  Messung  von  negativen  Zeiten  bis  jetst  that- 
sächlich  von  geringer  Bedentung.  Wenn  es  aber  notwendig 
wird,  negative  Zeiten  zu  bestimmen,  so  wird  dies  auch  mit 
Hülfe  des  vorliegenden  Apparates  in  dem  Falle  ausfahrbar, 
dals  die  ünterfarechnngen  Zugleich  bestimmte  and  versohiedane 
Lftngen  haben;  sribstverständlioh  aach  dann,  wenn  mehr  als 
awei  Vorgänge  sn  messen  sind. 

Wird  eine  dritte  Schreibfeder  hinzngef&gt,  so  wird  das 
InstnmLMit  auch  dadurch  kompliziert,  dafs  ein  Kontrollhammer 
oder  eine  ähnliche  Vorrichtung  zur  Kontrolle  der  gleichzeitigen 
Bewegung  der  Stäbchen  angebracht  werden  muis. 

Als  besondere  Vorzüge  des  Instrumentes  sind  anzuerkennen : 

Erstens,  dafs  es  ein  ebenso  zuverlässiger  wie  einfacher  and 
leicht  zu  handhabender  Chronograph  ist.  Seine  leichte  Be- 
weglichkeit macht  ihn  zum  allgemeinen  Gebrauche  im  Institut, 
sowie  zu  Demonstrationszwecken  geeignet. 

Zweitens,  dafs  er  es  möglich  macht,  feste,  mit  Tinte  ge- 
sc^uriebene  Zeitkurven  zu  erlangen,  die  ohne  weiteres  aufbewahrt 
werden  können. 

Drittens  sind  die  Herstellungskosten  unvergleichlich  geringer, 
als  die  irgend  eines  anderen  Chronographen  von  gleicher  Präzision. 
Sie  betragen  für  den  einfachen  Begistrierapparat  etwa  50  Mark. 
'  Endlich  ist  sein  beinahe  unzerstörbarer,  solider  Bau  gegen- 
über dem  ebenso  verwickelten,  wie  leicht  angreifbaren  Bau 
der  jetzt  gebräuchlichen  Mechanismen  kaum  zu  hoch  zu  schätzeiL 

Auiser  als  Chronograph  im  engeren  Sinne  lä&t  der  Apparat 
sioh  zweokmälsig  auch  zu  Kontrollversuchen  verwenden.  Z.  B. 
lassen  sich  mit  seiner  Hülfe  Stimmgabeln  einfach  gegen  ein- 
ander auf  ihre  Sohwingungszahl  prüfen. 

Wir  haben  fOr  unsere  Versuche  Leclanche-EUemente  von 
etwa  25  cm  Höhe  benutzt.  Irgend  welche  anderen  konstanten 
Elemente  sind  dazu  gleich  gemgnet.  Zu  der  einfachen  Form  sind 
drei  Ketten  notwendig :  die  eine  zur  Erhaltung  der  Stimmgabel- 
schwingungen, die  zweite  zur  Übertragung  der  Schwingungen 
auf  den  Begistrierapparat,  die  dritte  zur  Bewegung  der  »weiten 
Schreibfeder.  Bei  allen  unseren  Messungen  bestanden  die  erste 
und  dritte  Kette  aus  je  drei  Elementen,  die  zweite  Kette  aus  f&nf. 


über  Kontrast  und  Konfluxion. 

(Zweiter  Artikel.) 

Von 
F.  C.  MüIiLba--Ltbb. 

(Mit  26  Figuren  Im  Text.) 

Jn  dieser  Zeitsthrift  Bd.  XI,  Heft  8/4  finde  ioh  eint  Arbeit 
von  G.  Hetmaks,  in  der  tioh  der  Verfasaer,  nach  dem  Vorgange 
A.  BiNETs,^  die  Aufgabe  stellt,  die  quantitativen  Yerli&ltnisae 
der  Konfluxionstäuscbung  doroh  Messung  an  mner  grdfieren 
AnzaU  von  Individuen  festzustellen.'  Die  Messungen  Binets 
und  HsTMASs'  beziehen  sieh  auf  wohl  alle  Fragen,  dia  über 
diese  quantitativen  Verhältnisse  der  Täuschung  bis  j^tzt  auf* 
geworfen  und,  zum  Teil  wenigstens,  von  verschiedenen  Beob^ 
achtem  in  nicht  ganz  gleichlautender  Weise  beantwortet  worden 
waren,  so  dals  wir  jetzt  ein  Zahlenmaterial  besitzen,  das  auch 
auf  die  Theorie  ein  helleres  Licht  wirft,  als  es  bisher  der  Ji^aU 
war.  Hetmans  b^iutzt  denn  auch  die  Resultate  dieser  quan« 
titativen  Untersuchungen  dazu,  die  Entstehung  der  Täuschung 
aufzuklären,  wobei  er  u.  a.  zu  dem  SehluTs  kommt,  dals  die 
von  mir  verteidigte  Kontrast-  und  Konfluxionstheorie  nidit 
richtig  sei.  Diesem  Teile  der  Arbeit,  der  zu  Mifsverständnissen 
mehrfach  Veranlassung  geben  könnte,  möchte  leh  eine  kurze 
Beeprechung  widmen. 

Es  sind  nicht  weniger  als  sieben  Einwände,  die  Hbymans 
gegen  die  Konfluxionstheorie  ins  Treffen  fahrt,  deren  Anzahl 
sieh  aber  hti  näherem  Zusehen  bedeutend  vermindert,  da  vier 
der  Einwände  sich  überhaupt   gar  nicht  auf  die  Konfluxions* 

^  A.  BiNBT,  La  mesure  des  illusions  visuellss  ohez  les  enfants.  Ew, 
pkilM.  1895.  Juli-Heft.  S.  11. 

*  G.  riBYMAVS,  Quantitative  üntersnchungeii  über  das  „optische 
Paradoxon''.    Diese  Zeüschr.  IX.  8.  221.  1895. 


422  ^.  C.  Mütler-Lyer, 

theorie  beziehen,  sondern  auf  eine  Modifikation  derselben,  die 
mir  vollständig  fremd  ist,  nnd  die  ich  ebenfalls  für  leicht  zu 
widerlegen  halte. 

Meine  tSrklärang  lautete  nämlich  [Du  Bois-Reymonds  Arch. 
f.  Physiol  1889.  Suppl.  S.  266  und  diese  Zeitschr.  IX.  S.  2) : 
„Man  hält  die  beiden  Linien  für  verschieden  grofs,  weil  man 
bei  der  Abschätzung  nicht  nur  die  beiden  Linien,  sondern 
unwillkürlich  auch  einen  Teil  des  zu  beiden  Seiten  der- 
selben abgegrenzten  Baumes  mit  in  Anschlag  bringt." 

Was  wird  nun  bei  Hbtmans  aus  diesen  "Worten?  (L.  c. 
S.  236): 

„Was  zuerst  die .  älteste,  von  Mülleb-Lyeb  vorgetragene 
Hypothese  betrifft,  nach  welcher  die  „Koniiuxion**  der  Ver- 
gleichslinien mit  hinzugedachten  gröfseren  und  kleineren 
Nebenlinien  der  Täuschung  zu  Grunde  liegen  sollte^ 

Also  an  die  Stelle  des  wirklich  existierenden  optischen 
Reizes,  von  dem  ich.  spreche,  treten  nun  bei  Hetmans  plötzlich 
^hineingedachte  NebenUnien^ 

Es  war  gerade  ein  Vorzug  meiner  Hypothese,  dafs  9ie 
nicht  aus  Hineingedachtem  heraus  erklärte,  sondern,  wie  ich 
zum  ÜberfluTs  mehrfach  ausdrücklich  betone  (z.  B.  diese  Zeiischr. 
IX,  S.  3,  S.  8),  sich  nur  auf  die  wirklichen  optischen  Beize 
bezog,  wie  sie  in  der  Figur  unleugbar  vorhanden  sind.  Auch 
findet  sich  an  keiner  einzigen  Stelle  meiner  beiden  Arbeiten 
äuct  nur  ein  Wort  von  „hineingedaohten  Nebenlinien^.  Das 
mufs  wohl  auch  Heymans  aufgefallen  sein.  Denn  er  zitiert 
zum  Beleg  seiner  Auffassung  nicht  etwa  eine  bestimmte 
Stelle  aus  meinen  Arbeiten,  sondern  diese  in  ihrem  voUen 
umfang,  von  der  ersten  bis  zur  letzten  Seite  (1.  c.  die  Fu&note 
S.  236). 

unter  Zugmndelegung  dieser  Verwechselung  läfst  sich 
nun  allerdings  manches  gegen  die  Theorie  vorbringen,  wie  sich 
bald  zeigen  wird,  wenn  wir  nun  die  verschiedenen  Einwände 
Heymans'  einen  nach  dem  anderen  ins  Auge  fassen. 

Der  erste  Einwand  hat  allerdings  mit  den  „hineingedachten 
Nebenlinien^  nichts  zu  thun;  er  lautet  (S.  247.  L  c):  Die 
Konfluzionstheorie  kann  zwar  das  „Cosinusgesetz^  erklären, 
aber  nicht  das  „Maximumgesetz^. 

Auf  diese  beiden,  von  Heymans  aufgestellten  Gesetze  mufs 
ich  hier  zunächst  etwas  näher  eingehen. 


über  KowtrMt  und  Konfluxion.  423 

Über  die  Abhängigkeit  der  Intensität  der  TäuiBohung  von 
der  Winkelgröfse  hätte  ich  in  meiner  ersten  Abhandlung  (1.  c. 
S.  263)  den  Satz  aufgestellt:  ^Läfst  man  den  einen  Schenkel: 
eines  Winkels  von  0®  bis  180^  wandern,  so  erscheinen  die 
beiden  Schenkel  um  so  länger,  je.gröfser  der  Winkel  wird.^ 

Die  [Richtigkeit  dieses  ßatzes  ist  unterdessen  mehrfach 
(von  Laska,  fiBENTANO,  Auebbagh)  angefochten,  worden.; 
Heykans  bestätigt  und  präzisiert  ihn  nun,  indem  er  auf  Grund- 
lage seiner  quantitativen  Untersuchungen  findet  (1.  c.  S.  227), 
„dafs  die  Täuschung  von  90^  bis  10^  fortwährend  zunimmt^, 
und  zwar  so,  „dafs  eine  nahezu  vollständige  Proportionalität 
zwischen  dem  Cosinus  des  Schenkelwinkels  und  dem  mittleren 
Betrag  ^  der  Täuschung  besteht^.  Allerdings  umfafst  das 
„Cosinusgesetz^  nicht  alle  FäUe  der  Täuschung,  es  gilt  nur 
für  kurze  Winkelschenkel,  während  sich  bei  längeren  Schenkeln 
eine  davon  abweichende  Funktion  ergiebt.  Bedenkt  man 
aufserdem,  mit  welcher  Vorsicht  derartige  mathematische 
Formulierungen  physiologischer  Funktionen  aufzunehmen  sind 
—  ich  erinnere  nur  an  die  zahlreichen  sich  widersprechenden 
Funktionsgleichungen,  die  über  die  Abhängigkeit  der  relativen 
TJnterschiedsempfindlichkeit  von  der  absoluten  Beizstärke  auf- 
gestellt worden  sind  — ,  so  erscheint  es  fraglich,  ob  meine 
Formulierung  durch  das  „  Cosinusgesetz '^  wird  ersetzt  werden 
können;  jedenfalls  ergeben,  aber  die  Messungen  Heymans'  eine 
wohl  definitive  Bestätigung. jenes  Satzes. 

Das  zweite  von  Hetmans  aufgestellte  G-esetz,  das  „Maximum- 
gesetzt,  formuliert  die  Abhängigkeit  der  Intensität  der  Täuschung 
von  der  Schenkellänge  (1.  c.S.  231):  „Bei  fortgesetzter  Schenkel- 
verlängerung nimmt  allgemein  die  Täuschung  anfangs  zu, 
erreicht  dann  ein  Maximum  und  nimmt  schliefslich  wieder  ab.^ 

Während  nun,  nach  Hetmans,  das  Cosinusgesetz  in  guter 
Übereinstimmung  mit  der  Konfluxionstheorie  steht,  so  soU  das 
Maximumgesetz  damit  durchaus  unvereinbar  sein.  Heymans 
giebt  an,  dafs  ich  „ausdrücklich  die  Erwartung  ausgesprochen 
hätte,  dafis  die  Täuschung  mit  wachsender  Schenkellänge  fort- 
während zunähme^,  und  zitiert  als  Beleg  dafür  eine  Stelle  aus 
meiner  ersten  Arbeit;  ^  aber  er  übergeht  vollständig  das  ganze 
sechste  Elapitel  meiner  zweiten  Arbeit,  das  von  der  Komplexität 
der  Trugmotive  im  allgemeinen  und  von  dem  Antagonismus 
zwischen   Kontrast   und   Konfluxion   im    besonderen    handelte 


424  F.  C  MmOar-Lfftr. 

leb  zeigte  dort  nicht  nur,  dafs  eine  Vermehnuig  der  SehenkeU 
länge,  bei  gleidier  Winkdgröfse,  die  MitteUinie  in  fSg.  2 
ktkrsNT   erscIiAinen  läXst,   als  in  Fig.   1,   eondem  ich  Terauofate 


^^Mi^>**i^^a0*i««Mk«M«**M^^ 


a 


Figg.  1  u.  2. 


auch  diese  Thatsache  zu  erklären  durch  den  Nachweis,  dafs 
sich  in  den  mit  a  bezeichneten  Stellen  ein  gegen  die  Eonfltudon 
antagonistisch  wirkender  Kontrast  erhebt,  da  ja  die  beiden 
Figg.  1  u.  2  sich  sehr  leicht  auf  meine  sog.  Fundamental- 
kontrastfigur: 


II         M  H 


Figg,  3  u.  4. 

zurückführen  lassen  u.  s.  w.  (1.  c.  S.  13—15).  Hätte  Hstmaks 
auch  nur  den  Titel  jener  Abhandlung  mit  einiger  Aufmerksam* 
keit  gelesen,  so  hätte  er  bemerken  müisen,  daCs  darin  keinem 
wegs  von  Konfluxion  allein,  sondern  Ton  ,,Eontra8t  und  Kon- 
fluxion*'  die  Bede  ist,  und  hätte  dieee  ESnwendung  überhaupt 
nicht  erheben  können. 

Zweiter  Einwand.  (8.  237.  Figfe.  5  u.  6.)  Hier  stoisen 
wir  nun  auf  die  „hineingedachten  Nebenlinien*^,  die  nicht 
weniger  als  vier  Einwänden  zum  Stützpunkt  dienen  (nämlioh 
No.  2,  4,  5  u.  6). 


Figg,  5  u,  6. 

In  Fig.  5  ist  der  Baum  über  der  Linie  links  durch  zwei 
Schenkel  begrenzt,  in  Fig.  6  nach  oben  durch  emen.  und  nach 
unten  durch  einen  Schenkel.  Da  nun  in  Fig.  5  der  Saum 
naeh   oben  ebensoviel  einbüTst,  wie  in  Fig.  6  teik  nadb  oben^ 


über  Kontrast  tmd  Konfhueion, 


425 


teils  nach  nnteB,  so  ist  nach  der  Konflozionetheorie  zu  erwarten^ 
dafe  in  Flg.  5  die  T&oschung  nngefilhr  ebenso  stark  sein  wird, 
wie  m  JTiir.  o. 


Dae  ist  nun  andi  nach  den  Messungen  HETMAm'  that- 
sachlich  der  Fall.  Aber  Hetmans'  Schlafs  ist  folgender: 
,, . . .  w&hrend  die  Verhältnisse,  welche  nach  Mülleb-Ltbb  das 
Hinzadenken  angleicher  Nebenlinien . . .  dasAuftreten 
der  Tftnschang  bedingen,  in  Fig.  5  vollständig  gegeben  sind, 
fehlen  sie  in  Fig.  6  durchaus.''  um  „meine^  Theorie  zu  retten, 
müfste  ich  mir  also  die  schwarzen  ParaUelUnien  in  Fig.  6 
schief  denken ;  das  müiste  nun  aber  wieder  einen  entschiedenen 
unterschied  bezüglich  der  Intensität  der  Täuschung  in  Figg.  6 
u.  6  bewirken,  und  da  dies  nicht  der  Fall  ist,  so  ist  die  £j>n« 
fluxionstheorie  unrichtig.  Denselben  Schluls  macht  nun 
Hetmanb  noch  dreimal. 

Vierter  Einwand.    (L.  o.  S.  238.) 


< 


> 


< 


Fig  7, 

In  Fig.  7  ist  der  Baum  nach  oben  und  unten  derart  durch 
parallele  Senkrechte  erweitert,  dafs  nun  eine  viel  gröfsere 
Anzahl  von  parallelen  „Nebenlinien  hineingedacht''  werden 
können.  Folglich  müfsten  diese  Senkrechten  die  Täuschung 
vermehren,  was  aber  nicht  der  Fall  ist.    Also  — 

Fünfter  Einwand  (S.  289.  Figg.  8—10). 


Figg.  8  «.  P. 


In  Figg.  8  u.  9  sind  die  Nebenlinien  in  Wirklichkeit  ge- 
zogen, trotzdem  ist  die  Täuschung  viel  geringer,  als  wenn 
Winkebehenkel  angebracht  sind. 


426  J^*  C.  MüUer-Lyer. 

Sollten  vielleicht  diese  wirkliohen  Kiebexüinieii .  ^u  dem 
MiTsverständnis  von  den  „hineingedachten  Nebenlinien^ 
Veranlassnng  gegeben  haben?  Ich  wollte  doch. damit  zeigen 
{Ardi,  f.  Physiol.  1.  o.  S.  266),  dafs  |,aach  andere  Baum- 
nmgrenznngen  um  die  Linie,  ohne  Winkelbüdung,  fthnUche 
Täuschungen  herbeizuführen  vermögen";  die  parallelen  I4ni6n 
sollten  also  die  Winkelsohenkel  ersetzen. 

DaXs  bei  dieser  Art  der  Baumumgrenzung  die  Täuschung 
schwächer  ist,  als  bei  der  durch  Winkelschenkel  bewirkten, 
lälst  sich  ebenso  wie,  dafs  die  Senkrechten  in  Fig.  7  keine 
nennenswerte  Veränderung  hervorrufen,  mit  der  Konfluxions- 
theorie  sehr  wohl  vereinen,  da,  {diese  Zeitschr.  ZK.  S.  15)  7, enge 
Nähe  der  Extensionen  (die  die  Täuschung  konstituieren)  f&r 
beide  Trugmotive  (nämlich  für  den  Kontrast  und  die  Kon- 
fluxion)  Voraussetzung  ist".  — 

Sechster  Einwand.     (S.  240  1.  c.) 


Figg.  10  u,  11. 
* 

Hier  sind  die  Schenkel  weggelassen  und  ersetzt  durch 
vier  den  „nämlichen  Baum"  überspannende  Nebenlinien; 
diese  Nebenlinien  üben  keinen  wesentlichen  EinfluTs  aus. 

Auch  dieser  Befund  stimmt  gut  mit  der  Theorie  überein. 
Gerade  weil  der  „Baum",  auf  den  es  hier  ankommt,  der 
„nämliche"  bleibt,  wie  Heymans  selbst  sagt,  bleibt  es  auch 
die  Konfluxion. 


Nun  folgen  noch  zwei  Einwände,  die  sich  thatsächlich 
gegen  die  Konfluxionstheorie  und  nicht  gegen  die  Theorie  von 
den  „hineingedachten  Nebenlinien"  richten  (No.  3  u.  7). 

Dritter  Einwand.     (S.  237/8.) 

Wenn  die  Konfluxionstheorie  richtig  wäre,  müfste  die 
Täuschung  bei  der  Vergleichung  von  Eigg.  12  u.  13  ungefähr 


über  Kontrast  und  K(mfluxum.  427 

ebenso  grofs  sein,  wie  bei  derVergleicbung  von  Figg.  14a.  15. 
Nun  zeigt  aber  die  Messung,  dafs  thatsächlich.  die  scheinbare 
Verschiedenheit  '  zwischen  den  beiden  Yergleichslinien  in 
Figg.  12  n.  13  eine  geringere  ist,  als  in  Figg:  14  u.  15;  d.  h. 
die  einwärtsgekehrten  Schenkel  in  Fig.  12  sind  für  das  Zu- 
standekommen der  Täuschung  weniger  wichtig,  als  eile  nach 
auswärts  gekehrten  Schenkel  in  Fig.  15. 


Figg,  12—10. 

A.  BiNET,  der  übrigens  diese  Thatsache  zuerst  entdeckt 
und  beschrieben  hat  (1.  c.  S.  19),  erklärt  sie  mittelst  der  Muskel- 
theorie folgendermafsen :  („S.  20)  .  .  si  on  fait  intervenir  les 
mouTements  des  yeux,  on  comprend  bien  que  l'oeU,  en  suivant 
la  ligne  principale  de  la  Fig.  15,  d6passe  facilement  les  ex- 
tremites  de  cette  ligne  pour  suiyre  les  obliques,  ce  qui  donne 
rimpression  d'une  longueur  de  ligne  plus  grande  que  larealite; 
on  comprend  aussi  que  ce  mouvement  exagere  de  l'oeil  se 
produise  beaucoup  moins  facilement  en  sens  inverse,  pour  la 
Fig.  12,  parceque  dans  ce  demier  cas  le  mouvement  de  l'oeil, 
pour  suivre  les  obliques,  ne  continue  pas  avec  l'impulsion 
acquise,  mais  doit  changer  brusquement  de  direction.'^ 

Diese  Erklärung,  so  plausibel  sie  auf  den  ersten  Blick  iat, 
scheint  mir  doch  mehr  auf  eine  Umschreibung  hinauszulaufen; 
man  könnte  in  gleicher  Weise,  fast  noch  besser,  das  Gegenteil 
erklären.  Man  würde  dann  sagen,  dafs  die  Muskelbewegung 
in  Fig.  12  beim  Abmessen  der  Vergleichslinie  weit  mehr  ^  durch 
die  seitlichen  Schenkel  gestört  werden  müsse,  als  in  Fig.  15, 
weil  in  Fig.  12  diese  Schenkel,  in  das  Gesichtsfeld,  auf  dem 
die  „Abtastung^  vor  sich  geht,  hineinragen,  während  sie  in 
Fig.  15  jenseits  dieses  Gesichtsfeldes  liegen  und  deshalb,  „wie 
vorauszusehen  war^,  weniger  störend  wirken. 

Ich  möchte  lieber  die  Erscheinung  vorläufig  unerklärt 
lassen.  Nach  meinen  Darlegungen  über  die  „Komplexität  der 
Trugmotive ^  halte  ich  es,  bei  der  grofsen  Verschiedenheit 
zwischen  Figg.  12  u.  15,  nicht  für  unwahrscheinlich,  dbis  hier 


438 


F.  C.  MMer-lAfer. 


ein  aooessorUchee  Moment  ins  Spiel  tritt,  bo  wie  wir  diee  %.  B. 
bei  den  folgenden  Figg.  16  n.  17,  die  Heshavs  in  genMi  der- 
selben Weise  als  Einwand  geltend  macht,  mit  yollkommener 
Klarheit  nachweisen  können,  nnd  zwar,  weil  hier  das  acoeseo- 
rische  Moment  bereits  kekannt  ist. 

Siebenter  Einwand.    (S.  24iy 


Figg.  16  u.  17. 


li  der  Vergleichnng  von  a  nnd  b  ergiebt  sich  ein  kleinerer 
scheinbarer  unterschied  zwischen  den  Yergleichsstrecken,  als 
zwischen  c  nnd  d.  Nach  der  Eonflnxionstheorie  dürfte,  wie 
HmrMAKS  meint,  dieser  unterschied  nicht  vorhanden  sein. 

Hier  sind  wir  nnn,  wie  schon  bemerkt,  in  der  Lage,  „das 
accessorische  Moment""  schon  zn  kennen ;  es  tritt  hier  znr  eisten 
eine  zweite  Tänschnng  hinzu,  die  ich  ebenfalls  schon  beschrieben 
(im  zweiten  Kapitel  meiner  ersten  Abhandlung,  S.  267 — 969) 
nnd  die  ich  dort  in  dem  Satze  formuliert  habe: 

„Daus,  wenn  die  Grenzlinien  von  Figuren  unterbrochen 
werden,  sich  dann  auch  die  scheinbare  Form  der  übrig- 
bleibenden Grenzen  ändert.^ 

Vergleicht  man  nämlich  in  der  obigen  Figur  nicht  nur  a 
mit  b  und  c  mit  d,  sondern  auch  a  mit  c  und  b  mit  d,  so  sieht 
man  auf  den  ersten  Blick,  dafs  hier  noch  eine  andere 
Täuschung  mit  im  Spiel  ist:  a  erscheint  länger  als  c  nnd  d 
längOT  alEi  b. 

Wodurch  unterscheidet  sich  nun  a  von  c?  Durch  zwei 
Momente:  erstens  ist  a  schwarz  und  e  weifs;  zweitens  hat  a 
alle  seine  Konturen,  während  bei  c  die  Konturen  oben  und 
unten  fehlen. 

Welches  der  beiden  Momente  verursacht  die  Täuohung? 
Nun,    die  Schwarzf&rbung  hätte  ganz  wegbleiben  können,  die 

^  IHe  wagereeliten  Linien  habe  ich  als  überflüssig  weggelassen. 


über  KantraH  und  Kcmflumon. 


429 


Tftasohimg  mlit  aossohliefalicli  auf  dem  zweiten  Moment,    der 
Kookttiriennig : 


Figg.  18  u.  19. 

Da  diese  Täusohnngen,  die  man  kurz  als  Eontnrtäiischungen 
bezeichnen  könnte,  vielleicht  noch  wenig  bekannt  geworden 
sind,  gestatte  ich  mir,  aus  meiner  ersten  Abhandlung  einige 
der  Hauptrepr&sentanten  zu  reproduzieren  (1.  c.  Taf.  IX.  Figg.  8, 
9,  10,  11). 


Fig.  20. 


Figg.  21  u.  22. 


In  Fig.  20  scheint  das  Quadrat  rechts  höher  und  schm&ler 
EU  sein  als  das  gleich  grofse  Quadrat  links;  die  Täuschung 
bleibt  auch  dann  bestehen,  wenn  man  die  beiden  Quadrate 
auseinandernimmt.    (Figg*  21  u.  22.) 

In  Fig.  23  hält  man  das  Mittelfeld  ebenfalls  fGLr  be- 
deutend schmäler  und  höher,  als  das  gleich  grosse,  aber  ringsum 
konturierte  Mittelfeld  in  Fig.  24. 

unterbricht  man  die  Konturen  eines  Kreises  an '  einer 
oder  mehreren  Stellen  (Figg.  25  u.  26),  so  bewirkt  man  dadurch 


430 


F.  C.  Müller-Lyer. 


eine  scheinbare  Abflacliimg  der  übrigbleibenden  Bogenteile; 
infolgedessen  hat  man  den  Eindruck,  als  ob  diese  Bögen  nicht 
demselben,  sondern  gröfseren  Kreisen  zugehörten,  und  von  ihren 


• 

Figg.  23  u.  24. 

Verlängerungen  erwartet  man  nicht,  dafs  sie  kreisförmig  in- 
einander übergehen,  sondern  dafs  sie  sich  unter  stumpfen 
Winkeln  schneiden  werden  u.  s.  w. 


Figg,  25  u.  26. 


Aus  allen  diesen  Täuschungen  läfst  sich  also  thatsächlich 
der  Satz  abstrahieren:  „dafs,  wenn  die  Qrenzlinien  einer 
Figur  unterbrochen  werden,  sich  dann  auch  die 
scheinbare  Form  der  übrigbleibenden  Grenzen  ändert; 
und  zwar  (möchte  ich  hier  hinzufügen)  findet  in  der 
Sichtung  der  Unterbrechung  eine  scheinbare  Ver- 
längerung und  in  der  darauf  senkrechten  Sichtung 
eine  scheinbare  Verkürzung  statt." 

Bezüglich  der  Erklärung  dieser  Täuschung  mufs  ich  hier 
auf  die  zitierte  Abhandlung  verweisen,  die  ich  besonders  deneui 


fjber  Kontrast  und  Kanfluxion.  431 

die    „optische   Paradoxa^    zu   finden,   zu   erklären   oder    „ein- 
zuführen^ wünschen,  als  Fundort  bestens  empfehlen  kann. 


Kehren  wir  nun  wieder  zu  Fig.  16  zurück,  so  ergiebt  das 
Gesagte,  dafs  das  Feld  a  länger  erscheint  als  c,  weil  in  jener 
Figur,  auXser  dem  Kontrast  und  der  Konfluxion,  ein  drittes 
Täuschungsprinzip  auftritt;  dafs  somit  der  sich  auf  jene  Figur 
stützende  Einwand  ebensowenig  stichhaltig  ist,  wie  die  sämt- 
lichen vorhergehenden  Einwände,  die  Heymaks  gegen  die 
K^onfluzionstheorie  geltend  gemacht  hat. 

Heymans  allerdings  glaubt,  durch  seine  Darlegungen  die 
Unrichtigkeit  dieser  Theorie  „in  genügender  Weise  festgestellt 
zu  haben^,  und  ist  nun  in  der  Lage,  die  unrichtige  Erklärung 
durch  eine  bessere  zti  ersetzen.  Auf  diese  Erldärung,  eine 
modifizierte  Augenmuskeltheorie,  will  ich  hier  nicht  eingehen, 
da  soeben  eine  grdlsere  Arbeit  über  Täuschungen^  aus  dem 
WüNBTschen  Laboratorium  erscheint,  die  wohl  ebenfalls  die 
Muskeltheorie,  wenn  auch  in  anderer  Form,  vertreten  dürfte, 
und  deren  Besultate  ich  abwarten  möchte.  AuTserdem  hat 
HsYMANS  die  von  mir  gegen  die  Muskeltheorie  erhobenen  Ein- 
wände nicht  zu  widerlegen  versucht. 


Noch  eine  SchluTsbemerkung.  Hr.  Hetmans  behauptet, 
dafs  die  von  mir  gefundenen  Täuschungen  durch  Hm.  Bbek- 
TAKO  „in  die  psychologische  Besprechung  eingeführt"  worden 
seien;  auiserdem  schreibt  Hr.  Heymans,  beinahe  auf  jedem 
Blatt  seiner  Abhandlung,  diese  Täuschungen  Hm.  Brentano  zu. 

Beide  Behauptungen  sind  unrichtig.  Den  von  mir  im 
Jahrgang  1889  des  Du  Bois-Reymondschen  Ärch,  f.  Pkysiöl. 
beschriebenen  und  in  allen  wesentlichen  thatsächlichen 
Beziehungen  genau  studierten  Erscheinungen  hat  Hr.  Bbentano 
nichts  weiter  hinzugefügt  (diese  Zeitschr.  1 892),  als  eine  Hypo- 
these, die  von  sämtlichen  nachfolgenden  Bearbeitern,  Hir.  Heymans 
mit  eingeschlossen,  für  unzutreffend  erklärt  worden  ist. 

*  Von  Arxahd  Thdsbt.    Philos.  Stud.  (W.  Wdiidt.)  Bd.  XL  Heft  3. 


über  J.  VON  Ubxkülls 
vergleichend-BinnesphyBiologische  UntersHchimg  No.  1. 

Von 

Dr.  WiMBALD  A.  Nagbl, 

Privatdozent  der  Physiologie  in  Freibarg  i.  Br. 

Auf  einen  Angriff  zn  antvorten,  wie  ihn  J.  yojs  UbzküIiL 
kürzlich  gegen  mich  gerichtet  hat/  iat  keine  erfreuliche  Auf- 
gabe. Mag  es  auch,  wie  im  vorliegenden  Falle,  ein  leichtes 
sein,  die  Kritik  in  allen  ihren  einzelnen  Punkten  sn  wider- 
legen, mag  sie  auch  selbst  ihre  Schwädo^n  deutlich  genug 
zeigen,  der  Angegriffene  hat  immer  einen  schweren  Stand, 
wenn  die  Kritik  in  der  Weise  geübt  wird,  wie  es  durch  Herrn 
VON  ÜEXKÜLL  geschah.  Insbesondere  gilt  das  von  einer  Art 
des  Angriffes,  deren  sich  dieser  Autor  befleijGsigt  hat,  n&mlich 
in  höhnischen  und  verächtlichen  Worten  sich  über  Sätze  aus 
der  kritisierten  Arbeit  zu  äufsern,  ohne  dieselben  anch 
nur  annähernd  im  Wortlaute  anzuführen,  wodurch 
eine  Kontrolle  der  Berechtigung  der  Kritik  für  den 
Leser    von    vornherein    unmöglich   gemacht   wird.^ 


'  J.  TON  Uexküll,  vergleichend-sinnesphysiologisolie  Untersucliungen. 
I.  Über  die  Nahrungsaufnahme  des  Katzenhais.  Zeitachr.  f,  Biologie, 
Bd.  XXXn.  N.  F.  XIV.  S.  548. 

*  Für  manche  Äufserung  in  der  TlBXKOLLSchen  Kritik  mOchte  es 
freilich  schwer  halten,  diejenige  Stelle  meiner  Arbeit  ftberhaupt  aufzu- 
finden, an  welche  Herr  von  üexküll  beim  Niederschreiben  seiner  Worte 
gedacht  haben  könnte.  Das  gilt  z.  B.  von  den  Säteen  (S.  557):  „Mag 
die  Organisation  der  Tiere  auch  noch  soweit  von  der  unsrigen  abweichen, 
was  macht  das  aus  ?  wir  kennen  die  äulseren  Beize,  folglich  nach  Naosl 
auch  die  Empfindungen. ** 

Wo  habe  ich  derartiges  behauptet? 


über  J,  V,  üexküUs  vergleichend-sinnesphysioiogische  Untersuchung  No.  I.  433 

Doppelt  schwer  fällt  eine  derartige  Handlungsweise  ms 
Oewichti  wenn,  wie  liier,  das  kritisierte  Werk^  in  den  Händen 
nur  eines  kleinen  Teiles  der  Fachgenossen  sein  dürfte. 

Als  Beispiel  einer  solchen  irreführenden  Darstellung  sei 
die  folgende  Stelle  angeführt.  Auf  S.  555  bezeichnet  Herr  von 
Uexküll  als  charakteristisch  für  den  theoretischen  Teil  meiner 
Abhandlung  „erstens  die  Art  des  Autors,  mit  wohlbegründeten 
Definitionen,  und  zweitens  die  Art,  mit  unbegründeten  That- 
Sachen  umzugehen^. 

