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Full text of "Zeitschrift für Theologie und Kirche"

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Zeitſchrift 


für 


Theologie und Rirche 


in Verbindung mit 


D. A. Harnack, Profeſſor der Theologie in Berlin, D. W. Herrmann, Profeſſor 
der Theologie in Marburg, D. J. Kaftan, Profefjor der Theologie in Berlin, 
D. M. Neifchle, Profeffor der Theologie in Gießen, D. ſt. Eell, Profeifor der 
Theologie in Bonn, 
herausgegeben 
von 


D. 3. Goittſchick, 


Profeffor der Theologie in Tübingen. 


Zehnter Jahrgang. 





Tübingen und Leipzig. 
Verlag von 3. C. B. Mohr (Paul Siebed) 
1900. 


BTANFORD UNIVERSITY 
vIRrAasıen 


STACKS 


DEC 23 190, 


Alle Rechte vorbehalten. 


C. A. Wagner’3 Univerfitäts:Buchdruderei in Freiburg i. B. 


Das Wefen der chriftlichen Offenbarung nach den Neuen. Teftanıent. 
Vortrag gehalten im wiffenfchaftlichen Predigerverein zu Han: 
nover am 3. Mai 1899 von D. Emil Ehürer in Göttingen 

Das Bekenntnis in der evangelifhäg Kirche, Bon H. Schultz. 

Die Bedeutung des gefchichtlichen Sinnes im Proteftantismus. Ans 
trittSoorlefung, gehalten am 13. Januar in — von 
D. Martin Rade, Privatdocent in Marburg 

Das Sündenbekenntnis. Von Lie. C. Etudert, —— in Neun: 
kirch, Kt. Schaffhaufen . 

Der Rückgang der Rommunifanten in Sachſen. Eine gefchichtliche 
Studie über kirchliche Sitte von Profefjor D. Drews 2 

Die Vorftellungen von der Seele bei Plotin und bei Drigenes. Yon 
Lic. Wilhelm Echüler, Pfarrer und Miffionar in Tfingtan. 

Ehriftentum und Theofophie. Bon F. — Pfarrer in Kirn 
a. d. Nahe. . . 

Zur Charakteriſtik der Theologie Zinzenvorfs. Vorirag, gehalten am 
26. Mai 1900 von D. P. Kölbing, Direktor des le 
Seminariums in Gnadenfeld . . 

Wunder und Gaufalität. Von 8. Hehler . . . 

Ueber die foziale Zufammenfegung der älteften heidenchriſtlichen Ge 
meinden, Antrittsvorlefung, gehalten am 27. April 1900 von 
Lie. R. Knopf, Privatdocent zu Marburg Be ar a ar se 

Die Einführung der Miffton in das Tirchliche Leben. Ein Vortrag 
von 3. Haller, Stadtpfarrer in Tuttlingen . E 

Das Verhältnis der Theologie zur modernen Wiffenfchaft und ihre 
Stellung im Gefamtrahmen der Wiſſenſchaften. Bon 

5 G. Wohbermin, Privatdocent der Theologie in Berlin 

Heiligung im Glauben. Mit Rücficht auf die heutige Heiligungs- 
bewegung. Von 2. Elafen, Paſtor in Eichenbarleben . 

Theologifche Randgloffen zu Naumannz „Demokratie und Kaifertum“. 
Von D. Martin Rabe, Privatdocent in Marburg . 


Seite 


439 


489 


Das Weſen der chriſtlichen Offenbarung 
nach dem Henen Teſtament). 


Borteng, gehalten im wilfenfhaftlichen Predigernerein 
zu Hannavuer am 3. Mai 1899 


von 


D. Emil Schürer, 
Profeffor in Göttingen. 


Der Glaube an eine göttliche Offenbarung. ift ein mwefentliches 
Element jeder Religion. Ohne folchen Glauben ift Religion nicht 
denkbar. Zum mindeften gilt dies von den höheren Formen der 
Religion, Je mehr die Gottheit Üüberweltlich, geiftig vorgeftellt 
wird, um jo weniger Tann der Fromme ji) jelbjt als natürlichem 

enſchen di Weſens Gottes und feines Willens 
äufchreiben, um fo gemwifjer ift ihm, daß er nur deshalb in 


der vechten Beziehung zu Gott jteht, weil Gott ſelbſt ihm jein 


) Für Den Druck find Abfchnitt 5 und 6 und einige Litteraturangaben 
hinzugefügt; im Uebrigen erfcheint der Vortrag hier jo, wie er gehalten 
worden ift. — In der neueren Litteratur ift mic nur eine einzige und 
nicht gerade fehr lehrreiche Arbeit befannt, welche fpeziell daS obige Thema 
behandelt; Nösgen, Mefen und Umfang der Offenbarung nach dem 
Neuen Tejtament (Beweis des Glaubens 1890, S. 377—388, 413—432, 
449—461). — Die Abhandlung von Oscar Holgmann, Die Offen- 
barung durch Chriſtus und das Neue Tejtament (Zeitfchrift für Theol. 
und Kirche I, 1891, S. 367425) erörtert die Grundgedanken der Predigt 
Jeſu und ihre Nachwirkung in der apoftolifchen Litteratur, ift alfo einen 
andern Gegenftande gewidmet als unfer Vortrag. 

Beitfhrift für Theologie und Kirche, 10, Jahrgang, 1. Heft, 1 


2 Schürer: Das Wefen der hriftlichen Offenbarung 1c- 


Wefen und jeinen Willen geoffenbart hat. Und je lebendiger die 
Frömmigkeit ift, um jo intenfiver ijt dev Glaube an folche fe 
barung. 
Die Richtigkeit dieſes Satzes bewährt ſich vor allem an der 
prophetifchen Religion des Alten Teftamentes. Die Propheten des 
-T. Tebten in dem feſten und zuverfichtlichen Glauben, daß Gott 
jelbjt fie beauftragt habe mit der Predigt, die fie ausübten, und 
daß er auch den Inhalt derjelben ihnen unmittelbar mitgeteilt Habe. 
Was fie verkündigen, ift Gottes Wort. Durch ihren Mund fpricht 
Gott ſelbſt. Dieſer Glaube gab ihnen die Feſtigkeit und Zuver- 
ficht des Auftretens und gab ihrem Worte die mächtige Wirkung'). 


1. 


Die Wirkfamfeit folder Propheten ift aber im Volke Firael 
jeit Eſra's Zeit erlofchen. Auf die Zeit der Propheten folgte die 
‚Zeit der Schriftgelehrten. Die Religion Iſraels war in einem 
Gejegbuche fodifiziert worden, und diefes Gejebbuc zur Norm des 
religiöfen Verhaltens erhoben worden. Was Gottes Wille fei, 
vernahm man fortan nicht mehr aus dem lebendigen Munde der 
Propheten, fondern aus ber fchriftlichen Thora. In ihr waren 
alle Forderungen Gottes an fein Volk niedergelegt, Aus ihr konnten 
fie vollftändig und ausreichend durch Lektüre und Studium er- 
mittelt werden. Neben der Thora beſaß man auch noch die Schriften 
der Propheten und andere autoritative Schriften der Vorzeit. Auch 
diefe wurden als Ausdruck des göttlichen Willens anerkannt; aber 
doch nur in zweiter Linie. Sie verhalten fich zur Thora wie die 
Weberlieferung zur Ur-Offenbarung®). In der dem Moſes zu 
Teil gewordenen Offenbarung hat Gott jein Weſen und feinen 
Willen bereits auf vollftändige Weiſe fund gethan. Die Bedeutung 





*) Aus der Literatur Über den alttejtamentlichen Prophetismus fei 
bier nur die neuejte Studie genannt: Gieſebrecht, Die Berufsbegabung 
der altteftamentlichen Propheten, 1897. — Bon fatholifcher Seite: Leitner, 
Die prophetifche Infpiration (Biblifche Studien von Bardenhewer I. Bo., 
4.5. Heft, 1896), 

*) ©, meine Gefchichte des jüd. Voltes 3. Aufl. I, 311. 


Schürer: Das Wefen der chriftlichen Offenbarung ze. 3 


der Propheten beftcht nur darin, daß fie diefe Offenbarung auch 
ferner bezeugt haben, „Jedenfalls beſaß man in diefen fchriftlichen 
Urkunden ein für allemal den zuveichenden Ausdruck alles deſſen, 
was Gott feinem ausermählten Volke zu jagen hatte; der Jude 
jab im Gefeß, wie Paulus fi ausdrückt, die Verkör— 
perung der Erfenntnis und der Wahrheit (Röm. 
, 20; Thy nöppwarv Ing yybaewg nal Tg dindelas gl e er zu 
haben &v zo vöup)'). 

Für ein Fortgehen der lebendigen Offenbarung war hiernach 
fein Bedlirfnis mehr, und man hat auch nicht an ein folches ge— 
glaubt, wenigſtens nicht im der offiziellen Theorie. Dieje ging 
dahin, daß die Brophetie erlofchen fei, und daß man die Erkenntnis 
des Weſens und Willens Gottes durch Schriftjtudium zu gewinnen 
habe. Offenbarung und Schrift fielen zujammen. 

Aber das war doch nur die offizielle Theorie. Das Volt 
hat ſich den Glauben nicht nehmen lafjen, daß Gott auch jeßt 
noch auf mannigfaltige Weife fich fund gebe; und die Schriftge- 
lehrten jelbjt haben im Grunde diefen Glauben mehr oder weniger 
geteilt. Freilich — ein weſentlicher Unterfchied bejtand doch ges 
genüber der früheren Zeit. Es hat faum noch Männer gegeben, 
welche die Kühnbeit hatten, aufzutreten mit dent Anfpruch, daß 
ihre Rede Gottes Rede jei. Der Glaube, daß Gott fich offenbare 
im Inneren des menfchlichen Herzens und im der Wirkjamfeit 
auserwählter Gottes-:Männer, dev war in der That jo gut wie 
erlofchen. Der Offenbarungsglaube war äußerlicher geworden, 
Sendung von Engeln, Träume, Viftonen, auch wohl eine äußer— 
Ah vom Himmel ber vernehmbare Stimme (bath-kol) — das 
Maren die Formen, in welchen man jet Kundgebungen Gottes zu 
vernehmen glaubte. Waren diefe Vorftellungen auch ſchon früher 
vorhanden, jo war der Unterjchied doch der, daß fie jet den echt 
prophetifchen Offenbarungsglauben verdrängt hatten. Zu den ge- 
nannten Formen fanı auf dem Boden des Hellenismus auch noch 


die Ekitafe. Diefe ift zwar auch dem Alten Teftamente 
t fremd, Aber fie tritt im griechifchen Judentum in einer Form 
*) Vgl, auch Weber, Yüdifche Theologie 2, Aufl. 1897, S. 14-3. 


D. Holbmann, Lehrbuch der neuteftamentl. Theologie I, 45 ff. 
1r 





Bn 


4 Schürer: Das Weſen der chriftlichen Offenbarung ze. 


und mit einer philofophifchen Begründung auf, die mehr griechifch 
als altteftamentlich ift. 

In diefer Zeit der Epigonen hat es immerhin auch noch Männer 
gegeben, welche die Gewißheit in fich trugen, daß, mas fie jagen 
wollten, dem Willen Gottes gemäß fei, alſo im Grunde als gött— 
liche Offenbarung fich ausgeben dürfe. Aber fie Haben nicht mehr 
gewagt, dies offen und mit Einfegung ihrer Perſon zu verfündigen. 
Sie flüchteten fich unter_die Maske der Pjendonymität und liefen 
ihre Predigt nur jchriftlich unter dem Namen großer Gottesmänner 
der Vorzeit ausgehen. Anders würde ihr Wort in dieſer pro- 
pbetenlofen Zeit nicht mehr Autorität genug genofjen haben. 

Erſt ın der Zeit nach dem Auftreten Jeſu Chrifti feheint es 
wieder vorgefommen zu fein, daß einzelne Männer fich als Pro— 
pheten ausgaben und als folche in gemiffen Kreifen des Volkes 
Glauben fanden. Was Joſephus und das Neue Teftament von 
ihnen berichten, fennzeichnet fie freilich nicht als wirkliche Gottes- 
männer, fondern im beften Falle ala Schwärmer, melden es mehr 
um politifche al3 um religiöje Ideale zu thun war. So der in 
der Apoftelgefchichte 5, 86 erwähnte Theudas (Jos. Antt. XX, 5,1) 
und der ebenfall® aus der Apoftelgejchichte 21, 38 befannte Ae— 
gupter (Jos. Antt. XX, 8, 6. Bell. Jud. II, 13, 5). Von beiden jagt 
Joſephus ausdrücklich, daß fie fich für Propheten ausgaben; und 
er fpricht auch jonjt von dem Auftreten jüdischer Propheten in 
diefer jpäteren Zeit (Antt, XX, 8, 6, Bell. Jud. II, 13, 4. VI, 
5, 2)'), Aber wenn auch das Wirken diefer Männer nur ein 
Zerrbild des Wirkens der alten Propheten war, fo war der Beifall, 
den fie fanden, doch ein Beweis dafiir, daß der Glaube an pro: 
phetifche Kundgebungen wieder im Wachjen war, Man wird dies 
beachten müſſen, um zu verftehen, daß in der chriftlichen Gemeinde 
diefer Glaube von Anfang an lebendig war. 

Noch ein Anderes ift für das Verftändnis des älteften Chri— 
ftentums von Bedeutung. Das offizielle Judentum hat zwar leb- 
haft die Empfindung gehabt, daß es vom Geijt der Prophetie ver 
lafjen war. Aber es hat auf Grund prophetijcher Stellen, vor 


N Bal. dazu; Gunkel, Die Wirkungen des heiligen Geijtes, 1888, 
©. 55-58, 


Schürer: Das Wejen ber chrüftlichen Offenbarung ze. 5 


allem auf Grund von Joel 3, für die meſſianiſche Zeit eine veiche 
Mitteilung des Geiftes ermatret; und diefer Geiſt wird hei Joel 
gerade als Geift dev Prophetie geichildert (3, 1: „Eure Söhne 
und Töchter werden weifjagen, eure Aelteften werden Träume haben 
und eure Jünglinge Gefichte ſchauen“). Aus der Predigt Fo: 
hannes des Täufers wiſſen wir, daß man die Mitteilung des Gei- 
ſtes vom Mejjias ſelbſt erwartet hat. Er wird das Volk taufen 
mit heiligem Geift (Marc. 1, 8: Bantios: du2s &v report Eylo, 
eigentlich: euch eintauchen in heiligen Geift; ebenſo Matth. 3, 11. 
Zue. 3,16). Eine neue Offenbarung gehört alfo notwendig zu 
den Merkmalen der mefjianifchen Zeit. 


2. 


Dieſe neue Offenbarung gebracht zu haben, ift Jeſus Ehriftus 
in vollem Maße fich bewußt geweſen. Und zwar geht fein Be— 
wußtſein dahin, daß erſt durch ihm das wahre Wejen Gottes des 
Baters geoffenbart wird, „Alles ift mir übergeben von meinem 
Bater, und niemand erkennt den Sohn außer der Vater, und nie— 
mand ben Vater außer der Sohn und welchem der 

ohn (ihn) offenbaren will”. So lautet der Spruch Matth. 
11, 27. Im Wefentlichen ebenfo Luc. 10, 22, nur heißt es ftatt 
erıyınnareı by vldy bei Lucas yırameı tic &orıy 5 ulög und analog 
ebenjo im zweiten Gliede. 

Außer diefem Text, welchen faft alle uns erhaltenen Hand— 
fehriften ſowohl bei Matthäus als bei Lucas bieten, finden wir 
bei nicht wenigen Kirchenwätern vom zweiten bis vierten Jahrhun— 
dert einen abweichenden Text, der (mit Kleinen Varianten im Ein- 
zelnen) folgendermaßen lautet: „Niemand hat den Vater erfannt 
außer der Sohn, und Niemand den Sohn außer der Vater, und 
welchem der Sohn (fich) geoffenbaret hat (oder offenbaren will)“. 
Die Haupt-Abweihungen find hier: 1. daß das Verbum im Prä- 
teritum ſteht (Eyvo ftatt yıydazsı oder Erıyivösze) und 2, daß 
bie beiden Hälften in umgekehrter Reihenfolge ftehen. Dadurch er- 
hält aber der letzte Sab eine andere Beziehung. Im fanonifchen 
Texte heißt es: Niemand fennt den Vater außer der Sohn, und 


6 Schürer: Das Weſen der chriftlichen Offenbarung 2c, 


wen der Sohn ihn (den Vater) offenbaren will, Nach dem 
andern Tert: Niemand hat den Sohn erkannt außer der Vater, 
und wen der Sohn jich geoffenbart hat (oder offenbaren will). 
Objekt des arorardıpar ift hier nicht der Vater, fondern der Sohn 
jelbft. 

Dieſe Form des Spruches ift ftark bezeugt. Sie findet fich 
bei den gnoftiichen Markoſiern (Iren. I, 20, 3. IV, 6,1), Juſtin 
(apol. I ec. 63, Dial. c. Tryph. 100), Tatian (Zahn, Tatians 
Diatefjaron S. 148 f.), den clementinifchen Homilien (XVIL, 4. 
XVII, 4. 13. 20), Eufebius, Epiphanius und Anderen!). Manche 
neueren Eregeten haben fie für die urjprüngliche erklärt?). ch 
glaube mit Unrecht, Nach dem Zufammenhang der Stelle wie nach 
dem ganzen Tenor der fynoptifchen Predigt Jeſu ift es äußerſt 
unmwahrfcheinlich, daß er fich felbft als wejentliches Objekt feiner 
offenbarenden Thätigfeit bezeichnet haben ſollte. Das ift vielmehr 
die Gnade und Baterliebe Gottes oder kurz gejagt: Gott als der 
Vater. Eben diefer aber it Objekt des Arox=Abrber nach der herz 
tömmlichen Lesart. Ob man dabei im Hauptſatz prybauet oder 
Eyvo Left, iſt für den Sinn unerheblich. 


2) Vgl. außer dem Apparat in Tifchendorf’s editio eritica major 
bejonders noch Semifch, Die apoftolifchen Denkwürbigfeiten des Mäür— 
tyrers Juſtinus, 1848, ©. 364-370. Supernatural Religion vol. I, London 
1879, p. 401—410, Abbot, The authorship of the fourth gospel and 
other eritical essays, Boston 1888, p. 93—98. Zahn, Tatian's Diateffaron 
1881, ©. 148 f. Derf., Gejch. bes neuteftam. Kanons I, 555 f. Bouffet, 
Die Evangelieneitate Juftins des Märtyrers, 1891, ©. 100—105. Reſch, 
Außerlanoniſche Parallelterte zu den Evangelien 3. Heft (= Terte und 
Unterfuchungen von Gebhardt und Harnack X, 3) 1895, S. 196206. 
— Der neuerdings entdeckte Syrus Sinaitieus ſtimmt im wefentlichen mit 
unferem gewöhnlichen Terte, hat aber bei Matthäus am Schluffe „und 
wenn der Sohn will, daß er es ihm offenbare“, und bei Lucas die fra> 
gende Form „wer fennt den Sohn außer der Vater u. f. w.“ (ſ. Merz, 
Die vier Fanonifchen Evangelien 1897). 

) So bei. Keim, Gejchichte Jeſu IL, S. 377—387 (dev aber im Schluß⸗ 
ſatz das fo gut wie einjtimmig bezeugte 5 vlss ftreicht und „der Vater“ 
als Subjekt ergänzt); auch Holtz mann, Handeommentar 2, Aufl. I, 173; 
zurückhaltender derſ., Lehrb. der neuteft. Theologie 1,273. — Dagegen: 
Klöpper, Zeitſchr. für wiſſenſch. Theol. 1896, ©. 482—504, 





Schürer: Das Wefen der chriftlichen Offenbarung ze, T 


ebenfalls jagt hier Jeſus nicht nur, daß fein eigenes Weſen 
allein dem Vater völlig befannt fei, fondern auch umgekehrt, daß 
er allein, alfo auch ex zuerft, eine volle Erkenntnis des Vaters 
befie, und darum allein im Stande jei, den Vater zu offenbaren. 
Jrenäus hat den Markofiern vorgeworfen, daß fie den Text ge 
ändert hätten, um damit ihre Lehre zu begründen, daß der gütige 
Gott vor der Ankunft Chrifti unbekannt, und nur dev Schöpfer 
gott auch den Juden befannt gemefen jei!), Dieſer Vorwurf ift 
nur teilmeife berechtigt. Die Unterfcheidung des gütigen Gottes 
und des Schöpfergottes ift allerdings unbiblifch. Aber darin haben 
die Gnoſtiker vollfommen Recht, daß es nach unjerm Spruch eine 
volle Erkenntnis Gottes al3 des Vaters vor Ehrifto nicht gegeben 
hat. Das bleibt dev Sinn, ob man nun lieft: „Niemand erfennet 
den Vater außer der Sohn" oder „Niemand hat den Vater er- 
kannt außer der Sohn“. Nach beiden Lesarten ift der Sinn, 
daß die wahre und volle Erkenntnis des Vaters erjt durch Ehriftus 
gebracht worden ift. Die fieghafte Gemißheit diefer Thatjache hat 
Jeſu Seele jo fehr erfüllt, daß er die Verfündigung der Vater 
liebe Gottes als eine Hauptfeite feines Berufes erkannt Hat. 

Aber auch noch in anderer Beziehung war er deſſen gewiß, 
etwas neues zu bringen. Auch was Mofes in Bezug auf das fitt- 
liche Verhalten gefordert hat, blieb hinter dem deal zurück, das 
Jeſus in ſich trug. Zwar find die beiden Hauptgebote der Gottes: 
Tiebe und Nächftenliebe, welche das Geſetz Moſis enthält, ein voll 
fommener Ausdruck des Willens Gottes, Aber die einzelnen Gebote 
des alten Geſetzes ftehen nicht in Einklang damit. Sie bleiben 
hinter diefer Höhe zurüd und fordern zu wenig, weil Moſes Rück— 
ficht genommen hat auf die fittliche Schwäche (wAnpoxzpdlz) der 
Menſchen (Matth. 19, 8. Marc. 10, 5). So jtellt nun Jeſus feine 
ftrengeren, tieferen Forderungen den ungenügenden Forderungen 
des alten Geſetzes entgegen, um die Einzelgebote in Einklang zu 
bringen mit dem Grundgebot, und fo das Geſetz erjt „vollfommen 
zu machen" rInpösz (f. überhaupt Matth,5). Die ſouveräne Sicher: 
heit, mit welcher er Hier auftritt, ift die Parallele zu der Gewiß— 


#) Iren. I, 20, 3. IV, 6,1. gl. auch Tertullian. adv. Mareion. IV, 25. 


8 Schürer: Das Weſen der hriftlichen Offenbarung ıc. 


heit, mit welcher er von feiner neuen Gotteserfenntnis jpricht. 

In beiden Beziehungen ift er gewiß, etwas Neues zu bringen. 
Es iſt eine Predigt, die gewaltiger ift al3 die des Jonas, eine 
Weisheit, die tiefer geht als die des Salomo (Matth. 12, 411—42. 
2ue. 11, 31—32), ein neuer Wein, der die alten Schläuche jprengt 
(Mare. 2, 18—22 und Parallelen). Die Gebildeten und Weiſen 
diefer Welt find freilich nicht im Stande, dieje göttliche Weisheit 
zu faffen; fie bleibt ihnen verborgen. Aber den Unmündigen, die 
mit demütigem Kindesſinn fommen, wird fie offenbar (Matth. 11, 
25—26.. Luc. 10, 21). Und fie wird von ihnen empfunden als 
eine ſelige Laſt, die nicht bedrüct, jondern Erquickung bringt 
(Matth. 11, 28— 30: Mein och ift janft und meine Laſt iſt leicht). 
Die Jünger, welche diefe Herrlichkeit und Weisheit ſehen und hören, 
werden um befjentwillen jelig gepriefen: „Selig find eure Augen, 
daß fie jehen, und eure Ohren, daß fie hören, Denn wahrlich ich 
fage euch: viele Propheten und Gerechte haben begehrt zu jehen, 
mas ihr fehet, und haben es nicht gejehen, und zu hören, was 
ihr höret, und haben es nicht gehört“ (Matth. 13, 16—17. Luc. 
10, 23—24). 

Da den Yüngern die Geheimniſſe des Gottesreiches enthüllt 
werden (Mare, 4, 11. Matth. 13, 11. Luc. 8, 10), jo find fie 
ein Licht für die Welt (Matth. 5, 14: 75 Pag 700 xöatrsv), und 
fie jollen diefes ihr Licht Leuchten Lafjen vor den Menfchen, denn 
Niemand zündet ein Licht an und ftellt es unter einen Scheffel 
(Matth. 5, 15 = Luc. 11, 33. Marc. 4, 21 = Luc. 8, 16). 

Es iſt alſo eine neue Offenbarung, die Chriftus gebracht hat 
und die duch die Jünger verfündigt wird. 

Die kirchliche Theologie hat diefen Sachverhalt anerkannt in 
der Lehre vom prophetifchen Amte Chrijti. Als Prophet hat Chriftus 
den Gnadenmillen Gottes geoffenbart. Man wird aber nicht jagen 
Lönnen, daß die Tragweite diejes Gedanfens im Zufammenhang 
des orthodoren Syftemes ausreichend gemürdigt worden fei. Es 
war dies auch nicht möglich bei der Anſchauung vom Alten Te- 
ſtament, welche die chriftliche Theologie von der jüdijchen über— 
nommen bat. Auch für die orthodoxe chriftliche Theologie iſt im 


Grunde die vollfommene Erkenntnis Gottes und feines Heilsmillens 
a : 


Schürer: Das Wefen der chrijtlichen Offenbarung ze. — 


im Alten Teſtamente bereits niedergelegt. Etwas wirklich Neues 
Eonnte alfo demgegenüber nicht mehr gebracht werden. Das Einzige, 
mas man amerfannte, war, daß man im Anjchluß an pauliniſche 
Gedanken jagte: Chriftus habe eine plenaria expositio der im Alten 
Teſtamente noch in typifcher Form zum Ausdruc gebrachten evan- 
gelifchen Lehre gegeben (doetrinae evangelicae umbris typisque 
legalibus olim involutae, Quenftedt). Das iſt aber doch erheblich 
weniger, als was Jeſus mit autoritativer Gewißheit von fich bes 
zeugt hat. Das eigentliche Intereſſe Fonzentrierte fich eben um das 
hohepriefterlihe Amt Ehrifti. Darin jah man fein eigentliches Le— 
benswerf, Dem prophetifchen Amte konnte man feine rechte Be— 
deutung abgewinnen. Wie verjchieden beide von der Firchlichen Theo- 
logie gewürdigt werden, zeigt in jignifitanter Weiſe der Umfang, 
welchen beide Lehrſtücke in den gangbaren Lehrbücher einnehmen. 
In Zuthardt’s Kompendium z. B. (7. Aufl, 1886) nimmt bas | 
ee ncle eine Seite ein, das hobepriejterliche 22! Auch 

welche die Firchliche Lehre in ſelbſtändiger Weife zu re— 
produzieren fuchen, können fich von diefem Banne nicht frei machen. 
Wie ungenügend z. B. in Kähler's Theologie der Offenbarungs- 
charakter der Perſon Jeſu Chriftt gewürdigt wird, hat kürzlich 
Wendt in einer Beſprechung feiner neuejten Arbeit „Zur Lehre 
von der Verföhnung” 1898 nachgemwiefen (Theol. Litteraturzeitung 
1899 Ih. 8). 





3. 

Das Schema, welchem die Eicchliche Theologie folgt, hat feine 
Antnüpfungspunkte allerdings im Meuen Teftamente: in der Theo- 
logie des Paulus. Die Predigt des Apoftels fteht darin mit der 
Verkündigung Jeſu Ehrifti in Einklang, daß auch für ihn der 
weſentliche Inhalt der Offenbarung die väterliche Liebe 
Gottes iſt. Aber die Ausjagen darüber, was Gott vermöge feiner 
väterlichen Liebe tut, wie ex feinen Gnadenwillen an uns ver 
wirklicht, find bei Beiden doch verjchieden. Bei Paulus ftehen 
Gedanken im Eenteum, die in der Verkündigung Ehrifti nur ge— 
ſtreift werden!). 


4) Sch ſehe im Folgenden von dem ab, was Paulus über eine Offen—⸗ 


10 Schürer: Das Wefen ber cHriftlichen Offenbarung ꝛe. 


Für Paulus ift das Evangelium das Wort vom Kreuze 
(I Kor. 1, 18 5 Aöyos 5 Tod orzupod). Die wahre Weisheit ift 
die Erkenntnis des Gefrenzigten (T or, 1, 23—24. 2, 2. 6—16). 
Ehriftum als Gefreuzigten hat er den Galatern vor Augen gemalt 
(Sal. 3,1). Der Kreuzestob Chrifti ijt aber nur darum heils- 
begründend, weil Chriftus auch auferjtanden iſt. So ift die That: 
ſache der Auferjtehung Chrifti ebenfalls ein wefentliher Punkt in 
der apojtolifchen Verkündigung (I Kor. 15, 1-8), Auf Grund 
des Kreuzestodes und der Auferftehung Chriſti vergieht uns Gott 
unfere Sünden; e8 wird aljo im Evangelium eine von Gott uns 
gefchenfte Berehtigfeit geoffenbart (Röm. 1,17: öixmoobvn 
deod dv ar Anoneibrrere, Röm. 3, 21: — deoo 
repavspwrar)t). Infolge der Rechfertigung find wir aber mit Gott 
verjöhnt. Das Evangelium kann aljo auch bezeichnet werden als 
„das Wort von der Verföhnung“ (IT Kor. 5, 19). 

Während in dieſer Gedankenreihe Chriſtus als Gekreuzigter 
im Mittelpunkte ſteht, nennt Paulus ein andermal das Evange— 
lium auch „das Evangelium von der Herrlichkeit Chriſti“ (II Kor. 
4, 4: Tb edayryektov nis 5öörns tod Xprorod). Wir ſchauen mit uns 
verhülltem Antlit „vie Herrlichkeit des Heren“ (II Kor. 3, 18). 
Indem wir aber Chriftum fehauen, ſchauen wir Gott ſelbſt. Denn 
Ehriftus ift eixbv od Heod (Il Ror. 4,4. Rol.1,15). Auf feinem 
Antlitz ruht die Herrlichkeit Gottes ſelbſt. Zur Erkenntnis diefer 
Herrlichkeit ift der Apoſtel durch göttliche Erleuchtung gelangt, und 
es ift fein Beruf, dieſe Erkenntnis auch Anderen leuchten zu laſſen 
(II Kor. 4, 6). 

Es iſt ſchwer, mit Sicherheit zu fagen, was ‚hier Paulus 


barung Gottes in Der Natur (Röm. 1,19—20) und im Gewiljen der Heiden 
jagt (Röm. 2, 14—15); dent es handelt fich hier nur um das Wefen der 
Hriftlihen Offenbarung. Aus diefem Grunde find auch die Ausjagen 
über die Offenbarung im alten Teftamente nur infoweit herangezogen, als 
fie für die Wertung der hriftlichen Offenbarung von Belang find. 


') Dieje beiden Stellen mögen auch zeigen, wie müßi, es iſt, guf den 
Unterſchied von ansnarörzev u ie, we en. 
Eine ausführliche Unterjuchung über beide Begriffe giebt e8 von van Bell, 


De patefactionis christianae indole, e vocabulis gavepadv et änouadlmrev 
in libris N. T. effieienda, Lugd. Bat. 1849. 


Schürer: Das Wefen der chriftlichen Offenbarung zc. 11 


unter der 55x od dead und Zöfz ad Xp:orsd verfteht. Der Aus: 
druck ift ihm an die Sand gegeben durch die Erzählung von Mofes, 
auf deffen Antlig ein Lichtglang erſchien, wenn er vor Gott trat 
(Erod. 34, 29-35). Man wird daher bie &6fx doch irgendwie 
als ſinnlich wahrnehmbare zu denken haben. Andererſeits iſt im 
Zuſammenhang der Stelle davon die Rede, daß die Apoſtel (und 
die Gläubigen überhaupt) durch ihre Bekehrung zu Chriſto zur 
Erkenntnis der Gefehesfreiheit gelangt find (II Kor. 3, 16—17), 
und daß fie durch das Anſchauen Chriſti „umgeftaltet werden von 
einer 85x zur anderen“ (II Kor. 3, 18). Dies nötigt doch, an 
einen fittlichen Ummandlungsprozeß, alfo an ein Anfchauen der 
fittlichen 55x Chriſti zu denken. Für Paulus hängt eben das 
innere und äußere zufammen und ift gav nicht von eimander zu 
trennen. Jedenfalls ift im Bufammenhang der Stelle nicht vom 
Kreuzestod Chrifti die Rede, ſondern von der Böfa, welche &v 
rpsadrıp Nprsrod zu ſchauen ift. Auch dieje ijt aljo Objekt ber 
apoftolifchen Erkenntnis. 

Noch ein weiteres gehört aber mejentlich zum Inhalt der Offen- 
barung, welche dem Baulus zu Teil geworden ift. Aus der Er- 
kenntnis, daß die Gerechtigkeit als ein Gnadengefchent Gottes 
verliehen, nicht durch Gejegesbeobachtung erworben wird, ergab 
ſich ihm die Gewißheit, daß diefelbe den Heiden ebenſo zugäng- 
lich ift wie den Juden. Bejchneidung und Vorhaut machen hier 
feinen Unterjchied. Auch dieſe Erkenntnis iſt eine geoffenbarte und 
macht den Inhalt des ihm eigentimlichen Evangeliums aus, das 
ex verfündigt unter den Heiden (Gal, 2, 2.7). Sehr ſtark wird 
namentlih im Ephefer- und Koloffjerbrief hervorgehoben, daß 
die Erkenntnis von der Annahme der Heiden zum Heil evt Durch 
Offenbarung dem Apoftel zu Teil geworden ift (Eph. 3, 
39, Kol. 1, 25—27)}). 

pricht ex gelegentlich die Meberzeugung aus, daß auch 
dasjüdifhe Volk in feiner Gefamtheit zum Heil gelangen 
werde, und er bezeichnet auch diefe Einficht als ein nusriptov, das 
ihm fich enthüllt habe (Röm. 11, 25). 
9 Der Epheferbrief ijt zwar m. ©. nicht von Paulus; er bleibt aber 
in Diefem Punkt im Rahmen der paulinifchen Anfchauung. 


12 Schürer: Das Wefen der chriftlichen Offenbarung ze. 


Durch wen und wie ijt nun diefer Komplex religiöfer 
Erfenntnifje dem Apoftel geoffenbart worden ? Er gebraucht dafür 
verjchiedene Formeln, Im Galaterbrief (1, 16) jagt er, daß es 
Gott, der ihn berufen hat, gefallen habe, jeinen Sohn in ihm zu 
enthüllen (droweAbrhar zbv uldv abroo dv Zuol), Hier ift alfo 
Chriftus Objekt; und Gott derjenige, der die Offenbarung 
bewirkt, Dabei wird die grundlegende Thatfache dev Berufung, 
wie es jcheint, unterfchieden von dem Amsxaibrreis als der Ein- 
führung in das tiefere Verftändnis Ehrifti. Einige Verfe vorher 
(Gal. 1, 12) jagt Paulus, ex habe fein Evangelium nicht em— 
pfangen von Menfchen, &2%% BE ämoxarörpewg "Insod Kprorod. Der 
Gegenfab zu nap& avdpärov fpricht dafür, daß Tyocd Xpıstod 
als gen. subj. zu nehmen ift. Aber die andere Stelle (1, 16) 
macht es zweifelhaft, ob es jo gemeint ift. Eine dritte Formel 
finden wir im erſten Korintherbrief. Hier heißt 8, daß Gott 
uns die bisher verborgene Weisheit des Evangeliums (I Kor. 2, 7) 
„enthüllt Habe durch den Geift, denn der Geiſt er- 
forſchet alles, auch die Tiefen Gottes“ (L. Kor. 2, 10: iv && 
ämendiupey 5 Abebg dk Tod mveinaros u. f. w.). Die „Tiefen 
Gottes", die hier ala Objekt genannt find, find eben die wunder- 
baren Heilswege Gottes. Daß die Offenbarung „Durch den Geiſt“ 
erfolgt, wird auch Eph. 3, 5 gejagt. Im erſten Rorintherbrief 
wird noch hervorgehoben, daß auch die Form der Rede vom Geift 
gewirkt ift. Die Apoftel verfündigen die göttliche Weisheit in 
Worten, die vom Geift gelehrt find (I Kor. 2, 13). 

Man wird diefe Ausfagen nur dann recht verftehen, wenn 
man die Gejamt-Anjchauung Pauli fich klar macht. Die meſſia— 
niſche Zeit ift die Zeit der Geijtes-Mitteilung. Diefe ift durch) 
Gott herbeigeführt, aber durch Chriftus, den Herrn des Geiftes, 
den pneumatifchen Menjchen, vermittelt. Gott, Chriftus, der Geiſt 
— dieſe drei gehören zufammen. So fann auch die Offenbarung 
bald al3 ein Werk des Einen, bald als ein Werk des Andern be- 
zeichnet werden. Die wirkſame Kraft ift der Geiſt. Inſofern 
wir diefen durch die Gemeinſchaft mit Chrifto empfangen, und 
infofern diefe Gemeinfchaft durch Gott veranftaltet ift, Tann Gott 
und Chrijtus als derjenige bezeichnet werden, der die Offenbar: 


N 


Schürer: Das Mefen der chriftlichen Offenbarung ꝛc. 13 


ung bewirkt, Und beide find auch wiederum Objekt der Of- 
fenbarung. Denn dev Geift Gottes und Chrifti führt uns ein in 
die Tiefen Gottes und in die Erkenntnis Chrifti. Gleiches wird 
von gleichem erfannt (T Kor. 2, 10—12). 

Bon hier aus wird auch die ſchon berührte Stelle im zweiten 
Korintherbriefe verſtändlich (IT Kor. 3, 18. 4,46). Chriftus 
als pneumatifche Perſönlichkeit ift Objelt und Subjekt der Offen: 
barung. Bon ihm geht die Erleuchtung aus, und durch die Er- 
leuchtung erkennen mir ihn in feiner Herrlichkeit. Man kann aber 
ebenfogut fagen, daß Gott die Erleuchtung bewirkt (IT Kor. 4, 6: 
6 Webs . . . Eiapbev dv rals xupdlaıs Tv), und daß wir hier- 
durch die Herrlichkeit Gottes erkennen, demn diefe ruht ‚Ev npos- 
Ortp Nprstod, 

Halten wir bier einen Augenblid inne, um eine Vergleichung 
zu ziehen mit dem, was wir aus der Predigt Chrifti felbft ent- 
nommen haben, Chriſtus hat von fich gejagt, daß er den Vater 
offenbart. Es gefchieht das durch feine Predigt und fonftige Wirk- 
jamfeit während feines irdiſchen Lebens. Bei Paulus ift Chrijtus 
in erjter Linie Objekt der Offenbarung, Fe dem u 4 

worden it. Duxch dieſelbe ijt ihm das Verjländnus des 
Gremestohes Ti und alles deſſen, was damit zufammenhängt, 
en worden. Dieje Offenbarung iſt gewirkt Dur er 

riſtus oder den Geiſt (dies alles befagt, wie wir 

gejehen haben, im Wefentlichen dasjelbe). Infofern die Offenbarung 
als durch Ch riſtus gewirkt bezeichnet wird, ift er allerdings auch 
Subjekt der Offenbarung (Vermittler derjelben). Aber der hiermit 
ausgedrückte Gedanke ift doch ein anderer, als mas wir aus Chrifti 
Mund felbft vernommen haben. Nicht der hiftorifche Chriftus hat 
eine neue Offenbarung gebracht, ſondern der himmlische, pneuma— 
tiſche Ehriftus wirkt im Apoftel das Verftändnis feiner ſelbſt und 
jeines Heilswerkes. Am nächjften kommt den eigenen Ausjagen 
Chriſti der Gedanke IT Kor. 4, 6, daß auf Chrifti Angeficht die 
Herrlichteit Gottes jelbft vuht, wir aljo im Ehrifto den Vater 
hauen. Aber auch Hier denkt Paulus nicht an den Hiftorifchen 
Ehriftus, fondern an den erhöhten. Auf den hiftorifchen führt ev 
nirgends feine durch Offenbarung ihm zu Teil gewordene chrijt- 


die 


14 Schürer: Das Mefen der chriftlichen Offenbarung ꝛe. 


liche Erkenntnis zurüc, Ex fennt ohne Zweifel die Grundgedanken 
der Predigt Chriſti. Diefelben find auch unverkennbar von Einfluß 
gemefen auf die Bildung feiner eigenen Weberzeugung (Baterliebe 
Gottes, Nächitenliebe als Grundgebot, Freiheit vom Ceremonial- 
wefen). Ex beruft ſich auch auf einzelne Worte Chrifti und be— 
trachtet fie al3 autoritativ (gegen die Ehefcheidung I Kor. 7, 10; 
der Urbeiter ift feines Lohnes wert I Kor. 9, 14; Über die Parufie 
bes Heren, I Theſſ. 4, 15 f.). Aber nirgends bezeichnet ex. die 
auf diefem Weg ihm zu Teil gewordene Kunde als eine offen 
barungsmäßige. Sie ift ihm nur eine Ueberlieferung vom Heren her. 

Das Verhältnis der chriftlichen Offenbarung zum Alten 
Teftament wird von Paulus in der Weiſe aufgefaßt, daß die 
hriftlichen Heilswahrheiten in den Schriften des A. T. nur ver- 
borgen enthalten find. Er betont zwar, daß die Glaubensge- 
rechtigkeit fchon vom Geſetz und den Propheten bezeugt jei (Röm. 
3, 21: paprupoupevn Dres Tod vonov xal Toy rpsprrav). Sie tjt 
bezeugt in Stellen wie Habakuk 2,4: „Der aus Glauben Gererhte 
wird leben“, in der Gefchichte Abrahams, in manchen Bjalmftellen 
(Röm. 4, 1—8), Auch die Aufnahme der Heiden in die Ge- 
meinfchaft des Heils ift ſchon durch die Gejchichte Abrahams und 
durch manche Prophetenftellen dargelegt (Nöm. 4, 9—16. 9, 25 
bis 26). Aber dies alles iſt doch bisher nicht verjtanden worden 
und konnte im Grunde nicht verjtanden werden, denn es mar 
verborgen. Diegöttliche Weisheit war &v nuornpfo Amoxerpun- 
pm (I Kor. 2, 7). Das göttliche Myſterium war „unendliche 
Zeit lang verjchwiegen" (Röm. 16, 25: xpövars alwvlarg sesıyn- 
pövov). Im Ephejer- und Kolofferbrief wird namentlich die Teil- 
nahme der Heiden am Heil al3 das felige Geheimnis gepriefen, 
das bisher verborgen war (Eph. 3, 9: änoxexpunmevov imb Tüv 
auvov, ebenjo Kol, 1, 26). Im zweiten Rorintherbrief deutet 
Paulus einmal an, daß Moſes mit Abjicht die nur temporäre 
Geltung des Geſetzes verhüllt habe, damit die Kinder Iſraels 
nicht merken follten, daß fein Dienft ein vergänglicher ſei (II Kor. 
3, 13—15), Erſt für die, welche ſich zu Chriſto befehren, wird 
die Hülle weggenommen (II Kor. 3, 16—17), 

Inſonderheit hat ich dem Apoftel das Verſtändnis der gött- 


Schürer: Das Wefen der chriftlichen Offenbarung ze 15 


lichen Mofterien durch die ihm zu Teil gewordene Offenbarung er— 
ichlofjen. „Uns hat Gott fie geoffenbart durch den Geift" (I Kor. 2 
10—12). Baulus und Seinesgleichen find Verwalter der göttlichen 
Geheimnifje (I Ror.4, 1: olxovöpar kustnplwy Yeod). einem 
Evangelium wird die Glaubensgerechtigkeit enthüllt (Möm. 1, 17) um 

€ genen Heilswege Bottes, die ſchließlich auch zur 
Belehrung Iſraels führen, offenbar (RKöm. 11, 25). Mit befonderem 
Nachdruck wird im Ephefer- und Kolofferbrief der Beruf Pauli, 
die göttlichen Geheimniffe fund zu machen, hervorgehoben (Epb. 
1, 9. 3, 29. Kol. 1, 25—97. 4, 3—4). Erſt durch die Offen- 
barung wird alſo das rechte Verftändnis der heiligen Schriften 
gewirkt. Man muß erleuchtet fein, um den verborgenen Schaß, den 
fie in fich jchließen, heben zu können. 

Die Offenbarung ift aber nicht als eine einmalige und 
dann fertige Mitteilung an die Apoftel gedacht. Sie geht fort. Der 
Geift, der die Tiefen Gottes erforfcht, it ein dauernder Beſitz dev Gläu— 
bigen. Weder für fich noch für die Gläubigen hat der Npoftel die 
Offenbarung als eine durch eine einmalige Mitteilung abgefchlofjene 
betrachtet. Schon die grundlegende Offenbarung, von welcher er 
Gal. 1, 12 und 16 fpricht, ift wohl nicht als ein einmaliger Akt 
zu denken. Denn er unterjcheidet 1, 15—16 die Thatjache feiner 
Berufung von der ihm zu Teil gewordenen Offenbarung 
(eböörnoev 6b xadtoagpe... Anonaklıhat zbv uldv zörod Ev 
Seat), ſcheint aljo letztere als eine in das Verftändnis Ehrifti tiefer 
einführende Unterweifung zu denken. Jedenfalls jpricht er wieder- 
holt von Offenbarungen, die er noch jpäter empfangen hat. Eine 
beſonders bedeutſame, bei welcher er fich in den dritten Himmel, 
ja in das Paradies verjegt fühlte, ift ihm 14 Jahre vor Ab- 
faffung des zweiten Korintherbriefes zu Teil geworden (II Kor. 
12, 24), Was ihm damals geoffenbart wurde, war aber nicht 
— an die Gläubigen beſtimmt, ſondern „unſag— 
bare Worte, die kein Menſch ausſprechen darf“. Infolge einer 
———— 
den Urapoſteln über die Geſehesfrage zu verhandeln (Gal. 2, 2). 
Offenbarungen können überhaupt in feinem Leben nicht? Seltenes 
geweſen jein, denn ex jpricht II Kor, 12, 1 von öntzolar und 


16 Schürer: Das Wefen der chriftlichen Offenbarung zc. 


irorarbpers im Allgemeinen, ja von einer brepfoAt, rüv dmonz- 
Abrbewv (IT Kor. 12, 7). 

Durch die Predigt der Apoftel wird die ihnen zu Teil ge 
wordene Offenbarung Andern mitgeteilt und e8 werden da- 
duch Gläubige gewonnen. Für dieſe ift zunächſt das Wort 
der Apoftel die Offenbarung. Im Wort der Apoftel ift der Geijt 
wirkfam, rveöpx und ödvajuis giebt fich in ihm Eund (I Kor. 2,4. 
II Kor. 6, 6—7. I Thefj. 1, 5). Gott ſelbſt ermahnt durch fie 
(II Kor. 5, 20). Ehriftus jpricht in ihnen (II Kor. 13, 3). Ihre 
Predigt ift 6 Aöyos 100 deod (I Kor. 14, 36. II Kor. 2, 17.4, 2. 
Kol. 1, 25. I Thefj. 2, 13. II Theſſ. 3, 1). Im Wort der Apojtel 
offenbart aljo Gott „den Wohlgerud der Erkenntnis feiner“ 
(II Kor. 2, 14). Durch diefes Wort wird die Wahrheit geoffen- 
bart (II Kor. 4, 2—8), die Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes 
verbreitet (II Kor. 4, 4—6), Und diefe yyazıs tod decd ift jo 
mächtig und fiegreich, daß fie die menjchlichen Vernunftſchlüſſe 
nieberreißt und die menjchlichen Meinungen gefangen nimmt in 
den Gehorfam gegen Chriftus (II Kor. 10, 4—5). 

Aber mit diefem Sieg dev Erkenntnis Gottes in den Herzen 
der Menfchen ift die offenbarende Wirkfamteit des Geiftes nicht 
abgefchloffen. Die Gläubigen erhalten ja den Geift zu dauerndem 
Befis, und diefer Geift führt fie immer tiefer ein in die Erkennt: 
nis Gottes. Was Paulus in dieſer Beziehung I Kor. 2, 10—12 
jagt, gilt nicht nur von den Apojteln, jondern von allen geför— 
derten Chriften. Denn von diejen, den teXeror überhaupt, ift dort 
die Rede (2, 6). Alle wahrhaft Gläubigen find rveuparıxol. Die 
Gaben des Geijtes find allerdings verjchiedene. In dem Einen 
überwiegt Diefe, in dem Anderen jene, Aber die Gabe der rpoyn- 
zei und Aroxdrupes ift eine dev wichtigſten und weſentlichſten ). 
VUeberall in den chriftlichen Gemeinden gab es darum zpoprizar. 
Die Ausgießung des Geiftes der Prophetie iſt ja geradezu ein 
Merkmal der meffianifchen Zeit?). Wie hoch Paulus die Thä— 


*) Val. dazu Guntel, Die Wirkungen des heiligen Geiftes, nach ber 
populären Anſchauung der apoftolifchen Zeit und nach der Lehre des Apo- 
ſtels Paulus, 1888, bei. S. 30-82, 34-37, 54—61. 

) Bgl. über die Propheten im apojtolifchen und nachapoftolifchen Zeit 


Schürer: Das Weſen dev chriftlichen Offenbarung ꝛc. 17 


tigkeit dev chriſtlichen Propheten ſchätzte, zeigen jeine Exörterungen 
I or. 12—14, Somohl hier (12, 28) als Eph. 2,20. 8, 5. 
4, 11 jtehen die mpopzrz: gleich hinter den arsoroia, und’ Röm. 
12, 6, wo die Apoftel nicht genannt werden, fteht die Gabe der 
Prophetie fogar an der Spige. Mach dev Gabe der Prophetie 
jollen die Korinther vor allem trachten (I Kor. 14, 1. 39). Die 
Theſſalonicher werden ermahnt, den Geift nicht zu dämpfen, die 
Prophetie nicht gering zu achten (IT Theſſ. 5, 19—20: 5 mvedpz 
ki oß&vvurs, zpapnreiag pin &oukeveite). Im Epheferbrief bittet 
der Verfaffer, daß Gott den Lejern gebe das rveüpe anpiaz mul 
ärsrarbbens (1, 17). Den Bhilippern verheißt Paulus, daf, mas 
an chriftlicher Erkenntnis ihnen noch fehlt, Gott ihnen offenbaren 
werde (Phil, 3, 15: ei ı Erpwg Ypovelte, nal tabro 5 Ahebe Dpiv 
aroxarbher). Was die Propheten jprechen, bezeichnet Paulus aus- 
drücklich als aroxzrupıs (I Kor. 14, 26. 30), Die Offenbarung 
gebt aljo fort in den chrijtlichen Gemeinden. 
Aber jo frei diefelbe jich auch entfalten joll: eine Schranke 
gi es nn für diefelbe. Die einfache und fchlichte Predigt vom 
uze Ehrifti, wie Paulus fie in jeinen Gemeinden verfündigt 
hat, darf nicht dadurch alteriert werden. Einen anderen Grund 
kann Niemand legen (I Kor. 3, 11). Wenn Einer ein anderes 
Evangelium verkimdigt, der fei verflucht (Gal, 1,8), So feit war 
der Apoſtel von dem göttlichen Urſprung Teines Evangeliums 
überzeugt, daß er e3 al3 Norm der Verkündigung für die chrift- 
lichen Gemeinden hinſtellte. 





4. 


_ Während bei Paulus das irdiſche Wirken Ehrifti faft ohn 
Bedentum, as Grlöjungswerf ijt, indem biejes jich in dem 
und der Auferfiehung Eonzentriert, legt umgekehrt der 
—— 
alter: Harnad’s Kommentar zur Adaxn, Terte und Unterſuchungen II, 
12 (1889) ©. 119-131. Bonmwetjch, Die Prophetie im apoftolifchen 
und nachapoftolijchen Zeitalter (Zeitichrift für lirchl. Wiſſenſch. und kirchl. 
2eben 1884, ©. 408—424, 460477), MWeizfäder, Das apoftolifche 
(1886) &. 584 ff. 613 f. Haller, Die Propheten der nachapo- 
Ricche Theol. Studien aus Württemberg 1859, S. 36-73), 
Zeirferift für Theologie und Air, 10.- Jahrgang, 1. deft 2 


s 


—— — 





18 Schürer: Das Wefen der chriftlichen Offenbarung ac, 


vierte Evangelijt allen Nachdruck auf die Wirkfamfeit des 
hiſtoriſchen Chriftus. An Feiner Schrift · des Neuen Teſtãments 
wird die Bedeutung des gejchichtlichen Wirkens Chrifti jo hoch ge— 
wertet wie in dieſem unbiftorijchen Evangelium. Es hängt das 
zufammen mit feiner ganzen Auffaffung vom Weſen des Heils. 
Das Heil ift ihm Licht und Leben. Alſo vor allem Licht, Er— 
(euchtung. Durch; die Grfenntnis dev Wahrheit wird man frei von 
der Macht der Sünde (8,32). Chriftus ift darum der Erlöfer, 
meil ev die Wahrheitserfenntnis gebracht hat. Er hat den Bater 
geoffenbart — das hebt er in dem großen Gebete am Schluß feines 
Wirkens als die Quinteffenz desjelben hervor. 

Unfer viertes Evangelium berührt fich in dieſen Grundge— 
danken mit der griechifchen Theologie der Apologeten mie mit der 
häretifchen Gnoſis. Die Erlöfung von den Mächten der Finfternis 
wird gewirkt durch die vechte Erkenntnis — und dieſe hat Chriitus 
gebracht. Deshalb fällt ein jo großes Gericht auf die gefchicht- 
liche Wirkfamteit Ehrifti. Ex hat während feines Lebens im Fleifche 
— durch jeine Predigt und fein ganzes wunderbares Thun — den 
Vater geoffenbart, die rechte Gotteserfenntnis gebracht. Das ift 
der Kern feines Erlöfungswerkes, welches dann in dev Wirkſam— 
teit des Erhöhten fich fortſetzt. 

Mit diefer Auffaffung ift auch ſchon gegeben, daß exft durch 
Chriſtus die volle Offenbarung des Vaters gebracht wird. Vorher 
war fie in diefer Fülle, wie er fie gebracht hat, noch nicht da. 
Mojes hat nur das Geſetz gegeben. Die Gnade und die Wahr: 


heit iſt durch Jeſus Chriſtus gekommen (1, 17). Allerdings war 
er auc ſchon vor feiner Erſcheinung im Fleifch in der Welt wirt- 
fam als Spender des Lichtes und Lebens. Es hat aljo auch ſchon 
in jener früheren Zeit der Welt an Licht und Leben nicht gefehlt. 
Aber es haben doch nur Wenige ihn aufgenommen; und dieje 
geiftige Wirkjamkeit des Logos kann auch nicht als eine die volle 
Herrlichkeit Gottes enthüllende gedacht jein. Denn der hiſtoriſche 
Ehriftus jagt mit voller Bejtimmtheit von fich, daß er erſt den 
Namen des Vaters den Menfchen geoffenbart habe. 

Der vierte Evangelift knüpft hier an das an, was mir aus 
der ſynoptiſchen Meberlieferung als ein mwejentliches Moment des 





Schürer: Das Weſen der chriftlichen Offenbarung :c, 19 


Selbjtbewußtjeins Chrifti bereit3 fennen gelernt haben. Jeſus hat 
wirklich das fouveräne und fichere Bemußtjein in fich getragen, 
daß ex allein als der Sohn den Vater kennt, und darum auch 
allein im Stande ift, ihn zu offenbaren. Dieſen Gedanken hat der 
Evangelift in den Mittelpunkt feiner Anfchauung geftellt, und mit 
den reichen Mitteln feiner Theologie weiter ausgeführt und be 
gründet. Wir müſſen diefer Ausführung in den Hauptpunkten 
noch etwas näher nachgehen. 

Miederholt betont Fejus, daß er allein den Vater kennt 
(7,29; &yb olöa züriv. 8,55: aybolsa antav 17, 25: Ey BE 
se &yvoy), Er befist aber die vollfommene Kenntnis Gottes des— 
halb, weil ex vom Vater ausgegangen, von ihm gejandt, vom 
Himmel herabgefommen ift (7, 29 und ſonſt). Chriſti eigenartige 
Gotteserfenntnis wird alfo zurückgeführt auf feine vorivdifche Prä— 
exiften; im Simmel. Wenn er Gott verfündigt, jo verfündigt ev 
nur ex gejehen und gehört hat_(gefehen: 3, 11. 8,38; ges 
hört: 8,26. 40. 15, 15; beides 3, 32). Seine Lehre ift von Gott 
(7, 16—17). Er redet Gottes Worte (3, 34. 14, 24). Seine 
Worte find Geift und Leben (6, 63). So ift er das Licht der 
Welt, 75 os fchlechthin (8, 12. 9, 5. 12, 35. 46), 

Schon im Bisherigen ift gegeben, daß dev wefentliche Inhalt 
feiner Offenbarung die vechte Gotteserfenntnis iſt. Das wird wies 
derholt auch ausdrücklich gejagt, bejonders im Gejpräch mit der 
Samariterin c. 4 und im großen Gebet c. 17. Der Samariterin 
ſagt er, daß die Zeit gekommen ſei, da man Gott nicht mehr an 
einem beſtimmten Orte, auf dem Garizim oder in Jeruſalem, an— 
beten werde, ſondern 24 nyeöuer: nat Ainbelz. Denn Gott iſt 
Geift, feine Anbetung alfo nicht an einen beftimmten Ort ges 
bunden (4, 20—24). Im großen Gebet bezeichnet ev es geradezu 
als jein Lebenswerk, daf er den Namen Gottes den Menſchen ge— 
offenbart habe (17, 6: Zyavipwss sou Tb övspm Tols Audplratz. 
17,26: Eyvhpoz aörois Tb övonk oou), und zwar den Maren, 
den Gott jelbft ihm, dem Sohn, mitgeteilt habe (17, 11—12). 
„Name ift hier gleichbedeutend mit „Weſen“. Es wird ftatt deſſen 
auch gefagt, dab Chrijtus den Seinen „die Worte Gottes“ mit- 
geteilt habe (17, 8: 7% Biuze 2 Edwrds por) oder „das Wort 

2* 


20 Schürer: Das Weſen der chrijtlichen Offenbarung ze. 


Gottes" (17, 147 zby Aöyoy soo), oder auch „die Herrlichkeit”, die 
Gott dem Sohne ſelbſt gegeben hat (17, 22: viy BöEav Tv Bldunds 
pa). Ammer alfo ift der Gedanke der, daß Chriftus die Wahr- 
heits⸗Erkenntnis mitteilt, die er vom Vater felbft empfangen hat. 

Die zulegt erwähnte Formel: „Sch habe ihnen die Herrlich“ 
feit gegeben, die du mir gegeben haft“ (17, 22), deutet aber noch 
mehr an, als was bisher von uns berührt worden ift. Jeſus ofr 
fenbart Gott nicht nur durch Worte, jondern auch durch Werte, 
Seine Werke find Gottes Werke. In ihm wirkt der Vater (14, 10). 
Ka feine ganze Erjcheinung ift eine Offenbarung der göttlichen 
Herrlichkeit. In ihm erſcheint Gott felbft, „Wer mich fieht, ſieht 
den, der mic) gefandt hat“ (12, 45). „Wer mich gefehen hat, hat 
den Vater gejehen“ (14, 9). 

Im erſten Johannesbrief wird als Inhalt der Offenbarung 
eimerjeit3 hervorgehoben, daß Gott Licht ift (I Joh. 1, 5), ande- 
rerſeits daß er die Liebe ift (4, 16), ein Gedanke, der im Evan- 
gefium nur in der Form zum Ausdruck kommt, daß Gott aus 
Liebe feinen Sohn in die Welt gefandt hat (Ev. 3, 16). Daneben 
teitt im Briefe der Gedanke ſtark hervor, daß Ehriftus den Seinen 
auch Gebote gegeben (T oh. 2, 3--6), oder vielmehr ein Gebot; 
das Gebot der Liebe (3, 11. 4, 21) — ein Gedanke, der ja auch 
im Evangelium nicht fehlt (Ev. 13, 34 f.), Die Offenbarung, die 
Ehriftus gebracht hat, erſtreckt fich alfo nicht nur auf das reli— 
giöfe, fondern auch auf das fittliche Gebiet. — Im Briefe wird 
auch, wie im Evangelium hervorgehoben, daß diefe Offenbarung 
nicht nur eine Offenbarung in Worten war. Die ganze Erſchei— 
nung Jeſu war eine finnenfällige Offenbarung des ewigen Lebens, 
das beim Water war (I oh. 1, 1-3. 4, 14). 

Indem Jeſus jo den Vater offenbart, bringt er aber das 
Heil. Seine offenbarende Thätigkeit ift geradezu das eigentlich 
Wejentliche feiner Erlöſerwirkſamkeit. Denn wer fein Wort auf: 
nimmt und darin bleibt, extennt die Wahrheit, und wird durch 
die Wahrheitserkenntnis frei von der Macht der Sünde (8, 31 —32, 
vgl. Vers 34, 36). Wie in diefem Spruch die fittliche Befrei- 
ung auf die Wirkfamfeit des Wortes Chriſti zurückgeführt wird, 
jo in einem anderen die fittliche Reinigung (15, 3: Önelz 





Schürer: Das Wefen der chrijtlichen Offenbarung zc. 21 


xadepot Eure Br Tod Abyou Bv Aekzınaa bpiv). Die ſühnende Be 
deutung des Todes Chrifti tritt im Gedanfenkreis des Evangeliften 
ganz zurück. Sie wird ein paarmal geftreift (1, 29: Siehe, das 
iſt Gottes Lamm, welches die Sünde der Welt wegnimmt, 17, 19: 
ich Heilige mich für fie, d. H, bringe mich für fie Dir zum Eigentum 
dar). Aber fie fteht eigentlich anferhalb des Zufammenhangs der 
für den Evangeliften fundamentalen Gedanken. Der Tod Ehrifti 
ift vielmehr deshalb notwendig, weil er nur als der Erhöhte das 
Werk der Offenbarung zum Abjchluß bringen kann, indem er den 
Geijt jenbet. 

Stärker kommt im erſten Briefe die fühnende Bedeutung des 
Todes Chrifti zum Ausdruck (1 Job. 2, 2.4, 105 vgl. 3, 5). 
Darin aber bleibt der Brief im Gedanfenkreis des Evangeliums, 
daß auch ex vor allem die Notwendigfeit betont, daß das gehörte 
Wort in den Herzen der Menjchen bleibt (2, 14—24). Iſt dies 
der Fall, jo bleiben fie im Sohn und im Vater (2, 24) und wer: 
den frei von der Macht der Sünde: fie fündigen nicht mehr (3, 6. 
3, 9. 5,18), Die Kühnbeit, mit welcher dies ausgefprochen wird, 
gehört geradezu zu den Eigentümlichkeiten des Briefes. 

Bei dem Nachdruck, welchen der Evangelift darauf legt, daß 
Chriftus eine neue Offenbarung gebracht hat, ift es ſelbſtverſtänd— 
lich, daß er eine vollkommene Gotteserfenntnis in den Schriften 
des Alten Teftaments noch nicht niedergelegt gefunden hat!). 


) Ueber die Stellung des vierten Evangeliums zum U. T. iſt viel 
verhandelt worden, ch begnüge mich hier, die wichtigere Litteratur zu 
nennen, die freilich in utramque partem manches Verkehrte bringt (neben 
manchem Richtigen): Baur, RKritifche Unterfuchungen über die fanonifchen 
Evangelien 18417. Bleek, Beiträge zur Evangelienfritit (1846) ©, 244 
bis 257. Hilgenfeld, Das Evangelium und die Briefe Johannis 
(1849) ©. 188 ff, Weiß, Der johanneifche Lehrbegriff (1862) S. 101 ff, 
Beyſchlag, Zur johanneifchen Frage (1876) S. 131 ff, Thoma, Das 
Alte Teftament im Tohannes-Evangelium (Zeitjchr. für wiſſenſch. Theo- 
logie 1879, ©. 18-66, 171— 223, 273—312). Franke, Das alte Teſta— 
ment bei Johannes, 1885. Weizfäder, Das apojtolifche Zeitalter 
(1886) S. 539 ff. (2, Aufl, ©. 520 ff), Oscar Holkmann, Das Jo— 
hannezevangelium (1857) ©. 182—19. Weit, Einleitung in das N. T, 
S51,2 9. Holtzmann, Einleitung in das N. T. 3. Aufl. S. 4655—457. 


22 Schürer: Das Wefen der chriftlichen Offenbarung ze. 


Sie ift darin nicht einmal latent vorhanden in dem Sinne, wie 
für Paulus die göttlichen Geheimniffe im A. T, wenigjtens ver- 
borgen enthalten find. Eine Stelle ift allerdings oft in dem Sinne 
verjtanden worden, als ob jchon die Juden eine vollfommene 
Gotteserkenntnis gehabt hätten. Jeſus jagt 4, 22 im Namen der 
Juden: Yuels rpoazuvodnev 5 olönuev. Aber der Zuſammenhang 
zeigt, daß Jeſus damit den Juden keineswegs eine wahre Er- 
tenntnis Gottes zujchreiben will: Sie meinen ja auch noch, daß 
die Verehrung Gottes an einen bejtimmten Ort gebunden fei, 
während die wahre Anbetung die Zv mvebpar azi Mrdein ift. 
Wenn die Juden alfo Gott auch kennen, jo kennen fie ihn doch 
nicht auf volltommene Weife, wie ja Jeſus bei anderen Gelegen- 
beiten ihnen ganz direkt fagt, daß jie ihn nicht Fennen (7, 28. 
8, 19. 8, 55. 15, 21. 16, 3). Eine andere Stelle hat man dafür 
geltend gemacht, daß nach dem Evangeliften die Schrift des A. T. 
für immer die normative Quelle der Wahrheitserfenntnis fei, 10, 35: 
ob öbvarar Audmvar Y ypapt. Aber damit ift nur gejagt, daß, was 
in der Schrift fteht, vichtig ift, nicht, daß fie alles enthält, was 
zur Wahrheitserkenntnis gehört; überdies iſt es fraglich, ob Jeſus 
bier nicht bloß Hypothetifch, vom Standpunkt der Juden aus, 
jpricht („wenn er Jene Götter nennt... und die Schrift nicht 
aufgelöft werden kann“). 

Jedenfalls kann es nach dev Gejamt-Anjchauung des Evan- 
geliften nicht fraglich fein, daß die Wahrheits-Erkenntnis erſt durch 
Jeſus Chriftus gebracht worden if. Moſes hat auf ihn binge- 
wieſen; er hat von ihm gejchrieben (1, 45. 5, 46). Es ift aber 
ein Irrtum, wenn man meint, in den Schriften ewiges Leben zu 
haben (5, 39). Sie geben nur Zeugnis von Chriſto, und man 
muß fich durch fie zu Chriſto führen lafjen, um ewiges Leben zu 
haben (5, 39—40). Sie geben Zeugnis von Chriſto. Darin be- 
fteht nach dem Evangeliften die Bedeutung der heiligen Schriften, 
wie er oft und nachdrücklich hervorhebt. Beſonders in der Leidens- 
gefchichte wird oft darauf Hingewiefen, wie in den Einzelheiten 


Neutejtamentl. Theologie IT, 354 ff. Zahn, Einleitung in das N. T. 
IL, 554 f. 


Schürer: Das Wefen der hriftlichen Offenbarung ze, 23 


derſelben die Meisjagungen der Schrift fich erfüllt haben (ähnlich 
mie e3 bei Matthäus vorwiegend in der Kindheitsgefchichte ge: 
ſchieht). Es muß gefchehen, was gefchrieben fteht, !va N ypapıı 
minpeihg (12, 37—4l. 13, 18. 15, 25. 17, 12. 19, 28—24, 
19, 28—29. 19, 36—37). Die genaue Erfüllung der alten Weis: 
jagungsworte in der Gefchichte Chrifti ift ein Beweis für die 
Göttlichkeit feiner Erfcheinung; fie joll alfo die Wirkung haben, 
Glauben zu wecken (19, 35: !va zul dueis miorebmte). Sie hat 
diefe Wirkung freilich auch nur bei den Empfänglichen. Selbft den 
Jüngern ift das Verftändnis für manche Einzelheiten erſt nach- 
teäglich aufgegangen (2, 22, 12, 14—16. 20, 9). 

Die Wertung des Alten Teftamentes, die wir bier finden, 
geht nicht über das hinaus, was 3. B. auch Juftin der Märtyrer 
jagt, der doch auch jehr ftark die Neuheit der durch Chriftus ges 
brachten Offenbarung betont. 

Mit der Wirkjamkeit, welche Jeſus während feines Erden— 
lebens ausgeübt hat, ift ſeine offenbarende Thätigkeit nicht abge: 
ſchloſſen. Er hat damit nur den Grund gelegt. In zweierlei Hin— 
ficht bedurfte fein Werk noch der Fortjegung und Vollendung. 
Die Jünger, welche feine Unterweifung genoffen hatten, mußten 
tiefer eingeführt werden in das Verftändnis berfelben. Und. es 
mußte das Wort der Wahrheit weiter ausgebreitet werden, um 
alle für dasjelbe Empfänglichen zu jammeln, 

Beides wirkt Chriftus als der Exhöhte durch feinen Geift, 
den Baraflet. Durch ihn wird den Jüngern erſt das volle Ver: 
ftandnis der Worte Chrifti erſchloſſen (14, 26. 16, 12—15). Er 
führt fie in die ganze Wahrheit ein und heißt darum „der Geift 
der Wahrheit" (14, 17. 15, 26. 16, 13; vgl. über das Zeugnis 
des Geiſtes auch J Joh. 5, 6—11), Ehriftus vedet durch ihn nicht 
mehr, wie er «8 zunächſt noch mußte, in andeutender Rede (tv 
rapoylarc), ſondern offen vom Vater (nzppnsiz 16, 25); ja er 
öffnet dei Jüngern den direkten Zngang zum Vater (16, 23—27), 
Aber der Kreis der Jünger muß fich auch immer weiter ausdehnen, 
Chriftus jendet ſie aus, damit durch ihr Wort auch Andere zum 
Glauben fommen (17, 18. 20. 20, 21—23), Auch diefe Wirt 
ſamkeit der Jünger ift thatjächlich eine Wirkſamkeit des Geiftes 


24 Schürer: Das Weſen der chriftlichen Offenbarung ze. 


Aus dem Leibe derer, die am Chriftum glauben, gehen Ströme 
lebendigen Wafjers aus (7, 38). Das Zeugnis der Jünger ift ein 
Beugnis des Geiftes jelbjt (15, 26) ). 

Die Sendung des Geiftes ift ebenjo ein Werk des Va— 
ters als de8 Sohnes. Es wird bald gejagt, daß der Vater ihn 
jendet (14, 16—17. 14, 26), bald daß Ehriftus ihn jendet (15, 
26. 16, 7). Gleichbedentend ijt damit aber auch, daß Chriftus 
jelbjt zu den Gläubigen fommt (14, 18—19. 28. 16, 16—24); 
und mit Ehrifto kommt zugleich der Vater, und zwar zu dauern 
dem Wohnen in den Gläubigen (14, 23). In diefen Formel 
und der darin zu Tage tretenden Anfchauung trifft nun Johannes 
mit Paulus zufammen; ja wir dürfen darin einen Einfluß der 
paulinijchen Theologie auf die johanmeifche erblicken. Auch für 
den vierten Evangeliften ift der erhöhte Chrijtus jelbft das in den 
Gläubigen wirkſame Geiftesprinzip. In Chrifto kommt der Geift, 
und im Geifte fommt Chriftus, und zwar zu dauerndem Walten 
in den Gläubigen. Da diejer Geift aber der Geift der Wahrheits- 
erfenntnis ift, geht auch die offenbarende Wirkſamkeit Chriſti fort 
in den Gläubigen. 


5. 


Paulus und Johannes find die Theologen des Neuen Teſta— 
mentes. Ihre Gedanken find in ihrer vollen Tiefe und Eigenart 
wohl niemals in das gemeinchriftliche Bewußtjein übergegangen. 
Einen Ausdrud des letzteren dürfen wir dagegen in den theolo— 
giſchen Anfchauungen der Apoftelgefhichte erblicken. Sie 
hat zwar den Baulinismus zu ihrer Vorausfegung. Aber „pau- 
liniſch“ jollte man ihren Standpunkt nicht nennen. Vielmehr zeigt 
fie uns in charakterifticher Weife, wie wenig „PBaulinifches“ das 
vulgäre gefegesfreie Heidenchriftentum in ſich aufgenommen hat. 

Mit Paulus jtimmt die Apoftelgefchichte darin überein, daß auch 
in ihe von einer Offenbarung, die Chriftus durch fein irdiſches 
Wirken gebracht hat, nicht die Rede ift. Die Bedeutung feines 


1) Das Zeugnis des Geiftes, von welchem 15, 26 die Nede iſt, iſt 
vermittelt Ducch die Jünger. Daneben wird aud) das Zeugnis erwähnt, 
zu welchem fie durch ihre hiftorifche Grinnerung befähigt werdet (15, 27). 








Schürer: Das Wefen der chriftlichen Offenbarung ıc. 25 


gefchichtlichen Wirfens wird 10, 38 in die Worte zufammengefaft, 
daß er „umbergezogen ift, indem er Gutes that und alle vom 
Zeufel Befefjenen heilte, weil Gott mit ihm war". Nur jein 
edepyereiv und ĩachor wird aljo hervorgehoben. Durch feinen Tod 
und feine Auferſtehung iſt er als dev Meſſias erwieſen, denn beis 
des ift in den heiligen Schriften vom Meffias gemeifjagt (2, 
24—32, 3, 18. 8, 32—33. 13, 27. 29. 34—35). Der paulinifche 
Gedanke, daß durch Ehrifti Tod eine Sühnung der menschlichen 
Sünde bewirkt ift, fommt nirgends zum Ausdrucd. Die eigentliche 
Bedeutung Chrifti als des Erlöjers liegt in der Zukunft. Er iſt 
der Richter der Lebendigen und der Todten (10, 42, 17, 31) und 
der Seligmacher derer, die an feinen Namen glauben (4, 12. 10,48). 

Die Summe diefer Wahrheiten bildet den Anhalt des Wortes, 
das die Apoftel verfündigen. Diefes Wort heißt in der Apoftel- 
gejchichte ganz gewöhnlich 5 Adyos tod Heod (4, 31. 6,2. 7. 8, 
14. 11,1. 12, 24. 13, 5. 7. 46. 17, 13. 18, 11) ober auch 
6 Abyos ob xuplov (8, 25. 18, 44. 48 f. 15,35 f. 19, 10, 20), 
oft auch 6 Asyos jchlechtweg. Ob unter 5 xüprac Gott oder Chriſtus 
zu verjtehen ift, kann fraglich erjcheinen (ver Ausdrud oe Ayor 
zod auplou Insod 20, 35 ift andersartig). Jedenfalls bejagt der 
Ausdrud 5 Aöyos Tod Heod, daß dieſes Wort irgendwie auf 
göttliche Offenbarung oder doch göttlichen Auftrag zurlc- 
geht. Aber wie? 

Auf eine befondere Offenbarung führt die Apoftelgefchichte 
die Erkenntnis zurücd, dab das Heil ohne Beichneidung und 
Gefegesbeobachtung auch den Heiden zu Teil werden ſolle. 
Während aber Baulus defjen gewiß ift, daß diefe Erkenntnis 
ſpeziell ihm durch göttliche Offenbarung zu Teil geworden iſt, hat 
nach der Apoftelgefchichte fchon Petrus eine folche Offenbarung 
empfangen. Durch ein Geficht, das er im Auftande der Exorzarz 
(10, 10. 11, 5) fchaute, erhielt er die Weifung, den heidniſchen 
Hauptmann Cornelius in die Gemeinde Ehrifti aufzunehmen; und 
dieſe Weiſung ift von ihm wie von der jerufalemifchen Gemeinde 
als eine prinzipielle göttliche Entfcheidung im Sinme der Heiden- 


miſſion aufgefaßt worden (10, 1—11, 18; vgl. 15, 7—19). 


Nicht ebenfo wie diejer Punkt wird im Uebrigen der Inhalt 


Pr 


26 Schürer: Das Weſen der chriftlichen Offenbarung ꝛc. 


des Evangeliums als eine erſt durch Offenbarung den Apofteln zu 
Teilgemordene Erkenntnis aufgefaßt. Alles Wefentliche ift im Grumde 
ihon im Alten Teftamente bezeugt, und es kommt mur 
darauf an, diefes Zeugnis richtig zu verftehen. Nicht nur die Haupt: 
thatfachen der Gefchichte Chriſti, fein Tod und feine Auferftehung, 
find von den Propheten geweiſſagt (j. die oben genannten Stellen), 
fondern „alle Bropheten geben Zeugnis für Chriftus, daß Jeder, 
der an ihn glaubt, durch feinen Namen Vergebung der Sünden 
empfange" (10,43: tobrıp mävreg ol mpopfjtat naptupsügtv, üpesıy 
dpaprıay Außelv Bi vod Övöparog abrol miyre mov miotebovre eig 
adröv). Auch die Aufnahme der Heiden ift in Wahrheit nicht 
exjt den Apofteln geoffenbart, fondern ſchon von den Propheten 
verfimdigt (15, 15—18). Aller chriftliche Unterricht erfolgt daher 
an der Hand der altteftamentlichen Schriften (8, 30-35. 9, 22. 
17, 2—3. 18, 28. 28, 23); Die Juden in Berda gelangen zum 
Glauben, indem fie die Schriften erforfchen (17, 11), und Paulus 
kann verfichern, daß ev „allem glaube, was im Geſetz und den 
Propheten gefchrieben ſteht“ (24, 14), ja daß er „nichts fage, 
als was die Propheten und Mofes als künftig geweiſſagt haben“ 
(26, 22: oad&y &ntd; Akywy av Te ol npopfie Eidinaav 
peiddvrwy ylverdar xl Moin). Von Geheimniffen, die in ber 
Schrift verborgen find, ift bier nicht die Nede, wenigjtens nicht 
in dem Sinne wie bei Paulus. Es ift im Grunde alles klar, wenn 
der Lejer nur nicht blind ift (Luc. 24, 25: 6 Avdrrer nad Bexdets 
75 zapdia). So hat ja auch Jeſus als der Auferftandene den 
Jüngern das Verftändnis der Schriften einfach dadurch „eröffnet” 
(Srfjvoryev), daß er auf die Nebereinjtimmung von Weifjagung und 
Erfüllung hinwies (Luc. 24, 27. 32. 44 ff.); und in derfelben Weile 
ift Paulus in Thefjalonich verfahren (17, 2—3: dtavolywv al 
repartejevos x. T. 9). Es hätte aljo im Grunde auch nicht 
nötig jein jollen, daß Petrus erſt durch eine befondere Viſion fich 
auf den Weg der Heidenmifjion weifen ließ. Das „Wort Gottes", 
der göttliche Heilswille, ift feinem Inhalte nach ſchon in den alt 
tejtamentlichen Schriften geoffenbart. Neu ift das Wort der Apoftel 
nur infofern, als es die jetzt gejchehene Erfüllung bezeugt und da— 
mit das Verjtändnis der Schriften eröffnet, 


Schürer: Das Wefen der chriftlichen Offenbarung zc. 27 


Die Wertung des Alten Teftamentes, welche wir hier finden, 
steht der jübifchen mod; näher als die des Paulus. Die gleiche 
Beobachtung läßt fich auch machen hinfichtlich defjen, was bie 
Mpoftelgefehichte tiber die Wirkungen des Geiſtes jagt. 
Diefelben werden vor ihr ftark hervorgehoben und hoch geſchätzt. 
Aber der Geift ift hier nicht gedacht al3 eine dauernd im Innern 
des Herzens waltende, den Menjchen erleuchtende und ihn tiefer 
in die Heilserfenntnis einführende Macht, jondern er ift die Wun— 
dermacht, deren Walten ein Beweis für den Anbruch der meſſia— 
nifchen Zeit iſt. Er bewirkt Wunderthaten und Weiffagungen. 
Aber die letteren dienen faum der tieferen Einführung in die 
hriftliche Heilserfenntnis. Das Wirken des Geiftes ift auch mehr 
ſtoßweiſe als ftetig gedacht. Mit einem Wort: wir finden hier im 
Wefentlichen noch die altteftamentlich-jüdifchen Anjchauungen und 
vermiſſen die paulinifche Umbildung und Vertiefung derjelben (vgl. 
hierüber die oben genannte Schrift von Gunkeſh. 

Auf die guundlegende Stelle Joel's von der Geiftesergiegung 
in der meffianifchen Zeit wird in der Pfingftrede des Petrus aus- 
Führlich Bezug genommen (2, 17—21), Die Thatjache, daß eine 
Ausgießung des Geiftes erfolgt ift, ift eben ein Beweis für den 
Anbruch der meffianifchen Zeit. Und jo waltet und wirkt nun der 
Geift auch weiter in der Gemeinde Chrifti. Aber der Geiſtesbeſitz 
iſt nicht, wie bei Paulus, vermittelt Durch die Lebensgemeinfchaft 
mit Chriſto. Selbſt das ſynoptiſche Wort: daß der Meſſias tauft 
Ey avebper: äylo, ift hier in das Paſſivum umgefeßt, 1, 5: Öpels 
2 zyebpau Bantıshijseche Aylıp, vgl. 1,8; 11,16. Chriſtus 
iſt eben gar nicht Mittler der Geiftesmitteilung. Wie äußerlich 
beides, die "Belehrung zu Chriſto und die Geiftesmitteilung neben 
einander hergeht, lehrt am veutlichiten die Thatſache, daß man 
getauft fein kann, ohne den Geift zu haben, und den Geiſt haben 
Tann, ohne getauft zu fein. In Samarien gab es Gläubige, die 
„gelauft waren auf den Namen des Herrn Jeſu“; aber der Geift 
war noch nicht auf fie gefallen (8, 15—17). Auf den Hauplmann 
Cornelius und die Seinen fällt der Geift, ehe fie von Petrus ge- 
tauft werden (10, 4—48 — 11, 15—17), Die Johannesjünger 
in Ephefus werden von Paulus „auf den Namen des Heren Jeſu“ 


28 Schürer: Das Weſen der chriftlichen Offenbarung ze. 


getauft, aber erſt nachher, infolge der Handauflegung des Paulus, 
fommt auf fie der Geift, jo daß fie mit Gloſſen vedeten und weis- 
fagten (19, 17). — Wenn e3 von den fieben Diakonen heißt, 
daß fie Männer waren nıfpeis nveiuerog uel ooples (6, 3. 5), 
oder von Barıtabas, daß ev war mAdpng mveönaros Aylon al 
riorewg (11, 24), jo feheint der Geiſt als dauernder Beſitz gedacht 
zu fein, und er ift dies auch in gewiſſem Sinne (vgl. 5, 32). 
Aber feine einzelnen Wirkungen erfolgen doch jtoßweife. Troß der 
Geiftesmitteilung am Pfingftfefte heißt es noch fpäter von den 
Apofteln, daß fie voll heiligen Geiftes wurden (4, 8: Ilrpos 
rinadels mvelparos Aylov elmev, 4, 31: Emihatmaen änavres too 
&ylou mvebtiaros, Stephanus 7, 5b: Ondpxwv mAhpng nvebpatos 
axicu). — Eine der wichtigjten Wirkungen des Geiftes ift die 
Prophetengabe. So wird auf die Griftenz und Wirkjamkeit 
hriftlicher Propheten in der Apoftelgefchichte nicht jelten hinge— 
wiefen (13, 1: in Antiochia waren nporpfm: zul Brödonaher, 
15, 32: Judas und Silas, 19, 6: die von Paulus befehrten 
Hohannesjünger Inpopiteusv, 21, 9: die vier Töchter des Phi— 
fippus, 21, 10—11: Agabus, vgl. 11, 27—28). Sie find für 
das Gemeindeleben von Wichtigkeit, infofern fie bejtimmte Weis 
jungen geben (die Propheten in Antiochia veranlafjen die Aus— 
jendung des Barnabas und Saulus zur Miſſion 13, 1) oder ein— 
zelne Ereigniffe vorausfagen (Agabus); fie ermahnen und ftärfen 
auch die Brüder (15, 32). Aber eine tiefere Einführung in die 
Heilserfenntnis wird durch ihre „Offenbarungen“ nicht beabfichtigt 
und nicht bewirkt. In diefer Beziehung. find fie alfo nicht von 
wefentlicher Bedeutung. 

Von göttlichen Weifungen und Mitteilungen ift auch jonjt 
in der Apoftelgefchichte oft die Nede, Aber auch von ihmen gilt 
im Ganzen das eben Gefagte. Sehr oft heißt e3, daß „der Geiſt“ 
jo und jo fprach, etwas vorausjagte, befahl oder verhinderte (8, 
29. 10, 19 f. 11, 12. 13, 2. 16,6. 7, 20, 22,23. 21,4. 10f.), 
Es erfolgen göttliche Aufjchlüffe oder Anordnungen durch Vifionen, 
Träume, Sendung von Engeln (abgejehen von der bedeutfamen 
Viſion, in welcher dem Petrus die Taufe des Cornelius befohlen 
wurde, vgl. noch: 7,55. 8, 26. 9, 10—17. 10, 3—8, 12, 7—11, 





Schürer: Das Weſen der chriftlichen Offenbarung ꝛe. 29 


16, 9. 18, 9 5. 23, 17—21. 23, 11. 27, 23—24), Faſt durd- 
weg handelt es ſich dabei aber um Nuffchlüffe über Einzelheiten 
oder um die göttliche Leitung der Gefchiefe und Thaten Einzelner 
oder der Gemeinde, Dieje „Offenbarungen“ gehören alfo über- 
wiegend in das Kapitel von der göttlichen Vorſehung. Sie zeigen, 
wie lebendig der Glaube an die Wirkſamkeit des Geiftes und an 
das Eingreifen Gottes in die Gefchichte war. Aber fie dienen nicht 
dem Zweck, neue Auffchlüffe über die Heilswahrheiten zu geben. 
Dasfelbe gilt ja teilweije auch von den Offenbarungen, von wel 
chen Paulus jpricht, und von der Wirkfamfeit der Propheten in 
den paulinifchen Gemeinden. Aber bei Paulus findet fich daneben, 
als ihm eigentümlich, der Glaube an eine Wirkfamteit des Geiftes, 
welche in die Tiefen Gottes einführt. 
— 

Die nachpauliniſchen Briefe des Neuen Teſtamentes 
(Hebräerbrief, katholifche Briefe, Paftoralbriefe) halten fich in ihrer 
Auffaffung von der chriftlichen Offenbarung überwiegend auf der 
Linie, die wir eben an der Hand der Apoftelgefchichte gezeichnet 
haben. Alles Wejentliche ift ſchon im Alten Teftamente gegeben. 
Deſſen Verheißungen find durch Ehriftus erfüllt, und diefe Er- 
füllung ift durch die Apoftel bezeugt. Darin befteht die Bedeutung 
des Einen und der Anderen. Der Gedanke, daß Chriftus eine 
neue Offenbarung gebracht hat, und daß den Apoſteln eine folche 
zu Teil geworden ift, tritt demgegenüber jehr zurück. Immerhin 
Tommen beide Gedanken andeutungsweiſe in verjchiedenen Modi— 
fifationen noch zum Ausdruck. 


Der Hebräerbriei begimt gleich mit dem Sabe daf 
Gott am Ende der Zeit zu uns geredet hat durch den 
Sohn (1,1); und er bemerkt in jpäterem Sufammenhang, daß 
das Heil zuerft durch den Herrn verfümdigt worden ift (2, 3: 
Gpyav Anßoboa Arkslatreı di& 70 ruplou). Ex hat aljo noch eine 
Empfindung davon, daß doch auch die Predigtwirtjamteit Jeſu 
von Bedeutung war. Aber zu einer vollen Würdigung derjelben 
kommt e3 nicht. Die heilsbegründenden Funktionen Jeſu find die 
bohenpriefterfichen. Die Bedeutung derfelben ift ſchon im Alten 


30 Schürer: Das Weſen der chriftlichen Offenbarung ze. 


Teſtamente ausreichend dargelegt. Aus diefem ift alfo das Ver— 
ftändnis des Werkes Chrifti zu jchöpfen. In Pſalm 110 ift 
hingewieſen auf den volllommenen Hohenpriejter nach dev Weife 
Melchijedet’S, und bei „Jeremia 31, 31—34 ift bereits der neue 
Bund charakterifiert, der durch dieſen vollkommenen Hohenpriefter 
gejtiftet wird. Auch die Einladung zum Heil ift ſchon im Alten 
Teftament ausgeſprochen. „Heute, wenn ihr feine Stimme höret, 
verſtocket eure Herzen nicht", jagt der heilige Geift (Hebr. 3, 7—IL 
— %. 95, 8—11), Dies „heute gilt eben für die Gegenwart 
(4, 7); denn die eimftige Verheigung der Ruhe konnte zur Zeit 
Mofis und Joſua's wegen dev Widerfpenftigfeit des Volkes nicht 
in Erfüllung gehen. „Es ijt alfo noch eine Sabbatruhe vorhanden 
für das Volk Gottes" (4, 9; val. 6, 11 ff. 11, 39 f.) — So iſt 
Belehrung und Ermahnung aus den Schriften des Alten Tefta- 
mentes zu jchöpfen. In ihm fpricht der heilige Geiſt (3, 7. 9, 8. 
10, 15). Inſonderheit hat der heilige Geift durch die Vorjchrift, 
daß das Allerheiligfte nur einmal im Jahre vom Hohenpriefter 
betveten werden dürfe, fundgethan, daß der Weg zum Allerhei- 
ligften nicht offen ftehe, jo lange der Dienft im vorderen Belt Bes 
ftand hat (9, 8; rodto önAadvra; Tod mvebuatos od Eylav, im 
mepavepnodx: Thy Toy Ayluv 5ööv), — Das „Wort Gottes", das 
die chriftlichen Lehrer verfündigen (13, 7), ift aljo feinem Inhalte 
nach ſchon im Alten Tejtamente enthalten (vgl. außer & Aöyos tod 
Yesd 4,12; 13,7 auch die Formeln r& ororgeiz 7: dpxig Tüv 
Aoyloy tod deod 5, 12; öv tig dpyfig Tab Kprorod. Aöyov 6,1; 
xaray dead fra 6,5). An philonijche Ausfagen wird man er- 
innert, wenn es 4, 12 vom Aöyos tod deod heißt, daß er wie ein 
jcharfes Schwert in's Innerſte der menjchlichen Seele eindringt 
und die geheimjten Gedanken derfelben richte. Wenn Philo fast 
wörtlich dasjelbe vom göttlichen Logos ausjagt (ſ. Bleek's und 
Lünemann’s Kommentare zu Hebr. 4, 12), fo iſt dabei Die 
bibliſche Anſchauung von der alles durchdringenden Alwifjenheit 
und Allwirkſamkeit Gottes und die jtoifche von der alles durch— 
waltenden Weltvernunft in eins zujammengefloffen. Beim Vers 
faffer des Hebräerbriefes jchillert der Ausdrud zwifchen der Be— 
deutung „Wort“ und „Vernunft (Wiſſen)“. Inſofern erſtere über: 


— 


wer 


Schürer: Das Weſen der chriftlichen Offenbarung zc- 31 


wiegt, ift nach dem Zuſammenhang der Stelle (4, 11—13) au 
das eindringlich mahnende und ſtrafende Wort des Alten Tefta- 
mentes, infondexheit der dort citierten Pſalmſtelle zu denten, 
Der Jakobusbrief nennt das Sittengejeg des Evan- 
geliums, zu deſſen Befolgung er jo nachdrücklich ermahnt, den 
vayoy releiov zby zig EReuteplas (1, 25). Daß hier das Sitten= 
geje des Evangeliums gemeint ift, ift nicht nur aus den Bei— 
jpielen des ganzen Briefes deutlich, jondern vor allem aus dem 
Zufammenhang mit dem Vorhergehenden; denn der Zufammen- 
bang zeigt, daß der vöos identijch ift mit dem Adyag, defjen Thäter 
die Gläubigen fein follen (1, 22), und diefer Adyog ift wieder iden⸗ 
tifch mit dem Wort der Wahrheit, durch das die Gläubigen ge- 
zeugt worden find (1, 18), und welches ihre Seelen, wenn fie es 
immer mehr aufnehmen, zu retten vermag (1, 21), alfo mit dem 
Evangelium. Das Evangelium enthält eben nicht nur Verheiß- 
ungen, jondern auch fittliche Forderungen und iſt infofern ein 
von, Ein „Geſetz der Freiheit“ heißt es ficher nicht deshalb, 
weil es Befreiung von der Macht der Sünde wirkt (denn die Ein- 
tragung dieſes paulinifchen Gedankens iſt hier ſchlechthin unftatt» 
haft); vielmehr ift am den ſynoptiſchen Spruch Chrijti zu denen, 
daß feine Lehre ein janftes Joch und eine leichte Laft ift, aljo 
nicht als eine Fefjel empfunden wird, wie die Gejeeslehre der 
Phariſaer (Matth. 11, 29 f.). In Anfpielung Hievan heißen die 
Forderungen des Evangeliums auch im Barnabasbrief 
(2, 6) 5 xarvds vönos tod zuplsu Fuäv "Insso Nprorad, aveu 
Loyod avayans Öv. Das Evangelium heißt alfo im Unter- 
ſchied vom alten Gejet „das Gefe dev Freiheit", weil 
die, die es befolgen, ſich nicht als Knechte, jondern als Freie fühlen. 
Iſt Schon damit ein beftimmter Gegenjag gegen das alte Gefeh 
"  ausgefprochen, jo auch durch das Prädikat Eder, denn „voll- 
fommen“ kann es doch nur heißen im Unterjchied vom unvolltom- 
menen alten. Das entjpricht ja auch dem Gedanken Jeſu, daß er 
‚gekommen jei, das alte Geſetz durch Verſchärfung und Vertiefung 
"feiner Gebote „volltommen zu machen" (minposz Matth. 5, 17). 
Der Verfafjer des Jakobusbriefes hat aljo ein bejtimmtes Bewußt- 
fein davon, daf die fittlihe Geſetzgebung Jeſu 





32 Schürer: Das Wefen der chriftlichen Offenbarung zc. 


Ehriftietwas Neues ift. In Anlehnung an fie bezeichnet 
er auch das Gebot der Nächftenliebe als das „Lönigliche* unter 
den Geboten (2, 8). Eine darüber hinausgehende Wertung des 
Dffenbarungscharakters der Berfon Chrifti wird man ihm aber 
nicht zutrauen dürfen. Ja auch jene Einficht wird wieder dadurch 
verdunfelt, daß er als Beijpiele von Sittengeboten Worte des 
Defaloges zitiert, und zwar gerade folche, welche Jeſus als unge: 
nügend bezeichnet hat (2, 10—11), Das Sittengeſetz des Evan- 
geliums und das des Alten Teftamentes fallen ihm aljo ſchließlich 
doch zufanmen, Das Neue ift wejentlich die Abfchaffung des 
Ceremonialweſens. 

Sehr deutlich ſpricht ſich der erjte Petrusbrief über 
das Weſen der Offenbarung aus in dev wichtigen Stelle 1, 1012. 
Hiernach hat in den Propheten des A. T. der Geiſt 
Chrijti gewaltet (tb 2v adrotz rveünz Xprotod rpopaeprugoßjevov) 
und bat ihnen infonderheit fund gethan, warn die Leiden und 
die Verherrlichung Ehrifti ftattfinden werden. Auf Grund deſſen 
haben die Propheten von der Gnade geweifjagt, deren Verwirk— 
lichung nun verfündigt wird; und zwar verfündigt durch Wirkung 
des vom Himmel gejandten heiligen Geiſtes. Bemerkenswert ijt 
bier, daß der Geift des präeriftenten Chriftus jelbit in den Pro— 
pheten wirkfam gemefen iſt. So wenig bat aljo Chriftus durch 
feine gefchichtliche Wirkjamleit eine neue Offenbarung gebracht, 
daß er vielmehr ſchon als präexiſtenter die Heilserfenntnis den 
Propheten geoffenbart hat. Es iſt daher gewiß auch nicht zufällig, 
daß im erſten Petrusbrief dev noch im Ephejerbrief fo ſtark her— 
vortvetende Gedanke fehlt, daß die Annahme der Heiden zum Heil 
ein Mofterium war, das bisher verborgen und erjt durch die 
Apoftel enthüllt worden ift. Für den Verfafjer des erſten Petrus: 
briefes liegt diefe Erkenntnis, wie es feheint, fchon im Alten Te 
ftamente deutlich vor. Das Evangelium, das num den Gläubigen 
verfündigt worden ift, und durch welches fie, als durch ein leben- 
diges Wort Gottes, wiedergeboren find (1, 23—25), ift demmach 
identifch mit dem „Wort des Herrn“, von welchem jchon Jeſajas 
gejagt hat, daß es in Ewigkeit bleibet (1, 25 — Jeſ, 40, 8: 75 
d2 Pre wuplov päver eis by almve, Dazu der Verf.: tooro BE 


_ 


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Schürer: Das Weſen der chriftlichen Offenbarung ıc. 38 


day zb era rd eöarfeitsdev eis Önäs). 

- Auch für den Verfaſſer des zweiten Petrusbriefes 
iſt das prophetifche Wort die Grundlage der chriftlichen Erkenntnis. 
Es ift eine Leuchte, die am finteren Orte, nämlich in der finftern 
Welt, ſcheinet (1, 19). Nicht durch menjchlichen Willen ift je eine 
Weiffagung zu Stande gekommen, fondern „vom heiligen Geifte 
getrieben“ (dmd rvebpanog Aylov Fepöneva) haben die Propheten 
‚geredet (1, 21), Darum fält jede Schriftweiffagung auch nicht 
„eigener“ ke Deutung anheim (1, 20: Blag Emebsewz 
ob yivara), d. h. fie ift nicht Sache der beliebigen Deutung von 
Seite des Einzelnen, ſondern — — des heiligen Geiftes? Diejen 
Gedanken follte man eigentlich erwarten; aber dev Verfafjer ſpricht 
ihn nicht aus, fondern weit jtatt deſſen auf die Autorität der 
Apoſtel hin. Den Apofteln, welche Zeugen der Verklärung Jeſu 
waren und die Stimme vom Himmel auf dem heiligen Berge ges 
hört haben, ift dadurch das prophetiiche Wort gewiſſer geworden 
(1, 16—19: Eyanev Beßaörepov zbv mpopytndv Aöyov). Sie find 
darum die zuwerläfjigiten Verkündiger desfelben. So ftellt der Ver— 
faſſer auch fonft dieje beiden Autoritäten neben einander: die Worte 
der Propheten und die der Apojtel (3, 2), unter letzteren den Paulus 
oder vielmehr deſſen Briefe, befonders hervorhebend (3, 15—16). 
Es ift in nuce bereit$ das Schema der katholifchen Anfchauung, das 
uns hier vorliegt: die heiligen Schriften find die maßgebende 
Autorität, aber nicht nach jubjeftiver Auslegung, jondern nach der 
normativen, von den Apofteln her überkommenen. 

Im Wejentlichen ift dies auch die Stellung der Paſtoral— 
briefe. Uber fie haben daneben echt paulinifche Neminifzenzen 
erhalten; ja man kann jagen, daß fie fich chavakterifieren durch 
eine Zufammenfafjung von Gedanfen und Gedankenjplittern, Die 
uns fonft nur getrennt begegnen und zwar eine Aufammenfaffung 
im Intereſſe der katholischen Lehr- und Kirchen-Einheit. Die nor- 
mative Bedeutung der heiligen Schriften wird namentlich hervor: 
gehoben II Tim. 3, 14—16. Die iep% ypkparz, welche Timo- 
theus von Kind auf gelernt hat, können „weiſe machen zum Heil 
durch den Glauben an Ehrijtum Jeſum“ (den fie aljo zu weden 
und zu begründen vermögen). Jede von Gott er Schrift 

Zeuſchrift für Theologie und Airche, 10. Jahrgang, 1. Seft. 





34 Schürer: Das Wefen ber chriftlichen Offenbarung ze. 


(232 ypayi Heörveustsg) iſt nühlich zur Belehrung, Zurechtwei- 
fung, Befferung und Erziehung in Gerechtigkeit. Nach dem Titus- 
brief 1,2—8 bat Gott das ewige Leben ſchon red xp&vov zlavlav 
verheißen; aber jest hat er zur rechten Zeit fein Wort geoffen- 
bart durch die Predigt, mit welcher Paulus betraut worden ift 
(Eyavipwoev roy Aöyov abrod Ev ampbyner, D Emtorebtny Ey). 
Hier ift alfo doch feitgehalten, daß die Predigt Bauli etwas Neues 
gebracht hat. Wenn es heift, daß die Gnade Bottes oder die Güte 
und Menfchenfreundlichkeit Gottes „erſchienen“ ſei (Tit. 2, 11. 
3, 4, beidemal &repivm), oder daß die Gnade nun geoffenbaxt ſei 
durch die Erſcheinung unferes Heilandes Jeſu Chrifti (II Tim. 
1, 10: pavepwielse vöv && wg Emipavelas Tod suripas Tv 
Xprorco Tyoco), jo ift dabei zumächit nicht an Offenbarung einer 
Erkenntnis, fondern nur an die thatfächliche Verwirklichung des 
Gnadenratjchluffes gedacht. Aber an der legteren Stelle wird fort- 
gefahren, daß Ehriftus Leben und Unvergänglichkeit ans Licht 
gebracht hat durch das Evangelium, für welches Paulus 
als Herold und Sendbote und Lehrer gefest ift (IT Tim. 1, 10—11). 
Das Evangelium Pauli hat aljo wirklich eine neue Erkenntnis 
gebracht (vgl. auch I Tim. 2, 7). Auch die Ausdrüde nustipiov 
ang niorews (I Tim. 3,9) und nuoriprov vg eboeßeins (I Tim, 
3, 16), deren Sinn allerdings ftreitig ift, erinnern an paulinifche 
Gedanfengänge; namentlich der leßtere, denn als das Hustiptov 
775 edoeßelxs werden dann eine Reihe chriftologijcher Säße zitiert; 
und der Zufammenhang zeigt, daß diejes nuoripov ung eboeßelez 
im Wefentlichen identifch ift mit der AArderz, deren Trägerin und 
feſte Stüge die Kirche ift. Es ift alſo die bisher verborgene, aber 
nun in dev Kirche geoffenbarte Wahrheit. — Während nach Tit. 
1, 3 und I Tim. 1, 10 f. die Offenbarung der Heilswahrheit 
durch die „Predigt“ oder das „Evangelium“ des Paulus erfolgt 
ift, wird fie I Tim. 6, 3 auf Chriſtus ſelbſt zurücgeführt; 
denn die gefunden Lehren heißen hier die Oyıaivovres Adyoı Tod 
wupiov Auoy "Insso Nprsrsd. — Auch in anderer Beziehung, 
finden wir in den Bajtoralbriefen noch die Nudimente urchriſt— 
licher Anjchauungen und Zuftände. Es giebt nod „Propheten“ 
in den chriftlichen Gemeinden, deren Ausfprüche von maßgebender 








Schürer: Das Wefen der chriftlichen Offenbarung ıc 35 


Bedeutung find bei der Wahl und Einfegung von Gemeinde: 
beamten (I Tim. 1, 18. 4, 14). Das erinnert an Aehnliches in 
der Apoftelgefchichte (ob I Tim. 4, 1 75 nveöpz Öntog Atyeı auf 
altteftamentliche oder auf chriftliche Prophetenfprüche zu beziehen 
iſt, ift ungewiß). Von neuen Offenbarungen hinfichtlich dev Heils— 
wahrheiten durch chriftliche Propheten kann aber ſchon deshalb nicht 
die Rede fein, weil vorausgejegt wird, daß „Die gefunde Lehre" eine 
abgejchlofjene, in der Kirche anerkannte und herrjchende iſt (I Tim. 
1, 10, 6, 3. II Tim, 1,13, 4, 3, Tit. 1,9. 2, 1). Sie foll fo, 
wie fie von den Apofteln, infonderheit von Paulus ſtammt, weiter 
überliefert werden (II Tim. 2, 2. 2, 8. 3, 10. Tit. 3, 8, Bol. 
I Zim. 1, 11). Ihre Trägerin und fefte Stübe ift die Kirche 
(I Tim. 3, 15). Darum ift fie auch eine zuverläfjig verbürgte, 
Ikorög & Aöyos iſt eine Lieblingsformel unferer Briefe (I Tim, 
1, 15. 3, 1.4, 9. II Tim. 2, 11. Tit. 3, 8). Gs ift, troß aller 
paulinifchen Reminifeenzen, im Wefentlichen doch fchon die Poſi— 
tion der Fatholifchen Kirche, welche unjere Briefe vertreten. 

Den äußerften Gegenfag zu der Niüchternheit der Baftoral- 
briefe bildet der enthufiaftifche Neichtum der Apokalypſe Jo— 
bannis. Hier ijt alles Offenbarung. Eine Fülle von Weifjagungen, 
jolchen, an denen ein wejentliches Heilsinterefje haftet, und folchen, 
bei welchen dies nicht der Fall ift, wird von dem Verfaſſer aus- 
gejchüttet, Und ev tritt dabei durchweg mit dem Anſpruch auf, 
daß Alles auf Offenbarung beruht. Die Form der Offenbarung 
ift die der jüdifchen Apokalyptik. Nicht im Inneren des menfch- 
lichen Herzens, jondern in Form von Gefichten und im Zuſtand 
der Elſtaſe ſchaut und hört der Verfaſſer den Anhalt der ihm zu 
Teil gewordenen Offenbarungen, Das Buch — feinem Urfprung 
nach vermutlich mehr jüdijch als chriftlich — ift das einzige diefer 
Art, das nachmals in den Kanon des Neuen Teftamentes Auf: 
nahme gefunden hat. Es ift aber ehedem nicht das einzige geweſen, 
das Anjehen in der Kirche genofjen hat. Eine Apotalypfe des 
Petrus hat in manchen Kreifen längere Zeit hindurch die gleiche 
Autorität genoffen. Und felbft eine apofalyptifche Schrift des 
zweiten Jahrhunderts, die gar nicht den Anfpruch macht, von 
einem Apoftel herzurühren, der Hirte des Hermas, ift vielfach 

3* 


36 Schürer: Das Weſen der chrijtlihen Offenbarung ze. 


als wirkliche Offenbarungsichrift begierig gelefen worden. Dieſe 
Thatjachen bilden eine wertvolle Ergänzung zu dem, was wir fonit, 
namentlich aus der Apoftelgefchichte, wijjen. Der Glaube an das 
Walten des prophetifchen Geiftes in der chriftlichen Gemeinde war 
ein allgemeiner. In der Apoftelgefchichte wird aber von den chrijt- 
fichen Propheten nivgends gejagt, daß fie auch in Betreff der 
eigentlichen Seilswahrheiten neue Erkenntniſſe erſchloſſen haben. 
Das große Anfehen, welches die Apofalgpfen des Johannes, 
Petrus und Hermas genofjen, zeigt uns dagegen, daß man 
auch an Offenbarungen der legteren Art willig geglaubt und fie 
begierig aufgenommen hat. So geht aljo beides neben einander her: 
die Vorausfegung, daß alles Wejentliche ſchon im Alten Teſta— 
mente geoffenbart ift, und der Glaube, daß die chriftliche Gemeinde 
noch eine Fülle von Offenbarungen empfangen hat, ja noch em— 
pfängt, Man darf wohl jagen, daß es fich damit auf chriftlichem 
Boden ähnlich verhält, wie im Judentum: erjteres war mehr die 
offizielle Theorie, letzteres mehr der populäre Glaube (infofern es 
fich nämlich um die apofalyptijche Form des Offenbarungsglaubens 
handelt; etwas anderes ift der durch die paulinifche und johan- 
neijche Theologie begründete Glaube an ein Fortgehen der Offene 
barung im Innern des menschlichen Herzens ; diefer ift mehr theo- 
logifch als populär). Als man von Seite der kirchlichen Autori- 
täten davan ging, die preumatifchen Erſcheinungen in bejtimmte 
Schranken zurückzuweiſen, hat man befonders auch die apofalyptifche 
Litteratur zenfuriert, Die Petrus-Apokalypſe und der Hirte des 
Hermas wurden nach einigem Schwanken aus dem Kanon ver— 
riefen, und auch die Apofalypfe Johannis ift in der griechijchen 
Kicche geraume Zeit hindurch diefem Schickſal verfallen. Nur in— 
folge dev im Altertum faſt allgemeinen Bezeugung ihres apo ſto— 
liſchen Urſprungs hat fie fich fchließlich doch als Beſtandteil des 
Kanon durchgefeßt. Denn das Entjcheidende war jest nicht mehr 
der Inhalt, ſondern die Apoftolicität?). 





+) Will man die im Obigen gemonnenen Refultate fchematifieren, jo 
Taffen fich folgende Anfchauungen unterfcheiden: 1) Das Chrijtentum hat 
überhaupt feine neuen Erfenntniffe gebracht, fondern nur Die thatfächliche 
Erfüllung der im U. T. gegebenen Berheifungen, 2) Chriſtus hat durch 


Schürer: Das Wefen der hriftlichen Offenbarung zc. 37 
m 


In den fpätejten Schriften des Neuen Tejtamentes (Baftoral- 
briefe und II Petrusbrief) kommt bereits diejenige Anfchauung zum 
Ausdrud, welche wir als die „Eatholifche” im Unterfchied von der 
urchriftlichen bezeichnen können. Sie harakteriſiert fih durch das 
Wertlegen auf die äußeren Autoritäten (Schrift und kirchliche Lehr: 
tradition) im ee von dem wrchriftlichen Glauben an ein 
lebendiges Wirken des heiligen Geiftes auch auf dem Gebiete der 
hriftlichen Erkenntnis. 

Im Urchriſtentum, bis in’s zweite Jahrhundert hinein, war 
alles auf den Geift geftellt‘)., Die jelige Gewißheit, von ihm 
erfüllt zu fein, gab den Gläubigen die fieghafte Kraft und Zur 
verficht in ihrem Kampf mit der Welt. Aber in diefem Enthus 
ſiasmus lag eine große Gefahr. Es war alles ſubjektiv. Man 
befaß zwar in dem Evangelium Jeſu Ehrifti und in der Predigt 
der Apojtel objektive Maßftäbe; aber es war immer die Gefahr 
vorhanden, daß diefe überwuchert wurden von fubjektiven Strö— 
mungen. Dieje Gefahr ift zur Wirklichkeit geworden im dem beiden 


gewaltigen Erſcheinungen des Gnoftieismus und des Montanismus. 
j überwucherte der Erfenntnistrieb, in die ie pro⸗ 
Elſtaſe. Beide brachten die Chriſtenheit in Bahnen, die 

meit abführten von dem urfprünglichen Evangelium. Gegen fie 


iehen, um das Wejentliche ihres 
retten. Dabei geſchah aber, mas im ähnlichen Jallen 


in der Gefchichte der Neligionen immer gejchieht: das urfprüng- 
lic) friſch pulfierende Leben wurde durch gejegliche Schranken ein- 


feine gejchichtliche Wirlſamkeit das Weſen Gottes geofienbart, 3) den Apo- 
ten, infonderheit dem Paulus ift durch Offenbarung bie rechte Er— 
fenmtnis des Werkes Chrifti zu Teil geworden, 4) die Offenbarung gebt 
fort durch die Wirkfamfeit des Geiſtes a) im Innern des menfchlichen 
‚Herzens, b) in apofalyptifcher Form durch die chriftlichen Propheten. Durch 
verfchiedene Kombination und Modififation diefer Anfchauungen ergiebt 
ich Die oben gezeichnete Mannigfaltigleit. 

_ ») Ueber die prneumatifchen Erfcheinungen in der nachapoitolifchen Zeit 
vgl. jest namentlich: Weinel, Die Wirkungen des Geiſtes und der 
Geifter im nachapoftolifchen Zeitalter bis auf Irenäus, 1899, 


38 Schürer: Das Wefen der chriftlichen Offenbarung ze, 


gezäunt, um den Einbruch des Feindes abzuwehren. Diefe Schran- 
fen waren: der Kanon und die Lehrtradition, deven Träger das 
kirchliche Amt, jpeziell der Epiffopat war. 

Zunächft dev Kanon. Die Evangelien und Apoftelfchriften, 
die man al3 chriftliche Lehrjchriften gefammelt hatte, erhielten nor: 
mative Bedeutung, und wurden zum Lehrgejes erhoben. Während 
im der chriftlichen Urzeit der Geift über die Schrift geftellt war 
(denn die Schriften des A. T. wurden ausgelegt nach Maßgabe 
der vom Geift gewirften Erleuchtung), wurde jet die Schrift über 
den Geijt gejtellt: die pneumatiſchen Erſcheinungen mußten ſich 
beugen unter die Norm des Schriftbuchjtabens. So gewann nicht 
nur das Alte Teftament wieder die volle Autorität, die es im ber 
jüdifchen Gemeinde gehabt hatte, jondern auch die Schriften der 
Apoftel rückten als „das Neue Teftament" in die gleiche Stellung 
ein. Sie erhielten in ihrem vollen Wortlaut die Geltung als Wort 
Gottes. An Stelle der lebendigen Offenbarung trat die gefchriebene, 
Offenbarung und Schrift fielen wieder zufammen. Auch die Kirche 
glaubte num, wie die Synagoge, in den heiligen Schriften zu 
haben tiv köpywarv vis yvazews zul 7: Mrdelas (Röm. 2, 20), 

Aber neben den Kanon trat nos eine gmeite gejeblie Seienute: 
die Firchlihe Tradition, Nur dann war die Schrift eine fichere 
Norm, wenn ihre Auslegung gefichert war durch die Autorität, der 
Siege. Die in ver Kirche überlieferte, von ihren amtlichen Or- 
gamen bezeugte apoftolifche Lehre war die Regel, nach welcher die 
Schrift auszulegen war, Alfo nicht mehr die vom Geijt gewirkte 
Erleuchtung durfte den Gläubigen leiten bei dem Eindringen in 
das Verftändnis der Offenbarung, jondern die offizielle Lehre der 
Kirche. Man ſprach zwar noch vom Geift. Aber der lebendige 
Glaube, daß er in alle Wahrheit führe, ſchwand mehr und mehr 
dahin. Das Lehrgefeß der Schrift und der Kirche war Alles, 

Wir ftehen noch heute unter der Nachwirkung diefer That— 
jache, und nicht nur diefer, ſondern auch der anderen, daß in der 
kirchlichen Theologie das pauliniſche Schema herrſchend geworden 
iſt und die in der Verkündigung Jeſu Chriſti und in der johan— 
neiſchen Theologie liegenden Gedanken in den Hintergrund gedrängt 
bat, Indem wir dieje wieder mehr zur Geltung bringen, erhalten 





Schürer: Das Wejen der hriftlichen Offenbarung ze. 39 


wir zugleich die notwendige Korrektur des veräußerlichten Offen- 
barungsbegriffes. In weiten Seifen der heutigen Theologie wird 
die lebendige Offenbarung in Chrifto unterfchägt und die Autorität 
des Schriftbuchftabens überſchätzt. Bringen wir die Bedeutung 
jener wieder mehr zur Anerkennung, jo ergiebt fic zugleich der 
richtige Gefichtspunkt für die Wertung der Schrift, 

dem eigenen Zeugnis Chriſti wie nach der Darjtellung 
mgeliums hat er jelbjt uns die volle Offenbarung 


{ e 
eine ganze Erſcheinung, durch feine lebendige gotter- 
önlichfeit. In ihm ſchauen wir den Vater. Und jein 
Geiſt, der in der Gemeinde waltet, wirkt fort und fort immer 
wieder das Verjtändnis side Offenbarung. Die Bedeutung der 
Schrift aber befteht darin, daß fie uns das Bild Chriſti Tebendig 
vor Augen malt; daß fie uns feine leibliche Gegenwart erſetzt, 
indem jie uns Chrijtum predigt. Wir werden aljo der Offen- 
barung teilhaftig, indem wir Ehriftum fo, wie die Schrift ihn ums 
zeichnet, aufnehmen in unfer Inneres. Sein Leben wird dann 
unfer Leben, feine Gottesgemeinfchaft unfere Gottesge- 
meinjchaft. Gott wird als der gnädige uns offenbar; und dieſes 
Leben in Gott macht uns frei von Sünde und Welt!). 


Na 
des vierten 












Vgl. W. Herrmann, Der Begriff der Offenbarung (Vorträge 
der theologifchen Konferenz zu Gießen, III Folge, 1887, ©, 1-28). — 
Einen Berfuch, den Offenbarungscharakter der Perſon Jeſu durch eine 
Biftorifche Unterfuchung fejtzuftellen, macht Schwartzko pff, Die Gottes- 
offenbarung in Jeſu Chriſto nach Weſen, Anhalt und Grenzen, 1896. Auch 
die oben S. 1 genannte Abhandlung von Oscar Holtz mann verfolgt 
im Wefentlichen dasjelbe Ziel. 


Das Bekenntnis in der evangeliſchen Kirche. 
Von 


9. Schultz. 


1) Als Schleiermadper 1819 „über den eigentümlichen Wert 
und das bindende Anjehen ſymboliſcher Bücher“ eine Abhandlung 
veröffentlichte, leitete ex fie mit den Worten ein „Niemand fuche 
hinter diefer Meberjchrift die Anmaßung, etwas Neues über einen 
Gegenftand zu fagen, der feit langer Zeit fo oft und vielfältig be— 
fprochen worden ijt, daß man wohl nicht glauben kann, es fei 
irgend ein bedeutender Punkt unerörtert geblieben“. Heißt es nicht 
„Waffer in das Meer tragen”, wenn man nach achtzig weiteren 
Jahren, die zahllofe Grörterungen der Frage von den verjchieden: 
ſten Standpunften gebracht haben, noch einmal es unternimmt, 
über die Bedeutung de3 Bekenntniffes in unfrer Kirche zu reden? 
Bumal in einem Kreiſe wie dem unfrigen, in dem man nicht bloß 
Kenntnis der eigentümlichen Schwierigkeiten des Gegenftandes, fon- 
dern auch Hebereinftimmung in den entjcheidenden Punkten vor 
ausjegen kann? 

Warum ich dennoch mit dieſem Thema in Ihre Mitte trete? 
Weil es nicht verftummen darf, bis unfere Kirche die Bedeutung 
ihrer Belenntniffe anerkannt hat, die in ihrem eignen Urſprung 
und Wejen begründet ihren Dienern die Möglichkeit gewährt, wahre 
wiſſenſchaftliche Bildung mit fvendiger Befriedigung in der Ver- 
fündigung des evangelifchen Glaubens zu verbinden. Umd weil 
feit jenen Worten Schleiermacher's die Beurteilung unfrer Frage 
in den maßgebenden Kreifen der Kirchenleitung, ja vielfach auch 


Schultz; Das Belenntnis in der enangelifchen Kirche. 41 


der kirchlich Tebendigen Laien, keineswegs im evangelijch-proteftan- 
tifchen Sinne weitergeführt und allgemeinen Einverftändniffe nahe 
gebracht ift. Offenbart fich doch vielmehr nur zu oft die Neigung, 
fie in rückläufiger Richtung, im Geifte des katholischen Kirchen» 
begriffs zu beantworten. 

Als man das dritte Säkularfeſt der Reformation feierte, ließen 
ſich wohl bedeutfame Stimmen vernehmen, die auf eine energiſche 
Durchführung der in den Belenntniffen niedergelegten altvefor- 
matorifchen Lehre in lebhaften Eifer hindrängten, ja die nach 
Schleiermacher's Ausdrucke ſich anftellten, als könnten fie „einen 
ganzen wohlbefannten und nicht unbedeutenden ‚Zeitraum der Kirche 
wie ungelebt machen, und die Charaktere, die er in die Gefchichts- 
tafeln eingegraben, wie mit einem Schwamm mwegwifchen, ſodaß 
wie bei einem Codex reseriptus die urfprüngliche Schrift des 17, 
Sahrhunderts wieder zum Vorfchein käme". Aber weder der glau— 
bensmächtige Vertreter diefer Richtung Claus Harms, noch ihr 
weniger berechtigter Anwalt Ammon, dachten doch an eine richs 
terliche Stellung des Belenntnisbuchjtabens, Noch im Jahre der 
Jubelfeier der Augsburgifchen Konfejfion konnte Schleiermader 
die bejorgten Vertreter der ratiomaliftifchen Theologie — wie 
v. Eölln oder David Schulz, — damit beruhigen, daß feine 
Stimme in der Kirche ftatt des Anſchluſſes an den Geift der Be— 
kenntniſſe eine Beſchwörung der Lehrnorm des Buchftabens befür— 
mwortet habe. Die durch den Pietismus vorbereitete, durch den 
Nationalismus zur praftijchen Geltung gefommene, freie Stellung 
zum kirchlichen Bekenntnis evjchien als felbjtverftämdlicher Gewinn 
der Entwidlung des Proteſtantismus und fand vielfach auch ge: 
jeglichen Ausdruck. In Breslau und Barmen hatten die Synoden 
1822 in diefem Sinme entjchieden, in Weimar und Gotha, wie in 
der bairiſchen Generaliynode und in Baden war 1821 bie frei- 
ſinnige Stellung zu den Bekenntniſſen anerkannt, Die dänifchen 
Berordnungen von 1817 und 1826 wiejen jede Richterftellung der 
Symbole ab. Das Kirchenbuch in Sachfen 1812 gab dem Lati- 
tudinarismus einen befonders weitgehenden Ausdruc, In Preußen 
hatte jchon die von dem weitaus größten Teile der Kirche freudig 
begrüßte Union eine freiere Stellung zum Bekenntnis zur notwen- 


42 Schul: Das Bekenntnis in der evangelifchen Kirche. 


digen Folge, und 1829 hatte die Kicchenregierung die 1821 ver- 
fuchte Verjchärfung der Bindung an die Symbole im Sinne einer 
Hinweifung auf die heilige Schrift ala Glaubensnorm wieder abs 
geſchwächt. 

Eine Veränderung der Stimmung und des Verhältniſſes der 
Kräfte macht ſich erſt im Gefolge der kirchlichen Bewegungen fühl— 
bar, die an den Regierungsantritt Friedrich Wilhelm IV. ſich an- 
ichließen. est fangen Männer wie Sartorius und Rudelbach 
an, jtatt des geiftigen Anfehens der Bekenntnisſchriften ihr geſetz— 
liches Recht zu betonen, und ihre unveräußerliche Geltung in der 
Kirche troß abweichender Gewohnheiten — denn „adversus veri- 
tatem nulla praescriptio*. Die Treue gegen das Bekenntnis wird 
offen mit dem Gehorfam des Beamten gegen Geſetz und Verfaj- 
fung gleichgeftellt, — höchjtens, daß eine gewifje theologijche Frei— 
heit gegenüber den Beweisführungen, Erläuterungen und Eitaten 
der fymbolifchen Bücher zugeftanden wird. Und der liberalen Rich- 
hung fängt das freudige Bewußtfein ihres befjeren Nechtes zu fehlen 
an, Wenn noch 1833 Johannfen «8 unternommen hatte, unter 
dent Beifall feiner Kivchenbehörde die Unmöglichkeit des Symbol- 
zwangs aus Nlaturrecht, Moral, Staatsrecht und Kirchenrecht und 
aus dem Weſen des Chriftentums und des Proteftantismus zu 
erweifen, begnügen fich jest Theologen wie Thomas in feinem 
Sendichreiben an Stahl 1845, oder Scheele in feiner trefflichen 
Schrift von 1846 die Gleichftellung des von Menfchen gemachten 
Belenntnifjes mit der h. Schrift, und der kirchlichen Lehre mit 
dem Evangelium von Jeſus abzuweiſen. 

Sch brauche in diefem Kreife nicht an das zu erinnern, was 
wir Alle mit erlebt haben. Die Symbole des 16. Yahrhunderts 
werden mit geringerem Eifer in den Vordergrund geftellt, als vor 
einem Menfchenalter. Auch ihre Verteidiger, wie Zöckler (1864) 
und Lindemann (1875) leugnen eine gewifje Freiheit der Theo- 
logie ihnen gegenüber nicht. Das hindert freilich nicht, daß ein- 
zelne Kirchenvegierungen immer wieder nacı dem wenig beneidens= 
werten Ruhme jtreben, im gegebenen Falle auch den Buchitaben 
des Konkordienbuchs im Verfahren gegen unbequeme Geijtliche 
geltend zu machen. Aber die Bewegungen, die ſich an das ſoge— 


Schulg: Das Belenntnis in der evangelifchen Kirche. 4 


nannte Apoftolitun gejchlofjen haben, und die nur zu erfolgreichen 
, auf dem Wege der Agende dem Buchjtaben diejes 
Lehrſtücks den Charakter des Nichters über die Zugehörigkeit zu 
unferer Kicche zu fichern, find in unſrer Aller Gedächtnis. Und 
ebenjo find wir gewiß Alle einig über die Pflicht, diefem Streben 
der Kirchenregierungen und der „gläubigen" Synodalmehrheiten 
nad Kräften zu widerftehen, auch wenn wir berechtigte Bedenken 
gegen die Art des MWiderjpruchs hegen follten, die uns bei 
2. Clopp (1894), bei David Peipers (1897) oder in den 
protejtantijchen Zeititimmen (5. 36—38) entgegentritt, 

Wer es mit der Zukunft unferer Kirche gut meint, der kann 
fich nicht dabei beruhigen, daß die Bekenntnisfrage, unentfchieden 
gelaſſen, der rückläufigen Strömung in der Kirche und der gleich 
gültigen Stepfis zum Vorwande dient, Für dem Geiftlichen im 
Amte ift es eine Lebensbedingung, daß fein Recht als Lehrer in 
feiner Kirche nicht bloß vor feinem eigenen Gewifjen, jondern auch 
vor der chriftlichen öffentlichen Meinung klar und unanfechtbar jei. 
Auch wenn ihm feine äußerliche Bedrängnis durch Behörden oder 
unverftändige Gemeindeglieder drohte — wie jollte ex fonjt mit 
innerer Freudigfeit und mit dem nötigen Anfehen feines Amtes 
walten? Und wenn dem Univerjitätslehrer vorläufig noch die 
Mehrzahl der Kirchenvegierungen das Recht zugefteht, ohne Schranken 
eines Lehrgeſetzes zu forjchen und zu lehren, was ſoll ihm dieſe 
Freiheit, wenn jeine Schüler das Beſte, was ex ihnen nach Pflicht 
und Gemijjen an Erkenntnis des Chriſtentums mitgeteilt hat, vev- 
heimlichen oder umlernen müfjen, um ohne Anfechtung des Amtes 
zu walten, zu dem ex fie vorbereitet ? Eine Theologie vorzutragen, 
die der Geiftliche in der Kirche nicht gebrauchen kann, die er 
höchſtens als jeine wiſſenſchaftliche Meinung bei fich felber heat, 
während er der Gemeine ohne perfönliche Neberzeugung in Auguren- 
art die Formeln vergangener Zeiten „liturgiſch“ vorträgt, — diejes 
elende Handwerk wird Jeder verichmähen, dem es eunft ijt mit 
Frömmigkeit und mit Wahrheit, und wird Lieber einen Klaſſiker 
ober profane Gefchichtsdofumente wifjenfchaftlich bearbeiten, als 
chriſtliche Religion. 

2) Was den frommen Gegnern einer freieren Stellung zu 


4 Schult: Das Bekenntnis in der evangelifchen Kirche, 


den Belenntniffen die innere Ueberzeugungskraft verleiht und ihren 
Ausführungen immer wieder die Gunſt der Gemeine fichert, das 
iſt eine Thatjache, deren Wahrheit Niemand anfechten kann. 
Die Thatfache, daß vom Anbeginne des Chriftentums an die Zur 
gehörigfeit zu der Gemeine der Erlöften auf das Bekenntnis 
gegründet gewefen iſt. 

Die Naturreligionen wiſſen Nichts von einem Belenntniffe. 
Sie fordern Nichts ald den gewiſſenhaften Vollzug des Gottes: 
dienftes und die treue Beobachtung der heiligen Volksfitten. Wohl 
fennen fie heilige Formeln, auf deren wortgetreue Wiederholung 
das höchite Gewicht gelegt wird. Aber fie jollen nicht die religiöje 
Ueberzeugung des Priejters oder der Gemeine zum Ausdrucke bringen, 
ſondern als zaubermächtige Sprüche durch ihren Wortklang, mag 
er verjtanden werden oder nicht, die Gunſt der Gottheit fichern 
oder die Abwehr jchädlicher übernatürlicher Mächte. Solche Zauber: 
formeln, die auch in den niedrigjten Religionen nicht fehlen und 
am meijten ausgebildet uns in Aegypten und im Zweiftrömeland, 
in Indien, Perfien und Rom entgegentreten, haben mit dem Be- 
tenntniffe des Chriften ſelbſtverſtändlich keinerlei Berwandtjchaft. 
Das Bekenntnis zu den Göttern vollzieht ſich bier im kultiſchen 
zeremoniellen Thatgehorſam. Auch im alten Israel iſt das ſchwer— 
lid) anders geweſen. Sein Bekenntnis wurde im Handeln abge 
legt, und hatte nur einen Inhalt: „Wir find das Volk Jahves“. 

Wo eine prophetifche Neligion auftritt, da muß es völlig 
anders werden. Denn die Gemeine diefer Religionen erwächſt aus 
der freiwilligen Glaubenszuftimmung zu dev Offenbarung, die eine 
prophetifche Perſönlichkeit verfündigt oder darftellt. So entjteht in 
dem Israel dev Propheten das Betenntnis zu Jahre als dem 
Einen und zu dem Gejege der Thora als dem geoffenbarten 
Willen diefes Gottes. So verlangt der Islam von feiner Gemeine 
das Bekenntnis zu der Einheit Gottes und zu feiner Offenbarung 
durch Mohammed. Auch der Buddhismus — fo gewiß er nur in 
bedingtem Sinne Prophetenreligion ift — jehafft ſich jeine Ger 
meine durch das Belenntnis zu den vier erlöfenden Wahrheiten. 
Am meiften aber von allen Religionen jteht und fällt das Ehriften- 
tum mit feinem Glaubensbefenntniffe. Das geftehen wir gern und 


Schultz: Das Bekenntnis in der evangelifchen Kirche. 45 


ohne Einfehräntung zu. Um fo mehr aber haben wir Recht und 
Pflicht, zu fragen, welches denn das Bekenntnis ift, auf das unfere 
Religion ſich gründet. Die griechifchen Worte im N. T., denen 
unfer „Belennen“ entipricht, öpadoyetv, &opnodsyelv, opahaystsiker, 
bezeichnen im weiteren Sinne jede offene Erklärung des Einver— 
ftandenfeins (Tit. 1, 16. Hebr. 11, 13), fo das AZuftimmen zu 
einem Vorſchlage (Luc. 22, 6), oder einer Behauptung (Act. 23, 8. 
24, 14), das Geloben einer Leiftung (Uet. 7,17, Mith. 14,7), 
das offene Geftändnis der eigenen Sünde (Mith. 3, 6, Me. 1, 5. 
af. 5, 16. 1 oh. 1, 9), und das preifende Verkündigen der Rats 
fehlüffe und Thaten Gottes (Mith. 11,25. Luc, 10,21. Act. 19, 18. 
vgl. Röm 14, 11. 15, 6. Phil. 2, 11). Die Grumdbedeutung ift 
offene Zuftimmung, ihr Gegenteil „leugnen, verleugnen” (Luc. 12,8. 
Apoc. 3,5. Zoh. 1, 30. vgl. Mith. 10, 32. 26, 34). So ift es 
völlig das Gleiche, wenn Jeſus den Menfchen vor jeinem Vater 
verleugnet und wenn ex befennt „ich habe ihn nie erfannt" (Mith. 
7,28. 10, 32.). 

Ob Jemand zu der Gemeine der Erlöften gerechnet wird, das 
bängt nach Jeſu Wort davon ab, daß er fich vor den Menjchen 
zu ihm befannt (Mith. 10, 32. Luc. 12, 8. öpcroyeiv Ev Zpol), aljo 
offen ihn als feinen Heren anerkannt hat. Das und Nichts Ans 
deres fordert er. Darum it ihm die Anerkennung feiner Ehri- 
ſtuswürde durch Petrus die entjcheidende von Gott jelbft gemirkte 
Glaubensthat (Mith. 16, 16). Dem entfprechend ſchließt die Taufe 
das Belenntnis zu dem Namen Ehrifti ein (Act. 2, 32), oder zu 
dem Namen des Vaters, Sohnes und Geijtes, alſo zu der neuen 
in Chriſtus aufgefchlofjenen Gemeinjchaft mit Gott (Mtth. 28, 16). 
Und eben dieſes Belenntnis zu Jeſus als dem Heiland macht die 
Ehriften andrerjeits zum Gegenftande der Verfolgung von Seiten 
Iſraels, ſoweit es Jeſus verworfen hat (oh. 9, 22. 12, 42). 

Bon einem andern „Chrijtenbefenntnis" weiß das N. T. nir- 
gends Etwas. Der Glaube an Jeſus als den Erlöfer wird na= 
türlich nach jeinem Tode zum Bekenntniſſe des auferftandenen 
Herrn der Gemeine (Röm, 10, 9. 10). Das ift der Gehorjam, 
den Paulus bei den Seinen erwartet (2 Kor. 9, 13). Und das 
Evangelium, das kein Engel verändern darf, ift die Predigt von 


46 Schul: Das Bekenntnis in der evangelifchen Kirche. 


Kreuz und Auferftehung als den Quellen unferer Gerechtigkeit (Gal. 
1,8.9). Dieſes Bekenntnis zu Jeſus ift im Grunde fein anderes, 
als das Belenutnis Jeſu felbft zu feiner Heilandswürde (1 Tim, 
6,12. 13. vgl. 2 Tim. 2, 12). Es ift nach dem Briefe an bie 
Hebräer das Lobopfer der Lippen, das Gott begehrt (Hebr. 13, 18. 
vgl. Hebr. 3,1. 4, 14. 10, 23). Und auch bei Johannes ift es nicht 
anders. Nur wird hier gegenüber der gnoſtiſchen Verflüchtigung 
des gefchichtlichen Chriftentums das Bekenntnis zu Jeſus deutlicher 
beftimmt als Belenntnis zu dem gefhichtlihen Jeſus als 
dem Chriftus (1 Joh. 2, 22 f.) oder zu dem in das Fleiſch 
gefommenen (1 Joh. 4, 2.15. 2 Joh. 7), jchließt alfo eine ihren 
Gegenſatz verneinende Ausſage (ör:) ein. Aber der Sache nach 
wird auch hier nichts weiter verlangt, al3 die Anerkennung des 
geiehichtlichen, geftorbenen und auferftandenen Jeſus, als des Er- 
löſers, in dem Gott fich in Gnaden zu und neigt. 

Eine beftimmte theologifche Lehre tiber diefen Jeſus oder die 
Zuſtimmung zu den in den Evangelien enthaltenen Gefchichtser- 
zählungen über feinen Lebensgang ift in diefem Bekenntniſſe durch» 
aus nicht mit enthalten. Sein Inhalt ift einfach eine Perſön— 
lichfeit, dev fich der Glaubende vertrauensvoll zu eigen giebt. 
Die Ehriftenheit bekennt den ins Fleifh Gefommenen, 
— aber nicht eine beftimmte Anficht über die Vorgänge bei feiner 
Empfängnis und Geburt. Sie befennt den aus dem Kreuzes- 
tode Auferftandenen, — aber nicht beftimmte Auffafjungen 
der Hergänge am Dftertage. Sie befennt den Herrn und 
Gottesjohn, aber nicht theologijche Formeln über die Art, 
wie hier eine menjchliche Perſönlichkeit Offenbarung Gottes ge— 
weſen ift. Sie befennt fein Werft als das Werf der 
freien Gottesgnade, die ohne Verdienit und Gejegeswerfe 
Simndenvergebung umd ewiges Leben bietet, und Gott als unjern 
Vater und feinen Geift als den Geiſt der Kindfchaft offenbart, — 
aber nicht eine Theorie über die Art, wie Jeſu Sterben und Auf- 
erjtehen das bewirkt hat. Und nur das ift das Chriftenbefenntnis, 
von dem das Necht abhängt, ein Glied der Gemeine des Gottes- 
reiches zu fein. 

3) Damit ift entfehieden, welches Bekenntnis im Gottesdienft 


—— 


Schultz: Das Belenntnis in der evangeliſchen Kirche, 47 


der Ehriften zum Ausdrud kommen muß als Bedingung der Zu: 
gehörigfeit zur Gemeine, die in Chriftus ihren Gott verehrt. 

Im Gottesdienjte handelt nicht eine einzelne Partikularkirche 
mit andern Bartikularkirchen und im Gegenjage gegen fie. Jede 
Gemeine iſt bier die Lokale Darftellung und Vertretung der einen 
Kirche Ehrifti auf Erden. Und fie hat keine andere Aufgabe, als 
mit ihrem in Chriſtus verföhnten Bater zu verkehren, jeine 
Gnade zu empfangen und ihm das Opfer ihrer Frömmigkeit 
darzubieten. So muß dev ganze Gottesbienjt in der Darbietung 
von Wort und Sakrament von Gottes Seite, im Bekenntniſſe 
von Seiten der Gemeine beftehen. Aus diefem Doppelklang fol 
die Harmonie des wahren Kultus zufammenklingen. Die Gemeine 
bietet nichts Anderes als ihr Bekenntnis. Das demütige Bekenntnis 
ihrer Erlöfungsbedürftigkeit, das gläubig dankbare Bekennen zu 
der Gnade, die fie empfangen hat, die hoffnungsfrendige Annahme 
der Verheißung, die ihr entgegenklingt. Aber was hat fie zu be— 
fennen? Und wie foll fie es im Gottesdienfte befennen ? 

Im DVerkehre mit ihrem Gott kann und darf die Gemeine 
nur das bekennen, worauf ihre chriftliche Gemeinjchaft mit ihm 
ruht and worin fie fich vollzieht. Was fie fonft etwa von andern 
Bartikularkicchen unterjeheidet, oder was fie an befondern theolo- 
giſchen Erkenntniſſen, an Anfichten über Fragen der Gejchichte und 
Natur befist, das mag zum Ausdrucke kommen, wo die Konfej- 
jionen gegen einander ftreiten, wo theologijche Kämpfe entjchieden 
werden, wo unterrichtet und unterfucht wird. Ihrem Gott gegen— 
über hat die Gemeine einzig und allein guadenjuchend die Gnade 
anzunehmen, die er ihr im Evangelium von Jeſus darbietet. Aljo 
kann der Inhalt ihres Belenntniffes im Gottesdienjte nur das neu— 
tejtamentliche Bekenntnis fein: die Anerkennung des gejchichtlichen 
Jeſus, des geftorbenen und auferjtandenen, als ihres Exlöfers, in 
dem fie fich der Gnade Gottes getröftet. Eine Belenntnisformel im 
Gottesdienjte darf Nichts enthalten, als was mit innerer Notwen- 
digfeit dieſen Inhalt ausdrückt, oder aus ihm folgt, — jedenfalls 
Nichts, worüber Chriften verjchievener Meinung find und fein 
können, die in dem Chriftenbefenntnifje einig find. 

Und wie foll die Gemeine diejes ihr wirklich gottesdienjtliches 


48 Schultz: Das Bekenntnis in der evangelifchen Kirche. 


Bekenntnis ausfprechen? Sicher nicht durch eine von der Kirche 
vorgefehriebene Lehrformel, die der Geiftliche zu vecitieren hätte. 
Die Andacht der Gemeine ift nicht das Thun einer Schule, in der 
die Kirche die Lehrerin wäre, deren Lehrformeln die Gemeinen ſich 
anzueignen umd nachzufprechen hätten. Sie ift nicht eine Bethä— 
tiqung des erfennenden Verftandes, oder das Offenbaren von An- 
fiehten und Kenntnifjen. Sie ift ein Verkehr mit Gott, in dem die 
Gemeine fich zu Gottes Gnade in Ehriftus befennt, und ihr Glau— 
bensleben auf feine Verheißung baut. Das Bekenntnis im Gottes- 
dienſte muß aus dem Herzen und Gewiſſen hervorgehen, nicht aus 
Gedächtnis und Verftand. Herz und Gemwifjen aber reden nicht 
die Sprache fejtgeftellter Lehrformeln, fie reden die Sprache des 
Gebets. Die Gemeine befennt in dem Gebete, das ihr Herr fie 
gelehrt hat, ihrer Schuld und ruft Gott als ihren Vater an, fie 
ſpricht in dem einzigen natürlichen Ausdruce gemeinjamer Stim- 
mung, im Gejange, vom erften Advent bis zum legten Trinitatis- 
fonntage glaubend, dankend und hoffend ihr Ja zu dem Evan: 
gelium, das ihr das ganze Kicchenjahr verfündigt. Damit vollzieht 
fie das einzige Bekenntnis, das im Gottesdienfte Necht und Raum 
bat. Eine von dem Geiftlichen vorgelefene Summe von religiöjen 
Anfichten, — und wenn jie die denkbar volltommenjte Formel 
wäre, — mag da, wo der Gottesdienſt als eine verdienftliche oder 
pflichtmäßige Zeiftung vollzogen wird, an ihrem Plage fein mit 
andern opera operata, In dem Kultus dev evangelifchen Kirche 
berührt fie jeden Unbefangenen wie etwas Fremdartiges, das bei- 
behalten, oder wie etwas, das fünftlich eingeführt ift. Es ift ein 
ſehr übel bevatener Eifer geweſen, der ein jolches formuliertes 
Bekenntnis, nachdem es außer Gebrauch gefommen war, in unfere 
Gottesdienſte wieder eingedrängt hat. Wirkliches Verſtändnis deſſen, 
was unfer Kultus jein will, hat diefen Eifer jedenfalls nicht geleitet. 

Und follte es anders jein, wo die Kirche ihre Saframente 
jpendet? Auch da handelt fie doch nicht als Einzelkirche in ihrem 
Unterjchiede von andern chriftlichen Kirchen, ſondern als Ausdruck 
der einen Kicche Jeſu Chrifti. Wie die Saframente, dogma— 
tiſch angejehen, Gnadenthaten Gottes find, durch die er Glieder 
feiner Kirche zeugt und weiht, — der Kirche, an die wir glauben, 


Schuls: Das Bekenntnis in der evangelifchen Kirche. 49 


nicht Glieder dev lutheriſchen oder der römiſchen Kicche, fo find 
fie ethiſch Handlungen derjelben einheitlichen Gemeinjchaft der Got- 
tesfinder, die in ihr Leben neue Teilnehmer aufnimmt und ihren 
Gliedern die Lebensquellen mitteilt, die aus Jeſu Leben und Tod 
fließen. In der Anerkennung der Ketzertaufe hat das die Kirche 
ſelbſt ausgefprochen, fo jehr fie jonft die Kirche des Glaubens mit 
der herrſchenden Partikularkirche zu verwechjeln geneigt war. Und 
e3 kann nur als eine ſchwere Schuld der Kirche bezeichnet werden, 
daß nicht in Bezug auf das Abendmahl das Gleiche anerkannt ift, 
daß man das heilige Mahl, das bejtimmt ift, den eimen untrenn— 
baren Leib Ehrifti zu nähren, zu einem Denkmale der Zwietracht, 
und zu einem Fahnenzeichen ftreitender Sonderkirchen entwürdigt 
bat, Ueber das theologijche Verftändnis des Abendmahles mögen 
verschiedene Anfichten walten, und mit Recht mag man es ver 
ſchmähen, um eines fchlechten Friedens willen die Gegenfäge zu 
verfchweigen oder mit unklaren Formeln zu überbrüden. Aber die 
evangelifche Kirche jollte nach ihrer eignen Lehre von Kirche und 
Sakrament jeden Ehriften als Gaft bei ihrem Abendmahle begrüßen, 
der bereit ift in ihrer Gemeinfchaft den Tod des Heren mit zu 
befennen, und dieſem Herrn nicht durch anftößigen Wandel Schande 
macht. Niemals dürfte die Teilnahme am Sakramente des Altars 
als Zeichen der Zugehörigkeit zu eimer bejtimmten Partikularkirche 
betrachtet werden. 

Die Sakramente find an ſich jelbjt ein Thatbefenntnis, 
Wer an ihnen teilnimmt, der erfennt damit den für uns gejtor- 
benen und auferjtandenen Jeſus als feinen Herrn an, in dem er 
der Gnade Gottes gewiß iſt. Sollte noch ein anderes Bekenntnis 
nötig fein, um der heiligen Handlung die rechte Weihe zu geben, 
oder um der Kirche Bürgſchaft zu leiften, daß fie Recht thut, ihre 
Gnadengabe dem Empfangenden zu gewähren? 

Die herrjchende Ströntung in unferer Kirche ift offenbar diefer 
Meinung. Zwar denkt Niemand an die Belenntniffe des 16ten 
Jahrhunderts, oder an das Symbol von Gonjtantinopel und das 
Athanafianum. Mit Recht. Denn es kann fi) nur um Die Zus 
‚gehörigkeit zu der chriftlichen Gemeine handeln, nicht um den Stand» 
punkt einer Sonderkirche. Aber mit großer Entjchiedenheit fordern 


Zeitichrift für Theologie und Kiche, 10, Jahrgang, 1. Heft. 4 


50 Schultz: Das Bekenntnis in der evangelifchen Kirche. 


einflußreiche Kreife die Anwendung des ſog. Apoſtolikum bei Taufe 
und Konfirmation, und die neueren Agenden-Vorfchläge wirken 
erfolgreich nach, dieſer Nichtung hin. 

Man könnte geneigt jein, dem zuzuftimmen. Denn für den 
größten Teil der frommen Gemeine ift diejes Bekenntnis wirklich nur 
der Ausdruck des Glaubens an den in der Bibel verfündigten ge- 
ſchichtlichen Jeſus. Und Luthers unvergleichliche Erklärung weiſt 
ja auf diefen Charakter der ehrwürdigen Formel mit veligiöfer 
Genialität hin, Wenn wir in Zuftänden unbefangener, durch theo— 
Togifche DVerdächtigungen nicht getrübter, evangelifcher Frömmigkeit 
lebten, dann könnte in der That der Theolog wie der Laie, — auch 
wenn fie einzelnen Sägen diefer Formel nicht zuftimmten, — die— 
ſelbe ohne Bedenken anwenden, um ſich mit der ganzen Chriſten— 
heit zu dem Jeſus der heiligen Schrift als ihrem Exlöfer zu bes 
kennen, in dem Gott unfer Vater und fein Geift uns zum Geifte 
der Heiligung und des ewigen Lebens geworben ift. Und mo das 
öffentliche Recht es fordert, jollte Niemand Bedenken tragen, in 
diefem Sinne das Bekenntnis zu dem feinigen zu machen. 

Aber wir leben nicht in Zeiten der Unbefangenheit. Und 
darum muß der Gebrauch des Apoftoliftum bei Taufe und Kon— 
firmation als bedenklich angefehen werden. Es enthält doch die 
Glaubenszuftimmung zu dem Evangelium von Jeſus in einer Form, 
mit der bis ins Einzelne einverftanden zu fein Niemand einem 
gebildeten Chriften der Gegenwart zumuten kann. Gine Schrift- 
ftelle von dunkler und zweifelhafter Auslegung wird als Beſtand— 
teil des Evangeliums behandelt (Höllenfahrt). Eine Hiftorifche 
kritiſche Frage, die durchaus ftreitig ift, wird einfeitig entjchieden 
(Geburtsgefchichte). Ungewiſſe und religiös wertloje Anftchten der 
alten Ehriftenheit werden als Bejtandteile des Glaubens behandelt 
(Auferftehung des Fleiſches, Gemeinſchaft der Heiligen). Und die 
herrſchende rückläufige Strömung in unferer Kirche legt gerade auf 
einzelne diejer bedenklichen Beftandteile der alten Formel ein wach: 
fendes Gewicht. Sie macht durch ihre Polemik und durch die Art, 
wie in der Ugende das Apoftolitum ausgefprochen werden foll, 
einen unbefangenen Gebrauch defjelben für zarte Gewiſſen immer 
bedenflicher. Denn in dem Munde defjen, der es im Sinne diefer 


Scchul ze Das Bekenntnis in der evangelifchen Kirche, 51 


Parteirichtung gebraucht, enthält es neben der Glaubenszuftimmung 
zum Evangelium auch die Billigung von Meinungen, die ein großer 
Zeil der Sachverftändigen als wiffenschaftlich widerlegt anfehen muß. 

Und was jollte gerade diefer Formel das Necht geben, als 
Bedingung der Teilnahme an dem religiöjen Leben der Ehriften- 
heit zu gelten? Nechtlich hat es folchen Anfpruch nicht in anderem 
Sinne, als das Athanaſianum oder die Konkordienformel, Unfre 
Kirche gefteht feiner von Menſchen gemachten Formel das Recht 
zu, ben Glauben zu binden. Nur die heilige Schrift gründet 
Glaubensartitel. In feiner jegigen Geftalt iſt diejes Bekenntnis 
erjt in der farolingifchen Zeit an die Stelle des älteren, durch das 
Nicinum verdrängten, römischen Taufſymbols getreten, und die 
morgenländifche Ehriftenheit benutzt e8 überhaupt nicht. Wenn es 
mehr bedeuten joll, al3 die Glaubensanerfennung Jeſu als unfres 
Heilands, dann fehließen fich an feinen Gebrauch Zweideutigkeit, 
Verdächtigung und Streit. Und als verhängnisvoll muß es be— 
zeichnet werden, in den heiligjten Weiheftunden der Religion die 
Gewiſſen unficher zu machen, und die Freudigkeit der brüderlichen 
Glaubensgemeinfchaft zu trüben. 

So werden wir eine Benutzung des Apoftolitum im evanges 
lichen Gottesdienfte grundſätzlich für bedenklich halten müſſen. 
Daß es aber daneben durchaus ungeeignet ift, die beſondre evan- 
gelifch-Eirchliche Auffafjung des Evangeliums gegenüber römiſchem 
und jchwärmerifchen Irrtum zum Ansdrude zu bringen, oder 
Klarheit über Mittelpunkt und Umfang der wahren chriftlichen 
Frömmigkeit zu geben, das wird Niemand beftreiten, Natürlich 
joll mit diefem Urteile nicht dem thörichten Gerede von einer „Ab— 
ſchaffung“ des Apoftolitum Vorſchub geleiftet werden. Es kann 
und ſoll ebenfowenig wie das Nieänum oder Athanafianum abge 
Ichafft werden. Es bleibt uns vielmehr ein ehrwürdiges Denkmal 
desjelben chrijtlichen Glaubens, den auch wir bekennen, in Sprache 
und Denfweife einer alten Zeit. Aber wir wollen es nicht anders 
anſehen, alS die andern gleichberechtigten Denkmale jener Zeiten. 
Auch diefe haben ja Jahrhunderte lang, auch in der Kirche der 
Reformation, als Bedingungen des Bürgerrechts in der Chriften- 
heit gegolten. Und doch wird fehwerlich Jemand noch jest ihren 

4 


52 Schuld: Das Bekenntnis in der evangelifchen Kirche. 


Wortlaut als Entjeheidung darüber anerkennen, ob ein Chrift an 
Gottesdienft, Taufe und Abendmahl Teil zu nehmen das Hecht 
dat. Solange nicht jeder Zweifel darüber gehoben iſt, daß das 
Apoftolitum Nichts fein foll, als das perfönliche Bekenntnis zu 
dem Jeſus der Bibel al3 unferm Herrn und Heiland, wird feine 
Anwendung in der Agende al verwirrend und bedenklich ange: 
jehen werden müfjen. 

4) Aber die Kirche, deven Glieder wir find, iſt auch eine beftimmte, 
äußerliche Genoffenfchaft, kenntlich an menjchlichen Einrichtungen 
und Ordnungen. Sie unterfcheidet fich von andern religiöfen Ge— 
meinfchaften, die fich ebenfalls chriftliche Kirchen nennen, durch 
ihre befondere Auffaffung des Chriftentums und ihre eigentüms- 
lichen Grundfäße des kirchlichen Handelns, Hat fie nicht Necht umd 
Pflicht, von denen, die ihre Glieder fein wollen, Bürgſchaft dafür 
zu verlangen, daß ſie wirklich innerlich ihr angehören? Und kann 
in einer Glaubensgemeinfchaft diefe Bürgfchaft etwas Andres fein, 
als die Zuftimmung zu den in ihr geltenden Bekenntniſſen? 

Für ihre Glieder, die nicht im Amte ftehen, hat unfre Kirche 
längft auf ſolche Bürgſchaft verzichtet, — denn das Apoftolitum 
enthält nichts, was die Zugehörigkeit zu die ſer Kirche im Unter- 
fchiede von andern zum Ausdrucke brächte. Ummiderruflich find die 
Zeiten vorüber, in denen das Konkordienbuch alle zu öffentlichem 
Anjehen gelangenden evangelifchen Chriften verpflichtend band. 
Das ijt keineswegs unbedingt erfreulich und normal, Man mit 
mit doppeltem Mafe, und durchaus nicht nach dem Grundger 
danken des Proteftantismus, Die jchlechte Scheidung von Klerus 
und Laien, die als Grundirrtum der römifchen Kirche von der 
Reformation verworfen ift, kommt in einer anderen Form im die 
Kirche zurück, wenn man gewiſſermaßen die Prediger allein für 
die in der Kirche zum Ausdrucke kommende Lehre und fiir das im 
Gottesdienjte ausgejprochene Bekenntnis im Gewifjen verantworte 
lich macht, und der Gemeine es gleichfam freiftellt, anders zu 
denken und zu empfinden. Der Geiftliche follte ja in unfrer Kirche 
nur der Mund der gläubigen Gemeine fein. Der Gottesdienjt dürfte 
nicht als fein „Handeln“ gedacht werden, fondern als die Glaubens- 
that Aller. 


Schultz: Das Bekenntnis in der enangelifchen Kirche, 53 


Aber thatfächlich wäre es in der Gegenwart ein völlig aus— 
fichtslofes Unternehmen, die gebildeten Laien an das Konkordien- 
buch zu binden. Auch die Frömmften unter ihnen find ſehr fern 
von korrektem Belenntnis, und fie dürfen ſich von Seiten unſrer 
Belenntniseiferer einer ſehr weitherzigen, aber freilich recht unfolges 
richtigen, Beurteilung erfreuen. Und in der That kann es in der 
Kirche der freien Schriftforichung nicht anders fein. Sie hat fein 
Bedürfnis, von ihren Gliedern eine andre Bürgſchaft zu verlangen, 
al daß fie dem Evangelium glauben, und da fie als treue Bürger 
zu dieſer Kirche ftehen wollen in Kampf und Frieden. Wie der 
Staat nur die Huldigung für den Herrjcher fordert und den Ge— 
horſam gegen die Geſetze, nicht die Zuftimmung zu jeder Gefehes- 
norm, als dem vollfommenjten Ausdrude des Rechts, — jo hat 
die Kirche fein andres Intereſſe, als daß ihre Glieder ihre Taufe 
perfönlich amerkennen, und durch Teilnahme am Gottesdienjte und 
am Abendmahle ſich zu ihrem eigentümlichen veligiöjen Leben be: 
kennen. Und wenn fie mehr verlangte, würde fie thatfächlich doc) 
Nichts erreichen, al3 was fie auch auf diefem Wege erlangen kann. 

5) So kommt die Frage in Wirklichkeit auf die Bekenntnis: 
Verpflichtung der Träger des geiftlichen Amtes hinaus. Und da 
ift ohne Zweifel ein wirkliches Bedürfnis der Kirche vorhanden, 
Die Geiftlichen verfündigen Chriftus im Namen der Kirche, Sie 
hat gewiß die Pflicht, ihre Gemeinen vor Predigern zu ſchützen, 
die ftatt des Evangeliums Modetheorien der modernen Weltan- 
ſchauung vortragen, oder ftatt dev Glaubensüberzeugung der Kirche 
der Reformation unproteftantifche und abergläubige Sondermei- 
nungen. Sie hat für eine Kontinuität des Glaubensunterrichts zu 
jorgen. Die evangelifch-proteftantifche Kirche ſoll nicht ein Sprech: 
jaal jein für alle Neigungen und Anſchauungen der jedesmaligen 
Zeitbildung. „Der Geiftliche ift nicht ein Schulmeifter gegenüber einer 
Verfammlung von Elementarfchülern, oder ein Hierarch einem 
Laienhaufen gegenüber, dem ev feine eigenbeliebigen Satzungen 
vorträgt" (Sartorius). Er iſt Zeuge für den in dev Gemeine 
Tebenden Glauben. 

Aber wie joll die Kirche diefe Pflicht ihren Dienern gegen- 
über vollziehen? In den erften Jahrhunderten ihres Beftehens hat 


54 Schultz: Das Belenntnis in der evangelijchen Kirche. 


die Kirche der Neformation, wie die andern Kirchen, es durch eine 
im rechtlichen Sinne verjtandene Verpflichtung derjelben auf bie 
Gefamtheit ihrer Bekenntniffe erreichen zu follen gemeint. Sie hat 
den Buchjtaben diefer Bekenntniſſe, freilich in innerm Widerfpruche 
mit ihrem eignen Wejen, al3 Geſetz angejehen. So heftig auch 
Andreas DOfiander widerfprach, der die in Wittenberg ges 
machten Magifter und Doktoren „arme gefangene Männer“ nennt, 
„mit Gidespflichten in ihrem Gewiſſen verſtrickt“, jo iſt doch die 
feit 1533 dort eingeführte Verpflichtung auf das Bekenntnis feft- 
gehalten und in dem folgenden Generationen in fteigendem Maße 
in der ganzen Iuiherifchen Kirche im Gebrauche gewejen. 
Geſchützt hat ein ſolches Geſetz die Kirche nicht. Trob feines 
Beſtehens hat der Nationalismus fie überflutet. Und auch wenn 
es ſchützen könnte, — es ijt wohl unter allen Parteien der Gegen- 
wart die Ueberzeugung verbreitet, daß die alte gefeglich gemeinte 
Verpflichtung unfrer Kirche nicht ziemt, und in ihr nicht durch— 
zuführen if. Ein gewijjes Maß von Freiheit den Belenntnifjen 
gegenüber verlangen auch die fonfervativften Theologenkreife. Und 
fie bedürfen derjelben wahrlich, wenn Tendenzen wie die iliajti- 
chen oder Fenotifchen nicht mit dem fogenannten „Unglauben“ 
zugleich von dem Schwerte der Symbole getroffen werden follen, 
Eine rechtliche Verpflichtung auf den Buchftaben der Befennt- 
niſſe wäre in der Gegenwart gleichbedeutend mit der Aufhebung 
des wirklich wifjenfchaftlichen Univerfitätsunterricht® für die Geift- 
lichen. Die Entwicklung der hiftorifchen, philologifchen und natur: 
vifjenschaftlichen Methoden und Erkenntniſſe ſchließt das Feſthalten 
der vor 3 Jahrhunderten geltenden Anfichten über ein einzelnes Gebiet 
der gefehichtlichen Erkenntnis unbedingt aus. Ein Lehrer wirklicher 
Wiffenfchaft aber ift zum bedingungslofen Forfchen nach Wahr: 
heit und zum vüchaltlofen Ausjprechen des Erkannten verpflichtet. 
Wer als Forfcher an eine Erfenntnisjtufe dev Vergangenheit ger 
bunden, oder als Lehrer verpflichtet wäre, feine Erkenntnis nur 
mit Vorbehalt und unvollftändig mitzuteilen, der fönnte nicht als 
vollberechtigter Lehrer der Wiſſenſchaft an einer Hochſchule gelten. 
Er fönnte nur an einem „praftifchen Seminare“ feine Zöglinge 
zu Liturgen und Rednern bilden, — etwa wie die Freundlichkeit 


- Schuld: Das Bekenntnis in der evangelifchen Kirche. 55 


eines de Lagarde und jüngerer Nachahmer es uns gejtatten 
möchte, Und wenn diefe Zöglinge dann gar noch, vorher oder zu- 
gleich, Kritit und Gefchichtswifjenichaft an einer von religiöfen 
Dorausjegungen völlig gelöften Hochſchule betreiben lernten, dann 
breächten fie in ihr heiliges Amt einen Zwiefpalt zwiſchen mwifjen- 
ſchaftlicher Erkenntnis und amtlicher religiöfer Darftellung mit 
hinein, der fie tief unter die Zöglinge der Sefuitenfeminare, ja 
unter die Popenſöhne des orihodoren Rußland ftellen müßte, die 
doch ein einheitliches Denken und Empfinden für ihren Beruf mit- 
bringen. Zum theologifchen Univerfitätslehrer taugt allerdings nicht 
jeder wiſſenſchaftlich Begabte, fondern nur, wer mit wiſſenſchaft- 
licher Begabung das religiöfe Intereſſe und den Herjensglauben 
an Jeſus als feinen Herrn verbindet, Aber feine theologifche 
MWiffenfchaft in ihrem Gefamtumfange muß ex mit der gleichen 
Freiheit betreiben und vortragen, wie jeder wiſſenſchaftliche Lehrer. 
Und die Bekenntniſſe bieten den Glauben doc) in der Form theo— 
Togifcher Erkenntnis. Die Wifjenfchaft des 20. Jahrhunderts aber 
iſt nicht die des 16. 

6) Die jurijtifche Anwendung der Bekenntniſſe fteht im Mi: 
berjpruche mit der meuen Auffaffung des „Glaubensbegriffs“, 
durch die fich die Kirche der Reformation von der fatholijchen frei 
gemacht hat. 

Für den griechifchen wie für den römiſchen Katholizismus ift 
der Glaube die Zuftimmung zu der von der Kicche feftgejtellten 
Lehre. Für die griechifche Kirche erjcheint die im Belenntniffe 
miebergelegte Firchliche Lehrformel wie ein der Kirche anvertrautes 
Heiligtum, ein Sakrament. Das Wirken der Gnade iſt daran ge- 
bunden, daß dieſe Formel rein und vollftändig erhalten wird, — 
ebenjo wie in den heidnifchen Religionen die gehoffte Wirkung 
auf die Gottheit von dem unverfehrten Wortlaute der Beſchwö— 
rungsformeln abhängt und von der Genauigkeit der liturgiſchen 
Handlungen. In diefem Sinne legt die Kirche des Orients Gewicht 
darauf, die „orthodoxe“ zu fein, nicht weil fie auf theologifche 
Erkenntnis der Wahrheit befonders gerichtet wäre. Darum ift ihre 
wejentlichjte Klage den Römern gegenüber die über Veränderung 
der Bekenntnisformel (filioque) und des Sakramentsritus. 


56 Schulb: Das Befenntnis in der enangelifchen Kirche, 


Mit der innern perfönlichen Glaubensüberzeugung hat ein 
folches Bekenntnis im Grunde Nichts zu thun. Der Priefter, der 
es vezitiert, wie die Gemeine, die e3 vernimmt, ftehen zu ihm, wie 
zu einem ihmen gegebenen Heiligtume, das außerhalb aller perjön- 
lichen Neberlegung und Unterfuchung bleibt. Sie hüten einen Schatz 
der Kirche. Aber fie find dafür weder perfönlich verantwortlich, 
noch find fte berufen, ihn als ihre eigne religiöfe Weberzeugung zu 
vertreten, Darum ift hier feinerlei Rede von einer Bedrückung des 
Gewiſſens. Die Unterwerfung unter den heiligen Wortlaut ift 
jelbftverftändlich und gehört einfach mit zu den gottesdienftlichen 
Funktionen, Aber fie ftellt nicht den Anfpruch an den Gläubigen, 
daß ihm die heilige Formel auch der Ausdruck ſelbſtgewonnener 
religiöfer Erkenntnis fei. 

In der römischen Kirche ift das Befenntnis das Lehrgeſetz 
der unfehlbaren Kirchenautorität. Sie wünſcht gar nicht, daß der 
Einzelne darin jeine perfönlich gewonnene veligiöfe Weberzeugung 
ausfpreche, Er wide ja dann gerade nicht im fatholijchen Sinne 
befennen. Er foll nur feine gehorfame Zuftimmung zu dem aus- 
drücken, was die Kirche ihm als Wahrheit zu glauben befiehlt. 
Darum macht es auch keinen befonderen Unterjchied, ob er im 
Einzelnen diefe Wahrheit verjteht, ja ob er fie auch nur wirklich 
fennt. Glauben heißt Kenntnis von der Lehre der Kirche nehmen 
und ihr zuftimmen. Und diefem Glauben entfpricht das Bekennen. 
Von perjönlichem veligiöfen Erfahren, von eignev Ueberzeugung, 
für die das Gewiſſen vor Gott verantwortlich ift, kann dabei nicht 
die Nede jein. 

Auch hier ift eine volllommen juriftiich gemeinte Verpflichtung 
auf das Belenntnis ebenfo jelbftverjtändlich wie unbedenklich. Das 
Lehrgeſetz, hinter dem die Strafgewalt der Kirche fteht, beanſprucht 
diejelbe Geltung, wie jedes Geſetz. Aber jein Zwang veicht nicht 
in das Heiligtum des Gemwiffens hinein, — und fo bedrückt er 
weder Laien noch Priefter. Der Laie mag innerlich gleichgültig, 
vielleicht ablehnend zu der Gnade Gottes fich verhalten. Die Kirche 
läßt ihn ungeftört an ihrem Leben teilnehmen, folange er fich des 
Widerſpruchs gegen ihr Lehrgeſetz enthält. Sie richtet nur die 
religiös Selbjtändigen, nicht die Irreligiöſen. Und der Priejter, 


kl 


Schulg: Das Belenntnis in der evangelifchen Kirche, 57 


als ein Beamter der civitas Dei, wendet das Bekenntnis einfach 
an, wie der Staatsbeamte das Staatsgeſetz, ohne ſich perjönlich 
für feinen Inhalt verantwortlich zu fühlen. Seine eigne Predigt 
ift wefentlich Moral und Legende. Das Glaubensbefenntnis jpricht 
er gehorfam im Namen der Kirche. Und das kann ihm keinerlei 
innre Bedenken oder Schwierigkeiten machen, fobald er katholiſch 
zu denken gelernt hat. Denn die Kicche trägt für ihm die Ver— 
antwortung, — und in ihe hat er ja fein eignes religiöſes Leben 
und fein Heil, 

So wird ein gläubiges Glied der katholiſchen Kirchen ich 
firchliches Leben nur auf Grund der Verpflichtung auf die Ber 
kenntniffe, und diefe nur als buchjtäbliche und vichterliche denken 
können, und nicht verjtehen, wie man fich dadurch bedrückt fühlen 
kann, wenn man ein wirklicher Chrift fein will. Die Gegner der 
Neformation haben deshalb natürlich auch die aus ihr hervorge- 
gangene Kirche nicht anders beurteilen können, als fie fich jelbft 
beurteilten. Sie kennen auch uns nun als „Belenner der Auguſtana“. 
Sie haben, jolange ihre Anerkennung für uns noch folgenjchmere 
politifche Bedeutung hatte, Miene gemacht, den Religionsfrieden 
von dem unveränderten Wortbeftande diejes Befenntnifjes abhängig 
zu machen. Wir begreifen, daß jie nicht anders denken können. 
Aber um jo umbegreiflicher muß es evjcheinen, daß ſich auch evan- 
geliſche Ehriften folchen Maßſtab aufdrängen lafjen. Denn mit der 
neuen Auffafjung des Glaubens durch die Reformation ift eine 
volljtändige Veränderung der Belenntnisfrage notwendig gegeben. 

7) Für den evangelifchen Chriften bedeutet der Glaube das 
perfönliche Vertrauen auf die in Chriftus ung ergreifende Gnade 
Gottes, die uns in der Evangeliumsbotfchaft entgegentritt. Nur 
diefe fidueia, die Gott durch Chriftus in der Seele weckt, und die 
nur in der Seele jedes Einzelnen empfunden werden kann (specialis), 
darf nach der Auffafjung unferer Kirche mit diefem hohen Namen 
bezeichnet werden. Erſt wo fie entitanden ift, hat das Wifjen um 
das Evangelium eine religiöfe Bedeutung. Erſt wo fie vorliegt, 
giebt es eine religiös wertvolle Zuftimmung zu der Erzählung von 
Jeſus. Das und nichts Anderes ift der Glaube, den ein evange- 
licher Chriſt befennen darf. Er muf fein eignes durch den Eindruck 


58 Schuld: Das Bekenntnis in der evangelifchen Kirche, 


Jeſu in ihm gewirktes Erleben fein. Darum fann er nur auf 
das fich beziehen, was folches Erlebnis hervorruft, d. h. auf Jeſus, 
in dem Gott bejeligend den Sündern naht. 

Diefer Glaube ift etwas unendlich Größeres, als wenn dev 
Ehrift in den Latholifchen Kirchen fich der heiligen Tradition oder 
dem unfehlbaren Lehrgeſetze jeiner Kicche unterordnet. Wer ein 
Slaubensbefenntnis im evangelifchen Sinne ablegt, ohne daß es 
der Ausdruck defjen ift, was er ſelbſt veligiös erlebt, was er als 
feine perfönliche Glaubensgewißheit beſitzt, der handelt unlauter 
mit Gott, und thut es mit einem Brandmal im Gewifjen, Aber 
darum darf ein Bekenntnis, das die evangelifche Kirche ihren 
Dienern zumutet, auch nicht im Widerfpruche mit diefem Charakter 
des Glaubens ftehen, Es darf nicht theologiſche Lehrfäge der Kirche 
oder überlieferte Gefchichtserzählungen umfaffen, vor denen fich 
Verftand und Urteil des Einzelnen zu beugen hätten. Es Tann 
Nichts enthalten, wofür nur die Kirche die Verantwortung tragen 
dürfte, ohne daß e3 zur eignen veligiöfen Ueberzeugung des Be— 
tennenden würde. Befennen darf ein evangelifcher Ehrift nur, was 
Jeder ſelbſt veligtös erleben muß, der ſich im Sinne der Refor- 
mation vertrauend der Gnade Gottes in Chriftus aufichließt. 

So hat unjre Kirche nicht das Recht, ihre Diener in der: 
ſelben Weiſe wie die fatholifchen auf kirchliche Lehrfchriften und 
Belenntnisformeln zu verpflichten. Dem alle Lehrjchriften, in 
denen die Kirche zu beftimmten Zeiten die von ihr erreichte Stufe 
der chriftlichen Erkenntnis niedergelegt bat, enthalten notwendig 
neben dem Glauben, den der evangelifche Ehrift befennen darf, 
auch Meinungen und Urteile theofogifcher Art, die, auch wenn fie 
richtig wären, doch nicht zum Belenntniffe gehören können, 

Und auch für ihre vollftändige Nichtigkeit kann die Kirche 
feinerlei Sicherheit bieten, Die Männer, die fie verfaßt haben, 
waren (um mit Schleier mache r zu veden) „Theologen wie wir, 
und wir haben denſelben Beruf, Reformatoren zu fein, wie fie“. 
Und die Fürften und Magiftrate, die ihnen durch ihre Unterſchrift 
beiftimmten, hatten weder einen Auftrag dev Kirche, noch bejapen fie 
daS theologifche Verftändnis, das te berechtigt hätte, die Kirche des 
Evangeliums für alle Zeiten an ihre damalige veligiöfe Erkenntnis 


Schuls: Das Belenninis in der evangelifchen Kirche. 59 


zu binden. 

Das Bewußtfein davon, daß die Kirchlichen Belenntniffe in 
unſerer Kirche nicht das Necht haben dürfen, richterlich entjcheidend 
zu binden, hat ihr vom Anfange an niemals gefehlt. Nicht als 
ob es zu einer Haren, für die Praxis entjcheidenden, Einficht aus: 
gebildet gewejen wäre. Auch in diefem Stücke haben die Nefor: 
matoren ihre neuen religiöſen Grundfäge nicht befefjen, ohne daß 
die ungeheure Macht taufendjähriger Eirchlicher Gewohnheit hem— 
mend und verändernd darauf eingemwirkt hätte. Für Luther und 
jeine Freunde waren die Symbole der alten Kirche mit dem Evan- 
geltum von Chriftus identifch, die Gewwiſſen bindend und jeder 
Kritik entzogen. Und in den eignen Bekenntniſſen meinten fie den 
Glauben jedes evangelifchen Ehriften niederzulegen. 

Aber es fommt auf die Grundſätze an, nicht auf ihre 
erite Anwendung. Und diefe enthalten, wie Niemand bejtreitet, 
einen entjchiedenen Widerjpruch gegen die Stellung, die in der 
fatholifchen Kirche den Bekenntniſſen zufommt, Es kann nicht meine 
Abficht fein, Bekanntes und oft Gefagtes nochmals ausführlich 
darzuftellen. Sch erinnere nur kurz daran, wie Luther Niemandem, 
auch einem Engel nicht, das Recht zugefteht, Glaubensartitel zu 
begründen, und das der Schrift allein vorbehält, wie er das Recht, 
über den Glauben zu urteilen als unveräußerlichen Beſitz ber 
Gläubigen aller Zeiten anfieht, und fchon in dem Auftreten des 
Konzils von Nicaea eine bedenkliche Schmälerung diefes Rechtes 
findet, und der Kirche ausdrücklich die Vollmacht abjpricht, über 
den Glauben zu entjcheiden. Ich erinnere daran, daß die Befenner 
in Augsburg ja nichts Andres erweifen wollten, als ihr eignes 
Recht, in der Kirche geduldet zu werden, und himmelmeit davon ent— 
jernt waren, etwa ihren Gegnern das Necht, in dev Kirche zu lehren, 
durch dieſes Bekenntnis zu befchränten, daß Melanchthon in 
der Apologie geradezu erklärt, er führe nur um des Friedens 
willen jeine Zeitgenofjen nicht weiter von der Lehrweife feiner 
Gegner weg, und daß er daS von den Ronfutatoren der Augs— 
burgifehen Konfefjion für die Anerkennung der kirchlichen Chrifto- 
logie und Trinitätslehre gefpendete Lob nicht annimmt ohne zu 
betonen, daß nicht die Mebereinftimmung mit dem kirchlichen Be: 


so Schultz: Das Bekenntnis in der evangelifchen Kirche. 


fenntniffe, ſondern die mit der h. Schrift diefer Anerkennung zu 
Grunde liege. Ich erinnere daran, daß noch die Konkordienformel 
mit dem größten Nachdrucke allen firchlichen Lehrfchriften, vom 
Apoftoliftum bis zur Augsburgifchen Konfejfion, die Bedeutung 
einer norma judicis abfpricht, und ihnen neben der h. Schrift nur 
die Rolle von Zeugen für das Kirchliche Schriftverftändnis zuer- 
fennt. Das Alles bedarf feiner bejonderen Betonung. Die Kirche, 
die nur die h. Schrift als entjcheidend in Glaubensjachen aner- 
kennt, und die zugleich die grammatifch-biftorifche, d. h. die wifjen- 
ichaftliche, Auslegung dev Schrift fordert, kann eine ftrenge Bin: 
dung ihrer Lehrer an den Buchftaben der Befenninifje vergangener 
Zeiten ihvem innerften Wefen nach gar nicht ertragen. 

So fann umfve Kicche, weil in ihr mit dem Begriffe des 
Glaubens auch der des Befenntniffes fich verändert hat, und weil 
das in ihr geltende Schriftprinzip eine richterliche Stellung kirch— 
licher Lehrfchriften unmöglich macht, die Sicherheit, die auch fie 
ihren Dienern gegenüber fordern muß, nicht auf dem Wege er: 
reichen, den die Fatholifchen Kirchen naturgemäß einfchlagen. Und 
ihre Gefundheit und Entwiclungsfähigkeit hängt davon ab, daß 
fie in Treue gegen ihre Grundgedanken das einmal Erreichte nicht 
mit ihrem bleibenden Wefen verwechjelt, und fich ihre Grenze nicht 
enger ſtecken läßt, als dahin, die Kirche des Evangeliums jelbjt 
u jem, 

. I Aber wäre die evangelifche Kirche nicht dennoch in ihrem 
vollen Rechte, wenn fie ihren Dienern das Konfordienbuch mit 
rechtlicher Geltung auferlegte? Jede rechtlich organifierte Gemein- 
ichaft hat doch das Hecht, ihren Beamten nach ihrem Exmefjen 
die Bedingungen vorzufchreiben, von denen fie ihr Wirken ab— 
hängig macht? Das ift doch nur dann wahr, wenn diefe Beding- 
ungen nicht mit dem im Widerfpruche ftchen, mas fie ihrem Weſen 
nach ift und worauf ihr Daſeinsrecht fich gründet. Wenn unfere 
Kirche Nichts fein wollte, als eine chrijtliche Sekte neben andern, 
die fich auf einen engen Kreis Gleichdenkender bejchränft, und an— 
dern frommen Ehriften, die in irgend einem Punkte anders denfen, 
freiftellt, fich ihren Platz anderswo in dem weiten Gebiete der 
Chriftenheit zu juchen, — dann möchte fie jo verfahren. Niemand 


Schul: Das Bekenntnis in der evangelifchen Kirche. 61 


würde es der Brüdergemeine verargen, wenn fie ihren Heinen 
Kreife enge Grenzen zieht. Aber unſre Kirche, die niemals etwas 
Anderes hat fein wollen als die Kirche des Evangeliums ſelbſt, 
kann nicht zugleich, durch ihre Ordnung Lehrer, die diefes Evange- 
lium verfündigen, von ſich ausjchließen, weil fie ihrer theologifchen 
Ausbildung nach verjchiedenartig denken. Ein Verein zur Pflege 
der Mufit Bach's darf gewiß die von ſich ausschließen, die an- 
deren Tonwerken ihre Kunft widmen wollen. Ein archäiftifches 
Inſtitut darf fi) an den Standpunkt einer bejtimmten Stufe der 
wiffenfchaftlichen Erkenntnis binden. Aber eine Geſellſchaft zur 
Pflege aller edlen Muſik, oder eine Anftalt zur Entwiclung der 
Wiſſenſchaft dürfen folche Grenzen nicht aufitellen, weil fie fich 
damit jelbjt verurteilen, und in ihr eigenes Leben einen Todes— 
Teim aufnehmen würden. Die Kirche des Evangeliums darf nicht 
Ordnungen aufjtellen, die einer Sekte geziemen würden, oder der 
Kirche der geijtigen Knechtſchaft. 

Sie darf es ſchon deshalb nicht, weil ihre eignen Bekenntnis: 
schriften thatfächlich Einfprache gegen folche Verwendung erheben. 
Sie könnte vielleicht vergefjen, daß fein Belenntniszwang ihre Prer 
diger hindern kann, die Gemeinen an echt evangelifcher Glaubens» 
nahrung geiftlos und glaubensmatt darben zu lafjen. Sie könnte 
8 ertragen wollen, daß ihre Lehrer mißtrauifch von denen ge— 
richtet würden, die von ihnen lernen folften und die nach ihrer 
Bildungsitufe die Bekenntniſſe überhaupt nicht wirklich zu verftehen 
im Stande find. Ste könnte, humdert Jahre ihrer Gefchichte ver 
feugnend, evangelifche Kirchenväter wie Schleiernracher und 
Rothe, könnte die wahren Schöpfer des neuen Glaubenslebens, 
deſſen fie fich erfreut, wie Schwache anfehen, die fie gegen Recht 
buldet, und das eigentliche Bürgerrecht in der Kirche der Nefor- 
mation nur der kleinen Zahl der geiftesarmen Nückjchrittsleute und 
dem zu theologifchem Denken nicht Befähigten zufprechen. Sie 
könnte e8 daraufhin wagen, daß die Edelften und Gewiffenhaf- 
teften mehr und mehr fich von ihrem Amte fern zu halten ich ges 
wöhnten, um nicht in Gewiſſensbedenken zu geraten, — während 
ſich eine nicht Heine Zahl ihrer Amtsträger mit der elenden Rolle 
Titurgifcher Handlanger ohme perjönliche Neberzeugung abfände oder 


62 Schult: Das Bekenntnis in dev evangelifchen Kirche. 


niedrig genug dächte, auf ein „Hineinwachſen in die Bekenntniſſe“ zu 
boffen, wie „die Liebe in dev Ehe kommt“. Sie könnte den traurigen 
Mut haben, das wifjenfchaftliche Verſtändnis unferer Gegenwart wie 
einen Rückfchritt gegenüber der Theologie des 17ten Fahrhunderts 
anzujehen. Aber fie kann ihre Bekenntniſſe nicht das fein laſſen, 
was fie jelbft nicht fein wollen, und nicht jein können, 
ohne das Recht der Reformation felbft preiszugeben. Jedes Geſetz 
legt fich jelbft aus. Wer den Bekenntniſſen unferer Kirche zu— 
ftimmt, der ftimmt auch der Befchränkung ihrer Bedeutung zu, die 
fie feldft aus dem Weſen der Reformation heraus fejtgeftellt haben, 
Wenn er fie al3 unfehlbare Träger einer unverbefferlichen kirch— 
lichen Erkenntnis anerfennte, dann würde er gerade damit aufs 
hören, ein befenntnistreuer evangelifcher Ehrijt zu jein. Er wäre 
ein Katholik, nur daß er jeine Kicche anderswo fuchte, als der 
römiſche Katholik e3 thut. Ein evangelifcher Chrijt dürfte niemals 
in diefem unevangelifchen Sinne einem kirchlichen Bekennt— 
niffe zujtimmen, auch wenn er jeden Buchſtaben defjelben bil- 
ligte, — ja aud wenn ex ſelbſt es im Auftrage der Kirche ver- 
faßt und aufgeftellt hätte. Denn ein unabänderliches Lehrgeſetz 
der Kicche gehört in die Kirche Roms, nicht in die der Reforma— 
tion. Geſetze und heilige Formeln kann man anwenden, ohne von 
ihrer abfoluten Gerechtigkeit und Wahrheit perfönlich überzeugt zu 
fein. Aber in der Kirche des Schriftprinzips kann Niemand kirche 
lichen Lehrausſagen zuftimmen, ohne den felbftverftändlichen Vor— 
behalt immer neuer Prüfung und möglicher Verbefferung. Und 
unfer Befenntnis ſelbſt verlangt für die Einheit der Kirche nur 
die Einftimmigfeit in der Lehre des Evangeliums, nicht gleich 
mäßige Theologie, und nur die rechte Verwaltung der Sakra— 
mente, nicht eine gleichförnige Sakramentslehre. 

