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Full text of "Zeitschrift für Theologie und Kirche"

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I 


^ 


.  Z^i 


3ctffc^riff 

füt 

in  SSecbtitbiins  iftit 

D.  g.  ^arnaif,  ^lofeffor  ber  Ziieologie  in  SSnliii,  D.  SS.  ^trnuann,  $rO' 

fclfoi  btx  %I)eologie  in  änarburg,  D.  3.  flaftui,  ^tofefTor  ber  Z%to^0t 

in  Sätilin,  D.  91.  fttiWt,  ^rofeffoi  bei  ^^eologie  in  ^aOe  a.  S.,  D.  fl.  SeD, 

^tofeffor  bet  2()eologie  in  Sonn, 

Irerauägegeben 


Blei'ieftnlev  Jalireang. 


£  ü  6  i  ti  g  e  n 

«eilofl  oon  3.  S.  «.  3m  0  ^  t  (^oul  «ubect) 
1904. 


^He  9ieci^te  vorbehalten. 


•  -  -  • 


^nid  bon  $.  £au^^  jr  in  Tübingen. 


J[  n  Ir  tt  1 1^ 


Seite 

„SBer  faget  benn  i^v,  bag  td)  fei?''    SSon  f  ^ermaitn  6igul^,  meUmtb 

Sßrofeffor  bcr  ^^eologtc  m®öttingen 1 

SefuS  ol§  fßrcbigcr.    SBon  3»  ^trjog,  $ßfarvcr  in(iJcrnngen    .    .      44 
SO'loberne  ^Igeologte.    S3on  $aftor  i^.  SB.  Sretierabenb  gu  ^  u  6  e  n  a  in 

3)cutfcf)::§Äu6ranb 98 

3ur  2)ogntotif.  SJon  3uHu»  Paftatt.  IV.  6.  2:rinitat§Ic]^rc  unb  e^rifto« 

logie 148 

S93a§  tüir  Don  ben  babt^Ionifd&en  Sluggrabungcn  lernen.   S3on  lic.  theol. 

?.  »olj,  @tabt))farrcr 193 

^ie  Uebeminbung  ber  nted^ioniftifd^en  £e^re  bom  £eben  in  ber  heutigen 

SRatwrtoiffenfc^aft.     »on  lic.  theol.  9^.  Otto  in  @  ö  1 1  i  n  g  c  n      .    234 
3«r  9)ogmattf,    »on  3MHtt3  ftttftan.    V.    7.  S)ie  jPauIiniWe  gJrebigt 

Dorn  ^xm  3efu  (S^rifti  273 
^ani  unb  bie  ^^eologie  ber  ©egenmart.  SSon  9Ra£  9{eif4le  ....  857 
S)ie  lebenbige  ^erfönlic^feit  (SJotteS,  feine  Smmanenj  unb  ^iranfgenbeng 

als  religiöfeS  Erlebnis.    S3on  2^«  @teinmann,  S)03ent  am  tl^eol. 

©eminar  in®nabenfelb 889 

e^riftentiim  unb  ffampf  um«  S)afein.    Sßon  Lic.  dmil  3fu<6«,  9^epetent 

an  ber  Unioerptät  ®  i  e  6  c  n 465 

SBa^r^eit  unb  2)ic^tnng  in  unfrer  Sfleligion.    S3on  ^.  ßobftein     ...    507 


t  i^ermaim  Bä^nlli, 

loeilanb  ^rofeffor  bcr  3:^eolo9tc  in  (Sbttingcn. 


1.  „9Ba^  büufct  ®ud)  um  ®^riftu§?"  3)a§  lüav  bic  S^ragc, 
mit  bcr  3^fu§  feinen  ©egnern  in  überlegener  ^o^eit  gegen* 
übertrat  unb  i^rcn  unfruchtbaren  2;f)eologenbüntel  jum  ©c^roeigen 
brachte.  „SÖSer  f  agen  b  ie  SWenf  d)cn,  ba§  id)  f  ei?  9öa§ 
aber  fagt  ^t)  r?"  ba§  ift  bic  ^rage,  mit  bcr  er  ha^  33  c« 
f  c  n  n  t  n  i  §  feiner  3»  ü  n  g  e  r  forbertc,  e^c  er  bcn  legten  fc^meren 
aScg  feinet  Seben^  ging,  ^eibe  fragen  tlingen  Dcrmanbt,  unb 
boc^  ftnb  fic  i^rem  tiefften  ©inne  nad)  oerfc^ieben.  „2Ba§  bünfet 
@uc^  um  ®^riftu§?"  5)a§  ift  bic  S^rage  bcr  2:^eoIogyi.  @o 
t)abcn  fd)on  ^aulu§  unb  ^o^anne^  gefragt.  @o  t|at  bic  ©tiriften« 
i^cit  tauge  ^at)rf)unbertc  l^inburd)  gefragt,  t)at  ba§  ®e^cimni§  ber 
®ottcöfo^nfd)aft  unb  ber  @ottmeufd)^eit  immer  tiefer  bur^bad^t, 
immer  feiner  au§gctegt  unb  au§  fotd^en  Deutungen  ba§  ^^fanb 
unb  bic  ^ebingung  bcr  ®clig!eit  gemad^t.  Unfere  3^it  ^^t  auf^ 
geiiört,  fo  ju  fragen.  9lur  in  ber  3unft  ber  ®e(et)rten  mirb  nod|  um 
bic  alten  Formeln  gcftrittcn  unb  an  bem  ®cf)cimniffe  ber  ®ott* 
mcnfc^tieit  meitergearbeitet.  3)en  ©Triften  unferer  2:age  tritt 
^cfu^  micber  entgegen  mie  cinft  ben  ^fü^Ö^^n  ju  ©äfarea:  fic 
l)örcn  feine  ^rage,  bic  S^age  an  bic  ®t|riften:  „^4Ba§  fagt  Ql)r, 
ba§  id^  fei,  ba§  id)  ®ud)  unb  bcr  SGBcIt  fei?"  Sic  forgen  fic^ 
nic^t  um  bic  @rtcnntni§  ber  2^iefen  ber  ®ottt)eit,  in  ber  bas  ©e* 
t)cimni§  ^cfu,  mic  alle  ®e^eimniffe  ber  ®rbc,  feinen  legten  ®runb 

3eUft^riU  füv  X^eologic  unb  fttr<^f.    U.  ^af^x^.,  1.  §eft.  1 


2  (S(%ul^:  „SBcr  fagct  benn  it|r,  ba^  id^  fei?" 

i|at,  nic^t  um  ba§  a5crl)ä(tni§  üon  ®öttlid|em  unb  3)lcnf(^lid)cm 
in  i^m.  2lber  fic  füllen  fid)  mct)r  unb  mcf)r  mächtig  bcrocgt  unb  bz- 
unrui^igt  bur^  bic  ^i^agc:  8GBa§  ift  um»  bicfcr  Qcfu§,  biefer 
@o^n  bcv  @rbc?  aBa§  bebeutet  er  für  unfer  Scben  unb  Sterben? 
(Sinb  xoxx  nod)  an  i^n  gcbunben  in  unferem  eigenen  religiöfen 
&tbenl  Ober  ift  er  un§  geworben  roie  aubere  ®ro&e  in  ber 
SBeltgefc^id^te,  beren  Saaten  unb  SBorte  fortleben  in  ber  3Äenfd|- 
Iieit,  bie  aber  längft  ni^t  mel^r  perfönlic^  unb  md)t  oline  ©in- 
f(^ränfungen  unb  Sebingungen  al§  §errfd)er  anertannt  werben 
für  ba§  fieben  ber  ©egeniüarl? 

2.  SBa§  bie  jünger  einft  geantwortet  Iiaben,  ba§  \)at  in 
feiner  urfprüngtic^en  ®efta(t  für  bie  Äinber  unferer  3cit  nur  nod) 
wenig  33ebeutung.  @ie  fpre^en:  ,,3)u  bift  ®f|riftu§,  be§  (eben* 
bigen  @otte§  ©o^n."  3lber  wie  fern  fte^en  unfere  Oebanfen  bem 
©inne,  in  bem  ba§  einft  gefagt  ift!  3^li^t  aU  wollten  wir  mit 
fpi^finbigen  Oele^rten  ober  mit  ^^ebanten,  benen  nur  bie  äußere 
äöirfüc^feit  @ef(^ic^te  ift,  an  biefer  Stntwort  jweifetnb  beuten. 
3Bo^t  war  ^efu^  uic^t  ber  S^riftu^,  beffen  33ilb  bie  alte  Sei§^ 
fagung  in  feinet  aSoIfe§  ^erj  geprägt  ^atte,  nid)t  ber  ^elb  mit 
®aüib§  Schwert,  nid|t  ber  ^errfc^er  in  ©alomo§  ^^Srad)t,  nicf)t 
ber  ©erretten  ber  ^eibenwelt.  @r  ^at  ba§  aud^  nid^t  fein  wollen, 
unb  ^at  be§l|alb  ben  6^riftu§namen,  an  ben  fic^  foldie  ©ebanfen 
fc^Iiegen  mußten,  fid^  nid|t  e^er  üon  ben  ©einen  gefallen  laffen, 
bis  fie  Don  it|m  gelernt  Ratten,  basi  9leid)  ®otte§  unb  feine  Orb= 
nungen  anber§  ju  oerfte^en,  at§  bie  SßolfSmenge  unb  eine  anbere 
©c^ä^ung  oon  ^errfdjen  unb  ®ienen,  oon  ©enie^en  unb  ßeiben, 
oon  SRi^ten  unb  Sßergeben  ju  gewinnen.  ®§  würbe  un§  (Jl)riften 
i>fv  ©egenwart  nict)t§  9Befentlid|e§  genommen  werben,  wenn  bie 
moberne  ©fepfiS  ein  9led[)t  f)ätte,  ju  behaupten,  ba^  ^efu§  fic^ 
überl^aupt  nic^t  mit  biefem  Jitel  ^abc  fdjmüdEen  wollen.  2lber 
^efu§  ift  bodt)  für  jeben  (£l)riften,  ber  auf  bie  ©adie  unb  nid^t  auf 
bie  äu&erli^e  g^orm  blidCt,  ber  (£^riftu§,  ber  @otte§|of)n,  b.  ^.  ber 
wirflidje  Slbf^lu^  unb  bie  redete  Strone  ber  großen  geiftigen  @e* 
f^idf)te  ber  Sieligion  in  Israel,  unb  ber  ^err  unb  9iid)ter  in  bem 
geiftigen  Siei^e,  ju  bem  bie  bebeutung^oolle  religiöfe  SBelt  in 
biefer  Ülation   ftd)  entfaltet  I)at.     Unb   wer  uic^t   über  5lleinem 


@d)uU:  ,3er  faflet  benn  i^r,  ha^  ic^  fei?"  3 

@ro$c§  ucvgeffcu  rüiü,  bcr  roirb  au^  nid^t  bejroeifeln,  ba§  3>^iu§, 
lüie  er  in  feiner  Q^xt  unb  in  feinem  SBoIfe  mu^te,  ba§  ®et)cimni§ 
feinet  S35efen§  an  bag  alte  l^eitige  9Bort  ber  'ißrop^eten,  an 
ben  (£f|riftu§namen  gehiüpft  ^at. 

3fefu§  ift  aud)  nn§  ber  ®^riftu§,  auf  ben  bie  altteftament* 
lidjc  aieligion,  bie  Sleligion  ber  ^rop^eten  unb  ^fatmen,  I)infüt)rt. 
@r  ift  ber  @otte§fot|n,  in  bcm  bie  ®otte§fo^nfd^aft  be§  SJolfeg 
3[§rael  fid^  üertlärt  unb  uoüenbet.  S)iefe  gefd)ic^tti(^e  @^re  wirb 
fein  Unbefangener,  auc^  unter  benen  in  ber  SfJlenfc^^eit,  bie  fici) 
nic^t  ju  i^m  befennen  mögen,  i^m  ftreitig  mad)en.  2(ber  t)a^ 
tann  borf)  nur  menig  für  u  n  §  bebeuten.  Sangft  ift  un§  i5>^^öel§ 
5ReIigion^gefd)ic^te  fremb  geworben,  fo  fel|r  mir  unö  auc^  cinjel- 
ner  Äleinobien  freuen,  bie  au§  i^r  in  ba§  @rbe  ber  SWenfc^^eit 
übergegangen  finb.  SQ3ir  i)abzn  gelernt,  fie  aU  einjelne^  ®Iieb 
in  ben  großen  Organismus  be§  religiöfen  SebenS  ber  SWcnfc^l^eit 
einjufügen,  bcr  für  un§  ®efd)ic^te  geroorben  ift.  9Bir  fennen  ilirc 
menfdölidien  (Seiten,  it)r  ©tüdmerf,  i^re  ooItStümlid)e  Sigenart,  bie 
unS,  ben  Sinbern  anberer  3^iten  unb  anberer  SSoltSart,  fremb 
bleiben  mu^.  deiner  üon  unS  fü^lt  fid)  in  feinem  eigenen  reli= 
giöfen  Seben  burd)  biejc  5RetigionSgefc^ic^te  innerlich  bet)errfd)t  unb 
befreit,  fo  lieb  unb  bebeutungSoott  it)m  aud)  oieteS  auS  i^r  feit 
feiner  Sinb^eit  eben  burc^  3»efuS  felbft  geroorben  unb  geblieben 
ift.  @o  üernetimlic^  unS  ®otteS  (Stimme  auS  ben  SBorten  ber 
^ropt)eten  unb  auS  ben  l)eiligen  Siebern  be§  Sitten  SeftamentS 
entgegenflingt,  fo  gcroijg  ift  unS  bod^  biefe  9teIigion  in  i^rer 
eigentümlichen  SebenSgeftalt  ein  ©tücf  ber  93ergangent|eit.  ®ie  9lnt« 
roort:  „3)u  bift  S^riftuS"  t)at  für  ©Triften  unferer  2:age  feine 
entfd)eibcnbe  S3cbeutung  mef)r. 

3.  Ober  follen  mir  antworten :  3)u  bift  ber  gro^e  i{et)rer, 
oon  bem  roir  ha^  93cfte  ^aben,  roa§  unfere  (Seele  tröftet  unb  er* 
^ebt;  bu  bift  ber  gro^e  ®otte§menfc^,  beffen  ®eftalt  al§ 
unoergänglic^eS  93  c  i  f  p  i  e  l  in  unfer  eigenes  Seben  I)ineinleud)tet? 
6S  ift  roo^I  fein  ebler  ajlenfdi,  ber  nidjt  freubig  fein  „Qa"  ju 
biefer  g^age  fprädje.  2Iber  roaS  roäre  unS  3cfuS,  roenn  er  unS 
nur  ba§  bebeutete  ?  8BaS  ein  SWann  ber  SSorjeit  g  e  I  e  I)  r  t  l^at, 
baS  bep^t  bie  ®egenroart  aud^  o^ne  ha^  fie   einer  ®emeinfc^aft 


4  ©d^ulfe:  «Set  faget  benn  i^r,  ba^  ic^  f^i?''. 

mit  feiner  ^erfönli^teit  fetbft  baju  bebürfte.  ©te  befi^t  e§  al^ 
ein  gciftigeg  @rbe,  ba§  boc^  tatfäc^Udi  immer  oermeI)rt  unb  oer^ 
änbert  mirb  bur^  ba§,  xoa^  bie  3iCit)rtau[enbe  an  ®rtenntni§  unb 
Srfa^rung  liinjugcbradit  l^aben,  unb  ba§  feinerfeitg  unabtrennbar 
mit  bem  Dcrbunben  ift,  ma§  ber  Sel)rer  felbft  einft  au§  [einer 
93orjeit  unb  au§  feiner  Oegenmart  fid)  al§  ®rbe  angeeignet  unb 
al§  (Semeingut  feiner  Umgebung  fd)on  Dorgefunben  t)at.  3Q3ie 
leicht  fc^rumpf t  für  ben  f orfd)enben  ^iftorifer  ba§,  mag  bem  93li(f e 
be§  Saien  al§  ein  uuüergleic^lic^e§  neue§  ®an}e§  erfc^eint,  ju 
einem  aWofaif  Don  9l(tem  unb  Steuern  jufammen,  in  bem  be§  rein 
©elbftänbigen,  beS  mirtlic^  9Jeuen  unb  Ueberragenben  immer  meni- 
ger  mirb.  Unb  ma^  einft  gelet)rt  marb,  ba§  fann  bre  9Jlenfcl)en 
nic^t  für  aQe  ^^iten  binben  unb  löfen,  ba§  muß  fic^  immer  mieber 
mit  neuen  ^n^cif^f"  i^nb  g^'ögen,  mit  neuen  ©egengebanfen  unb 
Sieftreitungen  auSeinanberfe^cn.  Unb  mie  foll  un§  eine  ^evfön= 
lict)feit,  bie  in  i^rcr  evften  3iugcnb!raft  üon  ber  ®rbe  gefd^ieben 
ift,  pon  ber  mir  nur  für  menige  ^a^re  i^re§  öffentlid)en  3Birfen§ 
eine  fpärlic^e  Ä'unbe  befi^en  unb  nur  au§  bem  3Jlunbe  unhitifc^er 
begeifterter  2(nf)änger,  —  mie  foH  un§  ba§  Äinb  eine§  fremben 
93oIf§  unb  üergangencr  Qtittn  ein  uni)ergänglic^e§  95  o  r  b  i  t  b 
für  unfer  eigene^  Seben  fein,  ba§  fo  ganj  anbete  ^ebingungen 
erfüöen  mu^,  unb  für  unfere  Oegenmatt,  bie  fo  ganj  anbete  9tn= 
fptücf)e  an  ben  a)lenfd)en  ftellt?  @in  unoergänglic^e^  93eifpiet 
fönnte  3efu§  un§  boc^  nur  in  bem  ©inne  fein,  ba§  bie  @e« 
finnung,  in  ber  er  fic^  feinem  SBater  rädf)altIo§  fjingegeben 
^at  a(§  SBäerfjeug  füt  ®otte§  gro^e§  SBerf  an  ben  SWenfc^en,  in 
ber  er  in  Siebe  fic^  felbft  für  bie  trüber  geopfert,  unb  in  lieili« 
gcr  Siein^eit  für  ben  ©eift  gelebt  unb  in  ber  unfidjtbaren  3Belt 
gemanbett  ^at,  —  auc^  un^  aU  bie  tiöc^fte  etfdjeinen  mu§,  nad) 
ber  ein  jeber  ju  trachten  t)at.  SBer  roottte  i^m  ba§  beftreiten? 
Unb  borfi,  luer  tann  in  ba§  tieffte  Oel^eimni^  eine§  SKenfd^ens 
lebend  liineinblirfen?  SBer  mill  oetgleidien,  mer  mill  gegenüber 
ber  3WögUd)teit,  ba^  jal^Uofe  ebel  geriditete  3Wenfd)en  oergeffen 
unb  unbetannt  geblieben  finb,  ben  93cn)ei§  fütjren,  ba§  etma§ 
2let)nlid)e§  nirgenb§  möglid)  unb  mirftic^  geroefen  fei  ?  3Ber  mitt 
leugnen,  ba|  piele§,  maS  mir  felbft  in  unferem  Seben  oon  ebtem 


©d^ul^:  „SBer  faget  bcnn  i^r,  ba^  i(^  fei?"  5 

©innc  bei  benen,  bic  mix  lieb  haben,  erfahren  bürfen,  wenn  e§ 
ani)  an  fic^  geringer  ift  unb  abt)ängiger  fi^  entfaltet  t)ot,  a(§ 
roaS  in  3»^!"^  ift/  '^06)  tI|atfäd)Ud)  einen  oicl  ftärteren  Sinbrud 
auf  un§  l^erüorbringt.  ®^  ift  gemi§  etroaS  @ro§e§,  ba^  bie  ®e* 
meine  in  ber  ©eftalt  ^f^fu  g  e  f  d)  i  c^  1 1  i  d^  ba§  befi^t,  wö§  bie 
SlBeisl|eit§fd)u(en  be§  2lltertums;  fic^  burc^  eigene  $t)antafie  ju 
f^affen  fud)ten:  „ba^  lebenbige  Qbeal  be^  rechten  aJlenfd)en,  in 
einer  n)irf(i(^en  ^erföntid^feit  angefc^aut,  ba§  mau  in  bie  ©eele 
aufnehmen  fann,  mit  bem  man  innerlid)  uerte^rt,  oor  beffen 
3lugen,  in  beffen  geiftiger  ©egenmart  fid)  gteic^fam  ba§  innere 
fieben  Dolljiet|t  unb  baburrf)  rein,  teufc^  unb  mit  frommer  ©^eu 
erfüllt  wirb."  2(ber  aud)  für  biefe§  Oebiet  bleibt  bie  ©rcnje 
jmi[d)en  bem  @efc^i(^tlid)en,  ba§  jum  Qbeat  geworben  ift,  unb 
bem  ^beate,  baS  fi^  auf  ein  @efd|ici^tlid)e§  niebergelaffen  ^at,  eine 
n)iffenfd)aftlic^  unenblid)  fd)roer  ju  beftimmenbe.  Unb  Oefu§  mürbe 
feine  ^ebeutung  me^r  unb  meiir  oerlicren,  je  mäd)tiger  fid)  ber  (Seift, 
ber  oon  i^m  ausgegangen  ift,  in  ^erfönlid)teiten  unferer  2:age 
offenbarte,  bie  in  feiner  J?raft  nun  u  n  f  c  r  e  5^^ui>^«  unb  Seiben, 
u  n  f  e  r  e  2tufgaben  unb  Kämpfe,  u  n  f  e  r  e  35o(t§art  unb  ^ilbung 
Dcrförperten  unb  üerftärten.  ®ie  Slntroort  be§  frommen  SJatio^ 
nali§mu§  entt|äU  root|l  ein  gro§e§  unb  bebeutung§ooHe§  ©tüd 
ber  2Bat)r^eit.    2lber  bie  red)te  Slntmort  tann  fie  nic^t  fein. 

4.  @ine  grojae  2lnjaf)t  frommer  ©Triften  ßntmortet:  „QefuS 
ift  unfer  @ott."  3luf  it|n  rid)tet  fic^  unfer  öeten  unb  ^offen. 
^^n  feilen  mir  al§  ben  König  im  Slegimente  ber  SBelt  ttironen. 
93on  i^m  ermarten  mir  ^ilfe  unb  ©eligfeit  für  Seib  unb  ©eele. 
@ine  3lntroort,  in  ber  ein  gro|e§  ©tüd  be§  roatiren  (£^riftentum§ 
liegt!  ©ie  ^at  3:aufenben  Kraft  in  9lot  unb  2:ob  gegeben,  fie 
lei^t  ben  fd)önften  Siebern  ber  6t|riftent|eit  i^ren  munberooüeu 
innigen  ®{auben§*  unb  Siebe§ton,  ben  feine  Kunft  unb  fein  ftaresi 
2)enfen  fpäterer  Qt\tm  erfe^en  fann. 

Unb  boc^,  mer  bürfte  biefer  2lntroort  einfad^  juftimmen,  roenu 
er  ben  SUlann  aufdjaut,  ber  e§  afö  ba§  fjöc^fte  ®ebot  begeic^net 
l^at,  ben  ©inen  ®ott  feiner  SBäter  uon  ganjem  ^erjen  unb  t)on 
ganjer  ©eele  ju  lieben  unb  if)n  aHein  anjubeten,  ber  ju  feinem 
93ater  bie  ©einen  im  ©ebete  ^inmeift,  unb  ju  allen  3ßitcn  feines 


6  ©c^uU:  3er  faget  bcnn  if)r,  ha^  id&  fei?" 

Scben§  üon  bcm  Sßater  3^^S"i^  abgelegt  ^ot,  ber  aud^  fein  ®ott 
ift,  ber  i^n  fenbet,  ju  bcm  er  fic^  tjinroenbet  in  9lot  nnb  ©eelen* 
quat,  au§  beffen  §anb  er  ben  bitteren  Scldti  in  (S(aubenggef)orfam 
binnimmt?  2Ber  bürfte  fo  ontiDortcn,  roenn  ®t|riftu§  fprid)t: 
„i^  ge^e  ju  meinem  93atcr  unb  Surem  SBater,  ju  meinem  Oott 
unb  ©urem  Oott",  ober  „ber  SJater  ift  größer  al§  ic^",  —  wenn 
fein  Slpoftel  be!ennt  „®f)rifti  §anpt  ift  ®ott"  unb  „auc^  ber 
©ol^n  lüirb  Untertan  werben  bem  SSater,  ba§  @ott  fei  atte§  in 
aüem?"  Keine  Ueberlieferung  ber  Dogmatil  wirb  et)rlid)e  bibel* 
gläubige  6t)riften  unferer  S:age  oergeffen  lehren,  bafe  bic  gröm:: 
migfeit,  bie  3efu§  werfen  moütc,  bie  g^römmigfeit  bc§  ©Triften 
feinen  anberen  Oegenftanb  f)at  unb  traben  barf,  al§  ben  einen 
roatir^aftigen  ®ott,  unfern  SSater,  uor  bem  aud^  ber  ^eilanb  fid) 
gebeugt  l^at  in  finbtic^em  ®ef|orfam  unb  93ertrauen.  3^ebe  93er* 
e^rung  ^f^fu,  bie  nic^t  aufrichtig  unb  fo(gerid)tig  in  ben  ®renjen 
bc§  @ebote§  bleibt:  „bu  fotift  nid^t  anbere  ®ötter^aben  neben  mir", 
Tüiberfprid)t  ben  fid)erftcu  unb  fefteften  ^engniffen  über  bie  3=röm= 
migteit  unfere^  ^errn  felber. 

5.  2lt§  ®egenftanb  unb  Qn^alt  ber  ^Religion  in  bem  ©inne, 
ba&  er  felbft  an  ®otte§  ©teße  ober  neben  ®ott  träte,  barf  un§ 
<3cfu§  nid)t  gelten.  @o  mad)t  i^n  bie  ^römmigtcit  vieler  in 
anberer  SBeife  jum  ®Iauben§gegenftanbe.  (Srft  burc^  if)n  foH 
®ott  in  ba§  33er]^ältni§  gnäbiger  Siebe  ju  ben  fünbigen  3)lenfd()en 
gc!ommen  fein.  @r  ift  ber  Sitgcr  unferer  S^ulb,  ber  für 
un§  ba§  ®eric^t,  für  unö  ®otteg  3«^^'"  getragen  bat.  @r  ift  unfer 
'!)Jrtefter,  ber  un§  mit  bem  Heiligtum  oerbinbet,  unb  jugleidt)  ba§ 
Opfer,  burc^  ba§  unfer  Heiligtum  gemeitit  unb  bie  ®emeinc  mit 
®ott  t)erföt)nt  mirb.  —  ©o  lautet  bic  Slntmort  ber  gefamten 
®^riftenl)eit ,  mit  befonberem  9lad)brudte  bic  ber  cüangclifc^cn 
SJirc^en.  3)uvd)  fic  betommt  bie  bogmatifc^c  Starrheit  ber  fie^rc 
Don  ber  ®ottl)eit  ®f)rifti  mirflic^cö  religiöfe^  2^btn  in  ber  ®emeine, 
unb  bie  fefte  ®runblage  eines;  wirflic^en  d)riftlid^en  ^ntereffe§. 
©otc^c  ®ebanfen  finb  Don  ben  2lbenbma^l§n)ortcn  ^efu  an  bi^ 
ju  ben  tf)eologifd^en  ©^ftemen  be§  ^aulu§  unb  :3of)anne§  in  bcm 
ganjen  9leuen  Jeftament  oerbreitet.  Unb  ol^nc  äroeifel  enthalten 
fic  einen  reichen  Qn^alt   oon  3öa^rl)eit,   mit  bem  ba§  firc^fic^e 


8*uU:  „Ser  fagct  bcnn  i^r,  baj  i*  fei?"  7 

K^riftcntum  ftcfit  uub  fädt. 

Unb  bod),  fo,  wie  man  bicfc  ®ebantcn  gcroöfinlici^  oerfte^t, 
fönntcn  aucf)  fic  un§  bic  le^te  Slntroort  auf  bic  ^xa%z,  roa§  un§ 
^efu§  ift,  md)t  geben.  9Bir  f ollen  nur  be§{)alb  einen  gnäbigen 
(Sott  i)abm,  bev  ©ünbcn  ücrgicbt,  roeil  biefev  ^t\vi^  in  feinem 
9efd)i^ttid)en  Seben  unb  fieiben,  in  feinem  Sterben  unb  2luferftet)en 
iinfcre  ©djulb  loeggenommcn,  unfer  ©eric^t  getragen  ^at?  9Q8ir 
foücn  unfer  gottgefc^enfteg  SRed)t,  al§  bußfertige  ©ünber  (Snabe 
uon  ©Ott  }u  erwarten,  an  33orgänge  gebunben  beuten,  bie  uor 
^at)rtaufenben  einmal  auf  biefer  @rbe  oorgegangen  finb  unb  uon 
benen  un§  eine  gefc^id)tlic^e  Sunbe  nur  jugänglid)  ift,  reid}  burc^* 
rooben  üon  ©agengolb  unb  frommer  unbemußter  ©ic^tuug?  ^a§ 
fann  nic^t  ba§  le^te  SDBort  be§  ©laubenö  fein,  mögen  mir  eg  unS 
burc^  juriftifc^e  ober  burd)  mgftifd^^religiöfe  ©ebanfen  oermitteln, 
es  un§  burd)  SBorgänge  eine§  für  unS  erftorbenen  Äultu§  erläu* 
tern  ober  bur^  ©ebanfenbitbungen  au§  ben  l)öd)ften  Oebieten  bcr 
Sittlid)teit. 

Selirt  boc^  bcrfelbe  3>cfu§  in  feinen  ©leic^niffen  bie  ©einen, 
gauj  ot)ne  SHüctfi^t  auf  ba§,  ma§  er  f eiber  tut  unb  leibet,  an 
ben  Sßater  glauben,  ber  ben  nerlorenen  ©o^n,  menn  er  reuig  um* 
fcfirt,  mit  überftrömenber  Siebe  im  9Saterf)aufe  begrüßt,  ber  i>a8 
ocrlorene  ©c^af,  ben  uerlorenen  ©rofc^en  fuc^t,  meil  fte  il|m  am 
ijperjen  liegen,  ber  bie  Bettler  uon  ben  3^1^"^"  i^^^  J^önig^ma^le 
einlabct.  ®r  lel)rt  fie  beten:  „oergib  un§  unfere  ©d^ulben,  mie 
mir  unfern  ©c^ulbigcrn  Dergebcn".  Unb  bie  d)riftlid)e  ©emeine 
fingt  noc^  t)eute  bie  Sieber  be§  9(lten  93unbe§,  bie  otine  irgenb 
einen  ©ebanfen  an  i^efuö  unb  an  fein  ^eil^merf  bie  @elig!eit 
be^  ÜWcnfc^en  preifen,  bem  ©Ott  feine  ©ünbe  oerjietien  I)at,  unb 
oon  bem  übcrfc^manglid)en  ©lud  be§  J^ommen  fingen,  ber  feine 
^eimat  an  ©otte§  2tltären  gefunben  t)at,  ber  nid)t§  fragt  nac^ 
^immel  unb  ©rbe,  menn  er  feinen  ©ott  t)at. 

Unb  nod)  etroa§  anbere§  ^inbert  un§,  einfach  biefe  Slntmort 
anjune^men.  2Ba§  mir  in  ber  9leligion  fuc^en,  ha§  iftbod)  nid)t 
bloß  bie  aSergebung  ber  ©ünben.  SOSa^  ba§  mirflic^e  Qfntereffe 
ber  grömmigteit  forbert,  ba§  gel)t  !eine§meg§  allein  in  i^r  auf. 
©eroiß,  für  eine   fünbige  3Wenfc^^eit  gibt   e§  feine  maf)re  9teli* 


6  @rf)ul||:  „«fficr  faget  benn  i^r,  ba^  id)  fei?" 

2cbcn§  t)on  bem  Sßatcr  3^ugni^  abgefegt  ^at,  ber  aud)  fein  ®ott 
ift  ber  i^n  fcnbet,  ju  bem  er  fi^  l)inroenbet  in  9lot  unb  ©eeten« 
quat,  au§  beffen  ^anb  er  ben  bitteren  Sel^  in  ©laubenigge^orfam 
hinnimmt?  SBer  biirfte  fo  antworten,  roenn  ®^riftn§  fprid)t: 
„ic^  ge^e  ju  meinem  93ater  unb  ©urern  SJater,  ju  meinem  @ott 
unb  ©Urem  ©Ott",  ober  ,,ber  Sßater  ift  größer  al§  ic^",  —  wenn 
fein  2IpofteI  be!ennt  ,,®f|rifti  ^aiipt  ift  ®ott"  unb  „aud|  ber 
©o^n  mirb  Untertan  werben  bem  Sater,  ba^  @ott  fei  aüeS  in 
adem?"  Keine  Ueberlieferung  ber  2)ogmatif  wirb  ef)rlicf)e  bibel^ 
gläubige  ©Triften  unferer  2:age  oergeffcn  lehren,  ba^  bie  g^röm^ 
migfeit,  bie  3efu§  roerfen  rooUte,  bie  grömmigfeit  be§  ©Triften 
feinen  anberen  ©egenftanb  ^at  unb  ^aben  barf,  al§  ben  einen 
wahrhaftigen  ©ott,  unfern  93ater,  oor  bem  aud^  ber  ^eilanb  ftd) 
gebeugt  ^at  in  finbtic^em  @ef|orfam  unb  SSertrauen.  -^ebe  SSer» 
e^rung  ^t^n,  bie  nic^t  aufvid)tig  unb  fo(gerict)tig  in  ben  ©renjen 
be§  ©ebote§  bleibt:  „bu  fottft  nidjt  anbere  ©ötter  ^aben  neben  mir", 
miberfpric^t  ben  ftct)erften  unb  fefteften  ^eugniffen  über  bie  %xönu 
migteit  unfere^  |)errn  felber. 

5.  311s  ©egenftanb  unb  ^nl^alt  ber  ^Religion  in  bem  ©inne, 
ba^  er  felbft  an  ©otteS  ©teße  ober  neben  ©ott  träte,  barf  un§ 
3cfu§  nid)t  gelten,  ©o  madjt  i^n  bie  Jrömmigteit  oielcr  in 
anbcrer  ffieife  jum  ©(auben§gcgenftanbe.  ®rft  burc^  i^n  fott 
©Ott  in  ba§  aSerliältniS  gnäbiger  Siebe  ju  ben  fünbigen  ajlenfd)en 
gc!ommen  fein.  ®r  ift  ber  Silgcr  unferer  Sc^utb,  ber  für 
un§  ba§  ©erid)t,  für  unS  ©otteö  Qoxn  getragen  ()at.  ®r  ift  unfer 
^^Jricfter,  ber  unö  mit  bem  Heiligtum  oerbinbet,  unb  jugleid^  ba§ 
Cpfer,  burd)  ba§  unfer  Heiligtum  gemeint  uub  bie  ©emeine  mit 
©Ott  oerfö^nt  loirb.  —  ©o  tautet  bie  2(ntmort  ber  gefamten 
®t)riftcn^eit ,  mit  befonbcrem  9tad)brudc  bie  ber  eoangelifct|en 
Sirenen.  S)urcf)  fie  betommt  bie  bogmatifc^e  ©tarrf)eit  ber  fie^rc 
üon  ber  ®ottl)eit  ®f)rifti  mirfli^eS  religiöfeS  Seben  in  ber  ©emeine, 
unb  bie  fefte  ©runblage  eines;  mirfüdjen  ct)riftlic^en  Qntercffe§. 
©olc^c  ©cban!cn  finb  oon  ben  2lbenbma^I§n)orten  ^efu  an  bis 
}u  ben  tbeologifc^en  ©t)ftemen  beS  ^^JauluS  unb  3^oE)anne§  in  bem 
ganjen  9ieuen  Seftament  oerbreitet.  Unb  ol^nc  3«>^ifet  enthalten 
fie  einen  reicf)en  !^\\i)alt  oon  SBat)rl)eit,   mit   bem  baS  !ird)(id)e 


S d| u t ö:  „3Ber  faget  bcnn  i^r,  ba^  ic^  fei?"  7 

g^riftentum  ftct|t  uub  fäKt. 

Unb  hod),  fo,  lüie  man  bicfe  ©cbanten  gcroö^nlid)  ocrftcl|t, 
fönntcn  and)  fic  un§  bic  Ic^tc  ^Introort  auf  bic  J^'ogc,  xoa^  un§ 
^cfu§  ift,  nic^t  geben.  9Bir  f ollen  nur  be^^alb  einen  gnäbigen 
©Ott  l^aben,  bcv  ©ünbcn  Dctgiebt,  weit  biefer  ^f^f^i^  i«  feinem 
gefdf)i(^tUd)en  ßeben  unb  Seiben,  in  feinem  Sterben  unb  9Iuferftel^en 
unfere  ©d)ulb  meggenommen,  unfer  @erirf)t  getragen  ^at?  SBir 
foKen  unfer  gottgefc^enfte§  SRec^t,  al§  bußfertige  Sünber  ®nabc 
üon  ©Ott  ju  erroarten,  an  5ßorgängc  gebunben  beuten,  bie  oor 
^atirtaufenben  einmal  auf  biefer  ©rbe  oorgegangen  finb  unb  üon 
benen  unS  eine  gefc^ic^tlic^e  Ä'unbe  nur  jugänglid)  ift,  reid)  burc^* 
lüoben  üon  @agengo(b  unb  frommer  unbewußter  Sichtung?  2)a§ 
fann  nid)t  ba§  le^te  5lBort  be§  ©laubenS  fein,  mögen  mir  e§  ung 
bur^  iuriftifd)e  ober  burd)  mgftifd^-religiöfe  ©ebanfen  oermitteln, 
cä  un§  burd)  Sßorgänge  eineg  für  un§  erftorbenen  Äultu§  erläu- 
tern ober  burd)  ©ebantenbilbungen  au§  ben  t)öc^ften  ©ebieteu  ber 
Sittlidifeit. 

Sel^rt  boc^  berfelbe  Qefu§  in  feinen  ©leic^niffen  bie  ©einen, 
gauj  ot)ne  SHüdfid)t  auf  ba§,  roa^  er  felber  tut  unb  leibet,  an 
ben  93atcr  glauben,  ber  ben  üerlorenen  ©o^n,  menn  er  reuig  um* 
Ui)xt,  mit  überftromenber  Siebe  im  aSaterf)aufc  begrüßt,  ber  ba§ 
oerlorene  ©c^af,  ben  oerlorenen  ©rofc^en  fud)t,  meil  ftc  if)m  am 
J^erjen  liegen,  ber  bie  53ettler  üon  ben  ß^unen  jum  Äönig§mat)le 
einlabet.  @r  let)rt  fie  beten:  „oergib  un§  unfere  ©d)ulben,  roie 
mir  unfern  ©c^ulbigern  vergeben".  Unb  bie  d)riftlic^e  ©emeine 
fingt  no^  fieute  bic  Sieber  be§  Sllten  33unbe§,  bie  o^ne  irgenb 
einen  ©ebanfen  an  ijefu§  unb  an  fein  ^eil§mert  bie  ©eligfeit 
be§  ÜHcnf^en  preifen,  bem  ©Ott  feine  ©ünbe  i)erjiel)en  l)at,  unb 
üon  bem  überfd)mänglid)€n  ©lürf  be§  ^^^ommen  fingen,  ber  feine 
^eimat  an  ©otte§  Slltären  gefunben  ^at,  ber  nic^t^  fragt  nad) 
^immel  unb  ©rbe,  menn  er  feinen  ©ott  t)at. 

Unb  nod)  ttwaS  anbere§  l)inbert  un§,  einfad)  biefe  Stntmort 
anjune^men.  $Ba§  mir  in  ber  9leligion  fuc^en,  ba§  iftbod)  nid)t 
bloß  bie  Vergebung  ber  ©ünben.  3Ba§  ba§  roirtlid)e  ^ntereffe 
ber  grömmigfeit  forbert,  ba§  gel)t  feine§meg§  allein  in  i^r  auf. 
©eroiß,  für  eine   fünbige  aWen)d)f)eit  gibt   e§  feine  ma^rc  Sieli* 


8  ©d^ulfe:  „SBer  faget  bcnn  i^r,  ba^  ic^  fei?" 

gion  otinc  bic  fcftc  ©runbtagc  bev  ©croi^tieit  bcr  SJcrgebung  bcr 
©ünbcn,  b.  \).  o^nc  bic  Uebevjeugung,  ba§  auc^  ©ünber  gctroft 
ju  i^rcm  @ott  treten  bürfen,  ba^  er  auc^  ifinen  bie  ©emcinfd^aft 
feiner  Siebe  nid)t  raeigert,  roenn  fte  renig  unb  glanbenb  i^m  naiven. 
2lber  ba§  ift  bo^  nur  eine  ©eite  bcr  SRetigion.  Unb  ba§  mirb 
ba,  xoo  roirflid^e  9tcIigion  lebcnbig  ift,  boc^  überall  nur  aU  bie 
fclbftnerftänblic^e  SJoraugfe^ung  unb  53cbingung  be§  93crl^ältniffc8 
ju  ©Ott  cmpfunben,  nict)t  aU  bcr  eigentlicf)e  ^n^alt  beffen,  voa^ 
bcr  3^romme  befi^t.  3)aS  ganje  Sitte  Scftament  ift  eine  ge« 
roaftigc  93u|prebigt  gegen  bie  (Sünbe,  bie  tro^ig  unb  ungcl^orfam 
©ottciS  Drbnungen  oerad)tet  unb  feinen  ^eiligen  SBiüen  ocrunc^rt. 
2lber  für  bic  frommen,  bic  glaubenb  unb  ge^orfam  fic^  i^rem 
©Ott  Eingeben,  erfcfteint  bie  9iücffic^t  auf  i^re  ©ünben  rocbcr  aU 
ztxva^,  n)a§  il)nen  i^rc  religiöfe  ©eligfcit  trüben  fönnte,  noc^  er* 
fd)eint  bie  Vergebung  bcr  ©ünben  ate  ba§  ^auptintcrcffc  bcr 
SRctigion.  ^n  bem  religiöfcn  SScr^ättniffe  bcr  gronunen  ju  ©Ott 
fclbft  ift  bic  aSergebung  bcr  ©ünben  felbftoerftänblid).  Sl)rc 
©ünbc  l^cbt  bic  ©erec^tigfeit  nid)t  auf;  fie  wirb  au§  ©ottc§  ©nabc 
immer  neu  mirtungSloS  gemalt  burc^  bie  i^ciligcn  Drbnungen  be§ 
ÄultuS.  3)ic  ©ünbc,  bic  allen  SWenfrfienfinbcrn  gemeinfam  an= 
Hebt,  rocil  fie  aJienfd^en  oon  unreinen  Sippen  finb,  roeit  fie  oon  Un- 
reinem aufgellen  unb  in  ©ünbc  empfangen  fiub,  barum  uor  ©otte§ 
2lugc  niemals  rein  unb  ooüfommcn  fein  fönnen,  fie  mac^t  bcn 
frommen  feine  9tot  unb  2lngft  fo  offen  unb  bemütig  fie  befannt 
wirb.  9ii(^t  ba§  ift  ber  ^auptjioedt  bcr  ^Religion,  ba§  ©croiffcn 
oon  fot(^er  ©ünbc  ju  entlaften:  fie  trennt  ben  ©ünber  nid)t 
üon  ©ottc§  Siebe,  fobatb  er  ein  reuiger  mxb  glaubenbcr  ©ünber 
ift.  2lbcr  ftd^  mit  bem  ©Ott  3f^racl§  al§  ein  ©lieb  ber  ©cmcinc 
bcr  ©laubigen  oerbunben  ju  miffen,  fein  SBerf  ju  tun,  feine 
Kämpfe  JU  fdmpfen,  feine  ©eric^tc  ju  ocrcliren,  auf  fein  §eil  ju 
^offen  unb-  feine  Orbnungen  ju  lieben,  ba§  ift  ber  O^^ö^l  bcr 
grommigteit. 

Unb  im  bleuen  Scftamcnte  ift  c§  borf)  md)t  anberg.  ^n  ber 
großartigen  ©cbantenmclt  bc§  SlpoftcU  ^aulu§  crfcf)cint  bic 
SRüdfic^t  auf  ©ünbc  unb  ©ünbcnocrgebung  xvoijl  auf  ben  erftcn 
581idE  al§  bcr  aUc§  bet)crrf^enbc  SWittelpunf t  bc§  ®t)riftcntum§.  3lber 


©c^ul^:  „Sföcr  faget  benn  i^r,  baj  \6)  fei?"  9 

e§  fd)cint  borf)  nur  bestialb  fo,  roeit  ^^aulu§  bic  f  a  I  f  c^  c  Sieligion 
nicbenocrfen  m\l,  bie  ®ottc§  SBotilgefallen  an  ben  9)tenfct)en  uub 
i^r  Siedet  ju  freubigcr  ®emeinfd|aft  mit  i^m  auf  m c n  f  c^  li  et) c 
aSerbicnfte  unb  SBerfc  grünben  m\i,  bic  Sieligion  be§ 
®  cf  c^e§,  }u  ber  bie  ^^atifäer  bie  SReligion  beö  Sllten  33unbe5 
entftctit  Ratten.  9lur  bcS^alb  ift  e^  in  ben  93riefen  an  bie  9iömer 
unb  ©alater  fein  t)ei§eg  SSemü^cn,  ju  jeigen,  roie  ni(^tig  bie 
©erec^tigfeit  ber  SBerfe,  wie  fel)r  ba§  SJertrauen  auf  fie  eine  un= 
feligc  Selbfttäufd)ung  ift,  wie  ba,  xvo  e§  fic^  um  9t  e  d)  t  ^anbelt, 
bie  ganje  aKenfcI)^eit  ber  2lbam§fiuber  gleich  i^rem  2lt)nf)errn 
oor  (Sott  in  Sc^ulb  unb  ©eridit  oerftridt  ift.  @r  miU  f (ar  mad)en, 
ba^  nur  in  ber  alten  @lauben§=  uub  ©nabenreligion  2tbral^am§ 
unb  ber  ^falmen  (Sottet  ^eil  ju  finben  ift,  nur  menn  ber  Sötenfd) 
mit  feiner  Sünbe  fi^  auf  ®otte§  SSer^eigung  unb  auf  feine  fün* 
benoergebenbe  SBaterliebe  oerläpt ;  ba^  ba§  ®efe^  überhaupt  nidjt 
beftimmt  gcmefen  ift,  ba§  ^eil  ju  bringen ;  ba§  e§  nur  bie  Ärifil, 
nur  bie  (Steigerung  ber  Krant^eit  ^erüorrufen  foUte,  bei  ber  bie 
red)te  Teilung  beginnen  tann,  meil  burc^  ba§  ®efe^  bie  ©ünbe 
ftd^  fteigert  unb  ate  Sünbe  beraubt  wirb,  alfo  fid)  Mar  unb  grunb* 
fä^lic^  Don  bem  fd)eibet,  ma^  Statur  ift. 

@o  prebigt  er  oon  ®f)riftu§,  al§  bem  93ringer  be§  verheißenen 
2lbral)am§fegen§ ,  ber  ben  Sünbern  mirfli^  bie  ®nabe  bringt, 
bie  oerfc^loffen  ift,  folange  ba§  ®efe^  gilt.  @r  jeic^net  i^n  al^ 
ba§  ®egenbilb  be§  Sünbenanfänger^,  al§  ben  33ater  ber  neuen 
SWenfdi^eit  ber  ®nabe  unb  be§  ®eiftesi;  al§  ben,  meld^er  burd) 
feinen  Job  bie  große  ®eI|orfam§tat  oollbrac^t  {)at,  bie  SMbams 
Unge^orfam  aufgebt,  meld)er  ben  glud)  oon  ber  9Jlenfd)t|eit  nimmt, 
i^ren  2;ob  überroinbet  unb  ba§  ®erid)t  über  i^re  Sünbe  jum 
SBolljuge  bringt.  9(lle,  bie  an  i^n  glauben,  fmb  mit  i^m  geftorben 
unb  auferftanben  unb  t)aben  mit  Sünbenflud^,  mit  Job  unb  ®e= 
rid)t  nic^t§  me^r  ju  tun.  Sie  finb  ®lieber  ber  „®eifte§menfci^« 
^eit",  bie  nac^  ®otte§  53ilb  gefd)affen  ift,  bie  nid)t  me^r  oon  bem 
5leifd)e,  fonbern  oom  ©eifte,  b.  \).  oon  göttlid)en  eintrieben,  in 
il^rem  ^^erfonleben  bemegt  mirb  unb  barum  bie  ©emiß^eit  beö 
Seben^  ^at. 

ür  ^]Jaulu^  ift  alfo  in  biefen  33riefen   ber  ^err  allerbingö 


10  (3d)ulö:  «Sßer  fagct  bcnn  x^x,  ba&  ic^  fei?" 

in  erfter  Sinic  bcr,  lücfc^cr  bcn  ©ünbcnfluc^  unb  bic  ©ünbenftrafc 
für  bic  ©einen  überrounbcn  f)at.  9t6cv  borf)  nur,  weit  er  t)ier 
oon  bcr  S^age  au^ge^t :  SBerbienft  ober  @lanbz,  ®efe^  ober  ®nabe  ? 
weit  e8  i^m  borauf  antommt  boS  K^riftentum  üor  jcbem  Äom- 
promi^  mit  ber  unfcligen  Sietigion  be§  ®efc^e§  ju  bewahren, 
bercn  3^(uc^  er  an  fic^  felbft  erfaf)ren  f)at.  Unb  babci  ift  bod) 
nid)t  ju  Dergeffcn,  ba§  er  ba§  fe(igmad;enbe  (S(auben§Derl|ältni§ 
SU  ber  fünbenuergebenben  ®nabe  ®otte§  auc^  in  Slbral^am  unb 
in  2)aDib  üorau^fe^t,  ba^  i^m  alfo  im  ®runbe  QefuS  bod^  bic 
SBerroirtUd^ung  unb  Srfüflung  oon  Stmaö  ift,  ma§  in  aücr  maleren 
Sieligion  uon  Slnfang  an  nic^t  fcf)(t :  freie  ®otte§gnabc,  bie  93er* 
gebung  bietet,  unb  finblid)er  ®(aubc,  bcr  biefer  @nabc  fid|  ge- 
tröftet. 

Unb  fo  oft  ^^aulug  bic  Icbenbigc  gi^ön^w^igf^it  ^^^  ©Triften 
felbft  unb  itirc  bicibenbc  ©teüung  ju  ^efu§  fcf)i(bert,  f)ai  er  offen- 
bar  bic  Vergebung  ber  im  ©Triften  norf)  blcibcnben  Sünbe  meber 
al§  bcn  9JiittcIpunft  be§  religiöfcn  ^ntereffe§  angcfc^en,  noc^  fic 
in  unmittelbare  93ejic^ung  ju  Qt\vi^  gefegt.  2Bo  er  an  fid)  unb 
an  anberc  c^tc  ©Triften  benft,  ba  crfd)eint  i^m  bic  ©ünbc  über* 
^aupt  grunbfä^tidj  übermunben  unb  innerlid)  nic^t  met)r  möglic^. 
2Ber  „gciftig"  ift,  bcr  benft  aud)  „gciftig".  3lüerbingö  ocrgipt  er 
nicf)t,  ba^  bieg  „moralifc^  Siotmenbigc",  bod)  immer  jugtcid)  für  ir* 
bifc^e  SWcnfd^en  eine  31  u  f  ga  b  c,  ein  ®ebot  fein  m\x%  unb  bap  fic^ 
bic  mcnfd^lic^c  (Sd)it)ac^t|cit  nur  ju  oft  im  äBiberfprud^c  mit  bem 
jeigt,  n)a§  bcr  G^rift  grunbfä^tid)  ift.  2lbcr  menn  ba§  in  „5Reuc" 
jurüdfgenommcn  mirb  unb  nid)t  al§  ii)irtlid)er  SRüdfall  au§  ber  ®e' 
meinfd)aft  mit  Gl)riftu§  ba§  neue  Sebcn  unmöglich  mac^t,  bann  er* 
fd)eint  e§  i^m  offenbar  nic^t  at§  ®troa§,  roa^  ctma  burd)  bcn  ©üt)n* 
tob  3efu  erft  für  ®ott  aufgcfjoben  roerben  mu^te.  (S§  ift  für  i^n 
augcnfd)cinlic^  überhaupt  fein  bcfonbcrs  bcbcutfame^  SJlomcnt  me^r. 
®ie  „Sfinber  ®ottc§"  in  G^riftp  bitten  ocrtraucnSootl  unb  roiffcn, 
ta^  ®ott  gibt,  mag  fic  bitten.  SQ3enn  aber  ein  ungciftlid)e§  Scbcn 
bie  fid)  c^viftlid)  nenncnbe  "ißerfönlic^feit  mirflic^  be^errfd|t,  bann 
mirb,  folangc  bicfcg  SJcrliältniig  nid|t  in  tatfräftiger  93u|c  rücf* 
gängig  gemacht  mirb,  feine§n)cg§  G^rifti  ©trafleibcn  otinc  mcitercä 
al§  eine  Sü^ne  für  folc^c  „Sünbc"  betrachtet,  fonbcrn  bcr  SJlcnfc^ 


Sd^ul^:  „Söcr  faget  benn  tl)r,  ba^  id^  fei?"  11 

ift  nid)t  met)r  „S^rifti",  —  alfo  er  bleibt  in  bem  alten  @efe^e§* 
rechte  unb  unter  bev  alten  @efe^e§ücrbammni§. 

9llfo  aud)  für  ^^aulu§  ift  ^efu§  immer,  wenn  er  an  ben  @e* 
gcufa^  gegen  bie  jübifc^e  9Serbunf(ung  be§  ®f|riftentum§  benft,  in 
erfter  Sinie  ber,  welcher  bie  ©ünben=  unb  2:obe^t)errfc^aft  für  bie 
Seinen  gebro^en  unb  ®otte§  ©nabc  für  fie  gewonnen  l|at. 
SBeltgcfd^ic^tticf)  betrachtet  ift  er  ber  93efreier  ber  3Dlenfd)t|eit 
Dom  @efe^e§f(uc^e,  üon  ©ünbe  unb  Xoh.  2lber  mo  ^aulu§ 
cf)riftlid)e  g^ömmigfeit  befc^reibt,  ba  crfc^eint  Sefu§  al§  ber,  in 
u}eld)cm  bie  ma^re  Sleligion,  bie  immer  in  ber  3JJenfc^l)eit  uor- 
tianben  loar,  üern)irflid)t  unb  üollenbet  ift,  in  roeld^em  eine  neue 
mit  ®ott  oerbunbene,  feinem  SBiHen  entfpred)enbe,  au§  3Be(t== 
fnecf)tfc^aft  unb  Job  entt)obene,  geiftigc  3Jlenfc^t|eit  in  bie  @e* 
fdlic^te  eingetreten  ift,  für  bie  ftc^  bie  Sßergebung  ber  Sünbe  von 
felbft  üerfte^t,  —  aU  ber,  in  melc^em  mir  ®otte§  eroigen  guäbi^ 
gen  908iÜen  mit  un§  al§  fclige  SQ3irtlid)teit  unb  lebenbige  SKadjt 
erleben,  „^"^n  6t)riftu§  fein",  b.  1^.  ein  neuer,  mit  @ott  üerbun* 
bencr,  in  ba§  ®e^eimni§  feinet  SEBiden^  innertid^  eingelebter 
ÜWenfc^  geworben  fein,  alfo  ein  3JJenfd),  ber  ®otteg  ®eift  i)at 
%\xä)  für  ?}aulu§  ift  Q^f"^  ^^  legten  ®runbe  bie  Offenbarung 
®otte§  im  Seben  ber  3JJenfd)I|eit  al§  roeltüberroinbcnbe  2Bivflid)=' 
feit.  2)a§  mar  für  fein  eigene^  ®lauben§leben  bie  eigentlicl)e 
33ebcutung  Qefu. 

^n  allen  an  bereu  2Infd)auungen  ber  c^riftlid)en  ^vömmig« 
feit,  bie  im  9leuen  ;£eftamente  oertreten  finb,  nimmt  bie  93erge- 
bung  ber  ©ünben  ate  95orau§fe^ung  be§  ridjtigen  9Serl)ältniffe§  ju 
®ott  unb  3Bett  jioar  fclbftoetftänblid^  unter  ben  religiöfen  ®ütern 
be§  (Jf|riftentum§  einen  ebenfo  bebeutfamen  roie  unentbef)rlid)en 
^^la^  ein.  9Iber  bie  Sebeutung  ber  $erfon  ^efu  unb  feinet 
8eben§roerfe§  für  bie  ®emeine  roirb  bod)  feine§roeg§  au§fd)lie)3lid) 
ober  aud)  nur  in  erfter  Sinie  auf  biefe§  ®ut  bejogen.  Unb  3efu§ 
erfd^eint  feine§roeg§  überall  al§  ber,  roeld^er  biefe  Sünbenoerge- 
bung  burd)  feine  Seiftung  erft  möglieft  gemacht  ftat.  —  ^m  Briefe 
an  bie  :^ebraer  ift  ba§  natürlid)  anber§.  3)ie  2lbfid^t  biefer  ^o« 
milie  ift  barauf  gerichtet,  bie  ben  alten  Sunb  überragenbe  ^err« 
Uc^feit  be§  neuen  an  ben  Heiligtümern  beiber  nac^juroeifen.    Unb 


12  ©c^ulft:  ^®er  faget  benn  i()r,  ba^  ic^  fei?" 

ba  crfd)cint  natürlid)  ber  liimmlifc^c  |)ot|eprieftet  be§  neuen  93un- 
be§  unb  fein  bie  ®emeine  ein  für  allemat  ,,ooKenbenbe§"  Opfer 
al§  ba§  t|öl)ere  ©egenbilb  ju  ben  „n)eltlid)en"  aaronitifc^eu 
^rieftem  unb  it)rem  jät)rlid)  bi«  fuUifdie  Steinzeit  be§  JBolfeS 
roieber^erftellenben  äußerlichen  95erföt)nung§opfer.  Slber  wo  ber 
93rief  in  eigentlich  bogmatifc^er  3Beife  Qt^xi  SBerbienft  um  bie 
©einen  fd^ilbert,  ba  bentt  boc^  anö)  er  mef)r  au  bie  93efreiung 
ber  ®emeine  Qt\\x  oon  bem  S^obe  unb  ber  2:obe§furd)t. 

3[  e  f  u  §  f  e  t  b  [t  t)at  e§  at§  feine  Stufgabe  bejeic^net,  bie 
äöerf e  b  e§  93  ö  f  e  n  aufjulöfen.  Unb  er  benft  babei  feiue^roegg 
in  erfter  Sinie  an  bie  ©rroerbung  ber  ©ünbenoergebung  für  bie 
©einen,  fonbern  an  bie  Ueberroinbung  ber  in  S^ob  unb  ^ranf^eit 
fid)  offenbarenben  3Jlad)t  be§  Söfen  in  ber  SÖBelt.  333o^l  finb 
if)m  in  einjetnen  JSÖ^n  „Teilung"  unb  „©ünbennergebung"  gleich- 
bebeutenb.  2lber  boct)  nur  in  einjelnen  fällen.  Unb  feine  fro^e 
93otf^aft  an  bie  SIrmen  unb  Traufen  rebet  boc^  niemals  von 
einer  erft  burd)  fein  äBert,  in^befonberc  burd)  fein  Seiben  er* 
mögtid)teu  93ergebung  ber  ©ünben,  fonbern  fie  ift  bie  9Jerl)eißung 
üon  bem  9}af)eu  ber  ^errfct)aft  @otte§"'über  bie  Süleufd^en,  unb 
bie  Slufforberung,  fict)  baju  bereit  ju  Ratten.  9tatürtid)  liegt  in 
biefer  93otfd)aft  ebeufogut  bie  Slnerbietung  ber  oergebenben  Siebe 
®otte§  für  bie  ©ünber,  bie  fic^  ju  biefem  9teid)e  bereiten,  roie 
bie  Jorberung,  burd)  9lbroenbung  oon  ber  roettlid^en  ©inne^art 
bie  5ä')i9f^i^  fß^'  ba§  t)immtifcf)e  Seben  ju- gewinnen.  2lber  nie« 
manb  wirb  auS  ben  brei  erfteu  ©uangelien  ben  ©inbrudC  emp= 
fangen,  ha^  ^efuö  für  feine  erften  jünger  uor  allem  ber  nur 
33ergebung  ifirer  ©ünben  fcl)affenbe  ^eilanb  geioefen  ift  unb  fein 
wollte,  ©ie  erl^offten  in  i^m  glaubenb  ba§  Jiommen  be§  ®otte§* 
reid)e§.  Unb  er  erwartet  unb  forbert  oon  i^nen,  baß  fie  in  ben 
neuen  ©inn  ber  Siebe  unb  Kinbe^bemut,  ber  SRein^eit  unb  ber 
^errfcf)aft  über  fi(^  felbft  eingeben  follen,  ben  er  felbft  offenbart 
unb  burc^  ben  fic^  bie  Rinber  be^  ®otte§reicf)esi  oon  ben  ©liebern 
weltlicher  SReidjc  unterfdjeiben  follen.  3Öer  biefen  ©inn  mitbringt, 
für  ben  ift  ba§  Himmelreich  aud)  Vergebung  ber  ©ünben;  benn 
er  oerftetit  ®otte^  wafjre  ®efmnung  gegen  feine  Äinber. 

Unb    üoUenb^    im   ®ebanfenfreife    ber    j  o  f)  a  n  n  e  i  f  d)  e  n 


©djulfe:  „^tx  faget  benn  i^r,  ba&  ic^  fei?''  13 

©c^riften  tritt  ber  ©cfid^t^punft,  ba&  3^efu§  bcu  ©einen  burd) 
feinen  2;ob  bic  SSergebung  ber  ©ünben  erroirbt  (fo  geroi^  er  ^ie 
unb  ba  Qud^  qI§  längft  feftftetienber  ©laube  ber  d^riftlidien  ®e- 
meine  üorauögefe^t  roirb),  bod)  im  großen  unb  ganjen  Dößig 
jurüd.  Oott  mirb  in  ®t)ri[tu§  gcfc^aut :  roer  il^n  fie^t,  ber  fiet)t 
ben  93atcr.  3)a§  Sic^t,  für  welches;  bie  2&elt  nid^t  empfönglid) 
ift,  tritt  in  \\)m  a(§  eine  gefdji^tlid^  menf^lii^e,  aud^  ben  ^inbern 
ber  (Srbe  erfaßbare  9Birt(i(^teit  in  bie  SDlenfc^^eit  ein,  unb  über« 
minbet  bie  ffielt.  3)ie  in  Qz\u^  erfd^loffene  Srfenutni^  be§  matir* 
Saftigen  (Sottet  ift  ba§  emige  Sehen.  9Kit  bem  offenbar  luerben* 
ben  ©Ott  erfc^lie^t  fid)  auc^  ber  ma^re  Qwzd  ber  9Jlenfc^f|eit  unb 
i^rc  ^eftimmung.  9tur  inbem  man  felbft  in  baS  5Reid^  be§  Sid)t§ 
unb  ber  Siebe  eingebt,  oerftet|t  man  ®ott  alS  ba§  Sid)t  unb  bie 
Siebe.  Q[efu§  oerflärt  ben  33ater  in  feinem  Siebe^tobe;  ber 
^^ater  oerflärt  it|n  burd)  feine  ©rl^ebung  in  ba§  2tbtn  ber  eroigen 
äBelt;  unb  ber  SJröfter,  ber  ©cift  beiber,  oerflärt  ba§,  n)a§  3^efu§ 
a(§  gefd)ic^tlid)e  Sinjelperfon  gemefen  ift,  ju  bem  bie  2iBelt  erneuern^ 
ben  unb  ric^tenben  ^^Jriujip. 

©0  roirb  man  nad)  ber  biblifd^en  ©efamtanfc^auung  auf  bie 
Jrage,  maö  un^  3»^fu§  fei,  nic^t  einfad)  antmorten  bürfen:  „@r 
ift  ber,  welcher  un§  ©ünbenoergebung  ermorben  i)a{."  Unb  je 
freier  unb  d^riftlic^er  mir  ba§  menfd)lic^e  Seben  üerftel)en  lernen, 
befto  weniger  werben  mir  geneigt  fein,  ben  SÖtittelpuntt  ber  9teli- 
gion  in  ber  ©emi^^eit  ber  ©ünbeuoergebung  ju  fet)en.  ©ie  bi{= 
bet  gcmi^  immer  bie  9Sorau§|efeung,  o^ne  bie  c^rifttic^eö  2eb^n 
nic^t  benfbar  ift.  2lber  fein  eigentliche^  SBefen  muffen  mir  in 
einem  p  o  f  i  t  i  o  e  n,  f  d)  ö  p  f  e  r  i  f  c^  e  n  'ißrinjip  fud)en. 

6.  ©0  ift  3fcfu^  un§  (£  l)  r  i  ft  u  §.  ®r  ift  un§  S  e  ^  r  e  r  unb 
93orbilb.  ®r  ift  un§  ber,  in  meldiem  mir  @ott  anbeten. 
Sr  ift  un§  ber,  in  meld)em  mir  ber  fünbeuüergebcnben  ®nabe 
®otteS  un§  gemi^  füllen.  Slber  feine  einjelne  biefer  3lu§fagen  al§ 
folc^e  gibt  bie  oolle  unb  richtige  Slntmort  auf  bie  3rage,  bie  un§  be= 
fc^äftigt.  '^Q,  mir  merben  nad)  ben  uort)ergc^euben  ©rmagungen 
ni^t  leugnen  fönnen,  ba§  jebe  einjelne  biefer  9lntmorten  auc^  fo 
gegeben  merben  fann,  ba^  babei  bie  ^^erfönlid)teit  Qefu  felbft  o^ne 
eine  entfd)eibenbe  ^Sebeutung  für  unf er  Seben  bleibt,  meil  fid)  ba^. 


16  ©d^ult:  //Söcr  faget  benn  i^r,  ha^  id|  fei?" 

fc^irfjte,  gcgcnübcrftänbe,  fonbcrn  nur  fo,  ba§  ba§,  n)a§  einft  gc* 
fd^ic^tlic^  war,  t)on  un§  nod)  fortbauernb  erfahren  werben  fann, 
weil  e§  auf  unfer  gegenroärtige^  retigiöfe§  Seben,  nod|  unmittct* 
bar  beftimmenb  einwirft.  2Wfo  nur  bann,  wenn  i^r  ©influ^,  ben 
roir  erfat)rung§ma^ig  in  unferem  3^unern  fpiiren,  eine  lebenbige 
religiöfe  Ueberjeugung  in  unS  begrünbet  unb  bered^tigt.  2Itfo 
fann  ^t\\x^  nur  f  o  unfer  „^err"  fein,  ba^  bie  von  feiner  ^tx^ 
fönlic^feit  auSge^enben  SBirfungen  unfer  innere^  2^btn  gegenwärtig 
ebenfo  jweifeUoö  berühren,  wie  fie  einft  ba§  feiner  3^i^9^noffen 
beftimmt  ^aben. 

8.  2lber  aud)  mit  biefer  'Jlä^erbeftimijtung  ift  ba§  95ert|ä(tni§, 
um  ba§  e§  fic^  l^anbelt,  noc^  nic^t  ju  ftarem  9lu§brurf  getommen. 
©ine  ^erfönlic^feit  fann  auc^  bui'd)  ba§,  roa8_  fie  einft  gefc^affen 
t)at  (einen  Staat,  ein  ®efe^,  eine  Kirche),  ober  burd)  ba§,  xoa^  fie 
juerft  erfannt  ^at  (eine  iJe^re,  einen  ®(auben),  lebenbig  ba§  Seben 
ber  <3^^tJ^it  beftimmen,  unb  bod^  felbft  für  bie  ÜJlenfd)en  ber 
©cgenwart  im  ®runbe  gteid^gültig  unb  o^ne  ®influ^  auf  itir 
innere^  93ewu§tfein  bleiben.  @§  fann  Döllig  genug  fein,  ba^  fie 
fic^  oon  ben  au^  biefer  ^^erfönticf)teit  ftammenben  SBirfungen 
wirflid^  beeinflußt  wiffen.  gür  ben  33ürger  eine§  lebenbigen 
@taatöwefen§  fommt  bie  perfönlic^e  93eäiel)ung  ju  ben  gelben  unb 
Königen,  bie  e§  einft  gegrünbet  ^ben,  burc{)au§  nic^t  me^r  in 
^rage,  obwof)(  er  felbft  unb  atle^,  ma^  i^m  bebeutung^ooU  unb 
erfreulich  ift,  of)ne  fie  nid^t  wäre,  wa^  e§  ift.  (Sein  Sßer^ättni^ 
ju  folc^en  ^eroen,  wenn  er  übert)aupt  oon  i^nen  weiß,  ift  ge- 
wiß  ba§  ber  ©ewunberung  unb  ber  banfbaren  ^^Jietät.  SIber 
ein  guter  93ürger  fann  er  au^  fein,  o^ne  üon  i^nen  ju  wiffen 
unb  i^rer  ju  gebenfen.  9Ber  üon  ber  ^römmigfeit  einer  Äird^e 
getragen  wirb,  ber  tonnte  an  fic^  fromm  in  muftergültiger  SGBeifc 
fein,  and)  wenn  er  nic^t§  von  ben  aJiännern  wüßte,  bie  einft  bie 
Offenbarung  gebrad)t  t)abcn,  bur^  bie  biefe  ^ird)e  geftiftet  ift. 
So  ift  e§  in  allem  ^eibentum,  fo  in  gewiffem  Sinne  audt)  in 
fotc^en  ^Religionen,  wie  bie  inbifc^en,  bie  pevftfc^e  unb  ber  Q^^I^w^/ 
ja  aud^  im  eigentlid)en  Qwbentum.  ''Man  fönnte  fid)  fogar 
eine  J^rm  be§  d)riftlic^cn  ft  a  t  f)  o  l  i  j  i  ^  m  u  §  oorftellen,  für  bie 
„3i^fu§"  burc^  bie  lebenbige  Äirc^e  oöttig  aufgefogen  unb  religiös 


©c^ulfe:  Mzx  fagct  benn  i^r,  ba^  i(^  fei?"  17 

bebcutung§lo§  geworben  wäre.  ®aj5  e§  tatfäd)Iirf)  nirf)t  fo  ift  ba§ 
fommt  bod)  nur  ba^er,  ba^  eben  biefe  Äivd)e  felbft  in  il)rem 
ÄuttuS  unb  it)rem  fie^rgefe^e  eine  beftimmte  33eret)rung  (^efu  unb 
eine  beftimmte  3lnfid^t  über  xi)n  forbert.  S)er  Äatf)oIif 
„fommt  ju  (£^riftu§  burc^  bie  Äirc^e",  aber  er  bt^ 
bürfte  an  fict)  feiner  perfönlid^en  (Slaubeng^^ 
ft  e  C I u n g  j  u  i ^  m  neben  feiner  Stellung  in  b  e r 
Äirc^e.  ®benfo  fmb  bie  ©lieber  einer  S33ei§]^eit§fd)ule  ober  bie 
fonfequent  rationaliftifd)  benfenben  ^^rommeu  in  il)rem  inneren 
Seben  boc^  im  ®runbe  oöllig  unabhängig  oon  ben  für  fie  ent* 
fd)eibenben  Se^rern  unb  SReligion^ftiftern,  fo  gemiß  au(^  i^r  reH= 
giöfeö  unb  pl^ilofop^ifc^eg  ^emußtfein  niemals  oljnc  biefelben  ju= 
ftanbe  gefommen  märe.  Qw  allen  biefen  fällen  mürbe  bie  fort* 
mirfenbe  ^erfönlic^feit  ber  fc^öpferifd)en  3Jlenfd)cn  alfo  allerbing§ 
bie  unbemerfte  treibenbe  5lraft  in  bem  bleiben,  ma§  bie  Wenfc^en 
bemegt,  aber  nur  burd)  bie  oon  i^r  einft  in  Semeguug  gefegten 
unb  au§gelöften  SBirfungen,  an  benen  man  in  ber  ©egenroart, 
bod)  oi)m  bemühte  perionlid^e  53eäie^ung  ju  i^r  teilnetimeu  fann. 
SBenn  man  fic^  übertjaupt  für  fie  intereffierte,  mürbe  e§  mit  ^e= 
munberung,  ^^3ietät  unb  3)anfbarfeit  gefd)et|en,  aber  burd)au§  o^ne 
innere  perfünlid)e  9Ibl)ängigfcit.  5efu§,  in  biefer  SÖeife  üerftan== 
ben,  mürbe  in  bie  ^rolegomena  be§  ©^riftentum§  unb  in  feine 
©efc^ic^te  ein^ureifien  fein,  ^w  ber  @laubenylel)re  ^ätte  er  feinen 
bered)tigten  Sßlai^. 

2Ilfo  mu^  eig  fid)  für  ben  ©Triften  um  jmei  3)inge  ^an« 
bctn,  mie  ba§  bie  in  ber  ©egenmart  ftreitenben  roirflict)  firc^lic^en 
■^^Jarteien  aud)  einmütig  empfinben.  i)efu§  fann  1.  nic^t  al§ 
©egenftanb  ber  SBiffenf^aft  be^  Seben§  0^1»/ 
fonbern  nur  aU  bie  in  ber  @  e m e  i n e  l e  b  e  n  b i g  fort* 
mirfenbe  unb  un§  mit  it)ren  3Birfungen  un* 
mittelbar  berüt)renbe  ^erfönlid)feit,  a(f o  im 
3ufammenl)ange  feiner  9Sorau§fe^ungen  unb  SBirfungen,  unfer 
^eilanb  unb  ^err  fein.  9lber  2.  er  fann  e§  nur  fein,  menn 
biefe  SBirfungen  uon  feiner  mirf  lid)en  gefd)id)t* 
liefen  ^^erf önlid)f ei t  in  ber  SSeife  unabtrennbar 
f  i  n  b,  bap  mir  oon  if)nen  i  n  n  e  r  l  i  d)  nur  b  e  r  ü  f)  r  t  ro  e  r  b  e  n 

3cit^<^rift  für  a:^eoIogie  unb  Äirc^c.  14.  ^a^rg.,  i.  §eft.  '^ 


16  (Sdjul^:  „SBer  fagct  benn  if)r,  ba^  i^  fei?" 

fc^ic^tc,  gcgcnübcrftänbc,  fonbcm  nur  fo,  ba|  ba^,  xoa§  einft  gc^^ 
f^ic^ttic^  mar,  Don  un§  noct)  fortbauernb  crfaf)ren  werben  fann, 
TDett  e§  auf  unfer  gegeniüärtigeö  re(iglöfe§  Seben,  noc^  unmittel* 
bar  beftimmenb  einwirft.  Sllfo  nur  bann,  roenn  if)r  ©influ^,  ben 
xü'xx  erfa^rung^mä^ig  in  unfcrem  -^unern  fpftren,  eine  lebenbige 
rcligtöfe  Ueberjeugung  in  un§  bcgrünbet  unb  berechtigt.  Sttfo 
fann  3efu§  nur  fo  unfer  „§err"  fein,  ba§  bie  oon  feiner  ^er* 
fönlic^teit  au^ge^enben  SBirtungen  unfer  innere^  Seben  gegenroärtig 
ebenfo  jroeifeUo^  berühren,  lüie  fie  einft  ba§  feiner  3^itg^noffen 
beftiinmt  I)aben. 

8.  9tber  aud)  mit  biefer  9Mf)erbeftim^iung  ift  ba§  33erf)ä(tni§, 
um  ba§  e§  [vi)  t)anbelt,  noä)  nic^t  }u  ftarem  9lu^brucf  gefommen. 
Sine  ^crfönlid^teit  fann  aucf)  buvc^  ba§,  mag.  fie  einft  gefc^affen 
ijat  (einen  Staat,  ein  ®efe^,  eine  Kirche),  ober  burd)  ba§,  ma§  fie 
5ucrft  ertannt  {|at  (eine  üetire,  einen  ©tauben),  tebenbig  ba§  Seben 
ber  <3e^t}eit  beftimmen,  unb  bo^  felbft  für  bie  ÜWenfdjen  ber 
©egenmart  im  ©runbe  glei^güttig  unb  of)ne  Sinflu^  auf  it|r 
innere^  93en}u^tfein  bleiben.  S§  fann  üöüig  genug  fein,  baß  fie 
fic^  oon  ben  au^  biefer  ^ßerfönlid)feit  ftammenben  SBirfungen 
mirflic^  beeinflußt  miffen.  %\xx  ben  33ürger  eine§  lebenbigen 
©taat§mefen§  fommt  bie  perfönlic^e  Sejietiung  ju  ben  gelben  unb 
Königen,  bie  e§  einft  gegrünbet  tiaben,  burd)au§  nic^t  mef)r  in 
5rage,  obmo^I  er  felbft  unb  afle^,  roa^  it|m  bebeutung^oott  unb 
erfreulid^  ift,  ot)ne  fie  nic^t  wäre,  roaS  e§  ift.  ©ein  33er^ältni§ 
JU  fotc^en  ^eroen,  roenn  er  übertiaupt  dou  \f)m\x  roeiß,  ift  ge* 
roiß  ba§  ber  33emunberung  unb  ber  banfbaren  ^|}ietät.  2lber 
ein  guter  33ürger  fann  er  auc^  fein,  o^ne  oon  i^nen  ju  miffen 
unb  i^rer  ju  gebenfen.  3Ber  dou  ber  ^^ömmigfeit  einer  ftird^e 
getragen  wirb,  ber  fönnte  an  fic^  fromm  in  muftergültiger  SBeife 
fein,  auc^  roenn  er  nic^t§  oon  ben  aWännern  müßte,  bie  einft  bie 
Offenbarung  gebrad)t  ^aben,  burc^  bie  biefe  Ä'ird)e  geftiftet  ift. 
So  ift  e§  in  allem  .^eibentum,  fo  in  gemiffem  Sinne  aud^  in 
fold)en  Sieligionen,  mie  bie  inbifd^en,  bie  perfifc^e  unb  ber  S^^öi^/ 
ja  auc^  im  eigentlid)en  Qwbentum.  ajlan  fönnte  fic^  fogar 
eine  ^ötm  be§  c^riftlic^en  ft'  a  1 1)  o  l  i  j  i  ö  m  u  §  oorftellen,  für  bie 
„Qefug"  burc^  bie  lebenbige  Äirdje  völlig  aufgefogen  unb  religiös 


©(^ur^:  „aöer  fagct  benn  if)r,  ba&  id>  fei?"  17 

bebeutungSloS  geiüovben  wäre.  2)a^  c§  tatfäd)tid)  nirf)t  fö  ift,  ba§ 
fommt  boc^  nur  baf)cr,  bo^  eben  biefe  Äivc^e  felbft  in  it)rem 
Äultug  unb  it)rem  Sef)vc\e)e^e  eine  beftimmte  Sßeve^vung  ^z\\x  unb 
eine  beftimmte  2(nfid)t  über  i^n  forbert.  3)ev  Äatfiolif 
„fommt  ju  ®t)riftu§  burc^  bte  Äirc^e",  aber  er  be- 
bürfte  an  fid)  feiner  perföntid)cn  ©laubeng^ 
ftellung  ju  i^m  neben  feiner  Stellung  in  ber 
Äirct)e.  ©benfo  pnb  bie  ©lieber  einer  9Bei§I|eitsfd)ule  ober  bie 
fonfequent  rationaliftifd)  benfenben  g^rommen  in  i^rem  inneren 
Seben  bod^  im  CSrunbe  uöüig  unabhängig  uon  ben  für  fie  ent^ 
fd)eibenben  Se^rern  unb  SReligion^ftiftern,  fo  geroi^  auc^  i^r  reli:= 
giöfe^  unb  p^ilofop^ifd)e§  33en)UBtfein  niemals  ot)ne  biefelben  ju« 
ftanbe  gefommen  märe,  ^w  allen  biefen  i^&ilen  mürbe  bie  fort« 
mirfenbe  ^^erföntid)feit  ber  fd)öpferifd)en  3Jlenfd)en  alfo  allerbingS 
bie  unbemerfte  treibenbe  Straft  in  bem  bleiben,  ma§  bie  OTenfc^en 
bemegt,  aber  nur  burd)  bie  oon  ii)x  einft  in  ^öemeguug  gefegten 
unb  auggelöften  SBirfungen,  an  benen  man  in  ber  ©egenmart, 
bod)  o^ne  bemühte  perfönlici^e  Sejie^ung  ju  il)r  teilnetimeu  fann. 
2Benn  man  fid)  äberf)aupt  für  fie  intereffierte,  mürbe  e§  mit  ©e- 
munberung,  "^ßietät  unb  2)anfbarfeit  gefd)el)en,  aber  burc^au§  o^ne 
innere  perfönlid)e  2lbf)ängigfeit.  Qt\\x^,  in  biefer  3Beife  rerftan* 
ben,  mürbe  in  bie  ^rotegomena  be§  ®l)riftentum§  unb  in  feine 
®efd)id)te  einjurei^en  fein,  ^n  ber  ®lauben^let)re  f)ätte  er  feinen 
beredjtigten  ^^3la^. 

2llfo  muß  e^  fic^  für  ben  S^riften  um  jmei  ®inge  f|an- 
beln,  mie  ba§  bie  in  ber  ©egenmart  ftreitenbeu  roirflid)  fird}lic^en 
•ißarteien  and)  einmütig  empfinben.  i)efu§  fann  1.  nid|t  al§ 
©egenftaub  ber  3Biffenf(^aft  be§  Seben^  -Scfn. 
fonbern  nur  al§  bie  in  ber  ©  e  m  e  i  n  e  l  e  b  e  n  b  i  g  fort* 
mirfenbe  unb  un§  mit  if)ren  äBirfungen  un« 
mittelbar  berül)renbe  $erfünlid)feit,  alfo  im 
^ufammen^ange  feiner  9Jorau§fe^ungen  unb  SBirfungen,  unfcr 
^eilanb  unb  ßerr  fein.  3lber  2.  er  fann  e§  nur  fein,  menn 
biefe  äßirfungen  uon  feiner  mirflicl)en  gefd)id)t* 
ticken  ^^erf önlid|f ei t  in  ber  Seife  unabtrennbar 
finb,  ba|  mir  oon  i^nen  innerlid)  nur  berül)rt  ro erben 

3cit5<l^rtft  für  Ideologie  unb  Äir(^e.  U.  ^a^rg.,  i.  $eft.  *^ 


18  ©  d^  u  t ti :  „®er  faget  bcnn  t^r,  ba&  ic^  fei?'' 

fönncn,  inbctn  bicfcv  gcf  d)ic^  t  (ict)c  9Wenfc^  [clbft 
für  unfcrc  ©ectc  bebcutfam  unb  entfc^cibcnb 
roirb  unb  \x6)  i^r  al§  ^crr  unb  Mette v  eriüeift. 
9.  3)ie  erfte  Sebingung  forbevt,  bap  unfere  c^riftlidje 
grömmighit  fic^  auf  ben  in  bei*  @ e m  e i  n e  unb  in  feinem 
©eifte  forttebcnben  gef(^id)tfid)en  ^efu§  bejic^t. 
Qeber  einjetne  fommt  mit  Qt]\x^  junäd)ft  nur  in  33ei*üt)vung  burc^ 
^erfönlid^teiten,  bic  ;3fefu§  al§  ben  matiren  3^n^alt  it)re^  inneren 
Seben§  bcfi^en,  alfo  qI§  bog,  rooburd^  fic  un^  befc^ämen  unb  er= 
lieben,  ©obann  in  bem  ^rifüidien  @  e  f  a  m  1 1  e  b  e  n ,  mie  e» 
qI§  t)on  biefem  ^efu8  beftimmte^  Seben  ju  einer  befonberen  ©r- 
f^einung  innerhalb  ber  SJlenfc^^cit  gemorben  ift  unb  in  immer  neuen 
@rfc^einung§formen  neuer  9Wenfc^en  ba§  üon  3^fu§  ftammenbe 
fieben  au§geftaltet.  SWit  3«fu§  a^^  ^'"^^  perfönlid)  fort» 
tebenben  (Sinjetperfönlic^feit  tommen  bie  ®f)riften  nic^t  in  innere 
93erüt)rung.  @rfat)rungen  roie  bie  be§  9tpofteI§  "ißaulu^  unb  feiner 
ajlitapoftel  finb  3tu§na^men,  bic  mit  ber  SSerbejeit  be§  S^riften* 
tum§  }ufamment|ängen,  unb  merben  oon  i^nen  fetbft  al§  abge= 
fd)loffen  angefe^en.  Unb  gegen  bie  tünftlic^e  SBieberbelebung 
folc^er  (Erfahrungen  l^at  bie  gefunbe  ^^ömmigteit  in  ber  Jlird)e 
fic^  mit  Steigt  ftet§  ablet)nenb  oer^alten.  3Ilfo  fann  au^  bie  Heber« 
jeugung  Don  bem  perföntic^en  Sluferfte^en  ,3efu  roeber  auf  foIrf)e 
(Sriebniffe  gegrünbet  merben,  noc^  tann  fie  aU  fi(^erc  ®efd)ic^t§* 
tatfac^e,  al§  eine  f  e  ft  ft  e  ^  c  n  b  e  95  o  r  a  u  §  f  e  ^  u  n  g  be§  ©lau* 
ben§  an  i^n  betrad)tet  merben.  Sie  mirb  religiös  uielme^r  aU 
bas  notmenbige  ©  r  g  e  b  n  i  §  biefe§  ©(auben§  geroertet  werben 
muffen.  ®ie  ^erfönlid^teit,  Don  ber  ber  ©faubenbe  fid)  innerlich 
be^errfd)t  mei^,  fann  it)m  natürlid)  feine  üergangeue,  oon  SBelt 
unb  2ob  übermunbene  fein,  ©r  n)ei§  fie  aH  eine  fiegreic^e  unb 
^errfd)enbe,  a(fo  in  ©Ott  lebenbige.  So  mirb  fid^  un§  ber  SSor* 
gang,  um  ben  e§  fid)  ^anbett,  folgenber maßen  barftetlen.  3)er 
g  e  f  (^  i  d)  1 1  i  c^  e  3efu§,  a ( ö  in  f  e i n  e  u  3Ö  i  r  t  u n g e n  auf 
©rbenauc^für  un§  erfal^rbarer,  berül^rt  un§  at§ 
ber  in  ber  ©efd^ic^te  fortmirfenbe  5unäd)ft  in  oon 
i^m  be^errfd)ten  ^^erfönlic^feiten  unb  fingen,  ^nbem  er  un§  in 
biefer  äBeife  innerli^  SSertrauen  unb  Unterorbnung  abgeminnt,  mirb  er 


(5  d)  u  U :  „ffier  faget  benn  x\)x,  ha^  id)  fei?"  19 

jum  ©cgeuftaub  unfcreS  (Staubend.  —  Uub  lüenn  mau  bic§  @rleb* 
ni§  genauer  betrachtet  fo  ift  ba§,  roa§  un§  berührt  unb  geroinnt, 
boc^  nidjt  eigeuttic^  bie  gefcf)id)t(i^e  ^;|3erföulic^teit  Qefu,  fonbcrn 
bcr  (Seift  biefer  ^erföulid^teit,  in  bem  i^re  irbi[cl)e 
®eftalt  uerflärt  weiter  roirtt.  @ine  "^^erfönti^feit  ber  Ser^ 
gangen^eit  berülirt  un§  nac^  i^rem  Scheiben  t)on  ber  @rbe  eben 
übcrt)aupt  nur  al§  „gefc^ic^tfirf)e",  b.  i).  in  ber  geiftig  fortroirten^' 
ben  Summe  ber  ge|d)ic^tlid)  oon  i^r  in  SGBirtung  gefegten  SJlotioe. 
3)arin  liegt  bie  3Q3af)r^eit  be§  93eftreben§,  jn)ifd)en  5efu§  unb 
S^riftu^,  b.  i).  jn)i)d)en  bem  gefc^ic^tlic^en  Qnbiüibuum  unb  feiner 
geiftig  in  ber  ©efc^ic^te  fortlebenben  ©eftalt  }u  unterfc^eiben,  fo 
bebenflid)  biefe^  Seftreben  aud)  a(§  3luflöfung  be§  gefrf)ic^tlicl)en 
®^riftentum§  in  gnoftifd)e  9ieIigion§pt|i(ofop^ie  roirfen  tann.  2)arin 
liegt  bie  t)o^e  'öebeutung  ber  Se^re  Dom  ^eiligen  ©eifte  unb  oon 
ber  .ipeil^orbnung,  bie  gegenroärtig  über  ber  Betonung  be§  gefd)id)t= 
liefen  3»^fu§  iu  oft  üergeffen  mirb.  SBer  nidjt  ben  „^^fii^  ^^^ 
5Biffenfd)aft  be§  Seben§  ^efu"  unb  nic^t  ben  un§  perfönlic^  er^ 
fahrbaren  üertlärten  S^riftu^  miti,  ber  fann  nur  oon  bem  i  n 
feinem  ®eifte  un^  berü^renben  3ßfu§  reben. 

10.  3)er  jmeiten  Sebingung  gered)t  ju  merben  oerfud)t  bie 
Slnfc^quung,  loeld^e  ben  „biblif^en  @;t)riftu§"  im  ©egenfa^ 
ju  bem  ^iftorifc^en  3efu§  at^  ba§  unferen  ®(auben  er- 
roecfenbe  ©ub)e!t  bejeic^net.  2)er  „biblifc^e"  ®^riftu§  foll  ber 
loirflic^  gefd^ic^tlid)e  ^z\\x^  fein.  SQ3ir  foUeu  unfer  Innenleben  be* 
einfluffen  (äffen  oon  bem  in  ber  Kird)e  geprebigten  unb  in  i^r 
fortlebenben  ^eilanb§bilb.  äBa^bieg^römmigteitber  erften  ©emeine 
in  ;3efu  gefe^en  \)ai,  ba§  follen  mir  at^  feine  ^erfönlii^feit  ^innel^^ 
men.  3)iefe  93e^auptung  ift  jebenfaU§  in  ber  ^orm  unrid)tig,  nad) 
ber  ba§  gefamte  ®l)riftu§bilb  be§  Steuen  Jeftament^,  mit  @inf(^lu§ 
ber  paulinifdien  unb  j|oI)anneifc^en  2:l)eologie,  einfach  ber  -S^fu^ 
fein  foll,  ber  für  unfer  religiöfe§  Seben  entfd)eibet.  2Bir  müßten 
bann  ben  präeyiftenten  unb  poftejiftenten  ©briftu^  famt  feinen 
altteftamentlid)cn  Sorau^fe^ungen  einfach  al§  „3^fus"  übernet)men. 
5)anu  märe  religiöfer  ©laube  unb  bogmatifc^e  2lufid)t  gteid|be= 
beutenb.  Unfer  ®t)riftentum  märe  nur  burd)  Se^arren  bei  bem 
®ebanfenfreife  beö  antifen  §elleni§mu§  unb  bei  ber  ^Jiaioität  ber 


20  @  d^  u  I  fe :  ,,9Bcu  f aget  bcnn  \\)x,  ba^  icfj  fei  V 

alten  ®cfc^ici^tgn)iffenf(i)aft  möglirf).  3)cn  n)ivf(id)en  (Stauben  an 
^efu§  abn  wccft  in  un§  bocf)  nur  bcr  ©Inbrucf,  bev  beu  ®(aubeu 
ber  evften  (Semeine  geroedft  i)at,  nid)t  ba§  oon  it|ver  gvöm« 
migfeit  bavan  9efd)(off ene bogmatifdic >&'\lh.  (Sine  anbere  2lbt)ängigfeit 
oon  feiner  ^erfon  \)at  ^t^n^  felbft  bei  bcn  ©einen  nie  beanfprud)t 
uub  fonntc  fte  auc^  nid)t  beanfpruc^en.  ®r  uertangt  nur,  baß  fie  in 
it)m  Ootte§  3BiÜen§!unbgebung  ^inne^men.  @r  frf)rcibt  nic^t  ein 
3)ogma  oor  über  if)n  ober  eine  3iM*"ttniung  ju  aKem  t)on  il^m 
®rjäf)Uen  ober  eine  frf)riftge(e^rte  Äenutnig  ber  altteftamentlic^en 
Sebingungen  feiner  (5rfd)einung.  Unb  biefer  (Staube  ber  ©einen 
beburfte  in  ben  ©tunben  bcr  !tßcrfu(^ung  roo^l  ber  Sefeftigung 
uub  ^teubclebung  burc^  bie  ®rfd)einungen  be§  2luferftan= 
benen.  2lber  fie  f)aben  it)n  nict)t  gefd)affen  ober  ju  einem 
an  bereu  gemad)t.  (Sr  mar  in  fid)  felbft  ftarf  genug,  über  Stob 
uub  (Srab  ]^iuau§  bie  ®emein|d)aft  ber  in  ^efu  ^^Jcrfönlic^feit 
murjeluben  5^*ömmigf eit  ju  ermatten.  3)ie  „S^viftologic"  be§  9teuen 
Seftament^  ift  nic^t  felbft  ber  feligmad)eube  ©laube  an  bie  ^er^^ 
föulic^feit  ^efu,  fouberu  ber  SJerfuc^,  \i)\x  gemä§  bem  ©ebanfen« 
material  unb  ber  59ilbuug  jener  Qnt  in  feineu  Folgerungen  ju 
t)erftet)en  unb  au^eiuauberjulegen.  9latürlic^  \)aht\\  9Jfönuer  mie 
^^aulu§  unb  ^of|anne§  beibe§  nic^t  au§einanberge^alten.  Unb 
aud)  für  ben  gvommeu  ber  ©egenmart,  ber  obne  ba§  93ebürfui§ 
perföulid)en'  fragen»  unb  Unterfuc^en^  gläubig  im  fiebeu  ber  Ä'irc^e 
fte^t,  ift  ba§  oon  ber  Kird)e  i^m  entgegengetragene  gefamte 
„(£l)riftuöbilb"  natürlid)  ol)ne  93ebcnfeu  ibentifc^  mit  bem  Qefu^/ 
bem  feine  Seele  gef|ört,  unb  fotl  e§  fein.  2lber  fobatb  man  über^ 
t)aupt  benfcnb  uuterfd)eibet ,  fann  ber  ma^re  ©ac^üer^alt  nid)t 
jmcifeltiaft  fein.  S)a»,  ma§  unfere  ©eele  perfönlid)  ergreift,  \m^ 
mir  religiös  erfatjren  tonnen  unb  als  l)errfc^enbe  SJlac^t  in  un§ 
anerfennen,  ba§  ift  nid)t  bie  t^eoIogi)d)e  ©efamtanfc^auung  über 
Oefu§,  mie  fie  im  bleuen  Seftament  ausgeprägt  unb  in  ber  Slirc^e 
meitergebilbet  ift,  fouberu  bie  biefer  @efamtanfd|auung  ju  (Sruube 
liegenbe  gefc^id)tlid)e  ^)?erfönlic^feit  ^efu  in  bcn  oon  il}r  au§get)cn* 
t)m  religiöfen  SBirfungeu. 

2lber  ba§  äBat)ie  in  biefer  Stnfdjauung  barf  nict)t  uertauut 
mevben.     2)er  ^efuS,  ber  nn^  in  feinem  (Seifte  berüf)vt,  tritt  un§ 


Bd)ul1^:  „3Ber  fagct  benn  i^r,  ba&  icf|  fei?"  21 

bod)  nirgenbg  unücrfcunbar  imb  fid)er  entgegen,  als  in  ber  Scl)rif  t 
be§  bleuen  Jeftament^.  äßiv  finben  il)n  bort  in  ber  gorm,  wie 
er  jucrft  ®Iauben  erioedt  l)at,  unb  aüt  fid}eren  unb  juüerläffigen 
©inbriidte  feiner  *^erfön(id)teit  ftnb  bod)  fd)Iie§Ud)  nur  bort  ju 
geroinnen.  ®er  ®efd)id)t§forf^ung  über  <3efu§  bietet  ba§  9leue 
Jeftament  ein  l)öd)ft  fd)roieriges;,  roo^I  niemals  befriebigenb  ju 
[ofenbe§  ^ßroblem.  ^tber  ba»  religiöfe  ®t)ri[tus;bilb,  roeld^es 
3efu§  gefc^id)tlirf)  in  bie  ^erjen  ber  Seinen  eingeprägt  t)at,  ift 
^ier  immer  roieber  in  oöüig  unoertennbarer  unb  autf)entifd)er  gorm 
JU  finden.  S§  ift  nid)t  bie  tf)eotogifd)e  Ueberjeugung  ber  neu= 
teftamentlid)en  Sd)riftfteKer,  bereu  3Birtungen  roir  im  Olauben 
empfinbeu.  ©ie  bleibt  ein  'tßroblem  ber  Jfieologie.  2lber  ba§ 
9leue  2:eftament  jeigt  un§  bie  roirtenbe  ^erfönltd)feit  <3^[W/  ^^^ 
er  fie  in  bie  ^erjen  feiner  jünger  unb  bamit  in  bie  religiöfe  ®e* 
fd)id)te  ber  3Jlenfd)f|eit  eingeprägt  \)at 

11.  S)er  ^efu§,  mit  bem  unfer  innere^  religiöfe^  fieben  e§  ju 
tun  t)at,  ift  alfo  ber  g  e  f  c^  i  (^  1 1  i  d)  e  3»  ^  f  u  §  oon  9la}aret^, 
beffen  93ilb  un§  in  ber  ^.  ©d)rift  entgegentritt. 
91  i  d)  t  ber  ^^3  r  ä  e  5  i  ft  e  n  t  e ,  ber  in  ber  eroigen  ©ottegroelt 
lebt.  6rft  ouf  ®runb  be§  oorl)anbenen  ®lauben§  an  Qefu§  ift 
biefe  SSorftellung  oon  tlieologifd^em  ®enfen  gebilbet  unb  ju  bil^ 
ben.  äöa§  un§  berül)rt  unb  unfere  ©eele  geroinnt,  ba§  ift  eine 
menfd)lid)e  ®eftalt  in  menfdjlic^en  a3erl)ältniffen. 
3Bir  fpüren,  bap  un^  ®ott  in  i^r  berührt.  2lber  roir  fönnen  ba§ 
junäc^ft  nid)t  in  ber  SBeife  erfatiren,  ba§  fic^  ®ott  unferem  Renten 
al§  ein  33  e  ft  a  n  b  t  e  i  l  b  i  e  f  e  r  ^  e  r  f  ö  n  l  i  d)  t  e  i  t  offenbarte, 
—  baoon  religio»  eine  Srfa^run  g  ju  gcroinnen,  roürben  roir  ja  an 
fi^  oöUig  au^er  ©tanbe  fein,  —  fonbern  fo,  ba^  ber  ®ott,  ber 
un§  al^  religiöfe  ^erfönli(^teiten  rid)tet  unb  un§  nirgenbg  fonft 
oöllig  feiig  mad)t,  fid)  un§  in  biefer  menf(^lid)en  ^erfönli^teit 
unb  burd)  fie  al§  befeligenb  fühlbar  mac^t.  31  u  c^  b  e  r  $  0  ft= 
cyiftente,  ift  nid)t  ber  SnMt  unferer  grömmigteit,  ber  alö 
oertlärte  ^erfönlid)teit  mit  feinem  SSater  ^errfd)t  al§  ber  Äönig 
im  9teid)e  beö  ®uten.  9Bol|l  ift  e§  ein  notroen biger  ©d)lu§  besi 
S)enfen§,  roenn  roir  an  \i)n  glauben  gelernt  Ijaben,  ba^  er  in 
®otteg  ®emeinfd)aft  f)errfd)t  unb  lebt.    2lber  er  felbft  berüf)rt 


22  ©d)ulft:  „3öcr  fagct  bcnn  i^r,  baj  irf)  fei?" 

uu§  borf)  nac^  uuferev  n)irttid)cn  d)viftUc^en  ®rfal)ruug,  ber  aud)  uu* 
fcrc  Stixijz  immer  jugcftimmt  ^at,  nitfit  met)r  (ügl.  9tr.  9)  in  biefcr 
fiebengf orm.  @r  roirtt  auf  un§  in  bcn  ®  n  a  b  c n  m  i  1 1  e  I  n ,  bic  bcn 
^n^alt  bcsfgefd)id^tlicöcn  Scben§  biefe§  ^cfu§,  alfo 
feine  irbifdje,  roirfeube  ^erfönli^feit,  unferer  ©eele  orbnung^mä^ig 
unb  ben  ©efe^en  be§  (Seelenleben^  entfprec^enb  bavbieten.  @r 
beriif)rt  un§  in  feinem  ®  e  i  ft  e ,  ber  un§  ben  ^nl)alt  feinet  93e* 
ruföleben§  unb  feiner  ^erfönUd)feit  burrf)  menfc^Iicl)e  ^^Jcrföntirf)* 
feiten,  burc^  ba§  Seben  ber  ©emeine  unb  burd)  Sd^rift  unb  Sa« 
trament  jum  SSerou^tfein  bringt.  @o  werben  wir  aüerbingg  awd) 
unmittelbar  gemig,  ba$  er  ber  fiebenbige,  ber  Sieger  über  ben 
Job  ift.  3Bir  fpüren,  ba^  er  unfer  ^err  fein  toi  lt.  2lber 
über  bie  befonbere  9trt,  m  i  e  er  ben  2;ob  überrounben  f)at,  unb 
wie  er  je^t  für  f  i  d^  unb  für  @  o  1 1  lebt,  f önnen  wir  au§  bem 
©tauben  felbft  junäd^ft  eine  beftimmte  Ueberjeugung  nic^t  befi^en. 
3Bir  tonnen  fie  un§  nur  auf  ©runb  be§  ©laubeng  bentenb 
bilben,  menn  mir  un§  nic^t  mit  ber  einfadjen  ^inna^mc  be§ 
gefc^id)tlic^  @rjäl)lten  begnügen  moUen.  2)ie  gef^id)tlic^e 
93ejeugung  ber  2luferftebung  Qefu  unterliegt  für  ben  miffenfc^aft* 
lid)  ©ebilbeten  an  fic^  ber  ^iftorifd)en  33eurteilung,  mie  jeber  93e* 
rid)t  in  ber  ©efc^id)te.  2lber  unfer  ©laube  tann  nic^t  auf  ba^ 
©rgebnig  einer  fold)en  93eurteilung  märten  ober  oon  il)m  abhängig 
fein  unb  er  f  o  1 1  eö  nid)t.  6r  grünbet  fic^,  mie  ber  ©laube  ber 
erften  jünger,  auf  bie  ©emip^eit,  ba§  QefuS  lebenbig  auf  un§ 
mirft  unb  un§  be^errfd)t.  Unb  oon  ber  2trt,  m  i  e  mir  un§  feine 
gegenmärtige  3)afein§form  t^eologifc^  benfen,  ^ängt  bie  ©emi^l^eit 
biefer  2:t)atfad)e  fc^led)tl)in  nid)t  ab.  2lm  menigften  mirb  fie  fo 
begrünbet,  ba§  Sefu§  etma  al§  ber  93ertlärte  un§  fein  oertlärte^ 
3)afein  anfc^aulid^  madfjte  unb  fo  offenbar  merbenb  in  unfer  fieben 
einträte. 

12.  @§  ift  ber  g  e  f  d)  i  d)  1 1  i  d)  e  ^efu§,  ber  unfere  f^xönu 
migfeit  beftimmt.  2lber  nid)t  ber  ©egenftanb  ber  t)iftorifd)en  ^ritif, 
ber  if)ren  3w)eifeln  unb  2lngriffen  unterliegt,  ©in  foldjer  3efu§ 
mürbe  ja  nur  miffenfd)aftlid)  ©ebilbete  intereffieren,  unb  mürbe 
nur  '\i)x  miffenfd)aftlic^eg  ^ntereffe  in  Slnfprud)  nehmen,  nid)t  \i)xt 
retigiöfe  Ueberjeugung.    3)er  Qt\\x^,  an  ben  mir  glauben,  fte^t 


©ci^uU:  3er  faget  bcnn  \f)x,  ha^  icf)  fei?"  23 

f^led)t^in  über  ber  roiffcnfc^afttic^en  Ärittfunb  bleibtun* 
angreifbar  für  fte,  al§  eine  unmittelbar  auf  un§  rairfcnbe  Satfad&e, 
bie  üöUtg  eben  fo  gerot^  ift,  roie  jebe  ©rf^etnung  ber  3latur,  unb 
bereu  roir  in  jebem  Slugcnblict  au§  i^ren  ^Birfungen  ebcnfo  ge* 
jui^  werben  föuuen,  löic  bie  9kturn)iffenfd^aft  bur^  ba8  ©yperi* 
ment  it)rer  ©egenftänbe  geroi^  roirb.  6r  tritt  un§  lebenbig  ent* 
gegen  mit  aßem  bem,  ma§  er  felbft  empfangen  l|at  au§  ber  oon 
©Ott  geleiteten  @cfd)ic^te  ber  menfc^Iidien  ^Religion,  mit  aßem, 
wa^  au§  ber  Kraft  feiner  ^^5erföntic^!eit  in  ben  ^cvjen  feiner 
©laubigen  fic^  eingeprägt  ijat  Qe\\i§  ift  e§  boc^,  ber  ba^  93ilb 
uon  bem,  n)a§  er  mar  unb  roa^  er  mollte,  in  bie  .^erjen  feiner 
jünger  aU  fie  beftimmenbe§  unb  ummanbelnbeg  l)ineingelegt  unb 
e§  bamit  unoerlierbar  in  bie  ©eele  ber  3Dlcnfci^f)eit  eingeprägt  ^at, 
ba^  93ilb  be§  SWenfc^en,  ber  bem  SBillen  ®otte§  entfprid)t,  ber 
fic^  in  Äinbeöliebe  mit  ®ott  feinem  93ater  oerbunben  mei$,  ber, 
in  Siebe  ju  ben  53rübern  unb  in  töniglic^cr  9Jlact)t  be§  ©eifteS 
über  ba§  S^^ifd)/  ^ö§  9leic^  ©otte§  auf  ©rben  in  fid^  barftellt  unb 
ben  SBiberftanb  ber  SBelt  überminbet.  3)iefe  ©eftalt  ^efu  ift  im 
bleuen  Seftament  in  einer  reiben  ^-üüe  oon  ©inietbitbern  au^* 
geprägt.  9lic^t  otine  SSerfnüpfung  mit  einer  Slei^e  oon  ©rjä^* 
lungen,  vox  beuen  bie  Sritif  jmeifetnb  ftel)en  mag.  9lici|t  o^ne 
©infügung  in  bügmatifd)e  unb  metap^rififc^e  ©ebantengänge,  bie 
mit  ber  93eränberung  ber  gefamten  2)enfn)eife  au^  il^rerfeitS 
gmeifet^aft  unb  bebeutung§lo§  werben  fonnten.  2tber  fie  felbft, 
biefe  ©eftalt  be^  neuen  SÄenfd^en,  ber  in  O^fu^  in  bie  geiftige 
@efc^id)te  ber  3Jlenfd)en  eingetreten  ift,  fte^t  im  bleuen  Seftamente 
in  DoUer  Älarl^eit  üor  un§,  DoUtommen  unangreifbar  für  ben  ge^^ 
f(f)id)tlic^en  ober  ben  bogmatifc^en  ^n^^if^I-  ^^^^  ^in  2:t)or  tonnte 
beftreiten,  baj3  mirflic^  ^efu^  felbft  biefe  feine  ©eftalt  in  bie  ^erjen 
ber  ©einen  eiugejeic^net  ^at,  ba§  nic^t  etwa  i^re  eigenen  S^räume 
fic^  {|ier  ein  pou  it)m  unabt|ängige§  ^beat  gefc^affen  ^aben.  2)enn 
fie  ^aben  at§  bie  ©einen  gelebt  unb  finb  at§  bie  ©einen 
geftorben,  für  i^n,  ben  fie  ber  9Belt  geprebigt  l)aben.  2tu§  i  \)  m 
ift  in  it)nen  ba§  Seben  geboren,  ba§  i^nen  ^infort  al§  allein  mert» 
ooll  gilt,  ©ie  ftellen  fid)  bebingung^lo^  unter  feine  in  il)nen 
lebenbe  ^^3erfönlid)feit,  al§  unter  ben  §errn,  ber  fie  für  fic^  ge* 


24  ©ci^ul^:  ,3er  faget  bcnn  i^r,  ba&  id^  fei?" 

tüonuen  unb  fic  umgcftattet  i)at.  2lIfo  fclbft,  lücun  c§  iüd)t  au 
ftd)  fd)on  eine  llnmöglidjtcit  wäre,  bafe  bic  ^tiantafic  oön  5ifd)cru 
unb  3öfl"^^i^  ^w^  ^ß"^  <3^rael  ber  @cl)riftgclef)rfamfcit  unb  bcs 
^^3f)arifäi^mu§,  bie  ^t)anta[ie  uon  9JJcnfrf)en,  bic  fiel)  a(§  „fün- 
big"  unb  ber  SSergebung  bebürftig  raupten,  bicfe  ©eftalt  l)ätte 
fc^affen  ober  auc^  nur  oerflären  fönnen,  roürbc  e§  un§  jroeifeüoS 
fein  muffen :  in  bem  ®l)riftu§bilb  be§  9leuen  2:efta= 
m  e  n  t  e  § ,  ba§  ben  ©lauben  ber  erften  Oemcine  an  i^n  jum  9Iu5- 
brudt  bringt,  ^aben  wir  ben  g  e  f  d)  i  d)  1 1 1  cf)  e  n  ^  e  f  u  §  fo,  wie 
er  feine  ©eftalt  in  bie  ^erjen  ber  Seinen  eingeprägt  ()at.  9lici^t 
in  ber  ®t)riftoIogie  ber  tf)eotogifc^  benfenben  3ü"9^^'  u"b  nid)t  in 
ber  ßegenbc  ber  erften  fritiflofen  ©emeine,  aber  in  bem,  oon 
bem  fie  prebigen  unb  in  bem  fie  leben. 

13.  3)iefer  QefuS  tritt  and)  uu§  entgegen  unb  beanfprud}t 
auf  un§  ju  roirten.  ^n  ber  t).  ©d)rift  unb  in  ben  Saframenten, 
im  Seben  ber  Slird)e  unb  in  ^erfönlic^feiten,  bie  üon  ^cfu^  er= 
griffen  finb,  berülirt  er  un§,  —  im  legten  ®runbe  bo^  überaH 
burd^  bie  t)eilige  ©dirift.  ©eine  SBirtung  auf  un§  ift  freiließ 
immer  oerbunben  mit  einer  Summe  üon  gefc^i^tlid)en  Ueberliefe* 
rungen,  bie  nad|  ben  3^*^<^tt^^^  wnb  nac^  ber  miffenfc^aftlid)en 
93ilbung  ber  einjetncn  fe^r  t)erfd)ieben  beurteilt  merbcn.  ©ie  ift 
immer  begleitet  t)on  bogmatifc^en  unb  metapl^gfifc^en  Ueber- 
geugungen,  bie  nad)  ber  fir(^lid)en  Srabition,  nad^  ber  ttjeologi- 
fd)en  Sitbung  unb  naä)  bem  fonftigen  ©ebanfenfreife  ber  9)ien* 
fd)en  üiclfad)  mit  einanber  im  ©treit  fein  merben.  Unb  für  bie 
SKe^rja^l  ber  3^rommen  gefc^iet)t  bas  ot)ue  S^age  fo,  bap  fie  5mi* 
fdjen  ber  auf  fie  mirtenben  gefd)id)tlid^en  ©eftalt  Qefu  uub  hm 
@ef^id)t§anfid)ten  unb  tt)eotogi|c^en  Urteilen,  mit  benen  üerbun= 
ben  fie  i^nen  nat)cgebra^t  wirb,  mebcr  mirflid)  unterfd)eiben 
nod)  überf)aupt  ju  unlerfd)eibcn  9Inla^  ^aben.  Slber  in  SBirflid)* 
teit  ift  e§  bod)  immer  biefe  ^erfünlid)feit  f  elbft  allein, 
auf  bie  e§  anfommt,  mo  d)riftlic^er  ®(aubc  entftefjeu  foU. 
Unb  bei  aller  Sßerfc^ieben^eit  ber  ^iftorifc^en  unb  bogmatifdieu 
2lnfic^ten  ift  e^  bod)  immer  bie  gteid)e  ©eftatt,  bie  allein  ©egen^ 
ftanb  be§  ©lauben^  fein  fann,  bie  perfönlidjc  ®efta(t  be§  gefd)id)t* 
Iid)en  Qefn§,  bie  er  in  .^erj  unb  ©eioiffen    ber  tWenfd)f)eit   ein« 


©c^ul^:  ,3er  faget  benn  i^x,  ba&  i^  fei?"  25 

geprägt  ^at. 

14.  ©ic  lücnbet  fid)  uid)t  an  ba§  ^  i  ft  o  r  i  f  d)  e  U  r  t  c  i  (, 
um  eine  gefd)id)tlic^c  9tnftc^t  Ijcroorjurufen  unb  eine  ioiffenfd)aft= 
lic^c  3uftimmung  ju  bcgrünben.  3)a§  mag  in  fvülieren  3citöltern 
üon  naioerev  2lrt  ein  unbebenHic^cr  SQ3eg  gemefen  fein,  unb  e§ 
mag  aixd)  je^t  Saufenben  oon  frommen  ©emütevn  fo  erfc^einen. 
6§  mag  i^nen  felbftüerftänblid)  bünfen,  burd)  bie  l)iftorifc^e  lieber* 
jeugung  üon  ben  in  bev  ©d)rift  überlieferten  SBorten  unb  Saaten 
^efu,  vox  9Iüem  üon  feinen  SBunbern  unb  oon  ber  äußern  "Slad}' 
mci^barteit  ber  Öfter-  unb  2ßeil)nacl)t^gefd)ic^ten  jum  rechten  djrift* 
lid|cn  ©tauben  ju  fommen.  Slber  loer  von  ber  3Jlet^obe  ber 
roat)ren  SBiffenfdjaft  in  ber  @egenn)art  etma^  meip,  ber  mirb  aud) 
roiffen,  ba^  biefer  3Beg  einen  geroiffen^aften  ©ebitbeten  nic^t  weiter 
führen  tann,  a(§  ju  fragen,  ßw^^if^'"  ^"b  kämpfen,  unb  im  beften 
i^aüt  JU  einer  üortäufigen  9Bal)rfc^einlic^teitsüber5eugung,  bie  mor* 
gen  neuer  Ungeroi§l^eit  ^ta^  mad)en  !ann. 

©ic  menbet  fid)  aud)  ni^t  an  ba§  t  f)  e  o  l  o  g  i  f  d)  e  ®  e  n= 
fen,  um  auf  ®runb  überlieferter  fiel)rfä^e  ber  Stird)e,  im  beften 
gatte  unter  bem  Sinfluffe  ber  S^eologie  ber  neuteftamentlic^en 
(Sdjriftfteller,  eine  3uftimmung  be§  2)enten§  ju  berjenigen  bog* 
matifdien  9Bertfd)ä^ung  biefer  '^erfönlid)teit  ju  geroinnen,  bie  ben 
firc^Iic^en  Slbftc^ten  unb  Ueberlieferungen  entfpridjt.  2luc^  ba§ 
roar  o^nc  93ebenten,  folange  ba§  firc^lid)e  Stecht  ber  Seljrgefe^* 
gebung  unb  bie  Qnfpiration  ber  biblifd)en  ©d)riftfteüer  im  ©inne 
be§  alten  3)ogma  al§  jugeftanbene  9Sorau§fe^ungen  für  jeben  in 
ß^riftenlänbern  ^eranroac^fenben  a)]enfc^en  üon  gutem  äBillen  gal= 
ten.  Unb  roic  e§  bem  iiatt)oIifen  ganj  natürlich  ift,  fo  mag  e§ 
noc^  je^t  nid)t  roefentlid)  anberö  für  bie  „SKeinen"  fein,  benen 
ber  Unterrid)t  ber  Äird)e  unb  ba§  Einprägen  beftimmter  biblifc^er 
©prüdje  tatfad)Iid)  ba§  gef (Raffen  f)a6en,  roa§  fie  il^ren  ©laubcn 
nennen,  ©ie  ^aben,  roenn  fie  u)at)rl|aft  fromm  finb,  ja  in  ber  2:at 
aud^  ben  roaliren  ®Iau6en,  ben  ^i^fusi  ^^ecft.  2lber  fie  \)abtn  \\)n  in 
einer  ^üüe,  bie  an  fic^  mit  bicfem  ©tauben  in  feinem  unmittet* 
baren  3ufommenf|ange  ftef)t.  3)en  llnterfc^ieb  jroifd)en  beiben 
cmpfinbcn  fxe  nid)t  unb  finb  nic^t  t)erpftid)tet  if)n  ju  cmpfinben. 
3lber  roer  im  Staube  ift,  bentenb  ba§  SBefen  be§  religiöfen  ©tau- 


26  Bd^uii^:  ,3cr  fagct  beim  if)r,  ba^  i^  fei?" 

ben§  ju  ücrfte^en,  unb  roiffenfc^afttic^  in  bie  ©ebanfcnbilbung 
cine^  ^^aulus!  ober  in  ba§  SBerbeu  ber  tir^Iirf)en  fietirformeln 
t)ineinjub(irfeu,  ber  roei^  and),  ba^  biefcr  3Beg  jule^t  ju  tnec^tt= 
feiern  33eu9en  unter  SDlenfcl)enautorität  ober  ju  unfcliger  ©fepfiö 
führen  wirb,  unb  ba^  bie  ^uftimmung  ju  foIrf)eu  Formeln  an 
fic^  ebenforocnig  bie  n)irtlict)e  ©laubenöfteflung  ju  3efu§  erjeugen 
ober  oerbürgen  fann,  n)ie  eine  9tic^tbeacf)tung  ober  9lid)ttenntni§ 
berfelben  ben  3Jlenfc^en  ju  t)inbern  oermag,  ^efu  in  roatirem  unb 
ooüem  c^riftlid^en  ©tauben  anjuge^ören. 

3)ie  ©eftalt  Qt\n  loenbet  fid)  an  ba§  praftifc^e  Sc* 
ben  unferer  ©eele,  an  unfer  Srfafjren  unb  Sm* 
p  f  i  n  b  e  n.  3)a§  gcfc^icl)t  in  unenblic^  oerfc^iebenen  ^o^»^^"- 
3Im  u)  i  r  t  f  a  m  ft  e  n  rootil  burd^  ^  e  r  f  ö  n  I  i  d^  t  e  i  t  e  n ,  in 
benen  ^efu§  fd)on  ©eftalt  gewonnen  t)at.  3tm  ^  ä  u  f  i  g  ft  e  n 
burc^  bie  ©inbrücf e  ber  @  r  j  i  e  ^  u  n  g  ber  Umgebung,  ber  felbft* 
oerftdnblirf)en  6f)riftlid)feit  ber  93erf)ältniffe.  9lic^t  fe^r  t)äufig 
unmittelbar  burd)  bie  1^.  Schrift.  2lber  im  legten  ©runbe  bo^ 
immer  fo,  ba§  fie  e§  mittelbar  ift,  bie  —  in  Unterrid)t, 
©otteSbienft,  ©efpräc^  unb  Umgang  —  ben  ©inbrucf  oon  ber 
•ißerfönlic^teit  ^lefu  ^eroorruft.  Unb  bie  ^rage,  bie  Qefu^  bann 
an  ben  aWenfc^en  richtet,  ift  ni(i)t:  „f)ältft  bu  alle^  für  gefc^id)tlic^ 
richtig,  ma§  oon  mir  erjä^It  roirb  ?"  ober  „ftimmft  bu  allen  Se^r» 
fä^en  JU,  bie  in  ber  Schrift  unb  in  ber  Sird)e  über  meine  '^J^er- 
fonlic^feit  formuliert  unb  burc^gefe^t  finb?"  Sonbern  fie  lautet 
einfach:  „fütilft  bu,  ba^  bu  fein  foQteft,  roaS  ic^  bin  unb  ba§ 
bu  e§  an  bir  felbft  unb  ol^ne  micf)  nic^t  bift,  ba^  bie  oon  mir 
au§ge^enbe  neue  2trt  ber  aHenfd)l)eit  bie  aWenfc^^eit  be§  Sebenö 
unb  be§  2id)t§  ift  unb  beine  natürlid)e  aWenfd)enart  richtet",  „ba§ 
mir  ber  ©ieg  unb  bie  ^errfc^aft  gebührt  unb  geljört",  „ba^  in 
mir  bie  roa^re  befeligenbe  Stellung  be§  ÜKenfd)cn  ju  ©Ott  unb 
©otte§  JU  ben  SDIenfdien  auc^  für  bid)  offenbar  mirb?"  Sßer  auf 
biefe  fragen  mit  „^a"  antroortet,  alfo  Qefuö  feinen  „^errn" 
nennt,  ber  ift  gläubig  im  Sinne  be§  (£l)riftentum§.  3)em  ift 
-O^fu^,  roas  er  einem  (S^riften  fein  foU. 

15.  Slbcr  mir  muffen  bod)  meiter  fragen:  ma^  ift  ^e* 
fu§  einem  fotd)en  9Jlenfd)cn?  (£r ^at mof|l in biefem  ©lauben 


Sd)u(tj:  ,,3Ber  fagct  bcnn  i^x,  bag  id|  fei?"  27 

an  (St)viftu§  unmittelbar  eine  ©umme  von  rcligiöfen  @rfaf)rungcn, 
bie  feine  ©efigfeit  au§mad)en.  Unb  um  ftd^  beffen  bemüht  ju 
werben,  bcbarf  er  feiner  tfieologifd^en  Silbung  ober  ©ebanten« 
arbeit.  6r  orbnet  fein  eigene§  Seben  bem  in  S^ri[tu§  \i)m  ent- 
gegeutretenben  unter  al§  bem,  n)et(^e§  auc^  für  it|n  gelten  foK 
unb  \i)n  befeligt.  ©o  üoö}iel)t  er  ben  ^roje§  ber  „93u§e"  in 
feiner  aüein  l^eilbringenben  ©eftatt.  (£r  gibt  fein  eigenei^,  natür* 
Iid)e§  9Befen  in  ben  2:ob,  aU  ein  bem  ®ericl)t  DerfaKene§.  Unb 
er  ^at  fein  ganje^  Seben  ^inburc^  biefe^  9[u§fd)eiben  be§  „alten 
ÜWenfc^en"  ju  üoUjie^cn.  ®r  tritt  im  Olauben  in  bie  ®emeinfd)aft  beS 
gteid)en  Qwtd^^  mit  ^efu  ein,  meil  ^^\\x^  \\)n  roie  ade  ©ünberju  bie* 
fer  ®cmeinfe^aft  unb  bamit  jur  ©emetnf^af t  mit  ®otte§  Qwzd  ein* 
labet.  ©0  n)ci§  er,  ba§  tro^  feiner  ©ünbe  ®ott  aud)  mit  if)m  in  ®z^ 
meinfcfiaft  fte^t,  b.  ^.  i^m  gcftattet,  an  feinem  SBert  unb  ju  feinen 
3mecfcn  mitjumirfen.  SDamit  l)at  er  bie  einjige  ^eilbringenbe  ^orm 
ber  ®emi^^eit  ber  ©ünbenocxgebung.  3)€r  ®egenfa^  ber 
©ünbc  gegen  ®ott  unb  ba§  it|r  gebü^renbe  ®eri^t  mirb  meber 
geleugnet  noc^  oberflädjlic^  abgefd()märf)t.  S)er  3Wenf(i)  begnügt 
fic^  ni^t  in  unfittlid)er  5^igt)cit  mit  ber  |)üffnung  auf  einen  ©traf* 
erla§,  fonbem  er  ift  gemi^,  ba§  \i)\\  feine  bereute  ©ünbe,  roenn 
er  in  ber  ®emeinfd)aft  ^z\n  bleibt,  nid)t  trennen  fann  uon  ber 
Siebe§ein]^eit  mit  ®ott,  —  meil  ®ott  in  QefuS  ben  ©ünbern  fotc^e 
®emeinfd)aft  bietet.  -3nbem  er  fic^  perfönlic^  oerbunben  meife 
mit  bem  Seben  ^efu,  ift  er  enblic^  gemi^,  ba§  auc^  er  über  bie 
©itelfeit  ber  SBelt  erhoben  unb  in  ba§  emige 
Seben  eingegangen  ift,  ba§  er  an  bem  ©iege  -^efu 
über  ben  Job,  an  feiner  91  u  f  e  r  ft  e  ^  u  n  g  unb  feiner  §err* 
fd)aft  über  bie  SBelt  2:eil  \)at  3)ie  mannigfaltigen 
fittlid^en  SWotioe  unb  Kräfte,  bie  bur^  fotc^en  ®lauben,  ber  bie 
93u§e  einfc^Iie^t,  entbunben^  werben,  braudien  ^ier  nid)t  weiter  an* 
gebeutet  ju  werben,  gür  unfere  ^rage  ^anbelt  e§  fid^  nur  barum, 
baB  ber  ®^rift  in  ^t^n^  ber  aSergebung  ber  ©ünben  unb  be§ 
ewigen  Seben§  gewi^  ift,  auf  ®runb  be§  ®lauben§,  ber  bie  Söu^e 
in  fic^  fdjlie^t.  Unb  biefe  jweifeKofe  religiöfe  ®rf alirungl  f ann 
man  bei  jebem  oorauSfe^en,  ber  fid^  einen  eoangelifd^en  ©Triften 
gu  nennen  baä  SRec^t  ^at,  mag  fie  tlieologifc^  noc^  fo  oerfd)ieben= 


28  ©  d)  u  I|j:  «9Bcr  faget  beim  x\)x,  ha^  irf)  fei?" 

artig  bcgrünbct  unb  cntioicfeU  rocvben. 

16.  2lbcv  aurf)  ba§  ift  uod)  nirf)t  eine  gcnügenbc  Slntiuort 
auf  unfcre  ?5rage.  9Jlan  tömitc  un§  entgegnen:  e§  foH  nic^t  be- 
ftritten  werben,  baß  bie  oor^er  gefdjilberte  ©eroipelt  roirtüd)  ber 
befeligenbe  33efi^  ber  an  ^efu^  Olaubenben  ift.  2lber  man  fann 
ba§  ®Ieid)e  auc^  ot|ne  biefen  Q^fu^  t)aben.  Sin  SWenfc^,  ber  ernft- 
^aft  unb  oou  ber  §eitig!eit  be§  (5ittengefe^e§  in  feinem  ©eroiffen 
getroffen  ift,  fann  fic^  bod)  aud)  uor  einem  ibealen  S^riftu^, 
b.  f).  vox  einem  it|m  oon  feinem  eigenen  ©emiffen  entgegengefialtenen 
Urbilbe  beffen,  wa^  er  fein  fottte,  ju  berfelben  Su§e  getrieben 
füllen.  ®r  tann  aud)  au§  ber  bloßen  ^^ßrebigt  üon  ®otte§ 
SSaterliebe  bie  3uüerfid)t  }u  ber  93ergebung  feiner  Sünben  fc^öpfen, 
mie  ja  ^efu§  felbft,  wo  er  in  Oebet  unb  ©leic^ni^rebe  uon  ber 
©ünbenüergebung  fpri(^t,  babei  niemals^  in  au§fd)Ue^enber  SBeife 
feiner  gefd^id)tnd)en  ^erfönlid)feit  (Srmä^nung  tut.  ®r  fann  ber 
©roigfeit  feinet  eigenen  2eben§  mitten  in  ber  33ergänglic^feit  feines 
äu§erlid)en  3)afein§  gemi^  werben,  menn  er  fid)  be§  eigenfteu 
9Befen§  feiner  g^^i^^it  unb  ©eiftigfeit  bemüht  wirb, 
wie  ja  fo  viele  3)enfer  uor  unb  nad^  Sefu§  biefe  Ueberjeugung 
begeiftert  befannt  unb  angefi(^t§  be§  Sobeg  bewäfjrt  t)aben,  ot)ne 
an  3^fu^  Jii  benfen.  Q\t  bie  gefd)id)tlici^e  ^^erfönlic^fcit 
Sfefu  nic^t  bod)  für  ben  ©fauben  unnötig  gegenüber  bem  „SI)ri' 
ftuöibeale"  in  ber  eigenen  Seele?  33efc^ränft  fid)  i^re  93ebeutung 
nidjt  bod),  wie  ber  Stationali^mu^  meint,  barauf,  ba^  er  bas, 
wa^  an  fid)  aud)  anbere  benfen  fönnen,  mufterl)aft  unb  wirffam 
für  üiele  üorgebad)t,  unb  ba^  er  bem  neuen  Seben,  ba§  jeber  auc^ 
in  fid)  felbft  erwecfen  fann,  einen  wunberootlen,  bie  ©eele  er- 
greifenbcn,  oorbilblid)en  9lu§brudt  gefd)affen  ^at?  @r  wäre  ja 
auc^  bann  ein  ^elb  unb  SBo^Itäter  ber  9Jlenfd)en.  Slber  er  wäre 
im  ®runbe  bod)  nur  ein  ©ro^er  unter  ben  anberen  religiöfen 
Scannern  ber  SJienfc^^eit.  Qft§  nid)t  b(o§  eine  liebgeworbene  ©e- 
Wohnung,  wenn  wir  unfere  beften  religiöfen  (£rfaf)rungen  gerabe 
an  if|n  anfd)lie^en,  —  eine  ©ewöljnung,  bie  wot)t  i^r  oer^ättnisi- 
mäfeige^  9led)t  ^at  burc^  bie  l)ersbewegenbe  ©d)önl)eit  feiner  ©e= 
ftalt,  unb  burd)  bie  erfjabene  S^ragif  feinet  8eben§werf§,  unb  bie 
für  bie  gro^e  SJlenge  aud)  nod)  ^eute  unentbef)rlid)  fein  mag,  bie 


Sd|ul^:  ^fficr  [agct  bcnn  xi)x,  ba^  ici^  f«»'^"  '-^ 

aber  bod)  im  legten  ©runbc  nur  eine  lüo^ftätigc  ^(lufion  ift? 

17.  Sin  3fi^cöl  lüirb  ber  9Wcnfc^  auf  einer  geiüiffen  ©lufc 
ber  fittlicl)en  ©nttüidffuug  notroenbig  fid).  felber  bilben,  ba§ 
93i{b  beffen,  n?a§  er  nad)  feiner  eigenen  Vernunft  fein  fotlle. 
Unb  biefe§  -Qbeal  n)irb  i^n  richten,  roo  er  oon  i^m  a6meid)t,  nnb 
roenn  eine  ^inreid)enbe  Äräftigteit  be§  SGBoKen^  in  i^m  ift  wirb 
e§  and)  93n§e  in  if|m  erjeugen.  Qn  ben  meiften  ^aütn  freilief) 
ift  e§  nur  ein  ^beat  ioe(tlid)er  Älugt)eit  unb  wettlidjen  ®elingen§. 
3)er  Sd)merj,  ben  e§  ^eroorruft,  ift  bie  „S^ranrigteit  ber  SBelt, 
bie  ben  3;ob  n)irtt",  au§  ber  {einerlei  religiös  befreienbe 
©irtungen  l)erüorge^en  fönnen.  2lber  bei  ben  Sefferen,  aud)  ab-- 
gefe^en  üon  3efu§,  roirb  e§  bo^  anber^  fein.  9Wag  ba§  ^beat, 
ba§  it)nen  Dorfc^roebt,  auc^  nod)  fo  tief  unter  b  e  ni  fielen,  was 
n)ir  al§  6f)riften  in  <3^fiJ^  anfc^auen,  e§  tann  bod)  ^oc^  unb  flar 
genug  fein,  um  gegenüber  bem  iüirflid)en  fitt(id)en  (Sefamtjuftanbe 
einen  fortmirfenben  umwanbelnben  Svieb  ber  33u§e  ju  erjeugen. 
3hir  baö  !anu  e§  nid}t  bemirfcn,  roorauf  e§  jule^t  allein  an- 
fommt.  Solange  e§  nur  ein  <3  b  e  a  l  ift,  mu^  immer  ber  2lugen= 
blirf  tommen,  mo  ber  natürlid)e  3Wenfd)  beffen  aud)  inne  mirb, 
unb  fid)  bamit  ju  tröften  mei^,  ba^  e§  eben  nur  ein  3^beal  ift, 
unb  beS^alb  auc^  nur  ein  ßiel,  bem  bie  SBirtlic^teit  nid)t  ju 
entfpred)en  braud)t,  meil  fie  i^m  niemals  entfprec^en  fann. 
Gin  fol^es  ^beat  fann  unb  fott  root)l  ben  9Jlenfd)cn  anfpornen 
unb  i^n  ju  rafttofer  Slrbeit  treiben.  3Iber  e§  tann  il)n  nid)t  wirf* 
lid)  r  i  d)  t  e  n.  ®enn  lüer  auf  bem  SBege  ift,  ber  tann  nic^t  am 
3iele  fein.  @in  ^^beal  ift  in  biefer  SBelt  be§  Slcalen  nid)t  ju 
finben:  ma§  mir  nic^t  fein  tonnen,  ba§  barf  oon  un§  aud^ 
nic^t  33crmirf(id)ung  beanfprud^en.  S)a§  ^beal  tann  nur  bann 
bauernb  unb  roirtfam  al^  Rraft  ber  93u^e  in  un§  mirtcn,  roenn 
eö  un8  auc^  al§  SB  i  r  f  l  i  c^  t  e  i  t  in  ber  ajienfd)t)eit  entgegen* 
tritt,  menn  bie  „neue  3Wenfd)^eit",  bie  ben  Job  be§  alten  9Ken« 
fd)cn  oerlangt,  al^  eine  2:atfad)e,  bie  Untermerfung  beifc^t,  an 
un§  tjerantritt.  Unb  mo  foKen  mir  biefe  Jatfadje  finben?  äÖenn 
mir  um  un§  t)erblidEen,  bann  tritt  un§  mot)l  eine  annäl)ernbe  S3er* 
roirflid)ung  be^  ^beal^  in  mand)erlei  formen  entgegen.  3)em 
Äinbe  mag  in  ©Itern  unb  fiet)rern,  bem  ©rma^fenen   in  befon- 


30  8  d^  Ulli:  „aöcr  faflct  benn  x\)x,  ba&  id|  fei?" 

bcr§  ^orf)  cntiDirfeltcn  ©cftaltcn  bc§  „guten  ®f|ara!ter§"  fein  Qbeal 
al§  Dern)ivf(irf)t  erfd)einen.    Slbev  je  naiver  unb  oevtrauen§oo[lev 
lüir  ben  9Wenfd)eu  oevbunben  lüerben,   bie  fold)e§  Vertrauen  in 
un§  crjeugt  l^aben,  befto  me^r  fe^en  wir,  bap  auc^  in  ifjuen  ba§ 
^beal  eben  ein  ^f^^al  ift/   i>ö§  anä)  x\)xt  SBirttic^feit  riditet. 
Unb  je  weniger  ba§  ber  galt  ift,  je  me^r  für  unfer  9luge  ^beal  unb 
SBirüic^teit  \\d)  bauernb  beden,  befto   au§nat|m§lofer  Derne^men 
lüir  ba§  93efcnntni^:    „ma^  in  un§  ber  Siebe  roert  ift,  ba§  ift 
md)t  unfer,   e§  ift  Qefu",    „ii)  (ebe,  aber  nun  nic^t  i^,  fonbem 
3[efu§  lebt  in  mir."     (So   t)ängt  bie   rcibergebcirenbe   ÜKad}t  be§ 
^bea(§  boc^  baoon  ab,   bafe  es;  in  3f^fw^  ju  einer  gefd)id)tlid^en 
SBivflid)fcit  in  ber  3Jlenfd)f|eit  gemorben  ift,  unb  fic^  bleibenb  a(§ 
lüirtfame  ©eftatt  in  bie  2)lenfd)l)eit  eingeprägt  \)at,  bap  nic^t  ein 
Qbealbilb  unferer  eigenen  Seele,  nic^t  ein  eigener  überf^roänglid^er 
SSüütommen^eit^traum  oon  un§  ®et|orfam  forbert,   fonbern  ba^ 
wir  ba§  l)öc^fte  menfc^Iic^e  Qbeal,   nor  bem   wir  un§  innerlich 
beugen  muffen,   bie  ©eftalt  be§  9Jlenfd)en  „nad)  ®otte§  93ilbe", 
a(§  eine  auf  un§  lüirtenbe  Xai\ad}t  ber  ©ef^ic^tc  befi^eu,  bie 
it)r  9ied)t  an  un§  in  jebem  Slugenblirfe  auf§  neue  geltenb  mad)t. 
18.  5)er  ©taube  an   bie  Ißergebung  ber  ©ünben, 
an  einen  ®ott,  ber  fic^  al§  ben  gnäbigen  unb  barm^erjigen  finben 
Ici^t,  ift  in  ber  3Wenfc^^eit  immer  lebenbig  gemefen,   auc^  loenu 
er  fid)  t)inter  abfurben  unb  greuelfiaften  ©ü(|neformen  oerfterfte. 
Unb  ba§  bie  fd)ted)tl)in  ooütommene  ^erfönlid)teit  nid)l  bie  fein 
tann,  bie  mit  bem  9Äa§c  mec^anifd)  red)tlic^er  9lotn)enbigfeit  ge* 
fü^üo^  Urfac^e  unb  aSirfung,   93erbienft  unb  &oi)\\  miteinanber 
au^gleic^t,   fonbern  nur  bie,  meiere  and)  ba§  in  fid)  trägt,  was 
mir  felbft   al§  ba§  ©belfte  in  un§  unb  anbern  erfat)ren,  ®üte, 
Srbarmen  unb  SSerfö^nlic^feit,  ba§  mirb  ja  oud)  otjue  ^efu§  ber 
Seele  einleud)ten.   äBäre  m\^  bamit  bie  ©eroi^^eit  ber  SSergebung 
unferer  Sünben  oerbürgt,   fo  tonnte  aud)  ba§  oon  <3efu§  gepre^ 
bigte  (Soangelium  allein,   abgelöft   uon  .Qefu   eigener  ^^Jerfon  unb 
il)rem  SBir!en,  ba§  ©eroiffen  burd)  ben  ©lauben  an  ©otte§  SSater* 
liebe  jur  SRu^e   bringen.    Qa  mir  fönnten  meinen,   mit  eigenen 
©ebanfen  unfer  ©eroiffen   befd)mid)tigen  }u  bürfen.    9(ber  menn 
eö  ein  SSertrauen  auf  bie  fünbenoergebenbe  SJaterliebe  ©otte§  märe. 


©  d)  u  l  ^ :  3et  faget  benn  if)r,  baft  i^  fei?"  31 

ba§  bcn  ^eiligen  SQBiberfprurf)  ®otte§  flegen  ba§  übcrfät|c,  n)a§ 
nic^t  fein  barf  unb  foU,  bann  wäre  c§  boct)  eine  feeleuüerberbenbe 
(Selbfttäufc^ung,  ber  unfer  Oeiuiffen  tro^  otlev  freunblid)eu  2:vö' 
ftungen  fd)lect)tl^in  roiberfprec^cn  mü§te.  Söerjei^ung  für  ©ünbcv 
fann  nur  jufammenge^cn  mit  bem  9tict)ten  ber  ®  ü  n  b  c  unb  mit 
i^rem  3lu^ern)irfungfe^en,  atfo  mit  einem  @rl)eben  be§  (Sünberö 
in  bie  ®emeinfd)aft  be§  göttlichen  Söiücn^,  fonft  märe  fie  eine 
unlieiligc  ©rfjroac^lieit.  Unb  roer  etma  auf  Sünbenuergebung  rect)nen 
roottte  megen  feiner  Sleue,  roegen  feinet  öefenntniffeS :  „ic^  l|abe 
geffinbigt  in  ben  ^immel  unb  por  bir",  beffen  9Serföt)nung«;ge* 
mipeit  mü^te  fdjmanfenb  unb  unfxd)er  merben  mit  ben  ©c^man^ 
fungen  feiner  eigenen  Seelenoorgänge  unb  ber  3lrt,  mie  er  i^rer 
bemußt  lüirb.  Sie  mürbe  roadjfen  unb  abnef)men,  befeligen  unb 
in  33erjmeiflung  ftürjen,  je  nac^bem  ber  ÜKenfd)  fid)  in  bcn  ein= 
jelnen  SBanblungen  feinet  inneren  Seben§  fagen  ju  tonnen  meinte, 
baj3  er  mirflid)  mit  üoüem  5Ju^ernfte  unb  enbgültig  ber  ©ünbe 
abfagt,  ober  fi(^  geftet)en  mügte,  ba^  er  im  ©runbe  bod^  nur  5U 
febr  mit  feiner  Süube  noc^  innerlich  oerbunben  bleibt,  miti^r  fpielt, 
ja  fie  ^eimlic^  lieb  t)aben  mürbe,  menn  nur  it)re  bittere  i^xu6)t 
nic^t  märe.  Unb  !eine  fird)üc^e  ^upc^^^'^ng,  teine  gotte^bienft* 
lic^e  5^ier,  fein  root)lgemeinter  greunbe^troft  fann  einen  3Wenf(i)en, 
ber  aufrichtig  gegen  fic^  ift,  über  biefe  Unfeligfeit  t|inroegt)elfen. 
8D3ir  brausen  bie  (Semig^eit,  ba^  ®ott  u  n  f  e  r  e  ©ünbe 
oergibt,  nict)t  bIo§,  ba^  er  im  aUgemeinen  „©ünben  t)er- 
jei^t".  SBir  muffen  bie  ©id)er^eit  befi^en,  ba§  mir  tro^  un= 
ferer  ©ünbe  ju  benen  gel^oren,  bie  mit  @ott  in  Siebe  uerbunben, 
nic^t  im  ®ericf)t  uon  i^m  getrennt  finb.  2Bir  bebürfen  einer 
Offenbarung  be§  lebenbigen  @otte§,  bie  un§  beffen 
gemi^  mac^t,  in  ©tunben  ber  ©d)mad)^eit,  roie  in  ben  ^öl)epunften 
unfere§  geiftigen  Seben§.  Sticht  auf  un§,  fonbern  auf  ®ott  mu^ 
unfere  ^eil§gemi|^eit  ru^en.  S)a  tritt  un§  ®ott  in  b  i  e  f  e m 
3Wenfc^enfo!^ne  entgegen  unb  rebet  burct)  bie  Xat  ju 
un§.  ^t^n  menfc^Hc^eg  Seben  ift  in  reiner  Siebe^gemeinfc^aft  mit 
bem  33ater  uerbunben.  @r  tut  be§  93ater§  933erf,  baut  fein  3teid) 
ber  Siebe  auf  Srben.  ^ier  ift  ®otte§  SßJiße  menfd)lic^  offenbar, 
^ier  ift  ungetrübte  ®emeinfd)aft  mit  bem  ®ott,  ber  bie  ©ünbe 


32  ©  d|  u  U  ?  ,,fficc  f ogct  bcnn  i^r,  ba^  id)  fei  ?" 

i)a^t,  Unb  ^cfu§  fprirfit:  fommt  ju  mir,  iDCvbct  bie  3Hcincn. 
©Ott  roiU  cuc^  fein,  iüa§  er  mir  ift.  @r  fpric^t  c§  ju  38öncrn 
unb  Sünbern.  ®r  labet  fie  ein:  „tvo^  eurer  ©ünben  bürft  i^r 
lüie  xä)  mitarbeiten  an  bem  SBerfe  ®otte§,  bürft  mitfi^en  an 
feinem  Jifd)e".  2Ber  fid)  im  ©tauben  benen  jugefeltt,  bie  fic^ 
von  i^m  einlaben  laffen  unb  mitfd)affen  motten  an  feinem  Sebeng* 
merf,  ber  roei^,  ba^  er  mirflid)  mit  ©ott  uereint  ift  tro^  feiner 
©ünbe,  bu^  er  in  ba§  Seben  eingegangen  ift,  ba§  i^m  feine  (Sün* 
ben  »ergeben  finb,  folange  er  felbft  ben  ©cift  ber  Siebe  für  fein 
2tbtn  anerfennt,  atfo  ©enoffe  im  5Reirf)e  ©otteö  bleibt.  Unb  menn 
yiot  unb  Job  bie  ©eele  bebrängen  unb  ängftigen,  al§  mären  fic 
53oten  be§  jürnenben  ©otte§,  ber  un§  rid)ten  miß,  bann  tritt  un§ 
ber  3Kann  ber  ©c^merjen  entgegen.  ^efu§  l|at  bie  ganje  ©c^mer* 
jen^tiefe  ber  fünbigen  ©rbe,  ^at  a\\6)  ben  2:ob  be§  Ä'reujeg  für 
fid)  unb  bie  ©einen  umgeroanbelt  ju  Offenbarungen  eine§  ge* 
f)eimni§uoüen  Siebe^rates  ©otte§.  ®r  ijat  gluc^  unb  ©eric^t  au§ 
bem  Seben  ber  ©einen  meggcnommen.  @r  l)ai  bie  SWac^t  ber 
©uabe  ©otte^  ermiefen,  bie  größer  ift  at^  bie  ©ünbe  unb  bie 
geinbfc^aft  ber  ^JBett.  SBer  in  ®t|riftu^  lebt  im  ©lauben,  mer  in 
bie  in  S^fu§  fi^  ^^^  erfc^lie^enbe  ©emeinfc^aft  ber  Siebe  auf 
©rben  eingefügt  ift,  bem  finb  bie  ©ünben  be§  alten  3Wenf^en 
oergeben;  benn  ber  alte  aJlenfd^  ift  in§  ©erid)t  t)ingegeben.  3)er 
barf  freubig  beten:  „üergib  un§  uufere  ©c^ulb!".  Unb  Job  unb  •Jlot 
finb  xijxn  au^  ©eric^ten  ©otte§  ju  ©aben  feiner  93aterroei§^eit  ge» 
morben.  ^Jlur  ber  gefc^ic^tlic^e  0^fu§,  in  bem  ©ott  un§  tro^ 
unferer  ©ünbe  einlabet,  mitjuarbeiten  an  feinem  3Berfe,  nur  ber 
©efreujigte,  ber  ben  Job  übermunben  \)at,  gibt  un§  mirtlic^  eine 
©eroi^eit  ber  Vergebung  unferer  ©ünbe,  bie  nid)t  auf  ben  ©anb 
unferer  eigenen  ©ebanten  gebaut  ift. 

19.  ©ine  Ueberjeugung  oon  ber  ©migfeit  unfereflf 
Seben§,  oon  feiner  ©r^aben^eit  über  bie  93ergänglid)feit  beS 
©innlid)eu,  t)at  fic^  aud)  of)ne  3^efu§  in  oielen  3Söltern  unb  in 
ber  ©eele  oieter  3)cnfer  gebilbet.  Unb  fo  menig  fie  fid)  au§  Gr* 
roägungen  ber  Söiffenfc^aft  unmiberlegtic^  begrünben  läßt,  fo  ent» 
fc^ieben  fpric^t  boc^  in  ber  ©eele  ber  ©bleren  für  fie  bie  ©rfa^rung 
üon  bem  über  alle  SWa^ftäbe  ber  ©innenmelt  l)inau§ge^enben  unb 


Sd^ulfe:  «Söer  faget  benn  i^r,  bap  id)  ^txV  33 

auf  @n)igc§  unb  Unfid)tbare§  angelegten  Seben  in  un§.  Unb 
bie  ^errfc^aft  bc§  @eifte§  über  bie  2Bett,  feine 
gd^igteit,  bie  in  it|m  liegcnben  2Wa§ftäbe  be§  @uten  unb  9?ed)ten 
tro^  aller  SBiberfprüc^e  ber  Scfafirung  jur  ©eltung  ju  bringen, 
tiaben  bie  SQSeifen  aller  Sßölfer  in  mannigfattigfteu  g^ormen  befannt 
unb  gepriefen.  2)er  ©ieg  be§  ®uten  über  bie  SBelt  ift  ber  ölte 
Sraum  ber  33eften  unter  ben  9Kenfc^en. 

Unb  boc^,  roenn  mir  un§  bentenb  in  ba§  rafitofe  Spiel  ber 
©lemente  oerfe^en,  au§  bem  ba§  @e^eimni§  be§  Seben^  immer  neu 
geboren  mirb,  menn  lüir  oerfte^eu,  roie  atle^  fiebenbige  nur  im 
S8erget)en  ober  beffer  im  ®inget|en  in  neue  g^^nien  fortlebt,  mo 
bleibt  bie  roirflid)e  perfönlic^e  ©emife^eit  unferer  Unoergänglic^* 
feit?  3Bie  rafd)  mirb  au§  ber  @eiüi^t)eit  SBat|ricI}einlicl)feit,  au§ 
ber  aSBa^rf^einlic^feit  3Köglid)teit,  au§  ber  9)Wglic^feit  Ungemi^^ 
^eit?  SEBer  möd)te  auf  foldien  ®runb  ba§  bauen,  mag  feinem 
fieben  3^^!  wub  Stictitung,  ^raft  unb  greubigfeit  geben  foU?  Unb 
roenn  mir  in  bie  Oefc^i^te  ber  einseinen  mic  ber  95ölfer  l)iuein* 
fd)auen,  mo^er  füll  un§  bie  ©emipeit  fommen,  ba^  ta^  ®ute, 
ju  bem  unfer  ©emiffen  un§  oerpflid^tet,  rnivflid)  ftärfer  ift  al§  bie 
3Belt,  ba§  e§  bie  SÄac^t  i)at,  biefe  9Belt  ju  be^errfc^en.  ^n  bem 
einzelnen  unterliegt  c§  bod)  fo  oft  unb  fo  erfd)redtenb  ben 
©ebingungen,  bie  ber  ^^erfönlid)teit  oon  ber  3Belt  geftellt  merben, 
in  Sodung  unb  ®rof|ung.  Unb  in  ber  menfd)tid)en  @cfd)id)te 
fdieint  e§  ber  rot)en  ©emalt,  ber  fünbigen  Sift,  ben  blinben 
SWdc^ten  beS  ßwfallS  immer  auf^  neue  ju  erliegen.  SBo^er  foH 
un§  bie  unentbe^rlid)e  ?^reubigteit  in  ber  Seben^arbeit  unb  im 
Sebeu§fampfe  tommen,  bie  boc^  nur  au§  ber  @eroi|^eit  entfpringen 
fann,  ba§  ba§  @ute  mirttid)  bie  9Wac^t  über  bie  äBelt,  ba^  bie 
3Belt  „@otte§  2Belt"  ift? 

9iur  ber  ge  f  d)id)  tlic^  e  ;3ßfw^  9*^^^  ^^^^  Seineu  im 
©lauben  biefe  @eu)i§t)eit.  ©Ott  ftellt  it)n  mitten  in  bie  oon  ber 
®elt  unb  il}rem  Jobe  be^errfc^te  9}Ienfd)^eit  ber  Slbamstinber. 
y3\i  i^m  gewinnt  ba§  ©ute,  ber  SBille  ©otte§ ,  perfönlid)  ©eftalt 
unb  mirb  mirtfam.  ©ott  ftellt  it)n  l)inein  in  ttn  Kampf  gegen 
atle^,  roaö  ftarf  unb  furd)tbar  in  biefer  SBelt  ift.  ©r  läpt  i^n 
alle§  erfahren,  mag  ba§  göttlid)e  fieben  in  bei  Seele  überroinben 

,Seitf<l^rtft  für  X^eologic  unb  Äirc^e.  14.  Sa^rg.,  1.  $cft.  '^ 


34  @ rf) uU:  ^SBcr  fagct  bcnn  i^r,  baj  id)  fei?" 

uub  ftc  unter  bie  3Waci^t  ber  9Belt  beugen  fann.  6v  lä^t  if|n 
be§  Sobe^  furc^tbarfte  Sitterteit  !often,  bettet  l^n  in»  aSerbred^ev^ 
grab  ber  ©etreujigten.  Unb  er  bleibt  in  allem  ber  Sieger,  al§ 
feine  ^einbe  über  i^n  ju  triumphieren  meinen.  (£r  lebt,  al§  er 
ftirbt.  @r  mirtt,  aU  er  leibet.  SBerfu(^ung  unb  Sobeggrauen 
werben  il|m  ju  9Jiittetn  feiner  ^errfdjaft  unb  ^errlic^feit.  Unb 
er  ruft  feinen  93rübern  ju:  „tommt  ju  mir,  bie  tl)r  muffelig  unb 
belaben  feib".  SQ3er  ficf)  üon  biefer  ^erf6nUcf)teit  im  ©lauben 
überminben  lä^t,  ber  ^at  bamit  bie  ©eroig^eit,  M^  er  nid^t  ber 
oergänglic^en  3Belt,  fonbcrn  ber  ©migfeit  angehört,  i>a^  ber  gute 
®otte§n)itle,  bem  er  fid)  ju  eigen  gegeben  l^at,  bie  ÜJlac^t  über  bie 
äßett  ift,  bap  aud)  er  in  ber  3Jlad)t  biefe§  guten  2Bi(Ien§  fic^  a(§ 
ein  ^err  unb  Äönig  ber  SBelt  füllen  unb  2:ob  unb  9Iot,  greube 
unb  Sorfung  be^errfd)en  barf  in  ber  Oemeinfc^aft  biefeö  3Jlenfc^en* 
fotincs!.  —  ^Jlur  ber  gefd)ic^tlid)e  ^efu§  gibt  bie  ©lauben^geiui^^eit, 
bie  ber  religiöfen  (Seligfeit  be§  ©fjriften  ju  ©runbe  liegt. 

20.  SBaS  ift  unö  ^efu§?  3Ba§  er  unb  er  allein  unö  bringt, 
l^aben  mir  gefel)en:  mat|re  ©u^e,  fclige  ©emi^^eit  ber  SSergebung 
ber  ©ünben,  meltüberminbenbe  ®en)i^l)eit  non  bem  emigen  Seben 
in  un§  unb  üon  ber  3Jlac^t  be§  @uten  über  bie  2Birflid)teit.  Unb 
bamit  miffen  mir  aucft,  mag  e§  ift,  moburd)  biefe  ^^erfönlic^feit 
für  un0  religiös  bebeutfam  ift.  ®§  fann  nid|t§  anbereS  fein,  at§ 
eben  baS,  morin  Qefu§  fid)  al§  gefd)id)tlic^c  ^erf  önlic^feit 
pon  einem  bloßen  <3beale  ober  von  einer  bloßen  ü e ^ r e 
unterf  (Reibet. 

^n  einem  gefc^id)tlid)en  9Jlenfd)en  erfc^lie^t  unb  offenbart 
©Ott  fid)  un§  n)a^rl)aft  unb  oollfommcn.  ®r  Deriüirtlid)t  ©otteS 
eroigen  SiebeSioillcn  an  ber  SWenf^^eit  ber  ©ünber  unb  tritt  ju 
jebem  oon  un§,  um  auc^  if|n  ju  einem  feligcn  ©otteSfinbe  unb 
jum  9leid)§genoffen  ber  ©roigfeit  ju  mad)en.  3^fw^  ift  ®otte§ 
perfönlid)e  Offenbarung  nid)t  bto§  einmal  in  ber  ©efc^id^te 
geroefen,  fonbern  er  ift  e§  aud^  für  jebe  Seele  aufS  neue.  Unb 
er  ift  äuglei(^  eine  roat)re  gefc^id)tlid)e  ^erfönlic^feit, 
bie  ]xd)  felbft  unoerfennbar  unb  unoergänglic^  in  bie  SJlenfc^lieit 
eingeprägt  i)at  S)aS  ift  bas  ©etjcimniö  ber  ^efu^geftalt,  bie  ben 
aWittelpuutt  be§  Sl)riftenglauben§  au^mad)t.     „©otte§  Offen= 


@d|ul^:  „3Ber  faget  bcnn  xl)x,  boj  id)  feiV"  85 

bavuug  unb  ein  loalirer  3Wcnf c^."  3)ic alte Äü'd)c ^at ba§  r)ev= 
fte^eu  rooKen  in  ber  Scl)rc  Don  bcu  jiüei  9^aturen  ®t)ri[ti. 
Unb  bic  2^t)coIo9ic  ^at  c§  immer  Quf§  neue  beffer  unb  oollftänbiger 
auöjubrücfen  üerfuc^t.  2lber  wa^  fie  befenneu  rotü  unb  movan 
bem  ©tauben  gelegen  ift,  ba§  ift  im  ©runbe  bod)  nic^t  bie 
bogmatifc^e  %f)^oxu,  fonbern  biefe  eine  einfadje  ®Iauben§übev* 
jeugung.  2)ie  gleiche  einf|eitlid)e  Oeftalt,  bie  un§  mivteub  ent= 
gegentritt,  ift  für  ben  (Stauben,  je  nac^bem  er  fie  anfc^aut,  ju- 
gleic^  eine  lüa^re  gefrf|ic^tlic^e  mcnfd)lic^e  ^erfönlic^feit,  unb  bie 
Offenbarung  be»  6iuen  ®otte§  felbft  für  un§,  ber  un§  in  i^r 
feinen  mat)ren  SBitlen  ric^teub  unb  befeligenb  auf)d)Iie§t,  unb  ber 
in  i^r  mit  un^  oerbunben  fein  mitt  tro^  unferer  ©ünbe.  SlWenfd) 
unb  Oott,  ^bee  unb  SRealität,  @efc^id|ttid)merben  be§  emigen 
@otte§gebanten§  mit  ber  SJlenfc^^eit,  ba§  bleibt  bie  entfd)eibenbc 
©tauben^bebeutung  ber  ®t)riftotogie. 

3)arin  ift  atle§  ent^atten,  roa^  in  ben  t^eologifdien  Se^veu 
über  3efuä  unb  fein  Söerf  mirllid)  33ebeutung  für  ben  ©tauben 
^at,  alfo  alte§,  voa^  jum  ©oangelium  getjört  unb  ber  ©emeine 
geprebigt  merben  tann  unb  fotl. 

21.  -3^fu^  ift  eine  gefd)ic^ttid)e  ^^erfönlid)teit  in  ber  SJlenfc^^ 
^eit,  ber  auc^  mir  angel^ören,  in  meld)er  mir  beö  ©inen  magren  ®otte§ 
©elbftoffenbarung  im  ©tauben  erfaffen.  SBer  ba§  gtaubt,  für  ben 
fann  biefe  menfc^tidje  ^erf önlid)feit  nid)t  me^r  ein 
jufälligeg  ®rgebni§  ber  3eit  unb  ©efdjic^te  fein.  @r  tann 
fie  nur  fo  oerftetjen,  bap  fie  if)rem  mat)ren  ^nt)atte  nad)  eroig 
in  ©Ott  tebt  unb  in  ©ülte§  ©ebanfen  at^  ba§  Qkl  ber  SD^enfd)= 
lieit  ber  gefc^id)ttic^en  aJlenfd)t)eit  Dorange^t  unb  fie  bebingt. 
©efc^ic^ttid)  ift  Qefu^  ber  jroeite  2lbam,  bie  @rfd)einung 
unb  3?erroirttid)ung  beffen,  mof)in  bie  ©efd)id)te  ber  natürtidjen 
aJlenfc^tieit  fütirt.  aiber  in  ©Ott  mu^  er  al§  ber  erfte,  bev 
^immtifd}e,  SDIenfd)  gebad)t  werben,  ber  in  ©otte§  geiftiger 
3BeIt  feiner  ©rfdjeinung  unb  98erroirftid)ung  auf  ©rben  liarrte. 
Ob  man  fic^  ba§  t^eologifd)  in  ber  SBeife  be§  antiten  9?eali§mu^ 
al§  ein  reate§  geiftige^  ©jiftieren  uorftetlt,  ober  in  moberner  2trt 
at^  bas  emige  Sein  ber  ^t^^  in  ©ott,  bie  in  ber  ^eit  üerroirts 
Iid)t  merben  foU,  ba§  ift  eine  grage  ber  aBiffenfd)aft.     gür  ©tau= 

3* 


36  ©c^ulfe:  ^Söer  faßct  bcnn  i^r,  ba^  ic^  fei?" 

ben  unb  ^vcbigt  t)at  fic  feine  ©ebeutung. 

22.  Unb  biefe  gefdjiditlic^e  'ißerfönUd}feit  fanu  nic^t  au§  ip  c  1 1= 
lirf)eu  53cbiugungen,  nic^t  nt^  @rgebm§  bcr  lüeltlid)  ge- 
richteten  fünbigcn  3Wenfc^^cit  oerftanben  werben,  fonbern  nur  am 
bem  Df  fcnbarung^roillen  beö®otte§,  ber  fic^  oon  Siüig^ 
feit  biefe§  ®efä§  feiner  Offenbarung  erfe{)en  \)at  unb  e§  fic^  burd) 
bie  gcIieimnisüoHe  äßnnbermad^t  feinc§  fc^affenben  Seiftet  be* 
reitet.  @in  ®c^eimni§  unb  ein  SB  unb  er  mu|  biefc  ^^Jer^ 
fönlid)fcit  bem  ©(auben  fein,  nic^t  erflärbar  au§  ben  ber  @r* 
faf)rung  öerftänblic^cn  natürlidien  ©ebingungen  be§  3GBcrben§  eine§ 
©of)ne§  ber  3Kcnfd)^eit  ober  au§  ben  9Sert)ältniffen  ber  ®efc^id)te, 
in  benen  fie  entftanb.  Ob  er  aud)  ein  „©aoib^f o^n",  ein 
Äinb  3§rae(s;,  nad)  bem  ^t eifere,  b.  f),  nad)  feinen  finnlic^* 
natürlichen  S)aiein§bebingungen  ift,  er  ifl  ein  „®  o  tte^f  o  t)n", 
ein  ®  0 1  te^rounber,  nac^  bem  ®eI|eimnisJ  feinet  iniucn* 
bigen  Seben§.  Ob  man  ba^  in  ber  SSSeifc  ber  altd)riftlid|en 
95olföf römmigteit  anfd)aulid)  al§  ein  eigentlid)es!  9i  a  t  u  r  ro  u  n  b  c  r 
üorfteüt,  bei  bem  bie  natürlichen  93ebingungen  be^  menfc^lid)en 
SBerben§  übert)aupt  aufgel}ört  Ijaben  ober  boc^  nur  teilmeife  übrig 
geblieben  finb,  ober  al§  ein  geiftige^  SBunber,  in  bem  ®otte§ 
Sd)öpfcrmad)t  burd)  bie  natürtid)en  ^aftoren  ^inburd)  unb  in 
i^nen  etma^  ^eroorgerufen  t|at,  mas  für  fte  felbft  al§  einjelne 
uumöglii^  gemefen  märe,  ba^  ift  eine  J^rage  ber  S^^eologic,  an 
ber  roeber  ber  ®laube   noc^  bie  ^^rebigt  mirflid)e§  ;Jutereffe  f)at, 

^efuö,  aU  ber  2lnfänger  ber  neuen  3Wenfd)t)eit,  al§  ber,  beffen 
©eftalt  un§  rid)tet  unb  un§  mit  ®ott  oerbinbet,  mup  in  ooH* 
fommener  ®emeinfd)aft  ber  Siebe  mit  ®ott  unb  in 
oötliger  @inl|eit  mit  bem  ®  ottc^millen  in  ber  9)lenfc^= 
l)eit  gebucht  merben.  2lber  an  fid)  folgt  au§  biefem  ®lauben 
nid)t,  ba^  er  auc^  ®aben  unb  Kräfte  für  alle  befonberen 
■^lufgaben  bes  menfd)lid)en  ®eifte§  gehabt  ^aben  mü^te 
neben  ben  ®aben  be§  'ißrop^eten ,  ober  ba^  er  auf  ben  ®ebieten 
ber  angemenbeten  Stbif  aud)  für  bie  ^^ebürfniffe  unb  9lnfc^auungen 
fpäterer  3^iten  unb  SSölfer  muftergültig  ju  benfen  fei.  ®r  mürbe 
baburc^  auft)ören,  ein  in  ber  ®efd)id)te  uerftänblid^er  unb  mit 
iubioibueüer  ^erfönlid)fcit  au^geftatteter  ^enfc^  ju  fein.  —  0]nr 


©d^ulö:  „aßer  faget  bcnn  i^r,  ba^  id)  fei?''  37 

baoon  muffen  lüir  überjeugt  fein,  ba^  in  il|m  au§  ber  ©d^öpfev^ 
fraft  be§  @cifte§  ®otte§  eine  ÜWad)t  ber  religiög^fittli^en  Einlage 
^erüovgerufen  ift,  ftar!  genug,  ba§  Ueberroiegen  bec  roeltUc^en 
Xviebe  über  ben  ®eift  ju  l^inbcm.  2Bir  empfinben  biefe§  Ueber* 
wiegen  al§  „fünbigen  muffen",  roenn  mir  aud)  jugleic^  fül^Ien, 
ba§  ba§  ©ünbigen  felbft  in  jebem  fonfreten  gatte  immer  ein  freiet 
unb  oerantn)ortli(^e^  SBoHen,  fein  naturnotroenbige§  SÄüffen  ift. 
3)a§  fönnen  mir  in  il|m  nic^t  benfen.  Slber  mir  fiaben  be§t)al6 
boc^  teinerlei  SBeranlaffung,  anjunelimen,  ba§  nic^t  and)  in  i^m 
bag  finnlid)e  Seben  al§  folc^e^  ju  finntid^er  Sefriebigung  unb 
ju  felbftif^er  33c^auptung  brängte,  ba^  alfo  nic^t  aud)  in  i^m 
etma§  mar,  xoa^  if|n  an  fid)  ju  beftimmen  fuc^te,  bem  ®otte§roiQen 
ju  miberftreben.  9lu(^  fein  „5I^ifd|"  mar  „©ünbenfleifd)",  b.  ^. 
mcnn  3^fu§  bem  '^ki^dje,  \\a6)  bcffen  eigener  9trt,  bie  Q\x%d  ge« 
[äffen  ^ätte,  mürbe  e§  aud^  i^n  jur  ©ünbc  getrieben  \)abzn,  2lud) 
er  ift  be§^alb  ma^r^aft  oerfuc^t  unb  ^at  fittlid)  gefämpft, 
gelitten  unb  übermunben.  9Ibcr  e§  ift  un§  gemi§,  bafe  bicfe§ 
g(eifd)  in  i^m  nic^t  bie  fein  ^^erfonleben  übermächtig  beftimmenbc 
©emalt,  alfo  nid)t  bie  natürlicl)e  ©runblage  feiner  ^erfönlid^feit 
mar,  fonbern  nur  bie  @rfc^einung§form  eine§  f)ö^eren  Seben§, 
nur  ber  ©  t  o  f  f  für  bie  munberbare  9Wac^t  be§  in  ©ott  lebenbcn 
unb  oon  @otte§  SBitten  getriebenen  @eifte§  (ö|xot(D|ia).  ®§  ift 
eine  rein  ttieologifc^e  grage,  ob  für  biefe  Sinjigteit  Qefu,  bie 
natürlich  nur  au§  @otte§  Offenbarung^miüen  unb  au§  feiner 
fc^öpferifd)en  @eifte§mad)t  oerftänbtic^,  alfo  für  un§  unerflärlid^ 
ift,  ba§  SSSort  „fünbtoä"  ein  jutreffenber  unb  au§reic^enber 
Slusbrucf  ift,  ober  ob  man  e§  auf jugeben  unb  burc^  ein  beffereS 
JU  erfe^en  t)at,  meil  e§,  au§  einer  ju  niebrigen,  gefe^li^en  9luffaf= 
fung  oon  ©ittlid)feit  unb  ©ünbe  geboren,  entmeber  oiel  ju  menig 
aufjagt,  nämlid)  „nur  ba§  J^^ten  eine§  tatfäd)lid)en  333iberfprud)ö 
gegen  ®otte§  ®ebot",  ober  ju  oiel  bet)auptet,  nämlic^  „eine  ®r= 
^abcn^eit  über  bie  un§  t)erftänblid)e  2lrt,  fittlic^e  Slufgaben  ju  em= 
pfinben  unb  ju  ootl5iet)en",  bie  im  ®runb  bie  ganje  fittlidje  53ebeu= 
tung  feiner  ^erfönlid)teit  entmerten  unb  ba§  l^öd)fte  ^etbenmerf  auf 
®rben  ju  einem  mit  9laturnotmcnbigfeit  fid)  entfaltenben  SUle^a- 
ni§mu§  l^erabfe^en   mürbe,  unb  bie  fidj  äberl)aupt  mit  gefunber 


33  @d)ulft:  „2öer  fa^et  bcnn  itjx,  bafe  id&  fei?" 

incnfd)Iid^er  3latur  unb  mit  ben  Oefe^eu  bev  @ntit)icl(ung  lüc^t 
ücrträgt.  2)ic  ^^rcbigt  unb  ber  ©laubc  üeränbern  fid)  in  feiner 
^-ffleife,  rocnu  man  ftatt  Don  ©ünblofigteit  ^efu  uon  feiner  fitt- 
lic^sreligiöfen  SSoKfommeu^eit  rebet  nnb  fo  einen  negatioen  in  einen 
pofttioen  33egriff  nmfe^t.  ^n  Qt\\x^  fonft  noc^  etit)a§  anbere§  an- 
june^men,  n)a§  if)n  au§  ben  un§  oerftänbttc^en  ©efe^en  be§  9GBer* 
ben§  unb  ßernen§,  be§  @mpfinben§  unb  ®id)entfa(ten§,  alfo  au§ 
ber  uu§  jugänglic^en  menfc^lid)Mrbifcl)en  SQSirtlic^feit  t|erau§f)eben 
mürbe,  baju  gibt  un§  ber  ©laubc  roeber  3Seranlaff ung  noc^  iHed)t, 
unb  bie  ®efd)icf)te  feine§  @tben(eben§  oevbietet  e»  un§. 

23.  SBenn  ®ott  felbft  burd)  3^iu§  auf  un§  mirft,  mu^  ber 
@(aube  i^n  anfd)auen  aU  ben  burd)  Job  unb  äujsere^  Unter» 
Hegen  l^inburc^  leb enb igen  ©ieger,  ber  je^t  erftin  ber  ©eftalt 
lebt,  bie  i^m  feinem  innei'ften  SBcfen  nad)  gejiemt ,  unb  in  ber 
^errUd^feit,  in  ber  er  uon  ©migfeit  üor  ®otte§  2(ugen  ftanb.  ®r 
mu^  in  i^m  ben  ^errid)er  feljen,  überall,  mo  unter  SRenfc^en  ba§ 
@ütte§reic^  mirb,  alfo  ben,  welcher  mit  @ott  tierrfd^t  unb  auf 
@otte§  2:^rone  fi^t,  unb  in  melc^em  fic^  für  ade  9Wenfd)en  ent= 
fd)eibet,  ob  fie  @ott  ober  ber  5Be(t  unb  if)rem  Jobe  get)ören. 
2lber  e§  folgt  feine^meg^  au§  bem  ©(auben,  ba&  er,  al§  aJlenf  c^, 
auc^fürbic  nid)t  menfd^lic^e  Kreatur,  coentuell  für  ba^  9latur* 
leben,  ®otte§  Offenbarung  märe  ob^r  fie  be^evrfd)te.  ®emi§ 
t)aben  bie  3^itgenoffen  ^efu  fo(d|e  ®ren}en  nic^t  gemacht,  meil 
i^nen  bie  @  r  b  e  bie  3Be(t  mar,  unb  bev  ^immel  ®otte§  J^ron 
unb  bie  ©ngel  ®iener  ®otte§  für  bie  ajlenf(^f)eit,  Unb  auc^  je^t 
tann  bie  einfad}e  ^römmigfeit  feinen  2Intafe  l^aben,  f)ier  ju  unter* 
fd)eiben.  Slber  au§  bem  ®lauben  folgt  boc^  nur,  ba^  er  at§ 
perflärter  t>iinmlifc^er  9W  e  n  f  c^  lebt  unb  über  ba§  SReid)  ®otte§  in 
ber  9Jlenfc^^eit  l^errfd^t.  SSötlig  gleichgültig  aber  ift  für  ®lauben 
unb  ^^vebigt,  m  i  e  man  fic^  ben  äußeren  SSorgang  feiner 
„31  u  f  e  r  ft  e  ^  u  n  g"  benft:  ob  al§  ba§  (Srfte^cn  beö  ßeid)nam§ 
an§  bem  ®vabe  ober  al§  bie  @rf)ebung  ber  ^erfontic^fcit  au§  bem 
Jobe  JU  ^immlifc^em  Scben  in  üerflärter  Seibli^feit,  —  unb  mie 
meit  bie  ©rfi^einungen  be§  3Iuferftanbenen,  auf  bie  fid)  ja  of)ne 
3n)eifet  g  e  f  d)  i  d)  1 1  i  c^  ber  e^ovtbeftanb  unb  ber  Sieg  ber  ®e* 
meine    ber    ©laubigen    gegrünbet    {)at,    bem  ®ebiete  be§    rein 


©dfuU:  „SBer  faget  bcnn  i^r,  ba^  xd)  fei?"  39 

äu^erlid)*fi«^^Iict)cn  Scbcn§  angct|ört  f)ahtn,  ober  ju  ben 
Sriebniffen  ju  red^ncn  finb,  bie  aud^  oon  bcftimmtcn  gciftigen 
93  c  b  i  n  9  u  n  g  c  n  mit  abl^ängcn.  3)a§  ftnb  fragen  bcr  ©cfc^ic^te 
unb  bev  9lu§(egung,  bie  nur  für  bic  t^coIogifct)e  SBiffcufc^aft  üon 
^jntcrcffc  finb. 

24.  ©Ott  fctbft  offenbort  fid)  un§  in  biefcm  aJlenfd)en. 
SßJir  l^aben  ®ott,  roenn  mx  biefcn  3Äenfd|en  gefunbcn  ^aben. 
SBer  bog  glaubt,  bcm  tann  ©Ott  nid^t  mcl^r  eine  in  fi^  oer* 
fd)loffene,  ber  Sßelt  gegenüber  au^fc^Iie^enb  in  fiel)  beliarrenbc 
unb  ftdi  auf  ftc^  fctbft  befc^räntenbe  "ißerfönlirfiteit  fein,  nid)t 
ein  in  ba§  Ungeheure  gcfteigerte§  ^i^btoibuum  na^  3lrt  ber  ge* 
fdiaffcnen,  an  loeltlidie  ©d)ranfen  gebunbenen  ^^erfönlid)feitcn. 
3)er  rüz\%  ba§  auc^  in  ber  SSScIt  n)at)re§  göttli(^e§  Seben 
waltet,  ba§  bic  göttliche  ^^erfönlic^teit  fid)  audjba  aU  fx6)  felbcr 
roei^  unb  will,  wo  fte  fc^affenb  unb  geiftig  \\6)  offenbarenb 
fic^  felber  gegenüberftef)t,  al§  in  anbeven  rairfenbe.  ©ott  ift  i^m 
nic^t  bIo§  ber  alter  3BeIt  gegenüber  in  einiger  §eitigteit  93e]^arrenbe, 
fonbern  auc^  bcr  in  Siebe  fid)  2luf f c^tic^enbc  unb  im 
Sic^erfc^üe^en  fid)  fctbft  Scfi^cnbc.  Unb  ba  bie  2Bclt 
nic^t  i^rerfeit^  ©ott  beftimmen  fann,  fonbern  immer  au§  ©ott  ift 
unb  Don  i£)m  beftimmt  mirb,  muß  biefc^  fid^  9luffd)lic§cn  ©otte§ 
ein  cn)ige§  fein,  ©ott  befi^t  unb  miß  fid^  felbcr  oon  ©roigfeit 
in  feinem  Offcnbarung§n)illen  (Sogo§)  unb  in  feinem  leben* 
jeugcnben  SBirfcn  (©eift).  —  3)ie  SBctt^at  i^rc  aJiöglid^feit  unb 
il)re  SBirfli^feit  nur  barin,  ba^  ©ott  in  feinem  SCBort  unb  ©cift 
felbcr  lebt  unb  mirft.  Ol)ne  biefe  33orau§fc^ung  ^ättc  aud^  <3cfu§ 
nur  n>ic  ein  ^^rop^ct  bie  Offenbarung  ®otte§  bcnfcnb  empfangen 
unb  Ic^rcnb  mitteilen  fönnen.  @r  tonnte  nn^  niemals  per  fön* 
lid)  eine  mirflid^c  Offenbarung  ©otteö  fein.  Unb  o^ne  fic  tonnte 
un^  bcr  ©cift,  ber  bic  ©cmcinc  ber  ©laubigen  oou  ber  natür* 
liefen  aWcnfc^ticit  untcrf^eibet,  nid)t§  fein  al^  gefteigerter  aWcnfc^en* 
gcift,  niemals  roirtlid^  göttlic^e§  ficben,  Seben  ber  ©migteit.  2llfo 
an  bcm  cmig  fid)  crfc^lie|cnbcn  Innenleben  ©ottc§  unb  an  ber 
9Bcfcn§glcid)]^eit  beffen,  n)a§  mir  in  3efu§  unb  im  1)1.  ©eifte 
f)abcn,  mit  bcm  einen  ©ott  felbcr  ^at  bie  ^i^ömmigtcit  ba§  leben« 
bigftc  3"tereffc.  —  2lbcr  nur  bie  tl^cologifc^e  SCBiffenfc^aft  ift  an  ber 


40  © d) u Ife:  „Sßcr  faget  bcnn  \l)x,  ba&  i^  fei?" 

gtagc  beteiligt,  ob  bog  SBort  unb  bev  ®eift  @otte§  lütrMid^  be=^ 
fonbcre  ^erfönli^teiten  finb  ober  nur  roefcn^afte  gormen  be§ 
©cin§,  in  benen  ber  eine  pcrfönlid)e  ®ott  fein  Seben  \)at  unb 
fein  fieben  in  ber  SBelt  uerroirtlic^t.  ®er  einfädle  ©taube  wirb 
niemals  ju  fold)en  Unterfudjungen  tommen.  Unb  bie  Sibel  foroie 
bie  gefunbe  ^römmigteit  lehren  un§,  ben  einen  roalir^aftigen 
©Ott  al§  unferen  9Sater  anjurufen,  ju  bcm  aud)  3fcfu§ 
gebetet  i)at,  unb  ju  bem  ber  ®eift  in  ber  ©emeine  fein 
aibba  ruft. 

25.  3)a§  in  ;3efu  ber  fid)  offenbarenbe  unb  fid^  in  feiner 
Offenbarung  felbft  loiffenbe  unb  ujoüenbe  6ine  ©ott  felber  un§ 
entgegentritt,  nid^t  menfc^lic^er  ©eift  in  feiner  f|öc^ften  ©rl^ebung 
unb  ©ntfaltung,  unb  nid)t  übermenfd^Iic^er  unb  boc^  freatürlic^er 
©eift,  oon  bem  eine  mgt^ologifierenbe  ^bantafie  rebet,  ba§  tft 
eine  SebenSbebingung  unb  eine  unoerdu^erlic^e  SBorau^fe^ung  be§ 
d)riftli(^en  ^eil^berou^tfein^,  ba§  nur  ba  oor^anben  fein  tann, 
n)o  man  mit  bem  mafir^aftigen  ©ott  burc^  6^riftu§  in  ©emein« 
fd)aft  tritt,  ©benfo,  ba|  mir  biefen  ©ott  nid^t  in  einem  ^!ßl)an= 
taftebilbe  finben,  ba§  fid)  an  ^^fu  ©rfdjeinung  angefc^loffen  ^at, 
ober  in  einer  gefpenftifdjen  ©eftalt,  bie  nur  fc^einbar  über  biefe 
©rbe  gegangen  unb  in  ber  ©efc^ic^te  ber  9Wenfd)en  mitgeroirtt 
l^at.  3)enu  unfer  ©rlö|ung§bemu|tfein  rul|t  barauf,  ba§  un§  eine 
meHfd)üc^e  ^^Jerfönlid)feit  entgegentritt,  unb  ein  menfd)Ud^  ge|d)ic^t» 
licfee^  SBerf  un§  in  fid)  aufnimmt,  ©nbtid)  forbert  unfere  ^riftlic^e 
grömmigfeit,  ba^  bie  fid)  offenbarenbe  ©ott^eit  unb  bie 
menf^Iid^e  '^erfönlic^feit  meber  fremb  nebeneinanberfte^en, 
nod)  eine  ber  anbern  i^re  oolle  SBa^rt)eit  nimmt,  nod)  beibe  fic^  a\i%' 
fd^Ue^en  mie  auf  bem  ^Jlaturgebiete,  mo  emig  unb  gemovben,  alU 
mad)tig  unb  leibenb,  attgegenmärtig  unb  räumlich  einfache  ©egenfä^e 
bilben.  SBielmc^r  muffen  beibe  auf  bem  93oben  ber  fittlid)en 
^erföulicf)tcit  geeint  fein,  mo  gefc^affener  ©eift  unb  fc^öpfe* 
rifd)er  ©eift  auf  ber  gemeinfamen  ©runblage  be^  Q3egriff§  „©eift" 
fic^  jufammenfc^Iiegeu  unb  roo  9leligion,  SSernunftleben,  ©ittlic^teit 
©ebiete  öffnen,  auf  benen  ©ott  unb  ÜJlenfc^  fid)  aufeinanber  be* 
jie^en  unb  fid)  einigen  fönnen.  Unb  gerabe  bie  gefc^id)tUc^e 
menf^lic^e  ^erfön(idf)feit  mu§  uu^  jur  ©elbftoffenbarung  ©otte§ 


©d^utfe:  ^3B€r  faget  bcnn  if^x,  bo^  ic^  fei?"  41 

für  un§  rocrbcu,  unb  bic  auf  bic  SWenfd^en  fid^  bejic^enbc  ©ctbft* 
Offenbarung  ®otte§  bic  ©igcnart  bicfer  nicnfct)Itc^cn  ^^erfönlid)feit 
crflärcn.  ^tnn  nur  fo  fönnen  wir  in  bcm  SRcnfc^en  (Sott  finbcn 
unb  au§  ®ott  bicfcn  9Wcnf(^en  oerftc^cn.  ©o  f)at  ber  d|vift(ic^c 
©laubc  an  bem,  looran  bic  3)09menbi(bung  ber  Äivrf)e  in  \di)X' 
^unbcrtelangem  9tiugen  ftd)  abgcmüt)t  l^at,  aUcrbingg  ein  2ebcn§- 
intereffc.  Stbcr  bod)  nur  an  ben  einfachen,  jebcm  frommen  oer- 
ftänblic^en  unb  crfa^rbarcn  ©runbgcbanfcn  bc§  „^irc^enbogma". 

3)icfc§  fclber  unb  ber  Streit  um  feine  t^eologifdie  9lu§bilbung 
unb  93otIeubung  t|abcn  fd)(ec^tt)in  nur  n)iffenfcl)aftlid)e^  :3"tereffe. 
©laubc  unb  ^rebigt  Iiaben  nic^t§  mit  it)m  ju  tun.  Ob  ©ott^eit 
unb  3Wenfd)!^eit  in  ^orm  oon  jmei  fic^  au§fd)Iie|enben  SJaturen  in 
einer  ^^crfon  oerbunben  roaren,  bic  ifirem  ^erfonmefen  nad)  ©Ott, 
i^rer  ©rfc^einung^form  nad^  2Wenfc^  roar,  —  ob  fie  in  rounber* 
barer  3)urd)bringung  beö  9Äenfc^lic^en  burc^  ba§  ©öttnd)e  it|re 
nic^t  weiter  begreifliche  ©in^eit  gefunben,  ober  in  ber  @efd|ieben= 
^eit  geblieben  finb,  bic  bem  9Serl)ältntffe  ©otte^  ju  ber  Kreatur 
entfpric^t,  —  ober  ob  in  einer  mcnfc^lid)en  ^erfönlic^fcit  ©Ott 
feinem  fic^  offenbarenben  SBefen  fd)öpferifd^  eine  ©tätte  bereitet 
unb  fic^  in  ber  gefd)i^tUd)5fittlic^en  ©ntfaltung  bicfer  ^erfönüd)- 
feit  für  bic  9)lenfc^en  einen  ooUfommenen  Slusbrucf  gefd)affen  Ijat, 
—  ober  loic  immer  bic  S^eologic  ocrfud)en  mag,  fid)  ba§  benfenb 
jurec^tjutegen,  maS  für  Den  ©lauben  eine  einfache  feiige  ©rfat)rung, 
aber  eben  bcS^alb  etioa§  fc^lec^t^in  über  bentenbc§  ©rflärcn  unb 
aSerftc^cn  ^inau^licgenbeS  ift,  —  baoon  roirb  bic  d)riftlic^e  S^öm= 
migfeit  nur  be§f|alb  berül^rt,  meit  bie  ©eu)ot)nt)eit  oon  Qaljrl^un- 
berten  fie  mit  bem  33orurtcil  erfüllt  l^at,  reiner  ©taube  ocrlange 
vid)tigc  J^cologic. 

26.  SEBer  in  3>cfu§  bie  lüaljre  93u^e  unb  bic  ©en)i^t)eit  ber 
©ünbenoergebung,  mer  in  if)m  bie  lleberjeugung  oon  bem  emigen 
Seben  unb  oon  ber  ÜJJadjt  be§  ©uten  über  bie  SSSelt  befi^t,  bem 
muß  au^  -S^fw  irbifc^eS  95er  uf  kleben  mit  feinen  3Jiac^ttaten 
unb  feinen  ßeiben  jum  ©egenftanbe  be^  ©lauben§  merben.  @r  mu| 
c^  al§  ba§  9Bert  anfd)auen,  burc^  iocld)e§  er  ©ottes  aCBitlcn  an 
un§  ooübra^t  unb  ben  ©einen  ba§  gefdjaffen  ^at,  n)a§  fie  ju 
neuen  SWenfdjcn  mac^t  unb  bcfeligt.    SSor  allem  mu|  ^cf  u  2 ob 


42  @rf)ul^:  „9öer  fagct  beim  i^r,  ba^  icf)  fei?" 

i^m  ba§  (8et|eimni§  bev  ©otte^mege  rocvben.  3)enn  ber  SveujcS* 
tob  be§  @otte§fo]^ne§  ift  cntipeber  ein  SletgevniS,  an  bem  aßc 
^Religion  fc^eitern  r\\n%  ober  er  mu^  ein  SWgfterium  fein,  in  bem 
ber  3yiitte(punft  ber  ^Religion  liegt.  3)a§  9leue  Jcftament  rebet 
in  taufenb  Silbern  unb  Selirformen  oon  biefem  S^obe.  3)er  ^reuje§* 
tob  3fcfu  ift  ber  ©ieg  über  bie  SÄac^t  ber  J^infterni^  unb 
über  it|re  furd)tbarfte  SEBaffe.  (Sr  ift  ber  ©ieg  be§  ®uten  über 
alle  mai)t  be§  33öfen,  über  aUen  äSiberftanb  ber  SBelt.  @r  ift 
ber  Sieg  be§  Seben§  über  ben  2:ob.  ®r  ift  baS  @ingel)en 
^efu  in  bie  ganje  Jiefe  ber  Unfeligfeit,  meldte  bie 
menfd)lic^e  Sünbc  über  bie  SWenjci^eu  gebradjt  f)at,  unb  manbelt 
biefe  Unfeligteit  um  unb  ma6)t  a\x§  ber  ©träfe  be§  jürnenben 
9licf)ter§,  au§  bem  3lud)e  be§  @efe^e§  bie  ^öd)fte  Offenbarung 
ber  Siebe,  ba§  freiwillige,  ftelloertretenbe  Seiben  in  Oe^orfam  unb 
©lauben.  2)a§  93lut  ©t)vifti  ift  ba§  93unbe§blut,  burd)  ba§ 
©Ott  mit  feiner  ©emeine  fid)  }ufammenfd)lie^t  ju  bem  neuen  S3unbe 
ber  Jünbfc^aft  unb  ©ünbenuergebung.  3)a§  Slut  ®f)rifti  ift  ber 
"ißreiS  biefer  ©ünbenoergebung,  ha^  "ißfanb  ber  95ater* 
liebe  ©otte§.  @§  ift  ba§  Sofegelb,  ba§  ©ott  felbft  gejault  f)at, 
um  feine  9Wenfc^f)eit  au§  ben  ©flauenbanben  ber  ©ünbenmelt  fid) 
jum  ©igentum  ju  geminnen.  3)a§  ßreuj  ift  bie  9luff)ebung 
be§  ©efe^e§fluc^§,  berauf  ber  aWenfci^^eit  liegt,  mo  fie  i^rem 
©Ott  at§  einem  jürnenben  SRic^ter  gegenüberftet)t.  ©^  ift  bie 
lleberminbung  be§  SBcltfürften  unb  feiner  9Räd)te.  ®§  ift 
auc^  bie  ©ntbinbung  ^t\n  felbft  au§  ben  ©c^ranten  ber 
gef c^i^tli(^en  ©nbli^feit,  feine  SSertlärung,  unb  fo  bie 
53ebingung  feine§  l^immlifc^en  2Birten§  burd^  feinen  ©eift. 

^n  biefen  unb  anberen  93ilbern  unb  ©ebantenformen  l^at  ber 
©laube  ber  ©emeinc  biefe§  ©el)eimni§  au^jubrücfen  oerfuc^t.  2lber 
fie  meinte  bamit  nic^t  Dogmen  ju  formulieren,  a\\  bie  ber  ©laube 
gebunben  märe,  ©ie  alle  ^aben  ifjren  religiöfen  SBert  nur  barin,  ba§ 
fie  anfc^aulic^  machen  möd)ten,  mie  -3efu  Seben,  uor  allem  fein 
aRittelpunft,  ber  Äteuje^tob  im  2)ienfte  be§  ©uten,  nic^t  blo^  ein 
t)eilige§  SBorbilb  für  un^  fein  fann,  fonbern  bie  Seiftung,  burc^ 
bie  mir  unfere  ©^riftenfeligfeit  l^abcn.  3)a6,  moburc^  in  un§ 
f eiber  ber  3Biberfprud)  gegen  ©ott  unb  bie unfelige  Äned)t§furc^t 


8(f)ur|j:  „SBer  fagct  benn  i^r,  baj  icf|  fei?"  43 

oor  i^m  übcrtpunben  werben  üon  ber  9I[(mad)t  ber  ©otte^Iicbe, 
bie  ^icr  offenbar  wirb  unb  unfere  ^erjen  fleroinnt  unb  un§  (o§ 
mac^t  üon  ben  95anben  ber  SBelt.  ®a§,  wobiirc^  ber  glud),  ber 
auf  ber  SWenfc^^eit  ber  ©ünbe  unb  be§  ®efe^e§  liegt,  ber  Job 
unb  ba§  @erid|t ,  bie  i^r  gebühren ,  aufgef)oben  unb  in  ©nabe, 
©egen  unb  eroigeS  Seben  geroanbelt  werben  für  bie,  roeldie  biefem 
Seben  gfaubenb  angeboren.  ®a§  ift  ba§  „Soangelium",  ba§  mit 
taufenb  3i*"9^"'  i^  taufenb  ©eftalten  in  ber  (Semeine  laut  mirb, 
unb  bod^  ba§  eine  einfädle  95efenntni§  bleibt,  ba§  ftef)en  bleiben 
mu&,  „ob  aud)  ^immel  unb  @rbe  unb  aüe^  jufammenfaüe". 

9Bie  fic^  biefeö  ©oangetium  in  gormein  unb  93egriffe  faffen 
Ia§t,  ba§  ^at  mit  bem  c^riftlidien  ©lauben  unb  ber  d)rift(id)en 
^^rebigt  an  fid)  nid|t§  }u  tun.  @§  bleibt  ber  tf)eotogifc^en  2lrbeit 
überlaffen.  Ob  fie  uon  bem  ©iege  über  bie  9Käd)te  be§  93öfen 
au§ge^t  ober  üon  bem  9led)t§anfprudöe  ®otte§  an  bie  SWenfc^en, 
ober  uon  feiner  rid)tertic^en  ©eredjtigteit,  bie  ben  3tnfprud)  auf 
iStrafe  nic^t  fallen  laffen  barf,  —  ob  fie  an  bie  Offenbarung  ber 
ßiebe§mad|t  @otte§  in  biefe§  3Jlenfd)en  SBerf  bentt,  burd)  meiere 
bie  Uebermadit  ber  Siebe  über  itiren  (Uegenfa^,  be§  2eben§  über 
ben  Job,  be§  ®uten  über  bie  SBelt  fid^  un§  funb  tut,  —  e§  finb 
alle§  35erfud)c,  allerbing§  oon  fetir  oerfd)iebenem  SBerte,  unter 
benen  eine  gefunbe  Jfieologie  ba§  au§jufd)eiben  fuc^en  mirb,  ma§ 
üon  falfd)sred)tlidt)en  ©efic^t^puntten  ober  uon  mi}tt)ologifdt)en  ®e* 
banfen  be§  2lltertum§  barin  ift.  3)ie  ®emeine  aber  l|at  uon  biefer 
Strbeit  meber  eine  @rt)öt)ung  i^rer  ®lauben§gen)i§t)eit  ju  hoffen, 
nod)  braudjt  fie  ju  fürd)ten,  bafe  itjrem  ®lauben  baburd)  ein 
@d)abcn  gefc^et)e. 

9iad)n)ort.  3n  bem  9lad)la6  meine?  einftigeii  ^t^xtx^  unb  fpätcren 
SloQegen  unb  e^reiinbe«  .^ermann  ©c^iiltj  fonb  fid)  ber  Dorfte^enbe  ^litffa^ 
brucffertig  üor.  2(n8  H)eld)er  ^t\i  er  ftammt,  ift  nic^t  angegeben,  ^ermutlidö 
ettua  aus  bem  ^a\)X  1898.  S)enn  bie  5lrbcit  fd)cint  ^43e3ng  gu  nehmen  auf  bie 
in  ben  3a6ren  borber  gefflbrte  Äontrouerfe  über  bie  iöegrünbung  unfereS 
^lauben^.  ^i  entfprad)  ber  ftlK  ftnnenben  ^^Irt  beS  Heimgegangenen,  bag  er 
ben  9(uffa6  ntc^t  fogleid}  t)eröffentlid)te,  fonbern  meiterer  Bearbeitung  unter» 
äog,  beren  ©puren  ba«  3Wanuffript  auftoeift.    'ATiod-avwv  Sit  XaXei. 

Wiai  9leifd)le. 


44 


ason 
3.  ©erjog, 

Pfarrer  in  (Scrlingcn. 


33er  ®efic^t§puTtft,  unter  bcm  biefe§  2:^^emQ  l^ier  attein  jur 
93efpred)ung  tommt,  ift  md)t  ber  gefcl)id)tlid)e,  genauer  ber  ber 
neute[tamentlirf)en  Slieologie,  fonbern  ber  prinjipieUe  unb  praf- 
tifd)e,  ber  in  ber  S^age  gipfelt :  2Ba§  tonnen  unb  fotlen. 
ttjir  für  unfere  ^rebigt  unb  il^re  ©eftaltung 
unmittelbar  oon  ^efu§  lernen?  ©c^on  mit  bicfer 
gragefteflung  ift  eine  boppelte  9Sorau§fe^ung  gemacht,  an  bereu 
Berechtigung  ^eutjutage  f aum  me^r  jemanb  jroeifelt,  einmal 
bie,  ba&  Qefug  al§  üoUer  unb  ganjer  SWenfd^  aud)  auf  bie  9te* 
geln  unb  ©efe^e  fid|  angeroiefen  fat),  nad)  roeli^en  ein  9Kenfd) 
mit  ber  Äraft  feinet  ®eifte§  burc^  ha§  2Ber!jeug  be§  9Borte§  auf 
ben  anbern  einwirft,  fei'g  burc^  ba^  3cwgni§,  fei'S  burc^  ben 
33emei§,  fei^§  burd)  bie  33e^auptung,  fei'g  burc^  bie  3Jla^nung. 
2lber  c§  mill  fd)on  in  biefer  SSejie^ung  üon  oornfierein  bead^tet 
fein,  ba^  er  nac^  jwei  9iid)tungen  eine  2lu§nal|meftellung  ein- 
nimmt, meiere  feine  SBorbilblic^feit  ju  mobifijieren,  bejm.  einju- 
fc^ränten  geeignet  ift.    Söar  boc^  fc^on  einerfeit^  bie  ^erfönlidi* 

1)  3)ic(cr  Sdiffa^  tüurbe  qI§  SJortrag  für  bie  giucitc  ^onfcrciig  fc^wabifc^er 
©ciftlidjcr  in  ©c^ro.  ^all  (7.-9.  ©ept.  1903)  mi^gcaibeitct  unb  am  8.  @eps 
tember  gebalten.  3m  folgenbeii  ift  er  nur  leife  umgearbeitet,  teiU  gelürgt, 
teil^  enueltert.  ^em  Vortrage  lagen  bie  ^^eitfafje  gugrnnbe,  bie  am  Sd^Iuffe 
angefügt  finb. 


©erjog:  3«fwg  al§  ^ßrcbiger.  45 

feit  bc§  ^rcbifler§  aubcvS  ate  bic  unfrigc!  ®r  lebte,  roa§  er 
le^vte,  er  t)  a  1 1  e  nic^t  nur  bie  SCBafir^eit,  fonbern  er  n?  a  r  bie 
2Ba^v^cit:  „3)a§  2Bort  (®otte§)  warb  pfeifet)".  Damm  bilbet 
bie  Sluöftra^Iung  feiner  ^erfönlic^!eit  ein  On^ponberabite  üon  ber 
aUcrgröfeten  ©ebeutung.  SOäie  feine  SBorte  S:aten  roaren,  fo 
waren  feine  SBerfe,  fein  ganje^  Sun  unb  3Befen  uub  SBanbeln 
ein  ftilteg  SBort. 

Uub  bamit  t|ängt  anbererfeit^  ein  nid)t  nur  formaler,  fon=* 
bern  aud)  ein  ben  ^  n  ^  a  1 1  ber  Sßerfüubigung  betreffenber  Unter* 
fc^ieb  groifc^en  ber  ^rebigt  <3efu  uub  ber  unfrigeu  jufamnien.  @r 
felber,  feine  ^erfönlic^feit ,  getjörte,  fo  tatfäd^Iic^  roie  au^ge» 
fprocl)enerma§en,  in  feine  33erf ünbigung,  in  ha^  @uan* 
g  e  l  i  u  m  l)  i  n  e  i  n.  SBief ern  nun  in  biefer  boppeltcn  Sejie^uug 
ba§  "ißrebigerDorbilb  Q^\\x^  eine  eigeutümli^e  Umrahmung  unb 
inforoeit  Sinfc^räntung  befommt,  wirb  im  folgenben  erfid)tlic^ 
werben. 

Slber  ift  bie  a  n  b  e  r  e  93orau§fe§ung,  auf  meiere  bie  grage* 
fteUung  unfere^  Siema^  gebaut  ift,  ganj  in  9{id)tigfeit  ?  ©oU 
;3efu§  bem  "^^rebigcr  üon  l^eute  ein  SBorbilb  fein,  fo  mu§  bod) 
bie  Situation,  barin  er  unb  bariu  mir  ftet)en,  unb  bie  ja 
2(ufga6e,  Qwtd  unb  3^^^  ^^^  ^^Srebigt  mefentlid)  beftimmt,  fid) 
einigermaßen  entfpred)en,  9luf  ben  erfteu  Slnblid  fc^eint  im 
©egenteil  ber  Unterfc^ieb  ein  funbamentaler  ju  fein.  ^^]\i^  f)at 
mit  ber  ©otfd.aft  Dom  9tcid)e  (Sottet  etma§  burdjau§  3t  e  u  e  § 
gebrad)t  unb  mir  bagegen  (eben  in  einer  d)riftlid)en  SDBelt,  bie 
biefc  originalen  ©ebanfen  längft  im  2aufe  ber  3^itcn  in  fid)  auf= 
genommen  unb  fxd^  affimiliert  ^at !  Qa,  fo  f  d)  e  i  n  t  e§.  ©ine 
genauere,  burd)  bie  Oberfläd)e  ber  3)inge  t)inburcl)bringeube  Se* 
trac^tung  unb  93eobad)tung  bes»  Seben^  belehrt  un§  eine^  anberen 
unb  fül)rt  unS  bie  Satfac^e  ju  ®emüte,  baß  mir  gerabe  in  un* 
feren  oolf^firc^lid)en  3uftänben  mit  bem  Slngebot  be§  SoangeliumS 
unferen  ^örern  gegenüber  in  ganj  ä^nlidjer  Sage  uub  uor  gauj 
ä^nlid)en  2lufgaben  fte^en,  mie  einft  Qt\\x^  mit  feiner  SBevfünbi:* 
gung  im  9ieligiou§mefen  feiner  Qtxi  unb  feines  93olf^.  3Ba^  bie 
^auptfadie,  bie  ^^rebigt  oom  Steige  @otte§  betrifft,  fo  bebeutet 
bieg  immer  unb  überall  etma§  f  p  e  j  i  f  i  f  d)  91  e  u  e  §  uub  U  e  b  e  r« 


46  ^  e  r  3  0  0  :  ^efuS  aB  ^«ßrebiger. 

r  a  9  e  n  b  c  §  gegenüber  bem  gegebenen  SJtenfdjenleben  unb 
äöeltiüefen,  and)  bem  oon  c^riftlic^cn  ©ebant'en  gefättigten  unb 
üon  c^riftlidier  ©vjie^ung  getjobenen  3)Wieu.  ^iltg  ma6)t  einmal 
bavauf  aufmerffam  („53riefe"  @.  100),  ba&  bag  ©oangelium  bas 
3iel,  eine  neue  2ltmofpt)äre  in  ber  SBelt  —  im  großen  —  ju 
f (Raffen,  nac^  nal^eju  jioei  ^atirtaufenben  noc^  nictjt  erreicht  l^abe : 
„bie  2ltmofpt)äi*e,  in  ber  bie  meiften  ©l^riften  leben,  ift  bie  ma- 
terialiftifc^e  geblieben"  !  — 

Oft  bem  fü,  fo  mirb  fid)  bie  5^*age  um  fo  naiver  legen,  ob 
fid)  nid^t  au§  ber  —  anfdjeinenb  uu^  fo  befannten  unb  vertrauten 
—  ^]ßrebigtn)eife  ^efu  Söinte  unb  ^Richtlinien  entnet)men  laffen, 
bie  un§  in  (Staub  fe^en,  nid)t  blop  „teftgemä^",  fonbern  bem 
Sinn  unb  ®  e  i  ft  e  be§  9Welfter§  gemäfe  beö  ^rebigtamt?  ju 
walten,  unfere  SBertünbigung  in  bie  größtmögliche  2let)nlic^teit  unb 
Ucbereinftimmung  mit  ber  ;3;efu  ju  bringen. 

(£s!  ift  üielleic^t  nic^t  fd)mer,  junäd)ft  einmal  altgemein  unb 
formal  ju  beftimmen,  lua^  un§  al§  S^^^  oorfc^meben  muß,  um 
ber  9Sorbilblid)feit  ber  ^rebigt  ^e]\i  gerecht  ju  toerbeu,  aber  nic^t 
fo  einfact)  ift  —  bie  ©ntberfung  unb  oollenb^  bie  2lneignung  unb 
aSermertuug  ber  getjeimni^oollen  Jlraft  feiner  Sßerfünbigung.  :3ene5 
3iel  mirb  am  tür/jeften  burcf)  ben  Sinbrurf  bejeid)net,  ben  feine 
^orer  t)on  feiner  ^^^rebigtmeife  geioannen.  „®aö  93olf  entfette 
fid)"  OMt  7  2h),  benn  „er  let)rte  fie  mie  einer,  ber  äJollmactit  ^at 
(SGBeijfäcfer),  unb  nii^t  luie  i^re  ©c^riftgele^rten".  2)iefe  aJolU 
macljt  (e^ouata)  mar  offenbar  eine  boppelte :  fie  mar  g  ö  1 1 1  i  d)  e 
5}eüollmäcl)tigung;  mas  er  gab,  war  autl)entifd),  aus 
erfter  ^anb,  au§  ber  gottlictien  Urquelle  gefc^öpft  im  Unterfc^ieb 
oon  ber  abgeftanbenen  unb  aufgemärmten  (Seelenfpeife,  roeld)e  bie 
jünftigen  ©c^riftgelel)rten  }u  bieten  t)ermocl)ten.  ©ie  war  aber 
eben  barum  aud)  ÜJla d)t  unb  ©emalt  über  bie  ©emüter, 
bie  fie  5um  ®el|orfam  ber  äÖa^r^eit  üerpflicl)tete.  @§  ift  flar, 
baß  biefe  boppelte  2lut^cntie,  nicl)t  mel)r  unb  nic^t  roeniger, 
auc^  uns  not  tut  unb  im  @runbe  bie  einjige  legitime  $)eglaubi' 
gung  unferer  "ilirebigt  ift.  ^n  bem  9JJaße,  als  mir  fie  befi^en, 
finb  mir  ^^rebiger  uon  (SotteS  ®naben. 

Unfere  3tufgabe  ift  nun,  bem  ©e^eimniffe  biefer  93ollmad)t 


©  e  r  3  0  0 :  3cfu§  al§  ^rcbiger.  47 

forgfältig  nac^}ufpürcn  unb  ba§  ©efunbcnc  möglld^ft  treu  iu  oer* 
lücrtcn. 

^m  :3ntcreffc  bcr  Uebcrfid)tlicf|feit  empfiehlt  c§  fid),  biefc 
Stufgabe  in  einer  breifad)en  Stid^tung  an juf äffen.  6^  gilt  ijuerft, 
:3efu  ^rebigt  formell  unb  materiell  unb  feine  ^rebigerperfön* 
li^feit  ju  ftijjieren,  f  o  b  a  n  n  unfere  liertömmlic^e  'ißrebigtmeife 
i^r  gegenüberjuftellen  unb  fie  einer  SReüifion  ju  unteriDerfen  unb 
e  n  b  I  i  (^  barau^  einige  praftifd)e  Folgerungen  ju  jieljen  in  ©e^ 
jug  auf  bie  3tu§fc^eibung  ber  ftörenben  ©jponenten  unferer  @t)an* 
gelium^üerfünbigung  unb  bie  Sättigung  berfelben  mit  bem  ©inne 
unb  ©elfte  ^efu. 

I. 

SBir  fudjen  juerft  einen  ©inblirf  ju  geminnen  in  bie  SBert= 
ftätte  be§  3)leifter§  unb  faffen  foroo^l  bie  äßertjeuge,  mit  bencn 
er  umging,  al§  ba§  3Bert,  ba§  er  üoUbrad)te,  unb  enblic^  bie 
fd)affenbe  ^^Jerfönli^feit  felbft  inö  3luge. 

1)  Sä^t  ftc^,  ba§  ift  bie  e  r  ft  e  %xa%t,  aud)  abgefe^en  oon 
bem  befonberen  ^nlialt  ber  SJertünbigung  Qt^n,  in  feiner 
^^  r  c  b  i  g  t  m  e  i  f  e ,  alf o  in  formaler  Sejie^ung  etma^  ©pejifi^ 
fc^cö  entbeden,  morin  ifire  befonbere  Kraft  rul^t?  ^u^öc^f*  föö^ 
bem  aufmertfamen  93eoba^ter  nur  etn)a§  an  ben  SReben  Q^efu  auf 
unb  ba§  ift  eben  i^re  gro|e  ®infad)t)eit  unb  9iatürlid)^ 
feit.  ®^  lo^nt  fic^,  biefer  if)rer  ©igenart  nä^er  narf)}ufinnen, 
bie  fo  d)ara!teriftif(iö  ift,  ba§  fte  meit  über  ben  Krei§  ber  ®läu= 
bigen  ober  überhaupt  religiös  ©efmnten  t)inau§  ba§  Qntereffe  ber 
9lad)bentenben  auf  fid)  gejogen  ^at.  3)iefe  fieic^tigteit  unb  Un- 
gejmungenlieit  in  ber  2lnfnüpfung  an  ba§  ©egebene,  an  bie 
Situation,  an  bie  äußeren  ober  inneren  3)ata  be§  2zben^,  bie 
eben  vorliegen,  einerfeit§  unb  biefe  9^atürlic^feit  unb  9Küf|elofig= 
feit  in  ber  Darbietung  unb  S)arftellung  ber  l^öc^ften  9Bal)rl)eiten 
unb  emigen,  unfidjtbaren  SDBirflid^feiten  anbererfeitS  —  finbet 
nirgenbS  if|re§gleid|en.  (93gl.  nur  Qo\).  4  n  ff.  ba§  ©efpräc^  mit 
ber  ©amariterin.)  ^ j 

1)  ^Jacöträglicf)  fiel  mir  im  „Türmer"  (aKai^cft  1903)   ein  SCii^guß   ani 
einem  Don  9(  n  b  r  e  f  e  n  in  ber  ©egenroartueröffentlirfiten  Sluffafe  „jur  C^^riftue* 


48  $  c  r  3  0  g :  3[efug  al2  ^rcbigcr. 

S)icfc  SiatüvUc^feit  fe^tc  ein  ®oppette§  oorau§.  @ in  mal 
ba^  er  ber  SGBa^r^eit  bie  er  jemeilS  ju  fagen  unb  anjubringen 
t)at,  unbebingt  ftd^er  unb  ganj  in  xi)x  ju  §aufe  ift.  @r  fpric^t 
t)on  ben  geifttic^en  ©ac^en  unb  ben  eroigen  S)ingen  ganj  in  ber 
3Äutterfprad)e,  weil  fie  i^m  betannt  unb  pertraut  finb.  ©obann 
aber  ift  er  ebenforool)!  ju  ^aufe  in  ber  SÖBelt  ber  irbif^en  2)inge 
unb  auf§  innigfte  pertraut  mit  ben  93ebürfniffen,  bem  33egriff§' 
material  unb  ber  ©ebanfenmelt  ber  Seute,  mit  ifirem  Sltltagglebcu 
bi§  in  bie  geringften  Ä(einigfeiten  hinein  unb  immer  bereit  unb 
fertig,  baran  anjutuüpfen.  Unb  ba§  ^nftrument,  ba§  er  gerabc 
brau(^t,  um  an  beu  Seelen  ju  arbeiten,  ift  immer  jur  ^anb, 
immer  gefi^ärft  unb  braurf)bar,  e§  fei  ein  93i(b,  ober  ein  ©leid):» 
nii§,  ein  ©prid)iüort  ober  ein  SWatinmort,  eine  ©emiffen^fragc 
ober  ein  entfc^eibenbe§  SBotum.  3)abei  ift  aud^  etma^  bemerfeu§* 
mert:  9Wit  roem  er  e^  aud)  ju  t^un  ^aben  mag:  er  gibt  [id) 
immer  5Red)enfc^aft  über  ba§  ObjeEt,  ba§  er  uor  fid|,  auf  ba§  er 
JU  mirfen  ^at.  (So  fel}en  mir  i^n  aud)  ganj  perfd)ieben  ^anbetu 
mit  bem  i)er}d)iebenen  9JJenfc^eumateriaI,  ba§  er  ju  bearbeiten  f|at. 
'Dlun  gehört  bie  weitere  Verfolgung  biefe§  @efid|t§puntt^  in  bie 
anbere  grage  Ijinein,  mie  3efu§  aU  ©eelforger  ge^anbelt 
t)at  (obmot)!  bie  3tufgabe  be§  ^rebigerö  ftet§  baoou  berüf)rt  mirb). 
2lber  um  fo  mii^tiger  ift  e§  ju  ertenneu,  m  a  §  ba§  @e^eimni§ 


fraflc"  in  btc  $nnbe,  toortn  bicj'cr  einzigartige  3^0  i»  ber  ^rebigtweifc  3cfu 
eine  anfpred)enbe  unb  treffenbe  ^eleud)tung  ftnbet.  @^  ^etgt  ha  u.  a.i  „"^an 
»nnbcrt  ftd),  bn6  er  bie  ©d)rift  fcnnt,  wo  er  bod)  ntrf)t  ftnblert  ^at  S)abei 
fcfetc  3efu§  bnrcft  bie  ÖJemalitöt  in  ber  fjövm,  burc^  bie  9latürlid)fett,  ^tx- 
ftänbltd)feit  unb  äJlarfigfeit  bie  ^örer  in  groge^  ©rftaunen  unb  brängte  i^neu 
allen  ba^  Urteil  auf  bie  £ippen,  er  le^re,  mt  einer,  in  bem  Straft  fei,  unb 
nic^t  ivie  bie  (2d)riftgelet)rten  3cfn^  fprad)  and)  öon  ben  6öd)ften  2)ingen 
ftetd  natürlich  nnb  o^ne  ben  ^inbrucf  gu  ermeden,  a(^  ob  er  fc^tDer  barüber 
nadjbenfen  nu'iffc".  S3on  S3elang  ift  auc^  bie  ^icr  Wetter  angef (^(offene  öe* 
obad)tung:  „''Md)  fagt  3efu9  niemals:  lieber  btefeS  ober  jenes  ^abe  ic^  früher, 
uor  meinem  offentlid^en  ^(uftreten  anbers  gebad)t;  aud)  I)5ren  toir  niemals 
ba6  er  ira^renb  ber  3cit  fciueg  2Biifcn^  einen  5luöfprud)  fpäter  bereut  ober 
snrüdnimmt.  @r  ftanb  auf  einer  fo  ^o^en  geiftigen  @tnfe,  bafs  er  ntemald 
ctmag  gu  üerbcffern  Ijatte.  9J2it  überrafdjenbem  ÖJviffc  erlebtgte  er  nid)t  nur 
einen  gerabe  tiorliegciiben  fjall,  fonbern  traf  glcid)geitig  eine  grunbfä^Iidje 
@ntfd)cibung  für  aüe  ^Jäüe". 


$erjog:  S^fui  al§  ^rcbigcr.  49 

feiner  roirfung^fiäftigen  ^^Jrebigt  geroefen  ift,  roenn  er  eine  gc* 
mif^te  3u]^örerfd)aft  oor  fic^  I)atte.  S33a§  war  ba§ 
®emeinfame,  ba§  er  bei  alten  oorau^fe^en  unb  woran  er  an* 
fnflpfcn  fonnte  ?  3öeld)e  2:aften  waren  anjufd)Iagen,  um  bei  ber 
fomplijierten  Älauiatur  menfd|(ic^er  ®ebanfen,  ®efut)Ie  unb  Sriebe, 
be§  9latureU§  unb  ber  Oni>ioibuatitäten,  ba§  O^^^^^P^  ju  rüliren 
unb  in  ©c^roingung  ju  uerfe^en? 

SEBcnn  man  ber  @acl)e  auf  ben  ©runb  gelten  roiH,  fo  genügt 
e§  nidit,  im  93Iicf  auf  bie  eben  bejei^nete  Sßevtrautfjeit  beg  ^errn 
mit  ber  2BeIt  ber  emigeu  3Baf)rt)eit  einerfeitg,  ber  irbifc^en  SDSirt* 
lid)feit  anbererfeitö  nur  luieber  auf  bie  geniale  £cicl)tigfeit  unb 
Ungejmungenlieit  ^iujumeifen,  mit  ber  er  baö  ®rö§te  unb  ba§ 
Äleinfte,  baö  ©öttlic^e  unb  ba§  aWenfc^lid)e  lebenbig  ju  üerfnüpfen 
VDix^U,  foba&  bie  im  irbifc^en  9lcbel  materiettev  O^^t^^^ff^n  be^ 
fangene  ©eele  unoermertt  in§  Sid)t  ber  SBaf)r{)eit  fid)  gefteUt  fal), 
fonbern  biefe  munberbare  Sirtuofität  —  roenu  biefer  9Iu§brud 
l)ier  erlaubt  ift  —  forbert  ju  i^rer  Srtlärung  einen  beftimmten 
ein^eitli^en  ©eftc^ti^punft,  eine  betierrfc^enbe  Uebevjeugung,  in  ber 
er  feftftanb  unb  dou  ber  au§"  er  bie  ©ebanfen,  ^Regungen  unb 
SBiüen^bemegungen,  SWotioe  unb  ^ntereffen  mit  ftd^evem  93lidE  ju 
orbnen  unb  biefer  ^auptfac^e  bienftbar  ju  machen  n)u|te. 

®in  fefter  ^^un!t,  an  bem  man  einfe^eu  fann,  ift  j.  33.  bar« 
geboten  in  bem  uielfagenbeu  SOSort  be§  ©oangeliften,  ba§  offenbar 
eine  oon  ^efuS  felbft  gelegentlid^  jum  3lu§brudt  gebrarf)te  Stirn* 
mung  unb  melir  al^  ba§,  feine  innerfte  Ueberjeugung  miebergibt 
unb  Da^er  in  ber  Seele  O^fu  ju  lefen  oerftattet  (SRattb.  9  se) : 
„3)a  er  aber  bie  9Waffen  fat|,  erbarmte  e§  if)n  i{)rer,  ba§  fie  mi§* 
Rubelt  unb  preisgegeben  maren,  mie  Schafe,  bie  feinen  |)irten 
t)abcn".  Sann  man  aU  ba§  aUgemeinfte  93ebürf!ii§  be«  ÜJlenfcf)en 
ben  Surft  nad)  Seben,  nad)  einem  gefättigten  3)afein,  beaeid)nen, 
fo  mar  ba§felbe  bei  ben  oermalirloften  üKaffen  nid)t  nur  nic^t  be* 
friebigt,  fonbern  gröblich  oernad)läffigt.  2)iefe§  33ebürfni§  ift  aber 
offenbar  ein  boppelteS:  einmal  ringt  ber  SWenfd)  um  bie  9lot* 
burft  be§  äußeren  SebeuS,  fei'§  um  fein  5)ur(^fommen,  fei^S 
um  ben  Ueberflu|.  ^n  jenem  ^atte  ftnb  e§  bie  Sorgen,  in  biefem 
ber  ©etrug  beS  SReic^tumS,   maS  eine  a3ertned)tung  an  bie  Area* 

3citf<^rift  für  a:^€Oloftie  unb  StiViSfc.  U.  ga^rg.,  1.  i>eft.  4 


50  ©et^og:  3efu§  al§  ^rebiger. 

tut  unb  eine  ^erabroürbigung  be§  393efen§  unb  ber  53eftimmung 
be§  aJienf^en  bebeutet.  Slnbererfeit^  aber  gefit  ha,  wo  nod) 
„JHeligioii"  in  einem  SSoIfe  (ebt,  biefem  Ranipf  um§  2)afein  eine 
innere  Unruhe  unb  9lot  jur  ©eite :  man  will  fromm  fein  unb 
bringt  e§  boc^  nic^t  ju  ©tanbe,  bie  9Woral  ift  ein  ^oi^,  bie  9?e= 
ligion  ein  @efe^,  bie  Rotieren  triebe  unb  Sßerpflic^tungen  eine 
Saft,  eine  neue  ju  ber  erften  l)inju.  Ueber  biefer  boppelten 
9Wü!^e  unb  3lnftrengung  jerarbeitet  fid)  ber  SWenfd)  „in  ber  SMenge 
feiner  SBege"  —  5u  tot.  ®enn  biefe  9lot  potenjiert  fic^  nod) 
baburd),  ba^  biefe  jroeierlei  Xriebe  nic^t  nur  m  i  t  einanber  ton- 
!urrieren,  fonbern  miber  einanber  ftreiten.  Stuf  biefen  jammer- 
oolleu  3"ftanb  ift  ber  erbarmenbe  ©lief  Qz\n  gerid)tet,  bie§  ift 
bie  traurige  SSSirftid^feit,  au§  ber  ^erau§  er  bie  in  ©^merjen  fic^ 
roinbenbe  aWenfc^Iieit  ruft  unb  lodt  mit  ber  ©inlabung:  5tommct 
l^er  ju  mir,  bie  il|r  muffelig  unb  belaben  feib !  2lm  2  e  b  e  n  ö  == 
burft  fa^t  er  ben  9Äcnfc^en,  il|n  miß  er  ftillen.  3)a§  tann  er 
aber  nur,  menn  er  biefer  boppetten  fieben^bemegung  gerecht  mirb 
unb  ba§  ^inroieberum  tann  er  nur,  roenn  er  biefen  i^ren  inneren 
äöiberftreit  löft  unb  fc^lidjtet.  @r  oermag  beibe§  $u  leiften: 
^  en  e  §,  inbem  er  fid^  immer  in  biefen  SUlittelpunft  be^  9Jienfd)en= 
mefen^,  ben  2)urc^fc^nitt§punft  ber  boppelten  Sinie  menfc^tid)er 
Seben^entmidlung,  ber  äußeren  unb  irbifc^en  einerfeit^,  ber  gei= 
ftigen,  fittlid)=religiöien  anbererfeitö  Ijineinftetlt  unb  mit  feinem 
93licf  beibe  be^errfd)t;  biefe§,  inbem  er  ba§  SRätfel  ber  menfc^* 
lid)en  93eftimmung  löft,  bie  Urfdirift  ber  menfd)li(^en  ©yiftenj  ent* 
jiffert  unb  ba§  emige  ©efefe,  ba§  bem  3Jlenfc^en  eingeftiftet 
ift,  üon  it|m  geaf)nt  unb  empfunben  al§  Ur|ad)e  feiner  fteten  Vi\u 
ru^e,  aber  nid)t  erfannt  unb  üerftanben,  gefc^roeige  geliebt  al§ 
bie  ^erle  feinet  SBerteS  —  jur  5llar^eit  ergebt,  bas 
®efe^,  monad^  feine  innere  Seben^entmicflung  über 
feinen  äBert,  fein  ma^reg  3Q3o^l  unb  SaSelje  entfd)eibet  ;3ft  nic^t 
eben  bie§  bie  5}ebcutung  jenes  gemaltigen  SOSorteS,  ba§  üor  i^m 
noc^  über  feines  3Jienfc^en  üippen  gegangen  ift:  „3Ba§  t|ülfe  e§ 
bem  9Jlenfd)en,  menn  er  bie  ganje  9Belt  gemänne,  er  fämc  aber 
um  fein  Seben?  Ober  mas  tann  ber  SJienfd)  jum  2:aufd^  geben 
für  fein  Seben?"  (3Jlatt^.  16  a«.)    ^ft  nid)t  l)iemit  jum  erftenmat 


©  « 1 3  0  0 :  3>ef  u§  aU  ^rcbiger.  51 

bcr  Öcgriff  be§  roa^rcn  Seben^  be§  51Wenfc^cn,  b.  1^.  feiner  Seele 

('I^/Jj)/  i^^  Klarheit  herausgearbeitet  roorbeti  ?    @e^t   e§  feiner 

©  c  e  t  e  wohl,  fo  ge^t  e§  \i)m  n)o^(.    2)a§  aber  biefe§  @efe^ 

beni  SSSefen   be§  SWenfd^en   eingeftif tet ,   nidtit   etwa   etroaS    il^m 

grembe§,  3tufgebrungene§  tft,  bafür  bürgt  ba§  in  i^nt  rourjelnbe^ 

nie  ganj  jum  ©d^roeigen  ju  briugeube   allgemeine   SBa^r* 

^  e  i  t  §  g  e  f  ü  ^  t ,  auf  ba§  <3ef  u§  ein  fad)  rechnet,   roenn  er 

fagt :    „SBer   au§   ber  SSJa^r^eit  ift,   ber  i)öxtt  meine  Stimme", 

ba§  ffia^r^eitsigefü^I,  ba§  fic^  nad)  ber  fittlid)en  ©eite  im  ®c* 

roiffen  reftetticrt  al§  ba§  unbebingte  „©oü",   nad^   ber  religiöfen 

©cite  afe  bie  fd|ted|tt)inige  9tbl)ängigfeit  oon  ®ott  auf  ele= 

mentarer  unb  al§  ber  3  ii  9  iu  ®ott  auf  ^ö^erer  ©tufe.  —  3)iefes; 

allgemeine  SBBa^r^eitSgefü^l  ift  ba§  eigentliche  unb  mefentlic^e  ©üb* 

[trat  jenes  tieffinnigen  ©leid^niSmortS :  „2)a§  Sluge  ift  beS  SeibeS 

Sidjt  2C."  (SWt.  6  22f.  unb  fiuf.  11 34 ff.)  —  Unb  bie  l|ier  ($8.  35)  ein= 

gefügte   SGBarnung:    „©o  gib   roo^l  adjt,    ba§   nid)t   ba§    innere 

Sict|t  in  bir  finfter  ift"  läßt  ebenjomot|l  erfennen,  mic  an  ber  ®r:= 

Haltung  unb  Semal^rung  biefeS  ©etjorganS   ber  ©eele   für   ben 

ÜReufc^en  fo  gut  mie  a  1 1  e  S  liegt,  mie  anbererfeitS  bie  (bei  Sufas) 

I)injugefügte  ^43efc^reibung  be§  normalen  ß^f^onbeS,  beS  rid)tigen 

gunftionierenS  beSfelben:    „^ft  bann   bein  ganger  Seib  ^ell  unb 

nichts  JJi^ftereS  baran,  fo  mirb  ba§  eine  ^elle  fein  fo  nöüig,  mie 

Toenn  bic^  ber  Seuc^ter  mit   feinem  ©tra^I    befc^eint"    einen  an- 

fdiaulic^en  ©inbrurf  oon  ber  Qntenfität  unb  ©ftenfität  gibt,  mit 

rocidjer   baS   allgemeine   3Bat)r^eitSgefül)I   baS  Innenleben   Qt\\i 

burd)Ieuct)tet  ^at. 

2)iefer  ©efic^tSpuntt  ober  uielme^r  biefer  93 e griff,   nod) 

genauer  bie  barunter  oerftanbene  ©act)e  ober  SBefen^eit  mar  baS 

oon  ^efu  meifter^aft  ge^anbfjabte  ^nftrument,   mit   bem  er  fort 

unb  fort  an  ben  ^erjen  unb  ©emiffen  arbeitete.    ®  a  1^  e  r  ftammt 

bie  S  eic^tigf  cit,  mit  ber  er  überall  an  bie  gegebenen  3)aten 

beS  £eben§  anfnüpfen  unb  ex  concessis  bemeifen  unb  überfüljren, 

ba.^er  bie  9lat ürlid)f  ei t,    mit  ber   er  fid)    unb  jugleid)  bie 

^öc^ften  SBa^r^eiten   ben   einfac^ften  Seuten    oerftänblid()  machen 

fann  —  benn  biefeS  ©inmateinS  bcS  ©emiffenS  oerftet)t  jebermann 

—  batier  bie  b  u  r  d|  f  d^  I  a  g  e  n  b  e  Ä  r  a  f  t  feiner  Slrgumentatiou 

4  * 


52  ^erjog:  IgefuS  alß  ißrebiger. 

—  bcnn  „veritas  vincit",  mir  fönneu  nict|t§  gegen  bie  SSäa^r^eit 
fonbern  nur  für  bie  3GBal)r{)eit.  2)iefer  9IppeU  an  ba§  allgemeine 
9Ba^rf|eit§gefü^l  tönt  laut  ober  leife  burc^  alle  SReben  ^fcfu  unb 
umtleibet  fie  mit  nmjeftätifc^er  ©ouoeränitat,  oor  ber  ber  SBiber* 
fpru^  oerftummt.  ®r  fd)rettet  mit  i^m,  mie  mit  einer  Seuc^te, 
burc^  alle  SBerl^ältniffe  ^inburc^,  ben  9}ebel  unb  2)unft  ber  9Sor* 
urteile  Derfd)euc^enb,  bie  ©pinnemeben  ber  fiift  unb  ©c^ult^eit  jer« 
rei^enb,  in  bie  oerborgenften  polten  unb  9Q3iufel  ber  ^erjen  hinein» 
jünbenb,  ben  inneren  ^au6l)att  be§  @ebanten%  2:rieb'  unb  ®e* 
fü^telebeng  feiner  $örer  beleuditenb  unb  baburc^  orbnenb.  Unb 
roie  er  ben  ^^inben  ber  SEBa^r^eit  feine  Unlauterfeit  gefd)entt  ober 
ijat  ^inge^en  laffen,  mitunter  innerlich  empört  über  i^re  SBerftorft- 
i)z\t,  (}.  93.  Warf.  85),  fo  freut  ftd)  umgefe^rt  fein  3^W9«i^  ^^^ 
SEBat|rt)eit  über  alle§,  n)a§  im  3Wenfc^engefc^led)t  nod)  „au§  ber 
SBa^r^eit"  ift,  über  jebe  it)r  matjtüermanbte  ©pur  uon  ®utem 
unb  ®d)tem,  entbecft  jeben  il)r  entfprec^enben  ^mq  unter  bem 
SBuft  unb  @d)utt  ber  ©ünbe,  ber  ©elbftfud)t  unb  93erfe^rt^cit 
unb  fnüpft  liebeüotl  an  i^n  an,  ujn  ben  3Jlenfc^en  ^ö^er  ju  leiten, 
»on  ber  93armt|ersigfeit  be§  ©amariter^  (ßuf.  10)  unb  ber  Streue 
beg  Wirten  (fiuf.  15iff.)  bi§  ^erab  ju  ben  ©efü^len  ber  SBäter 
gegen  i^re  Äinber  (aWattt).  7  9ff.).  SDaburc^  eben  ift  er  „ba§ 
Si^t  ber  3Belt".  „Qn  Qefu  3Äunbe  begegnen  fid)  SBa^r^eit  unb 
SBirflic^feit  immer  in  reijüoller,  eigenartiger  unb  unoergefelidier 
ffieife".  (S^o^fi),  „®er  SSSeg  jum  SBater",  ©.  40.)  „3)a§  311U 
tägli^e  befommt,  menn  e§  <3efu§  fpricl)t,  etma^  93efoubere§,  ba§ 
e§  in  bie  (Smigfeit  ^inüberfüngt"  (ebenba  ©.  36). 

9}immt  man  alle§  )ufammen,  fo  leuchtet  ein,  ha%  e§  fic^  bei 
biefer  91atürlic^feit  ber  9tebemeife  3[efu,  mit  ber  er  oom  Sleinften 
jum  ©rösten,  oom  3^itlic^en  jum  ©roigen,  oom  SSBeltleben  jum 
^immelreid)  bie  ^rücte  fd)lägt,  nic^t  um  ein  93irtuofentum  im 
geroö^nli^en  ©inn  be§  $Borte§  ^anbelt,  fonbern  bie  fefte,  folibe 
©runblage,  auf  ber  er  operiert,  fmb  bie  eroigen  ®efe^e  unferer 
53eftimmung,  unfereö  Urfprung§  unb  unfere§  3*^'^-  Sbenbarum 
barf  tro^  ber  einjigartigen  ^ö^e,  auf  ber  ^efu§  ftet)t,  auc^  in 
biefer  3Jejiet)ung,  roa§  bie  formale  ©eite  feiner  ^rebigtrocife 
betrifft,  oon  feiner  SSorbilblic^feit  gefprodien  werben. 


2)  Unb  cbeufo  gi(t  bicfclbc  von  bcm  <3  n  1^  a  1 1  feiner  Sßcv* 
tfinbigung.  3)ie  ^rage  ift  ^ier  bie:  9Jllt  rocte^en  SWotioen 
unb  Cuictiüen  ^at  3>ßfu§  gearbeitet?  Slieber^ 
gall  ^at  in  feiner  Ie^rreid)en  unb  getialtuoÜen  ^omiIctifd)en 
Schrift  „SGBie  prcbtgen  roir  bem  tnobernen  SJlenfdien?",  in  ber 
er  ber  2:ec^nif  ber  ^rebigt  eine  Sorgfalt  juroenbet,  wie  fie  in 
wenigen  ^anbbudiern  ber  ^omitetif  anzutreffen  ift,  bei  ber  93e* 
fprec^ung  ber  ^rebigtraeife  3^efu  bie  oerfc^iebenen  aWotioe  unb 
Ouietioe,  mit  benen  er  auf  feine  ^örer  voixtit,  in  i^rer  ©d)icl)* 
tung  unb  ^o^enlage  anfprec^enb  unb  tic^tDoU  befd)rieben.  2)ie 
folgenben  2lu§fü^rungen  fd)Iie^en  \\i}  an  feine  Unterfuc^ung  an 
unb  rooüen  nur  bie  ^auptpuntte  ^erporlieben. 

3)cr  2lu§gang^punft  berfelben  ift  bie  Ueberjeugung,  ba§  ber 
3Wenf^  ein  Olürf^oeriangen  in  fic^  ^egt,  na^  ben  i^m  entfprec^en* 
ben  ®ütern  ftrebt  unb  bie  il^m  roiberfpred^enben  Uebel  fliel|t  unb 
meibet.  SBenn  man  nun  einen  SJlenfc^en  beeinfluffen  unb  bewegen, 
wenn  man  i^n  baju  bringen  roiü,  „au§  bem  93au  feiner  ®igen« 
liebe  ^erau§  an  bie  freie  ßuft  eineiS  Seben§  im®eifte  be§  Outen 
ju  fommen",  fo  gilt  e§,  bie  rid)tigen  entfprec^enben  iJWotiioe  al§ 
^ebet  einjufe^en,  bie  in  ba§  SRäbermerf  be)§  @eban!en=,  ®cfü^l§^ 
unb  Jrieblebenö  am  rechten  Orte  unb  in  ber  paffenben  9lrt  ein* 
greifen,  um  e§  in  ber  gen)ünfd)ten  SRidjtung  in  @ang  ju  bringen. 
SCBcun  man  fagen  moüte,  z§  merbe  fo  bie  ^rebigt  Qefu  oon  oorne* 
herein  unter  einen  eubämoniftifc^en  ®efid)t§punft  gebradjt,  fo 
wirb  bamit  bie  9iict)tigteit  biefer  93etrad)tung^tt)eife  nic^t  umge- 
fto^en.  3)enn  ber  oberfte  ®efic^t§puntt  be§  ©oangelium^,  ber 
guten  93otfc^aft,  ift  ni^t§  anbereg  al§  b  a  §  ^  e  i  l.  3efu§  ift 
gefommen,  Seben  unb  ooUe^  ®euüge  ju  bringen.  SBol^l  aber  ift 
inncrl)alb  biefe§  93egriff§  oon  Seben  unb  ^eil  eine  gro^e  2lb= 
ftufung  ber  SBerte,  3Wa§ftäbe  unb  Qntereffen,  auf  roeldic  bie  Sßer^ 
fünbigung  einjuge^en  unb  SRüdffidit  ju  nehmen  i)at,  um  bie  ^örer 
auf  bie  ©tufc  be^  magren  £eben§  emporjufü^ren.  2)a]^er  ift  oon 
Dorne^erein  tlar,  ba§  bie  SJlotioe,  mit  benen  3ßfw§  arbeitet,  nid)t 
auf  berfelben  S^ädie,  bejm.  §öt|e  liegen  !önnen;  eg  gilt  an 
a3ort)atrt)cnes  anjutnüpfen  unb  ®röj3ere§,  3leue§  ju  bieten,  für 
beffen   ©rfaffung    unb    oollenbö   2lneignung    bie    Organe    fo}u= 


54  ©crjog:  QcfuS  al8  ^rcbtt^ct. 

fagcn  evft  jubeveitet  werben  muffen. 

@  e  g  e  b  e  n  finb  für  bie  SSerf ünbigung  ^efu  jroet  ©vuppen 
oon  SBorfteUungen,  bejro.  SBerten,  bie  in  bcr  JRid^tung  auf  ba§ 
batjubietenbe  ^eil   al§  SBeroeggrünbe  oerroenbet  rocvben  tonnen. 

a)  3)ie  eine  ift  bie  Oruppe  ber  rationalen  SD^otioe,  bie 
bem  gefunben  9Wenfrf)ent)erftanb  unb  ber  unbeftoc^enen  fttt(irf)en 
Urteil§traft  anget)ören,  roornac^  jebermann  oon  fid)  au§  beurteilen 
fann,  n)a§  frommt  unb  n)a§  nid^t  frommt,  n)eld)e  guten  ober 
fd)limmen  ??olgen  ba§  jeroeilige  ^anbeln  ober  'ßer^alten  innertialb 
be§  Seben§  felbft  nacf)  fic^  jiel|t.  @d)on  btefe  SDlotioe,  bie  nac^ 
bem  ©d)ema:  3Bei§^eit  unb  J^ortieit  oerlaufcn,  nefjmcn  einen 
breiten  9taum  ein.  ÜJlan  ocrgl.  Suf.  14?  bie  SRebe  oom  oben 
unb  unten  an  ©i^en,  3)lattt).  5  25  oon  ber  ^Bereitfct)aft  jur  a3er= 
föfinung,  oon  ber  2:or^eit  be§  S^ä^efammeln§  (3Ät.  6  19  ff.,  Sut. 
12 13—21),  ba§  @Ieid)ni§  00m  ungerect)ten,  aber  fingen  §au§* 
l)alter  Suf .  10  1  ff.  unb  oiele  anbere  (Stellen. 

9Jlan  barf  biefe  rationalen  ÜJlotioe,  bie  jum  elementaren 
©runbgeftein  be§  fittlic^  n^eligiöfen  fieben§  get)ören,  !eine§n)eg§ 
niebrig  einfcf)ä§en,  umfomeniger,  al§  e§  ganj  auffallenb  ift,  roie 
oft  unb  oiel  3f^fu§  ba§  ©e^aben  ber  9Wenfct)en,  il)re  ®emot|n* 
Ijeiten  unb  Urteile  unter  ben  ®efi^t§punft  ber  SBei^^eit  unb 
Älugl)eit  ftellt  unb  gerabe  aud)  i^r  Sßer^alten  ju  ben  ^öc^ften 
Seben^fragen  unter  biefen  @efic^t§punft  bringt.  93gl.  ba§  ©leic^* 
ni§  üom  :i:urmbau  Suf.  14  28  ff.  unb  in  anberer  93ejiel)ung  bie 
Streitrebe  über  bie  2:eufelau§treibungen  SWattt).  12  25  ff.,  meldje 
ben  Unglauben  ber  ^ip^arifäer  burc^  bie  ©timme  ber  gefunben 
Sogif  richtet.  S)er  ©ebrauc^  be§  gefunben  9Wenfc^enoerftanb§  ift 
il|m  etmag  fo  SQBic^tige^,  ja  rec^t  oerftanben  §eilige§,  ba&  jene 
übelberatene,  mi^Derftänblid)e,  roeil  ba§  3Q3ort  be§  ^^Sautu§  2.  (£or. 
10  :>  grünblid)  mi^oerftel^enbe  SRebemeife  00m  ©efangennel^men 
ber  SBernunft  unter  ben  ®eI|orfam  be§  @lauben§  (ober  S^rifti), 
furj  j[eglirf)e§  sacriiicium  intellectus,  fic^  n  i  c^  t  mit  einer 
©pur  oon  9ied}t  auf  3^fu^  berufen  fann,  fonbern  burd^  feine 
immer  folgerid)tige  ©tetlungnat)me  gerabeju  gerid)tet  ift. 

b)  2lber  <3efu§  ift  nid)t  ber  moralifc^e  Utilarift,  ju  tem  itin 
ber  $Rationali§mu§  gemacht  f)at.    .^ier  ift  met)r  alö  Äonfuciue ! 