Es  folgt  der  vernichtende  Beleg: 

„Elin  Beispiel  fürs  erstere  findet  sich  selbst  im  Auto- 
referat des  Verfassers  [Bkl.  CetUralbL  1894);  dort  wird  das 
Urteilsvermögen  zu  den  abgeleiteten  Sinnen  gerechnet.  Ich 
fürchte,  es  bricht  eine  vollkommene  Anarchie  in  unserem 
Geistesleben  aus,  wenn  man  die  gröfsten  Geister,  wie  Kant 
und  Hblmholtz,  so  nonchalant  beiseite  stellen  darf  und  die 
Form  unseres  Denkens  plötzUch  zu  den  Sinnen  rechnet,  wenn 
auch  unter  der  verschämten  Benennung  der  abgeleiteten  Sinne."" 
(S.  556.) 

Ich  kann  diesem  emphatischen  Ergüsse  gegenüber  nur  den 
Wortlaut  der  betreffenden  Stelle  meines  Autoreferates  anführen: 

Diese  Sinne  (mechanischen,  chemischen  etc.  Sinn)  „stelle 
ich  als  die  Primitivsinne  denjenigen  anderen  Sinnen  (ab- 
geleiteten Sinnen)  gegenüber,  deren  Thätigkeit  schon  die 
Existenz  gewisser  weiterer  psychischer  Fähigkeiten  (Lokali- 
sationsvermögen,  UrteUsvermögen)  notwendigerweise  voraus- 
setzt (Gesichtssinn,  Tastsinn,  Gleichgewichtssinn  etc)."" 

Ich  überlasse  es  dem  Urteile  des  Lesers,  ob  ich  hiermit 
das  Urteilsvermögen  zu  den  abgeleiteten  Sinnen  gerechnet 
habe.  Die  zu  kritisierende  Arbeit  mit  Aufmerksamkeit  zu  lesen, 
das  ist  doch  wohl  das  Wenigste,  was  man  von  einem  Kritiker 
verlangen  kann.^ 

^  Vergleichend  physiologische  und  anatomische  Untersuchungen  über 
den  Geruch-  und  G-eschmackssinn  und  ihre  Organe,  mit  einleitenden 
Betrachtungen  aus  der  allgemeinen  vergleichenden  Sinnesphysiologie. 
Gekrönte  Preisschrift.  Bibhotheca  Moologica,  herausg.  von  Lbuckabt  und 
Chun.   Heft  18.   Stuttgart  1894.     . 

'  Herrn  von  TJexkülls  Kritik  reiht  sich  würdig  an  eine  andere,  die 
Herr  Loeb  vor  einem  Jahre  gegen  eine  andere  Arbeit  von  mir  schrieb, 
und  welche  durchgehends  gegen  Anschauungen  polemisiert,  welche 
mir  mindestens   ebenso    ferne    liegen,   wie   Herrn   Lobb.     Nach   seiner 

Zeitichrift  fUr  Psychologe  X.  28 


434  Wilibald  Ä,  Nagel 

Was  im  übrigen  den  Ton  anbelangt,  den  Herr  von  UBXKüiiL 
in  seiner  Schrift  gegen  mich  anzuschlagen  für  gut  befanden 
hat,  so  kann  ich  nicht  umhin,  über  denselben  meine  lebhafte 
Verwunderung  zu  äuTsern.  Es  ist  heutzutage  keine  Seltenheit, 
wenn  eine  wissenschaftliche  Diskussion  im  Laufe  der  Zeit  einen 
persönlichen  und  gehässigen  Charakter  annimmt.  Mifsverständ- 
nisse  ohne  eigentliches  Verschulden  der  Beteiligten  können 
derartige  Spannungen  herbeiführen.  Dafs  aber  ein  Autor  von 
vornherein  so  sehr  den  Boden  sachlicher  Erörterung  unter  den 
Füfsen  verliert,  und  das  ohne  jeglichen  erkennbaren  Grund, 
ist  ungewöhnlich,  zumal  wenn  es  sich,  wie  in  unserem  Falle, 
um  einen  Autor  handelt,  der  sich  mit  eben  dieser  Kritik  zum 
ersten  Male  auf  dem  betreffenden  Gebiete  litterarisch  bethätigt. 

Herr  von  Uexküll  motiviert  seinen  Angriff  in  folgender 
Weise  (S.  648) : 

„Da  dieses  Werk  seiner  ganzen  Anlage  nach  den  Anspruch 
erhebt,  bahnbrechend  in  ein  neues  Gebiet  einzutreten  und  be- 
stimmend  auf  die  Bichtung  einzuwirken,  die  folgende  Arbeiten 
einschlagen  sollen,  so  sehe  ich  mich  wider  Willen  gezwungen  (?), 
in  eine  Diskussion  der  theoretischen  Grundlagen  dieses  Werkes 
einzutreten." 

Woraus  Herr  von  Uexküll  die  Berechtigung  herleitet,  über 
die  Ansprüche,  welche  ich  für  meine  Arbeit  überhaupt  erhebe, 
und  über  den  genannten  Anspruch  im  speziellen  Vermutungen 
zu  äufsem,  weifs  ich  nicht.  Meine  Absicht  war,  den  zahlreich 
vorliegenden  Untersuchungen  über  den  Geruchs-  und  Geschmacks- 
sinn wirbelloser  Landtiere  gegenüber  auch  einmal  Wassertiere 


eigenen  Aussage  wünschte  Herr  Loeb  auf  seine,  wie  ihm  schien,  zu 
wenig  bekannt  gewordenen  frCLheren  Untersuchungen  hinzuweisen;  eine 
Kritik  meiner  Arbeit  bot  dazu  willkommenen  Anlafs. 

Ich  verzichte  auf  eine  eingehende  Berichtigung  der  hierbei  mit 
untergelaufenen  üngenauigkeiten,  da  in  jenem  Falle  kritisierte  Arbeit 
imd  Kritik  in  der  gleichen  Zeitschrift  {Pflüg er 8  Ärch,  f,  d,  ges,  FhysioL 
£d.  57  bezw.  59;  erschienen  sind,  und  eine  einfache  -  Vergleichung 
des  Wortlautes  beider  Schriften  den  Wert  der  LoEBSchen  Kritik  deutlich 
zeigt.  Auch  fehlt  es  mir  an  Zeit,  das  schon  einmal  Gesagte  einfach  zu 
wiederholen ;  auf  etwas  anderes  würde  eine  Berichtigung  in  diesem  Falle 
nicht  hinauslaufen.  Nur  an  einen  Punkt  möchte  ich  hier  noch  erinnern: 
Ich  habe  mich  gegen  eine  Verallgemeinerung  meiner  bei  einzelnen  Tier- 
spezies gewonnenen  Ergebnisse  auf  andere  Spezies  von  vornherein  und 
mit  gutem  Grunde  ausdrücklich  verwahrt  (vergl  a.  ob.  O.  S.  646.  Mitte). 


über  J.  V.  Üexkülls  cergleüJtend'SinnesphysiologiscJie  üntersachung  No.  L  4S5 

in  ähnlicher  Weise  zu  untersuchen.  Da  in  der  allgemeinen 
Sinnesphysiologie  und  insbesondere  in  der  Sinnesphysiologie 
niederer  Tiere  hinsichtlich  mancher  fundamentaler  Punkte 
keineswegs  Übereinstimmung  der  Autoren  herrscht,  vielmehr 
eine  erhebliche  Verwirrung  in  diesen  Fragen  nicht  zu  verkennen 
ist,  hatte  ich  die  Aufgabe,  zu  den  vorliegenden  Lehren  Stellung 
zu  nehmen,  gerade  wie  dies  auch  Herr  von  ITexküll  zu 
Beginn  seiner  Schrift  nötig  fand. 

Das  für  mich  (durch  die  Preisaufgabe)  gegebene  Thema 
verlangte  eine  umfassendere  Berücksichtigung  der  verschiedenen 
Tierklassen,  als  sie  bei  ähnlichen  Untersuchungen  bisher  im 
allgemeinen  üblich  war.  Hierdurch  kam  ich  in  einzelnen 
Punkten  zu  Anschauungen,  die,  ohne  isoliert  zu  stehen,  von 
den  herkömmlichen  teilweise  abweichen.  Ich  war  daher  darauf 
gefafst,  dafs  Biologen,  die  ihre  sinnesphysiologischen  Q-rund- 
anschauungen,  wie  es  vorkommt,  unter  Berücksichtigung  nur 
einer  einzelnen  Tierklasse  sich  gebildet  hatten,  Einwendungen 
erheben  würden.  Auf  einen  Angriff  in  solcher  Form  freilich 
war  ich  nicht  gefafst. 


Was  nun  den  Inhalt  der  ÜEXKÜLLschen  Schrift  betrifft,  so 
setzt  sich  dieselbe  zusammen  aus  einer  Erörterung  einiger 
Prinzipienfragen  aus  dem  Gebiete  der  allgemeinen  Sinnes- 
physiologie und  der  Mitteilung  einiger  Yersuchsergebnisse  an 
Haifischen,  welche  zum  Beleg  der  im  ersten  Teile  vor- 
gebrachten Anschauungen  dienen  sollen. 

Wenn  Herr  von  üexküll  sich  einleitend  zunächst  über  die 
Subjektivität  unseres  Sinneslebens  und  über  das  Problematische 
in  der  Annahme  einer  Tierseele  ausspricht,  so  thut  er  damit, 
was  heutzutage  die  meisten  Autoren  thun,  die  über  Tiersinnes- 
physiologie schreiben  und  sich  vor  dem  Odium  eines  Anthropo- 
morphisten  und  Dualisten  schützen  wollen.  Nötig  war  es  kaum, 
namentlich  auch  mir  gegenüber  nicht,  der  ich  zu  wiederholten 
Malen  ganz  im  gleichen  Sinne  mich  geäufsert  habe,  wie  jetzt 
Herr  von  üexküll.  Nur  habe  ich  dann  weiterhin  konsequent  ge- 
handelt, indem  ich  suchte,  aus  der  Einteilung  und  Unter- 
scheidung der  Sinne  das  subjektive  Moment  der  spezifischen 
Empfindung  wegzulassen.  Für  Herrn  von  üexküll  freilich,  der 
sich  nur  kritisch  und  negierend  äufsem  will,  fällt  diese  Konse- 

28* 


436  Wüibald  Ä.  Nagei. 

quenz,  wie  überhaupt  jeder  positive  Vorschlag  zur  vorliegenden 
Frage,  weg.  Es  würde  ja  sonst  die  ganze  Zusammenhang- 
losigkeit   seiner  Kritik    zu   deutlich    zu  Tage    treten   müssen. 

Sind  uns  die  Empfindungen  eines  Tieres  verschlossen,  so 
ist  es  unzulässig,  auf  deren  spezifische  Verschiedenheit  eine 
Unterscheidung  der  verschiedenen  Sinne  des  Tieres  gründen 
zu  wollen,  und  doch  spricht  man  von  den  Sinnen  eines  Tieres, 
von  seinen  Sinnesorganen  —  diese  Bezeichnungen  abzuschaffen, 
ist  undenkbar  — ,  man  spricht  von  mehreren  Sinnen  eines 
Tieres,  folglich  mufs  man  dieselben  nach  irgend  einem  Prinzip 
unterscheiden.  Nach  der  Empfindungsform  geht  es,  wie  gesagt, 
nicht,  bleibt,  soviel  ich  sehe,  nur  die  Möglichkeit,  die  Sinne 
und  Sinnesorgane  nach  der  adäquaten  Beizform  oder  nach  dem 
morphologischen  Werte  des  betreffenden  anatomischen  Q-ebildes 
zu  definieren.^ 

Das  Letztere  ist  in  der  vergleichenden  Anatomie  und 
Physiologie  der  Wirbeltiere  üblich  und  im  allgemeinen  zweck- 
mäfsig;  da  giebt  es  die  morphologisch  wohl  charakterisierten 
Himnerven  mit  ihren  ebenso  genau  bestimmten  Endorganen, 
deren  Homologie  trotz  histologischer  und  topographischer 
Verschiedenheiten  über  allem  Zweifel  steht.  Dafs  man  mit 
diesem  Prinzip  aber  schon  in  der  Wirbeltierphysiologie  in  die 
Brüche  kommt,  sowie  man  zu  den  Fischen  absteigt,  zeigt  die 
allbekannte  Streitfrage  über  die  Bedeutung  der  Hautsinnes- 
organe der  Fische  (Seitenkanäle,  Ampullen,  Endknospen  etc.). 
Ähnliche  Schwierigkeiten  bietet,  wie  ich  gezeigt  zu  haben 
glaube,  die  Funktion  des  „Olfactorius''  der  n^deren  Wasser- 
Wirbeltiere. 

Bei  den  Wirbellosen  fehlt  uns  nun  gar  das  wichtige  Hülfe- 
mittel der  Homologisierung  mit  menschlichen  Sinnesorganen 
vollkommen.  Dafs  es  zulässig  sei,  bei  Insekten,  Schnecken 
u.  dergl.  Tieren  von  Sinnen    und  Sinnesorganen  zu   sprechen, 


*  Die  Unterscheidung  der  Sinnesorgane,  die  Herr  von  Ubxküll  ver- 
sucht, indem  er  von  einem  Sinnesorgan  spricht,  das  den  Beflex  der 
Nahnmgswittorung,  und  einem  anderen,  das  den  Reflex  des  Ausspeiens 
auslöst,  erweist  sich  auf  den  ersten  Blick  als  eine  unzulängliche,  da 
der  Erfolg  der  Beizung  eines  Sinnesorganes  in  jenem  speziellen  Falle 
und  überhaupt  nicht  in  einer  einzigen  bestimmten  Beaktionsart 
angebbar  ist.  Von  einem  Sinnesorgane  aus  können  sehr  verschiedene 
Beaktionen  ausgelöst  werden. 


über  J.  V,  üexkülls  vergleicJiend'SinnesphysiologiscJie  Untersuchung  No.  L  437 

wird  aucli  Herr  von  Uex&üll  kaum  bestreiten  wollen;  von  Sinnen 
einzelliger  Geschöpfe  aber  zu  sprechen,  wie  ich  es  (nach  dem 
Vorgange  zahlreicher  Autoren)  gethan  habe,  —  horribile  dictu ! 

Ich  möchte  gern  erfahren,  an  welchem  Ponkte  der  Tier- 
reihe man  anfangen  darf,  von  Sinnen  zu  sprechen.  Es  ist  das 
so  bequem,  vom  stolzen  Standpunkte  des  perfekten  Kenners 
der  menschlichen  Sinnesphysiologie  die  Versuche  zu  belächeln, 
in  den  Wirrwarr  der  Sinnesphysiologie  niederer  Tiere  ein  gewisses 
System  zu  bringen.  Möchte  doch  ein  solcher  Kritiker  einmal 
zeigen,  wie  man  es  besser  macht,  möchte  er  die  endlose  Litteratur 
über  die  Sinnesorgane  niederer  Tiere  durchstudieren  und  sich 
überzeugen,  nach  welchen  Gesichtspunkten  viele  Zoologen, 
natürlich  unter  Beiseitelassung  jeglichen  Experimentes,  die 
Sinnesorgane  jener  Tiere  benennen.  Es  herrscht  eine  Ver- 
wirrung, wie  sie  gröfser  nicht  sein  könnte. 

Es  wird  von  Interesse  sein,  zu  sehen,  welches  Prinzip  der 
Unterscheidung  der  Sinne  Herr  von  üexküll  in  der  Fortsetzung 
seiner  sinnesphysiologischen  Untersuchungen  anwenden  wird. 
Die  Unterscheidung  nach  der  adäquaten  Beizform  verschmäht 
er  offenbar,  seiner  ironischen  Ausdrucksweise  nach  zu  urteilen. 
Das  bis  jetzt  Vorliegende  läüst  seine  Anschauungen  in  dieser 
Hinsicht  nur  ahnen. 


Besonderes  Ärgernis  giebt  Herrn  von  Uexküll  meine 
Stellungnahme  zu  der  Lehre  von  den  spezifischen  Sinnes- 
energien. Bei  seiner  Kritik  vermengt  er  fortwährend  meine 
Anschauungen  mit  denjenigen  von  Wundt.  Für  denjenigen, 
der  meine  Arbeiten  mit  Aufmerksamkeit  gelesen  hat,  brauche 
ich  kaum  ausdrücklich  zu  bemerken,  dafs  ich  in  der  Frage  der 
spezifischen  Sinnesenergien  nicht  ganz  auf  dem  Standpunkte 
WuNDTs  stehe.  Ich  bin  weit  entfernt  davon,  ein  Gegner  des 
Grundgedankens  der  MüLLERschen  Lehre  zu  sein.  Nur  finde 
ich,  dafs  sich  in  die  Lehre  ein  nnzweokmälsiger  Dogmatismus 
eingeschlichen  hat  und  dieselbe  jetzt  zuweilen  in  einer  Form 
vorgebracht  wird,  in  der  sie  aufhört,  mit  den  Thatsachen  in 
Übereinstimmung  zu  bleiben.  Dafs  jeder  Sinnesnerv  auf  jede 
überhaupt  wirksame  Beizung  mit  einer  einzigen  unverändert 
liehen  Empfindung  antworte,  ist  einfach  nicht  richtig,  gerade 
so  wenig,  wie  es  andererseits  richtig  ist,   dafs  die  durch  einen 


438  WiKbald  Ä.  Nagel 

Nerven  vermittelte  Empfindung  allein  von  der  Natur  des  ein- 
wirkenden E>eizes  abhängig  sei. 

Herr  von  Uexküll  beruft  sich  mit  Vorliebe  auf  Helmholtz. 
Wenn  er  jedoch  von  der  „Fundamentalthatsache^  spricht,  ^dafs 
die  Empfindung  gänzlich  unabhängig  ist  von  der  Art  des 
Beizes,  dagegen  einzig  abhängig  ist  von  der  Person  des  Neuron'' 
(S.  553),  so  klingt  das  etwas  anders,  als  wenn  Helmholtz  schreibt 
{Physiol  Optik  2.  Aufl.  S.  234): 

„[Da  es  sich  mit  den  übrigen  Sinnesnerven  ebenso  verhält, 
so  geht  daraus  hervor],  dafs  die  Qualität  der  sinnlichen  Em- 
pfindung hauptsächlich  von  der  eigentümlichen  Beschaffenheit 
des  Nervenapparates  abhängt,  erst  in  zweiter  Linie  von  der  Be- 
schaffenheit des  wahrgenommenen  Objektes.  Zu  dem  Qualitäten- 
kreise welches  Sinnes  die  entstehende  Empfindung  gehört, 
hängt  sogar  gar  nicht  von  dem  äufseren  Objekte,  sondern 
ausschliefslich  von  der  Art  des  getroffenen  Nerven  ab.  Welche 
besondere  Empfindung  aus  dem  betreffenden  Qualitätenkreise 
hervorgerufen  wird,  erst  dies  hängt  auch  von  der  Natur  des 
äufseren  Objektes  ab,  welches  die  Empfindung  erregt.^  ^ 

Diese  Sätze  in  der  Fassung  von  Helmholtz  wird  kein 
Physiologe  anfechten  wollen,  dem  Satze  in  der  Form,  wie 
ihn  Herr  von  üexeüll  wiedergiebt,  wird  keiner  zustimmen 
können. 

Wenn,  wie  aus  dem  angeführten  Citate  nach  Helmholtz 
hervorgeht,  schon  in  der  Sinnesphysiologie  des  Menschen  die 
Annahme  kaum  zn  umgehen  ist,  dafs  in  der  Funktionsweise 
des  einzehien  Sinnesnerven  eine  Variabilität  innerhalb  einer 
gewissen  Breite  bestehe,  so  glaube  ich  auf  der  anderen  Seite 
wahrscheinlich  gemacht  zu  haben,  dafs  bei  niederen  Tieren 
die  Spezialisierung  für  eine  bestimmte  Funktionsweise  noch  weit 
weniger  vorgeschritten  ist,  geradeso,  wie  überhaupt  die  Zellen 
niederer  Metazoen  sich  von  dem  Zustande  der  Protistenzellen 
mit  ihrer  physiologischen  Vielseitigkeit  weniger  entfernt  haben, 
als  die  hochdifi*erenzierten  Zellen  der  höheren  Wirbeltiere. 
Eine  wertvolle  Stütze  für  meine  Ansicht  habe  ich  ganz  neuer- 

^  Dasselbe  mit  etwas  anderen  Worten  habe  ich  in  jenen  beiden 
Sätzen  ausgesprochen,  welche  nach  v.  Uexküll  einen  so  horrenden  inneren 
Widerspruch  enthalten,  „ohne  dafs  der  Autor  es  merkte^.  Herr 
VON  Helmholtz  scheint  den  „Widerspruch"  auch  nicht  „gemerkt''  zu 
haben. 


über  J,  V.  UexküUs  vergleickend-ainnesphyaiologische  Untersuchung  No,  I.  439 

dings  durch  die  interessante  Entdeckung  Cubt  Hebbsts^  erhalten, 
welcher  fand,  dafs  Krebse,  denen  man  die  Augen  entfernt  hat, 
statt  derselben  Sinnesorgane  vom  Typus  der  Exebsantennen, 
also  typische  Tastorgane,  regenerieren,  in  welche  der  Stamm 
des  abgeschnitten  Opticus  hineinwächst,  um  jetzt  an  Stelle  von 
Facettenaugen  Tasthaare  zu  innervieren. 

Es  ist  im  übrigen  nicht  meine  Absicht,  die  von  mir  ver- 
tretene Anschauung  über  die  Funktionsweise  der  Sinnesorgane 
niederer  Tiere  einer  Kritik  gegenüber  zu  verteidigen,  welche 
die  vergleichend  -  anatomischen  Thatsachen  nicht  berück- 
sichtigt, auf  Grund  deren  ich  mir  meine  Anschauung  gebildet 
habe.  Vom  einseitig  eingenommenen  Standpunkte  menschlicher 
Sinnesphysiologie  aus  lassen  sich  diese  Fragen  nicht  gerecht 
beurteilen. 

Es  kommt  dazu,  dafs  bei  Herrn  von  Uexkülls  rein 
negativer  Art  von  Polemik  es  gar  nicht  möglich  ist,  zu  erkennen, 
was  er  nun  eigentlich  an  die  Stelle  der  von  mir  gemachten 
Vorschläge  gesetzt  wissen  wiU.  Von  Empfindungen  der  Tiere 
soll  nicht  gesprochen  werden,  Sinne  dagegen  sind  zulässig; 
die  Unterscheidung  derselben  nach  der  Seizform  verwirft  er 
jedoch.  Sein  eifriires  Eintreten  für  das  Prinzip  der  spezifischen 
Energien  in  extremer  Fassung  in  diesem  Zusammenhange  laut 
vermuten,  dafs  er  jegUche  Modifikation  desselben  in  seiner 
Anwendung  auf  niedere  Tiere  ablehnt.  Da  aber  jenes  Gesetz 
in  der  von  Herrn  von  Uexküll  befürworteten  Form  eine  Aus- 
sage über  die  einem  Sinnesnerven  zukommende  Empfindungs- 
qualität enthalt,  vermag  ich  nicht  einzusehen,  wie  es  in  der 
vergleichenden  Sinnesphysiologie  überhaupt  nur  noch  erwähnt 
werden  darf,  wenn  man  die  Forderung  aufrecht  erhalten  will, 
von  Empfindungen  der  Tiere  nicht  zu  sprechen. 


Nachdem  nun  Herr  von  Uexküll  in  der  mit  dem  Ge- 
sagten wohl  genügend  gekennzeichneten  Weise  sein  ver- 
nichtendes Urteil  über  die  verschiedenen  Abschnitte  des  all- 
gemeinen. Teiles  meiner  Arbeit  gefallt  und  verkündet  hat,  geht 


^  Über  die  Itegeneration  von  antennenähnlichen  Organen  an  Stelle 
von  Augen.  1.  Mitteilung.  Archiv  f.  Entwickelungsmechanik.  Bd.  2.  1896. 
Heft  4. 


440  Wüibald  Ä.  Nagel 

er  daran,  ,, experimentell  seine  Auffassung  zu  begründen'^.  Zu 
diesem  Zwecke  teilt  er  Versuche  an  etlichen  Katzen-  und 
Hundshaien  mit,  welche  ihm 

„klar  bewiesen,  dafs  das  Organ  der  Nasenschleimhaut  ein 
anderes  ist,  als  das  der  Mundschleimhaut,  weil  es  auf  andere 
adäquate  Ileize  reagiert  und  andere  Beaktionen  hervorruft 
wie  letzteres."    (S.  560.) 

Herr  von  Uexküll  scheint  zu  glauben,  dafs  dieser  Nach- 
weis für  mich  sehr  überraschend  und  unangenehm  sein  müsse. 
In  Wirklichkeit  spräche  ein  solcher  Nachweis,  wenn  er  gültig 
wäre  (was  er,  wie  ich  sogleich  zeigen  werde,  nicht  ist),  in 
keiner  Weise  gegen  meine  Auffassung,  er  würde  vielmehr  eine 
mir  im  höchsten  Grade  willkommene  Ergänzung  meiner  Beob- 
achtungen darstellen. 

Herr  von  Uexküll  hat  wohl  übersehen,  dafs  ich  nicht 
gesagt  habe,  das  Endorgan  des  Olfactorius  der  Haie  habe 
mit  der  Witterung  der  Nahrung  nichts  zu  thun,  sondern  ich 
sagte,  diese  Funktion  sei  nicht  erwiesen.  Das  ist  ein  ünter^ 
schied.  Vergl.  auf  S.  191  «meiner  Arbeit  den  Schlufssatz  des 
auf  die  Haifische  bezüglichen  Abschnittes: 

„Am  wahrscheinlichsten  bleibt  es  immer,  dafs  die  Nase 
die  Haifische  beim  Nahrungssuchen  mittelst  des  chemischen 
Sinnes  leitet,  erwiesen  ist  dies  jedoch  nicht." 

Ferner  auf  S.  61 : 

„Für  mich  ist  die  Annahme  ausgeschlossen,  dafs  der  erste 
Hirnnerv  der  Fische  die  an  der  Luft  riechbaren,  flüchtigen 
Stoffe  wahrnehme.  Dafs  er  der  Wahrnehmung  ganz  der  gleichen 
Stoffe,  welche  den  gewöhnlichen  Beiz  des  Schmeckorganes 
bilden,  zu  dienen  habe,  ist  sehr  unwahrscheinlich;  wozu  dann 
zwei  anatomisch  getrennte  und  ungleiche  Organe?  Ich  ver- 
mute daher,  dafs  im  sog.  ßiechorgane  der  Fische  und  Wasser- 
amphibien irgend  eine  noch  unbekannte  Teilfunktion  des 
chemischen  Sinnes  ihr  Vermittelungsorgan  habe,  eine  Funktion, 
die  jedenfalls  nicht  Siechen  genannt  werden  kann,  die  aber 
auch  von  der  gewöhnüchen  Thätigkeit  des  Schmeckens  irgend- 
wie abweichen  mufs,  zwar  nicht  durch  den  spezifischen  Charakter 
der  Empfindung,  aber  durch  die  Bedingungen,  unter  welchen 
das  Organ  in  Thätigkeit  tritt." 

Was  berechtigt  Herrn  von  Uexküll  demgegenüber  (mit 
Beziehung  auf  die  Sinnesorgane  in  Mund  und  Nase)  zu  schreiben : 


über  J.  V.  üexküUs  vergleicTiend-sinnesphysiologische  Untersuchung  No.  I.  441 

„Daher  können  sie  beide  auch  nicht  identisch  sein,  wie 
Nagel  das  annimmt."? 

Wozu  diese  Entstellung? 

Dafs  die  Nahrungswitterung  der  Haie  durch  die  Nase 
vermittelt  sei,  ist,  wie  gesagt,  auch  durch  Herrn  von  Uexktols 
Versuch  nicht  bewiesen.  Sein  Versuch  leidet  am  gleichen 
Mangel,  wie  derjenige  Steiners.  Dafs  Haie,  denen  die  Nasen- 
schleimhaut genommen  ist,  auf  vorgelegte  Nahrung  nicht 
reagierten,  beweist  zunächst  nur,  dafs  sie  in  pathologischem 
Zustande  sich  befanden,  weiter  nichts. 

Bei  Fortsetzung  seiner  vergleichend-physiologischen  Unter- 
suchungen wird  Herr  von  Uexküll  vielleicht  noch  die  Er- 
fahrung machen,  die  andere  Experimentatoren  auf  diesem 
Gebiete  längst  gemacht  haben,  dafs  nach  Verletzung  eines 
Tieres  ein  vorher  wirksamer  Beiz  oft  plötzlich  unwirksam 
erscheint,  obgleich  das  dem  betreffenden  Reize  entsprechende 
Sinnesorgan  von  der  Verletzung  nicht  betroffen  war.  Es  ist 
nicht  zu  bezweifeln,  dafs  von  einer  toten  Sardine  auch  Stoffe 
ins  Wasser  diffundieren,  welche  das  chemische  Sinnesorgan  im 
Munde  eiregen.  Bleiben  an  der  Nase  operierte  Haie  solcher 
Nahrung  gegenüber  gleichgültig,  so  zeigt  das  ihre  Abneigung 
gegen  Nahrungsaufnahme,  nicht  ihre  Unfähigkeit,  die  Nahrung 
wahrzunehmen.  Gerade  so  verhielten  sich  Haie,  die  ich  seiner- 
zeit durch  einen  Schnitt  an  der  Seite  des  Körpers  unerheblich 
verletzt  hatte! 

Unfafsbar  ist  mir,  wie  Herr  von  Uexküll  glauben  kann 
durch  den  (mir  nachgemachten)  Versuch  mit  der  Chininsardine 
beweisen  zu  können,  dafs  Chinin  auf  die  Nasenschleimhaut 
nicht  wirke,  indem  die  Sardine  von  weitem  zwar  ge- 
wittert und  aufgesucht,  nach  dem  Anbeifsen  aber  wieder  aus- 
gespien wurde.  Meiner  Meinung  nach  beweist  dieser  Versuch 
nur,  dafs  entweder  Chinin  sich  langsamer  im  Wasser  verbreitet, 
als  gewisse  Bestandteile  des  Fischfleisches,  oder  dafs  seine  ab- 
stof sende  Wirkung  in  rascherem  Verhältnisse  mit  der  Entfernung 
abnimmt,  als  die  anziehende  Wirkung  jener  anderen  Stoffe. 

Auf  ähnlich  schwachen  Füfsen  steht  Herrn  von  Uexkülls 
Behauptung  (S.  563): 

„Das  Sinnesorgan  in  der  Nase  ruft  den  Witterungsreflex 
hervor,  während  das  Sinnesorgan  in  der  Mundschleimhaut  den 
Reflex  des  Ausspeiens  auslöst.^ 


442  Wilibald  Ä,  Nagel 

Ich  erinnere  an  meine  Versuche,  in  welchen  die  Fische  die 
Fähigkeit,  Zuckerlösungen  wahrzunehmen,  deutlich  bekundeten. 
Zucker  löst  nicht  den  ßeflex  der  Ausspeiens  aus,  er  wird  im 
Gegenteil  gerne  genommen.  Es  bleibt  also  Herrn  von  Uexküll 
die  Wahl,  anzunehmen,  dafs  Zucker  ein  den  „Witterungsreflex" 
auslösender  Beiz  für  die  Nasenschleimhaut  sei  (was  ihm  kaum 
sympathisch  sein  dürfte),  oder  dafs  auch  das  Geschmacksorgan 
im  Munde  sich  an  der  Witterung  der  Nahrung  beteUigt. 


Zum  Schlüsse  noch  ein  paar  Worte  über  die  Tagblindheit 
der  Scyllien.  Herr  von  UexkOll  behauptet,  ohne  natürlich 
meine  Einwände  auch  nur  im  mindesten  zu  berücksichtigen, 
geschweige  denn  zu  widerlegen,  die  Tagblindheit  der  Haie 
sei  durchaus  erwiesen.     Beweis  (S.  564): 

„Beer  hat  in  seiner  schönen  Arbeit  über  die  Akkommoda- 
tion des  Fischauges  auch  das  Auge  eines  Katzenhais  abgebildet, 
aus  der  (sie),  wie  sich  jeder  überzeugen  kann,  hervorgeht,  dafs 
die  Pupille  bis  auf  einen  schmalen  Spalt  vollkommen 
geschlossen  ist." 

Ich  habe  mich  von  dem  Verhalten  der  Haipupille  nicht 
nur  aus  Bbbbs  schöner  Arbeit,  sondern  am  lebenden  Hai 
unterrichtet,  und  das  gleiche  gesehen,  was  Beer  abbildet: 
einen  schmalen,  an  beiden  Enden  etwas  erweiterten  Spalt. 
Nur  bin  ich  der  Meinung,  dafs  ein  Spalt  geeignet  sei,  etwas 
Licht  durchzulassen.  Herr  von  Uexküll  scheint  anderer  Meinung 
zu  sein. 

Den  weiteren  in  Aussicht  gestellten  vergleichend- sinnes- 
physiologischen Untersuchungen  Herrn  von  Uexkülls  sehe  ich 
mit  einer  gewissen  Spannung  entgegen. 

Das  Gesetz  der  spezifischen  Sinnesenergien  wird  er  darin 
in  extremer  Fassung  durchführen,  er  wird  jedoch  den  Ausdruck 
„spezifische  Energie^  nur  auf  das  Verhalten  der  Ganglien- 
zellen zu  den  Empfindungsqualitäten  anwenden  imd 
solche  VerWässerungen  des  Begriffes  nicht  dulden,  wie  ich  sie 
mir  zu  schulden  kommen  liefs.  Aussagen  über  die  Empfin- 
dungen der  Tiere  wird  er  gleichwohl  aufs  Strengste  vermeiden. 

Vielleicht  gelingt  Herrn  von  Uexküll  das  ohne  inneren 
Widerspruch. 


Litteraturberich  t . 


Alfbed  Binbt.  Introduction  ä  la  Psychologie  expörimentale.  Avec  la 
coUaboration  de  Mk.  Phiuppb,  Coitbtier  et  Victor  Henri.  Paris, 
Alcan.  1894.  155  S. 

Die  Yorliegende  „Einführung  in  die  experimentelle  Psychologie^^  ist 
hervorgegangen  aus  der  gemeinschaftlichen  Arbeit  des  Personals  des 
Pariser  Laboratoriums  der  Psychologie,  unter  „Approbation^  des  Direktors 
M.  H.  Beaükis.  Das  Buch  giebt  in  neun  Kapiteln  einen  Bericht  über 
die  gegenwärtigen  Laboratorien  der  Psychologie,  über  die  psychologischen 
Methoden  und  die  Hauptgegenstände  der  psychologischen  Forschung. 