Und unfre Kirche fann eine gefegliche Geltung der Bekennt— 
niffe nicht fordern, wenn fie nicht der offen vorliegenden Wirk- 
lichkeit mutwillig das Auge verjchliegt. Wer würde es heute war 
gen, die Seligfeit von den teinitarifchen Formeln des Athanaſia— 
num abhängig zu machen? Welche Parter in unferer Kirche könnte 
ihre theologifchen Ueberzeugungen noch ohne Reſt mit dem Wort- 
laute der Konkordienformel aufgehen laffen? In der Kirche aber 


Schuld: Das Belenntnis in der evangelifchen Kirche. 63 


kann es kein Recht geben, das mit ihrem Weſen umd ihrer relis 
giöſen Wirklichkeit ſtreitet. Sie ift micht Nechtsinftitut, fondern 
Glaubensgemeinfchaft. Was in ihr Recht fein foll, das muß aus 
dent Glauben geboren fein. 

9) So fheint in der Natur unferes Gegenftandes jelbft eine 
Antinomie verborgen zu liegen. Die Kirche kann nicht auf eine 
wirkſame Lehrverpflichtung ihrer Geiftlichen verzichten. Eine Auf: 
Härung, die das wünſchen würde, hätte weder Verftändnis für 
die Gefchichte dev Kirche, noch für die durch ihre Aufgaben note 
wendig erzeugten Bebürfniffe. Die Kicche gäbe fich ſelbſt auf, 
wenn fie aufhörte, fich die Sicherheit zu verfihaffen, daß in den 
Gemeinen der Glaube gepflegt wird, auf den ſie als chriftliche 
Kirche und als Kirche der Neformation gebaut ift. Und doch darf 
fie dafür nicht die Bürgſchaft verlangen, die nad) der Meinung 
jo vieler, vorzüglich der juriftifch Gerichteten, die einzige wirkſame, 
feiner Illuſion ausgefegte ift, die Bürgſchaft die in der geſetzlichen 
Geltung des Belenntnisbuchjtabens Liegt. 

Eine Antinomie liegt in der That vor. Es iſt diefelbe, die 
überall entfteht, wo Recht und Glaube, wo äufre Form und ins 
wendiges Leben auf einander treffen. Und fie wird niemals auf: 
zulöfen jein im Sinne des Nechtes allein, niemals ohne das Der: 


trauen auf umfichtbare Kräfte, auf die Wahrheit, die den Sieg 


behalten muß, auf den Geift, den Chriftus jenen Gläubigen ver- 
heißen hat, auf den fittlichen Willen und das Gewiſſen derer, die 
fich den Lebensberuf gewählt haben, Zeugen Jeſu zu fein und für 
das Reich Gottes unter den Menjchen zu arbeiten. Ohne diejes 
Vertrauen wird unſre Kirche fi) in der That eine genügende 
Sicherheit nicht verjchaffen können. Aber auch wenn ſie es hat, 
wird fie in irgend einer Form eime ausdrückliche Verpflichtung 
ihrer Diener kaum entbehren können und wollen, — und wäre es 
auch nur, damit diefen Dienern ſelbſt in Zeiten der Anfechtung 
eine Stüße und ein gutes Gewifjen ihres Rechtes nicht fehlte. 
10) Wie ſoll fie verfahren? Wide vielleicht ftatt jedes 
weiteren Bekenntniſſes unter uns die Verpflichtung der Lehrer 
auf die heilige Schrift genügen, die ja nach der Grundregel der 
Reformation allein als Richterin in der Kirche entfcheiden foll? 


64 Schul: Das Bekenntnis in der evangeliſchen Kirche. 


Es kann doch Nichts als kirchlich berechtigt unter ung gelten, was 
nicht fehriftgemäß ift, — und Alles wirklich Schriftgemäße foll in 
unfrer Kirche auch als chriftliche Wahrheit gelten. 

Und doch, wer ſähe nicht, daß eine ſolche Verpflichtung ebenfo 
unzureichend wäre, wie gefährlich für ein gefundes Glaubensleben 
unter uns? Sie wäre unzureichend. Auch die Latholifchen 
Kicchen, auch alle Sekten wollen jehriftgemäß lehren. Auch der 
flachſte Nationalismus kann fich in dem Sinne jchriftgemäß nennen, 
daß, was ex vorträgt, auch in dev Schrift nachzumeifen iſt. In 
wahrem Sinne lehrt freilich nur der fchriftgemäß, der das ganze 
in der h. Schrift bezeugte Evangelium predigt und Nichts pre 
digt, als diefes Evangelium, Und im Sinne unfrer Kirche jchrift- 
gemäß [ehrt nur, wer die Schrift von dem religiöfen Mittelpuntte 
der freien Gnade Gottes aus verfteht, und die individuelle Man: 
nigfaltigfeit der im N. T. hervortretenden Auffafjungen um diefen 
Mittelpunkt zu fammeln und aus ihm zu entwideln weiß. Aber 
wie follte der bloße Hinweis auf jchriftgemäße Lehre für dieſes 
wahre evangelifche Verjtändnis des Schriftgemäßen bürgen? 

Und ebenfo ficher wäre folche Verpflichtung auf die heilige 
Schrift gefährlich für die gefunde Entwicklung in der Kirche. 
Wenn man nicht thatfächlich Alles der Willfiv und dem Er: 
mefjen des Einzelnen anheimftellen wollte, müßte immer die Ger 
fahr drohen, daß der Buchſtabe der heiligen Schrift als Nichter 
» des Glaubens erfehiene? Und das wäre eine jchlimmere Knecht: 

ſchaft, als die ftrengfte Verpflichtung auf das Konkordienbuch. Es 
würde im Grunde jede wahre Wifjenfchaft, vor Allem ‚jede ges 
funde Theologie, aus der chriftlichen Kicche verbannen. Die Ge 
danfenwelt und der Bildungsitoff der althebrätfchen taufendjährigen 
Volksentwicklung und die Weltanfchauung der helleniftifchen Bil 
dung in der Zeit der Neligionswende würden zum unveräußer— 
lichen Gute jeder Bildung werden, die chriftlich fein will, und das 
Gewiffen der Frommen binden, Jede in der h. Schrift berichtete 
Erzählung wäre eim unantaftbarer Gefchichtsbericht, auch wenn er 
ſich nach den allgemein geltenden Regeln der Wiljenjchaft als ein 
fpäter eingebrungener Zuſatz zu der urjprünglichen Ueberlieferung 
erwieſe. Die evangelifche Kirche wäre der Buchftabenknechtichaft 


Squt Das Belenntnis in der evangeliſchen Kirche. 65 


angelſächſiſcher Unbildung und methopiftiichen Eiferns Preis ge- 
geben, Mer ung auf die Schrift verweifen und doch dieſe Gefahr 
abmwehren wollte, der müßte immer zugleich erklären, daß er nicht 
den Schriftbuchitaben nach feinem äußerlichen Verſtändniſſe meint. 
Und er müßte hinzufegen, daß er die Schrift im Sinne des Evan- 
geliums und des Schriftveritändnifjes der evangelijchen Kirche ver: 
fanden wiſſen will, — d. h. er müßte, indem ex die h. Schrift 
als entjcheidende Norm aufftellt, zugleich ſchon einen Maßftab für 
die Handhabung diefer Norm aufitellen. Und diefer muß gewiß, 
wenn er richtig fein foll, aus der h. Schrift felbit zu entnehmen 
fein. Aber er ift doch nicht ohne Weiteres für Jeden erkennbar, 
der fich unter die Schrift Stellt. 

Einen folchen Maßſtab aljo kann die Kirche nicht entbehren, 
wenn fie ihr vefigiöfes Weſen zum Ausdruck bringen will. Und 
fie kann ihn doch nirgends anders finden, als in denjelben Be: 
fenntniffen ihrer Entftehungszeit, die allerdings, wie wir gejehen 
haben, zu Richtern über den Glauben der Gegenwart durchaus 
ungeeignet find. Sie allein können Zeugnis darüber ablegen, in 
welchen Sinne unfre Kirche im Unterfchied von den andern die 
ſchriftgemäße Predigt des Evangeliums verjteht. 

Nicht wegen der Autorität ihrer Verfafjer. Sie waren gleich 
uns Theologen, die in der Schrift forjchten. Nicht wegen des An- 
jehens derer, die ihnen beiftimmten. Sie hatten nicht mehr Recht, 
der Kirche Lehrgefege zu geben, als Fürften oder Magiftrate dev 
Gegenwart. Nicht weil die Kirche fie angenommen hat. Die evan- 
gelifche Kirche jchreibt fich kein Recht zu, Glaubensartifel zu 
machen. Nur weil fie aus der noch einheitlichen Bewegung der 
Reformation ſelbſt geboren, und weil fie feierliche und öffentliche 
Kundgebungen der neuen Gejtalt des Chriftentums find. Das 
macht fie zu den entjcheidenden Zeugen für das, was die refor— 
matorifche Bewegung al den wahren Mittelpunft des Chriſten- 
tums empfunden bat, der ihr Schriftverftändnis beftimmte, und 
was fie al3 Verfälfchungen des Chriftentums, als faljch Eatholifche 
und faljch proteftantifche Verdunklung des Evangeliums, abweiſen 
mußte, um dem reinen fchriftgemäßen Glauben feftzuhalten. 

Die Belenntniffe dev alten Kirche haben dafür natürlich nur 

‚Beitjgrift file Theologie und Kirche, 10. Jahrgang, 1, Heft. 5 


66 Schuld: Das Bekenntnis in der evangelifchen Kirche, 


mittelbar eine Bedeutung, nur als Ausdruck der Neberzeugung, 
daß die große von Gott geleitete Gefchichte der Chriftenheit auch 
für uns gilt, daß wir aus ihr, nicht aus abgeftorbenen Irrungen 
und PBarteiungen, unfern Chriftenftand ableiten. Und neben den 
wirklichen Urkunden der einmütigen veformatorifchen Bewegung 
haben Schriften wie die Konkordienformel nur jekundäre 
Geltung, weil fie nur das Produkt von Majoritäten find, die 
ſtark genug waren, im Kampfe die widerſtrebenden Minoritäten 
niederzudrücken, und jelbft nicht neue Belenntnifje jein wollten, 
ſondern Erklärungen der alten (F, ©, de comp. f. 2), Aber die 
wirklichen Befenntniffe der Anfangszeit bieten gegenüber allen, auch 
den geiftesmächtigften, Brivatjchriften jener Tage allein die Gewähr, 
Zeugniſſe deffen zu fein, mas der einmütige Glaube der großen 
‚Zeit begehrte und betonte, Wer diefen Unterfchied nicht anerkennt, 
der zeigt einen Mangel an gefchichtlichem Sinne. Und mer fich 
dem Wahne hingeben wollte, unſre Zeit oder eine kommende befjere, 
könnte neue und volllommenere Betenntniffe ſchaffen, dev möchte es 
wohl auch unternehmen, mitten im Laufe des Stromes das Wafjer 
der Quelle zu finden und nachzuweifen. Bekenntniſſe werden nicht 
gemacht, fondern fie wachjen als Früchte eines geiftigen Entwicklungs— 
prozeffes. Nur eine neue Kirche oder eine einmütig hervortretende 
neue Stufe der evangelifchen Kirche könnte in neuen Bekenntniſſen 
gegenüber überwundenem Irrtum oder gefährdenden Mißverſtänd— 
niffen ihr Wefen zum Ausdrucke bringen, und daneben etwa die 
Bekenntniſſe des 16. Jahrhunderts als Zeugen für eine berechtigte 
Vorſtufe weiter gebrauchen, wie die Neformation die Symbole der 
alten Kirche anerkannt hat. 

11) Unfve Kirche wird in irgend einer Weife ihre Bekennt— 
niſſe berückjichtigen müfjen, wenn fie ihren Dienern verpflichtend 
ihr eignes Weſen gegenüber ftellt. Und fie kann weder bloß bes 
amfpruchen, daß fie die gefchichtliche Bedeutung diefer Schriften 
ohne perfönliche Zuftimmung zu der in ihnen ausgedrückten Auf— 
faffung des Chriftentums anerkennen — das wäre ein frivoles 
Spiel mit dem Exnfte eines heiligen Gelöbniſſes — noch kann fie 
eine xechtliche, gejegliche Bindung ihrer Lehrer an den Buchjtaben 
und an die theologische Erkenntnisſtufe diefer Schriften beabfich- 


Schuls; Das Bekenntnis in dev evangelifchen Kirche, 67 


tigen. Us Urkunden und Zeugniffe hat fie ihre Bekenntniſſe an- 
zuſehen, nicht wie die Kirche Noms als Geſetze. Sie will nicht 
auf Koften des Lebens und der Entwicklung eine unbemegliche 
Gleichförmigfeit der Anfichten und Gebräuche. Sie will ihren 
Fortjehritt nur an die heilige Schrift binden, deren immer befferes 
Verftändnis mit der niemals abgefchlojjenen Entwiclung wahrer 
Wifjenjchaft zufammenhängt. Sie muß bereit fein, auszufcheiden, 
auch was ihr in ihren Anfängen irrtümlich als ein Beftandteil 
des chriftlichen Glaubens evjchienen ift, und aufzunehmen, was fie 
einft ohne Grund abweifen zu müffen glaubte, weil jie es für un- 
verträglich mit dem veinen Chriftentum: hielt, 

Sie bedarf und fie fordert nicht Gleichförmigkeit in Theologie 
und Agende, jondern Einheit in der reinen Predigt des Evange- 
liums, d. h. in der Treue gegen die Lehre von der freien Gottes— 
gnade in Jeſu Ehrifto, in der nach den Worten der Schmalfal- 
diſchen Artikel „Alles enthalten ift, was wir gegen Teufel, Pabſt 
und Welt in unferm ganzen Leben verteidigen” (IL 5. vgl. Conf. 
Aug. I. 5. 7. Apol. IIL. 153. 279. IV. 20). Nur das kann fie 
ficher jtellen wollen, wenn fie ihre Diener an ihre Bekenntniſſe 
bindet. Wohl ift es aus dev Erbjünde, die aus ihrem theologischen 
Urfprunge unſrer Kirche anhaftet, leicht verftändlich, daß die Vers 
wechslung von Evangelium und Theologie, von Glauben und 
Lehrmeinungen fich in ihr immer wieder mit unausrottbarer Hart— 
näckigkeit geltend zu machen fucht. Aber ihrem Weſen und ihren 
Grumdfägen widerſpricht fie durchaus. Die evangelifche Kirche 
kann weder eine unfehlbare Theologenſchule fein wollen, noch 
eine hermetiſch abgejchlofjene Parteikirche, die auf dem Erkenntnis: 
ftandpunkte vergangener Jahrhunderte beharren muß, wenn fie 
nicht ſich felber aufgeben will. 

Die Verpflichtung der Lehrer auf das Belenntnis kann nur 
die Abficht haben, die Kirche, ſoweit das durch menfchliche Ord— 
nungen gejchehen kann, dagegen ficher zu ftellen, daß nicht Männer 
in ihr als Prediger wirken, die, ob auch ſonſt ehrenmwert und be— 
gabt, Doch den Glauben nicht perfönlich bezeugen können, der den 
Chriften zum Ehriften macht, oder ihn nicht in dem Sinne und 
‚Geifte vertreten können, in dem fich die Kirche der Heformation 


5* 


68 Schuls: Das Bekenntnis in der evangelifchen Kirche, 


von Fatholifchem Weſen und von gefchichtslofem fchwärmerifchem 
Subjeftivismus [osgerungen hat. Die Prediger des Evangeliums 
Tollen feierlich und offen befennen, daß fie den in der h. Schrift 
bezeugten geſchichtlichen Jeſus predigen wollen als unſern Erlöſer 
und Heren, in dem jich Gott als unfer Vater in freier Gnade 
zu den Sündern neigt, 

Die Kirche kann nicht weniger fordern. Nicht dadurch wird 
man geeignet, daS Predigtamt in ihr zu führen, daß man „anti 
katholiſch· — im äußerlichen Sinne proteftantifch — denkt, ſon— 
dern vor Allem dadurch, daß man evangelifch glaubt. Das Pro- 
teſtieren ruht in der Kirche der Neformation immer auf dem fejten 
Grunde des enangelifchen Heilsglaubens und erwächſt aus ihm. 
Die gefährliche Schwäche aller einfeitigen Neformparteien in unſrer 
Kirche liegt darin, daß fie hinter dem Protejt gegen Rom und 
Hierarchie das Belenntnis zurücktreten zu lafjen geneigt find. Aber 
ebenjo gewiß muß der Prediger mit jeiner Kirche auch darin ein- 
verjtanden jein, daß er das in Jeſus uns gebotene Heil nicht von 
dem Machtgebote einer unfehlbaren Kirche, nicht von dem Gnaden= 
zauber kirchlicher Anftalten, nicht von dem Verdienfte vorgeſchrie— 
bener Menfchenwerte abhängig denkt, ſondern allein von der gläu- 
bigen Hingabe der Seele an die Gnadengabe der Vaterliebe Gottes, 
— und daß er das Weſen der Religion nicht in den mwechjelnden 
Stimmungen der Seele oder in den Ergebniffen der eignen Ge- 
danfenarbeit fucht, fondern in der gefchichtlichen Offenbarung 
Gottes in Chriftus, deren Beeugung die h. Schrift ift. Die Kivche 
fann nicht weniger fordern, aber fie hat weder Grund noch Necht, 
mehr zu verlangen. Denn nur für das Evangelium, das der 
Geiftliche in ihrem Namen der Gemeine verfündigt, trägt fie Die 
Verantwortung, — nicht für das, was er am wifjenfchaftlichen 
Anfchauungen als fein perfönliches Eigentum befist. 

12) Der Prediger in der Kirche des Evangeliums ſoll per 
Tönlich ihren Glauben teilen, Aber er braucht nicht die Theologie 
und die Erkenntnis der Anfangszeit diefer Kirche heute noch per— 
jönlich zu vertreten. In diefem Kreiſe find wir wohl Alle prinz 
äipiell über diefen Grundfag einig. Ja auch auf einjeitigeren 
Standpumkten widerjpricht man ihn wenigftens nicht offen. Auch 





Schuls: Das Bekenntnis in der ewangelifchen Kirche. [1] 


Männer wie Sartorius und Nudelbad, oder Zödler, 
Märtens, Leop. Schulze, W. Hoffmann u. N. verwahren fich 
gegen eine folgerichtige juriftifche Handhabung der Symbole auch nach 
ihrem im engeren Sinne theologischen Inhalte. Und auch ſehr weit- 
gehende Liberale wollen doch die proteftantifche Freiheit nicht ohne 
jede Gebundenheit an den Glauben der Kirche, Ebenſo ift unter 
ung auf die entjcheidende Norm chen längft in verfchiebener Weiſe 
hingewieſen. Das, woran die Kirche ihre Diener binden will, iſt 
die Perſon Jeſu felbft, jowie ihn die Kirche dev Neformation als 
den Erlöjer befennt, der die Glaubenden in Gemeinfchaft mit Gott 
als ihrem Vater bringt. 

Aber läßt fich in die harte Wirklichkeit übertragen, was als 
Prinzip leicht und jelbjtverjtändlich erſcheint? 

Wenn in umjerer Kirche das Maß von Einficht, Vertrauen 
und Unbefangenheit vorhanden wäre, das fie haben follte, dann 
ließe fich eine praktiſche Löſung der Frage auf verjchiedene Weiſe 
ohne Schwierigkeit denken. Die Kirche könnte dann ihren Zweck 
auch ganz ohne eine beftimmte Verpflihtung auf 
ihre Bekenntniſſe erreichen. Wenn ein gewifjenhafter 
und aufrichtiger Mann, der den Beweis geliefert hat, daß er weiß 
was Chriftentum, und insbejondere was enangelifches Ehrijtentum 
iſt, ihr frei und offen den Wunſch ausfpricht, in ihr ein Prediger des 
Evangeliums zu werden, dann bat fie im Grunde alle Sicherheit, 
die menſchlicherſeits verlangt werden kann. Das Gelöbnis des 
Gehorfams gegen die beftehenden Ordnungen und Gejege wäre 
das Einzige, deſſen es noch bedürfte. Allerdings müßte die Kirche 
dann um jo mehr der Mahnung eingedenk fein, nicht jehnell „Je— 
mand die Hand aufzulegen“. Sie müßte zuvor nicht bloß jein 
Wiſſen, fondern auch feinen Charakter in vorbereitender Amts- 
thätigfeit erproben, nicht um inquifitorifch feine theologijche Stel- 
hung zu unterfuchen, fondern um ficher zu fein, daß er für diefen 
jo befonders verfuchungsreichen Beruf perſönlich geeignet ift. 

Ebenfowohl aber könnte dann auch eine einfache nicht weiter 
erklärte Verpflichtung auf die Velenntniffe dem Eintritte in das 
Amt vorausgehen. Ohne das Miftrauen theologijch verbildeter 
Geijtlicher und fanatifierter Laien, ohne den Streit der kirchlichen 


70 Schultz: Das Belenntnis in der evangelifchen Kirche. 


Verfammlungen und der Tageslitteratur könnte fich jeder vechte 
evangelifche Geiftliche unbedenklich auf die Symbole verpflichten, 
jo gut wie er das Apoſtolikum vortragen kann als den ehrwür— 
digen Ausdruck auch feines Glaubens an den in der h. Schrift 
bezeugten Herrn. Denn in dev Kirche der Reformation kann folche 
Berpflichtung auch ohne nähere Erklärung und Beſchränkung nicht 
mehr befagen, al3 die Zuftimmung zu dem Evangelium nach der 
proteftantifchen Auffafjung des Glanbens. Die Verpflichtung ſchließt 
ihre Schranken jelbft in ſich. So könnte der Geiftliche ohne Ge- 
wijjensbedenfen diefe Verpflichtung übernehmen und zwar nicht 
„Soweit“ die Bekenntniſſe der h. Schrift entjprechen, fondern 
weil fie e3 nach feiner Weberzeugung thun, d. h. weil das Ver— 
ſtändnis der h. Schrift, wie es der Reformation zu Grunde Fiegt, 
auch das feine ift, und die von ihr abgewiefenen Deutungen des 
Ehriftentums auch von ihm verworfen werden. Und folange fein 
befjeres Recht eriftiert, wird der Geiftliche mit gutem Gewifjen in 
folchem Sinne handeln. Denn warum follte er fein gutes prote— 
ftantifches Gewiffen von dem fchlecht unterrichteten Gewiffen Anz 
derer richten [afjen, auch wenn dieſe Andern das Amt des Kicchen- 
regiments inne haben? Es ift ein Diener der Kirche, nicht ein 
Beamter der Kirchenregierung. — Aber die frühere Unbefangen- 
heit ijt nicht mehr vorhanden und noch nicht durch eine befjere erſetzt. 
Und jo liegt ohne Zweifel eine Unklarheit vor, wenn die Kirche von 
ihren Lehrern die Verpflichtung auf ihre Belenntnifje fordert, ohne 
deutlich und unzweideutig zu erklären, daß diefe Verpflichtung im 
protejtantiichen Sinne gemeint ift, nicht im Geifte der katholiſchen 
Kirche. Wie foll geholfen werden? 

Der unmwürdigjte und unzweemäßigfte Nat wäre, diefe Hilfe 
in einer „milden Praxis" der Auffichtsbehörden zu fuchen, Kir— 
henregierungen wechjeln, und mit ihuen die Grundfäge der Hand- 
habung des Negiments. Kirchenregenten find Menfchen von ſehr 
fehlbarer Natur und ſehr verfchiedenartiger Einficht und Bildung. 
Aber wäre es auch anders, — der ehrenhafte Träger eines Heiz 
ligen Amtes darf nicht von dem guten Willen feiner Vorgeſetzten 
abhängig fein, an den er fein Aecht hat. Wie könnte ein Mann, 
den die Kirche nur duldet, in ihrem Namen freudig Zeugnis 


Schuls: Das Bekenntnis in der evangelifchen Kicche. 71 


ablegen? Und wer kann es Geiſtlichen zumuten, ſich mit ſolcher 
Stellung zu begnügen, wenn ſie ſich bewußt ſind, das Chriſtentum 
der Bibel beſſer zu verſtehen, als es vor 300 Jahren möglich war, 
und ein reicheres Erbe theologiſcher Erkenntnis angetreten zu haben, 
als die Theologen des 17ten Jahrhunderts es bieten? Sie dürfen 
ſich nicht die unwürdige Rolle von Geduldeten aufdrängen laſſen, 
deren Amtsſtellung von der Nachſicht Anderer abhängt, ja denen 
man wohl gar ſchweigend zumutet, daß fie in der Vielgeſchäftig— 
keit des praftifchen Amtes allmählig das Beffere, was fie erfannt 
haben, vergefjen oder ſich gleichgültig werden laffen, oder daß fie 
ich dem Erkenntnisftandpunfte der Vergangenheit, wie einem höhe— 
ven, nad) und nach wieder nähern, als ob die Arbeit der Chriften- 
beit ſeit 150 Jahren, als ob die Leiftungen von Männern mie 
Schleiermacher, Rothe oder Ritſchl einen Rücjchritt bedeu— 
teten gegenüber dem, was ein Calov oder Hollazius erkannt 

en, 
Ebenjowenig würde es zum Biele führen, wenn etwa die kirch— 
liche Obrigkeit es unternähme, einen Kern der Bekenntniſſe aus- 
zufcheiden, der wirklich die Gewiſſen verpflichten follte, oder eine 
maßgebende Interpretation des eigentlichen Sinnes der 
kirchlichen Lehre aufzuftellen. Wer follte diefe Obrigkeit fein? Wer 
gäbe ihr das Necht, für alle Parteien und für die Zukunft nad) 
ihrer Einficht zu entjcheiden? Und ein folches Verfahren würde doch 
gerade wieder eine der fatholijchen ähnliche Art der Verpflichtung 
mit ſich bringen. Denn es gäbe doch wieder, ftatt der Zeugniffe 
und Urkunden des Glaubens, denen man zujtimmt, ein Eirchliches 
Lehrgeſetz, dem man fich unterwirft. Ein Proteftant darf den 
Bekenntniſſen nur jo gegenüberftehen, wie fie gejchichtlich entjtanden 
find, d. h. als den unvergleichlichen und klaſſiſchen Denfmälern 
der Frömmigkeit der Kirche, in dev auch er glaubend und Ich- 
rend jteht. 

13) So wie unfere kirchlichen Verhältniſſe liegen und mie 
ihre nächſte Entwicklung fich zu geftalten jcheint, ift weder das 
Aufgeben jeder Verpflichtung der Geiftlichen auf die Bekenntniſſe 
zu erftreben, noch kann eine ſolche Verpflichtung ohne ausdrückliche 
Erklärung ihrer proteftantifchen Bedeutung und Tragweite aus- 


72 Schuls: Das Bekenntnis in der evangelifchen Kirche. 


reichend erjcheinen. Das Gemifjen dev Amtsträger und ihre Stel: 
lung in der Gemeine fordern, daß von entjcheidender Stelle un: 
zweideutig ausgefprochen werde, was ſich an ſich unter Proteftanten 
allerdings von jelbjt verfteht, daß wer unfern Bekenntniſſen zuftimmt, 
fich damit zu nichts Anderem befennt, als zum Evangelium im 
Sinne der Neformation. Daß die Kirche ihre Forderung fo, und 
nur fo, verfteht, das muß amtlich und deutlich bei der Verpflich- 
tung ausgefprochen werben. Auf die Einführung einer folchen 
Erklärung haben Alle, die es gut mit der Zukunft des Proteftan- 
tismus meinen, in Wort und Schrift hinzuarbeiten und fich weder 
durch Verdächtigungen noch durch Anfeindungen hindern zu laſſen. 
Denn es giebt feinen andern Frieden. Am menigften durch die 
ichlechte Unterfcheidung zwifchen dem, mas zu glauben, und dem 
was zu lehren iſt. Ein ehrlicher Mann im geiftlichen Amte kann 
nur lehren, was er glaubt, aber er muß Alles, was er wirklich glaubt, 
auch in der Gemeine lehren. Sonſt ift er nicht der Träger des 
edelſten Berufs, fondern ein Frohnarbeiter in dem elendeften der 
Handwerke (Vinet), Natürlich hat er in der Gemeine nur zu 
verfündigen, was ev glaubt, nicht Alles, was er weiß oder zu 
wifjen meint. Die juızgor, die der edeljte Beitandteil der Gemeine 
find, haben das Recht, Erbauung in Chriftus zu finden, nicht Ber: 
wirrung durch theologifche Meinungen. Aber. diefes Recht kann 
durch feinen Bekenntniszwang gefichert werden, fondern nur durch 
die Seelforgergewifjenhaftigleit der Prediger. 

Um das genannte Ziel zu erreichen, giebt es ſelbſtverſtänd— 
lich nur einen Weg. Es muß die Neberzeugung von feiner Not- 
wendigfeit in den leitenden Kreifen dev Kirche, vor Allem in den 
gebildeten Laien, immer wieder geweckt werden. Das tft natürlich 
eine Aufgabe, die vor Allem bei der Bildung der Theologen und 
bei ber theologifchen Belehrung weiterer Areife erledigt werden 
muß. Aber es darf deßhalb doch auch die That in der Kirche 
nicht fehlen. Die Gebildeten müſſen durch gewiſſenhaftere Teil- 
nahme an den Arbeiten der Kivche, durch Verzichten auf die Träg— 
beit und Gleichgültigkeit, die ihren Einfluß lähmen, fich das Recht 
gewinnen, in den Vertretungen der Kirche den ihnen gebührenden 
Platz einzunehmen und diefe Körperjchaften mit frifchem Blute zu 


« 


Schuly: Das Bekenntnis in der evangelifchen Kirche. 73 


durchdringen, fie weitherziger und proteftantifcher zu machen, Wenn 
das nicht gelingt, dann muß die Kirche Luthers eben nach der in— 
nern Notwendigkeit der Dinge immer mehr zu einem ſchwächeren 
und nfolgerichtigeren Nachbilde der katholifchen Kirche werden, 
und die Fahne des echten Proteſtantismus wird zum Schaden der 
religiöfen Bildung in den Händen des methodijtifchen Calvinismus 
bleiben, oder den Sekten zufallen, die feiner Theologie bedürfen 
und nach Bekenntniſſen nicht fragen, aber in enger Gewohnheit 
unfreier Sitte und in wifjenschaftsfeindlicher Anechtichaft des Bir 
belbuchitabens erjtarren. Der Friede, deffen die gegenwärtige evans 
gelifche Kirche bedarf, Liegt nicht in dev Vergangenheit, die 
wir erneuern Eönnten, jondern in einer Zukunft, die wir 
ichaffen follen. 

14) Zum Schluffe noch einmal die Frage: verbürgt eine in 
diefer Weife befchränfte Verpflichtung der Kirche wirktich mod) das, 
was fie von ihren Lehrern fordern muß? Und giebt es, wenn 
man fie verwirklicht denkt, überhaupt noch eine Möglichkeit für das 
Kirchenvegiment, gegen den Mißbrauch der Kanzel zur Verbreitung 
von Unglauben oder von nichtchriftlicher Geſinnung einzufchreiten? 

Eine Bürgſchaft im juriſtiſchen Sinne wird nicht erreicht. 
Das muß offen zugejtanden werden, Dem Gemifjen bleibt ein 
weites Feld, auf dem es ich ohne jtvenge Nechtönormen zurecht 
finden muß. Aber welche Form der Verpflichtung auf Bekennt— 
niffe könnte in einer Kirche, die nicht unfehlbar jein will, über- 
haupt vechtliche Sicherheit bieten? Der mit voller Strenge 
durchgeführte Symbolziwang des 17ten und 18ten Jahrhunderts 
hat micht verhindert, daß zuerſt Unklarheit der Lehre, dann immer 
entjchiedener ein ausgejprochener Rationalismus die Kanzeln be— 
herrfchte. Er hat es nicht unmöglich gemacht, daß taufende von 
frommen rationaliſtiſchen Geiftlichen, von ihren Vorgefegten ge- 
billigt, in ihren Gemeinen aefegnet und verehrt, in vollfter Ruhe 
des Gewiffens ihres Amtes gemaltet haben. Und wie ftände es 
heute? Wenn die Rirchenregierungen die Belenntnispflicht wirklich 
als Nechtsnorm verwenden wollten, — fie vermöchten vielleicht 
noch häufiger, als es ſchon jetzt geſchieht, einzelnen fveifinnigen 
Geiſtlichen Unrecht zu thun, oder ihnen den Zugang zum Amte 


74 Schulg: Das Bekenntnis in der evangelifchen Kirche. 


zu wehren, zur Beunruhigung der Gebildeten in der Gemeine, und 
in den meiften Fällen zur Schädigung ihres eignen Anfehens. Aber 
wo wäre eine FKirchenregierung, und märe fte auch mit den 
weitgehendften Nechtsbefugniffen ausgeftattet, die es unternähme, 
alle Geiftlichen vom Amte fern zu halten, deven theologifche Ueber: 
zeugungen jich nicht mit den Symbolen decken, — mögen fie Bed 
und Hofmann oder Rothe, Ritſchl, Lipfius ihre Bildung ver- 
danten? Für die evangelifche Kirche dev Gegenwart kann es nur 
eine moralifche Sicherheit geben. Und ein gewifjenhafter und 
ehrlicher Mann, der über das Weſen des evangelifchen Ehriften- 
tums unterrichtet ift, Tann, auch wenn er fich nicht vechtlich gebunden 
weiß, das geiftliche Amt nur fuchen und es nur weiter führen, 
wenn er wirklich bereit ift, den Herrn Chriftus im Sinne des 
Glaubens der Reformation der Gemeine zu ihrem Heile zu bezeugen. 

Freilich wird e8 niemals an Trägern des Amtes fehlen, die 
innerlich zum Amte ungeeignet find. Aber folche Männer kann 
fein Belenntniszwang fern halten oder zu fegensveichen Predigern 
machen. Es wird bei Schleiermachers Wort bleiben „ein Geijt- 
licher kann platt und unveligiös predigen, jentimentale Naturpre— 
digten halten trotz alles Bekenntniszwanges; jo trockne Seelen 
kommen jest aus rationaliftifchen Schulen; fie Eönnen ebenjogut 
aus rechtgläubigen fommen“, Man kann wahrlich jehr ernjthaft 
fragen, ob eine Gemeine weniger verwahrloft wird, die ihr Pre— 
diger ftatt mit chriftlicher Neligion mit den überlebten und ihr 
innerlich unverftändlich gewordenen Formeln vergangener Zeiten 
ernährt, — als wenn fie ftatt lebendiger Neligion Moral hört, 
die doch folange die heilige Schrift verlefen und das Vaterunſer 
gebetet wird, niemals ganz von dev Macht des Evangeliums ab- 
getrennt fein kann, 

Ginmütigfeit des theologijchen Standpunftes 
läßt fich unter den Trägern des Amtes nicht erreichen, wenn der 
Belenntwisziwang befehränft wird. Aber nach diefer kann unfere 
Kirche ja gar nicht jtreben in einer Zeit gährender Gedankenbil- 
dungen und jich bejtreitender Syſteme, unfere Kirche, die von ihren 
Dienern doch zugleich perſönliche Ueberzeugung fordert und ihnen 
einen Grad von wiljenjchaftlicher Bildung zumutet, bei dem das 


Schuls: Das Bekenntnis in der evangelifchen Kirche. 75 


einfache Annehmen vorgejchriebener Anfichten innerlich unmöglich 
wird. Um jo gemifjer aber fann Einmütigfeit des Glau- 
bens und jeiner Verkündigung erreicht werden, Denn 
der Glaube ruht auf religiöſem Erleben, Und jo gewiß Jeder 
ihn nur jelbit und auf feine Art erleben kann, jo gewiß muß er 
doch in jedem evangelifchen Ehriften durch denjelben Herrn und 
die gleichen Wirkungen diejes Herren gewedt werden. Und 
predigen können fie doch Alle nur diefen Glauben. Sie haben 
Buße zu predigen, indem fie die Schönheit des Lebens Jeſu und 
die Heiligkeit des Willens Gottes vichtend an das fündige Gerz 
herantreten lafjen. Sie haben den gefreuzigten und auferftandenen 
Jeſus zu bezeugen, in dem Gottes Gnade jündenvergebend fich zu 
dem Glaubenden niederneigt, Sie haben Verkindiger des Geiftes 
zu fein, der aus natürlichen Menjchen Kinder Gottes und Erben 
der Emigfeit macht. Aus diefem Glauben die Antwort zu finden 
für Die Fragen des Menjchenherzens und für die jtets wechjelnden 
Nöte und Bedürfnifje der Zeit, das ift die Aufgabe des Dieners 
der Kirche, nicht theologifchen Streit und eigene oder fremde Mei- 
nungen in die Gemeine hineinzutwagen, Er hat am Weihnachts- 
tage die Wundergnade Gottes zu preifen, die fic) in dem Kinde 
der Erde uns ſchenkt, — nicht Fragen dev Geſchichtsforſchung tiber 
die Anfänge des Lebens Jeſu zu erörtern oder trinitarifche und 
chriſtologiſche Formeln der Schule zu verteidigen oder zu kriti— 
ſieren. Er hat am Oftertage und am Feſte der Himmelfahrt fich 
zu dem lebendigen Herrn zu befennen, dev den Tod überwunden 
hat, nicht in den Streit der Geſchichtsforſcher einzugehen über das, 
was in jenen Tagen äußerlich vorgegangen tft. Er hat am Pfingſt— 
feſte nicht den äußerlichen Hergang der Bfingftgeichichte zu unter- 
fuchen, ſondern dev Gemeine zu zeigen, daß fie eine Gemeine des 
heiligen Geijtes jein joll und kann. Er hat von der Gnade Zeug— 
wis abzulegen, die uns in dem Kreuze Chrifti geboten wird, nicht 
theologische Lehrſätze darüber zu entwickeln, mie Gottes Gnade 
fich an das Kreuz des Charfreitags gebunden hat. Wer das ver- 
gißt, wer Theologie und Wiſſenſchaft predigt jtatt des Glaubens, 
— mer jtatt lebendige Frömmigkeit in die Herzen zu pflanzen, 
dem Gedächtniſſe Formeln der Schule einprägt, dev waltet feines 


76 Schultz: Das Belenninis in der evangelifchen Kirche. * 


Amtes ohne Segen, ob ſeine Anſichten aus der Schule der Frei— 
ſinnigen ſtammen oder mit der Auffaſſung der Rechtgläubigkeit 
zuſammenhängen. Und die Weisheit der Behörden, ſowie die freie 
Predigerwahl der Gemeinen, geben Gelegenheit genug, die ver— 
fchiedenen Gaben und Standpunkte da wirkſam zu machen, wo fie 
jegensreich wirken können nach ihrer bejonderen Art. 

Und ein vichterliches Einfchreiten dev Kirchenbehörd 
Es muß ja unbedingt möglich fein, wenn Ordnung und Sitte 
der Kirche gewahrt werden follen. Wenn ein Diener der Kirche 
die Möglichkeit jegensreichen Wirkens aufgehoben hat durch Aer- 
gernig, das fein Zeben giebt, oder Dadurch, daß er nicht das Evan— 
gelium von Chriſtus im Sinne der Reformation predigt, jondern 
feine Gemeine mit eignen unchriftlichen Gedanken nähren will, oder 
mit einem Ehriftentum, das im Sinne der katholiſchen Kirche oder 
der Schwärmer verftanden wird, — dann muß die kirchliche Obrig- 
feit die Möglichkeit haben, einzufchreiten und das Aergernis zu 
entfernei. 

Aber dazu bietet die beſchränkte Verpflichtung auf die Be- 
fenntnifje einer gewifjenhaften Behörde feine jehlechtere Handhabe 
als die ftreng rechtliche. Ja auch ohme jede folche Verpflichtung 
würde fie im Grunde ebenfo gefichert jein. Denn folche Fälle 
können doch nur da vorliegen, wo ein unzweifelhafs 
tes Mergernis hewortritt und von allen aufrichtigen Chriften 
als folches empfunden wird. Alſo nicht wenn einzelne unberufene 
Glieder der Gemeine in der Lehrweiſe des Predigers vermiffen, 
was nach ihrer theologifchen oder dilettantifchen Anſicht vechtgläubig 
ift, oder Etwas finden, was fie in ihrer Dentweife ftört. Son— 
dern nur, wenn die Gemeine ſelbſt Durch ihre berufenen Vertreter 
Klage darüber führt, daß ihr Prediger ihr das Evangelium von 
Chriſtus vorenthält, oder in einem Sinne darreicht, der dem Geijte 
der Reformation nicht entjpricht. Oder wenn der Gejamtzuftand 
einer Gemeine nach der chriftlichen Weberzeugung des Firchlichen 
Kreiſes, zu dem jie gehört, Mangel an vechtem evangelifchem Glau— 
ben und Leben ſpilren läßt. Auch eine ſolche Ueberzeugung befist 
ja ihre gejeßlichen Organe, durch die fie zu Worte kommen kann 
ohne unmwürdiges Spionieren oder Denuntiantenweſen. Wo das 


Schulg: Das Bekenntnis in der evangelifchen Kirche. 77 


wirklich der Fall ift, da bedarf das Kirchenregiment ficher nicht 
einzelner vechtsfräftiger Säge aus den Belenntnisfchriften, um 
ihr Recht zum Einfchreiten zu begründen und nach ihrer Pflicht 
einen Mann, der für fein Amt ungeeignet ift, aus demfelben zu 
entfernen. Wo fie des Buchftabens im rechtlichen Sinne be- 
dürfte, da wäre gewiß fein wirklicher Grund vorhanden, amtlich) 
vorzugehen. Wo Xergernis vorhanden iſt, da giebt die durch 
Annahme des Firchlichen Amtes übernommene Verpflichtung felbit, 
mag ihre Form Lofer oder enger fein, das volle und zweifelloje 
Necht, das Amt dem zu entziehen, der es nicht nad) dem Ge— 
löbnis führt, mit dem er es empfangen und auf fich genommen hat. 

So gefährdet die durch das Wefen und durch die Gefchichte 
unferer Kirche geforderte Einfchräntung des Bekenntniszwanges 
weder die Einheit des Glaubens, noch die Harmonie der Predigt, 
noch die Zucht und Ordnung, ohne die es fein gefundes Gemein: 
ſchaftsleben giebt. Unſere Kirche hat nach diefem Ziele zu ftreben. 
Denn auch von ihrem Firchlichen Leben gilt das Wort: 

„Die Wahrheit wird Euch freimachen“. 


79 


Die Bedeutung des gefchichtlichen Kinnes im Proteſtantismus. 


Antrittsvorlefung, gehalten am 13, Jannar in Marburg 


von 


D. Martin Nabe, 


Privatdozent. 





Die Theologie als Wiſſenſchaft lebt ebenfowenig wie jede 
andere Wifjenfchaft von veinen Ideen oder von Mitteilungen aus 
einer transfzendenten Welt; fie hat ebenjo wiejede andere Wiffenschaft 
harte, geeifbare Gegenftände der irdiſchen Wirklichkeit zum Objekt 
ihrer Unterfuchung und Darjtellung. Sie unterjcheidet ſich nur, 
wie auch ſonſt die verfchiedenen Wiffenfchaften unter einander, 
jo von den Übrigen Disziplinen durch den Umkreis, die Qualität 
und den Wirklichkeitshärtegrad ihrer Gegenftände. Nicht der un- 
fichtbare Gott ift der direkte Anlaß ihrer Thätigfeit, fondern die 
im und unter den Menfchen vorhandene Gottesidee, bejjer der 
Glaube an Gott, den als einen Teil der uns umgebenden Er— 
jcheinumgswelt, die wir Wirklichkeit nennen, auch der kritiſchſte 
Empirift nicht leugnet. So ift fie nicht eine religiöſe Wiſſenſchaft 
in pezififchem Unterfchiede von einer profanen, nicht eine Eirchliche 
im Unterfchiede von einer unkicchlichen, ſondern eine der Art und 
Methode nad auf dem Boden der Ginen Gefamtwifjenjchaft 
ſtehende Sonderwiſſenſchaft von der Religion und von der Kirche. 

Fragt man nach dem näheren Standort der Theologie inner- 
halb des wifjenjchaftlichen Gefamtorganismus, und berückſichtigt 
man Dabei deſſen allereinfachite und deutlichjte Gliederung in 

Beitfgrift file Theologie und Kirche, 10. Jahrgang, 2. Heft. 6 


80 Rade: Die Bedeutung des geſchichtlichen Sinnes im Proteſtautismus. 


Naturwiſſenſchaft und Gefchichtswifienfchaft!), jo ſteht die Theo— 
logie zur Geſchichtswiſſenſchaft. Nicht daß ſie in ihrer Arbeit auf 
die eigentliche Geſchichtsforſchung beſchränkt bleiben ſollte, wie ſie 
dieſelbe in ihrer altteftamentlichen, neuteſtamentlichen und kirchen— 
geſchichtlichen Disziplin ausübt. Sie leiſtet in der Ordnung und 
Verwertung der hier gewonnenen Ergebniſſe eine Denkarbeit be— 
ſonderer Art in ihrer ſyſtematiſchen Disziplin und wendet ſich in 
der Praktiſchen Theologie mit den hiſtoriſch Gewonnenen den 
Bedürfniffen des Eirchlichen Lebens zu. Die in Dogmatik und Ethik 
vollzogene denfende Erhebung zum Allgemeinen und Senfeitigen 
über die Welt des zunächſt gefehichtlic) Gegebenen hinaus nimmt 
der Theologie ebenſowenig ihren wiſſenſchaftlichen Charakter, wie 
er einer Philoſophie abgeiprochen wird, die auf ihre Weife Gejchichts- 
und Naturwiffenjchaft zum Ausgangspunkt ihrer Bemühungen um 
eine zufammenfaffende und einheitliche Erkenntnis nimmt. Und 
ihre praftifche Wendung diskveditiert die Theologie prinzipiell ebenfo 
wenig, wie Jus, Medizin u. ſ. w. durch die gleiche Wendung 
ihres wifjenfchaftlichen Charakters verluftig gehen. Aber entwurzelt 
iſt die Theologie im Bereich der heutigen Wiffenfchaft mit dem 
Augenblid, wo fie die Legitimation ihrer Zugehörigkeit zur Ge— 
ichichtswiffenschaft nicht mehr erbringen kann. 

Und auch um ihres eigenften praftijchen Zweds willen kann 
ihr ſpezifiſch hiſtoriſcher Charakter nicht genug betont werben. 
Denn jofern fie der von ihr bedienten Gemeinde zu Tiebe über 
die Fritijch-empirifche Befchäftigung mit den in Vergangenheit und 
Gegenwart gegebenen Thatjachen zu eigentümlichen Erkenntniſſen 
bhinausftrebt, teilt fie mit der Philoſophie die Gefahr, in Spe— 
fulation und Phantafterei zu verfallen ; fie wird aber diefer Gefahr 


4) Sehr intereffante Meberfichten über die verſchiedenen Werfuche, die Ge— 
ſamtwiſſenſchaft bis in ihre einzelften Disziplinen zu gliedern, und einen eigenen 
umfaffenden Verſuch giebt Profeffor H. DO. Lehmann in Marburg in feiner 
Nektoratsrede: Die Spftematit der Wiflenfchaften und die Stellung der Juris— 
prudenz. Marburg, Elwert 1897, Uns bejchäftigt oben weniger das Pro— 
blem der Syſtematik der Wiffenfchaften als die Frage, wie eine organifierte 
Geiftesarbeit befonderer Art ihren willenichaftlichen Charakter ausweift, Das 
muß fie, aud jede Philofophie, grade durch ihre Bewährung vor ben natur— 
oder geſchichtswiſſenſchaftlichen, im Bedarfsfall vereinigten Gerichtshofe, 


Rade: Die Bedeutung des geſchichtlichen Sinnes im Proteftantisnus. 81 
re — — 


9 Vol. hierzu meine gleichzeitig erſcheinenden Vorträge: Die Wahrheit der 
chriſtlichen Religion. Freiburg, Mohr. 
6 * 


80 Rade: Die Bedeutun 


Schriften von 


Das Leben im Licht. 
Ein Andachtsbuch. 
189. M. 2,80. Geb. M. 3.60. 





. Wimmer. 


Gesammelte Schriften. 
In zwei Bänden. 


In einen Halbleinenbanb geb, DM. 8,50, 
In gmei Halbfeangbände geb. M. 10.— 





Die beiden Bände der „Gefammelten Schriften" erjchienen einzeln unter ben Titeln; 


Geisteskämpfe. 
Geb. M. 4.50. 


Friede in Gott. 
Geb. M. 4.50. 


Im Kampf um die Weltanschauung. 


Dreizehnte und vierzehnte 


Der Weg zum Frieden. 
Vierte Auflage. Cart. M. 1.50. 





Die biblischen Wundergeschichten. 
Vierte. Auflage. Geb. M. 1.50, 


Auflage. Cart. M, 1.25. 


Inneres Eeben. 
Bierte Auflage. Cart. M. 1.45. 


Liebe und Wahrheit. 
Betrachtungen über einige Fragen des fittlichen 
und religiöfen Lebens, 

Cart, M, 1.45. 


ı 
Aus den Schriften Wimmers spricht eine gewaltige religiöse Kraft, ein tiefes christliches Gemüt. 





J. C. B. Mour (PAvn SIEBECK) IN FREIBURG 1. B., LEIPZIG, TÜBINGEN. 





aan. No. 207, 


rn 


ührung dor dem natur 


sen, im Bebarfsfall vereinigten Gerichtshofe. 


fophie, grade Durch ihre Ver 


muß fic, auc jede Bhilofo; 
ober gefchichtstoiffenfchaftli 


6 2 


Rade: Die Bedeutung des geſchichtlichen Sinnes im Proteftantisuns. 81 


um fo fefter widerftehen, jetreuer jieim der Erkenntnis des gefchichtlich 
Gegebenen die unermeßliche, unentreißbare Grundlage aller ihrer 
weiteren Denkthätigkeit und praftifchen Tendenz fejthält. 

Aber von den Beziehungen der Theologie zur Geſchichtswiſſen— 
ſchaft zu handeln ift nicht die oberfte Abficht unferer heutigen Vor— 
lefung. Unſer Intereſſe gilt dem evangelifchen Glauben, wie 
er zur Gefchichte fteht. Und da ift ein ähnliches Verhältnis kei— 
neswegs von vorn herein felbftverjtändlich. 

Denn der lebendige Glaube richtet fich jener Natur nad) nie 
mals auf Geweſenes, Vergangenes, fondern immer auf Gegen— 
wärtiges, Heutiges, Ewiges. Sofern dies egenwärtige an Geweſenes 
und Gejchehenes anfnüpft, eine Wirkung von dorther darſtellt, iſt 
dies für das Nachdenken des Glaubens über fich jelbft von hohem 
Intereſſe und wird ihn vielleicht zu bejtimmten Betrachtungen, 
Anfichten und Ausjagen führen; aber fein eigentümliches Intereſſe 
bewegt ſich in einer ihm wie die Luft umgebenden heutigen uns 
mittelbaren Wirklichkeit, die er entweder erlebt oder doch erleben 
könnte. Der chriftlich-evangelifche Glaube hängt, genau bejehen, 
an dem heute lebendigen Gott, an dem heute wirkenden Chris 
tus, an dem heute die Ginzelfeele wie die Gemeinde durch— 
lutenden Geift. Er hängt an dem, der Exdts nal aiepov 5 aöchg, 
ua eis obs alüvast). : 

Diefer fo befchaffene Glaube ift von aller hiftorifchen Wiffen- 
ſchaft und alfo auch von der Theologie prinzipiell unabhängig. 
In der That lehrtdie alltägliche Erfahrung, daß ſtarker, ſpürbarer, 
wirkſamer Glaube Menfchen befeelt und durchs Leben trägt, die 
nicht die mindejte innere Berührung mit hiftorifch oder theologiſch 
wiffenfchaftlicher Arbeit haben. Dennoch fteht es fo, daß feines 
Menfchen Glaube ein vein felbftwachfener , ihm angeborener oder 
von ihm jpontan gejchaffener ift, ſondern daß er, wie dev Menjch 
felber, der ihn hat, in einem gefchichtlichen Bufammenhang zum 
Dafein erwacht. Und dieſer Zufammenhang zeigt fich noch viel 
deutlicher und eindrucsvoller, wenn man von der gläubigen Ein— 
zelperfon auf das komplizierte Gebilde der gläubigen (oder glau— 

9 Bol. Hierzu meine gleichzeitig erfcheinenden Vorträge: Die Wahrheit der 
Hriftlichen Meligion, Freiburg, Mohr, 

6 * 


82 Nabe: Die VBebentung des geihichtlichen Sinnes im Proteftantismus, 


bensverwandten) Gemeinde jieht. Es ijt alſo ein Doppeltes fejt- 
auftellen: einmal daß der Glaube an fich für den Einzelnen feinen 
Wert, ja feine Wirklichkeit im Erleben eines Gegenmwärtigen (Emigen) 
bat, jodann aber, daß alles Glaubensteben gejchichtlich bedingt 
ift. Im Chriftentum, könnte man binzuflgen; aber es gilt dies 
natürlich ebenjo von jeder andern gejchichtlich lebendigen Neligion. 

Steht es nun fo, dann taucht das Problem auf, welche Be- 
deutung eine nähere Beſchäftigung mit der Vergangenheit für 
den Gläubigen haben könnte! Er lebt zwar, fofern er glaubt, 
in einer Gegenwart; aber fo bald er darauf aufmerkſam wird, 
daß diefe Gegenwart feines frommen Exlebens auf gefchichtlichen 
Borausfegungen ruht, wird er — bei einer gemwifjen Intelligenz 
oder infolge beftimmter Anleitung — aud) wenn ex fein „Theolog“ 
ift, anfangen zu fragen: Was ift es um dieſe Geſchichte, 
die hinter mir liegt, und welche Bedeutung hat 
fie für meine Frömmigkeit? - 

Diefes Problem wird fich dem evangelifchen Chriften von 
heute um fo leichter aufdrängen, weil einmal der übliche Religions- 
unterricht vielfach den Schein erweckt, als handle es fich im 
Ehriftentum um das Fürwahrhalten von Begebniffen einer ge 
weſenen Zeit, nicht um ein Exleben heute mächtiger Wirklichkeit 
— und weil zweitens die theologische Wiffenfchaft in Verbindung 
mit der Profanhiftorie mit intenfiven Feitifchem Eifer alle Tiefen 
der chriſtlich-kirchlichen Bergangenheit aufwühlt, jo daß man 
gelegentlich mit Schreden fragen fann: was ſteht von der Ueber— 
lieferung noch feſt? und ift nicht dadurch schließlich der Glaube 
ſelbſt Tebensgefährlich bedroht? 

Diefe Frage zu beantworten, mit dem ganzen hier vorlie- 
genden Problem fich ernftlich zu befafjen, ift eine der Hauptauf- 
gaben dev ſyſtematiſchen Theologie. Der Gejchichts- 
forfcher hat weder Zeit noch Beruf, fich dabei aufzuhalten. Er 
wäre nicht der unbefangene Wahrheitsdiener, der er jein joll, 
der Pionier, der auch ins unbefannnte Land tapfer voranzugehen 
hat, wenn er ich durch die Mückjicht auf etwaige Konſequenzen 
feiner Arbeit fefjeln oder beirren ließe. Nun foll ihm der Dog- 
matifer wahrhaftig an Wahrheitsernft nicht nachjtehen, Aber 


Nader Die Bedeutung des gefhichtlihen Sinnes im Proteftantismus. 83 


die Zeit foller jich nehmen und als feine befondere Pflicht anfehen, 
diefen prinzipiellen Dingen nachzugehen, in dem Konflitt der 
verjchiedenen wiffenfchaftlichen und praktischen Lebensinterefjen 
Klarheit zu ſchaffen, damit einerſeits das Zuum ceuique zu feinem 
Nechte fomme, andrerfeits vom lebendigen Glauben den wifjen- 
ſchaftlichen Nefultaten gegenüber die richtigen Konjequenzen ge— 
zogen werben. 

Und alſo befinden wir uns im Bereich der fyftematifchen 
Theologie, wenn wir von ber Bedeutung des gefchicht- 
liden Sinnes im Proteſtantismus handeln, 


I. 

Was verftehen wir aber unter diefem „gejchichtlichen Sinn“ ? 
Aufs Fürzefte: den Sinn für das, was wirklich gefchehen ift. 
Näher: die Fähigkeit, das wirklich Gejchehene aus dem Berichteten 
bherauszuerfennen, und zwar nicht nur als Poſten einev Summa 
von Einzelbegebenheiten, fondern als Glied in einer Kette zu— 
ſammenhängenden Gefcheheng, einer Entwickelungsreihe. Oder: die 
Fähigkeit, gefchichtliche Wirklichkeit im Einzelnen zu unterfcheiden 
und gefchichtliche Entwickelung im Ganzen zu beobachten, Es bedarf 
eigentlich kaum einer Definition. 

Diefe Fähigkeit ift eine rein menfchlich natürliche und hat 
mit der Religion von Haus aus Nichts zu thun!). Sie kann 
in unzählbaven Individuen jchlummern, ohne je geweckt zu werden, 
ganze Völker und Zeiten haben fie nicht gekannt; fie fann im 
Einzelnen, in Generationen aufmachen, zu einer Kunft und Macht 
werden, bie den größten Einfluß geminnt, und eine methodifche 
Ausbildung finden, die immer neue Ergebniffe damit zu ernten 
ermöglicht, Es gab gechichtlichen Sinn ſchon in Hoher Vollendung 
im klaſſiſchen Altertum; er regte fich überall, mo Gefchichte ge— 
ſchrieben und getrieben ward; er ift der heutigen Kulturwelt neu 
geſchenktworden in der Renaiſſance, und er hat religionsgejchicht- 
liche Bedeutung erlangt allein auf dem Boden des Proteſtantismus. 


1) Sie fteht pſychologiſch angejehen auf der gleichen Linie mit dem Orts- 
ſinn, dem Naturſinn, dem Kunſtſinn, der mathematifchen und andern natür— 
lichen Anlagen, 


84 Nabe: Die Bedeutung des gefhichtlichen Sinnes im Proteſtantismus. 


Nur diefe — um das moderne Schlagwort zu gebrauchen — 
religionsgefchichtliche Bedeutung des hiftorifchen Sinnes geht uns 
heute an. 


II. 

Dan Fönnte bei flüchtigem Zufehen annehmen, daß der Bo— 
den der fatholifchen Kicche dem Intereſſe an der Vergangen— 
heit der chriftlichen Religion umd alſo dem Gedeihen gejchichts- 
forfchender und gefchichtsbetrachtender Studien befonders günftig 
jein müßte. Einmal wegen ihres Alters, jodann wegen ihres 
Traditionsprinzips, und endlich wegen ihres Heiligenkults. 

Aber jo lebhaft in ihr dev polemifehe Eifer ift, ſich als die 
uralte Eine chriftliche Kirche zu behaupten, fo ungünftig hat 
das dogmatifche Vorurteil der ungebrochenen Einheit und Eimigfeit 
des Firchlichen Beftandes auf die Anfchauung der mechjelvollen 
Mannichjaltigfeit der Zeiten und Entwiclungsperioden gewirkt. 
Und was die Tradition anlangt, jo ift die ja zunächſt im 
thesi nichts Anderes als das verbum Dei non scriptum, das in 
feinen Urſprüngen auf diefelben Autoren zurücgeht wie die heilige 
Schrift, nämlich auf Ehriftus und die Apoftel, Das Traditions- 
prinzip verlangt aljo einfach für alle Glaubenslehren den Nach— 
weis, daß diefelben, wenn fie nicht in der heiligen Schrift ent- 
halten find, irgendwieſonſt dank der Zeitung des heiligen Geites 
in der Kirche von je her eine Stätte gehabt haben. Das Intereſſe 
an ben ecclesiasticae traditiones neben den divinae und aposto- 
leae tft ein jefundäres. Immerhin iſt bis zum Jahre 1870, 
bis zur Erklärung des Unfehlbarkeitsdogmas, ein jehlichter Ge— 
ſchichtsbeweis aus der Vergangenheit der Kirche nicht ohne Ein- 
druck geblieben. Seitdem aber iſt die Tradition Niemand anders 
mehr als der Papſt feldft. Man kann den Wechjel durch das 
Beiſpiel des tro Allem ehrwürdigen Biſchofs Hefele illuftrieren, 
der im feiner Causa Honorii Papae den Beweis amtrat, daß 
Honorius I. ex cathedra bäretifche Lehre geführt habe und 
darum von einem allgemeinen Konzil mit allem Bewußtſein des 
ihm zuftehenden Nechtes als Häretifer verurteilt morden fet, auch 
damit nicht geringen Eindruck machte, darnach aber mit vielen 


Nabe; Die Bedeutung bes geichichtlichen Sinnes im Proteftantismus. 85 


gleich Einfichtigen ſich dem, Infallibilitätsdogma unterwarf und 
feine Konzilsgefchichte in zweiter Auflage nach deffen Anfprüchen 
korrigierte. Seit dem vatifanifchen Dogma ift in der Fatholifchen 
Kirche der Traditionsbeweis lahmgelegt, zu einer leeren Form 
und Formel geworden, und die hier für das gejchichtliche Gewiſſen 
gegebene Möglichkeit, in eine Lehrbeftimmung mitbeftimmend ein- 
zugveifen, ift ausgelöfcht. 

Die Heiligenverehrung endlich ftellt zwar inſofern in Kultus 
und Predigt eine dem Protejtantismus mangelnde Potenz dar, 
als fie die Erinnerung am vergangene Perfonen umd Beiten der 
Kirche ganz anders in dev Gemeinde Iebendig erhält, Auch wäre 
das Sagenhafte, das fich mit diefen Grinnerungen verknüpft, 
an fich noch fein Hindernis des hiftorifchen Intereſſes, denn auch 
Legenden jind Gejchichtäquellen!). Aber das Ueberwuchern freilich 
der Legendarifchen Mitgift und die heilige Obhut, in welche 
die unfehlbare Kirche gerade dieje zweifelhafteften Elemente der 
Heiligengefchichte nimmt, verderben auch hier wieder dem hiſto— 
rifchen Sinn das Arbeitsfeld, das ev finden könnte, 

Wenn trotzdem auch auf katholiichem Boden gelegentlich tüch- 
tige biftorifche Arbeit im Einzelnen geleijtet ward und immer 
wieder geleijtet werden wird, jo ijt das ebenfo zu beurteilen, wie 
das Auftreten Hiftorifchen Könnens ivgendwofonft unter Völkern 
und Zeiten: die natürliche gefunde Anlage ift, einmal erwacht, 
nicht totzumachen. Und die Fatholifche Kirche hat auch feine Ur— 
jache, fie zu erſticken, ſolange fie ihxen befonderen Anfprüchen nicht 
entgegenarbeitet. Ja es dient zu ihrem Ruhme, den fie gelegent- 
lich ſchätzt, im Jeſuitenorden ſogar ſyſtematiſch pflegt, daß jie 
Männer in ihrem Schoße hat, die in der hiſtoriſchen wie in der 
naturvoifjenichaftlichen?) Detailarbeit am imdifferenten oder zur 
Bearbeitung in maioremEeclesiae gloriam befonders günftigen Orte 
Ausgezeichnetes leiften®). Keinesfalls aber fpielt der gejchichtliche 


9 Val. A, Harnad, Legenden als Geihichtäquellen. Preußiſche Jahr— 
bücher 1890, S. 249 fi. 

2) 3 denke 5, B. au den ausgezeichneten Zonlogen Wasmann 8. I. 

) Würde uns bod) einmal von Eundiger Seite eine Monographie über 
den Geift der katholiſchen Geſchichts- und Kirchengeſchichtsſchreibung geſchenktl 


86 Rade: Die Bedeutung des geſchichtlichen Sinnes im Proteftantismus, 


* 
Sinn im Katholizismus eine eigentümliche, Anftoß gebende oder 
leitende, veligionsgefchichtlich beachtensmerte Rolle. Ex ift zu eis 
nem minderen, fümmerlichen Dafein erſt jüngft wieder mit klaren 
Worten verurteilt worden von Leo XIIL in einer nach Frankreich 
gerichteten Eneyklika vom 8. September 1899, die ausdrücklich 
vom Studium dev Kicchengefchichte handelt. Es heißt da: 

„Wer Kirchengefchichte jtudiert, darf niemald aus dem Auge 
verlieren, daß fie eine Summe von dogmatifchen That- 
ſach en im fich begreift, die zu glauben find und die Niemand 
in Zweifel ziehen darf. Der leitende und übernatirliche Gedanke, 
der über den Gefchiefen der Kirche waltet, ift gleichzeitig die Fackel, 
deren Licht ihre Gefchichte erleuchtet. Immerhin, und weil 
die Kirche, die unter den Menfchen das Leben des menſchgewor— 
denen Wortes fortjegt, aus einem göttlichen und einem menſch— 
lihen Elemente fich zufammenfeßt, muß diefes letztere mit 
großer Neblichfeit von den Lehrern vorgetragen und von Den 
Höglingen ftudiert werden — wie es im Buche Hiob heißt (13, 7): 
Gott bedarf unferer Lügen nicht ).“ 

Damit ift durch den Mund des Unfehlbaren zur Genüge 
befiegelt, daß der Gefchichtsfinn, den wir meinen, innerhalb der 
römiſch⸗katholiſchen Konfeſſion feine Statt hat. Dem wir reden 
von bem freien, gebietenden Gefhihtsjinn, 
dev feine andere Autorität kennt, als die ge— 
ſchichtliche Wahrheit ſelbſt, das wirklich Gejchehene. 


Die Antriebe zu biefen hiſtoriſchen Studien, das Maß von Gewicht, das man 
den Thatſachen einräumt, die innere Auseinanderfegung mit den Hindernden 
irchlichen Anfprüchen müßten dabei vornehmlich unterfucht werden. 

4) Deutſch⸗ Evangeliiche Blätter 1900, Heft1, S. 72, Der Urtert lautet: 
Ceux qui l’etudient ne doivent jamais perdre de vue qu'elle renferme 
un ensemble de faits dogmatiques, qui s'imposent à la foi et qu'il n'est 
permis à personne de revoquer en doute, Cette idee direetrice et sur- 
naturelle qui pröside aux destindes de l’Eglise est en m&öme temps le 
flambeau dont la lumiere &elaire son histoire. Toutefois et parce que 
TEglise, qui contimme parmi les hommes la vie du Verbe incarne, se com- 
pose d'un element divin et d'un element humain, ‘ce dernier doit &tre 
expos& par les maitre et etudie par les elöves avec une grande probite. 
Comme il est dit au livre de Job: „Dieu n'a pas besoin de nos men- 
songes“ Analecta Feclesiastica. Romae. Aug.-Sept. 1899, 8. 329. 


Nader Die Bedeutung des geichichtlichen Sinnes im Proteftantismus, 87 - 


Giebt es eine Neligion, die diefen heroifchen Geift in ihrem 
Schoße duldet? Die ihn vielleicht jogar hegtund feines Dienftes 
nicht entbehren mag ? Der Vroteftantismus ift eine ſolche Religion. 


IV. 


Nicht als ob dieſe Stellung des Gejchichtsfinnes im Prote— 
ftantismus von Anfang an wäre zum Bewußtſein gefommen. 
Aber zur Geltung ift fie gekommen, thatfächlic) gewirkt hat fie 
gerade in der Geburtszeit des Proteftantismus. Beides haben 
wir furz zu zeigen. 

Die Reformation ift nicht die That irgendwelcher neuer- 
wachter gefehichtlichen Erkenntnis, Sie ift überhaupt feine That, 
ſondern eine Entdeckung. Entdedung des religiöfen Glaubens in 
feiner Freiheit und Alles bewältigenden Macht. Diejer Glaube 
bezieht fich, wie wir jchon fagten, genau befehen immer auf etwas 
Gegemmärtiges, Emwiges, auf den heute lebendigen Gott, feine 
Gefinnung, feinen Willen, feine Macht, Es gab diefen Glauben 
jelöftverftändlich auch vor Luther. Aber die Kirche lehrte ihn 
nicht, Niemand kannte ihn recht. Luther wurden die Augen für 
ihn geöffnet durch jenen alten Kloſterbruder, dev ihm wider 
feine Selbjtquälerei mit dem Sabe des Apoftolifums zu Hilfe fam: 
Credo remissionem peceatorum — darin jei geboten, daß auch 
der Einzelne glaube, ihm werde vergeben). Den fo geöffneten 
Weg der inneren Erfahrung ging Luther weiter ohne irgend welches 
Verlangen nach Hijtorifchen Studien. Ex [as die Inteinifche Bibel, 
die man dem Auguſtiner in die Hand gab, deren Leſen, Hören 
und Erlernen die Ordensregel einfchärfte, die aber Niemand fonft 
im Kloſter jonderlich trieb, mit fehnfüchtigem Eifer wiederholt 
durch 2), aber ohne allen „hiitorifchen Sinn“, Ex las fie mit dem 
fuchenden Glauben, wie noch heute Unzählige fie andächtig ge— 
brauchen, auch Gelehrte, Theologen, Hiftorifer, wenn fie fromm 
find und nichts weiter wollen als einen Hauch heiligen Geiftes 
ſpüren. Er wurde Profeſſor, und natürlich trieb er auch Gejchichte. 


4) Julius Köftlin, Martin Luther, 1%, ©, 76 f. 
*) Ebenda ©. 65 f. 


88 Rade: Die Bebeulung des geichichtlichen Sinnes im Proteſtantismus. 


Zwei neuere Bücher unterrichten uns heute über die Gejchichts- 
fenntnifje, die Luther gehabt hat: Shäferund Köhler Nur 
Köhler, deffen weit angelegtes Werk erft in den Anfängen jteht, 
rührt auch an die Frage, die uns hier bejchäftigt!)., Aber auch 
Köhler ftellt nicht deutlich genug die Stunde feft, wo Luther, man 
darf jagen, unter Schreden des Gewifjens, die Majeftät der 
gefchichtlichen Wahrheit aufging. Es war die Mittagszeit des 
5. Juli 1519. 

Es war ber zweite Tag, daß Luther in der Leipziger Dis- 
putation Eck gegenüber ftand. Der Streit ging um die 13. Theje 
Ecks: Romanam ecclesiam non fuisse superiorem aliis ecclesiis 
ante tempora Silvestri (314—335) negamus. Sed eum, qui se- 
dem beatissimi Petri habuit et fidem, suecessorem Petri et vi- 
carium Christi generalem semper agnovimus — und um Luthers 
Gegentheſe: Romanam ecclesiam esse ommibus aliis superiorem 
probatur ex frigidissimis Romanorum pontifieum deeretis intra 
quadringentos annos natis (aus den froftigften, innerhalb der 
legten vierhundert Jahre aufgefommenen päpftlichen Defreten), 
contra quae sunt historise approbatae mille et centum annorum, 
textus scripturae divinae, et decretum Nicaeni coneilii omnium 
sacratissimi’). Zu dieſer etwas ftarfen Behauptung, daß der 
päpjtliche Primat erſt vierhundert Jahre alt ſei, den gejchichtz 
lichen Beweis beizubringen, hatte Luther eifrige Studien getrieben, 
Dabei hatte fich fein Intereſſe insbefondere der orientalijchen 
Kirche zugewandt als einer papjtfveien Chriftenheit. Eck aber 
fand, daß Luther in diefem Satze von der menfchlichen Herkunft 
des päpftlichen Primats hufitifche Lehre führe. Und mit dem 
vollen Bewußtjein dejjen, was er that, nagelte Eck feinen Wider- 
part auf diefe Webereinftimmung mit den Böhmen (non loquor 
de Christianis, sed schismatieis) feſt?). Luther antwortete heftig 


JEruſt Schäfer, Luther als Kirchenhiftorifer. Gütersloh, Bertels— 
mann, 1897, — Walter Köhler, Luther und die Kirchengefchichte nad) 
feinen Schriften zunächſt bis 1521. Erlangen, Junge, 1900, Bisher erſchien 
die erfte Abteilung des erften Teils, 870 ©. 

®) Lutheri Opera latina varii argumenti ad reformationis historiam 
inprimis pertinentia. III, pag, 11. 17, 
3) Ebenda ©. 56. 


Nabe: Die Bedeutung des geſchichtlichen Sinnes im Proteſtantismus. 89 


und geärgert: Eck möge ihn mit ſolchem Schimpf verfchonen, daß 
er ihn zu einem Böhmen mache; derm immer jeien ihm die ver- 
haßt geweſen, weil fie fich vom der Kirche getrennt und damit 
gegen die Pflicht der Liebe und Einigfeit verſündigt hätten. 
Darauf trat die Mittagspaufe ein. In diefer gejegneten 
Stundehat Luther die gefchichtliche Wirklichkeit des Konftanzer Konz 
zils umd dev durch dieſes verurteilten Lehre Huffens ſich vor die 
Seele geftellt und hat fich gebeugt umter den Fategorifchen Impe— 
ratio feines hiftorifchen Geriffens. Und als er in den Saal der 
Pleigenburg zurückkehrte, da hat er ruhig und feſt feine Erklärung 
abgegeben, durch nichts Anderes überwunden als durch die Macht 
einer gejchichtlichen Thatjache, aller Gemeinjchaft mit den verfehm- 
ten Regen zum Troß: unter den Sätzen des Hus und der Böh- 
men fänden ſich viele(!), die durchaus hriftlich und evangelisch feien‘). 
Für Luthers innere Entwidelung ift diefer Tag von Leipzig 
wichtiger al3 der Tag von Worms. Er hat feine Befreiung aus 
der babylonifchen Gefangenschaft, die feit jener Entdedung des 
Glaubens im Gange war, duch die Erfahrung der ge— 
ſchichtlichen Wahrheitin ihrer pojitiven Be 
deutung für die religiöfe Erkenntnis vollendet. Denn die ob 
auch nur partielle Zuftimmung zu der in Deutjchland überaus 
verruchten böhmifchen Ketzerei war ihm durch die Einſicht in die 
Wirklichkeit der von Hus und Genoffen gegebenen Ausjagen ab- 
genötigt. In jener Mittagspause hat Luther die Akten des Konftanzer 
Konzils noch einmal geprüft, gewiß mit heißem Bemühen, diefer für 
den Ausgang der Disputation vorausfichtlich verhängnisvollen Ent- 
deckung zu entgehen. Aber ev kann nicht anders; er beugt fich 
dem Thatbeftand. Und in Luther wird die hiftorifche Erkenntnis 
alsbald, auf die vorliegende dogmatifche Kontroverſe angewendet, 
zum xeligiöjen Bekenntnis. Dieſer Durchbruch des hiſtoriſchen 
Sinmes, des hiftorifchen Gewiſſens unter der furchtbaren Anklage 
gemeinjchaftlicher Sache mit den verrufenſten Kegern hat für immer 
in ber Kirche Luthers die Uebermacht einer hiftorifchen Erkenntnis 
über Verdacht und Vorwurf Fegerifcher Lehre legitimiert. Der 


4) Ebenda ©. 61, 


80 Nabe: Die Bedeutung des geſchichtlichen Sinnes im Proteftantismus. 


evangelifche Dogmatifer hat auf ſolche originale Momente in der 
Seele unfver Zeugen und Propheten zu achten und wird fie ſchär— 
fer würdigen, als der Hiftorifer kann, der fie doch mehr in ihrem 
pragmatifchen Zufammenhange fieht. 

Auch für Luthers Perfon ift das Erlebnis vom 5. Juli 1519 
nicht ſpurlos vorübergegangen. eine hiftorifchen Studien jeßte 
er nad) der Disputation mit großer Erregung fort. Immer mehr 
lernte ev an dev Gefchichte um. Und als im Februar 1520 
der Breslauer Domherr Schleupner ihm die Declaratio de falso 
credita et ementita Constantini donatione des Lorenzo della 
Valle zujchiette, da war es bei Luther mit dem letzten Reſpekt 
vor dem Ueberlieferungen dev xömijchen Kicche zu Ende: „Ich 
habe in Händen“, jehreibt ev am 24. Februar!) an Spalatin, 
„die Schrift des Laurentius Valle wider die Schenfung Konz 
ftantins, von Hutten herausgegeben. Guter Gott, welche Finfter- 
niffe und Nichtswürdigkeiten dev Römiſchen! Und daß man fich 
über Gottes Gericht wundern muß, fo viele Jahrhunderte haben 
diefe ſchmutzigen, groben, unverjchämten Zügen nicht nur Be- 
ſtand gehabt, fondern geherrſcht und als Firchliches Geſetz ge— 
golten, ja was das Ungeheuerfte ift an der Ungeheuerlichteit, 
unter den Artikeln des Glaubens ihre Stelle gefunden. Ich 
bin fo geängftet, daß ich machgerade nicht mehr zweifle, der 
Papſt jei vecht eigentlich jener Antichrift, den die Welt er- 
wartet; fo ſehr ſtimmt dazu Alles, was er lebt, thut, redet 
und beichließt." — Eine Reihe dogmatifch intereffanter Bes 
obachtungen ließen ſich hieran anknüpfen. Warum die Zerftö- 
rung der Fälſchung ‚Ronftantinifche Schenkung‘ durch Lorenzo 
della Balle, die 1440 gefchah, achtzig Jahre zuvor nicht größere 
Wirkung gethan hat? Wie diejelbe Schrift auf Ulrich von Hutten, 
der jie 1518 herausgab, anders wirkte als auf Luther? u. f. w. 
Genug daß für Luther diefe Enthällung jo wichtig blieb, daß er 
1537, jiebzehn Jahre jpäter, die Donatio Constantini deutjch her— 
ausgab mit feinem Kommentar und dem endlich einberufenen 
Konzil widmete, doc) gewiß in der Erwartung, daß es fich der 


1) Ep. Vgl. Enders, Luthers Briefwechlel, 2, S. 333. 


Rabe: Die Bebeutung des geſchichtlichen Sinnes im Proteſtantismus. 91 


Wucht des kritiſch feſtgeſtellten gejchichtlichen Thatbeſtandes nicht 
ganz werde entziehen können. 


V. 

Das meiſte Intereſſe hat die Verbindung hiſtoriſch-kritiſchen 
Sinnes und religiöſen Urteils bei Luther immer auf dem Punkte 
ſeiner Schriftbetrachtung gefunden. Das iſt begreiflich. Indem 
Luther ſich bei ſeiner Loslöſung von der Autorität der Kirche und 
ihrer Tradition immer ausſchließlicher auf den Boden der Bibel 
ſtellte, vollzog er zwar ganz naiv die Gleichung von Bibel und 
Wort Gottes bis zur äußerſten Kanoniſierung des Buchſtabens, 
wie dies am verhängnisvollſten und merkwürdigſten in ſeinem 
Religionsgeſpräch mit Zwingli auf unſerm Marburger Schloß 
zu Tage getreten iſt. Aber ſolches Verhalten zum Schriftbuchſtaben 
war bei ihm doch nie die Konſequenz dogmatiſcher Gebundenheit 
an die Lehre von der Verbalinſpiration, wie ſie ſpäter in der re— 
formierten Kirche und im Tridentinum fixiert, endlich auch von 
der lutheriſchen Orthodoxie verfochten wurde. Bis zur Konkordien— 
formel hin iſt ein ſolches Inſpirationsdogma, das aller Selbſtändig— 
keit des religiöſen Subjekts der Bibel gegenüber die Luft nimmt, 
der lutheriſchen Kirche erſpart geblieben). Luther hat aber an 
demfelben Bibelbuche, das ev mit genialem Verftändnis zum Panier 
der neuen Religion erhob, freimütig ſowohl veligiöfe als Hiftorifche 
Kritik getrieben. Neligiöfe Kritik war es, wenn er in der heiligen 
Schrift nur das als maßgebende Offenbarung gelten ließ, „was 
Chriftum treibet”. Hiftorifche Kritik Tief unbefangen und unge 
ordnet daneben her, jelbjtverjtändlich dann am lebhafteſten fich 
vegend, wenn fie mit der religiöfen Kritik im ihrem Objekt und 
Ergebnis zufammenftimmte, 

Religiöſe Kritik war es, wenn Luther bei Gelegenheit 
einer Disputation noch Anno 1542 öffentlich fich äußerte wie folgt: 
„Der Yakobusbrief macht uns viel zu jchaffen; an ihn allein klam— 
mern ſich die Papiſten und ſtellen alles Andere zurück. Meine 

*) Bol. die ebenfo freimütige wie unverdächtige Schrift von Theodor 
Zahn: Die bleibende Bedeutung bes menteftamentlihen Kanons für bie 
Kirche, Leipzig, Deichert, 1898, ©. 24 ff. 


92 Rader Die Bebentung des gejchichtlichen Sinnes im Proteftantismus, 


Gewohnheit war e3 bisher, den Brief feftzuhalten und auszulegen 
nach dem Sinn der Übrigen Bücher der Schrift; denn man darf 
nichts aus dem Briefe gegen den Elaren Sinn der Schrift (als 
Ganzen) auslegen, das müßt ihr zugeben. Will man aber meine 
Auslegungen nicht gelten Kaffen, dann will ich gründlich mit dem 
Brief aufräumen. Ich will fchier den Jöckel in den Ofen werfen, 
wie dev Pfaff von Kalenberg"'). 

Hiſtoriſche Kritif war e8 z. B., wenn Luther in der Sep- 
temberbibel — man beachte: in der erſten deutjchen Bibel fürs 
Volk — mitteilt, daß der Jakobusbrief, der Hebräerbrief, der 
Sudasbrief und die Offenbarung Johannis in der alten Kirche 
nicht allgemein anerfannt waren, und wenn er ausdrüdlich aus 
diefem Grund dieſe vier Schriften im derjelben Ausgabe als eine 
Art Anhang zum Neuen Teftament behandelt, Hiſtoriſche Kritik 
ift es, wenn ex dem verderbt überlieferten Bibeltert aufzuhelfen 
versucht, wenn er den Büchern der Könige mehr Glauben geſchenkt 
voiffen will, als denen der Chronika?). 

‚Hier merft man Die feine Empfindung des genialen Bibel- 
überjegers. Cine folche Leiftung war ohne Hiftorifchen Sinn, 
mochte Luther darauf noch jo wenig mit Bemußtjein Wert legen, 
unmöglich. Und hiftorifcher Sinn mar e8 vor allem, wenn er 
der Lehre vom dreifachen Schriftfinn das Prinzip des einfachen 
Schriftſinns entgegenftellte®). 


VI. 


Luther hätte dieſe Hilfskraft hiſtoriſchen Sinnes fr feine 
Reformationsarbeit nicht gehabt, wäre dev Humanismus nicht zuvor 


!) Der Pfaff von Kalenberg Heizte feine Stube mit den Holzbilbern ber 
zwölf Apoftel. Als er an Jakobus kommt, pricht er; Büd dich, Jöckel, du 
mußt in Ofen! — Obige Aeußerung Luthers ift zuerft veröffentlicht von Ka— 
meran in den Beiträgen zur bayriſchen Kirchengeichichte, Band 5, S. 180, 

#) Diefe und andere Beifpiele finden fich mit Quellenangabe jehr hübſch 
zufanmengeftellt in dem Nachtvort von Kawerau zu Hier, Bebarf es 
einer bejonderen Inſpirationslehre? Kiel, Homann 1891. Vgl. Loofs, 
Dogmengejchichte, 3. Auflage, S. 372, 

®) Vgl. W. Bornemann, Die Theffalonicherbriefe. Göttingen 1894, 
S. 572 ff. 


Nade: Die Bedeutung des gejchichtlichen Sinnes im Proteſtantismus. 93 


‚gewejen. Ohne daß Erasmus’ griechiiches Neues Tejtament zuvor 
kam, hätten wir feine deutjche Lutherbibel. Der Humanismus hat 
zuerft innerhalb der chriſtlichen Kulturwelt den gejchichtlichen Sinn 
geöffnet, indem er mit dem Schlüffel der griechifchen Sprache den 
Blick in eine verfunfene andere Welt aufthat und fo den Fähigen 
die Gelegenheit bot, Heutiges mit Vergangenem zu vergleichen. 
Er hat gerade nach der gejchichtlichen Seite hin als eine Macht 
der Aufklärung den Bann des Phantaftiichen durchbrochen, der 
die mittelafterlichen Menfchen hinderte, den Dingen und ihren 
Raufalbeziehungen auf den Leib zu rüden. 

Die unmittelbare Wirkung dieſer humaniftifchen Erziehung 
iſt bei Zwingli deutlicher als bei Luther, Es muß hier ge— 
nügen, aus Zwinglis Frühzeit auf Zweierlei hinzuweiſen. Ein— 
mal auf fein Interefje an dem Unterſchied von Lehre und Brauch 
in vergangenen Tagen der Kirche von den zu feiner Zeit herr— 
fchenden. Genaue Nachforſchungen ſtellte er darnach an, als ex noch 
Pfarrerin Glarus war. „Er bemerkte, daß in den alten Meßbüchern 
das Zeichen der häufigen Bekreuzung erft von fpäterer Hand nach— 
getragen war, daß fich Spuren fanden, welche den Genuß des heiligen 
Abendmahls unter beiderlei Geftalt als früher allgemein erſcheinen 
ließen“ u. dgl. m.). Wichtiger faft iſt noch ein Zweites, Hi— 
ſtoriſchen Studien verdanfte Zwingli feinen eigentümlichen Wahrheits- 
und Offenbarungsbegriff. Auch in der Heidenwelt fand ev Theo- 
logen und Heilige. „Die Wahrheit ftammt alfenthalben, durch 
wen fie auch vorgetragen wurde, vom heiligen Geijt; aus feiner 
Quelle hat Plato getrunken und Seneca gejchöpft?).“ 


NVIL 


Das DVorgeführte wird genügen, die Thatjache zu beleuchten, 
daß an der Wiege der Reformation die hiftorifche Mufe geſtanden 
und der neuen Religion ihre bedeutfame Gabe mit auf den Weg 
gegeben hat. Nicht geboren ift die Neformation aus dem ge 
ſchichtlichen Sinn, diefer ift nur Mitgift, aber eine unver- 


2) Stähelin, Huldreich Zwingli, Bd. 1, S. 73. 
2) Ebenda S. 49 f. 


94 Rade: Die Bedeutung des gefhichtlihen Sinnes im Proteftantismus. 


lierbare und verantwortungsvolle Mitaift, 
Wie ift es weiter damit gegangen? 

Es famdie Orthodorie. Was in Luther gegenmwärtiges, neues, 
impulfives veligiöfes Leben und frhaffende Kraft geweſen war, 
Luther der Prophet, wurde ſelbſt zu einem Stück Vergangenheit. 
Man meinte es lebendig erhalten zu Lönnen, indem man e8 in 
Formeln und Formen einfing, und goß vielfach alten Wein in 
die neuen Schläuche. Man eiferte proteftantifch, dachte aber und 
lehrte in der Methode wieder katholiſch. Insbeſondere der ge- 
ſchichtliche Sinn befam wieder diefelbe Magdftellung wie im fa- 
tholiſchen Syftem; die Kenntniffe, die man fich von der Vergangenheit 
erwerben konnte, hatten der Apologetif und Polemik zu dienen. 
Um fo bedeutjamer aber ift, daß von demfelben Kreife, der zuerft 
den Fanatismus der lutheriſchen Orthodoxie atmete, die Min g de- 
burger Zenturien unternommen und gefchaffen wurden“). Es 
war doch eben für Flacius und Genoffen das Bedürfnis jo ftarf, 
ihr Luthertum gegenüber dem Papfttum als das gefchichtlich zu 
Necht Beftehende nachzumeifen, daß fie die Energie zu einem 
jolchen gewaltigen Gejchichtswerfe daraus ſchöpften. Mag Ba- 
ronius noch fo oft im Einzelnen ihrem antipäpftlichen Uebereifer 
Irrtümer nachgewiejen haben, mag der Schein größerer Ob: 
jeftivität auf feiner Seite ftehen, dieſe Leiftung ift eben erſt durch 
die originale Schöpfung der Zenturiatoren hervorgerufen; die 
innere Notwendigkeit der Auseinanderfegung mit dev Gefchichte 
wurde allein auf proteftantifcher Seite empfunden. Und fo iſt es 
nun im Proteftantismus geblieben. Keine mächtigere Richtung, 
Die nicht ihre Gefchichte alsbald gejchrieben und durch ihre Ges 
ſchichtsauffaſſung fich durchzufegen verfucht hätte, So fteht am 
Eingang der pietiftijchen Entwidelung Gottfried Arnold 
mit feiner Kegerhijtorie. Man kann es als ein dem Pro- 
teftantismus eigentümlihes Merkmal bezeich— 
nen, daß er feine Wahrheiten immer neu auf 
die Gefhihte zugründen ſucht, und daß umgekehrt 
neue gefchichtliche Exkenntniffe auf den jeweiligen religiöfen Wahr- 
— Val. das ſchöne Buch von F. Ch. Baur, Die Epochen der kirchlichen 
Geſchichtſchreibung. Tübingen 1852. 


Made: Die Bedeutung des geſchichtlichen Sinnes im Proteſtantismus. 95 


heitsbefig immer mehr oder weniger erjchlitternd wirken. Diejer 
Wahrheitsbefig muß ſich gegenüber der hiſtoriſchen Forſchung 
entweder behaupten oder von ihr Veränderungen erleiden — 
ein gleichgiltiges Verhältnis zwiſchen beiden giebt es nicht. 

Daß die wechjelnde Gefchichtserfenntnis jo ſtark auf die pro— 
tejtantifche Religion einmirkt, ift dem Hiſtoriker vielleicht ſelbſt— 
verftändlich, vielleicht gleichgiltig. Der proteftantiiche Dogmatiter hat 
beobachtend dabei zu verweilen und die Thatfache für jeine Aufgabe 
zu verwerten, wenn er den vollfommenften und umfafjenden Aus— 
druck für den Geift feiner Konfeffton fucht. 


VOL 

Indeſſen fam mit dem Zeitalter der Aufklärung die viel 
berufene biftorifche Kritit herauf. Von ihrem fiegreichen Ein- 
zug in die theologijche Wiffenfchaft brauche ich nicht zu berichten; 
dab fie heute innerhalb der theologtichen Arbeit ihren feiten Stand 
hat, ſpürt der jüngjte Student, es ſpürts die Gemeinde draußen, 
und anflagend und verteidigend iſt das Thema ihrer Berechtigung 
oder Schädlichkeit in der Kirche unüberſehbar oft behandelt worden, 
Um nur zwei gleich unbefangene Zeugen zu nennen, jo jagt Pro— 
feſſor Gottjchiet in feiner Tübinger Antrittsvede über die Hei— 
matsberechtigung, Tauglichkeit und Unentbehrlichkeit der hiſto— 
riſchen Bibelfvitit goldene Worte, während Pfarrer Foerjter in 
feiner Schrift über die Möglichkeit des Chrijtentums in der mo— 
dernen Welt daran verzweifeln will, ob die Kraft und Fülle des 
Glaubens früherer Ehriftengefchlechter dem heutigen und Fünftigen 
Gefchlecht unter der verjengenden Wirkung der unbefchräntten his 
ſtoriſch⸗kritiſchen Arbeit erhalten bleiben fönne!). 

Es ſtünde num in der That ſchlimm um den Proteftantismus, 
wenn das ihm mit auf den Weg gegebene hiftorifche Intereſſe 
imftande wäre, ihm jein Herz, den religiöfen Glauben, zu töten. 
Denn an ein Aufgeben jenes Hiftorifchen Intereſſes darum, weil 


9 Gottſchick, Die Bedeutung dev hiſtoriſch-kritiſchen Schriftforſchung 
für die evangeliſche Kirche. Freiburg, Mohr, 1898, S. 10 ff. Foerſter, 
Die Möglichkeit des Chriſtentums in der modernen Welt. Ebenda 1898, 
©. 44 ff. 

Henſchrift für Theologie und Kirche. 10. Jahrgang. 2. Heft. 7 


96 Rabe: Die Bebeutung des geſchichtlichen Sinnes im Proteſtantismus. 


es ſich ſelbſtverſtändlich in Fragen der religiös-kirchlichen Ver— 
gangenheit ebenſo wie in allen andern heute der immer mehr 
vervollkommneten kritiſchen Methode bedient, iſt nicht zu denken. 
Die Wiſſenſchaft, auch die theologiſche, wird hierin nicht zurück— 
gehen: jollte alſo die Kirche, der Glaube, den Schaden tragen 
müfjen? Uns jcheint die Bedeutung des hiftorifchen Sinnes auch 
für die Zukunft des PBrotejtantismus eine ganz andere. 

Prüfen wir die Haupteinwände Ficchlich-frommer Bejorgnis 
gegen das hiftorifchefritifche Element in der Theologie. Es find 
drei. Man jagt: 

1. Die Kritik ſei nicht für Jedermann und fchaffe fo eine 
für den Proteftantismus unleidliche Zweiteilung dev Gemeinde in 
hiſtoriſch⸗kritiſch gebildete und naiver hiftorifcher Unwiſſenheit über- 
lafjene Chriften; 

2. die Kritik ſei ihrer ganzen Art nach zerjtörend und ver: 
neinend: „negative Kritik“ ift ja ein Schlagwort geworden ; 

3. die Kritik fei ſubjektiv, jelbft dem Irrtum ausgejegt: mit 
gleicher Weberzeugung und Gelehrfamfeit würden entgegengefeßte 
Meinungen vertreten — und was fich eine Zeit lang als „Ex: 
gebnis“ der Wifjenjchaft durchgejet habe, fei doc) alsbald der 
Ablöfung durch neue Fündlein verfallen oder ausgejeßt. Da nun 
in der Religion Alles auf Gewißheit ankomme, fei der Nelativis- 
mus Eritifcher Gefchichtsbehandlung mit dem veligiöfen Intereſſe 
unerträglich. 

Prüfen wir zunächft diefe beiden legten Vorwürfe des ſub— 
jeftiv-velativiftijchen und des negativen Charakters der hiſtori— 
ſchen Kritif, um dann bei dem Vorwurf des Ejoterismus, ber 
uns vom dogmatifchen Standpunkte aus am. meiſten bewegt, ein 
wenig länger zu verweilen. 

Was den „Subjeftivismus" und „Relativismus" betrifft, jo 
ift das ein thörichter Vorwurf, wenn er die Fehlbarkeit anklagt, 
die aller menjchlichen Wiſſenſchaft anhaftet. Wollte die Religion 
nur eine folche hiftorifche Arbeit zulafjen, die ihr Thatſachen von 
gleicher „Gewißheit“ präfentiert, wie dev Gläubige im Glauben 
fie feinen „Heilsthatfachen" zutraut (vgl. Bi. 73, 23 ff.: Dennoch 
bleibe ich, jtetS an Dir u. ſ. w.) — jo müßte jie freilich auf den 


Made: Die Bedeutung des gefchichtlihen Sinnes im Proteftantismus. 97 


Dienft der Geſchichtswiſſenſchaft prinzipiell verzichten. Aber mit 
jener Schwäche der Mitbedingtheit aller Gefchichtsforfchung durch 
die Schranken des forjchenden Subjekts und der Unzureichendheit 
der Quellen hat man eben zu vechnen. Man hat fie bei der 
Schäßung der „Ergebniſſe“ einfach mit einzufchägen. 

Doch ift nicht zu leugnen, daß das Miftrauen gegen die 
hiſtoriſche Kritik hier einen wunden Punkt trifft, Es ift ein Not 
ftand, der auch außerhalb unſres befonderen Intereffes den Freun- 
den einer leiftungsfähigen Hiftorik zu fchaffen macht, daß heutzu— 
tage die Krankheit eines jchier unermeßlichen Nelativismus und 
Skeptizismus viele hiſtoriſch Arbeitende und Intereſſierte ge— 
packt hat. Aber dieſer vorübergehenden Zeiterſcheinung kann ge— 
rade der religiöſe Menſch, kann der Theologe mit beſonderer Ruhe 
ins Auge ſchauen. Denn wer in dem pſychiſchen Zuſtande jenes 
krankhaften Relativismus und Skeptizismus freilich Nichts weiter 
hat, als ſeine kritiſche Methode ſelbſt, an der er verzweifelt: dem 
iſt nicht zu helfen. Wir aber, von unſerem religiöſen Standorte 
aus, können die Geſamtlage gar nie ſo verzweifelt ſehen. Denn 
wir wiſſen: irgend Etwas muß doch ſchließlich geſchehen ſein! 
Wir haben doch Etwas erlebt! Wir haben auch als evangeliſche 
Gemeinde einen fejten Boden der Erinmerung!) unter uns: aus 
was für Beftandteilen der beſteht, mag die Gejchichtsforfchung 
vorurteilslos unterfuchen, wir werden auch gegen ihre Grgebnifje 
niemals gleichgiltig bleiben können, aber den Boden ſelbſt werden 
wir ums nie wegesfamotieren laffen! Und wenn es unfern Hiſto— 
rikern geht wie jenem Manne, der die Zwiebel folange auf Stern 
und Weſen unterfuchte, bis ihm Nichts mehr unter den Händen 
blieb, und der darum feiner Zwiebel überhaupt Wejen und Wirt- 
lichkeit abſprach — dann werden wir ſolche Thorheit von unjerm 
gefunden Lebensgefühl aus Thorheit nennen und jenen Gefchichts- 
auflöfer jo wenig einen Hiſtoriker nennen, wie wir den Zwiebel— 
mann als Naturforfcher anerkennen. Irgend Etwas ijt gefchehen, 
irgend eine Wirklichkeit fteht hinter unfver Vergangenheit, das 
bleibt feſt. 

+) Auf den Begriff „Erinnerung“ lege ich im dogmatiſchen Intereſſe großen 
Wert. Vol auch hiezu meine Schrift: Die Wahrheit der chriſtlichen Religior 

7* 





98 Nabe: Die Bedeutung des geihichtlihen Sinnes im Protejtantianus, 


Wenn aber gewifje legte Fragen für die Gefchichtsforichung 
unerlebigt bleiben, ijt das denn bei der Naturforfchung anders? 
Und freuen fich nicht trogdem Gelehrte und Ungelehrte der Fülle 
von zugänglichen Kenntniſſen und Exkenntniffen, die fie der Natur- 
wiffenfchaft verdanken, und machen Gebrauch) davon bis zu den 
ftolzeften Wunderwerfen der modernen Technif hin? So hat auch 
die Geſchichtswiſſenſchaft auf dem Gebiete der Religion eine Fülle 
beachtens- und beherzigenswerter Grgebniffe zu Tage gebracht, von 
denen wir al3 Protejtanten kraft unfers gefchichtlichen Sinnes 
mehr oder minder fröhlichen Gebrauch machen, Gebrauch machen 
müſſen: denn wir können nicht anders. Die Menge dev Nätjel, 
die im Hintergrunde fehlummern, die fubjektiven Löfungen, die in 
den Eontvoverjen Fragen ſich um die Wette uns anbieten, nehmen 
wir fir das, was fie find: Begleiterjcheinungen einer dennoch 
fiegreichen Wahrheitserkenntnis, die Jahr um Jahr ihren Ning 
anjeßt zum Wachstum des Baumes, unter dem die Vögel des 
Himmels wohnen?), 

Damit ift jchon, wie dem Vorwurf des Subjeltivismus, dem 
andern der Negation widerſprochen. 

Alle wahre, ernſte Kritik ift pofitiv. Es giebt natürlich auch 
frivole und krankhafte Kritit, aber von der veden wir nicht, jo 
wenig wir hiev von frivoler oder krankhafter Kicchlichkeit veden. 
Für den ernften Wifjenfchaftsbetrieb iſt jede neue Erkenntnis, auch 
die „negative“, mit bisherigen Annahmen aufräumende, eine „po— 
fitine" Entdeckung, jede Gewißheit, jede erhöhte Wahrjcheinlichkeit 
ein willfommenes Ergebnis, mag es die Thatfächlichfeit eines 
bisher al gefchehen Heberlieferten bejahen oder aufheben. — Aber 
freilich, durch dieſe philofophifche Erwägung ift das Eicchliche 
Mißtrauen gegen die Kritik nicht zu beruhigen. Man befürchtet 

2) Es ift doch einfach faljches Zeugnis, wider das adıte Gebot abgelegt, 
wenn Adolf Zahn in dem Wochenblatt „Licht und Leben“ 1899 Nr. 24 
ſchreibt: „Was hat die Kritik von Baur, was die von Wellhaufen fertig ge 
bracht? Beide find am Schluffe des Jahrhunderts ſchmachvoll zu Grunde 
gegangen, Baur und Wellhaufen waren Lügner, Und ebenjo die ganze er— 
bärmlihe Gejellichaft, die ihnen gefolgt ift, Die Bibel iſt geblieben.“ — 
Natürlich ift die Bibel geblieben. Alles Andere ift zuchtlos jubjektives Ges 
ichreibfel. Man kann bie Streife nur bedauern, bie ſich bergleichen bieten laſſen. 


Rade: Die Vedentung des geihichtlichen Sinnes im Proteftantismus, 99 


ja nicht, daß Nichts bei der Kritif herausfomme, jondern daß 
das, was herauskommt, von dem als kirchliche, biblifche, heilige 
Gefchichte von den Vätern her Bertrauten, der Predigt, dem Unter- 
richt, auch dem Dogma und den Befenntniffen zu Grunde Liegenden 
abweichen möchte. Das iſt nun in dev That vielfach der Fall. 
Nur hat man darum nicht die Arbeit einer ernften Gejchichts- 
forschung zu jchelten, fondern die Kraft des Glaubens zu bewähren, 
der mit ihr fertig wird undfie in ihren Dienft nimmt, Christianus 
homo omnium dominus est liberrimus, jagt Luther: ein Ehrijten- 
menſch iſt ein freier Herr über alle Dinge, Der Proteftantismus hat 
vornehmlich hier zu zeigen, daß er — nacı) dem Wahlſpruch Winers — 
mit der Wifjenjchaft verwandt ift, näher, dag — nach unſrer Theſe — 
der gejchichtliche Sinn zu feiner Eonfejfionellen Eigenart gehört. 
Und hat er das nicht gezeigt ? Faſſen wir die hiftorijchefri- 
tifche Arbeit ind Auge, wie fie am fruchtbarjten ohne Zweifel auf 
alttejtamentlichem Gebiete geleiftet worden ift: hat der Proteftan- 
tismus als Religion fie nicht vertragen? Hat er nicht neue Kraft 
aus ihr gejogen? Nehmen wir einmal an, die altteftamentliche 
Kritik hätte die gejchichtliche Perfon Abraham zerftört, hat fie nicht 
dafür die Propheten uns neu gejchentt? Hat fie nicht Licht und 
Leben in der Gefchichte Iſraels uns in einem Maße erjchlofjen, 
daß wir aus diefer Vorgefchichte des Chriftentums heute Frifcher 
ſchöpfen denn je? Der Protejtantismus als Religion verträgt 
dergleichen nicht nur, er fordert jolchen Dienft von der Ge— 
ſchichtswiſſenſchaft. Aber dev Proteftantismus als Kirche? Nun 
was er als Neligion verträgt, wird auch die Kirche vertragen 
lernen müſſen: eigentümliche Schmierigfeiten, die ſich aus ber 
Herrſchaft einer langen Weberlieferung erklären, wird fie in fraft 
ihres Glaubens und eben in kraft ihres hifterifchen Sinnes über— 
winden — leichter, ſchwerer, vafcher, langſamer, je nad) dem. 
Aber wie, wenn es um den gejchichtlichen Chriſtus ſich 
handelt? Wenn die Kritif auch bier nur unter Zerjtörung ‚alles 
Ueberlieferten ihre Pofition findet? Wir müffen dem ins Auge 
ſchauen, wenn wir dem Notjchrei Foerfters gerecht werden wollen. 
Nun gefegt, die hiſtoriſche Forſchung fteiche Jeſus Chriftus 
aus der Reihe der gefchichtlichen Thatjachen, löfte etwa obendrein 


100 Rade: Die Bedeutung des geſchichtlichen Sinnes im Proteftantismus. 


auch ſonſt noch die Meberkieferung des Neuen Teftaments in eitel 
Mythus und Sage auf. Dann ift es allerdings für uns als 
evangelifche Theologen ein fehlechter Troft, wenn man uns jagt: 
ihr habt doch im Mythus noch die fchöpferifche Idee, der er jein 
Daſein verdankt, in der Sage die Spuren jpäterer Gefchichte, 
in der fie wirkſam geworden ift. Eine folche Vertröftung auf 
Ideen und Prinzipien an Stelle lebendiger warmer Menfchen- 
gejchichte mit der Perfon Jeſu im Mittel — das wäre in der 
That das Ende der evangelifchen Theologie, weil der evangelifchen 
Religion. Das möchte vielleicht der Ausgangspunkt einer neuen 
Art Frömmigkeit werden, die auf jene Erſchließung des göttlichen 
Geheimniſſes verzichtete, welche wir als Chriften in der gefchicht: 
lichen Berfon Jeſu erlebt haben: aber Ehriftentum darf man es 
kaum mehr nennen. Denn bis dorthin führt uns die Erinnerung 
unfrer Gemeinde als an ihren Anfang, dort haben alle unfre 
Heroen den Quell ihrer Kraft gefunden, dort, in dem gefchicht- 
lichen Chriftus, hat die ganze chriftliche Erfahrung auch von 
heute, hat infonderheit die darauf immer neu fich aufbauende 
hriftliche Gedankenmelt ihren fejten Einheits- und Haltepunkt: 
um mit der Bibel zu reden, ihren Grund und Eckſtein. 

Aber hat denn den die Hiftorifche Kritik uns irgendwie 
wankend gemacht? Gewiß, mancher Anfturm hat das fromme Ge— 
müt geängftet; aber thatjächlich tritt die hiſtoriſche Geftalt Jeſu 
nur immer wieder in neuer fieghafter Exfcheinung uns vor die 
Seele. Die urchriftliche Heberlieferung hält das ſchwere Eramen 
aus, dem jahrzehntelanger Scharffinn fie unterwirft, nicht jo, daß 
unfere Vorftellungen bleiben dürften, wie fie waren, aber auch nicht 
fo, daß wir den gejchichtlichen Boden unter den Füßen verlören. 
Es bleibt genug von Jeſus Chriftus, dag wir an ihn glauben, 
ihm uns vertrauen fönnen, genug von den Evangelien, daß wir 
in ihnen noch immer ihn finden können al3 das, was wir brauchen, 
als das Wort Gottes im Fleiſch. 

Gewiß, große Schwierigkeiten liegen hier im Einzelnen. Aber 
die find dazu da, daß fie überwunden werden, und zwar von 
einer lebendigen, mit dem gefchichtlichen Sinn gepaarten veligiöfen 
Sehnfucht. Unter allen modernen Gefahren, die dem lebendigen 


Nader Die Vedentung des geſchichtlichen Sinnes im Proteſtantismus. 101 


Shriftusglauben drohen, möchte ich am höchiten ſchätzen eine fonft 
wiffenjchaftlich jehr fruchtbare, aber hier freilich verwirrende Fäh— 
igkeit des heutigen Gebildeten: die Kunſt, jich fremden Empfin— 
dungen anzuempfinden, fie nachzuempfinden, ohne fie perſönlich 
jelber mit zu teilen. Aber diefe Virtuojität, ſelbſt in der Religions— 
geſchichte, jelbjt in der Chriſtusforſchung bis zum äußerſten mit- 
zugehen — und doch die eigene Seele leer und öde zu behalten, 
wird zwar den gotterfüllten Geift erſchrecken wie ein Zerrbild 
deſſen, was fein follte, abev ihn um feinen beffexen Beſitz nimmer- 
mehr betrügen können. Die Aufgabe des Dogmatikers ift es, 
diefer Erjcheinung gegenüber zu zeigen, welches die fittlichen und 
religiöfen Bedingungen find, unter denen ein Menfchenherz von heute 
über die bloß äfthetifche Vereinigung mit Ehriftus hinauskommt 
zu einer febendigen Wirklichkeit des Glaubens an ihn. Ber: 
gangenes erleben wir nicht in der vorübergehenden Nachempfin- 
dung, jondern indem wir für die von dem Vergangenen aus— 
gehende Wirkung unfern Willen einjegen. Nur auf diefem Wege 
können wir erfahren, ob jenes Vergangene in Wirklichkeit noch 
ein Gegenwärtiges und Lebendiges ei, worauf ſchließlich — nach 
dem früher Gejagten — für den Glauben doc, Alles ankommt. 
Mit diefer Virtuofität modernen Nachempfindens alfo werden 
wir fchon fertig werden, wenn wir nur den Exnft echter Fröm— 
migfeit Tebendig erweiſen. Und jo ijt die Lage der wirklichen 
Religion gegenüber der Fritifchen Forfchung in Feiner Hinficht eine 
verzweifelte. Schließlich Iehrt uns doch auch ein Blick auf dem 
Gang der Forfchung ſelbſt, feit die Kritik im den Bereich der 
teologifchen Wiſſenſchaft fiegreich eingezogen ift, daß mit den 
zerftörenden Mächten exrhaltende und meu aufbauende Gott Lob 
immer Hand in Hand gehen. Gefchichtlichen Sinn bewährte am 
Eingang diejes kritiſchen Beitalters doch nicht nur Semler, fon 
dern in feiner Weiſe auch Bengel, und neben der Tübinger Schule 
wird man unter unjerem Gefichtspuntte immer auch die Erlanger 
au würdigen haben. In Nitjchls Werken waltet bei aller Frei— 
heit Eritifcher Betrachtung im Grunde ein biftorijch-tonfervativer 
Geiſt, und auf diejem beruht nicht zum wenigſten die Anziehungs- 
kraft, die er als kirchlicher Lehrer ausgeübt hat, Aberauchdie rein 


102 Rabe: Die Bedeutung des geſchichtlichen Sinnes im Proteftantianns. 


kritiſche Richtung in der Theologie jelber ift der einfeitigen Lit- 
terarkritit und der ausfchließlichen Kraftübung an den alt- und 
neuteftamentlichen Schriften müde geworden. Sie fühlt fich frei 
und ſtark genug, an die Thatjachenfragen heranzugehen, die in 
und. hinter den fehriftlichen Urkunden liegen; ja jo hoch ift ihr 
der Mut gefchwellt, daß fie die nicht anders erfafjen zu können 
meint als in ihrem ganzen unermeßlichen religionsgeſchichtlichen 
Bufanmenhang. Man mag da im Einzelnen manchen faljchen 
Anlauf machen, auch in der Firierung der Aufgabe die Grenzen 
des wiſſenſchaftlich Möglichen jeweilen überſehen — für unfer 
dogmatifch-praktifches Intereffe, für Glauben und Leben der Ge- 
meinde fann dieſe Wendung nur Gutes bedeuten!). 

Insbeſondere hoffe ich, daß in einer Beziehung der gegen- 
wärtige oder bisherige Zuftand nicht dauern wird, Man kann 
jeit dem Auflommen der Eritifchen Methode beobachten, wie der 
eine Teil unfrer gefchichtsforfchenden Theologen mit dem Zauber: 
jtabe der neuen Kunft überall und immer neue Probleme entdeckt 
und weckt, an deven Bewältigung dann Scharfjinn und Intereſſe 
mehr oder minder ausjchließlich verwandt werden. Der andere 
Teil unſrer Gelehrten verschließt ſich folange als möglich diejer 
Fülle von Fragen und Findlein; mißtrauifch verfolgt er die Ar— 
beit der in ungemefjene Fernen ausfchwärmenden Genoffen und 
braucht jeine Kunft und feinen Schaffinn, die Keitifchen zu kri— 
tifteren und fie im Kleinen oder Großen zu Gunften des Weber: 
lieferten eines Irrtums zu überführen. Die Folge diefes Zuftan- 
des it, daß wir beinahe alle Fortjchritte wifjenschaftlicher Erkenntnis 
jener erſten Richtung zu verdanten haben, daß aber das konſtant 
religiöfe und konfervativsfivchliche Intereffe feine Zuflucht gern bei 
diefer zweiten Richtung ſucht. Es muß die Zeit fommen und ift 

1) Bol Gunket in der Chriftlichen Welt 1900, Nr. 3: „Wollte Gott, 
ich hätte eine Stimme, bie an bie Herzen und Gewiffen der theologiſchen 
Forſcher dringt, jo wollte ih Tag und Nacht nichts Anderes rufen als dies: 
Vergeßt nicht eure heilige Pflicht an eurem Volt! Schreibt fir die Gebilbeten! 
Nebet nicht fo viel fiber Litterarkritit, Tertkritit, Archäologie und alle andern 
gelehrten Dinge, jondern redet über Religion! Denkt an die Hauptſache! 
Unfer Wolf dürſtet nah enern Worten über die Neligiom und ihre Ge— 
fhichtel" 





Made: Die Bedeutung des geſchichtlichen Sinnes im Proteftantismus, 108 


ſchon da, wo die ebenfo Eonfervative wie kritiſche Kraft des ge— 
ſchichtlichen Sinnes in ihrer Einheit auftritt und unſre Forfcher, 
beiden Seiten gerecht werdend, einheitliche, ganze Arbeit thun. Das 
größte Hindernis gefchichtlicher Umnbefangenheit, die Krücte der 
BVerbalinfpiration, ift zerbrochen; auch eine in erfter Linie kirchliche 
Theologie vermag nicht mehr fich ihrer zu bedienen. Es giebt fir 
fie feinen andern Erja als den gefchichtlichen Sinn, Man wird 
lernen, ihn auf der ganzen Linie immer freier und fruchtbarer zu 
gebrauchen. Umd auch der kirchlich „unbefangenſte“ Forjcher and: 
rerjeits wird merken, daß diefer gefchichtliche Sinn ihm doch zu 
etwas Anderem gegeben ift als zu einem Spielzeug feines Wibes, 
wenn es ihm aufgeht, daß an der richtigen Handhabung biefes 
Inſtruments die Zukunft unser evangelifchen Religion hängt. 


IX. 

Aber diefe Zuwerficht auf eine glückliche Fortentwicklung der 
hiftorifchekritifchen Arbeit auf dem Gebiete unſrer chriftlichen und 
allgemein menschlichen Vergangenheit hebt uns nicht Über den An— 
ftoß hinüber, deſſen wir jehon vorhin als eines uns bejonders 
beunruhigenden gedacht haben. Mag das Schelten auf die „ſub— 
jektive" oder „megative" Kritik feiner Thorheit inne werden und 
verjtummen, es bleibt die Sorge vor einem neuen Gfoterismus. 

Bekämen wir in der Gemeinde den Unterfchied von Chrijten, 
die hiſtoriſch-kritiſch, „religionsgeſchichtlich“ zur Vergangenheit, 
auch zu den klaſſiſchen Zeiten und Perſonen der Kirche ſtehen, 
und von Chriſten, die von dieſer geſchichtli chen Bildung aus— 
geſchloſſen ſich mit einer Art „Bauernreligion“ zu begnügen 
haben, jo wäre das im Proteſtantismus unerträglich. Nicht 
unerträglich ijt geroi in Zufunft wie bisher der Unterjchied von 
Gelehrten und Ungelehrten; das ift ein Unterfchied der Begabung 
und des Berufs, der mit dem „allgemeinen Prieftertum“ in keinerlei 
MWiderjpruch tritt. Aber eine harte Sache wäre es für den evan- 
geliſchen Theologen, feititellen zu müffen, daß von dem Dienjt des 
gejchichtlichen Sinnes gerade jegt, wo er eine ungeahnte in den 
Kern der Religion eindringende Wichtigkeit erhält, zu Gunften 





104 R ade: Die Bedentung des gefchichtlichen Sinnes im Proteftantismus. 


einer Gelehrtenzunft und eines Anhangs von Gebildeten der fchlichte 
„Laie“ ausgejchlofjen fei, 

Auf dem Evangelifch-fozialen Kongreß von 1899 hat fich eine 
interefjante Diskuffion abgejpielt zwiſchen den Profeſſoren Baul- 
jen und Baumgarten. Paulfen, der Philojoph, würdigte warm den 
Bildungstrieb der Maffen und eröffnete die „Ausficht auf eine 
Bildung unfers Volles, die allen Gliedern des Volfes gemeinfam 
ift, die aus dem Gigenleben des deutjchen Volkes gejtaltet ift, 
die die Gejamtheit feiner Glieder zur vollen Teilnahme an dem 
gejamten geiftigen Leben des Volkes zu erheben trachtet!). „Baum— 
garten, der Theolog, wies einjchränfend darauf hin, daß eines 
jedenfalls unter den Kulturgütern, deven wir ung freuen, von einer 
allgemeinen Anteilnahme ausgefchloffen fei: die gefchichtliche Bildung. 
Das Vermögen, „auf breiter Bafis gejchichtlicher Einzelfenntnis 
und velativer Beurteilung der verjchiedenen Zufammenhänge fich 
ein Urteil zu gewinnen über den großen Komplex der jo unendlich 
großen komplizierten Wirklichleit und dadurch auch Verſtändnis 
zu gewinnen für fogenannte rückſtändige zurückgebliebene Eutwicke— 
lungen“ — wird immer ein Privilegium bleiben?). 

Diefer Widerfpruch Yaumgartens kann nicht bedenten, daß 
die eigentlich wijjenjchaftliche Art, fich mit Gefchichte abzugeben, 
einev Minderheit vorbehalten bleiben müßte: denn das ijt jelbjt- 
verjtändlich. Er konnte nur jagen wollen, daß die eigentümliche 
Anſchauung vom Gejchichtsverlauf und vom wirklich Gefchehenen, 
die von der Wiſſenſchaft Her in einen gewifjen Umfreis Gebildeter 
eindringt und ihnen zu gefchiehtlichem Urteil hilft, ein Stück Bil- 
dung fei, von der die Mafje des Volls immer verbannt bleiben 
wird. Und hier hätte ich e$ mın im Namen des Protejtantismus 
lieber gejehen , wenn die ſkeptiſche Theſe von dem Philofophen, 
die optimiftifche von dem Theologen vertreten worden wäre. Denn es 
ift meiner Meberzeugung nach eine Lebensfrage des Proteftantismus, 





*) Die Verhandlungen des zehnten Evangelifch-fozialen Kongreſſes. Göt- 
fingen, Vandenhoed und Ruprecht, 1899, S. 109. Paulſens Vortrag 
Handelt über „Wandlungen des Vildungsideals in ihrem Zufammenhange mit 
der fozialen Entwickelung.“ S. 5—111, 

?) Ebenda ©. 115 f. 


be 


Rade: Die Bedeutung des gefchichtlichen Sinnes im Proteftantismus, 105 


dat die aufkommende gechichtliche Bildung, ſoweit die Gefchichte 
des Chriftentums in Frage kommt, auch den Maſſen zugänglich 
gemacht und jo von der im Proteftantismus mejentlichen Be— 
deutung des gefchichtlichen Sinnes die letzte Konfequenz gezogen 
werde, 

Nur ganz kurz, um jeden unnötigen Schweden zu vermeiden, 
jei eingefchaltet — obwohl das gar nicht nötig fein follte —, daß 
dieſe gejchichtliche Bildung, die wir meinen, ſelbſtverſtändlich zum 
Heil nicht nötig ift. Dazu genügt der Glaube, die perjönlich 
lebendige Zuverficht auf den lebendigen Gott, er mag noch jo 
naiv und ungejchichtlich fein, wie er will. Solchen Glauben, 
ob nur wie ein Senfforn groß, können Gott Lob auch Kinder 
und Schmwachfinnige haben. Solchen Glauben giebt es Gott Lob 
auch in der römischen und griechifchen Kirche, ja in den verrot- 
tetjten Sekten, wo nur noch Chrifti Name genannt und ein Bater- 
unfer gebetet wird. Aber es handelt fich ja gerade um eine 
Eigenart des Protejtantismus, Es handelt ji) um die Weiſe, 
wie ev das Chriftentum der Gemeinde verfleht, wie er den Ein— 
zelnen nimmt und fördert, Und da kann man nur fagen, daß 
es für einen proteftantifchen Theologen, der Einficht hat in die 
Bedeutung des gefchichtlichen Sinnes innerhalb feiner Kirche, der 
die Entiwicelung der geiftigen Arbeit in ihr verfolgt und Sich 
auch über Zukunftsaufgaben feine Gedanken macht, — einfach Sache 
des Glaubens ift zu hoffen, es werde gejchichtliche Bildung in 
einem hohen Maße zum Gemeingut dev intelligenten, eifrigen und 
ernften „Laien“ in allen Ständen werden. Der Philoſoph, der 
Profangelehrte mag achſelzuckend an diefem Problem vorüber— 
gehen; für den Theologen handelt es ſich hier um den Glauben 
an ein immer mwachjendes Heilsverftändnis der Gemeinde und an 
den Beruf, den dev Proteftantismus hierfür hat. 

Ich muß das noch ein wenig näher begründen. 

Indem die Reformation dem „Laien“ die Bibel auslieferte, 
eine Sammlung Hiftorifcher Urkunden von höchit komplizierter Be— 
ſchaffenheit, ftellte fie den Neformationskicchen die Aufgabe, die 
„Laien“ zum richtigen Bibellefen auch zu erziehen. Dieje Auf 
gabe wurde zunächſt nicht jo lebhaft empfunden, weil die Kunſt 


106 Rade: Die Bedeutung bes gefchichtlichen Sinnes im Proteftantismus. 


bes Lejens noch feltenev war"). Immerhin nahm man fich der 
Sache an: man lehrte lefen, damit die „Laien“ ihre Bibel ge: 
brauchen könnten. Man empfand, daß auch zum naiven Bibel- 
gebrauch ein gewiſſer Bildungsgrad nötig ſei, und fuchte den 
in den Schulen wohl oder übel zu vermitteln®). Dabei blieb die 
Gemeinde, mit der deutjchen Bibel in der Hand, in der Aus— 
legung volljtändig abhängig von den Theologen. So im ganzen 
‚Zeitalter der Orthodoxie. Der Pietismus befreite den „Laien“ 
von der Vormundfchaft des Theologen. Mit dem allgemeinen 
Prieftertum wurde in Konventifeln und Bibelränzchen neuer 
Ernſt gemacht. Freilich verlor man mit dem Reſpekt vor den 
Theologen nicht nur die Zucht des Dogmatifers, fondern auch den 
Beiftand des gelehrten Sachverftändigen. Eine zielloje Willkür 
der Schrifteinlegung brach ſich Bahn und herrſcht heute noch 
unfontrollierbar und unſtillbar in Sekten und Gemeinjchaften. 
Es ift nur ein Beifpiel dafür, wenn ich neulich in dem Brief 
eines Dienjtmädchens, das fich zu den Siebenten-Tags-Baptiften 
befennt, ausführlich die Lehre niedergelegt fand: das Malzeichen 
des Tieres in der Apofalypfe ſei — die Kindertaufe!?) Nun danf 
der obligatorischen Volksſchule verfteht heute Jedermann das Leſen, 
dank der Drud- und Preßfveiheit überſchwemmen Bibelerklärungen 
und religiöfe Schriften jeder Art unfer Voll, Das Band, das 
durch Unterricht, Predigt und Seelforge die Einzelnen an den 


) Wie viel Analphabeten gab es um 1520° Wie viel um 1680 7 Gicht 
es irgendwo eine Schägung darüber? Ueber die Verbreitung des Bibellefens 
bis zu Speners Tagen findet man auch im ber dritten Auflage der Realench— 
Eopädie feine Auskunft. 

*) Und umgefehrt; Die Bibel wurde das Buch, aus dem die Kinder leſen 
lernten. . Man denke an das Bibellefen im Stundenplane ber Volksſchule noch 
Dis auf jüngft verfloffene Tage. „Die Ordnung für die Privatichulen Berlins 
1738 erklärt Die Leſung der Bibel für das Vornehmſte“. Realenchklopädie, 
dritte Auflage, 2, 712, 

) Schließlich haben unjere Laien ſolche Schriftauslegung als eine Art 
Erbfünde von den Theologen früherer Zeiten überlommen. Bol, Kühler; 
„Da diefe [geivaltfane] Art, die Bibel zu leſen, auch die Predigt beherrfchte und 
einigermaßen auch die erbaulihe Schriftjtellerei beeinflußte, jo warf fie ihren 
Widerſchein weiter auf den Umgang der Gemeindeglieder mit ihrer Bibel und 
wirftibn zum Teil bis heute,“ Ebenda 2, 688, 


Nade: Die Bedeutung des gefhichtlichen Sinnes im Proteſtantismus. 107 


gewiejenen Sachverftändigen, den Theologen, weiſt, wird immer 
loderer: mit der Ungebundenheit wächſt die Unwiſſenheit, mag 
fie fich aud) bier und da mit willkürlich und zufällig eroberten Feen 
wilfenfchaftlicher Erkenntnis ſchmücken. Was ift zu thun? 

Rückwärts zu den Zeiten der unmündigen Abhängigkeit der 
Gemeinde vom Theologenftande führt fein Weg. Uber den Dienjt 
des geichichtlich Sachverftändigen wird fte auf die Dauer nicht ver- 
achten und wird fich zu der gefchichtlichen Bildung belfen laſſen, 
die nun einmal zum Wefen der proteftantichen Religion gehört. 

Weit entfernt, daß der gefchichtliche Sinn zur Auflöſung des 
ewangelijchen Belenntniffes führt, bietet er im Gegenteil das un- 
entbehbrlihe Gegengewicht gegen den in der pro- 
teftantifhen Welt um fich greifenden religiöfen 
Subjeftivismus, Es ift ja weht, daß unfre Frömmig- 
feit ſubjektiv, perfönlich fein muß. Sie fann es nie genug fein. 
Aber das jubjektiveperfönliche Glaubensleben muß feinen Halt 
haben an der in ihrer Wirklichkeit verftandenen Gefchichte. Zu 
diefem Verſtändnis follen die Theologen, follen die Kirchen ihre 
Gläubigen erziehen. Das ift nächjt der Predigt des Evangeliums 
— der Freudenbotjchaft von dem lebendigen Gott von heute — 
im Broteftantismus ihre Hauptaufgabe. 

Sie mag ſchwer ſein, und Vieles muß dazu helfen. Der 
Religionsunterricht in der Volksſchule und die Anleitung dazu in 
unjern Lehrerjeminarien muß mit allem Bewußtfein das Ziel ins 
Auge fafjen. Da aber auf feinen Fall bis zum vierzehnten Lebens- 
jahr der ausreichende Grund gefchichtlicher Bildung gelegt werden 
kann, iſt auf weitere Formen allgemeiner Unterweilung fir die 
reiferen Gemeindeglieder zu denken. Dabei braucht man Nichts zu 
überftürzen. Wir haben ja wieder ein neues Jahrhundert vor 
uns, Aber wenn man erjt die Eonjervative Beſtimmung des Ge: 
ſchichtsſinnes begriffen haben wird, die man über feiner kritifchen 
Thätigkeit auf beiden Seiten nur zu ſehr überjah, wird der Wille 
fich einftellen und damit dev Weg gefunden werden, 

Alſo im Namen des evangelifchen Ehriftentums fordern wir 
gejchichtliche Bildung für Jedermann. Wir haben auch nur die 
Wahl, ob die künftige Bildung gejchichtlich fein fol, oder unge 


108 Nade: Die Bedeutung des geſchichtlichen Sinnes im Proteftantisinns, 


ichichtlich, eine fogenannte naturwiffenschaftliche Bildung im Sinne 
der Welträtjel des Herrn Haeckel. Bedingung aber fr jene er— 
wünſchte Ausbreitung des gejchichtlichen Sinnes ijt freilich, daß 
ihn die zu Kirchendienft und Leitung berufenen Männer, die 
Theologen, fjelber haben. Theologe ift doch nur der, der 
die Geschichte kennt. Die Gefchichte jeiner Religion in ihren 
Urjprüngen zumal und in ihren Elaffifchen Zeugen. Verſtändnis 
der biblijchen und dev Neformationsgefchichte fonftituiert den evan- 
gelifchen Theologen. Eine einheitliche Anſchauung der veligiöfen 
Gedantenwelt und vollfommene Klarheit über das Wejen chrifte 
licher Lebensauffalfung kann er nur fo gewinnen. Weiß Die Ge- 
meinde, daß der Theologenjtand um des willen da ijt, jo wird 
fie ihn darum refpektieren. Daß es Sachverftändige giebt in der 
Gejchichte unferer Religion, konſtituiert feinen Eſoterismus. 

Nur müſſen die Sacyverftändigen von dem Ihren rechtſchaffen 
mitteilen. Ich halte Nichts von dem Wahrheitsfanatismus, der 
das geftern vermeintlich Entdeckte heute auf die Kanzel bringt. 
Aber ev wird auch felten genug fein. Maclaren erzählt ergreifend 
und ergöglich von dem jungen Paftor der Freificchler in Drum- 
tochty, dev jeine biebeven ſchottiſchen Hochländer auf die wijen- 
schaftliche Höhe Deutfchlands heben wollte und ihnen dazu einen 
Predigteyklus über die Pentateuchfrage hielt‘). Solch ein Rauſch 
Fritifcher Begeifterung wird ich in unferm heutigen Theologenge- 
chlecht wicht mehr finden. 

Dennoch kann die Kanzel viel thun. Schätze gejchichtlich 
pojiliver Erkenntnis Alten und Neuen Tejtaments harren der 
Verwertung vor der Gemeinde; fie werden, wenn fie exjt die rechte 
Umprägung in gangbare Münze gefunden haben, zum teil direkt 
erbauliche Wirkung thun. 

Ueberaus wichtig ift der Konfirmandenunterricht, zumal ſolange 
nach ihm jede Unterweifung von Mund zu Mund aufhört, In 
den Kindern ein gefchichtliches Berftändnis anzubahnen ift geradezu 
eine feiner Hauptaufgaben. Das heißt nicht mit ihnen Litterar— 
kritik treiben; aber fie lehren, wie die Schrift zu lejen ift: nicht 
v ») Maclaren, Bein wilden Nojenbufh. Stuttgart, Steinkopf, 1893 
©. 74. — Auch „Chriſtliche Welt“ 1897, Nr. 8, 





Nade: Die Bedeutung des gefhichtlichen Sinnes im Proteftantismus. 109 


in allegorifcher Auslegung, nicht mit Einlegung des kirchlichen 
Dogmas — beides iſt Fatholifch, jondern indem man den ein- 
fachen, Einen Schriftfinn religiös und hiſtoriſch begreift. Darum 
darf auc die Zeit des Konfirmandenunterrichts nicht zu kurz bes 
mefjen fein, und darum darf ev auch nicht gegeben werden an 
der Hand von jogenannten Schulbibeln, mag auch fonjt Vieles für 
dieje Bibelauszüge fprechen, denn nur an der Bollbibel können die Kin- 
der die vechte Freiheit eines gejchichtsverjtändigen Gebrauchslernen. 

Endlich bleibt dem Theologen die weite Gelegenheit unter- 
richtender Vorträge u. dergl. Was das Volk alles heute fragt, kann 
ung darüber belehren, daß es fiir die Sachkundigen Zeit ift zu 
antworten ?). Zwar ein Teil der Gemeinde plagt fich in feiner ge— 
fchichtlichen Unbeholfenheit noch immer mit der zweifelsichweren 
Frage: woher hat Kain fein Weib genommen! Aber ein andrer 
Zeil ift ſchon längſt mit feinem gefehichtlichen Intereſſe der ma- 
terialiftifchen Aufklärung in die Arme gefallen. Wir haben feine 
Urjache, die Vertiefung, die unſre Geſchichtskenntnis nach der wirt 
ichaftlichen Seite hin erfahren hat, abzulehnen; aber um jo lauter 
follen wir doch Zeugnis davon ablegen, daß die gejchichtliche 
Entwicelung darin nicht aufgeht, ſondern daß es eine Gefchichte 
bes Geifles giebt und daß die Erfcheinung dev Religionen und ihrer 
Propheten eine der vornehmiten Thatfachen darin ijt?). 

Daß die jo arbeitende Theologie der allgemeinen Volksbildung, 
den vaterländijchen und Kulturinterefjen die größten Dienjte leiften 
wird, iſt ein Nebenumftand, der im Zufammenhang unſrer Er— 
örterung uns weniger angeht’), Wir fordern eine ſolche Pflege 
und Ausübung des Geſchichtsſinns im Lebensinterefje unfrer eigen- 
tümlichen evangelifchen Religion. Gewiß ähnelt die jo geftellte 
Aufgabe inmitten der verwickelten Beziehungen der heutigen kirch— 
lichen Lage dem gordifchen Knoten. Aber Kirche ſowohl wie Staat 

+) Bol, meinen Vortrag: Die religiös-fittlihe Gedankenwelt unferer In— 
dujtriearbeiter. Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht, 1898 

9 Bol. Traub im9. Jahrgang diefer Zeitichrift, Heft 5, September 1899; 
Zur Kritik der materialiftiichen Geſchichtsauffaſſung. 

9 Hier kann der Schlüffel gegeben fein zu eimer troß allem erreichbaren 
allgemeinen auch gefchichtlihen Bildung der Maffen! Natürlich nur, foweit 
bie Macht evangelifher Erziehung reicht, 


ü 
110 Rade: Die Bedeutung des geſchichtlichen Sinnes im PBroteftantismus. 


ſollen ſich hüten, ihn mit dem Schwert der Juſtiz zu zerhauen!), 
Sie würden zu fpät merken, daß fie damit Lebenswurzeln abge- 
ichnitten haben, von denen fie zehren. Wir pflanzen gegen alle 
Tyrannei Firchlicher Tradition und gegen alle Willkür frommer 
und unfrommer Schwärnterei das Banner einer gefchichtlichen 
Theologie auf, die in ebenjo fonjervativer wie Eritijcher Arbeit fich 
an Nichts gebunden weiß als an den wirklichen Gott der Gejchichte. 


⸗ 


Anhang. 


Es mögen hier noch einige Streitiäge folgen, die der Verfaſſer bald nach 
vorftehender Antrittsvorlefung über ungefähr denfelben Gegenitand im Sreije 
bon Freunden vorgelegt und verteidigt hat. 


1. Der evangelifche Glaube hat es wie alle lebendige Fröm— 
migfeit mit einem Heutigen oder Emigen zu thun. Cr hat Gegen- 
martscharakter und ift in jeinem Erleben von der Vergangenheit 
prinzipiell unabhängig. 

2. Der evangelifche Glaube ruht thatſächlich auf geichichtlichen 
Vorausfegungen. Diejes Zufammenhangs wird der Gläubige inne, 
jobald er fich auf Herkunft und Inhalt feines Glaubenslebens 
bejinnt. . 

3. Diejer Zufammenhang mit einer gefchichtlichen Vorvergang- 
enheit ift noch ſpürbarer als für den einzelnen Chrijten für die 
chriftliche Gemeinde, gleichviel ob man dabei an die bejtehenden 
Kirchengemeinfchaften oder an die ideale Kirche denkt. 

4. Von Anfang an hat die chriftliche Gemeinde einen ftarfen 
Zug gehabt, fich auf Gefchichte zu fügen, So behauptete ſich die 
Urgemeinde im Beſitze des Alten Teftaments, vichtete die altfatho- 
liſche Kirche den neuteftamentlichen Kanon auf, vecipierte die Re— 
formation die Ökumenischen Symbole, erhoben die nachfolgenden 
Generationen die Iutherifchen Symbole, empfahlen fich in Theologie 
und Kirche immer aufs neue Nepriftinationen aller Art. 


1) Ich brauche kaum zu jagen, daß ich dabei an den Lehrprozeß Weingact 
gedacht habe, 


Rade: Die Bedeutung des geſchichtlichen Sinnes im Proteftantismus, 111 


5. Das vechte Verhältnis zur Vergangenheit zu finden tjt wie 
ſonſt im Leben, fo auch für den evangelifchen Glauben nicht immer 
leicht. Es gehört dazu gejchichtlicher Sinn. 

6, Unter gejchichtlichem Sinn verftehen wir die Fähigkeit, aus 
dem Meberlieferten das wirklich Gefchehene herauszuertennen und 
in dev jummarifchen Folge von Begebenheiten eine Entwicelung 
zu beobachten. 

7. Der gefhichtliche Sinn ift in feiner Ausübung ebenſo kri— 
tijch wie konfervativ. Beides gehört der Natur der Sache nach 
zuſammen. 

8. Es iſt eine Lebensfrage für die Theologie, daß ſie ge— 
ſchichtlich fei, 

a) für ihre Exiſtenz im Geſamtorganismus der Wiſſenſchaft. 
Denn nur durch ihre hiſtoriſche Arbeit kann fie fich als Wifjen- 
jchaft legitimieren. 

b) für ihre Exiftenz in der Kirche. Denn dieje gejchichtliche 
Arbeitsfeiftung ift es, Die fie vornehmlich der Gemeinde ſchuldet. 

9. Es ijt aber auch eine Lebensfrage für die Gemeinde, daß 
fie die Gabe des gejchichtlichen Sinnes pflege und durch Erziehung 
zum Gemeingut de3 Volkes mache. Sie bedarf feiner 

a) gegen Subjektivismus und Schwärmerei, 

b) gegen Juriſterei und Buchjtabenfnechtichaft. 

10. Bei der Erziehung unſers Volkes zur Einficht in die 
Gejchichte der chriftlichen Religion hat der Geiftliche ſich als der 
Sachverftändige zu bewähren. Das Daſein von Sachverſtändigen 
bedeutet feinen Ejoterismus. 

11. Die geichichtliche Erziehung der Gemeinde ift zwar nicht 
zu überſtürzen, weil die Theologie die rechte Klarheit über ihre 
Aufgabe in diefer Hinficht noch nicht befist. Man darf aber auch 
die Gefahr nicht unterjchägen, daß der vechte Zeitpunkt verfäumt 
werden könnte. Die künftige Bildung des Volkes wird, wenn 
nicht chriftlich-gefchichtlich, materialiſtiſch-ungeſchichtlich fein. 

12. Der gejchichtliche Sinn joll nicht erſt zum Glauben helfen. 
Der perjönliche Glaube iſt im legten Grunde eine That Gottes 
im Menfchen, die fich jeder Kontrolle und methodiichen Bevor— 
mundung entzieht. Der gejchichtliche Sinn iſt für den Glauben 

Zeitſchrift für Theologie und Kirche. 10. Jahrgang. 2. Heft. 8 


112 Rader Die Bedeutung des geſchichtlichen Sinnes im Proteſtantismus. 


unentbehrlich, damit ev ſich auf eine wahrhaftige und fruchtbare 
Weiſe der Vergangenheit bemächtigen lernt, 

13. Der heiligen Schrift gegenüber ift der gejchichtliche Sinn 
der gemwiejene Erfah für die Theorie der Berbalinfpiration. Er 
ift dem Proteftantismus von feinen Urſprüngen her als eigentüm: 
liche Gabe mit auf den Weg gegeben und hat fich auch unter der 
zeitweiligen Herrfchaft des Inſpirationsdogmas erhalten und geregt. 

14. Ihm zue vollen und richtigen Geltung zu verhelfen und 
über das Verhältnis des unmittelbaren gegemvärtigen Glaubens: 
lebens zu der es gejchichtlich bedingenden Vergangenheit Klarheit 
zu ſchaffen, iſt heute vielleicht die vornehmfte Aufgabe der evan- 
gelifchen Dogmatik und Ethik. 


Das Gündenbekenntwis. 
Von 


Lie. Pfarrer 6, Studert, 
Reunfirh, nt, Schaffhaufen (Schweiz). 


Sündenbekenntniſſe find wohl fo alt und fo weit verbreitet 
als die Menjchheitz fie find nichts ſpezifiſch Chriftliches. Wo es 
einen Anfang von moralifchem Leben giebt, jtellt fih naturgemäß 
die Erkenntnis ein, daß die menjchliche Wirklichkeit dem fittlichen 
Ideale nicht entjpricht, und die gedrücte Seele macht fich Luft 
im Bekenntnis ihrer Sünde. In den Veden, jener Sammlung von 
alten Gebeten Indiens, lefen wir: „Sch rufe Did) an, o Varuna, 
begierig meine Sünden zu fennen, Die Weifen jagen mix alle 
dasjelbe: „Varuna ift in Zorn gegen dich“, O Varuna, gewährte 
uns deine Bergebung für die Fehler unferer Väter und für bie 
welche wir felbft begangen haben!" Und unter jenen alten Ge: 
beten Afjyriens, welche man die Klagen des veuigen Herzens nennt, 
finden wir ein Gebet diefen Inhalts: „ch begehe Fehler unbe- 
mußt, die Sinde unbewußt, ernähre mich von Febltritten, wandle 
unvechte Wege. Der Herr — im Groll feines Herzens zermalmt 
ev mich, die mic zürnende Göttin beunruhigt mich ſchrecklich. Die 
Göttin, Die das Verborgene fennt, beraubt mich aller Kräfte, ic) 
beuge mich in Demut, niemand reicht mir die Hände. Ich bete 
laut und niemand exhöret mich; ich bin entkräftet, niebergedrückt, 
niemand erlöft mich. Ich küſſe die Füße meiner Göttin und klage 
in glühenden Worten: Wie lange noch, mein Gott, meine Göttin, 
ift der Zorn deines Herzens? Das Schickſal des Menfchen iſt 
bejtimmt, aber niemand bekannt, Kein Menfch Eennt feine Be— 

; * 


114 Studert: Das Sündenbelenntnis, ⸗ 


ſtimmung. Herr, du wirſt deinen Knecht nicht zurückweiſen in— 
mitten der ſtürmiſchen Fluten. Eile ihm beizuſtehen, verwandle 
du die Sünde in Frömmigkeit! Meine Läſterungen find ſehr groß, 
zerreiße fie! O Gott, meiner Sünden find fiebenmal ſteben, ver- 
gieb meine Sünden! Vergieb meine Fehler! Verkünde das Urteil! 
Möge das Herz wie das einer Mutter, die geboren bat, fich er— 
beiten!“ i 

In der That, Sünde zu befennen ijt ein allgemein menfch- 
liches Bedürfnis. Wo bei einem Menjchen das Gewiſſen in feiner 
urwüchſigen Kraft fich vegt, da treibt es ihn, feine Schuld zu be: 
fennen, jei es daß er menfchliche Zeugen diejes Befenntniffes habe, 
oder nicht. Er fpricht mit dem Pfalmiften (32, 3.5.): „Da ich es 
wollte verjchweigen, verjchmachteten meine Gebeine. Ich befenne 
div meine Sünde, und verhehle meine Mifjethat nicht.“ Schon 
Paskal macht darauf aufmerkfam, daß der Menſch zur entjchiedenen 
Demütigung und zur Ablöfung feines innerjten Willens von der 
Simde oft dann erjt gelange, wenn er fie vor einem Menfchen 
befennt. Es giebt vielleicht feine beſſere Apologie des Sünden- 
befenntniffes als was Hettinger!)und Möhler?) zu Gumften der 
Katholischen Ohrenbeichte insbefondere geltend machen : „Der Sünder 
findet feine Ruhe, wird innerlich gequält und wie erſtickt, bis er das 
Gift der Sünde aus fich entfernt hat. Alles was wahrhaft den 
Menſchen innerlich tief ergriffen und bewegt hat, das muß auch 
im Aeußern fich darftellen. So ift das Sündenbefenntnis die 
nächte und notwendige Aeußerung eines bußfertigen Sinnes, eine 
Bethätigung der Reue und in und durch den Akt der tiefiten De- 
mütigung zugleich eine That der Genugthuung. In der Sünde 
bat der Menfch ſich von Gott hinweg und zur Kreatur hinge- 
wendet. Stolz ift die erfte Sünde und die Wurzel der Sünde. 
In dem fpeziellen Sündenbekenntnis jühnt der Menfch feinen 
Hochmut. Was wir vom Kind verlangen, das gefehlt, das Ge— 
ftändnis feiner Schuld, weil wir darin das bejte Zeugnis wahrer 
Reue erblicken, was wir darum als Milderungsgrund beim Ver— 
brecher anfehen,..... was ein jo unmittelbares, unabmeisliches 
3%) Im feiner „Mpologie bes Chriſtentums“ II, ©. 126-129. 

) Symbolik, S. 285—288, 


Studert: Das Sündenbelenntnis. 115 


Bedürfnis des menjchlichen Herzens ift, welches es drängt, das 
Geheimnis feiner Schuld umd feiner Schmerzen niederzulegen in 
die teilnehmende Seele eines Freundes, der es verjteht, — wenn 
das die Kirche vom Sünder im Namen Gottes verlangt, bemeijt 
fie nicht, daß es etwas Göttliches ift um die Beicht, daß fie ein- 
gejest ift von dem, der das Menfchenherz geichaffen, der darum 
am tiefjten das Bedürfnis des jchuldbelafteten, gequälten, gebro- 
chenen Herzens kennt undam wirkſamſten es zu heilen vermag, der 
nur verlangt, mas des Menjchen eigene beffere Natur unabweis- 
bar fordert?” 


1. 

Dies tiefe Bedürfnis des Menjchenherzens nach Entlaftung 
von jeinem Druck hat nun allerdings die katholiſche Kirche be— 
nützt und in die Zwangsjacke dev Obrenbeichte geſteckt. Und jener 
freie Drang, jenes unabweisliche Bedürfnis jollten nun den Beweis 
dafür liefern, daß die Kirche berechtigt jei, mit Hochdrud das Ber 
fenntnis aus dem menfchlichen Herzen herauszupreſſen. Das aber 
läßt fich nimmermehr beweifen, Es ift auch nicht an dem, daß 
die Ohrenbeichte jo wie fie heute obligatorijches Inſtitut der ka— 
tholifchen Kicche ift, von Anfang an bejtanden hätte. Jahrhun— 
derte haben gearbeitet und geändert, bis die Beichte endlich die 
heute geübte Form erreicht hatte, Wie und unter welchen Um— 
ftänden e8 dazu gekommen ift, ſoll bier nicht näher ausgeführt 
werden), Es genügt darauf hinzumweifen, daß das Lateranenfe 
und das Tridentinum den Schlußftein zu diefem Inſtitut gelegt 
haben. Das Lateranenfe, welches im Jahre 1215 verordnet, daß 
von allen und jeden, wenn fie zu den Unterjcheidungsjahren gefommen 
jeien, wenigjtens einmal im jahre müſſe gebeichtet werden, näm— 
lich in der heiligen am meijten geeigneten Faftenzeit vor Oftern, 
Das Tridentinum, welches im Gegenfat gegen die Berwerfung dev 
Obrenbeichte von Seiten der Neformation feithält?): „Wenn Je— 
mand leugnet, daß das Sakrament der Beichte eingejegt oder zum 


1) Eine kurze Gefchichte dieſer Entwicklung findet fich in Studert: „Die 
fathol. Lehre von der Neue’ S. 4-30, Freiburg i. B. bei Mohr, 1896, 
#) sess. 14. can. 6, 


116 Studfert: Das Sündenbetenntnis. 


Heil notwendig fei nach göttlichem Necht oder jagt, die Weiſe dem 
Prieſter allein geheim zu beichten, welche die Fatholifche Kirche von 
Anfang an immer beobachtet hat und beobachtet, jet der Einſetzung 
und dem Befehl Chrijti entgegen und eine menfchliche Erfindung: 
der ſei im Bann!" 

Das Belenntnis, welches von der Fatholifchen Kirche verlangt 
wird, muß demgemäß folgendermaßen bejchaffen fein. Für alle 
nad) der Taufe Gefallenen ift eine vollftändige Beichte derjenigen 
Sünden, die jie feit dem legten Empfang des Saframentes be 
gangen haben, vor dem Priejter nach göttlichem Necht notwendig, 
und zwar mit allen einzelnen Umjtänden in Gedanten, Worten 
und Werfen. Denn da Chriftus die Priejter als feine Stellver- 
treten zurückgelaſſen hat als Nichter, vor welche alle Todſünden 
gebracht werden follen, auf daß fie vermöge der Gewalt der 
Schlüffel zur Vergebung oder Behaltung der Sünden das Urteil 
ſprechen, da fie aber ohne Kenntnis der Sache fein Uxteil fällen 
Können, jo folgt daraus, daß ihnen alle Todſünden müſſen vor- 
gelegt und eröffnet werden. Die Umftände, welche die fittliche 
Verſchuldung bedingen, müſſen gebeichtet werden, weil font die 
Sünden jelbjt nicht volljtändig dargelegt find, noch auch von den 
Richtern erkannt werden, und fie alſo weder die Schwere der Ver- 
gehen recht beurteilen, noch auch die gebührende Strafe auferlegen 
könnten!). Sobald ein Kind im Stande ift zwifchen Gutem und 
Böſem zu unterfcheiden und es eines böjen Willens fähig ift, iſt 
es zu der heimlichen Beichte vor dem dazu berechtigten Priejter 
angehalten. Diefelbe foll klar, einfach und deuilich, bejcheiden und 
mit wenigen Worten abgelegt werden. Wenn Jemand jagt, es 
fei nicht nötig nach göttlichem Recht alle und jegliche Todſünde 
zu beichten, deren man fich nach rechtem Nachdenken erinnert, der 
jei im Bann’). Wer mit Vorſatz Einiges von dem verſchweigt, 
was angegeben werden muß, und nur Etliches befennt, hat von 
einer folchen Beichte nicht allein feinen Nuten, fondern macht ich 
eines neuen Vergehens ſchuldig; denn das ift gar feine Beichte. 
Wer aber etwas nergejjen hat, obwohl er den Vorſatz hatte, alle 

1) Trid, nes, 14, capı 5. 11 15. 

*) ib. sess, 14. cam. 7. 





Studert: Das Sündenbefeuntnis. 117 


Sünden zu beichten, hat nicht nötig die Beichte zu wiederholen, 
jondern es genügt, wenn er die Sünden, die er vergefjen hat, ſo— 
bald fie ihm wieder einfallen dem Priefter zu einer andern Beit 
beichtet?). Ohne die Ohrenbeichte können nach Fatholifcher Lehre 
die Sunden nicht erlafjen werden, weil allein die Priejter die 
Gewalt haben zu binden und zu löſen, Sinde zu vergeben und 
zu behalten an Gottes Statt. 

Allerdings Fann das, was nicht Todfünde ift, ohne Schuld 
verſchwiegen werden, und Beichte von Sünden, deren man fich nicht 
mehr erinnert, wird nicht gefordert. Wenn fie dem fleißig Nach— 
denkenden nicht einfallen, werden fie insgefamt als in derjelben 
Beichte miteingefchloffen angenommen ®), Aber für die Unterjchei- 
dung der Todfünden von den läßlichen, die ohne Schuld können 
verſchwiegen werden, giebt Die Kirche feinen ſichern Maßſtab. So 
zahlreich auch die Unterjcheidungen und Beftinmungen der Kirchen— 
lehrer bis in die neuefte Zeit darüber find, fo jchwierig bleibt die 
fichere Entfcheidung. Unter den Händen des Probabilismus ijt es 
fajt möglich geworden jede läßliche Sinde zu einer Todfünde und 
jede Todfünde zu einer läßlichen zu machen. So bleibt es ganz 
dem Beichtenden überlafjen zu urteilen, ob eine Sinde Todjiinde 
oder Läßlich fei, ob ex fie alfo beichten foll oder nicht. Es ift unter 
folchen Umftänden begreiflich, daß ſchon das Tridentinum?) die 
Beichte der läßlichen Sünden für jehr mäslich hält und Neuere 
geradezu mwünfchen, daß alle Sünden, die dem Beichtenden ins 
Gedächtnis kommen, von ihm bekannt werden. 

Sp willig wir nun zugeben, daß jelbft ein in diefer Form 
gelibtes Sündenbefennen oftmals nicht ohne Nutzen ift, daß etwas 
Wahres daran ift, wenn der Katechismus +) meint, die Scheu vor 
der Beicht lege der Begierde und Frechheit zu fümdigen Bügel an und 
halte die Ruchloſigkeit oft in Schranken, daß der Vorteil nicht zu 
verkennen ift, der darin Liegt, daß durch die Beichte jeder Katho- 
lik wenigſtens einmal im „Jahr genötigt wird vor fich felbjt jtille 


) Catechismus Romanus II, 5,42, 
*) Trid. sess. 14 cap. 5. 

) sess. 14. cap. 15. 

*) Il, 5,32, 


118 Studert: Das Sündenbefenntnis. 


zu ftehen und einen prüfenden Blick in jein Inneres zu thun, daß 
überhaupt in den Händen veiner und zartfühlender Priefter auch 
die Ohrenbeichte wichtige Dienfte in dev Seelenpflege thun Tann, 
— ſo fehr müſſen wir doch unfere Ueberzeugung dahin ausſpre— 
hen, daß die jchlimmen Wirkungen der Obhrenbeichte die quten 
weit überwiegen. Indem die Berföhnung mit Gott in einen alle 
Jahre wiederkehrenden ſakramentalen Akt verlegt wird, wird der 
ſittlich rohe Menſch verführt, fich nach Abmachung der erforder 
lichen Handlungen auf das jündenvergebende Wort des Priefters 
zu verlaffen und leichten Herzens neuen Verfündigungen entgegen: 
zugeben. Wie gerne tröftet ſich der natürliche Menjch nach kurzer 
Zerknirſchung und Beichte, geftügt auf die Autorität der Kixche, 
daß er num alles deffen, mas ihm etwa in der Zukunft hätte ges 
fährlic) werden können, los und ledig geworden ſei. Die Leich- 
tigfeit der Bedingungen, mit der hier von der Kirche die wahre 
und wirkliche Vergebung von Seiten des beleidigten Gottes be— 
ſchafft wird, hat für gröbege Naturen, welche ſich mit Gewiſſens— 
angelegenheiten überhaupt nur wegen dev Sicherung ihrer eigenen 
Perſon in der zufünftigen Welt befaffen, etwas Verführerifches, 

Sodann leitet die Kirche, indem fie die Beichte zu einem re—⸗ 
gelmäßig nach beftimmter Zeit wiederkehrenden Kirchengefet macht, 
ihre Glieder zu einer felbjtgemachten Neue, ja zur Heuchelei an, 
Bevor einer zum Priefter tritt, jagt der Katechismus Nomanus'), 
bat er mit allem Eifer darnach zu ftreben, daß er von Neue über 
feine Sünden ergriffen fei. Auch Thränen find bei der Neue 
überaus wünjchenswert und zu empfehlen. Wie natürlich wird 
es dann, daß man, weil es jet einmal vorgejchrieben ift zu beich- 
ten, ein wenig den Reuigen fpielt, mehr um der Forderung der 
Kirche zu genügen, als weil das Innerſte von Sündenſchmerz er— 
griffen wäre! Der Katechismus *) jagt jogar: „Die meiften Gläu- 
bigen halten einen innern Geelenfchmerz und einen Herzensſeufzer 
zur Grlangung der Sündenvergebung gar nicht für notwendig, 
meinen es jei hinreichend, wenn fie nur den Schein eines Leid- 
tragenden haben. In der Negel erfcheint ihmen nichts langwei— 

75,51. 
2) II, 5,55: 51. 


Studert: Das Sündenbekenntnis. 119 


liger al3 der Verlauf der Tage, die durch das Kirchengeſetz für 
die Beichte beitimmt find." Was wird mun die große Menge der 
Gläubigen thun? Zur VBeichte müſſen fie kommen, Wenn fie nicht 
Neue zeigten, jo würde ihnen das nur den Schimpf der Zurück 
weiſung einbringen. Was können ſie dann anderes, als eine Neue 
zeigen, die fie nicht haben? Und ift das nicht Seuchelet ? 

Der Proteftantismus hat die Ohrenbeichte auch aus dem 
Grunde befämpft, weil eine vollftändige Aufzählung aller Sünden 
unmöglich jei und weil durch diefe Forderung die Gewiſſen in 
Unruhe gebracht wiirden!). Das Tridentinum?) verwahrt fich nun 
allerdings dagegen, daß feine Beichtvorjchrift unmöglich könne bes 
folgt werden und eine Folter des Gewiſſens fei, weil ja nicht alle 
jondern nur die Sünden zu beichten feien, deren man ſich erinnere, 
Und Bellarmin?) meint jogar, es ſei eine Lüge zu behaupten, 
die Katholiken lehrten, daß einer nicht könne verföhnt werden, 
wenn er nicht alle Sünden aufzählen könne. Es könne im Gegen- 
teil der Fall eintreten, daß einer aus Vergeßlichkeit faum den 
kleinſten Teil derjelben exöffne und doch von allen abfolviert werde. 

Nichtsdeftomeniger ift es Thatjache, daß zur Neformationszeit 
und bis auf den heutigen Tag gerade durch die Forderung ges 
wiffenhafter Erforſchung und Aufzählung der Sünden unzählige 
Gewiſſen gefoltert und gemartert wurden; ein Umftand, der um 
jo begreiflicher ift, weil die Schwierigkeit der Unterjeheidung von 
läßlichen und Todfünden eine beftändige Quelle von Ungewißheit 
jein muß. Und übergetvetene fatholifche Priefter, wie 3. B. der 
bekannte Chiniqui bezeugen): „Jeder ehrliche Priefter, der die 
Wahrheit jpricht, wird ohne Weiteres geftehen, daß feine begab- 
tejten und frömmiten Beichtlinder beftändig von der Befürchtung 
gepeinigt werden ivgend welche böjen Worte oder Thaten nicht 
gebeichtet zu haben. Die abgelegten Beichten find alſo nicht Quellen 
der Freude und des Friedens, ſondern fie gleichen den Damokles- 
jchwertern, die Tag und Nacht tiber den Häuptern hängen und 


*) Confessio Augustana art, 11. Apologia Conf. art, 11 de confessione. 
®) sess. 14. cap. 5. 

%) De poenitentia. TI, eap. 17. 

+) Chiniqui: Der Priefter, die Fran u. die Ohrenbeichte. S. 176, 


120 Studert: Das Sündenbefenntnis. 


die Seelen mit Schreefen eines ewigen Todes erfüllen.“ 

Ferner ift dev Zwang, mit welchem der Sünder dazu ange 
halten wird bei Gefahr des ewigen Verderbens alle und jegliche 
Todfünde auszufprechen, geeignet, ihn zur Schamlofigkeit anzu— 
feiten, ja ihn mit der Stinde vertraut zu machen. Die Kirche läßt 
nicht jene heilige Scheu des Sünders zu, welcher ein fo tiefes 
Grauen vor feiner Sünde hat, daß er flirchtet feine Seele neu zu 
beffecten, wenn er die Sünde noch einmal wieder berührte, in jeine 
Gedanken und feinen Mund nähme und gar mit allen Verum— 
ftändungen einzeln eröffnen würde. Auf diejes Grauen vor dem 
Wiederkäuen einer zur Galle gewordenen Sünde kann der Zwang 
des Beichtinftitutes feine Nückficht nehmen. Der Katechismus ?) 
jchveibt dem Priefter vor: Denen, welche aus Schambaftigfeit 
nicht wagen, ihre Sünden zu beichten, muß man Mut einflößen 
und fie erinnern, daß fie fich durchaus wicht zu ſchämen haben 
ihre Sünden zu befennen, indem das Sündigen eine Allen gemein- 
fame Krankheit und der menfchlichen Schwäche eigen ſei. Der 
Beichtiger jolle dem zurüchaltenden Sünder jagen, er könne ihm 
nichts jo Verborgenes und Abjcheuliches jagen, das er — nicht 
ſchon oft gehört habe. Und wie leicht gefchieht es dann auch 
durch die verfänglichen Fragen des Priejters, daß kaum geahnte 
Sünden hevvorgeriffen, kaum beachtete Regungen geweckt werden 
oder das völlig Unbekannte exit in den Geſichtskreis des Beichten- 
den gerückt wird! Wie manches Beichtkind hat ſchon durch unbe 
butfame Fragen des Beichtvaters Unſchuld und Seele verloren! 
Wenn man weiß, welcher Art manche Fragen find, welche hier 
vorgelegt werden, und welche zu beantworten die Beichtkinder nach 
göttlichem Recht angehalten find, fo fieht man fich, wie auch zahl- 
reiche Katholiken volltommen zugejtehen, vor einen Abgrund dev 
Gemeinheit und Lafterhaftigteit gejtellt. Dies insbefondere ift ein 
ſchwarzes Blatt im Kapitel der Ohrenbeichte, deſſen Anlagen ein 
vernichtendes Urteil über die Praxis diefes Inſtitutes fällen. 

Vor Allem unvichtig ift auch, daß die katholiſche Kicche die 
Macht zu binden und zu löſen auf die Priefter bejchränft. Das 
wird ſchon von Thomas von Aquino hauptjächlich mit Berufung 

') IL, 5,51. 


Stufert: Das Sündenbefenntnis, 121 


auf Matth. 16, 18. 19, vom Tridentinum mit Berufung auf 
Joh. 20, 22. 23, ebenfo von Bellarmin mit Aufbietung von 
großer Spibfindigfeit und Anlegung logijcher Bewersführungen zu 
begründen verſucht. Darnach jollen die Priefter als Nachfolger 
der Apoftel zu Richtern an Stelle Chrifti in Sachen der Sünden 
eingeſetzt fein, welche die Schlüffel des Himmmelveiches empfangen 
baben, jo daß ohne ihren Dienft keiner den Himmel betreten kann. 
Dagegen beruft fich der Proteftanttsmus auf das N. Tejtament, 
nach welchem alle Gläubigen Priefter find, nach welchem alle 
Gläubigen die Fähigkeit haben einen von der Wahrheit ivrenden 
Sünder zu befehren und feiner Seele vom Tode zu helfen (Jak. 
5,19. 20); nach welchem Gott mit jeinem Vergebungsurteil nicht 
an das Urteil der Menfchen gebunden jein fann, als ob es der 
Willlür des Priefters anheimgejtellt fei, ob ev die Sünden erlafjen 
oder behalten wolle; nach welchem kein Ehrift dem andern gegen- 
über die Rolle eines Richters, jondern jeder die eines Bruders hat, 
der ihn wünſcht einer fremden Wohlthat teilhaftig zu machen, wenn 
immer die Möglichkeit vorhanden ift diefelbe zu empfangen; nach 
welchem das Mittel zur Vergebung der Sünden nicht ein Safra- 
ment, jondern die Verkündigung des Evangeliums ift. Das Ge- 
bet Ehrifti knüpft die Vergebung unferer Schuld nicht an irgend 
eine priefterliche Vermittlung; der Herr hat nie Beichte hören laſſen; 
denen, die an ihn glauben, fpricht ex die Ervettung und das ewige 
Leben zu. Den veuigen Zöllner läßt ev gerechtfertigt vom Tempel 
nach Haufe gehen. So oft einer jpricht wie der verlorene Sohn 
AIch will mich aufmachen umd zu meinem Bater gehen“, kommt 
ihm der himmlische Vater ohne priefterliche Vermittlung mit feiner 
Gnade entgegen. Und käme er zur legten Stunde wie der Schächer 
am Kreuz, fo ift Ehrijtus urteilender Richter genug und fichert 
ihm den Eingang ins Paradies zu. Und wenn die Katholiken 
einmwenden, das Alles habe vor Einjegung des Bußſakramentes 
ftattgefunden, aber nachher jei das Saframent der einzige Weg 
um Bergebung zu erlangen, jo wifjen auch die Apoftel nichts von 
ſolcher Vermittlung. Sie haben nicht als Gewiſſensrichter Herzen 
und Nieren geprüft, ſondern gepredigt: Thut Buße und laſſe fich 
ein Jeglicher taufen auf den Namen Jeſu Chriſti zur Vergebung 


122 Studert: Das Sindenbefenntnis. 


eurer Sünden; umd es fei euch fund gethan, daß durch dieſen euch 
die Vergebung dev Sünden verfündigt wird (Apoftelgejch. 2, 38; 
13, 38). Die apoftolifchen Briefe ermähnen jenes Inſtitut nirgends, 
wohl aber veden fie vom Wort Gottes, welches lebendig und Fräf- 
tig jei, und welches fie als Gejandte Jeſu Ehrifti verfündigen um 
durch dasfelbe die Gemeinfchaft mit Gott zu bewirfen. 

So will die evangelifche Kirche auch nichts wiſſen von einer 
an Gottes Statt urteilenden Priefterfchaft, der allein die Macht 
des Bindens und Löſens gejchenkt wäre. Mit Recht jagt Calvin), 
es gebe feine von der Verfimdigung des Evangeliums getrennte 
Schlüffelgewalt. Denn nicht den Menjchen, jondern jeinem Wort, 
zu deſſen Dienern er die Menſchen machte, habe Chriftus dieje Ge 
malt verliehen. Und zu allen Zeiten haben durch die Verfün- 
digung des Evangeliums von der Gnade Gottes Sünder Vergebung 
ihrer Sünden gefunden. Und wenn fich beunrubigte Gewiffen frei— 
willig an einen Geiftlichen oder Laien wenden, zu dem jie Zutrauen 
haben, ihm ihre Sünden befennen, bei ihm Nat, Ermahnung, 
Troſt und die Gemwißheit der göttlichen Vergebung fuchen, jo haben 
dieje fein anderes Mittel um fie zum Frieden zu führen als das 
Wort. Indem der Gläubige das Wort richtig aufnimmt, in die 
rechte innere Verfafjung kommt und der göttlichen Verheißung 
glaubt, wird ihm wirklich Sündenvergebung zu Teil. Die feel- 
jorgerliche Beratung bewirkt die Vergebung joweit und inwiefern 
dadurch der Glaube geweckt wird. Dazu tft der Diener nicht bes 
rufen zu richten, ob Sündenvergebung erteilt werden folle oder 
nicht, ſondern ev ift durch das Vertrauen des Beichtenden dazu 
berufen, daß er ihm die Vergebung fo viel an ihm it verjchaffe 
und Jedem den gnädigen Willen Gottes Har mache. Gebunden 
und gelöft wird durch die Zudienung des Evangeliums, durch das 
Klarmachen und Berftehen des gnädigen Willens Gottes gegen 
die Sunder. Indem gläubige Chriften uns ihre Fürforge zus 
wenden, die al Glieder der Kirche die Würde haben den mit 
uns vedenden Gott uns gegenüber zu vertreten und Deshalb auch 
die Kraft uns das Himmelreich aufzufchließen, bethätigt die Kirche 
als das Organ des Evangeliums ihre erlöfende Macht an uns, 

9) Institutio 9, 4, 14. 





Studert: Das Siündenbefenntnis. 123 


Ein Bruder verjchafft dem andern, der jich verfehlt hat und dejjen 
Neue er fieht, Vergebung, wenn er ihn nicht verachtet, ihm nicht 
den Rüden kehrt, jondern mit Rückſicht auf feine Verfehlungen 
freundlich mit ihm verkehrt. Die Erfahrung, daß der Bruder, der 
um die Sünde des andern weiß, fich dennoch nicht von ihm zu— 
rückzieht, ſondern dem Gedemütigten zeigt, daß er ihn gleichwohl 
als Gottesfind achtet, wird dem Sünder den Troſt bringen, daß 
feine Sünde ihm vergeben fei. Das Urteil des Bruders, der ihm 
als eine fittliche Autorität gegenüber fteht und ihm zugleich ver 
zeiht, kann ihm eine Brüce werden zum Glauben an die gnädige 
Gefinnung des höchjtens Richters, zur Gewißheit, daß die begangene 
Sünde fein Hindernis bilden darf im Verkehr mit Gott. 

Das ſchlimmſte bei der Fatholifchen Beichte, das allen Miß— 
ftänden zu Grunde liegt, it zulegt der Zwang, mit welchem jedes 
Menjchentind, das an der Sünde Anteil hat, genötigt wird jein 
Innerſtes vor feinem Priefter zu offenbaren. Das widerjpricht 
dem fittlichen Ehrgefühl. Das freilich geht nicht wider das Ehr- 
gefühl, wenn einer freiwillig dem Mitbruder, zu dem er Vertrauen 
bat, jein Herz aufdeckt. Aber das Herausreißen der eigenjten 
Geheimniffe mit Androhung des Verluſtes der Seligfeit iſt der 
Freiheit des Menjchen zumider, der erfannt hat, daß Gott feinem 
Menfchen ein Recht dazu verliehen hat, und daß vor jeinem Rich— 
terftuhl allein wir alle offenbar werden müſſen. Das Recht, wel— 
ches der Unterfuchungstichter jelbjt dem ſchlimmſten Verbrecher läßt, 
nämlich das Recht feine Geheimnifje zu verſchweigen, geiteht die 
Eatholifche Kirche ihren Gläubigen nicht zu. Mit veligiöjen Folter- 
werkzeugen erpreßt fie ihre Geftändnifje, Was der Freiheit über— 
laſſen bleiben follte, macht fie zum zwingenden Gejeh. Sie hat 
noch nicht verftanden, daß der Weg zur wahren Sittlichfeit durch 
die Freiheit geht. Kinder, die wie Sklaven behandelt werden, 
werden auch Sklaven. Die Kirche will auch unterthänige Sklaven. 
Der Geift der römifchen Cäfaren hat die evangelifche Freiheit in 
Feſſeln gejchlagen. Aber dieſer Tyrannei entzieht fich dev zum 
Bewußtſein jeiner Freiheit in Gott erwachte Menjchengeift, und 
die Hierarchie fteht folchem Auflehnen gegen ihre bloß menfchlichen 
Geſetze ſoviel wie machtlos gegenüber, 





124 Studert: Das Sündenbefenntnis, 


Gegen diejen Zwang hat fich die evangelijche Kirche von je— 
ber gejteäubt. Dem gedrücten Herzen foll es freiftehen, warn 
und wo es will fich Luft zu machen umd jeine Schmerzen in die— 
jenige Freundesbruſt zu legen, welche ihm die nächte und vertrau— 
tejte it. Es braucht nicht einen Nichter, der über Leben und Tod 
entjcheidet, jondern einen Freund, der ihm den Scha& der gött— 
lichen Gnade jo viel er e3 vermag aufjujchließen trachtet. Diefem 
Bedürfnis wird überall entjprochen, wo überhaupt ein Geiftlicher 
den wahren Sinn eines Hirten und Lehrers bewährt und das 
Vertrauen der beiten unter jeinen Gemeindegliedern verdient. 


u. 


So jehr nun von neutejtamentlichem evangelichem Stand- 
punft aus die katholiſche Obrenbeichte muß verworfen werden, 
ebenjofehr it von demjelben Standpunkt aus hervorzuheben, daß 
das Sündenbefenntnis auf einem allgemein menjchlichen Bedürfnis 
beruht. Das Gewiffen treibt den Menſchen, der ſich verfehlt hat, 
ſich jelbjt anzuflagen. Ueberall, wo jich in den Beziehungen der 
Menfchen zu einander ein moralifcher Hintergrund zeigt, hat die 
Selbjtanklage ihre Stelle. Das Kind wird angeleitet, jeine Fehl 
tritte vor den Eltern zu befennen. Der Anecht, die Magd zeigen 
der Herrjchaft den Unfchiet an, der ihnen mwiderfahren, den Scha= 
den, den fie angerichtet haben, Der Uebergeordnete hat das Recht, 
es von dem Untergeordneten zu vernehmen, wenn er fich etwas 
hat zu Schulden kommen laffen. Wer fi) gegen Menfchen ver— 
fehlt hat, wird getrieben fich zu entlajten, daducd) daß er Mlit- 
teilung macht von feiner Verfehlung. Selbjtanklage mildert die 
Schuld der begangenen That. Selbitanklage ift der unmittelbare 
Trieb des Gemifjens, wie beim verlorenen Sohn, welcher jprad) : 
Vater, ich habe geſündigt. Dabei liegt ihr die Hoffnung zu Grund 
dadurch Entlaftung zu empfangen, ja Befreiung von der Schuld 
und ein veines Gewiljen. Die große Sinderin hatte ohne Zweifel 
etwas von göttlichen Vergebungsanade gehört, aber fie wollte Sicher- 
heit haben in diefer Sache. Darum legt'fie dem Herrn das worte 
loſe Belenntnis ihrer Schuld ab, zeigt, daß fie von feinem Wort 
getroffen ift und verläßt ihn mit der Gewißheit der Vergebung, 


Studert: Das Sündenbeleuntnis. 125 


Die Apoftelgefchichte erzählt, wie dem Paulus freiwillig Sünden 
befannt wurden (Apoftelgejch. 19, 18). Zu Johannes dem Täufer 
famen die Zeute und befannten ihre Sünden, So fonnte dann 
jedem Einzelnen mach feiner Eigenart ein Rat, eine Mahnung er— 
teilt werden. Solch freimilliges ſich Entlaften von böfer Schuld 
vor einem vertrauten Herzen, ift der gefunde chriftliche Kern, der 
vom xömifchen Beichtjtuhlwefen überwuchert und erſtickt, von der 
ewangelijchen Kirche befreit, gereinigt und entfaltet werden muß 

Der erſte Impuls des veformatorischen Gegenfaßes gegen die 
Mipbräuche des Katholizismus drängte allerdings zur Abjchaffung 
jeder Beichte. Luther befennt gelegentlich auch ungebeichtet zum 
Abendmahl gegangen zu fein und meint, für Männer wie Mes 
lanchton jei das Beichten unnötig. Aber da man auf die perſön— 
liche Anmeldung zum Abendmahl hielt, kam in der Folge doch Die 
Privatbeichte in Hebung und wurde die herrſchende Ordnungsform 
in der lutherifchen Kivche des 16. und 17, Jahrhunderts. 

Luther äußert fich an manchen Stellen über die Wichtigkeit, 
fowie über die Art und Weije der Privatbeichte‘). Es läßt fich 
aus ihnen ein genaues Bild feiner Anficht entnehmen, Einige 
der wichtigften laſſen wir bier folgen. 

In der Schrift über die babylonijche Gefangenfchaft der 
Kirche aus dem Fahre 1520 heißt e8°): „Die heimliche Beichte 
gefällt mir dennoch jehr wohl, iſt nützlich, ja ſogar nötig und 
wollte ich nicht entbehren; ich freute mich, daß fie in der Kirche 
Ehrifti ift, da fie das einzige Heilmittel ift für niedergeſchlagene 
Gemüter. Denn wenn wir dem Bruder unfer Gewiſſen eröffnet 
und das Böfe, das verborgen war, vertraulich enthüllt haben und 
ein von Gott jtammendes Troftwort aus dem Mund des Bruders 
empfangen, jo werben wir, indem wir es im Glauben aufnehmen, 
mit dev Barmherzigkeit Gottes verföhnt, der durch den Bruder mit 
uns vedet ,. . . Daher zweifle ich nicht, daß Jeder von feinen ver: 
borgenen Sünden gelöſt jei, welcher ſei es freiwillig beichtend, oder 
überwiefen vor irgend einem Bruder privatim um Vergebung ger 

3) Erlanger Ausgabe Bd. 28, ©, 35,40, 85; 24, 204; 21,18, 140, 244; 
29, 352; 25, 190; var. arg. Ill, 419; IV, 152; VII, 12. 

*) E, A. var. arg. V, 82, 83, 


126 Studert; Das Siündenbefenntnis. 


beten und fich gebejfert hat... da Ehriftus deutlich jedem feiner 
Gläubigen das Necht der Abjolution gegeben hat.* Schon 1518 
jagt ex in einer Predigt): „Wann dich in deiner Sund Gewiſſen 
ein frumm Chriftenmenfch troftet, Mann, Weib, Jung oder Alt; 
jo jolltu das mit ſolchem Glauben annehmen, daß du dich jolltejt 
laffen zureißen, vielmal töten, ja alle Greature vorleugnen, ehe du 
daran zweifelteft, es jei alfo vor Gott. Dann ift uns doch ahn 
das geboten, in Gottis Gnaden zu glauben, und hoffen, daß unjer 
Sund jein uns vorgeben; wieviel mehr jolltu dann das glauben, 
wann er div defjelben ein Zeichen giebt durch einen Menjchen.” 
An Franz von Siekingen jchreibt er?): „Daß wir aber williglic) 
und gerne beichten, jollen uns zwo Urſach reizen. Die exit, das 
heilige Kreuz, das ift die Schand und Schaam, daß der Menſch 
ſich williglich entbloßet für einen anderen Menjchen, und jich jelbs 
vorflagt und verhohnet. O warn wir wühten, was Straf fold) 
willige Schamroth furkäme, und mie qnädigen Gott fie machet, 
daß der Menjch ihm zu Ehren fich ſelbs jo vornichtiget und de— 
muthiget, wir wurden die Beicht aus der Exden graben, und ubir 
taufend Meil holen... Ich weiß auch nit, ob der einen rechten 
lebendigen Glauben habe, der nicht jo viel leiden oder fich zu lei— 
den begeben will, daß er für einen Menfchen zu Schanden wird, 
und ein jolch Elein Stuck von dem heiligen Kreuz nit tragen 
will... Die ander Urjach und Reizung zur willigen Beicht iſt Die 
theure und edle Vorheifchung Gottis: Wilchen ihr die Sund vor: 
gebt, den jollen fie vorgeben fein, u. a. Denn obwohl ein Ig— 
licher bei ihm felb Gott beichten mag, und ſich mit Gott heimlich 
vorfuchen: fo hat er doch niemand, der ihm ein Uxteil fprech, 
darauf er fich zufrieden jtell, und fein Gewiſſen ftille, muß ſorgen, 
er hab ihn nit gnug than. Aber gar fein umd ficher iſts, daß 
er Gott ergreife bei feinen eigen Worten und Aufagen.“ „Denn 
in der Veichte haftu auch dieß Vortheil, daß das Wort alleine 
auf deine Perſon geitellet wird. Denn in der Predigt fleugt es 
in die Gemeine dahin, und wiewohl es dich auch trifft, jo biftu 
jein doch nicht jo gewiß; aber hie kann es niemand treffen, denn 


4) Sermon vom Satrament der Buße. E. A. 16,40, 
2) E. A. 27, 367-369, 


Studert: Das Sündenbekenntnis. 127 


dich allein... Darüber haft du auch noch einen Vortheil, daß du 
in der Beicht alle deine Zeil jagen kannſt, und darüber Rath 
holen... Denn es ijt ein elend Ding, wenn das Gewiſſen be— 
ſchwert ift, und in einer Angſt liegt, und keinen Rath noch Troft 
weiß" }), 

Im Jahre 15380 jchreibt er an die zu Frankfurt?): „Wir 
behalten die Weiſe, daß ein Beichtkind erzähle etliche Sünde, die 
ihn am meiften drücken. Und das thun wir nicht umb der Ver— 
ftändigen willen; denn unjern Pfarrherr, Caplan, M. Philipps 
und jolche Leute, die wohl wifjen, was Sunde ift, fordern wir 
der’ keins. Aber weil die Liebe Jugend täglich daher wächſt, und 
der gemein Mann wenig verjtehet, umb derſelben willen halten 
wir folche Weife, auf daß fie zw chriftlicher Zucht und Verftand 
erzogen werden .. . Denn wir wohl erfahren haben, wie der Pö— 
bel und die Jugend aus der Predigt wenig lernt, wo fie nicht 
infonderheit gefragt und verhöret wird, Wo will man aber das 
beffer thun, und wo ifts nöthiger, denm jo fie follen zum Sakra— 
ment gehen? .. Das ander Stüd in der Bejicht ift die Abfolutio, 
die der Priefter ſpricht an Gottes Statt; umd darumb ift fie nichts 
anders denn Gottes Wort .. . Und dieß Stück iſt nicht allein der 
Jugend und dem Pöbel, jondern Jedermann nutz und noth, und 
ſolls feiner verachten, er ſei wie gelehrt und heilig er wölle... 
So brauchen nu wir der Bejicht als einer chriftlichen Ubunge. 
Im eriten Stück uben wir uns am Geſetz, im andern am Evan— 
gelio. Denn im erften Stick lernen wir des Geſetzes recht brau- 
hen, nämlich die Sunde erkennen und hafjen. Im andern Stüc 
uben wiv uns am Evangelio, lernen Gottes Verheißen und Troft 
recht faſſen, und bringen alſo ins Werk, was man auf der Kanzel 
predigt. Denn obwohl ein Prediger auf der Kanzel auch das 
Geſetz und Evangelion lehret, fo läßt ers doch dabei bleiben, ubet, 
fragt, forfcht niemand, wie ers fafje, kann auch nicht jehen, wo 
es feilet, wen er weiter teöften oder trafen folle, weil er feine 
jonderliche Perfon fur fich hat, die er uben mag. Und obwohl 
der Zuhörer auch alles beides in der Predigt höret, noch fafjet 

2) 6, 9, 11, 170, 171, 

) € A. 2%, 382-387. 