'S>  e  r  5  0  0 :  gcf u§  aU  ^rcbigcr.  55 

Sichtiger  ift  bie  jrocitc,  bcm  uorgcfunbcncn  religiös  *  fittttci)cn 
93efi§ftQnb  angc^örigc  (Sruppc  oon  3Kotbcn,  rocl^c  fid)  auf  ben 
e^diatologifd^  bcftimmtcn  |)ori}ont  bc§  gegebenen  ifraelitifc^en 
©laubenö  bejiel^t.  $ier  fte^t  ber  @eban!e  be§  Sol^n§  unb  bcr 
©träfe,  alfo  ber  5?ergcltung,  im  9Sorbergrunb.  @§  ift  nun 
ganj  felbftDerftänbli^,  bQ§  er  biefe  ©ebanfen  nic^t  etroa  nur  au§ 
9lffommobation  ober  Äonbe^jenbena  (ju  ber  aSoItömoroI),  fonbern 
mit  fc^Iic^ter,  üotler  Ueberjeugung  oertritt  unb  oermertet,  aber  e§ 
ift  cbcnfo  War,  ba|  bie  entfprecl)enben  SSorftclIungen  in  feinem 
9Wunbe  fou)ot)l  ein  neue§  ©emid^t  befommen,  al^  aud|  eine  innere 
aSertiefung  unb  Umbilbung  erfahren.  3  e  n  e  §  infofern,  al§  er 
in  ber  Xai  in  ber  geglaubten,  oon  ben  einen  gefür^teten,  Don 
ben  anbern  erhofften  e§d)atologifc^en  aQ3irf(id}feit  fo  feften  gu§ 
gefaxt  ^atte,  ba^  i^m  bie  SranSjenbenj  unb  ber  e§c^ato(ogifd)e 
Slirf  nid}t  nur  ein  ®efid}t§punft,  fonbern  ber  ®efid|t§punft 
roar,  nid)t  nur  e  i  n  ÜWoment  neben  anbern,  n)eld)e§  bie  im  übrigen 
im  9ietatioi§mu§  fid)  beroegenbe  SßJeltanfd^auung  ergänjt  unb  forri* 
giert  ^ätte  —  ba§  mar  mo^I  ber  oulgäre  ©tanbpunft  —  fonbern 
bie  abfd)Iie§enbe  Umrahmung  bcr  SBelt  ber  SBirflic^feit  bebeutete. 
SBie  lebhaft  ftet)t  vor  feiner  ©eele  „jener  3:ag"  "Sülaiti),  7  22,  ba§ 
iüngfte  ©eric^t,  an  bem  bie  aj?enfd)en  muffen  9ted)enfd)aft  geben 
oon  einem  jegtidien  unnü^en  9D3ort,  9JJattt|.  12  3g,  ber  2^ag,  an 
bem  bie  Sölfer  oor  i^m  oerfammelt  merben,  SMattl).  25  31  ff. !  Sr- 
^ält  aber  fo  ba§  e§c^atoIogifd)e  öitb  oiel  f^ärfere  unb  beftimmterc 
Umriffe  unb  lebhaftere  ^^axhtn,  fo  erfcit)rt  anbererfcit§  ber 
bamit  oertnüpfte  aSergeltung^gebantc  eine  roefentlid)e  Umbilbung 
gegenüber  bem  trabitioneüen  unb  lanbläufigen  Segriff,  ber  oiel* 
fad)  äußerlich  gebac^t  ift  unb  einer  Slbja^lung  gleist.  JJeben 
bem  ^inmeiö  auf  ben  3lu§glei(^  im  @erid)t  ber  ®migfeit  —  in 
bonam  et  malam  partem  (Suf.  16  19  ff.,  aber  aud)  £uf.  14 14  unb 
16  9)  —  fte^en  ®(eid)niffe,  mie  bie  oon  ben  anoertrauten  "ißfunben, 
meldte  ben  Sol^n  al§  bie  au§  bcm  Sun  ober  Saffen,  ber  Sätig^ 
teit  ober  Untätigfeit  l|erau§mad)fenbe  grud^t  barftellcn,  mie  benn 
anä)  roiebcr^olt  ba§  93er^ältni§  be§  93aum§  ju  feinen  grüd)ten 
iur  a3eranfc^aulid)ung  beigejogen  mirb,  ogl.  aWattt).  7  17  f.  u.  19; 
25 14  ff.    ^ier  ift  ber  ftrenge,  ftarre  aSergettung^gebanfc  oergeiftigt 


} 


56  ©erjoö;  Qefui^  atS  ^rcbiger. 

unb  ücrinnernd)t,  an  bic  Stelle  bc§  med)  anif  d)  en  ©gftem^ 
tft  ba^  0  r  9  a  u  i  f  d)  e  ®efe^  be§  Scbens  getreten. 

@§  feud)tet  üon  felbft  ein,  ba§,  n)a§  bie  9Sern)ertung  biefer 
SWotiüe  betrifft,  bem  l^eutigen  fittlid^^religiöfen  33en)ufetfein  md)t 
jener  med)anifc^e,  fonbern  biefer  organifc^e  95ergeltung§gebanfe 
affimiliert  werben  fann.  ^n  biefer  ©eftalt  gel|6rt  er,  fc^on  »er^ 
möge  feiner  SSeriuanbtf^aft  mit  ben  ®ntn)irflnng§gebanfen,  jum 
eifernen  53eftanb  ber  mobernen  35Be(tanf(^auung.  SWan  bente  nur 
an  f^edj\\tx§  „53üc^lein  oom  Seben  nad)  bem  Sobe"  *)  unb  an 
®merf  on'§  ©inleitung  ju  feinem  (£ffai  „2tu§g(eic^ungen",  morin 
er  bie  ^rebigt  eine§  „rechtgläubigen"  '»^farrerS  fc^onung§lo§  friti* 
fiert,  meil  fie  eine  m  e  c^  a  n  i  f  d)  e  9tu§gleic^ung  für  bie  ^öfen 
unb  ©Uten  im  Qenfeitg  in  9lu§fid)t  geftellt  {)atte,  bie  Don  bem 
inneren  3wfammenl^ang  pon  SBoI)lbefinben  unb  933o^ber^aIten 
abfa^.  — 

SÄber,  \m§  märe  üiel  gemonnen,  menn  man  aud)  für  biefe 
9D3a^rl|citen  3efu§  jum  3^"9^"  anrufen  fann  unb  barf?  9Jid)t 
bie  a33ei§t)eit,  b.  1^.  bie  ©inft^t  in  bie  Sorljeit  be§  93öfen  unb 
ber  Sünbe  im  93Iirf  auf  i^rc  bitteren  S^fgen,  nid^t  bie  gro^e 
2:atfad)e  ber  bie§feitigen  unb  jenfeitigen  93ergeltung  unb  bie  ©r-- 
!enntni§  ber  emigen  organifd)en  ©efe^e,  bie  bie  (Sntroidfelung  be§ 
SWenfdien  ju  einem  guten  ober  böfen  3icl  mit  eherner  5otflcri(^tig* 
feit  beftimmen,  t)eben  an  unb  für  fid)  fc^on  ben  9Kenfd)en  au8 
bem  93anntrei§  feines  3Befen§  ^rauS.  Unb  gerabe  bie  le^te,  ju* 
treffenbfte  ©etrad)tung  be§  üWenfc^enbafeins  unb  *Sofe§  fann 
i^m  nur  über  fein  ©tenb  bie  3Iugen  öffnen  (pgl.  ©d)rempf§ 
„3Jienfc^enlo§" :  „ic^  lebe  nid)t,  i^  merbe  gelebt"),  fo  ba|  er 
baüor  erfd)ridtt  mie  oor  bem  gorgonifd)en  Raupte.  5)ie  Summe 
biefer  elementaren  ©efe^e  beS  9}lenfc^enleben§  t|at  Dielleic^t  nic= 
manb  präjifer  unb  martiger  auf  ben  Sluöbrucf  gebradjt,  al§  ber 

l)  a?gl.  II.  a.  barin  folgciibe  @tcßc  (3.  112):  „^ai  ift  bic  Qxo^t  @c= 
reditigfcit  ber  6d)öpfinig,  baß  icbcv  fid)  bic  JBcbinfltmßcn  feine«  jufunftigcn 
©ein«  felbft  fd)afft.  2)ic  ^anblimgen  merbcn  bem  9}?cufd)en  nid)t  burd)  äufjcr« 
lidjc  Selo^mmgcu  ober  (Strafen  üergolten  . . .  jenad)bem  ber  ü}lenfd)  gnt  ober 
fd)Ied)t,  ebcl  ober  gemein  gefeanbelt,  fleißig  ober  nnifeig  gewcfcn,  wirb  er  im 
folgenben  ßeben  einen  gefnnben  ober  franfcn,  einen  fdiönen  ober  ^ä6Iid)en, 
einen  ftarfen  ober  fd)tüad)en  Organiömn*  aU  fein  (S'igeutnm  finben"  2C. 


©erjog:  ^e\ui  al§  ^rebiger.  67 

^^5()iIofop^  ®mcr[ou,  wenn  er  in  feiner  Schrift  „2)ie  ^ü^li-'ung  be^ 
Seben§"  (Derbeutfd)t  oon  aWü^Iberg,  Seipsig  1862,  ©.  166)  t)on 
bem  3w[aninten^ang  be§  irbifd)en  unb  be§  jenfeitigen  Sebeng  be§ 
SKenfd^en  rebct  u.  u.  a.  fagt:  ®ie  üJlenfc^en  würben  mand)mal 
frol^  fein,  „ft^  ber  ©ürben  unb  ^flict)ten  best  SebenS  entlebigen 
ju  fönnen.  3lber  x^x  raeifeS  ©eroiffen  fragt:  ,SBas;  würbe  ber 
2:ob  bir  Reifen?'  5)urc^  ben  2:ob  werben  fie  nic^t  befreit,  fie 
bürfen  au§  ^\xxä)t  ben  2:ob  nic^t  roünfc^en.  5)ie  aBud)t  bes 
ganjen  Uniuerfunig  ru^t  auf  ben  ©djultern  jebe^ 
moralif^en  3»»i>ioil>uum§  unb  ij&lt  il)n  feft  an  feine 
2lufgabe  gefrf)miebet .  .  .  6uer  33äerf  mu^  getan  werben,  beüor 
e^  oon  eud)  genommen  wirb". 

35iefer  Jatbeftanb  ruft  nur  um  fo  bringenber  nad^  einer 
anbern  S3otfd)aft,  nad^  einem  ©oangelium,  ba§  met|r  bringt 
al§  nur  eine  93eftätigung  unb  (^ubem  oerfd)ärfte)  2lu§legung  ber 
in  bie  3Wenfc^enbruft  gef^riebenen  ©efe^e. 

c)  3efu§  bringt  etwa§  burd)au§  yieue^,  er  bringt  ba§ 
SR  e  i  d^  @  0 1 1  e  §  mit  folc^en  SJlotioen  unb  Ouietioen,  bie  im 
©tanbc  fmb,  oermöge  i^reä  überragenben  SBerte§  bie  f^on  ge- 
gebenen in  fic^  auf june^men  unb  abjulöfen,  nad^bem  fie  il^ren  o  o  r- 
bereitenben  S)ienft  getan  ^aben.  33äo^l  nel)men  biefe  eine 
relatioe  Selbftänbigfeit  ein,  infoferu  burd|  if)re  53e^erjigung  in 
etl)ifc^er  ©ejie^ung  3^^)*  ^^^  Drbnung  in  ba§  ®efüge  be§  menfd)* 
liefen  ©eelen{|au§^aU§  fommt  unb  in  religiöfer  ber  fefte  ^alt  eine? 
trangjenbenten  ®Iauben§  bargeboten  wirb,  aber  anbererfeit§  ftnb 
ftc  in  fid)  felbft  ju  o^nmöc^tig,  um  ben  3Kenfd)en  über  feinen  3»- 
ftanb  ^inau§  unb  emporjut)eben,  fie  finb  9Jlotioe,  aber  noc^  feine 
lebenbigen  SWotoren,  fie  finb  mel^r  ein  ©oII,  aU  ein  ^aben. 

S)afür  bringt  ^efu§  in  feiner  Sßertünbigung  be§  9teid)e§ 
@otte§  ober  ber  @otte5^errfd)aft  ein  l)öc^fte§  ®ut.  3)arum  ift 
biefer  Segriff  ber  SWitteU  unb  Rrr|ftaUifation§puntt  feiner  ^rebigt, 
bem  alte  anberen  3Jiotioe  bienftbar  gemad)t  werben.  S)ie  wid)= 
tigften  ÜWomente  be^felben  werben  wir,  ot)ne  weitere  biblifc^-4^eo* 
logifc^e  93egrünbung  bafür  beibringen  ju  muffen,  in  golgenbem 
ertennen  bürfen: 

1.  ®inmat  wirb  in  i^m   juattererft   ein  ®ut,  eine  ®abt 


58  6  e  r  5  0  g :  3cfw§  öl§  ^^Srebigcr. 

bargeboten,  nic^t  eine  gorberung  geftellt,  ein  I|öc^fte§  ®ut  ba§ 
burc^  feinen  eigenen  SDBert  anjie^t  unb  im  ©tanbe  ift,  relatioe, 
niebrige  ©üter  auSjuIöfen,  gefd^roeige  oerte{)rte,  ffinbige  S^ricbe 
unb  93eit)eggrünbe  au§}ufto§en.  3)a^er  net)men  bie  ^icrau§  ge» 
fd)öpften  SD^otioe  g.  X,  ooBftänbig  antit^etif^e  formen  an:  „roev 
fein  Seben  erl^alten  roiö,  ber  wirb  e§  verlieren"  2C. ;  „wer  93ater 
ober  SWutter  ac.  mel^r  liebt  benn  mic^,  ber  ift  meiner  ni(f)t  wert", 
unb  ftellen  ba§  aut-aut  in  ber  benfbar  fc^ärfften  2:onart,  Sut. 
9r>7ff.,  ober  forbern  eine  ©ntfd^eibung  auf  ber  ©teile  (SWatt^. 
19  21  ff.),  ügt.  öud^  bie  fd)arfe  Slntroort  an  ben  SWann,  ber  fein 
@rbe  nid|t  fatiren  laffen  rooHte.  3)iefe  f)crben  9lufforberungen 
mären  eigentlich  eine  ©raufamfeit,  menn  nirf)t  ba§  bärge- 
botene  @ut  in  einer  für  jeben  el^rlirfien,  nacf)benfenben  unb  fucf|en= 
ben  2Jlenf(^en  einleudjtenben  SBeife  feinen  alle§  überragenben  SBert 
befäge  unb  bemiefe.  Se^tere^  gefcl)ie^t  benn  aud)  tatfäd^lic^^ 
b.  i),  burc^  ÜEatbemeife,  meld)e  bie  SSertünbigung  unb  jumal  bie 
SJla^nrebe,  ben  ^mperatio:  „2lenbert  euren  @inn",  befmnet 
eud^  um,  erft  triftig  machen :  ba§  ^immelreid)  i  ft  ^erbeige* 
fommen,  @ott  ift  mit  feiner  Kraft  unb  mit  feinem  |)eiie  jur 
Stelle.  S)a§  bemeifen  bie  SUiadjtmirtungen  3efu  über  alle  S)ä' 
monen  unb  all  ba§  oielgeftaltige  innere  unb  äußere  ®lenb,  ba§ 
auf  ber  3Renfd)l|eit  laftet.  ^lai)  aWattt).  12  28  ff.  fott  bag  Sßolt 
felbft  barau§  ben  @d)lu^  jie^cn,  ba§  ba§  SReid)  ®otte§  über  e§ 
gekommen  fei.  3)iefe§  SWoment  be§  Satfäc^lidjen,  ba§  bie  eüan- 
gelifc^e  95er!ünbigung  trägt  unb  red^t  eigentlich  begrünbet,  !ann 
uid)t  micf)tig  genug  genommen  werben,  ^^r  eoangelifc^er 
©fiarafter  t)ängt  ju  allen  3^iten  ganj  unb  gar  eben  boran. 
„9ticl)t  in  2)ienften,  Opfern  unb  ©elübben,  bie  @ott 
oon  ben  SJlenfc^en  forbert,  befte^t  ba§  ®e^eimni§  ber  d^rift* 
liefen  ©ottfcligfeit,  fonbem  oielmelir  in  93  e  r  ^  e  i§  u  n  g  e  n,  @  r* 
fütlungen  unb  2luf  opfern  n  g  en,  bie  @ott  jum  53eften 
ber  9Äenfct)en  getan  unb  g  e  l  e  i  ft  e  t ;  nicl)t  im  oornel)mften 
unb  größten  ®ebot,  ba§  er  aufgelegt,  fonbem  im  ^ö^* 
ften  ®ut,  ba§  er  gef  c^en!  t  f)at;  nid^t  in  ©efe^gebung 
unb  (Sittenlehre,  bie  blo§  m  e  n  f  c^  l  i  d)  c  ©efmnungen  unb 
^anblungen  betreffen,  fonbern  in  3lu§fül)rung  göttlicher  Jäten, 


6  c r  5  0 0:  S^fwS  a(§  ^rcbiger.  59 

SQ8cr!c  imb  Slnftaltcn  jum  ^cil  her  ganjen  2Be(t".  —  2)iefe§ 
«affifc^e  SBort  i)amann^§  (S^riftcn  üon  ^otf)  VU,  58)  lä&t 
Mar  unb  frfjarf  bcn  2!on  ^croortreten,  auf  ben  jebc  SSertünbigung 
geftimmt  fein  m\i%  bic  aU  eüangclifd)  unb  bcm  SBorbilb  ^efu 
cntfpred)enb  gelten  loiH! 

2)  3)iefe§  bargebotene  ®ut  ift  ebenbarum  ferner  ein  nic^t 
nur  tran^jenbenteg,  fonbern  ein  immanente^;  ba§  9teic^  ®otte§ 
nid)t  nur  ein  jenfeitiger  Ort  Iiimmlifc^er  ^errlid)teit,  fonbern  ein 
^crrfc^aft^gebiet  be§  geiftigen  ®otte§  in  ben  9Jlenf(^en,  bic  fic^ 
if|m  anoertrauen.  3)amit  ift  gegeben:  loer  ju  i^m  gehört,  b.  i). 
roer  glaubt,  ber  ift  fc^on  gerettet  oon  bem  fonimenben  @erid)te. 
3!)a§  ^eil  ift  ein  g  e  g  e  n  ro  ä  r  t  i  g  e  §. 

Unb  bie§  ift  e§  roeiter  baruni,  weil 

3)  ba§  3f?eid)  ®otte§  ein  ®nt  p e r  f  ö n li dje r,  f  i  1 1 1 i  d) er 
2lrt  ift,  ni(^t  etroaS  fpröbe§  2leu§ere§,  fonbern  etroaS,  n)a§  un= 
mittelbar  in  ben  SWenfc^en  einget)t ;  nict)t  etit)a§,  voa^  mittelbar 
it)n  beftimmt  al§  So^n  ober  SSergeltung,  fonbern  birett  i^n 
beeinflußt  burrf)  feinen  inneren  SBert.  S)a§  SWotio  jum  ®uten 
liegt  in  ber  Äraft,  in  bem  ®eifte,  in  ber  §errfcl)aft  @otte§  felbft. 
„®ott  treibt  Iieroor,  n)a§  er  in  bem  3Äenfd)en  fd^affen  roiU".  35a 
mirb  bie  ^örmel  jur  Söaftrl^eit:  „Da  quod  jubes  et  jube  quod 
Tis«.     (91.  a.  O.  ©.  11  f.) 

Unb  roeil  e§  ein  perfünlid)e§  ®ut  ift,  nid)t  eine  ©ac^e,  aud) 
nic^t  ein  ©ijftem,  fei  e§  oon  2Baf)r^eiten,  fei  e§  oon  3^fiäi^ö^"/ 
fo  tritt  fofort  bie  53ebeutung  ber  'ißerfon  ®l)rifti  Iieroor.  2)a§ 
9flei(^  ®otte§  ift  —  urfprünglid)  angef(^aut  —  er  felber. 
Qn  i^m  ift  c§  ba.  Xai)tx  liegt  am  ®lauben,  an  bem  Qmq  ju 
i^m,  ber  @t)mpatl|ie  mit  i^m  atte§.  „S)a§  Seben  ber  Seele  ift 
feine  ©ad^e,  feine  ©ad)e  ift  ®otte§  (Baöi)^  unb  bie  ^auptfac^e 
in  ber  28elt  —  bie  Sriebfebern  ber  g^rc^t  unb  ber  fiolinfud)t 
werben  mc^r  unb  mef)r  au§gefd)attet,  „bie  innere  ©gmpat^ic  mit 
bem  @ut  unb  bcn  ^erfonen,  bie  c§  bringen  (b.  f).  junäc^ft  mit 
3efu§,  „ber  Ursellc",  mie  einmal  Sagarbe  i^n  nennt  —  unb  fo= 
bann  mit  benen,  bic  fid)  an  it|n  angegliebert  t)a6en),  ift  ber  2tn= 
fnüpfung^punft  im  ©treben  unb  gü^len  ber  ©eelc"  (?liebergall 
a.  a.  O.  ©.  13).    2)al)er  tritt  ba§  per f online  SJloment  im 


60  ©  c  r  a  0  g :  9[efu«  al§  ^rebiger. 

a5crttaucn§üerl^ältm§  ju  Qefu§,  bcm  SBringcr  be§  9teicl)e§,  bem 
Icbcnbigen  SBürgen  bafür,  ba§  es  ba  ift,  fo  tietoor,  ba§  bcr  ©taube 
an  i^n  fd)on  auf  feiner  elementaren  ©tufe  fo  oiel  roagt  unb  fo 
oiel  oermag,  forool^t  in  ber  Slic^tung  auf  ba§  ^eit  ba§  er  bringt 
für  Seib  unb  ©eele  (ügl.  ba§  blutflüfpse  SOSeib  2nt.  9  20 ff.,  ben 
®id)tbrü^igen  unb  feine  3:räger  2Wt.  9  1  ff.  —  anbercrfeitö  bie 
gro^e  ©ünberin  Sut.  Tseff.),  aU  in  ber  et^ifd&en  9lic^tung  auf 
bie  gorberungen,  bie  er  ftetlt  ("üJlt.  19 27 ff.:  „wir  tiaben  alle^ 
oerlaffen  unb  fmb  bir  nachgefolgt").  ^Jlan  nimmt  9)ia^ftäbe  an 
unb  3Äotioe  in  fic^  auf,  bie  bem  gemöl^ntic^en  SRäfonuement 
fd^nurftrarfg  n)iberfprerf)en  unb  bie  ©runbfa^e  ber  3Q3elt  auf  ben 
Äopf  ftetten  (aJiatt^.  18iff.  u.  a.  St.).  3)arau§  gel)t  weiter  ^er:= 
üor,  ba|,  um  biefe  fid)  anjueignen  unb  folc^en  (Sefinnung^mec^fel 
ju  Dotläie^en,  bie  SReffeyion  meber  nötig  ift,  nod)  jurei^t;  nur 
bie  21  n  c  m  p  f  i  n  b  u  n  g ,  ba§  e§  f 0  etma^  gibt,  mie  ba§  Sieic^ 
@otte§  e§  ift,  unb  ba^  e§  in  Qefu  ba  ift,  man  nenne  e§,  roie 
man  miß,  am  beften  mit  ben  SSJorten  be§  ^^aulu§:  „®ered)tigteit, 
triebe  unb  g^reube  im  1^1.  (Seifte",  ift  ba§  ©ntfc^eibenbe.  §ier 
^ört  ba§  53egreifen  unb  öemeifen  mit  Sßerftanbesfgrünben  auf: 
I)ier  ift  au6)  ber  ^un!t,  an  ben  fic^  mit  einem  Scheine  oon  öe* 
red)tigung  bie  mi^oerftänblidje  S)eutung  be§  8Borte§  uom  „®e* 
fangenne^men  ber  SSernunft  unter  ben  ®et)orfam  (Jf)rifti"  (2.  (£or. 
10  o)  ^eften  fann. 

4)  SDa^er  lä^t  fid)  fc^lie§lic^  i>a§  ijo\)t  @ut  be§  »Jeirf)es; 
®otte§  auc^  !onfret  bejeidjnen  al§  perföntic^e  ®cmein* 
fd^aft  mit  ©l^riftu^  unb  burd)  it|n  mit  @ott  (ügf .  1  ^oi). 
liff.).  3)e8^alb  fe^rt  bie  g^tmel  immer  mieber:  „um  meinet? 
mitten"  ober  „ber  ift  mein  nid)t  mert",  ober  „mer  mic^  betennet  2c.". 
3)iefe  SWotioe  alternieren,  aU  in  concreto  gleid^bebeutenb,  mit 
ben  ba§  SWeic^  ®otte§  betreff enben  unb  nennenben :  „%xa6)ttt  am 
erften  nac^  bem  Steid)  ®otte§  2c."  u.  a.  3)amit  treten  bie 
a  II e  r  i)  ö  d)ft  e  n  ÜÄotioe  in  Kraft,  bie  3ug^t)örigteit  }u  i^m  unb 
jur  gamilie  ®otte§,  bie  ®otte§finbfd)aft  unb  ibr  2lbel" :  „euer 
l^immlifd^er  9Sater":  fo  wirb  ®ott  genannt  unb  bie  @otte§Knber 
werben  erinnert :  „i^r  foHt  barmti^rjig  {na^  Sufa§),  ja  o  0  11  = 
6  0  m  m  e  n  (nac^  SJlattt).)  fein,  roie  euer  95ater  im  ^immet  ooU* 


§cr,3  0ö:  3cfu5  a(§  ^rebigcr.  61 

tommen  ift".  3ln  biefc§  ert)abciifte  ®f|rgefüt|(,  baS  [ic  alg  „Riubcr 
be§  3tfler^öc^ften"  fjaben  foUcn,  wirb  aud)  appelliert  bei  ber  3Wa^* 
nung  jur  Seinbe^Uebe,  ßut.  6  3.1.  Noblesse  oblige.  2)a§  ®c^o 
biefer  in  bic  ©eefc  ber  3>ün8^^  ^ineiugefentten  ^riüitegien  unb 
ber  barauö  enoac^fenben  'i]8flict)ten  ^atlt  nn^  beutlidj  entgegen  in 
3eugniffen,  wie  2.  ^etr.  1 3  ff.  (fl-eia^  xotvcDvot  cpiaews).  — 

@§  ift  oon  größtem  Qntereffe,  biefe  fo  oie(fad^  abgeftuften 
aWotiüe,  mit  benen  Qt]uä  an  ben  ©eelen  geioirtt  t|at,  ju  unter* 
f cf)eiben,  ju  oerg(eirf)en  unb  ju  f e^en,  wie  fie  ineiuanber  gearbeitet  * 
iDorben  finb.  SEBie  bie  juerft  befdjriebenen  (überfomincnen)  frag^» 
mentarifd)en  SWotioe  rationaler,  ett)ifc^er  unb  religiöfer  2lrt  einer- 
feit§  ju  üoHer  ©eltung  unb  3lu§n)irtung  tommen,  fo  luerben  fie 
anbererfeit§  biefen  legten,  ^öc^ften  ®efid)t^punften  b  i  e  n  ft  b  a  r 
gemadit,  fo  ba§  fie  in  bcm  Oeneratnenner  be§  9leid)e§  ®otte§ 
reftlo§  aufgeben. 

2lu§  bem  gegebenen  Ueberblid  lä^t  fic^  aud)  fc^on,  n?a§  ben 
oorbilbUc^en  3Q3ert  ber  ^^rebigt  Qefu  betrifft,  eine  breifac^e  ^^l* 
gerung  für  unfere  Sätigteit  jiebeu.  Einmal:  e§  l)anbelt  fid) 
bei  it|r  junäc^ft  um  eine  möglid)ft  roeitl)erjige  unb  «blirfenbe 
95errocrtung  aller  SBal^rtieit^momente  be§  oielgeftaltigen  ÜWenfc^en» 
leben§,  um  bie  ^nanfprud^na^me  ber  aSernunftgrünbe  unb  fittlid)- 
religiöfen  Jriebtrafte  überliaupt.  ©obann  tianbelt  e§  fic^  um 
eine  jielben)u§te  erjie^erifdie  ^erau§arbeitung  unb  Suggeftion  ber 
^öc^ften  SWotioe,  bie  fid)  um  ben  jentvalen  Oebanfen  be§  9ieid)e§ 
@otte§  gruppieren.  3)ie§  aber  ift  b  r  i  1 1  e  n  §  nur  bann  mög^ 
lic^  unb  erfpriejjlic^,  menn  ber  ^^Jul§fd)(ag  ber  perfönlid^eu  33e^ 
jie^ungen,  b.  i).  ber  ©emeinfc^aft  mit  Qefu^  unb  Oott,  im  ^^re= 
biger  lebenbig  unb  fo  im  Staube  ift,  auf  bie  |)örer  anregenb  unb 
anjielienb  ju  mirten,  in  fie  überjuge^en  unb  ba§  entfpred)enbe 
^ntereffe  ju  roeden.  3)a§  mir  gerabe  in  Unterer  53ejiet|ung  unter 
ber  9lad)n)irfung  eine§  oielfac^  intelleftualiftifc^  beftimmten  unb 
barum  oertürjten  ®^riftentum§  fc^rocr  ju  tragen  \)abtn  unb  in« 
folge  beffen  an  einem  empfinblic^en  3)efijit  leiben,  loirb  fic^  im 
folgenben  ergeben. 

3)a|3  unb  in  melc^er  SQBeife  biefen  3WotiDen  in  i^rem  abge« 
ftuften  ®emid)te  bie  entfpred^enben  Quietine,   b.  l).  33eru^i' 


60  ©  e  r  3  0  g :  3|cfu«  al3  ^rebigcr. 

aScrtrauen§ücr]^ättni§  ju  3^fu§,  bcm  Sringcr  be§  Sftcic^e§,  bcm 
Icbenbigcn  53ürgcn  bafür,  bag  c^  ba  ift,  fo  ^croor,  ba|  ber  ©laube 
an  it|n  fd)on  auf  feiner  elementaren  Stufe  fo  üict  roagt  unb  fo 
Diel  oermag,  foroo^I  in  ber  Stiftung  auf  t>a^  ^eil  ba§  er  bringt, 
für  Seib  unb  ©eele  (ogl.  ba§  blutflüffige  SOSeib  a»t.  9  20  ff.,  ben 
©ic^tbrüc^igen  unb  feine  2;räger  9Jlt.  9  1  ff.  —  anbererfeit§  bie 
gro|e  ©ünberin  Sut.  Tseff.)/  aU  in  ber  et^if^en  9?id)tung  auf 
bie  gorberungcn,  bie  er  fteHt  (3Jlt.  19  27  ff.:  „wir  l^aben  aUe§ 
oerlaffen  unb  fmb  bir  nad^gefolgt").  SWan  nimmt  9Kagftäbe  an 
unb  SKotioe  in  fid)  auf,  bie  bem  geroötinlic^en  Släfonnement 
fci^nurftradf§  n)iberfpred)en  unb  bie  (Srunbfa^e  ber  SBelt  auf  ben 
Sopf  ftellen  (SÄatt^.  18iff.  u.  a.  ©t.).  2)arau§  get)t  weiter  ^er* 
t)or,  ba§,  um  bicfe  fic^  anjueignen  unb  foId)en  ®efinnung§roec^fe( 
ju  Doßjie^en,  bie  Sfleffeyion  meber  nötig  ift,  nod)  jurei^t;  nur 
bie  9t  n  e  m  p  f  i  n  b  u  n  g ,  ba|  e§  fo  etma^  gibt,  mie  ba§  Sieic^ 
®otte§  e§  ift,  unb  bag  e§  in  3^efu  ba  ift,  man  nenne  e§,  mie 
man  mitt,  am  beften  mit  ben  SBorten  be§  'ißauluS:  „@ered^tig!eit, 
triebe  unb  ^reube  im  i)\.  ®eifte",  ift  ba§  ©ntf^eibenbe.  ,^ier 
Ijört  ba§  93egreifen  unb  33en)eifen  mit  9Serftanbe§grünben  auf : 
^ier  ift  au^  ber  ^unft,  an  ben  fic^  mit  einem  ©ctjeine  oon  ^c* 
red)tigung  bie  mi§üerftänblid)e  Deutung  be§  2Borte§  üom  „@e* 
fangenne^men  ber  Vernunft  unter  ben  ®e{)orfam  ®f|rifti"  (2.  ©or. 
10  5)  heften  fann. 

4)  ®a^er  lägt  fid)  fd|lie&tic^  ba§  f)o^e  ®ut  be§  $Reic^e§ 
®otte§  auc^  tonfret  bejeic^nen  aU  perfön lic^e  ®emein  = 
fc^aft  mit  6^riftu§  unb  burd)  i^n  mit  ®ott  (ugl.  1  ^o^. 
liff.).  3)eS^aIb  fet)rt  bie  gotmel  immer  roieber:  „um  meinet? 
mitten"  ober  „ber  ift  mein  nic^t  roert",  ober  „roer  mic^  befennet  2C.", 
5)iefe  3Jlotioe  alternieren,  aU  in  concreto  gleic^bebeutenb,  mit 
ben  ba§  9Jeid)  ®otte§  betreffenben  unb  nennenben :  „2:rad)tet  am 
erften  nac^  bem  9teid)  ®otte§  2c."  u.  a.  35amit  treten  bie 
a  II e  r  ^  ö  d(ft  e  n  Sölotioe  in  ^raft,  bie  3"9^l)örigteit  ju  il^m  unb 
jur  gamitie  ®otte§,  bie  ®otte§finbfd)aft  unb  it)r  2lbel" :  „euer 
]^immlif(^er  9Sater" :  fo  roirb  ®ott  genannt  unb  bie  ®otte§Einber 
loerben  erinnert:  „i^r  foltt  barmli^rjig  (nac^  Suta§),  ja  ooIl  = 
f  0  m  m  e  n  (naä)  3Äattl).)  fein,  mie  euer  SSater  im  ^immel  ooU= 


$er,5og:  ^efuiS  a(§  ^^rebiger.  61 

fommcn  ift".  2ln  blefe§  crfiabcnftc  ©tivgefü^I,  ba§  fic  al§  „Äiubcr 
bc§  2lBer^öd^ftcn"  l^aben  foKen,  roivb  aud)  appelliert  bei  ber  50la]^=' 
nung  jur  5^inbe§licbc,  Sut.  6  a:,.  Noblesse  oblige.  3)a§  @c^o 
biefer  in  bic  ©eelc  bcr  jünger  ^ineiugefentten  ^rioilegien  unb 
bcv  barau§  evmac^fcnben  ^^Jflic^ten  ^allt  un§  beutlid)  entgegen  in 
3^ugmffen,  wie  2.  5ßetr.  Isff.  (S-efa;  xotvwvoc  cpOaea);).  — 

®§  ift  oon  größtem  Qntereffe,  biefe  fo  oielfad)  abgeftuften 
SKotiüe,  mit  benen  ^t\\x^  an  ben  ©ecten  geroirft  i)at,  ju  untere 
fd)eiben,  ju  oergIeid)en  unb  ju  fc^en,  wie  fie  ineinanber  gearbeitet  * 
lüorben  finb.  SEBie  bie  juerft  befrfiriebenen  (überfommenen)  frag« 
mentarifcl)en  SWotioe  rationaler,  ett)ifc^er  unb  religiöfer  3lrt  einer= 
feitö  ju  üoUer  ®eltung  unb  2tu§n)irfung  fommen,  fo  werben  fie 
anbererfcit§  biefen  legten,  ^öd^ften  ®efict|t^punf ten  b  i  c  n  ft  b  a  r 
gemalt,  fo  ba§  fie  in  bem  ©cueratnenner  be§  9Jeic^e§  ®otte§ 
rcftIo§  aufgeben. 

2lu§  bem  gegebenen  Ueberblicf  lä^t  fidi  aud)  fd)on,  tt)a§  ben 
oorbilblic^en  3Q3ert  ber  'i^Jrebigt  Qefu  betrifft,  eine  breifac^e  ^oU 
gerung  für  unfere  Xätigteit  jieben.  @  i  n  m  a  l :  e§  l)anbelt  ftd) 
bei  i^r  junäc^ft  um  eine  möglid)ft  roeit^erjige  unb  ^blidenbe 
95ern)ertung  aller  9Ba]^rt)eit§momente  be§  oielgcftaltigen  9Jlenfd)en* 
lebend,  um  bie  ^nanfpruc^na^me  ber  93ernunftgrüube  unb  fittlic^= 
religiöfen  Sriebfräfte  überl^aupt.  ©obann  ^anbelt  e§  fi^  um 
eine  jielberoujste  erjiet|erifd)e  ^erau^arbcitung  unb  Suggeftion  ber 
l)öc^ften  SWotioe,  bie  fic^  um  ben  jentvalen  ©ebanfen  be§  9iei(^e§ 
®otte§  gruppieren.  3)ie§  aber  ift  b  r  i  1 1  e  n  §  nur  bann  mög^ 
lid)  unb  erfprie^tic^,  roenn  ber  ^ßul^fdjlag  ber  perföntid|en  93e* 
jie^ungen,  b.  l).  ber  ®emeinfd^aft  mit  <3^fu§  unb  @ott,  im  ^]Jre= 
biger  tebenbig  unb  fo  im  ©taube  ift,  auf  bie  |)örer  anregenb  unb 
anjiel>enb  ju  mirlen,  in  fie  überzugeben  unb  ba§  entfprec^enbe 
^ntereffe  ju  medten.  ®a^  mir  gerabe  in  Unterer  93ejie^ung  unter 
ber  Sla^roirfung  eine§  oielfac^  intelleftualiftifd)  beftimmten  unb 
barum  oertürjten  S^riftentum§  fdiroer  ju  tragen  ^aben  unb  in* 
folge  beffen  an  einem  empfinblic^en  3)efijit  leiben,  mirb  fic^  im 
folgenben  ergeben. 

3)a6  unb  in  meldier  SBeife  biefen  ajJotioen  in  i^rem  abge- 
ftuften ®en)id)te  bie  entfprec^enben  Quietioe,   b.  l).  Serut)i* 


62  §^^500:  Scf u§  al§  ^rebigcr. 

guugggvünbe,  juv  Seite  ge^en,   bebarf  feiner  weitläufigen  2lu§= 
füf)rung.  S)od|  ift  e§  nid)t  überflüffig  unb  nid)t  unroefentlici^,  auf 
bie  ®efaf(v  ^injuroeifcn,  bie  fo  naheliegt:  ber  Christus  con- 
solator  iptrb   oft  perjeic^uet   unb  ^efu§  jum  2:röftev 
im  gen)öt)nlid)en  laubläufigeu  Sinne  be§  SEBort§  in  unb  gegenüber 
ben  liebeln  unb  Seiben  in  bei  Söelt  gemad)t.   5)ie  SRic^tigfteßung 
biefer  Sfuffaffung  unb  bie  ridjtige  SJerwertung  ber  2:roftgebanten 
aber  gewinnt  man  unfc^roer,  roenn  man  ben  3^«tralgebanfen  be§ 
SReidieg  @otte§  jum  bet|errfd)enben  @eficl)tspunft  nimmt,  unb  jroar 
in  ber  gaujen  güüe  feiner  Sejie^ungeu.    3iad)  jmei  (Seiten  ^in 
überbietet  biefe^    ^ödifte  Quietio    ba§  gemö^nlic^e   9Uoeau 
ber  2iroftgebanten,    worauf   bie  SJtenfcben   2(nfpruc^  ju  madjen 
pflegen.    @  i  n  e  r  f  e  i  t  §  ^at  e§  S^fu§  "icf)t  nötig,  oiele  SBorte 
beö  3ufV^uc^§  unb  Jroftgrünbe  gegenüber  ben  gegebenen  Uebetu 
unb  (Sc^merjen   be§  3)aiein§  einfc^lie^licl)  be^  2:obeslofe§  aufju* 
loenben,  au§  bem  einfachen  ®runbe,  weil  er  über  bie  2:ateu|prac^e 
ucrfügte  unb  mit  ber  fiegreic^en  |)ilfe  auf  ben  ^lan  trat.   ©5  ift 
un§  l^iemit  ein  äöinf  gegeben,   roiefern  roir  in  ben  oielberufenen 
unb  oerrufenen  S8erfurf)en  ber  @ebet§=  unb  Slrantenbeilungen  un= 
ferer  3ßit  nur  eine  Äaritatur  oon  urfprfinglid)  bered)tigten,  b.  i). 
in  bem  ootlen  ©oangelium  oom  9teic^e  @otte§  begrünbeten  ®e= 
bauten  unb  ^^Softulaten  (ogl.  SKattb.  4 12  ff.)  ju  fe{)en  ^aben.    3Jlau 
barf  auc^,  obne  ber  ©efa^r  ber  @d)wärmerei  fid)  au^jufe^en,  ge* 
rabe  im  ©egenfa^  gegen  bie  oft  fo  meic^lidien,  bem  ©ebanfen 
be§  ewigen  Seben^  im  ©inne  ^efu  fo  ganj  unb  gar  nid)t  nac^ 
;3n^alt  unb  Umfang  gered)t  werbenbeu  „Stimmen  be§  Srofte§  an 
ben  ©räbern"  ber  (Jt)riflen  eine  wichtige  Erinnerung,  bie  fi^o^fq 
in  feinem  33ud)e  „Seben  unb  Sffiat)rl)eit"  (2.  Slufl.  ®.  133  ff.)  gibt, 
nid)t  üon  ber  ^anb  weifen,  wenn  er  u.  a.  fagt :  „Unter  un§  gibt§ 
ajlillionen,  bie  bem  Jobe  ungemeffene§  Stecht  ju|pred)en,  fogar 
eine  gewiffe  Sßeref)rung  jollen.    ^a  ba«;  ©c^merjtic^fte  ift  eigent* 
lid|,  ba^  fogar  t>a^  ganje  S;un  <3efu  ©b^'ifti/   ben  man  al§  Stuf* 
erftanbenen,   alfo   boc^   Sefieger  un|ere§  (Jrbfeinbe§,  be§  Sobeö 
preift,  in  bem  2)enfen  oieler  ÜWenfi^en  barin  aufgebt,  in  t>a§  ein* 
mal  unoermeiblid)e  Sobegfcbidffal  eine  freunblic^e  .^offnung  ein* 
gewoben  iu  l^aben  ober  eine  9Jlöglid)teit  ru^ig  ju  fterben  gefd)affen 


^eräog:  S^fwö  al§  ^rcbigcr.  63 

ju  ^abcn,  wenn  and)  in  fe^r  bc)ct)ränftcm  Umfange.  3)ic  ®aä)^ 
3e)u  (S^rifti  eine  Sterbegetegen^eit!  D  bu  fd)WQrie  3la6)t  ber 
gtnftcrniS !  .  .  .  3efn§  ift  baS  Sebcn  unb  \jat  mit  bem  2:obc  fc^(ed)t-- 
^in  feine  @emeinfrf)aft"  2c. 

SBe^ält  man  bie  ganjc  %üüz  be^  ^cgriffig  be§  9leid)e§  ®ottesi 
ober  ber  @otte§^err)d|aft  im  Sluge,  f o  mirb  auc^  nad^  einer  a  n- 
b  c  r  c  n  ©eite  t|in  üerftänblid),  mie  fe^r  bie  Jroftgebanten  Qefu  bie 
gemöt)nUc^en  33ebürfniffe  überragen:  fie  nehmen  Überwiegenbeine 
anbere  J^ontfteQung  ein,  a(§  biejenige  gegenüber  ben  liebeln  be§ 
3)aiein§  unb  richten  fid)  in  e  r  [t  e  r  Sinie  gegen  bie  9tot  ber  ©ünbe 
unb  ber  'Scf)u(b,  Don  ber  ber  SWenfd)  burd)  bie  SBergebung  unb 
bie  ftinbegfteöung  5u  @ott  befreit  wirb  —  ber  ganje  3Jlenfc^  ift 
auf  eine  neue  Stufe  be^  fieben^  oerfe^t  —  cbenbarum  aud)  gegen 
bie  Saft  ber  gefetjlic^en  Jrömmigteit  (9Rattt).  11  ©(^lufe)  unb 
gegen  ben  ©orgengeift,  ber  bem  Äinbe  @otte§  nid)t  me^r  anftel)t, 
ja  red)t  oerftanben  jur  3laturunmöglic^feit  roirb  (9)ktt^.  6  25  ff . : 
in  ber  Jragc:  @eib  i^r  benn  nid)t  niehne^r  benn  fie?  finb  al« 
©ubjett  nic^t  bie  SWenfc^en  fc^Ied)tt)in,  fonberu  bie  ftinber  be^  ^imm- 
lifc^en  aSaterg  ju  oerfte^enj.  Sbenbarum  richtet  fid)  ber  Jroft 
unb  3wfpruc^  ^z]\x  befonber§  ^äufig  auf  ben  3)rucf  ber  33er:: 
folgungöteiben,  bie  um  feinet*  unb  um  be§  9leid)e§  @otte§  witlen 

feine  -3ö»9C^'  treffen. 

@S  ergibt  ftc^  aud)  ^ierau^,  wie  im  @ute  be§  91  e  i  c^  e  6 
@  0 1 1  c  ^  bie  Quietioe  i^re  @inf)eit  finben.  ^ieoon  gilt  bud)= 
ftäblic^  ba§  Siebermort :  „(Srtang  id^  bie§  Sine,  ba^  alle§  erfe^t, 
fo  roerb  id)  mit  einem  in  allem  ergoßt".  Unb  ebenfo  ergibt  fic^, 
baß  im  Snittelpuntt  beS  Srofte§  er  fei  ber  ftel)t,  SWattt).  11  ^s. 

3.  Qm  3Infd)luffe  an  ba§  ©efagte  befommt  barum  bie  S^age 
ebenfowo^l  ein  befonbere^  ^fntereffe,  al§  eine  geroiffe  @d)n)ierig' 
feit:  wie  fte^t  e§  mit  ber  'ißerfönlic^feit  ^efu  be§  ^rebigerg  felbft? 
SBiefern  fann  pon  beren  SSorbilblic^teit  für  un^  noc^  ge= 
fproc^cn  werben,  ba  er  boc^,  wa§  ba§  SJerpltni^  feiner  ^erfön= 
lic^feit  }u  feiner  3Serfünbigung  betrifft,  eine  wefentlic^e  2Iu2fnal)m6^ 
fteüung  einnimmt?  SEBenn  auc^  non  oorne^erein  in  bejug  auf 
biefeg  3Ser^ättni§  bie  eine  ©eite  be§  ^roblem§  au^gef chattet  wer= 
ben  mup,  bie  man  f urj  bie  b  0  g  m  a  t  i  f  c^  e  nennen   fann,  näm= 


64  ^erjog:  9[efu8  al§  ^rebiger. 

lid^  bic  S^agc ,  in  roicfcrn  ^^\\x§  in  ben  Q  n  1^  a  1 1  bc?  @öan« 
geliumS  l^ineinge^ört,  bie  "^xa^e,  bic  $aulu§  präji§  fo  beantwortet 
(2  Äor  4  o) :  „9tid)t  unö  felbft  oertünbigen  mx,  fonbcrn  ®^riftu§ 
^efu§  aU  ben  ^crm,  un§  aber  al§  eure  Anette  um  ^cfu  roiüen" 
—  fo  bleibt  felbftDerftänbUc^  baoon  unberül^rt  bie  Jatfa^e,  baj5 
ein  folibarifc^er  ^ufammen^ang  jroifd^en  ber  ^^erföntic^feit  be§ 
'ißrebiger^  unb  feiner  Sßerfünbigung  befte^t,  für  ben  ba§  SBorbilb 
<3fefu  n)ie  fein  anbereS  maj^gebenb  ift.  Unb  ioa§  in  biefer 
Sejiel^ung  fd)on  ba§  ©eroiffen  fagt,  ba§  ergebt  ba§  3Bort  :3efu 
ju  ooller  Klarheit  unb  S3eftimmt]^eit:  „wie  mid^  ber  SSater  gefanbt 
^at,  fo  fenbe  id^  cud)"  ^o\)  20  21).  3)ämit  ift  eine  boppelte  93or= 
au^fe^ung  für  bie  rid)tige  2lu§übung  be§  2)ienfte§  am  ©oangelium 
feftgelegt.  (Sinmal:  ©eine  ©ac^e  ift  unfere  ©ad^e,  fobann: 
fie  mufe  unfere  p  e  r  f  o  n  li  rf)  e  2lngelegenl^eit  fein,  ^n  bem  3Ka^e, 
al§  mir  un§  mit  unferer  ^^rebigt  ibentifijiereu  rooüen  unb 
fönnen,  tommen  mir  bem  Sßorbilbe  Qt\n  nac^.  3)amit  ift  fieser* 
li^  nid^t  ju  üiel  oerlangt.  ®2f  fe^t  nur  ein  Swie^ad^t^  uorau§, 
n)a§  bie  conditio  sine  qua  non  ber  lebenbigen  ^^rebigt  überhaupt 
ift:  fefte  Ueberjeugung  unb  innere  Beteiligung,  jeneg  jufolfle  be§ 
@runbfa^e§  ber  SBa^rl^aftigfeit ;  „mir  reben,  roa§  mir  roiffen, 
unbbejeugen,  mas;  wir  gefe^en  l^aben",  biefe^  nac^  bem  pfqd)o(ogi* 
fd)en  ®efe^  be§  inneren  <3[ntereffe§ :  „mir  fönnen  e§  ja  nic^t  un^ 
tertaffen,  baoon  ju  reben,  ma§  mir  gefetien  unb  gehört  ^aben" 
ober,  mie  ^^aulu§  e§  noc^  ftärfer  formuliert:  „ic^  !ann  nic^t  an* 
ber§,  me^e  mir,  menn  ic^  e§  unterließe"  (1  Äor9io).  3)iefc  ©0^ 
libarität  iroifd)en  ^erfon  unb  JRebe  folgt  au§  ber  Statur  ber  ©ac^e. 
®§  gibt  mot)I  eine  theologia  irregenitorum,  aber  feine  58er* 
fünbigung  be§  SReic^e^  ®otte§  feiten§  berer,  bie  nid|t  barin  pnb. 
2)a§  „Objcftioe"  fanu  man  etma  barbieten  of|ne  innere  93eteili= 
gung,  j.  33.  bie  rationalen  ^Jlotioe  ober  aud)  ba§  retigiöfe  ©pftem 
einfd^tießtid)  be§  e^c^atologifc^en  ^intergrunb§,  bie  „fides  quae", 
ober  enbtic^  bie  «^iftorie,  aud^  bie  biblifc^e:  aber  ba§,  mai^  im 
9Jeid)  ®otte§  ber  SWittel:^  unb  ^erjpunft  ift,  bie  perfönlic^en  93c^ 
jiet)ungen  unb  Ä'räfte,  fann  niemanb  meitergebeu,  aU  mer  barin 
fte^t  unb  baoon  bemegt  mirb  (JRöm  12  7).  3)iefe  ©olibaritöt  jroi- 
fd)en  ^rebigt  unb  ^^rebiger  begrünbet  red^t  oerftanben  einen  ge* 


©erjog:  3«fw3  alg  ^rcbigcr.  65 

lüiff cn  character  indelebilis  im  coangelifdien  ©innc  be§ 
2Borte^,  bem  gegenüber  ber  fat^olif^e  93egriff  fid^  nur  n)ie  ein 
materialiftif^eS  aWi^üerftänbni^  barfteCt.  3)aran  änbcrt  aud) 
nic^t§  bie  für  jeben  c^rlic^en  Saugen  ber  SBa^rtieit  fdjmcrjlic^e 
Zat\a6)z  —  bie  ben  großen  Slbftanb  jwifd^en  bem  Urbilb  unb 
ben  Slbbilbern,  jroifdien  bem  SReifter  unb  ben  :3üngern  immer 
neu  }um  ^emu^tfein  bringt  —  baj3  mir  bie  SQBatir^eit  be§  6oan- 
geltumS  mit  unferer  ^erfon  nic^t  b  e  d  e  n  f önnen ,  fonbern  un§ 
umgefetirt  unter  i^r  @erirf)t  felber  [teilen  muffen.  „SBer  bann 
ba§  Seben  bc§  Sebenbigen  al§  eine  Sraftmirfung  im  eigenen  fitt* 
li^en  Siingen  erfal^ren  tiat  unb  bie  ®abt  I|at,  ©elbftempfunbene§ 
einfac^-natürUc^  mieberjugeben,  tann  in  prop^etifc^er  SRebe  anberer 
©emiffen  aufrütteln  unb  ein  roirfti^er  Q^u^^  S^rifti  merben". 
(S.  KeUer  in  „Sluf  bein  9Bort"  1903,  S.  280.) 

n. 

SBenn  im  norfte^enben  ftet§  bie  SSorau^fe^ung  ftiüfd)n)eigenb 
feftgetialten  morben  ift,  ba^  unfere  ^^rebigttätigfeit  bie  im  mefent:: 
liefen  Iiomogene  ^^vtfe^ung  oon  berjenigen  ^efu  felbft  fein  foU 
unb  !ann,  fo  bebarf  nid)t  etwa  biefe  93orau§fe^ung  einer  öe* 
grünbung,  root)!  aber  unfere  l|ertömmlid)e  ^^rebigtroeife 
einer  f orgfältigen  ^]?rüfung  unb  SReoifion  i{)re§  Betriebs : 
2Bie  ftettt  fie  fid|  an  bem  Sna^ftab  be§  Urbi(b§  unb  Sßorbilbg 
gemeffen  bar?  ©ie  f  oU  ©oangelium^üertünbigung  fein  unb  fann 
e^  aud^  fein,  ©ie  foll  e§  fein,  benn  bie  ^rebigt  („praedicare") 
ift  i^rem  93egriff  nad)  Söerfünbigung  oon  etma^  neuem  —  unb 
ba§  9ieid)  @otte§  ift  gegenüber  bem  gegebenen  ^iatur^^  unb  ^nU 
turjuftanb,  au^  ber  d)riftlic^en  2ltmofpI|äre  unb  ©itte,  in  jebem 
©efc^Icdite  etma§  neue^,  ein  9leu(anb  ©otte^  —  unb  fie  !  a  n  n 
e§  jfein.  3)enn  ber  9tü(fgang  ju  unb  ba§  ©djöpfen  au§  ber 
urfprünglid)en  Duelle  ift  ju  jeber  3^it  offen.  3)a§  Ouellmaffer 
läßt  fid)  faffen.  @o  gemi^  e§  in  ben  mobernen  ©ro^ftäbten  mit 
if)ren  ^unberttaufenben  möglid)  gemacht  ift,  fo  frifd^e§  unb  reine§ 
SEBaffer  ju  trin!en,  al^  märe  e§  au§  bem  93orne  im  SBalbe  gefc^öpft, 
fo  gemife  ift  un§  „©pätgeborenen"  —  ein  relatioer Segriff!  —  nid)t 
jugemutet,  nad)bem  bie  Quelle  be§  @oangelium§  fic^  jum  ©trome 

3citf<^rttt  fflr  X^eolDflie  unb  Äirc^c.  14.  Sa^rg.,  1.  $eft.  5 


66  ©  e  r  j  0  g :  3lcfug  al§  ^rebiger. 

crbrcitert  ^at,  bcr  bic  d)riftlic^c  2BeU  bciüäffcvt  mit  fabcm,  obge^ 
ftanbcncn  glu^iüaffcr  unfern  3)urft  ju  ftißen.  3)a  nun  aber  an^ 
bcrcrfeitS  nict)t  geleugnet  werben  fann,  ba^  bcr  Slbftanb  ber  lanb* 
läufigen  ^rebigtroeife  Don  ber  Q^efu  ein  ganj  bebeutenber  ift,  fo 
brängt  fic^  bie  ^rage  auf:  SWu^  ba§  fo  fein?  ober  genauer: 
roiefern  ift  biefe  ©ntfernung  einerfeit§  einfach  gef^ic^tU(^  bebingt, 
begreiflid^  unb  al§  irreleoant  unbebenffic^  Ijinjunel^men?  roiefern 
ift  fie  anbererfeit§  oer^ängni^oott  unb  aU  Entartung  ju  oerur- 
teilen?  3)a§  biefer  Unterfdjieb  gemacht  werben  muj3,  ergibt  fic^ 
ja  für  ben,  ber  bie  3)inge  gefc^ic^tlic^  ju  betrad)ten  oerfte^t,  pon 
felbft.  3)er  Qrv^ä  biefer  Unterfud|ung  fd^Iiegt  nun  oon  felbft  ba§ 
®inge^en  auf  bie  f  ir  djen  gef  c^irf)  tli  cl(  e  unb  titurgifc^c 
®ntn)idf(ung  be§  „^rebigtgotte§bienfte§"  bi§  auf  bie  ®egenn)art 
unb  fobann  auf  bie  m  e  t  ^  o  b  o  f  o  g  i  f  d)  e  unb  t  e  d^  n  i  f  d)  e 
grage,  wie  weit  bie  l)omitetifd^e  Kunft  al§  Hilfsmittel  für  bie 
^rebigt  be§  (SoangeliumS  bienlic^  unb  notmenbig  fei,  au§.  ^n 
jener  ^Sejie^ung  genügt  bie  ©rinnerung  baran,  bag  bie  9tefor» 
mation  bie  'ißrebigt  be§  göttlid)en  338ort§  fo  fet)r  in  ben  9)]ittel* 
punft  be§  tir^lid)en  Seben§  gefteUt  unb  fo  fe^r  al§  erftcS  unb 
pc^fte§  Onabenmittel  gemertet  l^at,  ba§  „^rebigt  unb  ®otte§= 
mort"  (ogl.  ben  ^ated^iSmuS  fiutl^erS)  faft  ju  SBed)feI6egriffen, 
ju  Sgnon^men  geworben  finb.  5)ie§  märe  ni^t  gefd^e^en  unb 
biefeS  teftamentarifc^e  33ermäd)tni§  an  bie  eDangelifd)e  Äird)e  märe 
oon  biefer  ©eite  nid^t  ergangen,  menn  nid)t  ber  ®efid)tspüntt 
ber  be^errfc^enbe  gemefen  märe,  ba^  bie  ^rebigt  ba§  eigcntli(^e 
©efäfe  be§  ®oangelium§,  b.  1^.  ber  ^eilSoerfünbigung,  fein 
muffe  unb  fönne.  SQBenn  mir  biefeS  S^eftament  t|o^l)alten,  fo  er- 
gibt ]\i)  für  unfere  ^rebigtmeife  ber  einfad)e  Stanon:  eine  ^re* 
bigt  ift  foüiel  mert,  gerabe  fooiel  (nidt)t  me^r  unb  nid)t  roe= 
niger),  al§  fie  ©e^alt  an  (mirfli(^em,  echtem)  @oang  et  tum 
befi^t.  Unb  barau§  ergibt  fid^  meiter,  ba§  innerl^alb  ber  eoau- 
getifdf)en  ilirc^e,  mie  aud)  bie  äußeren  ^Jormen  ber  ^rebigtmeife 
fid)  gegenüber  i^rer  anfänglid)en  ®eftalt  gemanbelt  t)aben  mögen, 
bie  Kontinuität  unferer  SSerf ünbigung  mit  bem  urfprung* 
ticken  ffioangelium  prinzipiell  gemat)rt  ift.  —  SQ3a§  fobann  bie 
a  n  b  e  r  e  tfrage,  bie  nad)  bem  Söert  unb  Sinfluffe  ber  ^omitetif 


^crjog:  3«f"^  öl§  ^tebigcr.  67 

auf  imfcre  '^Jvebigtiüeife,  betrifft,  fo  finb  bic  ^auptgcfic^tspunftc, 
oon  bencn  au§  bcr  Umfang  unb  bic  ©rcnjc  if)re^  aBevtc§  für 
bic  ridjtigc  unb  jioccfentfpred^enbc  9lcprobuttion  bcö  ®oangelium§ 
firf)  ergeben,  unfd)n)er  ju  bcftimmen.  @inevfeit§  unterliecjt 
c^  feinem  Slnftanb,  mit  93  in  et  (^omitetit,  @.  ß)  ^w  fagen:  „bic 
JR^etorif  ift  ba§  ®cnu§,  bic  |)omi(etif  bie  ©pejieg",  b.  h.  e§  gibt 
eine  „Ä'anjclberebtfamfeit",  obmo^I  fie  eine  eben  fo  fdjönc,  wie 
gefä^rlid)e  Slunft  ift.  ©arum  foüte  aud)  nid)t  bie  S?unft  beö 
Sd)önen  bem  ^öd)ften  @ut  ber  SBa^r^eit  biencn?  ^ft  e§  boc^ 
aud)  nid)t  unberechtigt,  ju  fagen,  ba§  mir  "jßrebiger  in  biefer  Se* 
jie^ung  ju  unferem  Urbitb  im  beften  ^^alle  fteben,  mic  i>a^  Jalent 
]\iil  jum  @enie  ucr^ält!  Unb  ba§  Jalent  bebarf  ber  ^^^9^/  ^^^ 
9luebi(bung.  6nblid)  befd)ränft  fid)  ber  Söert  ber  ^omiletif  für 
bie  SRebe  nic^t  nur  auf  bie  gor  m  berfelbcn  —  golbene  Slepfel 
foHeu  in  filbernen  Schalen  bargeboten  merben,  für  ben  ^öc^flen, 
roertooUfteu  ^n^alt  ift  baS  fdjönfte  @cfä$  gerabe  fd)ön  genug  — 
f onbern  er  erftrerft  fid)  aud)  auf  ben  ^  n  t)  a  1 1.  Unb  ba  jum 
^  n  ^  a  1 1  ber  ^rebigt  nic^t  nur  ba§  3^W9"i^/  ^^^  ^erolbsbienft, 
fonbern  aud)  ber  93emei§,  bie  benfenbe  äJcrarbeitung,  gehört,  fo 
erforbert  fc^on  biefe  Stufgabe  gemiffen^afte  Uebung  unb  Sinübung 
unb  ein  SJertrautroerben  mit  ber  ge^cimni^ooüeu  Älaoiatur  be§ 
menfd)lic^en  ®eifte§(eben§.  9Baren  e§  nid)t  bicfe  mit  bem  „3Bad)§* 
tum  be§  9Sßort§"  oerbunbenen,  fic^  immer  mäd)tiger  unb  bringen- 
ber  geftaltenben  ^ebürfniffe  unb  ®rforberniffe  ber  SBortoerfünbi* 
gung,  meiere  fc^on  bie  2lpofte(  jur  Son  jent  rat  ion  auf  ihre 
Hauptaufgabe  unb  jur  93orna^mc  ber  31rbeit§teilung  5mifd)en  bem 
3)ienft  be§  2Bortc§  unb  bem  „5:if^bienft"  (Slpoftelgefd).  6  2)  ge= 
bicterifd)  jmangen?  2(ber  ba§  finb  elementare  äBal)r^eiten,  bic 
man  ^eute  nid|t  erft  betonen  mu^.  2Bid)tiger  ift  e§  a  n  b  e  r  e  r  f  e  i  t  § 
auf  bic  ©renje  ber  gefunben  unb  bcr  ungefunben  3}ermertung 
ber  t)omiIctifc^en  Äunft  ^in*  unb  bicfe  le^tere  in  i^re  ©c^ranfcn 
ju  mcifen.  3)cnn  bic  ®cfa^r  itirer  Ueberfd)ä^ung  ift  größer,  at§ 
bie  ber  Unterfdjä^ung,  unb  bic  SSarnung  ber  Königin  a\\  ben 
^o(oniu§  in  ©t)afefpearc§  §am(et  „me^r  Qn^alt,  roeniger  Äunft" 
bem  ^crtömmlid)en  ©etrieb  gegenüber  mcf)r  angebrad)t,  al^  bic 
entgegengefe^te.   ©omic  bie  Sunft  irgenbmie  ^eroortritt  aB  Selbft- 


68  ©erjog:  S^fuS  al§  ^rcbiger. 

ixütd,  ftatt  qI§  SRittcI  jum  S^^^^^/  ^^^  burd)fid^tige  ^ttffe  be§ 
inneren  9Bertc§  ber  ©ac^e,  fei§  in  bejug  auf  bie  ^^tm,  al§  bic 
„gewählten  SBorte",  fei§  auf  ben  ^^i^ölt,  at§  bie  fünft ^^  ober 
aud^  geiftDolIen  ©ebantengänge,  fo  ift  e§  auf  Soften  be§  inneren 
®e]^alt§,  be§  eoangelifc^en  ^n^alt^  gefd)e]^en,  ber,  roie  ^autu§ 
l.  Kor.  1 17  furj  unb  treffenb  bemerft,  nur  barunter  leibet,  „au§* 
geleert  wirb."  Qft  fcf)on  oom  ä  ft  l)  c  t  i  f  d)  e  n  ©tanbpuntt  au§ 
oor  ieber  Ueberrouc^erung  be§  Äünftlidjen  bringenb  ju  warnen  — 
roa§  ein  3lrd^iteft  einmal  fagt,  „baj3  ein  ©ebäube,  n)elc^e§  feinem 
Qwtd  genau  unb  ooflfomnien  entfpric^t,  notwenbig  auc^  f  d)  ö  n 
fein  m\x^,  obwohl  ©c^önl^eit  bei  feinem  Sau  nid^t  beabfidjtigt  war", 
ba§  gilt  noc^  oiet  met)r  oom  93au  ber  SRebe.  3)a  ift  e§  fii^erlid) 
„ein  3^i^^^^  ^ö"  Sitbung,  groge  2)inge  in  ber  einfad^ften  2)la* 
nier  ju  fagen"  (Smerfon)  —  fo  oerlangt  erft  re^t  ber  innere 
SBert  be§  Soangelium^,  baj3  man  nic^t  uerfuc^e,  ifjm  auf=  unb 
nac^jul^elfen.  @nblid()  gilt:  „Rieii  de  beau  que  le  vrai"  ;  biefe 
Söa^r^eit  bejeugt  in  ber  ganjen  Siteratur  nic^t§.  fo  unroiberleglid), 
wie  bie  unoergleic^tic^  einfalle  unb  fdjöne  Siebemeife  Qefu,  bei 
ber  man  bcutlic^  fie^t,  roie  ber  gro^e  ^nl^alt  ficb  bie  %ot\\\  oon 
felbft  gefc^affen  l^at.  — 

5)a§  Oefagte  roirb  genügen,  um  ju  beroeifen,  bafe  ber  @in* 
fluj3  ber  tirc^engefd)i^tlid)en  (Sntmidlung  einerfeit§,  ber  tulturelten 
3ufammen^änge  unb  fac^lid^en  Schulung  be§  ©tanbe§  ber  ^^Jre« 
biger  anbererfeit^  nid)t  etwa  an  fid^  fc^on  ben  großen  2lbftanb 
unferer  ^rebigtweife  oon  ber  ^efu  begrünben  mü^te,  roenn  nid)t 
befonbere,  allerbing§  auf  bem  gegebenen  93oben  unoermerft  unb 
ganj  pon  felbft  erit)ad)fene,  ftörenbe  ©fponenten  unferer  3Jer» 
fünbigung  ^injugetreten  wären,  gegen  bie  mir  un§  ju  mehren 
l)aben,  unb  beren  mir  un§  erme^ren  fönnen. 

a)  3)en  e  r  ft  e  n,  bie  Kraft  unb  Urfprünglic^feit  unferer  ©oan* 
gelium^oertünbigung  ^emmenben  ^aftor  möge  eine  perföntid)e  @r* 
innerung  beleuchten.  2luf  einer  ©tubienreife  nad^  Snglanb  unb 
S^ottlanb  ^atte  id)  einft  @elegent)eit,  befonbers!  im  le^teren  Sanbe 
mit  feiner  religiös  unb  fird)lid)  fo  lebtiaft  intereffierten  unb  fort= 
gefdjrittenen  Seüölferung,  bie  aSertreter  ber  oerfdjiebenen  3)enonü» 
nationen  fennen  ju  lernen  unb  mannen  überrafd)enben  9Iuffd)lu|5 


©  e  r  5  0  g :  3[cfu§  aU  ^rcbiger.  69 

über  bie  bort  lüirffamcn  Gräfte  ju  crljalten.  3)a  wax  mir  bic 
Untcrrcbung  mit  einem  ^^rofeffor  an  bem  Congregational  College 
befonber^  intereffant,  aber  aud)  für  unfere  beutfc^en  aSer^ältniffe 
oon  nieberf^Iagenber  3S3irfung.  ^c^  meinte,  menn  irgenb  etma^, 
jo  fei  boc^  bie  ^rebigt  bei  un§  in  oer^ältni^mä^ig  gntem  ©tanbe. 
®enn  ic^  gebad)te  ber  üielen  geiftootlen  unb  erliebenben  ^ßrebig- 
ten,  bie  ic^  gerabe  aud)  al§  ©tubent  gehört  unb  moran  id^  mid) 
erbaut  t)atte.  ®r  aber  fa§te  fein  ©efamturteü  in  bem  SBort  ju* 
fammen:  „roie  uiel  gormali^mu^!  ^c^  \)abt  in 
Seutfd^lanb  oiel  $^rafe  gefunben." 

S)a§  ift  nun  ein  fe^r  allgemeiner  unb  meitfd)i^tiger  begriff ; 
ic^  uerftanb  ben  Jlritifer  juerft  gar  nidjt.  2lber  aHmäl)lic^  ging  mir 
an  bem  üon  i^m  entroidtelten  ©egenfa^  ein  ßid)t  auf.  ®r  fc^il^^ 
berte  in  lebenbigen  garben  bie  jielbemu^te,  aggreffipe  ^rebigt, 
ba§  miffionierenbe  ^^^Ö^i^  feiner  ^ird)engemeinfc^aft,  bie  Don 
ben  ^rebigern,  ia  fd)on  üon  ben  Slanbibaten  be§  ^rebigtamtS  unb 
ben  Slfpiranten  für  bie  ©eminarlaufba^n  uerlangte  ^robe  be§  per^ 
fönlic^en  3^ntereffe§  unb  entfc^iebenen,  tatfäd^lid^en  3^ugniffe§,  unb 
mie§  barauf  ^in,  mie  bagegen  bei  un§  in  ®eutfd^lanb  bie  miffen» 
fc^afttidie  SSorbilbung  einfc^lie^lid^  ber  ®famen§note  jur  Orunb» 
läge  gemad)i  merbe,  bie  p  r  a  1 1  i  f  c^  e  gortbilbung  oielfad^  mangle 
unb  bie  ®efal|r  be§  ©c^tenbrian§  in  ben  gegebeneu  gebahnten  ©e* 
leifen  bie  Slttioität  bebrol^e  u.  f.  m.  @r  mollte  turj  gefagt  jeigen, 
wie  unter  ber  SR  outine  ber  funftgered^ten  unb  fd|ulmä§igen 
^rebigtmeife  ba§  einfadje,  mirtung^träftige,  inö  Seben  hinein« 
greif enbe,  ben  §örer  üor  perfönlic^e  ®ntfd)eibungen  fteltenbe  Qtn^' 
ni§  ju  furj  fomme,  jebenfalliS  unter  biefer Umflammerung  leibe. 

SGBaö  mir  bamal§  aufbämmerte,  ba§  ift  mir  tieute  in  oiel= 
fad)er  Sejie^ung  jur  Ueberjeugung  geworben:  @^  ift  in  biefer 
Sritif  me^r  atö  nur  ein  Quentchen  SOßa^r^eit  enthalten.  SOBir  tei* 
ben  unter  bem^ormali^mu^  nic^t  nur  in  ber  93e- 
jie^ung,  bie  oben  fd)on  berüt)rt  rourbe,  baJ3  ben  2lnfprüc^en  ber 
©c^ule,  ber  Äunft  ober  gar  2leftl)etit  leicht  bie  gebieterifd)en  go^* 
berungen  ber  eigentlichen  Srbauung,  fei§  ber  ©rmecfung,  feis  ber 
Vertiefung,  geopfert  merben.  3Benn  bagegen  bem  ^rebiger  immer 
bie  cora  animarum  lebenbig  oor  ber  (Seele  fte^en  ober  auf  bem 


70  ©er^og:  QcfuS  alg  ^rcbigcr. 

^crjen  bvcimcu  lüürbe,  einer|cit§  bic  gütte  unb  ©voßc  bc^  bar* 
jubictcnbcn  ^eil§,  anbcvcrfeit^  bag  bringenbc  ^cbütfniö  unb  bic 
fd)rcicnbe  9tot  ber  nod)  in  unerlcud)tetem  unb  unerlöflcm  v'^uftanbc 
bavniebcrlieflenbcn  Seelen,  fo  ergäbe  fid|  eine  fold)c  Spannung 
be§  3>tttereffe§,  roeldje  bev  fünfttic^en  Hilfsmittel  je  länger,  je 
nietir  entraten  unb  fid)  einen  2(u§brucf  fc^affen  würbe,  ber  fid) 
burd)  feine  3GBat)r^eit  unb  3)ring(i^teit  felber  beglaubigt.  2)amit 
uerbänbe  fidj,  xoa^  aubererfeitS  ben  ^^^^Jj^^t  betrifft,  üon  felbft 
me^r  21  f  t  n  a  l  i  t  ä  t  ber  ^Urebigt,  2lttuatität  in  bem  Sinne,  ba^ 
bie  a)]otiüe  be§  ©oangeliumS  met)r  in  ber  3rifd)c  ber  @leid)}eitig^ 
teit  bargeboten  unb  fojufagen  mobil  gemadjt  würben.  3Wangel  au 
Sttftualität  ift  e§,  menn  j.  «.  mit  oiel  a«üt)c  unb  Umftäublid)fcit, 
bie  bie  ^örer  ermübet,  e^e  fie  felbft  für  it|re  ^^erfon  in  Slnfprud) 
unb  oor genommen  merben,  bie  gefd^id)tlic^en  33er^ältuiffe  be§ 
jeweiligen  JefteS  befc^rieben  unb  ausgemalt  werben,  unb  wenn 
bann  bie  Slnwenbung  auf  bie  ©egenwart,  ber  2lngriff  auf  bie 
©ewiffen  unb  bie  3ueignung  an  hk  ©emüter  erfolgen  foUte,  Seit 
unb  Sraft  fd)on  uerbrauc^t  finb^).  S)ie  ^«^tge  ^ieuon  ift,  ba^ 
betr.  bie  SBa^r^eit,  fei  eS  eine  ©abc  ober  Slufgabe,  ©ebot  ober 
9lngebot,  nur  auf  2lbftanb  wahrgenommen  wirb  unb  i^re  mag* 
netifd)e  Äraft  oerfagt. 

©ewi§  beginnt  bic  eigentli^e  Sd)wierigteit  ber  2lufgabc  ber 
^^rebigt,  aber  aud)  ba§  ©el)eimni§  i^rer  Sßirtung  erft  ba,  wo  ber 
'ßrebiger  baS  93ebürfniS  ber  ^örer  in  feine  iUlebitation  hinein* 
nimmt  unb  mit  ben  2:eEtgeban{en  in  lebenbigeu  JlontaH  bringt 
—  aber  eine  ©ifpenfation  oon  biefer  ^^flid}t  gibt  e»  nid)t.  3wm 
minbeften  ift  oon  jeber  ^^rebigt  fooiel  ju  oerlangen,  ba§  irgenbwo 
biefer  Kontatt  t)ergeftellt.  wirb,  bamit  ber  eleftrifdje  Schlag  er* 
folgt  ober   ein   neues  Sic^t  aufleudjtet.    2)ie  ^örer  ^abcn  einen 

1)  3n  ber  2)i«fuffiort  tonxht  ber  Olcfercnt  gefragt,  wa«  unter  »aftuett 
prebigeii"  gii  üerfte^cii  fcl.  (§«  tüurbe  aucft  barauf  Iiiugcwiefcii,  \>ab  uiele 
niciuen,  mit  ber  ©egugua^me  auf  „brcnncnbe"  gcitfragen  {Jogiale  uub  Xagc«* 
iutereffen  k.)  tuerbe  bic  ißrebigt  aftued  geftaltet.  ^a8  finb  aber  offenbar  dlt- 
benbinge,  Hilfslinien  unb  Stonftruftionen,  bic  jemeil^  ober  mitunter  jur  Jln« 
luenbung  unb  ©eltung  fommeu  bürfen.  3l!tueU  prebigen  im  allgemeinen  unb 
normatiöen  ©inne  be«  2i>orte§  Reifet  offenbar  fo  prcbigcn,  bafe  ber  $örcr  merft : 
Tiia  res  agitur!  2)ie|e  Slftualitöt  foU  immer  gu  ©teile  fein. 


©  « 1 5 0  g:  Qcfu§  aU  ^rcbiger.  71 

2lnfprud^  barauf,  ba§  jte  in  bcr  ^rebiflt  ctraaS  bctommeu,  ctiua^, 
voa^  anber^iDo  nic^t  5u  ^aben  ober  }u  ()oIen  ift. 

@§  ift  aucf)  gar  nid)t  )d)n)er  für  beu  'ißrebigcr,  eine  Sclbft- 
fontroHc  nad)  bicfcr  Seite  l^in  ju  üben,  um  ju  ertenuen,  roic  roeit 
er  im  5örmQ(i^mu§  ftedten  geblieben  ober  jur  Slftualität  üorge- 
brungen  fei.  ^e  „objettiücr",  fci§  gefd)id)t(irf),  fei§  bogmotifc^, 
fein  ^robuft  ift,  befto  me^r  ÜJlü^e  wirb  e§  i^n  loften,  e§  ju 
memorieren,  um  bie  ^^rcbigt  „ablegen"  ju  fönnen.  ^t  me^r  e8 
fubjcttioeS  ©igentum  geworben  ift,  nid)t  nur  burc^bac^t,  fonbern 
burd)lebt,  befto  met)r  luirb  fid)  ba§  nac^ge^enbe  3Iu§n)enbiglernen 
Don  felbft  erübrigen.  Unb  menn  bie  Srfa^rung  jeigt,  ba§  jumeift 
bie  -Anfänger  lang  memorieren  muffen,  bie  Oereiften  weniger  unb 
immer  weniger,  Jo  mü^te  biefe  @rfd)einung  ganj  auffallen  b 
fein,  ba  ja  ba§  Oebäc^tni^  in  jungen  ^a^ren  fd)neUer  unb  treuer 
ift,  al§  in  älteren,  wenn  ee!  fid)  nid|t  einfad)  barau§  erttärte,  bap 
auf  ber  reiferen  Stufe  me^r  Slftualität,  b.  i).  ^Beteiligung  ber 
Subjcftioität  an  bem  <3"l)olt  ber  ^^rebigt  oort)anben  ju  fein  pflegt. 

b)  93ielteid)t  bebarf  biefer  5?anon  einer  ©infc^ränfung :  „Uebung 
mad)t  ben  9JJeifter"  unb  mit  bief  er  ÜJieifterfd^aft  fann  ber  3^or* 
maliömu^  nid)t  bto^  jufammenbefte^en,  fonbern  ~  teiber!  — 
barau§  feine  3taf)rung  jiel)en.  3)ann  nennt  man  it)n  ^Routine. 
2lber  ba§  fonnte  nid)t  gefd)e^en,  b.  1^.  ba§  ©ewiffen  lie^e  e§  nic^t 
}u  —  benn  ^ier  gä^nt  fd^on  bie  ©efa^r  ber  ^eud)etei  unb  be§ 
Sc^aufpielertum§  ('^],  50 ig)  —  wenn  nid)t  ber  gormati^mug  einen 
Öunbei^genoffen  fänbe  an  einem  }  w  e  i  t  e  n  gefäf)rlid)en  ®f ponen* 
ten  ber  lanbtäufigen  ^rebigtweife,  ber  fojufagen  fcf|on  oorl^er  auf 
bem  "ißlan  ift. 

äßir  J^eologen  beuten  Dielleid)t  nic^t  genug  baran,  baß  wir 
nid|t  ungeftraft  2:f)eologen  finb  unb  ben  'ißreig  bafür  jatilen 
muffen.  aBol)l  bürfen  wir  aud^  fagen :  äBeil  wir  Z^eotogen  finb, 
wollen  wir  unfer  3lmt  preifen  (5Köm.  11  is).  2)ie  2:^eologie  ift 
für  bie  Slir^e  unb  für  ba§  'ißrebigtamt  ganj  unentbehrlich,  wo» 
für  fd)on  ber  gto^e  Ideologe  ^auluö  mit  feinem  Seben§werf  ben 
unoergänglic^en  Seweig  liefert.  Söic  wäre  fonft  eine  gefunbe 
unb  umfaffenbe  Sßermittetung  ber  ewigen  aEBa]^rl)eit  be§  ©oan» 
geliumö   mit   bem   geiftigcn  ^-Befi^ftanb   ber   jeweiligen  Qnt  an 


72  ©  c  r  5  0  g :  ^t\n§  alg  ^rcbtger. 

a03iffenfcf)aft  unb  Kultur  uub  mit  bcm  bem  aWcnfd)cn  cingcftiftc* 
ten  ©tvcbcn  nac^  uniDerfctlcr  @rfenntni§  bcr  SBal^vIicit  mögtid)? 
2lbcr  in  SBcjug  auf  ba§  aSert)ältni§  bcr  ^^cologic  jur  ^rebigt 
gilt  cö  in  formeller  rote  materieller  93ejie^ung  ben  Unter[d)ieb 
flar  unb  fcljarf  ju  faffen  unb  feftjul^alten  jroifdien  bem,  roa§ 
(Slaube  unb  roa§  S^eologie,  ober  jroifc^en  bem  roa§  ©ac^c  be^ 
S^riftcn,  unb  roa§  ©ac^e  be§  Z^^oloQtn,  be§  5ad)manne§  ift. 
2)ie  9Serroifrf)ung  biefer  ©renje  t|at  ben  unfeligen  ®ann  be§  5  n* 
t  e  1 1  e  f  t  u  a  l  i  §  m  u  §  in  bie  eoangelifct)e  Äirctje  unb  fpejieC  in 
it)re  roidbtigfte  gun!tion,  bie  ^rebigt,  hineingetragen,  gegen  ben 
e§  berou^t  anjutämpfen  gilt,  foroo^l  in  formaler,  roie  in  mate- 
rialer  93ejie]^ung.  SBebäc^te  jeber  prebigenbe  2:]^eologe,  ba^  unfere 
t^eologif^en  3^ormeln  unb  ©d)ulbegriffe  oon  ber  93u§e  unb  ^eite* 
orbnung,  ©ünbe  unb  ®nabe,  ©rlöfung  unb  SJerfö^nung,  SRec^t* 
fertigung  unb  Heiligung  u.  f.  ro.  eben  Hilfslinien  unb  ^ilfSton* 
ftruftionen  finb,  mit  benen  mir  bie  ^Aufgaben  unb  ^^robleme  be§ 
d^riftlic^en  ®lauben§  unb  Seben§  ju  löfen,  genauer  eigentlid)  blo^ 
ju  e  r !  l  ä  r  e  n  fucf)en,  fo  roürbe  er  oielen  unnü^en  SJallaft  au§ 
feinem  Sßortrag  entfernen.  6r  foll  bie  ©act)en,  ni(^t  bie  93 e- 
griffe  barbieten,  bie  realen  ®röpen,  nid)t  ba§  Schema  ober  ba§ 
©i)ftem.  2)er  **!ßrebigt  foH  man  baS  tt)eologifc^e  ©erüfte  nidjt 
anfe^en;  eö  mar  nur  ÜJJittel  jum  3^^^^;  nötig  für  bie  SWebi* 
tation:  bie  grageftellungen ,  ®efid)t§punf te ,  bie  ©rfinbung,  bie 
Orbnung  ber  Probleme  oerbanfte  er  jum  großen  Jeile  biefem 
t^eologifd)en,  fad)lid)en  SRüftjeug.  3lber  er  mute  ber  ®emeinbe 
nicf|t  ju,  feine  Vorarbeit  i^m  nad^jufonftruieren.  ^n  bem  9Jla§e, 
aB  ein  2:^eologe  l|ierin  ©elbftentfagung  ju  fiben,  ben  J^eologen 
auSjujie^en  unb  bie  9Bal)rt|eit  ber  ©ad^e  felbft  Iieroor  unb  ans 
Sic^t  treten  ju  taffen  oermag,  roirb  er  al§  ^rebiger  feiner  3tuf* 
gäbe  genügen.  S)iefe  $fli^t  greift  bal^er  aud)  in  ba§  SJlateriale 
ber  ^rebigt  über.  Um  feinet  g^^eS  roiCen  tann  ben  Jtieologen 
man^e  5^age,  mandjeS  **ßroblem  aufS  I)öd)fte  intereffieren,  bt- 
fdjäftigen  unb  umtreiben.  3)em  einfadjen  ©Triften  aber  ift  ce 
l^öc^ft  gleichgültig,  roeil  unoerftänblid^,  e§  mad}t  i^m  nic^t  l^eip, 
roeil  erS  nic^t  roei^.  ©eine  53ebürfniffe  ge^en  t)in  auf  ba§  ^rot 
ber  ©eele  ober  auf  ben   @  m  p  f  a  n  g   ber  Strjnei  für  feine  ®e* 


©  c  1 5  0  g :  !3cfu§  al§  ^rcbigcr.  73 

breiten,  nid^t  auf  bic  3)arlegung  unb  Stnalgfc  bcrfelbcn  burd^  bcn 
fa^oerftänbigcn  gac^mann.  Qnx  SBcrmcibung  von  SJü^Dcrftänb^ 
niffcn  ift  €§  roo^l  faum  nötig,  auSbrüdEIic^  barauf  l^injumcifen, 
baJ3,  roic  bie  ©rcnjc  üon  Jf)coIogic  unb  @(aubc  tatfcid)li^  flicßcnb 
ift,  fo  a\x6)  btc  95crn)cnbung  unb  95ern)crtung  t^eologifc^cr,  jumal 
pvinjipieücr  S^agcn  in  bcr  ^rcbigt  unter  Umftänben  geboten 
ift  (dqI.  barüber  in  biefer  3^itfd)nft  <3at|rgang  1901,  ©.  47—61). 
^ier  ^anbelt  e§  ftd)  nur  barum,  ein  @eejeirf)en  aufjupftanjen, 
um  Dor  ber  @efat)r  ju  warnen,  bie  im  t^eologifdien  3»  ^^  t  ^  I ' 
Iettualiömu§  brotit,  unb  um  bie  S^ragroeite  unb  3nfanimen= 
I|änge  berfelben  nod)  abfrf)(iepenb  l^erDorju^eben,  fei  nur  auf  brei 
3Jlomente  l^ingemiefen.  (Sinmal  mirb  ber  ^rebiger  in  bem 
3)]a^e,  aU  er  auf  ber  ßanjel  tt)eologifiert,  entroeber  über  bie 
Äöpfe  tjinroegprebigen,  ober  aber  einen  Unterfc^ieb  jroifc^en  ben 
iutettettueü  Oeförberten  unb  3u^öcfgebliebenen  aufrichten,  ber  bem 
©Dangelium,  ba§  bod)  ein  ©emeingut  ift,  mie  Suft  unb  fiid)t, 
fd|nurftracf§  juroiber  märe  unb  ooUenb§  bem  großen  SBort  SDkttf). 
11  25  f.  geraberoeg^  roiberfpräd)e.  3)amit  t)erbinbet  fic^  bie  @^^ 
fal^r,  bafe  innert)alb  ber  eoangelifd^en  Sirene  ein  ^apat  ber  ©c^rift^ 
gele^rfamfeit  aufgerid^tet  werben  tonnte,  ba§  bem  ^ierarc^ifcljen 
im  ^attjolijiömug  einerfeit§,  bem  „'^^Japat  ber  SBiffenfd^aft"  an* 
bererfeit§  an  (S^äblict)feit  nic^t  oiel  nachgäbe,  unb  auf  ben  bas 
SBe^e  ß^rifti  über  bie  ©d)riftgelet|rten  juträfe,  bie  „ben  ©c^Iüffel 
ber  6rfenntni§  roeggenommen  fjaben".  Suf.  11 52.  ©obann 
aber  räd)t  fic^  jebeg  imgefunbe  Uebergeroic^it  be§  <3[nteüeftuali§= 
mu§  in  ber  ^rebigt  gerabe  in  ber  ©egenmart  auf  eine  gerabeju 
oerl>ängni§ooüc  9Beife.  SBo  nod)  firc^Ii^er  Sinn  unb  Streue 
gegen  ben  ©lauben  ber  Sßäter  ^errfdit,  uermag  auc^  bie  ©emeinbe 
ber  tl^eologifdien  @d)ulfprac^e  ju  folgen  unb  bie  religiöfen  SBerte 
unb  Slealitäten  in  unb  au§  i^ren  5  0  r  m  e  I  n  ju  empfangen 
unb  JU  geniepen:  mo  aber  bie  tird^lic^e  ©itte  gelodfcrt  ift  unb 
breite  3Jlaffen  au§  bem  SBerbanbe  ber  fird)Ii^en  Drbnungen  ent- 
laffen  ftnb,  ba  jeigt  fic^  bie  furdjtbare  Äetirfeite  biefe§  3uftönbe§: 
bie  ganje  innere  ©nterbung  unb  ©ntfrembung  gegenüber  ben 
religiöfen  ©ütern  tritt  unoerI)üttt  t)erDor.  ^atte  man  fte  über- 
loiegenb  nur  al§  Se^re  ber  @c^riftgelet)rten,  b.  \),  be^  geiftlid)en 


76  ^  e  r  s  0  g :  3cf uS  al§  ^rebiger. 

ba§  ©Dangclium  roirb  ju  einer  prattifd^en  Stngetegen^eit  bcs 
aWenfc^en  unb  ber  3intpct:atii) :  Slette  beine  ©eele !  jum  bc^errf d)eu* 
ben  ©efic^t^punfte.  2)a§  ift  gut  unb  ba§  mupte  fo  fommen. 
SGBenn  aber  nur  nicl(t  üon  einer  neuen  ©eite  eine  ©efa^r  bro^te! 
3)ie  5^'age  ift,  ob  nic^t  balb  ein  ^Iu§,  balb  ein  3Jlinu§  gegen= 
über  bem  urfprünglic^en  (Soangelium  mit  biefer  neuen  ^rebigt= 
roeife  fic^  nerbinbet,  roefc^e^  bei  allem  ©ruft  unb  (Sifer  it)xtn 
SBert  roieber  ^erabfe^t:  ein  ^|}lu§,  infofern  an6)  bei  il^r  oietfa^ 
ba§  ©gftcm  unb  bie  3Wet^obe  bie  einfad)e  Darbietung  ber  ©nabe 
unb  SBBatir^eit  ummoben  l^at  unb  mit  in  ben  Sauf  genommen 
merben  mu§,  ein  SJlinuS,  ba§  bie  Äe^rfeite  baoon  ift,  nömlid) 
eine  Sßerengerung  ber  guten  93otfc^aft  infofern,  al§  bie  eoangeli* 
fatorif(^e  ^rebigt,  bie  ben  3Jtenfc^en  im  innerften  Sern  feinet 
SGBefeng  ju  erfaffen  ftrebt,  ben  oieloerjmeigten  Sejiel^ungen  be§ 
gefellfd)aftlid)en,  roirtfc^aftlic^en  unb  Mturelten  Seben§  fetten  ge= 
nug  gered)t  wirb.  93ejeid^nenb  ift  fc^on  bie  Sritü,  bie  einft 
Oetinger  bem  größten  ©oangeliften  be§  18.  Qa^r^uubert^,  bem 
©rafen  ßi^^J^^^^rf,  angebeitien  lä^t,  menn  er  urteilt:  „3^"*^"' 
borf  fpringt  mit  beiben  ^ü^en  t)inein  unb  fagt  nur:  <3efuS 
6^riftu§!  mogegen  er  barauf  bringt,  bap  ber  sensus  communis, 
ba§  allgemeine  3Ba^rl|eit§gefül|l,  mit  feinen  93ejie{)ung§linien  unb 
3lnfnüpfung§puntten  im  uielgeftaltigen  3Wenfcf)en-  unb  SBeltleben 
forgfältig  gepflegt  unb  in  2lnfpruc^  genommen  merbe.  9)amit  ift 
bem  93orbilb  ber  ^rebigt  Qefu  geroi^  beffer  genügt. 

3)ie  befd)riebene  ©efa^r,  bie  fid)  furj  mit  bem  gefd^ic^tlic^ 
geprägten  3QBorte  9)letl)obi§mu§  bejeidinen  lä^t,  foll  nicl)t  aus;- 
füljrlirf)  noc^  nad)  ber  ©eite  f)\n  beleuchtet  werben,  ba^,  menn 
ba§  ©e^eimni§  ber  erroectli^en  epangeltftifc^en  ^rebigt  in  bem 
3)afein  unb  3Q3irfen  ber  ben  SBorten  entfpredienben  ©eifteg* 
mad)t  beftet)t  —  biefe  SBoUmad^t  ift  bie  conditio  sine  qua  non 
ber  ed)ten  ©oangelifation  unb  ber  SBertmeffer  it|re§  ©ef)alt§  unb 
©emid)t§  —  ber  etroaige  SJlangel  baran  jur  ^olge  ^at,  ba§  ein 
5ormali§mu§  in  neuer  ©eftalt  fieroor*  unb  ba§  Surrogat  an  bie 
©tette  be§  aOBefen^  tritt. 

SBenn  man  bie  gefd^ilberten  SJlängel  unb  ©efal^ren  unferer 
^rebigtmeife,  üon  benen  man  nid^t  mirb  fagen  bürfen,   ba§  fie 


©  c  r  5  0  0 :  ^efuS  al§  ^tebigcr.  77 

in  ju  büftcrcn  gerben  gemalt  worbcn  finb,  crnftli^  eriüägt,  fo 
ift  bic  S^agc  um  fo  bringcnbcr,  ob  unb  it)ic  fic  ci'folgrcid)  be= 
fämpft  unb  fiberrounben  rocrbcn  fönnen.  3)ic§  fül^rt  un§  auf 
bcn  legten  ^unft  biefcv  Darlegungen,  auf  bie  prinzipiellen 
unb  praftifd^en  Folgerungen,  bic  wir  an^  ber  aufgejeig* 
ten  ©ac()Iage  unb  au§  i^rcm  SBergleid^  mit  ben  üorbilblic^en 
3ügen  ber  ^rebigt  Qf^fu  ju  jielien  l^aben. 

m. 

®ie  Frage  ift:  3Bie  !ann  unfere  ^rebigt  in  bie  möglich fte 
Uebereinftimmung  ober  Slel^nlic^teit  mit  ber  SJerfün« 
bigung  Q^\\x  gcbrad^t  roerben?  SBBenn  fid)  biefelbe  oon 
fclbft  in  bie  boppelte  jerfpaltet:  l)  9Bie  fönnen  voix  bie  ftören* 
ben  unb  ^cmmenben  ©fpouenten  unferer  ^rebigtmeife,  bie  bem 
SBcfen  be§  ®Dangelium§  fremb  fmb,  fiberroinben  unb  au§f^alten? 
2)  SBie  tonnen  wir  un§  mit  feinem  ®eifte  unb  feinen  Gräften 
fättigen  ?  fo  entfprid^t  e§  nur  ber  yiainx  ber  ©ac^e,  ba§  ba§ 
^^ofitioe,  alfo  ba^  (entere,  ba§  ©eftimmenbe  unb  SHa^gebenbe 
fein  mu§.  3)enn  ba§  SBefentlic^e,  Kraftootle,  ©cfunbe  treibt  baS 
Seere,  Sraftlofe  unb  ßränflidie  uon  felbft  ab.  ©o  roerben  bie 
Folgerungen,  bie  roir  ju  jie^en  l^aben,  fic^  met)r  al§  S)efibcrien, 
bic  mir  liegen,  benn  al§  SRcgeln  unb  ©efe^c,  bie  roir  un§  ju 
mad|cn  unb  befolgen  f)abeu,  barftetten.  9lber  blo^c  fromme 
SBünfdjC  brausen  fie  beSmegen  nic^t  ju  fein.  SQBer  fid)  ftrebenb, 
fo  arbeitenb  mic  bittcnb,  barum  bemüht,  roirb  ftd^erti^  aud)  oor* 
n)ärt§  tommen.  ®a§  Qxti,  nad)  bem  ^in  wir  un§  beioegen  muffen, 
läpt  fic^  auf  ®runb  ber  im  93ilb  ^efu  gefdjauten  {)auptfäd)lid)cn 
3ügc  eine§  35crfünbiger§  be§  (äDangeliumg  in  brci  !urje  F^tbc^ 
rungen  faffen:  SJiel^r  SBirflic^teit,  met)r  Statürlic^teit,  melir  'i}Jers 
fönlidjfeit!    S)a§  ift§,  n)a§  un^  not  tut. 

1.  SRctir  aQ3irflic^!eit.  3)a§  n)iß  befagen:  mx  fotten 
un§  fcft  ouf  bcn  93oben  ber  Satfac^en  ftelfen,  fomot)!  fubjeftio  al§ 
objettio,  b.  1^.  foioo^l  mit  bem  mn^  loir  ju  bieten,  al§  mit  ben 
Obicften,  auf  bie  mix  ju  mirten  ^aben.  „SBir  reben,  maö 
xoxx  miffen  unb  jeugen  oon  bem,  ma^  mir  gefcljeu  ^aben"  unb 
roieberum:  „ic^  glaube,  barum  rebe  id)":  biefe  ©runbfä^e  muffen 


78  ©er^og:  3>cfu§  a(§  ^rebiger. 

für  bcn  :3"^^lt  tt^ic  für  bcn  Umfang  bcr  93cr!ünbigung  ma§* 
gebenb  fein,  ©inniat  fubjcftiu:  Qz  mct)r  Stealität,  beftome^v 
Slutorität.  SDBenn  aber  bic  93otfd)aft  bic  wir  ju  bringen  l^aben, 
an§  einer  anberen  9Belt  ftammt,  ate  bie  gegebene  ift  nnb  rocnn 
ba§  9Bort  Sagarbe'§  iDQ^r  ift:  Sieligion  iftSinn  für  SReali^ 
tat,  ncimlid)  für  bic  wahren,  realen  SQBerte,  fo  werben  wir  in 
bem  aWa^e  tüchtig  fein,  biefe  93otfd)aft  an§jurid)ten,  al§  mv  barin 
tieimifc^  fmb.  2)aran§  ergibt  fid)  bie  boppclte  5^age:  1)  SBa§ 
ift  in  biefem  (£rforberni§  eingefd^loffen  ?  unb  2)  xva^  ift  ber  befte 
3Beg,  um  fid)  biefe§  @rforberni§  anjueignen?  3ßa§  nun  bie  erftc 
grage  anlangt,  fo  foütc  e§  feiner  (ärmä^nung  bebürfen,  bafe  jn 
allernädjft  bie  fefte  Ueberjeugung  oon  ber  ^Realität  ber  emigen 
9Bett  be§  ®uten  unb  ber  3Bat)rl)eit,  ber  „@erecf)tigteit  be§  gric= 
ben§  unb  ber  5^'eube",  mie  ^^aulu^  ba§  iKeic^  @otte§  befiniert, 
in  ber  ©eele  be§  ^rebiger§  bie  6errfct)aft  geroonnen  ^aben  muß. 
3lber  fo  felbftoerftänblic^  ba§  ift,  fo  bringt  bort)  bie  ©rfa^rung 
uns  immer  jum  'Öeiuuj3tfein,  ba§  e§  nur  ©tunben  ober  klugen = 
blicte  finb,  in  benen  unfer  ^orijont  fic^  fo  erhellt,  unfer  93lirf 
fid)  fo  flärt,  ba^  mir  ben  |)immel  offen  unb  bie  äBelt  ju  unferen 
^ü^en  feilen,  mä^renb  3lefu§  in  biefer  äöelt  ber  SBa^r^eit  un* 
oerrüdft  lebte  unb  mebte,  barin  unb  barau§  atmete.  (Sbenfo  jeigt 
ber  ©lidt  auf  ba§  (cl)riftlic^e!)  SBolf^leben  ganj  beutlic^,  ba§  es; 
gilt,  bie  9Beltanfrf)auung,  ®ent=  unb  @efü^l§rocifc  ber  ^örer  fo= 
jufagen  umjufe^ren.  3)enn  biefe  gött(id)e  303elt  f  (^  m  e  b  t  me^v 
in  luftiger  ^öt|e  über  it)nen,  i^rem  gemo^ntcn  ©ein,  al§  ba§  fic 
es  trüge  unb  Ijöbe.  3)ie  Smigteitsgebanten  finb  me^r  ^^^osi= 
pt)ore§cen}en,  alö  tatfräftige  3Wotoren  in  iljrcm  geiftigen  ^au§* 
^alt;  bie  materiellen  ^ntereffen  unb  9Jla§ftäbe  übcrmiegcn  mcit. 
9Bie  roict)tig  alfo,  ba§  bie  SSerfimbiger  be§  Soangelium^  über 
einen  fid)eren  33efi^  oon  cmigen  Ueberjeugungeu  unb  SJlotioen 
oerfügen !  Qu  biefer  allgemeinen  33orau§fe^ung,  bie  man  al§  bas 
Slfiom  ber  (Smigfeit^empfinbung  (nad)  §ebr.  6  lo)  bejeid)nen  !önnte, 
gel)ört  al§  fefte§  Junbament  ber  33oben  ber  (ärfal^rung,  in  ben 
jene  Slirfe  unb  Smpfinbungen  eingcgrünbet  werben  muffen.  ®§ 
gilt,  ba§  2:errain  im  ^leulanb  be§  geiftlid)en  Seben§  ©d)ritt  für 
Schritt,  ©trecte  für  ©trecte  ju   erobern :    ©r^örung  be§  Oebet^, 


^crjog:  !3cfu§  atS  ^rebiger.  79 

@(aiibc  an  bic   göttlirfic  Sßorfet)ung   unb  ßeitung,  53Iidc  in   bic 

göttlid)en  ©eridit^^  unb  ©nabenraegc,  unb  last  not  least  bic  ©r* 

fo^rung  bcr  ocrfötinenbcn  unb  crlöfenben  ®nabc  ®ottc§  —  bie 

etroa  fo  ober  anbcr§  ocrmittclt  fein  fann,  j.  93.  nad)  bem  f(affi= 

fc^en  93er§  von  9loDali§: 

^Untcr  öicic«  frol^cn  ©tunbcn, 
@o  im  £eben  id|  gefuuben, 
$Iteb  mir  eine  nur  getreu: 
S)a  \d)  unter  taufenb  6d)mergen 
®inft  erfuhr  in  meinem  ©ergen, 
2Ber  für  mic^  geftorben  fei." 

3)iefe  unb  ät)nlid)e  ©vfebniffe  unb  (Sntbedungen  muffen  fefte 
3)ata  be§  inneren  ficben«  werben.  3)ann  wirb  man  ein  3^wge, 
nic^t  metjr  ein  Sdjmä^er  fein.  3ßie  bejeic^nenb  ift  in  biefer  530- 
jietiung  bic  ®rfat|rung  ©d^öner§  in  9lürnberg  (f  1818),  bie 
ben  größten  5Benbepunft  in  feiner  ^ßrebigerlaufbatin  bitbete.  91I§ 
er  noc^  ein  9lt)etor  auf  bcr  ^anjel  mar,  ber  nad^  (Sffcft  unb  93ei* 
fatt  t)afd^te,  f^lo^  er  am  2.  3Beit|nad)t§feiertag  1776  feine  ^rebigt 
ungefähr  fo:  „Unb  mer  biefen  lebenbigen  ©laubcn  an  (S^riftum 
ni^t  l^at,  ber  ^at  feinen  S^cil  an  (Sott;  benn  er  t)at  feinen  leit 
an  ber  burd^  Qefum  ermorbenen  ©nabc,  feinen  2;ei(  an  ben  füfeen 
Oaben  be§  l|I.  @eiftc§,  no^  an  ber  ©emeinfc^aft  bcr  Zeitigen. 
^\)m  bleibt  in  biefem  Qwftanb  ber  ^immel  auf  immer  oerfc^loffen, 
unb  bie  ganje  bunftc  9tac^t  ber  ©migfeit  tiinburd)  rul^en  auf  i^m 
bic  SBetterroottcn  be§  3övne§  @otte§".  2ll§  er  ba§  fagte,  mar 
e§  i^m,  mie  wenn  ein  @trat)t  au§  biefen  SBolfcn  it|n  felbft  ge- 
troffen t|ätte, .  @r  füllte,  bag  er  über  fid)  felbft  ba§  Urteil  ge= 
fproc^en  tiabe,  ba  er  felber  biefen  ©laubcn  nic^tt^atte,  unb 
e§  mar  i^m,  mie  menn  bcr  3^^^«  ©otte§  mie  eine  3^^*"^rfoft 
auf  i^m  liege.  2)a§  ©c^lu^gcbet  fonnte  er  nid)t  mel^r  Icfen,  er 
erblaßte  unb  manfte  ^in  unb  t)cr,  fo  ba^  er  al§  franfer  SJlann 
t)eimgefü]^rt  merben  mu^te.  3)reiDierteI  ^a^re  ^atte  er  Qtxt,  ber 
Sataftrop^e  nad^jubenfen ;  benn  fo  tauge  ocrmod)te  er,  tro^  met)* 
rerer  SScrfuc^e,  nid}t  mef)r  eine  ^rebigt  ju  ©taube  unb  ju  ©nbe 
ju  bringen :  bann  ertebtc  er  ba§  ©el)eimni§  ber  SSerfö^nung  mit 
©Ott  unb  mürbe  an  ©eetc  unb  Seib  gefunb,  um  fortan  ein 
3cuge,  ni(^t  me^r  ein  ©dt)6nrebner  ju  fein. 


70  $er$OQ:  ^cfuS  alg  ^tcbiger. 

§cv;\en  brennen  würbe,  einerfeit^  bie  güüe  unb  ©röpc  be^  bar^ 
jubietenben  $eil§,  anbercrfeit^  bQ§  bringenbe  ^ebürfni^  unb  bic 
fc^reienbe  9lot  ber  nod)  in  uncrleuc^tetem  unb  uncriöftem  ^^uftaube 
barnieberliegenben  Seelen,  fo  ergäbe  fic^  eine  foldje  Spannung 
be§  3[ntereffe§,  roeldie  ber  tünftlidjen  ^ilfsimittel  je  länger,  je 
nie^r  entraten  unb  fic^  einen  2tu^brucf  fc^affen  würbe,  ber  fid) 
burd)  feine  SQBa^r^eit  unb  S)ringlic^teit  fclber  beglaubigt.  3)amit 
oerbänbe  fid),  voa^  anbererfeitig  ben  <;5n^ölt  betrifft,  uon  felbft 
mel^r  31  f  t  n  a  l  i  t  ä  t  ber  ^Btebigt,  3lftua(ität  in  bem  Sinne,  ba& 
bie  9)lotir)e  be§  ©oangeliumsi  me^r  in  ber  3rifct|c  ber  Oleic^ieitig- 
feit  bargeboten  unb  fojufageu  mobil  gemacht  würben.  3Wangel  an 
Slftualität  ift  e§,  wenn  j.  93.  mit  oiel  aJlüf)c  unb  Umftäublid)feit, 
bie  bie  ^örer  ermübet,  e^e  fie  felbft  für  i^re  ^^erfon  in  3lnfprud) 
unb  Dor genommen  werben,  bie  gefc^ic^tlid^en  33erf)ältniffe  be§ 
jeweiligen  Sefte»  befd)rieben  unb  ausgemalt  werben,  unb  wenn 
bann  bie  Slnwenbung  auf  bie  ©egeuwart,  ber  2lngriff  auf  bie 
©ewiffen  unb  bie  3u^i9"ung  an  bie  Oemüter  erfolgen  follte,  3^^^ 
unb  Äraft  fd)on  uerbraudjt  finb^).  3)ie  ^olge  tiieuou  ift,  ba§ 
betr.  bic  SBa^r^eit,  fei  eS  eine  ®aht  ober  Slufgabe,  @ebot  ober 
3lngebot,  nur  auf  9lbftanb  wahrgenommen  wirb  unb  i^re  mag- 
netifd)e  Kraft  oerfagt. 

®ewi§  beginnt  bie  eigentlii^e  Sdjwierigteit  ber  2lufgabe  ber 
^]?rebigt,  aber  aud)  ba§  @et)eimni§  i^rer  SQBirfung  erft  ba,  wo  ber 
^}Jrebiger  ba§  iBebürfni^  ber  $örer  in  feine  3)]ebitation  hinein* 
nimmt  unb  mit  ben  S^ejtgebanfen  in  lebenbigeu  J?ontaft  bringt 
—  aber  eine  3)ifpcnfation  uon  biefer  ^^Jflid)t  gibt  e§  nid)t.  3w>" 
minbeftcn  ift  uon  jeber  ^^rebigt  fouiel  ju  oerlangeu,  ba^  irgenbwo 
biefer  ftontaft  ^ergeftellt.  wirb,  bamit  ber  elettrifdje  Schlag  er- 
folgt ober   ein   neue^  £id)t  aufteudjtet.    2)ie  ^örer  l)aben  einen 

1)  3«  ber  2)i«fuffiort  tüurbc  ber  ^tefercnt  flcfragt,  \mi  unter  »aftucll 
prebifleii''  gu  ücrftcfteii  fei.  ®«  tuurbc  aud)  barauf  ^tnöcmiefeu,  ba6  Diele 
meinen,  mit  bei*  ©cjUflnaftnie  auf  „brcnncnbc"  3citfragen  (foäiale  unb  Xaße«« 
intcreffcn  2c.)  ttjcrbc  bic  ^rcbigt  aftuell  gcftaltet.  ®a«  finb  aber  offcubar  dh* 
bcnbingc,  Hilfslinien  unb  Slonftruftioncn,  bic  icmeil«  ober  mitunter  gur  Jln* 
tucnbnng  unb  ©eltunn  fonunen  burfcn.  SlftucQ  prcbigen  im  allgemeinen  unb 
normativen  ©innc  bc«  2Bortc«  l)ei6t  offenbar  fo  prcbigcn,  bafe  ber  ^örcrmertt: 
Tua  res  agituri  3)iefc  9lftualität  foü  iuimer  gu  (Stelle  fein. 


Ö  er  sog:  3efu§  aU  ^rcbiger.  71 

SCnfprud)  barauf,  ba|  fie  in  ber  'ißrebicjt  etroaä  bcfommeu,  ctiua^, 
tt)a§  anbcv§w)o  nic^t  ju  ^aben  ober  ju  f)o(en  ift. 

@§  ift  and)  gar  nid^t  fd)n)er  für  ben  'iJJrebigcr,  eine  Setbft* 
fontroüc  nad)  biefcr  Seite  ^in  ju  üben,  um  ju  erfennen,  mk  raeit 
er  im  Sormali^mu^  fteden  geblieben  ober  jur  Slftualität  uorge- 
brungen  fei.  Qe  „objeftioer",  fei§  gefd)id)tlirf),  fei§  bogmatifc^, 
fein  ^robuft  ift,  befto  me^r  3Wüf)e  wirb  e§  it)n  !often,  e§  ju 
memorieren,  um  bie  ^rebigt  „ablegen"  ju  fönnen.  Qt  mef)r  e§ 
fubjettiocg  ©igentum  geworben  ift,  nic^t  nur  burrf)baci^t,  fonbern 
burc^Iebt,  befto  met)r  wirb  fid)  ba§  nacf)gel^enbe  ätuSmenbiglernen 
üon  felbft  erübrigen.  Unb  menn  bie  ®rfat)rung  jeigt,  ba|  jumeift 
bie  2(nfänfler  lang  memorieren  muffen,  bie  ©ereiften  weniger  unb 
immer  weniger,  Jo  mü^te  biefe  ®r|cf)einung  ganj  auffallen  b 
fein,  ba  ja  ba§  ®ebä^tni§  in  jungen  ^f^^^'cn  fd)neller  unb  treuer 
ift,  af§  in  älteren,  wenn  e^  fid)  uic^t  einfach  barau§  erflärte,  ba^ 
auf  ber  reiferen  Stufe  mef)r  2lftualität,  b.  i).  ^Beteiligung  ber 
Subjeftioität  an  bem  Qn^alt  ber  ^^rebigt  Dort)anben  ju  fein  pflegt. 

b)  93ieHeid)t  bebarf  biefer  Sanon  einer  ®infd)ränfung :  „Hebung 
mac^t  ben  9Jleifter"  unb  mit  biefer  3Jleifterfc^aft  tann  ber  5ot= 
mali^mui^  nid)t  bto^  jufammenbeftef)en,  fonbern  —  leiber!  — 
barau5  feine  9la^rung  jiel)en.  ^amx  nennt  man  i^n  SRoutine. 
3lber  ba§  fönntc  nidjt  gefc^ef^en,  b.  f).  ba§  ©ewiffen  (ie|e  e§  nicl)t 
gu  —  benn  f)kx  gä^nt  f^on  bie  ©efa^r  ber  ^eudielei  unb  be§ 
Srf)aufpielcrtum§  (^^f.  50  ic)  —  wenn  nicf)t  ber  govmali^mu^  einen 
Sunbc^genoffen  fänbe  an  einem  j  w  e  i  t  e  n  gefäf)rlid)en  ©fponen« 
ten  ber  lanbtäufigen  ^rebigtweife,  ber  fojufagen  fc^on  oor^er  auf 
bem  ^lan  ift. 

2Bir  S^cologen  benfen  oieüeic^t  nid)t  genug  baran,  bag  wir 
n  i  c^  t  u  n  g  e  ft  r  a  f  t  S^eologen  finb  unb  ben  ^^3rei§  bafür  }af)(en 
muffen.  3Bot|l  bürfen  wir  aud)  fagen :  äöeil  wir  Stieologen  finb, 
wollen  wir  unfer  3lmt  preifen  (9töm.  11 13).  3)ie  2:^eologie  ift 
für  bie  Äird)e  unb  für  ba§  'ißrebigtamt  ganj  unentbef)rlid),  wo= 
für  fd|on  ber  gro^e  If)eologe  $aulu8  mit  feinem  £eben§werf  ben 
unDerganglid)en  S8ewei§  liefert.  3öie  wäre  fonft  eine  gefunbe 
unb  umfaffenbe  Sßermittelung  ber  ewigen  SBa{)rf)eit  be§  ©oan* 
geliumö   mit   bem   geiftigen  33efi§ftanb   ber   jeweiligen  Q^it  an 


72  §crjOg:  ScfuS  alg  ^rebigcr. 

3QBiffen[d^aft  unb  Sultuv  unb  mit  bem  bcm  SWcnfc^en  eingcftifte* 
tcn  ©tvebcn  nad|  uniocrfcücr  ©rfcnntniö  bcr  äBal^r^eit  möglich? 
2l6cr  in  93ejug  auf  ba§  93cr{)ältni§  bcr  S^cologic  jur  ^rcbigt 
gilt  e§  in  formcücr  ime  materieller  Sejieliung  ben  Unterfd)icb 
Kar  unb  fc^arf  ju  faffen  unb  feftjuljalten  jroifc^en  bem,  roa^ 
©laube  unb  n)a§  2^^eologie,  ober  jmifdien  bcm  n)a§  (Sac^e  bc^ 
©Triften,  unb  xoa^  ©ac^c  bc§  2;^eoIogcn,  be§  g^ci^ntanncS  ift. 
3)ie  SBcrmif c^ung  bicfcr  ©rcnjc  t|at  ben  unfeligcn  93ann  be§  5 "' 
t  c  1 1  c  f  t  u  a  l  i  §  m  u  §  in  bie  cr)angclifrf)c  Äirrf)e  unb  fpejicH  in 
itirc  micfatigftc  Ji^nftion,  bie  ^rebigt,  hineingetragen,  gegen  ben 
e§  bemüht  angufämpfcn  gilt,  forootit  in  formaler,  roie  in  mate- 
rialer  ©ejiel)ung.  Sebäc^tc  jebcr  prebigenbe  2:t)eoIogc,  ba^  unfere 
tt)eoIogifc^en  5*>^*»^cfn  unb  ©djulbegriffc  oon  ber  93u^e  unb  ^eilö« 
orbnung,  ©ünbe  unb  @nabc,  Srlöfung  unb  aSerfo^nung,  SRed)t* 
fertigung  unb  Heiligung  u.  f.  m.  ^bm  Hilfslinien  unb  ^ilfston* 
ftruftionen  fmb,  mit  benen  mir  bie  ^Aufgaben  unb  Probleme  beS 
c^riftlic^en  ©laubenS  unb  fiebenS  ju  (öfen,  genauer  eigentti^  blo§ 
ju  erftären  furf)en,  fo  mürbe  er  oielen  unnü^en  93attaft  aus 
feinem  SBortrag  entfernen.  Sr  foU  bie  ©a3)en,  nici)t  bie  93  e= 
griffe  barbieten,  bie  realen  ©rö^en,  nid)t  ba§  ©rf)ema  ober  basi 
©i)ftem.  2)er  'ißrebigt  foU  man  ba§  t^eoIogifd)e  ©crfifte  ni^t 
anfe^en;  c§  mar  nur  9)litte(  jum  Qw^d;  nötig  für  bie  SWebi« 
tation:  bie  J^^agefteKungen ,  ®cfid)t§punf te ,  bie  ©rfinbung,  bie 
Orbnung  ber  Probleme  oerbantte  er  jum  grojsen  %ziU  biefem 
t^eofogifdjen,  fad)lic^en  SRüftjeug.  2lber  er  mute  ber  ©emeinbc 
nicf)t  JU,  feine  SSorarbeit  i^m  nad)}u!onftruieren.  Qn  bcm  SWa^e, 
als  ein  J^eologe  !)ierin  ©elbftentfagung  ju  üben,  ben  2;f)eo(ogen 
auSjujie^en  unb  bie  SEBa^r^eit  ber  ©a^c  felbft  tieroor  unb  an§ 
Sid)t  treten  ju  laffen  oermag,  wirb  er  al§  ^^irebiger  feiner  2luf* 
gäbe  genügen.  2)iefe  ^fli^t  greift  ba^er  auc^  in  ba§  9Jlaterialc 
ber  ^rebigt  über.  Um  feincS  "^^6)^^  miÜen  fann  ben  2;^eoIogen 
manche  g^^age,  mand)e§  ^ßroblem  aufS  t)öd)fte  intereffieren,  be= 
fc^äftigen  unb  umtreiben.  3)em  einfachen  G^riften  aber  ift  e« 
^öc^ft  gleichgültig,  meil  unocrftänblid),  eS  madjt  i^m  nid)t  ^ei$, 
weil  erS  nic^t  mei|.  ©eine  93ebürfniffc  gc^en  l)in  auf  ba§  Srot 
ber  ©eetc  ober  auf  ben   ®  m  p  f  a  n  g   ber  Strjnei  für  feine  ®e* 


©  e  r  5  0  g :  3efu§  atö  ^xebigcr.  73 

brechen,  nid)t  auf  bie  Darlegung  uub  Sltialpfc  bcrfelben  burc^  ben 
fadjücrftänbigen  g^a^monn.  ^i\x  SSermcibung  oon  SWi^oevflanb* 
niffcn  ift  c§  rootit  faum  nötig,  au§brüdtlic^  barauf  {(injumcifen, 
ha%  rote  bic  ®vcnjc  ooii  2:t)coIogic  unb  ®(aubc  tatfäd){id)  flie^enb 
ift  fo  auc^  bic  SSerrocnbung  uub  Serrocrtuug  tf)eoIogif(^cr,  jumal 
priujipieücr  fragen  in  ber  ^^rebigt  unter  Umftänben  geboten 
ift  (ogl.  barüber  in  biefer  3cttfd)rift  ^^^tgang  1901,  ©.  47 — 61). 
^ier  ^anbett  e§  fi^  nur  barum,  ein  ©eejeid)en  aufjupflauien, 
um  oor  ber  Oefa^r  ju  roarnen,  bie  im  ttieologifc^en  <3?  u  t  e  I  * 
leftualiömuS  broI)t,  unb  um  bie  Siragroeite  unb  ^nfammen- 
^Quge  berfelben  nod)  abfcf)(ie^enb  l^erporjulieben,  fei  nur  auf  brei 
9Womentc  tiingeroiefen.  ®  i  n  m  a  I  roirb  ber  ^^rebiger  in  bem 
SWa^e,  al^  er  auf  ber  Äanjel  t^eologifiert,  entroeber  über  bie 
Köpfe  ^inroegprebigen,  ober  aber  einen  Unterfc^ieb  jroifc^en  ben 
iuteUeftueü  ©eförberten  unb  3w^ücfgebliebenen  aufrirf)ten,  ber  bem 
(Soangelium,  ba§  bod)  ein  ©emeingut  ift,  roie  Suft  unb  Sid)t, 
fc^nurftrarf^  juroiber  märe  unb  ooüenbs  bem  großen  SBort  SDkttt). 
11 2:>f.  geraberoeg§  roiberfpräd)e.  ®amit  oerbinbet  fic^  bie  ©e^ 
fatir,  ba§  innerhalb  ber  eoangelifc^en  S?ircl)e  ein  ^apat  ber  ®d)rift* 
getef)rfamfeit  aufgerid)tet  werben  fönnte,  ba§  bem  t|ierarc^if(^en 
im  ßatt)oli}i§mu§  einerfeit^,  bem  „^apat  ber  3öiffenfd(aft"  an= 
bererfeit§  an  ©c^äblic^teit  nic^t  oiel  nad^gäbe,  unb  auf  ben  bas 
aSBe^e  G^rifti  über  bie  ©c^riftgeletirten  juträfe,  bie  „ben  ©^lüffel 
ber  @rfenntni§  roeggeuommen  l)aben".  Sut.  11  .-,2.  ©obann 
aber  rädjt  fid)  jebeg  ungefunbe  Uebergen)id)t  be§  ^nteßettualisi^ 
mu§  in  ber  ^rebigt  gerabe  in  ber  ©egenmart  auf  eine  gerabeju 
t)ert)ängni§ooUe  3QBeife.  3Bo  nod)  fird)lic^er  ©inn  unb  2:reue 
gegen  ben  ©lauben  ber  SJäter  tierrfc^t,  uermag  aud)  bie  ©emeinbe 
ber  t^eo[ogifd)cn  ©c^ulfprad^e  ju  folgen  unb  bie  religiöfen  SEBerte 
unb  SR  e  a  I  i  t  ä  t  e  n  in  unb  au§  it|ren  g  0  r  m  e  I  n  ju  empfangen 
unb  JU  genießen:  roo  aber  bie  tird^lic^e  ©itte  gelodert  ift  unb 
breite  9Waffen  au§  bem  SSerbanbe  ber  tir«^lid)en  Drbnuugen  ent* 
laffen  finb,  ba  jeigt  fid)  bie  f urd)tbare  Äe^rfeite  biefe§  3uftanbe§ : 
bie  ganje  innere  ©nterbung  unb  ©ntfrembung  gegenüber  ben 
religiöfen  ©ütern  tritt  unoer^üllt  f)erDor.  ^atte  man  fte  über* 
roiegenb  nur  al§  Se^re  ber  ©d|riftge(el^rten,  b.  \).  be^  geiftlid)en 


84  ö  e r  j  0  g:  3[«fu§  ot§  ^rcbiger. 

geleierten  unb  bie  freie  eoangelifd^e  Suft  unb  ©timmung,  auS 
roeldier  l^erauS  3lefu§  fpric^t  unb  bie  ber  3fftn9crt*^ci^  eingeatmet 
f)ai,  fcl^r  fd^ön  einanber  gegenüber  unb  bettagt  bie  Satfadie,  bog, 
al§  „bie  3Wenge"  diriftli^  rourbe,  bie  gefe^Iid^e  3lrt  roieber  auf- 
fommen  mu^te.  ®§  ift  in  ber  Sat  fo,  t>a%  nac^bem  bog  ©oan* 
gelium  in  ber  fatfjolifd^en  Äir^e  jur  nova  lex  begrabiert  mar 
—  n)a§  ja  feine  geroid^tigen  gefc^id^tlid^en  ®rünbe  \)atk  —  e§ 
aud)  in  ber  eoangelifc^en  Sirene  nict)t  jur  SBoDau^roirfung  feiner 
5reit|eit§mad|t  gefommen  ift.  2)ie§  log  unb  liegt  nic^t  nur  an 
bem  „jroifc^eneingetommenen"  Sel^rgcfe^  ber  SRec^tgläubigleit,  oiel^ 
me^r  ift  biefe§  nur  ein  SHefley  unb  Orimptom  einc§  tieferen 
aWangel§,  ba^  nämlid^  tatfä^Iic^  bas^  ©oangelium  felbft  nur  un* 
Dolltommen  atS  ®efe^  ber  greitieit,  be§  (Seiftet  erfaßt  ba§  e§ 
nic^t  einfach  aK  neuc§  Seben  unb  neue  Seben^Iuft  im  ®lauben 
an  unb  in  ber  ©emeinfci^aft  mit  bem  ^errn  oerftanben  roorben 
ift.  ®a§  Programm  be§  eDangelifd)en  Sl^riftentumö,  roie  e§ 
Sut^er§  genialer  „©ermon  öon  ber  Jrci^eit  eineS  ©Triften* 
menfc^en"  in  muftergültiger  3Beife  aufgeftellt  ^at,  bebeutet  eine 
^ö^e  eoangelifc^er  @rtenntni§  unb  ^riftlid)en  Seben§oerftanbc§, 
n)eld)e  bie  nad^folgenbe  firc^lid^e  SSerHinbigung  nic^t  ju  beliaupten 
Dermo(^te,  oon  ber  fie,  um  ber  „^erjen§^ärtigteit"  ber  ©Triften* 
menfd^en  mitten,  mie  fie  eben  einmal  waren,  unoermertt  mieber 
^erabgegtitten  ift.  ©o  ftel^en  bie  3)inge  unb  ba§  ift  bie  trübe 
Äel^rfeite  ju  bem  üielberufenen  unb  oielgerül^mten  SBorte  ®oet^e§, 
momit  er  ber  QvoanQ^la%z,  in  ber  ftd^  bie  Äirc^e,  qua  SJolf^tird^e, 
nun  einmal  befinbet,  fo  entgegenfommenb  unb  ^uman  SRec^= 
nung  trägt:  „3)a§  Sidjt  ber  ungetrübten  göttlid)en  Offenbarung 
ift  niel  ju  rein  unb  glänjenb,  al§  ba^  e§  ben  armen,  gar  fc^roac^en 
^öienfcieen  gemä§  unb  erträglid)  märe.  SDie  Äird)e  aber  tritt 
als  mo^ltätige  ^Vermittlerin  ein,  um  ju  bämpfen  unb  ju 
ermäßigen,  bamit  atten  geholfen  unb  Dielen  rool^l  merbe".  2)a§ 
ift  gut  unb  freunblid^  gerebet,  aber  man  fei  fid)  babei  ftar  bar- 
über,  ba§  mit  biefer  üermittelnben,  tempcrierenben  g^nttion  ber 
Äirc^e  auf  ber  einen  ©eite  ba§  gefe^lic^e  SEBefen,  auf  ber  anbe* 
ren  ber  2Ibta§,  b.  ^.  fomo^l  ein  Stb^ug  an  ber  eoangelifc^en  grei* 
^eit,  als  ein  91ac^la§  an  feiner  SReintieit  fi^  t)erfnüpft  —  benn 


$  e  r  5  0  0 :  3^f uS  ol^  ^rebiger.  85 

beibeS  forbert  fic^  gegcnfeitig  — . 

aimx  ift,  unter  gegebenen  Umftänben,  e  i  n  e  §  fieser  ju  üer» 
langen:  Tlan  fod  au$  ber  ^ot  feine  Sugenb  machen,  unb  roenn 
man  über  bie  ®oangeIien  prebigt,  bie  oon  Detinger  a.  a.  O.  in 
bcr  genannten  ^rebigt,  ber  er  ba§  geiftüotlc  Stiema  gegeben  ^at 
,,6^riftu§  be§  ©efc^eö  @nbc",  auögefproc^ene  3Barnung  tief  ju 
^erjen  faffcn:  „Satan  ge^t  auf  nid)t^  fo  liftig  au§,  at§  bafe  er 
nur  ©c^riftgele^rtc  unb  ©ettierer  in  3Jlenge  erroede,  bie  ben 
@(auben§n)eg  }u  einem  ©efe^eSmeg  machen,  bamit  bie  £eute  feine 
fiuft  befommen,  fonbem  bajs  fte  ®fel  unb  SSerbru^  föff^n  an  bem 
(Soangetium,  ba^  bie  ©c^riftgele^rten  ju  lauter  ®efe^  machen", 
dagegen  betont  er :  „SBer  nur  Suft  ^at,  mer  nur  3^funt  ^erslicf) 
lieb  ^at,  mer  nur  bie  ©lieber  ^efu  um  ber  fc^önen  ©ac^e  O^fu 
willen  liebt,  e^rt,  in  Obad^t  nimmt  unb  bei  ber  Äaltfinnigfeit 
biefer  3^it  P^  ^eroortut,  ber  ^at  Seil  an  bem  großen  ^eil  in 
e^rifto".  —  ®§  ift  nic^t  ju  oiel  gefagt,  menn  man  annimmt,  ba$ 
an  bem  meitoerbreiteten  ungünftigen  Vorurteil,  ber  ftillen  ober 
lauten  Slbneigung,  unter  bem  ber  geiftlic^e  ©tanb  leibet,  bie  Sat* 
fac^e  mit  fc^ulbig  ift,  bie  auc^  2trt^ur  Öonu§  in  feiner 
©c^rift  „^Religion  al§  Schöpfung"  in  feiner  fc^arffantigen  SBeife 
djarafterifiert,  ba^  ba8  (J^riftentum  meift  alö  @efe§,  ber  Se^re 
unb  bc^  gebend,  empfunben  merbe,  nic^t  al§  fc^öpferifc^e  aWadit. 
2)er  geiftlic^e  ®tanb  befommt  baburc^  etmaS  ^^olijeilic^eS,  bie 
^ißrebigt  mirb,  im  biametralen  ©egenfa^  ju  i^rem  urfpränglid)en 
©inn,  jur  S3u§s  unb  ©trafrebe,  jur  ßw^^^itung  unb  „Saft"  (ganj 
ä^nlic^  roie  ju  ber  ^rop^eten  3^^*^"  »M^  Soft  ^^^  ^erm"  jum 
unangenehmen  ©c^lagmort  geprägt  rourbe,  ^er.  23  33  ff. ;  man 
ogl.  nur  ben  lanbläufigen  ©prad)gebrauc^  be§  3Q3orte§  „prebigen" 
unb  bie  Sieberjeile:  „3)er  fd)ilt  bie  fünb'ge  ©eele  au§"). 

2)emgegenüber  follen  mir  un§  ^ineinbenfen  unb  *fi^^i^w 
in  bie  SEBa^r^eit,  bie  ein  franjöfifdjer  ©c^riftfteQer  in  ben  geift« 
ootlen  SEBorten  ausJfpri^t  (Dgl.  ^iltg,  53riefe  ©.  100) :  L'evangile 
est  une  vie;  11  ne  consiste  pas  seulement  k  se  tenir  en  garde 
contre  tel  ou  tel  peche  et  k  accomplir  teile  oii  teile  bonue 
action.  II  est  une  atmosph^re,  dans  laquelle  on  vit  constani- 
ment,  et  si  le  contact  avec  le  monde  nous  en  a  fait  sortir, 


86  §  e  r  a  0  0 :  3cfuä  al§  ^rebigcr. 

il  doit  en  resulter  du  trouble  dans  notre  Interieur'',  ^u  biefc 
Ucbcrjcugung  unb  bie  baburc^  bcbingtc  ©timnmng  mu^  bcg  ^Ißxt^ 
bigevs  ©innen  unb  9lac^bentcn  eingctaud^t  fein,  bann  werben  bie 
©^ran!en  faden,  mit  benen  teils  lird^lic^e  SRoutine,  teit§  ber  (£in= 
f(u§  be§  fie^rgefe^e§,  teil§  praftifc^e  2lengftlici^feit  ba§  urfprüng« 
Iid)e  ©üangelium  umjogen  unb  feine  göttlid)*menfd^üci^e  9iatür- 
lidjfeit  oerftcUt  l)aben.  3^e  tiefer  unb  urfprünglic^er  man  ba§ 
©pangelium  erfaßt,  befto  me^r  offenbart  fid)  feine  SEBeit^erjigfeit, 
fein  öfumenifc^er  S^arafter,  befto  entbeljrlic^er  werben  bie  Ic^r- 
gefe^Uc^en  ©toffierungen  unb  (leiber  aud))  aSerflaufulierungen 
lüie  bie  tir(^lid)en  Stempel  ^). 


1)  ^afe  es  uic^t  überflüffig  ift,  ben  9luf  imd)  ine^r  9i  a  t  ü  r  l  i  c6  f  e  i  t 
aud)  inbesug  auf  ben  Sn^alt  ber  SSerfünbigung  erfd)al[eu  gu  laffeu,  bafür  bieue 
üum  SBetuei^  eine  uulaugft  iu  einem  d)riftltd)en  iölatte  —  ba«  über  1(X)000 
?lbonnenten  goölt  —  erfd^iencne  öctraditung  über  ba«  ©Dauflelium  oom  barm- 
bcrgiflen  «Samariter.  2)iefclbc  t)at,  im  flerabcn  ©eöcnfa^  jn  Octinger«  93cbanb= 
luno^toeife,  gum  2:^ema  genommen:  „@ie  finb  aüjumal  ©ünber,  fomobl  ber  unter 
bie  SJ^örber  gefadene,  aU  bie  9}2örber,  a(d  ber  $riefter  unb  l^eoite,  aU  enb- 
lic^  ber  (Samariter,  ^er  erftere  (ätte  nic^t  aUein  ge^en  foüen.  „^ir  Ie= 
fen  auc^  nic^t,  bag  er  mit  ©ebet  unb  (Sottet  SBort"  Don  ^auie  fortgegangen 
fei.  (&x  ift  „ein  5lbbilb  ber  aüermeiften  SKenfd^en,  bie,  o^ne  üiel  nac^§ubenfcn, 
in  i^rem  Sl(Itag«g(anben  meitermacf)en,  bid  plö^Iidi  bie  Pforte  ber  ^migfeit 
oor  il^nen  fiA  auftnt"  —  bie  beiben  mittleren  ©nippen  fallen  felbftoerftänbs 
lic^  unter  baS  Urteil  be^  Zt)tma^.  ^ber  aud)  ber  le^te,  ber  eble  8amas 
riter.  ^ac^bem  feinem  @belmut  aUe  ^ilnerfennung  gesollt  toorben,  mirb  be- 
tont: „Unb  boc^  eined  fel^lt  aud)  i^m  nod)  gum  <SeIigmerben,  etiuad  ba«^ . . . 
nad)  bem  SBorte  ®otte«  ...  einft  entfdjeiben  wirb  über  unfcr  eioigcS  SBo^I  unb 
iöe^e:  211^  „Samariter"  entbehrte  biefer  "^lami  ber  rid)tigen  ®rfenntni*  in 
göttUdien  fingen,  in^Sbefonbere  ber  ^rfenntni)»  besi  ©o^nes^  Q5ottei$.  SS^er  ben 
oo^n  ©otted  f)at,  ber  f|at  baS  2eben  2C.  1.  3o^.  5 12  . .  unb  auc^  für  eble, 
braue,  madere  3}}eufd)en,  toie  gen)iB  ber  bannl)cr5ige  Samariter  einer  luar, 
gibt  ed  feinen  anbern  ^eg  al^  ben. .:  „fie  merben  ol)nc  S^erbienft  gered)t  an^ 
feiner  Önabe"  2c.  —  2Bo  nid)t  eine  @ntfd)ulbigung,  fo  boc^  eine  ®  r  f  l  ft  r  u  n  g 
für  biefe  2.^errüdung  beS  eoajigclifcöen  @eftd)t«punft«  unb  feine  SSerfteöung 
f)inter  ha^  )Bef)rgefeQ  ift  in  ber  Einleitung  gegeben,  monad)  ber  ^erfaffer  in 
einer  äl^erfanunlnng  bie  ^nfprac^e  eines  „SeltuianneS"  gehört  l)atte,  bie  mit 
ben  iBorten  fd)log:  „bleibet,  loie  \\)x  bisher  gemefen  feib:  ebel,  bilfreid)  nnb 
gut !"  —  3)arouS  ge^t  Fieroor,  bafe  bie  (gcmi&  axii  innerer  Uebergcugung  f^tx- 
vorgegangenen)  !^e!lemmnngen  über  biefen  ^elagianiemuS  bie  Unterlage  für 
btcfe  unbegreijlidie  'J}{igbeutnng  gebilbet  f)abcn.    ^ötte  aber  nic^t  bem  SBer- 


§  ^  1^  8  ö  g :  3ef u§  al§  ^rebiger.  87 

SSielleid^t  barf  ()iebci  noc^  eine  Erinnerung  nid)t  unterbrüdEt 
werben.  @ö  ift  eine  oft  beliebte,  balb  unbewußte,  balb  eräroun* 
gcne  Slbroei^ung  öon  bent  (Seleife  ber  Slatürlid^teit  wenn  bie 
t^eologifd^e  unb  I)omiIetifd^e  ßunft  ben  ^rebiger  auf  bie  93a^n  ber 
älllcgorefe  oerleitet,  ol)ne  ba§  bie  (Jiexaßaai^  eis  aXko  yivo;, 
offen  eingeftanben  wirb.  SBenn  mau  fid^  beraubt  bliebe,  n)ie  auc^ 
baburd)  bie  leidjte  ©infac^^eit  be§  Soangeliumg  oerfrfiränft  unb 
bie  91atürtid)teit  ber  Äünftlic^feit  geopfert  wirb,  fo  roürbe  man 
üou  biefer  nur  unter  beftimmten  S3ebingungen  erlaubten  SRebe^ 
figur  einen  fparfameren  ©ebrauc^  mad)en. 

2)a  aber  bie  Erreichung  biefe§  QitU  einer  möglic^ft  natür* 
lidien  Serfünbigung  be^  ®Dangelium§  im  legten  ®runbe  an  bie 
'öebingung  gefnüpft  ift,  ha^  bie  Äraft  be§  ©oangeliumg  im  ^re^ 
biger  lebenbig,  ba§  perfönlictje  E^riftentum  in  it)m  9latur  mirb 
(b.  i).  ein  organifd(e§  @eroäd^§),  meldte  ba§  i^m  grembe  oon 
felbft  abftö^t,  fo  meift  ebenfo  biefe  jmeite  gorberung,  fo  gut 
mic  bie  e  r  ft  e ,  nod|  mef)r  SBirf lid^teit,  fc^lie^lid)  auf  ben  ^^Junft 
^in,  ber  entfrf)eibenb  ift:  SBie  ftet|t  e^  mit  ber  ^erfönlid)!eit? 
mit  bem  3^ii9"i^  be§  Seben§,  ba§  un§  allein  erlaubt,  !räftig  ju 
prebigen  unb  barum  perfönlic^  ju  prebigcn? 

3.  SJle^r  ^erfönlid)teit!  tautet  bie  britte  ^orberung  unb 
fte  bebeutet  im  älnfdjlu^  an  baö  ©efagte  beibe§ :  ber  ^rebiger  foU 
eine  d)riftlic^e  ^$erfönli(^!eit  m erben,  bann  fann  er  perfönti^er 
prebigen.  S33a§  ba§  er  fte  betrifft,  fo  ift  freiließ  mit  bem  ajio' 
matifdjen  9lu§fpru(^  95inet§:  „qui  n'apastoute  la  vie,  n'a  pas 
non  plus  toute  la  v(5rite"  eigentlid)  allen  ©Triften  im  Söerglcic^ 
mit  3^fu  ^^ibtx  bag  Urteil  ber  SJiinbermertigfeit  unb  Unjuläng* 
lidjfeit  gefproci^en.  Slber  mir  tiaben  biefem  Styiom  einen  9Jla§s 
ft  Q  b  für  unfere  äBirffamfeit  unb  ein  3  ^  ^  ^  fö^  ^^\^^  ©treben 
ju  entnehmen.  Qene§  infofern,  afe  mir  un§  barüber  tlar  fein 
muffen,  ba§  ba§  <3fmponberabile  be§  perfönli^en  ®inbrurf^  ni^t 
nur  ebenbiefelbe,  fonbern  eine  größere  2:ragroeite  ^at,  al§  bie 
5orm  unb  ber  <3nl|alt  ber  Sßerf ünbigung,  ba§  bal^er  jebe  fpürbare 
^utongruenj  oon  ©ein  unb  Sieben  if)re  ©diatten  mirft  auf  ba§ 

faffcr  eine  innere  IBcflcmninng  auc^  bariibcr  erwacficn  follen,  ba6  er  rcd)tfllQU= 
biger  fein  toollte,  als  ber  §crr  unb  SWeifter  felbft? 


88  $  e  r  3  0  g :  l^ef ud  alsi  ^rebtger. 

abgelegte  3^w9i^i^  ^^^  ^^^^^  2lbjug  uerurfa^t  au  feiner  ®laub= 
roürbigteit  unb  burc^f^Iagenben  Kraft.  3)enn  wenn  bie  ©orte 
bcr  ^rebigt  oer^aüt  finb  ober  aurf)  —  Dergeffen,  fo  bleibt  bie 
9lu§ftrat|lung  ber  ^^erfönlic^feit,  bie  im  günftigen  unb  bie  im  un= 
günftigen  ©inne.  3Jlöc^te,  ja  mu^  e§  barüber  jebem  ^rebiger 
bange  werben  —  benn  wer  tann  mit  feinem  perfönlic^en  Seben 
bie  (Sröjse  unb  SRein^eit,  bie  SGBärme  unb  Kraft  be§  ©Dangelium^ 
beden?  —  fo  ift  e^  freilid)  anbererfcit§  ein  ftet§  un§  Dorfc^roebcus^ 
be^,  nie  erreic^te^  3^^^/  "^^"^i  ^^^  ^'^  ^bentität  oon  SBort*  unb 
2:at}eugni§  ju  oer  mir  flicken  ftreben.  3lber  e§  ift  barum  no(^  fein 
^^Jt)antom,  bem  mir  nadijagen,  feine  unmögli^e  Slufgabe,  an  ber 
mir  un§  ju  jerarbeiten  l^ätten.  ®§  gibt  beftimmte,  gebahnte 
SBege,  meld)e  gortfdjritte  in  ber  SWic^tung  ju  biefem  Qxti  oer* 
fprec^en  unb  oerbürgen.  3)er  erfte  Schritt  unb  bie  fclbftoer» 
ftänblicf)e  Orunblage  für  baö  glaubmürbige  3^W9ni§  be§  ©oange- 
Uum§  ift  ja  bie^,  baj3  ber  ^rebiger  für  feine  eigene  'ißerfon 
be^felben  teilhaftig  unb  biefeö  93efi^e§  f  t  o  t)  geworben  ift.  3)er 
©runbton  ber  ^i^eube  über  bie  erfahrene  33arm^erjigfeit  mirb 
bann  in  ber  3Serfünbigung  bie  Dominante  bilben.  Unb  ba§  ift 
bie  erfte  öebingung  bafür,  ba|  fie  ein  lebenbige§  ®d)o  in  ben 
^erjen  ermecfe.  ®iefer  ©runblage  entf priest  bann  ber  weitere  3Beg 
jur  perfönlic^en  ^Beglaubigung  be§  ^rebiger§:  ®§  ift  ber  ber 
^emut  unb  ^ufric^tigteit.  Sag  babei  bie  äBa^r^eit  be§ 
SebenS  eS  oerlangt  unb  baS  ci^riftlid)e  unb  firc^lic^e  2)eforum  e$ 
nic^t  oerbietct,  in  bejenter  aGBeife  in  ba§  SRingen  ber  eigenen  ^er» 
fönlic^feit  bem  ßu^örer  einen  93licf  ju  oerftatten,  bebarf  faum  ber 
®rinnerung.  ©obann  get)ört  ju  ber  fittlic^^religiöfen  Seglaubi* 
gung  be§  ^rebigerg  al§  eine§  3^ugen  ber  9Ba^rI|eit  bie  untrüg* 
lid^e,  tatträftige  Ueberf üt)rung  ber  3u^örer  bann,  bag  eS  i^m  um 
©ottesi,  nid|t  um  feine  @^re,  um  bie  ^a^rl^eit,  nic^t  ben  ^ei> 
fall  ber  SBclt  ju  tun  ift,  unb  bag  er  gefinnt  ift  wie  $aulug :  „idj 
fu(^e  nic^t  ba§  eure,  fonbern  euc^."  darüber  barf  unb  fann  er 
bie  ©emeinbe  nic^t  im  unflaren  laffen.  SSBie  aber  bie  Ke^rfeite 
^ieoon  ift,  bag  er  an  ber  ^^Sflic^t,  ber  gßttlid)en  3Bal)r^eit  „fterbf 
lic^eä  Oefäg"  ju  fein,  einen  ©tai^el  befi^t,  ber  i^n  beftcinbig 
treibt,  an  feiner  2)urc^bilbung  unb  Säuterung  ju  arbeiten,  fo  ift 


©crjog:  3cfu§  al§  ^tebiger.  89 

mit  bicfcr  Eingabe  an  bie  gro^e  ©qc^c  üon  üorncljcrcin  auc^  ber 
SBcfx^  bc§  ^öd^ftcn  @ute§  oerbunbcn.  3)cmt  „bcr  Ärfcr§man«, 
bcr  bcn  2lrfer  baut,  barf  bie  Jrüc^tc  am  crftcn  c|enic|en"  (2.  Jim.  26). 
3)amit  ift  fc^on  bie  anbete  ©ette  berüljrt:  e§  gilt  per  fön* 
lic^  ju  reben,  rec^t  üerftanben  im  5Reben  perfönlic^  }u  werben. 
SBic  ha§  9teben  t)on  ber  eigenen  ^erfon,  Doßenb§  ba§  etroaS  au§ 
ftd|  2)laci^en  burd^  bie  richtige,  felbfttofe,  ^eilige  93eruf§auffaffung 
von  felbft  au§gefc^Ioffen  ift,  —  fo  ba^ber  rechte  ®cbrau^  bcr 
pcrfönli^en  gürroörter:  ic^,  bu,  er,  mir,  i^r,  fte  unb  last,  aber 
Qttd^  least,  „man"  t)on  innen  ^erau§  fic^  ergibt,  o^ne  eine  ted^« 
nifd)e  ^nftruftion  ju  erforbern  —  fo  ift  in  folc^en  perföntirf)en 
®rnft  eingefd)Ioffen  ba§  ^erfönlidimerben  im  ©inn  ber  beut* 
Iid)en  2lpoftropf)e  an  bie  ^örer.  3)a§  mar,  mic  erjäl^tt  wirb, 
bie  Sraft  eine§  SB  1^  i  t  e  f  i  c  I  b.  ©o  roirb  ber  SJebner  nic^t  met)r 
über  bie  Röpfe  roegprebigen,  fonbern  roirb  jum  ^feil,  ber  bie 
©emiffen  trifft.  Äierfegaarb  ^at  in  feiner  fc^arfen  SBeife  in 
feiner  „Sinfibung  im  ©^riftentum"  in  bie  ®efa]^r  l^ineingeleuc^tet, 
in  bie  mir  burc^  bie  ,,33etrac^tungen"  attmä^Uc^  hineingeraten 
finb.  „©etrad^tungen",  fagt  er,  „fommen  roeber  bcm  Siebenben, 
no^  bcm  ^örenben  ju  nalie,  bie  Betrachtung  fiebert  ganj  juoer* 
läffig  bagegen,  ba§  e§  nid^t  jum  ^erfönlic^roerben  fommt.  .  .  . 
Unter  ^erfönli^roerben  üerfte^t  man  ja  ein  unjiemlic^cS,  unge* 
bitbetc§  Setragen,  2ln}ügtic^teiten,  unb  alfo  ge^t  c§  ni^t  an,  per* 
fönlid)  ju  reben  {aU  rebenbe§  ^c^)  unb  ju  ^erfonen  ju  reben 
(bcm  l^örenben  S)u).  Unb  gel|t  ba§  nid^t  an,  fo  ift  ba§  ^rebigen 
abgefc^afft."  9Jlan  roirb  fid)  bem  (SinbrudE  nic^t  entjiel^en  fönnen, 
ba§  ber  fc^onung§Iofe  Sritüer  in  bem  ^auptpunfte  SRec^t  ^at, 
bag  in  ber  lanbläufigen  ^rebigtroeifc  ju  oiel  „Betrachtung",  ju 
rocnig  Slpoftrop^c  ift.  Qfeber  ^^Jrebigcr  erfäiirt  e§  an  fic^  felbft, 
ba§  c§  Ici^t  ift,  Betrachtungen  ansuftcHen,  bagegen  ein  SD3age= 
ftfidt,  im  ^ßrebigtoortrag  bie  eigene  ?ßerfon  eiujufe^en  unb  bie 
ber  ^örer  in  9lnfpruc^  ju  nehmen,  fein  ©eroiffen  fagt  il^m  aber 
auc^,  roaS  me^r  frommt.  Unfere  ^rebigtcn  f outen,  roo  nid^t 
©c^Iad^ten,  fo  boc^  jum  roenigften  2;aten  fein,  ni^t  geiftlid)e 
SWanöoer.  3)a§  mit  biefem  „^erfönlid^roerben"  ein  allgemeinere^ 
@rforberni§  fi^  oon  felbft  Dcrbinbet,  ba§  roeiter  au§jufü^ren  nic^t 


90  ©  e  r  5  0  g :  ^^\\xS  aB  ^rebiger. 

not  tut,  nämlid)  bie  ßi^^^^w^ugt^cit,  wonach  bic  ^^Srcbigt  bie 
9lufga6c  ^at,  einen  bcftimmten  Qxotd  bei  ben  $6rem  (fei  eg  @r« 
fenntnig  ober  3BiUen§entf d)Iu6  /  ®ntfd)eibung  ober  2:roft)  ju  er* 
reicf)en,  bebarf  nur  ber  (Erinnerung. 

3)ie[e  enge  a3ejiel)ung  jroifc^en  ^^erfonlic^teit  unb  "ißrebigt  ift 
—  ba§  möge  jum  ©c^luffe  nod)  gefagt  werben  —  rote  ber  jar* 
tefte  9iero  unferer  Seruf^roirffamfeit,  fo  juglei^  bie  Ärifi§  in 
unferer  ©eruf§lauf6al)n,  ber  $untt,  ber  barüber  entfi^eibet,  ob  e§ 
aufioärtg  unb  oorroärt^  ober  abroärtg  unb  rüdtioärtg  mit  bem 
^rebiger  felber  ge^t. 

Q\t  e§  bem  3Infänger  nod^  mögli^,  feine  ^^rebigt  ju  fertigen 
unb  bann  „abjulegen",  mie  ein  ^cnfum  ober  ein  ©yamen,  roeil 
er  erften^  mit  bem  S^ec^nifc^en  noc^  fooiel  2lrbeit  i^at  unb  roeil 
jmeiten^  bie  afute  9lä^e  }mifd)en  bem  ^^n^alt  be§  SBortrag^  unb 
bem  ©rieben  ber  >ßerfon  nod^  nid)t  oöüig  erreicht  ift  ober  toenig= 
ften§  nicf)t  jum  ooüen  öeiou^tfein  tommt,  fo  treten  im  fiauf  ber 
3eit  unb  im  3)rang  ber  @rfat)rungen  unb  S}erpflid)tungen  biefe 
beiben  ®rö^en  einanber  immer  nä^er  unb  fe^en  fic^  freunblic^ 
ober  feinblict)  austeinanber  unb  jmar  in  ber  S5ruft  be§  ^rebiger«. 
3)ie  roeitere  naturnotmenbige  (Jntmidlung  ber  Sac^e  ift  bie,  bafe 
e§  i^n  entmeber  nad)  oben  rei^t  ober  abroört^  jief)t,  baß  cnt= 
roeber  feine  ©elbfterfenntnig  unb  fein  ^ebürfniö  nad)  göttlicf)er 
^raft  unb  ®nabe  oertieft,  ober  aber  er  abgeftumpft  unb  oerf^ärtet 
roirb. 

®§  fönnten  nun  mo^l  aufecr  biefen  brei  gorberungen  be§ 
Strebend  nac^  SlBirf lirfjteit ,  S^atürlid^feit  unb  ^^Serfönlid^teit  nod) 
anbere  aufgemiefen  werben,  bie  bemfelben  3iclc  iufü^ren,  ba^  wir 
ber  ^^rebigtmeife  be§  3Jleifter§  un§  affimilieren,  aber  fie  berü^* 
ren  unb  oerbinben  fid)  bod)  auf§  engfte  mit  ben  aufgejeigten 
ßinien.  SÖenn  e§  fomiefo  mandjem  fd)einen  mag,  aU  ob  barin 
un§  metir  aufgegeben  merbe,  aU  mir  leiften  tonnen,  fo  roirb  bas 
^öd)fte  Quietio,  ba^  mir  "ißrebiger  immer  braud^en  unb  auf 
beffen  g^ftigteit  unb  Sragfraft  mir  ftet§  angemiefen  bleiben,  n)enn 
bie  9}erantmortlid)feit  unfere§  93erufe§,  ba§  fc^merjlidie  ©efübt 
ber  Unjulängtic^feit  unb  ba§  nod)  empfinblid)ere  ber  Sünben  unb 
Sßerfäumniffe  fic^  auf  bic  Seele  legt,  ta^  fein:  e^e  mir  barauf 


$  e  r  $  0  g :  :3efu§  alg  ^tebiger.  91 

Slnfpru^  ma^cn,  9lac^a^mer  unb  9lac^bilber  be§  ^crrn  al§  ^rc* 
biger  ju  fein,  tootten  loir  für  unfere  ^erfon  einmal  feine  @r= 
Ißften  fein,  bie  fid|  roie  alte  unfere  93rüber  ber  SJergebung  ber 
©ünben  getröften  unb  ebenbamit  ba§  elementare  SRed^t  ^aben, 
3eugen  be§  (SoangeliumS  ju  fein  unb  ju  bleiben. 


Seit  f  ä^c. 

I.  ((Einleitung),  ^er  prafttfdie  @c^\d}t^puntt,  üon  bem  mir  ^iev  bie  ^xaQt 
anfaffeii,  beftimmt  biefelbe  nS^er  ba^in;  morin  unb  inmiefern  tann  unb 
foU  3efu9  fflr  und  als  Sßrebiger  uorbilblicbfein?  ^aS  3tel  ift  btebei  btefe^, 
ba6  mir  fo  t)tel  aU  möglich  Don  feiner  „^oümad^i"  (3Jlt  7)  erlangen. 

A.  3efuS  $rebigt  formell  unb  materiell  betrachtet. 

IL  Sladi  i^rer  formalen  6eite  fennseic^net  ftcfj  bie  ^rebigtmeife  3efu  burcf) 
tbre  eingigarttge  92atürli$!eit,  bie  barauf  beruht,  bag  er  1)  in  ber  (me^^ 
fentlic^en)  SBa^rbeit  gan^  ju  $aufe  ift  2)  ba6  er  bie  ^ebftrfniffe  ber  $örer 
genau  fennt  unb  oermertet  unb  3)  ba^er  indbefonbere  bad  Snftrument  be^ 
aQgenieiuen  SBabrbeitdgefübld  (sensus  communis)  meifterbaft  b<inbbabt. 

III.  ^aö)  ibrer  i  u  b  a  1 1 1  i  d)  e  n  @eite  bifferengiert  fie  ftcb»  toa^  bie  Tlo' 
tioe  (unb  DnietiDe)  betrifft,  in  breifacber  ^bftufung:  über  ben  gegebenen  1) 
rationalen  (aHgemeiusmenfcbncben,  bej.  etbifcbeu)  unb  2)  religidfen,  beg.  efcba« 
tologifcben  SRotiuen  erbebt  ftd)  3)  a(9  neued  unb  originales  bie  geiftige  $0- 
teng  bed  SieicbeS  (^otteg.  @ofern  bad  i  n  i  b  m  felbft  urfbrünglicb  erfcbienen, 
nimmt  innerbalb  bei^felben  feine  $erfon  eine  gentrale  Stellung  ein. 

IV.  ^t^f)alb  ift  bie  Sßrebigerperf önlirf) f  eit  3c|u  teilmeifc  xw 
unb  t)0rbilblid)f  teilmetfe  aud)  unnacbabmlid)  unb  unerreid)bar. 

6.  Unfere  gegebene  (lanbläufige)  $r ebigtmeif e. 

y.  @e^en  mir  üon  einer  llntcrfucbung  il^rer  gefcbi^tlidien  (a(fo  relatiu 
notmeubigen)  (Sntmidehmg  bi9  auf  ibre  heutige  (l^eftalt  ab,  fo  geigt  fcbon  ein 
Ouerfcbnitt  burcb  le^tere  ben  großen  2lbftanb  öon  ber  %xt  Sefn.  S)cr= 
felbe  ift  einerfeitl^  burcb  bie  Umftänbe  bebingt  unb  alfo  begreiflieb  unb  mibe« 
benfücb  bingune^men,  anbererfeits  aber  bebenflid)  unb  megen  einer  brei- 
facben  (^efabr  unferer  $rebigtmeife  gu  beanftanben: 

1)  ber  ©efal^r  beS  ^ormatiSmud, 

2)  ber  beS  SuteaeftualiSmu^i, 

3)  ber  beS  S^et^obiSmud. 

C.  Sf  olgerungen. 

VI.  SBie  lann  unfere  $rebigt  in  bie  gröBtmögndje  Uebereinftimmung  mit 
ber  3cfu  gebrocbt  merben? 

^ntm.:   X'xt  gegebenen,  teiU  gu  tragenben,  teils  auSgufc^altenben,  ftö« 


92  ©  e  r  §  0  g :  3«fwj^  ol§  ^tcbigcr. 

r  e  n  b  e  n  @£ponenten  uuferer  $rebtgttt}trffam!eit  toerben  nur  babur^  Don  innen 
f^txanS  übertounben,  bag  mir  üon  feinem  @inn  unb  (3etft  burd)brungen  unb 
gefattigt  kuerben.    ^te^  gilt  befonberd  nad)  brei  Ülic^tungen: 

2Btr  braudien  1 )  mel^r  SB  i  r !  I  i  d)  f  e  i  t  (inbem  mir  und  fubjeftit)  mie 
objeftiü  nte^r  auf  ben  S3oben  bcr  @rfa^rung  ftcttcn). 

2)  ^tf)v  D'latürlic^fett  (nid)t  nur  im  CS^egenfa^  ^ur  @teif^eit  unb 
@e3mungen^eit  fonberu  aucg  gur  (^efe^Itc^feit  unb  ^emaUfamfeit,  beg.  Wlad^t). 

3)  2Jlet)r  $  e  r  f  ö  n  1 1  d)  f  c  i  t  (fowol^l  im  ©ein  al^  im  Stieben). 


93 


S8on 

}u  ^ubcna  in  S^eutfd^-Slutlanb. 


Seit  einiger  Qtit  fc^roirrt  bie  Sejcic^nung  moberne  Sfieologie 
burc^  oße  2:a9e§jeitungen,  ein  ^enbant  auf  religiöfem  unb  firc^* 
liebem  ©ebiet  ftgnalifierenb  gu  ©rf^einungen  auf  aütn  möglichen 
anbeten  ©ebieten,  ein  ^enbant  ju  Slnfc^auungen,  Seftrebungcn, 
SRic^tungen,  bie,  n)ie  l^cterogcn  fonft,  in  bem  einen  fid)  bereit* 

1)  ^en  (^egenftmib  bei*  üorliegenbeit  ^b^aubliing  ^abt  td)  bereite  im 
^erbft  1902  ben  üerfammelten  $rebigern  beS  ^urlonbifdjen  ftonrtftorialbcsirf^ 
Dorgetragen,  mit  ber  Slbftcbt  unb  bem  3^ccle,  ben  9Imtdbrfibern  bie  ®emeg« 
grünbe  unb  bie  3i^Ie  in  ben  ^eftrebungen  ber  neueften  (^ntwidlungSp^afe  ber 
cbangelifd)en  ^^eologie  uorgufn^ren,  gur  Prüfung  unb  §ur  ernften  Q^rn)ägung 
anzuregen.  S)er  SSerfnd)  miglang  ooUftänbig.  ^ie  Tlt\)xf^t\t  fa^  barin  nur  ein 
Attentat  auf  i^re  ©laubendfteHnng,  bad  mit  $roteft  BMtüdfsutDeifen  fei.  ^a« 
burdi  niurbe  eine  fac^Iid)  gan$  unberedjtigte  ©enfation  erregt,  bie  namentlid) 
bort,  )D0  man  fid)  auf  ^eric^te  gmeiter  unb  britter  $anb  angemiefen  fa^,  t>bU 
Itg  ungeheuerliche  ©erüc^te  über  ba^  ©efc^el^ene  gur  Solge  l^atte.  @^  liegt 
ebenfo  im  Sntereffe  ber  Badjc  tolt  meiner  unb  fc^Iteg(id)  aUer,  bag  ant^entifd) 
feftgcfteUt  toirb,  mad  bamalS  uerlautbart  morben  ift.  £eiber  n^ar  ber  S^or» 
trag,  ba  nic^t  borl^ergefe^en  \Dtxhtn  fonnte,  ha^  er  eine  foId)e  3Btc^ttg!eit  gu  er» 
langen  imftanbe  märe,  nid)tfür  bie  ä^eröffentlid)ung  bered)net,  unb  er  entgie^t 
fi4  t^r  ai\^  me6rfad)en  (^rünben.  21ber  ber  uorliegenbe  9(uffa$  bietet  in  a\u 
berer  Umrahmung  unb  fonftiger  formeQer  Umgeftaltung  baS  8ad)Uc^e  in  jenem 
S^ortrage  im  gangen  unt)erfürfit  unb  unüeranbert  Xtx  ä^erfaffer. 

Sladjfd^rift  ber  9tebaftion:  2)er  folgenbe  ^luffafe,  berinberbal» 
tifc^en  ä)7onatMd)rift  bereite  gebrudt  mar,  f^at  infolge  ^erbotd  ber  S^^tfur  bort 
nicfit  oeröffentlic^t  merben  tonnen. 

Sritfd^ft  für  %f)toloq\t  unb  flirc^f.    14.  ^a^rg.,  2.  $eft.  7 


94  f^re^etabenb:  SD'loberne  ^^eologte. 

lüiflig  jufammcnfinbcn,  ba§  fic  üor  allem  „mobern"  fein  rooKcn. 
3)ie  93ejei^nung  ^at  fid^  in  allen  ©gmptomen  fc^nell  ju  ber  un* 
^eimli(^en  SKac^t  eme§  @d)lagroort§  auSgemad^fen,  bte  ^ßarojgg^ 
men  cntgegengefe^ter  2lrt  erjeugt,  bie  einen  frf)n)ärmen  mac^t  in 
®ntjüdfen,  bie  anbern  erregt  ju  sornigem  SBiberfpruc^.  3)er  ^o^e- 
puntt  ber  Seibenfrf)aftlic^teit  ,mirb  natürlich  wie  billig  auf  bem 
©ebiete  religiofer  J^ägen  ertlommen  werben,  menn  fid)  erft  bie 
9Jleinung§Derfc^ieben^eit  borüber,  ob  „bie  fjorberung  eineö  mo* 
bernen  ®^riftentum§  unb  einer  mobenien  S^eologie  berechtigt" 
fei  ober  nic^t,  fd^ärfer  äufpi^t  unb  für  weitere  Streife  oon  SBe- 
beutung  mirb.  Sciber  pflegen  Älar^eit  ber  ©infidit  unb  Umfi(^* 
tigfeit  ber  ©rroägung  im  umgeteljrten  Sßer^ältni^  ju  bem  aufge= 
roanbten  ®ifer  ber  Äampffertigfeit  ju  ftetjen.  Sfflan  er^i^t  fid) 
für  ba§  aWoberne  unb  erboft  fi^  bagegen,  otine  ree^t  ju  mtffen, 
ma§  e§  im  tiefften  ©runbe  um  ba§  3Jloberne  fei.  ©leiben  mir 
auf  unferem  ©ebiete,  fo  l^ie|e  e§  i3or  allem  einmal  ber  5^age  auf 
ben  ©runb  fet)en:  ma§  ift  moberne  2:^eologie?  S5a  fmb  nun 
man(^e  mit  ber  3lntroort  fc^nell  bei  ber  ^anb.  SUloberne  2:^eo= 
logie  ba§  bebeutet  i^nen  bie  S^^eologie  nad^  ber  neueften  2:age§' 
mobe.  Unb  ba  SWoben  betanntli^  fel^r  fdinell  med) fein,  fo  ift 
biefer  2luffaffung  oom  SDiobernen  ber  ephemere  ©fiarafter  ber  mo- 
bern genannten  St)eologie  }meifello§.  g^eilic^  roenn  man  ftc^  an 
bie  ©t^mologie  unb  ben  urfprünglic^en  ©pradf)gebraud^  be§  SEBor» 
te§  mobern  galten  mill,  fo  l^ätte  ja  bie  angeführte  3Reinung  nid)t 
fo  Unred)t.  2lllein  roenn  man  nic^t  an  ber  Dbecflci^e  ber  6r« 
fdjeinung  Heben  bleiben  unb  fidt)  mit  einer  Slarifatur  begnügen 
mill,  roirb  e§  bod)  gelten  etma§  roeiter  au§äut)olen  unb  mel)r  in 
ben  ^ern  ber  (Sad)e  einzubringen,  ^ft  e§  roirflid)  möglich  unb 
tunlid^  ba§  überall  auffladternbe  Streben  nad)  bem,  roa§  wenig 
fd)ön  unb  au^reic^enb  mobern  genannt  roirb,  hirjertianb  al8  eine 
SJlobetorl^eit,  roie  ja  beren  unfere  Q^xt  tatfäd^lid^  oiele  jcigt,  nur 
fo  abjufd)ütteln?  Saju  ift  e§  bod^  ju  umfaffenb,  ju  tiefge^enb 
unb  tritt  mit  ju  bebeuteuben  Seiftungen  auf  ben  ^^lan.  SGBa§  ein 
ganje§  3^it<Jltc^  berartig  beroegt,  alle§  ^ergebrad^te  umpflügt  unb 
felbft  bie  3Biberftrebenben  in  feinen  S3ann  jiefjt,  inbem  e§  fie  jur 
2lu§einanberfc^ung  mit  fid^jroingt,  ba§  !ann  nid)t  etroa§  jufällig 


^ei^erabenb:  Tlohzxnt  ^^eologie.  95 

3(uftauc^cnbc§  unb  fffid^tig  loieber  a3crfd)n)inbenbc§  fein,  ©eine 
Surjel  mu^  tief  retd)en  unb  mit  bem  Seben^grunbc  felbft  irgenb* 
roie  in  3uf<i^^n^^>^^öng  fielen.  ®a§  beroä^rt  fid)  a\xi)  an  ber  neuen 
J:^eologie.  21.  $R  i  t  f  c^  l  bat  fic  ja  nic^t  erft  aufgebracht.  833ar 
benn  bic  fg.  negatio^tritifc^e,  ober  bie  fpetutatioe  Xbeotogie  nirf)t 
in  ibrcr  2lrt  niobern  ?  Unb  ©  d^  l  e  i  c  r  m  a  d)  e  r ,  ber  Sßater  aller 
feitberigen  Sb^ölogie?  Unb  bie  Stuf flärungst^eologcn ?  Suttier 
roar  in  oielen  ©türfcn  ein  mittetalterlid^  benfenber  unb  empfin* 
benber  9Wenfc^.  Slber  in  feinen  eigentümlicbften  unb  bleibcnbften 
flonjeptionen  putfiert  ba§  ^erj  einer  neuen  Q^\t  ^a  no^  weiter 
bürfen  wir  gurürffcbauen.  ©elbft  ein  SJlann  wie  ber  Kirdjenpater 
21  u  g  u  ft  i  n  ^at  2:öne  gefunben,  bie  ber  Siefe  bc§  @eifte§  ent* 
ftammen,  roie  er  in  bem  3Jlenfc^en  ber  Oegenroart  mcbt.  93on 
ba  aber  fc^en  mir  un§  al§balb  nod)  meiter  jurücfgefübrt  auf 
5ßauluö,  ben  großen  9Jliffionar  ber  ^eibenmett,  unb  fielen 
bobei  |d)on  in  ben  2lnfängen  be§  S^riftentum§.  9Sie  oer^ält  e§ 
fic^  mit  biefer  größten  Srfcbeinung  ber  9Kenfd(bßit^fl^W^t^?  ®c* 
^ort  fte  nid)t  am  @nbc  felbft  auf  bie  ©eite  be^  SJJobernen?  3)ar* 
fiber  fann  gar  fein  3">^ifßl  f^i^^  ^^^^^  ^^^  ^^^  SWoberne  nun- 
mebr  al§  ben  ©egenfa^  jur  Slntife  oerftetien  lernen.  3)a§  ©b^if^^"' 
tum  felbft  ift  bie  ©runblage,  ober  beffer  auSgebrürft:  bic  SBurjel 
be§  9Wobernen.  9lu§  ifim  ftammt  at§  frifc^er  Srieb  alle§  Seben§= 
oolle  bi§  if^xab  auf  bie  2^f)eologie,  bie  im  2lugenblirfe  mobern 
genannt  wirb,  im  ®runbe  aber  nic^t  ifotiert  für  fid)  baftet|t,  fon- 
bem  nur  ba§  jur  ßeit  jüngfte  ©lieb  in  einem  organifci)  ermad)* 
fenen  ©ebilbe  barftellt,  morin  bie  SBuvjel  ifjre  SebeniSfraft  am 
energif^ften  jum  9lu§brucf  bringt.  3)a§  finb  freilid)  ©e^aup^ 
tungen,  benen  c§  junäc^ft  an  mebr  ober  meniger  erregtem  SBiber« 
fprucb  nicbt  fetalen  mirb.  ®er  93emei§  fann  erft  am  ©d)Iu^  al§ 
beigebracht  erachtet  werben.  9Kögen  e§  atfo  bi§  batjin  nur  S^befen 
fein,  bic  mir  aufftetlen.  ©ooiel  merben  bocb  aucb  bic  ®egner 
nidjt  in  Slbrebc  ftcUcn,  ba§  ba§  ©b^iftcntum  im  ^nnerften  einen 
©egenfa^  jur  2lntifc  bilbet,  roenn  c§  aucb  ^^^^  feiner  Urgeftalt 
feinesmegg  unocrmittelt  unb  unoorbereitet  in  bie  SBett  getreten 
ift,  nod)  aucb  ganj  unoerflodjtcn  mit  cbarafterifti)d)en  ©lementen 
ber  9lutife  geblieben  ift. 


94  ^et)erabenb:  a^oberne  ^(^eologte. 

roiflig  jufammcnfinbcn,  ba^  fie  vox  allem  „mobern"  fein  wollen. 
3)ie  93ejeid)nung  \)at  fid|  in  alten  (Symptomen  fd^neU  ju  ber  un* 
^eimlic^en  Sffla^t  eine§  ©c^lagmortS  auggemad^fen,  bie  ^arof9§= 
meu  entgegengefe^ter  2lrt  erjeugt,  bie  einen  fd)n)ärmcn  madjt  in 
®ntjüden,  bie  anbern  erregt  ju  jornigem  SSiberfprud).  3)er  |)öt|e' 
punft  ber  Seibenfc^aftlic^feit  ^mirb  natürlich  wie  billig  auf  bem 
©ebicte  religiöfer  3=rägen  ertlommen  werben,  wenn  fid^  erft  bie 
SDleinung^oerfc^ieben^eit  barüber,  ob  „bie  ^o^berung  eine§  mo* 
bernen  ®^riftentum§  unb  einer  mobernen  äil^eologie  bered^tigt" 
fei  ober  nic^t,  fdiärfer  jufpifet  unb  für  weitere  Sreife  oon  Se= 
beutung  wirb.  Seiber  pflegen  Klarheit  ber  @infid)t  unb  Umftc^^ 
tigfeit  ber  ©rmägung  im  umgete^rten  Sßerl^ältni^  ju  bem  aufgc* 
manbten  (Sifer  ber  Äampffertigfeit  ju  fte^en.  SWan  er^i^t  ftc^ 
für  ba§  Sffloberne  unb  erboft  fic^  bagegen,  ol^ne  rec^t  ju  wiffen, 
was  e§  im  tiefften  ©runbe  um  ba§  SOtoberne  fei.  bleiben  wir 
auf  unfcrem  ®ebiete,  fo  l^ie^e  eS  oor  allem  einmal  ber  S^age  auf 
ben  ©runb  fe^en:  voa^  ift  moberne  2:^eologie?  ®a  finb  nun 
man^e  mit  ber  Slntwort  fd)nell  bei  ber  ^anb.  iäJioberne  2:^eo= 
logie  ba§  bebeutet  i^nen  bie  2:^cologie  nac^  ber  neueften  S^ageö- 
mobe.  Unb  ba  SJloben  betanntlic^  fel^r  fcf)nell  wed)feln,  fo  ift 
biefer  Sluffaffung  oom  9Äobernen  ber  ephemere  (J^arafter  ber  mo- 
bern genannten  3:^eologie  jweifeltoS.  greili^  wenn  man  fic^  an 
bie  ©t^mologie  unb  ben  urfprünglii^en  Sprad/gebraud)  be§  Sffior* 
te§  mobern  l^alten  will,  fo  ^ätte  ja  bie  angefülirte  üWeinung  nic^t 
fo  Unrcdit.  Mein  wenn  man  nic^t  an  ber  Oberfläd)e  ber  ®r* 
fdjeinung  fleben  bleiben  unb  \ici)  mit  einer  Äarifatur  begnügen 
will,  wirb  e§  boc^  gelten  etwa§  weiter  au§jul|olen  unb  me^r  in 
htn  Jlern  ber  ©ad^c  einjubringen.  ^\t  e§  wirtlid()  moglii^  unb 
tunlidf)  ba§  überall  auffladternbe  ©treben  na(^  bem,  roa^  wenig 
fd)ön  unb  au^reic^enb  mobern  genannt  wirb,  turjerl}anb  al§  eine 
2Jlobetorl^eit,  wie  ja  beren  unfere  3^it  tatfäd^lic^  oiele  jeigt,  nur 
fo  abjufdiüttcln?  ®aju  ift  e§  bod^  ju  umfaffenb,  ju  tiefge^enb 
unb  tritt  mit  ju  bebeuteuben  Seiftungen  auf  ben  ^lan.  aBa§  ein 
ganjeS  ^^it^tter  berartig  bewegt,  alle§  ^ergebrad^te  ump^ügt  unb 
felbft  bie  SSSiberftrebenben  in  feinen  93ann  jief)t,  inbem  c§  fie  jur 
9Iu§einanberfe^ung  mit  fidjjwingt,  ba§  taxm  nid)t  ctwa§  sufältig 


'Geologie. 


97 

nub  SJatcr 


'■>\ 


•»ti- 


K 


rTcn 

-,ien  uub 

3d)öpfung 

.  ber  Statur. 

ai)t  gciüorbeu 

.13  Sid^t  geftcUt 

oiutgeifterung  bcr 

luivb  fagcn  muffen, 

.ajebcn  l|at,  roaS  bcr 

opfung^gebict  in  feiner 

c^mä^ig  georbnete§  uub 

.  ucje^alteneS  ®anje§.   SDBa^ 

'  fclbftperftänblic^  geworben 

i    unbefannt.    ®a§  aber  bie 

^)runblage  gefunben  ^at,  bafür 

anfbar  beroeifen,  gegen  baS  fo 

-vftanb   poltern.    Merbingg  nur 

oa§  burc^  ben  ©intritt  be§  ©Triften* 

.11.    2Bal|r^eiten  oon  fol^er  Jrag« 

iiie^ung  unb  Slu^wirtung  eine§  lang- 

\  ba§  treiben  oon  innen  ^erau§,  ba§ 

leifen  jeben  jä^en  SBec^fel  unb  über* 

ijlieBcn.    3)er  (Sauerteig   verlangt   feine 

ä^(  ju  burdibringen.   6iner  oberfläc^lid)en 

•te   e§  be§^alb  fo  erfc^einen,  al§  ob  ba§ 

3Infange  bie  l|ergebrad)te  äBeltan[d)auung 

möfe^ung  nimmt,  fo   boc^  roenigften§  auc^ 

u  uaio  bejaht.    3)ie§  wäre  um  fo  el|er  mög= 

•lettierenbe  Äritif  jebenfaßg  fernliegt  unb  au§ 


96  S^e^erabenb:  iEnoberne  2:^eo(ogie. 

gtagcn  roir  nun:  roorin  befielt  bcr  ©egcnfa^  be§  ®t|viftcn== 
tum§  unb  ber  Slntifc? 

@r  betrifft  ba§  fiepte  unb  ^öd^ftc,  maS  cS  für  ba§  bcntenbc 
93cn)u|tfcin  gibt:  9latur  unb  ®eift,  9laturbafein  unb  pcrfönlic^cS 
Sebcn,  roorin  ber  perfönlic^e  ©eift  fic^  über  bie  Statur  ergebt 
unb  i^rer  mächtig  fü^lt.  3)er  antiten  SSBelt  fliegt  bcibeS  ganj 
unb  gar  burc^einanbcr,  in  loeld^em  3Wa§e,  ba§  tonnen  wir  unS 
am  türjeften  unb  einfai^ften  burc^  2luffrifc^ung  einer  ©c^ulerin* 
nerung  beutlid^  t)eranfd)auli^en.  äBtr  brausen  nur  an  Ot)ib§ 
9Jletamorpt)ofen  ju  benfen  unb  e§  fte^t  unS  cor  Singen,  roie  tu 
nerfeitS  SBaffer  unb  gete,  SBaum  unb  Sier  unS  au§  perfonlidien 
3ügen  anblidfen,  unb  anbcrerfeit§  urfprünglid)  perfönlid^e^  fieben 
fortroä^renb  in  blo§e§  9taturba[ein  übergebt.  ®§  roogt  formti(^ 
burc^einanber  o^ne  beflimmte,  fefte  ©renje.  S)ementfpre^cnb  ge* 
ftaltet  fic^  aud)  bie  9lnfc^auung  non  ber  ®ottt)eit.  3)ie  9latur 
ift  nid^t  nur  „ber  ©ott^eit  lebenbigeS  Äleib",  fonbern  gerabeju  ber 
eigentliche  Urgrunb,  worauf  erft  ba§  perfönti^  geiftige  SEBefeu 
ber  ©ott^eit  erroäd^ft,  foroeit  banon  überhaupt  bie  SRebe  ift;  benn 
bei  ber  ^errf^enben  ©runbanfd)auung  fann  e§  nic^t  befrcmben^ 
ba§  eine  fc^ittembe  Unbeftimmt^eit  unüberroinbbar  bleibt.  3)ic 
©ott^eiten  taffen  fict)  uon  i^rem  ©lement  nicf)t  Io§Iöfen,  unb  ber 
antife  aJlenfd)  ^at  auc^  gar  tein  ernftlid|e§  93ebürfni§  bafür. 
©elbft  in  ber  geläuterten  ©otteSibee,  bie  bie  ^tiitofop^ie  erarbeitet 
l|at,  bleibt  bei  aller  ©ublimierung  burc^  ben  'ißrojeg  be§  reinen 
3)enten§  geroiffermafeen  ein  unentfernbarer  S3obenfa§,  ein  Siatur* 
reft,  eine  2Jrt  non  @rbenfcf)n)ere  tro§  aller  ®rl)aben^eit  über  bie 
©elt  bi§  }ur  ©leid^gültigfeit  gegen  fie. 

SBBeld)en  Sßanbel  ^at  nun  l^ierin  baS  ©^riftentum  gefc^affen? 

3unäd)ft  fei  negatio  feftgeftellt,  ba&  ber  ©anbei  nic^t  etroa 
bewirft  ift  burc^  eine  3lrt  Don  p^ilofopl^if^er  Stritit  an  ber  früher 
t)errfd)enben  SBelt»  unb  ©otteöanfci^auung.  9li(^t  au§  nerftanbeS* 
mäßiger  SReflefion  ift  bcr  Umfd)n)ung  ^eroorgegangen.  ©eine 
Duelle  ift  uielmelir  ba§,  roa^  man  fubjeftip  angefe^en  religiofeS 
SSemu^tfein,  objeftiD  genommen  Offenbarung  nennen  mug.  2luf 
bem  3uf^"^w^^"f^Iw&  beiber  ru^t  baS  religiöfe  ®rlebni§,  baö  in 
ber  ©efc^id)te  ber  SDlenfc^lieit  ju  einem  neuen  2lu§gang§punfte 


f^e^erabenb:  SRoberne  ^l^eologte.  97 

wirb,  ^n  3fcfu8  ©l^riftug  M  P*  bcffcu  Oott  uub  SBater 
funbgctan  afö  ®eift  b.  ^.  als  bcr  perfönlic^c,  in  beraubter  Slb» 
ft(^t  auf  uns  gerichtete  SDBitle,  ber  al§  ©d|5pfer  unb  ©r^atter 
oder  ^inge  fotvo^I  beS  3^i^(i^^^  ^^^  i>^^  @iDigen  mächtig  ift, 
unb  bcibe§  Ien!t  ju  bem  S^tUf  öHe§,  roaS  ^erfon  l^ei^t,  ju  oev« 
einen  in  feinem  überroeltlid^en  Sleic^e  jum  ®enuffe  eroigen  fiebernd, 
nämli^  ber  feiigen  ©emeinfc^aft  mit  i^m.  ^n  biefer  ®otte§offen- 
barung  erf^eint  ber  ^err  aOer  ®inge  in  feinem  perfönlic^  geifti« 
gen  2Befen  gefc^ieben  üon  allem,  roa§  9ktur  ift,  unuerflod^ten  uub 
unoerroirrbar  bamit.  Unb  bie  ^erfonen  im  93evei^e  ber  Schöpfung 
gehören  als  foldie  auf  bie  ©eite  ®atte§,  ni^t  auf  bie  ber  Statur. 
®amit  ift  erft  bem  perfönlic^en  Seben  fein  oolleS  SWed^t  geroorben 
unb  feine  eroige  ©ebeutung,  feine  eroige  SBürbe  inS  fiid^t  geftellt. 
greilict)  l^at  äft^etifc^  fc^roSrmenber  9Wunb  über  ®ntgeiflerung  ber 
9latur  geHagt.  Slber  ein  unbefangenes  Urteil  roirb  fagen  muffen, 
bag  auc^  ber  Statur  erft  baS  @^^riftentum  gegeben  l|at,  roaS  ber 
9latur  roar.  ®enn  nun  erft  ^at  biefeS  ©d)öpfungSgebiet  in  feiner 
©igenart  fid^  erfaffeu  laffen  als  ein  gefe^mä^ig  georbneteS  uub 
burd)  biefe  Orbnung  einl^eitli^  jufammengel)alteneS  ®anje§.  SDBaS 
uns  als  „9taturgefe§"  fo  geläufig  uub  felbftperftänblic^  geroorben 
ift,  roar  ber  9(nti!e  gan)  unb  gar  unbefannt.  ^a^  aber  bie 
jloljc  9laturroiffenf^aft  biefe  il^re  ®runblage  gefunben  l^at,  bafür 
foQte  fte  ftc^  bem  @:^riftentum  banfbar  beroeifen,  gegen  baS  fo 
mand)t  i^rer  ^ü^ger  in  Unoerftanb  poltern.  SlllerbingS  nur 
grunbfä^lid)  sunäc^ft  roar  alles  baS  burc^  ben  Eintritt  beS  S^liriften^^ 
tumeS  in  bie  SBelt  entfd^ieben.  SBa^r^eiten  oon  fold^er  2:rag- 
roeite  bebürfen  ju  i^rer  2)urc^je^ung  unb  äluSroirfung  eines  lang« 
bauernben  $ro}effeS,  roobei  baS  S^reiben  oon  innen  ^erauS,  baS 
organifc^e  SBßac^fen  unb  Steifen  jeben  jä^en  3Bec^fel  unb  über» 
ftürjtcn  gortf^ritt  auSfc^liegen.  S)er  Sauerteig  ocrlangt  feine 
3eit,  um  bie  brei  Steffel  ju  burd^bringen.  ®iner  oberfläc^li^en 
Setrad^tungSroeife  fönnte  eS  beS^alb  fo  erfd)einen,  als  ob  baS 
ß^riftentum  in  feinem  2lnfange  bie  liergebradjte  SBeltanf^auung 
roenn  nic^t  jur  SSorauSfe^ung  nimmt,  fo  bod)  roenigftenS  auc^ 
nic^t  ablehnt,  fonbern  naio  bej[af)t.  ®ieS  roäre  um  fo  el^er  mög* 
lic^  geroefen,  als  refleftierenbe  Äritit  iebenfatlS  fernliegt  unb  auS 


98  g^cgcrabcub:  Üöiobcrnc  3:t)Coloflie. 

b€r  SSergangentieit  at)ncnbe  Sejcugungen  bcr  S03at)r^cit  roic  ^xo^ 
V^ctcnftimmen  ^crübcvtöncn.  2)ic  Dorct)ri[lIid|C  S^'xi  ift  ja  üott  bcr 
©chatten  bc§,  ba§  jufünftig  voax,  bcr  Äörpcr  aber  war  bod)  crft 
in  ß^rifto.  Qmmcr^in:  au^  t)ier  !cin  plötzlicher  93rud(.  Unb 
beim  Uebergang  auf  ben  93obcn  bcr  gricc^ifdi^^römifc^cn  SScIt  eine 
aScrmä^lung  be§  6^ri[tcntum§  mit  ber  93lütc  bcr  3lntife,  eine 
gefd)id^tlid)  notroenbige  ©ntmicfctung^p^aje,  beren  Slu^geftaltung 
un§  ©pätgcboreuc  atlcrbing^  red)t  merfmürbig  anmutet  unb  noc^ 
mertroürbiger  unb  frembartigcr,  ate  e§  tatfäc^lid^  ber  %a\i  ift, 
berütircn  f  o  1 1 1  c.  ®cnn  xoa^  gcfc^ic^tlid)  unerläßliche  ©c^alc 
mar,  ba§  möctjten  nun  nur  ju  üiele  gauj  ober  tcilmeife  roenigftenS 
alö  blcibenben  ftern  feft^altcn.  SBiebcrtjott  ^at  e§  fo  gcfdjicnen, 
als  folltcn  bic  SSJaffcr  ber  „SScrmcltlic^ung"  über  bem  ßpange» 
lium  jufammenfc^lagen  unb  c§  oerfdjlingen.  ©ic  ^abcn  fic^  boc^ 
immer  mieber  verlaufen  unb  ba§  (goangelium  ift  geblieben.  ®in 
21  u  g  u  ft  i  n  ift  für  ein  ^at)rtaufenb  immer  mieber  ber  SBcg* 
meifer  ju  i^m  gefoefen,  unb  ber  ®efang  „ber  SBittenbcrgifc^  9lac^* 
tigall"  ^at  einen  neuen  feimfroI)en  grüt)ling  eingeleitet.  3)er 
^^3roteftanti§mu§  ift  unbejmeifelbar  ber  Siräger  be§  gefc^id)tlic^cn 
®ntmicfelung§gange^.  3)rei  unerfdiüttcrlic^e  ©äulen  ber  SBa^r* 
^eit  I)at  er  aufgerichtet:  ben  lauteren  SBerftanb  be§  reinen  @va\u 
getiumS,  bic  ©elbftänbigfcit  be§  ©taatS  in  feinem  93erufe  unb 
bie  grei^eit  bcr  SBiffenf^aft  in  itirer  S^rfd^ung.  3)arauf  ru^t 
eine  neue  äBeltanf^auung,  bie  im  ©egenfa^c  }u  bcr  fo  ganj  an« 
berS  gearteten  Slntife,  menn  mir  furj  fein  moUen,  bocf)  eben  füg» 
lic^  bie  moberne  ju  nennen  fein  mirb.  ©ic  abfc^ütteln  unb  i^r 
entflicl^cn  fönneu  mir  cinfad)  gar  \nd)t  3)enn  fic  ift  nicl)t  nur 
bie  fiuft,  bic  mir  atmen,  fie  ift  ba§  93lut,  ba§  burc^  unfere  9lbern 
rinnt  unb  unfer  SBcfcn  fonftituiert.  SGßir  fönnen  bie  gefc^id)t» 
liefen  gaftoren  unfereS  2)afein§,  roorauf  bie  9lamen  Ä  o  p  c  r* 
nifuS,  Jtemton,  ©oct^c,  ©exilier,  ©c^lcicrma* 
c^  e  r,  93  i  §  m  a  r  d  meifen,  nicl)t  fortfctiaffen,  um  ju  fein  unb 
un§  JU  betätigen,  at§  mären  fic  nie  gemefen.  2)cr  feiige  SEuaf 
ift  mit  feiner  ißermcrfung  bc§  Sopernitanifc^en  SSScltfgftemS  boc^ 
ein  einfamer  ©onberling  geblieben.  SBir  alle  nehmen  bie  6te* 
mcnte   ber   mobernen  äBeltanfci)auung   at§  feftfte^enbe,   felbftuer» 


Set)erabenb:  9Tloberne  2:(^eoIo9ie.  98 

ftönbtic^e  äBal^r^eiten,  reben  unb  ^anbeln  nod)  bem  SBettbtIbe, 
ba§  un§  oon  bort^er  gegeben  ift.  9tur  roenn  roir  ba§  ©ebiet  ber 
9teIigion  betreten,  bann  l^olten  mele  eS  für  geboten,  f)ier  noc^ 
al8  SDSal^rl^eit  gelten  ju  laffen,  n)Q§  nur  unter  SSorau^fe^ung 
überrounbener  SBeItanfd)Quung  einen  ©inn  l^atte,  mit  ber  jeboc^, 
ju  ber  ©Ott  un§  geführt  i)at,  nic^t  gereimt  merbcn  fann.  ©otlte 
e§  benn  aber  nic^t  unfere  ^^flic^t  fein,  aud|  bie  9Belterfenntni§, 
bie  un§  (Sott  ermöglicht  ^at,  nict)t  ju  oerad)ten,  fonbern  fie  als 
feine  ®abe  f)ei(ig  }u  galten  unb  un§  unoerbrüd)lic^  fein  ju  laffen? 
greilic^  ^nfonfequcnj,  Surjfid^tigteit  unb  ber  fromme  SDSal^n, 
©Ott  babei  woijl  gar  befonber^  angencf)m  ju  fein,  treiben  it)r 
täufc^enbe^  Spiel  mit  ber  „bona  fides".  2lber  afö  ©pietmerf 
folc^er  ©emalten  mad)en  mir  un§  bod)  mo^l  nic^t  befonberS  ftatt- 
li^.  Unb  maS  ba§  ©^limmfte  ift:  in  bem  3Jla^e  al§  mir  bie 
SBa^rlieit  eingefapfelt  in  itiren  jeitgefc^id)tli4en,  ber  SBergängli^» 
teit  verfallenen  füllen  feft^alten,  oerfennen  mir  xi)xm  @migteit§« 
geaalt,  ber  felbft  gerabe  in  bie  neuen  gormen  einjuftrömen  ftrebt, 
um  feine  ooUe  lebenbigmadienbe  Äraft  ju  entfalten.  2Bir  brücfen 
basi,  ma§  unfer  Seben  erft  xed)t  jum  Seben  mad)en  foUte,  gu 
einer  toten  ^Reliquie  fjerab,  ber  nur  unfere  ^^ietät  noct)  eine  93e* 
beutung  für  bie  gegenmärtige  SBirtlic^teit  oerlei^t.  Unter  biefen 
Umftänben  muffen  mir  unfererfeit§  unfere  SReligion  „f(i)ü§en", 
md^renb  bie  lebenbige  SReligion  eine  folc^e  3Wac^t  ift,  ba§  mir 
in  rut)iger  3"0^^fic^t  ^^^  w^ter  it|ren  ©d|ilb  unb  Sd^irm  bergen 
burften.  ®arum  ift  e§  oon  jelier  ber  ©ang  ber  SBBege  ©otteS 
gemefen  bie  überlebten  Heiligtümer  ju  jerfci)lagen,  menn  ber  ©laube 
falfc^ermeife  fid)  an  fie  Hämmert,  ftatt  fein  Sßertrauen  rechter* 
roeife  auf  ben  lebenbigen  ©Ott  ju  fefeen.  ^aben  mir  ben  2lnfang 
beS  ®erirf)t§  am  ^aufe  ©ottc§  nic^  bereite  erlebt?  2lber  mie 
menige  laffen  fi^  baoon  jur  magren  ®in!et)r  unb  ®infi(^t  leiten! 
©te^en  benn  nic^t  unfere  Sirdien  noc^,  unb  t)ält  ftd)  nic^t  bie 
SWe^r^eit  unentroegt  in  ben  alten  ©eleifen?  2)a{)in  menbe  man 
ben  93li(f,  unb  fiet)e:  e§  ift  eitel  5^iebe.  9lur  bie  „Slntifird^lic^en" 
ftören  bie  JRul^e  mit  Kaffanbrarufen.  2lber  finb  e§  nidfjt  blo^ 
ein  paar  ^^rofefforcn  mit  bem  bünnen  Häuflein  if)rer  33emunberer, 
geftac^elt  oom  „Unglauben"?  ©o   fann  e§  nur  benen  crfcl)einen. 


100  ^eperabenb:  iEnoberne  St^eotogie. 

bic  bcn  Äopf  jum  Sräumen  in  ben  @anb  ftcdtcn.  3)cr  nioberne 
®cift  rumort  nid|t  bto^  burc^  eine  ^anboott  ©efe^rte  in  ben  ^örfälen 
ber  Uniperfitäten,  e§  ^anbelt  pc^  nid)t  nur  um  „S^^cofogengejänf " : 
eine  3Q5eItanfd)auung,  bic  baS  gefamte  fieben  ber  gebilbctcn  SÄcnfd^s 
^eit  umfaßt  unb  bemgemä^  mit  ber  ©ematt  eine§  unmiberfte^» 
Iid)en  (Strome^  l^eranbrauft,  po6)t  an  unfcre  2;ore.  ®ie  ewige 
SSSa^r^eit  beS  @Dange(ium§  braucht  ftd^  freiließ  aud)  baoor  nid^t 
ju  fürchten.  Sber  umfo  bringtid^er  erl^cbt  fid)  bie  ^roge:  grfln» 
ben  wir  un§  aud)  auf  biefe  SBa^r^eit?  ober  liaben  roir  am  (£nbc 
fiatt  be§  gelfen§  ben  anliegenben  ©anb  jum  gunbament  genom= 
men,  ba§  un§  ber  erfte  SlnpraH  ber  ©emäffer  roegfc^memmt  ? 
3ur  ©elbftprüfung  in  ber  Slic^tung  biefer  fragen  foHte  un§  bie 
moberne  Sil^eotogie  jebenfaüS  anregen  unb  bienen.  ;3gnorieren 
fäfet  fie  fid|  ni^t  me^r.  ©ie  fpuft  nic^t  nur  in  ben  Äöpfen  neue* 
rung§fü(^tiger  2:t)eologen.  ©ie  ift  ^inau^gcbrungen  in  bie  n»ci» 
teften  Äreife  unb  fd^Iägt  i^re  SBogen  in  ^aläften  unb  ^ütten. 
^arnarfg  SBorIcfungen  über  ba§  SBefen  be§  S^riftentumö  roer* 
ben  ben  gefd^id^tli^en  9iul|m  behalten,  bie  fragen,  worüber  lange 
unter  ben  5öd)mdnnern  t|in  unb  I|er  geftritten  roorben  mar,  mit 
einem  ©daläge  ju  brennenben  für  bie  ganje  gebitbete  SBelt  ge- 
mac^t  JU  ^aben.  2)a§  ift  erreid)t  burdi  eine  feltene  93erbinbung 
ebelfter  ^Popularität  mit  umfaffenbfter  äBeite  be§  S8IidEe§,  tieffter 
©ele^rfamfeit,  märmfter  ®rgriffent|eit  oon  bem  fieiligen  ©egen« 
ftanbe  unb  el^rfur^tgebietenbem  ©rnfte.  aBetd)e  ©elegen^eit,  bic 
eigene  ©tellung  ju  prüfen,  ju  reoibieren  ober  ju  befeftigen!  9lber 
fo  ober  fo,  mir  foßten  nur  Söeranlaffung  ju  lebl)aftem  ®anf  fin= 
ben.  Unb  boc^,  ma§  für  ein  leibenfc^afttidjeö  ^roteftieren,  Ätagen, 
Slnfd^utbigen,  93erbäd)tigen  unb  9Serbammen  ^at  baS  93ud^  gerabe 
in  ben  Jlreifen  ^croorgerufen,  bie  eS  am  tiefften  l^ätten  würbigen 
fotten!  aOBeldje  glut  üon  Singriffen!  ^  am  ad  befenut,  er  ^abe 
barau§  leiber  nid)t§  lernen  tonnen,  ©oroeit  id^  für  meine  ^erfon 
baoon  9iotij  genommen  \)ab^,  mu^  id)  i^m  juftimmen :  e§  ift  Don 
bort  faum  ^tmaS  ju  lernen,  ©ie  fräufeln  an  ben  SQBolfen,  i)k 
unb  ba  nid)t  ganj  o^ne  ©runb ;  aber  ber  SWonb  bal^inter  ^at  oor 
i^nen  gute  SRu^e.  Unb  bod|  brauste  man  fid)  feine§weg§  we^r= 
Io§  gefangen  ju  geben.    ®aö  93ud^  l^at  eine  prinjipieüe  ©c^wä^e. 


^e^erabenb:  S^obeme  ^^eologie.  101 

©ie  ftedtt  ntc^t  in  bcr  gebotenen  ©a^e,  fonbern  in  ber  beobad^^ 
tetcn  ÜÄet^obe.  3Wit  bzn  3RittcIn  ber  ^iftorifd)=fritifd)en  ®iffen^ 
fc^aft  n^iQ  ftc^  ^ornact  feinet  ©egenftonbe^,  be§  äBefen^  be§ 
S^riftentumS,  bemächtigen,  älbet  e§  fragt  fid^:  ift  bieS  Untere 
nehmen  burc^fü^rbar?  ^arnarf  felbft  fielet  fic^  genötigt  ©renj* 
linien  ju  jie^en:  bi§  l^ier^er  reid^t  bie  SBiffen[d)aft.  3Bare  er 
nun  wie  fo  manche  Snt^ufmften  ber  SEBiffenfc^aft  ber  SWeiuung: 
barfiber  ^inauS  gibtS  eben  nichts ;  bann  n)äre  mit  i^m  oon  feinem 
©tanbpunfte  au§  nic^t  ju  redeten.  SÄber  er  ftcttt  auSbrüdlic^  feft, 
ba$  bie  Sffiiffenfd^aft  nid^t  atte§  ju  umfpannen  oermöge.  ®mpfinbung 
unb  SBiOe  reichen  na^  i^m  meiter^  unb  bie  perfönlid^e  Srfal^rung 
ergreift,  roaS  über  alte  SBernunft  ift,  burc^  eine  fubjeftioe  %at. 
S)arin  t|at  er  mieber  lebiglidi  red^t,  unb  mir  freuen  un8  l^erjtic^ 
biefe^  S8e!enntniffe§  auS  bem  ÜMunbe  be§  unerbittlidien  5orfd)er§. 
(£§  ift  auc^  ganj  in  ber  Orbnung,  ba§  roiffenfd^aftlid^e  SHefuItate 
unb  ®(auben§befenntntffe  nic^t  burd^einanber  gemengt  werben, 
fonbern  oielme^r  bie  ©renjlinien  mögli^ft  fc^arf  fic^tbar  geliatten 
werben.  2lber  n?te  geftaltet  fid^  unter  biefen  Umftänben  ber 
aSerfuc^,  gefc^ic^tlii^  baS  SBefen  beS  ©^riftentumS  feftju* 
[teilen?  Siegt  biefe§  SBefen  reftto§  innerl^alb  beS  SBereic^S,  ba§ 
bie  SBiffenfc^aft  be^crrfd^t,  fo  umfpannt  ja  biefe  tbm  atle§. 
Ober  tut  fie  ba§  nid^t,  bann  fann  man  boc^  aud)  mit  il^rer 
^itfe  oUein  nic^t  ba§  SBefen  be§  ®^riftentum§  umfdtireiben. 
^ier  ftedtt  ein  unlösbarer  innerer  SBiberfprud),  ber  fic^  nur  bann 
befeitigen  lä^t,  wenn  man  barauf  oerjictitet,  burd^  bie  @efdf)ic^t8== 
n)iffenfd)aft  ba§  SBefen  beS  S^riftentumS  ju  beftimmen.  ®§ 
tann  fid|  nur  um  bie  oiel  befd^eibenere  grage  l^anbeln:  3Q5a§  lä§t 
fid>  gefc^ic^tlid^  ate  ©runbtage  be§  (J^riftentumS  feftftellen?  2)em= 
entfprec^enb  mü^te  aud)  ber  Sitel  lauten.  ®er  gegentoärtige  for^ 
bert  baS  SWi^oerftänbniS  gcrabeju  l^erauS,  ba^  alle§,  maS  au§ 
bem  gegebenen  gefc^id^tlid^en  Umri§  herausfällt,  ni^t§  SDBefent^^ 
li^eS  fein  folle.  ®in  paar  ©teilen,  bie  bie  entgegengefefete  Sin- 
fi^t  bejeugcn,  genügen  nic^t  jur  2lbn)el|r  beS  SHipoerftänbniffeS. 
Unb  ber  ©c^abe  läuft  aud)  x\xi)t  nur  auf  ein  3Wi^üerftänbni§ 
^inauS.  ®er  893iberfprud^  im  2lnfa^  mu^te  aud)  in  ber  3lu§= 
fü^rung  irgenbmie  nac^mirten  unb  er  l^at  fic^  bemerkbar  gemacht. 


92  6  c  r  §  0  0 :  3efu§  aI8  ^rebigcr. 

r  e  u  b  e  n  @£ponenteit  unterer  !ßrebigttotrffam!eit  tuerben  nur  baburc^  Don  innen 
heraus  übertt^unben,  bag  n^ir  Don  feinem  Sinn  unb  (§)etft  burd)brungen  unb 
geföitigt  loerben.    ^teS  gilt  befonberd  nacf)  brei  Stic^tungen: 

3Bir  6raud)en  1)  me^r  äBir!Iicf)f eit  (inbem  totr  und  fubjeltto  njte 
objeftiü  mel^r  auf  btn  93obcn  bcr  ©rfa^rung  fteUcn). 

2)  äO^el^r  9latilrlic^!eit  (nid)t  nur  im  CS$egenfa^  %nx  Steifheit  unb 
^estoungen^eit,  fonbern  auc^  pr  ®efe^Iicf)fett  unb  ^etoaltfamfeit,  beg.  Tlad^t). 

3)  äRebr  $erfönlid)fett  (fomol^t  im  «Sein  al^  im  Sieben). 


93 


$on 

^ßaftoc  ff.  m.  ^tmtaitni 

2U  Xub«na  in  Seutf<^«9iuf(anb. 


Seit  einiger  Qtxt  fc^roirrt  bie  93eici^nung  moberne  S^cofogie 
burc^  aüe  2iige^aeitungen,  ein  ^enbant  auf  religiöfem  unb  firc^* 
lid^em  ©ebiet  fignattfierenb  ju  ©rfc^einungen  auf  allen  mögli^en 
anbeten  ©ebieten,  ein  ^enbant  ju  Slnf^auungen,  93eftrebungen, 
SHi^tungen,  bie,  wie  heterogen  fonft  in  bem  einen  fic^  bereit« 

1)  3)en  ^egenftanb  bei*  uorltcgenben  2(b6anbliiitg  l^abe  \ö^  bereite  im 
^erbft  1902  ben  öerfammcUcn  ^rcbigcrn  bc8  S?urlänbifd)en  Äonrtftorialbeairf« 
Dorgetragen,  mit  ber  S(bftd)t  unb  bem  3^^^^  ^cn  9Imtdbrubern  bie  93etDeg» 
grünbe  unb  bie  3icle  in  ben  ^eftrebungen  ber  neueften  ©ntiDicflung^p^afe  ber 
eüangelif^en  2:^eologie  uorjufn^renr  gnr  Prüfung  unb  5ur  ernften  SrlDägung 
anzuregen.  S)er  SSerfuc^  mißlang  t^ottftanbig.  ^ie  äJleljr^eit  fa^  barin  nur  ein 
Sittentat  auf  i^re  ©laubendftellung,  ha^  mit  $roteft  SMrüdfgntoeifen  fei.  ^a« 
burc^  tvurbe  eine  fad)Iidj  gan$  unbered)ttgte  ©enfation  erregt,  bie  namentlid) 
bort,  mo  man  fid)  auf  !8eric^te  gmeiter  unb  britter  $anb  angehliefen  fa^,  völ- 
lig ungeheuerliche  (S^erüc^te  über  ba^  ®efd)e^ene  jur  e^olge  f)attt.  ($d  liegt 
ebenfo  im  Sntereffe  ber  Saö^t  mie  meiner  unb  fcf)IieBlid)  aUer,  ha^  aut^entifc^ 
feftgefteüt  tt)irb,  mad  bamaU  Derlautbart  morben  ift.  £eiber  tuar  ber  ä^or» 
trag,  ba  ntd^t  üor^ergefe^en  toerbeu  fonnte,  bag  er  eine  foId)e  SBic^tigfett  p  er- 
langen imftanbe  toare,  nic^tfur  bie  ä}erdtfentUcf)ung  berechnet,  unb  er  entgie^t 
ficf)  i^r  an^  uiel6rfad)en  (^rünben.  21ber  ber  borltegenbe  ^uffa^  bietet  in  a\u 
berer  Umrahmung  unb  fonftiger  formeOer  Umgeftaliung  bai  @ad)(icf)e  in  jenem 
S^ortrage  im  gangen  unberfür^it  unb  unüeranbert.  ^er  ^erfaffer. 

9{a(^fc^rift  ber  9tebaftion:  3)er  folgenbe  ^tuffa^,  berinberbal* 
tifc^en  äRonatdfd)rift  bereite  gebrudft  n^ar,  l^iot  infolge  Verbots  ber  3c"fur  bort 
nid^t  Deröffentli4)t  merben  fönnen. 

3eitf<^ft  für  X^toloQxt  unb  Stwdie.    14.  ^affvq.,  2.  $eft.  7 


104  gre^erabenb:  SO^obeme  ^()eo(ogie. 

Öctra^tungSiücifc  un§  ju  locrgcgenmärtigcu.  ®arum  erfd^eint 
bcncn,  bic  utiüorbcreitct  ju  ^axnad  fonimcn,  c§  f o,  als  ob  in 
bicfcm  „äöcfen  bc§  ®^riftentum§"  fo  gut  roic  nid)tS  baoon  ju 
finben  fei,  voa^  fic  von  ÄinbcSbcincn  an  für  ba§  S^riftcntum  gc- 
l^alten  liabeu.  ®§  roävc  für  bic,  n)cld)c  in  einer,  fagen  roir  ein* 
mal:  in  ber  „Krd^Udi  gläubigen"  ^ötm  be§  ®t)riftentum§  fic^ 
lieimifc^  füllen,  oline  ä^^if^I  ^"^^  Erleichterung  be§  SJerftänb* 
niffe§  geroefen,  wenn  bie  ^  a  r  n  a  cf'fd)en  SJorlefungen  eine  2lu§* 
einanberfe^ung  mit  bem  ^evgebrad|ten  unb  eine  fc^onenbe  lieber* 
leitung  ju  bem  bleuen  böten.  äBarum  tritt  ba§  fo  ganj  jurüd? 
@§  laffen  fid)  mandiertei  ®rünbe  beuten.  3)er  auSfc^Iaggebenbe, 
meine  id|,  wirb  roo^t  ber  gemefen  fein,  ba^  ^  a  r  n  a  rf  in  ber 
3Jlaffe  feinet  3lubitorium§  feine  „tird^lid^  gläubigen"  2lnfnüpfung§- 
punfte  unb  93ebürfniffe  ^at  oorauSfe^en  fonnen.  SWan  l|at  bicfe 
SBorlefungen  Über  ba§  SEBefen  be§  ß^riftentumS  oielmit  ©d)Ieier' 
mac^er§  berühmten  „Sieben  über  bie  Sleligion  an  bie  ©ebitbe* 
ten  unter  i^ren  9Seräd)tern"  oerglid^en.  Qd^  (äffe  bie  ^Berechtigung 
biefer  parallele  in  allen  anberen  Sejiet)ungen  bal)ingeftellt  fein. 
2lber  roie  able^nenb  man  fiel)  ju  biefer  SSergleic^ung  uer^alteu 
möge,  ba§  ift  barin  boc^  entfc^ieben  jutreffenb,  ba^  auc^  ^  a  r* 
nacf  ba§  S^ü  oerfotgt  l^at,  mit  biefen  Sorlefungen,  bie  oor  ei- 
nem Slubitorium  oon  praeter  propter  taufenb  3ul|örem  au§  allen 
Jafultäten  gehalten  finb,  S^ragen,  bie  bi§  in§  3^"t^um  ber  clirift« 
liefen  SBa^r^eit  führen,  fold^en  nal^e  unb  bi§  in§  ^erj  ju  bringen, 
bie  oielleicl)t  noc^  nie  in  ifirem  Seben  berartige§  einmal  ernftliclj 
erwogen  ^aben,  ja  Dielleid)t  jebe  3wmutung  in  biefer  SRid)tung 
oon  ^aufe  auS  abjule^nen  geneigt  gemefen  mären,  ©o  fmb  alfo 
bie  93orlefungen  ein  apologetifc^er  SBerfud),  für  ben  man  ^ar* 
n  a  rf  im  ^inblirf  auf  bie  SBer^ältniffe,  wie  fie  liegen,  nur  bant* 
bar  fein  follte.  SQBir  fmb  gemotint  ©d^lciermac^erS  Stehen 
als  eine  rettenbe  Jat  ju  feiern,  wenn  mir  einmal  in  ben  ^all 
fommen  oon  ber  @efdt)id^te  jener  2:age  ju  fpred)en.  93efc^ränftcn 
mir  uns  aber  nic^t  auf  baS  greifen,  fonbern  läfcn  einmal  jene 
SluSlaffungen  beS  großen  Ifieologen,  fo  mürbe  unS  ma^rf(^einlid) 
(Sntfe^en  barüber  erf äffen,  maS  in  biefen  Steben  als  SReligion  em* 
pfol^len  mirb.    9lun,  (Sci^leiermad)er   t)at  auct|  noc^  ©effereS 


f$ei)ecabenb:  9Tlobente  ^^eologie.  105 

ju  fagcn  gcrou^t  ®^rift(ic^erc§,  roarum  l^at  er  c§  nic^t  on  jener 
©teile  gefagt?  SßJarum  ^at  er  fid)  ^ier  fo  gehalten,  ba&  mi  i^m 
Itnre^t  täten,  roenn  roir  feine  „S^eologie",  fein  „S^riftentum" 
bIo§  nac^  biefen  SRebcn  beurteilen  rooHten?  3)a8  fte^t  im  engften 
3ufammen^ang  mit  ber  apologetifc^en  Slufgabe  unb  bem  apolo- 
getifc^en  3^^^-  2)^^  Slpologet  mürbe  feines  Qxoedz^  total  fet)(en, 
menn  er  ftc^  nic^t  ju  ber  Sluffaffungömeife,  bem  ^nt^^^ff^  unb 
ben  3i^l^"  ^^^^^  I)erablie^e,  an  bie  er  fiij  menben  miti ;  menn  er 
in  gelaffener  ©ac^Iict)teit  feinen  ©egenftanb  entmirfelte,  ftatt  pah 
fenb  ad  hominem  ;u  reben.  SDarum  ift  bie  9}ed)tgläubig!eit  ber 
SÄpoIogeten  aller  3^^*^"  ™  beften  g^tle  fe^r  fd(itternb  gemefen 
unb  fie  liaben  fid)  non  benen,  bie  ftreng  in  ber  „reinen  £et)re" 
maren,  immer  ate  ^albc  ober  gonje  Sßerräter  anfeilen  laffen  muffen. 
SWein  ^oi^oerel^rter  fie^rer  SWori^  o.  ®ngell|arbt  t)at  bem 
bcrülimteften  2lpologeten  be§  3lltertum§,  bem  SJlärtprer  ^fuftin, 
in  feinem  SBerfe  über  beffen  ©l^riftentum  fd)lie&tid)  ba§  ©liriftcn* 
tum  fo  gut  mie  abgefprocl)en.  2ltle  3>been  bes  üKärtgrerS  mur* 
selten  im  ©runbe  im  ^eibentum,  fo  ba§  nur  c^riftlid^  fd)einenbe 
Jünc^e  nachbleibe.  Sngel^arbt  t)at  bem  2tpologeten  im  >!ßi)u 
lofop^enmantel  mo^l  Unred)t  getan,  älber  and)  @ngelt)arbt 
^atte  re^t.  9Jel|mt  ben  2tpologeten  beim  3EBort  unb  er  roirb 
balb  genug  feinen  ^^Jla^  au^er^alb  be§  Sager§  fuc^en  muffen. 
2)amit  foll  mm  in  ber  2lnmenbung  fpejielt  auf  §arnadE  teineS* 
roegg  gefagt  fein,  ba^  er  nor  einem  „fird)lid)  gläubigen"  Streife 
Dotl  befriebigenbe  „Sir^lid)teit"  bo!umentiert  liaben  mürbe.  2lber 
c§  erftärt  fid)  fo  jum  menigften,  roarum  in  ben  SBorlefungen  bie 
ort^oboye  g^'^geftellung  fo  menig  berüdfid)tigt  unb  oon  bort^cr 
entfpringenbe  Qnt^^cffen  oft  fo  unbefriebigt  gelaffen  finb.  ©ie 
lagen  eben  ^arnarfS  3u^örern  fern  unb  liefen  fic^  jumeift 
il)nen  nic^t  einmal  mit  2lu§fid|t  auf  irgenb  einen  Srfolg  nal)c== 
bringen.  @ine  grage  mie  bie  nad)  ber  „roefentlid)cn  ©ott^eit 
K^rifti"  unb  i^re  93eantmortuug  in  2lu^einanberfe^ung  mit  ber 
ort^oboyen  ®ogmatif  f|ätte  ^arnadS  2lubitorium  oermutüd) 
fi^nell  geleert,  mä^renb  fie  unS  in  bie  leb^aftefte  Spannung  oer^ 
fe^t  ^ätte.  @«  ift  ba^er  ba§  „2Bcfen  be§  ©liviftentumS",  biefeö 
am   Icbliafteften  umftrittene  Sud),   ba§   taufenb  5^*^S^^^  anregt. 


106  gfc^erabenb:  ÜWobcme  a;l^coIogte. 

unb  bcm  barum  ein  bcfonber§  \)o^ex  Srufrüttetung^ioert  jufommt 
lüeniger  geeignet  unb  nanienttid)  au^reid^enb  al§  ©runblage  jur 
geftftellung  ber  ^auptpofitioncn  in  ber  mobernen  S^eologie,  ju» 
mal  eine  fold^e  ^^ftftellung  o^ne  eingelienbe  Stu^einanberfe^ung 
mit  ben  entfpre^enben  SluffteUungen  ber  überlieferten  2luffoffung 
nid)t  in  üoQem  Umfange  uerftönblic^  märe.  äBa§  nun  bie  9Sov= 
lefungen  über  ba§  SBefen  be§  6;t)riftentum§  ni(^t  bieten,  ba§  fin* 
ben  mir  in  umfo  ausgiebigerem  3Wa§e  in  be§felben  ^arnadö 
S)ogmengcfd^ic^te,  bem  monumentalen  SBBerfe,  mit  beffen  @eifte§* 
traft  man  elirlid^  gerungen  I)aben  mu^,  e^e  man  ein  Sfted)t  ge= 
minut,  ein  Urteil  über  moberne  St^eologie  abzugeben,  ^ier  ifl 
ber  ©egenftanb  nid|t  nur  mit  ooUcr  miffenfc^aftlid)er  ©c^ärfe  unb 
Strenge  be^anbelt  unb  nac^  allen  ©eiten  bi§  in  bie  legten  2lu§* 
läufer  oerfolgt,  fonbern  auc^  burc^  bie  ganje  ©ntmicfelung^ge^ 
fd^i^te  ber  ^ird^e  unb  be§  (J^riftentum§  begleitet.  SBelc^e  t^eo* 
logif(^en  S^agen  un§  auc^  auffteigen  mögen,  t)ier  fönnen  mir  auf 
jebe  bie  au§reicl)cnbfte,  beftimmtefte  Stntmort  ert^alten,  bie  allen 
3weifeln  ein  ®nbe  mad)t.  3)arum  gilt  e§,  ftd^  be§  ^nl)alt§  ber 
S)ogmengefd)ici^te  ju  bemä(^tigen. 

fiä^t  fid)  biefe  9lufgabe  überhaupt  fo  löfen,  ba§  biefe  Ueber* 
fi^tlic^teit  nichts  fc^roinbet  unb  anbererfeit§  ber  erforberlic^cn  SSoIl* 
ftänbigfeit  nid)t  abgebrod)en  roirb?  9^atürlid^  nid)t,  wenn  man 
an  bie  fd)ier  unerme§lid|e  g^ülle  be§  ®etail§  benft,  ba§  in  ben 
brei  Doluminöfen  33änben  ber  S)ogmengefc^ic^te  aufgefpeic^ert  tft. 
2lber  barauf  tommt  e§  aud)  für  unferc  Q\md^  gar  nid^t  an.  @§ 
tianbclt  fic^  ni^t  um  bie  ^injeltieiten,  fonbern  um  bie  jufammen* 
faffenbe,  orbnenbe  unb  gcftattenbe  ^bce  be§  ®anjcn.  3)ie  läßt 
fid)  fe^r  mot)l  aud)  in  ber  Äürje  eine§  SleferateS  uor  2lugen  ftellen. 
©rfaffen  mir  ba§  geiftige  93anb,  bann  merben  mir  un§  au^  fd)on 
jurec^tfinben  in  bem,  ma§  eS  jufammen^ätt. 

S§  mirb  fid)  empfelilcn,  bei  ber  geftfteUung  ber  leitenben 
Qbee  ber  2)ogmengefd)id)te  nom  (Snbpunft  auSjuge^en  unb  fo  rüdE« 
märl§  JU  ben  2tnfängen  be§  ®^riftentum§  oorjufc^reiten,  ganj  fo 
mie  |)  a  r  n  a  dt  gmeifello§  bie  <3bee  feinet  2Berte§  tonjipiert  ^at. 
6r  füf|(t  fic^  ja  al§  ein  ®o^n  ber  ^Reformation.  Sluf  bem  53oben 
ber  Sieformation  fu^t  er.    aSon  bem  @efic^t§punfte  au§,  ben  bie 


greperabenb:  SO'lobente  ^f^eologie.  107 

^Reformation  eröffnet,  oerftel^t  ber  SDogmentiiftorifer  bie  i^m  oor^ 
Uegeube  Sntiüicfetung  unb  fc^Ubert  er  fie.  9Ba§  ift  i^m  nun  bie 
SReformotion?  3)ie  9ieformation  ift,  furg  gefagt.  Satter.  ®a| 
in  ber  ©eele  biefe§  rounberbaren  SRanneS,  ber  feine^gteid^en,  rürf - 
loärt^  gefd^aut,  evft  etroa  in  bem  Äir^enoater  Sluguftin  l^at, 
—  'ißaulug,  3luguftin,  Sut^er,  bie  brei  in  cinfamer 
^6t|e  ragenben  ©ipfel  ber  religiöfen  ©ntroidfelung  innert^alb  be§ 
®t)riftententum§  — ,  ba|,  fage  i^,  in  ber  ©eele  fiut^er^  ba§ 
Gpangelium  nac^  langer  SSerf^üttung  wie  mit  elementarer  @e* 
loalt  burc^=  unb  ^eroorbrad)  ai^  religiöfe  Äraft,  al§  bie  Kraft 
©otteS,  bie  in  61)  r  ifto  0  ^  f  u  ben  ©lauben  be§  ^erjenö  f^iafft, 
ber  fi^  gegen  alle§,  maä  äBett  ^eigt,  geborgen  roei^  in  feinem 
©Ott,  bem  ©d)6pfer,  Srlöfer  unb  ^eiliger:  ba§  ift,  menn  man 
eine  3ufammenfaffung  in  fnrjen  SDBorten  beget)rt,  bie  ^Reformation 
in  i^rer  unoergängtic^en  n)eltgefd)id)tlid)en  93ebeutung.  Sie  ift, 
fo  angefel^en,  Sutf)er§  ®rlebni§,  nic^t  feine  ©d^opfung.  ®r 
ift  fiel)  immer  beffcn  bemüht  gemefen,  ba§  er  nic^t§  t)on  fic^  au^ 
„gemalt"  ^abe.  2Rit  bem  2lpoftel  ^^  a  u  l  u  §  burf te  er  fagen : 
3)a  e§  aber  ©Ott  roo^Igefiel,  ber  mi(^  oon  meiner  2Rutter  Seibe 
an  \)at  auSgefonbert  unb  berufen  burc^  feine  ©nabe,  ba§  er  feineu 
©o^n  offenbarte  in  mir,  ba^  id)  i^n  burc^§  ©oangelium  nerfün* 
bigen  f ollte  unter  ben  Reiben ;  alfobalb  f u^r  i^  ju,  unb  befpra^ 
mic^  nid)t  barfiber  mit  'Si^\\6)  unb  93lut.  ^n  biefem  ©eiou^tfein 
^at  er  fid)  unüberminblic^  gcfät)lt,  unb  mit  Siecht.  3)enn  l|ier 
liegt  ba§  Unoergänglid)e.  ©iet|t  man  bie  ^Reformation  oon  biefer 
©cite,  fojufagen  i^rer  3i«nenfeite,  an,  nimmt  man  fie  al§  religio 
6fe§  ^rinjip  ober  aU  geiflige  Kraft,  ober  mie  man§  nun  in  biefer 
53etrad|tung§roeife  nennen  miß,  bann  ift  ber  2lnfang  auc^  gleidj 
ba§  oottenbete  Qbeal.  S33ir  werben  über  ba§  Etiriftentum  Sut^er§, 
wie  e§  al§  fides  qua  creditur  in  i^m  lebenbig  mar,  nid)t  t)iuau§- 
fommen,  muffen  uu§  oielmel)r  glücftid)  fd)ä^en,  menn  uu§  ge^^ 
geben  mirb,  e§  \i)\n  nacherleben  gu  bürfen.  Q^ber  aber,  ber  beffcn 
geroürbigt  mirb,  follte  ftd)  au^  bantbar  jum  ®eit)u|tfein  bringen, 
ba|  er  allein  be^^alb  ^ier  fidjer  SBeg  unb  Qkl  finbet,  meil  ber 
treue  S^^Q^  norangegangen  ift.  @r  roirb  unfer  ©lauben^oater 
bleiben   unb   bie  ^Reformation  in   bem  eben   befproc^enen  Sinne 


108  ^zii)ttabtnh:  aWobcrnc  S^^eoloflic. 

baS  bcbeutfamftc  unb  Ijöc^fte  ©rcigniS  für  baS  rcligiöfe  ficbcn  ber 
9Äenfd^l|cit  fcjt  bcn  (Srbcntagcn  unfcre§  ^crrn. 

©0  ficf)er  unb  freubig  man  nun  aber  aud^  baS  fagcn  barf^ 
ctroaS  ganj  anbcre§  ift  eS  um  bic  Sieformation  al§  äugcrlid^ 
burd)gefttf)rtc§  2öcrt,  aU  gefci^ic^tlid)e  3[u§prägung  bc§  3beal§, 
ba§  in  Sut^crS  rcligiöfem  @runbcrlebni§  Dorbilblic^  gegeben 
ift.  2)ie  ^Reformation  in  biefem  SBerftanbe  ift  nic^t§  weniger  atö 
loottenbet  ju  nennen;  oielmelir  im  g^fuge  nur  ju  fdjnell  gei^emmt, 
in  $albt)eit  ftedfen  geblieben,  Derfümmert  unb  oerborben.  Unb 
groar  mu§  man  fo  urteilen,  au(^  menn  man  bie  Sieformation  nur 
mit  bem  2Wa§ftabe  il)re§  eigenen  ^rinjipS  mi^t.  ©ie  ©erträgt 
alfo  nid^t  nur,  fie  forbert  bringcnb  SBerbefferung,  SSotlenbung, 
entmeber  in  aCBeiterfülirung,  ober  in  Umfe^r  ju  i^ren  mefcut« 
lid^en  9Sorau§fe^ungen  unb  in  Erneuerung  be§  93aue§  Don  biefem 
@runbe  au§. 

2)a§  ift  eine  äBatir^eit,  bie  nii^t  gern  gehört  mirb.  Tlan 
möd^te,  wa^  von  S  u  1 1)  e  r  §  innerem  |)eil§erlebni§  gilt,  auc^  otjnc 
meitercS  übertragen  miffen  auf  ben  Jlird^enbau,  ben  er  aufgeführt 
^at.  ^nbeö  mie  pietätooH  mir  un§  auc^  baju  ftetlen  mögen,  e§ 
gibt  bod^  ©eiten  an  bem  äußeren  SBäerfe  Sut^erö,  bie  man 
nur  JU  ermähnen  brandet,  um  it)re  Unjulänglid^feiten  unb  SOlänget 
empfinben  ju  laffen.  ®enfen  mir  j.  53.  baran,  in  melcliem  3"* 
ftanbe  un§  Äird^enregiment,  Kirc^enoerfaffung,  Oemeinbeorgani* 
fatiou,  unb  ma§  baf)ineinfc^lägt,  au^  ber  SReformationSieit  über* 
tommen  finb,  f o  mirb  fid|  mo^l  felbft  unter  ben  entf d)iebenften  Sut^c* 
ranern  fcf)mertic^  jemanb  finben,  ber  bafür  eintreten  motlte,  ba^  biefe 
3)inge  at§  ibeal  anjufelieu  feien.  SWan  mirb  am  ®nbe  mo^l  ober 
übel  jugefte^en  muffen,  ba§  bie  ^Reformation  in  biefer  ©ejie^ung 
eö  nur  ju  tümmerlidjen  ©ebilben  gebracht  f)at,  unter  bereu  SWanget« 
^aftigteit  mir  je  länger  je  me^r  feufjen. 

^  a  r  n  a  dE  ift  nun  ber  2lnfid^t,  ba^  au^  in  anbern  ©tücf en 
nod)  bie  ^Reformation,  immer  nacft  bem  SRa^ftabe  itjreä  eigenen 
$riniipe§,  nur  l^albe  Slrbeit  getan  l^at.  ©agen  mir  eS  gleid) 
runb  l)erau§:  au^  oon  ber  ^auptfac^e,  ber  fogenannten  fiet)rc, 
bem  93etenntni§,  ober  mie  man  e§  nennen  mill,  ift  nad)  ^arnadf 
JU  urteilen,  ba^  S  u  1 1^  e  r  leiber  auf  l^albem  2Bege  fte^en  geblieben 


{^egerabenb:  SJloberne  ^^eologie.  109 

ift.  35cr  ^Reformator  i)at  ^alt  gemocht  uor  bcm  ©ogma  bcr  Äird^c, 
roä^rcnb  ^  a  r  n  a  et  §  ajlcinung  bo^in  gc^t,  ba§  an  biefcm  fünfte 
bie  Meformotion  erft  if)rc  Hauptaufgabe  gu  löfen  gehabt  ^ätte. 
Svs>ax  ba§,  voa^  bie  mitte(alterlid)e  Sird}e  bem  2)ogma,  im  älteren 
©inne,  l^injugefügt  i)atU,  bie  ©atrament§Ie{)re,  jeneS  ©riftem,  mo= 
burd)  bie  'ipapftfirdie  ntc^t  nur  if)r  ^terarcl)ifd)eig  SBefen  au^ge* 
prägt,  fonbern  aud)  bie  gläubigen  Oemiffen  in  eherne  Jeffein  ge= 
fd)Jagen  i)atU,  —  b  a  §  mu^te  ja  fallen  unb  ift  gefallen ;  f onft 
wäre  e§  übert)aupt  ju  feiner  religiöfen  Erneuerung  in  meitcren 
gefd)toffenen  @emeinfd)aften  getommen,  ober  beren  Spur  märe 
längft  mieber  ausgetilgt  morben,  obgleid)  S  u  t  ^  e  r  S  Dptimi§mu§ 
e§  anfangt,  meuigftenS  für  ba§  Qnbioibuum,  al§  möglich  erad)tet 
^at,  aud)  bei  Ot)renbeic^te  unb  SWeffe  feinem  ©Ott  al§  eoangetis 
fd)er  E^rift  ju  leben.  3)ie  SBer^ältniffe  l|aben  \i)n  hod)  baju  gc^ 
brängt,  mit  ber  ©atramentite^re,  mit  biefem  ©tücf  be§  2)ogma§ 
unb  feinen  praftifc^en  ^onfequenjen  aufjuräumen,  um  bem  ®oan- 
gelium  Salin  ju  fdjaffen.  aber  er  ift  ftet)engeblieben  oor  bem 
5)ogma  im  engern  Sinne,  bem  2)ogma  ber  alten  Äird)e,  b.  \).  ber 
Irinität^telirc  unb  bcr  S^riftologie  beS  fogenannten  SJlicäno^Äon^ 
ftantinopolitanum§.  Qa,  er  ^at  feiner  Haltung  eine  SEBenbung 
gegeben,  bie  ju  ben  mer!u)ürbigften  in  ber  @efc^id)te  geliört,  bie 
ber  folgerichtigen  ®ntmicfelung  eine  rer^ängniSooUe  Sc^ranfe  ge* 
jogen  ^at  unb  bie  Duelle  unfäglic^er  SSerroirrung  pon  jenen  2^agen 
an  bi§  ^crab  auf  unfere  kämpfe  geworben  ift.  "SJlan  roirb  ber 
Stellung  SutlierS  jum  3)ogma  nod)  nic^t  ganj  gered)t,  menn 
man  fid)  bal)in  auSbrüctt:  er  \)abt  oor  \i)m  $att  gemadjt.  Q\i 
ben  articuli  Smalcaldici  finbet  man  alS  erften  Seil  bie  gormu« 
lierung  bcr  2:rinität6le^re  unb  ber  S^riftologie  nac^  bem  2)ogma 
ber  alten  Kirche.  2ll§  jmeiter  2:eil  folgt  bie  eoangelifdie  £et|rc 
oom  2lmt  unb  äBert  ^t\u  ©^rifti  ober  unfcrer  ©rlöfung. 
3Benn  nun  ^ier,  beim  jmeiten  Seil  crtlärt  roirb :  SBon  biefem  Sir* 
tifel  fann  man  nid)t§  meieren  ober  nad)geben,  eiS  falle  ^immel 
unb  @rben  ober  roa§  nid)t  bleiben  roill!  —  fo  ift  ba§  nictjt  fo 
ju  Derftet)en,  al§  ob  fi  u  1 1)  c  r  bamit  biefcn  Slrtifel,  bie  ©oterio* 
logie,  Dor  jenen,  bie  bie  J^eologie  unb  (S^riftologie  befaffen,  an^'- 
jeid)nen  rooUte.    9Jielmet)r  liegt  bie  Sac^e  f o,  ba§  S  u  1 1)  e  r  bei 

3tttf<^ft  für  XfftoloQu  unb  Äirc^e.    14.  3a^rg  ,  2.  ^cft.  ^ 


110  3r  e  X)  c  r  a  b  c  n  b :  SDlobcme  3:^cologic. 

bcn  rr^o^en  Slrtiteln  bcr  göttUd^cn  SKajeftät",  2;riiütätgtcl|rc  unb 
altlird^Ud^c  S^riftologie,  eine  folc^c  QScmcrtung  au^jci^nenbcr  %xt 
gar  nid^t  erft  für  nötig  t)iclt.  (£r  fal^  an  biefem  ?ßunttc  über* 
l^aupt  feinen  Qawt  ober  (Streit  bro^en.  Seibe  3:ei[c  waren  feiner  ' 
SJJleinung  nad)  in  biefem  ©tficfe  einig.  ®ie  SDifferenj  fing  i^m 
erft  in  ber  ©oteriologie  an,  Qa  e§  mu^  ^injugefügt  werben, 
ba^  ß  u  1 1|  e  r  nic^t  nnr,  im  permeintlic^en  ©inüerftänbniS  mit 
feinen  ©egnern,  ba§  ®ogma  t)at  gelten  laffen,  fonbern  ba§  er 
baran  uielmelir  eine  @tü^e,  ein  fefteS  gunbament  gefud|t  unb  gc* 
funben  l^at,  ba§  er  fic^  oft  mit  93efriebigung  in  ben  gormein  bes 
3)ogma§  (biefe§  ^infort  immer  nur  im  engern  ©inne  oerftanbcn) 
beroegt  unb  barin  ben  ®Iauben,  beffen  er  lebte,  mit  93orliebc  jum 
Sluöbruct  gebracht  l^at.  S^ro^bem  meint  ^arnarf,  ba^  Sut^er 
^ier  nur  binter  ficb  felbft  jurüctgebliebcn  fei  unb  ba§  bie  Sd)ranfe, 
bie  er  fo  burc^  feine  Slutorität  ber  ©ntroictetung  ber  Sieformation 
gejogen  \)aie,  unbebingt  faüen  muffe.  6§  Iä§t  ftc^  Dorau§febcn, 
ba^  biefe  Zi)z\t  ^  a  r  n  a  dE  §  genügt,  um  einen  Sturm  ber  Snt* 
rüftung  ju  entfeffeln.  SIber  mit  ©ntrüftung  ift  bicr  nid)tö  getan. 
Unb  jubem:  welcher  Orunb  liegt  oor  fidf)  ju  entrüften?  Sut^er 
felbft  ^at  einen  großen  S^eil  be§  3)ogma§  abgetan.  SBenn  er 
einen  anbern  ^at  fte^en  laffen,  fo  mad)t  feine  SiHigung  biefen 
SReft  boc^  nod^  nic^t  fafrofanft,  fo  ba^  fd)on  bie  ®rmdgung,  ob 
biefer  9left  nic^t  am  (Snbe  ebenfomenig  b^ltbar  fei  al§  bie  bereite 
oermorfene  erfte  Hälfte,  al§  Safrileg  ju  betrad)ten  märe.  Ober 
I|ätte  ba§  ^ogma  ber  alten  ^ird^e  formeQ  etmaS  oorau§  oor  bem 
®ogma  ber  mittelalterlichen?  Slber  bie  alte  ^irdje  ift  ebeufomenig 
unfehlbar  gemcfen  mie  bie  be§  SWittelalter^,  unb  bas;  3)ogma  ift 
oom  ®nbe  bis  jum  3lnfange  nic^tö  al§  menfc^lic^c  Formulierung, 
bereu  93ered^tigung  ftet§  erneuter  Prüfung  unterliegt.  ®oangeli» 
fd)e  ©b^iften  muffen  ficb  mobl  in  ac^t  nehmen  jemals  in  ben  9iuf 
einjuftimmen :  3B3a§  bebürfen  mir  weiter  3ewgni§!  Qijxt  SRcgel 
mu§  boc^  oielmebr  ba§  apoftolifcbe  SKabnmort  bleiben :  prüfet 
alle§  unb  baö  93efte  behaltet!  ®in  SJlann  wie  ^arnact  gibt 
un§  in  feinem  SSerbalten  unb  Urteilen  immer  etma§  ju  lernen, 
auc^  wenn  ber  3Beg,  ben  er  einfd)lägt,  fidi  fc^lie^Iicb  nid)t  aU 
ber  richtige  ermeifen  foltte,   unb  mir  ba§  ©rgebni^,  moju  er  ge« 


f^e^erabenb:  Tlobzxm  ^^eologie.  111 

langt  einmal  ntc^t  annehmen  formten.  @r  tut  ja  feinen  Schritt 
o^nc  beact)ten8tt)erte ,  fc^roerroiegenbc  ©rünbe.  3etft5rung§Iuft 
treibt  i^n  bod}  rooljt  ni(i)t.  9Iuc^  Scic^tfertigteit  pflegt  fo  ^eroi= 
fc^en  9hbeitern  ni^t  gu  eignen.  Slber  üieücidit  \)a)i)t  er  nad^ 
ber  ®unft  bcr  9Renge  ?  9ld|,  er  brauchte  ja  nur  fid)  nad)  ber  an-- 
bern  ©eite  ju  neigen,  unb  er  tjerrfc^tc  in  ber  „firc^Ii^en"  SBelt 
unfehlbarer  unb  vergötterter  aU  ber  $apft  auf  ber  Äat^ebra  ^^ctri. 
Säufc^en  roir  un§  nic^t  ju  unferem  eigenen  Schaben!  Amicus 
Plato,  magis  amica  veritas.  ®a§  ift  für  it)n  ber  entf(^eibenbe 
©nmbfa^  unb  nid)t§  fonft. 

Unb  nun:  raa^  beftimmt  i^n  baju,  ba§  ®ogma,  tro§  Sutl^er^ge^ 
fc^id)t{id|er  ©teDung  ju  biefem  @rbe  au§  ber  alten  Äirdjc,  im  ®runbc 
für  unuereinbar  mitbem  (Stauben  ber  ^Reformatoren  gu  eradjten? 