In  dem  ersten  Kapitel:  „Les  laboratoires  de  Psychologie'^  lernen 
wir  zuerst  das  Laboratorium  zu  Paris  kennen.  Das  Personal,  die  Apparate, 
Gerätschaften.  Sammlungen,  die  bisherigen  Arbeiten  werden  mit  etwas 
kleinlicher  Vollständigkeit  vorgeführt.  Sodann  folgt  der  früher  schon 
an  anderer  Stelle  veröffentlichte  Bericht  von  Herrn  V.  Henri  über  die 
„ausländischen  Laboratorien'^  der  sich  hauptsächlich  mit  den  deutschen 
Listituten  beschäftigt  und  mancherlei  sachliche  Unrichtigkeiten  enthält. 
Es  tritt  in  diesem  Bericht,  ebenso  wie  in  einigen  der  folgenden  Kapitel, 
die  unverkennbare  Tendenz  hervor,  die  Leistungen  des  Auslandes  etwas 
herabzusetsen.  Die  sehr  verschiedene  Anzahl  von  Mitarbeitern  in  den 
deutschen  Laboratorien  wird  ausschliefslich  durch  die  verschiedene 
Möglichkeit,  an  den  einzelnen  Universitäten  mit  experimentell-psycho- 
logischen Arbeiten  den  Doktorgrad  zu  machen,  erklärt.  Der  nicht- 
deutsche Leser  mufs  danach  eine  sehr  niedrige  Vorstellung  von  dem 
ideal-wissenschaftlichen  Literesse  der  jüngeren  deutschen  Psychologen- 
welt gewinnen.  Das  Göttinger  Laboratorium  erhält  die  liebenswürdige 
Charakteristik,  dafs  seine  Apparate  zwar  sehr  neu  und  schön  seien,  aber 
meist  unbenutzt  in  den  Schränken  ständen;  das  Bonner  Laboratorium 
wird  in  ganz  unzutreffender  Weise  als  ein  blolser  Ableger  des  Leipziger 
Instituts  charakterisiert. 

Das  zweite  Kapitel:  ,,Les  m^thodes  psychologiques**  giebt  einen 
übermäfsig  abgekürzten  Bericht  über  die  psychologischen  Methoden. 
Selbst  für  eine  „Einführung''  sind  diese  Darstellungen  zu  dürftig.  Ganz 
gut  aber  nicht  neu  ist  die  allgemeine  Einteilung  in  experimentelle  Me- 
thoden und  Beobachtungsmethoden. 

Das  dritte  Kapitel:  „Les  sensations,  les  perceptions,  l'attention'' 
enthält   in  der  Hauptsache   das,   was  wir  nennen   würden   die  Psycho- 


444  Lüteraturbericht 

physik.  An  dem  Beispiel  der  Untersuchungen  über  den  Hautsinn  werden 
die  psychophysischen  Grundbegriffe,  Verfahrungsweisen  etc.  klar  gemacht. 
Auch  das  ist  alles  etwas  dürftig,  und  man  stöfst  auf  zahlreiche  Unrichtig- 
keiten. Der  Begriff  der  Schwelle  (S.  35)  ist  geradezu  falsch  dargestellt. 
Im  allgemeinen  herrscht  gerade  in  diesen  Ausführungen  die  Tendenz, 
die  „psychologues  etrangers^',  die  „experimentateurs  ^trangers"  etwas 
her  abzudrücken.  Vor  allem  sollen  die  „fremden"  Psychologen  die  „Selbst- 
beobachtung" ganz  und  gar  vernachlässigt  haben  (S.  28ff.).  Belegt  wird 
das  durch  eine  phantasievolle  Schilderung  der  üblichen  Zeitsinn  versuche. 
Dieser  Bericht  ist  geradezu  den  Thatsachen  zuwiderlaufend.  Der  Mit- 
verfasser V.  Henri  hätte  Gelegenheit  gehabt,  zu  sehen,  dafs  Referent  z.  B. 
nicht  drei,  sondern  bisweilen  sieben  und  mehr  Urteilsstufen  verwendet, 
imd  dafs  die  Selbstbeobachtung  in  sehr  systematischer  Weise  heran- 
gezogen wurde;  auch  die  Arbeit  Schumanns  über  die  Schätzung  kleiner 
Zeitgröfsen  verwendet  die  Selbstaussagen  der  Beobachter  in  ausgiebiger 
Weise.  Auf  wen  pafst  also  diese  Schilderang  der  Zeitsinnversuche 
„fremder"  Psychologen?  Es  sei  mir  aber  hier  gestattet,  einige  prinzi- 
pielle Bemerkungen  über  die  Verwendung  der  Selbstbeobachtung  im 
psychologischen  Experiment  zu  machen,  die  vielleicht  gegenüber  der 
schrankenlosen  Wertschätzung  derselben,  wie  sie  Binet  und  Hbxbi  hier 
ausführen,  am  Platze  sind.  Sicherlich  mufs  die  systematische  Ver- 
wendung der  Selbstbeobachtung  (richtiger  der  inneren  Wahrnehmung) 
beständig  neben  dem  Experiment  einhergehen,  ja  die  Selbstaussage  der 
Versuchsperson  kann  uns  manchmal  erst  die  Ergebnisse  des  Versuchs 
in  einer  Weise  zu  deuten  helfen,  wie  es  aus  den  objektiven  experimen- 
tellen Daten  nie  gelingen  würde.  Aber  das  beständige  Ausfragen  der 
Beobachter  bringt  auch  grofse  Unzuträglichkeiten  mit.  Man  züchtet 
nicht  selten  künstlich  falsche  Urteilsgewohnheiten  grofs,  die  fehlerhafte 
Verwendung  mittelbarer  Kriterien,  das  Vorherrschen  gewisser  störender 
Assoziationen  und  Vorurteile  setzt  sich  durch  das  beständige  Ausfragen 
in  dem  Beobachter  fest,  während  eine  sich  selbst  überlassene  Versuchs- 
person in  den  meisten  Fällen  sehr  bald  die  einfachste  und  objektivste 
Art  der  Beobachtung  herauszufinden  pflegt.  Die  Verfasser  können  ver- 
sichert sein,  dafs  zahlreiche  „psychologues  etrangers"  die  Vorsiclits- 
mafsregeln,  die  bei  der  Verwendung  der  Selbstbeobachtung  nötig  sind, 
seit  Jahren  kennen. 

Den  Inhalt  der  übrigen  Kapitel  können  wir  hier  nur  kurz  über- 
blicken, da  sie  durchweg  dem  Leser  nichts  Neues  bieten  werden.  Als 
das  beste  und  originellste  Kapitel  erscheint  uns  das  vierte  mit  der 
Überschrift  „Mouvements^.  Der  Ausdruck  „psychologie  des  meuvements'', 
den  die  Verfasser  im  Eingang  desselben  gebrauchen,  erscheint  uns  etwas 
schief;  man  spricht  doch  auch  nicht  von  einer  Psychologie  der  Heize. 
Im  ganzen  aber  zeigt  sich  in  diesen  Ausführungen  über  die  Bedeutung 
der  Bewegungen  und  Bewegungsempfindungen  und  über  die  Methoden 
zu  ihrer  Untersuchung  die  starke  Seite  der  französischen  experimen 
teilen  Psychologie,  Die  Arbeiten  von  Mabet  und  Dement,  um  nur  diese 
zu  erwähnen,  haben  hierin  eine  vortreffliche  Vorarbeit  geleistet,  und  es 
ist  keine  Frage,   dafs  in  dieser  Hinsicht,   namentlich   was  die  Technik 


lAtteraiurbericht.  445 

und  Methoden  zum  Studium  der  Bewegungen  betrifft,  die  französiscke 
Psychologie  einen  gewissen  Vorsprun^  hat. 

Sehr  ungleich  ist  der  Wert  der  ausführlichen  Darlegungen  des 
fünften  Kapitels  über  das  Gedächtnis.  Die  Verfasser  beschweren  sich 
über  eine  Vernachlässigung  der  Gedächtnisphänomene,  und  als  Beleg 
wird  angeführt,  dafs  z.  B.  in  Wundts  Psychologie  (4.  Aufl.)  von  laSO  Seiten 
nur  11  dem  „Gedächtnis^  gewidmet  wurden.  Es  ist  allerdings  dem 
Referenten  nicht  fraglich,  dafs  die  vorhandenen  experimentellen  Arbeiten 
über  das  Gedächtnis  in  den  Lehrbüchern  der  Psychologie  bisher  noch 
nicht  die  nOtige  theoretische  Ausbeutung  gefunden  haben,  aber  die 
Klage  der  Verfasser  ist  in  der  von  ihnen  erhobenen  Form  unberechtigt. 
Sie  übersehen  dabei  gänzlich,  daXs  sie  selbst  sehr  vieles  unter  den  Erlassen- 
begriff  „Gedächtnis^  bringen,  was  andere  Psychologen  unter  anderen 
Rubriken,  wie  Assoziationsgesetze  und  -Bedingungen,  Beproduktions- 
phänomene,  Bewufstseinsumfang  u.  s.  w.,  zu  erörtern  pflegen,  und  dafs 
der  Klassenbegriff  „Gedächtnis"  wegen  seiner  zu  grofsen  Allgemeinheit 
und  Unbestimmtheit  überhaupt  durch  speziellere  Termini  ersetzt  zu 
werden  beginnt.  Erwähnen  wollen  wir  noch  aus  diesem  Kapitel  die 
Aufzählung  der  Gedächtnismethoden  (S.  76  ff.),  die  sehr  beachtenswert  ist. 
Aus  dem  Folgenden  dürfte  ferner  die  Behandlung  der  Methoden  der 
Beobachtung  als  vielfach  originell  zu  erwähnen  sein. 

Die  Schlufsbemerkungen  (IX.  Conclusion)  äufsern  einige  Wünsche 
nach  Erweiterung  der  bisherigen  psychologischen  Praxis,  die  sich 
mancher  Psychologe  zu  Herzen  nehmen  könnte. 

Das  Werk  enthält  für  eine  „Einführung"  eine  zu  grofse  Zahl,  zum 
Teil  selbst  sinnstörender  Druckfehler.  £.  Meumann  (Leipzig). 

Julien  Pioobb.  La  Tie  et  la  pens^e.  Essai  de  conception  expörimentale. 

BibUothequ9  de  philosopkie  contemporaine,   Paris.  Felix  Alcan.  1893.  263  S. 

Unter  diesem  verheifsungsvollen  Titel  bietet  der  schon  durch  sein 
Le  Monde  physique  bekannte  Verfasser  eine  wissenschaftliche  Prüfung 
und  Läuterung  der  wichtigsten  Prinzipien  der  Physiologie  und  Psycho- 
logie und  sucht  auf  Grund  derselben  als  einer  die  Summe  unserer  Er- 
fahrung abschliefsenden  Synthese  eine  Lösung  der  bis  jetzt  falsch,  oder 
besser  verfrüht,  aufgestellten  Frage  nach  dem  Wesen  des  Bewufstseins 
zu  geben. 

In  geistreichen  und  anregenden  Betrachtungen  führt  er  das  Phä- 
nomen des  Lebens  durch  eine  Beihe  kaum  merklicher  Übergänge  zurück 
auf  die  Ernährung,  welche  selbst  nur  als  die  Besultante  physikalisch- 
chemischer Vorgänge  zu  betrachten  ist.  Diese  aber  haben  ihr  Analogon 
in  der  von  Graham  entdeckten  Dialyse  (Diffusion),  der  gegenseitigen  Durch- 
dringung von  Gas  und  Flüssigkeit,  ohne  dafs  sie  chemisch  aufeinander- 
wirken. 

Indem  sich  ihm  so  das  Leben  in  letzter  Linie  lediglich  als  das 
Ergebnis  von  Wirkung  und  Gegenwirkung  physikalisch  -  chemischer 
Molekular kräfte  darstellt,  gewinnt  Verfasser  die  Brücke  vom  Anorga- 
nischen zu  dem  nur  scheinbar  wesentlich  verschiedenen  Beiche  des  Or- 
ganischen und  findet  Leben  im  ganzen  Universum,  ohne  darum  Hylozoist 


446  Litteratwbericht, 

zu  sein.  Denn  einen  substantiellen  Träger  des  Lebens  anerkennt  er 
nicht ;  es  giebt  nur  Lebenserscheinftngen.  Wir  haben  nur  lebende  Materie, 
welche  von  der  sog.  toten  Materie  zwar  meist  deutlich,  aber  nicht 
wesentlich  sich  unterscheidet  und  gegen  diese  nur  als  Verbindung  höheren 
Grades  mit  ständig  schwankendem  Gleichgewicht  der  Kräfte  zu  betrachten 
ist.  Daraus  ergeben  sich  die  Hauptkennzeichen  des  Lebens,  die  Er- 
nährung, das  Wachstum,  die  Wiedererzeugung,  die  Fortpflanzung,  die 
Empfindung,  der  Instinkt,  der  Gedanke.  Selbst  die  Spontaneität,  welche 
man  gern  als  das  Spezifikum  des  Lebens  ansieht,  läfst  sich  auf  diese 
einfachsten  Verhältnisse  zurückleiten. 

Auf  Einzelheiten  dieser  weit  ausgreifenden  Untersuchung  kritisierend 
oder  auch  nur  referierend  einzugehen,  ist  unmöglich.  Alles  in  allem 
betrachtet,  erscheint  das  Buch  als  ein  interessanter  Versuch,  das  alte 
Problem  des  Lebens  mit  neuen  Mitteln  zu  lösen. 

M.  Offner  (Aschaffenburg). 

Minor  Stnäies  firom  the  Psychological  Laboratory  of  Olark  üniversity.  TL 

Americ.  J<mm,  of  Fsychol  VI.  4.  S.  633—584.  1895. 

Der  vorliegende  zweite  Bericht  aus  dem  unter  E.  C.  Sanfords  Leitung 
stehenden  Laboratorium  enthält  folgende  Arbeiten: 

1.    Caroline  Miles:    A  study  of  individual  psjchology. 

Die  Verfasserin  bietet  einen  Versuch,  den  Fragebogen  der  Psychologie 
nutzbar  zu  machen;  neben  den  auf  diesem  Wege  zu  Tage  geförderten  psycho- 
logischen Erkenntnissen  will  sie  gleichzeitig  seine  Methode  fördern. 
Das  letztere  Ziel  hat  sie  kaum  erreicht.  Denn  die  wenigen  methodischen 
Anweisungen,  die  sich  hie  und  da  in  die  Arbeit  eingestreut  und  am 
Schlüsse  derselben  zusammengefaXst  finden,  sind  weder  neu,  noch  inhalts- 
schwer. Dagegen  zeigt  die  Arbeit  einen  schweren  methodischen  Fehler, 
der  sie  beinahe  zum  Rang  einer  psychologischen  Spielenei  degradiert: 
es  ist  weder  Plan  noch  Ziel  in  dem  Fragen.  Alles  Experimentieren 
wird  zu  einem  Tappen  im  Finstern  und  kann  nur  ganz  zufällig  Brauch- 
bares zu  Tage  fördern,  sobald  es  nicht  einer  ganz  bestimmten  Frage- 
stellung angepafst  ist;  so  verliert  auch  die  Fragemethode  ihren  wissen- 
schaftlichen Wert,  wenn  sie  nicht  von  einem  klar  aufgestellten  Problem 
ausgeht  und  dieses  vom  Anfang  bis  zum  Ende  fest  im  Auge  behält. 
Aber  daran  denkt  die  Verfasserin  nicht;  da  wird  darauf  losgefragt, 
einmal  ein  bischen  GeftLhl,  dann  ein  bischen  Aufmerksamkeit,  dann  ein 
wenig  Gedächtnis,  und  so  fort,  einmal  das,  dann  das,  und  nirgends  eine 
Spur  von  einer  Frage,  der  die  Fragestellung  dienen  soll.  Dabei  kann 
nicht  geleugnet  werden,  dafs  das  Einzelne  gut  Überlegt  iist;  aber  was 
nützt  das  bei  dem  erwähnten  Hauptmangel?  So  ist  auch  mit  den  in 
grofser  Zahl  eingelaufenen  Antworten  kaum  etwas  anzufangen,  abgesehen 
davon,  dafs  sie  sich  meist  so  vager  Ausdrücke  bedienen,  dafs  der  damit 
gemeinte  psychische  Thatbestand  keineswegs  eindeutig  bestimmt  ist. 
Was  kann  es  z.B.  nicht  alles  bedeuten,  wenn  auf  die  Frage:  „Woran 
unterscheiden  Sie  die  linke  Hand  von  der  rechten?''  die  Antwort 
kommt:  „An  einem  ünterschiedsgefühl^,  oder  „instinktmäfsig^ !  Viele 
Fragen  sind  auch,  weil  sie  sich  mit  zu  komplizierten  psychischen  That- 


LiUeraturhericht,  447 

beständen  beschäftigen,  und  die  Antworten  darauf  wegen  gänzlichen 
Mangels  aller  Analyse  schwer  zu  verwerten.  ,,Wie  zwingen  Sie  sich  zu 
einer  unerwünschten  Aibeit?''  „Geben  Sie  mir  einige  Dinge  an,  über 
die  Sie  sich  recht  zu  ärgern  pflegen/*  »jWie  bekämpfen  Sie  Schlaflosig- 
keit?" „Was  waren  Ihre  Lieblingsspiele  als  Kind?"  „Wovor  fürchteten 
Sie  sich  als  Kind?*'  u.  s.  w.  und  darauf  als  Antwort  ein  buntes  Durch- 
einander von  allem  Möglichen,  das  sich  nur  schwer  ordnen,  zu  exakten 
psychologischen  Erkenntnissen  wegen  der  Unmöglichkeit  der  Analyse 
gar  nicht  verwerten  läTst.  Die  Verfasserin  giebt  deis  letztere  indirekt 
zu,  indem  sie  sich,  von  einigen  geringfügigen  Ansätzen  zu  weiterer  Ver- 
wertung der  Antworten  abgesehen,  mit  diesen  selbst  begnügt:  ein 
Ertrag,  der  mit  der  Gröfse  und  Leistungsfähigkeit  des  in  Bewegung 
gesetzten  Apparates  in  keinem  Verhältnis  steht.  —  Kurz,  wir  kennen 
bereits  bessere  Beispiele  von  Anwendung  der  Fragemethode 

2.  A.H.Daniels:  The  memory  after-image  and  attention. 
Der  Artikel  berichtet  über  Versuche,  die  zur  Bestimmung  der  Dauer 

der  Gedächtnisnachbilder  angestellt  wurden.  Sie  bestanden  darin,  dafs, 
während  die  Versuchsperson,  um  das  „assoziative'*  Gedächtnis  möglichst 
auszuschalten,  ihre  ganze  Aufmerksamkeit  dem  lauten  Lesen  einer  inter* 
essanten  Geschichte  zugewendet  hält,  vom  Experimentator  drei  Ziffern 
genannt  werden,  die  ihm  die  Versuchsperson  auf  ein  nach  Ablauf  einer 
bestimmten  Zeit  gegebenes  Zeichen  zu  wiederholen  hat.  Sehr  schwierig 
soll  es  dabei  auch  beim  aufmerksamsten  Lesen  sein,  dem  vorzeitigen 
Eindringen  eines  Erinnerungsbildes  ins  Bewufstsein  zu  entgehen,  wo- 
durch ja  die  Dauer  der  Reproduzierbarkeit  des  Gedäohtnisnaohbildes* 
verlängert  wird.  Sie  erreicht  nämlich,  wie  D.  gefunden  hat,  dabei  20", 
während  sie  sonst  höchstens  15"  beträgt.  Doch  wird  bemerkt,  dafs  diese 
Zahlen  die  obere  Grenze  von  Werten  darstellen,  welche  von  dem  Mafs 
der  Aufmerksamkeit  abhängen,  mit  dem  der  das  Erinnerungsnachbild 
erzeugende  Eindruck  aufgefafst  wird;  geschieht  dieses  Auffassen  mit 
vollständig  abgelenkter  Aufmerksamkeit,  so  kommt  überhaupt  kein 
Erinnerungsnachbild  zu  stände.  —  Der  Wert  der  sonst  recht  interessanten^ 
Arbeit  ist  entschieden  beeinträchtigt  durch  die  noch  keineswegs  klar 
und  eindeutig  gefafsten  Begriffe  von  „assoziativem  Gedächtnis^  und 
„Gedächtnisnachbild''. 

3.  A.  J.  Hamlin.  On  the  l'east  observable  interval  between 
Stimuli  adressed  to  disparate  senses  and  to  different  organs 
of  the  same  sense. 

Eine  neuerliche  Messung  des  kleinsten,  noch  merklichen  Zeitintev- 
valles  zwischen  Beizen  verschiedener  Sinne  oder  verschiedener  Organe  des- 
selben Sinnes,  und  zwar  bei  verschiedenen  Aufmerksamkeitszuständen, 
war  der  Zweck  der  Versuche,  über  die  Verfasserin  berichtet.  Die  zeit- 
liche Verteilung  der  Beize,  als  welche  das  Aufblitzen  einer  GEissLERSchen 
Bohre,  der  Ton  eines  Telephons  und  ein  leichter  elektrischer  Schlag 
dienten,  wurde  durch  einen  Pendelstromunterbrecher  reguliert.  (Siehe 
unten.)  Zunächst  wurden  Versuche  mit  normaler  (unforced)  Aufmerksam- 
keit ausgeführt.  Die  Ergebnisse  derselben  sind  in  übersichtlichen 
Tabellen  mit  denen  anderer  Forscher  zusammengestellt  und  verglichen. 


448  Litteraturbericht. 

Bemerkenswert  sind  die  dabei  zwischen  den  Intervallen  einzelner  Paare 
allenthalben  zu  Tage  tretenden  konstanten  Differenzen,  welche  der  Ver- 
fasserin im  Gegensatz  zu  Exkeb  das  Heranziehen  der  längeren  Dauer 
des  An-  und  Abklingens  beim  Auge  zur  Erklärung  der  hierhergehörigen 
Thatsache  bei  Licht-Schallversuohen  unnötig  erscheinen  lassen.  — 
Weitere  Versuche  wurden  mit  willkürlich  und  unwillkürlich  eingestellter 
Aufmerksamkeit  ausgeführt;  sie  haben  aber  keine  besonderen  Besultate 
ergeben;  hervorgehoben  wird,  dals  die  willkürliche  Aufmerksamkeit 
durchaus  nicht  den  Schein  hervorruft,  als  ginge  der  von  ihr  getroffene 
Beiz  voran.  —  Schliefslich  sucht  sich  die  Verfasserin  mit  den  diesen 
Gegenstand  betreffenden  Ausführungen  £xkebs  {Pf  lüg  er  8  Arch.  XI.  1875) 
in  Kürze  auseinanderzusetzen. 

4.   E.  C.  Sakfobo.    Notes  on  new  apparatus. 

a)  The  binocular  stroboscope.  Der  Apparat  demonstriert  gleich- 
zeitig den  Einfiiufs  der  Konvergenz  der  Augenazen  auf  die  Ausmessung 
der  Tiefendimension  und  die  Verschmelzung  eines  Eindruckes  des  einen 
Auges  mit  einem  rasch  darauffolgenden  ähnlichen  des  anderen  Auges 
zu  einer  einzigen  Empfindimg.  Seine  Konstruktion  ist  die  der  stroboskopi- 
schen  Scheiben,  nur  dafs  er  Schlitze  für  beide  Augen  trägt,  die  in  der 
Entfernung  der  Augendistanz  voneinander  angebracht  sind,  und  deren 
fiadien  miteinander  einen  übrigens  variierbaren  Winkel  bilden ;  auch  ist 
es  vorteilhaft,  die  Anzahl  der  öffiiungen  für  jedes  Auge  auf  zwei 
einander  diametral  gegenüberliegende  zu  beschränken.  Als  Objekt  dient 
das  Spiegelbild  eines  in  der  Scheibe  eingezeichneten  Striches,  der  nun  bei 
der  Betrachtung  durch  die  Schlitze  der  rotierenden  Scheibe  nach  vom 
oder  nach  rückwärts  geneigt  erscheinen  soll. 

b)  A  model  of  the  field  of  regard.  Das  Modell  besteht  aus  zwei 
Teilen.  Der  eine  versinnbildlicht  durch  Drahtkreise,  die  den  Horizont, 
die  Meridiane  etc.  darstellen,  das  sphärische,  der  zweite  durch  eine  dazu 
tangentiale  Ebene  das  ebene  Blickfeld.  Die  Schattenprojektion  vom 
Mittelpunkt  jenes  auf  dieses  zeigt  in  anschaulicher  Weise  den  Zusammen- 
hang zwischen  beiden. 

c)  A  simple  adjus table  stand.  Einer  jener  Hülf sapparate,  von  deren 
zweckmäfsiger  Form  oft  so  viel  abhängt.  Der  hier  in  Bede  stehende 
dient  als  bequeme,  nach  Belieben  verstellbare  und  nachgebende  Armstütze. 

d)  The  pendulum  circuit  breaker.  Eine  Gruppe  von  drei  Strom- 
unterbrechern, die  mit  einem  Pendelchronoskop  in  Verbindung  stehen 
und  durch  dasselbe  in  regulierbaren  Zeitabständen  in  Wirksamkeit  ver- 
setzt werden.  Eine  Prüfung  des  Apparates  durch  Stimmgabelschwingungen 
ergab  nach  S.'s  Mitteilung  eine  für  die  meisten  Zwecke  ausreichende 
Genauigkeit.  Witasek  (Graz). 

G.  W.  Fitz.  A  Location  Beaction  Apparatns.  Psychol  Bev.  U.  1.  S.  37—42. 
(1895. 

Verfasser  beschreibt  einen  von  ihm  konstruierten  Apparat,  der  dazu 
dient,  die  Geschwindigkeit  und  Genauigkeit  zu  prüfen,  mit  der  man  im 
Stande  ist,  ein  durch  Entfernen  eines  Schirmes  an  vorher  nicht  bekannt 
gegebener  Stelle  plötzlich  sichtbar  werdendes  Objekt  mit  der  Finger- 


Litteraturbericht  449 

spitze  zu  berühren.  Derselbe  gestattet  an  zwei  durch  die  Berührung 
sich  einstellenden  Zeigern  genaue  Ablesung  der  GrOfse  der  Abweichung 
der  Berührungsstelle  von  dem  zu  berührenden  Objekte  und  der  Dauer 
der  zwischen  dem  Sichtbarwerden  desselben  und  der  Berührung  ver- 
flossenen Zeit.  —  Von  den  anscheinend  zahlreichen  Versuchen,  die  mit 
dem  Apparat  angestellt  wurden,  ist  nur  wenig  berichtet;  hervorgehoben 
wird,  dafs  Geschwindigkeit  und  Genauigkeit  in  keinem  einfachen  Ver- 
hältnis stehen.  Witasek  (Graz.) 


L.  Hermann.  Über  das  Wesen  der  Vokale.  Pflügers  Arch.  f.  d,  ges, 
Fhysiol,  1895.  Bd.  61.  S.  169—205. 
Mittelst  methodischer  Verbesserungen  setzt  Verfasser  seine  Unter- 
suchungen fort  und  findet  zunächst  hinsichtlich  der  unharmonischen 
Bestandteile  der  Vokale,  dafs  sie  anaperiodisch  sind,  d.  h.  sich  in  jeder 
Periode,  unabhängig  einsetzend,  wiederholen.  Femer  enthält  die  Unter- 
suchung neue  Kurven  langer  und  kurzer  Vokale  und  polemische  Details 
gegen  Pifping  und  Hekben.  Bezüglich  der  Einzelheiten  mufs  auf  das 
Original  verwiesen  werden.  Sohaefbb  (Bostock). 

Alfbed  M.  Mayer.  Besearches  in  Aconstics.  FkOoa,  Mag,  87.  No.  226. 
S.  259—288.  1894. 

Die  Abhandlung  zerfällt  in  drei  Teile.  Der  erste  enthält  die  Er- 
gebnisse einer  Nachprüfung  bereits  früher  von  M.  bezw.  auf  seine  Ver- 
anlassung hin  gemachter  Versuche,  die  Abhängigkeit  der  Nachempfindung 
von  der  Tonhöhe  zu  ermitteln.  Bei  den  früheren  Versuchen  war  zwischen 
einer  tönenden  Stimmgabel  und  einem  entsprechend  abgestimmten  Kugel- 
resonator eine  mit  Löchern  versehene  Scheibe  angebracht.  Vom  Resonator 
ftLhrte  ein  Schlauch  zum  Ohre.  Es  wurde  nun  festgestellt,  wie  schnell 
die  Scheibe  rotieren  mufs,  wie  kurz  also  wenigstens  die  Unterbrechung 
des  Tones  sein  mufste,  um  eine  kontinuierliche  Empfindung  zu  erzeugen. 
Da  die  Ö£fnung  des  Resonators  durch  die  Scheibe  bei  der  Botation 
periodisch  verengt  und  erweitert  wurde,  so  muDsten  Variationstöne 
entstehen,  die  störend  auf  die  Beobachtung  einwirkten.  Infolgedessen 
wurde  bei  den  wiederholten  Versuchen  die  Öffnung  des  Resonators  dicht 
an  die  Stimmgabel  gebracht  und  die  Leitung  zum  Ohre  durch  eine 
rotierende  Scheibe  unterbrochen. 

M.  fand  für  die  Dauer  der  Nachempfindung  folgende  Formel: 

33000 


^=[irF^  +  i«]«'««i' 


worin  D  die  Dauer   der  Nachempfindung,   N  die  Schwingungszahl   des 
untersuchten  Tones  ist  (nach  ganzen  Schwingungen). 

Der  zweite  Teil  der  Abhandlung  handelt  über  das  kleinste  konso- 
nante  Litervall  zwischen  „  einfachen^  (Stimmgabel-)Tönen.  Unter  Konsonanz 
versteht  M.  mit  Helmholtz  die  Kontinuität,  unter  Dissonanz  die  Rauhig- 
keit der  Empfindung.    So  bilden  nach  M.  die  Stimmgabeltöne  256  und  314 

Zeitschrift  fUr  Psrcholoflrie  X.  29 


450  Litteraturbericht. 

ein  konsonantes  Intervall.  Aus  einer  grofsen  Zahl  von  ihm  selbst  und 
von  König  in  Paris  gemachter  Beobachtungen  (Königs  Ergebnisse  sind 
ebenfalls  in  dieser  Abhandlung  veröffentlicht)  fand  M.  für  das  kleinste 
konsonante  Intervall  bei  Stimmgabeltönen  innerhalb  der  Grenzen  von 
192  bis  2560  ganzen  Schwingungen  folgende  Formel: 

2,r-J,r    .      10000 

-^^•-^  ^42000     .   _, 


iV  +  23 


+  23 


worin  N  den  tieferen  Ton  des  Intervalls  bezeichnet. 

Der  dritte  Teil  sucht  einen  Zusammenhang  zwischen  der  Dauer 
der  Nachempfindung  und  dem  kleinsten  konsonanten  Intervall  nach- 
zuweisen. Aus  der  Formel  für  das  kleinste  konsonante  Intervall  wurde 
die  Dauer  der  Nachempfindung  berechnet,  indem  die  Schwebungen  einer 
gleichen  Anzahl  von  Unterbrechungen  gleichgesetzt  wurden.  Die  so 
gefundenen  Werte  wurden  mit  den  aus  der  Formel  für  die  Dauer  der  Nach- 
empfindungen erhaltenen  verglichen.  N  wurde  als  das  Mittel  (welches 
Mittel,  sagt  M.  nicht)  der  Schwingungszahlen  der  Töne  des  Intervalls 
angenommen.  Der  Vergleich  zeigt,  dafs  in  beiden  Fällen  die  berechnete 
Dauer  der  Nachempfindung  nach  der  Tiefe  zu  sehr  schnell  wächst,  nach 
der  Höhe  zu  sehr  langsam  abnimmt.  Doch  sind  die  aus  der  Formel  für 
das  kleinste  konsonante  Intervall  berechneten  Werte  ungefähr  um  ein 
Drittel  gröfser  als  die  aus  der  Formel  für  die  Dauer  der  Nachempfindung 
bei  unterbrochenen  Tönen  erhaltenen,  was  sich  sehr  einfach  daraus 
erklärt,  dafs  bei  zwei  gleichzeitigen  Tönen  keine  wirklichen  Unter- 
brechungen, sondern  nur  Schwankungen  der  Schwingungsweite  vorliegen. 
Zum  Schlüsse  fügt  M.  noch  einige  Bemerkungen  über  das  WEBERSche 
Gesetz  bei  Tonstärken  hinzu.  Er  neigt  zu  der  Ansicht  hin,  dafs  in 
diesem  Falle  die  Empfindung  dem  Heize  proportional  wachse. 

Max  Meter  (Berlin). 

H.  ZwAARDEMAKBR.  Die  PhyBlologie  des  Gernches.  Nach  dem  Manuskript 
übersetzt  von  Dr.  A.  Jükker  von  Lakgeqo.  Mit  28  Figuren  im  Text. 
Leipzig,  Verlag  von  Wilh.  Engelmann.  1895.  324  Seiten. 
Es  war  einer  der  lebhaftesten  Wünsche  Karl  Ludwigs,  dafs  der 
Geruchssinn  einmal  einer  umfassenden  Untersuchung  unterzogen  werden 
möchte.  „Welch  eine  wunderbare  Funktion  ist  der  Geruch,"  pflegte  er 
zu  sagen,  „wenn  ich  doch  für  dieses  Gebiet  einen  jungen  Freund  begei- 
stern könnte!"  In  Anbetracht  dieses  so  oft  von  ihm  ausgesprochenen 
Wunsches  erfüllte  es  mich  schon  bei  der  ersten  Durchsicht  des  unlängst 
erschienenen  ZwAARDEMAXERSchen  Werkes  mit  Wehmut,  dafs  der  bis  in  sein 
hohes  Alter  mit  jugendfrischem  Interesse  alle  Fortschritte  der  Wissen- 
schaft verfolgende  grofse  Gelehrte  gerade  dieses  Werk  jahrelanger  sorg- 
fältiger Forschung  und  unermüdlichen  Fleifses  nicht  mehr  erleben  sollte. 
Das  vorliegende  Werk  ist  nicht  die  erste  Veröffentlichung  des  Verfassers 
auf  diesem  Gebiete,  aber  was  bisher  von  ihm  nur  in  Einzelschriften  xmd 
in  holländischer  Sprache  erschienen  und  zudem  noch  nicht  jedem  zu- 
gänglich war,  ist  hier  zu  einem  einheitlichen  Ganzen  vereinigt  worden. 