‚Heitfeprift für Theologie und Kirche, 10. Jahrgang. 2. Heft. 9 


128 Studert: Das Sündenbekenntnis. 


ers viel ftärfer und gewiſſer, wenns ihm infonderheit, als einer 
einzelnen Perjon, gejagt wird.“ 

Endlich predigt er gegen Karljtadt?): „Aber dennoch will ich 
mir die heimliche Beichte niemand Lafjen nehmen, und wollte fie 
nicht umb der ganzen Welt Schat geben; denn ich weiß, was 
Stärk und Troft fie mir geben hat... Ich wäre längjt von dem 
Teufel überwunden und erwürget worden, wenn mich dieje Beicht 
nicht erhalten hätte. Denn es find viel zweifelhaftig und ivrige 
Sachen, darein ſich der Menſch allein nicht wohl ſchicken kann, 
noch fie begreifen. Wenn er nu in einem folchen Zweifel ftehet, 
und meiß nicht wo hinaus, jo nimmt er feinen Bruder auf ein 
Ort, und halt ihm für fein anliegende Noth, klagt ihm fein Ge- 
brechen, feinen Unglauben und feine Sünde, und bittet ihn umb 
Troſt und Rath. Denn was fehadets ihm, daf er fich für feinen 
Nächiten ein wenig demüthige und fich zu fchanden mache? Wenn 
dir denn da ein Troſt widerfährt von deinem Bruder, den nimm 
an und gläube ihm, als wenn dir Gott jelbs gefaget hätte... 
Darumb habe ich gejagt, und ſags noch, daß ich mir dieſe heim- 
liche Beicht nicht will nehmen laſſen. Ich will auch niemand 
darzu zioingen, oder gezwungen haben; jonderm einem iglichen 
frei heimftellen... Weil wir denn viel Tröftung haben mufjen, 
jo wir wider den Teufel, Tod, Sünde und Hölle jtreiten und 
auch beftehen jollen; jo muffen wir uns feine Waffen nehmen 
Kafjen, jondern unſern Harniſch ganz bleiben, und die Tröftung, 
uns von Gott gegeben, unverrüct laſſen fein.“ 

Diejelbe Wertſchätzung der Privatbeichte wie bei Luther finden 
mir auch bei Melanchton. Er jagt jogar, die Privatabfolution 
fei jo notwendig, wie die Taufe. Und in der Erklärung des 
Evangeliums am erſten Sonntag nach Dftern fordert ev auf, dieſe 
Einrichtung hoch zu halten, weil fie das Zeugnis defjen jei, daß 
es in der Kirche eine Vergebung der Sünden gebe, 

Die ſymboliſchen Bücher verwahren fich feierlich dagegen, als 
gehe die Reformation auf Abfchaffung dev Beichte aus. Die 
Apologie der Auguftana jagt?), es wäre gottlos, die Privatabſo— 
EUR, 4-1. 

*) Miller, die fymbol. Bücher, 1876, ©. 185. 








Studert: Das Sündenbefenntnis. 129 


Intion in der Kirche aufzuheben. Die Auguftana jelbft!), die 
Beichte ijt bei uns nicht abgejchafft. Denn e8 wird feinem bei 
uns das Abendmahl gereicht, der nicht zuvor geprüft und abfolviert 
worden ift. Wir lehren von der Beichte, daß die Privatabjolution 
beizubehalten, daß es aber nicht nötig fei, bei der Beichte alle 
Vergehen einzeln aufzuzählen. 

So wurde es im der lutheriſchen Kirche Regel, die Beichte 
zur Vorbedingung des Abendmahlgenuffes zu machen. Die Sitte 
war im allgemeinen diefe: Einen oder mehrere Tage zuvor mußte 
die Anmeldung zur Beichte beim Pfarrer gefchehen. Die Beichte 
jelbft fand gewöhnlich Sonnabends in der Veſper ftatt. Als Ein: 
leitung zu ihr wurde ein Verhör, eine Prüfung gehalten. Die 
Beltimmung wegen des Verhörs geht durch alle Kirchenordnungen 
des 16. Jahrhunderts hindurch. Gegenftand desfelben waren vor 
nehmlich die Hauptlehren des Katechismus, die 10 Gebote, die 
3 Glaubensartifel und das Umfervater. Wer im Katechismus un— 
berichtet war, ſollte nicht zum Abendmahl zugelaffen werden. Auch 
andere Fragen wurden oft dem Beichtenden vorgelegt, aus deren 
Beantwortung der Stand feiner chriftlichen Erkenntnis fichtbar 
werden follte. Dann wurden die Beichtenden aufgefordert, ihr 
inneres umd Äußeres Leben zu durchgehen umd zu ermitteln, ob 
ihr Wandel und Sinn diefer chriftlichen Erkenntnis gemäß ſei, 
oder nicht. Dadurch follte die Erfenntnis der Sundhaftigkeit aus 
dem Kopf ins Herz gebracht werden. 

In manchen Gegenden ſchloß fich daran die Abmahnung von 
umolrdigem Genuß des Mahles und die Aufforderung, wer noch 
ein Privatanliegen habe, dem fei es unverweigert, mit feinem 
Pfarrer fich noch insbefondere zu befprechen. Oder es wurden 
an alle Berfammelten zufammenfafjende Fragen gerichtet, welche 
fie mit- Ja zu beantworten hatten, 3. B. ob fie ihre Sünden er- 
fennen, an die Barmherzigkeit Gottes in Chriſtus glauben, in 
Dankbarkeit ein neues Leben führen wollten. 

Die ftreng Iutherifchen Kirchenordnungen dagegen verlegten 
nach Abhaltung der Vorbereitung am Altar die Beichte ſelbſt und 


Ebendaſelbſt S. 53. 41. 


130 Studert: Das Sündenbekenntnis. 


die Abjolution in den Beichtjtuhl für jeden Einzelnen. Dabei 
murde erwartet, daß er fich nicht nur im Allgemeinen als Sünder 
befenne, jondern beftimmte Vergehungen namhaft mache. Doch 
follte die3 jpezielle Sündenbefenntnis durchaus freiwillig aus dem 
Trieb des Gemwiffens hervorgehen. Die Abfolution wurde in der 
Regel mit Handauflegung erteilt und hatte im Zeitalter der Re— 
formation ſehr hohe Bedeutung. Luther verlangt den freudigjten, 
herzhafteſten Glauben an das Wort „Dir find deine Sünden ver- 
geben“, Sie wurde als wahre, wirkliche Losjprehung im vollen 
Sinn des Wortes betrachtet und folgerichtig unter Umständen 
auch verweigert, Wenn wir das Ganze überblicken, prägt jich 
im Beichtwejen der Lutherifchen Kirche unverkennbar ein tiefer 
fittlicher Ernjt aus. Es liegt darin eine gründliche, entſchiedene 
Wegwendung vom Böfen. 

In der reformierten Kicche finden wir die Einvichtung der 
Privatbeichte als Kirchliche Sitte nicht. Doch wäre es unrichtig, 
daraus zu fehließen, daß ein Zwingli oder Calvin den Segen des 
Belenntniffes überfehen hätten. Der Unterjchied von der luthe— 
riſchen Kicche ift nur der, daß im ihr die römische Beichte zu einem 
evangelifch gereinigten Inſtitut umgeftaltet wurde, die reformierte 
Kirche dagegen es völlig dev Freiwilligleit und dem Gewiſſen des 
Einzelnen überließ, bei einem chriftlichen Bruder Rat, Troft und 
Hilfe zu fuchen, wenn er es für nötig finde. 

Bwingli äußert jich darüber folgendermaßen: „Die heilige 
Schrift weiß von feiner anderen Beichte, als da der Menfch fich 
jelbjt erkennt und fich dev Barmherzigkeit Gottes zu Füßen wirft. 
Wie num Gott allein derjenige ift, welcher die Sünden vergiebt 
und das Gemüt ruhig macht, jo müſſen wir auch ihm allein Die 
Heilung unferer Wunden zufchreiben, ihm allein diefelben zur Heis 
lung offenbaren. ... Wenn du aber den Arzt noch nicht vecht 
fennit, oder nicht weißt, wo er wohnt, jo verbietet div Niemand, 
deine Wunde einem verftändigen Natgeber zu zeigen und ihn um 
feinen Rat zu bitten. Und ift diefer ein kluger und treuer Freund, 
fo wird er dich ganz gewiß an den Arzt weilen, der feine Kunſt 
jo gut verfteht, daß ex die Wunde zubeilen kann. ... Wir be 
fennen, wenn wir unferm Nächſten oder einem Gelehrten der 


Studert: Das Sündenbefenninis, 131 


Schrift ein heimliches Verbrechen offenbaren, damit ex entweder 
uns helfe beim himmlifchen Vater Gnade erbitten, oder damit er 
einen Nat ausfindig mache, wie wir in Zufunft der Sünde wider: 
ſtehen können. Von diefer Beichte redet Jakobus im 5. Kapitel: 
„Belennet einer dem Andern feine fehler umd betet für einan- 
der...“ Es fann aus dieſer Stelle nichts weiter ausgepreßt 
werden, als daß Jeder zu feinem Nächiten gehen und ihn bitten 
Toll, daß er ihm helfe Gott für jeine Sünden bitten, und damit 
er dieſes um fo eifriger thue, entdeckt er ihm feine geheime Wunde, 
Kurz, der beichtet recht und genugfam, der auf Gott vertraut, der 
ihn lobt, ihm Dank jagt, der jeine Sünden erfennt und vor Gott 
beweint, der beftändig mit Beiftand feiner Brüder Gott um Ber- 
zeihung bittet, der, fage ich, beichtet vecht. Wer in diefer Gemüts- 
ftimmung ift, der hat fürwahr einen Priefter höchſt nötig. Aber 
was für einen? Nicht einen folchen, der mit Diebsfchlüffeln ihm 
die Geldfiften öffnet, fondern der ihm aus dem Worte Gottes 
ſowohl jein Elend als die göttliche Gnade fennen lehrt. Darum 
jol die Beichte, die man dem Priefter oder dem Nächften ablegt, 
nicht für eine Sündenentledigung, jondern fir eine Natserholung 
ausgegeben werden.” 

Der Neformator Baſels Oekolampad hat ſchon im Jahre 
1521 ein Büchlein gefchrieben mit dem Titel: Daß den Chriften 
das Stündenbefenmen nichts Läftiges fei. Darin redet ev von den 
drei Arten des Befenntniffes, die e8 gebe. Dem Belenntnis vor 
Gott allein, der Firchlichen Beichte, endlich der brüiderlichen Beichte. 
Der letztern erkennt er einen dreifachen Nuten zu. Sie bewahrt 
uns in chriftlicher Befcheidenheit. Sie erlaubt uns, die Kranf- 
heiten der Seele dem Bruder als einem Arzt zu eröffnen, und 
das iſt ein jo großer Troſt, daß er kaum mit einem andern vers ' 
glichen werden kann. Und endlich gewährt fie uns die Hilfe der 
brüderlichen Fürbitte. Auch Oekolampad weiſt darauf hin, daß 
des Jakobus Spruch Männer und Weiber angehe und daß der 
Ehrift feine Sünden entdeden dürfe, wen ev wolle. Mögen die 
Gegner jagen, dann fei die Beichte nicht jaframental, — wenn 
nur der Glaube nicht fehlt, dann ift es ein wahreres und frucht- 
bareres Sakrament, als wenn du ohne Glauben in das Ohr eines 


132 Studert: Das Sündenbefeuntuis, 


Prieſters flüſterſt. 

In ähnlicher Weiſe behandelt Calvin!) das Sündenbefennt- 
nis, Nach ihm ift das ftille Bekenntnis vor Gott ein unumgäng- 
licher Teil der wahren Buße. Menfchen zu Mitwiffern und Zeu— 
gen unjerer Neue zu machen, ift nicht immer nötig. Doch giebt 
es Fälle, wo öffentliche und befondere Bußakte angebracht find, 
jei e8, daß ein ganzes Volt in Götzendienſt oder andere große 
Sünden gefallen ift, jet es, daß einzelne in bejonders verderbliche 
Fallſtricke geftürzt find und die ganze Gemeinde beleidigt haben. 
Eine andere Beichte kennt die Schrift nicht, und darum dürfen 
die Gewiſſen nicht im Feſſeln gefchlagen werden. Indeſſen winjcht 
Calvin?), daß die Gläubigen an allen Orten vor jedem Abend- 
mahlsgenuß ſich ihren Hirten ftellen, und betont, daß die, welche 
ein behindertes Gemwifjen haben, hiedurch befonderen Troſt finden 
können, bier auch Gelegenheit geboten fei, die Ermahnungsbeditf- 
tigen zu ermahnen; nur müſſe Tyrannei und Aberglaube fern 
bleiben. Nicht jelten nämlich gefchieht es, daß derjenige, welcher 
die allgemeinen Berheißungen hört, welche für die ganze Verſamm— 
lung der Gläubigen bejtimmt find, nichts dejtomeniger in einem 
geroiffen Zweifel hängen bleibt und als einer, der die Vergebung 
noch nicht erlangt hätte, noch ein unruhiges Herz behält. Wenn 
diefer num feinem Hirten die geheime Wunde feines Gemütes er— 
öffnet und jene Stimme des Evangeliums insbefondere an ihn 
gerichtet vernommen hat: „Glaube, dir find deine Sünden ver- 
geben“, fo wird das feinen Geift Fräftigen zur Gewißheit, und 
er wird befreit von jener Aengſtlichkeit, an der er litt, 

Auch die zweite helvetifche Konfeffion*) fpricht fich in ähn- 
lichem Sinn aus. „Wir glauben, diejes aufrichtige Bekennen der 
Sünden vor Gott allein, nämlich einzig zwifchen Gott und dem 
Sünder oder auch öffentlich in der Kirche, wo man ein allgemeines 
Sündenbefenntnis ablegt, veiche hin, und es fei nicht nötig, daß 
der Sünder zur Erlangung der Vergebung dem Priefter feine 
Sünden beichte fie ins Ohr jagend und dann dagegen von ihm 

1) Institutio III, 3, 18, 


®) ibid. IIT, 4, 13. 14, 
®) in cap. 14. 








Studert: Das Siünbenbefenninis, 133 


unter Auflegung der priefterlichen Hände die Freiſprechung von 
der Sünde anhört und empfängt... Daher müffen wir unfere 
Sünde vor unjerm himmlifchen Vater. befennen und mit unjerm 
Nächiten, wenn wir ihn beleidigt hätten, wieder Friede machen. 
Von diefer Art des Bekennens vedet der Apoftel Jakobus mit 
den Worten „Belennet einander gegenfeitig eure Sünde". Wäre 
jedoch Jemand mit einer Laft von Sünden beladen oder mit ver 
worrenen Anfechtungen geplagt und er jucht Belehrung, Rat und 
Troſt bei dem Diener der Kirche oder bei einem im Worte Gottes 
wohl gegründeten Bruder, jo wollen wir's nicht wehren. So wie 
wir auch das öffentliche Bekenntnis in der Kicche als der Schrift 
gemäß ſehr billigen." 

Aus dem Allem erhellt, daß die reformierte Kicche zwar den 
Nusen der privaten, jeeljorgerlichen Beratung von Anfang an 
anerfannt und ihven Gliedern empfohlen hat, daß fie aber im 
Unterfchied von der [utherifchen Kirche von Anfang an feine be 
fondere kirchliche Einrichtung dafür geprägt wiſſen wollte, Hier 
wie anderswo hat die lutherifche Kirche das von der katholiſchen 
Ueberlieferte bewahrt, ſoweit es fich von evangelifchem Geiſt durch- 
dringen und reinigen ließ, die reformierte dagegen eine kirchliche 
Einrichtung, die nicht insbejondere im Wort Gottes befohlen war, 
völlig fahren laſſen und es ganz der Freiheit und dem Gewiſſen 
der gedrückten Seelen ambeimgeftellt, fich bevaten und helfen zu 
laſſen, wann und bei wen fie wollen. ebenfalls hat es in ihre 
zu feiner Zeit an Seelforge gefehlt. Bekümmerte Gemüter haben 
zu feiner Zeit unterlaffen, Troft bei Brüdern und Geiftlichen zu 
fuchen und von ihnen fich wieder aufrichten zu laſſen zur froben 
Zuverſicht der Vergebung, wenn auch ein Inftitut, das für diefes 
Bedürfnis von der Kirche organifiert worden wäre, von Anfang 
an fehlte, 

Immerhin hat auch in der Iutherifchen Kirche die Privat 
beichte nicht denjenigen Umfang gehabt, welchen ihre Begründer 
ihr gewünfcht haben, und im Lauf der Jahrhunderte ift jie jo 
ziemlich wieder verfchwunden. Die Gründe, die dazu führten, find 
mannigfache. Einmal mußte es jchon in etwas auf die Lutherifche 
Kirche zurückwirken, daß die reformierte Kirche nur eine allgemeine 








134 Studert: Das Sündenbekenntnis. 


(öffentliche) Beichte kannte, nämlich eine allgemeine Ermahnung 
zur Buße und eine allgemeine Berfündigung der Vergebung vor 
der Feier des Abendmahls. Sodann war eine gewiſſe Verknöcher 
zung des Inſtituts mit Schuld daran, daß der Pietismus mit 
jolcher Wucht feinen Angriff gegen die damalige Form der Pri- 
vatbeichte richten konnte. Aufs neue hatte ſich der alte Tetzel'ſche 
Geld- und Wuchergeift in die Beichte eingefchlichen. Ferner war 
bei der Beichte eine auswendig gelernte Formel in Uebung, da 
man nad evangelijhen Grundjägen darauf verzichtete, alle Sün— 
den aufzuzählen. Jeder Einzelne, der nad) der an alle gerichteten 
Ermahrung in dem Beichtjtuhl oder die Sakriftei trat und fein 
Bekenntnis ablegte, empfing die Abfolution. Das war ohne Zwei- 
fel ein gefährlicher Brauch, jedem Beichtenden bedingungslos die 
Vergebung aller feiner Sünden zuzufprechen. Dagegen richtete 
ſich vor allem die Oppofition des Pietismus. Mit der Anklage: 
„Beichtftuhl — Höllenpfuhl“ vorgehend, jchaffte Schade 1697 die 
Privatbeichte ab, indem er erklärte, die Verantwortung der Privat 
beichte fei für den Geiftlichen zu groß. Indem er den Beichten- 
den Vergebung der Sünden zufage, erteile ev ihnen gewifjermaßen 
die Erlaubnis zu neuen Sünden und mache ſich derſelben teilhaftig. 
Denn jo umd nicht anders werde die Abjolution von der Menge 
aufgefaßt. Die große Mehrzahl glaube, fte habe ein Recht auf 
die Abjolution, wenn fie ihr Beichtgeld bezahlt und ihre Beichte 
hergeſagt habe. Statt deſſen führte Schade eine Abendmahlser- 
mahnung mit Abjolution ohne alles vorgängige Bekenntnis ein, 
und für Brandenburg wurde das infofern folgenreih, als der 
Kurfürſt 1698 verordnete, daß zwar die Privatbeichte bleiben folle, 
aber jeden Sonnabend eine allgemeine Bußpredigt Tolle gehalten 
werden und daß Niemand darum vom Abendmahl zurückgewieſen 
werden folle, weil er nicht zur Privatbeichte gekommen fei. 

So wenig felbft Spener das radikale Vorgehen Schades 
billigte — er machte den Borjchlag, jeder folle fich vor dem Abend- 
mahl beim Pfarrer anmelden, dann könne ja diefer feeljorgerlich 
mit ihm verhandeln —, fo war damit doch der allgemeinen Beichte 
der Weg gebahnt, und die Gleichgiltigkeit der großen Menge, die 
in religiöfen Dingen gern das Bequemere wählt, that das Ihrige, 


Studert: Das Sündenbekenntnis. 185 


um mit der Zeit die Brivatbeichte immer mehr verſchwinden zu 
laffen. Der Nationalismus hat fie dann vollends faſt überall 
zum Aufhören gebracht, So war es die Gemwifjenhaftigfeit einiger 
Geiftlichen und noch mehr die Gemifjenslauigfeit der Menge, die 
diejes Inſtitut der Iutherifchen Kirche zum Verfall brachten. Der 
Ultraproteftantismus gefiel fich darin, alles Sabungsmäßige in 
der Kirche zu verdächtigen. Vielen fehien das ein Hauptvorrecht 
des Proteftanten, daß er nicht zu beichten brauchte. Der Stolz 
auf die geiftige Bildung und Reife jagte: Wir find Feine Kinder 
mehr, daß wir Beichtväter brauchten. Wir können unfere eigenen 
Ratgeber fein. Eine Zeit, die fo zufrieden war mit Gott und 
ſich jelbit, wie die des Nationalismus, hatte feinen Sinn für die 
Strenge der Selbſtanklage. So verſchwand fie denn immer mehr. 
Nur Meberreite haben fich bis in unfer Jahrhundert erhalten. Und 
ſelbſt, wo fie fich erhalten haben, find fie meift ohne frifches Leben. 
In manchen Gegenden wurde das dritte Jubelfeſt der Reforma— 
tion begangen durch Abfchaffung der Privat: und Einführung dev 
allgemeinen Beichte. In Württemberg war die allgemeine Beichte 
die von jeher übliche Form. Kurheſſen nahm fie 1657 an, in 
Preußen fam fie jeit Schades Vorgehen 1699 auf. In Schweden 
mar fie ſchon am Anfang des 18. Jahrhunderts die übliche Form. 
Im Alt:Meiningifchen wurde fie 1788, im Weimarifchen 1792 
üblich; Baden führte fie 1821, Hamburg 1843 ein. 

Die Privatbeichte als kirchliche Inſtitution hat auch feine 
Ausficht, wieder zur Einführung zu gelangen. Zwar haben fich 
ſchon am Anfang unferes Jahrhunderts, befonders aber feit den 
vierziger Jahren, immer mehr Stimmen erhoben zu ihrer Em— 
pfehlung und fie als die allein dem Wefen der Sache entfprechende 
Form erklärt. Marheinefe in feinen „Aphorismen zur Erneue— 
rung des Firchlichen Lebens" 1814 ftellt fich auf ihre Seite. Bret- 
jchneider, der nicht als Pietiſt verdächtigt werden kann, jehreibt 
in feinem Handbuch der Dogmatik!): „Es lag dabei (bei der 
Abſchaffung der Privatbeichte) eigentlich nichts als ein bedeutender 
Stolz zu Grunde, der fich entweder für fehlerfrei hielt, oder fich 
doch nicht vor einem fo geringen Mann, als ein Beichtiger ift, 

+) Zweiter Teil, S. 840, 


136 Studert: Das Sündenbelenntnis. 


jeiner Fehler fchuldig bekennen und ein ernftes Wort der Erin— 
nerung dabei hören wollte. Dem hätte man aber nie nachgeben 
jollen. Denn die Privatbeichte vermittelt eine Vertraulichkeit zwiſchen 
dem Geiftlichen und der Gemeinde, die der Wirkſamkeit des Geijt- 
lichen eben jo förderlich iſt, als dem moralifchen Bedürfnis dev 
Beichtenden, Durch die allgemeine Beichte ijt das enge Band, 
das Hirt und Heerde mit einander verknüpfte, aufgelöft worden. 
An größeren Orten lernt der Beichtwater feine Beichtfinder nie 
mals kennen. . . . Die Pfarrer find auch in diefer Beziehung zu 
bloßen Rednern hevabgejunten, welche gerade auf die, die es am 
meiften bedürfen, nichts wirken, und nichts wirken können.“ Auch 
Klaus Harms befürwortet in feiner Baftoraltheologiet) Necht und 
Bedürfnis der Privatbeichte aufs Neue. Insbeſondere waren es 
die Altlutheraner, welche Hand anlegten und nicht ohne Härte in 
ihren Gemeinden die Privatbeichte wieder aufrichteten. Ihr Wort: 
führer Löhe jagt’): „ES hat nie eine größere Verſündigung an 
der Seeljorgö gegeben, al3 da man ungerechte Gemifjensbedenten .. 
zur Urfache machte, dem Seelforger die Exploration, dem Beicht- 
find die Wohlthat der Privatbeichte und Abfolution zu nehmen. .. 
Die Privatbeichte, die Exploration, die Vermahnung, die Privat 
abjolution wird gebieterifch gefordert, wenn man vecht für die 
Seelen ſorgen fol.“ 

Einen nennenswerten Erfolg hat aber das Alles doch nicht 
gehabt’). Sie hat heute wohl weniger Ausficht als je, wieder 
eingeführt zu werden. Außer den oben genannten Gründen der 
Gewifjenhaftigkeit und Gewiſſenslauigkeit jmd auch äußere Hin— 
derniffe, Die fich Dagegen geltend machen. Findet die Brivatbeichte 
in der Kirche ftatt, wie in alter Zeit nach einem allgemeinen 
Gottesdienft, jo find Störungen und Unordnungen faft unver 
meidlich. Das Gehen und Kommen der Leute, das Drängen, die 
Kürze der Zeit, Alles das hindert die Andacht und vechte Ver— 
tiefung. Bei großen Gemeinden ift es überhaupt gar nicht mög- 





) fiel 1831. I, ©, 357, 

*) 3 Bücher von der Kirche. 1883, ©. 125. 

#), Die diesbezügliche Litteratur findet fich verzeichnet bei Ackermann „Die 
Beichte*, Hamburg 1859. S. 120, 


Studert; Das Sündenbekenntnis. 137 


lich, die große Menge dev Veichtenden alle einzeln vorzunehmen, 
— ein Hindernis, welches auch die katholischen Geiftlichen, Die 
doch zahlreicher zu fein pflegen, wohl verfpüren, und das ſchon 
oft zu großer Oberflächlichkeit geführt Hat. Auch nehmen fich die 
Beichtlinder nicht gerne Lange Zeit zum Warten, Vor Allem bat 
die Privatbeichte die Abneigung des Publikums gegen ſich. Eine 
Sitte, gegen welche jo viel Abneigung vorhanden ift, it ſchwer 
wieder einzuführen. Die ſtärkſten Wurzeln der Fatholijchen Hier— 
archie Liegen im Beichtjtubl. So gilt die Privatbeichte Vielen 
für etwas Katholiſches, hinter dem pfäffiſche Gelüfte, Anechtung 
durch die Kirche ſtecke. Wir wollen das Verfchwinden des In— 
ftitutes, jo wie e$ war und gehandhabt wurde, auch nicht jo jehr 
bedauern. Uns fcheint, die Geſchichte habe gezeigt, daß es nicht 
auf die zutveffende Weile das Bediirfnis nach Nusfprache und ° 
Gewifjensberatung befriedigte. 
II. 

Unterfuchen wie nun, welches in unferer Zeit die Form fein 
dürfte, welche dem Bedürfnis des Gewiſſens und den Anforderungen 
des chriftlichen Geiftes am beften entjpricht. 

Us Ordnungsform kennt die lutheriſche wie die reformierte 
Kirche nur noch die allgemeine Beichte, teils im Dienft der Abend- 
mahlsvorbereitung, teils als Kultusbeichte, Was zunächſt die 
Kultusbeichte, das Sümdenbefenntnis im gewöhnlichen Gottesdienft 
betrifft, jo war Calvin noch entjchiedener als Luther darauf be- 
dacht, es zu einem wejentlichen Bejtandteil des evangelifchen Gottes= 
dienjtes zu machen. Nach der Genfer Kicchenordnung von 1541 
fteht das Beichtgebet am Anfang des Gottesdientes und es wird 
heute noch im manchen ſchweizeriſchen und franzöftfchen Kirchen 
fo gehalten. In den meiften futherifchen Kirchen wurde es nach 
der Predigt verlefen, und jene Formel, nach der den Unbußfer- 
tigen die Sünden behalten wurden, durfte dabei nicht ausgelafjen 
werden. Freilich läßt fich mit Recht fragen, ob folche allgemeine 
Sündenbefenntniffe, die eine feitftehende Form des Aultus gewor— 
den find, nicht ebenfoviel zur Lähmung der Gewiffen beitragen, 
wie zur Erbauung der Gemüter. Wenn man bedenkt, daß die 
Zuhörer gar oft weit davon entfernt find, insgefamt ernſtlich 


138 Studert: Das Sündenbekenntnis. 


Chriften jein zu wollen, jo ift ein Sündenbekenntnis oft wenig 
der Ausdruck ihres innern Empfindens. Und wenn man im täg« 
lichen Leben und Privatverkehr fieht, wie wenig Sindenbewußt- 
fein vorhanden ift, dann wird man eher befürchten, allgemeine 
Sündenbefenntniffe werden abjtumpfend wirken. Die Leute lernen 
ſich leicht und mühelos als Sünder zu befennen, ja fie ftüßen fich 
auf ihre große Schwachheit und die allgemeine Sündhaftigkeit, 
damit ihnen die göttlichen Forderungen nicht etwa zu nahe treten. 
Harnad!) jagt mit Recht: „Wir haben uns an allgemeine Schuld: 
befenntniffe in Bausch und Bogen gewöhnt. Sie fallen uns außer: 
ordentlich Leicht, jo Leicht, daß es zum Firchlichen Ton gehört, ein 
allgemeines Schuldbekenntnis vorauszuſchicken.“ Noch jchärfer jagt 
Robertfon®): „Die proteftantifche Buße hält ihre Reue im 
Lehrſtuhl ab“. Man mag einmwenden, man müſſe daneben die 
Gemeinde nun auch belehren über die hohe und ernfte Bedeutung 
diefes Sundenbekenntniſſes im Gottesdienft, man müfje zeigen, 
wie viel Troft und Ermahnung der Einzelne daraus ſchöpfen 
könne. Allein ſelbſt wenn das gefchieht, ift es faft unvermeidlich, 
daß das Sindenbefenntnis abjtumpft und die fittliche Energie 
lähmt. Die furchtbare Wahrheit, daf die Menfchen Sünder find, 
verliert ihre Furchtbarfeit, wenn fie fonntäglich, gerohnheitsmäßig 
befannt wird; ſtatt zum Gemwifjensjchreden wird fie zum Ge— 
wifjensbetäuber, zur bequemen Entjehuldigung. Wenn die Ehriften 
angeleitet werden, fonntäglich zu befennen, daß fie bis auf dieje 
gegenwärtige Stumde gefündigt haben, wird ihnen das Sündigen 
zu etwas Natürlichem und Selbftverftändlichem, und man verjäumt 
ihnen einzuprägen das Vertrauen zu ihrer Erlöfung, die Luft und 
Liebe zu eimer neuen Gerechtigkeit, die Heberzeugung, daß dies für 
fie nicht ein umereichbarer Zuftand, jondern im Glauben gnaden- 
reiche Wirklichkeit ift, daß der Ehrift in Ehriftus Sieg hat über 
die Sünde. Die Erkenntnis der allgemeinen Sündhaftigkeit darf 
nicht als etwas Gelbftverjtändliches behandelt werden. Jeder 
Chriſt hat noch ernftlich darnach zu trachten, fie zu gewinnen 


») In der „riftlichen Welt“ Jahrgang 1891, Nr. 18, 
) F. W. Robertſon's Leben von Charlotte Broicher. Gotha 1894, 
©. 169, 


- 


Was ſodann die Abendmahlsbeichte betrifft, die num nach 
dem Verfchwinden der Privatbeichte im der gefamten evangelischen 
Kirche allein in Uebung ift, jo zeichnet fie fich gewöhnlich ſchon 
dadurch vor der Kultusbeichte aus, daß die Gemeinde wenigſtens 
mit einem „Ja“ die üblichen Fragen zu beantworten pflegt, mit 
denen der Geiftliche die Verſammelten anvedet, Die Fragen laufen 
im der Negel auf jolgende Punkte hinaus: Erkennt und bevemt 
ihr eure Sünden? Glaubt ihr an die Gnade Gottes in Chriftus? 
Seid ihr entjchlofjen, mit Gottes Hilfe euch zu beſſern? Freilich 
fehlt es auch hier nicht an Thatfachen, die zu Tadel Anlaß geben. 
So wird 3. B. in Thüringen bei der allgemeinen Beichte weder 
gefragt noch geantwortet. Schmweigend ftehen die Beichtenden bis 
zu Ende da, und dev Geiftliche jagt ihnen zulegt im Namen 
Gottes die Vergebung ihrer Stunden zu, ohne zu wifjen, ob irgend- 
wer fie wirklich haben will. Ueberhaupt wird man fagen müfjen, 
daß die allgemeine Beichte zwar als Vorbereitungsfeier auf das 
Abendmahl ihren Pla hat und ihre guten Dienite leiſtet, daß 
fie aber, wenn fie die einzige Gelegenheit des Sündenbefennens 
bieten follte, ein viel zu magerer Neft der Privatbeichte wäre. 
Wie ſchnell und Leicht kommt der Menjch bei diefer allgemeinen 
Beichte davon! Er wird nicht bejonders gefaßt, bejonders zur 
Rede geftellt, ev fühlt fich im dev Maffe und unter den Uebrigen. 
Ein Anderer bekennt für ihn die Sünde, befennt fie für die neben 
ihm Stehenden, befennt fie für alle. Von der auf den Einzelnen 
berechneten feelforgerlichen Einrichtung, welche die Privatbeichte 
war, ift in der allgemeinen nichts mehr übrig geblieben, Darum 
iſt die letztere für die Kivche ungenügend. Das chriftliche Gewifjen 
joll und muß neben dem allgemeinen Sündenbefenntnis noch Ge— 
fegenheit zu einem bejondern für jeden Einzelnen haben, und die 
Kirche muß ihm dazu Gelegenheit bieten, jonjt beraubt fie fich 
jelbjt der Führung der Seelen. 

Es war nun nad) meiner Anficht überhaupt ein Verhängnis, 
daß die Privatbeichte von dem Proteſtantismus allein auf die 
Abendmahlsvorbereitung zugefchnitten worden it. Sie ift dadurd) 
im noch ausſchließlichere Verbindung mit dem Abendmahl gefom- 
men, als e3 bei den Katholiken der Fall ift, welche öfters auch 


Studert: Das Sündenbekenntnis. 139 


140 Studert: Das Sündenbekenntnis. 


dann beichten, wenn fie nicht im Sinn haben, zur Kommunion 
zu gehen. Die Privatbeichte hätte von Anfang an viel mehr in 
den Dienjt der Seelforge geftellt werden jollen. Ueberall, wo die 
Seelforge in einer chriftlichen Gemeinde lebendig wird, ftellt fich 
von ſelbſt die Privatbeichte ein; nicht jene kirchliche Brivatbeichte 
freilich, die an beftimmte Zeiten und Orte geknüpft ift, wo man 
ein Beichtformular auffagt, wo ein Veichtkind das andere ablöft, 
jondern da die gedrücten Seelen einen erfahrenen Chriften, zu 
welchem fie Vertrauen gefaßt haben, auffuchen und ihm ihre Seele 
öffnen, damit er ihnen vate und helfe; nicht jene Privatbeichte, 
die mit Handauflegung und einer Abfolutionsformel jchliegen muß, 
deren Form und Gang eine feitftehende ift, ſondern jene, da ein 
Bruder dem andern, der da ſucht nach Gewißheit und Troft, ein 
Chriſtus wird, ihn mahnt, lehrt, aufrichtet, mit ihm betet. Die 
vechte Privatbeichte ift nicht geeignet, eine an der Deffentlichkeit 
liegende, in feite Formen geprägte Angelegenheit zu fein. Sie 
ijt eine Sache der Seeljorge und braucht darum Freiheit, Stille 
und Zeit. Nicht damit, daß der Einzelne überhaupt befennt, ift 
etwas gewonnen, jfondern der Wert und Segen der darin geübten 
geiftlichen Thätigfeit Tiegt in dem Eingehen auf die Seelenzuftände 
des Beichtenden, in einer richtigen VBenrteilung und Auffaffung 
derjelben und in dev Mitteilung derjenigen göttlichen Wahrheiten, 
welche für diefen Fall und für diefe Perfon die heilskräftigften 
find. Der Geiftliche muß Seelenarzt fein und dazu praktiiches 
Gefchiet haben. Eine ſolche PBrivatbeichte, wie fie Chriftus an 
Nikodemus übte, als er bei Nacht zu ihm kam, wie fie die Sama- 
viterin am Jakobsbrunnen und Petrus am See Genezareth er 
fuhr, ſtellt fich überall da ein, wo ein fräftiges veligiöjes Leben 
fich regt und wo die Leute darauf aufmerkſam gemacht werden, 
welcher Segen in der brüderlichen Zufprache an den Einzelnen 
verborgen liegt. In diefem Sinne hat jchon Kapp hervorgehoben, 
was die Privatbeichte bezwecken folle, jei Sache des Privatge- 
ſprächs, nicht eines öffentlichen Aftes. 

Dagegen hat mın Klaus Harms!) geltend gemacht, dabei gehe 


*) Baftoraltheologie, Kiel 1831. IL, S. 267 ff. 


Studert: Das Sündenbefenntnis. 141 


gevade das Eine verloren, was ein beunvubigtes Herz begehre, 
daß es vor einer Öffentlichen Perſon an der Statt Gottes befenne 
und von diefer als von einem bevufenen Diener Jeſu Chrifti die 
Losſprechung empfange. Aber jeit Harms’ Zeiten ift gerade die 
firchliche Autoritätsftellung des Paſtors, der Reſpekt gegen feine 
amtliche Würde immer mehr geſchwunden. Man darf heute fagen, 
daß es vielfach gerade das Amt ift, was die Leute abjchredtt, ſich 
dem Pfarrer zu eröffnen. . Die Stellung und pajtorale Würde 
einer öffentlichen Perſon umgehend, ziehen fie es oft vor, einem 
unordinierten Wanderprediger oder Evangeliften ihr Herz auszu— 
ſchütten. Und wenn mein Lebensweg mich in Berührung bringt 
mit einem Chriften, zu dem ich das Zutrauen gewinne, daß er 
mir vorwärts helfen kann, und ich mich ihm eröffne und ihn um 
Nat frage, fteht er dann weniger an Gottes Statt vor mir als 
der Priefter in der Kicche? Iſt ex nicht gerade dann von Gott 
berufen, mic den Weg des Friedens zu zeigen? Die Kirchliche 
Ordnung in allen Ehren, aber nachdem die Privatbeichte einmal 
verſchwunden ift, wäre es thöricht, Anfprüche des Amtes geltend 
zu machen. Die Gefchichte hat gejprochen. Sie hat gezeigt, daß 
eine jo zarte und feine Sade wie die Gemifjensberatung nicht 
zur amtlichen Funktion allein des jeweiligen berechtigten Priejters 
fann gejtempelt werden. Sie hat gezeigt, daß die Privatbeichte 
ein Vertrauensverhältnis von Perſon zu Perfon vorausſetzt. Sie 
hat — wir mögen es bedauern oder begrüßen — dem Amt als 
ſolchem den Nimbus geraubt, den es früher hatte. Wer einem 
Seelforger fein Herz ausfchüttet, thut e8 nicht mehr deshalb, weil 
jener amtlich verordnet ift, fondern weil er gerade zu ihm Zu— 
trauen hat. Für die Seelforge ift das ficherlich nur erſprießlich, 
denn das Verhältnis von Seeljorger und Beichtkind ift durchaus 
perjönlicher Natur. Wenn der amtlich verordnete Seelforger tüch- 
tig iſt, werden die gedrückten Seelen Zutrauen faſſen zu ihm und 
die private Seeljorge knüpft fich leichter an. Iſt er nicht gefchickt 
dazu, jo wird jenes nicht gefchehen, und dann ift es fein Schade. 
Im Intereſſe der Kirche und der Seelen läge allerdings eine ge- 
wiſſe Stetigfeit und daß der geordnete Gang der Dinge die Privat- 
beichte mit fich brächte. Dies wird nun durch den Wechfel der 


142 Studert: Das Sündenbekenntnis. 


Perfonen im Amt ftetsfort verhindert. Hat ein gefchictter und 
treuer Seelforger es dazu gebracht, daß in jeiner Gemeinde ein 
Verlangen nach privater Seeljorge und die Uebung derjelben aufs 
gekommen ift, jo fällt bei feinem Tod oder Abgang leicht Alles 
wieder über den Haufen, denn die Sache hängt an dev PBerjon, 
nicht am Amt. Da aber das Amt als folches feine Bedeutung 
immer mehr verliert, fo werben wir nicht gedrängt zu jprechen: 
Wenn doch nur die Seelforge eine amtliche Sache wäre, fondern: 
Möchte doch jeder Amtsnachfolger ein rechter Seelforger fein, dann 
würde ſich das unter dem Vorgänger angefponnene, jpäter wieder 
gelöfte Vertrauensverhältnis mit feinem Nachfolger bald wieder 
neu knüpfen. Die Gefchichte hat uns gelehrt, daß die Kraft der 
evangelifchen Kirche nicht in Kirchenordnung und Amtsbegriff fteht, 
fondern bei in Gottes Wort gegründeten, im Glauben und im der 
Liebe ſtarken Perfönlichkeiten, in welchen das göttliche Leben fich 
ein Organ gefhaffen hat, Alles Andere kann die evangelifche 
Kirche eher entbehren. 

Darum jagen wir: Nicht Privatbeichte, jondern Geeljorge: 
beichte. Diefe ftellt fich nicht als kirchliche Einrichtung, jondern 
als Folge von geweckten Gemifjen, die innerlich von Gottes Wort 
erfaßt find, von felbft ein. Auch unſere Zeit zeigt genug Bei— 
jpiele, wie tüchtige Geiftliche und auch Laien eine reiche und aus: 
gebveitete Brivatjeelforge haben, wie in der evangelifchen Kirche, 
auch wenn feine befondern kirchlichen Inftitutionen dafür vorhan- 
den find, doch das Gewiſſen vege ift, vorhandenes geiftliches Leben 
ſich ſpürbar macht und die ihm entjprechenden Formen zu finden 
weiß. In den Lebensevinnerungen Büchfels!) wird z. B. erzählt, 
wie infolge dev altlutherifchen Separation umd der ganzen relis 
giöfen Bewegung jener Zeit eine Erweckung ftattfand in feiner 
Gemeinde, und daß da von ſelbſt das Bedürfnis der Privatbeichte 
hervortrat; wie zuerft Einzelne, dann immer Mehrere kamen, oft 
bis Nachts 10 Uhr; welche Arbeit, äußere und innere Arbeit das 
dem Seelforger machte, aber auch, welcher Gewinn für die Ges 
meinde daraus erwuchs. Wehnliches kommt im Leben Blumhardts 


+), Erinnerungen aus dem Leben eines Landgeiitlichen. Berlin. I, 215—808. 





Studert: Das Sündenbefenntnis, 148 


vor. Als er Pfarrer in Möttlingen war, famen ohne Anregung 
von außen aus eigenem Antrieb Männer und Frauen zu ihm und 
befannten ihre Sünden. Manche gingen 3 ja Amal des Tags 
und ließen ſich das Warten nicht verdrießen. Selbſt die Kinder 
fühlten fich ergriffen, manche meinten, jchrieben reumütige Briefe 
uf. mw. Fälfchlich freilich meint dann Blumhardt, daß die Beichte 
und Abjolution wie mit Wunderkräften wirkte und das Ausjtrö- 
men einer Art magifcher Kraft vom Seeljorger fei. Aber man 
fieht hier, daß, wo geiftliches Leben in einer Gemeinde erwacht, 
die Seelforgebeichte notwendig wird. Da das nicht in jo auf 
fallender Weife mie in Möttlingen der Fall zu fein braucht, ift 
jelbftwerftändlich. Sicher könnte mancher Geiftliche aus feiner Er— 
fahrung Nehnliches im Kleinen erzählen, wie da und dort eine 
Seele aufgewacht jei und wie die nächjte Folge der Erweckung 
der Wunſch nad) Privatfeelforge war. In den Lebenserinnerungen 
eines fo ftillen Arbeiter& im Weinberg des Kern wie Karl Fried- 
rich Werner, Pfarrer in Fellbach‘), wird an mehr als einer Stelle 
deutlich, wie viel die Seelforge ihn in Anfpruch nahm. Oft fuch- 
ten Einzelne ihn auf, Manchmal verging fein Tag, an dem nicht 
Jemand in Seelenangelegenheiten zu ihm fam. Ex bezeugt auch, 
dab Sündenbefenntnifje allein nicht ausreichen. „Belennen ijt 
noch) nicht an Jeſum glauben. Das Eigentliche an jeder Seele 
ift und bleibt die Arbeit Gottes und feines Geiſtes.“ Mancher 
fam auch für ſich allein in der Stille zur Gewißheit der Ver— 
gebung der Sünde und fuchte danm den Pfarrer erjt auf, um ihm 
feine Freude mitzuteilen. Aus mancher Lebensgefchichte ließen 
ſich ſolche Züge beibringen. 

Die Seelforgearbeit, welche in unjern Tagen manche Evan- 
geliften haben, ift außerordentlich groß. Ein Mann wie Elias 
Schrenk?) kündigt bei feinen Gvangelifationsverfammlungen je: 
weilen an, er fei Vormittags in Sachen der Seelforge zu jprechen. 
Seine Sprechftunden find oft überfüllt. Aehnlichen Zulauf hatte 
an manchen Orten der jüngere Blumbardt, Zeller von Männe— 
dorf, Dammanı u, Andere, Es mag ja hier dasſelbe mitjpielen, 


+) Bafel. Verlag von Spittler. 
) Vergl. Zeitichrift für Theologie und Kirche, 1897. ©, 265, 
Zeitſchrift file Theolvgie und Kirche. 10. Jahrgang. 2. Heft. 10 





144 Studert: Das Sündenbefenntnis. 


worüber fich die ordentlichen Eatholijchen Geiftlichen etwa beklagen, 
wenn fremde Fajtenprediger in ihre Gemeinden kommen, daß 
nämlich die Leute mit Vorliebe dann zur Beichte gehen, wenn fie 
einem Unbefannten beichten können. Es iſt ihnen lieber, ber 
Pfarrer ihres Wohnorts, der fie genauer fennt, mifje dies und 
jenes nicht. Seine Worte könnten der Sachlage zu genau ent 
fprechen, feine Wünfche zu praftifch und derb fein. Bon dem 
Wanderprediger hat man weniger zu befürchten, daß man nach: 
her wieder gemahnt wird, weil ev abreiſt. Manche Mahnung, 
früheres Betragen betreffend, bleibt einem erſpart, weil ev nichts 
davon weiß. Uber wie dem auch ſei, es ijt ein Beweis dafür, 
daß das Bedürfnis nach Seelforge heute unter uns noch jo leben: 
dig iſt als jemals, daß das Menjchenherz im 19, Jahrhundert 
dasjelbe ift, wie im 16., daß es der gedrückten Seele eine Er: 
leichterung gewährt, fich auszufprechen und fie auch unter ver 
änderten Berhältniffen ihren inneren Trieb zu befriedigen weiß. 
Wenn die Geiftlichen vielerorts darüber Hagen, daß die Leute 
den Wanderpredigern zulaufen, daß fich Niemand ihrer Hilfe ber 
diene und fie zwar Prediger, aber nicht Seeljorger ihrer Ges 
meinden jeien, jo liegt die Schuld oft an ihnen ſelbſt. Sie er— 
warten gar nicht als Seelforger betrachtet zu werden. Sie wür— 
den in Berlegenheit geraten, wenn die gedrückten Seelen zu ihnen 
fämen. Sie bieten fich nicht als Aerzte an, mas Wunder, wenn 
feine Kranken zu ihnen fommen. 

Dagegen glaube ich, daß es nüßlich und möglich wäre, bie 
Uebung der Seelenpflege in der evangelifchen Kirche mehr zu be— 
leben und daß einige der für Die Wiederherftellung der Privat- 
beichte empfohlenen Mittel jener könnten zu Gute kommen, 3.8. 
die Hausbefuche der Geiftlichen, Wenn die Pfarrer mit den Fa— 
milien und ihren einzelnen Gliedern bekannt werden, verlieren die 
Leute die Scheu vor dem ſchwarzen Mann, gewöhnen fich eher 
daran über Dies oder jenes fich offen gegen ihn auszufprechen ; ein 
Bertrauensverhältnis wird angeknüpft, welches die Vorbedingung 
einer vechten Seelforge fein muß. ES ift hiezu auch mäglich, wenn 
in der Biturgie immer wieder darauf aufmerffam gemacht wird, 
daß der Pfarrer für Jedermann zu fprechen fei. So heißt es in 


Stuwdert: Das Sündenbefenutuis. 145 


der alten preußifchen Agende am Schluß der Abendmahlsvorbe- 
zeitung: „Sollten ſich Perfonen unter uns befinden, die durch et= 
waige Gemütsbefümmernis gedrückt unjeres befonderen Rats und 
Troſtes bedürfen, ja find wir bereit folchen vermöge unjres Amtes 
und nad) unjern Kräften zu gewähren." Auch in der anglikani— 
schen Kirche ift folche Einladung und Aufforderung herrſchender 
Brauch. Die Leute vergeffen die Gelegenheit ſich zu eröffnen, die 
fie haben, wenn fie nicht immer wieder daran erinnert werden. 
Wenn diefe Anerbietungen auch oft ohne Erfolg bleiben, das eine 
oder andere Mal findet ſich doch gerade ein Gemüt, das fic) 
daran anflammert, Wir können die Mühjeligen und Beladenen 
nicht zwingen zu uns zu kommen, aber wir follen nicht aufhören 
fie einzuladen. Befonders kann e8 dem Pfarver bei jeinen Kon- 
firmanden nicht ſchwer fallen, ihnen ſeelſorgeriſch nahe zu treten 
und ihr Vertrauen zu geroinnen, 

Bor Allem aber darf nicht unterlaffen werden, in Predigt und 
Augendimterricht von dem Segen zu veden, welchen das offene 
Sündenbefenntnis und die feelforgerifche Beratung dem Einzelnen 
zu gewähren vermag. Nicht durch Ueberredung, aber durch Ueber 
zeugung müſſen die Leute dazu gebracht werden das Segensreiche 
der Seeljorge zu jhägen, dann werden fie ein Verlangen darnach 
fühlen und dies Berlangen zu erkennen geben, Es muß der Ge- 
meinde eingejchärft werden, daß wir ja doch vor dem Nichterftuhl 
Jeſu Chrifti alle offenbar werden müfjen und das Verſtecken doch 
einmal muß ein Ende haben. Es muß deutlich gemacht werden, 
daß die Macht der Stinde ber die Seele vielfach, darin begriin- 
det ijt, daß Alles bedeckt und verſchwiegen wird, daß es nicht eher 
zur Gefundheit der Seele kommt, bis der Krankheitsſtoff ent- 
ſchieden abgefondert und ausgejtoßen wird. Wer feinen Fehler 
nicht gefteht, der hat auch nicht Luft ihn zu laſſen. Wo fich die 
Losſagung von der Sünde nicht äußert, da ift auch die Löſung 
von ihr im Innern noch nicht erfolgt. „Wer feine Miffethat ver- 
birgt, kann nicht glücklich fein; wer fie aber befennt und unter 
läßt, erlangt Barmherzigkeit“, Sprüche 28, 13, Das kann der 
Menſch zur Not ertragen, daß er in einer allgemeinen Beichte fich 
das Bekenntnis in den Mund legen läßt: „Wir haben geſündigt, 

107 


146 Studert: Das Sündenbekenntnis. 


wir Alle“ ; und daß er jchmeigend mit anhört, was die Gejamt- 
heit vor Gott befennt, in welcher ex ja ein verſchwindendes Pünkt— 
lein ift. Dagegen aber fträubt er jich für jich allein insbefondere 
zur Rebe geftellt zu werden und als Einzelnen zu jprechen „ch, 
Ich babe Uebel gethan.“ Darum gerade ift das Einzelbefenntnis 
von jo durchichlagender Bedeutung. Es ift der Bruch mit der 
Sünde. Es ift das Morgenrot der Freiheit von Schuld, In 
ihm gewinnt der Geift Gottes fo viel Macht, daß die Lüge, die 
Selbftentjehuldigung und Selbtrechtfertigung unterliegt und es zu 
einer That kommt. Der Belennende überwindet Weichlichkeit, 
Feigheit und falfche Scham, die ihm einflüftern: Schone deiner 
felbft ; bringe dich nicht in Verachtung. Er gelangt durch offene 
Aussprache zum Sieg der Wahrheit über die Lüge, zum Sieg des 
Gewiſſens über die Sünde, zum Sieg der fittlichen Liebe zu fich 
jelbjt über die jinnliche umd fletjchliche Eigenliebe. Es muß auch 
in der Predigt Elar gemacht werden, wie wichtig die Mahnung bes 
Apoſtels ift, befenne einer dem andern feine Sünde. Dadurch be- 
weijen fich die Chriften als Erlöſte des Heren, wenn fie fich unter 
einander defjen anklagen, wodurch fie jich an einander verfündigt 
haben, wenn fie einander um Verzeihung bitten im häuslichen und 
täglichen Verkehr, wenn Hausgenofjen, die in Streit mit einander 
gekommen find, einander die Hände veichen und jagen: Ich habe 
gefehlt; vergieb mir. Und die Predigt muß zeigen, wie feelen- 
ſtärkend und gemifjenkräftigend folche Ausjprache für einen eben 
it, wie wie aber nicht nur dem umjere Schuld befennen jollen, an 
dem wir und gerade verfehlt haben, ſondern wie das Letztere eine 
Erziehung werden foll zum jeelforgerlichen Bekenntnis jolcher Fehler, 
von denen nur wir felbit wiſſen. Sehr beherzigenswert find die 
Worte Hamads'): „Ich möchte, daß man es auch den Erwach- 
jenen eindringlich einprägt, welch ein Mittel für die Gefundheit 
der Seele und welch ein Mittel für die geiftige Gemeinfchaft fie 
damit Preis geben, daf jeder feine eigene Laft trägt und darauf 
verzichtet fich auszufprechen. Gewiß giebt es Menjchen jo zart 
und fo ftark, daß fie mit fich und ihrem Gott allein fertig wer— 
den fönnen umd müfjen; aber fie jind nicht in dev Mehrheit. Für 
9) 3m ber „hriftlichen Welt“ 1891, Yır, 18. 


Studert: Das Sündenbetenntnis. 147 


die meiften gilt eg, dab fie fich von fich felbft umd von böfer 
Schuld nur in dem Maße zu befreien vermögen, als fie offen 
gegen andere find und ihre Seele von der Liebe eines Bruders 
führen laffen. Jede Ausfprache ftärkt bereits den Charakter, und 
zu wifjen, daß eine andere Seele die eigene Laft, die man be— 
kannt hat, mitträgt, iſt einer der ſtärkſten Hebel zum Guten. 
Dürfen wir fagen, daß in unſerer enangelifchen Kirche in diejer 
Richtung etwas Nennenswertes gefchieht? Haben wir eine Ueber— 
fieferung hiefür? Können mir nicht von der katholiſchen Kirche 
fernen, umd ift es micht fträfliche Thorheit der wurmſtichigen 
Früchte wegen den ganzen Baum auszurotten ?” 

In der That, wo im Proteftantismus das Bedürfnis nad 
ſolchem Ausfprehen und Bekennen eingefchlafen ift, muß es neu 
geweckt werden. Auch unfer Gejchleht muß an manchem Ort 
wieder dafür erzogen merden. Auch hier ſtecken wir der fas 
tholifchen Kirche gegenüber wie in andern Dingen noch in den 
Kinderfchuhen. So lange im allgemeinen das Belennen nicht 
häufiger ift als jegt, wird die Scheu, etwas Außerordentliches zu 
thun, immer Viele davon abhalten. Wenn aber in der Familie 
die Kinder ſchon dazu angehalten werden, ihre Fehler offen zu 
gejtehen, wenn der Füngling es leınt als einen Ehrenpunkt bes 
trachten, jeine Mißtritte nicht zu verheimlichen, Unrecht, das er 
gethan, nicht abzuleugnen, jondern aufrichtig zuzugeben; wenn er 
lernt vor Vater und Mutter fein Herz eröffnen. und in ihnen 
teilnehmende Freunde jehen, die Verjtändnis haben für feine Lei- 
den und feine Freuden, feine Schwachheiten umd feine Intereſſen, 
jo wird ein mächtiges Hindernis der Seelforgebeichte wegfallen, 
Den Segen offener Ausjprache, den man in jüngeren Jahren er— 
lebt hat, will man in den fpäteren nicht vermiffen. Es wird 
dem Herzen Bedürfnis, Jemanden zu haben, von dem man fich 
leiten und bevaten läßt, nicht blindlings freilich, wie der Jeſuit 
es verlangt, jondern fo, daß die Freiheit der Gemiffen gewahrt 
bleibt und feiner über den andern zu Gericht fit, daß aber and) 
die Neichtümer und Erfahrungen des chriftlichen Geiftes, welche 
die Einen erlangt haben, von den Andern mit Gewinn benüßt 
und dankbar gefchäßt werden. 


148 


* 


Der Rückgang der Bommmikanten in Sachen, 
Eine geſchichtliche Stndie über kirchliche Sitte 


von 


Prof. D. Drews. 


In feiner „Kicchlichen Statiftit Deutſchlands“ (Freiburg i. B. 
1899) jagt Bieper in $ 17, daf es den Anjchein gewinnen 
könne, als befänden wir uns in den evangelifchen Kirchen Deutſch— 
lands mit dem Abendmahlsbejuch in einer aufjteigenden Bewegung. 
Diejer Gedanke feheine begründet zu fein, wenn man den Zeit 
raum von 1880—1895 überblicke. Aber ex erweiſe fich als irrig, 
jobald man die Abendmablsziffern fir 1896 und 1897 ins Auge 
faffe. „Nimmt man aber erjt“, jo fährt er fort, „den Ausgangs- 
punkt von der älteften Fejtitellung zur Sache im Jahre 1862, jo 
kann nivgendwo ein Zweifel Darüber bejtehen, daß während des 
legten Menjchenalters die Teilnahme am heiligen Abendmahl mehr 
oder weniger ſtark in rückläufiger Bewegung ift, auch in folchen 
Ländern, die nach ihrem ausgeprägt Iutherifchen Charakter diefem 
Sakrament die höchite Bedeutung zufchreiben; die Bevölkerung 
teilt eben nicht mehr in früherem Grade die Wertlegung auf das 
Saframent, oder hält fein Erfordernis zum Heil nicht fir ein 
umbedingtes, wie es die Kirchenlehre ihres Landes noch glauben 
läßt“ (S. 231). 

Diefe Worte Bieper’s gelten leider vollfommen auch für das 
lutheriſche Sachfen. — 

Es könnte num nach eben diefen Worten jcheinen, als jei der 


Drems: Der Rüdgang dev Kommunikanten in Sachjen. 149 


Rückgang der Teilnahme am Abendmahl erſt jeit etwa einem 
Menfchenalter eingetreten, vorher aber jei alles in gutem Stande 
gewejen, ober wenigftens, als ließe fich fiber 1862 zurück tiber 
die Beteiligung am Abendmahl nichts Sicheres ausfagen. Beides 
wäre verkehrt, Necht wohl fünnen wir — und ich bejchränfe 
mich dabei auf die ſächſ. Landeskirche — den Prozeß des Rück— 
gangs der Kommunikanten meiter, ja viel weiter zurüc verfolgen. 
Diefem Prozeß einmal genauer nachzugehen, hat gewiß jein großes 
Intereſſe. Ein Stück Gejchichte hriftlicher Sitte fpiegelt ſich darin 
ab, gleich wichtig fir den Kirchenhiftorifer wie für den praktiſchen 
Theologen, der die Tendenzen der kirchlichen Bewegungen und des 
kirchlichen Lebens deutlich verftehen muß. Jene Aufgabe ift aber 
bisher noch nicht in umfaffender und mifjenfchaftlicher Weife in 
Angriff genommen morden. Möchte die folgende Studie dayı 
einen Anjtoß geben! : 


5 


Wenn maneinem Theologen die Frage vorlegt: Wann beginnt 
wohl der rückläufige Prozeß jener chriftlichen Sitte? jo wird er 
wahrjcheinlich auf die Aufklärungszeit verweilen, die, wie fo vieles 
Andere, auch dies verjchuldet haben fol. Ganz irrig würde eine 
folche Antwort nicht fein, denn in der That hat die Aufklärung 
auf diefem Gebiet einen ſtark fühlbaren Einfluß gehabt, aber 
begonnen hat jie jenen Zerſtörungsprozeß nicht. 

Wann beginnt der Rüdgang der Kommunilanten 
in Sachſen? — Sovielich ehe, ſchon in der erjten Hälfte 
des 18. Jahrhunderts. 

Ehe ich die Belege für diefe Behauptung vorlege, eine kurze 
Vorbemerkung‘)! 


2) Das im Folgenden verwendete Material habe ich entnommen aus 
ſogen. „Rirchenzetteln“, das find kirchliche Dlitteilungen, die die Kantoren, 
Lehrer und Kirchner, namentlich in den Städten, im vorigen Jahrhundert 
und bis in diefes herein am Neujahrstag zu verbreiten pflegten; fer 
ner aus „Kirchenmachrichten“, wie fie heute von vielen Pfarrern beim 
Sahreswechjel der Gemeinde geboten werden; ferner aus allerlei litte- 
rarifchen Quellen, vor allem aus den „Curiora Saxoniea* oder „Sächſ. 


150 Drewöd:; Der Nücgang der Kommunilanten in Sachſen. 


Wir haben wohl in vielen Kirchenbüchern Sachſens eine ger 
naue Angabe der Kommumikantenzahlen bis ins 17. Jahrhundert 
hinein, e8 fehlt uns aber die Einwohnerzahl der betr. Gemeinden. 
Wir find alfo nicht im Stande, die Prozentfäge der Kommuni— 
fanten im Verhältnis zu den Einwohnern anzugeben, wie dies 
heute möglich ift!). Wie helfen wir uns da? Wir legen unfern 
Angaben das Verhältnis der Kommunifanten zu den Geburten, 
die die Kirchenbücher ebenfalls genau angeben, zu Grunde. Mag 
auch das Verhältnis der Geburten zur Einwohnerzahl (die ſogen. 
allgemeine Geburtsziffer) nicht immer und überall das gleiche ge— 
wefen jein, jo haben folche Differenzen doch feinen weſentlichen 
Einfluß auf die Zahlenxeihen, auf die es uns hier anfommt und 
aus denen wir nur den verhältnismäßigen Rückgang der Kom: 
munifantenzahl erfennen wollen. Im Allgemeinen mar das Ver— 
bältnis der Geburten zu der Einwohnerzahl im vorigen Jahr: 
hundert niedriger als in diefem Jahrhundert. ES fiel vom An: 
fang des Jahrhunderts bis zur Mitte, von da bis zum Ende des 
Jahrhunderts ftieg 8 wieder, (Val. S. 152 Arm. 1.) Ueb- 
rigens dürfte die Annahme nicht faljch fein, daß, wenn auf eine 
Geburt im Fahre 30 Kommunikanten fommen, wir auf eine Kom— 
munifantenzahl von 110°, der Bevölkerung am Anfang des 
Jahrhunderts, auf 100°), um die Mitte und wieder auf 110%. 
am Ende des Jahrhunderts fchließen dürfen für den jährlichen 
Durchſchnitt. 


Und nun einige Belege, die wir am beſten in Tabellenform 
geben! Ich bemerke ausdrücklich, daß ſie nicht für unſeren Zweck 
heraus geſucht, ſondern zufällig herausgegriffen ſind. 


Es kamen auf eine Geburt im Durchſchnitt 





Kurioſitäten-Kabinet“, eine Art Jahrbuch des vorigen Jahrhunderts. End» 
lich haben auch in liebenswürdigſter Meife Beiftliche in Sachfen mir Aus- 
züge aus ihren Kirchenbüchern zugefandt. Ihnen fei Hiermit mein wärme 
fter Dank auch öffentlich ausgefprochen. 

4) Früher hat man fehr oft von der Kommunifantenzahl auf die Ein- 
wohnerzahl zurückgeſchloſſen. 


Drews: Der Rücdgang der Kommunitanten in Sachſen. 151 


in den = in m= | im ben Noms 
Fahren Fahren munik. Jahren munik. Jahren munit. 
Be | A ei a MR 
nel ngepf. — 1701 — 
Dxten; ee j Kae Dh 11-40 | 78,8 
1881-80 60,4 Raul Bons ma-50 | 730 11-50 | 782 
1-70 | 642 87. | 67, f 10. i 
1891_1700 568 1741-50 | 26 mL —— apa 
— | 7580 1129-35 | 680 [1730-37 | 65,6 


1711-20 | 581 4 in Meiben 
nen = 510 Stab 14-50 | 575 1742-49 | 62,6 
1731 54,0 11735 837 | 51,0 8. Bee oldis⸗ I1. in Grimma; 
1741-50 | 49,0 11744 50 | 409 older: 1726—30 | 60,9 
f R 2 — ze 65,7, 1731-40 | 59,7 
2_in Zwidau. inreiberg'): 1741-50 | 63,2 1711-50 | 57,6 
St. Marien u. 11701—10 | 68,0 r h h 4 
Rathar : 1711-20 | 68,9 9. in Brießnitz 12. in Chemnitz; 
1701-10 | 75 1721-30 | 69,8 | bei Dresden: 1729 | 574 
jz11-20 | 74,7 lirsı—40 | 70,8 1695-1700] 87,0 1733-89 | 58/1 
maı-so | 68/5 1741-50 | 68,9 1701-10 | 87.7 1241-48 | 529. 


Wir jehen alfo, daß fic fait ausnahmslos ſchon in der 
1, Hälfte des 18. Jahrhunderts eine finfende Tendenz der Kom- 
munifantenziffern bemerkbar macht. Iſt das Sinken auch fein 
jehr ftarkes und vafches, jo ift es doch eben da. Und darauf 
kommt es ung an. Befonders allgemein tritt e8 in dem Jahr— 
zehnt 1741—50 zu Tage. 

Näher zugejehen, Liegt die Sache fo, daß die Geburtsziffern, 
alfo damit auch die Bevölkerung, ftetig langſam fteigen, aber faft 
in demjelben Verhältnis ſinkt die Zahl der Kommunikanten oder 
hält mit dem Wachstum der Bevölkerung wenigftens nicht gleichen 
Schritt. Die Jugend entbindet fich alfo leife der altwäterlichen 
kirchlichen Sitte. 

Einige Beiſpiele mögen das näher illuftrieren ! 

In Freiberg gab «8 durchſchnittlich 


























Komm. Geburten Komm. Geburten 
1701—10 : 20 957 308 1731—40 ; 24 973 348 
1711-20 ; 23319 338 1741—50 ; 23 548 368,5 


1721-80 : 4083 344 
Die Geburten jteigen aljo um 19,6%, die Kommunifanten 


) Mitteilungen des Freiberger Altertumsvereins auf 1865. 4. Heft 
(1866), ©. 331, 


152 Drems: Der Nüdgang der Kommunitanten in Sachſen. 


nur um 12,4°/,. Hätte jich im Testen Jahrzehnt die Beteiligung 
am Abendmahl auf der gleichen Höhe gehalten wie im erften, jo 
hätten jährlich durchſchnittlich ſtatt 23548 25074 Kommunifanten 
jein müſſen. Nechnet man auf 1 Geburt etwa 30 Bemohner, jo 
ergiebt fich, daß von 1701—1740 250%), und mehr jährlich zum 
Abendmahl gingen?) Im Jahrzehnt 1741—50 aber ſinkt der 
Prozentſatz, jelbft wenn man auc) hier am Verhältnis 1:30 für 
Geburts und Einwohnerzahl fejthält, auf etwa 212°/,. 

Stellen wir daneben die Barochie Pirna! Die Zahlen der 
Geburten und der Kommunifanten find bier folgende: 


— — Komm. — — Komm. 
1729 177 10 322 1741 140 10 770 
1730 : 145 10 747 1742 : 176 10 406 
1731 : 162 10 513 1744 : 185 10 829 
1732 : 167 10 835 1746 : 168 11 055 
1733 : 161 11135 1747 : 188 10 940 
135 : 154 10.907 1748 :; 18€ 11351 
1736 : 159 10 757 1749 : 165 11119 
1737 : 150 10 810 1750 : 194 11136. 


In der erjten Periode: 1729—1737 Hatte Pirna jährlich durch⸗ 
chnittlich 159 Geburten, in der 2. Periode 1741—1750: 175; 
das ift ein Wachstum um 10°). Die Kommunifanten dev exften 
Periode mit 10753 im jährlichen Durchſchnitt fteigen in der 2. 
Periode zwar auf 10950, aber das ift nur ein Fortfchritt von 
1,8°/. im jährlichen Durchſchnitt. Hielt die Rommunikantenziffer 
mit der Geburtsziffer gleichen Schritt, jo müßten in dev 2, Pe— 
viode nicht 10950, jondern 11835 im jährlichen Durchfehnitt 
fommuniziert haben. Auch hier betrug nach mutmaßlicher Schäß- 





+) Im Durchſchnitt vechnete man im Anfang des 18. Jahrh. auf 25 
Einw. 1 Geburt jährlich und für die Mitte des Jahrhs. auf27 Einw, 1 Ge— 
burt jährlich (Biedermann, Deutfchland im 18, Jahrh. I, ©. 336). 
Allein für Sachfen ann das nicht zutreffen, denn für Dresden, deſſen 
Einwohner: und Geburtsziffern wir fennen, exgiebt fich für Anfang des 
Jahrhunderts ein Verhältnis von 1:30 (1691—1700 : 30. 000 Einm. und 
1077 Geburten) und für die Mitte ein Verhältnis von 1:34 (1741-50: 
62000 Einw. und 1826 Geburten). Im Lande fonjt wird das Verhältnis 
kaum anders geweſen fein. 1837 Fam in Sachfen 1 Geburt auf 25,57 
Einwohner. 


Drems: Der Rüdgang der Kommamilanten in Sachjen, 153 


ung in der 1. Beriode die Kommunifantenzahl etwa 250%; der 
Bevölkerung, in der 2, aber ungefähr nur 210%). 

In Zwidau waren bei St. Marien und St. Katharinen 
durchfchnittlich in den Fahren 

1701—10 8860 Komm. und 118 Geburten (vermutlich 250 %0) 


1711-20, 854 „om I 5 ’ 250 %) 
1721-30 846 .. n 18 5 x 230%) 
131-0 8530 „ „ MM , Pr 230%) 
a0 789 .„ 1a, 213 9). 


‚Hier ſinkt die Zahl der Kommunikanten in den 50 Jahren 
des vorigen Jahrhunderts nicht mur relativ, fondern abſolut. Die 
Geburtsziffer wählt um 5°, die Kommunikantenzahl ſinkt da— 
gegen um 10,4°/o. 

Sehr intereffant ift die Bewegung in Dresden nebjt den 
16 eingepfarten Ortfchaften. Bier gab es im jährlichen Durch— 
ſchnitt 


1651—60 700 Geburten und 42.300 Komm. 
1661—70 733 „ 4708. 5 
1671-80 =, „53061 „ 
168190 104 , „51 „ 
1691-1700: 107 , „ 6128, 
m1—10 : 1104  „ „64108 , 
1-20 : 1289 * „ 14955 „ 
1721-30 159, „5364, 
1731—40 168, „09 5 
1741—50 1826 90 240 


" 


In diefen 100 Jahren von 1651—1750 hat ich die Zahl der 
Kommunifanten mehr als verdoppelt. Aber fie hat doch micht 
gleichen Schritt mit der Vermehrung der Geburten und dem ent 
iprechend der Bevölferung gehalten!), Denn während fich die 
Geburtsziffer um 165,7 °/, hebt, fteigt die Kommunifantenzahl nur 
um 113,3%/. Oder, da wir hier eine Angabe des Verhältnifjes 
zwifchen Stommunifanten und Einwohnern wagen dürfen, 1691 


4) 1651—60 dürfte Dresden ungefähr 21000 Einwohner gehabt haben, 
die natürlich ausnahmslos Iutherifchen Belenntniffes waren. Lindan, 
Geſch. Dresdens, S. 519 fchäßt die Einwohnerzahl 1697 auf 30 000, Im 
Jahrzehnt 1741—50 betrug die Einwohnerzahl ungefähr 54—55 000; für 
1756 giebt Lindau (a. a. D. S. 638) 63209 Eimmw. an. 


154 Drews: Der Rüdgang der Kommunikanten in Sachjen. 


bis 1700 betrug die Kommunifantenzahl etwa 200 °%/, der Benöl- 
ferung, dagegen 1741—50 nur noch 165°/o. 
Gleich intereffant find auch die Zahlen der Landparochie 
Briesnih bei Dresden. Hier gab es im jährlichen Durchſchnitt 
1695—1700 : 77 Geburten und 6730 Komm. 
1-10: Fe 


1711-1720: „ TB 
11-170:  „ ee 
1731-170; „ „650 „ 
1741-1750 : 89 „6 „ 


Die Geburten fteigen alſo von 1701—1750 um 9,9°/,, Die 
Kommunifanten gehen aber um 2,6°/, zurück. — 

Die vorgelegten Beijpiele find, bis auf die eben genannte 
Barochie Briesnitz, fämtlich den Städten Sachfens entlehnt. Es 
fragt fi, ob denn auch in den Landgemeinden dexjelbe rücläufige 
Prozeß der Kommunikanten zu bemerken iſt? Leider ift in dieſer 
Beziehung mein Material ſehr unvollftändig. Aber es genügt 
doch, um die Behauptung wagen zu können, daß es im Gegenjah 
zu den Städten in den erjten 50 Jahren des vorigen Jahrhun— 
derts noch viele Dorfgemeinden gegeben hat, in denen mit der 
Bevölkerung auch die Zahl der Abendmahlsgäjte geftiegen ift. 

So hatte 3. B. die Parochie Erbisdorf, Brand umd 
St Michael bei Freiberg im Jahre 
1735:133 Geburten u. 6990 Romm. 1744: 152 Geburten u. 7497 Komm. 


TS nr; 1745:199,_ m vun AT un 
18:90 „ „755 „ 16:18 5.770 „ 
139: 5. „I 5 ar Te 
170:18 5» 5704 — Par Eu 
11:18 5 „TB „ 1749 187.0 5° „07706100 
1742:10 4 7400, 1501 678 
18:14 ,- 7710 5 


Es famen alfo 1735—40 durchfchnittlich jährlich auf 1 Geburt: 
55,9; 1741—45: 56,0; 1746—50: 57,7 Rommunifanten. Wäh- 
vend fich in dem ganzen vorgeführten Zeitraum die Zahl der Ge— 
burten ungefähr gleichblieb, ftieg die Zahl der Kommunifanten 
um faft 4°). Alfo von einem Rückgang kann nicht Die Rede fein. 

So war es, das fann man, mit Sicherheit annehmen, in 


Drews: Der Rückgang der Kommmilanten in Sachien. 155 


vielen Ländlichen Gemeinden. Wir dürfen alfo jagen: Der Rück— 
gang der Kommunikanten jegt in den Städten ein. 

Woher aber erklärt ſich diefe Erweichung altkirchlicher Sitte? 

Diefer Prozeß fegt eher ein, als die Aufklärung anfıng 
populär zu werden, Auch ift die Auflöfung der Sitte nicht das 
Erjte, wodurch fich die Aufklärung bemerkbar macht. Erſt erfaßt 
fie die Lehre, die Anfchauungsmweife, dann folgt die Zerſetzung 
der Sitte, die an fich, und zumal in dem fonfervativen Sachen, 
eine ſtarke Zähigkeit befist, auch dann noch, wenn fie bereits ins 
Wanfen gefommen ift. Daß 1730, 1740 die Gedanken der Auf- 
flärung bereits allgemein und jehr tief in Sachjen Boden gefaßt 
haben könnten, ift gefehichtlich unmöglich. 

Ebenjowenig kann man diefe auffallende Erſcheinung durch 
den Pietismus erklären. Denn in Sachſen ift der Pietismus 
überhaupt nie wirklich populär geworden, am menigjten in den 
Städten. Ihm wohnte allerdings ein Zug zur Unkirchlichkeit inne. 
Denn er tajtete das übliche Beichtweſen an, er begehrte Privat: 
fommuntonen, er hatte auch in Sachjen jogar etliche Anhänger, 
die fich für jo gefördert im Glauben hielten, daß fie des Abend— 
mahls nicht mehr zu bedürfen glaubten'), aber die geringere Teil— 
nahme am heiligen Abendmahl in jo weitem Maße fann dem Pie- 
tismus Niemand auf die Nechnung jegen. 

Sch jehe den Grund der dargelegten Erfcheinung 
in einem Einfluß der oberen, zumal der adligen 
Stände auf die bürgerlichen Kreije. 

Der Adel zeigte um die Wende des 17. Yahrhunderts eine 
auffallende, geradezu gefuchte Verachtung der Firchlichen Sitte und 
des lirchlichen Deforums. Und zwar follte eine gewiſſe Freiheit, 
die er ich den bürgerlichen und jonftigen Ständen gegenüber 
herausnahm, die Kluft zwifchen ihm und diefen deutlich zum Be— 
wußtfein bringen. Als eine Art Vorrecht nahm der Adel mie 
fo manche andere Freiheiten, jo auch diefe Freiheit, nämlich die 
Abweihung vom Firchlichen Herfommen, für ſich in Anfpruch. 
Ein foziales Moment iſt es gewejen, das zunächjt die Brejche in 


4) Gerber, Hiftorie der Kirchenceremonien S. 466, 





156 Drews: Dev Nüdgang der Kommunilanten in Sachien. 


die Eirchliche Sitte gelegt hat. Es ift ja befannt, daß nad) dem 
3ojährigen Krieg, während der 2, Hälfte des 17. Jahrhunderts, 
der deutjche Adel fich ſehr ſcharf gegen die bürgerlichen Kreife 
abgrenzte. 

„Je weniger der Adel im diejer Zeit“, jagt Biedermann’), 
„an reellen Vorzügen des Geiftes oder an Verdienften um die Wif- 
jenjchaft und das Gemeinmwejen die bürgerlichen Klafjen übertraf 
oder auch nur ihnen gleichkam, deſto anmaßender erhob ex fich 
über fie und defto fehroffer behauptete ex fein gefellichaftliches Vor— 
recht. Im Jahre 1682 trug die Ritterfchaft in Sachſen darauf 
an, daß ihre Söhne von denen der Bürgerlichen auf den Fürſten— 
Schulen gänzlich abgejondert würden, nicht bloß, weil jene andere 
Dinge zu lernen hätten, als dieje, jondern auch, weil die adlige 
Jugend durch den gleichen Zwang in den Sitten, dem fie mit ber 
bürgerlichen zufammen unterworfen fer, dergeſtalt jchüchtern ge— 
macht werde, daß ihr davon auch im jpäteren Leben bejtändig 
Etwas anhänge*. Das Gefühl, der Sitte nicht verpflichtet, ſon— 
dern ihr Here zu fein, das alſo ift die Stimmung, die dem Ad— 
ligen zufommt, die ihm macht. Mit vollem Recht weiſt in diefem 
BZufammenhang Biedermann darauf bin, daß dieſe jchroffe 
Stellung des Adels gegen das Bürgertum in die Firchliche Sitte 
der Taufe und der Trauung ftarf eingegriffen hat, Sie hat es 
veranlaßt, daß durch eine Polizeiordnung von 1691 das Necht 
der Haustaufen allein dem Adel, Chur- und Fürftlichen Räten 
und „hochgraduierten" Perfonen vorbehalten wurde, „denn es wäre 
doch disreputierlich, wenn ein vornehmes Kind mit demfelben 
Waſſer getauft würde, mit welchem gemeine Kinder getauft find“. 
Ebenjo ift dem Abel allein die Trauung im Haufe gejtattet ?). 
Weiter maßte ſich der Adel das Vorrecht an, vom dreimaligen 
Aufgebot entbunden zu jein, ohne fich auf ein gejchriebenes Mandat 


9 Beutfchland im achtzehnten Jahrhundert I. Band, 1. Teil 1858, 
©. 140. — Bl. Uhlhorn, Ehriftl. Liebesthätigleit IL, ©. 256. 

*) Bolizei-Berordnung vom J. 1661 bei Beyer, nddit. ad Carpz. 
Jurisprud. Eccles. f. 116. — gl. Chriſt. Gerber, Die Unerfannten 
Wohlthaten Gottes in dem Churfürftentum Sachen. Leipzig u. Dresden 
1717, S. 1067. 


Drews: Der Rüdgang der Kommunilanten in Sachen. 157 


berufen zu können. Daß aber auch hier der Adelftolz eine Rolle 
geipielt hat, geht aus der Bemerkung hervor, mit der der biedere 
Paftor Gerber in feinen „KRivchencevemonien" von 1732 diefe 
Unfitte begleitet: „Wenn man aber den finem proclamationis an» 
fieht, jo weiß ich nicht, warum man bierinnen einen 
Borzug oder was befonders vor gemeinen Bür 
gern undBauern zu haben juhht".... „Wie verleitet doch 
die eitele, und hier nur in einer puren Phantafie beftehende, Ehre 
die armen Seelen“ ?). 

Mit diefem Standesjtolz mifcht ſich ohne Zweifel eine um: 
fromme und unkixchliche Geſinnung. Das deutet der ebengenannte 
Gerber gerade bei diefer Gelegenheit an, wenn ex von einer 
„Verachtung der Gebete frommer Herzen" ſpricht. Wie wenig 
man in adeligen Kreifen vom Beten überhaupt gehalten hat, ift 
uns auch fonft bezeugt. Sagte mar doch, das Beten mache „me— 
lancholiſche Zottfeigen" ®). Faft unglaublich jcheint uns nad) un- 
jerem Empfinden, was Gerber an anderer Stelle berichtet: 
„Nächft diefem ift noch eine große Gottlojigkeit bei den Großen 
diefer Welt eingeriffen, daß fie beim Tiſch-Gebet fich ſchämen, die 
Hände aufzuheben. Ich fann nicht anders glauben, fie müſſen 
meinen, es jtehe gar zu pfäffifch und einfältig, und ſei gar nicht 
eavalierifch, daher treten und die Hände aufheben. Dannenhero 
fiehet man, daß fie bald mit der Paruque zu thun haben, und 
die Zöpfe zuvechtlegen, am den Manthetten oder Hals-Kraußen 
zupfen oder fonjt die Arme in die Seiten ftemmen und alſo ihre 
Devotion recht galant und nach der neuejten Mode verrichten" ®), 

Weiter hat fich der fromme, ernſte Pfarrer über die „Hoben 
und Großen" zu beſchweren: „Bei dem Gottesdienjt laſſen fie 
fehlechte, ja oft wohl nicht die geringfte Ehrerbietung gegen Gott, 
noch Andacht jpüren. Die Cavalier bedienen auf der Empor— 


9 Hiftorie der Rirchenceremonien in Sachfen, Dresden u. Leipzig 1732, 
S. 580 f. und Unerfannte Wohlthaten S. 1065. 

*) Genealogia Nisibitarum 1716, S. 91; vgl. Biedermann a. a. O. 
©. 138, 

>) Unerlannte Sünden der Welt. Achte Edition. Dresden u. Leipzig 
1719, ©. 200. 


158 Drews: Der Rüdgang der Kommunifanten in Sachen. 


Kicche oder jonderlich erbauten Kirch-Stüblein die Dames, unter- 
halten fie mit allerhand complimentofen Discourfen, jeherzen, Tas 
hen, nicht viel anders, als ob fie auf einem Ball oder bei einer 
Opera oder fonft einem Gelag beijammen wären, wie man fie 
mitten unter dem Gottesdienjt wohl überlaut höret veden und 
lachen, und meinen dabei, das jtehe ihnen alles frei, denn ftille 
fein, fingen, beten, andächtig die Predigt hören, in einem Buche 
leſen u. ſ. f. das ftehe nicht cavalierifd, es komme 
dem Bürgerjtande und andern gemeinen Leuten 
zu. Am allermeiften ift zu bejammern, daß man auch bei dem 
Gebrauch des heiligen Abendmahls fich nicht viel befjer bezeiget, nur 
daß man etwan ein Buch in die Hand nimmt, caetera manent“ !). 

Ganz offenbar fpielt der Adel feine angeblichen freien Stan- 
besfitten gegen die Kicchenfitten aus, die als bürgerlich und bäu— 
erifch gelten. Darin hindert ihn nicht Frömmigfeit umd fittlicher 
Ernſt. Wie ſtark es gerade an letzterem dem Adel in jemer Zeit 
gefehlt hat, das ift befannt genug. Der Einfluß Frankreichs war 
verderblich und verhängnisvoll, 

Dean wird fich nicht wundern, wenn ein der kirchlichen Sitte 
jo unfreundlich gefinnter Stand, wie der damalige Adel, eben 
auch die alte Sitte des häufigen Abendmahlsgenufjes hintanſetzte. 
So zählt unter den üblichen Sünden eines Junkers Gerber 
gelegentlich auch mit auf, daf Niemand wife, wo er zum Abend- 
mabl gehe. Zu Gerber’s Zeit gingen nicht wenige Fromme im 
Jahr 6 oder 8 Mal zum Tifche des Herrn. Der Durchſchnitt 
ging ficher etwa 4 Mal. Was als „eavalierifch“ galt, hat leider 
jederzeit Nachahmung, zunächft in den bürgerlichen Kreifen der 
Städte, gefunden. Dieſe Luft, wie fie in den Adelskreiſen herrſchte, 
mußte auch auf den allgemeinen Abendmahlsbejuch einwirken. So 
wird der Rückgang der Kommunikantenzahlen gerade in den Städten 
in der erften Hälfte des 18. Jahrhunderts ganz verftändlich. 

H. 

Wenden wir uns nunmehr der 2. Hälfte des 18. Jahrbunz 
derts zu und vergegenwärtigen wir ums zunächſt den uns interej- 
%) Ebenda ©. 197. 








Drews: Der Rücgang der Kommunikanten in Sachjen. 159 


fierenden Thatbeftand. Wir legen unfern Angaben wieder das 
Verhältnis der Kommunikanten zu den Geburten zu Grunde, 
Es kamen auf 1 Geburt im Durchfchnitt 





in den |Kom-| in den |Rom-| in den |Nom-| in den | Rom: 
Jahren | mun.| Jahren |mun. | Jahren mun. Jahren | mu. 





1. in Dresden: 4 in Meißen: 7. in Schnee |1T51-60 | 56,5 
1741—50 | 49,0 |IT4—50 | 40,9 berg: 1761-70 | 56,9 
1751-80 | 46,7 1751-58. | 86,7 1741-50 | 57,5 1771-80 | 54,7 
1795 33,1 1751-80 | 347 1781-90 | 46,3 
ni Hm 5: in Freiberg; 1761-68 | 50,6 1791-1800) 40,2 
2. in Zwidaur 1. in Kirde 


—— 
1741-50 64,0 1741-50 639 8. in Dippok berg: 
iası-eo | 538 11-80 | 007 biemwalbe: Ins \ 306 
imı—ao | 400 mn | a7 17-50 | 682 asia | 358 
imı-80 | 439 Im 11-03 | 592 Imr-&0 388 


Ira | —38 ia 1781-90 | 28,8 
er RS Bei — 12 in Planib: 
3. in Pirna: | 6. m Goldib. 1741-50 | 782 bei Zwickau: 
1741-50. | 63,5 |1741—50 | 72,0 |1791—1800, 59,2 1741-50 | 68,6 
1751—60 | 56,9 1751-60 | 64,0 r 15160 | 67,1 
1761-67 | 474 1771-80 | 47,0 10. in Grimmazsızei—70 | 578 
1794-97 | 40,8 |1791—1800| 35,0 1741-50 | 57,6 1-75 | 55,5 

Dieſe Beifpiele werden wieder genügen, um zu zeigen, daß 
die Tendenz des Sinkens in der 2. Hälfte des Jahrhunderts aus- 
nahmslos anhält, 

In welchen Grade dies der Fall iſt, das mögen einzelne 
Beijpiele noch bejonders veranfchaulichen. 

Sn Freiberg, um damit wieber zu beginnen, jind in der 
2. Hälfte des Jahrh. die Geburten von 1791—1800 im Verhältnis 
zu denen von 1750—61 um 12,70%, gejtiegen, die Zahl der 
Kommunifanten dagegen ift um 23,0°/, gefallen. 

Berechnet man diefelben Zahlen für Zwickau, jo ergiebt 
fich ein Wachstum der Geburten um 25,4% und ein Rüdgang 
der Kommunikanten um 18,7%. Für Grimma ergeben ſich 
folgende Zahlen: die Geburten wachjen um 31,3%), die Kommu— 
nifanten aber ſinken um 6,5°/o. 

Set werden auch die Candgemeinden im weitem Maße 
in die Bewegung des Kommunilantenrücdgangs hineingezogen. — 

Ueberbliden wiv das ganze Jahrhundert, fo zeigt ſich ein 
faſt erfchvectender Nücgang. Die Parochie Döhlen bei Dresden 


Beitihrift fir Theologie und Kirche. 10. Jahrgang. 2. Heft. 11 




















160 Drews; Der Rüdgang der Kommunifanten in Sachen. 


hatte bei etwa 1000 Seelen 1701:2906 Rommunikanten, i. &. 
1799 bei etwas tiber 2000 Seelen: 3077, Während aljo am 
Anfang des Jahrhunderts etwa 290—300/, Abendmahlsgäfte vor- 
handen waren, betrug dieje Zahl am Ende des Jahrhunderts noch 
ungefähr 150%. Briesnit hatte am Anfang des Jahrh. bei 
etwa 3000 Seelen jährlich über 7000 Kommunifanten, d. h. 250%/,, 
am Ende des Jahrh. bei etwa 4000 Seelen noch ducchichnittlich 
etwas über 6000 Kommunitanten, d. h. ungefähr 150%). In 
DOttendorf bei Rochlitz kamen i. 3. 1682 auf 1 Geburt 72,9 
Rommunikanten, i. J. 1782 dagegen nur noch 45,0. Krumm— 
bermersdorf bei Marienberg hatte i. J. 1690 bei ungefähr 
350 Einwohnern 919 Kommunitanten, d. i. 264°; 1789 bei 
ungefähr 800 Einwohnern 1721 Kommunifanten, d. i. 215%. 
Daß aber dennoch manche Landgemeinden vom Geifte der Zeit ganz 
unberührt blieben, möge Klein ſchirma bei freiberg beweifen. Dort 
gab es bei etwa 200 Einwohnern i. J. 1683 356 Kommunifanten, 
i. J. 1783 bei etwa 300 Einwohnern 531 Kommunitanten. Der 
Prozentſatz (178) ift ſich alfo ungefähr gleich geblieben. 

Insgeſamt dürfte der Rückgang der Kommunikanten im ganz 
Sachjen im 18. Yahrh. 100—150°/, betragen. 

Daß an diefem Rückgang die Aufflärung ſtark beteiligt 
it, ift außer Zweifel. Gerade in den Jahren, in denen dieſe 
Zeitrichtung in die breiten Mafjen gedrungen war, in den beiden 
legten Jahrzehnten des Jahrhunderts, ijt die Abnahme der Abend» 
mablsgäfte ganz außerordentlich groß. So ftürzt z. B. in Chem- 
niß die Kommunikantenziffer des Yahrs 1783 von 242°), auf 
162°/, i. J. 1799°). In Niederzwönit ſinkt die Zahl von 
173°, i. J. 1796 auf 158°/, i. J. 1800, in Neuhauſen bei 
Sayda von 200°, i. J. 1785 auf ca. 140°, i. J. 1800. 

Sodann aber ift deutlich der Einfluß des Tjährigen 
Krieges zu bemerken. Ich habe die betr. Zahlen von mehr 
als 40 Gemeinden Sachjens fr die Fahre 1753 (bezw. 1754) 


+) Worausgefeht, daß die Angaben und Berechnungen bei Flinzer, 
Die Bewegung der Benölferung in Chemnig v. 1730—1379 (1872), ©. 30 
Tab. II richtig find. 


Drews: Der Nüdgang der Kommunitanten in Sachfen. 161 


bis 1763 (bezw, 1762) verglichen und gefunden, daß mit dem 
Jahre 1758*) fajt ausnahmslos ganz plöglich die Kommunifanten- 
zahl ſtark ſinkt. Das Gleiche ift mit der Geburtsziffer der Fall, 
Allein während fich diefe jchon von 1760 am wieder hebt, bleibt 
die Kommunikantenziffer niedrig und gewinnt nur in etlichen Fällen 
die alte Höhe wieder, um dann doc, wieder in die finkende Linie 
einzumünden. Ich gebe einige Beifpiele ! 
(Siehe Tabelle auf S. 162 und 163) 

Es fteht feit, daß der Tjährige Krieg eine für die Firchliche 
Sitte auflöfende Wirkung gehabt hat, die jich nicht wieder aus- 
geglichen hat, fondern, verbunden mit den Tendenzen der Aufs 
klärung, die Zerfegung noch verftärkt und befchleunigt hat. Die 
Aufklärung wirkte gewifjermaßen von innen, der Krieg von außen. 
Alle Erjchütterungen, die die Menjchen aus der väterlichen Ge: 
mohnbeit herausreißen, find für die firchliche Sitte und das kirch— 
liche Leben gefährlih. Wenn die Kirche überhaupt im Stande 
ift, Zerſtörtes aufzubauen, fo ficher nur in langer, mühfeliger Ar— 
beit. Des ift nicht nur das 18., ſondern exft recht das 19. Jahr: 
hundert Zeuge. Und diefem wenden wir uns jegt zu. 


II. 

Daß auch im 19. Jahrh. die Tendenz des Sinkens anhält, 
braucht faum gejagt zu werden. Sch wage die Abnahme in den 
Jahren 1801—1830 auf 60%), abzufchägen; in den jahren 1831 
bis 1880 betrug fie 50—60°/. Mit dem Fahr 1880 tritt ein 
‚Stillitand in der Abnahme ein, der bis 1890 anhält, von da an 
teitt aber das alte Gejeh des Rückgangs wieder in Kraft. Es 
betrug die Zahl der Abendmahlsgäfte im Verhältnis zu den lu— 
therijchen Einwohnern in ganz Sachjen: 


1830 : 109% 188084 durchſchnittlich 48,8% 
1838 : 98,2% 1891-95 3 47,9% 
1862 2 72% 1896: 44,3% 
1897: 44,9%. 
1898: 45,7% 


Faffen mir zunächft die 1. Periode von 1801—1830 ins 
Auge, jo ift der Rückgang der Abendmahlsgäfte vor Allem in den 


) Mein Material ließ leider durchgängig für 1757 eine Lücke. 


162 Drews: Der Nüdgang der Kommunifanten in Sachſen. 








h 1754 1755 

Name der Gemeinde BT er | Ge. | Rom 
Ieiaukem, aa ar a 419 20.938 357 | 20678 
2. Brisnig 20. — 7373 6993 
a Dresben |, 5 09 2 058 93 390 1886 91209 
4 Erbisdnf. » 2.2. 135 7741 | 180 7354 
Beberg 30. 400: 383 22864 | 876 22875 
6. Hainichen . . » . 76 6433 | 104 6350 
7. Neuftadt bei Etölpen“ R 19 | 8110 11 8172 
8. Nobwen : . 2-0» 105 5954 145 5625 

Btolyen. a2 + 58 4801 — = 
Bien era ons 141 6534 116 6240 
PIFBIG En nenn eine 492 22138 507 | 21649 








erften 2 Jahrzehnten ſehr ftarf. Daß die Befreinngsfriege mit 
ihrer faſt fprichwörtlich gewordenen Wiedererwedung des Glau- 
benslebens irgendwie diefen allgemeinen Prozeß zum Stilljtand 
oder gar zur Umkehr gebracht hätten, davon ijt nichts zu bemerken’). 

Die Zeit von 1831—1880 verlangjamt den Nücgang der 
Kommunikanten. Man bemerkt den Einfluß der neuen orthodoren 
Richtung. Freilich mehr als verlangjamen konnte auch fie jenen 
Prozeß nicht. 

Ein anderes aber tritt in diefer Zeit noch befonders hervor. 
Man bemerkt nämlich, wie verfchiedenartig die Verhältniſſe fich 
ausgeftaltet haben. Sehr hohe Prozentſätze jtehen neben jehr nie- 
drigen, und zwar nicht nur markiert fich der Unterjchied zwiſchen 
Dorf und Stadt, fondern auch zwifchen Dorf und Dorf. 

Ums Jahr 1838 waren z. B. in den Ephorien Annaberg 
und Grünftädtel unter 31 ländlichen Gemeinden 2, die über 
140°/,, 18, die 100—140°, 11, die unter 100°, Abendmahls- 





') Einem Privatbrief einer fehlichten frommen Bürgersfrau aus Leipzig 
v. J. 1810 entnehme ich folgenden intereffanten Paſſus: „Das muß ich 
noch erinnern, daß in Leipzig die Kommunifanten immer weniger werden. 
Sch wartete einige Male die Kommunion ab, da es jest Fajten it, und 
die Zahl war höchjtens 11 Perſonen; man verjicherte mich, daß es viel 
fei, indem auch nur 3 gewefen wären, Nun denke Dir an Fajtenfonn- 
tagen, wo doch 8. den größten Beichtituhl hat!“ (aus einer Familien- 
Hronit). Alſo ſelbſt dem einfachiten Beobachter fiel damals die fortjchreis 
tende Entticchlichung auf. 


Drews: Der Rückgang der Kommunikanten in Sachſen. 168 


1756 1758 1762 1768 
Geb. Komm. Geb. Komm. | Geb. | Komm. | Geb, | Komm. 


397 | 20140 295 18259 | 860 | 17654 | 368 | 17241 
= 7435 — 7000 — 5598 | — | 55% 
2108| 87340 | 1294 | 71948 | 1420 | 68578 | 1415 | 65668 
150 | 7168 106 6189 | 131 | 5622 | 100 | 5648 
387 | 2234 267 1994 | 349 | 1716 | — — 





90 6490 73 6113 109 | 6052 _ == 
136 8.060 110 7777 — — 149 7863 
115 | .5520 79 5105 123 4816 | 9 | 4612 

67 4797 55 4176 73 | 4074 63) 401 

92 6300 | 81 5844 93 5128 85 5337 




















508 | 21229 | 330 18337 | 439 | 18412 | 442 | 17953 


gäfte hatten. Yon 12 ftädtijchen Parochien diefer Ephorien hatte 
nur Zöblitz 100%, alle andern weniger, Die niedrigften Zahlen 
zeigen Buchholz mit 55%. und Joh.Georgenſtadt mit 53%. Abend- 
mahlsgäften?). Wir finden alfo ein Schwanken zwifchen 140 und 
53°. In den Jahren 1870—75 bewegte fi) in der Ephorie 
Annaberg die Kommunifantenzahl zwifchen 50 und 100%. 
Im Jahre 1857 hatten unter 36 Gemeinden der Ephorie 
Grimma mur 10 Gemeinden unter 100°, Kommunikanten, und 
zwar waren darunter 6 ftädtifche Parochien (dev niedrigfte Pro- 
zentſatz betrug 47). Die meiften, nämlich 15 Gemeinden, hatten 
111—120°/,; 9: 141—150°/,; 1 Gemeinde 173°, eine andere 
174°/, Kommunitanten. — 1877 bietet die Ephorie Grimma, 
die damals 31 Parochien hatte, ein ganz anderes Bild. Nämlich 
15 Gemeinden hatten 100°, u. mehr?). 


11 „90909906 

10 * 80ꝰ 80 00 
4 Mi * 70-79 0 
3 ” „60° —69%)o 
2 a „50 
1 Gemeinde hatte 40% — 
1 " „2590 


’) Biehn ert, Kleine Kirchen- u. Schulchronif der Ephorien Anna- 
berg u. Grünftädtel. 1839. 
2) Der. höchſte Prozentfag betrug 137,4, 


164 Drews; Der Rückgang der Kommunikanten in Sachjen, 


Im Durchichnitt zeigte die Ephorie 90,8% Kommunitanten. 

Die Stärke des Rückgangs in diefem Zeitraum mögen fol: 
gende Beifpiele ilujtrieren: 

1. Par. Sora mit Lampertsdorf und Lotzen (Eph. 
Meißen) hatte 1832: 170%); 1836: 1570/05 1887: 1530/05 1847: 
137%/0: 1857: 1240/,, 1867: 119%/,; 1877: 116°, Abendmahls- 
gäfte. Das ift von 1832—1877 ein Rückgang von 54"],. 

2. Par, Königsmwalde mit Hartmannsdorf (Eph. 
Werdau) hatte 1840; 134%), (2); 1849: 112°/,; 1855: 126°; 
1864: 106%; 1871: 88°); 1880: 90%), Komm. Don 1840 
bi3 1880 geht alfo die Zahl der Kommunifanten um 44"/, zurück, 

3, Bar, Leuben bei Lommatzſch hatte 1830: 3047 Komm. ; 
1850: 2708; 1860: 2713; 1869: 2388. Das ijt ein Rückgang 
am 21,6 °/,, während die Geburten um 38,6%), fich vermehrt hatten. 

4. Par. Leuben bei Dresden hatte 1832: 1459 Komm. ; 
1840: 1411; 1872: 1244; 1878: 1198; 1879: 1137. D. h. 
während 1832 die Abendmahlsgäfte etwa 55°, der Bevölkerung 
ausmachten, fiel diefe Zahl auf 27,6°), i. J. 1879. 

5. In Friedrihsgrün (Eph. Zwickau) ging die Kom— 
munifantenzahl von 115°), im J. 1831 auf 68%, im J. 1880 
zurück. 

6. In der Ephorie Leisnig ſinkt der Prozentſatz von 
87,9% 1. 3. 1852 auf 66°), i. 9. 1875. — 

Seit 1880 tritt, wie gejagt, ein Stilljtand in diefer rückläu— 
figen Bewegung ein, ja jogar eine Hebung der Kommunitanten- 
zahlen. Das ill etwas bedeuten, wenn man bedenkt, daß die 
Tendenz des Rückganges feit etwa 150 Jahren faft ununterbrochen 
angehalten hatte. Die Urfache diejer auffälligen Erſcheinung ift 
in der Erſtarkung der Kirchlichkeit zu ſehen, die ihrerjeits wieder 
als eine Ruckwirkung gegen die ſozialdemokratiſch-materialiſtiſche Anz 
ichauung anzufehen ift. Es wäre verfehrt, in diefer Bewegung 
nur veligiöfe Motive anzunehmen, ihr liegen ohne Zweifel auch 
politische und foziale zu Grunde Aber genug, die Erjtarfung 
des firchlichen Bewußtſeins iſt vorhanden. Leider aber hat fie 
fih nur als eine Welle gezeigt, die jehr bald wieder zurückgeflutet 
ift. Denn nach 1890 tritt die rückläufige Bewegung wieder in Kraft. 


Drems: Der Nüdgang der Kommumikanten in Sachjen. 165 


Nicht uninterefjant ift es, die Entwicklung ſeit 1879 in den 
verjchiedenen Ephorien de3 Landes zu verfolgen. Darnach ergeben 
fich ung 3 verfehiedene Gruppen, 

Die erſte zeigt eine deutliche Tendenz, die Kommunitantenzahl 
zu erhöhen. Das gilt vor allem von der Ephorie Oelsnitz 
(1379: 33,8%); 1885: 39,6°%/,; 1895; 40,7%; 1896: 41,4%); 
1897: 44,1°o; 1898: 44,3°/. aljo jeit 1879 ein Wachstum von 
10,5°/0); in zweiter Linie fteht Marienberg, das in der gleichen 
Zeit um 8,2°/, und Freiberg, das um 7,6% Kommunikanten 
gewachfen ift. Mit größeren oder kleineren Schwankungen jteigt 
die Kommumifantenzahl ferner in den Ephorien Plauen (1879: 
33,7°/051897: 40,1%/0; 1898: 42,2/,); Zwidau (1879:47 0/5; 
1897: 51,2°%/0; 1898: 50,4°/0); Werdau (1879: 89%/.; 1897: 
43,60; 1898: 44,3%/0). Schneeberg (1879: 63,3°/,; 1895; 
66,80; 1897: 65,30/6; 1898: 66,1%) und Stollberg(1879: 
42°/,; 1897: 44,6%; 1898: 46,19%). Ordnen wir Dieje Did- 
zefen geographifch, jo fpringt in die Augen, dab das Vogtland 
und das Erzgebirge «8 find, die diefe aufwärtsfteigende Bewegung 
zeigen — mit Ausnahme der Eph, Annaberg, die im Ganzen 
auf der Ducchfchrittsjahl von 52—53°|, in den legten Jahren 
ftehen geblieben ift. “Ferner zeigen eine auffteigende Linie aud) 
Zeipzig-Land (IT) mit 250/, 1879, 34%), 1895, 30,3°/, 1897 
und 30,4°/ 1898 und Borna mit 50°/., 60,3°/. 55,6%, und 
55,4°/o für bie gleichen “ahre. In der Eph. Pirna hebt ſich die 
Bahl von 41,9%), i. 3. 1879 auf 47,2%), i. 3. 1898 und in der 
Stadt Dresden von 24,6%, auf 28,4%). 

Die zweite Gruppe bilden die Ephorien, deren Kommuni— 
fantenzahlen die Tendenz des Fallens zeigen. Hierhin gehören 
die Eph. Grimma, (1879: 66°; 1897: 58,9%; 1898: 
60,4%), Meifien (1879: 61/0; 1897: 56°; 1898: 55,9%.) 
mit St. Afra (1879: 36°),; 1897: 29,2°/,; 1898: 80,7°/,), 
Dresden-Land mit 33,7%), 1879, 29,70/, 1897 und 30,0%, 
1898. Ferner Nochlit (1880: 62,5%; 1897 und 1898 55,7%/,) 
und Leisnig(1880: 60,7%; 1897: 53,9%/0; 1898: 53,4%). 
Auffallend ſinkende Zahlen zeigt auch die Oberlaufig (1879: 
74%; 1897: 66,3%; 1898 wieder: 68,2°/,). 


166 Drews: Der Rüdgang der Kommunikanten in Sachlen. 


Endlich die dritte Gruppe ſetzt fi) aus den Ephorien zu— 
jammen, die bei aufs und abfteigenden Zahlen im Ganzen die 
gleiche Höhe feit 1880 bewahrt haben. Dahin gehören außer Anna— 
berg, Ofchat, Großenhain, Radeberg, Chemnit II, und Dippoldis- 
walde, auch die Großjtädte Leipzig und Chemnitz. 

Es ift eine intereffante Frage, wie fich diefe ganz verfchieden- 
artige Bewegung erklärt, Ich will hier nicht darauf eingehen. 
Nur darauf möchte ich aufmerffam machen, dag am Wachstum 
hervorragende Induſtriebezirke und am Sinken hervorragende land» 
wirtſchaftliche Bezirke beteiligt find. — 

Und was lehrt diefe Entwiclung? Ich will's noch einmal 
mit den Worten Pieper’s jagen: „Die Bevölkerung teilt eben 
nicht mehr in früherem Grade die Wertlegung auf das Saframent, 
oder hält fein Erfordernis zum Heil nicht für ein unbedingtes, 
wie es die Kirchenlehre ihres Landes noch glauben läßt“ (©. 231). 
Mit diefer Thatſache muß die Theologie rechnen, die praftifche 
jo gut wie die ſyſtematiſche und die hiftorifche '). 


1) Zum Schluß noch eine VBemerfung! Es wäre höchſt ver 
dienttlih, wenn von irgend einer Seite die Ver 
dffentlihung der KRommunilanten-, Geburts-, Traus 
ungss und Sterbeziffern aus fämtlichen Kirchenbüchern 
Sachſens, joweit fie überhaupt zurüdverfolgt werden 
fönnen, in die Hand genommen würde. Damit wäre für bie 
Ermittlung des Standes und der Entwicklung der Firchlichen Sitte ein 
außerordentlich wertvolles Material geboten. Die nur jcheinbar lang- 
weilige und uninterefjante Arbeit — oder follte es einen Pfarrer nicht 
intereffieren, welche Gefchichte ihm die Rirchenbuchszahlen aus der Vers 
gangenheit feiner Gemeinde zu erzählen haben? — würde jeder Pfarrer 
gern libernehmen. 


167 


Die Dorftellungen von der Seele bei Plotin und bei Origenes, 
Von 
Lie. Wilhelm Schüler, 


Pfarrer und Diffionar in Tfingtan. 


Der folgende Aufjag enthält nicht das, was man im erfter 
Linie von einer Studie, die dem Gebiet ſowohl des Neuplato- 
nismus als des Chriftentums angehört, erwarten wird, Er 
veranjchaulicht nicht eim Stüc des Prozeſſes, in dem die tief» 
greifende und bis heute fortwirkende Beeinfluffung des Chriften- 
tums durch den Neuplatonismus erfolgt ift, er gebt nicht im einzelnen 
den Wechſelwirkungen nach, die zwifchen den beiden großen geiftigen 
Gebilden herüber und hinüber ftattgefunden haben. Das ſchwebte 
mir allerdings als Ziel vor, als ich mit dem Studium des Neu- 
platonismus mich ernftlicher zu bejchäftigen begann. In diefem 
Artikel handelt es fich höchitens um eine Kleine Vorarbeit zu diefer 
wichtigen Aufgabe, wobei der Umftand, daß ich infolge meiner 
Berufung feitens des Allgemeinen evangel.proteft. Miffionsvereins 
nach Tjingtau genötigt bin, meine bisherige Thätigkeit abzubrechen, 
dem Folgenden exjt vecht einen ſehr beſcheidenen Charakter gibt; 
denn ich muß nunmehr auch auf alle Quellenmachweife und auf 
die Berückfichtigung bisher erfchienener Litteratur über den in 
Frage ftehenden Gegenstand verzichten. Doch wird man hoffentlic) 
bemerken, daß ich mich bemüht habe, die Dartellung der Anz 
fchauungen, des Plotin und des Origenes möglichft mit ihren 
eigenen Worten zu geben. 

Nur mit Blotin und Origenes bejehäftigen fich die folgenden 

Zeitſchrift für Theologie und Kirche. 10, Jahrgang, 3. Heft, 12 


168 Schüler: Die Borftellungen bon ber Seele bei Plotin u, bei Origenes. 


Spalten. Von einer Beeinfluffung diefes durch jenen fann da 
von vornherein nicht die Rede fein; denn Origenes’ ſyſtematiſches 
Hauptwerk, für uns die Hauptquelle feiner Anſchauungen, war 
— nach der gewöhnlichen Datierung auf 213 — fertig, als Plotin 
8 Jahre zählte; daß aber Plotin von Origenes abhängig fei, daran 
iſt ext vecht nicht zu denken. Aber gerade in diefer perjönlichen 
Unabhängigfeit beider Geifter von einander fommt ein bejon- 
deres Problem zu Tage, ein Problem wejentlich veligionspiy- 
hologifcher Art. Denn vergleichen wir die Gedanfenmwelt des 
einen mit der des anderen, jo entdecken wir eine weitgehende 
Uebereinftimmung und wit werden inne, wie in dem Moment 
ſchon, in dem der Neuplatonismus auf den Plan tritt — nicht 
erſt ſpäterhin — die chriftliche Spekulation in einem Veridandt- 
ichaftsverhältnis zu ihm fteht. Denn aus einer gemeinfamen 
geiftigen Sphäre wachſen die Wurzeln für beide Syſteme; wir 
denken daran, da Plotin wie Origenes zu den Füßen des gleichen 
Lehrers jagen. Und doc gehen ihre Wege auf der anderen Seite 
fo getrennt; der eine Schüler wird der Begründer des Neupla— 
tonismus, dev andere ift dev eigentliche Schöpfer dev chriftlichen 
Philoſophie und ftirbt den Tod um feines Chriftenglaubens voillen?). 
Ich will verjuchen, ein Bild von diefem eigenartigen Zufammen- 
und Auseinanderftreben der Elemente in der Gedanfenwelt beider 
Männer zu geben, indem ich ihre Vorftellungen von der Seele 
darftelle. Das ift freilich eine weitere Bejchränkung des Themas ; 
aber es handelt fich dabei nicht um einen beliebigen Ausjchnitt 
aus dem Ganzen, fondern um einen beſonders charakteriſtiſchen 
und inſtruktiven Begriff, der für Plotin wie für Origenes weit 
umfaffender ift, al3 e& das Wort „Seele" vermuten läßt. Am 
klarſten ift dies bei Plotin, dem wir uns zunächit zumenden. 

63 ift gar nicht möglich, die plotinifche Vorftellung von der 
Seele zu entwickeln, ohne fie in dem großen Rahmen feines 

*) Die Frage, inwieweit die Vorftellungen ſowohl bes Drigenes ala des 
Plotin ſchon bei ihren Vorgängern vorhanden waren, und inwieweit fie orie 
ginell find, bleibt in diefer Betrachtung unberückſichtigt. — Es kommt mir 
hier nur darauf an, die beiden geiſtigen Welten, ſo wie ſie damals entwickelt 
waren, einander gegenüber zu ſtellen. 


Schüler: Die Vorftellungen von der Seele bei Plotin u. bei Origenes. 169 


Weltſyſtems zu betrachten. — Auf verfchiedene Weife kann man 
das Charakteriftiiche desjelben herausftellen. Die eine Betrach— 
tungSweife, an die wir anfnüpfen wollen, iſt die, welche den 
durchgehenden Dualismus des Syſtems hervorhebt. Es handelt 
ſich um die großen Gegenfäge zwifchen Oben und Unten, zwijchen 
dem Einen und dem Vielen, zwijchen nöspos vortös (74 vontmöv, 
ypbarg voneh) und ꝓoic aladmrıxd, obros 5 xolaoc, zwiſchen uber⸗ 
finmlicher Welt und Erfcheinungswelt, Aber diefe beiden Welten 
klaffen doch nicht auseinander; in eine Einheit alles zu begreifen, 
ift vielmehr Plotins oberjtes Streben, Die Seele nun ift es, 
welche diefen Dienſt leiftet, welche die Gegenſätze überbrüdt und 
die Verbindung herjtellt. Sie ift das allerwunderbarfte Wejen; 
fie gehört beiden Welten an. Sie ftellt den äußerſten Kreis des 
Sntelligibelen dar, an den voös fich anſchließend, wie diefer an 
das Erſte, das Eine und Gute; aber fie ift andererſeits das 
Oberſte in der unteren, diesfeitigen Welt, fie eröffnet den Reigen 
der Lörperlichen Erjcheinungen, Myoc Esxaros des Intelligibelen, 
Aoyas rpness alles Sinnlichen! Nicht als ob fie felbjt ein 
Körper wäre, ihrer Subjtanz nad) gehört fie vielmehr allein der 
oberen Welt an, aber doc) erſtreckt fie fich in das Diesfeits wie 
ein Radius, der von einem Centrum ausgeht. Sie hat eine 
Zwitterſtellung gleich den Amphibien; fie kehrt ihr Antlitz ſowohl 
nach oben als nach unten. Sie ift nicht nur Eines, wie das 
Oberſte des Intelligibelen, auch nicht nur Vieles, wie die Körper, 
jondern Eines und Vieles, geteilt und ungeteilt, Sie ift es, welche 
allen Lebewejen der Körperwelt das Leben gibt und erhält, 
Sie hat jelbit feine Größe, aber es gibt feine Größe ohne fie; 
fie bedarf feines Körpers zu ihrem Sein, aber der Körper bedarf 
ihrer, damit er überhaupt fei und bleibe. Dabei ift feineswegs 
nur an die Menjchen gedacht, jondern Seele ift überall, in den 
Tieren, in den Pflanzen und Steinen fo gut wie in den Ge- 
ſtirnen und in der Erde, und auch das All hat feine Seele. 
Doch iſt nicht in jedem Körper eine jelbftändige. Seele, und 
ſodann find die Arten der Seele jehr verfchieden. Die Pflan- 
‚zen haben fie in einem andern Sinn als die Sterne; fie ew- 
halten fie nämlich von der Erde und zwar nur Die guxh 
12* 


170 Schüler: Die VBorftellungen von der Seele bei Plotin u, bei Origenes. 


yevvntoen; äbnlich verhält es fich mit den Steinen. Schneidet 
man die Pflanze ab, jo hört fie auf, Pflanze zu fein und ift ein 
einfaches Stück Hol, Die Seele umfaßt eine ganze Sala von 
Kräften und Vermögen; zu den oberen GSeelenvermögen gehören 
vos und Aoyıopös, zu den umteren, ben unvernünftigen, das 
alodyrındv, yurızdv, abEntxöy, ferner Eribuniz und dupös. Se 
nach dem, was in einer Seele vorherrſchend ift, bemißt ſich ihr 
Grad; fo gibt es erſte, zweite, dritte Seelen u. ſ. w. entjprechend 
ihrer Entfernung vom ntelligibelen. Je weniger fie von den 
Begierden und Trieben des Körpers fich beeinfluffen läßt, je mehr 
fte ihn mühelos beherrfcht, ohne in ihrem Schauen des Intelli— 
gibelen geftört zu werden, um jo volltommener ift fie. Aus diefem 
Grunde iſt die Weltjeele die vortrefflichjte von allen. 

She am nächten fommen die Seelen der Geftirne, befonders 
der Sonne und des Mondes. Bei den Menfchen gibt e8 dann 
wieder ſehr verfchiedene Abftufungen. Jedoch verhält e8 fich bei 
jedem Einzelnen jo, daß er niemals gänzlich von der oberen Seele 
abgejchnitten ift. Die Seele ift ein Einheitliches, aber mit einem. 
obern und einem untern Teil. Wie eine vom ntelligibelen aus- 
gehende Linie ift fie zu denken, auf der nun der Körper eine 
höhere oder miedere Stufe einnehmen kann; bier ziehen ihn die 
untern Vermögen herab, doch läßt er fich von dem befferen Teil 
empotziehen '). 

Dan darf fich das Sein der Seele im Körper nur nicht fo- 





) Ich finde, daß man überhaupt bei der Darftellung des Seins nad 
Plotins Weltanſchauung die Einſchnitte zwiſchen dem Erften, dem voog, ber 
Seele ımb der Sinnenwelt zu ftark betont, Zwiſchen dem Erften und dem. 
Legten gibt es eine Menge von Abjtufungen und vermittelnden BZwifchenz- 
gliedern. So ift 3. B. ber Meltjeele wieder ein befonderer Weltnus überge- 
orbnet, der wahrſcheinlich iventifch ift mit Demiurg und Zeus; und unter ihr 
fteht eine niebere Weltjeele (pas). Zwiſchen pesvnaus und psag nimmt wie: 
der bie Weltphantafie eine mittlere Stellung ein. — Bei der Erde wird unter- 
ichieden die dog ya, bon der jeder Teil eine Spur hat; über ihr bes 


findet fich 15 n&v yuradv (nicht etwa identiſch mit ber Weltfeele); weiter nad. 


oben reiht ſich M od aladnrsd pbcıs am, welche überhaupt nicht mehr mit dem 
Körper vermengt ift, ſondern darüber ſchwebt; dazu kommt dann die noch 
höhere Seele und der Nus, 


’ 


Schüler: Die Vorftellungen von ber Seele bei Plotin u. bei Origenes. 171 


vorſtellen, als ob diefer jie in fich einjchlöße wie in einen Raum. 
Plotin bemüht fich ehr, in diefem Punkt alle faljchen Auffaffungen 
abzumeifen. Nicht die Seele iftim Körper, ſondern 
der Körperin der Seele, Diefe ift das Umſchließende; 
Dex Körper ift in ihr, wie das feuchte Ne im Waſſer. So ift 
es deutlich, daß die Seele fich nicht dem ganzen Körper bingiebt. 
Ihr Haupt bleibt immer fejt gegründet über dem Himmel, aber 
von da aus erſtreckt fie fich verſchieden weit in das Sinnliche 
binab. 

Die Seele aljo it es, welche allen Körper, allen Lebewefen 
erſt das Daſein gibt. Wie ift das aber nun näher vorzuftellen? 
Was ift die Erfcheinungswelt ohne die Seele, und wie fommt 
die in der Sphäre des ntelligibelen, des Guten befindliche Seele 
dazu, ihren Platz zu verlaffen und in die niedrige Sinnenwelt 
einzugehen ? 

Mit diefer Frage ftoßen wir auf das größte umgelöfte 
Problem, das Plotins Syftem überhaupt in fich birgt. Denn 
wenn wir in der Erſcheinungswelt abjtrabieren von der Seele, 
jo jtehen wir vor der Materie. Was aber ift Materie? 

Hier ftehen wir vor dem klaffenden Widerjpruch, den Plotins 
Syſtem in fich hat, fofern es die Welt in ihrem Entftehen be- 
jehreiben will. — Denn der oberjte Sat, ift der, daß das Sein 
nur bei dem Antelligibelen, dem Guten ift. Wie kommt e8 aber 
dann zu ber unteren jehlechten Sinnenwelt? Griftierte weiter 
nichts als das ntelligibele, jo könnte dies auch bei aller Ver— 
zweigung und Ausbreitung doch ſein Weſen nicht verlieren. Dar- 
um weit Blotin der Materie die Schuld zu. Die Sinnenwelt ift 
eine Vermiſchung des Antelligibelen mit der Materie. Dann aber 
iſt das Weſentliche des plotinifchen Syftems preisgegeben, näm- 
lich die Einheit der Welt, die Zurücführung des Al und des 
Vielen auf das Eine und Gute; flatt Monismus hätten mir 
Dualismus '). 


4) Der Widerfpruch ſcheint mir offenbar zu fein, und er ift überhanpt un⸗ 
vermeidlich bei dem Verſuch, die Entftehung der Welt genetifh aus einem 
Sein begreiflih machen zu wollen, das gerade in ſchroffen Gegenjag zu allem 
Sinnlichen geſetzt ift. Ich kann mic aber nicht dagegen verfchliegen — Ges 


172 Schüler: Die Vorftellungen vom der Seele bei Plotin u. bei Origenes. 


Diejelben Fragen und Widerfprüche im Syftem Plotins — 
und noch andere — find es, die fich bei feinen vielfachen Ver— 
ſuchen herausftellen, die Vereinigung der Seelen mit der Körper- 
welt anfchaulich zu machen. Zwei Betrachtungsweifen ftehen fich 
gegenüber, deren Gegenfäglichkeit Plotin jelbft allerdings nicht 
zum Bewußtjein zu kommen jeheint, Einmal heißt es, daß die 
Seele in ihrem Herabkommen die Körpermelt überhaupt ext 
ſchaffe; fie bringe die im voog vorhandenen Adyor an die Materie 
heran; fie läßt das Sinnliche aus fich herausleuchten und kreiſt 
nach ihm hin, — Sodann aber follen die Körper wieder ſchon 
vor dem Herabfommen der Seele vorhanden und die Urfache für 
diefes fein. Die Körper ziehen die Seelen herab; diefe gehen 
gerade zu denjenigen, die darauf eingerichtet find, fie aufzunehmen. 
— Die Gegenfäßlichkeit der Betrachtungsweiſe an diefem Punkt 
zeigt fich noch in anderer Hinficht. Sind die Seelen dafiir ver- 
antwortlich zu machen, ift es ihnen als Schuld zuzumefjen, daß 
fie zu der Körperwelt herabgeftiegen find? An vielen Stellen 
ſcheint 8 fo. Die Seelen haben fich bethören laſſen, fie waren 
nicht zufrieden in dem Zuftand des Intelligibelen, wo fie wie die 
Könige um den Allherrſcher herum jaßen ; fie gewannen ihr eigenes 
Wefen lieb und wollten etwas anderes fein (al3 das Antelligibele) 
und jo tauchten ſie hervor, gingen in die Körperwelt ein, wurden 
in Feſſeln gejchlagen in diefem Gefängnis und verjanfen in der 
Tiefe. — Aber mindeftens ebenfo häufig wie diefe Auffaffung ift 
danken, die mir durch meinen philofophifchen Lehrer H. Cohen nahe Liegen 
— daß bei Plotin fih ſtarke Anfäge finden zu einer rein erfenntnistheoretiichen 
Auffaffung der Welt, — Die Bejchreibung des Werdens erfcheint dabei nur 
als Mittel, um die begrifflichen Verhältniffe des Seienden, wie es nun einmal 
thatſächlich ift, ar zu machen. Im dieſer Richtung liegt e8 3. B,, wenn er 
bei der Entftehung der Welt ausdrücklich jagt, daß von einer ſolchen nur be= 
arifflich zu reden fei, bie Welt fei ewig; oder iverm er das Schöne aus 
dem Guten erzeugt fein läßt „aber doch nicht der Zeit, jondern der Wahr: 
heit nah”, Wichtig ift ferner die Erörterung über die intelligibele Materie. 

Mir ſcheint, daß in deu theologijchen Darftellungen des Neuplatonismus 
reſp. des Syſtems Plotins feine philoſophiſche und wiſſenſchaftliche, auf das 
wirkliche Erkennen der Welt gerichtete Arbeit unterjchägt wird gegenüber ber 
Betonung des veligiöjen Zuges, der anf Flucht aus der Sinnenmelt drängt. 
— Aehnliches gilt von feinen ethischen Anweijungenn. 





Schüler: Die Vorftellungen von der Seele bei Plotin u, bei Origenes. 173 


die andere, wonach die Seele keineswegs ein Tadel trifft, und 
die Vereinigung mit dem Körper nicht als ein Uebel gilt, Das 
Herabkommen ift vielmehr ein Zeichen ihrer Kraft; nur das ganz 
Kraftlofe bleibt für fich allein, aber das Gute jehafft den vor 
um fich herum, diefer die Seele, und fo muß auch diefe weiter 
ſchaffen in der Körperwelt. Ihre Kraft bliebe ja ſonſt ganz ner 
borgen, ja fie wäre in Wahrheit gar nicht vorhanden. Die 
Seelen müſſen fehaffen und ordnen, darum geben jie fich den 
Körpern hin; nur dürfen fie in der Hingabe für fie nicht zu weit 
gehen, ſonſt werden fie wie vom Zanberfefjeln umftriet. Zieht 
fie fich aber jchnell wieder zurück, jo hat fie nur Gewinn; fie hat 
Kenntnis von dev Natur dev Bosheit gewonnen und fie hat Kräfte 
entfaltet, die ja fonft ganz zwecklos würden brach gelegen haben. 
Die Weltjeele fteht auch hier wieder am höchſten; fie gibt zwar 
dem Körper des Alls das Leben, aber jo, daß fie dabei ganz in 
der oberen Welt verbleibt, 

Ein Verfuch, die Seele ſelbſt aus dem Dilemma von Schuld 
oder Nicht-Schuld herauszuziehen, ift es, wenn alle Verantwortung 
der Körperwelt zugemwiefen wird, Hätte jedes Lebeweſen einen 
jo volltommenen, der Gefahr der Affektion gar nicht ausgeſetzten 
Leib mie das All, dann würde auch die betreffende Seele diefelbe 
Vollkommenheit wie die des Alls haben. — 

Nahe verwandt mit dev genannten Gegenjählichkeit der Auf- 
faſſung, ift die, welche Freiheit und doch wieder Notwendigkeit 
bei dem Herabtauchen der Seele aus dem Öntelligibelen behauptet. 
Jedoch ijt die Notwendigkeit hier das Uebergeordnete, auch 
da, wo Freiheit anerfannt wird. Denn einem Begriff, einem 
fejten Geſet, der Ordnung des Als iſt alles Himabfteigen und 
Auffteigen der Seele unterworfen. Diefe Notwendigkeit äußert 
ſich dabei zuweilen als Strafe; denn die doppelte Schuld, die 
einmal in dem Beweggrund der Seele zum Hinabfteigen und zum 
andern in den danach verübten Webelthaten beſteht, vächt ſich in 
dem erjteren Fall durch die Leiden, die dev Inkorporierung der 
Seele folgen, in dem andern darin, daf fie in andern Körper 
eingehen muß, bis fie jchließlich wieder emportaucht. Die Strafe 
entjpricht genau dem Vergeben; 3. B. wer hoffärtig war, deſſen 





174 Schüler: Die Vorftellungen von der Seele bei Plotin u. bei Origenes. 


Seele kommt in einen Pfau u. ſ. w. 

Verfolgen wir das Dafein dev Seele weiter nach ihrer Anz 
forporierung, jo ftoßen wir auf diefelben Gegenfäge. Mannigfad) 
it ihr Schickſal, mannigfach die Abjtufungen, der höhere oder 
niedere Wert, den ihr Dafein hat, Worin find bie fich jo heraus— 
ftellenden Berjchiedenheiten begrimdet? Wir erhalten wieder zwei 
Antworten, Die erfte macht die Körperwelt entfprechend ihrer Ver— 
antwortlichfeit fir das Herabkommen dev Seelen auch für die Ver— 
änderungen, denen fie hier unterworfen find, verantwortlich. Die 
Örtlichkeit, an der die Seelen fich befinden, Waſſer, Luft, die 
Wohnungen, die Nahrung, die Mifchungen der Körper fireifen 
etwas von fi an ihnen ab. Die Seele liegt im Kampf mit 
dem Körper, die Vernunft mit den Begierden. In den Körpern 
können fich die Seelen unvernünftige Begierden, Hupol und andere 
ram zuziehen. Die andere Antwort appelliert an den freien 
Willen der Seele jelbft. Sie zieht durch das Böſe, das fie hier 
verübt, ſich Schuld zu, und dieſe hat die Strafe, die Verpflanzung 
in andere Körper zur Folge (f, oben), und andeverfeits erhalten 
die Seelen, welche hier das Befjere wählen, einen dem entjprechenden 
Platz im Weltganzen. — Ueber diefen beiden Erklärungen fteht 
dann aber wieder eine noch höhere, welche Plotin vor allem 
betont und in die er fich offenbar mit befonderer Liebe verſenkt. 
Es ift die alles beherrchende Notwendigkeit, die als eine alles 
zufammenfaffende Harmonie fich darftellt; zahlveich find die Aus- 
drücke für diefe wunderbare Macht. Hier fommt der Optimismus 
des Syſtems, die poetijch-äfthetifche Betrachtung der Welt wieder 
zum Durchbruch, Was auch immer gejehieht, es ift fo nach einer 
von Ewigkeit bejtehenden Notwendigkeit und e3 ift im Zufammen- 
bang des Ganzen gut und ſchön und dient dazu, defjen wunder 
bare Harmonie zur Erfcheinung zu bringen, wenn auch das Einzelne 
für fich betrachtet oft ſchlecht und häßlich ift. Wermöge diefer 
Betrachtung find Plotin die Uebel und Leiden in der Welt Fein 
Widerfpruch gegen deren Göttlichkeit. IIm Zartarus ift gerade 
der Schmerzesfchrei des Prometheus an feinem Plage und ſchön“!). 

+) Diefe auf das Ganze vermweijende Betrachtung erjcheint auch in Der 
Wendung, daf das einzelne Schlechte als eine notwendige Begleiterfheinung 





Schüler: Die Borftellungen von der Seele bei Plotin u. bei Origenes. 175 


Freilich ergeben fich dabei notwendig Widerſprüche zu der trob- 
dem behaupteten Freiheit. Plotin fucht fie auch zu überbrücken, 
indem er ein „Sowohl — als auch" behauptet. Wohl jtänden 
wir unter dev Notwendigkeit des Umfchwungs des Alls, aber wir 
würden doch nur z. T. davon afficiert, etwa wie kluge Diener, 
die — im Unterjchiede zu Sklaven — zwar ihren Herren zu ge: 
borchen haben, aber doch zum Teil jich felbjt angehören. — Das 
Beherrfchende der in dem Gang der Dinge liegenden Notwendig- 
feit im Gegenſatz zu dem, was Freiheit des Menſchen heißt, fommt 
darin zu einem anfchaulichen Ausdruck, wenn die Vernunft des 
AUS verglihen wird mit dev Vernunft, die im Staat Geſetze 
giebt und dabei im Voraus weiß, was die Bürger thun werden 
und ihre Handlungen umd deven Folgen ſchon im Voraus in Be- 
tracht zieht. — Nur allein die Tugend, heißt es, ſei dötamersz, 
wenn auch ihre Werke in den Zufammenhang des Ganzen ver- 
flochten jeien. Und noch mehr gilt dies von der dewpix, die 
aber felbft ein Tugendftreben tft; von ihr beißt es, daß fie alleın 
frei fei von dem Zauber, der in den Einflüffen des All befteht. 
Denn in dev Hewplz erhebt fich dev Menſch, die Seele, zu fich 
ſelbſt. 

Und damit vollendet ſich die Bahn, die Plotin die Seele 
beſchreiben läßt. Wie tief ſie auch hinabgeſunken iſt in die Körper— 
welt, immer bleibt fie doc) — und zwar gerade auch die am 
tiefften jtehende — ihrer eigentlichen Natur nach zur intelligibelen 
Welt gehörig. Sie braucht ſich nur auf ihren Urſprung zu bes 
finmen, fie braucht nur zu fich jelbft zu kommen, dann kann fie 
die Feſſeln abjtreifen, in die fie hier gefchlagen ift. Los von 
dem Leib, jeinen Begierden und Affekten! ift darum die ethifche 
Lofung, die Plotin giebt. Und wenn die Seele ganz zu fich jelbjt 
gekommen iſt, danın ift fie im Intelligibelen, dann tft fie ſelbſt 
das Intelligibele, dann ift fie das einzig Seiende, fie ift bei 
Gott. — Stufenweiſe gejchieht der Aufftieg; erſt muß Die Seele 
durch Tugend vom Lajter fich befreit haben zu gottähnlicher 
bes gejamten Zebens angejehen wird. „Wenn der Chor bahinjchreitet, müſſen 
die im Wege kriechenden Schildkröten zertreten werben.“ Auch das All habe 
etwas dem Zorn und der Galle Analoges. 











176 Schüler: Die Vorftellungen von der Seele bei Plotin u. bei Origeues. 


Schönheit, erſt muß das Auge jonnenhaft geworden fein, wenn 
es die Sonne ſchauen joll; dann aber offenbart fie fich in ihrem 
Glanze, wenn die Seele den Körper gänzlich verlaffen hat, und 
für Augenblicte ift diefes Umbefchreibliche jchon hier getban. In 
wunderbar weihevoller, erhebender Weife ſchildert Plotin die 
jeligen myftifchen Momente der Ekſtaſe, in denen die Seele das 
Irdiſche gänzlich hinter fich gelaffen hat und in der Gottheit 
mit der Gottheit eins geworden ift. — Aber Plotin denkt fich die 
Entwicklung nicht darauf hinausgehend, daß einmal alle Seelen 
befreit feien, und daß nad dem Verfchwinden der Erſcheinungs— 
welt das Seiende auf die drei großen Sphären des ntelligibelen fich 
zurickgezogen habe. Nein, die Welt ift ewig ; einen ewigen Kreis: 
lauf der Seele fcheint Plotin anzunehmen. Zwar äußert er fich 
nirgends ausführlich darüber, aber er deutet es doch an, wenn ex 
jagt, daS das All in dem Aufftieg umd Abſtieg der Seelen in ge 
miffen Zeiten immer wieder zu demfelben Punkt zurückkehre nach 
einem Begriff, dem alles unterworfen iſt. 

In dem Aufftieg der Seele kommt — wie wir andeuteten — 
die Ethik Plotins zur Geltung. Aber, wie fchon aus der legten 
Bemerkung deutlich wird, ift der Begriff der fittlichen Freiheit 
dem eines allgemein beherrjchenden Geſetzes untergeoronet, An die 
harmoniſche Ordnung des Alls ift die Seele verknüpft; der Ord— 
nung, der die Geſtirne gehorchen, ift auch fie unterworfen; ein 
Beweis iſt eben gerade die innerliche Verknüpfung ihrer Schickſale 
und Entjehlüffe mit den Bewegungen ber Geſtirne; denn in diefen 
find jene angedeutet. Zwar fucht auch hier Plotin in feiner ger 
wohnten Art zu vermitteln, aber, feine Dialeftit vermag dabei 
höchſtens zu blenden, nicht zu überzeugen. Sp, wenn es heißt, 
daß die Seelen zwar der Ordnung des Alls unterworfen feien, 
daß ſie aber sich felbft in ihrem Herabteigen an fie geknüpft 
hätten‘). Die Vorftellung von der das All beherrichenden Ord— 
nung und Harmonie bleibt doch die überwiegende. 

Werfen wir einen Blick zurück auf die Vorftellungen Plotins 
von der Seele, die wir fennen gelernt haben. Wir finden die 





+) 68 tauchen bier z. T, noch) einmal die Gegenfäge auf, die ums ſchon 
oben (p- 175) beichäftigten. 


Schüler: Die Vorſtellungen von der Seele bei Plotin u. bei Origenes. 177 


Behauptung beftätigt, daß im ihnen das ganze plotinifche Syſtem 
fich enthüllt. Denn die Seele fteht in der Mitte zwiſchen den 
beiden äußerften Begriffen des Erſten (des Guten) und der Ma- 
terie. In dem, mas Plotin über fie ausführt, handelt es ſich 
nicht etwa nur oder auch nur in erfter Linie um Piychologie 
oder Anthropologie, jondern um das Problem der Exjcheinungs- 
welt überhaupt. Und hierbei erfennen wir, wie Plotin von zwie— 
fachen Intereſſen und zwiefachen Stimmungen beherrfcht ift und 
fie zu vereinigen ringt. Der Zwiefpalt, dev fich in der plotinijchen 
Beurteilung des Auftretens der Seele in der Erfcheinungswelt 
fund thut, läßt fich auf einen noch allgemeineren Gegenfab zurück— 
führen, der fein ganzes Syſtem beherrſcht. In Plotins eigener 
Bruft wohnen zwei Seelen; auf dev einen Seite ſteht das Streben 
nach Erkenntnis diefer Welt und die Freude an dieſer Welt. Es 
ift befannt, einen wie erhebenden Ausdruck diefe Stimmung in 
dem 9. Buch der 2, Enneade in der Polemik gegen die Gnoftifer 
findet, Ihnen gegenüber betont ev: dieſe Welt ift gut, ift ſchön; 
fie ift die herulichite, die überhaupt denkbar ift; denn fie ift nur 
der Ausfluß dev unvergleichlich herrlichen Schönheit des Intelli— 
gibelen, weil fie ganz und gar von Seelen durchſtrahlt ift; es iſt 
nichts in der Welt, was ohne Seele wäre, Und gerade in ihrer 
Vielheit und Mannigfaltigkeit offenbart fich die Kraft Gottes; 
ihn tadelt, wer auf dieſe Körperwelt ſchilt. — Darum verjenkt 
ſich Plotin Liebend in ihre Betrachtung und ihre Erkenntnis. Denn 
Gott erkennt er, indem er fie erkennt. 

Aber unmittelbar neben diefem Ausbruch eines weltfreudigen 
Optimismus hören wir ganz andere Töne der Seele Plotins fich 
entringen. Es ift die Klage über den Fall der Seele, die in dem 
Kerker der Sinnenwelt eingefchloffen ift, und die Sehnjucht nach 
Befreiung aus dem Schein zur Wirklichkeit, zur Herrlichkeit des 
Intelligibelen, des Guten, Gottes, wo die eigentliche Heimat der 
Seele ift. In diefer Stimmung wurzelt die Ethik Plotins und 
der veligiöfe Zug nad) Vereinigung mit der „Gottheit". 

Es ſcheint mir, daß das Anziehende der plotinijchen Welt 
anſchauung gerade in ber Vereinigung biefer Doppelheit der Stim— 
mungen umd Intereſſen und in ihrer inneren Spannung zu fuchen 


178 Schüler: Die Vorftellungen von der Seele bei Plotin a, bei Origenes. 


tt. Das Wort, daß eine Religion um fo reicher ift, je mehr 
Gegenfäge fie in ſich birgt, dürfte auch auf Plotins Weltanfchaus 
ung anzumenden fein. — Er iſt fein Erkenntniskritiker, der die 
Gegenſätze der Begriffe, auf denen Erfenntnis und Ethik beruhen, 
als ſolche erfaßte und fehroff herausſtellte. Der veligiöfe Bug 
feines Herzens und der griechiſche Stimm für Maß und Harmonie 
läßt ihn eine Einheit der Welt dichten, bei dev jedes Einzelne 
feine Stellung und feine Bahn in dem ewigen Gefeh des Ganzen 
hat. Er appelliert an die fittliche Freiheit des Menfchen, aber 
weder weiſt er feiner Selbftbeftimmung allein alles zu, noch macht 
er das Sittengeſetz — wenn man jo fiberhaupt bei ihm fich aus- 
drücken darf — zu einem abjoluten und in jeinem Urſprung und 
jeinev Verknüpfung mit dem All unbegveiflichen. Vielmehr bes 
ruht Die Kraft feiner etbifchen Forderung gerade darauf, daß 
fie jo ficher in der allgemeinen Erkenntnis der Welt, des eigent- 
lichen Seins eingefügt ift. Mit dem Wiſſen um den Urjprung 
der Seele ift dev Antrieb gegeben, fie aus der Sinnenmwelt her— 
auszuführen, und diefes Streben ijt ſtets von dem berubigenden 
Bewußtſein begleitet, daß es fich im Einklang mit der Gejeh- 
mäßigfeit und Ordnung des Ganzen befindet und nur diefer fich 
angliedert. Das höchſte fittliche Gut iſt tdentifch mit dem wahr: 
haften und einzigen Sein, das der Urgrund aller Wahrheit ift. 
— Daneben freilich ift auch das noch zu bemerken, daß mit dem 
Wiffen um die unvergängliche und nie verlierbare Natur der Seele 
und in dem Gedanken der Gejegesordnung des Alls, Durch die 
jedes Einzelne beftimmt ift, ein quietiftifches Moment gegeben ift. 
Uber auch dies gerade gibt der Gedankenwelt des Plotin einen 
Charakter, der nicht zum wenigſten die Urſache des Zaubers 
ift, mit dem jede pantheiftifche Weltanfchauung ihre Anhänger zu 
gewinnen pflegt. 

Gehen wir nun über zu den Vorftellungen des Origenes und 
betrashten fie nach ihrem inneren Zufammenhang mit denen des 
Plotin ?). 

*) Id) entnehme die Gedanken des Origenes bor allem aus de prineipiis, 


nächftdem aus den Büchern gegen Eelfus. In den Konmmentaren und beit 
übrigen Schriften habe ich die bogmatiichen Gedanken des Hanptiverfes im 





Schüler: Die Vorftellungen von der Seele bei Plotin u, bei Origenes. 179 


Seine Unterfuchungen feheinen ich zunächit auf einem gänz— 
lich anderen Boden zu bewegen. Sie jcheinen nicht Wifjenjchaft 
von den Dingen, Philofophie zu fein, fondern Darlegung der 
bibliſchen Anſchauungen. Denn Origenes fennt im Gegenfag zu 
Plotin eine Autorität, welche die Quelle aller Wahrheitserkenntnis 
it, Chriftus allein ift die Wahrheit, und fie ift niedergelegt in 
den Werfen des Alten und Neuen Teftaments. Das allein ift 
zu glauben, was in feinem Punkt in Widerfpruch mit der kirch— 
lichen apoftolifchen Tradition it. — Aber die Differenz ift doch 
nicht jo bedeutend, wie es hiernach feheint. Denn einmal thut 
ſich der Sinn der Schrift ja nur dem preumatifchen d. h. dem 
allegorifchen Verſtändnis auf; damit ift aber gejagt, daß die aus 
dem heiligen Tert genommenen vejp. am fie hevangebrachten Er— 
fenntniffe von deſſen eigentlichem Sinn gänzlich verjchieden fein 
können, und weiter erftreckt fich die Darlegung des Origenes ge 
rade auf die Punkte, über die die Schrift Feine Auskunft gibt, 
jondern fie der „freien Unterfuchung" d. h. der philoſophiſchen 
Spekulation überläßt, welche die einzelnen Glaubensjäge innerlich 
begründet und in den Nahmen eines großen alles umfafjenden 
und erflärenden Syftems ſtellt. — Diefe originale That macht 
das Wert des Origenes dem des Plotin vergleichbar. Es wäre 
— abgefehen von dev Chriftologie — in feinen Grumdzügen als 
Weltanfchauung denkbar ohme die Anlehnung an die Schrift- 
worte, Und gerade, wenn wir feine Borftellungen von der Seele 
in das Auge faffen, wird dies deutlich werden. Zuerſt und vor 


ganzen nur beftätigt gefunden. Leider muß ich die Frage nad) der Glaub— 
würbigfeit der vorhandenen Fragmente zu de prineipis und ber Rufiniſchen 
Meberfegung ſelbſt umerörtert laffen. Ich habe feinen Grund, an der Nichtig- 
keit der Säge zu zweifeln, bie Hieronymus in der Ep. ad Avitum aufzählt. 
Sie ſcheinen mir zu dem Geiſt des Origenes zu pafjen, zumal wenn man bes 
denkt, daß die „häretiichen* Säge im Zufammenhang des Ganzen immerhin 
doch ein anderes Geſicht haben, als wenn fie für fich allein ftehen, Sodann var 
e3 doc nicht bes Hieronymus Abſicht, Origenes ſchlecht zu machen; er till 
nur feine Kegereien aufdeden, um zu erklären, daß er mit dieſen nichts zu 
thun habe; im übrigen kann er die Hochachtung vor ihm doch nicht verbergen. 
Schließlich ift die häufige Uebereinſtimmung der verſchiedenen Fragmente unter 
einander wichtig, — Sch werde bei wichtigen Stellen darauf hiuweiſen, wenn 
fie von Nufin abweichen, 





m 


180 Schüler: Die Borftellungen von der Seele bei Plotin u. bei Origenes. 


allem ift dabei die allgemeine Stellung zu berädjichtigen, die fie 
in dem Ganzen bes Syjtems einnehmen. Denn auch bei Origenes 
umfaßt die Lehre von der Seele weit mehr als eine bloße Lehre von 
der Menjchenjeele. Auch bei ihm fteht die Seele in der Mitte zwifchen 
der urjprünglichen reinen geiftigen Gottheit und dev finnlichen Welt 
der Materie. Auch hier ift das Dafein der letzteren mit den Be- 
wegungen der Seele eng verknüpft; auch hier endlich bewegt fich 
die Bahn der Seele in dem Hinab- und Hinauffteigen aus äther— 
iſcher Höhe zu finnlicher Materie und aus dem Kerker zu göttlichen 
Daſein. Verfolgen wir dies im Einzelnen, 

Wie bei Plotin im Anfang von allem und als das Oberfte 
von allem das Eine, 75 Ayadöv fteht, das jelbft feiner pofitiven 
Beſtimmung fähig, weil über jede echaben, doc) die Quelle alles Seins 
it, jo vedet Ovigenes in ähnlicher Weife von Gott, der intellec- 
tualis natura simplex, die Alles in ſich hat, von jeder Seite aus 
ovas, &v&s, mens ac fons, ex quo initium totius intellectualis 
naturae vel mentis est. Gott ift auch bier das abjolut Eine, 
Einfache, nicht Zufammengejegte, Unbeſchränkte im Gegenjag zum 
Vielen und Veränderlichen, und fo erhaben, daß er nur in dem 
Abglanz, der von ihm ausftrahlt, begriffen werden kann. — 

Die Vernunftnatur, die in ihrer Thätigkeit und Wirkſamkeit 
an feine Körpernatur gebunden ift, eignet Gott in erſter Linie, 
Wie aber dann in Plotins Vorftellung um die Gottheit in ab- 
gejtufter Weiſe fich der große reis des xöopoe vonrös herumlegt, 
von ihm ausgehend und die Verbindung mit einem Dritten und 
Unteren berftellend, jo auch bei Origenes. Hier ift es der Aöyag, 
die Weisheit Gottes, Gottes Kraft, der eingeborene Sohn des 
Baters, Ehriftus nach feiner göttlichen Natur, der die erſte 
Stufe nach dev Gottheit einnimmt. Dieſe Weisheit Gottes ent- 
hält in ſich Mefprung, Form und Geftaltung der gefamten Schöpf- 
ung, jo wie nach Plotin die Asyor jämtlicher Dinge im vods und 
der Fox enthalten find. Als drittes in der oberften göttlichen 
Trias folgt auf den Sohn der heilige Geift; das Wichtige hier- 
bei ift, daß er wiederum eine niedrigere bejchränktere Stufe ein: 
nimmt als der Sohn. Der Geift ift durch den Logos gemacht, 
wie diefer duch den Vater erzeugt ift. „Die Macht des Vaters 


Schüler: Die Vorftellungen von der Seele bei Plotin u. bei Drigenes, 181 


ift größer als die des Sohnes und heiligen Geiftes, und wiederum 
die des Sohnes größer als die des bi. Geiftes, und ebenjo ift 
auch die Kraft des hi. Geiftes größer als die der übrigen hei— 
ligen Wefen“ ’). 

In der Abftufung des Göttlichen hier wie dort ift die innere 
Verwandtſchaft der beiden Syjteme zu erblicken. Dabei iſt aber 
der Umitand, daß wir in beiden Fällen eine Dreiheit des Gött- 
lichen haben, ohne Belang, und es ift nur irreführend, wenn man 
die Firchliche Trinitätslehre im Einzelnen — die außerdem gerade 
in dem für uns wichtigen Punkt von der des Origenes recht ver 
ſchieden ift — bei Plotin wiederzufinden jich bemüht. Nament- 
lich entjpricht ja der hi. Geift inhaltlich keineswegs dem, was bei 
Plotin das Dritte ift, der Seele. Jedoch jet fich hier die Ver— 
wandtjchaft in anderer Weije fort. Denn auch bei Origenes ift 
& die Seele, die den unterjten Platz in der intelligibelen Welt 
einnimmt. Die Seele ift erfaltete Vernunft, "oxa, wird abgeleitet 
von böyerv; und auf die Vernunft der Einzelmejen weift Origenes 
hin, um die Vernunft Gottes klar zu machen. Aber ebenjo wie 
bei Plotin umjafjen die Seelen feineswegs nur die Menjchen- 
jeelen. Das Heer der Engel, die Fürftentimer, Throne und Ge- 
walten, gute und böje Geiſter — unter diefen der Satan an erſter 
Stelle — jie alle find bejeelt oder find Seelen. Der Menſch 
fteht in der Mitte zwifchen den guten und böfen Seelen, Und 
wie zu den belebten, bejeelten und zwar bejonders vorzüiglichen 
Weſen dem heidnifchen Griechen aucd) Sonne Mond und Sterne 
gehörten, jo auch dem Chrift germordenen Griechen. Und ſah 
jener Seelen auch in den Gefchöpfen, die unter den Menſchen 
ftehen, in Tieren und Pflanzen, fo erklärt es Origenes für etwas, 
das wohl von feinem bezweifelt werde, daß eine Seele in jedem 
einzelnen lebenden Gefchöpf, auch im den Waffertieren ift. Die 
unendliche Mannigfaltigkeit dev Welt weiß Origenes nur mit den 
unendlich vielen Arten und Stufen zu erklären, in denen die Ent: 
fernung der Seele von Gott ftattgefunden babe, — Aber nicht 
nur die Vorjtellung von der Verſchiedenheit und Allumfaſſendheit 
der Seelen ift beiden gleich, fondern vor allem auch die von dem 

+) Nach Hieronymus ad Avitum und Epist. Justiniani ad Mennam. 


182 Schüler: Die Vorftellungen von der Seele bei Plotin u. bei Origenes, 
unendlichen Wechjel, dem „Auf und Ab". Wir hören bier wie 
dort von einem Fall der Seele aus dem urfprünglichen Zuftand, 
der das Eingehen in die finnlichen materiellen Körper zur Folge 
bat. Darin trat uns die zentrale Stellung, welche die Seele im 
Syſtem des PBlotin einnimmt, am überrajchendften entgegen, daß 
fie die Verbindung herftellt zwiſchen der intelligibelen und der 
Sinnenwelt. Der xöopos zisdmrıxds bat mittel® der Materie 
feine Entftehung und feinen Beftand nur dadurch, daß die Seelen 
ſich nach unten hinabgeſenkt haben. Auch in diefem Punkt ver- 
leugnen die beiden Philofophen die Gemeinjamteit ihrer Anjchaus 
ungen nicht. Denn auch nach Origenes’ Lehre wäre ohne den 
Fall der Seele die Welt überhaupt nicht da; fie ift gefchaffen 
um ihretwillen; in die Fefjeln der Sinnenwelt wird die gefangene 
Seele gefchlagen. Aber diefer Zuftand der Inkorporierung iſt nun 
wiederum fein ewig bleibender. Die Seele behält ja ihrem Weſen 
nach die Verwandtſchaft mit Gott; fo wie die plotinifche Seele 
unter allen Umftänden, wenn auch nur im depotenzierter Weiſe, 
desjelben Wefens wie das Erſte ift, jo kann fie fich wieder 
auf ihren Urſprung befinnen. Sie kann dem Guten fich zuwenden 
und fo zur urfprünglichen Neinheit zurückkehren. Darum ift hier 
wie dort die ethijche Parole: Los von allem Sinnlichen, Körper: 
lichen! und. hier wie dort geht der Aufjtieg ſtufenweiſe vor fich. 
Auf der höchiten Stufe angefommen verliert die volltommene Seele 
bei Plotin alle individuelle Bejtimmtheit; fie geht in den voos 
zurück, von dem fie ausgegangen ift, ja fie wird eins mit dem 
Guten, mit Gott, Daneben fteht das Wort des Origenes, daß 
die Seele einjtmals nicht mehr Seele fein wird, mie fie einjtmals 
nicht Seele wart); denn fie ift ja nur erkalteter voos: weift doch 
fchon der Name darauf hin; die Seelen find erfaltet, weil von 
Gott abgefallen ; Gott ift das Feuer. — 

Diefe ganze Entwidlung der Seele herab und hinauf und 
die damit zufammenhängende Geftaltung und Entwicklung der 
Welt war bei Plotin vornehmlich beftimmt und geregelt durch 
die über allem jtehende Notwendigkeit. Auch diefe Betrachtungs- 
meife fehlt Origenes nicht, wen fie auch, wie wir jehen werben, 

9 Nach Hieronymus ad Avitum und Epist. Justiniani ad Mennam. 








Schüler: Die Borftellungen von der Seele bei Plotin u. bei Origenes. 188 


feineswegs dieſelbe beherrfchende Stellung einnimmt. Dagegen 
find beide Griechen völlig eins im dev Beurteilung der Sinnen- 
welt für fich allein; denn obwohl fie beide das Leben der Seele 
in der Rörperwelt als einen Zuftand betrachten, dem es möglichjt 
zu entfliehen gilt, find fie doch voll Bewunderung des Kosmos, 
die in der Betrachtung der Gejtirne als befeelter Weſen und in 
der Bermunderung fir ihre Bahn ihren poetifchjten Ausdruck findet. 
Vor allem ift es der Optimismus gegenüber dev Weltleitung und 
den Uebeln der Welt, der fich bei Origenes in einer Weife aus: 
fpricht, die von der des Plotin nicht zu unterfcheiden iſt. Das 
Uebel ift eine umvermetdliche Nebenwirkung des Guten, „Wenn 
der Zimmermann einen Balten zimmert, müfjen notwendig Späne 
fallen.” Auch in der Bruft des Origenes wohnen zwei Seelen 
und machen jeine Weltanfchauung fo reich. 

Wir erfonnen die große Gemeinſamkeit der Gefamtanjchauung 
in den Spftemen der Neuplatonifers und des Chriſten. Die Vor 
ftellungen von der Seele find wirklich die Seele des Ganzen. Alle 
Erkenntnis — von der Ethik ganz abgefehen — jteht im Zu: 
fammenhang mit diefen. Ohne Seele wäre überhaupt von der 
Welt nichts zu jagen ; denn dieje hat ihren Beſtand und ihr Leben 
lediglich im Zufammenhang mit ihr. Das Wifjen von der Welt 
und den Welten iſt Wiſſen von der Seele. 

Aber über der Gleichartigfeit der Anfchauungen ift nun frei— 
lich das andersartige Gepräge, das fie bei dem chriftlichen Philo— 
fophen erhalten, nicht zu überfehen. Dabei will ich gang abjehen 
von der Ehriftologie, von dem Satz, daß der Aöyoz fich mit einer 
beitimmten Seele verbunden habe, um die menjchliche Seele in 
dem Aufftieg zu Gott zu unterftüsen, jowie von allen Betrach- 
tungen und Vorſtellungen, die im Anfchluß an die Bibel gegeben 
werden, die aber mit den großen Zügen feiner Weltanfchauung 
feine innere Verbindung haben. 

Was dem Syftem des Origenes einen anderen Charakter als 
dem des Plotin gibt, das fcheint mir vor allem in der perjönlichen 
Auffafjung der Gottheit zu beruhen, Dadurch wird die Eigenart 
der religiöfen Stimmung, die über dev ganzen Welt des Plotin 
ausgebreitet ift, die Einheit der veligiöjen und der Welterfenntnis 

Heiefeheift für Tyeologie unn Are, 19, Jahrgang. 3. Heft. 13 





184 Schüler: Die Vorftellungen von der Seele bei Plotin u, bei Origenes. 


wejentlich verändert. Bei Plotin ift es das eine wahrhafte Sein, 
das in allem, wenn much depotenziert, vorhanden ift, mas über- 
haupt Sein heißt. Der Nus ift das Erſte und Gute jelbft, nur 
etwas verändert, weil vom Mittelpunkt etwas entfernt. Die Seele 
iſt ebenfalls in ihrem Weſen das Göttliche ſelbſt und wiederum 
hat alles, was nach der Seele folgt, fein Leben nur al3 ein Leben 
von ihr. In ihrem Herablommen jchafft die Seele die Körper ; 
fie entjtehen als eine Bewegung der Seele, und dieſe ganze Ent- 
wicklung gehorcht — das iſt die herrſchende Betrachtung — einen 
Geſetz. Mit innerer Notwendigkeit veiht ich eines an das andere 
und alles hat gar nicht anders werden können, als wie es ift. — Nicht 
jo bei Origenes; er vedet von Gott al$ dem Schöpfer und von 
der Seele als jeinen Kreaturen, die er in einer bejtimmten An- 
zahl gefchaffen hat. Die Notwendigkeit, die Origenes kennt, ift 
nicht der einfache Ausdruck des Wirflichen, das feine andere Ab- 
leitung zuläßt, jondern das consilium voluntatis dei. Der 
Ausdeuc wäre bei Plotin undenkbar, der ſogar ausdrücklich die 
perfönliche Betinmtheit, Denken und Wollen von dem „Erſten“ 
ausſchließt als etwas dem Wejen der Gottheit Widerjprechendes. 
Der Weg, den Drigenes die Seele durchlaufen läßt, von der 
Gottheit ausgehend, zur Gottheit zurückkehrend, ift wohl dem bei 
Blotin gedachten verwandt, aber eine tiefe Kluft läßt er be- 
jtehen zwifchen Gott und der Seele und zwiſchen der Seele und 
der Materie. Nicht geht eines in das andere über, jondern fteht 
getrennt nebeneinander; nicht ift es die Seele, welche die Adyar 
an die Materie heranbringt und dadurch die Sinnenmwelt zur Er- 
jcheinung bringt; die Verbindung ift eine viel äußerlichere: Gott 
ſchafft die Welt als einen Kerker und die Seelen werden in ihn 
hineingefeßt'). Die Vorftellung, gegen die Plotin ſich ausdrück- 
lich fträubt, daß die Seelen in den Körpern wären — und nicht 
vielmehr die Körper in den Seelen — trifft bei Drigenes 
durchaus zu. Hiemit hängt zufammen, daß das Herabgehen der 
Seele in die Sinnenmelt und die innige Verknüpfung mit 

) In gewiſſer Weife übernimmt ber Aöyog bes Origenes bei der Schöpfung 
die Funktionen, welche bei Plotin der Seele aufallen, Aber auch hier ver— 
ſchwindet das perjönlihe Moment nicht. 


Schüler: Die Borftellungen von ber Seele bei Plotin u, bei Origenes. 185 


ihr nicht ſoweit veicht wie bei Plotin. Denn wenn wir auch 
ſehen, daß die Seelen auch bei Origenes feineswegs nur bie 
Menjchenfeelen umfafen, jondern daß er auch bei Tieven und 
Pflanzen, ja bei einigen Metallen, ſowie im Feuer und in den 
Quellen Seelen anerkennt, jo bejteht doch ein tiefgehender Unter: 
ſchied zwiſchen rationabiles und irvationabiles animae: letztere 
ftellen eine ganz andere Art von Seelen dar; fie gehören nicht 
zu den aus göttlichem Leben herabgeſenkten Seelen). Es fehlt 
die eigentümlich plotinische Vorftellung gänzlich, daß das eine 
Leben dev Seele von dem Göttlichen zu dem Irdiſchen herabgeht, 
jo daß das Haupt der Seele immer im Himmel bleibt, mögen 
auch die Füße im Schmug waten, daß es eben nicht die ganze 
Seele ift, die einem finnlichen Einzelweſen inkorporiert tft. 

Die verjchiedenartige Anſchauung von der Entjtehung der 
Sinnenwelt kommt auch in der von der Materie zum Borjchein. 
In Plotins Syftem enthüllte fi) uns gerade an diefem Punkt 
eine jtarfe Diſſonanz, infofern er die Entftehung des Kosmos 
wirklich anfchaulich machen will und dies doch von feinem ein- 
zigen zu Grunde gelegten Seienden aus nicht kann. Aber jeden- 
jalls hat die Materie bei Plotin nichts Stoffliches an fich; feine 
Auffaffungen jcheinen auf den Standpunkt hinzuweiſen, der allein 
in dieſer Beziehung Klarheit jchaffen kann, auf den Standpunkt, 
der die Begriffe lediglich vom erfenntniskritifchen Standpunft aus 
‚als notwendig zum VBerftändnis der Welt erweiſt. 

Drigenes jcheint einer maſſiveren Vorjtellung zu huldigen. 
Er läßt den Stoff von Gott aus Nichts erjchaffen und aus dem 
Stoff die Welt geformt fein. Das ift eine Anfehauungsweie, 
die mit Plotin nichts gemein hat. Dabei darf man aber doch 
wiederum nicht verfennen, daß jich auch Origenes der Unzuläng- 
lichkeit dieſer Vorftellungen wohl bewußt geweſen ift. Denn er 
gerade hat ja die Anficht von der Emwigfeit der Schöpfung vor- 
getragen, daß der allmächtige Gott niemals ohne das All geweſen 
jein könne, an dem feine Almacht zur Bethätigung kommt, fo 


) Dabei iſt die Frage belanglos, ob eine vernünftige Seele aud) einmal 
infolge befonderer Schlechtigkeit in ein Tier inforporiert werben kann. 
13 * 


186 Schüler: Die Vorſtellungen von der Seele bei Plotin n. bei Origenes. 


wie ev niemals ohne den Sohn, ohne die Weisheit gemefen ift. 
Auch in der Definition der Materie felbft it die philofophifche 
Einficht des Origenes nicht zu verfennen, wenn er jagt, daß fie 
nur propria ratione (dem Begriff nach) etwas neben den Quali— 
täten fei, daß fie aber niemals ohne Qualität exiftiere, oder 
wenn er ihr die Eigenjchaft zuweiſt, aus allem in alles verwandelt 
zu werden. 

Die perjönliche Auffaffung der Gottheit bei Origenes fteht 
dem plotinifchen Begriff dev Notwendigkeit entgegen. Wohl 
noch im ftärferen Maß gilt dies von der gänzlich perfönlichen 
Fafjung der Seelen als Wefen, die mit einem felbftändigen Willen 
begabt find. Zwar redet ja auch Plotin von dev Freiheit der 
Seelen, von Schuld und Tugendftreben, aber der Unterjchied 
biegt hier in der Stimmung, in dem größeren Nachdruck, der auf 
das eine oder das andere Moment gelegt wird. Und da macht 
num bei Origenes die Willensfreiheit das eigentlich Conſtituirende 
in dem Wejen der Seelen aus; er lehrt, daß die Seelen weder 
im Guten noch im Böfen ivgend einer Notwendigkeit unterworfen 
feien. Allen Berjehiedenheiten der Stellung und des Seins der 
Seelen liegt ihre eigene Entjchliefung zu Grunde!) ; das Gegen- 
wärtige tft die Strafe oder Belohnung für das, was Die Seele 
in früheren Welten geweſen ift. Uxfprünglich find alle Seelen 
gleich und urſprünglich gut gejchaffen; aber dieſes Gute war in- 
fofern doch kein Vollkommenes, als e8 nicht auf eigenem Entſchluß 
berubte. Damit erſt wird der gottgewollte Zuftand in der jchließ- 
lichen Vollendung erreicht?), Wie gewaltig den Origenes das 
Bewußtſein von der unendlichen Freiheit und Regſamkeit des fitt- 
lichen Willens beherrſcht, das gelangt darin zu einem überraſchend 
großartigen Ausdrud, daß fein Geift um diejes Dogmas willen 
auf den anderen aroßartigen Gedanken verzichtet, daß alle Krea— 
turen Gottes einftmals aus der Getrenntheit von ihm, aus dem 

4) Freilich Heißt es, dab gewiffe Seelen von Gott zu Helfern der ges 
fallenen Seelen gezwungen ſeien; aber das betrifft nur ihre Thätigkeit, nicht 
ihre Qualität, 

*) Darum kann Origened auch wieder fagen, daß es außer bei Gott über 
haupt feine Uriefentlichfeit des Guten gebe, 





Schüler; Die Vorſtellungen von der Seele bei Plotin u, bei Origenes. 187 


Kreislauf von Schuld und Stiafe zu ihm und zur bleibenden 
Seligfeit im Anfchauen Gottes zurücktehren werden. Origenes 
verzichtet auf diefen Gedanken oder vielmehr er überbietet ihn 
durch fein Yreiheitsdogma. Denn wohl wird dev Zuftand der 
Wiederherftellung von allem eintreten, aber er wird dann doc) 
nicht das Ende der Entwidlung fein. Denn die Willensfreibeit 
bleibt dev Seele ; und jo wird nach gewifjen Zeitläufen das Ringen 
von neuem beginnen: es werden jich Seelen wieder von Gott 
entfernen und neue Welten werden entjtehen müſſen zu ihrer 
Strafe und Läuterung!). Der Weltlauf hat kein Ende 2), 

Ich finde keinen inneren Widerfpruch darin, daß Origenes 
diefen Gedanken gehabt hat und doch für gewöhnlich im Hinblick 
auf das Ende bei dem Zuftand der Ruhe und des Vollendetſeins 
verweilt. Aber auch dabei tritt eine nicht unmefentliche Ver— 
jhiedenheit zu Plotin hervor. Hier ſcheinen die Rollen des Phir 
lojophen und des Theologen faſt vertaufcht. Es ift die Sprache der 
Moftit, in der Blotin von dem leßten Ziel jpricht, das die Seele 
erreichen fan, von dem Einswerden mit dem Ureinen, frei vom 
Körper, frei von jeder individnellen Bejtimmtheit über alle Schran- 
fen, ja tiber das Denken ſelbſt erhaben, das auch nur ein be 
ſchränktes Sein darjtellt gegenüber dem unjagbaren, undenkbaven 
Entzücken, welches das Aufgehen in die Gottheit bedeutet. Auch für 
Origenes ijt das Einsjein mit Gott refp. auch mit Chriftus das 
höchſte Ziel. Aber er ift fein Myſtiker. Nicht nur läßt ev, wie 
wir ſahen, die Seele doch in ihrer Individualität beitehen?), 
ſondern der Zuftand der Seligkeit jelbft ift ein anderer. Origenes 

4) In Hieronym. ad Avitum erhalten. 

) Man wird bei diefer Ausführung am die große Eonception Heraklit’s 
von dem ewigen Werben erinnert, Ich weiß nicht, ob irgend ein anderer 
hriftlicher Denker diefen Gedanken wieder aufgenommen hat, Es ſpricht aus 
ihm eim ungemein ftarker fittlicher Wille und ein unermüdlicher Thätigkeitsdrang. 

») Die vielerörterte Frage, ob dabei der Körper gänzlich abgeftreift it, 
tommt hier nicht in Betracht, Die Nachrichten feinen mir zuverläfftg, welche 
ihn von einem völligen Verſchwinden der Materie reden laffen. Auf der ans 
dern Seite mag er auch wieder von einem „Körper“, aber einem gänzlich ver 
geiftigten geiprochen haben. Beides ift möglich; er hat noch nicht für alle 
Fragen fefte Antworten und läßt dem Zefer Häufig genug jeloft die Entſcheidung. 





188 Schüler: Die Vorftellungen von der Seele bei Plotin u. bei Origeues. 


ift bier viel mehr griechifcher Denker, dem die Erkenntnis das 
Höchfte in der Welt ift, als Plotin. Wir merken «8 der 
Schilderung am Schluß des 2. Buches an, wie unerfättlich fein 
Durſt nach Erkennen ift. Stufenweife wird er bei den abgeſchie— 
denen Seelen befriedigt, indem fie zu immer höheren Regionen 
auffteigen. Sie werden dann erkennen alle Geheimnifje des Him- 
mel3 und der Erde, der Natur und der Gejchichte, der Vergangen— 
heit, Gegenwart und Zukunft, des Irdiſchen und Ueberirdiſchen. 
Sie werden Gott ähnlich werden im Anſchauen und Erkennen 
Gottes. 

Nur in kurzem Ueberblick haben wir ung an einem der wich— 
tigften Punkte die Syjteme vergegenmärtigt, welche der Ausdruck 
der Spekulation, der ethifchen umd religiöfen Ziele ihrer Schöpfer 
find. Drigenes ift vom Nleuplatonismus jelbft noch nicht beein- 
flußt, aber wir fahen, wie jtark ſchon die Verwandtjchaft feiner 
Gedanken mit den neuplatonischen Weltaufbau it. Aber bei 
allem tritt der chriftliche und der eigenartige Charakter der Per— 
jönlichfeit des Origenes doch noch deutlich genug zu Tage. Ori— 
genes, freier, ftarfer, gleicherweiſe chriftlich wie philofophifchemiffen- 
fchaftlich bejtimmter Geift hat es verjtanden, in einer Glaubens- 
lehre beide Intereſſen zu verbinden. Bei feinen theologijchen Nach— 
folgern jehen wir nur zu oft, daß fie entweder einem ftarren 
Biblicismus und Realismus fich ergeben und alle Verbindung 
mit der Wiſſenſchaft, mit der Philofophie aufgeben, oder daß fie 
faft alle chriftliche Beftimmtheit — gerade in der Gottesvorftellung 
— verlieren und die neuplatonijche Weltanfhauung und ihre 
religiöfe Stimmung zu der ihren machen. 


189 


Chritentum und Cheofophie‘) 
von 


F. Niebergall, 


Pfarrer in Kirn a. Nabe, 


Einleitung. 


Zufällig mit den Bejtrebungen der Theojophie befannt ge 
worden, wandte ich mich an einen hervorragenden Führer dev 
Bewegung um Auskunft. Darauf erhielt ich folgenden Brief. 
„Die theofophifche Bewegung wirkt überall dort auf der ganzen 
Erde, wo Menfchen nach wahrer Aufklärung jtreben und von Wohl: 
wollen zu einander erfüllt find, gleichviel ob fie einen Mitglieder- 
ſchein der Theofophijchen Gefellihaft als Organijation beſitzen 
oder nicht. Die ganze Entwiclung des Weltalls von Gott zu 
Gott zurück ift theofophijche Bewegung im weitejten Sinne des 
Wortes. Der Teil der geiftigen Gvolution, zu dejjen Trägerin 
die 1875 gegründete Theosophical Society beftimmt ift, bejteht in 
der Bildung eines Kernes zur Berbrüderung dev Menjchheit ohne 
irgendwelchen Unterjchied der Nafje, Nation x. „Jeder Mann, 
jede Frau und jedes Kind auf der ganzen Exde, das mit Diefem 
Hauptzwed der Theofophijchen Gejellichaft einverjtanden ift und 
jeine Verwirklichung mit anftrebt, ift dadurch ein Mitglied der 
geiftigen Gemeinfchaft dev Theoſophiſchen Gejelljchaft. 


1) Das Wort Theofophie jelbit bezeichnet zwar nur den idealen Zuftand 
der erreichten Erkenntnis des Einen im Al, Der Name für die Lehre aljo 
für das, was darftellbar ift, heißt theojophifche Lehre oder Weltanfchauung. 
Allein ber Kürze wegen ift im folgenden gewöhnlich der Ausdruck Theoſophie 
für bie gefamte Bewegung gebraucht. 


—— 


190 Niebergall: Chriftentum und Theojophie. 


Diefe geiftige Gemeinfchaft hat einen äußeren Ausdruck in 
dev Bildung theofophifcher Organifationen in allen Exbteilen mit 
vielen Taufenden von Mitgliedern gefunden. Doch es giebt wahre 
Mitglieder auch außerhalb der Organifationen und falfche inner- 
halb derjelben, fodaß Angaben der Mitgliederzahlen wenig Wert 
haben. Statijtifen jtehen jogut wie gar nicht zur Verfügung. 

Es giebt im allgemeinen gegenwärtig drei Arten von theo- 
ſophiſchen Organifationen: 

1) folche, die fich an das Hauptquartier in Madras anfchließen 
und Sol. Olcott als Präfidenten der aus den verfchiedenen Na— 
tionalgefellfchaften bejtehenden Theofophifte Society betrachten; 
2) jolche, die Ms. Katharine Tingley in New York als Auto— 
vität anerkennen und fich unter den gemeinfamen Namen „Uni- 
versal Brotherhood“ vereinigt haben; 3) jolche, die frei und 
jelbjtändig als Organifationen find, aber mit allen Vereinigungen, 
die dogmenloje Aufklärung und Verbreitung von Wohlwollen bes 
zweden, in Harmonie zufammenarbeiten. Dieſe Gejellfchaften 
haben bis jest wohl die geringjten Mitgliederzahlen, fie befinden 
ſich aber auf der wahren freien Grundlage der Theofophifchen 
Geſellſchaften. Zu diefer dritten Art von Gejelljchaften gehört 
die Theofophifche Gejellichaft in Deutjchland, Geſchäftsſtelle Leipzig, 
Inſelſtraße 25. Ihren Sagungen ift vorgedrudt: Weder Geſetz— 
lofigfeit noch Tyrannei, jondern Aufklärung; weder Willkür noch 
Bevormundung, fondern Harmonie; weder Unglaube noch Aber: 
glaube, jondern Erkenntnis, 

Die theojophijche Bewegung wird von einer Anzahl Zeitungen 
und Beitjchriften zu fördern gefucht; es evjcheinen deren eime 
ziemlich große Anzahl in allen Erdteilen. 

In Europa: Deutjchland Der Theofophijche Wegweiſer 
Lotosblüten, Theofophijches Leben, Neue Metaphyſiſche Rundſchau. 
In England erfcheinen ihrer drei, in Frankreich, in Spanien, in 
Italien, in Schweden je eine, außerdem Zeitjchriften in norwegifcher, 
czechiſcher und niederländischer Sprache, In Amerika find es jechs, 
in Aſien fünf, in Auſtralien ift es eine. 

An Deutjchland beginnt wohl nach und nad) die in Geftalt 
von vielen Taufenden von Flugblättern, Sabungen der T. ©, 


Niebergall: Chriftentum und Theofophie, 191 


Brofpekten, Probenummern und Vortragsverfammlungen, ſowie 
Büchern, gefäte Saat zu feimen und aufzugeben. Es wird wohl 
noch eine lange Neihe von Jahren dauern, bis die Frucht veif 
wird und in die weiteften reife das theofophifche Element ein- 
gedrungen iſt und fich eine höhere Weltanfchauung mit allen ihren 
jegensreichen Konſequenzen verbreitet hat, Theofophifche Vereine 
bejtehen im Leipzig, Nürnberg, Dresden, Hamburg, Berlin, Han- 
nover, Stuttgart, Wien, Budapeſt, Graz, Brünn, Prag. Doch) 
es ift in vielen Städten erft der erfte Anfang. Wenn wir das 
Wort befolgen: ſteh fejt, geh langfam, vermeide Streitigkeiten 
und fürdere in ruhiger Beſonnenheit dein Werk, jo wird fich der 
Baum der theofophifchen Bewegung in Deutjchland ruhig ent 
mwiceln und einft vielen Schub und Schatten geben. 

Das Intereſſe beſchränkt fich nicht auf gewiſſe Kreife. Es 
interefjieren fich Leute dev unterſten Geſellſchaftskreiſe ebenſo für 
die theojophijche Bewegung wie folche der höchſten. Wir haben 
als Abonnenten 3. B. Vertreter der römiſch-katholiſchen, altka— 
tholifchen, griechifch-Tatholifchen und evangeliſch-lutheriſchen Kirche, 
Gelehrte und auch Arbeiter, Männer und Frauen, alte und 
junge Leute", 

So meit der Brief. Es iſt wohl jeßt jchon ar, daß es 
von großer Wichtigkeit für uns ewangelifche Theologen fein muß, 
diefe Erfeheinung uns näher anzujehen. Einmal können wir unſere 
eigene Anſchauung beſſer in ihrer ganzen Tiefe und Eigenart ver: 
ftehen fernen, wenn wir fie im Gegenſatz gegen eine jo ganz 
verfchiedene andere uns zum Beroußtjein bringen. Dann ijt es 
wertvoll, fich zu fragen, wo die Mängel und Fehler unferer Ber- 
kündigung ſtecken müfjen, wenn es Leute giebt, die ihr Bedürfnis 
nach einer höheren Weltanjchauung nicht bei dem ihnen von Haus 
aus näher liegenden chriftlichen Glauben, fondern bei einer fo 
fremdartigen Erſcheinung zu decken juchen. 

Unter dieſen Gefihtspuntten habe ich die Theojophie darzu— 
ftellen gefucht. Vor allem habe ich mich gehalten an den bei 
Arthur Weber in Leipzig erſcheinenden theoſophiſchen Wegweiſer, 
der monatlich erjcheint und in einfacher Form, ſoweit es möglich 
it, die Gedanfengänge der Theojophie zur Darjtellung bringt. 





192 Niebergall: Chriftentum und Theojophie. 


Manches habe ich auch gelernt aus den Lotosblüten, einem in 
größerem Format ericheinenden Monatshefte, das von dem gei— 
jtigen Führer der Bewegung, dem Dr. med. Franz Hartmann 
herausgegeben wird. Hartmanns Auffäge jind klar, zum Teil 
glänzend gefchrieben. Won den vielen Büchern, die die Lehre dar— 
stellen, nenne ich nur die Ejoterijche Lehre oder Geheimbuddhis: 
mus von A. P. Sinnet Leipzig, Griebens Verlag, Beſant, 
Die fieben Prinzipien, Hartmann, Karma, beide Leipzig 
Wilhelm Friedrich. 

Es verbinden fich mit der Theojophie eine Reihe von prak— 
tifchen Beftrebungen ; es ift viel von Magie und von Spiritismus 
die Rede. Im Folgenden befchränfe ich mich auf die Teile des 
Ganzen, die eine Weltanfchauung oder eine Religion geben wollen. 
Die Anjasftellen für Magie und Spiritismus deute ich nur an; 
gar nicht erwähnt werden all die andern Dinge, die fich leicht in 
gemeinfamer Oppofition gegen herrſchende Anfichten mit der Theo» 
jopbie zufammen finden, weil fie auch eine gewiſſe innere Ver— 
bindung nach der Meinung der Lehrer mit ihr zu haben jcheinen, 
z. B. der DVegetarianismus, der Kampf gegen die Folter ber 
Tiere in der Bivifektion, neue Heilmethoden u. ſ. mw. 

Auch kann man unmöglich den ganzen Umfang der jo üppig 
entwicelten Lehren auf fnappem Raume zufammendrängen; ich 
bejchränfe mich darum auf die mir am wichtigften erjcheinenden 
Geftaltungen der Theofophie, wie fie in den Zeitfchriften zur An— 
eignung dargeboten werden. 


Die Lehre der Theoſophiſchen Weltanfchannng. 