3)er  ©runb  liegt  fe^r  tief.  @r  ift  im  ®otte§begriff  ju  fuc^en. 
35cr  @ottc»begriff  be§  3)ogma§  ift  ein  anberer  al§  ber  Sutt)er§, 
ift  aud)  nic^t  ber  ®otte§begriff  ber  9lpofteI,  nic^t  ber  unfere§ 
|)erm  ^cfu  (S^rifti,  überhaupt  nid)t  ber  ®otte§begriff  ber 
Offenbarung  unb  ber  l^eiligen  ©c^rift  in  i^rem  ganjen  Umfange. 
SBq§  ift  benn  ba§  für  ein  ®otteäbegriff?  2ßo  fommt  er  ^er? 
SBBie  ift  er  cntftanben?  ©agen  mir  e§  furj:  e§  ift  ber  ®otte§be* 
griff  ber  Stntife,  fpejietl  bcr  griedjifd^cn  ^^ilofop^ie  unb  i^rer 
fpäteu  91ad^blüte  im  §elleni§mu§.  3)a§  ift  feine  |)i)potl)efe,  fon= 
bern  eine  offen  ju  Sage  liegenbe  Satfac^e,  ju  bereu  ®rfenntni§ 
man  eben  nur  nötig  I|at,  fi^  an^  ber  ®efd)ic^tc  ber  ^^l^ilofop()ie 
bie  erforberlidie  Qfnfoi'mation  ju  Ijolen.  2)a§  Slbfolute,  ber  Sogo^ 
unb  ber  ganjc  93egrifföapparat,  ber  bamit  im  ßufammenl^anfl  flet)t, 
fmb  in  bcr  SDBett  ber  Slntife  älter  at§  in  ber  Äirc^e.  @§  ift  be§= 
^alb  oergeblidi  ben  ®ottc§begriff  be§  3)ogma§  aus;  bern  9J^ueu 
Seftamente  ableiten  ju  wollen.  ®t)riftlid)  ift  an  biefem  ®otte§' 
begriffe  ni^t§.  @r  ift  ein  ©rjeugnig  ber  SWenfc^euuernunft  unb 
bog  Srgebni§  be^^alb  aud)  fet)r  Dcrfd)ieben  uou  ber  ®rfd)einung 
bc§  lebenbigen  ®otte§  ber  Offenbarung.  3)ie  ®otte§ibee  be§  Dog- 
mas ift  toömologifc^cn  Urfprung^,  b.  1^.  ^eruorgegangen  au§  ber 
benfenben  33etrad^tung  ber  SBelt.  2)ie  3Q3elt  ift  bie  gro^e  ^Realität, 
bie  fid)  junäd)ft  ber  SQ3a^rnef|mung  aufbrängt.  3)em  Slugenfc^ein 
ftetlt  fic  fid|  al§  unenblic^e  95ielt|eit  einjetner  unb  be^^alb  gegen» 

8* 


112  g-egerabenb:  SWoberne  3:f)coIogic. 

fd^tt^cr,  bcf d)ränttcr,  cnbfic^cr  Singe,  atS  ücrtoirrcnb  bunte 
SJlannigfaltigtcit,  al§  bcftänbigcr  Jlufe/  —  Tcavxa  ^er,  fagtc  fd|on 
^cratlit  —,  al§  unauf^örlidieS  2luf*  unb  Jiicberroogen ,  al§ 
SBcrbcn  unb  SScrgc^cn  bar.  ^ci  bicfer  SBa^vnc^mung  ücrmog  bcr 
bcnfenbe  ®cift  nic^t  ftefien  }u  bleiben.  ®r  f^öpft  barau§  gerabe  bcn 
9tntrieb,  über  bie  ©rfc^einung,  bo§  blo^  „'iß^anomcnale",  ^inau§* 
pfommen  unb  eine  f.  g.  „mctap^rififdie"  (£rtcnntni§  ber  Singe 
}u  geroinnen.  Siefe  ©rfenntniö  ift  ©ad)e  ber  Scmunft,  bie 
aßein  burc^  ba§  „^^^änomenote"  jum  „^f^teßigibeln"  oorju» 
bringen  vermag.  ®§  ift  fc^on  ein  ©rf)ritt  auf  biefer  SBa^n,  wenn 
bie  3Siel^eit  aufgehoben  wirb  in  ben  ®eban!en  be§  einen,  ba§ 
at§  ganjeS  oXiz^  (Sinjelne  in  fid)  befaßt.  2)a§  „Unioerfum"  ift 
feine  empirifd)C  Salfad)e,  fonbern  eine  93ernunftibee.  Slber  an  ber 
(ebifllic^  numerifd)en  Sin^eit  lä^t  fic^  bie  benfenbe  Vernunft  norfj 
nid^t  genügen.  @ie  fd)reitet  a(§ba(b  weiter  uor  jur  qualitatiuen 
(Sin^eit,  luonad)  aüe§  einjelne  feine  notroenbige  Stelle  in  ber 
Otieberung  jum  ganjen  f|at.  (So  ergibt  fic^  bie  Qbec  be§  „Äo§» 
mo§",  ber  SSBelt  al8  eine§  iüot)lgeorbneten  ©anjen,  ba§  in  leben» 
biger  Seiüegung  ba§  einjelne  au§  ftc^  l|crau§fe^t  unb  roieber  in 
fic^  jurüdtnimmt,  um  in  biefem  Kreislauf  fic^  felbft  in  unoerdn» 
berlid)em  ®leic^gen)id)t  unb  in  ungeftörter  Harmonie  ju  ert)alten. 
3)oct)  aud)  in  bem  ©ebanfen  be§  Ko§mo§  fommt  ber  vernünftige 
@eift  noc^  nid)t  jur  9lu^e.  2)iefe§  allumfaffenbe  unb  orbnenbe  6ine, 
biefc§  ev  xaJ  ttäv,  ftcllt  al§  empirif^  bewegtet  boc^  noc^  nid)t 
ba§  abfolute  ©ein  in  feiner  9teinl)eit  bar.  3)as  „reine  Sein" 
rodre  eben  übert)aupt  nic^t  mel^r  irgenbroie  üergduglid).  9Ba§ 
fd)ted^terbing§  ift,  ba§  ift  aud)  unoerdnberlic^  unb  eroig.  SBerbeu 
unb  aScrgel^en  ^dngt  mit  ber  93efd)rdnftl^eit  be§  pljdnomenalen 
Sein§  jufammen.  aBa§  tann  aber  bie  ©c^ranfe  am  ©eienben 
anber§  fein  al§  ba§  3Jic^tfein?  2)a^  p^dnomenale  ©ein  ift  eben 
barum  nic^t  reinem  ©ein,  meil  in  if)m  ©eienbe§  immer  bef^rdntt 
unb  fo  glei^fam  verunreinigt  ift  von  9lid)tfein.  3)urc^  bie  ^e» 
fc^rdntung  er^dlt  ba§  pt)dnom£nale  ©ein  fein  inbioibuelle^,  unter* 
f^ieblidjeö,  gegenfd§tid)e§  unb  barin  fein  mannigfaltige^  ©eprdge. 
SBitl  man  jum  reinen,  abfohlten,  eroigen  ©ein  emporfteigen,  fo 
mu|  man  bie  Unterfd)iebe,  ©egenfd^e,  Oualitdten  unb  Kategorien 


5c9c^<i'^c"i>*  äWobernc  2:i^eologic.  113 

negieren.  2)emgcmäl5  wivb  bic  „via  negationis",  bie  auc^  in  ber 
c^rijilic^en  @otte§fe^re  eine  ]o  gro^c  Stolle  gefpielt  ^at,  betreten. 
®ine  ^^räbijierung  nad)  ber  anberen  fällt,  um  ba§  abfolute  immer 
reiner  ju  crfaffcn,  bi§  fd)lie|li^  nic^tg  me^r  au§gefagt  werben 
fann,  nic^t  einmal  me^r  ba§  ©ein.  3)a§  reine  ©ein  in  feiner 
abfoluten  SßoHenbung  ift  gtcic^  bem  „iit)  ov",  bem  9lid)t§.  ©o  enbet 
bie  Spi^c  ber  fublimen  ©pefulation  im  fc^led)t^inigcn  9ii^ili§mu§. 
©Ott  al§  abfolute  ©ubftanj  ift  in  ber  95olleubung  feiner  <3bee 
aU  reine§  ©ein  —  ba§  SSlxdjt^,  iebenfall^  für  un§,  benn  wie 
bilblid)  gefagt  mirb:  er  ift  bie  atyi],  ba§  ©d^meigen.  ®r  l|at 
feine  benfbare  93ejiet)ung.  3a  er  ift  ber  ßuS-ö;,  ber  2lbgrunb, 
ber  alle§  ücrfdilänge,  roa§  mit  it|m  in  unoermittelte  93erü]^rung 
fänie.  ®et)t  man  ju  weit,  menn  man  urteilt,  ba^  biefer  ©Ott, 
ber  boc^  eigentlich  nid^t§  anbere§  ift  al§  ber  loefenlofe  ©chatten 
berSBelt,  projijiert  in  ha^  abfolute  TOd^tö,  baJ5  biefer  (Sott  nid)t 
bie  entferntcfte  2le]^nli(^teit  t)at  mit  bem  lebenbigen  ®ott  ber  Offen= 
barung,  am  toenigften  mit  bem  I|immlifd)en  93ater,  ben  un§  unfer 
l^err  unb  ^eilanb  3^efu§  ®l|riftu§  bejeugt  l^at  al§  ben,  oftne 
beffen  JBitlen  !ein  ^aar  oon  unferm  Raupte  fällt  unb  beffen  bc= 
ftänbige^  ©treben  barauf  gerid)tet  ift,  un§  an  fein  §erj  ju  jietien, 
auf  ba^  wir  in  feinem  SRei^e  unter  i^m  unb  feinem  lieben  ©oline 
leben  in  emigcr  ®ered|tigfeit,  Unfc^ulb  unb  ©eligfeit,  ba  l^in- 
gegen  ba§  abfolute  nid)t§  oon  un§  meig,  nodi  miffen  mill,  unb 
wenn  e§  fic^  eine  SSejieljung  auf  un§  geben  fönnte,  un§  oer^^ 
fd)lingen  mü^te,  wie  in  ber  5abcl©aturn  feine  Äinber?  S)iefe§ 
Slbfolute,  biefe  leere  Slbftrattion,  bicfe§  aWenfc^engebilbe  -- :  l^aben 
bie  fo  Unred^t,  meldje  fagen :  ®§  ift  ein  toter  unb  ftummer  ®ö^e, 
tro§  aller  f^illemben  ©pefulation  nid^t  beffer,  fonbern  eben  bc§= 
^alb  gerabe  fdfjlimmer  alä  bic  fonftigen  ®ö^en  ber  Reiben?  SQ3a§ 
^aben  mir  eoangelifdl|C  ®t)riften  für  eine  3Jeranlaffung,  maS  für 
einen  ®runb,  un§  mit  biefer  Slnfc^auung  für  folibarifd^  ju  er- 
flaren,  un§  für  biefen  au§  bem  ^cibentume  ftammenben  ®otte§= 
begriff  in§  3eug  ju  werfen  unb  in  bem  2)ogma,  ba§  auf  it)m 
beruht,  ein  Heiligtum  unfere§  ®lauben§  ju  fe^en? 

3Iber  ift  e§  benn  audt)  fo  fi(^er,  ba§  biefer  ®otte§begriff  bem 
S)ogma  ju  ®runbe  liegt  unb  baoon  nid)t  met|r  ju  trennen  ift? 


114  5ei)crabcnb:  3)Joberne  2;f)coIogic. 

®§  gibt  ein  untrüglidic^  Äennjeid^en  bafür.  3)a§  ift  bic 
bogmatifc^e  2Iuffaffung  bcr  ®ott^eit  bc§  ©ot|nc§,  bcr  jiueiten 
^crfon  bcr  JCvinität.  öcfanntüc^  ift  bie  SogoSfpcfuIation  für 
bic  alte  Kird)c  ba§  SWittcI  geiüefcn  bic  ®ott^eit  be§  ©o^ne^  bog- 
matifd)  ju  crfaffcn,  fcftjuftcKcn  unb  au^juprägen.  2lud)  bic  Sogos;» 
fpc!uIation  ift  nid|t  d)riftlici^em  53obcn  cutfpvoffcn.  @ic  ift  bie 
@rgäujuug  ju  bcr  ©pcfulation  über  bog  ^bfolutc,  mouon  bereits 
bie  SRebe  xoax.  S)a§  3lbfoIutc,  roie  €§  befrf)riebeu  würbe,  ift  in 
feiner  oottenbeteu  S^raufcenbenj  unb  baburd)  bebingteu  Qnbifferenj 
fo  gut  wie  o^ne  allen  religiöfen  SBcrt.  8Ba§  foU  bem  SWenfc^cn 
ein  ®ott  n)ic  jener  93^11)05?  9lun  aber  ftrebt  bod|  ouc^  bic 
natürliche  3Beltanfd)auung,  fc^on  ganj  unwilttürlic^,  nac^  einem 
geroiffen  religiöfen  33er^ältni§  ju  bem  ©roigen.  Unter  bem  (Sin» 
fluffe  biefeö  ^ntereffe^  befommt  bie  ©pctulation  über  bas  reine 
©ein  boc^  aud)  nod)  eine  etn)a§  anbere  äöenbung,  al§  bie  ift, 
n)eld)e  ju  bcr  ni^iliftifc^cn  ©pi^e  in  bem  ^gt^o^,  bcr  ©ige,  fü^rt. 
©Ott  foll  bcr  empirifd^en  3Belt  gegenüber  benn  bod)  nic^t  blo& 
©ige  unb  SSgt^o^,  er  foll  auc^  TTr^yr^,  Oueße  alle§  ©eienbcn,  fein. 
3)a§  wirb  bcr  2lnfnüpfung§'  unb  3lu§gang§punft  für  eine  ®e» 
banfenrei^e,  roorin  bie  ©ottl^eit  nid^t  fomo^l  nac^  i^rer  fc^lec^t* 
Einigen  Sranfccnbenj  in  93etrac^t  fommt,  als;  oielmef)r  angefc^aut 
wirb  au§  bem  ®efic^t5punft,  wo  fie  fic^  barfteüt  al§  bie  ^üHe, 
bie  alle§  erfüllt.  93eibe  ®ebanfenreit|en  finb  logifc^  nid)t  rec^t  su 
reimen.  9lur  notbürftig  werben  fie  miteinanber  oerbunben  burc^ 
eine  93orftellung,  bie  ein  mr)tt)ologifierenbe§  ®lemcnt  enthält:  bie 
©manatiou,  ein  ^^Sroje^  be§  2lu§flie^en§  au§  bem  unerme|lid|cn 
Urgrunbe  be§  3lbfoluten.  äiBcnn  über  ben  939t^o§,  bic  ©ige  im 
Sntereffe  bcr  abftraften  2:ranfcenbenj  fc^lic^lid^  nic^t§  auöpfagen 
war:  bei  bem  2lu§flu^  bcr  ^^ege,  be§  Urqueüö,  fällt  ba§  ^inbet' 
nig  ja  fort.  Unb  anbererfeit^  gibt  boc^  bie  ®manation8ibee  auc^ 
wiebcr  eine  gewiffe  öegrünbung  bafür,  ba§  auf  ben  abgeleiteten 
®ott  alle  bentbaren  SSollfommen^citeu  in  pofitiuen  3lu§fagen  ge* 
t)äuft  werben.  3)a§  ift  benn  bcr  Sogo^,  bie  göttliche  aSernuuft, 
ibentifd)  mit  ber  obieftioen  3öeltoernunft,  bie  güUe  bcr  ^been, 
ber  Urbilbcr  ber  3)inge,  ber  xoafios  vorjTÖ^,  bie  intelligible  SEBelt. 
3)er  Sogo^  ift  fonad)   fc^on  in  feinem  SBcfen  angelegt  auf  bie 


^c^crabcttb:  SWobcnic  2:^colo9ie.  115 

SioKe  be§  ffieltfc^üpfcrö,  unb  aU  @ott  jnjcitcn  ®rabe§  aud)  bc« 
ffi^igt,  eine  SRetation  jur  ftd^tbaren  SBelt  ju  Iiaben,  aWittler  ju 
fein  jroifc^en  ©nblic^em  unb  Unenblid^em  u.  f.  n).  @§  ift  nid)t 
mflglid)  unb  auc^  nic^t  nötig  an  biefer  ©teile  bie  ganje  Sogo§* 
Ief)rc  ju  n)iebert)oIcn.  Un§  ^anbelt  e§  fic^  l^ier  nur  um  bie  g^ft* 
ftellung  ber  2:atfad)e,  ba§  bie  Sogo§fpcfu(ation  ba§  notroenbtge 
Komplement  ber  fo§mologif^en  ®otte§ibee  ift.  9Bo  ®ott  nac^ 
ber  fo^motogifc^en  ®otte§ibee  oorgefteDt  wirb,  ba  finbet  fid)  aud) 
ber  £ogo8  al§  ber  SWittlergott  ein.  Umge!e^rt:  roo  ber  Sogo§ 
eine  SioOe  fpiett,  ba  ift  bie  fo§mologifd)e,  ftarre,  undjriftlic^e 
®otte§ibee  bie  notroenbige  93orau§fe§ung.  3)enn  o^ne  biefe  93or« 
Qu§fe§ung  mdre  ein  jroeiter,  ein  SJlittlergott,  eben  überffüffig,  unb 
ber  moniftifc^e  Qmq  ber  ©petulation  über  ba§  SÄbfoIute  mürbe 
fi^  feiner  gern  entfebigen.  ®a§,  roaS  an  fid)  abfurb  erfc^eint, 
mirb  nur  burd|  ba§  ^inüberfc^manten  ber  ©pefulation  auf  bie 
religiofe  ©eite  gemifferma^en  l^erbeigejmungen.  2lber  ber  Sogo§ 
belialt  be§^alb  auf  bem  99oben  be§  reinen  ^eibentum§  immer 
etroag  ^liefeenbeö  unb  3ctffie^enbe§  gegenüber  bem  Slßeinen.  @rft 
bie  JBermäl^tung  ber  ©pe!uIation  mit  bem  ©^riftentum  ^at,  fo« 
gufagen,  eine  größere  Äonfiftenj  be§  SogoS  ^erbeigefülirt.  ®r 
wirb  aU  jroeite  „^erfon"  ber  ®ott^eit  fiyiert.  ^üx  ba§  ©tiriften* 
tum  roaren  bie  ^^ßerfonen  ba§  ®egebene.  9Son  ber  anberen  ©eite 
fam  bie  Sttuffaffung  ber  ®ott^eit  at§  ber  abfoluten  ©ubftanj. 
3)ie  SBerbinbung  fteHte  bie  9Iufgabe  ber  bialeftif d|  =  fpetulatiuen 
98ermittelung  jmifd)en  bem  ©inen  unb  ben  SDreien.  3)a§  ift  ba§ 
S^ema  ber  t^eologifc^en  unb  i^riftologif^en  Bewegungen  be§ 
d^riftlidien  3lttertum§  gemefen.  SQ3iß  man  ben  ^at^n,  ber  burc^ 
biefe§  £abt)rint^  fü^rt,  nid)t  oerlieren,  fo  muB  man  bie  ©üb* 
ftanjibee  im  9Iuge  bel)a(ten.  2)ie  ®ottt)eit  ift  bie  abfolute  ©ub^^ 
ftanj,  aber  in  brei  ^^Jerfonen.  ^n  jeber  ber  brei  ift  bie  ©ubftanj 
ganj,  ungeteilt,  ot)ne  ba§  bod)  bie  'ißerfonen  in  ein§  jufammen« 
fliegen.  ®§  gibt  nid^t  brei  ®ötter,  fonbern  bloß  einen  ®ott. 
2lber  e§  gibt  gleid)mo^l  nic^t  bloß  eine  ?5erfon,  mennfc^on  ber 
eine  ®ott  nid^t  unperfönlid)  genommen  merben  barf ,  fonbern 
e§  gibt  brei  ^erfonen.  ®a§  bogmengefc^id)tlid)e  SRefultat  lief 
barauf  f)inau§,  auf  bem  fpinöfen  ®ebiet,  ba§  burc^  bie  5^^"^^* 


116  JJci)crabenb:  9Wobernc  2:^eologte. 

umfcf)ricbcn  ift:  ein  göttlid^cS  SBBefen  tu  brci  ^erfonen,  —  bic 
gangbaren  ^fabc  burd)  fpi^finbige,  feinen  yßiberftnn  fdjeuenbc 
gormein  fo  ju  oerjaunen,  ba^  jeber,  ber  biefe  Jormetn  beachtet 
unb  ftc^  burd)  fte  leiten  lä^t,  ftc^er  ftinübertommt,  o^ne  in  bie 
Slbflrünbe  ber  Äe^erei  ju  flürjen.  2)a§  2:t)ema,  ba§  bie  t^eolo^ 
gif(^en  Streitigfeiten  aufgenommen  hatten,  wirb  in  bm  d^rifto^ 
logifd^en  weitergefponnen.  2lud)  i)kx  ift  bie  ©ubftanjibee  bie 
burd)greifenbe,  entf^eibenbe,  aKe^  bi§  in§  einjclne  beftimmenbe. 
S)er  ©ot)n  ift  wahrer  ®ott  oon  ©roigfeit  l^er,  mett  in  feiner  ^er« 
fon  bie  göttli(^e  ©ubflanj  ift.  ®r  ^at  fic^  jum  ®^riftu§  gemad)t, 
inbem  er  unfere  9iatur  (ba§  menfd)li(^e  ©attung^mefen)  mit  ber 
göttlid)en  ©ubftanj  jur  Sinl^eit  gottmenfd)Iid)er  ^erfon  üerbunben 
l^at.  ©0  ift  er  unfer  Sriöfer  gemorben,  meil  er  unfere  menfc^= 
Iid)e  9tatur  burd^  jene  SSerbinbung  oergottet  unb  baburd)  oon 
bem  Sßerberben  ber  SnbUc^feit,  SBergänglidifeit  unb  9itc^tigfeit 
befreit  l^at.  2)ie  Sriöfung  mirb  fomit  ju  einem  ptipfifc^'^qper* 
p^rififd^en  ^roje^,  in  ®{)riftu§  felbft  Dofljogen  mit  bem  SWomentc 
ber  Qnfarnation,  für  un§  menigftenS  grunblegenb  baburc^  an- 
gebahnt. 

^[ntereffant  geftaltet  fid)  auf  biefem  ^intergrunbe  bie  Stuf« 
faffung  ber  fubjeftioen  §eil§aneignung.  SDBie  fommt  ber  eingetnc 
jum  ^eit?  9lun,  natür(id)  ^at  er  Dor  allen  3)ingen  ju  „gtau* 
ben".  3)a§  trinitarifc^e  unb  d)riftoIogif(^e  SJogma  t|ält  i^m  bie 
l^öd)ften  @Iauben§objefte  oor.  ®ie  SJlutter  Sirene  verbürgt  fid) 
für  if)re  l^eilfame  SBa^rl^eit.  3)aj3  bie  Oottf^eit  abfolute  Sub= 
ftanj  fei,  mar  ja  nun  bamal§  leicht  ju  „glauben".  Sagte  c§ 
bod)  atterorten  bie  ^öd)fte  aQ3eltroei§^eit.  ®a§  bie  güttlid)e  Sub= 
ftanj  in  ®t|riftu§  bie  menfci^Iid)e  91atur  uergottet  ^abe,  mar  fc^on 
fd)merer  ju  „glauben",  ^ier  t)alf  bie  ^öd)fte  geiftlic^e  2tutoritat 
nac^.  333er  felbft  fa^ig  jur  Spefulation  mar,  lie§  überhaupt  ben 
„©tauben"  hinter  fic^,  inbem  er  ftd)  in  bie  2letf|er^ü^en  ber 
®nofi§  emporfd)mang.  3)en  fd)Iic^ten  G^riften  mar  biefer  SBeg 
oerfc^Ioffen.  S)ie  „glaubten"  alfo,  b.  i).  hielten  auf  Slutorität 
^in  für  ma^r,  ma§  man  i^nen  al§  ^eiligen  ©egenftanb  be§  ®lau* 
ben§  oorftellte,  unb  bei  ber  93efd)affen^eit  ber  ®(auben§objefte 
mar  ja  aud)  eine  anbere  9Irt  be§  @Iauben§  nic^t  möglid).    3lber 


Jc^crabcnb:  SWobernc  ^^cologic.  ^  117 

roa^  tlQtten  ftc  benn  an  unb  in  folc^em  ®Ianbcn  al§  d)riftlic^e§ 
^citegut?  9lun,  ftc  I)attcn  oor  aüem  bic  Rtrd)c  unb  i^rc  @e* 
meinfd^aft  al§  bic  gro^c  gegenwärtige  SRcalität  unb  Ratten  barin, 
TOa§  roir  aud>  Don  unfercm  ©tanbpunttc  au§  nic^t  untcrfc^ä^en 
bürfcn,  immerf)in  nod)  einen  geroiffen,  rocnn  aud)  felir  abge* 
blatten  unb  Dcrroorrcnen  ßwfönimcn^ang  mit  bem  Ur^riftentunt. 
3)tc  Äird)c  garantierte  it)ren  ©laubigen  bic  aSerroirHirf)ung  ber 
bcntbor  l|öc^[tcn  2lu§ftcht  in  ber  juKinftigen  SEBelt  ber  SSoIIcnbung. 
©ie  tat  nic^t  nur  ba§,  fonbem  fie  gemährte  aud)  fc^on  ^ier, 
roenigften^  fflr  9Womente,  einen  feiigen  93orfc^niarf  in  ber  mt)fti:= 
fc^en  (är^ebung  be§  @ottc§bienfte§  unb  ber  Kontemplation.  2)a§ 
3icl  n)irb  natürlid)  um  fo  ooHtommener  erreici)t,  je  energifc^er 
man  „gtaubt"  unb  je  melir  man  au§  folc^em  perbienftli^en  ®Iau* 
ben  ben  9(ntricb  ju  einem  ^eiligen  Seben  entnimmt,  ba§  bem, 
ber  fid)  burc^  bic  Äird^c  leiten  Id^t,  nottauf  möglid^  fein  foH. 
3)ic  Äir^engef^id)te  berichtet  un§  ja  auc^  non  eyemplarifdien 
^eiligen,  unb  barunter  oon  fotcften,  bic  e§  in  ber  93irtuofität  ber 
Kontemplation  unb  ber  mriftifc^en  Sntgüdtung  bat)in  brachten, 
ba§  ÜKgfterium  ber  Srinität  ober  ber  Qntarnation  mit  Slugen 
}u  fdjauen.  Sluf  unferer  ©eite  l^errfd)t  nod)  immer  fo  oiel  pro* 
teftantifc^e  9lü^tern^eit,  ba§  mir  un§  angemanbclt  füllen  foId)c 
ffiytranaganjcn  at§  ©djminbel  ju  beurteilen.  Sc^roinbel  ift  ba§ 
nid)t.  ®§  ift  nietme^r  ba§  eigentlid^c  Qkl,  ba§  unter  SBorau^^^ 
fe^ung  be§  ®ogma8,  al§  ©runbtage  ber  SBa^r^eit,  unb  be§ 
9W9ftiji§mu§,  aU  red)ten  aWitteI§  ber  religiöfen  2lnbac^t,  erftrebt 
rocrben  muJ5,  unb  menigften§  uon  einigen  auf  ajlomente  erreid)t 
roorben  fein  fott.  greitic^  ein  merfmürbigeS  3^^^/  ^ö§  ben  meiften 
überhaupt  nic^t  in  (5id)t  tommt!  2:ro^  bereitmittigen  „@Iauben§", 
tro^  unbebingter  Unterorbnung  unter  bic  fir(ftlid)e  ^Regelung  unb 
Scitung  beS  8eben§  bod)  feine  au§reic^enbc  ^citigfeit,  fonbem 
ftet§  fid)  crneuernbc  unb  ^äufcnbe  aWenfd)Iid)tciten  beben!(i(^fter 
9lrt  auf  aßen  Seiten,  ffiogu  fott  man  bem  gegenüber  feine  3"' 
ffuc^t  nehmen?  3)ic  fird^Iidjc  ^^Jrayi§  ermal)nt  5U  fleißigerem 
©ebraudi  ber  (Snabenfd|ä^c  in  ben  ©a!ramenten,  biefen  „Kanälen 
ber  ^ciligteit".  @^  fann  nad^  bem  ©efagten  nic^t  überrafd^en, 
baß  bie   roirtfame  ®nabe   in   biefen  ©nabenmittetn   fubftantiett. 


118  g-e^erabenb:  üJ'lobeme  ^^eologie. 

ftoffüd^  gebadet  ift.  Qn  faframcntater  ^orm  unb  SBcrmittelung 
wirft  ^ier  bicfelbe  ©ubftanj,  bic  in  ®^riftu§  unferc  9ktur  ocr^ 
(jottct  ^at,  unb  roirft  natürlid)  in  bcrfelben  9lid)tung  unb  fi^n* 
Iid|ern)cifc.  ^ie^en  bod)  bic  ©aframentc  bcjcic^ncnbcrnm^en 
SWpftcricn,  unb  bog  ^5d)ftc  aJl^fterium,  ba§  Slbcnbmal^l,  mit  feinem 
9BanbIung§n)unber,  feiner  Sronlfubftantiation,  fielet  im  engften 
3ufQmmenl|angc  mit  ber  ^»nf^^^^ötion.  9K§  cpapiiaxov  dd-avaaia^ 
fc^afft  unb  na^rf  e§  ben  geiftlidien  fieib  ber  9luferfte^ung  unb 
be§  lünftigen  2eben§. 

@tn)a§  Qnber§  i)at  ftc^  \a  bie  Sluffaffung  ber  ©rlöfung  im 
9t6enb(anbe  geftattet.  i^ier  l|errfd|t  ber  @efic^t§punft  be§  SBer* 
bienfte§  Dor.  ®§  lianbelt  fid^  bei  ber  Srlöfuug  barum,  ber  Sei* 
ftung  be§  ®rlöfer§  einen  unenblic^en  SBert  oor  unb  für  ®ott  ju 
fidjern.  2lber  bicfe  ©etrad^tung^meife,  wie  ri^tig  ober  unri^tig 
an  ftc^,  \)at  jebenfallg  ju  feiner  burc^greifenben  Slenberung  ber 
©ubftanjtfjeoric  be§  3)ogma§  unb  feiner  2lu§läufer  in  ber  firc^:= 
Iid)cn  ©aframent^Iefire  geführt.  3)ie  göttli^e  ©ubftanj  in  ber 
^erfon  ®t|rifti  ift  t|ier  ber  roiUfommene  ©yponent,  ber  bei  allen 
Slnfa^en  ber  SRe^nung  jum  oorauS  ba§  ^a^xt  ber  Unenbli^feit 
oerbürgt.  ®ie  ©ubftanj  ber  ©ottl^eit  mad^t  ba§  aSerbicnft  S^rifti 
ju  einem  unerme^Iid^en,  fad^lic^  oorliegenben  @c^a§,  roooon  burc^ 
bic  ©atramente,  bie  bie  Äird^e  oermaltet  unb  fpenbet,  ben  ©lau« 
bigen  i^r  Xeil  in  gorm  „fubftantietter"  @aben  jur  93egrünbung 
unb  SWcfirung  i^re§  9Serbienfte§  jugefü^rt  mirb.  S)ic  „®nabe" 
mirb  i^nen  eingegoffen,  mcnn  fic  fic^  nur  nic^t  fträuben.  SBSirfen 
boc^  bie  ©aframentc  ex  opere  operato.  3)a§  fte  aber  überl^aupt 
etmag  roirfen,  baffir  t)at  man  fi^  auf  bic  Slutoritat  ber  Sirene 
ju  tjcrlaffen. 

©0  geftattet  ftd)  „S^riftentum"  auf  ®runb  be§  3)ogma§  unb 
feiner  treibenben  Qbeen.  demgegenüber  braud)t  e§  ^roteftanten 
nic^t  JU  eifen  mit  einer  cinge^enben  Kritif.  2)a§  ein  2:ei(  be§ 
ffijjierten  ©t)ftem§  oon  einem  proteftantifc^en  93en)u§tfein  nur 
abgelelint  merben  fann,  barüber  bürfte  immerl^in  uon  oorn^erein 
©inigfeit  l^errfd^en.  9Kan  barf  ftd)  bod^  rool^l  ber  Hoffnung  ^in^ 
geben,  ba|  e§  unter  etangelifd^en  ©Triften  nur  ocrfctjämte  2ln» 
tjänger  ber  ©aframent§magie   geben   mirb,   bie   bie   notroenbigc 


JJc^erabcnb:  3Jlobcmc  ^^cofogie.  119 

ejolgc  oon  Slpplijicrung  überuatürUd)er  „©ubfianjcn"  an  un§ 
fein  mu§.  3lud)  bic  ^uffaffung  hz^  d)viftli(^en  ®faubcn§  at§ 
blogeS  5ütroat)rl^alteii,  beg  c^riftlic^cn  fiebcn§  in  feiner  Spaltung 
jroifdjen  ttigfltfd^em,  b.  l).  unfagbarem  @efüt|l§taumel  unb  roibcr* 
williger  ©efe^lic^feit  ber  Äird^e  afö  ©nabcnanftalt  unb  ber  @r* 
lofung  al§  Statur-  ober  SRec^t^projeH  wirb  fc^iüerlic^,  follte  man 
benfen,  jemanb  in  ber  f^orm  bet)aupten  wollen,  wie  fie  in  ber 
alten  Äir^c  entroicfelt  roorben  ift.  Um  fo  entfc^iebener  aber 
meint  bie  gro^e  SJle^r^eit  aud)  ber  ^roteftanten  in  ber  S^rifto» 
logic  unb  2:t|eologie  bei  ben  altberoä^rten  gormein,  mie  man  fie 
nennt  bleiben  ju  foUen.  SWan  überftel|t  babei  unter  anberem, 
baj5  ba^  3)ogma  ein  etiern  gefc^loffeneS  unb  oerflammerte§  ©e- 
füge  ift  n)orau§  man  nid^t  nad)  53elieben  ein  ©tüdE  ^erau^ne^men 
tonn,  ^ier  ^anbelt  e§  ftd)  um  ein  Sntmebcr  —  Ober,  ganj  ober 
gar  nic^t.  3lud)  oou  ben  ©ä^en  be§  2)ogma§  gilt  ba^  SBort: 
Sint  ut  sunt,  aut  non  sint!  Unb  abgefet)en  non  ber  gefd)loffe* 
nen  Sin^eit,  bie  nic^t§  l^erau^julofen  geftattet  fann  e§  einen 
iS  i  n  n  ^aben,  bic  ©ubftanjauffaffung  in  ber  ^^erip^erie  al§  oer* 
roerflid)  unb  f(^äblid)  }u  befeitigen,  aber  im3^ntrum  ebenbiefelbe 
ate  95Bertüollfte§  feftjut)alten  unb  ju  ^egen? 

3lllein  laffen  mir  un§  nic^t  nerleiten,  borf)  fc^on  ^ier  eine 
fritifc^e  Prüfung  unb  aEBürbigung  be§  2)ogma§  im  ganjen  unb 
im  einzelnen  anjutreten.  SBir  t)aben  ba§  (Jl)riftentum  be§  Sog* 
ma^  im  UmriJ5  ju  Deranfd^aulic^en  oerfud^t.  @g  mirb  am  geeig= 
netften  fein,  bamad)  juoörberft  bie  5^'age  ju  beantworten:  3Öie 
ftellt  fid)  benn  bem  gegenüber  eoangelifd)e§  (Jliriftentum  bar? 

3)a  ift  e§  benn  für  ben,  ber  biefe  2(ufgabe  mit  noHer  ©nergie 
in  lebcnbigcm  Slontatte  mit  bem  ©oangelium  erfaßt  i^n  l^öd)ften 
©rabc  bebeutfam,  bie  SBal^rnelimung  ju  mad)en,  ba§  fid)  bie  ®ar- 
ftellung  be§  eüangelifd)en  ©lauben§  überl^aupt  gar  mijt  parallel 
bem  ®ogma  in  ber  entfpred^enben  Slbfolge  non  ©ä^en  geben  lä|t. 
3)a§  erfte,  worauf  wir  flogen,  ift  ein  biametraler  ©egenfa^  in 
ber  9Wett)obe.  ®§  ift  unmoglid),  wie  e§  ba§  ®ogma  tut,  auc^ 
unfererfeit§  im  ^immel  ju  beginnen  unb  oon  bort  auf  bie  ©rbe 
^erabjufteigen.  3)a§  ©oangelium  unb  ber  eoangelif^e  ©laube  üer= 
langen  ben  umgefet)rten  2Beg.  SEBie  oft  wie  energifd)  I)at  Sutf)er 


120  3rci)crabenb:  SWobcrnc  St^eoloßic. 

cingefd^ärf t :  nid^t  oon  oben  nad)  unten,  fonbern  oon  unten  nad) 
oben !  Slber  abgefe^en  oon  feiner  2lutorität :  biefe  ÜRetliobe  liegt 
im  aSBefen  ber  ©ac^e.  9Bir  fe^cn  barin  ba§  ^auptoerbienft  S  u^ 
tf)er§,  ba§  er  bie  SRed^tferttgung  burc^  ben  @(ouben  roieber  jur 
SInerfennung  gebrad^t  l^at.  ^a^  bebeutet  t>a§  aber?  5)a§  bebeutet 
üorab,  ba^  an  bem  ©tauben  aHe§  Ijängt.  2ln  roeffen  ©lauben? 
^üx  mid)  natürlich  an  meinem  eigenen,  perfönlidjen,  inbioibueßen 
©lauben.  Kein«§  anbern  ©laube,  wie  fdf)ön  er  aud^  fei,  fann  mir 
I)elfen.  aWein  ©laube  mu§  e§  tun,  roie  mir  ben  §errn  im  ©üan* 
gelium  fo  oft  in  ber  2;at  fagen  ^ören:  ®ein  ©taube  t)at  bir  ge^ 
l^olfen.  ®a§  bebeutet,  baJ5  bie  retigiöfe  SB3al|rl|eit§ertenntni§  im 
eüangetifc^en  SBerftanbe  für  jeben  i^re  SGBurjel  in  bem  3^"^^^"^ 
feiner  eigenen  ^erföntid^teit  l)at  nur  oon  ba  au§  erfaßt,  in  i^rem 
93eftanbe  unb  in  if)rer  ma^fenben  2lu§geftaltung  gegebenenfalls 
befrf)rieben  werben  fann.  ^^embe  ©ebanfen  über  ©Ott,  mögen  fic 
aud)  an  fid)  nodt)  fo  n)at)r  unb  fc^ön  fein,  fönnen  unb  bürfen  mir 
nic^t  in  ber  SBeife  aufnehmen,  ba§  wir  fie  für  roalir  Iiatten  unb 
bann  oerfud)en  unfern  ©lauben  barnai^  ju  mobein.  Sut^cr  in 
feiner  ^ü^nbeit  ^at  fid^  nic^t  gefd^eut,  ba§  gerabe  ©egenteil  ba* 
oon  al§  ba§  SRid^tige  ju  bcliaupten.  Qm  großen  Äatec^i§mu§ 
fagt  er,  mie  oft  gitiert  roorben  ift,  jum  erften  ©ebot:  „SBBa§  Reifet 
einen  ©Ott  liaben,  ober  roa§  ift  ©Ott?  Slntroort:  ©in  ©ott  ^eigt 
ba§,  baju  man  fid)  oerfe^en  foll  alte§  ©uten  unb  S^flu^t  ^aben 
in  aüax  Slöten,  alfo  ba§  einen  ©ott  liaben  nid)t§  anbere§  ift, 
benn  i^m  oon  ^erjen  trauen  unb  glauben,  roie  ich  oft  gefagt 
tiabe,  bag  allein  ba§  2:rauen  unb  ©tauben  be§  §erjen§  mac^t 
beibe :  ©ott  unb  9lbgott.  Qft  ber  ©laube  unb  ba§  Sßertrauen  rcd^t, 
fo  ift  aud)  bein  ©ott  red)t;  unb  mieberum:  mo  ba§  SSertrauen 
falfc^  unb  unrecht  ift,  ba  ift  auc^  ber  rechte  ©ott  nid)t.  ®enn 
bie  jroei  gel)ören  jut)auf:  ©taube  unb  ©ott."  SBenn  ^arnacf 
biefe  äBorte  gefdf)rieben  l^ätte,  fo  mürbe  e§  l^ei^en:  „5)a  fielet  man 
red)t,  wie  fidf)  ber  mobernen  2;^eologie  alle§  in§  ©ubjettioe  auf* 
töft.  5)er  ©taube  mad)t  fid)  feinen  ©ott  unb  betet  it)n  bann  an. 
3ft  nid)t  fo  ber  ÜWenfd)  ©df)öpfer  ©otte§,  genau  genommen  felbft 
ber  eigenttid)e  ©ott?  2)a  aber  jum  ©tüdt  Sut^er  e§  ift,  ber 
fid)  fo  geäußert  ^ai,  fo  mirb  e§  bod)  oielleid^t  nod^  gelingen  ba* 


gre^erabenb:  äJ'loberne  ^^eologie.  121 

»on  ju  übcrjcuflcn,  ba§  bic  SBortc  nic^t  fo  ju  Dcrftet|cn  finb,  wie 
bic  beliebte  Äonfequenjmad^erei  fie  einem  „3Wobernen"  jiüeifcUos^ 
auslegen  mochte,  ^ie  ^roei,  fagt  £ut^er,  gel^ören  ju^auf :  @laube 
unb  @ott.  2)q^  ^eigt  natürlid)  nict)t:  @rft  lege  ic^  mir  meinen 
©lauben  jurec^t,  unb  bann  bilbe  id)  mir  ben  ©ott,  bem  ic^  ben 
@taubeu  mibme.  älud^  baS  freiließ  fann  man  \a  tun.  3Ba§  fann 
man  nid)t?  3lber  ha^  Ergebnis  mirb  babei  nur  älberglaube  unb 
Stbgott  fein.  i{utt)er  ^at  im  Sluge  ben  „Olauben  beg^erjens". 
2Ba§  er  fo  c^aratterifiert,  ift  ber  (Staube,  ber  nur  jroif^en  $er* 
fönen  in  it)rem  SSer^ältni^  ju  einanber  befte^t  unb  nad)  ber  ©ac^« 
ertlärung  be§  9leformator§  roefentli(^  9Sertrauen  ift.  3Sertrauen 
fann  ftrf)  überhaupt  niemanb  felbft  geben,  e§  mu§  erroedt  werben. 
üBenn  nun  Sut{)er  baö  93ertrauen,  worin  fic^  ber  ©ünber  ge« 
red)tfertigt  mei§,  jufammenbinbet  mit  bem  magren  lebenbigcn  @ott, 
fo  ift  feine  Ueberjeugung  bie,  ba§  biefer  ©laube  fein  millfürlidje^ 
aWenfc^engebilbe  ift,  fonbem  nur  entftet)en  fann,  wenn  ®ott  i^n 
fdjafft,  inbem  er  felbft  in  unjroeifel^after  SBeife  ben  ©ünber  be* 
rü^rt  mit  ber  beftimmten  Äunbgebung:  5)ir  finb  beine  ©ünben 
vergeben,  bu  wirft  nic^t  fterben,  fonbem  leben  in  meiner  ®emein* 
fd)aft  tro^  beiner  ©ünbe.  3)arin  ift  befd)loffen:  erftli^  bie  ®e- 
iDi^t)eit,  e§  mit  @ott  felbft  ju  tun  ju  ^aben,  unb  fobann  in  biefer 
93egegnung  mit  i^m  bie  ßufic^erung  feiner  ©nabe  ju  oerfte^en, 
bie  bie  ©ünbe  oergibt  unb  ben  ©ünber  jur  fieben§gemeinfd)aft 
mit  ©Ott  er{)ebt.  3)iefe  ©nabenoffenbarung  be§  ^ebenbigen  ©otte§ 
tonn  aber  einjig  unb  allein  fein  flarer,  offenbarer 
äBille,  mit  biefem  ^n^alte  unb  biefer  9tid)tung  auf  mid),  fein. 
9tid)t§  anbereö.  Unter  biefer  SöorauHfe^ung  t)aben  iJ  u  t  f)  e  r  § 
SSorte  einen  ^errlic^en©inn:  bie  jwei  get)ören  ju^auf,  ber  ©laube 
unb  ©Ott.  &§  ift  etwa§  fo  ®rope§  um  ben  red)ten  ©lauben, 
ba§  aSertrauen  be^  ^erjen§,  ba§  jeber  ©ebanfe  baran  fd)wiuben 
mu§,  i^n  burc^  3Wenfc^enwerf  t)er}uftellen.  9lur  ber  lebenbige 
©Ott  fann  it)n  geben  al§  ein  ©efdjenf  feiner  ©nabe,  bie  bie  ©ünbe 
©ergibt  unb  tro§  il)rer  ein  fieben  in  ©otte§  ©emeinfc^aft  eröffnet. 
Unb  umgefe^rt:  weil  ic^  ba§  SBunber  be§  ©lauben§  erlebt  l)abe 
al§  ein  Sßerf  ©otte^  felbft  in  meiner  9ied)tfertiguug,  be§f)alb  bin 
id)  in  biefem  ©lauben  ©otte§  gewi^  unb  fro^,  genieße  im  ®lau= 


122  g=  e  9  e  t  a  b  e  n  b :  3)'loberne  ^l^eologie. 

bcu  bie  ©ctigfcit  ber  |)erjcn§*  unb  ficbcnSgcmeinfc^aft  mit  i^m. 
9lu^crt|atb  bicfc§  ®(aubcn§  fann  c§  roo^I  l^ol^c  unb  in  i^rer  Slrt 
]^crr(ic^e  ©cbanten  pon  ©ott  geben,  aber  feine  ©eroä^r  i^ret 
S3Bat)r^eit  unb  feinen  2^roft  au§  i^nen  für  ein  ^erj,  bem  feine 
©ünbe  Unruhe  fc^afft.  2)arum  ift  jeber  blo^  tl)eoretifd)e  Unter* 
bau  für  bie  SReligion  na6)  eoangelifi^em  a3erftänbnl§  au§fle= 
fd)Ioffen.  Srlebte  SBirflic^feit  ift  ^ier  alle§.  2Bo  ift  uns  biefe 
SJÖirtlic^fcit  ju  erleben  gegeben  unb  mie  gelangen  mx  baju?  3)av» 
auf  ^at  ba§  @oange(ium  nur  eine  2lntn)ort:  Äomm  unb  fiel^! 
3)er  ®eift  unb  bie  33raut  jeugen :  ^  e  f  u  §  ®  f)  r  i  ft  u  §  ift  biefe 
SBirfUd^feit.  @r  ift  in  unferer  SBelt  bie  gefd)id)tli(i|  fic^  bar= 
bictenbe  %at\a6)t,  baJ5  @ott  bie  ©ünbe  oergibt  unb  ben  ©ünber 
f 0  jur  Seben§gemeinfc^af t  annimmt.  SBoburc^  ift  ®  ^  r  i  ft  u  § 
biefe  Satfac^e?  2)a§  tann  feine  9Irgumentation  „bemeifen",  feine 
©pefulation,  feine  Sßergleid^ung  von  SBei^fagung  unb  ©rfüDung, 
feine  ^eranjiel^ung  ber  SBunber,  noc^  enblid)  eine  Kombination 
atte§  beffen  mit  einer  SReifie  oou  3(usfprüd)en,  bie  ju  einem  „©elbft= 
jeugni^  ^efu"  oerbunben  finb.  ®§  gibt  t)ier  nur  einen  öemeiS, 
ba§  ift  ber  religiöfe  be§  ©eifteg  unb  ber  Kraft.  S)iefer  93en)ei§ 
ift  nur  für  ben  ©lauben  oor^anben.  3)cr  (Staube  ift  fic^  felber 
bet  93emei§,  fofern  er  fid)  ber  Srfo^ruug  beroujst  ift,  burc^  Qe^ 
f  u  §  ®  t)  r  i  ft  u  §  gefc^affen  ju  fein,  nic^t  burc^  ben  3»  ^  f "  ^/  ^^^ 
mit  feiner  @efd)id)te  bto^  eine  Steige  üon  33lättern  in  einem  Suc^e 
füttt,  fonbern  burd)  ben,  ber  aU  ber  Oeift  bemegenbe  Sebensmac^t 
in  ben  ©einen  ift,  unb  burd)  ba§  3^wgni§,  moju  er  fic  antreibt, 
bafür  im  befonbern  fort  unb  fort  forgt,  ba^  fein  ®e]^ei§  erfüQt 
merbe:  ®el^et  ^in  unb  oerfünbiget  ba§  ©oangelium  aller  Kreatur. 
2luci^  bie§  Soangelium  läfet  fid)  freilidi  lange  al§  ein  Sieben 
über  -Öefuö  ©firiftu^  aufnel^men,  moju  mir  unfereSBorbc^ 
Ijalte  mit  menn  unb  aber  mad)en.  SBer  fid)  aber  nid)t  jule^t  in 
®leic^gültigfeit,  Seid^ttierjigfeit  ober  gar  93ö§milligfeit  abmenbet, 
bem  fommt  ber  Slugenblidt,  roo  ber  ^err  felbft  ju  i^m  fpridjt  unb 
it)n  jmingt.  Singe  in  Sluge  ftanbjutiaUcn.  ®inem  jeben  fc^lägt  bie 
©tunbe,  bie  eine  ä^nlid)e  SBenbung  bringt,  roie  einft  ber  ©ama* 
riterin  ba§  SBort:  „®e]^e  ^in,  rufe  beinen  9Jlann  unb  fomm  ^er!" 
1)ann  beroätirt  -3efu§  feine  Kraft,  un§  ®ott  gegenüberjuftellen. 


{^ei)erabenb:  9J2oberne  i^^eologie.  123 

Sber  ©Ott  ift  bann  in  i^m  boc^  nicf)t  buntle  ^a6)t,  unfapare 
©ubftanj,  nid)t  ctn)o§  Unbcgrciftic^eö,  UnfagbaveS,  fonbcrn  ber 
beutUc^e,  innige  fiicbcSroiUc,  ber  bei  allem  @rnft  gegen  unfeve 
©ünbe  bod)  un§  fud^t  unb  un§  nac^ge^t,  um  un§  ju  retten  unb 
gu  neuem  Seben  ju  bringen.  3^^^"^  ber  ^err  un§  fo  Oott  offen^ 
bart  in  feinem  92amen,  b.  \).  in  feiner  Derftäubli^en  Sunbgebung, 
evmeift  er  fid)  al§  ben  ©eift,  ber  bie  ^erjen  umfi^afft  ju  bem 
©lauben,  morin  fie  es;  auf  ©ott  wagen,  loie  Sut^er  fagt.  ^abc 
ic^  aber  ben  ©lauben,  ber  3[efu  oertraut,  baß  id)  in  bem,  was 
ic^  üon  i^m  erfahre,  gered^tfertigt,  bcgnabigt  unb  befeligt  bin  por 
©Ott,  bann  ift  mir  in  biefem  ©lauben  unmittelbar  Qe^n  ©Ott- 
^eit  gegeben.  3)enn  bie  jmei  gehören  ja  ju^auf :  ©laube  unb  ©ott, 
—  roic  un§  fintier  geletirt  i)Qt  Qn  ber  ©rfal^rung  ber  Siecht» 
fertigung,  bie  Vergebung  ber  ©ünben  unb  (Schaffung  be§  ©laubens^ 
in  einem  einjigen  2lfte  ift,  erleben  mir  geiftlic^  bie  ®reieinigleit 
be§  aSater^,  bcö  (3o^ne§  unb  be§  ^eiligen  @eifte§.  ®iefe  SBa^r:' 
^eit  bebarf  feiner  fpefulatioen  Segrüubung,  benn  fie  ermädift  oou 
felbft  unb  ftet§  oon  neuem  au§  bem  religiöfen  Seben  be§  K^riften, 
ba§  ein  ©d^öpfen  au§  ber  g^ülle  bes;  ©o^ne^  ©otte§,  ein  ®ffeu 
oom  93rote  be§  Seben§,  ein  ©ein  unb  ^Bleiben  in  bem  rechten  2Bein= 
ftorf  ift,  ber  feinerfeit^  bie  3"^^ift^  ^^^gt  unb  mit  bem  fruc^tfd)af' 
fenben  fieben^faft  bur^bringt.  0^ne93itb:  ift  e§  bie  Eingabe  au 
i^n  in  bem  Sßertrauen,  ba^  er  ben  ©otte^roillen,  ber  in  il|m  offen* 
bar  ift,  aud)  an  un§  ju  unferer  ©eligfeit  ootläicl)t. 

3)iefer  ©laube,  worin  wir  nid)t§  Iciften,  fonbern  unausgefe^t 
empfangen,  umfaßt  unfere  ganje  gerabe  33ejie^ung  ju  ©ott.  Silier 
übrige  ©otteöbienft  ^at  fi^  al§  Siebe  am  9täd)ften  ju  betätigen. 

aiüx  fo  ift  baö  ß{)riftentum,  b.  f),  ba§  83etenntniö  ber  ©ott- 
^eit  ß^rifti,  grei^eit  unb  SBa^r^eit  unb  Ä'vaft.  ©e^t  man  ba- 
gegen  ba§  53etenntni§  ber  ©ott^eit  ß^rifti  in  bie  ^5eiat)ung  beio 
trinitarifc^en  unb  c^riftotogifd)en  3)ogma§,  fo  bebeutet  c§  bie  Kned)^ 
tung  ber  ©ewiffen.  3)abei  barf  man  fic^  auc^  nic^t  ber  Hoffnung 
Eingeben,  ba§  e§  ^inter^er  fd)on  beffer  werben  möchte,  etwa  nad) 
ber  93ert)ei§ung :  ^^r  werbet  bie  SBat)r^eit  ertennen  unb  bie9Bal^r= 
^eit  wirb  euc^  frei  machen.  3)iefe  Hoffnung  wäre  eitel.  ®enn 
ber  SBeg  jur  SB3at|r^eit  ge^t  nic^t,  wie  e§  in  biefem  gälte  gefc^e^eu 


12-i  JJ  c  9  e  r  a  b  e  n  b :  äTiobcrne  3:f)colo0ie. 

mü^tc,  buvc^  innere  Unn)af)rl)aftigteit.  2Ba§  an§  berSEBurjel  Qt^ 
loadfifen  ift,  fann  e§  roeber  jur  ^r^i^^it  nod)  jur  greubigfeit,  noc^ 
jur  Äraft  bringen. 

Slber  wo  bleiben  bie  ^eifstatfac^en?  5(n  i^»«"  ^at  man  boc^ 
iDofjl  bie  rect)te  Segrünbung  ber  ©ottlieit  ©^rifti  ju  fud)en,  uorab 
in  ber  2luferftel)nng§tat|  ad)e? 

@§  wirb  immer  benfiüürbig  bleiben  unb  einen  tiefen  ©inbrurf 
JU  mad)en  nic^t  üerfe^len,  wenn  roir  fef|en,  roie  bie  ^ufcrftetjung 
für  bie  SSerfünbigung  ber  apoftolifd)en  3cit  im  SJorbergrunbe  gc* 
ftanben  i)at  ®ie  älpoftel  tjaben  unbefangen  oon  ber  äufcrftebung 
a(§  einer  ^^atfac^e  gefproc^en,  bie  eine§  weiteren  öeiueife^  al§ 
il)re§  3^^9>^iff^^  "'^^  bebürfe.  2)arin  befunbet  fic^  in  ergreifen* 
ber  SBJeife  bie  unerfc^ütterlid)e  ©emip^eit  if)rer  Ueberjeugung  ^in« 
fic^tlic^  ber  Dftertatfac^e.  ®eiüi^  mürben  aud)  mobernen  ßmeiflern 
oor  berartigen  Qut^entifd)en  unb  fraftüolten  3^W9c^  ^^^  St'agcii 
oerftummen.  SDa§  f^riftlic^  überlieferte  3^U9^'^  ber  Urgemeinbc 
i)at  in  biefem  fünfte  erfat)rung§gemä§  nid)t  me^r  ganj  biefelbc 
äßirfung.  SBäre  e§  benn  nun  nid)t  eine  fläglid)e  3lu§tunft,  ju 
fagen:  ©leic^uiel!  Sie  3lpoftet  tjaben  jroeifello^  bie  2luferfte^ung 
al§  Satfacbe  angefe^en ;  fie  ^aben  aud)  bie  (J^riften^eit  ber  Urjeit 
üollauf  überjeugt;  folglid)  t)aben  auc^  mir  bie  3luferfte^ung  uon 
uorn^erein  at§  gegebene  2:atfad)e  jn  nehmen  unb  barauf  unfern 
©lauben  an  bie  ®ottl|eit  (J^rifti  }u  grünben.  2)a§  ergäbe  ein 
innerlid)  ebenfo  unmat)re§,  unfreie^  unb  t)altlofe§  ©^riftentum, 
mie  c§  ba§  ift,  meld)e§  mit  ber  Sejatjung  be§  3)ogma§  begin* 
nen  folt. 

^JW^er  jur  SBa^r^eit  t)in  träfe  man  fd)on  mit  einer  ©rrnä» 
gung  mie  etroa  ber  fotgenben.  Salb  jmeitaufenb  3^al)re  bient  nun 
fc^on  bie  SSertünbigung  Don®^riftu§  ber  religiöfen  2lnbac^t  unb 
©rbauung  ber  9Jlenfd)^eit.  ©ollte  man  ba  nic^t  ju  befürchten  ^a* 
ben,  i)a^  ber  ^nt)alt  enblid)  au§gefc^öpft  fein  mü^te,  bafe  bie  un* 
auf^örlic^e  3Qäieberf)olung  biefer  SJerfünbigung  anfangen  müßte, 
i^rer  SQSirfung  unb  bamit  be§  regten  3"^^^^^  i"  fehlen?  ©tatt 
beffen  fe^eu  mir  aber,  ba§  ba§  Qutereffe  nic^t  nur  unweränbert 
geblieben  ift,  fonbern  beftänbig  mäc^ft  unb  fid|  vertieft,  ^n  biefer 
SQ3aI)rne^mung   braucht  un§   auc^  bie  ®t)riftu§feinbfd|aft  unferer 


gre^erabenb:  Snobeme  ^^eologie.  125 

3eit  ni^t  }u  beirren.  @ie  ift  t)te{me^r  eine  ^eftätigung  bafür. 
S)enn  fie  jeigt  nur,  ba^  @)I)riftuS  fogar  bie  nic^t  loSta^t,  bie 
roiber  [einen  ©tac^el  löden.  SQ3enn  aber  SfjriftuS  fo  mit  ftei* 
genber  ä^ac^t  bie  SRenfc^Iieit  ben)egt  inbem  er  fte  }n)ingt  @otte§ 
)u  gebenfen  unb  fid)  mit  i^m  auSeinanberjufe^en,  ift  ba  nic^t  ber 
Sc^lu§  unoermciblid),  bajj  n)ir  e§  bei  i^m  ni^t  Wo§  mit  enblic^er 
@etfte§ma(^t  }u  tun  {)aben? 

2)iefe  ©etrai^tung  fd)(iept  ba§  SRid)ti9e  in  ficf|,  ba^  fie  von 
ber  gefc^ic^tlid)  fcftfte^enben  unb  in  bem  eigenen  Scben  gemacf)ten 
(Srfa^rung  ber  SEBirfungen  6t)rifti  auöge^t.  2lber  ©c^(u&folge= 
rungen,  bie  ®t)riftu§  (ebiglid)  al^  ein  ^eobac^tunggobjett  inöe^ 
tratet  jiet^en,  erreid)en  bod)  no^  nid|t  bie  ^ö\)t  be§  veligiöfen  @r» 
lebniffeS,  n:)orin  ber  @(aube  at§  ^erjen^^ingabe  im  93ertrauen  ge^ 
boren  wirb,  ^n  biefem  @rlcbni§  ift  bie  SReflefion  überhaupt  oer* 
jiummt  oor  ber  2Infc^auung  ber  ^ßerfon  be§  ^errn  unb  ber  Eingabe 
an  bie  ©eifteSmirtung,  bie  Don  i^r  über  uns  fommt.  S)iefcm  @r* 
lebni^  entfpringt  baS  £^oma§6efenntui§:  mein  ^err  unb  mein 
®ott!  nid)t  al§  eine  ©d)(u&foIgcrung  irgenbme(d)er  2(rt,  fonbern 
afö  bie  fpontane  2lntn)ort  auf  bie  erfal)rene  Sunbgebung  ®otte8 
in  6f)rifto.  3ft  eS  benn  nic^t  eigentlid)  auc^  felbftoerftänblic^, 
bag  ung  feiner  @ottI)eit  S^riftuS  fetbft,  burc^  perfönlic^e  ^unb- 
gebung,  gen^i^  mad)en  m\x%  menn  mir  i^rer  gemi^  merben  foQen? 

Mein  man  fagt  mo^l:  bu  fpric^ft  uiet  Don  ©olt^eit  6:^rifti, 
aber  bu  jeigft  unS  nic^t  beutUc^,  n)a§  biefe  ®ott{)eit  fein  foQ.  9(lS 
Subftanj  f ollen  mir  fie  nic^t  faffen.    3lber  als  maS  benn? 

91un,  Dielleid)t  gelingt  eS  }ur  ^lar^eit  ju  !ommen,  menn  mir 
ben  93erfuc^  mad)en  einen  fiaien  ju  befragen,  ber  ernft  fei,  auc^ 
fromm,  boc^  ot)ne  eigentlid)  bogmatifc^eS  ^ntereffe.  3Jlöge  er  fxi) 
über  feinen  ©otteSglauben  unb  beffen  ®runb  au§fpred|en.  ®r  be* 
fennt  etma  junädjft,  bajj  ber  fiauf  ber  SBelt,  unb  ma§  ber  mit 
fi^  bringt,  eS  il)m  oft  rec^t  fc^roer  mad^e  gu  „glauben",  ba^  ®ott 
lebt  unb  regiert.  3)ie  ©ibel  fagt  eS  mot)r;  aber  fpri^t  nid)t  im« 
mer  roieber  fo  gut  mie  alle§  bagegen?  ©elbft  bem  erfahrenen 
©Triften  perbunfelt  pd)  im  SlUtagSgetriebe  je  unb  je  nur  ju  be« 
bentlid)  baS  Semufetfein  ber  9lä^e  ®otte§  unb  ber  göttlichen  gür« 
forge.    ^n  folc^cr  religiöfen  2lbfpannung  unb  rooI)l  gar  Stumpf = 

3ettf^rift  far  X^coloflie  unb  jttrd^e.  14.  ^af^v^.,  8.  ^eft.  9 


126  S^e^erabenb:  Snobeme  ^^eologie. 

I^eit  !ommt  man  mandi  Ue6e§  SKal  gum  (Sotte^bienft,  uerlöjst  ihn 
foflar  om  @nbc  nid)t  rpcfentlic^  gef örbcrt  roiebcr  unb  fcfilcppt  fidj 
flügellatim  weiter.  Slber  I)eute,  —  loo^er  unb  loie  c§  tarn,  man 
iDü^te  eS  felbft  ni^t  ju  fogen,  —  i)eute  fü()tt  man  ftc^  plö^tic^ 
innerlich  gefaxt.  3)aS  mar  ein  Son,  ber  oon  bem  ^errn  fom! 
Unb  e§  ift  einem,  afö  ob  er  fagte:  ^e^t  moKen  mir  un8  einmal 
beine  befonberen  Slngelegen^eiten  anfef)en.  SBunberbar!  fie  fe^en 
einem  fe(bft  nun  DoQftänbig  oeränbert  au§.  SBo  man  ganj  unb 
gar  im  SRed^t  ju  fein  glaubte,  fte^t  einem  Unrecht  üor  Singen. 
9Bo  man  glaubte  aQe§  getan  ju  l^aben,  entlädt  ftc^  nun,  —  o 
mie  piel!  —  ^flic^tocrfäumni^,  ©leic^gültigteit,  Seic^tfertigfeit, 
Sieblofigteit,  Untreue  jeber  Slrt.  Unb  über  bem  allen  ha^  2luge,  ba§ 
mit  milbem  @rn[t  ju  fragen  fd^cint:  Oft  ba§  an  bir  bie  5ru<^t 
meiner  3Jlü^en,  meinet  ©uc^enS  nac^  bir,  meinet  Slingen^  um  bic^, 
meines  SreujeS,  meiner  ®aben,  meinet  ®eifte§?  3)ann  meint 
nmn  ju  uerfmfen  mie  $  e  t  r  u  § ,  aber  im  9lufblicf  §u  bem  ^errn 
tommt  einem  non  il^m  aud)  ba§  gläubige  $}ertrauen  unb  bariii 
bie  ©emi^^eit,  bajj  feine  $anb  un§  ^ält  unb  mieber  emporjie^t, 
unb  man  t)at  in  biefem  ©lauben  5>^i^i>cn  flcs^w  ®ött,  unb  grcubc 
im  t)ei(igen  ®eifte,  unb  Äraft,  fic^  oon  neuem  auf  feine  Jyüpe  ju 
fteQen  unb  ju  manbetn.  SBenn  aber  jemanb  auf  @runb  eine§ 
fold)en  rein  religiöfen  @rlebuiffe§,  ba§  fi^  nic^t  gerabe  unter  ber 
Äanjet  ju  ereignen  braucht,  —  ber  ^err  prebigt  ni^t  nur  oou 
ber  Jlanjel  unb  am  SlUar,  nic^t  nur  in  ben  ©c^ulcn,  fonbem  auc^ 
im  ^aufe,  im  33oote,  auf  bem  93erge  unb  auf  bem  5^lbe,  im 
©ebränge  ber  ajlenfd)en  unb  unter  oier  Singen,  —  wenn  jemanb, 
fage  id),  auf  ©runb  eine§  folgen  tqpif^  ftijjierten  ©rlebniffe^ 
befennte :  9lun  mei^  ic^,  mo  ic^  ©otteS  unerfc^ütterlic^  gemig  bin 
unb  immer  mieber  oon  neuem  geroife  merbe,  menn  bie  ginftemi§ 
biefer  3Belt  i^n  mir  oerbuntetn  mitt.  ©el)e  id)  i^n  nirgenb  me^r, 
in  bem  9lngeftd)te  ®f)rifti  ift  er  mir  fid)tbar,  unb  tritt  Ijcroor, 
nid|t  nur  aU  eyiftierenb,  fonbern  al§  ber,  ber  fic^  mit  mir  in  mei* 
ner  gegenmärtigen  93ebrängni§  befaßt,  mic^  ftraft  unb  jurec^tmeift, 
aber  bod)  auc^  barin  fd)on  mic^  nur  bie  Siebe  fügten  lä&t,  bie 
mein  ^ei(  fudjt,  !urj:  t)ier  i)abt  id)  ©ott  aU  ben,  ber  ]ii)  mir 
al§  ber  f)immlifd)e  95ater  offenbart,  in  bem,   maS   mein  ^eilanb 


f^ei^erabenb:  ST^oberne  ^^eotogie.  127 

an  mir  tut.  3)arum  ^angc  ic^  im  ©tauben  an  ®^riftu§,  mcil 
ic^  mid)  in  it)m  ftct§  juvüdffinbc  ju  ®otte§  SBaterl^cvj,  morein  x6) 
mid)  bergen  fann.  SBenn  jemanb  fo  befennt,  märe  benn  ba§ 
nid)t  bas  rechte  i8etenntni§  jur  ©ott^eit  S^rifti?  SÄu^  \>a^ 
rechte  93etenntniö  nid)t  fo  mie  l)ier  ermad)feu  au§  bem  eigenen 
©rieben,  a\\^  ber  erfatjrenen  ©r^ebung  burd)  ©^riftu§  ju  ©Ott? 
äu§  ber  ©nge  in  bie  SBeite,  au§  ber  2iiefe  in  bie  ^öi)  fü^rt 
ber  ^eilanb  feine  Seute,  ba§  man  feine  SBunber  fe^,  ^ei^t  e§  in 
bcm  Siebe.  SBotjl,  feine  SBunber  fmb  täglid^  ju  fdjaucn  für  je^ 
ben,  ber  i^rer  nur  achten  miß.  SWan  mu^  blo^  biefe  SJBunber 
nirf)t  fuc^en  in  ben  ge^eimni^oollen  ^intergrünben  feiner  ^erfon, 
in  beren  „9latur",  fonbern  in  bem  offenbaren  Siebe^roiflen,  morin 
ber  Sot)n  unb  ber  93ater  ein§  finb.  ®e§  buufeln  ®el)eimniffe§ 
bfeibt  un§  nod)  genug  unb  übergenug,  menn  mir  ber  Unerforfc^= 
lic^feit  feines  „SBefen§"  unb  ©ein§  gebenfen,  mooor  felbft  bie 
moberne  Sorf^ung  ftiüe  l^alteu  mu^.  Selbft  bie  juoerfiditlirfifte 
3Biffen|c^aft  mu^  fid)  befd)eiben,  in  ba^  9Kr)fterium  feinet  @o^ne»= 
bemuBtfein§  bem  SSater  gegenüber  nic^t  einbringen  ju  fönnen, 
obgleid)  es  ftc^tbar  mie  bie  ©oune  am  fetten  S^age  in  unoerän- 
berlidier,  ungetrübter  Älartjeit  über  biefem  Seben  fdimebt.  ^n 
biefcr  $inrid)t  roirb  e^  ^inieben  bleiben  beim  Ignorabimus.  SBasi 
aber  be§  35ater§  SBitten  unb  9latfd)tu§  ju  unferm  ^eil  anlangt, 
fo  ift  hierin  c§  ba§  SEßo^lgefallen  oor  il)m  gemefen,  uu§  in 
©^riftu§  nic^t  im  Unklaren,  nad)  feiner  Seite  irgeubmie  in  Un- 
gemi^^eit  ju  laffen.  ^i^ber  fann  im  ©tauben  t)ierin  ©otte§  inne 
werben,  mie  er  maf)rf|aft  ift,  b.  f).  als  perfönlid)er  ©eift  fid)  funb- 
gibt  in  9lic^tung  feinet  9Bitlen§  auf  un§.  9Jur  fo,  burd)  foldje 
pcrfonlic^e  Offenbarung,  ift  ja  aud)  red)ter,  eoangelifdier  ©taube, 
bo§  Vertrauen  be§  $erjen§,  möglid).  S)iefer  ©taube  ift  nic^t 
unfer  SlBerf,  er  ift  ©^rifti  (5d)öpfung,  unb  ©otte^  in  ©t)rifto. 
^ber  er  ift  bennod)  nid)t  magifd)  in  un§  ^eroorgejaubert,  fonbern 
bei  ber  ©inmirfung  ©otteö  burd)  SBermittelung  ber  ^ßerfon  ©^rifti^ 
beren  SBiüe  gegen  un§  offen  barliegt,  oerfotgen  mir  mit  ftarem 
^emu§tfein  baoon,  nm§  ©Ott  an  unb  mit  un§  tut,  bie  ®ntftet)ung 
unb  ©ntmidetung  be^  ©tauben^  in  un§.  Unter  biefen  Umftän= 
h^n  ift  ba§   neue  Seben,   b.  I).  tbzxi  ber   ©taube,  ganj  ®otte§ 


128  gr  e  9  e  I  a  b  e  n  b :  SDloberne  S^eologie. 

©nabengefc^euf  unb  boc^  feine  mogifd^e  Umjauberung,  tüie  nol< 
loenbig  bort,  voo  göttliche  @ubftans  toirffam  gebeert  luirb.  @o 
grünbet  ber  @(aube  in  ber  äBal^r^eit  bie  frei  mac^t  unb  ftart. 
®er  ^err,  fagt  ber  9U)oftcI,  ift  ber  (Seift,  H)o  aber  ber  ®eift  be§ 
^errn  ift,  ba  ift  g^ei^eit.  SBaS  jeboc^  märe  bQ§  für  eine  grei» 
Ijeit,  bie  nor  aQem  Unterwerfung  unter  bunKe  SRäc^te  unb  un« 
begreipidie  @ä^e  forberte?  Sticht  Unterwerfung  uerlangt  baS  @oan« 
geliuni,  Jonbern  Eingabe  an  bie  offenbare  3EBaI)rI)eit  in  ber  ^er* 
fon  unfereS  $erru.  S)a  l)aben  xoxx  bie  SBa^r^eit,  bie  un§  na<4 
ber  SSer^ei^ung  frei  nia^t. 

SBir  ^aben  un$  bie  iDefentU^ften  Slnfd^auungen  ber  fog. 
mobernen  £(|eo(ogie,  fon)oi)t  bie  nerneinenben,  als  bie  beja^enben, 
in  notgebrungener  ${ßr)e,  aber  bod^  in  gefc^Ioffenem  ^ufammen» 
^ange  oergegenroärtigt.  SWid)  bflnft,  bafe  in  ber  2luffaffung  unb 
SBerroertung  be§  ®Dangelium§  l^ier  SUlomente  oon  einer  33ebeutung 
^eroorfpringen,  roie  fie  auf  eoangelifc^e  ®btiften,  jumat  auf  t^eo» 
logifc^  gebilbete,  i^reS  ©inbrurfS  nic^t  perfef)Ien  foüten.  SSSaS 
re^tfertigt  benn  bie  lanbläufigen  93orn)firfe,  ba§  „biefe  S:f)eoIogie" 
ja  nur  niebcrrei^e  unb  ba§  fie  bie§  3Berf  bereits  weit  genug 
geförbert  ^abe,  um  baS  „3^"^^""^  ^^^  ^eilS"  ju  erfc^üttern? 
äBenn  man  fi^  bod}  einmal  red)t  flar  mad^en  wollte,  bag  auf 
bcm  ®ebiete,  oou  bem  mir  reben,  nid)t  fc^neH  genug  nieberge* 
riffen  unb  entfernt  werben  fann,  roa^  fiel)  überl)aupt  „nieber* 
reiben"  lä^t;  ba^  aber  anbererfeitS  baS  ^eil  unb  gar  baS  3«»* 
trum  biefe§  ^eilS  burd)  feine  SJlac^t  ber  SBelt  ju  erfc^üttern  ift, 
weil  eS  ber  @runb  ift,  beu  (Sott  felbft  gelegt  t)at.  9luc^  ber 
fann  ja  bejweifelt,  geleugnet,  oerworfen  werben.  3)cr  Unglaube 
tut  eS  o^ne  Unterlaß.  3(ber  wenn  wir  beSlialb  fc^on  baS  3cn< 
trum  be§  ^eil§  für  erfcl)üttert  anfef)en,  wa^  für  ein  3^i^9wi^ 
ftetlen  wir  bamit  unferm  eigenen  ©lauben  au§?  3)er  ®laube, 
ber  fic^  getragen  weig  oon  bem  ®runb,  ber  unbeweglich  fte^t, 
ob  @rb'  unb  ^immel  untergel)t,  biefer  ®laube  muß  boc^  jum 
minbeften  gleid)mütig  bleiben,  wenn  oorgeblid)e  Slefultate  ber 
SBiffenfc^aft  nod)  fo  lout  uertünbeten,  ber  alte  ^eilägrunb  fei 
jertrümmert.  31id)t  bie  O^ren  juju^alteu  unb  ju  fd)reien  siemt 
uns,   fonberu   bie  ©eifter   ju   prüfen   in  unbefangener   unb  ge* 


e^e^erabenb:  SJ^loberne  2:^eolo0ie.  129 

laffener  5Ruf)e.    Unb  roävc  c§  ber  ®eifl  bc§  9lbgrunbe§:  tennen 
loir  bcnn  nic^t,  roa§  auc^  i^n  bannt? 

^n  unferem  eigenften  Qntcrcffc  foUten  mx  fu^en  unS  aller* 
n>enigftcn§  ju  btefer  ©timmung  unoerjagter  Prüfung  ^  a  r  n  a  c! 
unb  ber  fog.  mobcmcn  2:]^coIogle  gegenüber  jurüdjufinben.  3)er 
SSorroutf,  ba§  3^"t^iiw^  ^^^  .^eilgbefi^eö  erf füttert  ju  ^aben,  jielt 
ja  VDO^l  ^auptfac^lid)  auf  einen  9tu§fpruc^  in  ^  a  r  n  a  rf  ^ 
SBcfen  be§  ®t)riftentum8,  auf  ben  ©a^:  „9tic^t  ber  ©oljn,  fon* 
bcm  allein  ber  93ater  gehört  in  ba§  ©DaugcUum,  roie  e§  3efu§ 
wrtunbigt  i)at,  I)incin."  ^c^  l^abe  e§  felbft  auf§  lebl)aftefte  be- 
bauert ,  ba§  ^  a  r  n  a  d  8  g^nnulierung  auf  biefen  @a^  geraten 
ip,  weil  man,  roie  ^  a  r  n  a  d  nun  einmal  aufgenommen,  gelefen 
unb  beurteilt  roirb,  üorau§fe^en  mujjte,  mag  für  ein  nic^t  mieber 
etnjufangenber  ©dimarm  non  SKifebeutungen  ftc^  an  biefe  SBorte 
^eftcn  merbe.  S^aufenbe  a^ten,  nad)bem  fte  biefen  ©a^  gehört 
^aben,  überl^aupt  auf  nichts  mefir  baneben.  S)enn  nun  ift  eS  tl)nen 
tlar:  ^arnad  gcl)ört  ju  benen,  bie  beS  @rlöfer§  nic^t  me^r 
bebürf en.  ®ott  unb  bie  ©eele,  bie  ©eele  unb  i^r  ®ott !  ®er  ©ot)n 
gehört  ja  nid)t  me^r  in  baS  Soangelium  hinein.  $at  bod^  felbft 
ein  SRann  mie  9Äartin  ^ä^er  nid^tS  eiliger  gel^abt ,  al§ 
DOC  bcm  beifall§fid)eren  Slubitorium  einer  Sonferenj  bagegen  einen 
auSgebe^nten  JBortrag  ju  tialten,  ber  feftftetlen  folt,  mie  ber  ©ol^n 
bod)  in§  ©oangelium  l^ineingefiört.  SWeiner  Slnfi^t  nad)  märe  c8 
perbienftlic^er  gemefen,  ber  Äonferenj  unb  bent  nod)  weiteren  Äreife 
ber  Sefer,  an  bie  fid)  ber  SSortrag  nac^  feiner  Sßeröffentlic^ung 
iDanbte,  tlarjumad^en,  ma§  ^arnad  eigentli(^  gemeint  f)abe. 
3>cnn  ba^  er  ba§  nid^t  gemeint  ^aben  fann,  al§  ob  in  bem  95er* 
^ättnt«  ju  ©Ott  unb  in  bem  93er!et|r  mit  il^m  oon  Qf  ^  f "  §  über* 
^aupt  abjufcl^en  märe,  ba§  brauchte  nic^t  einmal,  mie  injroifc^en 
gefc^e^en  ift,  auSbrüdlid)  ertldrt  ju  merben,  fonbem  ^ätte  ftd^  boc^ 
roo^l  aud)  o^nebem  eine  felbft  ganj  oberflächliche  Sefinnung  unb 
©rmägung  fagen  muffen.  Ober  mie  tonnte  ^  a  r  n  a  d  fonft,  non 
altem  übrigen  abgefelien,  nodf)  auf  berfelben  ©eite,  bie  jenen  er* 
regenben  ©a^  enthält,  fctjreiben :  „SBaS  Q  e  f  u  §  perfönlid^  leiftet, 
mirb  burc^  fein  mit  bem  2:obe  gefrönte§  2eben  eine  entfdl)eibenbe, 
f ortroirtenbe  Satfa^e  bleiben  audt)  für  bie  ßw^w^f * :  ®  ^  t  f*  ^  ^  ^ 


130  fjegcrabcnb:  SWobcrnc  a:^co(ogie. 

9Q3eg  jumSater  unb  et  ift  al§  ber  üom  SSatcrgim 

flcfc^tc  aud)  bev  9lic^tcr 9ii(^t  wie  ein  SBeftanb* 

teil  gehört  er  in  ba§  ©üangclium  fjimin,  fonbern  er  ift  bie 
pcrfönlid^e  Seriüirflic^ung  unb  bie  Äraft  be§ 
^DQngetiumS  geroefeu  unb  roirb  noc^  immer  al§ 
folc^e  empfunben.''  3)a^  biefe  ©ät(e  bie  2lnfd)auung  au§^ 
fcl)Iie^en,  aU  ob  man  beim  ®üangetium  oon  ^efuö  abfegen 
fönne,  liegt  auf  ber  ^anb,  roenn  man  überhaupt  fc^en  miH.  Um 
aber  bie  üolte  S^ragroeite  biefer  ©ä^e  ju  mürbigen,  mu^  man  fi<^ 
oergegenmärtigen,  n)a§  Soangelium  in  biefem  ßufammen^ange  be- 
beutet.  aSom  33oben  be§  3)ogma§  au§  geftaltet  firf)  ba§  ©oange* 
lium  aU  „fiet)re".  ^n  einem  foId)en  ©oangelium  ift  axxd)  ®t|riftu§ 
nur  ein  Se^rftüd  neben  oielen  anberen:  pom  Slbfoluten,  »on  ber 
SlBeltfdiöpfung,  bem  SWenf^en,  bem  SBeltelenb,  ber  ®rlöfung§* 
bebürftigfeit  unb  (grlöfung^fd^igfeit  u.  f.  m.  ©§  gibt  d)riftlic^e 
unb  eoangelifc^e  (!)  @Iauben§tet)ren,  in  benen  man  ^unberte  üon 
©eiten  lefeu  tann,  ol^ne  aud)  nur  auf  ben  ^tarnen  3^f "  ®^tifti 
}u  fto^en.  ©0  Derfte^t  §arnacf  ba§  ©uangelium  natürlid)  nic^t. 
(äoangelium  ift  il)m  ba§,  rooburd)  ic^  armer  fünbiger  aWenfd)  mic^ 
unmittelbar  cor  (Sott  gefteÜt  meife,  ber  mir  meine  ©ünbe  tiefer, 
a(§  id^  fte  je  geahnt  i)aht,  babei  ju  empfinben  gibt,  aber  nur,  um 
fie  bem  SReuigen  }u  pergeben  unb  mid)  tro^  ©ünbe  unb  ©c^ulb 
gnäbig  in  feine  ®emeinfd)aft  ju  jiel^en,  bamit  ic^  in  einem  neuen 
Seben  nor  i^m  manbete.  (Sin  fo(d)e§  ©oangelium  Iä§t  ficft  in 
aCBa^r^eit  al§  „Set)re"  überhaupt  nid)t  begrünben.  Söomit  fott  e^ 
begrünbet  werben?  9tad)  bem  ®ogma  ^ätte  3^efu8  jur  ©c- 
grünbung  auf  bie  göttlid^e  ©ubftanj  in  fi(^  l)inmeifen  muffen; 
aber  abgefef)en  baoon,  bajj  bie  eoangelifci^e  (Sefd)ic^te  pon  einer 
fpld^en  ©ubftanj  überl)aupt  nid}t§  mei^,  ipie  fott  felbft  bie  9ln= 
nat)me  pon  it)rem  95ort)anbenfein  ben  ©ünber  ber  gnäbigen  ®e* 
finnung  ©otteg  gegen  if)n  überfütiren?  Seine  93emei§fü^rung, 
feine  ^Berufung  auf  Sunber  unb  3cid)en  ipirb,  mie  bereits  gc* 
fagt,  bieg  Uuglaublic^fte  glaublich  machen;  ic^  mu§  e§  al§  mirf^ 
li^  erleben,  ba§  bie  SiebeSgefinnung  @otte§  in  biefer  Slbfic^t  auf 
mid|  gerid)tet  ift  unb  ifjre  2lbfid)t  al§  üMad)t,  bie  über  allen 
meinen  Gräften  tfiront,  an  mir  PoUsietit.     3Bo  ift  biefe  gSBirtlictj« 


I^e^erabenb:  9Robente  2:^eoIogie.  131 

feit  in  ber  ©cit  ju  finbcn,  bog  wir  fagen  muffen:  „®ott  ift 
gegenroärtig,  laffet  unS  anbeten  unb  in  6f>rfurc^t  oor  i^n  treten. 
®cr  i^n  fennt,  wer  i^n  nennt,  fc^logt  bie  3Iugen  nieber,  tommt, 
ergebt  eud|  roieber"  ?"  ^ier  ift  in  ber  ^at  bie  Sffiirtliditeit  alleö.  SQBaS 
ift  bicfe SSirflic^feit  für  un§ ?  darauf  antwortet  §arnadC:  Qt\n^ 
ift  bie  perfönli^e  !tBern>irf Uc^ung  unb  bie  ^raft  be§  Soangelium^,  beS 
(SDangeIium§  in  biefem  Sinne,  ift  e§  für  ben  ©tauben,  ber  fid)  a\x^  ber 
Äraft  biefer  SEBirf H^feit  geboren  roeijg.  @rmi§t  man,  roaS  bamit  gefagt 
ift?  ^n  biefer  ©d)ö})fung  beS  @Iaubcn§,  bie  erlebt  fein  roiü,  ift 
3  c  f  u  §  unb  ®ott  unmittelbar  einö.  -3  ^  f  ii  ^  if*  ^ur  in  @ott  ju 
folc^em  Schaffen  befätiigt,  unb  (Sott  ift  au^ertialb  3  e  f  u  als  @ott 
be§  SoangeliumS  überhaupt  nict)t  erfaßbar.  @ben  beSljalb  ift  ba§ 
Soangelium  nic^t  fonftruierbar  aU  eine  9iei()e  von  fieljren:  von 
@ott,  üom  3Äenfc^en,  vom  aWittler  jmifd)en  beiben  u.  f.  m.,  fon» 
bern  ba§  ©oangelium  lä|t  fid)  nur  barftetlen  al§  33efc^reibung 
ber  9B8irflic^!eit,  worin  un§  @ott  offenbar  ift  als  ber  SiebeSmille, 
ber  ben  ©lauben  in  unS  fd)afft  unb  unS  fo  in  bie  ©emeinfc^aft 
feines  eroigen  2eben§  ert)ebt.  3Bo  ift  biefe  SBirflic^feit,  roenn  nic^t 
in  bem  ©ol^ne,  ben  ®ott  ber  SBelt  gab,  unb  ben  er  in  ber  ®^' 
meinbe,  bie  unfer  Seben  umfaßt,  als  ben  @eift  malten  ld|t,  beffen 
f(^öpferifd)er  Äraft  auc^  unfer  ©laube  fein  3)afein  oerbanft? 
(gine  ^öl)ere,  bleibenbere  53ebeutung  ber  ?ßerfon  S^rifti  läjjt 
ftc^  nic^t  auSfagen,  nic^t  beuten,  als  bie:  «ÖefuS  ift  baS  ®oan* 
flelium,  nic^t  blo§  ein  Selirftüd  barin,  mie  nad^  ber  alten  2luf« 
faffung,  er  ift  bie  ©nabenoffenbarung  ®otteS  an  bie SWenfc^t)eit, 
fid>  felbft  immer  oon  neuem  in  ftraft  begeugenb  burcl)  bie  f(^öpfe* 
rifc^e  Srroedtung  beS  ®laubenS,  ber  bie  ^erjen  gottergeben  unb 
gottinnig  ma^t. 

3inbeS  baS  2Wi§trauen  bamit  fc^on  befe^rt  ju  t)aben,  barf 
man  fic^  ja  nid|t  fci^meid^eln.  @S  ^ord)t  nac^  einem  ©tid)it)ort, 
unb  ber  2trgn>ot)n  erhält  fid)  nid)t  nur,  fonbcrn  fteigert  fid)  mo* 
mögli^,  roenn  baS  Stichwort  ausbleibt,  ©o  roirb  eS  ia  root)l  aud^ 
^ier  jum  S^lu^  t)ei§en :  SSon  ber  „roefentlid)en"  ©ott^eit  ®  l)  r  i  ft  i 
ift  bod|  nic^t  bie  Siebe.  3)aau  tann  ftc^  \a  ber  „StationaliSmuS" 
nic^t  ^erbeilaffen ,  unb  ber  bamit  oerbunbene  „"^elagianiSmuS" 
brauct)t   fie   auc^   nirf|t.     „SBefentlid)"  alfo  mu^  bie  ©ott^eit  in 


132  f^  e  i)  e  T  a  b  e  n  b :  SWobctne  3:5eolo0ie. 

©l^viftuS  fein.  3)a  roärc  benn  bod)  junäc^ft  eine  Sßerftdnbi* 
gunfl  barfiber  oonnöten,  xoa^  bie§  SBort,  —  benn  mel^r  tft  cS  bod^ 
an  ft^  ni^t,  —  id)  fage:  xoa^  bie^  SBort  in  feiner  Stnroenbung 
auf  bie  ®ottt|eit  ju  bebeuten  I)abe.  SOSenn  man  Don  ber  gefc^i^t* 
lid)en  ®rfci^einung  3  e  f  u  f agt  ba§  fte  bie  3EBirf lid)feit  unb  Rraf t 
be§  ©ottegroidenS  gegen  bie  SBelt  fei,  bann  ift  man  meinet  Stn- 
fic^t  nac^  boc^  oollauf  bem  apoftolifc^en  333ort  geregt  gemorbeu: 
©Ott  mar  in  (S^rifto  unb  oerföfinte  bie  3BeIt  mit  i^m  felber. 
SBitl  man  aber  meiter  argumentieren :  2Bo  ber  SBiße  ift,  ba  mujj 
boc^  aud)  baS  SBefen  at§  fein  3;räger  fein.  Unb  roiU  bann  man  bar» 
über  ju  fpetulieren  anfangen,  mie  ba§  SBefen  an  ftc^  bef^affcn 
fein  muffe,  unb  mie  e§  fic^  in  ber  ^erfon  beS  gef(i^i^tlicl)en  @t* 
I5fer§  mit  beffen  anenfd)f)eit  oerbunben  Ijabe,  fo  überfd)reitet  man 
bie  ©renjen  ber  Stetigion  unb  begibt  fi^  auf  ba§  ©ebiet  ber 
ißt)iIofop]^ie.  Qn  folc^en  5^agen  maltet  fein  efgenttid)  religiöfe§ 
^[ntereffe  mel^r  ob,  fonbern  bie  Steugier,  bie  aud)  baS  gern  miffen 
möd^te,  xoa^  fd)tec^terbing§  oerborgen  ift  in  ©ott.  Sßor  nid)t8  ^at 
S  u  1 1^  e  r  au§  bem  ©eftc^t^puntte  eoangelifdien  ©(auben§  euer« 
gifc^er  unb  inftänbiger  gemarnt,  al§  oor  fold)er  fpetulierenben 
9teugier.  SOBaS  ^aben  mir  benn  gemonnen,  menn  mir  unS  oon  ber 
oerfc^oHenen  SBeltmeisIieit  längft  vergangener  2;age  ©otte§  SDSefen 
aU  abfolute  ©ubftanj  angeben  laffen?  -3ft  e§  ^ier  nid)t  ridjtiger 
unb  am  ©nbe  auc^  frömmer  ftd^  ju  befc^eiben  im  9tic^tmiffen 
beffen,  ma§  ©ott  felbft  oerborgen  ^at,  unb  ftd)  genügen  ju  laffen 
an  bem,  \va^  er  offenbart  I)at,  feinem  ©nabenmiüen?  @o  bleibt 
ber  Unterfd^ieb:  bie  „moberue  J^eologie"  finbet  auc§  i^rerfeit^ 
©Ott  in  ®^riftu§  fo  „mefentli^",  al§  er  nur  fibert)aupt  für 
un§  erfaßbar  ift  unb  fid)  un§  Ijat  offenbaren  motten,  aber  fie 
le^ut  al§  ©rttärung  für  biefen  religiöfen  Satbeftanb  bie  9lnna^me 
einer  göttlichen  ©ubftanj  in  ©tiriftuS  ab,  bleibt  melme^r  ba* 
bei,  baj3  ber  „SBefenSgrunb"  ber  ©in^eit  ©^rifti  unb  ©otte§ 
für  un§  ein  ebenfolc^e§  unerforfd^li^eS  SJlgfterium  fei,  mie  ®otte§ 
„3Befen"  an  fid)  übertiaupt.  SEBir  tonnen  un§  ber  ©emö^nung 
noc^  nid)t  entfd)lagen,  bie  überlieferte,  im  3)ogma  ausgeprägte  ®r* 
Härung  biefer  aWpfterien  an  ber  $anb  ber  Subftanjibee  als  baS 
SBic^tigfte  im  (£^riftentum  anjufe^en.  ©emonnen  ift  babei  ^erjtic^ 


Sre^erabenb:  9)^obeme  2:^eologie.  133 

rocnig,  benn  bie  „®rHärung"  crKärt  im  ®runbe  boc^  miebcr  rein 
itid>t§.  9lbcr  babei  \)aUn  wix  unfern  rcligiöfen  ©tauben,  ber  auf 
uncrf^ütterli^em  gefd)ic^tlid|em  ©runbe  rulien  foHte,  f)alb  unbe« 
löu^t  üetfe^t  auf  ben  gcfäl)riic^en  53oben  einer  mel^r  al§  anfec^t* 
baren  ^^tlofop^ie.  3)ie  SJifferenj  fonjentriert  ficf)  fc^Iie§Ud^  in 
bcm  ©ubftanjbegriff.  3)er  unbeftreitbarc  Umftanb,  baJ5  biefer  SBe» 
griff  ber  tieiligen  ©d^rift  fremb  ift,  in  biefer  95ern)ertung  jum 
TOenigften,  follte  bod)  jebenfallä  fo  weit  mäjaigenb  auf  bie  Ueber^ 
fpannung  be§  @egenfa^e§  einroirfen,  ba§  roir  eine  ©rWärung  be§ 
(Soangcliumg  ol^ne  Sßerroenbung  biefeS  53egriffe§  nic^t  um  be§ 
willen  fd^on  be§  2lbfaU^  oom  ®^riftentum  begid^tigen,  fonbern  bie 
©ubftanjauffaffung  minbeften§  ju  ben  fingen  redinen,  bie  mir 
na6)  Sutl^er  mit  „®elel(rten,  Vernünftigen  ober  aud|  unter  un§ 
felbft"  oerl)anbeIn  fönnen,  mit  ooBer  ^rei^eit  mie  jur  Slnnaljme, 
fo  jur  3lble^nung. 

3lber  bie  ^[blelinung  fotl  ja  bem  „Sftötionali^musi"  unb 
,,*ißclagiani§mu§"  entfpringen.  3)enen  fonnen  mir  boc^  nid^t  0laum 
geben? 

9lun ,  ^  a  r  n  a  dt  ift  auc^  ein  au§gejeid)neter  Äenner  be§ 
9iationali§mu§  unb  be§  ^eIagiani§muS.  ®r  mei§  auc^  fe^r  ge-- 
nau,  ma§  fu^  etma  t)on  biefem  @tanbpunfte  au§  gegen  ba§  2)ogma 
Dorbringen  lä^t,  unb  er  oerfte^t  auc^  ba§  @emid)t  ber  rationa* 
liftifc^en  ®rflnbe  ju  fdt)ä^en.  SBenn  man  aber  mä^nt,  ba§  ratio* 
naliftifc^e§  JRäfonnement  ber  Äem  ber  Äritif  fei,  bie  ^  a  r  n  a  rf 
unb  feine  fjreunbe  am  3)ogma  üben,  fo  ©errät  man  nur,  ba§ 
man  urteilt,  o^ne  fx6)  gel^örig  informiert  ju  f)aben,  ein  ffierfal^ren, 
ba§  ja  l^eutgutage  oieUeid^t  ba§  aUermobernfte  auf  bem  ®ebiete 
t^eotogifd[|er  ^olemif  ift.  5Rein :  ^  a  r  n  a  dt  ift  ber  tiefen  Ueber* 
jeugung,  ba§  eine  religiöfe  ^ofttion,  mie  ba§  ®ogma  immerl^in 
boc^  eine  fold^e  oertritt,  niemals  burd^  blo^e  SBernünftelei,  fonbern 
nur  burd)  eine  anbere  überlegene  religiöfe  ^ofition  ju  überminben 
ift.  ffir  bilbet  fid)  freilirf)  nic^t  ein,  miffenfd^aftli^  argumentieren 
ju  fönnen  ol^ne  Sogü,  ober  gar  unter  Verachtung  ber  Sogit,  aber 
er  ift  auc^  innig  burd^brungen  baoon,  ba^  Vernunft  unb  SBiffen* 
fc^aft  allein,  mit  blo§  negatioer  Äritit,  ba§  2)ogma  auf  feinem 
^errfc^aft§gebiete  in  ber  Sirdf(e  nod)  nid)t  entmurjeln  fönnen,  ba§ 


134  S^e^erabenb:  äJlobeme  3:f)eolo0te. 

bagu  Diedne^r  bie  @eltenbmac^ung  einer  pofttiüen  9[nfc^auung  er^ 
forberlid^  x%  bie  fic^  religiös  loertootler  erioeift  al§  bie,  bie  vom 
©ogma  bargeboten  wirb  unb  in  it)m  i^re  3lu§prägung  gefunben 
\)at,  ®iefe8  >ßofitioe  fud^t  ^  a  r  n  a  d  in  bem  richtiger  unb  tiefer 
Derftanbenen  ©pangeUum.  2)a§  bietet  il^m  bie  @runblage  für  feine 
jiritif  an  bem  2)ognia.  3lu§  bem  ©oangelium  fd)öpft  er  feine 
Äraft  ju  i^rer  fiegreid)en  5)urc^fä^rung.  Ober  muffen  mir  ni^t 
felbft  jugeben,  ba§  ba§  33ilb  be§  f|imm(ifd|en  a3ater§  unferS  ^erm 
3[efu  ®t)rifti,  ba§  ba§  ©oangetium  un§  jetgt  wie  e8  unuer* 
einbar  ift  mit  bem  ?ßt)iIofop^em  be§  Slbfoluten,  fo  anbererfeit§ 
nur  lebenbig  oergegenmärtigt  ju  merben  braucht,  um  unfer  ^erj 
gefangen  ju  nef)men?  Ober  ift  bcr  aJlenf^enfot>n,  bie  perföntic^c 
58ern)irMid)ung  unb  Kraft  be§  ®oangeIiumS  in  bem  (Sinne,  ba§ 
mir  in  bem  unS  jugemenbeten  ^Ingeft^t  beö  ©obneS,  in  feinem 
Sebcn  unb  933ir!en  3u9  ^^^  3^9  be§  SßaterS  auf  un§  gerid)teten 
OnabenroiQen  üerfotgen  unb  in  feiner  fc^öpferif^en  Äraft  an  unS 
erfahren  tonnen,  nic^t  unenbtic^  üiel  me^r  al§  ba§  mqfteriöfe 
3)oppeImefen  be§  S)ogma§,  roorin  mir  göttliche  ©ubftanj  geeint 
mit  unferer  „91atur"  annel)men  fotfen  ?  2lm  menigften  aber  !ann 
bie  ajerföf)nung§^  unb  ©rlöfungSt^eorie,  bie  fid)  oon  ben  3Sorau§=^ 
fe^ungen  be§  ^ogma§  ergibt,  ftic^tialten  gegenüber  ber  SJerfün* 
bigung  be§  @DangeUumg.  2)arum  trife(t  eS  aud)  ju  aQermeift  an 
biefcm  fünfte,  felbft  in  fogenannten  firdjtirf)  gläubigen,  b.  ^.  an 
ber  @runbanfd)auung  be§  2)ogma§  feft^altenben  Greifen.  ®§ 
mehren  fxä)  gerabe  oon  biefer  ©eite  ^er  bie  33eiträge  jur  9Ser* 
föl)nung§le]^re,  bie  aber  totgeborene  SBerfudje  bleiben  muffen,  fo 
lange  man  fic^  nic^t  entfc^lie^en  !ann,  auf  bie  Subftanjibee  5U 
oerjic^ten  unb  unbefangen  oon  bem  au^juge^en,  ma§  fid)  einfach 
ate  gefc^i^tlidjer  ^n^att  beS  ®oangelium§  gibt.  95orber^anb  ift 
baju  nod)  roenig  3tu§ftd)t.  3)enn  wer  ba§  oerfuc^t,  mu§  fid)  be§ 
^Rationalismus  unb  ^elagianiSmuS  jei^en  laffen.  Unb  boc^  ift 
gerabe  beS  S)ogmaS  äBurjel  unb  eigentlid)e  SebcnSfraft  Sia* 
tionaliSmuS,  menn  aud|  ein  SRationaliSmuS,  bcr  fiel)  fpcfulatio  inS 
Jranfjenbentale  überfliegt  unb  an  einige  religiös  intereffierte  Qhtm 
anlei)nt.  äßeil  eS  fo  ift,  barum  ^at  aud)  ber  9tationaliSmuS  aller 
3eiten    mit   bem  3)ogma  gute  5reunbfd)aft   gefialten,   ober   fic^ 


^ei^erabenb:  9)<lobeme  ^^eologie.  135 

icbcnfa[(§  mit  i^m  abjufinben  geraupt.  9lur  mit  bcm  fd)Iid|tcn 
©oaugclium  oermag  bcr  ed^tc  9tationaU§mu§  ni(^t§  $Re(i)te§  anju* 
fangen.  9locf)  in  unfcrcn  S^agen  ifabtn  bic  Saffon,  g art- 
mann u.  a.  m.  gegen  ^arnadE  für  ba§  ®ogma  eine  Sanje  ge- 
brod)en  unb  erflärt,  wenn  ba§  ®t)riftentum  irgenbmo  eine  „fefte 
Stätte  l^abe,  fo  mü§te  e§  bod)  im  3)ogma  ju  finben  fein".  SKutet 
e§  nic^t  mie  eine  Satire  an,  ba^  unfere  „Jlird)lic^en"  biefe  2lttefte 
fc^munjetnb  einftreid)en  unb  fict)  gegen  ^arnadf  in  bemfelben 
3Woment  barauf  berufen,  mo  fie  i^n  be§  9iationaIi§mu§  auflagen? 
SBäre  ^arnadt  9iationaIift,  ba§  ®ogma  ^ätte  gute  SRuI^e  cor  it)m, 
Unb  ^elagiani§mu§  ?  2Bei§  man  benn  nid^t,  ba^  bie  genuinfteu 
SRepräfentanten  be§  2)ogma§,  bie  Orientalen  ber  alten  Äird^e, 
gegen  ^^3etagiu§  unb  feine  Sel)re  feinerjeit  nichts  etnjuroenben 
gehabt  traben,  unb  ba§  ba§  ®ogma  no^  I)eutigen  2:age§  i|öc^ften§ 
gegen  ^^clagiani§mu§  im  ^iftorifd)en  Sinne  fc^ü^t  ?  Stein,  f o  leid)t 
ift  ^ier  nid)t  9tationali§mu§  unb  ^elagiani§mu§  nac^jumeifen. 
9Jlan  roürbe  julegt  auf  ba§  (Soangelium  fetbft  fto^en,  beffen 
SBaffen  ^arnadf  unb  bie  moberne  S^^eotogie  überl^aupt  füt)rcn. 
9lber  menn  bie  fad^lic^en  ®rünbe  erfd)öpft  finb,  bann  flüchtet 
man  fi^  unter  ben  Sd[)u^  oon  STutoritäten.  Unb  xoa§  für  eine 
Slutorität  ftel)t  liier  jur  93erfügung!  ^^t  nid()t  aSater  Sutlier, 
bcr  9Äann,  ber  im  eoangelifd^en  ©laubcn  gelebt  unb  gemebt  ^at 
wie  feiner  oor  it|m  unb  feiner  nac^  i^m,  tro^bem  beim  3)ogma 
geblieben?  Unb  er  ift  babei  nid)t  nur  üerblieben,  fonbcrn  ^at 
barin  feine  ©efriebigung ,  feinen  S^roft,  feine  Stärfe  gefudjt 
unb  gefunben.  Unb  nun  fommen  bie  „3Wobernen"  unb  wollen 
burc^au§  erroeifen,  ba§  fiel)  ba§  ®ogma  loeber  mit  bem 
(Suangelium ,  nod^  mit  bem  ©lauben  £  u  1 1|  e  r  §  vereinen 
laffe.  ^a,  Don  biefer  Jatfac^e  foll  nidl)t§  abgebrodjen  unb 
ni^t§  abgebungen  werben,  ^ier  liegt  ba§  fdjmerfte  ^inberni§ 
•für  ben  göttfd^ritt  ber  eüangelifd[)en  @rfenntni§:  bie  gefcl)id)tlid)e 
Stellung  jum  S)ogma,  bie  ß  u  1 1)  e  r  eingenommen  ^at.  Äeinem 
eoangelifdien  ^erjen  fann  e§  gleidigültig  fein,  mie  Sut^er  fic^ 
ju  einer  gegebenen  5^'age  geftellt  l^at.  Unb  bennod),  baran  fann 
ja  anbercrfeitg  ebenfomenig  gebad)t  werben,  ba&  mir  feine  Snt^^ 
jc^eibung  einfad^  alö  ein  ®efe^  auf  un§  nel)men.    3)amit  mürben 


136  fjc^crabenb:  SWobernc  %^ cologic. 

luir  im  ^nnetftcn  gerabc  pon  i^m  rocid^cn.  S)cnn  er  fclbft  loürbc 
Sroeifellog  f agcn :  SBic  \\)x  cud^  auc^  entfd^cibct  au§  bem  (Stauben 
mu|  e§  gelten;  au§  bcm  ©tauben  be^  ^erjen^,  ber  eg  auf  @ott 
roagt,  tnu§  e§  mit  innerer  S^riebfraft  erroac^fen,  fonft  ift§  ®e=* 
fe^egmerf,  baS  feinen  ©egen,  fonbern  %lvii)  bringt.  Rann  ba§ 
S)ogma  fo  für  un§  jum  SebenSnero  unfere§  ©laubenS  werben, 
roie  e§  bei  S  u  1 1^  e  r  nod)  mögtic^  gemefen  ift?  ®a§  ift  bie  fyrage. 
SBer  fic^  roiffenf^aftlic^  tiefer  einbringenb  um  ein  93erftänbni§  ber 
Stellung  S  u  1 1)  e  r  §  jum  SDogma  bemül^t,  mu|  ju  bem  @rgebm§ 
tommen,  bajs  feine  tatfäd^Iid^e  Stellung  baju  für  i^n,  ben  3Jlann 
eoangelif(^en  ©laubenS,  nur  mögtic^  gemefen  ift,  meit  er  fid)  in 
feiner  gefc^idjtlidjen  Situation  über  ben  mal)ren  Sinn  ber  ?3egriffe 
unb  ^ö^^^f^  iw^  5)ogma  getäufc^t  t|at.  2)iefe  Jäufc^ung  ^at  i^m 
geftattet  unb  get^olfen,  feine  eoangelifdie  ©rfenntntS  unbefangen  in 
ba§  3)ogma  liineinjutegen  unb  f)ineinjubeuten.  ®a§  mar  in  feiner 
fiage  unb  bei  feinem  gefdjid^tlid^en  ^orijont  fein  SBBunber,  unb 
e§  ift  feine  Sd)anbe  für  ben,  ber  in  fo  oieten  Stüdten  unerreicht 
bafte^t,  unter  ben  gegebenen  Umftänben  feiner  Q^xt  einer  fold^en 
2:äuf(^ung  ertegen  ju  fein.  3lud)  ber  umfaffenbfte,  gemattigfte 
©eift  umfpannt  nicftt  mit  einem  Sd^lage  dfiz^.  S  u  1 1^  e  r  §  refor- 
matorifd)er  SBBiberfpruc^  I)at  fid^  in  erfter  Sinie  unb  im  roefent« 
tid^en  gegen  bie  ^ofttionen  ber  mittelattertid^en  Kirche  gerichtet 
Sein  ^iftorifc^er  @efid)t§frei§,  innerhalb  beffen  feine  SBalirnetimung 
ffar  unb  f^arf  blieb,  erftredt  fic^  jurüd  bi§  ju  ber  ©renjiinie 
be§  5WitteIalter§  gegen  ba§  firc^ti^e  Slttertum.  S38a§  fjinter  jener 
®ren jlinie  jurüctlag,  bas;  t)crf c^mamm  bem  SRef ormator,  mie  §  a  r» 
nad  treffenb  unb  l^übfc^  fagt,  in  ber  einen  golbenen  Sinie 
be§  9ieuen  SeftamentS.  lieber  ba§  firci^tid)e  3lltertum  felbft 
unb  beffen  ©ntmidttung ,  fpejieU  über  Urfprung,  SBerben  unb 
malere  ^ebeutung  be§  attfir^Iid)en  ^ogma§  l^at  unS  erft  bie 
tl)eologifdf)e  5<>^f^*i^9  ^^^  neueften  3^^*  tieferen  unb  ge* 
naueren  2luffc^tu^  gebraut.  SEBenn  nod|  in  unferen  2^agen  unter 
eüangelifd)en  2:i^eoIogen  bie  Sogmenentmidffung  ber  atten  Äirdjc 
aU  „gefunb"  Ijat  getten  fönnen,  mie  foUte  e§  nid)t  oottauf  bc*^ 
greif ti^  fein,  ba^  S  u  1 1|  e  r  fte  feinerjeit  fo  angefe^en  ^at,  ba  er 
roeber  3Wu^e  nod^  9Wittet  jur  einbringenberen  Prüfung  ber  Sad^e 


f^et^erabenb:  SOloberne  ^^eologie.  137 

befa&,  unb  gegenüber  ber  fpdtereu  ^ierarc^eiifird^e  bie  Berufung 
auf  bie  „lieben  93äter"  eine  überaus  roifltommene  unb  wirffame 
SBaffe  n)Qr,  bie  namentlid)  ani)  ben  SSornjurf  be§  fd^ranfenfofcn 
„9iabitali8mu§"  fo  ern)ünfd|t  abfc^nitt,  nic^t  nur  üor  ben  @eg* 
nern,  fonbem  auc^  für  ba§  eigene  öenjujjtf ein ,  ba§  fic^  bei  ber 
Oröjje  ber  Umroäljung  felbft,  in  aQem  ^eroi§mu§,  bang  oom 
Sc^roinbel  angeroanbelt  füllten  mujste.  SKlfo  S  u  1 1)  e  r  §  ©teDung 
unb  Haltung  ift  burc^auS  oerftänbüc^.  @§  fragt  fic^  nur,  ob 
biefe  ©tetlung  im  ^^rtfc^ritt  ber  S^xt  unb  ber  Klärung  be§  eoan* 
gelifc^en  SJerftänbniffeö  au^  für  un§  nod^  möglich  ift.  3iebenfatt§ 
müßten  wir  fiutl)er  ganj  folgen^  fofern  er  fic^  nid)t  nur  be* 
ru^igt  ^at  bei  bem  3)ogma,  fonbem  barin  auc^  ben  treffenben 
9tu§brurf  feine§  ^erjen§glauben§  immer  mieber  t)on  neuem  ge- 
funben  l^at.  3^nbem  er  ba§.  3)ogma  fo  aufnal)m  unb  oermertete, 
^at  er  bem  ju  feiner  Qtit  bereite  toten  ©ebilbe  eine  2lrt  neuen 
2eben§  eingel^auc^t.  @^  ift  boc^  nur  ein  Scheinleben  gemefen. 
S)a§  3)ogma  ift  tot  unb  feine  SWac^t  ber  ®rbe  fann  e§  mieber 
}um  Seben  bringen.  Jlur  ungern  fcl)reibe  id)  biefe  SBorte  nieber, 
ba  manche  eoangelifc^e  (S^riften  oon  ^erjtic^  frommer  ®efinnung 
folc^e  Sleugerungen  nur  mit  9lbfcf)eu  aufnehmen.  Sie  getiören 
jeboc^  JU  einer  rüdtjaltlofen  Äennjeid^nung  ber  mobernen  S^^eo« 
logie,  Don  ber  xd)  nic^tö  oertuf(^en  barf,  um  eine  meines  ®rait' 
tenS  ungeredjtfcrtigte  ©mpfinblic^teit  ju  frfjonen.  3Man  ffi^lt  fic^ 
perfönlic^  oerle^t,  meil  angeblicf)  gerabe  beS  eoangelifc^en  ©(aubeuS 
$erj  getroffen  fei.  @S  mirb  babei  einfach  angenommen,  ba§  baS 
S)ogma  mit  bem  @oangelium,  mie  ba§  9leue  2^eftament  e§  bietet, 
fongrucnt  fei.  Slber  baS  SHeue  Jeftament,  mie  man  fid^  bod)  leidet 
foltte  überjeugen  fönnen,  fief)t  nie  in  @ott  „baS  Slbfolute",  ober 
fpric^t  oon  jmei  „9laturen"  in  ber  ^erfon  beS  ©rlöferS,  oon 
welchen  bie  eine  bie  göttliche  „Subftanj"  märe,  ober  oerrät  auc^ 
nur  eine  ©pur  baoon,  ba^  bie  ©aframente  ben  3^^^<*  Ratten  unS 
bie  @nabe  ©otteS  in  fubftantieDer  g^tm,  etma  als  eine  2lrt  geift^^ 
li(i^cn  SWebif amentS ,  beijubringen.  Unb  menn  manche  feufjcn: 
SBie  fott  jemanb,  ber  ju  ben  3Äobernen  neigt,  noc^  baS  Slpofto- 
lifum  oor  ber  ©emeinbe  unb  mit  i^r  oor  ©Ott  befennen?  fo  ift 
biefe  beforgte  grage  fonberbar  genug,  infofern  bie  babei  gemachte 


188  JJcvcrabcnb:  SWobeme  a:]&eoIogie. 

SßorauSfe^ung,  al§  ob  ba^  Slpoftolifum  bie  2lnfc^auung  be§  Sog« 
mas;  jum  2lu§brud  bringe,  ein  pöüig  bobcnlofcr  ^^-'i^tum  ift.  9Äan 
fcl^e  fid^  borf)  nur  bic  brci  2lrtifcl  an.  9Bo  ift  ba  oom  Slbfotuten, 
oon  ber  S^riftotogie  ber  ^loturcn,  bcr  fog.  „aBcfenStrinität",  furj 
üon  bcm  ganjcn  ptiilofoptiifd^^^bogmotifdien  93egripapparat  bes 
S)ogma§  ttwa^  ju  fpilren?  SIKc^  ba§  ift  erft  jum  S)ogma,  b.  ^. 
ju  einer  Se^re,  bic  bei  Sßerluft  bcr  ©eligteit  bejaht  rocrbcn  mup, 
erf)obcn  lüorben  ju  beginn  bc§  jroeitcn  SBicrtcl^  be§  üierten  ^a))X' 
I)unbert^  nad)  ®t)rifto.  ®§  roar  ber  9iieberfd)lag  einer  langen 
9(rbeit  oon  2:t|eologen,  bic  it)re  33ilbung  unb  i^r  gele^rte^  Siüft* 
jeug  au§  ber  einjigen  9Biffenf(^aft,  bie  e§  gab,  ber  I|eibntfd)en 
'ißflitofop^ie  get)ott  Ratten.  3tber  bie  c^riftlic^e  Oemeinbc  ^at  bi^ 
jum  3ticänum  nic^t§  baoon  gemußt,  bag  man  jene  gormein  be* 
feunen  muffe,  um  feiig  ju  merben.  Unfer  apoftolifd^e^  ©laubenS* 
befenntni§  ift  mit  ein  3^ii9"i^  ou§  jener  Urjeit  be^  ®^riftentum§, 
mo  e§  nod|  fein  3)ogma  gab.  SBoI|t  un§,  ba^  mir  bie§  ©gmbol 
in  ber  Siturgic  unb  im  firc^lic^en  Unterrid^t  jur  gegebenen  ®runb* 
läge  l^aben,  benn  e§  blicft  nad)  ber  ©eite  be§  ©oangelium^  ^in 
unb  nid)t  jum  ®ogma.  Seffen  9lnfc^auung  ift  ja  nun  frei(id)  feit 
bem  oicrten  ;3a^rt)unbert  in  ungefähr  meiteren  oier  <3a^v^unbcrten 
at^  Sef)rgefe^,  oerbinblic^  de  salute,  mie  man  fagte,  langfam 
burc^gefe^t  morben.  Slber  roenn  man  auc^  fagen  barf,  ba^  biefer 
©ieg  be^  2)ogma§  feinerjeit  oon  ®ott  gewollt  gemefen  ift  unb 
ba§  S^riftentum  in  bebro^lic^en  ^rifen  gerettet  ^at,  fo  folgt  boc^ 
nid)t  Darauf,  bap  mir  bie  gormein  bei§  ®ogma8  ate  bleibenbc 
3öat|r^eit  anjufel^en,  ba§  S)ogma  nid)t  oom  ©oangelium  au§  ju 
forrigieren,  fonbern  t)ielmet)r  ba§  Soaugelium  nac^  bem  3)ogma 
äu  interpretieren  l^ätten.  Jßcrgeffen  roir^  nid^t  unb  oermifc^en  mir! 
nid)t,  baB  im  (Soangelium  göttlidie  Offenbarung  oorliegt,  im 
3)ogma  aber,  mie  e§  auc^  fei,  iebenfall§  erft  ein  im  oierten  bi§ 
ad)ten  ^atir^unbert  nad)  ®^riftu§  ooHenbete^  3Äenf(^cnmerf.  Sluc^ 
b  a  §  f|at  feine  2lufgabe  im  Sieic^e  @otte§.  Slber  mie  alle§  9Äen* 
fc^enmert  ^at  e»  feine  3^il-  ^i^  ^^  gefommen  ift,  fo  mu^  e§  auc^ 
mieber  oerge^en.  3)ie  moberne  2:^eoIogie  meint  oom  3)ogma,  ba§- 
e§  bereite  abgeftorben  fei.  Unb  menng  fo  märe,  ma§  märe  benn 
babei?    3Bäre  bamit  ber  gel§  unfereS  §eil§  umgeftürjt?    9Ran 


{^et^erabenb:  SD^oberne  ^^eologie.  139 

foBtc  fid)  fc^ämcn,  fo  unoer ftdnbig  511  vebcn.  SBer  fann  bcnn 
&  ^  r  i  ft  u  S  unb  fein  @pangelium  ftürjen  ?  Rängen  bie  am  3)og« 
ma?  3ür«)a{)r,  roir  foüten,  unerfc^ütterlid)  im  (Stauben  fufeenb 
auf  beffen  fieben^grunbe,  mit  ^erjU^em  ®(eid)mut  bie  S^uage  ev- 
roägen,  wie  e§  mit  bem  SJogma  fte^t,  ob  e§  nod^  einen  g^nfen 
Don  Scbcn  in  fid)  ^at,  ober  nac^  ber  58ef)auptung  ber  SWobernen 
bereite  gar  erftorben  ift.  3ft  für  ba§  le^te  am  ®nbe  nic^t  ein 
unioiberleglic^e§  3^W9"i^/  w^^""  ^^  ^^^  allgemein  anertannte  3Q3a^r= 
tjeit  gilt:  nur  ja  feine  bogmatifd)en  ^rebigten!  3)a§  3)ogma  inter=^ 
cfficre,  pade,  bewege  nic^t.  3)asi  ift,  allgemein  genommen,  gar 
nid)t  einmal  ma^r.  S^refft  nur  ba§  ®ogma,  ba§  einen  Seben^nero 
in  ©djioingung  oerfe^t,  unb  feine  3Serfünbigung  rei^t  alle§  fort. 
9(ud)  baS  alte  ®ogma  ^at  feine  3^it  geljabt,  ba  bie  oerjmidteften 
Formulierungen,  bie  feinem  ©oben  entfproffeu  fiub,  ein  gerabe- 
ju  fiebert)afte§  ^ntereffe  erregten.  SGBarum  ift  ba§  bei  un§  nid)t 
mel^r  ber  gall,  felbft  bei  benen  nic^t,  bie  ba§  ®ogma  at§  ioert= 
ooüfte^  Heiligtum  preifen?  3)ie  ©ad)e  ift  fet)r  einfad).  3)amal^ 
u)ar  basi  2)ogma  eine  lebenbige  SKad^t  in  ben  ©emütern,  für  un§ 
ift  e§  unmieberbringlic^  ba^in,  loeit  unfere  SEBeltanfc^auung  eine 
anbere  geworben  ift,  al§  fie  baö  ®ogma  oorau^fe^t,  unb  oor 
ädern,  weil  wir  bie  äBa^rl^eit  be§  (SuaugeliumS  nad)  i^rem  ge- 
fc^ic^tlidieu  Sinn  beffer  oerftef)en  gelernt  t)aben.  3)ag  S)ogma 
wirb  nur  nod)  oon  oieten  wie  eine  l)eilige  9)eliquie  mitgefc^leppt. 
9lad)  me^r  ober  weniger  fd)weren  Stampfen  tiaben  fie  fid)  babei 
„beruhigt",  ba§  ba§  nun  einmal  mit  jum  S^rifteutum  gcl)ört, 
ba§  it)nen  fonft  wert  ift.  2lber  i^r  ®laube,  wenn  e§  benn  eoau* 
gclifc^er  ®laube  ift,  it)r  ©laube  lebt  in  etwa§  ganj  anberem,  xoa^ 
be§  @lauben§  fiebenSelement  ift,  nämlich :  S^riftuS  unb  fein  (Suan- 
gelium.  6ö  läuft  alfo  im  bcften  ^^alk  bie  Stellung,  bie  gegeu= 
wärtig  bem  ^ogma  gegenüber  möglid)  ift,  barauf  ^inau§,  bag 
man  fic^  babei  beruhigt,  ©aju  aber  ift  ba§  5)ogma,  wenn  c5 
benn  eins  geben  foU,  fd)led)terbing§  nid)t  ba,  bamit  man  fid)  ba- 
bei  beruhige.  Soll  e3  überl)aupt  einen  Sinn  Ijaben,  fo  mu^  e^ 
bie  lebenbige,  treibenbe  ftraft  in  bem  ®lauben§befenntni§  fein. 
@ine  blo^e  95eru^iguug  bei  bem  3)ogma  würbe  S  u  1 1^  e  r  aufö 
fc^ärffte  al§  unfittlid)  unb  irreligiös  oerbammen.  3)enn  t)ier,  vomn 


140  ^e^erabenb:  SVlobetne  3;^eoIogie. 

irgenbmo,  l^atte  für  i^n  bo^  3Bott  Geltung:  SBa^  md)t  auS  bem 
©lauben  geltet,  ba§  ift  ©ünbe.  3Bo  ift  benn  aber  ^eutjutagc  bcc 
®(aube,  ber  {td)  unrotUfürlid)  im  3)ogma  ä(uSbrudE  gäbe  ober  ju 
geben  Dermöc^te?  3)aju  gehörte  uor  oUem  rec^t  mel  UniDiffen^eit 
©obann  refotutc  SSerac^tung  ber  SEßelt,  Tooriii  unfer  ficbcn  in 
äBir!(id)feit  gelebt  n)trb,  unb  @infpinnung  in  ein  äBeltberougtfein, 
haS  oon  ber  ©egenroart  auf  @d)ritt  unb  Stritt  Sügen  geftraft 
rnirb.  9Ba$  fann  ba  nur  ba§  Qid  fein?  ^oc^  jebenfaH^  nic^t 
bie  SGBal^r^eit,  a(S  bie  ftc^  unfer  ^err  be^eidinet  l)at.  @S  ift  ^eut« 
jutage  ffir  nüchterne  unb  n7a^rl)eitS(iebenbe  ä^enfc^en  fd^Iec^ter« 
bingS  jur  UnmögUd|feit  geroorben^  fid)  noc^  auf  bie  ©tedung  jur 
@ac^e,  bie  Suti)er  einft  gan;  naiu  eingenommen  ^at,  jurflcfju« 
fd)rauben.  Unter  biefen  Umftänben  ift  bie  überfommene  offijieUe 
Geltung  beS  3)ogma§  in  unferer  ^irc^e,  bie  bod^  bie  ^ird)e  be§ 
@laubenS  aU  be§  (ebenbigen  freien  ^erjenStriebeS  fein  miQ,  nic^t 
bie  Slirc^e  beS  @(auben§  a(§  gefe^lic^en  @e^orfam§,  gerabeju  als 
bie  fritifcl)fte  Kalamität  ju  be^eic^nen.  (Sine  9Bei(e  mag  eS  ja 
bei  unferer  ©emeinben  naioer  ^^ietät  für  ba§  hergebrachte  no(b 
fo  weitergeben.  Unruf)e  {)ineiniutragen  burc^  3)ogmenftürmerei 
mdre  ein  9Serbre^en.  2lnbererfeit8  aber  barf  man  fic^  nic^t  bar- 
über  täufdien,  bap  bie  3^it  tommt,  roo  bie  Kriftö  afut  roirb^  unb 
©Ott  meig  mie  balb  ber  ÜÄoment  ba  ift.  3)ie  mobernen  SBer« 
^ältniffe  bringen  eS  mit  fic^,  bag  bie  ©ntmicfelung  in  rapibem 
2:empo  fortfd)reitet.  SEBelc^e  folgen  niu§  e§  ^aben,  »oenn  ba§ 
offijielle  Äirrf)entum  bie  giftion  aufrecht  er^tt,  ba^  baö  SBcfen 
be^  ©firiftentumS  im  3)ogma  ftede?  S)ie  oer^angniöootten  Solgen 
tonnen  nur  bie  fein,  ba§  bie  ©egner  be§  3)ogma§  ju  bem  9?a« 
bitaUSmu^  getrieben  merben,  mit  bem  2)ogma  auc^  ba§  G^^riften- 
tum  unb  baS  ©oangeUum,  al§  angeblich  untrennbar  oom  3)ogma, 
JU  oermerfen.  Unb  bie  b  a  §  nic^t  moüen,  werben  baju  genötigt, 
fid)  in  bem  ^ogma  auf  eine  ^orm  be§  &t)riftentum^  ju  uerfteifen, 
bie  feine  eoangelifdje  me^r  märe.  3)enn  fobalb  erft  burc^  ben 
©egenfa^  ba§  3)ogma  in  ben  Sflittelpunft  be§  33emuBtfein§  ge» 
rücft  mirb  unb  biefe§  anfängt  mit  i^m  ®ruft  ju  madjen,  bann 
roirb  ber  ®Iaube  ge^orfame  ^Äeja^ung  non  5)ingen,  bie  nic^t  in 
\)a^  ©oangelium  hinein,  fonberu  oon  i^m  abführen.    3>aS  3)ogma 


^e^erabenb:  SDIobeme  2:f)eologie.  141 

ijl  nic^t  n>ie  bic  trabitioncKe  Qttuffton  anno^m,  3wfammenfaf» 
fung  be§  (SDangeliumS  in  jutreffenbfter  Formulierung,  fonbern 
ba§  3)ogmQ  löfc^t  mit  feinen  metap^i^fifc^en  ©pefulotionen  unb 
Sbeen  ba§  ©oangelium,  f ofem  e§  gefc^ic^tlic^e  Offenbarung  ®otte§ 
in  Sl^riftu^  ift  gerabeju  au$. 

93iel(eid)t  gelingt  e§  biefen  Satbeftanb  am  el^eften  ing  fiid^t 
}u  rudten,  menn  mir  unfere  9lufmerffamteit  einmal  auf  einen 
einjetnen  fonfreten  ^^unft  rieten.  Qä)  greife  beS^alb  auf  ba§  ju* 
xüd,  ma§  fc^on  Dort)in  über  bie  ©rlöfungS-  unb  SSerföl^nungS^ 
le^re  bemertt  roorben  ift.  9leuerbing§  l^at  Äonrab  @ra^  eine 
fleißige  ©tubie  üeröffentlict)t,  bie  unter  bem  Sitel  „ßur  Se^re  pon 
ber  ®ottf)eit  £i>rifti"  bie  S^age  be^anbelt,  marum  nur  ber  Xoh 
bc§  @ottmenfd)en  erlöfenbe  SBirfung  ^aben  tonnte,  ©rag  be* 
f priest  juerft  bie  morgenlanbifc^e,  bann  bie  abenblänbifd^e  älnt« 
mort  auf  biefe  '^xa^^,  fritifiert  unb  oerroirft  beibe.  S)ie  Oott^eit 
fei  bei  3«fu  Xobe  nur  al8  ru^enb  gebac^t  unb  fpiele  nur  bie 
9totle  eine§  SücfenbüßerS.  S)arum  fie^t  ftd)  ®rag  nac^  einer 
britten  S^eorie  um,  bie  aümä^tic^  feit  ben  Ziagen  ber  SReforma* 
tion  ^eroorgemac^fen  fei,  @c^on  fiutlier  l)abe  bie  @ottl)eit 
S  ^  r  i  ft  i  in  biefem  3ufammen^ange  nid)t  blojs  als  mertoerleil^enb, 
fonbern  and)  al§  mitmirfenb  gebaut,  unb  bei  SJleland^ tt|on, 
&f)tmvii^  u.  a.  begegne  un$  bie  3lnfc^auung,  bag  beim  Sobe 
(£  ^  r  i  ft  i  bie  göttliche  ?latur  bie  .menfc^tid)e  geftärft  unb  auf» 
red^t  erhalten  ^abe,  bamit  fie  bie  unenblic^e  Saft  ber  SBeltfünbe  unb 
be§  gangen  3orne§  @otte§  ertragen  tonnte,  ©omit  tommt  ®  r  a  § 
in  2lntnüpfung  baran  ju  bem  @rf)tu§,  bag  ®  f)  r  i  ft  u  §  nur  al§ 
@ott  imftanbe  mar,  bie  ©ottoerlaffen^eit,  meltf)e  er  in  feinem 
SobeSleiben  ju  empfinben  betam,  aufjulieben  in  bie  ungeftörte 
@otte§gemeinf(^aft,  unb  fo  bie  ©rlöfung  im  ©inne  ber  SBieber* 
I)erftellung  ber  ©otte^gemeinfci^aft  }u  ootliie^en.    ©omeit  @  r  a  g. 

9lun,  menn  bie  ©ott^eit  ^efu  babei  „mobern"  al§  @ott* 
ein^eit  aufgefaßt  mirb,  bie  ber  ©etreujigte  gegenüber  ber  furcht» 
baren  ©pannung  be§  2:obe§leiben§  in  ©ottinnigteit  bur^  uner* 
fc^ütterlidjeS  ©tanb^alten  in  ©laube,  Siebe  unb  Hoffnung  fieg* 
reic^  behauptete:  bann  ift  ©olgat^a  ber  religiöfe  ©ipfelpuntt  ber 
3Wenf^^eit§gefd^ic^te  unb  bie  ftral)lenbfte  ©rfc^einung  be§  l)eiligen 

3rttf4rift  für  X^eotoflie  unb  Atrt^e.  14.  Qaf)XQ.,  2.  $fft.  10 


142  f^e^erabenb:  ä^oberne  ^^eologie. 

fiiebeSn)iUen§  ©otteS  in  \i)x.  2)ann  ift  I)iet  oor  oUem  }u  flauen 
bie  ©rfiiauttg  be§  aBorteS :  5nun  ift  bc§  SWenfc^en  ©of|n  ocrttäret, 
unb  Oott  ift  octftärct  in  i^m.  Unb  über  ©olgat^a  prinaipalitcv 
gehört  bann  gleic^fam  afö  Ucbcrfi^rift  l^in  ba§  Slpoftetoort :  @ott 
geoffenbaret  im  ^^eifd^!  ©o  oerftanben  fann  Oolgat^a  nie  auf* 
Pren  ber  SBattfai^rt^ort  ber  9Wenfc^{)eit  ju  fein,  ju  bem  bie  ©eifter 
immer  mieber  ^in^  ober  ju  bem  fie  immer  mieber  jurfldlenfen, 
weil  ba§  Rreu}  ®^rifti  ber  fiebenSbaum  bleibt,  ber  bie  ^^ruc^t 
ber  ®otte§gemeinfct|aft  barbietet  jum  emigen  Seben.  S)iefe  SSe- 
traci)tung§metfe  f<i^öpft  ben  gefc^id^tlic^en  @inn  be§  ßreujeS  @;t|riftt 
au§  unb  mac^t  ba$  @oangeIium  in  feinem  ^empunfte  ju  einem 
emig  fprubeinben  Duett  ber  2lnbac^t  im  ^öc^ften  ©inne. 

9lber  nun  nel^me  man  e§  einmal  baneben  im  altbogmotifd^en 
93erftanbe,  an  bem  auc^  ®xa%  feft^ält.  3)ie  ©ottl^eit  f ott  in  ber 
^erfon  <3efu  at§  ©ubftanj  angefel^en  werben,  nur  nic^t  blo^ 
ate  ru^enbe,  fonbern  al§  mit  in  2lttion  tretenbe.  ©tetten  n)ir 
un§  rec^t  Ubi)a\t  oor,  bafe  bem  ©efreujigten  in  bem,  äu^er* 
lid)  angefe^en,  rettung^tofen  3)unlel  oon  ©olgat^a  bie  „©ubftanj 
ber  ©ott^eit"  berart  jur  SJerfügung  ftanb,  ba|  er  i{)re  Kräfte 
gegen  bie  2lnfec^tung  in  SBirffamteit  fe^en  tonnte:  welcher  @mfl 
rootint  bann  nod^  bem  ganjen  SSorgange  inne?  ®r  mirb  ju  einem 
bloßen  Sd^ein,  ju  einem  ®(eic^ni§,  menn  man  mitt;  aber  mit  ber 
tatfäc^Ii^en  ^egrünbung  unfereS  $eilS  ^at  er  an  ftc^  menig  ju 
fc^affen.  Sft  e§  nic^t  le^rreicti,  ba^  baS  ftreuj  S^rifti  für 
bie  93äter  be§  3)ogma§  oerf)äItni§mä§ig  geringeig  Qntereffe  ^at? 
^finen  ift  bie  Srlöfung  befc^toffen  in  bem  SWoment  ber  ^nfar* 
nation.  Sitten,  maS  fo(gt,  fommt  ^öc^ften§  aU  @jrp(i!ation,  al§ 
Qttuftration  ober  al^  ©yemplifitation  in  53etrac^t,  aU  Slnregung 
}u  erneuter  Sßerfenfung  in  jene§  9Bunber  atter  SBunber,  aber 
mefentlic^e  ^ebeutung  für  bie  @r(öfung  l^at  bie  @efc^id)te  nic^t. 
SBer  mit  feiner  @rIöfung§^offnung  in  bem  <3ntarnation§n)unber 
ru^t,  ber  freut  fic^  mol^t  gar  ber  oermeintlic^  fpielenben  fiei^tig* 
feit,  womit  fic^  ber  ©ottmenfd)  über  fieiben  unb  lob  er^ob ;  benn 
eben  in  biefer  Seic^tigteit  ber  Ueberminbung  finbet  er  ba§  3^"9' 
ni§,  bafe  bie  ©ott^eit  mit  im  Spiele  mar.  Un§  aber  mu|  boc^ 
gerabeju  ein  ©rauen  erfaffen,  mie  ber  ©runbgebanfe  beS  3)og« 


f^e^erabenb:  Snoberne  ^f)eologie.  143 

mQ§  ben  Tüirflicl)cn  5e(§  unb  ^ort  be§  ^eif§  in  ber  eoangetif^cn 
@e|"d)ic^te  auflöft  unb  ocrffüc^tigt ,  um  aHc§  ju  reDujieren  auf 
einen  aWoment,  ber  au§  aller  ®c|c^ict)tc  herausfällt  unb  im  @Dan= 
gclium  fclbft  feinen  2fnl)alt  ^at.  aQ3a§  aber  oon  bem  befprodjenen 
96fct)nitt  ber  eoangelif^en  ®efd)ic^te  gilt,  baS  gilt  ebenfo  oon 
allen  übrigen  unb  non  bem  @an}en.  3)}an  oerfud^e  nur  in  ber 
ffijjierten  SBcife  etina  @etf)femane,  ober  ben  granbiofen  21nfang 
ber  eoangelifdien  ©efc^id^te  im  engern  ©inne,  bie  93erfuc^ung  beö 
|)errn,  dou  ben  SSorauSfe^ungen  be§  3)ogma§  au§  aufjufaffen: 
eS  löft  fic^  alles  in  einen  roefenlofen  Sdjein  auf.  2)ie  lebcnbig^ 
madienbe  ^raft  be§  gefc^id^tlic^  üerftanbenen  unb  erfajjten  Soan- 
geliumS  wirb  parati)fiert  ju  Ounften  eincS  Sl^eologumenonS,  ba§ 
erft  in  bie  ®efd)ic^te  {)ineingebeutet  werben  mu|. 

©lüctlic^erroeife  oergeffen  unfere  ©emeinben  fiber  bem  Soan* 
geliuin,  baS  fie  ^ören,  ba§  3)ogma.  Slber  bie  geinbfeligfeit  gegen 
bie  moberne  J^eologie  unb  im  befonbern  gegen  ^  a  r  n  a  d  fc^eint 
jur  ©tärtung  ber  leibenfd^aftlic^en  Spannung  auf  baS  3)ogma 
iurflcfgreifen  5U  mollen.  ®aS  n)äre  ein  t)erl)ängniSuotleS  beginnen. 
3)er  ÜEBiberfprud)  gegen  baS  ®ogma,  ba§  follten  luir  nid)t  uer* 
geffen,  ruf)t  auf  bem  ®üangelium.  S)em  foll  freie  93a^n  gefdjaffen 
werben.  3)a  müßten  mir  ^arnarf  banf  roiffen,  ba^  er  unS 
bie  Singen  geöffnet  t|at  über  ba§  roa^re  SBefen  be§  3)ogma§,  beffen 
Unüereinbarfeit  mit  bem  (Snangelium,  ia  beffen  lätimenbe  @egen= 
roirfung,  rooburc^  baS  3)ogma  jum  fd)limmften  ^emmniS  beS 
6oangelium§  roirb.  95Benn  fid)  aber  bie  ©ac^e  fo  ftellt:  3)ogma 
ober  (Soangelium,  —  !önnen  mir  benn  ba  nod)  über  bie  SBa^l 
fc^roanfen?  Ober  bod^?  ^a,  bann  Ratten  mir  allen  ®runb  unS 
an  eine  befannte  STnetbote  00m  Sage  ber  2luguftana  ju  erinnern. 
SBit^etm  üon  ©aiern,  ber  !atl)olifc^  gefmnte  Jürft,  er* 
innerte  ®dt  an  fein  5Berfprcct)en,  ba§  luttierifc^e  93etenntni§  ju 
roiberlegen.  ®d  aber  unter  bem  SinbrudC  ber  aSerlefung  ant^^ 
»ortete  fleinlaut:  2luS  ben  UJätern  unb  ber  Jrabition  getraue  ev 
fic^'S  roo^l,  aber  au8  ber  ©d)rift  fei  eS  unmöglid).  2)a  ^at  ber 
^«tjog  mit  grimmigem  ©arfaSmuS  aufgerufen:  SBo^l,  fo  t)öre 
ic^.  bag  bie  Sut^erifc^en  i  n  ber  ©c^rift  fi^en  unb  mir  ^ontificii 
baneben.   ^arnact  f u|t  auf  bem  ©oangelium.   5)eff en  Äraf t 

10* 


144  f^e^erabenb:  'SRohtxm  2:^eo(i>9ie. 

mac^t  er  gcttcnb.  Qu  bcffen  @^rc  fic^t  cv.  SBoHtcn  mir  un§  an 
baS  S)ogma  Hammern,  nun  gut:  bann  fä^en  mir  baneben.  3u 
@ott  mug  man  ^offen,  bag  ba§  Ungel^euerli^e  abgemanbt  merbe : 
ba§  3)ogma  feftl^atten  unb  baS  Snangelium  barüber  fahren  laffeu. 
SGBag  fönnten  mir  aWenfc^en  baju  tun?  9tun,  nor  allem  treue 
3eugen  be§  fc^Iic^ten  @oangeIium§  unb  feiner  bauenben  SSi^a^r^ 
\)txt  fein,  bamit  ber  lebenbige  eüangetifc^e  ®Iaubc  ermac^e,  ber 
ba§  2)ogma  ganj  pon  felbft  in  ben  ^intergrunb  bröngt  unb  ab- 
ftö^t.  aBer  aber  jum  Se^rer  unb  Seiter  berufen  ift,  ber  foHte 
f\6)  mit  aller  Energie  ju  Karen  fuc^en  über  bie  fragen  ber  mo* 
bernen  S^^eologie,  über  tf)re  SWotine  unb  über  t^re  ßiele.  2)a^ 
man  fic^  menigftenö  nerftüube  ju  erneuter  e^rli^er  Prüfung,  tiefer» 
grabenber  gorfc^ung,  reifli^er  Ueberlegung! 

@§  ift  ja  bis  ju  einem  gemiffen  @rabe  ju  oerfte^en,  ba|  baS 
neue  ungemol^nte  fiid^t  blenbet.  SoQ  e§  benn  gar  (ein  SDogma 
geben?  3Bie  foU  bann  bie  Äird^e  befielen?  3Bie  l^at  fte  benn 
beftanben  bie  Q^^^^iinberte  ^inburd^,  benor  e§  ein  ®ogma  gab? 
@§  ift  boc^  ein  gauj  uubemiefeneS  93orurtei(,  bag  ein  ^ogma  bie 
^ird^e  bauen  unb  jufammen^alten  mu^.  3)a§  Soangelium  tut 
e§,  unb  ber,  ber  im  (Soangelium  al§  ber  (Seift  ju  un§  tommt^ 
unb  in  feiner  Offenbarung  un8  ben  SBater  fo  bringt,  ba§  unfere 
^erjen  unter  ber  lebenbigen  ^erü^rung  biefeS  breieinigen  @otte§ 
umgefc^affen  werben  ju  bem  ®(auben,  ber  oertrauenb,  liebenb  unb 
^offenb  in  bem  altmä^tigen  ®ott  rul^t.  3)iefer  ©laube,  ber  2e» 
benSfraft  ift,  bie  in  jebem,  unbefc^abet  i^rer  mefentlic^en  ©leic^» 
l^eit,  bodti  roieber  inbioibueH  werfc^ieben  pulfiert,  lä^t  fid)  nic^t  in 
eine  gormel  faffen,  bie  ein  einfüraHemat  fertiges  ©c^ema  bar* 
fteßte,  roorein  fic^  jeber  bei  SBerluft  feiner  ©eligteit  }u  fd^iden 
^ätte.  6rft  in  folc^er  unoerbrüc^lic^en  95erbinblid)!eit  für  oUe 
unb  jeben  Ratten  mir  mieber  ein  2)ogma.  Slber  mie  miQ  man 
baju  auf  eDangelifdfjem  Süoben  gelangen?  3)er  ®Iaube  fie^t  3«* 
fum  (£i|riftum  an.  Sßer  baS  ift,  uerfünbet  boc^  baS  ©oange« 
lium  taut  unb  beutlid^  genug,  ^ie  miQ  man  bie  ^ier  mir!fame 
SebenSmadjt  in  ben  engen  Stat^men  eines  menfc^Iic^  ^ergefteQteu 
®ebi(beS  jmängen? 

2tber  fott  eS  benn  auc^  fein  ©efenntniS  me^r  geben?  @eroiß. 


ffcrierabcnb:  SWobcrnc  2:^co(o9ic.  145 

3eber  ^at  fein§.  Unb  c§  gibt  fogar  ein§,  ba§  für  alle  in  gleicher 
Seife  unbebingt  oerbinblict)  ift  beim  ber  ^err  fctbft  bat  e§  oor* 
gefdjrieben,  wenn  er  fagt:  ®abei  n)irb  jebermann  evfennen,  bap 
i^r  meine  jünger  feib,  fo  i^r  Siebe  untereinanber  ^abt.  ®a§  ift 
bo§  unoergangltci^e  allgemeine  ©ijmbolum  ber 3iängerf(i)aft  3[efu 
®  ^  r  i  ft  i.  9Ba§  Ratten  wir  nodf)  baran  ju  fe^en,  ba§  biefe§  93e* 
tenntni§  in  un§  allen  SBa^rl^eit  lüäre,  bie  ber  ganjen  SBelt  funb 
würbe!  ©onte  man  irren  in  ber  2lnna{)me,  ba§  bie  allgemeine 
energif^e  3lblegung  biefe§  95efenntniffe§,  wenn  alle  Don  nun  ab  es 
barauf  anfe^ten  im  (Seift  unb  in  ber  äBa^ri^eit,  eine  neue  fc^önere 
Stera  für  bie  eoangelifdie  Äird)e  l^eraupl^ren  mügte?  9Jlanc^em, 
.  ber  jum  crftenmal  ba§  neue  Sicf)t  bämmern  fie^t,  mag  e§  fo  er== 
fc^cinen,  al§  bcleudjtete  bicfeS  Si^t  ein  Deröbete§  2:rümmerfelb. 
S)ie  ftoljen  ©äulen  unb  ^immelanflrebenben  SBogcn  be§  3)ogma§ 
liegen  jerf plagen  am  a3oben,  unb  bie  J^ütte  ®otte§  bei  ben  3Ren^ 
fc^en  büntt  einem  bagegen  ärmlicf)  fc^lid)t.  2lber  laffen  mir  un§ 
nic^t  beftec^cn!  2Bie  fagt  ber  Slpoftel?  S83a§  töricht  ift  oor  ber 
SBelt,  ba§  ^at  @ott  ermäf|let,  baj3  er  bie  3Seifen  ju  ©d)anben 
machte:  unb  ma§  fd^mac^  ift  vox  ber  SBelt,  ba§  I)at  ®ott  er^ 
rodelet,  bag  er  ju  ©c^anben  mad^te,  ma§  ftarf  ift:  unb  ba§  Un» 
eble  unb  ba§  SBerac^tete  ^at  ®ott  ermal^let,.  unb  ba§  ba  nict)t§ 
ift,  ba^  er  juni^te  machte,  ma§  etmaS  ift,  auf  baj5  ftd)  cor  i^m 
fein  %Ui]6)  rül^me.  Unter  ber  2legibe  be§  S)ogma§  ift  einft  bie 
^o^e  9Kenfd)enmei§^eit  in  ben  2:empel  @otte§  eingejogen  unb  t|at 
SBefi^  üon  it|m  genommen.  2lu^  unfere  SBäter  ber  9teftauration§= 
epoc^e  feit  ben  Sagen  ©c^leiermacl)er§  l^atten  oon  bem  fd)äu= 
menben  ©cifterfelifl^e  genippt,  ben  i^nen  bie  ©d)elling  unb 
^  e  g  e  t  boten.  3)cö^alb  morf|ten  fie  bie  53rüdCen  nid)t  abbred^en, 
bie  ba§  ®ogma  l^inüberfc^lug  ju  ber  t|o^en  Äunft  in  SBorten 
menfdjli^er  SBeiS^eit.  2lber  fie  muffen  abgebrochen  merben.  9lid)t 
ba§  mir  bie  ^^ilofop^ie  abfd)affen  möd)ten!  SQBollte  @ott,  ba§ 
fie  mel^r  unb  fleißiger,  einbringlic^er  betrieben  mürbe!  2lber  auf 
bem  53oben  bc§  ©oangeliumö  l^at  fie  nid)t§  ju  fd)affen.  3)enn 
^ier  mirb  fie  eben  oon  bem  (Soangelium  nid|t  gelitten  unb  oev^ 
tragen.  3)a§  (äoangelium  mill  an  feinem  Orte  aHein  bie  Seud)te 
fein,  bie  leuchtet  l^ier  unb  bort.  Unb  man  glaube  boc^  nur  nid)t, 


146  ^  e  9  e  r  a  b  e  u  b :  ^oberne  ^fieologie. 

ba|  man  baburcf)  ärmer  mürbe!  35oS  ift  eine  90115  uubegrünbetc 
3lngft.  9Jian  lüirb  im  ©egenteif  balb  ftauncn,  lüic  t)iel  reicher 
mau  in  ber  SSefc^räntung  auf  ba§  rein  religiös  uerftanbenc  ©Dan* 
gelium  geworben  fein  roirb.  3)a§  ®ogma  fcffelt  bie  treibenbe 
?5üHe  be§  @DangeIium§.  9lef)mt  bie  geffeln  bc§  ®eifte§  weg,  unb 
\i)x  at)nt  nid)t,  roie  e§  bann  fproffen  unb  blühen  unb  griic^te 
tragen  wirb,  ^m  3)ogma,  ba§  au§  ber  Slntite  ftammt  ^anbelt 
e§  fic^  um  Subftanjen  unb  bemgemäg  um  magifd)e  SBirtungen, 
bie  in  mei]^rau^gefd)n)ängerter  Sltmofpl^äre  ein  efftatifd)e§  Sraum* 
leben  at§  ©r^ebung  in§  ^f^nfeit^  oorfpiegeln.  S)a§  ©oangelium, 
in  feiner  9leinf)eit  erfaßt,  jeigt  un§  überall  ^^erfonen  unb  per* 
fßnlid)e  rcligiö§:=fittlidf)e  Gräfte,  bie  ju  bem  Dernünftigcn  @otte§* 
bienfte  im  ®eifte  unb  in  ber  aBa{)r^eit  führen  unb  befät)igen. 
^ier  liegen  nic^t  nur  in  933a!|r^eit  bie  unerfc^öpflid)en  duellen 
be§  Scbeng,  ba§  oon  einer  ^lar^eit  fortfdtireitet  jur  anbern,  fou:^ 
bern  t)ier  allein  ift  3Befen,  Äraft  unb  ^eil.  ®ort  bagegen  ^errfc^t 
:3llufion,  ©ntneroung,  al§  ^^^Ige  ber  Ueberreijung  im  SWgftiäi^- 
mu§,  unb  ein  luefenlofe^  ©c^attenfpieP). 

3)oc^  Ueberrebung  fann  ja  bie  red)te  ®ntfd)eibung  nic^t  ^er= 
beijmingen.  ?Jur  ein§  fann  Reifen:  unbefangene  SBerfentung  in 
ben  einfältigen  ©inn  be§  @oangelium§.  ®§  rebet  eine  ^inreic^enb 

1)  S)iefe  (S^arafterifienmg  gilt  natürlid)  nur  für  bie,  bie  in  ber 'I^at  gninb* 
jä^Iid)  ba^  SDogma  guni  ®IaubenSo6jeft  mad)en  unb  feinen  S^onfequensen  freie 
'43a^n  jur  (Entfaltung  getoä^ren.  93IoB  auf  bem  93oben  beS  .Vtatgoliai^mud 
ift  ha^  t)ertDirfIicf)t.  ^ag  bie  gegebene  @d)ilbernng  auf  eüangelifc^e  (Sänften, 
bie  and)  baS  ^ogma,  mie  man  fagt,  vfeftl)alten''  moQen,  nid)t  paßt,  ift  felbft^ 
oerftönblicf).  3c^  tt)i(I  e§  aber  noc^  au^brüdlid)  bemerfen,  ba  ed  fc^on  fo  miß» 
Derftanben  morben  ift.  i^ie  folltc  e^  benn  mir  beifommen  anjune^men,  bas 
bie  eoangelifc^en  trüber,  bie  baS  Dogma  nod)  md)t  miffen  gu  fönnen  meinen, 
t^r  (iilauben^leben  bed^alb  and)  nun  anS  bem  Dogma  sieben,  ba^  bafur 
gar  feine  9{ö^rtraft  ^at.  9ktürlid)  leben  fie  bt^  (Glaubens,  ber  aus  bem 
@k)angelium  fommt,  unb  be^^alb  trägt  aud)  i^r  fieben  in  (Sott  anbere  3üge, 
mie  id)  fie  ald  Xriebe  bed  Dogmaif  mit  aller  @c^&rfe  ^ingeftellt  i)aht.  dlxitit 
bad  galt  eS  ^ter  ju  ueranfc^aulidien,  mad  baS  (Suangelium  nod)  t  r  0  (  be« 
Dogmas  juftanbe  bringen  fann.  ^aS  fann  auc^  auf  bem  S3oben  be«  übcr< 
5eugtcften  5!at^oliäidmu9  erftaunlid)  uiel  fein.  $  t  e  r  mar  üor  ^ugen  su  fteUen, 
loaS  baS  Dogma  rein  für  fid)  ergibt.  @o  ttWia^  begegnet  nur  au6er^a(b 
ber  ©rcniien  unferer  Äird)c.  Slber  eS  ift  nüftlictl  einmal  feften  ©liefe«  babin 
gu  fe^en.    Vestigia  terrent.  Terreant! 


^et)erabenb:  SD^oberne  Sf)eologie.  147 

ocrfianbltd)e  ©prac^c,  wenn  wir  nur  unfcrcrfclts  unferc  üerbilbctcn 
O^ren  unb  ^crjen  loicber  auf  feine  ©^Ud)t^cit  ftimmen  Wnnten. 
3)a^tn  jielt,  barum  ringt  bie  oiclgefd^mo^te  „ntobemc  S^l^eologie". 
3)ie  Sefeitigung  be«  ®ogma8  ift  il^r  nid^t  Selbft*  unb  @nbjrocd. 
@ic  ift  i^r  nur  SJlittcl  ju  bem  eigentli^cn,  bcm  ^öd)ften  bcn!= 
baren  Qxotd,  baj3  ber  9GBeg  )u  unferen  ^erjen  frei  werbe  für  bie 
ooHc,  ooflenbete  @inn)ir!ung  be§  ©oangeliums;. 

3)iefe§  Qid  inu§  erreid^t  werben  unb  wirb  erreidtit  werben. 

®a§  ^erj  fcbtägt  ^öl^er  bei  bem  ©ebanfen  an  bie  g^reubc, 
bie  benen  beoorftel^t,  oon  bereu  Stugen  bie  3)edCe  faQen  wirb. 
2)ann  werben  wir  aud^  ganj  anber§  nocf)  oon  ber  SBa^rl^eit 
}€ugen:  freier,  freubiger,  wirffamer. 

Unb  ba§  tut  un8  boc^  eigentlich  bitter  not. 


148 


SBon 

MM  ftaftan. 


C.  <Btn;^lne  ^t^ttn. 

6)  2;rinität§lc]^rc  unb  ©I^riftologie. 

®§  liegt  mir  felbfioerftdubtid)  fern,  bie  beiben  in  ber  Ueber- 
fc^rift  genannten  Seigren  f)ier  nodimalS  üortragen  ju  motten.  £e^ 
biglid^  um  einige  (Ergänzungen  ju  ber  im  93ud)  gegebenen  älu^^ 
einanberfe^ung  fann  unb  foU  e§  fid)  ^anbeln.  ®§  fmb  gerabe 
l^ier  ®rmägungen,  bie  id^  gern  bei  ber  neuen  9luf(age  ber  S)og« 
matit  bem  Su^  felbft  eingefügt  l^ötte,  roaS  aber  nic^t  ol^ne  beffen 
©fiarafter  ju  ftören  l^ätte  gefdie^en  tonnen,  ^n  biefem  2luffa^ 
mirb  e§  fid)  bal^er  etma^  beftimmter  al§  in  ben  frut)eren  geltenb 
machen,  ba|  fie  eine  SBegleitfd^rift  jur  neuen  Sluflage  ber  3)og* 
matit  fmb.  SieUeic^t  liegt  e§  in  ber  5iatur  be§  S^emaS,  baß 
ba§  bei  ber  JBerl^anblung  über  einjelne  Set^ren  ftärter  ^eroortre* 
ten  muj3. 

2tuf  brei  ^untte  möchte  id)  nac^einanber  turj  eingeben,  ju* 
erft  auf  ba§  SSerl^ältni^  oon  StrinitätSle^re  unb  6;^rifto(ogte  ju 
einanber  unb  bann  auf  jebe  ber  beiben  Seigren  für  fic^  unab- 
l^ängig  oon  ber  anbern. 

1. 

<3[n  feiner  ®Iauben§Ie]^i!e  l)at  ©ci^Ieiermad)er  an  le^ter 
©tette  in  einem  „©c^Iu^"  überfdfjriebenen  2tbfct)nitt  turj  oon  ber 


^  a  f  t  a  n :  Qux  '2)0()mattf .  149 

£rinitäts(e^re  ge^anbelt.  Xahtx  ift  e§  il|m  mel^r  al^  um  bie  9(n« 
beutungen  für  eine  SEBeiterbilbung  ber  Se^re,  bie  er  gibt,  unt 
Betonung  beffen  ju  tun  gcwefen,  ba§  I|ier  ber  rid^tige  Ort  fei, 
baS  I^enm  ju  erörtern.  2)ie  jroeite  $d(fte  be§  jn>eiten  %tiU, 
fagt  er,  ^at  oon  eben  bem  ge^anbelt,  roa^  in  ber  Uebertieferung 
ouc^  in  biefer  5<>^>"/  i"  i>cr  ber  Irinität§Ie^re,  turj  jufammen« 
gefaxt  gegeben  ift.  2lber  natürlich  ift  bie  rid^tige  ©a^orbnung 
bie,  jucrft  bie  einjelnen  ©ebanfen  in  i^rer  fontreten  93ebeutung 
für  grömmig!eit  unb  ®(aube  ju  befpred)en  unb  erft  jum  (Sd)lu§ 
i^rer  ^wföw^wienfaffung  in  ber  JrinitätSle^re  ju  gebenfen.  9lur 
fo  ^at,  roa§  biefe  befugt,  bie  nic^t  felbft  Slu^brudt  be§  @Iauben§ 
ift  unb  fein  fann,  ©inn  unb  einen  i^rem  3>"^Q't  angemeffenen 
^fa§  im  3uföntment)ang  ber  ®Iauben§Iet|re. 

SWeineg  Sra^tenS  ift  hiergegen  nichts  einjuroenben,  fobalb 
man  bie  93orau§fe^ungen  für  jutreffenb  ^ält,  uon  benen  ©d)leier* 
machet  ausgebt.  Stauen  jufolge  ift  bog  d)riftlid)  fromme  ©elbft« 
bemu^tfein  ba§  eigentliche  2:I|emQ  ber  @IaubenS(eI|re.  ©ie  bringt 
biefe§  mit  feinem  it)m  eigentümlichen  Qn^alt  unb  weiter  mie  fiel) 
bie  SBelt  barin  fpiegelt  unb  ®ott  al§  fein  Ie^te§  SDBot)er  jur  ©ar- 
ftetlung.  Ober  —  in  etmaS  anberer  ^Beübung  —  fie  entroidelt, 
roa§  fein  mu§,  meit  ba§  ct)riftIicI|sfromme  ©elbftbemu^tfein  ift. 
Ob  aber  fo  ober  fo  —  fie  gel)t  oom  ©egebenen,  bem  frommen 
©elbftbemu^tfein  be§  (S^riften,  au§  unb  fteigt  oon  ba  auf  ju  fei» 
neu  entfernteren  Urfact)en,  ^anbelt  üon  ber  testen,  l^ö^ften  Urfad^e, 
Don  ®ott  an  le^ter  ©teile.  Sie  ift  eben  SiePejion  über  bie  fub* 
jeftioe  fjrömmigteit  unb  geroinnt  i^re  ©ä^e  au§  biefer  Stefteyion. 
9)a  ift  bann  ni^t  mol^I  etmaS  älnbereS  möglich,  als  ba^  bie  Sri- 
nität§Ie^re  i^ren  $la§  am  ©ci^Iu§  be§  3:eil§  angemiefen  erl|ätt, 
ber  üon  bem  fpejififc^en  fonfreten  ^n^alt  ber  ®rlöfung§reIigion 
^anbelt. 

3)iefefbe  grunbfä^lic^e  ^^ffung  ber  2(ufgabe  I|at  ©c^teier* 
mac^er  baju  ueranlagt,  bie  Se{)re  oon  ®ott  at§  Se{)re  oon  ben 
göttli^en  ®igenfc^aften  auf  bie  einjelnen  3lbfc^nitte  feiner  ®tau= 
ben§lel)re  ju  oerteiten.  2)agegen  ift  bann  unter  feinen  SSorauS* 
fe^ungen  ebenf omenig  etma§  einjumenben.  ®§  entfpridtit  burd)-- 
aus  ber  ganjen  9tnlage  ber.  fielire,  mie  er  fie  oortragt,  unb  ben 


150  ^  a  f  t  a  n :  3uv  Xoömatif. 

©runbfa^en,  bie  if|n  babei  leiten. 

Qn  le^terem  f)at  er  nun  feine  9lad)foIger  gefunben,  Unb 
mit  9{ed)t  nid)t!  @ott  ift  ber  eigentliche  unb  im  legten  @runb 
einzige  ©egenftanb  be^  @lauben§.  3111er  @laube  ift  ©otteSglaube, 
alle  aus  bem  @lauben  gefc^öpfte  (Srfenntni^  ®otte§erfenntniS. 
^olglic^  gehört  ani)  in  einer  ®lauben§lel)re  bie  fie^re  oon  @ott 
ungeteilt  an  bie  @pi^e  beS  ©anjen.  3)a§  ^at  fid)  fomeit  auc^ 
bei  benen  burd^gefe^t,  bie  ©cf)leiermac^er§  ©puren  folgen, 
ba§  e§  in  biefem  ^Ißuntt  bei  ber  alten  Siegel  unb  2lnorbnung  gc« 
blieben  ift. 

@6en  barin  jeigt  fid)  aber,  bag  bie  oben  ern)ä^nten  SSorau^« 
fe^ungen  unb  ©runbfä^e  ©c^leiermac^erS  irrig  fmb.  SBiv 
f)aben  nid)t  ^Reflexionen  über  bie  fubjettioe  ^^ömmigfeit  oorju* 
tragen,  fonbern  bie  d)riftlic^e  ©laubenSerfenntniS  barjuftellen,  bie 
bem  eben  Oefagten  jufolge  in  erfter  Sinie  ®otte§erfenntni§  ift. 
^ieroon  ^anble  id)  nic^t  nochmals,  im  ^nä)  ift  immer  mieber 
baoon  bie  Siebe,  unb  ber  jmeite  biefer  äluffa^e  ^at  fid)  auSfä^r- 
lid)er  mit  ber  ®ad)e  befaßt. 

SBenn  aber,  bann  muj3  aud)  bie  Folgerung 
für  bie  S^rinitätSlel^re  gejogen  merben.  ®ibt  c§ 
eine  fold^e  fie^re,  bann  ift  fte  jebenfallg  ein  ©eftanbteit  ber  c^rift» 
lid)en  fie^re  oon  ®ott  unb  ge{)ört  folglid)  in  baS  erfte  ^auptftüd 
ber  3)ogmatif,  ba§  uon  ®ott  f)anbelt.  ©ntmebcr  —  ober!  @nt* 
tDeber  l^at  @c^leiermad)er  Siecht,  bann  mujs  man  in  allen 
©tüdten,  roaS  bie  Se^re  oon  ®ott  betrifft,  feinem  SBorbilb  folgen. 
Ober  menn  feine  metf)obifd)en  ©runbfä^e  ber  SEBa^r^eit  nic^t  ent= 
fpre^en,  bann  ift  aud)  feine  93el)anblung  ber  2:rinitat§le^re,  bie 
Stellung  berfelben  an  ben  ©c^lu^  beS  ®anjen,  irrig. 

©0  fc^eint  e§  menigftenS !  3nand)e  ^ogmatifer  jebod)  folgen 
in  biefem  ^untt  feinem  S3eifpiel,  obrooI)l  fie  e§  in  ben  anbern 
teilen  ber  Seigre  oon  @ott  nic^t  tun.  Sßon  ber  SSoraugfe^ung 
aus,  ba^  eS  fo  baS  Süchtige  fei,  ift  aud)  gegen  meine  ^arftellung 
ber  @inn)anb  erhoben  morben,  ba^  eS  i^rem  ganzen  2:enor  nic^t 
entfprec^e,  bie  S^rinitätSle^re  üoran}uftellcn  unb  bie  6f)riftologie 
erft  n)eiterf)in  ju  bel^anbeln.  ^n  ber  S^riftologie  unb  ©oteriolo* 
gie  tommt  nämlid)  jur  Sprache,   mooon  man  meint,  ba§  eS  »or 


S^aftan:  3"^  ^ogmatif.  151 

bcv  2^riuität§Ict|ic  erörtert  werben  muffe.  Unb  ba  nun  bie  ©o* 
tcriologic  in  ber  alten  Jorm  bei  mir  roegfäüt,  ber  ©toff  berfelben, 
ber  für  bie  2irinität§Ie^re  in  93etrad)t  tommt  in  bie  fie^rc  Dom 
3Bert  ©^rifti,  alfo  in  bie  ©l^riftotogie  aufgenommen  ift,  fo  f)at 
ber  ©inroanb  f olger id^tig  bie  eben  angegebene  5otm  erf)alten.  ©o 
überjeugt  fmb  alfo  mandje  3)ogmatifer  oon  ber  iJiotroenbigfeit, 
bie  2:rinität8le]^re  an  jroeiter  ©tette  ju  be^anbeln,  bafe  fic  e§  Qt-- 
rabeju  al§  einen  g^tjler  betrad)ten,  ro^un  cS  nic^t  gefc^ie^t. 

2UIcrbing§,  gegen  bie  alte  gorm  be§  bogmatifc^en  ©qftem§ 
iDirb  ber  gleiche  Sinmanb  nic^t  erhoben.  3^^  fc^eint  e§  üielmel)r 
angemeffen  ju  fein,  bie  S:rinität§lel|re  ooranjuftetlen.  SEBo  aber 
roie  in  meinem  33ud)  bie  SReform  ber  Dogmatil  burd)  ©djteier* 
tnac^cr  aner!annt  unb  beffen  2lrbeit  fortjufe^en  oerfud^t  rairb, 
ba  foB  e§  in  9Biberfpruc^  mit  ben  fonft  befolgten  metf)obifd)en 
@runbfa§en  ftel|cn,  menn  bei  ber  ©inorbnung  ber  2;rinität§le{jre 
in  ba§  ©anje  ba§  alte  bogmatifd^e  ©gftem  jum  SWufter  genom* 
mcn  roirb. 

3)iefen  ©inmanb  oermag  id)  jebodti  nic^t  aU  ridtitig  anjuer* 
fennen.  Q\i  bem  ^unft,  ber  ba  in  53etrac^t  tommt,  \)abi  id)  bie 
mettjobifd^en  ©runbfä^e  ©c^Ieiermad^erS  niemals  anertannt, 
auc^  nirgenbS  befolgt,  fonbern  feit  me^r  at§  20  Qö^^^n  bei  jebem 
^nlag  nac^brürflidf}  befämpft.  ^i)  l^abe  tbtn  ftet§  unb  aud^  in 
biefen  Sluffä^cn  mieber  (XIII,  132)  bie  2Inftdt)t  oer treten,  ©^leier* 
mad)er§  9teform  ber  ®lauben§let)re  merbe  nur  burd^gefü^rt  unb 
ju  allgemeiner  2lnerfennung  gebrad)t  werben  fönnen,  menn  aud) 
in  i^r  ju  ooHer  ©eltung  fomme,  ba|  e§  [läj  um  @otte§erfennt= 
ni§  ^anble  unb  ba^,  maS  fonft  in  ber  S)ogmatif  oorgetragen 
werbe,  burc^  bie  ©otteSertenntniS  feinen  S^arafter  erlialte.  ®aju 
gefrört  bann  aber  auc^,  ba§  bie  2:rinität§lel)re  i^ren  alten  $la^ 
bel|ält.  ^a,  ba§  e§  gefc^ie^t,  roirb  bie  ^robe  auf§  ®yempel  fein. 
SEBenn  eS  in  meiner  Sogmatit  ber  "^all  ift,  fte^t  ba§  bat)er  nid)t 
in  SEBiberfprud^  mit  ben  oon  mir  befolgten  metl^obifc^en  ©runb- 
fä^en,  fonbern  fie  !ommen  barin  ju  einem  befonber§  beuttid^en 
3IuSbrud(. 

3Wan  roirb  entgegenl)alten,  bie  2:rinität§le^re  fei  ein  jufam» 
menfaffenbeS  3)ogma,  e§  muffe  alfo  uor  it)r  felbft  jur  Srörterung 


152  ^  a  f  t  a  n :  3ut  <LoQinati!. 

fontmen,  roaS  nun  in  i^r  gufammengefa^t  fei,  fonft  fel^Ie  e§  i^r 
cnhpcber  an  bcn  nötigen  SSorauSfe^ungen,  ober  werbe  in  i^r  f c^on 
Dorläufig  einmal  erörtert  n^a^  bann  nadj^er  au^fu^rlid)  jur  Spraye 
lomme,  unb  laufe  t§  alfo  auf  unerträglid)e  SBieberl^oIungen  ^in- 
au§.  5ianientlid^  werbe  bei  biefem  SBerfa^ren  bie  XrinitätSlcIire 
mit  ber  (S^riftologie  nic^t  au^einanberge^atten  merben  tonnen. 
SSielmel^r  muffe  jte  an  ben  ©c^Iu|  gefteüt  werben;  bann  feien 
läftige  3Bieber^oIungen  ju  oermeiben,  ba  e§  nun  in  biefer  Se^re 
bei  einer  ganj  furjen  ®eleud)tung  be§  f^on  SBorgetragenen  unter 
bem  neuen  unb  eigenartigen  ©efid^tSpuntt  fein  SSemenben  ^aben 
tonne. 

hierauf  ift  aUererft  ju  erroibevn,  ba^  e§  fid)  in  ber  2:rini» 
tät^le^re  um  bie  fie^re  oon  ©Ott  ^anbelt.  @§  ift  bie  (^riftüc^e 
@otte§ertenntni§,  bie  barin  jum  9luSbrurf  fommt.  2lIfo 
ift  e§  auc^  @Iauben§le^re,  ein  ©lauben^fa^,  ber  barin  oorge« 
tragen  wirb.  3)enn  @ott  wirb  nur  im  ©tauben  erfannt,  einen 
anbern  9Beg  jur  ®otte§ertenntni§  gibt  e§  überf)aupt  ni^t.  3)ann 
get)ört  bie  Srinität^te^re  aber  au^  in  ben  ^wf^nimen^ang  ber 
©otteöle^re,  bie  nai^  ber  fiogif  ber  ©ac^e  in  jeber  Sogmatit  aU 
erfte  alleg  anbere  bebingenbe  Se^re  vorgetragen  werben  mup. 
Slnbernfatlg  bringt  man  e§  überhaupt  nic^t  ju  einer  3;rinität§* 
le^re,  fonbem  nur  ju  einigen  9lefteyionen  über  fc^on  oorgetrage* 
nen  ©toff,  bie  an  unb  für  fidti  ebenfogut  fel^Ien  tonnten,  bie  nur 
beS^atb  l^injugefügt  werben,  weil  e§  nun  einmal  in  ber  Srabition 
biefen  @eftc^t§puntt  ber  5:rinität§[e^re  gibt.  3)a§  f^eint  mir  ein 
ftrifte§  Sntweber  —  Ober  ju  fein.  Unb  ic^  würbe  ^injufüg^n, 
ba^  e§  nic^t  wo^lgetan  ift,  üxDa§  al§  Seigre  oon  @ott  oorju* 
tragen,  baS  nic^t  wirfti^  bie  95ebeutung  ^at,  bieS  ju  fein.  3)a§ 
fte^t  nic^t  in  ©intlaug  mit  ben  SWajeftät^rec^ten  ®otte§,  bie  aber 
bod)  nirgenb§  unb  nie,  au^  in  bogmatifc^er  Seigre  unb  SReftejrion 
nic^t,  beeinträchtigt  werben  bürfen. 

3ft  bie§  rid^tig,  bann  tommt  e§  für  bie  ^Rechtfertigung  mei= 
ne§  aSerfa^reng  oor  allem  barauf  an,  ju  jeigen,  ba§  e§  fic^  in 
ber  2:rinität§lel|re  um  einen  @lauben§fa^  ^anbelt,  ber  im  3ufam* 
mcn^ang  be§  ©anjen  einen  notwenbigen  ^^la^  auffüllt.  34  wiH 
aber  je^t  unb  ^ier  biefen  ®]^aratter  ber  Seiire  al§  ©laubenSle^re 


^  a  f  t  a  n :  ^nx  Dogmatif .  153 

nic^t  nä^er  erörtern.  XaDon  mug  gleich  bie  9lebe  fein,  menn  bie 
IrinitätSlelire  felbft  für  fic^  genommen  ben  ©egenflanb  ber  ®r* 
örterung  bilbet.  ^d)  befc^ränfe  mid^  i)izx  auf  i^r  aScrI|ältni§  jur 
6)^rifto(ogie  ober  benn  ü6er{)aupt  ju  bem  übrigen  3nl)a(t  ber 
©lauben^Iel^re.  ®enn  id^  will  nid)t  DöQig  in  3lbrebe  fteDen,  bog 
bie  Seigre  etmaS  oom  @^{)ara{ter  eine§  sufammenfaffenben  3)ogma§ 
l)at  unb  fic^  mit  Späterem  roie  oor  allem  ber  S^riftologie  berührt, 
ja  berühren  mu§.  "iflnx,  meine  i^,  merbe  baburc^,  mag  ^ier  be» 
tiauptet  mirb,  ni^t  aufgehoben,  fonbern  erft  rect)t  beftätigt,  ba  e^ 
etmaS  ift,  ma§  fic^  notmenbig  au§  ber  Stellung  ber  fie^re  oon 
®ott  im  (Sanken  ber  ®ogmatit  ergibt  unb  oon  biefer  Sef)re  über* 
^aupt,  nic^t  blo§  Don  ber  £rinität§lel|re  gilt. 

3)a§  ^angt  bamit  jufammen  unb  ergibt  ftd)  baraug,  ba^  ber 
c^riftlic^e,  ja  jeber  religiöfe  ®(aube  mie  oft  ermähnt  unb  auc^ 
eben  mieber  berührt,  mefentlid)  ©otteSglaube  ift.  ^ie  ganje  @lau« 
benslefire  ift  batier  in  gemiffem  ©inn  nic^t§  al§  fief)re  oon  ®ott, 
oon  feinem  emigen  SGBefen  unb  feinen  @igenfd)aften,  oon  feiner 
Offenbarung  unb  Betätigung  in  ber  9Q8elt.  @§  ift  ba^er  nic^t 
oermunberlirf)  unb  liegt  nic^t  an  mangelljafter  3lu§füf)rung,  fon* 
bem  ift  in  ber  Sogif  be§  ©laubenö  unb  ber  ®lauben§ertenntni§ 
begrünbet,  bajs  jmifc^en  ber  fietire  oon  ®ott  unb  ben  übrigen 
Se{)ren  ber  Dogmatil  ein  fold^er  innerer  ß^fönimenl^ang  ftatt* 
finbet,  in  jener  oorroeggenommen  erfc^eint,  roa§  fpäter  au^fül^rlid^ 
erörtert  wirb,  unb  biefe  9GBiebert)olungen  enttialten,  fofem  fie  auS^ 
fül^rlic^er  unb  unter  anberem  ®efid)t§punft  entmideln,  ma§  bod^ 
fd)on  einmal,  nämlid)  in  ber  Se^re  oon  ®ott,  jur  ©prad)e  tam. 
3)es^alb  mar  e§  auc^  fein  müßiger  ©infaH  oon  ©c^leiermac^cr, 
fonbern  ^atte  einen  2lnl)att§punft  in  ber  Sac^e,  ba§  er  bie  Seigre 
oon  ®ott  auf  bie  oerfc^iebenen  Slbfdjnitte  feiner  ®lauben§le]^re 
©erteilte.  ®r  irrte  nur  barin,  ba§  er  fie  al§  Slnney  ber  anbern 
Se^ren  be^anbeln  ju  fönnen  meinte,  mälirenb  fie  in  äBal^r^eit  bie 
@runblage  berfelben  ift. 

2(m  beutlic^ften  tritt  ber  tbm  ermähnte  ©acf)oerf)att  in  ber 
Se^re  t)on  ben  göttlichen  ©igenfc^aften  ju  tage.  So  ift  befannt, 
ba§  baS  baoon  ^anbelnbe  Selirftücf  ftd)  in  einem  wenig  befrie» 
bigenben  ß^f^nb  befinbct,  unb  oft  Sßerfud^e  gemac{)t  morben  finb. 


154  Ä  a  f  t  a  n :  Qux  S)O0matif. 

bem  ab}ul^elfen.  ®m\^  fomnten  nun  au^er  bem  {)ier  befpro^enen 
auc^  anbcrc  ®ejtci^t§pun!tc  in  93ctrad)t  unb  ift  für  bic  Scl^roer» 
befferung  burc^  bcrcn  33erüdtrtci^tigung  ncucrbing^  mand^eS  ge- 
f^et)cn.  93or  attcm  aber  wirb  t)ier  nur  ber  ba§  Steckte  treffen, 
ber  ftd)  jenen  inneren  ^"[^"^»"^"^öng  ber  Se^re  oon  ®ott  mit 
ollen  übrigen  Se^ren  ber  ®ogmatif  flar  mac^t  unb  baoon  auS- 
get)t  ba^  bie  ©d^roierigteit  in  ber  ©ad^e  fctbft  liegt,  ba§  fie  burd) 
leine  Jlonftruftion  weither  3lrt  immer  gänjtic^  befeitigt,  fonbern 
nur  burd^  bie  auf  haS  ©anje  ber  3)ogmatit  (nic^t  bIo|  bieS  ein- 
jelne  Set)rftüd!)  gerict(tete  SRefIejion  einigermaßen  ausgeglichen  roer= 
ben  tann. 

2lud)  in  ber  Se^re  oom  SDSefen  ®otteS  fe^lt  bieS  erfc^roercnbe 
^Koment  nid)t.  9Benigften§  bann  nid|t,  menn  fie  als  ®lauben§* 
lef)re  oorgetragen  wirb.  ®§  ift  unerläßlidi,  babei  auf  bie  ©elbft= 
beurteilung  be§  6;t)riften  einjuge^en,  bie  ba§  SWittel  ber  ®otte§' 
erfenntnig  mirb,  fo  wie  biefe  in  ber  inneren  Srfa^rung  juftanbe= 
fommt.  ©benfo  ift  €§  nid)t  anberä  möglich  als  ben  SBeltgebanfen 
in  ben  Streik  ber  ®rfenntni8  ^ineinjujie^en,  ba  mir  ®ott  nur  er* 
tennen,  meil  er  unfer  ®ott  unb  ber  ®ott  unferer  SBelt  gemorbcn 
ift.  ®in§  mie  ha§  anbere  tann  aber  älnlaß  baju  bieten,  bem 
Dorjugreifen,  ma§  eigentlich  erft  in  einen  fpäteren  äwfon^n^^M^ong 
get|ört. 

2lu§  bem  allen  folgere  \ä)  al§  eine  Wegel  unb  eine  ^robe 
für  bie  SRi^tigteit  unb  ben  facligemdßen  ®ntrourf  ber  ®lauben§* 
let)re,  baß  bie  Se^re  üon  ®ott  unb  ber  übrige  3»"^ölt  ber  Se^re 
ober  fie^ren  fict|  bedten  muffen.  SEBie  fann  aber  bann  im 
3ufammen^ang  ber  Se^re  üon  ®ott  üon  ber  2:rinitfit8le^re  ab= 
gefeiten  werben?  Q\t  e§  nic^t  t)or  allem  ©^riftuS  unb  maS  fi^ 
an  feinen  9lamen  tnüpft,  mooon  bie  mic^tigften  ®lauben§le^reu 
l)anbeln?  Unb  ba§  follte  bann  in  ber  ße^re  oon  ®ott  ni^t  jum 
SKuSbrudt  tommen?  ^6)  mürbe  fagen:  offen!unbig  oerlangt  bie 
innere  Sogit  be§  Se^rgebäubeS  baS  ®egenteil,  baß  nämlicl)  bie 
JrinitätSIe^re  aU  integrierenber  93eftanbteil  ber  Se^re  oon  ®ott 
au  bie  Spi^e  be§  ®anäen  tritt,  ©ntmeber  —  Ober!  Sntmeber 
ift,  ma§  mir  oon  ®ott  ju  fagen  ^aben,  überhaupt  nur  Folgerung 
aus  bem,  roaS  birett  ben  ®egenftanb  beS  9lad^benfenS  unb  ber 


^af tan:  3^^  ^ogntatü.  155 

Sc^re  bilbct.  9S8er  mit  ©d)lcierma(^cv  fo  bafür  ^ält,  mag 
mit  bemfelbcn  au6)  bie  SrinitätStc^rc  an  ben  ©d^lu^  ftctlen  ober 
rocnigftenS  nad)  ber  S^riftotogic  einorbncn.  Ober  aber  c§  oer^ 
^dlt  fxö)  \\mQzltf)xt  ®ie  Se^re  oon  @ott  ift  ba§  gunbament  alter 
@(auben§le^re  unb  get)ört  an  ben  3(nfang.  Unb  bann  mug  fic^ 
in  i^r  and)  für  bie  Jrinität^Iel^re  5Raum  finben. 

ainx  e  i  n  ©inmanb  ift  (hiergegen  mög(id).  SJlan  mü^te  fogen, 
e§  fe^le  fd)on  ganj  abgefe^en  von  ber  Srinitätöle^re  nic^t,  mag 
in  ber  Se^re  oon  ®ott  ber  S^riftologie  uub  ©oteriotogie  ent* 
fpred)e.  Reine  cf)riftli^e  fie^re  oon  ®ott,  bie  nic^t  mefentlirf)  unb 
üor  attem  Set|re  oon  feiner  ^eiligen  Siebe  ift!  Unb  feine  Iieilige 
fiicbe  ift  e^  bod^  eben,  oon  beren  Offenbarung  unb  Betätigung 
biefe  onberen  Se^ren  ^anbeln.  @ut!  2)agegen  (ä^t  fid)  nid)tS 
fageu.  gormeü  ift  bie  ©ad^e  aud|  o^ne  2^rinität§lel)re  in  Orb- 
nung,  bie  eben  befprod)ene  fiogif  be§  fiet)riufammen^ang§  fann 
au^  o^ne  bie§  gema^rt  merben.    ^a^  gebe  id)  o^nemeitereS  ju. 

folgert  man  aber  ^ierau§,  eS  laffe  fid)  alfo  bie  2:rinität§= 
le^re,  mie  ©c^Ieiermad^er  tat,  an  ben  ©d^Iu^  fteßen,  fo  ift 
biefe  Folgerung  folfd).  SBaS  folgt,  ift  oielmel^r,  ba^  bann  auf 
bie  3:rinität§tet)re  überl^aupt  oerjic^tet  merben  muj5,  ba§  e§  eine 
fold^e  gar  nid)t  gibt,  ba^,  maS  man  fo  nennt,  nur  ein  ©chatten 
ift,  ben  eine  innerli^  erftorbene  2^rabition  in  bie  Ijeutige  3)og= 
matif  mirft,  beffen  83ebeutung  fc^tieglid)  nur  bie  ift,  bie  alte  2;ri= 
nitätSle^re,  bie  nun  einmal  )um  gefc^id^tlic^en  @toff  ber  S)ogmatif 
gehört,  in  i^r  nic^t  unbefprod^en  ju  laffen.  3)a  ift  bann  jiemtidj 
gleichgültig,  roo  biefe  93emertungen  eingefügt  merben,  ob  am  9ln^ 
fang  in  ber  Se^re  oon  ®ott  ober  am  ©^lu^  ober  mo  fonft. 
aber  bo§  ift  eine  3lnfic^t,  bie  ^ier  nid^t  roeiter  in  Betrad)t  tommt. 
9nit  i^r  fe^e  id)  mic^  gleich  in  ber  näd)ften  Erörterung  auSein- 
anber.  ^ier  gilt  al3  ^orau^fe^ung,  ba§  e§  eine  Jrinität^le^re 
gibt  unb  geben  foll.  3!)a§  thema  probandum  ift,  ba§,  menn  e§  fie 
gibt,  fie  in  bie  £et)re  oon  ®ott  an  ben  älnfang  ber  ^ogmatif 
get)drt.    Unb  ba§  meine  id)  jje^t  gejeigt  ju  ^aben. 

3mei  «fragen  bleiben.  (Srften§  bie,  ob  an  bem  i^r  ba- 
mit  angemiefenen  Ort  bie  SWittel  gegeben  finb,  eine  fold)e  Sel)re 
abjuleiten  unb  ju  begrünben.    2)a§  ift  bie  oon  aller  Sogif  un* 


156  Ä  a  f  t  a  n :  3«!^  ^Oömatif . 

abhängige  quaestio  facti.  Staun  man  iDirfüc^  eine  fiet|re  oon 
bcr  Srinität  entroidteln,  o^ne  auf  ben  ©toff  ju  rcfurrieren,  bec 
erft  in  bcr  ©^viftologie  jur  Sprache  tommt?  in  ber  S^riftologie, 
oon  ber  t)ier  boä)  bel^auptet  wirb,  ba§  fie  erft  in  einem  ber  fpa» 
ter  f olgenben  fiel^rftüdEe  ju  erörtern  fei  ?  Unb  bie  j  w  e  i  t  e  eng 
f)iermit  jufammen^ängenbe  S^age  ift  bie  anbere,  ob  fic^  bei  einem 
folc^en  aSerfa^reu  unerträglid^e  SBieber^oIungen  oermeiben  laffen. 

Sluf  bie  erfte  grage  ift  einfach  ju  ermibern:  ba§  tommt  auf 
bie  'ißrolegomena  an.  3Jian  I|at  fid)  oielfac^  geroö^nt,  oon  biefen 
oeräc^tlic^  )u  reben  unb  auf  fie  a(§  auf  ein  Konglomerat  unju« 
fammenge^örigen  Stoffe  oorne^m  ^erabjufet)en.  3)a§  ift  eine  2Cn* 
fid^t,  bie  ic^  nie  geteilt  t)abe,  ja  bie  ic^  nic^t  einmal  oerftet^e. 
SWan  mag  an  einer  beftimmten  gorm  ber  ^rolegomena  änftog 
nehmen,  manc^e^  in  i^rem  trabitionellen  Stoff  überflüffxg  finbcn 
unb  anbere§  barin  oermiffcn.  S)a§  lä^t  fti^  ^ören.  3^  fritifdjeu 
53eben!en  unb  aSerbefferungen  ift  ba  reid)lid^  Oelegenl^eit  gegeben, 
^ber  entbehrlich  fmb  bie  ^rolegomena  nic^t  überhaupt.  Unb 
ebenfomenig  taun  e§  ber  SBiOtür  überlaffen  bleiben,  mad  fie  bie- 
ten, ©ie  muffen  in  einer  eoangelifc^en  3)ogmatif  9lu§tunft  bar» 
über  geben,  in  ioeld)er  SDSeife  bie  Se^re,  ba§  Sogma,  auS  bcr  f|ei= 
ligcn  ©c^rift  unb  bem  f irc^lid^en  93etenntni§  ber  SReformation  ju 
fdiöpfen  ift.  2:un  fte  ba§  —  unb  fie  fo  ju  geftalten  ift  in  mei^ 
ner  3)ogmatif  oerfu^t  loorben  —  bann  bieten  fie  bie  @runbtage 
für  bie  @ntmidE(ung  aUer  @lauben^tet)ren,  unb  e§  befielt  nic^t 
ber  minbefte  ®runb  bafür,  erft  bie  Kfiriftologie  abjumarten,  e^e 
man  bie  2irinität§(e^re  befpric^t,  ftatt  fie  ba  einzufügen,  mof|in 
fie  gehört,  in  bie  Se^re  oon  ®ott.  ^a^  man  etmaS  anbereS 
für  notmenbig  erflärt,  tommt  nur  oon  ber  falfd)en  üWet^obe  ^er, 
bie  bogmatifc^en  fiefiren  a\x^  ber  frommen  ®rfa^rung  be§  ®t)riften 
abjuleiten,  ftatt  fie  au§  i^ren  mirflic^en  Duellen,  ©c^rift  unb 
SetenntniS,  ju  fc^öpfen. 

SCBaö  aber  bie  SBieber^oIungen  betrifft,  fo  ift  freilid^  ric^ticj, 
bag  6^()rifto(ogie  unb  2:rinität§(e^re  nic^t  übert)aupt  auSeinanber^ 
gehalten  roerbcn  tonnen.  ®a§  ift  in  bcr  alten  Sc^re  möglid),  in 
loetc^er  fie  bie  beiben  ^älften  bcSfclben  Sel^vjufammen^ang^  biU 
ben,  aber  fid)  nid|t  in  ilirem  2:l)ema  becfen.    ^w  eine  ®laubcn§* 


^  a  f  t  a  n :  3ur  Dogmatil  157 

Ic^rc,  b.  ^,  eine  2)09matif  ber  coangelifdicn  Kirche,  paffen  jcboc^ 
biefc  alten  Se^ven  nic^t.  ^icr  flilt  oielme^r  al§  oberfte  Flegel, 
bog  in  ber  Sc^re  bcv  innere  ßwfammen^ang  i^reS  ©egenftanbeS 
mit  bem  perfönlic^cn  ©tauben  unb  Seben  beg  glommen  aufge* 
ipiefen  werben  mu§.  Unb  barau§  ergiebt  ftd^  bann,  ba^  roir  eS 
aUerbingS  in  ber  JrinitätSlelire  unb  in  ber  ©firiftologie  mit  bem= 
fe(ben  Si^ema  ju  t^un  ^aben,  nnb  ba^  barauS  fet)r  (eid)t  mannig« 
fac^e  SBiebcrtioIungen  ^erDorget)en  fönnen. 

Sro^bem  meine  id),  ba^  fie  ju  cermeiben  finb,  menn  in 
ber  2ru§fü^rung  jeber  Se^re  ftreng  an  bem  für  fie  d)aratteriftifc^en 
@efid|tspunfte  feftgef)alten  mirb.  S3enn  i>a^  biefe  @efic^t§punfte 
ganj  oerfdjiebener  2lrt  finb,  t)abc  id)  in  meinem  93uci^  g^icigt, 
auc^  oerfud)t  e§  in  ber  ©ntmirflung  ber  Sef)ren  burc^jufüliren 
unb  i^r  S^einanberlaufen  ju  uertiüten.  Unter  ber  SSebingung 
nun,  bag  ba§  gelingt,  fdjeinen  mir  bie  SBiebev^oIungeu  fic^  barauf 
ju  rebujieren,  ba|  folc^e,  mie  oben  barget^an  mürbe,  überhaupt 
ämifd)en  ber  Se^re  üon  @ott  unb  ben  übrigen  bogmatifc^en  Se^ren 
unuermeiblidi  fmb.  Sle^nlic^e  3Biebert)olungen  au§  ber  @otte§* 
Ic^re  roSren  in  ber  ©ntmidtlung  ber  SDBeltanfc^auung  unb  in  ber 
Se^re  oon  ber  ©ünbe  leid)t  nad^jumeifen.  Sie  finb  fein  5eI|Ier, 
fonbem  ein  ©emei^  bafür,  ba§  bie  Slufgabe  ber  ©laubenölel^re 
richtig  erCannt  unb  in  Angriff  genommen  ift. 

Ob  e§  mir  freiließ  gelungen  ift,  baö  für  rid)tig  ©rfannte 
roirtlid)  auljufü^ren,  ift  eine  grage  für  fic^.  3)a  gegen  bie  2ln* 
orbnung  ber  Se^re  in  meinem  Suc^  au^  ber  ©inroanb  erl)oben 
lüorben  ift,  id)  fei  baburc^  in  SBiebcrl|olungen  geraten,  ne^me  xä) 
an,  ba§  e§  nid^t  ber  JöK  fei.  ®a  id)  jebod)  felber  nicl|t  t|abe 
auSpnbig  mad^en  fönnen,  roa§  bamit  gemeint  mar,  fo  t|abe  ic^ 
ben  geiler  in  ber  neuen  2tuflage  nid^t  oerbeffern  fönnen.  Unb 
im  übrigen  —  ba§  möchte  idt|  bei  biefem  2lnla^  befennen  —  ic^ 
befpre^e  l^ier  bie  ©runbfä^e  unb  mie  fie  au^gefül^rt  merben  foU* 
ten.  ®g  fann  nic^t  meine  9Weinung  fein  unb  ift  nic^t  meine 
SWeinung,  fügen  ju  motlen,  fie  feien  in  meiner  ®ogmatif  in  oott^ 
tommener  9Beife  burd)gefüf)rt.  ^d)  bet)aupte  nur,  ba§  id^  fte  in 
xt)X  burc^gufü^ren  oerfuc^t  l)abe, 

3ettf(^ft  fflr  Z^eolDflle  unb  Stixdft.  14.  3a^rg.,  2.  $cft.  11 


158  Ä  a  f  t  a  n :  Qm  S)ogtnatif. 

2. 

S)ic  2:viuitatS(cl^rc  ^ät  i()rc  SBurjclu  im  c^riftlic^cn  ®lauben 
unb  5Jleucn  2:cftamcnt,  nic^t  in  ber  griec^ifc^en  ^^ilofop^ic.  ®§ 
ift  toiebcrum  inncrl^alb  bcg  bleuen  a^cftamcnteS  nid^t  crft  ba8  oicrte 
®Dangclium  b.  ^.  bic  in  i^m  oorliegcnbc  2lnhiüpfung  an  bcn 
^ellcni§mu§,  bic  bcn  Slnfa^  baju  enthält,  ©c^on  ?ßautu§  l^at  bic 
3ufammcnftcllung  oon  SSatcr,  ©ol^n  unb  Ocift.  Unb  roa^  bei 
i^m  fid)  barin  sufammcnfa^t,  wirb  *  nid^t  al§  ein  @in[cf)u|  grie^i* 
fc{)cr  ©ebanfcn  in  feine  ^rebigt  in  2lnfpruci^  genommen  iperbcn 
fönnen.  @§  ift  alfo  ba§  Ur^riftentum  felbft  unb  nlc^t  erft  ber 
bdrin  einbringenbe  ^etleni§mu§,  roooon  bie  <3mpulfe  jur  2:rinität§^ 
le^rc  ausgegangen  finb.  &ben  bie§  roirb  auc^  burd)  ben  Sauf« 
befel^I  SWatt^.  28  beftätigt,  ber  ja  iebeufallS  in  bie  3«it  ^or  ber 
Slmalgamierung  mit  griec^ifdien  ®eban!en  jurüdgreift,  mag  e§ 
im  übrigen  mit  feiner  ©ntfte^ung  auf  fic^  ^aben  n)a§  eS  roiU. 
2ltf 0  ber  c^rifttic^e  ©laube,  ber  uom  ©ol^n  ®otte§  unb  üom  ®ei|l 
®otte§  ju  fageu  meig,  ol^ne  beSl^alb  auc^  nur  um  eineS  ^aareS 
93reite  pom  ÜUtonot^eiSmuS  abjumeic^en  ober  abn}eid)en  ju  moDen^ 
l^at  in  ber  c^riftlic^en  Äir^e  jur  XrinitätSle^rc  gefflt)rt. 

©benfo  gemi^  ift  freili^,  ba§  bic  S^rinitätslcl^rc  nur  unter 
tief  eingreifenber  ÜJlitmirfung  griec^ifc^er  ©cbanfenfreife  bie  ^otm 
crlialten  i^at,  bie  im  ®ogma  vorliegt.  @S  finb  baS  bie  ®cban!en^ 
frcife,  bie  fid)  furjmeg  al§  bie  fiogos>fpetuIation  bejeic^nen  laffen 
unb  oon  mir  ber  Äürje  t)atber  in  meinem  93u^  f o  bejeic^net  mor« 
ben  finb.  3)ic  SKeinung  ber  eben  auSgefproc^enen  2:^efc  fann 
batier  nid^t  bie  fein,  ju  fagen,  ba^  bie  Rr(^lic^e  SrinitätSlc^re 
ot)nc  bie  gried)if(^e  ^{|i(ofop^ic  entftanben  fei  ober  o^nc  fie  l^abc 
entfte^en  fönnen.  S^^gt  "tan  aber  bann,  ob  au^  o^nc  bereu 
SWitmirtung  eine  berartige  fiel)re  nur  eben  in  anberer  gorm  ^ätte 
entfte^cn  muffen,  fo  fragt  man,  n)a§  niemanb  beantmorten  fann, 
ber  fidt)  nic^t  in  muffige  ©pefutationen  ücrlieren  loiK.  S33ir  muffen 
uns  an  ba§  ®egebenc  galten.  3)a§  ift  bic  tir^lidie  2;rinitätS* 
Ic^rc.  3ß^'9li^bcrn  mir  bic  unb  bie  ^rojcffc,  in  benen  fie  ent« 
ftanben  ift,  fo  finben  mir,  ba^  itire  SWotioc  im  d)riftlid}cn  ©lau- 
ben  liegen,  bag  fie  aber  au§  ber  2lneignung  biefeS  ©laubenS 
burc^  ben  gried|ifc^en  ®eift  entftanben  ift  unb  anberS  gar  nic^t 


Ä  a  f  t  a  n:  Qur  '3)08matif.  159 

bättc  entließen  fönncn. 

9lun  ^at  c§  aber  mit  bem  93citrag  bcr  grtcc^ifd^cn  ^^ilofo^ 
p^ie  ju  biefcr  Se^rc  eine  anbete  öemanbtnig  al8  mit  it)ven  ur- 
fprünglic^en,  im  ©lauben  liegenben  Tlotmn.  S)ie  leiteten  unb 
n)a§  fi^  unmittelbar  au§  i^nen  ergeben  l^at  finb  etma§  Unre« 
flettiertc^,  einfad)er  2lu§brud  ber  53ebeutung,  bie  ;3efu§  ®]^riftu§ 
für  biefen  ©(auben  ^at,  unb  ber  SSoUenbung  ber  @otte§ertenntni§, 
bic  man  in  i^m  ju  erreid^en  ftd^  bemüht  ift.  ®§  finb  blo^e  Be- 
hauptungen, e§  fott  bamit  nichts  erfiärt  werben,  e8  liegt  nid^tS 
barin,  ma§  man  ate  ein  fpefutatioe§  SWoment  bejeidjnen  tonnte. 
9Rit  ber  Sogo§fpefuIation  ift  eg  bagegen  auf  eine  umfaffenbe 
SBSeltformel,  auf  ein  te^te§  t|öc^fte§  93erftänbni§,  eine  abfd^Iie^enbe 
®rflarung  ber  SBeltmirflic^feit  abgefe^n.  SDSeg^alb  e§,  menn  man 
bie  Urfprünge  ber  tirc^Iidien  Xrinität^Ie^re  in§  Sluge  fa§t, 
^eipen  mup,  ha^  ein  3)oppeIte§  in  i^r  liegt,  eine  Formulierung 
c^riftlic^er  ®{auben§er!enntni§  unb  —  e§  wirb  feinem  SKißoer* 
ftonbni§  begegnen,  menn  ic^  eg  fo  auSbrürfe  —  eine  umfaffenbe 
Formel  be§  SEBeltoerftänbniffeg. 

3)ürfen  mir  nun  behaupten,  le^tereS  fei  bem  ^riftltd)en  ©lau* 
beu  frembartig  ober  gar  jumiber,  e§  muffe  batier  au§  ber  ©lau* 
benöle^re  üom  breieinigen  ©ott  auSgemerjt  merben?  3Jleine§  93es 
bfinten§  nid)t.  2ll§  ®otte§erfenntni§  ift  ber  ©laube  ba§  le^te 
5Berftänbni§  ber  SBirKic^teit,  ba§  e§  giebt,  ober  bel^auptet  menig* 
^en§  es  ju  fein.  Siefe  ©otte§er!enntni^  fo  ju  geftalten,  ba^  fie 
jugleic^  ba§  c^riftlic^e  SBerftänbniS  ber  33Belt,  aller  un§  gegebenen 
®irtti(^feit  ausbrüdt,  ift  bal)er  bem  diriftlid^en  ©lauben  nic^t  an 
unb  für  ftc^  entgegen. 

Sii^t  al§  rooßte  ic^  nun  hiermit  für  bie  firc^lid)e  2^rinität§* 

le^re  apologetifc^  eintreten.    ®§  ift   für  mid^  eine  au§gemacf)te 

SBa^r^cit,   bag  jener   tielleniftifc^e  ©ebanfenfrei§,   ber  bei   i^rer 

(£ntftef)ung  mitgemirft  I)at,  bem  c^riftlic^en  ©lauben  nid)t  entfpricftt, 

pielme^r  in  äBiberfpruc^   mit  i^m  fte^t.    @§  finb  pantf)eiftifc^e 

@eban!en,  bie  ba^inter  fte^en  ober  i^n  be^errfd)en.    ®ie  oertragen 

fid)  aber  nic^t  mit  bem  d)riftli^en  ©runbgebanfen  ber  Schöpfung, 

oon  bem  boc^  nicf)t§  abgebrochen  merben  fann  ober  barf.  SEBeber 

bie  c^riftlic^e  ©otteöerfenntni^  noc^  ba§  c^riftlic^e  aBettoerftänbni§ 

11* 


160  St  o  f  t  a  n :  Qvlx  %og,maixt 

la§t  e8  ju.  2)er  crftc  2lrti!cl  unfcrc§  ©laubenS  roirb  bamit  auf« 
gel^oben.  ^c^  tüei^  idoI^I;,  ba^  ha^  nic^t  unbebingt  oon  oKen  an« 
cvfannt  wirb.  Sffiir  fmb  ja  fo  geroöf^nt  baren,  ju  meinen,  e§ 
^anble  ftc^  bei  Sntfd^eibung  fotd^er  t^ragen  um  eine  bem  SSerftanb 
gefteHte  Slufgabe,  unb  eS  ift  bod^  fo  ftnnroibrig,  bergleic^en  atte 
©rfa^rung  unb  jeben  SSerftanb  überragenbe  Probleme  mittclft  be§ 
SSerftanbeg  löfen  ju  moQen,  bag  e§  fein  9Bunber  ift,  menn  mir 
mit  unferen  Erörterungen  barüber  üielfad^  im  9lebel  ^erumtappen. 
8BeiJ5  man,  ba^  biefe  fragen  oor  ein  ganj  anbercS  5<>^"^  9^' 
^ören,  unb  t^ut  banadb,  bann  tann  ^ier  eine  ^rage  ober  ein 
3meifel  überhaupt  nid^t  auftommen.  3)er  ©ebanle  ber  ©c^o« 
pfung  ift  ein  notmenbige§  Korrelat  ber  ^riftli^en  ©elbftbeurtei* 
lung.  8D3cr  fid)  felbft  im  93emu§tfein  ber  $erfönlid^!eit  über  bic 
S33elt  ergebt  unb  i^r  gegenüber  fi^  in  fic^  jufammenfafet,  fann 
nid^t  an  einen  in  ber  SBett  unb  mit  ber  SGBelt  jerfliepenben  @ott 
glauben,  ©rünbet  fic^  bo^  jene  feine  eigne  ©elbftbeurteilung 
barauf ,  bag  er  in  ®  o  1 1  einen  ^alt  über  ber  äBelt  gefunben 
I)at.  S)arum  ift  ber  2lrtifet  oon  ber  ©(^öpfung  ein  ©runbartifcl 
be§  d)rift(ic^en  ®(auben§,  unb  ftetien  aQe  @ebanfen  über  ®ott 
unb  ffielt,  bie  i^n  antaften,  in  333iberfpruc^  mit  biefem  ®Iauben. 
®8  tann  alfo  feine  Siebe  baoon  fein,  bie  SogoSfpefulation 
)u  acceptieren.  SGßer  oom  ^riftUc^en  ©lauben  au§ge^t,  mug  jum 
entgegengefe^ten  Urteil  fommen.  3lber  baS  ^ebt  nic^t  auf,  bag, 
roenn  burd)  bie  SWitmirfung  biefer  ^etteniftifdien  ©ebanfen  in  ben 
2lnfa^  ber  2:rinität§lel^re  aud^  bie  SRic^tung  auf  eine  umfaffcnbc 
9Beltformel  aufgenommen  roorben  ift,  ba^  ba§  an  unb  für  fic^ 
nid)t  in  SBiberfprud)  mit  bem  c^riftlid)en  ®Iauben  fte^t.  ®anj 
im  ®egenteil!  3J2u^  e§  um  be§  ®(aubeniS  miQen  bei  ber  %x'\nu 
tätölebre  fein  SBeroenben  ^aben,  moran  ic^  nic^t  jmeifle  (f.  u.), 
bann  ift  gerabeju  ju  forbem,  ba§  fte  aud^  biefem  anbern  öebürf * 
ni§  genüge.  ®in§  liegt  unmittelbar  im  anbern.  3fft  ^^^  ®ött« 
^eit  be§  ^erm  ein  notmenbiger  ®ebanfe  beg  c^riftli^en  ®lauben§^ 
finbe  id^  bie  9iötigung  in  mir,  uom  ®eifte  ®otte§  ju  fagen,  in 
bem  mir  SWenfc^en  an  ®ott  felbft  unb  feinem  Seben  2:eil  geroin» 
nen,  roie  foHte  bann  bie  bementfpred^enbe  Formulierung  ber  ^rift- 
liefen  ®otte§erfenntni§  nid)t  audf)  für  mic^  bic  S3ebeutung   einer 


Sl  a  f  t  a  n :  3ur  3)0ömati!.  161 

unifaffctiben  SBcItformct  !)abcn?  3d)  bctjouptc  alfo,  ba^  bic  ^t'u 
nitat§fc^rc  biefcm  boppeltcn  Qrotd  bicnen  muj5,  ba^  fie  nur  ift, 
roa§  fic  fein  fott,  wenn  c§  bcr  gaC  ift. 

9lun  ift  bie  tird)Iic^c  2^rinität8lc^re  in  bcr  SQBcife  cntftanbcn, 
bie  loir  fennen^  au^  bem  Suf^^^^^^i^'^^i^  ^^^  d)riftlid)en  ©(au- 
ben§  unb  ber  SogoS)pefuIation.  darauf  nä^er  ein}uge^n  liegt 
feine  SJeranlaffung  Dor.  2)ie  S3ctannt)c^aft  bamit  barf  f|ier  oor=* 
auSflcfe^t  werben.  Sinjig  bie  S^agc  fann  t)ier  intereffieren,  unb 
bei  ber  Derroeiten  wir  einen  SJloment,  ob  benn  bie  fo  juftanbege» 
fomniene  Se^re  bem  boppciten  93ebürfni§,  ba^  fie  befriebigen  foU, 
it)irt(id)  entfpric^t. 

3)a§  auffattenbe,  um  nic^t  ju  fagen  Derblüffenbe  Siefuttat 
einer  folc^en  Prüfung  lautet  bo^in,  ba^  loebcr  ba§  eine  noc^  ba§ 
anbere  ber  ^a\l  ift.  3)ie  beiben  ^aftoren,  bie  bei  ber  ©ntftel^ung 
ber  Se^re  beteiligt  finb,  ^aben  einer  ben  anbern  oerborben,  fo 
bog  ber  urfprüngli^e  ©ebanfe  beiber  oerloren  gegangen  ift.  Qn* 
bem  bcr  c^riftUc^c  ®laube  an  SBater,  ©o^n  unb  @eift  in  bic  fjor* 
men  ber  gried)ifci^en  ßogo§fpefulation  gepreßt  mürbe  unb  nun 
iroar  in  ber  Set)re  bie  Ober^anb  behielt,  aber  in  anberer,  if)m 
on  unb  für  fic^  fern  liegenber  äBenbung  feiner  ©runbgebanfen, 
ocrior  er  feinen  bem  ®Iauben  lebenbigen  ^f^^olt.  Unb  fo  and) 
roieber  umgete^rt.  3»iil>^n^  i>i^  pl|i(ofop^ifc^en  ©cbanfen  nur  al§ 
SRittel  oermertet  mürben,  ben  c^riftlid)cn  ©tauben  ju  formulieren, 
ift  bie  umfaffcnbe  SBeltformel,  bic  ben  urfprünglic^en  QxH)alt  ber 
Sogo^fpctulation  ausmachte,  ju  ®runbe  gegangen:  bic  ©efc^ic^tc 
beö  3)ogma§  ift  ja  gcrabcju  bie  ®efd)id)tc  ber  allmä^Iid^cn  aSer* 
brängung  unb  fc^licj5lid)en  2lu§merjung  beg  äBcttgcbantenS  au§ 
biefem  3wfammcnl)ang. 

®anacl)  fc^cint  bic  ^rage  roo^Ibcrec^tigt,  ob  mir  irgcnb  mel* 
c^en  ®runb  ^abcn,  an  ber  2:rinität§lel^rc  feftju^alten.  3).  1^.  für 
bie  eoangetifc^c  Äirc^e  unb  Dogmatil  entftet)t  biefe  S^age,  2luf 
fat^olifc^em  93oben  liegen  bic  ^ingc  anberS.  ^a§  l^at  feinen 
@runb  barin,  ba^  bic  tat^olif^e  gorm  be§  6;f)riftentum§  in  bem= 
felben  3wfö"^>"«nt)ang  cntftanben  ift,  in  metd)em  ber  d^rifttic^e 
©taube  bie  Ummanblung  jum  3)ogma  erfuhr  —  ein  ^ufammen^ 
^ang,  ber  unoerfennbar  ift,  fobalb  man  bie  ®efci^id)tc   beS  S)og= 


162  ^af tan:  Qnx  ^ogmattt 

ma§  al§  3lu§fcf)nitt  qu§  ber  ©efd^i^te  ber  ci)rtftlic^en  Sleligion 
(unb  nid|t  oor  aUein  bcv  ^^3t|i(ofop^ic)  \)ai  Icfen  unb  oerftc^cn 
lernen.  3)q§  ift  in  meiner  2)09matit  eingel^enb  unb  immer  wie* 
ber,  e§  ift  bort  aurf),  roa§  bieö  fpesiette  ©ogma  betrifft,  gcjeigt 
morben.  ^ier  braucht  nid)t  meiter  baoon  get)anbeU  ju  n^erben. 
Slber  n)Q§  foU  un§  @oangeIifd)en  eine  Se^re,  bie  un§ 
nid)t  ®(anben§tn^alt  (ebenbig  Dergegentvartigt  unb  ebenfo  menig 
eine  innerlid)  aufjunel^menbe  unb  anjueignenbe  SrfenntniS  bietet? 

^n  ber  %\)at  ift,  ma^  un§  in  ber  eüange(ifcf)en  Äird)e  an 
bie  Jrinität§IeI|re  (in  ber  götm  be§  3)ogma§)  binbet,  nic^t§  aU 
ba§  ©c^tt)ergen)id)t  ber  Jrabition,  be§  ©emol^nten  unb  (Singe» 
rourjelten.  Ober  meint  jemanb,  ba&  bie  SSerfu^e  älterer  unb 
neuerer  ®ogmatifer,  ha§  2)ogma  fpetutatiu  ju  „tonftruieren",  ih 
btefem  3ufömmenf|ang  ju  nennen  feien?  Qä)  finbe,  an  biefen 
95erfud|en  fei  ba§  einjig  53emer!en§merte,  ba§  in  ber  Qdt  l^eutiger 
SDSiffenfd)aft  (früher,  aU  bie  ganje  SQäiffenfd^aft  ba§  ©tabium 
freier  ©ebantenprobuftion  nod)  ni(^t  überrounben  t)atte,  lagen  bie 
2)inge  ganj  anber§),  alfo  ba|  tieute  nod)  gefc^etbte  Seute,  fc^arf* 
finnige  SUlänner  fold^e  (Sebanfenrei^en  üortragen  unb  bamit  tt)rem 
eignen  unb  anberer  inteüettuettem  93ebürfni§  ju  genügen  meinen. 
^6)  fc^Iie^e  barau§,  ba^  aud)  bei  biefen  J^eologen  felbft,  ni^t 
blo^  bei  ber  ©emeinbe,  ganj  etroag  2lnbere§  al§  ba§  eigentlich 
SBirffame,  aU  bie  entfd)eibenbe  S^pönj  im  ^intergrunb  fielet. 
Unb  biefeö  2lnbere  ift  t)a^  tbtn  (benannte,  \>a^  Sc^mergemic^t  ber 
Srabition. 

dUd)t  blo^  äugerlic^,  and)  innerlich  mac^t  e^  ftc^  geltenb. 
Dbtooijl  fc^on  ba$  rein  3leu§ere  nic^t  gering  anjufc^tagen  ift. 
3a]^rf)unberte  laug,  ja  über  ein  ^al^rtaufeub  ^at  biefe  ©ebanteu* 
oerbiubung  in  ber  S^riften^eit  al^  oberfte  9Sorau^fe^ung  aüe§ 
6^riftentum§  unangetaftet  feftgeftanben.  SBie  ferner  ift  e§  aber 
nic^t,  aud)  in  minber  midjtigen  3)tngen,  eine  eingerourjelte  S^enf* 
gemo^n^eit  ju  erfc^üttern,  ja  e^  aud)  nur  bal^in  ju  bringen,  ba§ 
bie  2Ibn)eid)ung  üon  anbern  überhaupt  pcrjipiert  wirb!  9Bie  be* 
greiflid)  ift  e§  nid)t,  ba^  fi(^  unter  ben  frommen  niemanb  barauf 
einlaffen  mitl,  an  ber  2trinität§(e^re  ju  anbern  ober  gar  fie  an« 
Sutaften!   3)aju  tommt  bann  ein  ^nneriid)e§.    Slu^er  ben  pri» 


^  a  f  t  a  n :  Qnx  ^ogmatit  163 

mären  religiöfcn  ©cfü^Icn  gicbt  €§  ani)  fefunbärc,  unter  benen 
bag  ®efü^t  ber  ^^Jietät  baS  roi^tigfte  ift.  Unb  eben  bie§  ©efü^I 
binbet  innerlid)  an  bie  uralte  Ucberlieferung  ber  ©t)riften]^eit.  ^n 
i^rem  Rampf  um  bie  ^errfd)aft  über  ba§  geiftige  Seben  ber  d^rtft* 
lid^cn  aSöIfer  t)at  bie  Rir^e  ba§  ®ogma  üon  ber  2irimtät  ge* 
bilbet  unb  burdjgefe^t.  S)aS  gel|6rt  ju  i^ren  glorreidiften  unb 
ftoljeften  Erinnerungen.  Unb  n)eld)e  SBcfriebigung  gewährt  e§ 
ni(^t,  ftc^  in  bem  93efenntni§  jum  breieinigen  ®ott  ein§  ju  miffen 
mit  ber  gefomten  Ebriftenl^eit,  ben  ©Triften  aller  ßeiten  unb 
Orte?  (5§  ift  ^ierau§  DoKtommen  oerftänblid),  ba|  biefe  2et)re 
au^  in  ber  eoangelifc^cn  ®^riftenl)eit  fo  jäl)  feftge^alten  wirb, 
unb  bie  eben  erroä^nten  93ebenfen  nid^t  bagegen  aujtommen. 

greilid)  braucht  man  anbrerfett§  nur  bie  ^robe  ju  mad)en, 
um  inne  ju  werben,  ba§,  roaS  hierin  mirtt,  ed^t  fattiolifc^e  SKo« 
tioe  ber  grömmigfeit  fmb.  93ei  näfierem  9lac^fragen  [teilt  fid^ 
ndmlic^  balb  ^erau§,  ba^,  roa^  t^eologifc^  nic^t  gebilbete  ©liriften 
fid)  bei  ber  2:rinität§le^re  benfen,  bem  2:ritl^ei§mu§  re^t  nal)e 
f ommt.  ©ie  betonen  biefe  fief)re,  legen  ben  größten  SDBert  barauf, 
finben  jebe  Sritit  baran  fe^erifdi  unb  abfd)eulid^;  maS  fie  fic^ 
aber  felber  babei  beulen,  ift  im  (Sinn  ber  Sßäter  be§  3)ogma§  unb 
aller  mirflid)  ort^obojen  Se^rer  —  eine  ber  fc^limmften  unb  greu* 
lic^ften  Äe^ereien,  bie  e§  giebt. 

2Wad|t  man  nun  auf  biefen  ©ac^oert)alt  aufmerffam,  fo  tann 
man  mit  großer  35Ba^rfd)etnlicl)feit  auf  bie  Slntmort  red)nen,  ba^ 
e§  ©ac^e  ber  S^^eologen  fei,  hierüber  genauer  ©efc^eib  ju  miffcn, 
fie  i^rerfeit^  rooUten  fid)  an  ben  ©lauben  ber  Äird^e  l^alten,  an 
ben  ©lauben  ber  SBäter,  bei  bem  e§  fein  93en)enben  l^abcn  muffe. 
3)ag  ^ei^t  mit  anbern  SQäorten:  mir  glauben,  n?a§  bie  Äird^e 
glaubt,  unb  überlaffen  cg  ben  Sec^nifern,  ju  roiffen,  roa§  ba§  ift 
—  genau  mie  e§  im  römifc^en  Äatl^oliii§mu§  oorgefcbrieben  ift. 
Site  worin  unb  womit  e§  fid)  wieber  burc^fe^t,  ba§  bie  Seigre  in 
ben  fatl^olifc^en  3wföJnn^^ttt)ang  getiört.  ©ntfpred^enber  SGBeife 
fommt  fic,  obwol^l  bie  ©runblel^re  ber  S^riftentieit,  in  unferen 
euangelifdien  ®otte§bienften  ber  SRegel  nac^  nur  al§  liturgifc^e 
Jormel  uor.  3)e§t)atb  liegt  aber  aud)  in  bem  allen  nid^tö,  xoa^ 
uns  ber  grage  übertiebt,  ob  wir  in  ber  eoangelifrf)en  Kir^e  wirf^ 


164  ^  a  f  t  a  n :  3»^^  ^ogmatif. 

lic^  baucrnb  an  bic  alte  Se^rc  gcbunbcn  fmb. 

^ierau§  ift  e§  nun  ganj  n)o^(  gu  Dcrftel^en,  ba^  nic^t  tuenige 
neuere  2:i^eoIogen  ber  2^rinitot§le^re  gegenüber  eine  Haltung  ein« 
nehmen,  bie  fiel),  wie  oben  (©.  155)  jur  Sprache  tarn,  nid^t  roe* 
fentUc^  Don  2lb(el^nung  unterfd)eibet.  S)em  in  i^r  jufammenge- 
fa^ten  ®Iauben§inbalt  ftef|t  man  freilid^  nic^t  gleichgültig  gegen« 
über.  ^I^n  fud)t  man  in  ben  einzelnen  barauf  bejügüc^en  Se^ren 
für  ben  ©lauben  unb  bie  ®rfenntni§  ber  ©emeinbe  lebenbig  ju 
machen.  9ln  ber  jufammenfaffenben  gormel  al§  folc^er  haftet 
t>a^  Q^tereffe  nic^t,  fie  mirb  nad)  ©^Ieiermac^er§  SBorfc^Iag 
am  ©rf)Iu§  ober  fonft  irgenbroo,  iebenfallS  aU  etroaS  Siebenfach* 
Iid^e§  abge^anbe(t.  Unb  oieOeic^t  barf  e§  feigen,  ba|  e§  fo  auc^ 
bem  n)irflicf)en  ©emeinbeglauben  entfprid^t,  fofern  baneben  bie 
alte  fie^re  nur  al§  ^^ormel  erl^alten  bleibt.  3)enn  ict)  will  mit 
bem  oor^in  ©efagten  nid^t  behauptet  ^abcn,  ba^  ftd^  bie  bort  ci- 
tierten  frommen  Saien  an  ba§,  maS  ben  ^f^^^ölt  ber  Se^re  aus» 
mac^t,  nid^t  in  eoangelifc^em  ©lauben  gebunben  füf|Ien,  an  SBater, 
©o^n  unb  ®eift;  ba§  ift  ganj  mo^l  vereinbar  bamit,  bag  in  ber 
^Betonung  ber  jufammenfaffenben  ^otmel  ein  tatt|o(ifd)  geartete^ 
HWotio  ber  grömmigfeit  burd^f^Iägt.  Unb  fo  Ui)xt  t)ier  nun  boc^^ 
tiic^t  mie  in  ber  erften  ©rörterung  formal,  fonbern  facl){icf)  be* 
grünbet,  bie  5^age  roieber,  ob  mir  nic^t  am  beften  baran  tt)un, 
nuf  biefem  SBege  ju  bleiben,  eben  mir  nic^t  an  bie  2:rabition  ge* 
bunbenen  g^eunbe  unb  SBertreter  einer  eoanglifc^en  ©laubens* 
le^re. 

3tnbere  neuere  SDogmatifer,  „liberale"  2:t|eolbgen  alten  ©til§, 
beren  geiftige  2lrt  burd^  bie  ^egelfd^e  "ißliilofop^ie  il^r  ®epräge 
erhalten  ^at,  urteilen  umgefe^rt.  2)a  alle§  ®efcl)ic^tlid[)e  für  fie 
nur  al^  SÄuSbrudt  ber  Qb^z  93ebcutung  ^at,  legen  fte  auf  ben 
gefc^ic^tlic^en  ^n^alt  ber  alten  Se^re  fein  gro^e^  ®emid)t.  3Bot)l 
aber  fc^eint  it)nen  biefe  Se^re  felbft  etroa§  SBic^tige§  unb  ^Bleiben* 
be§  gu  enthalten.  3l)r  ^fntereffe  baran  ^gel^ört  ber  in  i^r  ent^ 
l^altenen  fiogo^fpetulation,  bie  fie  mieber  ju  beleben  fu^en,  in 
i^riftli^er  SWobifigierung  natfirlidl),  aber  fo,  ba§  bie  fpetulatioe 
^ebeutung  ber  ©ä^e,  —  bie§,  ba^  fie  eine  u  m  f  a  f  f  e  n  b  e 
gormel    be§   geiftigen    9Beltoerftanbniffe§   ent* 


Ä  a  f  t  a  n :  Qux  ^ogmatif.  165 

galten,  al§  bic  ^auptfad^c  l^croorgefe^rt  roirb.  ©o  finben  wir 
eS  j.  93.  in  93icberntann§  ®ogmatit.  3>ft  babci  bic  aWcinung, 
roQ§  fo  ^crauSfommt  für  ben  in  bcr  gcfd^ic^tüd^cn  ®ntn)ictlung 
^erau§gefteQten  geiftigen  @e^alt,  bie  QbaquQte,  gebantenmä^ige 
gaffung  bcr  in  bcr  Äird^cnlc^rc  cntfialtcncn  SBa^r^cit  ju  crtlarcn, 
fo  ift  ba§  ein  offcnfunbigcr  ;3rrtuni.  @r  wirb  cinfad^  baburc^ 
wibcrlcgt  ba|  bic  ©ntftcl^ungggcfc^i^tc  bcr  Sc^rc  bic  ©cfc^idjtc 
ber  Slu^mcrjung  bicfcr  p^iIofopI|ifcf)cn  ©cbanfcn  ift.  darüber  ift 
fein  SD3ort  weiter  ju  Dcrlicrcn.  Slbgcfe^n  aber  dou  einer  folci^en 
irrigen  3)eutung  bcr  fiir(^cnlct|rc  unb  i^rer  @efd)ic^tc  liegt  aud^ 
in  einem  berartigen  SSerfud),  bcr  2:rinität§[e^re  eine  bicibenbe 
3Ba^rI|cit  abjugeroinnen,  ctroaS  9ii^tige§.  ^^  erbtidfc  e§  barin, 
ba^  ocrfud)t  mirb,  etn)a§  wiebcr  lebenbig  ju  mad)en,  n)a§  im 
Slnfa^  bcr  2;rinität§Ie^re  aU  6crcd)tigte§  ^ntcreffe  ocrfolgt  mürbe, 
bann  aber  ju  ®runbc  ging,  meil  e§  mit  ben  au§  bcm  diriftlid^en 
©laubcn  ftammenben  SDiotiücn  bcr  fie^rc  nid^t  in  ©intlang  ge»= 
bracht  roerben  fonntc. 

3)anad)  fte^t  bic  Sac^e  fo,  ba^  bic  t^cotogifd)C  Slrbeit  in 
ber  einen  roie  in  ber  anbern  Sinie  jur  ®eltung  ju  bringen  fuc^t, 
ma§  ate  ein  urfprüngli^e§  3"tcreffc  ber  Se^rc  bcjcidönet  merben 
barf.  Sort  ift  e§  ber  au§  ber  gefc^id)tlic^en  Offenbarung  ftam* 
menbe  Q^^ialt  ber  Setire,  ber  bem  coangeUfd)cn  ©tauben  fein 
Cbjeft  bietet,  l^ier  bagegen  bie  umfaffenbc  g^ormet  beS  2Bettoer= 
ftanbniff c§,  bic  in  i^rer  pt|itofop^if(^en,  f)etlcniftifct|en  ©cftalt  bcm 
c^rifttic^en  ©tauben  at(erbing§  nic^t  cntfprac^,  aber  an  unb  für 
fi^  aud|  oon  ber  abfd^tic^enben  d)rifttid)en  ®otte§erfenutniS  cr= 
roartet  merben  mu|.  ®ic  atte  Srinität^Ie^rc  gc^t  babci  im  einen 
roie  im  anbern  gati  ju  ©runbe.  S)ort  inbem  fie  }u  einer  e^rmür* 
bigen,  aber  an  ftrf)  nebcnfäc^tid)en  jufammcnfaffenben  gorm  rocrt= 
ootlcn  Qnl^attö  mirb,  l^icr,  inbem  bic  pant^eiftifd^en  ©cbanten  ber 
SogoSfpefutation  ben  au§  bcr  gcfc^ic^tticl)cn  @otte§offcnbarung 
ftammenben  ^n^alt  abfto^en.  ^n  ber  alten  Set)rc  ift  eben  roie 
gefagt  baS  eine  3>"tcreffc  burd)  ba§  anbere  gefreujt  unb  gehemmt 
roorben.  ©otl  roieber  ctroa§  2tnberc§  atS  eine  Iiturgif(^e  formet 
au§  if)r  gemacht  roerben,  ftetten  fid^  biefe  gotgen  non  fetber  ein. 

3)er  Don  mir  cingef^Iagcnc  SBcg  ift  jebod^  ein  anberer.  ®§ 


166  Ä  a  f  t  o  n :  3«t  S^ogmati!. 

fd^eint  mir  uncrlä^Ii^,  an  bcr  Sirinitätölcl^rc  aU  bcr  alten  ga^ne  ber 
(J^riften^cit  fcftju^alten.  3>d)  bctrai^te  e§  gerabeju  aU  eine  ^^robe 
für  bic  SRic^tigtcit  einer  ^Jcugeftaltung  ber  eoangelifc^en  ®(aubenS* 
lettre,  ob  ba§  gelingt.  Srfte  93ebingung  bafür  ift,  roa^  je^t  roiebet 
berütirt  n)urbe,  bie  ®infxc^t  ba§  roir  in  einer  3)ogmatif  ber  SRc« 
formationSfirc^e  nic^t  auf  bem  SBeg  be§  3)ogma§  bleiben  bfirfen. 
S)ie  2lufgabe  ift  auc^  in  biefer  Seigre  biefelbe  roie  fonft,  bic 
@rfenntni§  be§  eoangelifdicn  ®Iauben§  gum  9lu8brud  ju  bringen. 
3[nbem  aber  bie  Slufgabe  fo  formuliert  mirb,  liegt  barin  bie  95e* 
^auptung,  ba§  ber  ©a^  oom  breieinigen  ®ott  felber  ein  ©taubcnS* 
fa^  ift  unb  ni^t  btog  eine  ^^f^mmenfaffung  anberer  @tauben§« 
fä^e.  SGBeiter  ift  meine  9Weinung,  ba|  in  ber  fo  oerftanbenen, 
bementfpredjenb  geftalteten  2:rinität§le]^re  auc^  eine  umfaffenbe 
gormel  be§  SBettoerftanbniffe§  geboten  mirb.  9tun  jiebocJ^  fo, 
ba^  ba§  nic^t  in  SQ3iber|prud)  mit  ber  d)riftlid)en  @rtenntni§  oer» 
midfelt,  fonbern  au§  it)r  i^rem  genuinen  ©inn  nad)  abgeleitet  mirb. 
®in§  nac^  bem  anbern  miß  i^  furj  befpred)en.  3uerft  alfo:  bie 
Jvinität^le^re  ift  felbft  ®  l  a  u  b  e  n  §  le^re. 

3lber  natürtid)  roiU  ic^  nic^t  bie  ©ntmicflung  ber  Se^re,  wie 
fie  in  ber  3)ogmatif  oorgetragen  roorben  ift,  l^ier  roieber^olen. 
3)a§  bort  ®efagte  barf  unb  mu^  id)  bei  ber  je^igen  ©rörterung 
DorauSfe^en.  Qä)  rebe  alfo  je^t  nidit  baoon,  ba^  bie  d^riftlidie 
®otte§er!enntni§  an  bie  ©rtenntni^  ^efu  S^rifti  gebunben  ift, 
unb  ba§  fie  fic^  nur  in  bem  ootlenbet,  ber  fie  al§  SWitteilung 
be§  göttlid)en  ®eifte§  unb  ^ineinoerfe^ung  in  ®otte§  ®eift  unb 
iieben  inne  mirb :  lebiglic^  auf  bie  ßufammenfaff ung  atleg  beffen 
in  bem  ©a^  oon  bem  breieinigen  ®ott  rid)tet  ftd^  ^ier  unb  je^t 
unfere  3Iufmerffamteit.  ®ie  5^age  lautet,  ob  baS,  biefer  jufammen* 
faffenbe  ©a^  felber,  ein  ®lauben§fa^  fei,  fo  ba^  bie  Formulierung 
be^fetben  einem  93ebürfni§  be§  ®lauben8  unb  ni^t  blo^  ber  }u* 
fammenfaffenben  SReflejion  über  ben  ®lauben  entfpric^t. 

93erfte^t  man  bie  5^age  empirifd),  mu^  fie  freiließ  oerneint 
werben.  ®ä  tann  unb  foU  nid)t  bef)auptet  werben,  ei^  fei  ba^ 
ein  33ebürfni^,  ba§  fi^  jebem  frommen  ©l^riften  in  feinem  ®tau* 
ben  ergebe,  auc^  bann  nid)t,  menn  er  roeber  an  ber  ®ottt)cit  beS 
^errn,  nod)  an  bem  ®eifte§befi§  be§  ©Triften  jioeifelt.    93ielleid)t 


Ä  a  f  t  a  it :  3ur  ^ogmatif .  167 

fann  jcber,  bcm  biefc  SSovauSfe^ungen  fcftftcl)n,  baju  angcl^altcu 
lüerben,  e§  ju  empfinben,  aber  baj5  c§  jcbcr  o^nc  iücitcre§  tf|ut, 
möchte  i^  nic^t  bel|auptcn.  SÄÖein,  cS  ^anbclt  fid)  in  bct  2)09== 
matif  nid)t  um  ben  ©laubeu,  roic  er  fid)  je  unb  jic  gcftaltct, 
fonbeni  um  ben  ©lauben  an  fic^,  um  ben  Olaubcn,  roie  er 
fein  foff.  S)a§  ift  in  ber  3)o9matit  immer  roieber  betont  unb 
bana(^  in  i^r  ©erfahren  worbcn.  3luc^  unb  namentlich  bei  ber 
\)kx  erörterten  ^rage  mu^  man  ba§  in  ©ebanten  behalten,  ^n-- 
bem  ic^  baoon  au§ge(|e,  bejcic^ne  i^  e§  al8  eine  unjroeife(t)afte 
SEBa^r^eit,  ba^  e§  ber  (^riftlidie  ©laube  felbft  ift,  au§  bem  fid) 
bie  6rtenntni§  be§  breieinigen  ®otte§  ergiebt,  ber  fid^  nic^t  anber§ 
al§  in  biefer  Formulierung  ber  il^m  feftfte^enbeu  SBaf)r^eit  genug 
t^ut.    ffiinc  boppelte  turje  ©rroägung  foll  unb  mirb  ba§  jeigen. 

@inmat  ergiebt  e6  fic^  o^ne  weitere^  au§  bem  2)lonott)ei§mu§ 
ber  rf)riftlid)en  Sieligion:  ®in  ^err  unb  (Sin  ©ott,  fo  Hingt  e§ 
fd)on  burd)  bie  SReben  ber  ^^Jrop^eten,  ba§  ^at  ber  jübifd)en  ©e« 
meinbe  unoerbrüc^Iid)  feftgeftanben,  fo  bilbet  e§  bie  felbftoerftänb^ 
lii^e  aSorauSfe^ung  aller  SJerfünbigung  im  9ieuen  Jeftament,  ba« 
von  ift  man  aud)  in  ber  c^riftlidjen  Sirdjc  nidjt  gemieden  unb  \)at 
in  feiner  SBeife  baoou  meid)en  motten.  3)iefer  9JJonott)ei§mu§ 
giebt  bem  ©a^  uom  breieinigen  ©ott  feinen  religiöfen  Slccent, 
feinen  S^arafter  al§  ©lauben^fa^. 

Unter  ber  SSorauSfe^ung  nämlid),  ha^  mir  nid)t  anber§  Un^ 
ncn,  al§  üon  ber  ©ottt)eit  ^efu  ®f)rifti  fagen  unb  an  bem  mal)r* 
Saftigen  ®eifte§befi^  ber  ©Triften  feftl}alten.  ©emi^,  roer  ba§ 
md)t  tt)ut,  finbet  !einen  2lnta§,  ben  breieinigen  ©ott  ju  glauben 
unb  }u  befennen,  er  fo  wenig  roie  ber  2ln^änger  einer  anbern 
monot^eiftifd^en  9tetigion.  @r  bleibt  aber  auc^  t)inter  ber  Son? 
fequenj  be§  d)riftlid)en  Offenbarung§glaubeu§  jurücf  ober  mad)t 
ntc^t  ©mft  bamit,  ba^  im  ©l)riftentum  i>a^  abfolute  Qxd  alter 
Steligion,  bie  ®inf)eit  mit  ©ott,  roirflic^  erreid)t  wirb. 

a3ieneid)t  erfd)eint  e§  paraboj,  roeun  fo  ber  3JJonott|ei§mu§ 
al§  ba§  religiös  Sebeutfame  an  ber  Sc^re  oon  ber  2:rinität 
betont  mirb.  ^d)  ermähnte  oort)in,  ba|  fromme  Saicn  int  ©egen- 
teil  geneigt  finb,  bei  ber  2:rinität  an  2:ritt)ei§mu§  ju  beuten.  9lid)t 
minber  ftetten  fid)  aufgeregte  2lufflärer  etma§  2le^nlid^e§  baruutcr 


168  S!  a  f  t  o  n :  3"^^  ^ogmatif . 

t)or.  ©er  aber  bie  ^robc  mac^t,  lüirb  leicht  fiubcn,  baß  er  im 
93efenntni§  ju  93ater,  ©ol|n  unb  ®eift  al§  por  einer  @otte§* 
läfterung  baüor  jurfirfbebt,  mit  biefem  59e!enntni§  aud)  nur  im 
geringften  oom  monott|eiftifd;en  ©lauben  ju  roeid)en.  SBie  foB  er 
aber  bann,  roa§  er  meint,  anber§  ju  äöorte  bringen,  ate  inbem 
er  mit  ben  SSätern  oom  breieinigen  ®ott  fagt  ?  ©benfo  roei|  ber 
Äunbige,  ba^  and)  in  ben  Sel^rftreitigfeitcn  ber  alten  Sirene  ber 
3Wonotf|ei§mu!S,  bie  innere  9tötigung,  baran  feftiul^alten,  nid)t  gum 
roenigften  für  bie  bann  firdjlid)  unb  allgemein  geworbene  ^^ffung 
ber  Sef)re  in§  ©eroid^t  gefallen  ift.  3)arauf  möcl)te  ic^  befonber» 
ben  ginger  legen,  ^ier  mie  fc^on  im  Suc^  gefc^ef)en  ift.  (S§  fteüt 
tro^  allem  einen  Suf^ntmen^ang  ^er  jn)ifd)en  ber  alten  Se^re  unb 
ber  Se^re  be§  eoangelifd^en  @lauben§.  SBeil  mir  ftrenge  50lono* 
tt)eiften  finb  unb  bleiben  moHen,  tonnen  mir  um  be§  ©taubene; 
mitten  nid^t  oon  ber  2:rinität§tel)re  laffen. 

SBebeutfamer  norf)  erfrf)eint  mir  eine  anbere  ©rmägung.  3).  1^. 
an  unb  für  fid)  fann  ja  nict)t§  mid)tiger  fein,  aU  ber  ftrenge  aWono* 
t^ei§mu§  unferes;  ©lauben«;.  9lur  gilt,  ba^  bie§  ctma§  ©elbft* 
oerftänblic^e§  ift  unb  ftc^  notmenbig  burd^fetjt,  fobalb  bie  a?orau§* 
fe^ungen  aner!annt  merben.  ®ie  jmeite  ©rmägung  liegt  nidjt  fo 
auf  ber  ^anb  unb  ift  boc^  nic^t  minber  jmingenb,  fü^rt  in  ba§ 
^nnerfte  ber  diriftlic^en  JJrömmigfeit  t)inein. 

©ie  bilbet  infofern  ba§  ©cgenftürf  jur  erften,  al§  in  it|r  bie 
Sin^eit  mie  in  biefer  bie  3)reil)eit  ber  2lu§gang§punft  ift.  SSer» 
gegenmärtigen  mir  un§  ben  Olauben  an  SBater,  ©o^n  unb  ®eift, 
fo  empfinben  mir  bie  9iötigung,  jum  StuSbrucf  }u  bringen,  bafe 
e§  aber  bod)  ber  ©ine  emige  ®ott  ift,  ben  mir  meinen.  Umge* 
feiert,  menn  mir  feiner,  be§  ®inen  geroi^  unb  fro^  finb,  ift  e§ 
un§  als  ©tiriften  unentbe^rlid)  ^injujufügen :  Jßater,  ©o^n  unb 
®eift!  5Die  ©elbftbetjauptung  ber  d^riftlic^en  grömmigfeit  in  i^rcr 
©igenart  nötigt  baju. 

9Jämlic^  menn  e§  babei  bleibt,  ba^  mir  im  c^riftlid^en  ®lau= 
ben,  in  ber  ®otte§ertenntni§,  bie  unS  barau§  ermäc^ft,  bie  ©in^eit 
mit  ©Ott  erreichen!  3)enn  biefe  ©in^eit  mit  ®ott  erf^öpft  fit^ 
nid)t  in  ber  Uebereinftimmung  be§  SBittenö.  üWan  mag  noc^  fo 
oft  betonen,  eS  gebe  jroifc^en  ^erfonen  feine  anbere  ©inf)eit  aU 


^  a  f  t  a  n :  3ur  5)o0matif .  169 

bicfc,  fo  roirb  man  boc^  beu  entgegcngcfc^tcn  ©inbruct  bamit  uid)t 
nicbcrfc^Iagen,  ba§  e§  im  SRcucn  2:cftament  nod^  ttvoa^  Slnbcrc^ 
bebeutet,  lüenn  e§  pon  ben  ®I)riften  l^ei^t,  ba§  fte  ben  ©eift 
®ottc§  empfangen.  @benf omenig  roitt  fid)  ba§  fromme  ®efü^t 
barein  fc^icfen,  ba^  e§  nur  biefen  ©inn  tiaben  foH.  2Bir  fönnen 
e§  nid)t  in  beftimmte  SCBorte  faffen.  3)ie  oerfagen  ^ier  mie  immer, 
menn  e§  fi^  um  ba$  hineinragen  be§  @migen  in  bie  jeitlid^e 
Srfa^rung  l^anbelt.  2lbcr  baburd)  mirb  bie  unmittelbare,  gefügig« 
ma^ig  crfalirene  ®emi§t)eit  nic^t  aufgcl^oben.  @§  ift  mirt(id^  fo, 
bag  bcr  ®f)rift  fic^  bur^  ©otteS  Oeift  mit  if)m  ju  (Sinem  @eift 
unb  Seben  oerbunben  mei§,  fid)  ^ineinoerfe^t  roei§  in  ben  emigen 
©Ott.  9Jur  fo  ooHenbet  \xä)  (i)xi\tl\i}Z  J^ömmigfeit  unb  ®otte§= 
erfenntni§. 

Slttcin,  baran  fnüpft  fic^  nun  bie  ©efa^r  einer  2}erfd)iebung 
in  ben  ^^ant]^ei§mu§.  ®§  ift  etma§  SIementareS  in  ber  menfc^« 
liefen  ©cele,  ma§  bamit  entbunben  mirb.  Sie  miß  über  i^re 
Orcnjen  I)inau§,  e§  ift,  al§  raufd^e  ber  ©trom  ber  Smigteit  burc^ 
fie  ^inburdi  unb  jiel^e  fie  meit  t)inau§  in  baS  alleS  erfüKenbe, 
in  altem  roaltenbe  Seben  ®otte§.  2)a§  finb  ja  ©rfc^einungen, 
bie  in  ber  ®efcl)id)te  be§  religiöfen  Seben§  immer  mieberfet)reu. 
SBer  fotc^e  Erfahrungen  fennt,  meig,  ba&  auf  ben  SRauf^  bie 
6rnüct)terung  folgt,  unb  lernt  fic^  unter  bie  Snö^t  ber  Offen« 
barung  fteDen.  9li^t,  um  megjumerfen,  roa§  er  al^  bie  SBoü« 
enbung  erfal)ren  l^at  unb  \i)m  unoerlierbar  in  ber  ©eele  lebt  — 
wie  e§  gefc^ä^e,  menn  er  fi(^  barauf  jurücfjöge,  ba§  ®inl)cit 
iroifd^en  **ßerfonen  nur  Uebereinftimmung  be§  9Billen§  bebeute. 
SBielmetir  befmnt  er  fid)  auf  ben  3ufamment)ang,  in  ben  er  fid) 
burd)  feinen  Offenbarung^glauben  ^ineingeftellt  fie^t.  S3ir  tennen 
feine  ©elbftoffenbarung  ®otte§  im  Stilleben  be§  Unioerfum^:  er 
ift  ber  ^err,  ber  ©d)öpfer,  ber  ®ott  ber  ®efc^ic^te :  in  bem  aJien* 
fc^en  3fefu§  ®^riftu§  ift  bie  ooUtommene  Offenbarung  ®otte§ 
gefc^e^cn.  ©benfomenig  miffen  mir  oon  einer  ©elbftmitteilung 
@otte§  in  ber  9latur  unb  burd)  bie  natürlid^en  Jlräfte  ber  ©eele. 
©Ott  giebt  feinen  ©eift  benen,  bie  an  ^efu§  ®t)riftu§  glauben 
unb  in  i^m  @ott  finben  lernen.  3)urd)  fold^e  ©elbftbefinuung 
gewinnt  bie  c^riftlic^e  J^^ömmigfeit  it)r  (et^ifd)e§)  SRüdfgrat.    @» 


170  ^  a  f  t  o  n :  3"^  5)0ömatt!. 

fommt  babur^  in  baS  ©riebniig  bcr  ©celc  oon  ber  ®in^cit  mit 
®ott  bic  notrocubigc  ®iftanjicrung.  2)ic  ©cbanfen  be§  d^rifi* 
liefen  ®Iaubcn§  oon  ®ott  erhalten  fo  bic  ©üebcrung,  in  ber  fte 
QÜcrcrft  ba§  wirtliche  Korrelat  bcr  c^riftlic^cn  grömmigfeit  fmb, 
bic  2Baf)rl^eit,  au§  ber  biefe  ba§  Seben  fc()öpft. 

3a,  aber  wenn  ic^  nun  bie§  atlcö  au^jubrücfen,  in  eine  gor* 
mel  ju  f äffen  furfie,  roic  fanu  ba§  anber§  gefc^c^en,  al§  inbcm 
mir  bcr  ©a^  oon  bem  brcicinigen  @ott  qI§  Ö^^aft  meinet  ®Iau» 
ben§  ben)uj3t  mirb?  9lic^t  fo,  ba^  i^  refleftierenb  in  einer  fol* 
cl)en  Se^rc  äufammcnfaffe,  ma§  nur  jcbcg  für  fic^  bcn  ®fauben 
uumittetbar  angelet,  mä^renb  bic  jufammenfaffcnbe  Se^re  fclbfl 
i^m  nic^tö  bebeutet.  9lein,  oielme^r  fo,  ba&  bic  unmittelbare 
grömmigfeit  fid)  an  biefe  jufammcnfaffenbe  Se^re  t)ält  ©ie  felbft 
ift  ®(auben§n)a^vl|eit,  ®lauben§erfenntni§.  ®er  ®(aubc  ertennt 
in  it)r  feineu  eigeuen  2Iu§brudE  unb  fc^öpft  au§  bcr  in  it|r  i^m 
objeftio  gemorbeneu  ffial^vl^cit  toie  au§  allen  Se^ren,  oon  benen 
ba§fctbe  gilt,  Ävaft  unb  ^(ar^cit. 

2)anac^  fe^e  i^  nidjt  anber§,  at§  ba^  mir  allen  ®runb  ^aben, 
an  ber  2:rinität^lel|rc  al§  fold)er  feftju^alten  unb  fie  al^  integrie- 
renben  93eftanbteil  ber  d)riftli^en  Se^rc  oon  ®ott  mit  unb  in  i^r 
an  bic  ©pi^c  alter  ®taubensle^ren  ju  ftellen.  Unb  nun  fragt 
fid)  meiter,  ob  biefe  Jirinitat^lel^rc  fic^  barin  beroä^rt,  ba§  fte, 
inbcm  fte  bcr  grömmigfeit  bie§  ift  unb  bebeutet,  i^r  auc^  eine 
umfaffenbe  "^oxmd  be§  SBcltocrftänbuiffeg  bietet. 