Lüteraturbericht  451 

Pas  Werk  beansprucht  aucli  nicht,  durchweg  endgültige  Resultate  zu 
bringen  oder  die  jeweils  aufgeworfenen  Fragen  in  jedem  Falle  in  er- 
schöpfender Weise  zu  behandeln  oder  zum  Abschlufs  zu  bringen,  aber 
neben  den  mannigfachen  Ergebnissen,  die  aus  des  Verfassers  Unter- 
suchimgen  resultierten,  sind  der  weiteren  Forschung  überall  neue  Ge- 
sichtspunkte und  Wege  eröffiiet  worden.  Auijserdem  hat  der  Verfasser 
.die  gesamte  ältere  und  neuere  Litteratur  seines  speziellen  Forschungs- 
gebietes benutzt  und  verwertet.  Ein  von  Dr.  C.  Bbutbr  verfaTstes  Litte- 
raturverzeichnifs  CMorphol.  Litt,  über  d.  Geruchsorg.  d.Vertebraten/'  zuerst 
erschienen  in  der  2jeit8chr,  f.  kUn,  Med.  1892.  Bd.  22)  ist  dem  Werke  als 
Zugabe  angehängt.  Dasselbe  umfafst,  nach  den  einzelnen  Teilen  des 
Organs  geordnet,  nicht  weniger  als  232  namhaft  gemachte  Schriften.  Für 
die  Orientierung  auf  diesem  Gebiete  wird  dasselbe  von  ganz  besonderem 
Werte  sein.  So  dürfte  mit  der  Veröffentlichung  dieses  Werkes  in  der  That 
LxmwiGs  Wunsch  zu  einem  guten  Teile  realisiert  sein.  Aus  den  Worten, 
mit  denen  der  Verfasser  sein  Werk  einleitet,  glaubt  man  fast  Ludwigs 
wunderbare  Sprache  wiederzuhören :  „Vermöchte  der  Mensch  sich  in  den 
Gedankenkreis  eines  osmatischen  Säugetieres  zu  versetzen,  so  würde  er 
ohne  Zweifel  Vorstellungen  ganz  anderer  Art  begegnen,  als  jenen,  in 
welchen  sein  eigenes  Denken  sich  bewegt.  Unsere  zusammengesetzten 
Gesichtsvorstellungen,  so  ungemein  plastisch  infolge  des  binokularen 
Sehens,  die  verwickelten  Klangvorstellungen,  worin  uns  die  Wahl  der 
Sprache  fühlbar  wird,  sie  maAgeln  den  Tieren  fast  gänzlich,  und  an 
deren  Stelle  tritt  eine  wunderbare  Welt  von  Geruchsvorstellungen,  reich 
haltiger  und  vielfältiger,  als  wir  sie  zu  bilden  im  stände  sind.  Sie  be 
herrschen  die  Tierseele  vermutlich  in  derselben  Weise,  wie  uns  die  durch 
Auge  und  Ohr  vermittelten  Eindrücke.  Und  kein  Wunder,  denn  sie  sind 
innig  mit  den  zwei,  für  das  Tier  wichtigsten,  vitalen  Forderungen  ver- 
bunden: der  Ernährung  imd  dem  Geschlechtstrieb.'*  Das  Geruchsorgan 
des  Menschen  befindet  sich  sowohl  in  seinem  zentralen,  wie  in  seinem 
peripheren  Teile  im  Zustande  der  Bückbildung,  das  ist  der  Hauptgedanke, 
den  der  Verfasser  in  dem  einleitenden  Kapitel  seines  Werkes  auszuführen 
sucht.  Die  TuBNEBSche  Modifikation  der  BRocAschen  Klassifikation  accep- 
tierend,  reiht  Verfasser  den  Menschen  in  die  Klasse  der  mikrosmatischen 
Säuger.  .Die  Eück-  und  Umbildung  des  Nasenskeletts  wird  an  der  Hand 
der  Arbeiten  von  Cabpentbr,  Zückebkandl,  Schwalbe,  Seydel  in  überzeu- 
gender Weise  gezeigt-.  Mit  Bezug  auf  die  Ausbreitung  des  Sinnesepithels 
entscheidet  sich  Verfasser  nach  den  Arbeiten  y.  Brunns  für  die  bis  dahin 
von  Max  Schulze  vertretene  Ansicht,  wonach  dasselbe  nicht  einmal  den 
unteren  Hand  der  oberen  Muschel  erreicht.  Eine  gröfsere  Ausbreitung 
des  Sinnesepithels  bis  Über  die  mittlere  Muschel,  wie  Schwalbe  will,  ist 
nach  Verfasser  nur  vorgetäuscht,  und  zwar  durch  die  Pigmentation, 
welche  letztere  nicht  nur  in  den  Stützzellen  vorkommt,  sondern  sich  auch 
auf  gewöhnliche  Bindegewebszellen  erstreckt,  in  keinem  Falle  aber  mit 
der  Ausbreitung  des  Biechepithels  zusammenfällt.  „Das  erwähnte  Epithel 
nimmt  einen  Baum  von  der  Gröfse  eines  Fünfpfennigstückes  sowohl  an 
der  medialen  als  an  der  lateralen  Wand  des  Biechepithels  ein.  Aufser- 
dem  ist  es  unmittelbar  gegen  das  Dach  der  Nasenhöhle  gelegen,  in  mög- 

29» 


452  Litteraturbericht. 

liehst  grofser  Entfernung  vom  Nasenloch.^  Mit  Bezug  auf  die  Natur 
der  im  peripheren  Teile  des  Sinnceorgans  gefundenen  frei  endigenden 
Nervenfasern  scheint  Verfassersich  keiner  bestimmten  Ansicht  anschlieisen 
zu  wollen,  sondern  bemerkt  nur,  dafs  dieselben  nach  den  Anschau- 
ungen Ram6n  t  Cajals  und  ton  Bbükks  dem  Tiigeminus  entstammen. 
Trotz  der  unverkennbaren  Bückbildung  behält  aber  auch  das  mensch- 
liche Geruchsorgan,  wie  Verfasser  weiter  auszuführen  sucht,  die  ihm 
bei  allen  osmatischen  Säugern  zugewiesene  zweifache  Aufgabe  eines  Hülfs- 
mittels  bei  der  Nahrungsaufnahme  und  die  eines  auf  die  Stimmung  wir- 
kenden, äuXsert  affektiven  Sinneswerkzeugs  bei,  es  greift' sogar  tiefer 
in  unser  Leben  ein,  als  wir  gewöhnlich  vermuten,  und  steht  in  der  Schärfe 
und  Feinheit  seiner  Funktion  dem  Auge  und  Ohr  wenig  nach.  „So  leben 
wir  ebensogut  in  einer  Welt  von  Gerüchen,  wie  in  einer  Welt  von  Licht 
und  Schall." 

Das  U.  Kapitel  umfalst  „physikalische  Bemerkungen  über 
Biech Stoffe".  Indem  Z.  die  dynamische  Theorie  verwirft,  hält  er  an 
der  Annahme  fest,  dafs  bei  jeder  Geruchswahmehmung  notwendig  Riech- 
stoifpartikelchen  vorhanden  sein  müssen,  und  sucht  zu  zeigen,  dafs  die 
Loslösung  dieser  Biechmoleküle  von  der  Oberfläche  eines  Biechkörpers 
oder  einer  riechenden  Flüssigkeit  auf  vierfache  Weise  vor  sich  gehen 
kann,  nämlich  durch  einfache  Verdampfung,  durch  Oxydation,  durch 
„hydrolytische  Spaltungen  oder  mehr  zusammengesetzte  Zersetzungen, 
wie  vielleicht  beim  Moschus"  (die  Ursache  des  Moschusgeruches  ist  viel- 
leicht ein  langsam  frei  werdendes  Spaltungsprodukt),  und  endlich  duröh 
„Verteilung  der  riechenden  Flüssigkeit  in  äulserst  feine  Tröpfchen,  welche 
später  verdampfen  oder  in  tropfbarer  Form  von  dem  Luftstrom  mit- 
geführt werden  (Lieoeois)."  Genauere  Messungen  stellte  Verfasser  in 
dieser  Beziehung  mittelst  eines  selbst  erfundenen  und  der  Darstellung  in 
einer  Zeichnung  beigegebenen  Apparates  an,  der  aufser  der  Bestimmung 
der  Biechoberfläche  auch  die  der  Temperatur  des  Biechstoffes  und  der 
Expositionsdauer  zuliefs.  Bei  diesen  Versuchen  ergab  sich,  dafs  die 
Dauer  der  Exposition  eines  Geruchsstoffes  im  Verhältnis  zur  Länge  einer 
Atemphase  von  verschiedender  Kürze  war.  Für  eine  Wachsoberfläche  von 
94  qmm  betrug  dieselbe  beispielsweise  0,1  Sekunde.  Durch  Multipli- 
kation dieser  beiden  Werte  erhält  Verfasser  die  von  ihm  4)ezeichnete 
»genetische  Einheit*',  die  in  diesem  Falle  =  9,4  qmm -Sekunden  ist 
Verf.  weist  darauf  hin,  dafs  die  so  gewonnene  Einheit  eine  nach  dem 
jedesmaligen  Zustande  des  Sinnesorgans  wechselnde  physiologische  Gröfse 
ist.  Vorausgesetzt  wird  bei  dieser  Bestimmung  die  freilich  sehr  wahr- 
scheinliche ,  aber  nicht  absolut  erwiesene  Hypothese,  „dafs  die  Menge  der 
riechenden  Partikelchen,  welche  von  einem  Körper  abgegeben  werden, 
bei  unveränderlicher  Oberfläche  proportional  sein  wird  der  Zeit  und  bei 
unveränderlicher  Expositionsdauer  der  Oberfläche".  Nach  Besprechung 
der  Methode  Ttkdalls  sucht  Verfasser  unter  Hinweis  au^die  Arbeiten 
von  Cloqubt,  Bidder,  von  Vintsohoau  und  Fröhlich  auf  Grund  selbst  ange- 
stellter Versuche  das  weitere  Verhalten  der  von  der  Biechsubstanz  los- 
gelösten und  in  die  Luft  übergegangenen  Partikelchen  zu  zeigen.  Die 
hierauf  bezüglichen  Ergebnisse  sind  am  Schlüsse  des  Kapitels  in  folgende 


LiUeraturbericht  453 

Gesetze  susammengefafst:  „Die  Fortpflanzung  der  Gerüche  geschieht  in 
zylindrischen  Bäumen  oder  Kanälen,  wenn  die  Diffusion  allein  wirkt, 
mit  gleichmäfsiger  Geschwindigkeit,  z.  B.  von  1 — 10  cm  in  der  Sekunde. 
Der  Wind  kann  eine  Duftwolke  meilenweit  forthewegen,  während  die 
Diffusiou  ihr  immer  grOfsere  Ausbreitung  giebt.  Die  dritte  Bewegungs- 
kraft, das  spezifische  Gewicht,  hat  bei  der  Überbringung  der  Gerüche 
einen  geringen  Anteil  aus  phylogenetisch  erklärlichen  Ursachen.  **  (Nur 
*die  Gase,  welche  spezifisch  schwerer  sind,  als  die  Luft,  können  von  den 
Säugetieren  perzipiert  werden.) 

Aus  dem  III.  Kapitel,  „Der  Mechanismus  des  Itiech^ns'',  sei 
hervorgehoben,  dafs  der  Verfasser  in  der  Frage,  wie  der  Biechstoff  zu 
dem  Sinnesepithel  gelangt,  die  Ansicht  vertritt,  dais  dies  nicht  unmitte]- 
bari  durch  den  Atmungsstrom  geschieht,  sondern  dafs  die  Biechparti- 
kelchen  erst  durch  Diffusion  an  die  Begio  olfactoria  gelangen.  Verfasser 
verwirft  die  Hypothese  Joh.  Müllers,  nach  welcher  die  Biechpartikel- 
chen  erst  durch  den  die  Begio  olfactoria  bedeckenden  Schleim  gelöst 
werden  und  nur  in  diesem  Zustande  auf  die  Biechzellen  wirken  sollen. 
Ebensowenig  hält  Verfasser  durch  die  ABONsoHNschen  Versuche  für  erwiesen, 
dafs  Lösungen  als  solche  schon  gerochen  werden  können.  Dieser  Be- 
hauptung steht  nach  Z.  entgegen,  daXs  Luftblasen  in  der  Biechspalte 
haften  geblieben  sein  könnten  und  der  Biechstoff  auf  diese  Weise 
wiederum  nur  in  Gasform  das  Sinnesepithel  getroffen  hätte.  Auf  Grund 
der  Annahme,  dafs  stets  nur  Gase  oder  Dämpfe  eine  Geruohsempfindung 
auslösen  können,  und  dafs  „feste  oder  flüssige  Substanzen  nur  riechen, 
insofern  sie  verdampf  bar  sind^^  ist  gegen  die  AROKBOHKschen  Versuche 
bereits  früher  schon  von  WimDT  der  Einwand  erhoben  worden,  „dafs  bei 
seinen  Versuchen  Dämpfe  der  Flüssigkeit  in  den  Biechraum  eindrangen^^ 
(^Physiol  Bsyckol  4.  Aufl.  Bd.  I.  S.  442,  1.)  Diese  Bemerkung  Wündts  gegen 
Abonsohks  Behauptung  ist  von  Zwaabdemakzb  übersehen  worden.  Am 
Schlüsse  des  Kapitels  werden  über  den  Mechanismus  des  Biechens  vom 
Verfasser  folgende  Schlufsfolgerungen  gezogen: 

„A)  Beim  Schnüffeln,  d.  i.  beim  unmittelbaren  stofsweisen  Ein- 
führen der  riechenden  Luft  in  die  Biechspalte,  wenigstens  in  deren  vor^ 
dersten  oder  untersten  Teil:  Ausbreitung  der  Luftwolke  daselbst  durch 
Diffusion;  Berührung  der  riechenden  Moleküle  in  Gasform  mit  den 
Flimmer härchen  der  Biechzellen. 

B)  Bei  ruhigem  Atmen:  bogenförmige  Strömung  der  Atem- 
luft, als  höchster  Punkt  von  deren  Bahn  der  Unterrand  der  mittleren 
Muschel  gilt  —  (Paulsen,  Zwaabdemakbb)  —  oder  der  Unterrand  der  oberen 
Muschel  (Fbankb);  —  Aufsteigen  der  riechenden  Moleküle  durch  Diffusion; 
Berührung  derselben  in  Dampfform  mit  den  Flimmerhärchen  der  Biech- 
zellen." 

An  die  im  vorstehenden  Kapitel  mitgeteilten  Befunde  anknüpfend^ 
verfolgt  der  Verfasser  im  IV.  Kapitel  —  „Biechfelder  und  Atem- 
flecken*' —  weiter  diejenigen  Bezirke,  aus  welchen  die  Nase  ihre  Biech- 
stoffe  au&iimmt.  Diese  Untersuchungen  verdienen  um  so  mehr  Beach- 
tung ,  als  die  hier  behandelten  Fragen  zum  ersten  Male  eingehend  erwogen 
und  ergründet  sind.   Die  Bäume,  aus  denen  wir  riechen,  und  diejenigen, 


454  Litteraturbericht 

aus  welchen  wir  atmen ,  sind  danach  nicht  dieselben.  Die  ersteren 
benennt  Verfasser  nach  Analogie  des  Gesichtssinnes  als  Riechfelder. 
Nehmen  dieselben  beim  ruhigen  Atmen  gewöhnlich  nur  einen  Teil  des 
in  gleicher  Höhe  vollzogenen  Durchschnitts  des  jederseitigen  Atem* 
kegeis  ein,  so  konnte  andererseits  konstatiert  werden,  dafs  dieselben  beim 
Schnobern  infolge  des  durch  die  mehr  gehobenen  Nasenflügel  bedingten 
steileren  Aufstiegs  des  Atmungsstromes  einen  weiteren  Umkreis  erhalten. 
Zur  Bestimmung  dieser  Thatsache  verwandte  Verfasser  als  Geruchsstoff 
Nelkenöl,  eine  Substanz,  die  bei  Erzeugung  einer  grofsen  Empfindungs- 
intensität nur  eine  geringe  Diffusibilität  besitzt.  Das  weitere  Verfahren 
zur  Bestimmung  des  Biechfeldes  bestand  darin,  dafs  der  Verfasser  mit- 
telst einer  den  GeruchsstofF  enthaltenden  PaAYAZscheu  Spritze  ein  von 
der  Versuchsperson  mit  den  Zähnen  fixiertes  Blatt  Papier  von  der  Unter- 
seite aus  nach  allen  Bichtungen  hin  durchbohrte  und  diejenigen  Punkte, 
an  denen  die  Perzeption  erfolgte,  mittelst  einer  Bleifeder  umrandete. 
Auf  diese  Weise  ergaben  sich  f(ir  beide  Nasenlöcher  ziemlich  sym- 
metrische Felder,  die  von  einem  ca.  0,5  cm  breiten  geruchlosen  Zwischen- 
raum getrennt  waren.  Ebenso  blieben  in  der  Verlängerung  des  Nasen- 
rückens, wie  hart  an  der  Oberlippe,  Zonen  frei,  von  welchen  keine 
Geruchsreize  ausgingen.  Bei  einer  einseitigen  Facialislähmung  ergab 
sich,  wie  zu  erwarten  war,  in  Höhe  der  Verengung  des  Nasenloches 
;auch  eine  Einschränkung  des  betreffenden  Biechfeldes.  Den  Horizontal- 
tdurchschnitt des  Atemkegels  erhielt  der  Verfasser,  indem  er  auf  einem 
•unter  die  Nase  gehaltenen  Metallspieg^l  den  aus  der  letzteren  strömenden 
Atem  auffing.  Auch  diese  so  entstehenden  Atemflecke  zeigten  eine 
gewisse  Symmetrie.  Aufserdem  beobachtete  der  Verfasser,  dafs  jeder 
der  beiden  Atemflecke  während  der  Verdunstung  durch  eine  schräg 
nach  hinten  verlaufende  Trennungslinie  in  einen  Doppelfleck  gespalten 
wurde.  Eine  Zeichnung  veranschaulicht  diese  Verhältnisse.  Die  Ent- 
stehung dieser  Doppelflecke  ist  Verfasser  geneigt  auf  die  Beteiligung  der 
unteren  Nasenmuscheln  zurückzuführen.  Seine  eigenen  Worte  «hierüber 
lauten:  „Es  scheint  mir  nicht  unwahrscheinlich,  dafs  die  besagte  Spal- 
tung durch  die  unterste  Nasenmuschel  veranlafst  wird  und  wir  daher 
hier  einem  Überrest  jenes  Zustandes  begegnen,  welcher  sich  bei  den 
makrosmatischen  Säugetieren  durch  eine  so  hohe  Entwickelung  aus- 
zeichnet. Man  erinnere  sich,  wie  beim  Hund  und  bei  «iner  Anzahl  anderer 
Säugetiere  die  untere  Muschel  sich  vielfach  verzweig^  und  den  ganzen 
Atmungsweg  derartig  anfüllt,  dafs  die  Lufb  gezwimgen  wird,  zwischen 
und  längs  der  zahlreichen  Fächer  hindurchzudringen.  Man  dürfte  bei 
den  Tieren  vielleicht  Atmungsflecke  mit  mehrfacher  Spaltung  finden 
Also  wäre  dies  von  mir  entdeckte,  beim  Menschen  konstante  Vorkommen 
dieser  Trennungslinie  eine  Erinnerung  an  jenen  Zustand."  Aus  dieser 
Teilung  des  Atemfleckes  in  eine  anteromediale  und  in  eine  postero- 
laterale  Hälfte  suchte  Verfasser  sodann  unter  Hinweis  auf  die  bei  allen 
Säugetieren  sich  findende  Plica  vestibuli  zu  zeigen,  dafs  der  erstgenannte 
Teil  des  Atemfleckes  der  über  die  untere  Muschel  hinströmenden  Bahn 
der  Geruchswahrnehmungen  und  somit  dem  eigentlichen  Blechfelde  ent- 
spricht. 


Litteraturbericht  455 

Die  im  Kapitel  V  unter  der  Überschrift  „Das  gustatorische 
Biechen"  mitgeteilten  Thatsachen  sind  als  bekannt  vorauszusetzen. 
Bemerkt  sei  nur  noch,  dafs  die  Behauptung  des  Verfassers,  dafs  die 
{(gustatorische  Funktion  des  Biechens  bei  den  Tieren  als  fast  rudimentär 
bezeichnet  werden  müsse  und  scheinbar  nur  für  den  Menschen  Bedeutung 
habe,  in  dieser  Allgemeinheit  wohl  noch  des  weiteren  Nachweises 
erfordern  mOchte. 

Von  Interesse  ist  das  VI.  Kapitel,  in  welchem  „die  Olfaktometrie* 
behandelt  ist.  Nach  einer  Besprechung  der  von  Valentin,  Fröhlich, 
Fischer  und  Penzoi.dt,  sowie  von  Dibbits  zur  Bestimmung  der  Biech- 
schwelle  ausgebildeten  Methoden,  welche  der  Verfasser  für  nicht  aus- 
reichend erklärt,  beschreibt  er  das  von  ihm  selbst  für  den  gleichen  Zweck 
verwandte  Verfahren.  Der  hierbei  benutzte,  vom  Verfasser  selber 
erfundene  Apparat,  „Biechmesser"  oder  „Olfaktometer''  genannt,  dürfte 
aus  früheren  Mitteilungen  bereits  bekannt  sein.  Im  wesentlichen  besteht 
derselbe  aus  einem  den  Biechstoff  enthaltenden  Zylinder,  der  über  ein 
graduiertes  Bohr  verschoben  werden  kann,  dessen  eines  Ende  fCLr  die 
Aufnahme  in  das  Nasenloch  ein  wenig  umgebogen  ist.  Letzteres  ist 
aufserdem  durch  einen  kleinen,  das  andere  Nasenloch  verdeckenden 
Schirm  geführt,  der  wieder  zur  besseren  Handhabung  des  Apparates  an 
einem  hölzernen  Griff  befestigt  ist.  Durch  eine  Verschiebung  des  sog. 
Biechzylinders  kann  demnach  indirekt  die  Intensität  des  Biechsto£Pes 
verändert  werden.  Als  den  einzigen  variablen  Faktor  bei  diesen  Be- 
stimmungen bezeichnet  der  Verfasser  die  Schnelligkeit  des  Luftstromes, 
durch  welchen  der  Geruchsstoff  dem  Sinnesepithel  zugeführt  wird.  Da 
aber  die  hieraus  resultierenden  Schwankungen  sehr  unbedeutend  sind,  so 
glaubt  der  Verfasser,  dieselben  nicht  berücksichtigen  zu  brauchen.  Be- 
dingung für  den  Gebrauch  des  Olfaktometers  ist  ein  möglichst  langsames 
Aspirieren.  Der  Verfasser  beschreibt  noch  einige  Abänderungen  des 
Instrumentes  und  stellt  dann  das  Gesetz  auf,  dafs  die  Geruchsstärke  sich 
proportional  zur  Länge  des  eingeschobenen  Zylinderteiles  verhält.  Für 
vulkanisierten  Kautschuk  entsprach  z.  B.  das  Minimum  perceptibile  für 
ein  normales  Sinnesorgan  einer  Zylinderlänge  von  0,7  cm.  Verfasser 
beschreibt  sodann  die  Veränderungen,  welche  Charles  Henry  an  seinem 
Olfaktometer  vornahm,  und  berichtet  über  den  Streit,  der  hierüber 
zwischen  Henry  und  Passy  entstanden  ist  (Compt.  rend.  d.  Seanc.  de  la  Soc. 
de  Biol.  6  et  20  F^vr.  1892).  Z.  stimmt  den  von  Passy  erhobenen  Ein- 
wänden in  wesentlichen  Punkten  zu  und  hält  dessen  Verfahren  für  die 
Bestimmung  der  Biechschwelle  seiner  einfachen  Ausführung  wegen  für 
einen  grofsen  Gewinn,  doch  will  er  bei  der  Verwendung  desselben  vier 
Bedingungen  erfüllt  sehen,  nämlich: 
„1.  nur  Auflösungen  in  geruchlosem  destilliertem  Wasser  zu  ge- 
brauchen (Passy  verwandte  Alkohohl  als  Lösungsmittel,  wodurch 
für  manche  Gerachsstoffe  eine  Kompensation  herbeigeführt  wird) ; 

2.   wenige  kurze  Einatmungen  zu  machen; 

8.    einen  möglichst  grofsen  Kolben  zu  nehmen; 

4.    diese  Methode  nur  für  Biechstoffe  anzuwenden,    deren  Dampf  nur 
wenig  an  den  Wandungen  kondensiert." 


456  LitteraturberichU 

Man  wird  dem  Verfasser  sowoM  in  diesen  Forderungen  wie  auch 
darin  zustimmen  müssen,  dafs  die  von  ihm  beschriehene  und  verwandte 
Methode  gegenwärtig  als  die  zweckmäfsigste  angesehen  werden  muTs. 
Der  Verfasser  verlangt  von  einer  olfaktometrisohen  Methode 

1.  „dafs  sie  gestattet,   mit   den  schwächsten  Beizen  anzufangen  und 
erst  allmählich  zu  den  stärkeren  überzugehen  ;'* 

2,  „dafs   man   sehr   schnell   und    in   kontinuierlicher  Beihe  von   den 
schwächsten  zu  den  stärksten  Biechreizen  steigen  kann.^ 

Diese  in  der  Psychologie  als  Methode  der  minimalen  Änderungen 
allbekannte  Versuchsweise  wird  von  Passy  in  der  auf-  wie  absteigenden 
Beihe  verwandt.  Er  zieht  aus  den  Endergebnissen  das  Mittel  und 
berechnet  aus  dem  so  gefundenen  Wert  nach  Milligrammen  das  Quantum 
des  Biechstoffes,  das  in  einem  Liter  Luft  enthalten  ist.  Statt  dessen 
will  Z.  infolge  der  leichten  Abstumpfung  des  Organs  bei  übermerklichen 
Beizen  nur  die  aufsteigende  Beihe  für  die  Bestimmung  der  Biechschwelle 
verwertet  wissen.  Auch  die  von  N.  Saveliefp  verwandte  Methode  hat 
nach  Z.  den  Nachteil,  dafs  die  Untersuchung  mit  konzentrierten  Beizen 
beginnt. 

Nachdem  der  Verfasser  im  VII.  Kapitel  ,,die  technische  Aus- 
führung derBiechmessungen''  beschrieben,  bespricht  er  im  VUI.  Ka- 
pitel „die  Norm  der  Geruchsschwäche  und  den  Begriff  der 
Olfaktie".  Verfasser  diskutiert  den  von  Thoma  aufgestellten  Begriff 
der  Norm.  Fällt  dieser  mit  dem  arithmetischen  Mittel  zusammen,  so 
will  Z.  unterschieden  wissen  zwischen  der  Norm  als  dem  am  häufigsten 
vorkommenden  Wert  und  dem  Mittel  aus  allen  gefundenen  Werten.  Von 
der  „Schärfe^  des  Geruchs  Vermögens,  d.  h.  dem  Grade  der  Deutlichkeit, 
in  welchem  minimale  Beize  und  Intensitätsunterschiede  wahrgenommen 
werden,  ist  die  „Feinheit'^  desselben  für  die  Perzeption  qualitativer  Ver- 
schiedenheiten zu  unterscheiden.  Die  Ausdrücke  „schlechte  Nase**  und 
„schlechter  Geruch^  fallen  nicht  zusammen.  Die  meisten  Menschen 
erfreuen  sich  eines  normalen  BiechvermOgens.  „Viele  an  langwieriger 
Bhinopharyngitis  mit  stark  entwickelten  adenoiden  Vegetationen  Leidende 
zeigten  nach  Entleerung  der  überflüssigen  Schleimmassen  ein  ziemlich 
unbehindertes  Biech vermögen.''  Die  gewöhnliche  Norm  des  Geruchs- 
sinns zivilisierter  Menschen  wird  von  wilden  Völkerstämmen  zwar  weit 
übertroffen,  doch  beschränkt  sich  diese  Superiorität  auf  bestimmte  Arten 
von  Eindrücken  und  wird  erst  durch  Übung  erworben.  Das  Minimum 
perceptibile  betrachtet  der  Verfasser  als  die  gewonnene  Einheit  und 
führt  dafür  den  schon  erwähnten  Begriff  „Olfaktie''  ein.  Wird  die  der 
normalen  Biechschärfe  entsprechende  Länge  des  olfaktometrisohen 
Zylinders  =  1  gesetzt,  so  ist,  wenn  n  dem  Minimum  perceptibile  ent- 
spricht, durch  den  Bruch  —  die  Biechschärfe  einer  Person  in  jedem  ein- 

zelnen  Falle  ausgedrückt.  An  einem  Kautschuk-Olfaktometer  entspricht 
nach  des  Verfassers  Ausführungen  eine  Olfaktie  einer  Zylinderlänge  von 
1  cm,  dieselbe  Länge  drückt  an  einem  Ammoniacum-Guttapercha*Biech- 
messer  jedoch  30  Olfaktien  aus.  Verfasser  verfertigte  seine  Olfakto- 
meter  auj9  den  eben  genannten  Stoffen,   weil  dieselben  der  Temperatur 


LiUeraturbericht,  457 

und  anderen  Einflüssen  am  meisten  Widerstand  leisten.  Ähnlich  wie 
eine  Thermometer einteilnng  mnfs  die  Olfaktienskala  von  Zeit  zu  Zeit 
kontfoUiert  werden. 

Das  IX.  Kapitel  ist  überschrieben:  „Erhöhung  und  Herab- 
setzung der  normalen  Biechschärfe**.  Als  Abweichungen  von  der 
Norm  der  Geruchsschärfe  bezeichnet  der  Verfasser: 

„A)  die  durch  Asymmetrie  des  Nasenskeletts  verursachten  Hyperosmien 
und  Anosmien; 

B)  die  toxischen  Hyperosmien  und  Anosmien,  und 

G)  die  nervOsen  Hyperosmien  und  Anosmien." 
Hervorgehoben  sei  aus  diesem  Kapitel  noch,  dafs  der  Verfasser 
durch  Einblasen  von  Kokainpulver  in  die  Nase  eine  bedeutende  Ab- 
stumpfung der  Biechfläche  herbeiführen  konnte*  An  dem  Ammoniacum- 
Guttapercha-Olfaktometer  mufste  der  Biechzy linder  eine  Viertelstunde 
nach  dem  Einblasen  9  cm  ausgeschoben  werden,  bevor  eine  eben  merkliche 
Empfindung  auftrat  „Die  Biechfläche  war  daher  beträchtlich  herab- 
gestimmt,  vielleicht  zu  einem  200  Mal  niedrigeren  Grade  als  vorher. ** 
Ebenso  konnte  der  Verfasser  die  Herabsetzung  der  Biechschärfe  an 
.vielen  anderen  Substanzen  nachweisen.  Eine  halbe  Stunde  nach  der 
Kokainvergiftung  kehrte  die  Empfindlichkeit  fortschreitend  zurück.  In 
einem  Falle  trat  nach  der  Kokainisierung  der  Nasenschleimhaut,  und 
nachdem  diese  bereits  anästhetisch  geworden  war,  eine  beträchtliche  Zu- 
nahme der  Geruchsschärfe  ein.  Der  Verfasser  glaubt,  diese  Erscheinung 
zumeist  aus  dem  Umstände  erklären  zu  müssen,  dafs  der  Zugang  zur 
Biechspalte  durch  das  Einblasen  des  Kokains  erweitert  wurde,  wie 
dies  in  der  Bhinoskopie  häufig  zu  beobachten  sei.  „Diese  Vermutung 
wird  durch  die  unmittelbare  Besichtigung  gestützt,  welche  einen  deut- 
lichen Abstand  zwischen  der  mittleren  Muschel  und  der  Nasenscheide- 
wand ans  Licht  bringt:  natürlich  ohne  da£s  daraus  geschlossen  werden 
dürfte,  die  Hyperosmie  müsse  ganz  und  ausschliefslich  dem  mechanischen 
Momente  zuzuschreiben  sein.  Was  wir  über  Kokainvergiftung  im  all- 
gemeinen wissen,  macht  es  vielmehr  wahrscheinlich,  dafs  die  Hyperosmie 
auch  auf  einer  Hyperästhesie  des  Sinnesorgans  beruhe,  die  dann  zugleich 
mit  dem  begünstigenden  Einflüsse  eines  geräumigeren  Zuganges  diese  nicht 
unbeträchtliche  Verschärfung  des  Geruchsorgans  hervorbrachte.*^  Nach 
einer  Viertelstunde  war  die  Hyperosmie  geschwunden,  nach  Verlauf 
einer  Stunde  zeigte  eine  abermalige  Messung  jedoch  eine  fünffache  Ver- 
.  grOfserung  des  Schwellenwertes,  die  Länge  des  ausgezogenen  Biech- 
zylinders  betrug  2,6  cm.  Es  sei  noch  bemerkt,  dafs  die  Kokaingabe  im 
ersten  Falle  eine  20^/oige,  im  letzteren  eine  10^/oige  war.  Aus  diesen 
Beobachtungen  zieht  der  Verfasser  folgende  Schlüsse: 

„1.   Kokain,   in  genügender  Menge  an   dem   oberen  Teile   der  Nasen- 
schleimhaut  resorbiert,  verursacht   eine  vorübergehende  Anosmie. 