Das populäre Organ nennt fich Theoſophiſcher Wegweifer 
zur Erlangung der göttlichen Selbfterfenutnis, Heitfehrift zur Ver- 
breitung einer höheren Welterfenntnis und zur Verwirklichung der 
Idee einer allgemeinen Menfchenverbrüderung, auf Grundlage der 
Erkenntnis der wahren Menfchennatur. Die theofophijche Be: 
megung beruft fich alſo für ihr Auftreten auf zwei Erfcheinungen 
der Gegenwart: einmal auf die verfehrte geiftige Strömung der 
gegenwärtigen Wiſſenſchaft, die nur auf das Stoffliche gerichtet 
ift, und ihren übertriebenen Intelleftualismus; ihr fteht gegen- 





Niebergall: Chriſtentum und Theofophie, 193 


über der Aberglaube an den perjünlichen Gott, der lohnt und 
ftraft, und an eine von außen an dem Menfchen herantretende 
Erlöfung. Ferner beruft fie ſich auf die trotz der ſcheinbaren 
Herrfchaft der Religion der Liebe in der Welt verbreitete Selbft- 
fucht, die zu den ſchrecklichſten foztalen Zuftänden geftihrt hat. 
Demgegenüber will fie zwei Ziele evreichen, einmal eine höhere 
gerftige Weltanſchauung, die auf alle Fragen nach den uns über— 
all umgebenden Rätſeln Auffchluß giebt und nicht weniger den 
Verftand des Menjchen als feine höchften Gemütsbedürfniſſe zu 
befriedigen ſtrebt. Dabei joll fie Anfchluß fuchen an die moderne 
Wiffenfchaft, die in der Entwiclungslehre befteht. Die Theoſo— 
phie bietet mit ihrer Lehre die efoterifche Weisheit, die allen Re— 
ligionsſyſtemen und allen befjeren philofophifchen Weltanfchauungen 
zugrunde liegt, und die von allen Weifen aller Zeiten und Völker 
gelehrt worden ift. Dann foll auf Grund diefer Erkenntnis eine 
allgemeine Menfchenverbrüderung erftrebt werden, die alle Menschen 
ohne Unterjchied der Raffe, Religion und Nationalität umfaßt, 
Den Kern dieſer Menfchheit joll die theofophifche Geſellſchaft 
bilden. In dieſer Verfafjung der Menjchheit joll dann auch der 
Einzelne fein Glück, die Rettung aus Elend und Verzweiflung finden, 

Der Gedanfe der allgemeinen Verbrüderung ift noch wenig 
bisher entwickelt. Es ift die noch mmentfaltete Blüte am Baum 
der Theofjophie, Deſto mehr Wert ift aber auf den Kelch und 
den Stengel der Pflanze gelegt, nämlich die theojophifchen und 
offultiftifchen Grundanſchauungen. Diejelben werden unermüdlich 
zur Darjtellung gebracht, ohne daß auf Seiten der Lefer eine all- 
mäbhlich eintretende Ermüdung vermieden wäre Diefe Lehren 
ſollen zur Stüße der allgemeinen Menfchenverbrüderung ausge 
ftaltet werden. Als Brüder follen wir uns anfehen auf Grund 
der Erkenntnis der Einheit des göttlichen Weſens. Diejes Eine, 
das durd) alles hindurchgeht und in diefer feiner Eigenfchaft ala 
gemeinfame Grundlage aller Weſen den Grund zur allgemeinen 
Liebe hergeben foll, gilt e$ zu erkennen. Die Ausdrucdsweife fir 
diefes Eine wechſelt. Bald heißt es bloß: das göttliche Wefen 
in allen Dingen, bald mit Betonung und fettgebruckt: Gott, bald 
heißt es das wahre Selbjt des Menfchen. Alle Ausdrüce be 


194 Niebergall; Chriftentum und Theofophie. 


jagen dasſelbe. Gemeint ift, wie es heißt, die Wahrheit und 
Weſenheit aller Dinge, welche dem Scheinwefen der vergänglichen 
Welt zugrunde liegt. Zur ummittelbaren Erfahrung bietet fich 
diejes Eine dar in dem wahren Selbſt des Menfchen, das mit 
dem göttlichen Grund und Weſen der Außenwelt identijch iſt — 
alles Gott, Es giebt feine wichtigere Aufgabe als die Erkennt 
mis diejes göttlichen Wejens in uns, die wahre Selbfterfenntnis, 
die Erkenntnis Gottes, der jedem ſich im eigenen Innern offenbart. 
Einer äußeren Offenbarung in Perfonen und Büchern bedarf es 
nicht oder fie hat gar wenig Wert, Das göttliche Weſen ift ver- 
borgen in uns jelbft, es liegt unter dem Schutt der Leidenfchaften. 
Das Licht der Wahrheit, das, was wir den Chriftus in ums 
nennen fönnen, ſcheint in einem jeden, der fich die Mühe nimmt, 
darnach zu juchen. Hat er es in ich gefunden, dann gewahrt ex 
es auch überall in der weiten Natur; fie ift ganz und gar eine 
Offenbarung der Wahrheit. 

Mit allem Nachdruck wird auf die Selbjterfenntnis der wahren 
göttlichen Natur in uns gedrungen. Mit achtungswertem Eifer 
wird darauf hingewiefen, daß diefe göttliche Selbterfenntnis nie 
mals durch Bücher und Lehren gegeben werden kann, jondern daß 
fie jelbjt errungen werden muß. Es jind uns ſehr ſympathiſche 
Klänge, wenn wir immer wieder lefen, daß nicht der ein Theo» 
ſoph ift, der alle Lehren weiß, jondern nur der, dem fie eigenfte 
Meberzeugung geworden find, Ein beliebtes Bild drückt es jo aus: 
Nicht der ijt ein Theofoph, der den Weg weiß, fondern der ihn 
ging. Aber, wird daraus gefolgert, wenn einer den Weg ges 
gangen ift, dem joll man auch glauben, fo wunderbar auch die 
Sachen jein mögen, die er gejehen hat. Selbjterfennen, nicht auf 
Dogmen jchwören und Formeln nachjprechen führt zum Ziele! 
das ift die eine Seite dev Sache; glauben den Erzählungen derer, 
die mehr wiſſen, das ift die andere; aber es überwiegt unbedingt 
die Schägung der jelbfteigenen Erkenntnis, die man auf die Aus: 
jagen der Erfahrenen bin gewonnen hat. 

Die Selbfterkenntnis des göttlichen Lebens in uns ift der 
Höhepunkt aller Erkenntnis, Man muß jich um fie mühen, in 
dem man die ihr entgegen ftehenden Hinderniſſe wegſchafft und 


Niebergall; Ehriftentum und Theoſophie. 195 


in feinem Innern nach dem wahren Selbft ſucht. Wenn man 
fie erlangt hat, dann erfennt man Gott im fich und ſich im Gott. 
Erkennendes und Erfanntes find identifch. Ohne Schlüffe und 
DBeweife weiß man, das ijt Gott. Dieſe Unmittelbarkeit erhebt 
die Theofophie über alle Wiſſenſchaft und Philoſophie, die doch 
nur die Befriedigung der eigenen Neugierde für den höchiten Grad 
der Erkenntnis halten. 

Diefe unmittelbare Berührung mit dem Gegenftand des 
höchiten Wiſſens ift jelten, aber an feine Religion und Lehre ge- 
bunden. Sie findet fich allenthalben. Der Chrift, dev das Licht 
der Welt in feinem Herzen kennen gelernt hat, der wirkliche 
Buddhiſt, der durch diejes Licht ein Buddha geworden tft, der 
Brahmane, der in Brahma jeine Zuflucht gefunden hat, fie haben 
alle keine Theorien nötig, weil fie das Objekt ſelber erfaßt haben. 
Leider bleiben aber die meijten Anhänger aller Religionen in den 
Aeuperlichkeiten und an den Buchſtaben hängen. Das hindert 
fie, den Geift und die Kraft zu erlangen, die durch diefe Formen 
dargeftellt werden. Die nötigen Ratjchläge, um zu diefer wahren 
Selbfterkenntnis zu kommen, finden ich in der Bibel, in den 
Schriften der Heiligen aller Zeiten, befonders deutlich im der 
Bhagavad Gita. Weil in jeder befjeren Religion fich der Weg 
zum wahren Selbft findet, mag jeder ruhig in feinem Belenntnis 
bleiben, Nur muß er darnach trachten, das aller Neligion zu- 
grunde liegende Gemeinfame fich zu eigen zu machen. 

Die göttliche Selbterfenntnis ift die Beftimmung des Menjchen. 
Sie verwirklicht fich, fobald der Menfch durch Neberwindung feiner 
perjönlichen jelbftjüchtigen Natur die Hinderniffe befeitigt, die der 
Bewußtſeinsentfaltung feines göttlichen Selbjt im Wege ftehen. 
Diefe Ueberwindung feiner jelbitfüchtigen Natur vollbringt der 
Menſch, indem er fein Bewußtfein tiber diefelbe erhebt. Dazu 
muß er aber das Emige, Umentftandene von dem Zeitlichen zu 
ſondern wiffen. 

Zu diefer im Verhältnis einfachen Lehre von der Einheit 
des All und feiner Erkenntnis treten als michtigfte Lehren noch 
hinzu die von der fiebenfachen Zuſammenſetzung der menfchlichen 
Seele ımd die von dem Fortfchritt des Menjchen nach dem Ge- 


196 Niebergall: ChHriftentum und Theoſophie. 


ſetz der Evolution mittelit dev Reinkarnation unter der Leitung 
des Karma, 

Diefe Lehren wollen dazu helfen, daß der Menſch einen 
Lebenszweck geiftiger Art fich vorſetzt. Diefer Lebenszweck bejteht 
darin, Daß er zu immer größeren und höheren Entwicelungen 
reife, bis daß er Gott geworden iſt. Wenn die Theofophifche 
Lehre in dieſer Weife ein über diejem Leben liegendes Ziel dem 
Menſchen ſteckt, jo meint fie e8 als eine platte Lehre bezeichnen 
zu müfjfen, wenn man meint, das menschliche Leben beginne evit 
mit der Geburt. Sie nennt es widerjprucdhsvoll, zu glauben, der 
Menſch erwerbe fich bier in diefem Eleinen iwdifchen Dafein exjt 
die Ewigkeit. Ewigkeit habe nicht nur fein Ende, jondern auch 
feinen Anfang. Menjchen, das jind Geifter, die der Urgeift ge— 
ſchaffen hat, die in immer neuen Masken (Berfonen) wiedertommen 
auf die Exde, bis fie ihr Ziel erveicht haben. Das ift die Lehre 
von der Wiederverkörperung (nicht Seelenwanderung). Es ijt 
ein leichtes, nachzumeifen, daß der Glaube an fie alle philoſo— 
phiſchen Syfteme ducchdrungen hat. Aber wichtiger als die Kennt 
nis der Lehre anderer ift, daß wir felbjt den uns einwohnenden 
unfterblichen und göttlichen Teil unferes Ich Eennen lernen. Zwar 
haben die meiften Menfchen von dem Bemußtjein, das dem uns 
sterblichen Menſchen eigen ift, nichts. Aber das iſt fein Beweis 
gegen dieſes Bewußtjein und gegen das, mas es ausjagt, Es 
beweift nur die Verkommenheit des gegenmärtigen Gejchlechtes, 
das nicht imftande ift, jene einfache Urwahrheit in fich zu finden. 
Es giebt aber manche geiftig exleuchtete Menfchen, die es fich 
nicht etwa einbilden, jondern ich thatfächlich erinnern, was für 
eine Maske fie in früheren Verkörperungen getragen haben, 3. B. 
Buddha, Vythagoras, Apollonius von Tyana und andere, Auch 
Kinder, die nicht verbildet find, erinnern fich heutzutage noch oft 
an Dinge, die vor ihrer Geburt liegen. Ein thatjächliches Er— 
innern findet ftatt bei allen denen, die ihr perfönliches Bewußt— 
fein mit dem höheren vereinigt haben. Hier wie überall in der 
wahren Lehre bilft es nicht, Theorien anzuziehen, es kommt viel- 
mehr darauf an, eigene Erkenntnis zu gewinnen, Das Verftänd- 
nis der wahren Religion ift nicht Jedermanns Sache. So fpricht 





Niebergall: Chrütentum und Theofophie. 197 


die bejonnene Erkenntnis der Führer von diefen geheimnisvollen 
Dingen; dagegen wollen wir nicht allzuviel Gewicht legen auf 
eine offenbar jugendfichsbegeifterte Dellamation, die die Wieder 
geburt als eine jo klare Thatjache hinftellt, wie die des Lichtes, 
das von allen gejehen werden kann. 

Das Ziel der menjchlichen Entwicklung bejteht darin, ſich 
dem Selbjtwahn zu entziehen und die Einheit mit Gott zu er— 
kennen. Aber diefes Ziel ift jo hoch, daß man es nimmermehr 
in einem Leben erreichen kann. Unzählige Wiederverförperungen 
find nötig bis man einerſeits durch die Erkenntnis des göttlichen 
Wejens die Begierde zum Dafein überwunden hat und anderer: 
feits durch die Neberwindung diefer Begierden zu diefer Exfennt- 
nis gelangt; denn das eime ift Durch das andere bedingt. Es 
kann fein Menjch durch eine Verneinung des Willens zum Leben 
dem Dafein entfliehen, das gefchieht nur durch die Kraft der 
Gotteserfenntnis in ihm. Die Nichterkenntnis ift es, welche die 
Wurzel aller Leiden in diefem Leben umd nach dem Tode bildet, 
Denn alle Leiden entfpringen der Begierde zum perjönlichen Leben, 
und der Abkehr von diejer Begierde folgt die Befreiung vom 
Leiden. Ein jeder Menſch hat in feinem Innern einen Keim des 
Wahren; je mehr er zum Leben und zum Bemußtfein kommt, 
umfo mehr erwacht die wahre Erkenntnis in ihm, bis jie den 
ganzen Organismus durchleuchtet. Nichterfenntnis und Egoismus 
verfehroinden und es erhebt fih aus den geborftenen Schaalen 
die zum wahren Selbjtbewußtjein gelangte Seele auf den Schwingen 
ihrer göttlichen Kraft zu dem wahren göttlichen Leben, Das ift 
ein Zuftand, der fich nicht befehreiben, fondern nur erfahren läßt. 
Das ift das Eingehen in Nirwana, daS feine Wiederverförperungen 
mehr nötig macht. Kein Eingehen in das Nichts ift es, wie man 
Fäljehlich behauptet, fondern ein Eingehen in Gott, ein Einswerden 
mit ihm, der der Höchfte iſt. 

Diefe Lehre von der Wiederverförperung tritt in einen engen 
Zuſammenhang mit einer großen Eosmifchen Gedankenreihe, bei 
deren Borjtellung einen oft ein gelinder Schauer überläuft. Das 
Univerfum ift in ewiger Veränderung und Entwicklung. Es be- 
wegt ſich von den niedrigiten Zuftänden bis zu den böchiten 





198 Niebergall: Ehriftentum und Theoſophie. 


geiftigen. Nichtindividueller Geift ſenkt fich von dem großen Urs 
geift ausgehend, durch die höheren Ebenen herab, bis er das 
Mineral, Pflanzen: und Tierreich durchlaufen und ſich als Menſchen— 
feele individualifiert hat, Dann beginnt jeine Rückkehr, indem 
er von der niederften Ebene, der menjchlichen Ebene wieder zu— 
rück zu Gott emporzufteigen beginnt, um fich bewußt mit ihm zu 
vereinigen. Die abjteigende Entwidlung gejchieht infolge kosmiſchen 
Erfenntnisdranges, die aufjteigende vom Tiermenfchen zum Menſchen 
und von da zum Gottmenfchen kann nur durch Selbjterziehung 
gejchehen, Erſt muß der Vulkan der tierischen Gelüfte erſtickt 
und bie finnliche Begierde gebändigt werden durch Heberwindung 
der großen Ketzerei des Sonderdafeins, dann ift dev große Zeit 
puntt gefommen , wo fich Kräfte in dem Menfchen entfalten, die 
ihm mit dem allem zugrunde liegenden Weſen vereinigen. 

Es verbindet jich mit diefer Auffaffung der menjchlichen 
Lebensaufgabe eine weltumfparnende Kosmologie, die wir in den 
Grundzügen vorführen wollen. Die Erde bildet mit ſechs andern 
Planeten eine Planetenkette. Die große Flutwelle des von dem 
Urgeiſt ausgehenden Lebens ergießt fi) nacheinander tiber dieſe 
Globen und ift gegenwärtig gerade auf der Exde thätig. Ein 
Umgang der Lebenswelle über die 7 Planeten iſt eine Runde, von 
denen 7 ein Mavantara d. i. eine Periode der Thätigfeit des 
MWeltgeiftes ausmachen. Wir befinden uns jet in der vierten 
Runde. Es bewegt ſich die Flutwelle des Lebens, die Triebfraft 
der Welt jpiralförmig durch das Umiverfum hindurch, d. h. das 
Einzelweſen, welches eine Runde vollendet hat, beginnt die neue 
auf der nächſt höheren Stufe geijtigen Lebens. Wir wollen «8 
anfchaulich zu machen fuchen. Die volle Entwidlung des Stein 
veiches auf der Welt A bereitet der Entwicklung des Pflanzenreiches 
den Weg. Dann ftrömt der Antrieb des Steinveiches auf Die 
Welt B über. it die Entwicklung des Pflanzenreiches auf der 
Welt A vollendet und beginnt die des ZTierreiches, dann ſtrömt 
der Antrieb des Pflanzenreiches auf B und der des Steinveiches 
auf C über. Dann gelangt der Antrieb der menjchlichen Lebens- 
entwiclung nach A, — um dann nacheinander die Welten zu 
durchlaufen. — Betrachten wir noch befonders die Entwicklung 





Niebergall: Ehriftentum und Theojophie, 199 


des menjchlichen Gejchlechtes auf der Erde, die von dev Welten- 
fette nur ein Glied bildet. Sie wird durch verfchiedene auf ein- 
ander folgende Entwiclungswellen bewirkt, die den auf einander 
folgenden Welten der Blanetenkette entjprechen. Die große Flut 
menfchlichen Lebens durchläuft den Weltenfreis in aufeinander 
folgenden Wellen, welche eine Runde bilden. Die auf der Erde 
mährend der erften Runde lebenden Weſen müſſen die ganze 
Weltenkette durchwandern und dann auf ihrer zweiten Runde 
wieder zur Erde zurückkehren. Sie berühren aber auf ihrer Runde 
die Erde und einen jeden andern Planeten der Kette nicht nur 
einmal, ſondern fie müſſen fich, ehe fie weiterziehen, in einer Reihe 
von Raſſen verkörpern. Sieben Wanderungen durch die Welten- 
fette-Aunden müſſen vollführt werden, bevor die Bejtimmung des 
Menfchen vollendet ift. In jeder der fieben Runden ijt einem 
der fieben Grundteile des Menfchen das Nebergewicht zugemiefen, 
und zwar in der regelmäßigen Ordnung ihrer auffteigenden Stufen- 
folge. Wie durd) die fieben Runden im großen, jo müſſen jich 
die Einzelweſen innerhalb der Runden durch fieben Raſſen durch- 
arbeiten, ehe fie zum nächiten Planeten mweiterwandern. Gegen— 
wärtig find mir in dev fünften Raſſe der vierten Munde. Die 
Entwiclung diefer unferer Raſſe hat ſchon vor einer Million 
Jahre begonnen. Jede diefer Raſſen zerfällt wieder in fieben 
Smeigraffen. Zwiſchen je zwei Werkörperungen verbringt das 
Einzelwejen einen längeren Zeitraum in dem Devachan, das ift 
die geiftige Welt, ein innerlicher Zuftand des Dafeins, die Welt 
der Wirkungen. Die Dajeinszuftände daſelbſt find abhängig von 
dem Gebrauch, den wir in der vorhergehenden Verkörperung von 
den uns dargebotenen Mitteln gemacht haben. Wer fich im ir— 
diſchen Leben mehr von der Materie befreit hat, der bleibt länger 
in diefem Vorhimmel als ein anderer, den fein Durſt nach Sonder- 
dafein früher wieder zur Exde zurückzieht. Diejer Devachanzuſtand 
ift die Löſung aller Rätſel, die uns die Ungleichheit des Lebens 
auflegen. Es ergeben fich nämlic) die Bedingungen, unter denen 
wir ein neues eben anfangen, genau aus dem Gebrauch, den 
wir in dem vorigen Leben von den uns darin gegebenen Dajeins- 
bedingungen gemacht haben. Das in diefem Vorleben erworbene 
‚Beitfehrift für Tpeologie und Kirche, 10. Jahrgang. 3. Heft. 14 





200 Niebergall: Ehriftentum und Theofophie, 


Karma, das Fazit unſeres Lebens in Bezug auf die Neberwindung 
der Sinnlichkeit durch den Geift, zieht uns wieder im diefe Welt 
zurück, um neues Karma zu bilden und auf dem Wege der Ent- 
finnlihung fortzufahren. ine kürzere Frift al3 1500 Jahre it 
für den Aufenthalt in dem Devachan nicht möglich, während ein 
reiches Karma oft durch einen ungeheuer langen Verbleib im 
Devachan belohnt wird, Wenn ein Einzelmefen in jeder Zweig— 
raſſe ein Zeben zu abjolvieren hat, dann giebt es ſchon 643 Ber- 
förperungen, aber es muß ſich jedes Individuum mindejtens zwei 
mal in jeder Zweigrafje verförpern. So ergeben fich fiir ein 
jedes Wefen zum mindeften 800 Verkörperungen, Die es durch— 
zumachen hat, wenn es nur einmal in jedem Leben ſitzen bleibt. 
An einem Faden des Dajeins veihen ſich wie Perlen die Perſön— 
lichkeiten auf; dieſe wechſeln, aber der Faden läuft immer fort. 

In diefer Weife geht das Einzelweſen feiner Beſtimmung 
entgegen. Es iſt der gefchilderte Gang die ideale Entwicklung, 
die nach Kämpfen und Siegen an dem Endziel zur Ruhe kommt. 
Aber e3 giebt noch andere Möglichkeiten. Biele der im körper— 
lichen Dafein um das Ich angefammelten Erinnerungen find mit 
dem geiſtigen Zuſtand des Dewachan unvereinbar. Sie verbleiben 
in der dem finnlichen Teile des Menfchen entjprechenden Welt, 
in Kama Loka. Es löſt ſich dann von dem Verftorbenen ein 
Schemen ab, der mit einem Medium innerhalb der förperlichen 
Welt in Berührung treten fann, defjen Natur mit der des Ver— 
ftorbenen genügende Aehnlichkeit hat, um mit ihm im Verkehr zu 
treten, wie, wenn eine Saite angejchlagen wird, nur verwandte 
mitflingen. Hier ift die Stelle, mo der Ajt des Spiritismus aus 
dem Baume der Theojophie herausmwächit. — Das Ende der 
Seelen, die eine größere Anziehung zum Stoffe als zum Geifte 
befigen, ift entweder die enge Verbindung mit dem Stoffe, deren 
Wirkung vollftändige Vernichtung ift oder das noch entſcheidungs— 
loſe Exgebnis, den Erziehungsgang der Verkörperungen noch ein 
mal durchlaufen zu müſſen, je nachdem das Verhältnis beider 
Anziehungen zu einander ift. 

Das Endziel ijt das Nirwana. Um eine vechte Vorftellung 
von ihm zu faſſen, genügt es nicht, das Wort zu zerpflüden. Es 





Niebergall: Chriſtentum und Theofophie, 201 


it ein Dafeinszuftand wie das Devachan. Will man miffen, 
was es ift, dann muß man in fich die höchſten geiftigen Füh— 
igfeiten erweden, dann fommt man in die Lage, felber dieſen 
unfagbar feligen Zuftand zu genießen. Nach Durchwanderung 
der fieben Welten mit allen Devachanzuſtänden geht das Ich in 
einen von Devachan abweichenden Zuftand ein, in dem es wäh— 
rend unfabarer Zeiträume vaftet, ehe es feinen Weltenrundlauf 
von neuem beginnt, Das ift das Devachan der Devachanzu- 
ftände, es iſt ein teilmeifes Nirwana mit klarer Erinnerung aller 
durchlebten Leben umd einer Allwiſſenheit in Bezug auf dieſe 
Weltenkette. Dieje höchſte Entwicklung ift der große Lohn, den 
die Natur allen bejtimmt, die infolge des Nebergemichtes des 
Guten über das Böſe in dev Gefamtheit ihrer Verkörperungen 
das Scattenthal des Todes in dev Mitte der fünften Runde 
überfchritten haben. Es ift die Schwelle des Nirwana, Das 
Nirwana feldft ift ein Zuftand voll Erhabenheit, ein Zuftand be- 
wußter Ruhe in der Allwiſſenheit. 

Das Ziel der wunderbaren Entwicklung der Menſchheit iſt 
die Veredlung der menſchlichen Seele, die ſie erſt für die uns un— 
faßbaren Zuſtände geeignet macht. Dieſe Erhebung des Men— 
ſchen zur Liebe zu allem Guten iſt der Beweggrund der Geheim— 
lehre. Das Gute iſt zu lieben um ſeiner ſelbſt und um der guten 
Folgen willen, die es für die ſpäteren Verkörperungen mit ſich 
bringt. „Die Geheimlehre ſteigt zum Materialismus herab, um 
ſich mit der Folgerichtigkeit ſeiner Anſichten zu verknüpfen, ſie 
ſteigt zum hohen Reich des Idealismus empor, um das erhabenſte 
Streben des Geiftes zu umfaffen. Sie will eine Bereinigung der 
Wiſſenſchaft mit der Religion, fie will die Brücke bilden, auf der 
die ſcharfſinnigſten Anhänger rein erfahrungsmäßigjten Forjchens 
zu dev begeiftertiten Schrärmerei gelangen können umd auf der 
die Schwärmer auf die Erde zurückkehren können und fich doch 
den Himmel bewahren". 

Die Lehre von den fieben Grundprinzipien des Menfchen 
und der Welt befagt, daß es fieben Zuftände giebt, in denen fich 
der entwickelte Menfch bewegen kann. 1) Der phyſiſche Kör- 
per (Stuhla Sharira) ift aus materiellen Molekülen aufgebaut; 

14* 


202 Niebergall: Ehriitentum und Theofophie. 


das jind unfichtbare Lebeweſen, die dieſelben find, wie die der 
Berge, Stiefmütterchen, Ameifen u, |. w. Wenn fich die lenkende 
Hand der Lebenskraft zurückzieht und die Mikroben fich ſelbſt 
überläßt, dann tritt der Tod ein. Doch diefer ift nur das Vor— 
fpiel einer neuen Form. 2) Lingha Stharira, der Aftralleib, 
bejteht aus Aſtralſtoff, der für unfere Sinne unfaßbar ift; ex 
gleicht dev Aftralebene, die über dev materiellen liegt. In diefen 
Bereich gehört das Hellfehen und Hellhören. Der Aitralleib ift 
die Kopie des materiellen Körpers; er kann fich von diejem los— 
löſen, ohne jich freilich zu weit davon zu entfernen. Ex iſt es, 
in dem der Amputierte uoch die Schmerzen ſpürt. — Das ganze 
Univerfum ift von einem Meer von Lebensprinzip umgeben, das 
fich immer gleich bleibt. Das von diefem auf das Einzelleben 
übergehende Leben heißt 3) Prana d. i. die tierifhe Le 
bensfraftim Menfchen, die Lenkerin dev Mikroben. Mit 
ihr in engjter Verbindung fteht 4) Kama, die Begierde nad 
finnlihen Genüſſen . . Der Menfch, der unter der Herr— 
ichaft der Leidenjchaft oder der Sinnenreize handelt, bewegt fich 
auf der Kamaebene. Nach dem Tode nimmt Kama die Geftalt 
eines aus Aſtralſtoff gebildeten Körpers an und heißt Kama-Rupa. 
Oft ſchweift es als Gefpenft umher, wo tierifche Gelüfte befrie- 
digt werden. Die Dauer eines folchen Wejens hängt ab von dem 
Entwictlungsgrad der finnlichen Natur der Perſon. Wenn Kama 
ſtarke Wurzeln ſchlug, dann eriftiert e$ lange fort: wenn fie ge- 
zügelt wird, dann löſt es fich bald auf. 

Dieje vier Teile bilden die niedrige Quaternität, das Tier, 
die Perfönlichkeit im Menfchen. Im Berlauf vieler Aeonen ent 
wickelt fie fih und harrt des Geiftes, der fie zu weiterem Vor— 
wärtsfchreiten befähigen fol, Es beginnt die Entwicklung, die 
im Bildumgsgange dev Welt viele Millionen Jahre umfaßt, aber 
von den Einzelnen im Fluge wiederholt wird. ES fteigen im 
das Haus der niederen Grumdteile die Söhne des Geiftes, er— 
babene Intelligenzen, herunter und machen Wohnung daſelbſt 
(Genefi3 6). Aber da der 5) Manas, der Denker, fich in jeiner 
Grhabenheit nicht direft mit den niedrigen Molekülen abgeben 
fann, fo projiziert ev den niedrigen Manas in die Quater— 














Niebergall; Ehriftentum und Theofophie. 203 


mität hinein. So ift der Manas während jeder Inkarnation ge- 
jpalten. Der niedere Manas tft num vor die Entjeheidung ge— 
ſtellt, ob ex fich von Rama umſtricken oder ob er durch die Er— 
fahrung feines Exdenlebens geläutert zu feinem Urfprung ſiegreich 
zurückkehren joll. Nur ſelten erhellt ein Lichtjtrahl aus den er 
habenen Regionen des Manas das Zmielicht, in dem wir leben; 
das find die Genie's, wenn fie der Tugendhaftigkeit nicht ent— 
behren, — Kama-Manas, das iſt das perfönliche Ich des Menfchen, 
die Quaternität, die mit Verftand begabt, fich als Einzelmejen 
erfennt und getäufcht von der Getrenntheit der Scheinmefen jene 
über alles Begriffsvermögen erhabene Einheit faſt ganz vergißt. 
Je mehr fich aber der niedere Manas von Kama frei macht, deſto 
mehr ift er imftande, die Grenzen des gewöhnlichen Wifjens und 
Handelns der Menfchen zu überſchreiten und die Seherfchaft zu 
erlangen. Hier ift auch die Quelle des Spiritismus, — Der 
höhere Manas ift der Sit des freien Willens. Wer ihn befißt, 
iſt imftande, durch einen intenfiven Willensaft auf den niederen 
Ebenen beliebige Formen zu schaffen. Das ift die Quelle der 
Magie, Der Manas ift als Teil des Univerfalgeiftes bedingungs- 
los allwifjend. Wer Adept ift, alfo durch das höhere ch die 
niedere Natur beherrfeht, oder als Erbe eines höheren Manas 
in der Wiederverförperung die Reinheit eines Yogi oder Heiligen 
erlangt, der ift imjtande, die Sehergabe zu empfangen, — Mit 
7. 8) Atma Buddhi bildet der höhere Manas den göttlichen Teil 
des Menfchen. Atma ift die ewige Realität, die eine Grundſub— 
ftanz, die fich auf allen Ebenen manifeftiert. Das ewige Sein 
ſtrahlt als Atma 8), das wahre Ich. Unfähig felbft auf niederen 
Ebenen zu erjcheinen, umfleidet es ſich mit Buddhi 7), feinem 
Träger und Offenbarungsmittler. Buddhi iſt die Fähigkeit, den 
Weg zu erkennen, auf dem der Ego zum göttlichen Wiſſen ges 
langt. Atma Buddhi als Umiverfalprinzip muß erft zur Indivi— 
dualität gelangen, ehe es Erfahrungen fammeln und Selbftleben 
empfangen kann. Darum firebt Manas zu Atma Buddhi. Der 
niedere Manas jammelt Grfahrungen, um ſie dem höheren zu 
übermitteln; der höhere Manas jammelt im Laufe feiner ver- 
ſchiedenen Inkarnationen diefe Erfahrungen zu einem Schatze an. 





204 Niebergall: Ehriftentum und Theojophie. 


Buddhi verfchmilgt mit dem höheren Manas, und wenn dieſe 
beiden mit dem Lichte Atma durchdrungen find, dann wird die 
Dreiheit zur Einheit und das Ziel der Vereinigung mit der Gott- 
heit ijt erreicht. 


Artbeſtimmung und gefihichtliche Anfammenhünge. 

Die dargeftellten Anfchauungen bilden offenbar nicht ein ein- 
heitliches Gedankengefüge, jondern es ſcheinen zwei Gedanken: 
gruppen zufammengearbeitet zu fein. Zwiſchen dem Gedanken 
des Anfangs — allgemeine Menjchenliebe auf Grund der Erkennt: 
nis des göttlichen Wejens im Al — und dem Gedanken der 
zweiten Hälfte — Läuterung auf dem Wege dev Wiederverkör- 
perung — findet ohne Zweifel ein Unterjchied ftatt. Es ſoll nicht 
bejtritten werden, daß beide Gedanfengruppen Berührungen mit 
einander haben und daß fie in einem Geifte zufammenmohnen 
können, wie fie zufammengewohnt haben; es foll auch fein Vor— 
wur; aus diejer Zwiefpältigfeit der Gedankenwelt gemacht wer— 
den. Wir vereinigen wohl alle heterogene Gedanfengruppen in 
unferm Geifte; nur um der genaueren Analyje willen jollen wir 
auf diefe Verjchiedenheit achten, Sie befteht, kurz gejagt, in der 
verjchiedenen Art der Motivierung des Ethifchen und in jeiner 
verjchiedenen Bedeutung. Das einemal nimmt es die Stellung 
ein, daß es ganz von ſelbſt aus einer gewiffen metaphyſiſchen Er— 
kenntnis folgt, das anderemal ift e8 die Bedingung für eine nicht 
ganz rein ethijch gedachte Seligkeit. Wir haben ja in unjerm 
hriftlichen Glauben eime ähnliche Duplizität der Wertung des 
Ethiſchen. Es folgt aus dem Beſitz der Seligkeit und es ift in 
gewiſſer Weife die Bedingung für ihre endgiltige Erlangung, 
Aber wir ziehen die verbindende Linie deutlich; davon habe ich 
dort nichts gefunden. Beide Gedankenreihen zeichnen ſich durch 
eine emevgifche Betonung des Guten aus, wenngleich die erſte über 
die Forderung des Mitleides nicht hinausführt. Ihr Fundament 
ift auch zu ſchmal für eine umfafjende Ethik. Aber fie jagt uns 
trotzdem mehr zu, weil ſie daS Gute zur Folge und nicht zur Ber 
dingung für eine ohne Zweifel recht jtarfe intellektualiſtiſche Seligfeit 
macht, wenn fie auch mehr ethische Forderungen zu begründen fucht, 


we 


Niebergall: ChHriftentum und Theojophie. 205 


Sehen wir uns beide Gedanfengänge näher an, jo finden wir 
tiefe Unterfchiede. Der erſte ift ftreng moniftifch, Der Stoff ift 
Schein, das Einzelweſen ift Täuſchung. Wirklich ift nur das 
Atma⸗Selbſt. Es bedarf nur der Erfenntnis diefer Irrtümer und 
Wahrheiten, einer Erkenntnis, die durch die Abftreifung der wie 
Staub auf dem wahren Selbft liegenden Sünden und Leiden 
ichaften gewonnen wird, und wir werden eins mit dem göttlichen 
Weſen und wir lieben die Brüder. Hier erfcheint alfo auch das 
Ethische unter den Bedingungen der Erkenntnis, aber es erſcheint 
auch als ihre Folge, und das ift das Wichtigſte. Als die Merk— 
male diejes Gedanfenganges können wir den Monismus, das my— 
ftifche Moment und das Ethifche, genauer den Altruismus be— 
zeichnen. Der Gottesgedanke fällt aus, wenn auch der Name bei— 
behalten wird; das Selbft und das große Eine, das ift Gott, 
Die andere Gedanfenreihe trägt mehr einen dualijtifchen Cha— 
rafter. Es jtehen fich gegenüber der Urgeiſt und der Stoff. Die 
von dem Urgeiſt ausgehenden Geifter müſſen die Reife in die 
Stoffwelt und durch die Stoffwelt vollziehen, bis fie die ganze 
Schule durchgemacht haben. Die Aufgabe befteht in der Abjtrei- 
fung des Sinnlichen. Man muß dem Geifte, der in einem ſteckt, 
den Weg freimachen in jeine wahre Heimat, ſonſt dauert feine 
Wanderung noch länger. Es wird ein Doppelfubjeft angenom- 
men, das empirijche Ich und das geheimnisvolle Weſen, das ſich 
gerade jetzt dieſer Maske auf feinem Zuge durch die Welt bedient, 
Das empirische Ich foll nun in dem Glauben, damit in Wirklich 
keit feine eigenen Geichäfte zu beforgen, dem idealen Subjekte den 
Weg zum Biele verfürzen. ES hat die Verantwortung zu tragen, 
daß dem hypothetiſchen Subjekt der Weg nicht zu ſehr verlängert 
oder durch feine Vermiſchung mit der Stoffwelt überhaupt abge- 
ſchnitten wird. Dieſer Dualismus ift gut moraliftifch gehalten. 
Die Herrſchaft des Beiftes ber den Stoff im Sinne des Guten — 
das ijt die Bedingung dev Rückkehr der Geifter. Der Charakter 
dieſer Auffaſſung läßt fich jo bezeichnen, daß die Forderung der 
Reinigung und Heiligung in eine Kosmologie von wunderbarer 
Phantaſtik hineingeftellt ift, die als uralte Weisheit geht. Der 
Prozeß der ethifchen Vergeiftigung ift als der Weltprozeß oder 


-| 


206 Niebergall: CHriftentum und Theofophie. 


genauer als die Bedingung zu dem Weltziele gedacht, das in der 
Erlangung göttlicher Alwiffenheit in der Gemeinfchaft mit dem 
Urgeiſt beftebt. 

Nun Eönnen wir gemeinfame und unterfcheidende Züge in 
prinzipieller Darſtellung feitftellen. Ein Gemeinfames ift der Bug 
zur Natur, Das einemal ein tiefes Verftändnis für das allen 
Weſen zugrumde liegende Alleine, eine fimmungsvolle Ahnung des 
Grundweſens, das die Menfchen mit den Menfchen, den Tieren, 
den Pflanzen und den Steinen verbindet. Daraus ergiebt fich 
ein Gefühl tiefer Gemeinjchaft mit allem Gefchaffenen und der 
Hingabe an alles, was zugleich Teil hat an dem großen Atma. 
Und das anderemal ein großartiger Blid für das Vorwärts- 
ftreben und Hinanwachjen in der Natur, eine große umfafjende 
Betrachtung des ganzen Kosmos mit feinen unendlichen Welten 
und Zeiträumen. Die Natur ift nicht nur der Schauplat der 
geiftigen Entwicklung, ſondern fie ift jelbft ein Glied in dem großen 
Entwiclungsgange Mit diefem Sinn für die Natur umd die 
Einheit des Menſchen mit ihr hängt die Herabjehung zufammen, 
die in beiden Typen der menjchlichen Perſönlichkeit zu Teil wird, 
Wo in diefer Weife die Schranke zwifchen Menfchen und Natur— 
dingen niedergeriffen wird, da ijt es unausbleiblich, daß entweder 
die Natur vergeiftigt oder der Geift als ein Naturding gedacht, 
auf jeden Fall aber die Eigenart des Menjchen nicht gewürdigt 
wird. Es ijt fein Sinn vorhanden für den Wert und das Recht 
der menjchlichen Individualität, die fich als Perſon der ganzen 
Naturwelt gegenüberftellen und behaupten kann, indem fie Zweck— 
gedanken faßt und fich diefe anzueignen und einzubilden ftrebt. 
Das ch, das ift der Irrtum und der Fehler. Es wird voraus: 
geſetzt, daß das Ich und die ideale Welt zwei fich ausjchließende 
Gegenfäge find, Das Ziel der Arbeit an ſich ſelbſt bejteht darin, 
nur möglichft gründlich das ch mit feiner Empfindung für Wohl 
und Weh auszulöfchen und zur Erkenntnis zu eilen. Es herrſcht 
alfo die Vorausfegung, daß die idenle Welt Feine enge Beziehung 
zu dem Fühlen, jondern nur zur Erkenntnis habe. Diefe müde 
ablehnende Haltung gegen das Ich, diefe Hinneigung zu einem 
großen Allgemeinen, in dem das Einzelmejen untergeht und den 


Niebergall: Ehriftentum und Theofophie. 20T 


Weltfram [os ift, äußert fich in beiden Geftaltungen verfchieden. 
Das einemal in der Aufforderung, das Ich aufzugeben, das an- 
deremal in der Behauptung, daß ich fiberhaupt nicht „ch“ bin, 
jondern nur die Maske eines andern geheimnisvollen Ich. Beide 
male fehlt die frifche fichere Betonung der eigenen Perjönlichkeit, 
wie fie jelber für fich ftrebt und handelt, ohne an ihrem Rechte 
dazu zu zweifeln und ohne fich dem Gedanfen überftiegenjter Re— 
flexion zu überlaffen, daß ich am Ende gar nicht Ich bin. Welch) 
ein tiefer Peffimismus, der das eigene Perſonweſen jo eng mit 
Leid und Sünde verſtrickt glaubt, daß nur ein geiftiger Selbſt— 
mord diefe Verbindung löſen kann! Dagegen ift die kraſſeſte Erb- 
fündenlehre noch nichts, denn fie wird doch immer erhellt von der 
Hoffnung, daß es jo oder fo Mächte giebt, die mir als einem 
perfönlichen Geifte dazu verhelfen, über Stinde und Leid Herr 
zu fein. 

Es ift nicht ſchwer, die dargelegten Ausführungen religions- 
gejchichtlich zu identifizieren. Sie ftellen den merkwürdigen Ver— 
ſuch dar, ein ganz andern Vorausfesungen pfochologifcher, hiſto— 
riſcher, ja auch Elimatifcher Art entjprungenes Gedankenſyſtem 
unferer Zeit aufzupfropfen. Es find Erzeugniffe des Brahmanis- 
mus umd des Buddhismus, die wir hier vor uns haben. Frei— 
lich habe ich in der ganzen Litteratur, die ich durchgeſehen babe, 
nur wenig die einfachen Haren Sätze des eigentlichen Buddhismus 
gefunden, wie wir jie aus der Religionsgefchichte kennen. Ob in 
ihnen zu wenig Weltanfchauung und Nahrung für die ausge 
hungerte Phantaſie zu finden ift, oder ob der Ausgang vom Leid 
zu jehr den Eindrud des Egoismus macht, wo man doc) in her- 
vorragendem Maße ethifch fein will? Es laſſen ich die beiden 
Gedankenftränge, die wir aufgefunden haben, wenn aud) zum Teil 
nicht bis aufs Wort genau, fo doch ihrem Grundcharafter nach 
in den Syjtemen des an mannigfaltigen Gedanfengebilden jo übers 
aus reichen Nichtungen des Neubrahmanismus und Neububdhis- 
mus wiedererfennen. Die eine Anſchauung, die wir die moniftifch- 
myſtiſche nannten, jtellt den eigentlichen Brahmanismus dar, Das 
Scheinweſen der Einzelgeftaltungen muß überwunden werden, da- 
mit man das Brahm und damit den Frieden erreicht. An dieſe 


203 Niebergall: Chriftentum und Theoſophie. 


Grundanjchauung knüpft der eigentliche Buddhismus an, Was 
der Brahmanismus noch nicht jo ſtark betont, das bringt der 
Buddhismus; das Mitgefühl für alles, was mit uns eins ift, 
Menjchen, Tiere, Pflanzen und alles Gejchaffene. Während in 
dem eigentlichen Buddhismus. diejes nur eine Folgerung, fein Ziel- 
gedanke ift, wird von dev modernen Theofophie ein Zielgedanke 
daraus gemacht; und zwar in der Erweiterung, daß aus dem 
Mitleid eine allgemeine Menjchenliebe mit dem Ziele dev Menfchen- 
verbrüderung geworden iſt. Ich lege feinen Wert darauf, daß 
diefe Spiße, in die der andersartige Grundgedanke ausläuft, viel- 
leicht unter chriftlichen Einflüffen jo formuliert worden iſt. Wir 
find nicht eiferfüchtig, ſondern freuen uns herzlich, wenn chriftliche 
Gedanken, wenn auch auf fremdartige Bäume gepfvopft, ihre fiege 
veiche Gewalt zur Geltung bringen, Es jpricht fich in der An— 
nahme dieſes Endzieles der Verſuch aus, die Einſeitigkeit und 
Selbjtgenügjamteit, die der Myſtik gewöhnlich anhaftet, zu über- 
winden und ihre Kräfte fir praftifche Dinge fruchtbar zu machen. 
Erinnert diefer Dualismus von mönchifcher Kontenplation, die 
weltflüchtig nur den Frieden und die Freiheit fucht, und dem 
Verſuch praktifche Aufgaben in der Welt zu Löfen, nicht an den 
entjprechenden Dualismus in der fatholifchen Kirche, der den 
Beichtftuhl neben die Klofterzelle ftellt und alſo jedem Bedürfnis 
zu genügen ſucht? — Wir haben alfo in der einen Gedanken— 
richtung das Denken der alten Upanifchaden, um einige buddhi— 
ftifche Momente bereichert, zu erbliden. Es ift ein einfacher 
ſchöner Gedankenzug, der an unfere höchſten chriftlichen Gedanken 
erinnert, die auch durch myſtiſche Verſenkung in eine übermelt- 
liche Größe eine Ummandlung des Lebens im Sinne der Liebe 
zu erreichen trachten. 

Die andere Gedankenreihe halte ich für ſpätbrahmaniſch. Es 
finden fich in dem jpäteren Brahmanismus häufig jolche Kosmo— 
logieen mit derartig koloſſalen Dimenfionen, mit diefem Reichtum 
an Anjchauungen und Erfenntniffen. Wir bewundern die Kräfte 
der Phantafie, die alles Gejchaffene umſpannt, die Energie, die 
den ungeheuren Kosmos einheitlich in den Dienſt des ethifchen 
Gedankens zu ftellen unternimmt. 


Niebergali: Chriftentum und Theoſophie. 209 


Wenn wir diefen Urfprung und dieſen gefchichtlichen Zu— 
jammenbang der bejchriebenen Gedanfengebilde uns vor Augen 
halten, dann verftehen wir die ganze Eigenart dev Theojophie, 
jowie die Kühnheit uns mit diefer Lehre beglücen zu wollen. 
Wir verjtehen die tieffte Wurzel der ganzen Gedanfenbildung: 
1) den Zug zu dem einen großen Wirflichen, das hinter der Er— 
ſcheinung fteckt, und die Flucht aus dem Bejonderen in das All- 
gemeine, in dem untergehend die Perfönlichkeit ihren Frieden finden 
ſoll. Unfere Religionsgefchichte jucht uns diefe Gedankenvichtung 
als das Ergebnis hiftorifcher, ja auch flimatifcher Bedingungen Elar 
zu machen. Wir verftehen 2) die Wertfchägung dev Erkenntnis, 
wie fie in der Thevjophie zu Tage tritt. Es iſt nur ein Jrrtum, 
feine Sünde, daß der Menſch in dem Scheinweien haften bleibt, 
Was kann er dafür, wenn er es nicht weiß? Die Sünde hängt 
nicht am böfen Willen, fondern an der jehlechten Erkenntnis. Alſo 
muß er Über den wahren Wert der Erjcheinungsmwelt und tiber 
die wahre Wirklichkeit aufgeklärt werden, was mit der Darbietung 
riehtiger Erkenntnis zu gefchehen hat, Darum geht eine grund- 
ſätzliche Hochſchätzung der Erkenntnis als des wichtigſten Mo- 
mente im geiftigen Leben der Menfchheit durch das ganze Ge— 
dankenſyſtem hindurch. Allen feinen Gebilden giebt diefe Wert- 
ſchätzung dev Erkenntnis ihr Gepräge; zuletzt kommt im Ziele, in 
dev im Nirwana zu erlangenden Allwiffenheit zum Ausdrud, was 
im Anſatz ſteckt. Die Herabjegung des ethifchen Momentes zu 
einem Mittel der Erkenntnis, wie fie beide Gedanfenftränge cha— 
rafterifiert, ift das Fennzeichnende Merkmal diefer ganzen Anz 
ichauungsweife. Daß das Selbjt, das Atma oder Brahm weiter 
nichts ift als hypoſtaſierte Erkenntnis, die als rein geiftige Größe 
jeder Wärme und jedes ethifchen Charakters entbehrt, davon ſoll 
jpäter noch die Nede fein. Die Erkenntnis, fo jehr fie das un: 
perfönliche allgemeine Moment des Menfchenlebens darftellt, muß 
doch jeder fir fich allein erwerben, wenn fie fruchtbar für feine 
Erlöfung werden ſoll. Daher fommt es, 3) daß die Theofophie den 
Menschen faſt ganz ifoliert. Er bedarf der Gemeinfchaft und 
der Vergangenheit nur zur Uebermittlung dev Lehre. Sonst haben 
Menichen und auch gefchichtliche Größen fir ihm feinen Wert, 


210 Niebergall; Chriftentum und Theoſophie. 


Das Ziel der ganzen Bejtrebung, die Gewinnung der freimachen- 
den Erkenntnis, ift nichts, mas durch die Anjchauung erworben 
werden fann, wie in gemiffen Sinne unfer chriftliches Ziel, das 
perfönliche Leben, Gegenftand der Anſchauung ift und nur auf 
diefem Wege angeeignet werden kann. Es fommt bloß auf die 
Lehre und auf ihr innerliches Verſtändnis an, die Perſonen, die 
fie ſchufen und übermitteln, gelten nichts und bleiben zumeift un 
genannt. So ijt gewiß der Autoritätsglaube feheinbar grimdlich 
ausgejchloffen. So erklärt fich die große Gleichgiltigfeit gegen die 
Gefchichte, weil man gleichgiltig ift gegen das, was ihren Herz 
punkt bildet, das perjönliche Leben und die ethijchen Werte in 
ihrer abjoluten Größe, die ganz allein in der Gefchichte angeschaut, 
verjtanden und angeeignet werden können. Daher die große Ein- 
förmigkeit und Gedankenbläffe der ganzen Litteratur. Es ift fein 
Leben, feine Gefchichte da, die uns das bringt, was uns fehließ- 
lich am allermeiften interefjiert und wenn es groß und gut if, 
erhebt, Gedanken und Strebungen von Menjchen, die wollen und 
thun, was wir auch wollen und thun follten, an denen wir wachjen 
könnten zu gleicher Größe der Seele. 

Damit hängt wohl der efoterifche ariftofratifche Cha- 
rakter der Lehrezufammen, Trat er früher in der mönchifchen Geſtal— 
tung des Lebens zu Tage, jo erkennen wir ihn heute wieder in 
der großartigen Gleichgiltigfeit gegenüber den Bedürfniffen der 
Maffe. Niemand fragt darnach, ob die Maffe difponiert ift, folche 
Gedanken zu faſſen, ob fie nicht vielleicht Anjchauungen braucht, 
wenn fie ihren Halt fürs Leben und Sterben finden ſoll. Kein 
Gedanke an eine Gemeindebildung, feine Yusgeftaltung der For— 
derung allgemeiner Menfchenverbrüderung. Man würde den Bru— 
der Arbeiter nicht verachten, aber man läßt fich nicht auf feine 
Bedürfniffe ein, fondern man arbeitet im wefentlichen nur für 
Leute, die den Verjtand und die Bildung haben, folchen abſtrakten, 
fremd gedachten und durchweg auch fremd ausgedriicten Lehren 
zu folgen, für die wir gar feine Anknüpfung haben. 

Bringen wir uns die ganze Beſtrebung auf dem Wege des 
BVergleihs mit andern Gebilden der Neligionsgefchichte näher, 
Dann müfjen wir einmal an allen Platonismus und die damit 





Niebergall: Ehriftentum und Theoſophie. 211 


zuſammenhängende Myſtik denken, die wir kennen. Ja, das iſt 
eine allgemeine Religion, aber darum doch nicht unfern Anſprüchen 
genügend. Ihre Eigenart liegt immer darin, daß jie mit dem 
Gefühl fich verfenken heißt in das vom Verjtande gewonnene Ab- 
ftraftum, genannt das wahre Sein. Das Viele, Gefchaffene giebt 
feine Ruhe, aljo verſenke dich in das Eine, Hebre, Unfichtbare. 
Wenn ſich diefe Anfchauung und Praris philofophijch erweitert, 
dann giebt es allerlei Gebilde, die, jo verjchieden fie in einzelnem 
fein mögen, doch einen gemeinfamen Grundcharakter haben. Immer 
iſt e8 das Urfein, aus dem die Seelen hervorkamen, um über die 
Erde vermittels der Entjagung und Erhebung zurüczufehren. 
Uns erinnert die dargeftellte Lehre vor allem an den Neuplatos 
nismus. Nur ift diefer dramatiſcher — ein Fall der Geifter muß 
wieder gut gemacht werden, ernfter — es ift Neligion darin und 
Glaube an Gottesoffenbarungen, Die Theojophie hat es mehr 
auf Wiſſen und Moral abgejehen. Ebenjowenig wie dem Neus 
platonismus wird es der Theofophie gelingen, aus dem Stadium 
der Schule heraus zur Kirchenbildung zu gelangen, weil jie zu 
wenig Rückjichten nimmt auf den gemeinen groben Mann. Ebenjo 
wie bei dem Neuplatonismus wird das Ende ihrer Verachtung 
der Vernunft und Wiſſenſchaft jein der Aberglaube und die Bar- 
barei. Die Magie und der Spiritismus, die fleißig in ihren 
Kreiſen gejchäßt werden, find Anzeichen davon, daß auch in den 
Köpfen der Gebildeten das Gejeh feine Ausnahme findet: Dem 
Aberglauben verfällt, wer den. Glauben verachtet, 


Die chriſtliche Meligien, 

Der chriftlichen Religion kehrt die Theojophie zwei Seiten 
zu, eine abmeijende und eine jompathijche, Cinmal fieht fie das 
Chriftentum an als einen Beſtand von Glaubensjägen, die äußer- 
lich angeeignet werden müffen und darum feine Erlöſung bringen 
können. Sie tadelt den Begriff des perfönlichen Gottes, des alten” 
Jehova, der richtet, je nachdem einer Böſes oder Gutes gethan 
hat. Sie tadelt die Außerlich gefaßte Exlöfung, die in Chrifti 
Tod für alle gefchehen fein joll, während fie doch ein innerlicher 
Vorgang fei. Sympathiſch jteht fie den ihr wahlverwandten Ele: 


212 Niebergall: Chriſtentum und Theoſophie. 


menten gegenüber, den nicht hiftorifch aefaßten oder bedingten 
Beftandteilen unjeres Glaubens. Häufig kommen Bibelcitate vor, 
Alles weiß fie in der Bibel zu finden, was ihrer hohes Wiſſen 
von Gott juchenden und myſtiſche Verſenkung in das Emige er- 
ftrebenden Tendenz entjpricht, Der Logos, das Pneuma bei 
Paulus, das die Tiefen der Gottheit erkennt, vieles von Johannes 
— das find ihre Lieblingsſtücke. Die Auffaffung Chrijti des 
Grlöfers als eimer äußerlichen Berfon der Gefchichte ift grund- 
falſch. Ehriftus — das ift das Göttliche im Menfchen, das es 
zu erkennen gilt zur Befreiung und Befeligung. Mit aller Kraft 
wehrt fie fich gegen das, was uns die Hauptjache ift, Chriſtus — 
die im der Gefchichte gegebene einmalige völlige Offenbarung 
Gottes, des perjönlich zu demfenden Vaters, bei dem Vergebung 
und Seligkeit für alle, die daran glauben wollen, zu haben ift, 

Diefer Anſchauung der Theofophie gegenüber wollen wir eine 
kleine Skizze geben von dem, mas wir unter Chriftentum ver- 
ftehen; einmal darum, weil es nicht gut ift, immer vom Ehriften- 
tum zu reden, wie es nachher in dem Vergleich gejchehen joll, 
ohne zufammenhängend zu jagen, wie wir e3 uns denken, und 
dann in der Hoffnung, da wenn dieſe Blätter in die Hände von 
anders Denfenden kommen follten, fie die Kraft und Wahrheit 
chriſtlicher Glaubensanſchauung gewinnen möchten, 

Im Mittelpunkt fteht für uns das Reich Gottes, das ewige 
Leben in Gott. Wir hoffen im feiner Gemeinfchaft unjere Seele 
zu geroinnen. Wir glauben an eine geijtige Welt, ohne zu fragen, 
wo und wie und warn, an eine Vollendung unferer Seele und 
an die Bollendung aller Gott anhangenden Menfchen. Dieje 
Gemeinſchaft mit dem ewigen Gott ſoll die Erfüllung aller in uns 
liegenden auf perjönliches Leben im Guten hinzielenden Beſtre— 
bungen fein. Zugleich, weil wir uns ohne Liebe feine Vollendung 
des perfönlichen Lebens denken können, ift uns das Neich Gottes 
eine Gemeinfchaft von perjünlichen, unter Gottes Beiſtand ihrer 
ſelbſt Herr gewordenen Geiftern, die durch das Band der Liebe 
mit eimander verbunden find, Das ift die Vollendung unferer 
‚Heiligfeit, das ift die Seligfeit. Es gilt dies natürlich nur für 
die Menſchen, die aus der Wahrheit find, denen die Herrfchaft 


Niebergall: Chriſtentum und Theoſophie. 218 


alles Guten über ihre Seele das wichtigſte und das höchſte Glück 
iſt. Dieſes Reich Gottes iſt der Ausgangspunkt aller unſerer 
Gedanken über Gott und ewige Dinge. Wir glauben an 
einen Gott, der ſelbſt iſt, was wir werden ſollen, heiliger perſön— 
licher Geiſt, der über der Naturwelt erhaben ſie eben darum be— 
herrſcht und in den Dienſt ſeiner Zwecke ſtellt. Er iſt der all— 
mächtige Herr der Welt, der ſie auf ſein Reich hin geſchaffen hat 
und lenkt. In Chriſtus ſeinem Sohne, der uns aus den Evange— 
lien wohlbekannten Geſtalt, hat er uns ſein Reich geſchenkt und 
ſich ſelbſt geoffenbart. Wir bedürfen einer ſolchen Offenbarung 
Gottes, die unſerer Sündenknechtſchaft ein Ende macht und einen 
freien Blie über die Welt hin ſchenkt. Wir find allein micht im— 
ftande, uns aus dem Sumpfe der Begierden herauszuziehen und 
ein Leben nach dem Willen Gottes zu führen. Und unfere Er: 
kenntnis iſt allein micht imftande, die Wirklichkeit eines wohl von 
uns geahnten höchjten Welt: und Lebenszwedes zu erfajjen, dev 
über diefer Welt liegen muß, wenn er uns wirklich Befriedigung 
geben ſoll. Eine folche Offenbarung ift nun in Chriftus gefchehen. 
Wir glauben, daß alles, was wir an ihm jehen, in engiter Be— 
ziehung zu dem ewigen Gott fteht. Iſt Chriftus den Sündern 
gnädig, dann ift es Gott; wirkt Ehriftus umgeftaltend auf feine 
Anhänger durch feine Perfon oder durch feinen Geijt, jo iſt es 
Gott. In ihm beruft der Sünden vergebende heilige Gott fün- 
dige jchuldbedectte Menfchen zu feinem Reich aus der Herrſchaft 
und Gewalt der Welt und des Fleiſches. ES bleibt uns nichts 
zu thun, als dem Rufe des Geiftes folgend uns an Ehriftus an— 
zufchließen, den Herrn unſeres Lebens umd das Haupt feiner Ge— 
meinde. Und der Geift, der von ihm ausgeht, ift das Angeld des 
ewigen Lebens, das uns Gott nach diefem Leben voll ausbezahlen 
wird in der Herrlichkeit. Dieſes Neich ift das Ziel unferes Hof- 
fens, das uns das Leben ſonnig macht, wenn Wolfen des Leis 
dens e3 trüben wollen. Oder vielmehr wir wiffen, der Gott, der 
beider Neiche Herr it, des ewigen und dieſes vergänglichen, in 
dem mir wandern, braucht die Trübſal, um uns unfern harten 
Willen zu brechen, ernft zu ftimmen umd bereit zu machen, daß 
mir in fein Neich eingehen. Es giebt eine felige Gewißheit, daß 


214 Niebergall: Chriftentum und Theoſophie. 


uns diefes Reich gehören wird, nicht kraft unferer Heiligung, ſon— 
dern fraft dev Gnade und Macht unferes Gottes, der in ung voll- 
enden wird, was er begonnen hat. Aber wir hoffen, daß wir, 
wir jelbjt in unſerer Perſon dieſes Neich ererben werden. Das 
jpannt all unfer Trachten und Verlangen an, denn wir follen 
Treue halten und uns vor dem Straucheln hüten. In der Kraft 
des Glaubens an unfern Vater im Himmel und der Treue gegen 
unfern Heron Chrijtus follen wir die Verfuchungen überwinden 
und immer fejter werden in allem Gotteswillen. Zumal follen 
wir Leid und Schmach als Fördernifje im Gewinn und Befit des 
böchiten Gutes erkennen lernen und als folche gebrauchen. So 
werben wir der Welt und ihrer Gefchichte Herr in der Macht un- 
jeres Glaubens an eine höchite Beftimmung, zu der in den Händen 
der Glaubenden alles Mittel und Förderung wird. 

Wie das Reich Gottes Gegenjtand des Glaubens und Ziel 
der Hoffnung ift, jo wird es Ausgangspunkt der Liebe. Sie 
fommt gleichjam aus dem Beſitz der Geligfeit von felbjt heraus, 
Der Geift Gottes und Chrifti, der uns das Emige jehentt, ijt 
direft gegen die Sünde, gegen die Selbftfucht in jeder Form ges 
richtet. Wer ihn im Anfchluß an den Herrn Chriftus euworben 
bat, dev beſitzt in fich ein vevolutionierendes Prinzip, das mit der 
Selbſtſucht aufräumt. Man kann den Geift Gottes und das 
Leben im Himmelveich gar nicht befigen, ohne daß es zu wahrer 
Liebe käme. Aus Liebe gegen die Brüder zähmen wir unferen 
Ehrgeiz und unfere Sinnlichkeit, legen wir die Lügen ab und 
reden die Wahrheit. Dieje Liebe hat ein ganz bejtimmtes Ziel. 
Wir möchten die Menjchen zu dem Höchiten, Dem Reiche Gottes 
erziehen, und die es haben, ſtärken und fördern in feinem Beſitz. 
Von einer allgemeinen Menjchenverbrüderung reden wir wenig, jo 
jehr fie im Hintergrund allev unferer Gedanken fteht. Wir glauben, 
daß die Liebe, je mehr fie in die Breite geht, deſto mehr der 
Tiefe und Wärme entbehrt; darum halten wir mehr von der 
Siebe, die unfern Nächiten, wer fie auch feien, zu Gute fommt, 
AU unfer Lieben und Leben gejchieht auf dev Grundlage des 
Glaubens an den Heren und Vater im Himmel, auf den wir ung 
troß unſerer Schuld verlafien können, der uns als feine Kinder 


Niebergall: Chriftentum und Theojophie, 215 


angenommen hat und uns jein Reich ſchenkt durch feinen Geift, 
und im Aufblict zu dem Herrn Chriftus, der, ob er wohl um 
unſerer Sünden willen geftorben ift, lebet und regieret in Ewig— 
feit, als der Anfänger und VBollender unferes Glaubens, der 
Führer unferes Lebens, dev ung vorangegangen ift den ſchweren 
Weg der Selbitverleugnung und uns das Kreuz vorangetragen 
bat, das ihm die Krone einbrachte, 

Das etwa ift der Inhalt unferes Glaubens und Lebens. 
Folgende Punkte erheifchen befondere Aufmerffamfeit. 1) Es fehlen 
alle metaphyfiichen Momente, nämlich alle Gedanken, die ohne 
unmittelbare Beziehung auf den Glauben des Menfchen, der das 
‚Heil feiner Seele jucht, gefaßt werden können. Nichts gehört in 
den Glauben, das fich nicht von ſelbſt ergäbe aus der Gewißheit 
des Ehrijten, von Gott, dem allmächtigen Herrn und Vater dur) 
Ehriftus das Heil in Vergebung und Geiftesmitteilung erhalten 
zu haben. Hohe Spekulationen über das Wejen Gottes, die Ver- 
gangenheit der Welt, das hohe Wiffen einer Weisheit, die alles 
weiß, fehlen ganz. Das hängt zufammen mit dem Zielbeguiff, 
der Ausgejtaltung der Perſönlichkeit. Damit ift 
gemeint eine Bildung des Sch, Die uns befähigt, nach großen 
Zweckgedanken unjer natürliches Weſen zu meiftern umd zu lenken. 
Alles geht aus auf eine Verbindung des Ideals mit unjerm Ich 
durch Luft und Liebe und auf die ftraffe Behauptung diefer Ver- 
bindung durchs Leben hindurch allen Schwierigkeiten gegenüber. 
Alles dreht ſich um den Erwerb eines felbjtmächtigen Charakters, 
der weiß, was er will, und will, was ex foll, der fich nicht als 
ein Naturwejen verbrauchen läßt von andern Naturwejen, ſon— 
dern die Natur beherrſcht und in feinen Dienft ftellt. 2) Und da— 
mit hängt wieder zufammen, daß ung die Vergangenheit, die Ge— 
ſchichte nicht gleichgiltig ift. Unfere Weltanfchauung verlegt 
das Ideal und das Eingreifen Gottes an eine Stelle der Ge- 
fchichte, die eine unübertveffliche klaſſiſche Epoche darftellt, weil 
die entjeheidenden Gewiſſens- und Gemütsbedürfniſſe nivgends jo 
befriedigt werden wie hier. Wir bedirfen fir unfer Ideal der 
Anfhauung, wir bedürfen zur Gewinnung dieſes erſtrebten per- 
fönlichen Lebens der Befchäftigung mit der Perfon Jeſu, denn «8 

Zeitſchrift file Theologie und Kirde. 10. Jahrgang. 3. Heft. 15 


216 Niebergall: Chriftentum und Theofophie. 


kann nun einmal diefes Ideal nicht begrifflich oder intuitiv von jedem 
in dem Schrein der eigenen Bruft gefunden werden, jondern, wie es 
in der gejchichtlichen Wechjelwirfung der Menschen zu Stande fommt, 
ſo ift gleichfam fein Ort in der Welt eben die Gejchichte. Und 
dann wird es angeeignet auf dem Weg der Anfchauung und des 
Anfchluffes an Perfonen, die es in fich verwirklicht haben. 3) Ferner 
ſpielt hier, troßdem es im wejentlichen um die Gejinnung gebt, die 
Lehre eine große Rolle, die uns einerjeit$ mit der Gejchichte der 
Bergangenheit in Verbindung fest umd anderfeits zu einer flaren 
geiftigen Weltanfchauung verhilft. Die Kontemplation tft gering anz 
gejehen, wo das Göttliche nicht in unbeftimmbaren Regungen des 
Innern, jondern in einer feſt umfchriebenen gefchichtlichen Geftalt 
gefunden wird, die allen Gedanken über Gott eine Quelle und 
eine Grenze iſt. Weil alles fubjektiv auf dem Glauben fteht, der 
Gott erfaßt in Ehriftus und die Welt deutet als Feld ewiger 
Zwecke, jo kommt objektiv alles auf das Wort an. 4) Hierin 
aber liegt auch der demokratiſche Charakter unſerer 
Neligion. Weil es nicht auf hohe Spekulationen und ihr Ver: 
ftändnis, fondern auf den Glauben ankommt, der ewige Größen 
erkennt, die in allgemein verftändlicher Bilderfprache angeboten 
werden, darum ift ev etwas für alle, Volksmetaphyſik und zugleich 
Abrundung der wifjenfchaftlichen Welterfenntnis der Bildung. 
Um der hohen Stellung willen, die die Nächftenliebe im ganzen 
Syſteme einnimmt, und weil die Verbindung mit dem klaſſiſchen 
Ausgangspunkt nur mit Hilfe von Perſonen erhalten werden kann, 
die den Geiſt des Vaters und des Sohnes weitertvagen von Ge— 
fchlecht zu Gejchlecht, darım hat hier die Gemeinde eine her= 
vorragende Bedeutung. So ftehen bier neben einander die Per— 
jönlichkeit, dev Glaube, die Gefchichte und die Gemeinde. 

Ein Vergleich beider Religionsformen zeigt, daß dem Chrijten- 
tum formell nichts näher und inhaltlich nichts ferner fteht als 
die Theojophie. Faſt alle Kategorien des Chriftentums finden 
wir: das Elend, das Stich und Werde, die Erlöfung, die Liebe, 
den Frieden, die Vollendung in Gott. Oft ift man verfucht, chrift- 
liche Gedanten zu mutmaßen. Und gewiß bildet die Myftif ein 
breites Band zwifchen beiden, Und doch ift inmerlich alles anders, 


Niebergall; Ehriftentum und Theofophie. 217 


Was Auguftin am Neuplatonismus vermißt, das vermiffen auch 
wir an der Theofophie. — Das Elend — dort rubt es in dem 
üblen Sein, hier in dem böfen Willen. Die Erlöfung — dort 
fteht fie in der Erkenntnis des Einen, das mit dem Selbjt iden- 
tifch ift, hier in dem Anfchluß des Willens an eine gefchichtliche 
Perſon, die uns Vertrauen umd Liebe abgewinnt. Das Stirb und 
Werde — dort ift e3 die Trennung von dev Perfönlichkeit, das 
Aufgehen in dem Selbft, hier iſt es die tägliche Ertötung des 
böfen Willens und die Wiedergeburt der Perfon durch den hei— 
ligen Geift Jeſu. Der Friede — dort die Narkotifierung der 
Wünfche, hier die Vereinigung des verföhnten Sünders mit dem 
Vater, der uns in Ehriftus gefucht hat. Die Liebe und Güte — 
dort fließt fie aus der Erkenntnis, hier aus der in Chriftus ge- 
wonnenen Freiheit von dem felbftfüchtigen Ich. Die Vollendung 
— dort ein Verſchwimmen in dem geheimnisvollen Nirwana, bier 
das ewige Leben nach Auferftehung des Leibes; dort Vernichtung, 
bier Konſervierung der Einzelheit. Dort Gott die geijtige Potenz 
der Natur, hier dev Vater der Menfchen und Schöpfer und Herr 
der Welt, Dort die Offenbarungsquelle fprudelnd in jedem Men- 
chen, hier in der Perfon Jeſu. — Das etwa find die Begriffs: 
gruppen, die beide Syfteme umgrenzen, Es fällt uns nun leicht, 
die fonftitwierenden und organifierenden Elemente beider zu bes 
ſtimmen, die den ganzen Aufbau vegeln: dort ift es die Leugnung, 
bier die frohe Behauptung der Perfönlichkeit, Das zieht fich 
durch alles hindurch. Zwar wollen wir es wohl betonen, daß 
wir auc) einen Sinn fir die Bedeutung der Perfönlichkeit haben, 
in der man ihr abfterben muß: mir nennen es das fleifchliche 
Sch. Aber 63 ift nicht die Individualität als ſolche. Wir glauben 
nicht, daß Sünde und Uebel an der Einzelheit als jolcher haften, 
fondern nur am dem Sinn, der das Einzelmefen befeelt, Ange 
ſichts der Perfon Jeſu, die eine ganz ausgeprägte Eigenart dar— 
ftellt, glauben wir, daß Vollkommenheit und Selbftheit fich nicht 
ausfchließen, fondern daß die Vollfommenbeit Feine befjere Stüße 
findet als eine von Luft und Liebe zum Guten erfüllte Eigenheit. 
Das ift der tieffte Streitpunft. Dann aber handelt es fich darum, 
‚geiindlich die Frage nach dem Hecht oder Unrecht der Perfönlich- 
15* 


218 Niebergall: Chriftentum und Theofophie. 


feit im Verhältnis zu dem Guten, dem alljeitig zugeftandenen 
Ziel des Menfchenlebens, zu behandeln. 


Idenle, Beobachtungen und Axiome, 


Wir haben die Entjcheidung zu treffen über die beiden die 
dargeftellten Syſteme verjchieden geftaltenden Fermente: perſön— 
liches Leben des Willens oder unperfönliches Leben des Erkennens 
und Wiffens. Wir könnten ja jagen: das find Gejchmadsjachen, 
ob einer jo oder anders denkt. Werturteile liegen zugrunde. Wer 
für den Adel und Selbftwert einer in fich gefchloffenen Perſön— 
lichkeit feinen Sinn hat, wer ſich durchaus jelbjt aufheben will, 
der mag es thun. Und wen die Selbjtmacht des Ich die wahre 
Größe bedeutet im Leben, der gehe auch feinen Weg. Aber es 
geht uns eben um eine allgemeine Inſtanz, vor der diefe Frage 
entjchieden werden könnte: Gtebt es nicht einen gemeinfamen Bo— 
den, von dem wir ausgehen und unjere Schlüffe ziehen können? 
Gewiß beide Syiteme hegen das deal der Menfchenverbrüde- 
rung. Dder wenn uns Chriften diejes Wort etwas zu pathetifch 
Elingen follte, dann jagen wir: wir erjtreben einen Zuftand, mo 
die Grenzen der Raffe, der Staatsgemeinfchaft und des Glaubens 
feine Grenzen der Liebe mehr fein follen. Läßt fich nicht von 
hier aus eine Entjcheidung erreichen? 

Doch wohl; einmal überlegen wir, was in dem deal ſelbſt 
enthalten it und dann, mit welchen Mitteln es am beften er- 
reicht werden kann. In dem „deal der Menjchenverbrüderung 
ift doch offenbar ein ganz anderer Geijt herrjchend, als der Geift, 
der ſonſt überall auf die Aufhebung der Einzeleriftenz drängt. 
Der Wert des Unperfönlichen ift vergeſſen und der der Perſön— 
lichkeit mittelbar anerkannt. Denn das Aufgeben der Berjönlich- 
feit — wir denken immer an den mit diefem Worte von der Theo— 
jophie verbundenen Sinn — tft bier zu einem Mittel hevabgefeßt, 
perjönliche Menfchen perfönlich zu lieben. Wie fann man aber 
lieben, ohne die Selbftändigleit der geliebten Menfchen miteinzu— 
ſchließen, es müßte denn gerade dieje Verbrüderung in der Vor- 
ftellungswelt weniger das Bild der Familie als das eines großen 
Breies wecken. Es iſt die Selbſtſucht mit all ihren Töchtern, die 


er 


Niebergall: Chriftentum und Theoſophie. 219 


der Menfchenliebe im Wege fteht, aber nicht das Fchbemußtfein 
und das Ichſeinwollen. Die Verbrüderung jebt ein Ich und ein 
Du voraus. So liegt alfo im Fdeal der Gegnerim dev Wert des 
perfönlichen Lebens eingefchloffen. Freilich ift das eine Inkon— 
jequenz dem urjprünglichen deal gegenüber, das nur die Selbit- 
genügſamkeit und den Frieden fennt und als den Weg dahin das 
Selbftentwerden und als Kennzeichen, wie weit man es gebracht 
bat in der Selbftverleugnung, das Mitleid erheifcht. 

Aber, fragen wir weiter, was hilft mehr zu einer allgemei- 
nen Verbindung der Menjchen untereinander, das Aufgeben der 
eigenen Perjönlichkeit in der Erkenntnis oder der innige Anjchluß 
an eine-Perfon, die wirklich geliebt hat? Wir wollen eine ges 
ſchichtliche Betrachtung verfuchen. — Wann war die Myſtik eine 
Quelle für echtes Liebesleben? Von Haus aus ift fie ja durchaus 
egoiſtiſch auf den flüchtigen Gottesgenuß und die eigene Seligkeit 
bedacht. Nur wenige Mojtiker, alſo Leute, die die Kennzeichen 
der Myſtik an der Stirn tragen, fennen wir, die wirklich Sinn 
für den Nächiten hatten, in denen die Liebe und das Mitleid 
wirklich aus den Banden der Selbjtfucht heraustommt, Wir denken 
bierbei natürlich nur an die Art, wie die Lehre die Nächjtenliebe 
mit dev Myſtik vermittelt, nicht an die einzelnen Perſonen felber, 
die befjer umd jehlechter jein Fönnen als ihre Theorie. Derartige 
Leute find etwa dev Evangelift Johannes, Franz von Aſſiſſi, 
Jakob Böhme, Terſteegen und andere. Das find aber alles Män— 
ner, die auf chriftlichem Boden gewachſen find. Der Gegenjtand 
ihrer anbetenden Verſenkung war aber nicht die große meite allen 
gemeinfame Natur, ſondern — eine Perfon, die geliebt hat bis 
ans Ende und die in den Tod gegangen ift für die Geliebten. 
Dieſe Myſtik fchöpft die Antriebe zu ihrer Nächftenliebe aus der 
allen Menſchen gemeinfamen Beftimmung, wie fie in diefem Herm 
Ehriftus gegeben ift, in dem alle das Leben haben follen. Das 
ift ein ftärferes und gegründeteres Motiv als die angeblich allen 
gemeinjame geiftige Grundnatur. 

In einem find wir ja mit dev Theofophie einig, nämlich in 
der Betonung eines größeren Hintergrundes überfinnlicher Art, 
der die Menfchenliebe und die ethifche Gejtaltung des Menfchen- 





220 Niebergall: Chriftentum und Theofophie. 


lebens überhaupt begründen ſoll. Das ift der beiden Richtungen 
gemeinfame Gegenfat gegen die religionslofe Moral, Auf der 
einen Seite befteht diefer geiftige Hintergrund in der Gemeinfchaft 
aller Gefchöpfe, wie fie in dem „tat twam asi“ ausgefprochen ift, 
auf der andern Seite in dem allen gemeinjamen Ziele des Him- 
melreiches. Prüfen mir den Hintergrund unferer Gegnerin ges 
nauer auffeine Wirklichfeit und Motivierungskraft hin. Wir müffen 
fagen, daß das Fuudament der theofophifchen Moral auf einem 
sehr Schwachen Grunde ruht, nämlich auf der Verwechshung der 
beiden Bedeutungen, die das Wort „dasſelbe“ hat, alfo auf einem 
Logifchen Fehler. Einmal bezeichnet es eine Anzahl von gemein— 
ſamen Merkmalen, die verfchiedenen Gegenftänden eigen find, und 
das anderemal bezeichnet es die Identität felber. Alfo in dem 
einen Sinn kann man wohl jagen: ich bin dasjelbe wie jeder an— 
dere Menſch. Dabei ift die Meinung, dag ich eine Neihe von 
Merkmalen habe, die mir mit allen Menfchen gemeinfam find. 
Das anderemal jage ich: ich bin derfelbe, den du eben gejehen 
haft. Da ift eine wirkliche Jdentität vorhanden, denn es iſt nach- 
weisbar dasjelbe Weſen. Nun darf man aber nicht diefe beiden 
Bedeutungen zufammenmwerfen, um einen ethifchen Monismus 
herauszubekommen. 

Und in der That iſt dieſes Gefühl der Gemeinſchaft zwiſchen 
den Menſchen, wenn es fiber die nächſte Blutsgemeinſchaft hinaus— 
gehen und eine Mitgabe der Natur ſein ſoll, nicht viel mehr als 
eine Fiktion. Jede nüchterne Betrachtung findet, daß im natür— 
lichen Grunde der Seele nichts tiefer und feſter ſitzt als die dickſte 
Selbſtſucht, die ſich in das Bewußtſein kleidet: Was ich bin, das 
iſt kein anderer. Natürlich giebt es eine Gemeinſchaftlichkeit zwi— 
ſchen den Menſchen, aber dieſe iſt weniger eine Mitgabe ihrer 
Natur als ein Erwerb ihrer Geſchichte. Und es beruht auf einer 
optiſchen Täuſchung, wenn man die Niederſchläge der Geſchichte, 
in der die Ideale entſtehen und wachſen, als Naturmitgabe un— 
ſerer Seele faßt. Die allgemeine Menſchenverbrüderung iſt für 
unſern Kulturkreis von den Stoikern zuerſt als Ideal aufgeſtellt, 
dann von Chriſtus vornehmlich erſtrebt und von ſeinen Jüngern 
angebahnt worden, Wenn wir heute etwas in uns von ſolchen 


Niebergall: Chriſtentum und Theojophie, 221 


Neigungen finden, dann ftammt es von derartigen gejchichtlichen 
Einflüffen ber, 

Aber damit berühren wir einen Grundunterjchied der beiden 
Auffaffungen. Die eine ift in der Beurteilung des Menſchen opti— 
miftifch. Sie kann gar nicht anders, denn fie ftellt ihm mit feiner 
Hoffnung auf Vollendung ganz auf fich ſelber. Die unfere ift 
viel pejfimiftijcher. Das hängt damit zufammen, daß unfer Ideal 
ein höheres ift als das der amdern Lehre. Unfer Ideal umfaßt 
nicht nur die Menfchenliebe, jondern noch die Zucht des Fleijches 
und die Demut; und es will nicht nur in Werk und Wort, fon- 
dern auch in den Gedanken verwirklicht werden. Vor Chriſtus 
unferm deal überkommt jeden ernten Menjchen das Gefühl, daß 
wir mit unferer Kraft auf diefe Höhe nicht hinanfommen. Diejes 
höhere deal ift daran Schuld, wenn uns unfer Glaube nicht 
auf uns felber ftellt, fondern uns an Jeſus anſchließen heißt. 
Wir jehen die Hilfe nicht in unferen befferen Seelenbeftandteilen, 
die uns von Natur an eigen find, fondern in einer gejchichtlichen 
Geftalt, die das Ideal und die Kraft birgt. 

Darin unterftügt uns eine befannte Beobachtung, die fich 
alſo faffen läßt: Am meiften ftärft man ſich und andere in Grund- 
ſätzen und Lebensregeln, jobald fie tiber das vein Nübliche hinaus- 
gehen, wenn man fich in die Perfonen und Zeiten vertieft, in 
denen fie zuerjt an den Tag getreten find mit der ganzen Frifche 
einer eigenen und neuen Entdeckung. Je höher Aufgaben und 
Ziele find, defto weniger können fie durch das Begreifen des Ver- 
ftandes oder Durch irgend eine andere höhere Erkenntnis angeeignet 
werden, deſto mehr bedarf es der überführenden und begeifternden 
Anfchauung, um fie uns zu eigen zu machen. Es ift die Luft und 
Liebe zu einer Perfon, die der Träger irgend einer großen Idee 
war, was uns am tiefften mit diefer Idee verwachfen läßt. Die 
Menfchenverbrüderung wird weniger durd) die Erwägung des ung 
allen Gemeinjfamen als durch die begeifterte und dauernde Hingabe 
an den gefördert, der angefangen hat, die Schranken der Natio- 
nen niederzureißen. Und es giebt feine befjeren Mittelpuntte für 
die Verbrüderung der Menfchen, als Perſonen, die unter den 
Augen Chrifti mit diefem Ideal in ihrer innerſten Lieb und Luft 


222 Niebergall: Chriftentum und Theofophie. 


zufammengewachfen und zu Liebreichen Perſönlichkeiten gewor— 
den ſind. Man thut eben nicht alles, was man evfannt hat. 
Das iſt der eine Streich, den wir gegen die Wurzeln der 
anderen Anfchauung führen; fie hat nicht das rechte Ideal und 
fie verfügt nicht über die richtigen Mittel, um dieſes deal zu 
erreichen. Der andere Streich richtet fich gegen die Anſchauung 
von der Fähigkeit unferes Geiftes, die jenen Aufftellungen zu- 
grunde liegt. Wir beftreiten rundmweg auf Grund einer eingehen- 
den Prüfung unferer Exrkenntnismittel, daß es uns gegeben fei, 
über all die von der Gegenfeite berührten Dinge etwas Genaues 
zu wiffen. Sie will wiffen, was man nicht wiſſen kann. Wir 
reden zuerjt von den überftiegenen Spekulationen über kosmiſche 
Dinge. Der Glaube an unfere Fähigkeit, ſolche Erkenntniſſe zu 
faſſen, ift durch Die Unterfuchung unferer Erfenntnismittel umter- 
graben. Es find alles Träume und Phantafieen, deren Wirklich 
keit uns durchaus unkontrollierbar ift. Auch das Moos uvalter 
Ehrwürdigkeit vermag uns nicht den Charakter der Träumerei zu 
verdecken. Nicht amders fteht es mit dem reinen, dem geiftigen 
Hintergrunde der Welt auch. So nahe ſich auch der Gläubige 
mit diefem Selbft berühren mag, es ift und bleibt ein Traum. 
Es fehlen uns die Mittel, um über die Erſcheinungswelt hinaus 
mit unſerer Erkenntnis zu einem folchen Urgrunde der Dinge vor= 
zudringen, mag man die Erkenntnis niedriger oder höher faſſen. 
Die beiden angeführten Momente gegen die andere Lehre 
ftehen in einem engen Zufammenhang. Das ift einmal die Ab— 
mehr der Vorftellung, als könne man durch die Erkenntnis des 
geheimnisvollen Zufammenhangs zwijchen den Menfchen die Men— 
ichenverbrüderung anbahnen und dann die Abwehr des Verſuches, 
mit Spekulationen unjeres Erkenntnisvermögens eine umfaffende 
Weltanfchauung zu gewinnen. Dieje beiden von uns befämpften 
Gedanken haben zur VBorausfegung die Hochſchätzung des theore- 
tifchen Teiles der Menfchenjeele und darum für uns einen zu 
intelleftualiftijchen Gejchmad. Der Zufammenhang diejer beiden 
Stellungen liegt darin, daß wir alle miteinander der Fähigkeit 
das Größte zutrauen, die wir am höchften jchägen. Darum wird 
eine Gejamtanfchauung, die das Wiffen und die Erkenntnis ent 


Niebergall: Ehriftentum und Theofophie. 228 


weder als das höchſte Ziel der Entwicklung ſelber oder als das 
vornehmſte Mittel zu ihrem ethiſchen Ziele hinſtellt, der Erkennt— 
nisfähigkeit des Menſchen das Zutrauen ſchenken, daß fie imftande 
it, die Antwort auf die legten Fragen zu erreichen, mag auch 
die Sünde und die Leidenjchaft als eine Hemmung diefer Er— 
kenntnis angejehen und ihre Entfernung vorher erfordert werden. 
Wir ftehen auf einem ganz andern Boden. Für uns ift das 
höchſte Ziel unzweideutig nicht Wifjen und Erkenntnis, jondern 
die Heiligung des Willens. Darum werden wir verfuchen, ob wir 
nicht die Antwort auf die höchften Fragen von der fittlichen Per- 
jon aus erlangen können. Das gäbe eine Erkenntnis der Welt 
und des Lebens unter der Vorausjegung, daß das fittliche Leben 
der höchfte Zweck iſt. Wir würden dann fragen, welche Ver— 
faffung die Welt haben muß, wenn diefes Ideal gilt. Den Vor— 
teil haben wir dann, daß ſich uns dann Glaubensfäge ergeben, 
die in ganz unmittelbarer Verbindung mit unferem fittlichen Stre- 
ben ftehen und ebendarum uns innerlich gewiſſer werden können 
als die Säge, die uns die Spekulation fehenkt, weil dieje doc) 
nicht mit dem innerften Kern unferes Wejens, wo wir Wirklich 
feit erfahren, in Berührung treten. Doch darüber ſpäter. Nur 
noch die eine Bemerkung, daß fich hier wieder eine tänfchende Ana= 
logie zwifchen beiden Syjtemen ergeben kann, nämlich die beiden ge— 
meinfame Begründung der höchiten Erkenntnis auf fittliche Größen. 
Aber hier macht die Belehrung von der Sünde und Leidenjchaft 
nur den Blick frei für die im Grunde der Seele auf die Erkennt: 
nis wartende Wahrheit, dort dagegen iſt die Freiheit von der 
Sünde und Schuld und der Vollbefit; des heiligen Geiftes jelber 
die Wahrheit, nämlich der höchjte Sinn des Lebens in der Welt. 
Das ift eine Wahrheit, die der fittlichen Perſönlichkeit Halt und 
Stärke geben fol. Darum ift fie nur mit dev ganzen fittlichen 
Perſönlichkeit zu ergreifen als der Grund, der ihren Anker ewig hält. 


Der Vorzug des Chriltentuns. 


Wir wollen verjuchen, unter der Vorausjegung, daß die aufs 
geftellte Wertſchätzung des perfönlich-fittlichen Lebens gilt, den 
Vorzug unferes chriftlichen Glaubens vor der Theofophie zu be- 


224 Niebergall: Chriſtentum und Theofophie. 


gründen. Es ift gewiß ein verfehrtes Urteil, wenn man meint, 
die Wahrheit einer Weltanſchauung oder irgend einer Anficht über— 
haupt mit ihrem größeren Wert beweifen zu können. So fehr 
diefe Art von Beweis für den gewöhnlichen Mann die befte ift, 
jo wenig darf fie von vornherein in einer wifjenfchaftlichen Dis- 
fuffton angewandt werden. Denn wenn auch eine Weltanſchauung 
beſſer und brauchbarer ift als die andere, fo ift noch lange nicht 
erwieſen, daß fie nicht auf einer Illuſion beruht — wie die an— 
dere auch. Ueber die Wahrheit oder vielmehr über den Weg zur 
Vergewiſſerung wollen wir noch nachher handeln; darum dürfen 
mir aber doch zuvor in der Konfurrenz mit der Theoſophie ihren 
Wert und ihre Brauchbarkeit hinfichtlich ihrer Ziele und der da- 
bin führenden Mittel in Betracht ziehen. Es unterjcheiden fich 
die beiden Anſchauungen zunächjt einmal in ihrer Darftellungs= 
form von einander. Der Charakter der Theofophie ift teils über- 
mäßig abjtraft teils übermäßig phantaftijch; abjtraft, was die 
Gedanken betrifft, die möglichjt nahe den praktijchen Zielgedanken 
der allgemeinen Menfchenverbrüderung umgeben, den moniftifchen 
Realismus; phantaftifch, ſoweit die weitern Gedankenkreiſe in Be- 
teacht fommen, die uns an gnoftifche Spekulationen erinnern. Die 
erſteren leiteten uns an, das Göttliche in unferem eigenen Ich 
aufzufuchen. Da ſei das wahre Selbjt zu finden, das Korrelat 
oder das inmermenfchliche Teil des großen göttlichen Weſens. 
Diefer Begriff von Gott ermangelt jeder Farbe und jeder Wärme, 
Nirgends ein Verſuch, dieſes Selbft etwas anfchaulicher zu mas 
chen. Stet3 wird nur verheißen: räume den Schutt deiner Leis 
denjchaft weg, dann findeit du es ganz gewiß in deinem Innern, 
wo e3 nur jeines Entdeckers wartet. Aber im meinem Innern 
find ganz verfchiedene Geifter mächtig. Wo foll ich es fuchen, 
unter den böfen oder unter den quten? Natürlich nicht unter den 
böfen. Aber wenn ich etwas Böſes für etwas Gutes halte und 
al3 das Selbjt anjehe? Wer ſchützt mich davor? ft nicht unfer 
wahres Selbjt, wenn wir uns objektiv anfchauen, durch und durch 
egoiftifch und finnlich? Oder foll das Selbft, unbefleivet mit ir— 
gend einer ethifchen Eigenfchaft die nackte geiftige Eſſenz der Seele, 
das an ſich des Geiftes fein? Ginmal glaube ich nicht, daß es 


Niebergall: Chriſtentum und Theofophie. 5 


jo etwas giebt; vielmehr ift es eine poetifche oder metapbufiiche 
Fiktion; und dann, wer ift imftande, wenn er jeinen Geift nicht 
zu einer geradezu gefährlichen Stufe abftraften Denkens degradiert 
bat, ein foldyes Ding aufzufinden und feitzubalten? Diefes Po— 
ſtulat pantheiftijchen Denkens ift ganz und gar farblos, unvor- 
ftellbar, und darum nichts für die Allermeiften, Mögen einige 
bevorzugte Geifter wiſſen was fie jagen — die Mafje, abjtrakten 
Gedanken feind und nad) Anſchauung verlangend, weiß nichts da— 
mit anzufangen. Kaviar fürs Voll. Eine allgemeine Menfchen- 
verbrüderung bedarf als ihrer religiöfen Grundlage einer gang 
anderen Anjchauung als es die hier gegebene ift. Zwar kann 
man mit der Unterjcheidung zwijchen efoterifch und exoterifch nach— 
helfen, den einen die Religion und die Anfchauung, den andern 
die Theofophie und die Gedanken überlajfen. Aber follte nicht 
die Bildung in einiger Zeit gerade jo gut die neue und fremde 
Metaphyſik über Bord werfen, wie fie die Metaphyſik des Chriften- 
tums abjtreifte, nachdem die Sache ihr Pifantes verloren bat? 
Und was dann bleibt, das ift dev Spivitismus und die Magie 
auf der einen, der weniger hochjtehenden Seite, umd die ethijche 
Kultur auf der anderen. 

Wie viel klarer und anſchaulicher und doch fern von plum— 
pem Anthropomorphismus ift unfer Chriftentum, das in Jeſus 
von Nazaret das Ebenbild, die Bürgichaft, die Offenbarung oder 
alles zufammengenommen den Sohn des lebendigen ewigen Gottes 
erblickt! Auf dem Weg des Glaubens können wir uns ein Bild 
von der Gefinnung unſeres Gottes machen, mögen mir auch auf 
die Fragen dev Neubegier nach feiner Natur und Gefchichte Feine 
Antwort wiſſen. Wir haben eben mit Gott nur zu thun, ſofern 
er zu unferm Wohl und Heil eine Beziehung hat. Für diefe Ver- 
bindung mit ihm wifjen mir vollftändig genug; und das andere 
kümmert uns nicht. Da ift es genug, wenn wir wiſſen: Es waltet 
über uns ein Wille, der Ehrifti Art am fich trägt, nur daß er 
vollfommen und mit dev Macht über die ganze Welt bekleidet ift. 
Diefer Glaube fteht mit dem Wiſſen und dev Wilfenfchaft nicht 
weniger und nicht mehr in Spannung als der Glaube der Theo- 
fophen auch. Aber den Anhalt des Glaubens angejehen — wie 


226 Niebergall; Ehriftentum und Theofophie. 


viel reicher an Troft und Spannkraft ift doch unfer Glaube als 
der dev Theofophie? Wir haben einen Gott, auf den man fich 
verlafjen kann, der uns einen Halt gewährt; denm wir glauben 
an einen perjönlichen Gott und Vater, der der Herr der Welt 
und unferes Lebens ift. Er gemährt doch einen ganz andern 
Stützpunkt feinen Gläubigen in den Drangfalen und Verfuchungen 
der Welt als das im Seldft offenbare Wefen der Welt, das zu 
unferm Leben und Kämpfen gar keine Beziehung hat. Der Glaube 
an feine erziehende Liebe verföhnt mit den Leiden dev Welt, der 
Glaube an jeine heilige Gewalt ftärkt in Verfuchungen und hilft 
aus der Sünde heraus, Ein Leben mit und in dem perjönlichen 
Bater im Himmel bietet einen ganz andern Frieden und Freudig— 
feit, als das Verſenken in das jachlich gedachte Eine, das man 
in ſich mit Mühe gefchaffen hat. Und es kommen dem Beſten 
und Sicherfien Stunden, wo die Leidenjchaft oder die Angjt jo 
viel Dunkel in feine Seele wirft, daß er des Gottes in ihm, zu 
dem man nicht beten kann, gar nicht mehr gewahr wird. So viel 
Schwanten fommt in unfer Leben, daß ein „Gott in uns“ mit 
ſchwankt, ftatt uns zu halten umd zu tragen. Wenn das abſtrakte 
Denken an das Eine geiftige Urwefen im Sturm und in der 
Hitze des Lebens längft verfagt haben, dann vermag die gläubige 
Anfchanung und kindliche Hingabe noch lange fefte Taue zu ſpan— 
nen. Die menjchliche Organifation ift nicht von der Art und 
das Getriebe des Lebens erlaubt es nicht, daß wir der Kontem— 
plation des einen großen Selbft länger al wenige Minuten uns 
widmen und fie im Kampf feithalten können, während dev Glaube 
an den Vater im Himmel als Grundton alle Akkorde des Lebens 
begleiten mag. 

Aber das it es ja, die Anfchauungen der Theojophie find 
nicht von vornherein auf die Regulierung des Lebens bevechnet, 
ſondern es trägt alles den abſtrakt intellektualiftifchen Charakter 
folcher Gedanfengebilde an fich, die beftimmt find, ragen zu bes 
antworten, die das Denken aufgeworfen hat. Natürlich iſt ein 
Anſchluß an praktiſche Bedürfniſſe gefucht worden, aber man fand 
ihn nur auf dem Gebiet dev Weltflucht und der Verſenkung in 
das Al oder auch das Michts, nicht auf dem Kampfplatz des 


er 


Niebergall; Chritentum uud Theofophie, 227 


Lebens, wo es gilt, eine Seele mit heiligem Wollen zu füllen 
und mit einem Troſt zu ftillen, der nicht in müder Flucht, ſondern 
in freudig⸗ſtarker Ueberwindung befteht. Unter unſerer Voraus: 
jegung des überragenden Wertes der Perfünlichkeit werden wir 
dem Chriftlichen Begriff der Berjöhnung den Vorrang vor 
dem theojophifchen der Bereinigung mit dem Urgeiſt oder noch 
unperfönlicher gedacht, mit dem Nirwana zuertennen müfjen. Die 
heiftliche Verſöhnung befteht darin, daß die göttliche Perjönlich- 
feit der menjchlichen, die ihrer Stellung untreu geworden ift und 
dadurch das Selbjtvertrauen und den Mut verloren hat, durch 
die ihr aus Barmherzigkeit um Chriſti willen zugewandte Hoch— 
ſchätzung das Vertrauen zu fich felbft, zu Gott und der Welt 
wiedergiebt, So gewinnt ſich die menjchliche Perſon jelbjt wieder, 
indem fie fich in freiem Glauben auf den guten und ftarfen Gott 
im Himmel gründet, auf den man fich verlafjen kann. 

Im Zufammenhang damit fteht der grundverjchiedene Cha- 
vakter des Heilsgutes in beiden Syftemen, Wir finden den 
Vorzug des unferen gerade darin, daß «8 die in uns liegenden, 
auf unſer Ideal zulaufenden, Bejtrebungen verwirklicht und ein 
bewußtes perjönliches Leben in der Gemeinſchaſt Gottes fchentt. 
Das Heilögut der Theofophie, das Aufgehen im Brahma oder 
Nirwana, vermag nie einem Menſchen zu genügen, der die Würde 
und Seligkeit des jelbfteigenen Lebens erkannt hat. Es bleibt 
dieſe Anjchauung, weil fie die Höhe geiftigen Lebens nicht erreicht, 
gewiffermaßen in den Grenzen einer verfeinerten Naturreligion 
ſtecken. 

Am klarſten iſt der Vorzug der chriſtlichen Religion auf 
dem Gebiet der Erlöfung. Die von der neubuddhiſtiſchen Lehre 
gebotene Erlöfung erreicht nicht die Höhe einer Befreiung der 
fittlichen PBerfon aus den Banden der Selbftjucht zu einem Leben 
in der Liebe und der Freiheit. Troß aller Verwäſſerungen und 
ethiſchen Verzuckerungen bleibt dev Grundgeſchmack egoiſtiſch-quie— 
tiſtiſch. Ein Buch wie die Bhagavad-Gita jo hoch und fein auch 
vieles darin iſt, hinterläßt doch nur den Eindruck einer auf 
Lebensüberdruß und Klugheit beruhenden Flucht aus dem ganzen 
Weltkram und der Verſenkung in Krifchna, wo man alles los iſt. 


228 Niebergall; Chriftentum und Theoſophie. 


So wenig wie die Grlöfung aus dem Einzeldajein als ſolchem, 
ift Die aus der Samjara, dem Rad der Wiedergeburten, die uns 
die Theojophie verheißt, ein Gejchent, das bei uns Wejtländern 
viel Gegenliebe finden dürfte, da wir im ganzen ebenfo von dem 
Recht des Einzeldajeins als von dem hypothetifchen Charakter der 
Samfara überzeugt find. Es wird uns alſo eine Erlöfung an— 
geboten aus Nöten, die für uns gar nicht dem drücdenden Zwang 
wie für die Urheber und erften Empfänger der Lehre an fich tragen, 
Mit der Erlöfung aus dem Leid ift es anders, denn das 
geht jo weit der Himmel reicht. Aber von unſerm Standpuntt 
können wir das Leid nicht als die jchlimmfte Not anfehen, der 
unter allen Umftänden abzubelfen ift, ſondern das ift für uns 
die Sünde, die Knechtjchaft der Selbjtfucht und der Sinne. Von 
anferm Standpunkt dev Wilrde des Menjchen umd des Heiles 
der Gejamtheit aus dürfen wir nie die ethijche Geftaltung des 
Lebens als ein Mittel zur Befreiung des Einzelnen von feinen 
Leiden mißbrauchen laffen. Im geraden Gegenteil, wir preifen 
das Leiden, weil es oft als ein Bundesgenofje des heiligen Beiftes 
bilft, die Leute vom Böſen zu befreien und Demut und Nächiten= 
liebe in die Herzen einzupflanzen. Fällt mit der Sünde Not hin- 
meg, gut. Mit dem Neft der Leiden werden wir fertig, nicht, 
indem wir mit der Kontemplation der Welt jamt ihrem Leid den 
Rücken ehren, ſondern indem wir e8 innerlich mit dem Willen 
und Glauben überwinden, wenn e3 verjtanden und gebraucht 
wird als ein Gut niederer Ordnung, weil es zu unferm höchiten 
Gut, der kraftvollen Ausgeftaltung der fittlichen Perjönlichkeit 
unentbehrlich ift. 

In der Erlöſung von der Gewalt der Sünde 
haben wir ebenfalls den Vorzug vor der Theofophie, jo jehr fie 
gerade auf diefem Gebiet ihre Selbfterlöfung unferer objektiven 
als die beſſere entgegenftellen mag. Freilich gilt es für uns, hier 
zuerjt einmal jelbjtverjchuldete Mißverſtändniſſe abzuwehren. Bor 
der durch die herkömmliche Firchliche Verkündigung den Köpfen 
eingeprägten Erlöfungslehre hat freilich unfer Gegner den unbe— 
ftreitbaren Vorteil einer Verinnerlichung der Erlöfung, die in 
immer neuen Worten betont auch für uns etwas Erbauliches ge— 





Niebergall; Chriſtentum und Theofophie. 229 


winnt. Nichts Hilft uns, was wir nicht ſelbſt angeeignet haben. 
Doch das find Gedanken, die unfere Theologie ſchon jeit langem 
verkündet, ohne daß wir fie von dorther bezogen hätten. Unſere 
Stellung faßt beides zufammen; angeſichts der durch unjer hohes 
deal gegebenen Tiefe der fittlichen Not verzweifeln wir, aus 
eigener Kraft die Koften der Erlöfung beftreiten zu können. Wir 
finden fie in einer Perfon umd in ihrer Gejchichte, die reich an 
Motiven zu einer Neugejtaltung des Lebens ift. Aber das Vor— 
handenſein diefer Perfon genügt uns nicht; wir verlangen nicht 
etwa ein intelleftualiftifch gefaßtes Glauben an fie oder an die 
Säße, in die man ihren Wert gefaßt, jondern eine Hingabe des 
Willens, der durch die Luft und Freude an dieſer Perfönlichkeit, 
die von ihr jelber ausjtrahlen, überwunden wurde. Dieſe Luft 
an Jeſus, vermehrt um die Verhätigung des Verflandes, ohne 
die fein jeelifcher At zu denken ift, heißt Glaube; und diejer 
Glaube ift das Medium, in welchem fich die Berfon und die Ge— 
fchichte brechen muß, daß fie im hellen Schein einer Erlöſung 
durch Gott leuchtet. Ohne diefe ſubjektive Verarbeitung wird die 
Perſon und Gefchichte Jeſu niemals das, was fie zu werden von 
Gott bejtimmt tft, Erlöſung und Hilfe aus Sündennot. 

In diefer Erlöſung iſt zugleich enthalten und auch überboten, 
was für die Theofophie Erlöſung ift, nämlich die Befreiung von 
dem Karma und dem Rad der Wiedergeburten. Wir glauben 
an eine Vergebung der Sünden. Es ift eim großer 
Mangel, daß die andere Lehre etwas Derartiges nicht hat, wie 
Schuld und Vergebung. Beides hängt damit zufammen, daß fie 
feinen perjönlichen Gott kennt, vor dem man jehuldig wird und 
der allein vergeben fann. Dafür kennt fie nur im Karma das 
Schlußfonto eines Lebenslaufes, das meift mit einem Fehlbetrag 
fchließt, der dann im neuen Leben heruntergearbeitet werden muß, 
Das ijt ein Hauptvorzug unſerer Lehre, daß fie Evangelium ift, 
frohe Botjchaft von der Löſchung jenes Konto, von der Annullie- 
rung des Karma. Für den Theofophen ein ganz unvollziehbarer 
Gedanke, dem das Geſetz das Höchfte ift. Wir wiffen von einem 
Herrn, der diber feinem Gejege fteht, der durch jein Wort das 
Verhängnis, das die Sünde über uns bringt, bejeitigen kann. Das 





230 Niebergall: Ehriftentum und Theofophie. 


ift die Weberwindnng der Natur und ihrer Geſetze. Damit giebt 
uns Gott Frieden und Kraft zum fittlichen Handeln, das nun nicht 
mehr ein qualvolles Abverdienen alter und neuer Schuld, jondern 
ein danfbarer Dienft für den lieben Vater im Himmel an feinen 
andern Kindern ift. Hier alfo klafft der Grundunterſchied beider 
Auffaffungen, Natur und PBerjönlichkeit, befonders deutlich hervor. 

Wie fteht e8 mit dev Motivierung des ſittlichen 
Lebens in beiden Lehren? Es ift ſchon auf die merkwürdige 
Parallele hingemwiefen worden, die in diefer Beziehung ftattfindet. 
Es findet fich hier mie dort die Forderung des Guten zwiefach 
motiviert. Das einemal evicheint das Gute als Bedingung zur 
Erreichung eines Zieles, das anderemal als Folge gewiſſer reli— 
giöfer Zuftände. Es ſtehen fich gegenüber die Stellen des N.T., 
wo die Erlangung des Himmelreiches abhängig erſcheint von dem 
ethiichen Wohlverhalten, und die Anjchauungen vom Karma und 
den Wiedergeburten; auf der andern Seite die biblijchen Aus: 
jagen über die ethifche Haltung, die ſich ganz von ſelbſt aus der 
Sohnesftellung des Ehriften, aus dem Befige Chrifti oder jeines 
Geiftes ergiebt, und die Menfchenliehe, die aus der Erkenntnis 
der Einheit erwachien joll. Nun find wir ohne Zweifel weiter 
in der Austilgung diefer Unterjchiede. Wir haben uns entjchieden, 
die hohen Gedankengänge Chrifti, Johannis und Pauli als die 
wichtigen in den Vordergrund zu ftellen. Die Motive zum Guten 
liegen darnach im mejentlichen hinter uns. Die Liebe Chrifti 
dringet uns alſo. Der Geift deffen, der ganz Liebe und Reinheit 
war, uns übermittelt durch Schrift und Gemeinde, bringt ein 
neues Moment in unfer Inneres, daß wir gar nicht amders 
können als lieb haben und rein fein. Bor ung liegt nur das 
Motiv, aus der eingefchlagenen Bahn nicht Herauszufallen, um 
das Ziel der Vollendung in der Gemeinjchaft Gottes nicht zu ver— 
ſäumen. Das ift ohne Zweifel ein motivationsträftigerer Gedanke 
als der vom Karma und den Wiedergeburten. Ob jich viele wirk— 
lich in ihrem Handeln und Denken durch den Wunſch beftimmen 
lafjen, für jpätere Leben ihr Konto zu erhöhen? ine angebliche 
Wahrheit, die jo wenig unmittelbar aufs Gefühl, fondern fo um— 
ftändlich durch Gedanken vermittelt wirken joll, verliert ihre Schlag- 








Niebergall: Ghriftentum und Theojophie, 231 


kraft, Der Apparat ift zu umftändlich und der Hebel iſt zu lang. 
Der andere Gedanke ift bei weitem gefälliger. Aber gehört nicht 
ein ganz bejonderes Denken dazu, die Einheit in allem Erſchaffenen 
zu faſſen? Ich befenne mich außer ftande, die Unterjchiede zwi- 
ſchen geiftigem und natürlichem Sein in diefer Weife zu über- 
brücken; vielleicht hat die weſtliche Wiffenfchaft mein Denken zu 
ſehr verdorben. Auf jeden Fall ift es ein Gedanke recht abſtrakter 
Art, der nur ſchwer in den Mechanismus der Gefühle und Willens- 
regungen eingreift. Wir fahren beffer, wenn wir uns und an- 
dere durch Zwecke beftimmen oder durch die Erziehung und Be— 
rührung mit überlegenen Geiftern den Inſtinkt für das Gute zu 
bilden juchen. 

Die fittliche Bethätigung gewinnt eine ganz andere Kraft, 
wenn fie im Glauben als der Sinn und Zweck dev Welt umd 
zugleich als der Wille ihres Schöpfers und Herrn gefaßt wird, 
der dem Reiche des Guten feine Allmacht zur Verfügung ftellt. 
So exgiebt ſich eine ftraffe Deutung des Eingellebens im Sinne 
des Ethifchen, ohne die ein Wandel im Guten viel von feiner 
Kraft verliert, Es ift die im Glauben an den perjönlichen hei— 
ligen Gott gewonnene Einheit des Geijtigen und Natürlichen, die 
es uns ermöglicht, nicht nur, wie es ja auch die Theofophie thut, 
als das Ziel des Lebens und der Welt etwas Ethifches hinzu— 
jtellen, fondern auch unjer ganzes Erleben als Führung und Ans 
reiz zur Gewinnung des guten Geijtes aufzufaſſen. In dieſem 
Gedanken, der unjerer Gegnerin unerſchwinglich ift, Liegt eine ge 
waltige Konzentration und Kraft. Wir fchlagen auch aus dem 
Leid mehr heraus als die Theofophie. Seltene Erhebungen über 
diefen Standpunkt abgerechnet, tröftet fie durchgängig über das 
Leid nur mit dem Verweis auf andere Leben, wo wir e8 beſſer 
haben jollen, wo der Ausgleich jtattfinden wird — der alte Je— 
hovaglaube, der vielverfpottete, in das Kosmiſche verlängert, Wir 
glauben, daß das Leid ein Mittel in der Hand unjeres Vaters 
it, der unſer Leben macht und ihm jein Ziel im Reich Gottes 
jest, uns von der Sünde zu löfen und an fich zu binden, 

Das ift und bleibt der Grundunterfchied; wir glauben an 
einen allmächtigen Willen, der unferer Schwachheit und Angjt aufs 


Zeitfgrift file Theologie und Kirche. 10. Jahrgang. 3. Heft. 16 





232 Niebergali: Ehriftentum und Theoſophie. 


hilft, daß wir das Biel erreichen, der die große Kluft zwifchen 
ihm und uns überbrüct, Die Kluft kennt die Theofophie auch 
und auch eine Brücke: nämlich die endlofe Wanderung durd) neue 
Körper hindurch, Es iſt feine Brücke, es iſt vielmehr ein ges 
waltiger Deftillationsapparat, ein MWeltenfieb, durch das wir hin— 
durch müfjen. Anders läßt fich die Differenz und ihre Befeiti- 
gung gar nicht ausdrücken, wenn man nur die natürliche Ent 
widlung und feinen perfönlichen Gott bat, der mit feiner Gnade 
und Kraft durch Chriftus und feinen Geijt ums über die Kluft 
hinüberführt. Dadurch, daß wir alles in ein Leben verlegen, 
bringen wir eine viel größere Leidenfchaft der Entjcheidung für 
Gott zu ftande als das möglich it, wo ein Urenkel meines Sch, 
deffen Fühlen nicht das meine, deſſen Exiftenz mir immer unwahr— 
ſcheinlich ift, die Früchte meiner Arbeit entet, weil der Gedante 
immer erfehlaffen wird: ich bin es ja nicht, oder es hat ja noch 
Zeit, Da wirkt die chräftliche Efchatologie in ihrer liberalſten 
Verdünnung immer noch fräftiger als diefe Spintifiererei. Denn 
e3 wird dort doch alles auf das ch gelegt, das ein Leben zu 
leben hat, das für die Ewigkeit gilt. Wenn auch die Wiederver- 
körperungslehre allerlei theoretifche Schwierigteiten zu löſen fcheint, 
die wir nicht aus dem Weg räumen können, wozu die Religion 
auch gar nicht da ift, — jo ift das Nirwana und die Wieder— 
verförperung um nichts wahrfcheinlicher als dev Vater im Himmel 
und die Bedeutung dieſes einen Lebens, mögen auch wunder 
füchtige Europäer mit noch jo großer Andacht die Phantasmen 
uralter indischer Träumereien verehren. 

Zum Schluß noch einen Blick auf das Verhältnis beider 
Religionen zur Wiſſenſchaft und Kultun Es ift nicht 
die Wiffenfchaft, die all die Anklagen der Theojophie auf Ver— 
breitung einer materialijtijchen Weltanfchauung verdient, ſondern 
die befannte Verwechslung und Vermengung von Wiſſenſchaft und 
Glaube. Diefer iſt man aber bloß gemachjen, wenn man einmal 
genau weiß, was Willen und was Glauben it, Die Theojophie 
ftellt num wiederum eine folche Vermengung von Glauben und 
Wiſſen auf, nur daß es ein anderes Wifjen und ein anderes Glau- 
ben ift. Da find wir weiter, die wir von Kant und Schleiers 


Niebergall: Ehriftentum und Thenfophie. 233 


macher gelernt haben, beides zu unterfcheiden und zu verbinden, 

Die Kultur — follte fie Vorteile haben können von einer Ge— 
jamtanfchauung, die in der Weife der Theofophie dem Wiſſen und 
feinem Ertennen feindlich ift, weil fie fertige Antworten aus einer 
vergangenen Kulturzeit mit bemunderhswerter Treue anpreift? 
Und jollte eine Religion ihr dienen, die von Haus aus ganz und 
gar weltabgewandt von der Kontemplation und nicht von der That 
lebt? der es nur mühſam gelingt, die Blöße ihres durchaus egoi— 
ftifchen Weſens mit einem erborgten Feigenblatt zu bededten? — 
Zwar ift es weder die Wiffenichaft noch die Kultur, die über den 
Wert einer Religion zu Gericht zu ſitzen haben, denn diefe ift nur 
für die Seelen umd ihr Heil; aber wir Söhne der Reformation 
vermögen feinem Glauben mehr anzuhängen, dev es ums erſchwert, 
unferm Gott zu dienen an jeinen Kindern in der Welt, in die er 
uns nun einmal hineingeftellt hat. 


Die Hergewilferung. 

Mit den Vorzügen unferer Religion unter dem Geſichtspunkt 
der Förderung unferer fittlichen Perfönlichkeit ift die Streitfrage 
nicht entjchieden. Wir müffen noch die Frage nach der Wahrheit 
stellen, oder da wir feine übergeordnete Stelle haben, die darüber 
entſcheidet, müſſen wir nad) der Möglichkeit fragen, einer Welt 
anfchauung, im befonderen der beiden im Wettkampf jtehenden, 
innerlich gewiß zu werden. Gehen wir uns daraufhin die Theo- 
ſophie an, Zunächſt muß einmal fehr viel in der Peripherie weg— 
fallen, was fich ganz und gar unferer Kenntnis entzieht, weil wir 
es nun einmal nicht wifjen können. Das ganze Zwitterweſen von 
Wiſſenſchaft und phantaftifher Ausdeutung, die Kosmologie, die 
man uns aufdrängt, haben bloß noch fr den Religionshiſtoriker, 
aber nicht mehr jür den Gläubigen einen Wert. Es ift ein gar 
fühner Verſuch, am Ende des Jahrhunderts, das die Nevolution 
durch Kant erlebt hat, uns jolche Phantaftereien, weil jie angeb- 
Lich uralt find, als Ausdruck höchſter Wahrheit anbieten zu wollen! 
Was find das für Entwürfe, die alle Erfahrung überfteigen! Was 
für Kombinationen! Welche Kühnheit dev Zahlen, die doch den 
ſymboliſchen Charakter an der Stirn tragen! Mit all diefer Weis: 

16* 


Pe Niebergall: Ehriftentum und. Theofophie, 


heit rechnet man auf diefelbe geijtige Verfaffung der Zeit, auf die 
einft die Gnoſis vechnete, auf die Sehnjucht einer durch den Em- 
pirismus ausgebörrten Welt nach einer Gemüt und Phantafie be- 
friedigenden Weltanjchauung, die dann in der uralten geoffenbarten 
Weisheit des geheimnisvollen Orientes gefunden wird. Man rechnet 
auf das Bedürfnis nach einer von myftifchen Schauern umgebenen 
Autorität, das die blafterte Weltweisheit bald in die Arme Noms, 
bald zu den Füßen indischer Weifen treibt. Aber was hier geboten 
wird, geht hinaus über das, was man wiſſen fann. Eine gründliche 
Kantkur thäte allen not, die noch den alten Traum träumen, al3 müß- 
ten die Dinge wirklich jo fein, wie wir fie wünjchen und denken. 

Aber Wiſſenſchaft ſoll es ja jein, oder die Wahrheit diefer 
Anficht joll darauf ſtehen, daß fie eine homogene Abrundung der 
heutigen Wiſſenſchaft bietet, nämlich der darminiftifchen Entwick— 
lungslehre. Sie foll der große Nahmen fein, in den der Dar- 
minismus gejpannt wird. Aber der beruht felbjt auf Glauben 
und ift jelber Deutung und Hypothefe, die von vielen Händen 
bexeit3 durchlöchert ift, Wiſſenſchaft ift anders. Sie jaßt die Er- 
icheinungsmelt in Gefege zufanımen und geht den Urfachen nach. 
Der gejcholtene weitliche Begriff von dev Wifjenfchaft ift richtig. 
Aber darum braucht man noch lange nicht auf eine höhere geijtige 
Weltanjchauung zu verzichten. Nur daß man fie nicht als Wiffen- 
ſchaft höherer Art, fondern als Glaube zu geben hat. Wiſſen— 
ichaft und Glaube teilen ſich friedlich in die Welt, wenn jene den 
Gefegen und den Urſachen und diefer den Zwecken und Geboten 
nachgeht. Wenn uns der Glaube von einem Weltenzwed zu jagen 
weiß, der es wert ift, das Leben daran zu wagen, dann giebt es 
Gewißheit für eine hohe geiftige Weltanfchauung, die aber natür- 
Lich nicht jede Neugier, jondern nur das Bedürfnis nach einer 
oberſten Nichtlinie für unfer Leben und Leiden befriedigen kann. 
Wer mehr verlangt, geht irre, 

Und nun Einzelnes. Die Lehre von den Geiftern und 
Wiederverförperungen mutet uns denn doch ein wenig, 
gar zu viel zu. Wir follen glauben, daß ein jeder mit einem 
Geifte auf dem Rücken durch das Leben wandelt. Wer hat eine 
Empfindung von diefer Doppeltheit feines Weſens? Die Zwie— 


Niebergall: Chriftentum und Theofophie. 235 


jpältigkeit unferes Bewußtſeins erflärt ſich doch viel einfacher pſy— 
chologiſch als jo geheimnisvoll. Oder follen wir auf die Autorität 
von ein paar Leuten, die der Meinung waren, ſchon einmal in 
anderer Gejtalt dagemwefen zu fein, uns mit einer fo ungeheuer: 
lichen Vorftellung belaften, daß wir tragbare Gefchöpfe find, auf 
denen ein Geift eine Rundtour durch den Kosmos macht, indem 
ex fich ftetS der Gefahr ausſetzt, von feinem unartigen Lafttier in 
den Abgrund des Nichts geworfen zu werden? Dafür follen wir 
unſer Selbjtgefühl, unfere Verantwortlichkeit preisgeben? Und die 
Geifter, Die hohen Intelligenzen — warum unterziehen fie fich der 
Mühe und Gefahr, auf Menfchen durch die lange Zeit zu fahren? 
Gewinnen können fie ja doch nichts, die hohen Söhne des Ur- 
geiftes, wohl aber verlieren. Es fehlt der Zweck der Sache. Chris 
ſtus gewinnt doch wenigftens etwas nach der Philipperftelle. Aber 
bier ift e5 eine ganz zweckloſe Strapaze. Nur einen Zweck haben 
die Geifter. Sie follen helfen, die Frage zu beantworten: woher 
kommt der Menſch? Wie kommt es, daß der eine fo bejchaffen 
ift und der andere anders? Alle phyfiologischen und pſychologi— 
ſchen Theorieen Löfen diejes Geheimnis nicht, woher das Eigene 
kommt, das der Menſch neben dem von Water und Mutter Er— 
erbten hat. Woher kommt der Reſt? Antwort: Das find die 
Geifter, die in das auf phyfifchem Wege gemachte Bett hinein- 
ichlüpfen. So ift die ganze Frage erledigt. Nur jchade, daß man 
x mit y klar macht; denn die ganze Frage it nur zurückgeſchoben, 
nicht beantwortet — diefelbe Sache, wie bei der Erklärung des 
Sündenfalls durch die böſen Geiſter. Da haben wir doch gelernt, 
etwas fchärfer zu denken. Die Geifter erfüllen alfo den Zweck, 
ein theoretijches Problem aus dem Gebiet des Seelenlebens durch 
einen Verzicht auf den Weg der Forjchung durch Heranziehung 
der Mythologie zu löfen. Wir laffen hier der Wifjenfchaft das 
Wort umd rechnen im Übrigen mit dem einzelnen Sch als einer 
jelbjtändigen und verantwortlichen Größe. Wir quälen uns nicht 
mit der Frage: Woher fommt es? Hier fchlägt der Grumdunter- 
ſchied der beiden Syſteme durch: das eine fragt: Wie kommt es? 
Und das andere: Was foll ich thun? Das eine ift Philofophie 
und das andere ift Religion. 


— 


236 Niebergall: Chriftentum und Theojophie, 


Aehnliches gilt von den Grundprinzipien des Men- 
ſchen. Es giebt allerlei auffallende Exfcheinungen im Seelenleben, 
wie z. B. dev Schmerz der Amputierten in den abgefchnittenen Glie— 
dern, Die Wifjenfchaft forjcht nach, wie er wohl phyfiologifch 
vermittelt fein könnte; die Geheimlehre jagt: ei, der fommt eben 
von dem Atralleib! Erklären heißt ja, Unbekanntes auf Unbe- 
Kannteres zurückführen. Es iſt alfo ein durchaus nicht zu billi= 
gendes Verfahren, Schwierigfeiten mit Worten löfen zu wollen, 
die fie nur fixieren, aber nicht heben. Man kann und braucht 
überhaupt nicht alles zu erklären; man joll die Thatbeſtände ges 
mau befchreiben und auf befannte Gefege womöglich zurückführen, 
aber nicht auf unbefannte Vermögen und Subjtanzen. 

Karma, der Zufammenhang zwifchen Urfache und Wirfung 
auf dem fittlichen Gebiete, das Geſetz, das unfehlbar das Leben 
der Wiederverförperungen geftaltet nad) der Gerechtigkeit — was 
jagen wir darüber? Karma ift ein feltfames Gemifch von Natio- 
nalismus und Moftil. Daß man im allgemeinen erntet, was 
man gejät hat auf dem Gebiet des Sittlichen, das iſt wohl 
wahr, Die Sünde ift der Leute Verderben, und mer Sünde 
thut, der ift der Sünde Knecht. Das giebt eine Klugheits— 
lehre, aber feine fehr hohe Moral. Außerdem braucht man an 
diefe Wahrheit den Namen der Offenbarung nicht zu verſchwen— 
den. Aber der Kern der Karma-Lehre umfaßt auch mehr. Bei 
jener Lehre von dem böfen Erfolg des Böfen und dem guten Er- 
folge des Guten bleibt ein Neft, das Leiden der Gerechten und 
das Glück der Sünder. Diejer Neft hat die Menjchen immer be- 
ſchäftigt und ftetS den Gedanken an einen überivdifchen Vergelter 
nahegelegt, der in einer andern Welt den Fehlbetrag an Glück 
und Strafe genau ausgleichen wird. Da die Theofophie aber fei- 
nen perfönlichen Willen kennt, jo hat fie diejes Poſtulat eines 
Ausgleichs in der Weife befriedigt, daß fie dem Geſetz der Urſache 
und Wirkung eine ähnliche Vollmacht erteilt, Den Niederichlag 
der guten und böfen Thaten und Gedanken in der Seele, wie ihn 
das Geſetz jelber wirkt, muß der Träger der Verkörperungen durch 
alle Leben mitjchleppen, je nachdem fich zur Strafe oder zum Ge- 

Wenn auch der Gedanke häufig vormwiegt, daß gerade der 


Niebergall: Chriſtentum und Theoſophie. 237 


erreichte Höhengrad des fittlichen Standes felber Lohn und Strafe 
bildet, jo tritt doch zumeift der viel populävere Gedanke hervor, 
daß fich die Geftaltung des Geſchickes im irdischen Wohl und Wehe 
darnach richtet, Dabei wird offenbar dem blinden Geſetz von Ur— 
jache und Wirkung etwas zugetraut, das nicht in ihm Liegt, Alſo ein 
‚Hellfehen, wie es eben nur einem perjönlichen Geifte einwohnt. 
Diefe Seite der Karmalehre mit ihrem rein teleologijchen Cha— 
rakter fieht genau aus wie ein Vergeltungsglaube, den man den 
perjönlichen Charakter des Nichters zu Gunften einer geſetzmäßig 
zu geftaltenden Weltanjchauung ausgezogen hat. Mit andern 
Worten, wir find hier auf das Gebiet der Mythologie getveten, 
wenn uns das geheimnisvolle Wehen der Gottheit „Eiferne Not— 
wendigfeit“ berührt, die über diefe und andere Welten herrſcht. So 
hat ſich die einfache Kategorie unferes Erkennens herausgemacht ! 
Immer wieder diefelbe Ueberſchätzung der theoretiſchen Funktionen 
unſeres Seelenlebens. 

Was jagen wir zu dem Hauptbegriff, dem großen Brahma, 
Atma-Selbjt? Es ift das verkörperte und nach Außen ver- 
legte Denken. Wie unfere Auffafjung des höchſten Weltwillens 
als einer Perſon Folge und Zeichen unferer hohen Bewertung der 
fittlichen Perſönlichkeit ift, jo ſpricht fich in dieſer Faffung der 
höheren Welt wie fe die Theofophie bietet, die übermäßige Hoch- 
ichägung des Erkennens und Wiffens aus, wenngleich diefes nicht 
mit dem empirischen Erkennen gleichgefeßt ift, jondern eine höhere 
Stufe der Erkenntnis darjtellt. Die Annahme einer ſolchen geijtigen 
Welt über uns und ihrer Erfahrbarkeit fir einen jeden beruht 
auf folgenden Fehlern: einmal Liegt das Vorurteil zugrunde, als 
ob das Abjtraftum jo wirklich wäre als das Konkrete oder viel- 
mehr es au Wahrheit und Wirklichleitsgehalt überträfe. Das ift 
der uralte Fehler alles Platonismus von Plato an bis auf Hegel, 
ber Fehler alles jog. Realismus, mit dem fich dann gewöhnlich 
der myſtiſche Zug der Gott fuchenden Kontemplation zu verbinden 
pflegt. Die Ideen oder das Sein exiftieren darum noch lange 
nicht wirklich, weil wir mit vichtigem Denken ſie von der Er- 
icheinungswelt abgezogen haben. Ferner ift es eine Einbildung 
zu meinen, man habe mit dem eigenen Gefühl dieje Welt des 


hie 


” 


reinen Seins erlebt. Vielmehr hat man fich jo jehr an diefe ger 
fchichtlich entjtandene Idee gewöhnt, daß man felbjtändig zu er- 
fahren glaubt, wo doch nur die Annahme einer eberlieferung 
vorliegt. — Der mittelalterliche Realismus fand feinen Gegner 
an den Skotismus; ohne uns alle Folgerungen diefer Anfchauung 
anzueignen, können wir doch manches lernen aus der Art, wie er 
jenen überwand. Man-hat ihm den Empivismus, die Betonung 
der Einzelweſen, und die Perſönlichkeit, d. h. den Willen in feiner 
Bedeutung entgegen geftellt. Demzufolge mag unfere Gegnerfchaft 
heute unter dem Zeichen Kants ftehen. Wenn wir jo die jenfeitige 
Welt der Theofophie wegzuerklären fuchen, heißt das nicht den 
Feind von der eignen Feitung vertreiben, indem man fie mit ben 
eignen Truppen in die Luft jprengt? Wie wollen wir Gemißheit 
finden, wenn wir uns jo verteidigen ? — 

Was haben wir denn? Wir werfen Bilder aus dem alltäg- 
lichen praktiſchen Leben in die Umendlichkeit hinein, um fie zu deuten 
und zu faſſen, im Diente unferes Friedens und unferes fittlichen 
Strebens in der Welt — Bilder aus dem Leben der Fanıilie und 
des Staates. Wir glauben mit diefen Bildern den Sinn und 
Zweck de3 Ganzen vichtig wiedergeben zu können, ohne zu ver- 
gejjen, daß es eben nur Bilder find. Wir fühlen nicht das Be: 
dürfnis, diefe Bilder zu genauerer und richtigerer Erkenntnis breit- 
zufchlagen, weil wir einmal an der Möglicheit, dieſes fertig zu 
bringen, zweifeln und weil uns ferner dieje Bilder fir unfere 
praftiichen Zwecke vollauf genügen. Worin unterjcheiden wir ums 
denn von den Theofophen und worin haben wir die Gewißheit? 
Wir fprechen nicht von einer innerlichen Erfahrung als der Quelle 
unferer Erkenntnis, fondern wir fuchen den Glauben zu wecken 
im Anfchluß an eine große gefchichtliche Weberlieferung, die uns 
Perfonen zeigt, die in ihm rein und felig gelebt haben und ge 
ftorben find. Wir folgen ihren Spuren, zumal denen de3 An- 
fängers und Vollenders unferes Glaubens, und probieren, mas 
oft übers Studieren gehn ſoll. Alles ift bei ung auf den Zweck 
der fittlichen Perfon geftellt, die fich behaupten will gegen Anz 

* fechtung und Verſuchung, indem fie einen Halt an Gott gewinnt, 
Darin liegt zweierlei. Die Weltanfhauung ſoll darin ihren Rechts— 


238 Niebergall: Ehriftentum und Theoſophie. 


Niebergall: Chriftentum und Theoſophie. 239 


grund haben, daß fie mit dem innerjten Fühlen und Wollen des Men- 
chen verwächft und ihm Frieden und Stärke giebt; fo verlegen wir die 
Entſcheidung von dem Forum des Intellekts vor das des ftrebenden 
und wollenden Menfchen. Der ftrebende und wollende Menjch, der 
Wille, erkennt zwar nicht, aber das, worin er jeine Befriedigung findet, 
das gilt dem Intellekt. Und noch näher betrachtet: es ift der fittliche 
Mensch, für den wir die Abrundung des ganzen Denkens zu einer Welt: 
anſchauung ſuchen. Nur der nach Kraft und Ruhe verlangende fittliche 
Mensch ift imftande, auf chriftlichem Boden die Gewißheit zu erlangen. 
Wo Hunger und Habe zufammentrifft, im Glauben an Ehriftus, den 
einzigartigen Gefandten des Höchften, da kommt die Befriedigung, 
und fie, im Intellekt gefpiegelt, ergiebt die Gewißheit. Diefe Haltung 
der fittlichen Perjon, im Frieden mit Gott und in treuer Liebe 
zu den Brüdern und in der Herrfchaft über das Fleiſch, erbietet 
ſich in Chriſtus als oberften Zweck des Lebens und als Sinn und 
Ziel der Welt. Wo dieſer Zweck ein Gewiſſen gefangen nimmt, 
wo fich ein Wille entfchließt, unter dem Eindruck dev Geſtalt 
Chriſti das Neich Gottes für fein Höchftes zu halten, dem alles, 
Menfchen und Gefchiefe zu dienen hat, da kann der Zweck des 
Reiches Gottes mit dem ganzen Wollen und Fühlen jo verwachjen 
und fich verflechten, daß Leben, Denken und Handeln mit ihm 
als der höchſten Wirklichkeit rechnen. Erſt im Handeln und Leiden 
des Lebens werden wir, die wir Perfonen und feine Denfmafchinen 
find, einer Sache ganz teilhaftig und gewiß. Sie muß fich mit 
unferer Luft und Liebe vermählen, um ganz unfer zu werden, 
Sonft werden wir den Bmeifel nimmer los. — Bon dem erften 
Akte der Entjcheidung unferes Willens für das höchfte Biel der 
Welt und unferes Lebens, das Neich Gottes, führen ftrikte Linien 
zu allen Punkten, die von Intereſſe fir uns fein können, alle 
unfere Glaubenserfenntniffe find dann Deutungen der Welt, des 
Menfchen, Chrifti, der Vergangenheit und Zukunft im Lichte diefes 
einen großen Zieles. Das lebt ſich zufammen mit unjerm Leben 
und Zeiden und nimmt ar der Gewißheit teil, weil alles eine un— 
mittelbare Beziehung auf den Zweck, aber feine felbjtändige Be- 
deutung als freie Spekulation hat. Das meinen wir alfo mit 
dem Glauben: eine Ueberzeugung, die theoretifch gemeint dennoch 


240 Niebergalt: Chriftentum und Thenjophie. 


fußt auf einer großen Hingabe an einen Weltzweck, dev uns in 
Ehriftus aufgegangen all unfer Denken und Streben gefangen 
nimmt; die Heberzeugung von Lehren und Sätzen, die die Hoffe 
nung auf Erreichung jenes Bieles ausfprechen und zu begelinden 
trachten. Jeder deutet die Welt nach dem Höchjten, was ihm auf- 
gegangen ift; aber wir glauben das wirklich Höchte zum Aus— 
gangspunft und die Möglichkeit zu haben, unfere Säge im Leben 
praftifch zu erproben — befjer als die Theofophie, die, feit Kant 
gilt, doch ihr böfes Gewifjen nicht los wird. 

Die dargelegte Gefamtanfchauung dev Theojophie und ihre 
wachjende Verbreitung legt uns als Chrijten einige 


Anklagen und Probleme 
nahe; woher die Unzufriedenheit mit unferer chriſtlichen Neligion, 
wie man fie auf der Schule fennen gelernt hat, woher das Sehnen 
nach einer neuen, und die Begeifterung für eine fo fremdartige 
Erſcheinung? Es Liegt wohl ein Teil der Schuld darin, daß wir 
unfern Glauben nicht in feiner großartigen Einfachheit als Deu: 
tung der Welt unter dem Gefichtspunft des Vaters im Simmel 
und des Neiches Gottes verfündigt, fondern ihn mit einer alten 
Metaphyſik ungertrennlich verknüpft haben. Diefe mußte, als fie 
fiel, den mit ihr verfoppelten Glauben in ihren Fall hineinziehen. 
Hat ferner unfere Verfimdigung nicht viel zu jehr den Charakter 
des Geſetzmäßigen und Berpflichtenden an ſich getragen, anjtatt 
auf das Herauswachien der Lehre aus dem Glauben Hinzuarbeiten 
und zu harren? Wir dürfen, weil es fich für uns um die Ver 
bindung mit einer klaſſiſchen Perfon und Gejchichte handelt, ſowie 
um eine geiftige Weltanfchauung mit Zielen für den Glauben, 
die Lehre nicht jo von oben herab behandeln wie die Theofophie 
al3 etwas, was fein kann und auch nicht, wenn es nur auf die 
innerliche Erfahrung des Selbſt oder gar nur auf das Guthandeln 
ankommt. Aber in der unermüdlich wiederholten Aufforderung, 
nur das zu glauben, was innerlich aufgegangen ift, jeden wir 
Kinder der rabies theologica einen Spiegel, dev uns bejchämt, 
Endlich fcheint es, als gäbe die herkömmliche Verkündigung doch 
nicht in der Weife einen Halt fr das Leben und Kämpfen, wie 


Niebergall; Ehriftentum und Theofophie. 41 


es urjpränglich im Chriftentum angelegt iſt. Wie unficher ift 
doch die Stellung der Gebote, wie wenig feſt eingegliedert Die 
Ethik im Bau des Ganzen! Es hat ebem die Dogmatik zu viel 
Gewicht auf die Vergebung der Sünden, und zu wenig auf die 
Ueberwindung der Sünde durch Chrifti Geijtesmacht gelegt. Wie 
wenige find doch unter uns, die in dev Schule etwas erfuhren 
von den Schriftgedanfen, die uns jet die liebſten find — Er— 
löſung von der Gewalt der Sünde durch den Anfchluß an die 
bohe Perfon Jeſu? 

Und einige Probleme ergeben fich aus der Betrachtung dev 
gegnerischen Stellung. Welch einen großen Raum nimmt da die 
Metaphyſik ein! Man weiß jo ziemlich alles, wenn es fich auch 
zumeift nur darum handelt, unbefannte Erſcheinungen durch noch 
unbefanntere Namen zu erklären. Aber das macht Eindruck auf 
viele, die fi im Bann der Skepſis nicht wohl fühlen, Sollen 
wir uns auf das Glatteis der Metaphyfit und der Naturjpeku: 
fation führen laſſen? Als Theologen ficher nicht. Wir wollen 
immer einfacher werden und jehlicht und recht Deutung der Welt 
unter dem Gefichtspunkt des Waters im Himmel geben. Wir 
werden immer mehr Abnehmer finden. Aber wenn auch der oberfte 
Zweck vor allem da tft, daS Leben darnach einzurichten, fo können 
wir ihn doch auch als Ausgangspunkt einer umfafjenden Deutung 
der Natur und der Gefchichte verwerten. Allein eine folche Ar: 
beit ijt volljtändig Privatfache und fteht in zweiter Linie. — 

Dann haben wir immer aufs neue um die Abfolutheit unferes 
Glaubens zu kämpfen. Dabei ift geltend zu machen, daß das 
Abftrakte nicht ohne weiteres vor dem Konkreten den Vorzug der 
Wahrheit hat, noch ſich zu ihm verhält wie die Sache an fich zur 
Erſcheinung. Und es ift darnach zu ftreben, die Offenbarungs- 
gabe Gottes immer mehr im heiligen Geift und in einem fried- 
vollen Leben als in der Mitteilung von Erkenntniſſen zu jehen. 
Nur So können wir den Anfchluß an eine gefchichtliche Größe ges 
winnen. Sonſt lockt immer die Verfuchung, ftatt an die Autorität 
in der Gefchichte uns an unfern viel näheren Verjtand zu wenden. 
Dann bedarf es einer immer neuen Bemühung um das Verhältnis 
von Lehre und Gefinnung. it die Offenbarung Gefinnungss 


242 Niebergall: Chriftentum und Theofophie. 


mitteilung, dann ift die Lehre Uebertragungsmittel und Ausdruck 
für fie. Aber das ganze Verhältnis ift noch nicht allen ganz Klar, 

Sollte nicht auch der hier beſprochene Verſuch, die chriftliche 
Verkündigung durch eine andere zu erfegen, fich darauf ftüßen, 
daß es uns fehlt an den jubjektiven Anknüpfungspunkten, den Greif- 
zangen, um fie fich ganz einzuverleiben? Daß wir ganz aus den 
Anfchanungen über Welt und Menjch herausgewachſen find und 
die Eultifchen und kulturhiſtoriſchen Vorausſetzungen nicht mehr 
teilen, in denen damals der Gehalt des Chriftentums gefaßt wurde? 
Daß alles, was damals Vorausſetzung und Mittel für die Ans 
eignung war, nun jelbjt mühfam oft von dem Glauben aus ver- 
ftanden werden muß? Wie follen wir uns da helfen? Mit der 
Germanifierung des Chriftentums? Aber e8 macht uns ficher die— 
jelbe Mühe, es mit Hilfe dev Vorftellungen vom Herzog und dem 
Kampfplatz und der Mannentreue zu verftehen, wie mit denen von 
dem Hohenpriefter und der Einpflanzung in Chriſti myſtiſchen 
Leib. Wir dürfen eins nicht überfehen: mas von Natur aus die 
Vorausfegung unferer Vorfahren war, ift uns fremd geworden 
durch die Geſchichte. Durch fie wird Natur fremd und Fremdes 
wird Natur. Uns liegen vermöge unferer gefchichtlichen Entwick 
lung heute viele jemitifche Anſchauungen tiefer im Blut als die 
meiften altgermanifchen, wenn wir nicht zuffällig Germanijten find. 
Es kommt darauf an, welche Vorftellungen fich im Laufe der Zeit 
der Volksſeele affimiliert und welche fich, wie 3. B. die mit vers 
funfenen Kulten verbundenen fich als unafjimilierbar erwiejen haben. 
Bleibenden Wert haben alle, die mit weſentlich unverändert ſich er— 
baltenden Gebilven des gefelljchaftlichen Lebens zufammenbhängen. 
An diefen fubjektiven Aneignungsmitteln müffen wir arbeiten, 
nachdem wir eingefehen haben, wie unverftändig es ift, ein im 
Einzelnen ausgejtaltetes Gedanfengebilde einer ganz fremden Kultur 
ohne jede innere Anknüpfung, jo wie es einmal war, aufpfropfen 
zu wollen. Dieſer Verſuch ift ein Zeichen dev Unkenntnis deſſen, 
was die Gefchichte ift und bedeutet — nämlich der Mutterboden 
der fittlichen Ideale und unfever vernünftigen Gedanken. Wie 
Religion, Sittlichfeit und Vernunft einen gefehichtlichen Urſprung 
haben, jo muß auch ihre Aneignung gefehichtlich vermittelt fein. 


ı A 


Niebergalt: Chriftentun umd Theofophie. 243 


Schluß. 


Troß aller Wunderlichkeiten, Phantajtereien, Symbolismen 
myſtiſcher Geheimniffe iſt es doch fein unſympathiſches Bild, das 
ſich uns dargeboten hat. Es ift ein mahrhaftiges Streben nad) 
Hilfe und Befreiung aus den tieften Nöten, die uns drücken, es 
it der Glaube an eine fittliche Weltordnung und an einen geijtigen 
Sinn des Dajeins, was den Kern der Lehre ausmacht. Die Streit- 
punkte bilden weniger die Ziele als die Mittel; wir werden uns 
immer ftoßen an dem exotifchen Gewande, in dem die ganze An- 
ſchauung evjeheint. Läßt ſich diejes erotijche Gewand nicht ab- 
ftreifen? Einer der begeijtertften Anhänger des Buddhismus in 
Deutjchland, der verftorbene Oberpräfidialrat Th. Schulße fchreibt 
(Ein deutjcher Buddhiſt, von Arthur Pfungſt, Stuttgart Frommann 
1889 Seite 44) über die Ausfichten des Buddhismus in Europa 
etwa folgendes: Wir können heute nicht Buddhiften fein, ohne dem 
Buddhismus ebenjo Gewalt anzuthun, wie dem uriprünglichen 
Chrijtentum Gewalt angethan worden ijt. Es ift möglich, den 
Kern der buddhiftifchen Weltanfchauung, die vier Wahrheiten und 
dem achtfachen Pfad uns anzueiguen, nicht aber gewiſſe konkrete 
Vorftellungen, die von jeher mit diefem Kerne verbunden find. 
Dazu gehört die Notwendigkeit des veligiöfen Mendilantentums, 
die phantaftijche Weltanjchauung mit ihren 26 Simmeln und ihren 
108 Höllen, die den Sammajambuddha zugejchriebenen über: 
natürlichen Fähigkeiten, das periodijche Wiedererjcheinen ſolcher 
Berfönlichfeiten in dev Welt, das Fruchttragen der guten und der 
böjen Thaten des Menjchen, alſo der Glaube, daß dieſe Thaten 
mit alücklichen oder unglücklichen Ereignifjen, die diefen Menjchen 
oder eim nach feinem Tode fommendes Wefen treffen, in Ver— 
bindung ftehen, Bloß die Wiedergeburt als ſolche und ihre Be- 
dingtheit durch die in dem fterbenden „Individuum noch fortdauernde 
Lebensluſt könnten wir — wenn uns damit gedient wäre (— wie 
ffeptiich! —) folange glauben als es der Naturwiffenfchaft nicht 
gelungen iſt, das bewegende Prinzip des Lebens nachzuweifen. 
Das Nirwana iſt das Metaphyfiiche, das die Naturwiſſenſchaft 
nicht vauben kann. 





244 Niebergall: Chriftentum und Theofophie. 


Das find ganz andere Klänge als die von uns gehörten. 
Es bleibt nur die Elends-, Erlöfungs- und Tugendphilofophie 
übrig. Das iſt ein Schritt, den die Theofophie auch noch thun 
wird, Ob fie dann mad der Art von Schulg eine rein bud— 
dhiſtiſche Praxis lehren oder ob fie in die Bahn dev ethifchen Kultur 
einlenfen wird, darüber erlaube ich mir fein Urteil. Wielleicht 
haben wir auch bier einen der vielen Pädagogen auf Ehriftus 
bin, die ein aufmerffames Auge vielfach am der Arbeit fehen kann. 


Zur Gharakteriftik der Theologie Zinzendorfs. 
Dortrag gehalten am 26. Mai 1900 


bon 0 


D. P. Kölbing, 


Direktor bes theologiſchen Seminariums in Gnadenfeld 


Wenn wir im Kreiſe unſeres theologiſchen Seminariums den 
heutigen Tag feſtlich begehen, ſo ſind es Erwägungen verſchiede— 
ner Art, die uns nahelegen, der Theologie Zinzendorfs un— 
ſere Aufmerkſamkeit zuzuwenden. Bei den mannigfaltigen kirch— 
lichen Veranſtaltungen, welche dazu dienen ſollen, das Gedächtnis 
des Begründers unſerer Kirche zu erneuern, ſtehen ſein Lebens— 
gang, ſein perſönlicher Charakter und ſein Wirken naturgemäß im 
Vordergrund des Intereſſes. Nur im Zuſammenhang mit Zin— 
zendorfs religtöfen Leben wird vielleicht vorübergehend auf diefe 
oder jene feiner theologifchen Anſchauungen hingewieſen werden. 
Ein näheres Eingehen verbietet ſich von ſelbſt. Auch die wiffen- 
ſchaftliche Feftichrift, welche unfer Seminarium hat ausgehen laffen, 
berührt die Theologie Zinzendorfs nicht, Das verwicelte Brob- 
lem, inwiefern Zinzendorf der Exrnenerer der alten Brüderkirche 
genannt werden kann, wird hier von dem in befonderer Weife 
dazu ausgerüfteten bisherigen Dozenten der Brübergefchichte, Jo— 
jeph Müller, behandelt!),, Nun fann es aber doch faum in 


») Binzenborf als Erneuerer der alten Brüderlirche. Bon Joſ. Th. 
Müller. Leipzig, Friedrich Janſa 1900. 
BZeitſchrift fur Theologie und Kirche. 10. Jahrgang. 4. Heft. 17 


u 


Abrede geftellt werden, da die Theologen der Brüdergemeine das 
Jubelgedächtnis Zinzendorfs nicht follten vorübergeben Laffen, ohme 
auch der theologijchen Gedanfenmwelt des Mannes gedacht zu haben, 
der ihrer Kirche das eigentiimliche geiftige Gepräge gegeben hat. 
An Handleitung dafür fehlt es nicht. D. Hermann Plitts 
breibändige „Theologie Zinzendorjs"t) will einesteils eine Art 
„möglichft vollftändiger Chreftomatie* aus den vielfach nicht zu— 
gänglichen Originalfchriften darbieten. Andernteils ift es dem Ver— 
faſſer Darum zu thun, durch eine folche umfasjendere Anführung von 
Zinzendorfs eigenen Worten aus den verjchiedenen Perioden feines 
Wirfens (1723—42, 1743—50, 1750— 1760), der vielfach ge— 
äußerten Meinung entgegenzutreten, als ob die „eigentliche Ge— 
ſtalt“ feiner Theologie aus den Neden und den beriichtigt gewor— 
denen Liedern der vierziger Jahre zu erkennen fei. Plitt glaubt 
nachweiſen zu fünnen, daß man von einer „urjprünglichen, gefunden 
Lehre" Zinzendorfs in dev Zeit von 1723—42 veden fünne, zu 
welcher er nad) einer Epoche „Evankhafter Berbildungen“ der Lehre 
weife — 1743—50 — im legten Jahrzehnt jeines Lebens wieder 
zurücgefehrt fei. Bu diefem Nefultat gelangt der Verfaffer, in- 
dem er den innerhalb der verjchiedenen Perioden nach dem überlie— 
ferten dogmatifchen Schema geordneten Stoff von feinem theologischen 
Standort aus einer Prüfung unterwirft. Im Gegenfa zu dieſer Auf- 
faſſung will Hermann Ziegen in feinem „Zinzendorf”?) auf Grund 
jelbftändiger Burcharbeitung der Quellen den Beweis erbringen, 
„daß Binzendorf ein Theolog aus einem Guß ift“, Ex verſucht 
zu zeigen, wie die eigentümlichen theologijchen Ideen Zinzendorfs, 
„welche den Hebel jeines zeitgejehichtlichen Wirkens bilden“, ins— 
befondere auch die Anjchauungen der vierziger Jahre aus dem 
von ihm fo oft wiederholten Sa: „mein Schöpfer, mein Heiland" 
jich herleiten und fyjtematifch zufammenfchliegen laffen“®), Und 
ohne Zweifel beruht die nachdrückliche Betonung dev Einheitlich- 
feit der theologijchen Gedanken Zinzendorfs in dem verfchiedenen 

ı) Gotha, F. A. Perthes 1869—1374. 

) Gütersloh, C. Bertelimann 1888. 

) Vgl. Gemein-Reden IT ©. 320, mo diejer Sat ausdrüclich als 
der erſte, mit dem die „reine Theologie” anfängt, bezeichnet wird. 


246 Kölbing: Zur Charakterijtit dev Theologie Zinzendorfs, 





Kölbing: Zur Charakterijtif der Theologie Zinzendorfs. 247 


Perioden jeines Wirkens auf richtiger Beobachtung. Nicht minder 
dürfte Tießen im Necht fein, wenn er die grundlegende Be- 
deutung jenes von ihm als Motto feiner Schrift vorangeftellten 
Sabes für das geſamte theologifche Denten Zinzendorfs hervor- 
hebt. Andererſeits veranlaßt den Verfaffer fein Betreben, den 
bei Zinzendorf ſelbſt nicht vorhandenen ſyſtematiſchen Zufammen- 
ſchluß ſeinerſeits in begrifflicher Form herzuftellen, zu Deutungen 
und Kombinationen, welche das Gejamtbild der Theologie Zinzen- 
dorfs in einem fremdartigen Licht erſcheinen laſſen. Ziegen 
fucht ſowohl die eigentümlichen Paradorien und Einfeitigfeiten, 
als auch die Bedeutung der charakteriftifchen finnlichen Vorjtellungss 
formen in einer Weiſe abzuſchwächen, die der Meinung Zinzen— 
dorjs jchmerlich entjpricht. — Auf einem amderen Wege als die 
beiden genannten ift Bernhard Beder bemüht, im feinem Werk: 
„ginzendorf im Verhältnis zu Philoſophie und Kirchentum feiner 
Zeit" 7) das Verftändnis der „reichen Gedankenwelt“ diejes Mannes 
zu evjchliegen. In überaus jorgjältigen und eindringenden „ges 
ſchichtlichen Studien“ zeigt er, wie fie ihren Grundlagen nach auf 
dem Boden des lutherischen Kicchentums und des Spenerjchen Bietis- 
mus im Innern einer origmalen veligiöfen Perfönlichkeit entfteht 
und in fteter Wechſelwirkung mit den verjchiedenen geiftigen Strö- 
mungen umd kirchlichen Berhältniffen der Zeit fich zu einem eigens 
tünnlichen geiitigen Ganzen ausgeftaltet. Innerhalb desjelben bilden 
die theologijchen Gedanken Zinzendorfs nur eine Gruppe, wenn 
auch die nach Inhalt und Umfang bedeutendfte. Sie erjeheinen hier 
in ihrer Verknüpfung mit anderen Gedanfengruppen und geiftigen 
Tendenzen, jowie mit den perfönlichen Erlebniſſen Zinzendorfs. 
Ihre allgemeinen und befonderen gefchichtlichen Vorausſetzungen tre— 
ten ans Licht. Es wird möglich, ihre urfprüngliche Tragweite und 
Abzweckung, ihre inneren Motive und äußeren Anläſſe zu erkennen. 
Mit einem Wort: Der Weg zu einem velativ ficheren Verſtändnis 
der Theologie Zinzendorfs in ihrer vollen gefchichtlichen Eigen- 


*) Leipzig, 3. C. Hinrichs’fche Buchhandlung 1886. — In neuer (2ter) 
wohlfeiler Ausgabe unter dem Titel: Zinzendorf und fein Chriftentum im 
Verhältnis zum kirchlichen und religiöfen Leben feiner Zeit von Bernd. 
Beder. Leipzig, Fr. Janſa 1900, (geh. M. 4. —. geb. M. 5. —.) 

17* 








243 Kölbing: Zur Charakteriftit der Theologie Zinzendorfs. 


tümlichfeit ijt gebahnt, Auch der Nicht- Fachmann kann jetzt an 
der Hand diejes fundigen Führers in den Schriften Zinzendorfs 
fich zuvechtfinden und zu einem eigenen Urteil über Die theologifche 
Gedantenwelt des Mannes gelangen, Diejes unbeftreitbare Ver— 
dienjt Beckers, das Ergebnis jeiner nur allzufrüh zu ihrem Ende 
gekommenen wiſſenſchaftlichen Lebensarbeit, joll heute in unſerem 
Kreiſe nach feiner vollen Bedeutung mit dankbarem Herzen aner- 
kannt werden!). Was jetzt zur Charakteriftit der Theologie Zin— 
zendorfs gejagt werden foll, verdankt Becker das Beſte. Und 
wenn unſre Darjtellung in der einen oder anderen Beziehung von 
der jeinigen abweicht, jo ift auch das als eine Frucht feiner Arbeit 
anzufehen; denn es ift Doch lediglich die Folge des Fortſchreitens 
auf der von ihm gemiejenen Bahn jtreng gefchichtlicher Forſchung. 
Beder war bei Abfajjung feines Werkes in der Lage, den un— 
gejchichtlichen Auffafjungen Zinzendorfs, welche der hergebrachten 
Verkennung des bedeutenden Mannes immer neue Nahrung zus 
führten oder fie doch nicht zu befeitigen vermochten, entgegentveten 
zu müffen. Inſofern wohnte feinem Werk, wenn auch in ganz 
anderer Weife wie denen Blitts und Tietzens, eine apolo— 
getifche Tendenz inne”). Nachdem ex aber einer gefchichtlichen Auf- 
faſſung Zinzendorjs endgiltig den Weg geebnet hat, dürfen wir, die 
wir auf feinen Schultern ftehen, frei von allen apologetijchen Rück— 
fichten feine Arbeit fortjegen, ohne fürchten zu müſſen, einer gerechten 
Wilrdigung des Stifters der Brüdergemeine hindernd im Wege 
zu jtehen. Dies hat dann zur Folge, daß die Färbung im ge- 
fehichtlichen Bilde Zinzendorfs da und dort eine andere wird, 
indem die eigentümlichen Mängel und Schwächen des Mannes, 
ſowie feine zeitgefchichtlichen Schranken noch jchärfer hervortreten. 


’) Ein gewiß umverdächliger Zeuge für den Mert der Darjtellung 
Beckers iſt Albrecht Ritſchl. Trotz feiner ſtarken Antipathie gegen bie 
Perfönlichteit Zinzendorfs, folgt er in feiner Gefchichte des Pietismus 
Bd. IT ©. 404-438 hinfichtlich der Zinzendorfiichen Theologie im wefent- 
lichen der Auffaffung Beders. 

*) Bgl. den Schluß des Vorworts, fowie den Schluß des ganzen 
Werkes ©. 533 f. (bier und weiterhin iſt überall die von Becker ſelbſt ver- 
anjtaltete Ausgabe zitiert). 





Kölbing: Zur Charakteriftit dev Theologie Zinzendorfs. 249 


Und dabei dürfen wir überzeugt fein, daß mit folcher Darftellungs- 
weije der Brüdergemeine unfrer Tage nur gedient fein kann, Wir 
exhoffen ein womöglich verjtärktes Fortwirken des Zinzendorfifchen 
Geiftes in unſrer Mitte. Diefe Hoffnung ift aber nur dann wert, 
in Erfüllung zu gehen, wenn das Vergängliche und Mangelhafte 
in Zingendorf von uns klar erfannt und dadurch unwirkſam ge- 
macht wird. In diefem Sinne möchte das Folgende einen be- 
fcheidenen Beitrag zur Würdigung Zinzendorfs und fpeztell feiner 
theologijchen Gedantenwelt liefern, 


L 


Berker ſtellt im Schlußwort ſeines Werkes die Thatſache feit?), 
daß „die reiche Gedankenwelt“ Zinzendorfs in der Geſchichte „Ipur- 
los verſchwunden“ ift. „Faſt nichts blieb übrig als die Re— 
miniszenz an einzelne Clemente jenes eigenartigen Liedereyklus“ 
aus den vierziger Jahren, „die, aus dem Zufammenhang ges 
viffen, in ihrer Zerfplitterung den Eindrud vollftändiger Narı= 
heit hervorrufen mußten"'). Was ift die Urſache diefer auffal- 
lenden Thatfahe? Man könnte geneigt fein, anzunehmen, der 
Grund liege darin, daß die zum Teil ficherlich höchft wertvollen 
theologifchen Gedanken Zinzendorfs ihrer Zeit weit vorauseilten, 
darum von der Mehrzahl der Zeitgenofjen nicht verftanden und 
ichließlich, wie jo manches wertvolle Gut der Vergangenheit, ver— 
ſchüttet wurden?). Ganz abzumeifen ift diefe Erklärung feinen 
falls. Es ſei hier nur im Vorbeigehen darauf hingewieſen, wie 
Binzendorf die Perfon Jeſu, des Heiland, der in feinem wirk— 
lichen Menjchfein „der Schöpfer aller Dinge” ift, zum Ausgangs- 
punkt alles feines theologifhen Denkens macht, unter ausdrlc- 
licher Abweifung der „Schultheologie", welche die „Zweige zur 
Wurzel gemacht und den Baum des Erkenntniffes umgekehrt" hat. 
„Wenn man ein theologijches Handbuch, einen Catechismum, ein 
Glaubensbefenntnis ſieht“, jagt ev, „jo fängt ſichs gemeiniglich an 


6, 538. 
2) Bel. F. W. Kölbing, der Graf von Zinzendorf, dargeitellt aus 
feinen Gedichten. Gnadau 1850. ©. 4 f. 


u 


! 
350 Kölbing: Zur Charakteriftit der Theologie Zinzendorfs. 


von Gottes Weſen, Offenbarung und Eigenfchaften; da jet es 
erſtlich eine metaphyſiſche Grilfe von fo und jo viel Zeilen, wer 
der liebe Gott ift, was er für ein Weſen und Geift ift. Und 
nachdem man vom lieben Gott auf die Menjchen und auf die 
Engel gefommen, jo fommt man endlich wieder auf den lieben 
Heiland. So find die Syſtemata und die Lehrgänge gar oft ein- 
gerichtet“ *), Umd wie anders als die herrſchende Schultheologie 
redet er von der heiligen Schrift, von der ev mit großem Nachdruck 
bekennt, daß fie in fein und feiner Brüder Augen „wahrhaftig 
Gottes Wort“ ift!?) ES gebe „eine gewifje'General-Unvichtigfeit 
in Anjehung der heiligen Schrift, weil ein Teil Menfchen, die 
beffer und vernünftiger jein wollen als andre, einen Haufen an 
der Schrift ihren Ausdrücen, Gefchichten, Chronologie, an ge— 
wiſſen einander widerfprechenden Umſtänden und Sätzen zu tadeln 
gefunden hat. Andre find dazu gefommen und haben gegläubt, 
wenn jie die Sachen nicht als Wahrheiten behaupteten und bes 
weijen könnten, daß jchwarz weiß umd nein ja fei, fo werde bie 
ganze Wutorität des heiligen Geiftes fallen, und haben ſich in 
ganzen Folianten über die Loca vexata (mie man jie nennt) herge— 
macht und fie ihrer Meinung nach gerettet; dadurch fie aber voll- 
ends allen vernünftigen Menjchen verdächtig geworden find“ ?), 
„Das einzige argumentum ad hominem, damit man fo für die 
Schrift was beweiſen kann, daß niemand eine Antwort darauf 
weiß, ift diefes, daß die Schrift fo viel Fehler hat, als faum ein 
Buch, das heutiges Tages heraustommt, welches mir wenigjtens 
ein unumftößlicher Beweis fir ihre Göttlichkeit ift“ *). „Em Menfch 
bat fich viel zu lieb und hat zu viel Estime für feine produc- 
tiones: wenn einmal ein mathematijcher oder aſtronomiſcher Irr— 
tum darin ftünde, der fich in zwanzig, dreißig Jahren bei ges 
ſcheuten Leuten als ein Irrtum legitimierte, fo würde er ihn 
herauslafjen, oder wenigſtens mit einer Note einheljen.“ „So lieb 


) Gemein⸗Reden im Fahr 1747. II ©, 313. ol. Beder aa. O. 
©. 342 ff. 

*) Homilien über die Wunden-Fitaney der Brüder ze. 1747. ©. 148. 

MNa. a. O. S. 141 f. 

q) a. a. O. S. 144. 


Kölbing: Zur Charakterijtif der Theologie Zinzendorfs. 251 


bat fich der heilige Geift nicht, der läßt die Leute reden, jo gut 
fie können, er macht ihnen nicht mehr Gedächtnis und Verftand 
als fie haben, ev ändert nichts an ihren natürlichen Qmalitäten, 
fondern wie der Menjch gebauet ift in feinem Körper und Gemüt, 
jo bleibt er, wenn ev fich befehrt, wenn er ein Knecht Gottes im 
höchften Grade wird“ '). Zwei Anechte Gottes „können im glei— 
chem Grade der Seligfeit und der Estime im Herzen Gottes fein, 
da der eine einen jchlechten, der andre einen großen Verftand hat. 
Wenn die zwei Leute fchreiben, jo ſchreibt der eine mit einem 
großen, dev andre mit einem jchlechten Verftand; wenn fie argu— 
mentteren, jo argumentieren ſie der eine nad) dev Schule, wo er 
berfommt, und der andre nach der feinigen. Da kehrt ſich der 
beilige Geiſt nicht dran, da macht er gar feine Veränderung, Feine 
Ueberftülpung der Natur und der Konjunkturen, jondern läßt das 
feinen Gang gehen. Aber die Wahrheiten, die Harmonie der 
Ideen, jonderlich der Grumdideen, der göttlichen Grumdlagen von 
Anbeginn, die müſſen bei aller Varietät des Stili, bei allem Un: 
terfchied der Argumente nach ihrer Schwäche oder Stärfe, bei 
allen Differenzen im Raisonnement immer eben diefelben fein, jo 
daß ein Knecht Gottes, der fich auf die Bibel beruft, muß jagen 
können: von diefem Jeſu zeugen alle Propheten, daß in feinem 
Namen alle, die an ihn gläuben, DBergebung der Sünden em— 
pfangen ſollen. Aber eben das ijt dev klare Beweis, daß der 
Spiritus sacrae seripturae, der Geift der heiligen Schrift, die einige 
Sache ift, darauf wir reflektieren müfjen“ *). „Bibelfejt“ fein, 
„beißt micht hundert dieta probantia auswendig können, hundert 
Beweiſe anführen können, davon einem gleich fünfzig weggefchmif- 
fen werden wegen ihrer Unzulänglichkeit, wegen Mangel der Con- 
nexion oder wegen einer ganz andern Connerion; davon noch 25 
abgehen, weil fie nicht richtig überfegt find“. „Bibelfejt das 
heißt, mit dem Geift der heiligen Schrift jo befannt fein, daß 
wir an einer jeden Rede den Augenblick hören, ,..... jobald 
wir was leſen, gleich ſehen, ob's dem Geift der Schrift gemäß ift 
oder nicht” ?). 

Na. a. O. ©. 18. ) a. a. D. S. 146. 

NRa. a D. ©, 147, Val. Büdingiſche Sammlungen IT S. 259, wo im 


m 


32 Kölbing: Zur Charakterijtit ver Theologie Zinzendorfs, 


Dergegenmwärtigen wir uns, in welcher Zeit jolche Gedanken 
nicht nur in einem Keinen Kreife mündlich vorgetragen fondern 
auch gedruckt wurden, jo ift nichts anderes zu erwarten, als daß 
fie von Seiten der zeitgenöffifchen Theologie, die ich noch im 
Beſitz einer unanfechtbaren dogmatifchen Methode und durch die 
Autorität der vom heiligen Geift „diktierten" heiligen Schrift ges 
deckt wußte, nicht verjtanden und als höchſt verwerflich kurzer 
Hand bei Seite gejchoben wurden. Der beffiiche Profeſſor und 
Superintendent Benner fann in den Arußerungen Zinzendorfs 
über Die heilige Schrift nur „giftige Pfeile des Satans“ erkennen. 
„Was von jeher auf das teure Wort Gottes von defjen abge- 
jagtejten Feinden geläftert worden ift, das hat der Geift, welcher 
den Grafen treibet, welcher fein Herz und feine Feder regieret, 
ganz ohne Scheu ausgeftoßen" '), Und Bengel verweift in feinem 
befannten „Abriß der fogenannten Brüdergemeine"?) $ 38 aus- 
drlicklich auf die Darlegungen Benners im zuftimmenden Sinne. 
Trotzdem würde es nicht richtig fein, den Hauptgrund für das 
ſpurloſe Verſchwinden der theologifchen Gedanfenwelt Zinzendorfs 
aus der Geſchichte darin zu finden, daß die Zeitgenoffen bes 
Grafen dem hohen Flug feiner Gedanken nicht zu folgen ver- 
mochten. Auch der hohe Wert der textkritiſchen Arbeiten Bengels 
wurde zu feiner Zeit nicht erkannt. Die orthodoren mie die pie 
tiftischen Theologen erklärten fich in ihren maßgebenden Vertretern 
gegen die von ihm aufgeftellten tertkritifchen Grundſätze. Aber 
die jpätere Würdigung derjelben blieb fchon im 18ten Jahrhundert 
nicht aus, und gegenwärtig werden Bengels Verdienfte auf dieſem 
Gebiet allgemein anerkannt. Dagegen find Zinzendorfs theolo- 
gifche Gedanten, die mertvolljten mitinbegriffen, über die reife 


fogenannten, 1788 verfaßten „Eventual-Tejtament” Zinzendorf von bem 
„miferablen Hirten⸗ und Fifcher-Stilus” der biblifchen Schriftiteller und 
der bei ihnen fich findenden „Elajfifalifchen Diiterfeit und Schul-Terming- 
logie der alten Rabbinen“ die Rede ift. 

9 In feiner Schrift „Die gegenwärtige Gejtalt der Herrnhuterei im 
ihrer Schalfheit” dritte Auflage, Gießen, Krieger 1749. II. Teil, ©. 78 f. 

*) Stuttgart, Metzler 1751. Neuer unveränderter Abdruck: Berlin, 
Schlawitz 1858. 


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Kölbing: Zur Gharakteriftit der Theologie Zinzendorfs. 253 


der Eirchengefchichtlichen Spezialforſchung hinaus bis heute nicht 
bekannt geworden, obwohl die allgemeine theologijche Situation 
dem längjt nicht mehr im Wege ftand, ja wiederholt Anlaß hätte 
geben können, fie dev DBergefjenheit zu entreißen?). An diefem 
Zuftande Haben auch die oben erwähnten eingehenden Behand- 
lungen der Theologie Zinzendorfs nichts weſentliches geändert. 
Selbjt das den modernen Anforderungen an gejchichtliche Studien 
nach Methode und Inhalt in hohem Maße entfprechende Werk 
Beckers hat zu einem allgemeineren Bekanntwerden der Zinzen— 
dorfifchen Gedanfenwelt bisher nicht geführt. Es ift dies unfers 
Erachtens auch in Zukunft nicht zu erwarten, Denn Zinzendorfs 
„Iheologie" war ihrer eigentümlichen Beichaffenheit nach über- 
haupt nicht dazu geeignet, in die Entwicelung der theologifchen 
Wiſſenſchaft einzugreifen und demzufolge theologifches Gemeingut 
zu werden. 

Der Graf war in theologieis Autodidakt im ftrengen Sinne 
des Wortes. Sein immerhin nicht ganz unbedeutendes Wiſſen 
auf diefem Gebiet verdankte ev ausschließlich gelegentlichen, neben 
feinen jonftigen Hauptbejchäftigungen betriebenen Privatftudien, 
zu welchen ihm praftifche Bedürfniſſe, eigne oder folche feiner 
Brüder, den Antrieb gaben. Schrautenbach bemerkt: „Er las 
wenig, allein beinah die Bibel und in den legten zwanzig Jahren 
wohl fein geiftliches Buch. Ex ſchrieb viel, meditierte viel“ ?). 
So entwickelten ich feine theologifchen Anfehauungen ganz außer— 
balb der Schule in unmittelbarer Wechjelwirfung mit den Bes 
dürfniſſen des praktifchen Lebens. Daher ihre völlige Unbefangen- 
heit gegenüber den am fejteften eingewurzelten Traditionen dev 
Schule, jowie ihre weitgehende Freiheit in Umprägung überlie— 
ferter Lehrformeln. Daher aber aud) der Mangel an wifjenfchaft- 


*) 68 fei nur auf Schleiernachers Glaubenslehre hingewiefen, in der 
die oben angeführten Forderungen Zinzendorfs in Bezug auf eine verän- 
derte dogmatifche Methode ihre Erfüllung fanden. Damit foll keinerlei 
theologische Abhängigkeit Schleiermachers von Zinzendorf behauptet fein. 

*) Schrautenbach, der Graf von Zinzendorf und die Britdergemeine 
feiner Zeit. Herausgegeben von F. W. Kölbing 1851. 2, Aufl. Gnadau 
1871. ©, 53. (! ©, 70.) 


254  Kölbing: Zur Eharakteriftit der Theologie Zinzenborfs. 


licher Schulung im theologifchen Denken Binzendorfs. Zwar fehlt 
es feinen theologifchen Gedanken weder an innerem Zuſammen— 
bang noch an deutlichem Ausdruck. Wenn man bedenkt, daß der 
Graf dieſelben vornehmlich in wenig vorbereiteten Reden!) zum 
Ausdruck brachte, jo muß man ſtaunen, mit welcher Folgerichtig- 
feit er im allgemeinen am feinen frühzeitig gebildeten theologifchen 
Grundanfchaungen fefthielt und fie in den verſchiedenen Gebieten 
der chriftlichen Glaubenserfenntnis entfaltete, Beſonders aufjal- 
lend ift dieſe Folgerichtigteit in den Neden der vierziger Jahre, 
und fpeziell in denen dev fogenannten „Sichtungszeit“ (1745—49), 
wo fie gepaart iſt mit der befannten kraſſen, das berechtigte Maß 
weit überfteigenden Sinnlichkeit des Ausdruds. Das, was Zinzen- 
dorf das „Malen“ der Wunden Jeſu nennt, ijt hier in der Negel 
nicht nur mit großem Gedanfenveichtum, fondern auch mit guter 
Ordnung und Elavem Fortſchritt der Gedanken verknüpft). Für 
die Theologie Zinzendorfs jind die Reden aus diefer Zeit die er— 
giebigften. Gehören zu ihnen doch auch die „21 Diskurfe über 
die Augsſpurgiſche Confeſſion“ (vom 15. Dez. 1747 bis 3. März 
1748), in welchen der Graf das einzige Mal verfucht hat, vor 
meift theologijch gebildeten Zuhörern das Ganze feiner theologi- 
chen Gedanken im Zufammenhang zu entwideln. Hier zeigt fich 
num auch, wie felbt die abfonderlichiten theologifchen Gedanken: 
gebilde Zinzendorfs im Zuſammenhang mit der eigentümlichen 
Gejtalt feiner veligiöfen Grundanfchauungen ſtehen und mehr oder 
weniger folgerichtig aus ihmen abgeleitet find. Weiter ergiebt fich 
aus den gefamten Neden diefer Jahre, daß die von Zinzendorf 


!) Bol, Schrautenbad a. a, D. ©. 49. 54. (65. 71.) 

Es fei bejonders bingemiefen auf die bereits angeführten „34 Ho— 
milien über die Wundenlitanei der Brüder“ (1747), denen die obigen Aeuße— 
rungen Zinzendorfs über die heilige Schrift entnommen waren. ferner 
find zu vergleichen „32 einzelne Homilien oder Gemeinreden in den Jahren 
1744. 1745, 1746”, fowie die aus dem Jahre 1746 jtammenden Neden „an 
den Synodum der Brüder in Zeyſt“, endlich die „Deffentlichen Gemein-Aeden 
im Jahr 1847“, Erſter Teil (mit einen Anhang des Jahres 1749 gehal- 
tenen Homilien). 1748. Zweiter Teil. In jenem Anhang jei befonders hin— 
gewieſen auf die inhaltsreiche Rede „von der wagerechten Auseinander- 
feßung der Philofopbie und des Fanatieismi“ (am 27, Dec. 1746), 











Kölbing: Zur Charakteriftif der Theologie Zinzendorfs, 255 


jo ausgiebig verwendete ſinnliche Ausdrucksweiſe nicht bloß ein 
Erzeugnis feiner lebhaften Phantaſie und feiner jtarfen veligtöfen 
Gefühle ift, jondern daß fie zugleich im Dienfte jeines theologi- 
ſchen Denkens ſteht. Ausdrücklich bezeichnet er einmal dieje „Braut: 
ſprache“ d. h. dieſe Weife der Nede, wie fie die in der Geiten- 
böhle geborgene Braut Jeſu führt, als eine allegorifche‘). Die 
der Sinnenwelt entnommene Vorftellungsform ift alſo das Mittel, 
einen überfinnlichen Gedanfengehalt zu veranfchaulichen und zwar 
für diejenigen, welche eine jolche Sprache auf Grund gleicher reli— 
giöſer Erlebniffe zu verftehen vermögen. Für fie aber, die Glieder 
der Braut Jeſu, iſt fie die angemefjenfte, weil fie am deutlichjten 
jene gemeinfamen Exlebnifje geiftiger Art in ihrer vollen, über- 
jchmänglichen Realität zum Ausdruck bringt und weiterer Erklä— 
rung im Grunde nicht bedarf‘). Darum gehören auch die extra 
vagantejten Lieder jener Zeit zu den Quellen der Theologie Zinzen- 
dorfs ®). Nicht felten unterjcheiden fie fich Lediglich durch die ger 
reimte Form von den religiösstheologifchen Darlegungen der gleich: 
zeitigen Reden. Diefelben theologifchen Ausführungen und Ge- 
banken in ben gleichen Ausdrücen finden wir hier wie dort, 
Schließlich aber ift in Bezug auf die jo oft und mit Necht ge- 
tadelte Ausdrudsmweife in Nede und Lied jener Tage zu jagen, 
daß fie keineswegs eine völlig finguläre Exfeheinung in der theo— 
logischen Gedanfenbildung Zingendorfs ift, Diefelbe bewegt fich 
jederzeit in Bildern und Eonfreten Vorftellungen und verichmäht 
den abitraften Begriff, unbeſchadet des lebhaften Bedürfnijfes des 
Grafen, ftets feinen Gedanken einen möglichft Elaven, unzweideu— 
tigen Ausdrucd zu geben, Er hat die perfönliche Erfahrung ge: 
macht, daß die Befchäftigung mit den abſtrakten Gedanfengängen 
der theoretifchen, fpefulativen Philofophie zerfegend auf feine reli- 
giöje Erkenntnis wirkt und hat darum mit ihr frühzeitig gebro— 
ent), Nun findet er, daß die wifjenjchaftliche Methode und 

) Somilten über die Wundenlitanei ©. 317. 

N a. a. O. S. 316, u. S. 1ff. Pol. au Tieben a a.D. ©. Bit fi. 

9) Bol. Ritſchl, Gefchichte des Pietismus III ©. 437. Anm. 

*) Bgl. Beder a a. O. ©. 27 ff. und Zinzendorfs Dichtung: 
„Allgegenwart ich muß geſtehen“ ſ. „deutſche Gedichte” 1735. ©. 106 ff. 
Ral. auch S. 80. 











— 


356  Kölbing: Zur Charakterijtit der Theologie Zinzendorfs. 


die abſtrakte Begriffswelt der Schultheologie in weitem Umfang 
philofophifchen Tendenzen diefer Art ihren Urjprung verdankte ). 
Daher iſt es ihm perfönliches Bedürfnis, ja geradezu Pflicht, fich 
in feinem theologifchen Denken aller abſtrakten Begriffsbildung 
möglichft zu entjchlagen. Sie gehört ihm in den Bereich der „Ver— 
nunft“, unter der Zinzendorf im Unterjchied vom gottgegebenen 
Verſtand, dem bon sens, der „kurz denkt“, eine verkehrte Anwen— 
dung des Dentvermögens verfteht, nämlich zur „Ausfindung von 
(theoretifchen) Schwierigkeiten" ?), da man fich „ein Vergnügen 
und Spiel feines Gemütes aus dem Denken und Beurteilen ge- 
macht hat" ®). Die konkrete, in Bildern fich bewegende Redeweiſe 
des Grafen iſt mithin nicht blos dadurch bedingt, daß die Aeuße— 
rung feiner theologischen Gedanken eigentlich ſtets direkt dem praf- 
tifchen Zweck veligiöfer Belehrung und Erbauung dienen joll. 
Vielmehr iſt Zinzendorf ohne Zweifel der Meinung, daß dieje 
Gedankenform überhaupt die für die Theologie geeignetfte ift. So— 
fern er aber zugleich, wie ſchon gejagt, fich beftvebt zeigt, einen 
möglichit Haren Ausdruck für feine theologifchen Gedanken zu 
finden, jucht er diefes Ziel duch die Auswahl der treffendften 
Bilder und anfchaulichjten Ausdrücke zu erreichen. Dabei beküm— 
mert es ihn nicht, wenn die gewählten Bilder und Ausdrucks— 
weifen dem Herkommen oder dem herrfchenden Gejchmad wenig 
entjprechen, ſobald er überzeugt ift, gerade jo und nicht anders 
am deutlichjten den betreffenden Gedanken ausjprechen zu können, 
Von bier aus gefehen, erfcheinen nun die eigentümlichen und abs 
ftoßenden theologischen Gebilde Zinzendorfs aus der zweiten Hälfte 
der vierziger Jahre doch nur als die ertremfte Ausgeftaltung einer 
harakteriftiichen Eigenjchaft des gefamten theologijchen Denkens 
des Grafen. Es hat dann auch nichts Befrembdliches mehr, daß 
grade die Erzeugniffe diefer Zeit die theologifch ergiebigſten find, 

Wenn Bedert) in der Lehre von dem Blute Chrifti und von 








) Bgl. unfer Zitat oben S. 250, wo Zinzendorf auf die „metaphy- 
ftichen Grillen“ der Schultheologie hinweiſt. 

) Londoner Predigten I S. 335 f. Bol. Beder a. a. D. ©. 45. 

°) Homilien über die Wundenlitanei S. 129 f. 

9 a. a. O. S. 531. 


Kölbing: Zur Charakterijtit der Theologie Zinzendorfs. 257 


der „mejentlichen“ Gottheit Chrijti, wie fie Zinzendorf in den 
vierziger Jahren ausgeftaltete, „gleichlam einen zeiten Lehrkreis“ 
erkennt, jo will uns das nach dem eben Dargelegten fajt zu viel 
gefagt erfeheinen, Becker felbft weiſt auf die Anknüpfungspunkte 
bin, welche diefe Lehrbildungen in der eigentümlichen Geftalt der 
Frömmigfeit Zinzendorfs haben, wie fie fich ſchon in feiner frühen 
Jugendzeit entfaltete, Wir kommen fpäter darauf zurück. Er 
zeigt ferner, daß es fich bei denfelben nicht eigentlich um ein Ein- 
lenken in die Bahnen der Binzendorf je und je „verhaßten“ ?) 
philojophifchen Spekulation handelt, fondern um Gedanken, die 
ihm aus jeiner Auffaffung des Kultus, fpeziell des ſakramen— 
talen, erwuchjen und die er vor allem in feiner liturgiſchen Dich- 
tung für den Kultus fruchtbar zu machen ſuchte. Haben wir aber 
recht gejehen, daß zwifchen der Theologie Zinzendorfs und feiner 
liturgiſchen Dichtung, zumal in den vierziger Jahren, eine Grenz— 
ſcheide nicht befteht, jondern beide in Folge ihrer Eigenart ein un— 
trennbares Ganze bilden), jo wird die Berechtigung, einen „zwei 
ten” liturgiſchen Lehrkreis vom eigentlich theologijchen zu unter: 
jcheiden, zweifelhaft. Je gewiffer aber die Theologie Zinzendorfs 
in diefem Sinne einen einheitlichen Charakter trägt, um jo deut: 
Ticher wird nun auch, weshalb fie troß aller wertvollen Gedanten, 
die fie enthält, nicht geeignet war und ift, Gemeingut dev theo- 
logiſchen Welt zu werben. Wir fagten ſchon oben, daß es Zinzen- 
dorf als Antodidakten an wifjenfchaftlicher Schulung gefehlt habe ®), 
Es hat fich aber weiter noch gezeigt, daß er auf religiöfem Ge- 
biet in feinem Denken grundjäglich auf begriffliche Formulierung, 
wie fie Sache der theologifchen Schule ift und irgendwie auch fein 
muß, verzichtete. Die theoretifche Arbeit des Verftandes beſchränkte 
fich bei dev Bildung jeiner theologijchen Gedanken darauf, mit 
ſcharfem, ficherem Blick aus der Fülle der Bilder und konkreten 
Vorftellungen, wie fie ihm feine veiche Phantafie und feine viel- 
jeitige Beobachtungsgabe zuführte, jedesmal die pafjenditen für Die 


') Vgl. die 18. u. 14. Homilie über die Wundenlitanei ©. 128 ff. u. 
©. 132 fi. 
2) S. ©. 255 oben. ) S. 253 oben. 