^n  ber  2)ogmatit  ^abe  id)  bereits  behauptet,  in  ©ac^en  biefer 
Seigre  fei,  fo  lange  bic  Sntmidtung  in  ber  3^it  bauve,  eine  bop- 
peltc  ^Betrachtung  unoermeiblid):  bic  eine,  bic  erftc  gef^ebe  sub 
si)ecie  aeterni,  richte  firf)  unoermanbt  auf  bcn  eroigen  ®ott,  roiffc 
nur  oon  i^m  unb  nichts  oom  3lblauf  ber  3^it  bic  anbeve  bagegeu 
bleibe  mit  ber  2lufmerffamfeit  bei  biefem  fle^n,  miffe  ni(^t§  ate 
i^n  unb  ftcUe  it|n  al§  ©anjeS  bem  croigen  ®ott  gegenüber,  ber 
JJe^ler  fei  geroö^nlic^  ber,  ba§  man  beibc  33etrad)tungen  l^albierc 
unb  bic  beibeu  ^ätften  ineinanber  fc^iebe,  al§  roorau§  bann  fcftiefc 
©ebanten  unb  unmöglidie  X^eorien  entftänben. 

Qnbem  ic^  ^ier  an  biefe  Unterfcbeibung  antnüpfe,  ^ebe  ic^ 
tieroor,  ba&  in  ber  3:rinität§te^re  al§  ®lauben§le^re  (oon  ber  bi§« 


Ä  o  f  t  a  n :  3ur  S^ogmatif.  171 

^er  bie  SRebc  max)  bie  erftgenannte  Sctrac^tungSroeifc  bie  Dor=^ 
^errf^enbe  i[t.  Statürlid)!  @ie  ift  öcftanbteil  ber  ScI^rc  von 
@ott.  SBom  eroigen  ®ott  l)anbelt  fie.  Unter  biefen  ®eft^t§pun!t 
ift  ^ict  attc§  gcftcßt  unb  aufgefaßt.  @benfo  fel^r  in  bcr  ©ac^c 
begrünbct  ift  e§  aber,  ba^,  rocnn  wir  in  ber  2lrinität§Ie^rc  eine 
Jyormel  uinfaffenben  SBeltoerftänbHiffeS  [u(^en,  bann  bie  groeite 
^etrac^tungSroeife  jur  (Geltung  tommt.  ®enn  nun  ^anbelt  e^  fid) 
ja  barum,  au^  ber  6rfenntni8  ®otte§  baa  le^te,  ^öd^fte  SSerftänb* 
ni§  be§  in  ber  Qtxt  oerlaufenben  9Bettprojeffe§  ju  geroinnen.  S)a 
roirb  aKe§  unter  biefen  ®efid)t§puntt  be§  2lb(aufS  in  ber  3^it 
gefteflt. 

333eiter  neunte  id)  bie  ®eban!en  ber  SogoSfpefuIation  jum 
äu^alti^puntt.  (5S  roäre  meiner  SWeinung  nac^  ganjlic^  üerfe^tt, 
^ier  etn>a§  fc^Ied|t^in  3leue§  vorbringen  unb  mittelft  irgenb  eine§ 
QuSgeflflgelten  tl^eologifc^en  $ünb(ein§  fo  großen  fragen  n)ie  ben 
^ier  oerl^anbeUen  genugt^un  ju  iDoUen.  9}ein,  lebiglic^  ba§  ift 
ju  erwägen,  ob  nic^t  biefe  ®ebanf enoerbinbung ,  oor  balb  jroei 
Sa^rtaufenben  geprägt,  immer  mieber  auftaudjenb,  nod^  im  vorigen 
9[a^r^unbcrt  bie  ®emüter  jeitmeife  belierrfc^enb,  ob  nic^t  fie  fo 
ju  mobifijieren  ift,  ba§  fte  ber  l^eutigen  9Beltfenntni§  unb  bem 
c^viftlic^eu  @otte§glauben  gteid)  fel^r  entfpric^t.  3)a8  fei,  meine  id), 
ber  %a\l.  3)er  ®ebanfe,  ber  mid)  leitet,  inbem  id)  eine  folc^e 
9Robififation  ber  alten  ®eban{engänge  fär  möglich  t)alte  unb  oer« 
fu^e,  mag  ^ier  gleich  an  bie  ©pi^e  geftellt  werben.  ®r  lautet 
bo^in,  ba^,  roä^renb  in  ber  überlieferten  Äonftruftion  bie  ®e' 
fd)ic^te  unter  bem  @erid)t^punft  be§  xo^iiog  aufgefaßt  mirb,  mir 
vielmehr  baran  gcroiefen  finb,  ben  xoajios  unter  bem  ®efi^t§5 
punft  ber  ®ef^i^te  aufjufaffen.  ®ntfpre^enber  SBeife  ^at  e§ 
ber  i^riftlic^e  ®laube  nie  anber§  gemußt,  at§  ba&  mir  bie  Offen- 
barung ®otte§  primär  in  bcr  @ef^id|te,  erft  fefunbär  im  x6o|io? 
)u  fu^en  ^aben:  in  ber  ®efd)ic^te  mirb  ®ott  felbft  offenbar  bis 
jur  ©rfc^einung  im  gt^if^e  ^in,  in  ber  Statur  bagegen,  bie  er 
gef^affcn  ^at,  bie  ba§  SBerf  feiner  ^änbe  ift,  nur  fo,  mie 
eben  einer  ftd)  in  feinen  SBerfen  bet^ätigt  unb  offenbart,  bie  boc^ 
niemals  er  felber  fmb  ober  merben. 

SSielertci  lie^e  fic^  fagen  unb  eingel^enb  erörtern,  maS  }unäd)ft 


172  Ä  a  f  t  a  n :  3ur  ^ogmattt 

jum  S3en)ci§  bcr  SSel^auptung  biencn  roürbe,  ba^  loiv  ^eute  oon 
fclbft  bal^in  gefütirt  roerben,  ba§  Untocrfum  unter  bcm  Oeft^tö* 
punft  bcr  ®cfcf)i^tc  aufjufaffen.  Q^  nenne  nur  in  aCer  Äürje 
ein  paar  ber  roefentlicftften  aÄomeüte. 

3uerft  ba§  Sl^atfädjU^e!  ^eber  n)ei^,  \va§  bcr  ®ebante  bcrSnt» 
roidluncj  ^eutc  in  ber  Slaturforfc^ung  unb  für  fie  bebeutet.  3^ber^ 
ber  voiü,  fann  barau§  erfcl^en,  ba§  fie  me^r  unb  mel^r  baju  ctc- 
brängt  roirb,  ©efd^ic^te  ju  fdjrciben  unb,  inbeni  ftc  bQ§  t^ut, 
i^re  Ic^te  3lufgabe  ju  erfüllen.  91ic^t  alle  9laturn)iffenfd|aften 
unb  teine§roeg§  fo,  ba^  e§  in  benen,  bie  biefen  SBeg  einfc^Iogen 
muffen,  Don  allen  i^nen  geftellten  Slufgaben  gilt.  SBo^l  aber  ift 
bie  Slötigung  baju  unabweisbar,  fobalb  ein  SBerfuc^  jufamuieii* 
faffenber  naturn)iffenfd)aftlici^er  ©efc^reibung  beffen,  u)o§  e§  um 
ben  xoanos,  roaS  e§  um  ba§  Unioerfum  ift,  gemad^t  mirb.  SDleineg 
SGBiffenS  ift  ba§  in  ber  ©ac^e  fo  begrünbet,  ba§  niemanb  baran 
benift  ober  beuten  fann,  e§  anber§  anjufaffen.  9Mit  anbern  3&ov^ 
ten:  e§  ift  bie  in  unferer  l^cutigen  SSSiffenfdiaft  am  meiften  ^ev* 
Dorftec^enbe  2:f}atfoc^e,  ba&  u)ir  un§  barauf  gemiefen  fe^n,  ba§ 
Unioerfum,  fo  meit  mir  e§  oerfte^en  lernen  fönnen,  al§  ®efc^id)tc 
JU  oerftcl)n. 

@o  gro§  nun  aber  bie  ^ortfc^ritte  finb,  bie  mir  ^eute  in 
ben  9Biffenfd)aften  gemacht  l^abcn,  fo  menig  ^at  bie  mirflic^e  ©c^u* 
lung  be§  3)enten§  bamit  Schritt  gel^alten  —  begJ  ©entenS,  ic^ 
meine :  ber  auf  ta^  ©anjc  geri^teten  Jä^^gf^it  be§  @etfte§,  atle§ 
mo^l  abjumägen,  jcbe§  an  feinem  Ort  gu  mürbigen  unb  auS  bem 
gefamten  Stoff  eine  root)l6egrünbete  ainfidjt  uom  SBeltjufammen* 
^ang  aufjubauen.  3)a§  erl^ellt  bcutli^,  fobalb  man  beachtet,  ba§ 
in  ber  @efc^i(^te  be§  UnioerfumS  überall  Südfen  Haffen,  unb  in 
®rroägung  jiel^t,  mie  fid^  bie  SBcrtreter  ber  ejatten  SBiffenfc^aft 
baju  oerl^alten.  Sßon  benen  abgcfel^en,  bie  bie  fiücfen  nid^t  feigen 
ober  nirf)t  felien  moUen  unb  barüber  ju  g^natifern  unb  ^i)an* 
taften  merben,  l^alten  bie  einen  an  ber  9Sorau§fe§ung  feft,  ba§  e§ 
einmal  gelingen  muffe,  alleö  „naturmiffenfc^aftlic^"  ju  erflären, 
mä^rcnb  bie  anbern  bie  innere  Unmoglic^teit  bicfer  Raffung  ein« 
fe^enb  eine  tleine  SWetap^gfit  erfinben,  mittelft  bereu  „fie  fic^  er* 
Haren,  maS  pe  nicf(t  oerfte^n."  2lber  mo  ftnb  bie,  bie  mit  einem 


Sl  a  f  t  a  n :  3ur  5)ogmatif.  173 

Kröpfen  p]^i(ofopt|ifcI)€n  Oel§  gcfalbt  bcn  rctatioen  ®t|araftcr  aller 
Cfaft  natutTPiffenfdöaftUcticn  ©rffärung  oerftclien?  bic§,  ba§  fie 
niemals  an§  ®anjc  ^cranrcirf|t  unb  ju  feiner  3^^*  einen  ©^ritt 
meiter  ju  gelten  bered^tigt,  al§  man  ju  bieferßeit  gefommen  ift? 
—  e§  fei  benn  in  §t)pot^efen,  bie  neue  Slufgaben  [teilen  unb  für 
bie  3ufuttft  weitere  SRefultate  oer^ei^en.  <3nbeffen,  wo  füllten  fie 
au^  ^ertonimen?  Qnx  Q^xt  ift  ber  (Sinbrucf  ber  gortfc^ritte  un^ 
fcrer  SRaturwiffenfc^aft  noc^  fo  überroältigenb,  ba§  e§  fogar  nic^t 
wenig  Stieologen  giebt,  bie  e§  für  bie  $ö^e  ber  9Bei§^eit  lialten, 
roa§  ate  gorfd^ungSprinjip  ber  9laturn)iffenfd)aft  bered)tigt  ja  nn= 
entbe^rlid)  ift,  in  eine  „SBeltanfc^auung"  umjufe^en,  unb  mitlei« 
big  auf  un§  anbere  ^crabfe^en,  bie  wir  biefe  ^ö^e  nidjt  ju  er* 
flimmen  oermögen. 

Qn  SOBa^rl^eit  bürfte  e§  nid^t  allju  fdjroer  fein,  in  biefen 
fragen  bie  richtige  Stellungnahme  ju  treffen.  ©id)erlid)  finb  bie^^ 
jenigen  im  üiec^t,  bie  nid)t  baoon  laffen  wollen,  ba§  alle§  natur^^ 
lüiffenf^aftlic^  erflärt  roerben  fann.  S)a§  ift  eben  ba§  unent* 
be^rlic^e  5örfd)ung§prinjip  ber  ?laturwiffenfcf|aft,  oon  bem  ic^ 
gerabe  fagte.  ®§  bebeutet,  bap  feine  ©renje  loillturlid)  abgefted't 
werben  fann  ober  barf:  wer  wei§  benn,  wie  weit  bie  Kräfte  rei* 
c^en,  unb  wie  weit  mir  9Jlenfd^en  e§  noc^  bringen  werben?  SJlit 
biefem  Urteil  oerträgt  fid|  in  benfelben  ^^rfc^ern  ganj  wüt|l  bie 
Qnbere  ®infid)t  (re(^t  oerftauben  ift  fie  beffen  Korrelat),  t>a^  e§ 
innerlici^  unmöglich  ift,  jemals  mit  unferer  SBiffenfd^aft  an^  @nbe 
be§  3Bäege§  ju  fommen.  9]ur  follte  biefe  @infid)t  nidjt  baju  oer= 
führen,  metap^ppfdie  iSä^e  in  ben  ßufammen^ang  ber  SJatur- 
forf^ung einjufügen.  3)aran,  ba§  fie  für  biefe  gorfc^ung 
fteril  finb,  fte^t  man,  ba§  fie  ni^t  in  il^ren  3ufammen^ang 
geboren.  SSielme^r  f^lie^t  bieg  35erfa^ren  einen  boppelten  <3rrtum 
ein.  ®rften§  wirb  bie  9laturforfd^ung  baburc^  geliemmt:  ^öut- 
fiffen  fmb  immer  bie  fd^limmfte  Hemmung.  3weiten§  aber  unb 
namentlid)  ift  e§  gerabeju  monftrö§,  au§  ber  naturwiffenfc^aftlic^ 
erforfc^ten  SBirflic^feit  aU  foldier,  au§  i^r  für  fid),  folc^e  St)efen 
ju  entnehmen.  2)arin  oor  allem  jeigt  fid)  bie  mangelnbe  ©d^u- 
lang  be^  ®enfen§  bei  ben  gorf^ern,  bie  fo  argumentieren.  Stein, 
mo  bie  Slaturwiffenfc^aft  ju  ®nbe  ift,  fängt  bie  ^^^ilofop^ie  an. 

3eUft^nft  für  ^^«ologte  unb  ftirc^«.  14.  ^a^rg.,  2.  §eft.  12 


174  Äaftan:  S^x  ^ogmatif. 

Unb  bic  i  ft  nur,  lücnn  fic  ba§  Slugc  auf  b  a  §  @  a  u  j  c  geric^lct 
l^ält,  mit  i^rem  ^M  baS  gciftigc  Scben  foroo^l  al§  bic  SRatur 
umfpamit. 

Scl^r  bcutlid^  wirb  ba§  aud^,  iDcnn  man  na^er  befielet,  1008 
ha  in  ben  3wfammcn^ong  bcr  Skturforf^ung  eingeführt  wirb. 
@8  ^anbelt  fi^  immer  um  einen  Qxotd  unb  um  eine  naturmif* 
fenfd^aftlid)  ni(^t  me^r  faßbare  Seitung  be§  ®efc^e^en§  auf  biefen 
3roerf  i^in.  3)amit  fmb  mir  aber  mitten  in  ba§  geiftige  Sefaen  ocrfe^t. 
^d)  mürbe  nac^  meinen  3Jorau§fe^ungen  fagcn:  mitten  in  ben 
retigiöfen  ©laubcn  —  nur  ba|  biefe  gefpenftif^en  Keinen  ^err^^ 
götter  nid^tS  an  fic^  l^aben,  ma§  ben  ®eift  befriebigen  fönntc. 
Slber  baS  nebenbei!  3f^benfall§  geraten  mir  ^ier  in  ba§  @ebiet 
be§  ®eifte§.  Unb  jebenfaKS  fte^t  e§  fo,  ba§,  roaS  un8  bie  „eyafte" 
äSiffenfc^aft  bietet,  nic^t  l^inreic^t,  baiS  auSiufü^ren,  moju  fte  felbft 
fo  mannigfache  eintriebe  enthält,  näm(id)  bie  @efd)ic^te  beS  Uni« 
üerfumS  ju  fd^reiben  unb  barin  unfere  gefamte  ©rtenntnig  ein== 
^eitlic^  pfammenjufaffen.  9tur  eine  ^^iIofopt|ie  ift  biefer  2luf* 
gäbe  gemad)fen,  bie  eigne  unb  eigenftänbige  (b.  ^.  von  ber  9la» 
turmiffenfc^aft  unabl^ängige)  ©ebanten  über  ben  legten  geiftigen 
®runb  unb  Qrotd  aüer  3Bir!Iic^!eit  an  bie  Sttufgabe  mit  ^eron^^ 
bringt. 

@§  l^anbelt  ftc^  tjier  ni^t  um  eine  apologetifc^e  $)etrac^tung. 
^c^  oerfolge  bafjer  biefe  ®eban!enrei^en  nid)t  weiter.  SWir  f^at 
e§  fic^  immer  roieber  unb  in  fteigenbem  3Äa^  beftätigt,  ba§  nur 
eine  Statur«  unb  ®ef^ic^t8pl)i(ofopbie  ba§  letjte  3i^t  '>'^^  ®r!en* 
nenö  unb  feine  reife  fü^e  ^xnö^t  fein  tann,  beibe  ein  ®an}e§,. 
beibe  jufammen  bie  ®efc^icf)te  be§  UnioerfumS,  in  bereu  5^ftfieU 
lung  SBiffenfd^aft  unb  ®Iaube  ftc^  uereinigen,  inbem  jene  fo  wenig 
ber  ®Iauben8gebanfen  roie  biefer  ber  SRefuItate  ber  S33iffe,nf^aft 
entraten  fann.  2lber  93etra^tungen  barüber  gel|ören  tu  einen 
anberen  ßufammenl^ang.  ^üx  f)kx  genügt,  üxoaS  naber  auSge* 
fü^rt  SU  ^aben,  roa§  id)  fagte,  bag  mir  im  Unterfc^ieb  vom  ben 
Sitten  baran  gemiefen  fmb,  ben  xöafio^  unter  bem  ®efi^t§puntt  ber 
®efc^ic^te  unb  ni^t  roie  fie  bie  ®efrf|i^te  unter  bem  be§  xöojio^ 
aufaufaffen.  ©§  ift  roirttid)  fo,  unb  ba§  anbere  ift  nic^t  minber 
geroip,  bag  ein   roie  nun  immer  nä^er  ju  beftimmenber  ®ebantc 


Se  a  f  t  a  n :  3uv  ^ogmott!.  175 

oon  einem  l^öd^ften  Qxo^d  unb  einer  aße§  barauftiin  lentenben 
geiftigen  Äraft  babei  ber  leitenbe  fein  mu^. 

Sin  roie  immer  naiver  ju  beftimmenber  ®eban!e  —  un§ 
©Triften  ift  nic^t  groeifet^aft,  mie  bie  nähere  Seftimmung  lauten 
mu§.  9tur  ber  ®ebanfe  oom  lebenbigen  ®ott  ift  bie  2lntmort 
auf  äße  biefe  fragen  unb  bie  ©tiDung  aller  biefer  (inteßettueßen) 
Sebürfniffe.  3)a§  ift  ber  Sa^ocr^alt,  t)on  bem  id)  bel^aupte,  in 
i^m  fei  bie  aKöglid)fcit  gegeben,  bie  eoangelifdie  @lauben§lel|re 
oon  bem  breieinigen  ®ott  al§  umfaffenbe  gormel  be§  aSäeltoer« 
fidnbniffeS  geltenb  ju  machen. 

3)enn  wenn  mir  nun  (mit  ber  fiogo§fpetulation)  fagen,  bie 
SBelt  fei  bie  Offenbarung  @otte§  unb  ber  enblid^e  ©piegel  feiner 
emigen  ^errlic^feit,  fo  liegt  in  bem,  mie  mir  bie  SBelt  üerftel^en 
gelernt  ^^ahtn  unb  perftel^en  muffen,  ba^  fie  ©liebcrung  unb  216* 
ftufung  einfc^liegt.  3)ie  9)ifferenaierung  oon  ®eift  unb  Statur  ift 
bo§  ©^arafteriftifum  be8  c^riftlic^en  ®lauben§.  ®r  oerträgt  e§ 
roeber,  ba§  ber  ®eift  in  bie  ©inl^eit  be§  Jlaturlebenig  eingeregnet, 
noc^  bag  bie  Statur  auf  geiftige  ^rojeffe  gurüdfgefü^rt  roirb. 
aSeibeS  I)ebt  bie  c^riftli^e  Selbftbeurteilung  auf.  9)er  ®ebanfe 
aber  einer  ®efc^i^te  be§  Unioerfum§  ate  ber  Offenbarung  ®otte§ 
Iä|t  bem  ®eban!en  einer  fteigenben  Slnnäl^erung  biefer  Offenba« 
rung  an  eine  eigentlid^e  ©elbftoffenbarung  oofltommen  Slaum. 
3)ie  9latur  ift  ba§  äBcrf  feiner  ^änbe,  in  bem  geiftig=gefd)id)t* 
lidjen  Seben  maltet  er  mit  feinem  ®eift,  in  bem  Sinen  -S^fu^ 
tritt  er  felbft  in  bie  ®efd)i(^te  ein,  burdf)  i^n  oermirflic^t  ftd^  ber 
ba§  ©anje  bel^errfdjenbe  ^mect  göttlidier  ©elbftmitteilung  an  bie 
5treatur.  3)ie8  aße§  ift  e§  aber,  ma§  in  bem  ©a^  oom  breieinigeu 
©Ott  jufammengefa^t  ift,  mie  i^u  ber  eoangelifd)e  ®laube  ^at 
oerfte^en  lernen.  3)iefe  ße^re  bietet  un§  gugleicf)  eine  umfaffenbe 
Formel  be§  9Beltoerftanbniffe8. 

^ierju  mu§  id^  noc^  einige  3lnmertungen  madjen,  bamit  nid)t 
mifoerftanben  mirb,  xoa^  xö)  meine. 

®  r  ft  e  n  §  ^ebe  ic^  l^eroor,  bag  ^iemit  nic^t  eine  oernünftige, 
abgefel^n  oom  ®lauben  in  fid)  felbft  begrünbete  SEonftruftion  ber 
2:rinität§le^re  gegeben  fein  fofl.  2)a§  fann  unb  mufe  oon  ber 
Sogo^fpetutation   behauptet  merben.    2ll§  fo8mologifd)e  2:i^eorie 

12* 


176  ^aftan:  3ur  5)O0mati!. 

ift  fic  in  i^rcn  ©runbjügcn  vox  bem  ß^riftcntum  ober  lücnigftcn^ 
abgcfcl^n  oon  i^m  f^on  ba.  ©ie  ift  i^rcv  9lrt  wai)  vom  ®Iau* 
bcn  unobl^ängigc  p^itofop^ifd^c  Sl^coric.  Unb  gcrabc  in  bcr  SBcr* 
binbung  mit  bem  ©laubcn  t)Qt  fic  au§  bcn  mc^rfarf)  erroo^nten 
©rünbcn  i^rcn  urfprünglic^cn  ©inn  als  obcrfte  SBettcrtlärung  ein* 
gebüßt.  SBSirb  nun  I|icr  an  bic  Sogoäfpcfulation  angefnüpft, 
fönntc  c8  fd^cincn,  olS  feien  bic  porgetragenen  ©cbanfen  im  felben 
©inn  gemeint,  nur  eben  in  beffcrer  Stnpaffung  an  bcn  ^riftlic^en 
@otte§glauben,  fo  ba§  fic  in  bcr  IrinitätSlel^re  roirtli^  erholten 
bleiben,  ©o  mitt  id)  e^  aber  nid)t  oerftanben  l^abcn.  ^i)  bin 
überjeugt,  ba^  bcr  c^riftlid^c  ©laubc  unb  bic  (äntmidEtung^lel^re, 
meil  fie  in  bcr  2:i^at  jufammengcl|ören,  fid^  einmal  pnben  roerben, 
finben  muffen.  ©^  fd^cint  mir  aber  im  allgemeinen  fc^on  oon 
bcr  größten  Sebcutung  ju  fein,  ba§  bcr  ©unb  nic^t  Doreilig  ge- 
fd^loffen  mirb.  ®§  mu^  erft  coibent  unb  in  feiner  ®Dibenj  er* 
fannt  unb  anerfannt  fein,  ha^  bic  ^laturmiffenfdjaft  bic  Soften 
einer  auf  bicfem  (Sebanfen  ftc^  aufbauenben  ©cfc^ic^tc  be§  Uni* 
ücrfumS  aus  eigenen  3Äitteln  nid)t  beftreiten  fann,  ba§  e§  fic^  in 
il^r  nid^t  um  2Biffenfd)aft,  fonbern  um  ^^ilofop^ic  ^anbelt,  ber 
©cbarife  oon  ©ott  unb  einem  geiftigen  3^^^^  anberämic  gegeben 
fein  mu§,  locnn  e§  geraten  fein  foH,  fic^  auf  bic  ©ac^c  einju^ 
laffen.  ©onft  läuft  e§  auf  naturaliftifc^c  SBerf{ad)ung  ober 
S8ert)unjung  be§  ®^riftentum§  unb  ber  ^^ilofop^ie  l)inaug. 
SSoUcnbS  fann  e8  nirf)t  bic  9)]einung  fein,  au§  biefen  ©ebanten 
bic  2:rinität§lel)rc  „tonftruieren"  ju  moKcn.  6t|riftUdE)er  ©laubc 
unb  SrinitätStelire  merben  al§  gegeben  oorausgefc^t.  Se^auptet 
wirb  nur,  ba§  biefe  Se^re  für  bcn,  ber  bic  c^riftlic^e  SBa^r^eit 
erfennt,  jugleic^  eine  umfaffenbe  gormcl  be8  SBcItoerftänbniffeS 
enthält,  beren  SBorauSfe^ungen  nad)  ber  ber  SSSiffenf^aft  juge* 
manbten  ©cite  fic^  mit  biefer  in  Sinttang  befinben. 

3  m  e  i  t  c  n  §  foU  nidjt  unermä^nt  bleiben,  bafe  id)  bic  ^icr  auS« 
gefpro^enen  ©cbanfen  in  anberem  3"fömmenf|ang  unb  in  entfpre= 
c^enb  anberer  gorm  f^on  früher  oertreten  liabc,  in  ber  3)ogmatitfetbft 
fomo^l  al§  in  bem  93uc^  über  bic  SEal^rl^eit  be§  d)riftlic^en  ®lau* 
ben§.  9J?eine  3Äeinung  gef)t  ba^in,  ba§  bie  S'^age,  ob  mir  bcn 
3ufammcn^ang  oon  @ott  unb  äBett  anberS  al§  im   ©lauben  ju 


Ä  a  f  t  a  n :  3ut  'Dogmatü.  177 

erfcnncn  pcrmögcn,  Dcrfc^iebcu  beantwortet  roerben  mu&,  je  nady 
bem  ob  mx  ben  SWoment,  bcn  momentanen  Duerfdinitt  bev  SQ3elt« 
entn)irf(ung  im  Stuge  \)abm  ober  biefe  al^  ®anje§  in  ber  Säng§== 
rirfituug  i^res;  gefamten  SBerlaufS.  @rftere§  ift  unmöglid^.  SBir 
fönnen  ben  eroigen  @ott  unb  ben  SDloment  ber  ß^it  "Jd^t  in  ber 
6int)cit  eines  Urteifö  erfennenb  sufammenf äffen.  ®a§  ift  eine 
ber  feften  ©renjen  unferc§  @rfennen§.  5Da  ift  nur  ber  ®(aube 
am  ^fa^,  ber  biefem  Objeft  gegenüber  üor  allem  SBiHenSatt  ift. 
®anj  anber§,  roenn  e§  fid)  um  ba§  ®anje  ber  SBeltentroirflung 
^anbclt.  3)a§  fönnen  mir  bem  eroigen  ®ott  gegenüberfteßen,  mit 
i^m  üergleidien,  ben  3ufamment|ang  jroifd)en  feinem  eroigen  SBefen 
unb  SBiüen  unb  bem  Uniuerfum  ju  beuten  uerfud)en  —  oerftän* 
big  baüon  reben,  roenn'S  auc^  nur  ein  ©tanmieln  ift. 

®ritten§  enblic^  mag  jur  @rroägung  gefteHt  roerben,  ob 
nid)t  in  einer  93etrad)tung  roie  ber  t)ier  Derfud^ten  etroa§  ftecft, 
roa§  als  3lnerfennung  einer  relatipen  9Bat)rt)eit  be§  ^antt|ei§mu§ 
bejeic^net  roerben  tann.  ^m  aögemeinen  ift  ba§  eine  S^efe,  in 
bie  mein  ®eift  fid^  nid)t  fd)idten  roill.  äBirb  fie  roie  j.  93.  oon 
g  r  a  n  f  unter  SBerroertung  einer  ber  platonifd^en  ^beentel^re  üer== 
roanbten  ®eban{enrei^e  aufgeftedt,  fd^eint  pe  mir  mit  bem  ®runb= 
artifel  be§  c^riftlic^en  ®fauben§  oon  ber  ©d)öpfung  in  3Ö3iber- 
fpruc^  JU  fte^en.  3S8enn  roir  aber  ba§  Unioerfum  al§  eine  ®e* 
fc^id)te  oerfte^en  (emen,  in  bie  ®ott  felbft  ftufenroeife  eingetit  bi§ 
jur  ooMommenen  Offenbarung  in  einem  3Äenfd)en  unb  bi§  jur 
3Witteitung  feine§  ®eifte§  an  bie  Ü)]enfd^en  f)in,  fo  liegt  barin 
eine  3itfammenfaffung  oon  ®ott  unb  SBelt,  bie  ein  pantt)eiftifc^e§ 
©Icment  entl)ält,  of)ne  ba§  fid)  ft^nlidie  ®inroänbe  auS  bem  ®f)ri= 
ftentum  bagegen  erl^eben  laffen.  9J?an  tann  bie  ^robe  baran 
ma^en,  ba§  ber  ®mft  unb  ber  9lad)brudt  ber  Se^re  in  grage 
geftetlt  erfc^eint,  roenn  roir  auf  bie§  SWoment  in  i^r  Deriid)ten. 
^nfofern  mö^te  auc^  ic^  mic^  ju  jener  X^t]^  befennen. 

2)amit  ift  erf^öpft,  roa§  i^  über  bie  2:rinitat§Ie]^re  t|ier  jur 
Srgänjung  ber  2lu§fü^rungen  meiner  ®ogmatif  Dortragen  rooflte. 

3. 
6inige  95emerfungen  jur  ®f)riftoIogie  foöen  ben  3lbfc^Iu^  bie* 


178  Sl  a  f  t  a  n ;  3ur  SJogmatif. 

feg  2luffa^c§  bilbcn.  ^n  i^ncn  ift  e§  mir  ni(^t  wie  in  ber  6r* 
örterung  über  bie  Zxxnität§lti)xt  um  eine  ©rganjung  be§  93uc^§ 
ju  t^un.  Qä)  möchte  nur  einige  fünfte  au8  bcm  3ufönimenl^ang 
ber  bort  vorgetragenen  Se^re  ^erau^^eben  unb  nac^brücflid)  be* 
tonen. 

3uerft  aber  bie§,  ba§  bie  .®t)riftologie  entmeber  Se^rc  Don 
ber  ©ott^eit  ®]^rifti  ober  überI|oupt  nid^tS  ift.  93etont  foü  baS 
merben  ber  Unffar^eit  gegenüber,  bie  ^eute  fo  t|äufig  begegnet, 
ba§  man  von  Qefu^  ß^riftug  fagt,  roa§  il^n  über  alle  3Kenfc^en 
I|inau§]^ebt,  unb  bod)  fid^  an  eine  Se^re  oon  ber  ©ott^eit  beS 
^erm  nid^t  ^eranmagt,  fte  rool^I  gar  bei  benen,  bie  ^ier  fd^ärfer 
unb  tiefer  fe^en,  für  einen  tünftli^en  SRepriftination^oerfuc^  ^ält. 
9lein,  ba§  ift  fie  nid)t,  fonbern  fie  entspringt  ber  Ueberjeugung, 
bie  fo  üiele,  auc^  mandtje  unter  ben  ^ier  93cfämpften  teilen,  bap 
Qefu§  ni(^t  ein  SOTeifter  mar  mie  anbere  SWeifter,  unb  ber  @in* 
fic^t,  ba§  ba§  entmeber  eine  nic^t§  bebeutenbe  SRebenöart  ift  ober 
ju  einer  S^riftologie  al§  Seigre  oon  ber  ®  o  1 1  ^  e  i  t  3iefu  ®l^rifii 
füi^ren  mu§. 

Unter  bem  ^eroifc^en  oerftel^en  mir  baS  ÜRenfc^li^e  in  auger« 
orbentli^er  Steigerung,  bie  ^eroen  fmb  in  einer  ober  ber  anbcrn 
S8eiiel)ung  9lu§na]^memenfd)en,  bie  f\6)  über  ba§  Siioeau  beg  3)urc^» 
fc^nittli^en  erl)eben.  SSBieberum  finb  im  ^eroifc^en  äbftufungen 
möglid^.  SßieHeic^t  liege  fid)  jeigen,  bag  ^rop^eten  ober  reli= 
giöfc  ^croen  ben  ^ö^ften  SiripuS  be§  ^eroif^en  barftellen. 
®.  \).  ii)  mü  ba§  nidf)t  pofxtio  betjaupten,  i^  beute  eS  mir  nur 
ate  möglichen  ©c^ritt  auf  bem  3Beg,  bie  Sebeutung  3«fu  S^rifti 
ju  oerbeutlid^en  unb  ju  umfc^reiben,  o^ne  über  ba^  änenfd^Iic^e 
H^inauSjugreifen.  ®er  (e^te  ©d^ritt  auf  biefem  SBege  rodrc  bann 
roieber  ber,  barjut^un,  bag  Qefu§  unter  ben  religiöfen  ^eroen  ben 
unbeftreitbar  oberften  5ßla^  einnel^me. 

3mar,  \)aht  id)  biefe  ®eban!enrei^e  ju  @nbe  geführt,  em* 
pfinbe  ic^  unroilHürlic^,  bag  fie  ber  ©adE)e  nic^t  entfprid^t.  Unb 
biefer  SinbrudE  meiert  nic^t,  fonbern  mirb  oerftortt,  menn  iäf  baS 
©nangelium  auff(^lage,  unb  ba§  in  i^m  gejeid^nete  83ilb  ^efu 
mir  oor  bie  ©cele  tritt,  ©eine  unoerglei^Iic^  ^ol^e  3lrt  liegt  in 
etmaS  ganj  anberem  alS  in  ber  ^ödE)ften  ©teigerung  be§  ^eroifc^en. 


Ä  a  f  t  a  n :  3ur  5)08mati!.  179 

Sr  ftetit  un§  gctoö^nlii^en  3Kcnfd^cu  nä^et  al§  bic  ^erocn,  bic 
ctiüQg  grcmbeS,  5^rnc§,  aud^  leicht  ctroaS  Ungleichmäßiges  l^aben 
unb  bel^alten.  Unb  n)enn  ii)  mid)  frage,  ob  e§  ort  bem  Spiegel 
liegt  in  welchem  un§  baS  gefd^ic^tU^e  93ilb  Qe\vi  allein  8ugäng= 
lic^  ift:  etoa,  bie  ^fünger  unb  erften  ©Triften  l^aben  in  il^rer  SBie- 
bergabe  ba§  ^eroifdie,  ba§  im  2luftreten  unb  in  bet  ^erfon  ^fcfu 
lag,  ^erabgefe^t  —  fo  fc^eint  mir  ba§  Oegenteil  oiel  roa^rfc^eln* 
lieber  }u  fein.  3)ann  fage  ic^  mir  aber:  e§  muß  etmaS  SBunber« 
bare§,  Unoergleic^Iii^eS  um  i^n  gemefen  fein,  eine  ^Bereinigung 
oon  3ägen,  bie  ft(^  fonft  auSfd^Iießen,  ein  SWenfd^  mie  mir,  fein 
^ero^,  fonbern  einer  in  ber  SReif)e  unb  boc^  mel^r  al§  ein  2Wenfd^ 
je  gemefen;  fein  ©pieget  mar  fä^ig  baS  93ilb  rein  aufjunel^men 
unb  roieberjugeben,  mir  fönnen  aber  a^nen,  mie  üiel  größer  bie 
8BirfIid|feit  mar,  bie  l^inter  ben  93erid)ten  ftet|t,  größer  —  jebocl) 
in  einem  anbern  ©inn,  al§  in  bem  mir  fonft  oon  großen  SOTen- 
feigen  reben.  3)a§  ^eroifd)e  mag  man  a(§  3lnalogie  jum  a3er= 
gleie^  ^eranjie^en,  e§  trifft  bie  ©ac^e  felbft  nic^t.  Unb  fo  fieser 
bin  id)  biefer  SinbrüdEe,  baß  idt)  behaupten  möd^te :  jeber  empfin« 
bet  e§  äl^nlid^,  e§  finb  ni(^t  bloße  SinbrüdEe,  fonbeni  etmaS,  ma§ 
fi^  aus  ber  ©a^e  aufbrängt. 

®a§  jeigt  oon  einer  anbern  ©eite,  mie  fdjmierig  e§  mirb, 
bie  Säebeutung  ber  ?ßerfon  ^efu  ®t|rifti  in  ben  Kategorien  ge* 
fteigerter  SWenfc^l^eit  ju  mürbigen.  2lber  felbft  menn  e§  beffer 
gelänge,  mürbe  eS  un§  nid)t  barüber  hinausheben,  baß  mir  eS 
auf  bicfem  SBeg  ju  feiner  ©^riftologie  brächten,  ©ine  S^rifto* 
logie  giebt  e§  nur,  menn  e§  babei  bleibt,  baß  Ocfu§  Objeft  be§ 
®lauben§  ift.  ®enn  nur  bann  ift  e§  gerechtfertigt,  it|n  jum  ®e* 
gcnftanb  einer  befonberen  Seigre  ju  madien.  SöenigftenS  menn  eS 
emft  mit  bem  genommen  mirb,  ma§  ©laubenSlel^ve  ift  unb  fein 
foll.  3ft  fi^  m6)t^  als  eine  ©ammlung  oon  gef^i(^tlid)en  93e* 
trac^tungen,  SReflejionen  über  bie  fubjettioe  grömmigfeit  unb  an* 
bem  3wrüftungen  ju  einer  ©loubenSle^re,  furj  oon  aßem  9Kög= 
li^en,  bann  ^inbert  nichts,  aud^  in  ber  einen  ober  anbern  äBeife 
—  mie,  bliebe  bem  ©efd^mad  unb  ber  SBillfür  beS  3)ogmatiferS 
anheimgegeben  —  oon  -QefuS  ®^riftu§  in  biefem  ^uf^mmenl^ang 
ju  ^anbeln.    Slber  baß  unfere  gegenmärtige  2)ogmatif,   xd)  roill 


180  Ä  a  f  t  a  n :  3ur  ^oömat«. 

nid^t  fagcn,  einen  folc^en  ©^arafter  trägt,  VDof)l  aber  bag  fie  i^n 
noc^  nidit  roirflid^  überrounben  \)at,  oielfai^  roenigftenö  nid)t,  ba§ 
erflärt  m  boc^  nur  baraug,  ba§  wir  in  einem  Uebergang  bc= 
griffen  finb.  3)er  alte  ortl)obofe  Xr)p\x^  ift  bal^in,  ber  neue  Xx)- 
pu§  eoangelifc^er  @lauben§(e^re  nod)  nic^t  Mar  unb  fic^er  l^erau§* 
gearbeitet.  Sft  Ie^tere§  gefd^e^en,  !ann  nid)t  bejroeifelt  werben, 
bafe  es  feine  ®^riftoIogie  giebt,  roenn  lüir  Qefug  nid)t  aU  Objeft 
be§  ©laubenS  anfe^en  bürfen.  Qfft  er  aber  Objeft  be§  @{auben§, 
bann  gel)ört  er  un§  gegenüber  mit  ®ott  jufammen. 

Sffiieber  meine  \6)  befjaupten  ju  bfirfen,  e§  fei  nirf)t  ein  in- 
biüibuetter  ©inbrurf,  ba§  e§  irgenbmie  l^ierbei  oerbleiben  muffe: 
;3efu§  ift  nic^t  mie  anbere  aJlenfdien,  ^efu«  ift  roirttii^  unb  roa^r* 
^aftig  Objeft  be§  ®lauben§,  er  gel^ört  un§  gegenüber  mit  @ott 
jufammen.  9DBir  empfinben  in  ber  d|rifttid)en  ©emeinbe  fc^licfe« 
lic^  aKe  fo.  3)arau§  erflärt  fic^  bie  ^albl^eit  unb  Unflar^eit, 
bie  ficf)  in  allerlei  boppelbeutigen  S^ormeln  auöfpric^t.  ÜWan  meint 
mit  bem  ©a^  oon  ber  Oott^eit  ^efu  S^rifti  irgenbroie  bie  ^wzu 
naturenlel^re  anjune^men,  roaS  man  bo^  nic^t  fann  unb  ni^t 
mifl:  be^^alb,  menn  ic^  re^t  t)erftet|e,  milf  man  bie  alte  flare 
Formel  nicf)t  gebrauten.  (Bbzn  bemgegenüber  möchte  ic^  aber 
nad)brüdtlic^  betonen,  bafe  cg  fein  2lu§roeid^en  giebt.  ®ntmeber 
mir  Iiaben  eine  (J^riftologie,  bann  aber,  of)ne  Umfc^meife  —  al§ 
Se^re  uon  ber  ©ott^eit  ^e]Vi  ®^rifti.  Ober  mir  fagen  mit  Sie« 
ber  mann,  ba§  an  bie  ©teile  ber  S^riftologie  eine  Erörterung 
über  ha^  ^^rinjip  be§  ®f)riftentum§  ju  treten  l^at,  unb  oon  ber 
gefd)id)tlicf)en  "ijJerfon  Qz\\i  ha  ju  reben  ift,  mo  bie  ©nabenmittel 
ben  ©egenftanb  ber  Set)re  bilben.  2llle§,  roa§  bajmif^en  liegt, 
ift  3Wqt^ologie  unb  getiört  nic^t  in  eine  ^riftlic^e  ®lauben§Ie§re. 
Sle^nlid)  \)at  frf)on  bie  ^Argumentation  berer  gelautet,  bie  bas 
2)ogma  gefcl)affen  ^aben.  Unb  babei  mu^  e§  aud)  in  ber  eoangeli* 
fc^en  ®lauben§let)re  bleiben,  meil  e§  unabmei§bar  in  ber  ©ac^e  liegt. 

2lber  warum  bie  2)inge  fo  auf  bie  ©pi^e  treiben?  roarum 
mit  fold)cn  au§frf)lie&enben  gormein  umgef)n?  mu§  baS  nic^t 
©treit  Iieroorrufen,  leidet  aud^  unter  benen,  bie  fid)  in  bem,  xoaS 
fie  meinen,  na^e  ftetin?  äBo^l,  ii)  ^abe  oolleg  SBerftänbniS  für 
fold)e  Sebenfen.    ^n  ber  firc^lid)en  ^rajiö  ftnb  fte  burc^au§  be* 


^  a  f  t  a  n :  3ur  ^ogmati!.  181 

red^tigt.  &§  wäre  unrocifc,  l^icr  immer  auf  prinjipieKc  Ätarl^cit  §u 
buingen,  bienun  einmal  nii^t  jebermann§  2)ing  ift.  2)a§  fönnte 
Uid)t  bal^in  fül^rcn,  in  ber  ©emeinbe  einen  gormetbienft  ju  etab* 
licren,  ber  ein  arger  ©djäbling  an  ber  ^römmigfeit  ift.  §ier 
l^anbclt  e§  fid^  aber  um  bie  ©ogmatif.  Unb  in  it|r  mu§  ebenfo 
unroeigerlic^  auf  pringipietle  ftlarl^eit  gebrungen  werben,  al§  \oU 
(^e§  S)rängen  in  ber  ^^rajiS  gelegentU^  ©^aben  ftiften  tann. 
^n  ber  3)ogmatif  unb  bei  ben  S)ogmatifern  —  b.  \).  nx6)t  nur 
bei  benen,  bie  jur  engften  ^unft  get)ören,  fonbern  bei  allen,  bie 
in  bicfer  Srage  lel^renb  Dor  ber  Deffenttid^teit  ba§  SBort  ergreifen, 
„aWeifter  in  ^f^rael"  ftnb  unb  bafür  gelten  e§  äu  fein.  SB3ie  ba§ 
niemanbem,  einerlei  roeldt)e§  gad^  er  fonft  pflegt,  niemanbem,  ber 
fic^  baju  berufen  fii^It,  nermelirt  merben  fann,  fo  fdjlie^t  e§  für 
jeben  bie  entfprec^enbe  ^flid)t  ein,  für  Mare,  unjroeibeutige  Sef)re 
in  ber  ©emeinbe  ©orge  ju  tragen. 

^flic^t  ift  e§  aber  in  biefer  Situation,  meil  mir  fonft  nic^t 
barüber  l^inauStommen,  ba§  bie  einen  in  ber  fattiolifd^en  Qvotu 
naturcn(e]^re  ftedfen  bleiben,  unb  bie  andern  un§  in  aufftärerifd^e 
Jlad^^eit  l)ineintreiben.  3Wit  jenem  ift  un§ ,  jebod^  fo  menig 
gebient  roie  mit  biefem.  3Bie  mir  unfere,  bie  eoangelifc^e  Jrini* 
tdt§lef>re  ^aben  rooHen  unb  ^aben  muffen,  fo  aud^  unb  im  engften 
3ufammen^ang  bamit  unfere  b.  I).  bie  bem  eoangelifcticn  ©tauben 
entfpredjenbe  ©^riftologie,  bie  fo  roenig  S^^i^^^turenle^re  wie 
auff(arerifd)e  SBorbilb^t^eorie  ift.  2)a§  gel^ört  auc^  jur  ®efun= 
bung  unfere^  (Slauben§  unb  ®emeinbeleben§.  Unb  be^tjalb  mu& 
immer  mieber  ber  gi^fl^^  barauf  gelegt  unb  eingefd^ärft  roerben: 
enhoeber  —  ober,  entmeber  mir  l^aben  überhaupt  !eine  ©firifto- 
logie,  bcm  (^riftlidjen  Olauben  ift  ba§  ^erj  au§gebrod)en ,  ober 
bie  ©^riftologie  ift  oud)  bei  un§,  ma§  fte  allein  fein  fann:  Setire 
Don  ber  ©ott^eit  ^efu  ©^rifti.  — 

äBeiter  foll  in  alter  ^ürje  oon  ber  SluSfü^rung  ber  ©^rifto* 
logic  bie  9lebe  fein.  Siadt)  bem  eben  Oefagten  bleibe  id^  mit  ootter 
Ueberjeugung  babei,  ba§  jebe  ©^riftologie,  wenn  fie  ift,  ma§  fie 
^eigt,  ben  ©at^,  ba§  ber  SWenfc^  Öefu§  ®^riftu§  ®ott  ift,  ju 
i^rem  eigentlid^en  unb  einjigen  2:t)ema  ^at.  ©ie  tann  unb  foll 
ni(^t§  anbere§  fein  al§  bie  2lu^füf)rung  biefe§  ©a^e§.    Unb  eben 


182  Sl  a  f  t  a  n :  3ur  Dogmatil. 

über  bic  2lu§fül|rung,  bic  er  in  meiner  ©ogmatif  gefunbeu  l^at, 
möd)te  ic^  je^t  ein  paar  SEBorte  fagen. 

aOBaS  mir  SBeranlaffung  baju  bietet,  i[t,  ba|  gerabe  bie  2lrt, 
mie  id)  bie  ©l^riftologie  üorgetragen  l^abe,  melfad^en  Sebenten  be* 
gegnet  ift.  9li^t  eigentlic!^  beftimmte  ©inroänbe  f)abt  id)  babei 
im  ©inn  —  auc^  an  folgen  \)at  e§  ni^t  gefehlt,  unb  id)  bin  in 
ber  neuen  3luflage  barauf  eingegangen  —  fonbern  allgemeine  93e' 
merfungen,  bie  barauf  tiinau^taufen,  bafe  etma§  ®cfünftelte§  barin 
liege.  9Äan  nermi^t  alfo  offenbar  einen  einfachen  Haren  2lufbau 
ber  2et)re,  eine  beutlid)e  unb  burc^fid^tige  ©lieberung  ber  ©ebanfen. 
ajlit  biefem  allgemein  gefaxten  (Sinroanb  möd)te  i^  midj  ^ier  an^- 
einanberfe^en. 

^m  (Sro^en  unb  ©anjen  bin  ic^  in  folgen  fällen  immer  ge= 
neigt  bem  2  e  f  e  r  Siedet  ju  geben.  3ln  il^n  menbet  ftd)  bie  3)ar« 
fteüung.  §at  er  einen  ®inbrudf  mie  ben  eben  miebergegebenen, 
bann  mag  ber  2lutor  no^  fo  fel^r  entgegengefe^ter  2Weinung  fein, 
er  mu|  fid)  bod)  fagen,  bafe  e§  it|m  ni^t  gelungen  ift,  feine  Slb^ 
fi^t  fo  au^jufü^ren,  ba§  fte  n)irfli(^e§  SßerftänbniS  gefunben  ^at. 
Kann  id^  mid|  in  bem  oorliegenben  g^aH  nic^t  einfa^  hierbei  be* 
rul^igen,  fo  liegt  e§  baran,  ba§  ber  ©inmanb  ftd)  mir  oor  altem 
gegen  bie  oon  mir  befolgte  ©arftellung^meife 
unb  ni^t  f 0  fel^r  fpejiell  gegen  meine  ©arfteUung  ju  rid)ten  fdtjeint. 
Unb  roät)renb  id^  nun  mag  bie  le^tere  betrifft  bereitwillig  alle^ 
jugebe,  rvai  man  bagegen  einmenbet  —  ic^  felbft  meig  am  beftcn, 
mie  meit  idö  I)inter  bem  mir  oorfd^mebenben  3fbeal  jurüdgeblieben 
bin  —  fo  mö^te  id^  bod^  bie  3)arftellung8meife  al§  in  ber  Sluf* 
gäbe  begrünbet  in  @d^u^  nel^men. 

3fd)  bin  nämlid^  ber  SWeinung,  ju  roiffen,  marum  fie  melen 
gefünftelt  unb  unangemeffen  erf^eint.  @§  tommt,  menn  id)  rec^t 
fe^e,  bei  einem  fold)en  Urteil  nic^t  blo^  auf  ben  ©egenftanb,  ber 
beurteilt  mirb,  fonbern  auc^  auf  bie  SBorauSfe^ungen  an,  bie  ber 
Sefer  mitbringt.  SEBenn  fo  ju  fagen  baS  geiftige  2luge  anberS 
eingefteKt  ift,  al§  ber  Oegenftanb  oerlangt,  b.  1^,  menn  ber  Sefer 
auf  eine  anbere  3)arftel(ung§meife  rennet,  al§  bie  il^m  nun  ent« 
gegentritt,  bann  empfinbet  er  ba§  Vorgetragene  aU  fc^ief  unb 
munberlid)  unb  gefünftelt,   o^ne  ha^  e§  ba§  in  SBa^r^eit  au^ 


Ä  a  f  t  a  n :  3ur  ^ogmatü.  183 

roirftid)  ju  fein  braud)t.  Unb  fo  fd^eint  mir  btc  ©a^e  l^icr  ju 
(iegen. 

SBaS  un§  aßen  ate  bie  Orunbform  ber  bogmatifd)en  ©^rifto* 
logie  oorfd)ix)cbt  ift  bic  3n?einaturcnle^rc.  S)ie[e  ftanb  urfprüng^^ 
li^  in  einem  fe^r  beftimmten  religiöfen  ^uförnmenl^ang,  ^atte  ben 
$eif§apporat  ber  Äirc^c,  namentlich  bie  ©aframente  ju  i^rem 
notroenbigen  Korrelat.  2)aüon  mirb  aber  in  ber  eoangelifdien 
3)ogmatit  grunbfa^Iid^  abgefelin.  3)enn  bie  9leformation  bat  mit 
biefen  prattifdien  Folgerungen  au§  bem  alten  3)ogma  aufgeräumt. 
3Bir  roiffen  in  unferer  Siixd)t  nichts  vom  ©aframent  im  fatl^o- 
lifc^en  ©inn.  ^fw^mer^in  liegt  in  ben  bogmatifc^en  2lu§einanber* 
fe^ungcn,  bie  burd|  fi  u  t  ^  e  r  §  Seigre  oom  3lbenbmo^l  ueranla^t 
rourben,  eine  (Erinnerung  an  ben  nrfprünglic^en  ^ufammen^ang. 
9Wd|t  ol§  mcnn  ic^  biefe  Seigre  für  tatl^olifd)  ober  fat^olifierenb 
hielte.  9lber  baS  ju  erörtern  gehört  nic^t  ^ier^er.  2:^atfarf)e  ift 
ja,  ba^  ßut^er  burd)  biefe  feine  Seiire  baju  geführt  rourbe,  auf 
bie  3n>einaturente]^re  jurürfjugreifen.  Unb  einjelne  2teu§erungen 
jeigen  unjmeibeutig,  ba§  barin  ein  3ufammenl|ang  mieber  auflebt, 
ber  ber  alten  Sir^e  angel^ört  unb  fatI)olifterenbe  Sel^rmeinungen 
wie  oon  felbft  in  ben  SJlunb  legt.  2)a§  liebt  bal^er  nidit  auf, 
fonbem  jeigt  erft  red^t,  mag  ber  natürlid)e  3ufammen^ang  ber 
3roeinaturenle^re  ift.  ®oc^  ift  biefe  9temini§cena  ou§  ber  alten 
Äird^e  fein  fefteö  ©lement  ber  enangelifdjen  2)ogmatif  gemorben. 
818  SRegel  gilt  in  il|r,  ba§  oon  ben  praftifd)en  Folgerungen  au§ 
bem  alten  S)ogma  abgefelien  mirb.  3)ie  S^riftologie  ift  eine 
„obieftioe"  Seigre.  äBa§  in  i^r  üer^anbelt  mirb,  ift  ein  meta* 
p^9fifc^e§  Problem,  .ba8  (ber  bem  alt!ir^lid)en  3)ogma  ju  ©runbe 
liegenben  SBorauSfefeung  na^)  jugleic^  ba8  religiöfe  ©runbproblem 
be§  S^riftentum«  unb  folgli^  ber  d)riftlid)en  ®ogmatit  ift. 

9luf  eine  berartige  fiel^re  rechnet  nun  unmilltürlid^  jeber,  ber 
an  einen  Sntmurf  ber  ©liriftologie  in  einem  Set|rbud|  ber  3)og» 
matit  prüfenb  tierantritt.  @ntmeber  auf  bie  3n>^i^oturenle]^re 
felbft,  fei  eS  aud^  in  oerbcfferter  Oeftalt,  j.  33.  auf  bie  KenofiS« 
le^re,  ober  fonft  auf  eine  analoge  fieJ)rbilbung,  analog  eben  in 
ber  93e}ie^ung,  ba&  fte  objeftioe  2lu§funft  barüber  geben  miH, 
mag  e§  um  äicfu8  ®l^riftu§  geroefen  fei.    ©tatt  alles  anbern  er- 


184  ^  a  f  t  a  n :  3ur  Dogmatil. 

innere  id)  nur  an  bie  üon  Sanberer  ftammenbc  Formulierung 
ber  Orunbfragc  aller  ©firiftologie^  ba§  fie  nämtic^  laute,  ob  bic= 
felbe  ^ttieocenetrifd)  ober  ant^ropocentrifd^  ju  entwerfen  fei.  2)a  ift 
bie  S^ageftettung  ber  Qxot\natvixtnUi)xt  einfad)  acceptiert,  e§  ift  al§ 
fetbftuerftänblid^e  9Sorau§fet|ung  genommen,  bap  oerfuc^t  werben  f  oU, 
über  ba§  SEBefen  Q^efu  (Jljrifti,  über  bie  ^Bereinigung  oon  ®ott  unb 
3Jlenfc^  in  feiner  ^^erfon  „objeftioe"  3lu§tunft  ju  geben.  2lud)  menn 
neuere  3)ogmatifer  oielfac^  urteilen,  e§  fei  in  ber  S^riftologie  ba§ 
gef^idfjtUc^e  Scben^bitb  be§  ^errn  jum  2lu§gang§puntt  ju  net)men, 
liegt  barin  rool^l  noif)  eine  9iad)n)irfung  biefe^  in  ber  2:rabition 
feftgerourjetten  @eficf)t§punfte§.  @§  ift  nic^t  ba^felbe,  fonbern  nur 
etwa  eine  9tad)n)irfung,  ba  e§  fid)  um  S^eologen  ^anbelt,  bie 
oon  Slitfc^l  beeinflußt  fmb  unb  ba^er  miffen,  baß  e§  nur  für 
ben  ©lauben  eine  (Srtenntni§  ber  ©ott^eit  ^efu  S^rifti  giebt. 

@d)leiermad)er  nämlid^  unb  Stitfc^l  ^aben  jeber  in  fcU 
ner  SDBeife  biefen  anbern  ®eftd)t§punft  in  bem  (Sntmurf  i^rcr 
c^riftologif^en  2:f)eorieen  berüdtfic^tigt.  @^leiermad)er  t^ut 
eö,  inbem  er  in  bie  ®rfenntni§  ^efu  al§  be§  ®rlöfer§  pon  oorn« 
tierein  ba§  au§  il|m  entftammenbe  ©cfamtleben  einbejietit,  in  voeU 
d^em  bie-  9Kitteilung  ber  Äräftigfeit  feinet  ©otte^berou^tfeing  ftatt^ 
finbet,  Slitfdjl,  inbem  er  betont,  bie  ©emeinbe  fei  \>a^  Äorrc* 
lat  ber  ©ott^eit  ®t)rifti,  au§  i^r  werbe  bieS  ^räbitat  auf  \f)n 
übertragen,  unb  nur  in  i^r  tomme  bie  fo  lautenbe  @rtenntni§ 
<3efu  ©firifti  juftanbe.  3)a§  unb  weö^alb  id)  biefen  ©ä^en  an 
unb  für  fi^  nic^t  iuftimme,  brauche  ic^  je^t  nid)t  nod^malS  }u 
fagen  unb  ju  begrünben.  ^ier  tommt  nur  in  93etrac^t,  ba§  ber 
©ntiourf  ber  (£f)riftologie,  ben  id)  in  ber  2)ogmati!  oorgctragen 
t)abe,  in  biefer  Sinie  ber  ©ntwidlung  liegt  unb  bc§* 
t)alb  ben  (Sr Wartungen  nic^t  entfprid)t,  mit  benen  ber  Sefer  in 
ber  Siegel  an  eine  folc^e  Se^re  herantritt. 

3)a§  2(bfe^en  war  barauf  gerii^tet,  aud)  ^ier  ben  ©runbfa^ 
tonfequent  burdjjufütiren,  baß  eoangelifc^e  fie^re  au8  bem  ©lau* 
ben  erwäc^ft,  ber  fi^  bie  göttliche  Offenbarung  aneignet,  baß, 
wag  wir  fo  ertennen,  allerbingg  objeftioe  in  ©ott  gegrünbete 
äBa^r^eit  ift  (oerfte^t  fi^  in  bilblic^er  gorm  oergcgenwärtigt, 
weil  etwa§  anbereS  gar  nid)t  möglich  ift),  baß  fic  un8  aber  nur 


Ä  a  f  t  a  n :  S^^  3)o0mati!.  185 

jugSnglid^  roirb,  inbcm  jtc  in  äBcd^fctoirfung  mit  unfcrcm  per» 
fönlic^cn  Sebcn  tritt,  ©o  \)abz  x6)  überf)Qupt  in  allen  it)rcn 
Seilen  bie  3lufgabe  ber  ©taubcnsilelire  ocrftanbcn  unb  au§iufä]^rcn 
oerfuc^t.  ©elbftoerftänblid)  alfo  oud^  in  ber  S^riftotogie !  SBenn 
bie  aWet^obc  l^ier  oerfagt  t|ätte,  roäre  fie  bamit  überl^aupt  qI§ 
uitanroenbbar  erroiefen.  Slieb  ic^  aber  l)ier  auf  bem  2Beg,  ben 
ic^  in  aßen  anbern  Setirftüden  aud)  gegangen  bin,  bann  mu^te 
bie  S^riftologie  fo  auffallen,  im  ©ro^en  unb  (Sanjen  menigften^, 
lüie  ic^  fte  t)orgetragen  ^abe.  2).  i).  id)  bin  aufrichtig  ilberjeugt, 
ha^  bie  2)arftenung  im  einjetnen  lüefentU^  rcrbeffert  unb  nament- 
lich vereinfacht  mcrben  fönnte,  für  jiebc  ©elel^rung,  bie  mid)  ba^u 
in  ben  ©tanb  fe^te,  märe  ic^  üon  ^erjen  banfbar.  Slber  bie 
3)arftcllung§meife  mu§  icl|  al§  bie  in  ber  ©acl)e  liegenbe,  burct> 
bie  Slufgabe  felbft  gebotene  in  ©d)u^  nel)men. 

93or  allem  trete  ict)  ein  für  bie  erfte  SSetrai^tung  (§  45), 
ber  ic^  bie  Ueberfc^rift  gegeben  ^abe:  ber  ertiö^te  ^err!  S§  t|an« 
belt  ftc^  in  i^r  um  ben  SBerfud^,  bie  S^riftologie  im  ©inn  be§ 
eoangelif^en  @lauben§  ju  formulieren.  SBir  bürfen  bod)  nict)t 
babei  fielen  bleiben,  bie  fatl^olifctie  3"^^i"öturenlet)re  in  irgenb 
einer  Slbroanblung  ju  reprobujieren,  mit  aSerbefferungen  (Senofi§= 
le^re)  etma,  bie,  fo  üerftänblict)  unb  berecl)tigt  bie  ^mpulfe  finb, 
bie  baju  geführt  l^aben,  in  2Bal)r]^eit  feine  SSerbefferungen  finb, 
fonbem  in§  SDlgt^ologifc^e  übergel^en.  @benforoenig  ift  un§  mit 
einer  Se^re  gebient,  bereu  ^auptgebante  bie  SSerneinung  be§  35og:= 
mag  ift.  SBa§  mir  brausen,  ift  ein  ©egenftücf  jur  alten  Set)re, 
ba§  au§  bem  eoangelifc^en  ®lauben  geboren  ift.  Qxi  bem  @nbe 
ift  e§  unerlä^lid),  bie  alte  Se^re  nid^t  als;  2:f)eologumenon  blo^ 
ober  ^^ilofop^umenon  ju  mürbigen,  fonbem  aud)  l)ier  bie  ©og^^ 
mengef^i^te  al§  9ieligion§gef(^ic^te  ju  lefen.  ®ie  9tufgabe  uer* 
langt,  bie  Seljre  in  i^rem  urfprünglic^en  religiöfen  3ufam== 
menliang  ju  fixieren  unb  nun  ju  fragen,  mic  fraft  berfelben  barin 
maltenben  Sogit  bie  eoangelifdfie  Sel)re  bei  ber  für  fie  ma^geben« 
ben  uerdnberten  Orunbpofition  lauten  m\x%  Qnbem  ii)  fo  Der* 
fu^r,  bin  ic^  ju  ber  Se^re  ge!ommen,  bie  i^  oorgetragen  ^abe, 
unb  bie  i^  ^ier  nid^t  ju  mieber^olen  braud)e. 

3ln§befonbere  l^ebe  xi)  l)ert)or,   ba^  bei  biefer  33etra^tung§' 


186  S^  a  f  t  a  n :  3ur  ^oömatü. 

rocifc  bie  fat^olifc^cn  ©ahamcntc,  namentlich  haS  ©aframcnt  be§ 
2Utar§  mit  bcr  barin  fic^  unaufhörlich  roicbcr^olenbcn  aWcnfc^^ 
TOcrbung,  in  bcn  ^^f^n^nicnl^ang  ber  alten  Set)re  ^ineingel^ören. 
^ieroon  miffen  mir  ©oanflelifc^en  nid^t§.  2lber  bann  mu|  auc^ 
unfere  ß^^riftologie  fo  lauten,  ba^  fte  bie§  alles  fiberflufftg  ma^t^ 
inbem  jie  ftatt  beS  falfcl)en  ben  magren  3wfammenl)ang  jroifc^en 
®^ri[tu§  unb  feinen  ©laubigen  ^erftellt.  ®a§  t^ut  jie  aber  nur, 
menn  fie  bie  Setire  üon  bem  er^ö^ten  ^errn  ift,  mit  bem  al§  bem 
^aupt  bie  an  i^n  ©laubigen  at§  bie  ©lieber  )ur  ©inl^eit  eineS 
SeibeS  oerbunben  ftnb.  Ober  foUten  mir  mirflic^  an  ber  fat^o* 
lifd^en  Sel)re,  aber  o^ne  i^re  prattifi^e  religiöfe  ©pi^e,  genug 
l^aben?  Sie  mu§  ferner  beutlic^  machen,  ba§  unb  wie  ^t^nS 
S^riftuS  ate  ©egenftanb  unfrei  @lauben§  ber  lebenbig  ®egen» 
märtige  ift  —  ma§  fie  mieber  nur  in  ber  eben  ermaf|nten  ^^ffung 
als  Se^re  oon  bem  erl^ö^ten  ^errn  t^ut.  Ober  foBte  eS  roirflid) 
genügen,  einfad^  ben  gef^icl)tli^en  ^efuS  @i^riftu§  als  ©egenftanb 
beS  ©laubenS  su  bejeic^nen?  ^ft  ni^t,  roaS  Objeft  beS  ©lauben^ 
ift,  niemals  etmaS  blog  ©efc^ic^tlid^eS,  fonbern  immer  oor  aOem 
etmaS  lebenbig  ©egenmärtigeS?  Unb  mie  mill  man  enblid^  bie  fiepte 
oon  bcr  ©rlöfung  an  bie  Se^re  uon  Q^fuS  6;^riftuS  antnüpfen, 
menn  nid)t  gejeigt  merben  tann,  ba^  biefe  in  jener  i^re  ^ortfe^ung 
finbet,  beibe  jufammen  ein  untrennbares  ©anjeS  bilben?  ©o  bc- 
bingt  auc^,  maS  oom  9Berf  beS  ©rtöferS  ju  fagen  ift,  gerabe  biefc 
unb  feine  anbere  Se^re  vom  ©rlöfer  felbft. 

Qnbem  i^  micf)  fragte,  maS  ju  ben  l^ier  befproctienen  33c^ 
beuten  gegen  meinen  ©ntmurf  ber  @)^riftologie  SSeranlaffung  ge- 
geben liaben  tonnte,  glaubte  id)  annehmen  ju  foUen,  eS  fei  oor 
allem  ber  eben  mieber  etmaS  nät)er  ausgeführte  ^unft.  ^^ebenfattö 
unterfc^eibet  mein  ©ntmurf  fic^  baburd^  oon  anberen  93erfud^en, 
bie  ®f)riftologie  neu  ju  geftalten.  ©erabe  barauf  lege  tc^  aber 
aus  ben  angeführten  ©rünben  entfd^eibenben  SBert.  ^6)  behaupte, 
ba§  nur  fo  eine  ®f)riftologie  erreict)t  mirb,  bie  ben  ^la^  einer 
fold)en  im  ßufammen^ang  ber  eoangelifclien  ©laubenS- 
le^re  auSfüHt,  mie  bie  ßw^^i^ötw^c^l^^^«  bie  S^riftologie  beS 
tatl^olifc^en  SpftemS  ift. 

9Äu§  eS  aber  bcmnacli  f)ierbei  bleiben,  bann   au^  bei  ber 


R  a  f  t  a  n :  3ur  2)O0mati!.  187 

Sonberung  in  bic  brci  93ctrad|tungen  über  bcn  crl)ö^tcn  ^errn, 
ben  gefc^i^tlid)en  ^eilanb  unb  ben  @n)igen,  bie  jebe  ftd)  auf  ba§ 
ganjc  2^cma  erftrcden,  aber  je  unter  einem  anbern  ®efid^t8pun!t. 
Unb  ba§  bürfte  ber  jroeitc  ^unft  beö  2lnfto§e8  fein.  <3o  wenn 
bie  Se^re  fad^lid)  in  Slbfc^nitte  jerfätlt  oon  benen  jeber  einen 
Jeil  be§  ©anjen  be^anbelt  unb  alle  mit  cinanber  ein  ©anjeg  biU 
ben,  fc^eint  e§  eine  angemeffene  Orbnung  ju  fein,  etroaS  S^atür^ 
K<^e8  unb  nid)t§  ®etünfte(te§.  So  mie  e§  bei  meiner  Sarftel« 
Iung§njeife  fid^  ergiebt,  miß  e§  ftd)  bagegen  in  bie  5Borau§fe§ungen 
nic^t  fc^iden,  bie  man  mitbringt,  ^übfi^  ber  Steige  nac^,  mit 
bcm  beginnenb  maS  jeitlid^  baS  erfte  ift,  üon  ber  SlJlenfc^merbung, 
©om  ©ottmenfc^en  unb  nun  uon  feiner  @r^öf|ung  ^anbeln  — 
ba§  ift  natürlich  unb  in  ber  @a(^e  begrünbet.  3)agegen  ^at  e§ 
leine  2lrt  unb  ift  —  nun  eben  gefünftelt,  menn  nad^einanber  brei- 
mal  baSfelbe  unter  üerfc^iebenem  ®efid|t8punft  abgel)anbeft  mirb. 
Slttein,  bie§  Urteil  ift  miebcr  uon  ben  f alfd(en  SBorau^fe^ungen 
eingegeben,  bie  man  an  bie  Sac^e  heranbringt,  ^m  ^ufammen- 
^ang  beS  euangelif^en  @lauben$  mu^  bie  ^auptle^re,  bie  eigent« 
lic^e  ©l^riftologie  al§  fiel)re  uon  ber  ©ott^eit  ®l)rifti,  fo  ausfallen, 
mit  eben  mieber  angegeben  mürbe,  ^ie  erftredtt  fid^  aber  bann 
auf  baS  ®anje.  S)er  ^inmeiS  auf  ba§  eoangelifc^e  SebenSbilb 
3efu  al§  Qn^alt  unfereS  ®lauben§  an  feine  ®ott^eit  tann  eben= 
foroenig  barin  festen,  mie  ber  auf  ba§  emige  ©ein  ^efu  in  ®ott. 
6rfterc§  gehört  mefentlic^  jur  Sa^e,  unb  le^tere§  !ann  fc^on 
megen  ber  2lbgrenjung  ber  eoangelifd^en  (Jfiriftologie  gegen  ba§ 
®ogma  nic^t  unerörtert  bleiben.  3)ennoc^  ift  bie  näliere  2lu§füt)* 
rung  in  ber  ^auptle^re  felbft  unmöglid),  mürbe  bereu  SRal^men 
gänjlic^  fprengen.  2lud(  ift  biefe  nähere  9Iu§fü^rung  ni^t  in 
berfelben  SBeife  de  fide  mie  bie  ©rfenntniS  ber  ®ottf)eit  3»«fu 
®^rifti  felbft.  @§  ift  de  fide,  ba§  man  biefe  Probleme  fie^t  unb 
biefe  fragen  ftellt,  berührt  aber  ben  ®lauben  ni^t,  menn  firf)  in 
ber  ^uftöfung  ober  93eantmortung  Unterfd|iebe  ergeben,  ©o  fel|e 
\i)  nid)t  anber§,  als  ba^  bie  ©onberung  in  ber  oon  mir  einge« 
^altenen  g^tm  ftd^  uon  felbft  ergiebt,  fobalb  feftftet|t,  ba§  e§  fid^ 
in  ber  eoangetifc^en  ®lauben§le]^re  barum  l^anbeln  mu|,  bie  bem 
eoangelifc^en  ®lauben  entfprec^enbe  @rfenntni§  ber  ®ott^eit  ^efu 


188  ^  a  f  t  a  n :  3ut  ^ogmatif. 

®f)riftt  borjulcgen,  unb  ba§  bicfe  ®rfennttii8  fo  ober  ä^n(ic^  lau* 
ten  tnu§,  roie  id)  fte  üorgetragcn  \)aht.  äBobei  ii^  nic^t  ocr^c^tcn 
n)itt,  ba^  id)  mit  biefcr  ©intciluug  in  brei  93ctra(^tungeu  gerabc 
bcr  Haren  ©Heberung  unb  3)ur^fic^tigfeit  ber  Sef)re  gebient  ju 
tiaben  meinte  —  unb  im  ®runbe  nod)  je^t  fo  ben!e.  — 

©inen  britten  unb  legten  "^^unlt  mödf)te  i^  enblic^  noc^   in 
aller  ^ürje  jur  ©prad|e  bringen. 

9Ba§  mid^  oeranla^t  I)at,  bie  ©^riftologie  ate  Seigre  oon  ber 
©ott^eit  be§  ^errn  fo  ju  geftaften,  mie  e§  ber  %all  ift,  ^abe  ic^ 
eben  micber  befproc^en.  ®§  mar  mir  um  ben  9Ser|uc^  ju  t^un, 
eine  eoangelifc^e  i^e^re  al§  ©egenftürf  jur  tat^olifdien  auf jufteHcii. 
3)iefe  Sel)re  mu§  aber  ben  er{)ö^ten  ^errn  }um  ©egenftanb  l|aben. 
3)enn  nur  fo  mirb  e§  oerftänblid)  —  o^ne  bie  oon  i^m  au^ge* 
gangene  ^ierurgie  ober  feine  fid)tbare  3)arfteBung  in  ber  „ta- 
tl^olifdien"  ^ir^c  einbeziehen  ju  muffen  —  ba§  er  ni^t  ein  ®c» 
mefener  blo§  ift,  fonbern  ber,  in  bem  unb  bur^  ben  mir,  bie  an 
it)n  ©laubigen,  mit  ©ott  uerbunben  finb.  9tur  fo  gilt,  ba§  fein 
^iatu§  beftet|t  smifc^en  bcr  Uebung  c^riftli(^er  5^ömmig!eit,  bie 
mir  in  ber  eoangelifd)en  Äir^e  pflegen,  unb  ber  in  bcr  2)ogma* 
tit  oerjeidjneten  S^riftologie.  So  foH  e§  aber  boc^  fein:  unfer 
aSerftänbnig  oon  ®^riftu§  foO  un§  in  ber  Uebung  ber  fjrömmtg* 
feit  leiten,  unb  biefe  ift,  roie  mir  fie  pflegen,  ber  2lu§brurf  ber 
©^riftologie,  ju  ber  mir  un§  mirtlid^  betennen.  S)iefe  35eroonbt* 
niig  \)at  e§  mit  ber  ©l^riftologie,  mie  id^  fie  oorgetragen  I)abe,  unb 
l)ierauf  grüube  id)  bie  innere  93ered|tigung,  bie  id)  für  fie  in  2In* 
fprud)  ne^me. 

©ie  grünbet  fic^  alfo  nid)t  birett  auf  gefc^i^tlid^e  (£r« 
mägungen  über  ba§  ^JJeue  2^cftament  unb  bie  bogmengefc^id^tlic^e 
(äntmirftung.  ©elbftoerftänbli(^  ^at,  ma§  mir  ^ier  Iiaben,  inbi* 
ref  t  babei  mitgemirft  —  in  jeber  SBeife  fogar.  Säber  ber  fpringenbc 
^untt  ift  ba§  eben  mieber  ©enannte,  bie  SHi^tung  auf  eine  ©lirifto* 
logie  be§  eoangelifd)en  ©tauben^,  ^n  jmeiter  Sinie  jeboc^  lege 
id)  ben  größten  SBert  barauf,  ba§  biefe  (S^riftologie  fid)  auc^  auf 
ba§  9teue  2:eftament  begrünben  unb  al§  bas  Siefultat  ber  ®nt* 
mirflung  in  ber  Äirc^c  oerftänblic^  machen  lä^t.  Unb  barüber 
m6d)te  id)  nod)  ein  äBort  ^injufügen. 


Saft  an:  3ur  ^oßmatif.  189 

S)aS  d^riftologifd^e  3)ogma  {nüpft  an  baiS  Dierte  SoangeUum 
an,  3)iefc§  bilbct  in  gcroiffer  SlBcifc  bcn  SlnfangSpunft  ber  ®nt:= 
»idlung,  bie  mit  bcm  fertigen  SDogma  abfd^lie^t.  ^n  if)m  ift 
ber  entf^eibenbe  ©d)ritt  fd^on  gefd)e^en,  roa§  3efu§  (St|riftu§ 
bem  c^rifHid^cn  ®lauben  bebeutet,  in  ben  formen  be§  gried)ifd^en 
@eifteS  anjueignen  unb  mit  ben  93egriffen  biefer  ^^^ilofop^ie  au§« 
jubrüden.  3)ie  nun  für  baS  ®ogma  eintreten,  fe^en  eS  fo  an, 
ba^  ba§  Dterte  (SDangelium  mieber  ben  3lbfd)(u^  be§  ^Jleuen  S^efta^^ 
menteS,  ber  in  il^m  »orliegenben  erften  ©ntroicftung  ber  (^riftli^en 
©ebanfen,  bilbet.  3)arauft|in  sroeifeln  fie  nic^t,  bie  3tt)einaturen« 
lel^re  fei  f^riftgemä^,  9ieue§  Xeftament  unb  ®ogma  gel)örten  ju= 
fammen. 

hiergegen  ift  aber  fc^on  eiujumenben,  ba^  eine  Setire  nur 
bann  fc^riftgemS^  ift,  menn  bie  i^r  ju  Orunbe  tiegenben  reli* 
giöfcn  SWotioe  ber  ©c^rift  entfpred)en.  3Kan  braucht  bie 
grage  aber  nur  fo  }u  fteüen,  um  inne  ju  merben,  ba§  bie  3tt)ei= 
naturen(ef|re  im  3i^f^i^iii^ii^<ittg  einer  Umbilbung  ber  djriftUc^en 
9i  e  l  i  g  i  0  n  entftanben  ift  unb  barum  nic^t  auf  ba§  9leue  Sefta* 
ment  begrflnbet  merben  tann.  älber  aud^  menn  id^  baüon  abfetje 
unb  bie  fiet)re  al$  fo(d^e  xnS  äluge  faffe,  finbe  id^,  ba^  bie  eben 
angefül^rte  ^Beurteilung  beS  ©ad^oert|alt§  nid^t  jutrifft. 

®a^  oierte  (£t)ange(ium  ift  fomol^t  ein  Slbfc^Iujs  als  ein  ä(n^ 
fang.  @§  fragt  fic^  nur,  ob  beibe§  in  einem  unb  bemfelben  liegt, 
unb  bie  @ntn)idt(ung  auS  bem  9}euen  Seftament  }um  S)ogma  eine 
gerabe  Sinie  bilbet,  ober  ob  e§  uerfd^iebene  9Komente  ftnb,  mo- 
burc^  ba§  oierte  Soangelium  jeneS  unb  biefe§  ift,  fo,  ba^  bie  ge- 
nannte fiinie  al§  eine  gebro^ene  bejeid^net  werben  mu^,  ba^  fie 
eine  fc^arfe  SBenbung  einfdjlie^t,  bereu  Slngelpuntt  im  oierten 
©pangelium  liegt.  3Jleine§  33ebünfen§  !ann  nic^t  smeifeltiaft  fein, 
ba^  le^tere^  ber  ^all  ift. 

3)a§  ®oangelium  3fo^anni§  ift  einerfeitS  eine  3"fonimen* 
foffung  ber  gefd^ic^tlii^en  (Erinnerung  an  Q^fw^  ®t)riftu§  unb  be§ 
apoftolifc^en  ©laubenS.  oon  il^m  als  bem  x6pco$,  ber  burd)  Soten« 
auferfte^ung  jum  ©o^ne  ®otte§  in  ^raft  eingefe^t  ift  (5Röm.  1,4). 
äuS  biefem  ©lauben  tierauS  wirb  feine  ©efd^ic^te  nod^  einmal 
erjai^lt,  bamit,  bie  e§  lefen,  an  il|n  al§  ben  ©o^n  ©otteS  glauben 

3ettf<*rift  für  Z^teloQxt  unb  Äirc^e.    14.  Sa^vg.,  2.  $<ft.  13 


190  Äaftan:  3ur  5)ogmatif. 

lernen.  @o  angefel^cn,  alfo  oon  bem  au§  gefe^en,  n)o8  fl^m  oor* 
angebt,  ift  bie§  ©oangelium  ein  3lbfc!^lu§,  aber  tin  roirflic^cr  ju= 
fammenfaff enber  Slbfci^IuB :  eine  go^tfeijung  in  gleid^er  Sinie  giebt 
eS  barüber  t)inau8  nic^t.  2lnbererfeit§  ift  e§  ein  Slnfang.  ®§ 
roenbet  ftd^  an  einen  Seferfreiö,  bem  gried^ifd^e  93ilbung  geläufig 
ift  unb  fnüpft,  um  bei  it|m  Eingang  ju  finben,  im  ^JJroIog  an 
ben  Sogo8gebanten  an.  ©eine  ß^riftologie  ift  überroiegcnb 
oon  bem  OffenbarungSgebantcn  beftimmt,  entl^ält  aber  baneben 
3üge,  in  benen  baS  öilb  ^efu  gefteigert  erfc^eint,  über  bie  f^tic^te 
menf^lic^e  ®rfci^einung  l^inau§:  ic^  menigftenö  mö^te  ntc^t  in 
Slbrebe  ftetten,  bajs  9lnt)alt§punfte  bafür  gegeben  fmb,  ben  S^riftuS 
be§  oierten  @üangelium§  al§  Sogo§*®^riftuS  ju  ^arafterifieren, 
fo  übertrieben  unb  irrefü^renb  e^  mir  erfc^eint,  menn  man  hierin 
ba§  aBefentU(^e  ober  gar  baS  @anje  ber  joI)annei[d)en  S^rifto* 
logie  erblirfen  gu  bürfen  meint. 

3ft  bie§  richtig,  bann  ergiebt  [16),  ba§  bie  3üg^  ^^  Dierten 
©oangeliumS,  bie  bem  ®ogma  jugemanbt  finb,  burd^  bie  eS  ein 
3(nfang  ift,  uom  bleuen  Seftament  au§  gefe^en  in  ber  ^erip^eric 
liegen.  Sleuteftamentlic^  ift  eine  S^riftologie  nic^t,  bie  bie§  SHo* 
mcnt  mit  ber  QxotmatVLXtnU^xt  als  ba8  933efentti(^e  im  Sleuen 
2:eftament  erad)tet.  3lur  oon  ber  fann  e§  gelten,  bie  baS  ge* 
famte  9leue  Seftament  oermertet,  aud^  ba8  oierte  ©oangelium,  ge» 
xd'\%  aber  biefeS,  mie  e§  atö  9lbf(^lu§  ber  im  9ieuen  Xeftament 
bejeugten  ©ntmidftung  ein  integrierenbeS  le^teS  ©lieb  in  biefer 
bilbet,  morin  bod^  oor  aQem  anä)  feine  Sebeutung  liegt.  @ine 
folc^e  ©^riftologie  nun  mirb  baburd^  c^arafterifiert  fein,  ba§  fie 
ben  apoftolifd^en,  Dor  aQem  ben  paulinifd^en  @lauben  an  ben  er« 
tjöl^ten  ^errn  }um  ^uibrudC  bringt,  fo  jeboc^,  ba^  bie  SSergegen^ 
mörtigung  be§  gef^id|tli^en  ^ilbeS  Qt^n  als  grunblegenb  bafür 
ermiefen  wirb.  3)ementfpred^enb  tiabe  id^  bie  ©^riftologie  for^ 
muliert  unb  netime  bal^er  für  fte  in  älnfprud^,  mie  ein  SluSbru^ 
beS  eoangelifd^en  ©laubenS  gu  fein,  fo  bie  @umme  beffen  gu  ent« 
galten,  maS  un§  ba§  9Uue  2:eftament  oon  ^efuS  G^^riftuS  fagt 

Um  fo  weniger  mirb  freiließ,  f^eint  eS,  oon  i^r  gelten  fön* 
nen,  ba§  fie  ber  ©ntmictiung  be§  S^riftent^umS  unb  feiner  fiepten 
in  ber  Kirche  entfpric^t.    2)enno^  l^abe  ic^  aud^  baS  oon  i^r  6e« 


Äaftan:  3ur  ®ogmaä!.  191 

Rauptet  unb  möchte  eä  an  biefem  Ort  nod^mal^  auSbrücftid^  6e« 
tonen.  2luffaHen  fann  c§  nur,  weil  xöxx  unS  fo  baran  gcroöl^nt 
fyibm,  bie  ^riftlic^e  £el)re  im  @inn  be§  fatl^olifc^en  ®ognta§  als 
eine  ^{J^ilofopl^ie  über  bie  @(auben§objette  anjufei^en,  ba^  eine 
anbere  ^etrad^tunct^meife  junäc^ft  taube  Citren  finbet  unb  nid^t 
einmal  perjipiert  roirb.  ^n  meiner  Sogmatif  ift  mit  biefer  2ln* 
jic^t  rabttal  ju  bredfjen  unb  ftatt  beffen  bie  Seigre  al§  Slu^brud 
be§  @Iauben§,  ber  SReligion  ju  roürbigen  oerfud^t  morben,  wenn 
e§  au^  no(^  nic^t  gang  gelungen  fein  mag.  ©o  forbert  e§  eben 
bie  Slufgabe,  fobalb  fie  bem  eoangelifc^en  öegriff  üom  Olauben 
entfpred^enb  gefaxt  mirb.  Unter  biefer  SBorauSfe^ung  aber  gilt, 
bojs  bie  et)angelifc^e  (S^riftologie  gugleic^  baS  organifd^e  ^robuft 
ber  porangegangenen  fird|lid)en  ®ntmirflung  ift. 

©0  genommen  barf  nämlic^  bie  ©ntmicHung  be§  ®ogma§ 
ni^t  für  fic^  gefel^n  unb  ate  ein  SluSfd^nitt  au§  ber  ©efc^ic^te 
ber  ?ß^ilofopl^ie  gemürbigt  merben.  ©ie  gliebert  fic^  in  haS  (Sanje 
ber  ®ntn)i(flung  be§  (£  l)  r  i  ft  e  n  t  u  m  §  ein.  5Die  5^'age  ift  nid)t: 
wie  mu§  id^  lel)ren,  wenn  meine  S^riftologie  al§  ha§  Stefultat 
ber  S  e  ^  r  entmidftung  in  ber  Äird^e  erfd^einen  folt?  2luf  biefe 
Srage  wäre  übrigeng  aud^  nur  ju  antworten:  i>a§  ®ogma  ift 
fertig  unb  abgefc^loffen  fo  mie  e§  oorliegt,  j|ebe  angeblid)e  SSer* 
befferung  ^ebt  eS  in  feinem  @runbgeban!en  auf.  3)ie  ^rage  lautet 
aber  oiclme^r:  roie  entfprid^t  bie  eoangelifc^e  ©l^riftologie  ber  SBor- 
bereitung  auf  ber  früheren  ©tufe  be§  abenblänbifd^en  ®^riftentum§? 
Unter  biefem  ©eft^tSpunft  ergiebt  fic^  bann  mieber  eine  S^rifto^ 
togie  fo  ober  ä^ntic^,  mie  id^  fte  fomtuliert  ^abe. 

3)a8  alte  S)ogma  ift  eigentlich  ju  ^aufe  auf  ber  ©tufe  be§ 
griec^ifi^en  ß^riftentum^,  auf  meldier  ba§  S^riftentum  als  3)ogma, 
ate  ^icrurgie  unb  Äultuä  fid^  geftaltet .  I^at.  Qn  ber  römifd^en 
Äircfte  ift  eS  in  ben  ^intergrunb  gebrängt,  ^ier  lautet  ba§  So= 
fungSroort,  ba§  l^eute  nodf  in  it|r  lebenbig  ift  unb  bie  S^römmig^ 
teit  in  ii^r  bel^errfd^t:  ba§  ®^riftentum  ift  Äirdtie,  bie  Äirc^e  ift 
C^riftui^.  3)aS  ift  bie  l^ier  mirtlid^  lebenbige  S^^riftologie :  bie 
ftird^e  afe  bie  bleibenbe  S^nfarnation  ©otteS  in  ber  SBelt !  S)aran 
fc^lie^t  fic^  bie  eoangelifdie  ©liriftotogie  an  aU  bie  Sel)re  oon  bem 
er^S^ten  ^erm  in  ber  ©inl^eit  mit  allen  an  il^n  ©laubigen!  ©S 


192  ^aftan:  3ut  ^ogtnotif. 

ift  bic  fpejififcl^  abcnblfinbifc^c  S^riftologic,  nur  roicbcr  innerlich 
unb  geiftig  gefaxt,  tok  eiS  bei  $aulu§  ber  ^aQ  ift  beffen  ©e- 
banfen  burdi  9[uguftin§  SSermittlung  ben  Stuggang^punft  ber 
abenblanbifc^en  Se^re  btiben. 

©0  roeit  id^  roei^,  ftnb  bicfc  oon  mir  in  ber  S)ogmatit  oor« 
getragenen  @ebanfen  nid^t  beamtet  n)orben.  Q6)  ^abe  ba^er  fär 
rid)tig  gehalten,  auc^  an  biefem  Ort  barauf  ju  nerrocifen  unb  fie 
no^maB  nad|brfi(flid^  jU  betonen. 


193 


^üB  mit  mn  htn  Iroli^lomri^jen  |lu$$ralmn$en  Ittntn. 

lic.  theol.  ^.  aSoIj,  ©tabtpfarrcr. 


2)ie  iBab^IonoIogie  (|Qt  eine  mäd^tige  gtut  erlebt  unb  ift  nun 
im  ^Begriff  jt^  roiebcr  ju  berul^tgen.  ®8  war,  wie  wenn  bie  Un* 
iafjil  bet  ausgegrabenen  $unbe^  ha^  ^otoffale  ber  bab^Ionifd^en 
3)cnfmä(er,  bie  JRiefenl^aftigfeit  ber  Stuinenpgel  ba§  ma^ooHe 
3)cnfen  ber  gorf^er  oerroirrt  I)ätten,  roie  wenn  ber  babglonifd)* 
affprifd^e  ®eift  felbft,  ber  ®eift  ber  Cluantität,  be§  SWaffen^aften, 
fici^  n)ieber  erl^oben  ^atte,  um  aUeS,  au^  ben  @inn  für  bie  in« 
ncren  SBerte  unb  für  bie  unfic^tbaren  ©rö^en  gu  oerfd^Iingen. 
3)ie  Srreger  ber  g'^t  fxnb  oor  allem  SBincfler  unb  ®eli^fc^  ge« 
mefen;  ba§  fte  eine  gl^t  erregen  fonnten,  beroeift  für  if)re  roif^ 
fenfc^aftli^e  Sebeutung.  S)ie  beiben  ^aben  inbeS  in  ganj  per« 
fd^iebener  SDSeife  getrie6en  unb  übertrieben.  SBindler  ^at  un§ 
baS  3luge  geöffnet  für  bie  gro^e  Äulturmad)t  SabglonienS  unb 
für  bie  JultureHpolitifd^e  33erfc^lungent|eit  be§  roinjigen  -3frael8 
mit  ber  bamaligen  SBeltbel^errf dierin ;  er  ^at  barin  übertrieben, 
t>a%  er  neben  bem  bab^lonifc^en  Ungetieuer  nirgenbS  me^r  felb* 
ftänbigeS  Seben  feigen  mollte  unb  in§befonbere  bie  religiöfen  ^e» 
megungen  in  ^frael  mit  bem  reinmenfd^lic^en,  ja  mit  bem  politi« 
f(^en  Wla^t  gemeffen  ^at.  2)eli^f(^  i^at  bie  meite  äBelt  auf  bie 
9(b(|ängigfeit  biblifd)er  Stoffe  oon  SBabglonien  aufmerffam  ge- 
mad^t  unb  ^at  ei^  laut  auSgefproc^en ,  bag  in  ber  Sibel  rein 
menfc^tid^e  SBeftanbteilc  liegen;  er  l^at  barin  übertrieben,  bajs  er 

dcttf(^ft  für  2;^co(oflic  unb  jtirc^e.    14.  ^affVQ.,  $eft.  8.  14 


194   SBoI^:  ®aS  ipir  Don  ben  bab^Ionifc^en  $(it§grabungen  lernen. 

bcn  ©eift  be8  2llten  2:e[tament§  für  babglonifdi  erftärtc. 

©ooiel  nun  ani)  pon  ben  Uebertreibungcn  geftric^cn  werben 
mu§,  e§  bleibt  nod)  genug  übrig,  n)a§  n)ir  üon  ben  babgtonifd^en 
2lu§grabungen  ju  lernen  l^aben.  9lid|t  Mo§  ber  3lltteftamentlcr, 
ber  SReligionSgefd^ic^tter  unb  ber  greunb  ber  93ibel,  fonbem  eben* 
fo  ber  ©rforfc^er  ber  Kultur,  ber  ®ef(^id^te  unb  be§  SRed^t^,  ja 
ber  tieutige  SUlenfc^  überl)aupt  t|at  bic  babijlonif^en  gunbe  mit 
^reube  begrübt  unb  mit  ®ifer  betrai^tet.  S)q§  golgenbe  oerfudit 
bie  ^auptfa^en  baoon,  o^ne  3lnfpru^  auf  ©elbftänbigfeit ,  ju* 
fammenjufteüen. 

SDie  2lu§grabungen  finb  ein  Äinb  ber  neueren  3^^^ 
benn  fie  fe^en  bie  heutigen  meltumfpanuenben  33er!e^r§mittet  unb 
ba§  ö^tereff e  für  bie  @ef c^ic^te  f rcmber  ffiölf er  oorauS ;  fic  fe^en 
au^erbem  oorauS,  ba§  bie  Staaten  6uropa§  ben  emigen  Krieg 
unter  fn^  begruben  unb  fi^  ber  großen  Kulturaufgabe  jumanbten, 
aud^  in  ben  anbern  ©rbteiten  bie  europäifd)e  go^ne  aufjuftedCen. 
S)ie  babglonifc^en  2lu§grabungen ,  begrünbet  hux6)  ba§  roiffen* 
fd^aftlic^e  Qfntereffc  jmeier  in  SWefopotamien  ftationicrten  ®c« 
fanbten,  beginnen  mit  ben  2lnfängen  be§  19.  Qf^i^r^unbert^,  unb 
bie  erften  ^Rationen,  bie  fid|  an  ber  ©rabarbeit  beteiligten,  waren 
bie  ©nglänber  unb  bie  gi^anjofen.  3)ie  ^auptfunbc  fmb 
im  Sauf  ber  3^it  folgenbe  gemefen:  um  1850  fiel  eö  ben  Sng* 
länbern  ju,  bie  gro^e  ©tabt  9linioe  au§  ben  2:rümmer^ügeln 
gegenüber  üon  äRoful  (Kujunbf^if)  Iieröorju^olen ;  eine  l)errlic^e 
Sammlung  Don  bort  füllt  einen  ganjen  "Sln^ti  unb  mele  SGBänbe 
im  britifdjen  3Jlufeum;  babei  rourbe  bie  93ibliot^ef  be§  fünft-  unb 
literaturliebenben  aifft)rcrfönig§  äffurbanipal  (©arbanapal)  ent< 
bedt,  unter  anberem  bie  feilinfd|riftlici^en  Seric^te  ber  ©c^öpfuug 
unb  ber  Sintflut,  bic  biefer  93ibliot^ef  einoerleibt  maren.  3)te 
Jranjofen  fobann  l^aben  uon  bem  fübbabglonifc^en  ^ügel  Ztlio 
U\Ü\i)t  Kunftbenfmäler  be§  3.  :3a^rtaufenb§  unb  au§  bem  perfi* 
fc^en  ©Ufa  überraf^enbc  babglonifc^e  gunbe,  vox  allem  in  jüngfter 
3eit  ben  Kobej:  ^ammurabi  in  ben  Sonore  gefütirt.  ®ann  fmb 
aud)  bie  älmeritaner  auf  bcn  ^lan  getreten,  bie  Unioerfität  oon 
"^^cnnfriloanien  I)at  mit  amerifanifd^  reii^cn  9Witteln  bei  ber  ur* 
alten  ©tabt  Stippur  eine  mächtige  2:empelanlage  unb  eine  reiche 


^ola:  f&Q^  mix  von  bcn  babglonifd^en  2(u§grabungcn  lernen.    195 

JempeMiteratur  ju  Sag  geförbert.     @anj  fpät,  na^bem  bie  Sei^ 

fung  faft  gefc^c^en,  tarn  aud^  bcr  SJeutfd^e;  ju  bcm  großen  Äut= 

turauffc^iüung,  ber  bcm  Krieg  oon  1870  folgte,  gel)örte  bie  @rün« 

bung  einer  beutfd)en  Orientgcf ettf c^af t ,  bie  ^auptfäd^Hc^  auf  bem 

Stabtgebiet  ber  ©tabt  öabel  felbft  arbeitet  unb  für  bie  SDeli^fc^ 

mit  feinen  SBorträgen  werben  vooUtt.    ^m  öertiner  SWufeum  be= 

finbct  fic^  au^erbem   ber   gröjste  2:eil  be§  wichtigen  gunbeS  oon 

bem  äggptifd^en  Sei  el  STmarna  (1888),  ©eftanbteile  eine§  ptiarao* 

nifc^en  2lr^ii)§,   baS   einige   jroifd^en  jroei  ^tiaraonen  unb  jroei 

babglonif^en  9Wonar^en   (um  1400)   gemedifelte  Schreiben   unb 

eine  3Kenge  ©riefe  Don   affgrifdien,   mefopotamifd)en,   cgprif^cn 

Äonigcn  unb  üon  p^önijifctien  unb  fanaanäif(^en  SSafaüenfürften 

an  beu  ^l^arao  entljält;  merfroürbigermcife  ift  biefer  93riefoerfe]^r 

mit  bcm  ?ßt)arao  fo  gut  mic  ganj  in  babglonif^er  ©prad^e  geführt. 

938 a S   i ft  nun  a\i^§   im  cinjelnen  au§  bcn  babg* 

lonifc^cn  ©räbern  an§  Sid^t  gefommen?    93crf^üt= 

tetc  ©täbte  unb  ©cbäube,  3;empcl,  ^aläfte  unb  93efeftigung§n)erte, 

©tatucn  unb  obeliSf artige  ©iege^fäulcn,  munberbare  9ftelief§  meift 

in  SHabafter,  93afalt,  2:on  ober  gtaftertem  3*^9^^  ^^  bcn  Qnncn* 

ober  äufecnmänbcn  ber  ©cbäube  unb  an  bcn  Dbeti§fcn ;   allerlei 

arc^fiologifc^eS  SWaterial  unb  Dor  allem  eine  Unmenge  oon  %o\u 

tafeln,  *$ri§mcn  unb  s^plinbern.     Sie   SOBänbe   unb    gugböben 

ber  ©cbäube,  bie  ©tatucn,  ©äulen  unb  gcl^blörfe,  ba§  SMeer  ber 

Siegelftcinc  fmb   mit  ^^^fc^^ift^n  bebedtt.    ©ic   übermitteln   un§ 

gefc^ic^tlidic  53eric^te  unb  c^ronotogifc^e  Siften,  aftronomifc^c  93e- 

obad^tungcn,   Äalcnbcr  unb  aftrologif^c^  ©c^eimroiff cn ,  geleierte 

2lb^anblungen   unb   3Börterbüd)er ,    mt|t^ologif(^c   ober    religiöfe 

®rjä^lungen  unb  Sieber,  @e|et3c  unb  politif^e  9lften,  öffcntlid)c 

unb  prioate  SSerträge;  au^  prioate  Briefe  Iiaben  mir,  bie  in  ein 

3iegclftcinfouocrt  mit  bcm  Flamen  bc§  3Ibfenber§  unb  be§  2lbref= 

faten  geftcrft   fmb.    ®ic  3^^^^^^  ^^^   Kcilfd^rift   finb   mit 

einem  feinen  3»nftrument  mic  Äeile  In  bcn  2^on,  2llabaftcr,  gel^« 

ftein  tiincingefc^nitten,  breit  anfangenb,  fpi^  au^laufcnb,  fcnfrcd)t 

ober  magre^t  ober  fdj)räg  gcfät)rt,  fo,  ba§  bur<^  bie  Kombination 

bcrfclbcn   bie   oerfd^iebenen  SBörter   ober  Saute   entftcl^cn.    S)ie 

erfte  Äunbc  oon  biefen  merfmürbigcn  3^i^c"  f^m  fd[)on  im  16. 

14* 


196   SBolg:  SßaS  n)ir  oon  ben  bab^lonifd^en  Ausgrabungen  lernen. 

/  Qal|rl|unbert  nac^  ©uropa;  i^re  ©ntjiffcrung  ift  aber  erfi  im^a^r 
1802  burd^  ben  ©öttingcr  ©qmnaftatle^rcr  ©rotefenb  in  ben 
©runbjügen  geteiftet  roorben.  SBaS  bie  ©ammlungen  an  feilin* 
fc^riftlic^em  SRaterial  bergen,  ift  bei  meitem  Xix^ic^  nid^t  aOe§  ent* 
jiffert,  t)ielmef|r  erforbert  bie  (Sntjifferung  be§  bi§  je§t  Dor^an- 
benen  eine  treue  pl^iIo(ogifd)e  älrbeit  oon  Dielen  ;3^^v}e^nten,  ba§ 
alles  ungerechnet,  n)aS  faft  täglich  neu  jum  SSorf^ein  fontmt 

SBir  fuc^en  nun  au§  bem  teilinfd^riftlic^en  93efi^  L  bie 
Äultur  53abi)Ionien§  für  fic^,  IL  il^re  ©ebeutung 
fürbieSBeltfuItur,  IH.  i^r  eSebeu  tung  für  3fracl 
iennen  ju  lernen.  3)abei  oer^e^Ien  wir  un§  nic^t,  ba§  ber  2lu§« 
brudt  „Sabqlonien"  !ein  fc^arf  umgrenjter  ift;  in  ber^auptfa^e 
meinen  wir  bamit  ben  burc^  bie  ©umerier  (oor  3000)  unb  ben 
burc^  bie  ^ammurabiperiobe  (um  2250)  gefc^affenen  Rulturbeftanb. 

I.    ®ie  babglonifd^e  Äultur. 

3[n  weiter  grauer  gerne,  meit  l^inter  bem  gried^ifc^en  unb 
römifd^en  9l(tertum  fteigt  jje^t  t)or  unS  baS  3l(tertum  ber  babg« 
lonifc^en  Kultur  auf,  beren  SInfänge  ft^  junäc^ft  bis  über  baS 
Qatir  3000  o.  ®l^r.  ©erfolgen  laffen.  Unb  jmar  erl^ebt  fic^  ba 
bie  Kultur  eines  @taateS,  nic^t  etma  baS  primitioe  £eben 
eines  9laturoolfeS,  eine  Äuttur  oon  einer  ^ol^e,  bie  ju  i^rer  not« 
auSge^enben  (SutmidHung  felbft  mieber  einen  längeren  3^itraum 
DorauSfe^t  unb  bie  fpäter  in  manchen  fünften,  ä^nli^  mie  in 
äleggpten,  überhaupt  ni^t  me^r  erreid^t  morben  ift.  3)iefe  ftultur 
ift  älter  als  ber  babglonifd^femitif^e  ®eift,  fie  ftammt  Don  bem 
f ogen.  fumerifc^en  93olf,  oon  bem  in  ber  f^olgejeit  nod^  bie  ©prad^e 
im  Äult  unb  in  ber  SBiffenfd^aft,  wie  bie  lateinifd^e  im  SWittelaltcr, 
fortbeftanb.  SEBenn  fo  am  älnfang  ber  unS  betannten  ©ef^id^te 
gleid)  ein  imponierenber  geiftiger  Äörper  ftel&t,  fo  ift  baS  ein  neuer 
SBemeiS  bafür,  ba|  bie  @ntn)ictlung  ber  93flenf^^eit  nic^t  in  ruhiger 
allmählicher  SlufmärtSbemegung  ftd^  ooQiie^t,  fonbern  mit  ^ö^en 
unb  9}ieberungen,  ober  mie  eS  auSgebrüd(t  mürbe,  bag  eS  eine 
Bewegung  oon  äBellcnberg  ju  SBeQenberg  ift.  3BaS  bie  ^oc^^ 
ragenben  alten  Kulturen  umftürjte  unb  neue  ©ebilbe  an  i^re 
©teile  rüdtte,  waren  oielfad^  bie  ftegreii^en  Söorftö^e  junger  bar« 


^olj:  ^a§  tPtr  t)on  ben  bab^Ionifd^en  SluSgrabungen  lernen.  197 

borifd^cr  aSößer,  bic  bie  beftc^cnben  Staaten  über  ben  Raufen 
loarfcn  unb  im  weiteren  SBerlauf  bie  bi^l^erigc  Kultur  mit  i^rem 
eigenen  SJBefen  oerfdimoljen,  fo  etma  mie  bie  jungen  ©ermanen 
ber  SBöltcrmanberung  mit  it(rem  ®rbe  umgegangen  finb. 

S)ie  gro^e  Äunft  ber  atten  93abglonier  ift  bie  Slftronomie 
gcroefen;  fie  belogen  barin  ein  SBiffen,  ba§  fd^merlic^  oon  irgenb 
einem  33oIt  be§  2lltertum§  ober  be§  9D?itteIatter§  erreicht  rourbe, 
unb  jroav  fdjeinen  fd)on  bie  fumerifc^en  Urberoo^ner  ben  ®runb 
biefe§  aEBiffcng  gefc^affen  ju  l^aben.  3^  einem  fel)r  alten  SBuc^ 
(„SBeoba^tungen  be§  33el",  um  2000)  ift  niebergelegt,  ma§  biefe 
„SQSeifcn  be§  3WorgenIanbe§"  im  Sauf  langer  3öf)tf)unberte  oon 
bem  burd^fid^tigen  ^immel  be§  Oriente  abgelefen  t)aben.  ä^Jiäci^ft 
(fc^on  im  4.  <3a^rtaufenb)  biente  bie  ^immeI§beoba^tung  praf=^ 
tilgen  Qtotdtn unb  in§befonbere  aftrologifc^en  ^Jntereffen, 
unb  bie  olteften  oor^anbenen  ä^afeln  finb  uon  ^ofaftrologen  be- 
fc^rieben,  bie  bie  regelmäßige  Slufgabe  Ratten,  bem  Äönig  für  feine 
Staats*  unb  ^rioatattionen  ben  (Spruc^  ber  ©terne  ju  oermit* 
teln.  ®§  barf  nic^t  cerfc^miegen  werben,  baß  biefe  ^alb^^ 
roiffenfd)aft  ber  2lftroIogie,  an  bie  fic^  bie  oieloergmeigte  ^unft 
be§  SBo^rfagenS  unb  ber  3eic^enbeutung  l^icng,  einen  unnerlialt* 
ni§maßig  großen  2:eil  ber  babglonifdjen  ©etel^rfamteit  in  Slnfprud^ 
na^m.  Slber  bo^  fütirte  bie  9tftrologie  attmä^Iic^  ju  ber  ftrengen 
unb  reinen  SGBiffenfc^aft  ber  Stftronomie,  beren  au§gebilbete§  ©9* 
ftem  mir  gegenwärtig  big  etwa  jum  ^a\jx  700  oor  (S^r.  I)inauf 
oerfolgen  fönnen.  grütie  fd^on  ^abcn  bie  SBabgtonier  bie  ©terne 
ju  Sternbilbern  gruppiert,  ber  ^immet§frei§  rourbe  in  360  @rabc 
geteilt,  ber  XiertreiS  unb  beffen  3n)6tfteitung  reid^t  in  feiner  ®nU 
fte^ung  ma^rfi^einlic^  über  3000  0.  ®^r.  jurüdt,  bilblicfte  3)ar* 
ftettungcn  fämtlid^er  jmötf  SierfreiSbilber  finben  fi^  fc^on  im 
12.  ^di)x^.  0.  ®]^r.,  bie  fieben  Planeten  werben  aufgeführt  unb 
bie  ®jiftenj  einer  Slnjal^l  oon  Planeten*  unb  2Wonbftationen  ift 
l^on  in  fe^r  alter  Qtxt  betiauptet.  93efonber§  genau  würben  bie  93e* 
loegung  be§  ajlonbeS  unb  ber  ©onne  unb  bic  ginfterniffe  ftubiert; 
bie  alten  SBabglonier  beobachteten  bie  ^erioben,  nac^  benen  bie 
Sinfierniffe,  bie  fc^einbare  Stellung  ber  Planeten  unb  bie  ®r* 
f(^cinungen  im  SWonblauf  regelmäßig  wieberfel^ren,  ftc  notierten 


196  ^oty.  9Ba§  mir  oon  ben  bob^Ionifc^en  Ausgrabungen  lernen. 

bte  fiometen  unb  3Reteore,  fannten  bte  größte  unb  bie  fletnfte 
@ef(^n)inbigfett  ber  Sonne  unb  bt§  3flonb§,  bQ§  genaue  93er« 
^altniS  jn>t)c^en  9Ronb(auf  unb  ©onnenja^r,  bte  Sänge  ber  oer« 
fc^iebenen  Srten  ber  3Ronbmonate;  fte  fijrterten  ba§  ©onnenja^r 
auf  365^4  S^oge  unb  erfanben  mehrerlei  @c^altmet^oben,  um  ben 
ftatenber  in  Crbnung  gu  bringen.  ^a§  ^a^r  n)urbe  in  groölf 
9Ronate,  ber  2:ag  in  }n)ö(f  Soppelftunben,  biefe  roteber  in  fec^ig 
2;ei(e  geteilt  unb  ouS  ber  fiange  be§  (Sonnenfc^attenS  n)urbe  ba§ 
^ortfc^reiten  ber  ZageSjeit  unb  ^^^^^it  hinftooD  beregnet. 
2)iefe§  aftroIogi[(^:^aftronomifc^e  SBiffen  iDurbe  an  uerfc^iebenen 
9Ijlronomenfc^u(en  gelehrt,  aQmä^Ii^  )u  einer  feflen  Terminologie 
auSgebilbet  unb  in  ein  blenbenb  fc^5ne§  (Softem  gebrad^t. 

9Bir  ^aben  e$  ^ier  mit  einer  gang  munberfamen  ^aft  unb 
^(arbeit  be§  antifen  S)enfen§  ju  tun.  Unb  oieQeic^t  ru^te  biefe 
umfaffenbe  ^immelSbeobac^tung  auf  einer  tieferen  geiftigen  :G^bee. 
SBenn  mir  ben  Ausführungen  9ßinrfler§  folgen  bürfen,  fo  Ratten 
bie  alten  SSab^tonier  eine  auSgebilbete  9BeItanf^auung  unb  biefe 
SBeltanf^auung  mar  eine  religiös  a  ftronomifdie. 
3)amac^  äußerte  fxd)  in  ber  ®efe§mä§ig!eit  ber  ©eftirnc  ber  3Biüe 
ber  ©ott^eit,  ja  bie  göttlid^e  Offenbarung  beftanb  in  ber  ftberife^en 
Crbnung.  SEBer  in  bie  ©efe^e  ber  ©tcme  einbrang,  ber  brong 
in  bie  liefen  ber  @ott(|eit  ein^  unb  mer  biefe  am  ooQfommenflen 
fenncn  lernen  moHte,  ber  mupte  an  ben  ^untt  jurüdfgc^en,  roo 
bie  fiberifd^e  Orbnung  ein  für  attemal  fcftgefe^t  roorben  mor. 
9Ba§  im  Sauf  ber  ^a^rl^unberte  neu  ftd^  l^erauSfleQte,  mar  nic^t 
eine  neue  Offenbarung,  fonbern  nur  ein  neueS  (Einbringen  in  bie 
oon  2lnfang  an  begrünbete  Orbnung.  Unb  meil  nun  meiter  ber 
Sauf  ber  ©eftime  ba§  Seben  ber  8B8ett  unb  ber  3Renf(^en  be^ 
ftimmte,  fo  mu^te  ber  ©laube  an  bie  5Bor^erbeftimmung  entfte^en, 
monac^  aQe§  oon  Einfang  an,  oon  ber  ©runblegung  ber  SBelt  an, 
oorauSbeftimmt  mar,  fo  fic^er  unb  gemi|  mie  ber  ©ang  ber  ®e= 
ftirne  felbft.  SBir  miffen  au§  ber  ^inb^eitSgef^ic^te  ^^n,  mie 
jene  babglonifd^en  ©ternfetier  aug  ben  SSorgängen  am  ^immel 
auf  bebeutfamc  Vorgänge  in  ber  menfd^lid^en  ©efc^i^te  f^loffen. 
Qa,  man  na^m  an,  ba§  bie  ©efc^id^te  ber  ©rbe  unb  be§  3Ren* 
fc^en   nur   ein  Stbbilb  ber  am  ^immel  fid)   abfpielenben  2)inge 


SBolj:  SBa§  mix  Don  bcn  bab^Ionifdien  Slu^ö^abungcn  lernen.  199 

war;  bicfetben  ©inteilungggcfe^e  unb  SJer^ältni^bcftimmungen, 
bie  in  bcr  fiberifdjen  fRegion  galten,  fanb  man  au^  in  ber  un« 
tcren  SBclt,  im  großen  unb  im  Keinen:  bie  SEBeltperiobcn  be§ 
SBelttauf§  j.  33.  entfpre^en  ben  großen  (Beitritten  im  @ang  ber 
©cftirne  (3bee  bcr  t)erf(^iebenen  Qtxtalttx);  bie  SJletaHe  I)aben 
bie  ijarben  ber  Planeten  unb  ftetien  mit  il^nen  in  einer  gelieim« 
ni^oollen  Sßerbinbung;  ba§  Sßer^ältniS  oon  (Silber  unb  ®olb  ift 
gleid)  bem  SBerlialtniS  jroifdien  SWonbumlauf  unb  Sonnenumlauf; 
bie  SWaJBe  unb  ©eroi^te  l^aben  il)ren  legten  ©runb  in  aftrono« 
mifdjen  @r!enntniffen  unb  ba§  ju  bemunberungSmürbiger  ©intieit 
gef(^toffenc  Softem  ber  Qt'xU  unb  SRaummeffung  ift  »on  ber  fc^ein* 
baren  93eroegung  ber  (Sonne  abgeleitet ;  bcr  SKenf c^  f elbft  ift  nac^ 
bcmfelben  ®inteilung§gcfe^  gegliebcrt,  ba§  im  ganjen  SQBcltbau 
^errfc^t,  unb  bie  oon  feinem  Sörper  genommenen  9)laj5ein^citen 
(ginger,  gu§,  ®lle)  merben  ju  ben  großen  SWagen  be§  aBeltall§ 
in  aScjicl^ung  gefegt,  ©emi^  ift,  ba§  bie  93abr)lonier  einen  mcrf« 
loürbigen  Sinn  für  bie  .^armonie  bc§  SBcltganaen  t)attcn  unb  ba§  fie 
bie  äuj5cren  SBcr^dltniffe  be§  Seben§  unb  bc§  3)lenfd)en  nac^  ben 
gleiten  einfa^*gro§cn  ©cfc^cn  ju  orbnen  fud^tcn.  3)iefer  ©inn 
Toar  rool^l  ba§  befonberc  ©efc^enf,  ba§  jenem  älteften  Äulturoolf 
oon  bem  §crrn  ber  3Bcltgcfdl)ict|te  gegeben  mar. 

(£§  ift  im  aSor^erge^enben  fcf|on  gcfagt,  ba§  bie  SRcffung 
ber  Qtxt  unb  be§  SRaum§  auf  ber  Slftronomie  rutjte.  Slu^erbem 
ftanb  bie  9Jlat!^ematif'  unb  in  mand^er  ^infic^t  aud)  bie  SReligion 
im  3iifönimenl^ang  mit  jener  ÜÄuttcrmiffcnfc^aft.  3)ie  9JlatI|e« 
matif  ift  in  SSabglonien  fc^r  alt,  fie  mar  oon  ^au§  au§  ganj 
eine  3)ienerin  ber  ^immelsberedinung  unb  baute  fid^  auf  ben  93o* 
ben  ber  göttlid^en  ©eftirnorbnung ;  fo  mar  au^  bie  Qa\)l  etmaS 
^eilige§,  roeil  fie  im  ©efc^buc^  ber  ©terncnmelt  gegeben  mar. 
3)ie  ÜHcnge  ber  matf)ematifd)cn  SBerfe,  bie  in  ben  93ibliott|efen 
|t(^  anfammetten,  bemeift,  mit  meinem  ©ifer  biefe  338iffenfc^aft 
in  ben  ^riefterf^ulcn  betrieben  mürbe  unb  ju  meld^er  SBlüte  fie 
fi(^  in  93ab9lonien  entfaltete.  6§  finben  fiel)  aSerjei^niffc  oon 
Ouabrat'  unb  Äubitja^len,  3Wultiplitation§tafeln  nad)  Slrt  unfcrer 
Sogarit^mentafcln,  aud)  bie  3öt|l  für  ba§  5}er^ältni§  ber  $cri* 
p^eric  jum  Rrci§burd)meffer  (tc)  ift  auf  etma§  met)r  al§  3  be* 


200    ^ols:  %aS  toxx  von  ben  bob^lonifd^en  Ausgrabungen  lernen. 

rechnet,  ^ie  Sabi|(oniet  l^atten  gmei  3<i^I^nf9fi^in^/  ^<^^  ^^i^^ 
malf^flem  unb  ba§  eigentlid^  n^iffenfc^ftli^e  @ejragefimaU  ober 
2)uobeiimaIf9ftem  mit  ben  @runbia^(en  60  unb  12,  bie  au§  bev 
93eobac^tung  aftronomifc^er  @rö§enDerl^aItniffe  genommen  mürben. 
ä(u^  bie  ^Religion  enbli^  ge^t  auf  manchen  Sinien  gemeinfam 
mit  bet  3lfttonomie.  3)ie  ^auptgott^eiten  ftnb  bie  @terngötter, 
mit  bem  Sonnengott,  bcm  ÜÄonbgott  unb  bem  ®ott  ber  5rü^* 
Ung^fonne  an  ber  @pi^e;  bie  3;empeltürme  fmb  ftebenftufig  ge» 
ma^  ben  fieben  Planeten;  bie  3ni|tl^en  finb  teilmeife  ftberifc^en 
UrfprungS;  bie  XorfteOung,  bog  aflt§  in  ben  ©eftimen  oorauS» 
beftimmt  fei,  l^at  i^re  religidfen  ^onfequenjen  unb  bie  SSorfteQung, 
bag  ba§  3rbifd)e  ein  älbbilb  be§  ^immlifc^en  fei,  ebenfalls :  ber 
SBiUe  @otte§  gefc^ie^t  auf  ®rben  mie  im  ^immel,  ber  Äönig  ift 
ber  ©teHoertreter  ber  (Sott^eit,  ber  Stempel  entfpri^t  bem  ^im* 
mcl§^au§.  aSenn  cnblic^  SWarbuf  in  öab^Ion,  ^a^roe  in  3frael 
mie  ber  9lpi§  in  äleg^pten  in  @tiergeftalt  oere^rt  mürben,  fo 
brängt  fi^  bie  93ermutung  auf,  ob  biefe  glei^mägige  @rfc^einung 
nic^t  igenbmie  mit  bem  SBorrürfen  ber  grül^IingStag'  unb  9la^t* 
gleiche  in  ba§  S^\6)tn  be§  ©tier§  (oom  ^di)t  3000  ab),  alfo  mit 
einem  neuen  großen  (Stritt  im  ®ang  ber  ©eftirnmelt  unb  bamit 
beS  ganzen  ^oSmoS  sufammenjubringen  ift. 

@S  ift  nic^t  oon  ungefätir,  ba^  ba§  alte  babglonifd^e  ftultur« 
potf,  ba§  in  ber  2lfironomic  oorne  bran  ftel^t,  auc^  ein  auf^ 
fallenb  entmidelteS  3tec^tSmefen  gefd^affen  ^at; 
benn  mie  bie  älftronomie  fic^  mit  ber  Drbnung  beS  ^immelS  be» 
fd^äftigt,  fo  ba§  Siecht  mit  ber  Orbnung  ber  @rbe.  2)ur(i^  ben 
oor  jmei  ^al^ren  in  @ufa  gefunbenen  2)enfftein  $ammurabi§  i{i 
ber  babqlonifdie  9tec^t§ftaat  oor  unferem  ä(uge  mieber  erftanben. 
3)er  S^önig  ^ammurabi,  oon  bem  baS  benfmürbige  @efe^  ausge- 
geben mürbe,  regierte  um  2250  o.  6^r.;  er  mar  ber  33egrünber 
ber  ^a6)t  SSab^IonS  unb  ber  (Einiger  beS  babglonifc^en  9ieic^eS, 
ber  bie  @int|eit  feines  93olteS  burd^  baS  gemeinfame  @efe^  be» 
feftigen  moUte,  fid^erlic^  ein  SWann,  ben  bie  ©efc^ic^te  ben  großen 
Flamen  beS  3l(tertumS  jujugä^Ien  tiat.  3)ie  oon  i^m  ftammenbe 
©d)öpfung  ift  nun  baS  ältefte  ®efe^,  baS  mir  fennen,  ^erDor:^ 
ragenb  babur^,  ba^  eS  bie  einjelften  SSer^ältniffe  beS  93oltSlebenS 


^oI§:  f&a^  roh  t)on  ben  bab^Ionifc^en  SluSgrabungen  lernen.  201 

mit  binbenber  ®en?alt  umfpannt.  ®§  ^at  feine  ©eltung  beliauptet, 
\o  lange  ber  babr|Iontjd^aff9rifd)e  Staat  übertjaupt  beftanb,  unb 
roir  bürfcn  gcn)i§  annel^men,  ba^  fein  (Sinflu^  über  SSabglonten 
^itiou§  in  bic  übrige  üorberafiatifd^e  Kulturroelt  ^ineinreid^te. 
@etnem  ^n^alt  nai^  ift  e§  ein  faft  rein  bürgerlid^er  ^obey;  benn 
au&cr  wenigen  ©ä^en  ift  baö  ®ebiet  be§  ^ultu§  unb  beS  ©lau*: 
bcn§  nic^t  berül)rt,  unb  ber  ©efe^geber  ift  ber  Äönig,  ber  atter- 
bing§  ba§  ganje  ®efe^  als  ein  ©efd^enf  ber  l^o^en  ©ott^eit  betrad^tet 
ipiffen  mö^te.  ®er  ®eift  be§  föniglic^en  ®cfc^geber§  ift  ber  beS 
@taat^foiiaUSmuS  auf  abfolutifiifdier  ®runblage;  ber  mäd^tige 
^errfc^er  beftimmt,  ba^  fein  3BitIe  in  ädern  gcfd^el^e,  aber  er  er» 
Märt,  wie  ein  SBater  für  feine  Untertanen  fein  ju  rooUen  unb  mit 
bcm  ®efe^  inSbefonbere  ben  Sc^roa^cn  einen  ©d^u§  ju  »erleiden. 
3)ic  5önn  ber  Har  geprägten  93eftimmungen  ift  bie  be§  tripifc^en 
^aQe§;  bie  ®efe^e  erftredten  f\6)  auf  bie  mannigfaltigen  ®ebietc 
be§  priuaten  unb  be§  öffentlirf)en  Sebcn§.  ©ie  motten  nic^t  b(o§ 
ein  fefteS  ©taatämefcn  f^affen,  fie  fe^en  oielmel^r  bie  ßulturbe* 
bingungen  baju  üorauS,  fo  ba|  mir  aud^  ^ieburc^  auf  einen  meit 
vox  2250  liegenbcn  2lnfang  ber  babqtonifdien  Ä'uttur  jurüdtge^^ 
fü^rt  merben.  SWan^c  rot)en  Ueberrefte  unb  graufame  ©trafen 
bcroeifen  freiließ,  ba^  ber  Äönig  ^ammurabi  bie  Äuttur  jum  teil 
im  ftampf  mit  ber  ©arbarei  erft  burd^fe^en  mu^te.  ^m  übrigen 
bcf ommen  mir  ben  ©inbrurf  lebenbiger  2lrbeit  auf  aUen  ®ebieten ; 
^anbmerf,  2lrc^ite!tur  unb  ©d)iff§bau,  fianbmirtfdt)aft  unb  SQBalb* 
hiltur  merben  gehegt  unb  geförbert,  Äanatifation  unb  Semäffe* 
rung,  ol^ne  bie  in  Sab^Ionien  feine  Kultur  gebeil^en  fonnte,  ftetien 
in  bef onberem  ©^u^ :  mer  einen  S)ammrife  falirläffig  üerfc^ulbet, 
^at  baS  oerborbene  ®ctreibe  gu  erfe^en  unb  für  ben  angeri^teten 
^lurfc^oben  ju  l^aften.  ©ingetienb  unb  I|uman  finb  bie  93cftim* 
mungen  über  Kapital  unb  3'^^  ^^^  ^^^^  ©c^ulbga^lung,  mie 
}.  93.  öerfflgt  mirb,  ba§  ber  ©^ulbner  in  einem  ^ai)x  ber  SUli^* 
ernte  auf  SÄuffdfiub  feiner  3öf)lung  Snfprud)  t)abe.  ^n  fojiater 
^infic^t  gliebert  fx^  ba§  fßolt  naä)  bicfem  9led)t§buc^  in  ©flaoen, 
greigetaffenc,  %xtk  unb  fürfttid)e  Se^en^männer ;  ber  ^of  unb 
ber  iempel  l^aben  namhafte  SSergünftigungen ;  ber  Kaufmann  fte^t 
oHem  nac^  im  ®ienft  be§  SempelS  unb   ber  ^riefterf^aft.    S)ie 


202   SB  0 1 3 :  SS^ctS  n>tr  pon  ben  bab^lonifc^en  ^ui^grabungen  lernen. 

Slerjtc  unb  S^ierärjte  lüerbcn  ju  ben  ^anbroerfcm  gerechnet  unb 
il^re  ®e6üt|r  ift  genau  im  @efe^  geregelt ;  örjtlic^e  ^ni^griffe  xott- 
ben  auf§  ^ärtefte  geftraft,  ein  Qz\i)zn  bafür,  roie  anä)  ^icr  bie 
Sultur  mit  ber  93arbarci,  bie  SWebijin  mit  bem  Ouadfalbcrtum 
aufräumen  miü.  SBe[onber§  au§ffit|rlic^  ift  baS  ®^e*  unb  ga* 
miltenred)t  be^anbelt,  wobei  ber  grau  eine  nic^t  unroürbige  ©tel* 
(ung  jugemiefen  mirb.  äBa§  mir  au|er  biefem  @efe^bud)  über 
bie  aWoral  ber  alten  93abt|Ionier  f^Iie^en  tonnen,  ift  naturgemäß 
nicf)t  üiel;  geroiß  fatten  unter  ben  ^Begriff  be§  non  ber  ©ott^eit 
gea^nbeten  Unred^tS  oormiegenb  fultifciie  SSergel^ungen,  aber  auc^ 
fittlidie  Untaten,  bereu  Slufjäl^lung  mit  ben  jel^n  ©eboten  wie 
mit  ben  SBeftimmungen  ber  anberen  gefitteten  SSöIfer  fic^  berührt 
(pgf.  bie  93efci^mörung§tafeln  Sc^urpu). 

SWer!roürbigermeife  ftef)t  gerabe  ber  ^ö^epunft  ber  babg* 
lonifc^cn  Sunft  am  SSnfang  oon  allem  bem,  roa§  mir  oon 
93abi)tonien  roiffen,  unb  e§  gilt  ^ier  wie  in  Sleggpten,  ba§  biefe§ 
!laffifd)c  Slltertum  fpätcr  nid^t  metir  übertroffen,  nic^t  einmal  me^r 
erreid)t  rourbe.  ®ie  graujofen  l^aben  in  2:ello  ©tatuen  gefunben, 
bereu  majeftätifdie  ©c^ön^eit  unb  tec^nifc^e  Steife  man  junäc^ft 
bloß  burd)  bie  Sinmirfung  ber  griec^ifc^a'ömifc^en  Äunft  meinte 
erflären  ju  fönncn,  bie  aber  in  SBirfli^feit  jmifc^en  3000  unb 
2500  entftanben  finb.  ^[tinen  gefeiten  ft^  bie  in  SHppur  gefun* 
bencn  3)entmäler  mürbig  ju.  Älcibung  unb  ^aartrac^t  biefer 
©tatuen  bemeifen  jugleic^,  baß  bie  SBabglonier  jener  ^eriobc  bereits 
t)erf)ältni§mdßig  ]^od)jioilifierte  3Kenfc^en  maren,  mieber  ein  3^*^^" 
bafür,  mie  roeit  mir  bie  3tnfange  ber  babglonifc^en  Kultur  jurüd ju» 
oerlegen  l^aben.  Slucf)  bie  2:atfad)e,  baß  ba§  SWaterial  ber  ©tatuen 
üon  rocit  ^er  nai^  ^Sab^lonien  gel^olt  mürbe,  fpricbt  für  bie  ^o^e 
Slüte  ber  Äunftübung  in  jener  faft  märd(enf)aften  SBorgeit.  Sbenfo 
bemunberung§roürbig  mie  biefe  ©tatuen  ift  bie  triegerifc^e  ©jene 
auf  einem  ©tege§benfmal  au§  bem  3.  Qa^rtaufenb,  bie  fi^  burc^ 
fü^ne  Äompofition  unb  lebenbige  93e]^anblung  au§jeic^net.  Qm 
ganjen  trägt  bie  babglonifdi-affgrifc^c  Kunft  ben  ©^aratter  bcS 
3Wafftgen,  ©igantifd^en  unb  ift  in  erfter  Sinie  ard^ttettonifdj.  ®ie 
^aläfte  unb  ^^empel  maren  mä^tige  3lnlagen.  Sin  ben  Soren  ber 
^aläfte  ftanben  bie  riefigen,  f elf en^aft  ruhigen  ©tier*  ober  Sömen» 


%ol$:  SBSa§  wir  uon  htn  babglonifd^en  StuSgrabungen  lernen.  203 

toloffc  mit  Slblcrflügeln  unb  bärtigem  3Wenfd)enfopf,  bie  bic  feinb* 
liefen  3)ämonen  obrocliren  follten  unb  bie  für  bie  babglonifdi'affg- 
rifc^e  fiunft  eigentlid^  tijpifc^  finb.  Slu^en^  unb  ;3nnenn)änbe  ber 
?ßalafte  marcn  mit  einer  Unja^l  oon  SReliefS  meift  in  3llabafter  oer« 
jicrt,  bereu  naturaliftifd^e  Sarfteßungen  au§  bem  Ärieg§:=  unb 
J^agb^  bem  ^of*  unb  bem  bürger(id)en  fieben,  namentli^  in  ber 
93e^anblung  ber  Siere  un§  bi§meilen  ganj  mobern  anmuten  unb 
ftct§  auf§  neue  feffeln.  S)ie  Sempel  umfaßten  au§er  bem 
Scmpelraum  allerlei  fonftige  ©ebäube,  @erid)t§*  unb  Sant^äufcr, 
oicifad)  eine  grofee,  nad)  n)iffen|(^aftli(i)en  ^rinjipien  georbnete 
33ibliot^et  mit  Unterrichte*  unb  ©tubierjimmer  für  bie  ^riefter 
unb  bie  ©^üler;  aujserbem  ftanb  bei  jebem  2:empel  ber  meift 
ficbenftufige,  jumeilen  in  ben  fieben  garbcn  ber  Planeten  au^ge^ 
führte  Sempelturm,  auf  ber  oberften  ©tufc  mar  bie  ©ternmartc, 
n)ät|renb  ba§  innere  ber  2:ürme  mol^I  alö  9WaufoIeum  üon  @öt* 
tern  ober  Äönigen  biente.  —  2lu§  ber  S  i  t  e  r  a  t  u  r  be§  bahr)- 
lonifdjen  2lltertum§  ift  oor  allem  ein  umfangrcid|e§  Slational- 
uttb  $elbenepo§  (ba§  @itgamef^=@po§)  ju  ermähnen,  mit  bem  bai^ 
alte  SSabglonien  ben  anbern  SBöttern  rü^mlid^  oorangefcftritten  ift. 
6nbli^  no^  ein  S3Bort  über  bie  ba bplonifc^e  ^Religion. 
©ie  mar  mie  gefagt  itirem  Orunbjug  na^  eine  ©ternreligion  unb 
^at  2let)nlic^feit  mit  ber  griec^ifc^en  ©ötterle^re  ber  flaffifd)en 
3eit:  cig  ift  ein  monard)ifd^  georbneteS  SSielgötterfgftem  unb  bie 
®öttcr*  unb  ©ngelgeftalten  merben  at§  fc^öne,  eble  SWenfd^en  bar^^ 
gefteHt.  kleben  biefer  jioilifterten  g^orm  ber  Vielgötterei,  bie  bem 
ÄuUurftaat  entfprid^t,  ftel)en  mol^l  einerfeite  Stauungen  unb  oer- 
eiujelte  2lnbeutungen  baoon,  ba^  l^inter  bem  SSielgöttermefen  eine 
eiu^eitli^e  ©ott^eit  ju  beuten  fei,  anbererfeitS  aber  ber  maffioe 
9tberglaube,  93efc^mörung§funft  unb  3)ämonenfurcf|t,  91aturbicnft 
unb  2:cmpeIproftitution.  3)ie  oorl^in  genannten  ©tufentürme,  bie 
attemna^  auf  bie  fumerif^e  Qtxt  jurüdge^en,  fc^einen  eine  be= 
beutfame  religiäfe  ^\>t^  oeranfc^aulid^en  }u  foHen,  nämlid)  bie 
Gin^ett  be§  in  ©todfmerte  (^immet,  ®rbe  unb  Untermelt)  ge* 
teilten  9Q3eItaIte.  ®ie  jat)lreic^en  ©ötterl^gmnen,  bie  unS  erl^alten 
finb  unb  bie  fic^  in  ber  gorm  mit  ben  ifraelitifclien  ^^falmen  be= 
rühren,   atmen   jum   teil  einen  eblen  fittlid)en  ®mft  unb  einen 


204  S3  0  ( 5 :  ^a§  mir  Don  ben  bab^Conifc^en  ^[u^grabungen  (emen. 

poetifd^cn  ©ci)n)ung.  93on  ben  rcligiöfcn  Siebern  ^aben  bie  fog. 
Su^pfalnten  ba§  meifte  ^fntereff e  auf  fic^  gelenW;  fie  fmboer* 
mutli^  im  Sauf  ber  3fö^>^taufenbe  (oom  3.  ^ötirtaufenb  ab)  auS 
beftimmten  einjcinen  3luläffen  entftanben  unb  bann  in  ben  litur- 
gifc^cn  ®ebrauc^  übernommen  morben.  S33a§  mir  an  i^nen  Der* 
miffen,  tft  einmal  ba§  Hare  unb  tiefe  ©ünbengef ü^l;  benn  e§  roirb 
ni^t  crft^tlid),  ob  ber  reuige  SBeter  über  feine  ©ünbe  tiagt  ober 
nur  über  bie  burd^  bie  ©ünbe  ^eroorgerufene  ®otte§ftrafe  unb 
ob  er  nic^t  etma  erft  au§  ber  @otte§ftrafe  auf  eine  oor^anbene 
©ünbe  an  fid^  jurürffc^lie^t;  fobann  fe^tt  bie  frö^Iic^e  innerlt^e 
®emi§^eit  ber  ©ünbenoergebung  unb  ber  ^erjenSbefreiung,  bie 
in  ben  bibltfc^en  ^u^pf atmen  bod)  immer  bur^brid^t;  ber  bab^« 
lonifi^e  SBeter  nimmt  an,  ba§  feine  ©ünbe  burd^  bie  erlittene  9iot 
in  ber  ^auptfad)e  gebüßt  fei  unb  ba^  ®ott  ooDeubS  ben  SReft 
ber  83u^e  in  ®naben  erlaffen  lönnte. 

S)a§  33i(b  ber  aItbabglonif(f(en  Kultur  märe  nic^t  oollftänbig, 
menn  mir  nic^t  beifügen  mürben,  ba§  biefe  Kultur  }um  großen 
2:eil  unb  ju  gemiffen  Szxkn  normiegenb  unter  bemSBalten 
ber  ^riefterf^aft  ftanb.  Qn  SBindEter§  etma§  ptiantafieooQer 
3)arfteÜung  erfcf)eiut  bie  babglonifd^e  ^riefterfc^aft  al§  eine  über 
bie  3^i^^n  ^in  unb  über  bie  räumlid^en  ®ren3en  be$  SanbeS  ^in« 
au§  feftgeglieberte  3Wad^t,  bie  in  allen  Säubern  an  aUen  ©roß* 
tempeln  i^re  tteritaten  SBerbünbeten  ^atte  unb  eine  2lrt  gciftiger 
SBeltlierrfd^aft  auSjuüben  fuc^te.  :3^re  SÄa^t  ftanb  auf  jmei 
Pfeilern,  auf  bem  SBefi^  ber  SBiffenfc^aft  unb  auf  bem  93efi§  beS 
®etbe§.  S)ie  ^eimat  ber  3Q3iffenfc^aft  maren  bie  Stempel; 
bort  mürben  auf  ber  ©ternmarte  bie  ®efe^e  be§  ^immet§  bcob* 
achtet,  bort  maren  ^riefterfc^ulen,  in  benen  mit  allem  S^eif  ge* 
arbeitet  mürbe;  e^  ftnb  un§  auiS  ben  3ibliotl^e!en  eine  SRenge 
miffenfc^aftli^er  SQBerfe  überliefert,  ®rammatiten  unb  ?ßarabig* 
menfammlungen,  fumerifdf)*femitifc^e  SBörterbüc^er,  bie  bem  ^totd 
ber  ©prad^forfd^ung  bienten,  Siften  oon  ©pnonrimen,  Kommentare 
ju  alten  gelieiligten  93üc^ern,  matl^ematifdje  SBerfe  unb  geogra» 
pl^ifc^e  aSerjei^niffe,  S^afeln  Don  botanifd^em,  joologif^em  unb 
mineralogifd^em  Qn^alt,  mobei  j.  ©.  bie  Stiere  flaffifijiert  mcrben 
unb  jebeS  3:ier  einen  boppelten,  ben  oolfömä^igen  unb  ben  miffen* 


$  o  1 5 :  ^a§  it)iY  Don  ben  bab^lonif d^en  ^uägtabungen  lernen.  206 

fd)aftli^cn  Flamen  fü^rt.  S)a  bicfc  Siafcin  jum  teil  jrocifprad^ig 
abgefaßt  jmb,  l^aben  toir  tool^t  anjuncl^men,  ba§  fd^on  bie  fumc* 
ri|(^cn  ®inn)ot|ncr  fol^c  ©tubien  trieben.  ®ie  materielle  Unter* 
läge  ber  geiftigen  ^riefter^errfd^aft  aber  n)ar  baburc^  g^fc^offen, 
ba^  ani)  ba§  ®elbn)efen  unb  ber  n)eiti)erin)eigte  ^  anbei,  bie 
Raufntannjc^aft  unb  bie  Santen  mit  bem  Stempel  Derbunben  maren. 
3)iefc  mächtige  ^rieftcrfd^aft  fann  ben  Äönigen  nid^t  immer  an* 
genehm  gemefen  fein.  So  laffen  ftc^  aud)  in  ber  ©efd^id^te  93a* 
bgbnien^  unb  2Iffprien§  ©puren  finben  oon  einem  intereffanten 
ftampf  jmifc^en  ^ilitärmarf)t  unb  ^ierard^ie,  ober  roenn  man  [o 
fagen  will,  jmifd^en  ©taat  unb  Äird^e,  unb  in  biefcm  Äampf  be* 
beutet  S3abqlon  ba§f elbe  wie  SRom ;  bief e  SQBeltftabt  be§  SlttertumS 
erlebt  bie  gleidie  gefd^ic^tlic^e  äBanblung  mie  bie  äßetropole  be§ 
ÜWittelaIter§,  inbem  fie  au§  ber  ÄönigSftabt  fpäter^in  jur  ^od^burg 
ber  ^ierarc^ic  geworben  ift. 

II.   3)ie   Sebeutung   ber   babglonifd^en   Äultur 

für   bie  SBcItfuttur. 

9lad^bem  ba§  ©c^lagmort  93abel*$ibel  einmal  geprägt  mar, 
geriet  man  in  ben  großen  gel^ler,  bie  babglonif  d^en  2lu§* 
grabungen  immer  nur  jur  öibel  unb  jum  SSoI!  Qf* 
racl  in  ©ejiel^ung  ju  fe^en.  S)a8  mag  für  ben  2^cologen, 
für  ben  religiös  intereffierten  SWenfd^cn  unb  für  ben  öibetlefer 
too^I  ba§  roi^tigfte  fein,  aber  e§  ift  bod^  nur  eine  fet)r  einfeitige 
aSetrac^tung,  burd^  bie  @ro^e§  pertleinert  unb  Kleine^  ungebü^r^^ 
li^  Dergrö^ert  morben  ift.  S3Bir  werben  fel)en,  baj5  bie  93ebeu* 
tung  ber  babtjlonif^en  Kultur  für  Sfrael  unb  für  bie  93ibel  in 
ein  Heines  SWa§  gefaxt  merbcn  fann,  mir  felien  umgefel^rt,  ba§ 
ber  <£influ§  93abglonien§  auf  bie  aOßeltfultur  jeitlii^  unb 
roumlic^  roeitl^in  gereicht  ^at.  3)iefer  Unterf(^ieb  l^at  feinen  legten 
@runb  barin,  ba§  ber  SRu^m  be§  alten  93abr)Ionien§  ni^t  bie 
SReligion,  fonbern  bie  Kultur  mar. 

3)ie  S33eÜfultur  alfo  l^at  fi^  in  bem  alten  3«>eiftromlanb 
üiele§  geholt.  @§  ift  ja  an  fic^  unmöglich  ju  beulen,  ba^  ein 
geiftiger  Sörper  oon  fold^er  Äraft  mie  ber  babglonifd^e  in.  feiner 


206  SBols*  ^^^  ^i^  ^on  ^^^  bab^tonifd^en  Ausgrabungen  lernen. 

SBirfung  foQte  auf  ben  9}aum  be§  eigenen  Sanbe^  befc^ranft  ge= 
blieben  fein.  3^^«"^  machen  wir  un§  leidet  ein  falf^eS  SBilb  von 
ben  SBer^ältniffen  be§  antifen  95erfet|r§;  wir  meffen  i^n  am 
l^eutigen,  fe^en  il^n  jum  tieutigen  in  (Segenfa^  unb  fornmen  ju 
ber  $$ermutung,  bag  ba§  Rittertum  überall  ©renjpfä^te^  iBerfe^r§« 
fc^ranfen,  örctterroänbe  jroifc^en  feine  einjetnen  SSölfer  gefterft 
unb  jebeg  Sanb,  inSbefonbere  bie  Heineren  Sdnb^en  jebeS  ein  ©tili* 
leben  für  fic^  geführt  t)ätte.  ^aoon  ift  aber  fogut  n)ie  baS  ®t' 
genteil  ri^tig.  2)ie  antiten  Sänber  unb  bie  antifen  3)lenf(i^en 
!amen  ebenfo  untereinanber  unb  ebenfo  in  lebenbige  unmittelbare 
gütilung  miteinanber  mie  bie  äßenfci^en  Don  lieute.  ^urc^  ^ara< 
manen  unb  ©c^iffal^rt,  burd^  ben  ^anbel§Derfe^r  unb  bie  unauf« 
l^örtic^en  Kriege,  inöbefonbere  burc!^  bie  Deportationen  unb  SBölfcr» 
manbcrungen  ftanben  bie  Stationen  unb  bie  ^fnbioibuen  oom 
@upl(rat  unb  Sigrid  bis  jum  9]il  unb  bis  nac^  2lrabien  unb  ^n* 
bien  in  einem  fortroätirenben  S)uvc^einanber  unb  Q^^einanber;  bie 
fü^rcnben  SSölter  Ratten  i^re  ©efanbten  an  ben  fremben  ^öfen 
unb  frembe  ©efanbte  an  ben  eigenen  ^öfen,  bie  Potentaten  waren 
in  brieflid)em  SSerte^r  oerbunben,  bie  ^riefter  ber  oerf^iebcnen 
größeren  Tempel  n)aren  oielleic^t  fogar  }u  einer  geheimen  Siga 
miffenfdjaftlic^cr  unb  politif^er  9latur  jufammengefc^loffen.  ©i* 
d^erlid)  tiaben  bie  Kulturoölfer  beS  3lltertum§  bei  biefem  gegen« 
feitigen  5ßerfe^r  nid)t  blo§  materielle  ©egenftänbe,  fonbern  auc^ 
bie  ®üter  ber  geiftigen  Äultur  auSgctaufc^t  unb  ^aben  bie  Heineren 
SSötfcr  il)rc§  aJlaci^tbereirf)§  baoon  teilroeife  ernät)rt.  S)a  nun  unter 
ben  üorberafiatif^en  Äulturftaaten  be§  3lltertumS  ber  babt)lomfd>e 
entfcf)iebcn  an  gefc^loffener  Kraft  obenan  ftetit,  fo  ift  anjune^mcn, 
baß  ber  ©influß  ber  babt)lonif c^en  Kultur  am  roci* 
teften  unb  nad^t)altigften  geroirtt  ^at.  @S  ift  ja  au^  in 
biefem  ©türf  in  le^ter  Qtxt  mandjmal  übertrieben  morbcn;  man 
i)at  oon  einer  gemeinfamen  üorberafiatifd)en  Kultur  gefprorf)en, 
bie  2leggpten,  93abglonien  unb  2lrabien  mie  einen  einjigen  Or- 
ganismus umfaßte  unb  in  ber  53abi)lonien  ben  Son  angab,  man 
l^at  bie  rocltmeitc  Stellung  SabglonienS  mit  ber  beS  QSlam  im 
3Jlittelalter  ober  mit  ber  grantreidiS  im  17.  unb  18.  ^atir^un* 
bert  oerglidjen,  eS  mar  in  ber  antifen  unb  in  ber  mobernen  SBelt 


$0  1$:  SBad  n>ir  x>on  ben  bab^Ionifc^en  ^uiSgrabungen  (emen.   207 

faft  nic^t§  nte^r,  bQ§  man  nict)t  fojufagen  auf  t)a6t)(onifc^en  Ur» 
fprung  anfo^;  ober  ba§  Uebertreibenbe  unb  boS  UntontroQterbare 
abgejogen,  bleiben  bod^  groge  unb  fleine  @(emente  babglonifc^et 
fiultur  befielen,  bic  fic^  in  ber  Süntite  unb  bi§  auf  ben  je^igen 
£ag  ausgebreitet  unb  forterl^alten  ^aben. 

3Bir  fteQen  un§  alfo  oor,  n)ie  ba§  Slltertum  manc^e§ 
bobplonifc^e  j%apita(  übernommen  t|at,  unb  n}erben 
bann  n)eiter  einige  @rbftudte  ju  nennen  ^aben,  bie 
noc^  tieute  pon  SBabglonien  t)er  unter  unS  uorf)an» 
ben  f  t  n  b.  ®ie  alte  3^it  perbanb  mit  bem  9lamen  „®t|albäer" 
bie  SBorfteöung  ber  ®elet)rfamteit ,  inSbefonbere  ber  get)eimen 
Stemmiffenfdiaft  unb  ber  3ci<^^nbeutung.  Unb  roorin  biefcS  ur* 
ölte  aSolf  tatfäc^lic^  SDIeifter  mar,  barin  l|at  eS  aud|  Diele  anberen 
unterri^tet.  SEBäl^renb  man  früher  bie  aleyanbrinifc^en  ©ele^rten 
ate  bie  Se^rer  in  ber  2lftronomie  für  bie  3Sölfer  ber  alten 
6rbe  anfe^en  mu§te,  ergibt  ftd)  nun,  ba^  biefe  ©elefirten  felbft 
nrieber  ©c^üIer  ber  babqlonifc^en  3Jieifter  waren.  3)a§  babglo* 
nifd^e  Softem  ber  SWonbftationen  j.  93.  I^at  feinen  SBeg  nad^  3!ni>i^"/ 
Arabien  unb  ®^ina  gemacht,  ein  93emeiö  für  ben  3iiföntmenl)ang 
ber  antifen  338elt.  93efonber§  frud)tbar  in  if)rer  SSerbreitung  mar 
bie  ßunft  ber  3(ftrotogie  unb  ber  oermanbten  fünfte,  unb  aud) 
bie  oon  ben  ©ternen  abgeleitete  Qhtt  ber  uerfc^iebenen  3^i^ölter 
ift  jum  ©emeingut  be§  2llterlum§  gemorben.  Sei  allem  fobann, 
roa§  in  ba§  ®ebiet  ber  Qa\)l  gehört,  ^aben  mir  ©runb,  nad^ 
babqlonifdicr  ^er!unft  ju  fragen.  2)ie  ^eimat  ber  pt)tI|agoreifd)en 
3o^tenp^ilofop^ie,  ja  fogar  be§  pgt^agoreifc^en  fiel)rfa^e§  felbft 
ift  aüemna^  meber  ©ried^entanb  no^  auc^  ^nbien,  foubern  juerft 
Sabqlonien  gemefen,  unb  e§  ift  bie§  oiellcid^t  nur  ein  93eifpiel 
für  mond)c§  anbere  ©tüdt  alter  (Sele^rfamteit,  ba§  oon  93abr)» 
lonien  nac^  ^erfien  unb  ^ubien  ober  nad)  ^^liönisien  unb  ftlein« 
afien  unb  oon  biefen  Sänbern  nad)  ©ried^enlanb  gemanbert  ift, 
3)urd|  bie  babqlonifc^en  2lu§grabungen  ift  bie  ^^rfc^ung  fomit 
inftanb  gefegt,  ben  SBeg,  ben  bie  im  Sii^t  be§  gried)ifci^en  3lltcr« 
tum§  flar  bafte^enben  ^bztn  oon  i^ren  Urfprüngen  t)er  gegangen 
fwb,  um  ein  ganj  beträc^tli^eö  ©tüd  roeiter  jurüd  ju  oerfolgen, 
unb  eS  entfielet  bie  reijootle  Slufgabe,  bie  ein3elnen  9Scrbinbung^= 


208  SBoIg:  9BaS  tpit  von  hm  bab^lonifd^e^  Sluj^flrabungen  (emen. 

ftredcn  auf  bicfcm  langen  SEBcg  aufjufpürcn.  Sludf}  bie  @ninb* 
läge  ber  SBiffcnf^aft,  bie  l^anblic^c  ©c^rift,  ^abcn  bic  SBabg- 
lonicr  einer  großen  SKniatil  oon  Sßöltern  übermittelt  benn  ba§ 
Äeilfi^riftfgftem  forool^t  wie  ba§  gebräuc^tict)c  SRatcrial  ber  Äeil* 
fd^rift,  ber  2:on,  jtnb  pom  SWutterlanb  au§  nac^  allen  ^immete* 
gegenben  ^in  üerpftanjt  roorben.  SBeiter  ift  bie  Sßermutung  er* 
laubt^  ba^  abl^ängig  unb  unabtiängig  pon  ber  Verbreitung  ber 
babgtonifd^en  @d)rift  unb  Sprache  ^eile  ber  babglonifc^en  Site» 
ratur,  ber  2Dlptt)en  unb  ®pen,  ju  ben  SRad^barn  unb  über  fic 
l|inau§brangen,  roie  man  j.  33.  ©puren  uon  bem  ermäl^nten  ®il* 
gamefd)=@po§  unter  anberem  in  ber  gried^ifd^en  ©agenmelt  finben 
miU.  3»n  öDcn  B^it^i^  ip  ^^  fobann  be[onber§  ber  ©trom  beS 
^anbelS,  ber  bie  Äulturelemente  oon  einem  Sanb  inS  anbere  über* 
leitet,  unb  ba  eine  fotd^e  ©ro^mad^t  wie  bie  bab9lonif(^e  meift 
au^  bie  tommersieDe  SSor^errfc^aft  füt)rte,  fo  ^ot  ber  ^anbel  tnel 
©abglonifd^eS  in  bie  SBelt  hinaufgetragen.  3unäd^ft  bic  SRittel 
be§  äußeren  SJerfel^r^;  faft  alle  SÄa^e  unb  ©eroic^tc  be§ 
2lltertum§  ftammen  oon  ©abglonien,  ba§  überaus  einfädle,  praf* 
tif^e  SWa^friftem  ber  SSab^lonier,  baS  wie  unfer  iffletcrfgftem 
Sängenma^  unb  ^örperma^  oerbanb,  fomie  ba§  Don  il^nen  feftge« 
legte  S3er^altni§  jmifdtien  Äupfer*,  ©ilber*  unb  ©olbroert  ^aben 
für  ba§  antite  aBirtf(^aft§leben  ^eroorragenbe  Sebeutung  geroon* 
nen.  Slöeiter  fmb  bie  ^fni^up^i^  unb  Kleinfunjl,  inSbcfon^ 
bere  bie  Seppic^meberei,  bie  SSuntjiegeltec^ni!  unb  bie  ©teinfd^neibe* 
tunft  bem  alten  ^ulturlanb  mannen  3)an!  fc^ulbig,  mie  Dermut« 
lid)  bie  SBurjeln  ber  ttaffifd^griec^ifc^en  ^laftif  bi§  in  ben  rcid^en 
93oben  93ab9lonien§  unb  SlffgrienS  l^inunterreid^en.  ©nblic^  gingen 
mit  bem  ^anbel  aud^  ©tüdFe  ber  babQlonif(^en  iRe^tSanfc^au« 
ung  unb  ©efeüfd^aftgorbnung  in  ben  Ärei§  ber  antifen  SBcltein 
unb  l^aben  fdt)lie^lic^  i^ren  Slnteil  an  bem  großartigen  ©aumerf 
be§  römifdjen  Siec^t^f^ftemS  mitgehabt. 

^a  baS  @efe^  t>on  ber  @rt|altung  ber  ^raft  au^  im  geiftigen 
Sebcn  gilt,  fo  mu§  eine  gortroirlung  ber  bobqlo* 
nifdien  Kultur  bi^  in  bie  heutige  ffielt  hinein  an* 
genommen  werben.  9Ba§  oon  babglonifd^em  ©toff  in  ben  antifen 
grie^ifc^en  Organismus  überging,  ma§  bann  fpäter  in  bie  SRifc^^ 


$  0 1  §:  äSSaS  mit  oon  ben  bob^lonifd^en  iKu^gtabungen  lernen.     209 

bilbung  be§  oricntalifci^«europäifc^cn  ^eßcniSmug  Slufna^me  fanb 
unb  roa§  enblid)  oon  babglonifc^en  3^becn  im  ^fubentum,  ©Triften* 
tum  unb  Qilam  fid)  nieberfc^tc,  baS  ^at  fic^  irgenbmic  in  üer* 
borgener  ober  offenfunbiger,  erfennbarer  ober  ntd^t  me^r  erfenn« 
barer  SBeife  in  ber  abenblänbif^en  Äultur  forterl^atten.  Qxoax 
bie  ganjc  bab5foni|d)e  SBeltanfd^auung  oon  bem  @inftu&  ber  ®e* 
jiirne  auf  ba§  Seben  ber  Srbbemo^ner  ift  mit  bem  3)urc^bru(^ 
ber  neuen  SOBelt*  unb  ^imme(§erfenntni§  ju  it)rem  ®nbe  gefom* 
men  unb  e§  ift  beseid^nenb,  bag  ber  ^ofaftrolog  @eni,  ber  fo 
lebhaft  an  jene  ©elel^rten  ber  ©ternroarten  am  ©upl^rat  unb  a:igri§ 
erinnert,  ein  le^ter  SSertreter  jeneg  alten  Olaubeng  mar,  ber  nad^ 
Sopemituö  unb  Äepler  fid)  nic^t  metir  galten  !onnte.  2luc^ 
fd)aut  ber.  9Wenfc^  ber  neuen  ßeit  nidjt  me^r  mie  ber  93abglonier 
auf  bie  oon  Slnfang  an  f eftgelegte  Urorbnung  ber  fo§mif^en  9la= 
tur  jurücf,  fonbern  auf  bie  immer  meiter  ge^enbe  ©ntfaltung  be§ 
menfc^Iic^en  ®eifte§,  ba§  golbene  Zeitalter  ift  i^m  nic^t,  roie  im 
Altertum  überall,  eine  SQSieber^olung  beS  erften  göttlichen  3lnfang§, 
Jonbern  bie  fc^lie^tic^e  SSoHenbung  ber  fämttic^en  oon  ber  ©ott:^ 
^eit  geliehenen  Kräfte.  2lber  einjelne  ft(^tbare  ©puren  oerraten 
boc^,  ba§  oon  ber  uralten  babglonifc^cn  ft'ultur  bi§  jur  I)eutigen 
eine  ununterbrochene  Sinie  läuft,  ©o  l^aben  fic^  bie  ©runbjüge 
icnc§  erften  §immel§f9ftem§,  bie  (Sinteilung  ber  (äfliptif,  blcibenb 
feftgefe^t;  aud)  mad)t  fic^  bie  fieutige  Slftronomie  baran,  ju  ben 
alten  ©^albäern  roieber  in  bie  ©djule  ju  ge^en  unb  i^re  Seob^ 
Q^tungen  über  ben  3Wonblauf,  bie  Planeten  unb  bie  g'^ft^^^^ff^ 
ftc^  JU  nu^  ju  machen.  3)a§  Üierfrei^friftem  unb  bie  meiften  SRa* 
men  ber  Sierfrei^bitber  (j.  95.  SBibber,  ©tier,  3^ißi"9^/  ©forpion) 
jinb  je^t  norf)  biefelben  mie  etiebem;  bie  Benennung  ber  SBoc^en« 
tage  na^  ben  Planeten  ^at  fid^  erhalten,  ©elbft  ba§  äBort  -3fftar, 
ba§  im  SSabplonifc^en  oft  ein  ©ammelname  für  „©lerne"  ift, 
roill  man  aU  SWuttermort  für  ©lern,  aaxpov,  englifc^  star  beijiet)en. 
Unferc  „^eiligen  S^^^en",  oor  allem  bie  3^^!^^  7  unb  12,  l^abeu 
an^  jener  Urheimat  ber  Slftronomie  il)ren  ^eiligen  ©^aratter  bi^ 
}u  un§  mitgenommen,  ebenfo  fd)eint  bie  Unglürf^jat|l  13  oon  bem 
babglonifc^en  13.  (Unglü(jf§--)2yionat,  bem  überjäfiligen  ÜWonat, 
^erjurü^ren,  ber  jum  Sxozd  ber  Äalenberorbnung  oon  Qdt  ju 

Britftl^ft  für  Ideologie  unb  Äir(^e.    14.  3o^rg  ,  8.  $eft.  15 


210     ^  0 1  j:  9Ba$  toix  von  ben  bab^Ionifd^en  ^(uiSgrabungen  lernen. 

3cit  aU  ©c^altmonat  eingefc^oben  rourbe  unb  beffcn  3:iertrei6* 
jeic^eu  ber  Stabe,  ber  UnglücfSrabe,  roar.  2)a§  3iff^^^tött  ber 
U^r  mit  feinen  12  Stunbenjiffem  unb  feinen  60  SWinutenein* 
f^nitten  rul|t  auf  ber  babgfonifd^en  ^immetömeffung;  ba§  größte 
bab^Ionif^e  Sängenma^  war  bie  3)oppelftunbe,  bie  Iieutige  9WeiIe, 
ein  ©eifpiel  für  bie  SBerbinbung  üon  Sängen»  unb  3^ihiiö§,  roie 
fte  von  ben  SSabgloniern  geübt  rourbe.  ®a§  ©eyagefimal*  unb 
3)uobejimaIfi)ftem  t|at  [xi)  über  bie  äßelt  ^in  verbreitet  unb  j.  9. 
im  ®u§enb,  im  (Srofc^en  unb  im  ^enng,  bem  3"^ö^ft^'f^ißiwg, 
Stad^fommen  gefunben.  SSon  folgen  Äleinig!eiten  lie^e  fic^  nod^ 
mand)eS  anführen  unb  wirb  no6)  manc^e§  im  Sauf  ber  ^orfc^ung 
ftd)ergefteKt  werben ;  e§  finb  für  fi^  betrachtet  f (eine  S)inge,  ober 
jufammengenommen  fte^en  fie  ate  ©eroeiS  bafür  ba,  ba§  bie  9tr» 
beit  ber  alten  ^utturDöIfer  nic^t  umfonft  mar  unb  ba§  fie  mit 
bem  Untergang  biefer  93ölfer  nic^t  aud^  untergegangen  ift.  SJiel^ 
teid^t  bürfen  mir  jufammenfaffenb  fagen,  ba^  bie  9)lenfd)^eit, 
menn  fie  ^eute  in  bem  oberen  ©todmert  be§  ©ebäubeS  ber  SBelt* 
fultur  TOO^nt,  juüor  burd)  ba§  mittlere  ©todtroert  ber  gricc^ifc^« 
römifc^en  unb  burc^  ba§  untere  ber  oorberafiatifct)en  (babglonifc^* 
äggptifc^en)  Kultur  gefc^ritten  ift  unb  ba§  burc^  bie  babqtonifc^en 
2lu§grabungen  biefe§  untere  ©todfroert  immer  me^r  bloßgelegt 
mirb,  roä^renb  ba§  mittlere,  ba§  ber  gried)ifc^=römifc^en  Äultur^ 
un§  fd)on  feit  langem  betannt  mar. 

in.   S)ie  Söebeutung   ber   babijtonifd^en   Kultur 

für  3if^a«I- 
3u  ben  Sanbem,  bie  im  ©d)atten  SSabglonienS  fapen,  ge» 
^ört  aud^  ^aläftina,  unb  gumeilen  l|at  fid)  feine  @efct)idE)te  mit 
ber  be$  ©roßftaateS  aufS  engfte  oerbunben.  'S)ie  StuSgrabungen 
jmingen  baju,  mit  ber  ^folierung  be§  biblifc^en  93oIte§ 
einSnbe  ju  machen.  3)iefe  ^folierung  mar  oon  ^auS  au§ 
eine  bogmatifc^e,  eine  Qfolicrung  ber  Offenbarung  unb  ber  9le* 
ligion  Qfrael§,  fie  t)atte  aber  weiter  ju  ber  SWeinung  oerfü^rt, 
baß  biefe^  SSölfc^en  audt)  in  politifd^er  unb  tulturcUer  ^infic^t 
wie  in  einem  ©otte^garten  für  fid^  gcmad^fcn  fei,  inbem  foroobl 
bie  guten  5^üd)te  al§  ba§  Unfraut  ganj  allein  axx^  bem  einge» 


y 


^01$:  SS^od  xoxx  oon  ben  bab^Ionifd^en  ^[udgrabungen  letnen.     211 

friebigtcn  ©oben  fclbft  l^croorgcfommen  Toären.  ®iefc  3lnf(^auung 
loiberfprid^t  allem  Seben,  auc^  allem  antifen  Scben,  fie  mibcrfprici^t 
bem  biblifc^cn  Seric^t  unb  fte  mirb  burc^  bic  SluSgrabungen  doI* 
lenb§  utimögli^  gemacht.  SSielmel^r  erfahren  mir  au§  ben  ivi-- 
inf^rif Hieben  3)entmälern,  in  meieren  Sebcn§bebingungen  unb 
3eitoer^ältniffen  3f[rael  aufgemadjfen  ifl.  3">if4^n  bie  großen 
fiulturftaaten  be§  alten  Oriente,  bic  unter  fi^  burc^  S3erfe^r§* 
ftra|en  Derbunben  maren  unb  bie  i^re  fleineren  9h^barn  unter 
i^rem  Sinflu^  hielten,  lag  ba§  minjige  Qfrael  ^ineingebettet,  unb 
mir  ^aben  anjunetimen,  ba^  nic^t  blo|  ber  materielle  ^anbel  unb 
SSerfe^r  feine  ^lä^e  in  ^aläftina  ^atte,  fonbcrn  ba^  auc^  ein 
geiftiger  3lu8tau|c^  jmifd^en  ben  großen  Äulturlänbern  unb  bem 
Meinen  Kanaan  beftanb.  ®a§  SÄlte  2:eftament  bringt  ^fract  l^aupt* 
fdc^lic^  mit  ©abglonien  unb  SKegppten  in  SBerbinbung;  t%  ift  ber 
nationalen  ^bftammung  nac^  ein  älbleger  Don  SBabglonien,  fofern 
äbra^am  auS  SKefopotamien  !am ;  el^e  Qfracl  fic^  fobann  ju  einem 
3Jolf  jufammenfctilog,  ftanb  eg  in  ber  unmittelbaren  ?lä^e  ber 
dggptifc^en  Sultur  unb  bei  ber  Organifation  be§  jungen  93olf§== 
rocfenS  ^atte  ber  äggptifc^  gefd)ultc  9Wofe  au^erbem  einen  SRi« 
bioniter  an  feiner  ©eite.  Un§  intereffiert  im  Slugenblid  nur  bie 
Sejie^ung  93abglonien§  ju  Qf^^el,  bie  entfpre^enb  ber  nationalen 
Sermanbtfc^aft  auc^  bie  engfte  geroefen  fein  mu^.  2luf  biefem 
$unft  aber,  auf  bem  bie  ^lut  ber  ©abrilonologie  fid)  am  mäd^tigften 
ergoffen  ^at,  ift  por  allem  SSorftd^t  oor  Uebertreibung  nötig.  @§ 
ijt  nid^t  rec^t,  bem  Sßolf  Qfrael,  ba§  freiließ  ber  Quantität  nac^ 
eine  SBinjigfeit  mar,  ba§  aber  j.  93.  eine  eigene  ©d^rift  befa|, 
alle  politif^e  unb  fommerjielle  ©elbftänbig!eit,  ja  fogar  bie  re« 
ligiöfe  (Sigenart  abjufpredtien,  unb  au^erbem  barf  bie  93ejie^ung 
dfrael^S  ju  Arabien,  älegi^pten  unb  anbern  ^ulturlänbern  ni(^t 
oerfc^roiegen  ober  mieberum  babgloniftert  merben.  2lnbrerfeit§ 
ift  aUerbingS  roal^rf^einlid^,  ba§  im  nieberen  95olf§leben  3>frael§ 
mond)e§  babglonif^e  ©lement  mar,  oon  bem  mir  auö  bem  21.  2:. 
nichts  ober  nic^t§  beutlid)e§  erfaliren. 

9laturgemä^  mar  bie  93erü^rung  jmifc^en  ©abglonien 
unb  ^aldftina  bejm.  ^^fraet  nic^t  immer  gleid)  ftarf; 
e§  gab  3^^*«"/   n>o   ber  babglonifc^e  Körper  nid)t  imftanb  mar, 

15* 


212     )B  0 1):  9BaS  mix  oon  ben  babqlonifc^en  Ausgrabungen  lernen. 

n)eit  aber  fi^  i)\na\xS  ju  roirfen,  umgetetirt  {amen  3^^^^^/  ^^  ^^^ 
nen  ein  mächtiger  ^auc^  Don  xf)m  auiSging,  ober  3^iten,  in  benen 
bie  ^fraeliten  in  bie  unmittelbare  9lä^e  feinet  ®influffe8  gcjogen 
maren.  2)ie  erfte  ^erü^rung  ift  n)ot)t  bamit  gegeben,  ba|  bie 
Sinnen  ber  :3fraeliten  auS  SRefopotamien  famen,  ju  einer  3^tt, 
n)o  bie  babglonifc^e  Kultur  löngft  i^re  Entfaltung  gehabt  ^atte; 
mir  l^aben  feinen  ®runb  an  biefer  Slngabe  ber  ifraelitifc^cn  @e» 
fc^ic^tfc^reiber  }u  jmeifeln,  mornac^  alfo  oon  9lnfang  an  bahrf* 
lonifd^eS  SBlut  in  ben  Slbern  be§  bibtifd^en  fßolt»  gcffoffen  ift. 
Sie  jmeite  namliafte  ^erül^rung  mirb  au$  bem  2iel=^l«amama« 
f unb  erfid^ttic^,  ber  bie  3^it  «m  1400  beleuchtet  unb  un§  belehrt, 
ba^  ^aläftina  mit  feinen  yiaö^haxn  bis  auf  Slegppten  fic^  gu  jener 
3eit  ber  bab^Ionifdien  Spraye  at§  ber  Sprache  be§  polttifd^en 
£e6en§  bebiente  unb  ba^  e§  mol^l  auc^  fonft  unter  ben  @influg 
ber  babglonifd^en  Äultur  einbegriffen  mar;  jebenfaU^  mu^te  eS 
bo^  für  ba§  jmifc^enliegenbe  ^aläftina  feine  Säebeutung  ^aben^ 
menn  ber  bab^lonifc^e  @ro^tönig  mit  bem  $^arao  im  unmittet« 
baren  politifc^en  93erfe^r  ftanb.  Sarnac^  mare  alfo  fomo^l  bie 
Oegenb,  in  ber  3Wofe  ftc^  mit  feinem  9SöItc^en  juerft  einbürgerte, 
a(§  auc^  ba^  fianb,  in  ba§  fpater  bie  oerfd^iebenen  Stämme  i^^fraelS 
einsogen,  in  ber  Sphäre  ber  babglonifd^en  SBelt^errfc^aft  gemefen. 
©e^r  bead)tenSmert  ift,  baj5  jroifc^en  1400  unb  etwa  900  ein 
birefter  potitifd^er  3wföntnten^ang  jmifd^en  ber  SRorbmac^t  unb 
Kanaan  nic^t  beftanben  t)at.  Qn  ber  ifraelitifc^en  Hdnig§}eit  ift 
bann  bie  mefopotamifdje  ®rogmac^t  bem  {leinen  93ol{  ganj  na^e 
gerüdtt,  fo  na^e,  ba^  ba^felbe  oon  i^r  politifc^  erbrüdtt  mürbe 
unb  e§  in  feiner  potitif^en  ^ilffofigfeit  nac^  ber  Sletigion  be« 
ftarten  gcinbe^  griff,  unb  i>a%  bie  geiftigen  %ü\)xtx  beS  SBoKeS  fid^ 
potitifc^  unb  religiös  beftänbig  mit  ber  ©rogma^t  auSeinanber« 
gufe^en  Ratten.  Sßieoiel  bie  3f^Q^(iten  fobann  in  unb  na^  bem 
babglonif^en  Sfil  oom  fremben  Sanb  angenommen  ^aben,  iji 
nic^t  Ieid[)t  ju  fagen,  mo^l  me^r  auf  bem  @ebiet  ber  duneren  als 
auf  bem  ber  inneren  Kultur;  befonberS  ift  bejttglic^  geroiffer  re» 
ligiöfer  ^bcen  be§  nadiejüifc^en  ^lUbentumS,  benen  man  gerne  einen 
babt)lonifc^en  Urfprung  gibt,  fc^mcr  ju  entfc^eiben,  jn  melc^er 
3cit  fic  in  ben  ifraetittfc^cn  93efi^  übergegangen  fmb. 


^  0  1 5*  ®^^  ^i^  ^on  ^^n  bab^Ionifd^en  ^ui^grabungen  lernen.      21B 

SBSaS  erfahren  wir  nun  burdi  bic  3Iu§3rabungeu  über  ^ff^acl 
unb  Aber  bic  Sebeutung  Sab^IonicnS  für  Qfrael  im  einjelnen? 

3unäc^ft  geben  unS  bic  Reitinf Triften  bantenSroerten  Sttuf« 
f(^Iu$übcr  bic  ©cfc^ic^tc  Qf^öcU.  SBir  bctommen  j.  93.  al§ 
fefte  S^W^  ^ött  bcn  S)cnfntälern  bic  ßa^ten  854  (Si^lad^t  bei 
Rartar  groifc^en  ©almanaffar  II  unb  feinen  f9rifc^*paläftinenftfd)cn 
©egnem,  worunter  2l^ab)  unb  842  (Iributiciftung  bcS  3cl|u  an 
©almanaffar  II),  rooburc^  unfcre  bi§^erige  biblifdie  ®^ronoIogte 
um  einiget  geänbert  rourbe ;  wir  erfclien,  roa§  für  ein  bebeutenber 
fiönig  politifi^  betrad)tet  ber  ^önig  äl^ab  mar,  ber  in  ber  reli« 
gtofen  93etrad)tung  ber  SBibel  mcgen  feinet  ®öfeenbienfte§  oer* 
bammt  unb  burc^  bic  ^erfönlid)feit  be§  @lia  üerbcdtt  mirb; 
mir  lernen  bcn  großen  Jiglat  ^ilefcr  tennen,  ber  S)ama§fu§ 
fifirjte,  ba§  9lorbrcic^  <3fraet  big  auf  ba§  ©tabtgebiet  oon  ©a* 
maria  cinjog  unb  ber  äußere  2lnla^  ber  großen  prop!)cttfci^cn  ^c« 
roegung  in  Qfracl  murbc;  mir  Icfcn  bcn  ^od^töncnben  93erid^t  beS 
©an^crib  über  feinen  ©icge§jug  in  <3ubäa,  über  bic  6innat)mc 
Don  £atifc^  unb  feinen  unocrric^tctcn  plö^tic^cn  älbmarfc^  von 
Serufalcm;  mir  ocrftctjcn,  marum  SWcrobac^  (3Warbuf)  S3ataban, 
ber  93afagIonicr  unb  Slioale  ber  Stffgrer,  mit  bem  ^önig  ^i§fia 
unb  anberen  Äleinfönigen  einen  93unb  fd^liefeen  moHtc,  um  bic 
affgrifc^c  SSor^errfd^aft  ju  breiten.  Oanj  befonber§  intcreffant 
ift  cS,  itac^  bcn  fieilinfc^riftcn  ju  ücrfolgcn,  mic  bicfc  @ro§mäd)tc, 
bie  babg(onifc^c  unb  im  SEBcc^fcI  mit  i^r  bic  affririfc^e,  genau  fo 
mic  bic  I|cutigcn  @ro|mäc^tc,  SRu^Ianb  ober  ©nglanb,  bcn  ®I)a* 
rafter  be^  greffenben  an  fic^  l^aben;  fo  lag  e§in  ber  9tatur  ber 
mefopotamifc^cn  @ro|mac^t  immer  meiter  nad^  äBcften  unb  ©ü« 
ben  oorjubringcn,  junäi^ft  nac^  ©grien,  bann  nad)  Kanaan  unb 
über  Äanaan  nad^  2lepr)pten.  SCBar  bic  Oro^mac^t  irgenbmic  im 
Snncm  mit  fid^  felbft  befc^äftigt,  fo  gab  ba§  für  bic  fleincrcn 
Weiche,  ®ama§tu§,  Of'^ael  u.  f.  m.,  eine  ßeit  ber  9lul)c  unb  be§ 
95Iü^cn8;  fo  tonnte  ba§  ifraelitifd^c  fiönigreic^  unter  ©aut,  ®a* 
oib  unb  ©alomo  um  baS  3at)r  1000  cntftel)en,  mcil  Slffur  ba* 
mute  gerabe  burd>  innere  Sttufftänbc  genug  mit  fic^  felbft  ju  tun 
^ottc.  2)er  näd^fte  Stioalc  für  ^\xa^l  mar  3)ama§fu§,  unb  roenn 
ber  ®roJ5^crr  au^er  ©ic^t  mar,  fo  mact)tc  fic^  2)ama§tu§  auf  bcn 


214     SB  0 1  j:  ®a§  wir  von  ben  bab^Ionifc^cn  ^luSötobungcn  lernen. 

©pning,  um  Q\xatl  ju  Dcrf cfilingen,  wie  j.  93.  in  bcr  3«it  3[^ab§ ; 
fobalb  ber  affgrifc^e  Söroe  ^erannal^tc,  blieb  ben  tlcincrcn  Staaten 
nid|t§  anbere§  übrig,  al§  gegen  ben  ftärferen  jtd)  gu  oerbflnben. 
3)ama§fu§  war  jugleid^  ba§  Soüroer!,  ba§  3^fracl  gegenüber  Slf« 
fprien  oorgelagert  voax ;  al§  biefc§  ©oHrocrt  im  ^df)x  732  fiK  ^<^ 
bauertc  e§  nur  noc^  jel^n  ^df)x^  unb  ba§  5Worbreic^  ©amaria 
üerfc^manb  gIeid|faH§  au§  ber  ©efc^i^te.  SBeiter  erfe^en  roir 
aus  ben  Äeilinfc^riften,  mie  bie  fleinen  9ieid)e  bc§  @üben§  in  ber 
9lot  naturgemäß  nad)  2legr)pten  blidtten,  benn  bicfeS  unb  bic  mefo* 
potamifd^e  ©roßmac^t  ftritten  um  bie  SEßett^errfc^aft  unb  9legw* 
ten  mar  ber  ftänbige  ©egner  be§  größeren  Rutturftaate§  im  9tor* 
ben;  ha  aber  ba§  Siitlanb  ein  jU  fd^Iaffer  Drgani§mu§  mar,  fo 
oerfagte  e§  immer  im  entfc^eibenben  SDloment.  S)ie  ^olitif  ber 
^ropl^eten,  bie  ©rmal^nung  jum  ©tiKefcin  unb  gottoertrauenben 
©tittebleiben,  ermeift  fid)  aud^  nac^  ben  Äeilinfc^riften  al§  bie  po* 
litifc^  einjig  richtige  für  ben  religiöfen  Qxotd  3>[tael§;  gegenüber 
bem  Ungcl^euer  2lff grien  mar  eine  politifdie  ©elbftänbigteit  ab* 
fotut  auggefci)toffen,  Ratten  ftc^  nun  ^[raet^^fuba  freimiüig  unter« 
morfen,  fo  t)ätten  fie  aU  affgrifd^e  ^roüinj  roic  in  bcr  nac^eji* 
lifd^en  3ßit  eine  ruhige  unb  fidlere  ©fiftenj  l^aben  unb  bcr  Sie* 
ligion  leben  tonnen.  2lber  ber  Patriotismus,  mit  bem  baS  if* 
raelitif^c  93ölflcin  für  feine  ©elbftänbigfeit  tdmpftc  unb  ftarb, 
ift  menfd)tic^  betrad^tet  auc^  eines  SÄitleibS  mert.  ®nblid^  bürfen 
mir  mol)l  noc^  bie  ©rgebniffc  beS  S^clsel^amamafunbeS  für  bie 
Kenntnis  ber  ifraelitifdien  @ef(^ic^te  anfül^ren.  3Bir  erfahren 
barauS,  baß  fc^on  umS  ^a^r  1400  bic  ©tabt  Urufalim  Oeru- 
falem)  eine  bebeutenbe  gü^ft^nrefibenj  m/ir,  eincS  ber  ©tabttönig* 
tümer,  in  bie  baS  Sanb  Kanaan  jcrfiel  unb  bic  unter  bcr  ^o^eit 
beS  ^^arao  ftanben ;  außcrbem  l|5ren  mir  tjon  ben  ©tiabiri,  fd^mdr« 
menben  9lomaben  unb  ^albnomaben,  bie  immer  von  3cit  Ju  3^^' 
t)on  Often  ober  ©üben  t|er  in  baS  Äulturlanb  bcr  fanaanitifc^en 
©tabttönige  einfielen  unb  fi(^  üon  ben  le^tcrcn  als  ©olbner  in 
bem  beftänbigen  93rubcrfrieg  anmcrbcn  ließen.  3)icfeS  SEBort  G^a» 
biri  roirb  mit  bem  333ort  Hebräer  ibentifijiert  unb  man  nimmt 
an,  baß  auc^  bie  Hebräer,  ouS  bencn  bic  Qfraelitcn  l^croorgingen 
(benn  ber  93cgriff  Hebräer  ift  roeiter  alS  ber  Segriff  Qfraetiten) 


$  0 1  §:  SIBoig  mix  von  ben  bab^lonifd^en  ^uiSgrabungen  lernen.     215 

in  ber  glcii^en  SBeife  fc^roärmenb  in  Slanaan  cinbrangcn,  fid)  aD« 
md^Ii^  gruppcnrocife  ha  unb  bort  f eftfe^ten,  6t§  fie  fdjlie^lic^  ba§ 
Sanb  in  il)rcn  Sep^  befamen.  9Han  \)at  au6)  barauf  aufmcrffam  gc*« 
mad)t,  ba§  roir  in  unfcrcr  Slnfic^t  über  ben  Urftanb  be§  SSolte^  ^tf^^^t 
feit  bem  Slmarnafunb  bjro.  überhaupt  feit  ben  babgtonifdien  2lu§* 
grabungcn  rec^t  bebeutenb  umlernen  muffen ;  ^atte  man  fid^  frütjer 
bo§  SSoIf  9Äofe§  atljufe^r  in  einem  anfänglid^cn  Slomabenjuftanb 
gebaut,  auS  bem  e§  fid^  potitifc^  unb  religiös  QQmä^(id)  gu  einem 
bduerlid)en  Äulturoolf  entmidfclt  ^attt,  fo  feigen  mir  je^t  ba§fetbe 
oon  ^au§  au§  in  bem  93creid)  einer  umfaffenben  Kultur  anfäffig. 
35q§  ift  roid|tig  für  bie  ©ef^ic^te  ^fraeB  unb  für  bie  ©ef^ic^te 
ber  0teligion  3^frael§.  Unb  enblic^  befommen  mir  burd)  bie  2lu§* 
grQbungen  2lnlaj3,  über  bie  ©efc^id^tlid^teit  ber  erften  Slnfänge 
be§  biblifd)en  SSolfeö  unb  ber  ^erfönlic^teit  beS  SWofe  etroa§  ju* 
Dcrfw^ttic^er  aU  h'\Sf)tx  ju  benfen ;  feitbem  jene  graue  ©ergangen* 
^eit  roieber  aufgeftanben  ift,  fönnen  mir  e§  mo^l  nic^t  mel^r  für 
unmoglid)  galten,  ba§  me^r  al§  taufenb  Qa\)xt  fpäter  ein  Heiner 
9tec^t§ftaat  au§  ber  ^anb  3)iofe§  l^erüorging. 

2)ie  ^olitifer  Qfrael§  unb  ^iitbaS  ^aben  einftenö  balb  nad^ 
3leg9pten  balb  nac^  9Iff grien  unb  93abqlonien  auSgefc^aut;  bem*^ 
entfprec^enb  ift  für  bie  Kenntnis  ber  ifraelitifd^en  @efc^idt)te  un« 
bebingt  mertüoH,  bie  ©cfd^i^te  jener  Kutturftaaten  aud)  in  ben 
SinjeE^eiten  ju  miffen.  Qn  ber  2:at  mirb  un§  ber  Seben^gang 
bes;  Hiinen  3Sölflein§  in  Äanaan  erft  rec^t  plaftifc^  unb  in  Dielen 
3ügen  erft  rec^t  oerftänblic^,  menn  ba§  Sid)t  ber  Seilinfc^riften 
barauf  fällt  unb  menn  mir  i^n  in  bem  93uc^  ber  SEßeltgefd|id^te 
ocrfotgen,  ba§  auf  ben  babglonifc^-affgrifc^en  ®en!mälern  ge* 
fc^ricbcn  ift.  6§  ift  bieg  m.  3[.  nac^  ber  größte  Sinken,  ben 
bie  Äcilinfdiriften  nwä  bejügli^  be§  31.  X.  geleiftet 
^aben unb no(^  leiften merben,  ber  Stufen  im  ©ebiet  ber  ^ro* 
fangefc^ic^te  Qff^o^tS-  93ermanbt  bamit  ift  ber  2)ienft,  ben  bie 
Äeilinfd^riften  ber  altteftamentlidien  gorfd^ung  baburc^  leiften,  bajs 
fie  geograp^ifc^e  unb  ardtjäologifc^e  93eftimmungen,  bie  bie  ^ebräifc^e 
95ibcl  gibt,  tontrollieren,  beftätigen  ober  erflären;  cbenfo  ftef|t  bie 
^ebräifc^c  ©prad^miffenfc^aft  in  einem  lebt)aften  SEßec^feloer^ältni§ 
mit  ber  affgriologifd)en  ©rammatitfunbe  unb  Sejifograp^ie. 


216     $  0  I5:  ^aS  toxt  Don  ben  bab^lDnifc^en  Ausgrabungen  lernen- 

^m  6i§l^erigen  i)at  un§  ba§  befdidftigt,  roa§  bic  Äeilinfc^riftcn 
utt§  von  Q^frael  er  jähren;  im  folgenbcn  jucken  roir  jufammenju* 
ftellen,  n)a§  oon  bem  großen  Äulturlanb  in  ba§  Heinere  SSoK 
^inübergefloffen  ift.  O^ne  3^^^^  ^öb^n  roir  ein  SRec^t  ju  fagen^ 
baj3  ^]xad  feine  Sultuv  in  weitem  Umfang  ben  SBa* 
bgloniern  oerbanft.  3)er  babqlonifdie Staat  ift  um ^a^r- 
taufenbe  älter  aU  ber  3lnfang  be§  ifraelitif^en  SBolfeS;  al§  Of* 
raet  geboren  mürbe  unb  an  ber  ^anb  SIÄofcS  bie  erften  (Schritte 
tat,  l^atte  ba§  @efe^  $ammurabi§  (um  2250)  f^on  taufenb  Qai^xe 
in  ber  äöett  fein  SBefen  gehabt.  9[I§  ba^er  ba§  junge  SBoff  fi^ 
in  Äanaan  einftebelte^  traf  e§  bort  eine  il^m  überlegene  ßioilifation 
an,  bie  gemi§  mit  oielen  babglonifc^en  ©tementen  burd^fe^t  roar, 
^m  eigentIidE)en  ©ebiet  ber  Kultur  ift  Q\xatl  roo^l  überhaupt 
lebenSlfinglicti  abtjängig  geblieben,  ba§  Meine  SSolf  mar  nic^t  im» 
ftanbe,  al§  felbftänbiger  gaftor  in  bie  @ef^id)te  ber  Jfultur  ein* 
jugreif en ;  e§  mar  numerif c^  ju  f^road^  unb  ju  ungünftig  gelegen 
unb  bo^  anbererfeit§  nid^t  abgefd^loffen  genug,  um  für  fic^  ju 
bleiben  unb  fic^  für  ftc^  5U  entmidCeln,  fonbcrn  mitten  ^ingcfe^t 
auf  bie  ©tra^e  jmifd^en  Sabplonien  unb  2leggpten.  5Run  ifi  e# 
ja  boc^  überall  fo  im  Seben  ber  SSölfer,  bafe  bie  ^ufl^^örigteit 
gu  bem  politifc^en  SSerbanb  eine§  großen  SReic^eg  aud)  bie  ful* 
tureHe  2lb^dngigfeit  üon  bem  betreffenben  (Sro^ftaat  in  fic^  fd^liefet, 
mie  ba§  gemaltige  römifdie  SReic^  bie  götmen  feiner  ßi^i^if^tion 
überall  l^intrug,  ober  ha^  ein  Keiner,  ber  SUationalitfit  nad^  oev» 
manbter  ©tamm  in  fultureller  ^infid)t  mit  bem  größeren  ©ruber 
marfd)tert,  mie  bie  beutfc^e  @d)meij  unb  ba§  beutfc^e  9teic^  fic^ 
fultureH  jufammenrec^nen.  3)ementfprec^enb  mirb  auc^  Qf^ael 
eben  ein  S^^^i  ön  bem  großen  Söaum  ber  babplonifd^en  ÄuUur 
gemefen  fein. 

3meifello§  l^at  Qfrael  bie  ^ii^bamente  ber  rein  äu^e* 
ren  Äultur,  be§  roirtf d^aftlid^en  Sebeng  unb  be§ 
fommerjiellen  33erfe^r§  oon  bem  älteren  unb  bebeutenberen 
©taatSroefen  übernommen.  ^a%  ®emi(^t  unb  ®elb  tiabcn  bie 
;3fraelitcn  bei  i^rem  (Eintritt  in  Kanaan,  bei  i^rem  2luStritt  auS 
ber  93arbarei  in  bie  3itJilifation,  al§  bab^lonifc^eS  ©emeingut  an* 
getroffen  unb  fortgefüt)rt,  bie  ^ebräifdlien  9tamen  für  ba§  @olb* 


^ 0 1 ):  SßoiS  n)tv  Don  ben  bab^Ionifd^en  ^Ui^gvabutigen  lernen.     217 

geroid^t  (©(^etel)  unb  für  ba§  @ilbergcn)td|t  (SWine),  foroie  baS 
2Bort  für  ©über  j.  83.  ftammen  au§  bem  babglonifdien  Seyifon, 
unb  iDte  ber  ^abritonier  mijst  aud^  ber  3f^<^^Iite  na6)  ben  r^om 
menfc^li(^en  Körper  genommenen  9Wa§en  (©He,  ©panne,  Ringer). 
3tuc^  bie  äJorliebe  für  beftimmte  3^^!^«  (^^iKge  3^^!^"^  n)ic  be- 
fonber§  bie  30^^^^^  7  unb  12),  fomie  für  bie  ganje  fcl)ematifd)e 
ß^ronologie  fc^einen  bie  ifraelitifc^en  Oefd^iditfc^reiber  nic^t  oon 
felbft  gefaxt,  fonbern  im  legten  Orunb  x)on  ber  babplonifdien 
SQäiffenfc^aft  unb  oon  ber  oftronomifd^en  aBeItanfd)auung  jener 
^rieftergele^rten  entnommen  ju  ^aben.  ®ie  ©ntbedfung  be§  Äobej 
^ammurabi  fobann  ^ot  natürlid^  ju  einem  SSergleic^  ivoU 
f^en  bem  altbabglonifdien  Siedet  unb  ber  2:ora 
3  f  r  a  c  1 8  lebl)af t  aufgemuntert,  ^fnöbef onbere  gibt  ba§  fog. 
^unbe§buc^  eine  SRei^e  merfroürbiger  ^^SaraHeten  }u  bem  ®efe§ 
be§  ^ammurabi.  S)ie  bud^ftäblic^fte  3le^nli(^feit  befte^t  gmifd^en 
bem  ifraelitifc^en  jus  talionis  (2Iuge  um  Sttuge  .  .  .)  unb  bem  ent- 
fpre^enben  Paragraphen  be§  ^ammurabi:  menn  jemonb  einem 
anberen  ba§  2luge  jcrftört,  fo  foH  man  it)m  ba§  2luge  jerftören; 
roenn  jemanb  bie  Säf)nt  oon  einem  anbern  fcine§gleid|en  au§* 
f^Idgt,  fo  fott  man  i^m  bie  Qatfnt  au§fd)tagen.  S)a  unb  bort 
erf^eint  aUerbing§  bie  2iora  foroo^I  in  ber  g^orm  al§  in  ber  2ln- 
f^auung  primitioer,  älter  aU  ba§  babplonifd)e  Siecht,  bod^  l^at 
bieg  feinen  ©runb  mo^l  nid)t  barin,  ba§  beibe  9tc^tsft)fteme  auf 
ein  gemeinfameg  ältere^  jurüdf gingen ,  oon  bem  bie  2iora  bie 
frühere  5Qff"^9  barfteDen  mürbe,  oielmel^r  oertritt  bie  2:ora  in 
mandier  ^injic^t,  roie  j.  93.  im  ®ebot  ber  93Iutrad^e,  ben  roheren 
Äutturjuftanb,  in  bem  ba§  tieranioa^fenbe  ^fraet  nod)  mar.  ®a^ 
ba§  ifraelitifc^e  @efe^  oom  Äobej  ^ammurabi  abhängig  ift,  fann 
taum  geleugnet  merben,  j|ebenfall§  ift  fieser,  baj3  bie  Sora  auf 
bem  bur^  ha^  ^ammurabigefe^  gebilbeten  Kulturboben  aufbaut, 
anbcrerfeitö  läjjt  fic^  ni^t  beftreiten,  ba&  bie  ^ff^öetiten  auf  bem 
gegebenen  93oben  fic^  ein  felbftänbigeS  9ted)t  gefdiaffen  Ijaben. 
Qn^befonbere  meift  ber  religiöfe  ©fjarafter  be§  ifraelitifc^en  ®e* 
fe^eg  auf  eine  prinjipieüe  S3erfd)iebenl|eit  be§  @eifte§  ber  beiben 
9ied>t§fi(fteme. 

®benfomenig  mie  baS  ifraelitifdie  9ted)t  barf  ber  ifraelitifd)e 


218     §8  0 1  $:  ^ag  n)ir  t)on  ben  bab^Ionifd^en  Ausgrabungen  lernen. 

Äultu§  jum  bloßen  Plagiat  au§  bem  SSabptonifc^cn  gemacht  wer* 
ben.  2lber  wir  finben  bei  einer  3)urd^jtd)t  be§  teilinfc^riftlic^en 
9WateriaI§,  ba§  im  tultifd)en  Seben3fracl§,  inber 
äußeten ^anb^abung  ber SReligion,  eine  vielfältige  SBerroanbt* 
fcl)aft  mit  ben  babglonifc^cn  formen  mar.  SWe^rere  93e* 
jeic^nungen  t)on  Opfern  unb  rituellen  ^anblungen  ^aben  bie  3f* 
raeliten  mit  ben  S3abr|loniern  gemein  (sebach,  nesek,  5fetoret, 
Ifiddasch,  l^adesch,  5fipper  [urfpr.  =  abmifc^en],  salach),  roei* 
tcr  aber  aud|  oerfd^iebene  Dpferarten  unb  bie  9luffaffung  bcr* 
felben,  bie  Qbee  be§  2iieropfer§  aU  eine§  ftelloertretenben  Opfert, 
bie  jmölf  ©d^aubrote,  bie  Seftimmungen  über  bie  Dualifitation 
ium  ^riefterbienft,  3le^nlid^teiten  im  Orafelmefen  unb  in  ben 
Srauerbräuc^en.  3)ie  SBerroanbtfd^aft  roeift  nic^t  immer  auf  3lb* 
l^ängigteit  unb  manc^eg  oon  bem  Slufgejäl^lten  mag  feinem  Ur» 
fprung  na^  nid)t  bIoJ3  babqlonifd^,  fonbern  allgemein  menfd)lic^ 
fein,  aber  ba§  natürlic^fte  ift,  ha^  bie  3»f^öeliten  e§  oon  ber 
babglonifd^en  ^ulturroelt  übernommen  l^öben,  benn  aucti  ber  Sul* 
tu§  gel^ört  jum  ganjen  äußeren  33eftanb  ber  Kultur.  ®irette  @nt* 
lef)nungen  tultifd^er  33räuc^e  oon  Slffgrien  unb  Sabglonicn,  mic 
fie  in  ber  Sönig§jeit  Dorfamen  unb  oon  ben  ^ißrop^eten  al§  ©öfeen* 
bicnft  bejeid^net  mürben,  brauchen  mir  ^ier  nic^t  ju  ermahnen. 
3)er  ®abbat  fobann  al§  2lbfc^lu§  ber  fiebentägigen  SBoc^c  ^at 
fic^  möglid^ermeife  au§  ber  ä^nlid^en  ®inrid)tung  be§  babplonifc^en 
schabattu  ^erau§entmi(felt;  bie  ?leumonbfeier  mirb  üon  ber  ^cimat 
ber  SKonboere^rung  au§  fid^  verbreitet  l^aben ;  ber  9lame  Qa^roe 
finbet  fid)  auf  ben  S^ontafeln  in  au^erifraelitifc^em  ®ebrauc^,  j.  35. 
al§  93eftanbteil  oon  fr|rifct)en  gü^ft^^^^ömen  unb  üielteidit  auc^  üon 
alten  babplonifd^en  Spanien,  meift  in  ber  gorm  3!a^u,  au§  ber  fic^ 
bann  bie  ^ebräifc^e  gorm  ^af^vot  gebilbet  ^ätte.  ferner  ift  ba§ 
tiebräifd^e  SBort  für  ^rop^et,  nabi,  ^5(^ftma^rfci^einli^  mit  bem 
babt|lonifd)en  nabu  oermanbt;  nabu  ift  ber  Sprecher,  ber  SJer* 
fünbiger,  unb  jroar  ber  Sßerfünbiger  be§  ©c^icffal§,  Siabu  (SRtbo) 
ber  ©Ott  ber  ©c^irffal§beftimmung,  fo  ba^  alfo  ber  nabi  oon 
^au§  an^  ber  Serfünbiger  be§  ©d)idtfal§*  mdre,  mag  mit  bem 
^JQSefen  ber  ifraelitifdien  ^rop^etie  porjüglic^  übereinftimmt.  @nb* 
lic^  ift  bie  formelle  Slb^ängigfeit  ber  ifraelitifc^en  ^ßfalmcn  oon 


$  0  ($:  ^a§  mix  ron  ben  bab^tonifd^en  Ausgrabungen  lernen.     219 

ben  babglonifc^en  faum  ju  leugnen,  wenn  and)  bie  Jöerfd^iebcn^cit 
be§  ®eifte§  gröjäer  ift  aU  bie  2le^nli(^feit  be§  äußeren  ©eroanbe^. 
®ic  t)on  ©ab^Ionien  au^gc^enbc  aftronomifd^e  SBelt* 
anfc^auung  ^at  bie  ifraelitifd^e  ©ebanfcnroelt  in  manchen 
©tüdfen  beeinflußt,  ©o  ru^t  bie  priefterlic^e  ®f)ronoIogie  be§ 
l)eiligen  S3oIte§  auf  bem  ^rinjip  ber  ©eftirnberoegung  unb  bie  ^ 
räumliche  ©inteilung  be§  l^eiligen  Sanbe§  in  jroölf  2EeiIe,  bie  bem 
Jiertrei^  ent[pri(^t  ift  auf  ba§  ^immel§fr)ftem  gegrünbet,  cbenfo 
fönnen  roir  bie  tünftlic^e  2lnlage  be§  ßager§  unb  beS  2empel§,  wie 
fie  ber  ^riefterfobey  befc^reibt,  fultifc^e  ©gmbole,  wie  ber  ficben* 
armige  Seud|ter,  ©pefulationen  über  bie  Sngel  unb  ben  So§mo§, 
roie  in  ©jed^icl  unb  in  ber  3i0^anne§apotalripfe,  mit  ^itfe  be§ 
in  95abglonien  entftanbenen  aftronomifcfien  S)enfen§  beffer  üerfte^en. 
9(ud>  bie  Sebeutung  be§  93egriff§  derek  =  ^anblunggmeife  läpt 
burd^bliden,  roie  bie  ^immlifcfie  Orbnung  ber  ©eftime  jugleitf) 
bie  yioxm,  be§  göttli^en  SBitlcn^  unb  bie  fittli^e  Orbnung  in  ber 
2Wenfd|enroelt  ift.  Ueberl^aupt  nimmt  ba§  21.2:.  an  ber  oon  '^abr}- 
lonien  I|er  befannten  3^bee  teil,  ba§  Jjie  ©rbe  ba§  Stbbilb 
be§  ^immel§  fei  unb  bie  irbifdgen  Sßorgänge  unb  ©inric^:? 
tungen  ben  ^immtif^en  tongruieren.  ®er  3Wenf^  ift  ba§  93ilb 
®otte§,  bie  Sfraeliten  fmb  bie  ©terne  bejro.  bie  guten  ©terne 
Qaffwe  Qthaot  ba^er  gleidierroeife  ber  ©Ott  ber  iiimmlifd^en  roie 
ber  irbifd^en  ^eerfdjaren),  bem  2Ibfatt  ber  ©terne  entfpridjt  ber 
äbfatl  ber  Reiben,  bie  abgefallenen  ©terne  finb  aU  ©ötter  über 
bie  Reiben  gefegt.  S)iefe  ©leid^^eit  ber  irbifd^en  unb  ber  l)imms 
lifdien  äJorgänge  !ommt  befonber§  in  ber  ©^(^atologie  jum  2lu§* 
brucl,  ober  genauer,  für  bie  le^te  3cit  n^i^^b  ein  3ufammenflieJ3en 
ber  irbifc^en  unb  ber  ^immlifc^en  ©pl|äre  geglaubt:  e§  tritt  eine 
(!^aotifdt)e  Unorbnung  in  ber  ©temenroelt  unb  in  ber  SJlenfd^en* 
roelt  ein,  ber  ^immetemenfc^  nimmt  bie  gü^nmg  im  äBeltaU  an, 
bie  3Wenfc^en  roerben  ju  ben  ©ternen  ert)oben,  ^immel  unb  ©rbc 
roerben  ©in  ©ebilbe,  eine  neue  333elt.  2lu(^  bie  anbere  Äonfe^ 
quenj  ber  aftronomifc^en  SEßeltanfdtiauung,  bie  roir  oorne  erroä^nten, 
bie  3ibee  ber  ^  r  ä  b  e  ft  i  n  a  t  i  o  n  ift  in  ben  jübifdjen  ©(aubenS* 
beftanb  übernommen  roorben,  ber  ©ebante,  bajs  ber  333elt(auf  üon 
Uranfang  an  feftgelegt  fei,  baß  ©Ott  feine  au^erlefenen  SQSertjeuge 


220     SB  0 1 3 :  9BaiS  mix  Don  ben  bab^lonif c^en  Ausgrabungen  lernen« 

von  lange  l^er  ju  i^rcm  bcfonberen  2)ienft  oerorbnct  ^abe,  ba^ 
aüe  bic  @reigniffe  ber  ®efd)i^te  int  Dorau§  in  ^immlifc^en  93ü* 
(^ern  eingcfc^riebcn  feien  unb  fid^  ba^er  mit  unabänberli(^er  Slot* 
roenbigfeit  ooügie^en,  ba§  in  ber  „%Mt  ber  3^'^^""/  ^-  ^-  ^^^^^ 
bie  oon  ®ott  oorauSbeftimmte  3^it  oollenbet  ift,  ba§  enoartetc 
®nbe  eintreten  roerbe.  hiermit  berührt  fic^  noi)  bie  SBorfteQung 
t)on  bem  ^ni)  beS  fiebenS  unb  pon  ber  älufjeic^nung  ber  böfen 
unb  ber  guten  SBerfe,  bie  fid^  im  ^tubentum  mie  juerft  in  Sabp« 
lonien  finbet.  äBciter  erinnert  bie  scheol  be§  21.1.  an  bie  babglo* 
nifc^en  ©d)ilberungen  ber  Untermelt,  unb  überaus  roa^rf^einlic^ 
ift  ber  babglonifc^e  ®inffu§  in  ber  Se^re  t)on  ben  ®ngeln  unb 
3)  ä  m  0  n  e  n:  bic  fieben  ©rjengcl,  bie  t)ier  Verübe,  bie  SBorftellung 
oon  ben  menfrf)engeftaltigen  geflügelten  Sraftmefen,  oon  ber  ^imm» 
Iif(^en  SRat^oerfammtung  unb  oießeic^t  auc^  oom  ©atan  finb  oer* 
mutlic^  au§  SSabglonien  in  bie  ifraelitifc^sjübifdie  (roie  jum  Seil 
in  bie  perfifd^e)  ©petulation  übergegangen.  S08a§  enblic^  bie  alt* 
teftament(irf)==iübifc^e  @§ci^ato(ogie  betrifft,  fo  l^at  fic^  am 
Slu^cnroerf  berfelb^,  roie  eben  bemertt,  manches  al§  babglonifc^ 
I)erausgcfteüt ;  bie  gorfdtier  ge^en  aber  noc^  weiter  unb  rooKen 
bie  ganje  Qfbce  oon  einem  äBelterlöfer,  ber  bie  Sämonen  be* 
jroingt,  aKe  eJinftcrni^  ocrtreibt  unb  bie  SBSelt^errfc^aft  befommt, 
auf  ba§  Urbilb  oon  bem  ®ott  SWarbut  jurüdffü^ren,  ber  al§  ber 
®ott  bc§  £irf)t§  ben  ©ieg  über  bie  ginfterniS  feiert  unb  bie  ^err« 
fd)aft  über  ba§  2111  empfängt. 

2)cr  Jag,  an  bem  man  auf  ben  2:ontafeIn  ben  Seric^t  über 
bie  ©intflut  fanb,  ift  im  Äalenber  ber  ÄeiIfc^riftforf(^ung  ftetS 
als  ein  befonberer  aufgefül^rt  roorben.  Unb  bie  golgejeit  fd)ien 
immer  neue  Ueberraf  (jungen  über  bie  2le]^nlic^feit  ber  bib« 
lifc^en  unb  ber  babr)  lonif  d)  en  Urgefd^ic^tc  bringen 
ju  rooflen.  ^nbcm  mir  bie  urgefc^ic^tlid^en  ©rjä^Iungen  ber 
SRei^e  nad)  anfül^ren,  erroätinen  roir  nur  bie  SBerül)rung§puntte, 
fobann  ba§  äußere  unb  ba§  innere  3Ser^äItni§  ber  beiberfeitigen 
Seri^te.  3)abei  b^nbelt  e§  fi^  ni^t  blog  um  einen  SSergleic^ 
mit  ben  babglonifd^en  Urgefd)id)ten,  fonbern  mit  ben  babqlonifc^en 
2tnfd|auungen  übert)aupt.  2lud)  bie  Ä'cilinfc^riften  geben  mehrerlei 
©d)öpfung§beridt)tc,   einen  ^auptberic^t,   ben   man  mit 


S  o  I  $:  9BaS  xoix  Don  ben  bob^lontfc^en  älu^grabungen  lernen.     221 

@en  1  0€rglet(^t  unb  bcr  bie  ©d^öpfung  be§  SÄenfc^cn  al§  21 6== 
fc^lu§  bringt  unb  einen  ber  roie  ®en  2  bie  ©d^öpfung  be§  a)len= 
fc^cn  an  bcn  Slnfang  rüdtt,  ftc  geben  bie  SBorftetlung  üom  9Wen* 
fc^n  o(S  einem  von  Sonerbe  genommenen  unb  als  einem  nac^ 
bem  Silbe  ber  ©ott^eit  gef^affenen  SBefen.  gerner  erfd^eint  ba§ 
(£^ao§  in  ®cn  1  wie  ein  mgt^ologifd)er,  oon  au§märt§  einge* 
brungcner  SReft;  bie  Tehom  (artifeüoS  mie  ein  Sigenname)  er* 
innert  an  baS  Urungeiieuer  Tiämat  ber  babgtonifd^en  @age,  baS 
ber  ®ott  SWarbuf  auSeinanberfpaltet,  unb  an  bie  aud^  fonft  im 
3(.2:.  fic^  finbenbe  aSorftcHung  oon  bem  roilben  9Weer,  bem  Urroaff er, 
ba§  oon  bem  ©d^öpfergott  jum  ©c^orfam  gejmungen  roirb;  ber 
$lurali§  in  ®en  1 26  unb  bie  ^fbce  beS  gottgleic^en  Urmenfd)cn  1 2? 
berühren  frembortig.  9)iC'  ganje  Sluffaffung  ber  SEBeltfd^öpfung 
al§  be§  frül^iä^rlidien  Seben§anfange§  nac^  ber  ^eriobe  be§  bc= 
ftdnbigen  9iegcn§,  bie  Spaltung  ber  oberen  unb  ber  unteren 
SSBaffer,  bie  Sammlung  ber  333affer  in  ben  unterirbifc^en  Ojcan, 
auf  bem  bann  bie  trodfene  ®rbe  mie  ber  ®edEeI  auf  einem  Sopfe 
liegt,  ftimmen  jum  babglonifdien  SBeltbifb.  ©obann  ift  ber  ba* 
bijlonifd^e  ^auptberic^t  auf  fieben  S^afcln  oerjeidtinet,  mie  bie  33ibel 
oon  ben  fieben  3;agen  ber  ©c^öpfung§n)odt)e  rebet,  wobei  freiließ 
bie  2:afeln  ben  Sagen  im  einjelnen  nid^t  entfprec^en.  3)ie  SRei^en« 
folge  bcr  gef(^affenen  Sebemefen  ift  beibemal  in  ber  ^auptfadje 
biefelbe :  ©terne,  Siiere,  SUlenfcti ;  bie  ©terne  folgen  in  ®en  1  ben 
^flanjen,  roeil  fte  ßeberoefen  finb  unb  weil  fie  ba^er  ju  ben  S3e* 
roo^nem  get|ören,  bie  oom  oierten  bi§  fec^ften  2^ag  in  bie  9iäume 
^ineingebradl|t  merben,  meldte  oom  erftcn  bis  jum  britten  2:ag  er* 
ftonben. 

3n)ifd)en  ber  biblif(^en  'ißarabiegerjäl^lung  unb  bem 
babglonifc^en  Slbapamijtl^ug  ift  feine  innere  Sßermanbtfc^aft,  benn 
äbapa  tommt  um  ba§  $arabie§  bejm.  um  bie  Unfterbli^feit  nii^t 
burc^  ©ünbe,  fonbern  burdi  ein  3Jli§oerftänbni§.  3Iud)  fonft 
finbet  fid^  ju  ber  ®rjäf)lung  oom  ©ünbenfall  feine  babrilo* 
nifc^e  parallele.  ®emeinfam  ift  inbeS  bev  ®efdt)ict)te  oon  ®en  2  f. 
unb  jenem  SWijtfiuS  bie  SHefleyion  über  bie  @ntftef)ung  ber  menfd^* 
liefen  ©terblid^feit  überl^aupt,  aud)  ift  bie  SSorftedung  oom  ^ara* 
bie§  fetbft,  Dom  SebenSbrot  unb  SebenSroaffer,  roie  mir  fel)en,  in 


222     ^  0  ( § :  3Bag  tuir  von  ben  bab^Ionif d^en  Ausgrabungen  lernen. 

SSabglonien  ju  ^aufe.  SCBeitcr^ui  jcigt  nun  ber  !cilinfc^riftlic^e 
©intflutberic^t  eine  mertroürbige  Uebercinftimmung  mit 
wandten  ®etail§  ber  biblifd^en  ®efd|ic^tc:  ber  J^elb  ber  Sintflut 
ift  ber  le^te  einer  Steige  üon  jef)n  Uroätern  bejn).  Urfönigen,  bie 
alle  ungeheuer  lang  gelebt  ^aben.  ®ie  Sintflut  erftrerft  fic^  über 
bie  ganje  SUlenfc^l^eit  unb  fommt  al§  ©trafgerictit  ber  ®ötter  wegen 
ber  Sünbe  ber  SWenfctjen,  einer  ber  oerfc^iebenen  babplonifc^cn 
Scripte  üertritt  biefe  9luffaffung  befonberS  beutlic^.  Utnapifc^tim, 
ber  Siebling  be§  ®otte§  @a,  roirb  oon  feinem  ®ott  o^ne  SBSiffen 
ber  anbcrn  ©ötter  burc^  ein  J^raumgefic^t  in  Äenntniö  g^f^^t  unb 
angeroiefen,  ein  ©d)iff  nac^  beftimmten  SWajsen  ju  bauen,  e§  mit 
(£rbpe(^  bi^t  ju  mad)en  unb  Seben§famen  aßer  3lrten  auf  ba^fclbe 
ju  bringen,  Utnapifd)tim  nimmt  feine  gamilie,  alle  2lrten  oon 
Sebemefen  unb  bie  Sunft^anbroerter  auf  ba§  Schiff,  burc^  roelc^ 
le^teren  Qnq  ba§  ^ortbefte^en  ber  Äultur  gefidjert  wirb ;  ju  ber 
üon  ®ott  beftimmten  ©tunbe  oerfd)lie&t  er  baS  2:or.  9lun  bricht 
bie  Sintflut  to§,  Sturm  unb  äBaffer  bringen  ben  SWenfc^en  ben 
Untergang  fe(^§  2:age  lang.  2lm  SJlorgen  bc§  achten  2:age§  fi§t 
ba§  Sd)iff  auf  einem  Serg  auf  unb  bleibt  ba  weitere  fec^§  3:age. 
Sobann  lä&t  Utnapifc^tim  eine  Staube  au§,  bie  mieber  jurüdtfe^rt, 
eine  Sc^malbe,  bie  gleid^faU^  roieber  tommt,  unb  einen  9taben, 
ber  nic^t  mel^r  jurüd  roitl.  ®arauf^in  Derlä^t  Utnapifc^tim  ba§ 
Sd)iff  unb  bringt  ben  ®öttern  ein  3)anfopfer  jum  ®eru^  be§ 
aßol^lgefalleng.  ®a  bittet  ben  Obergott  93el,  boc^  in  ^^lunft 
feine  Sintflut  me^r  über  bie  ÜMcnfd)en  ju  ner^ängen.  —  3)ie 
®ef(i|i^te  üom  2:urmbau  finbet  fid^  in  ben  fieilfd)riften  (bi5 
je^t  menigfteng)  ni(J)t  üieHeic^t  ift  fte  originalifraelitifc^  unb  roill 
ben  ^od)mut  babqtonifc^er  Kultur  malen;  i^re  SSorlage  ^at  fte 
atlerbing^  in  ben  babglonifc^en  Stufentempeln,  bie  eine  SBerbinbung 
ämifc^eu  §immet  unb  ®rbe  barftelten  foHen. 

9Jlan  fielet,  bie  Sletinlici^teit  jroifd^en  SSabglonien  unb  ^ffrael 
ge^t  gerabc  in  biefem  oielbeliebten  ^unft,  in  ber  Urgef^ic^te,  in 
aSirflic^teit  fel^r  nal|e  jufammen.  3)oc^  bleibt  bie  SScrroanbtfc^ft 
in  einigen  äußeren  Sinjelbingen  beftefien,  unb  (ie  oerlangt  eine 
®rf lärung :  ift  ber  biblifdie  SBeri^t  oom  babgtoni* 
fc^en  abhängig  ober  lä^t  fic^  bie  SSerroanbtfc^aft  anbcrSmie 


$  0 1):  ®aS  toxx  Don  ben  bab^lonifd^en  Ausgrabungen  lernen.     223 

begreifen?  S)tefe  ^i^agc  pngt  mit  bcr  allgemeineren  jufammen, 
ob  bie  urgefc^id)tlic^en  @v}ä^lungen  ein  ^^robult  ber  @ele^rfamfeit 
ober  ein  DolfStümlic^eS  ©ebilbe  maren,  unb  ba  mir  jmar  ber 
©intflutberid)t  al§  etwaS  93oH§tümüc^e§  erfdjeint,  bie  ©djilberung 
oon  ®en  1  aber  nid)t  fo"  empfiehlt  e§  fi^  mir,  beibe§  getrennt 
}u  betrauten.  2)ie  (Srjä^lung  oon  ®en  1  get|t  gemijs 
nic^t  auf  eine  Uroffenbarung  jurüdt,  bie  fic^  in  i^rer  reinen  ©e- 
ftalt  auf  bie  biblifc^e  95eric^terftattung  fortgeerbt,  in  93abqlonien 
ober  bie  pol^tl^eiftifdie^^rm  angenommen  ^ätte:  ebenforoenig  liegt 
bem  beibcrfeitigen  Seri^t  bie  Erinnerung  an  eine  gefd^i^tlic^e 
Urtatfac^e  ju  grunbe,  oielmelir  ^aben  loir  eine  ©pefulation  über 
bie  fo§mologif^e  $rage  oor  unS,  bie  ba§  benfenbe  @emüt  eine§ 
Äutturmenfc^en  ioot|l  frü^e  bemegen  mochte.  9lun  ift  ber  bib* 
lifdje  Seric^t  um  oiete  t)unbert  ^fal^re  jünger  al§  ber  babr)lonifd)e 
unb  enthält  frembartige  ®lemente,  bie  mir  au§  ber  Sieligion  Qfraels; 
nic^t,  a\i§  ber  babglonif^en  (Situation  unb  ©ebanfenmelt  aber 
}um  Seil  begreifen  f önnen  (Urroaff er,  2;e^om) ;  eg  ift  ba^er  über= 
au§  roa^rfc^einlid),  ha^  ber  biblifc^e  @d)riftfteller  bie  babglonifd)e 
©pefulation  übernommen  ^at,  wobei  mir  glauben  bürfen,  ba^  ber 
alte  babc^lonifd^e  (Sc^öpfungSm^t^uS  ben  ifraelitifc^en  @ebilbeten 
jeberjeit  jur  SJerfügung  ftanb  unb  ba|  er  oon  ben  ^oeten  (^^3fal- 
wen,  ^iob)  in  feiner  plaftifc^eren  g^tm  be§  Kampfe^  jmifrf^en 
So^roe  unb  bem  3Weerunget|euer,  oon  bem  ^rieftergetel)rten  in 
einer  ocrgeiftigten  SSäeife  benu^t  rourbe.  SBielleic^t  mar  ber  aWr)t^u§ 
ben  ©cbilbeten  innerhalb  ber  Äulturnationen  im  Sauf  ber  Qaf)X' 
l^unberte  fo  allgemein  befannt  geworben,  ba^  man  an  feine  ^er* 
!unft  birett  gar  nic^t  mel)r  ba^te. 

93ci  ber  ©  i  n  t  f  l  u  t  erl^ebt  ficf)  junädjft  bie  5^age,  mag  biefe 
Srjä^lung  fagen  miß,  ob  fie  urfprünglid^  ein  ©onnen*  bjro.  9Wonb* 
mpt^uS  mar  ober  nic^t  oielmet)r,  ma§  mir  roat)rfc^einlicl)er  ift, 
auf  ein  gef^ic^tlic^e§  ®rtigni§  jurücfgct)t  unb  erft  fpäter  bann, 
wie  manche  anbere  ©agen,  ju  einem  fiberifd^en  iSflx)ti)\x§  oerman» 
belt  mürbe.  3)iefe§  gefi^id^tlidje  ®reigni§,  auf  ba§  ber  teilin- 
fc^riftlic^e  mie  ber  biblifc^e  93erid)t  anfpielt,  mu^  iebenfaü§  in 
SBabglonien  gefd)e^en  fein;  ba§  ift  ber  einjig  mögliche  93obcn  ber 
5lut,  bort  t|at  bie  glut  fogar  bie  d^ronologifc^e  ©ebeutung  einer 


224     $  0 1  s :  ®a§  wie  von  ben  bab^lonif d^n  SluiSgrabungen  lernen. 

Spoc^e  befommeit  („oor  ber  g(ut",  „nati)  bcr  S^wt").  ©benfo 
fieser  ift  ba^  bie  biblifc^e  @rja^(ung  mit  ber  bab^Contfc^en,  im 
Unterfc^ieb  oon  ben  übrigen  ^lutfagen  ber  äBelt  eng  pfammen^ 
gehört  unb  ba§  ber  bab^Ionifc^e  ^ertc^t  lang  por  bem  ifraeliti« 
fc^en  entftanben  ift,  ba  bie  feilinfc^riftlic^e  Sttufgeic^nung,  bie  roit 
^aben,  nod|  über  2000  hinaufreicht.  SBie  ift  nun  bie  Scrroanbt* 
fc^aft  ju  erttären?  ^ier  mie  beim  ©(^öpfung^berid^t  Ictinen  roir 
bie  älnnal^me  einer  göttlich  gegebenen  Urtrabition,  bie  ftc^  in§ 
9l.£.  hinein  untabelig,  in  ^ab^bnien  at$  3Ri§bi(bung  forter^alten 
^ätte,  al§  unermiefen  unb  unma^rf(^ein(ic^  ab.  ätud^  baS  ift  fc^roer 
glaubl^aft,  ba§  bie  ^l^nen  ^fraelS  no(^  eine  Erinnerung  an  ben 
gef(^i(4tlic^en  SSorgang  ber  mirflic^en  @intflut  nac^  Kanaan  mit« 
gebracht  unb  il|ren  9la^!ommen  überliefert  Ratten,  o^nc  bie  *e* 
fanntf^aft  mit  ber  babgtonifc^en  @r)ä^lung ;  bie  Uebereinftimmung 
in  ben  einjelnen  fleinen  3ö9en  ber  93crid)tc  fprid|t  bagegen.  9Bir 
luerben  oietmel^r  anjunel^men  ^aben,  ba^  bie  biblif(^e  @t^a^tung 
au$  ber  babglonifc^en  ^eroorgegangen  ift,  moburi^  un^  aud^  etliche 
primitioe  SSorfteQungen  in  ben  biblif^en  Kapiteln  begreiflicher 
merben.  Unb  jmar  glauben  mir,  ba^  bie  bab^Ionifcfie  @age  in 
Kanaan  betannt  mürbe,  ba§  bie  ^f^^eliten  fie  bei  i^rem  (Eintritt 
in  Kanaan  ober  fpdter  tennen  lernten  unb  fid^  aneigneten  unb 
ba^  bie  ifraelitifc^en  ©^riftfteller  fie  ^emad^  aufnahmen  unb  für 
i^rc  SJarfteDung  bearbeiteten.  @§  märe  bann  mit  bem  bab^loni* 
fc^en  ©intflutberid^t  ätinlid^  ergangen  mie  mit  bem  Slbapamgtl^u^, 
uon  bem  mir  au§  ben  älmarnatafeln  miffen,  ba^  er  in  Kanaan 
im  Umlauf  mar. 

S)urc^  biefe§  3eugni§  ber  babrjlonifc^en  ©enfmaler  ©er* 
lieren  bie  biblifdien  @rja^lungen  nid^tS  oon  i^rer 
@rö§e.  ^m  ©egenteil.  3">ö^  muffen  mir  offen  unb  e^rlic^ 
jugeben,  ba§  bie  biblifdien  ©ef^i^tf^reiber  frembe  ©toffe,  menfc^* 
lid^e  ©toffe  aufgegriffen  ^aben  unb  ba§  oieleS  oon  bem  xoa^  in 
ber  Urgefd)id)te  fle^t,  nic^t  göttliche  Offenbarung  ift,  fonbern  menfc^- 
lic^e  ©age  unb  menfc^licl)e  ©pefulation.  2lber  mir  feigen,  ba§ 
bie  biblifc^en  ©ct)riftfteller  nid)t  etroa  ben  babglonifi^en  @eift  über« 
natimen,  au§  bem  bie  Urgcfc^icl)ten  entftammtcn,  ba§  fie  oielme^r 
jene  babr)lonifd)en  2^rabitionen  in  ben  ^eveic^  i^re§  eigenen,  burc^* 


$ol^:  fl&a^  loir  t>on  ben  bab^Iottifd^en  ^uiSgrabungen  lernen.  225 

au§  oerfdjiebenen  ®eifte§  ^crcinjogcn.  Unb  fcitbcm  xoxx  burc^  bie 
Ausgrabungen  biefe  menfc^tid)en  Srabitionen  fcnnen,  roiffen  wir 
erfl,  roie  gro§  unb  ftarf  bcr  propI|etifd)e,  gottgegebene  ©eift  3>f* 
racfö  geroefcn  ift.  aWan  ijat  mit  SRed^t  an  gauft  erinnert  unb 
barauf  l^ingeroiefen,  xoa§  bie  maffiüe  93oIf§fage  oom  ^auft  in  ber 
fouüerdnen  ^anb  @oct^e§  geworben  ift;  man  fann  an  ©tatuen 
ber  Haffifc^en  griedjif^en  Äunft  benfen,  bie  ber  äußeren  ^^rm 
nac^  i^re  3tbftammung  oon  unbel^olfencn  antifen  SBorbilbern  oer* 
raten,  aber  bod|  gegenüber  ben  Unteren  mie  eine  Offenbarung  er« 
fc^einen.  S)er  ©eift,  au^  ber  ®eift  @otte§,  fd^afft  nic^t  au§  bem 
3l\d)t^,  fonbern  er  bel^anbelt  ben  gegebenen  primitioen,  ro^en 
Stoff.  SBBa§  ^at  ber  prop^etif^e  ®eift  ber  biblifd^en  ©efc^id^tS« 
f^reiber  au§  bem  bab9lonifd)en  ©intflutberi^t  gemacht!  2)ie  bib« 
lifc^e  Srjä^lung  ift  ia  felbft  in  manchen  S%^^  ^i"^  ünbli^e  ©r« 
jäf)Iung,  aber  fie  fte^t  f)oä)  über  ber  bab^Ionifd^en  ba:  bie  2lu§« 
lieferung  be§  göttlichen  93ef(^luffe§  an  Utnapifd^tim  ift  ein  SBerrat 
be§  einen  ®otte§  an  ber  ©ötteroerfammtung;  Utnapifd^tim  wirb 
nic^t  wegen  feiner  grömmigteit  bematirt,  fonbern  miber  ben  SBißen 
be§  Obcrgotteg  burd^  Sift  errettet;  afö  bie  2eute  ben  babglonifc^en 
9ioat|  fragen,  warum  er  bie  2lrdf|e  baue,  muß  er  fie  na^  feinet 
@otte§  SRat  ^interg  Sic^t  fül^ren,  bamit  fie  umfo  fidlerer  in  il^r 
aSerber6en  rennen;  wie  bie  Unwetter  ber  Sintflut  ein^erftürmen, 
wirb  e§  ben  ®öttern  felbft  angft  unb  bang,  gleicf)  bem  QaubtX'- 
le^rüng,  ber  bie  ®eifter  rief;  nad^  gefd)el)ener  ^(ut  ftreiten  bie 
®ötter  miteinanber,  ba§  fo  t)iel  Unzeit  angerichtet  würbe,  unb 
enblid^  wie  ber  babgIonif(^e  3lodt)  fein  Opfer  jurid^tet,  ba  l^ei^t 
e§:  bie  @ötter  rod^en  ben  3)uft,  bie  ®ötter  rod^en  ben  guten  ®uft, 
bie  ®ötter  fammelten  fi^  wie  bie  fliegen  um  ben  Opferer.  ®benfo 
wirb  bie  babplonifclie  Sc^öpfungSbarfteHung  üon  bem  Äampf  jwif d^en 
SRarbut  unb  bem  Ungeheuer  Tiamat,  bei  bem  bie  anbern  ®ötter 
oott  Slngft  unb  93egier  jufdöauen,  weit  e§  fid^  für  fte  um  ©ein 
ober  9lid)tfein  l^anbelt,  in  ber  93ibel  ju  einem  ^rei§  auf  bie  laut* 
lofe  2lüma(^t  ®otte8.  ©(^on  bie  perfifc^e  ^Religion,  bie  biefen 
SKarbuffampf  übernimmt  unb  barau§  ben  ©ieg  be§  Sidf)tgotte§ 
über  ben  bofen  ©atan  mac^t,  f|at  ba§  babgtonifc^e  ®efäg,  bie 
9laturfage,  mit  ganj  neuem  fittlic^em  ®ef)alt  gefüllt;  in  ber  bib* 

drttff^nft  ffir  Xfftoloqit  unb  jtirc^e.    14.  ^a^rg.,  8.  $eft.  16 


226   )iBoI$:  98a§  loir  von  h^n  bab^lonifd^en  ttu^grabungen  lernen. 

lifd^cn  ®arftcüung  oon  ®en  1  ift  fein  ^mpf  mc^r  jroifd^en  jroei 
©croalten,  fonbcm  ba§  rein  gciftige  ©c^öpfungSroort  beS  einen 
guten  @otte§. 

@§  ift  alfo  jroifd^en  ben  beiberfeitigen  ^erid)ten  n)o^l  etlid^e 
Slel^nlic^tcit  in  ber  gorm,  aber  ein  .funbamcntaler  Unterfd^ieb  be§ 
®eifte§,  unb  ba§  roaS  für  un§  religiös  unb  fitttt^  wichtig  ift,  baS 
finben  wir  nid^t  in  ber  babglonifc^en,  fonbern  in  ber  biblifc^en 
©arfteHung.  3)ie  ®ötter  ber  feilinfc^riftlid^en  ©rjä^Iung  fmb  ni^t 
fd^Iec^ter  unb  nic^t  beffer  aU  bie  ©ötter  unb  ©öttinnen,  bereu 
Seben§'  unb  fiiebeSgefc^i^ten  wir  au§  ben  griecftif^en  ©agcn* 
büdjern  roiffen;  fie  leben  in  ber  9Jieberung  menfd^lid^er  Seiben* 
fd^aften  unb  weifen  fic^  baburd^  aU  ©ebilbe  ber  unfertigen  ^^^an- 
tafie  bc§  SRcnfc^cn  au^.  —  ®benfo  wie  mit  ben  urgefc^i^tlic^en 
SBeri^ten  oerl^ält  e§  fi^  mit  bem  ©abbat;  ber  3iame  unb  bie 
allgemeine  gorm  ber  (Einrichtung  mögen  übernommen  fein,  ber 
©inn  ber  (Einrichtung  ift  ein  ganj  anberer  geworben,  ^n  33a« 
bglonien  ift  ber  ©abbat  ein  2lberglaube,  ein  Unglüdf§tag,  an  bem 
alle  ®efd)äfte  ftiUfte^en,  meil  fein  ©egen  barauf  liegt,  er  ift  ein 
SBu^tag,  an  bem  ber  3öru  ber  ®ötter  oerfö^nt  werben  mu§;  in 
3ffrael  ift  er  ein  göttlid^er  Sag  ber  Sftu^e  unb  be§  befonberen 
©cgen§  geworben.  Snblid^  ift  ba§  Sßortommen  bc§  3»  a  1^  w  e  n  a* 
mens  au^erl^atb  ^fraelS  für  bie  ®ntfte^ung  unb  ®ntwidtlung 
ber  -Qfal^weibee  innerhalb  Qfraete  o^ne  tiefere  SBebeutung. 

3)lit  ben  bisher  be^anbelten  ®egenftänben  finb  wir  in  ber 
^auptfa^e  nur  an  ber  ^eripl^erie  ber  ifraelitifd^en  SReligion  ge« 
ftanben,  benn  wir  werben  weber  bie  fultifd^en  ®efe§e  no^  bie 
genannten  urgefc^id^tlic^en  ©rjälilungen  in  erfter  Sinie  ftubieren, 
wenn  wir  bie  SReligion  bc§  biblifd^en  SSolfeS  fennen  lernen  wollen. 
@§  ift  inbe§  in  le^ter  3^it  bel^auptet  worben,  ba§  auc^  ber  @e* 
banfe  be§  9Äonot^eiSmu§,  ber  bie  propl^etif^e  SÄeligion 
3[frael§  oon  SWofe  an  auSjeic^net,  in  85Birflicl|feit  oon  SBabp* 
lonien  ftamme  unb  oon  bort^er  ju  ben  Jül^rern  be§  ifraeliti» 
fd^en  SSolfeS  gefommen  fei.  2)ic  infd^riftlic^en  93elege,  bie  man 
jum  ©ewei§  l^iefür  l^erbeitrug,  ^aben  fid^  jwar  nidjt  als  fti^^altig 
erwiefen;  aber  e§  würbe  bie  tiefer  einfc^neibcnbe  2lnfid^t  aufge- 
ftellt,  ba|  ber  3Jlonothei§mu8  eine  uralte  ^bee  fei,  bie  inöbefon* 


SSoIj:  Sßa§  xoxx  t)on  ben  bab^Ionifc^en  Ausgrabungen  lernen.   227 

bcre  oon  ben  gebifbeten  ^riefterfd^aften  ber  alten  Jlulturoölfer, 

alfo  in  erfter  Sinie  oon  ber  93abglonien§,  oertreten  unb  oon  i^nen 

au§  fojufagcn  als  ein  Slcment  ber  roiffenfc^aftUd^en  Silbung  überall 

^in  oerbreitet  roorben  fei.    @in  an  ben  2:ag  getretenes  95eifpiet 

^ieffir  fei  bie  monot^eiftifdie  JReform  beS  ^^arao  (J^uenaten  um 

1400,  bie  un§  belehren  fönne,  wie  bie  monot^eiftif^e  3ibec  im 

©e^eimen  immer  beftanben  l^abe  unb  an  geroiffcn  fünften  in  bie 

Oeffentli(^teit  gerüdtt  rourbe.  SSon  ber  babgtonifc^en  ^riefterfc^aft 

Qu§  fei  bie  monott|eiftifd|e  ^bee  auc^  in  ben  ätnfc^auungSfreiS 

ber  Slfraeliten  eingegangen;  bort  aber  —  unb  ba§  fei  baS  2lu§* 

jeic^nenbe   an  ^frael  —  fei  biefe   ^fbce  nic^t  @el)eimbeft§   ber 

$riefter  bejm.  ber  ©ebilbeten  geblieben,  fonbern  ba§  gunbament 

be§  SBott§berouJ5tfein§   geworben.    3)er  Äern   biefer   religionSge^^ 

ft^ic^tlid^en  S^^eorie  liegt  in  ber  Stuftest,  ba^  bie  religiöfe  (&nU 

roidlung  Qffi^ö^l^  öu§  ben  oon  SSabglonien  ^er  gegebenen  Gräften 

erfldrbar  fei.    Unb  bie§  l^ängt  mit  ber  allgemeinen  9lnna^me  ju* 

fammen,  ba§  ber  materielle  unb  gciftige  93cfx^  be§  SBolfeS  Qfrael 

fic^  rein  au8  ber  Äraft  ber  alten  babglonifdien  Kultur  l^erauSge^^ 

bilbet  ^abe.    @§  ift  bieg  eine  Slrt  beiftif^er  SBeltanf  djau- 

u  n  g ;  lüie  man  in  ber  älteren  S^eologie  oon  einer  Uroffenbarung 

fprac^,   bie  am  älnfang  alles  @ef(^e]^enS  gegeben  mar  unb  Don 

ber  au8  fic^  aUeS  einjelne  im  Sauf  ber  aMenfd)^eitSgefc^ic^te  ent« 

roirfelte,  fo  märe  ^ier  an  ben  2tnfang  beS  @efd|et|enS  eine  Ur« 

fraft  gefegt,  bie  Urfraft  ber  babglonifc^en   bejm.  oorberaftatif^en 

'Äultur,  au§  ber  fic^  aUeS  weitere,  baS  ßeben  ber  Keinen  ein» 

jelnen  SBölfer,  in  materieller  unb  geiftiger,  futtureller,  fittli^er 

unb  religiöfer  ^infxd|t  entfaltet  ^ätte.    33ei  biefem  SntfaltungS» 

proje^  l^dtten  bann  inSbefonbere  bie  fittli(^en  unb  religiöfen  Sin* 

fc^auungen  ba§  3)laffit)e,  ^olgtl^eiftifc^e  unb  S^atur^afte  abgeftreift 

unb  fxd)  immer  mel^r  gereinigt  bis  ju  ber  $öl|e  ber  ©ntmidtlung, 

wie  fie  in  ^frael  ftdjtbar  wirb.    93ei  biefer  2:]^eorie  mu^  natur* 

gemä^  bie  93ebeutung  jener  Urfraft  möglid^ft  ftarf  unterftric^en, 

bie  Originalität  unb  ©onberart  ber  fpäter  entftanbenen  Sßölfer, 

wie  bcfonberS  3ffraelS,  möglic^ft  befc^ränft  werben,  bamit  nichts 

über   ben  Stammen   jener  oon  Slnfang  gegebenen  Urpotenj  ^in:^ 

auSrage. 

16* 


228  SBol^:  SSaS  wit  von  ben  babt^Ionifci^en  Ausgrabungen  lernen. 

®iefe  reIigion§gefc^i^tli(^e  %^zom  oon  ber  SBcrbreitung  beS 
SJlonotl^eiSmuS  a(§  einer  babglonifd^en  @pefu(ation  unb  von  ber 
allmä^lid)en  (Sntnoicflung  ber  ifraelitifc^en  Sieligion  qu$  ber  ba« 
b^lonifdien  Kultur  l^erauS  l^at  inbeS  n^enig  SBal^rf^einlid^eS  unb 
83efriebigenbe§  an  fi(^.    SDcnn  einmal  \)at  ber  ®laube  an  ben 
®inen  ®ott  ^fö^«)^  i"  Öfraet  nid^t   alS   eine   fpe!u(atipe 
3ibee  priefterlic^cr  Äreife  begonnen,  fonbem  al§  eine  burc^au§ 
praftifc^e  Slngelegen^eit  be§  religiöfen  ®emüt8,  wobei  Qa^roe  ju* 
näc^ft  nid^t  jur  SBelt,   fonbem  ju  Qfrael  in  ©ejie^ung   gefegt 
roar.  3)ie  eigentli^e  monot^eiftifc^e  Zf)toxxt,  baS  Serou^tfein  pon 
ber  SEBettbebeutung  beS  früheren  aSottSgotte^  3ö^n>«/  wni>  bainit  bie 
bogmatif^e  ©eroeiSfü^rung  unb  ^olemit  fmb  in  3^frael  fooiel  roir 
fetjen  erft   mit  S)euterojcfaia   redjt  leberibig  geworben,    ©obann 
aber  ift  e§  unmögli^,  bie  Sieligion  3^frae(§  blo^  af§  eine  gort* 
entmidttung  ber  babglonif^en  Urform  ju  oerfte^en.    ©erabc  bie 
genauere  Kenntnis   ber  babglonifc^en  Kultur   unb  SRcligion,   bie 
mir  burd)  bie  3lu§grabungen  erhielten,  ^at  bie  totale  SBerfdöies 
benlieit  ber  ifraelitifd^en  unb  ber  babglonifc^en  9teli- 
gion  flar  gefteHt.    SBSenn  au^  einjelne  Sle^nlic^feiten  in  gorm 
unb  ^fnl^alt  ba  finb,  ber  ©eift  beiber  ^Religionen  ift  ein  grunb» 
fä^lict)  anberer  unb  bemegt  fid^  gerabe  in  entgegengefe^ter  SRic^« 
tung,  ber  eine  in  ber  SRid)tung  be§  SSergänglic^en,  ber  anbere  in 
ber  SRi^tung  be§  ©migen.    ©ritinem  mir  un§  no^  einmal,  mit 
roeldtier  Uebertegenl^eit  ber  ifraelitifc^e  ©laube  bie  babglonifc^cn 
Urgefd^id^ten  au§  bem  2)unfel  in  feine  reine  3ltmofp]^dre  jmang, 
ober  oerglei^en  mir  bie  Su^pfalmen  ber  Sabglonier,  ba§  Ute* 
rarifdje  Kleinob  i^rer  ^Religion,  unb  bie  öufepfalmen  ber  ^ebi:aer, 
fo  ertennen  mir  biefe  grunbfä^lic^e  Sßerfd^iebcn^eit.  Unb  maS  wir 
in  58abglonien  an  e^ter  g^ömmigfeit  finben,  fmb  3lu§na^men, 
pereinjclte  ^öl^epunfte,  fiic^tblidEe  einzelner  erleudjteter  ©eifter,  bie 
il)r  ©e^eimroiffen  für  fi^  behielten,   in  eigenem  ^f^^tereffe  ober 
meil  bie  SRaffe  unreif  bafür  mar.    S)aneben  breiten  fi^  in  ber 
babglonifd|cn  9leligion   bie  blinbe  SSiclgötterei   unb   ber  Silber* 
bienft,  bie  ß^uberei  unb   ber  unftttlic^e  9laturbienft  ungehemmt 
unb  als  bie  mefentlic^en  ©tüdfe  beS  eigentlid^en  offijiellen  Rultu§ 
aus.    ^n  <3frael  bagcgen  feigen  mir  faft  oon  3lnfang  an,  b.  ff. 