2.  Der  Anosmie  geht  eine  olfaktorische  Hyperosmie  voraus. 

3.  Die  Anosmie  gilt  gleichzeitig  für  eine  Anzahl  Geruchsqualitäten.*' 
Nach  den  Beobachtungen,  die  ich  selber  bei  Versuchen  mit  Kokain 

anstellen  konnte,  gebraucht  dasselbe  immer  erst  eine  kurze  Zeit,  um  zu 
den  nervösen  Endorganen  durchzudringen.    Eine  alleinige  Ausnahme  von 


458  Litteräturbericht 

dieser  Regel  machen  nach  meiner  Erfahrung  nur  die  Geschmacksknospen, 
woselbst  die  Lösung  unmittelbar  nach  der  Applikation  den  Porus  passieren 
un4  die  Wirkung  hervorrufen  kann.  Da  nun  der  Verfasser  bei  seilten 
Versuchen  das  Kokain  nicht  in  Lösungen,  sondern  in  pulverisiertem 
Zustande  verwandte,  so  dürfte  aufserdem  noch  eine  gewisse  Zeit 
erforderlich  sein,  bis  zu  welcher  dasselbe  das  Eiechepithel  überhaupt  zu 
affizieren  im  stände  ist,  während  seiner  Auflösung  und  Wirkung  in  den 
vorderen  Teilen  der  Nasenschleimhaut  von  vornherein  günstigere  Be- 
dingungen gestellt  sind.  Es  dürfte  daher  doch  wahrscheinlicher  sein, 
dafs  die  Hyperosmie  im  letzteren  Beobachtungsfalle  des  Verfassers  nicht 
durch  das  Kokain  direkt,  sondern  erst  sekundär  durch  die  infolge  der 
Kokainisierung  der  Schleimhaut  herbeigeführte  Erweiterung  des  Zu- 
ganges zur  Biechspalte  bedingt  wurde.  Da  die  Zeit  zwischen  der 
Applikation  und  der  ersten  Messung  in  beiden  Beobachtungsfällen  die 
gleiche  war  (15  Min.),  so  dürfte  der  frühere  Eintritt  und  die  Verstärkung 
der  Anosmie  im  ersten  Falle  durch  den  weit  gröfseren  Grad  der  Vergiftung 
verursacht  sein  (S.  meine  Abhandl.  über  Kokain  und  Gymnema.  Fhilos.  Stud^ 
Bd.  IX.)  Sollten  die  eben  ausgesprochenen  Vermutungen  durch  weitere  Ver- 
suche nicht  bestätigt  werden,  so  wird  man  hier  grofse  individuelle  Ver- 
schiedenheiten voraussetzen  müssen,  wie  solche  freilich  bereits  von 
Ohrwall  bei  seinen  wertvollen  Geschmacksversuchen  beobachtet  wurden^ 
und  wie  sie  auch  nach  den  abweichenden  Itesultaten,  zu  denen  Dokaldsok 
einerseits,  sowie  Nagel  und  ich  selber  andererseits  bei  der  Kokainisierung 
der  Konjunktiva  gelangten,  in  der  That  vorhanden  zu  sein  scheinen. 
Der  Verfasser  fügt  diesen  Ausführungen  hinzu,  dafs  die  Ergebnisse  einiger 
anderer  Versuche  in  der  Hauptsache  mit  den  mitgeteilten  Beobachtungen 
übereinstimmten  und  nur  graduelle  Abweichungen  zeigten.  Eine  aus- 
führliche Mitteilung  derselben  wäre  im  Interesse  der  aufgeworfenen 
Fragen  wünschenswert  gewesen.  Ich  darf  wohl  hier  auf  eine  Notiz  ver- 
weisen (Besprechung  von  Abqnsohns  Versach  einer  Nomenklatur  der 
Geruchsqualitäten.  Diese  Zeiischr,  X.  S.  283),  in  der  ich  bereits  mit- 
geteilt habe,  dafs  ich  schon  vor  Jahren,  freilich  ohne  genaue  Messungen 
anzustellen,  den  Einflufs  des  Kokains  auf  Geruchsempfindungen  im  Sinne 
einer  Abschwächung  derselben  konstatieren  konnte. 

Von  hohem  Interesse  ist  das  X.Kapitel,  welches  „die  Kompen- 
sation der  Gerüche"  behandelt.  Aus  den  in  diesem  Kapitel  mit- 
geteilten Versuchen  geht  unzweifelhaft  hervor,  dafs  sich  zwei  Gerüche 
gegenseitig  schwächen  und  bis  zur  völligen  Vernichtung  kojnpensieren 
können.  Der  Verfasser  macht  der  Physiologie  den  Vorwurf,  dafs  sie  ein 
längst  bekanntes  Phänomen  so  wenig  beachtete  und  sich  bislang  mit 
einer  allgemeinen  Zurückführung  desselben  auf  chemische  Ursachen 
begnügte.  War  ein  solches  gerechtfertigt,  so  lange  sich  noch  die  Par- 
tikelchen der  sich  gegenseitig  störenden  Gerüche  in  der  Luft  oder  in 
einem  der  Nasenräume  mischen  konnten,  so  mufste  die  Erklärungs weise 
fallen,  sobald  die  gleiche  Erscheinung  bei  getrennter  Zuführung  ver- 
schiedener Geruchsstoffe  in  je  eines  der  Nasenlöcher  gleichfalls  auftrat. 
Der  von  dem  Verfasser  für  diesen  Zweck  konstruierte  doppelte  Eiech- 
messer,  an  welchem  jedes  einzelne  Eiechrohr  für  die  zu  untersuchenden 


Litteraturbericht  459 

■Geruchsqoalit&ten  nach  Olfaktien  geaioht  war,  gestattete  eine  leichte 
Ausftilirung  des  Experimentes  und  liefs  den  Beweis  zu,  dafs  die  Kompen- 
sation im  erwähnten  Falle  eintrat.  Der  Verfasser  beobachtete  ferner, 
dafs  niemals. eine  eigentliche  Mischung  der  einzelnen  Geruchsqualitftten 
eintritt,  sondern  dais  dieselben  bis  zur  vollständigen  Kompensation  noch 
getrennt  empfunden  wurden.  Die  mitgeteilten  Beobachtungen  werden  in 
folgende  Schlufsfolgerungen  zusammengefalst: 

„1.   Einige  Geräche  vernichten  einander  bei  gegenseitiger  Beobachtung. 

2.  Die  Kompensation  beruht  auf  physiologischen  Ursachen. 

3.  Das  Verhältnis  der  einander  gegenseitig  aufwägenden  Bietohstärken 
ist  wahrscheinlich  konstant.'' 

Da  es  Empfindungen,  also  psychische  Elemente  sind,  die  in  diesen 
Pällen  gegenseitig  aufeinander  einwirken,  und  das  Zustandekommen 
dieser  kompensatorischen  Wirkung  in  das  Zentralorgan  verlegt  werden 
mufs,  so  würde  diese  Erscheinung  wohl  richtiger  als  psychisches  Phänomen 
Aufzufassen  sein  und  nicht,  wie  der  Verfasser  will,  in  „die  Kategorie 
der  physiologischen  Phänomene^  gehören,  zumal  die  physiologischen 
Begleiterscheinungen  im  Gehirn  kaum  jemals  direkt  erkennbar  sein 
dürften.    Die  Beobachtung  selber  dürfte  zu  den  bleibenden  Verdiensten 

ZWAARDEMAKBBS  ZU  ZählcU  Seiu. 

Nachdem  der  Verfasser  im  XI.  Kapitel  „die  Odorimetrie''  (^ein 
Seitenstück  zur  Olfaktometrie*^)  behandelt  und  im  Xu.  Kapitel  auf  die 
TJnterschiedsschwelle,  die  Beaktionszeit  und  die  Ermüdung 
näher  eingegangen,  erfolgt  im  XIII.  Kapitel  die  „Klassifikation  der 
'Gerüche^.  Verfasser  bespricht  die  von  Likwe,  Poubcboy,  Albbecht 
VON  Halles,  Lobby,  Fböhlich,  sowie  die  kürzlich  von  Giessleb  von 
subjektiven  Gesichtspunkten  aus  aufgestellten  Klassifikationen.  Mit 
Bezug  auf  die  von  Letzterem  in  seinem  „Wegweiser  zu  einer  Psycho- 
logie des  Geruches^  mitgeteilten  Ideen  sei  erwähnt,  dafs  der  Ver- 
fasser Gibsslers  Klassifikation  in  die  physiologische  Nomenklatur  über- 
tragen wiedergeben  zu  können  glaubt,  als:  „Gerüche  mit  Beflex;  Ge- 
rüche, mit  Affekt;  Gerüche,  welche  ohne  nennenswerten  Affekt  allein  nur 
2U  der  Vorstellung  eines  konkreten  Individuums,  Gattung  oder  Objektes 
führen^^  Diesem  wird  hinzugefügt:  „Man  wird  bemerken,  dalÜs,  wie  wichtig 
Auch  seine  Beschreibungen  zur  Erlangung  einer  Orientierung  in  der 
.Psychologie  der  Gerüche  sind,  seine  Einteilung  uns  Physiologen  nicht 
weiter  bringt.  Und  das  ist  auch  natürlich,  denn  eine  physiologische 
Klassifikation  soll  nach  der  Qualität  und  nicht  nach  dem  Affekt  statt- 
finden.^ Der  verdienstvolle  Herr  Verfasser  wird  die  Gegenbemerkung 
nicht  übel  deuten,  dais  auch  die  Psychologie  aus  einer  Stoffbehandlung, 
wie  sie  Giessleb  in  so  selbstbewufster  Weise  betreibt,  keinen  Nutzen  zu 
ziehen  vermag,  und  dafs,  wenn  es  einen  Weg  giebt,  den  die  psychologische 
Forschung  nicht  betreten  darf,  dies  der  von  Giessleb  gewiesene  Irrweg 
ist.  *  Auf  Grenzgebieten,  wie  im  vorliegenden  Falle  das  Gebiet  des 
Geruchssinnes  eines  ist,  werden  vielmehr  die  beiden  Wissenschaften,  wie 
dies  bisher  geschehen  ist,  auch  femer  zusammengehen  müssen  und  zum 
Teil  sogar  mit  den  gleichen  Hülfsmitteln  zu  arbeiten  haben,  um  erst  aus 
den  gewonnenen  Resultaten  in  das  eigene  Arbeitsgebiet  zurückzunehmen. 


460  Litterakarbericht 

was  zum  Ausbau  der  spezielleren  Aufgaben  erspriefslich  erscheint.  In 
diesem  Sinne  werden  auch  die  Psychologen  von  den  ZwAABDEicAKEBschen 
Arbeiten  reichen  Nutzen  ziehen,  und  das  Interesse,  welches  die  psycho- 
logische Forschung  gerade  an  der  Untersuchung  der  sog.  niederen  Sinne 
haben  mufs,  wird  seinem  Namen  einen  dauernden  Platz  in  der  psycho- 
logischen Faohlitteratur  sichern.  —  Während  Gibssler  die  früheren 
Arbeiten  unberücksichtigt  l&fst  und  die  von  Linke,  Fröblich  und 
Alexander  Bain  getroffenen  Einteilungen  nur  als  historisch  bemerkens- 
wert bei  ihm  Erwähnung  finden,  ist  Z.  bemüht,  überall  an  die  Arbeiten 
der  grolBeif  Vorgänger  anzuknüpfen  und  deren  Ergebnisse  den  gegen- 
wärtigen Au£fassungen  anzupassen.  So  geht  der  Verfasser  bei  seiner 
Klassifikation  der  Gerüche  zunächst  auf  das  System  Linnes  zurück, 
dessen  sieben  Geruchsklassen,  den  Forderungen  der  neueren  Chemie  ent- 
sprechend, zwei  weitere  Klassen  hinzugefügt  werden.  Diese  neun 
Klassen  werden  in  eine  erste  Beihe,  nämlich  in  die  der  »rein  olfak- 
torischen Gerüche^  zusammengefafst  und  werden  bezeichnet  als: 
I.  Odores  aetherei  (Lorry),  II.  O.  aromatici  (Linke),  JH.  O.  fragrantes 
(LiNNÄ),  IV.  0.  ambrosiaci  (Linnä),  V.  O.  alliacei  (Likn:^),  VI.  O.  empyreuma- 
tici  (Haller),  VII.  0.  hircini  (Liknä),  VIII.  0.  tetri  (LiKNi}und  IX.  O.nausei 
(Linke).  Von  dieser  Beihe  der  olfaktorischen  Gerüche  unterscheidet  der 
Verfasser,  an  Fröhlich  anknüpfend,  die  der  „scharfen  Biechstoffe** 
und  fügt  dieser  die  von  ihm  selbst  abgegrenzte  Beihe  der  „schmeck- 
baren Biechstoffe"  hinzu.  Nachdem  die  ersterwähnte  Beihe  eine 
ausführliche  Besprechung  erfahren,  glaubt  der  Verfasser,  dieselbe  noch 
auf  zwei  Abteilungen  reduzieren  zu  können,  von  denen  die  erste  (Klasse 
I— IV)  als  die  der  „Nahrungsgerüche^  und  die  zweite  (Klasse  VI — IX) 
als  die  der  „Zersetzimgsgerüche^  ohne  und  mit  Beflex  bezeichnet  wird. 
Die  Klassifikation  Fröhlichs,  dem  wir  den  erstmaligen  Versuch  einer 
Trennung  zwischen  reinen  und  mit  Tastempfindungen  gemischten  Geruchs- 
sensationen verdanken,  glaubt  der  Verfasser  durch  die  von  ihm  so 
bezeichnete  Beihe  der  schmeckbaren  Biechstofie  nur  konsequent  weiter 
geführt  zu  haben.  Zw.  läfst  die  Möglichkeit  offen,  dafs  manche  Gerjich- 
stofiPe  „im  gasförmigen  Zustande  vielleicht  im  Pharynx  gekostet  werden 
könnten,  und  infolge  dessen  mit  einer  Geruchswahrnehmung  eine  schwache 
Empfindung  von  Süfs,  Sauer,  Salzig  oder  Bitter  sich  verbinde",  glaubt 
aber  im  übrigen,  die  bei  Geruchsempfindungen  häufig  mitwirkende 
Geschmackskomponente  auf  assoziative  Ursachen  zurückführen  zu  müssen. 
Man  wird  gegen  beide  Erklärungsweisen  nichts  einwenden  können.  Es 
wäre  aber  von  Interesse,  wenn  diese  Verhältnisse  durch  experimentelle 
Prüfung  noch  näher  ermittelt  würden.  Mit  Bezug  auf  den  ersten  Punkt 
erlaube  ich  mir  hinzuzufQgen,  dafs  ich  den  Duft  mancher  Blumen,  wie 
z.  B.den  der  Lindenblüten,  neben  dem  dieselben  charakterisierenden  Geruch 
thatsächlich  zu  schmecken  glaube  und  diese  Empfindung  in  die  hintere 
Bachenwand  lokalisiere.  Ähnliche  Erfahrungen  möchten  bei  der  Ent- 
stehung der  noch  immer  ziemlich  weit  verbreiteten  Anschauung,  dafs 
alles,  was  riecht,  zugleich  auch  schmeckt,  nicht  in  letzter  Linie  mit- 
gewirkt haben.  Nicht  zustimmen  können  wird  man  dem  Verfasser,  wenn 
er  bei  Gelegenheit   der  Besprechung  der  scharfen  Biechstoffe  den  Aus- 


lAiteratwrbericht  461 

druck  Qefahlskomponente  gegenüber  dem  einer  Taetkomponente  zu  recht* 
fertigen  sucht.  Der  Verfasser  ist  sich  freilich  bewufst,  dafs  in  der 
Psychologie  mit  dem  Worte  GefCLhl  die  subjektive  Begleilierscheinung 
der  Empfindung  ausgedrückt  wird,  fügt  aber  dieser  Bemerkung  hinzu: 
„Jedoch  nicht  wir  sind  daran  schuld,  dais  dem  Worte  Gefühl  zwei  Be- 
griffe entsprechen !  Obgleich  dem  Tastsinne  nahe  verwandt,  ist  die  Em- 
pfindung, welche  die  scharfen  Eiechstoffe  hervorrufen,  zu  sehr  eigen- 
tümlich, um  mit  einer  Tast-  oder  Druckempfindung  identifiziert  zu 
werden.  Nut  bei  ihrer  Steigerung  bis  zur  BeizhOhe  entsteht  eine  gewisse 
Ähnlichkeit,  indem  die  scharfe  Empfindung  dann  als  Kitzel  erscheint. 
Auf  einer  niederen  Stufe  der  Beizintensität  hingegen  tritt  ihre  Eigenart 
klar  hervor.''  Dieser  Argumentation  steht  die  Thatsache  entgegen,  dafs 
die  Tastempfindungen  überall  auf  der  Körperoberfiäche  eine  eigenartige 
Färbung  besitzen,  von  denen  die  geschilderten  Empfindungen  der  Nasen- 
schleimhaut,  deren  vermittelnde  Nerven  zudem  dem  N.  quintus  an- 
gehören» nach  den  eigenen  Ausführungen  des  Verfassers  doch  kaum  eine 
prinzipielle  Ausnahme  bilden  dürften.  Warum  deswegen  der  nun  einmal 
durch  die  psychologische  Analyse  fixierte  Begriff  für  den  subjektiven 
Faktor  des  Empfindungsinhaltes,  für  den  es  keinen  besseren  Ausdruck 
giebt,  nicht  ausschliefslich  verwandt  werden  soll,  ist  nicht  recht  ein- 
zusehen.* Es  dürfte  doch  vielmehr  die  eindeutige  begriffliche  Fixation 
der  beiden  Ausdrücke  als  eine  Errungenschaft  anerkannt  werden  müssen, 
deren  Wert  nicht  hoch  genug  anzuschlagen  ist. 

Es  wird  wohl  noch  einiger  Zeit  bedürfen,  bis  die  Klassifizierung 
der  Geruchsqualitäten  zum  endgültigen  Abschlüsse  gediehen  sein  wird. 
Ludwig  glaubte,  dafs  wir  hierin  weiter  kommen  würden,  wenn  man  sich 
in  Laboratorien,  in  denen  viele  Geruchsstoffe  verwandt  werden,  so 
namentlich  in  ParfOmeriefabriken  entschliefsen  könnte,  die  einzelnen 
Stoffe  auf  die  qualitativen  Unterschiede  der  von  denselben  ausgelösten 
Empfindungen  sorgsam  zu  prüfen  und  nach  dem  Ausfall  dieser  Unter- 
suchung zu  ordnen.  Sollte  nicht  das  ausgehende  Jahrhundert  auch  noch 
diesen  Triumph  der  Wissenschaft  zu  seinen  Erfolgen  verzeichnen  dürfen'^ 
tun  dadurch  zugleich  das  Andenken  an  einen  seiner  gröüsten  Männer  zu 
ehren,  dem  die  Wissenschaft  so  viel  verdankt,  der  in  überaus  wohl- 
thuender,  herzgewinnender  Freundlichkeit  das  Beste  seiner  Gedanken 
selbstlos  seinen  Schülern  gab  und  der  so  vielen  ihren  Weg  gewiesen  hat? 

Im  Anschlüsse  an  die  von  Hatcraft  aufgestellten  Beihen,  sowie  an 
die  von  Mendeljeff,  Lothar  Mbtbb,  Jagqües  Passt,  W.  H.  Julius  und 
Tnn>ALL .  gelieferten  Arbeiten  sucht  der  Verfasser  im  XIV.  Kapitel  auf 
Grund  olfaktometrischer  und  odorimetrischer  Messungen  die  Beziehungen 
zwischen  ),Geruch  und  Chemismus*'  nachzuweisen. 

Im  XV.  Kapitel  bespricht  der  Verfasser  »die  spezifischen 
EnergiendesGeruchs*'.  Es  genüge  hier  im  allgemeinen  hervorzuheben, 
dais  der  Verfasser  sich  auf  die  Seite  der  Anhänger  der  Lehre  von  der 
spezifischen  Energie  der  Sinnesorgane  stellt  und  auf  Grund  von  Ver- 
suchen und  unter  Herbeiziehung  von  Fällen  partieller  Anosmie  und 
Parosmie  zu  ähnlichen  Besultaten  gelangt,  wie  Aronsohn  nach  der  Ab- 
stumpfungsmethode  bereits  gefunden  hat. 


462  lAtteraturbericht 

Ein  erster  Anhang  behandelt  noch  den  chemischen  Sinn  der 
niederen  Tiere,  ein  zweiter  die  klinisch-neurologische  Gerachs- 
messung, während  ein  letzter  das  schon  erwähnte  Litteratur- 
Verzeichnis  umfafst.  Aus  der  im  ersten  Anhang  entworfenen  Übersicht 
über  die  von  den  einzelnen  Forschern  aufgestellten  Ansichten  sei  noch 
hervorgehoben,  dafs  der  Verfasser  das  yon  W.  Nagel  kürzlich  so 
energisch  verteidigte  „chemische  Sinnesorgan*'  nur  fdr  wirbellose  Tiere 
gelten  lassen  will,  dais  man  diesen  Begriff  nach  demselben  jedoch  auf- 
geben müfste,  •  sobald  man  die  Iteihe  der  Wirbeltiere  betritt,  und  daüs  es 
nach  unserer  Kenntnis  des  anatomischen  Baues  der  Fisch  aase  eine  will- 
kürliche Behauptung  sei,  anzunehmen,  „dafs  die  Nasentaschen  der  Fische 
nicht  riechen,  sondern  schmecken''.  Fbiedr.  Kibsow. 


WiLH.  FiLEHvs.  Die  Form  des  Himmelsgewölbes.  Pflüg  er  s  Arch.  f,  d. 
ges.  Phyaiol  Bd.  59.  S.  279-308.  1894. 

Es  ist  bekannt,  dafs  Sonne  und  Mond  am  Horizont  gröfser  er- 
scheinen, als  wenn  sie  hoch  am  Himmel  stehen,*  nicht  minder  bekannt 
ist,  dafs  das  „Himmelsgewölbe^^  uns  gewöhnlich  als  ein  abgeflachtes 
in  Uhrglasform  erscheint.  Diese  beiden  vielumstrittenen*  optischen 
Phänomene  sucht  der  Verfasser  durch  eine  Anzahl  neuer  Beobachtungen 
zu  erläutern  und  die  sämtlichen  hierher  gehörenden  Thatsachen  aus 
einem  Prinzip  zu  erklären.  Er  ergänzt  sogleich  die  erstgenannte  Beob- 
achtung durch  die  weitere,  dafs  auch  die  scheinbare  Gröfse  eines  St.em- 
bildes,  „wenn  es  nahe  dem  Zenith  kulminiert,  wesentlich  geringer  ist, 
als  wenn....  es  tiefen  Stand  am  Himmel  hat!*.  Die  Verschiedenheit  in 
der  scheinbaren  Gröfse  von  Sonne  und  Mond  je  nach  ihrem  Standort 
-am  Himmel  erscheint  daher  nur  als  ein  Spezialfall  des  allgemeinen 
Gesetzes,  dafs  am  Himmel  die  gleichen  Winkelstücke  dem  Auge  um  so 
gröfser  erscheinen,  je  gröfser  ihre  Zenithdistanz  ist. 

Die  bisherigen  Erklärungsversuche  fafst  der  Verfasser  unter  drei 
Gesichtspunkten  zusammen.  Die  erste  Theorie  („Vergleichstheorie**}  b^ 
hauptet,  dafs  Sonne  und  Mond  am  Horizont  unter  gleichen  Winkeln  mit 
entfernten  Objekten  auf  dem  Erdboden  gesehen  werden,  wie  Häuser, 
Baumkronen  u.  s.  w.;  unwillkürlich  bringen  wir  sie  deshalb  mit  diesen 
irdischen  Objekten  in  Vergleich  und  halten  sie  für  mehr  als  häusergrofs 
u.  s.  w.,  was  im  Zenith  nicht  eintreten  kann,  wo  solche  Vergleichsobjekte 
fehlen.  Die  zweite  Theorie  (wir  möchten  sie  kurz  „Entfernungstheorie'' 
kennen)  behauptet,  dafs  die  Entfemimg  zwischen  Auge  und  Horizont 
uns  weit  gröiser  erscheine  als  die  Höhe  des  Zeniths,  weil  diese  Ent- 
fernung (nach  Analogie  der  abgeteilten  Linie)  durch  die  zwischenliegenden 
Objekte  markiert  ist.  Indem  so  die  Horizontpartie  des  Himmeis  weiter 
hinausgerückt  wird  als  die  Zenithpartie,  erscheinen  Sonne  und  Mond 
gröfser,  weil  wir  sie  bei  gleichem  Gesichtswinkel  für  femer  halten. 
Der  dritte  Erklärungsversuch  zieht  Alles  das  *  in  Betracht,  was  man 
'unter  Luftperspektive  zu  begreifen  pflegt:  die  Klarheit  oder  Trübung 
der  Atmosphäre,  insbesondere  Nebelerscheinungen,  die  Färbung  entfernter 


Litteraturbericht.  463 

Gegenstände  u.  s.  w.  Da  tiefstebende  Gestirne  eine  längere  Dunstschicht 
zu  passieren  haben  als  hocbstebende,  so  verändern  sie  erstens  ihre 
Färbung  (werden  rot),  und  zweitens  bekommen  sie  unbestimmtere  Um- 
risse. Alle  drei  Erklärungsversuche  hält  der  Verfasser  mit  vollem  Becht 
fdr  ungenügend.  Die  Vergleichstheorie  wird  von  ihm  hauptsäcblicb 
dadurch  bekämpft,  dafs  er  andere,  ihr  direkt  widerstreitende  Beob- 
achtungen mitteilt.  Bei  ungewöhnlich  klarer  Luft  beobacbtete  der  Ver- 
fasser einmal  in  Kalifornien  den  über  den  Bergen  aufgehenden,  fast 
vollen  und  sehr  intensiv  hellen  Mond  vom  Tbale  aus.  Er  erschien  ihm 
in  der  Gröfse,  die  er  auch  sonßt  bei  dieser  Zenithdistanz  zu  haben  pflegt. 
Die  gleiche  Beobachtung  machte  der  Verfasser  bei  entsprechender  Mond- 
stellung, aber  dunstiger  Atmosphäre.  Schon  hiemach  dürfte  es  scheinen, 
dafs  die  Horizontnähe  an  sich  das  Entscheidende  sei.  Wenn  der  Ver- 
fasser femer  den  Mond  bei  glatter  See  und  bei  dunkler  Nacht,  also  ohne 
alle  irdischen  Vergleichsobjekte,  aufgehen  sah,  so  erschien  er  ihm  stets 
bedeutend  gröfser,  als  in  der  Nähe  des  Zeniths,  ebenso  die  Sternbilder, 
und  auch  die  ührglasform  des  Himmelsgewölbes  blieb  in  diesem  Falle 
die  gleiche.  Selbst  wenn  man  überhaupt  keinen  Horizont  sieht,  wie  auf 
freiem  Felde,  in  der  Nähe  einer  mannshohen  Mauer,  oder  wenn  man  sich 
den  Horizont  einfach  verdeckt,  bleiben  die  erwähnten  Täuschungen  be- 
stehen :  und  ,,wie  käme  man  dazu,  ein  Sternbild  mit  Häusern  oder  Baum- 
kronen zu  vergleichen?'*  Der  Verfasser  bekämpft  sodann  die  Meinung 
Herings,  dafs  die  Kugelgestalt  der  Netzhaut  es  sei,  die  uns  zur  Wahr- 
nehmung eines  gewölbten  Himmels  nötige.  Bei  ruhigem  Blick  erscheine 
uns  das  im  Blickfeld  befindliche  Himmelsstück  ^^wie  eine  Ebene  senk- 
recht zur  Sehrichtung''.  Erst  wenn  wir  den  Blick  wandern  lassen,  ent- 
stehe die  Vorstellung  der  Wölbung,  und  diese  komme  daher,  dafs  uns 
bei  der  Blick-  bezw.  Kopf bewegung  von  allen  Seiten  her  immer  der 
gleiche  Eindruck  komme,  wobei  Erfahrungen  an  irdischen  Gewölben  zur 
Bildung  dieser  Vorstellung  mitwirken. 

Die  meisten  gegen  die  Vergleichstheorie  angeführten  Thatsachen 
widerlegen  nach  der  Meinung  des  Verfassers  auch  die  Entfernungstheorie. 
So,  wenn  wir  keinen  Horizont  sehen  und  doch  den  in  Bede  stehenden 
Täuschungen  verfallen. 

Es  bleibt  nur  die  Erklärung  mittelst  des  Zustandes  der  Atmosphäre. 
Aber  die  Vergröfserung  der  durch  Dunst  und  Nebel  gesehenen  Objekte 
will  FiLEHNz  nur  gelten  lassen  „für  relativ  dunkle  Körper  auf  relativ 
hellem  Grunde,  nicht  aber  für  relativ  helle  Körper  auf  relativ  dunklem 
Grunde^.  Stehe  der  lichtschwache  Mond  am  hellen  Abendhimmel,  dann 
und  nur  dann  könne  die  Luft  Perspektive  vergröfsemd  wirken.  Die 
Irradiation  komme  in  diesem  Falle  den  dunkleren  Objekten  zu  gute. 
Andererseits  macht  der  Verfasser  darauf  aufmerksam,  dafs  die  hoch- 
stehende Sonne,  wenn  sie  durch  den  Nebel  scheint,  sogar  verkleinert  ist. 
Auch  hier  ist  daher  wiederum  die  Stellung  am  Himmel  als  die  ausschlag- 
gebende Ursache  der  scheinbaren  Gröfse  anzusehen,  wozu  als  mitwirkende 
Ursache  in  jenem  einzelnen,  vom  Verfasser  zugestandenen  Falle  die 
Luftperspektive  käme.  Aber  ein  Experiment  von  Hblmholtz  scheint 
diesem  Ergebnis  zu  widerstreiten.   Versuchte  nämlich  Helmholtz  mittelst 


464  Litteraiurbericht. 

•iner  planparallelen  Glasplatte  das  Bild  des  Mondes  auf  den  Horizont 
zu  projizieren,  so  erschien  der  gespiegelte  Mond  keineswegs  grölser. 
Verfasser  vermutete  dalier  hier  einen  Beobachtungsfehler.  Er  fand,  dafs 
es  dabei  gelingei^  mufs,  die  Phantasie  so  zu  beherrschen,  dafs  man  den 
Mond  auch  wirklich  ,,an  den  Horizont'^  sieht.  Gelingt  das,  dann 
^,erscheint''  der  Mond  „aber  auch  kolossal'^.  (Man  sehe  die  für  den 
Erfolg  des  Versuchs  wesentlichen  Vorsieh tsmafsregeln  im  Originale  nach!) 
Dasselbe  bestätigen  in  viel  einfacherer  Weise  Nachbilderversuche.  Die 
bekannten  sehr  lebhaften  Nachbilder  der  Abendsonne,  auf  den  Horizont 
projiziert,  erscheinen  von  gleicher  Gröfse,  wie  die  Sonne;  nach  dem 
Zenith  zu  projiziert  sind  sie  bedeutend  kleiner;  etwa  so  wie  die  Sonne 
selbst  in  entsprechender  Stellung. 

Nunmehr  glaubt  der  Verfasser,  eine  Erklärung  aller  genannten 
Erscheinungen  aus  einem  Prinzip  vornehmen  zu  können.  Halten  wir 
zunächst  fest,  dafs  die  Gewölbeform  des  Himmels  ihm  daher  zu  rühren 
scheint,  dafs  uns  bei  bewegtem  Blick  von  allen  Seiten  die  gleichen  Ein- 
drücke kommen,  so  ist  zu  erklären,  warum  dies  Gewölbe  ein  abgeplattetes 
ist,  warum  gleiche  Winkelstücke  an  demselben  um  so  gröfser  erscheinen, 
je  näher  sie  dem  Horizont  liegen,  und  warum  Sternbilder,  Sonne  und 
Mond  mit  der  Annäherung  an  den  Horizont  gröfser  werden.  Der  Ver- 
fasser gewinnt  nun  sein  Erklärungsprinzip  an  einigen  interessanten 
Versuchen,  durch  die  zugleich  einige  weitere  bekannte  optische  Erfah- 
rungen eine  neue  und,  wie  Eeferent  glaubt,  zutreffende  Erklärung  er- 
halten. Sie  kommen  alle  darauf  hinaus,  dafs  bei  Umkehrung  des  Bildes 
einer  Landschaft,  z.  B.  beim  Durchblicken  durch  die  Beine,  beim  Auf- 
blicken, wenn  man  mit  dem  Kopf  nach  unten  an  einem  Geländer  oder 
Beck  hängt,  oder  bei  Umkehrung  mittelst  Prismas  oder  durch  Spiegelung 
—  die  sämtlichen  in  Bede  stehenden  Täuschungen  fast  völlig  ver- 
schwinden. Gleiche  Winkelstücke  werden  überall  gleich  grofs  gesehen; 
der  Himmel  ist  eine  Halbkugel,  Sternbilder,  Sonne  und  Mond  behalten 
am  Horizont  ihre  Zenithgröfse.  Gleichzeitig  aber  geht  auch  die  Mög- 
lichkeit der  perspektivischen  Deutung  des  Gesamtbildes  der  Landschaft 
verloren,  und  zwar  immer  am  vollständigsten  für  denjenigen  Teil  der 
Landschaft,  der  durch  geringe  stereoskopische  Verschiedenheiten  den 
Augen  nur  geringe  Motive  der  Tiefendeutung  darbietet,  während  der 
Vordergrund  meist  perspektivisch  richtig  gesehen  wird.  Dieser  Wegfall 
der  perspektivisch  vertiefenden  Deutung  einerseits  und  das  Aufhören 
der  in  Bede  stehenden  Täuschung  andererseits  gelten  nun  sowohl  für 
den  irdischen  Horizont,  wie  für  den  Horizontteil  des  Himmels. 
Daraus  schliefst  der  Verfasser,  dafs  die  perspektivisch  vertiefende 
Deutung  des  Erdhorizontes  von  uns  auf  den. Horizontteil  des  Himmels 
übertragen  wird,  und  dafs  dies  die  Ursache  der  in  Bede  stehenden 
Täuschungen  ist.  Der  mit  dem  Gesichtsfeld  unmittelbar  in  Kontinuität 
stehende  horizontale  Teil  des  Himmels  wird  bei  aufrechter  Körper- 
haltung  ebensowohl  wie  unser  irdischer  Horizont  „in  horizontaler 
Richtung  perspektivisch  vertieft"  gesehen,  bildet  zusammen  mit  der 
Horizontebene  „einen  horizontalen  Hohlkörper".  Es  ist  leicht  zu  sehen, 
wie  sich  damit  sowohl  die  Uhrglasform  des  Himmels,  wie  die  scheinbare 


Lüteraturbericht  465 

Gröfse  yon  Sternbildern,  Sonne  und  Mond  —  die  an  dieser  perspek- 
tivischen Interpretation  teilnehmen  —  ans  einem  Prinzip  erklären 
lassen.  E.  Meumann  (Leipzig). 

H.  W.  Kkox.    On  the  anantitatiye  detenninstion  of  an  optical  illaBion. 
Americ.  Joum.  of  Fsychol  VI.  S.  413—421.  (1894.) 

B.  Watakabb.    On  the  qnantitatiTe  determination  of  an  oi^tical  Ulnsion. 

Ebda.  S.  509-514.  (1895.) 

C.  S.  Parbish.     The   cntaneons  estimation  of  open  and  fllled  space. 
Ebda.  S.  514—523.  (1895.) 

A.  BiNET.    La  mesure  des  Ulasiona  vlsuellefl  chez  les  enfanta.    Beo.  pkilos, 

Bd.  40.  S.  11-25.  (1895.) 
J.  LoEB.     Über  den  Nachweis  von  Kontrasterscheinnngen  Im  Gebiete 

der  Baumempllndungen  des  Anges.    Fflügera  Ärch,  LX.  S.  509—518. 