23538 Kölbing: Zur ECharakteriftit der Theologie Zinzendorfs. 


darzuftellenden oder zu charakterifierenden Objekte der geiftigen 
Welt auszuwählen, Bet diefer „kurzen“ Denkthätigfeit ließ es 
der Theologe Zinzendorf bewenden‘), Daß er den mannigfal- 
tigen pbilofophifchen Problemen, die für den erfennenden Menjchen- 
geijt in den Ausfagen des chrijtlichen Glaubens befchloffen Liegen, 
für feine Perſon nicht nachging, darf man ihm freilich nicht als 
Verſäumnis anvechnen, fofern es fich dabei um Aufgaben handelt, 
die nicht jedem Theologen obliegen. Wohl aber ift es ein un— 
leugbarer Mangel feines theologifchen Denkens, daß demfelben die 
Kontrolle des begrifflichen Denkens fehlt, weil Zinzendorf gänzlich 
außerhalb der theologiichen Schule fteht und ftehen will. Denn als 
„theologifches“ d. h. als planmäßige Bearbeitung der chriftlichen 
Glaubenserkenntnis zum Zwecke der Iehrhaften Mitteilung der— 
jelben bedarf es jener Kontrolle. Lehrhafte Darftellung eines Er— 
kenntnisinhalts, welche eine klare theoretifche Einficht in denfelben 
verfchaffen will, erfordert ſcharfe Erfafjung der Eigenart und Exi— 
ftenzbedingungen der betreffenden Ertenntnisobjefte und deutliche 
Abgrenzung derſelben gegen andre Erlenntnisgebiete. Handelt es 
ſich nun, wie bei der Theologie der Fall ift, um geiftige Er— 
fenntnisobjefte, jo kann es offenbar nicht zu einer befriedigenden 
lehrhaften Darjtellung kommen, wenn das darauf gerichtete planz 
mäßige Denken ſich ausjchließlich in Bildern und Eonfreten Vor: 
ftellungen bewegt, die dem Bereich des natürlichen Gejchehens und 
der Sinnenwelt entnommen find. Ein folches theologijches Denken 
ift nicht im Stande, den Abjtand zwifchen dem der nichtsgeiftigen 
Welt entnommenen bildfichen Ausdrue und den darzuftellenden 
geiftigen Objekten in feiner ganzen Größe unentwegt jcharf im Auge 
zu behalten. Es wird ftetS in Gefahr fein, zu Gunften möglichjt 
deutlicher Veranſchaulichung des überſinnlichen Erkenntnisinhalts 
die Eigenart des letzteren, feine der geiftigen Welt angehörige Exi— 
ſtenzweiſe und deren Gefege, nicht zu ihrem vollen Recht kommen 





*) In diefem Einnedürften die Neuherungen Zinzendorfs einzufchränfen 
fein (bei Becker a. a. D. S. 26 25.), daß er „für fein Lebtage habe ab- 
ſtrahieren müffen und nie in die Phantafie gehen dürfen“, und daß er 
letztere nur foweit, „al zu notwendiger Mäßigung nnd Applifation der 
abjtratten Gedanken erforderlich“, angewandt habe. 


Kölbing: Zur Charakteriftit Der Theologie Jinzendorfs. 259 


zu lafjen, indem den der Natur- und Sinnenwelt angehörigen 
Vorftellungen eine zu weit gehende Geltung auf geiftigem Gebiet 
eingeräumt wird, 

Im „Deutjchen Sokrates" fragt Zinzendorf einmal: „Womit 
hat es die Neligion zu thun“? und antwortet darauf kurz und 
bündig: „Ohne Zweifel mit unfichtbaren Dingen"!). Es iſt ihm 
daS ſtets gegenwärtig gewejen, obwohl er andererjeits mit größter 
Energie jein Leben lang die in derjelben Schrift enthaltene Thefe 
vertreten hat: „Gott muß machen, daß ihn der eingefleifchte Geift 
(der Geift des im Fleiſch Lebenden Menfchen) faſſen könne. Darum 
muß ex fich fehen oder hören laffen, oder er muß beides zugleich 
thun” und e8 darin allen „jichtbaren Dingen” und allen „uns 
fichtbaren Kräften” zuvor thun. Das heißt aber; „er hat ſich 
als Mensch offenbaren müffen, wenn ihn die Menfchen haben faſſen 
jollen" *). Denn daß es fich für Zinzendorf bei diefem „Sehen“ 
und „Hören“ um ein Eingreifen des Unfichtbaren ins Sichtbare 
handelt, betont er aufs Nachdrücklichſte in einer Berliner Nede 
über das Sehen des auferftandenen Heilandes feitens des Thomas, 
„Es iſt daS leibliche Sehen in diefer Zeit weder nötig noch jchick- 
lich. Es könnte der Phantafie unterworfen fein und man fünnte 
feine Gewißheit darauf bauen". „Das Herz und nicht die leiblichen 
Augen muß man dahin ſchicken, wo Jeſus iſt“). Diefe Aeuße— 
rung ift um fo gewichtiger, als unmittelbar vorher darauf hin— 
gemwiefen wird, daß Jeſus „mit feinen blutigen Wunden“ „uns jo 
deutlich durchs Wort im Geifte vorgemalt“ wird, „als wenn er 
vor unfern Augen gekreuzigt wäre”. Trotzdem ift Zinzendorf der 
vorher erwähnten Gefahr nicht entgangen. Weil ex fich zur Ver— 
anfchaulichung der unfichtbaren Dinge grumdjäßlich ſtets konkreter 
Borftellungen und Bilder bediente‘), gelangt ev in feinen theolo- 

2) S. 100 f. ) ©. 233. 235. 

*) „Reben an die Frauensperſonen“ ©. 150. 

*) Zu vergleichen ift hier die chavakteriftifche Ausfage in der Rede am 
27. Dez. 1746 (Gemein⸗Reden I Anhang S. 40), daß, als die Zeit erfüllt war, 
„von der Stunde an da Jeſus am Stamm des Kreuzes fein Leben gelafjen, 
von dem Tage an, da er in feiner Geftalt mit fünf Wunden fich feinen Schü— 
fern wieder präfentiert hat, diefelben Leute Befehl haben zu malen“. 


0  Kölbing: Zur Charakteriftif der Theologie Zinzendorfs. 


giichen Gedanken zu einer Bermenfchlichung des Göttlichen, wie zu 
naturhafter Darftellung geiftiger, insbejondere fittlicher Vorgänge, 
die das erlaubte Maß beträchtlich überjchreiten. In erfierer 
Hinfiht ift an die trinitariſchen Vorftellungen Zinzendorjs in 
feiner theologijd; produftivften Epoche (1740—49) zu erinnern. 
Er bleibt bier nicht dabei jtehen, die Trinität im ihrer Heils- 
wirffamfeit durch die Analogie der Thätigfeit der verichiedenen 
Glieder einer menſchlichen Familie dem praftifchen religiöfen Ver— 
ftändnis der Gemeine nahe zu bringen‘). Nein, obſchon er nach 
wie vor die inneren Verhältniffe der göttlichen Trinität als ein 
dem Menjchen unzugängliches Geheimnis bezeichnet, jcheut er ſich 
nicht, die einmal gebildete Vorjtellung von der Gottesfamilie weiter 
auszumalen und davon zu reden, wie der Sohn, der „Schöpfer“ 
und „Erfinder“ der Welt, den Vater „auf deſſen Schoß er jpielte" 
mit dem Plan der Weltfchöpfung überrafchte?). a er bildet die 
bedenkliche Vorftellung, Sohn und Geift feien, während der „Ur- 
gott jchlief" über die Erjchaffung der Welt eind gemorden®). 
Was jodann die erwähnte naturhafte Darftellung geiftiger, Tpeziell 
füttlicher Vorgänge betrifft, jo vedet Zinzendorf nicht nur im An— 
ſchluß an II Betr. 1,4 von der dem Chriften gejchenkten neuen 
göttlichen Natur, fondern er betont auch, daß die Chriften 
„eine Gerechtigkeit und Heiligkeit haben, die ihnen fo natürlich iſt, 
als der Ente das Schwimmen“, „dabei iſt nichts Gekünſteltes, 
nichts Weberlegtes, jondern es macht jich alles jelber"*). Mit 
Bezug darauf jagt ev: „die Geſchwindigkeit der Sache (jo zu wan- 
dein wie Jeſus gewandelt) die ijt eigentlich der Wlan . . . daß 
man, ohne fich zu befinnen, fich jo -beweifen kann, als wenns wohl 
bedächtig ausjtudiert wäre“ °). In diefen Zuſammenhang gehört 
das von Zinzendorf fchon im deutfchen Sokrates gebrauchte, ſpäter 
oft wiederholte Bild der „Durchdünftung" dev Chriften von der 

’) Bgl. Beder a. a. O. ©. 374 ff. 387 Sf. 399 ff. 406 fi. Diskurſe 
über die Augsp. Gonf. ©, 51. ferner: Predigt am 10. ©, 1746 (32 Ho— 1 
milien 1744—46). 

*) Penfylv. Reden S.119 f Sieben letzte Reden (vor der am 7. Aug. 
1741 erfolgten Abreife nach Amerika) ©. 72. 

) Rede am 19. Dez. 45. Anh. S. 23, (32 Homilten). 

*) Sieben lebte Neden ©. 47 f. ) Ebenda ©. 57. 


Kölbing: Zur Charakteriftit der Theologie Zinzendorfe. 261 


göttlichen Kraft Ehrifti!). — Diefe Beifpiele, welche zeigen, wie 
BZinzendorf der von ihm bevorzugten finnlichen, konkreten Bor: 
ftellungsform Einfluß auf feine theofogijche Gedanfenbildung ge— 
ftattete, tehen aber keineswegs vereinzelt da. Sie ließen ſich aus 
allen Epochen im Leben des Grafen ohne Mühe vermehren. Jene 
Neigung macht fich in der geſamten theologischen Gedankenwelt 
des Grafen bald mehr bald weniger bemerfbar. Die durch die 
heftigen, maßlofen Angriffe der meiften feiner Gegner gejteigerte 
Gewohnheit, den für richtig gehaltenen Ausdrud des Gedankens 
auf die Spige zu treiben, hat dabei mitgewirkt. So kommt es, 
daß der Theologie Zinzendorf3 durchgängig ein Moment der In— 
forreftheit oder Einfeitigfeit, ja in weitem Umfang ein übertrei- 
bender, nicht felten gerade zu Farrikierender Zug anhaftet. Hierin 
nun werden wir eine Haupturfache ihues „ſpurloſen Berfchwindens” 
aus der Gejchichte zu erblicken haben. Es fehlte ihr in Folge dieſer 
Eigentümlichkeit, welche ihr den Stempel der willfürlichen Abſon— 
berlichkeit aufprägte, die Fähigkeit, jich in weiteren Kreifen Geltung 
zu verschaffen. Dazu fam, daß, wie wir jpäter jehen werden, die 
eigentiimliche religiöſe Entwicklung Zinzendorfs, ihn zu einer in 
fühnfter Weiſe von der Ueberkieferung, ja zum Teil von der h. 
Schrift abweichenden Nusgeftaltung feiner veligiöjen Grundgedanken 
führte. Unter diefen Umftänden ift auch begreiflich, daß die Schul- 
theologen, einfchließlich eines Mannes wie Bengel, Zinzendorf ge 
gemüber fait nur Anlaß zu ſcharf abweiſender Polemik fanden, 
Ja ſelbſt die Brüdergemeine hat nach Zinzendorfs Tod auf ver- 
fchiedene Weife dafiir Sorge getragen, die urjprüngliche Geftalt 
der Theologie ihres Stifters in weitem Maße der Vergefjenheit 
innerhalb ihres eigenen Kreifes zu überliefern. Und fie hat ohme 
Zweifel Necht daran gethan. Denn hätte fie diefelbe unverändert 
fortgepflanzt und zur Lehrgrundlage ihres Firchlichen Verbandes 
gemacht, jo wäre fie unfehlbar zur „Sekte“ geworben, d. h. zu einer 
ficchlichen Sondergemeinfehaft, welche eine oder mehrere Sonder- 
lehren in einfeitiger Zuſpitzung zu ihrem Schibolet macht und auf 
Grund davon ſich einen einzigartigen Wert innerhalb der Gefamt- 


) ©. 225 Anm. Vgl. 3. B. Reden über die Wundenlitanei ©. 212 f. 
Zeitſchrift Für Theologie und Kirche. 10. Jahrgang. 4. Heft, 18 


262 Kölbing: Zur Gharakteriftif der Theologie Binzendorfs. 


kirche zufchreibt. In ihrer Mbfonderlichkeit und mit ihren eigens 
tümlichen Paradoxien bot die urjprüngliche Theologie Zinzendorfs 
dazu in mehr als einer Hinficht Anlaß. Zur Beftätigung des Ge- 
jagten dient, daß die Brüdergemeine infolge der Herübernahme 
des Zinzendorfſchen Theologumenon von „der Gemeine" — wir 
fommen in anderem Zufammenhang noch einmal auf dasjelbe 
zurück — in ihre kirchliche Verfaffung, lange Zeit hindurch fich 
als eine durch das Los direkt vom Heiland geleitete Theofratie 
angejehen hat. Dem ihr angehejteten Namen einer Sekte hat fie 
damit felbit, wie wir eingeftehen müſſen, eine Unterlage gegeben. 
Gegenwärtig hat fie diefes Element fynodaliter und grundfäglich 
aus ihrer kirchlichen Verfaſſung ausgeschieden und damit ohne 
Zweifel im Sinn ihres Stifters gehandelt. 


I. 

Wir gehen jest zum Hauptteil unferer Aufgabe über, zur 
Charakterifierung des veligiöfen Gedankeninhalts der Zinzendorf- 
ſchen Theologie. Wir können dies im Rahmen eines Vortrags 
freilich nur in jehr unvollftändiger Weiſe thun. Daher fcheiden 
wie die von Becker eingehend unterfuchten verwandtfchaftlichen 
und gegenfäßlichen Beziehungen zu anderweitigen veligiöfen Ge— 
danfenbildungen aus und beſchränken uns darauf, die Zingendorf 
eigentümlichen, von ihm in feiner Weiſe theologijch 
geformten, religiöfen Grundgedanten in ihrer Be- 
dingtheit duch die Eigenart feiner perfönliden 
Frömmigkeit darzulegen. Wir halten diefen Verſuch für um 
jo berechtigter, als die theologiichen Gedanken Zinzendorfs jtets 
diveft aus feinem veligiöfen Empfinden und Wollen herausgewachſen 
find, Nie find bei ihrer Ausgejtaltung vein theoretifche Motive 
und Zwecke maßgebend. Darum konnte der Graf jeine ganze 
Theologie ohne Reſt in feinen Predigten, Gemeinreden und Lies 
dern zum Ausdruck bringen. Zwar tragen diefe in Folge davon 
häufig in geradezu auffallender Weile theologifch-lehrhaften Cha— 
tafter, ohne doch aufzubören, in eminentem Maße praftifche reli— 
giöje Nede zu fein. Möglich ift dies, eben weil die Theologie Zin- 
zendorfs ganz und gar praftifch normiert und in feiner Weife Schul- 








Kölbing: Zur Charakteriftit der Theologie Zinzendorfs. 268 


wiſſenſchaft iſt. Betont ev doch ausdrücklich, daß die „reine d. h. 
vor der verkehrten Methode der Schule und ihren „metaphyftjchen 
Grillen" unbeeinflußte „Iheologie" das Beſitztum der ganzen „Ge 
meine“ ift, das fie allein „Ihm, ihrem Seren und Mann“ ver- 
dankt’). Wir dürfen darum erwarten, dem Verftändnis derfelben 
durch das Zurücgveifen auf die Eigenart der perfönlichen Fröm— 
migfeit Zinzendorfs näher zu kommen. 





Zinzendorf gehörte zu den auserwählten Perfönlichkeiten, denen 
die Religion alles im Leben bedeutet, die Religion in ihrem geiftigen 
Herzpuntt; das Erleben der Nähe des unjichtbaren Gottes, 
Er ift überzeugt, daß darauf im Grunde alles veligiöje Leben der 
Menſchen hinzielt. „Auch die Leute in den terigen Religionen“, 
fagt er, „die den rechten Punkt nicht treffen, ſetzen es fait alle 
auf den nahen Umgang mit Gott“?). Während feines ganzen 
Lebens, von feiner frühen Jugend an, war es Zinzendorf fir fich 
und andere um dies Gine, die Nähe Gottes, zu thun, Darum 
war ihm die Religion eine „Sache", die „der Mühe wert ift"*). 
Bekannt ift der Verkehr, dem er mit „dem Heiland“ jchon in feinen 
Kinderjahren pflegte und der ihm in jeiner Lage den Umgang mit 
feines Gleichen erſetzte). Gewiß liegt hier zum Teil Ungefundes 
vor“). Das eigentlich Bedeutſame der kindlichen Frömmigkeit 
Binzendorfs ift jedoch, daß fie echt war, wirkliche Gemeinſchaft 
der Seele mit Gott, die das Fühlen, Denken und Sinnen des 
Kindesherzens erfüllt, Das ift der Eindrud, den man aus den 
überlieferten Erzählungen und feinen eignen, damit übereinftim- 
menden jpäteren Aeußerungen erhält. Der Heiland ift für den 
Knaben nicht blos dev vielvermögende, hilfreiche Freund, am den 
ex fich in feinen Kleinen Nöten und mit den Anliegen feines äuße— 
von Lebens wendet. Es ift ihm um diefen Freund felbjt, den 
Umgang mit ihm zu thun, von dem man ihm gejagt hat, daf er 


1) Gemein-Reben II 319. 
*) Berthelsdorfer Reden (1756) S. 50. 
*) Der deutfche Sokrates ©. 123. 
) Val. Io. Th. Müller, Binzendorf als Erneuerer der alten Brü- 
derficche ©. 6. ) Ebenda. 
18* 








264 Kölbing: Zur Charalterijtif der Theologie Zinzendorfs. 


Gott ift. Er berichtet, daß in feinem Sten Lebensjahre „die raf— 
finierteften Ideen eines Atheiften ſich in ihm entſponnen hätten“, 
als er eines Abends feine Großmutter ein altes Lied habe fingen 
hören. Eine Nacht lang habe er ohne Schlaf gelegen, bis ihm 
zulegt hören und ſehen verging!). Da an der Nichtigleit diefer 
Erinnerung kaum zu zweifeln ift?), deutet fie darauf hin, daß 
Zinzendorf jchon als Kind wirklich in feinem Innern mit Gott zu 
thun hatte. Damit waren dann freilich ungefunde Erfcheinungen 
faſt notwendig verknüpft. Andererſeits aber erklärt fich eben daraus 
die überwältigende Macht, welche der Verkehr mit dem Heiland 
über die Seele diefes Kindes ausübte, Daß der Kern desjelben der 
Umgang mit Gott war, geht aus feinen früheften gedruckten Liedern 
hervor. Das erjte aus dem Jahre 1713, welches der Betrachtung 
des Todesleidens des „edlen Freundes der Seelen" gewidmet ift, 
beginnt mit den Worten: 

Du treuer Heiland! aller liebjtes Leben! 

Sch, dein Gefchöpf, muß zittern und erbeben 

Bor deinen jehweren Leibs- und Seelenplagen 

Die Dich gefchlagen °). 

Und bei der erjten Kommunion — 1714 — fingt er: 

So ijt e8 denn gejchehen: 

Sch habe Bott gefehen: 

Gr hat fich eingefunden 

und fich mit mir verbunden ‘). 

So wird es auch jenen wirklichen Gefühlen in der Kindheit 
entjprochen haben, wenn er Anfang der zwanziger Jahre aus feinem 
Hten Lebensjahr vom gemeinfamen Gebet mit feinen Spielge- 
fährten erzählt: „wir warfen uns vor der unfichtbaren Majeftät 
nieder, die wir bald unſre Liebe, bald unfern König, bald unfern 
Bruder und Bräutigam, bald mit einem andern Lieblichen Namen 
nannten, weil wir glaubten, daß fie ihm alle zugehörtem Ich kann 
mich nicht befinnen, ob wir allemal an die drei Perſonen der 
Gottheit zugleich dachten, ich meine aber wohl, wir hatten immer 
nur mit dem Herrn Jeſu zu thun . . . Wir baten diefen unfern 


4) Büdingifche Sammlungen I Vorrede. 
)BederanDd. S. 22. 
Deutſche Gedichte ©. 1. + Ebenda ©. 2. 


Kölbing: Zur Charakteriftif der Theologie Zinzendorfs. 265 


Heren um alles was wir brauchten. Weil wir aber mit allem 
reichlich verfehen waren, fo fiel uns nichts notwendigeres ein, als 
daß er uns fo machen follte, wie er uns gern haben 
mwollte“?), 

Wenden wir ung jet den Mannesjahren Zinzendorfs zu, jo 
jei zunächft auf den Anfang des Liedes aus dem Jahre 1725 hin: 
gewiefen, welches der Verfaffer „Vollendung einer fünfjährig-fort- 
gewährten Betrachtung Gottes" überjchreibt ?). Im erften Teil 
redet er Gott, den „ewiglich nicht auszugrimdenden" an und bes 
ſchreibt die Gedanfen, welche ihn bei jener Betrachtung Gottes be— 
wegt haben, ehe ihm die (im zweiten Teil des Liedes enthaltene) 
göttliche Antwort zu teil wurde, die ihm den Weg zur vechten 
Gotteserfenntnis zeigt. Was ihm bei allem Sinnen über das Weſen 
Gottes fejtitand, jprechen die erften Zeilen aus: 

Allgegenwart! ich muß geftehn, 
Du unausfprechlich tiefe Höhe 
Erfülleft, ohne Dich zu jehn, 

Doch alles, wo ich geh’ und jtehe. 

Alfo, daß der unbegreifliche Gott den Menfchen nahe ift, daß 
ihr ganzes Dafein von dem feinen umfchloffen ift, ift ihm das 
Gewiſſeſte das Gewiſſen. Keine Bezeichnung des göttlichen Weſens 
liegt ihm näher als der Name „Allgegenwart“. Und mit diefem 
hängt ihm unzertvennlich der des Schöpfers zufammen, der, 
ie die oben angeführten Anfangszeilen feines erjten gedruckten Lie 
des zeigen, von frühe an mit feinem veligiöfen Bewußtſein verknüpft 
war. So wendet fich die Anrede an Gott in dem zuleßt befprochenen 
Liede fehließlich an den Schöpfer mit den Morten: 

Verfehlt ein Fürſt der Kreaturen 
Zu dir, dem Schöpfer, Bahn und Spuren, 
Wo till die andre Schöpfung bin? 

Auf Welche Weife aber beide Namen Gottes im Bewußtſein 
Binzendorfs fich verbinden, ſpricht er in folgenden Sätzen des 
Deutjchen Sokrates (urfprünglich alS „Dresdener Sokrates“ 1725/6 
in Form einer Wochenjchrift verfaßt) aus: „Gott ift der all: 

4) Deutfcher Sokrates S. 215 f. Die legten Werke find von Zinzen⸗ 
dorf felbft durch den Druck hervorgehoben. 

) Deutſche Gedichte S. 106. 


2366 Kölbing: Zur Gharakteriftit der Theologie Zinzendorfs. 


gemeine Urſprung aller Dinge. Alles was lebet, lebet in Gott. 
. . . Alle Kreatur ruhet im Willen des Schöpfers. Der Menjch 
aber beweget ſich in dem Willen des Schöpfers. Jemehr ev 
fich darinnen bewegt, dejto fefiger ift ev" '). Der Name des Schö— 
pers fchließt alfo für Zinzendorf die Gewißheit in fich, die von 
Anfang an den Kern feines religiöfen Lebens, feiner religiöfen Sehn- 
fucht und feines veligiöfen Beſitzes, bildete, die Gemwißheit, daß 
der Menjch dazu bejtimmt ift, mit Bewußtſein und Willen in Gott 
zu leben. Und fo kehrt denn auch in feinem fpäteren Leben Die 
Beziehung auf das Wort Apg. 17,28 immer wieder: „in ihm 
leben, weben und find wir." In einer Predigt am 26. Sept. 
1745 jagt Zinzendorf von „den Herzen, die des Heilands ganz 
find", daß fie zu ihm fprechen: „es kleben Herz und Sinnen 
an dir, mein Leben; mein Odem, meine Luft, meine Subſi— 
jtenz ift in dir, in div lebe, webe und bin ich?)." Aus den 
meijten feiner Reden Liegen fich verwandte Neuerungen anführen, 
Die zweite Abteilung in der von Zinzendorf felbft herausgegebenen 
Sammlung Londoner Predigten iſt mit dem Titel verjehen: „Neun 
Predigten von der jeligen Nähe Gottes, gehalten in der Brüder- 
kapelle zu London 1753". Wie in feiner frühen Jugend, ift aljo 
auch im legten Jahrzehnt feines Lebens für BZinzendorf das be- 
feligende Gut, das die Neligion ihm und allen durch das Evan- 
gelium Berufenen darbietet, die Nähe Gottes, Vom „Bruder der 
nicht blos wie die „anderen Menfchen ein Gefühl von Gott, ideas in- 
natas nach Röm, 1, 19 hat“, muß e8 heißen, „daß er feinen Gott im 
Geifte ſieht“, — fo lefen wir jpäter in derjelben Sammlung ®). 
Ein folches nie ermüdendes Dringen auf Erleben der Gottes— 
nähe, wie wir es bei Zinzendorf finden, beruhte darauf — das 
war der Eindruck derer, die ihm näherjtanden —, daß er jelbjt 
in der Gemeinschaft mit Gott „lebte und webte“. San jüngerer 
Beitgenofje Schrautenbach jagt von ihm: „Wir werden glauben, 
daß diefer Mann viel mit Gott umgegangen jei, in Gebet und 
Betrachtung . . . ohne von diefem Umgang andern vieles 


1) ©. 232. 234. *) &. 21. (82 Homilien). 
») II ©. 318. 


Kölbing: Zur Charakteriftit dev Theologie Zinzendorfs. 267 


fund zu thun, nach der Art des Umgangs mit einem freunde, 
von dem man am liebſten fchweigt. In die Art aber, in. An— 
blick und Charakter ging die Befchäftigung der Seele über, deren 
vornehmftes Augenmerk tiefe Prüfung ihrer ſelbſt war. Es werden 
feine Freunde feiner fich noch erinnern, wie er oft aus feinem Zim- 
mer in die Gefellfchaft trat, mit welcher Heiterkeit, wie aber man 
ihm unterweilen anjahe, daß ex aus einer anderen Welt kam: 
Bild der Betrachtung, Abjtraktion; — ernſthaft, kraftvoll, in fich 
gefammelt, ohne Affektation; eine Minute oder etliche gebrauchend, 
ich wieder in das Sichtbare . . . einzurichten" 1). 

Dem entfpricht e$, wenn Zingendorf in einer 1738 in 
Berlin gehaltenen Rede folgende Sätze behandelt: „1) Die Reli: 
gion befteht nicht in Worten, fondern in Sein und Haben. 
2) die Religion ift nichts Geringes, jondern was Ehrwürdiges. 3) 
Sie ift nichts Selbjtermähltes und Erdachtes, jondern was Bor: 
gejchriebenes und Negelmäßiges (d. b. von Gott Gegebenes und 
Normiertes). 4) Sie ift nichts Gelerntes, fondern was Wefent- 
liches. Eine Natur. 5) Sie ift nichts Schweres, ſondern 
was Leichtes“ (d. h. wir haben Macht erlangt, Gottes Kinder 
zu werden)?). Binzendorf zeigt fich hier bemüht, feinen Zuhörern 
tief einzuprägen, daß die Neligion, die Beziehung des Menfchen zu 
Gott, wenn fie echt ift, etwas ganz anderes fer als eine bloße 
Meinung?), nämlich eine Wirflihfeit höchſter Ordnung. 
Zwar ift die Religion, die Ehriftus den Menjchen gebracht hat 
eine „Religion des Glaubens" +), der nicht fieht; denn fie beſchäf- 
tigt fich mit unfichtbaren Dingen. Aber was der Menſch nicht 
fieht, darauf fann er in feinem Gemüt oder, wie Zinzendorf fich 
ebenfalls ausdrückt, in feiner „Empfindung“ d. h. dem „ins geiftige 
erhobenen Taftfinne* ®), treffen. Und „Gott macht, daß der Geijt 
des Menjchen auf ihn teifft“ %). „Ließen die Menjchen feinen Vor— 
boten der Gottheit vergebens kommen und liegen ihren Gedanten 


)Shrautenbad a aD © 6 (©. 79 f) vgl. Ritſchl 
a. a. D. ©. 370, über „den lihten Punkt u. Zinzendorfs Charakter“. 

*) Berliner Reden II 283 f. ) Deutjcher Sokrates ©. 212, 

+) Eond. Predigten II ©. 369. 5) Beder a. a. D. ©. 56. 

9) Deutfcher Sokrates ©. 232 f, Nr. 16. 17. 85. 


268 Kölbing: Zur Charakteriftit der Theologie Zinzendorfs. 


die Muße, das Mitbringen diejes Tichten Liebe-Wejens zu über 
legen, wozu nichts als ein ftilles Nachdenken erfordert wird, .... 
„ein tapferer Entſchluß, fich die Augen auszureiben und die Some 
getroft anzufehen, . .. . wiebald würden fie von feiner Liebe ange 
griffen werden“ '). Weil aber die „Religion“ darauf beruht, daß 
Gott dem Menfchen in feiner Liebe naht, fo ift fie „glaubende 
Liebe“ und lebender Glaube" ?). Daraus geht zugleich mit voller 
Deutlichkeit hervor, daß Zinzendorf das „Leben und Weben in Gott“, 
wie es der Menjch in der Religion erleben ſoll, nicht in der Weife 
der Myſtik als ein Verfinken im unendlichen Meer der Gottheit, 
als „Vergottung“ verfteht jondern als ein perjönliches „fich be 
wegen" im Willen Gottes, des Schöpfers®). Denn „ohme freien 
Willen friert die Liebe" *). 

Da alfo die Gottesgemeinfchaft, die der Ehrift in der Neli- 
gion erlebt, Gemeinjchaft dev Liebe und für den Menfchen „Bott 
lieben die allerjchönfte Weisheit ijt" °), bezeichnet Zinzendorf das 
Herz mit Vorliebe als den Ort der Religion im menfchlichen In— 
nern. Zu definieren, was das Herz fei, vermag er zwar nicht. 
68 ift ein „je ne sais quoi“, unterjchieden von den Sinnen, ſo— 
wohl des Gemüts als des Leibes. „ES ift die Hauptfache bei ung 
und dem Heilande, es ift bei den Kindern Gottes... der Sitz 
des neuen Geiftes . . . da alles fich hinzieht, daheraus auch alles 
geführt und regiert wird“ %). Denn im Herzen fühlt man das 
„Grwarmen"- in der Liebe des Heilandes d. h. Gottes”), Darum 
nennt Zinzendorf die Religion, um die es ihm fiir fich und andere 
zu thun ift, „Herzensreligion" ®),. Wer von Neligion vedet, des 


) Ebenda ©. 240. 2) Ebenda S. 225. 

) Ebenda ©. 234 Nr. 56. 

*) Diskurſe über die Augsb. Gonfeffion S. 288. Lond. Pr. I S. 4. 
Ueber das Verhältnis Zinzendorfs zur Myſtik vgl. Becker a. a. O. S. 249 ff, 
und die ergänzenden Ausführungen ih der wertvollen, auf Ritſchls Ger 
ſchichte des Pietismus bezugnehmenden Abhandlung deifelben Verfaſſers: 
Zinzendorf3 Beziehungen zur römifchen Kirche. Studien und Kritiken 
1891 ©. 321 ff. ) Deutjcher Sokrates ©. 235. 

) Nede am 26. Sept. 1745 ©. 18. 19 (32 Homilten). 

) Ebenda ©. 18. 

) 8. 8. Gemein-Neden I S. 9. Vgl. Bedera. a. D. ©. 76. 


Kölbing: Zur Eharakteriftil der Theologie Zingenborf. 269 


Mund joll „von einer Herzensfülle übergeben“ '). en = 
hriftliche Religion ungleich mehr vom Enthufiasmus , 
der Philoſophie· >). Die Religion kann ohne sn ge⸗ 
faßt werden, ſonſt könnte niemand eine Religion haben, als der 
einen aufgellärten Kopf hätte, und die wären die beſten Gottesge- 
lehrten, die am meijten Vernunft hätten, Jenes aber iſt nicht 
glaublich, und auch diejes ftreitet mit der Erfahrung. Die Re: 
ligion muß eine Sad fein, die ſich ohne alle Begriffe, durch 
bloße Empfindung erlangen läffet, ſonſt könnte Fein Tauber, noch 
weniger ein Blindgeborener, und am allerwenigjien ein Wahnfinniger 
oder ein Kind die zur Seligfeit notwendige Religion haben“ ). Die 
„Herzensreligion“ als Gemeinfchaft der Liebe mit Gott bringt dem 
Menſchen die Glüdjeligkeit, nach welcher alle Religion ftrebt, in 
volltommenem Maße. Der Chriſt hat das Privileg, täglich über 
dem Namen feines Gottes fröhlich zu fein. Es ift „nichts Ge— 
wiſſeres, als daß wir (Ehrijten) ein tägliches Wohlleben haben, 
daß wir und freuen mit unausfprechlicher Freude und das Ende 
unjers Glaubens davon gebradt haben, der Seelen Se- 
figfeit, den Zweck erreicht haben, wir jind jelig"‘). „Ein 
ewig ftiller Friede zwiſchen Gott und Menſchen“ erblüht der Seele 
die „im Glauben auf das Herz der Liebe zu" dringt). Solche 
„dringende Herzen“, die von der Liebe Gottes ergriffen werben, 
find aber zugleich gehorfame Herzen, die auf Gottes Gebote merfen. 
„Denn er pfleget in einer jeglichen Seele, die er ergriffen, durch 
das allgemöhnliche Mittel der Gedanken, mo nicht durch eine zwar 
undeutlichere, aber noch fräftigere Negung alles das aufzumerfen, 
was er bedacht, ausgearbeitet, beliebet und ausgerichtet haben will. 
Wer eines jolchen Führers teilhaftig ift, der kann nicht fehlen, und 
wer einer jolchen Herrſchaft gewohnt ift, der begehrt feine beſſere. 
Gott lieben, das ijt die allerfchönfte Weisheit, und wer fie erſiehet, 
der liebet fie, denn er ftehet, welche große Wunder fie thut" ®), 

1) Deutfcher Sokrates ©. 213. 

) Ebenda 5. 241 Anm. ) Deutjcher Sofrates S. 289. 

*) Rede am 8. Aug. 1745. ©. 8.9 (32 Homilien), Die Sperrung 


entfpricht dem Original. 
’) Deutfcher Sokrates S. 147. %) Ebenda S. 241. 242. 


| 


u 


270 KRölbing: Zur Charakteritit der Theologie Zinzendorfs. 


Die Seligkeit, welche dem Chriſten feine Religion darbietet, ift alfo 
nicht mit quietiftifchem Schwelgen in Gefühlen gleichbedeutend, 
Denn die Religion des Chriften ift „Sich bewegen im Willen des 
Schöpfers" im Bollfinn des Wortes. 





Was die Neligion Zinzendorf bedeutete, haben wir gejehen. 
Sie ift ihm wirkliches Exleben der Nähe des unbegreiflich tiefen 
und hohen Gottes, ja „Leben und Weben“ in ihm, der fich in 
Liebe der von ihm gejchaffenen Kreatur naht, damit fie ihre ewige 
Beltimmung erreiche: in feinem Willen d. h. in feiner Liebe fich 
zu bewegen und darin zugleich die vollfommene Seligfeit zu be— 
ſitzen. Dieje „Herzensreligion” ift ihm „Heilandsreligion"?), 
Darin befteht die Eigenart feiner Frömmigfeit. Die „Heilands- 
religion" war der Inhalt aller feiner Verkündigung. Sie ift auch 
der Inhalt der ihm eigentümlichen Theologie, dev „reinen Theo» 
logie”, die er in feiner Predigt zum Ausdruck gebracht hat?). Es 
wird darauf anfommen, genauer zu beftimmen, in welchem Sinne 
dies bei Zinzendorf der Fall war. Zuvörderſt ift da feitzuftellen, 
daß er nicht in dem Sinn „Heilandsreligion“ verfündigt und gelehrt 
hat, den man gegenwärtig für gewöhnlich mit diefem Ausdruck ver- 
bindet, auch wenn man ihn fpeziell mit Beziehung auf Zinzendorf 
braucht. Man verfteht darunter eine Geftalt des chriftlichen Glau— 
bens, da Chriſtus der Heiland nicht blos der gefchichtliche Vermittler 
der Gemeinſchaft mit dem Vater im Himmel ift, jondern bei der die 
perjönliche Gemeinfchaft mit ihm, der als dev erhöhte Herr Gegen- 
ſtand des Glaubens und der Anbetung ift, einen wejentlichen Be- 
ftandteil des veligiöfen Lebens ausmacht. Aus den Darlegungen 
Beckers geht hervor, daß diejer Begriff der „Heilandsreligion" 
mit dem Zinzendorfs jedenfalls nicht völlig identiſch ift*). In— 


9) Vgl. Becker a. a. O. ©. 76, Der Ausdrud „Heilandsreligion“ ift 
übrigens, foviel mir befannt, von Zinzendorf ſelbſt nicht gebraucht worden, 
wohl aber häufig mit Bezug auf ihn und in Uebereinſtimmung mit feinen 
Ausführungen. Bol. z. B. Gemein-Reden I S. 266. „Die Verliebtheit in 
den Heiland ,„.... ift bie einige, wahre allgemeine Religion“. Er ijt die 
kurze, zufammenfaffende Bezeichnung die Eigenart feiner Frömmigkeit. 
Darum eignen wir ihn ung an, 

*) Ebenda ©. 75. ’) Ebenda ©. 374 ff. 


7 


Kölbing: Zur Eharakterijtit der Theologie Zinzendorfs. 271 


deſſen feheint Berker immerhin gemeigt zu fein, den Gedanken, daß 
die Chriftusgemeinfchaft das unentbehrliche Mittel für das Er- 
leben der Gottesgemeinfchaft ift, als die Grundanschauung Zinzen- 
dorfs anzufehen'). Unſers Erachtens weiſen dagegen die Aeuße— 
zungen des Grafen aus verjchiedenen Perioden feines Lebens un- 
zweideutig darauf hin, daß für ihn die Chriftusgemeinfchaft nicht 
Mittel für die Gottesgemeinfchaft, jondern die Gottesgemein- 
ſchaft jelbjt war, und daß man in diefem allereigentlichiten Sinne 
von der „Heilandsreligion" Zingendorjs reden muß. Oder mit ans 
dern Worten: Wie für Zinzendorf als Kind der Heiland that- 
fächlich der Gott war, mit dem er in Verkehr ftand, fo hat er im 
fpäteren Leben aus voller, wohlerwogener Ueberzeugung immer 
wieder verkündigt, daß dev Heiland der Gott iſt, an dem wir 
Menjchen in unferm religiöjen Leben ums „gewieſen“ fehen ?). 
Schon ein Wort in der Vorrede zum deutſchen Sokrates bewegt 
fich im diefer Richtung: „Gott will nicht ſowohl gefürchtet als 
geliebet jein: darum ift er Menfch geworden, damit ihn die Men- 
ſchen näher haben jollten" *). Viel deutlicher jpricht Zinzendorf 
feine Meinung 1738 in den Berliner Reden aus: „Wir Chriften 
heißen ihn — den Menjchen Jeſus —: Immanuel, unfern Gott, 
der fich für uns fchieft, in dem uns die Gottheit fichtbar, begreif- 
lich und leiblich geworden"*) Völlig unumwunden aber jpricht 
er jeine Meimung in dem Belenntnis aus, das in der Vorrede 
zum evjten Bande der Büdingifchen Sammlungen (Herausgegeben 
1742) enthalten ift. „Ich dachte vielmals“, heißt «8 da, „wenn 
es möglid) wäre, daß ein andrer als Er (dev Heiland) Gott fein 
fönnte, jo wollte ich Lieber mit dem Heiland verdammt werden 
als mit einem andern Gott felig fein." Hier tritt ganz Mar 
heraus, daß Zinzendorf, wie in feiner Jugend, fo auch fpäter, fein 
ganzes religiöfes Leben auf den Heiland, als auf feinen Gott be- 
stehen will. Denn obwohl er hier von feiner Kindheit erzählt, 
geht doch aus dem ganzen Zuſammenhang hevvor, daß er in diefen 
Worten zugleich feine gegenwärtige Neberzengung ausfpricht. Um 
diefelbe Zeit hat ex auch angefangen, lehrhaft noch) weiter auszu- 
NBecker a. a. O. 6, 20. 399. ) Lond. Pred. I S. 260, 
) S. 7 Nr. 6. 9MS. 37. 


— 


272  Kölbing: Zur Charakteriftit der Theologie Zinzendorfs. 


führen, daß der Heiland, wie es der Gejtalt feines veligtöfen 
Lebens entſprach, für alle Vtenfchen und insbejondre für die 
Chriften jchlechtweg der Gott ift, mit dem fie verkehren und aus— 
Ichließlich verkehren ſollen. Vor allem betont er von 1741 an 
immer wieder, daß der Heiland und nicht der Vater der „Schöpfer" 
der Welt, „aller Zeiten und Weſen“ ijt!). Wir führten ſchon 
oben eine Aeußerung Zinzendorfs an, aus welcher hervorgeht, in 
welchem ausjchließlichen Sinne er das meint®). Und wenn er, 
namentlich auf Einwendungen andrer hin, daneben die Schöpfung 
als ein Werk der Trinität Hinftellt, jo fommt dies für die Men- 
ſchen als etwas jchlechthin Umerforjchliches nicht in Betracht, ſon— 
dern allein, daß die Welt durch Chriftus gefchaffen iſt d. h. aber, 
wie Zinzendorf interpretiert, „daß der Heiland fürnehmlich ge: 
ichaffen bat, ..... aber nicht als Gott, jondern als der erſte 
Erfinder und das zukünftige einige Objekt aller Kreatur" ?). In 
den letzten Worten tritt zu Tage, daß Binzendorf darum jo 
feſthält an der Erſchaffung der Welt durch den Heiland, meil er 
fich das Necht nicht will verfümmern laſſen, fein veligiöfes Leben 
in allererfter Linie auf Chriftus zu beziehen, in ihm den erjten 
und Hauptgegenftand feines Liebenden Glaubens und feiner glaus 
benden Liebe zu befigen. Dies fcheint ihm gefährdet, wenn man, 
wie „die Theologen“ thun, die Schöpfung dem Bater vornehmlich 
zufchreibt. Denn dann find die Menfchen als feine Kreaturen 
auch am ihn, und nicht an den Sohn, als ihren Gott gemiejen. 
Und da Zinzendorf die Lehre von der Erſchaffung der Welt durch 
den Vater Lediglich als eine faljche theologifche Folgerung aus 
der firchlichen Trinitätslehre, die ihm übrigens feftfteht, anfieht, 
fo betont er ausdrücklich, daß der „weientliche Gott, Vater, Sohn 
und heiliger Geift" und „der Rapport dieſes allerheiligiten We— 
ſens unter fich“, aljo auch die Beziehungen dieſer „Drei Perſonen“ 
zur Weltſchöpfung dem menjchlihen Verftand völlig unergründlich 
jeien. Kann demnach nichts darüber gejagt werden, inwiefern der 
Heiland „als Gott“ d. h. ala die unergründliche zweite Perſon 
') Sieben legte Reden ©. 9. 2) ©. 260. 
N Becker a. a. O. ©. 388. 


Kölbing: Zur Charakteriftit der Theologie Zinzendorfs, 278 


in der Gottheit an der Weltfchöpfung beteiligt war?), fo kann 
und muß dagegen um jo nachbrüclicher davon geredet werden, 
daß er der Schöpfer der Welt ift, fofern „feine Göttlichkeit", die 
er auf Grund feiner eroigen wejentlichen Gottheit befißt, „ein Amt 
ift" 2), welches ex als der Repräfentant der Trinität ausübt®). Denn 
daraus, daß er als der „Amtsgott“ der Kreatur +) die Welt er- 
ichaffen hat, folgt, daß die Kreatur fich nun auch an ihn als 
ihren Gott gewieſen fieht und ganz fpeziell die Menfchen, die er 
fich überdies, nachdem fie feiner, als ihres Schöpfers, vergeffen 
und ſich von ihm abgewandt hatten, durch fein Blut aufs neue 
erworben hat. In diefem Sinn jagt Zinzendorf immer wie 
der, daß fein Schöpfer fein Heiland it. Ohne das Wort 
„Amtsgott“ ftets zu gebrauchen, ift er ſeit 1741 wiederholt be- 
müht, das Verhältnis Chriſti zur Welt und insbefondre zu den 
Menschen, welches durch diefen Begriff ausgedrückt wird, völlig 
klarzulegen. In einer Nede am 20. Dezember 1744 fpricht er 
von dem „Vateramt des Sohnes". Weil es nichts Neues jei in 
dev Bibel, daß der Heiland „Vater“ genannt wird (Jeſ. 9, 6), 
darum hat nun vollends die Gemeine der Exlöften ein Recht, ihrem 
„Spezialgott“ diefen Namen zu geben. hr „Direkter Vater“, ihr 
„Vater von rechtswegen“ ift der Heiland; denn er hat fie gemacht, 
bat als ihr Schöpfer ihnen wie allen Dingen „den Othem und das 
Leben gegeben" °). Allerdings redet Zinzendorf ein Jahr fpäter in 
einer Rede vom „Bater, dem Gott der Gemeine". Aus dem aber, 
was er hier ausführt, geht hevvor, daß er damit nicht das Geringjte 
von dem im jener friiheren Rede Gefagten abthun will. Im 
Gegenteil will ex darlegen, daß die Menjchen direkt gar nichts 
mit dem Vater zu thun haben. Vielmehr treten fie nur infofern 
zu ihm in Beziehung, als er der Vater Jeſu Ehrifti ij. Wenn 
fie an diefen al an ihren Spezial- und Amtsgott glauben, dann 


4) In Diefem Sinne find die Morte „aber nicht als Gott” in dem 
Bitat bei Beder ©. 383 zu verjtehen. 

2) Sieben lebte Reden ©. 5. 

N Becker a. a. D. ©. 388. 

4) 8. 8. Gemein-Reden II ©. 80, gl. d. Stelle Anm. 8. 

) ©, 4. 5. (82 Homilien). 


274  Kölbing: Zur Charakteriftit der Theologie Zinzendorfs. 


nennen fie „ihm zu Gefallen“ t) feinen Vater auc) ihren Vater. 
Ja Zinzendorf fcheut fich nicht, um die nur mittelbare Beziehung 
der Chriſten zum Vater, „dem Gott der Gemeine”, ganz deutlich 
zu machen, die bildfiche Wendung zu gebrauchen: „was man in 
der Welt einen Großvater, einen Schwiegervater nennt, das ift 
der Pater unſers Heren Jeſu Chrifti”?). Und an diefer An— 
ſchauung hat er im Wejentlichen durchaus feftgehalten. Das zeigt 
eine Neihe in den fünfziger Jahren in London gehaltener Pre— 
digten über „die Theologie des Vaters“ ?). Darunter verjteht er 
nämlich, daß der Vater nach der Erhöhung des Heilands das 
Gefchäft übernommen hat, die Menjchen in der Welt zu lehren, 
daß der Sohn es ift, am den fie, als an ihren Gott, gewieſen find, 
daß das Wort: „du ſollſt lieben Gott deinen Heven von ganzem 
‚Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte und von allen deinen 
Kräften" auf den Sohn ſich beziehe, der ja „der Jehova Elohim der 
Thora“ ift*). Binzendorf ift fich dabei bewußt, daß Jeſus jelbft 
in feiner Erniedrigung feine Zünger auf den Vater hingewiejen 
hat. Aber jene „Theologie des Vaters“ ſteht ihm fo feit, daß 
er erklärt: „der Heiland hat allein feinen Water gepredigt und 
hat ihn zum alleinigen Gott der Kivche erflärt Joh. 17,3. Der 
Vater aber hat das in feine rechten Schranken gebracht, daß es 
nicht zu weit gehen möchte. Ex hat ein Gebot gegeben, daß fie 
alle den Sohn ehren follten, wie fie den Vater ehren “oh. 5, 28, 
jonft wollte er in ihre Verſammlung nicht riechen, Feine Anbetung 
von den Menſchen annehmen und fie follten gar feinen Gott 
haben" °). Auf diefem Wege kommt Zinzendorf allerdings auch 
dazu, eingehender zu behandeln, „was der Vater fr große Me- 
riten hat in Unfehung unſer“ %). Auch weift er „die Gemeine“ wie- 
derholt auf die „mütterliche Pflege des heiligen Geiſtes“ hin”). 


) Predigt am 19, Dec. 1745 (32 Homilien). ©. 20. 21. 

*) Rede am 20, Dec, 174 ©, 4, 

*) Lond, Predigten I S, 253—376. *) Ebenda ©. 260. 261. 

) Ebenda ©. 361. Die Sperrung entfpricht dem Original. 

*) Ebenda, 

) 32 Homilien: Rede am 27. Mai 1745. „Bon dem Mutteramte bes 
heil. Geiſtes“. Vgl. Bedera. a. D. ©. 39 ff. 


Kölbing: Zur Charakteriftit der Theologie Zinzendorfe. 275 


So weiß er die Trinitätslehre praktiſch fruchtbar zu machen. Je— 
doch ift feine Meinung dabei die, daß dev Vater und der heilige 
Geiſt bei allem, was fie an der Gemeine und an der Welt thum, 
zu Gunften des Heilandes thätig find, der nach feiner Erhöhung 
von feiner Exlöferarbeit ausruht, um für die Zeit nur der Spe- 
jialgott der Gemeine, ihr Herr und Mann zu fein?) Haben der 
einft jene ihre/Arbeit in dev Welt zu Gunften des Sohnes vollendet, 
und es dahin gebracht, daß alle Kniee fich vor diefem beugen, dann 
wird er, der Sohn, „von feinem Ruhebette auftehen" und wieder 
die Herrfchaft über die Welt führen 2). Binzendorf kehrt aljo 
I Kor. 15, 28, das er fchon in feinen Berliner Neden umzudeuten 
ſich genötigt gefehen hatte ®), geradezu um umd zwar mit vollem 
Bewußtſein. Paulus hat fich bier „in der Zeitrechnung geirrt 
oder fich nicht vecht expliziert“ *). 

Wir haben die Erörterung abfichtlich bis an diefen Punkt 
geführt, um eine deutliche Vorftellung davon zu geben, was es 
um die Zinzendorfifche „Heilandsreligion" in ihrem urfprünglichen 
Sinne ift und wie Zinzendorf alle Konjequenzen thatfächlich ge- 
zogen bat, die ſich Daraus ergeben, daß für ihn Chriftusgemein- 
ſchaft und Gottesgemeinfchaft identifch find. Ex hat die „Heilands- 
religion“ — künnen wir jagen — in einer folgerichtig gedachten 
Heilandstheologie firiert, Es ijt hier nicht unfre Aufgabe, dieje 
„Theologie“ Eritifch in ihrem Verhältnis zur heiligen Schrift und 
zur Kiechenlehre zu beleuchten. Ebenſo verzichten wir darauf, ihre 
geſchichtlichen Anknüpfungspunfte und Vorausfegungen zu erör— 
tern. Wir verweifen in diefer Hinficht nochmals auf Beders 
Werk. Dagegen möchten wir einige Andeutungen darüber geben, 
welches die perfönlichen veligiöfen Beweggründe waren, die Zinzen— 
dorf in feinen Mannesjahren dazu führten, die eigentümlichen reli— 
giöfen Anjchauungen feiner Kindheit zu einer lehrhaft firierten 
Heilandsreligion auszubauen, 

Von vornherein it wahrjcheinlich, daß bei diefer eigenartigen 


— Val. die oben S. 274 Anm. 1 angeführte Stelle. 

*) Vgl. Diskurſe über die Augsb. Konf. S. 96 ff. 100 f. Lond. Pr, 1263, 
*) Berl, Reden IT S. 48. 

+ Diskurfe über die Augsb, Konf. S. 96. 97. 


276 Kölbing: Zur Charakterijtif der Theologie Zinzendorfs. 


geiftigen Entwickelung Zinzendorfs religiöje Faktoren die entſchei— 
denden waren. Er, dem die Neligion, wie wir fahen, alles im 
Leben bedeutete, wird jich am wenigſten auf ihrem eigenjten Gebiet 
durch andre als religiöfe Motive entjcheidend haben beeinflufjen lafjen. 
Ein jolches Motiv giebt Becker vermutungsweife für den Zeitpunkt 
an, als Zinzendorf 1741 die förmliche Iehrhafte Ausgeftaltung feiner 
Heilandsreligion in die Hand nahm. Er meint, die Bedürfniſſe des 
Heidenfatechumenats hätten ihn dazu veranlaßt. Es wire gewiß 
voreilig, dies ganz in Abrede zu ftellen. Indeſſen will uns doch 
feinen, daß die eigentümliche Heilandstheologie Zinzendorfs jo 
ganz nur die folgerichtige Weiterbildung feiner eignen bisherigen 
Evangeliumsverkündigung ift, daß die von außen an ihn hevan- 
tretenden Bedürfniſſe der Heidenpredigt vielleicht den Zeitpunkt 
der erſten Ausgeftaltung feiner Heilandstheologie bedingten, nicht 
aber die Art und Weife, in welcher fie erfolgte, wie Becker meint. 
Dafür dürften vielmehr diefelben perfönlichen religiöſen Bedürf— 
niſſe Zinzendorfs maßgebend geweſen ſein, die ihn an der Schwelle 
des Mannesalters von dem Chriſtusverkehr feiner Kindheit und 
Jugend zur Heilandsreligion hinüberführten. 

Wir haben oben aus feinen eignen Außerungen entnommen, 
daß von frühe an das ganze Sehnen feines Gemüts auf Exleben 
der „jeligen Nähe Gottes”, der Gottesgemeinjchaft im höchſten 
Sinne, auf das perfönliche „Leben und Weben“ im Liebeswillen 
des unfichtbaren Gottes gerichtet war. Der Erfüllung diefer Sehn- 
ſucht ftellte fich aber beim Eintritt in das Mannesalter (1720):) 
zuvörderſt fein auf das geheimnisvolle Weſen Gottes gerichtetes 
Verftandesdenfen in den Weg, Denn dieſes führte ihn immer 
wieder zu dem Mejultat, daß der Menjc eine jolche Gottesge— 
meinfchaft, wie er ſie mit der ganzen Sehnfucht feines Inneren 
begehrte, unmöglich erreichen Fönme. Wohl ließ ihn jein Denken 
allenthalben „die Spur von Gottes Allmachtspfad“ entdecken. Aber 
fobald er feine Gedanken dem Weſen diejes Gottes zumandte, 
fah ex fich bald vor dem „unzugänglichen Licht“ dev Majeftät 
Gottes, bald vor dunklen „Abgrundsſchlünden“ ftehen. Nur eins 


') Val, das oben S. 265ff. beiprochene Lied: Deutfche Gedichte ©, 106, 


Kölbing: Zur Charakterijtit der Theologie Zinzendorfs. 277 


war ihm gewiß: das Weſen Gottes, des unendlichen Geiftes, it 
„au hoch zu tief, zu groß, zu lichte“, iſt völlig umerreichbar für 
das Erkennen des in einem finnlichen Leibe lebenden Menjchen- 
geiftes, Umd weil es das ift, macht es den menjchlichen Geift, 
der fich ihm nahen will, erſchrecken, fcheucht ihn von ſich und 
ſchließt ihn für immer von feiner Gemeinschaft aus. Noch in 
feinen fpäteren Lebensjahren ſpüren wir ihm das innere Zittern 
und Erbeben vor dem verborgenen Wefen Gottes an, wenn ex 
wiederholt von dem „jormidabeln und tiefen Gott, der das ens 
entium und die causa causarım ift“, redet). Wir unterfuchen hier 
weder die Berechtigung, noch die gefchichtliche Herkunft diejer 
Gottesvorftellung, ſondern fonftatieren nur, daß fie für Zinzendorf 
nicht blos ein überfommenes Philofophem, fondern bitterer Ernſt 
war. Das göttliche Weſen an fich ift wirklich, das ift feine Ueber— 
zeugung, dieſe dunkle Abgrumdstiefe, die für den Menſchen ewig 
verfehloffen bleibt. Aber wie darf dann der Menſch hoffen, mit 
Gott, von dem er kraft der ideae innatae?) als von dem all- 
mächtigen Schöpfer und Herrn aller Wefen und Zeiten weiß und 
nach dem fein Herz ſich mit allen Faſern jehnt, je in ſolche per 
ſönliche Gemeinschaft zu kommen, daß er in ihm lebt und webt? 
So fragt das bange Herz immer wieder, ohne eine Antwort zu finden, 
bis fie Zinzendorf vom Glauben feiner Kindheit kommt. Soll der 
„eingefleijchte Geiſt“, der Menſch, auf Gott feinen Schöpfer treffen , 
und mit ihm in Gemeinjchaft treten, dann muß Gott aus feiner 
reinen Geiftigkeit heraustveten, die dem Menschen „ein Schreck— 
geſpenſt“ ijt’). „Er muß fich jehen und hören laſſen“ ), aber 
fo, daß der Menfch die perfönliche Lebensgemeinfchaft in vollem 
Umfang mit ihm volßiehen kann: ex muß als Menſch fich ihm 
offenbaren, ev muß ſelbſt Menſch werden®), Und da fagt es ihm 
nun der Glaube feiner Kindheit: Gott ift Menjc) geworden. Da- 
mals ſchon hat er in dem Verkehr mit dem Menfchenkinde Jeſus 
reale Gottesgemeinfchaft erlebt. Jetzt ruft ihm die Gottesftimme 
in jeinem Inneren laut und vernehmlich zu: diefe Gottesgemein- 


+) 3. 8. Gemein-Reden II S. 321 (18, Der. 1747). 

) Vgl. oben ©. 266. °) Deutjcher Sofrates S. 60, 
+) Ebenda ©. 233. ®) Deutjcher Sofrates S. 235. 
Zeitſchrift für Theologie und Aixe. 10. Jahrgang. 4. Heft, 19 


2738  KRölbing: Zur Eharakteriftit dev Theologie Zinzendorfs. 


ſchaft war feine Täufchung: das „geringe Kind“ Jeſus, dein 
Fueumd, dein Bruder, dein Gott, zu dem du beteteft, ift der menjch- 
gewordne Gott jelbit. Darum 

„Hör auf zu fuchen, was fo fern, 

Hör auf zu forfchen, was dich fliehet“ ')! 

In ihm, den du längſt als deinen Heiland kennt, haft du 
den Gott, „der fich für dich fehiet"*). In ihm, der Menjch ift 
wie du, mit allen menjchlichen Schwachheiten angethan, und dev 
zugleich, Gott hoch gelobet in Ewigkeit ift, kannſt du die Gottes- 
gemeinschaft erlangen, nach dev du dich ſehnſt, da du in dem Willen 
deines Schöpfers lebſt und webjt, wenn es nur dein Herz mit lies 
bendem Glauben und glaubender Liebe erfaßt, daß dieſes geringe 
Kind, diefer arme Zimmermann, dein Gott ift. 

Binzendorf folgte diejer Stimme Gottes in jeinem Innern. 
Er ſprach zu dem menjchgewordenen Gott: „Jetzt lieb ich dich 
und glaub und ruh“. Damit jtand für ihn „die Heilandsreligion" 
jet. Sie war in der inneren Lage, in welcher er ſich beim Gin: 
teitt in das Mannesalter befand, der einzige feite Grund auf dem 
jein Glaube gegenüber allen Ginreden des denkenden Verſtandes 
ſich zu behaupten vermochte. Und jo wie er vom Weſen Gottes 
an ſich dachte, mußte ev die Heilandsreligion auch grade jo aus— 
iprechen, wie ex fie ausgefprochen hat, im engſten Anfchluß an den 
Glauben feiner Kindheit. Darauf beruht im Grunde feine ganze Hei- 
landstheologie, wie er fie von 1741 an ausgebildet hat. Alles 
was jie vom Heiland ausjagt, ift genauer zugefehen nur eine 
weitere Ausführung des einfachen Satzes, in dem wir den Er— 
trag feiner 5jährigen Betrachtung Gottes zufammengefaßt fanden: 
der Heiland, der menjchgewordene Gott, it der Gott, „der fich 
für uns Menjchen ſchickt“). Das gilt vor allem von dem immer 
wiederholten Hauptſatz der Heilandstheologie Zinzendorfs, daß 
„ver Schöpfer jein Heiland“ ift*). Er ijt nichts als die Zuſammen— 
faffung alles deſſen, was Zinzendorf erlebt hat, jeitdem es ihm 
aufs neue feititand, das dev Menjch Jeſus „Immanuel" — fein 

*) Deutfche Gedichte S. 107. 


*) Bgl. oben ©. 271. (Berl. Reden II 257.) 
®) Bol. oben ©. 271. *) Vgl. oben ©. 246, 271 f. 


Rölbing: Zur Eharakteriftif dev Theologie Zinzendorfs. 279 


Gott ift. Jemehr er fich in Glaube und Liebe an diejen Gott 
anjchloß, je mehr ev erfuhr, was der Heiland in feiner Menſch— 
heit für ihn war, je mehr er in feiner Gemeinfchajt „das Leben 
und Weben im Willen Gottes“ ſchmeckte, um fo gewiffer fand er 
für den bejeligenden Inhalt feines veligiöfen Lebens feinen voll: 
fommeneren Ausdruck als den: daß „fein Schöpfer jein Heiland 
iſt“. Wir haben eben gefehen, wie aus diefem Sat; alle anderen 
Sätze feiner Heilandötheologie folgerichtig abgeleitet find und aljo 
ebenfalls in den grundlegenden religiöfen Erfahrungen feines an- 
gehenden Mannesalters wurzeln. 

Wir können nur noch andeuten, wie auch die Kreuztheologie“, 
die „Blut und Wundentheologie“ Zinzendorfs, ſowie feine Lehre 
von „der Gemeine“ oder „dem Vol“ de3 Heren in engem Zur 
ſammenhang mit feiner Heilandsreligion und -theofogie ſtehen, 
und darum nur ganz verftanden und vichtig beurteilt werden können, 
wenn fie in ihrer Beziehung zu dem eigentimlichen Erfahrungen 
des religiöfen Lebens ihres Urhebers berückjichtigt werden. 

Der leidende Heiland tritt zunächſt darum in den Vorder: 
grund dev religiöfen Beziehung Zinzendorfs zum menjchgeworde: 
nen Gott, weil fein Leiden wie nichts anderes das wirkliche Menſch— 
jein Gottes offenbart. Was in diefer Hinficht in der Krippe 
begonnen, wird in Gethjemane und am Sreuz vollendet. Die 
mwahrhaftige Menfchheit Jeſu, der der hochgelobte Gott ift, tritt 
hier in ihrer anfchaulichften Gejtalt dem Glauben entgegen. Und 
menn in dev Zeit des neuen Bundes im Gegenjaß zu der des 
alten die Boten Gottes den Auftrag befommen haben zu „malen“, 
weil Gott fich in menfchlicher Geftalt hat jehen Lafjen, jo follen 
fie Jeſum vor allem in dem Bilde den Menjchen vor die Augen 
malen, in welchem er fich am Kreuz zu Tode geblutet hat!), Es 
zeigt fich hier befonders deutlich, wie die Vorliebe Zinzendorfs für 
die konkrete Gejtalt der Wunden Jeſu nicht nur auf feiner Neis 
gung, die finnliche Vorftellung an Stelle des abjtraften Begriffs 
zu jegen beruht, fondern zugleich veligiös motiviert ift. — Am 


*) Vgl. Naturelle Neflerionen ©. 355. Berliner Reden II 5, 52, 
Gemein-Meben I Anhang S. 49. 50. 
19* 


u 


230  Kölbing: Zur Charatteriſtit der Theologie Zinzendorfs. 


Kreuze Jeſu vollendet fich aber nicht blos das wirkliche Menſch— 
fein, jondern auch die Liebe des Gottes, der uns zu gute feine 
himmliſche Herrlichkeit verlaffen hat, um durch diefe in feiner 
Menſchheit fich offenbavende unbegreifliche Liebe unfre Herzen un— 
auflöslich am ſich zu Fetten!), Aufs Kreuz Jeſu foll darum der 
Glaube jehauen, damit er ganz libermältigt werde von der Liebe 
jeines Gottes und dazu gelange, in diefer Liebe zu „ruhen“ *). Hier 
liegen die religiöfen Wurzeln für die Anwendung des Bildes der 
Ehe ſpeziell auf die Gemeinjchaft des Ehriften mit dem gefrenzigten 
Heiland. Im Mittelpunkt des veligiöfen Lebens ftand Zinzendorf 
das Kreuz Chriſti endlich und vor allem auch deshalb, weil ihm 
die menfchliche Stinde — befonders ſeit 1734 — in ihrem furcht⸗ 
baren Ernft als das größte Hindernis für die Lebensgemeinjchaft 
des Menjchen mit feinem Schöpfer, in defjen Willen er leben und 
weben joll, mit voller Klarheit vor die Seele getreten war®), 
Dur) die Sünde hat der Menfch von feinem Schöpfer fich mut— 
willig losgeriſſen und eilt dem ewigen Verderben, dem zukünf— 
tigen Zorn entgegen. AS der im Fleifche lebende Geift iſt er 
fich aber deffen, was diefe Trennung vom Schöpfer für ihn be 
deutet, nicht bewußt geworden. Da hat der Durch die Sünde 
feines Gejchöpfs „beleidigte" Schöpfer fich jelbjt aufgemacht, um 
fein Eigentum aufs neue rechtmäßig zu erwerben, d. h. es von 
jeinem eigenen, des Sohnes Zorn *) und der Zwingherrſchaft des 
Teufels rechtsgiltig durch Erftattung eines Löfegeldes zu erlöfen 
und e3 fich als den für feine freiwillige Leidensmühe von rechts: 
wegen zu beanfpruchenden Lohn zu „verdienen" °). In dieſer 
Weife hat Zinzendorf in eigenartiger Weife die firchliche Lehre 
vom verbienjtlichen Leiden Ehrifti umgebildet und fie zu einem 
Beltandteil feiner Heilandsreligion gemacht, in der es der Menſch 

) Bol, 3. B. Londoner Predigten II 335. 

?) Vgl. oben das Zitat auf S. 278. 

) Bgl. z. Folgenden Beder a. a, D, ©. 205 ff. 291 ff. 

°) 32 Homilien; Rede am 19. Der. 1745. ©. 16. Diskurſe über die 
Augsb. Konf. S. 20. 

*) Bgl. „Eine Predigt von dem Buß-Rampfe für uns“ (1741). Zum 
Begriff des „Verdienftes Chriſti“ in dem Zinzendorf eigentümlichen Sinne 
vgl. Homilien über die Wundenlitanei ©. 137 u. Tiegen a. a. O. S. 207 ff, 


Kölbing: Zur Charakteriftit der Theologie Zinzendorfs. 281 


allein mit Chrijtus als feinem Gott zu thun bat. Das veligiöje 
Motiv der Zinzendorfijchen homiletifchen und Liturgifchen Ver— 
wertung des Blutes Ehrifti ift, wie die immer wiederkehrenden 
Bilder vom „Schwimmen im Blute Chrifti", vom „durchdünftet 
werden mit dem Angſtſchweißbrodem“ vermuten laſſen; wohl vor: 
nehmlich die Vergegenmärtigung des „Lebens und Webens* in der 
Gemeinfchaft mit dem am Kreuz fich ſelbſt opfernden Schöpfer?). 

Eine weitere Bermendung findet dieſe Anſchauung vom Blute 
Ehrifti, als der geiftigen Lebensſubſtanz Chrifti des Schöpfers, in 
Binzendorfs Lehre von „der Gemeine des Herrn“ oderder „Kyria“ ?), 
Was dieje betrifft, jo foll hier nur darauf hingemiefen werden, 
wie fie ihren veligiöfen Motiven nach der „Seilandsreligion“ 
entjtammt. Indem Binzendorfs Glaube darin ruht, daß der 
Schöpfer, „die causa prima“, der, von dem und zu dem hin 
alle Dinge gefchaffen find, fein Heiland ift, erfaßt er den Ge— 
danken der vor Grundlegung der Welt von ihrem „Exfinder" 
gejchehenen Gnadenwahl, Ws nun Zinzendorf ſich um ihn ber 
Gemeinen ſolcher ſammeln fieht, welche durch ihn und mit ihm 
zum Leben und Weben in der Gemeinjchaft des Schöpfers, 
ihres Heilandes, gelangt find, tritt vor fein geiftiges Auge das 
Bild von der „Gemeine Gottes", dev „Braut des Lammes“, welche 
vom Schöpfer von Anbeginn aus allen übrigen Menfchen aus- 
erwäblt jind®), um durch ihr Zeugnis in Wort und That ihrem 


+) Bol. 3. B. Homilien über die Wundenlitanei S. 63 ff. 208 fi. Ge- 
mein-Meben II S. 357. 

) Bgl. ebenda Bedera. a. O. ©. 402 ff. 

) Homilien über die Mundenlitanei S. 159: „ver Brüder-Plan be- 
ſteht in einer Gefellfchaft auserwählter Leute zur Gemeinfchafts-Gnade; 
und die müſſen zufammentommen“. Vgl. dazu Beder a. a.D. ©. 307 ff. 
Ferner: Berthelsdorfer Reden (1756) ©, 51 f. Seit Zinzendorf 1734 
die ganze Größe der dem Sünder entgegenfommenden Gnade Gottes, wie 
fie in der am Kreuze Chriſti vollbrachten Verſöhnung fich offenbart, er— 
Tannt hatte und zur vollen Heilsgewißheit gelangt war, ift auch der Glaube 
an die Gnadenwahl Gottes ein wefentlicher Beitandteil feines religiöfen 
Lebens: Vgl. die befannten Worte des 1734 gedichteten Liedes („du unfer 
auserwähltes Haupt”, deutfche Gedichte S. 305 ff), im welchem er die 
neugewonnene Ölaubenserfenntnis des Kreuzes Chrifti ausfpriht: „Laß 
uns in deiner Nägelmal erbficten die Genaden-Wahl“. 


u 


232 Kölbing: Zur Eharaftertjtit der Theologie Zinzendorfs. 


„Mann“ feinen Schmerzenslohn aus aller Welt einzufammeln und 
zugleich unabläffig in feiner Liebe zu ruhen. Daß Zinzendorf fich 
jederzeit dagegen gejträubt hat „die Gemeinen”, die ſich um ihn 
icharten, zu einer Kirche oder „Religion“ werfafjungsmäßig zus 
jammenzufchließen, war nur die notwendige Folge davon, dab er 
fie in einer den wirklichen Verhältnifjen nicht Rechnung tragenden 
Weife mit der geiftigen Größe der Gemeine der Ausermählten 
verknüpft hat, mit der fie als irgendwie gejellfchaftlich organifierte jo 
wenig wie „die Religionen” in unmittelbare Verbindung gebracht 
werden durften. 





Die „Hetlandsreligion" und die Heilandstheologie Zinzendorfs 
find, wie wir verfucht haben deutlich zu machen, die Ergebnifje der 
eigentümlichen religiöſen Entwidelung ihres Urhebers und der ent» 
iprechende Ausdruck feiner eigenartigen Frömmigkeit. Sie find in 
ihrer urfprünglichen Geftalt aus der Gefchichte verſchwunden. Sie 
konnten in ihrer Singularität innerhalb der Reformationskicchen 
nicht zu allgemeiner Geltung fommen. Darum hat jchon Spangen= 
berg, der Mitarbeiter und Nachfolger Zinzendorfs, das Seine ge— 
than zu ihrer Umgeftaltung. Die Brüdergemeine der Gegenwart 
kennt fie in ihrer urfprünglichen Geftalt nicht mehr. Nichtsdeſto— 
weniger ift Zinzendorfs Heilandsreligion feſt im veformatorifchen 
Glauben gemwurzelt, der ich deſſen rühmt, allein durch Chriftus 
und im perjönlichen Anſchluß an ihn der vollfonmmen Gottesges 
meinfchaft teilhaft zu werden, 

In einer Zeit, in welcher ntelleftualismus auf der einen 
Seite, Moralismus und gejegliche Nengjtlichkeit auf der anderen 
Seite der Entfaltung echt evangelifcher Frömmigkeit im Wege ſtan— 
den, war Zinzendorf dazu berufen, laut zu verfündigen, daß das 
Leben des Chriften „ein ewiges Evangelium“ iſt!). Und er hat 
dies unermüdet gethan, weil er im Glauben an den Sohn Got— 
tes lebte, der ihn geliebet hat, und fich felbjt für ihn dargegeben, 
Gott, den unfichtbaren Schöpfer und Herrn Himmels und der Erde, 
zu erkennen und mit ihm in Gemeinfchaft zu ftehen, danach dürſtete 
feine Seele. Aber er weiß, daß diefe Sehnfucht allein geftillt wird 


) 32 Homilien: DOfterpredigt 174 ©. 13. 


KRölbing: Zur Charakteriftit der Theologie Zinzendorfs. 283 


durch die Erkenntnis Gottes im Angeficht Jeſu Chriſti. „Gottes 
unzugänglich'S Licht, glänzt in Chriftt Angeſicht“ — diefe Strophe 
findet jich in dev Vorrede einer Schrift aus dem Jahr 1725, welche 
den Titel führt: „Gewiffer Grund hriftlicher Lehre, nach Anlei- 
tung des einfältigen Katechismi fel. Herrn Dr. Luthers" '). In Je— 
jus Chriftus, dem Gefreuzigten, und in ihm allein ift „Der ewige Ab- 
grund der göttlichen Liebe aufgethan“, die die Sünder felig macht. 
So lernte Zinzendorf im Glauben das Herz der Liebe Gottes kennen 
und in diefer Liebe leben als ein allezeit fröhliches Kind Gottes, 
Wenn er aber die ihm unter ernften inneren Kämpfen uner- 
jchütterlich gewiß; gewordene Erkenntnis Gottes in Jeſus Ehriftus 
theologifeh in einer Weile formulierte, die in ihrer Abweichung 
nicht nur von der dogmatifchen Neberlieferung der Kirche, ſondern 
teilmeife auch vom neuteftamentlichen Typus, nicht maßgebend werden 
Eonnte, jo erklärt fich dies vornehmlich daraus, daß Binzendorf 
feine Glaubensftellung gegen heftige Angriffe von allen Seiten zu 
verteidigen hatte und daß er fie um jeden Preis für ſich und an- 
dere ficher ftellen wollte, In jolcher Lage kommt es feit dem Streit 
des Apoftel Paulus mit feinen judaiftifchen Gegnern auch bei den 
Großen der chriftlichen Kirche zu ſchroffen Lehrformulierungen, die 
einer jpäteren Milderung oder auch Richtigftellung bedürfen. Sie 
find die unvermeidliche Folge davon, daß menfchliche Hände die 
ſcharfen Waffen des göttlichen Geiftes führen. Darum aber haben 
auch die Paradorien der Theologie Zinzendorfs nicht zu hindern 
vermocht, daß die VBrüdergemeine kraft des geiftigen Erbes ihres 
Stifterd den Kirchen der Reformation im einer Zeit veligiöjen 
Niedergangs Zufluchtsftätte und Werkzeug für die Pflege echt evan- 
gelifcher Frömmigkeit geworden ift. 
9 Pitt a. a. O. S. 8. Beder,a aD. © 31 ff. Obige Form 
des Gitat$ aus der Vorrede ift die dem Original genau entiprechende, 





har 


Wunder und Caufalität 
von 


L. Keßler. 


Kant erklärt in feiner „Religion innerhalb der Grenzen der 
bloßen Vernunft“ : „Wunder find nur im Widerfpruch gegen die 
Naturgejege möglich, Diefe erlauben feine Ausnahmen, fie gelten 
entweder ausnahmslos oder gar nicht. Wenn es Wunder giebt, 
fo giebt es feine Naturgefege, alfo auch feine Naturwiſſenſchaft, 
überhaupt feine theoretifche Erkenntnis”. Diefer Erklärung gegen- 
tiber ift es bemerkenswert, daß Auguftinus verfuchen konnte, jogar 
durch eine Berufung auf Naturgefege den Anftoß zu heben, wel— 
chen die biblifchen Berichte von der wunderbaren Verwandlung 
des Waffers in Wein und von der Brotvermehrung der menfch- 
lichen Vernunft geben. Er führt in diefem Sinne aus, daß was 
Jeſus zu Rana und was er zweimal an den Hungernden in der 
Wüfte gethan habe, im Grunde nichts wejentlich anders geweſen 
fei, als was alljährlich) im Weinftoc und innerhalb des Zufammen- 
hangs von Ausſaat und Ernte gejchieht. 

An diefem Fall kann man vecht deutlich die Veränderung der 
Denkgewohnheiten erkennen. Wir find nicht im ftande, die vom 
Kirchenvater verlangte Gleichjtellung der verglichenen Prozefje zu 
vollziehen, ſchon weil bei beiden das Verhältnis der räumlichen 
und zeitlichen Grundlagen fo verfchieden ift. Und wir können 
eben wieder mit dem geringen Raum- und Zeitmaß des übernatür— 
lichen Vorgangs nicht auskommen, weil mir uns in den engen 
Raum einiger Spannen nicht Die zur Sättigung von Taufenden 
ſich auf die entfprechenden Räume verteilende Brotjubitanz hinein- 
denken fönnen, und weil wir uns nicht denken können, wie in der 


Kepler: Wunder und Gaufalität. 285 


Zeit von einigen Minnten die im Wachstum ſich vollziehende Um: 
formung der Subjtanz vor fich gehen könnte, Denn von einer 
Neufchöpfung ift ja eben beim Wachstum für unſere Vorftellung 
nicht mehr die Rede. Somit zeigt fich hier auch gleich die Be— 
deutung, welche — in enger Beziehung zu aller vaumszeitlichen 
Vorſtellung — der Subftanzbegriff für das moderne Denken hat. 

Anders lag die Sache für eine Vorftellungs: und Denkweise, 
welche — dem Augenjchein folgend — ein Entjtehen und Ver: 
gehen der Dinge im eigentlichen Sinne annahm, Für diefe haben 
wir in einer Aeußerung Luthers einen inteveffanten Beleg. In 
der zweiten feiner vier Predigten über das 15te Kapitel des erften 
Korintherbriefs heißt e3; „sch habe oft von meinem Tieben Vater 
gehört, daß er jagt: Er hätte es von feinen Eltern, meinen Vor— 
eltern, gehört, daß viel mehr Menſchen wären auf Erden, die da 
effen, denn Garben von allen Adern in der ganzen Welt jährlich 
eingefammelt werden möchten, Nun kann ſich ein ſtarker, gefunder 
Menſch von einer Garbe das Jahr über erhalten; fondern ein 
Mensch muß jährlich drei oder vier Scheffel aufs wenigfte haben: 
Mache num die Rechnung ꝛc. Mußt du hier nicht felbjt befennen 
und jagen: Es ift Gottes Wunderwerk, der jegnet und mehret 
das Korn auf dem Uder, in den Scheuren, das Mehl im Kaften, 
das Brot auf dem Tiſch. Aber wenig find, die darauf Achtung 
geben und meinten, daß es Gottes Wunderwerfe fein.“ 

Steinmeyer bat alſo nicht nur in Bezug auf des Aus 
guftinus Zeiten, ſondern noch auf die Luthers Hecht, wenn er jagt 
(Wunderth. d. Herrn 84 ©. 9), daß niemand dem Auguftinus das 
Geftändnis verfagt haben werde, daß „von einer Schädigung der 
Geſetze der Natur in diefen Fällen keine Rede ſei.“ 

Wie oben ausgeführt wurde, widerſetzt ſich dev auguftinifchen 
Erklärung in unferem Denken zwar zunächft auch nicht der Be— 
griff des Naturgeſetzes im allgemeinen, noch ein einzelnes Geſetz 
in erafter Formulierung, fondern die Annahme vom Beharren der 
Subftanz oder Materie, welche Wundt unmittelbar aus der An- 
ſchauung gewonnen werden läßt (Logik ©. 544) und Kant als 
ariomatifches Naturgefeg („Bei allem Wechſel der Exjcheinungen 
beharrt die Subftanz und das Quantum wird in der Natur weder 


286 Kepler: Wunder und Caufalität. 


vermehrt, noch vermindert”) bezeichnet. Zu dem Bedürfniſſe, einen 
ftetigen Zufammenhang in allem Wechjel anzunehmen, gejellt Tich 
in unferm Denken das andere, dieſen Werhfel nad) einer ausnahms⸗ 
loſen gejeßmäßigen Verfnüpfung von Urfache und Wirkung zu 
denten gemäß dem zweiten ariomatijchen Naturgefege bei Kant: 
„les was gejchieht, feßt etwas voraus, worauf es nach einer 
(Rel. innerh. d. Gr. d. bl. Vern.) Regel folgt". Wenn Kant 
in jener „Kritit des Wunderglaubens" von „Widerfpruch gegen 
die Naturgefege" vedet, fo hat er für „Naturgeſetze“ zuvor den 
Ausdrud „natürliche Caufalität" als „Bedingung aller äußeren 
Erfahrung“ gebraucht. Es wird denn auch apologetifch wenig 
ausgerichtet, wenn man fich in dev Wunderfrage auf den Begriff 
„die Naturgeſetze“ bejchränft, wobei die Naturgejehe gewöhnlich 
ganz unbejtimmt nach Analogie von veränderlichen Nechtsvorfchriften 
gefaßt werden. Es handelt fich da vielmehr um das mit dem Ge- 
je vom Beharren der Subjtanz und Erhaltung dev Kraft unlös- 
bar verbundene Caufalitätsprinzip, von dem Wundt (Syit. S. 291) 
jagt, es beftimme nun, daß wir jede empiriſche Thatfache aus ihren 
entjcheidenden Bedingungen abzuleiten haben, „wie es gejchehen 
miüffe, überläßt es aber den einzelnen Geſetzen, die als fpezielle 
Anwendung jener im Gaufalprinzip enthaltenen Forderung anzus 
jehen find.“ 

Ein einzelnes Naturgeſetz, das durch die wunderbare Brot- 
vermehrung und Wafjerverwandlung verlegt worden ſei, beftimmt 
anzugeben, ift auch heute nicht leicht. In andern Fällen frei 
lich, wie 3. B. beim Wunder von dem fchwimmenden Eifen, vom 
Wandeln auf dem Meere kann man das wohl mit Hinweis auf 
das jpezifiiche Gewicht der Körper. Weil Weſen und Gefebe der 
Leben und Tod genannten Zuftände noch jo wenig bekannt find, 
fehlt noch die Möglichkeit, beftimmte Gefese anzugeben, die durch 
die Wiederbelebung eines Toten verlegt würden, Der Widerſpruch 
gegen jolche Wunder leidet fich in die Forderung eines allge— 
meinen gefeßmäßigen Zufammenhangs. Wird diefe zugeftanden, 
dann hört aber eben das Wunder auf, Wunder zu fein, wir 
bleiben bei Scheintod oder Nehnlichem ftehen. Manche biblifchen 
Berichte ſchließen wieder die Möglichkeit eines ſolchen Zugeftänd- 


Kepler: Wunder und Gaufalität. 287 


nifjes von vornherein aus, 3. B. gleich das Auferjtehungswunder 
in dem über Erjeheinen und Verſchwinden des neu belebten Leibes 
Berichteten. 

Die Veränderung dev Denkgewohnheiten, welche ung fo deut- 
lich beim Leſen des obigen treuherzigen, Lutherjchen Erguſſes zum 
Bewußtſein kommt, joll aber nicht etwa ausgegeben werben als 
Folge von Kants großer Entdeung, daß das Geſetz der Cauſa— 
lität die Bedingung aller Erfahrung, die Vorausfegung allen Na— 
turerfennens ift. Die Wenderung der Denkgewohnheiten vollzog 
fi) unter dem Einfluß der dem Geift der Neformation verwandten 
wiſſenſchaftlichen Forfchung, und Kants bahnbrechende Unterjuch- 
ungen über das Caufalitätsprinzip find vielmehr erſt als Folgen 
der veränderten wifjenfchaftlicheren Denkgewohnheiten anzujehen, 
über welche ſich Kant — von Humes ffeptifcher Anficht nicht bes 
friedigt — philofophijche Nechenfchaft zu geben fuchte. Dann hat 
aber wieder das Ergebnis von Kants und feiner Nachfolger Arbeit 
jehr ſtark auf jene Denfgewohnheiten, die zu Denknotwendigkeiten 
erhoben wurden, zurückgewirkt. 

Mit jenen wiſſenſchaftlicheren Denkgewohnheiten mußte ſich 
die „Wunderfrage* einjtellen mit ihrem Dilemma: wird dem Be: 
dürfnis nach eauſalem Zufammenhang genug gethan, jo wird der 
Wundercharafter der biblijchen Berichte zerſtört, und damit bleibt 
das Bedürfnis des Glaubens unbefriedigt umd umgekehrt. Fir 
Luthers Denken gab es offenbar die moderne Wunderfrage noch 
nicht, J. Köftlin bemerkt in feiner Darftellung der lutherſchen 
Theologie, daß Luther den jpezififchen Anhalt des Wunderbegriffs 
gar nicht deutlich erfaßt habe. Kann er doch die „Verkehrung 
der elementaren Ordnung" im Wunder mit den Ausnahmen ver- 
gleichen, welche bei grammatikalifchen Negeln ftatthaben, mit der 
Billigkeit, welche die ftaatlichen Gejege temperiert, und jagen, 
daß Gott aus Sand und Steinen Kon wachjen lafje, ſei wohl 
ein größeres Wunder, als daß er mit fieben Broten Taufende 
gejpeift habe. (Luthers Theol. 2 Aufl. I ©. 349). In Luthers 
Denken mag die Wunderfrage noch bejonders zurütfgedrängt wor— 
den jein durch die es beherrjchende Gewohnheit, alle Erfahrung 
jogleih auf Gottes Willen, Gottes Vorſehung zu beziehen; aber 


288 Kepler: Wunder und Gaufalität. 


im allgemeinen wird auch für feine Zeitgenofjen feine Auffafjung 
noch gültig, feine Argumentation noch beweiskräftig gemejen fein. 

Trogdem hat Luther den durchgängigen Widerfpruch dev Ver— 
nunft gegen die Ausfagen des Glaubens mehr betont als vielleicht 
irgend ein anderer, ja zum Kriterium ihrer Wahrheit gemacht. 
Niemand hat wohl das Vernunftwidrige in der Menfchwerdung 
Gottes, das „Den aller Weltfreis nicht beſchloß, der Lieget in Ma- 
rien Schoß” mit foviel Vorliebe für die kraſſeſten Farben ausge 
malt. Für die wunderbare Vereinigung des Gläubigen mit Chrifto 
weiſt ex jede Gleichjtellung mit dem zeitlich vermittelten Einfluß 
biftorifcher Größen zurück und überbietet das paulinifche Ich 
lebe aber nun nicht ich zc. mit einem Ich bin Chriftus. Uner— 
reichbar ift er, wenn er fraft jener Gewohnheit gottinnigen 
Denkens, vielmehr kraft der Erleuchtung des heiligen Geiftes in 
immer neuen Wendungen — je nach dem Schriftwort, das den 
Anlaß giebt — Zeugnis ablegt von der wunderbaren Macht und 
Herrlichkeit des Glaubens, welche der Welt, die nichts ſieht als 
das Widerfpiel der Schwachheit und Niedrigfeit, verborgen fein 
muß (Matth. 11, 25—27 1. Kor. 1, 25 ff). So jagt er in ber 
Auslegung des Magnifilats zu v. 51: „ES gehet aljo zu, wenn 
Gott durch Mittel der Kreaturen wirfet, jo fiehet man öffentlich, 
mo Gewalt oder Schwäche fei, daher das Sprichwort fommt: 
Gott hilft dem Stärkjten. Alſo welcher Fürft den Krieg gewinnt, 
durch den hat Gott den anderen gejchlagen. Frißt ein Wolf je- 
mandes, oder wird ſonſt bejchädigt, jo iſt es durch die Kreatur 
gejchehen. Alſo macht und zerbricht Gott eine Kreatur durch die 
andere, Aber wenn er jelbjt wirket durch feinen Arm, da gehet 
es anders zu. Da ift’S zerftört, ehe denn man meint; wiederum 
erbauet, ehe man meinet und niemand fiehet’s. Solches Werk thut 
er nur zwifchen den beiden Teilen dev Welt, den Frommen umd 
Böſen. Da läßt er die Frommen kraftlos werden und unter: 
drucket, daß jedermann meint, es ſei mit ihnen aus, es habe ein 
Ende: und eben in denfelben ift er am ſtärkſten da, jo gar ver: 
borgen und heimlich, daß die auch jelbjt nicht fühlen, die da leiden 
das Drucken, jondern glaubens. Da ijt voll Gottes Stärke und 
der ganze Arm. Denn we Menfchen Kraft ausgehet, da gehet 


Rehler: Wunder und Gaufalität. 289 


Gottes Kraft ein, fo der Glaube da ift und wartet des. Wenn 
nun das Drucken aus iſt, jo bricht's herfür, was für eine Stärke 
jei gewefen unter der Krenk. Siehe aljo war Ehriftus kraftlos 
am Kreuz, und eben dafelbjt thät er die größte Macht, überwand 
die Sünde, Tod, Welt, Hölle, Teufel und alles Uebel. — Darum 
ſpricht Joel 3, 15: Der da kraftlos ift, der foll jagen, ich bin 
kraftreich“. 

Zwiſchen den Glaubensausſagen in dieſer Form und den 
eigentlichen Wunderberichten beſteht der Unterſchied, daß ſich bei 
den erſteren das Vernunftwidrige zunächſt nicht als Verletzung des 
Cauſalitätsprinzips, ſondern als Verletzung des Satzes vom Wider 
ſpruch darſtellt. Subjekt und Prädikat ſchließen einander aus: 
Gott als der Allmächtige, Allgegenwärtige iſt ein Kind; Chriſtus 
— ſei es als göttliche, ſei es nur als eine andere Perſon — iſt 
die Perſon der Gläubigen, alſo Chriſtus — Nicht-Chriſtus; der 
Kraftloſe iſt der Kraftreiche ze. (2 Kor. 6,9—10). 

Doch wird das gebildete Denken unferer Tage Glaubensaus- 
jagen diefer Art weit eher ruhig hinnehmen als die wunderbaren 
Thatfachen, welche früheren Zeiten jo wenig Anftoß bereiteten, 
Der Grund dafiir ift, daß es fich bei diefen allgemeinen Aus- 
jagen um feinen einzelnen Vorgang handelt, der einen Verzicht 
auf die Gewohnheit reflektierender kauſaler Verknüpfung forderte, 
daß darum eine faktiſche Bemwahrheitung nicht erforderlich ift und 
an ihre Stelle die fittliche Bewahrheitung bei bildlicher Faſſung 
teitt. Man ändere nur die fraglichen Ausjagen derart ab, daß 
fie zur Darftellung irgendwie räumlich und zeitlich beſtimmter 
Borgänge werden, jo jtellt ich jogleich auch ihnen gegenüber der 
oben charafterifierte Proteft des gebildeten Denkens ein. Sei «es, 
daß die Menfchwerdung dev zweiten Perfon der Gottheit als inner- 
göttlicher und doch als ein eine Veränderung bedingender und 
ſomit zeitlich gefaßter Vorgang, als eine That freiwilligen Ge— 
horſams, etwa noch in verjchiedenen Stadien, bingejtellt wird. 
Sei es, daß von der unio mystica in pietiftifcher Weife mit An- 
ſchluß an das Hohelied, oder als von einer „Fubftantiellen phyſiſch-hy⸗ 
perphyſiſchen Verbindung“, vielleicht gelegentlich devSafvamentslehre, 
geredet wird. Sei e8 endlich, daß die täglich erfahrene Gotteshilfe, 


290 Kepler: Wunder und Gaufalität, 


die der Welt verborgene Macht und ‚Herrlichkeit des Glaubens in 
einem Einzelvorgange zum Ausdruck gebracht wird, was nichts 
anderes heißt, als von einem Wunder reden wie das der Speifung 
Mark. 6,35 ff. 

Biblifche Glaubensausfagen zeigen allein die letztere Doppel- 
form, diefe aber in veichftem Maße. So treten, um ein paar 
Beifpiele zu geben die Wunder 2 Moſ. 17,6 und 16,12—15 
neben Jeſ. 30,20. 33,16. 49,10. Pſ. 23. Pf. 36, 10, oder die 
Wunder Fo. 3, 16—17 und Dan. 3,25 neben ef. 43,2, 

Der konſtante Widerfpruch der Vernunft gegen alle Glau— 
bensausfagen hat aljo in unferen Zeiten durch die ausjchließliche 
Bedeutung, welche dem Faufalen Exfennen beigelegt wird, nur noch 
eine Verſchärfung in gemifjen Fällen erfahren. Diefe Verſchär— 
fung vichtet fich aber gar nicht gegen dasjenige Moment in den 
Glaubensausfagen, auf welchen ihr eigentlichen religiöfer Wert 
beruht und welches eben darum in Luthers Denken jo hewvortritt. 
Jede Predigt, jede erbauliche Betrachtung verwandelt jedes bib- 
liſche Wunder in eine allgemeine Glaubensausfage derart, daß die 
wunderbare Erfahrung den faufalen Zufammenhang nicht durch— 
bricht fondern ihm parallel geht oft „jo gar verborgen und heim— 
lich", daß es die Betroffenen „jelbft nicht fühlen, ſondern gläu- 
ben's“. Das gilt nicht nur von den Wundern, die durch Chriftum 
gefchehen find, das gilt vor allem von denen, die an ihm gejchehen 
find, insbefondete von dem Wunder des Kreuzes und der Auf 
erſtehung gemäß Röm. 6,4 und 11 oder Eph. 2,5—6, wie denn 
auch Luther in unferm Citat S. 289 darauf eremplifiziert, 

Auc) der moderne Prediger wird noch viele Zuhörer haben, 
deren Denkgewohnheiten Auguftinus’ Beweisführung angepaßt iſt; 
aber auch bei jolchen Zuhörern wird er mit diefer Beweisführung 
den rechten Glauben an das Speifungswunder, den Glauben der 
Buverficht und Sorglofigfeit weder wecken noch ſtärken. Nicht 
jo kommt der Glaube aus der Predigt, fommt doch folche Pre— 
digt nicht aus dem Worte Gottes. „Auf Gottes Wunderwerke“ 
geben auch zu Luthers Zeiten „wenige Achtung". Die Gewißheit 
des Glaubens als der vom heiligen Geift gewirkten Gemeinschaft 
mit Gott in Chrifto, das Ich bin Ehriftus wird zu allen Zeiten 


Kepler: Wunder und Cauſalität. 291 


im Gegenfage zur Vernunft feftgehalten werden müffen. So möchte 
e3 denn, obendrein nach den vielen vergeblichen Verjuchen im der 
Wunderfrage, als das Befte jcheinen, fich allein auf die dem Glau—⸗ 
ben gewiſſe innere Wahrheit des Wunders zurüczuziehen und den 
gejteigerten Widerfpruch der eigenen Erkenntnis umausgeglichen 
zu lafjen. Möglich ift ein folches Verhalten. Wer weiß mie viele 
heutzutage damit ausfommen müſſen! 

„Weber die Wahrhaftigkeit und ihr Gegenteil entjcheidet 
nie das Objekt, fondern nur das Gewiſſen“ (Kant. Rel. innerh. 
d. bl. V.). In der Wunderfrage liegt ein Widerſpruch vor, der 
das Gewiſſen beunruhigt umd es unmöglich macht, ihre Löſung 
ad calendas graecas zu vertagen. Alle theologischen Richtungen 
der Gegenwart ftimmen denn auch nicht nur in einer bejonders 
hohen Schägung dev inneren ſubjektiven Gewißheit überein, ſon— 
dern auch in dem Verlangen nach objektiver Begründung, ein Ver— 
langen, welches auch noch durch alles Rühmen der unerjchütter- 
lichen Schriftautorität hindurchklingt. 

Wie ftark die kauſalen Denkgewohnheiten find, das zeigt fich 
u. a. in einer Yeußerung des Generalfuperintendenten Kaftan 
in einer Broſchüre, welche der Bekämpfung diefev Gewohnheiten 
gewidmet ift. Dort heit es (d. chr. GL. x. 98 ©. 30): „Wer 
aber jenes menſchliche Eingreifen anerkennt, ift in der Beſtreitung 
der Möglichkeit eines göttlichen Eingreifens ohne Halt. Ober 
wollt ihr theologijchen Vertreter jener Lehre“ (von der Er- 
haltung der Kraft) „geltend machen, daß ein Eingreifen in den 
Lauf der Dinge „unter Verwendung ihrer natürlichen Ordnung“ 
die von euch behauptete Umverbrüchlichkeit der Naturgefege un— 
angetaftet lafje, um ein anderes aber handle es fich in dem bib— 
lichen Wunder; da trete das Gejchehen in Widerfpruch mit dev 
„natiirlichen Ordnung der Dinge". Woher wißt ihr das? Wa- 
rum follten nicht in den biblifchen Vorgängen, die wir als Wunder 
bezeichnen, die Naturkräfte in ihrer Art wirken, aber unter ſon— 
dexlicher Einwirkung einer höheren Kraft und chen deshalb anders 
geleitet als im gewöhnlichen Lauf der Dinge?" So möchte denn 
auch Kaftan die „natlrliche Ordnung der Dinge“ im biblijchen 
Wunder nicht aufgeben, obfchon auf der Hand liegt, daß Wunder, 


292 Keßler: Wunder und Gaufalität. 


deren Gejchehen nicht im Widerfpruch ift mit der natürlichen Ord- 
nung — feine Wunder find, nur Wunder fcheinen, und daß ein 
Gott, deffen „Eingreifen“ in die natürliche Ordnung der Dinge 
aus dem menjchlichen Eingreifen, aus der „uns befannten Natur“ 
(S. 31) gerechtfertigt werben fünnte oder müßte, fo wenig Wun— 
der thäte wie dev Menſch und damit auch nach Kaftans ausdrück- 
liher Erklärung (S. 70) — fein Gott wäre. 

Man iſt jehr vertrauensvoll, wenn man noch jemand, der 
von der Umverbrüchlichkeit der Naturgefege durchdrungen ift, blos 
im Wege der Diskuffton zu dem Zugejtändnis bringen will, daß für 
eine unbejtimmte Zahl biblifcher Wunder eine Ausnahme einges 
räumt werden müfje. Sei e8, daß man meint, man brauche zu 
dem Zwecke nur die alten Argumente zu wiederholen oder, ntan 
habe jchließlich noch ein neues gefunden, und gleichviel ob der Be— 
teeffende fich auch gern möchte überzeugen laffen. Wenn die Ueber— 
zeugung von der Unverbrüchlichkeit der Naturgefehe, die in jedem 
Denken, jedem Thun ſich bejtätigt und die Ueberzeugung von der 
Wahrheit des biblifchen Wunders einander, wie jenes Verfahren 
annimmt, ausjchlöffen, dann wäre die Sache der letzteren ver 
foren. Aber jo ijt die Sachlage nicht: beide Ueberzeugungen find, 
können bei einander fein im menfchlichen Geifte, und es kann fich 
nur darum handeln, fie gegen einander abzugrenzen. Diejes Bei: 
einander entjpricht demjenigen, von welchem Luther redet, wenn 
er das „Wirken Gottes in den Greaturen“ von Gottes „Arm“, 
von jeinem Werk, welches er „nur zwifchen Frommen und Böſen“ 
hat unterfcheidet. Denn offenbar wird nach Luthers Meinung das 
eine Werf nicht durch das amdre unterbrochen oder aufgehoben. 
63 ift im Grunde auch dasfelbe Zugleichjein, das Kant in feiner 
Freiheitslehre von dem intelligiblen und empixifchen Charakter 
ausjagt. 

Die Aufgabe, welche die Wunderfrage ftellt, ift wie alle Pro- 
bleme der Vernunft nur kritiſch, nicht dogmatifch lösbar, Es 
handelt fich nicht darum: ift das Wunder wirklich oder nicht, das 
läßt fich durch Diskuffion überhaupt nicht ausmachen, jondern; 
in welchem Sinne ift es für mich wirklich, Die Wunderfrage ift 
zunächit eine theologifche Frage. Die Theologie hat zu ihrer Auf- 


f 


Kepler: Wunder und Eaufalität. 293 


gabe die VBegriffsbeftimmungen des veligiöfen Denfens mit Rück— 
ficht auf den Zufammenhang allen Denkens. it diefer Zufam- 
menbang durch einfeitige Denkgewohnheiten die durch einfeitige 
Begriffsbejtimmungen befejtigt worden find, geftört, fo kann den 
durch Begriffsregulierungen abgeholfen werden. Zu der Forde— 
rung — jagen wir immerhin — einer befonderen Logik der reli- 
giöſen Grfenntnis hat die Not der Theologie unferer Tage ſchon 
manchen gedrängt. Es ift Damit ein Odium verbunden, das die 
Verpflichtung auferlegt, den Beweis zu verfuchen, daß und wie 
dieje Forderung zu erfüllen fei, die fonjt geeignet fein möchte, die 
Sache der religiöfen Erkenntnis nur in ein noch jehlechteres Licht 
zu jegen. Aber ſolche Verſuche, dem veligiöfen Erkennen gegen- 
über dem caufalen zu jeinem Nechte zu verhelfen, find auch um fo 
ausfichtsvoller, als fie fich auf einem noch faft völlig unbetretenen 
Gebiete bewegen. Nur ift aus demfelben Grunde nicht zu erwarten, 
daß fie über erſte Anfänge hinausfommen. 

Merkwürdig genug zwar: die religiöje Erkenntnis fpricht eine 
ganz eigentümliche Sprache; wer fie wie andere profane Mittei- 
lungen auffaßte, der würde als Narr angejehen werden; in dieſe 
Sprache werden regelmäßigerweife alle biblifchen Wunder für und 
duch den Glauben überjegt; aber im der Disfujjion über das 
Wunder läßt man das völlig bei Seite. Ein Beifpiel für uns 
zähliger Luther überfegt das Wunder der Himmelfahrt, wenn er 
fagt: Ich predige, daß er fiet zur Rechten Gottes und herrſchet 
über alle Kreaturen, Sünde, Tod, Leben, Welt, Teufel und Engel: 
wenn du das gläubjt, jo haft du ihn bereit im Herzen. Alfo ift 
dein Herz im Himmel, nicht in einem Schein oder Traum, jon- 
dern wahrhaftig (J. Gottſchick, Theol. u. Kirch. 98. ©. 424). 
Und dabei nimmt die Theologie ohne MWiderfpruch, ja mit Beifall 
eine philofophifche Erkenntnislehre hin, welche alle Erkenntnis auf 
da3 Gebiet raumszeitlicher caufaler Vorftellungen befchränft fein 
läßt, 

Nach den Erläuterungen, welche Th. Kaftan in dev Ehriftl. 
Welt zu feiner Schrift tiber den „Chriftlichen Glauben" gab, und 
in denen er Kants Bedeutung für die Apologetik jo rühmend an- 
erfannte, fonnte man wohl erwarten, er werde fich in der Schrift 

geitfcprift für Theologie und Kirche. 10. Jahrgang. 4. Deſt 20 


294 Kepler: Wunder und Gaufalität, 


jelbft mit Kants Erkenntnislehre auseinandergefegt haben. Je— 
doch wird dajelbit Kants Name u. W. nie genannt, der Grund» 
gedanfe jeines Syftems aber recht verächtlich behandelt. S. 52 
heißt es: „Wer überzeugt ift, daß nie etwas gejchehen jei und 
nie etwas gejchehen werde, daß überhaupt nichts fein oder ge- 
ſchehen könne, das nicht im Einklang fteht mit den fogenannten 
Naturgefegen, dev wird jelbjtverjtändlich, mögen die Unterfuchungen 
anderweitig ergeben, was fie wollen, die Gefchichtlichteit des von 
der erjten Gemeinde ung überlieferten Chrijtusbildes beftreiten". 
Das ijt aber gerade Kants Fall, wie das Citat beweiſt, mit dem 
wir die vorliegende Abhandlung eröffneten. Demnach richtet fich 
Kaftan auch gegen Kant, wenn er fortfährt: „Wer dagegen in 
feiner Weltanſchauung nicht derartig gebunden ift, mer die abjo- 
lute naturgefegliche Beſtimmtheit allen Seins für ein unbegrün— 
detes Philofophem hält, der wird fich wie jonft, jo auch in An— 
erfennung oder Ablehnung des überlieferten Chriftusbildes ledig— 
lich von Gründen gefchichtlicher Erwägung leiten laffen“, Der 
Nachweis, daß Kants „Philoſophem“ von der Apriorität des Cau— 
falitätsbegriffs „unbegründet“ fei, wäre doch heute noch michts 
weniger als überflüffig gewejen. Hätte Kaftan ihn verjucht, jo 
würde er vielleicht auch auf die Schwierigkeit geftoßen fein, daß 
er, indem er fich „Lediglich von Gründen gefchichtlicher Erwägung“ 
leiten läßt, denfelben Satz vom Grunde anwendet, auf dejjen Gel- 
tung fich die Unverfeglichkeit dev Naturgeſetze zurückführen läßt. 
(Siehe Abſchn. IL diefer Abhandl.) 

Bei dem Verſuch, dem religiöjen Erkennen feinen Bla neben 
dem caufalen oder Naturerfennen im Syfteme menfchlicher Er— 
kenntnis auszumachen, fann man von dem religiöfen Erkennen 
ausgehen, um dann die Stelle zu bezeichnen, welche ihm in einem 
erweiterten Syjteme einzuräumen ift, Oder man kann auch exit 
an einem anerkannten Syftem Lücken und Ergänzungsbedürftigfeit 
machweifen, um dann zu zeigen, daß die geforderte Ergänzung 
eben in der religiöfen Erkenntnisart geboten wird. Das exftere 
Verfahren haben wir in einev Kleinen kürzlich, erjchienenen Schrift 
„Ueber Offenbarung und Wunder" (Vandenhoeck & Ruprecht) ein- 
gefchlagen, das letztere foll den weiteren Inhalt der vorliegenden 


Keßler: Wunder und Gaufalität. 235 


Abhandlung bilden, zu welcher die Lektüre von W. Wundt's „Sy- 
ftem der Philofophie" die Anregung gegeben hat. Diejes unlängjt 
in zweiter Auflage erfchienene, auch von der theologifchen Kritik 
beifällig aufgenommene Werf möge uns zunächit dazu dienen, einen 
Einblick in die Art und umfafjende Bedeutung des caufalen Er- 
fennens zu gewinnen, fo weit dies fir unfere Zwecke erforderlich 
fcheint, dann dazu, die Unzulänglichkeit und Ergänzungsbedürftig— 
feit der modernen Grfenntnistheorie nachzumweifen und die An- 
knüpfungspunkte einer u. E. notwendigen exfenntnistheoretijchen 
Ergänzung aufzufinden. 


1. 


Nach Wundt läßt fich die Wurzel des Caufalitätsprineips 
zurückverfolgen im menschlichen Denken bis auf die in den An- 
Ichanungsformen von Raum und Zeit gegebenen urjprünglichen 
Abhängigkeitsverhältnifie (Syft. ©. 72), wie fich das noch an der 
anfangs blos räumlichen und zeitlichen Bedeutung der bedingenden 
Bindewörter erkennen laſſe (S. 54). Aus den räumlichen und 
zeitlichen Abhängigfeitsverhältniffen entwickeln fich die Logifchen. 
Der Sab vom Grumde, d. i. die Negel, nach welcher wir Be 
griffe oder Denkakte der Logijchen Abhängigkeit nach als Grund 
und Folge verbinden (S, 75), tritt als Denkgeſetz neben das der 
Identität. Bilden doch Gteichheit und Abhängigkeit die Grund- 
verhältniffe aller Urteilsformen und laffen fich nie auf einander 
zurückführen (S. 67. 68). Der Sat der Identität ſamt dem aus 
ihm ableitbaren Sage vom Widerjpruch bleiben Denkgejehe im 
engeren Sinne. ALS folche befigen fie nur injofern die Bedeutung 
von Erkenntnisgeſetzen, als jedes Denken einfache Erkenntnis— 
alte einjchließt. Aber indem fie alles Denken, das immer ein 
Vergleichen nach übereinftimmenden Merkmalen ift, beherrichen, 
enthalten fie doch fein Princip in fich, nad) dem ein gegebener 
Erfenntnisinhalt mit irgend einem anderen in bejtimmtem Zu— 
jammenhange zu bringen wäre; wogegen fich der Satz vom Grunde, 
deſſen kürzeſte Formulierung lautet: Mit dem Grunde ift die 
Folge gegeben, immer auf einen Zufammenhang von Gegenftänden 

20* 


296 Keßler: Wunder und Gaufalität. 


bezieht, al3 einziges Prinzip, das nicht blos einzelne Denkakte be— 
herrſcht, jondern fie mit einander in Beziehung jest, Der Satz 
vom Grunde wird dadurch für die Berjtandeserfenntnis zu einem 
Prineip der widerjpruchslojen Verknüpfung aller Teile de3 Ge- 
famterkenntnisinhalts, ſowohl der gegebenen als der etwa im zus 
künftiger Erfahrung möglichen (S. 167— 168). Durch dieje Er— 
weiterung wird der Sat vom Grunde aus einem Denkgeſetz zu 
einem Erfenntnisgejeb, indem ev das legte Prineip des verglei- 
chenden Denkens und zugleich das erſte Princip des begründenden 
Denkens ift. Das begründende Denken ijt aber eben Erkennen, 
welches darum auch definiert werden kann als ein Denfen, mit 
dem fich die Ueberzeugung von der Wirklichkeit des Gedanfen- 
inhalts verbindet (S. 85). 

Um die Beziehung des Caufalitätsprincips zum Sag vom 
Grunde darzulegen, knüpft Wundt an feine Beftimmung der Ma- 
terie als eines „naturwifjenjchaftlichen Hülfsbegriffs" an (S. 276 
— 277) und fagt: „Im dem Mafe, als das materielle Subjtrat 
aus der Urſache dev Naturerfcheinungen zu einem Hülfsbegriff ge- 
worden ift, der dazu dienen joll, alle Exjcheinungen nach Gründen 
und Folgen zu verbinden, find die Begriffe Urjache und Wirkung 
in Nelationsbegriffe übergegangen, die vollftändig dem logiſchen 
Verhältnis von Grund und Folge entfprechen, und die daher gleich 
diefem nicht blos einander ergänzen, fondern auch nach Bedürfnis 
ihre Stelle wechjeln können. Die Folge eines Grundes wird 
jelbev zum Grunde weiterer Folgen: nur von dem jeweils vor— 
waltenden Gefichtspunft dev Betrachtung hängt es ab, was als 
Folge, was als Grund zu bezeichnen ift. Ganz jo find nunmehr 
Urfache und Wirkung zu äquivalenten Begriffen geworden. — — — 
Im Sinne der heutigen Naturwifjenfchaft find Urjache und Wir— 
fung beide Naturvorgänge: jede Urfache ift jelbft Wirkung weiter 
zurückliegender Urfachen und jede Wirkung wird ihrerſeits zur 
Urfache fernerer Wirkungen. Jetzt erſt können Urfache und Wir- 
fung mit einander verglichen werden“ (S. 92). Aus diefer Ver— 
gleichung ergiebt fi) dann das Prineip der quantitativen Aequi— 
valenz der nach Grund und Folge verbundenen Ereigniffe, dem 
das Naturgeſetz der Erhaltung der Energie entjpricht. 


Kepler: Wunder und Gaufalität. 297 


So zeigt fich uns in einem idealiftifchen Erkenntnisſyſteme ein 
unauflöslicher Zufammenhang von Zeit: und Raumverhältnifjen, 
begrifflicher Erkenntnis, Cauſalität, Materie, Kraft und Erhal— 
tung der Kraft, ein Zufammenhang, den wir ſchon in den ein- 
gangs beſprochenen Dentgewohnheiten antvafen. Allen diefen Be- 
griffen aber, die ftch in dem der Abhängigkeit zufammenfaffen 
laffen, ſteht als andersartig der Begriff der Gleichheit und das 
entfprechende Denkgeſetz der Identität gegenüber. 

Ueber die umfaffende Bedeutung des Cauſalgeſetzes findet 
man für unfer Thema befonders wichtige Ausführungen auch in 
Wundts Logik, 2. Aufl. IT S. 611. Dort heißt es: „In allen 
diefen Anwendungen und jelbft mitten in den Störungen, die 
feine Duchführung durch die Schranken unferer Erfahrung er— 
feidet, bewährt fich aber das Caufalitätsgefeg als ein Erfenntnis- 
prineip, welches unmittelbar aus dem Sat vom Grunde hervor— 
geht, indem es lediglich die Anwendung des letzteren auf den ge- 
jamten Inhalt der Erfahrung darjtellt. Das Cauſalgeſetz ift nicht 
in dem Sinne ein Erfahrungsgeſetz, als wenn es durch die Er- 
fahrung exft gefunden wäre, umd demnach auch nicht weiter veichte 
als der Kreis der Erfahrungen, aus denen es abftrahiert ift, ſon— 
den in dem Sinne, daß es für alle Erfahrung gilt, weil unfer 
Denken mur Erfahrungen fammeln und ordnen kann, indem e3 
fie nach dem Sat vom Grunde verbindet, Darum trägt es auch 
den doppelten Charakter eines Geſetzes und eines Poftulats an 
fih. Thatfächlich fügt jich überall die Erfahrung demfelben, ſo— 
bald wir zu einer Erfenntnis der empirischen Zufammenhänge 
ducchgedrungen find: und dieſe Thatſache iſt zugleich die weſent— 
lichfte Bürgſchaft dafür, daß zwifchen unferem Denken und den 
Objekten der Erfahrung eine Beziehung bejteht, vermöge deren 
die leßteren ebenjomwohl den Normen unferes Denkens adäquat 
find, wie unfer Denken fich von feinen Objekten beftimmen läßt, 
eine Wechfelwirkung, ohne welche überhaupt Erkenntnis nicht mög- 
lich wäre. Weil deshalb das Cauſalgeſetz von ung notwendig als 
ein Geſet angefehen wird, das fir alle Erfahrung gelten muß, 
ift es aber zugleich eine Forderung, die wir jeder einzelnen Er- 
fahrung entgegenbringen, und gegen die uns ein Widerfpruch als 


298 Kepler: Wunder ımd Gaufalität. 


äquivalent mit der Beftreitung der Axiome des Logifchen Denkens 
ſelbſt gilt." 

Trob mancher Polemik hat Wundt doch — wie er das in 
Bezug auf die transfcendente Aeſthetik ſelber bemerft — nur Kants 
Erfenntnistheorie weiter ausgebaut, beſonders mittel8 pſychologi— 
jeher Beobachtungen. Durch ihn ift die enge Beziehung, welche 
im menschlichen Bewußtjein alles logische Urteilen, der Sat vom 
Grunde, Raum und Zeitanfchauung, Materie, Kraft, Erhaltung 
der Kraft, Caufalität, Naturgeſetz, Erfahrung als Erkenntnis des 
Wirklichen zu einander haben, vorzüglich deutlich herausgeſtellt 
worden. Eben unter diefe Begriffe aber mußten wir das unter 
ordnen, was fich — wir erkannten es gelegentlich Auguſtinus' 
Wundererklärung — im modernen Denken dev Vorftellung des 
biblifchen Wunders mwiderjegt. Und darum kann auch ohne Be- 
rücffichtigung diefer Beziehung, blos durch eine einfeitige Abfin- 
dung mit dem „Naturgefege" die Wunderfvage nicht mehr gelöft 
werden. 

Führte uns doch das Problem der Denkbarkeit des Wunders 
bei Erwägung des auguſtiniſchen Löſungsverſuchs unmittelbar auf 
die Annahme vom Beharren der Subſtanz, die ja Wundt auch 
unmittelbar aus der Anſchauung gewonnen werden läßt (Log. 
S. 544). Und verknüpft ſich doch wieder mit dieſer Annahme das 
ſpät erwieſene, lange aber ſchon im wiſſenſchaftlichen Denken wirk— 
ſame Geſetz von der Erhaltung der Kraft. Th. Kaftan erwähnt 
es einmal (ſiehe Citat S. 291), macht ihm auch, wie wir ſahen, ge— 
wiſſe Ronzeffionen, läßt fich aber durchaus nicht darauf ein und 
rechnet es nachher doc auch unter die „unbegründeten Philoſo— 
pheme". Kähler erwähnt es gleichfalls bei Beſprechung dev 
Wunderfrage in feiner „Wiffenfch. der chr. Lehre“, will aber 
vorfichtigerweife unbeftimmt laſſen, ob dies Geſetz durch die Wirk- 
lichkeit des Wunders eingejchränft werde. Bei der üblichen, auch 
für Kühler gültigen Bejtimmung, darnach das Wunder ein 
Ereignis ift, das als Wirkung einer Urfache angejehen werden 
muß, die nicht im Naturzufammenhang, fondern unmittelbar im 
göttlichen Willen zu fuchen ift, kann es aber nicht zweifelhaft fein, 
daß das Geſetz von der Erhaltung der Kraft durch die Wirklich- 


Kefler: Wunder und Gaufalität. 29 


keit des Wunders aufer Kraft gefest wird, da die Anerfennung 
diejes Geſetzes die Anerkennung der Gleichartigkeit von Urſache 
und Wirkung mit fich führt. Schon Schleiermaher hat 
das Wunder als empiriſche Thatfache aufgegeben aus Ruckſicht 
auf jenen caufallogifchen Zufammenhang, mit dem ſich jede Apo- 
logetik — und zwar in der Ausprägung, welche ex in der mo— 
dernen Erfenntnistheorie erhalten hat — auseinander jegen follte, 
wenn jie erfolgveich dem Widerftand moderner Denkgewohnheiten 
begegnen will. Und verfolgt man nach Wundt's Anleitung den 
Begriff des Naturgejeges in feine Verzweigungen mit den Grund» 
formen des Exfennens und Denfens überhaupt, jo wird völlig 
klar, wie unhaltbar die hergebrachte Ausſage ift, das Wunder ſei 
ein Eingeiff Gottes in die Naturgefeße, müßte es dann doch zu— 
gleich ein Eingriff in die Gefege des Denkens und Vorſtellens 
und ihre vaumzzeitliche Bedingtheit fein. 

Verſtändlich wird das Fefthalten an jener Ausſage nur durch 
den Umjtand, daß man ganz allgemein einen logijchen Halt für 
das Wunder des göttlichen Eingreifens in die Naturgefehe im 
einer Entgegenjeßung von Zweckbegriff und Urſachebegriff gefunden 
zu haben meint. Man meint, das Zugeftändnis der Naturwiffens 
ſchaft, auch die äußere, wenigſtens die organische Natur ſei ohme 
den Zweckbegriff umerflärlich, wäre dem Zugeftändnis gleich, daß 
jene ohne die Annahme einer göttlichen Vernunft unerklärlich fei, und 
man achtet es fir einen großen Gewinn, wenn jo der Gottesbe— 
griff mit dem Materie oder Subjtanzbegriff den Hang eines na= 
turmwiffenfchaftlichen Hilfsbegriffs oder auch Boftulats teilt. Wegen 
feiner höheren Würde glaubt man fich dann wohl über die An— 
forderung hinwegſetzen zu können, welche ſonſt wifjenschaftliche 
Poſtulate zu erfüllen haben, nämlich daß fie, die doch der Erklä— 
rung dienen follen, nicht jelber neue größere Unerflärlichfeiten 
mit fich führen dürfen. Wie es fich aber auch mit dem phyſiko— 
theologijchen Gottesbeweis verhalten mag, jedenfalls ift mit ihm 
die Logische Rechtfertigung eines Wunders, das als Eingreifen in 
die Naturgefege zu bezeichnen wäre, nicht gegeben. 

Der Zweckbegriff wird allein aus der Eigentümlichkeit des 
menfchlichen Denkens und Wollens gewonnen, und diefer Zweck— 


300 Kepler: Wunder und Gaufalität. 


begriff ift ganz unzertrennlich vom Urjachebegriff: jedes zwed- 
mäßige Handeln ſetzt geficherten caufalen Zufammenhang voraus 
und erprobt ihn zugleich. Es jcheint uns darum vielmehr eine 
logifche Unmöglichkeit, dem Umftande, daß die organifche Natur zu 
ihrer Erklärung den Begriff dev Zweckmäßigkeit erfordert, die 
Logische Rechtfertigung vom Wunder als einem Aufheben des cau- 
falen Zuſammenhangs oder Eingreifen in ihn entnehmen zu wollen. 
63 jei denn etwa, daß man das zweckmäßige Thun des Menjchen 
(warum nicht auch des Tieres?) Wunderthun nennt, eine Konſe— 
quenz die, abgejehen von dem Namen, von vielen Apologeten ge— 
zogen worden ift, wie denn z. B. Brefjenfe in diefem Sinne 
bemerkt: wenn „die Hand einen Stein in die Höhe jehleudert”, 
fo ſei „das Naturgefeg fuspendiert“ (Leben Jeſu, überſ. v. Fa— 
barius ©. 22). Und Beyſchlag will gleichfalls die Möglich- 
keit des Wunders erweifen, als er jehreibt: „Tagtäglich greift 
freier Wille, greift Menfchengeift und Menfchenhand in das uns 
verbrüchlichen Gejegen folgende Naturleben ein“ (Leben Jeſu 2. 
Aufl. J S. 30). 

So gehört denn zu den für die Apologetik erforderlichen er— 
fenntnistheoretifchen Auseinanderjegungen auch die Berückſichti— 
gung der philojophifchen Unterfuchungen, welche das Verhältnis 
von Urfache- und Zweckbegriff betreffen. In Wundts Logik (I 
S. 645—46) findet fie darüber das Folgende: „So zeigt es fich, 
daß es fein Erfahrungsgebiet gibt, auf das nicht neben dem Cau— 
falgejeg das Zweckprinzip anwendbar wäre, wenn auch befondere 
Umftände uns veranlaffen, bald das eine, bald das andere zu 
bevorzugen. Niemals aber ſchließen beide Prinzipien ſich aus, 
und insbejondere ift die Anwendung des Zweckprinzips nur unter 
der Vorausſetzung der gleichzeitigen Gültigkeit des Cauſalgeſetzes 
möglich. Denn ftets ift diejenige Ordnung der Erfcheinungen, bei 
der wir vom Bedingten zu dem Bedingenden fortichreiten, eine 
Ordnung nach der Caufalität, diejenige dagegen, bei der wir von dem 
Bedingten zur Bedingung zuritdgehen, eine Ordnung nad) dem 
Zweck. Auf diefe Weije entjpringen Gaufalität und Zweck aus 
den zwei einzig möglichen logiſchen Gefichtspunften, unter Denen 
wir den Sat vom Grunde auf einen Zuſammenhang des Ge— 


Kepler: Wunder und Gaufalität, 301 


ichehens anwenden können. Auch das Zmwedprinzip ift deshalb 
dieſem Sab unterzuordnen. Es entfpringt gleich dem Cauſalprinzip 
aus deffen Anwendung auf die Erfahrung. Bei der Caufalität 
wird der Grumd zur Urfache, die Folge zur Wirkung. Bei der 
Zweckbetrachtung wird die Folge zum Zwed, der Grund zum 
Mittel, Das Caufalprinzip ift die nähere Anwendung, weil es 
die unjerem logifchen Denken unmittelbar innewohnende Richtung 
einhält von Grund und Folge. Aber wie wir ſchon in unferm 
Denken diefe Richtung umkehren fönnen, indem mir uns fragen, 
welches der Grund zu einem gegebenen Urteil fei, d. h. welche 
anderen Urteile wir als Prämiffen vorausfegen müffen, damit 
daraus ein gegebener Schluß hervorgehe, jo können wir auch in 
der Berbindung der Erfahrungen durch unfer Denken die Frage 
stellen : was muß vorausgehen, wenn ein gegebener Erfolg ein 
treten joll? Sobald dies gefchteht handeln wir nach dem Zweck— 
prinzip". 

Die Teßtliche Untrennbarkeit des mechanifchen und des zweck— 
thätigen Prineips in der Natur ift auch von Kant in feinen wunder— 
vollen Gedanken über den Unterfchied des intuitiven und Des 
disfurfiven Verſtandes S 77 der Kritik der Urteilskraft ausge 
jprochen. 

Wumdt hat fich ſelber an einer auf die natürliche Entwicklung 
gegründeten wifjenfchaftlichen Erklärung der Zweckmäßigkeit in der 
organifchen Natur verjucht. Diefe Erklärung, der er den Namen 
Voluntarismus giebt, fommt auf eine nachträgliche Mechaniſie— 
rung der Zweckhandlungen hinaus, Man findet fie in „Syſtem 
der Philofophie" S. 322 ff. Mag feine Auffaſſung fich bewähren 
oder nicht, jo lange die chriftliche Apologetit das erfenntnistheo- 
vetifche Fundament dev modernen Wiffenjchaft nicht zu erſchüttern 
vermag, bleibt es ein ausfichtslofes, weil im Grunde unvedliches 
Berfahren, wenn man die Meinung zu erwecken jucht, daß die 
Widerlegung einzelner wiffenjchaftlicher Hypotheſen der reinen 
Entwiclungslehre jchon die wiſſenſchaftliche Beftätigung der bib- 
lichen Schöpfungslehre und des biblifchen Wunderglaubens bes 
deute, 

Weil die Apologetit gemeinhin an die Laft der erfenntnis- 


302 Kepler: Wunder und Caufalität. 


theoretischen Aufgabe auch nicht mit einem Finger rührt, ift fte 
unfähig, den Stein aus dem Wege zu wälzen, der im modernen 
Denken dem Wunderglauben zum bejtändigen Anftoß wird. 


II. 


Um die Caufalität als ausjchließliches Erkenntnisprinzip auch 
file die firtliche Erkenntnis aufrecht erhalten zu können, erhebt 
Wundt den Vorwurf, Kant habe den Gaujalitätsbegriff zu eng, 
zu naturaliſtiſch gefaßt (Ethik ©. 465 ff). Bei feiner Fafjung 
fieht ex fich gezwungen, die Begriffe Natur und Caufalität, welche 
nach Kant einander bedingen, zu trennen und zu dem brüchigen 
Begriff einer nicht natürlichen „freien“ oder „geiſtigen“ Cauſali— 
tät feine Zuflucht zu nehmen, Dabei foll doch als das gemein- 
jame Merkmal beider Arten von Saufalität der caufale Zufammenz- 
hang fejtgehalten werden als „Die Forderung, ohne die wir über 
haupt nichts denen könnten“. Da nun aber bei der „geijtigen 
Cauſalität“ die Wirkung der Urfache nicht entfprechen joll, ja 
Ethik S. 557 „die abjolute Unbedingtheit des Sittlichen“ aner- 
kannt wird, jo kommt es bei folchen Begriffsbildungen auf einen 
„gufammenhang” hinaus, der — aus neuen Anfängen bejteht. 
Und ebenjo füllt das, was „wachjende Energie“ auf fittlichem Ge— 
biete genannt wird, aus dem Begriffe des Wachstums heraus; denn 
Wachstum ift nichts als ein natürlicher Entwiclungsvorgang nach 
dem für die geiftige Caufalität ausdrücklich abgewiefenen Brincip 
der Nequivalenz von Urfache und Wirkung. Solche Begriffsbil- 
dungen machen auf unvereinbare Gegenfäge aufmerkſam dadurch, 
daß jie fie zu verhüllen fuchen. 

Bei feinem Erkenntnisbegriffe muß Wundt nun auch — und 
bier befindet er fich mehr in Nebereinftimmung mit kantiſchen Ge: 
danfengängen — aus dem Caufalitätsprincip, aus der Erkenntnis 
nach dem Satz vom Grunde die Gotteserfenntnis ableiten. Er 
geht zu dem Zwecke (Syjt. S. 341 ff.) zumächft von den Ver— 
itandesbegriffen und ihrer Caufalität aus und fiber fie hinaus 
zu „transfcendenten Ideen“. Hier unterjcheidet ev das „Neal 
transfcendente" vom „Imaginärtransſeendenten“. „Die erſtere 
Form beſchränkt fich auf die Conftruftion einer nicht gegebenen 


Kepler: Wunder und Caufalität. 303 


Wirklichkeit, die zweite führt zu einer bloßen Denkmöglichkeit" 
(S. 188). So dünn der Gedanfenfaden hier ausgejponnen wird, 
reicht er doch nicht zur Gottesidee hinüber, vielmehr kommt die 
vom Canfalitätsprincip ausgehende Spekulation im Berfolg der 
„tosmologijchen und pfychologifchen Ideen“ schließlich zu dem 
„reinen Einzelwillen als einem inhaltsleeren Wollen, dem jeder 
Inhalt imdividneller Erfahrung und jede Beziehung zu einer 
geiftigen Gemeinjchaft fehlen" (S. 385). 

Nun macht der Philofoph einen neuen Anfang und geht von 
der in der Erfahrung gegebenen fittlihen Gemein 
Schaft aus. Er erfennt, daß „wahre Realität (S. 394) dem 
individuellen Willen allein in der Verbindung mit dem fittlichen Ge- 
jamtwollen zufommt und leitet aus der Wechſelwirkung der jo erft 
mit Inhalt erfüllten Willenseinheiten die Vorftellung oder „das was 
wir Erfcheinungswelt nennen“ ab, Nachdem er das „fittliche 
Ideal“ durch die „religiöfe Idee“ ergänzt hat, wobei er fich 
wieder an „thatfächlich Gegebenes" hält, erreicht er die „Gottes: 
idee" (S. 481), von der er erklären muß, daß fie nicht durch 
einen Negrefjus aus der Erfahrung exhalten werden kann, wie 
andere Vernunftideen, daß fie nicht einmal „in Analogie irgend» 
welcher Erfahrungsthatfache gedacht werden Kann“, ſondern 
ſchlechthin unbekannt „von völliger Unbejtimmtheit” ift. Da nun 
diefe völlige Unbeftimmtheit auf dem Wegfall aller Relationen, 
aller Abhängigkeit beruht, fo follte es doch unmöglich fein, die 
Gottesidee noch in irgend eine Verbindung mit dem Sab vom 
Grunde zu bringen, der nach Wundt die urfprüngliche Form 
caufaler Abhängigkeit ift, wie fie von ihm wieder auf Raum— 
und Beitverhältniffe zurückgeführt wind. 

In der That hat feit ältefter Zeit das menfchliche Denken 
in philofophijcher und unphiloſophiſcher Weife alle die Begriffe 
von feiner Gotteserfenntnis ausgefchlofjen, deren inneren Zufammen- 
hang Wundt jo überzeugend dargethan und unter den Begriff Ab— 
hängigkeit gefaßt hat: Zeit und Raum, Schluß und Beweis, Gau: 
jalität al3 notwendiger Zufammenhang von Urjache und Wirkung, 
mithin Naturzuſammenhang und Naturnotwendigfeit und damit 
wieder Subftanz oder Materie, gegen alle diefe und ähnliche 


304 Kepler: Wunder und Gaufalität. 


Begriffe verhält fich die vein veligiöfe Gotteserfenntnis unbewußt 
oder bewußt entfchieden ablehnend. Sie will darum auch nichts 
wiffen von einer Allgemeingültigfeit allee Gejege der Vernunft 
(1 Eor. 2,14, 3,19), ja fie ift jo ſpröde gegen alles, was mit 
dem Sab vom Grunde zufammenhängt, dab der Philoſoph felbft, 
um fich ihr in jeinem Syſteme überhaupt nur nähern zu können, 
den Begriffen Grund und Zweck ihr wefentliches Merfmal ab: 
jprechen, fie mit gegenfäglichen Prädifaten verbinden und damit 
aus dem Zufammenhange mit allen obengenannten Begriffen heraus— 
heben muß, jo daß fie nunmehr als „höchiter Zweck“ und „letzter 
Grund“ nach) jeinem eigenen Urteile „jedes bejtimmten Inhalts 
entbehren.“ 

Schon dieſer Umſtand giebt Grund zu der Annahme, daß 
bei ſolchen Begriffsbildungen ein Gedankeninhalt unter ein Denk— 
geſetz gebracht werden ſoll, von dem unabhängig er ſich gebildet 
hat, daß es ſich hier um einen Verſuch des „logiſchen Denkens“ 
handelt, ſich einen ihm fremden Erkenntnisinhalt anzueignen. 
Treffen wir doch auch dieſe Begriffe letzten Grund und höchſten 
Zweck ſchon fertig in der früheſten Philoſophie an, lange bevor 
man den Satz vom Grunde als Denkgeſetz gefunden, oder gar in 
feiner vollen wifjenjchaftlichen Bedeutung und all feinen Bes 
jiehungen erkannt hatte, zu einer Zeit, als die religiöfe Erkennt- 
nis noch das Denken beherrfchte. Und es ſcheinen die wider 
jpruchsvollen Begriffe, welche nach Wundt gar das „treibende 
Motiv" der religiöſen Erkeuntnis bezeichnen follen, vielmehr von 
diefer, wenn man fo jagen darf, in das über feine Gejetze noch 
unklare philojophijche Denken hineingetrieben worden zu jein. Es 
bat ja dann auch dies Denen, als es fich auf fich jelbft befann 
und jeine Schranken erkannte, mit jeder Art von Gottesbemweis 
die letzte Mrfache und den höchſten Zweck abgelehnt. 

Ja wenn das rveligiöfe Bedürfnis nichts wäre als die An— 
mandlung, nachdem man den weiten Weg von naiwer Wahr: 
nehmung zu wilfenfchaftlicher Erkenntnis durchmeſſen und ihre 
geficherten Höhen erſtiegen hat, nachdem man darüber mittels 
Hypothejenbanes ich noch um Turmeshöhe erhoben, nun noch über 
den legten Halt hinaus einen Flug zu wagen: dann möchte das 


Kepler: Wunder und Caufalität. 305 


religiöſe Bedürfnis fich zufriedengeben mit der Berückſichtigung, 
welche ihm zum Schluße eine Philofophie zu teil werden laſſen 
kann, deren ausfchließliches Erkenntnisprineip die Gaufalität ift. 
In Wahrheit ift die das religiöfe Bedürfnis befriedigende Erfennt- 
nis älter al3 die wifjenfchaftliche und erreichte ihre Vollendung, 
als die wifjenjchaftliche exit in den Anfängen ihrer Entwicklung 
ſtand. Beide find ja vielfach mit einander vermifcht worden, 
immer aber nur mit dem Erfolg, daß beide dadurch gejchädigt 
wurden, 

Aus Wundts auf Kants Grumdfäßen aufgebauter Erkennt— 
nislehre verfteht man darum wohl die individuelle und geſchicht- 
liche Entwicklung des wiljenfchaftlichen Denkens aus der urſprüng— 
lichen Wahrnehmung, unverftändlich aber bleibt darnach, in welcher 
Weife das legte unbeftimmte Ergebnis der höchjten Vernunfter- 
fenninis, die Gottesidee, in früheſter unwifjenfchaftlicher Zeit eine 
überwältigende Macht über das menjchliche Bewußtſein ausüben 
und jelbjt in der Naturreligion in verhältnismäßiger Reinheit 
erfaßt werden konnte, im Alten und Neuen Teftament aber, uns 
abhängig von aller philofophiichen Spekulation, ihre volltommenite 
Darftellung erreichte, jo daß ohne folches ihm vorausleuchtende 
Licht das Auge des Bhilofophen ſelbſt den ſchwachen, „völlig un: 
beſtimmten“ Schatten feiner „transfcendenten Vernunftidee“, welche 
doch das „entjcheidende Motiv" (Syft. 397) auch für die „Offen 
barumgsidee der naiven Glaubensftufe" (S. 452) fein fol, nicht 
zu finden, noch wiederzufinden vermag. 

Bei jeinen Anfprüchen auf Allgemeingültigkeit aller Dent- 
gejege für alle Erkenntnis muß ſich der Philoſoph für berechtigt 
halten, den „Slaubensvorjtellungen“, welche für ihn „notwendige 
Ummwandlungen transjeendenter Bernunftideen” find, vom Stand- 
punft der allgemeinen Vernunfterkenntnis Grenzen zu ſetzen. 
Er verwirft da nicht nur alles Mythologiſche der Naturreligion 
(Syit. S. 668), ſondern er gejtattet auch „der vollfommenften 
fittlichen Neligion“, dem Chriftentum, weder den Anfpruch auf 
Offenbarung, noch den Glauben an Wunder und ſomit auch nicht 
an die Gottheit Ehrijti. Damit iſt er aber weit von feinem 
Grundſatz abgemichen, die Erfahrung zu deuten und nicht zu 


306 Kepler: Wunder und Caufalität. 


meiftern; denn feine Entjcheidungen kommen auf eine Verwerfung 
alex gefchichtlichen Religionsanjchauungen hinaus. Hat es doch bis- 
her noch feinen chriftlichen Glauben, der als folcher Gemeindeglaube 
ift, gegeben ohne den Glauben an Offenbarung, Wunder, Gottheit 
Ehrifti. Noch hat Kants Ehriftentum - Innerhalb feine Gemeinde 
gebildet, deren Religionsanjchauungen als notwendige Umwand— 
Lungen der allgemeinen Vernunftideen abfoluter Zwed und Grund 
der Welt von der menfchlichen Vernunft — geglaubt worden wären. 


IV. 


Gleich da, wo man zuerft der genaueren Beſtimmung des 
Sanfalitätsbegriffs näher trat, wird auch auf Anknüpfungspunkte 
für eine Ergänzung der caujalen Erkenntnis hingewieſen. Ein 
deutlicher Anſatz ijt bei Hume erkennbar, wenn er jagt (Ess. on 
Hum. Underst Lect. II): „Mir fcheint, daß es nur drei Prin- 
cipien der Ideenverbindung giebt, nämlich Aehnlichkeit, 
(Resemblance), fortlaufender Zufammenhang (Contiguity) in Zeit 
und Raum und Urfache und Wirkung.“ Im Anſchluß daran, ftellt 
3. St. Mil in feiner Logit neben die Gaufalität „genau ges 
nommen“ einzig die Nehnlichkeit als befondere Kategorie, die in 
geriffen Fällen auf jene nicht zurückgeführt werden könne, 
Spinoza jpricht von einer vierten „allerflariten intuitiven Er— 
kenntnis“, welche ex der „logifchen Methode“ gegenüber und der 
„Gnade“ gleichſtellt, durch welche fich die Seele notwendig mit 
Gott vereinigt (Von Gott d. M. ete. cap. XXII). Obſchon dieje 
Erkenntnis dem menfchlichen Geifte nur in unvollfommenem Maße 
zugänglich ift, reißt fie Spinoza zu dem Ausruf fort: „Welch 
eine Bereinigung und was für eine Liebe!" Kant bleibt nicht ftehen 
bei einer auf den zeitlichen und räumlichen Anjchauungsformen 
und dem Gaufalitätsprineip gegründeten begrifflichen Erkenntnis 
und einev transfeendenten Vernunfterkenntnis, dadurch die Syn- 
thefis der Erfahrung zur Totalität erhoben wird, er konftatiert 
auch ‚eine unbegriffliche Erkenntnisweiſe von fittlichem Gehalt, be— 
treffs deren tr dem Aeſthetiſchen eine Mitteltellung zwijchen 
theovetifcher und praftifcher Vernunft zufchreibt, das Schöne „das 
Symbol des Sittlih-Guten” nennt und von dem „Intelligiblen“ 


Kepler: Wunder und Gaufalität. 307 


fpricht, „worauf der Geſchmack hinausfieht“. In einer Anmerkung 
zur Vorrede der 2ten Auflage dev Krit. d. r. Vernunft (S. 26) 
fpricht er von einem „Mehreren“, dadurch ein „widerfpruchslofer 
Begriff objektive Giltigkeit erlangen fann“, und das nicht in 
theoretifchen Erkenntnisquellen gefucht zu werden braucht, ſondern 
auch in praftijchen liegen kann. 

Schiller giebt kantiſchen Gedanfengängen und zugleich der 
Grumdrichtung des eigenen Denkens Ausdrud, wenn er jagt: „der 
Begriff des Schönen fällt in das Gebiet der praftifchen Vernunft, 
ſofern dieje ihre Form in dev Welt der Erfcheinungen wider 
jpiegelt. Diefe Analogie der Freiheit, jo oft fie von der praltie 
ſchen Vernunft an einem Naturweſen entdeckt wird, läßt dasjelbe 
als jchön erſcheinen. Schönheit ift nichts anderes als Freiheit 
oder Autonomie in der Erſcheinung.“ 

Nun ift das Schöne jedenfalls Objekt einer Erkenntnis, — 
wie auch Kant nach anfänglichen Bedenken angenommen hat — 
feinenfall® aber einer vein caufalen, und ſchon darum ftimmt es 
nicht mit dem Sprachgebraucd; iiberein, den Begriff der Erfennt- 
nis jo einzuengen, wie von Wundt geſchieht. 

Diefer verfucht denn auch nicht, das Aeſthetiſche mittels einer 
weiteren Ausvenfung des Gaujalitätsbegriffs noch in jeiner 
Erkenntnisbeftimmung unterzubringen, Damit, daß er nachdrüd- 
lich hervorhebt, die äfthetifche Idee ſei „nichts dem Gegenjtande 
Aeußeres“ (Syſt. ©. 686), „nicht ein blos Subjektives", jondern 
liege „latent urfprünglih" in ihm, läßt er durch die „äfthetifche 
Anſchauung“ doch eben eine Erkenntnis von Objekten vermittelt 
werden, und wenn er dann die äfthetifche Anfchauung für eine 
notwendige dauernde Ergänzung dev Wiſſenſchaft erklärt, jo be- 
vechtigt beides zu der Forderung, daß eine Darftellung des Ob- 
jeftiven, „welche die wifjenschaftliche Darftellung ergänzt, ohne je 
mit diefer zufammenzufallen“, mit diefer unter einen weiteren Ber 
griff des Erfennens gebracht werden follte. 

Bei Wundts Auffaffung von dem Verhältniffe, in melchem 
die äſthetiſche Anſchauung und die ihr pſychologiſch entfprechende 
„Phantaſieform des Denkens" zur Wirklichkeit ftehen, bedürfte es 
ſogar kaum einer bejonderen Erweiterung feines Erkenntnisbe— 


308 Keßler: Wunder und Gaufalität. 


geiffs, damit die äfthetifche Anjchauung dem caufalen Erkennen 
mebengeordnet werde. Definiert er doch (Syft. ©. 85) — aller- 
dings in zweiter Linie — das Erkennen al ein Denken mit dem 
fi) die Weberzeugung von der Wirklichkeit der Gedanfeninhalte 
verbindet, und erflärt andererjeits (S. 684): „Der Gegenjtand 
der Fünftlerifchen Schöpfung und der äfthetifchen Betrachtung ift 
nicht die gemeine, jondern die ideale Wirklichkeit". Aus den an— 
geführten Sägen ließe fich ſchulgerecht folgern, daß die äfthetijche 
Anjchauung unter den Begriff des Erfennens fiele, der wieder 
die untergeordneten Begriffe eines Erkennens der gemeinen und 
eines Erkennens der idealen Wirklichkeit umfafjen würde. Soll 
jolche Beftimmung nicht iwreführen, müßte freilih u. E. das 
„Ideal“ jo ftarf betont werden, daß „Wirklichkeit“ faft den Ton 
verlöre. Wundt dagegen erklärt ©. 585 von der Phantafie- 
thätigkeit: „Sie unterjcheidet ſich von der erjten“ (von der logiſchen 
oder Verjtandesform) „teil® dadurch, daß nur Anfchauungen, nie 
mals Begriffe ihren Inhalt ausmachen, teils und vor allem da— 
durch, daß die Phantafie objektive Vorgänge ganz und gar in den 
ihnen im der Wirklichkeit zufommenden räumlichen und zeitlichen 
Eigenfchaften zur Erfcheinung bringt”. Damit widerſpricht er 
aber ich jelbft und dem Sprachgebrauch. Seite 146 heißt es, 
Objekte könnten „nur begrifflich nie anfchaulich“ erkannt werden, 
und allgemein verfieht man unter Phantafie ſchlechthin ein Ver— 
mögen, das die Vorgänge der Wirklichkeit in einer Weiſe aufzu— 
fafjen vermag, die über zeitlich-räumliche Bedingtheit hinausführt, 
Eben darum kann demm auch die bildliche Erkenntnis der beguiff- 
lich caufalen mit ihren durchaus zeitlicheräumlich bedingten Ob: 
jeften nebengeorönet werden. Wundt giebt jolchen Unterſchied 
auch indireft zu, indem er die Beziehung „Smaginär- Trans 
jeendent wählt für das, „was auf die formalen“ (d. i. zeitlichen 
und räumlichen) „Eigenfchaften realer Objekte von vornherein 
völlig unanwendbar iſt“ (Syſt. S. 186). Wäre die aus der Phan- 
tafiethätigfeit hervorgegangene äſthetiſche Anſchauung in ihrer 
bildlichen Erkenntnisweiſe nichts als das getveue Abbild der Wirk 
Lichfeit, jo wäre es auch unerflärlich, wie „die äfthetifche Form 
das unerläßliche Hilfsmittel zur finnlichen Darftellung der an ſich 


Keßler: Wunder und Gaufalität. 309 


ſelbſt überfinnlichen fittlichen und religiöfen Ideen fein könnte“ 
(©. 674). Da die äjthetifche Form aljo auch nad Wundts 
Auffaſſung jolh Hilfsmittel ift, und da die äfthetijche Idee wieder 
für ihm das ift, „was urſprünglich latent in dem Gegenjtand 
liegt“, muß doch durch fie, jofern fie Träger religiöſer Erkennt— 
nis wird, eine Erkenntnis des Ueberſinnlichen erreichbar fein. Die 
äfthetifche Form oder die Bildlichkeit wird mithin auch bei Wundt, 
was fie bei Kant und Schiller ift: „eine Spiegelung der fittlichen 
Freiheit." 

Wenn Kant in der Kritik der reinen Vernunft den „Dogmas 
tifchen Anthropomorphismus von dem „ſymboliſchen“ unterjcheidet, 
welcher menfchliche Verhältniffe moralifcher Art wie das des 
Vaters zu feinen Kindern gebraucht, um das Verhältnis von Gott 
zur Welt, nicht das Wefen Gottes an fich anfchaulich zu machen, 
jo fragt es fich: Wo ift in Kants Erkenntnisſyſtem der Pla& für 
dieje ſymboliſche Anfchauung? Offenbar auch in jener Lücke, die 
durch das Eintreten der „Einbildungskraft“ ausgefüllt werden 
jollte und doch unausgefüllt blieb, objchon darüber das Erfcheinen 
der Kritik der reinen Vernunft jahrelang verzögert wurde, wie 
man bei Kuno Fiſcher Geſch. d. neuer. Phil. 3. Aufl. IV S. 650 
und 667 lejen fann. 


—F 


Der Begriff des Erkennens, welcher der Glaubens- und der 
Verftandeserfenntnis überzuordnen wäre, würde nad) dem Ergebnis 
der vorhergehenden Unterfuchungen jo zu erweitern fein, daß der 
Sat vom Grunde nicht mehr allgemeines Denkgeſetz, die „gemeine 
Wirklichkeit“ nicht mehr allgemeiner Denkinhalt wäre. Auf das, was 
beiden Erfenntnisarten noch Gemeinfames bliebe, weiſt ſchon Hume 
bin mit feiner Aehnlichkeit, die er Zeit und Raum, Urſache und 
Wirkung gegenüberftellt. Deutlicher wird das Geſuchte aus Kant's 
„objektiver Gültigkeit”, die nicht aus theoretifchen Erkenntnisquellen 
fließt, jondern auch in praktifchen Liegen Fann umd nur an die 
Bedingung der Widerfpruchslofigkeit geknüpft iſt (ſiehe oben 
©. 307). Welter als der Sat vom Grunde ift in der Logik der Sat 
vom Widerfpruch als früheſte Form des Identitätsgeſetzes. Von 


Zeitſchrift für Theologie und Kirche, 10. Jahrgang. 4. Heft. 21 


310 Kepler: Wunder und Gaufalität. 


beiden, dem Sab vom Grunde und dem Sat vom Widerfpruch, 
jagt Wundt (Syft. ©. 67): „Nun ließen fich alle Urteilsformen 
auf zwei Grumdverhältniffe zurlickflihren: auf totale oder partielle 
Identität und auf einjeitige oder wechjelieitige Abhängigkeit — — 
(S. 68) demnach find Gleichheit und Abhängigkeit niemals auf 
einander zurüczuführen, Wohl aber jtehen beide durch eine ver: 
mittelnde Logifche Funktion, eben nämlich die Funktion der Be— 
geiffsgliederung in Verbindung, und dies ift dann auch dev Grund, 
weshalb jedes Abhängigkeitsverhältnis durch ein Gleichheitsverhält- 
nis interpretiert werden kann“. Die Berechtigung einer Leberord- 
nung des Identitätsgeſetzes als ein dem religiöfen und wiljen- 
ſchaftlichen Exfennen Gemeinfames ergiebt ſich deutlicher aus Wundts 
weiterer Erklärung S. 167, darnad) der Sat; des Widerfpruchs 
und das Identitätsgeſetz Denkgejege im engeren Sinne find, ein- 
fache Erkenntnisakte einfchließen und das Denken, das immer ein 
Vergleichen nad) übereinftimmenden Merkmalen (in der Funktion 
der Begriffsgliederung) ift, beherrſchen, andererſeits aber fein Prin- 
zip enthalten, gegebene Erfenntnisinhalte in beftimmten Zuſammen-— 
bang zu bringen. 

Auf die Notwendigkeit einer Unterfcheidung innerhalb der 
Bernunfterfenntnis in bezug auf ihr Verhältnis zur Glaubens: 
erfenntnis weift der Umftand, daß man jederzeit von einem dop- 
pelten Berhältnis der Glaubenserfenntnis zur Vernunft Zeugnis 
abgelegt hat, indem man ihre Gompetenz zugleich ablehnte und doch 
auch wieder in Anfpruch nahm. Die beliebte Unterfcheidung zwi- 
ſchen einer durch Offenbarung exleuchteten und einer nicht exrleuch- 
teten Vernunft beweiſt nur das Bedürfnis nach einer Unterfcheidung, 
befriedigt es aber nicht, Auch für die Vernunft des gläubigen 
Menfchen enthalten die Glaubensausjagen noch einen Widerjprud) 
und widerjtreben jeden Bemweisverfahren, jeder caufalen Erklärung. 
Will man aber die erforderliche Unterfcheidung mittels des Unter- 
ſchieds von Vernunft und BVerftandeserfenntnis erreichen, jo daß 
nur letztere aus dem Begriff des religiöjen Exkennens ausfällt, 
jo könnte — da Berftandeserkenntnis denn doch eben Caufalitäts- 
erkenntnis jein muß — dieſe Unterfcheidung ja für identifch mit 
der unfrigen gelten, nur daß man dabei bisher nicht den ganzen 


Keßler: Wunder und Gaufalität. 311 


Umfang des Begriffs Cauſalität und andererſeits nicht die Eigen- 
tümlichteit des veligiöfen Erfennens conjequent in betracht gezogen 
bat. Auch das in dev Vernunfterfenntnis beide Exfenntnisarten 
Berbindende bleibt dabei unbejtimmt. 

Das Identitätsgeſetz erweiſt fich nun bei näherer Prüfung 
als ſ. 3. ſ. auf die Verbindung entgegengeſetzter Erfenntnisarten 
eingerichtet; ift e8 doch möglich, daß diefelben Begriffe, welche in 
der Erkenntnisweiſe der gemeinen Wirklichkeit einander ausfchließen, 
als identijch oder umgekehrt die identifchen als ausjchließend ge- 
braucht werden, und zwar jo, daß fich daraus dann unmittelbar 
ohne Verlegung des Sabes vom Widerfpruch auch ungefchultem 
Verſtändniſſe die bildliche Redeweiſe ergiebt, von der wir ſchon 
©. 289 f. ausführten, daß fie die allen Glaubensausjagen gemein, 
jame Form ift. Hier zeigt fich nun, daß diefe den Satz vom 
Widerfpruch (fiehe oben ©. 289) nur jeheinbar verlegen. So auch, 
wenn e8 heißt: Wer an mich glaubt, wird leben, ob ex gleich jtürbe, 
kurz gefaßt: Tod ift Leben, oder: Laß die Toten ihre Toten be- 
graben, Leben ijt Tod. Es wäre das fonicht möglich, wenn es nur 
eine Erkenntnisweife der Dinge, nur ein Verhalten des erken— 
nenden Subjefts zu ihnen gäbe und alle Borjtellungen auf zeitlich- 
räumliche Anfchauungen eingefchränft wären. Denn der Sinn 
eines folchen Paradoron wird nicht, wie der manches anderen er- 
faßt, wenn man den Widerfpruch durch Zufäge oder Abzüge heben 
will, jondern allein mittels einer ungeitlichen, uncäumlichen Vor- 
ftellungsweife. Und auch das mag in diefem Zufammenhang er- 
wähnt werben, daß Dogmatifer von der Allmacht Gottes, welche 
allein mittels des Gegenſatzes zur caufalen Notwendigkeit bejtimmt 
werden Tann, wohl manchmal lehren, fie fei einzig durch die con- 
tradietio in adjecto bejchränft — freilich eine jchiefe Ausdruds- 
weife, 

Macht nun die verfuchte Begriffsbeftimmung noch eine Unter- 
fcheidung notwendig je nachdem die Fdentität den Grundbegriff 
der canfalen oder den der acanfalen Erkenntnis abgiebt, jo bieten 
ich ung dafür ungefucht die Ausdrücde eigentliche und bildliche 
Identität, wobei dann das Kennzeichen der letzteren jener allem 
bildlichen Erkennen immanente Gegenſatz ift, der ſich unmittelbar 

21* 


312 Keßler: Wunder und Caufalität, 


in dem Bewußtſein der Unzulänglichfeit aller bildlichen Vorſtel— 
lungen geltend macht. Auch in der gröbften Verfinnlichung der 
Naturreligion ſchwindet nicht ganz jener immanente Gegenfaß 
zur zeitlich-väumlichen materiellen und velativen Erkenntnis nach 
dem Satz vom Grunde und mit ihm nicht jenes Bewußtſein der 
Unzulänglichkeit, Uneigentlichteit. Demgegenüber ift dann der Aber: 
glaube al3 Zerrbild des Glaubens eben eine völlige Wermifchung 
beider Erfenntnisformen, indem durch ihn das Bildliche diveft in 
den caufalen Zufammenhang eingefügt wird und dem entjprechend 
denn auch zauberische Wirkungen bezweckt werden. 

Wegen des immanenten Gegenfages zum canjalen und als 
folchem bedingten Erkennen wird das bildliche Erkennen eben zum 
religiöfen, zum Erkennen Gottes als unbedingt oder abfolut, ein 
Begriff, der ohne jenen Gegenjah in der bildlichen Erfenntnis= 
weile gar nicht vom menfchlichen Denten vollzogen werden könnte, 
kraft feiner aber unmittelbar vollzogen werden mußte. Und 
desmegen erkennen wir auch unweigerlich trotz des weiten Abſtan— 
des auch der ntedrigften Form der Naturreligion den Namen Re— 
ligion und den Beſitz einer Gotteserkenntnis zu, 


EL 

Wir gingen von dem Befunde aus, daß fich in gewiſſen 
Denkgewohnheiten ein unvermeiblicher Widerfpruch gegen das bib- 
liche Wunder äußere, und daß die philofophifche Begründung dies 
jes Widerſpruchs in der Lehre von der Allgemeingältigkeit des 
Caufalitätsprineips gegeben fei. Der Umſtand, daß mit folchem 
Widerfpruch die Meberzengung von der Wahrheit des Wunders 
verbunden fein kann, führte ung zu der Forderung nach einer Er— 
gänzung der modernen Grfenntnistheorie, nach einer befonderen 
Logik des religiöfen Erkennens. Die Erfüllung diefer Forderung 
jcheint uns damit angebahnt zu fein, daß für das religiöfe Er— 
fennen ein bejonderer logiſcher Ort im Unterjchied vom caujal- 
vwiffenfchaftlichen Naturerfennen ausgemacht worden ift. Den Ber 
weis, daß der jo gefundene Begriff der „Identitätserkenntnis“ 
in der That geeignet ift, das veligiöje Erkennen nach) jeiner Eigen: 
tümlichteit in fich aufzunehmen, in ſyſtematiſcher Ausführlichkeit 


Keßler: Wunder und Gaufalität, 313 


zu geben, können wir hier, aus Nückficht auf den fnapp bemej- 
jenen Raum, nicht einmal verfuchen. Ein Mehreres findet man 
in der jchon erwähnten Schrift „Ueber Offenbarung und Wunder“. 
‚Hier müſſen mir uns begnügen, auf bejonders bedeutfame Zeug- 
niſſe unter verſchiedenen Gefichtspunften hinzuweiſen. 

Wir beginnen mit zwei Ausſprüchen dev heiligen Schrift. 
2 Moj. 3,13: Und Mofe jprach zu Gott: Wenn ich nun aber 
zu den Israeliten fomme und ihnen jage: dev Gott eurer Väter 
bat mich zu euch gefandt, und jie werden mich fragen: wie heißt 
ex? was foll ich ihnen antworten? Da erwiderte Gott Moje; 
Der Ich bin, bin ich. oh. 14, 20: An demfelbigen Tage werdet 
ihr erfennen, daß ich in meinem Vater bin und ihr in miv und 
ich in euch. 

Die paulinifchen Ausjprüche Röm, 6, 4 und 11 und Eph. 
2, 5—6, auf welche ſchon ©. 290 verwiejen worden iſt als auf 
jolche, in denen die an Ehrifto gejchehenen Wunder ſich in all- 
gemeine Glaubensausfagen verwandeln, jind eben damit jolche, 
in denen fich ebenfalls die veligiöfe Erkenntnis als Identitäts— 
erfenntnis zu erkennen giebt, wie in dem ſchon bejprochenen lu— 
therfchen „Sch bin Chriſtus“. Es bedarf feiner weiteren Schrift- 
citate hier; es ift als ob man eine ſtarke Wafjerader angefchlagen 
hätte, 

Wir ftellen noch neben die wenigen alt und neuteftament- 
lichen Ausfprüche zwei theologifcehe Deutungen von Männern der 
bijtorifchen Richtung. H. Schulg, Alttejt. Theolog. 2. Aufl. 
S. 480: „Der fromme Fsraelit hat einen Anhalt feines Gedanken— 
lebens, welcher ebenfo ewig und unumjtößlich iſt wie Gottes eigenes 
Leben, weil er im Grumde von Gottes eigenem Leben, wodurch 
die Welt ward, nicht verjchieden it". J. Gottjchie (Luthers 
Lehre v. d. Lebensg. d. GL. m. Chr. Theol. u. Kirch. 98. V 
©. 430): — — „wenn er (Luther) die Ausſage: „Chrijtus lebt 
in mir", oder die Verſchmelzung mit Ehriftus durch den Glauben 
darauf deutet, daß der Gläubige fich mit Ehriftus identifteiert und 
jo mit ihm in feinem Gewiſſen zu einer Einheit, zu einem 
Leibe, zu einer Perfon wird, eine Identification, die fich darin 
aftualifiert, daß er vertrauensvoll Chrifti Güter, Gerechtigkeit und 


314 Kepler: Munder und Gaufalität. 


Leben als die feinen in Anſpruch nimmt, und der Aneignung und 
Aufhebung feiner Uebel durch Chriſtus gewiß ift. Das eonglu- 
tinari bedeutet nichts weniger, als ſei es eine veligiössfittliche oder 
fubftantiellschemifche Durchdringung der Gläubigen mit Ehrijtus, 
Es bedeutet hinfichtlich des Gläubigen das entjchiedene und ener- 
giſche Sich-Verlaffen anf die ideelle Zufammengehörigfeit mit dem 
Chriftus für ums, hinſichtlich Chrifti die abjolute Sicherheit und 
Berechtigung des Gläubigen zu folcher Identification, weil fejt- 
fteht, daß auch er fich vor Gott mit dem Gläubigen identificiert“, 

„Wozu auch nur dieje Citate? Wer wüßte nicht, daß Glaube 
Gemeinfchaft mit Gott, alſo auch, wenn du jo willft, Sdentitäts- 
erfenntnis genannt werden kann, ein Ausdruck, der übrigens etwas 
bedenklich am imdifche Weisheit erinnert!" Ich laſſe mir diefen Vor- 
wurf der Selbjtverftändlichkeit gern gefallen. Auch dem wird man 
nicht widerjprechen, daß fich in der „Anmendung“, welche jede 
Predigt über biblifche Wunder von dem Wunder macht, auch 
immer Sdentitätserfenntnis in dem durch obige Eitate erläuterten 
Sinne wird nachweifen laſſen. Miüfjen wir dann nunmehr aber 
auch nicht jagen; „Wenn diefe in jedem Wunder bejchloffene 
Identitäütserkenntnis in Wahrheit Erkenntnis ift, bejtimmende, 
ſynthetiſche Erkenntnis, der caufalen Erkenntnis logiſch ebenbürtig, 
dann ift darin die Nealität des biblifchen Wunders einbefchloffen ? 
Hat doch dieje Erkenntnis nicht Gott als „Vernunftidee“, als 
„Grenzbegriff“ von „völliger Unbeſtimmtheit“, darin eigentlich 
nichts erfannt wird, zum Inhalt, fondern fällt zuſammen mit der 
Erkenntnis Gottes in Chrifto, d. i. mit der Gotteserfenntnis des 
biblijchen Wunders. Dies ift kein Beweis für die Wahrheit 
des Wunders. In der oft gehörten Verficherung, wer in Chriſto 
Bergebung gefunden habe, für den werde die zuvor jo anftößige 
gejchichtliche Ihatjächlichkeit des Wunders zur Gewißheit, geht 
man von der Annahme aus, daß die Wahrheit des Wunders im 
Sinne der gefehichtlichen Thatfächlichkeit aus der Identitätser— 
fenntnis bewieſen werben könne troß des Gegenfages, in welchem 
dieje Erkenntnis zu aller geſchichtlich-natürlichen ſteht. Wir hin- 
gegen beabjichtigen nichts als eine möglichjt genaue Wiedergabe, 
Bejchreibung davon, wie es fich verhält mit der Meberzeugung 








Keßler: Munder und Gaufalität, 815 


von der Wahrheit des Wunders im gläubigen Bewußtjein, ohn— 
erachtet des Widerſpruchs gegen die gefchichtliche Thatfächlichkeit. 

Die Einheit von biblifchem Wunder und Gotteserfenntnis 
gilt freilich) in vollem Sinne nur von dem centralen biblifchen 
Wundern, an welche für unfer Bewußtfein die Gotteserfenntnis 
gebunden ift, insbejondere von Sinaioffenbarung, Kreuz und Auf 
erftehung. Daneben giebt es peripherifche Wunder, die der Er- 
leuchtung durch die centralen bedürfen. Dazu gehört auch das 
Wunder der Brotvermehrung, wie fich auch aus Joh. 7, 26 ff. 
ergiebt. Fe mehr im ihnen die Beziehung zu der Identitätser— 
kenntnis zurücktritt, deſto leichter wird ihnen gegenüber im gläu— 
bigen Bewußtfein das religiöje Erkennen von dem aus dem cauz 
jalen Erkennen fließenden Widerſpruch gefchwächt, ja überwunden. 
Vorzüglich gilt das von einigen alttejtamentlichen Wundern. Und 
doch wird fchliehlich in ivgend einem Maße jedem biblischen Wun— 
der die Beglaubigung durch die Identitätserkenntnis zulommen, 
d. h. fie werden alle der ©. 289—90 bejprochenen Umformung 
zugänglich fein. In diefer Umformung teitt, wie wir jchon bes 
merften, das Beieinander beider Erkenntnisarten deutlich zutage, 
Eine Apologetit, welche in dev Möglichkeit folcher Umformung 
ein wejentliches Merkmal des biblifchen Wunders ſieht und daraus 
gerade das Bewußtjein feiner Realität fließen läßt, giebt damit 
dem Wunderbegriff evft feine rechte biblifche Allgemeinheit wieder; 
fällt doch der Bibel jedes Ereignis, jede Erſcheinung, auch die 
gejegmäßigfte, jofern darin Gottes Thun erkannt, fofern fie auf 
Gott bezogen wird, unter den Begriff des Wunders, vorzüglich 
auch der Gang der Gejtirne. Und damit treten auch exit Gebet 
und Kultus in engfte Beziehung zu dem Wunder, das nicht mehr 
wie im der üblichen Fafjung des Begriffs, in die fernite Ver— 
gangenheit gebannt, für die Gegenwart nur die Bedeutung zu 
haben jeheint, dem Gläubigen Verlegenheit zu bereiten. 

Aber die allererjten Zeugen der centralen Wunder, welche 
diefe als gefchichtliche Thatjachen bezeugen, wie find fie zu ihrem 
Zeugnis gelommen? Das zu wiffen, kann von niemand verlangt 
werden. So viel mag man indefjen fagen: Sicherlich nicht durch 
die Gaufalitätserfenntnis, welche fich in uns dem Wunder beharr: 





316 Kefler: Wunder und Gaujfalität, 


lich widerfeßt, umd nicht ohme Identitätserkenntnis (2 Kor. 4, 6. 
al. 1, 16), welche durch jener Zeugnis beſtändig in uns gezeugt 
wird. Aber es war eine höhere Identitätserkenntnis, es war Offen- 
barung, d. h. während in uns die Identitätserkenntnis (wir ver- 
ftehen darunter hier immer die im Obigen näher beftimmte) durch 
die Gaufalitätserkenntnis beftändig geſchwächt, ja manchmal ganz 
aus dem VBewußtjein verdrängt wird, muß fie bei jenen die Cau— 
jalitätserfenntnis zeitweilig überwältigt haben. 

Erſt aus der Unabhängigkeit, welche die Identitätserkenntnis 
gegenüber der caufalen aufweiſt, verfteht fich die Sicherheit, mit 
welcher denfende Männer unferer Tage fich zu dem biblischen 
Wunderglauben befennen können, ohne darum eigene Zweifel in 
Abrede zu ftellen oder für fremde ohne Verſtändnis zu fein. Und 
doch, zur vollen Sicherheit gehört die Sicherheit über die Sicher: 
heit. Wie die modernen Denkgewohnheiten, jo lange es nur Ger 
wohnheiten für uns find, zwar bie religiöje Erkenntnis jchon in 
hohem Grade hemmen, aber erſt dadurc), daß fie erfenntnistheos 
zetiiche Begründung erhalten, den naiven Wunderglauben logiſch 
unmöglich machen, jo bedarf es für die völlige Wahrhaftigkeit 
auch einer neu begründeten Sicherheit des Wunderglaubens,. Der 
Gläubige fol, um vom Gewiffen in allen Fällen abfolviert zu 
werden, die Sicherheit, mit der er fich zu dem Wunder befennt, 
nicht mehr unbejtimmt lafjen müffen, fondern angeben fönnen, in: 
wiefern die Sicherheit feines Glaubens von der Sicherheit ver: 
fchieden ift, die thatfächlichen Gefchehnifjen im caujalen Zufammen- 
bang eignet, ohne ihr darum dem Grade nach nachzuftehen; denn 
einer Verſchiedenheit ift er fich nun einmal bewußt. Gerade das 
befondere Verhältnis des Glaubens zum Gemifjen verleiht dem 
religiöfen Erkennen mit einer höheren Würde wohl befondere Frei— 
heiten, legt ihm aber auch befondere Pflichten auf. 

Das Naturerkennen hat ſolch Verhältnis nicht; Kant kann 
jagen, daß das Sollen in der Natur überhaupt „Feinen Sinn“ 
habe, daß es fich dort einzig darum handele, wie ein Ding ift, 
nicht wie e8 fein foll. Dagegen kann gejagt werden, daß Ge— 
wifenserfenntnis auch Fdentitätserfenntnis ift, denn Gewiſſens— 
erfenntnis beruht auf einem Protejt der im ſelbſtſüchtiger Ver— 


Keßler: Wunder und Gaufalität. 37 


einzelung verleugneten Identität des fittlichen Gemeinfchaftsbe- 
wußtſeins, dem allein nach Wundts Ausdrucsweife „wahre Reali— 
tät" zukommt, und defjen letzter Träger der göttliche Geſamtwille 
iſt (fiehe S. 308). Ihre Identität mit der Gewifjenserfennt- 
nis dünkt uns ein meiteres wichtiges Zeugnis für die Fdentitäts- 
erfenntnis. Entipricht dies Verhältnis doch der Thatjache, daß 
der Glaube im Gewiffen feinen Halt hat gegenüber dem notwen- 
digen Widerfpruch. Das bezeugt doch auch der befannte luthe— 
riſche Ausſpruch: „Es muß ein jeglicher allein darum glauben, 
daß es Gottes Wort ift, und daß er inwendig befindet, daß es 
Wahrheit ſei“. Und in feiner Weije zeugt davon Kant im „Streit 
der Fakultäten": „Von der Göttlichfeit einer Lehre giebt das 
einzige authentifche Zeugnis der Gott in ung — die moralifche 
Vernunft”, 

Darin, daß die Gemifjenserfenntnis ſich als ſ. 3. ſ. nad 
innen gemendete Identitätserkenntnis bezeichnen läßt, findet die 
oben gegebene Beitimmung der religiöjen Grfenntnis eine weitere 
Beftätigung. Man kann fie im Anfchluß daran dann nach außen 
gewendete Jdentitätserkenntnis oder Vollendung der Gewifjens- 
erkenntnis nennen. Verbindet doch das veligiöfe Erkennen fittliche 
und Naturerkenntnis, indem «8 in Gott das Subjekt der Ge- 
wifjensfundgebung mit dem legten Subjekt der Naturerfcheinungen 
identifteirt. Der dee nach kommt denn auch der vefigiöfen Er— 
fenntnis die gleiche Allgemeingültigkeit zu (1 Tim, 2,4) wie der 
caufalen, und es bleibt für den Glauben ein drückendes Geheim- 
nis, daß ſie thatjächlich nicht in vollem Sinne allgemeingültig ift. 
Man mag damit das fie begleitende Berußtfein der Unzuläng- 
lichfeit (1 Kor. 13, 12) in Beziehung fegen, welches wir zur unter- 
jcheidenden Artbeftimmung der Identität des veligiöjen Erkennens 
als bildlicher Identität verwerteten. Mit der unerfüllten Forde— 
rung der Allgemeingültigfeit und mit dem Bewußtſein der Unzu— 
länglichfeit nimmt die Identitätserkenntnis auch den vorzüglich im 
Ehriftentum hexvortretenden eschatologifchen Charakter aller Reli— 
gionen in ihren Begriff auf. 

Entjprechen ſich bearifflich Sdentitätserfenntnis und Allge— 
meinbemwußtfein, jo iſt Jdentitätserfenntnis ohne Gemeinbewußt⸗ 


318 Keßler: Wunder und Gaufalität, 


fein überhaupt undenkbar, und dem entfpricht wieder die Bedeu— 
tung des Gemeindebewußtjeins im chriftlichen Glauben. In diefem 
Gemeindebewußtjein, d.i. in der Gemeinſchaft des heiligen Geiftes, 
liegt eine Bürgſchaft dafür, daß die große Freiheit, welche dem 
Wunder der Identitätserkenntnis eignet, bei fehlender Allgemein- 
gültigkeit und notwendiger Unzulänglichkeit nicht zur Willkür werde. 
Wir haben uns darum bemüht (Ueber Offenbar. und Wunder 
a. a. O. ımd ©. 44 u. 47) die Bedeutung des Gemeindebemuft- 
jeins als „Dffenbarungsfattors“ zu erhöhter Geltung zu bringen. 
Auf Grund des Gemeindebewußtfeins einerjeits, und auf Grumd 
des ber Identitätserkenntnis ebenſo wejentlichen Gegenſatzes zur 
caufalen Notwendigkeit andererjeits fönnen wir endlich für die 
Hoentitätserkenntnis, wie fie ſich aus allen vorhergehenden Unter 
juchungen ergeben hat, umd fir das in ihr beruhende Wunder 
zwei Begriffe veflamieren, die für den chriftlichen Glauben von 
böchftem Werte find: Liebe — das Jdentitätsgefühl zur Identi— 
tütserkenntnis — und Freiheit. 

In der urfprünglichen naiven Wahrnehmung find das bild- 
liche und das caufale Erkennen noch ungefchieden. Im Kindheits— 
alter des Menfchen herrſcht wie in dem der Menfchheit das bild: 
liche Erkennen vor. Se unerflärlicher die Naturvorgänge für den 
Menjchen find, defto ſchwieriger ift für ihn eine logifche Unter: 
ſcheidung des Wunderbaren und Natürlichen. Angelegt aber ift 
fie in all feinem Denken in der mittels feiner Willenshandlungen 
fich vollgiehenden Unterfcheidung des eigenen denfenden Subjeltes 
von den Äußeren Eindrücen. Dieſe Willenshandlungen ermög— 
lichen es ihm, die Naturvorgänge zu erfennen teilweiſe als von 
den eigenen Willenshandlungen und denjenigen ihm gleicher, denfen- 
der Subjekte abhängig, teilmeife als Verkörperungen eines Willens, 
in bezug auf welchen die Gleichjegung mit dem eigenen Willen 
unzulänglich ft und immer unzulänglicher wird, je mehr ſich die 
Herrſchaft des eigenen Willens über die Naturvorgänge dank ihrer 
Negelmäßigkeit ausdehnt. Mit diefer Ausdehnung aber tritt zus 
gleich der materielle Subftanzbegriff an die Stelle des voluntari- 
ſtiſchen mythologiſchen (Wundt, Logik 1552), und der mit dem letz— 
teven verbundene Gottesbegriff Löft ſich von den Einzelerjcheinungen. 


Kepler: Wunder und Caufalität. 319 


Man hat letzthin vielfach den Urfprung der Religion als 
Naturreligion in dem „Unendlichkeitsgefühl“ zu finden gemeint. 
Auch diefem Begriff gegenüber bemährt fich der Begriff der bild- 
lichen Identitätserkenntnis. Dev Ausdruck Unendlichteitsgefühl iſt 
ſchon zu allgemein, infofern damit doch nur die Unendlichkeit des 
Unendlich-Großen und zwar im Sinne von Kants „Mathematiſch— 
Erhabenem" gemeint fein kann. Dann liegt wohl in dem Begriff 
des Mathematifch-Erhabenen die Beziehung zu dem Begriff des 
Sittlichen, deven jeder Begriff bedarf, welcher den Urſprung der 
Neligion bezeichnen fol, aber es fehlt jede Beziehung zu jo ur: 
fprünglichen Erfcheinungsformen der Religion wie der Fetifchdienft 
der Naturvölfer. Führt man dagegen das Unendlichkeitsgefühl 
auf die Identitätserkenntnis zurück, im welcher fich dev menfchliche 
Geift ins Unendliche in allen Natuverfcheinungen wiederfindet, fo 
ift eine Einheit hergeftellt zwifchen den roheſten Formen des jo- 
genannten Animismus und den erhabenjten Liedern des Palters. 
Dabei kann auch fo doch erft mit vollem Necht von einer gefühlten 
Unendlichkeit geredet werden. 

Mit dem erjten, oben gekennzeichneten Selbjtändigwerden 
cauſalwiſſenſchaftlichen Denkens läßt fich auch eine weitere Schei- 
dung in der naiven Wahrnehmung in Verbindung bringen: aus 
der mythologifchen Bildlichkeit, in welcher die veligiöfe und die 
äfthetifche noch nicht unterfchieden find, kann fich die äfthetifche, 
insbefondere die poetifche nunmehr abjondern. Solchem Urfprung 
zufolge finden wir denn auch in der Kunſt das Wunder wieder, 
und zwar immer von dem Bewußtſein fubjektiver Willkür begleitet, 
Um des urjprünglichen Zufammenhangs willen konnten wir auch 
aus den Zugeftändnijfen, die dem äjthetifchen Erkennen gemacht 
wurden, fl das religiöfe Vorteil ziehen. Je mehr die naive Faf- 
fung des Göttlichen einer reflektierten weicht, defto eher kann ihre 
urjprüngliche Form zum Spiel der Phantafie werden, die nur 
noch an dem Entgegenfommen haftet, das manche Naturerſchei— 
nungen einer Uebertragung menschlicher Gefühle auf Nicht-Menich- 
liches entgegenbringen. Kant erklärt das Schöne aus einer „Be: 
trachtung ohme die Abficht auf Erkenntnis“, aus der „abfichts- 
lofen Harmonie von Verſtand und Einbildungstraft" oder den 


320 Kepler: Wunder und Gaufalität. 


„freien Spiel beider Kräfte", 

Lockert ich jo das Gefüge der mythologifchen Bildlichkeit, jo 
führt diefe Entwicklung dann wohl die Auflöſung der Naturvelis 
gion und bei dem umlöslichen Bufammenhange von Religion und 
Sittlichfeit das fittliche Verderben des davon betroffenen Boltes 
herbei, wenn fich diefes nicht zu der höheren fittlichen Glaubens- 
erfenntnis erhebt, in der nicht mehr als Naturbilvlichkeit in der 
Natur jelbjt ein dem Religiöfen fremdes Element mitwirkt, da- 
gegen die Nebereinftimmung mit der Gewifjenserfenntnis voll ins 
Bewußtſein tritt. 

In der gefchichtlich-fittlichen Bildlichkeit der biblifchen Offen- 
barung, im Chriftentum als der Exlöfungsreligion kommt, wie 
wir fahen, die Fdentitätserfenntnis zu ihrem vollendetiten Ausdruck. 
Die Erlöfung erlangt da Rechtskraft nach dem Identitätsgeſetze, 
daß fo Einer für alle geftorben ift, jo find fie alle geftorben. Die 
Anwendung der Erkenntnis nach) dem Sab vom Grunde verhilft 
nicht zum Verftändnis der Erlöjung, wie ſich an Anſelms miße 
glücktem Verſuche zeigt. 

Man kann wohl ſagen, der Schaden aller Dogmatik, das 
was ſie in Verruf gebracht hat, beſtehe in der Verquickung von 
Cauſalitäts⸗ und Identitätserkenntnis. Die Eintragung der Cau— 
jalitätserfenntnis in die Identitätserkenntnis durch Schlußfolgerung 
oder auch Verfinnlichung erzeugt eben jene Halbwunder, jene Ver— 
ftandeswunder, von denen wir Seite 289 Beifpiele anführten bei 
Befprechung verjchiedener Weifen, allgemeine Glaubensausfagen 
in die Darjtellung von Einzelvorgängen umzuwandeln. Jenen 
Verſtandeswundern gegenüber weiſt ſich das biblifche Wunder auch 
dadurch als urjpriingliche Form dev Identitätserkenntnis aus, daß 
es allein fich vor dem Widerjpruch einer folgerechten Verſtandes— 
erfenntnis zu behaupten weiß. 

Je ausschließlicher die Caufalitätserkenntnis auf religiöfen 
Gebiete Anwendung findet, deſto mehr Autoritätsglaube, und 
zugleich jcheiden fich damit Religion und Moral mit dem Er- 
folg beiderjeitiger Entwertung, wie dies der Nominalismus zu 
Ausgang des Mittelalters belegt. Luther hat, in Kraft der Job. 
14,20 verheißenen Identitätserkenntnis und in Uebereinſtimmung 


Keßler: Wunder und Caufalität. 321 


mit dem darauf gegründeten Identitätszeugnis des Apoſtel Pau 
lus, die Identität, in welcher das ganze Gejeg und die Pro- 
pheten hängen, der nominaliftifchen Zerſetzung gegenüber mieder 
zur Geltung gebracht. Iſt der Glaube nicht Identitätserkenntnis, 
dann ift die Lehre von der Nechtfertigung allein aus dem Glauben 
das, wozu ihre Gegner jie ftempeln — ein Freibrief für das 
Sündigen. 

Wie ftarke Neigung zur Identifikation dogmatiſche Begriffe 
haben, möchten wir noch durch folgenden Sat aus einer Abhand— 
tung von 9. Schul „Der Ordo salatis in der Dogmatif“ (Stud. 
u. Kr. III 99. ©. 43637), belegen: „So könnte man geneigt 
fein zu lehren: Der heilige Geift, indem er den Glauben hervor— 
ruft (in welchem die Buße mitgejegt ift) wirkt die Wiedergeburt, 
die michts anderes ift als die Rechtfertigung (in der die Bekeh— 
rung notwendig mit enthalten ift); dann würde der ordo salutis 
fich inhaltlich mit dev justificatio per fidem decken“. 

Es mag ja fiheinen, als jet mit dem allen nichts für die 
Löfung der Wunderfrage ausgerichtet, denn die bildliche Bedeu— 
tung des Wunders fei bei dev Wunderfrage überhaupt nicht in Frage 
gefommen. Aber nicht um die bildliche Bedeutung aller Glaubens- 
ausfagen und damit des biblifchen Wunders, jondern um die Ber 
deutung diefer Bildlichkeit für das menfchliche Erfenntnisvermögen 
hat es fich in dieſer Abhandlung gehandelt, und zwar wieder 
nicht um eine Bedeutung, welche diejer Bildlichkeit exit als letzter 
Rückhalt des Glaubens beigelegt werden joll, fondern um die Be- 
deutung, welche fie ftets gehabt hat und noch hat, nur daß die— 
ſelbe durch einfeitige Wertung des caufalen Erkennens verdunkelt 
it. Begriffsregulierungen können ja überhaupt nichts anderes 
thun als Werte bejtimmen, fehaffer können je ſie nicht, und doch 
find fie von größter Wichtigkeit: erſt mittels richtiger Begriffs- 
beftimmungen wird der denfende Menſch immer aufs neue Here 
feines geiftigen Beſitzes. 