Sol^:  9Ba^  loir  von  ben  bab^lonifd^en  Ausgrabungen  lernen.  229 

Don  SWofc  bcgro.  Slbra^am  an,  ben  roirffamen  Äampf  jroifd^en 
bcn  aSertrctern  ber  l^ö^eren  SBelt  unb  ben  Sßertvetcrn  be§  2)ie§* 
fcit^,  jroifc^cn  bcn  ^tebigern  ber  fultlofcn  ©ittUd|!cit  unb  ber 
opfcroerlangenben  ^riefterf(^aft  jroifd^en  ben  ^rop^etcn  unb  ben 
'^olitifcrn,  unb  btefc  SSertreter  ©otteö  jiel^cn  fid^  mit  i^rem  ©lau« 
ben  unb  SBiffen  nid)t  in  bie  SÄgflericnroelt  jurüdt,  fonbern  ftc 
prebigen  eS  laut  auf  ber  ©äffe;  fte  unterliegen  ixoax  bei  fieb« 
gelten,  aber  e§  gelingt  i^nen  hod),  ba|  ba§  'Sßolt  im  Sauf  ber 
j^ci^tl^unberte  an  ben  ©inen  ©Ott  al^  an  ben  @^öpfer  unb  SRe« 
gcntcn  ber  SSSctt  glaubt,  ba§  t^  feine  ftttltd)en  ©efe^e  für  fetbft* 
Derftänblid)  ^ä(t,  unb  ba^  bie  ^rebigt  me^r  gilt  al§  ber  ^uttuS, 
bie  ©gnagoge  me^r  al§  ber  2:empel.  Unb  gmar  l^aben  bie  SSer* 
tretcr  ber  Jfteligion  unb  ber  ©ittlid^feit  in  ^\xatl  biefen  it)ren  ^ampf 
$um  2:eil  gerabe  im  ©egenfa^  ju  ben  religiöfen  Uebungen  unb 
3Cnf(^auungen  ber  bena^barten  babijlonifd)en  ©ro^mad)t  geführt 
unb  ^aben  ilirem  SSotf  an  biefem  ©egenfa^  bie  eigene  SBal^r^eit 
flar  ju  mad)en  gefu(^t.  älu^erbem  ift  e§  oor  altem  eine  ©rfc^ei^^ 
nung  gteid)  beim  ©intritt  ber  ifraelittf^en  ^Religion  in  bie  3EBelt, 
bie  biefe  9ieligion  als  etmaS  ©injigartigeS  au§  ben  Sieligionen 
^erau§^ebt,  ba§  ift  bie  @rfenntni§  t)on  bem  gefc^ic^tlid)en  SBäefen 
be§  3a^megotte§,  beffen  größte  Säten  in  ber  gü^rung  feinet 
aSoIteS,  in  beffen  äußerer  unb  innerer  Drganifation  gefdiel^en. 
S)amit  ift  biefer  ©Ott  ^fraete  oon  oorn^erein  über  bie  ©ötter 
ber  Statur  hinauf geftellt  unb  bie  ifraelitifc^e  SBettanfd^auung  weit 
me^r  mit  gefc^ic^tlidiem  unb  fittlic^em  ©el^alt  gefüllt  aU  bie  ha* 
bglonifc^e,  beren  Äern  bie  äußere  fiberifd^e  Drbnung  unb  beren 
Äonfequenj  bie  aSeret)rung  be§  Slaturl^aften  gemefen  ift.  Unb 
roie  bie  JReligion  ^ff^oete  oon  $au§  au§  ben  gefc^id^tlid^en  3^9 
an  ftd)  ^at,  fo  erlennen  mir  in  i^r  aud^  im  ganjen  weiteren  93er* 
lauf  ba§  ^inftreben  auf  ein  beftimmte§  Qxzl,  ba§  planmäßige 
SSaumerf,  bei  bem  jebe  aftioe  ©eflalt  i^ren  beftimmten  Pat;  l^at, 
bei  bem  inSbefonbere  jeber  ber  propl^etifdien  ©eifter  jufammen* 
roirfenb  feinen  unentbel^rlid^en  d^arafteriftifc^en  93eitrag  gibt,  ©o 
fönnen  mir  fd|lie|lirf)  oon  einem  gef^id^tlidlien  ©rgebniS  ber  ifrae* 
ütif^en  9ieligion  fpred)en,  fofern  fie  in  ba§  ©^riftentum  hinüber« 
gefül^rt  l|at,  roä^renb  bie  babglonifc^e  SReligion  in  ben  3iiP^^i> 


L>30  SBoI):  SaiS  toix  von  ben  bab^lonifd^en  Ausgrabungen  lernen. 

ber  Sffiüfte  ücrfici. 

3)a§  aSerftänbniS  für  bcn  gciftigen  ©c^alt  biefer  oon  Snfang 
bi^  jum  @c^tu|  iroedterfüQten  9{e{igion  filiert  ttotmenbig  ba}u, 
in  i^r  ein  8B3etf  OotteS  ju  erbliden,  in  oiel  tieferem  ©inn  ate 
tS  oon  anberen  9{eIigionen  gilt.  äBir  lönnen  eS  in  ber  religiöfen 
©efd^ic^te  3ff^ael§  mit  ^änben  greifen,  mie  ber  lebenbige 
©Ott  biefeS  SBoIf  oom  erften  93eginn  an  nai)  ben  liefen 
feinet  ©eifteS  für  feinen  gemiffen  ^lan  erjogen  ^at. 
SBir  finben  mo^I  bie  Spuren  biefer  göttlichen  ©t^ie^ung  auc^ 
au|erl|alb  Qfraete  bei  anberen  SSöIfem.  3)ie  religiöfen  unb  fitt* 
lid)en  ^öt)epun!te  in  bem  ©ang  ber  anberen  großen  SBöIfer  finb 
auc^  au§  ©otte§  unmittelbarer  Äraft,  fo  bie  SReform  be§  ©^uenaten 
in  Slegiipten,  ber  bie  SSere^rung  be§  ©inen  ©otteS  burc^^ufe^en 
ftrebte  unb  bie  Stempel  ber  anberen  ©ötter  in  ©d^utt  legte,  baS 
ajiotto  beS  3öratuftra  in  ber  altperfifc^en  Stcligion:  9trbeit  beS 
fittlid^en  SWenfd^en  für  ben  ©ieg  be§  Sid^tgotteS,  bie  fd^roungooBe 
ätnbetung  in  manchen  ©öttertigmnen  ber  alten  JBabglonier  unb 
bie  Slnfänge  be§  ©c^ulbbeniu^tfeinS  in  i^ren  öu^fpolmen.  aber 
biefe  ©rf^einungen  l^aben  ben  ©Ijarafter  be§  3luiSna]^mSn)eifen 
an  fic^  unb  ftetlen  ft^  ni^t  in  bie  gro^e  Sinie  eine§  gefc^ic^t» 
liefen  ^lan§,  mie  mir  it|n  bei  3^fraet  erfennen,  fte  üermögen  ba« 
^er  aud)  nic^t,  ber  SReligion,  ju  ber  fte  gel^ören,  in  i^rer  ©efamt* 
l^cit  ben  Dffenbarung§mert  ju  oertei^en.  ^n  ber  SebenSgefc^ic^te 
:3frael§  bagegen  feigen  mir  \)a§  einheitliche  SGBerf  ©otteS:  göttlich 
ift  ber  föftlic^e  3>«^olt,  ber  oon  2lnfang  an  in  ba§  ©efä§  Öfraete 
gefaxt  mar,  mobei  bie  Unfc^einbarfeit  be§  ©efä&eS  ba§  SBunber* 
l^afte  bc§  3in^alt§  ooltenbg  ermeift;  gottgemirtt  ift  bie  f orttauf enbe 
Steige  rcligiöfer  ^eroen,  bie  ben  geiftigen  ^eiligen  ©Ott  in  i^rer 
perfönlic^en  ©rfal^rung  erlebten  unb  biefeS  ©rlebniS  jum  ©emein« 
befi^  ju  machen  fud^ten. 

S)urc^  biefe  SKänner  ift  ^fraet  nac^  ©otteö  9iatfcl)lu|  jum 
3Sol!  ber  SReligion  gemorben ;  mirf lief)  mertooU  an  3f rael  ift 
nur  feine  SReligion  unb  oerglid^en  mit  ben  übrigen  9leligionen 
at§  ©efamterf^einungen  ift  bie  ifraelitifcl)e  in  i^rer  ©efamt^eit 
Dffenbarungäreligion.  3)urc^  eine  fortbauernbe,  im  Sampf  mit 
bem  gemeinen  3Jlenfd)engeift  fiel)  burc^fe^enbe  ©rjie^ung  ^at  ©ott 


Sola:  Sßad  toir  von  bett  bab^lonif^en  ^uigtabungen  lernen.  231 

bicfe§  SGBer!  in  Qfracl  oollbrad^t ;  bief e  @r jie^ung  ® ottcS  ift  nid^t 
in  eine  Urtraft  ober  eine  Uroffenbarung  bef^Ioffen,  roir  benfen  unS 
@ott  ni^t  als  einen  fterbenben  SBater,  ber  bei  feinem  Eingang 
ben  unmünbigen  Äinbern  feine  ©rjie^ungSgrunbfd^e  I|interlä§t, 
fonbem  als  einen  lebenbigen  Sßater,  ber  bie  (Srjiel^ung  feiner 
@d^ne  befiänbig  beforgt.  2)ie  @rjie^ung  @otteS  ift  aud^  nic^t  mit 
bcm  ibentif d|,  xoaS  im  Slften  2:eftament  fte^t ;  mir  burf en  im  ®e» 
genteil  gerabe  bem  jüngftgefü^rten  ©treit  um  bie  babglonif^en 
gunbe  banfbar  fein,  menn  er  baS  SSerftanbniS  bafür  verbreitert 
^at,  ba|  im  93u^  ber  ifraelitifd)en  SReligion  allerlei  aJlenfd^lid^eS 
unb  9J{angelt)afteS  ft^  finbet,  mand)er  SluSfprud^  be§  jübifd^en 
StaffengeifteS,  man^e  tinbli^e  ©otteSbarftellung,  manche  93erir« 
rung  inS  ^teinlidje  unb  Sleu^erlic^e,  @rfc^einungen,  bie  ben  alten 
QnfpirationSglauben  in  bie  ©c^ranfen  feiner  ©ere^tigung  jurürf= 
weifen  möchten.  Q[fraet  ^at  fpäter^in  feinen  befonberen  93eruf 
felber  erfannt  unb  ^at  fic^  beSmegen  ben  (Srftgeborenen  ©otteS 
genannt  unb  obwohl  auc^  au§er!|atb  3frael§  ed)te  ^Religion  lebte, 
ift  biefer  Sttnfprud^  boc^  rirf)tig  unb  ift  Q\xaü  hoi)  ba§  SBolf  ber 
Slcligion  gemefen,  mie  aud^  au^er^alb  Orie^enlanbS  e^te  ^unft 
roar  unb  mir  boc^  bie  ©riedtjen  ba§  SBolf  ber  Äunft  nennen  bürf en. 
®§  fd^eint,  ba|  bie  antifen  SBölter  bie  S3auftetne  jum  gunbament 
beS  geiftigen  93auS  ber  üWenfd)^eit  jufammentragen  mujsten,  mo» 
bei  jebeS  SBolt  feine  befonbere  2tufgabe  l^atte,  unb  e§  \6)tint,  ba§ 
fie  noc^  mel^r  al§  bie  SSölter  oon  l^eute  auf  biefe  2lufgabe  be* 
fc^rdnft  maren,  um  Oro^eS  in  il^r  ju  leiften:  roie  bie  ©ried^en 
bie  tlaffifd^e  Äunft  ]^erbeibrad)ten,  bie  JRömer  ba§  SRe^tS»  unb 
©taatSmefen,  bie  Sabplonier  ben  Sinn  für  bie  gefe^mäJBigc  93en)e» 
gung  ber  irbifd^en  unb  ber  ^immlifd)en  2Belt,  fo  bie  Qfraeliten  bie 
Sieligion.  5lBa§  alfo  Sabrilonien  ber  SBelt  geleiftet  ^at,  baS  ift  zbzn 
n\ä)t  bie  Steligion,  fonbem  baS  SßerftänbniS  für  bie  jalitenmä^ige 
Orbnung  beS  SBeltbilbeS ;  roaS  ^fftael  ber  SBelt  geleiftet  ^at,  liegt  nic^t 
im  Oebiet  ber  Sultur,  fonbem  ber  Sieligion.  Unb  mir  erfatjren  burc^ 
einen  Sßerglei^  jmifd)en  SBabptouien  unb  ^frael,  bafe  ein  SBölfd^en 
fulturell  oon  bem  größeren  9lac^barn  abhängen  mag  unb  boc^  l^in« 
fid|tlic^  ber  Sieligion  unb  ©ittlid)fcit  einen  burd^auS  eigenen  unb 
weit  bebeutenberen  SBSeg  geführt  werben  fann. 


282   liBola«  33<^3  wi^  von  ^^^  bab^Ionifc^en  SdtiSgtabungen  lernen. 

Soffen  roir   jufammcn,   n)aS   rotr  oon  bcn  babx)^ 
lontfc^en  Slu^grabungen  lernen: 

1)  ®ie  Äeilinfc^riften  madjen  un§  bie  ®ef(^id^tc  3>f^ael§  le* 
bcnbig  unb  ^ell;  fie  jeigcn,  roic  ba§  93auernoöttd^cn  ber  ^\xat' 
Htm  auf  bem  bab^Ionifd^en  ^ulturboben  aufmu^S,  mit  e§  in  bie 
SBeltpoIitit  ber  @ro|mäc^te  hineingezogen  rontht,  xok  e§  fid)  tapfer 
wehrte  unb  roic  e§  tapfer  unterlag. 

2)  3)ie  Seilinf^riften  letiren  un§  ferner,  ba§  ba§  SSott  3f* 
rael  aud)  in  Iuttifd)er  unb  religiöfer  ^infid)t  man^eS  oon  bem 
großen  unb  älteren  93ruber  übernahm;  roir  fmb  banfbar  bafür, 
ba^  xo'xx  einige  SBorlagen  bibttfd^er  Seri^te  fennen  lernten;  wir 
werben  baburd^  aufgeforbert,  ba§  SWenfi^Iic^e  unb  ba§  (Söttli^e 
an  ber  biblifc^en  ®e]d^id)te  ju  unterf^eiben,  bie  menfd^ti^e  über^^ 
fommene  gorm  unb  ben  göttüd^en  prop^etif^en  ®eift,  ber  bie 
babglonif^e  gorm  original  unb  meifterlic^  bel^anbelte. 

3)  SBir  fönnen  gerabe  au§  ben  Äeitinfc^riften  beroeifen,  ba| 
bie  prop^etifd^e  9teligion  ;3fraelS  ttxoa^  SinjigartigeS  toar  unb 
ba^  biefe§  Einzigartige  anS  SBabe(  nic^t  erflärbar  ift;  mzU 
me^r  ru^t  e§  auf  ber  ©elbfterfd|lie^ung  unb  auf  ber  eigen^än* 
bigen  ©rjieliung  ®otte§.  gür  bie  Sibel  bienen  atfo  bie  Äeilin* 
fc^riften  me^r  inbireft  aU  hxxttt,  me^r  in  ^erip^crif^em  ate  in 
3entralem;  weitaus  ba§  SQäid^tigfte,  maS  voix  uon  ben  9tu§gra« 
bungen  lernen,  liegt 

4)  auf  bem  ®ebiet  ber  ^ßrofangefd^ic^te  unb  ber  ^rofantul* 
turgefd)i^te.  ^ier  l^abcn  bie  Äeilinf^riften  bi§  je^t  fc^on  ®ro|3e^ 
geleiftet.  ©ie  werfen  einen  Soten  auf,  ber  Qo^rtaufenbe  lang 
im  ©^laf  lag.  S)iefer  2:ote  ift  bie  alte  bab^lonifc^e  Sulturmad^t ; 
wir  feilen  mit  ©taunen,  wie  fd^on  jwifc^en  4000  unb  3000  oor 
©^r.  eine  gewaltige  Äulturwelt  lebte  unb  wirtte,  weithin  fw^ 
ausbreitete  unb  in  mand)en  ©rbftüden  bis  je^t  no^  fortbauert 
3)iefe  Jlulturwelt  ift  für  unS  intcreffant  aud^  ganj  abgefe^en  oon 
ber  Sibel  unb  oon  ber  SSejieliung  ju  Qfrael;  wir  ^aben  fo  oiel 
greube  an  ber  ®efc^ic^te,  ba§  wir  fie  um  i^rer  felbft  wiüen, 
n\6)t  blo§  lim  ber  ^Religion  willen  betrad^ten.  @S  gelüftet  ben 
menfd)lid)en  ®eift,  alle  fernen  beS  SBeltallS  ju  er!ennen,  oon 
einem  ^ol  jum  anbern,  eS  gelüftet  i^n  glcid^erma^en,  äße  %tx* 


$ols:  ^^^  ^i^  ^^n  ^^^  bab^Ionifd^en  SluSgrabungen  lernen.  233 

ncn  ISngft  ©ergangener  3^^*^^  8^^  ergrünben  unb  bi§  ju  ben  Sin* 
fangen  beS  3Wenf^engefd^tec^te§  grabenb  unb  taftcnb  üorjubrlngen. 
Unb  meil  bie  ^unbe  oon  ben  babglonifd^en  äluSgrabungen  in  ben 
legten  aWonaten  weithin  in  ber  jioilifierten  SB3elt  gel^ört  n)urbe, 
bftrfen  wir  oieHei^t  hoffen,  ba§  babur(^  bei  bentenben  SJlännern 
unb  5^auen  ber  ©inn  für  ba§  SSSerben  ber  ®inge  um  einen  @rab 
freier  unb  iceiter  geworben  ift. 


2B4 


in  itx  ^tvAx%tn  Itotuntrtffenfd^aft 

üc.  theol.  %  Dtto  in  Oöttingen. 


Qu  einem  frül^eren  Sluffa^e  über  „bie  med^aniftifc^e  SebenS* 
tl^eorie  unb  bie  S^l^eologie"  ^)  war  oerfud^t  raorben,  bic  2;t|eoriccn  bar* 
aufteilen,  mit  benen  heutige  ^Biologie  unb  ^^pfiologic  perfud^t^  ba§ 
@e^eimni§  be§  Seben§  aufjulöfen  unb  aud^  auf  biefem  ©ebiete 
bie  „rein  faufale"  SBetrad^tung  unb  jmar  im  ©inne  d^emifc^^p^g« 
ftfd^er  unb  le^tlid^  med^anifc^er  Äaufalität,  matl^ematifc^^quantita* 
tioem  ©rmeffen  fid)  fügenb,  einjufül^ren.  2)ie  fed^S  Sinien,  auf 
benen  babei  il^r  Unternel^men  oorangel)t  unb  i^re  Söeroeife  fid^  be* 
wegen,  waren  gejogen  roorben,  unb  nac^bem  burc^  fic  i^r  93ilb 
im  gangen  umriffen  mar,  mar  erroogen,  ob  Jll^eologie,  menn  etmo 
bie  medjaniftifd^e  93etradE)tung  gelänge,  ju  it)r  ein  SBerl^altniS  ge* 
minnen  tonne.  2)ie  Söfung  ber  ©ad)e  burc^  ben  $inmci§^  ba$ 
2:eleologie  faufale§  ®rflären  nidjt  auSfd^lie^e  fonbem  forbere,  in 
bem  ©inne,  mie  fio^e  bieS  f^on  feinerjeit  na^gemiefen  l^atte,  ^atte 
fidf)  al§  jur  ^älfte  auSr^d^enb  erroiefen,  jur  ^älfte  nid^t.  @e* 
mid^tige  allgemeine  @inmänbe  gegen  ba§  9{ed^t  ber  me^aniftif^en 
SBetrad^tung  Ijatten  fid^  t)on  fetber  eingefteUt.  Unb  ein  Ueberblitf 
über  bie  je^t  fic^  mieber  emeuenbe  unb  immer  me^renbc  Rritif 
ber  fjö^männer  gegen  bie  ©infeitigfeiten  ber  lange  ^errfc^enben 

1)  Sa^rg.  13,  $eft  3,  ©.  179—212. 


Dtto:  ^ie  Uebenoinbung  ber  med^amftifd^en  Seigre  2C         235 

S^uKclire  toar  in  9lu8fic^t  genommen  roorben.  —  3)a8  leitete 
foH  im  folgcnbcn  Dcrfuc^t  werben,  ®§  mirb  ft^  tianbeln  um  eine 
S)ürf}cIIung  ber  neuen  iBeroegung  im  Oebiete  ber  SebenSlel^rc,  bie 
man  jiemlid^  unjulöngtid^  bie  .^neoüitaliftif^e"  ju  nennen  pftegt.  @ie 
ift  ber  S^eologie  in  mel^r  al8  einer  93ejie^ung  intereffant,  ba  fte  in 
ber  2:at  eine  Uebem)inbung  be$  9Jled^ani§mu§  bebeutet  unb  ber  re« 
ligiöfen  SBeItbetrad|tung  erlaubt,  ft^  auf  einer  breiteren  ©runbtage 
}u  bemegen  al8  auf  ber  etmaS  f^maten  fio^e'f^en.  9Bie  fel^r  unb 
rote  ferne,  ha^  mirb  fxc^  im  SBerlaufe  ber  Ueberft^t  beutlii^er 
^erauSfteQen. 

@§  ftel|t  mit  ber  2eben§le]^re  iwxitxt  ganj  überrafd^enb 
ä^nlic^  wie  mit  it)rem  Äomplement,  ber  fie^re  non  ber  allgemein 
nen  Sntmirftung  ber  Organi^menmelt.  Sie  großen  ©d^ulle^ren, 
^ier  ber  2)armini8mu§  unb  bort  bie  med^anifd^e  ®eutung  be§ 
fiebcnbigen,  f ommen  in8  S33anten,  nidit  bur^  bie  Äritif  ber  Sluj^en* 
fie^cnben,  fonbern  burd)  bie  Scanner  be§  ^a6)t^  unb  ber  ©d)ulc 
fclbcr.  Unb  baS  Sfnt^i^cff^/  i>ö§  bie  S^l^eologie  baran  l^at,  ift  bei« 
berfeitig  glei^ :  ba§  tranSgenbente  aBefen  ber  3)inge  unb  bie  2:iefe 
ber  Srf^einung,  bie  jene  SCtieorieen  leugneten  ober  jubecften,  rei^t 
fi^  mieber  auf.  ®a§  ^[nfommenfurable  unb  baS  Oel^eimniS  ber 
2Belt,  beffen  bie  SReligion  jum  Sltmen  oielleic^t  nod^  nötiger  bebarf 
al§  be$  SRec^te^  ju  teIeoIogifd)er  iBetrai^tung,  brid)t  beutlid)  mie« 
ber  in  bie  afljufe^r  rationalifterte  unb  matl^ematifierte  SBelt  l^er* 
ein  unb  fteQt  ftc^  mieber  ^er  gegen  bie  jä^en,  anbauernben  9Scr» 
fuc^c,  e§  ju  uergemaltigen.  3""^  SBorteite  üon  beiben:  ber  Sta« 
turmiffenf^aft  mie  ber  SReligion.  ®er  Sieligion:  benn  fte  oer- 
trägt  ft^  fdimer  mit  ber  Mgemein^errf^aft  matt)ematifd)er  Se« 
trac^tung.  3)er  Slaturmiff enf d)af t :  benn  inbem  fie  bie  (Sinför* 
mig!eit  quantitatioer  93etra^tung  aufgibt,  gibt  fte  nid)t  i^re 
„®runblagc"  unb  i^r  „2)afein§rec^t"  auf,  fonbern  eine  petitio 
principii  unb  ein  SBorurteil,  ba§  fte  nötigte,  bie  3lat\xx  ju  ent» 
leeren  ftatt  fie  ju  erflären  unb  ber  9latur  SBege  oorjuf^reiben 
ftatt  bie  SBege  ber  Statur  ju  finben. 

3)er  SRücffd^fag  gegen  bie  einfeitig^med^aniftifc^en  2:i^eorieen 
ift  fe^r  mannigfaltig  oerf Rieben:  er  ge^t  bei  ben  einjelnen  gor« 
feiern  au§  teils  oon  ber  SCtieoric  at§  ©angem,  teils  t)on  einjelnen 


236         Dtto:  %xz  Uebertoinbung  ber  med^aniftifc^en  8e^re  2C. 

Seilen  unb  auf  einjcinen  Sinien  berfelben.  ®r  I)ebt  an  mit  ber 
bloßen  Rritit  unb  ©inroenbungen,  bie  fic^  begnügen  ju  üerfici^etn, 
ba^  man  „vorläufig"  boc^  nod)  meit  entfernt  fei  oon  einer  ^emifd^« 
pf)9ftf^en  2luf (öfung  be§  Seben§rätfel§,  unb  fteigert  fi^  burc^  alle 
©rabe  bi§  jur  oöHigen  cmpl^atifdien  SBerroerfung  ber  Se^re  at§ 
einer  bie  g^orfc^ung  ^emmenben  QtiU  ^bxo^r^ntxafit  unb  tritif* 
lofen  ©c^ulooreingenommenl^eit.  ®r  bleibt  bei  bloßem  ^ßrotefte  unb 
ber  @rn)eifung  ber  Unjuldngli^feit  ber  mec^aniftifc^en  @rF(ärung 
ftcl^en,  oline  für  ba§  (Sebiet  be§  Sßitaüen  eine  eigene  felbftänbige 
tI|eoretifd)e  Formulierung  ju  oerfu(^en,  ober  er  unternimmt  eine 
Sebenöle^rc  aU  felbftänbige  ©runbmiffenf^aft  mit  älutonomie 
ber  SebenSoorgänge,  ober  er  erweitert  fid^  entfd|loffen  ju  meta» 
p^t)fifc^er  93etra^tung  unb  ©pefulation.  ^n  aUebem  gibt  er 
einen  fo  eigenen  2lbfc^nttt  l^eutiger  3>been«  unb  ^roblem*?3en)e* 
gung,  ba§  er  anjiel^enb  märe  aud^  o^ne  ba§  ^fnt^^^ff^/  roclc^e^ 
i^m  oon  feiten  religiöfer  unb  allgemein  ibealiftifd^er  SBeltauffaf* 
fung  t)er  in  fo  befonberem  'Sfla^z  jufommt.  3)ie  angegebenen 
©egenfä^e  unb  Unterfc^iebe  geben  gugleic^  ben  geeigneten  fieitfa* 
ben  ab,  na6)  bem  fi^  unfer  Stoff  gruppiert.  2lm  mapgebenbften 
ift  babci  ber  ©efid)t§puntt,  miemeit  ber  SBiberfpru^  gegen  ben 
3Weci^ani§mu§  rein  ^roteft  unb  Äritit  bleibt,  unb  miemeit  er  ft<i^ 
ju  eigenen  pofitioen  Seigren  ergebt  unb  pfammenfa^t. 

5Jlod)  Siebig  unb  Qo)).  SJlüUer  maren  tro§  ber  ^arnfäure 
unb  ber  fid^  immer  me^renbcn  organifd^en  Sßerbinbungen,  bie  eS 
gelang  rein  auf  d^emifd^em  9Bege  l^erjuftellen,  SSitaliften  geblieben. 
®ie  folgenben  ©enerationen  erft,  etma  von  ber  9Witte  beS  oorigen 
Qa^r^unbert§,  maren  bei  un§,  befonber§  unter  ber  gö^irung  oon 
©uboig^SRegmonb,  jum  entfc^iebenen  3Jiec^aniSmu§  übergegangen 
unb  l^atten  bie  2lnfd)auungen  ber  Schule  immer  ftegreid^er  be* 
ftimmt.  2)od^  blieb  and),  menn  fd)on  gehalten  unb  oorfic^tig,  ber 
SBiberfprud)  oon  9lnfang  an  nidjt  au§.  3)er  tgpifc^e  „93orfid^tige" 
ift  l|ier,  ganj  ebenfo  roie  in  ©adien  be§  ungefäl^r  gleidijeitig  auf* 
!ommenben  3)armini§mu§  '),  9iubolf  SBirc^om.    ©eine  93ebenfen 

1)  S3gt.  über  feine  gana  gleid^laufenbe  ©tcllung  jum  5)am)inigmu§: 
^^col.  SRunbfd^au,  S^rg.  VI,  S.  186  ff.,  in  Dtto  ^5)armini8mu!8  oon  ^eute 
unb  il^eologie". 


Dtto:  ^te  Ueberroinbung  ber  med^antftifc^en  2t\)xe  zc.         237 

unb  ©infc^ränfungcn  fc^en  fel^r  balb  naä)  bcm  2luftrctcn  ber 
neuen  Se^re  felber  ein.  ^n  feiner  „jEeHutar^^attioIogie"  ^)  von 
1855  unb  in  feinem  2luffa^e  „alter  unb  neuer  9Sita(i§mu§"  1856") 
rcbet  er  Quf§  neue  einer  „vis  vitalis"  ba§  SBBort.  Satfc^  fei 
ber  alte  aSita[i§mu§.  6r  l^abe  eigentlid^  nic^t  oon  einer  vis 
fonbern  einem  spiritus  vitalis  gerebet  (®.  9).  5RatürIi^  l^aben 
bie  ©toffe  im  lebenben  unb  nid^t  (ebenben  Körper  burc^= 
Qu§  bie  gleichen  ©igenfc^aften.  Slber  tro^bem  „mujs  man  bo6) 
einmal  bie  naturmiffenfc^aftlic^e  ^rüberie  aufgeben,  in  bcn  Seben§= 
Vorgängen  burd^au§  nur  ein  med|anifc^e§  Siefultat  ber  ben  fon* 
ftituierenben  Körperteilen  inl^firicrenben  SWoIefularfrdfte  ju  fe^cn" 
(Vin  23).  2)er  mefentli^e  ©runb  be§  £eben§  ift  eine  mitge* 
teilte  abgeleitete  Rraft  neben  bcn  3JloIefuIar!räften  (@.  20).  SBo* 
^er  fte  tomme,  fagt  er  nii^t.  (Sr  gfeitet  um  ba§  Problem  tierum 
mit  fetir  aUgemeinen  SÄu^brüden,  bie  feine  felbftüerftänblid)e  Qn- 
ge^örigteit  jur  neuen  ©c^ule  retten  foUcn  unb  bie  jugleii^  bie 
ouffälligc  Unfä^igfeit  SßirdjomS  für  präjife^  ^roblemftellen  offen* 
baren,  ^n  einer  „gcroiffen  Qdt  ber  Sntroidlung  ber  ®rbe"  ent* 
ftanb  fte,  aU  bie  gemö^nlid^en  mec^anifd^en  53emegungen  in  Ditale 
„umfc^lugen"  (22).  Slber  aU  foId|e  mar  fie  bann  „eine  befon* 
bere  Jorm  üon  93emegung,  meiere  üon  ber  grojsen  Äonftante  ber 
allgemeinen  Seroegung  abgelöft,  neben  berfelben  in  fteter  SSejiel^ung 
§u  berfelben  i^inläuft"  ( —  mef)r  ^at  mo^I  nie  ein  Sitalift  bel)aup= 
tet  — ).  9?ac^bem  fo  ber  SRüdfjugSmeg  be§  „Umfd)Iagen§"  „ju 
einer  gemiffen  S^xt  ber  ®ntmidtlung"  gefid^ert  ift  unb  bie  nötigen 
35erfid)erungen  gegen  ben  „biametralen,  bualiftifd)en  ©egenfat;" 
eingelegt  pnb,  werben  nun  faft  alle  ®inroürfe  gegen  ben  9Wed)as 
ni§mu§  gema(^t,  bie  bem  98itali§mu§  jur  Sßerfügung  ftel^en.  S^on 
bie  fatalgtifd)en  5äf)igfeiten-  ber  3^ermentförper  finb  oberhalb  ber 
„gemö^nlidjen"  pt|t|fifalifc^en  unb  ^emifd^en  Kräfte  (23).  2lud| 
mit  ber  Bewegung  b€§  Äriftatlifiereng  ift  bie  ßeben§beroegung  nn-^ 
oergleic^lid).  S)enn  Sebengfraft  ift  nid^t  ben  Stoffen  immanent, 
fonbern  immer  ^robuft  oor^ergegangenen  Seben§  (26).    ^m  ein* 


1)  ^Irc^it)  für  patfiolog.  9(natomie  unb  ^^gfiotogte.  f&b,  VIII. 

2)  SBb.  IX. 


238        Dtto:  ^ie  Uebenoinbung  ber  med|aniftif(^en  Se^re  k. 

fad^ften  äBad^StumS«  unb  (Srnd^rungSoorgonge  fpielt  bte  vis  vitalis 
fd^on  als  vitalis  eine  9toQe.  Sßiemelme^r  in  ben  $ormgeftaItung§« 
Vorgängen.  Qn  ben  „SReijoorgängcn"  beroeift  ba§  fieben  feine 
(Spontaneität  in  „Slntroorten"  u.  f.  ro.  „Peu  d'anatomie  patho- 
logique  ^loigne  du  yitalisme,  beaucoup  d'anatomie  pathologi- 
que  y  ram^ne."  —  SBiel  „anjufangen"  ift  mit  einer  folc^en  ©tel* 
Inngnal^me  nic^t.  @ie  Idgt  bie  S^eorie  bem  einen  ber  ©egner^ 
bie  ^rajiS  bem  anbcrn,  unb  ba§  Problem  auf  bem  ?ßunfte,  roo 
e§  mar. 

3nit  93irc^om  märe   au§   älterer  @eneration  auc^  noc^  ber 
^^gfiologe  SBiüiam  ^reger  ju  nennen,  ber  „2Re(^ani5mu§"  unb 
„SBitaliSmuS"    unb    „®ua(i§mu8"  gleich  fe^r  beftritt  unb  gegen 
bie  „SebenSfraft"  bie  fc^on  folenn  unb  offijieß  gemorbenen  @r» 
ftärungen  erlief  unb  bod)  fi^er  von  ben  3Jled)aniften  mie  93ita« 
liften  für  einen  SBitaliften  erttärt  merben  mü^te.    (SSgl.  „Ueber 
bie  Slufgabe  ber  9laturroiffenfd)aft",  ^tna,  1876.   „Slaturmiffcn* 
fd)aftlid^e  2:atfac^en  unb  Probleme",    „^^gfiologie  unb  Sntmicf« 
lungglel^re"  1886,  in  ber  Sammlung  be§  allgemeinen  SBerein^  für 
bcutf^e  Literatur.  Unb  „2lu8  SJlatur*  unb  üWenfci^enleben".  ®bb.)- 
®r  ift   nod^   entfd^iebener  al§  SSird^om,  fofern  er  fi^  nid)t  mit 
beffen  allgemeinen  ©rftärungen  pom  „Sntfte^en"  ber  Seben§fraft 
unb  oom  „Umfd^lagen"  ber  bto|  me^anifc^en  ®nergieen  in  bie 
tjitale  abfinbet  fonbern  entfij^ieben  feftplt  an  bem  omne  vivum 
e  vivo  unb  be^megen  bie  ©roigfeit  beS  Sebenbigen  in  ber  SSSelt 
le^rt  unb  bie  generatio  aequivoca  abmeift.  3)er  gro|e  S^^tum  ber 
med^aniftifd^en  ^rotefte  entftanb  bur^  bie  fid|  l)äufenben  p^gfi« 
falifd)en  (ävflärungen  cinjelner  ScbenSerfd^einungen  unb  bur^  bie 
Dielen  9iac^bilbungcn  d^emifc^er  ©rjeugniffe  be§  3:ier*  unb  ^flanjen* 
©toffroed^fel§.    3lber  barau§  jog  man   einen  g^^lf^lu^.    „9Q3er 
aus  ben  c^emifd^en   unb  pl^gfifd^en  @igenfd^aften  beS  befrud^teten 
@ieS  bie  Slotmenbigteit  l^erjuleiten  ^offt  ba^  barauS  na^  einer 
gemiffen  ßeit  ein  Sier  I)eroorge^en  merbe,  oon  junger  unb  Siebe 
geplagt,  ber  i)at  eine  Derjmeifelte  älebnlid^teit  mit  bem  armfeligen 
^omun!ulu§fabritanten".    3)a8  Seben  gehört  ju  ben  nic^t  abju* 
leitenben  unb  nic^t  aufjulöfenbcn  ©runbfunttionen  beg  SBeltfeinS. 
9tur  au§  Seben  erjeugt  fic^  oon  Smigfeit  l^er  2thzn.  —  S)a  auc^ 


Otto:  ^ie  Uebenoinbung  ber  med^aniftif d^en  Se^re  2c.        239 

^W)tx  bic  Sant='SapIacefci^c  ^gpotl^cfe  anerfcnnt,  fo  ftcigt  ör  ju 
©ebanfen  auf,  bic  mit  ^^d^ncrS  „foSmoorganifi^cn"  Scrülirungcn 
fyibm.  3t\x6)  im  fcucrflüffigcn  ©onncnbalt  \)at  Scbcn  feinen  ©i^, 
pieHeic^t  met  aDgemeiner  unb  reifer  als  wie  e§  jetit  ifi.  Unb 
ba§  ie^ige  ift  oicDeid^t  nur  eine  geringere  unb  ifoliertere  fSRohu 
filation  jcne§  allgemeineren  *). 

^n  jüngeren  unb  jüngften  ©enerationen  finb  unter  ben  9Wän» 
nem  beS  %a6)tS  als  ©egner  ber  met^aniftifd^en  ©infeitigfeiten 

1)  ^icfe  ®cban!en  reifen  ficfi  nid^t  au§  unb  oerüeiben  fid^  poetifd^, 
}.  S5.  wenn  er  baS  ©piet  ber  iJlammen  felber  mit  ScbenSprojeffen  vtx- 
gleicht.  3(ber  i^rcS  poctifc^en  S^eiroerfeS  entfleibet  geben  fie  i^rcn  guten 
6mn,  auf  ben  man  immer  geleitet  roirb,  wenn  man  nid^t  naturatiftifd^ 
üoreingenommen  ift  ober  anbererfeitS  ant^ropomorpl^e  SSorfteHungen  vom 
^er^ältniffe  beS  Unenblid^en  aum  @nbUd^en,  beS  ©öttltd^en  pm  9Za^ 
turli^en  mitbringt.  2a^t  man  nur  bie  ganj«  ober  l^albmaterialiftifc^e 
SorfteUung  betfeite,  al§  ob  teIcoIogifd)cä  ®efc^ef)cn,  Sebcni^oorgänge, 
fc^Ite&Kc^  ©mpfinbunggs  unb  ©erou^tfeingjuftänbe  ^^Örunftion"  einer  „©üb* 
fton^",  eines  @toffeS  fein  foUen,  fo  !ann  man  gan^  mo^l  oon  il^nen  a(S 
allgemeinen  ^.foSmoorganifd^en''  grunftionen  beS  ^eltfeinS  reben  in  bem 
Sinne  nämlic^,  ba^  fie  überaU  ba  mit  S^otmenbigfeit  auftreten,  mo  bic 
©ebingungen  baju  fid^  oerroirnid^en.  3[n  ber  SöorftellungSmeifc  ber  ^o« 
tens^  unb  ^ftuSIe^rc  mürbe  baS  Reißen,  ba^  aUe  möglid^en  @tufen  ^5l)eren 
unb  ^öd^ften  ©cfd^e^enS  semper  et  ubique  potentiett  im  SBeltbafein  ge* 
fctft  fmb  unb  bann  unb  ba  fld^  aftualtfiercn,  roo  bie  p!)9ftfc^en  ^rojeffe 
foTOcit  gebieten  finb,  ba^  fie  tl)nen  bic  Söflöglid^feit  ba^u  geben.  —  ^regerS 
©ebanfen  fangen  in  aUerleftter  Seit  roieber  an  lebenbig  ^u  werben.  SBor* 
läufig  in  romantifrf)er  ff orm,  5.  SB.  in  SBittri  ^aftorS  „ßebenSgef rf)irf)te  ber 
^be".  (geben  unb  SBiffen,  ©b.  1.  ßpjg.  1903).  Unb  ged^ncr  fci)eint  in 
gerotffen  Greifen,  bie  burd^  bie  gleid^^eitige  S}eref)rung  unb  Sßerbinbung 
von  mobemer  S^aturmiffenfc^aft,  ©ftdCel,  SRomantif,  SfloüaliS  unb  anbern 
@egenfä^en  gefennseid^net  merben,  bireft  eine  ^uferfte^ung  erleben  5U 
foflen.  XijpuS  biefeS  Greifes  ift  etwa  2Ö.  «ölfd^e.  —  @e^r  naturaler* 
loeife  ift  ^aftor  aud^  aufmerffam  geworben  auf  hit  neuerlichen  3(nfd)aus 
ungen  oon  ©d^roenS  begüglid^  ber  ^ftaUtfation.  %a^  omne  crystallum 
e  crystallo,  ganj  cbcnfo  mic  omne  vivum  e  vivo,  mar  eigentlid^  längft 
ein  9liegel  gegen  med^aniftifd^eS  Slbleitcn.  @d^roen  aber  fe^t  hiz  Äriftal* 
lifation  in  parallele  mit  organifd^en  SBorgdngen,  fo  ba^  nun  nic^t  bic 
ongcblid^e  ^larl^eit  unb  ©oiben^  beS  Unorganifc^en  —  nac^  frül)cr  be« 
licbter  Met^obe  —  über  bie  ©tufen  ber  ÄriftaKifation  ing  SReirf)  beg  Se:: 
benbigen  einbringen,  fonbem  umgefelirt  baS  ©e^etmnig  beS  SebenS  nad^ 
unten  ju  ftd^  auSbe^nen  unb  fortfe^en  mürbe. 


240        Otto:  Xie  Uebenoinbung  bet  me^aniftifd^en  Se^re  :c 

Tüol^l  am  mciften  genannt  bic  Sungc,  Stinbflcifc^,  Äcmer  oon 
aWarilaun,  9Jeumciftcr,  SBolff.  ®ittc  eigene  nic^t  ganj  beutli^  ju 
rubrijierenbe  ®ruppe  unter  it)nen  fönnte  man  bie  Settoniften 
nennen.  Wlit  i^nen  im  fac^Uc^en  3uf<^ninten^ang  fte^t  9lein{e§ 
„3)ominantenle]^re" .  S)riefc^  ift  non  il^nen  ausgegangen  unb  bie* 
tet  baS  anjiel^enbfte  ^eifpiel  einer  {onfequenten  ^ortentmidlung 
oon  ber  @infi^t  in  bie  Unmögli^feiten  ber  Snec^aniftif  ju  eigenen 
auSgeftalteten  uitaliftif^en  S^eorien.  3Bieber  eine  fe^r  eigene 
©teÖung  ju  ben  Problemen  nimmt  ^ertroig  ein.  S)te  origi* 
ncUfte  Srfc^einung  auf  bcm  ganjen  ©ebiete  ift  oielleic^t  2Hbre(i^tS 
Sel)re  ber  „oerfc^iebenen  Öetrac^tungSroeifen".  aWit  Ä.  ©^neiber, 
bei  bem  bie  neuen  @ebanfen  ftc^  in  metap^qftf^er  (Spetulation 
fortfe^en,  märe  etma  bie  9leii)e  ju  fc^Iie^en.  SKe^rete  95e* 
gleiter  unb  ßw^if'^^^Sli^^^^  föfl^"  P^  biefen  ^aupterf^einungen 


I  ein. 

i 


öead^tenSroert  unb  oiel  bead^tet  ift  ber  atlerbingS  etmaS  anbeut* 
lic^e  2luffa^  be§  SDBürjburger  ^at^ologen  @.  dou  SRinbfleif^  „9leo« 
uitaligmuS"  (in  „SDeutfc^e  mebijinifd)e  SBodienfc^rift"  1895  9lr.  38). 
9Jlc^r  aber  als  er  fte^t  im  Sßorbergrunbe  beS  ©treiteS  @.  93unge 
in  33afel,  ber  unter  bcn  ^^qfiologen  fc^on  feit  längerer  3^it  ^^^ 
SßitaliSmuS  oertreten  unb  oerfud^t  ^at,  3lnaIogien  unb  SSeranfc^au* 
Iid}ungen  pitaler  %emir!ung  gu  fc^affen.  äluSfü^rlic^  f^on  in  feinem 
„Se^rbuc^e  ber  pl^gf .  unb  pat^ol.  S^emie"  (2. 9Iufl.  1889),  in  beffen 
erftem  Ä'apitel  „SöitaliSmuS  unb  SWed^aniSmuS".  ajlec^aniftift^e 
SRüctfü^rung  beS  SebefTSgefc^e^enS  auf  nur  p^gfifalifd^'^emifc^e 
Gräfte  fei  unmöglii^.  @S  merbe  au^  immer  unmöglid^er  bei 
naiverer  ÄenntniS.  Orabe  für  biefeS  Buf^mmenfinfen  mec^anipif^ 
fc^einbar  fd^on  gefunbener  Söfungen  fütirt  er  eine  Slei^e  über* 
jeugenber  S3eifpiete  an.  S)ie  STufna^me  beS  ©peifefafteS  bur^ 
bie  SDBänbe  beS  ©armtanateS  ^inburi^  fd)ien  ein  mec^anifd^  Der* 
ftänblid^er  Söorgang  Don  ©nboSmofe  unb  S)iffufion  ju  fein,  aber 
in  SBa^r^eit  ftedt  fid)  l^erauS,  ba§  eS  oielme^r  ein  SEBal^Ioorgang 
ift,  ausgeübt  burd)  bie  Q^ütn  beS  ®arm=®pit^elS  gauj  in  Slna* 
logie  beS  SBäl^lenS  unb  Serfc^mä^enS  ber  9la^rung  etma  ron 
atmöben.  ©benfo  „xoaW  baS  Spitzel  ber  aWil^brüfe  bie  jmed* 
mäßigen  ©toffe  auS  bem  93lute  auS.    SÄed^anifc^  unmöglich  iu 


D 1 1 0 :  %\t  Uebertoinbung  ber  mec^antftifd^en  Se^re  2C.         241 

erf(äreu  ift  bie  S)ireftiDe  ber  ja^Itofen  einzelnen  pJ^^fifaUfd^en  unb 
^emifc^en  SBorgänge  im  Organismus,  ftnb  bie  oerblüffenb  fmn» 
poffen  SReaftionen  im  (äinjelleben  ber  Qzüt  (©clbftregulation  ber 
ärccHen  burc^  OaSblaSc^en),  bie  auf  pft)d)ifc^e  ^rojeffe  im  ^(aSmo 
beuten,  finb  bie  9tät|el  ber  gormgeftaltung  unb  befonberS  ber 
SJercrbung:  mie  leiftet  e§  ein  ©permatojoon,  pon  bem  ööoaKiH, 
auf  eine  ^ubif(inie  ge^en,  ade  Sigentämlid^feiten  vom  93ater  auf 
ben  ©o^n  ju  übertragen !  ^n  Sorlefung  III  f e^t  ©unge  fic^  mit 
bem  ©efe^e  Don  ber  @r^a(tung  ber  ^raft  auSeinanber.  3)ie  ^uS« 
einanberfe^ung  ge^t  unbemu^t  mieber  in  ben  93a^nen  beS  S^arteftuS: 
alle  ^emegungSoorgänge  unb  9lrbeitSleiftungen  in  ber  lebenbigen 
©ubftanj  fmb  SÄuSmirtungen  gefpeidjerter  ©pannfräfte,  mobei  fic^ 
bie  Summen  Don  Seiftung  unb  ^(nmenbung  gleid^  bleiben.  3lber 
beren  2(u§Ißfung  unb  babei  beren  Slic^tung  ift  ein  ^öttor  für 
fic^,  ber  felber  bie  ©umme  ber  ©pannträfte  meber  me^rt  noc^ 
minbert.  „Occasio"  unb  „causae"  treten  roieber  inS  ©piel.  3)ie 
©pannfrdfte  fmb  ba§  Oefc^el^en-SSBirfenbe,  bebürfen  aber  i^rer 
occasiones  jur  SluSlöfung,  roie  ein  ©tein  jur  @rbe  fällt  oermöge 
ber  bei  feinem  9luf^angen  gefpeic^erten  potentiellen  Snergie,  aber 
erft  fallen  fann,  menn  ber  gaben  burc^fc^tiitten  marb.  2)ie  Seiftung 
ber  occasio  felber  ftel^t  babei  brausen  unb  au^er  SBerl^ältniS  jur 
uerurfaditen  SBirfung:  eS  ift  einerlei,  ob  man  ben  gaben  mit  ei* 
nem  9tafiermeffer  leid)t  bur^fc^neibet  ober  mit  einer  Äanoncn* 
fugel  burd^fc^ie^t.  —  Qnjroifd^en  ift  ©ungeS  93u^,  erweitert,  in 
fünfter  2luflage  erfc^ienen,  alS  „Sel^rbud^  ber  5]Stigfiologie  beS 
SWenfc^en"  (Spgg.  1901).  3)ie  betreffenben  früheren  3lusfül^rungen 
erfc^einen  l^ier  mieber  unter  bem  Sitel:  „Qf^^oliSmuS  unb  3)2e* 
c^aniSmuS".  3!)ie  ©infprac^en  finb  biefelben  geblieben.  9Man  meine, 
e§  fei  nur  eine  grage  ber  3^it  fo  muffe  eö  gelingen,  ben  9lac^* 
roeiS  JU  fül)ren,  ba|  ber  ganjc  SebenSprojc^  nur  ein  fomplijierter 
83en)egung§oorgang  fei.  2lber  bie  (Sefc^id^te  ber  ^^gfiologie  leiere 
genau  baS  @egenteil  (©.  3).  Sllle  SSorgänge,  bie  ftc^  mec^anifc^ 
erflären  laffen,  fmb  grabe  feine  Seben§erfd)einungen.  ^n  ber 
ättioität  —  ba  ftecft  baS  Siätfet  be§  SebenS.  —  Söfung  biefeS 
JRatfelS  nun  wirb  ^ier  noc^  entf^iebener  aber  nic^t  fetir  beuttic^ 
im    „QbealiSmuS"   t)om  ©elbftberou^tfein  unb  feinen  Seiftungen 

i)ettf(^ft  für  Z^eologtc  unb  Atrd^e.  14.  ^a^rg.,  8.  ^eft.  17 


242         Dtto:  ^te  Uebertoinbung  ber  med^aniftif^en  8e^re  ic 

aus  gcfuc^t.     „Physiologus  nemo  nisi  psychologus"  (©.    11)^). 

SBic  roeit  man  felbft  auf  feiten  entfc^Ioffcn  mcd^aniftifd^er 
93etrad^tung  bod^  ber  Sritit  entgegentommen  mu|,  bafür  ift  ^af= 
fon)i§:  Mgemeine  ^Biologie  (2  SSbe.,  S33ien,  1899)  ein  le^rreic^e^ 
S3eifpieL  ©el^r  crnft^aft  ge^t  er  in  langer  3lu§fü!|rung  unb  ^rü* 
fung  ben  oerf(^iebenen  SBerfuc^en  unb  2:l|eorieen  na^,  bic  ^aupt- 
erfd^einungen  be§  Seben§  mec^aniftifd^  abjuleiten  (I  ©.  13).  3)ic 
2:t)eorieen  Dom  Organismus  als  SBärmemafc^ine,  bie  oSmottfc^e, 
bie  germenten^  bie  elettro^bgnamifi^e,  bie  molefular^p^gfitalifc^e 
2:t|eorie  werben  in  ^ap.  3—14  mit  erftaunlic^er  ©a^tid|feit  unb 
(Sorgfalt  geprüft  unb  im  „^[gnoramuS"  oon  £ap.  15  ber  ÜWiß* 
erfolg  biefer  jumeift  mit  einem  fo  enormen  Slufmanbe  non  ©c^arf- 
fmn  gefc^affenen  ^gpot^efen  feftgeftettt.  „2)er  SWi^erfolg  .... 
ift  ein  .  .  .  eflatanter  .  .  .",  unb  offen  mirb  eingeftanben,  ba§ 
in  fc^rittem  ©egenfa^e  ju  früherer  ^offnungSfrcubigfeit  fic^  je|t 
in  33ejug  auf  mec^aniftif^^^ejperimentette  ®urd)forfc^ung  ber  le* 
benben  Organismen  roieber  refignierte  ©timmung  geltenb  madft 
unb  fogar  gad^männer  erften  SRangeS  mieber  ernftlic^  mit  ber 
SebenStraft  ju  red)nen  anfangen.  Qznt  ßufammenbrüc^c  unb 
biefe  3wgcpänbniffe  geben  nic^t  eben  ein  großes  SBorurteit  für  bie 
nun  boc^  felber  neuoerfud^ten  medtianiftif^en  2;t)eorieen. 

©lei^fam  atS  ^fi^cat  fc^ien  ber  mec^aniftifc^e  ©tanbpuntt  nod^ 
in  bem  umfaffenben  Se^rbuc^e  ber  p^pfiologifd^en  S^emie  oon  91. 
Sieumeifter  (2.  SÄufl.  1897)  feftge^alten  ju  fein.  (Sgl.  ©.  3 
„oorläufig  ju  oerjicftten".)  ®anj  oerlaffen  aber  unb  energifc^ 
befämpft  mirb  er  in  beffen  neuefter  ©^rift  „93etrac^tungen  fiber 
baS  aaSefen  ber  SebenSerfd^einungen"  (^ena  1903).  @r  lä|t  bie 
ganj  grojaen  5ßrobleme  oitalen  @efd)e^enS,  roie  gormgeftaltung, 
Sßererbung,  ^Regeneration  auS  unb  bejie^t  fic^  mefentli^  auf  bic 
pfl9fiologifc^en  Seiftungen  beS  ^rotoplaSma,  fpeaielt  auf  bie 
9iat|rungSaufnal|me  unb  ben  ©toffroec^fel.  Unb  teils  mit  93unge5 
teils  mit  eigenen  öeifpielen  erroeift  er  in  enger  güt)lung  mit 
äBunbtfd^en  2lnfd[)auungen,  ba^  auc^  biefe  unteren  SebenSer« 
frficinungen   unmöglid^  ju  erflären  finb   auS  Urfadien  c^emifc^cr 

1)  %k  Ausführungen  finb   gefonbert  crfcf)iencn   alS  ©injeloortrag: 
(3.  $unge,  ^italiSmuS  unb  iKHec^amSmuS,  ^tvp^iq,  1886. 


Otto:  3)ic  Ucbetroinbung  ber  med^aniftifd^en  Cel^rc  2C.         243 

Affinität,  p^^ftfalif(^er  2)io§mofc  u.  [.  lü.  93ci  bcn  SB3al^It)or* 
gangen  (g.  93.  beim  2lu§fd)eiben  bc§  ^arnftoffe^  unb  bem  geft= 
galten  bc§  Qndzx^  im  93Iute)  ift  ber  „Sro^i  tlax,  ber  ®runb 
nic^t  }u  erfennen".  ^fgd^ifd^e  ^rojeffe  mirten  im  ^ßrotopIaSma 
bereits  mit  alS  quali^^  unb  quantilatit)eS  (Smpftnbung^Dermögen. 
Unb  alle  mec^anif^en  "^^rojeffe  im  Sebcnbigen  jtnb  bur^  foId)e 
erft  eingeleitet  unb  birigiert.  2)ie  pl^gfifalifd^en,  c^emifc^en,  me« 
^onifc^en  ©cfe^c  gelten  ooDmertig,  aber  fie  bel^errfdien  ni^t  ooU* 
fommen  (©.  29).  Unb  bie  lebenbige  ©ubftanj  ift  ju  befinieren 
ate  „ein  eigentümliche^  d^emifd)e§  Softem,  beffen  aWofetüIe  burc^ 
eine  eigenartige  3Bed|fe(n)ir!ung  pfpc^ifd^e  unb  materielle  SBorgänge 
in  ber  3Bei[e  erjeugen,  ba^  bie  ^rojeffc  ber  einen  2trt  ftetS  oon 
ben  ^rojeffen  ber  anbern  2lrt  urfad^üd^  bebingt  unb  eingeleitet 
werben"  (©.  56).  2)ic  pfg(J)ifd|en  (Srf^einungcn  felber  gelten 
i^m  al§  tranfjenbent,  überfinnlid),  „mgftifd^",  i^rerfeitä  fraglos 
aud)  ftrcng  faufatem  ßufammenl^ange  unterftetienb,  aber  einem  foU 
c^en,  beffen  Äaufalität  un§  für  immer  oerfd)Ioffcn  ift.  SSon  biefer 
®runbanfd)auung  au§  roeift  er  in  ausführlicher  2tu§einanberfe^ung 
bie  Srftärungen  burc^  bie  Slnalogieen  ber  Fermente,  ©njgme 
(©.  72:  nur  fpattenbe,  feine  aufbauenben  ©njgme.  @.  86.  @n- 
j^mroirfung  intracellufar  aber  nic^t  intraprotopIaSmar),  fatalg^^ 
tifc^er  aSorgänge  jurücf,  im  einjelnen  befonberg  gegen  OftroalbS 
SnergiSmuS  unb  aSermornS  93iogenf)r)pot^efe  fid)  ri^tenb  ^). 
/  5ieumeifter§  Ueberlegungen  bewegen  fic^  —  angreifenb  — 
auf  ber  „jmeiten  Sinie"  ber  med^aniftifd^en  2:^eorie.  Sel^rrei^ 
für  bie  „fünfte",  für  baS  5ßrobIem  ber  g^rmgeftaltung  in  feiner 
heutigen  Sage,  ift  ber  furje  in^altooCe  3luffa^  ton  5^.  SÄertel 
(9Jad^rid|ten  ber  t.  ©efettfi  ber  SBf^ften.  ju  ©öttingen.  ®e= 
fc^dftl.  Smitt.  1897,  $eft  2).  „ffielctie  Äräfte  mxUn  geftaltenb 
auf  ben  Äörper  ber  äWenfctien  unb  2:iere?"  3)er  2luffa§  ^ätt  fid), 
offenbar  abfi^ttid^,  fern  t)on  ben  ©c^Iagroorten  ber  Äontrooerfe. 
Surj  mirb  bie  mec^anifdt)e  a3etracl)tung  unb  ba§  Spiel  mit  me« 

1)  @.  97.  98.  SBcrroornS  SBeifptel  con  ber  ©d^rocfetfdurefabrtfation. 

%l.  in  unferem  früt)eren  Sluffatjc  bie  „^roeite  ßinie"  ber  mcc^aniftifc^ett 

X^corie,  auf  ber  fid)  bie  9^eumetfterfd)c  ©cf^rift  roefentlic^  bewegt.    Sögl. 

^cf.  S^rg.  13,  @.  189. 

17  ♦ 


244         Dtto:  ^te  Uebern>inbung  ber  med^anifttfd^en  Se^re  2C. 

d|anifci|en  Slnalogieen  unb  SKobcUcn  abgcroicfcn.  (©.  30)  „3Benn 
3)tnge,  noeld^e  an  fid^  medjantfd^en  (Srüatungen  guganglic^ 
xo&xtn,  Dor  ftc^  flctien,  oI|nc  ba§  bie  nied(anifc^en  ^rämiffcn  gc* 
geben  finb,  bann  muffen  wir  nad^  anbeten  Kräften  fachen,  welche 
unfer  aSerftänbnig  förbern".  Unb  rul^ig  fe^rt  man  jurüdt  ju  ber 
alten  fc^lid^ten  3Sorftetlung§form  ber  „regulatioen"  unb  ber  „for* 
matben  Kraft",  bie  als  SSermögen  sui  generis  ben  „©nergiben", 
ben  eigentli^  lebenbigen  Steilen  ber  Qtllt  beigelegt  merben.  3)ie 
3eKenenergibe  trägt  in  ftc^  baS  „SWufter"  ber  Organifation  unb 
bie  teitroeife  ober  oolHommene  „gertigfeit"  ben  ganjen  Drganiö« 
mu§  l^eroorjubringen  unb  roieber  l^eroorjubringen.  ®ie  beiben 
„Kräfte"  aber  „bebienen"  ftc^  al§  il^rer  SBerfjeugc  im  einjelnen 
ber  p^pfifalif(^*^emifd|en  Kräfte.  —  ®ie  2)inge  fo  befc^reiben, 
l^eißt  natürlid^  nic^t,  ba§  Problem  löfen,  fonbern  e§  oerbilblic^en. 
2l6er  ba§  man  tieute  mieber  fo  oerfä^rt  unb  ©erfahren  mu|, 
menn  man  bie  S)inge  einfad^  unb  fo  mie  fie  fic^  wirMi^  geben 
bejcii^nen  miK,  ba§  grabe  ift  ba§  Se^rreic^e  baran. 

Unter  ben  Iieutigen  SBitaliften  faft  ber  meiftgenannte  (außer 
©riefdi  mo^l  überl^aupt  ber  meiftgenannte)  ift  ®.  SQBoIff,  ^rioat* 
bojent,  früher  in  aBürjburg,  je^t  in  Safel.  ®r  \)at  nur  turje 
Stuffä^c  unb  aSorträge  oeröffentlid^t,  bie  fic^  junäc^ft  aud^  nic^t 
fomo^I  auf  ben  STtei^aniSmuS  aU  fpejieQ  auf  bie  Kritif  be§  9)ax* 
n)ini§mu§  bejogen  („Sei träge  3ur  Kritif  ber  barminfc^en  Se^re" 
al§  SlbbrudE  auS  bem  biologif^en  ä^ntratblatte  1898  gcfonbert 
erfc^ienen).  Slber  fc^on  in  biefen  mar  ba§  ^auptargument  bcS 
be§  ©dilußfapitete :  bie  fpontane  äw^^^w^äfeisf^it  beS  Sebenbigen 
felber,  bie  alle  3"föö^t]^^orieen  jur  ©rflärung  ber  3">^*"^ä6*9* 
feiten  in  Dntogenie  unb  ^ßl^glogenie  beifeite  fc^iebt.  Unb  in  fei* 
nem  Sßortrage  „3Jlec^ani§mu§  unb  SJitaliSmuS"  (Spjg.  1902),  in 
meldiem  er  pc^  befonber§  gegen  93ütfd^ti8  SSerteibigung  beS  3We* 
d^aniSmug  roenbet,  tritt  bie  un§  ange^cnbe  5^age  allein  in  ben 
aSorbergrunb.  Xxoi^  itjrer  Kürge  Iiaben  biefe  ©(^riften  bie  Kon« 
trooerfe  fe^r  ftart  auf  fiel)  gebogen,  roeil  ^icr  befonber§  präji^ 
ba§  ®igentümli(^e  ber  ©tanbpuntte  umfd^rieben  unb  ba§  ^^Jroblem 
^erau§geftellt  rourbe.  SSSaS  feinen  Kritüen  2lu§gang  unb  befon^ 
bereu  QmputS  gab,  ba§  mar  ein  oon  i^m  fclber  burc^  ein  fc^t 


D 1 1 0 :  ^te  Uebenoinbuttg  ber  med^atitftifciien  2t^u  tc.        245 

glüdßd^eS  (Sjrperiment  beigebra^ter  empirif^er  SetDeiS  ber  er« 
ftaunlid^cn  SRegencrationSfä^igfeit  unb  be§  fpontanen  Qvozdi)an^ 
beln§  bc§  Sebenbigen.  @§  gelang  if|m,  ben  93en)eiS  ju  tiefern, 
ba|  eine  2:riton*®ibect|fe,  ber  bic  SÄugenlinfe  herausgenommen 
warb,  imftanbc  ift,  biefelbe  neujubilben.  ®a§  Oemidit  btefeS  53e« 
roeifeS  fteigert  fid)  nod),  menn  man  im  eingelnen  bie  ^ier  auf* 
tretenben  unb  tonfurrierenben  Unmöglid^feitcn  mei^aniftifc^er  S)eu* 
tung  Derfolgt.  (NB !  9li^t  „SBieberbilbung  oon  ber  2öunbe  au§, 
fonbem  ®rfa§bilbung  non  anberem  Drte  l^er."  3)riefd^.) 

aWan  foHte  ermarten,  ba§  roenti  irgenbroo  fo  in  ber  ^flan* 
jenbiologie  bie  mcd)aniftifc^e  Setra^tung  t|ätte  burc^bringen  müf* 
fen.  3)cnn  bie  ^ßflanjen  als  beraubt  ber  ^nnerlic^feit,  be§  „^fg* 
c^ifc^en",  ber  ®mpfinbung,  unb  als  mec^anifd)e  ©qfteme,  d)e* 
mifc^e  Saboratorien  unb  SRefleymec^aniSmen  ju  betrachten,  ift  faft 
3[fiom  unb  rourbe  bei  ber  im  SBergleic^e  jum  Jierifc^en  au^er» 
orbentfic^cn  ©ebunben^eit  unb  Unfreiheit  i^rer  SebenSporgänge 
Don  vorneherein  erlei^tert.  2lber  aud^  baS  ift  nic^t  ber  %a\i. 
35cr  3QBiberfpru(^  gegen  bie  merfianiftifd^en  2:^eorteen  ift  l^ier 
cbenfo  gro§  ats  auf  ber  anberen  (Seite  unb  oon  ben  S^agen  SBi« 
ganbS  l^er  ift  er  ununterbrochen  im  ©ange  geblieben  *). 

SSejeic^nenb  ift  fct)on  ^fefferS  ^ffanjenp^pfiologie  (1897), 
bie  burd^auS  auf  med^aniftifc^em  93oben  ftetien  roitt.  ®er  „S3i= 
taliSmuS"  ift  nac^  i^m  jmar  bur^auS  abjule^nen  (©.  10),  aber 
nun  treten  ftatt  ber  „fiebenSfraft"  unter  Umftänben  bie  nun  ein* 
mal  „fo  gegebenen  ®igenf haften"  unb  bie  angeblid^  maftf)inellen 
Strufturen  im  SlHertleinften  ein.  ^n  ^Betreff  jum  93eifpiel  beS 
SRätfelS  ber  ©ntmidtlung  unb  ©eftaltung  muffen  mir  eS  als  eine 
„gegebene  ®igenfdt)aft"  l)inne^men,  ba§  auS  ber  ®ic^el  immer  nur 
ein  ©c^baum  roirb  (20.)  3urüdtiun)eifen  ift  bie  d)emifc^e  ®rflä* 
rung  ber  SebenSfunftionen  beS  ^rotoplaSma:  mie  eine  einge* 
ftampfte  U^r   feine  U^r  metir  ift,   tro^bem  fie  d^emifd^  baSfelbe 


1)  5Bor  SEBiganb«  größeren  SBerfen  fd^on  Fed.  Delpino:  Applicazione 
della  teoria  Darwiniana  ai  fiori  ed  agil  insetti  visitatori  dei  fiori.  (Bull, 
della  Bocietä  entomologica  ital.  Fir.  1870)  ,un  principio  intrinseco,  rea- 
gente,  finchd  dura  la  vita,  contro  le  influenze  estrinseche  ossia  contro 
gli  ageuti  chimici  e  fisici*. 


246         D 1 1 0 :  ^ie  UebertDtnbung  ber  mec^aniftif^en  iSel^re  zc. 

bleibt,  fo  ba§  ^rotopIaSma.  ®ic  beftcn  d^cmifc^cn  ^cnntntff c  bcr 
in  il^m  tjorlomtncnbcn  ©ubftanjcn  ftnb  für  ftd)  allein  unfähig 
jum  aSerftänbniffe  ber  tjitalen  ^rojcffe.  ^icr  irie  überall  iji  es; 
nötig  mit  testen  „®igenfd^aften  (®ntität),  bie  roir  nid^t  iDciter 
jergliebern  wollen  ober  fönnen",  ju  rechnen.  „3)en  legten  ®runb 
ber  ®inge  vermag  ber  SWenf^engeift  fo  wenig  roic  bie  Unenb* 
lid|feit  8U  erfaffcn"  u.  f.  xo.  3)a§  alle§  ftnb  ainfä^e  oon  Slnfc^au* 
ungen,  bie  jur  Äonfequenj  gebrad^t  bie  SRüdCfü^rung  auf  ba§ 
allgemein  d^emifo-pl^rififc^e  ©ef^el^en  uielmel^r  unterbred^en  at§ 
förbern  mürben.  —  3ll§  mirflidien  Sßitaliften  gibt  fi^  bemugt 
ferner  oon  SÄarilaun  in  feinem  „^flanjenlebcn",  inbem  er  oud^ 
l|ier  mie  an  manrf)en  anberen  fünften  ben  gängigen  ©c^uüe^ren 
(S)arroini§mu§)  roiberfprid)t.  Qxoax  finb  oiele  Srfd^einungcn  an 
ben  ^flanjen  rein  med^anifd^  ju  crtlären,  aber  nur  fold^e,  bie  fi(^ 
eoentuell  auc^  an  leblofen  ©ebilben  oorfinben.  ©rabe  bie  fpeji» 
fifc^en  Seben§äu§erungen  aber  fmb  e§  nic^t.  @r  jeigt  baS  na^er 
an  bem  grunblegenbftcn  Don  allen  oitalen  ^rojeffen  im  ^flanjen* 
förper,  an  bcr  Spaltung  ber  Ko^lenfäure  burd)  ba§  ©^lorop^ptl 
jur  ©eroinnung  be§  @runbelemente§  alle§  Sebenbigen,  be§  Kohlen» 
ftoffe§.  SJBir  fennen  bie  babei  fpielenben  93ebingungen:  bie  ju- 
ftrömenben  Sio^ftoffe,  bie  oermanbte  ©nergie  be§  ©onnenlic^teö. 
Slber  mie  ba§  ©^loropl^tjH  e§  anfangt,  oermoge  biefer  beiben  bie 
Spaltung  ju  leiften  unb  bie  bann  folgenben  ©pntliefcn  be§  Äo^« 
lenftoffe§  in  ben  ^od^fomplijierten  organifc^en  Sßerbinbungen  ein* 
juleiten,  ift  rätfcl^aft.  Unb  fo  aufroärt§  mit  allem  eigentli^  vU 
taten  ©efdie^en.  —  ©a^lid^  eigentlid)  ganj  glei^  liegen  bie  3)inge 
bei  3Bie§ner  (Slemente  ber  mfc^.  93otani!,  93iologie  ber  ^^Jflanje). 
©e^r  einbrudSooll  fmb  I)ier  bie  SRätfel  be§  ®I|emigmu8  ber  ?ßflanje 
gefd^ilbert:  wie  gering  bie  Sai)l  ber  9lal^rung§mittel  unb  9lo^* 
ftoffe  ber  $flanje  ift  im  SBergleii^e  ju  ben  2:aufenben  I|oc^fom* 
plijierter  d^emifdier  ;3nbioibuen,  bie  fte  probujiert;  mie  gro|  bie 
fieiftungen  im  2)e§05t}bieren  ber  5Ra^rung  unb  im  ©gnt^efieren, 
3n)ar  mu§  aud)  l^ier  bie  „Seben§traft"  bie  übliche  Stürfmeifung 
erfaliren.  2lber  „im  Organi§mu§  begrünbete  ©runbeigentümli^* 
feiten  bc§  Sebenben",  unb  ba8  geftfteHen,  ba§  bie  ^flanjen  eben 
„reijbar",  „l^eliotropifd)",  „geotropifd^"  feien,  ift  ja  au^  nur  ba§* 


Otto:  ^ie  Ueberroinbung  ber  nted^aniftifdEien  Se^re  zc        247 

fclbe,  roa^  „ScbenSfraft"  war,  nämlic^  nid^t  eine  Srftärung  fon»= 
bem  eine  Benennung  bc§  ©onbcrprobIcmcS  bc§  Sebcnbigcn.  ®r 
felbcr  beflätigt  ba§,  lücnn  er  an  anbcrcr  Stelle  erflärt:  „5Beun 
ic^  bie  Organismen  mit  ben  2Inorgani§men  pergleid)e,  fo  finbe 
ic^,  ba^  mit  bem  g^ttfc^reiten  unfereS  SBiffen§  bie  Kluft  immer 
großer  mirb,  bie  beibe  trennt!"  —  3lm  entfd^loffenften  bredjen 
bie  antimec^aniftifc^en  ^Regungen  mol^l  burd^  bei  gr.  fiubroig 
(Se^rbud^  ber  93iologie  ber  ^:ßflan8en.  ©tuttg.  1895).  Qm  @*lu&^ 
fopitel,  nad)  SluSeinanberfe^ung  ber  Se^ren  SJarminS,  9iageliS, 
3Bci§mann§,  poftuliert  er,  fpejieH  für  Variation,  SSererbung,  2lrt:= 
btibung,  „noc^  anbere  Kräfte,  al§  bie  ptigfifalifc^-c^emifc^en". 
„9tennen  mir  fie  ol^ne  meitereS  pfr|d^ifd)e".  —  Sel^rreic^  bafür, 
Tüie  grabe  beim  ©injelftubium  unb  beim  ©tubium  be§  Sttllerfleinften 
bie  „oitaliftif^en"  Slnfd^auungen  roieber  l^erauSbrec^en,  fmb  ®. 
SratoS  „Beiträge  jur  3lnatomie  unb  ^tigfiologie  be§  Elementar« 
Organismus".  (So^n,  ^Beiträge  jur  Biologie  ber  ^flanjen,  Vn 
407  ff.  aSgl.  bcf.  ben  @(^lu§ :  „SinigeS  über  gunftionen  ber 
einjelnen  Q^üoxQam" ,)  SBie  baS  fiebenbige  in§  immer  Kleinere 
hinein  immer  noc^  einmal  mieber  lebenbig  ift  (amöboibe  SBeme« 
gung  gemiffer  ^laftine,  ber  ^^t)foben  .  .),  mie  unnergleid^lic^  mit 
bem,  womit  feine  Reiniger  eS  am  liebften  üerglei(^en,  mit  einer 
„9Rafc^inc",  mie  eS  ftd^  felber  baut,  leitet,  unb  feuert,  baS  „©pie* 
Icnb' leichte",  mit  bem  eS  bie  rounberbarften  unb  jierli^ften  ^or* 
men  probujiert,  Sßerbinbungen  fd^afft  unb  löft,  mie  analog  alleS 
bem  „Können"  unb  bem  „SQBollen"  ift,  tritt  anfc^aulidt)  ^er* 
Dor^). 


1)  @tn  ©eitenftücf  ba^u  au§  ber  3ooIogte  mdre  etiva  @.  ^ei(f)mannS 
®in5elunterfud)ung  „über  bie  SBejic^ung  jn)tfrf)en  3lftrofp]^ären  u.  g^urc^cn. 
^perimenteUe  Untcrfud^ungcn  am  ©ceigetei".  (3lrrf).  f.  ®ntro.  9Jicd^.  XVI 2 
1903).  Stuf  ,,pf9d)tfd)eS''  ®efd)c{)en,  „können"  unb  „2Bonen"  wirb  l^icr 
nic^t  rcPcftiert,  roaS  für  eine  eyafte  Untcrfud^ung  fidler  nur  ju  billigen 
ift.  2lber  hi^  mcd^aniftifd^en  S)eutungen  ber  ®ntroicflung§oorgdnge  im 
ßlcinften  (mf)umblcr.  ©.  früheren  Sluffafe,  @.  190.  ßic§  „®aftruIation"  ftatt 
©aftruftation)  werben  oorficf)tig  eingefd)rän!t  unb  „fjunbamentaleigen* 
fc^aftcn  ber  lebcnbcn  ©ubftanj,  bie  mir  alS  gegebene  f)innel)men  muffen", 
werben  angebeutet.  Unb  nod£)  auSgcfpro^ener  in  2;ab.  öJarborosifiS  prad^t- 
coö  auggeftatteten  „9Jh)rp^ogenetif(i)en  @tubien,  a(§  ^Beitrag  5ur  3J?etl)obo= 


248        Otto:  ^ie  Uebenombung  ber  tnec^aniftifd^en  Seigre  2C 

©cl^r  übcrftditU^  unb  originell  cnblic^  fc^ilbcrt  Sorobin, 
^ßrofeffot  bcr  ©otanif  in  Petersburg,  bie  l^eutige  Situation  in 
feinem  2luf[a^e  „Protoplasma  unb  SebenSfraft"  (überf.  oon  Sci)in= 
fotin.  Beilage  jur  Slügemeinen  3eitg.  3Mün^cn,  1898,  Str.  166 
unb  167).  @r  geißelt  fc^arf  bie  ®infeitigfciten  unb  SJoreiligfeiten 
ber  medianiftifd^en  Si^eorie,  ^ädfelS  „@ntbedung"  beS  93at^9biuS 
unb  bie  femlofen  SBafterien.  ®ie  te^teren  jtnb  problematifc^  unb 
ber  erftere  mar  eine  ^fßwflon.  2)a§  ©inbringen  in  baS  innere 
ber  SebenSoorgänge  ift  baS  ©eroa^rroerben  oon  ftufenroeig  oer* 
tieften  Stätfeln.  Unb  „^rotopIaSma"  ober  „lebenbeS  (Siroeife" 
ober  überl^aupt  einen  einl|eitli^>:einfad)en  „SebenSftoff"  gibt  e§ 
nic^t.  3)ie  Wnftli^en  „Oelamöben"  (öütfAli,  f.  früheren  2luffa^, 
@.  190)  ©erhalten  ftd^  ju  ben  mirHi^en  loie  bie  fünftli^e  ®nte 
9Saucanfon§  ju  einer  mirflic^en:  nämtid)  garniert.  Unfer  „?ßroto* 
plaSma"  ift  fo  mgftifc^  roie  bie  alte  SebenStraft,  unb  beibe  gleit^ 
fetir  ein  ßagcr^of  für  unfer  Unmiffen.  2Wecl|aniSmu§  fo  gut  wie 
2ltomt^eorie  finb  ni(^t  ©rgebniffe  ejafter  gorfdiung  fonbem  Se^n* 
ftüdte  au§  ber  ^^ilofop^ie.  ®ie  tgpif(^*DitaIen  JBorgänge  ber  Stcij» 
barfeit  unterfui^en  wir  jroar  auc^  nac^  p^gfitalifc^en  SWet^oben. 
Sttber  bie  Slntroorten,  bie  ber  Organismus  auf  bie  p^gfifalifc^en 
2:orturen  gibt,  fönnte  man  faft  atS  einen  ^ol^n  auf  bie  ^^9frf 
bcjeid^nen.  33ie  9We(^aniften  Reifen  fic^  mit  groben  Sinologien 
aus  bem  SRafci^inelten,  berfen  baS  Problem  s^t  wit  bem  9lamcn 
„SReijbarfeit"    unb   befeitigen  bamit   baS   ®rftaunlici^fte.    ©elbft 

loßie  joologifd&cr  fJorfd)unfl."  @ie  getiören  eng  l^inetn  in  bcn  ©cbanfcn- 
freiS  ber  5)ricfd£)  unb  Söolff,  bie  beibe  F)äufig  mit  großer  ^Inerfennung 
jiticrt  roetben,  unb  finb  ein  oorjüglidieS  ©eifpiel  für  bie  Stimmung  ber 
©rmübung  unb  beS  ^roteftcS  gegen  bie  ^S)ogmen''  ber  ^cScenben^',  Sc* 
Ieftion«=  unb  ©tammbäume^Soologie,  bie  in  ber  jüngften  Generation  oon 
^orfd^em  ficf)  mcl^rfac^  regt.  ©arbomSfi  (e^nt  §äc(elS  ©ntroicflungSle^ren, 
befonberS  baS  „biogenetif^e  ©runbgefefe"  unb  bie  „Oafträalebre"  häftig 
ab,  baju  bie  ,,med)aniftifd)en''  (^^erimente  ber  ^eimeSentmicflung,  mit 
benen  man  „morp^ologifc^  bie  ßeberoefen  in  einer  SBeife  betrachtet,  aö 
ob  eS  firf)  nirf)t  um  SebenSein^eiten,  fonbem  um  ©lafen,  Sßal^en,  platten 
l^anbele",  bie  „fünftlid^en  Slmöben",  bie  fic^  bewegen,  fortfriec^en,  teilen, 
unb  nur  eins  ni^t  tun,  nämlid)  Uhtn.  %a^  ^hzal  ber  Biologie  ift  natut« 
lid^  immer  eine  Sßiffenfdiaft  mit  ©efe^en  unb  (Gleichungen,  aber  bie 
€d)Iüffel  x\)xzx  ®Ieici)ungen  loerben  nid^t  in  ber  SO^eci^anif  liegen. 


D 1 1 0 :  ^ie  Uebern)inbung  ber  med^aniftif dien  l^e^re  zc,        249 

mm  bic  fiebcnSfraft  au§  i^ren  bumpfcn  Q^üzn  rufen  würbe: 
„btt  bin  ic^",  fo  würbe  man  barin  Dermutlid^  einen  merfroürbigcn 
gttll  oon  „SReijbarteit"  fe^cn.  9Red)ani§mu§  ift  ebenfoiüenig  roie 
ber  SBitaUömug  tatfäd)Iid)e§  3Biffcn  fonbcrn  nur  ein  ®Iaubcn§* 
bogma  ber  9Äe^rja^l  ber  mobemen  9laturforfc^er. 

3)ie  bigl^erigen  ^roteftierenben  Ratten  au^cr  i^rer  ^ritif  ber 
me^aniftifd)en  Sefire  leine  pofitioe  eigene  Sefire  ober  bo^  nur  ju 
ftioppe  Einbeulungen,  etwa  in  pfgc^iftif^er  Einfielt  geben  tonnen. 
@§  gibt  anbere,  bie  ben  3nec^ani^mu§  überwinben  TDoQen  bur^ 
ein  eigenes  tiefere^  (Srfaffen  Dom  SBefen  ber  „^raft"  überl^aupt. 
S^re  aSerfud^e  finb  mannigfaltig,  bewegen  ftd^  aber  jumeift  in 
einer  SRic^tung,  bie  roo^l  am  ftraffften  unb  !nappften  angebeutet 
roirb  burd)  Slopb  9Worgan§  Slnfc^auungen,  roie  fie  j.  93.  in  feinem 
«uffa^e  „Vitalism"  (the  Monist,  1899,  ©.  179  ff.)  gefummelt 
jinb.  ^m  3lnfange  biologifc^er  fiel)rbüd^er  finbe  fic^,  fagt  er, 
itoax  gemß^nüd)  aud)  ein  Äapitel  über  ba§  3Befen  ber  „Sraft". 
aber  e§  fei  „like  grace  before  meal"  —  without  influence  on 
quality  or  digestion.  3)iefe  S^^öge  aber  fei  in§  reine  gu  bringen, 
beoor  man  ju  einem  aSerftänbniffe  be§  ganjen  ©ebietes;  tommen 
tonne.  93ei  allen  93erfuc^en  ber  „Slücffü^rungen"  fei  ju  über* 
legen,  ba|  überhaupt  „^raft"  if)r  SBefen  in  immer  l^ö^eren  ©tufen 
offenbare,  oon  benen  jebe  neu  fei.  ©d^on  ©otjäfton  fei  nid)t 
rüdfü^rbar  auf  ©raoitation,  unb  bie  ^emifd^en  SKffinitäten  unb 
9Wo[etu(arträfte  mieber  nid)t  auf  ein  ^rimitioereS.  ©ie  fd)on  finb 
etroaS  outside  the  recognised  order  of  nature.  Qw  mieber 
^S^erer  gorm  erfd)lie§e  fid|  „Kroft"  in  ben  5liiftaUifation§*3Jor=» 
gdngen.  93eim  erften  KrgftaUe  bereits  fe^e  eine  birigierenbe  Hraft 
•  ein,  ganj  gleichen  ®f)arafterS  wie  ber  SBitle  beS  93i(b{)auer§  bei 
ber  SBenu§  oon  2ÄtIo.  3)a§  jebeSmal  neu  einfc^ie^enbe  3Womcnt 
fei  mit  Herbert  ©pencer  (Principles  of  Biology)  due  to  that 
ultimate  Reality  which  underlies  this  manifestation  as  it  un- 
derUes  all  other  manifestations.  „SBerfte^en"  im  ©inne  oon 
„f)inter  bie  S)inge  tommen"  tann  eS  md)t  geben :  felbft  bie  ^anb- 
lungen  of  brüte  matter  finb  nid)t  ju  „oerftef)en".  Unb  ba§  Qn^ 
fadSfpiel  erfläre  nid)t  nur  nid)t  baS  Sebenbige  fonbern  au(^ 
nid)t   baS  Unlebenbige  („Intrinsically   absurd"),     ©pejiell    aber 


250        Otto:  ^te  Uebertoinbung  ber  med^aniftifd^en  Se^re  ic 

ba§  Scbcn  fönnc  roebcr  Don  au^cn  in  bie  StUt  importiert  fein 
nod^  crMärt  werben  aU  einfa^  emerging  from  the  Cooperation 
of  the  components  of  protoplasma  unb  fei  in  its  essence  not 
to  be  conceived  in  physico-chemical  terms  fonbem  fteKc  bar 
new  modes  of  activity  in  the  „noumenal  cause",  bie  eben  weil 
fie  noumenal  ift,  fic^  unferer  ^i^Iänglic^feit  entjie^t.  3)enn  nur 
Jß^änomcna  finb  accessible  to  thought. 

Unter  ben  ©iologen  felber,  bie  tief ere  ©rmagungen  anftcöen, 
berührt  fi^  mit  bicfen  ©ebanten  inl^altlic^,  fo  menig  e§  öugerlid) 
fd)eint,  O^far  ^ertmig,  3)ireftor  be§  anatomifc^en  QnftituteS  in 
93erlin.    (SSgt.  „SntroidElung  ber  ©iologie  im  19.  Siö^^^i^unbert". 
(Skturforfd^erocrfammlung,  1900)   unb  „QtiU  unb  Streitfragen 
ber  Biologie"  1894—97,  befonber§  |)eft2:  „aWec^anif  unb  ©io« 
logie'').    @r  mid  ben  gemöl^nlic^en  3nec^ani$mu$  fojufagen  bur^ 
einen  3Weci^ani§mu§  ert)ö^ter  ©tufe  überroinben,  prüft  unb  ner* 
tieft  babei  bie  Iiertömmlic^en  93egriffe  üon  Urfä^tic^feit  unb  „Rraft" 
unb  umgrenzt  boS  9ied)t  unb  Unrecht  quantitatio^mat^ematifc^er 
93etrac^tung  in  93ejug  auf  SrHärung  non  9]atur  überhaupt  unb 
3)lcc^ani!  im   33efonbern.     3)abei   ge^t   er   bemüht   in   SBa^nen 
So^e§,  mcniger  fofern  bicfer  faufale  unb  teleologif^e  93ctrad)tung 
al§  jufammengel^örenb  ermie^,  al8  fofern  er  ben  Segriff  ber  Ur- 
fäct)Iic^feit  umformte.  O.  ^ertroig  fe^t  fid^  befonber§  mit  S38. 9touj 
au^cinanber,   bem   93egrünber  ber  neuen  „3wfwwft^^iff^^f^öft" 
ber  mec^anifd^en  unb  bamit  erft  miffenf^aftlid^en,  ber  nid^t  mtf)x 
nur    befc^reibenben   fonbem  nerftel^enben,   ber  attein   !aufal  er* 
flärenbcn  ®ntn?idtlung§le^re.    („2lrc^io  für  @ntn)idf(ung§mec^a» 
nif".)    ^"'ßj^^^^i  9Jicc^ani§mu§  gibt  e§:  ben  p^ilofop^if(^  fo  be* 
nannten,  ben  im  i)ö^eren  ©inne,  unb  ben  im  ftrengen  pl)gfi!ali« 
fc^en  Sinne,    ^encr  erftere  fagt,  bafe  alle    ®rf (Meinungen  oer* 
fnüpft  finb  nad)  bem  fieitfaben  urfäc^Ii^en  3ufammen^ange§  unb  fic^ 
taufal  erflären.    2ll§  folc^er  ift  er  berechtigt  unb  felbftoerftänblic^ 
aud^  für  ba§  (Sebiet  ber  Sebcn§erfd)einungen.    Unberedjtigt  wirb 
er  aber,  wenn  man  Urfac^e  oftne  weitere^  gleic^fe^t  mit  unb  ein« 
fd)ränlt  auf  „Kraft",  menn  man  f aufale  SBerfnüpfung  nur  jutopt 
im  ted)nif(^en  Sinne  oon  mec^anifctjer  Kraftübertragung  unb  =um- 
fe^ung,  unb  menn  man  obenbrein  meint,  baburd^  ein  „®rf(ären" 


Dtto:  ^ic  Ucberwinbung  ber  med^aniftifdien  Seigre  ic.         251 

im  ©inne  Don  bie  3)mgc  fclbcr  cinfelicn  ju  l^abcn.  2tud^  SKcdbanit 
ift  (mit  Rird^l^off)  „bc[(^rcibenbc"  SBiffcnfd^aft.  ^cbe  erfte  ur* 
fprünglid^e  9latur  „traft"  ift  (mit  ©d^opcn^uer  utib  So^c)  eigen* 
tflmlic^,  nic^t  rüdffül^rbar  unb  oon  qualitatioer  Sefonberung,  ift 
^qualitas  occulta",  ni^t  p^pftfd^er,  nur  metap^gfifi^er  (Srflä* 
rung  fa^ig.  Unb  fo  fd|Iie§en  bie  Unterfud^ung  Slbroeifungen  be§ 
SKec^onismu^  im  groben  ©inne.  (©.  85 :)  2ll§  fold^er  I|at  er  nur 
6efc^ränften  (Spielraum  im  SReic^e  be§  fiebenbigen.  3)ie  ®efd|i^te 
ber  mec^aniftifc^en  SBorftettungen  ift  eine  Oef^ic^te  i^rer  3ufom* 
menbrüi^e.  Oft  ift  rerfudjt  n)orben,  ba§  Drganifd^e  birett  au§ 
bcm  2lnorganifrf)en  abjuleiten.  Slber  alle  berartigen  SSorfteHungen 
fmb  immer  balb  roieber  befeitigt.  „SJlit  gemiffem  SRed^te  !önnte 
„man  je|t  fogar  fagen,  ba§  bie  Kluft  jroifd^en  ben  beiben  5latur* 
„rcid^en  in  bemfelben  SWa^e  tiefer  geworben  ift,  ate  ftd)  unfere 
„p^gfifalif^e  unb  (^emifd^e,  unfere  morp^ologifdie  unb  pl^gfiolo* 
„gifc^e  ®rfenntni§  ber  Organismen  oertieft  f)at".  SWac^S  SEBort 
Don  ber  „med^anifrfien  9Rgt^oIogie"  folgt  unb  eine  feine  2lu§* 
fü^rung  über  bie  Unjulänglid|!eit  mat^ematifi^er  93etrad)tung  über* 
^aupt  mac^t  ben 93ef d)Iu§ :  „SÄat^ematif  ift  nur  ein  3)en!mittel, 
„nur  ein  oorjügli(^e§  ^anbn)ert§jeug  be§  menfd^li^en  ^erjenS, 
„aber  unenblid^  oiel  felitt  baran,  ba§  alte§  3)enten  unb  ©rfennen 
„fidj  jemate  nur  in  biefer  einfeitigen  SRid)tung  beroegen  unb  ba^ 
„ber  ^nlialt  unfereS  ®eifteS  jemals  burd)  fie  einen  erfc^öpfenben 
„9lu§brudt  finben  fönne".  — 

Sluf  eigene  35Jeife  Derfuc^t  weiter  ber  Kieler  Sotanüer  SReinte, 
feinen  ©egenfa^  jur  pt)9fifo*d^emif^en  SebenSauffaffung  ju  einer 
eigenen  SebenSle^re  jufammenjufaffen  in  feiner  S)ominantenIe^re. 
(„35ie  Organismen  unb  i^r  Urfprung"/  SSortrag,  erfd^ienen  in 
5Rorb  unb  ©üb,  XVni,  ©.  201  ff.  —  „S)ie  SÖSelt  alS  Sat". 
3}erlin  1899.  Qnjroifc^en  in  jmeiter  2luflage.  —  „(Einleitung  in 
bie  t^eoretifc^e  53iologie".  1901.  —  Unb  „®er  Urfprung  be§  Se* 
benS  auf  ber  @rbe''  im  2;ürmer=3at)rbucl),  1903).  Unter  ben 
Biologen,  bie  felber  ftd^  jur  nted^aniftifdben  Sct)re  betennen,  gibt 
eS  einige,  bie  mit  9lad^brudt  bie  ©rflärung  etma  auS  d^emifdien 
unb  p^gfttaUf(^en  ^ßrinjipien  im  allgemeinen  ablehnen  unb  euer* 
gifc^er  als  anbere  betonen,  ba^  biefelben  bie  eigentümlirfien  SebenS* 


252        Dtto:  ^ie  Ueberroinbung  ber  mec^aniftifdicn  Seilte  ic. 

erf^cinungctt  uitb  tjcnüidcitcn  öeioegunaSoorgängc  nur  l^crDor* 
bringen  tonnen  auf  ©runb  einer  ^oc^ft  fein  btfferenjierten  ©trul* 
tur  unb  2:eftonif  ber  Icbenbcn  Subftanj  im  9lDer!Ieinftcn  unb  fci^ott 
int  @i.  ©ie  fc^affen  bie  eigenttid^e  „SWafc^inentl^corie"  unb  man 
fönnte  jte  jufammenfaffcnb  bie  2^eftoniften  nennen.  „@ine  U^r, 
bie  man  einftampft,  ift  feine  U^r  melir".  ©o  ift  ba§  blo^  poff* 
Iid)e  unb  d^emifd^e  nic^t  ba§  mefentlid^e  am  Sebenbigen,  fonbern 
[eine  Xeftonif,  feine  „mafd^ineHe"  ©truttur.  ®ie  ©runbanfc^au* 
ung  ift  l^ier  gang  bie  So^e'S.  9lid^t  ein  „mpftif(^e§"  fiebcni- 
pringip  foQ  bie  pl^^fifc^en  unb  d^emif^en  93orgänge  im  au^ge« 
bilbeten  ober  merbenben  Organismus  einleiten,  banbigen  unb  re« 
geln.  ©onbern  inbem  fie  fidt)  abfpielen  in  unb  an  einem  gcgc* 
benen  eigentümtid^en  mafd^inetten  Slufbau  unb  ©etriebe,  empfangen 
fte  3)ireftioe  unb  3>ttipuIS.  3)iefe  Se^re  f)at  aüt  Ungeheuer  ber 
^räformationen  im  Seime,  ber  SW^t^oIogicn  beS  SMHerEIeinften 
bei  fi^  unb  leibet  fo  mannigfadt)  ©d^iffbrud^,  at§  fie  ©eiten  unb 
2;eile  l^at.  Slber  fte  l^at  ba§  SBerbicnft,  bie  Unmöglic^feiten  ber 
rein  d^emif^en  ©rflärungen  ^eH  in§  Si^t  ju  ftcQen.  33on  foI(^en 
teftonifd)en  Sßorftetlungen  ausgegangen  ift  and)  9tein!e§  3)omi* 
nanten^Se^re  unb  urfprünglii^  aud^  ®riefd^'S  JieooitaüSmuS,  von 
bem  unten  jU  reben  ift. 

SHeinfeS  3Infd|)auungen  beuteten  fid)  fc^on  an  in  feinen  „©tu* 
bien  über  baS  ^rotoplaSma"  (1881)  unb  in  feinem  „fie^rbud^ 
ber  allgemeinen  93otanif"  (1880).  Ueberfi^tlic^  jufammengefaj^t 
unb  im  roefentlidien  fi^on  fertig  geben  fie  fi^  in  feinem  fe^r 
einbrudESüoHen  erftgenannten  SSortrage.  S^gpifc^  nerfd)icben  ifi 
alles  Sebenbige  tjom  Unlebenbigen.  SSaS  ertlärt  ben  Unterfc^ieb? 
^x6)t  bie  „burd^auS  unMare  ^gpot^efe  oon  ber  SebenStraft". 
2lud)  ba§  im  Organismus  Gräfte  ttwa  pfpd^ifd^er  Statur  fpielen, 
mirb  beifeite  gef^oben.  S)aS  Seifpiel  ber  U^r  l|i(ft  jum  33er* 
ftänbniS.  SDie  treibenbe  Äraft  ift  burc^auS  nur  bie  gemö^nlic^e 
©^roerfraft  beS  ©eroic^teS  ober  bie  allgemeine  ®laftijität  beS 
©ta^lS.  9Iber  bie  SBirfung  folc^er  einfadier  Gräfte  tann  jur  un* 
enblid^en  2Wannigfaltigteit  gefteigert  werben  burc^  bie  „Sonftruf» 
tion  beS  2lpparateS",  auf  n)eldt)e  fte  einmirfen.  fieben  ift  bie 
3trbeit  einer  ganj  eigenartigen,  berounbernSmcrt  fompUjierten  un* 


Otto:  ^te  Uebenoinbung  ber  me^aniftifd^en  IBe^re  :c.        253 

no(|a^mU(^cn  ©attung  Don  SKafc^inen.  @inb  fie  gegeben,  fo 
ooBjie^en  p^  an  i^nen  bic  oerroidfeltcn  ^rojeffc  mit -Jlotroenbigs 
leit,  oon  felber,  unb  o^ne  (Eingreifen  befonberer  SebenSträfte. 
SBic  aber  tonnten  fte  gegeben  werben?  ®a^  einjige  2Inatogon 
ift  ba§  3^Pö^^^f*>"^w^^"  wirMidier  3Mafc^inen,  ber  Slunftprobufte 
im  Untcrfdiiebe  üon  3ufatt§probutten.  @ie  fönnen  nid^t  juftanbe 
fommen  ol|ne  ©influ^  unb  93en?irfung  Don  SfnteHigenj.  3)en  un« 
Derglei(^{i^  tunftDoQen  unb  Dern)ic!e(ten  älufbau  ber  SebenSma« 
fc^inen  burd^  „jufaßigeS"  ©ntfte^en  unb  ^uf^ntmengeraten  ber 
cinjelnen  SKomente  ju  erMären,  wäre  abfurber,  aU  ba§  3"Pönbe* 
fommen  einer  Ul^r  fid^  fo  ju  beuten.  ®ie  ^errfd^aft  einer  fc^af* 
fenben  ^htt  ift  unuerfennbar.  ®ine  intelligente,  jielberou^te,  it^re 
SWittel  berec^nenbe  Staturfraft  ift  uorau§jufe^en,  wenn  wir  unfer 
fiaufalitätSbebürfnig  roirtlid^  befriebigen  wollen.  ®§  fommt  auf 
bic  perf online  Ueberjeugung  an,  bicfe  in  „®ott"  ober  im  „Slb* 
foluten"  JU  finben. 

3n  „bie  aaSelt  al§  XaV ')  (bie  »ebeutung  be§  XitelS  Ieu(^tet 
nadi  bem  SSorange^enben  oon  felbft  ein)  unb  in  ber  „t^eoreti* 
fdjen  ©iologie"  ^)  fmb  biefe  Slnfc^auungen  ooHer  entmidtelt  jur 
S)ominantenIe^rc.  ©e^r  fräftig  unb  überjeugenb  fmb  bie  in 
bciben  SBSerfen  gegebenen  Slbmeife  ber  naturaliftifd^en  S^eorien 
Dom  Sebenbigen,  ber  „©elbftentfte^ung"  be§  Sebenbigen.  ^n  allen 
SebcnSoorgängen  fprid^t  ein  „p^gfiologifdieg  3£"  mit,  ba§  nic^t 
augjumerjen  ift  unb  bem  fieben  feine  eigene  nid^t  abjuleitenbe 
ärt  gibt.  @§  ftnb  „Gräfte  jroeiter  §anb",  „Oberfräfte",  „S5o= 
minanten",  bie  ha^  Eigentümliche  ber  gunttion  juSBege  bringen 
unb  bie^rojeffe  birigieren.  ®abei  mirb  „33itali§mu§"  im  eigent* 
liefen  Sinne  au^  l^ier  abgemiefen;  bie  aWafd)inentt|eorie  be§  Se» 
benbigen  foH  gelten.  „Dominanten"  gibt  e§  aud(  an  unferen 
SBetfjeugen,  an  Jammer  unb  Söffel.  2Iuc^  bereu  „SBirtung" 
erflart  fid^  nic^t  rein  ^emif^^pl^gfitalifd),  fonbern  burd)  bie  „3)o* 
minanten"  i^rer  gorm,  i^re§  2lufbaue§,  it|rer  ß^f^mmenfe^ung, 
bic  bie  Stntelligenj  in  fie  hineingetragen  l^at.    S)er  3^fö"^"^^"^ß'^9 

1)  9lu3fü^rltd)cr  bcfprod^cn  in  3:^eoL  Sitcraturacitung,  1900,  9^.  14. 

2)  %l.  bic  SBcfprcd)ung  von  21.  ®rcit)§  in  ^rcufe.  Sa^rbb.  1902,  Oft., 
6.  101  ff.  ,,lRein!c§  ®inleitung  in  bic  t^corctif^e  SBiologic". 


254        Dtto:  ^ie  Ueberwinbung  ber  mec^anifttfc^en  Se^re  zc. 

mit  ber  Slnf^auung  ber  2:c!toniften  ift  l^ier  nod^  ganj  offenbar 
unb  e§  gefi^ie^t  ganj  notroenbig,  ba§  fie  Sieinte  für  fi(^  in  Slnfprud^ 
nelimen.  («gl.  Soero,  im  SBioI.  3entralblatte  XIX  653.)  2lber 
fc^nelt  erweitert  fic^  ber  93egriff  ber  „3)ominante".  @§  gibt  nun 
and)  Dominanten  ber  gormgeftaltung,  ©ntmidlung  u.  f.  xo.  3tu§ 
a3eftimmtt|eiten  ber  ©truftur  unb  2:eftonit  merbcn  iiemlid^  unbe* 
fetienS  bgnamifdie  gorm*  unb  ©eftaltungSprinjipien,  bie  mit  ber 
3Waf(^inenle^re  nid|t§  me^r  ju  tun  liaben  unb  in  ber  3n>^i* 
naturiert^eit  if|re§  SBefcn§  ni(^t  eben  fe^r  braud^bare  35eranf(^au* 
lid^ungen  unb  SßerftänbigungSjeidien  abgeben.  ®er  2Beg,  ben 
l^ier  bie  SBorfteHung  ging,  ift  mol^l  giemli^  oerftänblid^.  S)ic2ln* 
fdiauung  ging  urfprüngli(^  au§  oom  lebenben  Drgani§mu§  al§ 
fertigem,  befonber§  im  ©toffmec^fel  fun!tionierenben.  ^ier  fann 
man  etwa  ben  93ergleid^  eine§  3)ampfmafd|inenbetriebe§  mit  ©elbft* 
regulatorcn  unb  ©elbftfpeifung  l^eranjie^en,  oon  „Dominanten" 
im  Sinne  ber  SJlafc^inenbominanten  reben.  9iun  foll  ber  einmal 
gefunbene  S3egriff  aud)  allgemeinen  3)ienft  leiften.  Unb  fo  er* 
geben  fid^  bann  „Dominanten"  ber  ©ntmidlung,  ber  gormge* 
ftaltung,  fogar  ber  p^glogenetifc^en  ©ntmidtlung,  („p^glogenctifd^e^ 
©ntmidtlunggpotential").  Qmmer  neue  fe^cn  ein,  immer  me^r 
entfernen  fte  ft(^  oon  ber  „SDIafi^inentlieorie"  unb  immer  rätfei» 
l^after  unb  —  oitaliftifd^er  merben  fie. 

a3Ba§  fid)  bei  Steinte  unoermertt  ooUjiel^t,  ba§  ift  bei  Driefc^ 
mit  ooUem  Semu^tfein,  mit  aller  Slbfic^t  in  ftufenmeifer  ©igen» 
burd)bilbung  unb  tonfequentem  jä^em  ©erfolg  be§  ^robleme^  ge« 
leiftet  morben.  ©eine  mit  ©diarffinn  geführten  Ueberlegungen, 
fein  jal^relange^,  tonjentrierteö  öemü^en,  feine  umfaffenbfte  Äcnnt* 
ni§  unb  93el|errfc^ung  be§  ©toffeg,  bie  innere  Sogif  unb  tonfe* 
quente  ®oolution  feiner  „©tanbpunfte",  bie  eyperimenteH^empi* 
rifctie  ©runblage  unb  bie  p^ilofop^ifd^  gebilbete  t^eoretifc^e  Durc^« 
bringung  be§  ©cgenftanbeö  ma^cn  i^n  ju  bem  rool^l  le^rreic^ften 
^^arabigma,  ja  gerabeju  ju  einer  SSerförperung  ber  ganjen  ©trcit» 
frage  felber.  —  1891  erfc^ien  feine  ©c^rift,  mit  ber  er  juerfl 
ben  Soben  be§  ?ßrobleme§  betrat:  „bie  mat^ematif(^*mec^anifc^e 
Söetrad^tung  morp^ologifc^er  Probleme  ber  Biologie",  ©ie  menbet 
fid^  junä^ft  gegen  bie  blo§  „t)iftorif^e"  SWett(obe  ber  ^Biologie, 


Otto:  S)ie  Uebcxwinbung  bcr  me(%amftif(i)Ctt  Setire  :c.         255 

wie  fie  bic  gängige  ©^ullc^re  in  bcr  fjorm  bc§  3)arn)ini§mu§ 
übte  unb  wirb  baburd}  ju  einem  2lngriffe  auf  ben  S)arroini§mu§ 
ätinlic^er  2lrt,  wie  i^n  3Ä.  ©reger  in  „Sidt  unb  SBege  biologi* 
fc^er  gorfc^ung"  and)  übt  ®arn)ini§mu§  unb  Scfjenbenjte^re 
fmb  bislang  nid^tö  al§  eine  „Sl^nengallerie",  unb  bie  SBiffenf^aft 
unter  i^rer  ga^ne  ift  nur  befd^reibenb  ni(^t  üerfte^cnb.  (Statt 
ber  3wfaB§tt)eorien  gilt  e§,  eine  5,95orfteIlung"  ber  inneren  im 
Subftrat  felber  liegenben  9lotn)enbigfeit,  mit  ber  bie  formen 
i^ren  2lu§brudt  fanbe«  (@.  48),  eine  ^lotroenbigfeit,  bie  ber  in 
bem  ^otmgeftalten  ber  ^rgftaüe  entfpred)enb  ift  (©.  48),  ju  finben, 
Srperimenteüe  Unternehmungen  unb  ®ntbedtungen  unb  meitere§ 
Slac^benfen  ergaben  1892  „®ntmi(Mung§me^anifc^e  ©tubien"  unb 
fül^rten  baju  weiter,  ju  forbern,  mag  ber  Site!  feinet  SBerfeä  au§ 
1893  befagt:  eine  „Biologie  al§  felbftänbige  ©runbmiffenfc^aft". 
^icr  ermarfifen  jmei  bebeutfame  ©rtenntniff e.  Slämlid),  bajs  93iotogie 
otterbingg  ©jatt^eit  fudien  mu§,  aber  ba^  Sfaft^eit  für  fie  ni^t 
befielen  fann  in  ©uborbination  unter  fonbern  in  Koorbination 
mit  ?ß^pfif.  ©ic  foll  neben  ba§  Oanje  ber  ^l^pfif  treten  aU 
eine  „felbftänbige  @runbmiffenf(^aft"  unb  jmar  aU  Seftonit. 
Unb  anbererfeitS,  ba§  ber  teleologif^e  ®eftc^t§punft  neben  ben 
foufalen  ju  treten  l^at.  @rft  in  beiben  ift  93ioIogie  aU  SBiffen» 
fd)aft  oollenbet.  —  2)ie  „analgtifdie  S^^eorie  ber  organifdien  @nt:= 
wirflung"  (Scipjig,  1894)  fnüpft  roieber  ba  an,  mo  bie  oorige 
Schrift  ben  gaben  falten  lie§,  unb  fpinnt  it)n  meiter,  babei  jum 
2eil  „bie  bi§I)erigen  t^eoretifd^en  unb  ejperimentellen  2lrbeiten 
burc^freujcnb".  Slu^  fie  fud)t  fid^  noc^  im  SRa^men  ber  2:et= 
tonit  unb  ber  SKafd^inentl^eorie  ju  galten,  borf)  oerbiegen  fic^ 
fc^on  ein  mcnig  bie  SWänber.  ®a§  Seben  foß  fein  ein  5!Jled)ani§» 
mu§  auf  ber  ^afiS  gegebener  ©truftur  (©.  165),  {aüerbing§  ba= 
mit  jugleid)  eine  3Wafd)ine,  bie  fid^  felber  bcftänbig  um*  unb  au§* 
baut!)  3)ic  Dntogenefe  *)  fott  ein  ftreng  „taufaler"  ^ufammen* 
l^ong  fein,  aber  aflerbing§  nad)   „einem  in  lauter  Siätfeln  ein= 


1)  „Dntogenefe"  ift  n)of)t  von  allem  fc^Ierf)ten  ©riec^ifd^,  ba§  S^oto- 
Oic  probujierte,  ba§  f(f)IedE)tefte.  „SBctben  be§  ©eienben" !  @§  ftef)t  im 
©egenfotj  ju  ^^glogenefe.  Sterben  be§  ©tammcö,  ber  2lrt,  unb  foU  ©nt* 
midtung  be§  ^njetmefenS  bebeuten. 


256        Otto:  ^ie  Uebermnbung  ber  mec^anifttfdEien  Seigre  2C 

^etfd^rcitcnben  Slaturgefc^c"  (ntit  SBiganb).  ®ic  Urfäci^li(^teit  ooB* 
jic^t  fic^  nämti^  burc^  „SluSlöfungcn"  (©.  127),  b.  \).  Urfa^c 
unb  aSirfung  finb  cinanber  nid)t  gleich  im  Quantum  ber  Seiftung, 
unb  alle  aCBirtung  ift  tro^  faufater  Sebmgt^eit  bod^  etn)a§  burc^* 
au§  neues,  au§   ber  Urfad^e  nid^t  ju  berec^nenbeS,  fo  ba|  oon 
aWed^aniSmuS  im  ftrengen  ©inne  nid^t  bie  Siebe  fein  tann  (©.  160, 
wo  ber  ©ebanfe  ber  erften  ©^rift.pon  „mat^ematifd^'-med^anifc^er" 
2luflöfung  burd^broc^cn  wirb).    Unb  ba§  ®anje  ift  birigiert  oom 
Qmedf  (130.   Xrefflid^e  Slnmerfung  über    „Qwtä".    SÖBenn  jroei 
ober  me^r  Äaufattetten  einmal  jufammentreffen,  rebet  man  non 
Zufall;   roenn   ftetS  unb  in  t^pifc^er  SQäeife,   Don  B^edE).    2)ie 
SebenSoorgänge   nötigen   ju   bem  Urteile,   „ate   ob"  ^fnteUigenj 
Dualität  unb  Orbnung  beftimmen.  —  Sinen  ganj  eigenen  ®ang 
nefimen  bann  2lu§fü]^rungen  mie  bie  oon  ©.  162.  (93gl.  ^emac^ 
bie  2lnf(^auungen  oon  2ltbrec^t.)    Sffieber  burd^  taufale  93etra(^* 
tung  nod^  burdi  teleologifi^e  bringen  mir  in§  SBefen  ber  S)inge. 
3lber  fie  ftnb   —   mit  S?ant   —   jroei   93etrac^tung8roeifen,  bie 
beibe  glei^  fe^r  ein  ^oftulat  unfere§  @rfenntni§Derm5gen§  bitben. 
93eibe  ftelien  ganj  für  fid^  unb  beibe  bürfen  in  il^rer  SRei^e  ni^t 
burc^  ©rfa^ftüdfe  ber  anbern  geftört  merben  —  e§  gibt  im  ®e* 
biet  be§  Äaufalen  fomenig  teleologifc^eS  (ärflären  unb  umgefe^rt, 
roic  c§  eine  optifc^e  ®rflärung  ber  Sfläafferfpnt^efe  geben  !ann  — 
aber  beibe  fe^en  mal^reS    an  ilirem  ^la^e.    3)ie  madonna  della 
sedia  mifroffopife^  betrachtet  ift   ein  Raufen  Älerffe,   mafroffo* 
pifd)   betraditet   ein   SBilb.    93eibe§  „ift"    fie.    —  äfmmer  poran 
treiben  ft^  bie  fingen  ©rroägungen,  beftanbig  oon  ©fperimcntat 
ftubien   geleitet,    ^w    „bie  SDlafc^inentlieoric   be§  Seben§",  SioL 
3cntrbl.  1896,  ©.  353  ff.  ge^t   er   mit   berounbernSmerter  @nt* 
f^loffentieit  feinen  bisherigen  2:^eorien  ju  Seibe,  gie^t  f^onungS* 
loS  bie  ungetieuerlid^e  Sonfequenj,  ju  ber  fie  fül^ren,  unb  jeigt, 
ba§  fie  an  biefer  Konfequenj   fterben.    SöiS^er   ^abe  er  ertlart, 
anfangs  auSbrüdlid),  fpäter  mit  Qö^txn,  (mir  fallen  oben,  wie), 
ba^  jcber  einjelne  SebenSoorgang  d)emifdt)=pt)qfifc^er  9lrt  fei  auf 
©runb   ber   gegebenen  „©truftur"    beS   lebenben  SBefenS.    S)a§ 
lebenbe  SBefen  felbcr  aber  ift  nun  ja  erft  ein  ©rgebniS  ton  2c* 
benSoorgängen,    nämlid)   ber   ©ntmicflung.      ©ollen    au^    biefc 


Otto:  ^ie  Ueberioinbung  bet  ine<^aniftifd)en  iBe^re  }c.         257 

„me^anifc^"  ju  Dcvftef|cn  fein  (aU  ^cm.»pl^Qfifc^c  SJorgängc  auf 
©runb  mQfd)inetIcr  ©truttur),  fo  mu§  ba§  ®i  im  ÄIcinften  bicfe 
unenbli^  feine  ©truftur  beft^cn,  permöge  beren  e§  foroo^l  feine 
eigenen  pl^gfiologif^en  @r^altung§ptojeffe  ooUiiel^t  al§  aud^  ju» 
reidjenbcr  ®runb  be§  folgenben  Slufbaueö  ift.  @§  mu§  ben  2Irt* 
unb  3iii>i9it>uum§tijpu§  al§  Einlage  in  feiner  ©truhur  tragen. 
3eber  Slrtlgpu^  aber  foH  ja  nac^  ber  Slbftammungölel^re  burc^ 
unenbli^en  @ntmid(ungdpro}e§  fic^  in  aUmätili^er  älbfolge  ^er« 
leiten  i?om  Ururorgani§mu§.  ©anj  analog  mie  beim  mec^anifd)en 
SBSerben  beS  SinjelmefenS  ift  bann  aud)  t)ier  nötig,  ba§  biefe§ 
Ururei*  ober  Qtüt  fo  ungeheuerlich  fein  unb  \)o6)  ftruiert  mar, 
bag  au§  i^m  aDe  SBerbe«  unb  (Sntmidlung^projeffe  ber  nad^fom« 
menben  Ontogenien,  ^fi^Iogenien,  Siegenerationen  u.  f.  m.  mög* 
lid)  mürben.  3)a§  ift  bie  notmenbige  ^olgc,  menn  bie  SKafc^inen* 
t^eorie  SRedjt  ^at  unb  man  bie  fpejififdje  @efe§Uc^feit  be§  8eben§* 
gefd)e^en§  oermirft.  5Diefe  5^19^  ift  ungeheuerlich  unb  bie  Seigre 
ber  2:eftonifer  barum  falfc^.  Oft  fi«  ober  falfc^  —  ,fXoa^  bann"  ? 
—  ©0  fc^lie^t  ber  3luffa^. 

2)ie  2Intmort  gibt  3)riefc^  in  „2)ie  Sotalifation  (=  örtlid)e 
Seftimmung)  morp^ogenetifd^er  SSorgänge,  ein  95emei§  oitaliftifd)en 
®efc^e^en§",  1899.  (Q[m  2lrc^io  f.  entm.^aWedianit  VHIlff.  u. 
gefonbert  erfc^ienen),  in  „bie  organif^en  ^Regulationen,  aSor=» 
bereitungen  }u  einer  S^eorie  beS  Seben§".  Spjg.  1901,  unb  in 
„bie  „©eele"  al^  elementarer  Siaturfattor",  ©tubien  über  bie  93e* 
roegungen  ber  Organismen.  Spjg.  1903.  ®ine  @efamtüberfict)t 
über  feine  eigene  ©ntmidlung  gibt  er  in  „©übbeutfdje  SJlonat^^ 
^efte"  1904  ^önuar^eft :  „SDie  ©elbftänbigfeit  ber  Biologie  unb  i^re 
Probleme".  —  ^n  biefcn  ©ct)riften  erreichte  er  feinen  enbgiltigen 
Stanbpuntt  unb  oertieft  il)n  me^r  unb  me^r.  —  2luSbrücf(ic^ 
aufgehoben  mirb  l^ier  bie  „3Jlafc^inent^eorie"  unb  alte  i^r  ätin- 
lictjen.  ©ie  finb  fritiflofer  3^ogmatiSmu§  einer  materialiftifcl)en 
3)enfart,  bie  aüz^  ©ef^e^en  an  einen  ©toff  binbet  unb  ^mma* 
terietteS  ober  bgnamifc^eö  ®efcl(e^en  nicl)t  jugebcn  mill.  ®ie  angeb- 
lic^e  2lu§gang§ftruttur  ift  nirgenbS  ju  finben.  Unb  ber  SSerfolg  ber 
3)inge  inS  Kleinfte  beutet  nirgenbS  bergleict)cn  an.  S)a§  ©liro*» 
matin  —  in  bem  bie  mic{)tigften  Seben^projeffe  anheben  —  ift 

äettfc^rift  für  «^eolOflU  unb  Ätr(^e.  14.  3o^rfl.,  8.  ^eft.  18 


258         Otto:  ^ie  Uebenotnbung  ber  tnedianiftifdien  Se^re  }c. 

njeit  oon  3Äafci)inenbau  entfernt.  @§  l&at  eine  einförmige  ©traf* 
tur.  S)ie  ©telettbilbung  j.  93.  einer  ^luteuölaroe  gefc^ie^t  huxä) 
fried^enbe,  ftc^  felbcr  wieber  beroegenbe  Sz\lzn  (äl^nlid)  ben  2eu!o* 
cijten  unfereS  eigenen  ÄörperS,  beren  ©c^roarmen  unb  Seiften  oiel 
e^er  einem  fojialen  Organismus  als  mafc^ineOen  9Befen  gleicht), 
u.  f.  m.  3)er  Organismus  gel^t  f)txx>ox  nid^t  auS  maf(^ineUen 
fonbern  auS  „l^armonifd^säquipotentieQen  ©^ftemen",  b.  f).  auS 
fold^en,  non  bcnen  jebeS  ©tement  jebeS  überhaupt  leiftbare  glei* 
d)ermaj3en  leiften  fann,  alfo  eigentlich  jjebeS  einjelne  gleic^erroeife 
baS  ganje  potentiell  in  fid)  trägt,  ein  Unbing  für  mec^anifc^e  93e« 
tra^tung.  3)ie  experimentelle  ©runblage  für  biefe  fielire  ^atte 
2)riefc^  fic^  fetber  fd)on  früher  gefd^affen  burc^  SSerfuc^e  Don  2ln* 
fangSftabien  ber  Sntmirflung  oon  ©eeigeln,  ©eeftemen,  ^ftanjen« 
tieren  u.  bergl.  Sin  $lanarias933urm  in  2;eile  jerfc^nitten  bitbet 
fid(  in  üertleinerter  ©eftatt  neu  auS  jebem  Seil.  ®ine  jerfd^nit* 
tene  ^tuteuSlaroe  bilbet  3)armtanal  unb  fidt)  fetber  in  tgpif^er 
Jorm  mieber.  5Iod^  l^ö^er  griff  fein  SSerfud^  Don  1892  hinauf, 
bie  oier  erften  ^ur^ungSjeHen  beS  ©eeigeleieS  ju  trennen  unb 
aus  jebem  ein  merbenbeS  Xier  l^eroorgefien  ju  laffen.  3)iefe  Xat-- 
fad)en  nötigen,  ein  ©efd^e^en  sui  generis  anjune^men,  b^nami* 
fd)er  2trt,  eine  „profpcftiue  Jenbenj",  bie  ein  Unterbegriff  ber 
2lriftotetif(^en  Suvajit^  ift.  Unb  ber  roefenttit^fte  Unterf^ieb  ibrer 
9luSn)tr!ung  gegen  mafd^inetle  ift,  ba|  immer  ber  gleiche  tqpifd^c 
@ffe!t  erreicht  mirb,  aud)  menn  ber  ganje  normale  Äaufaloerlauf 
geftört  mirb.  3lu^  auf  ben  aufgejmungenen  Umwegen  ge^t  eS 
jum  gleidien  Skk.  3)amit  ift  ber  „95italiSmuS",  b.  t).  bie  ©elb* 
ftänbigteit  unb  2lutonomie  ber  fiebenSoorgänge  beroiefen.  ®cr 
jmedEmä^ige  ®ffeft  mirb  errei^t  burc^  „gernroirtungen" ,  eine 
©efd^e^enSart,  bie  fpejififc^  unterfd^iebcn  ift  oon  allem  auf  anor« 
ganifdiem  ©ebiete  fi^  finbenben,  unb  bie  i^re  S)irettioe  j.  93.  bei 
SRegenerationen  abgefd)nittener  Steile  ni(^t  in  ber  SluSgangs* 
ftelle  ober  bergl.  finben  —  in  bem  ©inne  fmb  nur  ^ier  unb  ba 
grobe  Orientierungen  gcmiffer  jufammengefe^ter  Organe  oerftdnb* 
lid)  —  fonbem  in  bem  ju  crrei^enben  Qwtdt.  —  Qn  „bie  or* 
ganif(^en  ^Regulationen"  fammelt  3)riefc^  {5:eil  A)  junäc^ft  auS 
ben  alleroerfc^iebenften  ©cbietcn  ber  93iologie  bie  immer  erftaun* 


Otto:  ^ie  Uebertumbung  ber  med^aniftifd^en  Seigre  zc         259 

lieferen  6rn)eife  für  bie  Slttioität  bc§  Sebcnbigcn  gegenüber  bem 
p^9fifo=c^einif(^cn  ©efc^el^en  unb  für  bie  fonberbare  gäl^igfeit  beS 
Sebenbigen  „ftd^  felber  l^elfen",  bie  tgpifrfie  gorm,  ben  ju  errci* 
c^cnben  Qxotd  buri^fe^en  ju  fönncu  anä)  bei  mannigfaltigft  oer^ 
änberter  Verfettung  ber  S3ebingungen.  2)a§  9Äaterial  ift  ebenfo 
enorm  n)ie  bie  Ueberfx(^t  be§  93erfaffer§,  unb  niä^t  ba§  geringfte 
3Serbienft  ift,  ba§  bie  Derroirrenbe  ^M^  unb  S3unt^eit  ber  ®r« 
fc^einungen,  au§  benen  fonft  geroöl^nlidi  siemlid^  planlos  unb  roiü* 
fürlid)  cinjelne^  herausgegriffen  §u  werben  pflegt,  I|ier  nad^  ben 
d)arafteriflifd)en  Unterf(^ieben  unb  nad)  bem  ®e{i^t§puntte  immer 
|t^  fteigember  ®eutlid^teit  ber  „9lutonomie"  ber  SSorgänge  in  ein 
förmlid)e§  ©gftcm  auSeinanbertritt,  ba§  mit  ben  aftinen  regula» 
torifc^en  Seiftungen  be§  Sebenbigen  fc^on  im  ®^emi§mu§  be§ 
©toffn>e^feI§  (og(.  befonberg  bie  QmmunifierungSerfd^einungen) 
beginnt,  bur^  ©tufen  auffteigt  unb  mit  ben  SBäieberJ^erfteÜungS* 
regulationen  enbigt.  9ii^t  einbrudESüoKer  al§  fo  fonnte  gcjeigt 
werben,  roie  unoergIeid)lid^  ba§  Seben  unb  feine  „^Regulationen" 
finb  mit  ben  „©elbftregulationen"  t)on  3Jlafd)inen  ober  mit  ben 
SBieber^erfteUungen  üon  tgpifc^en  Oleic^geroic^tS'  unb  gormju» 
fianbcn  im  ^^gfifatifc^en  unb  S^emifc^en,  auf  bie  oon  feiten  ber 
SWe^aniften  mit  SBorliebe  ^ingemiefen  wirb.  S)ie  l^ier  bur^  (am* 
pirie  gegebenen  Jatfac^en  fotten  in  S^eil  B  unb  C  oom  Segriff 
burd^brungen  unb  erfenntni§tt)eoretifd^  ergänjt  werben.  SÖBir  laffen 
beifeite,  roa§  an  mobernem  <3beali§mu§,  -Smmanenjp^ilofopl^ic, 
©olippmuS  ft(^  mit  einbrängt.  S)a§  aQe§  ergibt  fic^  ni^t  un« 
mittelbar  au§  ben  oitaliftifd^en  Ueberlegungen,  fonbern  biefe  wer* 
ben  in  ben  SRal^men  jener  eingefügt,  atuggejeid^net  anfd^aulid^  ift 
ber  ffiyfurS  über  Sttmung  unb  2lffimilation  (aliz  ©rint^efen  unb 
©paltungen  gelten  notorifd^  im  Organismus  ftetS  unter  ganj  an» 
beren  Umftänben  por  fid)  als  im  Saboratorium.  ®S  ift  im  Orunbe 
überhaupt  unmöglich,  oon  einer  lebenben  „©ubftanj"  nad^  ber 
formet  C,HyO, . . .  ju  rcben,  bie  fid)  (sibi)  affimiliere  unb  biffi* 
miliere).  ®benfo  ber  über  bie  materialiftifc^en  93eranfdf)autic^ungen 
oon  SSererbung  unb  g^ormgeftaltung.  ®anj  unmögtid)  ift,  beibe 
epigenetifd)  auf  materialiftifc^er  (Srunblage  ju  oerfuc^en.  {Q.  93. 
^aad^.)    SBeiSmann  bat   infofern  oon  materialiftifc^er  ^^rämiffe 

18* 


260        Otto:  ^ie  Uebertoinbung  ber  mec^onifttfd^en  Se^re  zc. 

au§  ganj  Stecht,  bcn  ©pigcnctifern  gegenüber  ^aformation  ju  fon* 
ftruicren.    aber  feine  unb  alle  berlei  2:^eorien  fönnen  ni(^t§  dS 
bQ§  Problem   inS  unenbU^  Keine  hinein  pl^otogrop^ieren.    2)a§ 
Sormgeftatten  unb  ^Regenerieren  ber  2:iere  unb  ^flanjen  „ertloren" 
fte,  inbem   fte  roieber  unenblic^  Meine  3:iere  unb  ^flanjen  ton* 
ftruieren,  bie  %otm  geftalten  unb  regenerieren.    Unb  unmöglich 
ift  e§,  eine  fomplt)ierte  Seltonit  auf  bie  (SIemente  eines  äquipo* 
tentieHen  ^SpftemeS  ju  Derteilcn.    SWit  bem  ablehnen  ber  mate« 
rialiftif(^en  @pigeneftSle^re  „burt^freujt"  ®rief^  roieber  entfc^Ioff cn 
eine  feiner  eigenen  früheren  2(nfd)auungen.  ®ben  ba§  tut  er,  roenn 
er  im  S^eil  C  je^t  bie  SBerfö^nung  jroifc^en  Äaufalität  nnb  Je» 
leologie  bur^  oerfc^iebene  „paraKeliftif^e"  Setrac^tungSiDeife  ab* 
lel^nt,    bie  i^m  felber  (f.  o.)  früher  fic^  gelegentlich  angeboten 
^atte.    3)a§  2:eleologifc^e  ftedt  felber  als  SWoment,  al§  mitfon* 
ftituierenber  ^attor  im  taufalen  ©etriebe  (215)  unb  mac^t  cS  fo 
teleologif^.    Sa§  töfenbe  SBort  ift  bie  „®ntelec^ie"  beS  ariflo» 
teleS,  bie    biologifc^e    Äonftante,  eine  Äonftante  sui  generis  in 
l^öl^erer  Orbnung  als  bie  Jionftanten  ber  ^^t)fif  unb  als  bie  fc^on 
über  biefe  (als  „inten fioe  SWannigfaltigleiten")  f)inauSgreifenben 
Äonftanten  ber  ©l^emie.  —  ^ier  alfo  ift  ber  ©tanbpunft  erreicht, 
ben  SBunbt  als  ben  eigentlich  oitaliftifdien  unterfct)eibet  oom  ani» 
miftifc^en.    Unb  ^roar  in  ganj  fonfequenter,  reingejogener  93a^n. 
S3ei  anberen  33italiften  fel)en  mir  oft  einen  etroaS  fc^nelten  SftefurS 
auf  „pf9ct)ifd)e"   SSerurfac^ung   einfe^en.    3)riefd^   ^at  in   feiner 
©ntmidtlung  biefen  SluSgang  rein  gemieben.    Qmmer  f^mebt 
i^m   oor   unb  in   feiner  „Sntelec^ie"  brüdt  er  auS  eine  teleolo« 
gif(^e  93ilbungSgefe^tid^teit,  bie  fo  ^anbelt,  „als  ob"  <3tttcffi9^"J/ 
93emu|tfein  beS  3roecfS,  2:rieb  in  i^r  läge,  aber  felber  ni^tS  oon 
biefen  ift.    SSielmelir  bie  fx6)  felber  burc^fe^enbe  ;3bec  unb  ratio 
beS  merbenben  3)ingeS  rein  atS  tcleotogifc^e  SilbungSgefe^lic^feit, 
als  Xoyo;  hoXoQ,  alS  bem  ®inge  immanenter  unb  eS  beftimmen* 
ber  93egriff,  unb  fomit  in  ber  2^at  bie  ©ntelec^ie,  bie  rein  bp- 
namifd)  i^m  einmol^nt  (beren  materialiftifd|*ptumpe  ffiergröberung 
SBeiSmannS  unb  anbere  ^räformationSt^eorien  barftetlen)  unb  bie 
bilbenben  gerntrdfte  birigiert,  ift  gemeint.  —  S)iefe  ^Meinung  ift 
DöUig  beutlid),  forbert  atlerbingS  ^eutc  immer  no^  mie  im  ^^i- 


Otto:  ^ie  UebertDtnbung  ber  med^aniftif<^en  Sefjte  ic.         261 

Iebo§  bie  fofratifc^e  ^rage  ]^erau§,  ob  cS  voOs  xal  Xoyos  geben 
fönne  aveu  ^{'^X^s-  ®i^  loürbc  paffen,  roenn  ba§  Sebenbige  nur 
„©id)*au§'ft<:^*berocgen"  unb  „gormgeftalten"  unb  nid^t  eben  ju« 
gleich  95efcelte§  wäre. 

®§  fd^eint  crft,   aU  ob  ber  intereffantc  $roje^  bialeftifc^er 

Selbftberocgung   im  3)enfen  Sriefc^g  ju   biefer  S'^age  ftd^   fort* 

treibe  in  feinem  legten  SBerfe  „®ie  „©eele"  aU  elementarer  "^la^ 

turfaftor".    3)ie  ©c^rift   fd)Iießt  fogar  mit   bem   au§brüdElid)en 

^inmeife  auf  be§  2lriftotele§  „nepl  <^uxfj<;"^  roaS  jene  (Srmartung 

noc^  fteigem  fönnte.    ®enn    bei  SlriftoteleS  liegt  e§  ja  fo,  baj3 

i^m  ^ux^  al§  cpuitxYj  junä^ft  in  ber  2^at  ganj  ©ntelec^ie  ift  unb  nur 

biefe§,  ba§  aber  bie  ©ntele^ie  auf  l^ö^erer  ©tufe  ( —  mie?  — ) 

ju  ^I^ux^  i"^  ©inne  be§  ^fgc^ologifc^en  fid^  „attualiftert".    2lber 

S)rief(%  bleibt  fid^  fonfequent.    SSon   feinem  ibealiftif(^en  (fogar 

„folipflftifc^"  fagt  man  l^eute  mit  9Sorliebe  unb  9lac^brudt)  ©tanb* 

punftc  au8  foD   e§  ein  Unbing  fein,  oon  93emu§tfein  au^er  bem 

SSeroufetfein  unb  jroar  au^er  „meinem"  Scmufetfein  gu  reben.  9iein 

„objcttale"  SßJenbung  ift  ben  3)ingen  ju  geben,  aQe  pfgd^ologi^ 

fierenben  SKomente  finb  beifeite  ju  laffen,  unb  allein  oon  teleolo^ 

gifdf)  geridt|teten  öeroegungSoorgängen   mu§  bie  SRebe  fein.    ®a8 

SRid^tenbe  ift  bie  ©ntelec^ie,  fie  ift  nid^t  ^fgc^e  fonbern  ^fgd^oib  ju 

nennen,  nur  bilblic^  burd^  pfgd^ologifd^e  2lu§brürfe  ju  befc^reiben. 

So  I>ei§t  ber  Untertitel  ber  ©d^rift  ganj  ernfttiaft  „©tubien  über 

bie  ©emegungen  ber  Organismen",    ©emeint  finb  l^ier  nic^t  bie 

93en)egung   ber  ©toffteile   in  ben  Organismen   (ba§  mar  in  ben 

früheren   ©d^riften   erlebigt   unter  ©toffme^fel,   gormgeftaltung, 

^Regulation  u.  f.  m.),  fonbern  il^re  ©elbftbemegungen,  angefangen 

oon  ben  primitioften  SemegungSreaftionen  auf  „SWeije"  als  SRid^« 

tungSbemegungen   bis   ju   ben  SRefleyen,  nadt)  ber  mec^aniftifc^en 

Jtieorie  angeblid)  ertlärt  unb  lofalifiert  in  ben  „nieberen  ncroöfen 

3entren",  bis  ju  ben  eigentlichen  freien  jroedfmä^igen  „^anblungen" 

im    eigentli^en  ©inne,   mie   fie   fid^   DöHig  entroidtelt  nur  beim 

SRenfd^en  finbcn.    ®anj  entfpred)enb  ber  oor^ergel^enben  ©d^rift 

wirb  ^ier  ber  SRac^meiS  gefüt)rt,  ba^  pligfifd^^d^emifc^e  unb  me* 

c^anifd^e  ©rflärungen  nic^t  jureidien,  ba§  bie  i^nen  notmenbigen 

^gpotl^efen  oon  ber  gunftion  ber  nieberen  Qtntx^n,   ber  Sffuffaf* 


262         Otto:  %it  UebetiDinbung  bec  me^anifttfi^en  Se^re  zc. 

fung  be§  ncroöfen  ©pftcmS  ate  9icflcy=„aWc^anismu§",  ber  ^eft« 
gebunbcn^cit  ber  2lntrt)ort§funftioncn  an  ba§  Sofalc  nic^t  ju* 
langen.  UeberaQ  fe^t  fic^  bie  Slutonomie  beg  Sebenbigen  burc^ 
unb  crroeift  fic^  bcfonbcrS  au6)  ^icr  int  SBifariercn,  in  ber  faft 
fc^rantenlofen  SBertrctbarteit  eines  2:eile§  be§  ©gfteme§  burc^  ben 
anbcrn.  (9Iu^  ba§  ^irn  ein  ^armoni[d)'aquipotentieHe§  ©pftem). 
3ene§  „2lgen§",  jener  „autonome  5<ittor"  be§  S^eleotogifd^en,  ben 
bie  ^Regulationen  auf  feinen  nieberen  ©tufen  oerfolgten,  crroeift 
ftd)  l^ier  mit  brei  weiteren  bebeutfamen  ©rroeifen.  (Sie^c  bie 
„5  Seroeife"  ©.  74  ff.)  ®§  „oernimmt"  ben  ftörenben  ©ingriff^ 
ben  burc^  ba§  neroöfe  ©pftem  (qualitatio)  jugeleiteten  SReij,  eS 
antwortet  jroedtma^ig  barauf,  unb  e§  befi^t  „objeftaleS  ?|Srimär» 
miffen",  e§  „mei^"  porfatlenbe  Slnomalie  unb  „miH"  Slbl^ilfe.  GS 
„fann"  biefe  leiften.  3)enn  bie  pfpd^opl^tififdie  S^eorie  oom  blo^ 
%m  ^araUelgefien  be§  Steellen  unb  QbeetJen  ift  falfc^  unb  roirb 
©.  60  trefflich  tritifiert;  bie  oon  i^r  bel^auptete  Sücfenlofigteit  be§ 
p^t)ftf^en  @efd)e^en§  ift  ni^t  Dorf)anben,  oielme^r  in  feine  Süden 
tritt  roirtli^  roirfenb  baS  „^^fg^oib".  Äurj  eS  mürbe  ganj  ge* 
nau  baS  fein,  maS  alle  SSelt  mit  ^ft)c^ifc^em  meint,  mcnn  e§ 
feine  folipftftifd)en  ©änfefü^i^en  ablegen  moüte,  unb  bie  gan$c 
©d^rift  ift  fo  jugleic^  in  ber  S^at  eine  ber  beften  Äritifen  gegen 
materialiftifd)e  SBergemattigungen  be§  ^fgc^ifi^en  unb  einer  ber 
beften  (Srmeife  oon  beffen  älutonomie  unb  ©elbftänbigfeit  gegen* 
über  bem  SWaterieKen  bis  gu  bem  alten  93eifpiele,  ba^  baS  ®e* 
l^irn  ^nftrument  unb  Ätaoier  fei  be8  eigentlichen  „STgenS",  ja  bis 
jum  „©i^e"  ber  „©eele"  hinunter.  ®ie  SJorfteKungen  im  ganjen 
finb  in  ber  2^at  bis  jum  ©id)becten  na^c  benen  ©c^opcn^auerS 
unb  0.  ^artmannS  oom  unbemupt  S33iffenben  unb  SBottenben 
unb  eigentlid)  nur  eine  Ueberfe^ung  auS  ber  ©prad^e  beS  ^f pc^iSmuS 
unb  SßoluntariSmuS  in  bie  beS  reinen  „SSitaliSmuS"  im  ©innc 
ber  ©ntelec^ie  ^). 


1)  3n  »iol.  3bl.  1903,  3unif)eft  ©.  427  wirb  5)ncfd>  oon  SWo^S' 
foroSü  fritificrt.  ^crfelbc  Ic^nt  ben  tcleoloflifc^cn  ©tanbpunft  S)ncfc§S  ob. 
9Ibcr  roicroeit  bie  Uebcrrotnbung  bcS  SWcc^antSmuS  ge!ommen  ift,  jcigt 
grabe  biefe  ft'ritif,  inbcm  aud^  f^e  auf  einem,  etroaS  unbcutUc^cn,  S^gna* 
miSmuS  fte^t,  bie  (f)emifO'pf)i)rtf(^e  unb  jebe  mafdiinede  ^üdrung  al4 


Dtto:  ^ic  Ueberroinbunfi  bcr  mcd^attiftifc^cn  Sc^tc  jc         263 

aBunbt  l^at  in  bcr  ©cf)luj56ctrad)tung  feiner  p^^fiotogif^en 
^ftjc^ologie  (in  ©onberau^gabe,  fipjg.  1903)  über  „3Wec^ani§mu§ 
unb  9SitaIi§ntu§"  ganj  fpejieH  biefen  SBitaüSmu^  ber  „®ntrfed|ie" 
im  äuge  (im  Untertriebe  oom  älteren  angebli^  „animiftifc^en") 
unb  fritifiert  ®rie[c^.  3)riefd)  betjält  SBunbt  gegenüber  auf  aßen 
?ßunften  Sted^t  mit  feinen  Seroeifen  für  bie  2lutonomie  ber  Seben^:: 
oorgänge,  SBunbt  i^m  gegenüber  bamit,  baJ5  un§  jum  SBerftdnb- 
niffe  teleologifdien  Oefc^el^en^  nur  ein  @d)[üffel  gegeben  ift:  ber 
SBitte.  —  „aocpca  (iYjv   xod  voö;   dcvsu   4^i>X^«   ®^^  ^'^   ^o'^s  yevo- 

Original  unb  eigentümlich  mirb  eine  geroiffc  2Infd^auung  unb 
3ured)tlegung  ber  ®inge,  bie  auc^  bei  ®riefd^  fid)  gelegentlidj 
fonb  aber  uerlaffen  warb,  üon  @ugen  2llbred)t,  ^rofe!tor  unb 
^at^ologen  in  SWünc^en,  au§geftaltet  („SBorfragcn  ber  93iologie", 
1899.  S)ie  „Ueberminbung  be§  SDIcd^aniSmus"  in  ber  S3ioIogie. 
«ioL  3entr.  »latt.  1901,  ©.  130  ff.).  ©§  ift  bie  Slnf^auung 
bcr  „oerfricbenen  93etrac^tung§n)eifen".  9Wit  @ntfc^iebenl)eit  wirb 
f)kx  bie  d)emifd)c  unb  p]^r)fifd)e  Deutung  ber  Seben^oorgänge  feft* 
gehalten,  itire  approyimatiue  SSoKcnbung  auf  i^rer  Sinie  al§  Qkl 
bcr  9Biffenf(^aft  ^ingeftellt,  il^re  grunbfd^lidje  3^Iänglici^feit  be= 
Rauptet.  ®iefe  ®eutung  fei  richtig,  aber  ber  3et)Ier  unb  bie@in= 
fcitigfcit  bcr  medianiftifc^en  ©d)ule  fei,  biefe  3)eutung  unb  93e= 
trad)tung  für  bie  einjige  unb  für  bie  „eigentliche"  ju  galten,  ^e 
nac^bem  mir  un§  innerlidi  „cinftcKen"  auf  bie  3)inge  unb  it)re 
Seränberungen,  crfc^cinen  fie  un§  in  gänjiict)  eigenen  ^ölg^* 
3ufammen^ängen,  bie  jeber  in  fid)  eine  gefc^toffene  Sinie  bilben, 
ju  einanber  aber  parattct  laufen  unb  nic^t  etma,  ber  eine  in  bie 
Süden  be§  anbern  crgänjcnb  ineinanber  greifen.  ©cf)on  mafro^ 
ffopifcf)e  unb  mifro|fopi)ct)e  93etracl)tung  ber  2)inge  ergibt  folctjc 
gcfonbcrten,  gefc^loffencn  33etrad)tung§rei^en.  93erfoIg  unb  2lbbition 
be^  Sinfac^en  „erflärt"  nic^t  bie  Söirfung  bc§  Söerbunbenen.  ®itt 
ättorb  unb  feine  2Birfung  mirb  nid)t  „oerftanben"  burc^  2luflöfung 
in  bie  cinjclnen  Jone.  35a§  f(affiicf)e  Seifpiel  für  bie  ganje  9tn* 
fc^oung   ift  bcr  pf9d)0=p^9fi[c^e  5ßaratteli§mu§.    2)a§  (Sefc^e^en 

burc^  %xit\d)  überrounbcn  jugeftc^t,  unb  bie  ©ntele^ie  („Sv  laüicp  xö  leXog 
ixo''*)  aner!ennt.  (®ine  ©ntelec^ie  ol)nc  ziXo^l) 


264        Otto:  ^te  Uebertutnbung  ber  nted^anifttf d^en  iBe^re  ic 

al§  ^fri^ifdlcS  ift  nic^t  „crHärt",  wenn  man  e§  auf  bcr  forreta* 
tiDcn  Sinie  ber  materiellen  Sßeränberungen  unb  ©ef^c^niffe  im 
neroöfen  ©gftcme  ocrfolgt  l^at.    ©o  tritt  bie  SRei^e  be§  „üitaleu" 
®efd^e^en§,  ber  „oitalen"  ^Betrachtung,  ber  ^Betrachtung  unter  bcm 
@efic^t§punfte  ber  „lebenben  görm"  gefonbert  neben  bie  ber  ^e* 
mifc^en  unb  p^pfifc^en  3luflöfungen  ber  Seben^oorgänge.    ^a,  ti 
beutet  fid^  gelegentlich  an,  ba§  e§  nic^t  nur  biefe  brei  ^araHcIen, 
fonbem  niete,  im  (Srunbe  unenblict)  nicle   folc^er  ^aratlelbetra^» 
tungen  geben  muffe.    Q^bt  aber  non  biefen   ift  „eigentlich"  ju 
net)men.    3)enu  falfcf)  ift  bie  geläufige  ©cf)eibung   non  „©dt^ein" 
unb  non  „SBefen"  ber  2)inge,  bie  immer  nur  eine  ber  mögltci)en 
93etrad)tungen  j.  93.  bie  mectianifd^^taufale  al8  bie  mefentlic^c,  bie 
anberen  nur  ate  begteitenben  @^ein  fa^t.  „S)ie  . . .  SWeinung  eine 
ober  jmei  biefer  Slei^en  ftellten  ba^  „roa^re  SBefen"  ber  ©rfc^einung 
bar,  fann  nur  .  .  .  al§  ein  mo^lfeileS  Sogma  gelten",    ^cbc  ift 
in  ftcli  gef^loffen  unb  lüdEenlo§  folgt  auf  ilirer  Sinie  jeber   fol= 
genbe  ^uP^nb   au§   jebem  oor^erge^enben  unb   ertlärt  fi(^    nur 
au§   biefem.    ^n  biefem  Umftanbe   liegt   ba§  relatioe  SRe^t  ber 
immer  ftc^  erneuernben  SHeattionen  be§  „iBitali§mu§".  —  3)iefe 
9lnfci|auung  2llbrec^t§  ^at  alle  Steije  unb  alte  ©c^roierigfeiten  ober 
Unmögliclifeiten   paraHeliftifc^er   Betrachtung   überhaupt  an  fic^. 
3^r  SReci)t  märe  ju  bi§!utieren  am  Syempel  ber  pfg^opl^gfifdicn 
^araHelent^eorien.    ©ie  mü^te,  um  fid|  ju  funbamentieren,  erft 
ba§  Äaufalitätgproblem  in§  Steine  gebrad^t  unb  bie  gro^e  grage, 
ob  an  bie  ©teile  non  Scmirtung  bloj^e  notroenbige  2lbfolge  — 
benn  bei  biefer  enbet  fie  —  treten  mu^,  beantwortet   ober  min» 
beften^  beutlidt)  geftetlt   l^aben.    3)er  ©cl)lu6,  ber  in  Sejug  auf 
bie  biologifdje  9lrbeit§met^obe  unb  ba§  9lrbeit§ibeal  ber  rein  me* 
c^aniftifc^en  Betrachtung  mieber  alle  Äonjeffionen  ju  machen  fc^eint, 
leuchtet  nac^  ben  ^rämiffen  nid^t  ein:  ift  mirflicf)  bie  Steige  be§ 
93italen  eine  „eigentliclje",  fo  mü^te  man  \a  gerabe  ermarten,  ba§ 
eine  SSitaliftit  mit  eigener  9Rett)obe  unb  eigenem  Qklt  geforbert 
merbe,  fo  gut  roie  man  eine  eigene  ^fgc^ologie  mai^t.  3)ie  2lnna|me, 
ba§  jebe  Steige  lüdenlo^  oerlaufe,  bajs  infonber^eit  bie  reftlofe 
2luflöfung   ber   Seben^oorgänge  mec^anifc^    le^tlic^   möglich  fein 
miiffe,   ift  petitio  principii  unb   jerbri^lt  an  ben  SEBiberfprüc^en 


Dtto:  %\z  Ucbcrroinbung  bcr  mcrfianiftif^en  ße^rc  jc.         265 

her  „SBitaliften".  S)a§  jentralftc  Problem  in  bcr  ganjcn  grage, 
namli^  ba§  SSerl^ältntS  Don  ^aufat  unb  2:eIeologtf^,  tft  noc^  gar 
nic^t  bcrül^rt.  93cibc  ^Begriffe  würben  natürlich  nid)t  noc^  roicber 
„^rallelcn"  abgeben,  fonbern  Oeftd^tSpunfte  fein,  bie  nun  eoen* 
tucD  auf  jebe  9ietl^e  roieber  angemcnbet  werben  müßten  ( —  aller* 
bingS  au^  fe^r  leicht  fönnten).  3)rlefd^§  93eifpiel  jeigt,  roeldien 
3Beg  eine  berartige  2I|eorie  nelimen  wirb,  wenn  fie  in  bialeftifd^e 
©elbftbenjegung  gerät.  3)a§  atte§  aber  fd^lie^t  oietmel^r  ein  al§ 
au§,  ba§  Sltbred^tS  „Söorfragen  ber  ©iologie"  oielleic^t  ba§  feinfte 
unb  intereffantefte  ftnb,  roaS  in  le^ter  3^it  ^^^f  biefem  eigentüm* 
liefen  3n>if^^ngcWete  oon  S3iotogie  unb  ®rfenntni§t^eorie  —  ju* 
mal  in  fo  prägnanter  Kürje  —  gefc^rieben  ift.  öefonberS  ber 
3(rt  bürften  feine  SKu^ful^rungen  fein  über  ba§  ©c^öpferifc^e  ber 
©rintliefe:  ba§  (Sanje  („Säfforb")  ift  immer  jugleid^  mel)r  al§  bie 
Summe  feiner  Steile,  baö  komponierte  ein  5Reue§  gegenüber  fei* 
neu  Äomponenten.  9D3ie  bei  ©riefet  Don  ber  einen  fo  ^ier  oon 
einer  anbern  ©eite  erplt  ^egel  bei  ben  9ieueften  ©uffur§  ^).  — 
3m  n)efentlid)en  eine  SBiebergabe  oon  2llbrec^t§  ©ebanfen  gibt 
Dr.  3Jlarianne  ^e^n:  „a)a§  Problem  be§  Seben§",  SBerlin  1900. 
„©eele",  ^fpc^ifc^eg  im  eigentlii^en  ©inne  mitt  Ä.  ©amitto 
©^neiber,  ^rioatbojent  in  SBien,  jur  ©rffärung  be§  Sßitalen 
fe^en.  3Ba§  im  ©tiUen  unb  ®injelnen  bei  einer  2lnja^l  ber  oben 
genannten  aSitaliften  fd)on  gemeint  mar,  aber  eigentlid)  immer 
foiufagen  at§  a3erlegen^eit§au§funft  unb  getegentlid)e  Kel^rfeite 
i^rer  9]egationen  gegen  ben  9Kec^ani§mu§  aufbudte,  wirb  I)ier 
mit  ®ntfc^ieben^eit  jur  2:t)eorie  ju  geftalten  oerfuc^t  ©c^neiber 
wogt  bamit  nur,  ba§  entfd^Ioffen  au§jufprec^en,  roaö  ungejroungene 
S3etrad)tung  ber  Singe,  mag  alle  un§  jugänglid^en  2tnalogien  at§ 
bie  natürlidifte  ®eutung  barbieten  unb  maö  abjule^nen  ber  med)a* 
niftifc^en  Set)re  nur  burc^  ®ntfd|loffen^eit  nid|t  burd)  2Bat)rftf)ein« 
lid^fcit  gelingt.  Qn  feiner  oerglei^enben  §iftologie  ^atte  ©d)neis 
ber  feine  p^pfiotogifc^en  unb  morpt)ologif(^en  2tnfd^auungen  nie* 
bergctegt.  Qn  „93itali§mu§"  (Elementare  SebenSfunftionen.  SDBien 


1)  %l.  a:ab.  ®arboro3fi,  aJlorpf)ogenetifd)e  ©tubien,  ©.  167.  ^ag 
^ier  angemanbte  ®leid^ni§  »om  ©ogen  unb  bcm  „grormsaug-^ormserflären" 
mürbe  eine  gute  ^itif  mancher  Ausführungen  Albrec^tS  fein. 


266         Dtto:  S)ie  Ueberroinbung  ber  tncd^aniftifc^cn  8cl^rc  2c. 

1903)  fa^t  er  feine  mtaliftifdjen  Slnfcl^auungen  jufammcn.  ®§ 
tft  ein  umfängliche^  9D3erf,  ba§  voo\)l  am  meiften  oon  alten  feinet* 
gleid^en  in  bie  (äinjelerörterung  unb  9lac^prüfung  ber  einjelnen 
Seben§erfc^einungen  get)t.  ^^ft  wirb  e§  baburd^  ju  einer  felb- 
ftänbigen  ^Biologie.  S^f^^'ä  9e!ommen  fmb  bie  eigentüd)  „oi» 
tolften"  ^Probleme,  bie  bei  3)riefci^  am  meiften  ju  il)rem  SRed^te 
fommen:  g^ormgeftaltung,  SWegeneration,  SSerevbung.  Qn  Aap.  11 
unb  12  n)ä(^ft  fi^  bie  grage  nad^  bem  S}itali§mu§  ju  loeitgrci* 
fenben  fragen  ber  9D3eltanfd)auung  im  altgemeinen  au§^).  SEBir 
übergel^en  ^ier  feine  allgemeinere  SBeltanfc^auung.  2luc^  er  rech- 
net ficf)  ju  bem  ^fg^i§mu§  jüngfter  SRid^tung,  ber  auf  3lnre* 
gungen  pon  SJJac^,  Slüenariug,  ber  „Qmmanenj-^l^ilofop^ie"  ^in 
grabe  unter  ben  jüngeren  ^^^pfiologen  unb  Siologen,  oon  ©c^nei* 
ber  ju  3)riefd^  ju  93ern)om  ju  2llbred^t  u.  f.  m.  fic^  burc^bric^t, 
ber  mit  ber  uralten  (Selbftoerftanblic^feit,  ba§  ba§  un§  (Segebene 
©mpfinbung  ift,  in  überrafd|ter  greube  „SWateriali§mu§"  unb 
„9ieali§mu§"  überminbet,  ber  bie  ©egenfüj^ler  Kant  unb  ^Scrteleg 
t)ermed)felt  unb  gleidife^t  unb  ftc^  fclber  mit  „©olipfiSmug",  ber 
vorläufig  nod^  in  fc^mantenbfter  Srfd^einung  fc^roebt  unb  ber  bie 
SrfenntniSt^eorie  üietleic^t  noc^  einmal  il^ren  alten  SQBeg  oon  ber 
©opI)iftit  JU  ^lato,  von  ^ume  ju  Kant  ju  ge^en  nötigen  wirb. 
Qxüax  bei  @d)neiber  ift  bie  bünne  ^^ut  biefe§  neueften  ©enfua» 
li§mu§  burdf)fe§t  mit  fouiel  ©infic^ten  unb  2l^nungen  be§  tieferen 
Söefeng  be§  (Srfennen^,  ba^  nmn  balb  gefpannt  ift,  wie  biefe 
feltfame  9Jlifct)ung  oon  ^albmateriali§mu§,  3beali§mu§,  ©olipfis» 
mu§  unb  ®efü^l§apriori§mu§  fi^  einmal  au§  i^rem  oorläufig 
^öd)ft  labilen  in  ftabilere  ®lei(^geroi(^t§äuftänbe  ^inüberbegeben 
wirb,  balb  für^ten  mu|,  ba^  nic^t  al§  ©egenmirfung  auf  bie 
3:ortur  be§  @mpiri§mu§  unb  ^fr|c^i§mu§  über  furj  ober  lang 
einmal  roieber  aJlriftijiSmuS  unb  Dffulti§mu§  unter  ben  Sleueften 
^erau^fdtilägt.  (93gl.  ©.  295  ff.)  2)a§  ^auptoerbienft  be§  »u(^c§ 
liegt  in  ben  Kapiteln  2 — 10  unb  feinen  grünblic^en  2lbrect|nungen 
mit  ben  djemifc^en,  pl^gfifalifc^en,  mec^aniftifc^en  S^^eorien  auf 
i^ren  einjclnen  Sinien.    ©c^neiber  feiert  bod),   tro^  ®rief(^,  }u 

1)  3n  einem  Sluffafe  über  „^^italtämuS"  in  ben  ^rcu^.  Sa^rb.  19«J. 
^uguft^eft,  @.  276  ff.,  f)at  ©c^neiber  noc^  einen  ^ac^trag  gegeben. 


Otto:  ®ic  Ucberrotnbung  ber  mcct^aniftifc^en  Scl^rc  ic.         267 

bem  fc^r  problematife^cn  ^Begriffe  einer  „SebenS^Subfianj"  (Söio* 
molefüle)  jurficf.  ©ein  ©emimateriali§mu§  jroingt  i^n  ju  for* 
bem,  ba&  anä)  pf9d|ifd)e  Söirfung  ein  „©ubftrat"  l^abe.  ©onft 
f^ioebe  fie  in  ber  Suft,  bemerft  er  gegen  2)rie[^.  (2)riefd)  fönnte 
i^m  antworten,  bei  i^m  fx^e  fie  auf  @tül)len.)  @r  fud^t  biefe 
lebenbe  ©ubftanj  in  ben  feften  93cftanbtei[en  unb  ben  ©erüften 
be^  $rotopIa§ma.  2lm  roic^tigften  ift,  ba^  er  in  grünblid^er 
Sinjelunterfuc^ung  bie  ©teilen  nac^roeift,  roo  bie  ^emifdi^pl^gfi* 
fd)en  3wfömmen^änge  f ojufagen  abreißen  unb  bie  9Biüen§n)irfung, 
fei  e§  bur^  bie  Sleruenfubftana,  fei  e§  burc^  bie  lebenbe  ©üb* 
ftanj  überhaupt  oermittelt,  Derurfac^enb  unb  beroirfenb  einfe^t. 
6r  befdireibt  e§  fo,  ba^  bie  lebenbe  ©ubftanj  nidf)t  etwa  tatalri* 
tifdi,  bur^  ©elbftjerfe^ung  unb  ©elbftroieberaufbau,  SDSirfungen 
^eroorbringt  —  biefe  angeblid^e  ©elbftjerfe^ung,  bie  ©runbfor- 
berung  aller  ^emifctien  ©rtlärungen  be§  £eben§  —  finbet  über* 
^aupt  nid^t  ftatt  —  fonbern  fo,  ba^  in  ber  ©ubftanj  eigentüm*' 
lic^e  „©rregung^juftänbe"  qualitatioer  Slatur  eintreten,  bie  fic^ 
au§roir!en-  Q\)xt  SBeife  ber  9D3ir!ung  ift  am  ®]^emifd)*^f)r|fifd^en 
gemeffen  irrational.  Unb  l^eroorgerufen  werben  fie  fpontan  burd) 
bie  ^nnerlic^feit,  roeldie  ben  93iomolefülen  anl^ängt:  burd)  ®m* 
pftnbung,  ®efü^l,  Oefü^lSmotit),  SBBille  unb  SDBillengroirfung,  bie 
real  ift  unb  auf  ben  3uftö"i>  ^^^^^  2:räger§  roirflic^en  oeränbern* 
ben  ®influ§  ^at,  entgegen  ber  Q[rrte^re  be§  pf^d^op^rififc^en 
^araUeli^muig.  —  ®ie  ganje  93etrad|tung  gleicht  etroa^  ber  Tiveöiias 
Se^rc  ber  alten  ^^gfiologen.  ®a§  Ttveupia  xoax  ein  feinfter  SebenS« 
^au^  unb  ^©toff,  ber  ben  Äörper  burd)jie]^enb  i^m  ^rinjip  xoat 
be§  „©ic^au§ftd)ben)egen§".  5latürlid|  xoax  e§  ein  ©toff,  aber 
ein  fel^r  bfinner,  ber  eg  baburd^  leichter  l^aben  fotlte,  voo\)l  aud| 
$fgc^ifd|e§,  SBiUe,  ©mpfinbung  ju  fein.  Ob  man  ^neuma  ober 
^iomole!ül  fagt,  mad)t  nid)t  oiel  Unterfd^ieb,  fotange  man  ernft* 
^aft  babci  bleibt,  ^ft|d|ifdje§  al§  gunftion  eine§  ©ubftrateg  ju 
„ertlaren".  @§  mu^  feinen  ^flodE  tiaben,  an  ben  ei§  „gebun* 
ben"  ift.  —  S)a§  SSerl^ältni§  oon  ^fpdiifc^em  ju  ^^rififd^em 
läßt  fic^  nic^t  auf  ber  Safi§  oon  ^^gfiologie  ju  ®nbe  bringen, 
aber  baß  aud^  bie  einfa^ften  Söorgänge  be§  fieben§  nid|t  otine 
primitioc  ©mppnbung^fä^igfeit,  3Ba^lt)anblung,  Söirfen  unb  (är* 


268        Dtto:  %it  Uebermnbung  ber  tnedianiftifd^en  Seigre  2C. 

ftrcbenoon  3w'ß^wtäl5i9^n^/  ^i^t  o^nc  „SBittc"  juftanbc  fommcn, 
unb  ba§  al§  [ol(f)e§  baS  ^fgd^ifc^e  fd)on  al§  „^^ßf^^te"  unb 
^rotopIa§mabe(ebung  Sfeatität  unb  ^aufoHtät  beft^t,  ba§  fann 
^tigfiologie  jeigcn,  roic  ©d^ncibcrS  93uc^  berocift.  Unb  rocnn  bcr 
93obcn  bc§  bIo|  ^ß^qfiologifc^cn  ücrlaffen,  bic  ^^roblcmc  bcr  all* 
gemeinen  jroedEmägtgen  Slnpaffung,  bie  (Selbftbirettton  ber  6nt* 
roidlung  auf  ba§  ^beat  ber  fertigen  gorm  l|in,  ba§  l^ierju  be* 
fonberg,  aber  überall  fxi)  betätigenbe  ®emcinfc^aft§ „wollen"  ber 
unteren  SebenSeinl^citen  jum  2lufbau  jur  SBoHenbung  unb  jwedtmäli* 
gen  gunftion  be§  ©anjen  in§  Sluge  gefaxt  rairb,  fo  oerf^roinbet 
bie  „Q^fl^ztU"  njieber  al§  nur  primitioe  unb  rol^efte  3leu&erung 
eineg  üiel  umfaffenberen  unb  tieferen  ®efc^e!^en§,  ba§  man  in  ber 
"ilat  fid^  begnügen  lönnte  „(Snteled^ie"  ju  l^ei^en,  wenn  nid^t  bie 
„lebenben"  Körper  eben  de  facto  „befeelte"  mären  unb  menn  nic^t 
bie  einjige  ^robe  fotd^en  entelec^iaten  ®cfd^el|en§  ba§  märe,  roa^ 
fid)  im  bumpfen  2:riebe  oorbereitet,  ma§  im  bemühten  SlBotten 
aufblül^t. 

®ine  eigentümtidf)e  SKittelfteltung  jmifd^en  ben  2:eftoniften 
ben  S)riefd^  unb  ben  Sc^neiber  nimmt  noc^  mieber  ber  gebanfen* 
reii^e  Sluffa^  üon  SDIare§,  ^^Jrofeffor  ber  ^ß^gfiologic  an  ber  bö^- 
mifdien  Uniuerfität  ju  ^rag,  ein  über  „ba§  ©nergieprinjip  unb 
bie  energetifdie  S3etra(^tung^roeife  in  ber  ^f)t)ftologie"  (Siot.  3bl. 
1902,  ©.  282).  aWare§  fpmpatl^ifiert  mit  ber  Raffung  be§  ®e* 
fe^e§  non  ber  Äonftanj  ber  Energie,  mie  e§  fi^  im  Unterfd^ieb 
oon  ^elml^ot^  bei  Stöbert  SWa^er  finbet  (@.  338),  ftreitet  gegen 
bie  falfc^en  Probleme,  bie  bie  d^emif(^e  93etrac^tung§roeife  ber 
^^ligfiologie  oorfpiegelt,  gegen  bie  ®nj9met^eorieen,  gegen  bie 
paratleliftifd)en  Slieorieen  ac,  älinlicb  mie  Sleumeifter  unb  ©^nei* 
ber.  2)a§  SRätfel  be§  Seben§  ift  xf)m  ein  metapligfifc^eö,  ade 
menfd)lid)e  ©rfal^rung  überfteigenbe§  unb  burd^  bic  SGBiffcnfc^aft 
nict)t  aufjulöfenbe^.  —  ®rabe  biefe  SWannigfaltigfeit  ber  ©tanb» 
punfte  unb  ber  bei  jebem  eigenartigen  3)en!er  mieber  eigenartige 
Slüdffc^tag  gegen  bie  mec^aniftifc^e  Si^eorie  jeigt,  ba|  mir  e§  in 
i^r,  mie  auct)  in  ber  ©eleftionöt^eorie  9)armin§,  mit  einer  Snt« 
f(i)loffen]^eit§t^eorie  unb  ßn'ongSoereinfac^ung  ber  ©rfc^einungen, 
nid^t   mit  einer  objeftioen  unb  rulieoollen  Eingabe  an  bie  ^inge 


Otto:  %it  Uebem»tnbung  ber  med^aniftifc^en  Seigre  zc.         269 

ju  tun  ^aben,  mit  einer  21)eorie,  bei  ber  „simplex"  §um  „sigillum 
falsi**  wirb. 


3)ie  lieute  loieber  fid^  poOjiel^enbe  Ueberiutnbung  be§  SDIed)a« 
nismuS  trägt,  toie  auf  ber  ^anb  liegt,  oiel  au§  für  eine  tiefere 
Srfoffung  unb  3)eutung  ber  3Birfltd){eit  im  allgemeinen  unb  ba- 
mit  für  eine  religiöfe  im  33efonberen.  93ei  weitem  bie  §aupt* 
fac^e  babei  ift  ba§  neue  S)urd)brec^en  ber  2:iefe  ber  3)ingc 
unb  ber  (Srfdieinung,  bie  oerfd)ärfte  Sinfic^t,  ba§  unfer  (Srfennen 
ein  ©rfennen  ift  am  Oe^eimniS  ^in.  Unb  man  !önnte  fragen, 
ob  baran  Sieligion  nic^t  allein  fc^on  genug  ^at  ®enn  mie  fte  nun 
@e^eimni§  beute,  beuten  moUe  unb  bürfe,  ba§  foU  it|r  garnidit 
weiter  au§  9laturbetrad^tung  erma^fen,  fonbern  mu§  il^r  anber§* 
rootier  unb  au§  neuen  Duellen  werben.  3)a§  weitere  ®rgebni§ 
ift,  ba§  Ideologie,  ^errfc^aft  ber  Qbee,  Sinn  unb  ^lan  im 
9Jaturgefd)ef)en  al§  maltenbe  SWädite  fid)  mieber  anfangen  burd)* 
jufe^en,  unb  fo,  ba|  fte  nic^t  auf  Umwegen  unb  burd)  „S3e«* 
tra^tung§weifen"  l)erjugebrad)t  werben,  fonbern  au§  bem  ®e- 
fc^e^en  felber  beutlid^  aufteu^ten.  Sewd^rt  fic^  aber  bie  3»bee 
afe  traftige§  ^rinjip  im  fpejififc^  SBitalen,  im  pl)r)fiologifd^en 
$rojeffe  unb  in  ber  ^ormgeftaltung  unb  (Sntwidttung  be§  ©injel:« 
roefenS,  fo  ifl  bamit  jugleid^  allen  „3iiföBs!tl)eorieeu"  im  gefamten 
Skturgefc^e^en,  befonberS  in  ber  ©efamtentwictlung  be§  Seben* 
bigen  überl^aupt  ein  SWiegel  oorgef(^oben  unb  bem  barwinifc^en 
ftampfc  gegen  ben  Qw^d  ein  @nbe  gemadjt,  wie  benn  alle  nacf)« 
benflid^eren  2lntimec^aniften  auc^  3lntibarwiniften  finb.  3)a§  aber 
bereitet  wieber  oor,  um  fo  melir  in  ber  SBelt  be8  ®eifte§  unb 
ber  @efc^id(te  3:elo§,  9lu§  unb  £ogo§  auf§  neue  feft  ju  grünben. 

SWe^r  nun  brandet  religiöfe  93etract|tung  fic^erlid^  nid)t,  um 
fic^  oon  feiten  ber  9laturbetrad)tung  in  ^rei^eit  gefegt  ju  felien 
unb  biefen  gegebenen  Stammen  mit  i^ren  Ueberjeugungen  ju  er* 
füllen.  ®§  ift  weniger  ©ac^e  ber  Sieligion  aU  unfere§  allge* 
meinen  fpefulatiuen  SriebeS  unb  unferer  ^tiantafie,  wenn  wir 
etwa  weiterfc^reitenb  nac^  äJeranfc^aulic^ungen  unb  (Stellungnahme 
im  Sinjelnen   fuc^en.    Qxoax  bieten  fie  fid)  faft  Don  felber   an 


270        Otto:  S)ie  UcbctiDinbung  ber  ntcd^aniftifc^ctt  Sc^rc  jc. 

unb  bürftcn  ctroa  biefclben  SQäcgc  ju  gelten  vox  fid)  ^abcn,  bie 
bei  $(ato  einfe^en  unb  bi^  lieute  fid^  jiemUd)  gleid^geblieben  fmb. 
3fm  ^^l^itcbo^  beginnen  fte  bcibe  unb  gelten  fort  ju  Äant  unb 
ju  @.  V.  ^artmann. 

®inerfeit§  nämlic^  l^anbelt  e§  fid^  um  bie  attgemeinerc  SBefmnung 
auf  bie  Slufgabe  unb  Seiftung  unfere§  ®rfennen§  überl^aupt.  „®cge« 
ben"  ift  bem  ©rfenntniSoennögen  ba§  „jubeftimmenbeUnbeftimmtc". 
Unb  ©rfennen  ift,  bem  „&mipov"  bag  „nipou;"  fe^en,  ba§  an  fic^ 
„Unbeftimmtc"  „beftimmen",  tategorifieren,  burd^  bie  (a  priori) 
99eftimmung§ocrmögen  unb  gönnen  ber  SBemunft.  ©o  roirb 
„SQäelt"  unb  „9J3elterfal|rung".  ^m  ®enten,  fpejiett  im  roiffen» 
fd^aftUc^en  2)enfen,  DoKjie^t  fic^  biefer  ^rojeg  unb  in  ber  fort* 
ge^enben  Sluffteüung  be§  „®efe^c§"  ooDjie^t  er  feine  ^aupU 
leiftung.  S)er  ^roieJ5  gel^t  aber  fort  in§  Unenblic^e.  2)enn  bo§  „Um 
beftimmte"  ift  jugleic^  ötTcetpov  (Unenbli^e§)  im  eigentlichen  ©inne. 
®§  gteid^t  einem  Segel,  ber  bem  ®rtenntni§oermögen  unb  bem  oer* 
nünftigen  Äategorifieren  feine  ©pi^e  barbietet  unb  beffen  SBafi^ 
im  Unenbtitf)en  liegt.  Unfer  93eftimmen  bringt  grabmeife  an  i^m 
oor,  aber  meber  umgreifen  bie  Stinge,  bie  nad^  einanber  oorge* 
f(^oben  werben,  ben  Kegelmantel  jemals  ganj,  fie  Maffen  je  me^r, 
je  meiter  fie  fortrüdfen  —  nod^  fönnen  mir  meinen,  ju  ®nbe  ju 
fommen.  „SBiffen"  ift  grabmei^  üorrüd!enbc§  definieren  an  bem 
in  toto  ^nbefiniblen  (irepa;  am  dcTcetpov),  SRationalmac^en  be^ 
irrationalen  „®egebenen",  Äommenfurieren  be§  S^tommenfurablen. 
Unb  fein  SBorbringen  ift  oielleid^t  nic^t  afpmptotifc^,  fo  ba|  Un* 
beftimmteg  unb  SBeftimmung  in  unenblic^er  Slpprojimation  auf 
einanbet  ftünben,  fonbern  gleid)t  bem  ©i^norroärt^fc^ieben  ber 
„SRinge"  am  Kegelmantel,  bie  oon  Dorn^erein  nie  ganj  f^loffen, 
bie  immer  weiter  aufraffen  unb  beren  Sßorrttdten  inö  Unenblic^e 
fortgebt.  3)arin  märe  SGBert  unb  ©c^rante  mec^anifc^en,  p^pft» 
fd)en,  c^emifd^cn,  oitalen  „Srflärenö"  gegeben. 

2lnbrerfeit§  brängt,  mie  SDriefd)  mo^l  am  beutlic^ften  emppn« 
bet,  bie  aSorftellung  unb  ^^antafte  immer  roieber  ju  ben  „Gnte* 
lei^ieen",  „fubftantiellen  formen",  fid)  burd^fe^enben  „^becn", 
bie  in  allem  fi^  entroirfelnben,  im  Sebenbigen  befonber§,  Oefe^e 
unb  Xgpen  be§  ©injelroerben^  finb.  3)amit  aber  notroenbig  auä) 


D 1 1 0 :  ^ie  Uebcnoinbung  bcr  med^atiiftiftiien  Seigre  2c.         271 

—  tro§  3)ricfc^   —   ju   bem  ^latonif^cn  Oebanfen   ber  ^\^x^i. 

gin  „®efc^",  eine  „3fbee"  wirft  nic^tg,  fonbem  ift  gorm  cine§ 

SBirfcnben.  @in  Agens  in  ben  3)ingen,  bcr  SBirhmg,  ©eftaltung 

unb  „jielftrebenben"  3)ireftion  über  bic  3)inge  fät|ig,  ift  unau§* 

ipeic^Ii^,  mag  man  e§   nisus  formativus,  unbemuJBten   SBcrbe* 

brang,  „SGJeltfcele"  ober  mie  immer  nennen.    Unb  tut  man  e§, 

fo  rcbet  man  fc^on  oon  „SBiKe"  unb  bie  alten  SDeutungen  be§ 

3BeItroerben§   burd)   ben  SBitten,   ber  ba§  SGBerben   burd^maltet, 

ber  im  nieberften  üebemefen  ]id)  regt,  ber  feiner  felbft  no6)  un= 

beraubt  bie  Seben^projeffe  birigiert,   ber  ber  ibeenootte  roirtenbe 

5aKor  ber  gormgeftaltung  ift,   ber  ftufenmeifc  fid)  aufringt  ^u 

immer  ^ö^erer  ©elbftentfaltung,  ber  enblid^  im  SDlenfdien  burc^- 

bri^t  au§  bumpfem   2)range  ju  madjem   Selbftbemu^tfein  unb 

ou§  bloßem  Sriebc  jum  SBitlen  im  l^ö^eren  (Sinne,  fo  erft  „Seele" 

merbenb,  um  ju  ®eift  fw^  ju  bilben,  ftetlen  fid^  roieber  ^er  unb 

om  beften  in  il^rer  tiefen  fc^önen  S^^ni,  mie  fie  nic^t  ^artmann, 

ni(!^t  ©c^openl^auer  unb  ni(ä)t  ©djeüing,  fonbern  %\(i)tz  in  feiner 

alljuoergeffenen  ©d^rift  „bie  ©eftimmung  be§  9Kenfd^en"  gefc^affen 

bat,  biefer  fc^önften,  männlid)ften  unb  tief ften  (Erneuerung,  bie  ^latü§ 

Se^re  oon  „yheoig"  unb  „^\jxh"  9«funben  l^at.    2)ie  tieffinnigen 

S^eorieen  be§  jüngeren  gid^te  über  ba§  Unbemu^te,  ba§  fxd)  ben 

Äörper  baut,   bie   glei^faßg   hinter  ®.  o.  $artmann§  ©ebanfen 

gonj  überfe^en  loerben,   grabe   au^   oon  aJIännern,  bie  il)m  fo 

relatio  nal^c  ftel^en  mie  SDriefdf)  unb  ©dineiber,  mären  f)injuju« 

nel^men.    ®ie  ÜBenbung,  bie  biefe  2tnfrf)auung  nehmen  mu|  unb 

lann,  um  in  religiöfe  äberjugef)en,  liegt  fo  auf  ber  ^anb,  ba§ 

man  fie  laum  anjugeben   brandet,    ©ie   ooKjic^t   fidf)  bei  gidite 

befanntlic^  in  ber  „9lnmeifung  jum  feiigen  Seben",  roo  er  bie 

ungcnügenbe  unb  oorläupge  Qbentifijierung  be§  „3Bilten§"  mit 

bem  ©öttlic^en  oerlä^t  unb  oon  ^fw^w^önenj  ju  2:ran§jenbenj  über= 

gc^t.    Äein  SBerben  ol^ne  ©ein,  feine   ^otenj  ol)ne  ben  2Ittu§ 

juoor.    ©Ott,  ba§  emige  ©ein,  fe^t  biefe  SBelt  be§  fid^  fteigern* 

ben  8GBitten§,  bamit  fie  in  eigener  ©elbftoerroirflic^ung  bie  güfle 

ber  ewigen  ^fbeen  reatifiere,   ju  aKenfd),   (Seift,   g^reitieit,    ^n^ 

bimbualität  aufbringenb  ba^  göttlid)e  ®benbi(b  oerioirflidie,  f^on 

auf  ben  ©tufen  ber  @e6unbenf)eit  unb  Unbemu^t^eit  in  ber  ©pon= 


272         Otto:  ^ie  UebertDinbung  hex  tnec^aniftifd^en  Se^re  tc 

tanettät  be§  Sebenbigen  in  bem  (hinaufarbeiten  unb  ^inaufbr&ngen 
bereits  eine  SSorabfd^attung  gebenb  beffen,  roa^  einmal  als 
menf^liclje  grci^eit,  ©elbftbeftimmung  unb  ®eiftc§entn)icKung  er» 
fc^einen  foH.  —  ®a^  folc^e  gic^tefd^e  SBeltbetrat^tung  bur^  „^^n* 
tafte"  gewonnen  ift,  ift  gen)i§.  SKber  pl^antaftemä^ig  ift  jebe  SBelt» 
beutung.  SD3a8  fmb  Sltome,  SWoIefüIe  unb  „Gräfte",  n>a§  fmb 
concursus  unb  influxus  anbereS?  „Ql)x  werbet  e§  roiffen,  baf 
eure  ^^antafie  e§  ift,  welche  für  ®uc^  bie  Sffiett  erfdjafft".  @e» 
Tüi^  ift  auc^,  ba^  9teIigion  eineS  folc^en  p^antaftema^igen  9b> 
fc^tuffcS  ber  SBeltanfc^auung  nid^t  bebarf,  wenn  il^r  gerodl^rleiftet 
ift,  voaS  oben  angegeben  war.  ©ud^t  fie  il^n  aber,  fo  wirb  fie 
i^n  in  biefer  3tid^tung  finben.  Unb  bie  l^eutige  SlaturerfenntniS 
fann  fie  baran  nic^t  I)inbern, '  bie  heutige  Uebern>inbung  bcS 
SWec^amSmuS  in  ber  SebenSlel^re  leiftet  i^r  babei  SBorfd^ub. 


273 


^ur  $00ntatik. 

SBon 

duHuS  ftaftan. 

C.  (Binitlnt  Stljttn. 

7.  S)ic  ^aulinifd^c  ^rebigt  t)om  Ärcuj  ^cfu  ©tirifti. 


aSorbemcrfung. 

(£§  wirb  sunäd^ft  eincS  aSortcS  bcr  ©rHärung  bebürfen,  ba§ 
ic^  bicfcr  Sici^c  t)on  2luffd^en  jur  3)ogmatif  einen  mit  roefentlid^ 
neuteftamentlidiem,  6ibUfd)*tt)eoIo9ifd^em  3fn^alt  einfüge.  5)ie  erfte 
Seranlaffung  baju  ift  eine  äu|er(id)e.  SEßaS  bie  folgenben  SSIotter 
bieten,  ift  im  SBefentlic^en  bie  SSorlefung,  bie  id^  beim  S3eriiner 
gerienfurS  im  t5^-ül|iat)r  1901  gel^alten  f)aU.  3)ie  mieber^olt  an 
mid^  ergangene  Sluffotberung,  fte  brurfen  ju  laffen,  ^abe  id^  ba« 
mafe  abgelet)nt.  @§  fd^ien  mir  bei  bcn  üblichen  ©epflogenl^eiten 
nic^t  ongängig,  bie  SBorlefungeix  al§  einen  Beitrag  jur  biblifd^en 
X^eologie  ju  veröffentlichen,  o^ne  fie  nidjt  menigftenS  in  3lnmer» 
fungen  nad)trägli^  mit  bem  gemö^nlic^en  SRegiftrierapparat  aller 
jemals  geäußerten  bea^ten§n)erten  aWeinungen  unb  fritifdier  2lu§* 
einonberfe^ung  mit  i^nen  auSjurüften.  ©aju  aber  empfanb  ic^ 
nic^t  bie  minbefte  5Reigung,  mie  i^  benn  fürd)ten  muß,  baß  e§ 
mir.  rote  an  ber  redeten  Stufnal^mefä^igfeit  für  biefen  2:eil  ber  ge* 
lehrten  Slrbeit,  fo  aud^  an  ber  ®abe  fe^It,  barin  etn)a§  görberlic^eS 
ju  teiften.  dagegen  meine  ic^  oerantmorten  ju  fönnen,  roenn  ic^ 
biefe  ^Betrachtungen  ^ier  otine  alle  foId()e  3uti)aten  Deröffentlic^e, 

3«itf(^rift  für  X^eologte  unb  Äirt^e.  14.  3a^rg.,  4.  ^eft.  19 


274  Ä  a  f  t  a  n:  3wt  ^ogmati!. 

100  e§  fic^  auggcfprod^cnermagen  barum  Iianbclt,  lote  loir  unferc 
©ogmatif  gcftattcn  fotten.  3)icfeni  Qxotd  cntfprec^enb  ift  auc^  ber 
urfprünglii^e  ^eyt  in  cinjclnen  Partien  ntc^t  uniocfentlid)  ocränbcrt 
loorbcn.  3)cr  S^itcl  ber  SJorlcfungcn  ^atte  bcn  3u[a^:  unb  i^re 
Scbcutung  für  unfcre  ^rcbigt!  SBa^  fid)  nun  barauf  bcjog,  ift 
l^ier  weggefallen  unb  bie  93ejie^ung  auf  bie  3)ogmatit  an  bie 
©teUe  getreten.  9Jur  bap  bieä  in  ber  Ueberfc^rift  ^eroorju^eben 
überflüfftg  erfd^ien,  ba  e§  in  bem  ©efamttitel  aller  biefer  STuffä^e 
8um  2lu§brud  fommt.  SQBobei  ic^  nic^t  unerrofi^nt  laffen  will, 
ba^  biefe  2(enberung  me^r  formater  al§  fad^Iidier  2(rt  ift,  ba  nac^ 
meiner  Sluffaffung  3)ogmatit  unb  ^ebigt  fic^  na^e  berühren. 

Slber  natürlld)  genügt  bie§  je^t  ^eroorge^obene  nid^t  jur  SWec^t* 
fertigung  meines  Unternel^menS.  ®ie  liegt  erft  barin,  ba^  c§  mir 
93ebürfni§  war,  bie  bibIifc^*t^eologifc^en  ©rörterungen  meiner  3)og^ 
matif  in  biefem  ^unft,  roo  fte  nid^t  lebiglic^  SBermertung  aner- 
fannter  9JefuItatc  finb,  etmaS  nd^er  auSjufül^ren  unb  ju  begrün* 
ben.  ^6)  ^abe  babei  einen  boppelten  Oegenfafe  im  2tuge.  ©inmal 
bie  2lnfid^t  unb  ^rayiS  berer,  bie  nac^  mie  oor  bie  ©ä^e  ber 
ürd^lic^en  3)ogmatit  au§  bem  9ieuen  S^eftament  unb  namentlicö 
aud^  au§  ben  $aulinifd)en  93riefen  entnehmen.  Soor  allem  aber 
bie  übli^e  aJleinung,  bie  ^aulu8  jum  3)ogmatifer  ftempelt,  ob 
fie  e§  i^m  nun  jur  ©ered^tigteit  ober  Ungere^tigfeit  redjnet,  meiere 
aWeinung  mir  als  ein  SJorurteil  erfc^eint.  Könnte  ic^  ein  wenig 
baju  beitragen,  bieS  Vorurteil  ju  entmurjeln,  mürbe  eS  mir  jur 
großen  93efriebigung  gereichen.  2llfo  im  Oegenfa^  ju  biefen  bei« 
ben  2lnfirf)ten  möchte  ic^  erftenS  jeigen,  ba§  man  ^auluS  miß* 
t)erftel|t,  menn  man  i^n  oor  allem  al§  3)ogmatifer  nimmt,  unb 
jmeitcnS  barlegen,  maS  unb  mie  mir  tro^bem  in  ber  ®ogmatit 
oon  ^^aulu§  lernen  fonnen  unb  follen. 

aWit  bem  jule^t  ©efagten  l)ängt  ein  ^w^^iteS  eng  jufammen, 
maS  l)ier  in  ber  Sorbemertung  mit  ein  paar  SSSorten  erflart  roer^ 
ben  mu§.  ®ieS  nämlid^,  ba§  i^  al§  Zl)tma  bie  ?ßaulinif(^e 
^  r  e  b  i  g  t  oom  Kreuj  ©^rifti  genannt  ^abe.  9Bir  fagen  fiatt 
beffen  gemö^nli^:  bie  Seiire  beS  Slpoftete  oom  Äreuj.  Unb 
baS,  maS  man  geioölinlic^  f  o  nennt,  ift  ^ier  gemeint.  9lber  roarum 
benn  ^rebigt  unb  nic^t  Seiire?  3)ie  2Bal|l  be§  aBorteS  tonnte  ol« 


Ä  a  f  t  a  n:  Sur  ^Jogmattf.  275 

eine  6Io^  jufdQige  erfc^einen,  ttxoa  baburd)  bebingt  ba^  in  ber 
}u  @runbe  (iegenben  SSorlefung  eine  3^f<^^^^^f^^Ku^9  ^^^  ^^^* 
linifd^en  Sßerfünbigung  mit  unferer  I)eutigcn  ^ßrebigt  bie  prattifd)e 
©pi^e  bilbete. 

@o  jebod^  Derl^ält  e§  |t^  nid^t.  SJlit  beraubter  Slbfic^t  ift, 
n)QS  $Qutu§  uns  aber  baS  ^reuj  be§  ^eilanbS  fagt  aU  ^rebigt 
unb  nict)t  ate  Se^rc  d)arafterifiert.  Slid^t  ate  foCte  beibeS  cinan* 
ber  überhaupt  gegenübergeftellt  werben.  ®ine  ^rebtgt,  in  ber 
nic^t  gelehrt  wirb,  entfpridE)t  i^rem  Qxoed  nid^t:  man  !ann  nid^tö 
SIeibcnbe§  barau§  mitnel^men.  3lber  ber  Unterfd^ieb  ift  bod^  fein 
geringer. 

©agte  id^:  bic  Sc^re  be§  2lpoftete,  fo  noäre  bamit  x)orau§* 
gefegt,  ba^  feine  ©ebanten  unb  2lu§fpräc^e  über  ba§  Äreuj  beS 
^erm  eine  tl^eoIogifd)e  ©inl^eit  barfteüten.  @o  alfo,  ba§ 
er  über  eine  einheitliche  Seiire  Dom  Äreuj  oerf ügt  l^ätte,  unb  bie  märe 
nun  bei  allen  feinen  2lu8fül|rungen  über  ben  ©egcnftanb  bie  für 
i^n  felbftoerftänblic^e,  ftiltfc^meigenbe  SBorauSfe^ung.  ®ann  ftellte 
fid)  bie  Aufgabe  fo,  ba§  mir  aui§  biefen  feinen  Sttu^fül^rungen 
bie  ju  ©runbe  liegenbe  ein^eitlid^e  Se^re   ju   ermitteln  Ratten. 

®ben  bie§  jeboc^  l^alte  id^  für  falf^.  ®ie  ©ebanfenmelt  be§ 
SlpoftelS  ^aulu§  ift  feine  t^eologifc^e  @inl)eit.  ©ie  ift  e§  über* 
^aupt  unb  im  ©anjen  nic^t.  ©ie  ift  eö  auc^  nicl)t,  ma§  biefen  einen, 
i^ren  mid^tigften  ©egenftanb,  ba§  Äreuj  be§  ^errn,  betrifft.  8GBol|l 
aber  ift  fie  eine  r  e  l  i  g  i  ö  f  e  ®inl|eit.  9teue  gro^e  9)enf *  unb 
SebenSformen  —  unb  eine  fold^e  ift  e§,  bie  un§  bei  ^auluS  ent» 
gegentritt  —  finb  jmar  nie  eine  oollfommene  ©in^eit.  3)a§ 
fönnen  fie  ni^t  fein,  ba  fie  nad^  rüdfmärtS  unb  üormärt§  blidfen, 
i^re  tiefen  SBurjeln  in  altem  Sßorangegangenen  liaben  unb  mit 
i^ren  t?ü^lfdben  in  bie  fernfte  3wfw^^ft  teic^en.  2l6er  mit  biefem 
JBorbe^alt  gilt,  ba^  bie  ©ebanfen  be§  3lpoftel§  eine  religiöfe  ®in* 
^eit  finb.  ^m  ®anjen  —  unb  fo  au^  xoa^  baS  Kreuj  beiS  ^errn 
betrifft.  @ben  be§^alb  aber  finb  fie  nic^t  eine  tlieologifd^e,  bog* 
matifc^e  Set)re,  fonbern  ein  Soangelium,  eine  ^rebigt,  unb  ift 
biefer  9iame  ber  eigentlich  jutreffenbe.  2ll§  ?ßrebigt  muffen  fie 
gemürbigt  unb  bargefteQt  merben. 

3)anac^  mu^  fid^  bann  aud)  ba8  aSerfalircn  richten.    SEBtr 

19* 


276  ^  a  f  t  a  n :  3ur  ^ogmatit 

fud^en  nid^t  in  aQen  3(eugerungen  eine  t^nen  ju  ©runbe  (iegenbe 
einl^eitlic^e  Seigre.  @tatt  beffen  fud^en  mit  bie  einzelnen  ©ebanfen 
unb  ©cbanfcngtuppen  ha  auf,  roo  fie  im  ^ufammcnl^ang  mit  bem 
perf6nli(^cn  ®(auben  unb  ©rieben  be8  SHpoftetö  entftanbcn  fmb. 
^er  ^err  ift  i^m  cor  S)amQ§!u$  erf^ienen,  ba^er  ftammt  aUt^, 
n)QS  uns  ^autuS  ju  fagen  ffat  9Bir  merben  e§  nur  richtig  oer- 
ftel^en,  wenn  roir  e§  in  biefer  feiner  Oenefig  begreifen,  unb  bie 
©ebanfen  baburd^  für  unS  lebenbig  n:)erben. 

i^reilid^  gewinnen  wir  fo  junäd^ft  @eban!enreil^en,  ©ebanlen« 
gruppen,  bie  ^mar  in  ber  retigiöfen  SOSurjel  jufammen^ängen,  aber 
als  tl^eologifc^e  3)eutungen  beS  £obeS  S^rifti  neben  einanber 
ftel^en  unb  unter  ftd^  biSparat  ftnb.  Sann  mag  5um  @€^tu^  eine 
ein^citli^e  3uföwimenfaffung  oerfu^t  werben.  Slid^t  in  bem  oor» 
\)\n  abgewiefenen  @inn,  als  wäre  biefe  (Sin^eit  bei  $autuS  bie 
immer  Dorl^anbene  93orauSfe^ung  gewefen,  fonbern  nur  im  ©inn 
einer  grage,  ob  etwa?  ob  fid)  für  ?ßauluS  fetbft  eine  fol^e  Qu* 
fammenfaffung  als  ein  gelegentlid^  fie^teS,  mit  bem  ©ebanfen 
©eftreifteS  ergeben  l^at  ?  @o  alf o,  ba|  ber  @^werpunf t  bur^auS 
in  ben  einjelnen  @ebantenreil^en  liegt.  9Bie  benn  au^  nur  in 
i^nen  gefüllt  werben  fann,  waS  für  bie  3)ogmatif  l^eute  fo  ober 
fo  üon  SBcbeutung  ift. 

2)ieS  9}erfa^ren  tritt  aber  in  einen  gewiffen  (Segenfa^  ju 
bem,  was  üblid^  ift.  @S  finb  erft  bie  ^nfd^e  ju  einer  neuen 
93etrad^tungSweife  ba.  Ueblic^  ift  immer  noc^  gan}  überwiegenb 
baS  oben  }urüdtgewiefene  93erfa^ren,  eine  einheitliche  Se^re  bei 
^auluS  ju  fuc^en.  Sie  einen  galten  i^n  für  einen  3^ugen  ber 
anfelmifd)en,  tirc^lic^en  Sßerfö^nungSle^re.  SefonberS  in  ber  $rajriS 
ift  eS  fo  baS  @ewö^nlic^e.  3lud)  in  ber  S^eologie,  namentlich 
bei  ben  Sogmatifern,  begegnet  eS  no^  oft  genug,  i^mmerl^in 
überwiegt  ^ier  bie  gefd^i^tlic^e  SWet^obe.  Slber  aud^  beren  SBer» 
treter  ftnb  infofern  nod^  oielfad^  an  baS  alte  SBorurteil  gebunben^ 
als  eS  eine  fie^re,  eine  Sogmatit  ober  eine  iReligionSp^ilofop^ie 
ift,  bie  fte  bei  ^auluS  ermitteln  unb  als  ^aulinifc^  barftellen. 
@o  gilt  eS  j.  33.  felbft  oon  ^ol^mann,  na^  beffen  2luffaffung 
^auluS  pon  teils  jübif(^cn,  teils  ^eUenifcIien  SßorauSfe^ungen  auS 
ein  merfwürbig  t)erwidtelteS  ©pftem  ber  SReligionSpl^ilofop^ie  er- 


^  a  f  t  a  n:  Qux  ^ogmatÜ.  277 

bac^t  unb  oorgetragen  f)at,  ba§  faum  für  anbrc  als  bic  Xicdinifcv, 
bic  S^eologcu,  Derftänblid^  ift  unb  cigcntlid^  au^  für  bicfc  nur, 
wenn  fic  i^rc  fiebcn^arbcit  baron  rocnbcn. 

3)iefem  ©tanbpunft  unb  jwar  oflen  feinen  Sluancen  gegen« 
Aber  ift  gcttenb  gu  ma^en:  e8  l^anbelt  fi^  im  bleuen  Sieftament 
nic^t  um  ©ogmatit,  meber  neue  nod^  alte,  unb  ebenforoenig  um 
9leligion§p^iIofopt)ie,  c§  l^anbelt  fid^  melme^r  um  SRetigaon,  um 
©Dangelium,  um  SBerfünbigung,  bie  au8  bem  ©tauben  gel|t  unb 
©lauben  roeden  miß  unb  fann.  SKan  üerfte^t  bie  3)länner,  bie 
in  i^m  ju  un§  reben,  oor  allem  ^aulu§,  nur  bann  redjt,  wenn 
mon  erfennt,  mie  aud^  itinen  felbft  biefe  Söerfünbigung  bie  ^aupt- 
fac^e  unb,  ma§  fic  an  2^^eoIogie  I)aben,  etroa§  ©efunbäre^,  9Ib* 
geleitetes  gemefen  ift.  ®erabe  bie§  betone  id^.  S)abur^  !ommt 
erft  ber  (Segenfa^  ^erauS.  Sttud^  bie  SBertreter  ber  älteren  aWe* 
t^obe  miffen  natfirli^,  baj3  aUemege  bie  SWeligion  bie  ^auptfac^e 
ift,  Slbcr  bur^  ba§  intelleftualiftif^e  @d)ema  ber  alten  Sogmatif 
gebunben  meinen  fie,  and)  ^aulu§  l^abc  mie  ein  fpäterer  3)ogma* 
titer  burd^  jufammenl)ängenbe  Selirformulierung  ba§  religiöfe  93e* 
bürfniS  ju  befriebigen  gefud^t,  anftatt  au§  ben  religiöfen  :3»ntpulfen 
^erau§  feine  Oebanfen  ju  bilben,  bie  itim  gar  nid)t  al§  eine  Set)re, 
fonbem  al§  SJerfünbigung  felbft  erlebter  göttlidier  J^aten  im  93e* 
mu^tfein  ftelin. 

SBenn  i^  red)t  felie,  ift  eS  bie  in  einem  ber  früf)eren  2(uf* 
fä^e  f^on  berülirte  SSSanblung  ber  t^eologifd^en  3Wett|obe,  bie  bei 
biefem  Unterfdf)ieb  ber  Sluffaffung  ju  ®runbe  liegt.  SBie  in  ben 
anbem  2)i§jiplinen  —  in  2)ogmengefd)id^te  unb  ©pmbolif  unb 
in  ber  ®ogmatif  felbft  —  fo  mac^t  fie  fid)  au^  in  ber  foge* 
nannten  biblifd^en  Si^eologie  geltenb,  bie  SBanblung  au§  einer 
8Biffcnfd)aft  oon  ®ott  in  eine  äBiffenfd^aft  oon  ber  d^rifttic^en 
JReligion.  ©tiH  unb  unauf^altfam  ooUjie^t  fie  fidf)  unb  wirb  fid), 
mu^  f\6)  burdife^en.  ®enn  fie  bebeutet  nid)t§  anbre§,  als  ba| 
mir  jur  ©ac^c  felber  fommen  unb  bie  ©egenftänbe  unfrer  gor« 
frfiung  aus  if)nen  felber,  oon  i^rem  eignen  Sölittelpunft  auS  ju  uer* 
ftel^en  fudjen. 

®S  ift  balier  fein  miHfiirlid^er  (äinfaH,  menn  id)  bie  ^auli- 
nifc^e  ^rebigt  unter  einem  etroaS  anbem  als  bem  üblidien  ®e« 


278  Äaftan:  Snx  Dogmatil. 

ftc^töpuntte  betrad)te.  (£$  l^anbelt  fic^  babei  um  eine  3(enberung 
be§  SBerfa^reni^,  bie  in  einem  größeren  ßufammenl^ang  ftel^t  unb 
ber  m.  @.  unjmeifel^aft  bie  3^^^"^!*  flc^ört. 

S)er  Ueberfic^t  falber  roitt  id^  bie  (grörterung  in  mehrere 
Slbfc^nitte  jerlegen.  Unb  jmar  beginne  i^  bamit,  in  einem  erflen 
Slbfd^nitt  Dormiegenb  fritif^er  Slrt  ben  SSSeg  jum  SSerftanbniS  su 
bahnen.  Äritifrf)er  2lrt  —  aber  nun  nid^t  me^r  in  formeDer^ 
fonbern  in  fac^tid^er  83ejiel|ung. 

1. 

Sfn  feiner  ^autinifc^en  a:^eoIogie,  bie  md)  feinem  Sobe  1898 
l^erau§gegeben  morben  ift,  fagt  Äarl  ^olften,  bie  SDarftettung 
ber  ^ßaulinif^en  2:^eoIogie  fei  frfil^er  nur  eine  oerftänbig  orbnenbe 
gemefen:  etma  in  ber  9{eif)enfoIge  beS  9{ömerbrief$  feien  bieJ^aupt< 
gebanfen  na(^  einanber  befpro^en  morben.  3)en  3lnfang  einer 
anbern  Raffung  ber  Slufgabe,  ben  93erfu^,  bie  ?ßauUnif(^e  ®e* 
bantenmelt  qu§  i^rem  Urfprung  2u  perfte^n  unb  ju  entn)irfeln, 
batiert  er  üon  feinen  eignen  Slrbeiten,  bie  freiließ  roieber  i^rc  ^fm» 
pulfe  oon  5-  ®^^-  93a ur§  gorfi^ung  erl^alten  l^atten. 

9nan  fann  m.  @.  bem  Selbftgefül^I,  ba§  in  biefer  9(eu^erung 
^olftenS  jum  äluSbrudt  fommt,  bie  Sered^tigung  ni^t  abfprec^en. 
^  0 1  ft  e  n  ift  ^ier  in  ber  2:^at  ber  93a]^nbrerf)er  gemefen.  3a, 
feine  Äonftrultion  ift  bisher  eigentlich  ber  einjige  SSerfuc^  geblieben, 
bie ^aulinifc^e @eban!enmelt  oon  innen  ^erauS  ju  uerfte^n. 
2)ie  (Späteren  manbeln  auf  ber  t)on  i^m  gebrod^enen  8a^n.  Um 
bie  ^aulinifc^e  ©ebanfenmelt  im  ®anjen  l^anbelt  e§  fi^  ba.  aber 
beren  ^Jlittelpuntt  ift,  wa^  $aulu§  t)om  ^reuj  S^rifti  ju  fagen 
^at.  Um  biefeS  bemegt  ftd)  bal^ec  a\xi)  bie  ^onftruftion  ^oljlenS. 
(Sr  Derfte^t  bie  ^^aulinifdie  Se^re  als  ermac^fen  au§  ber  bem 
älpoftel  ^auluS  eigentfimli^en  (SnoftS  be§  ^reujeS  (S;^nfti.  3)a« 
nad^  f^eint  t8  mir  geboten,  ^ier  an  bie  ^onftruttion  ^olflenS 
anjutnüpfen.  SBobei  id)  nid^t  unermäf)nt  laffen  mitl,  ba|  e§  ni^t 
ba§  eben  genannte  pofttjume  ^uc^  ift,  baS  in  93etra(^t  fommt 
Qn  H)m  ift  er  mie  anbere,  beren  3lu§gang8punft  in  ber  ^egcl'« 
fc^en  ^l|ilofopl)ie  liegt,  ber  S3erfud)ung  erlegen,  alleS  in  einem 
einjigen  ermübenben  unb  bürren  @eban!enfd^ema  aufmarfdjieren 


Ä  a  f  t  a  n :  gut  5)oömatü.  279 

ju  laffen.  @§  finb  feine  früheren  ©dfjriften,  auf  benen  ber  S33ert 
feiner  2lrbeit  beruljt.  gür  unS  fommt  namentlidi  roieber  bie  erfte 
unter  biefcn  in  SBetrac^t,  bie  üon  ber  ©^riftugoifton  beS  ^aulu§ 
^anbelt. 

fianberer  ^atte  am  ®rabe  93a ur§  in  ber  ©d)ilberung  be8 
SSerftorbenen  gefagt,  ba^  eS  il^m  boc^  ni^t  gelungen  fei,  ba§  5Bun* 
ber  aus  bem  Urd^riftentum  ju  eliminieren;  bie  83efel^rung  beS 
$aulu§  bleibe  aud)  bei  feiner  Äonftruftion  ate  ein  ni^t  ju  er* 
flärenbe§  SGBunber  befte^n.  S)ie§  reijte  ^olften,  f\6)  an  ber  ba* 
mit  gefteüten  9Iufgabe  ju  nerfu^en.  ©o  ift  ber  genannte  Sluffa^ 
entftanben.  ©eine  2:enbenj  ift,  eine  natfirlid^e  ©rtlärung  ber  93es 
fe^rung  be^  ^aulu§  por  2)ama§fu§  ju  geben.  2lber  ba§  laffe  ic^ 
^ier  ganj  bei  ©ehe.  2lHe  biefe  @rflärung§üerfucl^e  Iiaben  üvoa^ 
©ejroungeneg  unb  fo  aud|  ber  ^olftenö.  ©ie  mögen  benen  93e* 
bfirfniä  fein,  beren  SBorauSfe^ung  e§  ift,  alle§  ®ef^el)en  fei  mie 
man  fagt  „gefe^Iid^"  oermittelt.  ^d)  teile  biefen  ©tanbpuntt  unb 
ba^  barau§  ermac^fenbc  93ebürfni§  nic^t.  Unb  ba§  fd)eint  mir 
feftjufte^n,  ba§  bie  gefc^ic^tlic^e  Ueberlieferung  einfad^er  unb  oer=» 
ftänblic^er  ift,  roenn  man  bei  ber  alten,  bem  53en)u^tfein  be§  3lpo- 
ftefö  felbft  entfpred^enben  Sluffaffung  bleibt,  bie  in  feiner  93ete^* 
rung  ein  SSäunber  (Sottet  fie^t.  2lber,  mie  gefagt,  e§  fommt  ^ier 
nic^t  in  93etracl)t.  ®a§  dou  ^olften  entmidfelte  Sßerftänbni§  be§ 
^aulinifc^en  6üangelium§  uom  Kreuje  ©l^rifti  ftel|t  unb  fällt 
feine§n)eg§  mit  feiner  rationaliftifd^en  ©rtlärung  be§  SBorgang« 
ber  ©efe^rung.  ®r  f onftruiert  nämlidi  alle^  barau§,  ba^  ber  ge* 
fe^e§eifrige  ^^arifäer  bamafö  im  ÄreujeStob  be§  SReffiaS  ba§  ^eil 
erfannte  unb  ergriff.  Unb  ba§  bleibt  ja  ftef)n,  ba§  e§  mit  bem 
inneren  Vorgang  bei  feiner  93efe]^rung  biefe  93en)anbtni8  l^atte, 
mag  man  ba§  6reigni§  felbft  in  feinen  Urfad)en  nun  fo  ober  an* 
ber§  juftanbegefommen  beuten. 

2llfo  —  ^aulu§  mar  ein  gefe^eSeifriger  ^^arifäer  unb  eiferte 
afe  fol^er  für  ba§  @efe^  unb  bie  oäterli^en  Ueberlieferungen 
me^r  al§  jeber  anbere  unter  feinen  2llter8genoffen.  ©o  fagt  er 
felbft.  3)a  fam  ber  über  itin,  ber  mäd^tiger  mar  afö  er.  ®r 
tonnte  nic^t  melir  miber  ben  ©tad^el  löden,  ber  ©etreujigte  er* 
mieg  fi^  in  ber  (ärfc^einung  be§  3luferftanbenen  als  ber  SWeffiaS. 


280  Ä  a f  t  a n:  3ur  S)o0mattf. 

^aulu§  nun  bettet  fid^  nac^  biefem  (SrIebniS  nic^t  mit  ^(etfc^  unb 
SBlut,  fonbern  ging  in  bie  ®infomfeit  nad|  Slrobien  btei  Qa^te 
lang,  ffiort  ffat  fid^  ber  Umf<^n)ung  aßer  feiner  ©ebanten  doB« 
jogen,  beffen  SRefuttat  ba§  üon  il)m  Dertünbigte  SDangelium  tft, 
ba8  (Spangelium  für  bie  Reiben.  @S  ift  erroac^fen  ou§  ber  ®noft§ 
be8  2:obeg  6:^ri[ti  al§  beS  ^eitöprinjipS.  Qa,  baS  ift  bie  ^awpU 
fa^e  fcineg  ©oangeliumS,  biefe  @nüfi§  be§  aKeffta§tobcS.  (So  roie 
er  fie  oorträgt,  mu^te  fte  fic^  in  bem  Bis  ba^in  fo  gefe^e§eifrigen 
aWann  geftatten. 

9lämlid),  für  il|n  roar  eine  innere  Unmögli^feit,  roaS  nac^ 
^olften  (er  entnimmt  e§  au8  ®al.  2)  ber  Orunbgebanfc  beä 
^etrinifc^cn  ®oange(iumS  mar,  baS  5lebeneinanber  oon  ®efeft 
nnb  @Iaube  an  ba§  ^reu}.  @d^on  el^e  er  6)^rift  unb  älpoftel 
mürbe,  mar  für  ^auIuS  beibe§  in  einen  au^fc^Iiefeenben  ©cgenfa^ 
ju  einanber  getreten:  entmeber  —  ober,  entmcber  ba§  @efe^  ber 
aSäter  ober  ba§  Äreuj.  Unb  gmar  mar  il^m  urfprünglic^  ba§  Oe« 
fe§  aKe§.  3)e8^alb  oerfolgte  er  bie  ®f)riften,  bie  einen  gefreu- 
jigten  3Äeffia§  oerlünbigten,  xoa§'  i^n,  ben  ^^arifäer,  eine  ®ottc§= 
läfterung  beuchte.  5Run  trat  ber  Umf^mung  ein.  2lber  bei  bem 
augf^Iie^enben  ®egenfa^  bel^iett  eS  fein  93emenben.  9lur  eben  nun 
in  ber  fad|Iic^  entgegengefe^ten  aSSeife:  ba§  ftreuj  ift  alleS,  unb 
ba§  @efe^  ift  nid^tS.  2)amit  jog  er  bie  ^onfequenj  be8  d^riftlic^en 
5ßrinjip8:  ®ercd^tigfeit  nid^t  burd^  beS  ©efe^eS  SBerte,  fonbern 
allein  burd^  ben  ®Iauben  an  bie  ^eilStl^at  ®otte8  im  ^reuje  ßi^rifti. 
©onft  märe  ja  ber  SJlefftaS  umfonft  geftorben  unb  biefe  gemaltige 
-alle§  oeränbernbe  ^eil§tl|at  ®otte8  eine  ßuyuStliat  gemcfcn  (@al. 
2,  21).  2)er  S^ob  beS  ^eilanbS  fommt  babei  aber  nä^er  ju  ftc^n 
.al§  ftelloertretenb  für  bie  ©ünber.  2luf  ben  ©ünblofen  l^at  ®ott 
bie  ©träfe  gelegt,  babur^  finb  bie  ©ünber  gerecht  gemorbcn. 

SBciter  fügt  ^  o  t  ft  e  n  l|in ju :  biefe  Setire  oom  Äreuj  ß^rifti 
beroegt  fid)  in  ben  äu^ertid^^^gefet^lic^en  Kategorien  be§  jübifc^en 
93emu§tfein8.  SÄn  fie  fd^lie^t  fid^  bei  ^aulu§  eine  anbere,  et^ifc^ 
bebingte  ©ebanfenreil^c  an,  ba§  namlic^  burd^  ben  2;ob  S^rijti 
bie  ©ünbe  in  ber  aap^,  im  ^l^if^  ^18  ilirem  ©i^  Eingerichtet 
morben  ift  (SRöm.  8,  3).  Unb  xoai  fo  äu^erlid)  im  Stöbe  ß^rifli 
flef^efien  ift,  baö  mädjft  ben  ©laubigen  al§  innerer,  etliifc^er  @e* 


Ä  a  f  t  a  n :  3ur  5)O0niatif .  281 

roinn  ju,  fie  finb  mit  ®^rifto  geftotben  unb  oufcvftanben  (9töm. 
6, 1—11).  ®a§  ift  eine  innerlidie,  jugtei^  m^ftifdie  unb  etl^ifc^e 
JBetrad^tungSroeife.  Qn  i^r  ift  nic^t  bie  jübifc^e  SSorftellung  x)on  ®e* 
fe^  unb  @ere(^tigf'eit  ma^gebenb,  fonbern  ber  ^ellenifdie  ©egenfa^ 
oon  aapg  unb  7rv£ö|ia.  S)iefe  jroeite  Betrachtung  ift  für  ba§  Se« 
©u§tfein  be§  2lpoftete  ber  erften  jübifc^^Iieofratifc^en  93etrQrf)tung 
untergeorbnet.  S)er  3Wittetgebanfe  ift  etwa  ber  2  Äor.  5,  14:  ift 
einer  für  olle  geftorben,  fo  finb  fie  alle  geftorben.  gür  bie  mo* 
berne  ätuff äff ung  —  meint  ^  o  l  ft  e  n  —  [teilt  e§  fid^  umgef etirt. 
®anac^  ^anbelt  e§  ftd|  in  ber  erften  ©ebanfenreilie  um  eine  Ueber- 
roinbung  be§  jübif^en  83erou|tfeing,  um  eine  in  feinen  eignen 
Äatcgorien  ftd)  üoBiiel^enbe  Slblöfung  oon  i^m.  ®er  bleibenbe 
©e^alt  be8  ^aulini§mu§  liegt  jiebod)  in  ber  anbern  ®ebanfen= 
reitie,  ber  ^ellenifdien,  pl^ilofopl^ifrfi  bebingten,  bie  eine  2tneignung 
in  ben  Kategorien  ber  mobernen,  maleren  unb  ba§  l^ei^t  bei 
^olften  ber  ^egelfdjen  $f|iIofopI|ie  julä^t. 

©0  bie  Äonftruttion  be§  ^^aulini§mu§,  bie  ^olften  oorträgt. 
Unjroeifel^aft  entliält  jie  eine  bleibenbe  aQäa^rl^eit.  SGBoHen  mir  bie 
©ebanten  be§  2{pofteI§  oon  Stec^tfertigung  unb  SBerfötinung  im 
Äreujc  ®l)rifti  oerftel^n,  werben  mir  uon  biefer  Ummanblung  be§ 
^^{jarifäerS,  bem  ba§  ©efe^  atle§  mar,  in  ben  Stpoftel  unb  ^^re^^ 
biger  be§  ©laubenö  auSge^n  muffen,  ©ie  allein  bietet  l)ier  ben 
©c^lüffel  ju  einem  inneren  SBerftänbni§.  2lber  l^öfjer  nod)  ate  bie^, 
voa^  m.  6.  aud^  f  a (^ li d)  rid)tig  ift,  fd^Iage  ic^  ba§ Slnbere  an, 
ba|  ba§  aSerfal^ren  in  formaler  SBejie^ung  oorbilblic^  ift.  9hir 
auf  biefem  SBeg  werben  mir  ^aulu§  ocrftet^en  lernen.  3Bir  muffen 
auf  ba§  a^ten  unb  uon  bem  au§ge^n,  ma§  er  felber  a(§  bie  Offen* 
barung  be8  ©ol^ne§  @otte§  in  it)m,  al§  ben  Urfprung  be§  i^m 
nic^t  oon  SWenf^en  ober  burc^  aWcnfd)en,  fonbern  oon  ©ott  hnxä) 
3efu§  S^riftuS  gegebenen  ©oangelium§  angefel^n  unb  bejeid)net 
^at.  ajon  bem  nämlid),  ma§  er  oor  2)ama§fu§  erlebte.  9lur  fo 
fuc^en  mir  feine  ©ebanfen  ba  auf  unb  finben  fie  ba,  mo  fie  im 
3ufammen^ang  mit  feinem  perfßnti^en  Seben  entflanben  finb. 
aifo  bie§  SBerbienft  ^olften'g  mu^  in  jeber  SBeife  anerfannt 
werben.  ®a§  ^ebe  id)  fo  nad)brüd(id)  l^eroor,  weil  id)  nid)t  mi^* 
oerftanben  roiffen  möd)te,  ma§  id)  jur  Äritil  biefer  Äonftruttion 


282  ^  a  f  t  a  n :  ßut  ^ogmotif . 

iu  fagen  ^abe.  ^ä)  mu§  etit)a§  länger  babei  Dermeiteti.  3)aS  tDoUe 
bcr  Scfcr  fxi)  n\d)t  ocrbric^cn  laffen.  6S  l^anbclt  fi^  ni^t  blo^ 
um  ^elften,  e§  l^anbelt  fi^  barum,  ben  richtigen  @(^lüffet  jum 
iBerftänbniS  be$  ^aulinifd^en  @oangeItumS  au§finbig  ju  ma^en. 

®cr  erftc  (Siniüanb  ift  Qbcr  bcr,  ba^  ^olftcn  in  bcr  alten 
bogmatifc^cn,  intetlcftualtftif^cn  Sluffaffung  unb  SEBürbigung  bcr 
^aulinif^en  @cban!en  ftcdten  geblieben  ift.  begreiflich  ift  baS 
bei  einem  t)on  ^egcl  ausgegangenen  unb  bauernb  oon  beffen 
^t)ilofop]^ie  beeinflußten  gorf^er.  S)iefe  neue  gorm  be8  alten 
^[rrt^umS  ift  aber  um  nichts  beffer,  ate  wenn  bicSlltcn  meinten, 
bie  2)ogmatit  fei,  mie  für  fte,  fo  auc^  fär  ben  ätpoftel  bie  ^aupt« 
fac^e,  \a  ba§  ®anje  gemefen.  SRan  bebenfe:  ^auluS  jic^t  na^ 
S)ama§fuS,  um  bie  @:^riftcn  bort  n)ic  anbermärtS  gu  ncrfolgcn. 
2)a§  @efe^  ift  il^m  alle§  unb  ba§  ^reuj  ba§  große  9tergcmi§,  boS 
er  Dcrnic^ten,  ausrotten  miH.  ®a  mirb  er  non  ®ott  innerlich  er« 
griffen  unb  genöt^igt,  in  bem  ©cfreujigten  unb  Sluferftanbenen 
roa^r^aftig  ben  SWeffiaS,  ben  ß^rift  beS  ^errn,  ju  erfennen.  SBaS 
tl^ut  er  nun  barauf^in?  @r  ge^t  in  bie  SEBfifte  nad)  Slrabien 
brei  <3a^re  lang,  um  ftc^  ein  neueS  religionSpl^ilofopl^if^eg  ©9* 
ftem  au§5ubenfen.  Unb  nac^bem  er  bamit  glfidli^  fertig  gemorben 
ift,  tritt  er  al§  ein  bleuerer  in  bcr  Oemeinbc  auf,  fein  Softem  in 
bewußter  Oppofition  bem  il^rer  biSl)erigen  %ixf)xtx  entgegenfe^enb. 

^n  Sßa^v^eit  ift  ba§  eine  ganj  unt>ol(}ie^bare  SSorftcQung. 
(So  fpiegeln  fid)  bie  3)inge  im  Kopf  eineS  mobemen  9{cligion^« 
p^ilofop^en,  bcr  ftc^  felbft,  feine  ©ebanten  unb  ^ntcreffen,  in  jene 
3eit  l^ineintragt.  3n  ber  ©cf^ic^tc  get)t  cS  fo  nic^t  }u.  äRen« 
fc^en,  bie  unter  bem  ungeheuren  Sinbrudt  leben,  baß  bie  6nb* 
oollenbung  angebro^en  ift,  baß  bie  S^it  brängt,  :38rael  gu  be« 
fe^ren  unb  au8  ben  Reiben  ^injujut^un,  maS  fic^  erraffen  läßt, 
bis  ber  ^err  fommt,  fol(^e  SWenfc^cn  ^aben  feine  3«it  religionS* 
pl)ilofopl|ifc^e  @r)fteme  gu  bauen.  S)ie  @ad)e  lag  für  $aulu^  un» 
enblic^  oiel  einfacher,  ©rtannte  er  in  bem  ©etreujigten  unb  9luf« 
erftanbenen  ben  aWef fiaS,  fo  ließ  er  fid^  taufen,  trat  in  bie  c^rip» 
glaubige  ©emeinbe  unb  ^ub  an,  3»ßfum  aU  ben  aWefftaS  ju  ocr« 
tünbigen.  ©0  bejeugt  e§  bie  gefamte  Ueberlieferung,  unb  eS  giebt 
in  xi)x  gar  nirf)t8,  mag  eine  anbre  Sluffaffung  erlaubte. 


Ä  a  f  t  a  n :  3ui^  S)09matit  283 

35eibcm  Don  ^olftcn  befolgten  SBerftäubnig  eliminiert  man 
bie  ^Quptfac^e,  ba§^  xoaS  bie  felbfioerftänblic^e  ©runblage  unb 
SBorauöfe^ung  olle§  Uebrigen  bilbet.  ^aulu§  ift  ®t)rtft  gemor« 
ben,  ift  in  bie  ©emeinbc  eingetreten,  l^at  bie  in  i^r  oorlianbene 
Ucberlieferung  übernommen,  ift  in  allem  SBef entließen  ju* 
näc^ft  eben  ein  SSertreter  unb  ^rebiger  ber  bem  Ur^riftentum  ge* 
mcinfamen  @eban!en  geworben,  ©eroi^  l^at  fid)  bann  eine  ©igen* 
ort  feiner  ^rebigt  ^erau§geftellt.  Unb  gemi^  ift  eS  fc^lie^lidi  ju 
crnftcn  Äonfliften  jmifdien  il|m  unb  ben  Urapofteln  gefommen. 
Slber  ba§  ift  erft  ©ac^e  ber  ©ntmidflung  geroefen.  ©iebjel^n 
3a^re  na^  feiner  öcfe^rung  l|at  bie  erfte  SJer^anblung  barüber 
unter  it)nen  ftattgefunben,  na^bem  bie  „falf^en  Srüber"  ^aulu§ 
S^roicrigteiten  in  feinen  Oemeinben  bereitet  liatten.  ^a,  xoa^  ift 
bcnn  injmif c^en  gemef en  ?  5iun,  eben  bie  Qext,  in  ber  ^aulu§  bag 
Snangelium  oertünbigte  mie  bie  anbem  aud^,  in  feiner  333eifc, 
aber  fo,  ba^  ba§  nid^t  al§  2)ifferenj  empfunben  rourbe;  ^aben 
ftd)  bod)  auc^  bie  nun  eintretenben  ^wiftigfeiten  gar  nic^t  an  feine 
$rebigt,  fonbern  an  bie  oon  il|m  befolgte  ^raji§  angefd^loffen  — 
wie  baoon  weiterhin  be§  Jlä^eren  ju  reben  fein  roirb. 

©0  jeigt  bie  wirtliche  ®efd|i(^te  un§  ein  ganj  anbreS  93ilb 
ol^  bog  oon  ^olften  entworfene.  Qö^  fü^re  oorläufig  fd^on  ein 
paar  ®aten  an,  bie  ba§  ju  erliärten  bienen. 

®ie  2lnna^me  eine§  breij[äf)rigen  2lufentl^alt§  in  2lrabien  ift 
au§  ber  Suft  gegriffen.  ^aulu§  läjst  nic^t  unerroäl^nt,  ba^  er  na^ 
feiner  99efel|rung  oon  5Dama§IuS  au§,  ftatt  Qerufalem  auf jufuciien, 
nad)  ärabien  gegangen  fei.  ®r  fagt  bann  weiter,  fein  erfter  93e* 
fuc^  in  S^J^ufoI^n^  ^öbe  erft  brei  ^la^re  nac^  ber  93efe^rung  ftatt* 
gefunben.  2lber  ni(^t§  berechtigt  ju  ber  2lnnal|me,  er  ^abe  biefe 
brei3iat|re  in  ber  arabifdien  SBüfte  jugebrac^t,  mit  religion^p^i* 
lofop^ifc^em  ©rübeln  befd)äftigt. 

(ferner :  fein  SBertiältniS  su  ben  ©emeinben  in  Qubäa  mar 
bieg,  ba§  fie  i^n  perfönlic^  nidf|t  fannten,  aber  fie  mußten  oon 
i^m,  ba§  er,  ber  oormalige  SSerfolger,  ie^t  felber  ben  ©lauben 
oerfflnbige,  unb  priefen  (Sott  be^^alb.  2)iefe  eine  9totij  ®al.  1, 
23  unb  24,  wirft  bie  ganje  Konftruttion  ^olften§  über  ben 
§oufen.  ©ic  beleud^tet  ben  wirfli^en  Hergang  auf§  ^ellfte:  ^^au* 


284  ^  a  f  t  Q  n :  3ur  ^oßmatü. 

lu§  Dcrfünbigtc  bcn  gcmcinfornen  Olauben  an  bcn  9Weffia§.  3)ie 
9luancen  bcr  ^rcbigt  famen  bcm  gegenüfbcv  nid|t  in  ®etrac^t.  Sie 
waren  nid^t  ©egenftanb  ber  SKufmcrffamfeit.  3)a§  roaS  ^auluS 
mit  aUen  anbern  gemeinfam  ^atte,  \va^  i^m  unb  i^nen  ba§  SEBtd^ 
tigftc  roar,  füllte  bie  ©cbanten  au§,  fo  ba^  aüe§  2Cnberc  ba^intet 
jurürftrat. 

gerner :  ^aulu§  erinnert  einmal  bie  Korint^er  ganj  f urj  an 
feine  ^rebigt  in  i^rer  9Kitte.  3)a§  ift  bie  ?ßrebigt  oon  ®f|rifti 
Sreuj  unb  2luferftel|ung  gemefen.  2(ber  nic^t  bie  Icifefte  Slnbeu- 
tung  finben  mir,  bag  ^aulu§  ftc^  einer  anbern  ^rebigt  oom  Sreuj 
6:f)rifti  bemüht  mar  als  ber  gemein  urd^riftlidien.  ^m  ©egenteil, 
er  betont  ben  3uf(tntmenf)ang  mit  ber  gemein  d)riftUc^en  Ueber« 
lieferung:  id)  l^abe  eud)  gegeben,  voaS  x6)  a\x6)  empfangen  ^abe, 
ba§  ®f)riftu§  geftorben  fei  für  unfere  ©ünben  nad^  ber  ©c^rift 
1  Äor.  15,  3. 

Unb  enblid^,  maS  barin  f^on  liegt:  bie  urd^riftlic^e  ^ßrebigt 
ift  ni^t  erft  burc^  ^aulu§  ju  einer  ^rebigt  oon  S^rifli  Rreuj 
unb  Sluferfte^ung  gemorben.  S)a§  ift  fie  an  unb  für  fic^  fc^on 
geroef en :  für  un§  f el|r  auffallenb.  Un§  f c^eint,  bie  Ueberlicferung 
ber  ^errenmorte  mü^te  bie  $auptfarf)e  in  ber  ^rebigt  geroefen 
fein.  Unb  bie  mu^  ja  in  ber  Xi)at  nebenher  gegangen  fein,  fonji 
märe  fie  nid^t  auf  unS  getommen.  SÄber  foüiel  mir  irgenb  fe^en 
tonnen,  ift  baüon  in  ber  ^rebigt  immer  nur  ganj  fummarifc^  bie 
SHebe  gemefen.  3)ie  ^ointe  mar  immer  bie:  bie  Qiuben  ^abenibn 
an^  ^reu)  gefd)lagen,  ®ott  aber  I^at  i^n  aufermedt. 

^n  berSumma  alfo:  nid)t§  ift  oerfe^lter  als  biefe^olften» 
fc^e  J?onftruftion  non  einer  in  ber  arabifd)en  SBüfte  auSgefiedten 
neuen  Setjre,  bie  ^aulu§  nun  im  ©egenfa^  jur  Urgemeinbe  oer* 
treten  unb  jur  ©eltung  ju  bringen  perfuc^t  ^ätte.  Stein,  S^riii 
gemorben  f|at  ?Paulu§  fid)  burc^  bie  3lrt  feiner  S3e!et|rung,  burd)  bie 
il^m  gemorbene  ®rfd)einung  beS  2luferftanbenen  auc^  jum  Slpoftcl 
berufen  gemußt  unb  ^at  alSbalb  angefangen,  mit  ben  übrigen  Stvi%tn 
ben  getreujigten  unb  auferftanbenen  S^riftuS  ju  oerfünbigen,  aDen 
alles  merbenb,  fotange  bie  3cit  noc^  bauerte,  um  überaQ  etlic^ 
ju  geroinnen,  bie  mit  it|m  unb  bcr  ©emeinbe  märten  auf  bie  beoor* 
ftet)enbe  munberbare  (Srf^einung  uufereS  §errn  Q^fu  ©lirifti. 


Äaftan:  3ur  3)ogmatif.  285 

aber  no^  ein  jroeite§  83ebenfen  brängt  fid)  auf.  S)a§ 
^Qtte  i^  Dorl^in  qI§  bie  Sßal^vl^eit  unb  baS  $et)er3igen^n;)erte  an 
^olftcnö  @rfIärung§Derfud)  bejcid^uet  ba§  er  ba§  ©üangclium 
beS  ^IßauIuS  Don  bem  @r(e6ni§  Dor  3)ama§fuS  au§  ju  Derftel^en 
fuc^t.  3)arin,  meinte  id^,  müßten  wir  unS  i^m  anfc^Uegen.  @r« 
n)dgt  man  aber  bie  9Irt,  mie  biefer  ri^tige  ©runbfa^  Don  i^m 
befolgt  mirb,  fo  brängt  ftc^  einem  unmiUfürlic^  bie  S'rage  auf: 
ja  voaS  f^at  er  benn  bamaB  erlebt?  "Sflai)  ^olften  befte^t  ba§ 
@r(ebni§  barin,  ba^  i^m  l^ier  mit  unmiberftel^tic^er  Ueberjeugung^« 
froft  ber  ®  e  b  a  n  f  e  aufgebrängt  mirb :  ber  ©etreujigte  ift  tro^ 
aOebem  ber  ä)leffia§.  Unb  barauf^in  gel^t  er  bann  nad)  Slrabieu, 
um  feine  I)iermit  au§  ben  Slngeln  gel^obene  Oebanfenroelt  roteber 
in  Orbnung  ju  bringen.  3)a§  SEBefentfidie  ift  ber  @inf(u^,  ben 
biefer  neue  @  e  b  a  n !  e  auf  feine  biSl^er  oom  ®efe^  be^errfct)ten 
©ebanfen  ausübt.  3).  \).  aUe§  ift  üon  oom  herein  in  Jftefleyion 
getaud^t.  2)a§  unmittelbare  mirt(id)e  (Srieben  mirb  nur  in  feinem 
Cinfiul  auf  bie  9tefIeyion  unb  ba§  ©gftcm  in  öetrac^t  gejogen. 
©ein  (Srtrag  ift  bat)er  auc^  erft  fertig  unb  mirb  erft  mirtfam, 
na^bem  bie  baburd)  in  SBemegung  gefegten  ®ebanten  mieber  in 
einem  neuen  ©gftem  jur  SRu^e  gekommen  finb.  ^autuS  ift  eben 
S^eoretiter,  S)ogmatifer,  ^t)itofop^  oon  ^aö)  geroefen,  mie  mir 
e§  ^eute  in  unferen  ©tubierftuben  fmb. 

3lber  ba§  fc^eint  mir  nun.  mieber  eine  ganj  unmöglid^e  SBor* 
fteHung  }u  fein.  3^  fteKe  bem  entgegen,  ba{5  $aulu§  oor  3)a* 
maSfug  etma§  erlebt  ^at,  roa§  in  feinem  3wftönbetommen  unb 
feiner  SBirfung  non  ber  SRefleyion  unabhängig  mar.  ®ben,  e§ 
roat  ein  r  e li g i ö f  e §  ©rlebnig,  nid^t  ber  9lnfto§  ju  einer  neuen 
©ebantenbilbung,  fonbern  eine  SReooIutton  be§  inneren  Seben§. 
Unb  ma§  er  erlebte,  fteflt  fid)  un8  in  bem  bar,  roorin  ber  35or* 
gang,  menigftenS  nac^  bem  93emu§tfein  be§  2lpofteI§  felbft,  be* 
ftanb:  er  ^at  ben  ^errn  gefe^en,  ben  Sluferftanbenen,  ben  9Scr« 
Warten.  ®amit  ift  i^m  aber  biefe  S:^atfac^e  ber  2luf  erftel^ung 
3efu  jur  ©eroi^l^eit  geworben.  Unb  jmar  in  ber  93ebeutung,  bie 
fie  für  bie  gefamte  urc^riftlid)e  ©emeinbe  Iiatte.  9lämlid)  als  bie 
beginnenbe  SJerroirflic^ung  ber  ^eilöjutunft,  ber  ®nbju!unft.  Unb 
ba^  nun  nic^t  als  ein  ®ebanfe,  als  eine  blo^e  SReflejion:   alfo 


286  ^  a  f  t  a  n :  Qwc  i)ogmati!. 

ift  c8  fo  weit,  baä  @nbc  fommt,  wir  muffen  unfcre  ©cbanfcn 
unb  unfcre  Se^re  bem  anpaffen,  ©onbern  ba§  alk§  ate  ein  über« 
noättigenbeg  ®rlebni§,  ba§  mit  Se^ve  unb  Umbilbung  ber  Se^re 
in  feinem  ©inn  etroa^  ju  tl^un  ^at.  3)ie  Sluferiüedtung  3cfu  pon 
ben  Soten  ift  feine  Se^re,  fonbern  eine  2f)atfac^e.  @benfo  ift  eS 
eine  ^^atfac^e,  ba^  n)ir,  bie  mir  nun  an  i^n  glauben  unb  burc^ 
ben  ©lauben  mit  if)m  nerbunben  ftnb,  bem  atwv  jisXXwv  ange» 
l)oren,  x)on  ben  Äräften  ber  jufünftigen  SBelt  getragen,  burc^  ben 
VOM  -SefuS  auSgel^enben  ®otte§geift  regiert  werben. 

2)a^  ift  z^,  xoaS  $auIuS  bamatö  erlebt  l^at,  xoaS  oon  oben 
mit  jroingenber,  übermättigenber  ®emalt  über  i^n  gefommen  ift. 
aOäcr  bie  ^autinifd^en  S3riefe  fennt,  mei§,  aud^  ol^ne  ba^  id^S  im 
®iujelnen  au^fü^re  —  auf  ba§  ©injelne  mu|  ic^  fpäter  cingel^n  — 
oon  melc^er  S3ebeutung  biefe  eben  erroäf)nten  ©ebanfen  für  feine  ^re« 
bigt  ftnb.  9ii^t§  ift  gemiffer,  atö  ba^  eS  eben  bie§  ift,  roa§  er  oor  3)a» 
ma§fu§  erlebt  ^at,  unb  ma§  bleibenb  ber  äOtittelpunft  feiner  ^rebigt 
oon  ©^riftuS  gemefen  ift:  bie  SBerbinbung  mit  i^m,  bem  ©efreusig» 
ten  unb  2luferftanbcnen,  jur  ©in^eit  eineS  ®eifte§  unb  Sebcn§. 

S)arauS  ergiebt  ftc^  nun  junä^ft  eine  93eroolIftänbigung  beS 
oor^in  ©efagten.  3^  ermähnte  fd^on,  etmaS,  worin  ^auluä  mit 
ber  gefamten  ©emeinbe  einig  mar,  fei  für  i^n  fo  gut  roie  für  bie 
©emeinbe  ba§  eigentlich  SB  e  f  e  n  1 1  i  c^  e  gemefen,  ^abe  bie  felbjt* 
uerftänblici)e  ©runblage  unb  93orau§fe^ung  aUeS  ätnbern  gebi(bet. 
3fe^t  erhellt,  ma^  biefe§  „etroa§"  mar.  9li^t  eine  Se^rc  ober 
eine  (Summe  oon  fietiren  unb  ©ebanten,  fonbern  bie§,  ma§  "^au« 
Iu§  jc^t  erlebt  fiatte,  ma^  ^etrusi  unb  bie  übrigen  Slpoftel  oor 
it)m  erlebt  l^atten,  aud)  500  trüber  auf  einmal :  bie  ^eiföjufunft 
ift  jur  ©egenmart  gemorbcn,  mir  gefiören  bem  a?(üv  jx^XXcdv  an, 
nid^t  beuten  mir,  ba^  e§  fo  ift,  fonbern  ba8  ift  lebenbige  @egen* 
mart  in  un§  unb  um  un^. 

gerner  aber  erl)ellt  je^t  mieber  unb  je^t  erft  rec^t,  mie  ab» 
furb  e§  ift,  }u  meinen,  ein  SDleufd^  in  biefer  Sage  ^abe  nun  baS 
93ebürfnig  empfunben,  brei  Qa^re  lang  über  einer  neuen  Orbnung 
feiner  ©ebanfen  ju  brüten  unb  bann  ba$  glüdfli^  erbac^te  neue 
©gftem  im  ©egenfa^  ju  feinen  33rübern  geltenb  ju  machen,  mit 
benen  er  bie§  ®runberlebni§  gemein  fiatte,  mit  benen  er  in  einer 


Ä  a  f  t  a  n :  3ur  ® ogmatü.  287 

neuen  feiigen  ©egenroart  lebte.  D  nein,  5ßaulu§  f)at  —  ba|  id) 
fo  fagc  —  am  näc^ften  SWorgen  begonnen,  baS  ju  bejeugen  unb 
}u  pvebigcn,  n)a§  nun  ber  ^n\)alt  feinet  a3ett)u|tfctn8  unb  SebenS 
geworben  ift.  ®eroi§  ift  e§  bann  roeiter^in  ju  ben  ©ifferenjen 
unb  ©treüigfeiten  getommen,  bie  mix  fennen.  SBir  werben  gleid^ 
fe^en,  roorum  e^  fid^  babei  gel^anbelt  l|at.  Slber  !eine  SRebe  ba* 
mxi,  ba§  ba§  oon  oornl)erein  im  SBorbergrunb  beS  Serou^tfeinS 
gepanben  unb  barauf  beruf)t  l^ättc,  ba^  ^auIuS  fid^  ^etruS  unb 
ben  anbern  gegenüber  bi§  in§  ^fn^^^^ft^  l^inein  fremb  gefüIiU  ^ätte^ 
wie  §  0 1  ft  e  n  ft^  einmal  auSbrüdft.  ®§  ift  oielmel^r  fo  juge« 
gangen,  wie  e§  alle  pfgc^ologif^c  unb  gefc^idjtU^e  SlBal^rfd^ein* 
Iid(teit  für  fi^  ^at:  ^aulu§  ift  in  bie  SBertünbigung  eingetreten, 
bie  er  oorfanb,  ju  35ifferenjen  unb  DoßenbS  jum  Äonftift  ift  e§ 
erft  fpäter  getommen. 

Slber  menn  e8  an  bem  ift,  menn  bie§  ba§  @rlebni§  oor  S)a* 
ma§fu§  mar,  unb  menn  biefem  ®rlebni§  grunblegenbe  95ebeutung 
für  t>a^  93erftänbni§  ber  ^auUnifc^en  ^rebigt,  oor  allem  auc^ 
feiner  ?ßrebigt  oom  Äreuj  ®t)rifti  jutommt,  bann  ergiebt  fid|  au§ 
bem  ®orgeIegten  eine  Folgerung,  bie  für  un§  t|ier  oon  ber  größten 
Tragweite  ift.  Sie  lautet  fo:  e§  ift  überliaupt  falfd^,  im  93er= 
ftänbnig  ber  ^aulinifc^en  ^rebigt  oon  ben  ©ebanten  auöjugetien, 
bie  fic^  um  SRed^tfertigung  unb  93erföl^nung,  um  ®efe^  unb  grei* 
^eit  oom  @cfc^  gruppieren.  9tatürlidl)  ni(^t,  al§  foKte  bie  93e* 
beutung  biefer  Oebanfen  in  ber  ^autinifc^en  ^rebigt  überhaupt 
uemcint  ober  au^  nur  gering  angefdjlagen  werben,  ©ie  finb 
unb  bleiben  ein  gro^e§  ^auptftüdf  feiner  ^rebigt.  2lber  fte  finb 
nic^t  ba§  ®rfte  unb  (Srunblegenbe.  SBir  bürfen  bie§  nici^t  jum 
2lu8gang§punft  be§  SBerftänbniffe§  nehmen.  3)enn  barin  behält 
^  0  l  ft  e  n  gie^t :  ba§  ift  ©ad)e  be§  ©^luff e§.  SuS  bem,  maS 
^aulu^  unmittelbar  erlebt  \)at,  fc^lie^t  er,  ba§  er  burd^  ben  ©lau* 
ben  oline  @efe^  gered^tfertigt  ift  oor  @ott.  Unb  mie  er  ba§  mit 
bem  Sobe  ®^rifti  oerfnüpft,  ift  ©ac^e  ber  ®nofi§.  Qä)  glaube 
ni^t  an  bie  2lrt,  mie  §  o  l  ft  e  n  biefe  ©nofiS  juftanbe  getommen 
bentt.  2lber  ba§  ift  etma§  9lnbere3.  ®§  mirb  fpäter  nä^er  ba« 
oon  JU  reben  fein,  gür  je^t  tommt  nur  in  53etradt)t,  ba§  ba§ 
etmaS  irgcnbmie  @rfc^loffene§  ift,   ni(^t  2:^atfacl)e  be§  unmittel* 


288  ^  a  f  t  a  n :  3ur  i)O0mati(. 

baren  @r(e6enS  tPte  jenes  Slnbere,  ba^  mx  nun  burc^  bie  Snqit^ 
l^örtgteit  ju  S^riftuS  au§  biefer  Sßelt  ^erauSgel^oben  fmb  unb 
ber  jufünftigcn  SBelt  be§  @eifte§  unb  ber  Soga  angel^ören.  aber 
bieS  unmittelbar  ©riebte  ift  bod)  ba§  ®rfte.  3)aS  muffen  wir 
bal^er  aud^  jum  SluSgangSpuntt  beS  93erftdnbniffe§  nehmen. 

3fnbem  x6)  fo  urteile,  trete  id)  in  einen  ouSgefprodienen  @e* 
genfa^  jur  gefamten  93  a  u  r'fd^en  Äonftruftion  beS  Urc^riftentumS. 
Unb  ic^  tann  bie  eben  aufgefteUte  £^e[e  nur  baburd^  er^arten^ 
ba§  ic^  biefen  @egenfa^  etmaS  näl^er  ausführe  unb  begrünbe.  3)aS 
ift  überiiaupt  notmenbig,  menn  baS  bisher  2)argelegte  in  feiner 
guten  gefd|id|ttic^en  93egrünbung  beutlic^  gemacht  merben  foCL 
älber  ba§  ift  nid^t  ba§  ©injige.  2)ie  2:^efe  tritt  auc^  in  ®egen« 
fa^  ju  ber  überlieferten  2)eutung  ber  ^aulinifc^en  $rebigt  Dom 
^reui  6)^rifti.  ^enn  auc^  biefe  l^ält  für  bie  ^auptfac^e,  roa^ 
von  ®efe^  unb  ©crccbtigfeit  vox  ®ott  unb  fteÖDertretenbem  Straf« 
leiben  gefagt  ift.  begreiflicher  SBeife !  3)ie  Ueberlieferung  in  un* 
ferer  Äir^e  ift  ^ier  burd)  bie  Sieformation  beftimmt.  SJon  ber 
SHedjtfertigung  au8  ba§  9SerftänbniS  gu  fud^en  ift  babur^  inbijiert. 

^d^  n)iU  nun  meine  S^efe  in  biefem  boppelten  @egenfa$ 
etma§  nö()er  begrünben.  ^a^  foll  ben  älbfc^lug  biefeS  erften  tri« 
tif^cn  2lbfrf)nitt§  bilben.  Q6)  noerbe  jetjt  nic^t  erft  noc^  ju  fagen 
i>xa\x6)ti\,  bag  e§  ftd)  babei  ni(^t  um  eine  blo|e  fritifc^e  (Sinlei« 
tung  jur  ©ad^e,  fonbern  um  bie  ©ac^e  felbft,  um  unfer  eigent* 
lic^eS  ^^ema  l^anbelt. 