(1895.) 
Die  beiden  zuerst  erwähnten  Arbeiten  beschäftigen  sich  mit  der 
Überschätzung  einer  durch  Punkte  eingeteilten  im  Vergleich  mit  einer 
nicht  eingeteilten  Punktdistanz.  Die  Versuche  (nach  der  Wahlmethode) 
ergaben  die  Allgemeinheit  der  Täuschung  bei  verschiedenen  Lagen  und 
Dimensionen  (25  bis  40  mm);  die  Vermutung,  dafs  (bei  unveränderter 
Distanz  der  Einteilungspunkte)  der  Täuschungsbetrag  in  konstantem 
Verhältnis  zur  Gröfse  der  Vergleichsdistanzen  stehe ;  und  die  Bestätigung 
der  Angabe  Mellinghoffs,  nach  welcher  eine  durch  einen  Punkt  halbierte 
Punktdistanz  unterschätzt  statt  überschätzt  wird.  Die  theoretischen  Über- 
legungen, welche  die  beiden  Verfasser  mit  diesen  thatsächlichen  Be- 
stimmungen verbinden,  sind  dem  Beferenten  durchaus  unverst*ändlich. 
Aus  der  von  Chodin  und  Volkhann  festgestellten  geringeren  Genauigkeit 
der  Schätzung  für  vertikale  als  für  horizontale  Distanzen  wird  erklärt,  dafs 
(nicht  die  m.  V.  der  Täuschungsbeträge,  sondern)  die  Täuschungs- 
beträge selbst  bei  vertikaler  Figurlage  gröfser  sind  als  bei  horizontaler ; 
dagegen  aus  der  annähernden  Gleichheit  der  m.  V.  in  jenen  beiden 
Pällen  geschlossen,  dafs  die  normale  Überschätzung  von  Figuren  im 
oberen  Teile  des  Gesichtsfeldes  durch  die  vorliegende  Täuschung  auf- 
gehoben werde.  Jene  erstere  Erklärung  ist  einfach  ungereimt;  dieser 
zweite  Schlufs  würde  zwar  an  und  für  sich  eine  gewisse,  mit  Bücksicht 
auf  die  hohen  m.  V.  jedoch  nur  geringe  Wahrscheinlichkeit  ergeben, 
ist  aber  vollkommen  wertlos,  da  die  einfache  Vergleichung  der  in  den 
Tabellen  gesondert  eingetragenen  Schätzungswerte  bei  oberer  und  imterer 
Lage  der  variabeln  Distanzen  die  Sache  direkt  entscheiden  könnte.  Die 
Verfasser  haben  jedoch  dieses  gegebene  Material  unbenutzt  gelassen!  — 
Dafs  zwei  üntersucher,  welche  an  einem  Universitätslaboratorium  arbeiten, 
sich  solche  Begriffsverwirrungen  und  Gedankenlosigkeiten  zu  Schulden 
kommen  lassen,  ohne  während  des  halben  Jahres,  welches  das  Erscheinen 
der  beiden  Arbeiten  trennt,  etwas  davon  zu  bemerken,  ist  nicht  nur 
unbegreiflich,  sondern  auch  bedenklich. 

Das  Auftreten  einer  der  vorhergehenden  entgegengesetzten  Täuschung 
bei  Tastwahmehmungen  untersucht  Pabbish.  Die  Volarfläche  des  Vorder- 
armes wurde  in  longitudinaler  Bichtung  mittelst  Hartgummistiften,  welche 

Zeitiehrift  fQr  Psychologie  X.  30 


466  Liiieraturbericht 

in  der  Zahl  von  2  bis  9  eine  Strecke  von  64  mm  überspannten,  gereizt,  und 
festgestellt,  dafs  mit  wenig  Ausnahmen  ein  mehr  gefüllter  einem  weniger 
gefüllten  Baume  gegenüber  untersch&tzt  wird.  Die  Erklärxmg  soll  in 
einem  durch  Irradiation  verursachten  Sichzusammendrängen  (bunching, 
crowding)  der  Berührungspunkte  zu  suchen  sein. 

Birst  hat  durch  Versuche  (Wahlmethode)  an  60  Schülern  von  9 
bis  14  Jahren  festgestellt,  dafs  dieselben  ausnahmslos  der  BasHTANOschen 
Täuschung  unterliegen.  Der  mittlere  Täuschungsbetrag  ist  bei  einer 
kleineren  Figur  (konstante  Vergleichslinie  «»  2  cm)  relativ  grOfser,  als 
bei  einer  gleichförmigen  gröfseren  (konstante  Vergleichslinie  =  10  cm); 
er  ist  bedeutend  gröiser,  wenn  man  eine  Linie  mit  auswärts  gekehrten 
Schenkeln  mit  einer  Linie  ohne  Schenkel,  als  wenn  man  eine  solche  mit 
einer  Linie  mit  einwärts  gekehrten  Schenkeln  vergleicht  (beide  Besultate 
kann  Beferent  auf  Grund  seiner  seitdem  veröffentlichten  Versuche  mit 
Erwachsenen  bestätigen).  Im  allgemeinen  haben  die  Versuchspersonen 
eine  Ahnung  von  der  Bichtung  der  Täuschung! 

LoBB  beschreibt  einen  interessanten  Versuch.  Bei  fixierter  Kopf- 
lage betrachtet  man  einen  rechts  parallel  zur  Medianebene  auf  dem 
Tische  liegenden  Pappdeckelstreifen  und  versucht,  einen  anderen  ähnlichen 
Streifen  so  einzustellen,  dafs  er  in  der  Verlängerung  jenes  (etwa  20  cm 
von  ihm  entfernt)  zu  liegen  scheint.  Wird  nun  ein  dritter  Streifen  zur 
rechten  oder  linken  Seite  parallel  neben  den  zweiten  gelegt,  so  erscheint 
dieser  zweite  nicht  mehr  als  die  Verlängerung  des  ersteren,  sondern  um 
3  bis  6  mm  nach  links  oder  rechts  verschoben.  Wenn  die  Streifen, 
statt  parallel,  senkrecht  zur  Medianebene  gestellt  werden,  läfst  sich  die 
nämliche  Erscheinung  für  Tiefenwerte  nachweisen.  „In  allen  diesen 
Fällen  ist  die  Änderung,  welche  der  Baumwert  einer  Netzhautstelle 
(oder  deren  Nervenapparate)  durch  die  Erregung  einer  benachbarten 
Netzhautstelle  (oder  deren  Nervenapparate)  erfährt,  dem  Vorzeichen  nach 
umgekehrt,  wie  die  Differenz  der  Baumwerte  der  induzierenden  und 
beeinflufsten  Netzhautstelle»  also  eine  echte  Kontrastwirkung."  Bedingung 
für  das  Auftreten  derselben  ist  die  Bichtung  der  Aufmerksamkeit  auf 
den  induzierenden  Streifen.  Aus  dem  nämlichen  Prinzip  erklärt-  der 
Verfasser  die  tlberschätzung  geteilter  Punktdistanzen  und  spitzer  Winkel^ 
'wogegen  die  Unterschätzung  eines  Kreises,  dem  ein  kleinerer  konzentrisch 
eingeschrieben  wird,  wegen  des  demjenigen  der  Kontrastwirkung  ent- 
gegengesetzten Vorzeichens  der  Täuschung  auf  Akkommodations- 
wirkungen  zurückgeführt  wird.  —  Beferent  erlaubt  sich  noch  zu  bemerken, 
dafs  WuNDT  (Physiol.  Psychol.  11*.  S.  146.  Fig.  166)  eine  Täuschung  erwähnt, 
welche  mit  der  hier  besprochenen  wesentlich  identisch  ist,  von  welcher 
aber  Wündt  merkwürdigerweise  sagt^  dafs  die  Kontrasthypothese  sie 
durchaus  unerklärt  lasse.    (A.  a.  0.  S.  154.)      Hbtmaks  (Groningen). 


Graffuxdeb.  Traum  und  Traomdentmig.  Hamburg  1894.  38  S.  Aus  Safnmhmg 
gemeinverst  toissensch.  Vortr, 
Der   Hauptwert   der   vorliegenden   Abhandlung   liegt  in   der   sorg- 
fältigen  Zusammenstellung   der   verschiedenen   Arten   der  Verwendung, 


LUteraiurhertchL  467 

welche  der  Traum  in  den  Alteren  Beligionssystemen,  im  Traumorakel, 
im  Mittelalter  bei  der  Geistlichkeit  und  den  Astrologen,  als  Symbol  im 
Epos,  in  der  Lyrik  und  im  Drama  gefunden  hat.  Der  dieser  Sammlung 
vorausgehende  Teil  beschäftigt  sich  mit  der  Anführung  einiger  auf  den 
Traum  bezüglicher  wissenschaftlicher  Ergebnisse.  Leider  scheint  sich 
der  Verfasser  nicht  genau  genug  informiert  zu  haben,  wenigstens 
gebraucht  er  in  seinem  Drange  nach  Popularisierung  bisweilen  Bede- 
wendungen,  bei  denen  man  keine  richtige  Vorstellung  von  den  Vorgängen 
bekommt.  So  ist  es  z.  6.  ganz  imwissenschaftlich,  wenn  er  sagt,  dafs 
„bald  diese,  bald  jene  Stelle  des  Gehirns  einseitig  eine  halbe  Erleuchtung 
erhält^.  Falsch  ist  es,  wenn  er  yon  den  Traumvorstellungen  behauptet: 
„Sie  drängen  sich  dem  Geiste  auf  als  etwas,  das  er  nicht  schafft,  sondern 
das  ohne  sein  Zuthun  da  ist.**  Deun  ohne  das  Zuthun  des  Geistes  kann 
auch  im  Traume  keine  Vorstellung  entstehen.  Gröfsere  Präzisierung  an 
diesen  imd  anderen  Stellen  (S.  9,  11)  würde  den  Wert  der  Arbeit  erhöht 
haben. 

M.  Gdbsslbb  ^(Erfurt). 

JoHB  A.  Bbbostböm.    The  Relation  of  the  Interference  to  the  Practice 
Effect  of  an  Aaaociation.    Ämeric.  Joum.  of  Psychol    Vol.  VI.  No.  3. 
S.  41-50.  (1894.) 
Bekanntlich  haben  limivs^vBXBA  {Beiträge,  H.4),  sowie  Müllbb  und  Schü- 
mann {diese  Zeitschrifly  Bd.  VL  S.  173  ff.)  den  Nachweis  geliefert,  dafs  an  das 
nämliche  BewuXstseinselement  (Vorstellung  u.  s.  f.)  sich   mehr  als  blofs 
eine   Beihe  assoziieren  könne,  und   daik   diese   Assoziationen  als  Dis- 
positionen latent  bleiben  und  durch  andere  Beihen  nicht  zerstört  werden. 
B.  hat  diese   Erscheinung   einer   eingehenderen  Untersuchung  mit  Ex- 
perimenten mittelst  Elarten  unterzogen,  über  deren  Detail  wir  allerdings 
bei  der  Kürze  Torliegenden  Aufsatzes,  welcher  wiederholt  auf  die  frühere 
ausführlichere  Darlegung   der  Experimente   zurückweist,   kein   rechtes 
Bild  bekommen. 

Seine  Ergebnisse  decken  sich  im  grofsen  und  ganzen  mit  denjenigen 
der  oben  genannten  Forscher.  Auch  B.  findet,  dafs  die  Assoziation,  die 
sich  zuerst  an  ein  Bewufstseinselement  angeschlossen,  nicht  aufgehoben 
wird  durch  eine  an  das  gleiche  Element  später  sich  angliedernde  Asso- 
ziation, dafs  also  die  Wirkung  der  Übung  in  einer  Richtung  nicht  auf- 
gehoben wird  durch  eine  Übung  in  einer  anderen,  sondern  unverändert 
als  Tendenz  beharrt.  Das  Hereinwirken  der  zweiten  Assoziationsreihe 
der  Übung  in  der  anderen  Bichtung  stört  zwar  zu  Anfang  etwas  und 
erfordert  gröfsere  Arbeit,  bewirkt  aber,  dafs  die  Assoziationen  nach 
beiden  Richtungen  viel  fester  werden.  Es  macht  dabei  keinen  Unter- 
schied, ob  nur  zwei  Assoziationen  an  das  eine  Element  sich  knüpfen, 
oder  mehrere.  Die  Interferenzwirkung  wird  dadurch  nicht  gröfser.  Sie 
steht  in  einem  konstanten  Verhältnis  zur  Obungswirkung,  ist  ihr  äqui- 
valent. Die  weiteren  Schlüsse  aber  auf  die  Natur  der  zu  Grunde 
liegenden  Nervenprozesse  führten  den  Verfasser  zu  anderen  Ansichten, 

als  MÖNBTERBERG  U.   A. 

M.  Offneb  (Aschaffenburg). 

30* 


468  Litteraturbericht, 

Kasimib  TwiJu>owsKi.  Zar  Lehre  Tom  Inhalt  und  Gegenstand  der  Vor- 
Btellnngen.  Eine  psychologische  Untersuchung.  Wien.  Holder. 
1894.    111  S. 

Brentano  hat  bekanntlich  Vorstellungsakt  und  Vorstellungsinhalt 
(Gegenstand)  scharf  getrennt,  in  einer  Weise,  welche  den  entschiedenen 
Widerspruch  Müvstebbbbos  und  Natorps  gefunden.  Höflbr  aber  ging 
einen  Schritt  weiter  und  unterschied  in  dem  Ausdruck  „Gegenstand'' 
(Objekt)  zweierlei:  einmal  das  An-sich-Bestehende,  worauf  unsere  Geistes- 
thätigkeit  sich  richtet,  Vorstellungsgegenstand,  und  dann  das  in 
uns  bestehende  Bild,  richtiger  Zeichen  jenes  Gegenstandes  (=  immanentes 
und  intentionales  Objekt)  Vorstellungsinhalt. 

Die  Betrachtung  und  Durchführung  dieses  Gegensatzes  zwischen 
Vorstellungsinhalt  und  Vorstellungsgegenstand  neben  dem  Vorstellungs- 
akt ist  der  Zweck  der  vorliegenden  scharfsinnigen  Untersuchung.  Schon 
der  Name  im  weitesten  Sinne  (=  kategorematisches  Zeichen  der  alten 
Logiker)  hat  eine  jener  Dreiteilung  entsprechende  dreifache  Aufgabe: 
1.  in  dem  Hörenden  einen  bestimmten  Vorstellungsinhalt  zu  er- 
wecken; 2.  ihm  zu  verraten,  dafs  der  Sprechende  selbst  den  gleichen 
Vorstellungsakt  bethätigt;  8.  einen  objektiven  Gegenstand  zu 
nennen.  „Vorgestellt^^  kann  also  zweierlei  bedeuten,  ähnlich  wie 
„gemalt^'  in  „gemaltes  Bild^^  und  „gemalte  Landschaft".  Ln  ersten 
Falle  ist  „gemalt^*  (nicht  gestochen  oder  radiert)  nur  determinierendes 
Attribut,  die  Bedeutung  des  Ausdruckes  nur  erweiternd,  ergänzend,  im 
zweiten  Falle  aber  modifizierend,  dieselbe  vollständig  ändernd,  da 
ja  eine  gemalte  Landschaft  keine  wirkliche  mehr  ist.  Dabei  kann'  ich 
aber  immer  noch  von  der  Landschaft,  welche  hier  gemalt  ist,  als  einer 
wirklichen  reden,  etwa  dafs  ich  einmal  dort  gewesen  bin;  in  diesem. 
Falle  ist  „gemalt"  natürlich  wieder  blofs  determinierend. 

Ganz  analog  hat  „vorstellen"  ein  doppeltes  Objekt:  einen  vor- 
gestellten Gegenstand  und  einen  vorgestellten  Inhalt.  Der  Inhalt  wird 
in  der  Vorstellung  gedacht,  vorgestellt,  der  Gegenstand  durch  die 
Vorstellung  (Zimmebmann). 

Für  die  sog.  gegenstandslosen  Vorstellungen,  wie  Kentaur,  vier- 
eckiger Kreis  —  non-ens  ist  keine  wirkliche  Vorstellung  —  sucht  T.  in 
gleicher  Weise  einen  Gegenstand,  der  durch  sie  vorgestellt  wird,  nachzu- 
weisen. Ob  ihn  aber  der  Weg,  den  er  eingeschlagen,  an  das  Ziel  führt, 
scheint  recht  fraglich.  Und  doch  könnte  er  sein  Prinzip  retten.  Für 
derartige  Vorstellungen  als  Ganze  müTsten  wir  zwar  auf  einen  Gegen- 
stand verzichten,  aber  für  die  Teile  desselben  lielsen  sich  mühelos  die 
Gegenstände  aufzeigen.  Freilich  ist  für  T.  der  Gegenstand  der  Vor- 
stellungen, Urteile,  Gefühle,  Wollungen  etwas  vom  Ding  an  sich,  als  der 
unbekannten  Ursache  unserer  Affektionen,  Verschiedenes;  sind  doch  z.  B. 
Mord,  Gemütsruhe,  Sinus  Gegenstände,  aber  keine  Dinge  oder  Sachen. 
Kurz,  Gegenstand  ist  ihm  schliefslich  alles,  was  ist,  alle  entia. 

Entsprechend  dem  Unterschied  zwischen  Vorstellungsgegenstand 
und  Vorstellungsinhalt  sind  auch  die  beiderseitigen  Bestandteile  ver- 
schieden, dürfen  also  nicht  mit  dem  zweideutigen  Terminus  „Merkmal" 
belegt  werden.    Teile  des  Vorstellungsinhaltes  sind  wieder  Vorstellungs- 


LiHeraiurbericht.  469 

Inhalte,  Teile  des  Vorstellungsgegenstandes  wieder  Vorstellungsgegen- 
stände. Nur  für  letztere  l&fst  T.  mit  Bolzano  und  Übebweg  den  Ausdruck 
,, Merkmal"  gelten,  für  erstere  schlägt  er  die  Bezeichnung  Vorstellungsteile 
oder  Vorstellung-Inhaltsteile  vor.  Dann  aber  kommen  in  Betracht  die 
Beziehungen  dieser  Teile,  die  sog.  formalen  Bestandteile,  deren  Gesamt- 
heit die  Form  des  Ganzen  genannt  wird,  während  man  die  anderen  als 
den  Stoff  bezeichnet,  als  die  materialen  Bestandteile. 

Unter  den  weiteren  Untersuchungen  verdienen  ganz  besonderes 
Interesse  die  Ausführungen  des  Verfassers  über  den  Gegenstand  der 
allgemeinen  Vorstellungen.  Im  Widerspruch  mit  allen  Logikern, 
den  einen  B.  Erduann  ausgenommen,  stellt  er  den  Satz  auf,  dafs  es 
Vorstellungen,  zu  denen  eine  Mehrheit  von  Gegenständen  gehört,  nicht 
giebt.  Durch  die  allgemeine  Vorstellung  wird  das  den  Gegenständen 
aller  Einzelvorstellungen  Gemeinsame  als  solches  vorgestellt.  Der  Gegen- 
stand einer  solchen  Vorstellung  Ist  dann  allerdings  nur  ein  Einziges, 
spezifisch  verschieden  von  dem  der  Einzel  Vorstellung.  Freilich  ist  die 
allgemeine  Vorstellung  stets  indirekt,  unanschaulich.  DaXs  damit  T.  dem 
psychologischen  Befunde  gerecht  wird,  möchten  wir  bezweifeln,  wie  denn 
überhaupt  in  ihm  der  Psychologe  von  dem  Logiker  in  den  Hintergrimd 
gedrückt  wird. 

Wenn  wir  also  auch  gestehen  müssen,  dafs  uns  die  Aus- 
führungen des  Verfassers  in  ihrer  Gesamtheit  noch  nicht  überzeugt 
haben,  so  haben  wir  doch  den  eindringenden  Scharfsinn  rückhaltlos 
anzuerkennen,  mit  dem  er  auf  die  Bedeutung  derartiger  verwickelter 
Fragen  hingewiesen  und  zur  Lösung  und  Klärung  sein  gut  Teil  bei- 
getragen hat.  Das  ist  ein  Verdienst,  das  nicht  geschmälert  wird,  auch 
wenn  die  Ergebnisse  seiner  anregenden  Forschungen,  wie  zu  erwarten 
steht,  noch  manchen  Widerspruch  erfahren  werden. 

M.  Offner  (Aschaffenburg). 

A.  BiKBT  et  V.  Henri.    De  la  Buggestibilit^  naturelle  chez  les  enfants 
Bev.  phüos.   1894.    No.  10.    S.  337-347. 

Die  gewöhnlichen,  durch  hypnotischen  Schlaf  vermittelten  Sug^ 
gestionen  sind  nach  der  Ansicht  der  Verfasser  zu  weit  entfernt  von  den 
analogen  Suggestionsphänomenen  des  normalen  Seelenlebens,  als 
dafs  sie  JEtÜckschlüsse  auf  die  letzteren  erlaubten,  vor  allem,  weil  bei 
der  „natürlichen  Suggestion^  die  Freiheit  und  Urteilsfähigkeit  der  beein- 
flufsten  Personen  nicht  aufgehoben  sei;  insbesondere  die  moralische 
Einwirkung  und  Gegenwirkung  des  täglichen  Lebens  gleiche  durchaus 
nicht  derjenigen,  welche  in  der  Hypnose  erreicht  werde.  Deshalb  wollen 
die  Verfasser  die  natürliche  Suggestion  untersuchen,  wie  sie  z.  B.  der 
Lehrer  einer  Schule  auf  die  Kinder  ausübt. 

Die  mitgeteilten  Beobachtungen  über  Suggestibilität  der  Schul- 
kinder durch  den  Lehrer  haben  die  Verfasser  bei  Gelegenheit  von  Ver- 
suchen über  das  visuelle  Gedächtnis  von  Kindern  gemacht  (vergl.  Rev. 
pMlos.  1894.  S.  348  ff.  und  Bev.  gm.  des  sciences  1894.  Märzhefk).  Die  Sug- 
gestion bestand  hier  darin,  dafs,  wenn  die  Schüler  eine  vorher  gezeigte 
Linie  von  bestimmter  Gröfse  wieder  aufzusuchen  hatten,  in  dem  Augen- 


470  Litteraturbericht. 

blick,  in  dem  der  Schüler  eine  bestimmte  Linie  angeben  wollte,  der 
Experimentator  die  Frage  an  ihn  richtete :  „Sind  Sie  sicher,  daüs  das  die 
richtige  Linie  ist?^  Es  sollte  dabei  vor  allem  der  Einflufs  des  Alters 
der  Schüler,  ihrer  Bildangssufe,  der  Natur  der  geistigen  Arbeit  auf  die 
Suggestibilit&t  festgestellt  werden,  unter  drei  Umständen  wurde  der 
Effekt  der  Suggestion  verfolgt:  1.  Indem  die  Suggestion  lediglich  durch 
die  Anordnung  der  Versuche  gegeben  wurde;  2.  indem  die  einzelnen 
Kinder  direkt  angeredet  wurden;  3.  indem  man  eine  gröfsere  Anzahl 
Schüler  eine  „kollektive",  gleichzeitige  Suggestion  erfahren  liefs,  wobei 
namentlich  der  Einflufs  der  gegenseitigen  Nachahmung  der  Schüler 
hervortreten  mufste.  Die  Schüler  gehörten  drei  verschiedenen  Klassen 
an  und  repräsentierten  damit  drei  verschiedene  Alters*  und  Bildungs- 
stufen. 

Im  ersten  Falle  wurden  dem  Schüler  Linien  gezeigt,  von  denen  er 
eine  bestinunte  Länge  einmal  aus  dem  Gedächtnis,  ein  anderes  Mal 
bei  direktem  Vergleich  mit  dem  Original  in  einem  „tableau''  wieder 
aufzusuchen  hatte.  Dies  wurde  zuerst  ohne  Suggestion  einige  Male 
ausgeführt,  worauf  in  den  Suggestionsversuchen  die  dem  Original  ent* 
sprechende  Länge  weggelassen  wurde.  Es  fragte  sich,  ob  die  Kinder 
sich  dadurch  bewegen  liefsen,  die  nächst  kleinere  oder  gröfsere  Linie 
zu  bezeichnen.  Augenscheinlich  bedarf  es  dazu  nicht  nur  gewisser  sinn- 
licher Fähigkeiten  (Schärfe  des  Augenmafses  u.  s.  w.),  sondern  vor 
allem  einer  gewissen  „hardiesse  d'esprit",  eines  gewissen  Selbstvertrauens, 
das  eben  in  erster  Linie  durch  die  Suggestion  auf  die  Probe  gestellt 
wird.  Um  den  Einflufs  beider  Arten  von  Faktoren  zn  trennen,  schieden 
die  Verfasser  bei  den  Suggestionsversuchen  diejenigen  Kinder  aus,  die 
in  den  Vorversuchen  die  Liniengröfsen  nicht  richtig  erkannt  hatten. 
Nun  ergab  sich  bei  240  geprüften  Schülern,  dafs  88%  der  jüngsten 
Klasse  der  Suggestion  verfielen,  dagegen  nur  60%  der  mittleren  und 
47  %  der  höchsten  Klasse.  Die  Gedächtnisunterschiede  der  Schüler 
der  entsprechenden  Klassen  waren  dagegen  weit  geringere.  Bei  An- 
wendung des  direkten  Vergleichs  mit  dem  Original  ergaben  sich  im 
Mittel  SS^/i  Suggestionsfehler,  bei  der  Gedächtnismethode  65%.  Die 
Gegenüberstellung  der  Ergebnisse  beider  Verfahrungsreihen  trennt  in 
gewisser  Weise  die  Suggestibilität  durch  Zaghaftigkeit  und  die  durch 
Gedächtnisschwäche.  Man  sieht,  wie  gerade  die  innere  Unsicherheit 
auf  Grund  schwachen  Gedächtnisses  stark  für  die  Suggestion  empfänglich 
macht. 

Der  zweite  Fall,  Einwirkung  durch  Verbalsuggestion,  d.  h.  durch 
die  Fragen:  Sind  Sie  sicher?  Ist  es  nicht  die  benachbarte  Liniengröfse? 
wurde  bei  150  Kindern  geprüft.  Aus  Anlafs  der  Fragen  ändern  ihre 
Antwort  von  den  Schülern  der  niederen  Klasse:  89%  bei  gedächtnis- 
mäfsigem  Aufsuchen,  bei  direktem  Vergleichen  74%,  von  dem  mittleren 
Kursus  entsprechend  80  und  73%,  von  dem  älteren  54  und  48%.  Er- 
staunlich ist  der  Unterschied  der  fortgeschritteneren  Kinder  von  den 
beiden  anderen  Klassen,  fast  die  Hälfte  unter  den  ersteren  läfst  sich 
durch  die  Fragen  nicht  irre  machen.  Manche  Einzelbeobachtungen,  die 
auf  das   auch   von  Mülles  und  Schttmann  behandelte  „Gef&hl  des  Aus- 


Lit^aturhericht  471 

wendigwissens^  einiges  Licht  werfen,  sind  interessant.  Sehr  auffallend 
ist,  dafs  die  Kinder,  welche  eine  falsche  Gröfse  bezeichnet  hatten,  in  der 
Mehrzahl  der  Fälle  durch  die  Suggestion  auf  das  richtige  Urteil  gebracht 
werden  —  ganz  besonders  beim  Vergleich  aus  dem  blofsen  Ged&chtnis. 

Im  dritten  Falle  wurden  Gruppen  von  Schülern  geprüft,  die  in  der 
Begel  zu  vieren  nebeneinander  safsen.  Es  ergiebt  sich  eine  geradezu 
überraschende  gegenseitige  Beeinflussung  der  Schüler.  Sie  nimmt  nur 
wenig  mit  dem  Alter  ab. 

Die  Verfasser  glauben,  dafs  sich  mit  solchen  Versuchen  ein  ungefähres 
Mafs  des  Widerstandes  finden  läfst,  welchen  das  Gefühl  der  Gewifsheit 
modifizierenden  Einflüssen  entgegensetzt.         £.  Meümanv  (Leipzig). 

David  Iroks.  Dbboabteb  and  modern  Theories  of  Emotion.  Phihs.  Bev. 
IV.  3.  S.  290-302.  (1895.) 
Irons  erwartet  eine  Förderung  der  modernen  Diskussion  der  Affekte 
durch  ein  Zurückgehen  auf  Descabtes.  Die  Darstellung,  die  Ibons  von 
den  einschlägigen  Erörterungen  in  Descabtes'  Passians  de  Vätne  giebt, 
lafst  aber  einige  Inkonsequenzen  und  ein  Schwanken  in  den  Anschauungen 
D.'s  erkennen,  dem  Irons  selbst  „negligence  with  regard  to  the  psychical 
characteristics  of  emotion  as  such"  nachsagt.  Die  modernen  Affekt- 
theorien streift  der  Aufsatz  nur  ganz  im  Vorübergehen. 

KuBBLLA  (Brieg). 

G.  Vbrribst.  Les  bases  physiologianes  de  la  parole  rhythmäe.  Bev. 
NSO'Scolast  L  No.  1.  S.  39-52.  1894.  und  No.  2.  S.  112-139. 

Die  Beobachtungen  von  Stricker  u.  A.  über  Tonusverftnderungen 
und  schwache  Innervationen  der  Kehlkopfmuskulatur,  welche  die  Wort- 
vorstellungen begleiten,  und  vor  allem  die  bekannten  Versuche  von 
CuMBERLAKD  über  „Gedankenlesen^',  endlich  einige  eigene  Versuche  über 
Beziehungen  zwischen  Vorstellungen  und  Bewegungstendenzen  veranlassen 
den  Verfasser  zu  folgenden  Behauptungen:  1.  „Jede  Vorstellung  von 
einer  Bewegung  wird  von  einer  Erregung  der  motorischen  Zentren  und 
von  einer  zentrifugalen  nervösen  Welle  begleitet,  die  eine  Modifikation 
des  Tonus  derjenigen  Muskeln  hervorrufb,  die  zur  Ausfahrung  der  be- 
treffenden Bewegung  zusammenwirken  müfsten.  Jede  Vorstellung  von 
einer  Bewegung  wird  also  von  einem  Beginn  ihrer  Ausführung  begleitet, 
die  äufserlich  latent  bleibt,  sich  aber  dem  Experimentator  fühlbar  macht." 
2.  „Jede  Vorstellung  einer  Linie,  einer  Richtung,  einer  Kontur,  einer 
Figur  führt  die  Vorstellung  von  einer  Bewegung  herbei,  die  zum  Zeichnen 
dieser  Linie  nötig  wäre,  und  sie  bewirkt  infolgedessen  die  entsprechenden 
muskulären  Veränderungen**.  (S.  43.) 

Eine  ähnliche  Wirkung  haben  auch  die  peripher  ausgelösten  Be- 
wegungsempfindungen. Bewegungsempfindungen  wirken  als  mo- 
torische Beize,  es  genügt,  einem  Hypnotisierten  die  Hände  zu  falten,  und 
er  macht  alle  weiteren  Ausdrucksbewegungen  eines  Betenden,  es  genügt 
—  fügen  wir  hinzu  — ,  einer  ataktischen  hysterischen  Person  den  Arm 
einige  Male  hinr  und  herzubewegen,  und  sie  bewegt  ihn  spontan  weiter. 
Auch  die  Wahrnehmung  von  Bewegungen,  der  Anblick  von 
Bingern  oder  Schauspielern   bringt   entsprechende   Bewegungstendenzen 


472  Litteralurbericht, 

im  Zuschauer  hervor,  und  der  Verfasser  behauptet  mit  Hecht,  dals  zahl- 
reiche ästhetische  EfiPekte  der  bildenden  und  redenden  Künste  auf  solchen 
Bewegungsantrieben  beruhen. 

Nicht  zum  mindesten  auch  gilt  dasfClr  das  Wohlgefallen  amBhythmus. 
Die  periodische  Wiederkehr  gleicher  Bewegungsphasen  ergiebt  eine 
Akkumulation  ihrer  Wirkungen.  Was  für  die  physiologischen  Grund- 
lagen des  Versrhythmus  speziell  in  Betracht  kommt,  sind  die  rhythmischen 
Innervationen  der  Sprech-  und  Atemmuskulatur.  Nun  scheinen  dem  Ver- 
fasser die  oben  erwähnten  Thatsachen  der  latent  bleibenden  Mitinner- 
vation  für  die  Zungen-,  Kehlkopf-  und  Atemmuskulatur  ganz  besondere 
Bedeutung  zu  haben.  Die  unsere  ganze  Vorstellungsthätigkeit  beständig 
begleitenden  Innervationen  des  gesamten  Lautapparates  sind  nach  seiner 
Meinung  ganz  besonders  lebhafte,  bei  einiger  Aufmerksamkeit  kommen 
sie  den  meisten  Menschen  leicht  zum  Bewufstsein.  In  der  Kindheit 
seien  sie  am  lebhaftesten,  bei  unkultivierten  Menschen  seien  sie  am 
besten  zu  beobachten,  wie  denn  auch  das  motorische  Gedächtnis  bei 
Kindern  und  ungebildeten  überwiege.  Der  Kindermund  und  der 
Volksmund  verwende  deshalb  in  Liedern  und  Versen  die  Allitteration, 
die  als  wesentlich  motorisches  Phänomen  aufzufassen  sei.  Haben  nun  die 
beständigen  Bewegungsantriebe,  die  unser  Vorstellen  begleiten,  eine 
starke  Beziehung  zu  unseren  Gefühlen,  so  liegt  in  der  elementaren  Be- 
ziehung der  Worte  als  motorischer  Vorgänge  zu  unserem  Gefühlsleben 
eine  besondere  Quelle  der  WohlgefUligkeit  rhythmischer  Wortver- 
bindungen, die  neben  der  gewöhnlich  ausschlleMich  beachteten  Quelle 
des  Gefallens  an  Versen,  nämlich  dem  Sinn  des  Gedichtes,  eine  ganz 
besondere  Hervorhebung  verdient.  Unabhängig  von  seiner  Bedeutung 
hat  das  Wort  (und  die  Wortkombination)  durch  die  Beziehung  des  mo- 
torischen Apparates,  der  zu  seiner  Hervorbringung  dient,  zu  unseren 
Gefühlen  eine  Beihe  von  Eigenschaften,  welche  uns  gefallen  oder 
beleidigen.  Darauf  beruht  ein  grofser  Teil  der  Ästhetik  des  Wortes, 
des  Verses,  des  Versrhythmus. 