Aber auch nicht einmal etwas theologifch völlig Neues meinen 
wir hier geboten zu haben. Es ift nur das zufanmengefaßt wor- 
den, was die beiden Grundrichtungen in der Theologie in bezug 
auf die Wunderfrage beveits eingeräumt haben. Die Ortho— 


_ 


—⸗ 


822 Keßler: Wunder und Gaufalität, 


doxen geben zu, daß die Wahrheit des Wunders nicht ohne Glauben 
erkannt wixd, alfo daß das Wunder nicht als gejchichtliche That- 
ſache Objekt der wifjenjchaftlichen, d. i. caufalen Gefchichtserfennt- 
nis iſt; die Liberalen, daß dev vein gefchichtliche Ehriftus, d. i. 
der Chriftus, welcher mit Abfehen von allen biblifchen Wundern 
dargejtellt wird, nicht Objekt des Glaubens iſt. Wir ziehen die 
Folgerung: das veligiöfe Wunder ift der Inhalt einer dem 
Glauben eigentümlichen, vom caufalen Erkennen verſchiedenen 
Erkenntnisform. 

Allerdings behaupten die Orthodoxen dann doch — man 
möchte wagen, zu ſagen, unter letzter Nachwirkung eines verfei— 
nerten Aberglaubens (Siehe oben ©. 312) — daß ſ. 3. ſ. nachträg— 
lich das Wunder für den Glauben ſich wieder in den caujalen 
Bufammenhang einfügen laffe. Das ergiebt dann das Wunder 
des göttlichen „Eingreifens", für das wir auf den Anfang diefer 
Abhandlung und S. 299 verweifen. Und viele liberale Theo- 
logen fuchen doch wieder, ohne Wunder oder wenigſtens mit nur 
einem auszulommen. Aber ift es nicht ebem jenes Wunder des 
Eingreifens, das fie ſcheuen? 

Haben wir theoretifch in bezug auf die Wunderfrage nichts 
völlig Neues gebracht, fo Laffen unfere Ausführungen es praktiſch 
exit gar beim Alten, bei der unveränderten Verkündigung des unz 
veränderten, unverkünzten Schriftwortes, wie fie ſeit bald 1900 
Fahren in ihrer eigenften Art unverändert geblieben ift (1. Kor. 
1, 23—24), fo geoße Veränderungen auch das begriffliche Denken 
nach dem Sat vom Grunde inzwifchen erfahren hat, In ihrem 
Mittelpunkt noch diejelben „centralen" Wunder; von ihnen aus 
die peripherifchen beleuchtet. Keine Verfuche, ohne das Wunder 
fertig zu werden, feine gepvedigte Gejchichte: aber auch Feine 
dogmatijche Metaphyſik, keine Berfuche, die gefchichtliche That— 
jächlichleit des Wunder im Unterjchiede von feiner Bildlich- 
keit duch allerlei Bilolichkeit von Geſetzgeber, Mechaniker und 
Chemiker zu beweifen; vielmehr ein häufiges Betonen der Unvor— 
ftellbarfeit, Umbegreiflichleit des Wunders. Auf die Frage: Fit 
denn nun das Wunder (dev Auferftehung) wirklich gejchehen? 
etwa die Antwort: Dies Wunder und jedes Glaubenswunder ift 


N Keßler: Wunder und Gaufalität. 323 


als göttliches Thun wirklich gefchehen, und gejchieht noch wirklich; 
aber eben als Wunder oder göttliches Thun kann es nur vom 
Glauben, nur im Gegenfag zum Wirklichen (Gemeinwirklichen), 
erkannt werden. Die Ausnahmslofigkeit der Naturgeſetze, ihre 
Allgemeingültigkeit für das canfale Erkennen anerkannt, aber die 
Gebietsüberfchreitungen des canfalen Erkennens, fein Anfpruch auf 
Alleingültigleit zurückgewiejen. 

Es giebt heutzutage viele, die an Wunder glauben, ohne es 
zu wiffen. Ja auch der fonfequentefte moderne Denker vermag 
nicht, das Irrationale ganz aus feinem Denken zu verbannen. 
Set es, daß dies zu Tage tritt in der veligiöfen Erziehung feiner 
Kinder, oder u fremden Sterbens, oder beim Herannahen 
des eigenen, fei e8 bei Gelegenheit chriſtlicher Feſte u. ſ. w, immer 
in Verbindung mit unbefriedigten fittlichen Bedürfniſſen, für die 
man dann wohl Befriedigung ſucht in Kunft und Poeſie. Diejer 
glimmende Docht ift anzufachen. Ein Ausſpruch in Langes Ge 
ſchichte des Materialismus kennzeichnet treffend eine verbreitete 
Geftnnung, welche unflarer Wunderglaube genannt werden kann: 
„Der Umftand, daß überhaupt ein dichtender fchaffender Trieb im 
unfere Bruft gelegt ift, welcher in Philofophie, Kunſt und Reli— 
gion oft mit dem Zeugnis unferer Sinne und unferes Verftandes 
in direkten Widerſpruch tritt und dann doch Schöpfungen hervor— 
bringt, welche die edeljten gejündefter Menfchen höher halten als 
bloße Exkenntniffe, diefer Umftand fehon deutet darauf hin, daß 
auch der Idealismus mit der unbelannten Wahrheit zufammen- 
hängt“. 





Man geftatte uns noch) zum Schluß eine kurze befondere For- 
mulierung unferer Auffafjung, auch wenn fie vielleicht nicht viel 
mehr als epideiftifchen Wert haben folltee Der edle Bifchof 
Berkeley, deſſen Philofophie die erfenntnistheoretifchen Grundzüge 
der neueren Philojophie bereits vielfach, in der Gejtalt zeigt, in 
welcher fie ſich in allen fpäteren idealiftifchen Syftemen bis herab 
zu dem Wundt3 wiederholen, erhält in Windelbands Gefchichte 
der neueren Philoſophie das Lob, da feine Lehre befjer als die 
irgend eines andern Bhilofophen mit dem Geifte des Chriftentums 


824 Keßler: Wunder und Cauſalität. 


fibereinjtimme. Nach Berkeleys Auffafjung ift die Welt die Vor— 
ftellung des göttlichen Geiftes im menfchlichen Geiſte. Es fehlt 
aber bei ihm jede Erklärung darüber, in welcher Weife Gott, 
der doch nicht eben num wie die Welt blos Vorftellung fein 
kann, umterfchiedlich von der Welt erkannt wird. Im Anſchluß 
an Berkeley möchten wir, ihm ergänzend, jagen: Die Cauſalität 
ſei die Form, im welcher Gottes Geift im menfchlichen Geifte die 
Natur vorftellt, welche damit zum „Dafein der Dinge" wird, „ſo— 
fern es nad) allgemeinen Gefegen bejtimmt ift”. Daher die große 
Erfenntnisbedeutung dev Caufalität für alles menjchliche Denken. 
Seinen Geift aber offenbart Gott dem Menfchen, der fein Bild 
ift (1 Mof. 1,27), dadurch, daß der Menfch zu der Welt der Vor— 
ftellungen in eime freie bildfiche Beziehung tritt und jo in ihr 
einen Spiegel feines Innern, feines Geiftes und damit zugleich 
ein Bild Gottes findet, unvolllommen in den Erfcheinungen der 
äußeren Natur, volllommener in denen des Menjchenlebens, am 
vollfommenften Gott in ſich erkennend in dem Ehriftus, der eben 
um diefer Erkenntnis willen das „Ebenbild des unfichtbaven Got— 
tes", „der Glanz feiner Herrlichkeit und das Ehenbild feines We— 
ſens“ ift, und doch wieder nur für den ift, dem in Ihm bie 
eigene Gottebenbildlichkeit, Gottesgemeinfchaft wieder ins Bemußt- 
fein tritt, daraus fie durch eine vätfelhafte Webermacht der ſinn— 
lichen Natureindrücke verdrängt werden kann. 


L 


Ueber die ſoziale Infammenfehung der ülteften heiden- 
chriſtlichen Gemeinden. 
Antrittsvorlefung, gehalten am 27. April 1900 
von 


Lie. R. Knopf, 


rivatdogenten zu Marburg. 





Die Frage nach den jozialen Zuftänden der älteften Ehriften- 
gemeimden entbehrt bei der fozialen Richtung der Gegenwart 
ficher nicht eines gewiſſen Intereſſes. Es bat ja fajt zu feiner Zeit 
an Stimmen gefehlt, die die Zuftände der ältejten Gemeinde in Jeru— 
jalem nach der Schilderung der Apoftelgejchichte als vorbilolich für die 
joziale Geftaltung auch der jeweils gegenwärtigen Gejellichaft ex- 
flärt haben, und man hat es hie und da im Eleineren Kreifen 
verjucht, dieſem Ideale Leben zu verleihen. 

Wir wollen es nun heute nicht auf uns nehmen, die hiftorifche 
Frage nach den fozialen Verhältniffen in der Urgemeinde zu 
ergründen. Die Nachrichten, die uns die Apoftelgejchichte in dieſem 
Punkte giebt, find ‚offenbar zum guten Teile fehematifierend und 
idealiſierend. Sicher ift das Eine, daß die Gemeinde als Ganzes 
arm war, jo arm, daß in den jungen Heidengemeinden für Die 
Armen der Heiligen zu Jeruſalem gefammelt werden mußte. Diefe 
Thatfache wird uns aus verjchiedenen Stellen der Baulusbriefe, 
die darauf Bezug nehmen, Kar (Gal. 2 1, I Kor. 16, ff. II Kor, 
8f., Am, 153,). Die Entwiclung der Urgemeinde warja fehr bald in 

Zeitſchrift für Theologie und Kirche. 10. Kahrgang. 6. Heft, 22 


326 Knopf: Ueber die älteſten heidenchriftlichen Gemeinden, 


vieler Hinficht eine rückläufige. In den Städten Valäftinas hat 
das Ehriftentum feinen Nährboden nicht gefunden, mentajtens 
nicht auf die Dauer gefunden. Mag das Chrijtentum auc in 
einem entlegenen Winkel der Welt geboren fein — feinen großen 
Zug durch die antife Welt hat es auf den Wegen des Welthandels 
und der Weltfultur genommen; die Emporien und Häfen der 
antiken Mittelmeergemeinfchaft find vom 1. Jahrhundert an die 
Stützpunkte dev neuen Religion gemefen. Die jungen lebens- 
kräftigen und emporblühenden Gemeinden auf dem Boden der 
griechifch-cömifcheorientalijchen Weltkultur follen allein uns heute 
bejchäftigen, und mir wollen bei ihnen am der Hand unſerer 
Quellen unterfuchen, welcher Art denn die foziale Zuſammen— 
jehung der neuen Gemeinden war, aus was fiir Ständen und 
Berufen fich ihre Mitglieder zufammenjegten. 

Die altchriftliche Miffion ift die Wege des Handels und Ver- 
kehres gemwandert. Daraus folgt unmittelbar, daß wir es in der 
älteren Zeit vornehmlich mit Stadtgemeinden zu thun haben, 
Unfere Quellen laffen ung nur Blicke in Stadtgemeinden thun, 
äußerjt jelten hören wir von Chriften oder Gemeinden auf dem 
Lande, Zu den fpärlichen Stellen, die von Chriften auf dem 
ande jprechen, gehört I Elem. 424 wo wir erfahren, die Apoftel 
hätten zer& yupas »a! mökers, in Dorf und Stadt verkündet, ges 
tauft und die Erftlinge zu Biſchöfen eingejest, eine Ausfage, aus 
der wohl zu jchließen ift, daß Glem. Rom. auch wirklich Land— 
gemeinden gekannt habe. Ferner lejen mir in dem befannten 
Briefe Plinius des Jüngeren an Trajan über das Vorgehen gegen 
die Chriſten (ep. X 96): neque eivitates tantum sed vicos etiam 
atque agros superstitionis istius contagio pervagata est. 

Aber es find doch im Ganzen jo gut wie ausfchließlich 
jtädtifche Gemeinden, die im 1. und 2. Jahrhundert in unfern 
Gefichtskveis treten. Von vornherein haben wir demnach anzu— 
nehmen, daß wir fait ausfchließlich Mitglieder der ſtädtiſchen 
Stände in der ältejlen Kivche finden werden. Nicht Bauern und 
nicht andere Dorfbewohner, jondern Kaufleute, Handwerker, Klein— 
gewerbetreibende und die Sklaven der Stadtbewohner müffen den 
Grundſtock der Gemeinden gebildet haben. — Und zwar hat allem 


Knopf: Ueber die ältejten heidenchriftlichen Gemeinden. 827 


nach die meue Religion die Mafje ihrer Anhänger aus den 
Schichten des niederen Volkes gewonnen: Sklaven, bejcheidene 
Freigelaffene, Heine Leute müfjen im 1. und auch noch im 2, 
Jahrhundert der Kirche die Hauptzahl ihrer Gläubigen gelie- 
fert haben, und das Urteil, das in diejer Hinficht Baulus über 
die forinthifche Gemeinde gefällt hat, wird wohl auch für die 
meiften der ‚andern alten Gemeinden gegolten haben: Seht doch 
eure Berufung an, Brüder, da find nicht viel Weije nach dem 
Fleiſch, nicht viel mächtige, nicht viel vornehme Leute, Sondern 
was der Welt für töricht gilt, hat Gott auserwählt, die Weifen 
zu bejchämen,; und mas der Welt für ſchwach gilt, das Starte 
zu beſchämen, und was der Welt für unedel gilt und verachtet 
ift, hat Gott auserwählt, was nichts ift, um zumichte zu machen, 
was etwas iſt (I Kor. Ian). Arme und Bedürjtige können 
nichts Seltenes in den Gemeinden gewejen fein. Wir hören von, 
manchen Gemeinden ganz allgemein, fie ſeien arm geweſen. So 
jagt Paulus von den mazedonifchen Gemeinden: ihre tiefe Armut 
iſt überſchwänglich geworden zum Reichtum ihrer Schlichtheit (II Kor, 
83). Apoe. 2sf, Steht: Und dem Engel der Gemeinde in Smyrna 
jchreib’: Dies jagt der Erſte und der Letzte, der ſtarb und lebendig 
ward: Ich fenne Deine Bedrängnis und Armut... und ähnlich 
heißt's 37f.: Und dem Engel der Gemeinde in Philadelphia 
jchveib’: Dies jagt dev Heilige, dev Wahrhaftige . . . . Sch kenne 
Deine Werke... . Denn Du haft geringe Kraft, und haft 
mein Wort bewahrt und meinen Namen nicht verleugnet. 

In den meijten Gemeinden find Arme zahlveic zu finden ge 
wejen. Die jo oft uns aufjtoßenden Gebote, wohlzuthun und mit- 
zuteilen, fegen dies voraus, Grade auf die jozial Schwachen muß 
ja die chriftliche aeApörnz eine große Anziehung ausgeübt haben. 
Man trat durch das Chrifiwerden in einen: Bund ein, deſſen 
einzelne Glieder auch in weltlichen Dingen einander belfend zur 
Seite ftanden: Laßt uns Gutes thun an jedermann, am mteijten 
aber an des Glaubens Genofjen (Gal. 6 10), ift ein Grundjaß der 
altchriftlichen Sittenlehre. Und der foziale Bund, in den man 
eintrat, endete nicht an den Stadtgrenzen, er reichte weithin über 
alle größeren, bald auch viele kleinere Städte des römischen Reiches, 

22* 





4 


328 Knopf: Ueber die ältejten heidenchriftlichen Gemeinden. 


Wir wiſſen ja, daß damals in den Zeiten des blühenden Mittel- 
meerhandels die Freizügigkeit auch in den niederen Schichten der 
Kleinen Handwerker und Gemwerbetreibenden eine große war. Wenn 
num ein chriftlicher Walter aus Milet nach Korinth kam, oder ein 
Gerber von Alerandrien nach Nom zog, jo fand er bei feinen 
Glaubensgenofjen gajtfreundliche Aufnahme, man verfchaffte ihm- 
Arbeit, man empfahl ihn, gab ihm Kredit, erkrankte ex, jo fand 
er gebende und pflegende Hände — alles das find Vorzüge im 
ſozialer Hinficht, die das Ehrijtentum dem gemeinen Manne jehr 
anziehend machen mußten. — Und die foziale Hilfe ging noch 
über das Leben hinaus. Zugehörigkeit zur Chriftengemeinde be 
deutete für den Armen bis zu einem gewiſſen Grade Angehörig- 
keit zu einer Sterbefaffe und zu einer Lebensverficherung. Denn 
erjtens forgten die Glaubensbrüder dafür, daß dem armen Ge- 
meindegliede ein angemefjenes Begräbnis zu Teil ward. Die 
Organifation als collegia funeraticia ermöglichte ja den chriftlichen 
Gemeinden in Verfolgungszeiten gradezu eine gemifje rechtliche 
Eriftenz und von der Fürforge der Gemeinde für ihre Toten legen 
die Katakomben verfchiedener Städte Zeugnis ab. Dann aber 
weiter: Die Gemeinde hatte den Witwen und Waijen ihrer ver- 
ftorbenen Glieder gegenüber Liebespflichten zu erfüllen: Reine 
Frömmigfeit, fledenlofe vor Gott dem Water ijt das; nach den 
Witwen und Waifen zu fehen in ihrer Trübjal, fich jelbjt frei zu 
halten vom Schmuß der Welt (ac. 17); befuchet Witwen, und 
überjehet fie nicht (Herm. sim. 18); Die Witwen follen nicht 
vernachläffigt werden (San, Pol. 41), ſolche und viele ähnliche 
Stellen!) der älteren Literatur beweifen zur Genüge die Thatſache, 
daß die Ehriftengemeinde von dem Bewußtſein der Pflicht, für 
die Witwen und Waifen forgen zu müſſen, zur Genüge durch— 
drungen war, An einzelnen Stellen erjcheint die Sorge um die 
Witwen und Waiſen geradezu als eine nota ecelesiae gegenüber 
den Gottlofen und den Häretikern. Die Leute, die auf dem Wege 
des Schwarzen find, achten nicht auf Witwe und Waiſe (Barn. 202), 
nicht um Liebe kümmern ſich die Häretifer, nicht um Witwe, nicht 


) Vol. Die Zufammenftellung bei Harnad zu Heumas, mand. VIII 10. 


Knopf: Weber die älteften heidenchriftlichen Gemeinden. 329 


um Waiſe, nicht um Bedrängten, nicht um Gebundenen oder 
Gelöſten, nicht um Hungernden oder Durftenden (an. Smyr, 62). 
Natürlich mußte ſolch eine Liebesthätigfeit einen tiefen Ein- 
druck auf den Heinen Mann machen und ihn ungemein an- 
ziehen. Die praktijche Nächjtenliebe war einer der bedeutend— 
ften und einleuchtendften Vorzüge der neuen Neligion in den 
Augen der Armen, während fie auf den Reichen eher ab- 
ſchreckend wirken fonnte, denn er übernahm bei jeinem Eintritt 
in die neue Gemeinjchaft vornehmlich Pflichten, die jozialen Vor— 
teile hingegen hatten für ihm feinen Wert. Kein Wunder aljo, 
wenn in die alten Chriftengemeinden meijt Leute der niederen 
Schichten eintraten: Heine Leute des dritten Standes und Frei- 
gelafjene mögen wohl vor allem ſich an die Gemeinden angejchloffen 
haben. 

Aber auch die Angehörigen der niedrigften und doch an Zahl 
ftärfften ſozialen Schichte, die Angehörigen des Stlavenjtandes 
haben ein bedeutendes Element in der Zufammenfegung der alt- 
heiftlichen Gemeinden gebildet. Wir begegnen im den alt» 
hriftlichen Schriftſtücken gar nicht felten der Erwähnung von 
Sklaven. Des öfteren finden wir 3. B. Hausgemeinden erwähnt, 
eine Erjcheinung, auf die wie noch zurückkommen werden. Wenn 
ein Befiger von Sklaven ſich der Gemeinde anfchloß, fo brachte 
er wohl meift auch feine Sklaven mit in die Gemeinde hinüber, 
Mit einem herüberkommenden Heren famen jo auf einmal 3, 4, 
6, 10 oder noch mehr Sklaven in die Gemeinde. Ferner war es, 
wenn im einem heidnijchen Haushalte ein Sklave einmal Chrift 
geworden war, leicht möglich, daß diefer eine mehrere feiner Mit- 
jElaven gewann. Die enge Berührung dev Sklaven untereinander, 
die gleiche Lebenshaltung machte dies leicht möglich. So fünnen 
fich in größeren heidnischen Haushalten fehr wohl ganze Kreife 
von chriftlichen Sklaven gebildet haben. Spuren folcher Kreije 
laſſen jich noch hie und da nachweifen. So 3. B. fünnen „die 
Leute der Chloe" (I Kor. Lu) einen folchen Kreis bedeuten; daß 
die Herrin auch Ehriftin war, ift gar nicht nötig. Sicher haben 
wir e8 mit folchen Kreifen in dem Empfehlungsfechreiben für die 
Phöbe zu thun (Nm. 16), wo wir lejen (v. 10 F.): grüßet die 


— 


390 Knopf: Ueber die älteſten heidenchriſtlichen Gemeinden. 


Leute von Ariftobulos’ Haufe . . . Grüßet die Chriften aus 
dem Haufe des Narkiſſos. Auch die im jelben Schreiben (v. 12) 
erwähnten Tryphäna und Tryphoſa find wahricheinlich chriftliche 
Stlavinen in einem heidnifchen Haushalte, *) 

Die Haustafeln in den verfchiedenen altchriftlichen Schrift 
jtücken bringen regelmäßig Ermahnungen auch für die Sflaven, 
bie und da noch mit bejonderer Verückjichtigung des Falles, daß 
der Herr der Sklaven jelber Chrift war. Dann fonnten es ſich 
die Sklaven eher beifallen lafjen, unfolgjam und anmaßend zu 
fein, weshalb wir Mahnungen wie dieje finden: Die [Sklaven] 
aber, die Gläubige zu Herren haben, follen dieje nicht darum ge— 
ringer achten, weil jie Brüder find, fondern umſo williger dienen, 
weil fie es mit Gläubigen zw thun haben, die fich des Wohlthuns 
befleißigen. (I Tim. 62.) 

Die Anziehungskraft, die das Chriftentum auf den unfreien 
Stand ausgeübt hat, ift eine ſehr bedeutende gewejen. Für 
manches, was dem freien Manne am Chriftentum als Thorheit 
erjeheinen mußte, hatten die Sklaven ein feineres Verſtändnis. 
Grundfäge wie der: da iſt nicht Jude noch Grieche, nicht Knecht 
noch Freier, nicht Mann noch Weib konnten grade in jenen Kreiſen 
auf die freudigjte Zuftimmung vechnen. 

Und der Sklave, der in die Gemeinde eintrat, fand in ihr 
nicht nur einen Glauben, der jein Herz tröftete, der ihm Die Zu— 
kunft vom herrlichjten Lichte umflofjen malte, fondern er fand, wo 
es not that, auch thätige Hilfe. Seine Glaubensbrüder konnten 
ihn unterftügen, die auch bei den Heiden angejehenen Gemeinde 
glieder Eonnten durch Rückſprache mit dem Herrn eines Sklaven 
das 208 des betreffenden Unfreien mildern, ein reicher Chrift 
konnte einen chriftlichen Sklaven feinem Herrn abfaufen und ihn 
dann als eigenen Sklaven beſſer halten, als es der frühere Herr 
gethan hatte, Wir vermögen fogar hie und da aus unfern Quellen 
eine Gepflogenheit in den Gemeinden belegen, die ohne Zweifel 
den Sklaven das Ehriftentum fehr anziehend machen mußte. Wir 
lefen im Briefe des Ignatius an Polylarp: fie (die Sklaven und 


1) Dal, Weizfäder, Ap. Zeit. ©. 348 f. 


u 


Knopf: Ueber die ältejten heibeitchriftlichen Gemeinden. 881 


Stlapinen) mögen nicht begehren, aus der gemeinfamen Kaffe los— 
gekauft zu werden, damit jie nicht als Knechte der Begierde erfunden 
werden (45). Damit können wir als Parallelen vergleichen z. B. 
Hermas, mand. VII 10 „aus Zwangslage loszufaufen die Knechte 
Gottes“ oder sim. 18 „jtatt Aecker Fauft euch bedrängte Seelen, 
ſoweit dies einer vermag". Es wurde aljo als gute That ange: 
jehen, wenn jemand einen chrijtlichen Sklaven freifaufte, ja es kam 
vor, daß einzelne Sklaven jogar von Gemeindewegen aus dev ges 
meinfamen Kafje losgefanft wurden. Den Sklaven war ja dies 
natürlich höchſt erwünfcht; fie erwarteten wohl direkt freige— 
laffen zu werden, wenn ihre Herrn Ehriften waren, freigefauft zu 
werden, wenn fie das Eigentum heidnijcher Herren waren. Dieje 
Emanzipationsgelüfte der Sklaven find auch mit eine Vorauss 
fegung, aus der wir die Mahnungen der Haustafeln an die 
Sklaven zu verftehen haben. Dev Anfpruch der Sklaven, als 
Chriften frei zu werden, muß übrigens jehr alt geweſen fein, 
da bereits der Apoftel Paulus im I Kor. (721-2) dagegen an— 
kämpft. — Wir jehen aus den bisherigen Ausführungen, wie ein 
breites Element in den Gemeinden den niederen Ständen angehört 
haben muß. Bis weit ins 2. Jahrhundert hinein werden wohl 
die Angehörigen der untern Gefellichaftsjchichten die erdrückende 
Mehrheit in den meiften Gemeinden gebildet haben. Das haben 
uns einzelne Stellen aus unjerer Quellenliteratur gezeigt, das be- 
weifen uns auch allgemeine Erwägungen, die mir noch anjtellen 
können: der Zuſchnitt der altchriftlichen Ethik im vielen ihren 
Teilen, die Gejamthaltung einzelner Erbauungsichriften, die wie 
der Jakobusbrief oder die Johannesapokalypſe knirſchenden Haß 
oder lodernden Zorn gegen die Mächtigen und Neichen der Erde 
atmen, und die doch in den meitejten Kreifen Anklang fanden, die 
Gejamtrichtung der alten Eschatologie, die kunftlofe, zuweilen kann 
man faft jagen barbarifche Form mancher Stüce der uns er 
haltenen griechischen Literatur und der altlateinifchen Ueberjegungen, 
alles das find Thatjachen, die es uns nahelegen, das hergebrachte 
Bild der älteften Gemeinden als Kreife armer und niedriger 
Leute in den Haupizügen für richtig anzuerkennen. 

Nun aber verfuchen wir es weiter, auch noch andere Seiten 


332 Knopf: Ueber die ältejten heidenchrijtlichen Gemeinden. 


an dem Bilde der fozialen Zufammenfegung der älteften Gemeinden 
ausfindig zu machen. Waren nicht auch Elemente aus höheren 
ſozialen Schichten im Ucchrifientume vorhanden, welchen Ständen 
gehörten diefe Leute an, wo können wir fie nachweilen? Das 
Ehriftentum ift die Wege des Handels und Verkehres gegangen. 
Wir finden demgemäß in den älteften Gemeinden ein jehr frei- 
zügiges Element ſtark hervortretend. Wir jehen bier ganz ab von 
den berufsmäßigen Wandercharismatifern, den Apofteln und Pro— 
feten, die unftät umberziehend dem Geijte dienten. Die Forderung 
der altchriftlichen Sittenlehre, weiteftgehende, unbedingte Gaſt— 
freundfchaft zu gemähren, ift nicht mur mit Rückſicht auf dieſe 
wandernden Charismatiker aufgeftellt, jondern viel mehr noch mit 
Nücficht auf die vielen veifenden Brüder, die ihr weitlicher Beruf 
zwiſchen den großen Zentren des Handels und Verkehrs hin- und 
bertveibt. Die Gaftfreundfchaft ift eine Grundtugend in der alt 
chriftlichen Sittenlehre, Belegjtellen dafür anzuführen, ift unnötig. 
I &lem. 13 (vrgl. auch 107—12 s) wird Gaftfreundjchaft mit Glaur 
ben, Frömmigkeit, Gnofis in eine Linie geftellt. — Wer foll 
nun dieje Gaftfreumdfchaft genießen? Einmal ſelbſtverſtändlich jene, 
die um des Namens willen binausgezogen waren, Aber das 
waren natürlich immer nur wenige, und fie hatten: dazu zum Teil 
gar feine Veranlaffung, im ſchon beftehenden Gemeinden zu weilen. 
Die ausgedehnte Gaftfreundfchaft gegen Glaubensgenoffen, die 
in der alten Chriftenheit getibt wurde, fett noch ein anderes Ele— 
ment voraus, das in der Lage war, jene Gaftfreundichaft zu ge— 
nießen, Und da kommen nun, neben etwa mwandernden Hand- 
werfern und Gemwerbetveibenden, ficher und vor allem Angehörige 
des Handelsftandes in Betracht. Das bewegliche und im einer 
gewiſſen jozialen Höhe ftehende Clement des Kaufmannzjtandes 
muß einen bedeutfamen Bejtandteil der älteften Gemeinden ge— 
bildet haben. Das bemweifen uns, abgejehen von der eben ange— 
ftellten allgemeinen Erwägung, noch andre befondere Zeugnifje 
unfrer Quellen, In Philippi ift nach dem Wirberichte der Apojtel- 
geichichte eines der älteften und anjcheinend begütertiten Gemeinde 
glieder eine gewiſſe Lydia, feine Ortsangehörige, jondern eine 
Rleinafiatin, eine Purpurhändlerin aus Thyativa in Lydien (Aet. 


— 


Knopf: Ueber die älteſten heidenchriſtlichen Gemeinden. 838 


161). — 1 Clem. 1 leſen wir: Denn welcher Mann, der bei 
Euch, aus der Fremde kommend, vorübergehend weilte (rs yap 
rapemeönwijoxg mpbs bag), hat nicht euren tugendreichen und 
fejten Glauben bewundert? Es famen viele Leute voriibergehend 
von Rom nad Korinth, die ganze Kunde von dem Streite der 
Korinther, den beizulegen der Brief gefchrieben ift, jcheint durch 
folche zeitweilig von Nom nad) Korinth gereiste römifche Chriften 
in die Hauptjtadt gefommen zu fein. Und dieje naperlönkor waren 
fieher zum größten Teile Handelsleute, denn der Handelsverkehr 
zwijchen Nom und der bimaris Corinthus war ſchon an fich ein 
bedeutender, außerdem aber war Korinth auch noch Station für 
den Tranfithandel zwifchen dem Oriente und der Welthaupttadt. 
— An veifende Handelsleute in den Gemeinden "ijt weiter bie 
Mahnung Zac. Lısır gerichtet: Wohlan num, die ihr da jaget: 
heute oder morgen wollen wir in die und die Stadt gehen und 
dort ein Jahr verbringen umd Handel treiben und Gewinn ma— 
hen u. ſ. w. — Sehr hübfch zeigen fich uns Kaufleute als Träger 
des Verkehrs der Gemeinden untereinander auch in einer Fgnatius- 
ftelle. Ignatius, Röm. 101 jagt: ich fchreibe euch dies aus 
Smyrna, durch Ephefer, die ſehr der Seligkeit würdig find!). Was 
jollen das für Leute fein, die von Ephejus nad) Smyrna, von 
dort nach Rom reifen? Doch höchft wahrfcheinlich Kaufleute, die 
raſch und direkt noch vor Anbruch der fehlechten Jahreszeit nach 
Rom eilen und vielleicht wieder zurüc wollen, denn der Brief 
ift vom 9. Tage vor den Septemberfalenden datiert. Ignatius 
jelber mit den 10 Soldaten feiner Bewachung reist langjamer, 
und jo gibt er den erwähnten Ephejern den Brief mit. — 

Des weiteren werden uns verjchiedene fittliche Vorſchriften 
der älteften Zeit nur verjtändlich, wenn wir fie ung an einen Kreis 
gerichtet denken, in dem Leute vorhanden waren, die auf Handel 
und Gelderwerb ihren Sinn gewandt hatten. Eine nicht jeltene 
Mahnung ift die: nicht habfüchtig zu fein, keine mAeovekix zu bes 
weiſen [vgl. z. B. I Kor. 5, Eph. 55, Kol. 3;, Barn. 196, 


*) Vgl. auch Magn 15: es grüßen euch Ephefer aus Smyrna, von 
wo ich euch auch ſchreibe. 









334 Knopf: Ueber die ältejten heidenchrijtlichen Gemeinden. 


Polyk. 22]. Dieſe Vorſchrift ift wohl verjtändlich, wen fie nicht 
an Sflaven oder geringe Handwerksleute gerichtet ift, jondern an 
Leute, die mitten drin ftanden in dem ſchwunghaften Handelstreiben, 
das damals die großen Städte der Mittelmeergemeinjchaft durch— 
flutete, 

Bei dem I Kor. 61—11 gerligten Prozeffieren vor dem heid- 
nischen Tribunal handeltes fich vornehmlich um Prozeſſe über Geld- 
angelegenbeiten: warum laßt Ihr Euch nicht Lieber berauben? Statt 
deffen übt ihr felbft Unrecht und Raub, und das an Brüdern? 
(v. 7f). Zu vergleichen ift auch die Warnung des Apoftels an 
die Thefjaloniter: Daß einer nicht übergreife und im Gefchäft 
feinen Bruder übervorteile, weil der Herr ein Nächer ift über alles 
dieſes (I Theff. 44), oder die Mahnung I Tim. 69: die da reich 
werden wollen, fallen in VBerfuchung und Schlinge und viele un- 
verjtändige und jchädliche Begierden. Alles das find Vorjchriften, 
die rechten Sinn und Verftand erft dann geroinnen, wenn eine ge— 
wiſſe Schichte in den Gemeinden fich bevufsmäßig mit Handel 
und Geldgejchäften abgab. 

In den Kreifen diefer Leute werden wir wohl auch die 
Reichen und Vornehmen zu ſuchen haben, die nicht allzu felten 
uns als Glieder der Gemeinde vorgeführt werden. Eine jehr 
zahlreiche Klaſſe können freilich die Neichen und Vornehmen wohl 
nirgends gebildet haben. Wir hören ausdrüclich, wie jchen er— 
wähnt, von verjchiedenen Gemeinden, daß fie arm gemefen jeien. 
Aber wir hören andererjeit doch auch wieder vereinzelt von reichen 
Gemeinden, fo Apoe. Bir, wo dem Engel der laodicenifchen Ge— 
meinde die Worte in den Mund gelegt werden: ich bin reich, ja 
veich bin ich geworden und brauche nichts, 

Wir finden hie und da in unfern Quellen Aeußerungen, die 
uns beweiſen, daß das Chriftentum jeine Anhänger auch aus ven 
höheren, veicheren und vornehmeren Geſellſchaftsſchichten gewann. 
Einen Weg, auf dem das Chriftentum in die obern Schichten 
aufftieg, können mir deutlich ertennen, es war der Weg durch die 
Frauen. Die Frauen höherer Stände hatten ſchon unter den 
bischen Profelyten eine bedeutfame Stelle eingenommen, und die- 
be Erſcheinung läßt ſich auch im Chriftentum nachweiſen. Im 


Knopf: Ueber die älteften heidenchriftlichen Gemeinden, 335 


Berichte der Apoftelgefchichte über die Thätigfeit Pauli in Thefjalo- 
nife und Berda finden wir beidemal die Thatjache erwähnt, daß 
nicht wenige von den edfen Griechenfrauen gläubig geworden fein 
(Aet. 17a. 19). Der Belehrung der reichen Lydia aus Thyatira, 
die die Wirquelle erzählt, haben wir ſchon gedacht. Vornehmere 
und reiche Frauen müfjen auch die Alke, die Tavia und die 
Gattin’) des Epitropos geweſen fein, die Ignatius mit befonderer 
Auszeichnung in Smyrna grüßen läßt (Sm. 133, an Bol. 82 F.), 
denn zwei diefer Frauen erjcheinen als Patroninen von eigenen 
Hausgemeinden, und die Alfe muß einer angejehenen Familie an— 
gehört haben, da ihr Bruder Niketes uns am anderer Stelle 
(Mart. Pol. 172) als Haupt der vadikal-heidnifchen Partei 
Smyrna's erfeheint und deren Wünſche als Sprecher beim aſia— 
tischen Profonjul durchjegt. Von vornehmen Frauen der römi— 
ichen Gemeinde werden wir noch nachher hören. 

Doch auch abgefehen von den Frauen zeigt uns die Betrach— 
tung unferer Quellen, daß Angehörige dev reicheren und vor— 
nehmeren Schichten nicht jo ganz jelten fich den Gemeinden an- 
geichloffen haben müſſen. Daß in der Apofalypfe die Gemeinde 
von Laodieea einfachhin als reiche bezeichnet wird, hörten wir 
bereits. Auch die forinthifche Gemeinde hat feineswegs nur aus 
armen und niedrigen Leuten beftanden, ein Kleiner Prozentſatz von 
Starken, Angejehenen und Edlen muß doch in ihr nad) des 
Apoftel® eigener Ausjage vorhanden gemejen fein. An die 
Adrefje der Neichen in der Gemeinde find auc die Worte des 
kräftigen Tadels gerichtet, die der Apoftel über das Treiben bei 
den Eorinthifchen Liebesmahlen äußert (11 17). 

Einzelne Fakta ferner, die unfere Quellen uns erzählen, zeigen 
uns Begüterte in der Zahl der Gemeindemitglieder. Wir hören 
öfters, daß Hausgemeinden ſich bildeten, d. 5. die Angehörigen 
einer Familie ſamt den Sklaven traten über, und das betreffende 
Haus bildete jo eine natürliche Eultifche Einheit, der fich allenfalls 
noch Freunde des Hauſes und günftig wohnende Glaubensbrüder 


+) Gattin oder Tochter; derAusdruc iſt unbeftimmt: % 169 "Enirpöron. 
Unficher ijt auch, ob Epitropos bier ein Titel oder ein Eigenname ift. 


336 Knopf: Ueber die ülteften heidenchriftlichen Gemeinden. 


anjchlofjen. [Hausgemeinden erwähnt 3. B. Act. 16 15, 1655, I Kor. 
1is, 1615, Am. 165, Philem 1f., Ian. Sm. 13, an Pol. 82]. 
Das Beitehen der Hausgemeinden jest voraus, daß die Herren 
oder Frauen der betreffenden Häufer Chrijten waren. Der Gang 
der Miffion war dann wohl der, daß die für's Chrijtentum ges 
wonnenen Seven felbftverjtändfich die von ihnen abhängige familia 
mit in den neuen Glauben hinüberbrachten. Bei dem großen 
Miffionsdrange, der dem Chriſtentum von Anfang an inmewohnte, 
darf uns dies auch gar nicht Wunder nehmen: Es iſt fein ge- 
ringes Verdienft, eine irrende und zugrunde gehende Seele dem 
Heile zuzumenden, heißt es (freilich nicht mit divefter Beziehung 
auf die Mifjion) im IL. Elem. (151) Bezüglich der fozialen Zu— 
fammenfegung der Gemeinden aber lernen wir dies: An einer 
Reihe von Quelfenftellen, in verfchiedenen Gemeinden erkennen wir, 
wie offenbar auch begüterte Leute, Befiger einer größeren oder 
geringeren Anzahl von Sklaven ſich der Gemeinde anjchlofjen. 
Wir brauchen uns deswegen, weil die Betreffenden Sklaven befaßen, 
noch feine übertriebenen DVorftellungen von ihrem Wohlftand 
zu machen, aber wir haben «8 doch bei ihmen mit einem unab- 
hängigen Element von einer gewiffen jozialen Höhe zu thun. — Und 
nun zeigen uns unfere Quellen auch noch direkt eine Anzahl von 
Einzelftellen, an denen ausdrücklich reiche Leute als Gemeinde- 
glieder vorausgefet werden, jo Jak. 10 f.: es rühme fich aber der 
niedrige Bruder in feiner Höhe, der reiche aber in feiner Niedrig. 
keit, und andere Stellen!) desfelben Briefes, weiter I Tim. 6ir! 
denen, die da reich find im diefer Welt, befiehl, fich nicht hoch zu 
dünken noch zu hoffen auf des Neichtums unficheres Weſen, fondern 
auf Gott, ... . . LClem. 382 der Neiche biete dar dem Armen, 
aber der Arıne danke Gott, daß er ihm jemanden gegeben hat, 
durch den feinem Mangel geholfen werden fol. 

Doc num genug mit diefen Stellen, wir haben aus der bis- 
herigen Betrachtung die Anjchauung gewonnen, daß offenbar im 


*) Freilich ift nicht ficher, ob Jak. in feinen Ausführungen überall 
veiche Leute im Auge hat, die der Gemeinde angehören, Doc Liof., 2ı ff. 
ſcheint mir dies ficher zu fein. 


9 


&nopf: Ueber die ältefien heidenchritlichen Gemeinden. 337 


den größeren Gemeinden der Städte fich vecht bald hie und da 
eine veichere und beffer geftellte Schicht bildete und über die Maſſe 
der Befislofen ſchob. 

Mit den bisherigen Ausführungen wollen wir die Schil- 
derung der allgemeinen Zuſtände abbrechen und uns nun noch 
das Bild der fozialen Zuſammenſetzung einer befonderen Gemeinde 
zeichnen, über die wir in diefer Hinficht die ausführlichiten Quellen- 
nachrichten haben, nämlich das Bild der jozialen Verhältnifje in 
der ſchon im 1. Jahrhundert fo bedeutfam hervortretenden römijchen 
Gemeinde. Die älteſte diesbezügliche Nachricht finden wir im 
Philipperbriefe des Apoftels Baulus, wo wir 4a lefen: es grüßen 
Euch alle Heiligen, befonders die aus dem Haufe des Kaiſers. 
AS Paulus gefangen nad) Rom kam, fand er dort eine Gemeinde 
vor, in der eine anfcheinend gefchlofjene Gruppe von Angehörigen 
des faiferlichen Haushaltes gebildet wurde!. Der faiferliche Haus: 
halt jpielte eine jehr bedeutjame Nolle im alten Rom, wie uns 
u. a. auch die Infchriften beweifen. Eine ungeheure Menge von 
Beamten und Sklaven war zufammengejchloffen in ein großes 
bis in's Feinfte gegliederte Ganze, So bildeten die faijerlichen 
Paläfte am Palatin mit dem, was drums und dranhing, ein Kleines 
Staatsweſen für fich. Unter den damals herrſchenden Verhält— 
niffen mußte dev faiferliche Haushalt ein fruchtbarer Mutterboden 
für neue fremde Kulte fein. Denn was jene Jahrhunderte dev 
Weltgefchichte im Großen charakterifiert, davon finden wir bier im 
Kleinen ein intenfives Abbild. Das Weltreich hat im Großen die 
Schranken zwifchen den einzelnen Nationen niedergeriffen und die 
Voltsindividualitäten fowie die Volksreligionen untereinander ges 
mifcht. Und ein getveues Abbild jenes Weltſynkretismus giebt uns 
dev faiferliche Haushalt. Keineswegs nur Nömer nehmen in ihm 
die maßgebenden Stellen ein, der fühige und gemwandte Grieche, 
der ernfte Yegypter, der ſchlaue Syrer haben einflußreiche Plätze 
im faiferlichen Haushalte inne, und die Menge der niederen Sklaven 
it aus allen vier Eden der Welt zuſammengekommen. In dies 

*) Val, hierzu und auch zum folgenden Lightfoots Kommentar zum 


Rhilipperbriefe S. 169 ff, und Lightfoot's Glemensausgabe Band I 
S.% fl. 


338 Knopf: Neber die ältejten heidenchriftlichen Gemeinden. 


Gemisch ift das Chriftentum getreten, bier finden wir einen Keim— 
punkt der römischen Gemeinde. Es find unfreie Leute gemwefen, 
die ich hier dem neuen Glauben anjchloffen, aber neben niedrigen 
bedeutungslofen Sklaven, die hier das Chriftentum gewonnen 
haben mag, waren wohl auch einflußreichere Glieder jenes Haus— 
haltes, Leute, die vielleicht daS Ohr von Mächtigen, vielleicht von 
Prinzen und Prinzeffinen der faiferlichen Familie befaßen. So 
jeben wir hier, wo wir zum erftenmale einen Blick in die römifche 
Gemeinde thun können, einen jehr bedeutfamen Anfangspunkt fie 
künftige Entwicklung geſetzt. Das Chriftentum hat unter den 
Sklaven und Freigelaffenen des kaiferlichen Haushaltes ein treff- 
liches Feld für Propaganda gefunden und kann zugleich auch nach 
oben dringen, vielleicht gar bis zu diefem oder jenem Mitglied 
des Kaiſerhauſes. 

Das nächſte Schriftftück, das unzweifelhalt mit Rom in Ver— 
bindung fteht, ift der fogenannte I. Clemensbrief, ein Gemeinde: 
ichreiben der Nömer an die Korinther. Mit diefem Dofumente 
find wir am Ende des 1. Yahrhunderts augelangt, es mag 
um das Jahr 95 entftanden fein. Auch ihm fönnen wir einige Nach— 
richten über die foziale Zufammenfegung der den Brief jendenden Ge- 
meinde entnehmen. 383 leſen wir eine ganz allgemein gehaltene 
Mahnung art die Stände der Gemeinde: der Reiche biete dar dem 
Armen, aber ber Arme danke Bott, daß er ihm jemanden gegeben hat, 
durch den feinem Mangel geholfen werden joll, Viel ift aus der Stelle 
nicht zu machen, daß es Neiche und Arme in der römifchen und 
auch in der forinthifchen Gemeinde gab, konnten wir von vornherein 
annehmen. Bemerkenswert ift aber der maßvolle, unparteiifche Ton, 
in dem gejprochen wird. Man merkt bier feine Spur von jener 
Animofität gegen die Reichen, die andre Schriftftücke durchweht. 
Sp fann man in einer Gemeinde fprechen, in der veichere und 
vornehmere Leute nicht allzu felten find und auch ihre Pflichten 
den Armen gegenüber erfüllen. ine andere Stelle de3 Briefes 
führt uns anfcheinend wieder zu jenem feften Rückhalt der römi— 
ſchen Gemeinde, zum faiferlihen Haushalt. 651 finden wir dies: 
Unfere Abgefandten aber, Claudius Ephebus und Valerius Biton 
jammt Fortunatus fendet in Frieden mit Freude rasch zu ung zurück, 


Knopf: Ueber die Alteften heidenchriftlichen Gemeinden. 339 


Kurz vorher (63 5) wurden die römiſchen Gejandten charakterifiert 
al3 „treue und verftändige Männer, die von Jugend an bis zum 
Alter ohne Fehl unter uns gewandelt find". Die Abgeordneten 
werden mittelbar als y&povres, reife, bezeichnet, fie mögen 
aljo etwa 60 Jahre alt gewefen fein. Da nun aber weiter von 
ihnen gejagt wird, fie hätten von Jugend an unfträflich in der 
Gemeinde gewandelt, da fie mithin von ihrem 25.—30. Jahre 
an zur Gemeinde gehört hatten, jo Liegt der Schluß nabe, jene 
Abgeordneten möchten bereits Glieder der Gemeinde gewefen jein, 
als Paulus feinen Brief nach Philippi jandte, Intereſſant find 
nun die Doppelnamen, die zwei der Abgeordneten tragen: Clau— 
dius Ephebus und Balerius Biton). Die Namen Claudius und 
Balerius laffen eine Beziehung zu den beiden berühmten Familien, 
der gens Claudia und der gens Valeria vermuten. Die gens 
Claudia ift das erſte Kaiſerhaus. Mit ihr verband ſich die gens 
Valeria in der Ehe, die der Kaijer Claudius mit Mefjalina aus 
der gens Valeria einging. Ein guter Teil der Sklaven jener 
mächtigen gens Valeria wanderte damals als Mitgift mit in den 
KRaiferpalaft. Unter den Freigelaffenen der Claudius und feiner 
Nachfolger finden wir von jener Zeit an die Zunamen Claudius, 
Claudia, Balerius, Baleria in größerer Anzahl, wie die Inſchriften 
beweifen. Namen beider Familien kommen öfters auf demjelben 
Steine vor. Es ift darum feine unbegründete Vermutung, in den 
zwei Ueberbringern des römijchen Gemeindefchreibens Freigelaffene 
des faiferlichen Haushaltes zu erkennen. Sklaven können es nicht 
gewejen jein. Das verbietet einmal die Form der Namen, ſodann 
der Umjtand, daß diefe Männer von der Gemeinde einfach nach 
Korinth gejchieft wurden, daß fie alfo Herrem ihrer Zeit gemejen 
fein müffen. Ziehen wir nun in Betracht (mie ſchon vorher ge- 
zeigt wurde) daß jene Leute jehr wohl bereits 30 Jahre zur Ge— 
meinde gehört haben mögen, jo können wir in ihnen mit nicht 
unbedeutender MWahrfcheinlichfeit Männer, von „denen aus des 
Kaifers Haushalt" erkennen, die einft ihre Grüße nach Philippi 
fandten. Und meiter zeigt uns der Glemensbrief, und das ijt für 


4) Vgl. dazu auch Lightfoot's Anmerkung z. St. 


340 Knopf: Ueber die älteften heidenchriftlichen Gemeinden, 


uns das wichtigere, zwei Freigelafjene in einer fehr geachteten 
Stellung in der römifchen Gemeinde, als Veteranen des Ehriften- 
tums geehrt, als Geſandte in einer wichtigen Angelegenheit aus- 
erforen. Die Leute aus des Kaiſers Haushalt müſſen ihren her— 
vorragenden Pla in der römischen Gemeinde, den fie 30 Jahre 
zuvor innehatten, behauptet haben. — Um diejelbe Zeit, d. h. zur 
Zeit des Kaiſers Domitian, haben wir nun weiter auch beftimmte 
Anzeichen dafür, daß das Chriftentum in Rom nicht auf Kreife 
von Sflaven und niedern Leuten beſchränkt geblieben ift, fondern 
daß e3 jehr hoch, nämlich) in die Laiferliche Familie jelbft eine 
gedrungen ift!). 8 Monate vor jeinem eigenen Tode hatte 
der Kaiſer Domitian feinen Vetter, den Konful Tit. Flavius 
Clemens hinrichten laffen, während ex deſſen Gemahlin Flavia 
Domitilla, jeine eigene Nichte, nad) der Inſel PBandateria ver- 
bannte. Die Berichte der Quellen (Sueton, Dio Caſſius und 
die von Eufeb in der Chronik zitierten Autoritäten Bruttius oder 
Brettius und Julius Afrikanus) über dies Ereignis, das Ende 
95, Anfang 96 gefallen fein muß, find jo, daß die Vermutung, 
die beiden Verurteilten ſeien Chriften geweſen, ſehr wahrfcheinlich 
it. Zum mindejten Flavia Domitillea muß irgendwie fich der Ge— 
meinde angefihloffen haben, Abgeſehen von den Schriftitelleen wird 
dies durch die Monumentalüberlieferung der Katakomben bemiejen. 
Unter den altchrijtlichen Begräbnisjtätten zu Rom war eine mit dem 
Namen Coemeterium Domitillae. Genauere und methodifche Nach: 
grabungen haben das Refultat ergeben, daß thatfächlich Die Katakomben 
des coeterium Domitillae auf einem Plaße ſich befinden, der jener 
verbannten Flavia Domitilla gehörte und durch ihr Wohlmollen 
der Gemeinde überlajfen worden war. In den betreffenden Kata— 
fomben ift auch eine Reihe von Grabinfchriften zutage gefördert 
worden, die dem 2. Jahrhundert entjtammen und deren Namen 
eine Verbindung mit dem Haushalte, wenn jehon nicht der eigent- 


*) Zu vergleichen iſt für das Folgende auch Hafenclener, Chriſt— 
liche Profelgten der höheren Stände im 1. Ihrh. Jahrb. für prot. Theol, 
1882, ein Aufſah, dev mir erit nach Fertigitellung diefer Ausführungen 
in die Hände kam. 


Knopf: Ueber die älteften heidenchriftlichen Gemeinden. 34 


lichen Familie dev gens Flavia bezeugen’). 

Es ift aljo ficher am Ende des erjten Jahrhunderts das 
Ehriftentum zu Nom bis ins Kaiſerhaus gedrungen, Der Weg, 
auf dem es hoch fam, wird kaum ein andrer gemejen fein, 
al3 durch Sklaven und Freigelaſſene. Wir wiſſen aus vielen 
andern Beijpielen zur Genüge, welchen Einfluß Sklaven und Frei- 
gelafjene beiderlei Gefchlechts auf ihre Herren und Herrinen aus— 
übten, jo daß uns aljo ein folder Weg des Chrijtentums von 
unten nach oben gar nicht unwahrſcheinlich vorkommen kann. 

Wir haben aljo bisher gejehen, daß um die Wende des 
erjten und zweiten Jahrhunderts das Chriftentum feine feſte 
Stellung unter den Sklaven und Freigelaffenen des Eaiferlichen 
Haushaltes behauptet und einflußreiche Gönner und Anhänger bis 
in die Reihen der faiferlichen Familie hinauf gewonnen hat. 

Und dies Bild beftätigt und bereichert in wichtigen Zügen 
die nächfte Quelle, die wir zu verwerten haben, dev Nömerbrief 
des Ignatius. Sehen wir ihn, ohne feine Entftehungszeit genauer 
beftimmen zu wollen, in die Endzeit Trajans oder in die Regierung 
Hadrians, alfo etwa in den Zeitraum 115—130. — Ignatius 
wird, nach dem Martyrium brennend, von 10 Soldaten geleitet, 
auf Land- und Seewegen nach Nom geführt, um dort endgiltig 
abgeuxteilt zu werden. Von Smyrna aus jendet er der römi- 
fehen Gemeinde einen Brief, in dem er fie auf das Exgreifendfte, 
oft im überfchwänglichen Worten und Bildern bittet, ihn doch ja 
nicht am Martyrium zu verhindern. Aus dem Briefe geht deut- 
lich hervor, daß Ignatius noch nicht endgiltig verurteilt worden 
it, daß er freilich anſcheinend triftigen Grund hat, wie auch aus 
Stellen der andern Briefe zu fchließen ift, anzunehmen, ex werde 
zu den Tieren dev Arena verurteilt werden, daß er endlich aber 
fürchtet, Die römische Gemeinde könne jeine Verurteilung hindern 
und ihn fo der Krone des Martyriums berauben: Euch ijt es 
feicht, zu vollbringen was ihr wollt, mir aber iſt es ſchwer, Gottes 
teilhaftig zu werden, wenn ihr meiner nicht ſchont (Le), wenn ihr 





*) Vgl. die Berichte de Rossi's im Bulletino di Archeologia Cristiana, 
Sahrgänge 1865, 1874—1881, Roma Sotteranea I 186 ff., 266 ff. 
Zeitſchriſft für Theologie und Kirde. 10. Jahrgang. 5. Heit. 23 


342 Knopf: Ueber die älteſten heidenchrijtlichen Gemeinden. 


von mir fehmweigt, werde ich ein Wort Gottes, wenn ihr mein 
Fleiſch liebt, werde ich wiederum ein Schall jein (21), willig ſterbe 
ich um Gottes willen, wenn ihr mich nicht verhindert. Ich bitte 
auch, werdet mic nicht zu ungeitigem Wohlmollen (41), Was be- 
deutet dies Gebahren des Ignatius, welchen Rückſchluß geftattet 
es auf die Stellung der römifchen Gemeinde? Die römifche Ges 
meinde muß imftande geweſen fein, Prozeſſe gegen Chriften nieder— 
zufchlagen, fie muß dies in den vorangegangenen Jahren, wohl 
unter Trajan, öfters durchgeſetzt haben, und in der ganzen Ehiften- 
heit ift dies bekannt: „euch ift es leicht zu vollbringen, was ihr 
wollt“. Wenn die römijche Gemeinde imftande war, dergleichen 
Prozeſſe zu hintertreiben, milde Strafen oder vielleicht gar Strafs 
loſigkeit durchzufegen, jo müſſen Leute, die ihr angehörten, an 
maßgebenden Stellen einen kräftigen Einfluß gehabt haben. Daß 
höhere Staatsbeamte ſich ſchon damals dem Chriftentum ange: 
ſchloſſen haben follten, ift unmahrfcheinlich. Da waren die Kon— 
flikte doch noch zu groß, und das Gewiſſen der Ehriften war noch 
zu eng. Außerdem wechfelten die Beamten ja, und der Einfluß 
der Chriften mußte jo ein ſchwankender fein. Beſſer und natür— 
licher ift e$, anzunehmen, daß auch hier der Einfluß des Chriften 
über Hintertreppen ging, von Sklaven und Freigelaffenen aus zu 
Frauen und Männern der höchjten Stände, zu Leuten, die am 
Hofe etwas vermocdhten. Eine jehr gute Illuſtration zu dieſen 
DVerhältniffen, wie fie der Sfgnatiusbrief vorausſetzt, bietet in 
jpäterer Zeit die befannte Gefchichte, die Hippolyt Philoſ. IX. 12 
erzählt: Marcia, das gottliebende Kebsweib des Commodus 
(180—192), jet beim Kaifer die Begnadigung der in die ſar— 
dinischen Bergwerke verbannten Chriften durch, Hinter der 
Marcia ftand anfcheinend als geiftlicher Ratgeber ihr Pflegevater, 
der römijche Presbyter Hyacinth, der ficher ein Sklave oder reis 
gelaffener war, denn Hippolyt erwähnt beiläufig, Syaeinth ſei eim 
Eunuch gewejen. Bom Nachfolger des Commodus, dem Kaifer 
Septimius Severus, wiſſen wir aus Tertullian (ad Scapulam 4), 
daß er einen chriftlichen Sklaven, den Proculus Torpakion, der ihn 
vom Tode gerettet hatte, mit Ehren im feinem Palafte hielt, — Auf 
folchen Wegen mögen auch zur Zeit Trajans und Hadrians die 


- 


Rnopf: Ueber die Ältejten heidenchriftlichen Gemeinden. 348 


römischen Chriſten ihren Einfluß zugunften verfolgter Glaubens- 
genoſſen geltend gemacht haben. Wieder kommen wir hier allem 
Anjcheine nach zu den Sklaven und Freigelaffenen des Palatiums 
und ihren Herren, Schügern und Gönnern. 

Und Ignatius zeigt uns noch im einer amdern Linie die 
Macht und Stärke der römiſchen Gemeinde. Er nennt die Ge- 
meinde im der Zuſchrift: die Vorfitende der Liebe, Die Illu— 
ftration zu dieſem Epitheton dev Gemeinde giebt uns eine Stelle 
aus dem Schreiben des Dionyfios von Korinth (e. 170) an die 
römifche Gemeinde zur Beit des Biſchofs Soter (Eufeb. IV. 2310): 
Denn von Alters her habt ihr diefe Sitte, allen Brüdern in viel- 
jacher Weiſe wohlzuthun, auch vielen Gemeinden in den einzelnen 
Städten Unterſtützungen zu enden, hier die des Notwendigen er— 
mangelnde Armut lindernd, dort den Brüdern, die in den Berg- 
werfen ſtecken, beiftehend mit den Unterftügungen, die ihr von 
Alters her fendet. So bewahrt Ihr als echte Römer die von 
den Vätern Euch überlieferte Römerfitte . . . Ausdrüclich wird 
in diejer Stelle die Liebesthätigleit als ein alter, von den Vätern 
ererbter Brauch der römischen Gemeinde dargeftellt, ev muß alfo 
40—50 Jahre vorher auch beftanden haben, und die Worte des 
Ignatius können von der Dionyfiusftelle aus verftanden werden. 
Diefe offenbar recht ausgebreitete Liebesthätigfeit dev Nömer fest 
nun aber ein opferfvendiges und Leiftungsfähiges Element in der 
Gemeinde voraus, und Diejes Clement wird jchon zur Zeit des 
Ignatius vorhanden gemefen fein. Durch die Größe und das 
Alter feiner Gemeinde, durch gute Verbindungen nach oben bin, 
durch Neichtum und Opferfreudigfeit vielev Gemeindeglieder muß 
Rom die hervorragende Stelle eingenommen haben, die wir fait 
aus jedem Sate des Ignatianiſchen Schreibens herauslefen können. 

Als legte der römischen Quellen möge dev Hermashirte ver- 
wendet werden, Hat uns der Ignatiusbrief die römifche Gemeinde 
in ihrer Kraft und ihrem Einfluffe ahnen laſſen, jo zeigt uns 
dagegen dev Hermashirte, wie troß allem noch um die Mitte des 
2. Jahrhunderts das römische Chriftentum vorzüglich auf den 
niedern Ständen ſteht, wen auch Neiche nicht allzu felten in der 


Gemeinde zu finden find. 
23* 


u 


34 Knopf: Ueber die ältejten heidenchriftlichen Gemeinden. 


Hermas, der Profet und Apokalyptiter, war urfprünglich 
jelbjt ein unfreier Mann gemejen. Ex mar, vielleicht aus dem 
Oriente, von feinem Brotheren oder von dem Sklavenhalter, der 
ihn aufgezogen hatte, nad) Rom an eine gewiſſe Rhode verkauft 
worden, die ihn nach einer Reihe von Fahren anjcheinend frei 
ließ. Als Freigelaffener beſaß er Acer, hatte ſich auch ein Ver— 
mögen erworben, da3 er aber wieder einbüfte (vis. II. 6,7); er 
war verheiratet und hatte auch mehrere herangewachſene, etwas 
mißtatene Kinder (vis. II2 f.). Ex feheint bereits als Chrift nach 
Rom gekommen zu fein. 

Ferner kann man wohl aus dem Eingange der I. Viſion 
ſchließen, daß feine Herrin auch Chriftin war, denn fie erſcheint 
ihm nach ihrem Tode als im Himmel befindlich. Vielleicht ift 
die Rhode durch Hermas’ Einfluß Chriftin geworden, und viel- 
feicht deutet darauf der etwas dunkle Sa am Anfange des 
Buches: nach vielen Jahren erkannte ich fie und begann fie zu 
lieben wie eine Schwejter. Dann hätten wir bier in Eleinem 
Verhältnis ein Beifpiei von der auffteigenden Bewegung des 
Chriftentums, 

Hermas war urjpränglich ein Sklave, Nun haben wir eine 
gute alte Tradition am Ende des 2. Ihrh., die uns jagt, daß der 
Biſchof Pius, der etwa 150 der römischen Gemeinde vorjtand, 
der Bruder des Hermas geweſen jei. Es heit nämlich im 
Muratorianum 3. 73 ff.: den Hirten aber bat jüngft zu unſern 
Zeiten in der Stadt Nom Hermas gejchrieben, als auf der Kathedra 
der Gemeinde der Stadt Nom Pius, der Bifchof, fein Bruder, 
jap. Wenn diefer Ueberlieferung Glauben zu ſchenken ift (und 
wir haben gar feinen Grund, ihr zu mißtrauen), fo erſehen mir 
aus ihr, daß um die Mitte des 2. Jahrhunderts herum das an— 
gejehenfte Gemeindeamt (06 freilich damals in Nom bereit$ monar- 
hifcher Epiſkopat bejtand, ift unficher) von einem Manne niederjter 
‚Herkunft bekleidet werden konnte. Das nimmt uns gar nicht 
Wunder, wenn wir an Kalliſt (218—222) und feine recht wechjel- 
vollen Schickſale denken, wie fie uns Hippolyt erzählt. 

Weiter: Aus Hermas erjehen wir aber zugleich, daß die 
Reichen in Nom ein ganz feſtes Element in der Gemeinde bilden. 


Knopf: Weber die älteften heidenchriftfichen Gemeinden, 345 


Hermas ift nicht beſonders qut auf die Reichen zu ſprechen, viel 
leicht grade deshalb, weil er jein Vermögen verloren hatte, viel- 
leicht, weil er als Freigelafjener tiber hochmütige Behandlung 
feitens vornehmerer Glaubensgenofjen zu Klagen hatte, Er gibt 
den Reichen gute Natjchläge über die Verwendung ihres Neich- 
tums, wirft ihmen Weltfinn vor, droht ihnen den Verluſt ihres 
Geldes an, Flagt über ihren Stolz, der fie die armen Glaubens- 
genojjen verleugnen läßt, über den Verkehr und die Freundfchaft, 
die fie mit den Heiden pflegen, aber aus allen diefen Ausjtellungen 
fieht man, daß die Neichen zur Zeit des Hermas nicht mehr jo 
jeltene Teilnehmer an den Berfammlungen dev Ehriften find. Die 
Menge der Gemeinde jeheint noch dürftig und arm zu fein. In der 
Sprache des Hermas heißen diefe Dewmütigen, Armen und Treuen 
„die Anechte Gottes". Aber über fie fchiebt fich noch eine zweite, 
nicht jo zahlreiche Schicht, die wohlhabenderen Glaubensbrüder, 
Augenblicklich zeigen ſich nun bei diejer fozialen Differenzierung 
auch allerlei Spannungen und Konflikte. Die Reichen fraterni- 
ſieren nicht allzu jehr mit jenen Sklaven, Liberten und Prole- 
tariern, befonders nicht in der Deffentlichkeit, die Armen dagegen 
jehen die Reichen als halb dem Teufel gehörig an. 

Einzelne der Bilder, die Hermas beiläufig zeichnet, find ja aus 
dem vollen Leben gegriffen. So, wenn er 5. B. sim. IV 5 jagt: Die, 
die viele Gejchäfte haben, ſündigen auch viel; fie werden umhergezogen 
von ihren Gefchäften und dienen nicht ihrem Herrn: Infructuosi in 
negotiis dieimur, jagt Tertullian Apol. 42; latebrosa et lucifuga 
natio, in publicum muta, in angulis garrula, nennt dev Heide im 
Oetavius des Minueius Felix die Ehriften (c. 8). Die ernite, welt: 
fremde, apofalyptifche Stimmung des alten Chrijtentums mußte in 
dev That durch ein emſiges Gefchäftsieben mit feiner hajtenden 
Thätigkeit, einem Uebervorteilen, Stveiten, Prozeſſieren bedeutende 
Einbuße erleiden, „jte find hineingeknetet in die Händel der Welt“, 
jagt Hermas in dieſer Hinficht öfters von den Neichen und den 
Bielbejchäftigten (vgl. mand. X I, 4, sim. VIII 8, 1, IX 20, 1), 
Wie anſchaulich ift weiterhin der Vorwurf: jene find zwar gläubig 
geworden, aber auch veich und bei den Heiden angejehen, Ge- 
waltigen Stolz haben fie fich angelegt und hochmütig find fie ges 


346 Knopf: Ueber die älteften heidenchriftlichen Gemeinden. 


worden... ., umd fie haben fich nicht mehr an die Gerechten 
gehalten, fondern mit den Heiden zufammengelebt (sim. VIII 9,1). 
Bande der Freundſchaft und Verwandtſchaft hielten wohl viele 
jener Chriſten in enger Verknüpfung mit heidnifchen Kreifen (das 
find die yaAlzı Edveral, die den Reichen mand. X 1,4 vorgeworfen 
werden), um dev neuen Glaubensgemeinfchaft willen diefe Bande 
zu löſen, war oft jehr ſchwer, Nückficht auf Karriere band andre 
an die Heiden. In alle dem hatte der Arme e& leichter, wenn 
es ihm auch oft Fränfen mochte, daß fein reicher Glaubensgenoſſe 
ſich in feine öffentliche Vertraulichkeit mit ihm einließ, oder daß der 
Reiche, wenn er mit feinem Bruder, Better, Freunde, vielleicht 
einem höheren Beamten oder Offizier auf der Straße ging, dem 
entgegenfommenden armen Glaubensbruder aufs kühlſte den 
freundlichen Gruß erwiderte. Köftlich und jehr lebendig ift auch 
dieſer Vorwurf gegen die Reichen bei Hermas: Die Neichen (Chriften) 
halten fich ſchwer an die Knechte Gottes, denn fie fürchten, von 
dieſen um etwas angegangen zu werden (sim. IX 206). Mit Beru- 
fung auf die chriftliche Bruderliebe mögen wohl viel Arme und Nied- 
rige ihren reicheren Olaubensgenofjen die Thüren eingelaufen haben, 
jo daß es manchem von den Neichen zuviel wurde. Die allge 
meine chrijtliche Sitte gebot, jedem Bittenden, ohne ihn anzuschauen, 
ob er es nötig habe, zu geben, und eine Weifung, wie die der 
Didache (16): Laß Dein Almojen in Deiner Hand ſchwitzen, bis Du 
weißt, wenn Du es geben follft, fteht ganz vereinzelt da. Unter 
diejen Umftänden mögen die Neichen ja öfters fich manchen ihrer 
armen Glaubensgenofjen möglichjt weit vom Halje gehalten haben, 
um nicht allzu oft von ihm um etwas angegangen zu werden. Der— 
gleichen mag den Hermas wohl Anlaß zu feiner Klage gegeben 
haben. Daß im Großen und Ganzen die Wohlthätigkeit in der 
römifchen Gemeinde eine hochentwidelte war, und daß alſo ficher 
auch die Begüteren in der Gemeinde die Liebespflichten erfüllten, 
haben wir bereits vorher bei Bejprechung dev Zeugniffe des Igna— 
tius und des Dionyſius von Korinth gejehen. Hermas zeigt uns 
für jeden Fall durch feine ſtete Rückſichtnahme auf die Reichen 
(die angeführten Stellen find noch keineswegs erſchöpfend), daß 
ſchon zu feiner Beit, aljo um die Mitte des 2. Jahrhunderts, die 


b 


bb 


Rnopf: Ueber die älteften heidenchriftlichen Gemeinden. 847 


Begüterten und den befjern Ständen Angehörigen feineswegs ein 
ganz unbedeutender Bruchteil der Gemeinde find. In offenfun- 
diger Weife freilich fcheinen die Reichen und Vornehmen, Leute 
von Stand und Adel, fich erft in den Beiten nach den Antoninen 
der römifchen Gemeinde angefchloffen zu haben, wie Eufeb wohl 
angemerkt hat, der berichtet, daß zur Beit des Commodus, als 
man anfing, milde gegen die Chriften zu werden, und die Kirchen 
de3 ganzen Erdkreiſes Frieden hatten, „viele von denen, die in 
Nom gar jehr durch Reichtum und Abkunft hervorleuchteten, ſich 
gemeinfam, ganze Häufer und ganze Gefchlechter an ihr Heil an- 
ſchloſſen“ (h. e. V 211). Damit hatte auch in der Welthaupt- 
ftadt das Chriftentum emdgiltig aufgehört, eine Religion der 
Armen und Sklaven zu fein, feine mächtige Anziehungskraft 
äußerte fi) nun in den verfchiedenen Schichten des Beſitzes und 
der Bildung. 


Die Einführung der Miſſion in das kicchliche Leben, 


Ein Dortrag 
von 


3. Haller, 


Stadtpfarrer in Tuttlingen. 


Der Blick der Miffionsfreunde richtet fich zumeift auf die 
heidnifchen Länder und die Heidenchriftlichen Gemeinden, auf die 
religiöfen, fittlichen, ſozialen und fulturellen Zuftände der heid- 
nifchen Bevölkerung, auf die Mittel und Fortjchritte der Miffions- 
arbeit und auf das Lebenswerk hervorragender Mifjionsmänner, 
Davon wird geredet in Miffionstunden und auf Miffionsfeten, 
in Miffionsfchriften und zumeift auch auf Miffionstonferenzen. 
Selten nur wird das heimische Miffionsleben, d. h. die Gejamt- 
beit der Thätigfeiten zur Weckung und Pflege der Liebe zur Miſ— 
fion, einer genaueren Unterfuchung und Behandlung gewürdigt. 
Und doch Liegen auch auf dem Gebiete des heimifchen Mifftons- 
lebens Aufgaben und Probleme vor, welche aller Beachtung wert 
find. 

Nicht ohne Abficht habe ich für unfere erſte Miſſionskonfe— 
venz in Horb ein Thema gewählt, welches eben dieje Seite des 
Miffionslebens berührt und das, wie ich glaube, eine Lebensfrage 
der Miffton in der Gegenwart bezeichnet: die Einführung der 
Miffion in das kirchliche Leben. 

Laſſen Sie mich diejes Thema unter einem dreifachen Ger 
fichtspuntt behandeln: theoretifch, Hiftorifch und praktiſch. Es 
handelt ji) um die Fragen: 1. Welchen Sinn und welches Recht 


Haller: Die Einführung der Miffion in das Firchliche Leben, 3419 


hat die Forderung: Einführung der Miffion in das kirchliche 
Leben? 2. Wie hat fich das Verhältnis von Kirche und Miffion 
innerhalb des deutfchen Proteftantismus gefchichtlich entwickelt? und 
3. Wie haben wir bienach unjere württembergifchen Verhältniffe 
zu beurteilen‘? 


L 


Welhen Sinn und welchesRecht hat die For— 
derung: Einführung der Miſſion in das kirch— 
liche Leben? 

1. „Einführung der Miſſion in das kirchliche Leben“ iſt nicht 
ohne weiteres identiſch mit dem ſinnverwandten und oft gebrauch- 
ten Schlagwort „Verkirchlichung der Miſſion“. Ab- 
gefehen von feiner jprachlichen Unſchönheit ift diejes Wort viel- 
deutig. Verkicchlihung der Miffton kann in dem Sinne genom- 
men werden, daß die Mifftonsarbeit unter den Heiden der Kirche 
d. h. der rechtlich organifierten und amtlich geleiteten heimifchen 
Kirchengenoſſenſchaft einverleibt werden joll. Es giebt ja freilich 
Miffionsunternehmungen, welche gänzlich der heimiſchen Kirchen— 
leitung unterjtellt find. Die ganze römiſch-katholiſche Miſſion 
fteht unter der Kardinalsfongregation de propaganda fide in Nom. 
Auf evangelifcher Seite find kirchlich organifiert die Miffton der 
Brüdergemeinde, die Miffion der ſchottiſchen Staatskirche und der 
ſchottiſchen Fveificche, die Mission Romande der Freilirche von 
Neuchatel, Waadtland und Genf, ſowie zahlreiche Miffionsunter- 
nehmungen von englifchen und amerifanijchen Baptiften, Metho— 
diften u. ſ. w. Kirchliche Gemeinde und heimiſche Miffionsge- 
meinde fallen zufammen; die Gemeinde oder Kirche als jolche 
treibt Miffion; die heimiſche Kicchenbehörde leitet die Miffton; 
firchliche Geldmittel werden unmittelbar aud fr die Miffion 
verwendet. Aber gerade dieje Beijpiele aus dem Gejamtumfang 
des Proteftantismus zeigen eim dreifaches: einmal handelt es fich 
durchweg um Kleinere Kirchenkörper; fodann haben alle dieſe Kir— 
chen mindeften® zur Zeit der Miſſionsgründung ein ſtark ent» 
wickeltes religiöfes Leben gehabt; endlich find dieſe Kirchengemein- 
haften fat ausnahmslos vom Staat unabhängig. 





) 


350 Haller: Die Einführung der Miffion in dag kirchliche Leben. 


An die Eingliederung der beftehenden deutjchen evangelifchen 
Miffionsgefellichaften in den Eirchlichen Organismus kann heut— 
zutage nicht gedacht werden. Schon die Verteilung der Miſſions— 
gejellfchaften auf einzelne Kirchenkörper Deutſchlands wäre eine 
Unmöglichkeit; es müßte jedenfalls zuerſt eine deutjch-evangelifche 
Nationalkirche fejten Beftand gewonnen haben, ehe man in die— 
ſem Sinn die Miffion verficchlichen könnte. Den Kirchenregie— 
rungen würde es faft durchweg am geeigneten, in der Miffion 
grümdlich erfahrenen Männern fehlen. Zudem find unfere Landes— 
kirchen aufs engfte mit dem Staat verknüpft, der ftaatlichen Auf 
ficht unterworfen und auf ftaatliche Geldmittel angemwiefen. Wenn 
eine Kirche fo eng mit dem auf Rechtsgrundſätze gegründeten und 
mach Rechtsnormen geleiteten Staat verflochten ift, kann fie nicht 
als Kirche die geeignete Leiterin für die Miffionsthätigkeit fein, 
welche auf Glauben fich gründet und in Liebe gejchieht und dar— 
um auch feine nationalen Grenzpfähle kennt. Niemals wird eine 
deutſche Staatsfivche aus ftaatlich verwilligten Geldern Miſſions— 
beiträge leiſten können. Auch mit Nückjicht auf die interkonfeſ— 
fionellen Verhältniſſe wird jede deutiche Staatsregierung eine der— 
artige Verficchlichung der Miffton unbedingt ablehnen. Fir die 
Miffton jelbft wäre gewiß eine folche Verfirchlichung unheilvoll ; 
fie würde aus dem Gebiet des Glaubens in die Sphäre des Nechts, 
aus dem Land der Freiheit in die Schvanten des Zwangs ver- 
jest. Abgefehen von alle dem ftehen wir vor gefchichtlich ge— 
wordenen Verhältniſſen. Die Stellung von Miffion und Kirche 
im Anfang des 19. Jahrhunderts Hat es mit fich gebvacht, daß 
fich die deutſche Miffton in freien Gejellichaften organifiert hat, 
Die Unterordnung der Miffton unter die Staatskicchenbehörden 
würde einen vollftändigen und gewaltfamen Bruch mit der Ge 
ſchichte bedeuten. 

Alſo nicht um die Einführung dev Miſſion in die rechtliche 
und ſtaatliche Organifation der Kirche kann es fich handeln, deſto 
mehr um die Einführung der Miffion in das Leben der Kirchen— 
gemeinde, 

Wir meinen damit in erſter Linie, daß die Miſſion wirklich 


Ma, in den Gefichtskreis der Kirche oder der firhlihen Gemeinde 


) 


Haller: Die Einführung der Miffion in das kirchliche Leben. 351 


eingeführt wird. Die Miffion foll nicht ein befonderes gutes 
Werk einiger Nuserwählten, nicht eine abfonderliche Angelegen- 
beit kleinerer Kreife, nicht eine Spezialität pietiftifcher Gemein: 
Ichaften jein, jo ſehr wir dankbar anerkennen, was in diefen 
Kreiſen für die Miffion geschieht; ſondern die Miffion foll eine 
Sache der evangelifchen Gefamtgemeinde werden, eine heilige Auf- 
gabe, welche alle, wirklich alle lebendigen Glieder der evangelifchen 
Kirche als die ihrige anerkennen, 

Damit ift jchon das Weitere gegeben: die Miſſion darf nicht 
bloß in Privatvereinigungen gepflegt werden, jeien es pietiſtiſche 
Stunden, jeien es Miffionsvereine im Pfarrhaus; fondern die 
Miſſion hat ein Necht, in der öffentlichen Kirche behandelt zu 
werden, und zwar nicht bloß in außerordentlichen kirchlichen Got— 
tesdienjten, auch nicht bloß in Gottesdienjten zweiten und dritten 
Nangs, zu denen fich nur ein geringer Prozentfag der jonjtigen 
Kirchenbefucher einfindet; fondern in dem Hauptgottespdienft, 
wo das Gros der Gemeinde anweſend ijt, joll die Miſſion einer 
ihrer Bedeutung und dem Charakter des Gottesdienftes entjprechende 
Berückſichtigung finden. 

Ferner ift klar: wenn die Miffion vor die Gejamtheit der 
Gemeinde gehört, jo ift dev Träger des kirchlichen Amts eo ipso 
Vertreter der Miffionsfache, nicht bloß der Stundenhalter, der im 
Kreis der Seinigen Miffionsblätter vorlieft, auch nicht bloß Miſ— 
fionsprediger, die jährlich vielleicht einmal die Gemeinde befuchen, 
jondern der Gemeindepfarrer. Und die Vertretung der 
Miſſion durch ihm ift nicht ein opus supererogativum, das er 
etwa leiftet, nicht eine Liebhaberei, die er haben oder auch nicht 
haben kann; jondern jie gehört zu feinen unmittelbaren und jelbft- 
verftändlichen Amtsobliegenheiten. Freilich muß er dann auch 
die Befähigung haben, diefem Zweig feiner kirchenamtlichen Thä— 
tigfeit gerecht zu werden, und es muß ihm Gelegenheit geboten 
werden, dieje Befähigung zu erwerben. 

Wenn aber die Miffion in dieſer Weiſe in daS firchliche 
Leben eingeführt wird, müffen auh Kirhenbehörden und 
firdlihe Synoden eine pofitive Stellung zur Miffion ein- 
nehmen; jie können micht am ihr ſtillſchweigend vorübergehen., 


352 Haller: Die Einführung der Miffion in das Kirchliche Leben. 


Die Kirchenbehörden werden die Miffton nicht bloß dulden, ſon— 
dern durch Gewährung des nötigen Maßes von freiheit und 
wohl auch durch pojitive Anordnungen fördern, Und wie die 
Synoden größerer und Eleinerer Kivchengebiete von dem Stand 
des kirchlichen Lebens überhaupt Kenntnis nehmen, jo werden fie 
wohl auch das heimijche Miffionsleben, jeinen Stand, feine Ent- 
wicklung, die Leiftungen dev Gemeinde und dgl, in den Kreis 
ihrer Beratungen ziehen. 

Daß die Mifjion vor die Gejamtgemeinde gebracht, vom 
ordentlichen Pfarramt gepflegt, von der Kirchenbehörde gefördert 
und jo in das Eirchliche Leben der Gemeinde eingeführt werde, 
das ift die Verkicchlichung dev Miffion im rechten Sinn. 

2. Worauf gründet jich nun dieſe Forderung? Worauf bes 
ruht ihr Recht? 

Es dürfte außer Frage jtehen, daß der Stand der Mif- 
jionsfinanzen in den legten Jahren den Auf immer lauter 
erfchallen Lieb: Verficchlihung der Miffion. An die deutjchen 
Miffionsgefellichaften werden immer größere Anforderungen ges 
ftellt, Die Arbeitsgebiete haben fich bedeutend erweitert; die alten 
Miffionsunternehmungen find mehr und mehr gewachjen, und die 
Heranziehung der vielfach armen heidenchriftlichen Bevölkerung in 
den Miffionsländern zur Aufbringung der Koften des Gemeinde 
lebens hat trotz energifcher Verſuche nicht gleichen Schritt mit 
den wachjenden Bedürfniſſen gehalten. Dazu jind feit Eröffnung 
der deutjchen KRolonialpolitif neue und foftfpielige Aufgaben. an 
die deutjchen Miffionsgejellichaften hevangetreten. Nicht nur bei 
der Basler Mifjton, jondern auch bei der Brüdergemeinde, bei 
der Rheinischen Miffionsgefellichaft, bei der älteren und bei der 
Goßnerſchen Miffion zu Berlin find Defizits in der Miffions- 
rechnung eine faſt bejtändig wiederkehrende Erjcheinung gemorden?), 


’) Als Beifpiele jeien genannt: 


Basler Miffion Rheinische Miffion 
1890 18900 M. 2500 M, 
1891 12400 M, 45600 M. 
1892 92400 M, 1600 M, 
1895 36000 M, 9900 M. 


Fortfegung nächjte Seite. 


J 


Haller: Die Einführung dev Miffion in das firchliche Leben. 353 


Was liegt näher als die Frage: find die Miffionsfreunde, die 
bisher zur Sache gehalten haben, zahlveich genug, um die nötigen 
Geldfummen auch in Zukunft aufzubringen? Fordert nicht die 
gewaltige Ausdehnung der Mifjion in die Höhe und Breite auch 
eine Erweiterung der Miffionsgemeinde in der Heimat? muß 
nicht das Fundament bedeutend erweitert und verftärkt werden, 
wenn der große Oberbau nicht zufammenftürzen foll? Die finan: 
zielle Notlage der Miſſion in der Gegenwart führt faft notwen- 
dig zu dem Wunfche, den Kreis der Miffionsfreunde zu erweitern 
und die Gejamtgemeinde für die evangelifche Mifftonsarbeit zu 
gewinnen. 

Aber nicht bloß der Wunſch nach höheren finanziellen Leistungen 
dev Heimatgemeinde legt die Einführung der Miffion in das kirch— 
liche Leben nahe, fondern auch die Erkenntnis von dem heilfamen 
Einfluß, welchen die Pflege dev Miffion auf die heimatlichen Ge- 
meinden ausübt. Der geiftlihe Segen, der ihr dadurch 
erwächjt, kommt ihren Opfern gleich. Es herrſcht zwijchen Miſ— 
jion und Gemeinde ein Asyos Börewg nal Afıbews, ein Gemein- 
ichaftsverhäftnis gegenfeitigen Gebens und Nehmens (Phil. 4, 15). 
Die opferwilligſte Miffionsgemeinde Deutjchlands, die Brüderge— 
meine, bat bei ihrem 150jährigen Miffionsjubiläum (1882) dank: 
bar anerkannt, daß „ihr Miffionswerk der Segen der Brüderge— 
meine geweſen“ jei; „die Miffion ift wohl die wichtigite Puls— 
ader ihres Organismus“ ; „haben wir das Neich Gottes unter 
den Heiden gebaut, jo hat das Werk der Heidenmiffion das Reich 
Gottes unter uns gebaut; daS predigt unfere Gefchichte mit übers 
zeugender Kraft der Thatſachen“. Die Einführung einer Gemeinde 
in die Miffion wirkt vertiefend auf ihre Erkenntnis, ſtärkend auf 
ihren Glauben, erweiternd auf ihre Liebe. Wer das religiöfe 
Leben feiner Gemeinde zu heben verfucht, wird die Pflege der 


Basler Miffion Rheinische Miſſion 
1594 + 51400 M. 6800 M. 
1895 — 1400 M. 19700 M. 
1896 81500 M. 61800 M. 
1897 203400 M. 9400 M. 


1898 102800 M. 45700 M. 


— 


354 Haller; Die Einführung der Miſſion in das kirchliche Leben. 


Miſſion als wertvolles und erfolgreiches Mittel ſchäten lernen. 

Aber die beiden angeführten Gefichtspunfte find doch nur 
äußerlich und zufällig. Die Einführung der Miffion in das 
Tirchliche Leben wäre damit empfohlen jowohl im Intereſſe der 
Miffion wie im Antereffe der Gemeinde; aber fie wäre damit 
nicht gerechtfertigt. Gerechtfertigt ift fie nur durch die Erkennt- 
nisdes unmittelbaren und notwendigen dw 
jammenbangszmwifhenChriftentumund Miffton 
überhaupt. Nicht bloß der Taufbefehl weiſt hin auf navım 
= ähm (Matth. 28,20); jondern auch jynoptifche Neden Jeſu 
wie „das Evangelium wird gepredigt merden in aller Welt“ 
(Matth. 24,14) oder „wo dies Evangelium gepredigt wird in 
aller Welt" (Matth. 26,13) und johanneifche Zeugniffe wie, „ich 
bin das Licht der Welt“ (oh, 8,12) oder „ich habe andere 
Schafe, die find nicht aus diefem Stalle" (Joh. 10,16) bezeugen 
für jeden unbefangenen Lejer des Neuen Tejtaments, daß das 
Ehriftentum nach dem Willen feines Stifters die Univerfalcelis 
gion der ganzen Menfchheit fein fol. Und dasſelbe Prinzip wird 


Bu | 


mehrfach vom Apoftel Paulus ausgejprochen (Röm. 1,16; 10,12 . 


2.2.0.) Es giebt wohl feine theologiſche und kirchliche Richtung 
in der Gegenwart, welche diefen ungeheuren Anjpruch des Chriften- 
tums preiszugeben wagte. Die Mifftonserfahrung aber hat bis 
jest bewiejen, daß fein Volk unfähig it, das Chriftentum zu 
verftehen. Warner hat gewiß Recht, wenn ev am Schluß feiner 
diesbezüglichen Ausführungen das Programm aufftellt‘): „Das 
Chrijtentum für die Menfchheit und die Menſchheit fiir das 
Chriſtentum“. ft aber die Beftimmung des Chriftentums zur 
Weltreligion anerkannt, jo kann die Ausbreitung nicht dem Zur 
fall überlaffen, jondern muß planmäßig ins Werk geſetzt werden, 
Dann darf nicht ein Teil des evangelifchen Chriftenvolts die 
Miffionspflicht ablehnen und ein anderer Teil fie als fein be— 
fonderes Vorrecht beanjpruchen, ſondern die Geſamtheit der evan— 
gelifchen Chriftenheit muß die Rieſenaufgabe der Völkerchriftiani- 
fierung in Angriff nehmen. Die Miffion muß in das Leben der 
Gefamtgemeinde, in das Firchliche Leben eingeführt werden. Alfo 


4) Evangelifche Mifftonsiehre, I. Band, 1. Auflage, S. 319, 


Haller: Die Einführung der Miffton in das kirchliche Leben. 355 


nicht äußerliche Verhältniffe und zufällige Umftände oder allerlei 
Nebenzwecke, fondern das Weſen des Ehriftentums als der Welt- 
religion fordert die Einführung der Miſſion in das Firchliche 
Leben. 


I, 


Nachdem wir den Sinn umd die Berechtigung der Forderung 
„Einführung der Miffton in das Firchliche Leben“ darzulegen ver- 
fucht haben, fragen wir nad der gefhichtlihen Entwid- 
lung des Verhältniſſes vonKirche und Mifjion 
innerhalb der deutfh=evangelijhen Chriſten— 
heit, 

Es heben fich deutlih drei Perioden von einander ab: 
zuerjt eine Periode ohne Miffion, hernach eine Periode mit außer: 
kirchlichem Miffionsleben, zulegt eine Periode mit ſtarker Annähe- 
zung dev Kirche an die Miffion, m. a. W. zuerft Feine Mij- 
jion, dann pietiftifhe Miffion, zuleßt kirchliche 
Mijfion, 

1. Innerhalb der mifjionslofen Beriode der evan- 
gelifchen Kirche laſſen fich zwei Abfchnitte unterfcheiden. Für Die 
Neformatoren felbit und ihre Zeit Liegt die Miffion außer 
halb des Gefichtöfreifes; von den Vertretern der nachfolgenden 
Orthodoxie mwird die Miffionspflicht abgemiefen. Zuerſt 
wußte man nichts von Miſſton, hernach wollte man nichts von 
Miffion wiſſen. 

Luther redet wohl manchmal von Türken und Heiden ; 
aber an eine planmäßige Ausbreitung des Evangeliums unter 
ihnen hat ex nicht gedacht, und der Verſuch von Plitt-Hardeland!) 
u. a, den Miffionsgedanfen bei Luther nachzumeifen, ift voll: 
ftändig mißlungen. Man hat allerlei Erklärungen für dieſen 
Mangel in der reformatoriihen Erkenntnis aufgeitellt: die evan- 
gelifchen Länder haben damals feine Beziehungen zu überjeeifchen 
Weltteilen gehabt, die Aufgabe des Reformationzzeitalters fei die 
Ueberwindung des römiſchen Heidentums innerhalb der alten 


*) Kurze Gefchichte der futherifchen Miffion, 2. Aufl., 1894. 





356 Haller: Die Einführung der Mifjion in das Firchliche Leben. 


Ehriftenheit gemefen — darauf jet die „Miffion“ der Reforma— 
toren gegangen —, die Reformatoren haben das gejchichtliche Ur— 
teil vertreten, der große univerfaliftifche Miffionsbefehl Jeſu jei 
in der Vergangenheit bereits ausgeführt worden, ihre dogmatifche 
Anfhauung über Prädeftination und Eschatologie feien Kinder 
niffe gewejen. Jedenfalls war die Mifftionsfache dev Reforma— 
tionszeit ganz fremd, 

Die orthodoren Theologen der nachreformatorifchen 
Zeit wurden zur Auseinanderjegung mit dev Miffionsjache ge- 
nötige. Nicht nur wurden einzelne praftifche Miffionsverfuche 
unternommen 3. ®, von Peter Heiling in Abeffinien (F um 1654), 
fondern e3 traten auch einzelne Theologen wie Calixt, Dannhauer 
u. a, zu Gunften der Miffton ein; namentlich aber erließ der 
edle, wen auch etwas ſchwärmeriſche öfterreichifche Freiherr Ju— 
ftinian von Wels (+ 1668 in Surinam) mehrere begeifterte Auf- 
rufe an die enangelifche Chrijtenheit zur Ausbreitung des Evan— 
geliums in der nichtchriftlichen Welt (1664). Aber die Kirchen 
regierungen gewährten ihm feine Unterſtützung, jondern 
wiejen ihn ab. Das mitrttembergifche Konftftorium‘) hielt feine 
Mifjionsgedanfen für praktifch unausführbar: es würde an dau- 
ernden und regelmäßigen Gaben fehlen, die Wahl eines Mifftons- 
gebiets wäre jehmierig: die Türken feien intolerant, Rußland ober- 
flächlich chriftianifiert, in Weft- und Oftindien gebe e8 feine augs- 
burgifchen Konfeffionsverwandten ; junge afademijch gebildete Män— 
ner würden bei ihrer Unerfahvenheit in wenigen Jahren doch nicht 
viel Tüchtiges leiten. Einigemal fließen auch theoretifche Erwä— 
gungen ein: die Apojtel Jeſu haben „außerordentlichen Befehl 
und Elare Verheißung von Chriſto“ gehabt, aber nicht die jetzige 
Generation; „ex professo auszuziehen" und fich zur Berfün- 
digung des Evangeliums ſchicken zu laffen, gehöre den ministris 
ecclesiae zu. Man fieht aus diefer Erklärung, daß das Konſi— 
ftorium mit feinerlei Mifjionsintereffe in ber württembergiſchen 
Kirche vechnen Fonnte und eine Wedung des Mifftonsfinns: nicht 
wagte. 

Die Theologen der Univerfitäten gingen noch weiter; 

2) Bergl. Blätter für württemb. Kirchengefchichte 1899, S. 170 ff. 








Haller: Die Einführung der Miffion in das kirchliche Leben. 357 


fie ftellten eine weitjchichtige Theorie auf, wonach die Miffton un- 
nötig, ja im Grunde undriftlich jei. In einem ausführlichen Gut- 
achten der theologifchen Fakultät zu Wittenberg (1651) wird aus- 
geführt: der Befehl „aehet hin in alle Welt" fei ein personale 
privilegium der Apoftel gewejen; diefer Befehl ſei thatjächlich ſchon 
ausgeführt; durch Adam, Noah und die Apoftel ſei der ganzen 
Menjchheit die Wahrheit verfündigt worden; der jegige Zuftand 
der Heidenmwelt jei die gerechte Strafe Gottes für den Unglauben 
der Väter; den weltlichen Obrigfeiten als den Pflegerinnen und 
Säugammen der Kirche und der landesfürſtlichen Obrigfeit falle 
die Pflicht zu, den wahren Gottesdienft auszubreiten. Der große 
Dogmatifer von Jena, Johann Gerhard, will beweifen, daß in 
der apoftofifchen Zeit das Evangelium thatfächlich in der ganzen 
Welt ausgebreitet worden fei, in der Tartarei und Aegypten, in 
Tunis und Marokko, unter Merilanern und Brafilianern, unter 
Indien und Ehinefen. In Beziehung auf den Taufbefehl be 
merkt ev: „mandatum praedicandi evangelium in tote terrarum 
orbe .... cum apostolis desüt‘. Was anderes konnte das Er— 
gebnis ſolcher Theorien fein, als was einige Jahrzehnte jpäter 
noch (1722) im Kampf mit der pietijtifchen Mifjionsbewegung dev 
Dichter des Lieds Jeſus nimmt die Sünder an", Erdmann Neu— 
meifter in Hamburg gepredigt hat: „Daß die jogenannten Miſ— 
fionen heutzutage nicht nötig feien" und was er am Schluß einer 
Predigt am Himmelfahrtsfeft gejagt hat: „vor Zeiten hieß es 
wohl: gebt hin in alle Welt, jest aber: bleib allda, wohin dich 
Gott geſtellt“. Die Orthodoxie hat die Mifftonspflicht nicht nur 
nicht entdeckt, ſondern auch) das erwachende Miffionsleben mit Ber 
mußtjein theoretifch und praktifch befämpft. 

2. Aber troß der Zurückhaltung der Firchlichen Negierungen 
und troß des Widerſpruchs der firchlichen Theologen hat fich die 
Miſſion Bahn gebrochen, und zwar zuerft in folchen Kreifen die 
teils äußerlich der Staatskirche angehörten, aber daneben in engeren 
Kreiſen ihr veligiöfes Leben pflegten, teils auch vechtlich von der 
Staatskirche gefchieden waren, Der hallifhe Pietismus 
und die Zinzendorfifche Brüdergemeinde wurden die 
erſten Träger des deutjchen Miffionslebens. Schon Spener und 

geitfehrift für Theologie und Kirche. 10. Jahrgang. 5. Deft. 24 








u 


358 Haller: Die Einführung der Miffion in das kirchliche Leben. 


Seriver haben mehr Sinn für Miffion verraten als die ortho— 
doren Theologen. Frande, der mit dem Philoſophen Leibniz, 
einem energijchen und geifteeichen Anwalt der Miffion, in Ver— 
bindung ftand, wurde der Vater der deutfchen Miffionsunterneh- 
mungen. Von Halle gingen die erſten afademifch gebildeten Theo— 
logen Ziegenbalg, Plütihau, Schwark nach den dänifchen Beſitz— 
ungen in Oftindien (von 1705 an). Zur Wedung und Pflege 
des heimifchen Miffionsfebens wurden von 1710 regelmäßige Be: 
richte „Oftindifche Mifftonsnachrichten", jpäter unter dem Titel 
„Mifftonsnachrichten der ojtindijchen Mifjtonsanftalten in Halle“ 
herausgegeben (bis 1880). Frande fuchte eine Miffionsgemeinde 
zu fammeln. Bei dem Widerftand der amtlichen Kirche konnte er 
feeilic) die Miffion nicht zur Kicchenfache machen, aber fie wurde 
von den pietiftijchen ecelesiolae in ecelesia warm unterjtüßt. Es 
war innerhalb der großen Kirche eine Mifjionsgemeinde entſtanden. 
Neben den Kreifen, die im Hallifchen Waijenhaus ihren Mittel- 
punft hatten, bildete fich wenige Jahrzehnte darauf ein zweites 
deutſches Miffionszentrum; die Brüdergemeinde zu Herrn- 
but. Nach allen Richtungen entfandte Zingendorf feine Glaubens- 
boten: nad) Grönland und Wejtindien, zu den Samojeden und den 
Lappen, nad) Perfien und China, nach Oftindien und Eeylon, in den 
Kaukaſus und in die Wallachei, ſelbſt an die Goldfüfte in Weſt— 
afrita. „In zwei Jahrzehnten hat die Hleine Brüdergemeinde mehr 
Miffionen ins Leben gerufen als der gefamte Brotejtantismus in 
zwei Jahrhunderten“ i). Dieſe Freudigfeit zu Miffionsunterneh- 
mungen wäre unerklärlich, wenn der Mifftonsgedanfe nicht in der 
Brüdergemeinde tiefe Wurzeln geſchlagen hätte, Ein Beweis für 
die perjönliche Anteilnahme Zinzendorfs an den Miffionsunter- 
nehmungen liegt darin, daß er fich (1742) in den Bund des In— 
dianerftamms der Jrokeſen aufnehmen ließ. Die Miffionslieder, 
die Zinzendorf zum Teil jelbft verfaßt, entfachten die Liebe zur 
Mijfion. Die großartige perfönliche Opfermilligleit der Brüder, 
die alles daran wagten um des Evangeliums willen, bezeugt die 
Lebendigkeit und Kraft des heimijchen Miſſionslebens. 


) G. Warned, Abriß einer Gefchichte der proteftantifchen Miſſion, 
3. Auflage, ©. 57. 








Haller: Die Einführung der Miffion in das Kirchliche Leben. 359 


Und doch blieben die altpietiftifchen Miffionsunternehmungen 
ohne wefentlichen Einfluß auf die Gefamtlirche Deutjchlands. 
Jahrzehnt um Jahrzehnt verging, ohne daß die Miffion in wei 
teren Kreifen feften Fuß faſſen konnte. Unter dent verfnöchernden 
Einfluß des Nationalismus geriet die halliſch-däniſche Miſ— 
fion in eine bedenkliche Leutenot und verlor die eigentliche Mife 
fionsaufgabe aus dem Auge. Vielfach befämpfte der Nationalis- 
mus die Miffion als pietiftiiche Schwärmerei und Träumerei, als 
ein thörichtes und ausfichtslofes Unternehmen. Seine Abneigung 
gegen die Miffion fteigerte jich manchmal geradezu bis zur Feinde 
haft. Im Eljaß wurden Basler Mifftonszöglinge wegen ihrer 
Vorträge von den öffentlichen Sicherheitsorganen gefaßt und eins 
geſteckt. Eine Folge diefer ablehnenden Stellung der rationalifti- 
ſchen Kivchenbehörden und Theologen war, daß die Miffion im 
Anfang des 19. Jahrhunderts unabhängig von den Kicchenvegies 
rungen von freien Geſellſchaften betrieben wurde und daß fich die 
Theologen faſt ganz von der Miſſion fern hielten. 

Wieder war es der Bietismus, der den Nährboden des 
neu auffeimenden Miffionslebens in Deutfchland bildete. Nur 
bat jet nicht mehr der norddeutſche, jondern der ſüddeutſche Pie— 
tismus die Führung. Kampf gegen die vationaliftiiche Neologie, 
allgemeine veligiöje Erweckung und Erwachen der Miſſionsbegeiſte— 
rung waren zeitlich und fachlich aufs engſte miteinander verbunden. 
„Vater“ Fämicke, der im Jahr 1800 die erſte deutfche Mif- 
fionsichule in Berlin ins Leben vief, aus welcher jo bedeutende 
Männer wie Ahenius und Gützlaff hervorgingen, ſtand mit Halle 
und Herrnhut in Beziehung umd mar auch von dev englifchen 
Miffionsbewegung beeinflußt. Diefelben Kreife, die fih um Jä— 
nice gejchart hatten, gründeten etwas fpäter (1823) die ältere 
Berliner Miſſionsgeſellſchaft. Im Süddeutſchland 
wurde die von Johann Urlſperger 1780 gegründete „Chriften- 
tumsgeſellſchaft“ die Mutter der älteſten deutfchen Miſſionsge— 
jellichaft, der Basler Miffion (1815), welche zuerſt nur ein Mif- 
fionsfeminar unterhielt, bald aber zu jelbjtändiger Ausfendung von 
Mifjionaren überging. Das Organ der Chriftentumsgejellfchaft, 
die „Sammlungen für die Liebhaber der chriftlichen Wahrheit“, 

24* 








360 Haller: Die Einführung der Miffion in das kirchliche Leben. 


haben durch zahlreiche Miffionsberichte aus engliſchen Quellen den 
Boden vorbereitet, Bald entjtanden befondere Miffionszeitichriften 
der Basler Miffionsgefellichaft: 1816 das Miffionsmagazin als 
Quarxtalfchrift und 12 Jahre darauf das populäre Monatsblatt, 
„Der Heidenbote". Weber das Miffionsmagazin urteilt Warneck ): 
es babe „zur Verbreitung dev Miffionskenntnis wie zur Weckung 
und Pflege des Mifjionslebens in Deutjchland und der Schweiz 
unſchätzbare Dienfte geleiſtet“. 1828 trat auch das von Dr. Barth 
redigierte „Calwer Miffionsblatt” auf den Plan. Das Miſſions— 
leben, das fich von Baſel aus faſt über ganz Deutjchland hin 
ausbreitete, fand feinen Ausdruck in den zahlveichen Miſſionsver— 
einen, d. h. in Hilfävereinen, welche das Basler Mifjionswerk 
unterftügten?). Mag auch im Vergleich mit den heutigen Ver— 
hältniſſen die Wirkjamteit diefer Vereine eine befchränfte geweſen 
fein, jo waren doch überall Anknüpfungspunkte gewonnen. Wie 
die Basler und Berliner Miffionsgefellichaft ift auch die Rhei- 
niſche Miſſionsgeſellſchaft zu Barmen, 1828 gegründet, 
eine Frucht der Erweckungszeit. Die drei älteſten und größten 
Miſſionsgeſellſchaften ſind aus den Kreiſen des Pietismus und der 
Erweckung hervorgegangen; fie ſind deshalb auch in konfſeſſio— 
neller Beziehung tolerant, ſtellen ſich alſo nicht mit Entſchiedenheit 
auf das Lehrbekenntnis dev lutheriſchen oder reformierten Kirche. 

Bis weit herein in das 19, Jahrhundert find die pietiftifchen 
Kreife die ausfchlieglichen oder doch hauptjächlichjten Träger der 
Miſſion geblieben. Zwei neuere Miffionsgejellichaften, die Schleswig— 
Holjtein’fche zu Breklum (1877) und die Neukirchner (1882) find 
aus Fonfejfionell-pietiftifchen Kreifen hervorgegangen; die erſte ijt 
futherifche, die zweite veformiertspietiftijch. Und noch heute ner= 
leugnet fich der enge Zufammenhang zwifchen Miſſion und Pietismus 
nicht. Die Miffionsgottesdienfte ohne fejtlichen Charakter pflegen 
wir in Süddeutſchland immer noch als Miffions- Stunden” zu 
bezeichnen. Unter den Miffionaren it überall der Brudername 
üblich, In Norddeutichland habe ich vor einigen Fahren eim 


) Abriß, ©. 107. 
*) So in Zeonberg, Rornthal, Stuttgart, Nürnberg, Dresden, Bremen, 
Berlin, Königsberg, Bern, Zürich, Schaffhaufen. 


Haller; Die Einführung der Miffion in das firchliche Leben. 361 


Miſſionsfeſt mitgefeiert, bei welchem jehr wenig über Miffion 
gefprochen, dagegen viel in erwecklicher Weiſe gepredigt wurde. 

3. Aber doch hat fich unzweifelhaft ein bedeutſamer Umſchwung 
im Lauf des 19. Jahrhunderts vollzogen. Die Mijfion ift 
nah und nah von der Kirche aufgenommen 
worden. 

Neben den Älteren ſpezifiſch pietiftifchen Miffionsgefell 
haften find neue entjtanden mit entjchieden fivhlidem - 
Charakter. Der Konfeffionalismus hat 1836 zur Gründung 
der ſächſiſchen Mifjionsgefellfchaft zuerjt in Dresden, jest in Leipzig 
geführt. Ihr erfter hervorragender Direktor (jeit 1844) war der 
ftrenge Kicchenmann Profefjor Graul, Schon darin, daß dieje 
Gefellfchaft urfprünglich nur afademifch gebildete Theologen aus— 
jandte und jpäter nur durch den Mangel an jungen Theologen 
zur Gründung eines Miffionsjeminars veranlaßt wurde, liegt ein 
Beweis für ihren ftveng kirchlichen Charakter, In der älteren 
Berliner Miſſionsgeſellſchaft vollzog ſich allmählich eine Wandlung 
in kirchlich-konfeſſionellem Sinn und kirchlich- wiſſenſchaftlicher 
Richtung; die Gründung einer zweiten Berliner Miſſionsgeſellſchaft 
durch den befannten Johann Goßner (1836) ift als Reaktion des 
Pietismus gegen die Verkirchlichung der älteren Berliner Miffion 
zu beurteilen. 

Nehmen wir die neuere Entwiclung hinzu: die Entjtehung 
des allgemeinen evangelifch-proteftantifchen 
Miffionsvereins (1884) aus den Kreiſen der ſchweizeriſchen 
Reformpartet und des deutjchen Protejtantenvereins heraus zeigt, 
daß das Miffionsintereffe auch in folchen reifen zur That treibt, 
welche dem Pietismus gegenüber eine ſtreng ablehnende Stellung 
einnehmen. Ebenſo ift die Gründung von drei neuen Miffions- 
gefellchaften im Jahr 1886 im Zufammenhang mit den fol o- 
nialen Erwerbungen Deutjchlands — es ift die Deutſch— 
oftafrikanifche Miffionsgefellichaft zu Berlin („Berlin III“), die 
Neuendettelsauer und die batrifch-oftafrifanifche Miffionsgefellichaft, 
fpäter mit der Leipziger Miffion vereinigt — ein ſprechendes 
Zeugnis davon, daß die Mifjton in weiter nicht-ptetiftifchen reifen 
Eingang findet. 


362 Haller: Die Einführung der Miffton in das kirchliche Leben. 


Zweifellos ift ferner die Pflege des Miffions 
lebens mehr und mehr in Ficchliche Leitung übergegangen. Die 
Miffion hat ſich in weiten Gebieten Deutjchlands eingebürgert, 
welche eine pietiftifche Erwedung und pietiftifche Gemeinjchaften 
überhaupt nie kannten. Anderwärts find die Miffionsitunden 
vielfach aus den pietiftifchen Privathäufern in die Kirche oder 
wenigſtens in die Schullofale eingezogen. Der Pfarrer hält die 
Miffionsftunden oder den Miffionsvortrag. Die Miffionsfefte 
haben fich zu chriftlichen Volksfeſten im edelften Sinn des Worts 
entwickelt, bei denen in Norddeutjchland die firchliche Liturgie 
nicht fehlen darf und bei denen Pfarrer und Miffionare in brüder- 
licher Eintracht zufammenmwirken. Die kirchlichen Agenden ent 
halten eine größere oder Kleinere Anzahl von Mifftonsgebeten. 
In allen Provinzen Preußens wird alljährlich ein Miſſionsfeſt 
in jeder Gemeinde gefeiert. Die Sammlungen für die Miffton 
erfolgen nicht mehr bloß im engen Kreis der Stillen im Lande, 
fondern im öffentlichen Gemeindegottesdienft. Die umfangreiche 
populäre Mifftonslitteratur hat den früheren pietiftijchen Charakter 
mehr und mehr abgejtreift und wird jest auf weitere Volkskreiſe 
berechnet. 

Je mehr die praftifchen Geiftlichen ſich dev Miffionsjache 
widmen, deſto größer ijt das Bedürfnis nach einer entfprechenden 
Ausrüftung, defto mannigfaltiger und gründlicher werden auch 
die Veranftaltungen, um den Amtsträgern die nötigen Kenntnifje 
mitzuteilen. Es waren zuerſt ftudentifhe Miſſions— 
vereine, welche an einer Anzahl von deutfchen Hochſchulen 
ins 2eben traten. Sie haben aber, wie es jcheint, nirgends eine 
umfafjende und tiefgreifende Wirkung ausgeübt. Sie haben zum Teil 
die Innere Miffion, ja ſogar joziale Gegenftände in ihr Programm 
aufgenommen. Der Hauptgrund, warum fie jich nicht zur Blüte 
entfalten, dürfte, abgejehen von dem geringen Intereſſe, das der 
eivis academieus den Aufgaben des praftifchen Lebens entgegen- 
zubringen pflegt, in dem Mangel an fachkundiger und kontinuier— 
licher Leitung zu fuchen fein. Leber die neuere von England und 
Amerika ftammende Studentenbewegung, welche, wie alle Erweckungs— 
bewegungen, Luſt und Liebe zur Miffion wachruft, dürfte ein ab— 


J 


Haller: Die Einführung der Miffton in das kirchliche Leben. 368 


ſchließendes Urteil noch nicht gefällt werden, Es wird alles darauf 
ankommen, ob die Bewegung in den Bahnen der Nüchternheit 
verläuft oder in Enthufiasmus ausartet. r 

Von ungleich größerer Tragweite ift es, daß die Miffton in 
den legten Jahrzehnten nicht felten auf den deutjchen Hochſchulen 
in VBorlefungen behandelt worden ift. Nicht erſt feit 
D. Warned in Halle als Profeſſor honor. jteht, ſondern ſchon 
zuvor fand die Miffion auf den deutfchen Univerfitäten ihre Ver— 
treter. Vom Sommerjemefter 1891 bis Sommerſemeſter 1900 
wurde auf den 17 deutjchen Univerfitäten mit evangelifch-theologi= 
ſcher Fakultät, 65 mal über Miffton gelejen'). In 57 dieſer 
Vorlefungen wurden Stücde aus der Mifjtionsgefchichte, in 5 die 
Mifftonslehre, in einer ſowohl Mifftonsgejchichte wie auch Mif- 
fionstheorie, in 2 das heimische Miffionsleben behandelt. Pro— 
feffor Warnee hat außerdem 6mal ein miſſionswiſſenſchaftliches 
Seminar gehalten. Won bejonderer Bedeutung ſcheint ein drei— 
faches: daß die große Mehrzahl der theologischen Fakultäten die 
Miffton in ihr Vorlefungsverzeichnis aufgenommen bat, daß 
nicht nur außerordentliche Profefjoren , fondern der Mehrzahl 
nad) ordinarii über Miffton Teen und daß Theologen aller Rich- 
tungen Miffionsvorlefungen halten. Was wohl dev alte Gerhard 
dazu jagen würde? 

Die für die Pflege des Miffionsintereffes unter den Theologies 
Studierenden vielerorts gejorgt wurde, jo find auch befondere Ver— 
anftaltungen für die Geiftlihen im Amt getroffen worden. 


1) Sn Berlin 15mal von Plath, dem Inſpeltor der Goßner'ſchen 
Miffton, in Bonn 2mal von Sell, in Breslau je Imal von Miller und 
Schmidt, Smal von Kawerau, in Erlangen 2mal von Wiegand, in Gießen 
Imal von Köjtlin, in Göttingen Smal von Tfehadert, in Greifswalde Imal 
von Nathufius, in Halle mal von Warned, in Jena je Imal von Drews 
und Nippold, in Königsberg 4mal von Benrath, Zmal von Jakoby, in 
Marburg Ilmal von Mirbt, in Roſtock Imal von Hashagen, in Straß- 
burg Amal von Lucius, — alfo auf allen Univerfitäten mit 
Ausnahme von Heidelberg, Kiel, Leipzig und Tübingen. 
In den erjten 10 Semejtern des genannten Zeitraums wurde 23mal, in 
den legten 9 37 mal über Miffton gelefen. [Für abjolute Genauigkeit 
diefer Statiftit will ich nicht bürgen. Sie wurde nach der „Allg. evang⸗ 
Luther. Kirchenzeitung“ gefertigt.] 





Di 


364 Haller: Die Einführung der Miffion in das Firchliche Leben. 


Es find vor allem die Miſſionslehrkurſſe. Solche 
werden von der Miffionsanjtalt der älteren Berliner Miffion feit 
1886 fat jedes Jahr von der brandenburgiſchen Mifjionskonferenz 
gehalten. Die Barmer Miffion ift dem Vorbild Berlins gefolgt. 
In Süddeutfchland haben in den letzten Jahren Kirchliche Kreiſe 
in Verbindung mit der Basler Miffionsgefellfchaft bald in Würt— 
temberg (Freudenftadt), bald in der Schweiz (Heinrichsbad), bald 
in Heffen (Friedberg, Kaſſel) ähnliche Kurſe ins Leben gerufen. 
Den ſüddeutſchen Kurjen fehlt das wichtige Stück Anſchauungs— 
unterricht, das bei der Abhaltung eines Kurjes an einem Miffions- 
jeminar ſich von ſelbſt einftellt. Dieſe Kurſe wollen Geiftlichen, 
die im Pfarramt ftehen, nicht nur mit dev Geſchichte der beteiligten 
Miffionsgefellichaft, jondern auch mit den Miffionsproblemen be— 
fannt machen, wollen aber hauptjächlich zur Pflege des heimat- 
lichen Miffionslebens anregen und ausrüften, Es ift fein Zufall, 
daß D. Grundemann in dem mifftonshomiletifchen Seminar, das 
jeit einigen Jahren mit dem Miffionskurs in Berlin verbunden 
wird, einen Höhepunkt des ganzen Kurſes fieht. 

Bur Förderung der Miffionstenntwis und der heimifchen 
Miffionsarbeit follen weiter die Miſſionskonferenzen 
dienen, die in Norddeutichland nicht bloß freie Zufammenkünfte 
von miffionliebenden Pfarrern, jondern Eonftituierte Vereine find. 
Ihre Aufgabe Liegt nicht in der Sammlung von Miffionsgaben 
für einzelne Miffionsgefellfchaften, jondern in der Darbietung von 
wiffenfchaftlichen Vorträgen und in der Organifation der heimi- 
ſchen Miffionsarbeit. Die Zufammengehörigteit der Konferenz— 
mitglieder wird gepflegt Durch die jährlichen, zum Teil mehrtägigen 
Zufammenfünfte in einer Provinzialhauptjtadt und durch Die 
Jahrbüchlein“ der einzelnen Konferenzen mit allerlei Mitteilungen 
über den Gang der Miffton und mit allerlei Winken zur Pflege 
des Miffionslebens in der Heimat. In Süddeutjchland und der 
Schweiz haben derartige Konferenzen noch feinen Eingang gefunden. 
Dagegen werden hier in einer Neihe von Städten!) von der Basler 
Miffionsgefellfchaft oder im Zufammenhang mit ihr Konferenzen 
” 1) In Stuttgart, Ulm, Straßburg, Karlsruhe, Bern, Winterthur, 

Zürich, Lauſanne, Genf. 


Haller: Die Einführung der Miffton in das Firchliche Leben. 385 


gehalten, auf welchen teils über Ereigniffe in der Basler Miffton, 
teils über allgemeine Mijfionsthemata Referate erjtattet werden. 

Ein weiteres Mittel, um die Pfarrer für die Miffion zu 
gewinnen, ift die Schaffung einer wifjenihaftlidhen 
Miffionslitteratur. Nicht nur die populäre Miſſions— 
litteratur iſt in unſerem Zeitalter der Preſſe gewaltig angefehwollen, 
ſondern auch die wifjenjchaftliche Behandlung der Miffion ift 
mehr und mehr in Aufnahme gekommen. Der erite Basler 
Miffionsinfpeftor hat den Verſuch einer allgemeinen Mifjions- 
gejchichte gemacht; fie iſt aber bald ins Stoden geraten. Epoche 
machend war zweifellos die Gründung der „Allgemeinen Miffions- 
zeitfchrift“ durch D. Warned (1874), an der fid) auch ein ala— 
demiſcher Dozent, Profefjor Chriftlieb in Bonn, lebhaft beteiligte. 
Es ift die erſte wiſſenſchaftliche Zeitjchrift, welche von Anfang an 
das ganze Gebiet der theoretifchen und gefchichtlichen Miſſions— 


ftunde umfpannt. Weiter hat Warneck die Theorie der Miffion. 


in feiner „Gvangelifchen Miffionslehre" mit nunmehr 4 Bändchen, 
die Gejchichte der Miffion in feinem „Abriß einer Gefchichte der 
proteftantifchen Miffion", jegt in 6. Auflage, behandelt. Und 
Warneck fteht nicht allein. Aus der Feder jüngerer afademifcher 
Dozenten find in dem legten Jahren mehrere Miffionsfchriften 
hervorgegangen. 

Miffionsvorlefungen, Miffionsturfe, Miſſionskonferenzen, 
miffionswiffenfchaftliche Arbeiten beweiſen, wie ernſt und vielfeitig 
die Aufgabe betrieben wird, den Pfarrſtand für die Mifjion zu 
gewinnen und dadurch die Miffion in die Gemeinden hineinzu— 
tragen. 

Dafür, daß der Pfarrftand der Miſſion jet geneigter 
ift als ehedem, noch einige Beifpiele: in den festen Jahr— 
zehnten hat fich die Zahl der Theologen gemehrt, welche in den 
aktiven Miffionsdienft getveten find. Zwei Kleinere Miſſions— 
gejellfchaften, die deutich-oftafrifanifche Miffion zu Berlin und 
der Allgemeine evangelijch- profeftantifche Miffionsverein jenden 
ausſchließlich afademifch gebildete Theologen als ordinierte Miſſio— 
nare aus. Sodann giebt es eine Neihe von hervorragenden 
Landpfarrern, welche fich dem Miffionsjtudium gewidmet und 


366 Haller: Die Einführung ber Miffion in das Firchliche Leben, 


die Miffionslitteratur durch eine große Zahl von wertvollen Bei— 
trägen bereichert haben. Es ſei nur an Namen erinnert wie 
Grundemann, Berlin, Dietel, Kurze, Paul, Julius Richter, Paul 
Nichter, Steiimpfel. Der Wert ihrer Arbeiten ift auch von den 
Univerfitäten anerkannt worden, mehrere von ihnen wurden durch 
die theologijche Doktorwürde ausgezeichnet. Man überläßt die 
Herſtellung von Miffionslitteratur nicht wie in früherer Zeit den 
Miffionsinfpeftoren, Miffionsfefretäven und Miffionaren, fondern 
auch der Eirchliche Pfarrer beteiligt fich am diefer Arbeit, 
Mehmen wir noch eines hinzu, die Stellung der Ober- 
kirchenbehörden zur Miffton, jo hat fich auch in diefem Stück 
eine bedeutſame Wandlung vollzogen. Die meiften deutſchen 


Oberfirchenbehörden gewähren den feminarijtifch gebildeten Miſſio- 


naren die Firchliche Ordination; in manchen Miffionsanftalten 
wohnt jedesmal ein Vertreter der firchlichen Behörde der Abgangs- 
prüfung der Zöglinge an. Der preußifche Oberkirchenrat hat in 
einem Erlaß von 1890, das württembergiſche Konſiſtorium in 
einem Erlaß von 1892 junge Theologen zum Eintritt in den 
Miſſionsdienſt durch Erleichterung des eventuellen Mücktritts im 
den heimifchen Kirchendienft ermuntert. Opfer zu Gunften der 
Miſſion find da und dort angeordnet, anderwärts empfohlen 
worden, Die Feier eines jährlichen, allgemeinen firchlichen Mifftons: 
feftes mit Mifftonstollekte ift für alle Provinzen Preußens auf 
Anregung dev ſächſiſchen Miffionskonferenz angeordnet worden ®), 
Ziehen wir noch in Betracht, daß eine Oberfirchenbehörbe der— 
artige Verfügungen nur dann trifft, wenn fie mindeftens bei der 
Mehrzahl ſowohl der Kirchendiener als auch der Kirchengemeinden 
auf Zuftimmung vechnen darf, jo erhellt, wie ſehr das Miſſions— 
leben im Vergleich mit früheren Zeiten erftarkt iſt. 

Auch auf den Synoden, auf vielen Kreisfynoden und 
manchen Provinzialignoden, jo in den Provinzen Sachjen®) feit 
1881 und Brandenburg?) jeit 1890, ja jogar auf der General- 


9 Hilfsbüchlein für die Mitglieder der Miffionsfonferenz in der 
Provinz Sachjen, 1898, ©. 22, 

* Ebenda ©, 22, 

) Grundemann, Miffions-Studien II, 1898, S. 51. 


Haller: Die Einführung der Miffion in das firhliche Leben. 867 


ſynode in Preußen!) feit 1891 hat die Miffion Eingang gefunden. 
Es ſchließt fich freilich an den Bericht über die Miſſion häufig 
feine Diskuffion an, und es muß noch klarer erfannt werden, daß 
auf die Synoden im erfter Linie eine Beleuchtung de3 heimijchen 
Miffionslebens gehört?). Aber bedeutſam ift doch die Aufnahme 
der Miſſion in die Beratungen der Synode. 

Wir jehen: es hat eine Verjchiebung des Verhältnifjes von 
Miſſion und Kirche ftattgefunden. In meitem Umfang ift bie 
Miffion bereits in das Firchliche Leben eingeführt worden. Land- 
paftoren und Univerfitätsprofefjoren, Männer der Theorie und 
Männer der Braris, Kirchengemeinden und Kirchenbehörden haben 
die Mifjion als allgemeine Ehrijtenpflicht anerkannt, haben fie in 
den Kreis ihrer Wirkjamkeit gezogen und haben eine Reihe von 
BVeranftaltungen zur Pflege des heimiſchen Miffionsiebens ins Da— 
fein gerufen. 

Bei Beurteilung diejes gejchichtlichen Entwidlungsprozefjes 
wird man nicht überjehen dürfen, daß dev Annäherung der Kirche 
am die Miffion eine Annäherung der Miffion am die Kirche 
parallel gebt. Es fällt nicht in den Rahmen unferes Themas, 
dies im Einzelnen nachzuweiſen; wir befehränten uns auf einige 
hervorragende Punkte, 

Das Miffionsziel haben die erjten Herrnhuter ſpezifiſch 
pietiftifch gedacht: als Gewinnung einzelner Menſchen fir den 
Heiland. „Sehet zu, ob ihr dem Lamm einige Seelen gewinnet”, 
tief Zinzendorf einigen Mifftonaren bei ihrer Ausfendung nach, 
und Spangenberg ſprach geradezu das individualiftifche Prinzip 
aus: „Wir find überzeugt, daß es unſer Beruf nicht ift, auf Na— 
tionalbefehrungen, das ift auf die Einführung ganzer Nationen 
in die chriftliche Kirche es ivgendwo anzutragen“. Wie ganz anders 
die Jetztzeit! Der ausgezeichnete Sekretär der Church Missionary 


4) Warned, Miffionslehre II, S. 59 Anm. 

*) Bergl. Grundemann, Miffions-Studien und -Krititen II, S. 46 f., 
51 fj.; derjelbe in der „Allg. Miſſ.-Zeitſchr.“, 1899, ©. 365 fi. — Wenn 
Buchner in feinem Auffah: „Zur Entwiclung der evangelifchen Miffton 
im 19. Jahrhundert“ (Allg. Miff.-Beitichr. 1900, S. 165) jagt, „daß auf 
allen Synoden die Miffion zum Wort kommt“, fo iſt dies eine Hyperbel. 


368 Haller: Die Einführung der Miffion in das Firchliche Leben. 


Society, Henry Venn (1841—72) hat als Ziel der Mifjionsarbeit 
jelbftändige Kirchentörper ins Auge gefaßt, deren Eigenleben ſich 
allmählich in drei Stufen entwiceln ſoll; die Gemeinden ſollen 
werben self supporting, self governing, self extending, fie follen 
die Kraft gewinnen zur Selbjtunterhaltung, zur Selbftverwaltung 
und zur Erweiterung!). Dieſes Miffionsziel wird jest faft allge 
mein in den Grundzügen als richtig anerkannt, u. a, auch von 
dem jeßigen Leiter der Brüdergemeindemiffton, D. Charles Buch: 
ner?). Nicht bloß um einzelne Menfchen jondern um die Ed 
handelt «8 fich, wie Warneck?) und Grundemann*) energifch be— 
tonen. 

Infolge der neuen Bielbeftimmung ift auch dev Miffions- 
betrieb anders geworden. Nicht nur Heidenpredigt ift Miffions- 
arbeit, jondern eben fo gut die Gemeindepflege und der Schulz 
dienst. Als befonders wichtig wird jest die Heranbildung von 
Lehrern und Pfarrern aus den Eingeborenen erfannt. Die ges 
wonnenen Chriftengemeinden befommen ihre Organifation mit 
Presbyterien und Synoden. Es bilden ſich allmählich heiden- 
hriftliche Volkskirchen. Damit hängt weiter zufammen, daß all- 
gemein die Miffionare eine mehr oder weniger gründliche wiſſen— 
schaftliche Bildung fich erwerben müſſen, ehe fie in die heidnifchen 
Länder gehen, während man ſich ehedem mit einem aufrichtigen 
und lebendigen Chriftenfinn der Miffionare auch ohne technifche 
Miffionsbildung begnügte. 

Die Basler Miffion fpgziell bietet in ihren drei erſten 
Inſpektoren ein treffliches Beifpiel für die Verfirchlichung der 
Miſſion. Blumhardt, der entjchiedene Pietift, wenn auch durch— 
aus Firchenfveundlich, Hofmann, der geiftreiche Prediger, der in 
Miünftern und Domen für die Mifftonsjache wirbt, Joſenhans, 
jelbft von Haus aus Pietift und doch der geiftesmächtige Orga- 
nijator dev Miffionsgemeinden in Tirchlichem Sinn. Er grenzt 
die einzelnen Diſtrikte des Miffionsgebietes ab, überträgt ihre 


?) Allg. Miſſ.-Zeitſchr. 1897, ©. 514, 

2) Allg. Miff.-eitfchr. 1900, S. 162 f. 

?) Evangelijche Miffionslehre, II. Abteilung, 1. Hälfte, 1897, ©. 2333 ff. 
) Miffions-Studien und Kritiken, 1. Band, 1894, ©. 16 ff. 


Haller: Die Einführung der Miffion in das Kirchliche Leben: 369 


Leitung einem Präfes, einem Schulinfpeftor und einem Oekono— 
mieverwalter, ruft die Mifjionare zur Generalfonferenz zufammen, 
redet in feiner Gemeindeordnung (1859) von „Beamten“ und 
„Behörden“, arbeitet eine genaue Korrefpondenz: und Archivord- 
nung aus, ftellt Presbyterien an die Spitze der Gemeinden, Sy: 
noden an die Spite der Diftrifte; er fchafft die Ordnungen der 
Basler Miffionskirche und benützt in vielen Stücken die württem- 
bergifche Landeskirche als Vorbild. ES ift nicht eine zufällige, 
jondern ſymptomatiſche Exfcheinung, daß in genau denfelben Jah— 
ven 1850—1879 der Pietismus in dev württembergijchen Ober- 
kirchenbehörde durch Prälat Kapff vertreten und Tirchliche Ord— 
nungen duch Inſpektor Joſenhans in der Basler Miſſion durch- 
geführt werden. Auf der einen Seite Einführung pietiftijcher 
Elemente in die Staatskirche, auf der andern Seite Einführung 
des firchlichen Moments in eine aus dem Pietismus hervorge— 
gangene Miffionsgefellichaft. 

Unfer gefchichtlicher Ueberblick zeigt: Die ewangelifche Kirche 
hat zuerft den Miffionsgedanfen nicht getannt; als er allmählich 
in kirchlichen und dann viel kräftiger in pietiftifchen Kreiſen auf- 
kam, hat fie ihm theoretiſch und praktiſch abgelehnt. Nachdem 
der Pietismus unabhängig von der amtlichen Kirche ſchon eine 
bedeutende Mifjionsthätigfeit entfaltet hatte, ift im Lauf der lebten 
Sahrzehnte ein gewaltiger Umſchwung erfolgt, ein Umſchwung, 
der zuerſt in der Praxis ſich vollzogen hat, dann auch theoretijch 
mehr und mehr als berechtigt und notwendig anerkannt worden tjt. 

Sollten wir uns diefer Wandlung nicht freuen? Es fei ferne 
von uns, die pietitijchen Gemeinschaften und namentlich ihre Leis 
ſtungen für die Miffton geringzufchägen. Jede unbefangene Ge— 
ſchichtsdarſtellung muß anerkennen, daß der Pietismus mehr als 
ein Jahrhundert faſt der ausfchliegliche Träger des deutjchen 
Miffionslebens geweſen ift, che die amtliche Kirche die Miffions- 
pflicht verjtanden hat. Wir erfennen in diefer Gefchichtsentmwic- 
lung eine göttliche Zeitung: ſenfkornartig ift die Entwicklung der 
Miſſion draußen, jenftornartig das Wachstum des Miffionslebens 
in der Heimat. Aber eben deshalb wäre es verfehlt, wollte man 
den Satz verfechten, die Miffton müfje ein Sondergut der pie— 


Ne 


370 Haller: Die Einführung der Miffton in das kirchliche Leben. 


tiftifchen Kreiſe bleiben. Die kirchliche und die koloniale Entwicklung 
in Deutjchland find eben auch göttliche Fingerzeige, welche die 
Gejamtheit der evangelifchen Kicche Deutjchlands auf ihre Miffions: 
pflicht hinweifen follen. Wir fennen die Gefahr der Verflachung 
und Veräußerlichung, die mit dieſer Entwicklung verbunden iſt. 
Aber e3 ift doch fein Naturgefes, daß der Strom jeicht werben 
muß, wenn er an Breite zunimmt, Es gilt eben für unfere Zeit 
darauf zu achten, daß fi) das Miffionsleben ebenfo vertiefe als 
erbreitere. 


11. 


Die Entwicklung des Verhältniffes von Miſſion und Kirche 
in Deutſchland überhaupt führt uns unwillfürlich zu einer prüfen- 
den Umſchau im Gebiet unferes engen Baterlandes. Wie fteht 
es mit der Einführung der Miffton in unfere Landeskirche? Wie 
baben wir unfere württembergijchen Verhältniife zu 
beurteilen? 

Zweifellos ijt auch in Württemberg die Miſſion immer 
mehr verkirchlicht worden. 

Mifjionsgottesdtenjte werden häufig, namentlich in der 
Winterzeit abwechfelnd mit Bibeljtinden an vielen Orten im 
Schullokal gehalten. Da und dort wird in Yeiertagsgottesdienjten 
die Mifjion behandelt; feltener wohl werden einige Chriſtenlehren 
am Sonntag durch Miffionsgottesdienite erſetzt. Weit verbreitet 
dürfte eine Miffionsberichterftattung am Nachmittag des Erſchei— 
nungsfeftes fein!). Im ganzen wird die Miffion wohl faft nur 
in folchen Gottesdienften beſprochen, in welchen ein Fleinerer Bruch- 
teil der Gemeindeglieder, namentlich der Männerwelt anweſend ift. 
Es fchiene der Erwägung wert, ob nicht auch in Württemberg 
mit Miffionsberichten im Anſchluß an die jonntägliche Wormittags= 
predigt ein Verſuch gemacht werden könnte, wie fie D. Grunde- 
mann in feiner Landgemeinde und nach jeinem Vorgang manche 
norddeutjche Pfarrer eingeführt haben. Inwieweit Bormittags- 


) Genaues und Sicheres Über den Stand der Mifjionsgottesbiente 
zu erfahren, wäre fehr intereſſant. 


zu. 








Haller: Die Einführung der Miffion in das firchliche Leben. 371 


predigten zur Pflege des Miffionsjinns verwendet werden, entzieht 
fich gänzlich unjerer. Beurteilung. 

Allgemein üblich find Bezirfsmiffionsfefte, welche 
meift gut bejucht werden. Doc) läßt fich die Frage faum unter- 
drücen, ob die Pflege der Miffion während des übrigen Jahres 
diefen Feſtſeiern entjpricht oder ob fie nicht allzu tjoliert im kirch— 
lichen Leben daftehen? Die Bezirfsmiffionsftonferen- 
zen find m. MW. faſt überall pietiſtiſche Zufammenkünfte, an denen 
fich auch Geiftliche beteiligen. 

Die Geldleiftungen der Miffion haben in Württem— 
berg eine Höhe erreicht, wie vielleicht in wenigen Teilen Deutjch- 
lands. Nicht bloß aus den ſtets opferwilligen Kreiſen des Pie— 
tismus, jondern aus viel weiteren Kreifen fließen die Gaben zu- 
jammen. Das Maß der Mifjionsopfer liefert einen Beweis für 
die thatjächlich vollzogene Einführung der Miffion in das Leben 
der Landeskirche. 

Die Veranftaltungen zur Mitteilung von Miffionsfenntniffen 
und zur Anvegung des Miffionsinterefjes unter den Geiftlichen 
jtehen in Württemberg gegenüber andern Teilen Deutjchlands be— 
deutend zurück. Der wiürttembergifche Pfarrer ift weſentlich auf 
das Privatjtudium angewiefen. Der atademifche Miſſions— 
verein in Tübingen fteht zweifellos günftiger al3 mancher Bru— 
berverein; ob er aber einen nachhaltigen Einfluß auf eine größere 
Anzahl von jungen Theologen ausübt, unterliegt doch einigem 
Bedenken. Alademifche Borlefungen über Miffton find m. W. 
in Tübingen nocd nie gehalten worden. Miffionslehrfurfe 
wurden zweimal in Freudenſtadt von Firchlichen Kreifen unter 
Mitwirkung von Basler Mifjionsmännern veranftaltet und von 
einer ftattlichen Anzahl von Geiftlichen befucht: ein Beweis für 
die Notwendigkeit diefer Einrichtung und für die Empfänglichkeit 
der mwürttembergijchen Theologen für die Miſſionsſache. Aeltern 
Datums ift die Mifjionskonferenz in Stuttgart im Anſchluß 
an die Brüderfonferenz, jünger die Ulmer Verſammlung. 

An zwei auffallenden Erjcheinungen können wir aber 
nicht mit Stillfchweigen vorübergehen. Bei Bezirksmiſſionsfeſten 
find Geiftliche zwar häufig bereit, eine biblische Anfprache oder 








372 Haller: Die Einführung der Miffion in das kirchliche Leben, 


eine Miffionspredigt zu halten, aber felten nur einen Miſſions— 
bericht zu tibernehmen. Unſer württembergifches Vaterland ijt 
mit Miffionsreifepredigern dev Basler Miffion und der Brüder— 
gemeinde, ſowie mit Miffionaren, welche zur Exholung in der 
Heimat weilen, jo ſtark beſetzt, daß es nicht allzuſchwer hält, einen 
oder gar zwei Miffionsleute für ein Feft als Nedner zu gewinnen. 
So danfenswert diefe Mitwirkung von Miffionskräften ift, jo 
follte die aftive Beteiligung von Geiftlichen doch nicht als unnötig 
erfcheinen. In Norddeutſchland herrſcht nicht die bei uns weit 
verbreitete Meinung, man könne ein Miſſionsfeſt überhaupt nicht 
feiern ohne das Auftreten eines Miffionars. Hier liegt m. €. 
eine Aufgabe vor, welche der Inangriffnahme wert wäre, 

Die andere auffallende Thatjache ift die ſchwache Beteiligung 
der württembergiſchen Theologen an der miffionslitterarijchen Thä— 
tigfeit. Sie ift deito auffallender, weil eine größere Anzahl von 
württembergifchen Pfarrern ehedem die Stellung von theologischen 
Kandidaten am Basler Miffionshaus bekleidet hat und auch ſonſt 
die perjönlichen Beziehungen der württembergiſchen Pfarrfamilien 
zur Basler Miffion ſehr mannigfaltig find. Der Grund diefer 
Erſcheinung dürfte nicht allein darin liegen, daß das württem— 
bergifche Pfarramt in manchen Beziehungen mehr Arbeit mit ſich 
bringt als anderwärts, fondern auch darin, daß die Miffion im 
Württemberg von Anfang an mehr von den ftarken pietiftijchen 
Gemeinfchaften als von den Geiftlichen getragen worden tft. 

Was die Stellung der württembergifchen Ober 
firchenbebörde zu der Miffton anbelangt, jo hat das Konſi— 
ſtorium, wenn ich nicht irre, nur dreimal eigentliche An or de 
nungen über die Miffion getvoffen, von denen übrigens 
nur die neuefte von größerer Tragweite ift. Die erite fällt ins 
Jahr 1715: eine von Dr. Samuel Urlsperger verfaßte kurze Ge— 
ſchichte der Trankebar-Miffion follte am 19. Sonntag nach, Trini— 
tatis von den Kanzeln aller evangelifchen Kirchen Württembergs 
verlejen werden!). Die zweite jtammt aus dem Fahr 1879, wo 
ein befonderes Formular für die Ordinationsurtunde für die Mif- 


) Warned, Abriß, S. 50, Anm. 








Haller: Die Einführung der Miffton in das kirchliche Leben. 373 


ftonare feftgejegt wurde), nachdem längſt die kirchliche Ordination 
den Basler Miffionszöglingen gewährt worden war, Eine dritte 
Anordnung erfolgte im Jahr 1895, als für den Religionsunter— 
richt in der allgemeinen Fortbildungsjchule Erzählungen u. a, aus 
der äußeren Miſſion vorgefchrieben wurden ). 

Im übrigen bejchränfte fich die Thätigleit der Oberkicchen- 
behörde auf Erlaubniserteiluug nd Empfehlung. 
Sie geftattete 1859 die Abhaltung von 4 Miffionsftunden jähr- 
lich an Stelle der Chriftenlehren, vorausgefeßt, daß Pfarrge- 
meinderat und Kirchenkonvent ihre Zuftimmung erklären ; etwaige 
weitere Miffionsgottesdienfte follten außerhalb der gewöhnlichen 
Gottesdienfte gehalten werden). Aber anfangs der fechziger Jahre 
nahm fie noch eine ziemlich zurüdhaltende Stellung gegenüber dem 
Auftreten von „evangelifchen Miffionären" (sie) ein; fie geftattete 
nur ihre Bulaffung „zur Abhaltung von Vorträgen in Privat: 
verfammlungen und unter Umftänden auch in außerordentlichen 
Gottesdienjten auf der Kanzel"). Später hat das Konfijtorium 
einige Miffionsfchriften, wie Warneds „Allg. Miff.-Zeitfchrift" 
und Profeffor Ehriftliebs „Der gegenwärtige Stand der evan— 
gelifchen Heidenmiffion“ empfohlen). Hinfichtlich der Miffions- 
opfer hat das Konfiftorium exrjt im Jahr 1892 einen Erlaß heraus- 
gegeben ; es hat, da noch manche Gemeinden feine Mifjtonsfeier 
und fein jährliches Miffionsopfer hatten, die Erhebung einer 
Miſſionskollekte zu Gunften dev Basler Miffion in Kamerun 
„empfohlen“ und „nahegelegt" *) und hat diefe Empfehlung jeit 1895 
in danfenswerter Weife Jahr für Fahr wiederholt, In dem— 
jelben Erlaß hat e8 den miürttembergijchen Theologen die Er— 
laubnis zum Eintritt in den aktiven Miffionsdienft in deutjchen 
Schußgebieten gegeben mit der Zuficherung, daß im Fall der In— 
validität die Miffionsjahre als Dienftjiahre in Anrechnung gebracht 

) Konfiftorialamtsblatt, VII, 2859. 

) Ebenda X, 4817, 

) Glauner, Handbuch für den praktifchen Kirchendienſt, ©. 31. 

+) Erlaß vom 15. März 1861, Amtsblatt I1, 604. 

) Ebenda VI, 2558 und VII, 2972, 

°) Ebenda X, 4496 ff. 

Zeitſchrift ffir Theologie und Kirche, 10, Jahrgang. 5, Heft. 25 





374 Haller: Die Einführung dev Miffion in das kirchliche Leben, 


mürden. Zugleich bezeugt das Konfiftorium fein warmes Inter— 
eſſe an dev Miffionsfache, erkennt den veichen Segen der Miffion 
für die heimifche Kirche unummunden an, jpricht aber auch) den 
Grundfah aus, es wolle nicht „durch amtliche Vorfchriften in Die 
freie Entwiclung des Miſſionsweſens eingreifen“. Ermägens- 
wert jchiene es immerhin, ob das Opfer am Erfcheinungsfeft und 
die Abhaltung eines jährlich wiederkehrenden Miffionsgottesdienjtes 
nicht in allgemein verbindlicher Weiſe angeordnet werden könnte. 

In der Landesfynode wird die Mifjton nicht berückſichtigt, 
da feine regelmäßigen Berichte über das kirchliche Leben gehalten 
werben wie in Norddeutſchland. Auf Diözeſanſynoden mag die 
Miffioen vom leitenden Dekan da und dort berührt werden; in 
dev königlichen Verordnung über Diözefanfynoden von 1854 ift 
die Miffion bei der Befchreibung ihres Wirkungskreifes nicht er— 
wähnt?). 

Das Bild, das wir von dem Stand des Mifftonsfebens in 
unferem engeren Heimatland gewonnen haben, mag vielleicht et— 
was zu dunkel ausgefallen fein, Die thatfächlichen Leiftungen für 
die Miffion gehen weit über das Maß hinaus, das nach den amt: 
lichen Normen zu erwarten wäre. Die Pflege der Miſſion ift 
eben fajt gänzlich der Freiwilligkeit bezw. der Willfür des einz 
zelnen Geiftlichen überlaſſen. Die feiteren Formen, in welchen 
fich das Miffionsleben in Norddeutjchland bewegt, mögen bie 
dortigen Berhältniffe in zu günftigem Licht evfcheinen Tafjen, 
Aber dem Eindruck können wir uns doch nicht entziehen, daß 
auch in unferem vielgelobten und vielummorbenen miffionsfreund- 
lichen Württemberg noch manches gefchehen könnte, um die Sache 
der Miffton in immer weitere Kreife einzuführen und fie zur Anz 
gelegenheit der Gejamtgemeinde zu machen. In diefer Richtung 
zu wirken, durch gegenfeitigen Austaufch von Erfahrungen zu 
neuer Thätigfeit für die Miſſion zu ermuntern, ift eine Haupt- 
aufgabe unferer neuen Miffionskonferenz. 


1) Ebenda IX, 3814, $ 8. 


4 


375 


Das Verhältnis der Theologie zur modernen Wiſſenſchaft 
und ihre Stellung im Gefamtrahmen der Wiffenfchaften‘). 
Von 
6. Wohbermin, 


Privatboyent ber Theologie in Berlin, 


1. 

Vom Verhältnis der Theologie zur modernen Wilfenjchaft 
Toll zumächft die Nede fein. Da num die Theologie auch ihrer— 
ſeits eine wifjenjchaftliche Disziplin ift, und zwar die Wiſſenſchaft 
von der Religion, fpeziell der chriftlichen Religion, jo jchließt, genau 
genommen, jene Aufgabe als Unteraufgabe die andere ein, vom 
Verhältnis der Religion zur modernen Wiffenfchaft zu handeln, 
d. h. es müßte die Frage aufgeworfen merden, ob die Religion, 
wie fie die urſprüngliche Triebkraft für alle entftehende Wiſſen— 
ſchaft gewefen ift, jo auch zur modernen Wifjenfchaft im legten 
Grunde noch in eimem ähnlichen Verhältnis fteht, ob der „Pri— 
mat“ der Neligion im menjchlichen Geiftesteben auch heute noch) 
und zwar vom Standpunkt des fortgefchrittenften wiſſenſchaftlichen 
Denkens aus zu behaupten umd zu erweifen ift. Aber dieſe Frage, 
die uns unmittelbar an die tiefften Probleme aller Wiffenichaft 
überhaupt heranführen würde und die nur unter Heranziehung 
der legten erkenntnistheoretiſchen, pfychologifchen und metaphy- 


4) Dem Aufjag liegt ein Vortrag zu Grunde, der in Berlin im Dt: 
tober 1899 gehalten wurde. Doch ift für den Drud ber ganze zweite Teil — 
ber aber das ftrikte Komplement zu dem eriten bildet — hinzugearbeitet 
worden; auch der erfte ift mehrfach durch näheres Eingehen auf die ange 
zogenen Arbeiten erweitert worden, 

25* 


u 


376 MWobbermin: Das Verhältnis der Theologie zur modernen 


ſiſchen Entfcheidungen in Angriff genommen werben fann, foll hier 
ganz aus dem Spiel bleiben; nur die methodologifchen Fragen, bie 
jene Aufgabe in ſich faßt, jollen befprochen und wenigjtens für 
die prinzipiellften Punkte beantwortet werden. 

Dann ift es aber zweckentſprechend, die Duchführung der 
Aufgabe fo zu geftalten, daß wir nacheinander die Hauptzweige 
der modernen Wijfenjchaft durchgehen, um zu prüfen, in welcher 
Beziehung freundlicher oder feindlicher Art die Theologie zu einem 
jeden derſelben fteht. 

1) Demnach müffen mir uns zuerft darüber verftändigen, 
welches Die Hauptzweige der Wiſſenſchaft find, 

Diefes Problem d. h. alſo das Problem betreffs der Eintei- 
lung der Wiffenjchaft als ganzer ift gerade in den legten Fahren 
wieder viel behandelt worden. Ich ftelle in der Anmerkung die 
wichtigjten der neueren Arbeiten kurz zufammen ?). 

Soviel Streit num hier im Einzelnen auch noch herrjcht, jo 
darf doch, wie mir feheint, in Bezug auf die michtigften Punkte 
für Folgendes allgemeine Zuftimmung gefordert werden. Zunächit 
dazu, daß unter den Einzelwijenfchaften die Geijteswifjenschaften 
und die Naturwifjenjchaften einander gegenüberzuftellen find als 
zwei Disziplinen-Öruppen, die es mit ganz verjchiedenartigen Ob— 


*) Benno Erdmann, Die Gliederung der Wiſſenſchaften. Vierteljahrsſchr. 
für wiffenfchaftt. Philof. 11. (1878), ©. 78 ff. — Wilh. Wundt, Ueber bie 
Einteilung der Wiſſenſchaften. Philofophifche Studien V (1888), S.1 fi. — 
Bild. Wundt, Syſtem der Philoſophie, 2. Aufl., 1897, Einleitung S. 1-34. 
— Raul de la Grasserie, De la classification objective des arts, de la 
littörature, des sciences, Paris 1893. — Aug. Stadler, Zur Klaſſifikation der 
Wiffenfhaften Archiv für ſyſtemat. Philoſ. II. (1896), S. 1 ff. — H. O. Lehe 
mann, Die Syitematif ber Wiſſenſchaften und die Stellung ber Jurisprubenz 
(Reftoratsrede), Marb. 1897. — A. Naville, Le principe general de la 
classification des sciences. Ardiv f. ſyſtemat. Philof. VI. (1898), ©, 364 ff. 
— oh, Geo, Meyer, Das natürliche Syſtem der Wiſſenſchaften. Straßburg 
1898. — Edm. Goblot, Essai sur la classifieation des seienees. Paris 1898. 
— Als klarſte und injtruktiofte unter biefen Arbeiten erfcheint mir ber aus— 
führliche Auffag von W. Wundt in Bd. V feiner philof. Studien. — Beh 
mann giebt ſehr dankenswerte überſichtliche Tabellen der Einteilungen von 
d' Alembert, Bentham, Ampere, Comte, Spencer, Benno Erdmann, Wundt 
amd von ihm ſelbſt. 


Wiſſenſchaft und ihre Stellung im Gefamtrahmen der Wiffenfchaften. 377 


jekten zu thun haben und die folglich auch mit verjchiedenartigen 
Methoden zu behandeln find. Denn die Methoden der Bearbei— 
tung müſſen den Gegenftänden angepaßt fein, fie müfjen aus der 
Eigenart dieſer Gegenftände jelbjt hergeleitet werden; es ijt 
vor anderen Dilthey's DVerdienft, dies immer und immer wieder 
betont und eingefchärft zu Haben. Dieſe Unterſcheidung von 
Geifteswifjenfchaften und Naturwiſſenſchaften ergibt ſich mit Note 
mendigfeit aus dem Grundbegriff der Wiſſenſchaft ſelbſt. Denn 
die Wiffenjchaft hat es zu thun mit den Gegenjtänden des Wiſſens 
und fie fragt überall: was können wir von diefem oder jenem 
wirklich wiffen? Es fommt alfo darauf an, was wir unter Wifjen 
verjtehen, was das Wiſſen ſelbſt ift. Nun ift klar, daß Willen 
im primitioften Sinne des Wortes identifch ift mit „fich bemußt 
fein", „in feinem Bewußtſein vorfinden oder antreffen”. Und jo 
ſehr auch der Begriff des Wiſſens über jenen primitiven Sinn 
des Wortes hinaus verfchärft und verfeinert werden mag, immer 
bleibt es dabet, daß wir nur das wiſſen können, was in unferem 
Bewußtfein gegeben ift. Alſo hat es die Wifjenjchaft zu thun 
mit dev Bearbeitung der dem menjchlichen Bewußtfein gegebenen 
Objekte. Eben diefe dem menfchlichen Bewußtſein gegebenen Ob- 
jefte find aber wejentlich doppelter Art. Denn da ift einmal der 
ganze Umkreis unferes eigenen Innenlebens, unfer gejamtes Deu- 
fen, Fühlen und Wollen ; da find zum anderen diejenigen Inhalte 
unſeres Bewußtſeins, die auf Gegenftände außer uns, auf Gegen- 
jtände der äußeren Natur, hinmeifen. Alfo die äußere Natur auf 
der einen Seite, das eigene innere geiftige Leben auf der anderen: 
das find die beiden großen von einander verfchiedenen Klaſſen von 
Objekten, die fich in unferem Bewußtſein vorfinden, von denen 
wir ein Wiſſen Haben können und die folglich zum Gegenftand 
der wifjenjchaftlichen Bearbeitung werden können, Dieſem Untere 
schied der Objekte entjpricht daher ebenfo berechtigter wie notwen- 
diger Weife die Unterfheidung von Geiftes- und 
Natur-Wiffenfhaften. Freilich handelt es fich in den 
erſteren, den Geifteswifjenjchaften, nicht Lediglich um unfer eigenes 
geiftiges Innenleben, wenngleich wir unmittelbar nur von diefem 
ein Wiſſen haben. Indes auch von dem geiftigen Leben anderer 


378 Wobbermin: Das Verhältnis der Theologie zur modernen 


Menjchen, der gegenwärtig lebenden wie der früheren, vermögen 
wir ein Wiffen zu gewinnen, das zunächft und urjprünglich durch 
Analogie-Schlüffe hergeftellt wird, indem wir aus den uns von 
uns jelbft her verftändlichen Meuferungen des Innenlebens anderer 
Menjchen auf das entjprechende Innenleben felbft zurückichließen. 
So erhalten wir ein Wiffen vom Geiftesleben fremder Menfchen 
und fo fönnen wir das Geiftesleben von Familien, Gefchlechtern, 
Bölkern, Nationen und Beitaltern betrachten. Alles dies d. h. 
der Inhalt der gefamten Kulturentwicklung gehört in das Gebiet 
der Geifteswifjenfchaften. 

Ebenfo unbedingt muß m. E. zugegeben werden, daß den 
Einzelwifjenfchaftenzufammengenommen eine 
übergreifende Wiſſenſchaft zur Seite zu ftellen 
ift, welche fich mit den jenen beiden Gruppen gemeinjamen Pro- 
blemen zu bejehäftigen hat. Denn einmal arbeiten die Einzel: 
wiffenfchaften mit Begriffen und Vorausfegungen, die fie einfach 
als Vorausjegungen, als Ariome, hinnehmen, die fie aber nicht 
jelbft zum Gegenftand der Unterfuchung machen; — die Begriffe 
der Raufalität, des Dinges, des zeitlichen Gefchehens, der räum— 
lich ausgedehnten Materie u. a. m. vepräfentieren derartige Vor— 
ausjegungen der Einzelwiffenfchaften. Und weiter führen anderer: 
jeits die Einzelmiffenschaften zu Fragen, deren Beantwortung über 
den Rahmen der betreffenden Einzelwiſſenſchaft binausliegt, da 
zur Erledigung derjelben auch die Ergebniſſe anderer Wiſſen— 
ſchaften berücjichtigt werden müfjen. Aus diefen beiden Gründen 
und zu diefem doppelten Zweck iſt aljo eine übergreifende Wiſſen— 
ſchaft nötig — fie führt herfömmlich den Namen Philofophie, 
Wie jehr auch im übrigen über Umfang und Geltungsbereich diefer 
Philoſophie der Streit tobt, ihre Eriftenzberechtigung als folche 
ſcheint miv um jener beiden Gründe und um jenes doppelten Zwecks 
willen unbeftreitbar. 

So bleibt in Bezug auf die Haupteinteilung nur Die 
Stellung der Mathematik noch dabimgeftellt. 
Was dieje anbetrifft, fo gehen allerdings die Meinungen noch jehr 
weit auseinander. Während die einen fie zu den Geiſteswiſſen— 
ſchaften zählen, ftellen die anderen fte in Die Mitte zwiſchen Geijtes- 





Wiſſenſchaft und ihre Stellung im Gefamtrahmen der Wiſſenſchaften. 379 


miffenfchaften und Naturwiffenfchaften, indem fie ſie den Ueber— 
gang von jenen zu diefen bilden Lafjen. Die dritten betrachten 
die mathematifchen Wifjenjchaften als eine befondere Hauptklaffe 
neben Geiftes- und Natur-Wiffenfchafter, nämlich als formale 
Wiffenjchaft neben dev materialen oder realen, weil die Mathe: 
matik ihre Objekte nur nad) ihren formalen Eigenſchaften unter- 
fuche und ſich nicht auf den Inhalt derfelben beziehe. Dann er 
halten wir alfo fr das Gebiet der Eingelwifjenfchaften das Schema 
A Formale Wifjenfchaft B Reale Wifjenjchaft 
a Natur-Wifjenfchaften 
b Geiftes-Wiffenfchaften. 
Die vierten aber vechnen jchließlic die Mathematik geradezu 
zu den Naturwiſſenſchaften. Mir erjcheint diefe letztere Auffaj- 
fung als die unglüclichjte und mißverftändlichjte, wennſchon fie 
von einem Manne wie Helmholg vertreten worden ijt!) und ſich 
auch neuerdings der Zuftimmung namhafter Mathematiker er 
freut?). Der ausfchlaggebende Gefichtspunft ift dann der, die 
Elemente, mit denen die Mathematik rechne, feien aus den Na- 
tuverfcheinungen jelbjt abjtrahiert. Aber dies Abftraktionsverfahren 
ift doch ein derartiges, daß dabei das letztlich ausschlaggebende 
Moment auf Rechnung unferes eigenen in die Natur hineinkon- 
ſtruierenden DVerftandes kommt. Dieſe fpezififche Eigenart der 
Mathematik, ihr konftruktiver Charakter, der ihr Verwandtſchafts— 
verhältnis mit der formalen. Logik begründet, wird m. E. nicht 
hinreichend berüctjichtigt, wern man fie dem Kreis der Naturwiffen- 
ſchaften eingliedert ®). 

Im übrigen aber kann die Entjeheidung der Streitfrage für 
unferen Zweck dahingeftellt bleiben; denn inhaltlich hat die Theo- 
logie gerade mit der Mathematik als folcher, als veiner, feinerlei 
Berührungspunfte. — So bleiben aljo für jenen unferen Zweck 
9) Giehe feine Heidelberger Rede: Ueber das Verhältnis der Naturwiſſen— 
ſchaften zur Gefamtheit der MWifjenjchaften, 1862, S. 20, 

2) ©, 3. B. J. L. Fuchs, Heber das Verhältnis der eraften Naturwiljene 
ſchaften zur Praxis. Rektoratsrede, Berlin 1899, S. 1 ff. 

Ueber die beſondere Stellung der Mathematik gegenüber allen anderen 
Wifjenfhaften und die Wichtigkeit diefer ganzen Frage für bie Theologie vgl. 
auch J. Kaftan, Die Wahrheit der chriftlichen Neligion, 367 ff. 


le un 


330 Wobbermin: Das Verhältnis ber Theologie zur modernen | 


die Hauptgruppen: Geifteswiffenfchaften, Naturwiſſenſchaften, Phi— 
loſophie. 

2) Die Geiſteswiſſenſchaften ſtellen wir in dieſem 
‚Bufammenhang naturgemäß voran, weil die Theologie jelbjt mit 
der Mehrzahl ihrer Disziplinen in den Kreis derjelben hineinge- 
hört, wenngleich, wie wir fehen werden, der Theologie ihre Stelle 
im Rahmen dev Wiffenfchaften damit nicht ausreichend bejtimmt 
it, daß man fie jenem Kreife der Geiſteswiſſenſchaften eingliedert. 

Die Geifteswifjenfchaften find aber ganz weſentlich gefchicht- 
liche Wifjenfchaften; dem alle menfchliche Geiftesentwiclung gebt 
in der Gejchichte vor fih, Die Geſchichtsbetrachtung, 
die hiftorifche Methode, ijt daher hier ausjchlaggebend; 
— umd zwar nicht nur da, wo es fich um die eigentliche gefchicht- 
lihe Entwiclung der verjchiedenen Geifteserzeugnifje, aljo um 
die verjchiedenen gefchichtlichen Disziplinen im engeren Sinne des 
Worts handelt, jondern auch da, wo die betreffenden Geiſtes— 
erzeugniffe jelbft — wie wirtfchaftliche Kultur, Rechtsordnung, 
Religion, Kunſt, Wiſſenſchaft — zur Unterfuchung ftehen. Weiter 
aber hat gerade die chriftliche Religion, mit dev es die Theo- 
logie in erfter Linie zu thun hat, noch eine bejonders enge Be- 
ziehung zur Gefchichte. Sie jelbit ift ganz und gar eine gefchicht- 
liche Größe; fie ift zu einem beftimmten Zeitpunkt in die Ge— 
ichichte dev Menfchen eingetveten und hat fich ſeitdem gejchichtlich 
weiter ausgewirkt. So fordert aljo die chriftliche Religion ges 
vadezu eine gefchichtliche Betrachtung; ihre Entjtehung und ihre 
Entwicklung muß nad) den Grundſätzen hiſtoriſcher Arbeit er- 
forjcht werden. Dieje Einficht hat freilich in der chriftlichen Kirche 
niemals ganz gefehlt; jene Forderung it immer irgendwie geftellt 
und in irgend einem Maße erfüllt worden. Aber die frühere 
Gejchichtsbetrachtung felbjt war, wenigſtens auf das große Ganze 
gejehen, eine naive. Auch das Kind, das Märchen lieſt und wieder- 
erzählt, bewegt fich ja in gejchichtlicher Betrachtung. 

Den Charakter aber der modernen Geſchichtswiſſenſchaft 
bildet eine Betrachtung, die jener naivsfindlichen, welche überall 
abgefchloffene fertige Größen fieht und mit abjoluten Urteilen 
operiert, entgegengefegt ift; ihren Charakter bildet der Re— 


\ 





Wiſſenſchaft und ihre Stellung im Geſamtrahmen der Wiljenfhaften, 981 


lativismus, der das allmähliche Werden aller in Betracht 
kommenden Objekte ins Licht ftellt, und das Bedingtfein derſelben 
durch die mannigfachiten, ihnen ſelbſt teilweis fremdartigen Anläffe 
und Einwirkungen darthut, der weiter ebendeshalb nichts als etwas 
ein für alle Mal Fertiges hinnimmt und ebenfomenig unbedingte 
Urteile kennt. — Es ift nun allbekannt, wie die Eimführung 
dieſer modernen Gejchichtsbetrachtung in die protejtantifche Theo— 
logie, die jich jeit der Mitte des vorigen Jahrhunderts angebahnt, 
im Laufe des zu Ende gehenden vollendet hat, große Ummälzungen 
hervorgebracht hat, wie diefe Ummälzungen zeitweife nicht wenigen 
als Tod aller chriftlichen Theologie, als Untergrabung der Reli- 
gion jelbft erjchienen. Denn da wurden Vorftellungen in jene rela= 
tive Beurteilung hineingezogen, deren abjolute Geltung von früheren 
Generationen als conditio sine qua non des Chriſtentums betrachtet 
worden war, 

An erjter Stelle muß genannt werden die fiir die frühere 
protejtantifche Theologie fo grundlegende Inſpirationslehre, der- 
zufolge die Sammlung heiliger Schriften als Kodex und Kanon 
übernatürlich geoffenbarter, folglich ein für allemal feſtſtehender 
veligiöfer Lehrjäge angefehen wurde. Unter dem Gefichtspunft 
diefer Betrachtungsmweife wurde die heilige Schrift als prineipium 
theologiae hingejtellt, und zwar als das principium eognoscendi 
fundamentale und das prineipium unieum, das principium pri- 
mum et ultimum, ultra quod in diseursu theologieo inter Ohri- 
stianos non datur progressus. 

Trotzdem mußte jene Inſpirationslehre fallen und fie ift ge— 
fallen. Das ift eine einfache Thatſache. Die chriftliche Religion 
hat darüber feinen Schaden gelitten; und auch die. fonfervativften 
Richtungen innerhalb dev proteftantijchen Theologie haben — jo 
gut wie ausnahmslos — jene alte Inſpirationslehre aufgegeben. 
Demgegenüber ift die Frage, ob man die Betrachtung der heiligen 
Schrift, die an die Stelle der alten Inſpirations-Lehre zu ſetzen 
ift, doch wieder unter den Namen dev Inſpiration bringen fol 
oder nicht, eine Frage von untergeordneter Bedeutung, jo wichtig 
fie auch in ihrer Urt fein mag, mie wenigſtens zu fein ſcheint. 

Daneben kommt dann die Beurteilung der Ficchlichen Lehr— 








332 Wobbermin; Das Verhältnis der Theologie zur modernen 


beftimmungen, der Dogmen, in Betracht. Welde Ummwälzungen 
auf diefem Gebiet eine geniale Durchführung wirklich hijtorifcher 
Betrachtung veranlaßt, hat uns vor allem Ad. Harnads Dogmen= 
geichichte gelehrt. Hier wird gezeigt, daß die in der alten Kirche 
ausgeprägten Lehrjäße tiber Trinität und Chriftologie mit den 
ſpezifiſchen Mitteln der damaligen Geijtesbildung d. h. der grie— 
chiſchen Philoſophie hevgeftellt find, ja was noc mehr jagt, daß 
fie nur der Ausdruck desjenigen chriftlichen Glaubens find, der 
ſich und wie er fich auf dem Boden jener griechifchen Geiftesbil- 
dung entfaltet hatte. — Daß num aber auch hier dieje gejchicht- 
liche Betrachtung nicht eine Gefährdung der chriftlichen Religion, 
jondern daß fie vielmehr die allergrößte Förderung des Ver— 
ſtändniſſes dexfelben bedeutet, weil fie ihr wahres Wejen unter 
den wechſelnden Erſcheinungsformen befjer erfennen läßt, das 
wird beute gerade durch Harnacks Dogmengefchichte in immer 
weiteren Kreifen erkannt und anerfannt. Eine prinzipielle Ab- 
lehnung der gejehichtlichen Betrachtung, der hiftorijchen Forſchungs— 
methode für das Gebiet der Dogmenbildung ift innerhalb der pro— 
tejtantifchen Theologie ſchon heute nicht mehr anzutreffen. Der 
Kampf wird auf prinzipiell gleichem Boden und mit prinzipiell 
gleichen Mitteln und Mtethoden ausgefochten; nur Anwendung 
und Durchführung der letzteren find verfchieden; fo handelt es ſich 
in der abfehließenden Beurteilung nicht um ein guundfäßliches 
aut — aut, jondern nur um ein mehr oder weniger. 

Darnach jcheint denn, Daß innerhalb der Geiftes 
wiſſenſchaften und d. h. alfo von Seiten der hi- 
ſtoriſchen Forfhung die Theologie erniten, für 
fie ſelbſt gefährlihen Kämpfen niht mehr aus 
geſetzt iſt, daß vielmehr bier ein Feld für ruhige pofitive 
Fortarbeit erjchloffen ift. Und das ift allerdings meine Anficht. 
Aber eine Richtung unferer Theologie, die neuerdings vielfach Zu: 
ftimmung zu finden feheint, ift entgegengefeßter Meinung. Pro— 
feſſor Tröltſch in Heidelberg muß als ihr entjchiedenjter Wort- 
führer gelten, der fie zugleich) als gelehrtefter und geijtreichter 
unter ihren Vertretern verficht, Er fieht das Hauptproblem fir 
die Theologie und damit für die chriftliche Religion ſelbſt gerade 


Wiffenfhaft und ihre Stellung im Gefamtrahmen der Wiffenfchaften, 383 


in dem Konfequenzen, zu denen ihm jene moderne Gefchichtsbe- 
trachtung zu führen jcheint, wenn fie auf das innerfte Weſen der 
riftlichen Religion angewendet wird. Durch die Geftaltung der 
Geſchichtsforſchung, den hiftorifchen Nelativismus, genauer durch 
das allen gegenwärtige Bild der Mannigfaltigfeit der Religionen, 
fei die gegenwärtige Lage der Theologie am charakteriftifchiten ge— 
kennzeichnet, das wichtigfte und wefentlichite Problem der theolo— 
giſchen Arbeit für die nächte Zeit gegeben, hinter dem die Aus- 
einanderfegung mit der Naturwiſſenſchaft und der eigentlichen, 
Philofophie immer mehr zurüctreten werde und könne. Alſo 
kurz gejagt: in dem religionsgeſchichthichen Bro- 
blem, in der Frage nach dem Verhältnis der chriftlichen Religion 
zu dem übrigen Religionen, müſſe die Theologie die Haupt: umd 
Grund-Frage jehen, die fie zu beantworten hat?). 

Näher lautet dieſe Frage jo: ift nicht vielleicht die chriftliche 
Religion ſelbſt, auf ihren eigentlichiten Kern gejehen, nur eine vor- 
übergehende Erfcheinung innerhalb der gefamten religiöfen Ent: 
wicklung? Wird nicht vielleicht eben diefe Entwicklung tiber den 
im Chriftentum erreichten Punkt hinausführen, fo daß dieſer nicht 
als endgültiger Höhepunkt jener Entwicklung angefehen werden 
kann? Tröltſch legt großes Gewicht darauf, feftzuftellen, daß die 
moderne Geſchichtsforſchung feine Möglichkeit offen laſſe, ſolche 
Fragen vumdiveg zu verneinen. Und weiter müfje jedenfalls da— 
bingejtellt bleiben, ob nicht die chriftliche Religion, die offenbar 
mit den modernen Zeiten in ein neues Stadium eingetreten fei, 
dadurch meiterhin in eine Entwiclung gevate, die für uns völlig 
unüberjehbar ift, die alfo auch doch irgendwie über das hinaus- 
führt, was das Wefen dev chriftlichen Religion ausmacht, wie fie 
durch Jeſus Chriftus in die Gefchichte gekommen ift. Wir müffen 
aber die ganze Frage noch näher ins Auge fafjen, um über fie 
ein Urteil zu gewinnen. 


+) Vgl. feine Aufjäge über „die Selbftändigkeit der Neligion“ und über 
„Geſchichte und Metaphyſit“ in dieſ. Zeitihr., Bd, V, VI, und VIL; jeinen 
Auffag Über „Chriftentum und Religionsgeſchichte“ in den Preuß. Jahrb. 1897, 
Heft 3 (S. 416 ff.); ſowie feine Ausführungen im Theologiihen Jahresbericht 
Bd. XV, &, 569 fi. 8b. XVII, ©, 507 fi. 


34 Wobbermin: Das Verhältnis der Theologie zur modernen 


Die chriftliche Religion will die abjolute Religion jein in dem 
Sinne, daß es über fie hinaus eine vollendetere und vollfommenere 
nicht geben kann, weil fie die Offenbarungsreligion ar’ &goxtw, Die 
Dffenbarungsreligion im einzigartigen Sinne des Wortes jei. Die 
cheiftliche Religion will alſo als die prinzipielle Verwirklichung des re- 
ligiöfen Ideals angefehen werden oder, was dasſelbe ift, als die prin- 
zipielle Verwirklichung der höchſten Stufe in der Entwiclung des res 
ligiöfen Bewußtſeins. Die Entwidlung des veligiöfen Bewußtſeins 
— das ift der Anfpruch, mit dem das Chriftentum aufgetreten ift und 
immerfort auftritt — ift in dev chriftlichen Neligion prinzipiell zum 
Abſchluß gekommen. Weiterhin kann e3 fich dann nur noch um ein 
allfeitiges SichAuswirken des dort prinzipiell Gegebenen handeln. 

Nun ift unleugbar, daß ein exakter Beweis für die Richtige 
keit diejes Anfpruches nicht zu erbringen ift; daß es mit dem 
Chriftentum wirklich jene Bewandtnis hat, das bleibt im legten 
Grunde notwendig eine Sache des Glaubens, 

Indes kann die wiſſenſchaftliche Reflexion nach drei Richtungen 
hin Unterjuchungen anjtellen, die für die Frage von größter Be— 
deutung find. 

Erftlich kann fie unterfuchen, ob die chritliche Neligion in 
der bisher vorliegenden Entwidlung des reli- 
gidfen Bewußtfeins den Höhepunkt daritellt. 
Und das ift allerdings innerhalb der veligionsgefchichtlichen Be— 
trachtung und auf dem Boden derjelben das Einzige, was über— 
haupt zu erſtreben ift, Daß fich in ihrem Nahmen und mit 
ihren Mitteln über die etwaige Unüberbietbarkeit der Entwidlungs= 
ftufe des chriftlicheveligiöfen Bewußtſeins nichts ermitteln läßt, 
liegt in der Natur der Sache. Indes ftellt Tröltſch bereits dieſen 
Umftand unter eine einfeitige Beleuchtung und fchafft ſich fo das 
erſte Glied feiner Gefamtargumentation und feiner Geſamtbeur— 
teilung des Sachverhalts. Er jagt‘): „ES gibt Feinerlei vorher 
fertigen Maßſtab, nach) dem man Entwicklung, Fortjehritt und Ziel 
beurteilen könnte. Der Maßſtab erwächſt in und mit 
der Geichichte jelbft, indem die höhere Erſcheinung 
die Gemwißheit ihrer größeren Kraft und Tiefe in 
9,86. VI diefer Beitfchrift S. 78, 





Wilfenfchaft und ihre Stellung im Gefamtrahmen ber Wiffenfchaften. 885 


Tich trägt‘). Wie es keines vorher fertigen Maßftabes für die 
Beurteilung der Entwiekelung des wifjenfchaftlichen Dentens oder 
der Mathematik bedarf, fondern die höhere Stufe hier in der 
Negel durch fich felbft einleuchtet und die niedeve berichtigt, jo ift 
es auch ſonſt. Ohne Maßſtab umd ohne fertiges Ideal ftehen 
die Menjchen mitten im Wechſel der Ideale und überwinden das 
niedere nur durch Die fich ſelbſt dDurchjegende Macht des höheren, . . 
So bleibt auch in der Neligionsgefchichte nichts anderes übrig, 
als ſich dem thatfächlihen Zuge der been anzuvertrauen und 
das Ziel da zu juchen, wo es fich ſelbſt durch die Macht der 
Thatfachen, durch die Meberlegenheit über die VBorftufen, die innere 
Kraft der Begeifterungsfähigkeit und durch die Weite feiner Uns 
pafjungsfähigfeit bekundet." Diefe Säge könnten an und fir fich 
als richtig und einwandsfvei anerkannt werden. In dem Bus 
jammenhange aber und in dev pointierten Form, in der fie bei 
Tröltſch erjcheinen, find fie nicht einwandsfrei, fondern da müfjen fie, 
m, €., wie oben gejchehen, als einfeitig bezeichnet werden, Gewiß 
haben wir für die Beurteilung gefchichtlicher Entwicklungsreihen 
feine vorher fertigen, abjolut gültigen Maßſtäbe. Die Entjchei- 
dung aber, daß die Maßſtäbe in und mit der Gefchichte ſelbſt 
erwachjen, ift ſehr vorfichtig aufzunehmen. Es ift doch nicht der 
äußere Gefchichtsverlauf felbft, der den Maßſtab für eine Beur- 
teilung liefert. Im legten Grund ausfchlaggebend ift da nicht der 
äußere Gefchichtsverlauf, fondern die Beurteilung und Wertung 
desjelben durch den mollenden und denkenden Menfchen. Die 
legten, ſchließlich allein ficheren Maßſtäbe find nicht in der äußeren 
Geſchichte zu finden; fie trägt der Menſch in fich jelber, Darauf im 
Zuſammenhang der ganzen Frage ausdrücklich zu veflektieren und es 
nachdrücklich zu betonen, ift aber wichtig, weil bereits dieſer Umſtand 
darauf hinweiſt, daß dem Problem vom rein veligionsgefchichtlichen 
Standpunkt aus nicht Genüge gejchehen Tann, und daß die rein reli— 
gionsgefchichtliche Frageftellung in ihrer Iſoliertheit an fich falſch iſt. 

Im übrigen trägt auch Tröltjch fein Bedenken, jene erfte Frage 
zu bejahen; vielmehr hat er in einer Neihe treffender und ſchöner 
Ausführungen die thatfächliche Ueberlegenheit dev chriftlichen Re— 

3) Bon mir geſperrt. 


u 


356 Wobbermin; Das Verhältnis der Theologie zur modernen 


ligion über alle übrigen Neligionsformen ins Licht geftellt. Und 
wirklich ermöglicht gerade die allgemeine vergleichende Religions: 
wiſſenſchaft mit allen Ergebniffen, welche die erfreulich fortſchrei— 
tende Arbeit auf diefem Gebiet zu Tage gefördert hat, in bevech- 
tigter, wiſſenſchaftlich geficherter Weife den Sat, aufzuftellen, daß 
die chriftliche Neligion den Höhepunkt der uns vorliegenden reli— 
giöfen Entwicklung darſtellt. Aber Tröltſch geht nun in Fort 
führung feiner vorher bejprochenen Gedanfenreihen dazu meiter, 
eben diejes Nefultat, diejes Urteil über den gejchichtlichen That- 
beftand, als das Einzige zu bezeichnen, was wifjenfchaftlich in dev 
ganzen Frage iiberhaupt zu leiften ift. „Es läßt ſich nur jagen, 
welches der höchjte Punkt der bisherigen Entwidlung iſt ... 
Diefer eine Sab ift der legte Strid, wenn alle anderen. Stride 
reißen. Der theologifche Forfcher, der wirklich auf die Grund: 
gedanken der Wifjenjchaft eingeht und dem hierbei die Waſſer 
des alles in Nelativitäten verwandelnden Hijtorismus an die Kehle 
gehen, hat feinen anderen, an dem er fich halten könnte” 1), Das 
ift nun m. E. nicht mehr lediglich einfeitig, jondern das ift pofitiv un- 
richtig. Tröltſch, der in anderem Zufammenhange jo treffend gegen 
die Einfeitigfeiten des „Hiltorismus“ zu polemifieren weiß, ſcheint 
mir hier jelbft eben diefem Hiftorismus zum Opfer zu. fallen. 
Denn jenes Reſultat ift micht das Einzige und Lebte, mas 
zu erreichen iſt. Es fann und muß vielmehr weiter gefragt 
werden, ob ſich eine höhere Entwiclungsftufe veligiöfen Lebens, 
religiöjen Bewußtſeins als die chriftliche wenigitens denken lajje. 
Auch an dieje Frage rührt allerdings Tröltſch gelegentlich: aber er 
mißt ihr nicht die ihr gebührende Bedeutung zu. Auch diefe Frage 
kann aber mit Sicherheit — nämlich verneinend — beantwortet 
werden: mit den Mitteln menfchlihen Dentens 
läßt fi eine über die hriftliche Religion prine- 
zipiell hHinausliegende Form religiöjen Bewußt— 
feinsshlehterdingsnidtermitteln. Das ift jehe 
viel mehr, als jener einfache gefchichtliche Thatbefund; daher muß 
es ausdrücklich hervorgehoben und nachdrücklich betont werben. 


2) Bd. VI dieſer Zeitſchrift S, 208, 








Wiſſenſchaft und ihre Stellung in Geſamtrahmen dev Wiffenfchaften, 387 


Das Ween der chriftlichen Religion im Unterjchied zu an— 
deren Religionen liegt darin, daf in ihre die Religiofität im engeren 
Sinne, d. h. die Beziehung zur Gottheit, und die Sittlichleit in 
die engjte, unauflösliche Verbindung miteinander gejegt find, und 
daß dieje beiden ZTeilbejtandteile, Neligiofität wie Sittlichkeit, je 
in der denkbar höchten Vollendung gefordert werden. Sie ift, wie 
es Ritſchl ausgedrüct hat, die vollendet geiftige und die vollendet 
fittliche Religion. Die vollendet geiftige Religion: denn ihr Mono— 
theismus verlangt die Gottheit vorzuftellen als das denkbar höchite 
und vollendetite Wefen, und ebenjo das Verhältnis desjelben zum 
Menjchen als ein Verhältnis denkbar volltommenfter Art. Und 
diefer Monotheismus ſchützt davor, das Wefen der Gottheit end» 
gültig in Begriffen feftzulegen, die im Lauf dev geiftigen Ent- 
wicklung der Menjchheit überholt oder überboten werden könnten. 
Denn die chriftliche Neligion erkennt die Gottheit in der Offen: 
barung duch Jeſus Chriftus; anders will fie von Gott nichts 
wiſſen; alfo über Gott fozufagen in feiner Unmittelbarteit und 
Nacktheit will fie nichts ausfagen. Damit vertritt fie aber offen- 
fundig den Grundfaß, daß wir Menfchen über Gott immer nur 
werden im Bilde jprechen können, daß wir über einen ſymboliſchen 
Gottesbegeiff nicht hinauskommen fönnen und jollen; daß wir aber 
anderfeits den jymbolifchen Begriff Gottes bilden müffen auf Grund 
der volllommenften Ausprägung des fittlichen Lebens in dev Menſch— 
heit. Denn Jeſus Chriftus jelbft vepräfentiert nach chriftlichem Glau— 
ben die abjolute Vollendung des fittlichen Lebens; nicht 
nur Sündloſigkeit oder Unjündlichkeit, ſondern fittliche Volllommen— 
heit muß im Rahmen des chriftlichen Glaubens von ihm ausge: 
jagt werden. Demgemäß muß auch die Gottheit als perjönliches 
Wefen vorgeftellt werden: der Gott, der in Jeſus Ehriftus offen- 
bar geworden ift, kann nur ein perfönlicher fein; wir müſſen diefe 
Vorftellung wenigſtens jolange fefthalten, als Perſönlichkeit zum 
Begriff fittlicher Volllommenheit gehört. Sollte ſich etwa dereinjt 
ergeben, daß das Ideal fittlichen Lebens den Begriff der Per- 
ſönlichkeit nicht notwendig in ſich fehließt, dann hätten wir auch 
feinen zwingenden Grund mehr, Gott als Perfönlichkeit zu denken ; 
dann — aber auch nur dann; denn nur dann könnte fich auch ein 





338 Wobbermin: Das Verhältnis der Theologie zur modernen 


nichtsperfönlicher Gott in Jeſus Chriftus offenbart haben). — 
Daraus ergibt fich von jelbft die analoge Betrachtung für das Ver— 
hältnis zwifchen Gott und Mensch, wie es Jeſus und nach ihm die 
chriftliche Religion durch den Vater-Namen zum Ausdruck bringt. 