®egen  bie  ^S  a  u  r^c^e  ^onftruf tion  be§  Urc^riftentumS  ge^t 
eS  junäd^ft.  93on  i^r  ift  $  o  l  ft  e  n  ausgegangen,  unb  in  fte 
gliebert  fid)  bie  Deutung  ein,  bie  er  bem  (Soangelium  beS  ^u« 
lu§  giebt.  9luc^  ba  mu^  aber  ber  ^ritil  bie  Slnertennung  oor« 
auSge)d|irft  werben.  33  a  u  r  ift  ber  @rfte  gemefen,  ber  baS  Ur* 
d)riftentum  gcfd|ic^tlid^  ju  ocrftel^en,  als  lebenbige  ©emegung  unb 
(£ntn)idE(ung  Derftänblic^  ju  ma^en  gefuc^t  ^at.  2)aS  bleibt  fein 
aSerbienft,  mcnn  aud^  feine  Äonftru!tion  felbft  pd>  nic^t  bemd^rt. 
SSie  biefe  im  Singelnen  gelautet  ^at,  braud)e  id^  ^ier  übrigens 
nidt)t  oorjufütiren,  fonbern  barf  eS  als  betannt  DorauSfefeen.  gur 
uns  !ommt  auc^  nur  it|r  ©ruubgebante  in  93etrad^t,  ba|  ber  @e* 
genfa^  jroifc^en  Q;ubend[)riftcntum  unb  ^eiben^riftentum  ben  2luS« 


^  a  f  t  a  n :  Quv  ^ogmatü.  289 

gongSpuntt  ber  (SnttDirflung  bilbete,  bie  in  bem  adma^Iid^en  9lu§« 
glcid^  beiber  SRic^tungen  beftanb  unb  ba§  ©l^riftcntum  ber  altfa* 
t^oHfc^cn  Rir^c  jum  SRcfuItat  l^attc.  9lbcr,  wie  gcfagt,  bic  ©a^e 
ift  betannt  genug,  ^d)  tann^  o^ne  länger  babei  ju  Derroetlen,  gut 
Sritif  äbergetien. 

SRid^tig  erfc^cint  mir  an  93aur8  S^eorie,  ba|  er  im  9Ser« 
ftänbnt§  be§  ®^riftentum§  Dom  ^ubentum  au§gct|t.  3)enn  auf 
bem  ©oben  be§  ;3ubentum§  f)at  fid)  bie  neue  ^Religion  gebilbet, 
i^re  erfte  ©ntmicllunggp^afe  ift  oon  ben  tjierburd^  beftimmten 
Seiten  bel^crrfc^t.  SKber  irrig  ift  e§,  wenn  83  a  u  r  gefolgert  l^at, 
mithin  fei  bie  ftontrooerfe  über  ba§  @efe^  ber  beroegenbe  9RitteI» 
pun!t  beg  Urc^riftcntum§  unb  feiner  ©efc^id^te  geroefen.  9iein, 
bQ§  ^wbentum  gur  3^*t  S^rifti  t|at  —  um  mi^  eine§  neuerbingS 
oielfac^  gebrausten  9Iu5brudE§  ju  bebienen  —  ba§  ^»ubentum  I|at 
bamal§  jroei  ^ole  geljabt:  ben  3tomi§mu§  unb  ben  aWefftani^mug. 
®er  Irrtum  93  a  u  r  §  mar,  ba§  er  im  SBerftänbniS  be§  ®^riften=» 
tum§  Dom  9lomi§mu§  be§  bamaligen  ^ubentum^  auSgel^en  ju 
foßcn  glaubte.  SSielme^r  aber  liegt  e§  in  ber  ©ad)e  felbft,  ba§ 
ba§  S^riftentum  im  aJleffiani§mu§  feinen  jübifi^en  3lnfa^*  unb 
äu^ganggpunft  ^at.  3)enn  ba§  ber  3Jleffiag  in  b  e  m  Q^M  ^^^ 
Slajaret^  erfc^ienen  ift,  ben  fie  an§  ßreuj  gefd)Iagen  ^aben,  ben 
©Ott  aber  auferroedft  l^at  oon  ben  Soten,  —  ba§  ift  ber  neue 
©faube,  um  ben  fid^  bie  diriftli^e  Oemeinbe  fammelt.  Unb  ba§ 
ift  roicber  fo  fetir  bie  ^auptfac^e,  ba§  aKe§,  aud^  ba§  SBic^tigfte 
fonft,  ba^inter  jurücf  unb  in  bie  jmeite  ßinie  tritt. 

9Wan  roirb  entgegentialten:  la,  aber  jeigcn  ni(^t  bie  93riefe 
be§  2lpofteI§  felber,  ba|  feine  gefe^freie  ^rebigt  in  ber  ©emeinbe 
t)eftigc  ® egner  f anb  ?  ba§  e§  fein  fieben^f ampf  gemef en  ift,  bief e 
©egner  nieberjutämpfen  unb  ba§  ©firiftentum  bamit  befinitio  au§ 
bem  ^^ubentum  loSjulöfen?  ^d)  it)ürbe  fagen:  gen)i§,  unb  ba§ 
foll  in  feiner  SBeife  geleugnet  werben.  ®§  ift  aber  ein  großer 
Unterfd(ieb,  ob  man  angunetimen  ^at,  baj5  biefe  Sontrooerfe  ba§ 
E^riftentum  felber  roar,  b.  i).  ob  fie  fid)  um  ba§  bemegte,  mag 
für  beibe  Steile  fo  ober  fo  ba§  ©firiftentum  au§mad^te  —  ober 
ob  man  meife,  ba§  e§  tro^  biefer  Äontrooerfe  etroa§  au§erf|atb 
itirer  ©te^enbeS  gab,  mag  atten  gemeinfam  mar  unb  fie  in  einer 

3eitWrtft  für  X^eologtc  unb  Ätrd^e.  1*.  ^a^rg.,  4.  $cft.  20 


290  i!  a  f  t  a  n:  Qnx  ^ogmattf. 

©cmcinbc  jufammcn^iclt.  9luv  fo  entfprii^t  eS  aber  bcn  3J|at« 
fad^en.  Unb  bie§  ©emeinfame  toar  nid)t  bie  trodene  2:^efe, 
ba§  <3cfu§  bcr  aWefpaä  fei.  SBielmel^r,  c§  war  ber  ©taube  an 
ben  aufer ftanbenen  @^t)riftuS,  bie  ©emig^eit,  in  ber  man 
lebte,  ba^  ber  atcov  (idXXwv  angebrochen  fei,  roie  ja  an  ben  roun« 
berbaren  Oeifte^roirtungcn  in  ben  ©cmeinben  mit  Slugen  ju  felien 
mar. 

3a  mel^r  no^,  ba§  bie§  bie  eigentliche  ©ubftanj  be§  urc^rift* 
li^en  @(auben^  mar,  mad^t  e§  aQererft  üerftänblid^,  bag  fo(^ 
Seute  roie  bie  jubaiftif^en  ©egner  be§  2lpoftel§,  bie  falfc^en 
©rüber,  mie  er  fie  nennt,  ©lieber  ber  ^rifttid^en  ©emeinbe  maren. 
S)enn  ma^  ^atte  fte,  bie  Dormaligen  ^^arifäer,  in  bie  ©emeinbe 
be§  oon  i^ren  ©efmnungSgenoffen  an§  ^reu)  gebrad^ten  Snefjta^ 
geführt?  ?lun,  bie  5ßrcbigt  oon  ber  Stuferfte^ung,  bag  3efu§ 
S^riftu§  oon  ben  Soten  erftanben  fei,  ba§  ©nbe  unb  bie  tÄufer* 
fte^ung  ber  ©erec^ten  oor  ber  2)^ür  fte^e.  3)enn  bei  ber  2lufer* 
fte^ung  ^anbelte  ed  fid^  um  baS  ©runbbogma  ber  p^arifäifc^en 
Partei,  um  bie  3ufunft§^offnung,  in  ber  fie  lebte,  ben  ängel* 
punft  i^re§  religiöfen  ©laubeng.  $autu§  felbft  l^at  nac^  act.  23,  6 
oor  bem  ^ol^en  9lat  bie  f^rage  oon  ber  Sluferfte^ung  für  bie  ^aupt« 
fad)e  im  6)^riftentum  alg  einer  innerj[übifd|en  ©emegung  erflört. 
3)aS  ift  nac^  bem  93eri^t  bort  $oliti!  oon  feiner  ©eite.  aber 
biefe  $oIiti{  l^at  aur  SSoraudfe^ung,  bajs  eS  fo  a(§  bie  ^anpU 
fac^e  am  ©^riftentum  empfunben  mürbe.  Unb  fo  crHärt  eö  fic^, 
mie  eine  au§  oormaligen  ^^arifdern  gebilbete  ^^artei  in  ber  Ur» 
gemeinbe  oor^anben  fein  fonnte,  meiere  bireft  in  ben  ^ampf  gegen 
^autuS  eintrat.  Sllfo,  bie  93ebingungen,  unter  benen  bie  fiontro* 
ocrfe  über  t>aS  ©efe^  entftanb,  fmb  nur  barauS  oerftänblic^,  ba§ 
ba§,  morum  fid^  biefe  ^ontrooerfe  breite,  nic^t  bie  ^auptfad^e  im 
Ur^riftcntum  mar, 

SBic^tiger  no^  ift,  ba§  mir  biefe  Äontrooerfe  felbft,  morum 
e§  fi(^  nämlid^  in  i^r  l^anbelte,  nur  richtig  oerfte^en  merben, 
menn  mir  erfennen,  ba§  fte  bei  aller  S3ebeutung,  bie  i^r  im  Seben 
ber  ©emeinbe  ju!am,  bo^  einen  i^r  gegenüber  neutralen  ©tau* 
ben  jur  93orau§fe^ung  tiatte,  ber  ba§  eigentliche  SBefen  be«  Ur^ 
^riftentumS   au^mac^te.    ^er  Streit  al§  folc^er  l^at   nic^t,  roie 


Ä  a  f  t  a  n :  3ur  ^ogmati!.  291 

c§  im  anbcrn  ^ali  ju  fielen  fommt,  ^ßrinjip:'  unb  fie^rfragen  ge» 
gölten,  fonbem  großen  unb  brennenbcn  fragen  ber  SWiffionäprayiä 
unb  be§  praüifc^cn  ®cmeinbclcben§.  5Wd^er  f)at  e§  bamit  bie 
fofgcnbc  SBcroanbtniö. 

®§  ^anbcltc  fic^  8unäd)ft  um  bie  ^cibenfragc,  barunt,  unter 
n^elc^en  93ebingungen  unb  in  n)eld)er  äBeife  bie  Reiben  in  bie 
^riftlic^e  ©emeinbe  aufgenommen  merben  follten.  darüber  t|at 
in  ber  Urgemeinbe  anfangs  feine  Älarl^eit  beftanben.  SBa^rfd^ein* 
lic^  l^at  man  angenommen,  bie  Qnt  bis  sum  anbern  kommen  be§ 
^erm  reiche  nur  gerabe  ^in,  um  bie  ^rebigt  burc^  ganj  ^t^rael 
}u  tragen  unb  baS  auSermä^lte  3$oIt  in  ber  c^riftgläubigen  ®e« 
meinbe  ju  fammeln  (üWatt^.  10,  23),  bann  tomme  ber  ^err,  unb 
mürben  aud)  bie  93ö(ter  ^injuget^an  merben.  ^auIuS  bagegen 
^at,  in  ber  3)iaSpora  mirlenb,  Reiben  a(S  ooQe  ©lieber  in  bie 
@emeinbe  aufgenommen,  ot)ne  i^nen  ®efe^  unb  ^efc^neibung  auf> 
julegen.  2)em  miberfe^te  ftc^  bie  jubaiftifc^e  Partei,  bie  au§  oor* 
maligen  ^^arifäern  beftanb,  bie  bem  ^autuS  feinblid)e  Partei 
ber  Urgemeinbe.  ®ie  wollte  auc^  bie  Reiben  befrf)neiben  unb  jur 
gefe^lic^en  fiebenSmeife  verpflichten,  maS  bat)in  geführt  ^ätte,  baS 
€^riftentum  befinitio  in  ben  gormen  be§  ^ubentumS  feftjul)atten. 
3!)aS  mar  ber  eine  erfte  ©treitpunft,  ber  roefentli^fte  infofern, 
als  e§  fid)  in  i^m  mirflid)  um  eine  ^rinjipfrage,  um  Sein  ober 
9li(^tfein  beS  ®t)riftentum§  l^anbette. 

hieran  fcl)lo^  fic^  ein  3n>«ite8  an.  S)ie  pon  ^autuS  gegrfin* 
beten  ©emeinben  waren  jener  feiner  SMiffionSprajiS  gemä^  inSge« 
famt  gemifc^te  ©emeinben.  Unb  barauSentftanbnunbie^rage:  mie 
follten  ftd)  bie  uormaligen  ^nhzn  in  biefen  ©emeinben  jum  ©e* 
fe^  oerl^atten?  follten  fie  nad|  bem  ©efe§  leben,  mie  eS  bie  Ur* 
gemeinbe  in  ^^erufalem  unb  überhaupt  bie  Qubenc^riften  in  ?ßa* 
läftina  traten?  SEBenn  ja,  bann  fielen  bie  ^aulinifrfien  ©emeinben 
auScinanber.  3)enn  bann  burften  bie  ®^riften  auS  ber  93ef(^nei« 
bung  ni^t  mit  ben  ©Triften  in  ber  Sßor^aut  effen.  Ratten  fte 
aber  !eine  2:ifd)gemeinfc^aft  miteinanber,  fonnten  fie  auc^  baS 
^errenma^l  nic^t  jufammen  feiern.  ®amit  ^örten  fie  jcbo^  auf, 
eine  religiöfe  ©inl^eit  ju  fein,  unb  baS  fiebenSmerf  be§  SäpoftelS 
?ßaulu§  mar  in  grage  gefteHt.    Ob  aber  fo  ober  fo,  ba§  mar  ber 

20* 


292  ft  a  f  t  a  n :  3ur  ^oßmatif . 

jiüeitc  ©trcitpunft.  Unb  barübcr  ift  e§  ju  3)iffercn§cn  unb  tu 
gcntlidiem  ©treit  a\x6)  jnjifd^cn  ?ßaulu§  unb  ben  3n)oIfcn  gc* 
tommcn. 

Qn  bcr  gragc  bcr  ^cibcnmiffion  Ratten  biefe  für  ^aulu§ 
unb  gegen  feine  ©egncr  ©tetlung  genommen.    2lnfang§  fc^ienen 
fie  aud^   mit  ^autu§  in  ben  gemifd^ten  Oemeinben   bic  weitere 
Äonfequenj  ber  9Ibrogierung  be§  ®efe^e§  für  bie  uormaügcn  3u« 
ben  jielien  ju  motten.    SB3enigften§  \)at  ^etru§,  qI§  er  noc^  2ln* 
tio(ftien  tarn,  fid^  junäd^ft  unbefangen  an  bie  Orbnung   bort  an* 
gefc^Ioffen,  ^at  mie  bie  übrigen  Qfubenc^riften  mit  ben  Reiben« 
c^riften  gegeffen.    Um  e§  ju  oerfte^en,  mu^  man  [xif  ffar  ma^en, 
ba§  bie  5^'agc  in  Qf^rufalem  überliaupt  ni^t  eyiftierte,   nur  in 
ben  gemifc^ten  ©emeinben  auftauci^te  unb  brennenb  mürbe,  ^rin» 
jipiette  93ebenten  ^at  ^etru§  ni^t  gehabt,  eine  ^rayig  au^jubilben 
mar  bi§l|er  feine  ©clegen^eit  gemefen  —  atfo  tl^ut  er  in  2lntio* 
^ien  mie  bie  anbern  aud^.    Stber  bann  fommen  bie  Seutc  oon 
3atobu§  unb  fc^ärfen  if)m  ba§  ©emiffen:  S)u  bift  bcr  Sttpoftel 
ber  93cfd^neibung,  giebft  bu  ba§  Seben  nact)  bem  ©efe^  auf^  bann 
jerfc^neibeft  bu  ba§  93anb  jmifd^en  bir  unb  bcinem  Söoltc  unb 
mac^ft  bid^  unfähig,  unter  3»§rael  ju  mirten,  mirft  i^m  ju  einem 
Äe^er  unb  Reiben.    Unb  ba§  ^at  gemirtt.    SCBic  für  ben  ^ciben^^ 
apoftel  $aulu§  fein  SebenSmert  in  ben  gemifc^ten  ©emcinben  an 
biefer  ^rage  ^ing,   fo  für  ben  3«wbenapofteI  fein  2lmt  unb  feine 
SBirtfamteit  in  -3§racl.    @o  I|at  e§  eine  3^it  i"  ber  Urgemcinbe 
gegeben,  mo  atteS  auf  bem  ©piel  ju  fielen  fd|ien,  ?ßaulu§  unb 
^^etru§  jeber  mit  feinem  Sln^ang  in  bie  entgegengefe^tc  Slic^tung 
getrieben  mürben. 

3)a§  maren  bie  Rontrooer§punfte :  bie  ©runbfS^e  ber  Reiben« 
miffton  unb  namentlich  ba§  ©ermatten  ber  ^f^benc^riften  §um 
Seben  nact)  bem  ©efefe.  Sie  ©teUungna^mc  be§  3lpoftel§  ?ßaulu§ 
in  beiben  fünften  berut|te  auf  prinjipietter  Starl|cit  über  baS 
©efe^  unb  feine  oorübergebenbe  Sebeutung.  gür  i^n  ^ing  ^ier« 
mit  \>a§  ^rinjip  be§  ©tauben»,  mie  er  e§  oerfünbigte,  jufammen. 
Unmittfürlic^  fte^t  er  atte  Oppofition,  mit  ber  er  ju  fampfen  bot, 
im  2x6)t  einer  entgegengefe^ten  prinjipieflen  ©teffungnalime.  Sber 
bie    eigentlichen    ^ontroocr^punfte    maren    bie    praftifc^en 


Ä  a  f  t  a  n :  3ur  S)o0tnatif.  293 

fragen,  an  bcncn  momentan  für  bcibe  Steile  atle§  ju  Rängen  fd|ien. 

®anj  anbcr§  fteHt  fi^  bie  @ac^e  nac^  bev  Konftruftion  üon 
Säur  unb  §  o  I  ft  e  n.  SBir  roiffen  ^eute,  ba§  bic  mirlUdhen 
Sontroocrgpunftc  nur  porübcrgctjcnbc  33ebcutung  gcliabt  l^abcn. 
2)er  weitere  SBerlauf  ift  ja  ber  geroefen,  ba§  bie  Sirene  fic^  au§ 
ben  ^eibenc^riften  bilbete,  unb  e§  balb  jiemlid^  gleii^gültig  mürbe, 
roie  bie  Qubenrfirtften  fi^  babei  perl^ielten.  3)a  erfd^eint  e§  un« 
benfbar,  ba§  eine  foId)e  untergeorbnete  S^age  eine  fo  tiefge^enbe 
©treitigfeit  ^erüorrufen  fonnte,  unb  gar  eine  ©pattung  ber  ba* 
maligen  S^riften^eit  barau§  ju  merben  bro^te.  Unb  ba  nun  bie 
praftifdien  fragen  in  ber  2:^at  auf  ^^rinjipfragen  t|inau§Iiefen 
ober  üielme^r,  mie  e§  Dorfic^tiger  ^ei|en  muj5,  für  ^aulu§ 
in  biefem  ^^f^n^wien^ang  ftanben,  fo  fd^eint  fic^ 
eine  anbere  2luffaffung  oon  felber  barjubieten.  2Jlan  bre^t  bie 
©ac^e  einfad)  um.  3Ba§  fontrooerS  mar,  ftnb  biefe  ^rinjipfragen 
geroefen.  ^aulu§  l^at  fid^  na^  feiner  53efe^rung  in  bie  orabifc^e 
SBfifte  jurüdgejogen  unb  !^at  bort  ba§  neue  religion§*p^iIofopt)ifd^e 
Softem  erbac^t.  SBaS  it)m  gegenüberftc^t,  ift  aud^  ein  berartigeS 
©gflem,  ba^  fic^  um  biefelben  2Ingelpuntte  bemegt,  in  beneu 
für  i^n  bie  entfdjeibenben  fragen  liegen,  nur  ba§  eben  biefe 
%xaQm  etroa§  anber§  unb  jum  Jeil  entgcgengefe^t  beantwortet 
werben.  Qa,  ^olften  unternimmt  e§,  au§  ®a(.  2,  16  l^erauS* 
jutonftruieren,  mag  bie  oon  ^^etru§  eingenommene  ©teßung  mar, 
wie  er  oon  ber  Sle^tfertigung  lehrte.  Unb  fo  ift  bie  ©ac^e  in 
ber  9Beife  jurec^tgerüctt,  ba§  fte  aud)  einem  mobernen  JReligiouö* 
p^ilof op^en  ber  aWü^e  mert  ju  fein  fd^eint.  (S^  ift  eine  £  e  I)  r* 
ft  r  e  i  t  i  g  t  e  i  t  gemefen,  mie  mir  ja  au§  ber  fpäteren  ©ef^idtjte 
ber  Üirc^e  miffen,  ba§  folc^e  ©treitigfeiten  in  i^r  mit  großer  (Sr- 
bitterung  ouf  beiben  ©eiten  geführt  morben  finb  unb  bie  ^irdje 
im  ^nnerften  erfc^üttert  l)aben.  ^n  weiterer  golge  mirb  ber 
ganje  ^aululf,  bie  gefamte  $aulinifd)e  ^rebigt  au§  biefem  ©e^ 
fic^tgpunft  gebeutet  unb  in^befonbere  au^  barau§  abgeleitet,  mie 
5|5au(u§  ben  2:ob  be§  §eilanb§  oerftanben  l^at.  S)ie  5)eutung  au^ 
bem  ©efetj  ift  i^m  bie  ^auptfac^e  geroefen.  ®enn  bie  bitbet  ben 
entjc^eibenben  ^unft  in  feinem  bem  ^etru§  entgegengefe^ten  ©gftem. 

2tber   ba§   aüeö   ift   nid)t   roirtlic^e  ®ef(^ic^te,  fonbern  eine 


294  Ä  a  f  t  o  n :  3ut  ^ogmat«. 

unter  moberncn  SBorauSfe^ungcn  an  bcftimmtc  2InI|alt8punttc  an* 
gefnüpftc  ftonftruttion.  ^n  aBa^r^eit  ift  ^ßauIuS  in  bcr  ^aupt* 
fac^c  mit  bcr  gefamtcn  urd^riftlic^cn  Ocmeinbe  einig  gcwefen. 
3)iefe  ^auptfad^e  ift,  ba§  mit  ber  Slufermerfung  Qefu  Don  ben 
Xoten  bie  jufünftige  9Be(t  i^ren  Slnfang  genommen  ^at,  unb  »ir 
it|r  burc^  ben  ®Iauben  bereits  angehören.  3)ie  Äontrooerfc,  bie 
bann  ba«  ®efe^  betreffenb  entfte^t,  ift  eine  abgeftufte  gemefen, 
rote  eben  gejeigt  rourbe.  ®ie  Stellung,  bie  ber  2lpofteI  ^auIuS 
barin  eingenommen  I|at,  l^ängt  mit  anbem  Orunbgebanfcn  feiner 
93erfünbigung  jufammen.  Unb  aud^  in  biefem  3uf<^i^ii^^n^^i^g 
ergiebt  fid|  i^m  eine  ©eutung  beS  SobeS  ®^rifti.  2lber  nic^t  barf 
ber  ganje  $au(ug  unb  ma§  er  Dom  2^ob  g^brifti  ju  fagen  n>ei^, 
primär  unb  e  i  n  f  e  i  t  i  g  ^ierauS  unb  b.  f).  au§  bem  ®efe§ 
perftanben  werben. 

®§  erübrigt  nod^,  in  aller  Äürje  menigftenS  einen  95tidE  auf 
bie  Urfunben  ju  merfen,  au8  benen  wir  bei  ber  SSergegenmartigung 
biefer  SBer^ältniffe  fc^öpfen.  @§  pnb  baS  namentli^  ber  ©alater» 
brief  unb  bcr  9tömerbrief. 

SSor  aQem  ber  ©alaterbrief  fommt  in  öetrad^t.  ©igentfim* 
lic^  genug  ift  e§  freiließ,  ba^  fic^  auf  biefem  Sricf  bie  öaur'* 
fcl)e  Äonftruftion  ^at  aufbauen  fönnen.  ©igentümlic^  nämlid^ 
beS^alb,  n)cil  genau  ermogen  aud^  fein  SBort  in  biefem  ©rief 
auf  eine  fold^e  ^ontrooerfe  jmif^en  ^auluö  unb  ben  3^ölfen 
fü^rt,  mie  fie  oon  S5aur  unb  feinen  ©c^ütern  behauptet  wirb. 
2lt§  ©treitpuntte  treten  un§  lebiglic^  bie  prattifc^en  S^ageu  ent* 
gegen,  bie  bie  ^eibcnmiffion  unb  ba§  Seben  nac^  bem  ®efe^  be* 
treffen.  S)ie  gegen  ^ctruS  gerichteten  SBortc  (2,  14 — 21)  roerben 
unoerftdnblic^,  menn  man  nid^t  bie  tontrete  ©ituation  in  3lutio» 
d)ien  unb  b.  \).  ben  ©treit  über  bie  gefe^ti^e  Sebensroeife  im 
Sluge  betjält  (mag  freilid^  bie  meiften  SluStcger  nic^t  ^inbert,  biefen 
einjigen  ©c^Iüffel  jum  93erftänbni§  roegjumerfen  unb  ben  Slbfdinitt 
unoerftänblic^  ju  mad^en).  hierauf  roibertegt  ^^jJauIuS  feine  ei* 
gentlic^en  ©egner,  bie  SSerfü^rer  ber  galatifd^en  ®emeinbeu,  au§ 
ber  ©d^rift.  ®nb(ic^  folgen  bie  prattifcben  SÄnroenbungen  unb 
aJlalinungen,  roic  bie  Situation  in  ben  ®emeinben  fie  forberte. 
^6)  mieberliolc:   nii^t  ein  SBort  fü^rt  auf  eine  fold)e  2)ifferenj 


^  a  f  t  a  n :  3ur  ^ogmatit  296 

jiDif^cn  ?ßaulu§  unb  bcn  Uropofteln,  wie  bie  2:ftbingcr  ©d^ule 
fte  annahm. 

Unb  bod)  ^at  man  bei  bcr  £c!türe  be§  ©olatcrbrief^  immer 
roiebcr  einen  ®inbrurf,  ber  jener  Sttuffaffung  geneigt  mac^t.  5lBoran 
liegt  ba§?  3)ie  @r!(ärung  fc^eint  mir  t)er^ltniSmägig  einfach  gu 
fein.  ^auluS  ^at  ben  (Salaterbricf  in  ber  l^öd^ften  Erregung  ge* 
fc^rieben.  3)er  93rief  fällt  in  bie  Qtxt,  in  ber  bie  oorl^in  gefd^il* 
berte  Sontrooerfe  auf  i^rem  §ö^epun!t  mar.  ®ie  ^^Jaulinifd^en 
©emeinben  bro^ten  ju  jerfattcn  ober  gar  inSgefamt,  au^  bie 
^eibend^riften,  oon  il|m  abjufallen  unb  fid^  bem  Qoä)  beS  ®e* 
fc^e§  JU  beugen,  ©eine  nädiften  ©egner  finb  bie  falfc^en  SSrüber, 
bie  p^arifäifrfien  ^fubend^riftcn,  bie  i^n  unb  bie  g^ei^eit  feiner 
©cmeinben.  belauern  unb  befämpfen.  Slber  bie  berufen  fid^  in 
ben  ©emeinben  auf  bie  Urapoftel  unb  fpielen  bereu  Sttutorität 
gegen  ^aulu§  au§.  Unb  biefe  felbft  finb  in  ben  Slugen  be§  9tpoftet§ 
^albe  Seute,  bie,  inbem  fie  bie  3^ubenc^riften  bei  bem  Seben  nad^ 
bem  @e|c^  feft^atten  moHen,  roieber  bauen,  ma§  fic  eingeriffen  traben. 
S)ie  bittere  (Stimmung  be§  9IpofteI§  au^  gegen  fie  ift  ootllommen 
begreiftid).  2lu§  it|r  l^erau§  fc^reibt  er  ben  ©alaterbrief,  roe§böt6 
eS  ertlärlid^  ift,  ba0  biefer  ben  ©inbrudt  mad^t,  al§  biete  er  ber 
Sfibinger  Äonftruttion  2tn^alt§puntte. 

3n  3Bat)r^eit  jcbodi  muffen  mir,  roenn  mir  bie  in  it)m  be* 
richteten  S^atfad^en,  ben  Ueberblicf  über  bie  vorausgegangene  ®nt* 
roicflung,  ben  er  giebt,  ridtitig  t)erftcl|en  motten,  bie  äugen* 
btictlid)e  Stimmung,  in  ber  er  gefc^rieben  ift, 
in  2(bjug  bringen.  3)urc^  fte  ^at  atte§  in  feinem  93erid^t 
eine  ^ufpi^ung  unb  Slbfid^tlic^feit  erhalten,  bie  urfprünglid^  nic^t 
barin  tag.  9Jlan  braucht  nur  bie  gange  Situation  ju  oergegen* 
»artigen,  um  ba§  einjufel^n.  Äein  ^iftorifer  barf  in  ber  SCBertung 
feiner  Ouetten  eS  anberö  l)a(ten.  93aur  unb  ^otften  bagegen 
verfahren  gerabc  umgef e^rt.  ©ie  beuten  bie  Stimmung 
be§  fdjreibenben  2lpoftel8in  bie  oon  it|m  berid)* 
teten  3;^atfac^en  hinein.  SJabur^  fonftruieren  fie  für 
ba§  S3erftänbni§  beS  ^eyteg  einen  ^intergrunb,  ber  ben  Sieft  in 
einem  falfdjen  Si^t  fe^en  unb  perfte^en  lä^t.  S)er  SBorttaut  mirb 
feinem  Haren  Sinn  jumiber  gebeutet,  menn§  bie  5Borau§fe^ungen 


296  ^  a  f  t  a  n :  3ur  ^ogmattt 

fo  forbcrn.  3)a§  ift  ja  nun  ganj  bcgrciffid^.  Slbcr  roenn  manS 
begriffen  l^at  ift  man  bagcgen  gefeit,  ftc^  bie  3:übinger  Sluffaffung 
um  be§  @alaterbrief§  mitten  oufreben  gu  laffcn. 

8B3a§  bann  ben  SRömerbricf  betrifft,  fo  ift  bic  fiegenbc  auf* 
getommen  unb  roirb  mit  ^ä^igfeit  f eftgetialten ,  er  fei  auS 
bem  93ebürfni§  be§  SIpoftete  hervorgegangen,  ber  römifc^en  ®e* 
meinbe  feine  Se^rgebanten  im  3"fömmen^ang  oorjutragen.  SBäir 
^rofefforen  fe^en  leicht  auc^  bei  anbern  Seuten  profefforcn^ofte 
Q3ebürfniffe  oorau^.  ^n  SBa^rl^eit  l^at  $aulu§  unb  ^aben  über« 
l^aupt  bie  erften  3^ugen  be§  6^^riftentum§  immer  nur  unter  bem 
brängenben  3mang  praftifc^er  9lötigungen  gefc^rieben.  3)e§^alb 
ift  auc^,  ma§  fte  gefd^rieben,  nid^t  in  ber  älrt  afabemifc^er  Sb- 
Iinnblungen  getialten,  fonbern  geuer,  Oeift  unb  Seben.  3)ag  gilt 
aud^  oom  Slömerbrief. 

@g  ift  ein  SBerbienft  33aur'8,  aud^  biefen  Srief,  inbem  er 
feinen  ß^f^mmen^ang  mit  ber  Jtontrooerfe  über  ba8  ©efefe  auf* 
mie§,  ber  lebenbigen  gefd^i^tli^en  (SntmidUung  eingeorbnet  }u 
I)aben.  @r  irrte  jroar,  inbem  er  bie  römifc^e  ©emeinbc  für 
eine  j;uben<^riftlid^e  l^ielt.  ©ie  ift  fo  gut  mie  bie  galatifc^en  @e» 
meinben  eine  übermiegenb  l^eibenc^rifttic^e  gemefen.  aiber  ba§ 
ift  eS,  ma§  ^auluS  angeftc^t^  ber  älgitation  feiner  @egner,  bie  i^m 
in§  SIbenblanb  gefolgt  finb,  mit  bem  93rief  begmedCt:  bie  römifc^e 
©emeinbe  gegen  biefe  Stgitation  ju  ftd)ern.  ®arin  behält  S3aur 
batjer  Sted^t,  ba&  ber  SBrief  mit  Sßejiebung  auf  biefe  Äontrooerfe 
gefdirieben  ift. 

Sticht  bie  allgemeine  ©ünbl^aftigfeit  ift  ba§  thema  proban- 
dum  in  ben  erften  Kapiteln,  fonbern  ba|  aud^  bie  ^uben  o^ne 
®t|riftu§  bem  3^^"^  ®otte§  oerfaUen  muffen.  5Ric^t  bie  SRec^t* 
fertigung  burc^  ben  ©lauben  ift  oon  3,  21  ab  ba§  eigentlich 
2:^ema,  fonbern  ba^  bie  3fuben(^riften  leine  Sßorjuggftellung  in 
ber  c^riftlidien  ©emeinbe  I)aben.  Slber  biefe  3lu§fü^rungen  fmb 
mit  bemunbernSmerter  Äunft  einer  prinjipieHen  ©rörterung  über 
bie  ©laubenggered^tigfeit  eingefügt  ®ie  ^olemif  ift  eine  inbirefte. 
®a§  muJBte  fie  ber  römifc^en  ©emeinbe  gegenüber  fein,  bie  in 
einem  anbern  93er^ältni§  jum  2lpoftel  ftanb  al§  bic  anbern  g.  33- 
bie  galatifc^en  ©emeinben,   bie  er  felbft  gegrünbet  ^atte.    3luc^ 


Ä  a  f  t  a  n :  Qux  S)ogmatif .  297 

^otte  man  in  9Jom  no^  nic^t  roic  in  ©alaticn  ben  35crfü^rern 
]^Qlbn)eg§  nod^gegeben.  3)aburd^  ift  ^ier  Q((e§  anbevi^,  bie  prin- 
jipicllc  Erörterung  bietet  ben  Sfta^mcn,  ber  praftifc^e  Qxotd  be* 
bingt  bie  2lrt,  wie  er  aufgefüllt  wirb,  roä^renb  umgefc^rt  im 
©alaterbrief  bie  prinjipielle  Erörterung  bem  praftifc^en  Swzd 
untergeorbnet  ift. 

®en)i^  ergicbt  fxä)  nun  fo  au§  bem  SRömevbrief,  ba§  bie 
Stellung,  bie  ^autuS  in  ber  ßontrooerfe  über  bie  prattifdien 
fragen  einnatim,  für  il^n  in  bem  grojaen  prinzipiellen  3ufammen* 
^ang  fte^t,  ben  mir  aud)  l^ier  gemal^ren.  2lber  nid)t  bürfen  mir 
folgern,  e§  ^abe  fxä)  um  eine  Sontrooerfe  über  bie  ^rinjipien  al§ 
fol^e  ge^anbelt.  3)ie  ftel|t  ba^inter.  3Bir  geben  $aulu§  Siecht, 
wenn  er  ba§  erfennt  unb  jur  ©eltung  bringt.  Slber  ber  ©treit 
mit  ben  ©egnern  l^at  ben  oft  erroa^nten  fontreten  ^i^^ölt.  SJer* 
mutlid^  I|at  fic^  aud)  für  ^auluö  felbft  an  i^m,  an  bem  ©treit 
barüber  erft  bie  prinjipielle  Sllar^eit  ergeben. 

Unb  ba§  mag  für  je^t  genug  fein,  äßir  I)aben  nad^  alle 
bem  feinen  ®runb,  anjune^men,  ba§  bie  ©ebanten  über  ben  Xoh 
ß^rifti,  bie  ftc^  für  ^aulu§  im  3iifömmenl)ang  mit  ber  Äontro* 
oerfe  über  ba§  @cfe^  ergeben  ^aben,  für  if)n  felbft  bie  einjigen 
ober  au^  nur  bie  erften,  bie  grunblegenben  gemefen  finb.  @ben* 
foroenig,  ba§  er  ftc^  felber  bemüht  gemefen  ift,  in  biefen  ©ebanten 
fi^  etmaS  91  e  u  e  §  auSgebac^t  ju  l^aben.  S)ie  Folgerungen  finb 
teilroeife  neu.  3lber  ben  2tu§gang§puntt  bilbet,  mag  er  empfangen 
^at,  unb  maS  i^m  mit  ben  übrigen  Qm^tn  gemeinfam  ift,  ha^ 
3cfu§  geftorben  ift  für  unfere  ©ünben  nad^  ber  ©c^rift. 

SEBir  erinnern  unS  je^t  baran,  ba&  e§  nic^t  blojs  93  a  u  r 
unb  ^olften  fmb,  bie  bie  ®eutung  beö  2:obe§  ^efu  au§  bem 
@efe^  für  bie  eigentliche  unb  fpejipfc^  ^aulinifd)e  Se^re  über 
biefeg  2:^ema  l^alten.  ©ie  treffen  barin  mit  ber  Ueberlieferung 
jufammen,  bie  i^ren  Urfprung  mieber  in  ber  Sieformation  l^at. 
2)iefe  l^at  ja  bewirft,  ba|  bie  ^ßaulinifd^e  "ißrebigt  in  ber  eoange== 
lifc^en  Kirche  in  einer  SBeife  wie  bi^lier  noc^  nirgenb^  mirffam 
geworben  ift,  fo  gmar,  ba0  barin  bie  Slnmeifung  lag,  oon  bem 
(Sebanten  ber  ^Rechtfertigung  au^  in  bie  ^5aulinifd)e  Oebanfen* 
weit  einjubringen  unb  aud^,  maS  ^aulu§  über  ben  Xoh  be§  ^^'u 


298  ^  a  f  t  a  n :  Qnx  ^ogtnatif. 

Ianb§  fagt,  auSfd^IicjiU^  unter  biefcm  ©cfic^Öpuntt  ju  lourbigen. 
SSJir  rocrbcn  un§  alfo  nid^t  barübet  rounberii,  ba|  e§  in  ber 
Ueberlieferung  rote  ein  Slyiom  gilt,  fo  unb  nid^t  anber§  f)abt  man 
?Paulu§  ju  oerfte^n. 

9lber  irrig  ift  bie  2lnnal^me  bod^.  @o  roeit  fic  fx6)  auf  bie 
Urtunben  ftü^t,  ift  e§  oor  allem  ber  SRömcrbrief,  ber  il^r  eine 
©tü^e  gu  bieten  fc^eint.  ^ier  fielet  \a  bie  Seigre  oon  ber  SRec^t^ 
fertigung  Doran.  Unb  er  foll  bie  fgftematifc^e  Sel^rentroirflung 
beS  3lpoftel§  entl^alten.  ällfo  roirb  il^m  aud^  ba§  bie  ^auptfa^e 
unb  ^auptlel^re  fein,  roaä  er  ^ier  »oranfteUt.  9tun  ift  e§  jeboci^ 
mit  biefem  @^^ara!ter  be§  9lömerbriefS  alg  atabemifc^er  älb^anb« 
lung  nid^tS,  roie  fd^on  jur  iSprad^e  tarn.  SBielme^r  ift  au^  ber 
SRömerbrief  ein  roirflii^er  ©rief,  b.  i).  eine  ©elegen^eit^fc^rift. 
S)ie  Orbnung  ber  ©cbanten  ift  bem  bamit  verfolgten  Qwtd  an» 
gepaßt.  ®ie  SBoranftellung  ber  ©rörterung  über  bie  ®lauben§* 
gered)tigfeit  c.  1 — 5  entfpri(^t  nic^t  bem  „Softem"  be§  2lpoftefö, 
fonbern  bem  üor^in  erroälinten  Qv[>^d,  bem  ber  SBrief  bient.  Unb 
bie  Slrt,  roie  ^aulu§  oon  c.  5  ju  c.  6  übergebt,  beröeift,  ba^  i^m 
bei  feiner  ^ßrebigt  oon  ber  ®lauben§gerecl)tigfeit  üwa§  SlnbercS 
al§  felbftoerftänblidt)e  ©runblage  unb  SBorau^fe^ung  gilt. 

@r  ^at  bie  2:^efe,  ba^  roir  geredet  roerben  allein  burc^  ben 
©tauben  5,  12—21  ba^in  jugefpi^t,  ba^  e§  auf  unfer  eigene^ 
äierl^alten  gar  nic^t  anfommt,  ba^  aud|  ba§  ©efe^  nur  baguge« 
geben  ift,  bie  Uebertretungen  ju  mehren,  hieran  fnüpft  er  bie 
grage,  ob  roir  benn  bei  ber  ©finbe  bleiben  follen,  bamit  bie  ©nabe 
um  fo  reici)lid)er  roerbe?  6,  1.  Unb  er  roeift  biefe  ^qpot^etift^ 
gejogene  Folgerung  jurüdE,  inbem  er  barauf  oerroeift,  ba§  e§  ftc^ 
ja  um  ®f)riften  tianbelt,  bie  ber  ©ünbe  geftorben  finb  unb  ju 
einem  neuen  ßeben  erroedtt.  Sticht  jiel^t  er  bamit  IJolgerungen 
au§  ber  S^l^re  oon  ber  ©laubenSgerec^tigfeit,  roie  man  geroö^nlic^ 
fagt.  2)iefe  üblid^e  2lu§legung  ift  oielmel^r  angefic^t§  be§  £efte§ 
eine  gerabegu  erftaunlic^e  äUi^beutung,  ba  in  i^m  auc^  gar  nic^tiS 
auf  eine  Folgerung  fü^rt.  ©ie  erflärt  fic^  nur  au§  bem  ^en» 
fdtjenben  SBorurteil,  oon  bem  bie  5Rebe  roar,  unb  ba§  fid^  felbft 
bamit  roiberlegt,  ba§  e§  ju  folc^er  SBergeroaltigung  be§  Scfte^ 
nötigt.    Stein,  ^ßaulu§  greift  t|ier  auf  eine  anbere  Betrachtung 


Ä  a  f  t  a  n :  3ur  5)09matif.  299 

unb  2)eutung  U§  £obeS  S^rifti  jurüdf,  bie  t^m  bei  aütm,  xoa^ 
er  Don  ber  Sicditfertigung  gefagt  i)at,  afö  felbftDcrftänblic^c  93or* 
QU^fe^ung  gilt.  Unb  biefc  ift  e§,  auf  bie  e§  Dor  aßern  antommt. 
3n  i^r  ^anbelt  eS  fic^  um  haS,  n)a§  für  ?ßaulu§  bie  ©ubftanj 
be§  ©l)rifteutumS  ausmacht.  3)ic  grage,  loorin  fic  befielt,  roirb 
baS  ^Qupttliema  ber  fotgenben  Erörterungen  fein,  ^ier  tommt  e§ 
nur  auf  ba§  SBer^ältniS  ber  beiben  (Sebanf enrei^en  ju  einanber  an, 
unb  rva^  fid)  barauS  über  bie  @ad^orbnung  ber  $aulinifd)en  @e« 
bauten  crgiebt,  ba§  9töm.  6—8,  nic^t   1 — 5  fac^Iid^  poranftel^t. 

®ben  baSfclbe  lä^t  fic^  überall  roa^rne^men.  ^a,  eS  finb 
oer^ältnigmä^ig  nur  wenige  ©teilen  ber  ^aulinifd^en  33riefe,  bie 
auf  bie  SRed^tfertigung  eingeben.  Unb  faft  immer  fold^e  ©teilen, 
in  benen  bie  Äontrooerfe  über  ba§  ®efe§  ba§  S^ema  bilbet:  ab* 
gefe^en  oom  SRömerbrief  ®al.  2  unb  3.  ®ann  ein  turjeS  rlie* 
torifd^  jugefpi^teS  SBort  2  Äor.  5,  21  unb  5ß^il.  3  roieber  im  3^* 
fammenliang  einer  ©rinnerung  an  ben  Äampf  mit  feinen  ©egnern. 
S)emgcgenüber  bilben  bie  ®eban!en  au§  SRöm.  6  unb  maS  eng 
mit  i^nen  jufammenge^ört  ba§  in  ben  uerfd^iebenften  SBenbungen 
immer  roiebertetirenbe  I^ema  feiner  Darlegungen,  ©o  entf^eibet 
auc^  ber  X^atbeftanb  in  ben  ^aulinifdien  ^Briefen  bafür,  ba^  mir 
Don  biefeu  ©ebanten  al§  ben  eigentlid^  mefentlid)en  ®eban!en  ber 
^aulinifc^en  ^rebigt  auSjuge^en  ^aben. 

93on  if)nen  foll  nun  im  nädbfteu,  bem  5 weiten  2lbfrf)nitt 
bie  Siebe  fein,  ^d)  mill  ju  jeigcn  Derfudien,  meiere  3)eutung  be§ 
SobeS  (£E)rifti  fid)  barauS  ergiebt  unb  bei  ^aulu^  bie  t)errfc^enbe 
ift.  Unb  jroar  fo,  ba§  erliellt,  roie  er  barin  mit  bem  überein* 
ftimmt,  mag  ber  ®runbton  aller  urc^riftlidjen  ^ßrebigt  bilbet.  ^n 
eigenartiger  2lu§füt|rung  allerbing§!  3lber  nic^t  in  gegenfä^lic^er 
SSeftimmt^eit  gegen  eine  anbere  2luffaffung,  fonbern  ate  SBeiter* 
fü^rung  unb  S^fpi^ung  gemeinfamer  ®cbanfcn.  2)ann  foll  in 
einem  britten  2lbfd)nitt  üon  ber  Deutung  be§  2:obe§  ®f)rifti 
im  3i*fönimen^ang  ber  SRec^tfertigungSle^re  ge^anbelt  werben. 
6nblid)  will  id^  in  einem  Dierten  2lbfct)nitt  bie  ^i^age  bi§tu» 
tieren,  ob  eä  möglich  ift,  bie  oerfcliiebenen  ©ebanfenrei^en  — 
benn  im  3ufammen^ang  ber  SRe(^tfertigung§let|re  wirb  un§  wie« 
ber  eine  boppelte  Deutung  begegnen  —  einheitlich  jufammenju* 


300  Ä  a  f  t  a  n:  3ur  S)oflmatit 

faffen  b.  ^.  ob  ©runb  ju  bcr  Slnna^mc  oorlicgt  ba§  bcm  Slpoftcl 
eine  folc^e  cinl^eitUci^e  S^^föntmenfaffung  oorgefc^roebt  \)at 

2. 

9iad|  bem  S^obe  ^^\u  roax  bie  ©tunmung  im  ;3üngertrei§ 
bie  ber  aSerjroeiffung  an  attem,  roa§  fie  evroartet  unb  gehofft  ^at« 
ten.  ©ie  fpiegclt  fid)  in  ben  äBovten  ber  ©mmauSjünger  £uc. 
24,  21:  wir  aber  f|offten,  er  fei  6  {leXXtov  XutpoöaÖ-at  xiv  lapxr^X, 
©ie  hofften  ba§  —  jefet  ift  eS  vorbei.  Unb  fie  begeii^ncn  at§  ben 
Qn^alt  i^rer  Hoffnung  bie  Srtöfung  QSraelg.  9lad)  Set.  1,  6 
l^aben  bie  Sfünger  auc^  ben  2tuferftanbenen  no(^  gefragt:  wirft 
bu  ju  biefer  Q^xt  (wenn  ber  ®eift  fommt,  ben  er  oer^ei^t)  bein 
SReid)  aufrichten?  5lad)  £uc.  22,  24  ^aben  bie  jünger  noc^  am 
legten  Slbenb  barüber  geftritten,  wer  unter  i^nen  ber  grö^efte  fei. 
Offenbar,  fte  l^aben  bi§  jule^t  erwartet,  ba|  ber  ^rop^etenmantel 
il^re§  aJleifterä  fid)  in  ben  mefftanifdjen  ÄönigSmantcl  oenoanbeln 
werbe.  3Q3a§  er  oon  feinem  2:obe  gefagt  l^atte,  ba^  er  notrocnbig 
fei  jur  ©rrcttung  ber  oielen,  bafe  aber  ber  93ater  i^n  au6  bem 
2;obe  führen  unb  erretten  werbe,  ^aben  fie  nur  in  ber  jroeiten 
^älfte  roirttic^  begriffen.  a)a§  über  ben  %oh  ©efagte  ift  i^nen 
nur  al§  |)inn)ei§  auf  bie  Einleitung  ber  göttlichen  3Jlac^tt^at  er* 
fc^ienen,  auf  bie  fie  gewartet  Ratten,  feitbem  fie  i^n  als  ben  aRe|= 
fia§  ertannten  unb  bef annten :  gleic^f am  ber  Sob  nur  ein  oorüber« 
ge^enbeS  9Jloment  in  bem,  worum  eS  ft^  eigentlich  ^anbelt,  in 
ber  2lufrici)tung  be§  9iei(^§  unb  ber  ©infe^ung  ^efu  jum  mef' 
fianifc^en  ^önig.  2lber  nun  l^aben  fte  Qefum  gcfreujigt,  er  ift  ge* 
ftorben,  fc^on  ift  e§  ber  britte  2:ag  —  wir  aber  hofften,  er  werbe 
Q^xad  erlöfen. 

SBenn  wir  un§  in  biefe  ©timmung  I)ineinbenten,  lernen  wir 
Derftelien,  oon  welctjcr  93ebeutung  bie  2luferwerfung  ^t\u  ß^rifti 
oon  ben  2:oten  für  bie  urcl)riftlid^e  ^^ömmigfeit  gewefen  ift.  Sie 
ift  bie  ©runbtliatfac^e  beS  Urc^riftentum§  gewefen.  Sticht  bie  Ron» 
trooerfe  über  ba§  @efe^,  fonbern  bie  3luferftet|ung  3efu  mar  ber 
SDIittelpunft  aller  ®eban!en.  9^i(^t  at§  Se^re,  fonbern  al§  fieben, 
al§  ©rfal^rung^tfiatfai^e,  unter  beren  ©inbrudt,  ber  bi§  in  bie  in» 
nerfte  giber  i^re§  ®afein§  reicht,  fie  benfen  unb  leben.  Unb  jwar 


Ä  a  f  t  a  n :  3ur  ^ogmati!.  301 

no^er  fo,  bag  bie  Stuferfte^ung  ii|r  Äorrclat  an  bcr  unmittelbar 
bcDorfte^cnbcn  aOBicbcrfunft  bc^  ^crrn  ^at.  9Jlit  bcr  Sluferroedung 
fyit  bic  jufünftigc  SCBeltücrMärung,  bic  SBicbcrgcburt  aller  S)inge, 
bie  9leufd)öpfung  begonnen.  ®anj  real  oerftanben:  an  biefem 
einen  5ßunft,  bem  Seibc  Q[efu,  ^at  ber  gro^e  SB3eItuntn)anblung§= 
projel  eingelegt.  @§  ift  nur  eine  grage  t)on  wenigen  Qaliren, 
bi§  auf  ben  bie  gortfe^ung  oerbürgenben  2lnfang  bie  gortfe^ung 
fclbft  unb  bie  SBoßenbung  folgt.  3lttem  2lnf^ein  nad)  ^at  au(^ 
3efu§  felbfi  e§  fo  angefe^n  unb  fie  in  biefem  ©inn  beletirt:  inner- 
halb einer  ©eneration  foB  fi^  aUe^  nollenben,  e§  leben  f^on,  bie 
e§  erleben  roerben. 

2lud)  ^eute  wirb  xüoifi  in  ber  ©emeinbe,  namentlid)  bem  mo« 
bemen  3^^'f^^  gegenüber,  auf  bie  SQBirtlic^teit  ber  2luferftet)ung 
©eroic^t  gelegt,  ^^ber  bie  (Sebanfen  fmb  bod)  ganj  anbere.  ©ie 
erfc^eint  al§  ein  @reigni§  in  ber  5Reit|e  ber  göttlid^en  3:l|aten  jum 
^eil  ber  3Jlenfci^en.  ^a,  abgefel^n  oon  bem  eben  ermähnten  ftep* 
tifdien  ®egenfa^,  innertialb  ber  d^riftlic^en  ©ebanfen  felbft  gar 
nic^t  al§  etma§  befonber^  3G8id|tige§.  2lnbere§  mie  bie  ©enbung 
be§  ©ot|ne§  unb  fein  Kreujeötob  für  bie  ©ünbc  ber  ÜWenfd)en 
wirb  Diel  ftärfer  betont.  ®ie  2luferftet}ung  mit  ber  ©r^ö^ung 
jum  Sater  erfd)eint  nur  al§  bie,  man  mö^te  fagen,  felbfioerftänb* 
lie^e  9fiüdtfe^r  bc§  ©ol^neS  in  ba§  eroige  ©ein  bei  ®ott,  al§  beffen 
Unterbre^ung  unroiHfürlidi  fein  ®rbenleben  aufgefaßt  roirb,  93or 
allem  aber  treten  für  bie  heutige  ©emeinbe  2luferftel|ung  unb 
SBieberfunft  oöllig  auSeinanber.  -^ene  gehört  ber  Sßergangenlieit 
an,  oon  ber  mir  burc^  ^o^rtaufenbe  getrennt  finb.  SDiefe  ba* 
gegen,  bie  SBiebertunft,  gel^ört  einer  fernen  ungeroiffen  3wfunft 
an  unb  ift  burd|au§  in  bie  ^eripl^erie  beS  93erou§tfein§  ber  @e* 
meinbe  gerürft. 

3)ie§  atle§  jeboc^,  roie  e§  un§  lieute  erf^eint,  muffen  roir 
gänjlidi  oergeffen,  roenn  roir  ba§  9leue  2:eftament  ücrftelien  rooHen. 
2)a  ift  bie  SluferroedEung  ni(^t  eine§  unter  anberem,  fonbern  bie 
gro^e  ^eilSt^at  @otte§  unb  jroar  nic^t  aU  etroa§  95ergangene§, 
fonbern  al§  etroa§  in  feinen  SOSirfungen  unter  ben  ©firiften  leben* 
big  ®egenroärtige§.  S5iefe  leben  in  ber  furjen  Qzxt,  bie  jroifdjen 
ber  Suferroedung  al§  ber  erften   unb  ber  SBieberfunft  al§  ber 


302  ^  a  f  t  a  n :  Qux  ^ogmatt!. 

jiüeiten  ^älftc  bcr  großen  2:^at  @ottc§  au§gcfpannt  ift.  ®a§  ift 
t^re  ©egeniDart.  SRan  fann  bie§  nid^t  nad^brärflt(^  genug  ein- 
fc^ärfcn  im  ©egcnfa^  ju  bcr  üblidien  ©yegefc,  bei  bcr  man  nic^t 
baron  bcn!t  ba^  bic  Seutc^  bic  I|icr  }u  un§  reben,  gemörttg  fmb, 
jcben  Sag  bic  gro^c  ^ataftrop^c  bcr  @nb}cit  }u  erleben,  woiiH 
aber  ben  S^ejten  Stntroorten  auf  5^agen  bcr  fpäteren  ®ogmatif 
abquält,  bic  biefc  3lutoren  ficfi  niemals  porgclcgt  l^abcn.  ©tatt 
beffcn  füllen  mir  un§  barin  ^ineinbenten,  ma§  baS  l^ci^t,  ba^ 
biefc  SKenfc^cn  täglid)  beten:  !omm  ^err3[efu!  unb  tdglic^  nac^ 
bem  3ei^en  be§  SRenfd^enfo^nö  am  ^immel  auSfe^n.  9lur  fo 
mcrben  mir  au^  bic  ©ebanfen  oerfte^cn,  in  benen  fic  i^ren  ©lau« 
ben  jum  2lu§brucf  bringen. 

Q6)  fagte  eben,  in  bcr  Urgemeinbc  fei  bic  Slufermcdtung  O^fu 
als  etmaS  in  ber  ©emeinbc  @egenm&rtigc§  unb  lebenbig  SCBirtfame^ 
cmpfunben  morben.  3)iefc  SBirfungen  ftcHen  fic^  öor  altem  im 
©eifteöcmpfang  unb  ©eifteSbefi^  bar.  3)arin  jeigt  ftc^,  ba§  ber 
aicov  fieXXwv  angebrochen  ift.  ®enn  bcr  ©eift  ift  ©ottc§  ©eift. 
Sft  er  mit  feinen  ©aben  unter  unS,  fo  ift  ba§  bic  lebenbige  @e* 
genmart  ber  jufünftigen  SBelt  in  unferer  3Mitte.  Unb  jmar  ift  e§ 
ber  er^ö^te  ®^riftu§,  ber  feiner  ©emeinbc  ben  ©eift  unb  bic  ©aben 
be§  ©eifte§  oermittelt.  Q\xx  SRcditen  ©otteS  ft^enb,  in  bic  gott* 
lid^c  3)afein§meifc  be§  TtveOfia  unb  bcr  66?a  eingetreten,  fcnbet  er 
bcnen,  bic  an  i^n  gläubig  mcrben,  biefen  feinen  ©eift. 

Slnfd^aulic^  tritt  un§  ba§  Qfo^.  20,  22  entgegen,  mo  e§  ^eipt, 
ber  2luferftanbene  l^abc  bic  -jünger  angc^aud)t  mit  ben  SBorten 
Xaßexe  7iv6ö|ia  dcyiov.  ©runbfa^mä^ig  roirb  cö  au§gcfprod|cn  3o^. 
7,  37—39.  S)a  Reifet  e§,  ba§  QefuS  rief:  mer  an  mi^  glaubt, 
oon  bcfe  Seibe  merben  ©tröme  lebenbigen  2Baffcr§  flicfeen.  3)er 
©oangclift  fügt  l^inju:  ba§  fagte  er  oon  bem  ©eift,  ben  bie  an 
i^n  ©laubigen  empfangen  foUten;  oÖTtw  yap  ^v  uveufia,  Sxt  Iijaoü^ 
ouSsTTw  iSogaaäT).  3)a§  ift  nid^t  eine  2^^eoric  be§  oicrtcn  ©oange» 
liftcn.  ^n  biefer  3)cutung  fpric^t  fi^  ba§  urci^riftlid)c  S3emu|t« 
fein  al§  fold)e§  auS.  In  nuce  enthält  baS  SBort  ba§  ©anje:  mit 
ber  aSerflärung  Qfefu  b.  1^.  feinet  Seibcä  beginnt  bic  33er!larung 
ber  aCßclt.  3)amit  ift  nun  ber  ^unft  gegeben,  mo  baS  Ueberroclt» 
lid|e,  ©öttlii^c,  ^neumatifd)e  in  bic  SBelt  einftrömt:  bei  ber  bal« 


Ä  a  f  t  a  tt :  3iit  S)oflmatif .  303 

bigen  SBicbcrtunft  Q^f"  n)itb  ba§  ju  einer  offenbaren  SBirfü^feit 
werben  unb  bem  gefamten  ®afein  eine  neue  gorm  geben. 

aWan  ift  ba^er  aud|  erft  ®^rift  nai)  urdjriftlid^em  ©ewu^t* 
fein,  wenn  man  ben  ©eift  t|at,  unb  beffen  au^erorbentUc^e  SBir« 
fangen  l^eroortreten.  2lfe  ber  ©eift  in  ©amaria  ausblieb,  reiften 
bie  Slpoftel  l|in,  um  bem  3Wangel  objutielfen  act.  8.  2luf  bie  aSer^ 
fammlung  im  ^au§  be§  Cornelius  faßt  ber  ©eift,  mätirenb  ^etru8 
noc^  rebet  act.  10.  9tod)  niel  fpäter,  als  ^auIuS  bie  30^9^'^ 
finbet,  bie  nur  oon  ber  2^aufe  be§  Qo^anneS  miffen,  tauft  er 
fie,  unb  fte  empfangen  ben  ©eift  act.  19.  Unb  baS  mag  genug 
fein.  SebeS  Slatt  faft  beS  bleuen  SeftamenteS,  fomeit  e§  nid^t 
Ueberlieferung  beS  SebenS  unb  ber  Se^re  ;3fefu  ift,  legt  3cii9"i^ 
baoon  ab,  ba§  bieS  je^t  3)argelegte  bie  ©ubpanj  beS  ©Triften* 
tumS  in  ber  alten  ©emeinbe  mar.  ^6)  menbe  mid)  je^t  com  2111* 
gemeinen  su  ^auIuS  im  Sefonberen. 

SlKererft  erinnere  id^  aber  ba  baran,  i>a^  ^auIuS  burd|  ba§ 
@rlebni§  \>ox  ®ama§fu?  eben  in  biefen  je^t  gefi^ilberten  S^if^w^* 
men^ang  l^ineingeftellt  roorben  ift.  Sluc^  für  i^n  ift  eS  ni(^t  @arf)e 
ber  2:i^eorie  gemefen,  loaS  er  nun  geprebigt  I|at,  fonbern  tebenbige 
felbft  erfahrene  SBBirtlic^feit.  ®r  mei^  fid^  als  einen,  ber  aus  ber 
gegenwärtigen  argen  SBelt  lierauSgeriffen  ift,  mit  S^rifto  ber  ju* 
lünftigen  SBelt  angel|ört  unb  wie  alle,  bie  feine  ©rfc^einung  lieb 
^aben,  auf  ben  großen  2:ag  beS  ^crrn  märtet.  Unb  bieS  ift  bei 
i^m  fo  gut  mie  bei  ben  anbern  S^^S^^  ^^^  3lnfangS  ber  ^aupt* 
in^alt  feiner  ^rebigt  gemefen,  mie  fic^  baS  non  felber  üerftanb 
unb  gar  ni^t  anberS  fein  fonnte.  3)aS  roitl  ic^  je^t  im  ©injelnen 
etroaS  nä^er  auSjufüIiren  nerfud^en. 

2In  bie  ©pi^e  ftelle  i^  einen  fc^einbar  nebenfäd[)li(^en  3w9 
aus  bem  erften  S^^effalonic^erbrief.  ^n  2:^effalonic^  begab  eS  firfi, 
ba^  unter  ben  ©Triften  etlii^e  ftarben,  el^e  ber  ^err  tam.  ®aS 
gereid^te  ber  ©emeinbe  jur  fdjmeren  93e!ümmerniS,  fte  tiatten  ge» 
^offt,  inSgefamt  baS  ©nbe  ber  ®inge  ju  erleben.  9BaS  roirb  nun 
mit  ben  @ntfcl)lafenen  fein?  SBerben  fie  auc^  unb  merben  fie  im 
DoUeu  9Wa§  teilliaben  an  ber  $errli(^teit  beS  ^errn,  menn  er 
fommt?  ^ßauluS  tröftet  fie  barüber:  bie  ©ntfdilafenen  werben 
auferftel^n,  bann  erft  merben  mir,  bie  Ueberlebenben,  nermanbelt 


304  Äaftan:  3ur  Dogmatil 

toerbcn,  um  nun  mit  jenen  bem  ^erm  entgegengerüctt  ju  werben 
in  bie  Suft  1  SCtieff.  4,  13—18.  Slber  nid^t  biefer  Stroft  interef* 
ftert  ung  l^ier,  fonbern  bie  3:l|atfa^e,  bie  ju  bem  tröftenben 
SBort  bie  SBeranlaffung  gegeben  l^at.  ©ie  lö^t  un§  einen  95lid 
tt|un  in  ba§  ®emüt  ber  ®l^riften  in  einer  ^auti* 
nifc^en  ©emeinbe,  einer  @emeinbe  überbieS,  bie  $qu(u§ 
auf  feiner  fogenannten  jmeiten  SKiffiongreife  u.  b.  ^.  na^  ben 
SSerl^anblungen  jU  3»€t:ufalem  in§  Sebcn  gerufen  ffat  SBir  bürfen 
barauS  einen  @cl^Iu^  auf  bie  $rebigt  be§  SlpofteU 
jietien.  Unb  jroar  weift  er  un§  auf  eben  jenen  fiebenS»  unb  ©e* 
banfenjufammen^ang  be§  Ur^riftentum^  l^in,  Don  bem  bie  9lebe 
mar.  ©o  t|at  ^aulu§  ba§  Soangelium  Derfünbigt,  bafe  biefer  ba§ 
Seben  unb  2)enfen  in  ben  ©emeinben  bel^errfd^te.  3^d)  fteüe  baS 
an  bie  ©pi^e,  meit  c§  un§  bie  'SJJrebigt  be§  2lpofteI§  jeigt  at§  ba^, 
maö  fie  juerft  unb  üor  allem  geroefen  ift,  eine  SJertünbigung  üon 
S^riftu^,  mie  fie  im  Urc^riftentum  bie  allgemeine,  bie  c^riftlic^e 
Sßertünbigung  fc^ted)tmeg  mar.  ©tatt  mit  ^olften  oon  einem 
urfprünglid^en  ®egenfa§  be§  ^aulu§  gegen  bie  Urgemeinbe  au§* 
jugelin,  muffen  mir  ^$aulu§  melme^r  in  erfter  8inie  al§  ben  an* 
fe^n,  burc^  ben  mir  wie  burd^  feinen  anbern  —  wir  f|aben  ja 
nur  fpärlidie  imb  mcift  fefunbäre  9lad)rici^ten  barüber  —  ba§  ge* 
mein  Urd^riftUc^e,  b.  f).  ba§  allen  ©emeinfame  fennen  lernen. 

äBeiter  l)ebe  ic^  ^eroor,  ba|  auc^  ^aulu§  überaQ  bie  91ä^e 
be§  @nbe§  Dorau^fe^t.  Unb  jwar  bur^weg  in  ber  SBeife,  ba^ 
er  felber  e§  nod^  im  Seibe  ju  erleben  ^offt.  @rft  fpäter  im  (gwei* 
ten  Äorintl^erbrief  unb)  ^^ilipperbrief,  an  ben  befannten  ©teilen 
be§  erften  Äapitelg,  t)at  er  bie  SWögli^feit  feine§  2lbf(I>eiben§  oor 
bem  ®nbe  bcftimmt  in§  Sluge  gefaxt,  95.  21  u.  23.  2lber  auc^  ba 
nii^t  in  bem  ©inn,  al§  wäre  ba§  @nbe  felbft  ^inau§gefc^o6en. 
®erabe  im  ^$f|ilipperbrief  tiei^t  e§  K.  4  93. 5:  ber  ^err  ift  na^e! 
3)iefe  SorauSfe^ung  erhält  fic^  ja  überE)aupt  big  in«  jweite  ^af^x-- 
^unbert.  ^[nbeffen  ift  e§  boc^  ein  Unterfc^ieb,  wie  fie  empfunben 
wirb.  %nx  bie  ältefte  ©eneration  ift  e§  nid)t  eine  auf  bie  S^* 
fünft  gerichtete  Hoffnung,  wäf)renb  man  in  feiner  eignen  ©egen* 
wart  ate  einem  früheren  3ßitabfd)nitt  lebt.  SSietme^r:  bie  3"* 
fünft  ift  felbft  fc^on  ©egenwart,   bie  3^»?""?*  ^öt  "^it  ^^^  ^"f* 


^  a  f  t  a  n :  3ur  ^ogmatif .  805 

errocdung  ^t\u  i^rcn  Stnfong  genommen  unb  wirb  alsbolb  pol« 
Icnb§  offenbare  SBirtlic^Ieit  merben.  (So  aud)  bei  ^aulu8:  in 
biefer  Stimmung  lebt,  mirft  unb  benft  er. 

@nb(i^  \)at  $au(u^  Aber  ben  ©eift  sunädift  nid()t  anber^  ge« 
bac^t  ai^  bie  ©emeinbe.  @r  l^at  bem  ©ebonlen  bann  eine  et^ifdje 
äBenbung  gegeben;  e§  mirb  glei^  nä^er  baoon  ju  reben  fein. 
aber  bie  ©runblage  bilbet  aud)  bei  ibm  bie  allgemeine  urd^rift« 
lic^e  SKuffaffung.  95or  allem  fielet  ber  Oeifte^empfang  aud^  il^m 
im  engften  3ufammen^ang  mit  ber  angebrodienen  SSoQenbung  unb 
^eil§jufunft.  S)er  ©eift  ift  bie  inoLp'/ii  be8  emigen  SebenS  ber 
aJottenbung.  ®r  wirft  bie  dTccXuipwat^  be8  inroenbigen  SRenfd^en^ 
bie  Befreiung  nom  ®efe^  ber  ©ünbe  unb  beS  2:obe§  9töm.  8,2; 
worauf  mir  nod)  roarten,  ift  bie  ÄTtoXuxpcoat?  toö  a(i)|AaTo?,  wie 
eS  91dm.  8,  23  ^ei^t.  Unb  bejeid^nenber  noc^  mirb  ber  ©eift 
ber  äppaßä)v  be^  emigen  SebenS  genannt  2  Stox.  1,21;  5,5; 
&p\).  1, 14.  3)aS  2lngelb  ift  ba8  erfte  @elb  einer  ©umme, 
eine§  Sof|n§  ober  bergleic^en,  ba§  man  als  ^fanb  unb  ^ürgf^aft 
be§  ©anjen  empfängt,  ^at  man  ba§  3lngetb,  fo  l^at  man  ibeeU 
fc^on  ba§  ©anje.  Unter  biefem  ^ilb  fielet  ^auIuS  bie  @abt  beS 
®eifte§,  meiere  bie  ®f)riften  l^aben.  3)a§  ®anje  beftel^t  aber  barin, 
ba§  ber  ®eift  auc^  für  ba§  leibliche  fieben  beftimmenb  mirb,  unb 
bie  ©Triften  fo  an  ®otteg  56§a  teil  gewinnen.  2)er  xuptoc  wirb 
fie  gleic^geftattet  mad^en  feinem  ^errlic^feit§leibe  5ß^il.  3,  21 ; 
mir  werben  oerwanbelt  werben  oon  einer  ^errlic^teit  gur  anbern 
xaftdcTiep  &nb  xupioü  TweOfiaTo^  2  Sor.  3,  15.  Unb  biefer  ®eifteS* 
befi^  ift  etwas  Uebernatfirlid^eS,  Ueberf^wenglic^eS,  auS  ber  obe« 
rcn  SBelt  ©tammenbeS,  beren  ®egenwart  in  ber  SBelt  ^Sefunben* 
be§.  ^n  ben  ®eifteSgaben  jeigt  fic^  biefer  53efi^.  Unb  unter  ben 
©eifteSgaben  ftel^t  baS  yXcoGaat;  XaXetv  allen  übrigen  ooran,  e!« 
ftatifdieS  Sieben,  bei  bem  ber  voö?  jurüdEtritt.  ®.  t).  ^auluS  fteflt 
baS  TTpocfTjTeuetv  ^öt)er,  waS  bie  Srbauung  ber  ®emeinbe  betrifft. 
9l6er  in  feiner  SRebe  )d)immert  beutlic^  hnxi),  bag  baS  3ungen* 
reben  als  baS  eigentliche  SJlerfmal  beS  ©eifteSbefi^eS  gilt,  unb 
wie  ^od)  aud^  er  an  fid)  (abgefetin  eben  oon  ber  93etf|ätigung  in 
ber  ©emeinbe)  baoon  beutt.  3)aS  ift  nid)tS  atS  biefelbe  ©runb* 
anfdiauung,  bie  baS  gefamte  Urd)riftentum  bel^errfc^t. 


806  Ä  a  f  t  a  n:  3ur  ^ogmatif. 

SBir  fommen  ju  ben  bem  SIpoftel  $aulu§  eic^entfimlic^en 
3ügen.  ®a  ift  jucrft  ju  nennen,  ba^  ftd^  it|m  bie  SBorfteKung 
t)on  bem  ^ufommcnl^ang  be§  neuen  Seben§  unb  ®eifte§befi^e§  mit 
bem  x6pcos  anber§  geftaltet.  Sie  urfprüngtic^e  2ln[c^auung  ift, 
ba^  3fcfu§  jur  SRed^ten  @otte§  erl^ötjt  ben  ®eift  fenbet  ober  boc^ 
bie  ©enbung  oermittelt.  SBei  ^aulu§  fteDt  e§  fic^  fo,  ba§  er  biefen 
93efi^  auf  bie,  mie  mir  fagen,  mgftifc^e  ^Bereinigung  be§®Idubi' 
gen  mit  ®^riftu§  jurürffül^rt.  ®§  ift  bei  ?ßaulu§  nur  jroeierlei 
2lu§brudt  für  biefelbe  ©ac^e,  bafe  bie  ©laubigen  „in  ©^rifto  fmb" 
unb  ba§  fie  ben  @eift  l^aben.  ^eibeS  mirb  in  ber  Strgumentation 
SRöm.  8, 5 — 11  promiScue  gebraust.  Sinmal  ^ei^t  e§  gerabcju:  ber 
§err  ift  ber  ®eift  2  Äor.  3,  17.  9lid|t  im  ©inn  eineg  S^eologu* 
menon,  in  melc^em  (Jl^riftu§  ober  ber  fiogo§  mit  bem  ®eift  iben« 
tifi jiert  mirb,  mie  bergleic^en  fpäter  oortommt.  3)a§  ift  bei  ^auluS 
nac^  bem  allgemeinen  mie  fpe}ieQen  S^^f^ini^^n^a^g  g^^i  au$ge* 
f^Ioffen.  3)er  ©inn  ift  ber  eben  genannte,  ba§  mir  ben  ®eift 
l^aben,  meil  mir  burd)  ben  ®Iauben  in  S^rifto  fmb. 

Unb  bie§  Sv  XpioTcp  e!vat  ift  nun  überl^aupt  ber  ®runb9e* 
banfe  ber  ^aulinifd^en  Sriefe.  2)  e  i  S  m  a  n  n  ^at  über  biefe  ^x- 
mel  1892  in  einer  befonberen  ©c^rift  ge^anbelt.  3)ie  gormel  ift 
fpejififc^  ^aulinif^.  ©ie  fommt  (nad)  ®eigmann§  3ä^Jw"9^ 
in  ben  acta  unb  im  1.  ^etru^brief  jufammen  8  mal,  bei  3^o^anne§ 
24  mal,  im  übrigen  bleuen  2:eftament  überhaupt  ni^t,  bei  ^aulu§, 
164mal  Dor.  Semnad)  ift  mit  großer  SBalirf^einlidifeit  ju  oermu« 
ten,  ba§  er  fie  gebitbet,  bie  anbern  fie  üon  i^m  übernommen  ^aben. 
aWit  Siecht  marnt  aber  3)ei§mann  baoor,  bie  SRebeform  irgenbmie 
im  übertragenen  ober  uneigentUc^en  ©inn  ju  nehmen,  ©ie  ifl  ber 
in  i^r  gebrausten  ^räpofition  ev  entfpred^enb  lofal  ju  üerfte^n. 
3)er  K^rift  ift  hnxä)  ben  ®Iauben  in  ben  nerflärten  S^riftuS  ein-- 
gegliebert  unb  gehört  babur^  ber  juf ünftigen  SBelt  an.  ®al.  3, 27 
mirb  biefe  93crbinbung  mit  ®^riftu§  al§  ein  S^riftum-angejogen« 
l^aben  bejei^net  unb  in  bie  S^aufe  oerlegt.  ^w  biefcr  3ufammen« 
get|örigteit  mit  ®t|riftu§  bitben  bie  ®Iäubigen  mit  i^m  ben  eJ; 
Xptato;,  ben  einen  ©amen  2lbral)am§,  bem  bie  SSer^eigung  gilt 
®al.  3,  15—29.  3)erfelbe  ®ebanfe  mirb  ausgeführt  im  SBilbe  Dom 
oö>iL%  XptaioO  1  Äor.  12,  13;  SHöm.  12,  3.  Unb  biefe«  iBilb  mirb 


Ä  a  f  t  a  n :  3ur  S)ogniatif.  307 

in  bcn  fpStercn  ©riefen  an  bie  Soloffer  unb  ©pl^efer  naiver  qu§* 
geführt.  2)enn  ein  53ilb  ift  ba§  n)ie  anä)  ber  2lu§brurf,  ba§  bie 
©Triften  ®^riftum  angezogen  tiaben.  ffiir  miiffen  un§  aber  pten, 
nic^t  etroa  ben  ganjcn  ®ebantenfrei§  in  bilblic^e  SRebe  aufjulöfen. 
pr  ben  3lpofieI  ift  ba§  SReoIität  unb  (Srfalirung,  biefe  QuQ^i)i^ 
rigfeit  ju  S^riftuS:  nid^t  melir  er  lebt  fonbern  S^rifluS  lebt  in 
i^m,  unb  baburd^  ift  er,  aber  ni^t  er  fpejieK  fonbern  bie  ©Triften 
überhaupt,  biefer  argen  8B3elt  entriffen  unb  überl^oben,  ®§  ift  bie 
gemeinfamc  urc^riftlid)e  2lnfd)auung  oon  ber  in  biefer  SBelt  gegen« 
roartig  geworbenen  jutünftigen  SBelt,  bie  ber  SKpoftel  in  biefer  i^m 
cigentflmtici^en  SBeife  geftaltet  unb  oorträgt. 

3GBeiter  ift  c§  nun  aber  bem  2lpoftel  eigentümlich,  ba§  er 
ben  Sob  ®^rifti  in  biefe  S8etrad)tung  l^ineinjie^t.  2ln  unb  für 
fic^  ift  in  i^r  ber  ©ebanfe  üon  ber  3luferftel)ung  ber  l^errf^enbe. 
Ober  beffer:  bie  Sluferroedfung  ift  bie  fie  bctierrfd^enbe  Sl&atfad^e 
al§  Slnbrud)  ber  SBiebergeburt  unb  9teufc^5pfung  ber  SEBelt.  ©e^r 
na^e  liegt  e§  offenbar,  barauö  bie  ^otgctung  ju  jielien,  ba§  ber 
2ob  ©^rifti  ba§  ®nbe  ber  gegenwärtigen  aCBelt  ift.  ©oroeit  ic^ 
fe^e,  finbet  ftd)  iebod^  biefe  Folgerung  fonft  im  9teuen  Seftament 
nic^t  gejogen.  $aulu§  ^at  fie  gejogen.  Unb  ba§  ift  bie  95etrad)* 
tung  be§  2obe§  ©l^rifti,  bie  mir  aU  bie  burd|fd)Iagenbe,  grunb* 
legenbe  bei  it|m  jU  f onftatieren  l^aben :  3:ob  unb  Sluferroedtung 
3efu  S^rifti  finb  bie  Söenbe  ber  3^it^^/  ^^^ 
atcöv  oizo  i;  unb  be§  aTwv  [leXXwv.  ^i^bem  ®t|riftu§ 
ftarb,  ift  bie  alte  SBett  be§  gleifd)e§  geftorben.  Onbem  ®^riftu§ 
ou§  bem  ®rabe  lieroorging,  ift  bie  neue  SEBelt  be§  ®eifte§  lebenbig 
gegcnmdrtige  SGBirflid^feit  gcmorben. 

(£§  ift  üor  aUem  ber  f^on  ermahnte  Slbfc^nitt  9töm.  6, 1—11, 
in  ioelcf)em  ^aulu§  barauf  al§  auf  bie  S3orau§fe§ung  alle§  Slnbern 
jurüdfgreift.  Unb  jmar  an  biefer  ©teile  fo,  bafe  bie  etl)ifcf)e 
93ejie^ung  babei  aU  ba§  SQSefentlic^e  tjeroortritt.  3)er  alte  SWenfc^ 
ber  ©  ü  n  b  e  ift  geftorben,  unb  mir  finb  burrf)  (£^riftu§  ju  einer 
xatvoTTj;  tfj?  t^o)^;  gekommen.  6^  ift  aber  nid^t  richtig,  l^ierin 
bie  ©ad|e  fetbft  gu  fud^en.  S)er  übergeorbnete  ©ebanfe  ift 
ber,  bag  mir  ber  SBelt  geftorben  finb  ober  bie  SBelt  un§  geftorben 
ift  —  gefreujigt,   mie  e§   nac^  ber  gefc^id|tlid^en  Sobeöart  ^t^n 

21* 


308  Ä  a  f  t  a  n :  3ur  ^ogmatü. 

{)ei^t  ®al  6, 14.  2)a^  e§  fo  x%  I&^t  ft^  auc^  au§  bem  Slbfc^nitt 
SRöm.  6  fclber  entnehmen  unb  jcigen.  fSflan  mu§  nur  bic  oorge* 
fagte  3neinung,  e8  l^anble  ftd^  t)ter  um  eine  bilbltd^e,  f^mbolifc^e 
aSeranfc^Qutic^ung  ber  S5u§e,  gänjüc^  beifette  laffen. 

@S  l^ei^t  bort  nic^t:  n)ie  S^riftuS  geftorben  unb  auferftonben 
ift,  fo  fotlen  n)ir  ba§  nun  in  unferem  inneren  Seben  nai^bilben, 
ber  ©ünbe  fterben  unb  einen  neuen  SBanbel  fül^ren.  9luc^  ba§  ifl 
ni^t  bie  SMeinung,  ba§  in  ber  laufe  mit  un§  etmaä  oorgegangen 
ift,  xoaS  \xi)  a(§  ein  Slnatogon  beS  2;obeS  unb  ber  3(uferfte]^ung 
©lirifti  anfe^en  lä^t.  Obmol^I  bei  ber  SBilbung  be§  3lu!§bruct§ 
t)ier,  ba^  oon  einem  SBegrabenmerben  bie  SRebc  ift,  ber  Umftanb 
mitgeroirtt  ^aben  wirb,  ba^  ba^  Untertauchen  im  SEBaffer  unb  ba§ 
Sluftaud^en  au§  il^m  al§  eine  fgmbolifc^e  Siad^bilbung  beS  95e» 
gräbniffeS  unb  ber  Stuferfte^ung  Qf^fu  erfc^ien.  ©ie^t  man  aber 
nä^er  ju,  finbet  man:  ber  SDIoment,  in  bem  bieg  ®e» 
ftorbenfein  unb  Stufe rmedttfein  fic^  jugetragen 
liat,  ift  nid^t  ber  SWoment  ber  Saufe,  fonbern 
ber  aWom  ent,  ba  3»cfw^  ftarb,  begraben  murbc 
unb  aus  bem  ©rabe  miebertam.  9Rit  i^m  finb  aDe, 
bie  ju  it|m  geliören,  geftorben  unb  auferftonben,  roie  e§  2  Äor, 
5,  15  tiei^t:  ift  einer  für  aüe  geftorben,  fo  fmb  fie  äße  geftorben; 
mir  fmb  in  (S^rifto  eine  neue  Äreatur,  ha^  2llte  ift  ©ergangen, 
fief)e,  e§  ift  allcS  neu  gemorben. 

3Ber  fold^e  SBorte  unb  SluSfprüd^e  mit  unfrer  S)ogmatif  ju 
oerftelien  unb  ju  beuten  unternimmt,  mu§  freilid)  auf  bie  munber* 
lic^ften  (SinfäKe  geraten,  moran  e§  benn  in  unferen  Kommentaren 
au^  nid)t  ju  mangeln  pftegt.  SBer  bie  ®runbanfd)auung  M  Ur* 
^riftentumS  im  ©inn  beliält,  beren  Urfprung  in  ber  SKufermerfung 
3[efu  liegt,  unb  ^injunimmt,  ba§  ^aului^  ben  Xob  be§  ^eilanb* 
barin  einbezogen  ^at,  bem  fägt  fid)  atle§  ju  einer  einfa^en  Haren 
aSorfteHung:  mit  S^riftuS  ift  bie  alte  SBelt  geftorben,  mit  i^m  bie 
neue  au§  bem  ®rab  ^eroorgegangen,  unb  baS  ^at  nun  feine  @ul* 
tigfeit  für  alte,  bie  an  i^n  glauben  unb  burd)  bie  Slaufe  in  ben 
mpftifc^en  3wfQ"^nteuI)ang  mit  i^m  eingepPanjt,  baburrf)  mit  fei« 
nem  ©terben  unb  Sluferftelin  oermact)fen  fmb. 

SßoUenbS  mirb  bie§  Mar,  wenn  man  beachtet,  ba^,  roa§  Möuu 


Ä  a  f  t  a  n :  3ur  ^oötnatit  809 

ß,  1—11  aU  ein  in  bcr  2:aufc  gcfc^el^ene^  gaftum  l^ingcftellt  wirb, 
anberroartS  unb  gleid^  9löm.  6,  12—14  aU  3Wa^nung  auftritt: 
galtet  cu^  baf ür,  ber  ©ünbe  gcftovben  ju  fein,  !reujiget  euer  r^Ui^ä) 
famt  ben  Süften  unb  93egi erben.  @ben,  ba^  ©tl^ifc^e  lommt  nid)t 
o^ne  ben  eignen  9Bi0en  juftanbe.  @S  forbert  immer  irgenbn)ie 
bie  eigne  SÄnftrengung.  ©eS^alb  ift  aber  ba§  nom  Oeftorben»  unb 
Stuferroedtfein  nic^t  eine  blo^e  SReben^art.  5Rein,  bie  SBelt  ift 
bo§  birette  Sejie^ungSobjeft  biefe§  SEBiberfa^rniffeS.  Unb  fofern 
nun  ©ünbe  unb  %U\\6)  in  biefer  SBelt  i^r  SBefen  l^aben,  ift  bie 
Befreiung  oon  ber  3BeIt  auc^  bie  grei^eit  non  ©ünbe  unb  gt^ifc^- 
SRur  ba|  ba§  nid)t  pon  felber  fommt,  fonbern  juglei^  fittlidje 
Srbeit  forbert.  a5Ba§  aber  unter  bem  (Sefefe  unmöglid^  mar,  ift 
je^t  benen  möglidi,  bie  in  S^rifto  S^fu  finb.  Sie  l^aben  eine 
®abc  ©otteS,  bie  i^nen  bie  fittlidje  Erneuerung  oerbürgt,  wenn 
fie  fie,  mie  fie  foflen,  fid^  ju  fold^er  ©rneuerung  bienen  laffen. 

2lIfo,  baS  ift  ber  ©runbgebanfe  oom  S;obe  ©^rifti  bei  ^au* 
luS:  fein  Sterben  unb  Sttuferfte^n  bie  SäJenbe  ber  3«^*^"-  ^^^ 
S^rift  gehört  S^rifto  unb  bur^  i^n  ber  oberen  SBelt  an,  unb 
roaS  er  no^  lebt  im  fjteif^,  ba§  lebt  er  im  ©e^orfam  be§  ©oline^ 
®otte§,  ber  für  il^n  geftorben  ift.  ®a§  ift  bie  fclbftoerftänblic^e 
aSorau^fe^ung  aüe§  Uebrigen,  namentli^  aud)  beffen,  maä  ^aulu8 
oon  ber  SHe^tfertigung  ju  fagen  ^at,  n)ie  ber  Uebergang  oon  SRöm.  5 
)u  9i5m.  6  bemeift.  Unb  al§  fold^e  SSoraulfefeung  mirb  eS  ba* 
burc^  legitimiert,  bag  e§  nid)t  eine  t^eologifc^e  S^eorie  ift  ober 
eine  3ieIigion§p^iIofopt|ie,  fonbern  bie  fjorm,  in  ber  fid^,  n)a§ 
©runbt^atfa^e  unb  @runberlebni§  beS  gefamten  Ur(^riftcntum§ 
war,  für  ^auluS  geftaltet  ^at. 

(änblic^  oerroeilen  mir  noc^  mit  ber  2lufmerffamteit  bei  bem, 
mag  nun  ba§  fpejififc^  9leue  bei  ^auluS  ift,  moburc^  er  fid^  oon 
ben  aubem  3^w9«n  be§  Urc^riftcntum§  abgebt.  ®a§  ift  bie  SBen* 
bung  aufs  ffitf|ifd|e,  oon  ber  oben  fc^on  bie  SRebe  mar.  3»^  «r* 
innere  baran,  ba^  ^aulu§  au^  ben  @eifte§befit>  al§  neue§  et^i* 
f^e§  ^rinjip  mürbigt.  S)er  aCBanbel  nad^  bem  ®eift  fann  unb  foU 
nun  für  bie  ©Triften  an  bie  ©teile  be§  2Banbel8  nac^  bem  gleifc^ 
treten,  bie  grüßte  be§  @eifte§  an  bie  ©tette  ber  SBerfe  beS  g(ei* 
f(^e§.    Qä)  braud^e  ba§  nid^t  nälier  au§jufüf)ren,  ba  eS  allgemein 


310  Ä  a  f  t  a  n :  3"^  S)ogmatit 

befannt  unb  aiierfannt  ift.  3!d^  l^cbe  nur  noc^maI§  l^eroor,  bafe 
ber  Ucbergang  pom  Xxan^\ctnhmU®§6)atoloQ\\6)tn  jum  ^rtma- 
nent*®t]^if(^en  bei  ^autue  beutli^  er!cnnbar  ift.  ®r  oottjic^t  fid^ 
in  bcr  aBcifc,  bo^,  xoit  oben  gcjcigt,  au§  ber  gunäc^ft  c^c^atolo* 
gifd^  gebac^tcn  ©rlöfung,  ^Befreiung  oon  bcr  SBelt  ct^if^e  5o(ge= 
rungcn  gcjogcn  werben.  2lber  jelt  l^anbelt  e§  ftc^  nic^t  me^r  um 
ben  Uebergang,  fonberu  um  bie  SBcnbung  gum  (Jtl^ifc^en  felbft. 

Slllererft  aber  bie  grage:  wie  lommt  ^auluS  baju?  n)a§  ifi 
ber  Urfprung  biefer  bebeutfamen  ©ebanfenroenbung?  3)ie  änt» 
n)ort  mu§  lauten :  er  liegt  in  bem  @rlebni§  be§  äpoftete  oor  Sa* 
ma§!u§,  ift  l^ierauS  ol^ne  weitere^  üerftänblic^. 

Slämlic^,  mx  lönnen  au§  feinen  Sleu^erungen  entnehmen, 
ba§  e§  i^m,  aurfi  al§  er  ein  ®iferer  für  ba§  Oefefe  roar,  borum 
ju  t^un  geroefen  ift,  bie  aftioe  Oered^tigteit,  bie  Don  ®ott  gefor* 
berte  aSoOüommenl^eit  \xa6)  bem  Oefe^  ju  erringen  unb  §u  ocr^ 
roirflid^en.  3Kit  ber  ganjen  Äraft  feiner  ©eele  l^at  er  banac^  ge» 
trachtet  unb  barum  gerungen.  S)afür  legt  bie  @c^ilberung  beS 
©tanbe§  unter  bem  ®efe^  3?öm.  7,  7—25  vollgültiges  3«wgnig  ab. 

(Sr  jeigt  ^ier  unb  roiß  ^ier  jeigen,  ba^  ber  ©tanb  unter  bem 
©efefe  ein  ©tanb  unter  ber  ^errfc^aft  ber  ©ünbe  ift.  3)ie  ©c^il» 
bcrung  fielet  in  bem  S^f^mmenl^ang,  ba^  entwirfelt  wirb,  über 
bie  Kfiriften  merbe  bie  ©ünbe  nid|t  me^r  ^errfc^en,  roeil  fie  unter 
ber  ®nabe  fte^n  unb  nid^t  unter  bem  @efe^  SRöm.  6,  14,  3"fö* 
fern  bient  fte  ber  Erörterung  einer  allgemeinen  SBa^r^eit.  aber 
bie  fjarben  ju  biefem  93ilbe  t|at  ^auluS  auS  feiner  eignen  St» 
fa^rung  entnommen.  2)a§  brängt  fic^  jebem  beim  fiefen  unmittel- 
bar  auf.  ©o  fcf)reibt  niemanb,  ber  nur  eine  oerftänbige  le^r^afte 
SRefleyion  oorträgt.  @§  ift  feine  eigne  unter  bem  ®efe^  gemachte 
Erfahrung,  bie  er  ^ier  fd^ili^^^t. 

aSer^ält  eS  fic^  jebod)  fo,  bann  ift  eS  aud^  feine  eigne  ©r* 
fafirung,  maS  er  SRöm.  8,  2  fo  auSbrüdft:  ba8  ©cfeti  beS  ©eijie^ 
be§  fieben§  in  ®^rifto  Q[efu  l^at  mid^  (bi^)  befreit  oom  ®efe^  ber 
©ünbe  unb  beS  SobeS.  2118  ein  übermältigenbeS  erlebni«  ift  e5 
über  i^n  gcfommen,  fortan  loei^  er  fic^  in  ber  ^iifl^^ö^igf^i*  ä" 
®^riftu8,  im  Sep^  feines  ®eifte8  liinauSgel^oben  über  ben  alten 
Bmiefpalt.    @r  ift  je^t  einer,  in  bem  ba§  8txaia)|ia  be§  ©efe^eS 


Ä  a  f  t  a  n :  Qux  ^ogmatit  311 

erfüllt  lüirb.  aCBic  foHtc  er  benn  ni^t  biefem  neuen  fieben  beu  ©l^a* 
rafter  por  allem  ber  fxttlid^en  9leut|eit  jufprcc^en,  wenn  er  cS  felbft 
gerabc  and)  al§  eine  fittli^  befreienbc  2Wad|t  erfaliren  ^at?  ©o 
bfirfte  biefe  folgenreiche  SQSenbung  aufö  St^ifc^e  bei  ?ßaulu§  in 
ber  einfadiftcn  SBeife  erftärt  fein.  Zoi>  unb  Sluferroedung  (Sl^rifti 
ate  bie  aCBenbe  ber  QnUn  unb  ber  SBelten  wirb  für  ben  (S^riften 
burd)  bie  ®rfal)rung,  bie  er  bapon  mad^t,  jum  S^ob  be§  alten 
2)lcnfd)en  ber  ©ünbe  unb  jur  Sluferftel^ung  be§  neuen  ©eifteS* 
menf^en. 

S)arau§  ergeben  fid)  bann  aber  eine  SReil^e  pon  weiteren  @r« 
roägungen,  bie  für  bai^  SBerftänbniS  ber  ^aulinifc^en  ^rebigt  unb 
be§  bleuen  2:eftaniente§  pon  93ebeutung  finb. 

6  r  ft  c  n  §  ein  mel|r  2leu^erlid|e§ :  ^  o  l  ^  m  a  n  n  erf lärt,  bie 
^^robleme  ber  ^aulinifdien  2:l|eologie  lägen  por  allem  in  ber  5^age, 
mie  ft^  3üi>ifc^€^  unb  ^eltenifd|e§  bei  i^m  einigt.  2lu^  ^  f  l  e  i« 
ber  er  legt  hierauf  gro^e§  @ett)id)t.  ©o  liatte  fdt|on  ^olften 
biefe  ^^aulinifd^e  Oebantenreil^e  Pon  aap^  unb  Ttveuiia,  pom  S^obe 
ber  ©ünbe  im  ^l^ifd^,  gegenüber  ber  Pon  ber  SRe^tfertigung  al§ 
^ellcnifc^  d)arafterifiert.  ajlan  fann  alfo  fagen,  e§  fei  ba§  eine 
gemeinf ame  Slnfid^t  einer  ©ruppe  Pon  gorfd^ern  unb  jmar  folc^er 
gorfc^er,  auf  bereu  ©timme  mit  SRec^t  geliört  wirb. 

3ft  iebod^  irgenb  ric^tig^  roa^  ^ier  entmicfelt  rourbe,  bann 
trifft  bie§  Urteil  nid^t  ju,  mu^  bie  ganje  Srage  Pom  Qübifc^en 
unb  ^ellenifd)en  bei  ^aulu§  al§  nebcnfäd[)lid|  bejei^net  merben. 
®enn  roa§  fann,  um  es  fo  augjubrüden,  urjübifc^er  fein,  auf  baS 
barin  permertete  pordt)riftlic^e  ©ebantenmaterial  gefel^n,  als  biefe 
urc^riftlic^e  2lnfd|auuug  Pon  ber  SBenbe  ber  3^^*^"  '^  2:ob  unb 
Sluferfte^ung  beS  ^errn?  Unb  boc^  begegnet  gerabe  liier  ber 
©egenfa^  Pon  aap?  unb  TtvsOjAa,  auf  beffen  ^eHenifctje  ^erfunft 
fo  großes  ©emid^t  gelegt  wirb.  SBir  muffen  ba^er  urteilen:  l|at 
^aulu§  ben  mirHi(^  au§  ber  ^ellenifc^en  ^^ilofop^ie  entnommen 
(maS  ict)  nur  fel^r  bebingter  SGBeife  für  ri^tig  l^alten  !ann,  mag 
aber  nic^t  ^iertier  geliört  unb  ba^er  l^gpot^etifd^  jugegeben  merben 
mag),  fo  ift  boc^  mit  ber  Äonftatierung  biefer  Sil^atfadje  für  ba§ 
SBerftSnbniS  ber  $aulinif(^en  ©ebanfen  wenig  ober  nid^tS  geleiftet. 
2Bie  eS  benn  m.  @.  überhaupt  fe^r  fraglii^  ift,  ob  eS  Por  allem 


312  ft  a  f  t  a  n :  3ui:  ^ogmatif. 

auf  bic  ^crfunft  bc§  ®ebanfcnmatcriat§  antommt,  mittelft  bcffen 
un§  $au(ud  ein  uöQig  3lem^,  Originales  bietet,  nömtic^  baS 
®^riftentum,  bie  bie  folgenben  ^Q^rtaufenbe  be^errjc^cnbe  ®etfte§* 
mad^t  unter  ben  Äulturoöllern.  ®§  fommt  mir  ba§  vox,  wie  wenn 
man  eS  bei  bem  SSerftänbniS  eineiS  liod^ragenben  iWarmorbomS 
für  ba8  aCBid^tigfte  l^alten  mürbe,  feftjufteüen,  in  mel<^en,  ©ergen 
ber  babei  jur  Sßermenbung  ge!ommene  SRarmor  gebro^en  fei. 

SQBid^tiger  ift  ein  3w)eite§.  ®ie  8D8enbung  aufS  (Stl^ifc^e 
ift  fpejififc^  ^aulinifc^.  3).  ^.  ^aulu§  l^at  ba§  ©t^ifc^e  fefi  ein* 
gefügt  in  biefe  @runbgeban!en  beS  Urd^riftentumS  unb  beSS^ri« 
ftentumS  überl^aupt,  in  bie  @ebanfen  Don  ®rl5fung,  ^efreiunc) 
ou§  ber  SBelt  unb  oon  bem  emigen  fieben,  ba§  un§  bur^  ben 
®Iauben  an  ®]^riftu§  jur  gegenmartigen  SBirllic^teit  gemorben  ifl 
unb  un§  über  ben  seitlichen  %oh  ^inauS  mit  bem  emigen  ®ott 
Derbinbet.  3)a§  ift  fo  unb  babei  l^at  e8  fein  ©emenben.  3)o(^ 
mu§  eine  boppelte  ®infd^ränfung  babei  gemad^t  merben. 

©inmal  bie,  ba^  e§  bie  2lrt  ber  a3er!nüpfung  ober  benn  biefe 
aSertnüpfung  felbcr  ift,  bie  ba§  Sieuc  bei  ^auIuS  barftelll.  Sticht 
aber  überl^aupt  bie  99etonung  beS  Stl^ifc^en!  2)ie  gehört  fo  not- 
menbig  )um  ®^riftentum,  ba^  fie  aud^  im  Urd^riftentum  bei  fei« 
nem  ber  3^wgen  fel^It. 

SBor  allem  aber:  in  ber  urc^riftlid^en  ©emeinbe  ift  biefe 
SSerlnüpfung  etmaS  9leue§,  |ebod^  ni^t  im  ®^riftentum  überhaupt. 
S)enn  roenn  mir  nä^er  jufel^n,  finben  mir,  ba^  fie  fid^,  menn  auc^ 
in  anbrer  g^rm,  f^on  in  ber  ^rebigt  Qefu  finbet.  3)a§  jufünftige 
®otte3rei^  ift  burd^  i^n  für  feine  3»ünger  gegenmärtige,  erreid)« 
bare  8B3irtlid|feit  gemorben.  Unb  er  ^at  bie  attioe  ®ered^tigtcit, 
bie  er  oon  il^nen  f orbert,  mit  biefem  33efi§  in  eine  innere  95er« 
binbung  gebrad^t.  S)a§  f ann  l^ier  nid^t  im  ®in}elnen  oerfotgt  mer« 
ben.  ®§  brängt  fn^  m.  @.  jebem  auf,  ber  bie  ^rebigt  Qefu  ate 
®anje8  ju  oerftcl^en  fud^t.  ®a§  SßerftänbniS  penbelt  ja  ^in  uub 
l^er,  au^  in  ber  ®egenmart  gerabe  mieber.  3alb  foQ  ba§  ®t^ifc^e 
alles  fein  unb  baS  2^ranSfcenbent«®§d^atologif^e  nur  eine  jufaQige 
5orm,  balb  bagegen  biefeS  bie  ©ac^e  fclbft  unb  baS  ®t^ifc^e  ent* 
meber  ein  fpäterer  ^^^f^^  ober  etmaS  roa§  unoermittelt  nebenher* 
läuft.    3lber  bieS  ?ßenbetn  ^at  feine  3^^*/  ^iä  baS  ®leid^gemic^t 


Ä  a  f  t  a  n :  Qux  ^Bogmatif .  813 

wenn  au^  in  neuer  ^orm  wieberl^ergeftettt  ift.  2)enn  barin,  b.  ^. 
in  ber  SSertnüpfung  t)on  beibcm,  liegt  bie  aCBa^rl^eit.  Unb  ^auIuS 
ift  nic^t  einer,  ber  baS  Soangelium  burd)  frembortige  3ufä^e  auS 
bcr  3)ogmatif  ober  SReligionSpl^ilofop^ie  entftettt  \)at,  fonbem  er 
iß  ber  3«W9«  Qf^fu  ®t|rifti,  ber  bem  ©nangelium  Qcfu  bie  gorm 
gegeben  i^ai,  bie  e8  burd)  ben  2lbfd)Iu§  ber  Offenbarung  in  2:ob 
unb  Sluferfte^ung  (S^rifti  erl^alten  ntugte.  2)ic  ©age  non  ber  Äluft 
jroifc^en  3»ßfug  unb  ^aulu§  gel^ört  in  baS  Üteic^  —  nun  eben  ber 
Sagen  unb  SWarc^en. 

@nbli^  ein  2)  r  i  1 1  e  § !  (£§  fc^eint  mir  möglich,  eine  formet 
|u  prägen,  bie  ba§  Sleue  2:eftament,  feinen  Qn^ölt,  turj  jufammen* 
fügt  unb  bei  bem  93erftänbniS  aOe^  (Sinjelnen  leitenb  fein  mu|. 
3)iefe  fjormel  lautet:  bie  ^eil^iufunft  ift  jur  ®egen» 
mart  gemorben  unb  l^at  bod^  nid|t  aufgel^ört  ju« 
ffinftig  gu  fein.  S)a§  ift  ber  ©runbgebante  in  ber  ^rebigt 
3efu,  nic^t  minber  im  Urd^riftentum,  ?ßaulu§  cingefc^Ioffen.  @o= 
fem  nun  bai  9}eue  Seftanient  ben  (el^r^aften  9}ieberfd^Iag  be§ 
älteften  (£t)riftentumS  enthalt,  ergiebt  ftc^,  bag  ha^  aQeS  ooQ  non 
SBiberfprüc^en  ift.  SQBie  tann  —  um  nur  eines,  ba§  SBic^tigfte 
ju  nennen  —  mie  !ann  bie  ^eil^jutunft  gegenwärtig  unb  banad^ 
baS  ®cri^t  porüber  fein,  mä^renb  e§  anbverfeitS,  eben  biefeS 
felbe  @erid)t,  alS  jufflnftig  unb  benorfte^enb  geprebigt  mirb? 
2>onn  !ommen  bie  Sferjte  unb  motten  Reifen,  b.  1^.  l^ier  bie  SEBiber* 
fprfic^e  roegerflaren,  fo  ober  fo,  oon  bogmatifc^cn  ober  fritifc^en 
aSorauSfe^ungen  auS.  Slber  ma^rlid^,  ber  geiler  liegt  nic^t  am 
Cbjeft,  fonbem  an  benen,  bie  e§  betrad)ten.  ©ie  muffen  eben 
fic^  aUererft  mit  ber  ®rtenntniS  burc^bringen,  ba§  ba§  9teue  2:eftas 
ment  ein  großes  ^arabo;  ift,  unb  bie  eigenartige  unmieber^olbare 
gefc^ic^tlic^e  Situation  nac^empfinben,  in  ber  biefe  ©ebantenroelt 
cntftanben  ift  unb  ftel^t.  SEBer  baS  nid^t  fann  ober  nii^t  mitt,  wirb 
notroenbig  in  bie  ^frre  get(n.  &S  giebt  feine  ärgere  SSerfünbigung 
gegen  baS  9leue  2;eftament,  al§  menn  man  auf  biefe  ©ebanfen 
fdimere  ^änbe  legt  unb  fie  mit  abftratter  fiogit  jureditjurürfen 
ober  ju  meiftern  unternimmt. 

3um  ©^fug  be§  2lbfc^nitt§  brängt  fid)  bie  '^xa^z  auf,  ob 


314  Ä  a  f  t  a  tt :  3itr  ^ogmatit 

unb  in  n)cld)cr  SBeifc  roir  in  unfercr  heutigen  ®ogmatif  biefc 
©cbantenfreifc  ber  ^aulinifdien  ^rcbigt  Derrocrtcn  foßen  unb  fon* 
ncn.  aBcnigftcn§  rocm  e§  mit  bcm  2lutorität§prinjip  ber  ^eiligen 
©c^rift  in  ber  3)ogmati!  ernft  ift,  fommt  um  biefc  5^'agc  nic^t 
l^erum.  @ie  ift  gcrabc  ^icr  befonberS  bringlid^.  S)enn  roaS  roir 
bei  ^aulu§  gefunben  l^aben,  ^ängt  einerfeits;  mit  ber  unmieber^oU 
baren  Sage  ber  ur^riftlidtjen  ©emeinbe,  bie  bie  na^e  SCBiebcrfunft 
il^reS  ^errn  erwartete,  ungertrennlic^  jufammen  unb  fc^eint  ba^er 
burd^auS  unübertragbar  ju  fein.  Slnbrerfeit§  ^anbelt  e§  ftd|  in  biefen 
©ebanfen  nic^t  um  irgenb  etma§  am  S^riftentum,  fonbern  um  ba8 
©l^riftentum  felbft,  roie  eS  $aulu§  oerftanben  l^at;  fönnten  wir 
il^m  nun  barin  nid^t  folgen,  maS  l^at  e§  bann  noc^  für  einen  @inn, 
}u  fagen,  bie  ^eilige  ©c^rift  unb  t)or  altem  baS  9teue  Jeftament 
fei  ba§  6rlenntni§prinjip  ber  S)ogmatif?  3[n  ber  2:^at  fle^t  e^ 
fo,  ba^  bie  proteftantifd^e  ®ogmatit  mit  biefen  ©ebanfen  nichts 
anjufangen  roei^,  mit  biefen  ©ebanfen  nämlid^,  mie  fie  urfprüng^ 
lic^  gemeint  maren.  ©ie  werben  auf  bie  S3u|e  gebeutet  unb  in« 
fofern  nac^  i^rer  ettjifd^en  Seite  angeeignet.  Slber  ba|  eS  fic^  um 
bie  ©riofung  pon  ber  333 ett  l^anbelt,  unb  bag  im  ®^riftentum 
eine  fotc^e  ßel^re  pon  ber  ©rlöfung  burd^  S^rifti  ©terben  unb 
9luferftel|n  in  ben  SWittelpunft  ber  S)ogmatif  gebort,  oon 
Sled^tö  wegen  roenigften§,  roo  ift  benn  baoon  etma§  ju  lefen?  S)ie 
o§f etif^e Sitteratur  mei^  bauon.  ©ottfrieb  Slrnolb  fingt  un§ 
in  feinen  ergreifenben  fiiebern  biefe  SBat|rt)eit  inS  ^crj  hinein. 
9l6er  bie  3)ogmatif  fc^meigt  barüber,  fte  fennt  eine  fold^e  Se^re 
überl^aupt  ni^t.  Unb  wer  ben  ginger  barauf  legt  unb  betont: 
l^ier  l^anbelt  e§  fid)  um  ba§  ^erj  be§  6^riftentum§:  bem  wirb 
bebeutet,  ba§  pielmel^r  im  ©^riftentum  bie  ©rlöfung  ouf  ba§ 
et^if(^e  ©ebict  übertragen  ift  unb  mit  bem  jufammenfäflt,  voa^ 
mir  oon  SSergebung  ber  ©ünben  unb  SSerfö^nung  mit  @ott 
ju  leieren  Iiaben.  Unb  fo  roenig  wie  bie  mobemen  2:^eologen 
wollen  bie  SBibUciften  etwaö  baoon  wiffen,  bie  nur  für  biblifd^ 
galten,  xoa^  im  Jionoentifel  Kur§  ^at.  aWit  anbern  aBorten  alfo: 
waS  für  ^.ßautuS  21  unb  O  ber  ^Jrömmigfeit  war,  foß  ^eute  über« 
l^aupt  nic^t  mel^r  jum  ©t)riftentum  gel^ören. 

©^  ift  gefc^idt)tlid^  oerftänblid^,  wie  e§  l^ierju  gefommen  ift. 


Ä  a  f  t  a  n:  Qux  ^oömatif.  315 

3)i€  Srroavtung  ber  na^en  SEBicbcrfunft  bcS  ^errn  ift  im  jtüciten 
Oa^t^unbert  aümo^lii^  oerbtafet.  S)ic  ©tcKung,  bic  bic  alten 
E^riftcn  jur  SBcIt  einnahmen,  bic  2lnfirf)t  Dom  Scbcn  unb  bie 
Scbcnöfü^rung,  bie  f\ö)  il^nen  barouS  ergaben  —  b.  1^.  alle§  ba§, 
wa^  fic^  fär  ]le  an  iene  @rn}artung  be§  naiven  @nbe§  anfc^Iog^ 
mu^tc  aufl^oren  ober  anberc  JJormen  annehmen.  @§  \)at  fid)  in 
bic  Älöfter  geflüci|tet,  in  i^nen  ^at  ftc^  bie  urc^riftUc^e  Stimmung 
erhalten,  nic^t  unroefcnttic^  ücränbcrt,  aber  boc^  in  bcm  ®runb= 
gebauten  ber  SBcltocrleugnung  mit  i^r  jufammentreffenb.  S)iefc 
3nftitution  ber  alten  unb  mittelalterlichen  Äirc^c  l^at  nun  bie  SHc* 
formation  permorfcn.  SKit  gutem  ©runb!  SBon  SInfang  an  mar 
bie  mönd)if^e  J^ömmigteit  eine  93erffirjung  beS  6^riftentum§  ge* 
mefen.  Unb  bie  ®ejc^id|te  l^attc  überbieg  gelehrt,  ba^  eine  folc^e 
©timmung,  menn  fxc  ^iiftitution  mirb  unb  auf  Statuten  geftellt, 
i^re  innere  S33a]^rt)eit  nur  ju  leicht  Derliert,  nici(t  in  alten  aber 
in  oiclen,  ja  in  ber  SJlaffe  jur  ^euc^elei  wirb  unb  auf  eine  Aar« 
rifatur  beS  @^riftentum§  hinausläuft.  2Wit  9Je^t  ^at  alfo  bie 
Deformation  alle§,  ma§  SWönc^tum  unb  Slofterroefen  ^ie§,  au§* 
gefc^ieben.  2lber  fie  ^at  bann  in  biefem  5ßunft  nid^tg 
au  bic  Stelle  ju  fe^en  gemußt. 

SEBenn  an  irgenb  etma^,  fann  man  I)ierau  ftubieren,  oon 
roelc^er  unermefelidien  53cbeutung  für  un§,  für  unfere  Äird)e  unb 
bie  in  i^r  gepflegte  g^ömmigfeit  bie  Seigre,  bie  ®ogmatit 
ift.  Sic  Sinpitutionen  ber  !at^olifcf|en  ^ird)c  finb  i^r  fremb  unb 
fönncn  in  i^r  nic^t  mieber^ergeftellt  merben.  SEBie  aber  bas;  Kf)riften* 
tum  brübeu  Qnftitutiou  ift,  fo  ift§  in  ber  Kird^e  ber  ^Reformation 
@  l  a  u  b  e  unb  b.  l).  eben  objef tio  ausgeprägt  fie^rc  als  ^luSbrud 
beS  ®laubcn§.  SBeil  bie  Sieformation  unb  bie  reformatorifd)c 
i^eologie  feine  Se^rc  oon  ber  ©rlöfung  gefc^affen  ^at,  nur  oon 
5Bcrfö^uung  unb  SRed^tfertigung  burc^  ©^rifti  2iob  unb  2lufer* 
ftc^ung  roei|,  begl^alb  ift  ein  mefentlic^eS  9Woment  be§  ©Triften* 
tum§  in  i^r  unfid^er  gemorbcn.  Slud)  bic  ®ogmatif  be§  ^ietiS* 
mnS,  ber  biefem  ^Rangel  abiu^elfen  fuc^t,  l^at  t)ieran  ni^tS  ju 
befferu  gemußt.  ®er  5ßietiSmu§  ^at  eö  thm  5U  feiner  bleibenben 
unb  nac^l^altigen  Sßirfung  bringen  fönncn,  mcil  er  cS  nid)t  auf 
eine  SSerbcf f erung  ber  ße^rc  abfal).    3Booon  aber  baS 


316  ft  a  f  t  a  n :  3«^  5)oömatif. 

nic^t  gilt,  bleibt  in  unfrcr  Äird^e  unfid^er  unb  pcr= 
fct)It  bic  aBirfung  auf  8  Oanje,  98olIenb§  liegt  e§  ber  ©e- 
genioart  fern,  bie  unerlebigte  2lufgabe  anjugreifen.  S)te  neuen 
^ropl^etcn,  bie  fic^  l^eute  oernel^men  laffen,  meinen  t)ielme^r,  cS 
fei  an  ber  Qtxt,  bie  negatiüe  „fat^olifd^e"  ©teöung  }ur  SBelt  auä 
bem  ©^riftentum  au^jumcrsen.  ^n  meiner  ^fugenb  fuc^ten  bie 
greunbe  @ötl^e§,  bie  fxä)  jum  S^riftentum  betannten,  ju  jeigen, 
ba^  aud^  er  fein  ^eibe  gemefen  fei.  .^eute  fc^eint  er  (auf  bem 
Ummeg  über  ©arlgle?)  mel^r  unb  me^r  ju  einem  ^eiligen  er* 
l)oben  }u  merben,  t)on  bem  mir  ba§  ma^re  @it|riftentum  ju  lernen 
^aben. 

2lber  ba§  fmb  oorübergel^enbe  Stimmungen.  Unjmetfel^aft 
ift  e$  bie  älufgabe  unb  bleibt  e§  bie  älufgabe  ber  eoangeltfc^en 
^Dogmatil,  93erfäumte§  nac^ju^olen,  bie  fie^re  non  ber  Sriöfung 
bur^  ©lirifti  Xoh  unb  3luferfte^ung  —  a(§  Srlflfung  oon  ber 
SEBelt  unb  bar  um  t)on  ©ünbe  unb  '$Ui\ij  —  jU  f  Raffen  unb 
in  ben  SJlittelpunft  ber  c^riftU(^en  SJerfünbigung  unb  Uebung  ber 
grömmigteit  ju  fteüen.  SBirflid^  bringenb  ift  beSl^alb  bie  fjrage, 
mie  mir  bie  ^ier  befprod)cnen  ©ebanfentreife  beö  SIpoftete  ^ißautu^ 
ju  oermerten  l^aben.  3)enn  babei  ^anbclt  eS  fic^  eben  um  bie  je^t 
l^eroorgeliobene  Slufgabe,  bie  eine  ber  mid^tigften  unter  aflen  ift. 

3lict)t  fotlen  mir  eine  ^aulinifdie  Seigre  in  ben  3^fö"iJw^"' 
l^ang  unferer  ®ogmatif  einführen.  3)aö  ift  überhaupt  unb  l^ier 
erft  re^t  unmöglid).  SBir  lönnen  nid)t  mel^r  lehren,  ber  Xoi 
be§  ^errn  fei  bie  SBenbe  ber  aSSeltjeitaltcr,  ber  gegenwärtigen 
unb  jutünftigen  SBelt  gemefen  —  etma§,  maS  Icine§  9loc^n)eife§ 
meiter  bebarf.  älber  au^  bei  $aulu§  ^anbelt  e§  fi^  ja  gar  nic^t 
um  eine  fot^e  Se^re.  @rft  menn  mir  e§  auS  feinem  3Runbe 
nähmen,  mürbe  e^  für  un§  eine  (tote)  ße^re  merben.  3m  SRunbe 
bc§  9lpofteI§  ift  e§  3^^9ni^  ^^m  @runberlebni§  beS  6^^riften. 
3Ba§  ftc^  fragt,  ift,  ob  bie§  mirüic^  an  ben  (für  und  ni(^t  me^r 
möglichen)  ©ebantenjufammen^ang  beS  uri^riftlic^en  ®Iauben§  ge« 
bunbcn  ift. 

SDaS  mirb  niemanb,  ber  be§  inneren  SebenS  funbig  ift,  be* 
l^aupten  moßen.  Q6)  tamx  ganjlic^  bal^ingefteHt  fein  laffen,  maS 
eS  mit  bem  Snbe  ber  3)inge  auf  fic^  ^at,  ob  e§  fommt  unb  mann 


5e  a  f  t  a  n :  3ur  Dogmatil  817 

e^  fommt,  unb  tonn  bod|  am  Sterben  unb  3luferfte^en  Sefu 
©^rifti  bie  gro^e  SBenbc  erleben,  bie  ^ineinoerfe^ung  in  ®otteS 
eroigeS  fieben  unb  bie  2lb!e^r  Don  ber  SBelt.  ®cr  entf^eibenbe 
?ßun!t  ift  nid)t  ba§  ®rum  unb  3)ran,  fonbem  bieS,  ba^  ein 
SWenf^  unb  ob  ein  aWenfc^  im  @n)igen  aU  in  feiner 
®egenn)art  leben,  unb  bag  er  bie^  fieben  im  @n)igen 
richtig  Derfte^en  lernt  —  rict)tig  im  Sinn  3^efu  S^rifti  unb 
feiner  erften  QtuQzn.  ©erabe  ba§  Sterben  3f«fu  al§  ber  2lbfd^Iu§ 
feines  armen  SebenS  in  ber  SBelt  einerfeitS,  al8  ba8  gro^e  Opfer 
ber  Siebe  anbererfeit§,  bietet  baS  SÄittet,  jebem  beutli^  ju  madjen, 
roorum  e§  ftc^  ^anbelt,  jebem,  ber  lialbmegS  geöffnete  Dfiren  ^at. 

^nbeffen,  i^  mill  unb  barf  l|ier  ni^t  roieber^olen,  maS  ic^ 
ol8  Se^re  t)on  ber  ©rlöfung  in  ber  3)ogmatif  oorgetragen  ^abe. 
Qcf)  ^übt  barin  jufammengefa^t,  n>a§  un§  ba§  9leue  Sieftament 
bietet,  nid)t  du^erli^  jufammengebogen,  fonbem  au§  ber  SBurjel 
^erauS  in  feiner  inneren  ®in^eit  aufgeroiefen.  @anj  pon  felbft 
ift  e§  aber  l)ier  mie  fonft  namentlid)  bie  ^aulinifc^e  93er!ünbigung 
geroefen,  bie  ben  redeten  SBeg  jur  äufon^ntenfaffung  geroiefen  f|at. 
3Äan  fann  alfo  an  bem  bort  Vorgetragenen  fe^en,  in  welcher 
SBSeife  ic^  biefe  ©ebanfentreife  beS  SlpoftelS  bogmatifd^  oermerten 
ju  foUen  meine. 

9totflrlid^  bilbe  \6)  mir  nid)t  ein,  bamit  bie  fo  bringenbe  Sluf gäbe 
roirfli^  gelöft  gu  ^aben.  ©aoon  fann  bei  einem  folgen  erften 
SBerfuc^  teine  SRebe  fein.  @§  fommt  junäd^ft  nur  barauf  an,  bie 
äufmerffam!eit  auf  bie  9tufgabe  al8  folc^e  ju  lenten,  bamit  fie 
in  bie  3)i§!uffion  eingeführt  unb  ernftlid^  angefaßt  loerbe. 

^od)  möchte  ic^  nid)t  gern  ben  (Sinmanb  ^ören,  eS  ^anble 
fic^  in  bem  SBorgetragenen  um  geMnftelte  ©ebanfen  unb  fompli* 
gierte  Se^re.  Ober  ben  anbern,  e§  fei  baS  etmaS,  roaS  bem  mo* 
bernen  aufgefldrten  SWenfc^en  oöHig  fern  getreten  unb  fremb  ge» 
morben  fei.  9Ber  ba§  meint,  foU  nur  oerfuc^en,  im  Sinn  biefer 
Se^re  ju  prebigen.  @r  wirb  balb  entbeden,  ba§  fotc^e  ^rebigt 
aud)  Ijeute  offene  O^ren  unb  fe^nfüc^tige  ^erjen  finbet.  3)a§  barf 
ic^,  ber  ic^  fein  g^embling  auf  ber  Mangel  bin,  au§  eigener  @r« 
fa^rung  begeugen.  ?larf|  nichts  oerlangt  bie  Seele  met)r,  unb 
nichts   oerbinbet  un§  S^riften   inniger  unter   einanber   al3  baS 


818  ^  a  f  t  a  n:  3ur  S)ogmoti!. 

SBort  oon  Kfiriftt  Sterben  unb  2luferftc^en,  ba§  roir  au§  bem 
5!Jlunbe  feine§  größten  9Ipoftefö  nehmen. 

3. 

3)ie  ®eban!en  be§  2{pofteI§  fmb  eine  religiöfe,  feine  t^eo* 
logif^e  ®inf|eit  —  fo  l^abe  ic^  gleii^  SBtnfang8  geltenb  gemacht. 
SGBir  bürfen  ba^er  anä)  ben  Uebergang  Don  ben  bi§  je^t  oerge- 
genttJdrtigten  ®eban!en  be§  SlpoftelS  über  bie  SBenbe  ber  SBelt* 
jeitalter  in  ©^rifti  2;ob  unb  2luferftet)ung  ju  ben  anbern  über 
bie  Offenbarung  ber  ©erec^tigfeit  oor  @ott  in  feinem  ßreuj  — 
roir  bürfen  il|n  nid^t  birett  fud^en.  2)ie  eine  Seutung  IS^t  fic^ 
nic^t  au§  ber  anbern  ableiten,  roeber  biefe  au§  jener  nod^  jene 
au§  biefer.  93eibe  fte^en  junäi^ft  neben  einanber.  S)er  innere 
Sufammenl^ang  ift  nic^t  tJ^eoIogifd^,  fonbern  burd^  bie  (Sin^eit 
be§  religiöfen  @rlebniffe§  nermittelt. 

9lämlic{),  xva^  ^au(u§  unmittelbar  erlebte,  ma^  ben  ^nl^alt 
feine§  ®rlebniffe§  au^ma^te,  mar  ber  ®eifte§empfang  burc^  ben 
®lauben  an  ®^riftu§,  bie  mpftifc^e  ^Bereinigung  mit  i^m.  Unb 
barin  erbtidt  ^aulu§  mit  bem  gefamten  Urc^riftentum  ben  Stu« 
brud^  ber  jufünftigen  SBelt:  bie  ^eil§ju!unft  ift  jur  ©egenmart 
gemorben.  Sann  liegt  aber  barin  ol^ne  meitere§  jugleic^  bie  ooU* 
fommene  ©ünbenoergebung  ober  bie  SRed^tfertigung  berer,  bie 
burrf>  (J^riftum  be§  göttlichen  ®eifte§  unb  SebenS  teilhaftig  ge« 
morben  fmb. 

S)a§  ift  ein  innerer  3i4fö>""^^n]^öng,  ber  nic^t  erft  fonftruiert 
ju  werben  braucht,  oon  bem  fd)on  bie  Sßorgefc^id^te  biefer  ®e» 
bauten  in  ber  altteftamentli^en  ®emeinbe  verbürgt,  baß  er  al§ 
fetbftDerftänbtid^  galt  unb  in  aller  ^erjen  lebte.  3)a§  Seiben  ift 
©träfe  für  bie  ©ünbe.  S)ic  Sitte  um  Vergebung  ift  ibentifd^ 
mit  ber  53itte  um  2lufl|ebung  be§  ©trafoeri^ängniffeS  b.  ^.  beS 
Seiben§.  Qu  biefer  Sluf^ebung  mirb  bie  Vergebung  erlebt.  2)em* 
entfpred^enb  mirb  aud^  bie  ^eitejutunft  oorgeftellt.  3)ie  ooHfom^ 
mene  ©ünbeuüergebung  ift  bie  93ebingung  ber  ®rlöfung  oon  allem 
Uebel  unb  bem  2:obe  felbft.  Ober  umgefe^rt:  bie  ®rlöfung  ifi 
ber  2:^atermei§  ber  Dotlfommenen  93ergebung.  ^aben  mir  in 
®f)viftu§  bie  ©rtöfung  unb  ben  ^iiS^ng  jur  gutünftigen  SQSelt,  fo 


Raftan:  3ur  ^oßtnati!.  319 

ijt  ba§  ber  2:^aterit)ei§  bcffcn,  ba§  wir  in  it|m  Sßcrgcbung  unb 
SHcc^tfcrtigimg  ^abcn.  3n  bcm  ©mpfang  be§  ®cifte§  liegt  alfo 
eo  ipso  bic  93crgcit)ifferung  ber  göttlichen  SSergebung  ober  be§ 
rcc^tfertlgenben  Urteil  ®ottc§.  ®§  war  mittiin  für  ^aulu§  eine 
£^atfa^e  ber  (Srfo^rung,  ba^  i^m  im  @Iauben  an  (£^riftu§  @ün« 
bcuDergebung  ober  SRe^tfertigung  gegeben  fei. 

®al.  3, 1 — 3  erinnert  ber  Slpoftel  bie  Sefer  baran,  ba§  fie 
burc^  bie  ^rebigt  be§  ®lauben§  ben  ®eift  empfangen  ^aben. 
3)aran  fc^Iie^t  er  95.  6  bie  SBorte  an :  wie  2lbra^am  ®ott  glaubte, 
unb  i^m  baS  jur  ®erec^tigteit  gered^net  rourbe  —  obmo^t  im 
aSor^erge^enben  oon  ber  ^Rechtfertigung  gar  nicl|t  bie  SRebe  ge* 
loefen  ift.  ®in§  liegt  eben  unmittelbar  im  anbern:  ber  ©eifteS« 
empfang  ift  2:^atern)eig  ber  Sixatoouvyj.  @benfo  ift  biefer  not« 
roenbige  innere  3wfonimen^ang  oon  ©erec^tigteit  unb  Seben  bie 
al§  felbftoerftänblic^  genommene  SSorau^fe^ung  ber  SIrgumentation 
be§  2lpoftel§  SRöm.  1,  18—5,  11.  2)entt  man  fie  tiinmeg,  fättt 
bie  ganje  93etrac^tung  ^in.  2)a§  eben  ®efagte  ift  alfo  nid^t  eine 
^gpot^efe,  bie  man  roiberlegen  fönnte,  fonbern  etroa§,  xoa^  bei 
^auluS  felbft  offen  ju  tage  liegt. 

®anad^  ift  ber  3wföntmen§ang  roefentlid)  anber§  ju  beur* 
teilen,  al§  bei  ^olften  gefcl)ie^t.  Q^^m  jufotge  empfängt  $aulu§ 
au§  bem  ®rlebni§  oor  ®ama§fu§,  ba§  i^n  ber  SWefftanität  be§ 
©efreujigten  oergemiffert,  ben  2lnlag  ju  ber  il^m  eigentümlid)en 
@noft§  be§  Sreujeg  K^rifti,  melclie  jur  dlteften  urcf|riftlict)en  ^re* 
bigt  in  einen  relativen  ®egenfa^  tritt.  ®a§  SRefultat  biefer  ®nofi§ 
ift  feine  SSerfünbigung  oon  ber  ^Rechtfertigung  burc^  ben  ®lauben. 
3n  SEBal^rl^eit  liegt  bei  ^autu§  in  bem,  ma§  er  erlebt,  bie  aSer* 
gebung  ober  Rechtfertigung  implicite  mit  brin.  3)a^  er  fte  an 
ben  Job  ©tirifti  anfnüpft,  oerftetit  fic^  oon  felbft.  3)enn  fo  l|at 
er  e§  empfangen,  unb  fo  ift  e§  oon  Slnfang  an  in  ben  ©emein« 
ben  oerfünbigt  roorben,  ba§  (£t)riftu§  geftorben  fei  für  unfere 
©ünben  nad^  ber  ©c^rift.  Stlfo  baju  l^at  e§  nid^t  erft  einer  bog== 
matifdien  Ueberlegung  beburft,  beren  fic^  ^aulu§  al§  etioa§  ©on* 
berlii^en  bemüht  geroefen  märe.  @r  ift  au(^  in  biefer  93ejie^ung 
einfad)  in  bie  SSerfünbigung  eingetreten,  bie  in  ber  urc{)riftlict)cn 
©emeinbe  gang  unb  göbe  mar.    ®ann  t)at  fi^  freiließ  bei  ^aulu§ 


i  320  Ä  a f  t a n:  3ur  "^oqmakit 

oßmä^Iid^  ein  bcfonbercr  2:gpu8  biefcr  aScrfünbigung  entroicfelt. 
®a§  ftc^t  im  3wfQnintßn^an9  mit  feiner  Stellung  jum  ©efe^. 
S)arauf  \)at  bat)cr  and)  bic  Äontroocrfe  übet  ba§  @efe^  einen 
@inf(u^  ausgeübt.  9lber  baS  ift  ein  Späteres^  aamäilic^  @e« 
morbcneS  unb  nic^t  ba§  ©runbgefüge  aller  ^aulinifc^en  SBerfün* 
fünbigung,  meber  3lnfangig  noc^  jemals  im  weiteren  SSerlauf. 

5Jiatürlic^  fann  unb  foll  ni(^t  oon  norn^erein  abgelehnt  wer» 
ben,  ba^  e§  mit  ben  babei  tierauSgefommenen  ©ebanlen  bic  pon 
^^olften  betiauptete  ober  boc^  eine  ätinlic^e  S3eroanbtnig  ^at. 
933ir  werben  ja  [e§eu,  mie  e§  fic^  bamit  »erhält,  roenn  mir  gleich  nä^er 
auf  bie  ©ac^e  eingeben.  S)ie  ^auptfad)c  ift,  ba|  ^olften  in 
ber  9lrt,  mie  er  ben  3wfammen^ang  üorftctit, 
irrt.  @§  ift  nid^t  an  bem,  ba§  ^aulu§  ftc^  als  SBorauS» 
f  e  §  u  n  g  feiner  SSertünbigung  eine  2:^eorie  ausgebaut  ^ätte,  bie 
in  einen  (relativen)  @egenfa§  ju  ber  oon  i^m  oorgefunbcnen  ge* 
treten  märe.  ®§  ^anbelt  fid|  in  i^r  oielmel^r  jebenfaHS  um  eine 
befonbere  2lu§prägung  gemeinc^riftlic^er  ©ebantcn.  Unb  man  ^at 
eS  ftd^  fo  oor^uftellen,  bag  aKe  biefe  @ebanfen  bei  ^auluS  leben« 
big  unb  flüffig  maren. 

^iernac^  mug  fic^  au^  bie  3etrac^tung§meife  richten.  9Bir 
^aben  aud^  t|ier  nid^t  etma  hinter  allen  l^ierl^ergel^örigen  Sleuge« 
rungen  be§  SlpoftelS  eine  fefte,  fic^  überall  gleich  bleibenbe  Si^eorie 
}u  fuc^en,  fonbern  mir  ^aben  ben  SSerfuc^  ju  machen,  ob  mir 
un§  bie  5Ber!ünbigung  beS  2lpoftelS  al§  ein  ^robutt  auS  ben  oer« 
fc^iebenen  babei  gufammenmirfenben  tJ^ftoren  erHären  fönnen. 
9tur  fo  merben  mir  anö)  biefe  S)eutung  be8  SobeS  ß^rifti  bei 
^^auluS  als  etmaS  SebenbigeS  oerfte^en  lernen. 

2lllererft  ift  aber  ju  betonen,  ba|  auc^  in  biefem  3ufönimen« 
^ang  bem  ©runbgebanfen  beS  SReuen  SeftamcntS  oon  ber  gegen* 
märtig  gemorbenen  ^eilSjufunft  maggebenbe  ^ebeutung  jutommt. 
SB  i  r  tiaben  unS  längft  gemötint,  bie  Sünbenoergebung  ober  SRed^t» 
fertigung  als  ^rinjip  ber  c^riftlic^en  grömmigteit  oon  ben  @e* 
banfen  über  baS  erfc^ienene  @nbe  gänjlic^  iu  trennen.  Slatflrlid^ 
^aben  mir  baS  getf)an,  mir  fonnen  gar  nic^t  anberS.  (£8  ifi 
©otteS  gü^rung  in  ber  Äird^e,  baS  2tuSbleiben  ber  SBieberfunft 
3^efu,  maS  baju  genötigt  ^at.    Slber  mir  bürfen  baS  nic^t  in  baS 


H  a  f  t  a  n :  3ui  Dogmatil.  321 

.9}eue  ä^eftament  gurüdftragen.  ^ier  gel^ört  (iDietd^  o6en  fd)on  auä« 
führte)  @üttbenDerge6ung  unb  ^Rechtfertigung  mit  ber  @rlöfung 
unb  9Be(t9erHärung  nottoenbig  jufammen.  S)a§  ift  nid^t  fpejififc^ 
$aulinif(^,  fonbem  aQgemein  urc^riftlic^.  S)amit,  ba^  ha§  @nbe 
ber  SBelt  avL\  unS  getommen  ift,  ift  e§  Dertnüpft,  ober  bamit  ift 
e§  gegeben,  bo^  xüxx  bie  PoQtontmene  SSergebung  ber  @ünben 
^aben:  ber  aber  unS  ou^gegoffene  @eift  ift  ber  2;i^atern)eiS  beffen. 

©pejififd^  5ßaulinifc^  ift  eö  jeboc^,  ba^  er  ftatt  Don  ber  SSer« 
gebung  ber  ©ünben  oon  ber  SRed^tfertigung  rebet  —  roe* 
nigftenö  burdiroeg,  bie  SDSortDerbinbung  äcpeat;  töv  ifiapitöv  fommt 
nur  fetten  bei  i^m  oor.  ©emeint  ift  mit  ber  SRed^tfertigung  ba§* 
felbe,  benn  $aulu§  Derfte^t  barunter,  xoa^  x6)  als  anerfannt  oor^ 
ausfegen  barf,  baS  freifpred^enbe,  loäfprec^enbe  Urteil  ®otte§  über 
bie  ©finber.  9io^  beftimmter  als  ber  SerminuS  „©ünbenoer* 
gebung"  roeift  aber  biefer  anbere  ScrminuS  „SRec^tfertigung"  auf 
ba§  nunmehr  erfc^ienene  @nbe  ber  SBelt  ^in.  Sie  Ste^t« 
fertigung  ift  gar  nid^tS  anbereS  als  baS  freifpred^enbe  Urteil  @otteS 
im  jüngften  (Scric^t.  SRöm.  2,  13  in  bem  ßufammen^ang,  in  bem 
'ißauluS  jeigt,  ba|  bie  3Renfc^en,  Quben  wie  Reiben,  otine  ©^riftuS 
bem  gottlidien  ßorn  oerfaüen  muffen,  finben  mir  baS  SSäort  aud) 
bei  i^m  in  biefem  feinem  urfprflnglic^en  ßufammenl^ang  gebraust, 
©agt  er  oon  ben  ©Triften,  bafe  fie  nun  gerecht  ftnb  oor  ®ott 
bur^  ben  ©lauben,  unb  bejei^net  er  biefe  @ered^tigfeit  auS  bem 
@lauben  als  Hauptinhalt  feines  (SoangeliumS,  fo  fpric^t  er  aud) 
bamit  aus,  ba|  bie  SSoUenbung  ba,  bie  ^eitSjutunft  jur  ©egenmart 
gemorben  ift.  9Bobei  bann  freiließ  ^ier  befonberS  in  ©ebanfen 
behalten  merben  muJ5,  baj5  bie  3iifw^ft  anbrerfeitS  nic^t  aufge* 
^ört  ^at,  jufünftig  ju  fein  —  bie  paraboje  SSorfteßung,  bie  für 
baS  Uri^riftentum  unb  baS  SReue  2:eftament  d^arafteriftifc^  ift. 

^tagen  mir  roeiter,  mie  ^autuS  baju  tommt,  biefcn  2:ermi* 
nuS  ber  ^Rechtfertigung  in  ben  3wfommen^ang  ber  c^riftlidjen 
aSerfünbigung  einjufül(ren,  fo  ift  bie  näc^fte  2lntroort  leicht:  eS 
ift  ber  oormalige  ^^arifäer,  ber  baS  tl|ut.  ®S  mar  baS  ein  fefter 
JerminuS  ber  p^arifäifctjen  ©ogmatit.  3)aS  ift  niclitS,  als  maS 
mir  burd^meg  im  9leuen  2:eftament  unb  auc^  fonft  in  großen 
geifiigen  93eroegungen  finben:  bie  Söäorte   merben  auS  ber  aScr«' 

3dtf<^rift  für  «Geologie  unb  Stixdft.  14.  3o^rfl.,  4.  $eft.  22 


322  Ä  tt  f  t  a  n :  3ur  ^oßmatit 

gangen^eit  ^erübergenommen^  erhalten  nun  aber  im  neuen  3^' 
fammen^ang  einen  neuen  ©inn.  ©o  au^  ^ier !  SÄber  ^ier  gerabe 
n)irb  e§  ni(^t  iufädig  ober  unben)u^t  ftc^  fo  geftaltet  ^aben.  @S  ift 
beiDu^te  ^bftd^t,  bie  babei  gehaltet  ^at  ^auluS  \)at  }um  Stu^- 
brudE  bringen  n)o((en  ben  ©egenfa^  be^  SnangeliumS  gegen  bie 
p^orifäifc^e  ©runbanfd^auung.  3)e§^alb  bebient  er  fid^  be^felben 
SBorteS,  aber  im  entgegengefc^ten  ©inn:  Siec^tfertigung,  aber 
nid^t  n)ie  bie  ^^arifder  lehren,  auf  gute  3B3erfe  l^in,  jo  baj3  ©ort 
mittelft  biefeö  Urteils  eine  im  3Jienf(^en  nor^anbene  ©erec^tigfeit 
anerfennt,  —  nein,  ®ott  red^tfertigt  ben  ©ottlofen,  SRed^tfertigung 
o^ne  be§  ©efetjeS  9Berf e  allein  burd^  ben  ©tauben !  ©o  wirb  ber 
©egenfa^  jmifd^en  ber  p^arifäif(^en  älnfc^auung  unb  bem  @pan< 
geUum  non  ©^rifto  auf§  S)eutlid^fte,  auf§  ©c^rofffte  ausgeprägt, 
fragen  wir  bann  aber  roieber  nac^  bem  ©runb  biefer  93er!ün* 
bigung,  fo  werben  mir  i^n  ni^t  mit  ^olften  in  einer  neuen 
S^eorie  über  ben  2;ob  ®^rifti  fud)en.  ®a§  bilbet  jmar  ben  feften 
unb  felbftoerftänblid^en  ^intergrunb,  ba^  ber  2:ob  beS  ^eilanbS 
bie  l^ier  in  ^etrai^t  tommenbe  2:()atfac^e  ift.  9lber  baS  ^at  ^au^ 
Iu§  au§  ber  Ueberlicferung  empfangen :  er  ift  geftorben  für  unfere 
©ünben  nad^  ber  ©^rift!  3Ba§  fic^  fragt,  ift,  roie  er  baju  ge« 
fommen  ift,  im  Unterfc^ieb  oon  ben  anbern  ben  ©rtrag  beg  io* 
beS  S^rifti  für  bie  ©emeinbe  in  biefe  antip^arifäifc^e  g^rm  ju 
f äffen:  SRed^tfertigung  bur^  ben  ©lauben! 

Offenbar  ift  e§  bie  ©teOung  be§  3lpoftel§  jum  ©efe^,  bie 
ba  entfd^eibenb  in  93etrac^t  {ommt.  ©c^on  ganj  im -JtOgemeinen. 
@r  ^at  eS  mit  bem  ©efe^  unb  ben  oäterlic^en  Ueberlieferungen 
in  jeber  SBeife  oerfu^t.  Slber  oergeblid^!  ©ine  oor  ©ott  genu* 
genbe  ©ered^tigfeit  ift  auf  biefem  2Beg  nic^t  ju  erreichen.  3)aS 
ift  aud^  nic^t  ©otteS  SEBitte.  9lu§  ©naben,  mie  ber  3lpoftel  je^t 
felbft  erfaliren  l^at,  giebt  er  bem  ©lauben.  3)a§  ©efe|;  ifi  gar 
nid^t  baju  gegeben,  um  alS  ^eilSprinjip  ju  bienen,  eS  ift  nur 
jroifc^eneingefommen  jmift^en  33er^ei§ung  unb  ©rfüüung,  um  ju 
oer^üten,  bafe  S^fraet  oor  ber  ooii  ©ott  beftimmten  Qtxt  be§  ©rbe§ 
teilhaftig  rolrb. 

ajlittelft  biefer  ©rtenntniS  ^ebt  ^aulu«  bie  2:]^oro  in  ber 
c^riftli^en  ©emeinbe  auS  ben  2lngeln  —  nic^t  blo^  für  bie  in 


Ä  a  f  t  a  tt :  3"!^  S)ogmatif.  323 

fte  eintrctcnbcn  Reiben,  fonbcrn  auc^  für  bie  oormaligen  3>ubcn. 
Unb  mit  biefet  feiner  Stellung  )um  @efe^  ^angt  e§  offenbar  }u« 
fammen,  bag  $autu§  ftc^  jum  Slpoftel  ber  Reiben,  jum  SSertfln« 
biger  be§  SDongeliumS  in  ber  aSöIferroelt  berufen  roei^.  ®eun 
bQ§  ift  i^m,  TOo^t  Don  feiner  ©efetirung  unb  ©erufung  l^er  (®at. 
1, 16),  innere  ©eroi^^eit,  ba§  @ott  it)n  baju  beftimmt  ^at.  9lä* 
^cre§  erfahren  roir  barüber  nic^t.  2Bir  fönnen  nic^t  fagen,  ob 
$au[u§  bei  bem  @rle6ni§  oon  9)QmaS!uiS  eine  @timme  l^örte,  bie 
i^tn  einen  fo(c^en  Sluftrag  gab,  ober  ob  e§,  atS  er  nun  in  bie 
SSeifünbigung  eintrat  unb  i^m  bie  neue  (ScfenntniiS  be§  @efe^e§ 
fic^  feftfteÖite,  ob  eS  i^m  im  3"fömmen^ang  bamit  (xax'  inoy.ciX\)^iy 
naturlid))  jur  inneren  ©eroi^^eit  geworben  ift,  ^ier  liege  bie  oon 
(Sott  i^m  jugeroiefene  aufgäbe.  3Q8ie  gefagt,  ba§  miffen  mir  nid^t, 
ba  5|}aulu§  un8  nid^tS  barüber  gefagt  t|at.  Ob  aber  fo  ober  fo,  jeben* 
falls  ^öngt  es  mit  ber  pl^rung  beS  ätpoftelS  burd^  baS  ®efe^ 
jum  ©oangelium  jufammen,  ba§  er  ber  Slpoftel  ber  Reiben  ge* 
roorben  ift,  unb  ba§  er  ben  ®rtrag  be§  2:obe§  S^rifti  für  unfere 
Sünben  in  biefe  ^^rm  gefaxt  ^at:  ^Rechtfertigung  o^ne  ba§  ®e* 
fe§  burd^  ben  Olauben. 

älQein,  bieS  genfigt  nod^  ni(^t  jur  @rflarung.  9Ba§  bis  j|e^t 
ertoogen  mürbe,  reicht  nid^t  meiter,  at§  ha^  bamit  bie  2:^ora  unb 
baS  fieben  nac^  i^ren  Orbnungen  für  bie  d^riftlic^e  ©emeinbe, 
3uben  mie  Reiben,  inbifferenjiert  mirb.  Obmo^l  auc^  ba§  fd^on 
eine  gro|e  ©aifte  ift.  3)arum  ^anbelt  e§  fic^  oor  allem  ®al.  2, 1 1 
big  21.  STber  ?ßaulu8  ^at  ber  ganjen  2;t|ora,  auc^  bem  Sitten* 
gefe^  in  it|r,  überl)aupt  bem  ®efe^  als  ®efe^  jiebe  93cbeutung 
in  ber  d^riftlii^en  ®emeinbe  abgefproc^en.  ®aS  „otine  bcS  ®e« 
fc^eS  aSäerfe"  befaßt  auc^  bie  SBcrfe  beS  fittli^en  ®e^orfamS 
gegen  ©otteS  ®ebot  unb  ®efe§  unter  fidi.  Unb  baS  ju  erflären 
reicht  boc^  ber  ®egenfa^  beS  SlpoftelS  gegen  bie  £^ora  als  ^eilS« 
prinjip  nic^t  auS. 

SDSir  merben  unS  ^ier  oietmetir  beffen  erinnern  muffen,  bafe 
5ßauluS  bie  ©rfd^einung  beS  §errn,  bie  xi)n  oon  ber  SBelt  er* 
löfte  unb  befreite,  als  eine  neue  Kraft  beS  fittlidien  SebenS  er» 
fu^r.  ^e^t  ftrömte  i^m  ju^  maS  er  unter  bem  ®efe^  oergeblic^ 
erfetint  unb  erftrebt  ^atte.    ^fefet  ertennt  er:   ber  ©taub  unter 

22* 


324  Saftan:  3ur  ^ogtnatil 

bem  @efe$  ift  ein  @tanb  unter  ber  ^errfd^aft  beS  f^eif^eS  unb 
ber  Sünbe.  SBir  aber  werben  nic^t  me^r  Don  ber  ©ünbc  be* 
t)errf^t  weit  von  nic^t  me^r  unter  bem  ®efe§  finb,  fonbem  un* 
ter  ber  ®nabe  Stöm.  6,  14.  ^a,  ba§  ®efet(  ift  eine  Orbnung 
®otte8  in  ber  atten  ©elt  ht^  gleifc^S.  Sfubem  wir  mit  E^riftu» 
ber  SBelt  unb  ber  @ünbe  geftorben  ftnb,  ftnb  mir  aud)  bem  ®e* 
fe^  geftorben.  ällfo  ^aben  mir  ani)  ba§  ®efe^  nic^t  oon  ®ott 
erhalten,  um  baburd^  geredet  p  merben.  2)ad  ®efe^  ^at  bamit 
gar  ni^t^  ju  t^un  unb  ebenfomenig  unfere  äBerte.  C^riftu^  ifi 
un^  gegeben,  ba^  mir  burd^  ben  ®(auben  an  i^n  geredet  merben 
unb  ba§  Seben  ererben.  9tec^tferttgung  mithin  o^ne  beS  @efe^e$ 
3Berfe  aQein  burd^  ben  ®Iauben! 

^(fo,  meil  ^aulu§  bie  ®nabe  ®otteS  als  bie  ftttli^  be« 
freienbe  Äraft  erfal^ren  ^at,  uermirft  er  ba8  ®efe^,  au^  ba* 
@ittengefe^,  fd)(ec^tmeg  alS  ^ebingung  beS  ^eilS.  3)a^  mir 
ba§  ®efe^  erfüllen,  ift  nid^t  bie  porlaufenbe  Siebingung  beS  ^eil^ 
empfangi^.  ®ott  giebt  ba§  ^eil,  er  re^tfertigt  und  bebingungd* 
Io§.  ^a§  ®efe^  ju  erfüQen  fäDt  und  im  ^eitöempfang  fe(ber 
a(§  ein  integrierenbeS  SJloment  bedfetben  ju.  SBenn  ba^er  auS 
feiner  ^rebigt  pon  ber  SRe^tfertigung  unb  ber  für  bicfen  Qa* 
fammen^ang  üoQsogenen  Slbrogierung  bed  ®efe^ed  gefolgert  mirb : 
alf 0  motten  mir  ber  ©ünbe  bienen !  —  f o  antmortet  er :  wie  f ott« 
ten  mir,  ba  mir  ja  ber  Sünbe  gefiorben  ftnb  ?  I^ier  jeigt  ftc^  ba« 
^er  beutti^,  ba^  für  ^aulud  felbft  bie  an  erfter  @teOe  befpro^ene 
®ebantenrei^e  ^ebingung  unb  äJoraudfe^ung  feiner  ^^rebigt  oon 
ber  9led)tfertigung  ift. 

älber  no^  ein  anbereS  äRoment  greift  t|ier  beftimmenb  ein. 
3)ad  ift  bie  Stelle  ber  ®eneft8  über  Slbra^am :  älbra^am  glaubte 
@ott,  unb  bod  marb  i^m  pxx  ®erec^tigteit  gered^net.  ätngefid^td 
®al.  3  unb  9{öm.  4  fd^eint  eS  mir  unmöglich,  }u  oerfennen,  bag 
bie§  SBort  auf  bie  93ilbung  ber  ^aulinifd^en  ®ebanfen  unb  gor* 
me(n  entf^eibenb  eingemirtt  ^at.  SSiedeic^t  ift  ed  i^m  in  ber 
3eit  be§  (SifernS  um  baS  ®efe^  fdjon  ein  9lnfto6  gemefen  unb 
mirb  i^m  je^t  na^  ber  großen  SBenbe  in  feinem  Seben  }ur  @tü^e 
unb  3um  feften  3ln^alt.  0^rei(id^,  iened  ift  nur  eine  immerhin 
gemagte  93ermutung,  um  fo  gemiffer  bagegen  bui  jmeite.    9)ad 


^  a  f  t  a  n :  Qux  ^ogmati!.  825 

SSBott  tft  i^m  3um  @d^(üffel  fftr  baS  äSerftänbniS  ber  Dorange^ 
gangcncn  ®ottc§offcnbarung  gcioorbcn.  ^n  Slbral^am  \)at  ®ott 
bie  @emeinbe  ber  ©laubigen  begrünbet,  haS  @efe^  tft  nur  )n)t=' 
ft^eneingefommen,  roa^  bamalS  SJer^ei^ung  war,  ift  je^t  in  S^riftuS 
iSrfüQung  gen)orben.  2)amit  tft  ba§  @efe||  aud^  logifdi^prinsipieK 
in  ber  ^riftU(i)en  ©emeinbe  au8gef(^Ioffen.  ®enn  Sßer^ei^ung 
ober  @nabe  unb  ©laube  auf  ber  einen,  @efe^  unb  ©el^orfam  auf 
ber  anbem  (Seite  ftnb  oerfc^iebene,  einanber  auSfc^lte^enbe  ^rin* 
}ipien.  3)ie  ©emeinbe  ©otteg  ift  aber  auf  ©nabe  unb  ©tauben 
gegrfinbet  oon  Slnfang  an,  t)on  ben  klagen  Slbra^amS  l^er  — 
bamit  ift  ba§  ©efe^  auägefc^Ioffen.  Uit)n:)eifel^aft  ift  bieS  SQBort 
Aber  älbra^am  unb  feinen  ©tauben  für  ben  3lpoftet  ^dfvozt  in  bie 
Sßagf^ate  gefallen.  ©§  ^at  ben)irft,  ba|  eS  ^ei^t:  burd)  ben 
©lauben  —  o^ne  beS  ©efe^eS  SEBerfe  burd^  ben  ©tauben.  2)a§ 
ftnb  bie  gaftoren,  au8  beren  3wfammenn)irfen  ftc^  bie  üon  ^au« 
(u§  gebitbete  formet  erftärt:  9iec^tfertigung  ol^ne  beS  ©efe^e§ 
9Ber!e  burc^  ben  ©tauben! 

53ei  alte  bem  bilbet  ieboc^,  roie  gleid^  SlnfangS  betont  rourbe, 
ber  3:ob  (S^rifti  für  unfere  ©ünben  na^  ber  ©c^rift  ben  hinter* 
grunb,  bie  fetbftoerftänblid^e  unb  unerläßliche  93orau§fe^ung.  9iun 
fragt  eS  ftc^,  mit  $autu^  ben  Zoh  S^rifti  in  biefem  3itf<^inmen' 
^ang  oerftanben  unb  gebeutet  ^at. 

3)a  ift  aber  vor  altem  ju  betonen,  baß  baS  „nac^  ber  Schrift'' 
für  $autu§  an  unb  für  ft^  f(^on  ein  entfdjeibenbe^  äRoment  ift. 
©ine  rein  autoritatioe  93en)eigfüt|rung  mitt  unS  nid^t  einleuchten, 
eine  nebenher  taufenbe  fa^lic^e  9notit)ierung  f^eint  unS  unertäB' 
lic!^  3u  fein.  3)anad^  beurteilen  mir  bann  auc^  ben  9lpoftet.  93ol« 
lenbS  fdnnen  mir  e^  nic^t  reimen,  baß  man  allen  ©rnfteS  fo  ar« 
gumentiert  unb  glei(^jeitig  bie  ©d^riftmorte,  auf  bie  man  fic^ 
ftü^t,  nic^t  gefc^ii^ttid^  beutet,  fonbern  t^nen  einen  ©inn  anS  bem 
©igenen  unterlegt.  S)a§  f^eint  un§  ein  offenbarer  SBiberfprud^ 
}u  fein,  ben  mir  unmitttürtic^  auc^  bem  älpoftet  nic^t  zutrauen  ju 
bürfen  meinen.  Unb  boc^  ift  nid^t§  gemiffer,  al§  baß  er  ber  ejc* 
getifc^en  Äunft  feiner  Qtit  entfprec^enb  fo  argumentiert  ^at.  3tm 
te^rrei^ften  f^eint  mir  in  biefer  öejiel^ung  ba§  je^nte  Äapitel 
bc8  SRömerbriefS  ju  fein.    SSäaS  mir  ba  tefen,  ift  ein  ©d^riftbe* 


326  ^  a  f  t  a  n :  Qux  Dogmatil 

roei§  im  ftrengen  ©inn  be§  SBortS:  ba§  93en)cifenbc  ift  ba§  au* 
toritatipc  ©^riftroort  al8  folc^cg,  freilid^  in  ber  ©cutung,  bie 
$aulu8  i^nt  gicbt,  aber  fo,  ba^  bcr  Äcrn  ber  2Irgumcntation, 
mit  bcm  ftc  ftc^t  unb  fällt,  ba§  „c8  fte^t  gcfc^ricbcn"  ift.  3)aoon 
mollcn  aber  bie  2lu§leger  in  ber  SRegel  nid^t§  miffen.  Ober  ric^« 
tiger:  meil  e§  ilinen  nic^t  einleud^tet,  benfen  fte  gar  nic^t  baran, 
bag  ^^auluS  eS  fo  gemeint  liaben  lönnte.  2)arauf^in  oerroanbeln 
fie  bie  flare  ©ebanfenentmidtelung  beS  Seyteg  in  rounberlic^e  ©e» 
ban!enfpielereien,  bie  jte  ^icr  vorgetragen  finben.  2luc^  fonft  finbet 
fid^  älel^nli^e§  genug,  in  ber  äluSlegung  Don  @al.  3  unb  9löm.  4 
jum  93eifpiel.  demgegenüber  ift  ber  roirflidje  ©ac^oer^att,  bafe 
5ßaulu§  eben  boc^  in  biefer  SBeife  argumentiert  ^at,  nad^brücflic^ 
ju  betonen.  Mererft  barau§  ergiebt  fid^  ba§  (Semi^t  ber  SBorte 
„nad^  ber  ©d^rif t"  in  ber  ©runbf ormel :  er  ift  geftorben  für  um 
fere  ©ünben  nad^  ber  ©d^rift. 

SZatürlid^  aber,  e§  ift  etwa«  ganj  SBeftimmteS  unb  Äonfrete§ 
in  ber  ©d^rift,  roa§  er  babei  im  Sluge  l^at.  Unb  e§  fragt  fic^ 
nun  weiter,  n)a§  ba§  ift.  ®ie  Slntroort  mu^  lauten :  ba§  Opfer. 
Sieben  bem  Opfer  l^at  in  ber  ©^rift,  roenn  mir  uon  üercinjelten 
©teilen  über  ba§  Seiben  ber  ©ereilten  abfegen,  ^ef.  53  bem  ur* 
c^riftlid^en  teufen  (mie  au^  un§  ^eute  nod^)  einen  älnl^alt^punh 
für  ba§  aSerflänbnig  be§  Sobe§  (E^rifti  nad^  ber  ©^rift  geboten. 
S3ei  $aulu§  fet|lt  aber  jebe  unsroeibeutige  Sejugna^me  auf  ^i^f-  63. 
dagegen  oermertet  er  roieberl^olt  ben  Opfergebanfen.  ällfo  ift  e§ 
flar,  ba§  er  bie§  meint,  menn  er  oon  bem  2:obe  S^rifti  für  um 
fere  ©ünben  nac^  ber  ©d^rift  rebet,  —  übrigen^  au6)  barin 
mo§l  ftc^  feiner  befonberen  S^eorie,  fonbern  be8  ©inflangS  mit 
bem  urd^riftlid^en  S)enfen  berouj^t. 

@§  finb  freili^  nur  wenige  ©teilen,  in  bcnen  auf  ba§  Opfer 
auSbrüälic^  %e)ug  genommen  wirb,  eigentlich  au^er  bem  äSerglei^ 
mit  bem  ^aff a^opfer,  1  Äor.  5,  7,  nur  in  bilblid^er  Siebe  ©p^.  5, 2 
unb  au§fül)rlic^er  baS  einjige  9Wal  Stöm.  3,  25  unb  26.  aber 
mir  bürfen  annelimen,  ba§  ber  Opfergebanfe  überhaupt  ben^iit* 
tcrgrunb  bilbet  unb  überall  gemeint  ift,  mo  o^ne  nähere  Stu^fü^» 
rung  oon  bem  2:ob  be§  ^eilanbS  für  bie  ©ünben  ober  oon  bet 
»ebeutung   feinet   93lute§   bie   Siebe   ift.    gür  ba§  aSerftänbni« 


$1  a  f  t  a  n :  3ui:  ^ogmatii  327 

fxnb  loir  aber  auf  bic  eine  SRömerfteHe  angcrotefen. 

^ier  nun  wirb  ber  £ob  ^t^n  ©^rifti  mit  bem  ^ol^epriefters 
liefen  Opfer  am  großen  S3erfö^nung3tage  oerglic^en.  @ott  l^at 
barin  bie  längft  oorgefel^ene  neuteftamentli^e  ©nabenorbnung  auf* 
gerichtet.  2)er  am  ^reuj  ^ängenbe^  mit  ^(ut  überfträmte  ^eilanb 
ip  bie  Äapporetl^  in  ber  ©emeinbe  beS  9leuen  95unbe§,  l^ier  ftnbet 
ber  ©laube  ben  gnäbigen  @ott,  ber  bie  ©finbe  oergiebt.  Unb 
ba§  bejeid^net  $au(u^  jugleid)  al§  bie  Offenbarung  ber  ©ere^tig« 
feit  ®otte§  für  ben  ©lauben  3,  21.  3)enn  c8  leibet  mo^l  feinen 
3roeifel,  ba§  er  bort  fc^on  bei  bem  Tiecpav^pwiat  ben  %oh  Qefu 
S(|rifti  im  Sinn  l^at.  ^ier  ift  alfo  aud)  bie  Kombination  be§ 
OpfergebanfenS  mit  ber  SRe^tfertigung  burc^  ben  ©lauben  ooH* 
jogen.  dagegen  ift  gar  nicf|t§  oon  einer  ber  göttlichen  ©trafge* 
rec^tigteit  geleifteten  ©enugtl^uung  gefagt.  ®a^  ift  lebiglid^  ®in= 
tragung.  Q6)  fomme  weiterhin  barauf  jurürf.  ^ier  mag  jur 
3Bibcr(egung  genügen,  ba§  e§  bann  ^ei^en  mü^te:  auf  baj3  er 
fei  gered)t  unb  re^tfertige  benSünber.  ©§  ^ei§t  ftatt  beff en : 
5txatov  xal  Stxatoövta  töv  ix  maxecog  (Irjaoö).  3Ba§  i^m  bei  bie* 
fen  SBBorten  oorfc^mebt,  ift  nic^t  ein  9lu§gleid)  jmif^en  @otte§ 
©eredjtigfeit  unb  feiner  ©nabe  gegen  bie  ©ünbe.  9Sietmet|r  leitet 
er  ba8  Stxatoöv  feitenS  ©otte§  barau§  ah,  ba^  ©Ott  StxaLo;  ift, 
mic  1  3^0^.  1,  7  bie  Vergebung  ber  ©ünben  auf  bie  ©erec^tigfeit 
@otte§  jurüdtgefü^rt  mirb. 

9Kan  fönnte  fagen:  e§  liegt  aber  bod)  im  ©ebanfen  oom 
Opfer,  ba&  in  i^m  ©ott  eine  ®aht  bargebra^t  mirb;  ber  Sßer» 
gleich  a(§  fol^er  enthält  ba^er  unmittelbar  ben^inroeiS  auf  eine 
SEBirfung  in  ©ott,  bie  mit  bem  Sob  ©lirifti  beabfxc^tigt  unb  erjielt 
roorbcn  ift ;  ot|ne  meitereä  ift  babur(^  biefe  S^atf ad^e  in  ba§  Si^t 
einer  menfc^Iid^en  Seiftung  gefteüt,  bie  eine  gnäbige  ©efmnung  in 
©Ott  ^eroorruft.  SÄn  unb  für  fid)  märe  ha^  ganj  rid)tig.  ®a8 
liegt  im  Opfergebanfen  at§  folc^em.  Stber  ba§  2luffallenbe,  um 
nic^t  ju  fagen  SBerblüffenbe,  ift  bie§,  ba§  ?ßaulu§  nirgenbg  ben 
Opfergebanfen  in  biefem  ©inn  menbct.  6^riftu§,  ber  ba§  Opfer 
bringt,  fommt  nic^t  als  ©teüoertreter  ber  SJlenfc^en  ©ott  gegen« 
über  ju  fte^n,  fonbern  al§  ber,  burd^  ben  ©ott  feine  Siebe  be* 
t^dtigt.  ©0  SRöm.  3,  25  f.  unb  namentlid)  9töm.  5,  6  u.  8.    SJlu^ 


328  Loftan:  3ur  Xogtnatif. 

pon  einer  93erfd^nung  @otteS  mit  ben  Snenfd^en  toei^  $quIu^ 
nid^tS,  fonbern  nur  oon  einer  SSerfö^nung  ber  37lenfc^en  mit  ®ott 
bur^  ^efum  ß^^riftum. 

9lun  lie^e  ftc^  ^mor  ein  ätuiSgleid^  treffen.  äJIan  !dnnte  barauf 
Dermeifen,  bo^  ba§  Opfer  fc^on  im  Sllten  2:eftament  nic^t  al^  eine 
menfd^li^e  £eiftung  gemertet  n)irb^  bie  al&  fol^e,  qI§  menfc^Uc^e 
fieiftung  fül^nenbe  Äraft  ^at.  ©eine  SBirfung  beruht  ftatt  beffeii 
fc^Iie|ttd^  barauf,  ba^  @ott  feinem  93otf  baS  Opfer  gegeben  ^at 
jur  SBebedCung  feiner  ©ünben.  2)a  ift  alfo  baS  Opfer  fc^on  ba* 
l^in  umgebogen,  ba^  ed  nid^t  als  menfd^lid^e§  2^un,  fonbern  afö 
göttli^e  @abe  n)irffam  ift.  9Ba§  auf  Seiten  ber  SAenfc^en  in 
SBetrad^t  fommt,  ift  bie  bußfertige  ©ejinnung,  in  ber  fie  ©otteS 
@abe  aufnel^men.  3Jlan  !dnnte  fagen,  in  biefer  fiinie  liege  bie 
SSermertung  be§  OpfergebantenS  bei  $au(uiS.  3)ann  bliebe  ber 
©runbgebante  ber,  baß  ®ott  im  £obe  ßi^rifti  bie  neuteftament» 
Uc^e  @nabenorbnung  aufgeri^tet  ^at.  Unb  ber  ©e^orfam  ^^efu, 
in  welchem  er  fic^  al8  SWittler  für  bie  SJermirflic^ung  ber  gott* 
lid^en  @nabe  bemä^rt  l^at,  mare  e§,  morauf  bai^  SBo^IgefaQen  beS 
SSaterS  ru^te  {mm.  5,  19;  $^i(.  2,  8).  Mt^  ©ac^Iid^e  märe  av^ 
gef^Ioffen,  baS  ^erfönlid^e  aU  foIc^eS  träte  als  baS  äBefentli^e 
l^eroor.  2lttein  —  ic^  ameifte  ftarf,  baß  ^auIuS  biefe  Äombina« 
tion  ooQjogen  ^at.  @ie  paßt  ju  gut  in  eine  heutige  3)ogmatit 
auc^  in  bie  meinige  j.  93.,  um  als  ^aulinifc^  qnjumuten.  9Bo 
t^eologifc^e  2:i^eorien  in  t^rage  fte^n,  ift  immer  ma^r« 
fc^einlic^,  baß,  maS  unS  ^eute  befriebigt,  bem  (SebantenfretS  ber 
neuteftamentlid^en  Slutoren  fem  lag  unb  umgefe^rt.  ^6)  mage  ba« 
l^er  ni(^t  ju  behaupten,  ^auIuS  ^abe  in  ber  eben  nerfuc^ten  SSBeife 
refieftiert.  Sffiie  bem  fei,  id^  ftetle  eS  einftmeilen  jurüdC,  um  ben* 
jenigen  äleußerungen  beS  9tpoftelS  nad^}uge^n,  in  benen  er  gmeifet« 
loS  ben  2:ob  beS  |)ei(anbS  als  fteQoertretenbeS  ©trafleiben  wertet. 
3^  fomme  jum  ©d^luß  auf  bie  je^t  ermähnte  Srage  jurudC. 

®ie  äleußerungen  bcS  2lpoftelS  über  baS  fteüoertretcnbc  ©traf» 
leiben,  bie  id^  meine,  fmb  aber  bie  2tuSfprfid)e  ®al.  3,  13  unb 
Stol  2,  14.  SBeibe  fmb  am  ©efefe  orientiert.  2ln  ber  ©alaterftefle 
^eißt  eS,  ©liriftuS  ^abe  unS  loSgcfauft  oom  g^ud)  beS  ©efe^eS, 
inbem  er  am  Kreuje  ^ängenb  ein  gludt)  warb  für  unS.   35er  3«* 


ft  a f  t a n:  Qm  Dogmatil  329 

fammen^ang  ift  ber:  $qu(u§  ^at  au§  ber  (Schrift  betoiefen,  ba^ 
c8  ber  ©taube  (unb  nid^t  etioa  bie  93efc^neibung)  ift,  looburd^  man 
ein  älbra^amStinb  n)irb  unb  3luSftci^t  auf  ba§  Der^ei^ene  @rbe 
gennnnt.  @6enfo  i)at  er  auS  ber  @^rift  ben)iefen,  ba^  baS  (Se- 
fe^,  ftatt  jum  ^eil  ju  filieren,  unter  ben  glu^  oerl^aftet.  ©eine 
@egner  wollten  ben  ©alatem  einreben,  bie  SBefd^neibung  fei  not* 
n)enbig,  um  be§  9l6ra^am§fegen§  teilhaftig  ju  rottbtn,  unb  nur 
bur^  baS  ®efe^  fül^re  ber  9Q3eg  jum  £eben.  ^nx6)  ben  ®egen« 
fa^  ^terju  ift  bie  Siebe  be§  StpoftelS  bebingt,  wu  er  aud^  au8 
bemfetben  @runbe  ade^  au§  ber  Schrift  bemeift,  meil  jebe  anbere 
SeroeiSfül^rung  in  ber  gegebenen  Situation  unmirffam  gemefen 
wäre.  S)iefe  ®ebanfcnreit|e  bringt  er  aber  bann  gum  2lbfc^lu§, 
inbem  er  barauf  oerroeift,  ba§  ©l^riftu?  für  un§  ben  @trafflu(^ 
beS  @efe^e$  getragen  ^at  fo  baj^  roir  il^m  entronnen  fmb,  maS 
gleid^faU^  auS  ©d^riftfteden  ben)iefen  mirb. 

SBieberum  an  ber  ^oIofferfteQe  (2, 14)  ^ei^t  e§,  ®ott  ^abe 
bie  roiber  und  (autenbe  ^anbf^rift  beS  ®efe^e§  auS  bem  äJlittel 
get^an  unb  auSgeIdfd)t,  inbem  er  fie  anS  ^reuj  nagelte.  S)ag  ift 
bilblic^  gerebet.  Slber  offenbar  ift  ber  ©ebante  berfelbe  mie  ®at. 
3, 13.  Unb  ba§  ift  beig^alb  mertooK^  weil  im  Solofferbrief  ber 
©(i^riftberoeiS  fe^It.  S3ei  ber  ®alaterftelle  fann  man  fragen,  ob 
ber  @ebante  ^ier  nid)t  lebiglid)  au§  ber  Kombination  ber  beiben 
angefül^rten  ©d)riftftellen  ermac^fen  ift.  greilid^  ift  baS  an  unb 
fär  fic^  f^on  nic^t  ma^rf^einlic^;  eS  ift  aber  boc^  mertooK,  ba^ 
biefe  Slnna^me  burc^  bie  Äolofferftelle  ftrifte  miberlcgt  mirb.  ®enn 
fie  beroeift,  ba^  eS  ein  bem  2lpofteI  auc^  au^erl^alb  beS  fpejiellen 
3ufammen^ang§  feftfte^enber  ®eban!e  geroefen  ift,  ben  2:ob  ©^rifti 
am  ®efe^  ju  beuten:  er  ^at  ben  ©trafflud^  be^  ®efe^e§  getragen 
unb  ^at  i^n  babur^  für  bie  unroirffam  gemacht,  auf  benen  er  lag. 

hieran  tnüpft  fic^  nun  bie  grage,  ob  bieg  oielleid)t  ber  lei- 
tenbe  ®ebanfe  beS  SlpoftetS  bei  bem  SSetftänbniS  beS  SobeS  (S:§rifti 
geroefen  ift,  ba§  er  im  3^fönin^^"^ö"9  feiner  ^rebigt  üon  ber 
SRe^tfertigung  oorgetragen  l)at.  ajJeine§  Srad^tenö  iebod^  mu§ 
biefe  Srage  junäc^ft  roenigftenö  —  auf  ben  3"fött^"i^tt^ö^9  ^^^ 
beiben  ©teilen  gefc^n  —  runbmeg  ocrneint  merben.  Unb  jmar, 
weil  ^ßauluä  biefe  3)eutung  lebiglid)  auf  bie  oormaligen  Q^uben 


330  ^  a  f  t  a  n:  3ut  ^ogmotit 

bejicl)t.  3»tincn  ift  bo§  ®cfc^  gegeben;  auf  i^nen  liegt  ber  ^luc^ 
be§  ©efe^eS,  ba§  fte  ui^t  gehalten  ^aben;  tuiber  fte  [priest  bie 
^anbfc^rift  al§  gegen  fte  lautenber  ©d)ulbfc^ein,  9iur  für  fte  f)at 
ber  2:0b  beg  ÜÄittlerg  alfo  bie  SBebeutung,  biefe  Saft  t)on  i^ncn 
ju  nehmen. 

$i6)  glaube  nici^t,  ba§  e8  an  biefer  X^atfa^e  etroaS  ju  bcu* 
teln  ober  ju  bre^en  giebt.    ®ie  SBertreter  ber  anbern  Sluffaffung, 
nad^  tDeldjer  eS  ftc^  l^ier  um  ben  centralen  ©ebanfen  ber  ^^uti« 
nifc^en  ^rebigt  00m  ^reuje  ©^rifti  ^anbelt,  roeifcn  bie  eben  oor» 
getragene  2tuSlegung  ab,  wie  wenn  ba§  eine  auf  ©(^rauben  ge» 
fteüte,  oon  bogmatif^en  SBorurteiten  geleitete  ®jegefe  rodre.   3c^ 
lüü^te  nic^t,  xoa^  weniger  begrünbet  fein  tonnte,    ©ie  Dielme^r 
tt)un  bem  2^ej:t  @en)alt  an,  inbem  fte  i^n  unn)il(türlic^  i^rer  oor^ 
gefaxten  ^Jleinung  anpaffen.    3ln  beiben  ©teilen  ift  bie  au^f^Ueg« 
lic^e  ^ejie^ung   auf  bie  ^uben  auSbrüctti^  l^eroorge^oben  unb 
beftimmt  ben  ©ebanfen.   Seibe  SWale  wirb  nämlic^  auc^  ber  ^ei* 
ben  im  ßufammen^ang  gebac^t.  ^n  ber  ©alaterfteQe  f 0 :  S^riftud 
l^at  ben  $luc^  getragen,  babur^  ift  baS  ®efe^  befeitigt  unb  ba$ 
gefallen,  mag  bie  Reiben  oon  ber  ©emeinbe  ®otte§  trennt,  fo  baß 
nun  fie  be§  i^nen  f^on  in  Slbral^am  oer^eigenen  ©egenS  teil» 
t)aftig  merben.    2ln  ber  ÄoIofferfteBc  fo:   ba|  bie  roiber  3Srael 
lautenbe  ^anbfc^rift  beg  @efet(e§  aug  bem  SDIittel  getrau  ift,  ^at 
für  bie  SBöltermelt  bie  golge,  ba§  bamit  bie  über  fie  l^errfc^enben 
3mif(^engemalten  (®eiftmefen,  3)ämonen)  überrounben  finb.  2)enn 
bie  ©^ranfe  jmifc^en  i^nen  unb  bem  SBolf  ©otteS  ift  mit  ber  83e» 
feitigung  beg  ®efe^e§  aufgel)oben,  fo  bag  fte  nun  be§  magren 
®otte§  merben  tonnen.    Qnbirett  tommt  eg  alfo  aud^  ben  Reiben 
JU  gut,  bag  ^t^n^  ben  auf  Qi^rael  laftenben  ©traffluc^  be§  @c* 
fe^eS  getragen  ^at.    2lber  ba8  fteßoertretenbe  ©trafleiben  3efu 
wirb  birett  nur  auf  3§rael  bejogen.  3)ann  tann  jeboc^  biefe  3)eu* 
tung  bei  ^aulu§  nid)t  bie  jentrale  fein.   @S  wirb  bamit  nurge* 
fagt,  ba§  bur^  ben  Job  K^rifli  bag  gmifc^eneingetommene  ®ef€$ 
mieber  befeitigt  ift. 

älQein,  ift  e§  überhaupt  ri^tig,  bie  beiben  ®ebantenrei^en, 
bie  bur^  ben  Opfergebanten  beftimmte  unb  bie  burc^g  ®efe^  be* 
lierrf d)te,  auSeinanberju^alten  ?  9{ad)  ber  gemöl|n(ic^en  äluffaffung 


Ä  a  f  t  a  n :  3Mt  3)ogmaa!.  331 

ift  ba§  falf^.  9Kan  i)at  eben  ba§  Opfer  im  juriftifd^en  ©inn  ju 
nehmen:  ©ü^ne  burd)  ftelloertretcnbeö  ©traf leiben.  S)a§  foll  bie 
einfache  unb  Harc  2:t|eorie  beS  SlpoftclS  fein,  ©o  nac^  bem  Urteil 
ber  ©emeinbe,  ba§  pon  ber  firc^lic^en  9Jerfö^nung§le^re  beftimmt 
©irb,  unb  fo  au§  bemfelbcn  ®runb  audti  rielfac^  naä)  ber  9Rei« 
nung  ber  S^^eologen.  Slber  eg  ftnb  nid)t  bie  SSertreter  ber  Krd^* 
li^cn  Sirabition,  bie  l^ier  in  erfter  Sinie  ju  nennen  fmb.  @§  gilt 
ganj  befonber§  oon  einer  Sfteil^e  unabhängiger  tritifd^er  Sl^eologen, 
ba§  fie  fo  urteilen.  ^6)  nenne  ^olften,  ?ßfleiberer  unb 
^ol^mann.  Unb  jroar  (eignen  bie  beiben  erften  ben  Opferge* 
banfen  überl^aupt  ab,  inbem  fie  urteilen,  bie  ©ebanfen  be§  Säpo* 
ftet§  feien  ^ier  rcd^t  eigentlid^  jjuriftifd^er  2lrt.  3)a§  t^ut  ^ol^* 
mann  nic^t,  er  nimmt  aber  eine  juriftif^e  2luff äff ung  be§  OpferS 
als  bie  bamate  ^errfct)enbe  an,  ma§  bann  fa^lii^  auf  ba§fclbe 
^inauSfommt.  @§  fragt  ftd^  nun,  roie  barüber  ju  urteilen  ift. 
3)a  nun  ber  Dpfergebanfe  nid^t  überl^aupt  ju  eliminieren  ift  (aud^ 
^fleiberer  t^ut  e§  nic^t  mel|r  unbebingt),  fo  lautet  biegrage, 
ob  man  biefen  ®eban!en  ber  juriftif^en  3)eutung  ungejmungen 
ein-  unb  unterorbnen  fann. 

®a§  bie  altteftamentltd^e  Opfertt)eorie  anber§  lautet,  ift  fein 
©cgengrunb.  (ä§  fragt  fid^  nid^t,  mie  biefe  lautet,  fonbem  mie 
fie  bamals  im  jeitgenöffift^en  ^fubentum  oerftanben  rourbe.  ®arin 
^at  ^ol^mann  unjmeifel^aft  SRed^t.  ®§  ge^t  nic^t  an,  baS  9ieue 
2:eftament  einfach  au§  bem  9llten  ju  beuten,  mie  SRitfd^l  e§  ge* 
rabc  au^  in  bem  ^ier  befprod^enen  ^unft  moHte.  3)a§  bajmifc^en 
licgenbe  ^ubentum  barf  nie  überfelin  werben. 

SDBa§  miffen  mir  benn  nun  aber  oom  Q[ubentum  in  bem  l^ier 
fraglichen  ^unft?  ®§  ift  immer  mieber  SBeberS  ©gftem  ber 
f^nagogalen  palöftinenfifdtien  Sl)eologie,  auf  meldte  oermiefen  mirb.  . 
2)a§  ^ei^t:  ber  SCalmub  mirb  al§  Stn^t  für  bie  2:t|eologie  ange« 
fü^rt,  bie  ^aulu§  ju  ben  göfecn  be§  ©amaliel  gelernt  I|at.  Ueber 
bie  baimifd^en  liegenben  3»Q^^t|unberte  wirb  l^inmeggefe^n.  SSäaS 
in  ber  reifenben  ©aat  (bem  Salmub)  an  ben  %aQ  fomme,  muffe 
aud^  in  ber  3^'^  ^^^  93Iä^en§  unb  SB3ad)fen§  (in  ber  jübifc^en 
J^eologie  jur  3^it  be§  ?ßaulu8)  por^anben  geroefen  fein  —  fagt 
^ol^mann.    ^f^beffen,  biefe  Argumentation   ift  nic^t  überjeu* 


332  Ä  a  f  t  a  tt :  3ur  ©ogmatif. 

genb.  ©^lücrlid^  rourbc  bcrfetbc  2:^coIog  ftc  gelten  laffcit,  loeim 
jte  gegen  eine  oon  i^m  vertretene  3lnfid^t  geteert  würbe.  3»oimer* 
^in  aber,  e§  fei  —  u)o§  n)ei§  benn  SDSeber  au§  bem  2^Imub  }u 
berieten?  5Run,  etroa§,  roaS  fe^r  na^e  an«  ni^tS  grenjt.  aWan 
!ann  l^öd^ftenS  fagen,  ba^  ber  ©ebanfe  vom  [teßoertretcnben  ©traf» 
leiben  im  Opfer  unter  unb  neben  melen  anbem  anftingt.  9Benn 
man  bei  ben  genannten  äi^eologen  lieft,  bie  Slad^meifungen  bei 
SB e ber  liefen  feinen  äiü^if^'t  übrig,  fo  ift  man  gerabeju  verblüff t, 
in  feinem  ©crid^t  nid^tg  2(nbcre§  unb  nic^t  me^r  ju  ftnben.  ^ 
urteile  bal^er,  baj5  bie  ^Berufung  auf  ben  Salmub  in  biefer  @a^e 
überhaupt  nid^t§  nerfc^lägt. 

©benfomenig  verfangen  bie  2lu8fprfi(l^e  au§  bem  geitgenoffi* 
f^en  Qfubentum,  auf  bie  man  fid^  beruft.  ®§  ftnb  vereinjclte 
Sßorte,  im  4.  ^u^  ber  Snaüabaer  vor  allem,  in  benen  ber  91  u  §- 
brucf  (e§  ^anbelt  fi^  um  ben  ©egen,  ber  vom  Seiben  ber  @e* 
regten  ausgebt)  eine  ^egie^ung  auf  ben  Opfergebanfen  enthalt. 
SGBie  foHte  baburd^  bemiefen  werben  fönnen,  ba§  bie  juriftifc^e 
2)eutung  be§  Opfert  im  bamaligen  ^ubentum  bie  l^errf^enbe 
mar?  @§  wirb  melmel^r  bei  bem  Urteil  ©menb§  in  feiner  alt- 
teftamentlidfien  SReligion^gefc^i^te  beroenben  muffen:  eine  präcife 
Slntmort  auf  bie  fjrage  nac^  ber  SOBirtung  be§  Opferbienfte§  auf 
©Ott  mu^te  man  faum  ju  geben.  S)a§  Opfer  mar  eben  einfach 
—  ba§  Opfer,  ba§  für  ft^  felbft  fprad^,  ba§  man  burc^  eine  be» 
gleitenbe  S^eorie  ju  erflären  fein  33ebürfni8  meiter  empfanb,  baS 
nerfc^iebene  unb  verfd^iebenartige  @ebanfen  im  frommen  @emüt 
anflingcn  lie^. 

Qn  eine  fold^e  S)enfmeife,  für  bie  ba8  Opfer  vor  allem  eine 
felbftverftänblid^e  ;9nftitution  ift,  vermögen  mir  un§  nic^t  p  ftn* 
ben.  SB3ir  fragen  f of ort  na(^  ber  Se^re,  nadö  ber  2:^eorie,  bie  ba» 
I)inter  fte^e  ober  barin  ftccte.  Unb  ba8  beuten  mir  bann  auc^  in 
$aulu§  unb  bie  anbern  hinein.  SÄber  bie  l^atten  ni^t  baS  95e* 
bürfniS,  ba§  Opfer  ertlärt  ju  befommen,  fonbern  erflärten  an* 
bere§  au$  bem  Opfer.  @o  aud^  ben  %oi>  be^  ^eilanbS,  o^ne  ba^ 
baS  ben  @inn  einer  beftimmten  fie^re  unb  2^t|eorie  ^atte. 

©elbftvcrftdnblid^,  I|ierau8  foU  ni^t  gefolgert  werben,  baB 
*^aulug  ni^t  tro^  allem  ha§  Opfer  juriftifc^  verftanben  ^aben 


^  a  f  t  a  n :  3ui^  50ogmati!.  333 

fönnte  unb  bem  entfpred^enb  geleiert  l^ätte.  9BqS  folgt,  tft  nur 
bieS,  ba|  c§  irrig  ift,  ju  meinen,  eS  loffe  ftd^  ba§  ou§  einer  im 
bamaligen  <3ubentum  ^errfc^enben  Slnfd&auung  entnehmen  unb  bfirfe 
ba^er  bei  bem  SSerftäubniS  ber  ^autinif d)en  2:eyte  al§  SB  o  r  a  u  ö* 
fe^ung  gelten.  9Bir  {tnb  oietme^r  au^fc^Iie^Hc^  auf  biefe  unb 
hcS,  mos  fte  ergeben,  angemiefen.  ®ie  ^^age  lautet,  ob  ft^  au8 
il)nen  barttiun  lä^t,  ^auIuS  fei  oon  einem  juriftifc^cn  SSerftänbniS 
beS  Opfert  geleitet  gemefen.  ^  jroeifie  aber  nidE)t,  ba§  biefe 
^rage  verneint  merben  mu^  unb  jmar  au^  folgenben  @rünben. 

Säflein  fd^on  bie  ©ebanfenentroicflung  SRöm.  1—6  entfc^cibet 
bagegen.  SBSäre  ^aulu§  l^ier,  roo  er  ben  Dpfergebanfeu  oermertet, 
t)on  ber  juriftifd^en  2luffaffung  auiSgegangen,  ^ätte  feine  Srgu* 
mentation  ganj  anberS  lauten  mfiffen,  als  e§  ber  %aü  ift.  9larf)bem 
er  ben  ©erid^t^orn  ®otte§  gefd)ilbert  ^at,  bem  niemanb  entrinnt 
ober  JU  entrinnen  imftanbe  ift,  ^dtte  er  geigen  muffen,  ba§  Qt\vS 
G^^riftuS  i^n  für  unS  getragen,  um  barauS  ju  folgern,  bajs  mir, 
bie  an  i^n  ©laubigen,  nichts  me^r  baoon  gu  fürd|ten  ^aben.  @ine 
»om  ©ebanfen  be§  ftettoertretenben  ©trafteibenS  beljerrf^te  ©ar^ 
(egung  ^ätte  nic^t  mo^I  anberS  uerlaufen  fönnen.  SBaS  (efen  mir 
ftatt  beffen  ?  ffiS  mirb  ber  3omoffenbarung  ©otteS  über  bie  ^ei* 
ben,  ber  au^  bie  3^^^^  im  beoorftelienben  ©eric^t  nic^t  entrin« 
nen  werben,  gegenübergeftellt  bie  Offenbarung  ber  ©cre^tigteit 
©otteS  für  ben  ©tauben,  bie  in  ber  ^f^^tjeit  gef^el^en  ift,  oorl^er 
fc^on  bejeugt  burc^  baS  ©efe^  unb  bie  ^ropl^eten  3,  21.  Qn 
biefem  ßufammen^ang  mirb  ber  2:ob  S^rifti  al8  bie  Sil^atfadie 
genannt,  in  ber  fotd)e  Offenbarung  gefc^e^en  ift  unb  jmar  inbem 
er  mit  bem  ^o^epriefterHd)en  Opfer  oergUdien,  au$  il|m  gebeutet 
wirb.  2)a  ift  oon  einer  ber  göttlichen  ©trafgerec^ttgteit  geteifteten 
©enugt^uung  meber  bireft  noc^  inbireft  etmaS  gefagt.  S)ie  Stxaco- 
(jü^rq  a-eoö,  oon  ber  $aulu§  fpric^t  (3,  26),  ift  roie  oben  3,  5  ate 
eine  ber  ©nabe  oermanbte  @igenfd)aft  ju  oerftetin.  ffiaS  mir 
Strafgerec^tigleit  nennen,  liei^t  bei  i^m  öpy-^  ober  Offenbarung 
ber  Stxacoxptata  ©otteig  (2,  5).  9lamentlic^  mü^te  auc^  ber  ©d|lu^ 
oon  93. 26  anber§  lauten,  menn  e§  geftattet  fein  folfte,  anjunel^» 
men,  ba§  bie  juriftifdie  ®eutung  bc§  Opfert  ^ier  ju  ©runbe  läge 
(ogl.  0.).    ®S  ift  c^arafteriftifc^,  ba^  ^otfemann  biefen  ©c^lu§ 


834  ^  a f t  a n:  3ut  ^ogmatit 

gelegentlich  einmal  fo  roiebergiebt:  „wobei  er  (®ott)  fi^  aU  ge^» 
tec^t  (mit  SBejug  auf  bie  ©ü^neleiftung  feineS  ©ol^neö)  unb  re^t* 
fertigenb  (mit  ^Sejug  auf  ben  ©ünber)  gugleid)  erroeift".  Mer* 
bing§,  fo  mflgte  eS  feigen,  menn  bie  2)eutung  auS  bem  )uriftif(^ 
oerftanbenen  Dpfergebanfen  bere^tigt  fein  foUte.  9tun  ^ei^t  e§ 
aber  ftatt  beffen  xöv  Ix  moreü)?,  unb  ba§  iuriftif(^e  SJcrftdubniä 
beS  Opfers  liegt  bem  2lpoftel  ganj  fern. 

hiergegen  fönnte  eingemanbt  merben,  bie  Slnorbnung  ber  ®e» 
bauten  SRom.  1 — 4  fei  ni^t  ma^gebenb,  fie  fei  burc^  baS  bem 
2lpoftel  bei  ber  ganzen  ^Argumentation  oorfc^roebenbe  3f"tereffe 
betierrfd^t,  nac^juroeifen,  ^ja^  bie  Stuben  feine  SorjugSftellung  in 
ber  d)riftli^en  ©emeinbe  ju  beanfprud^en  l^atten.  2lber  felbft  wenn 
ba§  begrünbet  märe  (maS  e8  nic^t  ift),  Uejje  boc^  ber  9lbfc^lu§ 
ber  ganjen  Slrgumentation  SRöm.  5,  1—11  feine  ^intert^ür  me^r 
offen,  ^ier  jeigt  ber  Slpoftel,  ba^  mir,  burc^  ben  ©tauben  ge* 
rec^t  geworben,  juoerftclitliciö  l^offen  bürfen,  bem  ©eric^tSjorn  ®ot* 
te§,  bem  babur^  oerl^angten  SSerberben  ju  entge^n.  SBSare  nun 
bie  üon  mir  beftrittene  SWeinung  ri^tig,  bann  mü§tc  bie  SBe* 
grünbung  lauten:  baS  bürfen  mir  juoerfn^ttic^  l^offen,  weil  ®^ri* 
ftuS  ba§  ©trafoer^ängniS  für  unS  getragen  ^at.  ©tatt  beffen 
lautet  fie  in  SlBa^rl^eit:  ©ott  l^at  un§,  ba  mir  noc^  ©ünber  roa* 
ren,  im  Jobe  S^rifti  bie  SJerfö^nung  gegeben  —  mic  ©ielmc^r 
roirb  er  un§,  ba  mir  nun  oerfö^nt  unb  gerechtfertigt  finb,  auS 
bem  SSerberben  erretten.  ©§  ift  ein  ©d^lu|  a  majoii  ad  minus. 
Sie  überfd^mengli^  gro^e  ©abe  oerbflrgt  uniS  bieS  äBeitete.  2)a* 
mit  ift  aber  au§gefcI|loffen,  ba^  eine  juriftifc^e  S)eutung  be§  Opfert 
ben  ^intergrunb  ber  ganjen  Slrgumentation  bilben  foQte. 

Unb  ma§  fi(^  fo  am  SRömerbrief  bart^un  lä^t,  wirb  burc^ 
allgemeinere  93eobad)tungen  beftätigt.  3)er  Äem  ber  juriftifc^en 
S^eorie  ift  bie  ber  göttlichen  ©ere^tigteit  bur^  (S^rifti  Zoh  oer* 
fc^affte  ©enugttiuung.  2lber  auc^  nirgenbS  mirb  etroa§  3)erartigeS 
bei  ^^auluS  erroäl)nt.  ©benfo  mirb  ©^riftuS  nirgenbö  als  ©egen« 
ftanb  be§  göttli^en  ©eric^tSjomS  ^ingeftellt.  2luc^  nic^t  mit  einer 
©ilbe!  ^ol^mann  urteilt  gmar,  eS  laufe  auf  baSfelbe  ^inauS, 
menn  e§  @al.  3,  13  ^eige,  ba§  ©^riftuS  unS  loSgefauft  ffabt  oora 
gluc^  beS  ©efefeeS,  inbem  er  ein  S^ud)  marb  für  unS.   aber  ba« 


^  a  f  t  a n:  3ur  ^ogmatit  335 

mit  loirb  unter  bem  ®rud  einer  oorgefa^ten  SWeinung  biefem 
ganj  anberS  orientierten  3luSfpruc^  ein  i^m  frember  ©inn  beige* 
legt.  Qn  SGBai^r^eit  !ennt  ^^au(u8  einen  fold^en  (Sebanten  über* 
^aupt  nic^t.  Sr  fennt  ®^riftu8  in  feinem  Sobe,  fofem  bie  93e* 
Sie^ung  auf  ®ott  in  ^etrad^t  lommt  nur  a(8  ben,  burd)  ben  @ott 
feine  Siebe  bet^ätigt  l)at,  ober  aU  bzn,  ber  @ott  gel^orfom  mar 
bi§  jum  2:obe  am  Rreuj.  @nbli^  ^ei^t  e§  nirgenb^,  bajs  (S^^riftu§ 
eine  ©ered^tigfeit  ermorben  ^abe,  bie  nun  auf  bie  ©laubigen  über* 
tragen  ober  il^nen  jugerei^net  werbe.  @§  Reifet  ftatt  beffen:  ber 
@Iaube  mirb  jur  @ere^tigfeit  gerechnet.  @§  ift  bur^auS  miU* 
fürüc^,  wenn  ^ol^mann  meint,  e§  fei  jufättig,  ha^  bie  anbere 
2lu§brud§form  jic^  ni^t  finbe,  ©d^Iiefelid)  mirb  eö  jum  2)ogma 
erhoben,  ba§  ^^aulu§  fo  gebac^t  ^at,  unb  für  lebiglicfe  JufäHig  er* 
Hart,  ba§  er  eS  ni^t  fagt. 

®§  bleibt  ba^er  ate  einjige^  3lrgument  für  biefe  Kombination 
nur  bie  @teQe  2  Rox.  5,  21  übrig,  an  ber  e8  i^ei^t:  er  ^at  ben, 
ber  oon  feiner  @ünbe  mu^te,  für  un§  jur  @ünbe  gemacht,  auf 
ba§  mir  mürben  ®erec^tigteit  @otte§  in  il|m.  Slber  biefe  ©tede 
aOetn  lann  baS  ©emid^t  ber  ©egeninftangen  nid)t  auf{|eben.  Qn* 
mal  ber  älu^fprud)  im  eigentli(^en  @inn  gar  nid^t  gemeint  fein 
fann.  3)a^  ©ott  i^n  jur  ©ünbc  gemad^t  ^abe,  wie  ber  8B3ort* 
laut  befagt,  ergiebt  überl^aupt  feinen  faparen  ©inn.  SJlan  beutet 
ou§  ber  juriftifd^en  Dpfert^eorie:  ©ott  ^at  i^n  ju  bem  gemarf)t, 
ber  bie  ©träfe  ber  ©ünbe  getragen  \)at  Unb  bagegen  märe 
nichts  einjumenben,  menn  nac^  anbern  SBorten  be§  3lpoftel§  feft* 
ftänbe,  baj5  berartige  ©ebanten  ihm  geläufig  maren.  ^a,  id|  gebe 
gern  ju,  ba^  biefe  Deutung  nac^  bem  SBortlaut  bie  nä^ftliegenbe 
ift,  au^  in  ben  3i*fommen^ang  paffen  mürbe.  SBieöeid^t  barf  e§ 
feigen:  ba§  ^eroorfted^enbe  SÄertmat  beS  2lu§fpruc^§  ift  bie  r^e* 
torifd)  jugefpi^tc  2lu§brudf§meife,  bie  jebenfalfig  beabfic^tigt  ift. 
©inen  Sel^rgebanten  bamit  ju  formulieren  l^at  bem  SÄpoftel  jeboc^ 
ganj  fern  gelegen.  @r  ift  an  einer  fold^en  Seigre  überl)aupt  nic^t 
interefftert.  ®ie  SJorfteltungen  fmb  nod^  flüffig.  SBorauf  e§  if)m 
antommt,  ift,  ba§  ©tiriftuS  geftorbcn  ift  für  unfere  ©ünben  nad) 
ber  ©c^rift,  unb  ba§  in  feinem  Sobe  bie  ©erec^tigfeit  ©otteö  für 
ben  ©lauben  offenbart  ift.    ©ofem  aber  in  jenem  2lu§|prudt)  ein 


836  ^aftan:  Sux  ^ogmati!. 

Sel^rgcbanle  anflingt  tft  eS  bcr  beS  3lu§taufc^c8:  unfere  (ber  6^ri« 
ften)  @ünbe  tparb  auf  il^n  gelegt  gutn  Sxotd  ber  Uebertragung 
feiner  ©erei^tigteit  auf  unS.  9tur  ift  e§  ooDig  jrocierlei,  ob  wir 
eine  fold^e  S^eorie  al§  feftftel^enbe  fie^re  be§  älpoftelS  anpne^nten 
l^aben,  ober  ob  ein  folc^er  ©ebante  (neben  oieten  anbem)  in  einer 
r^etorif(^  pgefpi^ten  3^orm  einmal  anflingt.  SWit  fie^terem  roäre 
(wenn  eS  benn  überhaupt  richtig  ift)  für  ben  @m>ei§  ber  ^ier  be* 
ftrittenen  2i^efe  ni^tS  erreicht  —  xoa^  id)  nic^t  erft  nfi^er  au^jn« 
fütiren  brauche. 

SQSir  ftnb  olfo  mit  biefem  SBerfud^,  bie  beiben  bei  $au(uS 
aufgemiefenen  ®ebanfenreit|en  ju  fombinieren,  nid^t  weiter  ge!om^ 
men.  @ie  bleiben  neben  einanber  fte^n.  3)enn  natürlid^,  ba§ 
bie  Kombination  fd^eitert,  ^at  m6)t  ben  @inn^  ba§  bie  juriftifd^e 
©ebantenreitie  nid^t  oor^anben  ift.  ©ie  ift  fo  gut  ba  roie  bie  an* 
berc,  bie  ®eutung  au§  bem  Opfer.  ©8  fragt  fxä),  ob  bie  cnt« 
gegengefe^te  Kombination  mögtid^  ift,  bie  namlic^,  ba§  toir  bie 
juriftifd^e  ^b^^^i^  ^^^  Dpfertbeorie  unterorbnen. 

9ln  unb  für  fid)  ift  ba^  felir  gut  möglic^.  Slnbeutungimeife 
berührte  ic^  eiS  fd^on.  ^6)  erinnere  baran,  ba^  bie  2>eutung  avA 
bem  5fucb  be8  ®efe^e§,  fo  roie  roir  fie  bei  ^aulu§  finben,  nur 
auf  ö§rael  bejogen  ift.  3)enn  baS  @efe^  mar  3i§raet  gegeben, 
unb  nur  Q^xad  ftanb  unter  bem  gi^w^  ^^  ®efe§e8.  9lun  ne^* 
men  roir  binjU/  baJB  ba§  @efe^  nad^  ber  Se^rc  be§  StpopeÖ  nur 
groif^eneingetommen  ift.  SBon  SSnfang  an  roar  eS  abgefe^n  auf 
bie  Drbnung  be§  ®  I  a  u  b  e  n  §  in  ber  ®emeinbe  ©otteS  auf  @rben. 
2)a§  erf)eUt  barauS,  ba§  bem  Sttbra^am,  bem  burcb  ®Iauben  ge« 
re^t  geroorbenen,  i^m  unb  feinem  anbern,  bie  93erl|ei§ung  gegeben 
ift.  S)a§  ®cfc^  ift  nur  jroifi^eneingefommen,  um  ben  ®(auben 
oorjubereiten.  9tun  entfpric^t  bie  3)eutung  auS  bem  Opfer  ber 
^auptünie  ber  Sntroidflung.  ®arin  erroeift  fid^  ber  2ob  6^rifti 
als  bie  ®rffiHung  ber  SSer^eij^ung,  bie  bem  Slbrabam  gegeben  roar. 
2)urd^  feinen  Opfertob  ift  bie  Orbnung  be§  ®Iauben8  in  ber  @e» 
meinbe  ®otte§  auf  Srben  eine  befinitioe  geroorben.  3)ie  2)eutung 
au§  bem  @efe^  ift  bem  untergeorbnet.  Sie  befagt,  ba|  mit  bem 
2obe  ©brifti  ba§  jroifd)eneingefommene  ®efe|;  abgetl^an  ift.  ©ie 
bejiel^t  fic^  nur  auf  bie  3fuben,  roie  benn  baS  ®efet^  nur  bem 


S  a  f  t  a  n :  3ur  Siogtnati!.  337 

®ott  ^Sracl  gegeben  war.  Unb  fo  ift  fie  felbftücrftänblii^  ber 
onbcm  3)eutung  aU  ber  übergreifenben,  auf  alle  bejägli^en  unter* 
georbnct. 

3)ergeftatt  fügen  pc^  biefe  ^ßaulinif^en  (Sebanten  groanglo^ 
in  einanber.  Ob  freiließ  5ßaulu§  felbft  fid^  eine  folc^e  3ufammen* 
faffung  oergegenroärtigt  Ijat,  mug  ba^ingeftetlt  bleiben.  3)a  er 
^ier  roie  fonft  an  le^rl^after  ^i^föinnienfaffung  als  foldier  gar 
nic^t  intereffiert  ift  f)at  er  ftd)  nirgenb§  barüber  au^gefproc^en. 
Slber  felbft  rocnn  ^aulu§  felber  biefe  Sombination  tJoUjogen  ^ätte 
—  eine  einheitliche  S^^eorie  über  ben  2ob  Kl^rifti  roare  auc^ 
ba§  nic^t.  ®in^eitlid^  roäre  nur  bie  ßufömmenorbnung  in  einer 
gef(^ict)tlic^en  Stnf^auung  von  ber  Oetonomie  ber  göttli^en  ^eite* 
Offenbarung^  etn)a§,  n)a§  $aulu§  übrigen^  allem  älnfd^ein  nad^ 
für  roid|tiger  gehalten  ()at  alS  bogmatifd^e  £el^ren  im  engeren 
©inn. .  Slbgefe^en  banon  läge  bie  3iifö"^"^cnföffung  nur  in  bem 
©ebanten,  ba§  ber  Sob  S^rifti  für  ^nh^n  roie  Reiben  ^eil  be» 
grünbenb  ift. 

®a§  ift  er  erftenö,  roeil  in  i^m  bie  ^eiteorbnung  beS  9leuen 
5Bunbe§  aufgerid^tet  ift,  in  il|m  als  bem  großen  ©ünbopfer  für 
bie  ©ünbe  ber  SEBett.  3)a8  ift  er  jroeiteng,  roeil  ®^riftu§  in 
i^m  fteüüertretenb  für  bie  Ouben  ben  fjlud)  be§  ®efe^e§  getragen 
^at.  ®aburc^  ift  QSrael  oom  gluc^  befreit  unb  ba§  ®efe^  au§ 
bem  SWittel  gettjan.  ^f^birett  tommt  ba§  ben  Reiben  ju  gut,  roeil 
nun  bie  ©^ranfe  gefallen  ift,  bie  fie  oon  ber  ©emeinbe  @otte§ 
auf  @rben  trennte,  unb  fie  nun  93ürger  roerben  tonnen  in  it)r, 
ber  fie  bisher  fern  unb  fremb  gegenüberftanben.  ©o  fa^t  e§  ftd) 
jroar  unter  bem  leitenben  ©ebanten  Dom  ^eil  aller  jufammen, 
fie^t  aber  einer  ein^eitlid^en  bogmatifc^en  S^eorie  auc^  nid^t  ein* 
mal  ä^nlid^. 

®a}u  fommt  bann  noc^  bie  Slntinomie  ober  ^arabojie  in 
ber  3)eutung  a\\^  bem  Opfer,  non  roelc^er  bie  SWebc  roar.  Qfc^ 
meine  bie§,  ba^  bie  Q3et]^ätigung  ber  göttli^en  Siebe  im  2:obc 
S^rifti  bie  ^auptfad^e,  ba§  ^eil  93egrünbenbe  ift,  roä^renb  ba§ 
Cpfer  bie  entgegengefe^te  SRic^tung  be§  @ebanfen§  inbijiert,  nic^t 
oon  ©Ott  auf  bie  5Wenfd)en,  fonbern  oon  ben  SJienfc^en  auf  ©Ott 
^in.     aiuc^  baS  ift  in  fid)  roieber  feine  einl)eitlic^e  Se^re.   @§  lä|t 

3eitf<l(frlft  fflr  X^eoloflie  unb  ftlrc^e.  14.  ^a^rß.,  4.  $eft.  23 


888  ^  a  f  t  a  n :  Qnx  ^ogmati!. 

fic^  auf  bas  ®anjc  bcr  biblifd^cn  ®ottc§offcnbarung  gefe^n  gonj 
n)oI|l  baju  gcftoltcn,  loic  porl^in  jur  ©prad^c  tarn  (@.  328).  aber 
man  mug  95cbcnfcn  tragen,  eine  Ueberlegung  biefcS  ^n^ts  bei 
$aulu§  al§  in  feinem  ^emu^tfein  (ebenbig  Dorau§}ufe^en.  e^ür 
$aulu§  bleibt  bie  ^auptfac^e  bie§:  et  ift  geftorben  für  unfere 
©ünben  nac^  ber  Schrift  —  fo  nämlid^,  ba§  in  biefer  Qx> 
lenntni§  bcr  biblifi^en  95egrünbung  baö  fein  t^eoretifc^e§  93ebürf« 
ni§  Säefriebigenbe  liegt,  nidit  in  einer  nun  mieber  au§  ber  ©c^rift 
aufgebauten  X^eorie.  Unb  ndt)er  ausgeführt:  fein  %oh  ift  ba^ 
gro^e  Opfer  für  bie  ©ünbe  ber  SBelt:  ^ier  ^aben  mir  SJergebung 
ber  ©ünben,  ^ier  pnben  mir  ben  gnäbigen  ®ott!  2(ber  mieber 
fo,  ba§  ber  2;on  für  $auIuS  barauf  liegt:  ba§  ©ünbopfer  aflen 
8ugut;  unb  nic^t  auf  einer  im  ^intergrunb  liegenben  Opfert^eorie, 
au§  ber  er  mieber  baS  93erftänbni§  be§  OpfertobeS  (S^rifti  abge« 
leitet  ^ätte. 

®a§  @rgebni§,  ba§  mir  bamit  gemonnen  ^aben,  erfc^eint  nun 
an  ben  gemö^nlid^en  JßorauSfe^ungen  unb  Slnfprü^en  beurteilt 
aU  ein  überaus  bürftigcS.  SfWan  ^at  fi^er  ermartct,  eS  werbe 
aud^  l^ier  eine  runbe  unb  gefd^Ioffene  2:^eorie  über  ben  3^ob  beS 
^ei(anbS  bei  $auIuS  ermittelt  unb  nad^gemiefen  merben.  2)er' 
gleichen  bietet  ja  jebe  neuteftament(ic^e  2;^eo(ogie,  fei  eS  auc^  n7ie 
bie  oon  ^ot^mann  unter  Älagen  über  bie  für  unS  faum  me^t 
oerftänblidie  ÄompUjiert^eit  biefeS  au§  jübifd^ct  unb  l^eHenifc^er 
SBeiS^eit  fünftlic^  jufammengemobenen  ©gftemS.  ©tatt  beffen 
I)aben  mir,  t^eologifc^,  bogmatifc^  betrautet,  nur  membra  disjecta 
gefunben,  bie  an  atten  5ßunften  auSeinanberjufatten  bro^en  unb, 
menn  man  bie  ©ebanfen  genau  fiyiert,  feltfame  SßJiberfprüc^e  ent* 
l^alten.  ^06)  glaube  ic^  nic^t,  ba|  eä  mein  g^e^ler  ift,  wenn 
bie  ^ier  gefunbenen  SRefultate  einen  folc^en  ®inbruc!  be§  Unfle« 
nügenS  madjen.  SRo^  meniger  liegt  ber  geiler  bei  bem  aipoftel. 
S)er  5«^lcr  liegt  oielme^r  in  ben  SBoraugfe^ungcn,  mit  benen  man 
inSgemein  an  it)n  I)erantritt. 

aSir  ©erfahren  nid^t  me^r  bogmatif^,  fonbem  ^iftorif^  ^^^ 
neuteftamentlic^e  2:^eologie  ift  eine  ^iftorif^e  3)iSiiplin,  ba§  wirb 
l^eute  in  jeber  SBeife  betont.  2lber  mie  mirb  e§  oerftanben?  9lun 
fo,  ba|  mir  nic^t  mel|r  bie  tir^tic^e  ®ogmatif  auS  ben  ^autini» 


ft  a  f  t  a  n :  3ur  ^Ofltnotif.  339 

fc^cn  2:cjtcn  ^erau^ju^olcn  unS  oerpfüd)tct  fütitcn.  2lbcr  eine  3)og» 
matif  boc^ !  9iur  eben  etroaS,  roaS  ^ßaulinifd^e  ©ogmatif  fein  foH. 
@S  gilt  ja  bei  oieten  qI§  3lj^iom,  $au(u§  f)abt  ba§  Q^^rifientum  ba« 
burc^  oerborben,  ba^  er  e§  in  eine  ^ogmatif  Dern)anbelte.  Slber 
aurf)  ^ier  mug  ftatt  ber  3)ogmatif  bie  äteligion  in  ben  äufam« 
men^ang  ber  93etrad)tung  eingeführt  werben.  (£rft  bann  wirb  biefe 
wirf lid)  eine  gefc^idjtUd^e  b.  \).  eine  bem  gefd)id)tlic^en  ^^atbeftanb 
entfpre^enbe  fein.  Unb  wenn  wir  un§  auf  biefen  ©tanbpuntt 
fteQen,  bann  fte^t  aud)  ba§  Don  unS  ermittelte  9tefultat  ganj  an« 
ber§  au^.  2)ann  ftedt  eS  fi^  al§  eine  (Sinl^eit  bar^  unb  finb  bie 
in  SBetrac^t  ju  jie^enben  gaftoren  einfach  unb  oerftanblid^. 

^aulu§  ift  attererft  al§  ein  SBertreter  be§  Ur^riftentumö  an* 
jufe^n  unb  ju  würbigen.  Jür  i^n  ift  wie  für  bie  gange  ©emeinbe 
Job  unb  2luferfte^ung  ®t)rifti  bie  abfdjliefeenbe  ©otteöoffenbarung, 
bie  burd^  bie  SluSgie^ung  beS  ®eifte§  bie  bie  gefamte  ©emeinbe, 
i^r  Seben  unb  S)enfen  betjerrf^enbe  SGBirfIid)!eit  ift.  ^n  biefen 
3ufammen]^ang  ift  ^autuS  bur^  ba§  @r(ebni§  Dor  ®ania§tu§ 
eingetreten,  ©eit  biefem  ift  er  einer  üon  benen,  bie  ben  gefreu* 
jigten  unb  auferftanbenen  (£^riftu§  oertünbigen.  (Soweit  bie  SSer^ 
fünbigung  in  t^eologifc^e  Betrachtung  unb  53eweigfü^rung  a\x^' 
louft,  beruht  biefe  auf  ber  Sdirift.  3)a§  aUeg  l^at  ^aulu§  mit 
ben  übrigen  gemein,  wenn  eS  auc^  jum  2:eil  in  befonberer  5Ruan* 
cierung  bei  i^m  auftritt. 

SEBaS  i^n  oon  ben  übrigen  wirfUc^  unterfcf)eibet,  ift  feine 
Stellung  jum  ®efe^,  bie  fic^  au§  feiner  p^arifäif(^en  SBergangen* 
I>eit  jufammen  mit  feinem  ®rlebni§  Dor  S)ama§tu§  erftärt.  S)a-- 
^er  bie  SSäenbung  auf§  ©t^ifc^e  in  ber  Deutung  unb  bem  SBer» 
ftänbniS  be§  ©runberlebniffeS  (mit  ©^rifto  geftorben  unb  aufer^ 
ftanben!)  unb  ba^er  wieber  im  3ufammenl^ang  l^iermit  feine  ^Pre« 
bigt  oon  ber  ^Rechtfertigung  allein  burct)  ben  Olauben.  SBaä 
^aulu§  oon  ®^rifti  Äreuj  ju  fagen  wei§,  ba§  ftnb  bie  3lu§ftra]^» 
lungen  biefeg  inneren  Sebeng,  ba§  ber  ©efreujigte  unb  Stuferftan* 
bene  in  i^m  gewedtt  f|at.  ©e^r  üerfc^iebenartig  finb  biefe  @e» 
banfenrei^en  je  nacl)  ben  fie  bel^errfc^enben  inneren  religiöfen  9Jlo* 
tioen.  2)a§  ift  aber  gar  nic^t  wunberbar,  fonbern  natürlid^  unb 
fclbftoerftänblid^.    6§  erfd^eint  nur  bann  auffaUenb,  wenn  man 

23* 


340  ^  a  f  t  a  n :  3ur  5)Dgmati!. 

bei  $QuIu§  eine  bogmatifd^e  2:^eorie  als  oQen  9[eu§erungeit  }u 
®ninbe  liegenb  oorau^fe^t.  Sine  fotc^e  l^at  er  aber  ni^t  gehabt. 
®tebt  e§  bo^  aud^  feine  einjigc  Slrgumentation  in  ben  ©riefen 
be^  2lpoftel§  —  etwas,  xoa§  ic^  nod|  befonber«  betonen  m6d)te  — 
feine  einjtge  Slrgumentation,  bie  bem  3"^^*  bient,  eine  folc^e 
S^eorie  ju  entroidfeln.  Unb  bann  foHte  eine  fold^e  2:^eorie  für 
i^n  ber  SWittelpunft  afler  feiner  ©ebanfen  geioefen  fein?  3)a§ 
glaube,  loer  fann!  S)ie  eigentlich  t^eoretif^en  Darlegungen  be§ 
3lpoftel8  beroegen  fi^  um  ein  neue«  SJerftänbniS  ber  Offenbarung 
unb  i^rer  ©ntmidtung  in  ber  ©efd^ic^te,  ftnb,  menn  mir  einen 
fpäteren  Slamen  barauf  übertragen  bürfen,  gefc^id)t§p^itofop^ifc^er 
unb  ni^t  bogmatifd^er  SHatur. 

9lu(i|  l^ier  füge  idt)  ein  SBort  über  bie  Slnmenbung  unb  95er* 
mertung  ber  ^aulinifd)en  ©ebanten  in  unferer  l^eutigen  3)ogmatif 
^inju.  Unb  jroar  aüererft  um  no^malS  ju  betonen,  ba|  nid^t  ju« 
trifft,  ma§  fo  melfad)  bel^auptet  mirb,  ba§  mir  in  bem  Slpoftel 
^autuS  oor  allem  einen  2)ogmatifer  vox  unS  l^aben,  ber  begriff» 
lid^  fonftruierte  Se^ren  vorträgt  unb  baburd^  bie  grömmigfeit  in 
falfdie  «abnen  leitet.  SBer  bie  «riefe  beS  Slpoftefö  fo  liefl,  ^at 
au§  bem  (Signen  l)tneingetragen,  ma§  er  ^erauSnimmt.  2lu§}u» 
führen  brause  xd)  ba§  jet^t  nic^t  nochmals,  ^n  ber  eben  ange* 
[teilten  93etrarf)tung  l^at  eS  ftd^  immer  mieber  ergeben  unb  ift  eS 
aud|  bei  jeber  (Gelegenheit  l^eroorge^oben  morben.  ^aulu§  ift  fein 
S)ogmatifer  gemefen  unb  ^qt  e8  felber  nid^t  fein  moDen.  2)og« 
matifc^  angefel^n  finben  mir  bei  il|m  nichts  ate  merbenbe  ©ebanfen, 
als  „üerfudE)te  ^been",  bie  iliren  ßufammenl^ang,  i^re  ©inl^eit  in 
ber  religiöfen  33erfünbigung  f)aben,  um  bie  e8  t^m  felbft  in  SBa^r* 
^eit  allein  ju  tl)un  ift. 

aBa§  folgt  nun  l)ierau§  für  bie  Slneignung  ber  ^auUnifc^en 
®ebanfen  in  unferer  eoangelifc^en  SJogmatif?  9lun,  oor  aüem 
bie§,  bafe  e§  feine  ^aulinifc^e  Set)re  giebt,  bie  mir  einfa^  in  biefe 
tierüberne^men  fflnnten.  ®a§  märe  fd)on  an  unb  für  fic^  unmög» 
lic^,  meil  Seigre  nic^t  einfad)  au§  einer  3«it  in  bie  anbere  über» 
tragen  mcrben  fann,  fintemal  ba§  babei  beteiligte  t^eoretifc^e  93e« 
bürfniS  nad)  2lu§mei§  ber  ®e|d)irf)te  bem  9Bed)fel  unterworfen  ijl. 


r 


Ä  a f  t a n:  3ur  2)o0matit  841 

@§  ift  aber  auc^  bcö^alb  unmöglit^,  tpcil  ?ßaulu8  feine  fefte,  be« 
grifflic^  aufgeführte  £e{)re  gel)abt  ^at.  Ueber^aupt  nid)t  unb  auc^ 
ni^t  roa§  bas  ^ier  oorliegenbe  21^ema  betrifft. 

3)ie  Vertreter  ber  firc^lidien  ^irabitlon  finb  tüo^I  nirgenbi 
mel^r  ate  in  biefem  Se^rftüdt  oon  ber  guten  biblifd)en  öegrünbung 
bcffen,  n)a§  fie  oortragen,  überjeugt.  Unb  fie  l^aben  babei  roieber 
vox  atlem  ben  SSpoftel  ^aulu§  als  @en)äl^r§mann  im  ©inn.  S)a§ 
foU  ja  nun  aud|  ni^t  überhaupt  in  3lbrebe  geftedt  n)erben.  SBirb 
man  bod)  fagen  bürfen^  ba^  eg  l^eute  bie  aUermenigfteu  fmb,  bie 
no(^  ber  begrifflichen  Äonftruftion  al§  fol^er  religiöfen  SBert 
bcimeffen.  Slud)  benen,  bie  bie  alte  Se^rc  na(^brürflici^  betonen, 
ift  e§  babei  jumeift  um  biefe  al§  SluSbruc!  be^  eoangelifd^en  ®lau< 
bcn§  unb  ber  grömmigfeit  ju  t^un.  Unb  infofern  fmb  fie  nun 
gemi§  berechtigt,  ftc^  auf  $aulu§  ju  berufen.  fiutl^eriS  £e^re 
öon  ber  ^Rechtfertigung  trifft  in  ben  inneren  aWotioen  —  mar  bod) 
auc^  bie  Situation,  in  ber  beibe  bie§  ®oangelium  formulierten 
unb  oertraten,  innerlich  genommen,  ungefähr  biefelbe  —  fo  ndi)t 
mit  ber  ^rebigt  be§  3(poftel§  jufammen,  at§  e§  ber  Unterfct)ieb 

ber  3^it^^  irgenb  geftattet. 

2lber  ni^t  richtig  ift  e§,  ein  OegenftüdE  ber  begrifflid^en  Äon- 
ftruftion  ber  ^ir^enle^re  bei  ^auluS  auffinben  unb  nac^meifen  ju 
motlen.  2)enn  aiS  begriffliche  ^onftruftion  ^at  bie  Hird^eule^re  iliren 
fte  be^errfc^enben  3Rittelpunft  an  bem  S3egriff  ber  Sati^faftion.  ®er 
ift  jeboc^  bem  Slpoftel  unb  feiner  Söerfünbigung  fremb.  SWan 
fann  ^6^ften§  fagen,  ba§  unter  ben  mancherlei  (Sebanten,  bie  mir 
bei  ^auluS  finben,  baS  eine  SWal  2  Äor.  5,  21  ber  ©ebanfe  be§ 
2lu§taufd)e§  jmif^en  ber  ÜJlenfc^en  ©ünbe  unb  ©^rifti  ®erecl)tig* 
feit  antlingt  —  .in  einem  rfjetorifd)  lautenben  ©pru(^,  ber  auf 
alles  anbere  als  eine  ju  ®runbe  liegenbe  Se^rabfic^t  fclilie^en 
ld§t.  SJaS  mirb  aber  niemanb  al§  biblif(^en  93emei8  für  bie 
©atiSfaftionSle^re  permerten  mollcn. 

®ie  gefc^ic^tlic^e  ^Betrachtung  giebt  un§  eine  ganj  anbere  2lu§* 
fünft  über  bie  ©ntfte^ung  ber  Äirc^ente^re  al§  bie,  ba§  fie  anS 
bem  9Jeuen  Seftament,  anS  ^aulu§  lierübergenommen  fein  follte. 
Sie  ift  in  ber  abenblänbifcl)en  Äirc^e  be§  SJlittelalter^  anS  ben 
bie  grömmigteit  in  if|r  bet|errfcl)enben  3Jlotioen  entftanben.    6ie 


842  ^  a  f  t  a  n :  Qux  ^ogmatü. 

f)at  in  ber  JReformationSjeit  al§  ber  felbftocrftanblic^c  ^intergrunb 
bcr  ?ßrebtgt  oon  ber  Slec^tfertigung  bur^  bcn  ©laubcn  gegolten. 
3unäd)ft  fo,  ba^  fie  ein  Q3eftanbtcil  ber  9iec^tfertigung§Ie^rc  xoax, 
unb  auf  biefer  ber  2:on  lag.  SHdmä^Iic^  in  ber  Sntroicflung  fo, 
bag  fie  bie  ^auptfa^e  n)urbe,  bie  ^auptle^re,  bie  9{ect)tferttgung§« 
Iet)re  eine  bloge  Folgerung  au§  il^r.  SBomit  bann  eine  folgen« 
fdiroere  SSerfd^iebung  bcr  ©ebanten  ftattfanb,  eine  ®inorbnung  ber 
neuen  fiel^re  in  bie  üom  ®eban!en  be§  ©efe^eS  be^errfc^te  Se^r» 
Überlieferung.  ©d^Iagenb  tritt  ba§  jebem,  ber  feigen  roxll,  barin 
entgegen,  ba§  in  ben  neueren  bogmatifc^en  ©riftemen,  bie  fic^  an 
bie  Rirdjenlel^re  anfd^Iie^en,  ber  ©ebanfe  be§  ®efe§e§  jum  ®runb» 
Pfeiler  ber  epange(ifd)en  ^römmigteit  unb  3)ognmtif  gemalt  roirb, 
obvo6t)l  e§  ber  Slero  ber  ^Reformation  roar,  bie  d^riftlic^e  ?Jrom* 
migteit  in  ber  ^ir^e  aber  bie  gefe^Iic^e  (Spl^äre  ^inaui^ju^eben. 

©0  bie  Sttu^funft  ber  ®efd(ic^te  über  bie  begriffliche  Ron» 
ftruttion  bcr  Äir^enlcl^re  oon  bcr  SSerfö^nung!  Unaroeifel^aft  aber 
werben  bie  Vertreter  biefer  Se^re  jebem,  ber  fie  auf  ®runb  einer 
fotc^en  93etrad|tung  für  bie  eoangclifd^e  S)ogmatit  beftreitet,  bie 
3lutorität  be§  9kuen  £eftamentc§,  be$  ^poftel^  ^]ßaulu§  oor  aDem 
entgegenl^altcn.  Unb  be§^alb  f^eint  e§  mir  juerft  unb  nament* 
lic^  um  biefe§  mid^tigen  frltifc^en  3iiitereffe§  roiüen  non  ber  größten 
Sebcutung  ju  fein,  ba^  ber  3lpofteI  ^aulu§  in  SBal^r^eit  ju  Un« 
red|t  al§  3^uge  für  bie  begriffliche  Äonftruftion  ber  Äir^enle^re 
angerufen  wirb.  SDringt  biefe  ®inft^t  burd^,  mirb  unb  mufe  fte 
un§  mit  ber  3^it  oon  einer  Se^re  (ber  ©atiSfaftionSlel^re)  be* 
freien,  bie  unter  bem  SJHoeau  ber  eoangelifd^en  g^römmigfeit  liegt 
unb  für  biefe  ocr^ängni§ooö  merben  fann,  roeil  fie  auf  einem 
falfc^en  aScrftänbniS  ber  göttlichen  Siebe  beruht. 

SWeinc  9Keinung  babei  ift  bann  freilicl)  nic^t  bie,  eine  anbere 
Setire  at§  bie  mirtlid^  ^aulinifc^c  an  bie  ©teile  ber  Äird)enle^re 
ju  fe^cn  ober  al§  ®rfa^  bafür  ju  empf eitlen,  ©old^e  JBerfuc^e 
finb  bi§t|er  immer  gefc^eitert  unb  muffen  fd^eitem  —  au§  oft  er* 
n)äf)nten  ®rünben,  bie  icf)  nid)t  ju  roieberl^olen  brauche,  6§  ijl 
eben  ein  faifctjer  ©d)riftgebrauc^,  ben  man  befolgt,  einerlei  ob  man 
bie  tirct)Iid)e  Se^re  au§  ^aulu§  ju  begrünben  ober  feinen  ©riefen 
einen  ®rfa§  für  fie  ju  entnef)men  fud)t  —  fatfc^  oor  aüem  be^-- 


Ä  a  f  t  a  n :  3ur  ® ogmatif .  US 

f)alb,  lücil  er  gar  nid^t  burd^gcfül^rt  rocrbcn  fann,  unb  c8  auf 
Selbfttdufdiung  beruht,  tDenn  einer  auf  biefem  äBeg  SRefuttate  ju 
gciöinnen  meint. 

SQSoQte  man  aber  folgern,  alfo  fei  e§  überliaupt  nic^t^  mit 
ber  biblifdien  Segrünbung  einer  l^eutigen  3)ogmatit,  fo  märe  baS 
erft  red^t  oerfe^lt.  Um  eine  biblifc^e  Segrünbung  fxnb  mir  nid^t 
oerlegen,  fobalb  mir  einen  anbern  ©d^riftgebraud^  al§  ben  trabi* 
tioneBen  befolgen,  mie  ba§  in  meiner  ©ogmatif  oerfuc^t  morben 
ift  —  morüber  id^  mid)  ^ier  nid)t  nä^er  auSjuIaffen  brauche.  JBic 
felir  biefer  ©c^riftgebrauc^  ber  in  ber  ©ac^e  liegenbe,  oon  ber  SKuf« 
gäbe  felbft  geforberte  ift,  erbeut  namentlii^  barau§,  ba§  mir  burd^ 
i^n  in  ben  ©tanb  gefegt  merben,  au§  $aulu§  eben  bie  ©ebanten 
SU  entnehmen  unb  ju  oerroerten,  um  bie  e§  il^m  felbft  in  feiner 
Serffinbigung  ju  t^un  gemefen  ift.  SQSir  fud^en  bergeftalt  bie  Sin« 
tjeit  mit  i^m  nid|t  in  ber  Seiire,  in  ber  begrifftidien  Verarbeitung, 
fonbern  im  ©lauben,  in  ber  gi^ömmigfeit,  b.  l|.  in  bem,  roa§  bie 
©Triften  aud|  über  3fö^^l|unberte  unb  Qal^rtaufenbe  l)inmeg  mirt? 
lic^  mit  einanber  oerbinbet.  Unb  jmar  finb  bie  ^autinifc^en  ®e« 
banfen,  bie  nun  banad)  in  ©etrad^t  fommen,  bie  folgenben. 

(£  r  ft  e  n  §  bie  93erfünbigung  oon  ber  unauSfpred^Iic^en  Siebe 
@otte§,  bie  fii)  ber  ©ünber  erbarmt  unb  um  iliretmiKen  ben 
eignen  ©oI|n  in  ben  2:ob  ba^ingegeben  l^at.  ©o  gro§  ift  biefe 
Siebe,  ba§  ba§  tiöc^fte  Dpfer  it|r  nidjt  ju  l)o6)  gemefen  ift.  SD3o* 
bei  ber  Jon  auf  bem  Unermarteten,  Unoermuteten  biefe§  gött« 
(ic^en  @rbarmen§  liegt. 

3  m  e  i  t  e  n  §  ber  ©ebanfe  oon  bem  oollf ommenen  ©e^orfam 
be§  SWenfc^en  3^efu§,  ber  fid^  bi§  jum  3:obe  am  Kreuj  bemäl^rt 
^at,  rooburc^  mir  i^m  ju  unau§(öfc^(ic^er  ®anfbarfeit  unb  ®egen* 
liebe  oerpflic^tet  finb. 

3)  r  i  1 1  e  n  §  enbtirfi  ber  ©ebanfe,  ba^  ber  ^eilanb  für  unö 
fteDoertretenb  getragen  ^at,  ma§  at§  ©träfe  ber  ©ünbe  in  bie 
3BeIt  gefommen  ift  —  bi§  jum  f^mad^Dotlen  Äreuje^tob  l^in,  ber 
fogar  ba§  ©efü^l  ber  ©ottoerlaffenl^eit  einfc^tog.  9lllerbing§  l^at 
^IJauIuö  felbft  bei  biefer  Seutung  be§  2:obe§  ©Ijrifti  nur  ba§  SSoIf 
3§rael  im  äuge  get)abt.  ©§  ift  alfo  eine  Ueberfdjreitung  ber 
-^Jaulinifdt)en  ©ebanten,  mcnn  mir  it)r  einen  für  bie  gange  ©e« 


844  ^  a f  t a n:  3ur  ^ogmotit 

meinbe  6Iei6enb  gültigen  @inn  abgetoinnen.  916er  gerabe  $aulu$ 
\)at  un§  bie  Sebeutung  beiS  ®efe^e§  in  ber  morolifd^en  ©efc^ic^te 
jiebeg  9Ken[^en,  ob  ^fube  ober  ^eibe,  oerfte^en  leisten,  fo  ba|  wir 
il^n  bei  biefer  9lnn)enbung  für  un§  ju  tiaben  überzeugt  fein  bfirfen. 
SÖSobei  freili^  jleber  ®eban!e  an  eine  ber  göttlichen  ©erec^tigfeit 
geleiftete  ©enugt^uung  au^jufc^Ue^en  ift,  atö  t)on  melc^er  $aulu^ 
nichts  roei^,  unb  bie  qu^  teine§n)eg§  einen  notn^enbigen  ©ebonfen 
in  biefem  3ufantmen^ang  bilbet.  3)Qrüber  ift  ba§  9}a^ere  in 
meinem  ^ud^  no^julefen.  9)ie  ©rmagungen,  bie  bafür  ma^gebenb 
ftnb,  geliören  u  n  f  e  r  e  r  begriffenen  3lu§prägung  ber  Se^re  an 
unb  l^aben  mit  $Qu(uiS  ni^tä  ju  t^un.  ^ier  fommt  nur  bet 
religiöS'fittlic^e  3lnfnüpfung3pun!t  in  SSetra^t,  ber  anii  bem 
SKpoflel  nid)t  fremb  ift. 

@o  mirb  na6)  meiner  SReinung  eine  mirtlic^e  Uebereinflint- 
mung  in  ben  @runbgeban!en  be^  ®IaubenS^  ber  fie^re  erreicht. 
3)ie  begrifflid^e  ^Verarbeitung,  au^  bie  begriffliche  93erhiüpfung 
biefer  ©runbgebanlen  ift  eine  anbere  unb  mu0  ^eute  eine  anbete 
fein.  3>n  einer  eoangelifd^en  ®ogmatif  foH  fie  baburc^  beftimmt 
merben,  ba^  e^  ftd^  um  2)arftellung  ber  @rlenntnis  ^anbelt,  bie 
ber  ®laube  au^  ber  9lneignung  ber  göttli^en  Offenbarung  ge« 
minnt.  93ei  biefer  33eftimmung  ber  Slufgabe  roirfen  aber  bann 
©efic^tSpunlte  mit,  bie  bem  3lpoftel  fremb  roaren,  i^m  fremb  fein 
mußten.  3)ie  autoritatioe  93egrünbung  bafür  lautet  nic^t  bog 
$auluS  fo  gelehrt  l^at,  fonbern  ba^  ba§  eoangelifc^e  $e« 
fenntniS  e§  forbert. 

9^0^  mö^te  i^  fragen,  ob  e§  ^eute  in  unfrer  eoange^ 
Uferen  ^irc^e  gefunbe  unb  eifrige  3}er!ünbigung  be^ (Soange« 
lium§  giebt,  bie  eS  mit  ber  äSermertung  $aulinifd)er  ©ebanfen 
anber^  ^ält,  atö  ^ier  für  ri^tig  erflärt  marb.  ®iebt  eS  ^ute 
noc^  ^rebiger,  roeldje  auf  ber  Äanjel  bie  begriffti^e  ftonftrultion 
ber  @ati§fa!tionSle^re  oortragen?  93or  menig  ^a^rje^nten  ^ate^ 
fie  nod^  gegeben,  barunter  folc^e,  bie  eS  nic^t  zufällig  waren,  fon« 
bem  ^rebiger  oon  @otte§  ®naben,  wie  Sllilfelb  in  Seipjig. 
tSber  ob  e§  fte  ^eute  nod^  giebt?  ülad)  meiner  (Srfa^rung  nur 
etroa  ein  junger  ^rebiger,  ber  oon  einer  ort^oboyen  ^oc^f^ule 
fommt  unb  bie  l|ot)e,  ^eilige  ^unft  ber  ^rebigt  erft  ju  lernen  im 


^  a  f  t  a  n :  3ur  Dogmatil.  B45 

JBcgriff  fte^t.  Ober  erfatirenc  unb  gcbicgcnc  ?ßrcbigcr  etroa  ein« 
mol  am  5«fttag,  lüeitn  fxc  bcr  SBcrfuc^ung  erliegen,  im  Übeln  Sinn 
ju  bogmatifiercn.  ^m  attgemeiuen  ift  auä^,  maS  biefe  ficl^rc  be= 
trifft,  ba§  ®ogma  in  feiner  ftarren  begrifflichen  SluSprägung  oon 
ben  ftanjeln  oerfdfmunben,  qu^  bei  benen,  bie  im  ^rinjip  baran 
feft^alten.  aBa§  ber  befte  93en)eiS  ift,  wie  notmcnbig  mir  eine 
anbere  2)ogmatiI  alg  bie  alte  überlieferte  brauchen.  3)enn  mögen 
bie  geborenen  ?ßrebiger  immerhin  für  fic^  felbft  forgen  —  bie 
öielen,  bie  e§  nic^t  finb,  tonnen  nur  burd)  bie  2)ogmatif  auf  ben 
rechten  SB3eg  gefül^rt  unb  barauf  erl^olten  merben. 

4. 

^n  einer  lurjen  ©dilugbetra^tung  foll  bie  J^age  ermogen 
n>erben,  ob  mir  nic^t  boc^  bei  ^^aulu§  bie  @puren  einer  ein^eit^ 
liefen  alles  }ufammenfaffenben  S^eorie  über  ba§  ^reuj  @^^rifti 
finben.  älber  e^e  id)  barauf  eingebe,  mug  ic^  ber  äluSeinanber« 
fe^ung  be§  2lpoftel5  1  Äor.  1  unb  2  gebenfen.  Sine  ®arftellung 
ber  ^aulinifc^en  ^rebigt  oom  Äreuj  märe  o^ne  93ejugna^me  barauf 
nic^t  DoQftänbig'. 

(£§  ^anbelt  ftd^  ba  um  bie  (Stellung,  bie  ba§  Soangelium 
oom  gefreujigten  @^]^rtftuS  ju  ben  @ebanfen  unb  SBünfdjen  ber 
bamaligen  9Belt  einnimmt.  ^aulu§  ift  fid^,  fo  fe^en  mir  auS 
biefen  2leu§erutigen,  ber  ooKenbeten  ^araboyie  be§  SDBorteS  oom 
Äreuj  oollfommen  bemüht.  SBaS  bie  Quben  »erlangen,  fmb  mun* 
berbare  3^'^^"  ^^^  ^immel,  unb  monac^  bie  ©riechen  fragen, 
ift  9Bei§^eit.  2)aS  ©ort  oom  gefreujigten  ©l^riftuS  ift  jenen  ein 
3lergerniS  unb  biefen  eine  S^or^eit. 

5lämlid),  für  ba§  jübifc^e  S3emu§tfein  ift  bie  2lttmad)t,  mit 
ber  ©Ott  über  ^immel  unb  ®rbe  oerfügt,  ber  allein  mögliche  unb 
überjeugenbe  93emei§  beö  göttlichen  Urfprung§.  ©ie  erroarten  ba* 
^er  aud)  einen  S^effiaS,  ber  burc^  munberbare  Slraftbet^ätigung 
fi^  als  ©otteS  Soten  unb  ben  ®^rift  beS  ^errn  erroeift.  3)aB 
3[efuS  gefreujigt  roorben  ift,  baS  ift  für  itire  ©enfroeife  bie  enb- 
gültige  SBiberlegung  feines  9lnfpruc^S,  ber  ÜÄeffiaS  ju  fein.  2)ie 
S3e^auptung,  er  ber  ©efreujigtc  fei  bennoct)  ber  9JleffiaS,  erfc^eiut 
i^ncn  nic^t  blo^  als  etmaS  Unglaublicl)eS,  fonbern  gerabeju  als 


346  Ä  a  f  t  a  n :  3ur  ® ogmatif. 

ein  9lergerni§,  al§  eine  @otte§Iäftcrung.    ®aS  lücig  $aulu§,  loeil 
er  felbft  fo  gebaut  ^at,  al§  er  bic  ©cmcitibc  verfolgte. 

3lbev  nid^t  rocniger  gro^  ift  bcr  ®cgcnfa%  gegen  bic  grie* 
c^ifc^e  Sentipeife.  93ei  ben  ©riei^en  gilt  nur  bie  SBeiöl^cit  etn)a§, 
n)ie  fte  in  ben  p^ilofopl^ifc^en  (Bauten  gelehrt  n)irb  unb  fid^  oIS 
eine  au§  aßgcmeinen  ©ebanfen  entnommene  2^^eorie,  ate  ein  ben* 
tenb  gen)onnene§  äBeItner[tänbni§  barftellt.  3Ba§  bebeutet  i^ncn 
ba§  9Bort  oom  Kreuj,  bie  93e^auptung,  ba§  ®ott  burc^  biefe 
%i)at  bie  aSelt  befeligt  unb  unö  in  i^r  ben  ©(ftlüffel  jum  9Ser* 
ftänbniS  ber  SQBelt  gegeben  l^at?  ®a§  ift  eine  gar  nic^t  bi§tutier* 
bare  2:^or^eit,  fie  fällt  au§  aller  Slnalogie  l^eDenifc^er  SlBeig^eit 
t)erauS. 

Unb  mag  ftellt  nun  ^aulu§  bem  entgegen?  ©infac^  ben 
©a^,  ba§  ba§  Rreuj  fi^  an  benen,  bie  ba  glauben,  ober  für  bie, 
bie  ba  errettet  merben,  ate  ®otte§  Äraft  unb  ®otte§  SBei^^eit 
ermeift.  ®r  Derjic^tet  auf  eine  bialeftif^e  ^uSeinanberfe^ung  mit 
biefen  Sinmänben.  .  SQBer  ba§  Sreuj  rid^tig  oerfte^en  foH,  mu§  )u 
ben  ©laubigen,  ju  ben  ©rretteten  gel^ören.  9iur  wer  ^ier  eigne 
©rfatirung  l|at,  wirb  inne,  roie  t^öric^t  unb  unbegrünbet  bie  ©in* 
roänbe  bagegen  finb.  3)ie  ©rfa^rung  aber,  bie  er  meint,  ift  bie, 
bie  er  felbft  gemacht  l^at :  ber  ®eifteSempfang  in  ber  SSereinigung 
mit  ©^riftu§.  ©o  bitbet  bie  Äraft  @otte§  gleich  am  ©ingang 
ber  SRebe  1  Äor.  1,  18  ben  ®egenfa§  jur  %\)ox})^\t:  benen,  bie 
oerloren  gel^n,  ift  ba§  Äreuj  ©^rifti  eine  S^orlieit,  benen,  bie  er* 
rettet  merben,  ift  e§  —  nun  nid^t  etwa  SDSeiS^eit,  fonbem  Suva- 
jjLc;  «•eoö.  2It§  Äraft  ®otte§  ift  e§  bann  fetbftoerftänbli^  auc^ 
bie  t|öd|fte  aBei§t)eit.  ©o  gefdial^  auc^  feine  ?ßrebigt  an  bicÄo* 
rint^er  nid)t  in  überrebenben  SEßorten  menf^tidier  SD8ei§^eit,  fon* 
bern  in  ©rroeifung  be§  ©eifte§  unb  ber  Kraft  1  Kor.  2,  4.  2)ie 
©alater  erinnert  er,  bafe  bie  anfc^aulic^e  ?ßrebigt  be§  getreujigten 
©^riftug  in  i^rer  üKitte  ©eiftegempfang  unb  göttliche  SHac^tt^aten 
jur  5olge  Ijatte.  ®amit  ermeift  fid^  bie  fc^einbare  ©c^moc^e 
©ottcg,  bag  bie  2)len|c^en  feinen  ©o^n  Ereujigen  tonnten,  al§ 
ftdrfer  benn  alle  Kraft  ber  aWenfd^en  1  Kor.  1,  25. 