£s  müssen  also  einerseits  die  kinästhetischen  Gefühle  der  Kehl- 
kopfmuskulatur, andererseits  die  eigentümliche  Begulierung  der  Atem- 
holung  diejenigen  Faktoren  sein,  welche  (ursprünglich  vielleicht  aus- 
schlieJGslich)  die  Verstechnik  und  die  Begeln  ihrer  wohlgefälligsten 
Wirkungen  bedingen.  Die  Cäsuren,  die  Länge  der  Verse  und  Vers- 
abschnitte, aber  auch  die  blofse  Auswahl  der  Worte  kommen  dabei 
speziell  für  die  Atemregulierung  in  Betracht. 

Es  ist  sehr  schade,  dafs  der  Verfasser,  der  Mediziner  ist,  nicht  ein 
tieferes  Eindringen  in  den  physiologischen  Zusammenhang  zwischen 
rhythmischer  Muskelbewegung,  Atemregulierung  u.  s.  w.  einerseits  und 
Lust  und  Unlust  andererseits  versucht.  Überraschend  aber  sind  die  sehr 
zahlreichen  Beispiele,  die  der  Verfasser  aus  der  Volks-  und  Elinderpoesie 
zum  Beleg  seiner  theoretischen  Vorstellungen  anführt.  In  diesen  aus 
allen  Kultursprachen  entlehnten  Versen  und  Liedern,  die  zum  Teil  im 
Sinne  der  Theorie  ganz  vortrefflich  analysiert  werden,  dürfte  der  Haupt- 
wert der  Arbeit  von  Vbbsiest  bestehen.  E.  Meümann  (Leipzig). 


Litieraturbericht  473 

GsoRG  SiuHEL.  Elnleitnng  in  die  Moralwissenschaft.  Eine  Kritik  der 
etliischen  GrundbegrüFe.  In  2  Bänden.  Zweiter  Band.  Hertz,  Berlin 
1893.  426  S. 
Ebensoschwer  wie  aus  dem  ersten  liefse  sich  ans  diesem  zweiten 
Bande  eines  an  merkwürdigen  Einzelheiten  reichen  Werkes  der  be- 
herrschende Gedanke  herausfinden,  wenn  nicht  die  Vorrede  uns  hälfe,  die 
darauf  hinweist,  in  jedem  Kapitel  sei  es  darauf  abgesehen,  an  einem 
oder  an  einigen  ethischen  Grundbegriffen  zu  zeigen,  dafs  darin  mannig- 
fache, oft  entgegengesetzte  Tendenzen  und  Denkmotive  enthalten  sind. 
Das  gemeinsame  und  endliche  Ergebnis,  für  den  Verfasser,  besteht  darin, 
dafs  die  Ethik  „ihr  philosophisches  Stadium  verlassen^  und  in  eine 
ganz  und  gar  theoretische  Wissenschaft  sich  verwandeln  solle,  der  die 
Beschreibung  und  Erklärung  von  Thatsachen  obliege.  Die  „normative^' 
Aufgabe  wird  also  ausgeschieden,  und,  wenn  wir  richtig  verstehen,  auf 
Grund  dieser  Kritik  als  unerfüllbar  aufgegeben.  —  Die  drei  Kapitel  des 
Bandes  handelil  1.  über  den  kategorischen  Imperativ,  2.  über  die  Frei- 
heit, 3.  über  Einheit  und  Widerstreit  der  Zwecke.  Nach  Umfang  und 
Inhalt  zieht  das  mittlere  am  meisten  die  Aufmerksamkeit  an  sich.  Der 
Verfasser  hat  es  verstanden,  mit  grofser  Unbefangenheit  an  das  vexierte 
Thema  heranzugehen.  Seine  scharfsinnige  Erörterung  zerfällt  in  vier 
grofse  Abschnitte.  Zuerst  soll  die  ethische  Freiheit  in  ihrer  Beziehung 
zu  anderen  Begriffen  der  Freiheit  und  Unfreiheit  entwickelt  werden. 
Der  Gedankengang  ist  folgender:  Die  empirische  Freiheit  des  Handelns 
bildet  den  historischen  Unterbau  für  die  Vorstellung  von  der  Freiheit 
des  Willens  (134),  obgleich  diese  auch  in  einem  gewissen  Gegensatze  zu 
jener  gedacht  wird.  Wie  das  Wollen  zum  Handeln,  so  verhält  sich  zum 
Wollen  das  Ich;  die  Idee  des  intelligibeln,  aufserzeitlich  gewollten 
Charakters  ist  konsequenter  Ausdruck  dieser  Zurückschiebung  des 
Problems  (139).  Aufrecht  erhalten  läfst  sich  solcher  Begriff  gegenüber 
der  kritischen  Auflösung  des  Ich  (143).  Gewöhnlich  wird  aber  (inner- 
halb der  Vertretung  des  Freiheitsbegriffes)  das  Ich  mit  der  Vernunft 
gleich  gesetzt,  die  theoretische,  determinierte  „Sinnlichkeit*^  mit  der  prak- 
tischen verwechselt  (147  f.).  Der  wahre  Sinn  des  durchdachten  Freiheits- 
begriffes ist  allerdings  der,  dafs  die  Bestimmung  durch  vemunftmäfsige 
Motive  derjenigen  durch  sinnliche  entgegengesetzt  wird  (150).  Die  Wert- 
vorstellungen, die  an  das  Ich  und  die  an  die  Freiheit  geknüpft  werden, 
zeigen  sich  überall  parallel:  hohe,  wie  niedrige  Schätzung  des  Ich  und 
der  Willkür  (154).  Im  Grunde  handelt  es  sich  aber  um  Kompromisse 
mit  der  anerkannten  Wahrheit  der  Kausalität,  das  Ich  oder  die  Vernunft 
ist  nur  die  Hypostase  der  Forderimg  eines  positiven  Etwas  hinter  den 
Thatsachen  des  WoUens.  »Die  Einzelheiten  der  empirischen  Bedeutung 
der  Freiheit  bilden  wohl  ein  sehr  viel  reicheres  und  fruchtbareres  Gebiet 
für  die  Moralwissenschaft,  als  die  metaphysische  Frage  nach  der  Freiheit 
des  Willens  selbst,  vor  der  jene  bis  jetzt  sehr  zu  kurz  gekommen  sind'' 
(157).  Die  absolute  Freiheit  des  Individuums  wird  meistens  als  ein  Kampf 
gegen  äuTsere  Ansprüche,  als  ein  Freiwerden  gedacht,  welche  Idee  auch 
mit  der  ethischen  Freiheit  sich  gern  verbindet;  femer  erscheint  jene  als 
Mangel  nicht  jeder,   sondern   nur   der  bestimmt  gerichteten  und  konse- 


474  Litteraturhericht 

quenten  Determinierung,  als  Becht  der  Laune  (158  f),  bierdurcli  aber  im 
Gegensatz  zur  philosophischen  Idee  der  Freiheit,  weil  diese  gerade  in 
der  konsequenten  einheitlichen  Bichtung  des  Ich  ihr  Fundament  hat 
(160).  In  diesem  Sinne  hat  Quetslet  gemeint,  dafs  gerade  die  Freiheit 
des  Willens  unsere  Handlungen  stetig  und  gleichmäfsig  gestalte.^  Darin 
kommt  ein  richtiger  Gedanke  zum  Ausdruck,  dessen  Wahrheit  im  Gebiete 
der  empirischen  Freiheit  den  häufigen  Zusammenhang  von  Anarchie  und 
Despotismus  zeigt  (162).  Die  Unfreiheit  bedeutet  auch  einen  Willen, 
aber  denjenigen,  der  nur  eine  Minorität  von  Wollungen  repräsentiert; 
darum  wird  gerade  die  absolute  Freiheit  in  ihrer  zufälligen  Einzelheit 
häufig  als  Unfreiheit  bezeichnet  (166),  das  Wesen  der  Freiheit  würde 
dagegen  in  Bealisierung  der  Majorität  der  Wollungen  bestehen  (166).  So 
kommt  in  der  Beziehung  zum  Freiheitsbegriffe,  die  ihnen  gemeinsam  ist, 
eine  Korrelation  des  loh  und  der  objektiven  Normen  zum  Ausdruck. 
Als  Freiheit  wird  der  Gegensatz  des  Gleichgewichtzustandes  der  Seele 
gegen  das  psychologische  Überwiegen  einer  Vorstellung  empfunden;  das 
freie  Ich  trifft  seine  Entscheidungen  genau  nach  dem  logischen  Gewichte 
seiner  Objekte  (168).  Auch  die  empirische  Freiheit  ist  nur  da  vorhanden, 
wo  zugleich  Bindungen  gegeben  sind,  wie  die  sittliche  Autonomie  im 
Gehorsam  gegen  innere  Begeln  besteht  (171).  Weil  ^Unfreiheit  als 
Bindung  anderer  Art  regelmäfsig  Befreiung  von  der  bisherigen  bedeutet, 
so  findet  sich  auch  der  psychologische  Hang  zur  Unfreiheit  oder 
freiwilligen  Unterwerfung  in  verschiedener  Gestalt.  Soziologisch 
bemerkt  man,  dafs  die  gröfste  persönliche  Freiheit  mit  der  Bindung 
an  die  Gesetze  des  gröfsten  sozialen  Kreises  in  kausalem  Ver- 
hältnisse steht  (176).  Andererseits  gehen  gerade  aus  freien  Thaten 
die  inneren  Bindungen  als  Konsequenzen  hervor:  verpflichtende  Kräfte 
fixieren  sowohl,  als  steigern  die  selbstgeschaffene  Situation  (179).  Das 
Schicksal  macht  uns  verantwortlich,  wo  wir  uns  vielleicht  vor  unserem 
Gewissen  nicht  mehr  verantwortlich  fühlen  (182);  dies  wird  metaphysisch 
symbolisiert  durch  jene  Vorstellung  von  der  aufserzeitlichen  Ergreifung 
des  intelligiblen  Charakters  (184).  Die  Gesetzmäfsigkeit  eines  Ganzen 
verhält  sich  zur  Freiheit  im  einzelnen,  wie  historische  Gesamtbewegungen 
zu  ihren  individuellen  Trägern;  welches  Verhältnis  sich  1.  teleologisch 
ausdrücken  liefst:  die  Freiheit  der  einzelnen  kann  selbst  ein  Teil  des 
Weltsystems  sein  (186);—  2.  statistisch  in  zwei  Formen:  a)  die  Schwin- 
gungen der  Einzelfreiheiten  gleichen  sich  in  grolsen  Gruppen  aus;  dies 
bedeutet  eigentlich  nur,  dafs  es  für  unser  Erkennen,  wenn  es  sich  auf 


^  Wenn  der  Verfasser  hier  generell  einwendet,  dafs  die  Statistik 
doch  gerade  die  Beständigkeit  und  Eegelmäfsigkeit  in  den  durch 
moralische  Unzulänglichkeit  und  Unvernunft  hervorgerufenen 
Handlungen  vor  Au^en  führe,  so  hoffen  wir,  dafs  er  dabei  nicht  gerade 
an  die  Eheschlieisungen  gedacht  hat,  die  zu  den  wichtigsten  Ob- 
jekten statistischer  Beobachtung  gehören.  Übrigens  kenne  ich  nur 
QüETELETS  Ansicht  vom  freien  Willen  als  einer  accidentellen  Ursache 
von  beschränkten  und  sich  aufhebenden  Wirkungen,  während  mir  die 
im  Texte  genannte  Auffassung  bei  anderen  Autoren  allerdings  begegnet 
ist.  Auf  jene  QuETELETSche  Bestimmung  gelangt  der  Verfasser  seloer  in 
diesem  Verlaufe  S.  187  ff. 


Litteraturberieht,  475 

den  Standpunkt  des  G-anzen  stellt,  gleichgültig  ist,  welche  einzelnen 
Teile  des  Oanzen  es  sind,  die  dessen  notwendige  Schicksale  tragen  (189); 
b.  es  kann  aber  auch  der  soziale  Kreis,  von  dem  das  statistische  Q-esetz 
gilt,  als  eine  Einheit  gedacht  werden,  deren  innere  Beziehungen  ihre 
Kräfte  im  Verhältnis  der  Teilnehmerzahl  entwickeln  (191).  Hier  fällt 
nim  vollends  die  Freiheit  fort  und  wird  vielmehr  durch  das  statistische 
Gesetz  die  soziale  Wirkung  eines  Ganzen  auf  den  Einzelnen,  wenn  auch 
in  roher  Form,  konstatiert  (193).  Femer  unterscheidet  sich  scheinbar 
die  Gruppe  vom  Individuum  durch  Sicherheit,  Zweckmäfsigkeit,  Irrtums- 
losigkeit  ihrer  Aktionen;  dies  beruht  darauf,  dafs  die  sozialen  Handlungen 
die  primitiveren,  älteren  Triebe,  Empfindungen,  Vorstellungen  der 
Individuen  zur  Grundlage  haben,  woraus  das  Allgemeine  und  Notwendige 
hervorgeht  (194);  ebenso  verhält  sich  in  der  Einzelseele  das  Wesentliche 
und  Einheitliche  zum  Mannigfachen  der  einzelnen  Handlungen.  Diese 
Betrachtung,  dafs  das  Ganze  notwendig,  das  Einzelne  frei  erscheine, 
scheint  der  früheren  zu  widersprechen,  wonach  gerade  allein  das  Ganze 
der  Persönlichkeit,  das  Ich,  die  Freiheit  trage  (202  ff.)*  Indessen  ergiebt 
sich  die  Harmonie  aus  dem  richtigen  Begriffe  relativer  Notwendigkeit, 
der  gegenüber  die  Idee  der  philosophischen  Willensfreiheit  mit  der 
absoluten  Notwendigkeit  einer  Causa  sui  zusammenfallen  möchte :  das 
Ich  gilt  als  Afikrokosmus  (204  f.).  —  Der  andere  Abschnitt  geht  auf 
die  Begriffe  der  Zurechnung  und  VerantwoHung  ein.  Hier  heifst  es 
überraschenderweise,  dals  Freiheit  „in  dem  Sinne,  der  überhaupt  einen 
Sinn  hat  und  nicht  nur  ein  Unterschiebsei  oder  ein  verschwommener 
Deutungs versuch  für  einen  ganz  entgegengesetzten  Gedanken  ist,  nur 
den  reinen,  grundlosen  Zufall  bedeutet''  (207).  Bei  dieser  Freiheit  aber 
ist  ebensowenig  eine  Zurechnung  möglich,  wie  bei  der  Annahme  des 
Determinismus  .(211).  Hingegen  kann  man  die  Freiheit  aus  der  Ver- 
antwortung herleiten  (212):  ein  Individuum  ist  eben  dann  zurechnungs- 
fähig, verantwortlich,  wenn  die  strafende  Beaktion  auf  seine  That  bei 
ihm  den  Zweck  der  Strafe  erreicht  (213).  Es  mufs  in  ihm  die  Fähigkeit, 
die  Spannkraft  auch  zu  anderem  Handeln  liegen,  sonst  wäre  die  Strafe 
sinnlos  (219).  Psychologisch  giebt  es  noch  mehrere  Quellen  der  Freiheits- 
vorstellung (225  ff.);  unser  Handeln  vollzieht  sich  auf  Grund  einer 
Mischung  des  Glaubens  an  Determiniertheit  und  an  Nichtdeterminiertheit 
(281  ff.)'  Ob  alles  verstehen  =  alles  verzeihen  sei?  Mit  der  Schuld  würde 
doch  auch  die  Veranlassung  zur  Verzeihung  aufgehoben  (288).  Sittliche 
Naturen  gewähren  den  eigenen,  am  besten  verstandenen,  Handlungen 
am  schwersten  Verzeihung;  auch  hält  man  gerade  Selbsterkenntnis  für 
den  Anfang  der  Versittlichung  (239).  Indessen  ist  vielfach  die  ün- 
bewufstheit  in  der  Entwickelung  des  Sittlichen  zweckmäfsiger,  als  seine 
Bewufstheit  (240).  Sittlich  schwache  Naturen  empfinden  Selbsterkenntnis 
und  Eeue  als  genügenden  Tribut  an  die  Moral  (ibid.)  —  Im  dritten  Ab- 
schnitt soll  der  Umfang  skizziert  werden,  den  der  Freiheitsbegrifi' 
empirischerweise  decke.  Wichtigste  Fortsetzung  und  Erfüllung  der 
Freiheit  tritt  in  dem  Verhältnis  des  Ich  zum  äufseren  Besitze  ein  (245). 
Vermehrung  des  Besitzes  ist  zugleich  Steigerung  der  Freiheit  (251) 
Freiheit  kann  auch  als  Selbstbeherrschung  definiert  werden.    Herrschaft 


476  Litteraiurbericht 

über  den  eigenen  Leib  setzt  sich  fort  in  Herrschaft  über  ein  Besitztum, 
endlich  in  Herrschaft  über  andere  Personen  (253).  Hinter  der  ersten 
liegt  noch  die  Freiheit  der  eigenen  Seele  gegenüber  (257).  Empfundener 
Mangel  der  einen  Form  ftlhrt  zu  einer  um  so  stärkeren  Bestrebung  nach 
der  anderen  hin  (ibid.)  Die  Gesellschaft  begrenzt  die  äufseren  Freiheiten 
als  Bechte  und  zugleich  auch  die  Freiheit,  auf  sie  zu  verzichten  (262). 
Man  kann  das  Freiheitsmaximum  zum  Moralprinzip  machen  (264).  Ver- 
teilung des  Besitzes  wird  dadurch  normiert  (267),  Selbstüberwindung 
gerechtfertigt,  aber  auch  begrenzt  (271);  ebenso  die  Tendenz  auf  blofse 
objektive  Kultur  und  Besitzsteigerung  (273).  Auch  in  Bezug  auf  das 
Verhältnis  des  Ichs  zu  sich  selber,  seinen  Vorstellungen  und  Über- 
zeugungen, rechtfertigt  und  begprenzt  das  Prinzip  den  „Eigensinn"  (275  ff.). 
Auch  der  freieste  Wille  bedarf  eines  gewissen  Widerstandes  der  Objekte 
(278).  Die  völlige  Bealisierung  des  Freiheitsmaximums  würde  seinen 
Wert  wieder  aufheben  (281).  Dieses  Prinzip,  wie  alle  Versuche,  die  Sittlich- 
keit auf  einen  einheitlichen  Begriff  zu  bringen,  ist  im  Grunde  nichts 
als  Symbolisierung  des  sittlichen  Thatbestandes  (ibid.).  —  Der  vierte  Ab- 
schnitt erörtert  das  Verhältnis  der  Willenshandlungen  zur  Erhaltung 
der  Kraft  und  dasjenige  psychischer  zu  physischen  Thatsachen  über^ 
haupt;  endlich  das  innere  Wesen  der  Kausalität  von  BewuTstseins^ 
Vorgängen.  Ein  psychologisches  Gesetz  im  Sinne  der  Na#urwissenschafb 
ist  bis  jetzt  noch  nicht  gefunden  (392).  Es  scheint,  dafs  sich  Gehim- 
vorgänge  mit  psychischem  Werte  und  solche  ohne  diesen  Wert  gegen- 
seitig durchkreuzen,  und  diese  Vermutung  gewährt  einen  Unterbau  für 
die  Meinung,  die  Vorstellung  der  Freiheit  stamme  daher,  dafs  wir  die 
Ursachen  unseres  Willens  nicht  kennen  (297).  Die  Vorstellung  einer 
Unabhängigkeit  der  Wirkung  beruht  auch  in  der  Thatsache  ihres  Über- 
schusses über  die  Ursache  (304).  Die  Annahme  einer  mechanisch  zwin- 
genden Notwendigkeit  im  Ablauf  unserer  Vorstellungen  scheint  ferner 
den  Wahrheitswert  derselben  in  Frage  zu  stellen  (304  f.)* 

Soweit  das  mittlere  (6.)  Kapitel,  über  die  umgebenden  muXs  ich 
'mit  einem  kurzen  Berichte  mich  begnügen.  Das  5.  prüft  die  von  Kakt 
geforderte  Allgemeingültigkeit  einer  Handlungsweise,  mit  dem  Ergebnisse, 
dafs  oft  die  Verallgemeinerung  einer  Norm  ihr  spezifisches  Wesen  ver- 
nichte. Vom  individualistischen  und  vom  evolutionisti sehen  Gedanken 
aus  wird  die  Notwendigkeit  und  der  Wert  des  besonderen  Handelns  dagegen 
gesetzt,  die  Versöhnung  der  Individualberechtigung  mit  dem  kategorischen 
Imperativ  als  wichtiges  Problem  beschrieben,  die  logische  Bedeutung  dea 
Wollenkönnens  diskutiert.  Begriffe  enthalten  zugleich  Forderungen.  Der 
Parallelismus  zwischen  praktischem  und  theoretischem  Verhältnis  des 
Individuums  zum  ALÜgemeinen  erfährt  eingebende  Betrachtung  und  in 
Anknüpfung  daran,  was  der  Verfasser  soziologischen  Bealismus  und  Nomina- 
lismus nennt,  womit  wieder  Unterschiede  der  praktischen  Gesinnung 
psychologisch  zusammengebracht  werden,  woraus  sich  mannigfache 
Kombinationen  der  Denkungsarten  und  Willensrichtungen  ergeben.  — 
Das  7.  und  Schlufskapitel  erörtert  zuerst  den  ethischen  Monismus  und 
das  Moralprinzip  des  guten  Willens  als  durchführbare  Formel  dafür; 
sodann  das  Verhältnis  der  Einheit  der  Zwecke  sum  Endzweck.     „Wenn 


Litteraturbericht  477 

man  einen  einheitlichen  Endzweck  des  Sittlichen  überhaupt  annimmt, 
so  mufs  man  zugleich  eine  in  Wirklichkeit  darauf  gerichtete  Welt- 
entwickelung annehmen**  (354).  In  der  formalen  Funktion  der  Zweck- 
setzung soll  dann  ein  Gemeinsames  für  die  höheren  Wollungen  und 
Werte  gefunden  werden;  im  Sittlichen  sei  ein  gröfseres  Quantum  davon 
vereinigt,  als  im  Unsittlichen  (369).  Ferner  wird  der  Begriff  der  Per- 
sönlichkeit und  ihre  psychische  Einheit  untersucht  und  der  Psychologie 
die  Aufgabe  gestellt,  die  vorhandene  Einheit  und  Gleiohmäfsigkeit  des 
persönlichen  Seelenlebens  zu  erklären,  die  Analogie  mit  sozialen  Körpern 
dafür  herangezogen,  deren  Einheitlichkeit  wiederum  der  Beharrung 
organischer  Form  bei  dem  Wechsel  ihrer  materiellen  Teile  vergleichbar 
sei.  —  Endlich  werden  noch  die  Konflikte  zwischen  mehreren  Pflichten- 
reihen betrachtet.  Hierbei  wird  das  Tragische  berührt  und  der  Gegen- 
satz zwischen  Überlieferung  und  Kritik,  Moral  und  Erkenntnis,  prakti- 
schem Charakter  und  Intellekt;  das  Nacheinander,  Nebeneinander  und 
Übereinander  der  sozialen  Kreise,  worin  die  kollidierenden  Pflichten 
ihren  Ursprung  haben.  Eine  Steigerung  der  Konflikte  ist  vorauszusehen, 
auch  ihrer  Vertiefung  und  Tragik  (419,  421).  Den  monistischen  Moral- 
philosophien gegenüber  ist  Beschreibung  der  wirklichen  Vorgänge  des 
sittlichen  Lebens  die  wahre  wissenschaftliche  Aufgabe,  wie  auch  in  der 
Vorrede  dieses  Bandes  bedeutet  wurde. 

Das  ganze  hier  geleistete  Werk  fordert  Beurteilung,  als  Nachprüfung 
und  Miterforschung  seiner  vielen  einzelnen  Stücke.  Wenn  nun  diese  hier 
nicht  geschehen  kann,  so  mag  ich  doch  nicht  von  dem  Werke  scheiden, 
ohne  die  gröfste  Achtung  vor  der  tiefen  und  vielseitigen  Gedankenarbeit 
auszusprechen,  die  darin  aufgespeichert  liegt.  Wer  immer,  sei  es  dog- 
matisch oder  psychologisch,  mit  ethischen  Begriffen  sich  beschäftigt, 
wird  mit  Spannung  dem  Verfasser  in  seinen  scharfen  Zergliederungen, 
feinen  Beobachtungen,  verheifsungreichen  Andeutungen  folgen  und  bei 
wiederholtem  Lesen  um  so  mehr  die  Beife  des  Gehaltes,  die  Eleganz 
der  Form  bewundern  lernen.  Dennoch  wird  man  nun  mit  dem  Ganzen 
eigentlich  nichts  anzufangen  wissen  und  sich  nicht  befriedigt  finden, 
wenn  die  Vorrede  mit  der  Einheit  des  Prinzips,  „man  könnte  sagen,  der 
methodischen  Gesinnung'^  ^i®  ^  ^^^  Kapiteln  vorhanden  sei,  über  ihren 
sonst  ungenügenden  Zusammenhang  trösten  will,  auch  vielleicht  die 
„formale  Gleichheit  des  Besultats,  zu  dem  jedes  für  sich  in  Bezug  auf 
sein  spezielles  Thema"  gelange,  anzuerkennen  sich  weigern.  Denn  neben 
jenem  kritischen  Ergebnis,  das  damit  gemeint  ist,  flnden  sich  doch  in 
den  meisten  Kapiteln  Ansätze  zu  positiven  Begriffsbildungen,  Moral- 
prinzipien und  Dogmen,  die  jedoch  am  Schlüsse  wieder  generell  verneint 
zu  werden  scheinen.  Im  allgemeinen  hat  die  Beschäftigung  mit  diesem 
Buche  aufs  neue  die  Erkenntnis  in  mir  befestigt,  dafs  für  negative  wie 
für  positive  Arbeit  von  dieser  Art  Definitionen  der  abzuhandelnden 
Begriffe  notwendig  sind,  die  ihrer  Natur  nach  nur  auf  willkürliche 
Denkgebilde  sich  beziehen  können.  Die  Vermischung  der  Analyse  vor- 
handener populärer  oder  philosophischer  Begriffe  mit  solchen  selbständigen 
Operationen  kann  ich  nicht  für  erfolgreich  halten  und  möchte  sie  als 
den  Grundfehler  dieser  Schrift  behaupten,   der  in  dem  Kapitel  über  die 


478  Litteraturbericht 

Freiheit  vielleiclit  am  deutlichsten  hervorleuchtet.  Auch  müfste  ich 
innerhalb  dieses  Kapitels  in  Bezug  auf  manche  Einzelheiten  Bedenken 
und  Widerspruch  geltend  machen  und  will  wenigstens  ein  Beispiel  davon 
geben.  Der  Verfasser  meint:  alle  Vorstellungen  über  Freiheit  finden 
gewissermafsen  ihr  Thema  in  der  Vorstellung  eines  Ich,  das  sich  zu  dem 
Willen  selbst  verhalte,  wie  dieser  zu  der  ftufseren  Erscheinung  der 
Handlung  (138))  and:  jene  scheinbar  tautologische  Erkl&rung  der  inneren 
Freiheit,  dafs  ich  wollen  kann  was  ich  will,  erhalte  einen  synthetischen 
Sinn,  indem  der  Ton  auf  das  zweite  Ich  gelegt  werde  (137),  nachdem  er 
vorher  das  Ich  als  „sogenanntes^*  eingeführt  hat  und  obgleich  er  dann  es 
problematisch  läfst,  ob  es  „eine  durch  alle  möglichen  sonstigen  Inhalte 
(aufser  dem  Willen)  charakterisierte  Individualität,  ein  Komplex  von 
Qualitäten,  Gedanken  und  Gefühlen,  vielleicht  gar  ein  metaphysisches 
Etwas  sei**. 

Ich  behaupte  dagegen :  die  Idee  der  Willensfreiheit  beruht  auf  der 
Meinung,  dafs  das  Wollen  als  eine  Art  des  Denkens  eine  Thätigkeit 
sei,  die  in  dem  Sinne  frei  genannt  wird,  wie  andere  menschliche 
Thätigkeiten,  als  gehen,  schreiben,  sprechen;  womit  gesagt  werden  soll, 
dafs  sie  auch,  und  etwa  in  der  Begel,  durch  den  blofsen  Wunsch,  das  bloüse 
Gefallen  des  Subjektes  erregt  werden ;  oder  (ins  Physiologische  übersetzt), 
dafs  dies  Kontraktionen  willkürlicher  Muskeln  sind,  d.  h.  solcher,  die  von 
kortikalen  Zentren  ihre  Energie  beziehen.  Und  es  ist,  so  verstanden  —  dafs 
nämlich  Wollen  in  diesem  Satze  zweierlei  bedeutet  —  ganz  richtig,  was  zuerst 
HoBBBS  als  absurd  verspottet  hat,  dafs  man  das  Wollen  wollen  kann. 
Wollen,  nämlich  beschliefsen,  sich  vorsetzen,  ist  eine  freie  Handlung, 
die  nur  gewollt,  d.  i.  gewünscht,  mit  einem  bejahenden  Gefühle  empfunden 
oder  vorgestellt  werden  mufs,  um  zu  erfolgen.  Unsere  natürliche,  sozu- 
sagen angeborene,  Eeflezion  sagt  uns :  der  Hund  hat  Freiheit,  zu  laufen, 
sich  niederzustrecken,  seine  Stimmorgane  zu  gebrauchen  u.  s.  w.,  der 
Mensch  hat  aufser  dieser  und  ähnlichen  auch  die  Freiheit,  sich  denkend 
selbst  zu  bestimmen,  zu  „woUen^^  Nicht  die  Freiheit  oder  das  scheinbare 
Vermögen,  sich  selbst  zu  bewegen,  ist  es,  was  den  Menschen  auszeichnet, 
sondern  das  (in  Worten)  Denken,  mithin  auch  das  denkende  Wollen. 
Es  wird  selber  durch  Denken,  d.  h.  durch  Überlegung  bestimmt^  aber 
auch  hierin  mufs  jedesmal  ein  Wunsch  oder  Gefallen  entscheidend 
wirken,  und  dies  nennen  wir  mit  dem  gleichen  Namen  „Wille^.  Nach 
meiner  Meinung  hätte  es  unserem  Verfasser,  seinem  Hauptgedanken 
gemäfs,  obgelegen,  die  Dlusion  psychologisch  und  soziologisch  zu  er- 
klären, dafs  hier  an  irgend  welchem  Punkte  eine  Exemtion  vom  kausalem 
Zusammenhange  vorliege;  hierüber  bleibt  vielleicht  noch  einiges  zu 
sagen  übrig,  wenn  es  auch  zunächst  wichtiger  sein  dürfte,  einmal  alles 
Stichhaltige,  was  darüber  gesagt  worden  ist,  zusammenzustellen  und  zu 
ordnen.  Ausgehen  mufs  man  doch  wohl  von  dem  Gegensatze,  den  das 
naive  Denken  bildet  zwischen  Körpern,  die  bewegt  werden,  und  Körpern, 
die  sich  selbst  bewegen;  alsdann  aber  ist  leicht  begreiflich,  warum  das 
erste  wissenschaftliche  Denken  die  Erklärung  aus  eigenem  Willen  für 
vollkommener  hält  und  die  scheinbar  spontanen  Bewegungen  toter 
Körper   darauf  zurückzuführen   sucht,   wenn  auch  die  umgekehrte  Her^ 


Litteraturbericht,  479 

leitung  psychologischer  Thatsachen  aus  mechanischen  Kräften  immer 
damit  konkurriert.  Das  Verhältnis  heider  zu  einander  ist  ja  für  die 
meisten  wissenschaftlichen  Denker  auch  heute  noch  prohlematisch,  und 
doch  ist  Entscheidung  darüher  unerläijslich,  denn  jene  unmechanische 
Idee  der  Bewegung  von  selber  hat  sich  von  altersher  expliziert  als 
Herrschaft  des  G-eistes  über  den  Körper,  ist  also  viel  mehr  mit  dem 
allgemeineren  Begriffe  der  Freiheit  (des  Handelns),  als  mit  dem  speziellen 
Begriffe  der  Willensfreiheit  verknüpft.  Da£3  nun  die  allgemeine  Th&tig- 
keit  des  Geistes  schlechthin  ohne  Ursachen  geschehe,  haben  Philosophen 
niemals  strenge  behauptet,  wohl  aber  —  was  noch  Lbibhiz  wiederholt  — , 
dafs  diese  psychologischen  Ursachen  nichts  Zwingendes  an  sich  haben, 
dafs  sie  wohl  sollicitieren,  aber  nicht  necessitieren ;  dies  wird  dann  aus 
subjektiver  und  menschlicher  Erfahrung,  aus  dem  Bewufstseiu  der 
Freiheit  begründet,  an  das  die  Verteidiger  als  letzte  und  untrügliche 
Instanz  appellieren.  Dies  Bewuistsein  aber  behauptet  in  Wirklichkeit 
nur  die  Freiheit  des  WoUens  im  oben  angegebenen  Sinne,  der 
nun  verwechselt  wird  mit  jenem  allgemeinen  Begriffe  der  Herrschaft 
des  Geistes.  Zugegeben  wird  dann,  dafs  der  Wille  des  Tieres 
—  wenn  er  nicht  in  mechanistischer  Konsequenz  gestrichen  wird  — 
durch  Vorstellungen  notwendig  bewegt  werde,  die  von  aufsen  kommen; 
der  Mensch  aber  sei  den  Vorstellungen  gegenüber  frei  durch  Denken, 
das  von  innen  komme.  Hieran  hält  sich  nun  fest  der  praktische  Begriff 
der  Freiheit,  der  den  Menschen,  als  denkenden,  vernünftigen  Herrn 
seines  Wollens  und  seiner  Handlungen,  verantwortlich  macht,  weil  in 
der  That  das  denkende  Wollen  als  eine  letzte  Thatsache  gilt  und  als 
Beweis  für  die  Kenntnis  der  Pflicht,  die  den  eigentlichen  Bechtsgrund 
der  vernünftigen  Strafe  bildet.  Nicht  das  Ich  schlechthin,  wie  Herr 
SiMiiEL  meint,  sondern  das  Ich  mit  dem  Besitze  des  Gewissens,  unter 
Abstraktion  von  seinen  übrigen  Qualitäten,  bildet  den  eigentlichen  Zell- 
kern in  der  Idee  der  Willensfreiheit.  Das  für  sie  charakteristische 
Können  im  Gegensatze  zum  Müssen  erhält  durch  diesen  Begriff  seinen 
besonderen  Sinn,  nämlich  den  des  Könnens  als  des  Besitzes  einer  Kunst. 
Man  macht  den  Koch  verantwortlich,  weil  er  seiner  Kunst  mächtig 
ist;  wenn  er  Übles  leistet,  so  weifs  man,  dafs  sein  lässiger  oder  böser 
Wille  Ursache  ist;  diese  Ursache  zu  bekämpfen,  ist  notwendige  Kon- 
sequenz dessen,  dafs  man  die  gute  Leistung  will.  So  macht  der  Gesetz- 
geber den  Menschen  verantwortlich,  weil  er  der  Kunst  des  gesetzmäisigen 
Handelns  mächtig,  und  weil  die  Übereinstimmimg  seines  Wollens  mit 
seinem  Können  als  der  normale  und  natürliche  Fall  gedacht  wird.  In 
Wahrheit  bedeutet  nun  ein  solches  Können,  unter  den  dazu  gehörigen 
Bedingungen,  eine  hohe  Wahrscheinlichkeit  des  Wollens  und  Thuns, 
so  dafs  mit  einiger  Sicherheit  darauf  gerechnet  wird.  Wenn  daher 
dieses  Können  vorausgesetzt  wird,  so  ist  für  die  überlegene  und  richtende 
Betrachtung  nur  das  entsprechende  oder  widersprechende  vernünftige 
Wollen  von  irgend  welchem  Interesse,  gar  nicht,  was  no^h  dahinter  liegen 
und  jenes  verursachen  mag.  Ihren  Fehler  begeht  di;-.&e  Betrachtung 
erst,  indem  sie  entweder  diese  Ursache  —  z.  B.  die  besondere  Beschaffen- 
heit des   individuellen  Menschen  —  leugnet  oder  die  thatsächliche  Ver- 


480  Litteraturbericht 

bindung  zwischen  dieser  und  einem  bestimmten  Wollen  für  eine  nicht 
notwendige  erklärt;  welches  letztere  jeden  Sinn  haben  kann,  nur  nicht 
den  der  Exemtion  eines  einzelnen  Faktums  vom  Kausalnexus.  Herr 
SiMHEL  meint,  Zurechnung  und  Verantwortung  seien  ebenso  sinnlos  unter 
Annahme  ursachloser,  wie  necessitierter  Handlungen.  Ich  behaupte  da- 
gegen und  damit,  dafs  die  Praxis,  jene  Begriffe  anwendend,  ihrem  Wesen 
nach  so  unabhängig  ist  von  diesen  Theorien,  wie  die  Annahme,  mit  der 
sie  allerdings  steht  und  fällt,  dafs  es  denkende  Menschen  giebt.  Aller- 
dings kann  aber  die  tiefer  dringende  Analyse  und  die  Einsicht  der 
Notwendigkeit  zur  Folge  haben,  dafs  man  nicht  mehr  —  als  Strafender  — 
blind  auf  den  fremden  Willen  los  wütet,  sondern  sich  liebevoller  mit 
dessen  Ursachen  beschäftigt,  wenn  auch  in  gegebenen  Fällen  höchst 
energische  Bändigung  geboten  sein  kann.  Das  Wesentliche  des  rechtlichen 
oder  moralischen  Verantwortlichmachens  liegt  in  der  dadurch  aus- 
gesprochenen Gleichheit  der  Menschen,  als  der  Exemplare  ihres  Be- 
griffes/oder  als  dem  Gesetze  unterworfener  Staatsbürger;  darum  ist  der 
König  als  Höherstehender  ebensowenig  im  Bechte  verantwortlich,  wie 
der  Wahnsinnige  als  Tieferstehender. 