Die chriftliche Religion ift weiter die vollendet fittliche Reli— 
gion; denn fie fordert Bethätigung einer Sittlichkeit entſprechend 
dem jeweilig höchſten Ideal. „Ihr follt vollfonmen fein, wie 
euer Vater im Himmel volltommen ift": in diefes Gebot wird die 
Forderung der befferen Gerechtigfeit zufammengefaßt, die gegen- 
über derjenigen der Schriftgelehrten und Pharifäer von den 
Süngern Chriſti verlangt wird. Anfchaulicher noch formuliert 
das Wort, in dem die Summe der ganzen Bergpredigt zufammenz 
gefaßt wird, dem gleichen denkbar höchſten fittlichen Maßſtab: 
„Alles nun, was ihr wollt, das euch die Leute thun, das thut ihr 
ihnen". Entfleidet man dies Wort der populären Ausdrucksweiſe und 
faßt es in eine prägife ethiſche Formel, fo befagt es offenbar: Richtet 
euer Leben ein nach dem böchften fittlichen Maßſtab, der euch zur 
Verfügung fteht. Denn die fittlichen Maßſtäbe prägen fich immer 
zuerft aus in den Anforderungen, die wir an die anderen ftellen, 

Alfo was wir als Formalprinzip der Ethik zu bezeichnen 
pflegen, das liegt in der chriftlichen Religion in feiner denkbar 
höchften Ausprägung vor, nämlich nicht in der negativen Fafjung 
der Bopular-Philojophie: „was du nicht willft, daß man div thu, 
das füge feinem andern zu", — fondern in dev pofitiven, wie 
fie Kant im fategorifchen Imperativ zum Ausdruck gebracht hat, 

Aber mehr als das. Schon in den beiden angeführten Aus— 
jprüchen der Bergpredigt, vollends im Evangelium in feiner Ge— 





) Beachtet man Diefe Warnung nicht, jo gelangt man entweder zu dem 
ſeltſamen und widerfpruchspollen Zirkel Biedermanns, der für das reine Denken 
die Vorftellungsform der Perfönlichkeit Gottes durch den Begriff des abfoluten 
Geiftes erfegt wiſſen will und daun doc wieder ftatuiert, die Perſönlichkeit ſei 
die für jenen Begriff abäquate Vorftellungsform, bie auch für deu Denker in 
Kraft und Giltigfeit bleiben müſſe. Oder aber man gelangt zur Konzeption 
eines unberoußten Abfoluten Hartmann'ſchen Art, die in ſich ſelbſt erſt recht 
widerſpruchsvoll if. So A. Drews in feinem Buch: Das Ih als Grunde 
problem der Metaphyſik, Freib. 1897. Webrigens aber betont Drews mit Necht 
die Bedeutung des Ich Perjönlichkeits)- Problems für den Gotteöbegriff. 


Wiſſenſchaft und ihre Stellung im Gejamtrahmen ber Wiſſenſchaften. 389 


famtheit liegt auch die Richtung, in der inhaltlich die 
Ausfüllung jenes formalen Rahmens zu gejchehen hat, ſowie 
gleichzeitig der maßgebende oberfte Gejihtspunft 
für dieſelbe, ihre legte Abzweckung, deutlich vorgezeichnet. Und 
wieder gilt auch hier, daß es fich dabei um die denkbar höchite 
Ausgeftaltung der fittlichen Norm handelt. Ein Bruderbund der 
Menſchen ſoll begründet werden, in dem der Einzelne jedem Mit 
menfchen gegenüber zur Einhaltung der höchiten fittlichen Norm 
verpflichtet ift und in welchem gerade die Abzwecung auf den voll- 
ftändigen Ausbau jenes Bruderbundes der oberfte, leitende Ge— 
ſichtspunkt ift. Wie erbärmlich erjcheint demgegenüber die Herren- 
moral Nietzſche's! — Aber andererfeits ift num eben die chriftliche 
Religion nicht unlöslich verknüpft mit irgend welchen bejtimmten 
fittlichen Anſchauungen und Grundfägen, die einer einzelnen bejtimm- 
ten Kultur-Epoche angehören. Abgeſehen von den bejprochenen 
oberjten Grundlinien hat der Herr feine allgemeingültigen Leit- 
füge für chriftliches Leben und chriftliche Lebensordnung aufge 
jtellt; fondern im übrigen befpricht er nur konkrete Einzelfragen 
und Einzelfälle, deren Beantwortung aljo jelbjtverftändlich die 
betreffenden Nebenumftände berückſichtigen muß, folglich aber auch 
ebenfo jelbjtverftändlich feine bleibende, bindende Norm fein kann. 

Fafjen wir das nach den beiden Seiten hin Ausgeführte zus 
jammen?), jo gelangen wir zu dem Reſultat: Die chriftliche Re— 
ligion vepräfentiert die für unfer geiftiges Vermögen prinzipiell 
denfbar-höchite Form des religiöſen Bemußtjeins. Sch ftelle alfo 
dem Sab, den jüngjt in Verfolg jener Tröltſch'ſchen Grundan- 
ſchauung Veit ausgefprochen hat ): „theoretiich läßt fich für das 

4) Auf diefe fundamentalen Stüde muß ich mic, hier bejchränfen. Die 
weiteren Wefensnterkmale des Chriſtentums ftehen damit in engftem Zufammen- 
bang. Inwiefern das zumal von bem ſpezifiſchen Charakter bes Chriftentums ala 
Erlöfungsreligion, und alfo — dogmatiſch geſprochen — von der Chriftologie gilt, 
denfe ich an anderem Orte auszuführen, 

*) Chriftliche Welt, in dem Auffag itber „Neligionsgefchichte und Fröm— 
migfeit”, XIII (1899), Sp. 996. Daß jener Beit’fche Sa in Verfolg der 
Zröltih’fchen Grundanfchauung liegt, darf, wie mir jcheint, gejagt werben. 
Im übrigen will ic) keineswegs die vielfach in der Luft ſchwebenden Auf: 
ſtellungen Veits Tröltſch in die Schuhe ſchieben. — Uebrigens denkt jogar 


Veit ſelbſt bei jenem Sag nur an die fvezifiichereligiöfe = der chriſtlichen 
geitfepeift für Theologie und Kirche. 10, Jahrgang, 5. Seft. 


390° MWobberuin; Das Verhältnis der Theologie zur modernen 


veligiöje Verhältnis zu Gott noch eine Fortbildung über Jeſus 
hinaus (gemeint iſt: über die chriftliche Neligion hinaus) denlen“ 
— den genau entgegengefeßten gegenüber: mit den Mitteln 
menfchlichen Dentens läßt ſich die Möglichkeit einer prinzipiellen 
Fortbildung des veligiöfen Bemußtfeins tiber die Stufe des chrifte 
lichen hinaus fehlechtewdings nicht aufweiſen. f 
Indes auch diefe negative Beftimmung tft 
nicht das letzte, was zu erreichen ift. Es ift nicht 
nur an dem, daß wir außer Stande find, eine höhere, prinzipiell 
über die chrijtliche Religion hinausliegende Stufe der religiöfen 
Entwicklung zu erdenfen; fondern weiter: die gejchichtliche Größe 
der chriftlichen Religion, wie fie durch Jeſus Chriftus in die Ge— 
Ichichte der Menſchen gefommen ijt, entjpricht demjenigen Ideal 
religiössfittlichen Bewußtfeins, das wir als Forderung aus ber 
eigenen inneren Erfahrung kennen. Unfere veligtös-fittlichen Be- 
wußtſeins⸗Inhalte unterfcheiden fich nämlich dadurch charakteriſtiſch 
von dem Gejamtumfang unferes fonjtigen Bewußtfeins, daß fie 
eine Forderung an uns ſelbſt zum Ausdruck bringen, und daß 
fie diefe Forderung als unbedingt giltige erſcheinen Laffen. 
Freilich bleibt die Norm des fittlichen Bewußtjeins für uns ein 
ſtets umerreichtes Ideal, und ebenſo bleibt auch der einzigartige 
Anfpruch übergeordneten Wertes, den das religiöfe Bewußtſein 
erhebt, ein ſtets unerreichtes Ideal. Haben nun aber in dev chrift- 
lichen Religion die fittlich-veligiöfen Forderungen die denkhar 
höchjte Ausprägung erhalten, infofern fie auf die Bethätigung der 
denkbar höchſten Sittlichteit und gleichzeitig auf die Bethätigung 
der denkbar höchſten Neligiofität (im engeren Sinne des Worts) 
abzweckt, jo müffen wir in diefer chriftlichen Religion das abjo- 
lute Ideal veligiössfittlichen Bewußtfeins anerkennen. — Für diefe 


Neligion, an das Verhältnis der Einzelfeele zu Gott. In Bezug auf bie 
ſittliche Seite, das Verhältnis des Menſchen zur Welt, hält Veit nicht nur 
theoretijc, eine Fortbildung „über Jeſus hinaus“ — diefer Begriff ſelbſt ift, 
wie oben bemerkt, unklar und falſch gedacht — für möglich, fondern auch that— 
jädlid und bereits für die Jegtzeit für nötig und möglich. Eine 
treffliche Entgegnung vom Standpunkt wiſſenſchaftlicher Ethik aus hat auf dieſe 
Gedantenfprünge Gottichie in der Chriſtl. Welt, XIII (1899), Sp. 1086—89 
gegeben. 


Wiſſenſchaſt und ihre Stellung im Geſamtrahmen ber Wiſſenſchaften. 391 


Argumentation ift aljo dev Umſtand ausichlaggebend, daß die beiden 
Thatjachenfompfere, der pſychologiſch-philoſophiſche und der hiſto— 
riſche, einander jchmeiden, einander kreuzen, und zwar ſich fehneiden 
in dem maßgebenden Gefichtspunft des abjoluten Ideals. 
Darum haben wir aber ebenjo Pflicht wie Recht, das Chriften- 
tum unter dem Begriff der abfoluten Religion zu betrachten. 
Für Tröltſch ſpitzt fich jeine ganze Betrachtung dahin zu, diejen 
Begriff als einen irrigen hinzuftellen, der abgethan werden muß; 
er hält ihn für ein „irreführendes Exbe des älteren Eirchlichen 
Supernaturalismus“t). Diefe Frage ftellt auch den Springpunft 
in der Auseinanderſetzung dar, die in Band VI und VIII diefer 
Zeitfchrift zwifchen Tröltſch und Kaftan ftattgefunden hat. Mit 
vollem Recht, ſcheint mir, hat Kaftan den Begriff der abjoluten 
Religion Tröftfch gegemüber verteidigt und in diefem Sinne „Die 
Selbftändigfeit des Chriſtentums“ geltend gemacht. Wenn Tröltſch 
demgegenüber bemerkt: Die ganze Frage nach der Abjolutheit er- 
icheint mir als dogmatifche Qudlerei, die für eine undogmatifche 
Betrachtung wegfältt*) — jo jehe ich in diefer Bemerkung die Be- 
ftätigung für die Richtigkeit meiner vorher erhobenen Einwendungen. 
Es ift nur der Doppelfinn dev Worte „dogmatiſch“ und „undog- 
matijch”, der diefer Bemerkung auf den erften Blic einen gewiſſen 
Schein der Berechtigung verleiht, infofern die „Dogmatifche Quä— 
Ierei" dadurch in die Beleuchtung geftellt wird, eine dogmatiftifche, 
willfürlich-tonftruierende zu fein. Im übrigen hat Tröltſch völlig 
vecht, daß die ganze Frage für eine undogmatijche, d. h. rein- 


) So int Theolog. Jahresbericht XVII S. 509, — Bon ber Frage nad) 
der Berechtigung des Begriffes der abjoluten Neligion ift freilih die andere 
völlig zu trennen, ob die abfolute Berwirklihungsform diefer Religion 
bereit$ erreicht, oder gar bereit3 „einmal dageweſen“ ſei. Tröltich rückt a, a. 
D. beides auf eine Linie, das zweite von erfterem nur durch ein „vollends“ 
trennend. Allein aus Gründen der Polemik ift das aber nicht zu erklären, denn 
etwas Aehnliches hat aud) Kaftan niemals behauptet; wohl aber das Gegen- 
teil oft genug ſtark betont, vgl, 3. B. Bd. I diefer Zeitſchrift, S. 19: Die 
Neformation bezeichnet nicht einen Abſatz bloß in einer langen kontinnierlichen 
Entwieelung, jondern einen velativ neuen Anfang, eine neue Stufein 
der Berwirflihung des Chriſtentums in ber Welt. 

2) a. a. O. ©. 510, 

26* 


J 


geſchichtliche Betrachtung wegfällt, richtiger wäre m. €. zu jagen: 
noch nicht entjteht. Denn nicht in der äußeren Gejchichte, fondern 
nur im eigenen Innenleben erwachjen uns abjolute Forderungen 
und abjolute Werte. Ebendaher tft auch jene Frage allein vom 
Boden der Neligionsgejchichte aus nicht zu beantworten. 

Und daß fich weiter ein erafter Nachweis für die Abſolut— 
heit der chriftlichen Religion nicht erbringen läßt, iſt oben bereits 
gejagt worden, Wenn aber Tröltſch aus diefem Sachverhalt un— 
mittelbar die Folgerung zieht, daß ich über die Abjolutheit der 
chriſtlichen Religion mwifjenfchaftlich überhaupt nichts ausſagen laſſe, 
jo überfieht ev m. E., daß zwifchen jenen beiden Möglichkeiten 
noch eine. dritte liegt, die der wiſſenſchaftlichen Reflerion über 
pigchifche und gefchichtliche Thatſachen. 

Gegen die ganze hier vorgetragene Beurteilung der Streit 
frage erhebt fich ein gewichtiger Einwand. Es ift hier dem Umftand 
ausfchlaggebende Bedeutung beigemefjen worden, daß die chriftliche 
Religion für unfer Denken die abjchließende Form veligiös-fitt- 
lichen Bemußtfeins darjtelle. Aber gehört nicht ebenfomohl unfer 
Denten wie das religiös-fittliche Leben in einen unaufhörlichen 
Entwidlungsprozeß hinein? Dann jcheint es, muß unter dieſem 
doppelten Gefichtspunft überhaupt grundfäglich darauf Verzicht 
geleiftet werden, über weiteres al3 über die bisher vorliegenden 
Entwicklungsprodukte ivgend etwas auszufagen. Aber es hat in 
dieſer Beziehung doch, worauf vorher ſchon hingedeutet wurde, 
gerade mit dem veligiös-fittlichen Leben feine befondere Bemandt- 
nis, Das ſpringt fofort in die Augen, wenn wir zunächt unter 
dem Gefichtspunkt der Denkfmöglichkeit und des denkmöglichen 
Fortſchritts das religiös-fittliche Leben mit andern Gebieten menfch- 
licher Kulturentwiclung vergleichen. Nicht nur in Bezug auf 
Technik und äußere Kultur laffen fich Fortfchritte und Weiter 
entwiclungen prinzipiellfter Art denfen. Sondern auch von der 
eigentlichen Wiffenjchaft gilt das, beifpielsmeife von der Mathes 
matik, die für dieſe Ueberlegung bejonders in Betracht kommt, 
und auf die daher auch Tröltſch in der oben zitierten Stelle ver- 
gleichsweiſe hinweift!). Zunächſt bleibt hier die Möglichkeit eines 

) Bd. vi dieſer Zeitſchr. ©, 78: Wie es feines vorher fertigen Maß- 


392 Wobbermin: Das Verhältnis der Theologie zur modernen 





Wiſſenſchaft und ihre Stellung im Gejamtrahmen der Wiſſenſchaften. 393 


ins Unendliche fortgehenden Zumachjes von Kenntniffen. Der 
quantitative Zuwachs fpielt aber hier die größte Nolle; eine jo 
große, daß ex mitbeftimmend tft fir das Weitere und Wichtigere, 
auf das hinzuweiſen ift, Es ließe ſich nämlich immerhin auch 
die Möglichkeit denken, daß die bisher leitende Grundanſchauung 
in prinzipiellſter Weife eine Aenderung erlitte; daß etwa in der 
Geometrie die Anfchauung vom dreidimenfionalen Naum durch 
eine andere, höhere erſetzt würde. Dem veligiössfittlichen Leben 
gegenüber befteht dagegen feinerlei derartige Denkmöglichkeit. Jeder 
Verſuch, eine über die Stufe de3 Ehriftlichen prinzipiell hinaus— 
liegende Form veligtös-fittlichen Lebens zu denken, führt notwendig 
zur Aufhebung eben des Begriffes des religiös-Sittlichen. Weil 
aber die Beziehung endlicher Weſen als folcher zum Unendlichen 
den Begriff des religiöfen Lebens — und auf das Chriftentum 
aejehen den Begriff des religiög-fittlichen Lebens — konſtituiert, 
jo kann allein aus dem Umſtand, daß endliche Wefen in Betracht 
tommen, nicht die Berfektibilität der chriftlichen Religion abge: 
feitet werden. Und nun ift weiter jener Thatbeftand auch wohl: 
verjtändlich, wenn wir die Eigenart des religiös-fittlichen Lebens 
jelöft ins Auge faſſen. Denn die chriftliche Neligion, in der wir 
dies veligiös-fittliche Leben zum prinzipiellen Abjchluß gekommen 
fehen, will den Menjchen in Beziehung zur Gottheit, dem Ur— 
grund alles Dafeins, ſetzen; und fie fieht eben darin Ziel und 
Beltimmung des Menfchen. Alles andere ift demgegenüber Mittel 
zum Zwed. Betrachten wir nun aber, wie hier immer gefehehen, 
die Menjchheits-Gefchichte unter dem Gefichtspunft der Entwid- 
lung, jo ſchließt doch gerade diejer Gefichtspunft der Entwicklung 
den Gedanken eines bejtimmten Endziels in fich. Und es ift auch 
von da aus feine willfürliche Annahme, fondern eine wohlbe— 
gründete Schlußfolgerung, daß für das religiös-fittliche Leben die 
prinzipiellzabfchließende Stufe der Entwicklung innerhalb ber 
Menfchheitsgefchichte fällt, daß wir hier nicht vor einer unend- 


ftabes für die Verteilung der Entwicklung bes wiſſenſchaftlichen Denkens oder 
der Mathematit bedarf, ſondern bie höhere Stufe hier in der Negel durch ſich 
jelbft einleuchtet und die niedere berichtigt, To ift es auch jonft. ..; fo auch in der 
Neligionsgeichichte, 


J 


394 Wobbermin: Das Verhältnis der Theologie zur modernen 


lichen Reihe, einem progressus in infinitum ftehen. 

So jchließen fh auch hier die Argumente zufammen und 
damit dürfte jener Einwand entkräftet jein. Dann bleibt es aljo 
dabei, daß wir in der vorher näher bezeichneten Weife wiſſen— 
ſchaftlich berechtigt find, im Ehriftentum die abfolute Religion zu 
jehen. Weil aber die ausfchlaggebenden Gründe für die ganze 
Frage nicht aus der Neligionsgefchichte als folcher zu entnehmen 
find, deshalb jeheint mir, daß die Theologie von Seiten der Re— 
Kigionsgefchichte ſchwerwiegenden Bedenken nicht mehr ausgejeßt 
jein kann; in der Neligionsgefchichte aber müßte fich allerdings 
zufammenfafjen, was von Seiten der Geifteswifjenfchaften über— 
haupt gegen chriftliche Religion und Theologie vorzubringen wäre, 

3. Umgekehrt bin ich dagegen gegenüber Naturwiffenfchaften 
und PHilofophie weniger unbejorgt. Ich meine, die Fragen nach 
dem Verhältnis von Religion und Theologie zu Naturmwifjen- 
ſchaften und Philofophie werden von felbft von Jahr zu Jahr 
ftärfer hervortreten, und andrerfeit habe auch die Theologie die 
Pflicht, ich gerade mit ihnen zu befaffen. 

Auf dem Gebiet der Naturwiſſenſchaften ift es fraglos die 
Entwidlungslehre, wie fie durch den Einfluß Darwins 
zu unumſchränkter Herrſchaft gelangt ift, welche Religion und 
Theologie im Innerſten berührt. Allerdings ift ja diefe natur 
wiſſenſchaftliche Entwicklungslehre nicht ohne Beeinfluffung von 
Seiten der Geijteswiffenfchaften entftanden, und es ift fchon öfter 
und mit gewiffen Necht gefagt worden, daß Darwin die Natur- 
wifjenjchaft hiftorifiert habe; indes durch die moderne Natur: 
wiſſenſchaft ift doch die Geltung des Entwiclungsgedanfens erſt 
zur allgemeinen Anerkennung gelangt und zugleich ijt von ihr Die 
Entwicklungslehre in einer neuen Form ausgeprägt worden, bie 
gerade in befonderer Weife das Intereſſe der Theologie bean- 
fpruchen muß. Es ift auch von Seiten der Theologie ſchon 
mancherlei zur Sache gejagt worden; aber eine wirklich wiſſen— 
fchaftliche umfafjende Auseinanderfegung mit diefer Entwicklungs— 
lehre hat die proteftantifche Theologie noch nicht geleiftet. Das 
ift in dem Zurücktreten der apologetifchen Bemühungen in den 
legten Dezennien begründet, es darf aber nicht als etwas Nor- 


Wiſſenſchaft und ihre Stellung im Gefamtrahmen der Wiſſenſchaften. 895 


males bingeftellt, fondern muß offen als ein noch auszufüllender 
Mangel anerkannt werben !). 

Jede Auseinanderfegung der geforderten Art wird zunächit 
in erfenntnistheoretifcher Unterfuchung genau abzugrenzen haben, 
inwieweit es fich bei dem Kompler von Vorftellungen und An- 
nahmen, die man unter dem Namen der Entwicklungslehre 
zufammenzufaffen pflegt, um Ergebniſſe — gleichviel feien es 
füchergeftellte Nejultate, jeien e8 Hypothefen von größerer oder 
geringerer Wahrfcheinlichfeit — wirklicher Naturwiſſen— 
ihaft, aljo erafter Naturforfhung, handelt, 
und inwieweit Berarbeitungen dieſer Ergeb 
niffemittelft philoſophiſcher Reflexion, m a. W. 
inwieweit Sätze naturphiloſophiſcher Artin 
Frage ftehen. Denn daß wir es beiſpielsweiſe in einer ſolchen 
auf die Entwicklungslehre aufgebauten Gefamt-Weltanfchauung, 
wie fie Hädel unter dem Namen der natürlichen Schöpfungsge- 
ſchichte vorträgt, mit einer philofophifchen (wichtiger allerdings 
pfeudophilofophifchen) Verarbeitung der erfteren zu thun haben, 
ift ja ihr Verfaffer ſelbſt ehrlich genug, offen einzugeftehen *). 

Aber die Scheidung muß ſcharf und ficher durchgeführt werden, 
denn auf der einen Seite verfuchen die Jünger der Naturforſchung 
immer, zufammen mit den wirklichen Ergebniffen ihrer Wifjen- 
ſchaft eine Neihe von Annahmen als wifjenjchaftliche Refultate 
einzufchmuggeln, die auf diefen Titel fein Anrecht haben; auf 

*) Auf fatholifcher Seite hat Schanz das Verbienft, in feiner umfaſſend 
angelegten Apologie des Chriftentums (Bd. J und IT in zweiter Aufl., Frei 
burg 1897) das natunmiffenfchaftlice Material in weiten Umfang wenigftens 
beſprochen zu haben. Natürlich find ihm als Katholiten für eine wiſſenſchaft- 
liche Auseinanderjegung gerade hier jehr enge Grenzen gezogen, 

2) Bol, Natürliche Schöpfungsgefhichte, 9. Auflage, 1898, S. 70 fi. — 
Wenn man die wichtigften Fortichritte, Die der menjchliche Geift in der Er— 
kenntnis der Wahrheit gemacht hat, zufammenfaffend vergleicht, fo erkennt man 
bald, dab es jtets philojophifche Gedanken-Operationen find, durch welche diefe 
Fortjchritte erzielt wurden, „ - . Empirie und Philojophie ſtehen baher feines- 
wegs in fo ausfchließendem Gegenfag zu einander, wie bisher von ben meiften 
angenommen wurde; fie ergänzen fich vielmehr notwendig, ... Durch bie 
Gedankenarbeit der Philofophie wird die Naturkunde erft zur wahren Wilfen- 
ſchaft, zur „Naturphiloſophie“. 


36 Mobbermin: Das Verhältnis dev Theologie zur modernen 


der andern Seite erſchweren fich die Theologen die Auseinander- 
ſetzung mit jenen wirklichen Rejultaten der Naturwiffenfchaft, in— 
dem fie diefelben von den andersartigen Elementen nicht trennen. 

Ergebnis erafter Naturforſchung tft m. E. 
derjenige Bejtandteil der Entwicklungslehre, den wir als Ent- 
wicklungslehre im engeren und eigentlichen Sinne des Wortes be— 
zeichnen können d. h. die Lehre, der jetzige Beftand der unorga- 
nifchen und organifchen Welt ſei das Produkt eines langen, lang- 
ſam und jtetig fortjchreitenden Entwiclungsprozefjes. Der wich— 
tigere Teil diefer Entwiclungslehre im engeren Sinne des Wortes 
ift derjenige, der fich auf die organifche Natur bezieht; es ift zus 
gleich, derjenige Teil, der die Hauptargumente und damit Die 
eigentliche Baſis fir die ganze Theorie liefert. Auf dieſen will 
ich mich in meinen folgenden Bemerkungen befchränfen. 

Da bejagt die Entwiclungslehre, daß der heutige Beſtand 
lebender Weſen ich auf dem Wege einer fortjchreitenden Ent 
wiclung von niederen zu immer höheren Formen ergeben babe, 
Diefe fortjehreitende Entwiclungslinie ift allerdings bisher nicht 
in erafter Forjchung aufgewiefen worden und fie wird es voraus— 
firhtlich niemals auch nur annähernd werden. Inſofern ift und 
bleibt auch die Entwiclungslehre rein als ſolche eine Hypotheje. 
Uber fie ift eine Hypotheſe, die durch die gemichtigften Gründe 
geftügt wird, und fie muß m. ©. al3 eine der bejtgeficherten Hy— 
pothejen der Wiſſenſchaft gelten. Es ſcheint mir nicht unange— 
bracht und nicht unnötig zu ſein, ſich klar zu machen, daß, wenn 
man 3. B. innerhalb der hiſtoriſchen Theologie auf alle Auf— 
ftellungen von nur gleichen Wahrjcheinlichkeit grundfäglich von 
vornherein verzichten wollte, der Umfang diefer Disziplin bedenf- 
Lich zufanımenfchrumpfen würde, 

Es find drei Wifjenszweige, denen jene Gründe für den 
in Frage ftehenden Teil der Entwiclungslehre zu entnehmen 
find: die vergleichende Biologie, aljo vergleichende Zoologie und 
Botanik, die Paläontologie, die Wifjenfchaft von den Lebeweſen 
der früheren Perioden der Erdentwiclung, und die Ontogenie, 
die Wifjenjchaft von der Entwidlung der einzelnen Lebeweſen. 

Die vergleichende Biologie lehrt, daß die Grenzen zwijchen 


Wiſſenſchaft und ihre Stellung im Gefamtrahmen der Wiſſenſchaften. 397 


den einzelnen Arten der organijchen Weſen vielfach Leine 
fejten find, jondern vielmehr häufig unfichere und jchmwankende. 
Die ältere Naturwiſſenſchaft und mit ihr auch die frühere Philo- 
fophie hatte die Artunterfchiede zwijchen den verfchiedenen Arten 
für abſolut feſte, ſtets gleichbleibende gehalten, „Es giebt jo 
viele Arten, als im Anfang verfchiedene Formen von Gott ges 
ſchaffen worden find": das war die allgemein verbreitete Anficht. 
Aber mit der Ausbreitung unfever Kenntnis der Pflanzen» und 
Tierwelt ift diefe Anficht hinfällig geworden. Jeder, der fich mit 
irgend einem beliebigen Zweig der bejchreibenden Naturwifjen- 
ſchaft bejchäftigt hat, weiß, daß es zwifchen manchen Arten jo 
viele Webergangsformen giebt, daß eine einheitliche Abgren— 
zung und Einteilung unmöglich ift, daß daher der eine Forjcher 
etwa 2 Arten mit je 3 Varietäten, der andere 3 Arten mit je 
2 Varietäten annimmt und Aehnliches mehr, Eine Zeit lang 
hatte man fich mit der Unterjcheidung von guten und fehlechten 
Arten helfen zu können gemeint. Gute Arten wurden als ſolche 
definiert, die unter einander feine fortpflanzungsfähigen Baſtarde 
erzeugen. Aber auch dies Merkmal hat fich nicht als ftichhaltig 
erwieſen; man bat auch durch Kreuzung von Individuen zweier 
von einander bedeutend abweichender Arten fortpflanzungsfähige 
Nachkommen erhalten. Der Artbegriff läßt fich aljo nicht in 
abjolut giltiger Weife feftlegen. 

Die Paläontologie hat drei Thatfachen, die fir unfere Frage 
von Bedeutung find, feitgeftellt. Einmal, daß in den verjchiedenen 
Perioden der Erdentwicklung ſich auch je verjchiedene Formen des 
Lebens ausgebildet haben, daß dieſe Formen des Lebens oder 
der Lebeweſen nicht durch alle Perioden hindurch die gleichen ge— 
weſen find, Und dazu die andere Thatjache, daß die Aufein- 
anderfolge dieſer Lebewejen in den verjchiedenen Exdjchichten, 
durch welche die vwerjchiedenen Perioden der Erdentwicklung ve 
präfentiert werden, eine auffteigende Linie in der Weiſe darftellt, 
daß in den frühejten Beitaltern die einfachen Formen vorherrichen, 
in den fpäteren jedesmal höhere auftreten. Die Höheren Formen fehlen 
in den älteften Schichten ganz; erſt ſpäterhin zeigen fie fich, zuerſt ver- 
einzelt, dann allmählich immerzahlreicher. Umgekehrt tretendie niederen 





a 


398 Wobbermin: Das Verhältnis der Theologie zur modernen 


Formen, die in den älteren Schichten vorherrfchten, allmählich 
mehr und mehr zurück. Und nun kommt das dritte Ergebnis 
der Paläontologie hinzu, dies nämlich, daß fich unter den ausge— 
ftorbenen Arten eine Reihe von Uebergangsformen zwifchen niederen 
und höheren Stufen findet, die heute nicht mehr vorfommen, wie 
beifpielsweife der berühmte archaeopteryx Kthographieus, der in 
zwei Gremplaren im lithographiſchen Schiefer von Solenhojen ge— 
funden worden ift und eine Zwiſchenform zwifchen den Sauriern 
und den Vögeln daritellt. 

Die Ontogenie, die Wiffenjchaft von der Entwiclung der 
einzelnen Lebeweſen aus ihren erſten Anfängen bis zu ihrer ab— 
ſchließenden Gejtaltung, lehrt, daß jedes Lebeweſen in feiner eige— 
nen Entwicklung ganz weſentlich diefelbe Reihenfolge verſchiedener 
Formen durchlaufen muß, welche durch die verfchiedenen Klaſſen 
der ihm gegenüber niederen Lebeweſen vepräfentiert wird, Wie 
jedes Lebeweſen feinen Anfang nimmt von der Urform lebender 
Organismen überhaupt, der einfachen Zelle, fo zeigt auch in der 
weiteren Entwicdlung der Embryo der höheren Organismen in 
den verfchiedenen Stadien feines Dajeins je den Typus einer 
niederen Form. Auf Grund diefes Thatbeftandes hat Häckel den 
Satz aufgeftellt, den er als biogenetifches Grundgeſetz bezeichnet. 
Dies biogenetifche Grundgeſetz befagt, daß die individuelle Ent- 
wicklungsgefchichte und die Stammesgefchichte einander parallel 
laufen; genauer: daß die individuelle Entwicklungsgeſchichte eine 
ſchnelle Wiederholung der langfamen Stammesgefchichte iſt. Alfo 
die Meinung Häckels ift die: daf jedes einzelne Lebeweſen in ge— 
dreängter Zeit die Hauptſtufen derjenigen Entwielung durchmachen 
muß, welche die Gattung und Art desjelben durchzumachen hatten, 
um ſich von den einfachjten Urarten zu ihrer jegigen Form aus— 
zugejtalten. 

Sehen wir aber auch von diefer Auslegung jenes Thatbes 
ftandes ab, und faſſen das Reſultat aus den Ergebniffen der 
drei kurz charakterifterten Disziplinen zufammen, jo muß m. €, 
gejagt werden, dab jede diefer Disziplinen für fich bereits mit 
großer Wahrjcheinlichkeit auf die Anfchanung der Entwiclungs- 
lehre führt, daß die leßtere aber durch das Zuſammenſtimmen und 


Wiſſenſchaft und ihre Stellung im Gejamtrahmen der Wiſſenſchaften. 399 


das Ineinandergreifen derjelben zu einer der beftgeficherten Hypothe— 
fen gemacht wird, welche die Wiffenfchaft überhaupt aufzumeifen hat. 

Steht nun diefe Entwidlungslebre mit der 
hriftlihden Weltanfhauung in Konflikt? Mir 
jcheint jo wenig, daß fie vielmehr die chriftliche Weltanfchauung 
zu ihrer Ergänzung fordert, daß fie ohne die letztere ein unver- 
jtämdliches Rätſel bleibt, und daß andererfeits die chriſtliche Welt— 
anſchauung auch ihrerfeits von ſelbſt auf jene Betrachtung führt. 
— Denn diefe Entwiclungslehre läßt uns die Welt lebender 
Wefen betrachten als ein in fich zufammenhängendes Ganze mit 
einer legten Endabzweckung, der immer vollfommeneren Heraus: 
bildung des Lebens. Sie lehrt die Welt organischer Weſen be- 
trachten als ein großes Kunſtwerk, das fich jelbjt vervollkommnet, 
indem die niederen formen des Lebens zu immer höheren führen. 
Der Thatbeftand eines derartigen Kunſtwerks aber führt uns nach 
Analogie aller jonjtigen Erfahrung mit Notwendigkeit auf die Vor— 
ausjegung eines dahinter ftehenden zweckſetzenden Wejens. — 
Und andrerjeits wird auch der chriftliche Gottesbegriff in feiner 
Beziehung auf die Welt nicht gefchmälert, fondern im Gegenteil 
reiner durchgeführt, wenn man diefe Welt lebender Wefen, ar 
deren Schlußpunft der freie Mensch fteht, als eine folche betrachtet, 
die von Heinen Anfängen aus ihren Ausgang nahm, denen aber 
die Anlage und Fähigkeit gegeben war, fich zu immer höheren 
Formen und Gebilden auszugeftalten und denen die Möglichkeit 
bereitet wurde, diefe Anlagen und Fähigkeiten auch wirklich zur 
Entfaltung gelangen zu laſſen. 

Alſo ſchließe ich: Die Entwicklungslehre miderfpricht dem 
chriftlichen Glauben jo wenig, daß vielmehr der chriftliche Glaube 
von ſich aus eine Entwicklungslehre poftulieren müßte, wenn die 
Naturwifjenjchaft noch nicht zu einer jolchen gelangt wäre, 

Dabei ift freilich vorausgefegt — und das darf nicht über— 
jehen werden —, daß diebejondere Theorie Darwins, 
die bejondere Form, welche bei ihm und durch ihn im ſehr weiten 
Kreifen der modernen Natnrwiſſenſchaft die Entwicklungslehre 
erhalten hat, nicht als gefichertes wifjenfchaftliches Nefultat oder 
auch nur al3 wohlbegründete Hypotheje gelten kann. Die be- 


400 obbermin: Das Verhältnis der Theologie zur modernen 


jondere Form, welche Darwin der Entwidlungslehre gegeben hat, 
it die Seleftionstheorie, und diefe will die natürlichen 
Urſachen der Umbildung der Organismen als rein mechanische 
Urjachen aufweifen, fie aufmweijen vor allem in natürlicher und 
gejchlechtlicher Zuchtwahl, Dieſe Selektionstheorie kann m. €. 
nicht auch nur als berechtigte Hypotheſe gelten, wenigftens dann 
nicht, wenn fie den Anſpruch erhebt, den Entwicklungsprozeß der 
organijchen Natur vollftändig und reſtlos begreiflich zu machen, 
dann nicht, wenn fie ausdrücklich oder ſtillſchweigend beanfprucht, 
die für fih binreihende Erklärung für Die 
auffteigende Entwidlung der DOrganijation 
abzugeben, oder, wie Hädel mit Vorliebe jagt, die wahre 
Urjade derjelben aufzudecken. Denn es läßt ſich nachweifen, 
daß die Anſätze der Seleftionstheorie — wenn fie nämlich mit 
dem bejagten Anfpruch auftritt — logiſch unhaltbar find, meil 
fie in ihren Konfequenzen zu Logijchen Ungeveimtheiten führen. 
Nur auf einige befonders wichtige Punkte kann ich in dieſem 
BZufammenhauge hinweiſen. Es find vornehmlich drei Faktoren, 
drei Begriffe, mit denen die Theorie der natürlichen Zuchtwahl 
vechnet: Variabilität, Vererbung, Auswahl durch Kampf ums 
Dafein. — Bariabilität, Veränderungs- Fähigkeit, infonder- 
heit Anpaſſungs-Fähigkeit ift in der Welt lebender Wejen ohne 
Zweifel vorhanden; ob in dem Umfange, den die Durchführung 
der Zuchtwahllehre erfordern würde, ift jchon eine andere Frage, 
— indes auch das ſoll zugeftanden fein. Aber die allergrößte 
Schwierigkeit bereitet doch die nun nötig werdende Annahme, daß 
die Variabilität vegelmäßig oder jedenfalls prozentjagmäßig ſehr 
überwiegend nach der Seite der Bervolltommnung, des Fortfchritts 
tendiert. Waren die rein zufälligen Lebensbedingungen immer 
folche, welche höheren Formen und höheren Eigenjchaften zu Gute 
famen? So weit wir erfahrungsmäßig die Variabilität ftudieren 
können, iſt das keineswegs der Fall; da finden wir vielmehr ein 
gleichmäßiges Schwanken uach unten wie nach oben. Alſo ſcheint 
doch der ftete Fortfchritt der Organifation auch eine beftimmte 
Tendenz der Variabilität in fortfchreitender Richtung vorauszu— 
jegen, d. h. aber ein inneres zweckmäßig wirkendes Entwiclungss 





Wiſſenſchaft und ihre Stellung im Gefamtrahmen der Wiffenfchaften. +01 


prinzip, das nicht rein mechaniſcher Natur it, und das zu einer 
teleologifchen Gejamtbetrachtung drängt. — Es müßt nichts, wie 
neuerdings vielfach) von Naturforjchern unter Benutzung eines 
vom Fatholifchen Zoologen v. Baer geprägten Begriffes beliebt 
wird, von einer „Sieljtrebigkeit dev Natur” zu fprechen!), um 
dadurch das Problem zu verdeefen oder abzujchneiden, indem die 
Zweckmäßigkeit ohne den Zweck als Prinzip blos aus Notwendigkeit 
erklärt wird. 

Die Vererbung kommt für die Zuchtwahlfehre nicht in 
ihrer Allgemeinheit in Betracht, fondern nur als Vererbung der in- 
dividuell erworbenen Eigenjchaften, d. h. nur die ſog. progreffive Ver: 
erbung. Denn im übrigen hält ja die Vererbung gerade die Artunter: 
ſchiede aufrecht, ift fonfervativerNtatur, Ich will mın davon abſehen, 
daf die ganze Frage einer folchen progreffiven Vererbung — gerade 
neuerdings — umftritten iſt?); wir wollen mit der Richtigkeit der 
Theorie als folcher rechnen, Jedenfalls muß unbedingt zugegeben 
werden, daß eine jolche Vererbung verhältnismäßig Ausnahme iſt. 
Nach der Theorie der natürlichen Zuchtwahl müßte fie dagegen 
vorherrſchen; fie müßte, wenn nicht ausnahmslojes Geſetz, jo 
doch vormwiegende Regel fein. Denn nur, wenn die progrejfive 
Vererbung zum mindeften überwöge, wäre der progreffive Fort- 
Schritt durch fie zu erklären. 

Eine Ausleſe im Kampf ums Dafein anzunehmen, 
berechtigt die Analogie der künftlichen Auslefe, der künſtlichen 
Zuchtwahl. Aber auch mittelft fünftlicher Zuchtwahl, die doch im 
vieler Beziehung der natürlichen weit überlegen iſt, da fie bie 
Auslefe auf die abjolut geeignetiten Exemplare beſchränken kann, 





%) v. Baer ſelbſt verbindet mit jenem Begriff eine teleologiſche Betrach- 
tungsweiſe. Val. aus jeinen Schriften befonders die Abhandlungen: Ueber ben 
Zweck in den Vorgängen der Natur, Erſte Hälfte: Ueber Zweckmäßigleit ober 
Zielſtrebigkeit überhaupt, und; Meder Bielftrebigkeit in den organijchen Körpern 
insbefondere, in Neben uud Kleinere Auffäße IT 51 fi, 173 ff. — Val. auch 
Stölzle, 8. E. von Baer und feine Weltanfchauung, Negensb. 1897, S. 67 ff., 
©. 228 ji. 

?) Befteitten wird die Wererbung erworbener Cigenfcaften 3. B. von 
A. Weismani; vgl, Neue Gedanken zur Bererbungsfrage, Jena 1895; Ueber 
Gerntinalfelettion, Jena 1896, 


- 


ift es ſtets nur gelungen, einen beftimmten Kreis von neuen 
Formen zu erzeugen, die mit der Stammform noch immer nahe 
verwandt find; und jeder Fünftliche Züchtungsprogeß kommt an 
eine Grenze, wo jeder weitere Steigerungsverjuc mißlingt. Dann 
it e8 aber das weitaus Wahrfcheinlichere, daß auch die natür— 
liche Zuchtwahl, die Auswahl im Kampf ums Dafein, die Ab- 
meichungen nur bis zu einem gewiflen Grade zu treiben vermag, 
daß fie folglich nicht die im legten Grunde ausfchlaggebende Ur— 
jache des Entwicklungsprozeſſes, fondern nur ein Hilfsmittel im 
diefem ift. Zu demfelben Rejultat führt die nähere Reflexion 
tiber diejenigen Fälle dev Wirffamfeit der natürlichen Zuchtmahl, 
die von Darwin und feinen Nachfolgern mit befonderer Vorliebe 
herangezogen werden, nämlich den Fällen der jog. mimiery, ber Nach- 
äffung oder Masferade zu Schutzzwecken. In allen Fällen der 
mimiery — ſei es der Schußfarbe der Umgebung, ſei es des 
Habitus beftimmter Dinge oder desjenigen verwandter, befjer ge- 
ſchützter Arten oder ähnl. — ift der Erfolg, daß dadurch befjere 
Chancen im Kampf ums Dafein gewonnen werden. Aber bietet 
die natürliche Zuchtwahl die hinreichende Erklärung für das Zus 
ftandefommen folcher Masferaden? Daß diefelben fich ganz all- 
mählich von Eleinften Anfängen an berausgebildet haben, wird 
angenommen. Aber die natürliche Zuchtwahl kann ja erjt in dem 
Augenblick in Wirkung treten, wo die Abänderung jo ftark ift, 
daß fie einen Vorteil gewährt, wo etwa die Aehnlichfeit jo täu— 
ſchend ift, daß die Feinde irre geführt werden. Vorher muß 
alio ein anderes Brinzip, eine andere Urſache wirkſam geweſen 
fein, welche bis zu jenem Punkte hin die Entwiclung veranlaßte. 

Damit haben wir die drei wichtigjten Faktoren, mit denen 
die natürliche Zuchtwahl vechnet, einzeln für fich betrachtet. Werfen 
wir num noch einen Blick auf diefe Zuchtwahltheorie im Ganzen, 
Sie will die Abänderung und Vervolllommnung der Arten da— 
durch erflären, daß regelmäßig die Individuen mit folchen Eigen- 
ichaften, die den jeweiligen Lebensbedingungen am beiten angepaßt 
find, die meifte Ausficht haben, am Leben zu bleiben und ihre 
Eigenfchaften auf die Nachkommen zu vererben. Dabei bleibt 
aber die Frage gänzlich) unbeantwortet, wie die erjte Entjtehung 


402° Wobbermin; Das Verhältnis der Theologie zur modernen 


En 





Wiſſenſchaft und ihre Stellung im Gejamtrahmen dev Wiffenfhaften. 408 


folcher Eigenſchaften, die fich nachher im Kampf ums Dafein 
nützlich erweifen, zuftandefommt, Dieſe Frage bleibt unbeantwortet, 
weil fie im Grunde überhaupt unberücjichtigt bleibt. Ebenſo 
unbeantwortet aber bleibt die andere Frage, wie es denn auf 
diefem Wege zu der immer fortjchreitenden Vervolllommnung der 
Arten fommen joll, da gar nicht einzufehen ift, inwiefern nicht 
ſchon ſehr niedere Arten dem Nützlichkeitsprinzip, mit dem die 
natürliche Zuchtwahl allein rechnet, volllommen Genüge leiften. 
Man hat mit volljtem Recht die Frage aufgeworfen, was haben 
etwa eine Amöbe, ein Wurm oder ein Juſelt davon, höher 
organifiert zu fein, welchen Vorteil ſoll ihnen eine weitere Stufe 
der Organifationshöhe einbringen? Und ebenjo kann und muß 
man andererſeits die Frage aufwerfen: wenn es wirklich lediglich 
die mit mechanischer Notwendigkeit fich einftellende Wirkung der 
natürlichen Zuchtwahl war, welche die Vervolllommmung der Organi- 
jation veranlaßte und im Lauf der Sahrmillionen bis zu der 
höchſten Stufe derfelben führte, sie kommt es dann, daß es noch 
immer Organismen der einfachiten Form giebt? Iſt bei ihnen 
niemals eine Veränderung eingetveten, bei der die natürliche Zucht- 
wahl hätte einjegen können? — aber die allgemeine Variabilität 
ift eine Grundvorausfegung dev Geleftionstheorie; oder haben 
ich jene Veränderungen, wenn fie fich an einzelnen Individuen 
eingejtellt hatten, niemals im Lauf der Jahrmillionen vererbt? — 
aber die Vererbung ift die zweite Grundvoransfegung der Selektions- 
theorie; oder waren ſchließlich die Lebensbedingungen für fie immer 
derartige, daß eine folche Auslefe niemals einzutreten brauchte? 
— aber eine derartige Beſchaffenheit der Lebensbedingungen, die 
zur Ausleſe führt, ift die dritte Grundvoransfegung der Seleftiong- 
lehre. 

Sobald man alſo die logiſchen Konſequenzen der Anſätze 
dieſer Selektionstheorie zieht, gerät man überall zu Ungereimt- 
beiten und man wird tiberall zu dem Schluß gedrängt, daß Die 
natürliche Zuchtwahl wohl irgendwie im Entwiclungsprojeß der 
organifchen Natur mitgewirkt haben wird, aber daß fie Feinesfalls 
für fich die genügende und hinveichende Erklärung für die aufs 
steigende Entwiclung der Organifation abgiebt. Für diefe werden 








404 obbermin: Das Verhältnis ber Theologie zur modernen 


wir vielmehr immer wieder zurückkommen müffen auf einen im 
Boraus fejtgelegten Entwiclungsplan, der nicht von lauter rein 
zufälligen Bedingungen abhängig ift, fondern dem als dem 
Schöpfungsplan einer zweckſetzenden allmächtigen Intelligenz durch 
diefe letztere die Sicherheit für die Harmonie und planmäßig fort: 
fchreitende Entwidlung gewährleiſtet iſt. 

Ein Wort jchließlich noch über die weiteren Hilfs- 
thbeorien, mit denen die Selektionslehre arbeitet. Darwin 
jelbjt hat in feiner fpäteren Zeit die Unzulänglichfeit der natür- 
lichen Zuchtwahl als des einzigen Erklärungsprinzips fir Die 
organische Entwicklung öfter empfunden und zum Ausdrud ge— 
bracht. Doc) hat er dann ſolche Eingeftändniffe wieder abgeſchwächt 
durch Berufung auf einige andere Hilfsprinzipien, die gleichfalls 
für das Zuftandefommen des Entwicklungsprozeſſes in Betracht 
zu ziehen jeien. Und jo pflegen denn auch heute noch der Theorie 
von der natürlichen Zuchtwahl zur Aushilfe einige meitere Er— 
klärungstheorien beigefügt zu werden, die man heranzieht, wenn 
man ſich der Ungenügendheit dev evjteren nicht entziehen kann. 
Die wichtigfte unter ihnen ift Die Theorie der gefchlechtlichen Zucht- 
wahl. Allerdings wird gerade jolche gefchlechtliche Zuchtwahl 
heute von manchen Seiten wieder ganz in Frage geftellt; aber 
wieder foll darauf fein Gewicht gelegt werden, wie es fich denn 
die Theologie m. E. in jeder Auseinanderſetzung mit der Natur- 
wifjenjchaftzum methodischen Grundfat machen muß, ftets mit 
den für fie felbft ungünftiaften Hypothefen zu rechnen, 
folange diefelben noch nicht definitiv bejeitigt find. Das in der 
Apologetif bisher fait allgemein übliche Verfahren ift freilich gerade 
das umgefehrte gewejen, die ausfchlaggebende Urgumentation auf 
Ausnahme-Pofitionen einzelner Naturforfcher in Bezug auf bes 
jtimmte Gingelfragen zu ftügen!). Aber auch wenn wir die Gültig« 
feit und Wirkfamfeit der gefchlechtlichen Zuchtwahl vorausjegen, 
können wir, ohne auf Einzelheiten einzugehen, die prinzipielle 


*) Das gilt bor allenı von Zöcklers apologetiichen Abhandlungen im Schluß 
fapitel jeiner Geſchichte der Beziehungen zwiſchen Theologie und Naturwiffen- 


Schaft und im feinen vielfachen Aufſätzen zur Sache. 


Wiſſenſchaft und ihre Stellung im Gefamtrahmen ber Wiffenichaften. 405 


Stellungnahme zu ihr ficher begründen, Denn nur das ift für 
uns die Frage, ob diefe Theorie der gefchlechtfichen Zuchtwahl 
etwa leiften fann, was die natürliche nicht leiftet: eine hinveichende 
Erklärung des gefamten Entwicklungsprozeſſes der organijchen 
Welt. Das aber kann zweifellos diefe Theorie nicht leiften, da 
fie nur für beftimmte Fälle und beftimmte Phafen der Entwidlung 
in Betracht fommt, jofern fie wejentlich nur für die Entftehung 
der jog. ſekundären Serual=Charaktere — die nur einem der 
beiden Gejchlechter zufommen, ohne doch in divektev Beziehung zur 
Fortpflanzungsthätigkeit zu ftehen — herangezogen wird, Das 
kann aber überhaupt feine Hilfstheorie leiften, welche der natür— 
lichen Zuchtwahl nur nach der einen oder andern Richtung unter 
die Arme greift. Für diefe Frage kommt alles lediglich auf die 
eigentliche Haupttheorie an, durch welche die fortjchreitende Ent- 
wicklung erklärt werden ſoll. Iſt die Haupttheorie diefer Aufgabe 
prinzipiell nicht gewachſen, dann nüten Beine einzelne Nach— 
befferungen gar nichts. 

So wenig Grund wir alfo im theologifchen Intereſſe hatten, 
der Entwicklungslehre im eigentlichen Sinne des Wortes entgegen= 
zutveten, jo entjchieden müjjen wir aus allgemein-wifjenjchaftlichen 
Gründen die bejondere Form, welche die Entwiclungslehre in 
der Seleftionstheorie annimmt, als einjeitig und ungenügend ab- 
lehnen. Dieje Unterjcheidung und die damit gegebene Stellung- 
nahme zum ganzen Problem entfpricht fachlich derjenigen, zu dev 
Reiſchle auf Grund feiner begrifflichen Bearbeitung des Entwid- 
lungsgedankens als folchen gelangt, wenn ex zwiſchen dem teleo- 
logifchen oder idealiftijchen und dem ätiologiſchen Entwiclungs- 
begriff unterfcheidet, in Bezug auf den erſteren die Entjeheidung 
trifft, daß derſelbe in dem chriftlichen Anſchauungskreis direkt auf- 
genommen werden müffe, in Bezug auf den zweiten dagegen vor 
einfeitiger Geltendmachung warnt’). 


4) M, Neifchle, Chriftentum und Entwicklungsgedanke. Leipzig 1898, — 
Außerdem vergl. zu den obigen Darlegungen.befonders: W. Haade, Die Schöpf- 
ung des Dienfchen und feiner Ideale, 1895.— Teihmüler, Darwinismus und 
Philoſophie, Dorp. 1877. — E. v. Hartmann, Wahrheit und Irrtum des 
Darivinismns, Berlin 1875, — Derfelbe, SKategorienlchre, Leipzig 1896, 

Zeinſchrift ſur Theologie und Kirdhe. 10. Jahrgang. 5. Heft. 27 


u 


406 Wobbermin: Das Verhältnis der Theologie zur modernen 


4. Mit dem dritten Hauptteil unferer erften Aufgabe, 
d. h. mit der Frage nad) dem Verhältnis von Theologie und 
Philofophie, gelangen wir zu dem fchwierigften und meines Dafür 
baltens wichtigften Teil derjelben. — Wir müffen uns aber bier 
auf eine Grörterung der prinzipiellen Stellungnahme, die der 
Aufgabe gegenüber geboten ift, bejchränfen ; laſſen alfo alle Einzel= 
probleme beifeite. Und da entfteht die Frage, ob ich nicht vielleicht 
nur jelbft durch den ganzen Aufbau meiner Behandlung die 
Schwierigkeit der Situation erft gefchaffen habe, Wäre es nicht 
das Richtige, die Beziehungen zwifchen Theologie und Philofophie 
einfach durch eine Grenzbejtimmung zu entjeheiden? Könnte man 
nicht dadurch von vornherein jede Möglichkeit eines Konfliktes 
zwifchen Theologie und Philofophie aus dem Wege räumen? — 
Die Religion und am allermeiften die chriftliche Religion hat es 
zu thun mit dem perſönlichen Glaubensleben individueller Menjchen. 
Sie gilt nur in der Sphäre dieſes perfönlichen Glaubenslebens ; 
fie ift überhaupt nur da für die Angehörigen einer Gemeinfchaft, 
welche die Anerkennung und die Pflege diefes Glaubenslebens zur 
ftillfehweigenden Vorausfegung hat. Die Wiſſenſchaft dagegen 
will allgemeingültige Erkenntniſſe liefen, die jeder intellektuell 
normale Menſch anerkennen muß. Dann find aber — fcheint es 
— Religion und Wiſſenſchaft zwei Größen, die nicht3 mit einander 
zu thun haben; und die Aufgabe der Theologie muß gerade darin 
beftehen, dieſe Verjehiedenartigfeit der beiderfeitigen Gebiete aufe 
zudecken. 

Niemand hat von dieſem Geſichtspunkt aus die Frage ſo 
ſcharf und treffend behandelt wie Herrmann in ſeinem Buch: Die 
Religion im Verhältnis zum Welterkennen und zur Sittlichkeit. 
Die Welt des Glaubens ift dem mwifjenfchaftlichen „Naturerfennen‘ 
unzugänglich, das wiſſenſchaftliche Naturerkennen aber it beſchränkt 
auf die erkennbare Wirklichkeit, Wo die Wiffenfchaft über die 
Erforſchung diefer letzteren hinausgeht zu Aufftellungen über den 
S, 437 ff. (Kategorie ber Finalität), — Pland, Wahrheit und Flachheit des 
Darwinisums, Nörbl. 1872, — N, Eucen, Die Grundbegriffe ber Gegenwart, 
1893, S. 103 ff. (Begriff der Entwichung). — W. Wundt, Syſtem der Philo- 
ſophie, 2, Auflage, 1897, Abſchn. V, Kap. Bu, 4. 





4 


Wiſſenſchaft und ihre Stellung im Gefamtrahmen der Wifjenfhaften. 407 


Gejamtweltzufammenhang, da vollzieht jie eine unbevechtigte Grenz— 
überjchreitung und erlaubt fich unbefugter Weife Urteile über 
Dinge, über die in Wahrheit nur vom Standpuntt ——— 
lichen, ſpeziell chriſtlichen Glaubens zu urteilen iſt. 

Ich kann für meine Perſon dieſe ganze Betrachtung Herr— 
manns mitmachen, halte die Poſition, die Herrmann damit ein— 
nimmt, für im letzten Grunde unanfechtbar, und weiß, daß Herr— 
manns Buch großen und ſegensreichen Einfluß geübt hat. — Aber 
endgültig erledigt iſt die Frage damit m. E. nicht, und fir unſere 
Zeit kann fte in der Weife m, €, überhaupt nicht erledigt werden"). 
Schon der Titel des Herrmann'ſchen Buches ift in der Beziehung 
wichtig: Die Religion im Verhältnis zum Welterfennen und zur 
Sittlichkeit. Das Welterfennen, d. h. aber das Gebiet exakter 
Forfchung ift es, das Herrmann in die Unterfuchung ziehen will; 
überjchreitet dies Welterfennen jeine Grenze, dann wird es zur 
Metaphyſik“, die in dogmatiftifcher Weiſe allgemeingültige Urteile 
über ein Gebiet abgeben will, über das fie rechtmäßig nichts zu 
jagen hat. — Diefer Standpunkt war berechtigt, ſo lange es fich 
um die Nuseinanderfegung dev Theologie mit der ſpekulativen 
Bhilofophie SchellingsHegel’fcher Art handelte. Als Gegenjchlag 
gegen diefe ift das Unternehmen auch gejchichtlich zu verftehen 
und wird als ſolches immer feine Bedeutung behalten. Aber 
gegenüber der modernen Bhilofophie wäre es 
zwedlos, jih auf denjelben Standpunkt zurüd- 

) Im biefem Punkt ftehe ich ganz zu Tröltfeh, deffen Verdienſt es ift, im 
Theologiichen Jahresbericht immer wieder anf die Unzulänglichkeit jenes Stand— 
punktes hingewieſen zu haben. Uber and Kaftan hat ftets die Fundamentie— 
rung der Theologie auf breitefter Bafis und von den allgemeinften Prinzipien 
des Wiſſens aus gefordert und ſelbſt eine folde in feinen Werken über Wejen 
und Wahrheit der hriftlichen Religion durchgeführt: Val. auch feine Bemer— 
fung gelegentlich; feiner Beſprechung von H. H. Wendt's Erfahrungsbetveis für 
die Wahrheit des ChHriftentums: „Stärker noch als Wendt möchte ich alfo 
betonen, daß der Beweis fih aus Erwägungen zufanmenfegen muß, die eben 
als wiſſenſchaftliche, philoſophiſche fr jedermann fein wollen und 
tönmen“ (Theolog. Litteraturztg. NXIL 1897, ©. 497). Und er hat in feiner 
Dogmatik die Notwendigkeit, vom chriftlichen Stanbpuntt aus die Doppel 
aufgabe einer Philofophie des Geiftes uud einer Vhilofophie der Natur durch⸗ 


zuführen, ſehr energifch hervorgehoben. 
27* 


408 Wobbermin: Das Verhältnis der Theologie zur modernen 


zusiehen. Zwei Momente find da vor allem zu berückſichtigen, 
die dies Urteil begründet erſcheinen lafjen: 

a) Die moderne Philofophie beanfprucht fir fich ſelbſt feine 
Abſolutheit ihrer Aufftellungen, feine Allgemeingiltigteit ihrer Er— 
gebniffe. Sie will weder exakte Einzelwiſſenſchaft, noch allgemein- 
gültige Exfenntnis des Univerjums fein. Sie will nichts anderes 
fein als der hypothetiſche Verfuch der Zufammenarbeitung der 
Grgebniffe der verfchiedenen Einzelwiſſenſchaften. — b) Die mo— 
dene Bhilofophie arbeitet nicht Lediglich mit Momenten des reinen 
Denkens. Bewußter Weife zieht fie das Gefühls- und Willens: 
leben im weiteften Umfang mit in den Umfreis von Thatfachen 
berein, deren hypothetiſche Zufammenarbeitung fie verfucht. In 
Bezug auf Philofophen wie Dilthey, G. Claß, Euden, Sigwart 
und William James genügt es, in diefer Hinficht auf die Gejamtten- 
denz einiger ihrer bedentendften Arbeiten zu verweifen: auf Dilthey’s 
Einleitung in die Geifteswiffenfchaften, auf die Unterfuchungen zur 
Phänomenologie und Ontologie des menfchlichen Geiftes von Claß, 
auf Euckens Kampf um einen geijtigen Lebens-Inhalt)y, auf 
Sigwarts Logik und W. James’ Abhandlungen unter dem Titel 
The will of belief. Mit W. James zufammen find Paulſen und 
Wundt die Hauptvertreter des ſog. Voluntarismus und wieder 
bezeugt bereits der Hinweis auf diefe Nichtung ihrer Philofophie 
die Nichtigkeit umferev Thefe. „Der Wille bejtimmt das Leben, 


+) Auf Euckens neueren Aufſatz: Die Stellung der Philofophie zur reli— 
giöfen Bewegung ber Gegenwart (Zeitſchr. f. Philof. u. philoſ. Kritit, Bd, 112 
(1899, &, 161 ff.) muß ich wenigftens anmerfungsweife hiuweiſen. Vol. S. 165: 
So kann aut dent Ernft der Wendung zur Neligion kein Zweifel fein. Dar— 
über aber, welchen Weg hier das Streben einzufchlagen habe, wogt der Streit 
hin und her, und in dieſem Streit hat auch die Bhilofophie Stellung zu 
nehmen, — &. 170: Das tiefſte Weſen der Religion, ihre Stellung im Ganzen 
des Lebens, ihr Verhältnis zu den übrigen Gebieten, das Weltbild und Die 
Lebensanſchauung, die aus ihr hervorgehen, alles das ftellt aud der Philo— 
fophie große Aufgaben; fie kann nicht an ihnen arbeiten, one auch für ihre 
eigenen Zwecke zu gewinnen. Die Wahrheit der Neligion läßt ſich micht ame 
erkennen, ohne daß fich der Grumdbegriff der Wirklichkeit verwandelt und das 
Erkennen ſich felbft über jein eigenes Wollen und Vermögen auftlärt, Nirgends 
mehr als hier müfjen die Hauptrichtungen der Philofophie ihre Eigentümlich— 
feit ausprägen und ihre geiftige Kraft zeigen. 


Wiſſenſchaft und ihre Stellung im Gejantrahmen der Wiſſenſchaften. 409 


das ift fein Urrecht; alſo wird er auch ein Recht haben, auf die 
Gedanken einen Einfluß zu üben. Nicht zwar auf die Feſtſtellung 
der Thatfachen im Einzelnen: bier ſoll jich der Verſtand allein 
nach den Thatfachen ſelbſt richten; wohl aber auf die Auffaſſung 
und Deutung der Wirklichkeit im ganzen.“ So Pauljen’). Und 
Wundt beftimmt den Zweck der Philoſophie als Zufammenfafjung 
unferer Einzelerfenntniffe zu einer die Forderungen des Verftandes 
und die Bedürfniſſe des®emütes befriedigenden Welt: 
und Lebens-Anjchauung ?). Alle diefe Philofophen kennen für ihre 
Arbeit den „Standpunkt des blos vorjtellenden Bewußtſeins“ gar 
nicht, unter deffen Borausfegung Herumanns ganze Argumentation 
exfolgt?). 

Nun könnte man demgegenüber jagen: Eine derartige Philo- 
fophie, wie du fie als moderne charakterifierft, hat überhaupt feine 
Griftenzberechtigung. Sie befaßt fich nicht mit der Bearbeitung 
des erfahrungsmäßig Gegebenen, ift alfo keine wirkliche Wiſſen— 
ſchaft; fie arbeitet andererfeits mit Momenten, die dem religiöfen 
Glauben angehören. So mag fie ſich ehrlich auf den Standpunkt 
des Glaubens, d. h. des chrijtlichen Glaubens ftellen und dann 
von bier aus ihre Aufammenarbeitung der Nefultate der Einzel- 
wiffenfchaften als chriftliche Glaubensphilofophie ausgeftalten®). 
Aber dagegen habe ich auf ein Doppeltes hinzumeifen. Einmal 
ift die Exiſtenz jener philofophifchen Verſuche eine Thatjache, mit 
der eben als mit einer Thatjache gerechnet werden muß. Der: 
artige philofophijche Verſuche find ftets angeftellt worden und 
werden ftet3 amgejtellt werden; die Theologie hat immer die 
Pflicht gefühlt, fich mit ihnen auseinanderzufegen, fie wird fich 


) Im Vorwort zur deutſchen Ausgabe der genannten Abhandlungen bon 
James: Der Wille zum Glauben, deutſch von Th. Lorenz, Stuttg. 1899, S. 6. 

2) Syſtem der Philofophie, 2. Auflage, S. 1. 

) Der Ausdruck ſelbſt bei Herrmann, a. a. O. S. 112, 

) Vgl. Herrmann, a.a. ©. ©. IX in der Vorrede: Wir haben nur nötig, 
und gegen eine jolche Philofophie zu verteidigen, welche unter anderen Namen 
das Gefchäft der Theologie betreibt... . Es giebt allerdings eine gemein- 
ſame theologifche wie philofophiiche Aufgabe: Die Scheidung der praftijch be= 
dingten Meberzeugungen, in deren Bereiche die eigentlich theologifhen Probleme 
liegen, von dem Gebiete des theoretifchen Erkennens. 








40 Wobbermin: Das Verhältnis der Theologie zur modernen 


diefer Pflicht aud) in Zukunft nicht entziehen dürfen. Sodann 
aber ift zu bedenken, daf doch auch die Theologie ſelbſt, ſofern 
fie Wiffenfchaft ift, ihre Glaubenserfenntnis in den Geſamtrahmen 
der Wiffenfchaft eingliedern muß, und daß eben dadurch die 
Glaubenserfenntnis qua theologijhe Erkennt— 
nis hypothetiſchen Charafter erhält. Denn die 
Glaubenserkenntnis beanfprucht Geltung nur unter der Vorauss 
ſetzung des Glaubensftandpunftes; die Geltung dieſes Glaubens- 
ftandpunftes bleibt aber für die wiſſenſchaftliche Reflexion eine 
hypothetiſche; folglich bleibt auch jene Erkenntnis ſelbſt eine hypo— 
thetijche. Wohl ift jich der Glaube feiner Erkenntnis abfolut und 
unbedingt ficher; er duldet feinen Zweifel, Aber in die Form 
theologifcher Sätze gebracht, hat und behält auch jene Erkenntnis 
Hypothetifchen Charakter. Es fommt hinzu, daß der Anſpruch 
auf Allgemeingültigfeit, der an ſich der Glaubenserfenntnis un— 
veräußerlich ift, doch nur für die richtig und vollftändig erfaßte 
Form des Lehrgehalts dev chriftlichen Religion erhoben werden darf, 
während fein einzefner Theologe beanfpruchen kann, daß dieſe 
Nichtigkeit und Vollftändigkeit in feiner Dogmatik vorliege. Dann 
bat aber die Theologie feine Möglichkeit, der Philoſophie das 
Recht zu ihrer vorher ffizgierten Arbeit zu bejtreiten und jeden- 
falls ift e& aus vein methodifhen Gründen unzu- 
läjfig, die ganze Auseinanderfegung mit der Bhilofophie daranf 
zu beſchränken. Daraus müßten der Theologie notwendig alle die 
Nachteile erwachſen, die im Felde einem Heere entjtehen, das fich 
in Vertrauen auf feine unangreifbare Defenfiv- Stellung von 
vornherein und grundſätzlich auf die Abwehr befchränfen wollte, 
Es vergißt dabei, daß es der Gefahr ausgejegt ift, ausgehungert 
zu merden. Auch die Theologie würde fich m. €. auf jenem 
Standpunkt der Gefahr ausfegen, im Gefamtbetrieb der modernen 
Wiffenfchaft ausgehumgert zu werden. Vielmehr wird fie in eine Jach- 
liche Auseinanderſetzung mit der Philoſophie einzutreten haben. 
Und ihr Streben muß auf ein Doppeltes gerichtet fein. Sie muß 
erftens erweifen, daß die wifjenfchaftliche Reflexion ſelbſt dahin 
führt, eine Antwort auf die legten Fragen des woher? und des 
wohin? in der chriftlichen Religion zu juchen. Und fie muß 











wiſſenſchaft und ihre Stellung im Gejamtrahmen der Wiſſenſchaften. 411 


zweitens zeigen, daß fie vom Standpunkt des chriftlichen Glaubens 
aus eime volljtändigere und eine beffer in ſich zufammenftimmende 
Bufammenarbeitung des Einzelwifjens liefern kann, als eine Philo- 
fophie, welche das religiös: fittliche Leben nur teilmeis oder nur 
in dev Form niederer Entwicklung berückſichtigt. Man kann das— 
jelbe auch jo ausdrüden: Philofophie und (ſyſtematiſche) Theologie, 
beide im idealer Vollendung gedacht, decken fich, Wenn und fo 
lange ihre Nejultate teilweis auseinandergehen, jo ijt das darin 
begründet, daß einexfeits die Vhilofophie den Motiven der abjo- 
luten Religion nicht hinreichend gerecht wird, daß andererfeits die 
Theologie in der Herausftellung der wifjenjchaftlichen Verarbeitung 
des in der chriftlichen Religion implicite befchlofjenen allgemein- 
gültigen Lehrgehalts Irrungen ausgeſetzt ift. 


I. 


‚Haben wir im Vorausgehenden Stellung genommen zur Frage 
nad) dem Verhältnis der Theologie zur modernen Wiffenfchaft, 
jo drängt ſich von jelbft die weitere Aufgabe auf, dieje Stellung- 
nahme dadurch zu präcifieren, daß wir der Theologie ihren Platz 
im Gejamteahmen dev Wifjenjchaften anmeifen. 

1) Run ift e8 feit den Tagen Schletermachers jehr allgemein 
üblich geworden, fir diefen legteren Zweck die grundlegende Be— 
ſtimmung zu treffen, daß die Theologie zu den praktischen Wiſſen— 
ſchaften gehöre und infofern von vornherein unter anderen Be- 
dingungen ftehe, von anderen Gefichtspunkten geleitet werde und 
auf andere Abfichten abzwerfe als die Disziplinen der reinen oder 
theoretifchen Wiffenjchaft?). Verwirrung ift dabet noch häufig 
dadurch geſtiftet worden, daß man um diefes „praftifchen" Charat- 
ter3 willen im Anfchluß an Schleiermacher die Theologie al3 
„pofitive" Wiſſenſchaft bezeichnete, dann aber dieſem Begriff un— 
vermerkt eine andere Bedeutung unterſchob oder wenigſtens mit- 


) Auf die zwar verwandte, doch weſentlich andersartig begründete Unter- 
ſcheidung von theoretifchen und praktiſchen Disziplinen, wie fie die äftere Dog— 
matit aus der ariſtoteliſch⸗ſcholaſtiſchen Philofophie übernomnen hatte und auf 
Grund deren fie die Theologie ala sapientia practiea oder geradezu als 
habitus practicus bezeichnet, gehe ich abfichtlich hier nicht näher ein. 





42 Wobbermin: Das Verhältnis der Theologie zur modernen 


unterfchob, als er bei Schleiermacher hat, der damit eben nur 
jene Abzweckung der Theologie auf eine praftifche Aufgabe — 
die Leitung der chriftlichen Kirche — zum Ausdruck bringen will‘). 
Um derartige Zweidentigkeiten zu vermeiden, iſt es jedenfalls 
empfehlenswert, auf den Schleiermacher'ſchen Begriff „pofitive 
Wiffenfchaft“ zu verzichten, und für jenen Zweck von der Theologie 
als einer „praftifchen" Wifjenfchaft zu veden. Heute ift num 
bezüglich der Beurteilung diefev Frage die Lage eine ganz eigen- 
tümliche. Man betont nämlich den „praktiichen“ Charakter dev 
Theologie, der fie von der „reinen“ Wiſſenſchaft unterjcheide, 
immer dann, wenn man an ihre foftematifchen Disziplinen denkt, 
während man von den hiftorifchen Disziplinen als jelbftverjtänd- 
lich voransjeßt, daß fie „reine" Wiſſenſchaft darbieten follen 
und müffen. Das ift m. E. eine auf die Dauer völlig unhalt— 
bare Situation, wie fie denn auch dem Standpunkt Schleiermachers 
in feiner Weiſe entjpricht. Aber auch diefer Standpunkt Schleier- 
machers jelbft bedarf dringend dev näheren Klarſtellung bezw. 
Berichtigung. 

Mit der Beftimmung nämlich, daß die Theologie eine prak— 
tiſche Wiſſenſchaft fer, ift für die ganze Frage noch ſehr wenig 
geleiftet, jedenfalls keine das Problem wirklich Löfende Entſcheidung 
gegeben. Auch Zurisprudenz und Mebizin find praktijche Wifjen- 
Ihaften, genau fo wie die Theologie. Bei der Medizin liegt 
indes ihre Zuſammenſetzung aus einer Neihe naturwifjenichaft 
licher Disziplinen zu jehr auf der Hand, al3 daß ein Hinweis auf 
fie befonders förderlich wäre. Anders fteht e8 mit der Juris— 
prudenz. In der That hat man in Bezug auf fie häufig genug 
— ganz jo wie in Bezug auf die Theologie — die ganze Frage 
damit abthun zu können gemeint, daß man fie aus dem Kreis 
der theoretifchen Wiſſenſchaften ſtrich, umd fie als praktiſche 


4) Kurze Darftellung des theologiichen Studiums, 2, Aufl, $ 1, Anmers 
fung: Eine pofitive Wiſſenſchaft it nämlich ein folher Inbegriff wiſſenſchaft- 
licher Elemente, welche ihre Zufammengehörigkeit nicht Haben, als ob fie einen 
vermöge der Idee der Wiſſenſchaft notwendigen Beltaudteil der wiſſenſchaft— 
lichen Organtfation bildeten, ſondern nur, jofern fie zur Löjung einer praftiichen 
Aufgabe erforderlich find. 


Wiſſenſchaft und ihre Stellung im Gejamtrahmen der Wiſſenſchaften. 413 


Wiſſenſchaft definierte. Daß aber in Wirklichkeit die Frage damit 
noch keineswegs abgethan ijt, bat H. O. Lehmann in feinem 
ſchon oben genannten Aufſatz mit Mecht hervorgehoben. „Die 
Frage, ob die Jurisprudenz eine Wiffenfchaft ift, muß näher 
dahin geftellt werden: it fie wahre, ift fie theoretifche Wifjenfchaft? 
.. Es leuchtet unmittelbar ein, daß Die Jurisprudenz, ſoweit fie 
Kunſt der Rechtsanwendung ift, zu den praktischen Wifjenfchaften 
gehört, Es fragt fich aljo: ift fie nur Kunft dev Nechtsanwendung? 
Oder geht fie nicht darüber hinaus? Enthält fie nicht ein Gebiet, 
das Anfpruch auf die Bezeichnung als theoretifche Wiſſenſchaft 
erheben kann?“a) Damit hat Lehmann das Problem für die 
Jurisprudenz richtig geftellt. Genau jo muß es auch für die 
Theologie gejtellt werden. ch kann demgemäß von Schleier- 
machers berühmter Definition der chriftlichen Theologie im $ 5 
der kurzen Darftellung des theologifchen Studiums?) nur urteilen, 
daß ſie wohl die Bafis fir eine richtige Problemſtellung abgiebt, 
eine folche aber noch nicht ſelbſt enthält, gefchweige denn, daß fie 
die Löſung desjelben böte, — Die praktifchen Wifjenfchaften, die 
es mit der Verwertung der wifjenfchaftlichen Ergebniſſe für das 
praftifche Leben zu thun haben, ſtützen fich auf die entjprechende 
Disziplin der theoretifchen Wiffenfchaft. Soll die Theologie 
dem Gefamt-Organismus der Wiſſenſchaften 
eingeordnet werden, fo fragt fi, ob und in 
welcher Weife fie aufeiner jelbftändigen Dis— 
ziplin thbeoretifcher, Dd. bh. eigentlider Wiſſen— 
haft beruht?) 

2) Die Theologie ift ihrem Begriffe zufolge die Wiſſenſchaft 
von Gott und göttlichen Dingen. Nun ift aber Gott felbjt nicht 
Gegenftand menjehlichen Wiſſens und menfchlicher Forſchung; 
 9a0nDdET. 

*) Die Hriftliche Theologie ift der Inbegriff derjenigen wiſſenſchaftlichen 
Kenntniſſe und Kunſtregeln, ohne deren Beſitz und Gebrauch eine zuſammen- 
ftinmmende Zeitung. der chriſtlichen Kirche, d. h. ein chriftliches Kirchenregiment 
nicht möglich iſt. 

) Bgl. Wundt, Syſtem der Philoſophie, 2. Aufl, S. 20: Darum können 
die angewandten Wiſſenſchaften nur als Abzweigungen der reinen oder theo— 
retiſchen betrachtet werden. 


u 


44 Wobbermin: Das Verhältnis der Theologie zur modernen 


vielmehr iſt er nur Objekt unferes Glaubens. Unmittelbarer 
Gegenftand der Forſchung kann nur der Glaube an Gott und 
die göttlichen Dinge jein, aljo die Religion, genauer die Religionen 
im ihrer Mehrzahl. Wir müſſen daher die Theologie, die wir 
treiben, näher als chriftliche bezeichnen umd definieren: Die chrift- 
liche Theologie ift die Wiffenfchaft von der chriſtlichen Religion. 
Da nun aber die legtere als die abjolute Religion zu gelten hat, 
welche den Wahrheitsgehalt aller übrigen mit in ſich faßt, jo 
können wir rechtmäßig die chriftliche Theologie auch als Theologie 
ichlechthin bezeichnen, wobei dann fveilich die Vorausfegung die 
ift, daß diefe Theologie auch die Aufgabe hat, im Einzelnen nach- 
zumeifen, daß und inwiefern in der chriftlichen Neligion der 
Wahrheitsgehalt der übrigen mit enthalten ift, m. a. W. e8 wird 
dabei vorausgefegt, dab die allgemeine vergleichende Neligions- 
wiffenfchaft eine notwendige theologijche Hilfsdisziplin ift, 

Iſt alſo die Theologie in der bezeichneten Weife die Wiſſen— 
Schaft von der chriftlichen Religion, fo ergiebt fich, daß die Theologie 
zunächſt eine Einzehwifjenichaft aus dem Gebiet der Geifteswifjen- 
ſchaften darftellt. Und zwar hat jie als ſolche naturgemäß eine 
doppelte Aufgabe. Sie hat einmal die chriftliche Neligion als 
gefchichtliche Größe fennen zu lernen und fie nach allen Seiten 
hin in ihren gefchichtlichen Erjcheinungsformen zu erforſchen. 
Das ergiebt die Hiftorifche Theologie. Diefe ift wiederum natur- 
gemäß in zwei Unterabteilungen zu zerlegen. Denn zunächft muß 
die Entjtehung und Urform, dann die Entwicklung der chriftlichen 
Neligion betrachtet werden. — Aber die chriftliche Neligion ift 
nicht lediglich eine gejchichtliche Größe, jo daß es mur auf eim 
gefchichtliches Verjtändnis derfelben ankäme, fondern fie ift außer- 
dem gegemvärtiges veligiösejittliches Bewußtſeinsleben und als 
ſolches ſchließt fie einen beftimmten Lehrgehalt in jich, zwar nicht 
explicite, d, h. nicht als fertiges, auseinandergebreitetes Syſtem, 
aber fie enthält ihn implieite als notwendige Vorausfegung und 
logijche Konfequenz. Es muß alfo diefer Lehrgehalt der chrift- 
lichen Religion dargelegt und wifjenfchaftlich bearbeitet 
werben. Das ift daher die Aufgabe des zweiten Hauptteils der Theo- 
Iogie, der ſyſtematiſchen Theologie oder Dogmatik im weiteren Sinne, 


Wiſſenſchaft und ihre Stellung im Gefamtrahmen ber Wiſſenſchaften. 415 


Auch fie ift zumächit ganz wie die hiſtoriſche Theologie Einzel- 
wiffenfchaft aus dem Gebiet der Geiſteswiſſenſchaften; beide vers 
halten fich zunächit zu einander fo wie Wirtfchafts-Gejchichte zur 
Nationalökonomie, wie Staats-Geſchichte zur Politik, wie Nechts- 
Geſchichte zur ſyſtematiſchen Rechtslehre, wie Kunft-Gefchichte zur 
Theorie der Künfte, wie die Gefchichte dev Wifjenichaften zur 
wifjenfchaftlichen Methodenlehre. So weit ift alſo die Theologie 
eine der geifteswifjenschaftlichen Sonder-Disziplinen mit ihrer 
doppelfeitigen Aufgabe, der gefchichtlichen und der fyftematifchen. 
In diefen bisher entwidelten Beſtimmungen treffe ich mit Rades 
Beurteilung der Frage zufammen, wie ev fie vor furzem in diefer 
Beitfchrift veröffentlicht hat!), Nur würde ich doch Gewicht 
darauf legen, mit der herfümmlichen Terminologie von Geiftes- 
wifjenfchaft bezw. geifteswiffenfchaftlicher Einzeldisziplin zu fprechen, 
anftatt, wie Rade thut, von Gefchichtswoiffenjchaft. Auch ich habe 
allerdings oben ausdrücklich hervorgehoben, da die Geifteswifjen- 
ſchaften ganz wejentlich durch die hiſtoriſche Methode charakteriſiert 
werden und zwar nicht nur im ihrer ſpeziell gefchichtlichen, fondern 
auch in ihrer foftematifchen Disziplin), Aber immerhin find 
doch die ſyſtematiſchen Disziplinen der Geiſteswiſſenſchaft nicht 
rein geſchichtliche wie die ſpeziell hiftorifchen; fie erfordern 
in ganz anderem Maße als die letzteren Berückfichtigung logiſcher 
und pfychologischer Momente und Methoden. ES erjcheint mir 
daher behufs Klarftellung des Sachverhalts erforderlich, bei dem 
Begriff der Geifteswiffenfchaften zu bleiben. Auch den amderen 
Wiffenszweigen — nicht nur. der Theologie — gegenüber würde 
der Begriff Gejchichtsmiffenfchaften zu Unzuträglichkeiten führen, 
Nationalöfonomie, Politit, theoretiiche Kunſtlehre kann man nicht 
als Geſchichtswiſſenſchaften bezeichnen, 

Ich habe aber bereits mehrmals abſichtlich betont: die Theo— 
logie ſei zun ächſt eines der geiſteswiſſenſchaftlichen Sonder— 
fächer. Die oben herbeigezogene Analogie zur Wirtſchafts-, 
Staats-, Rechts- u. |. w. -Wiffenfchaft ift doch feine volle, die 
Sache erſchöpfende. Die Iyftematifhe Disziplin der 

i) 8b. X, 8.79 ff. 

) &, 380. 


9 


416 Wobbermin: Das Verhältnis der Theologie zur modernem 


Theologie nämlich kann nicht einfach als geifteswiffenfchaftliches 
Sonderfach durchgeführt werden. Die ſyſtematiſche Theologie, 
ſahen wir, hat den Lehrgehalt, den die chriftliche Meligion implieite 
im ſich fchließt, zu entwickeln umd miffenfchaftlich zu bearbeiten. 
Nun hat es aber diefer Lehrgehalt der chriftlichen Neligion im 
legten Grunde überall mit den Fragen nach Gott und feinem 
Verhältnis zur Welt und zu den Menjchen zu thun. Und zwar 
das nicht in der Weife, daß die Entjcheidungen, die der chriftliche 
Glaube in diefer Beziehung trifft, feiner eigenen Grundtendenz gemäß 
irgendwie als folche von nur fubjeftiver oder bedingter Gültigkeit 
betrachtet werden dürften, fondern der chriftliche Glaube hat das 
allexgrößte Intereſſe an der ſchlechthinigen Allgemeingültigkeit 
jener Sätze. Das gilt freilich zunächſt nur vom chriftlichen Glauben 
(risrıs) als Glauben (ristederv), das zum eigentlichen Wiffen im 
ausgefprochenen und notwendigen Gegenjat ſteht. Aber für Die 
(ſyſtematiſche) Theologie ergiebt fich doch daraus die Aufgabe, zu 
unterfuchen, wie jene chriftlichen Glaubensfäge vom Standpunkt 
der Wifjenfchaft aus und in ihrem Rahmen zu beurteilen find. 
Und fo folgt, wenn wir beides zufammennehmen, daß die ſyſte— 
matifche Theologie notwendig zu einer wifjenfchaftlichen Bearbeitung 
der Fragen nach Gott und feinem Verhältnis zur Welt fortgehen 
muß, m. a. W., daß fie fortgehen muß zur wiljenfchaftlichen Er— 
arbeitung einer Gejamtweltanfchauung. Dieje Aufgabe liegt aber 
über den Bereich der Einzelwifjenjchaften völlig hinaus und kann 
nur von einem überragenden, die verichiedenen Gebiete des Einzel- 
wifjens gleichmäßig umfjpannenden Standpunkt aus unternommen 
werden. Daher ift der (ſyſtematiſchen) Theologie ihre Stellung 
im Rahmen der Wiffenfchaften nicht hinreichend damit angemwiejen, 
daß man fie als eine der Geifteswiffenfchaften bezeichnet, ſondern 
fie fordert notwendig von ſich aus ein Hinausgehen über 
den Geſamtkreis der Einzehwifjenichaften und tritt folglich in dieſer 
‚Hinficht in der fchon oben (S. 410.) näher bezeichneten Weife in 
Wechjelbeziehung zur Philofophie. 

Inſofern liegt alfo doch eine charakteriftiiche Verſchiedenheit 
der ſyſtematiſchen Theologie gegenüber den anderen jyftematijchen 
Disziplinen dev Geifteswifjenfchaft vor, weil eine charakteriftijche 


Wiſſenſchaft und ihre Stellung in Gefamtrahmen ber Wifjenihaften. 417 


Verjchiedenheit gegenüber den Disziplinen der Einzelwiſſenſchaft 
überhaupt. Wie die Naturwiffenichaft die eigentliche Bafis fir 
die Natur-Philofophie darftellt, jo das Syftem der Nechtslehre 
für die Recht3-Philofophie, jo das Syſtem dev Kunſtlehre für die 
Kunft-Bhilofophie. Der fyftematifchen Theologie dagegen wird 
man mit einer blos analogen Betrachtung nicht gerecht, und zwar 
deshalb nicht, weil ihr Inhalt, ihr Lehrgehalt fich direft auf die 
legten und umfafjenditen Fragen bezieht; aus diefem Grunde 
fordert fie auch diveft und unmittelbar die Aufftellung und Be- 
arbeitung einer umfaffenden Gejamt-Weltanfehauung. Ich muß 
«8 daher als eine eimfeitige und ungenügende Auffafjung des 
Sachverhaltes anfehen, wenn Wundt das Verhältnis von Theologie 
und Philoſophie dahin bejtimmt, daß die erftere für die letztere 
die Vorarbeit der Klärung und Sichtung des religiöfen Thatfachen- 
material3 zu Leiften habe, jo daß die Theologie ein ähnliches 
Mittelglied zroifchen Religion und Philofophie bilde, wie die Juris— 
prudenz zwiſchen Necht und Philoſophie). Fir die Philofophie 
ſelbſt ift das letztere freilich ganz vichtig. Aber die Theologie 
kann fich ihrerſeits nicht bei der ihr von Wundt zugemiefenen 
Aufgabe begnügen, denn fie würde fi) dann mit dem für die 
hriftliche Neligion fundamentalen Anfpruch, legte und allgemein 
gültige Wahrheiten zu enthalten, nicht in wifjenfchaftlich = voll- 
ftändiger Weife auseinanderfegen. Wundt felbft ergänzt an anderer 
Stelle, wo ex fpezieller auf die chriftliche Theologie vefleftiert, fein 
Urteil dahin: Da die Theologie auch über die allgemeine veligiöfe 
und ethifche Bedeutung der befonderen Glaubensanjchauung, der 
fie dient, Rechenſchaft geben wolle, jo fteht fie in naher Be 
ziehung zur Philofophie?). Damit nähert ex fich der 
m. E. allein richtigen Beurteilung der Sache. Doch berückſichtigt 

) Bol, Syſtem ber Philofophie, 2. Aufl, S. 6 f. — Wunde felbft ſpricht 
in dieſem Zuſammenhang nicht von Theologie, jondern von (allgemeiner) Reli— 
gionswiſſenſchaft; nach dem oben S. 414 Benerkten dürfen wir dafür Theo— 
logie einfegen. Sie ift ja auch für Wendt iu der „Religionswiſſenſchaft“ als 
Teilbeftand wenigftens mitenthalten, Tröltſch ſtimmt — in Konſequenz jeiner 
oben beſprochenen Grundftellung — der Auffafjung Wundts wejentlic zu: 
Theolog. Sahresbericht, XVIL, S. 534; vgl. aud Preuß. Zahrb.1897, ©. 446, 

N a. a. O. S. 80. 





48 Wobbermin: Das Verhältnis der Theologie zur modernen 


auch diefer Sat die thatjächliche Eigenart der chriftlichen Religion 
noch nicht genügend und jagt daher auch zu wenig, Denn da 
die chriftliche Religion ihrer befonderen Glaubensanfchauung nicht 
nur allgemein eine veligiöfe und etbifche Bedeutung beimißt, ſon— 
den in ihr die le&te allgemeingültige Wahrheit für das 
veligiösfittliche Leben und alle Fragen, die damit zufammenhängen, 
ſieht, jo kann es auch die (fyftematische) Theologie nicht dabei bemenden 
laffen, in „naher Beziehung“ zur Philofophie zu ftehen, fondern 
fie hat notgedrungen die Pflicht, ſelbſt jene letzten und höchſten 
Fragen, die Fragen nad) dem oberften Grund und dem legten 
Zweck alles Dafeins, zu bearbeiten, welche die Philofophie zu 
löſen verjucht jei es ohne Berticffichtigung des chriftlichen Glau— 
bens, fei es jedenfalls, ohne fich direkt auf den Standpunkt des— 
jelben zu ftellen, 

Noch Hinter die Urteile Wundts geht Rade zurück, wenn er 
die Theſe aufftellt, es ſei für die Stellung der Theologie im 
Gefamtorganismus der Wiſſenſchaft eine Lebensfrage, daß jie 
gefchichtlich fei, denn nur durch ihre hiftorifche Arbeit könne fie 
ſich als Wiſſenſchaft legitimieren‘). Hier tritt zunächſt Klar zu 
Tage, daß es oben nicht etwa nur ein Streit um Worte war, 
wenn wir es für bedenklich erklärten, daß Rade den Begriff der 
Geifteswifjenfchaften geradezu durch den anderen der Gejchichts- 
mwifjenfchaften erjege. Denn im Zufammenhang mit diejer Be— 
griffsformulierung wird nun Rade verleitet, feine Anforderung 
an die Arbeit der Theologie in einer Weife zu beſchränken, Die 
feinen eigenen fonftigen Ausführungen wider 
Tpricht. Denn wenn er Gericht darauf legt, daß der chriftliche 
Glaube, jo ſehr er auch gefchichtlich bedingt ſei, fich doch immer 
jeiner Natur nachauf ein Gegenmwärtiges richte, daß ex, genau befehen, 
an dem heute lebendigen Gott, an dem heute wirkenden Chriftus, 
an dem heute die Ginzeljeele wie die Gemeinde durchflutenden 
Geift Hänge®), dann ift es doch unbedingt logiſch unzuläſſig, die— 

) a. a. O. S. 111, vol, S. 80. — Nichts ift für Die gegenwärtige Lage 
der Theologie dharakteriftiicher, als daß ſich diefe Thefe in der Antrittsvor⸗ 
lefung eines Syftematikers findet. 

) a. a. O. S. 81. 


Wiſſenſchaft und ihre Stellung im Gefamtrahmen ber Wiſſenſchaften. 419 


jenige wiſſenſchaftliche Disziplin, welche die Bearbeitung diejes 
chriftlichen Glaubens zu ihrem Gegenftand hat, vein und lediglich 
auf „hiftorifche Arbeit“ zu befchränfen. ch vermute, man würde 
bei den Hiftorifern neben der jyftematifchen auch die hiftorifche 
Theologie ftark diskreditieren, wenn man mit nur hiſtoriſchen 
Methoden zu irgend welchen Auftellungen über den heute leben- 
digen Gott gelangen zu können meinte. Wohl muß die Theologie 
wirkliche Gefchichtswiffenschaft fein; fie muß es fein in dem vollen 
Umfange und in dem ftvengen Sinne, wie es Rade fordert. Aber 
das ift eben nur die eine Hälfte oder die eine Seite ihrer Arbeit. 
Mit gutem Necht ftellt daher Wundt an jede Theologie, die den 
Anfpruch erhebe, eine wirklich wifjenfchaftliche Disziplin zu fein, 
zwei Forderungen. Erſtens, jagt er, müſſen die Ueberlieferungen, 
in denen die gefchichtliche Entwicklung irgend welcher Glaubens- 
vorjtellungen niedergelegt ift, einer Unterfuchung unterworfen wer- 
den, die fich Feiner anderen Vorausfehungen und Hilfsmittel bes 
dient, als fie auf allen anderen Gebieten hiftorifcher Kritik zur 
Anwendung fommen. Das det fich mit dem, was wir joeben 
an Rade's Theje als wohlberechtigt und mertvoll anerkannten. 
Wundt aber fährt fort: Und zweitens müſſen die Glaubenslehren 
jeder Religion, welche es auch jei, einer interpretation unterworfen 
werden, die fich aller Vorausſetzungen entjchlägt, die nicht in all- 
gemein feſtſtehenden Thatfachen der pfychologifchen Erfahrung ihre 
Rechtfertigung finden. Daß wir auch diefem Sab injomweit 
zuftimmen, als ex zum Ausdruck bringt, daß die wifjenjchaftliche 
Theologie mit gejchichtlicher Forſchung allein ihre Arbeit nicht zu 
leiten vermag, und als er das michtigfte Gebiet bezeichnet, in 
defjen Rahmen wenigjtens der fundamentale, genauer dev funda- 
mentierende Teil dev anderen Arbeitshälfte fällt, ift indirekt ſchon 
mehrfach hervorgehoben worden, Nur würde ich, um Mißverſtänd— 
niffen vorzubeugen, auch hier eine terminologifche Aenderung 
wünfchen: ich würde ftatt von Thatjachen der pſychologiſchen Er— 
fahrung lieber von folchen der inneren Erfahrung fprechen; denn 
in Frage kommen doch die Inhalte des höheren Seelenlebens, auf 
die aber die moderne „pſychologiſche“ Forſchung vielfach, überhaupt 
feine Nückficht nimmt. Doch das ift verhältnismäßig von unter: 


420 obbermin: Das Verhältnis der Theologie zur modernen 


georbneter Bedeutung. Wundt an feinem Teil würde unfere Aus- 
legung als die, welche fein Satz felbjtverjtändlicy verlangt, in 
Anfpruch nehmen. Viel wichtiger ift die andere Frage, wie wir 
ung zu dem Über das eben Zugeftandene binausgehenden Inhalt 
dieſes Wundt’fchen Satzes jtellen, d. h. alſo, worauf es ankommt, 
zu der Forderung, daß in der ſyſtematiſchen Theologie die chriſt— 
lichen Glaubenslehren nach allgemein feftftehenden Thatfachen der 
pigchologifchen (inneren) Erfahrung interpretiert werden 
müßten, wenn anders auch diefe Disziplin als wifjenfchaftliche 
gelten wollte. Wundt ſelbſt fügt hinzus daß denn auch wirklich 
diefe Forderung in den Beltrebungen der neueren protejtantijchen 
Dogmatik fih Bahn zu brechen beginne. Sch muß im Voraus 
bemerken, daß ich derartige Beftrebungen der neueren Dogmatik als 
auf einem Holzwege befindlich betrachte. Ich ſchlage den Nuten, 
den eine Verwertung der pfychologifchen Arbeit (im weiteren 
Sinne) der ſyſtematiſchen Theologie bringen kann, außerordentlich 
hoch an, und jehe nach diefer Richtung hin eine der notwendigjten 
Aufgaben für die nächte Zeit; grundfalich indes ericheint es mir, 
die piychologifchen Ergebniffe zu dem Zweck heranzuziehen, um 
nach ihnen die chriftlichen Glaubensjäße zu interpretierem. 
Die Frage ift aber für uns in diefem Zufammenhange deshalb 
fo wichtig, weil, wenn dieje Forderung Wundts in ihrem ganzen 
Umfange als berechtigt anerfannt werden müßte, dann auch feine 
oben befprochene Auffaffung als richtig zu gelten hätte, welche der 
ſyſtematiſchen Theologie lediglich die Stellung einer geijteswifjen- 
ſchaftlichen Eingel-Disziplin einwäumt und fie folglich für die Auf- 
gabe einer umfafjenden Geſamt-Weltanſchauung lediglich auf 
Helferdienſte, die der Philoſophie zu leijten find, einfchräntt?). 
Daß das wirklich die Konfequenz jener Wundt’ichen Forderung 
ift, bedarf feiner weiteren Ausführung. Es ift in der That eine 
in fich einheitliche Betrachtung, die bei ihm vorliegt, Aber wie 
Na. a. O. ©. T: Indem jo das Verhältnis der Philofophie zur Religion 
in ein Verhältnis zur Neligionswifienihaft (vgl. oben S. 417 Anm. 1) ſich ums 
wandelt, tritt aber diefe nunmehr mit eim in den Kreis jener Einzelwiſſen— 


haften, bie auf den verfchiebenen Gebieten bie allgemeinen Problente borbes 
reiten, bie der philoſophiſchen Unterſuchung anheimfallen. 


— 


Wiſſenſchaft und ihre Stellung im Gefamktähuen ber Wiſſenſchaften. 421 


fteht e8 num mit jener Forderung? Sie kann m. €. keineswegs 
für berechtigt gelten, jondern muß als unberechtigt, weil überfpannt, 
abgelehnt werden. Sie ift überfpannt, denn fie läuft auf bie 
einfache petitio prineipii hinaus, daß die prinzipiell abjchliegende 
Stufe der religiög-fittlichen Entwicklung in der bisherigen Menſch-— 
heits⸗Geſchichte nicht gegeben fein könne, daß folglich der Anſpruch, 
den die chriftliche Religion in diefer Hinficht erhebt, überhaupt 
nicht erft zu berüdfihtigen fei. Dann müßten 
allerdings die chriftlichen Glaubenslehren nach denjenigen That— 
ſachen pfochologifcher (innerer) Erfahrung interpretiert 
werden, die abgejehen von der chrijtlichen Neligion ſelbſt all- 
gemein feſtſtehen; ein ſolches Interpretieren käme dann 
aber auch ganz erfichtlich auf ein Unterlegen fremdartiger, der 
hriftlichen Religion in ihrer fpezififchen Eigenart nicht gerecht 
werdender Vorftellungen hinaus. Was demgegenüber wirklich mit 
Recht gefordert werden muß, iſt m. E. mur dies: Auf Grund von 
allgemein feftftehenden Thatſachen piychologifcher (innerer) Er» 
fahrung muß der prinzipielle Standpunkt der chriftlichen Religion 
in ihrer fpezifischen Eigenart verjtändlich gemacht werden und es 
muß der Nachweis verfucht werden, daß die chriftliche Religion 
— zunächſt nur ſür das Gebiet des religiös-ſittlichen Innenlebens 
— gerade das leiſtet, worauf die allgemeine pfychologifche (innere) 
Erfahrung hinweiſt und hinleitet. 

Es it allerdings fraglos unzuläffig, ſich für einen folchen 
Zweck auf eine fpezififchschriftliche Erfahrung zu berufen, wie es 
Frank mit feinem bekannten Verfuch im Syſtem der cheiftlichen 
Gewißheit unternimmt, indem er eine fittliche Erfahrung fonder- 
ficher Art, die Umwandlung des alten Ich in ein neues im Prozeß 
der Wiedergeburt und Belehrung, als pſychiſchen Thatbeftand auf- 
weifen will, der ben innerſten Kern der chriftlichen Gewißheit 
darftelle und von dem aus fich alle übrigen chriftlichen Wahrheiten 
auf dem Wege logifcher Entwicklung erfafjen ließen. Frank will 
aljo die Gemwißheit und die Normalität der ſpezifiſch chriftlich- 
fittlichen Erfahrung, d. 5. der Wiedergeburt und Befehrung auf 
empirifchem Wege, durch empirifche Analyfe dev piychiichen Vor— 
gänge mit derjelden Eraktheit und Zuverläffigteit erweifen, wie 

Keitfehrift filr Theologie und Kirche. 10. Jahrgang. 8. Heft. 28 





22 BWobbermin: Das Verbältuis der Theologie zur modernen 


man jonft über allgemeingültige pſychiſche Exjdeinungen und 
piychiiche Vorgänge etwas feititellen fann. Aber das ift in ſich 
unmöglich. Wiedergeburt und Belehrung im fpezififch chriftlichen 
Sinne find an den Glauben gebunden und nur für den Glauben 
da. Wir müffen uns jene Gemißheit ja im täglichen Kampf er— 
halten, wichtiger fie immer von neuem erwerben, indem wir uns 
immer von neuem für diefelbe entjcheiden. Dieſe Entjcheidung ift 
aber eine derartig perjönliche, ift in dem Maße ein Akt freier 
Anerkennung, freier Willensthat, daß fich darüber empiriſch nichts 
ausmachen läßt. Auf dem Wege empirifch pſychologiſcher Analyje 
läßt ſich Allgemeingültiges nur feitlegen für diejenigen Gebiete 
des Seelenlebens, die der allgemeinen, für alle gleichen Erfahrung 
unterliegen, Das ijt alſo für die hier in Betracht fommende 
Frage — um noch einen Augenblick in der Frank'ſchen Termino- 
logie zu bleiben — nicht das Gebiet der jpezififch chriftlich-fittlichen 
Gewißheit, jondern der natürlich-fittlichen Gewißheit. Auf dieſe, 
wie fie auf außerchriftlichem und zugleich, nur in jtärferer Aus— 
prägung, auf hriftlichem Gebiet vorliegt, muß ſich die wifjenjchaft- 
liche Unterfuchung beſchränken, und es wird fich dann weiter darum 
handeln, von jener Grundlage aus für die durch die gefchichtliche 
Offenbarung des Ehriftentums vermittelte Stufe des veligids-fitt- 
lichen Lebens Berjtändnis zu gewinnen und fie als die höchjte 
Stufe der Entwicklung zu erweijen. Die Argumentation, die für 
den bejagten Zweck hier empfohlen wird, foll fich alfo weder auf 
die Gejchichte für fi, noch auf die pſychologiſche (innere) Er— 
fahrung für ſich ftügen, fie foll auch nicht die eine durch die 
andere irgendwie ergänzen, fordern ihre Beweisfraft wird nur 
gerade in dem Umftand gejehen, daß jene beiden Neihen, Die 
biftorifche und die pfychologifche (die der inneren Erfahrung) 
zufammentveffen, daß fie ſich im ausjchlaggebenden Gefichtspunkt 
ſchneiden. 

Genauer muß übrigens überall, wo im Voranſtehenden von 
pſychologiſcher Arbeit Die Rede iſt, von pſychologiſch-philoſophiſcher 
geſprochen werden; denn es kommen doch auch noch andere Mo— 
mente wie die rein pſychologiſchen der inneren Erfahrung in 
Betracht, Nur das wichtigſte Gebiet, in deſſen Rahmen der 

































Wiſſenſchaft and ihre Stellung im Geſamtrahmen der Wiſſenſchaflen. 423 


fundamentierende Teil der fyftematifchen Theologie falle, hebt — 
wie ich fehon oben bemerfte — Wundt hevaus, wenn er auf die 
Thatjachen der piychologifchen Erfahrung hinweiſt. Aber eben 
auch lediglich für diefen fundamentierenden Teil geben wir Wundt's 
Forderung zu, daß man fich allein auf die allgemein feftitehenden 
Thatfachen der pſychologiſchen Erfahrung berufen dürfe. Die 
hriftlichen Glaubenslehren dürfen dagegen nicht nach dieſer all- 
gemeinen pfochologiichen Erfahrung interpretiert werden; damit 
würden wir nur das gleicher Weiſe willkürliche Gegenftüc zu 
Franks Berfahren im Syftem der cheiftlichen Wahrheit erhalten, 
in dem er — im Anſchluß an den vorher figzierten Anſatz im 
Spftem der chriftlichen Gewißheit — von jenem zentralen Stück 
der chriftlichen Gewißheit aus die einzelnen chriftlichen Glaubens— 
ſätze hevansinterpretieven zu können meint. Vielmehr müſſen die 
einzelnen chriftlichen Glaubensſätze in einer Weife entfaltet werden, 
die dem Ganzen des chriftlichen Glaubens und feiner prinzipiellen 
Eigenart gerecht wird. Daß das im Einzelnen nach einer Methode 
zu gefchehen habe, die man am beften als hiſtoriſch-pſychologiſche 
charakterifiert, umd wie die Durchführung derfelben zu denken fei, 
habe ich gelegentlich fehon zu zeigen verſucht). Wenn das gefchieht, 
wenn dann weiter die jo gewonnenen Sätze mit den Ergebnifjen 
der anderen Wiffenfchaften auseinandergefegt und dadurch auch 
an ihrem Teil bereinigt werden, und wenn fehließlich weiter die 
auf folche Weiſe erlangten Nefultate als oberjte leitende Gefichts- 
punkte benußt werden, um von ihnen aus eine Gejamt-Welt- 
anſchauung zu entwerfen, die wenigitens für die wifjenjehaftliche 
Betrachtung nur eine hypothetiſche Geltung beanfprudt, und die 
gegenüber der non der Philofophie als jolcher erarbeiteten nur 
nach dem Kanon beurteilt werden will, welche von beiden eine 
verſtändlichere, beſſer in fich zufammenftimmende Zufammenarbeitung 
dev Nefultate des Einzelwiſſens beſchafft: To jehe ich jchlechterdings 
feine Möglichkeit, einer derartigen Disziplin und d. h. der ſyſte— 
matijchen Theologie den Charakter als eigentliche Wiſſenſchaft im 
ftrengften Sinne des Wortes zu beftreiten, wenn fie auch die 

) Zwei afabeniiche Vorleſungen über Grundprobleme der ſyſtematiſchen 


Theologie, Berlin 1899, S. 38 ff. 
28* 


u; 


44 Wobbermin: Das Verhältnis der Theologie zur modernen 


chriftlichen Glaubensfehren nicht einer Interpretation unterwirft, 
die fich aller Vorausſetzungen entjchlägt, welche ihre Nechtfertigung 
nicht in allgemein feſtſtehenden Thatfachen der pſychologiſchen Er- 
fahrung finden. — Dem troß allem zu erwartenden Einwand 
aber, daß doc jedenfalls die eigentliche Dogmatif im engeren 
Sinne — die entwicelnde Dogmatik, wie ich fie nennen möchte 
— bei der ihr von uns zugefchriebenen Aufgabe entweder auf 
den Charakter einer wirklich wifjenjchaftlichen Disziplin verzichten 
oder jich in die Fächer der hiftorifchen Theologie eingliedern müſſe, 
ift zu erwibern, daß diefer Einwand jene eigentliche Dogmatik 
unberechtigter und fälſchlicher Weiſe ifoliert für ſich betrachtet. 
Vermeidet man diejen Fehler und ftellt man — wie nötig — die 
eigentliche Dogmatik in den Geſamtzuſammenhang der ſyſtemati— 
ſchen Theologie, jo fällt jener Einwand dahin. Man darf fich 
für ihn bezw. feine zweite Form auch nicht auf Schleiermacher 
und Rothe berufen; jedenfalls nicht, ohne zugleich anzugeben, wie 
man über die theologischen Fundamental-Disziplinen beider — Die 
philofophifche Theologie des erfteren, die Tpefulative des anderen 
— denke und fich mit ihnen auseinanderjege, 

3) Kehren wir nun von der Theologie, wie wir fie bisher 
als vein wiffenfchaftliche Disziplin, die ihre notwendige Stelle im 
Gejant-Organismus dev Wifjenfchaften hat, betrachteten, zurück 
zur Theologie als Fakultäts-Wiſſenſchaft, die jich auf jener zwar 
aufbaut, im übrigen aber den fog. praftifchen Wiffenfchaften zu— 
gehört. Denn unjer Reſultat hat fich darin zu bewähren, daß es 
ich auch für die letztere als brauchbar erweiſt. 

Daß aber in der That die Theologie, wie fie die erjte der 
Univerjitäts-Wifjenfchaften bildet, nicht als veine Wiſſenſchaft ent— 
ſtanden ift, ſondern von jeher wie Jurisprudenz und Medizin eine 
beftimmte praftifche Abzwecfung gehabt hat, das darf als befannt 
vorausgejegt werden. Unſere Univerfitäten find ja urſprünglich 
überhaupt nicht als universitates litterarum gegründet, d. b. als 
Pflegeftätten der geſamten Wifjenfchaft, jondern der Name uni- 
versitas bezeichnete urſprünglich die Gemeinſchaft und Genoffen- 
ſchaft von Lehrern und Lernenden, die nicht immer verfchiedenen: 
Fakultäten angehörten. — Nun haben fich freilich unſere Univerſi— 


Wiſſenſchaft und ihre Stellung im Gefamtrahmen der Wiſſenſchaften. 425 


täten längft zu universitates litterarum ausgebildet; fie find Pflanz— 
und Pflegeftätten der gefamten Wiffenfchaft geroorden. Aber die 
Einteilung in 4 Fakultäten ift nicht aus der organischen Gliederung 
dev Wiſſenſchaft felbjt hervorgegangen, jondern fie ift aus der 
Vorzeit beibehalten. Die Univerſitäten waren und find auch heute 
noch die Ausbildungs-Anftalten für künftige Beamte in den ver- 
ſchiedenen Zweigen des öffentlichen Lebens. Und zwar müfjen wir 
auf Grund diefes gefchichtlichen Charakters einen Unterfchied machen 
zwiſchen den drei erften Fakultäten einerſeits, der vierten andererfeits. 
— Die vierte Fakultät war die Fakultät der jog. allgemeinen und 
vorbereitenden Wifjenfchaften ; fie vepräfentierte daher die freie und 
veine Wiffenfchaft als ſolche; fie war die Fakultät, in der das 
Wiffen allein um des Wiffens willen gelehrt und getrieben wurde. 
Die drei anderen Fakultäten dagegen dienten dev Heranbildung der 
Jugend für beftimmte praftifche Zwecke. Und das ift ja auch 
heute noch fo. Der Unterfchied ift nur der, daß heute dasjelbe 
auch von einzelnen Fächern der philofophifchen Fakultät gilt. — Die 
drei erſten Fakultäten aljo dienen einem bejtimmten praktijchen 
Zweck. Und zwar dient die erjte, die theologijche Fakultät, den 
Zweden der Kirche, der Heranbildung ihrer Diener, überhaupt 
ihrer Erbauung im Sinne des paulinifchen olrsdopetv und oixo- 
out. So hat die Theologie als Fakultätswiſſenſchaft die be- 
ftimmte Beziehung auf die Kirche. Das klar und nachdrücklich 
hervorgehoben zu haben, ijt das große Verbienft des ſchon oben 
angezogenen berühmten $ 5 in Schleiermachers kurzer Darftellung 
des theologifchen Studiums. Unter Einfegung des biblischen Be— 
griffs der Erbauung und unter Vermeidung der negativen Faſſung 
ift m. E. im Anſchluß an Schleiermacher folgende Definition zu 
empfehlen: Die Theologie ift der Inbegriff der Kenntniffe und 
Fertigkeiten, die auf die Erbauung dev hriftlichen Kirche ab- 
zwecken. 

Die betreffenden Kenntniſſe ſind aber natürlich diejenigen 
vom Weſen und von der Geſchichte der chriſtlichen Religion. Als 
einziger Unterſchied zu dem unter 2) gewonnenen rein wiſſenſchaft- 
lichen Begriff dev Theologie ergiebt fich daher, daß zur Theologie 
als Fakultäts-Wiſſenſchaft noch die Vertrautheit mit beftimmten 


Pe Wobbermin: Das Verhältnis der Ti 


— gehört, die der Erbauung der — 
: Zur Theologie als Fakultäts = 
noch bie Fächer der praftifchen Theologie, die in den 
| der reinen, theoretijchen Wiffenfchaft nicht hineingeh! 
So gelangen wir im ganzen zu einer Einteilung der 2 

die mit der in den letzten Dezennien weitverbreiteten 
in hiſtoriſche, ſyſtematiſche und praktiſche Theologie me 
zufammentrifft. Nur müſſen wir erinnern, daß für um 
Dreiteilung feine eigentliche Tripartition iſt. Bielmehr q 
hiſtoriſche und ſyſtematiſche Theologie enger miteinander zuſan 
Nicht eigentlich, ihnen koordiniert, ſondern nur hinzugeftellt, fon 
die praftifche Theologie Hinzu. Sie ift feine wiſſenſchaft 
zipfin im ftrengen Sinne des Wortes, fondern fie ift eine, 
lehre, eine Technik, die ſich allerdings auf wiſſenſchaftlich 
aufzubauen hat, ganz wie 3. B. die Pädagogik. 
Liegt im diefer Begrenzung des Verftändniffes er 
nommenen Dreiteilung doch immerhin ein gewiffer Un 
gegenüber der herkömmlichen Tripartition, jo treten wir mit“ 
jelben vollends in den jchärfften Gegenſatz zu der in der m 
Eneyklopädie von Heinrici vorgetragenen und auch jonjt 
dings teils direft, teils indirekt vielfach befürworteten Au 
Heinrici will eine doppelte Zmeiteilung eingeführt w 
Die zwei Hauptabteilungen follen zunächjt von der hiſto 
Theologie einerfeit$, von der normativen Theologie | 
gebildet werden. Weiter joll dann die erſtere in Bibel ; 

und Kirchengeſchichte (hiftorifche Theologie im engeren Sinne), 
andere in jyftematifche und praftifche Theologie zerlegt 
So erhält er allerdings, äußerlich betrachtet, ein ſymmetri 
Gebäude. Aber nichtsdeftomeniger muß dieſe Einteilung, 
nachdrücklichjte abgewiejen werden, denn ſie ijt in ihrem wich 
undentjcheidendften Punkt von jedem wiſſenſchaftlichen Bered 
grund verlaffen. — Das wefentlichjte Moment ‚diefer Ei 
iſt, daß ſyſtematiſche und praktiſche Theologie als die bei 
facher einer Haupt-Disziplin, der jog. normativen Theole 
ejtellt werden. Beidemal nämlich, jagt Hei 
ifchen ſowohl wie in der praktiſchen Theologie 

































Wiſſenſchaft und ihre Stellung im Gefamtrahmen der Wiffenihaften. 427 


fi) darum, daß Normen oder Regeln aufgeftellt werden, das eine 
Mal Regeln für die Behandlung der kirchlichen Lehre, das andere 
Mal Regeln für die Behandlung des kirchlichen Lebens und des 
ficchlichen Handelns?), Aber entweder beruht diejes tertium com- 
parationis auf einem Wortjpiel, das unmöglich für die Sache 
entfcheidend fein kann, oder aber diefe Zufammentellung der 
ſyſtematiſchen mit der praktischen Theologie führt zu einer Unter: 
ſchätzung der eigentlichen Aufgabe der foftematifchen Theologie. 
An Stelle der wirklich wifjenichaftlichen Behandlung des Lehr- 
gehaltS der chriftlichen Religion müßte dann konſequenter Weiſe 
lediglich die Aufgabe treten, diefen Lehrgehalt für die Zwecke der 
Kirche praftifch zu bearbeiten, In der notwendigen Konfequenz 
der Auffafjung Heinvieis Liegen alfo — das fcheint mir ganz un- 
abmeisbar — ſolche Schlußfolgerungen, wie fie uns Bernoulli 
vor kurzem aufgetifcht hat. 

Aber Heinviei verfucht, jedem Einwand gegen feine Theorie 
im Voraus auf dem Angriffswege zu begegnen, indem er ftatuiert, 
die Scheidung zwiſchen biftorifcher und normativer Theologie werde 
durch den Inhalt der theologijchen Wifjenjchaft gefordert (S. 14). 
Der Sat, auf den wir dabei zurückgewieſen werden und dur) 
den dies Urteil begründet werden foll, lautet: Der Inhalt der 
Theologie befteht aus gejchichtlichen Thatfachen, die in verjchiedener 
Form und Zuverläffigteit überliefert find, aus Glaubensfeſtſetzungen 
und Darlegungen, aus Anweifungen zur Erhaltung und Bewährung 
des Chriftentums durch die Kirche. Aber diefer Sat unterliegt 
den ſchwerwiegendſten Bedenken. Zunächſt habe ich an ihm aus- 
zuſetzen, daß nicht die genügend prinzipielle Klarheit in das Ver— 
hältnis, das zwifchen der Theologie als veiner wifjenfchaftlicher 
Disziplin und der Theologie als Fakultäts-Wiſſenſchaft befteht, ge- 
bracht wird, Und das gilt wie von diefem Sab, jo vom ganzen 
8 2, im dent fiber den Charakter der chriftlichen Theologie ges 
handelt wird, und auf den jener Sat fich ſtützt. Anweiſungen 
zur Erhaltung und Bewährung irgend einer Größe gehören in 

1) ©. Heinrich, Theolog. Enchklopädie, Leipz. 1893, ©. 14 ff; S. 212 fi. 
— Dal. auch Heinrieis Artikel: Enchklopädie, theologifche, in der 3. Auflage 
der Proteſtant. Neal-Encyflopädie, Bo. V (1898), ©. 351 fi. 


!- 


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— ı 


428 Wobbermin: Das Verhältnis der Theologie zur modernen 


eine wiffenfchaftliche Disziplin vein als folche unmittelbar überhaupt 
nicht ; denn fie antworten nicht auf die Frage: was fann ich von 
diefer Größe im legten Grunde wirklich wifjen? Gehören alſo 
folche Anmeifungen mit zum „Gehalt der Theologie", jo muß es 
jedenfalls mit ihrer Zugehörigkeit zu demſelben feine befondere 
Bewandinis haben, die näher zu erläutern wäre. Aber auch die 
Nebeneinanderftellung von geichichtlichen Thatſachen einerſeits, 
Glaubensfeftfeßungen und Darlegungen andererfeits ift nicht ein— 
wandsfrei. Allerdings erſchwert der unfichere und unbeſtimmte 
Begriff „Glaubensdarlegungen" in der zweiten Neihe die Aus— 
einanderjegung, — eine Unbeftimmtheit, unter der m. E, auch 
weiterhin die ganze Einzelbehandlung der jyitematijchen Theologie 
bei Heinriei leidet. Diefer Begriff ermöglicht nämlich, der Konſe— 
quenz des eigentlichen Anfages entgegen doch bis zu einem gewiſſen 
Grade eine wirklich wiſſenſchaftliche Arbeit der ſyſtematiſchen 
Theologie zu fordern und aufzuweiſen. — ebenfalls ftehen in 
der zweiten Neihe Heinricis die „Glaubensfeſtſetzungen“ in be- 
herrjchender Weife voran. Nun iſt es aber ebenſowohl jachlich 
wie logiſch unhaltbar, gejchichtliche Thatjachen und Glaubensfeft- 
fegungen auf gleicher Linie einander gegenüberzuftellen. Glaubens- 
feſtſetzungen find ja ſelbſt nichts anderes als gefchichtliche Thatfachen, 
wie fie denn auch den Begenftand gefchichtlicher Disziplinen — 
der Dogmengefchichte und der Symbolik — bilden. Lege ich aber 
in der erſten Reihe darauf Gewicht, daß es fi um That- 
fachen handelt, die dann näher als gejchichtliche zu charakteri— 
fieren find, jo find neben diefe gefchichtlichen Thatjachen Die 
pſychiſchen Thatjachen der gegenwärtigen chriftlichen Neligiofität 
zu ftellen. Sie, nicht die Ölaubensfeftfegungen, bilden das wirf- 
liche und direkte Gegenftücd zu den gefchichtlichen Thatſachen. 

Die von Heinviei jelbjt angegebene Begründung feiner Auf— 
faſſung ift alfo nicht ftichhaltig. Es ift aber auch nicht ſchwierig, 
aus Heinvici® Gejamt-Behandlung diefe von ihm angegebene Be— 
gründung als verfuchsweife Konftruktion zu erkennen, während die 
eigenartigen Beweggründe tiefer liegen. Im legten Grunde aus— 
ſchlaggebend ijt für Heinrici offenbar die Einficht, daß die Theologie 
die engſte Beziehung zur Kirche hat, und die Abſicht, dies nach» 


Wiſſenſchaft und ihre Stellung im Gejamtrahmen der Wiſſenſchaften. 429 


drücklich zu betonen!). Und jo entjteht für uns die Frage, ob 
denn unfere eigene Auffafjung diefer letzteren Aufgabe, die aller: 
dings ebenjo nötig wie wichtig ift, genüge. Die von uns vor- 
getragene Beurteilung der Sache könnte den Schein erweden, 
es werde die Beziehung der Theologie (als Fakultät: oder prat- 
tijcher Wiffenjchaft) zur Kirche nur nachträglich und äußerlich hinzu— 
gebracht, als habe die Theologie in ihren eigentlichen Grund- 
disziplinen, der hiſtoriſchen umd der ſyſtematiſchen, Feine direkte 
Beziehung zur Kirche. Aber das würde auf einer völligen Ver— 
fennung unferer Unterſcheidung von theovetifcher und praftifcher 
Wiffenfchaft beruhen. Die eigentliche (theoretische) Wiſſenſchaft 
hat allerdings an ihrem eigenen Teil mit praftifchen Aufgaben 
nichts zu thun; aber diejenigen praktifchen Disziplinen, welche die 
Theorie dieſer praftifchen Aufgaben zu liefen haben, ergeben fich 
aus den entjprechenden theovetifchen naturgemäß und naturnot— 
wendig. 

Die Kirche ift ja nichts anderes als das Erzeugnis der hrifte 
lichen Religion felbft, ja fie ift fozufagen die objeftivierte chrift- 
liche Neligiofität; anders giebt es überhaupt chriftliche Religion 
nicht ats innerhalb der Kirche. Es ift alfo auch nicht etwas irgendivie 
Zufälliges, daß fich die Theologie als praktijche oder Fafultäts- 
Wifjenichaft auf der Theologie, wie fie eine Disziplin der veinen 
Wifjenfchaft ift, aufbaut. So notwendig und unveräußerlich wie 
der Jurisprudenz die Beziehung zum Staatsweſen ift der Theologie 
die Beziehung zur Kirche. Und genau genommen ift ja auch in 
dem von uns aufgejtellten vein wifjenfchaftlichen Begriff der Theo: 
logie die Beziehung auf die Kirche mit enthalten, weil fich eben 
die hriftliche Neligion felbjt in der Kirche objeftiviert. Nur die 
divefte Bejchäftigung mit den technijch=- praktischen Fragen gehört 
nicht in den Bereich des vein wiffenfchaftlichen Begriffs der 
Theologie. 

Und fo teilt fi) im ganzen heraus, daß fich unfere Auf 


+) Bol. S. 15: Sollte aber der Disziplin, welche die kirchliche Olaubens- 
und Lebenswiffenjchaft bearbeitet, der gleiche univerſelle Charakter zukommen, 
wie ber hiftoriichen, jo würde fie die Fühlung mit den bejtehenden kirchlichen 
Organifationen verlieren, 


40° Wobbermin: Das Verhältnis der Theologie zur modernen 


faffung auch in diefem Punkte — in der Frage nach dem Ber- 
bältnis dev Theologie zur Kirche — derjenigen Heinrieis gegenüber 
nicht im Nachteil befindet. Sie befindet fich ihr gegenüber im 
Gegenteil im Vorteil. Denn fie bringt nachdrücklich zum Bewußt- 
fein, daß die ganze Theologie, die Theologie in 
ihrem ganzen Umfange und in jeder ihrer 
Spezialdisziplinen, eine direfte Beziehung 
aufdie Kirche hat. Nach Heinriei ftehen dagegen in dieſer 
Hinficht Hiftorijehe und fyjtematifche Theologie ganz verfchieden da; 
die hiſtoriſche Theologie hat nicht von Haus aus und ihrem In— 
halt gemäß notwendig eine pofitive Beziehung auf die Kirche und 
das Firchliche Leben, fondern fie „erhält“ eine ſolche und damit 
ihren „theologischen“ Charakter erjt nachträglich"). Wenn aber 
in der That die praftifche Theologie viel mehr mit den fyftemati- 
ſchen al3 mit den hijtorifchen Disziplinen zu vechnen hat, jo ift 
das von ganz anderem Gejichtspunft aus zu beurteilen, und ift 
in der Natur der Sache zu fehr begründet, als daß es ernftlich 
Anlaß zu Einwendungen gegen unfere Bofition geben könnte. 
Der Grumd dafür liegt einfach darin, daß eben die fuftematifche 
Theologie den Lehrgehalt der chriftlichen Religion zu bearbeiten 
bat, auf diefen aber die Technik der praftifchen Theologie zu bes 
gründen ift. Er liegt dagegen nicht in einer prinzipiell verfchieden- 
artigen Grundſtellung der hijtorifchen und dev ſyſtematiſchen Theo» 
logie zur Kirche. Alle Theologie dient der Kirche. Jede Ein- 
fchränfung, die in dieſer Beziehung der hiftorifchen Theologie 
zugeftanden wird, führt wieder notwendig auf die Bahnen 
Bernoulli’s. 

In der That finden wir denn auch bereits bei Heinriei ſelbſt 
Anfäge, die ganz in der Linie des vielbefprochenen Buches von 
Bernoulli mit feiner Unterfcheidung einer wiffenfchaftlichen und 
einer kirchlichen Methode in der Theologie Liegen ?)., — Dem 
ſchon Heinviei felbft jchreitet dazu fort, zu behaupten, es fei 
innerhalb der Theologie nur die Hiftorifche Disziplin, durch welche 

Na. a. O. S. 2. 

) Die wiſſeunſchaftliche und bie kirchliche Methode in der Theologie. Ein 
euchklopädiſcher Verſuch, Freiburg 1897, 





- 


Wiffenihaft und ihre Stellung im Gejamtrahmen der Wijfenfhaften, 431 


die Zugehörigkeit der Theologie zum Organismus der Wiſſen— 
schaften verbürgt werde. Und er begründet diefen mit der oben 
bejprochenen Thefe Rades zufammentreffenden Sab damit, daß 
nur die hiftorifche Theologie grundjäßlich nicht Eonfejftonell jei, 
d. h. nicht von der im Voraus feftitehenden Vorausſetzung aus: 
gehe, daß eine beftimmte Konfefjionskicche die wahre ſei. Wohl 
aber gelte dies wie von der praktischen, jo auch von der ſyſtema— 
tifchen Theologie‘). Alfo die ſyſtematiſche Theologie, die Be— 
arbeitung des Lehrgehalts der chriftlichen Religion, foll grund— 
ſätzlich Eonfeffionell fein. Wenn das nur heißen joll, der evange— 
liche Syftematifer müſſe ſelbſt mit inmerer Zujtimmung ber 
evangelifchen Konfeſſion angehören, fo ift es freilich ebenſo vichtig 
wie jelbjtverjtändlich. Das würde aber auch genau jo von dem 
evangelifchen Kicchenhiftoriter gejagt werden müffen. Bei Heintici 
befagt aber auch jener Grundſatz etwas ganz anderes; daß nämlich 
die ſyſtematiſche Theologie die Wahrheit der betreffenden Konfeſſton 
in der Weiſe vorausfege, daß fie dieſe Vorausſetzung felbft nicht 
zum Gegenftand wifjenfchaftlicher Frageftellung und wifjenfchaft- 
licher Erforichung mache. Daß es in der römiſchen Kirche ſo ift, 
wiffen wir; daß «8 aber den Prinzipien der evangelifchen Kirche 
widerfprechen würde, ift zweifellos. Nein, wenn auch der Syſte— 
matifer an feine Arbeit mit der perfänlichen Ueberzeugung hevan- 
tritt, die Grundauffaffung der Neformation fei die richtige, jo 
doch nur, weil er dieſe Vorausſetzung für die Wahrheit hält, die 
er aufmweijen fann und aufmeifen muß, Er darf jene Vorauss 
ſetzung nicht einfach als Vorausſetzung ftehen laffen, jondern er 
muß diefe Borausfeßung jelbft immer wieder zu begründen fuchen ; 
ja er darf fie nur fejthalten, ſoweit er fie zu begründen vermag. 
Sehe ich recht, fo ift jenes Urteil Heinrieis wieder wefentlich im 
Hinblick auf die ſpezielle Dogmatik gefällt, und zwar, indem dieſe 
wieder iſoliert für fich, nicht in ihrer organifchen Zugehörigteit 
zum Ganzen der ſyſtematiſchen Theologie betrachtet ift. Daraus 
dürften fich dann auch jene Unficherheiten erklären, die, wie ich 
ſchon fagte, fich meines Daflirhaltens in der Einzelbefprechung 


a. a. O. S. 14 fi, ©. 212 ff. 





i 


432 MWobbermin: Das Verhältnis der Theologie zur modernen 


der Sonder-Disziplinen der ſyſtematiſchen Theologie bei Heinrici 
finden. 

Sollte man aber einwenden, daß bei unferem prinzipiellen 
Standpunkt doch notwendig die berechtigten Forderungen der 
Konfeſſionskirche zu kurz fommen müßten, jo kann id) mich dem— 
gegenüber auf einen Theologen wie Cremer berufen. Auch Cremer 
betont mit größtem Nachdrud, daß die ſyſtematiſche Theologie 
eine umfaffendere Aufgabe habe als die einer von vornherein 
konfeſſionell bejtimmten Lehrdarftellung!). Sie hat die Aufgabe 
darzuftellen, was thatfächlich Anfpruch auf Wahrheit hat; kann 
alfo Eonfejfionell nur fein, weil, bezw. jomeit die evangelische 
Lehrausprägung die wahre ift. Demnach kann die Unterfcheidung 
zwiſchen hiſtoriſcher und Eonfeffionell bedingter Theologie, von der 
auch Bernoulli ausgeht, nicht für fachlich bevechtigt gelten. — 
Indes Heinviei felbft urteilt num doch von Bernoullis Unter 
nehmen: eine merfwürdig miderjpruchsvolle Konftruktion 2). Nun 
findet fich allerdings bei Bernoulli in engerer oder loferer Ver— 
bindung mit feiner fundamentalen Gejamtauffafjung noch eine 
ganze Anzahl mwiderfpruchsvoller Gedankenreihen. Aber nur um 
jene feine fundamentale Gejamtauffaffung handelt es fich hier. 
Und in Bezug auf fie hat Heinrici fehließlich nichts anderes zu 
bemerten, als daß Bernoullis Trennung eine Vivifeftion fordere, 
die nur in der Theorie möglich jei. Die Frage muß aber fein, 
ob fie in der Theorie richtig iſt. Sonſt hat Bernoulli Recht, zu 
verlangen, daß die fchlechte Wirklichkeit nach der richtigen Theorie 
umgeändert werde. Es genügt Bernoulli gegenüber nicht, zu 
jagen, daß feine Scheidung nur theoretifch möglich jei; es muß 
nachgewieſen werden, daß fie theoretifch falſch iſt. — Bin ich num 
dev Anficht, daß unfere eigene Unterfuchung diefen Nachweis in 
ſich fchließt, jo wiirde Heinriei vorausfichtlich erwidern, hier werde 
Weſen und Aufammenhang der theologifchen Disziplinen frei 
konſtruiert, wie der Künſtler einen Idealbau entwirft, während 
die Aufgabe in Wahrheit die fei, aus der Gefchichte der Theologie 

) 9. Gremer, Dogmatifche Prinzipienlehre, in Zöcklers Handbuch der 
theolog. Wiſſenſchaften, III, 3. Aufl, S. 53 f. 

) BRE Band V S. 361. 


Wiſſenſchaft und ihre Stellung im Geſamtrahmen der Wiffenichaften. 433 


und ihren gegenwärtigen Bethätigungen die Bedürfniffe, denen fie 
dient, und die Kräfte, Die in ihr wirkfam find, darzulegen‘). Aber 
fo ſehr ich legteres für eine nötige und fruchtbringende Arbeit 
halte, die Heinviei in danfenswerter Weije gefördert hat, jo wenig 
fann ich den Einwand als jolchen gelten lafjen. Iſt die Theologie 
in irgend einer Weije wirkliche Wiffenfchaft, dann muß ihre Auf- 
gabe im Ganzen und diejenige ihrer einzelnen Hauptteile fich 
ergeben auf Grund des Gejamt- Organismus der Wifjenichaft 
einerfeits, des befonderen der Theologie zur Bearbeitung obliegen- 
den Objektes andererjeits. Freilich bleibt dabei immer vorbehalten, 
daß in der empirischen Wirklichkeit dem eigentlichen Begriff nicht 
völlig Genüge geleiftet wird, Aber das gilt in größerem oder 
geringerem Maßſtab von den anderen Wiſſenſchaften genau jo. 

Und bei dev Theologie infonderheit bleibt vorbehalten, daß 
in der empirifchen Wirklichkeit das Verhältnis zur Kirche dem 
hier vorausgejeßten Fdeal nicht entfpricht, auf weldher von beiden 
Seiten auch jeweilig die Schuld liegen möge, Aber die Frage 
zu ftellen und zu unterfuchen, wie es für die Gegenwart in dieſer 
Hinficht ftehe, liegt völlig über das hier behandelte Thema hinaus. 
Sch für meine Perſon kann mich in der Beziehung ganz den Aus: 
führungen anfehließen, die Prof. Raftan in dem einführenden 
programmatifchen Artikel „Theologie und Kirche” im erſten Jahr- 
gang dieſer Zeitſchrift gegeben hat. 


Mabhmwert 

über neu Binzugekommene Sitferafur. 

Ich habe oben in der Beiprechung des Verhältniffes der 
Theologie zur modernen Naturwiffenfchaft mehrfach auf Häctels 
„natürliche Schöpfungsgefchichte”" Rückſicht genommen, feine „Welt 
rätſel“ dagegen nicht herangezogen. Zur Zeit der Ausarbeitung 
des zu Grunde liegenden Vortrages (September 1899) waren die 
ſelben noch nicht erfchienen, und als ich jenen Vortrag im April 
1900 für den Druck überarbeitete, habe ich abfichtlich davon ab— 
gejehen, nachträglich die „Welträtſel“ mit in die Diskuſſion 


) Bal. a. a. O. ©. 358, 




























434 Wobbermin: Das Verhältnis der Theologie zur mol 


ziehen. Das hätte einen befonderen umfangreichen Exkurs 
gemacht, der doch mit dem eigentlichen Thema meines 9 
in feinem direkten Zufammenhang geftanden hätte. Sch bin 
überzeugt, daß Häckels „natürliche Schöpfungsgefhichte" in be 
Kreiſen unſerer Gebildeten noch lange jtarken Einfluß. — 
wird, wenn die ‚Welträtſel“ längſt der wohlverdienten Vergeff⸗ 
heit anheimgefallen find, | 

Dagegen muß ich in einem Nachwort kurz zu zwei A > 
Stellung nehmen, die erſt nach Ablieferung meines NAuffages an 
die Redaktion der Zeitjchrift erfchienen find, fich aber mit dem: 
Thema desjelben aufs engjte berühren. 

€. von Kügelgen hat im 41. der Hefte zur „Chriſtl. 
über „die Aufgaben und Grenzen der Lutherifchen Dogmatik" ges 
handelt, und dabei unter Bezug auf meine oben erwähnten Vor— 
lefungen über Grundprobfeme der ſyſtematiſchen Theologie 
Grundauffafjung von der Aufgabe dev fyitematijchen Then 
bekämpft. Dem evangelifchen Dogmatifer liege keineswegs, 
dort gefordert habe, der Nachweis ob, daß den Sätzen des 
lichen Glaubens feine wohlbegründeten wifjenfchaftlichen Ri 
entgegenftehen, ex habe überhaupt die chriftlichen Glaub 
nicht mit den verschiedenen Auffaffungen der Wifjenfchaft 
anderzufegen. v. K. wird aus dem vorftehenden Aufſatz 
daß, wie Lipfius jun, fo auch ich „ſogar“ eine Ausei 
mit der Wundt’fchen Philofophie für eine unbedingt no! 
ja einfach jelbjtverjtändliche Aufgabe der ſyſtematiſchen 
anfehe. Ich muß geftehen, daß mir ein ſolches „fogar“ im 
eines evangelifchen Theologen unverſtändlich und außerort 
bedenklich erſcheint. Wir haben wirklich in der ſyſtem 
Theologie von der fo ſtark ins Vordertreffen gefommenen h 
rischen noch außerordentlich viel zu lernen. Von unferen 
riſchen Theologen würde heute fchwerlich irgend einer mit „, 
reden, wenn er fich an die Nuseinanderfegung mit den 
gehenden Anfftellungen eines Profanhiſtorikers macht, 
teren als irrig, mindeitens als fchlechter begründet zu © 
als feine eigenen, das it feine Nufgabe; daß für den 
a ſchen Theologen nicht die genau entiprechende Aufgabe 6 


) 


Wiſſenſchaft und ihre Stellung int Gefantrahmen der Wiſſenſchaften. 435 


jollte, vermag ich jehlechterdings nicht einzujehen, ‚Und ich finde 
bei v. K. auch nicht den Schatten eines wirklichen Berechtigungs- 
grundes fix feine Aufftellung und feine Ablehnung dev von mir 
betonten Forderung, — Wohl aber herrjcht bei v. K. infofern 
Unflarheit und Verwirrung, als er zwifchen Dogmatik im weiteren 
Sinne — ſyſtematiſcher Theologie im ganzen und Dogmatit im 
engeren Einne = ſpezieller oder entwicelnder Dogmatik nicht 
unterfcheidet. Auf Grund diefer Unklarheit erweckt er den Schein, 
als müßte ein Betrieb der ſyſtematiſchen Theologie in der Art, 
wie ihn auch der vorftehende Aufſatz vertritt, notwendig dazu 
führen, den Charakter des evangelischen Heilsglaubens als Fidu- 
zialglaubens zu verwifchen und damit das mwertvollfte Exbe der 
Theologie Ritfchl'3 aufzugeben. Aber das iſt in feiner Weife der 
Fall, fondern lediglich ein Trugfchluß auf Grund der bezeichneten 
unklaren und ungenägenden Beftimmung der Aufgabe. Alles, was 
v. K. einerſeits gegen die altorthodore Dogmatik andererfeits gegen 
die ſpekulative Theologie „unferer Zeit" (— als Nepräfentant 
diefer wird aber bezeichnender Weife der feit faſt 20 Jahren ver- 
ftorbene Biedermann benutzt —) ausführt, Könnte ich, ohne ein 
Wort zu ändern, herübernehmen und als Einleitung meinem Auf: 
ſatz voranjtellen, wie ich denn der Anficht bin, daß darüber in den 
Kreifen, denen dieſe Zeitjchrift dient, Einſtimmigkeit herrſcht. Aber 
mit alledem ift gar nichts über und vollends nichts gegen die 
weiteren Aufgaben, welche der jyftematijchen Theologie nach meiner 
Auffaffung notwendig zufallen, gejagt: daß jie nämlich zunächſt 
die Entwicklung des Lehrgehalts der chriftlichen Offenbarungs- 
Religion wifjenschaftlich zu fundamentieren habe, daß fie weiter 
die ſich ergebenden dogmatiſchen Sätze den Nefultaten der übrigen 
Wiſſenſchaften gegenüber zu vertreten habe, und daß fie fchließlich 
auf der Grundlage jener Säge eine umfafjende Gejamtweltan- 
ſchauung zu entwerfen immer wieder verfuchen müſſe. Der „Gegen: 
ſatz“ — befjer der Unterſchied — der zwifchen theoretifcher Er— 
fenntnis und praftifcher Glaubenserfahrung wirklich befteht und 
von allergrößter Wichtigkeit it, braucht und ſoll dabei feineswegs 
vernachläffigt werden; aber man darf fich auf der anderen Seite 
auch nicht dariiber täufchen, daß mit der Herausitellung jenes 


— — 


486 Wobbermin: Das Verhältnis der Theologie zur modernen 


Gegenſatzes ober Unterfchiedes das in demſelben liegende Problem 
noch nicht gelöft, jondern lediglich erft gereinigt und vorbereitet 
worden ift. Wenn dagegen v. K. bemerkt, daß es allein auf dem - 
von ihm empfohlenen Wege dem lutheriſchen Dogmatifer gelingen 
könne, ein Syſtem bexzuftellen, das wirklich den Namen einer 
chriftlichen Glaubenslehre verdiene und daher weder in Grenze 
ftreitigfeiten mit den übrigen theologifchen Disziplinen, noch in 
Kolliffion mit der Philofophie und Naturwiffenschaft gelangen 
könne, jo ift zu erwidern, daß das auf einer puren Selbfttäufchung 
beruht, Nicht jenes Syſtem als folches würde den betreffenden 
Dogmatifer davor fügen, fondern nur jein vorgefaßter Wille, 
fich gegenüber allen übrigen Gebieten und Inhalten des menfch- 
lichen Lebens und Wiffens zu verjihließen. Denn nicht um den 
evangelischen Dogmatifer als Gläubigen, als Glied der Gemeinde 
Chriſti, Handelt es fich in der Diskuffton, jondern um den Dog- 
matifer als Theologen, der die hriftliche Neligion, alſo auch ihren 
Lehrgehalt, wifjenichaftlich zu bearbeiten hat. 

Während v. K. über letzteres im ganzen Verlauf feines Auf 
ſatzes feine Klarheit ſchafft, geht die zweite Arbeit, auf die nach— 
träglich hinzumeifen ift, bewußter Weife von diefer Unterjcheidung 
aus und vermag daher die ganze Frage in ungleich fruchtbarerer 
Weiſe zu beleuchten. Es ift die Abhandlung von Tröltſch über 
„die voiffenfehaftliche Lage und ihre Anforderungen an die Theo— 
logie" in der Sammlung gemeinverftändlicher Vorträge und 
Schriften aus dem Gebiet dev Theologie und Religionsgejchichte. 
Mit vollftem Recht betont Tr. in der Einleitung feiner Arbeit, 
daß es letztlich die Entjtehung der modernen Wifjenfchaft ift, 
welche die große veligiöfe und kirchliche Krifis unferer Zeit ver- 
urfacht, jedenfalls Umfang und Dauer derjelben aufs nachhaltigfte 
beeinflußt hat. Daraus folgt unmittelbar die Notwendigkeit und 
Pflicht für die Theologie, fich mit diefer modernen Wiffenfchaft 
nach allen Seiten hin ohne Voreingenommenheit ftreng fachlich 
auseinamderzufeßen. Nun war das frühere Verhältnis zwiſchen 
Shriftentum und Wifjenfchaft dadurch beftimmt, daß die alte Mif- 
ſenſchaft felbjt eine veligiös-ethifche Weltanjchauung und zwar eine 
folche jpekulativer Art darftellte, und daß das Ehriftentum den 


Wiffenfchaft und ihre Stellung im Gefamtrahmen der Wiſſenſchaften. 437 


Anfpruch erhob, ein von Gott geoffenbartes Syſtem religiöfer 
Lehren zu beſitzen. So ergab fich leicht der Kompromiß: die 
Wiſſenſchaft ift (nur) die natürliche Gotteserfenntnis, während die 
Kirche diefe durch ihre übernatürlich mitgeteilte Offenbarung zu 
berichtigen und zu ergänzen hat. Demgegenüber ift heute einer- 
ſeits die Wifjenfchaft zur Erfahrungsmifjenjchaft geworden, die 
von fich aus veligiöfe Ideen zu produzieren feine Möglichkeit hat, 
andererfeit3 hat ſich dev Begriff von der chriftlichen Religion als 
einer übernatürlichen Kicchenftiftung mit einem übernatürlich ge— 
offenbarten Lehrſyſtem zerfegt und ift unhaltbar geworden, Dar- 
aus ergeben fich für Tr. drei Hauptforderungen an die moderne 
Theologie: 

a) Die Auffaſſung und Erforſchung des Chriftentums ift in 
den Zufammenhang dev allgemeinen Religionswiſſenſchaft als der 
mit der Religion ſich bejchäftigenden hiſtoriſch-pſychologiſchen Ein- 
zelwiſſenſchaft einzuftellen. 

b) Bon jener Grundlage aus hat fi) die Theologie zu den 
legten und umfafjendften Problemen zu erheben und Stellung zu 
nehmen zu denjenigen Endbegriffen, welche in der Nichtung auf 
ein Gejamtbild der Welt Liegen. 

ce) Dabei hat die Theologie die durchgreifenden pofitiven Er- 
fenntniffe der modernen Natur- und Geiftes-Wiffenfchaften mit 
aufzunehmen und mit zu verarbeiten. 

Auf die vielfachen und engen Berührungen, die zwifchen dieſen 
Ausführungen von Tr. und meinem Aufſatz beitehen, brauche ich 
nicht erſt ausdrücklich aufmerffam zu machen, jie jpringen von 
jelbjt in die Mugen. Doch iſt dadurch eine tiefliegende Verſchie— 
denheit nicht ausgefchlofjen. Sie kommt darin zum Ausdrud, daß 
Tr. die (chriftliche) Theologie der allgemeinen Religionswifjenjchaft 
ein= und untergeordnet wifjen will, ich dagegen die letztere als 
Hilfsdisziplin dev (hriftlichen) Theologie betrachte. Das hängt aufs 
genauefte zufammen mit der oben ausführlich behandelten Streit 
frage nach der Abjolutheit der chriftlichen Religion. In der in 
Nede ftehenden Abhandlung von Tr. wird auf diefe Frage nicht 
des näheren eingegangen, Es wird aber durch die ganze Dar— 
ftellungsweife der Schein erweckt, als ſei die Auffeflung der chrift- 


Heitfehrift für Theologie und re. 10. Jahrgang. b. Heft. 


438 Wobbermin: D. Verhältnis d. Theologie 3. modernen Wiffenfchaft. 


lichen Religion als der abfoluten unlöslich verfnüpft mit der- 
jenigen Betrachtung, welche im Chriftentum eine (entweder ge— 
nügende oder noch zu vervollftändigende) Summe abfolut giltiger 
Lehrbegriffe fieht. Das ift indes durchaus nicht der Fall; der 
vorftehende Aufſatz rechnet mit diefer Betrachtung in feiner Weife 
und in feiner Hinficht, er rechnet mit ihr weder direkt noch in— 
diveft. Tr. vergißt, wie mir ſcheint, bei feiner Bekämpfung des 
„Supernaturalismus“ zu unterfcheiden zmwifchen dem, mas man 
als den formalen oder methodifchen Supernaturalismus der alten 
Theologie bezeichnen kann, und dem fozufagen materialen Super- 
naturalismus, der unter jener Hülle vertreten wurde, der aber 
auch ein bleibendes und notwendiges Merkmal der chriftlichen 
Weltanfchauung darftellt. 


Heiligung im Glauben. 
Mit Rückſicht auf die heutige Heiligungsbewegung. 
Bon 
2. Glafen, 


Paſtor tn Eichenbarleben. 


1, 

Luther fagt, daß der Chriſt nicht im Wordenſein iſt, jondern 
im Werden. Christianus non est in facto sed in fieri: „mir 
find noch nicht fommen, dahin wir follen" E. A. 11ıss. Religiös 
angejehen, d. h. auf Gott und Ehriftus gejchaut, ift freilich der 
Ehrijt volltommen. „Wir find alle ‚Heilige, und verflucht jei der, 
der fich nicht einen Heiligen will nennen, . . . aber Das nicht 
aus dir, ſondern aus dem Willen Gottes, der dein Vater will 
fein“ 17376. „Sch weiß, daß ich fündhaft und unrein bin... 
und fühle in mir nichts denn eitel Sünde. Dennoch bin ich 
gerecht und heilig, nicht in mir felbft, ſondern in Chriſto Jeſu, 
welcher mix gemacht ift von Gott zur Weisheit und zur Gerechtige 
feit umd zur Heiligung und zur Erlöſung. Solche chriftliche 
Gerechtigkeit ift über alle Vernunft... . aber wir follen uns 
nicht rechnen nach dem äußerlichen Schein, fondern nach dem 
Wort. Darum fol ich fagen: ich halte die Chriften und mich 
ſelbſt für heilig, nicht um meiner eigenen Gerechtigkeit willen, 
fondern ... um des Herrn Ehriftus willen, an den ich glaube” 
6275. „Wer Chriftum ergreifet, der hat's gar, wie denn zu dei 
Koloſſern (2 10) auch gejagt wird: in illo consummati estis . . . 

Zeitſchrift für Theologie und Kirche. 10. Jahra., 6. Heft. 30 


— 


440 Claſen: Heiligung im Glauben. 


denn glaube ich an Ehriftus, jo habe ich das Geſetz erfüllt . . . 
und ift alles dein, was Chriftus hat ... wir find durch Dem 
Glauben alle volltommen, aber nicht aus den Werfen" 47 258. 259 
(zu Joh 6 9). Diefe beiden Gedanken kehren bei Luther häufig 
wieder: daß der Ehrift um Ehrifti willen volllommen, ein rechtes 
"Kind Gottes und im Beſitz des göttlichen Wohlgefallens ift, und 
daß er doch noch micht wefentlich ift, als was er durch Gottes 
gnädige Zurechnung der Gerechtigkeit Chrifti angejehen wird. 
Daher foll er, mas er durch Gottes Gnade ift, täglich mehr 
werden; die Gabe Gottes in der Annahme zur Kindfchaft ift ihm 
eine fortgehende Aufgabe während jeines ganzen irdischen Lebens. 
„Denn das find die zwei Stücke, fo die Ehriften von Gott empfahen, 
(ie fie St. Paulus Röm 515 unterfchtedlich nennet) Gnade und 
Gabe. Gnade vergiebt die Sünde, ſchaffet dem Gewiſſen Troft 
und Frieden und feet den Menfchen in das Neich der göttlichen 
Barmherzigkeit, . . . die Gabe aber oder das Geſchenk ift, daß der 
heilige Geift wirket im Menjchen neue Gedanfen, Sinn, Herz, 
Troft, Stärk und Leben“ 12 318 (in der Pfingſtpredigt über oh 1423). 
„Wo nu folcher Troft des Evangelit ift und das Herz aus dem 
Tod und Angjt der Höllen veißet, da folget alsdann auch weiter 
des Geiftes Kraft und Werk, daß nu aud Gottes Gebot in des 
Menfchen Herzen anfähet zu leben; dann ev nu Lujt und Liebe 
dazu Friegt und diefelben beginnet zu erfüllen“ 9241. Und das, 
worin er diefe Aufgabe erfüllt und gern auf fich nimmt, ift das 
Gleiche, wodurch er die Gnade fich aneignet, nämlich der durch 
den Geift Gottes gewirkte Glaube, „Mit ſolchem Glauben wird 
dem, der da hat Vergebung der Sünden, auch dev heilige Geift 
gegeben, daß er gewinnet Liebe und Luft, das Gute zu thun umd 
der Sunde widerftehet” 12136. „Durch den Glauben kriegen wir 
ein ander neu vein Herz“ Art. Schmalf. TIT 13. „Alsdann vegiert 
Gott in uns, wenn wir an ihm nicht verzweifeln, jondern ihm 
von ganzem Herzen vertrauen und ihn für unfern Gott und Vater 
halten . . . darumb ift Gottes Reich der Glaube. Denn wo ein 
gläubig Herz ift, da ijt Gottes Reich, Die Werk folgen hernach, 
daß folder Menjch im feinem Beruf dahin gehet, arbeitet, ifjet, 
teinfet, ift fröhlich und guter Ding wie ein Vögelin" 648, 


| Pr 


Glafen; Heiligung im Glauben. 441 


Alfo im Glauben immer mehr werden, was man 
aus Gottes Gnade um Chrifti willen durch den Glauben 
iſt, das iſt nach Luther Chriftenaufgabe. In diefen Worten ift 
furz und bejlimmt die evangelifche Lehre von der Heiligung aus— 
gedrückt. Dies Streben, immer mehr zu werden, was man ift, 
umfchließt nach Luther — vgl. jtatt vieler anderer Stellen die vierte 
ZTauffrage — zweierlei: einmal das Ablegen des alten Menjchen 
im ernſten fittlichen Kampf gegen die Sünde in uns und um uns, 
und dann das Wachjen im Guten durch das immer völligeve Hinz 
einwachjen in den neuen Menjchen, das inmer mehr fich felbft 
Abfterben und das immer völligere Aufleben für Ehriftus und 
Einleben in Chriſtus. Aber wenn das Ziel auch) ift, zum Boll 
maß des Alters dev Fülle Chrifti zu fommen, Ephef 4 1a, jo wird 
ein wahrhaft evangelifcher Sinn doch nie in den Wahn verfallen, 
Refultat der Heiligungsarbeit könne eine ſündloſe Vollkommenheit 
fein. Dies um fo weniger, da felbft bei dem wenigen befonders 
begnadigten Ausnahmen, wo der fittliche Fortſchritt fcheinbar ein 
stetig gradliniger ift, die Sünde in ihren feineren Negungen nie 
ganz verfchwindet. So wird denn das Leben in rechter evangelifcher 
‚Heiligung ftetS von täglicher Neue und Buße, die aus dem Glauben 
tommt, begleitet und die Heiligung felbft allezeit eine Heiligung 
im Glauben fein, wie Luther im dritten Artikel fagt. 


2. 

Daraus, daß die in evangelifcher Weife aufgefaßte Heiligung 
eine Heiligung im Glauben ift, ergiebt fich die enge Verbindung, 
die zwifchen Nechtfertigung und Heiligung befteht, und die man, 
im Gegenjaß zu dev römischen Anjchauung, gewöhnlich jo bezeichnet, 
daß die Heiligung aus der Rechtfertigung erwachje oder auf dieje 
folgen müffe. Nicht fo freilich kommt aus der Nechtfertigung die 
Heiligung, als ob in der Rechtfertigung, wie einige Neuere lehren 
und auch fehon bei einzelnen Welteren zu leſen ift, eine fittliche 
Umänderung des Gerechtfertigten gejegt wäre. Das ift nicht 
gefchehen; die Rechtfertigung ift ein göftliches Urteil über den 
Sünder, das wohl im Herzen des Gerechtfertigten jich wieder— 
fpiegelt in dem neuen Sinn und Mut, den der Chriſt zu Gott 

30* 


| > 


J 


42 Clafen: Heiligung im Glauben. 


um feiner Gnade in Ehrifto willen faßt, das aber nicht ihn fittlich 
umändert oder neu macht, etwa durch die Eingießung dev Ge— 
rechtigfeit Jeſu Chriſti. Aber fofern die Rechtfertigung durch 
den Glauben angeeignet wird, kommt aus ihr, genauer jagte 
man: aus dem Glauben die Heiligung. Daher eben jagt Luther: 
im rechten Glauben gebeiligt. 

Das, was Rechtfertigung und Heiligung mit einander verbindet 
und auf einander, und zwar in dieſer Reihenfolge, beziehen läßt, 
ſowohl in der wifjenjchaftlichen Betrachtung als für die chriftliche 
Frömmigkeit, ift alfo dev Glaube, Die Rechtfertigung wird ans 
geeignet durch den Glauben, und die Heiligung iſt ein Wandel 
im Glauben, ein Leben aus dem Glauben. Faſſen wir es jo, 
daß die Heiligung ihrem innerften Kern nach eine Be— 
thätigung des Glaubens und nicht zunächit ein Leben in 
Werfen und gejeglichen Geboten ift, jo bedarf es feiner fünftlichen 
Konftruftionen oder mannigfacher Hilfsfäse, um Nechtfertigung 
und Heiligung in das nötige und vechte Verhältnis zu bringen 
und eine febensvolle Verbindung zwijchen Glaubensgerechtigfeit 
und Lebensgerechtigfeit herzuftellen, oder um dem Vorwurf der 
Nömifchen entgegen treten zu fönnen, daß die iustitia imputata 
eine putativa fei, oder um fich nicht auf die Bahnen Neuerer 
locken zu lafjen, die da meinen, dev Glaubensgerechtigfeit durch 
die Lebensgerechtigkeit, der Rechtfertigung durch die Heiligung 
einen Unterbau oder ein Komplement geben zu müſſen. 

Indem durch den von Gott gewirkten Glauben der Sünder 
feiner Rechtfertigung vor Gott gewiß wird und er im Glauben 
ſich am den in Ehriftus ihm gnädigen Gott bingiebt, um ihm 
zu gehören und zu leben, nicht mehr fich jelbft, jo ift dieje Hin— 
gabe an Gott im Glauben an fich auch und ganz notwendig eine 
Hingabe an und in den Willen diejes Gottes, damit einerjeits 
Abkehr von der Sünde, andererjeits Hinfehr zum Guten und zum 
Gehorfam gegen Gott. Es iſt alfo nicht noch nach empfangener 
Rechtfertigung durch den Glauben, eine bejondere neue Wirkung, 
Gottes, etwa, wie ſchon einige Alte es formulieren, die Gabe 
des heiligen Geiftes nötig, wodurch num erft dem Menfchen Kraft 
und Antrieb zur Heiligung würde, Mein, denn abgejehen davon, 


Pr 


Claſen: Heiligung im Glauben. 443 


daß die Begabung mit dem heiligen Geift nicht nach dem Ent 
ftehen des Glaubens im Sünder gejchehen kann, — vgl. Luther 
im dritten Artikel —, vielmehr Entftehen des Glaubens und 
Empfang des heiligen Geiftes zufammenfallen, ja logiſch ber 
Empfang des Geiftes der Entjtehung des Glaubens vorangeht, — 
der Antrieb zum heiligen Leben und Wandel liegt an fich jelbjt 
im vechten Glauben, und der Heilige Wandel des Gerechtfertigten 
ift ein Leben im Glauben. Es ift dem Glauben an fic) notwendig, 
daß er das im der Nechtfertigung geſetzte neue Verhältnis zu Gott 
in einem neuen Verhalten in Wirkung treten laſſe. (Wie das fich 
piychologifch geitaltet, wird fpäter zu zeigen verfucht.) Man darf 
daher, genau gefprochen, eigentlich nicht jagen, das in dev Necht- 
fertigung durch den Glauben gefete neue Verhältnis zu Gott muß 
oder ſoll oder fann ein neues Verhalten wirken, jondern es wirkt 
es thatfächlich, eben weil die durch den Glauben gewonnene neue 
Stellung zu Gott als ihr notwendiges Korrelat eine andere Stellung 
zu dev Welt und zu fich feldft bedingt, nämlich in dem Vertrauen 
und der Liebe zu Gott das nicht mehr die Welt und fich ſelbſt 
Lieben, das Herrjein über die Welt umd das eigene Ich. Das 
aber ift Heiligung. 
3. 

Hiernach it die römische Berhältnisbeftimmung, daß nämlich 
die Rechtfertigung des Sünders das Nefultat der Heiligung und 
ihr Lohn fei, unrichtig. Zwar iſt es auch römische Lehre, daß 
die Erlöfung des Menfchen durch Gottes Gnade gejchehe. Aber 
indem man dann nicht ftreng daran feithielt, daß erſt auf die 
Rechtfertigung, d. h. auf die religiöje Zurechtftellung des Ver— 
hältmiffes zwiſchen Gott und den Menfchen und zwar durch eine 
That Gottes, die fittliche Erneuerung in der Heiligung folgen 
fönne, wurde das Heil wenigftens mit an Die fittliche Anftrengung 
des Menfchen gebunden und damit, bei der fittlichen Mangel 
haftigfeit der Heiligung, die Heilsgewißheit genommen. 

Zugrunde liegt bei diefer römifchen Beftimmung allerdings, 
daß man dort unter Rechtfertigung ganz etwas anderes verfteht 
al3 im evangelifchen Chriftentum. Die römijche Kirche will durch 
die Rechtfertigung, justificatio, angeben, wie aus einem Sünder 








4 Stan; Bene m — 
























— — in oe Weife in de 
Heiligung anerkannt; dagegen was wir Rechtfertig 
hat in der römiſchen Lehre überhaupt keine Stelle, da 
nichts davon weiß, daß unabhängig von ber fittlichen 2 
armer Sünder um Chrifti willen in eine veligiöfe Friel 
zu Gott gebracht werden kann. Um fo mehr weiß 
Schrift davon. 

4. 


Denn daß die Schrift die Heiligung als ein Werk 
des Begnadigten, nicht zum Zweck der Begnadigung, 
Folge der Nechtfertigung, nicht als ihren Grund anfieht ı 
ſtellt, kann nicht bezweifelt werden. Chriftus und die 
ftellen das neue Leben denen als Aufgabe, die duch den | 
an Gott neu geworden find; fie bezeichnen es als einen 
der Jünger Jeſu in defjen Nachfolge, als einen Erfolg, 
denen erreicht iſt, die durch die Wiedergeburt Glieder bes 
Gottes geworden find und nun auch in der Ge 
Reiches Gottes Leben. Wer zuvor Vergebung der Si 
pfangen hat, dem wird es als eine Pflicht vorgeftellt, 
Heiligung zu leben. Wer im Glauben an Jeſus E 
neue Kreatur geworden ift, der muß neu werden, und 
licher Glaube ift, da kommt aus ihm das neue heilige 
innerer Notwendigfeit (Joh 7 38 155). Hierüber ift nicht n 
viel zu fagen; das liegt offen vor in der Schrift Neuen 2 
ments; alle fittlichen Anweifungen gelten denen, die ſchon 
Chriſtus Glieder des Gottesreiches find. Das ift eben 
fchied zwifchen Altem und Neuem Teftament; darin zeigt 
beilsgefchichtliche Schranke des altteftamentlichen Ste 
daß dort das gerechte Leben in Erfüllung des Geſetzes 
dingung zur Erlangung des Israel verheißenen Heils be 


Claſen: Heiligung im Glauben. 45 


wird, während Jeſus und die Apoftel dann mit ihm die Erfüllung 
des Geſetzes als die Lebensäußerung desjenigen binftellen, dem 
durch ihn das Gut der Verföhnung mit Gott im Glauben zuteil 
geworden iſt. Auch ift im Alten ZTeftament die Heiligkeit und 
Gejegeserfüllung der Wandel in den einzelnen Geboten und eäri— 
monialgefeßlichen Borfehriften, während es im Neuen Teftament 
zuerſt und vor allem auf die innere Gefinnung der erneuten Perſön— 
lich£eit, auf Herftellung eines Gott zugewandten Charakters ankommt, 

Iſt es nun zwar gewiß, daß das Neue Teftament die römifche 
Lehre und Reihenfolge: erſt Heiligung und dann Rechtfertigung 
ausfchließt, jo iſt doch nicht zu beftreiten, — worauf neuerdings 
wieder mit Befliffenheit hingewiefen wird, — daß zuweilen Stellen 
vorkommen, wo von Rechtfertigung nicht die Rede ift, vielmehr 
das ganze Werf der Heilszueignung als Heiligung bezeichnet wird 
(mit Hebr 10 10: in diefem Willen [Jeſu Bereitwilligkeit, fich ſelbſt 
zu opfern] find wir geheiligt durch die Darbringung des Leibes 
Ehrifti ein für allemal, IT Kor 7ı Hebr 1214 Ephef La 5 3097 
I Betr 1 15-16 oh 17 17 Hebr 211). Dem ftehen aber viele 
andere Stellen gegenüber, mo Rechtfertigung und Heiligung genau 
unterfchieden, wenn auch nicht gefchieden werden, und Die Heiligung 
als die aus dem Glauben fommende Aufgabe des Gerechtfertigten 
bezeichnet wird. Bor allen Dingen ift es im ganzen Geift der 
neuteftamentlichen Verkündigung, daß ein heiliges, neues Leben 
nur da möglich und wirklich ift, mo eine Durch den Glauben an 
Jeſus Chriftus erneute Kreatur ift, mo Vergebung der Sünden 
erlebt und erfahren ift. 

Befchrieben wird die Heiligung als eine Erneuerung von 
Tage zu Tage auf Grumd der göttlichen Beanadigung — etwa 
I Kor 4 16 Röm 122 Ephef 4 22— 24 I Theff 4137; — bald 
indem die beiden Seiten, in denen fie ich ausprägt, als Abkehr 
von Sinde und Welt und Hinfehr zu Gott umd dem Guten, 
zufamengefaßt werden, — etwa Kol 39—ı0 I Petr 23: Tit 214 
Hebr 121-2, — bald indem die eine oder andere Geite nur 
hervorgehoben wird — die negative etwa Gal 5 24 Kol 35 I Petr 
58-9 I Joh 2 15-17 uf 1453, die pofitive etwa I Kor 15 58 
I Joh 35 Ephef 59 IT Petr 1 5-8. 


46 Elafen: Heiligung im Glauben. 


Das Ziel der Heiligung wird dann als erfüllt deſchildert, 
wenn es dem Gläubigen gelungen iſt, daß Chriſtus in ihm eine 
Geſtalt gewonnen hat, er alſo das geworden iſt, was man einen 
chriſtlichen Charakter nennt. — Ephef 4 15 3 ı7—ı9 Kol 2 67 
Gal 4ı9 Röm Se I Petr 2sı I Joh 26. Der äußere Bemeis 
aber dafür, daß einer in der Heiligung wandelt, ift dies, daß 
fein Leben in der Nachfolge Jeſu Chriſti verläuft als ein Leben 
in dev Liebe, worin die heilige Gefinnung fich zeigt, die das Geſetz 
Gottes als den heiligen Willen Gottes in freier Weile erfüllt 
und eben darin in der Vollkommenheit Lebt, die dem Jünger Jeſu 
und dem Kinde des himmlischen Vaters ziemt und möglich iſt — 
Epheſ 415 Joh 13 4-5 I Joh 51 Aı—ıs Röm 104 1398-10 
Matth 5 44-48. Solch ein in der Liebe fich bewährender chrift- 
licher Charakter Fann wohl jagen, daß Gottes Gebote ihm nicht 
Schwer find, — I oh 538 —, da er ihnen innerlich zuftimmt und 
fie ihm nichts Fremdes, Widermärtiges, Laftendes mehr find, — 
Röm 722 —, aber von einer Volltommenheit als einer ſitt— 
lichen Beſtimmtheit redet er gleichwohl nicht, — Phil 3 12—14 —, 
und alles Gute, das er thut im Werke der Heiligung, fehreibt 
ex jeinem Gott zu und thut es ihm zu Ehren und zu Lob der 
Gnade, die in ihm wirkt — Phil 2 13 4 ıs, 

Alles in allem und kurz zufammengefaßt, jagt die Schrift von 
und zu dem durch den Glauben gerecht Gewordenen: Du bift 
durch Ehriftus gerecht und heilig geworden, fo werde es num 
auch! Oder auch jo: Du bit mit Chriftus geftorben, jo ſtirb 
dir auch felbft und der Sünde in dir und ertöte dein Fleiſch in 
deinen Gliedern; du biſt aber auch mit Chriftus auferflanden und 
lebſt, alfo kehre dich auch zu ihm und lebe auch für ihn und 
wandle ihm nach! — Kol 33—5 Röm 64. 


5 
Gehen wir nun — nur in einem kurzen Ueberblick — zu 
dem tiber, was die evangelifchen Belenntniffe und Dogmatiker 
von dev Heiligung lehren. Sie knüpfen an Luther an, jchöpfen 
ihn jedoch nicht aus und laſſen, bejonders die alten Dogmatiker, 
einzelne Lutherſche Gedanken, die ihm jelber von hervorragender 








Clafen: Heiligung im Glauben. 447 


Bedeutung find, ziemlich unbeachtet. Für Luther ift der Quell 
punkt des „neuen Gehorſams“, — fo fagt er meift, den Namen 
„Heiligung“ braucht ex felten, — der von Gott durch den 
heiligen Geift gewirfte Glaube; er ift die wirkfame Kraft, 
der das neue Leben, die quten Werfe als feine Früchte heraus— 
jest, alle Heiligung tft Heiligung im Glauben, und jede 
gute fittliche Leiftung hat nicht als einzelnes Werk, fondern nur 
als That der durch Gott im Glauben erneuten Perſön— 
lichfeit, als Ausdrud der neuen Grundgefinnung Bes 
deutung. Melanchthon ſtimmt in feiner erſten Zeit ganz mit 
Luther überein; einen Titel oder Abjchnitt „von der Heiligung“ 
oder „von dev Erneuerung“, de renovatione, wie es fpäter meift 
bezeichnet ift, hat er im der erſten Ausgabe dev loei nicht; von ber 
Sache fpricht er in anderen Abfchnitten (de justificatione et fide, 
de fidei efficacia, de caritate et spe); wo rechter Glaube ift, 
kann er nicht anders als fich ausgießen, um in allen Kreaturen 
Gott zu dienen wie einem frommen Vater ein frommer Sohn. 
Aus dem Glauben fommt die Liebe zu Gott und dem 
Nächten; aber der Glaube ift und bleibt die Quelle, das 
Leben und der Regulator (reetrix) aller guten Werte; 
in ihm find wie auch frei vom Gefet, nämlich von feiner 
verdammenden Macht und feinem Zmwange u. f. w. Im 
Abſchnitt „vom alten umd neuen Menſchen“ braucht Melanchthon 
auch einmal den Ausdruck Heiligung (sanctificatio) und fagt, daß 
fie im Gläubigen noch nicht vollendet ſei, fondern allmählich durch 
die Ertötung des Fleifches gefchehe. 

In den Iutherifchen Befenntniffen ift gleichfalls ein Abſchnitt 
„von der Heiligung“ oder „von der Erneuerung" nicht enthalten. 
Bon der Sache wird in den Artikeln geredet, die vom der Recht— 
jertigung, dem Glauben, den guten Werken und neuem Gehorſam 
handeln. In der Nuguftana wird Art, VI von neuen Gehor- 
jam und Art. XX von Glauben und guten Werten betont, daß 
der Glaube die guten Werke als Früchte hervorbringe, 
und daß gute Werte um Gottes willen und Gott zu Lob nötig 
jeien, daß man jedoch nie auf fie vertrauen dürfe, durch fie Gnade 
zu verdienen. In der Apologie wird Art. II von der Recht: 








448 Claſen: Heiligung im Glauben, 


fertigung und Axt. III von der Liebe und Erfüllung des Geſetzes 
ganz in Luthers Geift und Art mit großer Tiefe und Schönheit 
von der Sache geredet. Bemerkenswert ift bier, daß Auguſtana 
XX, 24, 25 und Apologia II, 18, 34—35, 45 und fonft, ein 
Gedanke herportritt, der in der ſpäteren Dogmatif gänz— 
lich verloren zu gehen jcheint, fo häufig er auch bei Luther 
bervortritt, daß nämlich die Folge und der Zweck der Recht— 
fertigung oder Gündenvergebung um des Mittlers 
Ehriftus willen darin bejtehe, daß man Gott recht 
fürchte und vertraue, feiner Fürforge gewiß ſei, in Geduld 
und Demut alles ertrage, zu Gott bete und ihn von Herzen an— 
rufe. Hierin, jo fügen beide Belenntnifje mit Luther hinzu, bes 
ftehe auch die rechte Erfüllung der Gebote — vgl, Luthers 
Erklärung des erſten Gebots —, alfo die Heiligung. Dies will 
jagen, daß nad) Luther und den erſten Bekenntniſſen die Recht— 
fertigung nicht direkt darauf gerichtet ift, die Heiligung als einen 
Wandel in guten Werken zu ermöglichen, ſondern daß ihr Erfolg 
wie eine neue religiöje Stellung zu Gott jo die Herftellung 
einer neuen religiöfen Grundgefinnung ift, nämlich Gottes— 
furcht, Gottesliebe, Gottvertrauen. Aus diefer neuen Grund— 
gejinnung, die als durch den Glauben gewonnen bezeichnet wird, 
lafjen fie dann ein Leben im Glauben folgen, und das ift bie 
Heiligung, die guten Werke als Früchte des Glaubens, 

In den Schmalfald, Artikeln jagt Luther IV, 13, „daß wir 
durch den Glauben ein ander neu rein Herz friegen und Gott 
um Ehriftus willen, unſers Mittlerd, uns fix ganz gerecht und 
heilig halten will und hält. Obwohl die Sünde im Fleifch noch 
nicht gar weg oder tot ift, jo will ex fie doch nicht rächen noch 
wiſſen. Und auf folchen Glauben, Verneuerung und Vergebung 
der Sünden folgen dann gute Werk... Wo gute Merk nicht 
folgen, fo ift dev Glaube falfch und nicht recht“. Hier kehrt die 
bei Luther auch ſonſt übliche Redeweiſe wieder, daß wir „durch 
den Glauben gerecht und heilig“ werden, als jollte Rechtfertigung 
und Heiligung in eins zufammengefaßt werden, ein Anklang an 
jene Schriftftellen, wo das ganze Werk der Erlöfung als Heili- 
gung bezeichnet wird. Aber auch hier gilt es wie dort, daß da— 


8 





Glafen: Heiligung im Glauben. 449 


mit nicht Nechtfertigung und Heiligung vermifcht werden, fondern 
es ſpricht fich hierin num der Gedanke aus, dev im Gvangelium 
und darum auch im evangelifchen Chriftentum  feftgehalten wird, 
daß der Chriſt, wie feine Rechtfertigung fo auch feine 
Heiligung auf Gott zurüdführt, weil legtere eben aus 
dem Glauben fommt, den Bott in ihm gewirkt hat. 

In der Konfordienformel wird Art. IV von guten Werken 
gehandelt; aus dem Artikel von der Rechtfertigung find fie günz— 
lich auszujchließen; die Wiedergeborenen müſſen gute Werke thun 
aus freiwilligem Geift, nicht aus Zwang, weil fie unter der Önade 
find — d.h. im Glauben ftehen — nicht mehr unter dem Gefeb. 
Aber in diefer Freiheit ift feine Willkür, ſondern fie werden ge 
than „aus Liebe zur Gerechtigkeit wie Kinder“ (Röm 8). Doch 
nie die Werke, diefer Gedanke wird hier aus erklärlichen Gründen 
hervorgehoben, jondern immer nım Gottes Gnade und der heilige 
Geiſt erhalten im Glauben zur Seligeit. 

Die alten Dogmatifer haben für die Lehre von der Heili— 
gung — meift Erneuerung, renovatio genannt, feine feſte und 
bejtimmte Stellung: bei den älteren Dogmatikern kommt fie, 
ebenjo wie auch die anderen einzelnen Lehrpunkte, die ſpäter unter 
dem Lehrftüc von der aneignenden Gnade des heiligen Geiftes 
zufammengefaßt werden, überhaupt nicht als eigener Abfchnitt 
vor; fie deckt fich zumeilen mit der Lehre von den guten Werfen; 
ſpäter ift fie der legte Abfchnitt in dem genannten Lehrjtüc, dem 
nur vereinzelt noch die Lehre von den guten Werken nachfolgt, 
während andere diefe gleich nach der Lehre vom Glauben folgen 
lafjen, nod) vor der Lehre von der Rechtfertigung. Man fieht 
hieraus, welche formelle Verfchiedenheit hier obwaltet. Juhaltlich 
iſt nun die Lehre dev älteren evangelifchefirchlichen Dogmatiker 
furz folgende, wobei ich die mannigfachen formaliftifchen und 
ſcholaſtiſchen Diſtinktionen bei Seite lafje: Gott will, daß der 
durch den Glauben an Jeſus Chriſtus Gerechtgemwordene fich als 
ein neuer Menfch in einem fittlichen Leben bethätige; denn dazu 
vechtfertigt er die Sünder, daß fie in einem neuen Leben ihm 
dienen. Dies neue Leben befteht in dev Abkehr von der Sünde 
und in dev immer völligeren Hinfehr zu Gott. Die Kraft dazu 





450 Glafen:; Heiligung im Glauben. 


giebt Bott durch feinen heifigen Geift, der im Glauben empfangen 
wird. So wird der Gerechtfertigte von Tage zu Tage mehr ein 
neuer Menfch, der Gott in guten Werken aus Trieb des Geiftes 
dient. Die Heiligung ift mithin fein einmaliger Akt, fondern ein 
Prozeß, der das ganze Leben des Gläubigen ausfüllt, auch wird 
fie bier im Leben nie ganz völlig, wenn auch die Vollfommen- 
heit immer angeſtrebt werden ſoll. Wirklich wird die Heiligung 
fo, daß der Ehrift in freier Weife auf Grund feiner Wieder 
geburt mit der Gnade Gottes mitwirkt. 

Die neueren kirchlichen Dogmatiker, — die ſog. modernen, 
die eine gewiſſe Umänderung der Lehre von der Heiligung und 
ihrer Stellung zur Rechtfertigung vorgenommen haben, werben 
jpäter zur Beiprechung kommen, — bleiben im Ganzen in ber 
Lehre der älteren, nur daß fie hier und da Einzelnes beftimmter 
ausführen oder ihm eine andere Stellung geben. Etwa jo: Die 
‚Heiligung umfaßt ein Doppeltes; erſtens bedeutet fie negativ das 
Abfterben dem Widergöttlichen, wie es aus der Welt und dem 
eigenen Herzen auch dem Gerechtfertigten noch immer nahe kommt, 
Darum ift fie ein fteter Kampf, ein Mitleiden und Mitfterben 
mit Ehriftus; zweitens ift fie pofitiv ein Aufleben für das Leben 
Chriſti in uns, eim ftetes Wachſen im Göttlichen, auf intellef- 
tuellem Gebiet eine immer größere, tiefere Erkenntnis Gottes und 
Ehrifti, auf ethifchem Gebiet ein immer treuever Gehorfam gegen 
Gott und fein Gefeg, d. h. ein Wandel in der Liebe. Man macht 
fich immer völliger zum Oxgan des göttlichen Willens und Lebens. 
So wird aus der Glaubensgerechtigkeit in immer wachjender Fülle 
die Lebensgerechtigkeit, aus der Rechtfertigung die Heiligung, eine 
allmähliche Verwandlung in das Ebenbild Gottes als Ziel und 
Erfüllung der Idee des Menfchen. 


6. 

Man wird nicht jagen können, daß dieſe dogmatischen Be— 
ftimmungen ſcharf und ficher genug find, um Irrtümer und Miß— 
verftändniffe abzuwehren; weder Nom gegenüber waren fie Flar 
und bejtimmt genug, noch auch vermochten fie in dev evangelifthen 
Kirche ſelbſt Einmürfen zu begegnen, wie fie ſchon fehr bald im 





Claſen: Heiligung im Glauben. 451 


den majoriftifchen und fymergiftifchen Streitigkeiten ans Licht 
traten und dann weiter im Pietismus, Methodismus, Nationalis- 
mus, in der Vermittlungstheologie und neuerdings in der fog. 
‚Heiligungsbewegung fich erhoben haben. Die letztgenannte Bes 
wegung und ihr Anfpruch, jest erſt die rechte wahre Lehre des 
Evangeliums von der Heiligung ans Licht geftellt zu haben, läßt 
eine prinzipielle Behandlung der evangelifchen Lehre von der 
Heiligung als zeitgemäß erjcheinen. Auch anderen Kreiſen als 
denen ber ausgefprochenen Heiligungsbewegung mag e3 vielleicht 
angezeigt erjeheinen, gerade jetzt diefen Punkt zu betonen. Sie 
wollen damit in den theologifchen Kämpfen der Gegenwart, die 
für die fozialspolitifchen und kirchen-politiſchen Aufgaben vecht 
hinderlich erfcheinen, eine mehr praktifche Frage in den Mittel 
punkt ftellen, in dev eher eine Einigung der verfchiedenen Rich— 
tungen möglich jet. 

Sehe ich recht, fo find in der dogmatiſch figierten evangelifchen 
Lehre von dev Heiligung folgende Mängel und Lücken: 

1. Es wird die Heiligung als die direkte Folge und als der 
Zweck der Rechtfertigung angegeben, wodurch das rechte Verhält— 
nis zwiſchen Rechtfertigung und Heiligung etwas verfchoben wird, 
aber auch die Nechtfertigung ſelbſt leicht beeinträchtigt werben konnte. 

2. Die Behauptung, daß die guten Werke dem Glauben 
folgen müßten oder daß die Heiligung aus der Nechtfertigung 
erwachfe, blieb eben nur eine Behauptung, ohne daß gezeigt wurde, 
mie dies auf einer inneren Notwendigfeit beruht und wie 
dies pſychologiſch vor fich geht. Dies ließ fein notwendiges 
Hervorgehen der Lebensgerechtigkeit aus der Glaubensgerechtige 
feit gewinnen, brachte aber dafür die Gefahr der toten Rechte 
gläubigkeit und erzeugte jpäter eine grundfaliche Bejtimmung der 
evangelifchen Lehre von der Heiligung. 

3. Man fchied in unberechtigter Weife zwifchen Glaube und 
Gabe des heiligen Geiftes bezüglich ihrer Wirkungen im Chriften, 
wobei die Einheitlichfeit und Selbftändigteit des Chriftenlebens 
gefährdet wurde, 

4. Die Heiligung wurde zu ſehr als ein ifoliertes, individuelles 
Thun dargejtellt, wobei verfannt wurde, daß ſowohl ihre pofitive 





L 


452 Glafen: Heiligung im Glauben, 


als ihre negative Seite nur innerhalb des Gemeinfchaftslebens 
verwirklicht werben kann, und wobei der Gedante des Chriften- 
tums als der abſolut ethifchen Religion verduntelt werden konnte, 

Aus diefen Mängeln und Lücken der evangelifchen Lehre von 
der Heiligung find, wie ich meine, alle die Verſuche zu erklären, 
die der Heiligung einen anderen, vermeintlich befjeren und 
richtigeren Inhalt zu geben trachteten, darunter freilich Verſuche, 
die alles andere eher find als Beſſerungen und die daher ben 
Schaden, den ſie heilen wollten, nur noch böſer machten. Uber 
es iſt nicht zu leugnen: es war nicht bloß der formaliftifche und 
ſcholaſtiſche Charakter dev alten dogmatifchen Lehre, der hier und 
da unbefriedigt ließ, fie verftricte durch ihren Inhalt und ihre 
Tendenz felbft zuweilen in unbrauchbare Vorftellungen und ließ 
die evangelijche Frömmigkeit nicht jelten ohne den rechten Regulator. 
Dor ihren Mängeln hätte überall ein Rückgang auf Luther bewahrt, 
von defjen Gedanken die lutheriſche Dogmatik fich bald mehrfad) 
abgewandt hatte. 