2tber  baneben  fte^t  nun  jugleid^,  ba§  ©^riftu§  für  bie  ©lau» 
bigen  jur  SÖBei^^eit  geworben  ift,  unb  baß  bie  fc^einbare  I^or* 


Ä  a  f  t  a  n :  3ur  S)oömatif .  347 

^eit  ®otte§  lücifcr  ift  afö  bic  SBcig^cit  bcr  3JlenfcI|cn  93.  25  u.  30. 
3m  roeitercn  SScrIauf  ücrfic^ert  ber  3lpoftcI  2,  6  ff.:  roir  rebcn 
SBci^^cit  unter  bcn  xiXetot,  bcn  ©ingcroeititen  —  eben  nur  eine 
anbere  9Bct§^eit  ate  bic  SBeiS^eit  biefer  SBelt  bie  biöl^cr  im  @e^ 
^cimniS  verborgene  833ei§^eit  @otte§.  2)q§  ift  bie  SBeiS^eit,  bie 
ber  ®eift  giebt,  bie  ber  7cveü|xaxtx6s  I|at,  n)ät)renb  ber  tj;uxcx6s 
nic^t§  booon  roei^  unb  oerfte^t.  S33ie  l^aben  roir  nun  biefe  SBBei§* 
^cit  ju  beuten,  über  bie  $aulu§  ju  uerfügen  ftct)  beraubt  ift? 

SWan  ftettt  ben  3ufantmen^ang  roo^I  fo  oor:  ^aulu§  uer» 
neine  atlerbingS  bie  grie^ifc^c  SB3ei§^eit,  behalte  aber  vor,  ba^  e§ 
eine  SBei^^eit  gebe  a\x6)  für  ben  ©Triften,  nur  eben  unter  aUor« 
auSfe^ung  be§  ©laubenS.  Unb  baS  wirb  bann  al§  Segrünbung 
beö  Unternel^menS  oerroertet,  ben  d^riftlic^en  ©lauben  in  t^eolo* 
gif^e  Sa3ei§f|eit  umjufe^en.  S)ergleid)en  ^abe  auc^  5ßaulu§  fd}on 
Dorbel^alten.  Qa,  naä)  ^olften  ift  bie  ganje  ^rebigt  be§  2[po* 
ftel§  ©rjeugnig  fol^er  SBeig^eit,  ber  ®noft§  be§  Äreuäe§  ©l^rifti. 
3^  glaube  aber  nicht,  ba§  biefe  Beurteilung  jutrifft. 

®abei  fommt  e§  nämlid^  fo  ju  fte^n,  ba^  bie  SQBei^^eit,  bie 
^^aulu§  unter  ben  xiXeioi  rebet,  ber  3lrt  na^  bie  gleidje  ift 
roie  bie  oon  ben  ^eflenen  geforberte  unb  oermi^te.  3)er  Unter» 
fd)ieb  ift  ber,  ba^  ber  ^nl^ölt  ein  anberer  ift,  bie  ©ebanten  fic^ 
in  anbern  SÄngelpunften  bewegen,  in  2Bat|r^eiten,  bie  nur  bem 
©laubigen  jugänglid^  finb.  SSielme^r  ift  ber  ©egenfa^  aber 
ber,  ba§  bie  9Bei§]^eit  ni^t  in  Überrebenben  SBorten  liegt,  fon« 
bern  il^rer  2lrt  nac^  eine  anbere  ift.  ©ie  ift  eine  S2Bei§^eit 
ber  göttlichen  Si^atfac^en,  eine  SBei^tieit  ber  ©e^eimniffe  unb 
Offenbarungen.  ®ie  teilt  ber  ©eift  mit,  unb  bereu  mirb  man 
burd)  ben  ©eift  gemi^.  Ql^r  Slngelpuntt  ift  unfere  93eftimmuug 
jur  Soga. 

Ober  no^  anber^:  baS  SBeroeifenbe,  ba§,  rooburd^  bie  SßJeig* 
^eit  fic^  al§  SBeiS^eit  ermeift,  ift.  nic^t  bie  3)enfarbeit  be§  menfc^« 
lid)en  ©eifte§,  fonbern  bie  UebcriDältigung  burd)  göttlichen  ©eift 
unb  göttliche  Äraft.  SBenn  $aulu§  fortfäl^rt,  er  liabe  ju  it)nen 
nic^t  alö  ju  Tcveufiaxcxot  reben  fönncn,  tonne  e§  aud^  je^t  nicl)t, 
ba  fie  nod^  aapxtxo:  feien,  fo  barf  man  nic^t  an  einen  Unterfdjieb 
bcr   intcUettuellcn  2lufnal|mefäl)igteit  beuten.    3)ci§  ift  na^  bem 


S48  ^  a  f  t  a  n :  3ur  3)O0matit 

ganjen  äwfammcn^attg  au§gcf^Ioffen.  ©in  S3ctfpicl  bcr  SBci^^eit, 
oon  ber  $aulu§  unter  bcn  x^Xetot  rcbct,  ift  SRöm.  9 — 11:  auä 
bcr  ©c^rift  wirb  fic  entroidtelt  unb  gipfelt  in  ber  9Sertünbigung 
eine§  göttlid)en,  bem  2lpofteI  offenbarten  @e^eimniffe§.  Sllfo,  bo* 
mit  n^irb  ntc^t  etn^a  ein  SSerftänbniS  be§  $quIu§  legitimiert  mel« 
d^e§  ben  Äern  feiner  5ßrebigt  in  einer  oon  i^m  ouSgebiftetten 
2:^eorie  über  ba§  Äreuj  S^rifti  finbet.  ®S  bleibt  bei  allem,  maS 
mir  uns  in  biefer  ^ejiel^ung  auf  ben  Doranfte^enben  Glattem 
oorgel^alten  l^aben. 

älber  mistiger  nod)  ift,  ba^  mir  bemna^  auc^  ni^t  ber  3nei« 
nung  ftnb,  je^t  jum  @d^Iu^  baS  oerfud^en  ju  moUen,  maS  bisher 
fo  bejibievt  abgelehnt  morben  ift.  9lic^t8  liegt  mir  femer,  aö 
eine  fold^e  S^eorie  bei  ^autuS  auSfinbig  mad^en  ju  moQen.  3fi 
bei  ?ßaulu8  etroa§  mie  eine  einheitliche  ^ufammenfaffung  üor^an» 
ben,  bann  nur  in  ber  ^orm  eine§  eint^eitlid^en  3iiföi"n^^nfc^auen^ 
ber  oerfdjiebenen  SRomente,  bie  in  ber  göttlichen  2;^at  be§  2:obe8 
unb  bcr  Sluferroedfung  ^efu  S^rifti  liegen.  @o  alfo,  ba|  eben 
bie  göttlid^e  ^at  unb  nic^t  eine  S^eorie  barüber  für  i^n  ba§ 
äßcfentlict)e  ift.  @benfomenig  ge^t  meine  37leinung  ba^in,  bad 
SBcrftänbniS  ber  cinjclnen  ^aulinifct)en  ®eban!engruppen  oon  ber 
©rfaffung  biefeS  einheitlichen  ©inn§  abl^ängig  ju  beulen.  SBü§ 
ii)  meine,  ^at  nur  ben  ©inn  einer  IJrage,  ob  etma  bei  ^aulu§ 
gelegentlid)  in  cinjclnen  aiuöfprüc^en  etma§  2)erartige§  wie  eine 
einheitliche  ^i^föntmenfaffung  bcr  oerfd^iebenartigen  Betrachtungen 
JU  finben  fei.  SDleinc^  93ebün{en§  läßt  fid^  baS  nic^t  ganj  be» 
ftrciten.  SDie  Sefcr  merben  glei^  fe^n,  ba^,  ma§  mir  babei  nor- 
fc^mcbt,  fd^led)terbing§  nic^t  in  eine  heutige  SDogmatit  pa|t.  Sie 
braucf)en  alfo  auc^  nid)t  }u  beforgen,  ba^  id^  |e^t  jum  ©c^lu^ 
etma  ber  gemöl)nlid^cn  Sßerfuc^ung  be§  ®ogmatifer§  erliege,  für 
irgenb  eine  felbft  erfunbene  2:^eorie  ben  Sttpoftet  $aulu§  sunt 
beugen  ju  geminnen. 

®§  fiub  roefentlic^  brei  ^Betrachtungen,  bie  mir  bei  ?PauluS 
gefunben  ^aben.  Qi)  erinnere  noc^  einmal  an  bie  Orunbgebanfen. 
1)  S:ob  unb  2luferfte^ung  S^rifti  ift  bie  3Benbc  ber  Otiten,  ber 
gegenmärtigen  unb  ber  gutünftigen  SSelt:  mit  biefen  Sreigniffen  iji 
bie  alte  aSelt  geftorben,  mit  i^nen  bie  neue  SBelt  angebrochen.  2)  5)er 


S{  a  f  t  a  n:  Qnx  ^ogmatif.  a49 

Job  S^rifti  ift  hai  Opfer  für  bic  ©ünbc  bcr  SDäelt,  in  il^m  l^abcn 
mir  ©laubigen  bie  SBergebung  bcr  (Sfinben,  er  ift  bie  Offenba» 
ning  ber  ©erec^tigfeit  ®otte§  für  ben  ©lauben.  3)  S)er  Job 
ß^rifti  ift  ftellocrtretenbe§  ©traf leiben  für  ba§  Sßol!  Qfrael:  er 
^at  ben  auf  bem  93oIf  laftenben  @trafflu(^  be§  ©efe^e^  abgelöft, 
befeitigt  unb  bamit  baS  ©efe^  überhaupt  au8  bem  Snittet  getl^an, 
roaS  inbireft  auc^  ben  Reiben  gu  gute  fommt,  fofern  bamit  ge« 
fallen  ift,  n)a§  fte  bisl^er  t)on  bcr  ©emeinbe  ©otte§  trennte.  3)a§ 
fmb  bie  brei  ©ebanten,  rodele  je  bie  33etra^tung§n)cifen  c^araf« 
tcrifieren,  bie  wir  gefunben  ^aben. 

3)ie  ©in^eit  aller  biefer  ©ebanten  liegt  in  ber  ©in^eit  be§ 
religiöfen  ©rlcbniffes,  ba§  ju  ©runbe  liegt.  SSSeiter  barin,  ba§ 
bie  ©nbereigniffe  mit  Job  unb  SSuferfte^ung  S^rifti  angebrod)cn 
finb,  bie  ^eitejufunft  barin  jur  ©egenroart  gemorben  ift.  ©nblic^ 
barin,  ba|  e§  aßeS  gefd^el^cn  ift  nac^  ber  ©^rift  unb  an  ber 
©^rift  ate  ©rfüHung  beS  SBorte^  ©ottcfi;  erroiefen  rocrben  fann. 
Sber  Don  biefer  ©in^eit  ift  je^t  nic^t  roieber  ju  reben.  SBir  fragen 
je§t  nac^  ber  3ufammcnfaffung  aller  biefer  ©ebanten  in  einer 
ein^eitti^en  S^eorie. 

Offenbar  bietet  nun  aber  bie  ©ebanfenrei^e  über  ba§  Opfer 
feinen  Sln^altSpunft,  bie  anbem  ©ebanfcnrcil^cn  i^r  einjuorbnen. 
S)arau§,  ba§  ber  a:ob  ©^rifti  ba§  Opfer  ift  für  bie  ©ünbe  bcr 
SBelt,  bie  oon  ©ott  unS  gegebene  neuteftamentlirfie  ©nabenorb* 
nung,  barau§  folgt  in  feiner  SBSeife,  ba§  er  baS  ©nbe  ber  alten 
5tcif(^e§mclt  unb  bie  2luferftet|ung  ber  Slnfang  bcr  neuen  SBelt 
beS  ®eifte§  ift.  ©benfomenig  lä§t  fid)  bie  ©ebanfcnreibe  über 
ha§  ©efe^  fo  ermeitern,  ba§  fte  bic  übrigen  ©cbanfen  unter  ftd^ 
befaßt.  2)agcgen  entf^eibet,  bag  fte  bei  $aulu§  au§fc^lie^lid) 
eine  93cjiet|ung  auf  ba§  Sßolf  -Sfracl  t|at.  ®a§  barf  nic^t  auf 
bie  9Jlenf(^^eit  crmeitert  unb  biefe  ©rrocitcrung  für  ben  ©runb* 
gebanfen  feiner  2^eorie  über  ben  2:ob  ©^rifti  ausgegeben  roerben. 
S)enfelben  ©cbanfen  aud|  in  baS  Opfer  ^ineinjubcuten  ift  gleich* 
fall^  unmöglicl),  wie  früher  ausführlich  gejeigt  roorben  ift.  ®§ 
bleibt  alfo  nur  bie  erfte  ©ebanfenrcil^e  nom  Sobe  ©t)rifti  als  bem 
©nbe  ber  glcif^cSmelt. 

2ln  unb  für  ftd^  freiließ  {)at  biefe  ©cbanfcnrci^c  ifirc  beftimm:» 


350  Ä a  f  t  a n:  3^t  2)ogmatit 

tcn  93cäi^^ungcn  in  bem  9Womcnt  bc§  ^cil§,  ba^  c§  Sefteiung 
Don  bcr  Söelt  bcr  ©ünbc  ift  unb  @infüf|rung  in  ein  ncue§  Scbcn 
bc§  @ciftc§  unb  ber  jufünftigen  ^errli^fcit.  ®er  %o\>  ©^rijii 
ift  bamit  nic^t  in  eine  93eleud)tung  gefteßt  in  ber  er  al§  Offen- 
barung ber  @ered)tigfeit  @otte§  für  ben  ©fauben  t)erftdnblic^ 
wirb.  S)te  grage  mu^  ba^er  fo  louten,  ob  ^auluS  biefcm  ®e« 
banfen  oom  @nbe  ber  ?5leifc^e§n)elt  im  2:obe  ®^rifti  mrgenb§ 
eine  SDßenbung  gegeben  l^at,  in  ber  er  jugteic^  bie  ^Änfnüpfung 
für  bie  SRe^tfertigung  bietet? 

3)a§  nun,  meine  id^,  fei  ber  goK  i^  ^^^^  3lu§f pruc^  9l5m.  8, 3 : 
®ott  fanbte  feinen  ©o^n  ^v  6{totü)(iaTt  aapxö?  äjiapxtac  unb  xai- 
£xptvev  T^v  iftapxfav  h  x^  aapxu  SWit  faft  ollen  9lu§Iegern 
ne^me  ic^  an,  ba§  biefe§  xaxexptvev  oom  Xobe  ®^rifti  ju  oer« 
ftcl^en  ift.  ©omol^l  naä)  bem  3ufammen^ang  ber  ©teile  wie  mit 
bem  (Sanjenber^aulinifc^en  Se^roerfünbigungfc^eint  mir  ein  an« 
bere§  9Serftänbni§  nic^t  mo^l  möglid^  ju  fein.  Sro^  be§  abroci* 
c^enben  Urteile  üon  93.  2Bei^,  ber  l^ier  an  baS  fünblofe  Seben 
Qfefu  gebac^t  roiffen  miß,  barf  bie§  aSerftänbniS  mol^l  al5  feft* 
ftel^enb  erachtet  werben.  Kaxaxptvetv  ^ei^t  nun  eigentli^  üerur* 
teilen,  @§  ift  aber  l^ier  ni^t  bto§  an  einen  UrteilSfpru^  ju 
beuten,  fonbern  an  ein  tl^atfäi^Uc^  ooCjogene^  Urteil.  2luf  beutf^ 
etma:  er  l^at  bie  ©ünbe  im  fjleif^  gerid)tet  —  baS  SRic^ten,  roie 
e§  t>a^  fprac^lid^  t)ei§en  fann,  im  ©inn  non  ^inri^ten  genommen. 

3)a§  aOSort  fte^t  nun  freilid^  junäd^ft  im  ^iiföniwien^ang  ber 
@ebanfenreil)e,  ba|  mir  im  Sobe  S^rifti  mitgeftorben  unb  mit» 
aufermedt  finb.  ^^auluS  fü^rt  auf  biefe  ®otte§tt|at  an  S^rifto 
jurüc!,  mag  er  8,  2  al§  (fein)  @rlebni§  genannt  ^at:  baS  ®efe§ 
bca  ®eifte§  be§  Sebcn§  in  S^rifto  ^t\n  t)at  mic^  (bic^)  befreit 
oom  ®cfe^  ber  ©ünbe  unb  be§  2:obe§.  Unb  roa§  ®ott  bamit 
bejmedEt  unb  errei(^t  l^at,  ift,  ba§  mir  nun  ba§  ®efe§  erfüllen, 
inbem  mir  nid)t  me^r  nac^  bem  ^leifd^  manbeln,  fonbern  nac^ 
bem  ®eift.  ®ott  t|at  bamit  t^atfäd^Uc^  au§gerid^tet  unb  oerroirf» 
lid^t,  ma§  ju  bemirten  bem  ®efe§  um  ber  ©c^ma^^eit  be§  %ku 
fc^e§  mitten  unmöglich  mar.  S)iefe  näc^ften  93e}ic^ungen  bcig  9(u§' 
fprud|§  ftet)en  oötlig  auger  3^cif^I- 

®a§  @igentt)ümlid^e  be§  in  i^m  gemäfitten  2lu8brud(8  ift  aber, 


Ä  a  f  t  a  n :  3ur  5)ogmattf .  851 

ha^  bcr  3:0b  beS  ^cUanb§  l^ier  nid^t  bIo§  aU  göttli(^e  Sttnorb« 
nung,  fonbern  al§  göttltd)e  S^^at  in  ber  9iid|tung  auf  i^n  aU  ben 
2:räger  bc§  ©ünbcnflcifd^cS  crfc^cint.  Unb  loeitcr  !ommt  in  ©c» 
tra^t  bag  bie  göttliche  Zi)at  als  ein  t^atfä^Ii^  DoQjogeneS  @e« 
ric^töurtcil  ^arattcrificrt  n)irb.  S)enn  bamit  fommcn  roir  in  bic 
©p^ärc  bcr  ©ebanfen  uon  ©cric^t,  Sicc^tfcrtigung  unb  neuer  ®e* 
red^tigfeit.  ®S  fann  ba^er,  wie  mir  fc^eint,  ernftlid)  gefragt  wer* 
ben,  06  n)ir  ^ier  nic^t  ein  baS  @Qnje  ber  ^aulinifc^en  @ebanten 
über  ben  2:ob  ©l^rifti  jufammenfaffenbe^  Urteil  tiaben.  SBcrroanbt 
ift  i^m  ber  2lu§fpru^  SRöm.  6,  10,  ba§  ®^riftu§,  voaS  er  ge- 
jiorben  ift,  ber  ©ünbe  geftorben  ift.  3)enn  ba§  fann  aud)  nur 
I)ei^en,  ba|  er  burdi  ben  2:ob  au^er  93ejie^ung  jur  ©ünbe  ge* 
treten  ift,  ju  ber  er  als  Siräger  be§  ©ünbenffeifd^eg  in  SSejie^ung 
ftanb.  5^rner  ift  2  Stox.  5,  14  ju  nennen :  ift  einer  für  (ÖTiep) 
aBe  geftorben,  fie^e  fo  finb  fie  alle  geftorben.  ®§  Iieifet  freili^ 
nic^t  bircft:  ftatt  i^rer,  fonbern:  i^nen  ju  gut.  SKCein,  roenn 
fein  2:0b  i^ncn  fo  ju  gute  fommt,  ba^  fie  babur^  be§  2:obe§ 
überhoben  fmb,  fo  liegt  ber  @eban!e  ber  ©tcüoertretung  inbirett 
barin.  SHber  noc^  jroei  weitere  jmeifetloS  ^aulinifdie  ©ebanfen 
muffen  mir  ^injune^men.  ®innial  ben,  baj3  ber  2;ob  burc^  bie 
©ünbe  in  bie  SBett  ge!ommen  ift  9löm.  5,  12  unb  ber  2:ob  ba« 
^er  ber  ©ünbe  ©olb  ^eijat  SRßm.  6,  23.  SBeiter  aber  bie  nun 
oft  erroäl^nte  ©rmartung  ber  balbigen  SBieberfunft  be§  §errn, 
bie§,  ba§  ^autu§  fie  no^  felbft  ju  erleben  ^offt. 

9te]^men  mir  nun  bie^  allc§  jufammen,  lie^e  fid)  folgenbe 
S^eorie  beuten. 

@§  ift  ba§  ®nbe  ber  3^iten,  ba§  auf  un§  gefommen  ift. 
3e^t  ^at  ®ott  eingegriffen,  um  feinen  oerborgenen  emigen  Slat* 
fc^lu§  ju  oermirtlid^en.  Qn  bem  ®nbe  ^at  er  feinen  ©o^n  in 
SJad^bilbung  be§  ©ünbenfteif(^e§  gefanbt.  SBie  ba§  näf)er  ju 
beuten  ift,  tann  ba^ingefteltt  bleiben.  <3[cbenfafl§  ^at  Qt\\xS  nac^ 
?ßaulu§,  obmo^t  er  oon  teiner  ©ünbe  mu&te,  b.  l),  teinc  attioe 
©ünbe  in  il^m  mar,  eine  aap?  i|xapT:a;  gel)abt.  Unb  fein  2;ob 
ift  nun  beibe§  in  einem,  baö  le^te  ®erid)t,  bie  t^atfä^lidie  SSer* 
urteilung  ber  ©ünbe  im  i^ki^d)  unb  bie  SBernic^tung  ber  alten 
SEBelt,  mä^renb  mit  feiner  2luferfte^üng  aU  bem  93eginn  ber  9teu= 


352  Ä  a  f  t  a  n :  3ui^  ^Oömati!. 

fcf)öpfung  bie  neue  SBelt  erftel^t.  2)amit  f|at  ftc^  ba§  X6b^^t* 
f(^idt  au^getüirit  ba^  al§  ©trofe  mit  berSünbe  oerbunben  toar. 
^ie  an  S^^riftum  glauben,  fte^n  nun  nic^t  mel^r  a(S  jum  2:obe 
verurteilte  ©ünber,  fonbern  al§  jum  Seben  beftimmte  ©erec^te 
Dor  ®ott.  ©ie  bürfen  ba^er  erwarten,  bireft  auS  bicfem  Seibe§» 
(eben  in  baS  neue  Seben  be§  @eifte§  unb  ber  ^errli^feit  ju  ge* 
langen.  Sttc^t  minber  aber  fmb  fic  burc^  ©btifti  S^ob  ber  ^err» 
fc^aft  ber  ©ünbe,  ber  fre  um  beS  gleifc^eS  mitlen  bienen  mußten, 
überl^oben.  S)ie  ©ünbe  ift  im  gleifd^  I)ingeri^tet.  SBer  in  @^^rifto 
I  ift,  ift  eine  neue  Kreatur.  Q6)  fage:  biefe  2it|eorie  liefee  fic^  benfen. 

9lämlid^  aU  eine  üon   ^au(u§  gebilbete.    SDäir  moHen  fe^n,  ob 
!  fid(  ba§  im  ©ingeinen  bemä^ren  läfet. 

SDaS  Q3ebenten  liegt  na^e,  ba^  nun  aber  boc^  aud^  bie  S^riften 

fterben  muffen,  unb  e§  alfo  mit  i^rer  ^Befreiung  pom  lob  burc^ 

ben  Sob  ©{(rifti  ni^t§  ift.    3)ie§  93ebenten  lä^t  fi^  aber  un» 

firmer  miberlegen.    ®enn  ba§  ift  nid)t§  3lnbere§,  ate  baS  ^$ara* 

boy,  bo§  ben  ©runbgebanten  ber  neuteftamentlic^en  SJertünbigung 

überhaupt,  nic^t  blo^  ber  ^^aulinifc^en  ausmacht :  bie  ^eiUjufunft 

ift  jur  ©egenroart  gemorben,   ofine  bafe  fie   aufgehört  ^ätte,  ju* 

fünftig  JU  fein,    ©emi^  a(fo  lä^t  ftc^  biefeS  SBebenten  ergeben, 

I  ©§  fte^t  aber  feft,  ba§,  roaS  ?ßau(u§  gelehrt  ^at,  eben  biefen  pa* 

!  raboyen  ©ebanfen  einfd)liefet.    2tlfo  ift  e8  fein  ©egenbemei§  ba* 

I  gegen,  ba§  bie  Set|väu§erungen  be§  9lpofteI§  auf  eine  fol^c  ein« 

^eitlicf)e  2:^eorie  roie  bie,  bie  eben  ftijjiert  roorben  ift,  ju  führen 
i  fd)einen. 

SBeiter  fragt  fi^,  ob  bie  brei  nun  oft  ermahnten  ©ebanfen^ 
.  reil^en  in  biefcr  oerfud)§meife  fonftruierten  Iffeorie  aufge^n,  ob 

fie  fie  berf t.    Unb  ba  ift  t(ar,  ba^  bie  an  erfter  ©teDe  entroictcite 
I  o^ne  2Bcitere§  mit  il^r  jufammenfätlt.  9lur  mit  ber  SWobifitotion, 

I  ba§  ber  Untergong  ber  gleifc^e^roelt  afe  ein  ©erid^t  ®otte§  über 

j  fie  tiingefteßt  wirb,    ©benfo  bürfte  bie  am  ©efe^  orientierte  ©e« 

i  banfenreifie  o^ne  SBeitereö  barin  aufge^n.   3)iefe  ift  geroifferma^en 

ein  2lu§fc^nitt  barauS.    Sem  ©ebanfen,  ba§   im   Xobc  ©^rifÜ 

eine  t^atfäd|Iid)e  SJerurteitung  unb  $inrid)tung  ber  gteifc^eSroelt 

ftattgefunben  ^at,   lägt  fict)   ganj   mo^l   bie   SBenbung  abgemin» 

I  nen,  bag  er  bamit  ben  ©trafffud^  be§  ©efe^eS  getragen  ^at,  ber 


Ä  a  f  t  a  n;  3"r  ^oömatif.  B53 

um  bcö  @efe^c§  roillcn  fpejiell  auf  Q]xatl  lag.  @§  tft  nur  eine 
©pejifijicrung  bc^fclben  Oebantcn^,  um  bie  e§  [x6)  ba  ^anbclt.  @8 
bleibt  bic  Srage,  ob  aud^  bic  3)cutung  au§  bcm  Opfer,  bag  fein 
Job  ba§  Opfer  mar  für  bie  ©ünbe  ber  SSSelt,  unb  be§^a(b  bie 
Offenbarung  ber  ©erec^tigteit  ®otte§  für  bcn  ®Iaubcn,  ob  aud^ 
bie  fid^  barunter  begreifen  lä^t. 

^n  einer  93egie^ung:  ja!  ®enn  ber  tl^atfäd^lid^e  aSoüjug  beS 
®ert^t§  am  gleifc^e  ®^rifti  t|at  o^ne  SD3eiterc§  bie  g^lge,  ba§ 
bie,  benen  ba§  ju  gute  tommt,  bamit  be§  ®erid)t§  überhoben  fmb 
unb  ber  SBergebung  teill^aftig  werben,  ^n  anberer  S8ejiel|ung 
bagegen  ni^t.  3)er  Opfergebanle  aU  fold^er  bleibt  biefem  3^* 
fammen^ang  fremb.  3)er  leitenbe  ®ebanfe  im  Opfer  ift  ein  an* 
berer  al§  ber  be§  ®eric^t§DoHjug§,  wie  banon  eingel)cnb  bie  Siebe 
roar.  3lber  ba  fommt  nun  in  Setrad^t,  ba|  bie§  für  ^auIuS 
ein  gegebenes  SWoment  geroefen  ift.  2lUer  SD3aI|rfd^einIic^teit  nac^ 
menigftenS.  3)a§  „geftorben  für  unfere  ©ünben  nad^  ber  ©dirift" 
mar  bie  Uebertieferung  in  ber  ®emeinbe,  bie  er  über!ommen  ^at. 
Unb  jmar  mirb  angenommen  merben  bürfen,  ba|  ba§  frf)on  in 
ber  ©emeinbe  bie  beftimmtere  ®eftalt  ber  Deutung  au8  bem  Opfer 
angenommen  ^atte.  ^t^ffalh  ift  eS  nic^t  fo  auffattenb,  ba&  e§ 
ote  ein  gegebenes  SJJoment  nic^t  ganj  in  bie  eigne  oon  ^auIuS 
felbft  gebilbete  2^eorie  aufgebt,  ^fnfofern  roare  bie  2Innaf)me 
bod^  nic^t  unmöglich  gemad)t,  ba|  eine  fold^e  2:I|eorie  bei  if|m 
oorliegt. 

3lber,  mir  l^aben  ja  ausführlich  beftritten,  ba§  ber  ®ebante 
eines  ftettoertretenben  ©trafleibenS  ber  ®runbgebante  ber  5ßau« 
linif^en  Seigre  oom  Jobe  S^rifti  fei.  Äommt,  maS  je^t  bel^auptet 
roorben  ift,  nic^t  mieber  auf  biefen  juerft  fo  lebl^aft  beftrittenen 
®ebanfen  l^inauS  ?  2)aS  ift  oielteic^t  f^einbar.  ^n  SSäabr^eit  je* 
bo^  oerl^ält  eS  fi^  anberS.  Sinmal  fel^It  bei  jener  2:t|eorie  ber, 
bag  id^  fo  fage,  eSi^atoIogifcfie  ^intergrunb.  3)er  ift  aber  in  bem, 
maS  id^  je^t  ^ripot^etifc^  atS  eint)eitlid)e  Sel)re  beS  2lpoftelS  oor* 
trug,  bie  ^auptfad)e,  zhzn  bieS,  ba§  fid)  im  2^obe  ®f)rifti  baS 
le^te  ®erid)t  ®otteS  auSgemirtt  t)at.  ?Jemer  aber :  in  jener  2:i^eorie 
ift  ber  leitenbe  ®ebanfe  ber  einer  Uebertragung  ber  ©^ulb  unb 
©träfe  oon  ben  ©diulbigen  auf  ben  Unfdtjulbigen.    ®aS  fet|It  t)ier 

3eitf(^rift  für  «Geologie  unb  Äirt^e .    14.  3o^rß.,  4.  §cft.  24 


354  ^  a  f  t  a  n :  3ur  ^ogmatit 

bagegcn  DoUftdnbig.  $ier  ift  bcr  Icitenbc  ©cbanfc  ber  Don  bcr 
aSoUjicl^ung  be§  ®ert(^t§  am  ©ünbcnflcifc^,  an  bem  bcr  So^n 
©otteS  Seit  gcioann,  inbctn  er  in§  %U\\äi  fam.  Slid^t  er  ate  ©üb« 
jcft  ift  Ocgcnftanb  be§  ®cric^t§,  fonbcrn  in  il^m  wirb  ba§  ®m^ 
bcnf[cifc^  getroffen.  ®er  Sob  aU  ber  ©ünbe  ©olb  wirft  fxä)  ate 
göttttd)e§  ©erid^t  au§  an  ber  fünbigen  gleifd^eSroelt,  inbem  er  fic^ 
an  6^riftu§  ooßjie^t. 

Qfnbeffen,  e§  foK  nid^t  geleugnet  werben,  ba§  bei  alle  bem 
ber  S3ebenfen  genug  bleiben.  3»^^  n^^ine  nic^t  gegen  bie  S^eorie 
felbft.  SDarüber  brauet  e§  j|a  feincS  SBorteg  weiter,  ba§  fie  für 
unfer  t|eutige§  S)entcn  unannel^mbar  ift.  9iic^t  Wo§  beSl^alb, 
weit  für  un§  bie  ^auptfac^e  fel^lt,  bie  fefte  Ueberjeugung,  ba^ 
wir  im  SSoQpg  ber  ©nbfataftrop^e  brin  ftel^n.  Slu^  beS^alb 
ni^t,  weil  fie  aßen  möglichen  ®inwänbcn  unterliegt.  9liemanb, 
bem  e§  um  eine  bogmatifc^e  ^eorie  ju  tl^un  ift,  um  beren  ein« 
wanbfreie  SluSgeftaltung,  wirb  mit  folc^en  ©ebanfen  bem  93ebürf« 
ni§  genügen  )u  fönnen  meinen.  3lber  baS  entf^eibet  nid^t  ba> 
gegen,  ba§  ^aulu§  fo  gebadet  l^aben  fönnte.  @r  ift  eben  nid^t 
t^eoretifd^  intereffiert.  ®§  ^anbelt  ft^  anö)  liier  nic^t  um  begriff* 
tic^e  ätrbeit  al§  fold^e,  fonbern  um  ein  gelegentlid^eS  3wfammen* 
fd)auen  ber  t)erf^iebenen  in  ber  Deutung  beS  S^obeS  @^l^rifii  oon 
if)m  befolgten  @eftdE)tSpunfte.  S)iefe  allgemeine  SSebcnfen  würbe 
ic^  bal^er  nic^t  ju  l^oc^  anfc^lagen. 

Slber  ganj  abgefel^en  baoon  lägt  fic^  auS  5ßaulu8  felbft  man» 
derlei  bagegen  geltenb  machen.  SUamentlii^  fd^eint  mir  in  bicfem 
©inn  au^  ^ier  bie  Slrgumentation  SRöm.  1—5  in§  ©ewic^t  ju 
fallen,  ^ätte  ^aulu§  ni(^t  in  beren  3w[fl"^n^^^ö"9  unter  88or* 
au§fe§ung  einer  fold^en  Xi)zoxk  folgern  muffen,  wir  feien  bem 
@eri(^t§iorn  ©otteg  entnommen,  weil  baS  ©eric^t  ©otteS  über 
bie  fünbige  3Belt  im  2:obe  ®^rifti  fc^on  ooUjogen  fei?  ^otte  er 
unter  folrf)er  93orau§fe^ung  oor  allem  fd^reiben'!önnen,  xoa^  wir 
SRöm.  5,  1—11  bzi  i^m  lefen? 

Qi)  wügte  nur  ju  erwibern,  ba§  nac^  ber  oon  mir  ange* 
nommenen  2:^eorie  oon  einem  legten  ®zx\i)t  überhaupt  ni(^t  me^r 
bie  SRebe  fein  bürfte.  Unb  bann  würbe  ftd^  baS  93ebenfen  loie* 
ber  bamit  erlebigen,  ba§  l^ier  baS  öfter  erwähnte  ?ßaraboj  be* 


Ä  a  f  t  a  n :  3ur  ^ogmatü.  356 

9{euen  3:cftamcntc8  eingreife.  3Iber  wie  bem  fei  —  ouf  aDe  gälte 
ifl  e8  nur  ein  ^qpot^etifd^er  SBerfud^,  roaS  I)ier  al§  eintieitüd^e 
SC^eorie  beS  2tpoftei§  fonftruiert  roarb.  9ii^t§  liegt  mir  ferner, 
ate  bel^aupten  ju  wollen,  eg  laffe  fi^  mit  SBeftimmtl^eit  ermitteln 
unb  bart^un,  ha^  $aulu§  fo  gebadet  ^abe.  ^6)  miQ  eigentlich 
ni^t  mel^r  bamit  fagen,  aU  ha%  menn  man  boc^  bei  $au(uS 
eine  ein^eitli^e  S^eorie  annel^men  ju  foHen  glaubt  —  ni^t  al§ 
SSorauSfe^ung,  fonbern  al8  gelegentlid^e  ^i^f^'^w^^'^föffung  ber 
einjelnen  ®eban!enrei]^en  —  fie  meinet  93ebunfen8  in  biefer  9lic^s 
tung  gefugt  merben  mu§. 

Ser  fibermiegenbe  @inbriidt  bleibt  alfo  ber,  ba§  bie  oerfd|ie« 
benen  ©eutungen  bei  ^aulu§  neben  einanber  I)er(aufen  unb 
i^re  roa^re  ©inl^eit  in  ben  brei  oft  ermäl)nten  UKomenten  l^aben : 
bie  ®inl^eit  be§  religiöfen  ®riebniffe§,  bie  ©intieit  in  bem  ®^^ 
banfen  ber  ^eilSooHenbung,  bie  ©in^eit  in  bem,  ba§  e§  fo  ge^ 
f^el^en  ift  na^  ber  ©c^rift.  Unter  allen  Umftänben  liaben  mir 
un§  in  ber  l^euttgen  eoangelif^cn  Dogmatil  bei  2lnetgnung  unb 
35ern)ertung  ber  ^ßaultnifdien  ^rebigt  in  ber  früher  befproc^enen 
SBeife  an  biefe  einjetnen  Oebanlenreilien  ju  galten,  inbem  mir  fie 
bem  3iifott^w^^^i^cing  einer  bem  reformatorifd^en  93e!enntniö  ent» 
fpre^enben  Seigre  einorbnen. 


357 


aRa£  9letfd|Ie. 


2)ic  ^unbertjä^vigc  ®cbad)tni§feicr  oon  ÄantS  S^obcStag  ift 
nid)t  nur  in  p^ilofop^if^en  JErcifen  begangen  roorben ;  aud)  tf|co* 
logifdie  3ci^f<il^ift^tt  unb  Sird^enblätter  tiaben  boS  2lnbenten  beS 
^^ilofop^en  erneuert.  —  SWit  gutem  ®runb!  2)enn  tatfäd)(i^  ift 
Sant§  ®inf[u§  auf  bie  S^eologie  unb  beren  Sntroidtlung  ein  fe^r 
bcbeutenbcr  geroefen.  9lur  geroefen?  Ober  l^at  Sant§  ©ebanfen* 
arbeit  i^ren  unmittelbaren  SGBert  aud^  noc^  für  bie  S^eologie  ber 
©cgenroart?  Unb  inmiemeit  ^atfieil^n?  2lngefi^t§  be§  2lriftoteIe§, 
beig  magister  in  temporalibus,  ftetite  einft  bie  mittelalterliche  S^eo« 
logie  bie  5^age,  inmiemeit  über  it)u  ein  „tenetur"  ober  „non  te- 
netur"  au^gefprod)en  werben  muffe.  Un§  brängt  fid;  beim  ©e* 
bauten  an  Kant  eine  öf|nlid)e  5^age  auf. 

Um  un§  barüber  SRed^enfdiaft  ju  geben,  üergegenmärtigen  mir 
un^  juerft  Sant§  ©ebantenroelt.  SBo^I  ift  ba§  nur  (Erinnerung 
an  SBetannteS !  2lber  biefe  ©rinnerung  mag  baju  bienen,  in  freier, 
aber  bo^  fioffentlic^  ber  (Sacf)e  nad)  getreuer  3)arftellung  gemiffe 
©auptpunfte  fo  gu  beleud^ten,  ba^  if)re  93ebeutung  f(ar   f|eroor= 


1)  2)em  ^Jofgenben  liegt  ein  SBortrag  ju  ®runbe,  ben  id|  am  13.  Slprit 
1904  in  ©^cmnift  auf  ber  „fä^fifdien  ürc^lic^en  Ä'onfercnj"  gcfiatten  ^abe. 
S)er  Vortrag  ift  in  freier  9Beife  roicbcrgegcben,  an  manchen  Stellen  aud^ 
erweitert  S)an!cn§n)erte  Slnregung  jur  Söerbeutlicöung  cinselner  fünfte 
gaben  in  ber  Debatte  befonbcrg  §crr  P.  prim.  Dr.  ^afecr  unb  §err  ^ro* 
fcffor  D.  aneI)I^om. 

3eitf(^nft  fär  X^eologie  unb  jttrdpe.    14.  2Ea^rg.,  5.  ^eft.  25 


358  9leif(^le:  ^ant  unb  bie  ^^eologie  ber  ©egeiuDart 

tritt.  3)ann  mag  fid^  weiter  bie  ^xaqt  anfc^Iie^en,  tDie  rocit  auc^ 
^eutc  tioc^  biefe  ©ebanten  in  Äraft  ftel)en  unb  in  ber  J^eofogie 
Derrocrtbar  finb. 

I. 

Um  bie  Slntmort  auf  biefe  g^age  üorjubereiten,  tonnen  mir 
in  Äant§  Oebanfenroelt  bie  jroei  Seiten  unterfd)ciben,  bie 
bei  alten  großen  ®eiftern  ber  menfc^li^en  ®efd)ic^te  un§  entgegen- 
treten: einerfeit§  ben  ßwföw^wicn^ang  feinet  3)enfcn§  mit  ber  9Ser= 
gangen^eit,  anbererfeit§  feine  Originalität. 

1.  ®erabe  bei  ben  großen  3)  e  n  f  e  r  n  fann  jene  Sttnfnüpfung 
an  bie  Vergangenheit  am  roenigften  festen:  nic^t  nur  in  fü^nen 
intuitioen  ^been  tann  ba§  menfd)li^e  ®enten  noranfc^reiten ;  fon= 
bern  au^,  mo  fie  aufleuchten,  muß  fid)  bamit  bie  bi^furftoc  2(rbeit 
eines  3)urc^benten§  be§  fc^on  jur  Ueberlieferung  geworbenen  3Bif= 
fen§=^  unb  93egriff§material§  oerbinben.    ®abei  merben  geläufige 
iJrageftetlungen,   geprägte  formen   unb  ©^emata,   eingebürgerte 
®en!roeifen,  ja,  fofern  ba§  3)enfen  an^  bem  gefamten  ©eifteSfeben 
l)eroorroöc^ft,   überhaupt  ®eifte8rid)tungen  ber  Sßergangen^eit  mit 
übernommen.    So  ift   e§  aud)  bei  Sant.    9tad)  ber  einen  Seite 
ift  er  bur(^au§  So^n  feiner  3«it-    SBenn  mir  mit  unfern 
heutigen   retigiöfen  2lnf^auungen,   3»ntereffen   unb  Stimmungen 
in  ÄantS  ®ebanfengebäube  eintreten,  fo  finben  mir  un§  oon  einer 
fremben  Suft  umme^t,  oon  Suft  ber  21  u  f  f  I  ä  r  u  n  g.  SBir  fül)leii 
un§  l)ier  oon  jener  großen  geiftigen  Strömung  berührt,  bie,  ISngfi 
vorbereitet  unb   ftcf)er,   menn   auc^  aCmä^Iid)  unb  ungteic^mäpig 
DormärtSbringenb,  im  18.  Qal^rljunbert  innerl^alb  ber  d)riftlid)en 
Äulturnationen   bie  gebilbeten  Greife   ergriff.    5ßor^er   mar  bie 
53itbung  in  meitem  Umfang  beflimmt burc^ bie  Äirc^e.   Soflanb 
e§  befonberS  in  !att|oIifd^en  3:erritorien,  mo  nad)  ben  Seaman- 
tungen,  roeldje  bie  SReformation  unb  fc^on  bie  Slenaiffance  gc-- 
bracht,   eine  SReftitution  ber  tat^olifc^en  Senfmeife  ftattgefunbcn 
l^atte ;  aber  aud^  in  eoangeIifd)en  fianben  ^atte  jufammen  mit  ei' 
nem  ^lieberfd^Iag  ref ormatorifc^er  ®ebanfen  eine  auö  l^umaniftifc^en 
unb  biblifdjen  2;rabitionen  gebifbete,  fird)lid^  legitimierte  SBelt«  unb 
fieben§anfd(auung  fic^  feftgefe^t.    S)ie  2tufttärung  bebeutete  baä 


iHeifd^Ie:  ^ant  unb  bie  ^^eologie  ber  (SegentDatt  359 

©mporfoinmcn  einer  ro  e  1 1 1  i  c^  e  n  93  i  I  b  u  n  g,  bie  ftd^  oon  ber 
f ir^Iic^en  ©eDormunbung  emanjipierte.  9li^t  nur  in  ber  getel^r* 
ten  SBelt  breitete  fie  fid>  qu§,  in  ber  fie  [ct)on  längft  i^re  Pflege 
gefunben  ^atte,  fonbern  fie  erfaßte,  getragen  üon  ber  allgemein 
bilbenben  unb  fc^öngeiftigen  fiiteratur,  um  bie  SWitte  be§  18.  Qdi)X' 
^unbert§  metir  unb  me^r  bie  Steife  ber  Oebilbeten  überl)aupt. 
—  ©runblegenb  für  bie  neue  Silbung  roar  bie  91  ü  t  u  r  m  i  f* 
f  e  n  f  d)  a  f  t:  ba§  SBeltbilb  beS  Sopernifu§,  bie  aftronomifc^e  3tn* 
fc^auung  t)on  ber  ^immetömett,  ber  ©ebanfe  be§  9laturgefe^e§ 
rourbe  je^t  erft  eine  3Äaci^t  im  ©eifteSleben  ber  ^eit.  3)aneben 
prägte  bie  auflebenbe  pragmatif^e  ®efc^id)t§forfd|ung 
bie  Ueberjeugung  ein,  ba§  auc^  in  allem  gefd)ici|tlid^en  3£Berben 
natürliche  Urfac^en,  oft  allerlei  üeintic^e  unb  jufättige  Umftänbe, 
menfc^Iid)e  (3d(n)arf|f)eiten,  Irrtümer  unb  S^orl^eiten,  i^re  mci(^tige 
9ioIle  fpieten.  3luf  biefer  ©runblage  ber  empirifd)en  äBiffen- 
fc^aften  aber  oerfud^te  man  eine  nernünftige  ©otteö*  unb 
SEßcItanfc^auung  aufzubauen ;  ober  oieImel)r  auf  ®runb  jener 
TOiffenf^aftlic^en  S)aten  mürbe  bie  (^riftlid)4^eoIogifcf)e  ©otteg- 
unb  SEBeltanfd^auung  ju  ben  Oebanfen  einer  natürlid^en  ober  oer- 
nünftigen  Sieligion  oerbünnt.  2ln  ben  Qbeen  ber  greil)eit  unb 
Unfterblid^feit  l^ielten,  menigftenS  in  Seutfd^lanb,  bie  meiften  3luf« 
Mdrer  feft,  ja  fie  fud^ten  itinen  erft  bie  reifte  ©anttion  burd)  ben 
9la^mei§  i^rer  SSernünftigteit  ju  geben.  ®benfo  blieb  bie  Qbee 
©otteS  in  ©eltung;  nur  erl|ielt  fie  eine  beiftif^e  SÖäenbung,  in- 
tern bie  SBelt  ate  gefe^mä^ig  georbnete  betrad)tet  mürbe.  2lber 
babei  behauptete  fid^  bod^  bie  teleologifc^e  Ueberjeugung  oon  ber 
IRü^Iic^feit  ber  Sßelt  unb  il^rer  ©inrid^tung  für  ben  3Wenfci)en. 
5)er  9tuf  nac^  „IBernünftigfeit"  unb  „5«atürlid)teit"  erfc^ott  aber 
nic^t  nur  in  ber  SB3iffenfd)aft  unb  ^Religion,  fonbern  mürbe  auf 
allen  ©ebieten  be§  prattifc^en  Seben§  erl^oben:  „oer* 
nünftige  SRec^t§Ie^re"  ober  „9taturrec^t"  aU  SWa^ftab  alteö  be* 
fteljenben  9le^t§,  oemünf tige  Orbnung  ber  gangen  menfc^licl)en 
©efetlfd^aft  oernünftige  ober  natürlii^e  3ÄoraI  ftatt  ber  autori* 
tatioen  Äird^enmoral. 

9lu^  Äant  liejs  fid|  oon  biefer  93emegung  tragen  unb  mu^te 
ji^  felbft  mit   ©tolj   al§   Präger    ber    3lufflärung.    ®er 

25* 


360  91  e  i  f  d^  ( e:  ^ant  unb  bie  3:^eo(ogie  ber  ©egentoart 

©cc^jigjä^rigc  beantioortctc  bic  gvagc:  „9Bo§  ift  Slufffärung?" 
(1784)  bo^in:  „Slufflärung  ift  ber  9lu§gang  bc§  SWenfi^ctt  au§ 
feiner  felbft  oerf^ulbeten  Unmünbigfeit  .  . .  Sapere !  aude  ^be 
ÜRut,  bic^  beine§  eigenen  SBerftanbe^  ju  bebienen,  ift  alfo  ber 
aSa^lfpru^  ber  2lufHärung".  S)q§  Zeitalter  ber  3lufHarung  ift 
angebrod^en  mit  griebrid)  bem  ©ro^en.  3)enn  wenn  ber  ©injelne 
a\x6)  auf  feinem  bürgerlid^en  Soften  ober  in  feinem  SKmtc  feinen 
aUernunftgebrau^  unb  feine  Äritif  cinfd^rän!en  mu§,  fo  ift  boc^ 
in  ber  ßffentlid^en  literarifc^en  Sßer^anblung  bic  ooHe  Jrci^eit  be§ 
Siäfonniereng  gegeben,  auc^  in  9teligion§fad)en.  ^ant  felbft  fu^tte 

fid|  f)eimif^  in  biefem  3^it<iltß^- 

@g  mar  aber  ntd}t  nur  im  aQgemeinen  ber  ®runbfa|  ber 
^rei^eit  be§  Senten«  unb  öffentlichen  SBert|anbeIn8  roiffenfi^aftlic^er 
fragen,  ber  il^m  biefeö  ®efüf|I  gab,  fonbern  feiner  ganjen 
9lic^tung  nac^  mar  Aant§  3)enten  mit  ber  Slufflärung  na^e 
oermanbt.  Kant§  Sid  mar,  mie  ba8  ber  Slufflärung,  eine  auf 
reinen  SSernunf tgrunbf ä^en  aufgebaute  SBiffenf^aft.  Unb  auc^ 
in  ber  fritifc^en  ^eriobe  feinet  ^l^ifofop^iercnä  ift  überall  bie 
^rage  nac^  ben  adgemeingültigen  unb  notmenbigen  (Elementen 
be§  menfd^Uc^en  2)enten§  leitenb.  ©benfo  wie  bie  2lufltärer  fuc^te 
er  ferner  bic  ©runbfä^c  einer  ücrnttnftigen  SWoral  unb  eine^ 
üernünftigen  SRec^tc^  ^erau^juarbeitcn,  al§  SWa^ftab  aHc§  em« 
pirifd)  gegebenen  fittli^en  unb  rci^tlic^en  SebcnS.  8D3a§  fic^  in 
biefem  nic^t  ate  oernunftgemäg  red|tfcrtigeu  lä^t,  ^at  auc^  no^ 
Äant  !ein  S)afein§reci^t,  ob  e§  au^  gefc^ic^tlic^  gemorben  ift  unb 
merben  mu^te.  Sluc^  in  ben  grageu  ber  SReligion  mar  ftont§ 
2)enten  barauf  geri(^tct,  jene  brei  :3been,  „grci^cit,  Unfterblic^» 
feit,  ©Ott",  oor  bem  SRi^terftu^f  ber  äJernunft  ju  prüfen  unb  fw 
womöglich  als  oernunftgema^  ju  ermeifen.  2lDc  gefc^ic^tlic^en 
Sieligionen  ^at  Kant  nur  barauf  angefe^cn,  mie  meit  fie  jenen  Der« 
nünftigen  Qbeen,  ob  auc^  in  mancherlei  ^üflcn,  jum  3lu8bruct 
bienen  unb  bem  moralifc^en  Seben  jur  5ö^'^«^u"9  gereichen. 

3mar  l^at  neuerbing§  @.  3:rö(tfc^  in  einer  fc^arfilnnigen 
unb  ftoffreid)en  2lrbeit  über  „ba§  ^iftorifrf)e  in  ÄantS  SRefigionS* 
p^ilofop^ie"  mit  SRec^t  barauf  I)ingemicfen,  ba§  Äant  me^r,  aK 
man  in   ber  SRegel  mei^   unb   bead)tet,    fic^  für  bie  SReügion^» 


9letf  ^le:  ^ant  unb  bte  ^^eologie  ber  Q^egentoart.  361 

gcf^ic^te  intcrefftcrt  unb  mit  i^r  bcfd)äftigt  ^at.  Stuf  @runb 
biefe^  Slad^iocifeS  bcfämpft  2:röltfc^  bcfonbcrS  ben  @a^,  ba§  bic 
Sluftlärung  unb  mit  il^r  aui)  Sant  bc§  „^iftorifd)en  ©inncS" 
ermangelt  ^abe.  2lber  fooiel  bleibt  oon  biefem  ©a^  bod^  beftel^cn : 
ba§  @efci^id|t(ic^e  Ijat  für  Äant  nur  infomeit  ©ebeutung,  al§  e§ 
Qntrobultion^'  unb  ^fßiifi^ötionSmittet  für  bie  SBemunftretigion 
ift;  c§  ücrliert  nad)  fiant  feine  83ebeutung  für  ben  einjelnen  in 
bem  SWag,  ate  er  felbft  bie  Qb^m  ber  UJernunftreligion  in  i^rer 
inneren  SBa^rl^eit  erfennt  unb  al§  SRegufatit)  feine§  £eben§  an- 
erfennt.  Äant  ^atte  rool^t  bie  flare  ©infi^t,  ba§  bie  SBcrnunft* 
religion  nur  in  gefci^id)tfid^er  Sntmidlung  oon  nieberen  2tnfängen 
aus  merben  fonnte  unb  ba|^  aud)  burc^  bie  Sßtit^ologien  ber  9te« 
ligionen  „unbewußt  bie  religiöfe  Qbee  fic^  einen  2lu§brudt  Der« 
fc^afft" ;  aber  es  fehlte  i^m  ba§  aSerftänbniö  für  ba§,  n)a§  ©oet^e 
in  feinen  SKofimen  unb  SReffejionen  I  (Sottafc^e  2lu§gabe  1874 
in  15  SBdnben,  93b.  2  ©.  516)  in  bic  SBorte  fa^t:  „S)aS  93efte, 
roa^  voix  non  ber  @efc^id^te  ^aben,  ift  ber  @ntf)ufta§muS,  ben  fie 
erregt".  @§  fehlte  i^m  barum  auc^  ba§  üofle  SßerftänbniS  für 
bie  ©ebeutung  be§  ®ef^ici^tlid)en  in  ber  Sieligion,  nömlic^  bafür, 
ba|  eine  grömmigteit  wie  bie  diriftlidje  nid)t  nur  gefd|ic^tlid)  ge* 
roorben  ift,  fonbern  auS  ber  ®efd)id^te  bauernb  itir  Seben  unb 
i^re  93egeifterung  fc^öpft.  ^n  biefer  SRic^tung  allein,  in  biefer 
aber  aud)  roirMid^,  ^at  Äant  be§  „gefct)iei^tlid|en  Sinnet" 
ermangelt.  Qn  feiner  Q^xt  freilid^  mürbe  baS  öon  ben  meiften 
ni^t  als  anlanget  empfunben.  Sag  toä)  gerabe  barin  ein  ftarfes 
SBanb,  ba§  ^ant  mit  ber  2lufflärung  oerbanb. 

©0  l^at  benn  bie  Slufflärung  i^n  freubig  al§  einen  ber 
irrigen  begrübt,  ©ie  ^at  eS  an  ®^rungen  beS  ^^^itofopl^en  nid)t 
fehlen  laffen :  nid)t  nur  ©tubenten  t)aben  i^n  angebid)tet,  auc^  bie 
©ele^rten  fc^auten  mit  ®^rerbietung  ju  il^m  auf.  2lber  feine  ma^re 
@rö§e  liegt  für  un§  melmetjr  an  ben  ^^unften,  an  benen  er  über 
feine  Qext  l^inauSgefi^ritten  ift  unb  für  bie  3"^"^!*  ^^"^  3Bege 
gebatint,  barum  aud)  mandjeS  bebenflidje  Sopffc^ütteln  feiner  QziU 
genoffen  erregt  I)at. 

2.  SGBae  maren  jene  neuen,  eigenartigen  Oebanfen, 
bie  fd)on  bamalS  2tuffel)en,  auc^  SBiberfpruc^  erregten?  ©ie  liegen 


362  9leif  (i|(e:  Stant  unb  bie  ^^eologte  bet  (S^egenioart 

<iuf  bem  ©cbiet  jicncr  brei  g ragen,  bic  Äant  fclbft  in  feiner 
aJtett)obcnIe^re  ber  „Kritif  ber  reinen  SBcmunft"  unterfd)eibet: 
„xoa^  fann  i^  roiffen?  roaS  foU  t^  tun?  roaS  barf  ic^  ^offen?" 
ober  —  ba§  bürfcn  wir  für  ba§  le^te  ©lieb  einfe^en  —  „mä 
barf  ic^  glauben?" 

a.  3)ie  aufftärerifi^c  beutfc^c  5ß^ilofopl|ie  wiegte  fi^,  ftatt 
biegrage:  roaö  fann  id)  roiffen?  mit  ooöem  Srnfte  ju  fteüen, 
in  bem  2:raum,  man  fönne  mit  ^ilfe  be§  menfd^Iidien  5Denfen8 
bis  ju  ben  legten  unb  l^öd^ften  g^agen  oorbringen  unb  bic  J^been 
ber  S^ei^eit,  ber  Unfterblic^teit,  @otte§  bemeifen.  SDag  Äant, 
ber  „3(tteSjermatmer",  biefe  SBemeife  feiner  oernic^tenben  Sritif 
untermarf,  \)at  in  ber  aufflarungSfrol^en  3^it  einen  befonberS  möc^* 
tigen  ©inbrurf  gemacht.  216er  wichtiger  unb  jutunftSreic^er  als 
bie  Sritif  felbft,  in  ber  Äant  bod^  fc^on  ^ume  ju  feinem  SSor» 
ganger  l^atte,  mar  bie  neue  93egrünbung,  bie  Äant  i^r  gab, 
nämlidö  bie  umfaffenbe  Unterfuc^ung  über  bie  roefentlic^en  S^ 
bingungen  be§  menf(^lic^en  ©rfennenS  unb  über  bie  ©rengen,  bie 
fein  rechtmäßiges  ©ebict  umfc^ließen.  —  3Q3a§  ift  unfer  ©v* 
fennen?  ®S  ift  ein  2tuff äffen  unb  Drbuen  be§  3EBa^rne^mung§« 
ftoffS  in  bem  ein^eitlid)en  erfennenben  33emußtfein.  3)iefeS  aber 
ift  nur  möglid^  in  ben  g^ormen  unfereS  erfennenben  93en)u6t* 
feinS.  9tad^  ben  inneren  Äonftruftion§gefe§en  unfereS  Sänfc^auenS 
muffen  mir  jenen  ©toff  in  unferen  Slnfc^auungSformenom 
orbnen,  einerfeitS  ju  einem  SRaumbilb  ber  roirflic^en  SDäelt,  an« 
bererfeitS  ju  einer  jeitlidien  SRei^e  ber  95orgänge.  Slbcr  ein  3^- 
fammenfaffen  ber  unenblidien  äBeite,  bie  in  ber  SRaummelt  fic^ 
oor  uns  auSbe^nt,  ein  g^eftfialten  be§  ©tromeS,  ber  mit  unfern 
93orftellungen,  jeben  Slugenblicf  fid)  änbernb,  burd^  unfer  Seroupt* 
fein  flutet,  fann  nur  gefc^elien,  inbem  mir  jugleicl)  gemiffe  S)enf» 
begriffe  anmenben.  5Die  med)felnben  ©inneSempfinbungen  f äffen 
wir  als  Sßeränberungen  an  einem  bleibenben  SQgirfli^en,  aÜ 
aSorgänge  an  einer  SBelt  von  3)  in  gen,  mit  ifiren  ©igenfc^aften 
unb  Swftänben.  3)ic  üerfd^iebenen  SSorgänge  felbft  bejie^en  wir 
aufeinanber  mit  ^ilfe  beS  33egriffS  oon  Urfac^e  unbäBit« 
f  ung  —  man  benfe  an  alle  bie  Dielen  tranfitioen  SSerba,  bie 
unfere  ©prad)e  in  2lftiu*  unb  ^affioform  anmenbet  — ,  alte  3"- 


SHeif^le:  ^ant  unb  bie  Geologie  bet  ©egentDart  863 

[tänbe  unb  SSorgängc  bcr  3)mgc  begreifen  wir  in  einem  großen 
^ufammcn^ang  ber  SEBec^feIn)ir!ung.  —  @§  ift  junä^ft  eine  un* 
willfürlidie  2;ätigfeit,  in  ber  roir  fo  unfer  93i[b  ber  SBelt  in 
uns  aufnehmen,  aber  auf  biefer  ©runbfage  beginnt  bann  eine 
obfid^tSooIIe  Sttrbeit,  ben  un§  gegebenen  @rfenntni§ftoff  burd) 
93eoba(^tung,  bur^  ©Warfen  unb  SBeroaffnen  ber  Sinne  noc^  au§* 
juroeiten,  jugtcic^  aber  i^n  in  einem  ©gftem  t)on  ^Begriffen 
unb  ©efe^en  ju  orbnen.  3)amit  ift  aber  Kar,  mo  ba§  eigent« 
lic^e  ©ebiet  ber  @rfenntni§  liegt.  2Iuf  bem  93oben  ber  ©rfa^* 
rung!  Kant  ift  ber  grojse  ^erolb  ber  ®rfal)rung§n)iffenfc^aft  ge* 
morben.  ®ort  jeigt  fi(^  un§  „ba§  ßanb  ber  a33at)r^eit  (ein  rei* 
jenbcr  9lame)",  wie  e§  Äant  felbft  (Kr.  b.  r.  Sßern.  ed.  Äel^rbac^ 
S.  221)  bejeic^nct.  „Qn§  Qnmxt  ber  Statur  bringt  93eoba^tung 
unb  3^^9Keberung  ber  (£rfd)einungen,  unb  man  tann  nid)t  roiffen, 
wie  weit  biefe§  mit  ber  Qtxt  ge{)en  merbe"  (ebenba  ©.  251).  — 
9{ber  bamit  ergeben  fic^  jugleic^  bie  ©renjen  ber  ©rfennt« 
ni§  Dor  unfern  Slugen.  SBer  über  ba§  ©ebiet  ber  Srfa^rung, 
auf  bem  93eoba^tung,  ©yperiment,  aud)  ertlärenbe  ^gpot^efe  i^re 
©tätte  ^aben,  hinaufbringen  miü,  roer  aufjufteigen  t)erfud)t  ju 
bem  erften  ©runb  aUer  3)inge,  ber  oerlä^t  jenen  fieberen  93oben 
unb  fallt  bem  ©diein  ant)eim.  ®enn  jene§  Sanb  ber  SOäa^r^eit 
ift  „eine  Qn\d  unb  burd)  bie  9}atur  felbft  in  unoeränberlidie 
©reujen  eingef^loffen.  ®§  ift  .  .  .  umgeben  üon  einem  meiten 
unb  ftürmifc^en  Djean,  bem  eigentlid)en  ©i^e  be§  ©d)ein§,  roo 
mandje  9iebclbant  unb  manc^e^  balb  megfc^metienbe  @i§  neue 
Sauber  lügt,  unb  inbem  e§  ben  auf  Sntberfungen  l^erumfd)roärmen* 
ben  ©eefa^rer  unauf^örlid)  mit  leeren  Hoffnungen  taufest,  i^n  in 
2lbenteuer  Derflid)t,  dou  benen  er  niemals  abtaffen,  unb  fie  bod^ 
aud)  niemals  ju  @nbe  bringen  fann"  (ebenba  ©.  221).  9Iber 
burd)  jene  6inftd)t  in  bie  93ebingungen  unferer  SrtenntniS  finb 
biefer  nid)t  nur  fefte  ©renjen  nac^  au&en  l)in  gejogen,  fonbern 
auc^  unüberfd)reitbare  innere  ©c^ranten  gefegt.  SDBir  oermö* 
gen  bie  SBelt  immer  nur  fo  ju  fe^en,  mie  fte  im  ©piegel  unfereS 
enblid)en,  menfd^lid)en  93en)u§tfeinS  fi(^  fpiegelt,  nur  fo,  mie  fie 
pon  uns  enblidjen  ©eiftern  erfaßt  merben  fann.  a3or  bem  2luge 
eines   fd)öpferifdjen  ©eifteS,   eineS   intellectus  archetypus,  menn 


864  9ieif^le:  ^ant  unb  bie  ^^eologie  ber  ©egentoaTt 

toir  einen  folgen  junäd^ft  andj  nur  rein  l^gpotlietif^  unS  bcnten, 
mag  fte  anbcr§  baftelien,  oI§  fte  —  um  ben  2lu§brucf  au§  ®oet^e§ 
gouft  ju  gebraud^en  —  für  „meiner  Slugen  jcit»  unb  erbgemä^ 
Organ"  fid)  barftetlt. 

©türjt  aber  mit  biefer  @rfenntniS!ritif  nic^t  bie  ganje  über* 
f  innlidie  SBelt  jufammen?  @o  ^at  ber  9leufantiani§mu§  jum 
3:eil  Rant  Derftanbcn  unb  fortgebitbet;  er  ift  jum  $ofitioi§muS 
fortgefc^ritten,  ber  überhaupt  auf  jeglic^e^  ^inaugge^en  über  ba§ 
in  ber  ®rfal|rung  (Segebene  oerjid^tete.  3lber  er  ift  bamit  Äant 
ober  iebenfaÖg  ben  ^bfid^ten  Äant§  oöCig  untreu  geworben, 
gür  biefen  mar  fo  mid^tig  mie  bie  ®rfenntni§fritit  bie  Unterfu» 
d^ung  be§  fittU^en  SebenS  unb  bie  geftfteßung  feiner  Slßgemein* 
güttigteit,  ja  burd^  bie  ®rfenntni§tritif  mac^t  er  nur  Siaum  für 
biefe.  — 

b.  2lu(^  in  ber  5^age  „voaS  foll  i^  tun?"    blieb  Äant§ 
^p^ilofop^ie  nid)t  einfach   in   ber  93a^n  ber  Slufflärung.    3">ö^ 
trat  aud)  biefe  jum  S^eil  al§  energifd^e  93or!ämpfertn  ber  ©ittlic^^ 
feit  auf.    2lu§erl|atb  S)eutfc^Ianb§  l|at  bie  2lufttärung§p^ilofop^ie 
jum  2:eil  auc^  an  ben  ftttlid^en  Gegriffen  unb  ©runbfäfeen  mit 
geiftreid)en  3^cifcln  ^^"^  frioolem   ©pott  genagt,    ^n  3)eutfd|* 
lanb   ^atte  fic^   bie  SKufflärung  biefer  SRid^tung  im  roefentlic^en 
ferngel^alten.    Qa   fie  moQte  ba§  ftttlic^e  ®ebot  gerabe  baburc^ 
nod^  einbringtic^er  madjen,  ba^  fte  an  bag  natürlid^e  ©efül^t  be§ 
aÄenfd)en  appellierte  ober  au^  ben  Seutcn  oorred^nete,  mie  nü§* 
lid)  e§  fei,  gut  ju  fein.  —  demgegenüber  ^at  Kant  bie  leitenbe 
Sbee  be§  fittli^en  Seben§,  nämlic^  bm  Segriff   be§   fittti^en 
@efe^e§  auf§   f^ärffte  ju  f äffen  gefud^t,  unb  jmar  in  unerbitt* 
lid^  ftrenger  Unterfdieibung  oon  aller  natürlid^en  Steigung  unb 
eblen  9legung  be§  ^erjen§,  oon  aller  ^lug]^eit§*  ober  Slü^lic^-- 
Ieit§regel.    ®er    „fategorifd)e  3fi«peratio",   b.  l).   ba§    unbebingt 
forbcrnbe  „bu  foUft",  ift  i^m  bie  altein  mirtlid^  jutreffenbe  b.  d. 
bie  ©ad^e  felbft  bejeic^nenbe  gorm  eine§  fittli^en  ®ebote§.    S^er 
©runbgebanfe,  ber  barin  ftedft,  lä^t  fi^  in   einer  allerbing§  fe^r 
freien  ®rläuterung  am  einfad)ften  oerftänbtii^  mad)en.     SSBenn  nur 
bie  gorberung  ber  SBa^rl^aftigteit  ober  S^rtid^fcit  ober  ®ol)l'- 
tätigfeit   mirflid)   al§  fittlid^e§  ®ebot  baftel^t,   roa§  ift  bann 


[HeifdiU:  ^ant  unb  bic  ^^eoloflie  ber  ©cgenroart.  365 

ba§S8eä€i^nenbcbicfcr9leflcl?  Slntiüort:  bicUnbcbingt^eit!  SD3a^r» 
^aftigtcit  tann  gar  n)ol|l  au^  einmot  meiner  Steigung  entfpre- 
d^en :  e§  ift  mir  nid)t  mo^I  babei,  menn  id^  einen  anbern  anlüge. 
|)äufig  aurf)  ift  mir  SBa^rl^aftigfeit  fd)on  burd^  Älugt)eit  ge^ 
boten,  ba  xti)  burc^  eine  Unmal^rl^aftigteit  alten  gefdjäftlid^en  Äre^^ 
bit  ju  üerlieren  fürd^ten  mu^;  ba§  ©ebot  „fei  roafir^aftig",  fann 
alfo  9lü^lic^teit§regel  für  mid^  fein.  Qn  gemiffem  Umfang 
ift  awä)  f^on  burd)  bie  @ef  ellfd)aft§fitte  bie  Uebung  ber 
SBa^rl^aftigfeit  mir  Dorgejei^net:  burc^  eine  plumpe  Süge  riöRere 
ic^  ben  aSerluft  meiner  gefetlf(^aftlid[)en  @^re.  Qa,  unter  gemiffen 
Umftänben,  j.  93.  bei  ber  ©teuererflärung,  ift  fie  mir  fogar  burd) 
ba§  SRe^tSgefe^  geboten;  e§  ftet|t  (Strafe  auf  ber  unmaliren 
Sfngabe  meiner  93ermögen8oer!^ältniffe.  —  2lber  mit  allem  bem  ift 
bie  gorberung  ber  SDBa^r^aftigteit,  ob  fte  baburc^  mir  aud)  nod^ 
fo  fc^arf  eingeprägt  mirb,  nod)  !eine§meg§  al§  fittlic^e§  ©ebot 
für  m\6)  aufgert^tet.  SD8enn  id)  ba§  ©ebot  „fei  ma^rl^aftig"  al§ 
ftttlid^e§  ©ebot  für  mi^  anerfenne,  fo  liegt  barin  üielmeljr:  nid)t 
nur  rocnn,  meil  unb  folangc  al§  e§  mit  meiner  Steigung  überein- 
ftimmt  ober  mir  Stufen  üerfc^afft  nid^t  nur  wenn,  meil  unb  fo- 
lange  bie  öffentliche  3)leinung  ober  ba§  9ied)t§gefe^  ba^inter  ftel)t, 
gilt  bie§  ©ebot  für  mic^,  um  beifeite  gefc^oben  ju  werben,  fobalb 
e§  üon  jenen  ©tü^en  oerlaffen  mirb;  fonbern  unbebingt  ftet)t  e§ 
bo,  ot)ne  alle  fold^e  „wenn  unb  aber".  Qa  fogar  im  ©egenfa^ 
JU  i^nen  bleibt  e§  beftel^en.  ©  e  l  b  ft  menn  ba§  Sieben  ber  SQBa^r* 
^eit  mir  \)'6ä)\t  unangenehm  ift,  ja  menn  e§  mir  n)irflid)en  ©dja* 
ben,  oieIleicl)t  fogar  ©d)aben  an  Seib  unb  Seben  bringen  fann, 
felbft  roenn  eine  oerberbte  a)leinung  fel^r  lay  über  feinere  Sügen 
urteilt,  felbft  wenn  ba§  9iec^t§gefe^  in  feiner  2Beife  meine  Süge 
JU  a^nben  vermag,  id)  foH  roa^r^aftig  fein  unter  allen  Umftänben, 
unbebingt!  2)arin  aber  liegt  jugleid)  bie  gorberung  befc^loffen: 
bic  ©efinnung  felbft  foU  auf  ba§  Qid  ber  ©al^r^aftigfeit  gerid)^ 
tet  fein.  ®a§  fittlic^e  ©ebot  ber  SBa^rl^aftigfeit  get|t  nic^t  etroa 
nur  ba§  äußere  ^anbeln,  fonbern  ben  SBillen  an.  ®§  mill  in 
feiner  Unbebingt^eit  felbft  ber  oberfte  SJeftimmung^grunb  be§ 
SBiUenS  fein;  alle  anbern  inneren  ©rünbe  ober  äußeren  aJiäd)te, 
bie  unter  geioiffen  Umftänben  mir  bie  äöa^r^aftigfeit  empfetilen. 


866  9leif^le:  ^ant  uttb  bie  ^^eologie  ber  ©egenroart. 

anraten  ober  gebieten,  muffen  fic^  bem  einen  ©runb  unterorbnen, 
ba^  i^  bem  unbebingten  @efe^,  ba§  al§  @emiffen§gefe^  in  meinem 
@emüt  ©ingang  finbet,  treu  bleiben  roill. 

^n  ber  weiteren  2lu§fü^rung  biefeS  einfa^ftcn  9RerfmalS 
fitttic^er  ©ebote,  ber  Unbebingt^eit,  finben  fic^  bei  Äant  mancher« 
lei  ©c^mierigteiten.  ©ine  folc^e  liegt  j.  33.,  wie  mir  fc^eint,  in 
bem  95er^ältni§  be§  aJlerfmate  ber  2lUgemeingültigteit  }u  bem  ber 
Unbebingt^eit,  fomie  in  ber  2lrt,  mie  Äant  bie  Quaüpfation  cineS 
@ebot^  ju  einer  aQgemeinen  ©efe^gebung  nic^t  nur  jum  $triterium 
cine§  fittlid)en  @efe§e§,  fonbern  felbft  auc^  jum  SSeftimmungS* 
grunb  be§  SBiUenS  ju  erl^eben  t)erfud)t.  Slber  aud^  menn  loir 
nur  bei  jenem  Warften  SJiertmat,  bem  ber  Unbebingt^eit,  fte^en 
bleiben,  lägt  fic^  bie  33ebeutung  be§  fittli^en  @ebote§ 
für  ben  9Jlenfd)en  oerbeutlic^en,  unb  jmar  in  birettem  9lnfc^(u^ 
an  ©ebanten  Äant§.  (Suchen  mir  fie  in  einfad^fter  gorm  un§ 
na^e  ju  bringen !  —  <3ft  e§  nid^t  eine  fmntofe  ©elbftquälcrci,  ba^ 
mir  un§  unter  ba§  ^oc^  eine§  unbebingteu  @efe^c§  ftellen  unb 
unfer  eigene^  Sun  barnad^  beurteilen  ?  SBäre  e§  nic^t  beffer,  biefe 
beengenbe  ^effel  abjumerfen  unb  frei  ju  leben?  —  2lte  ob  bic§ 
Jrei^eit  märe !  Solange  mir  nur  nacf)  SQSiBfür  leben  motten,  laffen 
mir  un§  borf)  nur  oon  unfern  trieben  treiben,  oon  unfern  fieiben* 
fc^aften  fül)ren  unb  finb  beren  Sflaoen.  Unb  auc^  wenn  lüir 
nur  nad)  ben  93erec^nungen  be§  9lu^en§  un^  riditen  ober  ber  Wladft 
ber  (Sitte  unb  be§  9ted)t§gefe^e§  un§  fügen,  ftnb  mir  bod^  nur 
einem  fremben  ®efe^e  untermorfen.  SÖBir  ftnb  Slaturmefen, 
menn  aud)  t)öc^ft  raffinierte  Slaturmefen;  mir  bleiben  im  ©tanbe 
ber  ,,^eteronomie".  @rft  menn  mir  einem  unbebingten  @efe^e, 
ba§  im  ©emiffen  fid)  bejeugt,  unö  freimiUig  beugen  unb  batan 
un^  felbft  meffen,  merbeu  mir  „autonom",  b.  ^.  mir  folgen  bem 
eigenen,  nämlic^  bem  oon  un§  felbft  gebac^ten  unb  anertannten 
@efe^.  3)arum  allein  in  ber  ^wgfamfeit  unter  ba8  ^oc^  be^ 
©ittengefe^c§  ift  gr  e i t)  e  i  t  oom  Oiaturgefe^  unb  matjre  „SB ür  b  e" 
be^  9Jlen|cf)en  ju  finben ;  auf  biefem  SBege  allein  mirb  ber  iDlenfc^ 
„''^Jerf  önlid)f  eit",  bamit  jug(eid)  @(ieb  einer  ^ö^eren  geiftigcn 
SBelt. 

e.   @ü  fe^t  l)ier  bie  2lntmort  auf  bie  britte  Jragc  ein: 


9i  eif  c^le:  ^ant  unb  bie  ^^eotogie  ber  ^egemoart.  367 

VDa§  barf  ic^  glauben?  3Jlit  bcm  fttttic^cn  ®cfe^  tut  eine 
SBctt  nid)t  bc^  ^laturgcfe^c^,  fonbern  ber  greife it  fid)  auf: 
tiic^t  eine  ©inncnroclt,  bic  unfercr  Safirnc^mung  unb  ®rfaf|ruTig 
jugänglic^  iräre,  fonbern  eine  überfinnHd)e  933 elt,  bie  mx 
nur  mit  unfern  ©ebanten  erfaffen  unb  in  bie  wix  nur  bur^  fitt^« 
Ii^e§  SQ8otten  eintreten  fönnen,  baburdi,  ba&  rair  felbft  un§  al§ 
freie  JBernunftroefen  nadt)  SBernunftgefe^  betätigen.  ®em  fittlid) 
roottenben  SWenfdien  get)t  jugleic^  ber  ©ebanfe  @otte§  in  fei* 
ner  n)at)ren  Sebeutung  auf.  5)er  @otte§gebante  ift  me^r  al§  bie 
^bee  eine§  legten  ®runbe§^  einer  prima  causa  aller  3)inge.  @r 
TOirb  au^  nod)  nid)t  erreicht  burc^  ba§  2lu§fd|auen  nad)  einem 
äugerlid^en  So^n  ober  ©ntgelt  jur  ©ntfcliäbigung  für  bie  Saft 
bc§  ftttlidien  ^anbeln§.  ©onbern  bie  Icitenbe  Slnfdiauung,  auf 
bie  ^ant  abjielt,  bie  er  aber  nid^t  immer  mit  ooHer  @idjert|eit  ju 
faffen  permod)te,  ift  bie  üon  einer  SWac^t,  bie  bem  ©uten  jum 
©elingen,  alfo  jum  ©ieg  aud^  in  ber  naturgefe^lid^  georbneten 
aOSelt  üer^ilft,  bie  alfo  felbft  bie  Staturroelt  auf  ben  fittli(^en  ®nb* 
jtüerf  ]^in  beftimmt  I)at.  Unb  jugleid)  mit  ber  ©otteSanfi^auung 
ergebt  fic^  ber  roa^re  ©ebante  ber  Unfterblic^feit,  nid^t  bie 
Qbee  einer  ©eelenfubflauj,  fonbern  bie  Ueberjeugung,  ba^  mit  bem 
Xob  unferm  fittlidt)en  ©treben  fein  ®nbe  bereitet,  fonbern  ber 
SSSeg  jur  fittti(^en  SSoHenbung  ber  ^}5erfönlid)feit  eröffnet  ift.  — 
m^  „fittlidje  ^oftulate"  füf)rt  Slant  ben  ®otte§:=  unb  Un^ 
fterblid)teit§gebanfen  ein.  Sie  finb  nid)t  beweisbar  für  ba§  tl)eo* 
retif^c  ©rfennen,  nid^t  benfnotmenbig,  aber  fie  finb  lebenSnot- 
luenbig,  menigften^  für  ben  ftttlid)en  SDienfc^en.  D^ne  fie  müpte 
er  auf  fein  fttttid)e§  S^ti  oerji^ten.  2lber  meil  er  nid)t  auf  biefe§ 
oerjid)ten  miß  unb  tanu,  ert)ebt  er  fid^  ju  ber  Ueberjeugung,  baj3 
roir  enblic^e  ©innenroefen,  bie  mir  nur  üerfc^minbenbe  ®lie* 
ber  biefer  in  9taum  unb  3cit  greujenlofen  ©innenmelt  finb,  bod^ 
ju  einem  SHeid)  fittli^er,  freier  "ißerfönlic^feiten,  ju  einem  $Reicl)e 
®otte§  berufen  finb. 

3)iefe§  9teid)  ber  greitieit  ertjebt  fid)  un§  über  bem  SReid)  ber 
9ktur  unb  ©efe^mä^igteit.  Qzm§  üielcitierte  SÖBort  Jlant§  Don 
bem  „beftimten  ^immel  über  mir  unb  oon  bem  movatifdien  ©e« 
fe^  .in   mir"    (^r.  ber  pr.    SSern.  ed.  S?et|rba^  ©.  193  f.)  ftettt 


368  91etf  c^Ie:  üant  unb  bie  ^^eologie  ber  (^egeniuart 

un§  bie  ©eftimtoelt  nic^t  etioa  nur  al§  @egen[tanb  afi^etifc^et 
SciDunbcrung  bar,  fonbcm  ate  bie  Sßerförperung  be§  9laturge* 
fc^c§,  unb  [e^t  i^r  mein  roa^reS  unfid)t6are§  ©ctbft,  meine  ?ßer* 
fönlic^teit  unb  bomit  eine  SBelt  gegenüber,  ber  „malere  Unenb- 
lic^feit",  ni^t  blog  ©renjenlofigtett  in  SRaum  unb  3cit  („f^Iec^te 
Unenbli^feit",  wie  e§  ^egel  ou§brücft)  jufommt.  „2)er  erfte  Sn* 
bficf  einer  ja^Kofen  SBeltenmenge  oernic^tet  gleid)fam  meine  9Bic^« 
tigteit  al§  eine§  tierifc^en  ©efd^öpfg,  ba§  bie  SWateric,  bar* 
au§  c§  marb,  bem  ^ßlaneten  (einem  bloßen  ^unft  im  SQScftaß)  wie« 
ber  jurficfgeben  m\x%  na^bem  e§  eine  furje  Q^xt  (man  meig  nic^t 
mie)  mit  SebenStraft  Derfel^en  geroefen.  3)er  jmeite  ergebt  ba* 
gegen  meinen  SBert,  aU  einer  Sntelligenj  [=  al§  eine§  gei= 
ftigen  8Befen§]  unenblic^,  burc^  meine  ^erfonlt^feit,  in  rocl^cr 
ba§  morafif^e  @efe§  mir  ein  oon  ber  2^ier^eit  unb  felbfl  üon 
ber  gangen  ©innenmelt  unabhängige^  Seben  offenbart  menigften^ 
fooiel  fic^  au§  ber  jroedmä^igen  Seftimmung  meines  3)afeinS  burc^ 
biefe§  ®efe^,  roel^e  ni^t  auf  93ebingungen  unb  ©rengen  biefe§ 
Seben§  eingefd^ränft  i\t,  fonbern  in§  Unenblic^e  gel^t,  abnehmen 
läfet."  —  3)ie  beiben  änfc^auungen  liaben  eine  gauj  oerfc^iebene 
83egrünbung;  aber  fie  [teilen  nid)t  im  SBiberfprud^  miteinanber. 
3)afür  forgt  uon  ber  einen  ©eite  ^er  bie  95egrenjung  ber  6r* 
fenntniS.  Äant  l^at  fie  oorgenommen,  um  ben  SRaum  für  jene 
fittlidf)en  Ueberjeugungen  frei  ju  machen,  ©ie  tonnen  oom  ©tanb* 
punft  be§  t^eoretifc^en  @rtennen§  au§  nic^t  miberlegt  merben, 
aüerbingg  auc^  nid)t  bemiefen.  Slber  au^  bie  UnbemeiSbarfeit  ift 
eine  roeife  Orbnung  @otte§;  benn  märe  ein  55emei§  möglich,  fo 
mürbe  bie  fittlic^e  grei^eit  baburd^  erbrüdt.  S)ann  „mürben 
©Ott  unb  ©migteit  mit  i^rer  fur^tbaren  ÜÄajeftät,  uns 
unabläffig  oor  2lugen  liegen  (benn  roa§  mir  ooUfommen  be* 
meifen  fönnen,  gilt  in  2lnfe^ung  ber  ©emi^^eit  un§  fooiel,  al§ 
moüon  mir  un§  burd)  ben  2lugenfd^ein  oerfictiem).  S)ie  Ueber- 
tvetung  be§  ©cfe§e§  mürbe  freilid)  oermieben,  ba§  ©ebotene  ge* 
tan  merben;  meil  aber  bie  ©efinnung,  au§  melc^er  ^anblungen 
geid)e^en  foHen,  hnxä)  fein  ©ebot  mit  eingeflößt  merben  fann, 
ber  ©tac^el  ber  Sätigfeit  i)ier  aber  fogleic^  bei  ^aub,  unb  äujjer» 
lid)  ift,  .  .  .  fo  mürben  bie  metireften  gefe^mä^igen  ^anblungen 


9leifd^le:  ^ant  unb  bie  St^eologie  ber  (S(egenn)art.  369 

au§  5urd)t,  nur  lücnigc  au8  Hoffnung  unb  gor  feine  au§  ^fli^t 
gefc^e^en,  ein  moralif^ev  SBert  ber  ^anblungen  aber,  worauf  boc^ 
olfein  ber  S33ert  ber  ^erfon  unb  felbft  ber  ber  SlBelt  in  ben  2lu* 
gen  ber  l^öc^ften  SBei^^eit  anfommt,  roüvbe  gar  nic^t  eyiftieren. 
S)o8  93er^alten  ber  aWenfclien,  fotange  i^rc  9latur,  roie  fte  je^t 
ift,  bliebe,  Tuürbe  alfo  in  einen  bfo§en  2]fleci^ani§mu§  nermanbelt 
werben,  roo,  roie  im  SWarionettenfpiel,  aßeS  gut  geftifutieren, 
aber  in  ben  giO^ten  bo^  fein  Seben  anjutreffen  fein  würbe 
....  2lIfo  mö^te  e§  aud^  l^ier  wo^I  bamit  feine  SRiditigfeit  l^abcn, 
roa§  un§  ba§  ©tubium  ber  Slatur  unb  be§  3Wenfc^en  fonft  ^in* 
rcic^enb  le^rt,  ba^  bie  unerforfc^Iii^e  2Bei§t|eit,  burd)  bie  wir  eyi* 
jiieren,  ni^t  winber  Derel|rung§würbig  ift  in  beni,  wa§  fie  un§ 
ocrfagte,  al§  in  bem,  roai  fie  uu§  ju  teil  werben  liefe"  (Ar.  b.  pr. 
ggem.  ed.  Äe^rba^  @.  176  f.).  SSon  ber  anbern  Seite  l|er 
wirb  bie  Harmonie  jwif(^en  ©lauben  unb  35Biffen  baburc^  gefi* 
c^ert,  ba6  ber  ©taube  bie  SRätfet  löft,  bie  ba§  SOBiffen  übrig  lägt, 
greili^  ift  eS  ni(^t  eine  Söfung,  bie  wir  nun  an  bie  ©pi^e  un* 
fere§  @rfenntni§f9ftem§  rüden  unb  jur  ©runbfage  unferer  wiffen- 
fc^aftU^en  SBelterftärung  mad^en  f önnten ;  wo^l  aber  fönnen  wir 
biefer  Söfung  bie  richtige  Seitung  für  unfer  praftifd)eö  Seben  ent* 
nehmen. 

3.  ®a§  in  ben  brei  oon  un§  l^eroorge^obenen  ©ebanfen^^ 
treifen  ^ant§,  in  feiner  @rfenntni§begren}ung,  feiner  Seftimmuug 
be§  fittlic^en  Seben§  unb  feiner  2Iuf fteKung  ber  praftifc^en  ^oftu« 
lote,  neue  unb  originelle  ft'onjeptionen  ^eröortraten,  war  fd)on  ber 
Slufftärung  wo^l  bewufet.  2Iber  e§  waren  nid)t  nur  einjelne  @e* 
banfengruppen,  in  beuen  ba§  9]eue  ber  J£autfd)en  5ßf|ilofop^ie 
lag;  fonbern  bie  ©efamtric^tung  ber  p^ilofopf)if c^en  2lr= 
b  e  i  t  war  eine  anbcre  geworben.  3)ie  2luf tlärung  ging  biref t  auf 
ba§  3i^t  lö^/  i^^*  SBernunftgebäube  aufjurid)ten  unb  eine  ®ott=^ 
SBelt:=Sel^ve  ju  geftalten.  5)a§  war  ba§  3^^^  ^^^  fd)olaftifc^en 
^l^itofop^ie  gewefen;  fie  ^atte  barin  ba§  ®rbe  oon  "ißtato  unb 
äriftoteleg  angetreten.  2lu^  ®arlefiu§,  ©pinoja,  Seibni^  folgten 
nod|  bemfelben  Qn^e,  —  Äant  bagegen  lenft  bie  p^ilofopl^ifc^e 
Unterfuc^ung  in  erftcr  Sinie  auf  ein  anbereg  Qkl,  al§  auf  ®ott 
unb  bie  SÖBelt.    ©runbfötyli^  folgt  er  jenem  alten  SBort,  ba§  an 


870  9leifd)le:  ^ant  unb  bie  ^^eologie  ber  ©egenroart. 

bcr  ©pi^c  ber  ^^S^i(ofop^ie''@efd)id)tc  fd^on  auftaud)t,  bem  ©pruc^ 
bc§  bclpl^ifd^en  2lpolIo:  ,Yvö)*t  aeautov'  (ogl.  36enop^.  SWcmorab. 
IV,  2,24).  ©0  aualgfiert  Äant  jucrft  bic  mcnfd)ftc^c  ©rfcnnt^ 
niStdtigtcit.  ^n  roct^cm  Sinn,  ba§  roirb  uiiS  fc^on  au§  ber 
„J?riti!  ber  reinen  Vernunft"  (1781)  beutlic^.  9tid)t  um  bie  pftj* 
^ologifdie  ätuf^eflung  be§  Srfenntni^Dorgangö  ober  um  bie  (Sr* 
forfc^ung  ber  babei  beteiligten  pfgc^ifc^en  ^u^W^nen  ift  e§  i^m 
ju  tun.  ®arauf  liatten  bie  englifc^en  ^^ilofoplien,  befonber^ 
Sorfe,  bie  Slufmerlfamteit  gerid^tet.  Äant§  Qntereffe  bagegen  loar 
ein  tritifc^e§:  bie  leitenben  ©ebanfen  unb  ®runb[ä§e,  bie 
3iele  unb  ©renken  be§  menfc^lic^en  ®rtennen§,  feine  ^ebeutung 
für  ba§  geiftige  2zbtn  be§  SWenfc^en  moüte  er  feftfteHen.  —  3lna* 
log  baju  geftaltet  fid^  bie  Slufgabe,  bie  ben  anbern  tritifc^en  SBer- 
fen  Äantö  jufällt.  3>n§gefamt  bilben  fie  einen  3ufttwiJwcn^öng, 
ber  für  Äant§  2luffaffung  oon  ber  SÄufgabe  ber  ^^ilofopI|ie  be^ 
bcutfam  ift.  9tacl)bem  er  bie  ®rfenntni§arbeit  tritifc^  untcrfuc^t 
loenbet  er  fic^  mit  ber  „(Srunblegung  jur  SWetap^gftf  ber  Sitten" 
(1785)  unb  mit  ber  „Äriti!  ber  prottlfd|en  Vernunft"  (1788), 
bem  oernünftigen  3Botlen  be§  SKenf^en  ju;  er  anal^ficrt 
bie  barin  leitenben  ®eban!en  unb  (Srunbfä^e  unb  prüft,  xocS  fic 
für  ba§  SBernunftmefen  be§  SWenfc^en  erbringen.  ®r  jie^t  fpätcr 
awi)  ba§  SRe^töleben  unb  bie  fritifc^en  ®runbfaBe,  nac^  bc« 
nen  e§  beurteilt  merben  mu^,  in  biefe  Unterfu^ung  herein.  9)lit 
ber  „Äritif  ber  Urteil§fraft"  (1790)  fa^t  er  eine  weitere  mefent* 
lid)e  ©eifteStätigfeit  in§  Sluge,  bie  äft^etifd)e,  um  bie  ^^Jrin* 
jipien  be§  äft^etifd)en  Urteile  ^erau^juftclten.  Qm  jmeiten  Jeil 
berfelben  ©rf)rift  befc^äftigt  it)n  bie  Qxoed''  unb  9Bertbeur= 
teilung  ber  äßelt  überf)aupt.  ©(^on  bamit  fc^reitet  er  meiter 
jum  religiöfen  Seben  be§  aWenfc^en;  unb  in  ber  „Sieligion 
innerhalb  ber  ®renjen  ber  bloßen  äJernunft"  (1793)  prüft  er 
biefe^  noc^  eingetjenber,  um  ju  entfd^eiben,  nm§  oon  ben  religi« 
Öfen,  befonber§  d)riftlid)'religiöfen  2lnfd)auungen  oor  bem  9lic^ter« 
ftu^l  ber  Sßernunft  beftetien  tann.  —  SQSie  ftellt  ftc^  in  biefer 
ganjen  9ieit)e  ber  fritifd)en  SBerte  bie  ^^ß^itofop^ie  felbft  bar? 
Sie  ift  nic^t  met)r  bie  alte  ©ott^SOBelt^^Selire ;  fonbern  fie  ift  ju 
ber  Sßiffenfc^aft  oon  ben  mef entließen  Betätigungen 


[H  elf  c^Ie:  ^ant  unb  bie  ^^eologie  ber  ®egenn)att.  871 

bc§  menfd)It^cn  ®eifte§  gciporbcu.  S)cr  fopcrmfonifd)c  <8u9/ 
ben  ftant  fflr  feine  SrfenntniStritif  felbft  in  2lnfprud)  genommen, 
ge^t  burc^  aße  Seile  feiner  ^^ilofop^ie  ^inburd).  5iuv  oon  bie- 
fem  feften  93oben  qu§  fud)t  ftant  aud)  bie  roefentlidieR  ®ebanten 
unb  Uebei^eugungen  über  ®ott  unb  äBelt,  über  finnfidie  unb  fitt* 
tiefte  SBelt  ju  gewinnen. 

Qn  ber  ©injelauöfü^rung  mag  bie  ^t)itofopl^ie  Äant§  mancfte^ 
aSeraltete  an  fid)  ftaben;  fie  mag  gebrücft  fein  burd^  fd)oIaftifd)e 
3)iftinftionen,  burd^  oerfc^nörfelte  Äünftlid)feiten  ber  2lrd)itetto* 
nit.  Qf)xzm  ^nl|alt  nacft  mag  fte  in  oielen  fünften  nod)  ber 
2Iuff(ärung  oermanbt  fein.  35a§  alle§  ^ebt  nidjt  auf,  ba§  ^ant 
nid)t  nur  eine  Sftei^e  einjetner  großer  ©ebanfen  in  ber  ^t)ilofo* 
p^ie  gefd)affen,  fonbern  aucft  burcft  bie  ganje  9ieif)e  feiner  ^aupt- 
werfe  bie  moberne  Stiftung  p^i(ofop^ifd)er  3lrbeit  traftüoll  an* 
gebai)nt  f)at 

n. 

1.  SBeldien  SBert  ^at  aber  bie  Santfdje  ^^ilofop^ie  für 
bie  Jl^eologie?  ^at  fie  eine  93ebeutung  aud)  nocft  für  bie 
X^eologie  ber  ©egenmart?  Unb  menn  biefe  S^rage  bejalit  werben 
barf,  in  meieren  fünften  fönnen  mir  aucft  tjeute  nod)  un§  an 
Staut  anf^Iie^en? 

a)  S)a§  SQBertoolIfte,  ma§  Sant  ber  2:I)eologie  gegeben  I)at, 
fd)cint  mir  auc^  l^eute  noc^,  tro^  aller  g^ortfcftritte  p^ilofop^ifd)er 
unb  tljeologif d)er  2lrbeit,  feine  ®rfenntni§begrenjung 
ju  fein. 

2lüerbing§  nid)t  oou  allen  wirb  bie§  Urteil  geteilt.  2luf§ 
tief  fte  ift  oielen  ba§  alte  Q^beal  ber'Slpologetif  eingeprägt,  ben 
djriftlicften  ©lauben  felbft  burd)  t^eoretifd)e  33eioeife  ju  unterbauen 
unb  iftm  baburc^  (Sid)er]^eit  ju  oerleit)en.  Qd)  fann  ben  5Reij 
biefer  SBerfuc^e  mo^l  oerfte^en.  ^abt  id)  bod)  einft  felbft,  im 
©efolge  Siebermann^,  in  ben  33emü^ungen  micft  bewegt,  bie  ^rift* 
ti^en  ©runbanf^auungen,  oor  allem  ben  d)riftlic^en  @otte§ge* 
banfen,  auf  bem  SD8ege  p^ilofoptjifcften  ®en!en§  ju  gewinnen, 
©dieint  bod)  bamit  jenen  bie  ficfterfte  ©runblage  gegeben  ju  fein. 
—  31  ber  wir  bürfen  bie  Jle^rfeite  nid)t  überfeinen.     3Q3irb   bem 


372  fHeif  d^Ie:  ^ant  unb  bie  2:^eoIogie  ber  (^egenioart. 

tfjcovctifc^cn  Srtcnncn  bic  gätjigfeit  bcigcmeffcn,  93croctfc  für  bie 
d^riftti^e  @otteSanf^auung  beizubringen,  fo  mu^  man  i^m  Qud| 
bic  Äraft  jutrauen,  auf  biefem  (Sebiete  ein  SRic^teramt  §u  üben, 
unb  man  mufe  mit  ber  SRöglidjteit  rechnen,  bafe  bic  ^^ilofop^ie 
mit  93erufung  auf  ba§,  roaS  benfnotmcnbig  ift,  auc^  ©egenbe* 
meifc  gegen  bie  diriftlic^en  ®(auben§Dorftcttungcn  oorjubringen 
fud)t.  2)ie  ©efc^i^te  ber  Slpologetif  gibt  un§  reic^fid^c  SBeifpiele 
t)on  einem  fold)en  Umfc^fag.  S)ie  Karfte  ^^robe  ^aben  mir  an  bem 
©ntmidlungggang  ber  ^egelfd)en  ^^ilofop^ic.  Sßic  bcgeipert 
rourbc  001)  bic[er  ber  eroige  93uub  jroifdien  ^^ilofop^ic  unb  Ideo- 
logie oerfünbet!  Unb  roic  t)erbe  fpottet  ©trau^  in  ber  Einleitung 
feiner  „6:f|riftlid)en  ®(auben§Ie^re"  (Tübingen  1840)  über  ben 
rafd)  jerronnenen  Iraum!  —  ®arum  ift  e§  im  ©runbe  bic  gün* 
ftigere  fiage  für  bie  c^riftlic^e  ®otte§«  unb  3QSeItanfd)auung, 
roenn  e§  bem  t^eoretifc^en  (5r!cnnen  überhaupt  benommen  ift,  über 
biefe  2)inge  ju  ent|(i)eiben.  3)enn  bamit  ift  aud)  ben  33eftrcitcm 
be§  ci)riftlid^en  @(auben$,  bie  fid)  mit  SSorlicbe  auf  bic  Stcfultate 
ber  SBiffenfc^aft  unb  beren  SBiberfpruc^  gegen  ben  rf|riftlic^en 
©tauben  berufen,  biefer  95en)ei§grunb  entjogen.  9lur  fo  ift  ber 
Äampf  auf  einen  Waren  ©oben  oerfe^t.  2)ic  öctämpfer  be§ 
(£^riftentum§  bürfen  nid)t  me^r  ben  SHuf  ergeben:  t)ier  SEBiffen* 
fc^aft,  bort  ©laubcn;  fonbern  in  ben  ^öd)ften  fragen,  ju  bcncn 
aud^  bie  SEBiffenfd)aft  nic^t  mc^r  ^eranrei^t,  fte^t  i^rc  ®(auben§» 
ober  oielme^r  Ung(auben§entfc^eibung  gegen  bic  d)riftlic^e  Ueber* 
jeugung.    ©laubc  gegen  ©lauben! 

2tber  freilid),  ni(t)t  barauf  fommt  c§  in  le^tev  Sinie  an,  ob 
bie  an  Äant  firf)  anle^nenbe  crtcnntnigfritifd)C  9lnfic^t  unfcrem 
d^riftlic^en  ©tauben  eine  gün ftigere  ^Option  oerfc^afft.  äuc^ 
bie  ©vroägungen,  bic  mir  foebcu  in  biefer  Stic^tung  angcfteüt, 
fottten  nur  ba§  SBoruvteil  jurüdtmeifen,  ber  c^riftlict|C  ©laube  roerbc, 
menn  man  bie  3Kögtid^teit  t^eoretifd)er  93en)cifc  für  i^n  leugnet, 
einer  befonber^  fieberen  unb  roidjtigen  ©tü^c  beraubt.  SSbcr  por 
allem  ^anbelt  e§  fic^  bo^  um  bic  grage,  o  b  Rant  mirflic^  ben 
Sad^ucrtialt  rid^tig  beftimmt,  alfo  bic  ©renjen  be§  t^eorc» 
tifc^en  ©rfenncn^  rirf)tig  gejogen  ^abe,  roenn  er  i^m  bie  gä^igfeit 
abftreitet,  gu  bem  ©runb  aKer  2)ingc  oorjubvingcn. 


IRetf  d|Ie:  ^ant  unb  bie  X^eologte  ber  ©egenmart  37S 

®icfc  5^age  tä^t  ftc^  nun  aöcrbingg  nid)t  im  SJorüberflcl^en 
lof cn ;  nur  burc^  eine  9iarf)prüfung  ber  ganjen  Äantfd^en  ©rtennt* 
ni§fritif  fönnten  roir  i^r  SRed^t  bartun.  2lber  für  unfere  Qmtdt 
mag  e§  genügen,  barauf  f)injun)eifen,  ba§  [ogar  bie  ®egner 
ber  ftantfd)en  ©rfenntni^tritit  ein  geroiffeS  QtuQni^ 
für  fie  ablegen.  9lud)  biejenigen  2:^eo(ogen,  bie  ju  bem  2Beg 
be§  t^coretifc^en  @rfennen§  ba§  ßutrauen  ^aben,  ba§  er  fie  bi§ 
§um  legten  ©runb  aller  3)inge  l^infül^rc,  üben  ^eutjutage  in  ber 
Slufnalime  metaptigfifd^er  Qbeen  eine  oiel  größere  3u^ä(f^öltung, 
al§  in  ber  SBlütejeit  ber  fpefulatiüen  $^ilofopl|ie.  aSorfid)tig  rebet 
man  nur  oon  metap^g fif d)en  ^gpotl)efen,  bie  man  jur  Srflä* 
rung  beö  gegebenen  Jatbeftanbe^  ber  Sffielt  aufflellen  muffe.  SQSiDig 
gefielt  man  in  weiten  Greifen  ju,  ba§  fic^  biefe  ^gpot^efen  ftetg 
in  einer  geroiffen  2lllgemeinf)eit  lialten  muffen:  jroar  fönne  man 
bcn  9flücffc^lu§  auf  einen  ein^eitlidien  SBettgrunb  ma^en,  auc^ 
feine  geiftige  2lrt  tonne  man  erfc^lie^en,  ba  er  fonft  nic^t  bie  ®r» 
tldrung  für  ba§  geiftige  Seben  in  ber  2Belt  abjugeben  oermödjte; 
aber  aDc  beftimmtere  in^altli^e  6rfenntni§  be§  Stbfoluten  t|änge 
oon  ber  Slncrtennung  beftimmter  SBerte  in  ber  Sßelt,  befonberg 
in  ber  (Sefc^id)te  ab.  —  SBoHenbS  aber  roirb  auc^  oon  foldjen 
S^eologen,  bie  fic^  n\6)t  auf  Sant§  ©tanbpunft  ju  ftetlen  oer* 
mögen,  zugegeben,  ba&  bie  ©egner  ber  diriftlic^en  ®otte§*  unb 
3Beltanfd)auung  ju  ifiren  bogmatifc^en  miberc^rifttic^en  93e* 
^auptungen  nur  gelangen,  inbem  fie  bie  ®renjen  beg  ®rtennen§ 
übcrfc^reiten  unb  bie  ^öd^ften  SOBerte,  bie  ba§  ß^riftentum  temit, 
ignorieren.  8abenburg§  becibierte  (nact)t)cr  freilid)  fel^r  ahc^t^ 
fc^mdc^te)  ®ypeftorationen  über  ben  ®lauben  an  ein  g^ortleben 
nad)  bem  2:obe,  mie  ^äctelg  leid)tfertige  Urteile  über  bie  ffiorfteU 
lung  einc§  perfönlicljen  ®otte§  ru^en  nic^t  auf  burc^fc^tagenben 
miffenfc^afttidjen  ®rünben,  fonbern  barauf,  ba§  beibe  53eftreiter 
be§  ®^riftentum§  üon  ber  d|riftli(^en  ©c^d^ung  be§  perfönlic^en 
Sebenö  in  feiner  ®r^aben{)eit  über  bie  Statur  nic^t§  miffen  unb 
miffen  moHen.  ^m  Jlampf  gegen  berartige  ®renjDerle^ungen  roirb 
fetbft  oon  folgen,  bie  Kaut§  ©rfeuntui^fritit  tritifd}  gegenüber* 
fielen,  ifir  SCBert  nid)t  einfad)  geleugnet. 

3d(  ge^eroeiterin   ber  ß^Piwtmungju  Kant. 

deitf<9nft  für  Xfftoio^it  imb  Stitdft.  14.  ^a^rfl.,  6.  ^eft.  26 


874  9leif  d^Ie:  ^ant  unb  bie  S^eobgie  ber  (^egentoart. 

©einen  (Spuren  folgenb  gelange  id^  ju  bem  (Ergebnis,  ba^  bQ§ 
^öd^fte,  wag  mx  auf  bem  ^oben  bc§  t^eoretifc^en  @rtenncn§ 
nod)  erteilten  fönnen,  bie  Qbee  einer  ®in^eit  aller  Siealitat  unb 
ba§  ^oftutat  einer  Stngemeffen^eit  be§  @rfenntni§ftoff§  ju  ben 
^bealen  unfereS  @r!ennen§  x%  bafe  bagegen  atte  ^ppot^efen,  bie 
ben  ein^eitlid^en  SBeltgrunb  genauer  ju  beftimmen  üerfuc^en,  oon 
ber  9Wöglid)feit  einer  entfc^eibenben  SBerifitation  Dertaffen  ftnb.  — 
Slber  ob  nun  in  biefen  fragen  ba§  aJla§  be§  3lnfct)Iuffe§  an  Äant 
ein  grö|ere§  ober  geringere^  fei^  jebenfallS  oerbanft  e§  bie  S^eo* 
logie  bem  tritifc^en  ^^J^ilofopl^en,  wenn  ^eutjutage  in  ber  Slpolo- 
geti!  mand)e  brüchige  ©tilgen  gefallen  ftnb  unb  bei  aßen  93egrün« 
bungen  beS  c^riftlic^en  ®Iauben§  bie  ftrengfte  9iec^enfd)aft  barfiber 
oerlangt  mirb,  rote  roeit  fte  auf  ®entnotroenbigfeit  Slnfprud^  ma* 
^eu  fönnen,  roie  roeit  fte  bagegen  auS  perfonlid)  bebingter  aSSert« 
beurteilung  ftammen. 

b)  Slber  inbem  Äant  un§  jur  hritifd^en  öefinnung  über  bie 
@rfenntni§grcn}en  anleitet,  ^ilft  er  un§  jugleic^,  roenigfteng  nac^ 
einer  ©eite  t|in,  jur  Älar^eit  barüber,  roa§  ®laubc  ift. 
aSor  aUem  in  ber  „Kriti!  ber  Urteil^traft"  l^at  er  auf§  fc^ärffte 
ben  ©ebanfen  ausgeprägt,  ba§  „@laube"  in  feiner  3B8eife  auf  ber 
gleitcnben  ©fala,  bie  oon  ber  roa^rf^einlicfien  SKeinung  jum  aSBiffeu 
fül^rt,  untergebrad^t  roerben  barf.  3)amit  ^at  er  jiebeufallS  bie 
negatioe  SBorbebingung  für  bie  richtige  begriffliche  Raffung 
be§  reformatorifc^en  @lauben§begriff§  gefc^affen.  —  aber  er  gibt 
un§  aud^  in  p  o  f  i  t  i  ^  ^  i^  Slic^tung  eine  Einleitung  jum  richtigen 
aSerftänbniS  be§  eoangelifd^cn  @lauben§begriff§.  2)er  @laube  ifi 
nac^  Äant  eine  für  ben  fittli^en  ajlenfc^en  teben§no troen« 
bige  Ueberjeugung,  eine  ©eroi^^eit,  bie  au§  SWotioen  bes 
perfönlidf)en  8cben§  eutfpringt  unb  oon  i^nen  getragen  lüirb.  (5ben 
bie§  aber  ift  jebenfaHS  ein  roefentlid)er  ^untt  in  ber  (ärfenntniS 
ber  Sleformatoren  baoon,  roa§  „©laube"  ift.  8lllerbing§  ^aben 
fte  auf  ganj  anberem  35Jege,  nämlid)  burc^  SRüdtfetir  oon  ber  f^o- 
taftif^en  Sluffaffung  ber  fides  jum  perfönlic^en  S^riftentum  be§ 
bleuen  SeftamentS,  biefe  ©eite  perftel^en  lernen.  3"^^  Haren  be* 
grifflic^en  @r!cnntni§  biefe§  fünftes  ^at  bod^  erft  Rant  unS  Der= 
l^olfen,   roenn  roir  auc^  in  93ejie^ung  auf  eine  anbere  roefentlidje 


9leif^le:  ^ant  unb  bie  ^^eologie  bet  ©egentoart.  375 

@eite  beS  ©(aubenSbegriffS  einen  äRangel  bei  i^m  nadi^er  merben 
fonpQtieren  muffen,  ^n  ber  ftarfen  93etonung  be§  ©a^eS,  ba§ 
ber  ©laubc  fetbftdnbige  OcroiffenSüberjeugung 
ift,  i)at  [xi)  Äant  in  ber  Xat  al§  ben  ^^ilofop^en  be§  ^roteftan= 
ti§mu§  eriüiefen.  Ob  er  felbft  fic^  biefe§  inneren  3ufammen^ang§ 
Mar  beiouftt  roar,  mad^t  in  biefer  grage  nic^t§  au5;  genug,  ba& 
ber  ©ac^e  na^  biefe  Uebereinftimmung  oorliegt! 

93ei  ^ant  fte^t  feine  Sluffaffung  üon  „©lauben"  in  engem  Qn- 
fammenl^ang  mit  feiner  2lnfd)auung  oon  ben  jmei  SGBetten. 
hinter  unb  über  ber  SEBelt  ber  ©inne  unb  ber  5naturgefe^ti^!eit 
ge^t  i^m  eine  anbere  ^ö^ere  33BeIt  auf,  bie  nur  in  Oebanfen  ju 
ergreif enbe  („intetligible")  3ö3elt  be8  @eifte§  unb  ber  5^ei^eit.  Unb 
fie  erft  ift  bie  roa^re  SCBirtlic^feit  gegenüber  ber  äBelt  ber  ©ic^t- 
barfeit  Qn  biefer  Sluffaff ung  aber  berührt  fid^  ^ant  mit  me* 
f entließen  ^rifttic^en  ©faubenSanf^auungen.  ©inen  Unterbau  fin* 
ben  biefe  3^een  Slanti^  in  feinem  ^  ^  ä  n  o  m  e  n  a  l  i  8  m  u  8.  SBaö 
ift  bie  ganje  SGBelt  unferer  @rfa^rung§ertenntni§  ?  ©ie  ift  bod) 
nur  ein  Stuffaffen  beS  ©mpfinbunggftoffeS  in  ben  formen  unfere§ 
ertennenben  93en)u6tfein8,  be8  93cn)uJ5tfein§  pon  enblid^en  3Befen.  — 
Ober  tragen  nii^t  in  ber  Xat  bie  ®rfenntni§formen,  bie  mir  anmen* 
ben,  bie  beutlic^en  ©puren  baoon  an  fic^?  Unferer  5Raumoorftel= 
I  u  n  g  gegenüber  mu^  ber  3tt>^if^t  erroad^fen,  ob  aurf)  ein  nid)t 
cnblic^e§  93eroufetfein,  ob  ®ott,  ber  f^öpferifd^e  ©eift,  an  fte  ge= 
bunben  ift.  SEBir  bringen  oon  unferem  ©tanbort  au§  in  ber  @r» 
!enntni5  ber  SEBelt  ooran,  inbem  mir  in  räumlicher  ©gntliefe  ©toff 
an  ©toff  reitien  unb  bringen  fc^rittroeife  oormärt§  ju  immer  ferneren 
9taumen.  3lber  mag  ni^t  —  mir  reben  freilid)  baoon  nur  im 
93ilb  unb  ®Ieic^ni§  —  bem  fc^öpferifc^en  Sluge  ®otte§  ba§,  ma§ 
fern  unb  voaS  na^e  ift,  auf  einen  93lirf  überfei) bar  fein,  aUeg  in 
gleicher  ©egenmart  oor  il|m  fdjmebenb?  —  Unb  ebenfo  erinnert 
uns  unfere  3citanfd^auung  an  unfere  ©nblic^feit.  gür  unS 
ift  bie  aSergangenl^eit  nic^t  met)r,  unb  bie  3wfwnft  ift  nod^  nic^t ; 
nur  bie  ©egenmart,  fo  fagen  mir,  ift  roirttic^.  2lber  ma§  ift  fie 
felbft?  ©in  Slugenblidf,  nie  oermeilenb,  im  Kommen  felbft  fd^on 
micber  oerf c^munben :  „^feilf^nett  ift  ba§  Qti^t  entflogen".  9Bir 
in  bie  jeitlid^e  Slnfc^auung  unb  in  baS  jeitlid)e  2tbm  gebannte 

26* 


376  9leifc^Ie:  üant  unb  bie  2:^eoIogte  ber  ©egenroart 

SBefcn  gleichen  einem  3Wen[(^en,  ber  in  roilbcm  Strom  oon  SiS* 
fd)o(Ie  ju  @i§fd>oUe  fpringt:  fomie  er  bie  auftauc^enbe  berührt, 
ierbric^t  fie  unter  feinen  ^ü^tn,  unb  batb  mu§  er  felbft  im  ©trom 
oerfmten.  SWag  nic^t  oor  bem  eroigen  ®eifte  be§  SBäettenfc^opferS 
bie  3^itenrei^e  in  ganj  anberer  SEBeife  gegenrofirtig  fein  ?  ÜRag  nic^t 
für  i^n,  and)  roenn  fie  i^m  nic^t  eroiger  ©tiDftanb  ift,  fonbem 
ein  Sortrüden  ber  3Bir!(ic^feit  bebeutet,  boc^  bie  SSergangen^eit 
mel^r  ate  ein  bto^e§  9tic^tmel|r,  bie  ßwfunft,  bie  er  felbft  fc^afft 
me^r  al§  ein  blo^eö  9loc^nid^t  fein?  —  Unb  roie  tft§  mit  unfern 
©enfbegriffen,  oor  allem  mit  ber  Äaufalorbnung? 
äBir  reiben  Urfad^e  unb  9Birfung  äugerlid^  }ufammen,  uor  aDem 
ba,  roo  roir  irgenb  eine  berechenbare  Proportionalität  ^roifc^en 
jroei  ®ruppen  oon  SBorgängen  ^erjuftetlen  oermogen.  2tber  er* 
fc^öpft  biefe  äu^erlic^e  ^[neinanberfügung  oon  Urfad)e  unb  9Bir* 
fang  bie  ©ad)e  ?  ^ft  ®ott,  bie  causa  prima,  ni^t  felbft  i  n  allen 
(Elementen  unb  SBorgängen  ber  SBelt  roirtfam?  (Ste^t  in  i^m  nic^t 
ba§,  roa§  für  un§  nur  in  räumlid^  fortroirfenber  ©eroegung,  in 
jeittic^er  9lufeinanberfolge,  in  berechenbarer  Proportionalität  fi^ 
barfteHt,  t)ielmet)r  in  einem  inneren  gebanfenmä^igen  Bufammen« 
^ang? 

^ber  inbem  ^  a  n  t  unS  biefe  SBett  in  eine  (Srfc^einungSiDelt 
auflöft,  gibt  er  unS  iugleid^  bie  ätnbeutung,  bog  roir  auc^ 
in  unferem  c^riftlic^en  ©upranaturali§mu§  nic^t  etroa  äußerlich* 
quantitatio  jroei  SBelten,  bie  natürli^c  unb  bie  übernatürliche,  neben* 
cinanber  fteHen  bürfen,  in  ber  SBeifc,  ba§  biefe  etroa  auf  jene  einen 
@influ§  ausübte,  ber  al§  fonfurrierenb  mit  bem  Sßirfen  ber  na« 
türlic^en  Urfactjen  ber  Sfficlt  ju  beulen  roäre.  Söielmelir  erreichen 
roir  ben  ^riftlic^en  Supranaturali§mu§  nur,  roenn  un§  innert)alb 
biefer  unferer  @rfc^einung§roelt  felbft  ein  geiftig  ftttlic^er  2Bert  unb 
3roerf  entgegentritt,  ber,  obroo^l  in  ber  Qnt  fic^  für  un§  oerroirf* 
lic^enb,  un§  boc^  aU  ein  eroiger,  bie  3^^*"^^^*  be^err* 
fc^enber  S^^^  geroi^  roirb.  Unb  fo  gelangen  roir  benn 
auc^  JU  ber  (^riftlic^en  2lnfci^auung  oon  einem  überroeltli^en  per« 
fönlic^en  @ott  nur  bann,  roenn  roir  @ott  oerftel^en  als  bie  leben« 
bige  aJlac^t,  bie  in  bem  ß^it^^^^uf  ber  3Belt  felbft  roirtfam  ift 
unb  mit  biefem  auc^  un§  felbft  einem  überroeltlic^en,  perfönlic^en 


SR  eiferte:  ^ant  unb  bie  %i)toloqit  ber  ©egentoart.  877 

3n)cd  cntgcgenfü^tt.  —  ®ie§  in  ©pcfulattoncn  über  ®ottc§  SQBcfcn 
unb  SGBirten  au^jufü^ren,  baran  ^inbcrt  un§  freiließ  bic  aWal^nung 
be§  ^ritijiSmuS  anben  bilblic^^analogifdien  (S.i)axah 
t  e  r  unfercr  @otte§t)orftcDung.  2lbcr  Äant  rocift  un§  jugleic^  bat^ 
auf  ^in,  ba§  boc^  jene  SBorfteCungcn  ni^t  roinfürlic^c  unb  be« 
licbig  peräubcrlic^e  ^^antafien  fmb,  fonbem  ba^  in  i^nen  ein 
für  un§  roefentli^er,  inoariabter  ^nf)alt  ftd|  birgt.  Äant  felbft 
aüerbing§  ^at  biefen  rocfentlic^en,  bleibenbcn  3»ni^ölt  n  u  r  in  ben 
fittH^cn  ^Ißoftulaten  gefunben.  Ob  er  bamit  bie  ©ad^e  erfc^öpft, 
roerben  roir  na^lier  ju  fragen  ^aben;  aber  ein  tiefet  SRec^t  liegt 
jebenfan§  in  ber  93etonung  be§  engen  3w)<^Jnwten^ang§  oon  ©lau* 
ben  unb  fittlic^em  Seben. 

c)  3)a§  aber  fann  nur  beutlic^  werben,  roenn  u)ir  juerft  feft* 
ftctten,  baj5  überl^aupt  Äant§  Slnfc^auung  Dom  fittHd)en  fie* 
ben  oon  uuüeräu^erlid)em  SBert  aud^  für  bie  Oegenroart  ift.  ©c^on 
JU  feiner  Q^xt  war  e§  oon  größter  93ebeutung,  ba§  Slant§  fitt^ 
ii^e  Strenge  aller  gvioolität  franjöfif^er  Slufttärung  ben  B^G^ng 
roe^rte.  2luc^  bie  beutfd)e  flafficiftifd^e  93en)egung  blieb  Don  bein 
@influ§  feiner  fittli^en  ©ebanfen  ni^t  unberül^rt:  nid^t  nur  @d)iller 
^at  fxä)  il)m  n)illig  l^ingegeben,  aud^  ®oett|e  l^at  fid^  i^m  nic^t  ju 
cntjic^en  uermoc^t.  Unb  aud)  auf  baö  prattifc^e  Seben  jener  Qtxt, 
auf  bie  Pflichtübung  ber  preu|ifd)en  Beamten  unb  Dffijiere,  b^t 
Äant§  emfte  Sttuffaffung  Don  ber  ^flid)t  geifteSmä^tig  eingewirft.  — 
Stber  au^  unferer  3^'*  t^*  ^^  i^öt,  ba§  fte  ben  ernften  ^erolb 
be§  unbebingten  @efe^e§  nii^t  üergeffe.  Qu  ben  p]^ilofop^ifd)en, 
fünftlerifct)en  unb  praftif^cn  Strömungen  unferer  3^it  ringen  fid) 
man^erlei  ©eifter  bebenltic^er  Slrt  empor.  3)en  einen  erf^eint 
ba§  fogenannte  „fittlic^e  ©ebot"  nur  al§  ein  Söegmeifer  be8  ge- 
meinen 9lu^en§  ber  menfd)lid^n  ©efellfdiaft,  ber  einjelne  aJienfd) 
nur  alö  eine  Slrbeitefraft  im  9Birtfc^aft§getriebe,  al§  eine  Qi^tx 
in  ber  ^ntereffenberec^nung.  3)ie  anbem  führen  bireft  ben 
Kampf  gegen  ben  alten  2)ra(^en  „bu  foUft",  unb  f orbern  ba§  freie, 
fiegreid)e  ©id^au^leben  be§  genialen  ajlenf(^en,  ba§  rüdtfid^t^Iofe 
^errfc^en  ber  ^errennatur.  ®em  allen  gegenüber  merben  auc^ 
mir  nur  auf  Sant§  ©ypofttion  be§  ©ittengefe^e§  jurüdgreifen 
fönnen.    3ln  ber  Beugung  unter  ein  ©emiffen§gefe^,  an  ber  2ln* 


378  9ietf  ^le:  ^ant  unb  bie  X^eologte  ber  ©egenioort 

crfcnnung  einer  unbebingten  Slorm  unb  einer  unoerbrüc^Uc^en 
9iorm  ^dngt  bie  aßfirbe  bcS  3Wenf^cn.  Unb  an  ben  ©ejie^ungen 
ber  Sichtung,  be§  SBertrauenS,  ber  Siebe,  roeldfe  bie  SWenfc^en  mit 
einanber  oerbinben,  l^ängt  ber  roa^re  SiBert,  bie  SQBürbe  auc^  ber 
menfd|lic^en  ©emeinfi^oft.  2KIe  jene  93ejie]^ungen  aber  fitib  nur 
mögti^,  roo  roir  mit  ben  anbern  al§  mit  folgen  oerte^ren  bürfen, 
bie  nid^t  etroa  nur  üon  il^ren  natfirlidien  trieben  getrieben  ober 
burd^  bie  ©efellfc^aftSorbnung  gejäl^mt  fmb,  fonbem  [elbft  ein 
^Pic^tgefefe  für  fid)  anerfennen. 

3)iefe  ftttlid^en  Slnf^auungen  Äantg  l^aben  aber  i^rc  ©tätte 
auc^  auf  bem  33 oben  beg  Sl^riftentumg.  SCBenn  roir  ate 
©tiriften  oon  einem  göttlid)cn  ©ebote  für  unfer  Seben  in  ber 
SQBelt,  oor  aöem  für  unfer  SBer^alten  gegen  ben  Siäc^ftcn  reben, 
fo  liegt  auc^  barin  ber  ®ebante  be§  unbebingten  ©eboteö,  ba^ 
at§  SRegel  nic^t  nur  für  unfer  äu^ercö  ^anbeln,  fonbem  für  um 
ferc  ©efinnung  bafte^t.  3a  aud^  ber  Äantfc^e  ©ebanfe  ber  3lu* 
tonomie  mirb  nid)t  etma  auSgefc^Ioffen  bur^  bie  c^riftlic^e  2:^eo» 
nomie.  Qn  rechter  3Beife  fann  auc^  ber  K^rift  bag  göttliche  ®e* 
bot  nur  erfüllen,  wenn  er  e§  nid^t  aU  ein  frembeä  ®efc^  ftc^ 
auferlegen  lä^t,  fonbem  e§  al§  ein  „®efc^  ber  grei^cit"  felbfl 
frei  anerfennt  unb  ju  feinem  eigenen  ®cfe^  mac^t.  S)arum  ift 
audf)  ber  2: Geologie  für  bie  Darlegung  be8  c^rift(ic^=fittlic^en 
®ebotc§  oon  Kant  eine  roertootte  Slnleitung  gegeben.  —  3)icfc 
®eban!en  aber  ftnb  au^  in  ber  d^riftlid^en  Slpotogetif  be* 
beutfam.  9li(^t  jeber  ®laube  ift  gteic^  gut  ober  gleich  fc^Mt; 
nid^t  auf  bie  jufdUige  fubjeftioe  ®emüt§ftimmung  nur  tommt  e5 
an  bei  ber  5^age,  ob  biefer  ober  jener  ®laube  roa^r  ift.  ©onbem 
oon  entf^eibenbem  ®eit)i(^t  für  bie  Beurteilung  einer  SReligion 
ift  e§,  ob  unb  in  roeli^em  9Jla§  fie  mit  ben  mefentli^en  fittli(^en 
2lnfd)auungen  oerbunben  ober  oon  it)nen  burd^brungen  ift.  9lur 
mo  bie§  ber  gatt  ift,  l^at  mirtlid^e  ®en)iffen8überjeu9ung  i^re 
©tätte.  9tur  barum  fann  aud^  ba§  ®f|riftentum  an  ba§  ©emiffen 
ber  SWenfc^en  appellieren,  meil  in  i^m  bie  ganje  SReligion  —  ber 
®ebante  ®otte§,  feineS  Sleid^eS,  ber  ©rlöfung,  beS  emigm  gebend 
—  fittlidf)  beftimmt  unb  bie  ganje  ©ittlid^teit  auf  bie  ®runbtage 
religiöfen  ®lauben§  geftellt  ift.    S)ie  d|riftlid)e  Slpologetif  loirb  in 


IReifd^le:  ^ant  unb  bie  ^ijeologie  bet  ©egenwart.  379 

biefen  trogen  immer  mteber  an  Äant  fid^  jurcc^tfinbcn  muffen, 
auc^  menn  fie  in  bet  meiteren  SluSffil^rung  anbere  ^a^nen  ein« 
f(^(agen  mu^. 

2.  ©0  oiel  ge^t  fc^on  au§  unferer  ganjen  3)arftcnung  ^er* 
oor^  bag  e§  ftc^  ni^t  um  eine  me^anifd^e  ^anb^abung, 
fonbern  nur  um  eine  freie  Sßermertung  ber  Kantfd^en  ^^i- 
tofop^ic  in  ber  t^eologif(^cn  Slrbeit  ^anbeln  fann.  ^a  nod^  mel^r! 
3n  allen  ben  einjelnen  "^^unften,  bie  mir  al§  mertootl  für  bie 
2:^eologie  auf  jaulten,  werben  mir  fogar  93erid|tigungen  unb 
Serdnbcrungen  an  Kant§  p^llofop^ifd^en  ©ebanten  t)orju=^ 
nehmen  l^aben.  ÜlBir  fönnen  auc^  furj  fagen:  mand^e  9tefte 
oon  2lufMärung§p]^ilofop^ie,  bie  feinem  3)enfen  nod)  anfangen, 
werben  no^  abgeftreift  werben  muffen. 

a)  ©e^en  mir,  wenn  mir  biefe  ©ebanfenlinie  aufnehmen,  bei 
bem  jule^t  befprod^enen  fünfte,  bei  ber  Sittenlel^re  Äant§, 
ein!  ^ant  ^at  ftc^  nid)t  bamit  begnügt  baS  ftttli^e  SBollen  ju 
analgfteren,  ben  in  i^m  leitenben  ©ebanfen  be§  unbebingte.n  Oe« 
boteg  unb  beffen  93ebeutung  für  ba§  g^iftige  fieben  beS  2Jlenfc^en 
feftjufteUcn  unb  baburc^  einen  fritifc^en  SWagftab  für  bie  in  ber 
©ef^id^te  un§  begegnenben  fittli^en  ^beate  }u  'gewinnen;  er  ift 
nic^t  loSgefommcn  Don  bem  93eftrebcn  ber  2luftlärer,  eine  altge* 
meine  SBernunftmoral  nad)  reinen  aSernunftgrunbfäfeen  ju 
fonftruieren.  ©o  ^at  er  ben  —  gewi^  ^ö(^ft  fc^arfpnnigen  — 
aSerfuc^  gemadl)t,  au§  ber  götm  beS  ©ittengefe^e§,  nämli^  au§ 
beffen  93eflimmung  ju  einer  allgemeinen  ©efe^gebung,  ben  ^fnl^ölt 
abjuleiten.  —  9Iber  biefe  auf  logifdiem  SDßeg  cerfuc^te  3lbleitung 
unterliegt  [elbft  mand^en  ©ebenfen;  unb  ber  Qnl^alt,  ber  babci 
^erau§fommt  unb  in  Äantä  „metap^ijftfctien  2lnfang§grünben  ber 
lugenblcfire"  f^ftematifd)  gcorbnet  oorliegt,  ift  rec^t  bünn 
ausgefallen,  Derglid)en  j.  93.  mit  ber  d)riftlic^en  St^if. 

®a§  ift  auc^  fe^r  wo^l  cerftänblic^.  SDcnn  in  SBBa^r^eit  e  r« 
wäc^ft  boc^  alle  in^altDoUe  fittlic^e  ©rfenntniS  im  ge« 
fd|id^tli^en  Seben.  Qnnerl^alb  beö  gefetlfc^aftlidien  3ufam* 
menlebenS  bilben  fic^  mand)erlei  ®üter  unb  Qrotd^,  auf  bie  baS 
©treben  ber  SRenf^en  fic^  rid^tet,  mancherlei  aOSecöfclbejiel^ungen 
ber  gegenfeitigen  görberung  unb  ^emnmug  in  jenem  ©treben. 


380  9leif(4(e:  ftant  unb  bie  3:^eologie  ber  OegenioaTt. 

manc^rlei  Snforberungen,  bie  an  ben  einjelnen  ergeben.  2)iefe§ 
gatije  9RatertaI  loirb  nun  tnner^I6  ber  @efeQfd)aft  nad)  aUge^ 
meinen  ©runbfä^en,  unb  iwax  junäc^ft  beS  9{ec^t§  unb  ber  Sitte, 
georbnet.  3)ie  9{ec^t§gefe^e  unb  bie  @efeOfc^aft§fttte  geben  felbft 
ben  grunblegenben  O^^alt  be§  {tttlic^en  @en)if|en§  ab,  weitere 
ftttli^e  Aufgaben  unb  QxtU  n)a(^fen  no6)  l^inju.  ^fi^renbe  @eifter, 
@efe^geber,  3>i(^ter,  2)enter,  nor  attem  SRetigion^fttfter  greifen 
mit  beftimmenber  äJlac^t  bei  biefer  Silbung  be§  fittü^en  ©e- 
miffenS  mit  ein. 

Aant  ^at  biefen  ^iftorifdien  ^roje^  ber  ®enefi§  unb  $ort» 
bilbung  fittlic^er  (£rfenntni§  teine^megS  uSQig  fiberfe^en.  Sber 
er  ^at  boc^  au§  biefer  (Sinft^t  in  ba§  ^ijlorifd^e  äBerben  be^  @e« 
n)iffen§in^a(te§  nic^t  bie  ooQe  ^on[equen}  gebogen.  @ie  märbe 
lauten:  bie  miffenfc^aftUc^e,  pl^Uofop^ifd^e  @ittenle{)re  mu|  über« 
^aupt  barauf  uerjic^ten,  ein  in^altSooIIeS  fittlic^eS  ^beal  ju  ent- 
werfen ober  ein  Softem  ber  ^i^ten  unb  ^ugenben  gu  entmicteln. 
@ie  fann  wirHic^  nichts  anbereS  (elften,  al§  maS  ^ant  fetbf}  (in 
ber  aSorrebe  jur  Äritif  ber  prattifc^en  93ernunft  ed.  ße^rbac^ 
©.  7  2lnm.)  i^r  olä  Aufgabe  gefteDt  ^at:  fie  ^at  „fein  neue§ 
^rinjip  ber  3Woralitat",  fonbern  nur  „eine  neue  gormel"  auf» 
jufteUen.  „SBer  moQte  aber  auc^  einen  neuen  @runbfa^  aDer 
(Sittlic^teit  einführen  unb  biefe  gleic^fam  juerft  erfinben?  glei^ 
als  ob  oor  i^m  bie  äBelt  in  bem,  xoa^  ^fli^t  fei,  unwiffenb 
ober  im  burd(gängigen  <3rrtum  geroefen  wäre".  3)ie  „neue 
gormcl"  ober,  roie  ic^  lieber  fagen  mochte,  bie  Jötmulierung 
beS  wefentlic^en  QxotdS  unb  @inn§  aütx  ftttU^en  ©ebote,  näm- 
lich ba^  fie  jur  SSerroirfüc^ung  ber  freien  ?ßerfflnlid)teit  unb  ber 
geiftigen  @emeinfd|aft  bienen  foBen  (f.  oben  @.  366),  mag  auc^ 
aU  tritif^er  ä^a^ftab  an  bie  mancherlei  ftttUc^en  ^^beale  angelegt 
rocrben,  bie  in  ber  ©efd^ic^te  aufgetreten  fmb.  9tur  mirb  e5  fic^ 
babei  weniger  um  bie  togifc^e  @rmägung  ^anbeln,  ob  fte  fä^ig 
ftnb,  ju  einer  aQgemeinen  @efe^gebung  ert|oben  gu  werben,  al$ 
um  bie  teIeo(ogifd)e  älbwägung,  ob  unb  wieweit  fte  jenem  S^^^ 
ber  freien  ^erfönUd(feit  unb  ber  geiftigen  ®emeinfct)aft  entfpre»^ 
d|enb  fmb.  9In  biefem  9J2agftab  mag  au^  baS  fttttic^e  3beal  be§ 
S^riftentumS  gemeffen  werben.    3tbcr  wenn  biefe  Prüfung  ju  bem 


iHeif  d)(e:  ^ant  unb  bte  ^^eologie  ber  ©egentoart.  381 

3irf  fü^tt  baß  in  il^m  ba§  roal)re  „^rinjip  ber  9Woralttät"  un§ 
fd)on  gegeben  ift,  wie  bieg  bei  Äant  ber  gaß  ift,  fo  fotlte  bie 
p^itofop^ifc^e  ©ittente^re  ber  d^rift  liefen  ©ittenlel)re  bie  2luf- 
gabe  überantworten,  biefeS  d^riftlid)*ftttli^e  ^beal  in  feinem  Qn-- 
fammcn^ang  mit  bem  c^riftlic^en  ©tauben  barjulegen,  unb  foHte 
auf  ben  SSerfud^  ber  Sttufflärer  oerjic^ten,  eine  „allgemeine  SBer* 
nunftmoral"  ju  entmictcin.  9Kad|t  fie  i^n  bennod),  fo  muß  biefe 
ocmimftige  9WoraI  fi^  notroenbig  neben  bem  d^riftlid^en  @itt(i(^- 
feitSibeat  re^t  bürftig  au^nc^men.  Unb  nic^t  nur  ba§!  SSSenn 
ba§  fittlic^e  ^beal,  ^erauSgelöft  au§  feinem  religiöfen  3ufammen* 
l^ang,  rein  nac^  SSernunftgrunbfä^en  fonftruiert  mirb,  fo  fann  in 
i^m  aud)  bie  9Äotioation^f raft,  bie  bie  d)riftti(i)e  ©tl^if  au^ 
jenem  religiöfen  3iifö"^w^^^^^ö"9  fc^öpft,  nid)t  jur  ©ettung  fom* 
men.  3^ne§  Qbeal  erfd^eint  nur  in  ®eftalt  be§  reinen  @efe^e§^ 
ba§  feine  unbebingte  gorberung  an  ben  SWenfc^en  [teilt,  aber  il^m 
!eine  Äraft  jur  Erfüllung  ju  geben  oermag. 

b)  S:amit  fmb  mir  fc^on  jubem  j weiten  5ßuntt  gelangt, 
on  bem  ein  SRangel  ber  Kantfc^en  $f)ilofopl^ie,  unb  jmar  ber 
für  bie  S^eologen  bebeutfamfte,  fic^tbar  mirb.  2)en  ©lauben 
ober  bie  SReligion  l^at  Äant  roeber  nad^  Qf^l^att  nod[)  2lrt 
befriebigenb  ju  beftimmen  oermoc^t. 

©benfo  wie  er  im  ©inn  ber  Sluftlärung  eine  Sßernunftmoral 
au^fü^rte,  oerfuc^te  er  eine  allgemein  oernünftige  ^Religion  mit 
i^rem  3»n^alt  oon  ©lauben§le^ren  ju  gewinnen  unb  biefeu  „in^^ 
mxi)alb  ber  ©renjen  ber  bloßen  Sßernunft"  erreid)baren  9ie(igion§- 
in^alt  barjulegen.  3lud)  biefer  aber  nimmt  fid|,  ebenfo  wie  ber 
^[n^alt  ber  Sßernunftmoral,  neben  bem  ber  mirfUcIien  SReligionen, 
befonberS  ber  c^riftlid^en,  rec^t  bürftig  an^,  \a  er  ift  im  ©ruube 
nichts  anbere§  al§  eine  tritifdt)e  9iebuftion  be§  c^rifttii^en  ©lau= 
ben§.  —  ^tmx  SSerfudf)  mar  aber  oon  oorn^erein  oerfe^lt.  2)ie 
SReligion  ift  nic^t  ein  ^robutt  be§  oernünftigen  ®enfen§,  ba§  au§ 
ber  aKen  TOenf^en  gemeinfameu  praftifc^en  95ernunft  fic^  ent* 
mideln  ließe,  ©ic  märf)ft  oielmel^r  in  ber  menfd)licl)en  ©efd)id^te 
unb  ©emeinfc^aft  tieroor.  Unb  smar  wirft  in  ben  l)5t|eren  SRe* 
ligionen  ba§  gefd|id)tUd)e  Seben  felbft,  mit  feinen  für  ba§  @e« 
beiden  ber  Sßölter  gewid)tigen  ©reigniffcn,  mit  feinem  ©intreten 


382  üieifd^le:  ^ant  unb  bte  ^^eologie  ber  Gegenwart 

oon  großen  SWännem,  »or  aScm  oon  fü^rcnbcn  fittltd^cn  unb  rcK« 
giöfcn  5ßcrfönlid)feitcn,  bcftimmcnb  auf  bcn  ^rH)alt  be§  rdigiöfen 
@(auben§  ein.  3enc8  ftctS  roeitcrfd)reitcnbc  gcfc^ic^tUd^e  Scben 
lägt  fid)  aber  ni^t  nacf)  aUgemeinen  93ernunftgrunbfä|en  ableiten, 
barum  auc^  ni(^t  ber  fontrete  3nl^<ilt  ber  9ieIigion,  ber  burc^  bie 
©efc^ic^te  bcftimmt  ift.  9^ur  roer  biefcn  au§  ber  ©efc^i^te  ftam* 
menben  ^n^alt  ber  9ieIigion,  auc^  be§  @^rtftentum§,  al§  )ufdl< 
ligeg  SBeiroerf,  aU  blogeS  ^introbuftionSmittel  anfielet  unb  abtut, 
fann  e§  untemetimen,  eine  „attgemeine  SSernunftreligion"  mit 
ifirem  Qn^alt  oon  aSernunftbogmen  gu  geftalten.  ®a|  aber  bei 
Äant  jene  aSorau§fe^ung  jutraf,  m.  a.  SD8.,  bag  er  in  feiner  3tuf* 
faffung  ber  SReligion  be§  gefd)i^tlic^en  ©innS  ermangelte,  erfann= 
ten  mx  fc^on  oben  (©.  360  f.)  al§  etroaS,  xoaB  er  mit  ber  Auf* 
flärung  gemeinfam  l^atte.  5Rur  ba^er  feine  öemü^ungen  um  ben 
Sttufbau  einer  ocrnünftigen  SReHgion§leI)re !  —  SGBirb  bagegen  an« 
ertannt,  bag  bie  SReligion  mit  SRed^t  au§  ber  ©efc^idjte  i^re  6r« 
fenntniiS  beS  göttlichen  äßillen^  f<4Spft  fo  n^ug  auc^  auf  jenei 
93emüt|en  oerjid^tet  merben.  S)ie  9lufgabe  ber  „pl^ilofop^ifc^n 
SieligionSte^re"  ober,  mie  mir  fagen,  SReligionSp^ilofop^ie 
bleibt  e§  bann  nur,  ba$  in  ber  ©ef^id^te  gemorbene  religiofe  £eben 
}u  analrifieren  unb  bie  in  i^m  leitenben  formalen  ^been  ober 
grageftellungcn  ^erau^juarbeiten,  bie  Sntroirftung  felbft,  näm« 
lic^  bie  in  i^r  roirffamen  allgemeinen  aWotioe  unb  in  i^r  ertenn« 
baren  ©tufen,  ju  erforfd^en,  enblic^  ben  ©inn  unb  SSBert  ber  5Re= 
ligion  für  ba§  geiftige  Seben  be§  aWenfdien  unb  ber  9Renf(^l^eit 
ju  oerbeutlic^en,  unb  barauS  momoglid^  einen  aJl  a  g  ft  a  b  jur  Se« 
urteilung  ber  einjclnen  gefd)i^tlid)en  9teligionen  }u  ergeben. 

Slber  gerabe  bei  biefen  religionSgef^ic^tlic^en  Unterfuc^ungen 
ftetlt  fid)  ^crau§,  bag  Äant  auc^  bie  2lrt  be§  religiöfen  £e« 
ben§  nid)t  ooHftänbig  erfaßt  l^at,  wenn  er  bie  @laubeu8fä|e  burc^ 
ben  ©egriff  be§  fittlid)en  ^oftulate§  bejeic^net.  3^ar  ift  fo* 
üiel  unleugbar,  bag  ein  vidjtiger  ®laube  in  ber  Zat  bie  33e* 
f riebigung  be§  tief ften  fittlid)en  S3ebürfniffe§  mu|  geben  (S.  378  f.) 
unb  eine  fclbftänbige  ©emiffen^überjeugung  (©.  374  f.)  m\\% 
fein  fönnen.  2lber  eine  fd^iefe  SBenbung  bringt  ber  ?ßoftu« 
latSbegriff  infofern  t)erein,  al§  bur^  i^n  ba8  fittlic^e  9emu|tfein 


^ieifc^Ie:  ^ant  unb  bte  ^^eologte  ber  ©egetttioart.  383 

fclbft  ju  bcr  bcn  (Slauben  ^eroorbrinflenbcn  fd^öpferifc^cn  9Wad|t 
erhoben  roirb.  —  ®arin  liegt  einmal  eine  innere  ©^roievig* 
feit.  3)em  fittlic^  ftrebenben  9)lenfc^en  roirb  jugemutet,  au§  ber 
Äraft  feines  ftttlic^en  ©trebenS  bie  Ueberjeugung  t)on  @ott  unb 
einer  fittli^en  SBBeltorbnung  ^eroorjubringen.  ®r  foB  bie  ©teßung 
einnehmen :  fo  xoat)v,  als  ic^  ein  fittlidieS  Qkl  mir  ftecf e  unb  nid)t 
barauf  oerjici^ten  miß,  mu§  ein  ®ott  fein,  ber  bie  SBett  einem 
fittlic^en  ©nbjroed  entgegenfü^rt!  2lber  mic  nun,  roenn  burc^  ben 
übermächtigen  Sinbrud  beS  naturgefe^lid^en  i?aufS  bcr  S)inge  jenes 
^oftulat  uns  roantenb  gemacht  mirb?  Scheint  bocf)  baS  9iatur* 
gefc^e^en  gleichgültig  ju  fein  gegen  bie  fittlic^en  QitU  ber  3Ren» 
f^en,  inbem  eS  bem  Slugenfc^eine  nad|  auc^  bie  3lec!^tfc^affenen, 
„bie  ba  glauben  tonnten,  @nbjmcc!  ber  ©d^öpfung  ju  fein,  in  ben 
@(^lunb  beS  jmecflofen  ß^aoS  ber  SWaterie  jurüdmirft,  auS  bem 
ftc  gejogen  maren"  (Ar.  ber  Urteilskraft,  ed.  Jlel^rbad^  ©.  350). 
©ollen  mir  in  folcl)en  3w^if^Iii  ^^^^  "u^  baburd^,  ba^  mir  felbft 
uns  ju  neuer  moralifc^er  (Sefinnung  aufraffen,  baS  oerlorene  ^o* 
ftulat  uns  mieber  erobern?  2lber  bie  moratifd^e  Oefinnung  mirb 
ja  burd^  jeneS  SBanfen  beS  fitlli^en  ©laubenS  felbft  fd)on  einen 
Slbbrud^  erleiben!  SBir  fotlen  alfo  biefen  auf  jene  grünben!  unb 
boc^  ift  jene  felbft  mieber  oon  biefcm  abhängig!  3)aS  ift  bie  in« 
nere  9lot,  in  bie  ber  ganje  5ßoftulatSftanbpunft  l^ineinfül^rt.  2lber 
ju  biefer  inneren  ©cfimierigteit  tritt  meiter  bie  93eobad)tung, 
ba§  im  mirtlicl)en  gef^idf)tlict)en  fieben  ber  religiöfe 
®laube  boc^  nic^t  als  ^oftulat  auftritt.  SefonberS  ber  c^riftlid)e 
®laube  l^at  einen  ganj  anbern  K^arafter:  er  ift  nic^t  träftigeS, 
tüIineS  kopulieren  beS  feiner  fittli^en  93eftimmung  bemühten 
9Jlenfd^en,  fonbern  ein  üertrauenbeS  ©id)^ingeben  an  ein  unS  ent« 
gegenfommenbeS  äBirfen  ©otteS.  2)er  S^rift  fd^aut  innerl)alb 
ber  menfd^li^en  ©efd^id^te  in  bem  ^erfonleben  3f^fu  ®t)rifti  unb 
in  bem  oon  i^m  auSgei^enben  ©eifteSmirten  bie  il^n  erlöfenbe  SBBirf * 
famleit  ®otteS,  bie  x^P*^  '^^^  Ssoö,  atdvt^pio;  izotoiy  äyd-pünoig, 
7ra:5e6ouaa  T^pta?,  unb  mirb  im  SBer trauen  ju  i^r  ber  SBirt« 
tief) feit  beS  erlöfenben  ®otteS  inne.  Unb  and)  in  ben  anbern 
Sfleligionen  ift  ber  ®laube  ein  gü^len  unb  ginben  ®otteS  auf 
@runb  irgenb   melcl)er  ©rmeifungen  ober  Offenbarungen,  bie  bem 


382  dleifd^le:  ^ant  unb  bte  ^^eotogie  ber  ©egenioart 

T)on  groJBcn  9Wänncrn,  cor  afiem  oon  fü^renbcn  ftttttc^en  unb  rcli« 
giöfcn  ^erfönlid^teitcn,  beflimmcnb  auf  bcn  ^^n^alt  bc§  reügiöfen 
®Iaubcn§  ein.  3enc§  ftct§  lüeitcrfcftrcitcnbc  gefc^ic^tlic^e  Scbcn 
lä^t  ftd)  aber  nic^t  naä)  aUgemeinen  93ernutiftgrutibfä^en  ableiten, 
barum  aud)  nid)t  ber  fontrete  Qn^alt  ber  SReligion,  ber  burd^  bic 
©efc^ic^te  beftimmt  ift.  9lur  wer  biefen  au8  ber  ®efd)ic^te  ftam* 
ntcnben  Qn^alt  ber  SReligion,  aud^  beS  ®^riftentum8,  ate  jufäl* 
lige§  93ein)erf,  ate  blo^eS  ^ntrobuItionSmittel  anfiet|t  nnb  abtut 
fann  e§  untemel^men,  eine  „attgemeine  SBernunftretigion"  mit 
if)rem  On^ialt  pon  SBernunftbogmen  ju  geftalten.  2)a§  aber  bei 
Kant  jene  93orau§fe^ung  jutraf,  m.  a.  SD8.,  ba§  er  in  feiner  Stuf^ 
faffung  ber  SReligion  be§  gefd)i^tfi(^en  ©inn8  ermangelte,  crfann= 
ten  n)ir  fd^on  oben  (©.  360  f.)  aU  etma§,  maS  er  mit  ber  auf* 
{(ärung  gemeinfam  ^atte.  9lur  ba^er  feine  ^emfil^ungen  um  beit 
Stuf  bau  einer  pernünftigen  SHeligionSle^re!  —  SBirb  bagegen  an* 
ertannt,  ba&  bie  SReligion  mit  5Red^t  au8  ber  ®efc^id)te  i^rc  @r« 
fenntni^  be§  göttlichen  9ßillen§  f^öpft,  fo  mug  auc^  auf  jeneS 
93emül|en  uerjic^tet  merben.  ®ie  Slufgabe  ber  „p^ilofop^if^en 
SReltgionälel^re"  ober,  wie  mir  fagen,  SReligionSp^ilofop^ie 
bleibt  e§  bann  nur,  ba§  in  ber  ®ef(^ici^te  geworbene  retigiöfe  £eben 
ju  anaigfieren  unb  bie  in  i^m  leitenben  formalen  Qbeen  ober 
$ragefte((ungen  herauszuarbeiten,  bie  ®ntmicflung  felbfl,  nöm^ 
li^  bie  in  if|r  mirtfamen  aOgemeinen  9)lotioe  unb  in  i^r  ertenn^ 
baren  ©tufen,  ju  erforf(^en,  enbli^  ben  ©inn  unbSD8ert  ber  Sic* 
ligion  für  ba§  geiftige  Seben  be§  3Jlenfd)en  unb  ber  9Renfc^l^eit 
}u  oerbeutlic^en,  unb  barau§  momögtid^  einen  äß  a  ^  ft  a  b  }ur  SBe< 
urteilung  ber  einjcinen  gefcl^icl)tlid)en  JReligionen  ju  ergeben. 

^ber  gerabe  bei  biefen  reIigion§gef^ic^tti(^en  Unterfuc^ungen 
ftctlt  fid)  t|erau§,  ba§  Äant  aud^  bie  2lrt  be8  retigiöfen  Se* 
ben§  nirfjt  t)oßftänbig  erfaßt  ^at,  menn  er  bie  ®Iauben§fä§e  bur^ 
ben  Segriff  be§  fittlicl)en  ^oftuIateS  bejeic^net.  Qxoax  ift  fo* 
üiet  unleugbar,  ba§  ein  richtiger  ®laube  in  ber  S^at  bie  ©e* 
friebigung  be§  tief ften  fittlic^en  SSebürfniffeS  mu§  geben  (©.  378  f.) 
unb  eine  fclbftänbige  ©emiffenSüberjeugung  (©.  374  f.)  mu| 
fein  fönnen.  3lber  eine  fd)iefe  äBenbung  bringt  ber  ^oftu* 
latSbegriff  infofern  f)erein,  als  burdi  it)n  baS  fittlic^e  33emu|tfein 


dleif^le:  ^ant  unb  bte  ^^eologie  ber  ©egeniDatt  383 

jcfbft  }u  ber  bcn  ®Iauben  ^croorbrincienbcn  fd^öpfcrifdien  SWad^t 
crt)obcn  roirb.  —- 3)arin  liegt  einmal  eine  innere  ©c^roierig^ 
feit.  ®em  fittlic^  ftrebenben  3)lenfc^en  roirb  jugemutet,  au§  ber 
Kraft  feinet  ftttlid^en  ©trebenS  bie  Ueberjeugung  üon  @ott  unb 
einer  ftttlic^en  SBeltorbnung  ^eroorjubringen.  (Sr  foB  bie  ©tettung 
einnehmen :  fo  roal^r,  ate  ic^  ein  fitttic^e§  Qkl  mir  ftecf e  unb  nic^t 
barauf  Derjid^ten  miH,  mug  ein  @ott  fein,  ber  bie  SBelt  einem 
fittlic^en  ©nbjmecf  entgegenfü^tt!  Slber  mie  nun,  menn  bur^  ben 
übermä^tigen  ©inbrudt  be§  naturgefe^li^en  iJauf§  ber  3)tnge  j|ene§ 
ißoftulat  un§  roanfenb  gemacht  wirb?  ©d^eint  borf)  ba§  9latur* 
gefdie^en  gleichgültig  ju  fein  gegen  bie  fttttic^en  Qkk  ber  ^Slzn^ 
fd)en,  inbem  e§  bem  2lugenfc^eine  nad^  au^  bie  9ied^tfd)affenen, 
„bie  ba  glauben  tonnten,  ^nbjmecf  ber  ©c^öpfung  ju  fein,  in  ben 
©d^tunb  beS  jmedtlofen  ®]^ao§  ber  SWaterie  jurfidmirft,  au§  bem 
fte  gejogen  maren"  (Ar.  ber  Urteil§!raft,  ed.  Jle^rbad^  ©.  350), 
©ollen  mir  in  folgen  3"^^if^t"  ^^"^  ^^^  baburd^,  ba§  mir  fclbft 
un§  JU  neuer  moralifc^er  ©efmnung  aufraffen,  ba§  oerlorene  ^o» 
ftulat  uns  mieber  erobern?  Slber  bie  moralifc^e  ©efmnung  mirb 
ja  bur^  jene§  SEBanfen  be§  fittlidien  ®lauben§  felbft  fc^on  einen 
9tbbru(^  erleiben!  SBir  foHen  alfo  biefen  auf  jene  grünben!  unb 
boc^  ift  jene  felbft  mieber  oon  biefem  abl^ängig!  ^a§  ift  bie  in« 
nere  9lot,  in  bie  ber  ganje  ?ßoftulatgftanbpuntt  hineinführt.  Slber 
ju  biefer  inneren  ©c^mierigfcit  tritt  meiter  bie  93eobad)tung, 
bag  im  mirtlt^en  gefc^idjtlidjen  fieben  ber  religiöfe 
©laube  boc^  nic^t  al§  ^oftulat  auftritt.  93efonber§  ber  c^rifttic^e 
®laube  l^at  einen  ganj  anbern  (S^aratter:  er  ift  nid^t  fräftigeS, 
fü^ne§  ^ßoflulieren  be§  feiner  fittlic^en  öeftimmung  bemühten 
SJlenfd^en,  fonbem  ein  oertrauenbeS  ©ic^^ingeben  an  ein  un§  ent* 
gegenfommenbeS  SBirfen  @otte§.  ®er  S^rift  fc^aut  innerhalb 
ber  menf^li^en  ©efc^ic^te  in  bem  ^erfonleben  ^efu  ©Ijrifti  unb 
in  bem  t)on  i^m  auSge^enben  ©eifte§mir!en  bie  il^n  erlöfenbe  SBBirt 
fam!eit  ©otteS,  bie  x^P^^  '^ou  fleoö,  awnf^pto;  ttägcv  av9-pd)7coi;, 
TZ(xiSex)o\}<jx  T^|iä?,  unb  mirb  im  Vertrauen  ju  i^r  ber  SBirt- 
lirf)teit  be§  erlöfenben  ©otte§  inne.  Unb  au(^  in  ben  anbern 
SReligionen  ift  ber  ©laube  ein  gü^len  unb  fjinben  ©otte§  auf 
©runb  irgenb   meld)er  ©rroeifungen  ober  Offenbarungen,  bie  bem 


384  [Reif  (f|le:  ^ant  unb  bte  ^^eologie  ber  ©egentoart 

aWcnfd^en  a(§  göttliche  fid^  aufbrängcn. 

Slnbcrc  3)cnfcr,  bic  ber  Slufflärung  freier  gegenübcrftanben 
unb  bie  burd^  unfere  beutfc^en  Älaffiter,  befonberS  burd^  ^erber, 
gelernt  t)atten,  fic^  inniger  in  gefc^ic^tli^eS  ficben  ^ineinjuleben, 
mußten  fommen^  um  biefe  SKrt  beg  religiöfen  ®Iauben§  jur  pl^i* 
lofopljif^en  Rlarl^eit  ju  bringen.  93efonber§  ©c^Ieiermadier 
roax  baju  berufen.  Äant  ffird^tete,  bafe,  foroie  man  ben  Olauben 
nic^t  rein  auf  baS  fittlid^e  ®enfen  begrunbe,  fonbern  i^n  on  eine 
ertennbare  Offenbarung  @otte§  roeife,  man  in  einen  unfontrolüer* 
baren  9K9ftiji§mu§  gerate,  in  ©ebanfen  oon  mirMic^en  unb  boc^ 
nic^t  finnüd^en  2lnfci^auungen,  etma  beS  unfi^tbaren  9leic^e§  ®otte§. 
SBei  foId|en  „überfinnlic^en  2lnfc^auungen"  aber  bad)te  er  fogleid^ 
an  Ueberfd^mängliditeiten  mie  bie  üon  ©roebenborg,  ber  mit  ber 
Oabe  eine§  9lnfd)auen§  ber  ^immel§melt  begnabet  ju  fein  meinte 
(ügl.  j.  93.  Sr.  ber  pr.  Vernunft  ed.  Se^rbac^  ©.  86  f.).  Unb 
boc^  ift  ein  Srtenneu  ®otte§  in  feiner  Offenbarung  möglich,  ba§ 
burd)au§  nic^t§  Sc^märmerifc^eS  an  fic^  ^at.  ^m  S^riftentum 
ricf)tet  e§  fid^  auf  gefc^ic^tlid^e  ®rö^en,  bie  ber  6rf(^einung§roeU 
angel^ören,  auf  ^z\\xm  Stiriftum  unb  fein  äBirfen;  bur^  bicfe 
@röj3en  wirb  bem  9Wenfd|en,  in  bem  baS  fittlid^e  ©eroiffen  rege 
mirb,  ba§  Urteil  abgenötigt,  ba§  er  l^ier  einem  g6ttlid)en  938erte 
gegenüberfte^e.  Unb  über  biefe§  Urteil  lä^t  fi^,  gerabe  weil  es 
nid[)t  nur  bur^  unbeftimmte  ®efüt)l§einbrfidfe  l^eroorgerufen,  fon* 
bevn  in  bem  fittlidt)en  SUlenfc^en  lebenbig  mirb,  aud)  Stechen« 
fii)aft  uor  anberen  ablegen. 

SBer  aber  in  bem  auf  unfer  fittlid)e§  ®en)iffen  roirtenben 
©eifte  O^fu  ®f)rifti  bie  Offenbarung  ®otte§  er!ennt,  für  ben  wirb 
and)  ber  :3nt|alt  be§  ®otte§gtaubenS  ein  Diel  rei(f)erer  ai§ 
für  Sant.  @r  ^ält  fic^  nicf)t  nur  an  ben  ^eiligen  ®efe^geber,  ben 
allmeifen  unb  gütigen  SRegierer,  ben  geredeten  9tid[|ter,  fonbern  an 
ben  un§  erlöfenben  unb  erjiel^enben  ®ott,  ber  in  ber  ®efc^i^te, 
bcfonberS  in  ;3efu  ß^rifto,  unb  in  unferm  eigenen  fieben  mit  un§ 
^anbelt. 

c)  S)arin,  ba^  ^ant  für  ben  ®Iauben  SRaum  gefc^affen  ^at 
burc^  feine  @rfenntni§begrenjung,  erblidEen  mir,  mie  mir 
fc^on  frütier  (@.  371  ff.)  au^gefü^rt  l^aben,  eine  feiner  roertooBjieii 


91  e  i  f  c^  ( e :  $tant  unb  bie  ^^eologie  ber  @egenn)art.  885 

Sciftungcn  für  bie  S^cologie.  Slbcr  ift  nic^t  oud)  in  biefem  ©türf 
fein  ©rgcbniö  ju  mobifijiercn?  —  3^mmcr  roicbcr  crt|cbt  fic^  bie 
Slage,  bQ§  bei  Äant  ein  „fc^roffer  2)uali§mu§"  Dovliege 
jroif^en  tl^eoretifd^cr  unb  prattifc^er  SBernunft  jmifc^en  ber  2Bett 
ber  SBiffenfd^aft  mit  i^rer  naturgefe^Iic^en  Orbnung  unb  ber  fitt* 
liefen  aSBelt  mit  i^rer  grei^eit.  3)ie  ©c^roffl^eit  biefer  ©egen- 
überftellung  ertlärt  fid)  barau§,  ba^  Jlant  bei  feiner  SBeftimmung 
beffen,  xoa§  SBBiffenfc^aft  ift,  ganj  lüefentlic^  oon  bem  ©ebanfen 
an  bie  matt|ematifci^^med)anifd)e  Sioturmiffenfci^aft  geleitet  ift. 
SJaju  bilben  ja  in  ber  2^at  bie  fittlid^en  2Infcl)auungen  einen  fcl)arfen 
©egenfa^,  ber  nur  baburd^  erträglid)  wirb,  ba^  jene  SBelt  ber 
9laturn)iffenfc^aft  jur  bloßen  ©rfc^einungSmelt  ^erabgefe^t  ift. 

2l6er  fo  berei^tigt  e§  ift,  ba^  Sont  bie  beiben  Sftreme  be§ 
naturn)iffenfd)aftlic^en  (£rtennen§  unb  be§  ftttlicl)en  ®enfen§  fd)arf 
miteinanber  fontraftiert,  fo  bürfen  mir  bod)  nid)t  überfcljen,  ba§ 
aRittelglieber  jmifd^en  i^nen  beftefien.  2tuf  eine§  biefer  93inbe* 
glieber  ^at  Kant  felbft  I)ingeroiefen.  S)ie  9taturmiffenfd|aft  fuc^t 
jroar  alle  Sßorgänge  ber  5iatur  nad)  matf)ematifd)'bere^enbaren 
©efe^en  ju  erHären,  aber  fd)on  fie  fann  bei  ber  mec^anifi^en  Stuf^ 
faffung  nic^t  fte^en  bleiben.  Sluf  bem  gangen  @ebiet.be§  orga* 
nif^en  Seben§  tann  fie  ben  3n>^rf9«i>önf^n  nic^t  entbehren, 
ber  im  Segriff  be§  Organismus  felbft  entlialten  ift.  9iur  roenn 
fie  ben  3tt^^^9^^ö"fß»  menigftenS  als  einen  regulatioen  93egriff 
onroenbet,  tann  fie  biefeS  ganje  ®ebiet  für  unfer  ®rfennen  orb* 
neu.  —  SCBeniger  t(at  bagegen  Sant  feine  2lufmer!famfeit  auf  bie 
©eifteS*  unb  ©ef^ic^tSroiffenfdjaften  gelentt.  3lber  ge* 
rabe  in  i^nen  ^aben  mir  ein  ©ebiet,  auf  bem  mit  ber  mat^ema* 
tif^*naturmiffenf(i^aftlic^cn  ®r!lärung  nod^  meniger  auSjutommen 
ift.  ©in  ganj  anbereS  SSerfal^ren  mu^  t)ier  angeroenbet  merben :  baS 
©ic^l^ineinleben  in  baS  gefd)id)tlid)e  2tbzn  ift  grunblegenb  für  bie 
gef^ic^tlic^e  SBiffenfc^aft;  unb  nur  burc^  baS  SBejietien  ber  ge* 
fc^ic^tlic^en  SBorgänge  auf  SBerte,  bie  aud)  unS  nod)  als  folc^e 
oerftanbti(^  ftnb,  ift  eine  3luSroa^t  beS  „gefd)id)tlic^en"  ©toffS, 
ein  roirflid^eS  SSerftetien  feiner  93ebeutung  unb  ein  überfic^tlic^eS 
Orbnen  ber  uermorrenen  93emegungen  möglic^.  —  Üld)ten  mir  auf 
biefe  93erfc^iebent)eit  ber  SEßiffenfc^aftSgebiete,  fo  erhalten  mir  nid)t 


386  9leif  (^le:  ^ant  unb  bie  X^eologie  ber  Oegentoart. 

ben  fc^arfcn  @ct)nitt  jroifc^en  t^eorctifd^cr  unb  praftifc^cr  SBcmunft, 
beu  Sant  gemacht  f)at,  fonbern  eine  ©tufenleiter,  bie  pon 
bev  mat^ematifd)cn  ®rfenntni§  ber  9^atur  jur  Betrachtung  ber 
ovganifc^en  9iatur  mit  if)ren  Jtaturjroeden,  oon  ha  jur  (Srfennt* 
ni§  be8  geiftig*gef(^i^tUd|en  ScbenS  unb  enblic^  jur  fittlic^  be* 
grünbeten  ®(auben§ertenntni^  ^inanfteigt.  a3ei  biefer  Stufenleiter 
roirb  aber  bod^  bie  Unterfc^eibuug  jn^if^en  bem  auf  ber  9{ötigung 
ber  SDBaI)rne]^mung  unb  be§  3)enteng  beru^enben  tl^eoretifc^en  (Jr* 
tennen  unb  in)ifc^en  bem  auf  SBertungen  ru^enben  praftifc^en 
SBernunfterfennen  nic^t  einfach  aufgehoben.  Sßietme^r  gerabe  ba» 
burd)  wirb  jene  (Stufenleiter  l^ergeftellt^  bag  in  ber  ®r!enntni§* 
tätigfeit  in  f ortfc^reitenbem  3Ra^  bie  SBBertbeurteilung  aufgenommen 
lüirb.  —  3)amit  aber  fteüt  fid^  aud^  bie  ©laubenSertennt» 
ni§  anberS  bar  aU  bei  ^ant:  fie  ift  nic^t  etmaS  plö^Iic^  unb 
jufammenf)ang(o§  ©intretenbei»^  fonbern  fie  ift  ber  frönenbe 
2(  b  f  d^  l  u  ^  für  jene  Stufenleiter  beS  ®rfennen^.  ©cfton  bie 
unteren  ©tufen  meifen  l^in  auf  jene  ßufönimenfaffung  in  einer 
^()d)ften  ©in^eit. 

®amit  erfiebt  fld^  aber  jugleic^  au^  ber  unabmei^bare  93er« 
fucf),  eine  einl^ei  tlic^e  SBeltanf  d^auung  in  ber  SEBeifc 
SU  geft alten,  ba^  bie  @rfenntni§  ber  unbelebten  unb  belebten 
9{atur,  fomie  be§  gef^id^tlid^en  £ebenS  ber  @(auben§er!enntni§ 
unter*  unb  eingeorbnet  mirb.  2In  oielen  fünften  jmar  roirb  biefe 
älufgabe  immer  unlösbar  bleiben:  e§  gibt  oiele  S^atfac^en  in  Dk- 
tur  unb  ©efc^ic^te,  angefid^tS  beren  mir  auf  ein  birefteö  teleolo« 
gi)(^e§  Serfte^en  im  3ufcimmcn^ang  unfereS  ©laubenö  oerjic^ten 
muffen,  Dielmel^r  un§  nur  au§  ber  ftarren  SBelt  ber  SDlaffen  unb 
au§  ber  Unerbittlic^feit  be§  fiaufS  ber  ©efc^ic^te  burd)  ein  !ü^ne§ 
S)ennod^,  ba§  boc^  nic^t  unfere  Sat,  fonbern  burc^  begeiftembe 
Offenbarung  gemedft  ift,  in  bie  ©elt  be8  ©laubcnS  ju  flüchten 
permögen.  —  2l6er  an  anbern  ^^ßunften  Ia§t  fic^  boc^  bie  9latur* 
unb  ®efd)id^t§n)elt  a(S  äRittel  für  @otteiS  (£nb» 
j  m  e  dt  oerfte^en.  3)a^cr  ber  immer  roieber  fid)  emeuernbe  9Jer* 
f ud),  in  einer  ©pef ulation  biefe  Einfügung  ber  SBelt  in  ben  ^öc^ften 
göttlid^en  (Snbjmedt  barjulegen!  Unb  ermutigt  unS  baju  nic^t 
Sant  felbft,  menn  er  ber  ^^gfifot^eologie  i^ren  9(6fci^Iu^  in 


d^etfd^le:  ^attt  unb  bie  Z^zoIoqxz  ber  (^egenroart.  387 

bet  ©t^itot^eologic  Derl^ci^t  (ogl.  bcn  Stn^ang  juv  „Sritif  ber 
Urteiföfraft")?  ©prid)t  er  boc^  fogar  felbft  bie  ftitte  Hoffnung 
au§,  „e§  oieüeic^t  bcrcinft  bi§  jur  ©infi^t  ber  ©tn^elt  bc§  ganjen 
reinen  aSemunföücrmögen^  (be§  t^eoretifc^en  foroo^l  al§  pxah 
tifc^en)  bringen  unb  alleS  au§  einem  ^rinjip  ableiten  ju  fön* 
nen ;  n)eld)e§  baS  unüermeiblic^e  93ebürfni§  ber  menfdjli^en  SBer* 
nunft  ift  bie  nur  in  einer  nottftänbig  fqftematifdien  ©in^eit  i^rcr 
Srtenntniffe  oöHige  3wfrieben^eit  finbet"  (Rr.  ber  px.  SSernunft 
ed.  Äe^rbac^  @.  110).  —  Slber  im  üorauS  lä^t  fic^  au§  Äant^ 
ganjer  3lrbeit  entnetimen,  ba^  biefe  ©pefulation  nid)t, 
mie  ^egel  meinte,  eine  rein  logifd^e  Sntmicflung  ber  3Beltibee  fein 
fann,  fonbern  ein  Don  3Bertungen  getragenes  SOßeltoerftänbuiS, 
ba^fte,  mit  einem  2Bort,  eine  ©pef  ulation  be§  (Slaubens 
fein  mug.  95erfuc^e  einer  folc^en  fmb  in  feiner  3Beife  gu  oer* 
bieten,  menn  fie  ftc^  nur  flare  Mec^enfc^aft  geben  über  bie  ^^ro- 
uenienj  ber  ^Optionen,  non  benen  fie  ausgeben,  unb  ftc^  tritifc^ 
i^rer  ©renjen  bemüht  bleiben.  ©eibe§  aber  leiert  unS  fein  an* 
berer  fo  mie  Sant. 

3.  ©ine  nic^t  geringe  3^^^  ^^n  ^^unften  t|at  fid)  un§ 
ergeben,  in  benen  bie  S^eologie  über  Haut  t|inau§ftrebt  unb 
in  benen  in  ber  3;at  eine  SWobififation  ber  Äantfd)en  ^i)u 
lofop^ie  notmenbig  erfc^eint.  Unb  boc^!  gerabe  ba§,  maS  mir 
jule^t  befproc^en,  l^at  uu§  baran  erinnert,  mie  häufig  J^ant 
f  e  l  b  ft  mit  bem  9teic^tum  feiner  ©ebanfen,  ber  ju  gro^  mar,  um 
überall  jur  oöUigen  3ufommenftimmung  gebrad)t  merbcn  ju  fön« 
nen,  un§  gemiffe  91  n beutungen  gibt,  in  mefc^er  9tic^tung 
mir  über  il^n  felbft  t)inau§juge^en  l)aben.  —  Unb  in  einem  nod) 
umfaffenberen  Sinn  fönnen  mir  fagen:  bei  aQer  greil^eit  Kant 
gegenüber  galten  mir  un§  hoi)  ftetg  auf  feinem  93oben. 
^ätte  er,  in  ber  SDBeife  be§  2lriftoteIe§,  ein  ©i)ftem  ber  ®ott= 
aBelt*^f)itofopt)ie  entmorfen,  fo  müßten  aud)  bei  it)m  ben  Set)ren, 
in  quibus  magister  tenetur,  biejenigen  gegenübergefteöt  merben, 
in  quibus  magister  non  tenetur.  9lber  Slaut  f|at  bie  ^t)iIofO' 
p^ie  auSgeftattet  jur  fritifc^en  Unterfuc^ung  ber  mefentlid)eu  ®eifte6= 
betätigungen  be§  9Wenfc^en,  b.  \).  jur  metf)obifc^en  9lrbeit.  ftant 
mottte   ni^t   eine  ^t|iIofopt)ie,   fonbern   er  mottte  pf)ifofop^ieren 


388  SReifc^Ie:  ^ant  unb  bie  ^^eologie  bet  (^egenioart 

lehren.  Savum  !ommt  e§  aud)  toeniger  barauf  an,  baß  n^tr  ein- 
jctnc  SRefultatc  feiner  ^{jilofop^ie  anncf)men  unb  in  ber  ä^^eologic 
üerroerten,  al§  barauf,  ba§  roir  un§  auf  ben  95obcn  feiner 
2lrbeit§mett|obe  [teilen,  ^n  biefer  93ejie^ung  oor  allem  fmb  wir 
Kantianer  unb  bürfen  fagen,  ba§  er  ber  magister  ber  neueren 
2^f)eoIogie  ift,  unb  ba^  ein  tenere  ma^strum  möglich  ift  auc^ 
wenn  man  Don  feinen  Siefultaten  abmeii^t, 

SßJenn  aber  bie  ^^itofopl^ie  in  biefem  ©inn  oerfianben  wirb, 
fo  ift  aud^  flar,  ba^  bie  2:^eotogie  in  allewege  ber  '^^i- 
lofop^ie  bebarf.  @§  ift  ein  törichter  ©ebante,  menn  man 
meint,  biefe^  53anb  fönne  jerfc^nitten  werben.  ®§  mar  j.  ©.  auc^ 
ein  red^t  bornierte^  aSerftänbniS  ber  aiitfc^lf^en  2^eologie,  menn 
einige  biefe  SGBirfung  üon  i^r  erI)offten  ober  für ^teten.  3)ie  fij* 
ftematifc^e  2!^eologie  mu§  bod^  immer  roieber  gü^lung  fu^en  mit 
ber  ®eban!enroelt  unferer  3^Jt  ^^^  P^  i«  ^^^  ^^ilofopl^ie  fiäf 
mieberfpiegelt.  Qa  me^r  al§  ba§!  ©ie  mu§  felbft  immer  xoit^ 
ber  hinein  in  bie  p^ilofop^ifc^e  Slrbeit;  benn  ein  n)if> 
fenfc^aftli^e§  aSerftänbni§  be§  c^riftlid^en  ®lauben§,  feiner  @runbe 
unb  feinet  ^ul^alts,  ift  nur  ju  gewinnen  im  3wfö^"^^^^ö"9  ^^^ 
ber  met^obifd)en  ©rforfc^ung  unfere§  ®eifte§IebcnS  unb  feiner 
roefentlid^en  g^nftionen.  @ine  fold)c  ^t)ilofop^ie  aber  ^at  nic^t 
bie  2lrt  jener  cptXoao^ta  xaJ  xevij  äticcttj,  bie  i^ren  ©lauben  bem 
d^riftlidben  entgegenfe^t,  fonbern  fte  ift  eine  Helferin  jur  Haren 
@rfenntni§  von  2lrt  unb  3^n^alt  unfere§  ®lauben§,  eincS  Jener 
aWittel,  ba§  ber  S^rift  gebrauten  barf  unb  foU  nad)  bem  ®runb* 
fa^ :  Tiavxa  Ojiöv. 


389 


%^.  Stetumantt, 

S^ojent  am  t^eol.  Seminar  in  ®nabenfelb. 


3u  bcn  funbamcntaten  93orftcUungcn  beS  cl)rift(ic^en  ©laubcnS 
gehört  bic  3>bec  oon  @ott  aU  Icbcnbigcr  ^crf önli^teit ;  baran 
fann  fein  3n)eifel  fein.  2Bo  im  ^fntereffe  ber  g^^ömmigteit  oor 
ber  mobernen  SQBiffenfd^aft  ber  profanen  ober  ber  t^eologifc^en, 
al§  oor  einer  glaubenjerftörenben  9Wac^t  geioarnfr  wirb,  fa^t  fid^ 
barum  anä)  aße^  öebenfen  gern  in  ben  aSorrourf  jufammen,  biefe 
mobeme  SEBiffenf^aft  raube  un$  ben  (ebenbigen  perfönlid^en  @ott. 
©ntioeber  bränge  fie  il^n  ganj  unb  gar  axi^  ber  SEBelt  unb  un* 
ferer  ®rfa^rung  ^erau§;  nirgenbg  fei  er  me^r  in  feinem  lebenbigen 
perfönlic^en  SBatten  gegenroärtig,  unb  e§  bleibe  ^öc^ften§  bie  ganj 
abgeblaßte  Qfbee  einer  ooUftänbig  tranfjenbenten  Söefen^eit  beftef)en. 
Ober  e§  werbe  bie  göttlid^e  ÜJlac^t  fo  oottftänbig  in  biefe  SEBelt 
^ineingenommen,  bag  fie  fid)  mit  bem  mirtfamen  SQBeltganjen  iben* 
tifijiere;  auc^  fo  aber  gel)e  bie  eigenmirtfame  lebenbige  ©ottper* 
fönlic^feit  oerloren,  ber  ja  bod)  ein  freiem  SBalten  in  ber  SOBelt 
unb  eine  bie  SBett  tranf jenbierenbe  felbftänbige  ©jifteni  mefenttic^ 
fei.  2lIfo  entmeber  neben  ber  entgotteten  SQSclt  bie  ^bee  einer 
nur  tranfjenbenten  oerborgenen  9Jlad)t,  ober  eine  bi§  jur  oöttigen 
Qmmancnj  ber  ©otttieit  burd)gottete  SBett;  auf  feinen  %a\i  aber 
eine  lebenbige  ®ottperfönlid)teit,  bie  in  i^rem  innerften  93eftanb 
ber  a33elt  tranfjenbent  bod)  jugleid)  in  if)r  lebenbig  mirfe  unb  matte. 

3ettf<^rift  für  «Geologie  unb  Äirc^e.  U.  Qo^rg.,  6.  §eft.  27 


890         (Steinmann:  ^ie  (ebenbige  $erfön(ici^!eit  ©otted  2c. 

SBBir  galten  bicfen  SBorrourf  nic^t  für  berechtigt.  ®ie  lieber* 
}eugung  pon  @ott  aU  einer  (ebenbigen,  in  ber  9Be(t  n)aUenben 
unb  jugleic^  il^ren  SBcftanb  tranfjenbierenben  ^erfönliditeit  fc^eint 
un§  burc^  feinerlei  roiffenfd^Qftlici^e  Slneignung  ber  @rfa^rung  in 
groge  gefteüt*).  ®§  !ommt  nur  barauf  an,  ba§  man  aß  biefe 
eng  jufammcnge^örigen  religiöfen  3SorftelIungen :  ®otteS  ^er« 
fönli^teit,  bie  ficbenbig!eit  feine§  perfönlic^cn  SBal« 
ten§,  feine  2;ranfjenbenj  unb  feine  3iW^>no'i^^U  ^i^tig  er« 
faßt.  Unb  ,,ric^tig",  ba§  fotl  ^ier  ni(^t  ^ei^en  ,,p^i(ofop^ifc^ 
richtig"  b.  \).  fo,  roie  e8  fid)  oon  ben  SBorauSfc^ungen  ber  rotffen* 
fc^af tlic^en  gorfc^ung  au§  etwa  na^e  legen  f önnte»  SBielme^r  meinen 
mir  bamit  „t^eologifc^  richtig"  b.  f).,  wie  eS  ber  rcligiöfen  6r* 
fa^rung  entfpric^t.  2)a8  eben  erfc^eint  un§,  abgefe^en  »on 
mancherlei  erfenntni§tt)eoretii^er  SBeriuirrung,  ate  bie  le^te  Ur» 
fa^e  ber  apologetifc^en  9^ot,  bie  an  biefem  fünfte  oielfac^ 
^errf^t,  ber  93eflemmungen,  bie  man  ben  Sftefuttaten  ber  SBiffen* 
fc^aft  gegenüber  empfinbet,  unb  ber  oerjmeifeüen  5^c^t«rtu"f^' 
ftücf c^en,  mit  benen  man  fic^  ju  Reifen  fuc^t :  man  ge^t  oon  f aU 
fcl)en  bogmatifc^en  SBorauSfe^ungen  au§.  —  Slber  aucl)  bie  @Iau* 
ben§Ie^re  forbert  in  it)rem  eigenen  3>ntereffe  immer  erneute  ^e* 
mü^ungen  um  eine  jutreffenbe  Srfaffung  biefer  religiöfen  SJor« 
fteüungen.  Qt  gemiffer  e§  ift,  ba§  e§  fid^  ^ier  um  jentrale  Qbeen 
ber  ciiriftlic^en  Ueberjeugung  l^anbelt,  um  fo  bringenber  ift  biefe 
t^eotogifd^e  ^flid^t  i^rer  immer  flareren  ©rfaffung.  SWan  müßte 
benn  annehmen,  ba^  mir  in  biefem  ^^Junfte  fc^on  fertig  fmb  unb 
ber  bogmütif(^en  SBciterarbeit  nic^t  bebürfen.  Unfere  äßeinung 
ift  ba§  nic^t  Sßielme^r  miß  e§  un§  fo  fc^einen,  al§  fei  ^ier  für 
bie  ^ogmatif  no^  mancherlei  )u  tun.  @c^on  bie  apo(ogetifd)e 
3Jlifere,  bie  mir  foeben  ermähnten,  ift  un§  bafür  93eroei§  genug. 
®ie  fotgenben  3)arlegungen  moßen  barum  oerfuc^en,  jur  Rareren 
^crauöfteflung  jener  Q[been  einen  Seitrag  ju  liefern. 

1)  aSgl.  12.  3a^rgang  biefer  Seitfc^rift  @.  429  f.:  ^$)a5  «eioufetfein  ber 
t>oUtn  SBirfIid)fett  ©otte^".  ^aMeinerlei  kuiffenfc^aftlic^e  Aneignung  ber 
Srfal^rimg  bem  ^otteiSgtauben  etroaS  angu^aben  Dernmg,  ift  bort  aQerbing« 
ntcöt  bireft  oii»gcfü^rt.  ®8  bcbürflc  ba«  o^nc  S^^^cifcl  weiter  au^^olenber 
evfenntnt«t]&eoretifc6er  (Sriüägungcn.  3)ort  festen  »fr  un8  nur  mit  beftimnttcn 
iRefuItateu  ber  naturn)i|fenfd)aftric^en  @rfenittniS  au^einanber. 


©t einmann:  ^ie  lebenbigc  ^erföntid^feit  ®ottcS  w.         891 

I. 

®Q§  ®ott  ^erfönlid^fctt  ift,  fann  in  jroeifad^er  SBeife 
i)€rftanbcn  racrbcn  unb  roirb  and)  tatfäc^Iid)  je  nad)  bcr  SRcife 
ber  rcligiöfen  @rfcnntni§  batb  in  bicfcm,  batb  in  jenem  ©inne 
ocrftanben.  Ober  e§  getien  rool^l  auc^  bcibe  ^erfönlid^feitSoov* 
ftettungcn  burc^einanber.  ©o  finben  roir  t§  üielfad)  im  3iiföw^- 
men^ange  ber  (^rifttid^en  Ueberjeugung  oon  @ott.  2)abei  fe^It 
bann  leicht  ein  beutlid^e§  ©efü^l  für  ben  prinjipieüen  Unterfd^icb 
bcr  elnjelnen  Seftanbteile  ber  religiöfen  OefamtoorfteKung,  unb 
bann  jugleid)  aud)  bie  unmittelbare  Betonung  beSjenigen,  xoaS  an 
ber  c^riftlic^en  -Qbee  ber  ^erföntic^teit  ®otte§  roefentlic^  unb  be* 
bcutfam  ift,  im  Unterfc^ieb  oon  anberen,  jugleic^  anber§  gearteten 
unb  unmefentlid)en  (Elementen.  SDarin  aber  tommt  eine  geroiffe 
Unfidier^eit  be§  d^riftlic^en  S3en)ufetfein§  jum  2lu§bruc!,  fofern  ^ier 
gans  glei^mägig  geroertet  mirb,  ma§  tatfädjUd)  nid)t  nur  irgenb* 
mie  üon  einanber  oer|(^ieben  ift,  f onbern  ganj  bireft  ocrfc^iebenen 
©tufen  be§  religiöfen  ®Iauben§  angehört. 

S)er  unfere§  ®ra^ten§  bebeutfame  Unterfc^ieb,  welcher  l^ier 
met)r  beachtet  werben  foKte,  aB  e§  gefdjie^t,  ift  berjenige  jroifc^en 
einer  geiftigen  unb  einer  pftid^ifc^en  ^erfönU^feit§*3>bee  ®otte§ 
refp.  einer  geiftigen  unb  einer  mgt^ologifierenben  Sluffaffung  ®otte§ 
ate  ^erfönlic^teit.  ^n  boppelter  ^infii^t  alfo  ^anbett  e§  fic^  ^ier 
um  einen  tiefgreifenben  Unterfi^ieb:  einmal  l^infi^tlic^  be§  9n= 
^aüe§  ber  ®otte§DorfteHung,  fobann  mag  bie  innere  Slrt  be§  gei* 
ftigen  SSer^alteuS  betrifft,  ba§  biefe  SBorfteüung  trägt.  ®er  in* 
^altlid^en  2)ifferenj  ber  Sßorfteßungen  gaben  mir  foeben  2lu§brurf 
burd)  bie  SBegriffe  „pfgc^ifdje"  unb  „geiftige"  ^ßerfön(id)feit;  ba^ 
oerfd|ieben  geartete  religiöfe  SSerl^alten  fud^ten  mir  gegen  einanber 
abjugrensen  burc^  bie  Segeic^nungen  „mqt^ologifierenb"  unb 
»S^iftifl"-  9EBi^  fönnten  Unteren  Unterfc^ieb  aud)  fennjeic^uen, 
inbem  mir  „mgt^ologifc^e  58orfteüung"  unb  „Ueberjeugung"  ein» 
anber  gegenüber  fteüten.  93eibe  ©ifferenjen,  jene  in^altlidie  unb 
biefe  met^obifc^e,  gilt  e§  nun  in  au^fül^rlic^erer  Darlegung  $u 
entmideln.  — 

ßuna^ft  alfo:  roa%  meinen  mir  mit  pfgc^ifdier  ^erfön» 
lic^feitSibee  unb  bereu  2lnmenbung  auf  ®ott? 

27* 


392         @teinmann:  ^ie  lebenbtge  $erfonltc^!eit  (S^otted  :c. 

Unter  pfg^if^cr  ^crfönlid^fcit  pcrftc^en  roir  ganj  im  aßge* 
meinen  eine  beftimmte  fj^rm  be§  feelifd^en  fieben§.  ©ie  finbct  ftc^ 
nur  im  33ereic^  ber  SDlenf^l^eit  unb  bort  t)erfd)ieben  weit  entroirfelt. 
2)ie  d^arafteriftlfc^en  ÜWerfmate  ber  ?ßerföntic^teit§form  be§  fee« 
lif^en  Sebeu§  ftnb  bemühte  ©in^eitlic^Ieit  unb  ©tetigfcit  — 
^[rgenbmelc^e  ®in^eit  ift  atleS  einjetne  ©eelifc^c;  menigftenS 
ift  eS  mol^I  bie  näd^ftliegenbe  9(nna^me  auf  @runb  feiner  jufam^ 
menftimmenben  fiebenSäu^erungen,  bag  irgenb  eine  (Sini^eitUd^feit 
biefen  ®rf(^einungen  ju  ®runbe  liegt.  Stber  erft  eine  bemühte 
@inl^eit  nennen  mir  ^erfon.  Solange  bei  einem  9)?enfd)en  ba$ 
@in]^eit§bemu^tfein  erft  im  SBerbenift,  ift  er  nod)  m6)t,  fonbem 
mirb  erft  eine  ^erfon.  Unb  roo  bei  einem  SWenfd^en  ba§  ©in^eit^bc» 
mufetfein  geftört  ift,  reben  mir,  eben  meil  e«  ftc^  um  einen  9Renfct|en 
lianbelt,  oon  pfp^ifdier  Störung.  SGBo  fx6)  aber  weiter  bei  einem 
SJlenfc^cn  nur  ®in^eit§bemu6tfein  unb  feine  pfpdjifc^e  ©tetigfeit 
finbet,  ba  ift  root)I  eine  '^^erfönlidifeit,  aber  eine  unfertige.  ®§ 
fel^lt  tUn  no^  ber  anbere  ©f)arafterjug  be§  ausgereiften  >$erfön« 
Iid)feit§Ieben§.  ^erfönlid|feit  ift  j.  ©.'baSÄinb  unb  ber  9latur» 
menfc^,  fofern  fie  beibe  Sin^eiteibemu^tfein  befi^en;  in  i^ren  fee= 
Iifd)en  SebenSäugerungen  aber  finb  fte  ©om  Slugenblid  unb  feinen 
Qmpulfen  abhängig.  9teben  ber  ©inl^eit  beS  @eIbftbemu|tfeinS 
fte^t  alfo  t|ier  eine  eigentümliche  3^^fo^ten^eit  be§  feelifc^en  Se* 
benS.  Jreilicli  feine  abfolute  ßerfa^ren^eit.  Sine  geroiffe  ©tetig« 
feit  mac^t  fid^  auc^  t)ier  bemerfbar,  bie  ©tetigfeit  nämlic^  be§ 
}um  SBemu^tfein  ermac^ten  ©elbftbe^auptung§triebe§.  ®iefer  felbfi 
aber  äußert  ft(^  jiemlid^  biffolut.  Sei  ber  ausgereiften  ^^erfon» 
li^teit  tritt  an  ©teße  biefer  3«vfat|ren^eit  bie  ©tetigfeit  }ufam> 
menfaffenber  2lbftd)ten  unb  ^läne,  beftimmtcr  Orunbfä^e  u.  bergl. 
3um  (Siu^eitSberoußtfein  tritt  ^inju  jene  ©tetigfeitSein^eit,  bie 
ein  ^robuft  ber  aBillenSanftrengung  unb  ©elbftjuc^t  ift.  ^ier 
merben  mit  jäl^er  ©nergie,  b.  f).  mit  einer  bauernben  3ufammen* 
faffung  aller  93egel)rungSfraft  meitauSfc^auenbe  ^äne,  bie  einer 
fonjeutrierten  93etätigung  ber  ^ntetligenj  entfprungen  fmb,  ftetig 
verfolgt.  ^^  nad)  ber  93erfd)ieben^eit  biefer  beftimmenben  6in« 
I)eitSrid)tungen  geftalten  fid)  bie  biSfreten  perfönlic^en  ^nbioibua* 
litaten  unb  ®l)araftere. 


©teinmann:  ^ie  Ubenbige  ?ßerfönlic^!cit  ©ottel  ic.         393 

3»eue  primitioc  fjorm  bcr  ^erfönlid)feit  ließe  fi^  bejeid^nen 
ate  9iaturpcr[6nli(^feit  biefe  gcreiftere  aU  Äulturperfönlic^teit 
ober  etroa  auä)  gefc^idjtlid^e  ^erfönlic^teit.  ffiä^renb  bie  erftere 
am  Slnfang  beä  menfd^lid^en  S)afein§  fie^t,  rao  e§  fid)  au§  bem 
untermenfd^li^en  ©eeüfd^en  al§  ein  Sigenartige^  l^erau^l^ebt,  ift 
bie  leitete  ein  ^robuft  ber  bamit  einfe^enben  fpejififc^  menf^^- 
liefen  @ntn)idf(ung.  Ober  a\x6) :  ber  SWenfd^  gel^t  f)eroor  au^  ber 
^anb  ber  Statur  aU  9laturpcrfönlid^feit  unb  wirb  Äulturperfön-- 
lic^feit  in  ber  3«^^  ^^^  ©efc^ic^te,  beren  j^n^alt  ba^  gefamt* 
menfc^tid^e  Sutturleben  ift.  3)anac^  finb  auc^  jene  beiben  öejeid^* 
nungen  genjäl^It :  Slaturperf önlid^f eit  unb  KulturperfönU^f eit  ober 
gefc^ic^tlidie  ^erfönlic^teit.  —  @tne  eigentümliche  21  r  t  bifferenj 
foUen  biefe  beiben  ^ejeid^nungen  nid^t  anbeuten.  @S  l^anbelt  ft^ 
oielmc^r  nur  um  9tamen  für  oerfd)iebene  ©ntinidEelungSftufen  ber* 
jenigen  @in^eitlie^feit§  f  o  r  m  be§  feelif^en  Seben§,  bie  fid^  nur 
bei  5äÄenf^en  finbet  unb  bie  mir  pfgc^ifc^e  ^erfönlid^felt  nannten. 

^n  bem  eben  entroidelten  (Sinne  ^^erfönlii^feit  ift  nun  jebe 
©ott^eit  ber  polgtl^eiftifd^en  SReligion^ftufe  b.  I|.  alfo  pfij(l)ifd)e 
?ßerfönlic^teit,  unb  jmar  je  na(ftbem  bIo§e  9taturperfönlid^feit  ober 
Rulturperfönlid^teit.  ®ic  religiöfe  SWieberung  befi^t  in  i^ren  S)ä' 
monen  unb  ©efpenftern  SBefen  oon  berfelben  primitio^perfönli^en 
%ct,  wie  fie  ben  SJlenfc^en  jener  ©tufe  eigen  ift;  e§  fmb  mot)l 
bcmu^tfeinSeinlieitnd^e,  aber  nid|t  mirflic^  perfonaleinlieitlic^c  unb 
inbioibueße  SEBefenl^eiten.  SBo  bagegen  ber  SDienfc^  fetbft  Kultur* 
pcrfönlic^feit  ift,  finb  eS  au^  feine  ®ötter.  @^on  au§  bem 
3)urd)einanber  be§  ^olpbämoni^muS  lieben  fid)  mol)!  I^ie  unb  ba 
äu^erlid)  me^r  inbioibnalifierte,  biSfrete  ©eftalten  ab.  3)iefe  ge* 
roinncn  bann  ©d^ritt  oor  ©d^ritt  auc^  beftimmter  au^gefproc^ene 
innere  Eigenart,  bi§  fc^Iie^Iii^  eine  größere  ober  geringere  Qal^t 
in  ocrfd^iebenen  Oraben  ber  SBeftimmt^eit  djarafterlid)  tierauSge* 
ftalteter  göttli(^er  KuIturperfönU(^feiten  oor  un§  ftet|t,  eine  jebe 
oon  i^nen  ein  nac^  beftimmter  SRic^tung  entfalteter  Sulturmenfd^. 

Me  biefe  attäc^te  ragen  nun  freilid)  burcf)  irgenbmeldjc  er« 
ftaunlic^e  @igenfd()aften  generell  göttlii^er  ober  inbioibuetler  Slrt 
über  ba§  menfd^lic^e  Slioeau  empor,  burdt)  übermenfc^lidie  fieben§* 
bauer,  @d)ön^eit,  Kraft,  SöBeig^eit  u.  bergl.    3lber  au^,  mo  ber 


394         ©teinntann:  ^ie  lebenbtge  ^erfönltd^fett  (^otteS  2c. 

^olr)t^ci§mu§  in  biefcr  SRtc^tung  fein  ^öc^fte§  erteilt,  ift  bod^ 
nirgcnbS  mcl^r  oorl^anbcn  al§  eine  bur^  fol^e  ©injeljüge  geftci* 
gette  menfc^tic^e  Äulturperfönlic^feit.  9lirgenb§  burc^brid^t  bie 
polgtl^eiftifrfie  ©ottperfönlid^feit  roirtlii^  bie  ^Jormen  be§  feelifc^cn 
^erfönlic^teit§leben§,  wie  fe^r  fie  auc^  bercn  Umriffe  in8  @en>at 
tige  fteigern  mag.  ©elbft  bie  inbimbuette  Äörper^aftigteit  eine§ 
menfc^Iid^en  Organi§mu§  gehört  l^ier  ja  mit  jur  perfönlic^en  (gyi* 
ftens  ber  göttlichen  Sfflädite^).  @§  ift  barum  ^öc^ft  jutreffcnb^ 
menn  man  jene  perfönli^en  ©ottl^eiten  be§  ^ol^t^ei^muS  al§  Der^ 
grö|erte  3Dlenf^en  bejeic^net  ^at. 

SB3ir  gelten  nun  über  ju  ber  —  turj  bejeidjnet  —  met^o* 
bifdien  ©eite  ber  ©ad^e.  Unfre  93e^auptung  mar,  biefe  in^alt* 
lid^e  ©igentümlidifeit  ber  ©otteSoorftetlung  fte^e  im  3u[ammen^ang 
mit  einer  beftimmten  2lrt,  fid^  SBorfteüungen  oon  (Sott  ju  bilben, 
bie  mir  al§  mpt^ologifxerenbe  oon  einer  geiftigen  unterfc^ieben. 

3meierlei  ©igentümlid^feiten  biefer  mgt^ologifterenben  3)ent« 
weife  finb  für  un§  l^ier  oon  Sebeutung.  3)ie  erfte  biefer  ©igen* 
tüm{id)teiten  finbet  ganj  unmittelbar  in  ber  53ejeic^nung  i^ren 
2lu§bru(t,  bie  mir  jur  ftenngeic^nung  biefer  ®entroeife  genoa^It 
l)aben.  ©ie  f)at  il^ren  9tamen  oon  bem  bunten  unb  oerfi^Iungencn 
Sianfenmerf  ber  9Wr|tf|en.  ^n  biefen  ®rjä^lungen  oom  2:un  unb 
2;reiben  ber  (Sötter  betätigt  fic^  eine  lebl^afte  antl^ropomorp^ifiercnbe 
^^antafie.  @§  fmb  Si^tungen  oon  allerlei  SWenfc^enfc^idffal,  in 
eine  übermenfc^Iic^e  ©p^äre  oerlegt.  3^i|re  le^te  SOSurgel  ift  eine 
naioe  Sluffaffung  ber  Sßorgange  be§  9taturleben§.  3)ie  erften  2tn« 
fonge  baoon  finben  mir  \6)on  in  ber  religiöfen  9lieberung,  rocnn 
bort  aße^  oon  feelenartigen  unb  infofern  menfc^enäfinKc^en  "Sla^ 
turgeiftern  belebt  erfdieint.  Unb  mag  ate  antl^ropomorp^iftcrenbe 
9taturbid|tung  feinen  3lnfang  na^m,  entroidEelt  fic^  bann  ju  ma« 
nigfac^en  ©rjä^tungen  freier  geftaltenber  ^^antafte  oon  aüer^anb 
menfdt)tid)em  Xmx  ber  ®ötter.  9tun  gel^ört  jmar  ni^t  äße  biefe 
mgt^ifd^e  S)id)tung  jur  eigentlidjen  ©ubftanj  ber  Steligion ;  e§  ijl 
ba  oielerlci  ^^antaftegefpinnft  babei,  ba§  bie  ©öttergeftalten  be§ 
religiöfen  Olauben§  nur  ganj   lofe   umflattert.    3)od)  aber  Iä§t 

1)  ©öttcrbilbcr  finb  barum  für  bicfc  ®rfaffung  ber  ®ötter  aU  ^erfön« 
lic^feiten  gan§  mefentUc^. 


©teinmann:  %xz  Icbcnbige  ^etfönlid^fcit  ®otte3  jc.         395 

ftd)  bcr  ©öttertn^t^uS  nic^t  vom  ©öttcrglaubcn  löfen.  @ic  bilbcn 
jufammen  gleid^fam  einen  Organismus,  genol^rt  oon  bemfelben 
SebenSblut.  ®ben  biefelbe  pfgd^if^c  ^^unltion,  roeld^e  in  bem  mp* 
t^ologifierenben  SRantenroert  lebt  unb  treibt,  eben  bie  ift  e§  a\x6), 
bie  jenen  ©ott^eiten  il^re  anfc^aulid^e  pfgd^ifc^e  ^erfönlic^teit  gibt. 
S)arum  eben  bient  ja  au^  ber  SWgt^uS  bcr  beutlid^eren  perfön* 
li^en  ^erauSgeftaUung  ber  ©ottl^eiten.  SWan  oergteic^e  in  ber 
Einfielt  nur  j.  53.  bie  mpt^enumranften  ©ottl^eiten  ©rtei^cnlanbS 
mit  ben  Iialb  gefpenftifd^en,  m^t^enarmen  römifd^en  9lumina.  ©o 
gehört  baS  alfo  atleS  in  einen  grojsen  ^^f^mmenl^ang,  bie  mg* 
t^ologifc^e  9taturauffaffung,  bie  pfqd^ifci^e  ^erfönlic^teit  ber  ©ötter 
unb  ber  frei  bic^tenbe  aWpt^uS,  unb  ermäd^ft  atteS  au§  bcrfelben 
SQBurjel.  Unb  biefe  SDBurjel  ift  eben  jenes  balb  mel^r  naioe  balb 
me^r  bemühte  antl&ropomorpl^ifierenbe  ©eftalten  ber  ^^antafie. 
©inb  bie  göttli^en  ^erfönlid^teiten  vergrößerte  SJlenfdien,  fo  finb 
fte  ba§  auf  Orunb  einer  eoentuell  ibealifierenben  pl^antafiemäßigen 
Uebertragung  ber  3^9^  ^^^  menfd^Hc^en  5perfönIid^feitSleben8  auf 
bie  jenfcitigen  SWäc^te. 

hieben  biefem  bi^terifd)en  Slnt^ropomorpl^ifieren  ^aben  mir 
als  jmeiten  ©runbjug  ber  mgtliologifdtien  S)entmeife  folgcnbeS 
l^eroorjutieben.  3[eme^r  biefe  Sentmeife  fic^  unoermorren  mit 
anbermeitigen  religiöfen  Stimmungen  auslebt,  umfome^r  gelten 
biefe  il^re  9lntI)ropomorp]^iSmen  alS  eine  birefte  93efd^reibung  ber 
göttlichen  Syiftenj.  ©o  ift  bie  ©ott^eit  mir! lief),  mie  fte  ^ier 
gefi^ilbert  wirb.  ®enau  fo,  mie  man  baS  perfönlic^e  ©ein  eineS 
SÄenf^en  burc^  ©efc^reibung  feiner  Äörperbefd^affenl^eit,  feineS 
S^arafterS,  feiner  SebenSftellung  unb  feiner  gäl^igfcit  nac^  aßen 
9tid)tungen  auSfc^öpft,  fo  ift  eS  auc^  mit  jenen  perfönlic^en  ©ott* 
Reiten.  9Äan  weiß,  wie  fxe  ausfegen  unb  mie  fte  in  i^rem  in* 
nerften  SBefen  befc^affen  finb.  —  Unb  fold^e  Sta^ebringung  ber 
göttlichen  3Ääc^te  ift  nid)t  nur  eine  ©ad^e  beS  bloßen  aJlgt^uS 
unb  feiner  nic^t  mel^r  eigentlich  religiöfen  2lu8ran!ungen,  fte  ift 
ni^t  nur  eine  bloß  poetifdt)e  SBergegenftänblic^ung.  9Sielmct)r 
t)anbelt  eS  fiel)  hierbei  boc^  jugleid^  aud^  um  eine  r  e  l  i  g  i  ö  f  e 
9lal^ebringung  ber  ©ottl^eiten.  ©  o  eben  finb  fie  bem  9Jlenfdt)en 
etmaS  ^ofttioeS,  53eftimmteS ;  er  roeiß  nun  genau,  roaS  er  an  il^nen 


386  9ieif  d^U:  ^ant  unb  bie  S^eologie  ber  (^egentoart. 

ben  fd^arfcn  ©^nitt  jipifd^en  ti^eorctift^er  unb  praftifc^cr  SBcrnunft, 
bcu  Stant  gemacht  \)at,  f onbcrn  eine  Stufenleiter,  bie  von 
bev  matl^ematifrf)en  ®rfenntni§  ber  Statur  jur  öetrai^tung  ber 
organifc^en  9tatur  mit  i^ren  ^taturjroecfen,  oon  ha  jur  Srtennt* 
ni§  be§  geiftig»gefd)i^tlic^en  SebenS  unb  enblic^  jur  fittli^  be- 
grünbeten  ®tauben§erfenntni^  ^inanfteigt.  33ei  biefer  Stufenleiter 
wirb  aber  bod^  bie  Unterfc^eibung  jn)ifd|en  bem  auf  ber  Slötigung 
ber  SQ3al)rne^mung  unb  be§  3)enten§  berutienben  t^eoretifi^en  @r= 
fennen  unb  jroifc^en  bem  auf  SBertungen  ru^enben  praftifc^cn 
93ernunfterfennen  ni^t  einfach  aufgehoben.  93ie(me^r  gerabe  ba* 
burd)  roirb  jene  Stufenleiter  l^crgefteUt,  baj3  in  ber  ®r!enntni§* 
tätig!eit  in  f ortfc^reitenbem  ajla^  bie  SDBertbeurteilung  aufgenommen 
wirb.  —  3)amit  aber  ftellt  fid)  aiidj  bie  ®  l  a  u  b  e  n  §  e  r  f  e  n  n  t- 
ni§  anber^  bar  al^  bei  ^ant:  fie  ift  nic^t  etmaS  plö^Iic^  unb 
jufammen^anglo§  ®intretenbe§,  fonbern  fie  ift  ber  f  r  ö  n  e  n  b  e 
2(bfct)luj3  für  jene  Stufenleiter  be§  ®rfennen§.  Sc^on  bie 
unteren  Stufen  meifen  l^in  auf  jene  3ufammenfaffung  in  einer 
l^6cf)ften  ®inl)eit. 

2)amit  ergebt  fid^  aber  juglei^  auc^  ber  unabmeiSbare  93  e  r- 
fud),  eine  einheitliche  SBettanf^auung  in  ber  SSeife 
i  u  g  e  ft  a  1 1  e  n ,  ba|3  bie  @rfenntni$  ber  unbelebten  unb  belebten 
9ktur,  fomie  be§  gefd^i^tlid^en  Seben§  ber  ®lauben§erfenntni§ 
unter«  unb  eingeorbnet  roirb.  Sin  oielen  fünften  jmar  mirb  biefe 
2lufgabe  immer  unlösbar  bleiben:  eS  gibt  oiele  2;atfac^en  in  91a» 
tur  unb  ©efc^ic^te,  angeftd^tS  beren  mir  auf  ein  bireftcS  teteolo* 
gifc^e§  33erfte^en  im  ßwfammenl^ang  unfereS  ©laubenS  oerjic^ten 
muffen,  oielmel^r  un§  nur  au§  ber  ftarren  SQäelt  ber  SKaffen  unb 
au§  ber  Unerbittlid)feit  be§  Sauf8  ber  ©efc^ic^te  burd)  ein  !ü^ne§ 
2)enno^,  ba§  boc^  nic^t  unfere  3:at,  fonbern  burc^  begeifternbc 
Offenbarung  geroedt  ift,  in  bie  3Belt  be§  @laubcn§  ju  fluchten 
vermögen .  —  9lber  an  anbern  fünften  la§t  fic^  boc^  bie  9iatur* 
unb  @efd)ic^t§melt  at§  a»ittel  für  ®otte§  ®nb« 
j  m  e  d  oerfte^en.  S)a^er  ber  immer  roieber  fx6)  erneuembe  9Ser* 
fud),  in  einer  Spekulation  biefe  Einfügung  ber  SBelt  in  ben  ^öc^ften 
göttlichen  ®nbjn)ed  barjulegen!  Unb  ermutigt  un§  bogu  nic^t 
Haut  felbft,  roenn  er  ber  ^^gfifot^eologie  i^ren  Slbfd^lu^  in 


91  e  i  f  d^  ( e :  ^ant  unb  bie  £f)eo(ogte  ber  ©egenroart.  387 

bcr  (St^itot^cologic  üerl^ci^t  (ogl.  bcn  2ln^ang  jur  „firitif  ber 
Urtcitefraft")?  ©pri^t  er  boc^  fogar  fclbft  bic  ftittc  Hoffnung 
Qu§,  „e§  oiellcic^t  bcrcinft  bi§  jur  ®infic^t  bcr  Sin^cit  bc§  ganjcn 
reinen  3Semunft§üermögen§  (be§  t^eoretifc^en  foroo^I  al§  praf= 
tifc^en)  bringen  unb  alteö  au§  einem  ^rinjip  ableiten  ju  fön« 
nen ;  welches  bag  unüermeiblic^e  93ebürfni§  ber  menfd)Ii(^en  SJer- 
nunft  ift  bie  nur  in  einer  ooßftänbig  fqftemotifc^en  (äinl^eit  il^rer 
(Srfenntniffe  DöKige  3wf^i^benl^eit  finbet"  (Kr.  ber  pr.  Vernunft 
ed.  Äe^rbact)  ©.  110).  —  2lber  im  t)orau§  läjst  fic^  au§  Sant§ 
ganzer  Sttrbeit  entnetimen,  bajs  biefe  ©pefulation  nid)t, 
mie  ^cgel  meinte,  eine  rein  logifd^e  ©ntmicflung  ber  SDBeltibee  fein 
fann,  fonbern  ein  t)on  SBertungen  getragenes  SBeltoerftänbniS, 
bafefte,  mit  einem  SBort,  eine  ©pef  ulation  be§  ®Iauben§ 
fein  muj3.  SBerfuc^e  einer  folc^en  fmb  in  feiner  äBeife  ju  oer* 
bieten,  wenn  fic  ftc^  nur  Kare  9ted|enfc^aft  geben  über  bie  ^^Jro* 
penienj  ber  ^ofitionen,  non  benen  fie  ausgeben,  unb  fic^  tritifc^ 
i^rer  ®renjen  bemüht  bleiben.  SBeibeS  aber  lel^rt  unS  fein  an* 
berer  fo  mie  Kant. 

3.  ®ine  nic^t  geringe  S^^^  ^^n  "ißunften  l^at  fid)  un§ 
ergeben,  in  benen  bie  2:^eoIogie  über  Kant  ^inau§ftrebt  unb 
in  benen  in  ber  Sat  eine  3Wobififation  ber  Äantfdien  ^^i* 
lofop^ie  notmenbig  erfc^eint.  Unb  bod^!  gerabe  baS,  n)a§  mir 
jule^t  befprodien,  ^at  un§  baran  erinnert,  mie  ^äufig  Kant 
f  c  I  b  ft  mit  bem  9teid)tum  feiner  ©ebanfen,  ber  ju  gro^  mar,  um 
überatt  jur  völligen  3wfammenftimmung  gebraci)t  werben  ju  fön* 
nen,  un§  g^roiffe  9Inbeutungen  gibt,  in  melc^er  SHic^tung 
mir  über  if|n  felbft  ^inauSjuge^en  ^ben.  —  Unb  in  einem  nod) 
umfaffeuberen  (Sinn  fönnen  mir  fagen:  bei  aller  J^^i^^i^  ^^^"t 
gegenüber  Ratten  mir  unS  boc^  ftetS  auf  feinem  S3oben. 
^ättc  er,  in  ber  5lBeife  be§  SlriftoteleS,  ein  ©t)ftem  ber  ®ott* 
3Belt*^^ilofopt|ic  entmorfen,  fo  müßten  aud)  bei  it)m  ben  Set)ren, 
in  quibus  magister  tenetur,  biejenigen  gegenübergeftellt  merben, 
in  quibus  magister  non  tenetur.  2lber  Kaut  ^at  bie  ^l)ilofo- 
p^ic  auSgeftaltet  jur  fritifc^en  Unterfuc^ung  ber  mefentlirfien  ®eifte5= 
betatigungen  beS  9Jlenfc^cn,  b.  t|.  jur  mett)obifd)en  Sttrbeit.  Kaut 
mollte   nid)t   eine  ^l|ilofopt)ie,   fonbern   er  moüte  pt)ilofop^ieren 


398         @  t  e  t  n  m  a  tt  tt :  ^ie  Icbenbtge  ^erfönlt(%!cit  ®ottc§  ic. 

werben.  3)ie  geiftige  ^crfönli^feit  f)at  i^ren  ÜÄittelpuntt  an  biefer 
ifirer  Slufgabe;  ba§  natürli^e  Seben  bagegen,  au6)  roo  e§  alS 
pf^d^ifc^eS  ober  im  befonberen  tulturperfönli^e§  gelobt  roirb,  ^at 
feinen  ÜÄittelpunft  am  ©elbfter^altungStriebe.  ^ier  fonjentriert 
fid)  aHe§,  wenn  e§  fi^  nämlic^  in  ber  gorm  ber  Ruitutperfön» 
lic^fcit  fonjentriert,  um  ein  inbioibuelleg  öege^ren,  bort  um  ba§ 
©emu^tfein  beftimmter  2lufgaben  unb  ?ßPi(^ten.  liefen  ju  bicnen, 
baS  ift  bie  Slrt  unb  SSeife,  mie  fii)  bie  geiftige  ^erfon  be^ouptet. 

^a  nod^  mel|r,  fie  bel^auptet  ftd^  nid^t  eigentlidi  fo,  fonbern 
fte  gewinnt  ftd^  fo  erft  felbft.  Unb  ba§  nun  bebeutet  eine  weitere 
SDifferenj  jroifc^en  natttrlid^em  3)afein  unb  geiftigem  ^erfonen« 
leben.  SBä^renb  ba§  natürliche  3)afein,  auc^  wo  eS  pf^^ifc^e 
$erfonIic^fcit§form  beft^t  ober  bie  no^  einl^eitli^ere  %oxm  ber 
Rulturperfönti^feit,  im  roefentlic^en  ein  juftänblid^e§  iji^ 
mag  e§  im  einjelnen  nod^  fo  oiel  QitU  erftreben,  ift  ba8  Sebcn 
ber  geiftigen  ^erfönlid^feit  feiner  eigenen  innerften  ©ubftanj  nad^ 
ein  teIeologifd)e§ ;  eS  i  ft  nid^t  eigentlid^  feiner  innerften  ©ubftanj 
nad^,  fonbern  e§  ro  i  r  b.  @§  ^ängt  ba§  innerlic^ft  mit  feiner 
ganjen  SIrt  jufammen,  fofern  l^ier  im  SÄittelpunlt  eine  Slufgabe 
ftel^t,  beren  reftlofe  Söfung  immer  Stufgabe  bleibt.  Unb  bement^» 
fpre(^enb  gel^ört  jur  SSoHEommenl^eit  be§  geiftigen  ?ßerfönli(^feit§* 
Ieben§  grabe  auc^  ein  lebtiafteS  53en)uBtfein  baoon,  ba^  e8  ni^t 
fertig  ift,  fonbern  fid^  nod)  immer  ju  geroinnen  fu^t.  3)arum 
lägt  e§  ftc^  aud)  garnidt)t  ate  erreid^ter  3wftanb  befd)reiben,  fon» 
bern  nur  ba§  lägt  fid^  angeben,  roa§  ju  werben  e§  ft^  mfi^t  in 
welker  Sftic^tung  e§  ftrebt. 

2lugerbem  ift  ein  eigentümlid)er  S^aratterjug  beS  geiftigen 
^^Jerfonlid^!eit§Ieben8  barin  ju  erblidfen,  bag  eS,  auc^  ate  ®e* 
f  a  m  1 1(  e  i  t  betradtitet,  im  Unterfcf)ieb  oom  natürlid^en  ©efamt« 
leben  in  eigentümlicher  Sffieife  unfertig  ift.  S)iefe  Unfertigfeit  be» 
fielet  in  ber  3^rfWftung  be§  geiftigen  ©efamtlcbenS.  SBir  meinen 
bamit  folgenbe§.  S)a§  natürlid^e  Seben  wirb,  >innerlidt)  betrachtet, 
in  lauter  inbioibueUer  SBereinjelung  gefüfirt.  @§  ^anbelt  fic^  l|ier 
um  lauter  fict)  felbft  bel^auptenbe  ©injelpuntte,  jwifc^en  benen  etwa 
gleid^e  Qntercffen  nur  eine  ganj  äugerlid^e,  Oefü^le  ber  ©pm- 
patl^ie  nur  eine  jufäüige  innere  S8ejiel)ung   ^erftellen.    ®robe  fo 


6 1  c  i  n  tn  a  n  n :  ^ie  lebeitbigc  ^erfönlid^fcit  ®otteg  2C         399 

aber  ift  baS  natürlid^c  Sebcn  in  feiner  2lrt  fertig.  @§  entfpric^t 
ganj  unb  gar  feiner  inneren  SBef^affen^eit,  ba§  e§  jt^  al8  eine 
ÜÄenge  roiberftrebenber  Qnbiüibuen  barftettt;  benn  i^m  ift  ja  bie 
blo§e  ©elbftbel^auptung  grunbmefentlic^,  unb  bie  lebt  fid)  eben  in 
fol^cr  SBeife  au§.  2lnber§  ba§  geiftige  5ßerfonenleben.  S)a§  geiftige 
^erfonenleben  wirb  an  jebem  einzelnen  ^untt  gerabe  nid^t  auS 
fold^er  Sereinjetung  ]^erau§  gelebt  unb  fann  gar  nitf)t  fo  gelebt 
werben,  ©ein  aWittelpunft  ift  jeroeilen  eine  gefc^id^tlic^e  Stuf  gäbe; 
e§  cntjünbet  p^  an  einem  genteinf^aftlic^  3Wenfd|^eitlid^en.  3)arum 
ift  e§  in  feiner  innerften  SBurjel  ®emeinfamfeit§Ieben.  ®§  !ann 
gar  nic^t  fein  o^ne  ©emeinfc^aft  b.  1^.  e§  wirft  ftet§  gemeinf^aft« 
bilbenb,  ja  in  feiner  innerften  2:enbenj  ift  e§  fogar  gerabeju  uni* 
uerfal  menfc^^eitlid).  S^ro^bem  nun  ift  ber  SlBiberftreit  im  93erei^ 
be§  geiftigen  ^erfönUd|!eit§IebenS  nid)t  minber  ftart,  roie  ber 
Kampf  um8  2)afein  auf  natürüd^em  Oebiet.  SWan  benfe  ba  etma 
an  ben  nid)t  enben  mollenben  3Biberftreit  gmifdien  grömmigfeit 
unb  miffenfc^aftlic^em  SQ3al^rl^eit§ftreben,  fittlic^er  gorberung  unb 
äft^etif^er  2eben§Derttärung.  Oemi^  ift  oielcg  bavon  golge  ber  per* 
f önlid)en  Unfertigteit  ber  ©injelnen,  au(^  fofem  fie  natürüdie  Selbft* 
be^auptung  mit  it)rem  geiftigen  Streben  oermengen.  Qu  biefer  Un* 
fertigteit  an  jebem  einjelnen  ^unft  tritt  aber  l^inju  eine  Unfertig* 
feit  be§  ©angen,  bie  in  einer  fc^einbar  unoermeibli^en  ©infeitig* 
feit  ber  Derfd)iebenen  SRic^tungen  beftel^t,  in  meldten  ba§  gefd)id)t* 
lic^e  ©cifteSleben  fic^  entmidfelt.  ©old)er  3Biberftreit  mar  na* 
t  ü  r  I  i  ^  für  baS  anbere  Oebiet  be§  3)afein§,  1^  i  e  r  bagegen  mu| 
er  al^  eine  Unfertigfeit  bejeidinet  roerben,  eben  wegen  jener  oben 
gcfennjei^neten  unioerfalen  Senbcnj  be§  geiftigen  ^erfonenlebenS. 
3)ann  gilt  aber  aud)  uom  ©efamtbeftanbe  beS  geiftigen  ^erfön* 
Iic^feit§Ieben§,  ba§  e§,  im  Unterfd)ieb  oom  ©ebiet  be§  9latürlic^en, 
feinen  fertigen  3iift^"b  barfteüt,  fonbern  feiner  innerften  ©ubftanj 
nad)  ein  5B3erbenbe§  ift.  — 

Qn  welcher  SBeife  nun  finbet  biefer  ^x(i)alt  be§  menf^Uc^* 
geiftigen  ^erfonenIeben§  eine  Stnmenbung  auf  ®ott?  2Iuf  ber 
©tufe  be§  ^ßotr)tt)ei§muS  unb  S)ämoni§mu§  bedfte  [\ä)  bie  religiöfe 
SBorftettung  oon  ben  ©öttern  in^altlid)  im  roefentli(^en  mit  ber 
pfgc^if^en  ^erfönlid)feit§art  ber   betreffenben  ©tufe;   e§   waren 


400         S  t  e  i  n  m  a  n  n :  ^ie  lebenbige  ^erfönlic^feit  ©otteS  2C. 

nur  einige  SDlerfmale  l^injugefügt,  bie  nic^t  eine  eigcntlid)e  2)urc^' 
bred^ung  biefer  SBorftellung  bebeuteten,  oielnte^r  nur  eine  geroiffc 
„aSergrö^erung"  ber  2lnfc^auung  mit  f\ä)  brad)ten.  3[ft  (Sott  ate 
geiftige  ^erfon  in  ber  nämlichen, SBeife  bem  geiftigen  ^erfonen« 
leben  beS  ÜJlenfc^en  in^altlid^  ibentifd^,  unb  xoxü  [eine  Sejeic^nung 
al§  geiftiger  ^erfon  tbtn  ba§  jum  SluSbruct  binngen,  fo  ba^  man 
and)  \)kx  ben  perfönlid^en  ®ott  mit  SRec^t  einen  vergrößerten 
3)lenfci^en  nennen  fönnte?  S)ie  9Intmort  auf  biefe  ^Jrage  fann  nur 
oerneinenb  lauten.  ®ott  ift  nic^t  in  bemfelbcn  ©inne  geiftige 
^erfon,  mie  bie  Oottl^eiten  beS  ?ßoIgt^ci§mu§  pfgc^ifc^e  $erfonen 
fmb.  ©Ott  ift  geiftige  ^erfon,  ba§  bebeutet  nic^t:  er  ift  ein 
SSSefen  oon  genau  berfelben  SebenSform  wie  bie  SWcnf^cn.  2)urc^ 
bie  93ejeici^nung  ®otte§  al8  geiftige  ^ßerfon  wirb  oielmel^r  eine 
anber^artige  ^ejiel^ung  jmifc^en  @ott  unb  bem  geiftigen  ^erfonen« 
leben  jum  Slu^brucf  gebrad^t,  nid)t  eigentlich  eine  formale  ^ben« 
tität  beS  ©öttlic^en  unb  SJlenfc^Iid^en,  fonbem  ein  urfdd|Ii(^e§ 
aSer^ältniS.  Qmmer^in  aber  umf^Iiegt  biefe§  urfäc^li^e  ffier^ält* 
ni§  @otteS  jum  menfc^Iidien  ®eifte§(eben,  menn  au^  nidjt  eine 
begriffliche  ^bentität,  fo  boc^  ben  ©ebanfen  einer  gemiffen  quali» 
tatioen  ©lei^roertigfeit  beS  betreffenben  menf^lic^en  unb  be§  gött« 
Iict)en  Seben§.  ^ül^ren  mir  ba§  foeben  älngebeutete  meiter  aus! 
3unäcl^ft  alfo  ^anbelt  e§  ftd^  ^ier  ni^t  barum,  bag  oon  ®ott 
bireft  bie  betreffenbe  menfc^lic^e  2)afein§form  au8gefagt  roürbe^ 
mie  eS  bei  2lnmenbung  beS  pfr)c^ifd)cn  ^erfönlid^teitgbegriffe^ 
auf  bie  göttlichen  2ßäc^te  beS  ^olgt^eiSmuS  ber  ^^aD  ift.  .^ier 
!ann  eS  fic^  aud|  gar  nid)t  barum  l^anbeln.  2>a$  geiftige  ^er« 
fonenteben  beS  aWenfc^en  ift  nic^t  oon  ber  2lrt,  ba|  eS  eine 
folc^e  birefte  3Inmenbung  auf  @ott  5ulie|e.  SOIan  märbe  ja  bann 
auf  ®ott  bie  biefem  menfc^Iic^en  ^erfönlic^feitSleben  na^  feiner 
eigenen  ©elbftbeurteilung  ro  e  f  e  n  1 1  i  d)  eignenbe  Unabgefd^loffen= 
t)eit  mit  übertragen  muffen,  jenen  S^aratter  beS  9licl)tfertigfein6, 
fonbem  immer  nur  S33erben§.  2llfo  bie  ganje  niemals  juftänb» 
lic^e,  fonbern  ftet§  teleologifc^e  Slrt  be§  geiftigen  ^erfonenlebenS 
©erbietet  fol^e  birefte  Uebertragung  feiner  ©runbjüge  auf  ®ott. 
S)arum,  menn  @ott  j.  S.  bie  geiftigen  S^arafterjüge  ber  ffiabr« 
^aftigfeit,  ^eiligteit  unb  ®erect)tigtcit  beigelegt  werben,  fo  roiü 


@teinmann:  ^ie  (ebenbige  $erfönli(!)!ett  ®otte§  2C.         401 

ba^  jebenfatl^  ni^t  fagen,  ba^  er  tDal^r^aftig,  Ifeilig  unb  gerecht 
fei  irgenbirie  in  ber  9lvt  wie  wir  e§  finb,  bie  roir  ba§  atle§  im^^ 
mer  nur  me^r  nnb  mef|r  annätiernb  werben. 

SRun  ^anbelt  e§  ftd^  ja  aber  bei  ber  ©rfaffung  ber  polg* 
t^eiftifc^en  ®ottt)eiten  aU  pfgi^ifdier  ^erfönlic^feiten  au^  nic^t  um 
eine  bIo|e  Uebertragung,  fonbem  jugteic^  oft  genug  um  eine  ge* 
roiffe  (Steigerung  ber  menfcl)Ud)en  ßeben§form  bei  if)rer  Slnroen* 
bung  auf  bie  ©ötter.  @ntt)ä(t  DieQeic^t  ber  ©laube  an  @ott  al§ 
geiftige ^erfönlid|feit aud) eine fold)e  ftcigernbe  Uebertragung? 
3)a§  roäre  bann  etroa  in  ber  SQBeife  ju  beufen,  ba^  aüe§,  n)a§ 
oom  menfc^Iic^en  ^erfönlic^teit^leben  beftänbig  al§  Qid  erftrebt 
mirb,  ®ott  aU  uottenbet  gebad)te  ©igenfc^aft  beigelegt  würbe. 
9luc^  bie§  aber  trifft  nic^t  ju.  @§  ift  pielmel^r  ganj  unmöglicl), 
irgenb  einen  3^9  ^^^  roerbenben  menfdilic^en  "»^erfönlidifeitglebeng, 
auc^  menn  berfelbe  al§  ooKenbet  gebad)t  ift,  bireft  üon  @ott 
auSjufagen  al§  einen  inneren  ©^aratterjug  feine§  göttlichen  ?ßer* 
fönlic^teit§leben§.  ®enn  gefegt  einmal,  wir  fönnten  un§  Don 
geiftigem  ^erfönlicl)!eit§leben  menfd^tic^er  3lrt  al§  einem  abge* 
f^loffenen  unb  in  fid)  ootlenbeten  überhaupt  eine  SBorftetlung  ma« 
c^en,  fo  mürbe  biefc  SBorftellung  boc^  jebenfallg  bie  ^izz  be§  ®e* 
roorbenfeinS,  eineS  langen  jurücf gelegten  9Bege§  unb  überftanbener 
kämpfe  in  fid^  enttjalten  muffen,  foHte  fie  für  un§  überhaupt  noc^ 
porftellbar  fein.  3Jlan  fu^e  fi^  nur  einmal  einen  roirflid^  üoll* 
cnbeten  fittlii^en  ®f)araftcr  ober  einen  burd)  unb  burd)  miffen* 
fd)aftlid)  matir^aftigen  ober  äft^etifc^  bercid)erten  unb  oerebelten 
9Äenfd)en  oI)ne  ba§  ©emorbenfein  ju  bcnfen,  alfo  mit  9Beglaffung 
all  be§  2Btberfianbe§  unb  ®egenfa^e§,  moran  fid)  feine  Äraft  er^ 
probt  ^at!  SBon  alle  bem  mu$  nun  aber  gerabc  abftrat)iert  mer« 
ben,  menn  jene  SSorfteHung  oollenbeten  geiftig  perfönlid)en  2)afein§ 
auf  ©Ott  i^re  3lnmenbung  foll  finben  föunen.  @r  ift  eben  bod| 
nid|t  ei-ft  ^erfönlic^teit  geworben. 

®a§  bie  religiöfe  Ueberjeugung  oon  ©ott  al§  einer  geiftigen 
^erföntic^feit  nid)t  eine  unb  fei  e§  au^  fie  fteigernbe  SJlnroenbung 
ber  3^9^  ^^^  menfdjlic^en  ^cvfönlic^feit§leben^  auf  ©ott  bebeutet 
ober  bebeuten  fann,  biefer  ©infic^t  erroäd)ft  nod)  eine  QSefeftigung^ 
wenn  mir  ©ott  mirt(id)  ju  allem  merbenben  geiftigen  ^erfön« 


402         ©teinmann:  %xt  (ebenbige  $erfonIid^f ett  ®otteiS  it. 

lic^feitöteben  b.  ^.  jum  ©anjen  beS  gefc^ic^tlic^en  ®etfte§(eben§ 
in  religtöfe  SSejie^ung  glauben  fe^en  ju  bürfen.  98ie  n)ir  un3 
fc^on  a\x^i\>xaä)e\\,  roirb  biefe§  ©anje  ixoax  sufammenge^alten  burc^ 
ben  c^arafterifttfc^en  gemeinfamen  3^9  ber  überjeugung^ooUen, 
felbft(o[en  ^inroenbung  jum  2)ienft  einer  gefc^ic^tlic^en  ätufgabe, 
ift  babet  aber  in  feiner  empirifi^en  @r[^einung  reic^  an  inneren 
®egenfäf(en  unb  SBiberfpruc^en.  Unb  nun  oerfuc^e  man  einmal, 
bie  ©runbgüge  biefeS  un§  gefc^idjtlic^  befannten,  innerlich  bis  ju 
©egenfä^en  bifferenjierten  @efamtperfonlic^{eit§(eben§  auf  @ott 
anjuroenben  als  @runbjüge  feineS  ^erfönlic^feitSlebenS.  (SS  ift 
fc^led)t^in  unmöglich.  @ntn)eber  n)ir  uolljie^en  biefe  ätnmenbung 
b  i  r  e  f  t ;  bann  müßten  mir  auf  @ott  aUeS  mögliche  oon  inneren 
(Btrebungen  jufammentragen,  xüa^  ft^  mol^l  in  einer  gemeinfamen 
©runbtenbenj  jufammenfinbct,  in  ber  2luSmirfung  aber  meit  auS- 
einanber  ge^t.  2)aS  {)iege  aber  @ott  in  bie  SCßirrniffe  beS  nod) 
unfertigen  unb  barum  in  fic^  entjmeiten,  merbenben  ©eifteSlebenS 
l)inabjte^en.  Ober  mir  fu^en  bei  ber  Slnmenbung  auf  ®ott  bie» 
feS  geiftige  @efamt(eben  auS  ber  Unoollenbung  in  bie  SSoQenbung 
ju  ftcigern,  unb  bann  müßten  mir  unS  ein  ©eifteSleben  ausbeuten, 
baS  all  bie  fid^  annod^  miberftrebenben  2^enbenjen  beS  geiftigen 
iSebenS  als  eine  miberfpruc^Slofe  @in^eit  umfaßt,  eine  Slnfc^auung, 
bie  mir  gar  nic^t  uolljiel^en  tonnen. 

©0  ergibt  fic^  unS  auf  jebe  äBeife,  bafe  bie  SBejeic^nung 
©otteS  als  geiftiger  ^erfönlic^teit  nic^t  als  eine,  fei  eS  birefte, 
fei  eS  fteigernbe  2lnmenbung  ber  ©runbjüge  beS  menfdjUc^en 
©eifteSlebenS  auf  i\)\\  gemeint  fein  tann.  9Kc^t  nur  alfo  bebeutet 
^^erfönli^teit  im  g  e  i  ft  i  g  e  n  ©inn  etmaS  ganj  anbereS,  als  ber 
SBegriff  „pf^d^if^c  ^erfönlic^fcit"  auSbrücft ;  eS  l^at  au^erbem  mit 
ber  2lnmcnbuhg  bicfeS  93egriffeS  auf  @ott  aud)  eine  ganj  anbere 
93emanbtniS  als  mit  ber  ©rfaffung  ber  göttlid^en  3Wäd^te  nacj^ 
bem  95ilbe  pfr)d^ifc^=perfönlic^en  2)afeinS.  2)ie  SBenbung:  ®ott, 
als  ^^Serfönlid)feit  gefaxt,  fei  einfad)  ein  vergrößerter  9Kenfc^,  bort 
ganj  angebra^t,  ift  barum  l^ier  nid|t  am  ?ßla^e. 

SBaS  fonft  meint  benn  aber  bie  ©ejei^nung  ®otteS  als  ^er* 
fönli^teit  im  geiftigen  ©innc,  menn  ni(i)i  biefeS  barunter  oerftan* 
ben  werben  tann,  maS  ficf|  in  2lnalogie  mit  ber  pfgd^ifc^en  ^]ßer* 


@  t  e  i  n  m  a n  n:  ^ie  Ubenbige  ^erfönlic^feit  ©otteS  zc.         403 

fönlid^feitöfaffung  @otteS  am  meiften  no^elegt?  98ir  fagten  es: 
oben  fd)on:  in  ber  ^ejei^nung  @otteS  qI§  geiftige  $erfönlid)feit 
finbet  eine  eigentümlid)e  u  v  f  ä  (^  I  i  c^  e  Seiie^ung  @otte§  jum 
gciftigen  ^erfonenfeben  ber  SWenfd^^eit  i^ren  Slu^brucf.  3)a§  gilt 
e§  je^t  nä^er  auszuführen. 

SSo  geiftigeS  5ßerfönlic^feit§Ieben  unter  bem  St\6)^n  ber  gröm* 
migfeit  fielet,  ba  ift  e§  getragen  t)on  ber  Ueberjeugung,  oon  ®ott 
geforbert  ju  fein.  S)a§  ift  aber  eine  2lrt  urfäc^lic^er  93eiief)ung 
,@otte§  JU  biefem  ^erfönlic^teitSleben.  95efouber§  innig  geftaltet 
fic^  biefe§  urfäc^lic^e  aScr^ältniS  für  ben  djriftlic^en  ©lauben. 
Unfre  d^riftlidje  Ueberjeugung  ift  xooi^l  and),  bap  @ott  geiftige§ 
^erfonenleben  forbert.  2lber  er  forbert  e§  nidit  nur,  er  wirft  es 
auc^  felbft.  5iur  burd)  feine  SQSirfung  ift  e§  übertiaupt  in§  3)a* 
fein  getreten  unb  tritt  beftänbig  nur  burc^  feine  SBBirfung  in§  ®a* 
fein,  mo  immer  e§  im  einjelnen  ^^üe  jum  3)afein  !ommt,  SltleS 
fic^  @mporringen  geiftigen  Seben§  erfd)eint  ^ier  ni^t  aU  eine 
oereinjelte  nur  inbipibueUe  53emü^ung  an  einem  Dereinjeltcn  5ßunfte 
ober  in  feiner  ©efamt^eit  at§  eine  nur  menfc^Ud^e  33emüt|ung, 
fonbern  e§  ift  eine  SBirfung  ber  eine  ganje  aOSelt  foldien  SebenS 
überall  forbernben  unb  roirfehben  ©ott^cit.  ®arum  eben  rul^t  all 
ba§  Streben  unb  Kämpfen  ber  im  äBerben  befinblic^en  geiftigen 
'ißerfonen,  einer  Ueberma^t  oon  äBiberftanb  unb  ber  SRiefengrö^e 
ber  Slufgabe  jum  2:ro^,  auf  ^^Ifengrunb ;  bie  SKad^t,  welche  eine 
aWac^t  über  aüe  SBelt  ift,  befinbet  ftd)  ja  ^ier  am  SQäerte.  Unb 
baS  eben  ift  ber  @inn  beS  @laubenS  an  ©ott  al§  eine  geiftige 
5ßerfönlid^feit,  biefe  3wtüdffü^rung  alleS  geiftigen  ^erfonlic^feitS- 
lebend  auf  i^n  unb  biefe  SRu^e  ber  einjelnen  roerbenben  ^erfön* 
lic^feiten  in  feinem  allmächtigen  ©nabenmißen. 

3l^rc  parallele  auf  ber  (Stufe  be§  ^olpt^eiSmuS  ^at  biefe 
urfäc^licl)e  Sejie^ung  ©otte§  jum  menfc^lic^en  ^erfönlic^feitsleben 
nid)t  in  ber  pfpc^ifc^en  ^erfönlic^feit  eineS  3^^*^/  Snbra  ober 
SWarbuf.  aSielme^r  ift  ^ier  ju  beuten  an  bie  religiöfe  93ejie^ung 
jener  ®ottf)eiten  ju  ben  ©ütern  unb  ^flic^ten  be§  ftaatUc^eu  unb 
tulturellen  2eben§.  SWarbut  al§  SBolföfönig,  3eu§  Spxtos,  2lt^ena 
al8  SBei§^eit§göttin  unb  ä^nli^e§,  nict|t  bie  ant^ropomorp^iftifd)en 
Rulturperfönlidifeiten  biefer  ©ott^eiten  finb  al§  bie  Sßorftufen  ber 


404         ©teinmann:  5)ic  lebcnbigc  $erfonltd^!ett  ®otteS  jc 

@etftperfönlic^fett  ©otteS  gu  betrachten.  @S  ba^nt  ft^  ja  auc^ 
grabe  in  biefer  rcligiöfen  ^fnbejiel^ungfe^ung  bcr  göttli^en  SWäc^te 
gum  fulturcllen  Seben  jene  innere  SBergeiftigung  berfelben  an,  bie 
fic^  fc^on  bort  anf^icft,  bte  formen  be§  pfgc^ifc^en  ?ßerfonen« 
Ieben§  roirKic^  ju  burdibred^en,  n)a§  ^ier  aber  nid)t  weiter  oer* 
folgt  werben  foH. 

®iefe  urfäc^lidie  Sejie^ung  @otte§  jum  geiftigen  ?ßerfonen* 
leben  f^Iie^t  nun  aber  für  ben  religiöfen  ©tauben  boc^  auc^  eine 
geroiffe  inl^altlic^c  33eftimmtt|eit  be§  götttidjen  SBefenS  in  fi4 
2le^ntic^e§  finbet  ftd)  ja  fc^on  bort,  loo  bie  ©ott^eit  afö  ©arantin 
äußerer  Kulturgüter  oerel^rt  wirb,  ^[e  mel^r  nun  aber  ba§jenige 
innerlid^  gefaxt  wirb,  xoa^  in  ber  gottli^en  gorberung  begrünbet 
ift,  um  fo  metir  erfc^eint  bie  göttUd^e  g^orberung  ate  bcr  2lu§bru(f 
eine§  entfpre^enben  inneren  SBefen§  ber  ©ott^eit.  U  n  f  c  r 
©taube  nun  rebet  ni(^t  nur  oon  göttlidien  gorberungen  inner* 
lic^fter  2lrt;  t)ier  fte^t  oietmel^r  bie  3^bee  ber  ©otteggemcinf^aft 
im  3^ttt^wnt.  darunter  ift  ju  nerfte^en  nic^t  nur  eine  SBec^fef* 
bejieliung  ganj  dunerer  2lrt  oon  SBertrauen  unb  ^ilfe,  auc^  nic^t 
nur  bie  t)iel  innerlichere  üon  ^^tberung  unb  ©e^orfam.  ©onbem 
bar  in  befte^t  bie  ©otte§gemeinfct)aft;  baj3  ©ott  at§  SBeroirter  beS 
geiftigen  ßeben§  einen  9lft  ber  ©elbftmitteilung  Dottjie^t.  Ober 
aucfi :  ©Ott  f orbert  oon  un§  ein  ^ineinroac^fen  in  fein  Sebcn,  unb 
ba§  eben  ift  unfer  loerbenbeö  ^erfonenleben. 