Das  rechtliche  Verantwortlichmachen  ist  als  ein  künstliches  Prä- 
parat  wenigstens  dadurch  kenntlich,  dafs  es  ein  Subjekt  hat;  es  beruht 
aber  im  moralischen  Verantwortlichmachen,  das  kein  solches  Subjekt 
hat,  wenn  nicht  ein  Gott  dafür  eingesetzt  wird;  die  Vorstellung  davon 
ist  aber  so  stark  mit  der  Meinung  vom  freien  Willen  assoziiert,  dafs  es 
psychologisch  eine  schwere  Gewöhnung  bedeutet,  sie  davon  getrennt  zu 
denken  und  zu  erkennen,  dafs  sie  nur  im  Verhältnisse  des  Superior  zum 
Inferior  und  durch  die  Beziehung  auf  ein  gegebenes  Gesetz  ihren  ver- 
nünftigen und  unerschütterlichen  Sinn,  weil  ihre  Zweckmäfsigkeit  als 
eines  Gerätes  moralischen  Zusammenlebens,  besitzt.  In  dem  Mafse  aber, 
als  dieses  aufhört  und  als  in  geringerem  Umfange  von  einem  gemein- 
samen und  anerkannten  Sittengesetze  die  Bede  sein  kann,  im  gleichen 
Mafse  wird  allerdings  die  Idee  der  moralischen  Verantwortlichkeit  zweck- 
und  sinnlos;  die  von  ihr  gesetzte  Gleichheit  offenbart  sich  desto  mehr 
als  Unwahrheit.  F.  Tönnies  (Hamburg). 


Namenregister. 


Fettgedruckte  äeitensahlen  besieben  sich  anf  den  Verftwser  eloer  Origlnalabhaiidlaiigf  Beiten- 
sahlen  mit  f  anf  den  Verfasser  eines  reüMierten  Boehes  oder  einer  referierten  Abhandlung. 
Seitensablen  mit  *  aaf  den  Verfasser  eines  Beferates,  Seitenzahlen  mit  f*  Anf  eine  Selbst- 
anzeige und  die  Übrigen  Seitenzahlen  auf  das  Vorkommen  im  Text. 


Abney  410. 
Allen,  Grant  73. 
Allen  Starr  121.  f 
Appel  84. 
Aristoxenus  34. 
Armstrong,  A.  0.146.  f 
Aronsohn,   £.   283  fP^f 

453  ff. 
Arrhenius  363. 
Aschaffenburg  249. 
Aubert  271. 
Auerbach  423. 

B. 

Bain,  A.  297  ff.  460. 
Bartels  113. 
Barth,  P.  149.*  150.* 
Baumann  113. 
Beaunis  143.  304.  443. 
Bechterew  363. 
Beer  442. 
Benda  C,  120  f.  t 
Bentham  299. 
Bemardini,  C.  314  f.  f 
Bernhardt  280. 
Bernstein,  J.  7. 50. 274.  t 
Bergel,  S.  271  f.  t 
Berger  310. 

Bergström,  J.  A.  467.  t 
Bettmann,  S.  251  f. 
Bidder  451. 


Biervliet,  J.  J.  van  11 6.  f 
Bigham,  J.  116.t  254.  f 
Billroth  184  f. 
Binet,  A.    115.   143  f.  f 

295f.308.421ff.443ff.t 

466  f.  t  469  f.  t 
Bismarck  157. 
Bjömström  280. 
Blecher,  A.  281  ff.  f 
Bleuler  183  ff. 
Blix  276. 
Bloch  256.  388. 
Bodenstein,  C.  99. 
BoismontjBrierre  del55. 
Bois-Beymond,  CL  da, 

123.* 
Bolzano  469. 
Borysiekiewicz  267^ff.t 
Brentano  423  ff.  466.468. 
Breuer  308  f.  f 
Brianchon  231. 
Brierre  de  Boismont  165. 
Broca  154.  451. 
Bruchmann,  £.  247.* 
Brück  124. 
Brücke  304  f. 
Brunn  v.  451  f. 
Bubenik  99. 
Bücher  285  ff. 
Bunsen  78.  410. 
Burdach  262. 
Burgerstein  115. 278.360. 


Zeitschrift  fttr  Psychologie  X. 


Burkhardt  116. 
Bush,  W.  T.  118.  t 
Bygham,  J.  116.t  254.  t 

0. 

Cajal,  Bamön  y  452. 
Calkins,M.W.,265.t  289. 
Campbell,  W.W.,252.t 
Carpenter  451. 
Gharcot  310. 
Charpentier  388. 
Chastaing  337. 
Ghauveau  367. 
Ghodin  85  ff.  466.  • 
Ghun  433. 
Gloquet  452. 
Gomte,  A.  317. 
Courtier  443. 
Gohn,    J.     143.*    288.* 
289.*  295.*  303.*  303  f.  t 
Gohn8tein,W.  266.*  305.* 
Gumberland  471. 
Gzapski,  S.  270. 

D. 

Dana,  G.  L.  315  f.  t 
Daniels,  A.  H.  447.  f 
Darwin  122.  316  f. 
Davy  337. 
Delboeuf  92. 
Demeny  304.  444. 

31 


482 


Namenregister. 


Descartes  471. 
Dessoir  139.  367. 
Dibbit  456. 
Dimmer,  Fr.  267  ff.  t 
Dodge,  B.  414  ff. 
Dörpfeld  113. 
Donaldson  138.  468. 
Donders  29.  336.  407. 
Duchenne  304  f. 

E. 

Ebbinghaas  80.  115. 

248  f.  335  ff. 
Eder  387  ff. 
Edinger,  L.  269. 
Ehrenfels  104  ff. 
Engelmann  260.  381  ff. 
Epstein,  S.  270.  t 
Erdmann,  B*.  414.  469. 
Eulenbnrg,  A.  309.  f 
Ewald,  J.  B.   124.   125. 

170  ff.  273  f.  t 
Ewald,  A.  375.  397. 
Exner,  S.   109  ff.  f   234. 

353  ff.  448. 

P. 

Fechner  4  ff.  84  ff.  140. 

16?.  183.  288.  383. 
Ferri,  E.  316  f.  f 
Ferrier,  D.  266  f. 
Fick,  A.  385.  410. 
Fick,  A.  E.  363  ff. 
Filehne,  W.  462  ff.  t 
Fischer  85  ff.  465. 
Fitz,  ö.  W.  448  f.  t 
Fleischl  233. 
Flourens  124. 
Flournoy,  Th.  183  ff. 

296  f.  t 
Förster  164. 
Forel,  A.  163  f.  t  261. 
Foscalance,  H.  156. 
Fourcroy  459. 
Fr&nkel  266.*  315.* 
Franke  453. 
Franz,  Sh.  J.  258  f.  f 


Fraunhofer  78. 
Fresnel  240. 
Freud  308  f.  t 
Frey.  M.,  von  129  ff.f 
Fröhlich  452  ff. 
Fuchs,  S.  800  ff. 


Galen  305. 

Galton,  F.  145.  184  ff. 
Gegenbauer  228. 
Gebuchten,  yan  135. 
Geiger  75. 
Geilsler  447. 
Genderen-Stort,  van  881. 
GieXsler,  M.  459  f.  467.* 
Gilbert,  J.  A.  161. 
Gley  367.* 
Goldscheider  132  ff.  276. 

281  ff.  t 
Golgi  260. 
GoU  262. 
Goltz  260. 
Graefe,  v.  123. 
Graffunder  466  f.  f 
Graham  445. 
Greeff,  B.    122.*    123.* 

123.  269.« 
Grier  Hibben,  J.  288.  t 
Griesbach,  H.  277  ff.  f 
Griffing,  H.  258.  f 
Gruber  185.  216. 
Grützner  236.  274.  310. 
Günther,  P.  120  f.  t 
Gürber  363  ff. 
Guillery  88  ff. 


Häckel,  E.  316. 
Hagen  156. 
Hahn  154. 

Haller,  A.  v.  286.  459  f. 
Hamlin,  A.  J.  447.  f 
Hankel  338. 
Hartmann  126. 
Haycraft  461. 


Hegelmayer  84. 
Heidenhain  310. 
Heinroth  311. 
Heller,  S.  126. 
Heller,   Th.    127.*    142. 

276.*  306.* 
Helmholtz,  v.  86  ff.  101  f. 

122.  233.  242  f.  325  ff. 

433  ff.  449.  463. 
Henle  267. 
Hennig,  B.  188  ff. 
Henri,  V.    115.    280  f.  t 

443  f.  469  f.  t 
Henry,  Gh.  455. 
Hensen,  Y.  124.  f  449. 
Herbart  113  ff. 
Herbst,  0.  439. 
Hering,  E.    6  ff.   101  ff. 

228  f.  268.  328  ff.  463. 
Hering,  H.  E.  304  f.  t 
Hermann,  L.  63.  95.  228. 

276.  449.t 
Hermst&dt  285. 
Herz,  M.  311  f.f 
Heia  280.  t  326  ff. 
Heymans,  G.  421  ff.  466.* 
Hibben,  J.  Grier  288,t 
Higier  85  ff. 
Hilbert,B.121f.t240ff. 
HiUebrand    24  ff.     106. 

330  f. 
V.  Hippel  77  f. 
Hirsch,  W.  164  f.  t 
Hirth,  G.  259.  f 
Hitzig,  E.   261.  312  ff.f 
Höffding  225.  258. 
Höfler,  A.  99  ff.  228  ff. 

468. 
Högyes  310. 
Höpfner  278. 
Horaz  194. 
Hombostel,  v.  375  ff. 
Hyde,  J.  H.  273  f. 

J. 

James  288. 296.  f 
Janet  308. 


Namenregister, 


483 


Javal  122. 
Jastrow  289. 
Ideler  311. 
Johnson,  Lindsay 

267  ff.  t 
Irons,  B.  471t. 
Jndd,  0.  H.  145.  277. 
Julius,  W.  H.  461. 


Kant    147  ff.   225.   247. 

257.  295.  311  f.  433. 
Kehrbach  149. 
Kemmler  154. 
Kerry  230  ff. 
Kiesow,  F.  120.*  127  f.  t 

140.*  145.*  157.*  237  ff. 

266.*  266.  t  276  f.  f 

280.»  287.*  317.*  462.» 
Kirchhoff  78. 
Kirchmann,  v.  147. 
Kirkpatrick  144  f.  f 
Kirschmann  77.336. 413. 
Klein,  F.  223.  231. 
Knox,  H.  W.  465  f.  t 
Koch,  E.  232. 
König,  A.  29  f.  122.*  242. 

245.*  270.*  273.* 
König,  E.  450. 
Kohn,  H.  E.  288  f.  t 
Kollmann  140. 
Kozaki,  N.  117.t 
Kräpelin,    E.    85.    115. 

150  ff.  t  247  ff.  t  278. 

306. 
Kraffi^EbingjR.  v.  153.t 

309. 
Krause  140. 
Kries,  t.  25  ff.  96.  255. 

323  ff. 
Kroll  273. 
Krüger  194. 
Kühne  50.  360  ff. 
Külpe,  0.  244.* 
Kunkel  872  ff. 
Kurella  121.»  155  ff.  304.* 

316.*  316.  471.* 


Ladd,G.Trumbull  123  f .f 

256  ff.  t 
Langegg,  A.Junker  von 

450. 
Laplace  162. 
Laser  278. 
Laska  423. 
Laufenauer  310. 
Lehmann  183  ff. 
Lehmann,  K.  246  f.  f 
Leuckart  483. 
Li6geoi8  452. 
Liesegang,  B.  E.  337  ff. 
Linn6  285.  459  f. 
Lindsay  Johnson  267ff.t 
Lissauer  154. 
Lipps  107  f.  288. 
Loeb,  J.  433  f.  466  f.  t 
Lombroso,  0.  155  ff.  f 
Longet  285. 
Lorry  459  f. 
Lotze  5.  12.  113.  144. 
Luciani,  L.  265  f.  t 
Ludwig,  K.  119.  450  ff- 
Lummer,  0.  122.  f 
Luys  261  ff. 

M. 

Mach  5  ff.  84.  102  ff.  223. 

408. 
Magnus  75. 
Maier,  G.  113  ff.  f 
Marbe  271. 
Marey  444. 
Martig  113. 
Martins,  G.  357. 
Marx,  K.  316  f. 
Mascheroni  231. 
Mayer,  A.  M.  449  f.  t 
Mayer,  K.  305  f.  f 
Mays  369. 
Maxwell  233. 
Meinong,  A.102  ff.l45  ff.t 

149  f.  t  227  ff. 
Meifsner  135. 
Melde  48. 


Mellinghoff  465. 
Mendel  260. 
Mendelejeff  461. 
Meringer,  E.  305  f.  f 
Merkel.  J.  150  ff.  t 
Meumann,  E.  119.  160.* 

318  ff.  445.*  465.*  471.* 

472.* 
Meyer,  L.  461. 
Meyer,  M.  450.* 
Meynert  112.  261. 
Mües,  C.  446.  f 
Mises  135. 
Möbius.  P.  J.  308.  t 
Monakow  260  ff.  f 
Montgomery,  E.294f.  t 
Moos  125. 

Mosso  115.  266.  278. 
Motschutkowsky,  O.  0. 

280.  t 
Müller  437. 
Müller,  G.  £.   1  ff.  296. 

821  ff.  467.  470. 
Müller,  H.  267. 
Müller,  J.  453. 
Müller-Lyer,  F.0.421ff. 
Müller-Pouillet  122. 
Münsterberg,  H.  86.  95. 

116ff.t  248.   262ff.t 

467.  468. 
Munk  260.  261  ff. 
Mygind,  H.  124  ff.  t 

N. 

Nagel,  W.  129.*  129  ff.  t 
285  ff.  277.*  280.*  281.* 
482  ff.  458  ff. 

Nahmmacher  260. 

Natorp  468. 

Nemst  337  ff. 

Nevers,  C.  0.  289.  f 

Newton  63.  404. 

Nichols,  H.  140  ff.  t 

Nissl  121. 

Nörremberg  274. 

Nothnagel  153. 

Nufsbaumer  183. 

31* 


484 


Namenregister* 


Oefarn  250  f. 
öhrwall  128.  458. 
Offner,  M.   446.^    467.* 

469.* 
Orru  135. 

Osbom,  H.  F.  146. 
Ostermann  118. 
Ostwald  337  ff. 


Pal  121. 

Panmn  96. 

Parrish,  C.  S.  465  f.f 

Passy  284.  455  ff. 

Paul  306. 

Paulsen  453. 

Pelman  158.*  155.*  269.* 

308.*  309.»  314.* 
Penzoldt  455. 
Peretti  154.* 
Perlia,  R.  278.  t 
Perugia,  A.  314  f.  f 
Petrazzani  314. 
Pfaff  285. 

Pfaundler,  L.  1212.  f 
Pfeffer  397. 
Pfisterer  113  f. 
Philippe  443. 
Pierce,  E.  255  f.  t 
Pierre,  A.  H.  256.  t 
Pilzecker,  A.  116.*  144.* 

145.* 
Pioger,  J.  445  f.  t 
Pipping  449. 
Pollack  218  ff. 
Pravaz  454. 
Preyer,  W.  246  f.f*  256. 

268. 
Purkinje  89. 


Quetelet  474. 

B. 

Bam6n  y  Cajal  462. 
Rehmke  244.  268. 


Beich,  M.  365  ff. 
Beichard,  S.  297  ff.f* 
Beuter,  C.  451. 
Boloff  81.  361  f. 
Boscoe  410. 
Bofs,  J.  266. 
Buffini  140. 

8. 

Sachs,  M.  268. 

Sachs,  H.    113.*    121.* 

154. 
Sanford,  E.  0.  446.  448.t 
Sauberschwarz,£  274  f.f 
Savelieff,  N.  466. 
Schäfer  124.*  274.*  276.* 

449.» 
Schaffer,  K.  309  ff.  f 
Schanz,  F.  269  f.f 
Schirmer  373. 
Schmidt,  G.  C.  337  ff. 
Schönbein  284. 
Scholz  154.*  311.*  S12.* 
Schopenhauer  106. 246  f. 
Schrader  285. 
Schreyer  286. 
Schnitze,  M.  267  f.  451. 
Schumann    158  ff.    253. 

296. 320.*  444. 467. 470. 
Schuschny,  H.  306  ff.  f 
Schwalbe  451. 
Schwarze  125. 
Schweigger,  C.  90. 

122  f.f  128.t 
Scripture,    E.   W.    106. 

161  ff.  248. 
Seydel  451. 
Shand,  A.  F.  144.  t 
Sikorsky  115.  278. 
Simmel,  Gh.  473  ff.  f 
Simmons,  M.  B.  289.  f 
Soury,  J.  260.  t 
Spencer,  H.  266.  297  ff. 

317. 
Spitaler,  B.  410. 
Starlinger  99. 
Starr,  Allen  121.  f 
Steffan  382  ff. 


Steiner  231.  263.  360  f. 

441. 
St«m,   W.   259.*    273.* 

295.*  412. 
Stricker  471. 
Streng,  C.  A.  802  f.  t 
Strttmpell  118. 
Stumpf  34.  ff.  104  ff.  188. 

227.  256.  288. 

T. 

Talbot  383  ff. 
Talbot,  E.  B.  288.  t 
Tamman  390. 
Tawney,  G.  280  f.  t 
Thiery,  A.  431. 
Thoma  466. 
Tönnies,  F.  480.* 
Treitel  332. 
Trumbull  Ladd,  G. 

123  f.  t  265  ff.  t 
Turner  451. 
Twardowski,    K.    232. 

244.  468  ff.  t 
Tyndall  452  ff. 

U. 

Überweg  469. 

Uexktül,  J.  V.  432  ff. 

Ufer  116.*  306. 

TJmpfenbach  309.* 

Uphues,    G.  K.    244.  t 

289ff.t 
UrbantscMtsch,  V.  126. 

275  f.  t 

V. 

Valentin  455. 
Vassale  314. 
Verriest,  G.  471  f.  t 
Vintschgau,  v.  462. 
Virchow  316. 
Vogel,  H.  W.  411. 
Vogt,  0.  153  f. 
Volkmann  84  ff.  465. 
VoltoUni  125. 
Vulpian  266. 


Namenregiater. 


485 


W. 

Wagner,  R.  83. 
Ward  144. 

Watanabe,  E.  465  f.  f 
Weber,    E.    H.    83 ff. 

130  ff.  159  f.  278.  367. 

409.  450. 
Weber,  W.  308.* 
Weigert  121. 
Weise,  0.  74  f. 
Weismann,  A.  186  ff. 
Wemicke,  C.  154.  t  250. 


Wertheim  93. 
Wiedemann,  £.  337  ff. 
Wilhelmi  125. 
WitÄsek  124.*  144.^152.* 

297.*  448.*  449.* 
Wrescbner,     A.     283.* 

294.» 
Wüllner  240. 
Wimdfc,  W.  67  ff.   87  ff. 

128.  144.  150  ff.  t  249. 

274.  276.  288.  803.  335. 

431.  437.  445.  453.  466. 
Wylie,  A.  R.  T.  119.  f 


Y. 

Young  325  ff. 

Ziehen,  Tb.  244.  244  f.  f 
252.*  268.*  260.*  265.* 

Zimmermann  468. 

Zindler  224. 

Zöllner  102  f. 

Zuckerkand!  451. 

Zwaardemaker,  H. 
450  ff.  t 


Dritter 


in 

München 

4.  bis  7.  August  1896. 

(Sekretariat :   München,  Max-Josephstr.  2,  pari.) 


Organisation. 

Die  BröffDimg  des  Kongresses  findet  statt  Dienstag,  den  4.  August  1896,  vor- 
mittags,  in  der  greisen  Aula  der  kgl.  Universität. 

Zur  Teilnalime  an  den  Sitzungen  des  Kongresses  sind  eingeladen  Gelehrte  and 
gebildete  Personen,  welche  für  die  Förderung  der  Psychologie  und  für  die  Pflege  per> 
sönlicher  Beziehungen  unter  den  Psychologen  verschiedener  Nationalitäten  Inter- 
esse hegen. 

Weibliche  Mitglieder  des  Kongresses  genieüsen  dieselben  Rechte,  wie  die 
männlichen. 

Fflr  die  Teilnalime  an  den  Sitsnngen  des  Kongresses  sind  15  Mark  (in 
Osten*.  Währung  9  Gulden)  zu  entrichten.  Als  Quittung  erhält  jedes  Mitglied  eine 
Teilnehmerkarte,  welche  berechtigt  zum  Zutritt  zu  den  sämtlicben  Sitzungen  des  Kon- 
gresses, zum  unentgeltlichen  Bezüge  des  Tageblattes  (mit  dem  Mitgliederverzeichnis), 
sowie  eines  Exemplares  des  Kongrelsberichtes.  Endlich  gilt  die  Karte  als  Legitimation 
bei  den  zu  veranstaltenden  FesSichkeiten  und  den  hierbei  für  die  KongreDsteilnehmer 
stattfindenden  Vergünstigungen. 

Das  Tageblatt,  welches  in  4  Nummern  erscheint,  dient  zur  Orientierung  der 
Gäste.  Dasselbe  enthält  Mitteilungen  über  den  Wohnungsnachweis,  das  Programm  der 
Vorträge  und  geselligen  Veranstaltungen,  das  Verzeichnis  der  Mitglieder  und  eine  Über- 
sicht über  die  Münchener  SehenswüiSigkeiten. 

Als  Kongrefssprachen  gelten  deutsch,  fransösisch,  englisch  und  italienisclu 

Der  Kongrefs  erledigt  seine  Arbeiten  in  allgemeinen  Sitzungen  und  Sektiona- 
sitmngen.  Die  Einteilung  der  Sektionen  richtet  sich  nach  MaGsgabe  der  angemeldeten 
Vorträge.    Die  Sitzungen  finden  statt  in  den  Räumen  der  kgl.  Universität. 

Die  Daner  der  Vorträge  in  den  Sektionssitzungen  ist  auf  20  Minuten  bemessen. 
Mitglieder,  welche  an  den  Diskussionen  teilnehmen,  sind  im  Interesse  einer  korrekten 
Wiedergabe  ihrer  Äulserungen  gebeten,  kurze  Autoreferate  während  oder  nach  den 
Sitzungen  einzureichen.    Zu  diesem  Zweck  stehen  Formulare  zur  Verfügung. 

An  sämtliche  Gelehrte,  welche  auf  dem  Kongreüs  Vorträge  zu  halten  beabsichtigen, 
ergeht  das  Ansuchen,  die  in  Aussieht  genommenen  Themata  schon  jetst  an- 
zumelden, auTserdem  eine  kurze  schriftliche  Inhaltsangabe  des  Vortrages  in  der 
Länge  von  1—2  Druckseiten  vor  dem  15.  Hai  1896  an  das  Sekretariat 
(München,  Maz-Josephstr.  2)  einzusenden.  Diese  Auszüge  werden  nachgedruckt  und 
bei  Beginn  des  Vortrages  unter  den  Hörern  verteilt,  damit  bei  der  Verschiedenheit  der 
KongreÜBSprachen  das  Verständnis  für  die  Hörer  erleichtert  wird.  Das  Comit^  kann 
keine  Garantie  übernehmen,  dafs  die  später  als  15.  Mai  1896  angemeldeten  Vorträge  mit 
in  das  Programm  aufgenommen  werden. 

Das  Sekretariat  befindet  sich  vom  3.  August  an  für  die  Dauer  des  Kongresses 
in  der  kgl.  Universität  (Ludwigstrafse  17). 


Dritter  Interaatio&aler  Konprs  für  FsycMoeie  in  lUen. 

Arbeitsprogramm. 

I.   Psychophysiologie. 

Auskunft  Aber  nachstehendes  Arbeitsgebiet  erteilen:  Prof.  Rüdinger  (Arcostr.  10/1), 
Prof.  Graetz  (Arcisstr.  8/1),  Privatdozent  Dr.  Cremer  (Findlingstr.  lOb/2). 

A)  Anatomie  und  Physiologie  des  Gehirns  und  der  Sinnesorgane  (körperliche 
Grundlagen  des  Seelenlebens).  Formentwicklung  der  Kervenzentren,  Lokalisations- 
und  Neuronenlehre,  Leitungsbahnen  und  Bau  des  Gehirns.  Psychologische 
Funktion  der  Zentralteüe,  Reflexe,  Automatismus,  Innervation,  Spezifische  Energien. 

B)  Psychophysik.  Zusammenhang  physischer  Vorgänge  mit  psychischen.  Psycho- 
physische  Methodik,  Fechners  Gesetz,  Sinnesphysiologie  (Muskelsinn,  Hautsimi, 
Gehörs-  und  Lichtempfindung,  audition  color^a),  psychische  Wirkungen  bestimmter 
Agentien  (Arzneistoffe),  Reaktionszeiten,  Messung  vegetativer  Reaktionen  (Atmung, 
Pias,  Muskelermüdung). 

n.  Psychologie  des  normalen  Individuums. 

Auskunft  Aber  nachstehendes  Arbeitsgebiet  erteilen:  Prof.  Lipps  (Georgenstr.  18/1), 
Privatdozent  Dr.  Cornelius  (Herzog-Rudolphstr.  11/3),  Dr.  Weinmann 
(Leopoldstr.  5). 

Aufgaben,  Methoden,  Holfsmittel,  Beobachtung  und  Experiment  —  Psychologie 
der  Sinnesempfindungen,  Empfindung  und  Vorstellung,  Gedächtnis  imd 
Reproduktion  —  Assoziationsgesetze,  Verschmelzung  —  Bewufstsein  und 
UnbewuTstes,  Anfimerksamkeit,  Gewohnheit,  Erwartung,  Übung  —  Raum- 
anschauung  des  Gesichts,  des  Getasts,  der  fibrigen  Sinne,  Tie&nbewuüstsein, 
geometrisch-optische  Täuschungen,  Zeitanschauung. 

Erkenntnislehre  —  Phantasiethätigkeit—  Gefühlslehre,  Gefühl  und  Empfindung, 
sinnliche,  ästhetische,  ethische  und  logische  Gefühle,  Affekte,  Gefühlsgesetze  — 
Willenslehre,  Willensgefühl  und  Willenshandlung,  Ausdrucksbewegungen,  That- 
Sachen  der  Ethik  —  Selbstbewufstsein,  Entwickelung  der  Persönlichkeit, 
individuelle  Verschiedenheiten  derselben. 

Hypnotismus,  Suggestionslehre,  normaler  Schlaf,  Traumleben  —  psychischer 
Automatismus,  forensische  und  pädagogische  Bedeutung  der  Suggestion,  päda* 
gogische  Psychologie. 

III.   Psychopathologie. 

Auskunft  über  nachstehendes  Arbeitsgebiet  erteilen:  Prof.  Dr.  Grashey  (Auerfeldstr.  6/1),. 
Dr.  Frhr.  v.  Schrenck-Notzing  (Max-Josephstr.  2/1),  Herr  Edmund  Parish 
(Georgenstr.  25/1). 

Bedeutung  der  Erblichkeit  auf  psycho-pathologischem  Gebiet,  Statistisches,  Frag& 
nach  Vererbung  erworbener  Eigenschaften,  psychische  Beziehungen  (leibliche  und 
seelische  Vererbung),  Erscheinungen  der  Entartung  (Degeneration),  psychopathische 
Minderwertigkeit,  Entartung  und  Genie.  Sittliche  und  soziale  Bedeutung  der 
Erblichkeit  Beziehungen  der  Psychologie  zum  Kriminalrecht.  Psycho- 
Pathologie  derSexualempfindungen.  Grof se  Neurosen  (Hysterie,  Epilepsie). 
Altemierende Bewufstseinszustände,  psychische  Ansteckung,  pathologische 
Seite  des  Hypnotismus,  pathologische  Schlafzustände.  Psychotherapie, 
praktische  Anwendung  der  Suggestion  zu  Heilzwecken.  Verwandte  Er* 
scheinungen:  Suggestion  mentale,  Telepathie,  psychischer  Transfert,  inter- 
nationale Halluzinationsstatistik.  Einschlägiges  aus  dem  Gebiete  der  Psychiatrie, 
wie  Sinnestäuschungen,  Zwangsvorstellungen,  Aphasie  und  verwandtes. 

IV.  Vergleichende  Psychologie. 

Auskunft  über  nachstehendes  Arbeitsgebiet  eiteilen:  Prof. Dr.  Ranke  (Briennerstr.25/3}, 
Dr.  G.  Hirth  (Luisenstr.  14/1),  Dr.  Fogt  (Marsstr.  6/1). 

Moralstatistisches.  Seelenleben  des  Kindes.  Die  psychischen  Funktionen  der 
Tiere.  Völkerpsychologie  und  anthropologische  Psychologie.  Vergleichende 
Sprach-  und  Scluriftforschung  in  ihrer  Beziehung  zur  Psychologie. 


Aufrufi 


Die  kgl.  Preufsisclie  Akademie  der  WiBsenschaften  hat  beschlossen, 
eine  vollständige,  kritische  Ausgabe  der  Werke  Kants  zu  veranstalten. 
Sie  möchte  hierdurch  eine  Ehrenschuld  der  Nation  gegenüber  ihrem 
grofsen  Philosophen  abtragen.  Daher  glaubt  sie  für  die  Herstellung 
der  Vollständigkeit  dieser  Ausgabe  auf  die  Unterstützung  Aller 
rechnen  zu  dürfen,  welche  irgend  eine  Kenntnis  über  bisher  nicht 
veröffentlichte  Handschriften  Kants  besitzen.  Aufser  zusammen- 
hängenden Manuskripten  oder  einzelnen  Zetteln,  die  sehr  zerstreut 
worden  sind,  gehören  zu  diesen  Handschriften  Briefe  von  ihm  und 
an  ihn,  welche  einzeln  oder  in  Sammlungen  sich  finden  können, 
femer  Kompendien,  Handexemplare  oder  andere  einst  seiner  Bibliothek 
angehörige  Bücher,  soweit  er  in  dieselben  nach  seiner  Gewohnheit 
Eintragungen  gemacht  hat,  Nachschriften  seiner  Vorlesungen,  deren 
viele  zirkuliert  haben  und  die  nicht  immer  durch  seinen  Namen 
bezeichnet  sind,  endlich  biographische  Nachrichten  über  ihn.  Jede 
öffentliche  Anstalt  und  jeder  Privatmann,  welcher  der- 
gleichen besitzt,  wird  gebeten,  dem  nationalen  Unter- 
nehmen durch  Mitteilungen  der  bezeichneten  Art  hilfreich 
zu  sein.  Auch  blofse  Nachweisungen,  wo  etwa  solche 
Hülfsmittel  für  die  Ausgabe  zu  finden  seien,  werden 
sehr  erwünscht  sein.  Die  Akademie  hat  eine  Kommission  zur 
Leitung  des  Unternehmens  eingesetzt,  dieselbe  ersucht,  die  ge- 
wünschten Mitteilungen  an  das  Sekretariat  der  kgl.  Akademie 
der  Wissenschaften  Berlin  NW.  üniversitätsstrafse  8 
gelangen  zu  lassen. 

Berlin  im  Februar  1896. 


Die  Eommission  der  E.  Frenfs.  Akaäemie  der  Wissenscbaftei  für  Heraosoalie 

der  Werke  Kants. 

Dilthey.     Diels.     Stumpf.     Vahlen.    Weinhold.