7 

Ich nannte als erſten Mangel in der dogmatiſchen Lehre 
von der Heiligung, daß man diefe Lehre in dev Weife gebildet 
babe, al3 ob die Heiligung die direfte Zweckbeziehung dev Recht- 
Fertigung fei. Man aing von dem ganz richtigen Gedanken aus, 
daß Gott mit der Gabe der Nechtfertigung auch eine Aufgabe ger 
ftellt habe. Das ift ja überall bei göttlichem Thun: jeder Gabe 
Gottes an die Menfchen entfpricht eine Aufgabe durch die Menjchen; 
das Chriftentum ift eine abjolut-ethifche Religion. Aber dies gilt 
doc num nicht jo, als ob — in Analogie zu der römifchen Lehre 
— die Nechtfertigung direkt davanf gerichtet wäre, die Heiligung 
möglich und den in der Heiligung Wandelnden jo Gott wohl 
gefällig zu machen, Die direkte Zweckbeziehung der Rechtfertigung 
— fo fagt es die Schrift — 5. B. Röm 51 622 — Luther umd 
unfere Befenntniffe 3. B. Apologie II, 5; III, 75, 176, 199, 
226, Al. Katech. IV, 6, Konk. Form. II, 9 — ift die Kind» 
ſchaft bei Gott, dev Friede mit Gott, daS ewige, jelige Leben bei 
Gott und mit Gott. Auf das Verhältnis von Rechtfertigung und 
Heiligung kann man allerhöchtens die Begriffe von Urſache und 


4 








Glafen: Heiligung im Glauben. 453 


Wirkung, nicht aber den Begriff des Zwecks anwenden; am beften 
wird man die Begriffe Bedingung und Folge gebrauchen. Nur 
unter der Bedingung, daß die Rechtfertigung oder Wiedergeburt 
vorhanden ift, kann von einer Heiligung oder fortgehenden Be- 
fehrung geredet werden und zwar allein darum, weil die Recht 
jertigung durch den Glauben angeeignet wird und dieſer num vor— 
bhandene Glaube leben muß, eben im heiligen Wandel in der 
Liebe, Heiligung im Glauben — Gal 56 II Kor 5 1r—ıs. Der: 
artige Verſuche, die Nechtfertigung Durch die Heiligung gleichſam 
zu ergänzen, wie jie aus dieſer umrichtigen Zwecbeziehung der 
Rechtfertigung auf die Heiligung entjtanden, famen jchon jehr 
früh auf, ſchon in den majoriftifchen Streitigkeiten. Bei diefer 
Meinung, für die man ſich wohl auf die Schriftftellen berief, die 
von einem Gerichtetwerden nach den Werfen reden, und Die man 
dann, an fich freilich nicht umvichtig, aber für den beabfichtigten 
Zweck unrichtig, — um der vömifchen Werfgervechtigkeit zu ent— 
gehen — jo erklärte, daß die guten Werke eine That des von 
Gott gegebenen Glaubens feien, fam man dann dazu, daß man 
wohl jagte, daß wir zwar gerecht vor Gott durch den Glauben 
würden, aber das ewige Leben würde doch nur durch die Heiligung 
gewonnen. So gejchah es — unter Nichtbeachtung des richtigen 
Lutherſchen Sabes: wo Vergebung der Sünden ift, da ift Leben 
und Seligfeit — zuerft von Georg Major, dann teilweife im 
Pietismus; befonders in letzterem verdarb man die veformatorifche 
Nechtfertigungslehre, indem man fie zu einem analytiſchen Urteil 
über den Wert des fubjektiven Glaubens und der aus dem Glauben 
tommenden Werke machte. 

Andere verftanden dann unter der Rechtfertigung die Dar- 
reichung einer pofitiven Kraft zu einem unfündlichen, heiligen 
Leben und der darauf folgenden Anerkennung des in der Liebe 
thätigen Glaubens durch Gott. (So in einem Teil der Bengel- 
ſchen Schule, 3. B. bei J. v. Mayer, auch bei Bed.) Noch 
weiter fam man in diefer abirrenden Nichtung durch Schleier: 
macher, nach deffen Meinung, daß Nechtfertigung und Belehrung 
die unterfcheidenden Beziehungen innerhalb der Wiedergeburt 
Wohl war Schleiermacher hierzu veranlaßt durch di 






454 Elafen: Heiligung im Glauben. 


Beſtimmungen in ber älteren Dogmatik über das Verhältnis von 
Wiedergeburt und Belehrung, auf die ich hier nur hindeuten Fann; 
aber der Hauptgrund lag doch bei ihm darin, daß er gemifjer- 
maßen die Rechtfertigung von der Belehrung abhängig machte. 
So entwidelte ſich dann die Anfchauung, die fi) auch bei Nitzſch 
und Martenfen findet, daß mit dem Maß der Befehrung, 
d. h. der Heiligung, aud das Maß der Rechtfertigung mwachje, 
ebenfalls iſt dies eine völlige Verkennung und Verkehrung der 
evangelijchen Nechtfertigungslehre; man nahm ihr ihre Krone und 
brach ihe den eigentlichen Kern aus und vaubte ihr das, wodurch 
fie gerade die geängjteten Gewiſſen tröftet. Aber auch der evangeli- 
ſchen Lehre von der Heiligung trat man zu nahe, ſofern fie aus 
einev, weil innerlich nothwendigen darum völlig verdienſtloſen Be- 
währung des Glaubens zu einem in gewifjer Weife verdienftlichen, 
eigenen Werk zum Zwec der Erlangung der ewigen Seligkeit ges 
macht wurde; die guten Werke, die Heiligung, wurden wenigſtens 
als eine Nebenurfache des ewigen Heils anerkannt. Das, was 
den Menfchen feines Gnadenjtandes gewiß macht, ijt zulest bie 
Heiligung; die Rechtfertigung ift zu einem übermundenen und 
überwindbaren Durchgangspunkt gemacht. 

‚Hier ift aljo mit einer Schädigung der evangelifchen Hecht» 
fertigungslehre auch die Lehre von der Heiligung verkehrt und ihr 
richtiges Verhältnis zu eimander verſchoben. Das aber kam daher, 
weil man al3 Zweck der Rechtfertigung in direkter Weiſe die 
Heiligung bezeichnet hatte, und dies wieder hatte feinen Grund 
darin, weil man in der orthodoxen Lehre nicht ſcharf und Klar 
genug die Heiligung als eine Heiligung im Glauben bejtimmt und 
als das vechte Band zwifchen Rechtfertigung und. Heiligung den 
Glauben erkannt hatte, auch nicht klar dargethan hatte, daß und 
wie aus dem Glauben mit innerer Notwendigkeit die guten Werke 
als Früchte hervorgehen müßten. [2 

Damit find wir auf den zweiten Mangel der orthodoren 
Lehre von der Heiligung geführt. Man hatte ganz richtig gejagt, 
daß die guten Werke dem Glauben folgen müßten, und es konnte 
auch richtig die Heiligung als Heiligung im Glauben 
werden, wenn die alten Dogmatiter behaupteten, daf die 








Claſen: Heiligung im Glauben 456 


aus der Rechtfertigung erwachſe. Daß die Reformation Rom 
gegenüber dieſen Satz aufſtellte und behauptete, war von unend- 
licher Bedeutung; denn e3 wurde dadurch der Boden fr eine 
freie Sittlichfeit gewonnen. Doc blieb dieſer Satz freilich nur 
eine, wenn auch richtige und wahre Behauptung, aber man vers 
jäumte es, klar und beftimmt zu zeigen, wie aus der Rechtferti— 
gung durch den Glauben das neue Leben mit Notwendigkeit 
hervorgehen müfje, nämlich darum, weil da die neue Perfönlich- 
feit entfteht, die im Glauben den Trieb und die Kraft in fich hat, 
Gott in Gerechtigkeit zw dienen. Weil dieſer Nachweis fehlte, 
fonnten die Nömifchen mit einem Schein des Rechts behaupten, 
daß die zugerechnete Gerechtigkeit der Evangelifchen feine wirkliche 
fei, und daß bei den Evangelifchen kein Weg von der Glaubens- 
gerechtigfeit zur wirklichen Lebensgerechtigfeit oder zur Heiligung 
führe. Doc dem war ja leichter zu begegnen; ſchlimmer war es, 
daß man auch in ewangelifchen Kreifen jich gewöhnte, auf die 
Beantwortung dev Frage, wie das Leben in der Heiliguug 
num wirklich würde, weniger Gericht zu legen, und fich damit 
begnügte zu jagen, daß, wo nur die vechte Gläubigkeit jei, da der 
heilige Wandel ſchon von ſelbſt kommen würde, Dieje zu geringe 
Sorge um den Nachweis, wie aus dem Glauben die Werke er- 
wachjen, wie die Heiligung aus der Rechtfertigung kommt, ift mit 
Urjache gewejen am Entjtehen des Beitalters der jog. „toten Necht- 
gläubigfeit". Es wäre anders geworden, wenn man den lebendigen 
Glaubensbegriff Luthers fejter bewahrt und die Heiligung von 
vornherein als eine Heiligung im Glauben gefaßt hätte. Statt 
deſſen verfejtigte man fich auf einen formaliftifchen Begriff der 
Rechtfertigung. Man fagte, da fie eine Handlung außerhalb des 
Menfchen in Gott fei, jo könne fie den Menfchen nicht 
innerlich umändern und zu guten Werfen befähigen. 
Damit es zu guten Werten beim Gerechtjertigten komme, gäbe 
Gott ihm nach dem Glauben den heiligen Geift, der die guten 
Werke wirfe. (Hollaz, Baier u. ſ. w) So richtig es nun ift, 
daß durch die Nechtfertigung als vichterlichen Akt Gottes an fich 
im Menfchen eine reale fittlihe Umänderung nicht gewirkt 
wird, fo wird hier doch überfehen, daß die Rechtfertigung, weil 
Beitfcheift für Theologie und Kirche. 10. Jahrg., 6. Heft. al 




































156 Gtafen: Heitigung im Glauben. 


fie durch den Glauben ergriffen, nicht mechaniſch 
deshalb dem Menſchen nicht äußerlich biei 
Thon im Moment ihres Vorgangs. Denn der 
das innerliche Leben der zu Gott gerichteten 
Glaube als das perjönliche Vertrauen, welches: 
und eben darin die Rechtfertigung erlebt und erfäl 
im heiligen Geift vermittelte Anfchauung der lebend 
perfon zuftande gekommen; darum liegt in dieſem 
Ehriftum jo als feinen Heiland ergreift, an ſich 
liche Abkehr von der Sünde und eine Hinkehr zu 
des Heils, alfo eine innere Mmänderung, zunächft fr. 
der Gejinnung und der Schäßung der Welt 
Irdiſchen. Von hier aus, aljo von dem Iebendigen B 
Glaubens aus, nicht freilich vom formaliftifch g. 
der Rechtfertigung aus, läßt fich ein Weg finden, dev pſycht 
verjtändlich macht, wie es zur Heiligung kommt; man ı 
als eine Bethätigung des lebendigen Glaubens faſſen, — 
im Glauben! Da man aber diefen Weg, von Luther g 
nicht bejchritt, jo blieb eben die Notwendigkeit, daß 
Glauben die Werke, aus der Glaubensgerechtigfeit die 
gevechtigteit hevvorgeht, zweifelhaft, und es fam die Bei 
Rechtgläubigkeit. - 
Das Mifliche, das darin liegen kann, wenn man ſag 
Heiligung fommt aus der Rechtfertigung, ift neuerdings 
allgemein erkannt; man pflegt als Wurzel der Heilic 
durch den heiligen Geift gewirkten Glauben mit Recht zu 
Das hat auch die moderne Heiligungsbewegung, die, von. 
und England gefommen, durch methodiftifche und bay 
triebe erwachjen und genährt, jegt auch in Deutſchland 
Gemeinfchaftskreifen wieder mehr in den Vordergrund tritt, ı 
dem die feiner Zeit durch Pearſall Smith erregte Flut wiede 
faſt völlig abgefloffen war, richtig erkannt, wenn fie a 
Gedanken nım eine falfche Wendung giebt. Wiſſenſe 
ift fie bisher eigentlich nicht vertreten, nenn auch ei 
von Büchern und Schriften erjchienen find, die fie eifr 
pfehlen. Ihr Panier lautet „Heiligung durch den € 


— 


Elafen: Heiligung im Glauben. 457 


nicht „im Glauben“, wie ich für vichtig halte, Erſt dieſe Heiligung 
„durch den Glauben” erwirkt „das völlige gegenwärtige Heil 
durch Chriftum", wie Th. Jellinghaus, einer. ihrer hervor— 
vagendften und befonnenften Vertreter, neben Stodmayer, Baul 
u. ſ. w. fein bereitS in zweiter Auflage erjchienenes Buch bes 
titelt hat. Zu diefer Bewegung wende ich mich jet in etmas 
ausführlicherer Weife. 

Dieje neue Lehre der jog. Orforder oder Heiligungsbemegung, 
bei deren Darftellung ich mich befonders an das genannte Buch 
von Jellinghaus halte, geht davon aus, daß man in dev evan— 
gelifchen Kirche das Heiligfeitsideal nicht hoch genug faſſe und 
den Ausfprüchen dev Schrift nicht gerecht werde, die z. B. Joh 
1719 Bhil 21-15 Röm 66 II Kor 71 Phil 19—ı1 IT Joh 38 
I Petr 1 15-16 Hal. 13 eine völlige Heiligung des 
Gläubigen, eine chriftliche Bo llfommenheit und Sündlofig- 
feit lehre. Ohne diefe volllommene Heiligung könne die Necht- 
fertigung nicht bejtehen (Sell. ©. 339); es jet Rleinglaube, es 
der Erlöſermacht Jeſu Ehrifti nicht zuzutvauen, daß er uns hier 
ſchon in diefem Leben völlig heilig made. Es ſei jetzt endlich 
an der Zeit, das, was die Neformatoren meift noch nicht begriffen 
und erreicht hätten, die biblifche Stufe dermwahren Heiligung, 
ans Licht zu ftellen (S, 346). Nun ift es ganz richtig, daß das 
Heiligungsideal oft zu niedrig gefleckt wird, aber das ift dann 
falſche evangelijche Praxis, nicht Theorie; mancher Heuchler mag 
ich der rechten Heiligungsarbeit dadurch entziehen, daß er jagt: 
ich kann ja doch nicht vollfommen fein. Nichtig iſt auch, daß 
das Chriftentum nur jo eine wirkliche Macht in der Welt wird, 
wenn die, welche Chriften jein wollen, mit ganzem Ernſt ihrer Hei- 
ligung nachftreben. Aber mit dem Zugeftändnig dieſer Thatjache ift 
fein Recht erworben, die veformatorifche Lehre von der Heiligung, 
die Lehre und Anſchauung Luthers als falſch oder rückſtändig zu 
bezeichnen und in die vorhergenannten oder in andere Schrift 
ftellen einen Sinn hineinzulegen, ‘den einzelne zur Not haben 
Könnten, wenn man fie ijoliert betrachtet und dann fie nach einer 
vorher fertigen Anſchauung über das, was Heiligung fei, auslegt 
oder vielmehr in fie einlegt. 

a1* 











Man muß — nad) Pearſall Smith — „ich dem 


I 


























Die volltommene Heiligung mollen nun 
der Heiligungsbewegung wicht, auch nicht 
Anftrengung erringen; es ift vielmehr „Hei 
Glauben", Der „gegenwärtige Erlöſer“ 
gläubigen Chriften, Heilig und volltommen zu 
Blut hat uns nicht bloß von aller Sündenfchuld, 
aller Sündenmacht exlöft, und mer diefer „£ 
Blutes Chrifti und feiner Auferftehung" fich 
trauend“ „von neuem“, d. h. doch wohl na 
fertigung, bingiebt, den macht Jeſus von den 
und fähig, in völliger Gerechtigkeit und Heiligkeit € 
(So in einem amerifanijchen Buche Pioneer exp 
Gabe der Kraft, empfangen durch den Glauben. Nem 9) 


hingeben“, „ihm ganz vertrauen", dann erreicht man 
geheiligten Lebensgang“ und gelangt auch noch zu „ 
lichen Kräften, Wirkungen und höheren inneven Seli 

Die Lehre diejer Heiligungsbewegung ift aljo, 
Ehrifti Perſon und Werk, befonders durch jeinen Tod 
Auferftehung bei denen, die dies glauben und in vi 
trauen fich daran halten, die Sündenmacht völli 
wird und fie heilig gemacht werben, nicht bloß daß die C 
vergeben und die Schuld weggenommen mid. Es tritt i 
den Glauben eine veale Neumachung ein, eine, wenn auch ai 
motivierte römiſche Juſtifikation. Nur daß dieſe { 
weil man die evangelifche Nechtfertigungslehre beftehen 
Unterbau und Durchgangspunft gelten laffen will, hier 
Heiligung“ genannt wird. Der eigentliche Zweck der Erl 
ift die „völlige Heiligung“, umd fie gejchieht m 
„beiligenden Gnade" durch den Glauben, Den Anhä 
‚Heiligungsbewegung erfcheint es zu gering und zu wenig 
verheißend, wenn die Nechtfertigung als göttliche | 
von Sünde und Schuld wohl eine mächtige Gewiſſensv 
zur Heiligung giebt; fie wollen eine veale Begabung (. 
mit Heiligung bezw. Heiligfeit. Dies Verlangen ift wohl 
gemeckt, weil in der evangelijchen Heiligumgslehre that| 


Glafen: Heiligung im Glauben. 459 


Mangel war, daß nicht klar gemacht war, wie im Glauben der 
Trieb und die Kraft zur Heiligung liegt, und wie aus dev Glaubens» 
gevechtigfeit fich notwendig die Lebensgerechtigfeit entwiceln wird, 
Den römifchen Abweg meinen fie num dadurch ficher zu vermeiden, 
daß fie die völlige Heiligung als eine Heiligung durch den Glauben 
bezeichnen; fie find auch der Meinung, daß fie mit ihrer Lehre 
ganz in den Bahnen dev Neformatoren gehen, ja daß jo erſt die 
Reformation zur Vollendung käme, weil jegt erſt Chriftus als 
der „völlige Erlöfer* erfannt werde; das fei er aber exft, 
wenn er uns durch den Glauben nicht nur gerecht, jondern auch 
völlig heilig mache. Uebrigens hätten einzelne unter den alten 
Dogmatilern auch davon eine Ahnung gehabt, 3. B. David Hollaz 
in feinem Büchlein „Die Kraft des Blutes Chrifti". Für gewöhn— 
lich aber käme es in der evangelifchen Lehre immer darauf hinaus, 
daß wir durch dankbare Gegenliebe und Andacht uns in die 
Gemeinjchaft de3 Todes und dev Auferjtehung Jeſu Ehrijti hinein: 
arbeiten und uns immer mehr ſelbſt heiligen müßten. Ab— 
gefehen davon, daß hier immer nur ein geringer Bruchteil von 
Heiligung erreicht werde, erwecke diefe „Selbjtheiligung” auch 
den Anfchein des Verdienftes. Aber thatjächlich jet unfere 
„völlige Heiligung“ durch Ehrifti Werk und Erlöſung ſchon uns 
mittelbar vollbracht und brauche nur durch den Glauben angeeignet 
zu werden. Denn die völlige Heiligung würde eben gerade 
wie die Nechtfertigung nur dureh den Glauben angeeignet. 

Hier tritt die Mebereinftimmung diefer Heiligungslehre mit 
der römiſchen Juftififationslehre weiter zu Tage. Die Heiligung 
— nicht die Heiligkeit, von ber e8 einen Sinn haben könnte, — 
gewinnt den Charakter einer fittlichen Qualität, eines fertig 
Gegebenen, das wie ein eingegofjener Stoff, nad) Art eines finn- 
lichen Vorgangs auf die Gläubigen übergeht: Daß diefer fertige 
Stoff nicht wie in Rom auf mechanische Weife, durch die Saframente, 
über den Menfchen kommt, fondern hier durch den Glauben 
angeeignet wird, hebt diefe Nehnlichkeit nicht auf. 

Denn wie fteht die Sache, und was wird damit behauptet, 
wenn man jagt, daß die völlige Heiligung gerade jo wie die 
Rechtfertigung durch den Glauben angeeignet werde? Wie joll 





460 Glafen: Heiligung im Glauben. 


man es fich denken, daß Heiligung, die doch ein in dem 
‚Beitverlauf vorgehender Prozeß ift, durch den Glauben 
angeeignet werde? Es kann ja allenfalls heißen, und jo hätte 
es einen richtigen Sinn, wäre nur ein mißverjtändlicher Ausdruck, 
daß der Ehrift, das Kind Gottes, von Stufe zu Stufe aufwärts 
fommt darin, fich Gott zu heiligen und die Sünde in fich zu 
überwinden, und daß unfer ftufenmäßiger Fortjchritt allewege im 
Glauben gefchieht und in der Gnadenfraft, die uns von 
Gott und Ehriftus durch den Glauben täglich zufließt. 
Aber das foll e8 eben in diefer neuen Heiligungsfehre nicht heißen; 
denn bei ihr ift Heiligung eine gegebene, fertige, durch Chriftus 
bejchaffte Größe — wie Rechtfertigung —, durch deren Ueber- 
gehen auf den Gläubigen diejer ein fittlic) anderer, nämlich 
ein Heiliger wird. Soll alfo diefe „Aneignung der Heiligung 
durch den Glauben“ das fein, was e3 hier fein fol, nämlic eine 
wirkliche reale Verjegung des Sünders aus dem Stande der 
Simdhaftigfeit in den der Heiligung, jo ift das einfach unmöglich 
und undenkbar, jo lange man den Menfchen al3 ein fittliches 
Wefen faßt. Der Glaube kann fich ein göttliches Urteil der 
Siündenvergebung und Schuldverzeihung, — die Nechtfertigung, 
aneignen, aber er kann fich keine Heiligkeit als eine fittliche Quali 
tät aneignen, wenn nicht die fittliche Selbſtändigkeit und die fitt- 
liche Berantwortfichkeit des Menjchen verloren gehen fol. Bier 
liegt einer der Hauptfehler dieſer neuen Heiligungslehre, daß man 
nämlich nicht bemerkt, wie einerfeits das Intereſſe der fittlichen 
Freiheit, anderfeitS der Charakter des jittlichen Geſetzes es ver 
bieten, die Heiligung als einen fertigen Stoff zu fallen und fie 
als eine ftoffliche Qualität ſich anzueignen. Hierbei geht die Ber 
deutung der freien fittlichen Perſönlichkeit verloren; der Chriſt 
hat nicht mehr die Aufgabe, als ein chriftlich-fittlicher Charakter 
das Sittlihgute in freier Weife zu thun, das Gittlichgute wird 
über ihn und in ihn eingegofjen, und das fittliche Geſetz wird zur 
leeven Form und der Gehorfam gegen dasfelbe zum Spiel der 
Phantaſie. Römiſch ift es, daß der Ehrift darum fittlichrgut ift, 
weil feine einzelnen Werfe gut umd dem fittlichen Gejeg Gottes 
entjprechend find; heiligungs-methodiftifch ift es, daß der Ehrift 


Pr 


&lafen: Heiligung im Glauben. 461 


darum heilig ift, weil er eine heilige Qualität fich durch den 
Glauben angeeignet hat; evangelifch aber ift es, daß der Chrift 
darum fittlich-gut ift, weil er in freier fittlichee Entjcheidung und 
Arbeit, auf Grund der vechtfertigenden Gnade Gottes das ewige 
fittliche Gejeg Gottes im Glauben zum Inhalt feines Willens ges 
macht hat. { 

Man gebraucht in den Heiligungsfveifen, zum Beweiſe dafür, 
daß mit Chrifti Tod und Auferftehung umfere Heiligung ſchon 
vollbracht jei und nur noch durch den Glauben angeeignet werden 
brauche, ein Gfeichnis: „Wenn der Herrfcher eines Landes den 
Befehl giebt: alle Sklaven find von heute an frei und haben dem 
Genuß der Freiheit, ſobald fie davon Gebrauch machen wollen 
im Vertrauen auf unfer Wort, fo ift die Befreiung ſchon voll- 
bracht . . .“ Ich meine, daß dies Gleichnis ganz geeignet ift, die 
Wahrheit der veformatorifchen Lehre zu bezeugen und die Heili— 
gungsleute ins Unrecht zu fegen, wenn fie der Sache mir genauer 
nachdenken wollten. Gemwiß, durch die Erlöſung find alle Sünder 
frei und losgefprochen und gerecht vor Gott, wenn fie ſich Gottes 
Gnadenurteil im Glauben aneignen. Das ift der Gedanle, den 
Luther jo oft ausgefprochen hat, wo ev „gerecht und heilig“ mit 
einander verbindet, und der die religiöfe Stellung und 
Würde des Gläubigen bei Gott bezeichnet. Wenn damit 
aber, wie die Heiligungsbewegung will, gejagt fein ſoll, daß durch 
diefe religiöfe Befreiung auch fchon die fittliche Loslöfung von der 
Sünde gewonnen fei, der Gläubige alfo die Heiligung ſchon als 
ein fertiges Gut hingenommen habe, jo ift das eine völlig faljche 
Ausdeutung. Denn ift mit der Erklärung der Freiheit für den 
Stlaven und mit der Aneignung dieſes befreienden Losjpruchs 
feitens des Sklaven num auch mit einem Mal der Stlaven= 
finn bei dem, der bisher in Knechtſchaft gelebt hatte, 
geihmwunden? Das wäre nur zu jagen, wenn man mit der Heili— 
gung den Gedanfen einer mechanischen Umfchaffung aber nicht 
einer fittlichen Erneuerung verbände. Solche Gedanken aber 
geziemen fich für das Chriftentum als einer fittlichen Religion 
nicht. Vielmehr wenn durch das Gnadenurteil Gottes in der 
Rechtfertigung der bisherige Sündenknecht um Chrifti willen durch 


u. 


462 Elafen: Heiligung im Glauben. 


den Glauben veligiös frei geworben ift, jo beginnt num von da 
aus die freie Umbildung des Knechtsfinnes, die tägliche Losfagung 
von der Knechtögewohnheit und die Hinkehr zum Leben in der 
Freiheit Gottes und das ift die Heiligung als die auf Grund der 
Rechtfertigung fich vollziehende freie That der fittlichen Umbildung 
und Erneuerung im Glauben. Daß ich die Rechtfertigung, die 
Freiheit von Schuld und Sünde habe, das ift durch das frei— 
fprechende Urteil Gottes gefchehen, das ich mir durch den Glauben 
zu eigen mache; aber daß ich mum heilig werde, das geſchieht in 
der fittlichen Arbeit dev Selbftverleugnung and Weltübermindung, 
Es würde mir auch für die Heiligungsarbeit gar nichts helfen, 
auch nicht das, was die Heiligungsbewegung will, erreicht werden, 
nämlich ein größerer Ernſt in der Heiligung, wenn ich mir jagen 
dürfte: Gott hat div die völlige Heiligung eingegoffen, Chriſti 
Heiligkeit ift div durch) den Glauben zum Gigentum gejchenkt, 
fobald dies nämlich mehr bedeuten foll als Iechtfertigung, Freiſein 
dor Bott von aller Sündenſchuld; in diefem Sinne kann man 
jo fprechen, wie auch Luther gefprochen hat. Vielleicht mwirde 
bier fogar eher das Gegenteil von dem bewirkt, mas beabfichtigt 
iſt: file manchen bejtände die Gefahr, nachläffig und lau in ber 
Heiligung, wohl gar ficher zu werden; ev möchte etwa jagen: wo— 
zu foll ich denn noch nach der Heiligung ftreben; ich habe ja 
die völlige Heiligung fehon durch den Glauben empfangen. Aber 
auch fonjt würde durch diefe „völlige Heiligung durch den Glauben“, 
die wir ſchon für uns als vollbracht anjehen follen und die wir 
als ein vollendetes Fertiges jollen hinnehmen können, nichts evreichtz 
denn da fie doch auch hier nicht dem Menfchen mechanifch über— 
tragen, jondern durch den Glauben angeeignet werden foll, fo 
muß man fich hier gleichfalls an die zentvale fittliche Gefinnung des 
Menfchen wenden, wenn dev Glaube nicht ein blofes hiſtoriſches 
Fürwahrhalten und die „völlige Heiligung“ ein toter Schatz fein 
foll, der den, der ihn fich aneignet, innerlich ganz unverändert 
läßt oder doch laſſen kann. In der Heiligung kann es fich eben nicht 
wie in der Rechtfertigung um ein blojes Urteil über einen 
Buftand oder über ein neues göttlich geſetztes Verhältnis 
handeln; es handelt jich vielmehr um ein Bejtimmtwerden 


| 4 


Claſen: Heiligung im Glauben. 463 


des inneren Menfchen, das in fortgehender Entwidlung 
wirklich wird. 

Es zeigt ſich hier, daß es eim falfcher Gedanke, nicht bloß 
ein mißverjtändlicher Ausdruck ift: Heiligung durch den Glauben; 
es joll dadurch wohl nur das mechanifche Ueberziehen bezw. Ueber- 
zogenwerden mit dem Heiligfeitsfleide etwas gemildert werden. 
Anders iſt e3, wenn man mit Zuther fagt: Heiligung im Glauben; 
da liegt ſchon im Ausdruck ausgefprocdhen, daß. die Heiligung 
in einer fittlihen Thätigkeit wor fich geht, die nur immer im 
Glauben ihren Grund, ihre Kraft und ihre bejondere Art hat. . 
Daß übrigens in Ehrifti Tod und Nuferftehung die Macht der 
Sünde auch objektiv gebrochen iſt, jo daß wir ihr nicht mehr 
als Sklaven zu dienen brauchen, welcher Evangelifche hat das je 
geleugnet? Aber von diefer fchriftgemäßen Zuverficht ift bimmel- 
weit verfchieden jene Behauptung, daß wir dadurch auch ſchon 
fubjeftiv völlig heilig find und uns die „Heiligung" als eine 
fittliche Qualität übertragen ift und wir fie uns als etwas Fertiges 
zuvechnen dürften oder müßten. Alle Schriftitellen, die etwas 
Aehnliches auszufagen jcheinen, jagen in Wahrheit nur, daß wir 
in der Rechtfertigung auf Grund der zugerechneten Gerechtigkeit 
Ehrifti vor Gott als gerecht und heilig ſollen angejehen werden, 
ganz wie Quther oft fo beides verbindet; daß aber diefer unjerer 
veligiöfen Wertung vor Gott unſer thatſächlicher fittlicher Zu— 
ftand nicht entipricht, fomdern daß es zur Herftellung desjelben 
einer fortgehenden Heiligungsarbeit bedarf, das bezeugen alle die 
Schriftftellen, in denen die Heiligung al3 die Aufgabe dev Gläu— 
bigen bejchrieben wird, Wo Glaube wirklich iſt, wird die Er— 
füllung diefer Aufgabe auch mit Ernſt in Angriff genommen, nur 
lehrt die evangelifche Kirche, mit der Schrift und Luther, daß die 
Heiligung bier in dieſem Leben nie völlig wird, weil der Gläubige 
noch im Fleijche lebt, und ſo lange das ift, es immer heißen wird: 
der Geift ift willig, aber das Fleifch ift ſchwach, und: Wollen 
babe ich wohl, aber das Vollbringen des Guten, — die Vollkommen— 
beit, — finde ich nicht, im Sinne eines beftändigen, ſündloſen, 
lüctenlofen Thuns. Dabei hat die evangelifche Kirche niemals dieſe 
Schwäche des Fleifches als Entſchuldigungsgrund geltend gemacht, 


— 


464 Claſen: Heiligung im Glauben. 


ſondern ſie erkennt hier nur die Thatſache an, daß ein Zwieſpalt 
beſteht zwiſchen der durch Chriſtus befreiten, in der Rechtfertigung 
durch den Glauben gewordenen neuen Perſönlichkeit und den ein— 
zelnen Thaten dieſer Perſönlichkeit. Und hierin ſteht ſie in Ueber— 
einſtimmung mit Paulus — beſonders Röm 7 und Johannes in 
feinem erſten Brief, 

Wird nun aber die Heiligung nach empfangener Gnade als 
eine Aufgabe des Gläubigen bezeichnet, jo ift das nicht eine 
„traurige Abſchwächung von der freien, völligen, gegenwärtigen Er- 

. löfung und Heiligung in Chrijtus" und nicht eine Leugnung der 
„Freien Gnadengabe" und eine Behauptung eines „teilmeifen Ver— 
dienftes unferer Anftrengungen“ (S. 412), ſondern es ift — mit 
der Schrift — nur Anerkennung der fittlichen Freiheit des Men- 
ſchen und des fittlichen Charakters des Chriftentums und deſſen, 
daß der Chriſt „im Sinne des veligiöfen Glaubens nur das wirk— 
lich glauben kann, was in feinem eigenen Thun wirkſam wird“, 
daß wir alfo an unfere Erlöfung duch Chrijtus nur 
dann wirklich glauben, wenn wir aud an unferer Er— 
neuerung fittlic arbeiten. Das ſetzt die Verbindung von 
Religion und Sittlichkeit voraus, die wir doch im Chriftentum be- 
haupten bezw. nachweifen. Wäre das nicht jo, dann gäbe e3 
fein evangelifch-freies Chriftentum, fondern nur ein römiſch— 
gefeglich-atramentales, und Gottes Gnade wäre nicht eine zur Gitt- 
lichkeit erziehende Kraft, eine uns innerlich befreiende Wirklichkeit, 
fondern nur die Eingießung eines göttlichen Stoffs, von der es 
feine innerliche, fittliche Erfahrung und Gewißheit gäbe, ſondern 
nur eine Gewißheit, die auf Grund einer äußeren Autorität für 
wahr gehalten würde und die daher haltlos und wertlos märe, 

Auf den Borwurf der Heiligungsbewegung, daß die 
reformatorifche Lehre in die Heiligung wieder die Ver— 
dienftlichfeit des menschlichen Thuns einmifche, einzugehen, 
erübrigt fich bier, da nichts jo jehr bezeugt ift wie das Gegenteil 
alles Verdienftes; denn alles Thun in dem Werke der Heiligung 
wird von Anfang bis zu Ende immer auf Gottes Gnade in Chris 
ftus zurückgeführt. Aber diefe faljche Behauptung, daß jede Be— 
zeichnung der Heiligung als einer im Glauben zu löfenden 


4 


Glafen: Heiligung im Glauben, 465 


Aufgabe wenigftens teilweife die Heiligung zu einer Sache eignen 
Verdienſtes machen müfje, ift num die Konſequenz jener falſchen 
Auffafjung in den Heiligungskreifen, daß „mir die Heiligung nicht 
ſelbſt zu produzieren haben . . . wir haben fie im Glauben zu 
empfangen" (S. 415), fie iſt „ebenjo wie die Rechtfertigung durch 
das unabhängig und außer uns vollbrachte Werft Ehrifti" als eine 
„Thatfache zur gläubigen Annahme" durch uns und als „gegen- 
märtige bereitliegende Gabe" für uns vorhanden, Und weil dies 
angeblich der Fall ift, weil die Heiligung als ein fertiges, 
Völliges, durch Chriftus Vollbrachtes durch den Glauben an- 
geeignet werden fann, fo ift eben jene fündlofe Vollkommen— 
heit in diefem Leben möglich, die nach bisheriger Lehre hier 
nie erreicht werden fonnte, welche Annahme eben, wie man jagt, 
der „völligen Erlöfung durch Chriſtus“ Eintrag thäte, 

In diefem Gedanken, daß in der evangelifchen Lehre 
der „völligen Erlöſung durch Chriſtus“ nicht Genüge ge— 
Tchehe, kommt übrigens, mie auch font nicht jelten, eine theos 
Logifche Unklarheit und ein mangelhaftes ſyſtematiſches Verſtändnis 
zur Ausfprache. Man will offenbar damit das in jcheinbar 
befferer und vollfommenever Weife betonen, dem auf Anregung von 
Andreas Dfiander hin unfere Dogmatiker in der Zurechnung des 
aftiven Gehorfams Chrifti an uns einen Ausdruck zu geben ver: 
fuchten, daS fie aber doch nicht recht begründet haben, weil ihnen 
dev Begriff dev fittlichen Freiheit und des fittlichen Geſetzes noch 
nicht zur klaren Erkenntnis gefommen war. Wenn dann weiter 
unfere Dogmatiker die Unterfcheidung zwifchen dem Ehriftus für 
ung und dem Chriſtus in uns, die der modernen Heiligungs: 
bewegung gleichfalls nicht vecht behagt, gemacht haben, jo haben 
fie in der Sache durchaus recht. Denn wenn fie jagen, daß Chri— 
ſtus in uns unfere Heiligung fei, fo wollen fie damit nichts anderes 
verftanden wiſſen, als daß die Heiligung im Glauben gefchieht; 
wer den Chriftus für uns im lebendigen Glauben ergriffen hat, 
der giebt fich damit an Jeſus Chriftus fo völlig hin, daß er nicht 
mehr fich felbft lebt, jondern Ehriftus lebt in ihm und treibt ihn, 
in feinen Fußftapfen zu wandeln, und das ift dann eben die Hei— 
ligung. Diefe Faffung der Heiligung genügt aber diefer Heiligungs- 


466 Glafen: Heiligung im Glauben. 


lehre nicht; fie ift zu leer, nicht erfüllt genug, und daher fommen 
eben bei ihr wieder Ofiandrifche Gedanken zur Ausſprache, wenn 
auch nicht in der Tiefe diefes geiftreichen Theologen, wenn fie be- 
hauptet: „die biblifche Heiligung ſei ein Teilhaben an der Todes- 
und Auferftehungskraft Chriſti oder an Jeſu Heiligung“ (S.485). 
Dagegen die Ausfagen evangelifch-Firchlicher Dogmatiker, z. B. von 
Thomafius, „daß der Glaube zur Grundgefinnung nach der Necht- 
fertigung werde und fo heilige", wird getadelt, und doch wird die 
Sache hier durchaus richtig ausgedrückt. Man könnte es auch jo 
formulieren: in der Nechtfertigung durch den Glauben wird die 
neue Perfönlichkeit hergeftellt, die fich mehr und mehr zum chriſt- 
lich-fittlichen Charakter ausbildet, deffen ganzes Thun und Wirken 
den Stand in Lebensneuheit darftellt, troßden immer noch ein— 
zelne Thaten vorfommen, die dem deal der Heiligung nicht voll- 
kommen entjprechen. Und dieje jo gefaßte Begründung der Hei— 
ligung auf den Glauben und die Abwehr jener Gedanken von 
einer vealen Begabung mit Jeſu Heiligkeit, mag man e3 nun rö— 
mifch oder ofiandrifch oder ſonſtwie faffen, macht die Heiligung 
nicht zu einer „untröftlichen und kraftloſen Sache”, ſondern 
macht gerade erſt vecht „fleißig und Iuftig zu guten Werfen“. 
Diefe moderne Heiligungslehre fühlt fich gleichwohl berufen, die 
Fehler der Neformatoren zu verbefjern und was fie verfäumt haben, 
nachzuholen, Als einen befonderen Mangel Luthers und der Refor— 
mation ftellt fie «8 bin, daß man „als Hauptzwed und Haupt— 
erfolg der Erlöſung einjeitig Schuldvergebung und end— 
liche Errettung von der Höllein den Vordergrund geftellt“, 
aber nicht gezeigt habe, „wie der Chriſt nun auch in Jeſus Hei- 
ligungsfcäfte habe und hier auf Exden als ein Glied des Reiches 
Gottes in Herzensreinheit und gottwohlgefälligen inneren und 
äußeren Werken zu leben vermöchte" (S. 494). Aber ift ber 
Tadel berechtigt, daß die Neformatoren Sündenvergebung und 
ewiges, jeliges Leben als den Hauptzweck der Erlöſung in den 
Vordergrund geftellt haben? Ich gebe zu, daß die Neformatoren 
bei dem Zmwange, unter dem fie ftanden, nämlich die freie Gnade 
Gottes durch den Glauben der vömifchen Verdienſtlehre gegenüber 
ficher zu ftellen, nicht mit gleicher Klarheit und Beſtimmt— 





Claſen: Heiligung in Glauben. 467 


beit die Bedingungen des Werdens des neuen Lebens 
ins Licht gejtellt haben, aber das war ihmen bei dem leben— 
digen Begriff des Glaubens, den fie hatten, und bei ihrer 
Anſchauung vom ewigen Leben und der Geligfeit, die 
ihnen ein ſchon gegenwärtiges, nicht erft ein zufünftiges 
Önadengut war, ganz gewiß, daß einer, der Vergebung der 
Sünden und damit Leben und Seligfeit hatte, mit göttlichen 
Kräften im Glauben ausgerüftet war, die ihn zu einem Leben be— 
fähigten und mit innerer Notwendigkeit antvieben, in dem die 
Heiligungskraft Jeſu fich überzeugend und fiegreich darjtellte. Und 
gerade darauf fam es am, zu zeigen, wie das neue Leben in 
Gerechtigkeit mit Notwendigkeit und doc in Freiheit 
werde, nicht darauf, durch eine vermeintliche Begabung mit oder 
Aneignung von Jeſu Heiligkeit den Glauben zu erweden, daß 
man heilig fei. Und jedenfalls ift die Vewollftändigung, die die 
Aeiligungsbewegung für dieſe behauptete Lücke dev Reformation 
bietet, feine glückliche. Denn die „völlige Heiligung“, die 
„ſündloſe Bollfommenheit durch den Glauben” ift ein 
Wahn, der weder die Schrift noch die Erfahrung für fich hat 
und nur alte Irrtümer erneut, 

Als ein meiterer Mangel wird es hingeftellt, wenn die 
evangelifche Kirche die Heiligung als das allmähliche 
Vernenertwerden durch tägliche Reue und Buße, nad) 
den beiden Seiten der immer völligeren Abkehr von der Sünde 
und der immer freneren Hinkehr zu Gott, beides im Glauben, 
darjtellt. Das ſei direkt gegen die Schrift; „die Apoftel und die 
erjten Ehrijten haben nichts davon gewußt, daß alle Gläu— 
bigen täglich jündigten“ und darum täglich der Buße be 
dürften — ©. 493 — vielmehr ftand es ihnen feit, daß fie 
„Heiligungsgnade und Sieg hätten“ (S. 496). Dies letztere kann 
ja einen richtigen Sinn haben; aber in diefem rechten evangelifchen 
Sinne kann es hier nicht verftanden werden, da behauptet wird, 
daß „der Gläubige völlig heilig und volltommen fein könne in 
äußeren und inneren Werken“. Ganz abgejehen noch von der 
Frage nach der Möglichkeit der ſündloſen Vollkommenheit — 
ftimmt diefe tägliche Reue und Buße nicht trefflich damit, wenn. 





























188 Gtafen: Heiligung im Glauben, 
Jeſus feine Jünger die fünfte Bitte beten lehrt, ı 
zuruft: wachet und betet, der Geiſt iſt willig, a 
ſchwach; wenn in dev Schrift die Gläubigen im 
völliger zu werden, und dies Wachfen in dev. 
bußfertiges Abſterben fich jelbft und der Welt und 
leben für den Herrn bejchrieben wird? 
ſich erweiſen laſſen, daß die Schrift von einer tägli 
Buße nichts wiffe; und auch die chriftliche Erfahrung 
Behauptung nicht zu Hilfe; denn gerade die größten & 
Frommen haben es befannt, daß fie täglich fündigten 
im Glauben Buße thun müßten. Und ich fürchte 
‚Heiligungsbewegung, wenn ſie weiter dieſen teformaton 
danken fchelten und als irrig und gefährlich —— 
Früchte bei ſich ſelbſt erleben wird. 
Was ſonſt noch gegen die evangeliſche Lehre von d 
vorgebracht wird, beruht meift auf Mißverftand und M 
wiſſenſchaftlichem Unterjcheidungsvermögen, wie mix jchein 
So, wenn behauptet wird, daß der Satz, der Chriſt 
fih im Glauben heiligen, der Gnade Gottes zu 
träte und wieder ein menjchliches Berdienft 
Aber ich frage: wo wird die Gnade Gottes mehr g 
man es ihre zutvaut, daß fie den Gläubigen, eben in 
Gott gemirkten Glauben, zum freien Thun des Guten 
eiftig macht, oder wo, wie in der Heiligungsbewegung, 
nach Art einer mechanifchen Kraft wirken läßt, die den 
mit einer Heiligkeit ausftattet, die nicht in ihm und 
geſchieht, fondern ihm gleichfam angethan wird, und wo 
liche Freiheit verloren geht? Es liegt hier ein offenbarer 
an wijjenjchaftlicher Genauigkeit vor. Die Gnade als al 
wirkende Urjache hat ihre Stelle in der Lehre von 
Rechtfertigung oder Wiedergeburt; in der Lehre 
Heiligung oder Belehrung aber hat die Fr 
Menfchen, der durch die Gnade Gottes beit 
jeinen Pla und jein Recht. Bon der gleichen Un 
Verwirrung zeugt e8, wenn Jellinghaus ©. 506 
ue Teſtament weift die Gläubigen in Bezug auf ihre Hei 







er 


Claſen: Heiligung im Glauben. 469 


nicht am ihre eigene Liebe, noch viel weniger an ihre tägliche Buße, 
fondern an Ehrifti Tod und Auferftehung.“ Oper ift das nicht 
eine ganz unklare und verwirrende Nedemeife, klar nur darin, 
um erkennen zu lafjen, daß man in jenen Kreifen den Unterjchied 
und das Verhältnis von Nechtfertigung und Heiligung nicht ſcharf 
genug faßt? Und verwirrend ift die Redeweiſe. Denn in gewiſſem 
Sinne fann jeder Evangelifche dem Sat; zuftimmen, ſofern fveilich 
auch in der Heiligung dev Gläubige fich nie auf jeine Liebe und 
jeine Buße verläßt, ebenfowenig, wie er ſich in der Rechtfertigung 
auf jeinen Glauben verläßt. Aber das ift gar nicht Zweck und 
Tendenz dieſes Satzes; das vielmehr will er durch den Gegenſatz, 
„ſondern auf Chriſti Tod und Auferftehung” ausfagen, daß die 
Heiligung nicht eine im Glauben an Chriftus zu vollziehende jort- 
gehende Aufgabe der Gläubigen ſei, ſondern eine durch den 
Glauben an Ehrifti Tod und Auferjtehung empfangene Gabe des 
Herrn, eim leberfleidetwerden mit Ehrifti Heiligkeit. Denn fo 
fährt Jellinghaus fort: „es wird von den Apofteln immer ges 
lehrt, daß die Heiligung ebenfo wie die Sündenvergebung durch 
den Glauben an Ehrifti Tod und Auferftefung erlangt umd be— 
wahrt und gewahrt werde . . . da die Heiligung und der Wandel 
in der Gerechtigkeit nicht ein gejegliches Ringen durch eigene 
Kraft, fondern durch den hingebenden Glauben an Chriſtus er- 
reicht und bewahrt werden". Auch hier wird ja wieder Wahres 
und Faljches verwirrend zufammengemifcht, aber deutlich tritt 
doch auch hervor, daß Rechtfertigung und Heiligung in einander 
gemengt werden. 

Die eigentliche Tendenz der ganzen Heiligungs— 
bewegung wird ausgejprochen, wenn man Süße lieft wie 
den: „es ift unbiblilch, wenn man die Sündenvergebung 
und Rechtfertigung als die höchſte Stufe im Chriſten— 
tum darftellt" (S. 523). Es handelt fich darum, ficher in 
guter Abficht, die Heiligung mehr hervorzuheben; man will dabei 
die Nechtfertigung nicht ſchädigen; und doch geſchieht es. Ber 
zeichnend ift e8, daß Hengſtenberg wegen feiner legten Artikel 
über die Sünderin und den Jakobusbrief gelobt wird; ev babe 
da „der lutheriſchen Kirche ins Gewiſſen geredet". Der Weg, 


470 Elafen: Heiligung im Glauben. 


den man einfchlägt, um der evangelifchen Ebriftenheit ein ernſt— 
licheres, eifrigeres Heiligungsftreben und Leben nahe zu bringen, 
ift ein ſehr bedenklicher Weg; man irrt von der Linie evangelifcher 
Wahrheit ab. Auch die Abficht, die man fundgiebt, daß man 
durch die neue Heiligungslehre der werkgeſetzlichen „Heiligung aus 
eigener Kraft“, der vationaliftiichen „Selbftheiligung“ begegnen 
wolle, ift ja löblich: aber es will mic fcheinen, als ob die an- 
gewandten Mittel diefem Zweck wenig entiprächen und als ob die 
bejondere Ausprägung und Geftaltung diefer neuen Lehre, näm— 
lich Heiligung ebenjo wie Rechtfertigung durch den Glauben an- 
geeignet, doch es deutlich machte, daß man eigentlich auf ein 
anderes leßtes Biel hinauswolle, nämlich darauf, dem Gläu- 
bigen eine fündloje Bollfommenheit zufprechen zu können. 
Hierfür feheint die neue Heiligungslehre dev nötige Unterbau fein 
zu follen. Daß e3 hierauf in Amerifa und England mit ber 
neuen Bewegung vielfach abgeſehen ift, evfcheint glaublich; jeden— 
falls war das, was an Pearſall Smith, trotz feiner erwecklichen 
und and Herz greifenden Art, die treuen evangelifchen Kreife am 
meiften von ihm zurückhielt, wohl gar abſtieß, jene Lehre von 
der Volllommenheit, von dem Nichtmehrfündigen, ja 
jogar von dem Nichtmehrjündigen können, die er gelegent- 
lich ausſprach. Unzweifelhaft drücken fi) ja die nüchtermeven 
Vertreter diefer Richtung hier vorfichtiger aus; gleichwohl juchen 
fie aus der Schrift und durch andere Gründe die Möglichkeit 
des Nichtmehrfündigens und des Nichtfündigenkönnens 
zu ermeifen. Es ift allerdings eine oft merkwürdige Exegeje und 
ein munderliches Hin und Her und eine Wortklauberei eigener 
Art, wenn der Verfuch zu diefem Beweiſe gemacht und dann 
doch zum Teil wieder zurückgenommen wird, was eben behauptet 
war. Auf das Einzelne kann bier nicht näher eingegangen werden, 
Eine ganz befondere Note empfängt wieder Luther für 
fein Wort: „die wir täglich viel fündigen®. Dies Wort 
bedauf einer „gründlichen, warnenden Erklärung, wenn es nicht 
als ein miderbiblifcher Ausdrut große Verwirrung in ben Ge— 
wiſſen anrichten joll“ (S. 559). Denn „es ijt das Vorrecht des 
Ehriften, nicht mehr fündigen zu müffen,“ wie ſich Jelling— 





Claſen: Heiligung im Glauben. 471 


haus vorfichtig ausdrückt, obwohl er dann in einem ganzen langen 
Abſchnitt über die Möglichkeit des Nichtjündigens handelt. Da 
werden dann merkwürdige Auslegungsfünfte bei Beſprechung der 
bekannten Stellen aus dem erſten Fohannesbrief angewendet; hier 
fommt er dann auch auf das „täglich fündigen“ Luthers zurück 
und will ihm die Auslegung geben, daß es nicht der Ausdruck 
für die Erfahrung des zarten Gewiſſens ift, fondern daß es bes 
deuten folle, daß wir täglich zu fündigen erwarten müßten und 
daß wir angewiejen würden, dieſen Zuftand des täglich 
Sündigens für richtig und normal zu halten. Uebrigens 
kommt Jellinghaus ſchließlich felbft beinahe darauf hinaus, 
daß das Nichtmehrjündigen ſoviel bedeute wie „nicht mehr unter 
der Herrichaft dev Sünde leben“. Das wäre ja dann eigentlich 
die evangelifche richtige Anfchaunung. Wer gerecht gemorden ift 
aus Gnaden und fo ein chriftlicher Charakter ift, verliert dieje 
Eigenfchaft und Grundftellung zu Gott nicht fofort, wenn er aus 
Schwachheit in eine Sünde fällt. Daß man aber als ein Ehrift 
nicht bewußt abfichtlich fündigt und fich nicht irgend eine Sünde 
vorbehält und dies Sündigen nicht mit der Verſöhnung und Necht- 
fertigung um Chriſti willen entjchuldigen oder zudecken kann, als 
ein Heuchler, verſteht ſich Doch von ſelbſt, und darüber ift fein Zwie— 
fpalt. Wenn nun aber dennoch Jellinghaus, troßden er felbft 
es als ivrig bezeichnet, wenn andere Vertreter der neuen Heiligungs- 
methode die Möglichkeit des Nichtmehrfündigens behaupten, der 
evangelifchen Lehre den Vorwurf macht, fie habe nicht vecht zum 
Ausdrud gebracht, was in dev Schrift von dev Heiligung jtehe, 
fie habe den jo nötigen, biblijchen Begriff von der „völligen Heili— 
gung" nicht gebildet und dies müſſe jetzt nachgeholt werden, woher 
das? Daher, weil eben Yellinghaus ganz wie die übrigen Ver— 
treter dieſer Lehre unter der „völligen Heiligung durch den 
Glauben" jene Begabung mit volllommmener Heiligkeit, 
jene durch ven Glauben angeeignete Eingießung der Heili— 
gungskraft Jeſu Ehrifti verjteht, deren richtige Konſe— 
quenz allerdings der Wahn jündlofer Bollfommenbeit ijt, 

Andere haben fich auch weniger zurückhaltend über die Mög— 
lichkeit des Nichtjündigenfönnens umd der findlofen Vollkommen— 

Beitfchrtft für Theofogte und Kirche. 10. Jahrg., 8. Heft. 32 


472 &lafen: Heiligung im Glauben. 







heit ausgedrückt. Sie reden von einer „neuen Taufe in den Tod 
Ehrifti, wodurch die Sündenmatur ganz und plölich zerftört wird“, 
von einer „Wirklichkeit der inneren Ummandlung und dem Eintritt 
in die Vollkommenheit und völlige Heiligung“, und fie behaupten, 
daß es möglich fei, auf eine Stufe zu kommen, wo das Sündigen 
zu einer Unmöglichkeit wird. Sp weit geht Jellinghaus vor— 
fichtigermeife nicht; aber dennoch — bier zeigt fich fein Schwanfen, 
wie die faljche Theorie ftärter ift al3 fein hriftliches Empfinden — 
die Möglichkeit des Nichtfündigens, die Fähigkeit, bei allen An— 
fechtungen und Berfuchungen, bei aller natürlichen Sindhaftigkeit 
und dem Verbleiben de3 alten Naturgrundes, doch reines Herzens 
zu fein und zu bleiben und von aller Verunreinigung der inner— 
lichen böfen Luft und der gelüftenden Gedanten und Gemüts- 
bewegungen frei bleiben zu können, das behauptet und [ehrt doch 
aud ev (S. 564). Es ift das eine fehr gefährliche Lehre, Die 
fchon manchen „Heiligen“ in Not und vielleicht fchweren Fall 
gebracht hat; es ſteckt etwas Gnoftifierendes in ihr. Wohl wird 
bier wieder, wenigjtens von Jellinghaus, vorfichtig bemerkt, 
daß „es ſchwierig umd bedenklich fei, über diefes Nichtjündigen, 
diefe Bewahrung vor der Sünde etiwas genauer beftimmen zu 
mollen, al3 die Bibel es thut“ (S. 565). Iſt das nicht in ges 
wiſſer Weife ein Anerfenntnis, daß die Bibel vom Nichtjündigen 
und Nichtmehrfiündigenkönnen tiberhaupt nichts jagt, und daß man 
angefichts von Stellen wie I Joh 3 19-21 (wenn ums unfer Herz 
verdammt, ift Gott größer als unſer Herz), I Joh 17 (jo wir 
fagen, wir haben feine Sünde), Phil 3 12-15 (ich habe es noch 
nicht ergriffen) u. U. darüber auch eigentlich nichts erwarten 
darf? ES will mic fcheinen, als ob, wie bereit® angedeutet, 
Sellinghaus felbjt Fein vechtes Zutvauen zu diefer „Möglich- 
keit des Nichtfündigens" hat, zumal er ſich — ©. 566 — darauf 
zuvüchzieht, daß „nach der Schrift" „der wahre Ehrift immer 
wieder zum Bewußtſein eines reinen Herzens und zur Freudige 
feit vor Gott nach ſolchem inneren Gefühl — es kann nur 
das Gefühl der Sündhaftigkeit gemeint fein — durchdringen 
ſoll.“ Hiergegen wird feiner, dev von Vergebung der Sünden 
und von Chriftus als dem währenden Mittler etwas weiß und 


Glafen: Heiligung im Glauben. 473 


der fich ſelbſt ſchon durch Röm 8 aufgerichtet hat, etwas ein 
zuwenden haben. 

Was dann — ©. 566ff. — in praktifcher Anmeifung gefagt 
wird, wie dev „mach einem veinen Herzen hungernde Chriſt“ fich 
verhalten foll, ift gut und erbaulich; aber es ift nichts Neues und 
Beſonderes und erfcheint nur als ein Rückfall in die Lehre 
und Praxis der evangelifchen Kirche, wonach die Heili- 
gung als eine Aufgabe und als ein Thun des Gerecht— 
fertigten im Glauben zu faſſen ift. Aber eben hievgegen 
ift vorher geeifert und gerade dies ift als eine rüdjtändige 
Anſchauung bezeichnet. Und wenn dann zugeftanden wird, 
daß auch dev geheiligtfte Chrijt nie von Schwachheiten frei wird 
und daß der Ausdruck „gänzliche Heiligung des Gläubigen“ bei 
Pearſall Smith u. U. ein „gewagter Ausdruck“ ſei und daß 
man lieber nicht mit Wefley u. A. von „vollfommener Heilig- 
feit" reden folle, was iſt daS eigentlich anders als das Bekennt- 
nis, daß es feiner dazu bringt, nicht zu fündigen und daß doc) 
Dr, Luther mit feinem „täglich fündigen“ nicht unvecht hat? 
Nun, warım bleibt Jellinghaus, bei diefen nachträglichen Zu— 
geitändniffen, die das Frühere zurückzunehmen fcheinen, nicht dann 
einfach bei der evangelijchen oder jagen wir Lutherjchen Heiligungs- 
lehre? Darum nicht, weil auch er, gewiß in heiligem Eifer für 
einen größeren Ernſt in der Heiligung umd im Schmerz über die 
„Kraftlofigkeit der Gläubigen im Heiligungswandel” die freilich 
auch nach feinem AZugeftändnis von der Schrift nicht deutlich 
bezeugte Scheidung zwifchen zwei verfchiedenen Arten 
der Heiligung, der erjten mit der Rechtfertigung not— 
wendig verbundenen und dev „zweiten tieferen und 
gründlicheren Heiligung im Fortfchritt des Ehriften- 
wandels“ nicht laffen mag (S. 645—646), Und das ift 
wieder ein Fatholifierender Gedanke, noch mehr jveilich ein metho— 
diftifcher. 

Zufammenfaffend ift aljo zu jagen, daß diefe mit großen 
Anfprüchen und jelbftberwußter Kraft und unleugbar in befter 
Abficht auftretende Heiligungsbewegung das richtige Verhältnis 
zwifchen Rechtfertigung und Heiligung zerftört, fofern fie als das 

32* 


[ 


474 Glafen: Heiligung im Glauben. 


eigentliche Ziel der göttlichen Erlöſungsthat die reale Heiligkeit 
der Erlöften hinftellt und die Nechtfertigung, obwohl fie Dies 
leugnet, zu einem bloßen Durchgangspuntt macht, oder doch hinter 
die Heiligung zurücktreten läßt. Weiter wird die Heiligung — 
Katholifierend — als die Begabung mit der vollfommenen Heilig- 
feit Jeſu Ehrifti und als ein für allemal fertiges Gut aufgefaßt, 
das völlig und ganz, ebenjo wie die Nechtfertigung oder Simden- 
vergebung durch den Glauben, d. h. die vollfommene Hingabe 
an die Kraft des Todes und der Auferftehung Jeſu Ehrifti er- 
langt wird, und zulegt wird von den fonjequenten Vertretern — 
enthufiajtijch-methodiftijch — behauptet, daß die ganze völlige 
‚Heiligung, die fündlofe Vollkommenheit, ja das Nichtmehrfündigen- 
können jchon in diefem Leben erreichbar fei. 

Als einen dritten Mangel im der altproteftantiichen Lehre 
von der Heiligung, durch welchen eine Zerfegung diejer Lehre 
eintreten fonnte, bezeichnete ich die Trennung von Glauben und 
Gabe des heiligen Geijtes und zwar meine ich das jo: Luther 
batte Rechtfertigung durch den Glauben und Heiligung aufs innigjte 
verbunden, und im Glauben, durch den die Rechtfertigung an- 
geeignet wird, den Antrieb zur Heiligung gleich mit gejeßt gefehen. 
Daneben hatte er freilich, im Anſchluß an paulinijche Formeln, 
auch jo gevedet, als ob die Heiligung auf eine befondere, gleich- 
fam zweite Wirkung des heiligen Geiftes, mach der erften im 
Weckung des Glaubens zur Rechtfertigung, zurückzuführen fer. 
Und diefe zweite Darftellung wurde nun für die dogmatijche Lehre 
maßgebend. Die Rechtfertigung erfolgte nad) ihr dazu, um bie 
Gemwifjen der Sünder zu beruhigen; war das gejchehen, jo folgte 
nun die eigentliche Gabe des heiligen Geiftes nach, um die Gerecht⸗ 
fertigten in den Stand zu jegen, Gottes heiliges Gejeß zu erfüllen 
und im heiligen Wandel ihm den jchuldigen, Dank abzuleiten, 
Hier war alfo eine gewiffe Trennung zwifchen dem Nechtfertigungse 
glauben und der Gabe des heiligen Geiftes, die die Heiligung, 
ermöglichte, gejest.. Das kam daher, daß man fich durch Die 
verschiedene Betrachtungsweife der Schrift irreführen ließ, die die 
Rechtfertigung als durch den Glauben angeeignet darjtellt, das 
Brüchtebringen im Glauben aber meiſt auf den Geijt Gottes 








Claſen: Heiligung im Glauben. 475 


zurückfülhrt — Röm 81410 Gal 535 Röm Seaıs Epheſ 58 
Kol 3 12—14 u. |. w. Anderſeits war bald der Glaube als eine 
Wirkung des heiligen Geiftes hingeftellt — Joh 14 20f. 16 18—14 
I Kor 1239 Röm 1017 bald dem Glauben der heilige Geijt 
als Kraft des Lebens verheißen — 3. B. Gal 3a; u 40. — 
Doc, das ift fein Zwieſpalt; thatjächlich fallen Entſtehung des 
Glaubens und Gabe des heiligen Geijtes zufammen, wie 3. B. 
Paulus Ephej 1 13 ausdrüclich jagt: in Chriftus wurdet ihr 
gläubig und jo wurdet ihr verfiegelt mit dem heiligen Geift der 
Verheißung; der Gedanke ift überall, daß der Glaube durch den 
heiligen Geift zu ftande fommt und daß eben dadurch der heilige 
Geiſt im Gläubigen die wirkfame Kraft ift und immer mehr wird. 
So kommt es zur Heiligung, die demnach ebenjo als die Wirkung 
des heiligen Geiftes wie als eine Bethätigung des Glaubens, als 
Leben im Glauben bezeichnet werden kann. Wenn aber die 
Dogmatifer die obengenannte Unterfcheidung vornahmen, fo 
entjtand thatfächlich eine Aluft, die dann Neuere jo oder jo aus- 
zufüllen fuchten, teils daß fie Rechtfertigung und Heiligung mehr 
oder weniger identifizierten, teils daß fie den eigentlichen Zweck der 
Rechtfertigung, ja der ganzen göttlichen Heilsoffenbarung in der 
Heiligung ſahen, teils daß fie zwar, wie es mit Luther angezeigt 
ift, dem Glauben eine centrale Bedeutung gaben, aber dann doch 
mit dem Satz „Heiligung durch den Glauben“ wieder die Sache 
verkehrten. Geholfen wird hier nur, wenn man Glaube und 
heiligen Geift in die allevengfte Verbindung ſetzt bezüg- 
lich ihres Werdens und Wirkens im Menfchen, daß aljo 
mit der Geburt des Glaubens auch zugleich der heilige Geift 
gegeben wird und daß, was als durch den Glauben angeeignet 
und gewonnen in der heiligen Schrift genannt wird, nämlich 
die Nechtfertigung, auch zugleich als der Ausgangspunkt für das 
durch den heiligen Geijt gewirkte neue Leben erfannt wird. So 
lange aber dieje Trennung, wenn auch nur logiſch, nicht einmal 
zeitlich, zwifchen Glaube und Gabe des heiligen Geijtes an— 
genommen wird, wie bei den alten Dogmatikern, liegt die Gefahr 
vor, ſowohl die Einheitlichteit als die Selbſtändigkeit des 
Ehriftenlebens zu ſchädigen. * 





Fu 


476 Claſen: Heiligung im Glauben. 


Zuerft die Einheitlichteit. Soll das religiöfe Leben, die 
Friedensftellung bei Gott duch den Glauben an Jeſus Chriftus 
zu ftande kommen, dagegen das fittliche Leben durch einen be 
fonderen, noch nicht an fich im Glauben liegenden Impuls gewirkt 
werden, jo muß und wird man zulegt auf den Abweg kommen, 
Religion und Sittlichkeit zu fcheiden, bezugsmeife für fie befondere 
Gebiete in Anfpruch zu nehmen und fehließlich eine veligionslofe 
Sittlichkeit zu behaupten. Denn daß bei der alten dogmatifchen 
Scheidung es immer der heilige Geift war, der zuerft dem 
Glauben und durch den Glauben die veligiöje Gemeinfchaft mit 
Gott wirkte, und dann in einer zweiten befonderen Wirkung das 
fittliche Leben, das wird von dem modernen Humanismus und 
Kulturismus und der ethifchen Bewegung gar leicht überjehen, 
und es wird an die Stelle des heiligen Geiftes der Menfchen 
eigener Geijt, ihre Vernunft und ihr fittlicher Wille gefest, der 
das Gute aus fich thut umd aus eigener Kraft zu thun fähig 
it. Diefer Abweg wird unmöglid, wenn das Thun des 
Guten als ein Sichauswirken des vom heiligen Geijt 
gewirkten Glaubens und als eine Bewährung der 
religiöfen Stellung zu Gott nachgewiefen wird und 
wenn im Glauben als der vertrauenden Hingabe an Gott durch 
Ehrijtus die gehorfame Hingabe in den göttlichen Willen zugleich 
als die Bethätigung fittlicher Freiheit erkannt ift, 

Aber auch die Selbjtändigfeit des Chrijtenlebens wird 
allein durch dieje enge Verbindung von Glaube und 
heiligem Geift gewahrt. Wird die Heiligung auf eine befondere, 
nicht im Glauben vermittelte Wirkung des heiligen Geiftes zurück 
geführt, jo wird, gegenüber der Uebermacht des heiligen Geiftes 
der Ehrift aus einem in Freiheit fich hingebenden Organ 
des Geiftes zu einem bloßen Gefäß desjelben, das von 
bimmlifchen Heiligungskräften erfüllt wird und ihnen gemäß 
handeln muß, nicht in freier Zuftimmung fondern gezwungen. 
Dann ſcheint allerdings nichts anderes übrig zu bleiben als 
jene Lehre der Heiligungsbewegung, die in der Heiligung, 
nicht das fortgehende Wirken einer in Liebe ſich frei hingebenden 
Berfönlichkeit jehen, jondern darunter eine Ausftattung mit vealer 





Glafen: Heiligung im Glauben. 477 


Heiligkeit verftehen will, die dann freilich auch nur wie die Necht- 
fertigung durch den Glauben als ein fertiges Ganzes kann ans 
geeignet werden. Aber dadurch wird dann das fittliche Handeln 
des Chriften dem Gebiet der freifchaffenden Thätigkeit 
entnommen und e8 wird zu einen reinen Wirken des heiligen 
Geijtes in ihm, fei es auf mechanische oder myſtiſche Weife oder 
ſonſtwie, umd es verliert eben damit den Charakter der Selb: 
ftändigfeit und damit des Sittlichen überhaupt, und das Gefühl 
Tittliher Verantwortlichkeit wird gelähmt. 

Auch das muß zulegt als ein Mangel an der Lehre von der 
‚Heiligung bezeichnet werden, daß die Heiligung zu jehr als 
ein ijoliertes Thun aufgefaßt wurde und man nicht genug 
beachtete, daß die pofitive Seite vornehmlich, aber auch die negative 
nur innerhalb des Gemeinfchaftsfebens verwirklicht werden kann. 
Auch ſchon die negative Seite der Heiligung, das Abjterben der 
Sünde, das Extöten des alten Menfchen, der Kampf der Selbft- 
verleugnung gegen das eigene alte Herz und feine Gelüfte kann 
nur vecht im Bufammenleben mit anderen durchgeführt werden. 
Denn gerade im Zufammenfein mit anderen bier in diefer Welt 
wird der alte Menſch, d. h. die Selbjtjucht lebendig gemacht und 
genährt; aljo fann auch allein in dem Zufammenleben mit 
anderen die Selbftfucht in vechter Weife erfannt und dann 
auch befiegt werden. Noch viel mehr freilich gilt das für die 
pofitive Seite, für das Aufleben fir Gott und das Gute. Worin 
wird das bejtehen und wie wird es fich darftellen? Ganz kurz 
in der Nachfolge des allein Heiligen und darum als ein 
Leben in der Liebe. Man wäre nie darauf verfallen, die 
Heiligung auch innerhalb dev evangeliſchen Kirche vornehmlich als 
Gehorjam gegen die einzelnen Gebote, als ein Leben im Gejeb, 
als Gejegesgerechtigkeit, als Wandel in äußerlicher Ehrbarkeit zu 
bezeichnen, wie das in kraſſer Form in der Zeit des Nationalis- 
mus gefchah, fondern man hätte vielmehr Gewicht davauf gelegt, 
daß es bei der Heiligung zuerft und vor allem auf die 
Gefinnung d. h. auf die wahrhafte Liebe, auf die chriſt— 
liche Duchbildung des Charakters zu lauterer Liebes- 
gefinnung anfäme, wenn man nicht die Heiligung zu [ 





478 Glafen: Heiligung im Glauben. 





ein individuelles, ifoliertes Thun des Gevechtfertigten angefehen 


und mehr bedacht hätte, daß fich wirkliche Heiligung nur voll 
und ganz in der Gemeinfchaft und zwar im ihrer höchften Blüte 
in der Gemeinfchaft des Neiches Gottes auswirken könne. Das 
batte die alte Dogmatik nicht genug beachtet; die neuere hat das 
ja mehr gethan, und darum pflegt ſie mit Recht die Lehre von 
der Heiligung zum überwiegenden Teil in der Ethik zu behandeln, 
ſofern doch die Ethik nicht bloß das Werden der chriftlichen 
Perſönlichkeit dayzuftellen hat, Tondern vornehmlich auch das Leben 
und Handeln derfelben und zwar innerhalb der verfchiedenen 
Zebensgemeinfchaften und Ordnungen, in denen der Chriſt ich 
als ein Kind Gottes in der Liebe bethätigen foll. 


8. 

Nach den bisherigen mehr gefchichtlichen und kritiſchen Dar— 
legungen ift nun dev Verſuch zu machen, eine evangelifche Lehre 
von der Heiligung aufzuftellen, durch die einerfeitS die Mängel 
der altproteftantifchen Lehre gehoben und anderfeits die durch die 
letztere mehr oder weniger veranlaßten Abirrungen vermieden 
werden. Ihr Kennzeichen muß fein, daß einmal das richtige Vers 
hältnis zwifchen Nechtfertigung und Heiligung bewahrt, d. b, 
ebenſo ihr Unterfchied wie ihre rechte Verbindung aufgezeigt wird, 
und daß jodann ein Begriff der Heiligung gewonnen wird, der 
geeignet iſt, ſowohl das fittliche Leben des Chrijten in voll 
fommener Weiſe zu requlieven, als auch jeine Heilsgewißheit uns 
angetaftet und ungejchädigt zu laſſen. Beides gejchieht, wenn Die 
Heiligung mit Luther als Heiligung im Glauben begriffen wird, 

Es ift evangelifche Grundanfchauung, daß der eigentliche Hebel 
im Chriftenleben der Glaube it. Selbftverftändlich nicht irgend 
ein beliebiger Glaube, auch nicht das Glauben, jondern der 
Glaube. Wenn wir als evangelijche Chriften das Wort Glaube 
gebrauchen, fo wiſſen wir aus Luther und unjeren Bekenntniſſen, 
bejonders der Npologie, daß Glaube und Verheigung Kovrelate 
find; wir ſetzen aljo mit dem Wort Glaube immer fein Korvelat 
als feinen Inhalt mit, und diefer Inhalt der Verheißung ift kurz 
Vergebung der Sünden um Chriſti willen, noch kürzer Chrijtus 


* 


Claſen: Heiligung im Glauben, 479 


(Apolog. II, 50 ff.) Spreche ich alſo als evangelijcher Ehrift vom 
Glauben, fo ift das nicht ein bloß formaler Begriff, fondern e3 
ift damit immer jein Objekt, d. h. der in Ehriftus uns Siündern 
gnädige Gott mit genannt, Glauben heißt aljo, Jeſum Ehriftum, 
den Sünderheiland, in herzlichem Vertrauen ergriffen haben und 
durch ihn mit Gott eins geworden fein. Diejer Glaube jteht nun 
in dev Mitte zwifchen Rechtfertigung und Heiligung, diejen beiden 
Seiten des Ehriftenlebens, der religiöfen und der fittlichen Seite; 
in ihm, als dem geiftigen Leben dev chriftlichen Perfönlichteit, 
werben dieſe beiden Seiten zur Einheit mit einander verbunden; 
in ihm fönnen beide Seiten nur wirklich werden im Menfchen. 
Durch den Glauben al8 Vertrauen, daß Jeſus Chriſtus 
für mich ift und mich bei Gott in Gnaden verjeßt, werde 
ich meiner Rechtfertigung gewiß; es ift nur unter einem 
andern Gefichtspumkt angefchaut, wenn ich diejelbe Thatſache 
fo ausdrücke, daß ich durch den Glauben die Gemißheit 
babe, daß mein Chriftenftand nicht mein Werk, fondern 
das Refultat einer göttlichen Wirkſamkeit ift, für welchen 
Thatbeftand die Schrift und, wenn auch nicht die alten Dog— 
matifer, jo doch ſehr häufig Luther mit der Schrift den Aus— 
druck Wiedergeburt gebraucht; alfo Rechtfertigung gleich 
Wiedergeburt. Und in dem Glauben, eben als Bemußtjein, 
von Gott wiedergeboren oder durch Ehriftus vor Gott gerecht und 
eine nene Kreatur geworden zu fein, liegt ebenfo der Antrieb 
wie die Kraft, fich dem Gott, der mich angenommen hat, 
zuzuwenden und ihm in einem neuen Leben zu dienen, 
das, was die Schrift und ebenfo häufig auch Luther Bekehrung 
nennt, Dieſe tägliche, fortgehende Hinkehr zu Gott, die eben da— 
mit auch Abkehr von der Sünde ift, die auf Grund der Wieder- 
geburt gefchieht und als eine That des Glaubens ſich darjtellt, 
iſt Heiligung im evangelifchen Sinn, alfo Heiligung gleich 
Belehrung. 

Ich habe im Vorhergehenden Rechtfertigung und Wieder- 
geburt, Heiligung und Belehrung gleichgefeßt. Bas ijt 
biblifch und veformatorifch berechtigt, wenn man auf bie 
Sache fieht und fich von irreführenden dogmatifchen Defini 

































N 480 Clafen: Heiligung im ( 


ı die althergebracht find, frei macht. Denn 9 
boch jenes göttliche Thun, wo aus einem de 
wird; angeeignet wird dies göttliche Urteil 
es wird ung durch den Glauben innerlich gewiß, 
bezeichnet num dieſen felben Vorgang, nur nicht 
Refultat als auf den Vorgang felbft gefehen, wie 
wußtfein des Gläubigen daritellt, ſofern der 
ift, daß fein Gnadenjtand auf einem — 
der neue Sinn und Mut, den er zu Gott hat, in 
Wirken ſeine Wurzel hat. Heiligung iſt nun das auf 
Rechtfertigung erwachſende oder an die Gewißheit 
geburt ſich anſchließende neue Leben, das feinen | 
bat, ſich vom Böſen, von dem Gott uns befreit hat, 
ab, und dem Guten, fir das Gott uns wiedergeboren 
mehr zuzutehren, alfo Belehrung, zu dem Zweck, 
zu werden, was man ijt, ein Kind Gottes, ein E 
vollkommener Mann in Chriftus, eine chriftliche Perſi 
hriftlicher Charakter. Die Wiedergeburt oder Ri 
für den Gläubigen nach der Art ihres Vorgangs, wir 
ein Geheimnis, troßdem er defjen gewiß ift, daß er 
daß er vor Gott gerecht ift; ev weiß nur, daß Gott 
wunderbarer Weife geſchenkt und im ihm um Chriſti 
wirkt hat. Die Heiligung oder Belehrung aber ift das 
Fortbauen auf dem göttlich gelegten wunderbaren | 
der Miedergebunt oder Rechtfertigung ift der Menſch 
der Belehrung oder Heiligung aktiv; durchaus im 
Freiheit geht die Heiligung vor, als das neue perjönl 
des Gläubigen, das aus der neuen Lebensjehung d 
der Wiedergeburt fich entwickelt. ' 

In diefer Auseinanderfegung ift zum Ausdruck 
was die Schrift fagt, wenn ſie einmal den durch den ( 
angeeigneten neuen Lebensſtand de3 Chriften als das 
einer Wiedergeburt oder göttlichen Losiprechung 5 
der der Menſch mere passive und ohne jedes 

eigenes Wirken ift — Joh 35 I Joh 39 I Petr 
118 II or 517 Ephef 2 s—ı0 Röm 3 u—as u. a. 


Glafen: SHeiligung im Glauben. 481 


deren geheimnisvollen Vorgang er fich keine Nechenfchaft geben 
könne — Joh 38 — umd wenn fie zum andern dies neue 
Leben als die Aufgabe einer Belehrung oder Heiligung bezeichnet, 
zu dev der Gläubige verpflichtet it — Alt 3 19 Hebr 47 Akt 
14 15 — und deren Nichterfüllung, al3 eine freie That feines 
Willens ihm als Schuld angerechnet wird — Matt 23 37 
22 1-7 —; das aber, was ſchuldig macht, ift dies, daß man 
nicht glauben und den Glauben beihätigen will — Joh 5 3s—ı1o 
636 Gal 56, 

Obwohl nun aber die Schrift beides jagt, daß das neue 
Leben des Begnadigten eine Gabe ift, von Gott dem Glauben 
gegeben und durch den Glauben angeeignet, und daß dies neue 
Leben eine Aufgabe ift, dem Glauben gejtellt und im Glauben zu 
erfüllen, fo giebt ſie allerdings eine direkte Erklärung und Deu: 
tung darüber nicht, inwiefern die fittliche Lebensaufgabe mit Not- 
mendigfeit aus dem veligiöfen Glauben erwächſt umd allein in 
ihm erfüllt werden kann. Wir werden diefe Vermittlung alfo 
für die ſyſtematiſche Darftellung zu fuchen haben, Doch nicht bloß 
deswegen und für fie Denn müßten wie nur deshalb dieje 
Zentralftellung des Glaubens und feine doppelte Beziehung auf 
das veligidfe und jittliche Leben verjtehen, um einen logifchen 
Uebergang von der Rechtfertigung zur Heiligung, von der Glaubens— 
gerechtigfeit zur Lebensgerechtigkeit und eine fchlüffige ſyſtematiſche 
Darftellung zu gewinnen, jo wäre das doch nur ein wifjenschaft- 
liches Motiv umd vielleicht ohne praftifche Bedeutung. Aber die 
Sache fteht nicht fo. 


Es liegt vielmehr in der evangelifchen Vorftellung vom 
Glauben felbft, daß er im diefen beiden Beziehungen wirkſam 
merden muß. Nach unſerem evangelichen Glaubensbegriff kann 
uns nur das wirklich im Glauben gewiß werden, befjen Wert und 
Bedeutung in unfer Leben jo eingreift, daß es uns zu eigenem 
Thun und Handeln bejtimmt, d. h. für unferen Fall, daß der 
Gläubige feiner Nechtfertigung und Exlöfung von Sünden und 
der ihm von Gott gefchenkten neuen Lebensitellung zu Gott nur jo 
gewiß wird, daß er darin aud) zugleich die Kraft und den Antrieb 





482 Elafen: Heiligung im Glauben. 


befigt, fich nun auch wirklich von der Stinde zu löſen, ſich ſelbſt 
und die Welt zu überwinden und Gott in einem neuen Leben zu 
dienen — I oh 54 Röm 6 usff. I Kor 71. — Wer durch 
den Glauben fich deſſen bewußt geworben ift, daß ihm um Chrifti 
willen das Heil der Sündenvergebung zu Teil geworden ift, der 
kann fortan fein Leben und das Glück feines Lebens nicht mehr 
in. der Sünde juchen und finden, um deren willen fein Heiland 
geftorben ift; ev muß vielmehr von dev Sünde, die bisher im 
alten Leben jein Element war, fich fcheiden, er muß gegen fie 
den Kampf mit Ernft und GEntjehiedenheit aufnehmen und ſich 
dem immer völliger zuwenden, der die perfünliche Darftellung volk 
fommener Sittlichfeit it und der eben im Glauben ihn zu ſich 
bin und damit von fich felbft und dem alten Zeben unter der 
Sünde abgezogen hat. 

Wo wirklich Glaube ift, da ift das eine Thatfache von 
umendlicher Bedeutung: der Gläubige ift neu geworden, jo daß 
er in Jeſus Chriftus fein Leben gefunden hat. Kann das 
gefchehen fein, daß ev der alte bleibt und fich felbft weiter lebt? 
Der Glaube ſelbſt ſchließt diefen Gedanken vollftändig aus und 
damit den anderen der täglichen Erneuerung für den Gott und zu 
dem Gott ein, der ihn aus Gnaden in dies neue Leben gejegt hat. 
War ja doch auch dev Menjch, als ihm Jeſus Chriftus Vertrauen 
abgewann, damit vor eine fittliche Entjcheidung geftellt, ob er 
der alte bleiben oder ein neuer werden wollte. Indem er ſich 
im Glauben für Chriftus entfchied, entſchied er fich zugleich auch 
für das GSittlichgute, das ihm in Jeſus Ehriftus perſönlich, voll 
kommen entgegen trat. So kommt aus dem Glauben mit Not | 
wendigkeit die Heiligung, die aber, da die Hinkehr zum Sittid- | 
guten bier nie volllommen, ja leider auch nie von jelbjtifchen 
Negungen völlig vein ift, immer mit dem Schmerz dariiber, daß 
man das Böfe noch nicht völlig überwunden hat, verbunden 
ift und daher immer eine Arbeit auf Hoffnung ift, auch ba diefer 
Seite alſo eine Heiligung im Glauben! | 

Liegt fomit im Begriff des evangelifchen Glaubens, Aal N 
fich in einem Leben im Gittlichguten, in dem fittlichen Geſet 
Chriſti, d. h. kurz gejagt, in der Liebe ausleben muß, fo ift etwa 


A 








Claſen: Heiligung im Glauben. 483 


nur noch pfychologijch zu zeigen, wie der Glaube Trieb und Kraft 
zum neuen Leben enthält. Das kann etwa jo gejchehen: Indem 
wir durch den Glauben in Gottes Gemeinfchaft aufgenommen und 
mit Gott eins werden als feine Kinder, fo liegt darin die innere 
Notwendigkeit, daß wir alles, was wir thun, jo und in der Weiſe 
und zu dem Zweck thun, dab das Band der Kindesgemeinjchajt 
mit Gott nicht gelodert, jondern gefeftigt werde. Jede Sünde 
würde aber dies Gemeinchaftsband lockern oder löfen, aljo zwingt 
der Glaube den Ehriften dazu, die Sünde zu meiden und fich 
Gott immer mehr in Freiheit zuzumenden. Das gejchieht aber 
im Gehorjam gegen das göttliche Gebot, das fittliche Gefes. Wo 
einer von dieſer Glaubenspflicht jich entbinden wollte, würde dev 
Glaube verloren gehen und das Band zu Gott ſich löſen. Es 
it alfo für den Glauben eine fittliche Notwendigfeit, daß er, 
damit ev nicht aufhöre, ſondern wachje und jeiner felbjt immer 
mehr gewiß werde, das Gute, das GSittliche tue. Im Intereſſe 
feiner Selbftbewahrung ift der Glaube immer darauf gerichtet, 
die religiöfe Lebensgemeinfchaft, die Gott dadurch zuwege gebracht 
hat, daß er fich an die Menjchen in Jeſus Ehriftus hingegeben hat, 
durch die fittliche Lebensgemeinjchaft in der Hingabe an den Gott 
feines Heils und an feinen heiligen Willen in Liebesgehorfam zu 
bewähren und zu bethätigen. 

Im Thun des Guten, im Gehorſam gegen den heiligen 
Willen Gottes, d. h. in der Heiligung erlebt aljo der 
Chriſt das Gleiche, was er durch den Glauben hat: die 
Gemeinschaft mit Gott. Indem der Gläubige fich dem gött— 
lichen Geſetz in freiem Gehorfam untermirft und in der Heiligung 
lebt, fteht er in dem neuen perjünlichen Leben mit Gott 
feinem Vater, das er durch den Glauben gewonnen hat. 
Und einen anderen Weg, diefe Gemeinjchaft mit Gott zu erfahren 
giebt es nicht, wenn man nicht auf die Abwege dev Myſtik oder 
des Nationalismus geraten will. 

Die Kraft aber zum neuen Leben liegt darum im Glauben, weil 
ev, eben als Lebensgemeinjchaft mit Jeſus Chriſtus — Gal 220 — 
ein Teilhaber ift an Jeſus Sinn und Geift und er eben dadurch 
über das hinmweghebt, was den Wandel im fittlichen Geſetz un— 



































484 Glafen: Heiligung im Glauben. 


möglich macht, die Selbftfucht, die Weltliebe, die Verblendung, die 
Lüge. Statt defjen find in den Gläubigen Wahrheit, Licht, Liebe 
als von Jeſus Ehriftus ausgehende Lebensftröme libergegangen, 
die mit innerer Notwendigkeit nicht für fich bleiben können, ſondern 
ihr Dafein als „Werk im Glauben" — I Theſſ 1811 Theff 111 — 
darftellen müffen. 

Iſt hiermit Hac geworden, daß der Glaube, um feiner 
Natur willen und um zu bleiben, was erift und um immer 
völliger zu erleben, was er bat — Lebensgemeinfchaft 
mit Gott durch Chriftus —, Trieb und Kraft zum neuen 
Leben, zur Heiligung im fich enthält, fo Kann amderfeits 
auch ſolchen gegenüber, die von einer veligionslofen Moral und 
autonomen Sittlichkeit träumen, gezeigt werden, daß ein 2eben 
in der Heiligung und Gerechtigkeit nit ohne Glaube 
möglich ift, und das dient dann jenem Nachweis wieder zur Er— 
gänzung. Das Leben in der Heiligung, im Sittlichguten wird 
nach der Schrift und nach der Erfahrung nicht anders wirk— 
Lich als jo, daß man gegen ſich felbft kämpft und feinen 
natürlichen, felbftfüchtigen Willen überwindet. Wer 
das Abfolut-Notwendige thun foll und will — und das 
eben ijt das Leben im göttlichen Gejek und der Wandel in ver 
Heiligung —, der darf nicht weichlich an fich ſelbſt denken, der 
muß fich felbft verleugnen und fich ſelbſt und fein eigenes 
eben hajjen Eönnen; er muß im Gehovjam gegen das Abjolut 
Gute, — und da uns dies in Jeſus Chriftus perjönlich gegen- 
übertritt, — im Gehorfam gegen ihn und in feiner Nachfolge 
und um feinet- und des Evangeliums willen jogar jein Leben 
darangeben fönnen. Fordert die Erfüllung des ewigen ſut— 
lichen Geſetzes, d. h. aljo das Leben in der Heiligung Dies von 
dem Gläubigen, fo iſt offenbar, daß dies nur im Glauben ges 
ſchehen kann. Denn wenn ich mich felbft und mein natürliches 
Leben verleugnen und davangeben foll, jo muß ich Die 
Gewißheit haben, daß mir diefer Verluft meines natür- 
lichen Lebens, mein Verzicht auf mich ſelbſt nichts ſchadet 
und mich nicht untergehen läßt, jondern daß ich dafür 
etwas anderes gewinne, das viel mehr und viel herr- 


Claſen: Heiligung im Glauben, 485 


licher ift als mein altes Leben. Dieſe Bürgfchaft aber giebt 
mir eben nur und allein der veligiöfe Glaube, in dem ich bie 
Gewißheit habe, daß ewiges, göttliches Leben mein Teil ift, und 
daß Gott, auch wenn ich ſcheinbar in dev Nachfolge Jeſu Ehrifti 
und im Wandel nach feinem heiligen Gejeg der Liebe untergehe, 
doch fiir mich forgt und mich zur ftegreichen Ueberwindung kommen 
läßt. Darum fagt der Herr — Mare 835 —: wer fein Leben 
verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der 
wird e3 behalten, und Paulus — Röm 835:—39 —, daß nichts 
uns jcheiden kann von der Liebe Gottes, die in Jeſus Chriftus 
ift, und deren wir allein im Glauben gewiß find. Der religiöje 
Glaube ift es alſo allein, der uns ein wahrhaft fitt- 
liches Zeben ermöglicht; es giebt feine autonome Sitilichkeit, 
feine Heiligung aus eigener Kraft, jondern nur Heiligung im 
Glauben, und der Glaube ift es alfo, der, wie zuerſt gezeigt, den 
Antrieb zum Guten, zum Heiligungsleben giebt, und ber, wie 
jetzt offenbar ift, allein auch die Fähigkeit und Freudigkeit ver 
leiht, den Kampf der Heiligung und Selbftverleugmung zu fämpfen 
und darin nicht zu ermatten und zu erlahmen. 


10, 

Nur ein Punkt ift nun noch kurz zu erwägen, das iſt das 
Verhältnis von Heiligung und Heilsgemißheit. So gewiß 
es it, daß der Glaube Werke, neues Leben, Wandel in der 
Heiligung, Liebe wirken muß, ebenjo gewiß gründet der Chriſt 
feine Heilsgemißheit doch nie auf feine Hetligung, nicht 
darauf, daß er in der Kraft des Glaubens das Geſetz erfüllt, 
daß er Liebe übt; fein Heil gründet er immer und allein auf 
das, was Gott um Chrijti willen ihm ermwiejen hat, oder kurz 
ausgedrückt auf Chriftus. Er gründet es auch micht auf den 
Glauben; denn nicht um unſeres Glaubens willen (propter 
fidem) werden wir gerecht vor Gott und haben wir das Heil, 
jondern um Chrifti willen durch den Glauben (propter Christum 
per fidem), d. h. aber, daß jchließlich doch alles auf die 
Rechtfertigung anlommt, aber nicht auf die Heiligung, wie 
das in alter. und neuer Zeit behauptet ift, und auch jet wieder, 


ai 


486 Elafen: Heiligung im Glauben. 


auch wenn fie es leugnet, von der modernen Keiligungs: 
bewegung angeftrebt wird. Die Rechtfertigung aus Gnaden 
um Ehrifti willen durch den Glauben, das tft der einzige 
Chriftentroft, wenn wir, die wir uns jagen müffen, daß unjer 
Heiligungsleben ſtets Tückenhaft bleibt, verzagen möchten. Wer 
es anders will, wer felbft auf feine Heiligung, feine Werfe fein 
Heil gründen will, oder andere dazu anleitet, von ihren Werken 
den Rückſchluß auf ihr Heil und ihre Heilsgewißheit zu machen, 
der untergräbt die Heilsgewißheit. Denn ift er ein ehrlicher 
Menſch, jo wird ev ſtets jagen: meine Heiligung iſt unvoll 
fommen! Und darin verjinkt ev in Verzweiflung, bleibt jedenfalls 
immer feines Heil® ungewiß. Daran ändert es nichts, wenn die 
moderne Heiligungsbewegung jagt: Jeſus Chriftus hat dir auch 
die vollfommene Heiligung erworben und will fie dir wie die 
Rechtfertigung als etwas Fertiges ſchenken, eigne fie div nur durch 
den Glauben an! Denn jedem jagt eben jein Gewiſſen, wenn ex 
nicht durch falſche Heiligungstheorien verbiendet ift, daß ex Dieje 
vollfommene Heiligkeit eben doch nicht befigt. Hier wird die 
earnificina conseientiae, wie Luther einmal jagt, nur auf ein 
anderes Gebiet verjchoben, nämlich von der Wertung und Schäßung 
der Werke auf die Wertung des Glaubens; da fragt der Menjch 
freilich nicht mehr, wie in Nom: haft du Werfe genug und find 
deine Werfe gut und heilig genug? er fragt: ift dein Glaube 
groß und Fräftig genug? Was uns das Heil verdienen und des 
‚Heils gewiß machen fol, ift die Intenfivität und Kräftigkeit des 
Glaubens, Das ift nur eine andere Art römischer Werkgevechtig- 
keit; der Glaube ift dafelbit zum Werk geworden (propter fidem)), 
aber er hat ganz feinen Charakter verloren als vertrauende Hin 
gabe an den, der allein unfer Heil ift. 

Neberall, wo man die Heilsgewißheit auf die Heili- 
gung, auf Die im Glauben gewirkten Werfe gründen 
wollte, würde man ja auch, je weiter man in der Heili- 
gung fäme, um fo weiter von Jeſus Ehriftus ablommen; 
aber auch in der Heiligung ift es nicht Ziel und Abficht, von 
Shriftus immer unabhängiger zu werden, vielmehr nur immer 
abhängiger von ihm zu werden und zu bleiben, ihm fich immer 


pr 


Elafen: Heiligung im Glauben, 487 


völliger zu unterwerfen und ihn immer vollftändiger in ſich herr 
fchen zu laffen. Die Rechtfertigung wird niemals ein über 
mundener Durchgangspunkt, daß an ihre Stelle nach einer be 
ftimmten Beit die Heiligung treten müßte oder könnte, jo daß es 
dann fchließlich für das endliche Heil und die Seligfeit doch auf 
die Heiligung ankäme. Die Rechtfertigung um Chrijti 
willen durch den Glauben bleibt immer und allezeit Ein 
und Alles. 

Doc einen Einwurf könnte man vielleicht noch er— 
beben, den, daß wenn unfere Heiligung auch nicht der Real» 
grund, fo doch wenigfiens der Erfenntnisgrund unferer 
Heilsgewißheit fei, d. h. daß mir durch unfer Heiligungsfeben 
nicht bloß die Gewißheit gewinnen dürften, ſondern ſogar follten, 
daß wir das Heil befäßen und im rechten Glauben ftänden. Ich 
ſehe auch dafür weder im der chriftlichen Erfahrung nod) in der 
Schrift irgend einen Grund, auch nicht in jenen Stellen, die von 
einem Gerichtetwerden nach den Werfen veden, oder wenn Ehriftus 
jagt: daran wird Jedermann erkennen, daß ihr meine vechten 
Jünger feid, daß ihr Liebe unter einander habt. Denn was jene 
Stellen vom Gerichtetwerden nad) den Thaten anbetrifft, 
fo ift der, dev einmal danach urteilt, Gott, nicht der Menfch, 
der Gläubige jelbft. Gott, vor dem alles offenbar ijt, kann 
im abjchließenden Gericht auf das Werk jehen, das auf Grund 
dev Gabe des Glaubens entftanden ift; Jeſus Ehriftus, wenn 
er wiederfommt zum mejjianifhen Gericht, ſucht die 
Frucht, die erwachſen ift, nicht die Wurzel. Und doch, 
ſchon beim Propheten Jerem 5 3 heißt es, daß Gottes Augen auf 
den Glauben, die Trene ſehen. Wir jelbjt aber werben nie 
darauf gewiefen, daß wir auf unjere Werfe, auf unfere 
Heiligung jehen follen, um zu erkennen, ob wir wirklich mit dem 
Herrn verbunden find und ob unjer Glaube wahr und Acht iſt. 
Und dann jene Stelle, wo Jeſus EChriftus fagt, daß man 
an der Liebe zu einander jeine wahren Jünger erfennen 
Toll, — bier ift doch von einem Urteil anderer Leute die Rede 
und nicht von einer Selbjtbeurteilung. Andere mögen und 
jollen an unfever Nächjten- und Bruberliebe unjere Stellung zum 

Heitfchrift für Theologie und Kirche, 10. Jahrg., 6. Heft. 33 


488 Claſen: Heiligung im Glauben. 


Herrn, dem Urquell aller Liebe erkennen; wir felbjt aber können 
immer und allein nur durch das Vertrauen auf umferen einigen 
‚Heiland Jeſus Ehriftus unferes Heils gewiß werben, fein und bleiben. 

Denn auch nicht bewahrt wird das Heil und die Heilsgewiß— 
beit durch die Heiligung, durch die guten Werke; es heißt auch 
bier wie Heiligung im Glauben jo Erhaltung im Glauben. 
Nur im Glauben haben wir den ftetigen Zufluß der göttlichen 
Heilskräfte Chrifti ſelbſt, der in allen Verfuchungen und Anfech- 
tungen, woher fie fommen mögen, aufrecht erhält. Nur im 
Glauben wird alles das wirkfam bei uns, wodurch Chriftus uns 
im Heil und in der Heiligung erhalten will, wie Gebet, Gebrauch 
des göttlichen Worts und der Saframente, Gemeinfchaftsleben in 
der Kirche, und nur wenn wir im Glauben beharren, follen wir 
heilig und unbefleckt und unflagbar vor Gott bleiben (Col 1 3). 

Was ift alſo Heiligung im richtigen evangelifchen Verſtande? 
Sie ift Heiligung im Glauben, die im Glauben geübte Darftellung 
wirklicher evangelifcher Frömmigkeit. Sie ift der Wandel des 
Gläubigen in dem heiligen Willen Gottes in Jeſu Nachfolge. Ihr 
Weſen iſt eben darum Wandel in der Liebe, (Sp fchon Baier, 
nach Anleitung von Apologie II, 45, Konkord. Form. Sol. deel, 
IV, 10.) Sie vollzieht fich in der Abkehr von der Sünde, der 
Welt, dem eigenen Ich und in der Hinkehr zu Gott und Jeſus 
Chriſtus, der al3 die perjönliche Darjtellung des ewigen fittlichen 
Gejeges uns erfchienen ift, beides in freiem Gehorfam des er- 
löften Gotteskindes und immer begleitet von dev täglichen Neue 
und Buße, die aus dem Glauben geboren ift. Geübt wird fie 
innerhalb der Gemeinfchaft des Neiches Gottes, nicht im abjonder- 
lichen Werfen und nach jogenannten evangelifchen Ratjchlägen, 
fondern in der treuen gemiffenhaften Erfüllung des Berufs, den 
Gott einem jeden gegeben hat und in dem ein jeder bezeugen fol, 
daß Jeſus Chriftus in ihm eine Geftalt gewonnen hat und daß 
ex nicht mehr fich ſelbſt lebt, ſondern dem, der ihn erlöſt umd 
felig gemacht hat. — Das ift evangeliiche Heiligung, Heiligung 
im Glauben! 








Theologiſche Randgloſſen 
zu Hannanıs „Demokratie und Kaiſertum“. 
Von 


Martin Rade, 
Privatdozent in Marburg. 


1. 

Selten ift dem theologifchen Nachdenken eine praktifch-politifche 
Steömung fo energifch zu Hilfe gefommen wie der theologifchen 
Ethik der chriftliche Sozialismus der jüngften Vergangenheit, 
Nicht daß die Wifjenfchaft diefe Hilfe begehrt oder auch nur 
mit Freuden begrüßt hätte. Im Gegenteil, fie brachte im ganzen 
diefer Beftrebungen das Vorurteil entgegen, daß weder für die 
Theorie noch für die Praxis Etwas dabei herauskommen merde. 
Und der Gang der Dinge fcheint ihr Hecht zu geben. Der 
Stoederjhe Sozialismus iſt „irchlich” geworden, d.h. er hat 
fich aus der freien Nrena eines nur durch das Bekenntnis zur 
evangelifchen Sdealkicche begrenzten Meinungsaustauſches in die 
gejchloffene Gejellfchaft der Kixchlich-fozialen Konferenz gerettet, 
fofern ev nicht andeverjeits als Kleine politifche Partei noch lokale 
Bedeutung behalten hat. Aus der theologifchen Diskuffion ift 
diefe Richtung heute jo gut wie ausgejchieden. Ind der Nau— 
mannfche Sozialismus hat zwar nicht aufgehört, dem chriftlichen. 
Ethiker Aufgaben umd Fragen zu ftellen, aber an dev Löjung 
diefer Aufgaben und Fragen will Naumann ſelber nicht mehr 
Anteil nehmen, So werigftens habe ich fein Buch „Demokratie 
33* 











490 Rabe: Theologifhe Randgloffen 





und Kaiſertum“ beim erſten Leſen aufgefaßt!) und desjelben Ein- 
drucks habe ich mich auch bei wiederholten Studium nicht ermehren 
fönnen, Inzwiſchen hat Naumann zwar duch feine „Selbjt- 
verteidigung” gegen mich?) und durch feine perfönliche Anteil 
nahme am jüngiten Cvangelifch-fozialen Kongreß in Karlsruhe 
bewiefen, daß er auch unter feinem heutigen Kurs von alter 
Liebe nicht läßt; wie denn feine fortgehenden berühmten „Hilfe"- 
Andachten fortgehende Zeugniffe jenes perfönlichen Ehriftentums 
find. Aber an diefem babe ich für mein Teil niemals zweifeln 
fönnen, und vor der Deffentlichkeit bleibt doch „Demokratie und | 
Kaiſertum“ das einzige vollmichtige Dokument feiner gegenwärtigen 
Stellung, dem er durch feinerlei Zurücnahme Etwas von feinem 
Mert abgebrochen hat. Ich gebe gern zu, Daß meine „Kritik“ 
des Buches feinerzeit „über das Biel hinausgefchoffen" ift. Zum 
teil geſchah das unter dem Einfluß der von Naumann appros 
bierten Darlegung Maurenbrechers?). Aber als ein „Abjchieds- 
wort“ war meine Anmerkung zu Maurenbrechers Artikel aller- 
dings gemeint, weil ich den Eindruck hatte, daß Naumanns Buch 
ein „Abjchiedswort” an Theologie und Kirche bedeute. Man 
bat die Gejchmarklofigfeit gehabt, aus diefem Notenwechjel auf 
meine perjönlichen Beziehungen zu Naumann vorher oder nach- 
ber Schlüffe zu ziehen. Als ob dieje Beziehungen einen von ums 
hindern könnten oder dürften, die Intereſſen, denen ein jeder 
glaubt dienen zu müffen, mit entjchloffener Rückſichtsloſigkeit zu 
verfolgen! Und ich traute damals allerdings Naumann zu, daß 
er „bewußt einfeitig” meue Bahnen wählte. Viele haben es mit 
mir jo aufgefaßt, auch Theologen, die nicht mit mie dem Theologen 
Naumann eine Thräne nachmweinten, fondern eitel Freunde und 
Beifall für dieſe letentfchloffene Wandlung des Pfarrers in den 
Politiker hatten. Es ift ſogar diefe Wendung manchen Theologen 
als ein Triumph echter proteftantifcher Ethik erfchienen! 

Laffen wir vorläufig dahingeftellt, ob die proteftantifche Ethik 
mit Naumanns „Demokratie und Kaifertum“ einen Erfolg er— 


4) Chriftliche Welt 1900, Nr. 20. ) Ebenda Nr, 22. 
) Vom Pfarer zum Politifer. Ebenda Nr. 20. 


4 


zu Naumann® „Demolvatie und Kaiſertum“. 491 


rungen hat, oder auch nur davon befriedigt jein kann, unter allen 
Umftänden hat Naumann in dem Buche fich prinzipiell als „Laie“ 
gegeben. Und als „Laie” wird er konjequenterweife genommen 
fein wollen, wenn er feine „Andachten“ weiter jchreibt, wenn er 
den Evangelifch-fozialen Kongreß befucht, wenn er von Zeit zu 
Zeit noch wie in eine alte Heimat in das Gebiet der Theologie 
und Kirche feine Ausflüge macht. Hoffentlich thut er das noch 
recht oft; dann mag der Gewinn auch für unfre zünftige Arbeit 
schließlich größer fein, als der fürs evfte zu vegiftrierende Ver— 
fuft. Wire müffen nur wiſſen, daß von jeßt an nimmermehr 
unfre Theologie und Kirche das Zentrum fein wird, von dem 
aus Alles ovientiert ift und zu dem Alles wieder Hinftvebt. Die 
hriftliche Religion mag immer noch der innerſte Herzichlag feines 
Lebens fein. Ja in ihr kann der felbitgewollte Laie, wie fo viele 
geborene Laien, fejter ftehen als wir Theologen. Aber unter 
allen Umftänden ziemt es ums fchlecht und würde es ihn wenig 
ehren, wenn wir von der Veränderung feiner Frontitellung ab— 
jehen wollten und jo thun, als wäre Alles wie zuvor. Dafür 
ift er mir wenigftens zu bedeutend. 

Diefe zum Teil vecht perjönlich gehaltene Einleitung möge 
man frenndlich hinnehmen. Sch flüchte abfichtlich in ein theofogifches 
Fachblatt wie diefes, um mich hier ohne Scheu vor publiziftifcher 
Mifdentung ausfprechen zu können. Das Intereſſe der Fachleute 
möchte ich wachrufen file zwei Probleme, die Naumanns „Demo: 
fratie und und Kaiſertum“ uns Theologen geftellt hat. 


2. 

Seit 1895 befteht Naumanns Wochenfhrift „Die Hilfe“. 
Vom 1. Oktober 1896 bis 30. September 1897 beftand daneben 
fein Tageblatt „Die Zeit“. 1896 konftituierte fich der „national 
foziale Verein". Was in „Hilfe* und „Zeit“ und in den Proto- 
kollen des nationalfozialen Vertvetertages an ethifch-theologifcher 
Arbeit niedergelegt ift, kann Hier nicht aufgezeigt werden. Aber 
es jollte jich einmal SFemand die Mühe nehmen, das zu thun. 
Er müßte dann freilich auch die verwandten Organe und 
ftrebungen mit berückſichtigen. Der Zeitpunkt, wo 












492 Nabe: Theologifche Randgloffen 


Rückſchau mit aller gejchichtlicher Objektivität möglichſt iſt, iſt 
bereit3 da’). 

Was die ethifchetheologifchen Gedankfenreihen Naumanns 
und ſeiner Gefinnungsverwandten auch fir die wiſſenſchaftliche 
Beobachtung fo wertvoll macht, ift, daß fie energiſch zur That 
drängen. Keine Forderung, die man nicht in einen Geſetzes— 
Paragraphen formulieren könnte: durch diefe Lofung hat Naumann 
immer wieber denen, die auf ihm hörten, eine heilfame Zucht zu 
eindringendfter Prüfung ihrer Anfichten auferlegt. Auch an 
„Demokratie und Kaiſertum“ ift das, was den Ethiker und den 
Theologen fefjeln muß, das Drängen auf praktifch erreichbare Ziele, 
63 fragt ſich nur, ob nicht bei diefer entjehiedenen Beugung unter 
die reellen Bedingungen des Handelns dev ethiſche Idealismus, 
ja die Moral jelbft, zu kurz kommen. 

Wir haben feinen Meberfluß an ernften Auseinanderfegungen 
über daS gegenjeitige Verhältnis von Politit und Moral, Wo 
Treitſchke in feiner „Politik“ auf diefes Thema zu reden fommt, 
erwähnt er ala Erſten Richard Rothe, dann Dettingen, den 
Deutjch-Amerikaner Franz Lieber und Rümelin. Von Letzterem 
„wird auf wenig Seiten vieles wirklich Entfcheidende gejagt.” „Allen 
Theologen haftet die Schwäche an, daß fie nicht genug politifche 
Sachkenntnis befigen, während andrerfeits die Politifer aus Mangel 
an fpelulativem Sinn ich ſehr felten mit der Frage bejehäftigt 
haben." „Im ganzen ift die Literatur ziemlich arm.“ Ich führe 
unten auf, was mir von fpezielleven Bearbeitungen der Sache 
bekannt ift und bin dankbar, wenn man mich ergänzt®). 





') Eine freilich ſchnell veraltende Vorarbeit bietet Göhre, Die evan- 
gelifch-foziale Bewegung, ihre Gefchichte und ihre Ziele. Leipzig 1896, 

2) Stopnif, Politit und Ghriftentum. Cine religiös-politifche 
Studie. Berlin 1893, 220 S. Staudinger, Ethik und Politik. Berlin 
1899, 162 S. Rümelin, Neben und Auffäse Band I, Tübingen 1875, 
S. 144—171. Leber das Verhältnis der Politif zur Moral. Treitfchke, 
Politil. Leipzig 1897. Band I, S. 897—112: Das Verhältnis des Staates 
zum Sittengefes. Rade, Die Religion im modernen Geiftesfeben. Frei⸗ 
burg 1898. S. 69-88: Neligion und Politik. Paulſen, Politif und 
Moral. Chriftliche Welt 1899, Nr. 17 und 18. Gottfhid, Die hrift- 
liche Moral und die Politit. Ebenda 1900, Nr, 4—7,10, Habermann, 








zu Naumanns „Deniofratie und Kaiſertum“. 493 


Naumanns Buch gehört nicht in diefe Gruppe, Er würde 
es durchaus ablehnen, wollte man jeine Anjchauungen über Politik 
und Moral oder gar über Politit und Aeligion darin entwickelt 
finden. Ueberhaupt hat das Buch feinerlei ſyſtematiſchen Charakter, 
Der Untertitel „Ein Handbuch fir innere Politik” ift ivreführend. 
Ein Handbuch foll es fein für feine politifchen Anhänger bei der 
Werbung für das gemeinfame politifche Programm, ein Hands 
buch für folche, die überhaupt erſt eine politifche Meinung fich 
bilden wollen, und zwar über das, was heute unferm deutſchen 
Volfe und Reiche notthut. Es hat einen praftifch agitatorifchen 
Zwed. Der Obertitel deutet den Inhalt jo gut und bezeichnend 
an, wie ein kurzer Titel nur mag. „Demokvatie und Kaifertum" 
müffen fich finden. Daran liegt Alles. Dafür wendet der 
Verfafjer feine ganze wundervolle Beredtfamfeit auf. 

Er ftreift dabei, weil es fein muß, auch die Religion. 
Indem er die in unferm Volle vorhandene, für eine praktifche 
Staatsleitung in Betracht kommenden Kräfte mißt, kann ev an 
der Neligion nicht vorüber: dafür ſorgt jchon das Zentrum. Es 
ift hier ein offenbarer Fortfchritt zu fonftatieren. Früher war 
in der nationalfozialen Preſſe häufig die Tendenz wahrzunehmen, 
den Eonfefjionellen Zwiefpalt im deutſchen Wolf zu ignorieren 
und insbefondere die Zentrumspartet mehr als fozialpolitijche 
Größe zu ſchätzen, denn als religionspolitifche. Damit bricht 
Naumanns „Demokratie und Kaiſertum“ völlig. „Die Elerifale 
Anſchauungsweiſe, die nicht in Wirtjchaftsproblemen und Machts 
fragen, jondern in ethifchen und pädagogifchen Angelegenheiten 
verfiert ift“, als wichtigen politifchen Faktor im Zentrum vertreten 
zu jehen, ift ihm fatal. Dadurch wird verhindert, daß wir — 
in englifcher Weife — die zwei großen Parteien haben, die bie 
normalen Träger der vaterländifchen Entwidelung find. Der 
Verfaſſer weiß auch das evangelifch-tixchliche Element nach feiner 


Ehriftentum und Staat. Leipzig 189, Emil Mayer (jet Profeſſor 
in Straßburg), Die chriftliche Moral in ihrem Verhältnis zum (ftant- 
lichen) Recht. Dfterprogramm des Friedrich» Wilhelms-Gymnafiums in 
Berlin 1892. Vgl. auch Otto Baumgarten, Bismarcks Stellung zu 
Religion und Kirche. Tübingen 1900, 





494 Nade: Theologifche Randgloſſen 





politijchen Bedeutung — innerhalb des Konfervatismus — ernft- 
lich einzujchäßen. „ES ift politisch faljch, wenn man Religions— 
fachen mißachtet.* Aber diefe Art Würdigung der — 
und der Konfeſſton intereſſiert uns hier nicht. 

Uns intereffiert hier Naumanns eigene Staatslehre und 
Staatstunft. Näher, in wie weit ex ethijche oder gar ethijch- 
hriftliche Motive darin zuläßt, fordert, ablehnt; zum Andern, 
ob und gegebenenfalls welche Forderungen ev von feiner Staats: 
lehre aus an die Moral, das Chriftentum, die Kirche ftellt. 

Was die erfte Frage anlangt, fo rechnet Naumann mit 
einem Begriff von Politik, der fich zu dem Moraliſchen mehr | 
oder minder ausjchließend verhält. Man muß ja vorfichtig fein 
mit einer folchen Interpretation. Denn einerfeits jorgt Naumann 
anderswo dafür, daß über fein perjönliches Chriftentum und fein | 
pofitives Verhältnis zur chriftlichen Moral kein Zweifel erlaubt | 
iſt. Andererfeits find jeine Säge in „Demokratie und Kaiſertum“ 
nicht jo begrifflich ſcharf gefaßt, daß fie fertiges Material für 
eine theoretifche Erörterung böten. Ein „Handbuch“ haben wir 
eben nicht in der Hand, weder in dem Sinne, daß wir daraus 
vollftändige Weifung uns holen könnten über alle möglichen Gegen- 
ftände und Prinzipien des politifchen Handelns (ein gut Teil 
der inneren Fragen wird überhaupt nicht angerührt); noch in 
dem Sinne, daß auf Begriffsentwidelungen, Definitionen u. dgl. 
irgend Wert gelegt würde. Nun halte ich es, was das Letztere betrifft, 
gern mit Albert Lange: „Jeder Berfuch, Dinge zu definieren, 
ſchlägt fehl." Ich habe wenig übrig für Formeln wie die: Der 
Staat it feiner Idee nach u. |. w., die in der theologifchen Ethik 
fo beliebt find. Denn es kommt wenig darauf an, was ber Staat, 
dieſes „Ding“, feiner Idee nach ift, dagegen fehr viel darauf, 
was er in Wirklichkeit ift: da ift zwifchen Staat und Staat ein 
großer Unterjchied, und die unterfcheidenden Merkmale find oft 
die allerwichtigjten und entjcheidenden. So vermifje ich nichts, 
wenn für Naumann in feiner Staatsfehre der Staat einfach der 
geichichtlich jo gewordene nationale Staat des Deutjchen Reiches 
ift, dem er eben in feiner befonderen Herkunft und Struktur recht 
genau und lehrreich kennt. Aber eine deutliche Erklärung dejjen, 


4 


zu Naumanns „Demokratie und Kaiſertum“. 496 


was Naumann unter dev Politik als Kunft und Pflicht 
veriteht, wermiffe ich doch. Hier handelt ſich's eben nicht um 
ein Ding, jondern um eine Funktion, die der wollende, denkende 
und begreifende Geift ausübt. Aus den zeritreuten Aeußerungen, 
die an eine Begriffsbeftimmung anklingen, geht nur hervor, daß 
die Politif die Moral mehr oder minder ausfchließt. Ich ſammle 
bier, was ich finden fan: 


Das unpolitifche Motiv des Mitleids (S. 11), 

Mit diefem von Rouffeau ftammenven allgemeinen Menfchenzecht [auf 
Glück] kann man jede Forderung, jede Anklage, jede Zukunftsphantafte 
begründen. . .. Heute ift es ein überwundener Standpunkt, deſſen weitere 
Geltendmachung eine politische Schwäche ift.,... Gin Necht, das dem 
Menschen als Menfchen angeboren jei und das er deshalb fordern kann, 
weil er Menjchenantlig trägt, ift kein politifches Necht und deshalb im 
ſtrengen Sinne des Wortes fein Necht. Es ift im beiten Falle eine fehr 
allgemein gehaltene fittliche Forderung. Rechte entftehen nur im 
Lauf der Gefchichte, und ihre Grundlage ift Macht, In dem Satze Macht 
geht vor Recht Liegt eine große gefchichtliche Wahrheit (S. 32), 

Die Politit hat niemals den Zweck, alle Menfchen ſubjektiv glücklich 
zu machen, denn Glück hängt jehr wenig von denjenigen Dingen ab, die 
überhaupt politiſch beeinflußt werden können (©. 33). 

Es dreht fich nicht um Glück, ſondern um Pflicht gegen die Schicht, 
zu der einer gehört, und gegen das Volt, in das einer hineingeboren ift (S. 33). 

Wer niemand befiegen will, weil ja der Andere auch Rechte auf feine 
Gewohnheiten und Traditionen habe, der kann als Menſch und Ehrift 
vorzüglich fein, als politifher Gedankenbildner paßt er 
nicht (S. 33). 

Der befte Gottesdienft ift, Die Geſetze walten zu Taffen und zu 
vertreten, die in der Natur der Sachen felber liegen. In der Natur der 
Politit Liegt es, daß fie ein Kampf von Mächten um Gewinnung von 
Rechten ift. Wer die Politik wejentlich zu einer Art angewendeter Ethik 
machen will, der Fennt fie nicht genügend, Sie hat Feine Möglichkeit 
eine über allem Kampf ftehende ideale Ethik zu verwirklichen. 
Das Einzige, was der Einzelne zufagen kann, ift, daß er den Machtkampf 
ethifch führen wolle und daß er Machtübung feiner Schicht ohneBarbarei 
und Bosheit erftrebe, In diefem Sinne ſprach Profefjor Mar Weber 
einmal auf einem evangelifch-fozialen Kongreß von „Ethifierung des Klaffen- 
tampfes" (S. 34)'). 


) Das Letzte ift wicht richtig. Wir haben hier eine ganz junge 
Legende vor und. Mar Weber hat eher das Gegenteil gejagt und viel 























496 Nabe: Theologifche Randgloffen 


Regieren befteht bekanntlich in unzufammenhängendem Handeln 
(©. 86). 

Diefe Gleichheit ift im beften Falle eine fittliche yo 
aber keineswegs eine vorhandene Thatfache, auf die man politifche Arbi 
aufbauen kann (S. 41). 

Mit bloßen Erwägungen der Gerechtigkeit wird erfahrungsgemäß 
in der Politik wenig ausgerichtet (S. 54). 

Selten arbeitet die Gefchichte pädagogisch (S. 56). 

Das ift nun einmal im MWirtfchaftsgetriebe jo, dab des Einen 
Vorteil des Andern Nachteil ift (©. 79). 

Selbjt in der Mafje dev Demokratie giebt es eine oberite Rinde, auf 
die die Sonne zuerft feheint. Dies alles ift vom Standpunkte der 
Moralaus bedanerlich, denn bie Moral fordert, daß dem Elendeften 
am erſten und Träftigften geholfen werde; aber alle mwralifhen Wünjche, 
die wir haben, Eönnen leider nicht hindern, daß felbft im Gebiet der zum 
Lebenskampf vereinigten Maffe das Wort fich Geltung erzwingt: Wer da 
hat, dem wird gegeben! (S. 83). 

Gefchichtlicher Thatfachenfinn . . „ höher als alle Spekulation (S. 86). 

Politik... die Kunft des Möglichen (S. 88). 

Der eine nötige, unentbehrlihe Grundgedanke aller politifchen 
Arbeit: Baterlandsmacht und Vaterlandsverteidigung (S. 95 vgl. 138, 
163, 184, 193, 196, 206, 223), 

Nie wird fich eine große Nation von Leuten führen laſſen können, 
deren Zuverläffigkeit in der Machtfrage nicht abfolut ift (S. 96). 

Der Staat, d. i. der Beamtenapparat (S. 114). 

In diefem Falle [wenn nämlich das ganze deutſche Volk proteftantifch 
geworden wäre] würden wir Religion umd Politik trennen können: 
Religion als Seelentroft und Erziehungsmacht, Politit als Kampf 
der verfchiedenen wirtfchaftlichen Schichten, die die Nation füllen 
(©. 118), 

Jeſus war kein Politiker. ... Die Sittengebote des Heilands find fo 
allgemeinsmenfchlich, rein fittlich, daß fie feine Anweiſung 
geben, wie man im einer beftimmten Zeitlage, etwa im Zeitalter bes 
Induſtrialismus, foziale, demofratifche oder gar ariftofratifche Politik 
machen könne (S. 118). 

Das Politifche im Katholizismus ift die Kirche (S. 118). 

Beim Katholifen mit jever Meſſe, mit jedem Ave Maria eingefogen: 
voltslofe Lebensgemeinfchaft (S. 120). 


mehr von einer „Legalifierung“ des Klaffenfampfes geſprochen. Val. 
Chronik der Ehriftlichen Welt 1894, Nr, 22, Sp. 2 ımd Bericht über Die 
Verhandlungen des Fünften Evangelifch-fozialen Kongreſſes, Berlin 1894, 
©. 73, 


zu Naumanns „Demolvatie und Kaifertum*, 497 


Es ift [im der wiffenfchaftlichen und politischen fatholifchen Sitteratur] 
durc Pietät gehemmtes Denten (S. 120). 

Es fehlt der Eritifche Ernft, dev ben Kampf ums wirtfchaftliche 
Daſein in feiner Kampfnatur begreift und der auf Bermittelung 
verzichtet, wo fachliche Differenzen ausgeglichen werben müſſen (S. 128). 

Mehr Empfindungen als BVerftandesgründe [tadelnd] (S. 124), 

Eine ſolche Methode, virtuos und doch unethifch, Tann ſich nur eine 
Partei leiſten, die nicht [wie es fein follte!] politifche Tendenzen allein 
bat (S. 126). 

Das Deutfche Neich von vornherein eine wirtfchaftlich fortfchrittliche 
Gründung (S. 144, 148), 

Der nationale Staat... die Souveränität der Gefamtheit (S. 153). 

Das Machtproblem begreifen: gegen Soldaten muß man Soldaten 
haben (S. 153). 

Macht kann nicht mit bloßen Gedanken erzeugt werden (5. 153), 

Staaten fann man nicht anders gründen als militäriſch (S. 154 
vgl. 191). 

Moralifch jammervoll, aber die Wirklichkeit! (S. 154). 

Bismarck hat bis in fein letztes Merk hinein die Myſtik der Rönige 
entfchleiert, hat die alte Maivität der Unterthanen ruiniert, hat aber 
dafür etwas Neues in die Welt gefest: das militärifche Kaifertum, in 
dem der Machttrieb des Hohenzollernftaates fich mit dem Machttrieb des 
Nationalgedankens einte (S. 159). 

Einheit des Marktes... und... die Verteidigung de3 deutſchen 
Lebens nach außen (S. 169f.), 

Deutjchland . .. Feineswegs . .. ſchneeweißes MWeltgejchichtsfchäfchen 
(S. 170), 

Daß unfer Bolt das that [die jüngfte Revolution in der europäifchen 
Familie hervorbrachte], war fein gutes Recht vor Gott und Menſchen (S. 170), 

Diefe äußere Politik ift wichtiger und folgenfchwerer als Die 
innere (©. 171). 5 

Wilhelm I. in Berfailles ... in einer nach drei ſchweren glücklichen 
Kriegen ganz begreiflihen Stimmung: . . . „allzeit Mehrer des 
Deutfchen Reiches, nicht an Eriegerifchen Eroberungen, fondern an den 
Gütern und Gaben des Friedens auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, 
Freiheit und Gefittung“ (S. 173). 

Ohne Maſſennachwuchs hilft feine perſönliche Genialität (S. 173), 
Be Politik ift ein Handeln und Kämpfen von Kräften 


Es ift ja doch unmöglich, das Perfönliche aus der MWeltgejchichte 
auszufehalten (S. 180). 

Bamberger bat nach Bismarcks Tode die Frage aufgeworfen, ob 
Bismarck im ftande geweſen wäre, das deutſche Bürgertum politifch zu 


(©. 
































498 Rade: Theologifche Randgloffen 


erziehen, wenn er gewollt hätte. Die Frage ift nicht ganz richtig geftellt, 
denn ein Bismarck kann das nicht wollen. Wer Tag für Tag direkte 
Entfcheidungen in Weltmachtsfragen abzugeben hat, für den kommt die 
politifche Erziehung ... . nur gelegentlich in Betracht (S. 180). 
Die erfte Aufgabe, die ein Volk Hat: ſich zu [hüsen (S. 184). 
Alle großen Heerführer der Vergangenheit waren darin einig, daß 
der Geift der Truppe von unberechenbar großer Bebentung it (S. 196). 
AS ob die wirklichen Kriegsurjahen durch einen Appell an 
Herz und Gewiſſen befeitigt werben Könnten! (S. 199), 
Wer Fein Gewicht auf das Deutſchtum legt, der kann ja die Menſch— 
heitszukunft in englifche Hände legen wollen (S. 211). 


Was aljo ift Politik? Die Kunft des Möglichen. Ein 
Handeln und Kämpfen von Kräften. Gewiß von Menfchenkräften. 
Ein Kampf der verfchiedenen wirtfhaftlihen Schichten, die die 
Nation füllen. Ein Handeln, bei dem die geniale Einzelperſön— 
lichkeit zwar nicht auszufchalten ift. Aber vornehmlich handelt 
e3 jich um die beiden Mafjen der agrarifch und der indujtriell 
interefjterten Volkshälfte. Und da das Heil für Deutfchland im 
Induſtrialismus Liegt, ift dies die politische Meifterfrage: wie er— 
füllen wir die induftrielle Volkshälfte mit Patviotismus? Wie 
machen wir fie zum bewußten Subjekt einer nationalen Politik? 
Wie bringen wir fie zufanmen mit Kaifer Wilhelm IL, dev feine 
Aufgabe begriffen hat? Alle echte nationale Politit beginnt mit 
dem Grundgedanfen: Baterlandsmacht und Vaterlandsverteidigung. 
Die erfte Aufgabe, die ein Volk Hat, ift, fich zu ſchützen. Staaten 
fann man nicht anders gründen (und erhalten) als militärifch. 
Die äußere Politit ift wichtiger als die innere. Macht ift das 
höchſte Gut für eine politisch mündige Nation. Kaiſer Wilhelms J. 
friedfertige Proflamation von Verſailles war pfychologijch bes 
greiflich, thatfächlich aber ift Eriegerifche Bereitſchaft und Tüchtige 
feit oberſter Zweck des Kaiſertums. Macht ift für den Politiker Alles. 

Die Aufgabe einer gefunden inneren Politit im Deutfchen 
Neiche ift heute, die Eräftigere, zufunftsfichere Schicht unferes 
Volkes, d. i. die induftrielle, zum Willen der nationalen Macht 
zu befehren. Das ift ein Mögliches, ein Notwendiges. Hierzu 
bilft im Kampfe der Kräfte und Parteien, wer nüchtern bedenkt, 
was werden joll und muß. 


zu Naumann „Demokratie und Kaiſertum“. 499 


Bei diefem politifchen Handeln darf die Religion oder Moral 
nicht dreinveden, Die Religion als Kirche jtört die Kreife, indem 
fie das im ſtrengen Sinne unpolitifche Zentrum in die politifche 
Arena ftelt und in ihrer evangelifchen Bethätigung nur die 
hemmende, zum Zurücktreten beftimmte Volksſchicht ſtärkt. Neligion 
follte nichts weiter fein als „Seelentroſt und Erziehungsmacht“? 
Und die Moral? Sie ijt — wenigjtens die Moral Jeſu — zu 
allgemein menſchlich, um irgend in dev Politik eine direkte Weifung 
geben zu können. Ja eine nationale Ethik, eine nationale Religion, 
ein nationaler Gott, die könnten in dev Politik ihre Rolle 
fpielen. (Wie fie das denn reichlich gethan haben.) Aber was 
ſoll die Politit als die Kunft des Möglichen aus dem Motiv des 
Machttriebes — mit dem chriftlichen Motiv des Mitleids? Diefes 
ruiniert ja geradezu die politifche Gefundheit eines Volkes. Nur 
ſchmerzlich bedauernd und achſelzuckend kann der Politiker fich defjen 
erinnern, daß man nach dem Gebote der Moral dem Elendeften 
am erſten und fräftigften helfen fol, Das moraliſch Jammervolle 
ift in dev Politik Wirklichkeit, Notwendigkeit. 

Dean könnte über das Buch Naumanns die Worte Treitfchkes 
als Motto fegen: „Der Staat ift Macht. Wer nicht männlich 
genug ift, diefer Wahrheit ins Geficht zu jehen, der foll 
feine Hände laſſen von der Politik", Naumann hat den Mut 
gehabt und hat dieſer Wahrheit ins Auge gefchaut und mit feſter Hand 
zugegriffen. Ihm iſt die Politik feine Spielerei, feine angenehme 
Unterbrechung der gewohnten Tagesarbeit, fein Gegenftand der 
geijtreichen Spekulation oder gelegentlicher leidenſchaftlicher Er— 
regung: Alles ift getaucht in den bitteren Ernſt des Berufspolititers. 
Ich Iefe fein Buch, wie ich etwa Bismarcks Erinnerungen leſe, 
indem ich mir erzählen lafje von einem, der drüben fteht auf einer 
anderen Warte, in einem anderen Lebens- und Arbeitskreife, wie er 
dieje Dinge anfieht, und gehe mit meiner Theorie als Gthifer 
bei ihm, dem Praktiker, in die Schule, wenn auch ich von meinem 
Standorte aus mich mit der großen Meifterfrage nad) dem Ver— 
hältnis von Politik und Chrijtentum befafje. Gerade der radikale 
Realismus Naumanns, in dem er fich 3. ®. von der Sozial— 
demofratie wejentlich unterfcheidet, ift für unfereinen lehrreich 





. 





























500 Rade: Theologijche Randgloffen 


heilſam. Aber freilich mehr, indem er einem fin eine ethifche 
Durchdringung dev Frage den Stoff liefert, ald daß ex einem Die 
Löſung böte, 

Naumann will diefe auch garnicht bieten. Er läßt auf feinem 
Punkte ethifch oder gar ethifchechriftliche Motive auf fein politifches 
Näfonnement und auf das politische Handeln felber direften Einfluß 
üben. Das ift alfo feine Löfung, fondern eine Ablehnung unſers 
Problems. Die Politit kann mit Moral und Ehriftentum nichts 
anfangen. — Und doch? ft es nur Bugeftändnis am feine 
Bergangenheit? an fein perfönliches Chriftentum? Stellt er nicht 
zum mwenigften auch als Politiker forderungen an Religion und 
Moral? Sie fol „Seelentroft und Erziehungsmacht“ fein. Er— 
ziehungsmacht — zu einer gewifjenhaften Politik, wie er fie meint? 
Wie ſie fich dann doch jo wenig mit dem moralischen Empfinden 
verträgt, daß man dieſes vielmehr ernſtlich ausfchalten muß? 
Und weiter; Der Einzelne jol „ven Machtkampf ethijch Führen", 
„Machtübung feiner Schicht ohne Barbarei und Bosheit ertreben". 
Wie das, wenn das Motiv des Mitleids, wenn Hingabe und 
Selbjtoerleugnung auf diefem Gebiet ausgefchloffen find?! Was ift 
e3 nad) all den Prämifjen, die Naumann fchonungslos mit allem 
„kritiſchen Ernſt“ für das politifche Handeln aufgezeigt hat, noch 
um die „Ethifierung des Klaſſenkampfes“? 

Sowohl die Ethifche Kultur wie die Sozialdemokratie haben 
Naumanns PBolitif der abfoluten Unchriftlichleit und Unmoral 
geziehen. Sie haben den berufenen Vertretern des Chriftentums 
es beinah zur Pflicht gemacht, fich noc; ganz anders von dem 
Naumann von heute zu trennen, als ich e8 in dem oben an— 
geführten „Abſchiedswort“ gethan habe. Wir müſſen verfuchen, 
in die Gedanken, die jich hier verklagen und entſchuldigen, noch 
ein wenig mehr Klarheit zu bringen. 


3. 
Der Politiker, der gewiffenhafterweife in Ausübung feines 
Berufs klare Gebote der hriftlichen Moral außer acht läßt, iſt 


ohne Zweifel eines der interejfantejten Objekte der hriftlichen Gthik. 
Ich jage abfichtlich: dev Politiker, und nicht: der Staat. Denn 


zu Naumann „Demokratie und Raifertuni“. 501 


die hriftliche Moral hat es von Haufe aus gar nicht mit dem 
Staat, jondern nur mit Individuen im ihrer Beziehung zum 
Staat zu thun. Davon in fpäterem Bufammenhange, Auch 
Naumann reflektiert ja, wo er der Neligion oder Moral pofitiv 
eine Stelle anweiſt, gar nicht auf den Staat, ſondern einzig auf 
die im Staate vereinigten Individuen, 

Verſuchen wir feinen Gedanken von der Religion als Seelen: 
troft und Erziehungsmacht, ſowie von dev Ethifierung des Mafjen- 
fampfes richtig aufzufaffen. 

Ausgefchloffen ift durch die Perfönlichkeit des Autors, daß 
in jener Rede von Geelentroft und Erziehungsmacht ein 
wegwerfender Sinn liegt, etiwa des Inhalts: ſchwache Seelen und 
Kinder mögen der Religion bedürfen, Starte und Mündiggemorbene 
nicht mehr, In diefer Richtung fucht Naumanı den Freibrief 
für das politifche Handeln nicht. Ausgefchloffen ift ebenjo die 
vömifch-fathofifche Deutung: Religion dev Gewiljenstvojt, der dem 
von Berufs wegen immer zum Sündigen genötigten Politiker zur 
‚Seite bleibt; die freundliche Vermittlerin mit dem Himmel, un: 
erfchöpflich an Abjolution, Dispenfen und Nothelfern. Zugleich 
Religion Erziehungsmacht, die die Maffen zähmt, in Ehrfurcht 
und Gehorjam gegenüber den Autoritäten erhält, den weltlichen 
Herren dienend, wo dieſe der Kirche geben, mas der Kixche ift. 
Ohne Zweifel läßt fich das ganze Weſen des Eatholifchen Ehrijten- 
tums nach feiner feekforgerifchen und Kulturbedeutung vortvefflich 
unter den beiden Stichworten „Seelentroft“ und „Erziehungsmacht“ 
bejchreiben. Aber nein, für Naumann kann die Formel nur 
den einen Sinn haben, daß die (crijtliche) Religion auch für den 
reifen Menſchen, Politiker oder nicht, einen geiftigen Beſitz bedeutet, 
der ihn unter den härteften Anfechtungen und inmitten der fchwerjten 
BPflichterfüllung tröftet und zur treuen Ausdauer erzieht. Ex traut 
offenbar und mutet der chriftlichen Religion nach feinem evangeli- 
ſchen Berftändnis zu, daß fie auch den Politiker mit jener veinen und 
ftarfen Gefinnungsmoral erfüllt, ohne die ev die ganze Feſtigleit 
und Gemwißheit feines berufsmäßigen Handelns nicht haben Tann. 

Die chriftliche Moral als reine Gefinnung ergiebt fich 
aus dem Verftändnis der Bergpredigt, wie folgt. 































502 Rade: Theologifhe Randgloffen 


Jeſus Chriftus, indem ex die Gefehesgebote erläutert, Die zu 
den Alten gejagt find, macht aller äußeren Gejeßesautorität und 
allem Dienft von Einzelgeboten ein Ende, indem ex feinen Füngern 
eine Gefinmung eingiebt, die frei aus fich heraus richtig handelt. 
Zunächſt zwar, ohne materiell abzumweichen von dem, was einft 
„Geſetz“ war, bald aber auch gegenüber diefem Inhalt der Gebote 
des alten Bundes und fogar der fcheinbaren „Gebote Jeſu ſelber 
Jouverän. 

Zum Erempel: Matth. 5 2ıj. fchiebt Jeſus das Mofesgebot 

„Du follft nicht töten” feinen Jüngern in der Weife ins Gewiſſen, 
dak er aller tötenden That die Wurzel abgräbt; eine Gefinnung, 
die gar nicht zu töten vermag, erwartet er von ihnen, bie jo 
wenig des Zornes und des Hajjes gegen den Bruder fähig iſt, 
daß fie nicht einmal dazu kommt, ihn zu ſchelten und zu fchimpfen. 
Offenbar ift num für den, der eine folche Gefinnung wirklich hat, 
ein doppeltes Handelm möglich. Entweder er tötet nun thatjäch- 
lich, nicht, von feiner tief menfchenfreundlichen, alles verzeihenden 
Gefinnung gebunden. Oder ev tötet unter gewifjen Umftänden 
doch, als Feldherr und Soldat, als Richter und Henfer, ohne 
Zorn, ohne Haß, tieffte Menfchenfreumblichteit und Milde im 
Herzen, aus Pflicht, weil es eben unter diejen Umftänden jein 
muß. Hugenfcheinlich hat dieſe zweite Bethätigung der Geſinnung 
den Schein größerer Freiheit und Gefinnungstüchtigfeit für fidh. 
Das erjte Verhalten kann leicht einen Rückfall in die Geſetzlichkeit 
bedeuten. 

Eilen wir zu der berühmten Stelle Matth. 5as—ı2, Das 
ius talionis wird dort für Jeſu Jünger außer Kraft gejest. Alle 
Luft an Vergeltung und Necht exftirbt, wo Jeſu Geift einzieht. Das 
mag im gegebenen Falle nach außen daran kenntlich werden, daß 
ich dem Bruder, der mich ohrfeigt, die andere Bade auch hinhalte, 
dem Prozefjer, dev um den Rock mit mir vechtet, auch den Mantel 
lajje. Aber ich kann im anderen Falle genau diefelbe Gefinnung 
bewahren, indem ich den Beleidiger ſtraſe und den zu Umtecht 
Fordewnden abmweife — ohne die Spur eines Nachegelüjtes im 
Herzen, ohne den mindejten leidenfchaftlichen Affekt — aus ſehr 
verfchiedenen Gründen: etwa der Majeftät des Rechts zu Liebe, 





zu Naumanns „Demokratie und Kaiſertum“. bos 


oder, um dent irrenden Bruder die Wohlthat einer heilſamen Züchti— 
gung zu verſchaffen, und dgl. Die Sachlage wird noch ein-⸗ 
leuchtender, wenn mir ums des 42, Verſes erinnern: Gieb dem, 
der dich bittet, und wende dich nicht von dem, der dir abborgen 
will. Wir ftehen wohl alle, dank der Erziehung, die eine ver— 
nünftige Armenfüürſorge uns hat angedeihen Lafjen, auf dem Stand» 
punkte, daß wir im der Negel nicht auf bloße Bitte Hin geben 
oder borgen, jondern den Fall unterfuchen umd die Wohlthat, 
die feine Wohlthat jein würde, verſagen. Wir handeln damit 
wider ein Elares und direktes Gebot Jeſu. Wir können 
das, weil wir von ihm uns überhaupt Nichts ‚geboten wiſſen im 
ſtrikten Sinne von Gejegesgeboten, jondern weil wir den Gehorſam 
gegen feinen Willen vielmehr im Beſitz einer entipvechenden 
Gefinnung jehen, welcher das Handeln freifteht‘, 00 

Man kommt von hier aus zu dem Satz, daß dierchriftliche 
Moral das Handeln überhaupt nicht vegelt. Wer in 
den Merken die Nachfolge Jeſu fieht, denkt nicht evangelijch. 
Die Werke find schädlich zur Seligfeit, ſo kann man in neuem 
Sinn mit dem alten Antinomismus jagen. 

Eine ſolche reine Gefinnungsmoral iſt nur —* möglich, wo 
„die Erziehung des Menſchengeſchlechts“ ſchon weit vorgeſchritten 
iſt. Sie ſetzt Menſchen voraus, welche die Zucht von Geſetz und 
Sitte bereits gekoſtet und das Gerechtwerden auf dem Wege der 
That ſchon verfucht haben. Das Chrijtentum Jeſu, das Ehriften- 
tum der Bergpredigt kann nur verjtanden und begriffen werden, 
mo Necht und Gejet bereits ihren gejchichtlichen Beruf erfüllten, 
eine nomiftifche Moral ihre Kulturarbeit ſchon gethan hat: „Aus 


Y) Auf die Gefahr einer ſolchen inneren Haltung weit Suther hin 
E. A.* 16 51: „Zum fünften führen fie Santt Arguftini Spruch herein, 
der diefe Worte Chrifti alfo auslegt, daß man den Mantel ſoil fahren 
Taffen nach dem Rock secandum praeparationem animi, d.4. man Toll dazu 
bereit fein im Herzen, Diefe edle klare Auslegung deuten und finftern 
fie mit einer andern Gloſſe und ſetzen Dazuz es ſei nit mot, dab wir 
zugeben äußerlich in ber That; fei genu 2 daß im Herzen inmerlich wir 
bereit und gefchiet fein ſolches zu thun — als follten wir eimag 
wollen thun, das wir dad ut wotfen typen, ‚Bi Ja und Nein fei 
Ein Ding. sion Aetrmeeiin 
Zeltſchrift für Theologie und Kirde. 10. Jahrg., 6. gut, 34 






























504 Rade: Theologifche Randgloſſen 


die Zeit erfüllet war“, jo hieß es damals; fo überall, wo das 
echte Geftinnungschriftentum, das Chriftentum des vechtfertigenden 
Glaubens, Eingang finden foll. Und wo wir es noch mit Un— 
mündigen und Unveifen, wo wir e8 noch mit Kindern zu thun 
haben, auch in der Erziehung getaufter Kinder chriftlicher Eltern, 
wird das Chriftentum von ſelbſt wieder zum Geſetz, um erſt auf 
einer höheren Stufe dev Entfaltung, wenn es gerät, der Freiheit 
eines Ehrijtenmenjchen Platz zu machen. 

Gewiß kann es auch dem gereiften Charakter zuweilen nichts 
ſchaden, wenn auch ihm Geſetz und Recht und eine das Handeln 
richtende Moral zur Seite fteht. Aber der tertius usus legis gilt 
dann nicht nur vom Geſetz Mofes, jondern von jeder Art Ordnung 
und Moral, die fich im der menschlichen Gefellfchaft Geltung 
verschafft hat. Und der Ehrift wird immer bewußt oder unmwill- 
kürlich darauf aus fein, jede Bevormundung durch Borhalte oder 
Anforderungen von außen dadurch loszuwerden, daß er in ben 
Geift der Dinge eimdringt und alles, was er da erwägt und 
erfährt, zu einer Meubelebung und Neubefruchtung feiner freien 
innerften Gefinnung verwertet. Ev will und muß fein eigener 
Geſetzgeber bleiben, zu dieſer Freiheit hat ihn Chriftus befreit. 
„Sch habe es alles Macht"; daß dennoch „nicht alles frommt”, 
jagt mir mein Gewilfen, mein von Chriſti Geift erfülltes Gewiſſen, 
feine äußere Autorität, auch nicht die des Katechismus ı — 
Bibel. 

Offenbar hat dieſe reine Geſinnungsmoral ihren ee 
Ausdeud im Fategorifchen Imperativ Kants gefunden, und war 
gerade darum, weil diefer von allen materiellen Bejtimmungen 
befreit ſich rein formaliftifch giebt: Bandle io, daß bie 
Maxime deines Willens zugleich als Prinzip einer 
Gefeggebung gelten könne“, Nicht von feines Inhalts wegen 
ift ein Handeln gut, gut ift es nur, fofern es aus einem guten 
Willen fommt, d. h. aus einem Willen, der das will, mas jeber 
andere Wille an feiner Stelle auch wollen follte. Es ift alfo die 
Quelle des Handelns das, was wir oben die zur vollen inneren 
Freiheit erlöfte, von allem hetevonomen Inhalt entbundene Gefinnung 
genannt haben. Man hat diefer jchranfenfofen Freiheit Damit zu 


zu Naumanns „Demokratie und Raifertum”, 505 


‚Hilfe fommen wollen, daß man ihr die Schutzvorſtellung des Berufs 
mit auf den Weg gegeben hat. Aber diefer Beruf kann doch 
nichts anderes leiften, al$ was wir oben von aller Ordnung und 
gejeglichen Moral ſonſt gejagt haben: er ift auch an feinen Teil eine 
Krüce, eine Bequemlichkeit, eine Einrichtung, fofern er dem 
Menfchen die  ftetige Spannung höchſter Entjeheidungen erſpart. 
Aber eben um diefes untergeordneten Maßes willen leiftet er gerade 
auf den Höhepunften unfexer fittlichen Exiftenz uns die Hauptfache 
nieht. Denn da gehen wir eben nicht auf dem alltäglichen Pfade 
unferes „Berufs“, ſondern da handelt es fich darum, fpontan zu 
erkennen, was in diefem Fall umjer Beruf jei, uns jelbjt einen 
Beruf zuzufpvechen; mit anderen Worten: es handelt fich um die 
Aufgabe jo zu handeln, wie jeder Menſch bonae voluntatis in 
diefem Falle handeln müßte, und aus unferer freien Gefinnung 
heraus diefen bejonderen gegebenen Berhältnifjen gegenüber nicht 
ein Gejeg zu befolgen, jondern als Geſetzgeber aufzutreten. 

Von dieſer Freiheit macht der Staatsmann Gebrauch, indem 
ex, dad Exceptionelle einer Lage empfindend, erceptionell handelt, 
Hat ihn die Religion dazu erzogen, daß er das vermag, und fteht 
fie ihm noch zur. Seite, indem fie ihm zu jolchem Verhalten „das 
gute Gewifjen giebt", fo iſt ihre Miffton an ihm qua Staatsmann 
erfüllt; einer weiteren Ethifierung bedarf e8 nicht. Von niemanden 
hat ex Gejeße jeines Handelns empfangen, die er befolgen müßte, 
niemandem hat ev Nede zu ftehen. Im Gegenteil: der Moralift, 
der Ethiker, auch dev chriftliche, hat nur zuzufehen, zufbeobachten, 
zu befchreiben und zu merken, wie der Politiker in ſolchem Falle 
gehandelt hat, denn dies Handeln des freien Gefinnungschriften 
in jedem Falle ift für ihm eigentliche Quelle feiner Wiſſenſchaft. 
Die chrijtliche Moral ift genau jo formaliftifch wie der fategorijche 
Imperativ; ihren Inhalt empfängt fie immer aufs neue durch 
die Tebendigen Menfchen, die zur — eines Chriſtenmenſchen 
erlöſt ſind. 

In dieſer Richtung liegt es, wenn vermeintliche Urheber 
des Wortes von der „Ethiſierung des Klaſſenkampfes“, Mar 
Weber, Heilung und Heil in den, wirtfchaftlichen Kämpfen der 
Gegenwart barin ſieht, daß der einzelne Mitkämpfer auf die volle 





506 Rade: Theologifche Randgloſſen 


Höhe der eigenen Verantwortung geführt wird: „Wir treiben 
Sozialpolitik nicht um Menfchenglüc zu jhaffen.. . . Wir wollen 
etwas anderes umd können nur etwas andre 
uns wertvoll ſcheint von Menſchen, die Selbjtverant- 
wortlichfeit, den tiefen Drang nach oben, nach den geijtigen 
und fittlichen Gütern der Menfchheit, den wollen wir hegen 
und jtüßen, auch wo er uns in feiner primitivften Form ent— 
gegentritt. Wir wollen, foweit es in unferer Macht fteht, die 
äußeren Verhältniſſe fo gejtalten, nicht: daß fich die Menjchen 
wohl fühlen, fondern daß unter der Not des umvermeidlichen 
Exiſtenztampfes das Beſte in ihnen, die Eigenfchaften, phyſiſche 
und jeelifche, die mir dev Mation erhalten möchten, bewahrt 
bleiben . . . Dabei handelt es fich um Werturteile .... Es Handelt 
ſich überhaupt um ein irrationales Moment „nt. 0 

Hierzu ftimmt Naumann, ©. 32f. feines Buches: „Das 
Naturrecht aller Menfchen auf gleiches Glück . . „" heute iſt es 
ein überwundener Standpunkt, deſſen weitere Geltendmachung eine 
politifche Schwäche iſt. . . Es würde gut fein, wenn endlich Die 
Naturrechtslehre, diefe Quelle von einfeitigen Konfteuttionen und 
Sentimentalitäten, aus dem Gedankenſchatz einer um Macht 
kämpfenden Volksbewegung geftrichen würde! , . Wir wollen, 
wenn wir Bolitik treiben, ung nicht einbilden, damit das Menſchen⸗ 
glück aller Einzelnen mejentlich zu erhöhen, wir wollen auch nicht 
glauben, in politifchem Kampfe jelber glücklicher zu werden. Es 
drebt ſich nicht um Glüd, fondern um Pfliht 2... 

Sab und Gedanfenreihe find damit noch nicht zu Ende, 
Aber die Fortfegung gehört in das nächite Kapitel. — 



























—E— G 
4. De 

Wir haben vielleicht ſchon bei dev Ablehnung des; Natur- 
rechts in dem legten Citat aus Naumanns Buche die Empfindung 
gehabt, daß es fich dabei am Ende nicht nur um Rouffeau, 
ſondern auch um altchriftliches Gut handelt, Naumann felber 
giebt diefem Gefühl auf S. 34 jehr fcharfen Ausdrud, 7 


*) Bericht fiber die Verhandlungen des fünften an 
Kongreſſes, abgehalten zu Frankfurt a. M. Berlin 1894. [0 20 





zu Naumanns „Demokratie und Raifertum“, 507 


In der That wird man fich nicht ohme Kampf zu der Weber» 
zeugung veritehen, daß die Moral des Chriſtentums eine vein forma⸗ 
liſtiſche ſei und in den Worten: Gefinnung, Selbftverantwortlichkeit, 
Freiheit! aufgehe. Ein Inhalt ift zu er Urfprüngen 
her mit dem Chriftentum überkommen, eine materielle Tugend; 
die Barmherzigkeit, „Seid barmberzig gleichwie euer Vater 
im Himmel barmherzig iſt!“ Die Barmherzigkeit wird von Jeſus 
als die Volltommenheit feiner Jünger bingeftellt, wie fie die 
Vollkommenheit ihres himmlischen Vaters ift (Luk. 636 Matth. 545). 
Noch geläufiger iſt und die nämliche Tugend, unter dem Namen 
der Nächitenliebe, der dienenden, fich ſelbſt verleugnenden und 
opfernden Nächjtenliebe. „Du ſollſt deinen Nächten lieben als 
dich ſelbſt· — das war-ohne Zweifel ein altteftamentlicher Lieblings» 
ſpruch Jeſu, ebenfo wie Hofen 66: „Ich habe Wohlgefallen an 
Barmberzigfeit und nicht um Opfer“ (Matth. 913 und 127, vgl. 
die Verwendung von I Sam. 15 22 in Mark. 12:35). Man hat 
neuerdings die zentrale Bedeutung des vornehmften und größten 
Gebots für Die Lehre Jeſu beanftandet?). Aber dns ift doch 
nur angezeigt, fofeen es fir den Mittelpunkt eines ethifchen 
Syftemes Jeſu ausgegeben wide; als ein Lieblingswort, das 
ſonderlich in der Diskuffion mit den Schriftgelehuten. feine Rolle 
fpielte und vortvefflich wiedergab, was Jeſus dachte, mas auch 
feine Jünger zu lehren ihm am Herzen lag, was er; mit feiner 
That befiegelte, wird. e8 niemand bejtveiten wollen. 

Freilich darf man aus dem „mie dich ſelbſt“ nicht ungefähr 
daS Gegenteil von dem, was Jeſu im Sim lag, herauseregefieven 
wollen: eine Pflicht dev Liebe des Menjchen gegen fich jelbit. 
So auch ein Schleiermacher, Chriftliche Sitte S. 260: „Wenn 
Ehriftus jagt: Liebe deinen Nächten als dich feldft, jo lehrt ex, 
daß wir aus dem, was wir uns ſelbſt jchuldig find, zu bes 
stimmen haben, was wir für den Nächten thun müffen, folglich, 
daß wir immer auch uns felbft fchuldig jein müjfen, was 
wir anderen fehuldig find," Wäre diefe horrende Exegeſe 
richtig, jo würde man allerdings gut thun, die —— dieſes 

) Johannes Weiß, Die Predigt Jeſu vom * Gottes. 2. 
©. 137, AT 







508 Made: Theologifche Randgloſſen 


Wortes in dem Gedantenkreife Jeſu möglichft gering einzufchägen. 
Aber eben in diefem ganzen Gedankenkreiſe kann es ja gar Feine 
andere Bedeutung haben als die Zumutung einer Liebe, die dem 
Nächiten alles, fich ſelber gar nichts ſchuldig ift. Jeſus veflektiert 
auf die natürliche Liebe des Menfchen zu fich jelber nicht viel 
anders, wie in jenem Gleichnis auf die Klugheit des ungerechten 
Haushalters. Willft du wiſſen, was dein Nächter bedarf, was 
er mag, was ihm wohlthut, was du ihm alfo anthun ſollſt, gedenk 
an dein eigen Bedürfen und Verlangen und befriedige das nicht 
dir, fondern ihm. Der Spruch gehört mit feinem ganzen Inhalt 
hinein in die Reihe dev Selbjtverleugnungsiprüche, die ihr volles 
Licht exft durch die Selbfthingabe Jeſu bekommen haben und im 
geradem Widerfpruch ftehen zu allem Gerede von „Pflichten des 
Menſchen gegen fich jelbft", berechtigter Eigenliebe, unveräußerlichem 
Selbfterhaltungstriebe: Mark. 10 42 —46 u. a. ES giebt in der 
Moral Jeſu feinen Raum für irgendwelche Verpflichtung zur 
Selbjtliebe, fondern für ihm hat die alles verfchlingende Liebe zu 
Gott nur den einen Weg fich zu offenbaren: die unbedingte 
Nächftenliebe. 

Hiermit kommt Inhalt in den Fategorifchen Imperativ der 
Gefinnungsmoral der Bergpredigt. Und merkwürdig: begegnen wir 
nicht auch diefer Wendung bei Kant, wenn er feine Forderung 
weiter formuliert: „Handle fo, daß du die Menfchheit, ſowohl in 
deiner Perſon als in der Perſon eines jeden Anderen, jederzeit 
zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchft"? Nur daß 
diefe Formulierung meit Hinter dev radikalen Zumutung Jeſu 
zuriicbleibt, jo daß ihr mit beiläufiger Erwähnung in — 
Zuſammenhang Ehre genug angethan ift. 

Aber was in aller Welt foll der Politifer mit einem fo 
bochgefpannten ethiſchen Idealismus anfangen? Muß er micht 
ihm mit demfelben Ernſte ablehnen wie das Nouffeaufche 
Naturrecht jedes Einzelnen auf das gleiche Glüd? Nun, es ft 
doch ein großer Unterſchied. Einmal handelt es fich nicht um 
„Glück“. Zweitens handelt es fich nicht um eine Gemeinfchaft 
von Glücklichen. Es handelt fich in der urjprünglichen chriftlichen 
Ethit, in der Ethik Jeſu Überhaupt nicht um eine Gemeinjchaft 


I 





zu Naumann „Demokratie und Kaiſertum“. 509 


zunächit, fondern um Einzelfeelen. Indem feine eigene Liebes- 
gefinnung auch die dev Jünger wird, indem fo alsbald ein Menfchen- 
freis da iſt, der im gegenfeitigem Handeln diefe Gefinnung übt, 
befommt allerdings diefer Individualismus feiner Ethik ſofort 
eine foziale Wendung. Aber der Ausgangspunkt und Zielpunkt 
jeiner Ideen ift immer das Individuum. Um das forgt und 
müht er fi, das will er erlöfen. Nicht zum „Glück“, fondern 
zur Gerechtigkeit. Und da wird das Motiv der Nächjtenliebe 
für den Politiker doch fruchtbarer, als auf den erften Blick ſcheinen 
wollte. Da zeigt es eine Kraft zur Gthifierung dev Klaſſenkämpfe 
und Völkerkämpfe, die wir nicht ſofort hinter ihm gejucht haben. 
Wie das? 3 

Durch das Gleichnis vom barmherzigen Samariter hat Jeſus 
die Thatfache nicht aufheben wollen, daß jedes Individuum, alfo 
auch jeder Ehrift, durch Natur und Lebensführung feine „Nächiten" 
bat. Die Gejchichte vom barmberzigen Samariter hat etwas 
Paradores. So muß e3 nicht fein, fo darf es in der Regel nicht 
fein, daß die Nächten als Freunde und Feinde, der Fremde und 
Feind aber als Nächfter fich bewähren. Thatjächlich ift der Kreis 
der Hausgenoffen, der Arbeits- und Standesgenoffen, der Volks— 
genofjen naturgemäß der, in dent chriftliche Liebesgefinnung ſich 
zuerft und am fräftigften beweiſen foll. Zu den Zeiten von 
I Tim. 58 ift das noch vichtig verftanden worden. 

‚Hieraus ergiebt ſich für ein ungeheuer weites Gebiet des 
politifchen Handelns das „gute Gewiſſen“ gevade unter der 
Herrſchaft des Prinzips der Barmherzigkeit, der Nächftenliebe, ja 
des Mitleid. Der Einzelne jchließt aus dem, wie und wo ihn 
der Schuh drückt, auf die Not und das Bedürfen feiner Schicht, 
und er geht num für das Mögliche an Beränderungen zur Abs 
hilfe mit all feiner ſtaatsbürgerlichen Macht ins Zeug. Aeußer— 
lich mag man jein Auftveten von dem des Egoiſten ſchwer unter: 
jcheiden Können; auf dem politischen Markte gelten ſchließlich 
nicht die Motive, fondern die Kräfte; aber innerlich ſteht es eben 
faktiſch fo, daß nicht der Selbjterhaltungstrieb oder gar die „Pflicht" 
der Selbjterhaltung, die es vor dem chriftlichen Forum nicht giebt, 
fondern die Liebe ihm drängt: Diefe innere Situation, die mit 


































510 Rade: Theologische Randgloſſen 


jenem Inhalt der chriftlichen Moral rechnet, überbietet an Wert 
und Tragkraft weit jene andere, die nur in dev Form der freien 
Geſinnung das weſentlich Chriftliche ſieht. um 

Schleiermader a. a. ©. lehnt allzu vafch, wie mich dünkt, 
einen verwandten Gedanken ſchroff ab. Er hat zuvor feitgeftellt: 
da die Ausfprüche Chrifti und der Apoftel überall das Dafein der 
bürgerlichen Gefellichaft vorausjegen, jo dürfe nicht angenommen 
werden, daß die Bergpredigt Anmeifungen enthalte, die den Staat 
auflöfen würden. Er fährt fort: „Num könnte man jagen: Was 
Chriſtus hier fordert, ijt doch nur, daß jeder fürjeine Berjon 
das Unrecht geduldig ertrage; dabei kann aber der Staat jehr wohl 
bejtehen, wenn nun nur die Mebrigen, denen das Unrecht 
eben nicht zugefügt wird, deſto eifriger dafür jorgen, daß 
die Steafgerichtsbarfeit des Staates dem Verletzten zu Hilfe Eommt; 
und das iſt es alfo, was der Herr fordert, wenn doch feſtſteht, 
daß er nichts weniger beabfichtigt als das Aufhören des Staates; 
ex befiehlt: Leidet das Unvecht, aber duldet nicht, daß es an— 
deren zugefügt würde.” Schleiermacher verkenut die Pointe 
diefer Gedanfenreihe durchaus, wenn ex fie jo kritifiert: „Das hat 
einige Aehnlichkeit mit der Rantifchen Theorie, daß niemand forgen 
folle fie feine eigene Glückſeligkeit, aber jeder für die des Anderen, 
ift aber, wie diefe Theorie, auch ein unnützes Spiel, ein leeres 
Hinundherfchieben der Sache aus einer Hand in Die andere und von 
dem Sinn Chriſti weit entfernt." Mir feheint im Gegenteil, daß dieſes 
wundervolle Spiel gegenfeitigen Dienftes genau den Sinn Chrifti 
trifft, und daß alle Schönheit chriftlichen Ehelebens, chriſtlichen 
Familienglücks, chriftlicher Freundfchaft u. |. m. eben darin beruht! 

So auch bietet diefe Auffaffung die alleinige Möglichkeit zur 
Ethifierung des Alafjenfampfes vom chriftlichen Standpunlt aus. 
Sie befähigt den Ehriften zur ſchärfſten Intereſſenvertretung, fie 
macht ihm zum. gemifjenhaften und treuen Glied oder, wenn er 
ſonſt die Begabung dazu hat, Führer dev Volksfchicht, der er ans 
gehört. Alle Tugenden, die man in ſolchen Kämpfen ſchätzt und 
bewährt, kann ev, von dieſem Geift erfüllt, entwickeln. Ich meine, 
Naumann hätte an der Stelle, wo ex Rouſſeaus Naturrecht 
zum alten Eifen wirft, für die ungehobenen Kräfte, die in ber 





zu Naumanns „Demokratie und Kaiſertum“. 511 


Lehre von der chrijtlichen Nächſtenliebe nach diefer Richtung hin 
liegen, einige Aufmerkſamkeit übrig haben können. Dann brauchte 
ex dem „früheren Pfarrer“ ‚die Situation nicht ſo ſchwer zu machen, 
wie ev fie ihm dort ©. 34: gemacht hat. 

Aber Naumann denkt in feinem Buche durchweg viel weniger 
an die politifche Arbeit, wie fie im Innern gefchieht, trogdem er 
es ein Handbuch der „inneren Politik“ nennt. Seine Seele ift 
ganz erfüllt von der äußeren, wie ex denn ausdrüclich fagt: „Die 
äußere Politit iſt wichtiger und folgenjchwerer als die innere.“ 
Ueber diefen Sat ließe fich lange ftreiten. Mix jeheint erſprieß— 
licher, auf etwas Anderes hinzumeifen. Das ftaatliche Handeln tft, 
auf das handelnde Individuum gefehen, ein jehr verjchiedenartiges 
in der äußeren und in der inneren Politik. In der inneren. ifi’s 
ein Spiel vieler Kräfte, ein Ringen vieler Perfonen, ein häuslicher 
Streit. Der Schade, den der Einzelne anrichten Fann, ift gering; 
der Erfolg des Streites für den ganzen Umkreis, in dem er ver 
läuft, ift verhältnismäßig gleichgiltig; eine Korrektur des momentan 
zu jtande Gebrachten, ein Umſchwung ift leichter möglich: kurz, ein 
gefunder Staat verträgt in feinem Innern an Leidenschaft und 
Thorheit unglaublich viel, ex bietet aber auch fortwährend allen 
eihifchen Faltoren die verſchiedenſten Möglichkeiten poſitiver Ber 
thätigung. Ganz anders in der auswärtigen Politif. Schon darin 
zeigt fich der große Unterjchied, daß die auswärtige Politit genau 
bejehen immer. die Sache des einzelnen Staatsmannes ift. Der 
regierende Fürft, der leitende Minifter, dev Botjchafter oder 
Gejandte vertreten in äußeren Angelegenheiten den Staat gegen- 
über anderer Staaten; ihr Handel iſt von den Mit-Staatsbürgern 
um ſo weniger zu kontrolieren und zu beeinfluffen, je Kleiner die 
Zahl derer ift, die Einficht in die ‚gegebenen Bedingungen haben 
Lönnen; dabei muß gerade in wichtigjten Momenten vajch und 
mit dem vollen Riſiko der eigenen Verantwortung gehandelt 
werden. Der mit. der auswärtigen Politik beauftragte Staats 
mann kann und muß im gewiffen Enticheidungen das Bewußtſein 
haben: der Staat bin ich. Wird auch ihm für fein Amt das 
Prinzip der Mächjtenliebe den Dienft dev moralifchen Stärkung 
und Weifung gelten können? 








































512 Rade: Theologifche Randgloſſen 


Ja und Nein. Ja, ſofern auch ihm die Fürſorge für ſeinen 
Staat zuſammenfüllt mit der Verpflichtung gegen die Menſchen— 
gruppe, die ihm von Haufe aus die nächſte iſt, mit ſeinem Volk. 
Nein, fofern ihm durch feinen befonderen Beruf andere Menjchen- 
gruppen, andere Staaten, auch „Nächſte“ geworben jind, die jein 
menfchlichschriftliches Intereſſe mehr oder minder beanfpruchen. 
Der Fall ift oft genug dagemejen, daf ein Gejandter mit jenen 
moralifchen Empfindungen in einer beftimmten Angelegenheit auf 
feiten des Widerparts war und nicht auf feiten des Staates, 
den ev vertrat. Vom chriftlichen Standpunkte würde es da 
allerdings das Nichtige fein, wenn der Gefandte dann lieber auf 
feinen Poften verzichtete als dem Unrecht feinen Arm liehe. Aber 
jegen wir einen Staatömann, der alle Fülle der Gewalt feines 
Staates in fich veremigt — einen Bismard auf der Höhe feiner 
Reiftung —, fo werden wir beobachten, daß die Beweglichkeit 
feiner moralischen Entſchließung außerordentlich eingeengt ift durch 
die Natur des Dinges, dem er dient. Denn der Leiter des 
Auswärtigen hat es im Staat, den er „regieren“, den er in einer 
beftimmten Richtung durch das Gedränge dev anderen Staaten 
hindurch lenken fol, eben nicht mit einer Perſon zu tbun, fondern 
mit einem jehr kompliziert aus Menfchen und Sachen zuſammen— 
gejegten Gebilde, das als ſolches moralijchen Erwägungen Feines: 
wegs zugänglich ift. Laſſen wir doch alle rationaliftijchen und 
ibealiftifchen Staatsbegriffe in ſolchem Zufammenhange bei Seite! 
Hier herrjcht der Selbjterhaftungstrieb, eventuell der Trieb nach 
Ausdehnung und Macht, mit Naturgemalt. Gewiß, das Volk, 
das in dem Staate zufammengefaßt ift, hat feine moralijchen 
Kräfte, der Staatsmann, dev das Ruder führt, ebenfalls feine 
moralifche Kraft und Verantwortung. Aber das iſt eine lücken— 
hafte und verfehlte Gejchichtsbetrachtung, die nicht jehen will, 
wie im Zufammenprall der Völker und Staaten Naturgewalten 
ich geltend machen, denen dev Menjch ebenſo mächtig umd ohn- 
mächtig gegenüberfteht, wie Naturgewalten jonft. Und der Grund: 
zug aller Staatennatur ift derfelbe wie der Grundzug jeden Dinges; 
mit Spinoza zu reden — Unaquaeque res, quantum in se 
est, in suo esse perseverare conatur, Hier von „Egoismus! 


zu Naumanns „Demokratie und Kaiſertum“. 513 


der Staaten zu reden, ift miv zu bildlichephantaftifch, zu ſehr 
perjonifizievend. Der Staat ift feine Perſon; er kann nur gelegent- 
lich, wenn das tertium gegeben ift, mit einer menjchlichen Perfon 
verglichen werden, und ev faßt allerdings Perfonen in fich, die an 
feinem Getriebe Anteil haben und in Gottes Namen eine immer 
größere fittliche Herrfchaft darüber gewinnen follen, Steht es 
aber fo, dann ift eben der Ausübung der Menfchenliebe durch 
die Naturhaftigleit des Staatsweiens eine große Schranke gejeßt, 
und die Ueberwindung diefer Schranfe die hohe fittliche Aufgabe, 
an der ein Volt oder ein Staatsmann je nach Möglichkeit ihre 
fittliche Kraft zu erproben haben. 

Man begegnet im chriftlichen Ethiten einer Schäßung des 
„Staates“, an der gemeffen dev eben vorgetragene Gefichtspunft 
faft ketzeriſch evjcheinen mag. Thatjächlich hat Jeſus Ehriftus 
auch nicht das leiſeſte Antexeffe fir den Staat verraten. Auch 
in der Gefchichte Mark, 12 15-17 nicht. Jenes Suum cuique, 
das Jeſus ausfpricht, hat wenig Ehrfürdhtiges und Exhebendes 
für den Staat. Gebet dem Kaifer, was des Kaiſers ift; den 
Mammon dem, von dem ihr ihn habt; dem Weltreiche das, mas 
zum Weltreich gehört! Jeſus mag das in demjelben Tone gejagt 
haben, wie jenes; Laſſet die Toten ihre Toten begraben! — 
Eines aber ift not: gebet Gott, was Gottes ift. Bon Jeſus 
find die Jünger nicht zu Staatsbürgern erzogen worden, weder 
des jüdifchen Nationalftaates, noch des Nömerftaates. Wenn 
aber Paulus Röm. 13 1-7 jene weltgefchichtlichen Worte jchreibt 
und damit die pojitive Haltung des Chriftentums zum Staat 
inauguviert, jo wird auch da m. E. von Theologen Doch zu viel 
bineingelefen. Gewiß, wenn es ein Unrecht ift, aus Jeſu kurzer 
Streitrede eine ganze Staatslehre zu entwideln, jo giebt Paulus 
eher den Stoff dazu. Offenbar waren in Nom Ehriften, die mit 
der Abſage an heidnifches Wefen auch die Abfage an den Staat 
für angezeigt hielten. Mar bedenke dazu, wie in der griechijchen 
Moral der Staat alles war. Paulus hätte dem gegenüber auch 
den Staat zu den Einrichtungen der Dämonenherrjehaft in der 
Welt rechnen können. Aber er ſchätzt ihn unter die Schöpfungs- 
ordnungen Gottes ein. Was er da fchreibt — nad Rom —, ift 


514 MRade: Theologijche Randgloſſen 


ein großartiges Zeugnis fir das römiſche Reich und das römiſche 
Necht. Eime ganz von Heidentum getragene Inſtitution Gottes 
Dienerin! Es ift mehr und bewegt fich doch noch auf der jelben 
Linie, wie wenn ev II Theſſ. 267 von dem vedet, das da „och 
zurückhält“. Aber die Würdigung des Staates, wie wir Heutigen 
fie hineinlefen, ift doch um des Paruſiegedankens willen unmöglich. 
Es ſchwebt doch über allen diefen Worten I Kor, 739: „Die Zeit 
drängt." Und aller Reſpekt vor dev Gottesordnung „römiſcher 
Staat” hindert den Apoftel nicht, die Chriften in Korinth anzufahren, 
die bei den Ungerechten Necht nehmen anftatt bei den Heiligen: 
I Kor. 61-8. Darum follen wir unter aller Beachtung und Ver— 
wertung jener apojtolifchen Inſpiration wiſſen, daß wir unfere 
Staatslehre nicht aus dem Neuen Teftament fertig ablefen können, 
ſondern daß wir fie, gleich Paulus, vielmehr aus der Natur der 
Dinge und der gefchichtlichen Erfahrung nehmen müſſen, dabei des 
Geiſtes brauchend, deffen Kinder auch wir find. Hier liegt die große 
Freiheit begründet, mit der die chriftliche Moral als ſolche gerade 
das politifche Gebiet betritt, aber auch die große Unficherheit, mit 
der fie vorwärts ſchreitet: fie entfernt fich da eben mit jedem 
Schritte von dem Mutterboden, auf dem fie zu Haufe iſt. Mag 
fie e8 dennoch thun! Aber neue Zeiten brauchen da neue Führer. 
Und am ſchwerſten wird es immer fein und bleiben, chriftliche 
Maßſtäbe für die Kunft der auswärtigen Bolitif zu gewinnen. 

Aber nicht viel anders fteht doch zu dieſem Objekt jede 
fonftige Moral. Mag fie den praktiſchen Politiker ſelbſt Die 
äußere Politik fich unter dem Gefichtspunkte der Machtverfchiebung 
immer wieder als die fcheinbar wichtigere, weil großartigere und 
folgenjchwerere darjtellen: das moralifche Intereſſe haftet zunächſt 
an dem zugänglicheen Bereiche der inneren Politik und kämpft fich 
nur mühſam an die jpröde Welt des Auswärtigen, der Beziehungen 
von Staat zu Staaten, hevan. Und doc) ift nicht zu verfennen, 
daß auch in diefer Richtung ein Fortſchritt gefchehen ift. Wir 
haben vom chriftlichen Standpunkte aus alle Urſache, uns für 
diefen Fortjchritt zu erwärmen,  Selbft Naumann redet, freilich 
nur mit Bezug auf die inneren Kämpfe, davon, daß der Einzelne 
den Willen haben joll; den Machtkampf ethijch zu führen, und 


































zu Naumanns „Demokratie und Kaifertum“. 515 


dazu helfen ſoll, daß die Machtübung feiner Schicht „ohne Bar— 
barei und Bosheit“ geſchehe. Warum hat ev für eine Ausdehnung 
diefer Tendenz auf das Verhältnis der Staaten unter einander 
ſcheinbar fo gar nichts übrig? Warum thut er jo, als wäre der 
Kulturfortfchritt vom alten Fehderecht zu einem bejjeren nur 
dadurch gefchaffen worden, daß Rudolf von Habsburg die Raub- 
grafen hängen ließ? Kann er wirklich glauben, daß der Welt 
friede, den er gelegentlich als ein ſchönes Ziel gelten läßt, nur 
durch „die Entjtehung größerer Machtzentren“ gefördert wird? 
Giebt es außerdem, daß wir „das Machtproblem begreifen“, nicht 
vielleicht doch auch noch andere Arbeit, des Schweißes der Edlen 
wert, nämlich daß wir „Erwägungen der Gerechtigfeit" eine 
größere Bedeutung verfchaffen in der auswärtigen wie in der 
inneren Politik, als fie freilich heute. befigen mögen? Kann man 
nicht vielleicht mit ihm für das Deutfche Reich Schiffe bauen und 
dennoch den weltgejchichtlichen Wert der Haager Konferenz höher 
einshägen? M. a. W, kann man nicht der Wahrheit, daß dev Staat 
Macht ift, ernſtlich gerecht werden, und dennoch den „allgemeinz 
menjchlichen, rein fittlichen” Motiven dev chriftlichen Religion ihre 
Miffion wahren auch bis in die äußerften Enden des ftaatlichen 
Handelns hinaus, jofern e8 doch Menfchen, vielleicht ſogar Ehriften 
find, die da handeln? > 

Ich kann nach alledem die Gedanfenfolge in Naumanns 
Buch immer wieder nur al3 eine „bewußt einſeitige“ würdigen. 
Indem ev jchrieb, was prinzipiell auch ein Nichtpfarrer, Nichts 
theolog, Nichtchrift jchreiben konnte, wollte er fich ausweiſen als 
Politiker und fonft nichts, wollte beweifen, daß er die Eierfchalen 
feiner Vergangenheit von fich abgeftreift habe und von den Berufs- 
politifern als ihresgleichen ohne Vorbehalt anerkannt werden 
müſſe. Ich kann das vollfommen verftehen. Aber ich kann nicht 
aufhören zu hoffen, daß ihm ein Exbe aus feiner chriſtlichſozialen 
und kirchlichtheologiſchen Zeit. doch auch für feine berufspolitifche 
Zukunft fruchtbar werden möge, nicht zum Schaden, jondern zur 
direften und indirekten Förderung feiner politischen Wirkjamteit. 

Es ift ja auch gar nicht. zu. verfennen, daß eine glühende 
Ziebe zu feinem Volt, und zwar fonderlich zu der Schicht, welcher 


4 


— 


516 Nade: Theologifche Randgloſſen 


um des Ganzen willen die Oberhand gebührt, ihm auch in diefem 
legten Buche die Feder geführt hat’). Aber wie nüßlich ſelbſt in 
dem ganzen Näfonnenent chriftlichhumane Erwägungen hätten 
wirken können, ſelbſt zur Erreichung des nächiten Zweckes, Demo- 
fratie und Kaifertum zufanmenzubringen, lernt man aus der Be- 
fprechung, die Brentano in der Beilage zur Allgemeinen Zeitung 
Nr. 119 vom 25. Mai dem Buche hat zu teil werden lafjen, 
Da unfern Leſern das Blatt vielleicht nicht zugänglich jein wird, 
ſchreibe ich einige Sätze aus: 

„Nicht nur, daß es eine wunderliche Zumutung ift, von Perfonen, 
deren von der Gewalt gefchlagene Wunden noch kaum vernarbt find, Die 
Verherrlichung der Gewalt zu verlangen, Naumann widerftrebt mit feiner 
Gewaltverherrlichung einer bei allen Völkern in breiten Volksjchichten, nicht 
bloß bei den Sozialdemokraten, tief wurzelnden ethifchen Anfchauung, 
Was den gemeinen Mann bei allen Völkern beberrfcht, ift das natür= 
liche Rechtsgefühl . . . Nun ift gewiß die Methode, aus der natür- 
lichen Gleichheit politiſche Poſtulate abzuleiten, eine längſt überwundene; 
allein daß ein jeder ohne Ausnahme berufen ſei, alle ſeine Anlagen = 
nicht zu gleicher, aber zu größtmöglicher Entfaltung zu bringen, Ü 
Hoffnung, die das Wolf nie fich wird rauben laffen. Wie fie vor Zeiten 
dem Siege des Ehriftentums den Weg geebnet hat, heit es Das 
Beſte in der heutigen fozialen Bewegung verfennen, wenn man, wie Nau- 
mann dies thut, ihr zumutet, diefe ihre Grumdanfchauung aus ihrem Ge— 
dankenſchatze zu ftreichen. Die Arbeiterklafje wird und fann niemals auf 
fie verzichten, 

„Und aus eben diefem Grunde werden auch niemals Argumentationen 
zu Gunften der Flotte bei der Mrbeiterklaffe verfangen, welche diefe nur 
als Mittel erfcheinen Iafjen, andere Volker anzugreifen, um fie 
and ihrem derzeitigen Befibitande zu vertreiben. Der wefteuropäijche 
Arbeiter hat heute ein zu ſtarles Gefühl von der Solidarität der 
Intereffen der Arbeiter aller civilifierten Länder, als daß er für einen 
Rampf für folche Ziele fich begeiftern ließe; und ſelbſt dem englifchen 
Arbeiter, der heute, entgegen den Beften unter feinen Führern, den Krieg 
gegen die Buren billigt, hat mar zu dem Zwed vorlügen müfjen, die Eng- 
Länder kämpften für Recht und Freiheit gegenüber ſchnöder Bier 
drüdumg. Dagegen find unfere Arbeiter gleich denen aller übrigen La 
äußerft empfindlich, wo es ſich um eine Vergewaltigung nationalen Neck “ 
Handelt. Hier find fie, wie Naumann wiederholt äußerft richtig here 

u "u 








3) Bgl. Hierzu die hübſche Nechtfertigung von Swigers: Zur Be 
urteilung des Politilers Naumann, in Ehriftl, Welt 1900 Nr. 24. 


zu Naumanns „Demokratie und KRaifertum“. 817 


vorhebt, jederzeit bereit, begeiftert die Waffen zu ergreifen. Warum hat 
er bei feiner Empfehlung der Flotte nicht da angefnüpft ?” 

Vermutlich ſchwebt Naumann und den Theologen, die feiner 
ſchroffen Abkehr von der Verwertung chriftlicher und ethifcher 
Motive unbedingten Beifall jpenden, die Erinnerung an Luthers 
Scheidung von Geiftlihem und Weltlihem vor. Aber nicht jederlei 
Scheidung diefer beiden Gebiete ift Iutherifch oder chriftlich. Ich 
verachte ficher nicht den Segen jener weltgefchichtlichen That. "Auf 
eine nähere Unterfuchung defjen, was Luther wollte und meinte, 
mag ich mich jet nicht einlafen, obwohl fie hierher gehörte wie 
nur irgend etwas jonft: es hätte ohne große Ausführlichkeit feinen 
Wert. Nur dies möchte ich fagen. Was an der Scheidung richtig 
ift, hat fich auf proteftantifchem Boden durchgefegt und ift Gemein- 
gut aller Berftändigen geworden. Geftritten und gearbeitet Tann 
nur werden um die richtige Beziehung der beiden Gebiete, um 
die rechte Fruchtbarmachung der chriftlichen Kräfte und fittlichen 
Ideen für das Öffentliche Leben. Iſt Politik die Kunjt des Mög- 
lichen, fo ift Moral die Kunft des fittlih Möglichen. Der Staat 
als Macht wird irgendwie höheren Zwecken. zu dienen haben. 
Die zu erkennen und zur nachdrüdlichen Anerkennung zu bringen 
ift doch vielleicht die fehönfte Aufgabe eines Politifers. Ich ver- 

. traue der ernften Entjchlofjenheit, mit der Naumann gerade in 
feinem legten Buche die Politif anfaßt, daß er fein letztes Wort 
noch nicht gefprochen hat. 








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