2)a§  fd^eint  nun  aber  boct)  roieber  auf  bie  Strt  9tu8fagen 
über  ©otte§  perfönlict)e§  S)afein  ^inauöjulaufen,  wie  mir  fie  oben 
glaubten  ablehnen  ju  muffen,  ^oä)  e§  f  cl)  e  i  n  t  roirüic^  nur  fo. 
3Ba§  mir  bort  ablef)nten,  mar  eine  birette  2lnmenbung  bcr  Six%t 
be§  merbenben  ober  anä)  im  Qbeal  feiner  SBoUcnbung  gebeerten 
menfcf)licl|eu  $erfönlicl|teit§leben§  auf  ©ott.  3)a§  bleibt  aber  auc^ 
^ier  au§gefd)loffen.  Unb  jmar  eben  ber  Umftanb  fc^lic^t  ^ier 
bergleicf)en  oon  oornetjcrein  au§,  ba§  ©ott  ber  unerfc^öpflic^  reiche 
Söirfer  unb  SDlitteiler  folc^en  fiebenS  ift  unb  eben  bamit  feiner 
ganjen  2lrt  na^  über  all  biefe§  oon  i^m  gcmirfte  Seben  ^inauS« 
liegt.  Unb  all  bie  innere  ©emeinfc^aft,  bie  mir  bei  unfercm  in* 
neren  geiftigen  SCBac^^tum  an  feiner  2lrt  geminnen  bürfen,  ift  ja 
boc^  gemi|  nic^t  gemeint  al§  ein  mirElicl)eS  SBoHauSfoften  feinet 


©teinmann:  ^te  lebenbige  $erf5nltc^!eit  ®ott^  ic         405 

götttidicn  ®cifte§le6cn§,  fonbern  als  ein  tci(nel^mcnbc§  hinein* 
iDQcfifen  gteid)fam  nur  in  bie  Ste^nti^feit  feines  iBilbeS.  ^troaS 
©ntfpredöenbeS  gilt  \a  f^on  t)on  bem  S^rifto  ©leic^geftattctroer* 
ben  bcS  El^riften.  9lud)  baS  ift  ja  niemalen  ein  roirflic^eS  @r« 
reid(en,  fonbern  immer  nur  ein  annä^ernbeS  3le^nlid)n)erben ;  eS 
ift  and)  n\6)t  eine  2lnnal|erung  an  ein  in  ber  2:^eoric  erreichbares 
ibealeS  SSorbilb^),  fonbern  eS  bleibt  fd^on  t|ier  eine  geioiffe  3lrt* 
bifferenj  beS  inneren  SebenS  befielen,  mie  fie  j.  93.  ©cf)felcrmad)er 
in  feiner  ©laubenSlelire  begrifflid^  ju  faffen  oerfuc^t.  Qn  weit 
gcfteigertem  SWa^e  gilt  baS  oon  jenem  2lnteilne^men  an  ©ottcS 
Seben  ober  ber  3Dlitteilung  feines  SebenS  an  unS,  wie  eS  fic^  in 
unferm  ^erfönlid)teitmerben  ootljie^t.  ®S  tommt  ja  ^ier  nod^ 
biejenige  roirHicIie  Slrtgleid^l^eit  in  SBegfaH,  mie  fie  ben  menfd^* 
liefen  (ärlöfer  mit  ben  ©rlöften  oerbinbct,  fofern  fie  beibe  jeneS 
&^btn  als  mitgeteiltes  befi^en. 

SQSenn  mir  bemnac^  auf  ®runb  ber  Ueberjeugung,  ba^  unfer 
OeifteSleben  unS  auS  OotteS  SebcnSfülle  mitgeteilt  ift,  Oott  gei« 
ftige  ^erfonlic^feit  nennen,  fo  fann  baS  atfo  ni^t  bebeuten,  ba§ 
n)ir  nun  bod^  mieber  ben  Qn^alt  unfereS  geiftigen  ©afeinS,  baS* 
felbe  oottenbet  gebad)t,  oon  Oott  auSfagen  rooHten.  (Sonbern  baS 
roiU  eS  bebeuten:  mir  fud^en  unS  mittelft  fold^er  93eieic^nung 
©otteS  oon  feiner  überfc^manglic^en  SebcnSfülle  in  ber  SR i d)* 
t  u  n  g  unfereS  fid)  ooüenbenben  geiftigen  ^erfönli^feitSlebenS  eine 
ungefähre  SBorftellung  ju  machen.  — 

®aS  eben  ©efagte  nun  füt)rt  unS  einen  ©d^ritt  weiter  in 
unfern  Darlegungen,  ^anbelte  eS  ftrf)  im  biSlierigen  um  bie 
gans  mefentlii^e  in^altlidie  SSerfd^iebenl^eit  jroifdien  ber  SSorfteUung 
@otteS  als  pfgc^if^er  ^^ßerfönlic^feit  unb  ber  -S^ee  ber  geiftigen 
^^ßerfönli^feit  ©otteS,  fo  fte^en  mir  je^t  unmittelbar  üor  ber 
grage  nac^  bem  met^obifc^en  Untcrfc^ieb  jmifdtien  ber  mp* 
t^ologifterenben  unb  ber  geiftigen  3)en!meife  über  @ott. 


1)  2»ir  toia  Meinen,  bicfe  burc^au«  nnäutrcffenbe  SBorftcHung  faun  ftc^ 
immer  nnr  bort  cinfteßen,  tüo  ber  ßangc  ®rnft  unb  bie  ßange  $ö^c  unb  ba* 
mit  and)  bie  gange  @d)tt)erc  ber  reltgiöfcn  Sßflic^t  no*  md)t  aufgegaiiflen  ift. 
®8  ^anbelt  pd)  ^ier  fc^merlid)  nur  um  eine  ijrage  be«  j^iftorifc^en  SBerftönb* 
niffeS  ber  ^erfon  3efu. 

SeitWrift  für  «^«logte  unb  Älrc^e.    W,  ^afiVQ.,  6.  $eft.  28 


406         @tetnmann:S)ic  lebenbige  ^crf önlid^fcit  ®ottcS  k. 

SDer  mr)tt)oIogiftcrcnben  3)cnfir)eifc  galt  bQ§  plaftifc^e  ant^ro^ 
pomorp^ificrenbc  58Ub  ber  ©ott^citcn  qI§  eine  toivfiidie  53efc^rei* 
bung  tt)re§  realen  S)afein§.  ®ie  ®ötter  ftnb,  wk  oon  if)nen  ge* 
rebet  wirb,  ©rabe  mittelft  biefer  93efc^reibung  erfoffen  mix  fie 
in  il)rem  eigentlichen  ©ein.  2)er  ©faube  an  ©otte^  g^tftige  ?ßer» 
fönlic^fett  bebient  fi^  bei  feinen  2lu§fogen  über  ©ott  ganj  ä^n* 
Kd^  Mingenber  3Benbungen.  ®od)  ift  l^ier  ein  me^r  ober  weniger 
beutlid^eS  83en)u^t[ein  bafür  oor^anben,  ba^  aüc  foldje  3lu8fagen 
nid^t  eigentlich,  fonbern  „frimbolifc^"  gemeint  fmb  unb  barum  nic^t 
einer  eigentlid^en  ©efc^reibung  ©otte§  gleid^fommen.  Unb  biefe§ 
93en)uJ5tfein  für  ben  „fgmbolifc^en"  ©^arafter  alter  2lu§fagen  über 
©otteg  3)afein  wirb  um  fo  tiarer,  je  lebenbiger  bie  Unüergleicl)* 
barfeit  ©ottcä  mit  allem  SWenfc^licIjen  empfunben  roirb.  3)ic  leb- 
hafte ©mpfinbung  l^ierfür  rodc^ft  aber  ganj  bireft  au§  ber  reli^ 
giöfen  ©rfal^rung  l^erauS,  bie  mit  ber  ©rfaffung  ©otte§  alö  gci- 
ftiger  ^erfönlic^feit  jufammen^ängt.  SBo^l  trägt  auc^  bie  genauere 
©rf enntni§  ber  SBelt  baS  irrige  baju  bei,  ba§  ©ott  für  unfere  5Bor* 
ftellung  über  alle  menfc^tid^en  SWa^e  ^inau§roä^ft.  2)er  ©infiuB 
biefeS  göftor^,  grabe  aud)  für  ba8  religiöfe  JBerou^tfein  unferer 
3eit,  foll  geroig  nid^t  üertannt  werben.  9Bir  braucf)en  un8  aber 
auf  ben  ©treit  über  5Red^t  ober  Unrecf|t  biefeS  ©influffeS  ^ier 
garni^t  einjulaffen.  3)enn  aud^  bie  Sieligton  ganj  bei  fic^  felbfl 
entroidfelt  fiel)  in  berfelben  SRic^tung  auf  eine  immer  ftärferc  Sc« 
tonung  be§  ©el^eimniSoollen  in  ©ott,  ba§  fic^  allem  93cgreifen 
nac^  menfd^lic^en  SJlagftäben  entjie^t.  @§  ift  ba§  eine  genuin 
religiöfe  3)entroeife.  9Bie  grabe  ein  immer  ooöenbetere^  unb  tie* 
fereg  hineinleben  in  ba§  oon  ©ott  geroirtte  geiftige  fieben  in  bie= 
fer  Stiftung  roirfen  mug,  ba§  eben  mar  e§  hoi),  roa§  roir  un§ 
foeben  oergegenroärtigt  l^aben.  Unb  roenn  mir  baoon  rebeten, 
bag  alle  2lu§fagen  über  ©ott  als  ben  fjorberer  unb  3Äitteilcr 
alle§  geiftigen  fiebenS  au§  bem  Sfnn^tn  feiner  eigenen  Seben§fülle 
aSerfuc^e  fmb,  biefe  g6ttlid)e  SebenSfüHe  in  ber  $Hid)tung 
be§  fxd)  ooHenbenben  menfc^li^en  ^erfönlidt|feit§leben§  oorfteüig 
ju  mact)en,  fo  \)k^  ba§  bod^  ni(i)t§  anber§,  al§  ha%  alle  biefe  9lu§» 
fagen  über  ©ott  nii^t  eigentlich,  fonbern  „fpmbolifc^"  gemeint  fmb. 

93on  biefer    „frimbolifc^cn"    2Irt  ift  j.  93.   bie  Uebertragung 


@teinmann:  ^ie  lebenbige  $erfönlt4)!ett  ©otteS  2C.         407 

bct  :3bcc  cine§  geredeten  SRid^terS  auf  ben  geiftpcrfönli^cn  @ott. 
SEBcnn  auf  bcm  ©tanbpunft  ber  mgt^ologifiercnben  ©cnfipeifc  biefc 
SSorftettung  auf  ®ott  angeiüenbct  mixt),  fo  gilt  ba§  bort  al§  eine 
ipirfli^e  ©ein§au§fage  über  @ott  unb  fein  2:un.  Sßon  @otte§ 
inneren  ®ntfdt)Iie|ungen  fdieint  burc^  folc^e  SluSfage  ein  ganj  gu« 
treffenbe§  93ilb  gewonnen,  foraie  aud|  von  ber  Slrt,  roie  er  feine 
®ntf(i^lüffe  au§fü^rt.  ®§  ift  bei  @ott  in  beiben  ^infi^ten  genau 
fo  wie  bei  einem  geredeten  SRic^ter.  ©elbft  ein  @efe^bud|,  ein 
SRic^terftu^I  unb  allerlei  greifbarer  ©trafoolljug  gehören  ^ier  ei* 
gentli^  mit  baju.  Slnberö,  n)0  (Sott  im  3iifoJ^n^^"^öng  mit  bem 
geiftigen  ^^erfonenleben  al§  gerechter  SRic^ter  bejeid^net  mirb.  S)a§ 
ift  bann  nic^t  al§  eine  mirflid^e  (5ein§au§fage  über  @ott  gemeint, 
al§  ob  er  mirtlic^  etroa§  9le^nlid^e§  an  innerer  93efd()affen^eit  märe, 
wie  ein  ibealer  menf^Iid^er  9lid)ter.  ©onbern  l^ier  mirb  baburc^ 
jum  9lu§brudt  gebraut,  mie  alle  Sntfd^eibung,  unb  jmar  eine  fe^r 
crnfte  unb  wahrhaftige,  ba§  3"«^^*«  be§  SWenfd^en  treffenbe  ®nt= 
fc^eibung  dou  @ott  allein  abfängt.  Unb  biefeS  fein  SSer^ältni^ 
ju  un§  mirb  nun  in  ber  SRic^tung  begjenigen  oorgeftellt,  mag 
un§  in  ben  menfi^lic^en  38erl)ältniffen  2lnaloge§  oon  benfbarfter 
JßoHEommen^eit  gegeben  ift.  3)a§  ^eij3t  aber,  bie  93ejcid)nung 
@otte§  al§  gerediter  Slid^ter  ift  nid^t  mpt^ologifterenb,  fonbern 
,,fijmbolif^"  gemeint. 

@o  ift  e§  auc^,  menn  mir  oon  ©otteS  „Soxn**  reben.  ®anj 
fidtjer  foll  bamit  oon  ®ott  nid)t  ber  un§  befannte  menf^lid^e  9tffeft 
bireft  au^gefagt  merben.  ©benforoenig,  menn  mir  un§  ber  aQ3en= 
bung  bebienen:  „®ott  f)a^t  bie  ©ünbe".  3)a§  fo  ganj  mörtlid) 
nel)men,  ba§  märe  bie  2Irt  ber  mgt^otogifierenben  3)enfmeife. 
©onbern  au^  t|ier  ^anbelt  e§  fx6)  um  einen  9lu§brucE  für  ben 
bitteren  ©ruft  be§  oon  ©ott  gemirften  geiftigen  fieben§,  ba§  fein 
Mattieren  tennt  unb  auf  ©ntf^eibung  bringt.  Unb  barum  fuc^en 
Toir  un§  ©otte§  9Befen  in  ber  Slii^tung  beSjenigen  oorftcHig 
äu  madien,  xoa^  un§  oon  SKeu^erungen  au^gereiftefter  ©ntf^ieben* 
^cit  be§  ©eiftigen  befannt  ift.  Ober  follte  e§  mirttic^  bie  SReinung 
fein,  ©Ott  burdt)  Beilegung  fol^er  ^räbifate  in  bie  inneren  3or' 
neSaufmatlungen  unfereS  roerbenben  ©eifte§leben§  Iierabjujie^en, 
benen  fo  üiel  affettooUe  §ärte  antiaftet  unb  bie  mit  fo  oiel  realem 

28* 


408         <^teinmann:  ^te  Ubenbige  $erfönUc^!eit  (^otte^  :& 

©^mcrjgefül^t  oerbunben  ftnb? 

Qa  felbft  bcr  58erfuc^,  glcid)fam  bcn  3fnbcgriff  bc3  geiftigen 
SDSefcn^  OottcS  burc^  ba§  SBort  „ßicbc"  ju  erfaffcn,  ucrlcugnct 
nid)t  bicfcn  „fgmbolifc^cn"  S^arafter,  ®anj  unroillfürlid^  fügen 
wxx  ^icr  bet  Siebe  ba^  ^räbifat  „fittlic^"  ^inju,  um  baburt^ 
beutUc^  }um  ^u§brudt  ju  bringen,  n)ie  ba^  menfc^Iidi  ©egebene 
}ur  öejeic^nung  göttlicher  SRegung  oerfagt.  Qfft  i>o^  mit  biefer 
ftttlid)en  Siebe  ®otte^  nic^t  nur  bie  unS  n)ot|(  menf^Ii^  befannte 
„üerfittlic^te  Siebe"  gemeint.  2lber  auc^  nid)t  etwa  nur  ba^  Don 
aDem  roerbenben  ©eifte^Ieben  unabtrennbare  9Witteilung§ftreben, 
haS  fid)  ia  aud)  „fttt(id)e  Siebe"  nennen  lägt,  foQ  in  ber  un§ 
menfd^Iic^  bekannten  SBeife,  freilid)  auf«  ^öc^fte  geftcigert,  als 
eine  innere  Siegung  in  ®ott  miebergefunben  werben,  ©onbem 
er  i[t  ja  ber  erliabene  Urheber  unb  SWitteiler  aKe«  biefeS  gciftigen 
Seben^  mitfamt  feinem  SKitteilungäbebürfniS  unb  feiner  SKittei» 
Iung8pfli(i)t,  auc^  mit  all  feinem  ©Iflrf  unb  feinem  @rnft.  3)aS 
©eiftesileben,  uou  bem  all  biefeS  ^erftammt,  baS  ift  me^v  al§  aQe 
uns  befannte  ftttlid^e  Siebe,  mag  eS  auc^  in  ber  9tict|tung  beS 
SBoHfommenften,  waS  mir  bapon  fennen,  gefugt  werben.  3)arum 
ftammelt  felbft  baS  958ort  „ftttlic^e  Siebe"  oon  ®ott  in  ber  ©pra^e 
ber  retigiöfen  ©gmbolif. 

@S  fei  tytx  nun  enblic^  no^  auf  eine  ^ennjeic^uung  beS 
geiftigen  äBefenS  ®otteS  ^ingemiefen,  bie  mo^l  am  beutlic^ften 
jeigt,  mie  eS  fic^  ^ier  überall  nic^t  um  roirftic^e  SSefc^reibung, 
fonbern  um  ^'"fl^^i^ifl^  ^anbelt.  ®ott  ift  in  feinem  innerften 
SBefen  „^eilig".  ®urd)  feine  ©ejcic^nung  al8  „^eilige  Siebe" 
fu^en  mir  mot)l  nod)  }u  überbieten,  maS  mir  mit  ^ilfe  beS  Slit^* 
tung  meifenben  SBorteS  „fittlic^e  Siebe"  pon  i^m  auSjufagen  per« 
fuc^en.  3)ieS  9Bort  „^eiligfeit"  fübrt  unS  nun  fc^einbar  über 
alle  ©^mbolif  t)inauS.  2lber  meldjen  Qn\)alt  fyxt  biefeS  SBort? 
3[ft  eS  nic^t  felbft  ein  grogeS  ©qmbol  eben  für  baS  fpejifif(^ 
®öttlic^e  an  ®otte§  geiftigem  ^erfonfein?  ®egenüber  allen  SBer« 
fu^en,  bei  einem  einzelnen  ©rimbol  fte^en  ju  bleiben,  als  bringe  eS 
uns  mel^r  als  nur  eine  beftimmte  Slngabe  ber  3Begrid|tung  unferer 
SBorfteQung  pon  ®otteS  ^erfonenleben,  fte^t  ba  nic^t  biefeS  ©ort 
„^eilig"  por  unferen  3lugen  mie  ein  2Begmeifer,   ber  unS  uner^ 


<Steinmann:  ^ie  (ebenbige  $erfönli(i^!ett  (^otteg  2c.         409 

bittlid)  immer  micbcr   über   alle   biefe  SBenbungen  ^inauSmeift  ? 

©0  ^anbelt  eS  fi^  olfo  ^ier  bei  allen  etttielnen  9lu§fagen  aber 
©otteS  9eiftperfönlid)e  2lrt  nirgenb^  um  eine  mtit^ologifierenbe 
bire!te  SSefd^reibung  feines  innerften  SEBefenS,  fonbern  ftetS  nur 
um  fgmbolifd^e  ®rfcnntni§.  —  3)amit  l^ängt  ein  SOBeitereS  ju* 
fammen.  @S  wirb  l^ier  au^  ntc^t  irgenbmie  ein  abgefc^loffene§ 
©itb  uon  ©otteä  geiftigem  ©ein  erftrebt.  derartige  abgefd)loffene 
©ebilbe  jtnb  bie  Rulturperfönlid^feiten  ber  l^öc^ftentroidelten  mt|* 
t^ologifterenben  3)enln)ei[e;  fo  in  fid)  gefd)loffen  fmb  biefe  @e^ 
palten  jum  2:eil,  ba§  mir  fie  gerabeju  uor  un§  fe^en  fönnen. 
SBo  eS  fic^  bagegen  um  lauter  „fgmbolifdje"  2lu8fagen  Iianbelt, 
bie  me^r  in  einer  beftimmten  SWic^tung  weifen,  als  ba§  fte  un§ 
beftimmt  umgrenjte  S)etail§  in  bie  ^anb  gäben,  ba  la^t  fic^  ein 
abgefd^loffeneS,  bem  Original  entfprec^enbeS  93ilb  nid)t  entwerfen. 
Unb  wenn  ein  frommes  ©mpfinben  jeber  SBerfuc^,  ®otteS  geiftige 
^erfönli^feit  gteid^fam  p^otograp^ifd^  nad)jubilben,  als  etmaS 
UnfrommeS  anmutet,  fo  ift  baS  eben  eine  burdiauS  berechtigte 
Sleattion  gegen  einen  JRücffall  in  mt)t^ologifierenbe  2lrt. 

9Bir  Wnnen  an  biefer  ©teile  eine  turje  Slbfd^meifung  nid)t 
umgel)en.  ^n  bem  bisher  2lu8gefü^rten  beutet  fid^  f^on  an,  maS 
unfere  2lnjtd)t  ift  über  bie  rid)tige  2lrt,  ©laubenSauSfagen  über  bie 
geiftige  $erfönlid)feit  ®otteS  ju  bilben.  3)a  legt  fi(^  fd)on  l|ier 
loenigftenS  ein  abgrenjenber  ©eitenblid  auf  biejenige  9MetI)obe 
ber  ®laubenStet|re  na^e,  bie  mir  als  bie  altbogmatifc^e  bejeid^nen 
motten.  ®ort  bominiert  unfereS  ®radE)tenS  bie  mpt^ologifierenbe 
S)entmeife.  ^nl^altlic^  biffcriercn  fie  ja  freilid)  ganj  bebeutenb, 
bie  plaftifd)  anfc^aulid^e  Sorftellung  üom  o(r)mpifd)en  Q^n^  unb 
bie  substantia  spiritualis  infinita  ber  alten  ®ogm^tit.  2lber  bie 
2:enbenj  bei  ber  ©rfaffung  beS  ©öttlic^en  ift  bod^  in  einer  roefent* 
Kd)en  ^infid|t  bie  nämliche.  ®otteS  eigentümlid^eS  ®afein  bei 
fic^  felbft  foU  beibemal  in  abfc^lie^enber  9Beife  erfaßt  merben; 
nur  befc^reibt  eS  baS  einemal  bie  geftaltenbe  ^^antafte,  baS  an< 
beremal  ber  jergliebernbe  SBerftanb.  3)arum  ift  baS  9lefultat  in 
bem  einen  "^aü,  ein  beutlid^  umriffeneS  53ilb  beS  göttlid)en  3)afeinS, 
baS  anberemal  ein  flarer  95egriff.  2lud)  bie  genauere  Darlegung 
biefeS  göttlichen  S)afeinS  erfolgt  ja  nic()t  in  ganj  übereinftimmen* 


410         Stein  mann:  ^ie  lebenbige  $erfönUc^!ett  @otte§  }c 

ber  äBetfe.  ^ier  eine  anfc^auUc^e  ^efc^reibung  be§  mächtigen« 
lorfenumroaßten  ^auptc§  —  e§  ftnb  fc^roarje  Sorfen  —  mit 
bcn  föniglic^en  3^8^^  ^^^  ^^^  ©eroäl^rung  nirfenben  Sraue; 
bort  eine  betaiQierte  unb  möglid)ft  erfc^öpfenbe  9lufjä^Iung  oUer 
3Befen§eigenfd^aften  jener  substantia  spiritualis  infinita,  aKe§ 
genau  befiniert,  bebujiert  unb  ttaffifijiert.  @ö  ift  aber  boc^  in 
bcibcn  gätten  roieber  biefelbe  S^enbenj,  jene  SBirKid^teit  in  t^rem 
Oefamtbcftanb  ju  bef^reibcn,  man  bebient  fic^  babei  nur  oerfc^ie» 
bener  SWittet.  —  @§  ift  ^icr  nun  aber  nic^t  nur  an  biefe  ®otte§* 
befc^reibungen  ber  altort^oboyen  3)ogmatif  ju  benfen.  IBielme^r 
überaß,  mo  fxä)  in  einer  @Iauben§Ic^re  eine  ebenfo  genaue  3)ar» 
legung  beiS  göttlichen  2Befen§  in  ad  feinen  @igenfd)aften  finbet,  unb 
operiere  fte  au^  mit  ganj  anberen,  mit  geiftigeren  33egriffen,  ba 
ift  eg  im  @runbe  immer  biefelbe  @ac^e.  SDag  man  ein  fo  fc^ön 
abgefd^IoffeneS  unb  infofern  befriebigenbe^  ©egripbilb  oon  @otte§ 
geiftiger  ^erfönlii^feit  ju  erhalten  fuc^t,  ba§  eben  ift  unfere§  (Sx* 
achtens  ba§  9nange((|afte  unb  eine  3lu§n)irtung  be§  mqt^ologi* 
fc^en  Sauerteige^.  @§  I|at  für  ba§  entmidfeltere  fromme  ®efü^t 
immer  etma§  $einlid^e§,  menn  ein  ®ogmatiter  in  ®otte§  geifi« 
perfönlidiem  SOBefen  fo  genau  öefd^eib  §u  miffen  oorgibt  roie  in 
feiner  SBeftentafc^e. 

Slber  ein  Sinmurf  liegt  na^e.  ®ott  foQ  und  boc^  ba§  ®e« 
miffefte  oom  Oemiffen  fein;  mir  muffen  i^n  barum  mirflici^  föfl^n 
unb  greifen  fflnnen.  S3ei  jener  fgmbolifd)en  ^Bebeutung  aller  2lu§* 
fagen  über  (Sott  jerflie^t  aber  atle§  fc^einbar  in§  Seere.  SGBir 
l)aben  alfo  ju  jeigen,  ba§  ba§  teineSmegS  ber  gaU  ift.  3"  ^^^ 
3medE  werben  mir  auf  bie  SBurjel  all  biefer  fgmbolifc^en  2lu^* 
fagen  über  ©ott  al§  gciftige  ^erfßnlic^feit  jurürfjuge^en  ^aben. 
©s;  mirb  fic^  ^eraudftellen,  ba§  biefe  SßJurjel,  bie  jugleic^  ben  ei» 
genttic^en  rcligiöfen  Kern  biefer  ©gmbole  bilbet,  in  fic^  fclbft  alle 
nur  u)ünfd)en§n)erte  ®reifbarfeit  unb  93eftimmt^eit  beft^t,  unb 
bafe  barum  mir!lid)  feine  ©efa^r  oor^anben  ift,  eS  merbe  bei  ber 
®rtenntni§  be§  fijmbolifc^en  ®^arafter§  ber  religiöfen  SBorfleüungen 
fic^  alle§  in  eine  gro|e  2}erfd}mommen]^eit  unb  Unfa^lic^teit  oer» 
lieren.  —  Unb  bamit  tommen  mir  jugleid)  auf  einen  weiteren^ 
tiefgreifenben  Unterfc^ieb  „met{)obifd)er"  9lrt  jmifc^en  ber  m^t^o« 


steinmann:  ^ie  (ebenbtge  $erf5nlid)!eit  (^otte§  k.         411 

logifxcrcnbcn  unb  her  gciftigcn  SÄuffaffung  ©ottcS  aU  ^erfönli^fcit. 
3)ic  cntroirflungggcfd^id^tlid^c  SOBurjel  bcr  Srfaffung  bcr  ©Ott« 
Reiten  al§  Äulturpcrfoncn  fanben  wir  in  ber  naipcn  ant^ropomor* 
pf)ifxercnben Sluffaff ung  alleS  @cf(i^e^cn§.  @^  Iianbclt  fx6)  bäum 
eine  2:ätigfeit  bcr  geftaltenben  ^^^antafie,  bie  fxd)  bcn  unbeftimmten 
SinbtudC  baburd^  na\)e  bringt  bo^  fte  i^m  au§  bem  bekannten  tu 
genen  ßebenStreifc  t)erau§  greifbare  ®e[taft  gibt.  3)iefe  pl^antaficmä« 
|ige  ant^ropomorpt)ifierenbe  Oeftaltung  unb  jugleid^  5Wa^ebringung 
be^  Unbeftimmten  unb  menig  ©reifbaren,  bag  aber  bod^  fortbaucmb 
ober  immer  mieber  einen  ftarten  ©inbrudt  mad)t,  ift  auc^  tätig 
bei  aller  ©eftaltung  ber  ®ottt|eiten  nad^  bem  S3ilbe  ber  pfgc^ifd)en 
^erfönlic^feit.  ®ie  ganj  unbeftimmte,  auf  ©inbrüdten  berut)enbe 
UJorftellung  üon  einer  9Mad^t,  bie  ba  ift  unb  lebenbig  roirft,  unb 
mit  ber  firf)  ein  SSerfel^r  bürfte  ermöglidjen  laffen,  gewinnt  ba« 
burd),  je  nad)  bem  ®rabe  unb  ber  2lrt  ber  aufgemenbeten  ^^^an* 
taftefraft,  me^r  ®reif barfeit  unb  ®eftalt.  (Sol(^ebefriebigenbe@reifs 
barteit  unb  Seftimmt^eit  beft^en  t)ier  erft  bie  mgttiologifc^  fertigen 
®eftalten.  ^t  weiter  mir  bagegen  üon  biefen  SRefuItaten  ber  reli* 
giöfen  ^ß^antafie  au§  bie  ©ad^e  ju  il)rem  Urfprung  jurüdEüerf olgen, 
um  fo  unbeftimmter  wirb  atte§.  ®§  lä^t  ftd^  freilid)  nid()t  behaupten, 
ba|  mir  babei  ftet§  unb  überall  in  eine  abfolute  Unbeftimmt^eit 
hineingeraten  mürben;  nur  auf  ber  primitiven  ©tufc  bürfte  ba§ 
mo^l  oft  genug  bcr  %a\l  fein,  ©ofern  bie  göttlichen  ^^crfönlid^ä* 
feiten  ju  einer  beftimmten  9laturerfc^einung  ober  einem  bcftimmten 
®ut  be§  Sulturlebeng  in  einer  feftcn  93ejiel|ung  fielen,  mürbe  bei 
aller  Sluflöfung  be§  fa^lic^cn  ^^antafiebilbc§  bod^  ein  gemiffer 
einbeutiger  unb  bcftimmtcr  Sieft  übrig  bleiben.  93erglic^en  aber 
mit  bem  mijtliologifdt)  ooU  au§geftalteten  ®ebilbe  ift  biefer  SReft 
in  jebem  %a\l  ein  relatio  ®cftaltlofe§,  etma  eine  balb  gan$  oage, 
balb  beftimmtere  ®mpfinbung  einem  Jtatureinbrudf  gegenüber  ober 
bie  ^bee  einer  göttli^en  ©anftion  ober  SBcrurfad^ung  einc§  Sul» 
turgute§.  2Jlit  biefem  Ucbrigblcibenben  ift  nun  jugleic^  immer 
ba§  eigentlirf)  unb  bireft  9tcligiöfe  an  bem  betreffenben  ©otteg» 
glauben  ober  ba§  betreffcnbe  religiöfe  ®runberlebcn  au§  ber  mg* 
t^ologifc^en  ^üHe  ^erauögcfd)ält.  3)iefem  relatio  unbeftimmten 
Sern  be»   rcligiöfeu  ®runberlebcn§  gibt  erft  jene  ^ülle  bie  ooHe 


412         ©teinmann:  %k  (ebenbige  ^etfönlid^feit  ®otte§  :c. 

©egcnftänblic^tcit,  bcrcn  c§  ju  einer  tebenbigcn  retigiöfen  Sejie^ 
l^ung  bebarf.  Unb  e§  ift  für  un§  nun  gerabe  pon  Qntcreffc,  ba§ 
l^ier  bie  genauere  ©eftaltgcbung  oornel^mltc^  ein  SCBert  bcr  ant^ro« 
pomorp^ifterenben  5ß^anta[ie  ift.  ®§  übt  ja  roolil  auc^  jener  re* 
ligiöfe  Sern  auf  bie  ©eftaltung  be§  mpt^ologif^en  93ilbe§  einen 
geiüiffen  ®influ|  au§.  ^z  naä)  ber  2lrt  biefe§  @influ[fe§  mac^t 
fi^  eine  üergeiftigenbe  2:enbenj  bemerf bar  ober  nic^t.  3)a§  cigent* 
lid^  ©eftaltenbe  unb  gormenbe  ift  aber  bod|  bie  m^tj^ologifierenbc 
^^antafic.  ®a§  religiöfe  ©runberleben  l^at  in  fid|  felbft  ni^t 
genug  eigenartige  e^üQe  unb  ^eftimmtl^eit  be§  eigenen  ©e^alteS; 
bamit  ztxoa^  ®reifbare§  l^eraugfomme,  bebarf  e§  ber  ^ilfe  jene§ 
anberen,  im  ©runbe  nic^t  religiöfen  gattor§. 

® a§  ®^arafteriftifci^e  ift  l^ier  alf o :  bei  Unbeftimmt^eit  unb  2lr* 
mut  be§  religiöfen  @runberleben§  hoö)  SBeftimmt^eit  unb  inhaltlicher 
Sleic^tum  ber  SReligion  banf  ber  mrjt^ologifierenben  fjunftion. 
3)arum  njürbe  ^  i  e  r  freiließ  eine  etwaige  ^Betonung  be§  nur  f^m- 
bolifc^en  äBerte§  ber  religiöfen  SJorfteHungen  alle  ga^li^feit  unb 
93eflimmt^eit  ber  SRetigion  auflöfen  unb  bamit  i^r  felbft  an§  ficben 
greifen.  Siatfäd^li^  ^ai  ftd^  \a  auä)  aQe  f^mbotifd^e  Raffung  ber 
aSorftellungen  mgt^ologift^er  ^Religion  immer  in§  Scere  ©erloren. 

SWit  ber  3fbee  bcr  (Seiftperfönlic^feit  ®otte§  l^at  e§  eine  ganj 
anbere,  gleid^fam  entgegengefe^te  SBemanbtniä.  ^ier  murjett  oüe§ 
grabe  in  einem  Mar  beftimmten  unb  an  3>nt|alt  reid^en  religiöfen 
©runberlebcn.  3)ie  religiöfen  SBorfteHungen  n)ad)fen  bort  ^erauS 
unb  gewinnen  oon  bort  ^er  mannigfad^en  ^n^alt  unb  SBeftimmt* 
^eit,  fie  fmb  ein  2lu§brud!  biefe8  6rteben§  al§  eine§  ®rteben§  mit 
@ott  ober  eines  Lotterlebens.  (SS  märe  allenfalls  ganj  au§}u« 
fommen  o^ne  baS  93eimerf  ber  mgt^ologifierenben  ^^^antafie. 
Seilen  mir  unS  biefeS  9Ser^dltniS  näl)er  an. 

3)a8  religiöfe  ©runberleben,  ober  mir  fönnten  auc^  fagen^ 
ier  religiöfe  SebenSprojejs  ift  I|ier  baS  menfc^lid)e  ®eifteSleben 
imb  jmar  als  ein  religiös  geftimmteS.  ®S  !ann  nun  l^ier  unmög* 
lid)  unfere  SKufgabe  fein,  oon  biefem  Seben  in  all  feiner  ^nüt 
unb  aH  feiner  93eftimmt^eit  ein  irgenbroie  auc^  nur  annä^ernb 
erfd^öpfenbeS  33ilb  ju  entwerfen.  SDem  lie§e  fid)  nur  burd^  fo 
meit  auSfi^auenbe  unb  umfaffenbe  Unterfuc^ungen  ©enüge  leiften. 


@teinntann:  2)te  lebenbige  $erfön(id^!eit  Q^otteiS  2C.        . 413 

XDXt  ftc  uns  j.  93.  ®Ia§  unb  nantcntlid^  ©udfcn  gcfd^enft  ^aben. 
3)cr  blo^c  ^iniDciS  auf  bicfc  fo  umfangreichen  unb  int)altli^  be- 
ftimntten  2)arlegun8en  ift  j|a  f^on  wie  ein  SBeroeiö  bafür,  ba§  eS 
fic^  ^ier  um  einen  großen,  greifbaren  unb  in  fid^  gefcl)Ioffencn 
3ufamment)ang  I)anbelt.  9SBir  muffen  un§  I)ier  mit  einer  ganj 
ffijjen^aften  Äennjeic^nung  biefe§  Seben§projeffe§  begnügen.  Unb 
fold^e  genügt  ^ier  aud^  mirflid^,  ba  jo  jebem,  ber  in  bicfen  3)ingen 
mit}ureben  ein  Siecht  ^at,  au^  menn  i^m  pl^ilofopliif^e  3)ar(e' 
gungen  über  biefe§  Seben  ni^t  oertraut  fmb,  boc^  biefeS  Seben 
felber  au§  eigener  (Srfa^rung  befannt  fein  mu^. 

©cl|en  mir  junäc^ft  einmal  ab  non  ber  religiöfen  93ejiel)ung 
be§  geiftigen  2eben§projeffe§  unb  befc^ränfen  un§  au^erbem,  mie 
ba§  unfer  S^f^itimen^ang  ja  nahelegt,  auf  feine  ftttlic^c  gorm. 
S)iefe  93efd)rän!ung  l^at  überbem  aui^  infofern  i^r  gute§  SRe^t, 
al§  in  aller  geiftigen  2lrt  ein  fittlid)cS  3Jloment  mit  mir!fam 
ift.  O^ne  3^^if^t  nun  ift  ber  fittlic^e  SebenSproje^  eine  in  fic^ 
gefc!^loffene  ®rö|e  oon  ganj  beftimmter  2lrt,  bie  in  ftc^  eine  rei^c 
5üHe  oon  Qxit)alt  befc^lie^t.  SEBir  benfen  f)ierbei  natürlid)  nict)t 
an  ben  eigentli^  nod^  oorfittlic^en  ^^ftanb,  ber  nur  etma§  roei§ 
oon  einjelnen  gorberungen,  ganj  äußerlicher,  oielleid^t  aud)  ba= 
jroifc^en  me^r  innerlicl)er  2lrt;  ba  freili^  finbet  fid^  fein  gefd)lof* 
feneS  ®anjcg  oon  beftimmter  2lrt,  ba§  ftc^  in  reid)er  9Jlannigfal* 
tigfeit  auslebt,  ©onbem  e§  ift  l^ier  ju  benfen  an  jene  innerlirfje 
^flic^tergriffentieit,  bie  mirtlid)  auf  bag  ©anje  be§  Seben§  93ejug 
^at  unb  au§  fic^  ^erauS  oor  eine  güUe  oon  ^Aufgaben  ftellt,  bie 
bei  aller  äWannigfattigfeit  unb  bei  alter  2lu§breitung  über  alle 
inneren  unb  äußeren  S8erl|ältniffe  be§  ®afeinS  boc^  eine  rouriel- 
Ijafte  geiftige  @in^eit  bilben.  O^ne  3^^ifß'^  ^P  ^'^^  ^^^  gvoßer, 
greifbarer  unb  in  fxd^  gefc^loffener,  jugleid)  unenblic^  reid)er  3"« 
fommenl)ang. 

@ben  biefer  2eben§jufammen^ang  gewinnt  nun  bie  93ebeutung 
be§  oben  genannten  religiöfen  ®runbpvo}effe§.  S)ann  erfc^eint  er 
felbft  oon  ber  einen  ©eite  au§  betrad^tet  al§  ein  (Sud)en  ber 
@otte§gemeinfc^aft,  unter  anberm  ©efic^tSpunft  al8  bie  f ortlaufenbe 
SRealifierung  biefer  ®emeinf(^aft  oon  ®ott  t|er.  3)ie  religiöfe 
SBec^felbejiet)ung  ju  ®ott  ift  nic^t  etma§  5ßage§  unb  Unbeftimmte§ 


414         ©teinmann:  ^ie  (ebenbige  $etf5nU<^!eit  (S)otteS  zc. 

baneben  ober  barüber  ^inauS;  fie  ift  gleid^fam  ganj  ^meingenom« 
men  in  bicfcn  ctt)ifc^en  Scbcngprogc^  unb  nimmt  teil  an  feiner 
gütle,  an  feinem  @rnft  unb  an  feiner  93eftimmtl)eit.  @o  ergibt 
fid)  ein  gefrfjloffener  ^^fammen^ang  bei  aller  SWannigfattigteit 
bod)  gleid^artiger,  bei  aller  2^iefe  hoä)  fa^lic^er  unb  beftimmter 
religiöfer  ©trebungen,  @efül)le,  ©rlebniffe  als  bie  eigentli^e  le=^ 
benbige  9teligion.  S3egleitet  ift  ba§  aßeS  oon  bem  Maren  93emu|t* 
fein:    „^6)  ^abe   e§   l^ier  immer  unb  überall  mit  ®ott  ju  tun". 

S)iefe§  religiöfe  ©runberleben,  fofern  e§  felbft  eine  ganj  be* 
ftimmt  geartete,  reid^e  unb  jufammenl^ängenbe  Lebenserfahrung 
ift,  entlialt  fomit  gang  unmittelbar  ein  gan§  beftimmter 
unb  reidieS  ein]^eitlid)eS  Seroufetfein  oon  (Sott.  3)ie  flare  SBc= 
ftlmmt^eit  eineS  in^altlid^  reiben  (SotteSberou^tfeinS  rourjelt  ^ier 
ganj  bireft  in  ber  Maren  93eftimmt^eit  unb  bem  inneren  9leic^* 
tum  ber  ®otteSerfat)rung,  @S  bebarf  l^ier  nid|t  einer  m^t^olo« 
gifierenben  ^ß^antafie,  um  ber  ©otteSibee  ju  reifer  ^üüt  unb 
flarer  ©eftaltung  ju  üerlielfen. 

„®ott  geiftige  ^erfönlic^feit" :  baS  ift  alfo  gar  ni^t  eine 
@ad)e  mptliologifterenber  Slnfd^auung  beS  göttlid)en  SQBefcnS,  eS 
ift  überliaupt  nid^t  eine  ©ac^e  irgenb  roeld^er  öef^reibung  beS- 
felben,  fonbern  eS  ift  birelter  SluSbrudf  ftattfinbenber  SebenSer* 
fat)vung.  ®S  tianbelt  fid^  l^ier  nid^t  um  bie  ®eminnung  fei  eS 
eines  anf^aulid)en,  fei  eS  eineS  abftraften  SBilbeS  oon  ®ott,  fon» 
bern  um  ein  lebenbigeS  ©rfa^ren  unb  ®rgreifen  ®otteS.  3)ur(^ 
bie  33ejeid^nung  ®otte8  als  geiftiger  ^erfönlic^teit  fotl  auSgefpro» 
d^en  werben,  ba§  eS  roirtlic^  ®ott  ift  unb  fein  innerfteS  ©ic^* 
regen,  moju  mir  in  bem  auf  ®ott  ^ingeri^teten  geiftigen  SebenS» 
proje^  birefte  Sejiel^ung  gewinnen.  ®ie  öejei^nung  ®otteS  felbfl 
als  feiner  2lrt  nad^  geiftiger  ^erfönlii^teit  ift  ber  unmittelbare 
2luSbrudE  bafür;  baS  ift  bie  eigentlid^e  praftifdlje  religiöfe  ^al^r« 
l^eit  biefeS  ©a^eS  über  ®ott  unb  aH  feiner  weiteren  3!uSeinanber* 
legung  mct)r  iuS  einjelne. 

SBenn  mir  nun  erfennen,  ba§  alle  9lnmenbung  ber  einjelnen 
3üge  beS  menfdf)lid)en  ^^crfönlic^teitSlebenS  auf  ®ott  nic^t  etroaS 
9luSfdE)öpfenbeS  unb  im  genauen  ©inn  3lbäquateS  ^at,  baj5  felbfl 
bie  33eieid)nung  ©otteS  als  geiftiger  ^crfon  nur  eine  fgmboKfdie 


Stetnmann:  ^te  lebenbtge  $erf5nlid^!eit  @otte§  ac         415 

SDBaI)r]^eit  bcft^t,  fo  änbcrt  baS  gar  nid^ts  au  bem  tatfäd|ti^cn 
rcligiofcn  ©adjücr^alt.  S)cr  rcligiöfc  ©runbprojc^  fclbft  bcl^ält 
ja  bo(^  na6)  n>ic  t)ov  all  feinen  intiattlic^cn  9ieid)tum  unb  üer* 
licrt  nic^tö  t)on  feiner  intialttid^en  93eftimmtl)eit ;  unb  nacf)  roic 
t)or  ift  unb  bleibt  biefer  religiöfe  geiftige  @runbprojeJ3  für  ba§ 
fromme  93en)uJ3tfein  ein  mirflic^eg  Seben  mit  ®ott  unb  2:etlges 
minnen  an  feinem  Seben.  @§  bleibt  alfo  allc§  genau  fo  flar  unb 
beftimmt,  mie  e§  oor^er  mar.  9lic^t§  mirb  oerfd^roommener  unb 
unbeftimmter.  ®ott  rüdtt  au^  unferem  reügiöfen  SBer^ältniS  ju 
it)m  nid^t  meiter  in  bie  gerne ;  er  bleibt  un§  oielme^r  ganj  gleid^ 
natie.  5lur  tritt  mit  ber  Betonung  be§  ©rimbolifc^en  in  jenen 
2Iu§fagen  ju  bem  allen  bie  flarere  @infid|t  l^inju,  roie  e§  ja  bod^ 
®  0 1 1  ift,  ber  un§  in  unferm  mcrbenben  ^erfönlid^feitSleben  natie 
tritt,  unb  roa§  ba§  bebeutet  bag  e§  @ott  ift.  SWe^r  al§  ba§  be» 
fagt  ja  bod^  bie  ®r!enntni§  be§  fgmbolifd^en  ®^arafter§  du  un» 
fcrer  ®lauben§au§fagen  über  ®ott  nic^t.  SDaoor  aber  braud)en 
mir  un§  gemi^  nic^t  ju  für^ten,  menn  mir  fcften  ®runb  reid^er 
unb  beftimmter  ®otte§  erfal^rung  unter  ben  8^ü|en  l^aben.  — 

SDSir  fönnten  ba§  eben  dargelegte  aud|  folgenberma^en  au§= 
brüden:  S)a§  ®ott  geiftige  ^erfönlid^teit  fei,  ift  eine  Ueber* 
jeugung  oon  ®ott;  e§  ^anbelt  fx(^  babei  aber  nid^t  um  ein 
eigentliches  SOäiffen  über  ®ott,  roie  e§  für  bie  mpt^ologifc^e  3)enf* 
roeife  in  ber  ant^ropomorpljifierenben  ^bee  ber  ^erfönliditeit 
®otte§  menigften§  fd)einbar  uorliegt.  Unb  meil  e§  fic^  l^ier  um 
eine  folc^e  „Ueberjeugung"  l^anbelt,  nid)t  um  ein  „aCBiffen",  eben 
barum  änbert  ber  frimbolifc^e  ©tiarafter  ber  9lu§fagen  über  ®ott 
nichts  an  ber  93eftimmt]^eit  unb  (Sic^er^eit  be§  religiöfen  ajerfjält« 
niffeS.  2^ro^  be§  häufigen  unb  fe^r  geläufigen  Operierend  mit 
ben  ®egenfä^en  „lieber jeugung"  unb  „SBiffen"  ober  „®laubeu" 
unb  „SEBiffen"  bebarf  bie  foeben  angebeutete  etroa§  oeränberte 
gaffung  be§  ®ebanfen§  moI|l  boc^  einer  weiteren  2lu§füt)rung, 
bie  un§,  fo  tioffen  mir,  weitere  Ä'lärung  bringen  mirb. 

Ueberjeuguug  unb  SBiffen  unterfi^eibet  fic^  oornet)mlicl)  in 
jroeifad)er  ^infic^t  oon  einanber.  —  ®rften§  befte^t  jroifc^en 
SBiffcn  unb  Ueberjeuguug  ein  ganj  bebeutfamer  Unterf^ieb,  roa§ 
ben    3  ^i  ^  0  1 1    ber    beiberfeitigen    ®rfenntni§au§fagen    betrifft. 


416        @  t  e  i  n  m  a  n  n :  ^ie  lebenbige  $erf5n(t(^!eit  ©otteS  tc 

2)icfcr  Untcrf^icb  Iä§t  fi(^  ganj  furj  auf  bic  gövmcl  bringen: 
älQeg  SBtffen  enthält  bie  3RögIic^!ett  einer  genauen  3)atlegung 
be§  „n)ie"  feineiS  ObjettS,  bie  Ueberjeugung  bagegen  enthält  ein 
einfaches  „ba^".  ®ag  SDBiffen  um  eine  ©ac^e  heftest  in  ber 
SWögtid)feit  einer  erfd)öpfenben  SBefc^reibung  berfelben,  wel^e  53e' 
fd)rei6ung  je  nad^bem  anfd^oulic^  ober  begriffli^  erfolgen  lann. 
93in  i^  im  ftanbe,  mir  etroa  oon  ber  ölüte  ber  Sinbe  ein  wirf* 
lic^  }utreffenbe§  SBi(b  ju  ma^en,  bann  beft^e  id)  ein  anfc^auIi^eS 
SBiffen  oon  biefem  ©egenftanb.  Ober  ic^  oermag  einen  9latur* 
oorgang  j.  93.  ba§  @^o  miffenf^aftlic^  erfcl)öpfenb  ju  befc^reiben; 
bann  f)abt  id)  baoon  ein  begriffti^e§  SBiffen.  Qn  jebem  fJaUe 
befielet  mein  Sffiiffen  in  einer  bei  mir  oor^anbenen  2rtöglid)feit 
einer  erf^öpfenben  93efc^reibung  ober  auc^  ber  genauen  3)arle* 
gung  beg  „roic"  einer  ©ad|e.  2)a§  bie  2luSfagen  ber  anfd^auli^ 
m9tf)oIogif(^en  unb  ber  altbogmatifc^en  ®en(art  über  ®ott  oon 
biefer  93efc^affen^eit  ftnb  ober  boc^  )u  fein  beanfprud^en,  mithin 
SBiffenSc^arafter  tragen,  mürbe  oben  fd)on  ausgeführt. 

Qnmiefern  nun  enthält  bie  Ueberjeugung  ein  einf a^e§  «ba§"  ? 
—  aWonica  mar  überjeugt,  ba§  i^r  geliebter  ©o^n  bereinft  bem 
S^riftenglauben  merbe  miebcrgemonnen  werben.  3)iefe  2:atfac^e 
ftanb  H)x  feft;  m  i  e  baS  aber  gefd^e^en  merbe,  baS  hätte  fie  nie* 
nmnbem  genau  barlegen  fönnen.  9Bol^(  tiatte  fte  oieOeid^t  auc^ 
barüber  mancherlei  ©ebanfen ;  baS  maren  aber  ni^t  Ueberjeugungen, 
fonbern  nur  SSermutungen.  3)cr  gläubige  ©eter  ift  überjeugt, 
ba§  i^m  ®rl)örung  ju  teil  merben  mirb ;  er  mei|  aber  nic^t  roie, 
unb  betet  er  mirflid^  fromm,  unterfaßt  er  fogar  alle  UJermutungen 
über  ba§  „mie".  3»ßber  ©laubige  ift  überjeugt,  ba&  ®ott  i^m 
in  ben  ^ö^^wngen  feineS  Seben§  begegnet,  unb  bie  3urücffü^rung 
ber  einjelnen  Sreigniffe  auf  menfc^lidie  unb  natürliche  9Ber^euge 
^inbert  i^n  nic^t  an  ber  Ueberjeugung,  ba|  (Sott  in  bem  aßen 
mirft;  bie  Darlegung  bagegen  über  bie  Sttrt  unb  äBeife  ber  QbtU 
lid)cn  SBirfung,  mie  fie  etma  bie  ort^oboye  ®ogmatif  in  i^rer 
fie^re  oom  concursus  dei  ju  geben  Derfud)t,  baS  ift,  maS  eS  auc^ 
fonft  fein  mag,  jebenfatlg  nid^t  me^r  ©a^e  ber  Uebergeugung. 
Ober  enblic^  bie  ^riftli^e  93ollenbung§überjeugung !  ©ie  ift  eine 
Oeroi^^eit  barüber,  ba^  einft  eine  SSoUcnbung  fein  mirb ;  barüber 


@t  ein  mann:  ^ie  lebenbige  $erfönlt(j[)!eit  ®otte§  k.         417 

aber,  njie  biefe  SßoKcnbung  in§  2)afein  treten  ipirb,  entl|ält  bie 
lieber jeugung  felbft  nichts.  ^ebenfaD§  fann  fie  fe^r  fromm  unb 
in  i^rer  2lrt  feft  fein  aud)  o^ne  jegll^e^  notiere  SSiffen^). 

fjreilic^  entl|ält  aud)  bie  Ueberjcugung  ein  „wie".  @§  ift 
nid)t  eine  blo^e  3ut)erfid)t,  b  a  §  @ott  unfcr  Seben  leitet,  fonbern 
ha%  er  e§  gnäbig  leitet;  unb  in  biefem  „gnäbig"  liegt  ber  gauje 
reid>e  3»»^ölt  ber  d)riftlid)en  ®otte§bejie^ung  barin.  3)iefe  in» 
tialtUd^e  33eftimmt^eit  ber  Ueberjeugung  ift  aber  bodti  Don  fpejififc^ 
anbcrer  2lrt  al§  bie  bem  Slöiffen  eigentümlid^e  genaue  Slngabe  be§ 
„roie".  S)ort  nämlic^  ^anbelt  e^  ftc^  um  bie  SWöglid^feit  einer 
genau  jutreffenben  unb  erfd^öpfenben  3)arlegung,  mie  e§  fo  ge» 
fommen  ift  unb  u)ie  e§  fid)  @d)ritt  vox  Schritt  Doltjogen  I|at 
ober  regelmajsig  ju  üotljie^en  pflegt.  3)aoon  wei§  bie  Ueberjeu« 
gung  nid)t§;  fie  bejie^t  fid|  mit  i^rer  inl)aUIic^en  93eftimmtt)eit 
lebigüc^  gleic^fam  auf  bie  innere  Qualität  ber  ©reigniffe.  ©ie 
enthalt  nichts  barüber,  mie  ftd)  aUeS  im  einjetnen  abmidelt  ober 
abroideln  mirb,  fonbern  nur  biefe§  entf)ätt  fie,  baJ5  etma§  ift  ober 
fein  wirb,  aber  freilid)  nidjt  ein  leeret  StmaS,  fonbern  ein  inlialt» 
lic^  t)ieUet^t  fe^r  beftimmteS.  9JJit  biefem  Satbeftanb  aber  oer* 
trägt  fic^  ganj  mol^t  unfere  obige  furje  Formulierung  be§  Unter» 
fd)iebe§  jroifc^en  Ueberjeugung  unb  SlBiffen:  2llte^  SBiffen  enthält 
bie  3Wöglid)feit  einer  genauen  Darlegung  be§  „wie"  einer  ©ac^e, 
bie  Ueberjeugung  bagegen  enthält  ein  einfac^e§  „ba^". 

SÖBie  nun  bie  pfr)d)ifd^e  ^erfönlid)teit§Dorfteltung  oon  ®ott 
ate  eine  genaue  93efc^reibung  ber  Slrt  feinet  2)afein§  333iffen§* 
^aratter  trug,  fo  trägt  bie  geiftige  ^bee  oon  ®otte§  ^erföntid)feit 
ben  ©^arafter  ber  Ueberjeugung.  2ln  bie  3Jiöglid|feit  genauer  S)ar» 
legung  be§  „wie"  irgeub  einer  ©ac^e  mirb  t)ier  gar  nid^t  gebac^t. 
93ei  aller  int)attlid)en  Seftimmt^eit  ber  93e^auptung  Iianbelt  e§ 
fi^  oielmelir  nur  barum,  bafe  in  ben  ganj  beftimmten  @rfat|* 
rungen  unb  im  äBac^§tum  unfer§  geiftigcn  Seben§  ®ott  un§  in* 


1)  ©cirnu  befdirctbenbc  iß^aiitafien  über  biefe  3uf"»ft  flibt  e8  freilid)  ge« 
mig,  fogar  folc^c,  bie  mit  grofecr  ©etuife^cit  auftreten.  S)a«  ift  aber  bann 
ntcf)t  eigentliche  UeberäeugungSgetriööcft,  fonbern  bie  ©cmife^eit  be8  Slu« 
torttät^^glaubenS,  ober  anc^  biejenige  ber  efftattfd)en  ober  fanatifcfien  Erregung, 
ber  erregten  unb  befriebigten  ^^antafte  unb  bergl. 


418         ©teinmann:  ^ie  (ebenbige  ^erfönlid^feit  ©otteiS  zc. 

nerlic^  na^e  ift.  2)a§  ergibt  eine  ganj  beftimmte  Ueberjeugung 
oon  i^tn,  nämlic^  eben  bie  Ueberjeugung,  ba§  er  unS  roirtlic^ 
uub  roa^r^aftig  ^ier  innerlid^  begegnet;  e§  ift  aber  bei  aller  @e=» 
wi^eit  nic^t  ein  eigentliches  SQ3iffen  um  i^n  unb  um  bie  2trt 
unb  äBeife,  roie  er  e§  ma^t  un§  fo  na^e  ju  fommen. 

3u  biefer  ®ifferenj  bejüglid^  be§  Qn^alteS  ber  ©rfennt* 
ni§au§fagen  be§  3Biffen§  unb  ber  Ueberjeugung  (©.  415  ff.) 
!ommt  nun  alä  jmeiteS  eine  S)ifferens  in  ber  9lrt  ber  ®en)i|^eit§» 
begrünbung.  3)amit  führen  mir  nic^t  nur  unfrc  Unterfu^ung 
um  einen  bebeutfamen  ©d^ritt  meiter,  fonbern  mir  betreten  ba* 
mit  juglei^  ein  ©ebiet,  ba§  überreich  ift  an  Problemen.  6§  gibt 
ja  bo^  fo  mand^erlei  formen  ber  Oemi^^eit,  bie  fic^  no^  boju 
in  mannigfa^fter  SBeife  ineinanber  fc^lingen.  9EBollen  mir  unfrc 
Unterfu^ung  nii^t  ju  einer  er!enntni§t^eoretifc^en  au§mad|fen 
laffen,  bann  merben  mir  üerfuc^en  muffen,  au8  ber  ^&\i^  ber 
Probleme  grabe  nur  ba§  ^erauSjugreifen,  roaS  fic^  unmittelbarft 
mit  unfrer  gegenwärtigen  5rage  berührt,  äöir  l^aben  e§  aber  äugen* 
blirflic^  tebigtid)  mit  berjenigen  SSerf^iebenarttgfeit  ber  Oemi^^eitju 
tun,  bie  ftatt^at,  menn  man  bie  ^bt^  ber  geiftigen  ^erfönlic^teit 
®otte§  teilt,  —  bann,  meinten  mir,  ^anble  e§  fx^  um  Ueberjeu« 
gung  —  unb  menn  man  bie  ©ott^eiten  für  pfgc^ifc^e  ^^Jerfön» 
lid^feiten  ^ält  —  ba^  galt  un§  als  eine  2lrt  ffiiffen.  ®Sinteref* 
fiert  uns  barum  mirflic^  nur  baSjenige,  xoai  uns  ben  bur^  biefe 
beiben  93egriffe  gefennjeic^neten  Unterfc^ieb  ber  ©cmife^eitSart 
grabe  in  feiner  Slnmenbbarfeit  auf  unfern  5^11  tlöt  machen  tann. 

^m  allgemeineren  Sinn  nennen  mir  Ueberjeugung  jcbe  fub» 
jeltio  gegrünbete  3woerfid^t.  S3eibeS  mu§  Dor^anben  fein,  menn 
fid)  ber  53egriff  „Ueberjeugung",  mie  mir  i^n  uerfte^en,  foü  an* 
menbeu  laffen :  f omol^l  bie  Q^uerfic^tlic^teit  als  au^  bie  f ubjeftioe 
©rünbung  berfelben.  Ueberjeugt  fein  in  biefem  Sinne  fann  man 
barum  nid)t  oon  einer  legten  ^gpotl^efe  ber  ®r!enntniS.  ^ier 
ift  mof|l  üor^anben  ein  gemiffeS  le^t|inigeS  2luSfd)laggeben  fub* 
jeftioer  SKomente,  ba  bie  ftreng  objettioe  3)ebuttion  fomeit  nicftt 
reict)t;  aber  eS  fel|lt,  menigftenS  fofern  ein  93emu^tfein  bafür  Dor* 
t)auben  ift,  ba§  eS  fid)  ^icr  um  eine  le^te  taftenbe  2luSfage  ber 
pl)i(ofop]^ifci^en  ©rfenntniS  ^anbelt,  jeneS  SMoment  ber  3uoerfi(^tr 


©teinmann:  ^ie  lebenbige  $erf5nlidE|!eit  ®otte3  2C.         419 

nd)teit  unb  !ann  fid^  aud|  gar  n\6)t  einfteKen.  älUe  $en)ä^vung 
bcr  ^qpott)efc,  fofcrn  eine  foId)e  möglich  ift,  ffilirt  Dielmetir  nur 
burd)  eine  fortfi^reitenbe  ^u^ä^^^ängunfl  ber  fubjeftioen  93egrün* 
bung  immer  met)r  in  bie  5läl&e  ber  ttieoretifc^en  ©eroi^^eit,  näm* 
li^  be§  aBiffen§^).  2luf  ber  anbern  ©eite:  menn  man  ftd^  burdf) 
2;atfad)enben)eife  üon  ber  ©d^ulb  eine§  SWenfc^en  —  mie  ber 
©pradigebrau^  fagt  —  „überjeugen  lä^t",  fo  l^anbelt  es  fic^  aud) 
roiebcr  nic^t  um  ba§,  roa§  mir  f)ier  Ueberjeugung  nennen.  3)enn 
bie  93egrünbung  ber  gemonnenen  ®emi|^eit  üon  einer  ©ac^e  ift 
in  biefem  g^Ue  grabe  nic^t  fubjeftio,  fonbern  objettiu,  nämlid) 
burd^  einleuc^tenbe  93emeife ;  unb  barum  iff  §  aud^  nid)t  3uocrfid)t 
fonbern  tl^eoretifc^e  ®eroij5t)eit.  Ueberjeugung  bagegen  in  unferm 
©inne  ift  bie  ©emi^l^eit  ber  SRutterliebe,  ba§  ber  geliebte  ©oI)n 
ein  Unre^t  gar  nid^t  getan  Iiaben  lönne,  ober  aud)  bie  ©emig- 
^eit  eineö  ftrebenben  3Jlenfd)en,  ba^  er  fein  3'^^  erreichen  werbe. 
§ier  ^anbelt  e§  ftd)  mirfiid)  um  3wi^^^f^t  beren  ©rünbung  le^ 
bigtic^  im  ©ubjeft  felbft  liegt.  Unb  aud^  ba§  ift  Ueberjeugung, 
menn  id)  einem  beftimmten  anbern  ÜJlenfd^en  nur  ®ute§  jutraue. 
^ier  fpielt  ja  freilid)  bebeutfam  ber  ©inbrudf  mit,  ben  id^  t)on 
ber  betreffenben  ^erfon  empfangen  l^abe.  3)o^  aber  ift  jene  @e= 
mi^l^eit  eine  fubjeftio  begrünbete.  @§  mar  ber  lebenbig  empfun= 
bene  ®inbrud  beftimmenb,  nid)t  bie  oerftänbige  Slnalpfe  feinet 
(£^arafter§.  ®§  ift  ja  aud)  bie  ©ntbedung,  ba§  ic^  mic^  mit 
meiner  ^u^^^P^t  Qmxt  l^abe,  nic^t  eine  bloße  SHi^tigfteHung  mei= 
ner  @infid)t,  fonbern  eine  ©nttäufc^ung.  S)iefe  Seifpiele  werben 
unfere  Definition  ber  Ueberjeugung  aU  einer  fubjeftio  gegrünbeten 
3uoerftd)t  genügenb  oerbeutIid)t  Iiaben.  3)abei  tann,  in  unferem 
3ufammenl)ang,  ganj  ba^ingefteüt  bleiben,  ob  biefe  fubjeftio  ge= 
grünbete  3w^^^'f^t   in   ben   tatfäd|lid)en  SBerljättniffen   it)re  33e= 


1)  9J?an  foQte  bod)  enblict)  einmal  aufhören,  bie  leisten  $t)|)ot^efeii  ber 
SBiffenfd^aft  unb  bit  Sliigfagen  be«  relifliöfcn  ©laubcu«  mibefe^cn  als  irgcnb» 
tt)tc  ®Iei(^artigc«  311  be^anbeln.  2Bic  hjcit  biefe  llnflar^eit  oerbreitet  ift,  bc* 
iDcift  3.  S3.  \^v  SBorfommen  bei  S)enuert:  SBibel  unb  9?atumiffenfd)oft,  ber 
burcö  ba8  befjnbarc  „öJIaiibe"  ha^  iunerlid)  Söerf(f)iebenartigftc  gufammenbringt, 
iinb  guglett^  bei  9iiebergafl:  ®in  5ßfab  gnr  (SJeiüifefjeit,  ber  bie  religiöfe  ^r- 
fenntnig  mit  ber  toiffenfc^nftlic^en  ^tipot^efe  in  parallele  fefet. 


420         @ t e  i n  m  a n  n:  ^te  (ebenbige  $erfotiIid)!eit  ©otteS  zc 

ftötigung  finbet  ober  nic^t.    @§  tommt  ung  ^ter  nur  auf  bte  in^ 
nere  2lrt  bcr  ©croi^^eit  an. 

S)ic  religiöfe  ©croig^eit  oou  einem  geifiperfönüc^en  @oü  ift 
nun  aber  nic^t  nur  Ueberjeugung  in  biefem  aflgemeinen  ©inne. 
2Bir  üerftel^en  oielmet)r  in  biefem  ß^f^^^^^J^^öng  unter  Ueber^ 
jeugung  eine  ganj  beftimmte  2lrt  im  ©ubjeft  gegrünbeter  3ut>er* 
fid)t.  ®iefeu  engeren  ®ebrau^  be§  3Borte§  gilt  e§  je^t  noc^  feft* 
jufteßen.  SDßir  begegnen  i^m  j.  93.  in  ber  3lu§fage,  ein  äRenfc^ 
^abe  feine  Ueberjeugung.  @§  ift  bamit  gemeint,  baß  folc^em 
$Wenfd^en  eine  in  einer  ganj  beftimmten  inneren  93efd)affen^eit 
feiner  ^erfon  gegrünbete  ßuüerfic^t  fel|le.  Unb  biefe  innere  93c« 
fd)affent)eit  ift  nun  eben  nid^tö  anbere^,  aU  bie  Strt  be§  gciftigcn 
Sebeng.  Ueberjeugung  in  biefem  fpejipfc^en  Sinne  ift  eine  2e* 
bengdußerung  geiftigen  ^erfonenteben§,  eine  mit  fofc^em  ?ßerfonen* 
leben  jugleid)  gegebene  ß^^^^^fi^^-  ®o  ift  ber  geiftig  ftrebenbc 
Siünftter  „überjeugt"  uon  bem  menf^^eitlic^en  SEBert  ber  oon  i^m 
erftrebten  3i^lß ;  ber  ÜWann  ber  333iffenfc^aft  ift  „überjeugt"  nic^t 
nur  üon  bem  ^flic^tc^arafter  ber  roiffenfd^af tli^en  SBa^r^aftigfeit, 
fonbern  jugleid)  etma  aud)  t)on  bem  fortfc^reitenben  ©ieg  ber 
miffenfdiaftlid^en  2Ba^rl|aftigfeit  über  atte§  ^albmal^re  Äompro* 
mißmefen;  ber  fittlidje  ©tiarafter  trägt  in  fid)  bie  felfenfefte  „Ueber= 
jeugung"  von  ber  aUe§  überragenben  93ebeutung  be^  @uten  unb 
woi)l  aud)  üon  feiner  enblic^en  SSoöerfc^einung.  SKB  biefe  3"* 
Derfidjt  ift  teil§  ©runblage  eine^  geiftigen  SQ3olIen§,  tei(§  borin 
gegrünbet.  @S  fü^rt  aber  aOeS  (e^tlic^  jurücf  auf  einen  ftarten 
inneren  Sinbrurf,  ber  oon  einer  ©ac^e,  ^fCic^t,  ^beal,  ober  roic 
mir  e§  fonft  nennen  mögen,  ausging  unb  eine  freiperfönlic^e  ^in* 
menbung  jum  SDienft  biefer  ©a^e  beroirfte.  ®iefer  perfönlic^e 
3ufammenfd)fuj5  mit  fol^er  2lufgabe  ift  in  feinem  innerften  9Be» 
fen  felbft  Ueberjeugung  unb  äußert  fid)  jugleid)  atS  3"^^^^^^ 
fünftigen  ©iege§. 

S5on  biefer  2lrt  ift  nun  aud)  bie  ©emiß^eit  oon  @otte§  gei* 
ftiger  ^erfönli(^feit.  ©ie  ift  in  i^rem  innerften  Rem  eine  @c« 
mißt)eit  über  ba§  geiftige  ^erfonenleben.  3B5äI)renb  eS  ftc^  bei 
fonftiger  Ueberjeugung  um  eine  ©eioiß^eit  bejüglic^  ber  mancher» 
lei  Slufgaben  unb  ^fli^ten  be§  geiftigen  ^erfonenlebenS  ^anbett. 


st  ein  mann:  ^te  lebenbige  $erfönlicl^!eit  Q^otteS  k.         421 

ift  e§  ^ier  eine  ©eroifetieit  über  biefeS  ^erfonenlcben  fclbft,  näm* 
tid^  eben  bie  ©eroi^Iieit  oon  einer  SEBurjefung  biefe§  ^erfonen* 
fcbenS  in  ®otte§  innerftem  SBefen.  2luc^  biefe  Ucberjeugung 
beruht  auf  einem  tebenbigen  ©inbrurf;  nid^t  aber  roie  jene  an» 
bcren  Ueberjeugungen  auf  bem  lebenbigen  ©inbrud  ber  2lufgaben 
unb  ?ßflid|ten,  an  benen  gciftige§  $erfönlid)teit§teben  ^eranit)äd)ft, 
fonbern  auf  einem  lebenbigen  Sinbrud  oon  jenem  geiftigen  ^er* 
fonenicben  felbft.  3)a^  biefer  lebenbige  ©inbrud  am  ftärfften  in 
ber  93erü^rung  mit  bem  ^^erfonleben  ^efu  gewonnen  roirb,  roel* 
d)cö  fid)  in  eigentümlid^  urfprünglic^er  SBeife  in  @ott  gemurjelt 
n)ei§,  mcrbe  ber  SSoüftänbigfeit  megen  no^  I|injugefügt.  ©o  er« 
mäd^ft  alfo  bie  bem  religiöfen  Orunbproje^  eignenbe  S^^^^^f^^t 
unb  ber  eigentlidje  Ueberseugnngöfern  jeneg  unerfc^ütterlic^en  „ha^" 
au§  bem  lebenbig  angeeigneten  Sinbrudt  be§  geiftigen  ^erfonen* 
lebend  a(§  einer  @efamterfcl)einung,  oome^mlid)  aber  unb  lourjel» 
^aft  au§  bem  lebenbig  angeeigneten  ®inbrucf  oon  ber  ^erfon  be§ 
gotteinigen  @eifte§menfc^en  ^efuS  ^).  Qn  roeld^er  SSeife  nun  alle 
unfrc  auf  biefer  Ueberjeugung  fu^enben  3lu§fagen  über  ©Ott  atö 
gciftige  ^erfon  biefer  religiöfen  3u^^^^P^t  '^  ^^^  Sprache  ber 
religiöfen  ©gmbolif  menfc^Iid^e  ©egenftänblid^feit  ju  geben  oer* 
fuc^cn,  baoon  mar  fc^on  oben  bie  5Rebe. 

2)a^  e§  mit  ber  ©rfaffung  ber  götttid^en  SKäc^te  al§  pfg* 
c^ifc^er  ^erföntic^teiten  biefe  ©eioanbtnig  nic^t  ^at,  bebarf  ja 
faum  weiterer  2lu§füf)rung.  „Ueberjeugung"  in  biefem  fpejifif^en 
©inne  ift  ba§  nic^t  unb  !ann  e§  aucft  gar  nid)t  werben ;  benn  f olc^e 
Ueberjeugung  ^at  e§  nur  mit  2)ingen  be§  geiftigen  ^$erfonenleben§ 
ju  tun.  ©omeit  i)kv  ©emi^^eit  oortianben  ift,  ift  e§  oielmetir 
©cmi^^eit  oon  berjenigen  21rt,  wie  fie  jeber  Ueberlieferung  otjue 
weitere^  eigen  ju  fein  pflegt.  3febe  Ueberlieferung^gemijs^eit  aber 
ift  ni^t  ^uoerfic^t;  ift  aud)  nic^t  etioag  fubjeftio  ®egrünbete§ 
ober  ^ßerfönlic^eg.  ©§  ift  oielme^r  einfad)  eine  ßuftimmung  ju 
SBorftellungen,  mit  benen  feine  anberen  ernftlic^  tonfurrieren,  eine 


1)  25afür  fönncn  toir  andj  faflen:  (Sott  offenbart  ficf)  uit«  tu  Scfug 
als  @eiftperfdnli(^feit  unb  unjere  reügiöfe  Ueberjeugung  Don  (9ott  beruht  auf 
Offenbarung;  bcrgl.  meine  Ec^rift:  ^ie  geiftigc  Offenbarung  ®otte«  in  ber 
gefc^ic^tUd)en  $erfon  3efu. 

Beitfi^rift  für  X^eotogic  unb  Ätrd^«.  14.  Sa^rg.,  6.  $eft.  29 


422         ©teinmann:  ^ie  lebenbige  $erfönlid^!eit  ©ottei^  zc. 

in  ben  objcftiüen  SScrl^ältniffcn  gcgrünbctc  ©croi^^cit.  Unb  eS 
unterfd^eibet  fid)  and)  bicfc  UcbcrlicfcrungSgcrüife^cit  auf  bem  ®c* 
biete  ber  SReligion  in  feiner  SBeife  fpejififc^  von  fonftigcr  Ueber* 
Iieferung§gen)i^]^eit.  ®ie  pfpd^if^e  ^erföntic^feit  ber  ©ott^eitcn 
ift  genau  in  berfelben  2Beife  geroife,  wk  bie  ©reigniffe  beS  txo- 
janifc^en  Äriege§,  bie  (Syiftenj  ber  ^ggmaen  ober  bie  aEBirtlic^tcit 
ber  ®ra!en*).  ®a§  finbet  gerobe  aud^  barin  feinen  9lu§brucf, 
ba^  e§  fxäi  ^ier  ebenfo  wie  bei  jeber  anberen  Ueberlieferung  um 
bie  objeftioe  unb  genaue  Darlegung  eine§  ©ac^Der^a(te§  tianbclt, 
um  bie  jutreffenbe  93efc^reibung  einc§  „roie".  3)ie  ^uftimmung 
ju  all  bergleic^en  ffiarlegungen  über  ganj  objettioe  Scr^altniffc, 
bie  mit  unfrer  perfönlic^en  2lrt  in  feinem  3^fönunen^ang  ftc^cn, 
uoüjiel^t  fid^  aber  immer  auf  einem  ganj  objeftioen  SSBege  unb  taun 
ftc^  aud^  gar  nic^t  anber§  DoHjie^en.  9iur  ift  e§  bei  ber  Ueber* 
lieferungggemi^^eit  ni(^t  eine  ä^^fti^^w^^ng  auf  ®runb  trgenb  roel* 
c^er  33en)ei§fü^rung  burc^  SBernunft  ober  ®rfa^rung,  fonbern  bie 
unmittelbare  3^Piw^"^u^9  i^  ^^^  cinjig  ©egebcnen  unb  o^nc 
ernftli^e  Äonturrenj  ©ültigen. 

®iefe  objeftioe  3lrt  ber  ©emi^^eit  aber  nennen  loir,  §um 
Unterfd)ieb  oon  ber  fubjeftio  gegrünbeten  3woerfic^t  ober  lieber» 
jeugung,  SQSiffen.  2llle  Ueberlieferungggemi&l^eit  ift  ein  lieber* 
lief erung§miff en ;  fo  auc^  bie  lleberlieferungSgemi^^eit  auf  reU= 
giöfem  ©ebiet,  SBie  man  mcijS/  ba§  eS  ^ß^gmäen  gibt,  genau 
ebenfo  m  e  i  §  man  um  bie  pfpc^ifd^c  ^erfönlidifeitSeyiften}  ber 
®ötter;  eine  Ueberjeugung  ober  fubjeftio  gegrünbete  3w^^^fi<^t 
f)at  man  aber  meber  bejüglic^  be§  einen  nod)  bejüglid^  be§  anbern. 

9Son  @otte§  geiftiger  ^erfönlic^feit  bagegen  tann  man  folc^e§ 
UebertieferungSroiffen  eigentlid)  gar  ni^t  befi^en.  SBo^I  iji  e§ 
möglich,  ba^  man  bie  fpmbolifd^en  SBorftellungen  über  @otteS 
geiftperfönli(^e§  3)afein  in  ber  3EBeife  ber  Ueberlieferungggcmip^eit 
teilt.    @§  werben  bann  aber  biefe  fpmbolifc^en  2lu6fagen  immer 


1)  3!)a6  bei  ber  ©ctüi&l^cit  über  eine  pft)cf)tf(^  Jjerfönlic^e  2lrt  ber  &ott> 
f)tikn  immerl^in  ein  (StmaS  üon  fubjelttD  gegrünbeter  3uuerft(^t  mit  im  Spiele 
ift,  tDenn  auc^  nic^t  Uebergeugung  im  engeren  ®inn  beS  SBorted,  bad  toerbeit 
mir  bei  ber  3bee  ber  £ebenbigfeit  ©otteS  gu  berücffidjtigeu  ^aben.  ^ter  (onu- 
ten  mir  bauon  suuüc^ft  nod)  abfegen. 


r 


@teinntann:  ^ie  (ebenbige  $erfbnlid^!eit  ®ottz^  k.         42B 

q(S  eigentliche,  ganj  objettiD  gemeinte  ^efc^reibungen  aufgefaßt 
werben;  benn  alle  blo^e  UcberlieferungSgeroi^^eit  ift  i^rem  innerften 
SBefen  nact)  ein  Uebertteferung§roiffen  oon  objeftioem  S^atbeftanb. 
5)ev  nur  überlieferungSgeroiffen  Slneignung  jener  2lu§fagen  wirb 
barum  ol^ne  roeitereS  alle  fgmbolifd^e  @rfenntni§  ber  Oeiftperiön- 
lic^teit  ®otteS  unter  ben  ^änben  ein  birefter  2lnt^ropomorp]^i§- 
mu§.  @§  ift  feine  2lneignung  jener  Slu^fagen  oon  innen  l)tx, 
nämlic^  burc^  ein  perfönlid)e§  @inge^en  auf  ben  religiöfen  @runb« 
ptoje^,  fonbern  nur  eine  Stneignung  ganj  objeftiuer  2lrt,  lebigli^ 
Don  äugen  I|er,  unb  barum  aud^  eine  ä(neignung,  als  märe  e§ 
etma§  ganj  ObjeftioeS.  93eftänbig  begegnen  mir  ja  auc^  folc^er 
aSerfe^ung  ber  Qbee  ber  @eiftperfönlid)feit  ©otteS  in  ein  bloge« 
UeberlieferungSmiffen. 

3[ft  bie  ©emig^eit  ber  mgt^ologifierenben  ®entart  ein  lieber- 
Iieferung§miffen,  fo  l^anbelt  e§  fi^  bei  ber  ©emig^eit  ber  altbog* 
matifc^en  2)en(art,  mo  biefelbe  tl^eologifc^  burd^gebilbet  ift  um 
eine  fortgefc^rittenere  gorm  be§  SD3iffen§,  nämlic^  um  ein  9Q3iffen 
auf  ®runb  döu  93emei§,  fei  berfelbe  nun  rein  rational  geführt 
ober  als  ®rfat|rung§bemei§  ober  al§  jufammen^ängeube  3)arte* 
gung  ber  offenbarten  3EBa^r^eit  eineS  infpirierten  3EBiffenStom= 
penbium§.  — 

3)er  funbamentale  Unterfd)ieb  jmifc^en  ber  Slnmenbung  ber 
geiftigen  $erfönlic^feit§ibee  auf  ®ott  auf  ber  einen,  ber  2luffaf» 
fung  @otte§  alä  pfgdiifctie  ^$erfönlid)feit  auf  ber  anbern  (Seite 
bürfte  je^t  mol^I  flar  fein,  fomol^l  ma§  ben  Qnliatt  jener  Qbeen 
betrifft,  alö  auc^  bie  9lrt  ber  STuSfagen  unb  bie  2lrt  il^rer  @e* 
mig^eit.  SBir  fönnten  fomit  je^t  bie  ^btt  ber  Sebenbigteit  ©otteS 
einer  ätinti^en  Unterfuc^ung  unterbieten,  um  bann  mit  ^ilfe  ber 
gewonnenen  SRefultate  bie  oerfdjiebenen  93eftanbteile  be§  empirifc^en 
©efamtbilbeg  ber  c^riftlic^en  Ueberlieferung  oon  ©ott  nad)  i^rem 
retigiofen  3Bert  gegeneinanber  abjugrenjen.  @^e  mir  baju  über* 
ge^en,  bebarf  e§  aber  noc^  jmeier  ergänjenber  ^injufügungen  ju 
bem  bisher  2lu§gefüt|rten.  Unfer  ^inmeiS  auf  ben  religiöfen 
©runbprojeg  al§  ben  eigentlichen  Sern  beS  ©otteSglaubenö,  beffen 
9lu§fagen  nur  eine  fgmbolifc^e  aBal)rl)eit  ^aben,  unb  ber  ^inroeiS 
auf  ben  UeberjeugungSc^aratter  ber  ©emigl^eit  über  ©ott  bürfte 

29* 


424         .Steinmann:  %it  (ebenbige  $erfönlt^!eit  ®otte§  zc 

fonft  leidjt  geioiffen  9Jli§beutungen  au^gefc^t  bleiben;  eine  SBer» 
n)ec^f(ung  mit  ä^nlid^en  @tanbpun{ten  tonnte  fic^  na^e  legen. 
9Q8ir  werben  oerfu(i)en  muffen,  bem  oorjubeugen. 

3)ie  ®en)igt)eit  oon  @otte§  geiftperföntic^ev  ^rt  bejei^neten 
wir  al§  eine  Ueberjeugung.  @ben  mit  biefcm  SBorte  „Ucberjeu» 
gung"  aber  wirb  gegenwärtig  oft  genug  ein  eigentümli^er  ro« 
mantifd)er  Äu(tu§  getrieben.  3)ie  Ueberjeugung  erfd^eint  ha  aU 
eine  (Saci)e,  bie  gleic^fam  in  ber  Suft  l^ängt  unb  fid^  felbft  tragt. 
@ie  ift  etwa§  krampfhaftes,  forciertes,  beinah  mö^te  man  fagen, 
@igenfinnige§;  etwas  ganj  unb  gar  @ubjeftioeS.  @ie  ift  wie  ein 
lautes  unb  l^eftigeS:  „^d)  will!"  ©ie  ge^t  beftänbig  gerüftct  ein* 
l)er  wie  ein  l^eimatlofer,  fa^renber  ^elb,  ber  fic^  oon  einem  ^ampf 
um  feine  Syiftenj  in  ben  anbern  ftürjt. 

3)iefe  STrt  Ueberjeugung  meinen  wir  nid^t.  3)aS  ift  eine 
neroöfe  Ueberjeugung,  barum  oieQeid^t  wo^I  eine  Ueberjeugung  für 
unfer  unrul^igeS  ®efc^led)t.  Unb  atS  SOtittebenbe  biefeS  (Sefc^lec^teS 
oermögen  aud^  wir  fie  wo^t  mitjuempfinben.  SBir  laffen  fte  au(^ 
gerne  gelten  als  eine  moberne  ©pielart  ber  d)riftlict|en  (Sottet* 
überjeugung  unb  ma^en  barum  niemanbem  einen  SBorwurf  bar» 
aus.  yinx  erfc^eint  fie  unS  bod)  f  e  ^  r  als  eine  Slbartung.  9Bir 
bejweifeln  ftarf,  bag  fte  auf  il^rem  SBege  wirtlich  bem  ru^ig 
juoerfic^tlidien  SUianne  auS  Slajoret^  begegnet  ift;  an  beffen 
.^anb  braucl)t  man  fiel)  nid|t  fo  unruhig  ju  gebärben.  ^reilic^ 
wie  oft  wirb  nic^t  etwaS  oon  biefer  unruhigen  ä(rt  in  bie  ^erfon 
Qefu  t|ineingefül)lt! 

9Bir  bejeid^neten  im  Unterf^ieb  ^ieroon  Ueberjeugung  ald 
innerlich  gegrünbete  3wß^fü)t  —  mit  ooQfter  Sbfid^t  xoäfjfU 
ten  wir  ba  grabe  biefeS  S33ort  „ßuoerfid^t",  in  bem  nid>tS  oon 
neroöfcr  Unruhe  unb  ^rampf^aftigfeit  ift  —  unb  führten  fie  ju* 
rüct  auf  ben  Sinbruct,  ben  ein  ObiettioeS  auf  unS  mac^t,  näm« 
lid^  baS  geiftige  ^erfonenleben  in  feiner  unfer  (Sinjelftreben  weit 
überbietenbeu  ©efamt^eit,  oornelimlid)  aber  bei  bem  einen,  ber 
eS  als  ein  gottgcgrünbeteS  führte. 

Unb  nun  bie  anbere  älbgreujung!  3luci)  ber  iRfictgang  oon 
ben  religiöfen  SSorftetlungen  auf  ben  religiöfen  @runbprojeg  tann 
oon  romantifc^er  Stimmung  begleitet  fein.    3)iefe  fnüpft  fw^  ^ier 


©teinmann:  ^ie  lebenbige  $etf önlid)!eit  ©otteiS  2c.         425 

an  bic  (ärfcnntniS  be8  fginbolifc^en  ®^arofter§  unfrer  SluSfagen 
über  @ott.  fSflan  tommt  ^er  pon  ber  alten  ®en)öt)nung  an  ein 
flenanc§  „aOgiffen"  um  @ott.  Soft  fid)  nun  bicfe«  aBiffen  auf, 
bann  fc^eint  an  ©teile  be§  33eftimmtcn  junäctift  eine  geroiffe  Un» 
beftinimt^eit  ju  treten,  an  ©teile  eiue§  ganj  g^^lic^en  bie  Unfa^- 
barteit.  ^nftatt  nun  ba§  rut)ig  ^injunel^nien  a(S  eine  und  SRen^ 
fc^en  gefegte  ®renje,  bie  wir  in  bemütiger  SBere^rung  anerfennen 
mfiffen,  unb  fi^  an  baSjenige  )u  galten,  xoa^  ganj  beftimmt  unb 
fa^lic^  ift,  nämlid^  ben  religiöfen  Orunbproje^  aU  ein  reales  ©r* 
leben  mit  ®ott  ftatt  beffen  bleibt  man  grabe  mit  einem  ©efü^le 
romantifc^en  ©c^auerS  bei  ber  Unfa^lid)feit  fte^en.  9Kit  tiefer 
6rgriffent|eit  rebet  man  baoon,  ba§  mir  in  bic  Unenblic^teit  ^in* 
ein  „Sßater"  fagen  unb  üon  bem  ®migen  nur  ju  ftammeln  oer* 
mögen.  9Bir  moQen  biefe  ©timmung  burd)au§  nid^t  Derurteilen. 
SBir  üermögen  fie  auc^  nic^t  nur  mitjuempfinben  al§  SBlitlebenbe 
unfrer  Qtxt;  etmaS  bauon  erfd)eint  un§  fogar  al§  ganj  berec^* 
tigt,  nämlid)  eben  jene  ftiüe  unb  e^rfurd|t§Poüe  2lnerfennung  ber 
un§  3Wenfd)en  geftedten  ©renjen.  9lur  barf  biefe  ©mpfinbung 
nic^t  ju  ftarl  merben.  3Bir  bürfen  nid)t  fteden  bleiben  in  folc^er 
romantifd)en  Unbeftimmt^eit ;  ba§  märe  gleid)  einem  ©tel)enbleiben 
auf  falbem  SBege,  ben  93lid  rürfmärt§  geroenbet.  ^ener  SBeg 
nämlic^  fü^rt  oon  ber  altbogmatifc^en  S)enfmeife,  bie  ganj  93e»= 
ftimmtes;  oon  @ott  m  e  i  § ,  über  bie  ®rfenntni§  be§  fgmbolifc^en 
S^aratterS  unfver  ®(auben§au§fagen  jur  eigentlich  religiöfen  S)ent^ 
roeife,  bie  ganj  SeftimmteS  mit  Oott  unb  non  Oott  erlebt 
b.  \).  aber,  er  fül)rt  gerabe  jur  eigentlid)en  religiöfen  ©eftimmt» 
^eit.  9)iefe  ^eftimmtbeit  gilt  e§  al§  eine  mirfli^e  93eftimmt^eit 
unb  al§  bie  einjige  ^ier  juläffige  QSeftimmtl^eit  erfennen.  9Kan 
blide  nic^t  beftänbig  auf  ©runb  nacbn^irfenbcr  Oemo^n^eit  auf 
bie  alte  oerloren  gegangene  2li't  ber  93eftimmt^eit  jurüct.  S)ann 
ift  ©efa^r,  ba^  jene  romantifc^en  Smpfinbungeu  ju  ftarf  merben 
unb  übevmuc^ern ;  unb  man  fie^t  nid)t,  wie  gefte§  unb  ©olibeS 
burc^  ben  SRüdgang  auf  ba§  religiöfe  ©runberteben  gemonuen 
roorben  ift.  Unfre  2lnfid)t  menigftcnS  ift,  bei  aller  ®infid)t  in 
ben  fgmbolifdien  Sfiarafter  aü  unfrer  3tu§fagen  über  @ott  grabe 
an  bem  lebenbigen  religiöfen  ®runbproje§  bc§  (J^riftentumS  etroaS 


426        (Steinmann:  ^te  lebenbige  ^erfönnd^feit  ®otte§  :c 

ganj  SagUc^cS  unb  in  fi^  fclbft  mannigfoltig  unb  reic^  93efltmmteS 
an  ©otteScrfal^rung  gewonnen  ju  l^aben.  ®ie  weiteren  ®arte* 
gungen,  fo  l^offe  i^,  werben  ba§  betätigen. 

II. 

SBir  Iiaben  im  bisherigen  bei  unfrcr  ©e^anblung  ber  reli« 
giöfen  ^hz^  ber  $er[önli(^teit  ®otte§  einen  religiös  grabe  fc^r 
bebeutf amen  3^9  ^n  biefer  9»bee  junäc^ft  unberüdtfic^tigt  gelaff en : 
SlQe  perfönlidbe  fSfla6)t  eines  religiöfen  (SlaubenS  ift  l  e  b  e  n  b  i  g 
mirtfam.  Qm  ^ntereffc  ber  SBereinfad^ung  unfre?  ^roblemS  em* 
pfal^I  eS  ftc^  aber,  junäd^ft  einmal  t)on  biefem  fünfte  abjufe^en. 
3)od^  fielen  bie  perfönlidie  Söffung  ber  (Sott^eiten  unb  i^re  6r= 
faffung  al§  lebenbig  waltenber  3Wdd^te  in  benfbar  engftem  3u« 
fammenl^ang.  SBotlen  wir  eine  irgenbwie  erfc^öpfenbc  93e^anb» 
hing  ber  auf  bie  ®ötter  angewenbeten  ^erfönlid)feit8ibee  geben, 
bann  muffen  wir  biefe§  einfad^  baju  gcl^örige  ©türf  je^t  nac^« 
träglic^  no^  ju  feinem  Siecht  fommen  laffen. 

SBir  fe^en  oorauS,  ba^  bie  3ibce  ber  Sebenbigfeit  ©otteS  fic^ 
ber  3}erfcl)iebenartigfeit  ber  ^erfönlic^feitsibec  entfprei^enb  oer* 
fd)iebcn  ausnehmen  werbe.  2)arum  legen  wir  aud)  ^ier  unfrc 
Unterfud)ung  üon  vorneherein  jweiteilig  an  unb  fragen  junä^ft 
nac^  ber  2lrt  ber  Sebenbigfeit  ber  p  f  g  d^  i  f  c^  perfönli^  gebeerten 
©ott^eiten.  —  S)ie  ®ötter  als  pfgd^ifc^e  refp.  Äulturperfönlic^« 
feiten  befi^en  bie  fpejififc^  pfgd^ifc^c  Sebenbigfeit.  @S  ift  ba§ 
ganj  unmittelbar  mit  ber  antl^ropomorpl^ifierenben  ©rfaffung  ber 
©ott^eiten  gegeben,  ©ofern  itinen  als  ^erfönlic^feiten  bie  QüQt 
beS  menfd^lic^en  ©eefenlebenS  eignen,  eignen  i^nen  eben  bamit  ju* 
gleich  bie  3üge  menfd)li^  feelifc^er  Sebenbigfeit.  SJiefe  pf9d^ifc^c 
Sebenbigfeit  aber  ift  ber  jebem  feelifc^en  3)afein  eigentümlici^e 
SGBec^fel  innerer  3uftänbe,  mit  weld)em  eS  auf  ben  SD3ed)fel  äußerer 
®inbrüde  in  ibm  eigentümlid)er  SBeife  reagiert  burd)  mannigfoc^ 
fic^  ablöfcnbe  ©mpfinbungen  unb  Stimmungen  unb  9lffefte,  95e* 
gel)rungcn  unb  ©ntfc^Iüffe.  ©eelifc^  lebenbig  ift  ja  boc^  baS 
SBefen,  welches  auf  bie  SSeränberungen  in  ber  2lu§enwelt,  fofem 
eS  oon  benfelben  berütirt  wirb,  in  biefer  wedifetnben  3Beife  ant* 
wortet;   wo   ein   fol^er  SCBedtifel  oon   innen   ^erauS  erfotgenber 


st  ein  mann:  ^ie  lebenbige  ^erfönüc^fcit  ©otteS  jc         427 

SRcattioncn  ni^t  ftattfinbct,  ba  l^errfc^t  fcclifci)cr  %ob.  3)iefcr 
SBBc^fcl  ber  inneren  ^wftänbe  unb  bemcntfpred)enb  auc^  bcr  93c* 
tätigungen  nad)  au^en  ift  gerabeju  ba§  c^arafteriftifc^e  9Ker!nxal 
feelifdier  Sebenbig!cit. 

S)iefe  3trt  fiebenbigfeit  alfo  befi^en  bie  al§  pfgc^ifc^e  ?ßer* 
fönlic^teiten  oorgeftellten  göttlichen  3Wäd|te  o^ne  roeitereg,  eben  weil 
fie  pfgc^ifc^c  ^er|önli(^feiten  [tnb.  Unb  barum  t|at  c§  mit  biefer 
Sluffaffung  ber  ®ötter  al§  tebenbiger  SWäd^te  ganj  biefelbe  93en)anbt* 
ni§  wie  mit  i^rer  2luffaffung  aU  pfg^ifdier  ^erfönlid^teiten  über* 
^aupt.  2llte§  roa§  mir  üon  ber  inl^altlidien  93efc^affen]^eit  biefer 
retigiöfcn  Sßorftellung,  oon  il^rcr  roörtlid)en  ®rtenntni§bebeutung 
unb  t)on  ber  SÄrt  i^rer  ©emi^tieit  au§gefül^rt  l^aben,  ba§  gilt  a\xdf 
t)on  ber  mit  ilir  fo  eng  jujammen^ängenben  93orfteHung  ber  fie* 
bcnbigteit  ber  ©ötter.  3lu^  l|ier  atfo  ^anbelt  e§  fid^  um  ein  fel^r 
anf^auli^e§  Ueberlieferung^miffen  von  ber  ©yiftenj  unb  bem 
Seben  ber  ©ötter  bei  ft^  felbft.  Unb  neben  biefem  mel^r  an* 
fc^aulic^en  Ucberlieferung§miffen  gibt  e§  auc^  l^ier  ein  abftraftere§ 
SBiffen  burc^  93emei§.  SBie  genau  mei^  nidjt  3.  93.  bie  altbog* 
matifc^e  2lrt  auf  er  bem  2)afein  ®otte§  au^  fein  SBirfen  ju  be* 
finieren  unb  ju  bebujieren!  —  2Bir  oermeilen  un§  aber  nic^t  bei 
einet  au§fü^rlid^eren  Darlegung  be§  eben  2Ingebeuteten ;  mir  mür* 
ben  ja  bamit  im  mefentlidien  nur  fd)on  ®efagte§  miebert)olen. 
9iur  bejügtid)  ber  ©emif  l^eit  t)on  ber  Scbenbigfeit  biefer 
göttlichen  SWäd^te  ift  t|ier  nod^  einiget  ju  bemer!en^). 

©ofcrn  bie  ©ottl^eiten  im  pfg^ifi^en  ©inne  lebenbig  fmb, 
änbern  fie  j|e  nad)  ben  Umftänben  im  einjelnen  if)re  ©ntfc^lie* 
jungen.  2)iefer  Qvlq  göttlicher  fiebenbigfeit  nun  ift  für  bie  religiöfe 
^raji§  Don  93ebeutung,  fofern  fie  eine  ber  menfc^lidien  2lrt  ana* 
löge  ©eftimmbarfeit  einfc^lieft.  ©ben  biefe  93eftimmbarfeit  ber 
©Otter  aber  ift  bie  aSorau§fe^ung  ber  ganjen  polgt^eiftifc^en  ©ötter* 
oerelirung.  93ebeutet  l)ier  bod)  ber  Sultu§,  wenn  ni(^t  au§fd)lieg* 
li^,  fo  boc^  in  altermeiteftem  Umfang,  einen  SSerfudt),  uon  ben 
©Ottern  etma^  ju  erlangen.  S)a§  eben  ift  ba§  93ebeutfamc  an 
jenen  überlegenen  ajJäcf)ten,  baf  man  beffen  geroif  fein  tann,  fie 
get)en  auf  bie  SBünfc^e  unb  93itten  ber  3Jlenfc^en  ein,  roenn  au^ 

1)  SSergl.  bie  Sliimerfuiig  auf  8.  422. 


428         (Steinmann:  ^ie  febenbtge  $erfönli(^!eit  (^otteS  2C 

nict)t  ol^nc  i^rcrfcit§  beftimmtc  Scbingungcn  gu  ftcüen,  wie .  e§ 
i^vem  S^araftcr  aU  ©arantcn  beftimmtcr  Kulturovbnungen  cnt* 
fpric^t.  ^ebenfalls,  ein  ®oü,  bev  nic^t  in  bem  ©inn  lebenbig 
ift,  bafe  al§  3lntn)ort  auf  ben  SBec^fel  beö  menfd)lic^en  35er^a[ten§ 
auc^  Don  i^m  ein  SBed)fel  ber  ©timmungen  unb  @ntfd)Iüffc  unb 
barau§  folgenb  ein  SGBec^fel  feiner  Betätigung  gegen  ben  9)]enfrf)en 
eriüartet  werben  fann,  ba§  ift  nid^t  ein  lebenbiger  ®ott  tüic  i^n 
biefe  9ieligion§ftufe  bc^  do,  ut  des  braucht; 

3Son  ^ier  au§  nun  tritt  bem  Ueberlieferung^roiffen  über  bie 
©Otter  ein  Qvlq  fubjettio  bebingter  @en)ipf|cit  l^inju.  SBBeun  loir 
ndmlic^  bie  göttlid)e  Sebenbigfeit  in  biefem  religiös  bebeutfamen 
©inn  oerftc^en,  b.  \).  aU  eine  ^ä^iflfcit  unb  SöiÜigteit,  ben  aWen* 
fd)en  auf  i^r  red)te«  SKnfud^en  ^in  ju  Reifen,  bann  fönnen  xoxv 
fe^r  roo^t  fagen:  auc^  ber  ant]^ropomorpl)ifterenbe  ^olgt^eiSmuä 
ift  oon  ber  Sebenbigfeit  feiner  ®ötter  überjeugt.  SBBir  oer* 
raenben  babei  ba§  SCBort  Ueberjcugung  in  feiner  allgemeineren  Se» 
beutung.  ®§  mirb  gelten,  feftjufteQen,  mie  fic^  biefe  innerlich 
gegrünbete  ©eroi^tieit  oon  ber  Ueberjeugung  im  fpejififc^en  ©inne 
unterfc^eibet  unb  oon  roel^er  befonberen  2lrt  fie  ift. 

3)ie  Slbgrenjung  gegen  bie  Ueberjeugung  im  engereu  ©inne 
be§  aCBorteS  ift  leicht  DoDjogen :  e§  ^anbelt  fid^  l^ier  nic^t  um  eine 
im  geiftigen  Seben^proje^  gegrünbete  ©emi^^eit.  933el^eS  aber 
ift  bie  b  e  f  0  n  b  e  r  e  älrt  biefer  fubjeftiüen  ©emi^eit  bejfigUd) 
ber  pfric^ifc^en  Sebenbigfeit  ber  ©ott^eiten?  3i^ren  mir  un§  nic^t, 
bann  lägt  fic^  jur  K^arafterifierung  biefer  ©emig^eit  l^erbeijie^en^ 
mag  man  gelegentlid^,  miemo^l  mit  Unred^t,  jur  ©rflärung  ber 
©ötteroorfteQung  überl^aupt  l^at  uermenben  moUen.  ^ie  man 
bort  bie  ©Otter  burd^  il)re  93e}eid)nuug  als  äBunfc^mefeu  glaubte 
fomo^l  erflärt  al§  genügenb  gefennjeic^net  ju  traben,  genau  fo^ 
nur  eben  mit  met)r  Sle^t,  möchten  mir  jene  ©emig^eit  al§  eine 
SBunfc^gemig^eit  bejeidinen.  ®ag  ber  bloge  SBunfc^  nad^  ftarfer 
^ilfe  allen  möglichen  9töten  gegenüber  rein  au§  fic^  ^erau«  bie 
©emig^eit  erftanfänglic^  follte  erfd^affen  ^aben,  eS  gebe  ir= 
genbmo  unb  irgenbmie  ju  folc^er  ^ilfe  befähigte  SDSefen:  ba§  ift 
ja  gewiß  eine  Sf^eorie,  bie  alle  2lnalogie  mit  ber  pfgc^ifc^en  6r* 
fa^rung  hinter  fic^  jurürflägt.    2lnber§  aber  fte^t  e§  mit  ber  ©e* 


©teinmann:  ^te  lebenbige  $erfönlid^!eit  @ottz2  ic.         429 

ipi^l^cit  i>ci^  mcnfc^cnartigc,  übcrmcnfc^lic^c  Sffiefen,  faü§  fie  al§ 
Dor^onben  angenommen  roerben,  mit  fic^  l^anbeln  laffen,  olfo  and) 
aU  Reifer  ju  gewinnen  finb.  S)iefc  ©emi^l^eit,  nidjt  oon  ber 
Sjiftenj  folc^er  3EBefen  überhaupt,  fonbern  (nad|bem  i^re  Sjiftenj 
anberroeitig  fc^on  feftftünbe)  oon  itjter  Jöereitmittigteit,  unter  bc* 
fonberen  ^ebingungen  }u  l^elfen:  baS  lie^e  fic^  gerabe  in  ä(na« 
logie  mit  fonft  befannten  feelifc^en  SSorgängen  al§  SBunfc^ge« 
Tüi&^eit  oerfte^en*). 

Sq^  eS  etmaS  berartigeS  mie  äBunfdigemi^^eit  gibt,  ift  ja 
befannt  genug.  SBir  braudien  ba  nur  ju  erinnern  an  bie  güüe 
t)on  felbfttäufdienber  ©emi^^eit,  beren  etwa  bie  natürliche  SWutter^» 
liebe  fä^ig  ift,  ober  an  bie  naioe  ©emi^^eit  einer  jeben  Station 
pon  i^rer  jic^  ftetS  beroätirenben  überragenben  93ortreffIid)feit  — 
SBeiter  geben  xüix  ju  bebenfen,  baß  mit  §ilfe  biefer  pfgc^ifdien 
9lnaIogie  nidjt  bie  SBorftellung  irgenbmeldier  93e[timmbar!eit  ber 
©Otter  überl^aupt  erflärt  werben  foK,  fonbern  bie  ä^^^^P^t  be§ 
SWenfc^en  jur  ^  i  I  f  e  feiner  ©ottt)eiten,  faU§  er  ndmli^  bcftimmte 
93cbingungen  erfüllt  l^at.  3)er  3Serfuc^  bagegen,  jene  menfd)en= 
ä^nlid^en  3Wäd)tc  überhaupt  burd)  ®aitn  ju  beftimmen,  ift  etma^ 
fo  unenblic^  9la^eliegenbeS,  roo  einmal  bie  Sßorftellung  oon  fold)en 
9Jldd|ten  oort|anben  ift,  baß  er  fic^  bann  gan}  oon  felbft  einftel^ 
len  mirb.  ©iner  befonberen  ©eroiß^eit  bebarf  eä  eigentlich  nur 
barüber,  baß  biefen  fo  na^eliegenben  93emü^ungen  unter  beftimm« 
ten  Umftänben  ein  ©rfolg  f  i  d^  e  r  ift.  2)aß  er  irgcnbmie  al§ 
m  ö  g  l  i  d)  erwartet  roirb,  ift  eigentlid)  eine  ganj  felbftoerftänblid)e 
©ac^e.  S)ie  SBunfc^geroiß^eit  fe^t  alfo  erft  bort  ein,  roo  bie  af^ 
pfgdiifc^  tebenbig,  b.  l).  aber  auc^  al§  beftimmbar  gebac^ten  9Q3e* 
fen  grabe  aU  Reifer  in  allen  möglichen  Slöten  aufgefaßt  mer^' 
ben,  ober  wo  an  ©teile  ber  Ungemißlieit  gegenüber  allen  mög* 
lid^en,  immerhin  aud)  beftimmbaren,  bämonifd)en  SWäc^ten  bie 
3uoerfi^t  ju  oeret)rten,  ganj  fidier  beftimmbaren  ©ottlieiten  ge» 
treten  ift.  3)enn  oline  ^J^^if^l  M*  ^i^  lebenbige  ©ott^eit  überall 
ein  SBefen,   ju   beffen  |)ilfe  feine  a3erel)rer   irgenbroie  3u^«^'ficf)t 

1)  ^ie  e^rage  banad),  mie  too^I  bie  S3orfteQung  bou  jenfeitigen  ^ad)ten 
fiber^aupt  guftnnbe  oefoniinen  fein  bürfte,  intereffiert  imS  ^ier  nid)t  imb  !amt 
in  unferm  ^iifaniuieii^ang  interörtert  bleiben. 


430         @tetnmann:  ^te  lebenbige  ^erfönlic^feit  ®otte$  2c 

Ijabcn.  2)icfc  3"^JC^ri^t  nun  aber  crHärt  fi^  oottauf  auf  her  einen 
(Seite  au§  ber  gefteigerten  Sßorfleüung  oon  ber  ©ott^eit,  auf  ber 
anbern  ©eite  aber  eben  burc^  bie  fubjettioe  Äraft  be§  95ege^ren§ 
nad)  folc^er  ^i(fe.  @§  ift  äl^nli^  m^  bei  ber  9Bunf^gen)i^^eit 
eine§  Firmen,  ber  einen  aU  pgängUc^  befannten  äJlä^tigen  auf 
jenem  rool^Igefäßige  SBeife  um  feine  ^ilfe  angebt.  3lur  ^at  jener 
2lrme  e§  f^roerer,  feine  äBunfc^gemi^^eit  feftjul^atten.  3)enn  ber 
einjelne  fromme  fielet  fid^  ja  bod^  ringg  oon  äl^nlid)er  ^^^erfic^t 
umgeben,  bie  in  ganj  berfelben  SRic^tung  ge^t  2lu§erbem  ift  eine 
b  i  r  e  f  t  e  SBiberlegung  feiner  @en)i|^eit  au§gefc^(offen.  SIuc^ 
loenn  fi(^  i^m  feine  93itte  ni^t  erfüllt,  ift  e§  boc^  nid^t  ber  bi= 
refte  93efc^eib:  e§  fällt  mir  nid^t  ein,  bir  ju  Reifen;  unb  immer 
ift  ber  SRüdfjug  auf  bie  SBorfteHung  möglich,  ba§  eben  oon  feiner 
©eite  nodö  ein  met)rere§  I|ättc  getan  merben  muffen. 

<3n  biefem  ©inne  alfo  ift  bie  Qhtt  ber  Sebenbigfeit  ber  pfp* 
6)X]d)  perföntic^en  ®ott{)eit  ni^t  nur  ein  ©egenftanb  beS  objeftio 
gegrünbeten  UeberlieferungSmiffenS,  fonbern  juglei^  ber  fubjeftio 
gegrünbeten  9Bunfd|gen)i|^eit.  3)iefe  Sffiunfc^gemi^^eit  crftredt 
fid)  aber  nic^t  auf  alle  309^  ^c^  anfd^aulic^  l^erau^geftalteten 
^ulturperfönlid|teit  ber  ©ott^eit,  fonbern  lebiglid)  auf  i^re  pfg* 
c^ifd^e  Sebenbigfeit  al§  eine  ^ereitmiUigteit,  fid)  burd^  menfc^Uc^e 
Sitte  unb  ®abz  beftimmen  ju  laffen.  Unb  fte  ^ängt  innerlich 
jufammen  mit  ber  SBorfteHung  oom  religiöfen  Sßerl^ättniö  al§  ei* 
nem  SSerl^ältniS  be§  do,  ut  des.  ®rabe  auc^  bie§  gilt  e§  im 
2luge  ju  bel)alten.  — 

SBic  nun  ftellt  fid)  bie  Sebenbigfeit  ®otteS  im  ßwf^"^^"^"* 
^ang  mit  feiner  ©rfaffung  al§  geiftige  ?ßerfönlid^feit  bar? 

<^ier  l^anbelte  e§  fi^  ja  nid^t  um  eine  eigentlich  ant^ropo- 
morp^ifierenbe  SSorftetlung  oon  @ott.  Qmmer^in  mürbe  aber 
bod)  (Sotte§  Söefen  in  ber  Slic^tung  be§  ooHenbeten  menfc^lic^en 
^^?erfönlic^feit§(eben§  gefud)t  unb  fgmbolifd)  burd^  ßüge  be§  te§* 
teren  bejeid)net.  3)arum  loirb  un§  eine  flare  ®infi^t  barüber, 
in  n)eld)cm  Sinne  eine  menfd^lidje  geiftige  ^erfonlic^feit 
lebenbig  genannt  wirb,  immert)in  oon  9lu^en  fein  tonnen.  — 
93on  lebenbigem  religiöfen  ©lauben  reben  mir,  um  auSjubrürfen, 
ba$  ba§  perfönlic^e  Seben  t)ier  in  feiner  religiöfen  Jorm   au§ge* 


8t einmann:  ^ie  lebenbtge  ^erfönlid^feit  ®otte§  k.         431 

reift  ift,  b.  f).  aber,  bag  e§  2:tcfe  unb  ©tetigfeit  gewonnen  ^at 
unb  fic^  jo  in  jeber  Seben^Iage  au§roirtt.  ©benfo  ift  c§  mit  le* 
benbigem  ftttlic^en  ©mpfinben,  lebenbigcr  fünftlerifc^er  2lrt,  leben« 
bigcm  wiffenfc^aftlic^en  ©inn.  ^n^mcr  l^anbclt  e§  fic^  barum, 
ba§  bie  betreffenbe  geiftige  'Slrt  in  fxd)  geftigfeit  unb  93eftanb 
unb  auSreic^enbe  2:iefc  gewonnen  l^at  unb  fid)  auf  @runb  beffen 
in  jeber  Situation  bur^jufe^en  n)ei|.  93ei  biefer  Sebenbigteit 
tommt  e§  nid^t  auf  ben  SBec^fcl  ber  (Stimmungen  an.  gür  bie 
f  cclifc^e  Sebenbigfeit  xoax  gerabe  ba§  entfdjeibenb  bebeutfam. 
SBenn  j.  93.  eine  pfgd)if(I)e  ÄuUurperfönlid)!eit  in  bem  leb^afteften 
SBcd^fel  innerer  3wpänbe  unb  unter  beftänbigem  ©anbei  it)rer 
®ntfd|Ififfe  unb  äußeren  SWa^na^men  ft^  nur  felbft  ju  bel^aupten 
roeijs,  fo  pulftert  fie  oon  ftarfem  fieben  ber  i^r  jufommenben  2Irt. 
®oId)e  gtejibititcit  befi^t  bie  geiftige  ^erfönlid)feit  grabe  nic^t, 
^icr  fommt  eS  geroi^  nic^t  an  auf  ben  beftänbigen  SBBedifel  ber 
(Stimmungen  unb  ein  immer  erneutet  (5id|aftommobieren  ber  ®ut* 
fd|lüffe.  (Sonbern  ba§  ift  ba§  i^r  eigentümlidje  Seben,  ba§  i^r 
eine  beftimmte  3i^I^i^*^^9  gemiefen  ift,  bie  fi^  nun  mel^r  unb 
me^r  in  aller  ^raft  burc^fe^t,  unb  baj3  bie  Eigenart  ber  Son* 
jentration  alle§  ®afein§  na6)  biefer  beftimmten  SRic^tung  immer 
tiefer  bur^lebt  mirb.  Ober,  roie  mir  fc^on  fugten:  ©tetigfeit, 
geftigfeit  unb  Siefe  —  unb  bem  fönnten  mir  etma  noc^  9Baf)rs 
^aftigfeit  ^injufügen  —  fmb  bie  ©l^arafterjüge  ber  Sebenbigteit 
be§  geiftigen  ^erföntid)feit§(eben§. 

2let|nlic^e§  nun  bebeutet  bie  Qbee  ber  Sebenbigfeit  im  Qn^ 
fammenl^ang  ber  (Srfaffung  Oottes  at§  geiftiger  ^erfönlic^feit. 
903enn  ^ier  eine  2lnnät|erung  an  eine  SBorftellung  oon  ©ottes 
SBefen  nur  in  ber  Slid^tung  be§  merbenben  geiftigen  ^erfoucn- 
lebend  gefud^t  wirb,  ni(^t  bur^  gefteigerte  Uebertragung  oon  Qüc^tn 
ber  feelifd^en  $erfönli^feit§art  be§  SUlenfc^en,  bann  tiaben  mir 
un§  bod^  mo^l  aud)  bie  Sebenbigfeit  @otte§  nid^t  nac^  9tnalogie 
mit  ber  feelifd()en  Sebenbigfeit  au§jumalen,  muffen  un§  t)ielmef)r 
bei  aUen  Slu^fütirungen  barüber  in  ber  SRidtjtung  beSjenigen  be* 
megen,  roa§  mir  foeben  al§  Sebenbigfeit  bes  geiftigen  ^erfonen* 
lebend  bezeichneten.  SQ3irb  l^ier  ®ott  betonenb  „ber  lebenbige"  ge^» 
nannt,   fo  ift  alfo   bamit  nid)t  gemeint  ein  SÖSe^fel  oon  ©tim* 


432         @  t  e  i  n  m  a  n  n :  Die  lebenbige  $erfönU^!eit  (3ottt^  2C 

mutigen  unb  ©ntfc^Iüffeti  in  ber  6ecle  ®ottc§,  fonbern,  in  äna* 
logie  mit  ber  SSoUenbung  geiftiger  fiebenbigfeit  bie  unermfibtic^e 
©tetigtcit  unb  Kraft  feintö  jielmirtenben  croigcn  SEBefenS.  Unb 
bafe  ©otteS  Sebenbigteit  non  ber  religiofcn  (Sprache  (man  bente 
3.  ^.  an  ba§  9(Ite  Seftament)  unenbU^  oft  mirfUc^  fo  gemeint 
ift,  bcbarf  ja  nur  ber  Srinnerung. 

@§  ift  nun  aber  meiter  f(ar,  ba^  e§  fid)  babei  and)  ^ier 
mieber  ni^t  eigentlid)  um  eine  b  i  r  e  1 1  e  Uebertragung  ber  gei« 
ftigen  Sebenbigteit  auf  @ott  ()anbeln  !ann.  @o  mirb  von  ber 
2iiefe  unb  geftigteit  feineö  inneren  Seben^,  fomie  ber  inneren 
SEßa^r^aftigfeit  feiner  geiftigen  2lrt  entmeber  gar  nic^t  ober  nur 
in  fe^r  übertragenem  ©inne  gerebet  werben  tonnen.  2lu^  biefe 
©ejeic^nungen  beS  göttli(^en  SBefen^  unb  äBirfenS  ftnb  nic^t  35e* 
finitionen  ober  bem  2l€^nlicf)e§,  fonbern  SGBegroeifer  für  unferc  ®r* 
faffung  feineS  3Befen§.  Ueber^aupt  tommt  ja  bie  Konzeption  ber 
religiöfen  ^bcc  ber  Sebenbigteit  be§  perfönlic^en  ®otte§  gar  nic^t 
auf  bem  SBege  einer  blopen  Uebertragung  ber  Orunbjügc  ber 
geiftigen  Sebenbigteit  auf  i^n  juftanbe,  al§  ob  eS  ftc^  an  biefem 
$untte  im  3uf^tn^^n^^i^9  ber  Ueberjeugung  oon  @ott  al§  gei- 
fliger  ^crfönlic^feit  bod^  loieber  um  eine  mritl^ologifierenbe  ^c* 
fd)ieibung  feiner  inneren  SRegfamteit  l^anbeln  tonnte.  2luc^  ber 
©a^,  ba^  ber  perfönlid)e  @ott  ein  lebenbiger  ®ott  ift,  fpric^t 
nic^t  ein  berartige§  SQBiffen  über  ®ott  au§,  fonbern  oielmel^r  eine 
3ui)erftc^t  ju  i^m.  „Unfev  ®ott  ift  ein  lebenbiger  ®ott",  ba§ 
l)ei&t  für  bie  djriftlic^e  grömmigteit,  ba§  auf  i^n  ein  felfenfefter 
aScvIa^  ift  in  ben  inneren  9töten  unb  Unfertigfeiten  beS  roerben» 
ben  geiftigen  Scben§,  mie  man  fic^  auf  bie  uuroiberftetilic^e  ätt* 
gemalt  eines  ganj  unb  gar  ftetigen  geiftigen  SBSillenS  unbebingt 
oerlaffen  tann. 

®iefe  religiöfe  3uDerfid)t  }u  ®ott,  bie  mir  un§  jum  93en)uBt« 
fein  bringen,  inbem  mir  .it)n  ben  „Icbenbigen"  nennen,  ift  nun 
aber  gar  nic^t  irgenb  etmaS,  maS  gu  ber  Uebergeugung  oon  @otte§ 
geiftiger  ^erfönlid^teit  nod^  Ijinjutreten  mügte.  ©c^on  bie  ®e* 
jeic^nuug  @otte§  ate  geiftiger  ^erfönli^teit  überhaupt  mar  jo 
2tu§bruct  ber  äw^^^^fi^t  be§  roerbenben  ®eifteSleben§  5U  i^m. 
Selbe  Q3ejeid|nungen   finb  rourjeleinig.    g^r  ben  ®lauben  ift 


stein  mann:  S)ie  Icbenbige  ^erfönlic^fcit  ®otte3  :c.         433 

®ott  geiftigc  '»ßcrfönlid^fcit  eben  al§  (cbenbiger  unb  febenbig  in 
ber  5orm  geiftiger  ^erfönlic^teit.  2)tc  ^fbee  ber  Sebenbigtcit 
bringt  nur  beuttic^er  al§  bie  anberc  @ottc§  95ejiel|ung  }um  menfd)* 
li^en  ^erfonenleben  jum  2lu§brud.  ®iefelbe  liegt  ja  freilid)  in 
®otte§  allgemeiner  öejeic^nung  al§  geiftige  ^erfönlid)feit  eigent* 
(Ictj  fd|on  mit  barin;  benn  geiftige  $erfön(id)feit  entfjätt  ja  boc^ 
unmittelbar  baS  SWoment  ber  tätigen  93e}ie]^ung  auf  anbere,  unb 
oornefimlic^  @otte§  33e}eid)nung  al§  geiftige  ^erfönlid)teit  meint 
i^n  ja  bod^  al§  ben  gorberer  unb  SSemirfer  geiftigen  ^erfonen« 
lebend  au§  feiner  innerften  ßebcn§füfle  ^erau§,  unb  nid^t  fonft* 
mie.  Qn  ber  Qbec  ber  Sebcnbigfeit  mirb  aber  biefe§  3Koment 
ber  tätigen  93e}iet|ung  ®otte§  jum  roerbenben  ^erfonenleben  be« 
fonber§  ]^eroorgel)oben  unb  mit  befonberem  3lu§brucf 
bejcic^net.  Unb  biefe  befonber§  au^gefproc^ene  3u^^^nd)t 
ju  i^m  fleiben  mir  nun  im  einselnen  in  f^mbolifc^e  ric^tuug* 
meifenbe  2lu§fagen  über  ii|n,  inbem  mir,  bem  menfc^Iic^en  ®eifle§* 
leben  93oKenbung§jüge  entletinenb,  etma  üon  @otte§  Streue,  Qiu 
perläffigteit,  SBa^r^aftigteit,  ^eiligem  3Biüen  u.  f.  m.  rcben').  — 
2luc^  bei  biefer  3ut>crfic^t  }um  lebenbigen  (Sott  ^anbelt  eS 
ftd)  nun  gemi^  nic^t  um  eine  romantifct)e  lieber jeugung§geroi|t|eit 
üon  ber  9lrt,  gegen  bie  mir  unfern  ©tanbpunft  oben  abjugrenjen 
oerfu^ten.  @§  ift  nic^t  irgenbmie  eine  93el)auptung  in§  leere 
unb  ungeroiffe  hinein,  nur  getragen  t)on  einer  2lrt  ©elbftbel^aup* 
tung^trieb  be§  merbenben  ®eifte§leben§ ,  ober  eine  2lrt  geiftiger 
8Sunfd)gen)i^^eit.  ©o  wenig  mie  bie  Ueberjeugung  Don  ®otte§ 
geiftiger  ^erfönli^feit  etmaS  berartige§  ift,  fo  wenig  au(^  biefe 
Ueberjeugung  oon  feiner  geiftigen  Sebenbigteit ;  ba§  eine  ift  ja 
bod)  in  unb  mit  bem  afibern  gegeben.  SBielme^r,  mie  bie  Qu- 
perfid)t  be§  cinjetnen  merbenben  ®eiftegteben§  ju  einem  e§  be* 


1)  STel^nHc^  alfO;  mie  gut  j)fDcf)ifcöen  Sßevfonlicöfcit  ber  ©öttcr  t^re  pfQ* 
d)tfc^e  Sebcnbigfeit  o^iie  meitere«  mit  baju  gehört,  laffcn  ftd)  aud^  @otte^ 
geiftige  Sßerfj>nlid)feit  unb  feine  Sebcnbigfeit  nid)t  uoneinanber  trennen.  ^Jlur 
ift  ber  3"föinmenöang  l&icr  ein  onberer  tüic  bort.  ®ort  ift  c8  bie  3ufaiumen* 
ge^örigfeit  einer  cin^citlid)en  Slnfc^auung,  bie  al«  ganje  auf  bie  (Sott^citen 
migetuenbct  toirb ;  ^ier  ift  eS  ein  3"fatt"wenöaiig  ber  religiofcn  Swöerflc^t  bc« 
geiftigen  2tbtn^  ju  @ott. 


434         <Steinmann:  ^ie  lebenbtge  $erfönlic^!eit  ©otteiS  zc 

roirfenbcn  unb  forbcrnbcn  gciftperfonlic^cn  @ott  auf  einem  (Seiftet- 
ertebniS  an  ber  ©efamt^eit  be§  ^erfönlic^teitslebenS  beruht,  im 
befonbcren  auf  bem  ©inbrud  von  ber  gleic^fam  sentralen  ^crfon* 
lic^teit  biefe§  geiftigeu  @efamtlc6en§,  beten  ganje^  ^erfönltc^* 
feitSleben  berou^tevma^en  üon  ®ott  l^er  mar  (üergt.  ©.  421),  fo 
auc^  bie  3woerfic^t  jum  lebenbigen  @ott  in  bem  foeben  bärge* 
legten  ©inne.  SBenn  wir  au§)pred|cn,  ba§  ber  geiftperfßnfid^e 
®ott  ein  tebenbiger  ®ott  ift,  fo  geben  mir  auc^  bamit  einer  ganj 
beftimmten  religiöfen  ©rfa^rung  in  ber  Sprache 
ber  religiöfen  ©gmbolit  jutreffenben  2Iu§brurf.  —  Qnbem  mir 
uu§  nun  biefe  @rfal^rung  beutlid^er  ju  oergegenmärtigen  fuc^en, 
werben  mir  jugteid^  üon  bem  oben  (©.420  ff.)  angebeuteten  reli* 
giöfen  ©runberleben  ein  flareö  33Ub  gcminnen.  ^tmx  e§  l^anbelt 
fid)  f)ier  ja,  mie  gefagt,  nic^t  um  jmeierlei  Vorgänge,  fonbem  im 
legten  ©runbe  um  ganj  biefelbe  ©ac^e;  ber  geiftperfönlic^e  ®ott 
wirb  immer  jugleic^  al§  ber  lebenbige  erfahren.  3)iefe§  geiftige 
©rieben  nun  ift  fo(genbe§. 

SDBir  finben  un§  mit  unferm  einjelnen  merbenben  ®eifte§» 
leben  in  einen  umfaffeuben  3ufammenl|ang  beä  geiftigen  Sehens 
^ineingefteDt.  SBiemo^l  ba§  geiftige  ßeben  etma§  SlHerperfönlic^ftc^ 
ift,  in  feinem  jebe^maligen  ©rroac^en  ©ad^e  ber  perfönlic^en  6ut* 
fd)eibung  be§  einjelnen  unb  in  feinem  gortfc^ritt  immer  miebcr 
bie  Satfraft  be§  einzelnen  aufrufenb,  boc^  fte^t  e§  nic^t  eigent« 
lid)  auf  ber  3:at  be§  einjelnen.  SBielme^r  ein  jeber,  ber  fein  in^ 
biüibueUeS  @eifte§ringen  mit  einiger  Älartieit  über  fein  SBo^er 
unb  aSie  barlebt,  wirb  fic^  ooUfommen  beutlic^  beffen  bemüht 
fein,  mie  es;  in  einem  umfaffenben  geiftigen  ®efamtleben  murjelt. 
aSon  borttier  treten  an  ben  einjelnen  beftänbig  SRa^nungen,  5or» 
berungen  unb  3umutungen  ^eran,  benen  freilid)  in  feinem  Innern 
etn)a§  antwortet,  bie  aber  nic^t  in  feinem  -Innern  urroü^fig  ent* 
ftanben  finb.  Unb  nidjt  nur  foli^e  3^>^^wtungen  erlebt  er  uon 
bort,  fonbern  aud|  bireftere  Kräftigung  unb  ©tärfung  burc^  un« 
mittelbar  erl)ebenbe  ®inflüffe,  bie  i^n  gleid^fam  mit  fortreiten. 
©0  erroad)t  im  einjelnen  ba§  ®eiftige  ftet§  oon  biefer  ©efamt^eit 
l)er  unb  mirb  oon  it|r  t)er  auc^  bauernb  geförbert  unb  angeregt* 
ffiie  im  erften  ©eifte^ermac^en,  fo  aud)  fernerhin  mit  feinem  gan« 


<3teinmann:  ^te  lebenbige  $erf5ttltd^!ett  Q^otteS  2C.         435 

jen  inneren  93eftanb  fü^It  fic^  fo  ber  einjelne  von  biefem  ®e^ 
famtleben  nid)t  nur  weiter  gebrängt,  f onbern  umhegt  unb  getragen. 
Uub  oornel^ntlic^  bei  ben  ©d)n)anfungen  feinc§  roerbenben  6in§el« 
perföntic^feit§Ieben§  ift  bie§  üon  großer  ©ebeutung.  Söie  felir  in 
i^m  felbft  aDe§  unfertig  unb  fdiroanfenb  fein  mag,  in  feinem  gort* 
gang,  mol^l  gar  in  feinem  93eftanb,  immer  roieber  in  g^age  ge* 
fteHt  —  bcftänbig  gleich  bleiben  jene  3Jlal^nungen  unb  gorbe« 
rungen  unb  fräftigenben  ®inflüffe  non  bort  ^er.  3)a  ift  etma^ 
por^anben,  ba§  an  i^m  mie  mit  unermübtic^er  Xreue  weiter  mirft 
unb  feine  JRu^e  lä^t.  —  Unb  ba§  nun  eben  ift  jene  ©rfa^rung 
üctt  ber  Sebenbig!eit  @otte§  al§  einer  ftetigen  SUladitmirfung  auf 
ba^  eine  3i^t  ^i"-  ©o  rein  für  fi^  genommen  ift  e§  \a  freilid) 
nic^t  unmittelbar  ®  o  1 1  e  §  erfa^rung.  Unb  e§  fül^rt  aud)  alle 
Vertiefung  in  biefe§  allgemeine  geiftige  ®rlebni§  nid)t  oou  fid) 
felbft  au§  baju,  barin  @otte§  Sebenbigfcit  ju  erblidten.  3)aju 
bebarf  e§  glei^fam  einer  befonberen  9lugenöffnung,  wie  fie  fid) 
an  uns;  erft  oolljie^t  burc^  ba§  innere  91nteilgeminnen  am  reli* 
g  i  ö  f  e  n  (Sefamtleben,  ba§  in  3»^fu§  murjelt,  unb  im  befonberen 
burd^  eine  birefte  innere  93erü^rung  mit  biefer  ^erfon  felbft. 
®ann  aber  wirb  un§  eben  ^ier  @otte§  lebenbige§  SBBirfen  fie* 
benSerfatirung.  @§ift  ^ier  nid)t  oor^anben  nur  bie  58e» 
^auptung  oon  einem  etma  gar  irgenbroo  in  jenfeitigen  Stegionen 
fid)  ooUjietienben  SBolleu  unb  SCBirfen  ®otte§,  fonbern  mir  erleben 
ganj  bireft  biefeig  lebenbige  SBatten  @otte§  an  unferm  roerbenbeu 
@eifte§leben.  9lnbere  erleben  ba§  a\x6);  ber  religiöfe  ®laube  ift 
anwerbe m  überzeugt  jumiffen,  n)a§  er  bamit  erlebt.  SÖBeil  il^m  bie 
Slugen  glei^fam  meiter  geöffnet  finb,  barum  ftel)t  er  ^ier  überall 
®ott  am  SBBerfe.  Unb  inbem  er  fid)  über  biefe  feine  lebenbige 
®otteSer f  a^r ung  au§fprid)t,  rebet  er  oon  ber  geiftigen  £e* 
benbigfeit  ®otteö  b.  \).  t)on  ber  unermüblid)en  ©tetigfeit  uub 
Jreue  feinet  l)eiligen  SBBilleng. 

9Rau  roirb  nun  aber  oietleic^t  bie  ©mpfinbung  t)aben,  al§ 
feien  pfg^ifc^e  unb  geiftige  Sebenbigfeit  ®otte§  in  unfrer  3)ar> 
ftellung  meiter  au^einanber  gerüdtt  loorben,  al^  e§  bem  (5ad)Der« 
^alt  entfpric^t,  roenn  mir  bie  geiftige  Sebenbigfeit  ®otteg  mit 
biefer  erfaf)rbaren  ©tetigfeit  unb  2ireue  feinet  l)eiligen  roirffamen 


436         ©teinmann:  3)tc  (ebcnbtgc  ^crf önlic^feit  ©otteS  :c 

S33ittcn§  oottftanbig  glci^fc^tcn.  2)iefer  ©mpfinbung  Hegt  cttoaS 
©crcditigteg  ju  ©runbe.  Ot)ne  3"^^'!^^  njiÜ  ja  bod)  bic93egeic^* 
nung  ®otte§  al§  be§  Sebcnbigcn  auc^  für  bic  ©tufc  feiner  über* 
jeugung^mä^igen  geiftigen  ©rfaffung  me^r  befagen,  al§  roir  bisf^ 
I)er  afö  ben  religiös  bebeutfamen  unb  erfa^rbaren  Sem  biefcr 
^bee  l^erau§juftcl(en  üerfud^ten.  Unb  eben  biefe§,  beffcn  6rn)ä^* 
nung  wir  üorerft  noc^  jurürfgefteßt  ^aben,  ift  geeignet,  bie  beiben 
Sitten  ber  Sebenbigteit  @otte§  einanbev  in  ^ö^erem  aWage  üer» 
lüanbt  erfd^einen  ju  taffen.  6§  wirb  fic^  frei(id)  auc^  l^ier  bei 
einer  tieferge^enben  Unterfuci^ung  jeigen,  n)ie  fe^r  boc^  bie  loefent* 
lic^e  SJifferenj  eine  geroiffe  ganj  äu^erlic^e  9le^nli^feit  überwiegt. 

SBenn  ber  JJromme  ben  geiftperfönlid)en  (Sott  al8  lebenbig 
bejeid^net,  fo  benft  er  fic^erlid)  nic^t  nur  an  bie  ffraft  unb  SJlac^t 
unb  ©tetigfeit  feine§  ^^erfönli^feitöroitlenS.  ®§  ift  bamtt  auc^ 
gemeint,  bafe  ber  geiftperfönli^e  (Sott  gerobe  in  oUem  SBec^fel 
ber  @d)icffQle  unb  in  aüen  SDSanblungcn  be§  äußeren  unb  inneren 
Seben§,  foroo^l  be§  einjelnen  aU  ber  (Sefamt^eit,  ftet§  roirffam 
gegenwärtig  ift.  2)a§  fd)eint  eine  geroiffe  ^t^yibilitat  unb  SBanbel* 
barfeit  ®otte§  ju  umfd)lie§en,  bie  an  bie  innere  9en)eglict)feit 
unb  93eftimmbarteit  be§  pfgc^ifc^en  Seben§  erinnert.  SGBir  werben 
ju  geigen  ^aben,  wie  fe()r  eS  im  tiefften  @runbe  bo^  etwa§  ganj 
anbere§  ift. 

3unäd)ft:  3)ie  SWeiuung,  bafe  ®ott  lebenbig  fei  im  @inne 
ber  ^eftimmbarfeit,  ^at  itircn  religiös  bebeutfamen  Äern  in  ber 
Erwartung,  ba§  er  mit  fid)  l)  a  n  b  e  l  n  lägt,  beeinflußbar  ifl 
burd)  ba^  menfd)licl^e  Zun.  aCBo  bie  ©ottlieiten  in  erfter  Sinie 
5)tot^elfer  finb,  ift  ba§  ja  eine  ganj  felbftoerftänblidie  SBorauS* 
fe^ung  be§  gefamten  religiöfen  SBer^alten^.  So  aber  ift  e§  boc^ 
nid)t  gemeint,  wenn  wir  un§  ben  geiftperfönlic^en  @ott  in  altem 
SBe(^fel  unb  SÖSanbel  ber  ©reigniffe  lebenbig  gegenwärtig  wirf» 
fam  beuten,  ^ier  ift  oielmef)r  ba§  ber  religiöfe  Rern  ber  @ad)e, 
bag  wir  un§  feinen  ftetigen  ^eil§  willen  überall  unb  in  je» 
ber  Sage  naf)e  wiffen  bürfen,  grabe  al§  einen  folc^en,  ber  immer 
berfelbe  ^eil§wille  ift,  un§  aber  nal)e  grabe  ate  biefer  immer 
gleiche  unb  umwanbelbare  in  aller  bunten  iWannigfaltigteit  unfrer 
Seben§fü^rung  unb  ber  Seben§fü^rung  ber  ÜWenfc^^eit.    2llfo  nic^t 


©tcinmann:  S)ie  lebcnbige  ^crfönlid^feit  ®ottc§  iz.         437 

ba8  ift  ba§  (Sroj^e  unb  Sebcutfame,  ba§  luir  i^n  jcbcrjeit  um* 
ftimmcn  tonnen  —  beffcn  bebarf  c§  t|icr  ja  gar  nid^t  — ,  fonbcrn 
ba§  roir  i^m  immer  unb  überall  begegnen  !önnen,  wenn  mir  i^n 
nur  rec^t  fud^en  ^).  3)ann  aber  I^anbelt  e§  ftd)  I|ier  hoä)  nidit ' 
um  etroa§  ber  pft)c^ifd)en  Scbenbigfeit  ®otte§  SBermanbteS,  bie 
ja  in  ttirem  tiefften  religiöfen  Äern  93eftimmbarteit  ift.  ©oubern 
e»  ^anbelt  firf)  um  ben  ©tauben  an  bie  b  e  ft  ä  n  b  i  g  e  Stalle  ber 
ftet§  gleidjen  Xreue  (Sottet. 

3)amit  liegt  jugleic^  auf  ber  ^anb,  ba§  bei  biefer  geiftigen 
3tuffaffung  @otte§  aU  be§  ftet§  lebenbig  gegenroSrtigen  nii^t  an 
eine  „93efd)reibung"  be§  göttlichen  äBefeng  gebadjt  mirb ;  wie  I|ier 
ja  überl^aupt  nii^t  oon  etroa§  bie  SRebe  ift,  mag  fid^  anfdiaulid)  be* 
fc^reibcn  liefee.  2Iuc^  ba§  ift  mefentlic^  anberö  al§  bei  ber  pfg* 
c^ifdien  Sebenbig!eit  @otte§.  ^ene  lä^t  eine  fotc^e  anfc^aulic^e 
53efd^reibung  root|l  ju.  9tatürlid),  benn  c^  I)anbelt  fid^  babei  ja 
lebigli^  um  bie  Uebertragung  eines  ber  Dielen  anfd)aulic^en  3üge 
be§  feelifd)  perfönlid^en  3)afein§  auf  bie  jenfeitige  SUladjt.  S)iefe 
^bcc  ber  lebenbigen  ©egenmart  ®otte§  bagegen  lä^t  fic^  gar  nid|t 
jur  3lnfc^auung  bringen.  9Ba§  baran  anfd)autic^  ift,  fmb  grabe 
lebiglic^  bie  mect)felnbcn  irbifd)en  Sßorgänge,  nid)t  aber  bie  gött* 
lic^e  tcleologifd^e  3>n^nianenä  in  biefen  SSorgängen.  (Sollte  biefeS 
yWitbabeifein  ®otte§  anfc^aulid)  werben,  bann  mü^te  e§  grabe  in 
ein  anfd)auli(^e§  91  e  b  e  n  einanber  ju  biefen  SSorgängen  treten, 
in  ber  2lrt,  mie  bie  p  f  9  (^  i  f  c^  lebenbigen  ©ott^eiten  neben  unb 
jroifd^en  ben  ®ingen  unb  in  Söec^fetmirfung  mit  i^nen,  beftimmt 
unb  beftimmenb,  i^r  SCBer!  au§rid)ten;  ba§  ^ei|t  aber,  e§  mü^tc 
ba§  eigentümlich  unmittelbare  3ufammen  ber  lebenbigen  ©egen* 
ipart  ©otte§  ganj  aufgel^oben  werben.  Unb  bocli  ift  ba§  Sebeut* 
fame  an  biefer  ^bee  ber  geiftigen  Sebenbigfeit  ©otteS  eben  bie§, 
ba§  ber  g^romme  ©ott  felbft  unb  feinem  SBirfen  immer  grabe 
unmittelbar  in  ben  ©reigniffen  be§  Seben§  begegnen  fann, 
ot|ne  baJ5  er  ju  bem  Qxotd  irgenbmelct)e  anfcl)aulicl)e  Sc^eibung 

1)  Unb  biefeS  ift  bann  auc^  3^^^^  unb  2lufgabe  beS  roirfltd)  frommen 
(Gebetes.  S'S  ift  ein  Snc^en  ©otteiS  grabe  in  ben  tatfad)Iid)en  @reigniffen, 
ntc^t  ein  SBerfudi,  feine  pft}d)if(^e  £ebenbig!eit  unb  mittelft  berfelben  bie  ^r^ 
etgniffe  nad)  ben  eigenen  äönnfc^en  ju  bceinfluffen. 

Bntft^rift  für  X^eologie  unb  jttrc^e.  14.  ^a^rg.,  &•  $eft.  30 


438         ©teinmann:  %iz  lebcnbtgc  $crf önlic^feit  ®ottcä  k. 

ooUjicfien,  ®ottc§  2^un  au§  bcm  Ocfamtgefd^etien  glcic^fam  ifoliert 
greifbar  ticrauS^eben  mu§.  2llfo  auc^  t|icr  lütcbcr  jener  un§ 
fdjon  geläufige  Unterfd^ieb,  i>a^  e§  fic^  auf  ber  einen  ©eite  um 
eine  anfd^auli(f)e  Sef^reibung  mit  genauer  2lu§funft  über  ba§ 
„wie"  ber  SSorgänge  l^anbelt,  auf  ber  anbern  Seite  um  feinerlei 
2tu§tünfte  über  biefe§  „wie",  üielme^r  um  bie  ®rfaffung  eine§ 
„ba§".  ®a§  eine  ift  feinem  ^fn^alte  nad^  ÜWgt^oIogic,  ba§  an* 
bere  Ueberjeugung. 

Unb  enbtic^  ift  aud^  bie  Slrt  ber  ©eroi^^eit  in  beiben  hätten 
roefentlid^  oerfd^ieben.  3)ie  ^bee  ber  pfg^ifdien  Sebenbigteit 
®otte8  ift  teil5  Ueberlieferung§miffen,  teil§  SBunfc^gemifetieit.  2)ie 
(ebenbige  ©egenmart  be§  geiftperfönlic^en  @otteS  fann  bagegen 
gar  nic[)t  UeberlieferungSmiffen  fein;  ba§  ©igentli^e  ber  ©a^e 
Iä|t  fic^  einfach  nic^t  in  ber  2lrt  be§  SBiffenS  weitergeben.  9lllcn= 
fadS  bie  bloge  93orfteDung  einer  göttlichen  Sldgegenmart  lägt  fic^ 
als  ein  SBiffen  mitteilen;  ba§  ift  aber  eine  leere  ^ülfe,  eine  je» 
beS  faglid^en  ^n^atteS  bare,  taum  voQjie^bare  älbftraftion.  9>a§ 
©igentlid^e  ber  @ac^e  bagegen,  nämlic^  bie  lebenbige  ©egenmart 
nicl)t  irgenb  einer  ©otte§abfira{tion,  fonbern  eben  be§  geiftper« 
fönlid^eu  ©otteS,  baiS  !ann  in  feiner  anbern  SBeife  überl^aupt  er^ 
griffen  unb  begriffen  werben  al§  auf  bem  333ege  mit  bem  Ueber* 
jcugungSleben  jufammentiängenber  eigenartiger  ©rfa^rung.  O^ne 
baS  bleibte  ein  bIo§e§  SBort,  unenbtid^  oiel  ärmer  al§  bie  an» 
fd)aulid)c  Sebenbig!cit  ber  ^^Jerfönti^feiten  eine§  3^"^/  ^i^^^  SCt^enc 
u.  f.  ip«  ätlle  ^eftimmt^eit  liegt  eben  au(^  ^ier 
iptebcr  in  ber  (ebenbigen  retigiöfen  ©rfa^rung 
ober  im  religiofen  ©runb^roje^. 

"Jiacb  bicfer  'älbgrenjung  ber  geiftigen  £ebenbigfeit  ©otte^, 
aud)  in  ibrer  jmeiten  ^^affung,  gegen  bie  pf^d^ifc^e  £ebenbigfeit 
polDtbciftif(i)cr  ©ottbeiten  gilt  eS  nun  auc^  oon  i^r,  mie  Dortiin 
oou  ber  (ibce  ber  Stetigteit  unb  Sreue  be§  göttlichen  3BattenS, 
bunt  Darlegung  bc^  bctrtffenben  religiofen  ©runberleben§  ein 
bcutlid)crc*5  '^ilb  ju  gcuMunen.  9Bir  fragen  barum:  333elc^eg  ift 
icnc  Icbcnbigc  religiöic  (Jx'fabrung,  auf  meld^er  ^icr  alle§  beruht? 

(>\^  ift  aud)  bicr  uncber  fo,  wie  eS  oben  fc^on  bargelegt 
univbc:  bie  (Jnfabrung  ber  i?cbcnbigteit  ©otteS  tritt  ni^t  irgenb* 


©teinmann:  S)ic  lebcnbige  ^erfönlid)!ctt  ®otte§  ic,         439 

roic  }u  bcr  Ucbcrjcugung  oon  feiner  geiftperfönlid^en  Sttrt  al§  ein 
ganj  9leue§  t|inju,  fonbcrn  e§  ift  6eibe§  in  ©inern  gegeben.  Qm 
religißfen  ©runbprojeg  wirb  ber  geiftperfönli(^e  Oott  immer  ju* 
gleid^  aU  lebenbig  gegenroärtig  erlebt ;  unb  gmar  foIgenberma|en. 
SBer  immer  com  ringenben  ®eifte§Ieben  au§,  au^  o^ne  jebe 
auggefprod^en  religiöfe  95eftimmtt|eit  beSfelben,  feine  (Erfahrungen 
an  ber  SDSirflic^teit  mad)t,  bem  wirb  aKe§  ©rieben  eine  fortlau« 
fenbe  Steige  Don  3lufgaben.  ®§  ift  ba  fd)Ie^tt|in  nid^tg  oon  ir* 
gcnb  welcher  93ebeutfamteit,  ba§  nid)t  irgenbmie  eine  3^w^^tii"9 
enthalten  fann,  fei  e§  eine  pofttioe,  fei  e§  eine  negatioe.  ;3mmer 
unb  au§  jeber  Situation  l|erau§  ertönt  gleid^fam  bie  ^atinung 
an  ba§  mad^fenbe  unb  ringenbe  @eifte§Ieben,  biefe§  ju  tun  unb 
jcne§  ju  meiben.  Qa  fetbft  bie  @rfoIgloftg!eit  emften  inneren 
©treben§  nad)  auj^en  unb  bie  ftänbige  3WangeIl^aftigIeit  alle§  innertid^ 
(Erreichten  f oU  nid|t  ein  bIo|e§  SBerl^dngniö  fein ;  aud^  ba§  ift  eine 
3umutung,  nun  unter  grabe  b  i  e  f  e  n  ©rfal^rungen  in  beftimmter 
Slic^tung  innerlich  ju  n)a(^fen  an  innerer  Streue,  bie  fid^  burd^ 
ni^t§  irre  mad^en  lä^t,  unb  an  ber  großen  ®emut,  roel^e  am 
meiften  über  alle  felbftifc^e  unb  felbftgefäHige  2lrt  triumpl|iert. 
®iefer  SBäeg  bcr  beftänbigen  ^"J^wtungen  ift  wie  ein  SEBeg  ber 
©rjiel^ung.  —  2ll§  (Srjieliung  erfc^eint  bie  lebenbige  (ärfatirung 
be§  geiftigen  Seben§  in  i^rer  n)ed^felnben  93erüt|rung  mit  ber 
äBirflic^teit  aber  no^  in  einer  anbern  ^inftd^t.  95lid£t  ber  geiftig 
reifenbc  SDlenfd)  auf  ben  SBäeg  jurüdf,  ber  l^inter  it|m  liegt,  bann 
roirb  er  au(^  ju  reben  miffen  oon  einer  Srjie^ung,  bie  ftdf),  im 
Unterfc^ieb  oon  biefer  foeben  genannten,  unmertlic^  an  i^m  au§* 
gemirft  ^at.  @r  ^at  feine  Zumutungen  empfunben ;  oielmetir  ganj 
o^ne  fold^e  I)at  bie§  ober  jene§  feinen  förbernben  ®influ§  geübt, 
i^m  faum  bemüht,  unb  erft  jurüdEblidfenb  ertennt  er  ban!bar  ba§ 
glei(^fam  gefd|en!te  geiftige  aOBad&gtum. 

3ludt|  l^ier  ift  e§  nun  mieber  bie  fromme  3luffaffung  ber  gei* 
ftigen  Seben^erfa^rungen,  ber  fic^  gleic^fam  i^r  lefeter  (Sinn  er»^ 
fc^liejjt,  menn  ber  fromme  in  bem  allen  ben  lebenbigen  ®ott  ju 
erleben  überjeugt  ift.  SBie  bem  merbenben  ©eifte^menfdjen  jeg* 
lic^e^  93egegnig  eine  Zumutung  ift,  fo  aud^  bem  frommen,  beffen 
^römmigteit  ben  SBäeg  geiftigen  SBäad^stumS  ge^t.    ©ei  e§  Seib, 

30* 


440         ©tetnmann:  ^ie  lebenbige  $erf5nlid)!eit  ®otte§  :c. 

fei  c§  grcubc,  xoa^  il^n  trifft,  fei  e§  ®ro|e§,  fei  e§  SlleineS,  im* 
mer  ift§  it)m  eine  2lufforberung  feine§  @otte§,  innerlich  fic^  ju 
bcroäl^ren  ober  ju  n)ad)fen;  im  Seib  ftarf  unb  oertrauenb  ju  blei- 
Ben,  fxä)  von  it)m  in  bie  2^iefe  fül^ren  unb  Idutern  ju  laffeit, 
!omme  nun  ba§  fieib  als  äußeres  Ung(üdE  ober  aU  erfo(glofe§ 
(Streben  ober  al§  innere  ÜJiutlofigfeit ;  im  ©lürf  banfbar  ju  fein 
unb  @otte§  }u  gebenfen  unb  berer,  bie  Seib  tragen;  fic^  burc^ 
ÄleineS  unb  SleinfteS  nidit  oerbrie^en  unb  burrf)  ®ro§e§  unb 
®rö§te§  nic^t  au§  ber  SRu^e  in  ®ott  ^erauSfc^reden  ju  laffen. 
Unb  baju  bann  bie  tagtäglic^en  3untutungen  an  ben  ftttli^en 
®rnft  unb  ba§  ftttli^e  g^einempfinben.  Qn  aüebem  erlebt  ber 
fjromme  feine§  ®otte§  lebenbigeS  SBirfen  ju  feinem  ^eil,  Sag 
au§  Sag  ein.  2)a§  ift  ein  mirKic^er  lebenbiger  SBerfe^r  mit  @ott. 
SWan  begegnet  il^m  roirflic^  in  allen  ^ö^l^u^Ö^n  be§  SebenS,  !lci* 
nen  unb  großen,  menn  man  fein  geiftigeS  Seben  nur  ac^tfam  lebt. 
Unb  lebt  man  e§  nic^t  mit  ac^tfamem  ^lid  auf  bie  tagtaglic^en 
3umutungen,  bann  fmb  biefe  ebenfouiele  oerfäumte  Begegnungen 
mit  bem  lebenbigen  ®ott.  ©elbft  in  biefen  95erfäumniffen  liegt 
aber  boc^  mieber  eine  neue  Zumutung  ber  unermüblic^en  ©otteS- 
treue;  e§  fann  boc^  immer  nod^  menigftenS  bie  Steue  ju  einem 
ertenncnben  93egegnen  mit  ®ott  führen.  SEBünfc^t  jemanb  roirf« 
lid)  melir  oon  Srfa^rung  ber  fiebenbigfeit  be§  göttlichen  perfön* 
liefen  SGBirten§,  al§  in  biefer  frommen  fiebenSerfa^ruitg  gegeben 
ift?  Kann  @ott  greifbarer  lebenbig  mitten  in  unfer  Seben  unb 
all  feine  SBanblungen  l)ineintreten  al§  fo? 

3irgenb  eine  objeftioe  S^eorie  über  ®otte§  Sebenbigfeit  ergibt 
fid)  freiließ  au(^  l^ier  mieber  nic^t.  ®§  ift  alle§  fromme  Sebenäer» 
fül^rung  be§  in  @otte§  ftraft  ringenben  ®eifte§menfc^en.  6§  er» 
fd)eint  mir  aber  grabe  al§  bebeutfam  unb  wichtig,  ba^  I>icr  ba§ 
lebenbige  SBirfen  ®otte§  eben  nid|t  eine  ©adje  ift,  bie  fic^  fo 
ganj  objettio  bef^rciben  unb  nai^rec^nen  lä§t,  mie  etroa  bie  SBirf» 
famfeit  irgenb  einer  9laturfraf t ;  fonbern  fie  ift  mirtlid)  ganj  in 
ba§  fromme  Seben  unb  fein  9Bac^§tum  an  ben  äußeren  unb  in* 
neren  ©reigniffen  ^ineingenommen,  felbft  ganj  unb  gar  eine  (Badft 
ber  lebenbigen  ®rfal)rung  be§  merbenben  ®eifte§menfc^cn.  ®§  ift 
nic^t  eine  ftarre   abftratte  ^bee,   fonbern  eine  lebenbige  fonfrete 


(Steittmann:  %xe  (ebenbige  ^erfönUd^feit  ©otteS  k.         441 

Scbcn§it)ir!H^fcit.  Unb  an6)  ba§  ift  t|icr  bcbcutfam,  ba§  bicfc 
®rfa^run9  fid)  barum  eben  nid^t  oon  fclbft  mac^t,  fonbcm,  roic 
üQe  gciftige  ©rfal^rung,  errungen  fein  roiH.  SBer  ®otte§  leben^* 
bige§  äBirfcn  erleben  roiü,  ber  mu§  bie  mandjerlet  erjietienben 
3umutungen  feiner  Sebeni^fülirung  roirfli^  erleben;  bie  erleben 
ftcti  aber  nic^t  oon  felbft,  bleiben  oielmelir  überall  bort  unbemerft, 
xüo  feine  geiftige  SEBac^famfeit  oorl^anben  ift.  ;3nfofern  rooUen 
biefc  religiöfen  @rfat|rungen  wie  alle§  (Seiftige,  geiftig  errungen 
werben  ^). 

®§  ift  inbcffen  bod)  auc^  oon  9Bid)tigfeit,  bafe  un§  bie  gei* 
ftige  @rfal|rung  oon  @otte§  ftet§  gegenroärtigem  lebenbigem  aBir=» 
tcn  nocb  in  anberer  ^^rm  jugänglic^  ift.  9lid^t  nur  in  ber 
beftänbigen  2lnftrengung  be§  ringenben  ®eifte§Ieben§  erleben  xoxx 
immer  roieber  erjiel^erifc^e  Begegnungen  mit  bem  lebenbigen  ®ott; 
in  unfrer  religiöfen  ©rfa^rung  fommt  and)  jum  Slusbrucf,  n)ie 
®otte§  lebenbigeS  SSBirten  fid)  beftänbig  ooKjie^t,  aud)  wenn  mir 
e^  ni^t  unmittelbar  merfen,  unb  jugleic^  unabl^ängig  oon  biefer 
unferer  geiftigen  93emüt|ung.  Unb  l^ierbei  tianbelt  e§  fid)  nun 
um  ba§  religiöfe  9Serftänbni§  jene§  gteic^fam  gefc^enften  geiftigen 
SD8ac^§tum§,  oon  meinem  oben  au^  f(^on  bie  SRebe  mar.  SBir 
^aben  mirilid)  nichts  baju  getan ;  ganj  unoermerft  ^aben  un§  bie 
3Ser^ttniffe  innerlich  gereift,  fo  ba§  mir  rücfblidfenb  barüber 
ftaunen,  ma§  al(e§  9teue§  in  un§  lebenbig  gemorben  ift.  2)er 
frommen  Srfa^rung  ift  ba§  nun  me^r  al§  nur  in  unbeftimmter 
93ilblic^!eit  gerebet  ein  ®efc^en!;  e§  ift  mirtlic^e  ®abe  ®otte§. 
SDarum  fe^cn  mir  I)ier,  roie  ®ott  immer  am  3CBcr!e  ift;  nid)t 
nur,  roo  mir  feinem  lebenbigen  3Bir!en  in  gorm  oon  allerlei  3^* 
mutungen  begegnen,  fonbern  auc^  no(^  roeit  barüber  ]^inau§,  in 
ben  Keinen  unb  fleinften  93e}iel)ungen  unfer§  2eben§,  mo  mir 
nid)t§  oon  beftimmten  Slufgaben  unb  3uniutungen  merfen.  S)ie 
ftänbige  ®egenmart  ber  lebenbigen  SBirffamf eit  ®otte8 
in  allem  ®ef(^et|en  unfer§  Scben§  wirb  f o  nod^  um  oiete§  greif^^ 


1)  daneben  boltc  mau  einmal,  loaS  unfre  ©onntag^blattcr  üon  ©rfal^* 
rungen  ber  ßcbcnbigfcit  ®otte§  gu  crjä^Icn  njiffcn.  2luS  einer  hJtc  gang  an? 
beten  geiftigen  £uft  flammen  bocf)  bie  meiften  biefer  ©rgä^Iungen;  mie  fe^r 
fef)It  i^nen  meift  biefer  geiftige  $nIiSfd)lag  be^  magren  Lotterleben^. 


442         (Steinmann:  ^ie  lebenbige  ^erfönlid^feit  ®otte§  ic 

barer.  @ott  ift  anä)  ha  n)ir!fam  gegeniDartig,  vdo  xoxx  e§  nic^t 
unmittelbar  roatime^men.  3^91^^^  i^iflt  pc^  i>i^  göttliche  SBaltcn 
grabe  barin  in  feiner  üoKen  ©ouDeranität.  @§  ift  unabhängig 
Don  ben  ©c^roanfungen  unfere§  ringenben  inneren  £eben§.  @ott 
vermag  etroa^  barüber  auc^  o^ne  unfer  ben)u^te§  @ntgegenfommen. 
©id)er  ift  ba§  eine  religiös  bebeutfame  (ärgänjung  jene§  SBe^fel- 
oerfe^r^  mit  bem  lebenbigen  ®ott,  ber  fid^  mitten  im  gciftigcn 
Streben  t)OÜjiel|t.  (Srft  t|ier  feftigt  f\6)  ba§  SSertrauen  in  ®otte§ 
lebenbige§  SBäalten  ju  ber  unerfc^ütterlic^cn  äuoerfi^t,  bie  fprec^cn 
(ann: 

S)u  iDtrft  bad  gute  9Ber!,  bad  bu  felbft  angefangen, 
^idjt  laffen  unüoQbrac^t.  3c^  bleibe  an  bir  bangen 
Unb  miE  geborfam  fein  in  greub  unb  aud^  in  2t\b, 
80  lang  bu  mid)  nocb  f)itv  midft  ^aben  in  ber  3c<t. 

3)urd^  biefe  legten  SluSfü^rungen  (oon  ©eite  436  an),  meiere 
un§  bie  Qbee  ber  geiftigen  Sebenbigteit  ®otteS  oon  einer  neuen 
gleic^fam  beweglicheren  ©eite  fennen  lehrten,  l^at  fic^  un§  biefe 
3bee  ganj  geroi^  bebeutfam  erweitert,  aber  fie  ^at  fic^  babei  nic^t 
eigentli^  oeränbert.  2)enn  auc^  I)ier  l^anbelt  e§  fid^  um  geiftige 
Srfal^rung.  9llfo  bleibt  e§  babei:  9lnber§  al§  auf  ®runb  einet 
folc^en  ©rfa^rung  lä^t  fic^  Don  biefen  2)ingen  eigentlich  gar  nic^t 
reben ;  einen  greifbaren  -Qn^alt  befi^t  biefe  SBorfteüung  ber  fie* 
benbigteit  ®otte§  nur  in  ber  lebenbigen  ®rfa^rung  be§  „inneren 
ÜWenfc^en". 

III. 

^nbem  mir  nun  rücf blictenb  fiberfd^auen,  xoaS  unfere  Unter« 
fuct|ungen  un§  eingetragen  ^aben,  !önnen  mir  folgenbeS  al§  un* 
fern  ®eroinn  Derjeicf)nen : 

1)  ®§  ift  un§  je^t  rool^l  noltfommen  tlar,  um  wie  ganj  oet* 
fd^iebene  3)inge  e§  fi^  l)anbelt,  ob  man  ®ott  ^erfonlic^teit  unb 
Sebenbigteit  im  pfric^ifi^en  ©inn  beilegt,  ober  ob  biefe  93e§eic^» 
nungen  geiftig  gemeint  fmb.  Unb  jmar  ift  oerfc^ieben  nicfjt  nur 
ber  Qn^alt,  ber  jebe^mal  bejeid^net  werben  foU,  fofern  pf^clfifc^e 
unb  geiftige  ^erfönlic^feit  wie  Sebenbigteit  oon  oome^erein  ganj 
oerfcliiebene^  bebeuten:  fonbern  e§  ift  auc^  nerfd^ieben   ber  (Sfyi* 


©tcinmann:  S)ie  lebenbige  ^crf önlid)!cit  ®otte3  tc.         443 

ra!tcr  biefcr  93cäcid)nungcn  —  ba§  eine  3Slal  finb  fie  eigentUd^ 
gemeint,  ba§  anbete  2WaI  fgmbolifd);  oerfc^ieben  ift  bie  Strt  bcr 
S3eftimmtt|eit  —  ba§  eine  SJlal  liegt  fie  in  ber  2lnfcf)auung  ober 
ani)  im  33egriff,  ba§  anbete  ÜJlal  in  ber  teligiöfen  ©tfa^tung, 
mä^tenb  bie  oetmenbete  aSotfteHung  nut  bie  ©ebeutung  unb  Se* 
ftimmt^eit  einet  SOäegroeifung  befi^t;  oetfc^ieben  ift  enblic^  bie  3ltt 
ber  ©emi^^eit  —  im  einen  gatt  Uebetliefetunggmiffen  unb  SBunf^* 
gewi^^eit,  im  anbetn  gaU  Uebetjeugung  unb  geiftige  ©tfal^tung. 

2)  3)a§  gcfte  unb  ©ic^ete  be§  teligiöfen  ©tauben^  an  einen 
Icbenbigen  g  e  i  ft  petfönlidien  ®ott  liegt  im  geiftigen  teligiöfen 
®tunbptoje§  unb  feinen  mannigfaltigen,  ftetö  abet  inl)altlid)  be* 
ftimmten  @tfal|tungen  b.  i),  abet :  e§  ift  i^iet  im  Untetfc^ieb  oon 
bet  mt)t]^ologif^en  ©tufe  eine  ganj  beflimmte  unb  teic^e  ©tfal)* 
rung  oon  @otte§  geiftperfönlid)et  Sebenbigteit  ootI)anben.  3)iefe 
©tfa^tung  ift  ba§  ©tunblegenbe  unb  bie  eigentlid^e  SReligion  ate 
ein  beflimmt  geattete§  Seben  mit  ®ott;  unb  eben  l|iet  liegt  übet* 
^aupt  alle  93eftimmt^eit  fomo^l  al§  ©emi^^eit  be§  teligiöfen  2:at* 
beftanb§.  3>ie  teligiöfen  SSotfteÜungen  bagegen  finb  fetunbät, 
ein  baoon  3lbgeleitete§.  3^te  3Bal)t^eit  ift  batum  nid^t  bie  SOäal^t* 
^eit  t^eotetifc^et  ®ä^e,  fonbetn  fie  liegt  batin,  ba§  ftc^  in  i^nen 
ba§  religiöfe  ©tunbetleben  mit  ©Ott  einen  jutteffenben  STugbtud 
ju  geben  fuc^t. 

3)  @g  ttagen  batum  alle  2Iu§fagen  übet  ©ott  unb  fein  le» 
benbigeö  äBatten  nut  megmeifenben  obet  fgmbolifd^en  Q.i)axattzx 
unb  geben  un§  feine  mitfüre  S3efc^teibung  oon  ©ott  unb  feinem 
Seben,  feine  Slntroott  auf  bie  S^age  nad)  bem  „mie"  bet  gött* 
lid)en  ©fiftenj  unb  fiebenbigteit.  2)iefe  ©infic^t  abet  bebeutet 
feinen  teligiöfen  SJettuft.  S)enn  fie  bringt  ja  nut  jum  2lu§btudt, 
ba^  ©Ott  eben  ©ott  ift;  fie  liefett  un§  au^etbem  nic^t  itgenb« 
roeli^er  teligiöfen  Ungeroife^eit  obet  Unbeftimmt^eit  au§,  benn  im 
teligiöfen  ©tunbptoje|  al§  bem  ©tleben  mit  ©ott  ift  ja  alleä 
geroig  unb  beftimmt,  ^iet  abet  liegt  bet  Äetn  bet  geiftigen  SRe* 
ligion.  — 

Se^en  mit  nun  bie  c^tiftlic^e  ©efamtübetliefetung  übet  ©ott, 
feine  $etfönlid|feit  unb  fein  lebenbige§  aBalten  in  SBejie^ung  ju 
biefcn  unfetn  SRefultaten. 


442         ©tcinmann:  %it  lebcnbigc  ^cr[önlid)!eit  ®otte§  2C. 

S)a§  l^icr  biefc  oon  un§  aufgcbedtcn  SBcr^altniffc  immer 
burd)QU§  flar  roärcn,  läfet  fxd)  ni^t  behaupten.  @§  ift  auf  bcn 
crflcn  SBüd,  ein  buntc^  3)urd)cinanber  her  2lu§fagcn  über  ®ott 
unb  feine  Sebenbigteit  oon  beiberlei  ^crtunft.  SBäir  ^ören  ba  nic^t 
nur  oon  @otte§  ^eiliger  Siebe,  @ered)tigfcit  unb  SBa^r^eit,  fon* 
bern  au^  oon  (Sottet  3otu  unb  ©rimm,  oon  feiner  ©arm^erjig* 
feit  unb  ©fite,  ja  felbft  oon  einem  ©tu^l  ©otteö  im  ^immet  ift 
bie  SRebe,  oon  bem  ©otte§auge,  ba§  atte§  fie^t,  unb  oon  bem 
Slufmerfen  feiner  O^ren  auf  ba§  @Qbü  be§  5^ommen.  2lIfo  neben 
unb  burd^einanber  mit  Qü^zn  geiftig  perfonaler  3lrt  3^9^  K'^f^ 
ber  Körperlid^teit  be§  pfgdiifc^en  "ißerfonenlebenS.  Unb  fo  auc^ 
betrep  ber  Sebenbigteit  ©otteg.  ©ott  ift  treu ;  er  ^at  fein  ffiert 
in  un§;  alle  ffiinge  muffen  benen,  bie  ©ott  lieben,  junt  93efteu 
bienen  —  aber  au^ :  ©ott  f a§t  ©ntf ^lüff e  unb  änbert  feine  ab* 
fiepten,  er  greift  in  ben  Sauf  ber  ©reigniffe  ric^tunggebcnb  unb 
l^emmenb  ein  u.  bergl.  melir. 

2)a§  ber  fgmbolifc^e  (Sliaratter  alt  biefer  2luSfagen  über  ©ott 
überall  beutlid)  roäre,  läfet  fi^  aud)  nic^t  fagen.  ©rabe  lebenbige 
grömmigfeit  nimmt  gern  unb  leicht  oiele§  baoon  für  roirtli^  im 
©inn  oon  bef^reibenben  2lu§fagen  über  ©otte§  ©ein  unb  5!Bir* 
ten.  ©elbft  3üge  ant^ropomorp^er  ^erfönlic^teit  unb  ßebenbig» 
!eit  ©otte§  merben  für  in  biefem  ©inne  jutreffenb  gehalten, 
daneben  freilief)  regt  ftd^,  roenn  aud|  oft  menig  beftimmt  unb  obnc 
flare  Slnroenbung  auf  bie  einjelnen  2Iu§fagen  über  ©ott,  ein  ®e- 
fü^t  bafür,  mie  ©ott  alle§  menfd)lic^e  33egreifen  überfteigt;  unb 
biefem  93en)u^tfein  begegnen  mir  grabe  au^  roieber  bei  befonberer 
Sebenbigteit  unb  2:iefc  ber  religiöfen  ©mpftnbung. 

Unb  enblid)  ift  bie  ®emi^l)eit  über  ©ott  in  roeiteftem  Um= 
fange  einfa^e§  Ueberlieferung^miffen,  momit  fic^  cinjcine  Ueber« 
jeugung§momente  mifc^en,  biefe  etma  noc^  oerquidt  mit  bloßer 
9D3unf^gemi|^eit.  9Bo  aber  red)tc  grömmigfeit  oor^anbcn  ift, 
ba  ^ören  mir  bod)  auc^  immer  mieber,  mie  man  c§  au§  innerer 
unb  äußerer  ©rfatirung  roiffe,  mie  roatir  jene  Ueberlieferung  fei. 
®iefe§  Urteil  bejiel^t  fic^  bann  aber  oft  genug  ni(^t  nur  auf  bie 
geiftigen  QÜQt  am  überlieferten  ©otte§bilbe. 

3u  biefcn  SBer^ältniffen  werben  mir  ©tellung  nehmen  muffen. 


©tcinmann:  S)ic  Icbcnbigc  ^erfönlid^feit  ®otteä  :c.         445 

aCBir  rocrben  un§  barfibcr  Älarl^cit  ju  ücrfd^affen  fudjcn,  tüoran 
biefc  9ScrI)äItniffc  i^rc  Urfad)c  fjabcn,  roiciöeit  fic  ctroa  unoer«» 
mcibUdj  fxnb  ober  ob  unb  roieracit  an  il)nen  geanbert  rocrben  barf 
unb  mug. 

®ic  focben  fuvj  gcfcnngeic^nctc  Situation  l^ängt  jum  guten 
Seit  mit  bemjcnigen  jufammcn,  wa^  ic^  bcn  tonferoatiocn  (£^a= 
ra!ter  allcS  SReligion§fortf(^rittc§  nennen  möd)te.  ^ii^wt^^  nimmt 
bic  (ebenbige  5^ömmig!eit  t)iele§  oon  i^rer  9SergangenI)eit  auf 
i^ren  weiteren  3Beg  mit,  einfach  be§f)alb,  roeil  ftd)  grabe  auf  bem 
©ebietc  ber  9leIigion  in  ganj  befonberer  SBJeife  jeber  gortfdjritt 
nirgenb^  al§  ein  bloßer  93rud|  mit  ber  ganjen  93ergangent)eit  oott* 
jie^t,  oielmelir  überall  roirflic^  auö  ber  95ergangent|eit  tieraug^' 
roäc^ft;  benn  e8  trägt  \a  ho6)  roo^I  oon  allem  ®eifte§Ieben  ber 
©efc^ic^te  ba§  religiöfe  am  meiflen  biefen  E^arafter  be§  ^ofitioen. 
3)arum  ooüäie^en  fic^  benn  aud)  bie  prinjipietten  ©d^eibungen 
nic^t  überall  unb  auf  ber  ganjen  Sinie  gleid)fam  oon  felbft;  e§ 
bleibt  oielme^r  mand^e^  baoon  ber  geiftigen  SBertiefung  unb  ^er* 
anretfung  am  einjelnen  ^untt  überlaffen  unb  tritt  barum  in  inbi* 
oibueU  mannigfad)  oerfc^iebener  3Beife  in§  2)afein.  5^ie  3^^ötf= 
fü^rung  be§  gefamten  l^iftorif(^en  Steligion§beftanbe§  auf  ba§  ei= 
gentlid^e  geiftige  ©runberleben,  bie  eigentlii^en  perfönlid^en  Sin- 
cignungen,  bie  fidj  infolgebeffen  ergeben,  ober  bie  Sßermanblung 
be§  Ueberlieferung^roiffenS  in  perfönlid)e  Ueberjeugung,  bie  ©d)ei* 
bungen  oon  SGBefentlid)em  unb  Unroefentlidjem,  jentralen  ©rieb- 
niffen  unb  mel^r  ober  meniger  periptierifd^er  9Sorftellung§einfleis 
bung  biefe§  (£rleben§,  roie  fte  mit  fol^er  2lneignung  jufammen* 
l^ängen:  ba§  alle§  ift  barum  eine  fic^  immer  erneuernbe  2lufgabe. 

S)iefer  fonferoatioe  (£f|arafter  be§  5Religion§fortfd)ritte§  nun 
jeigt  fid)  in  befonberer  SCBeife  grabe  auf  bem  ©ebiete  be§  reli* 
giöfen  Sßorftellen^.  S)a§  ftet)t  im  3uföniment)ang  mit  einer  mei* 
teren  ®igentümlic^fett  allen  religiöfen  2eben§,  —  SBir  fpra^en 
un§  au§,  mie  ber  ^ern  ber  religiöfen  @otte§ibee  bie  religiöfe 
@otte§erfat)rung  ift  unb  mie  biefe  le^tere  einen  inl)altlid^  reichen 
unb  beftimmten  Seben^jufammenl^ang  barftellen  fann,  nämlid)  auf 
ber  ©tufe  ber  geiftigen  SWeligion.  ®iefe  lebenbige  religiöfe  ®r* 
fa^rung  be§  geiftigen  £eben§  fc^afft  ftd)  einen  2lu§brud  in  allen 


446         Steinmann:  ^te  lebenbige  $erf 5nlt^!eit  ®otte§  sc. 

jenen  2lu§fagen,  bic  @otte§  attgegenroärtigeö  treuem  SBirfen  unb 
ben  inneren  SBefen^jufammenliang  bc§  geiftigen  fiebenö  mit  @ott 
jum  ©egenftanb  l^aben.  ®§  ftnb  ba§  jene  roegroeifenben  ober 
fgmbotifc^en  SBorfteBungen  üon  Oott  unb  feinem  3D8aIteu,  beren 
eigentliche  aBat|rI)eit  ni^t  auf  ber  Oberflä^e  be§  2Borttaute§  liegt, 
fonbern  barin,  ba§  mittelft  \\)xex  bie  religiöfe  SebenSerfa^rung 
il)ren  möglic^ft  jutreffenben  3tugbrucf  finbet.  ®aoon  mar  f^on 
metirfa^  bie  SRebe.  @§  erf^öpft  fi^  nun  aber  bie  ©prai^e  ber 
^Religion  nic^t  in  biefen,  nennen  mir  fte  einmal  „primären",  35or» 
ftellungen  unb  tann  fid|  auc^  gar  nic^t  barin  genügen,  ©crabc 
bie  SWannigfaltigfeit  unb  ber  SBec^fel  ber  religiöfen  ©rlebniffe 
treibt  ju  immer  neuen  33Benbungen,  in  benen  fic^  au^  bie  feineren 
9luancierungen  unb  ©df)attierungen  be§  religiöfen  ©runbprojeffe^ 
jum  2lu§brud  bringen  motten.  9tamentli^  für  bic  SWitteilung 
ber  ganjen  güße  be§  religiöfen  ©rieben^  an  anbere  unb  üorne^m* 
li^  für  ba§  auf  ber  gegenfeitigen  9Witteilung  beru^cnbe  ©effi^l 
ber  inneren  religiöfen  ©emeinfc^aft  bebarf  e§  einer  möglic^ft  reid^en 
unb  möglidift  mannigfaltig  geftalteten  religiöfen  SBorftellungSroelt. 
ffienn  bie  t;^ligiöfen  ©rlebniffc,  um  meiere  e§  ftd^  l^icr  ^anbelt, 
in  itirer  bunten  SWannigfaltigteit,  mie  beftimmt  geartet  ein  jebe^ 
oon  il^nen  aud^  fein  mag,  finb  nic^t  felbft  bireft  mitteilbar,  lüie 
ba§  bei  primitio  religiöfem  ©rregung^juftanb  ber  gaß  ift.  ©ie 
finb  ja  bod^  oielme^r  Don  ber  gleichen  2lrt  mit  fonftigcn  geiftigen 
©rlebniff en,  etma  3uftänben  tiefer  ®rgriffenl|eit  ber  SBelt,  beftimm« 
ten  Vorgängen  ober  beftimmten  ^erfonen  gegenüber,  ©ergleid^en 
mu^  ftd)  erft  ju  größerer  objettioer  ©reifbarfeit  ober  Slnfc^auli^* 
!eit  l)erau§geftalten,  foH  e§  oon  einem  ^nbioibuum  jum  anbern 
übergeben  fönnen.  3lm  geldufigften  ift  un§  biefer  S^atbeftanb  ber 
geiftigen  SWitteilung  oiellei^t  auf  bem  ©ebiete  ber  Äunft ;  e§  gilt 
aber  ®ntfpred)enbe§  oon  aller  inneren  ©rgriffen^eit.  3)ie  ©cele 
be§  inneren  ©rlebenS  mu^  fxi)  einen  „anf^aulic^en"  Seib  ber 
SJlitteilbarteit  fdiaffen,  fonft  bleibt  fie  in  i^rer  SBereinjelung  unb 
unoerftanben. 

2lber  nic^t  nur  um  SJiitteilbarfeit  ober  SOi^tmitteilbarfeit 
banbelt  e§  fid)  ^ier,  um  bie  ajlöglid^leit  ber  religiöfen  $ropa* 
ganba  unb  ber  religiöfen  ©emeinfi^aft.    ©in  „anfc^auli^eS"  ^er» 


©ttfinmann:  ^te  Icbenbtge  ^crfbnlid^feit  ©otteS  2C.         447 

austreten  ber  mancherlei  SBäanblungen  be§  religiöfen  Orunbpro^ 
jeffe§  in  einem  möglic^ft  umfaffenben  unb  in  oieten  ©injeljügen 
au^gefülirte.n  95ilbe  ift  aurf)  noc^  in  einer  anbern  ^infic^t  oon 
großer  93ebeutung.  2)a§  religiöfc  ®injelleben  bebarf  au(^  ju  fei* 
ner  eigenen  93eftimmtf|eit  im  cinjelnen  folc^er  auögeftalteteren  95or»= 
fteüungSjufammenl^änge.  SBo^l  finb  bie  testen  großen  3u[ammen* 
^änge  be§  religiöfen  @rleben§  Don  großer  93eftimmt^eit  unb  Klar» 
^eit.  Siic^t  irgenbroel^e  üerf^roommencn  .®efüt)le,  fonbern  ganj 
beftimmte  geiftige  Vorgänge  bilben  ben  eigentlidien  religiöfen  ©runb* 
proje^.  S)arum  ^erum  fc^lingt  fic^  aber  ein  Sianfenmerf  oon 
toed^fetnben  ©mpfinbungen  unb  Stimmungen  mannigfad^er  2lrt, 
entfpre^enb  ben  man^erlci  med^felnben  Sagen  be§  frommen,  bie 
aQe  jur  lebenbigen  Sieligion  mit  baju  gehören,  ©in  religiöfe§ 
Seben,  ba§  oon  allebem  ooHftänbig  abfetienb  fic^  nur  an  bie  jen« 
tralen  ®rlebniffe  unb  Slufgabcn  unb  beren  oorftellungSmägige 
2Iu§prägung  (jene  primären  SSorftellungen)  hielte,  ba§  märe  auc^ 
mieber,  freitid^  in  anberer  ^inftc^t,  einer  ©eele  o^ne  Seib  ocr* 
gleid^bar.  —  3111  biefeS  SRanfenroerf  ift  nun  aber  in  fic^  felbft 
meniger  fijiert,  al§  bie  jentralen  religiöfen  SBorgänge  e§  finb. 
9Bie  fel^r  c§  ftc^  baran  anfc^lie^t  unb  bort  t|erau§n)äd)ft,  e§  ift 
eben  bod)  nic^t  oon  bort^er  in^altli^  ootl  beftimmt.  ©onbern, 
mie  anbere  med^felnbe  Stimmungen  unb  ©mpfinbungen,  bebarf 
eS  einer  2lrt  oorftetlungSmä^iger  Sßergegenftänblidiung,  foH  au§ 
bem  Unbeftimmten  ein  93eftimmte§  unb  bem,  ber'§  erlebt,  felbft 
Mar  SöpareS,  in  feiner  ©rinnerung  ^aftenbe§  unb  für  feine  Qn^ 
fünft  grui^tbareS  merben.  ©o  mad^fen  bie  religiöfen  SBorftel» 
lungen  unoermeiblid)  über  jene  primären  2lu§fagen  in  bunter 
SRannigfaltigfeit  ^inau§. 

Slber  aud^  jener  primären  SBorftellungen  bemächtigt  fid^  ganj 
unmittelbar  biefe  S^enbenj  auf  meiterge^enbe  a3eranfd^aulid|ung. 
©obalb  oon  ben  (Srlebniffen  ber  ©eele  mit  (Sott  überhaupt  in 
allgemein  f a^li^er  3Beife  gerebet  werben  foU,  bebarf  e§  et* 
maö  mel^r  aU  nur  ber  Sßerroenbung  ber  primären  fgmbolif^en 
93orfteltungen.  SGBo  nocl)  fein  entfprecf)enbe§  religiöfen  ©runber* 
leben  oorl^anben  ift,  ba  mürbe  bie  religiöfe  ©pra^e  ja  faum  ein 
6d)o  loedfen,  menn  fte  bie  religiöfen  ©runbibeen  nic^t  in  ein  finn- 


448         ©teinmann:  ^ie  lebenbtge  $erfdnltd^!eit  ®otte§  tc 

lic^  Qnfd^QuIid)ere§  ©eroanb  ^üQte.  9lud^  brangt  bie  ^üQe  unb 
firaft  bcr  rcligtöfen  ^^"tralcrfalirungcn  ganj  oon  fidj  au§  auf 
eine  fraftooOe  güDe  ber  rcligiöfcn  3lnfc^auungen,  bie  fie  jum 
2lu§brud  bringen  foüen.  ^t  me^r  ba§  3>nncre  roirtlic^  ergriffen 
ift  um  fo  weniger  obftraft  abgemcffen,  um  fo  leben^oollcr  roirb 
bie  SSorfteKung  barau§  l^erüorbre^cn. 

©0  ift  alfo  au§  mand^erlei  ©rünben  ber  SReligion  unb  i^rem 
©efamterleben  ein  mäd|tige§  (Streben  naij  Slnfc^aulid^feit  eigen. 
@§  genügt  bem  religiöfen  ©runbprojefe  nic^t,  fic^  unb  fein  6r* 
leben  mit  (Sott  lebigli^  in  ben  primären  fgmbotif^en  2lu§fagen 
über  ®otte§  SBefen  unb  SOäirten  au§jufprec^en ;  e§  ^üHen  fic^ 
üielmel)r  jene  2tu§fagen  in  ein  meiteg  anfc^auli^e^  ©eroanb  oon 
religiöfen  SSorfteHungen  fetunbärer  2lrt.  Unb  ^ier  nun  eben  be» 
tätigt  fxä)  bie  fonferoatioe  SÄrt  ber  Religion.  3)ie  geiftige  ^er* 
fönüc^teit  ®otte§  mirb  hutdj  3üfl^  Pf^^U^  perfonaler  2irt  bem 
SBe^fel  be§  religiöfen  ®injelerleben§  unb  ber  2lnfd)auung  nä^er 
gebrad^t,  unb  ebenfo  bie  geiftige  Sebenbigfeit  @otte§  burc^  3^9^ 
pft)d)ifd^er  Scbenbigfeit.  3)a§  I^ei^t  aber:  jene  fefunbären  5Bor» 
fteßungen  entnimmt  bie  geiftige  ®otte§erfa]^rung  ben  mpt^ofogi* 
fierenben  @otte§befd)reibungen  ber  Sßorftufe.  3)at|er  ba§  ^netn* 
anber  unb  Surd^einanber  pfgd^ifd^er  unb  geiftigcr  ^erfonenart 
unb  Sebenbigfeit  in  ber  (^riftlii^en  Sßorftetlunggüberlieferung  oon 

©Ott. 

®amit  t)ängt  nun  meiter  jufammen,  ba§  bie  ©emi^^eit  über 
©Ott  aud)  I)ier  in  ber  gorm  eine§  Ueberlieferung§roiffen§  auf* 
treten  tann;  unb  baran  roieber  fnüpft  fi^  aüe§  baS,  roa^  fonft 
oben  jur  ©^araftcrificrung  ber  d)riftn^en  ©efamtüberlieferung  unb 
i^res;  3Jlifc^c^arafter§  gefagt  rourbe. 

Qn  biefer  Sage  nun  ift  bie  2lufgabe  ber  fgftematifd^en  2:^eo* 
logie  nid)t,  in  unoerftänbigcm  puriftifdiem  9iabi!ali§mu§  ber  c^rift* 
liefen  Ueberjeugung  ba§  anf^aulid^e  ©emanb  jener  fefunbärcn 
aSorftellungen  einfad)  abjuftreifen ;  baJ3  bergteid)en  nidjt  angebt, 
erließt  ja  grabe  au§  bemjenigen,  xva^  mir  foeben  über  bercn  Un* 
oermeiblictifeit  fagten.  ©onbern  e§  ergibt  fid)  au§  biefer  ©ad)» 
läge  eben  b  i  e  2lufgabe,  an  beren  Söfung  mir  un§  in  biefen  un* 
feren  Darlegungen  oerfudjt  ^aben.    ®§  mu^  fiargelegt  merben^ 


©tcinmann:  ^tc  Icbenbigc  $erfönUci^!eit  ©otteg  ac.         449 

roclc^erlei  ocrfc^icbcnc  93cftanbteilc  in  bcr  ^riftlid^cn  ©efamtübcr* 
Ueferung  üon  ®ott  ocreinigt  finb,  tt)a§  baran  glitte  ift,  tdqö  Kern, 
n)a§  birctt  mit  bcm  religiöfcn  ©runbproje^  jufainmenl)ängt  n)a§ 
nur  in  lofcrem  3ufcimmcn]^ang  bamit  fte^t  al§  weitere  pl)antafie* 
mäßige  SBeranf ^aulid)ung ;  ober,  wie  mx  un§  oben  au§brürftcn, 
n)e((^e§  primäre  unb  roeldieS  fefunbäre  religiöfe  SSorfteHungen  finb. 
aSornetimUd}  aber  mu§  im  3i*fömment)ang  bamit  immer  mieber 
über  alle  SBorfteHungen,  fefunbäre  unb  primäre,  jurücf gegriffen 
roerben  auf  ben  rcligiöfen  ®runbproje§,  ma§  nic^t  abgebt  o^ne 
einen  ^inn)ei§  auf  ben  fr)mboUfd|en,  nur  megmeifenben  6t)arafter 
bcr  primären  unb  bie  nur  oeranfc^aulic^enbe  93ebeutung  ber  fe= 
funbären  93orfteUungen.  2)amit  aber  mirb  nid)t  nur  einem  t^eo* 
rctif^en  Qntereffe  gebient,  nämlid)  bemjenigen  Harer  ®infi(^t  in 
einen  gegebenen  Satbeftanb.  2)iefe  ©c^eibung  jn)ifct)en  Centralem 
unb  ^erip^erif^em  unb  ber  §inroei§  auf  ba§  le^te  eigentliche 
3entrum  aCer  2Iu§fagen  über  ®ott  im  ©runbproje^  ber  religiöfen 
®rfa^rung,  ba§  ift  grabe  and)  uon  eminent  praftifd)er  93ebeutung. 
@§  ^ilft  nämlid)  jener  ©efal^r  entgegenmirten,  bie  mit  bem  ©id^* 
auSmirfen  ber  SReligion  in  einer  anfc^aulid)en  SßorftettungSüber» 
lieferung  oon  ®ott  gegeben  ift,  ber  ®efa^r  nämli^,  ba§  infolge* 
beffen  bie  d^rifttii^e  SReligion  immer  mieber  auf  bieStufe  bloßen 
Ueberlieferung§miffeng  ^erabfintt.  SBeiter  ift  auc^  ju  befürd)ten, 
ba§  naturreligiöfe  ^'^tereffc  bc§  do  ut  des  fönne  fid)  an  jenen 
fefunbären,  ber  SBorftufe  entnommenen  pf^diifc^en  Six^^n  be§  ^rift« 
liefen  ®otte§bilbe§  in  ungebüt|rlirf)er  SBeife  roieber  aufri^ten,  mie 
e§  ja  aud)  tatfäd^tic^  immer  mieber  gefd|ief|t.  2)a  ift  e§  üon 
^öd)ftem  SBerte,  roenn  aud)  burd^  bie  tf)eologifc^e  Stefteyion  ber 
93lid£  oon  allem  peripljerifc^en  93eiroerf  auf  ba§jenige  gelentt  roirb, 
roorin  alle  fpejififd)e  ©eftimmt^eit  ber  c^riftlidjen  Ueberjeugung 
oon  ®ott  einjig  unb  allein  muvjelt  unb  mo  allein  eine  roirftic^ 
innere  ©emip^eit  oon  ®ott  im  fpcjififc^  d)rifttic^en  ©inne  ge* 
roonncn  werben  fann,  auf  ben  geiftigen  ®runbproie|  ber  d^rift* 
liefen  Sieligion  mit  feinen  ®rfaf)rungen  unb  2lufgaben.  3)ie  ^rift* 
li^e  SOäa^r^eit  oon  ®ott  fann  in  i^rem  ganjen  Umfang  unb  in 
allen  il^ren  roefentlid^en  QixQtn  n  u  r  in  lebenbigem  geiftigem  3tingen 
unb  ©treben  ergriffen  werben,  ^ier  aber  wirb  auci^  alleS  ein  ®r* 


450         ©teinmann:  ^ie  (ebenbige  ^erfönlic^feit  ^otteS  2C 

Iebni§,  roag  bcr  J^ommc  oon  (Sott  ju  fagen  roci^:  ba§  ift  bic 
gro^e  praKifd^c  9Ba^rt|cit,  roeldjc  au§  unfercn  Darlegungen  ^er* 
auöfpringt.  Unb  ba§  eben  ift  ber  Beitrag  bc§  ttieologifc^cn  9tad^* 
benten§  ju  bem  beftänbig  ju  erneuemben  Stingen  gegen  eine  UJer* 
fladjung  ber  ©otteSüberjeugung  in  frittflofeg  UeberlieferungSroiffen 
unb  eine  S33unfc^gen)i^t)eit,  bie  fic^  an  ganj  ^eript|erifd^e§  an- 
Hämmert. 

S)a^  fic^  oon  I)ier  au§  auc^  geroiffe  gorberungen  fonio^I  für 
bie  fr|ftematifd)e  Darlegung  ber  (^riftlic^en  ©lauben^oorfteUungen 
ergeben  roie  auc^  für  bie  d)riftlid)e  Slpologetif,  unb  n)elci^e§  biefe 
gorberungen  fmb,  ba§  fei  ber  SSottftänbigfeit  wegen  roenigftenS 
in  aller  Äürje  norf)  angebeutet. 

3)ie  (^riftlid^e  @Iauben§te^re  wirb  au8get|en  muffen  Don  ei^* 
ner  Karen  ©rfaffung  be§  religiöfen  ©runbprojeffeS  —  benn  fonft 
fc^roebt  l|ier  \a  alleö  in  ber  Suft  — ;  unb  fie  mirb  burc^brungen 
fein  muffen  oon  ber  ©infid^t  in  ben  roegmeifenben  ©^aratter  ber 
primären  unb  ben  oeranfd^auli^enben  ©l^aratter  ber  fcfunbfiren 
religiöfen  SSorftellungen,  foroie  oon  ber  beutlic^en  @rtenntni§  be§ 
UnterfdiiebS  jmif^en  primären  unb  fe!unbären  JBorfteHungen  ol§ 
me^r  jentralen  unb  me^r  peripheren  Seftanbteilen  bcr  religiöfen 
33orfteltung§n)elt.  ©ie  mirb  fii)  barum  befleißigen,  immer  auf 
ba§  religiöfe  ©runberleben  jurüdjugreifen  unb  bie  @lauben§Dor- 
ftellungen  in  lebenbigem  3wfön^'"C"^öng  bamit  jur  DarfteBung 
JU  bringen,  fid^  beffen  bemußt,  baß  biefer  ^ufammenl^ang  ein  an- 
berer  ift  bei  ben  primären,  ein  anberer  bei  ben  fefunbären  93or* 
ftellungen.  Darum  mirb  fie  au^  bei  ben  primären  SBorftellungcn 
nad)  größtmöglicher  ©inbeutigteit  unb  Seftimmt^eit  ftreben  — 
benn  in  ilinen  fpiegelt  ftc^  ja  unmittelbar  ba§  religiöfe  ©runber« 
leben;  l^ier  muffen  barum  bire!t  normatioe  giyierungen  erreicht 
rocrben.  ^ür  ba§  ©ebiet  ber  fefunbären  38orftetlungen  bagegen 
mirb  fie  fx6)  begnügen  fönnen,  gemiffe  9iid)tlinien  ju  geben  ober 
©renjen  be§  ©rlaubten  abjufteden,  bamit  ber  freien  Seroegli^teit 
ber  oeranfd^aulid^enben  5ß^antafie  ber  Spielraum  bleibe,  beffen 
bie  lebenbige  Duelltraft  be§  religiöfen  ©injelerlebenS  bebarf. 

gür  bie  5B[pologeti!  ergibt  fic^,  baß  fie  fidt)  um  bie  fefunbä* 
ren  SBorftellungen  überl)aupt  nid|t  wirb  ju  bemütien  l^aben.  ©inb 


@tetnmann:  %xz  lebenbige  $erfönltd^!ett  ®otte§  2c.         451 

bicfelben  Icbigtii^  au^malcnbc  aScranfd^auIid^ungcn  citic§  inneren 
@efd|c^en§,  fo  fann  üon  i^ncn  eine  b  i  r  e  f  t  e  Uebereinftimmung 
mit  ber  empirifdien  2Bir!tid)feit  cbenforoenig  verlangt  werben, 
wie  etvoa  oon  ®oet^c§  Sieb  be§  ®rbgeifte§  in  S^uft,  bcffen 
„938a^rt)eit"  ja  boc^  ganj  geroi^  fein  3Jlen[c^  naä)  bem  äußeren 
SBortlaut  ber  barin  oortommenben  äBenbungen  „SBebftu^I",  „Ic* 
bcnbige§  0eib"  u.  f.  xo.  unb  beren  empirifc^er  ©eltung  bemeffen 
loirb.  Slber  aud)  bie  primären  religiöfen  93orfteIlungen  n)irb  eine 
cinfn^tige  Slpologetit  nid^t  einfai^  fo  rein  für  ftc^  nehmen.  ®a§ 
ocrbtetet  x\)x  lebiglii^  roegroeifenber  ober  fgmbolifc^er  ©^arafter; 
ba§  Derbietet  aud^  ber  Umftanb,  ba§  fie  eben  beSroegen  in  i^rer 
3[foIierung  al§  blo^e  JßorfteUungen  überl^aupt  nici^tS  finb.  ®ie 
apologetifc^e  SKrbeit  roirb  fic^  oielmelir  um  ben  religiöfen  ©runb- 
projeg  bemühen  b.  1^.  aber,  fic  wirb  oerfudien,  bie  SBernünftigfeit 
bc§  religio^  Ueberjeugtfeinö  aufjuroeifen,  ba§  in  jenen  primären 
SSorfteHungen  feinen  unmittelbaren  unb  jutreffenben  9lu§brurf 
finbet  ^). 

IV. 

®§  erübrigt  nun  noc^  jur  SSeroottftänbigung  unferer  3)ars= 
legungen  über  bie  d)riftti^e  ©rfaffung  @otte§  al§  febenbiger  ^er« 
fönlic^feit  bie  Qf^een  ber  <3mmanenj  unb  ber  göttlichen  Jranfjen* 
benj  Don  benfelben  ®eft^t§puntten  au§  turj  ju  be^anbetn.  ®otte§ 
rcligiöfe  ^f^^manenj  nämlic^  unb  feine  Sebenbigteit,  wie  wir  fic 
glauben  Derftetjen  ju  muffen,  ®otte§  Sranfjenbenj  unb  feine  (Seift* 
perfönli^feit  ftel^en  in  fo  engem  ß^f^mmen^ang  miteinanber, 
ba§  bie  93e^anblung  be§  einen  nid^t  ooQftänbig  märe  o^ne  eine* 
93erüdffic^tigung  auc^  be§  anbern. 

Ueber  bie  religiöfe  Qbee  ber  ^»n^n^önenj  (Sottet  bebarf  e§ 
taum  nod^  oieter  SBorte.  2lu(^  l)ier  ^anbelt  e§  fid^  um  ein  ©gm* 
bol,  eine  primäre  religiöfe  Sßorftellung,  bie  eine  ®rfa^rung  be§ 
geiftigen  Seben§pro}effe§  unmittelbar  jum  aiu§brudE  bringt.  Unb 
jmar  ift  biefe  <3bee  ber  ^ii^manenj  ©otte§  ni^t§  anbere§  al§  ber 


1)  ®tnc  ©figse  foldjcit  apologctifc^cn  Sßcrf aureus  ^labc  iä)  im  11.  3al)rs 
gang  biefer  3eitfcÖJ^ift  3U  geben  üerfiic^t. 


452         Steinmann:  2)ic  lebenbige  ^crfönlid^feit  ©otteS  2c 

jutrcffcnbc  Slu^brudt  für  bic  ©rfal^rung  ber  Scbenbigfcit  ®otte§, 
roie  fic  oben  bef^vicbcn  lüurbc.  ®ort  war  bat)on  bic  SRebc,  ba§ 
wir  ganj  bireft  mitten  im  Sauf  ber  3)inge  unb  Srcigniffe  bem 
3BaIten  ®otte§  begegnen.  9li(^t  irgenbmic  roettfern  ift  ®otte§ 
fiebenbig!eit,  fonbern  fo  gang  unb  gar  meltburd^mirfenb  unb  wirf- 
li^  ganj  bireft  roeltburdiroirtenb,  ba§  ein  anberer  aU  ber  J^ommc 
anftatt  Don  @otte§  lebenbigcm  SDBalten  Don  ben  3umutungen  re» 
ben  mirb,  bie  in  ben  med^felnben  Sßer^ättniffen  be§  @injelleben§ 
unb  ber  @ef(^id)te  liegen,  unb  uon  bem  erjie^enben  ©influ^  bc§ 
Seben§.  2)iefe  religiöfe  ©rfa^rung  x)on  ®ott  in  aßen  tatfäc^lic^cn 
©reigniff en  bejeicftnen  mir  mit  bem  2tu§brudt :  ^mmanenj  ®otte§. 

2)a§  biefe  ^n^nianenj  ®otte§  nic^t  ganj  oon  felbft  erfahren 
wirb,  ba§  e§  oielmetir  eine  2lufgabe  be§  geiftigen  Seben§  ift,  bie 
®rfa^rung  oon  ®otte§  Qmmanenj  immer  Don  neuem  ju  roicber* 
^olen,  ba§  ift  bamit  jugleid)  unmittelbar  gegeben.  @^  ift  bie- 
felbe  2lufgabe,  üon  welcher  oben  fdjon  bie  Stebe  mar,  afö  mir  bie 
®rfa^rung  oom  lebenbigen  ^Balten  ®otte§  be^anbelten.  Unb  no^ 
einmal  fei  tieroorgeljoben :  9tid^t§  ift  ^ier  gleidjfam  objeftiu  ge- 
geben, fonbern  e§  miH  roirtli^  alle§  a(§  Ueberjeugung  unb  geiftigc 
@rfa{)rung  geiftig  errungen  fein,  wie  bie  mirftid^e  Srfaffung  ber 
^bee  ber  ^erfönlic^feit  ®otte§  fo  au^  bie  mirtlidie  Srfaffung 
feiner  Sebenbigteit  unb  feiner  Qmmanenj.  2lud|  über  le^tere  tann 
nur  reben,  mer  ®ott  in  feinem  Seben  beftSnbig  furf)t  unb  finbet, 
meil  er  auf  bie  2lufgaben  feine§  SebenS  ad^tet  unb  feine  3wfötn^ 
men^änge  banfbar  überfd^aut.  3)aoon  (oögelöft  bagegen  ift  auf 
bem  93oben  ber  Sieligton  bie  JRebe  oon  ®otte§  3»i"^önenj  eben* 
fofetir  eine  infialt^leere  ^^rafe  mie  bie  5Rebe  oon  ®otte§  ^^erfön» 
U(^teit  e§  bort  ift,  mo  fein  ^crfönlic^feit^leben  au§  ®ott  gelebt 
mirb. 

Söir  !önnten  e§  mit  biefen  furjen  93emertungen  über  ®otteS 
^mmanenj  genug  fein  laffen,  menn  bag  9Bort  „Qmmanenj"  nic^t 
gar  fo  lei^t  ben  SBerbac^t  enoedtte,  e§  lauere  ba^inter  ein  ocr* 
ftedfter  "ißantlieigmug.  —  ©oUte  biefer  SSormurf  unferen  2)arle» 
gungen  gegenüber  mirflid)  nod^  erl^oben  merben,  bann  fann  ja 
fid)erlic^  nur  ba§  aCBort  „^mmanenj"  baran  fc^utb  fein.  3)enn 
bie  religiöfen  ©rfa^rungen,  für  roeldie  mir  jenen  Segriff  al8  ben 


©teinmann:  ^ie  lebenbige  $erf5nlid^!eit  ®otte§  2c         453 

jutrcffcnbftcn  Sluöbrudt  roäl^ltcn,  l^abcn  \a  ganj  gcroija  nt(i)t§  mit 
^ant]^ci§mu§  ju  tun.  SBarum  t)crmeibcn  töir  bann  aber  nic^t 
bicfcn  fo  Ux6)t  mi|t)crftänblid^cn  2lu§bru(f?  ^fö,  rocnn  fid)  nur 
eine  anbere  gteicli  jutreffenbe  Äennjei^nung  jener  reügiöfen  @r* 
fat)rungen  auf finben  Ue§e !  SQBorauf  e§  l^ier  anf ommt,  ba§  ift  bod^ 
bie[e§,  ba§  @ott  nidtjt  nur  irgenbroie  jroifdien  ben  roirflid^en  ®r* 
eigniffen  l^inburd^  ju  ergreifen  ift  b.  i).  aber,  anftatt  bireft  in 
biefen  (Sreigniffen  irgenbroie  neben  ober  jroifd^en  i^nen,  in  roel- 
d|em  fJaHe  ®otte§  2:un  ftc^  auc^  äu^erlic^  bemertbar  oon  bem 
anbern  Oef^e^en  abgeben  mü§te  unb  barum  allenfalls  auc^  oline 
eine  beftimmte  innere  ©rfaffung  ber  (Sreigniffe  mü^te  erfaliren 
werben  lönnen.  SSielmel^r,  baj5  un§  @otte§  lebenbigeS  SBalten 
mirflid^  ganj  bireft  in  allem  ©efc^e^en  unmittelbar  felbft  na^e 
ift  unb  t)on  un§  grabe  barin  gefunben  werben  foll,  inbem  mir 
in  ri(^tiger  3GBeife  auf  biefe  Sreigniffe  geiftig  reagieren :  baf ür  fu* 
d^en  mir  einen  mirtlid)  bejeic^nenben  3tu§brudt.  Unb  einen  foldien 
finben  mir  nic^t  fc^on  in  ber  relatio  unbeftimmten  ^bee  ber  9111» 
gegenmart,  fonbern  crft  in  ber  religiöfen  ^mmanenjporftellung. 
2)enn  nur  biefe  bringt  grabe  auc^  bie  2Ible^nung  einer  unbe* 
ftimmten  SlUgegenmart  nur  jmifd^en  ben  2)ingen  unb  Vorgängen 
Mar  }um  ©emu^tfein. 

2lber  ba§  SBort  „^mmanenj"  ftetjt  nun  einmal  in  bem  93er* 
bac^t,  e§  fönne  nur  pantlieiftifc^  gemeint  fein.  SCBir  moQen  un§ 
barum  bie  SWül^e  nic^t  oerbrie^en  laffen,  biefe  unfere  religiöfe  ^m* 
manenjibee  nod^  ganj  beftimmt  gegen  alle§,  ma§  mir! lid|  pant^eif* 
tifc^  ift,  abjugrenjen.  ®rrei^en  mir  baburd^  jugleid)  eine  meitere 
Älärung  ber  begriffe,  bann  ift  e§  iebenfaHS  nid^t  verlorene  aJJül^e. 

3  m  e  i  formen  be§  ^ant^eiSmuS  tommen  l^ier  in  93etra^t. 
3)a  ift  junä^ft  berjenige  ^anttieismuS,  ber  ®ott  unb  ba§  SBelt* 
ganje  einfad^  gleii^fe^t  unb  in  biefem  ©inne  Don  einer  -^mma* 
nenj  ®otte§  in  ber  SBelt  rcbet.  Statt  Qmmanenj  @otte§  mü^te 
e§  ^ier  aber  mo^l  eigentlich  ^ei^en:  3^bentität  @otte§  unb  ber 
3Belt.  i^ier  ift  ba§  SBeltganje,  fei  e§  aU  eine  emige  ©efe^mä^ig* 
teit,  fei  e§  al§  ©ntmidfelung  gefaxt,  ganj  unmittelbar  ba§  fid^ 
entfaltenbe  ®ottc§leben  felbft.  S33ir  bagegen  ooHaie^en  grabe  nic^t 
eine  fotc^c  birette  ^neinSfe^ung  be§  miffenfd^aftlid)  erfaßten  SQSelt» 

Seitfc^rift  für  Xtfcolo^xc  unb  Äirc^e.     14.  ga^rg.,  6.  ^cft.  31 


451  eteinmann:  $Dte  lebenbige  ^erfonli^feit  (^otte§  :c. 

gef(^e^en§  mit  bent  göttlichen  3Birf en ;  loir  behaupten  oielmel^r  3m^ 
manen)  be§  göttli(^en  3Birfen§  im  SBeltgefc^e^en.  Unb  roir  iDoDen 
bamit,  mie  oben  au^gefu^rt  mürbe,  lebiglid^  ^eroor^eben  unb  Hat 
au^fpred^en,  bag  unS  @otte§  lebenbige^  SBaUen  mirflic^  im  reden 
©efc^e^en  felbft  überall  unmittelbar  erlebbar  na^e  ift,  ni^t  ir* 
genbmie  nur  bajmifc^en  ^inburc^  ergreifbar;  mir  meinen  aber  nic^t 
ba§  alle§  ©efd^e^en  grabe  fo,  mie  e§  entmeber  burc^  unfere  ober* 
fläc^en^afte  3lnfc^auung  ober  bur^  irgenb  eine  metap^^fifc^e  (Sin^ 
jtc^t  au^gefc^öpft  roirb,  unmittelbar  mit  @otte§  2:un  ibentif^  fei, 
fo  ba§  eine  anf^aulic^e  ober  miffenfd)aftlid)e  93efc^reibung  biefc5 
®efc^e^en§  inqUiä)  eine  birette  SSefc^reibung  ber  gottli^en  S^ätig* 
feit  märe,  mie  ba§  für  jenen  pantlieiftifc^en  ©tanbpuntt  ber  gall 
ift.  —  Unb  ba§  fü^rt  un§  unmittelbar  ju  einer  roeiteren,  §u  ber 
eigentlich  grunblegenben  3)ifferenj  jmifc^en  jenem  $ant^ei§mu§ 
unb  unferer  religiöfen  3fn^wianenjibee. 

3)ort  ^anbclt  e§  fic^  um  eine  pf)ilof op^ifd^e  2:l|eorie ;  bei  un8 
um  eine  religiofe  ©rfa^rung  unb  beren  möglid^ft  jutreffenben  3Sor* 
ftcllung^Qu^brucI.  3)ie  p^ilofopI|ifd)e  2:]^eoric  mill  ®r!enntniS 
oermittcln  oon  ber  2lrt  miffenfd^aftlic^er  ©infic^t;  ftc  fagt  un§ 
barum  genau,  ma§  ba§  gottlicl)c  SBaltcn  ift  unb  mie  e§  ftc^  ooB* 
jiel^t.  ®btn  jene  ©cfc^mä^igfeit  ober  jene  lebenbige  ©efamtent-- 
mirf elung  ift'g ;  unb  inbem  mir  biefc  miff enfc^aftlic^  jutreffenb  be* 
fc^reiben,  bcfcl|reiben  mir  bamit  jugleic^  ba§jenige,  ma§  allein  ®otte§ 
aOBirtcn  genannt  merben  fann,  unb  jmar  fo,  mie  eS  tatfäc^lict)  oor  fic^ 
ge^t.  Un§  bagegen  oermittelt  bie  rcligiöfe  Srfal^rung  an  ber  SBirt* 
lic^teit  lebigli^  bie  Uebcrjcugung,  ba^  mir  überall  bem  ^eite-- 
roirfen  @otte§  begegnen;  ftc  oerfi^afft  un§  aber  nic^t  genauere 
Kunbc  baoon,  m  i  e  ®ott  bem  SBeltgefd^elien  immanent  roirtt  unb 
JU  mirfen  oermag.  @§  ift  ja  aber  auc^  oööig  genug,  ba^  mir 
il^m  bei  unferem  geiftigen  Streben  in  mirtlicl)  altem  immer  roie« 
ber  begegnen  unb  i^n  noc^  über  biefe  unfere  @rfat)rungen  ^inau§ 
in  aUem  beftänbig  am  SBerte  roiffen.  3ln  ber  genauen  (Sinfic^t 
in  ba§  „mie"  biefer  religiös  erfa^rbaren  ^mmanenj  ®otte§  ^aftet 
fein  religiöfeg  ^ntereffe. 

SSieHeid^t  gibt  man  un§  je^t  immerhin  fooiel  ju,  ba§  jener 
^antt)ei§mu§  unb  unfere  <3bee  ber  religiöfen  ^»nimanenj  fe^r  oer* 


©teinmann:  S)te  l^bmh\Q^  $crfönlid^!eit  ®ottc§  2c.         455 

fc^iebcnc  2)in9e  finb.  $at  aber  bic  ocrgleid^cnbc  ©cgenüberftcl« 
lung  bcibcr  2lnfcl|auungcn  ni(^t  grabe  bie  unfere  in  einem  fe^r 
ungünftigcn  fiid)t  gejeigt?  Qft  biefer  Stanbpunft  ber  rcligiöfen 
^mmanenj  ni^t  einfat^  ein  abfi(^tlic^c§  Stehenbleiben  bei  ganj 
unüaren  93orfteBungen  ?  2lu(^  ba§  religiöfe  Seben  bebarf  aber 
boc^  einer  geroiffen  Älar^eit  [einer  SBorftellungen.  —  ®en)i§  be* 
barf  ba§  religiöfe  fieben  foldjer  Älarlieit,  aber  als  einer  Maren  @r* 
faffung  feiner  ©rfal^rungen  ober  at§  ber  ^far^eit  barüber,  rocldjer' 
lei  2lu§fagen  biefe  ®rfat|rung  am  jutreffenbften  jum  2lu8brucf 
bringen.  @§  bebarf  aber  nid^t  flarer  SSorfteßungen  in  bem  (Sinne, 
bag  e§  un§  burd)au§  gelingen  mü§te,  j.  ö.  bie  religiöfe  Qbee 
ber  3«n^w^önen}  be§  göttlid)en  9Birten§  auf  eine  bem  Sßerftanbe 
einleui^tenbe  Formel  ju  bringen,  meiere  bie  religiöfe  ©rfa^rung 
jugleic^  bireft  roiffenfc^aftlid}  faj^licli  mac^t.  S)er  Irrtum,  ba§ 
bie  SRetigion  in  b  i  e  f  e  m  ©inne  f (arer  SBorfteHungen  bebürfe,  ift 
nod^  weiter  oerbreitet,  al§  man  benft.  Qxxzn  n)ir  un§  nic^t, 
ftedtt  grabe  biefe  irrige  SWeinung  aud)  in  jenem  ©inmurf,  ben 
mx  un§  foeben  felbft  madjen  liefen.  9tur  barum  bod)  erfd^eint 
ber  ©tanbpunft  ber  religiöfen  ^mmanenj  bei  einer  SBergleid^ung 
mit  ber  pantl^eiftifc^en  ^f^^ntifijierung  ®otte§  unb  ber  SBelt  in 
einem  fo  ungünftigen  Si^t,  weit  man  anftatt  religiöfer  SSorftet« 
lungen  metaptigfif^e  2:]^eorien  ju  tiören  erwartet.  S)a  betonen 
roir  benn  nod)  einmal:  9Bir  l^aben  e8  l)ier  ganj  unb  gar  nid^t 
mit  metaptigfifc^en  Slieorien  ju  tun,  fonbern  einjig  unb  aHein 
mit  ©gmbolen  religiöfer  ®rfabrung.  SBenn  mir  oon  einer  Qm- 
manenj  be§  göttli^en  3Bir!en§  im  realen  SGBeltgefdielien  reben,  fo 
motten  mir  bamit  {einerlei  roiffenfdjafttid^e  Sinfid^t  ober  2le^n* 
Ii^e§  ©ermitteln,  fonbern  bie  fromme  ®otte§erfa^rung  be§  roer^ 
benben  ®eifte§menfd)en  auf  einen  Haren  2lu§brudE  bringen.  2)arum 
eben  mipuerftel^t  un§  jeber,  ber  in  unfere  33etonung  ber  religiöfen 
Smmanenj  etma§  t)on  bem  eben  abgelel^nten  „roiffenfc^aftlic^en" 
5ßantl|ei§mu§  ^ineinbeutet.  Unb  menn  jemanb  biefe§  ©teilen- 
bleiben  bei  ber  religiöfen  Q[bee  ate  bem  reinen  2lu§brudt  einer 
geiftigen  ®rfa^rung§tatfac^e  unb  Ueberjeugung  nic^t  rec^t  befrie- 
bigenb  finbet  unb  möd)te  bie  ©a(^e  „Harer"  ^aben,  fo  tonnen 
mir  il^m  nur  ju  bebenten  geben,   ob  er  fic^  nid)t  oietteic^t  noc^ 


456         ©tetnmann:  ^ie  (ebenbige  $erf5nli^!eit  (S^otted  zc. 

nic^t  oöüig   genug   oon   einer   inteHettualiftifc^en  Sluffaffung  ber 
^Religion  gelöft  t)at.  — 

Sieben  benjenigen  formen  be§  ?ßantl)ei§mu8,  bie  @ott  unb 
SBelt  bireft  in  ein§  fe^en,  [teilen  anbete  gormen  (ein  ?ßant^ei8« 
muS  Don  ganj  anbetet  3ltt)  benen  ®ott  ftc^  beutlid^er  oon  ber 
SBelt  fc^eibet.  ®§  finb  bie  oetfc^iebenen  ©pielatten  eine§  ttanf« 
jenbentalen,  \a  fogat  afo§miftifd)en  5ßant]^ei8mu§.  ®ag  ^ier  ®ott 
nid^t  fd)Iec^t^in  mit  ber  SBett  ibentifijiert  roirb,  unterfc^eibet  biefen 
$ant^ei^mu§  oon  bem  oorgenannten  unb  lä^t  i^n  jugleid^  unfetm 
©tanbpuntt  e^et  oetroanbt  etf^einen.  3)afüt  abet  ift  bei  biefer 
ganjen  ©enfroeife  bie  ©ottl^eit  im  SBeltgefc^el^en  ni^t  eigentlich 
mirtfam  gegenmärtig ;  im  ©egenteil,  eS  gibt  ja  2Ibarten  biefeS 
^ant^ei§mu§,  benen  ba§  eigentliche  aBeltgefdiel^en  fogar  für  oott» 
[tänbig  gottlog  gilt.  3)ie  Oottl^eit  roeilt  ^ier  nur  im  tiefften, 
innerften  Orunbe  ber  SBelt  unb  ber  3)inge;  fie  ift  allem,  roa^ 
fid)  auf  ber  Dberjlädie  be§  S)afein§  regt,  abfolut  unoergleid^lic^ 
unb  fern,  ^ält  fic^  ganj  fülle  unb  überlädt  e8  gleic^fam  bem 
SWenf^en,  fie  §u  finben.  gür  un§  bagegen  ift  ber  lebenbige  ®ott 
grabe  im  ©efc^e^en  ber  SCBelt  immer  mitten  barin  unb  teilt  bort, 
mo  biefeg  aOBeltgefc^e^en  für  unfere  ©rfal^rung  gipfelt,  nämtic^ 
im  merbenben  geiftigen  ^^-fonenleben,  au3  feiner  2)afeingf üUe  mit. 
SQBir  alfo  oertreten,  wenn  man  fo  miß,  bie  religiöfe  ^fbee  ber 
^Immanenj  ®otte§  lebhafter  als  biefer  afoSmiftifc^e  ^^8ant^ei§mu5 
eS  tut;  unb  bieS  barum,  meil  unS  bie  ®ott^eit  eine  lebenbige 
9Jiad)t  ift,  ganj  anber§  at§  jenem  ^antl|ei§mu§. 

3)iefcr  funbamentale  Unterfc^ieb  jmifd^en  jener  unb  unferer 
S)enfn)eife  mad^t  jugleic^  beutlid^,  ba^  bie  oor^anbene  Ueberein» 
ftimmung,  fofern  nämlid^  l)ier  mie  bort  baS  SGBeltgefc^e^en  unb 
ba§  göttliche  ®afein  unb  SGBirfen  nic^t  einfach  ibentifijiert  wirb, 
nur  auf  eine  ganj  äugcrlic^e  3Ief)nli(^feit  hinauslaufen  fann.  Se* 
biglid^  barin  beftetjt  biefe  3lel|nlic^feit,  ba^  in  beiben  hätten  irgenb* 
meiere  ^bee  ber  2^ranf jcnbenj  neben  ben  Qmmancnjgebanten  tritt. 
3)iefe  ^bee  aber  bebeutet  für  un§  etmaS  ooUftänbig  anbereS  afö 
für  jene  pant^eiftifd^en  äßeltauffaffungen.  3)ort  ift  e«  überall 
lebiglid)  bie  Sranf jenben j  ber  du^crften  2lbftraf tion ;  ^ier  bagegen 
eine  eigentümliche   geiftige  Jranfjenbenj,  bie  eine  lebenbige  Se* 


©tcinmann:  2)ic  lebcnbige  ^crf önlid^f cit  ©otteS  :c.         457 

jie^ung  ju  unfercr-  fonftigen  @rf a^rung  grabe  ganj  unmittelbar  ein- 
f daließt.  ®oc^  baoon  genauere^  im  folgenben!  ©ooiet  bürfte  iebenfaÜ^ 
f (ar  fein,  ba^  unfere  religiöfe  Qmmanenjibce  mit  bemjenigen,  mag 
unter  ?ßant^ei§mu§  Derftanben  mirb,  mirflid)  ni^t§  ju  tun  ^at  ^).  — 

Unb  nun  enbli^  noä)  bie  3^  r  a  n  f  j  e  n  b  e  n  j  be§  geiftper* 
fönlidien  @otte§  ate  eine  2;atfa^e  ber  religiöfen  ®rfa^rung,  ju- 
rüdgefü^rt  auf  ben  religiöfen  ®runbproje§  unb  in  i^rer  inneren 
Ücbercinftimmung  mit  ber  religiöfen  ^tw^manen-sibee ! 

SQ3ir  greifen  ^ier  junäc^ft  mieber  jurüdE  auf  allgemeine  geiftige 
©rfal^rungen.  2lüe§  geiftige  Streben  unb  Slingen  erlebt  am  3)a* 
fein  einen  großen  ®egenfa^.  @d)on  überall  bort,  mo  unfer  ®r» 
leben  an  ber  SBirllic^teit  bie  g^rm  ber  ^i^w^^tung  befi^t,  fpielt 
biefe§  3Äoment  mit  l^inein.  Söie  fe^r  al§  le^tcg  3^^!  öU^^  3^' 
mutungen,  bie  an  un§  l^erantreten,  bie  ©tärfung  be§  Oeiftigen 
betrachtet  werben  fann,  bod^  ftnb  alle  3wi^"tiii^9e"  ebenfofel^r 
aSerfuc^ungen  mie  3uniutungen.  3)a§  gilt  nid^t  nur  oon  jenen 
3umutungen,  beren  ^tnl^alt  lebigli(^  bie  2lufforberung  ift,  geiftige 
Äraft  unb  geiftige§  SBad^§tum  burc^  t)erneinenbeg  SBefl^alten  ju 
betätigen,  alfo  oon  ben  eigentlid^en  SSerfu^ungen.  SJielmel^r  aud^ 
bann,  menn  auö  unferen  Seben^erfa^rungen  eine  pofitioe  2luffor* 
berung  an  un§  herantritt,  bur(^  Siätigteit  in  einer  beftimmten 
9tic^tung  unfer  merbenbe§  ©eifteöleben  fei  e§  in  feinem  erreichten 

1)  @d  fei  l^ier  nod)  auf  einen  eigeniilmlic^  d)aralteriftifd)en  Sh  ^er  gu 
gmeit  genannten  pant^eiftifd)en  @otteSauffaffung  l^ingemiefen,  in  bem  fte  ft^) 
mit  nnferer  c^riftUd)en  ^rfaffung  Qiottt^  berül^rt.  ®^  ift  haQ  eigentümliche 
S^ebeneinanber  bon  Sntmaneng  unb  Stranfgenbeng  unb  in  SBerbinbung  bamit 
eine  getoiffe  begriffliche  Unabgefd)Ioffenbeit,  .ja  gerabegu  Unabfd)liegbarfeit  ber 
religiöfen  3been.  Smmaneng  unb  2^ranfscnbeng  finb  SßorftcIIungen,  bie  grabe 
nad)  entgegengefefeten  9'lid)tungen  ttjcifen.  ^ür  baS  begrifflicfte  S)enfen  finb  e^ 
(^egenfäge,  bie  nid)t  gufamntenpaffen  tDoQen.  S)ie  {^römmigfeit  bagegen,  in 
biefer  »ie  in  jener  gorm,  üerntag  baS  3"fa>"J"cnfcin  biefeS  ©ntgegengefeftten 
gu  ertragen,  fie  fommt  fogar  nicf)t  barum  berum,  unb  ber  ^larbeit  unb  ^-Be» 
ftimnitl^eit  beS  religiöfen  (SrIebenS  twi  biefeS  3ufammenerleben  be«  begrifflich 
auSeinanberftrebenben  unb  erfenntni^mögig  Unbereinbaren  feinen  (Eintrag.  6o 
ift  uns  biefer  tranfgenbentale  ^antbei^nm^  ein  ^emeiS  ine^r  bafür,  bag  reli« 
giöfc  3been  nicf)t  naci)  ben  3Wa6ftöben  flarer  miffenfcbaftlicber  (5inficf)t  genieffen 
fein  motten.  —  @«  gilt  ba§  übrigens  öon  bem  gangen  menfcbltcben  Ueber* 
geugungSleben,  biefem  ©ebiet  nnferer  tiefften  (Srfabrungen  am  ^afetn  unb 
legten  (Sinficbten  uon  i^m.    ^iebiel  aber  mirb  bagegen  nod)  gefünbigt! 


458         ©teinmann:  ^ie  lebenbige  $erf5nlt(^!eit  ©otteS  zc. 

95eftanbc  ju  ftärtcn,  fei  c§  einen  neuen  ©d^ritt  oorroärtS  ju  führen, 
ober  au^  burc^  aneignenbeS  (Singel^en  auf  irgenbn)elc^e  ^nre« 
gungen  e§  innerlid^  ju  bereichern  ober  ju  oerticfen:  felbft  bann 
fe^lt  ber  Zumutung  ba§  ÜWoment  be§  93erfuc^ii(^en  nid^t.  ®8 
ftet)t  nämlid)  aud^  bann  jebeSmal  n)enigftenS  ba§  rid^tige  iBerl^al- 
tcn  oon  unferer  ©eite  in  5^age.  S)enn  ba§  geiftige  Seben  ringt 
jxc^  nic^t  nur  an  einem  SBiberftanb  oon  au^en  empor,  ber  fc^ritt« 
weife  fiberrounben  werben  mu§;  e§  ift  au^erbem  ftetö  gegenroär» 
tig  ein  Sßiberftanb  oou  innen.  SSorne^mlic^  megen  biefeS  inneren 
SBiberftanbeS  ift  jebe  2lufforberung  eine  3umutung  unb  ent» 
^ält  jebe  3ii"^iitung  etmaS  93erfuc^lic^e§,  fei  e§  au^  nur  al§ 
ganj  (ei)e  Steigung,  ber  neuen  2lnregung  gegenüber  beim  bi^^er 
®rreici^ten  fielen  ju  bleiben  ober  ber  geforberten  Xättgfeit  bie  SRu^e 
oorjujie^en.  3fni>"c^  ^^9^  fi<^  I^ifc  ii"  ©runbe  ber  nämliche  innere 
SQSiberftanb  gegen  ba§  ©eiftige  unb  feine  SJiü^fal,  ber  bie  birettc 
a3erfud)ung  oon  au^en  fo  au^gefprod^enermagen  jur  SBerfuc^ung 
werben  lä^t.  ©o  fül^It  fic^  ba§  werbenbe  ©eifteSleben  ni^t  nur 
irgenbroie  unterfd^ieben  oon  einer  anberen  9lrt  unb  in  irgenbrocl^em 
Oegenfa^e  ju  i^r;  e^  füf)It  fic^  oon  biefer  entgegengefe^ten  ärt 
wirflic^  bebrängt  unb  in  feinem  SBeftanbe,  bem  ba§  gortfd^reiten 
roefentlic^  ift,  immer  roieber  in  ^rage  geftetit.  —  Unb  ba^er  nun 
ftettt  fid^  bei  aUem  ernftlidf)  ringenben  geiftigen  fieben  eine  91ei* 
gung  ju  bualiftifc^en  SBorfteßungen  faft  unoermeiblid)  ein.  ®n 
©gmptom  bafür  ift  ber  faft  inftinttioe  ^ßroteft  jeber  bcroufeten 
geiftigen  3lrt  gegen  aCe  Sßerfud^e,  ba§  ©eiftige  mit  biefem  i^m 
ffintgegengefe^ten  einfach  auf  eine  fiinie  ju  fteHen,  inbem  man  e§ 
j.  93.  üon  bortl)er  ableitet.  2Bie  man  nun  au^  fonft  über  biefen 
^roteft  benfen  mag,  jcbenfaüö  ift  er  ein  beutli(^er  93cn)ei§  für 
bie  ®inbrüdEIi(^teit  ber  bualiftifdien  ©rfal^rungen,  burc^  meiere  ba§ 
roerbcnbe  ®cifte§Ieben  ^inburc^  mu§. 

S)iefer  bualiftifi^en  6rfal|rung  am  ©afein  entfpri^t  e§  nun 
weiter,  wenn  ba§  an  allen  ben  einjelnen  ^ßunften  fic^  empor* 
ringenbe  geiftige  ©cfamtleben  al§  in  feinem  Urfprung  ber  fonfiigen 
©egeben^eit  tranfjenbent  aufgefaßt  wirb.  ©§  fann  \a  hod),  )o 
anber^artig  wie  biefe,  ja  fo  im  2Biberfpru(^  mit  i^r,  nic^t  oon 
il|r  t)cr   feinen   Urfprung   l^aben.    Unb  fefet  e§  fic^  tro^  feiner 


©teinmann:  %ie  Icbenbige  ^crfönlid^feit  ©otteiS  :c.         459 

fc^iücrcn  93cbrän9ni§  immer  mct)r  ftcgrcid)  burd^,  fo  mu|  c§  au^cr* 
bcm  mit  all  feiner  ringenben  Unfertigteit  jen[eit§  ber  empirifc^en 
Sage  aud)  irgenbmie  feinen  bleibenben  übermä^ligen  SRüdt^alt 
l^aben.  3)em  bient  gur  ©eftatigung,  ba§  biefe  il^m  fo  gegenfä^* 
Itd^e  emplrifd^e  9Birftid)feit  fd^lieglid^  bod^  jur  ^örberung  unb 
Äräftigung  be§  Oeiftigen  bienen  m\x%  fofern  nur  ben  in  il|r  ent* 
^altenen  3wwiii^ungen  ju  innerer  unb  äußerer  Slrbeit  Jolgc  gc» 
Iciftct  mirb.  ^a  fogar  ol^ne  fold)e§  SHingen  mit  i^r  fönnen  oon 
i^r  ganj  unmittelbar  erjielili^e  SSSirfungen  auSgel^en,  moDon  ja 
au^  fdf|on  oben  bie  SRebe  mar.  Unb  e§  ift  enblic^  ba§  9Bad)§s 
tum  beä  ©eiftigen  jugteid^  Ic^tlid)  nid^t  eine  SSernic^tung,  fonbern 
eine  Sßertlärung  be§  9tatürli^en. 

SGBie  fe^r  fid^  alfo  ba§  merbenbe  ®eifte§teben  jum  empirif^en 
3)afein  im  ®egenfa§  roei|,  jene  ^otenj,  oon  ber  e§  feinen  Ur* 
fprung  l^at  unb  an  welcher  e§  feinen  fidleren  SRürffialt  befi^t, 
fonn  nic^t  felbft  in  biefen  ©egenfa^  ocrftridtt  fein;  fie  erfd^eint 
oielmel^r  al§  ^errin  aud^  über  all  jene§  ©egenfä^lid^e.  ©ie  felbft 
fte^t  baju  nid)t  eigentli(^  in  bualiftifc^em  ©egenfa^,  fonbern  im 
93er^ältni§  ber  übermä^tigen  S^ranfjenbenj.  @ben  bamit  aber 
tranfjenbiert  fie  aud^  ba§  gange  merbenbe  geiftige  ©efamtleben 
unferer  unmittelbaren  @rfal|rung,  fofern  biefe§  als  merbenbeS 
grabe  unter  bem  roirflidtien  3)rudt  jeneS  ®egenfa^e§  ftel)t. 

2lud^  alle  biefe  geiftigen  ©rfal^rungen  nun  treten  bem  f  r  o  m« 
men  trieben  unter  einen  neuen  ®efid^t§puntt,  oon  bem  au§  fie 
erft  in  i^rer  ooHen  93ebeutung  burc^f^aut  werben;  ba§  ift  loe« 
nigften§  fo  bie  Ueberjeugung  be§  glommen,  ©ie  mcrben  \i)m 
®otte§erfal|rungcn  unb  Ueberjeugungen  oon  ®ott.  Unb  tbtn  fie 
fmb  ba§  9Befentlid)e  unb  ®runblegenbe  feine§  93emu§tfein§  oon 
ber  S^ranfjenbenj  be§  perfönlid^en  ®otteS. 

3)a§  bem  ^^ommen  alle§  baS,  mag  er  im  9Q3erben  unb  SBad^S* 
tum  feines  geiftigen  SebenS  erfährt,  ®otte§erfal^rung  ift,  bebarf 
ja  nur  ber  Srinnerung.  33ei  biefer  religiöfen  SBerfnüpfung  ber 
:3been  aber  mirb  un§  eben  in  jenem  bualiftifc^en  ©egenfa^,  ben 
mir  al§  merbenbe  ®eifte§menfd)en  immer  aufS  neue  erleben,  ®otte§ 
^[enfeitigteit  ein  ©rlebniS.  2llle  görberungen,  bie  unfer  merben* 
be§  ®eiftige§  oon  einem  geiftigen  ©efamtleben  ^er  erfätirt  unb 


460         iStcinmann:  S)ic  lebenbigc  ^erfönlid^feit  ©ottcS  2C 

äße  gorbcrungcn,  bie  oon  bortl^cr  crgcl^en,  ftnb  ja  boc^  bem  from* 
men  trieben  ©otte^iDirfungen.  @ben  btefe  ©ottegtoirfungen  aber 
erfahren  mir  als  ©rregerinncn  bicfcS  Ocgcnfa^cS.  @ottc§  2lrt 
ift  ber  notürüc^cn  cntgcgcngefc^t ;  fein  3)afctn  unb  baS  Slatürlic^c 
fd^Iiegen  fid)  au§.  ®a§  aber  ebtn  ift  feine  qualitative  S^ranfjen^ 
benj,  bie  uns;  in  unferen  geiftigen  ©rlebniffen  jur  ©rfa^rung 
fommt.  @ine  räumli^e  ^enfeitigteit  @otte§  lä^t  ftc^  nid^t  er» 
fal^ren,  xo6f)l  aber  biefe  qualitatioe.  —  3)arum  fud^en  wir  benn 
aud^  ben  Urfprung  be§  @eiftigen  nid)t  me^r  nur  fo  aQgemein  in 
®ott,  fonbern  in  @otte§  jenfeitiger  SGBelt.  Qn  biefer  gotm  einer 
^ertunft  be§  ©eiftigen  au§  ber  jenfeitigen  SBelt  ©otteS  erfc^eint 
im  3ufammen^ang  be§  religiöfen  (SrIebenS  jene  unbeftimntte  3bee 
irgenbipelc^en  jjenfeitigen  UrfprungS  be§  ©eiftigen. 

S)amit  aber  ift  bie  c^  r  i  ft  I  i  c^  fromme  ©rfa^rung  ber  2;ranf» 
jenbenj  ©otte§  ni^t  erfdjöpft.  ®a§  eben  ©enannte  für  fid)  allein 
fü^rt  ja  nur  ju  einer  bualiftifc^en  ©rfaffung  ber  Sranfjenbenj 
©otteS,  xüit  e§  \a  aud)  in  ben  bualiftifd^en  Erfahrungen  be§  gei« 
ftigen  Seben§  rourjett.  ^n  bem  d^riftUd^en  ©egriffe  ber  Sranf» 
jenben}  liegt  aber  nic^t  nur  bie  ^bee  eineS  l^eitigen  ©egenfa^e^ 
®otte§  jum  natürlid^en  S)afein,  fonbern  auc^  bie  93orfte(Cung  einer 
abfoluten  2BeItüberIegenl)eit  ©otteS.  ©Ott  ift  ^err  auc^  über  ben 
©egenfa^.  Unb  ba§  nun  erfahren  mir  oomel^mHc^  in  jener  burc^ 
au  biefen  ©egenfa^  Ijinburc^,  i^n  gleid^fam  überminbenb,  un§  ju 
teil  merbenben  erlöfenben  ©rjietiung  unb  gugleic^  93erttarung  be5 
Jlatürli^en!  3)ie§  ba^  religiöfe  aScrftänbni^  ber  görberung,  bie 
bem  ringenben  ©eifte§Ieben  mitten  au§  allem  ©egenfa^  l^erauö 
bod)  immer  mieber  juflie^t,  ber  SBerflärung  beS  9latürlic^en  bur^ 
ben  ringenben  Slnfturm  be§  ©eiftigen,  jeneig  übermächtigen  bleiben* 
ben  9lürft|atte§,  ben  aü  jene  Unfertig!eit  an  i^rem  meltüberlegenen 
Urfprung  befi^t.  Unb  fo  erft  befi^en  mir  bie  c^riftlic^e  SBotter« 
fa^rung  oon  ©otte§  S^ranfjenbenj,  inbem  mir  baS  SEBirffamfein 
einer  fomo^I  in  i^rer  2lrt  überroeltlic^cn  afö  auc^  in  i^rem  SBer* 
mögen  aUc§  aSeltti^e  weit  überragenben  9Rac^t  beftänbig  erleben. 

2)iefe  nii^t  nur  bualiftifdie  Jranfäenbenjibee  umfd)lie|t  nun 
aber  bie  ^bee  ber  göttlid^en  Qmmanenj.  ©8  pnb  ganj  biefelben 
©rfa^rungen,  in  benen  un§  ©otte§  ber  SBelt  immanente^  SEBirfen 


©tcinmann:  2)ie  lebenbige  ^crfönli^feit  ©ottcg  :c.         461 

unb  jugteic^  bic  SlBeltfibericgcn^cit  bicfe§  2Birfen§  entgegentritt,  wenn 
®ott  mitten  in  ber  SBirflid)fcit,  bie  unfer  ringenbe§  ®eifte§leben  be* 
brängt,  ju  feiner  görberung  roirtfam  ift ;  unb  jroar,  unferer  Srfal)* 
rung  gemäfe,  nid)t  inbem  er  an  biefer  SQBirtlic^feit  l^erumforrigiert, 
fonbern  inbem  er  ganj  bireft  au§  it)r  ^erau§  gu  mirfen  uermag. 

2)a§  freiließ  nun  ift  eine  Siranfjenbenj  @otte§,  bie  mir,  im 
Unterfc^ieb  oon  jener  juerft  genannten  qualitatioen  Qenfeitigfeit, 
al^  abfolute  2^ranf jenbenj  begeidinen  möchten.  S3ääl)renb  mir  ung 
oon  ber  erfteren  auf  ®runb  be8  merbenben  ©eiftigen,  ba§  in  un§ 
ift,  menigften§  eine  9It)nung  ju  bilben  uermögen,  überfteigt  biefe 
abfolute  S^ranfjenbenj  ®otte§,  biefeS  fein  aUumfaffenbe^  unb  tro§ 
atte^  ®egenfa^e§  allbe^errfc^enbeS  SlBatten,  mie  fel^r  e§  un§  er- 
fahrungsgemäß gemiß  ift,  boc^  all  unfer  93egreifen.  ®§  verliert 
fic^  aber  auc^  bie  qualitatiüe  Sranfjenbenj  ®otte§  in§  Unfaßbare, 
menn  mir  erroögcn,  baß  für  fein  Seben  jene  ®egenfä§e  nid^t  Dor* 
Rauben  fein  fönnen,  unter  benen  unfer  geiftigeS  35afein  ftc^  mü^t. 

3)amit  ftnb  mir  am  ©ctjluffe  unferer  Darlegungen.  2)a  fei  e§ 
bann  notf)  einmal  t|eruorgel)oben:  Älarl^eit  religiöfer  ^hten  ift 
etmaS  anbere§  al§  Slartieit  roiffenfd^aftli^er  Segriffe.  SEBer  ^ier 
miberfpruc^§lofe  miffenfc^aftlidie  93egriffc  fuc^t,  ben  merben  aud) 
bie  legten  Darlegungen  nic^t  befricbigen.  2Bir  bürfen  e§  aber 
mo^l  auSf predien :  e§  ift  feine  ®d)ulb;  xoa^  fuct)t  er  galfc^eS  an 
falfc^em  Ort!  3Jlan  rebet  ja  fonft  fonicl  baüon,  baß  SReligion 
unb  miffenfdiaftlic^e  SrfenntniS  jmeierlei  fmb.  2)a§  jeigt  fid) 
eben  ^ier,  unb  foUte  fic^  mo^l  übertiaupt  in  bogmatifd)en  3)ar* 
legungen  me^r  jeigcn,  al§  e§  ber  ^^tl  ift.  Dogmatifc^e  3)ar* 
tegungen  ^aben  eS  ja  bod)  mit  ber  Steligion  }u  tun.  Me§  aber, 
maS  jur  SReligion  gehört,  Ijängt  jufammen  mit  frommer  Siegung 
unb  Sebenöerfa^rung.  3)a§  miß  in  ber  ®IaubenS(el)re  über  fic^ 
felbft  jur  Klarheit  fommen,  nic^t  aber  in  bie  Q^orm  begrifflid) 
mo^l  auSgegtätteter  ®rfenntnigau§fagen  l^ineingeprcßt  merben. 
Unfere  geiftige  unb  religiöfe  Srfa^rung  am  Dafein  ift  baju  oiel 
JU  reic^  unb  mannigfach  unb  oor  allem  aud)  oiel  ju  fet|r  ein  an* 
fängerliafteS.  3l\xx  mer  biefe  3lnfc^auung  teilt,  mirb  in  unferen 
Darlegungen  93efriebigenbe§  liaben  finben  fönnen. 

81* 


462 


(IBrlilärimg  geg^n  D.  Pdtirer  in  $0^ik* 


^rof.  D.  aSatt^cr  t|at  in  feiner  Schrift  „S)o^  Stbc  ber  9icfor= 
mation"  $eft  2  @.  23—27  einen  3lbjafc  meiner  «b^anbtung  „S)ic  ©eilS» 
ßemig^eit  be«  etjangeüfc^en  e^riften",  3.  f.  I{|.  u.  ß.  1903  in  gröbtieft 
entftetlenbcr  SBeife  befprocften.  3cft  »erfolge  in  jener  9[bftanb(ung  öon 
V(nfang  bis  ju  (Snbe  ben  audgefprocftenen  Sxo^d  gu  jeigen,  bag  bie 
^eildgemig^eit  im  @inne  Sut^erd  ald  bie  perfönticfte  ©emig^eit  einen 
gnabigen  itnb  üerjeiftenben  ®ott  gu  ^aben  ancft  für  ben  mobemen 
aJlenfc^en  b  a  «  religiöfe  5ßroblcm  ift,  unb  baß  SJutfterS  fpejififc^c  ßöfung 
bcSfelben,  bie  Segrünbung  jener  Oemigbeit  auf  bie  0  b  j  e  f  t  i  ü  e  ©na» 
bent)er{)eigung  ©otteS  in  (S^riftuS  bie  eingig  befriebigenbe  ift.  Unter 
biefer  SiJorauSfe^ung  lebiglicft  [jaht  icft  ed  atd  eine  ju  eng  gemorbenc 
@($abIone  begeid^net,  menn  für  Sut^er  bie  .!peildgemigfteit  erftnmUg  fo 
ju  ftanbe  fommt,  bag  ber  unter  bem  3)rudE  ber  SKatftt  unb  ©c^ulb  ber 
©ünbe  SSerimeifelnbe  ben  Iroft  ber  SSergebung  erfaßt  unb  i^ren  ^rieben 
erfäüjrt.  "äh  anbere  formen  i^rer  Sermirflic^ung  füftre  ic^  @.  418/419 
jnjei  t^pifcfte  gälle  an.  S)er  erfte  ift,  bag  ber  äRenfc^  burdft  fonfrete 
SebenSerfa^rung  beS  (SIenbS  inne  n)irb,  o^ne  ®ott  fein  ju  muffen 
.  in  biefer  SBelt,  unb  nun  }ur  ®emig^eit  einen  gnabigen  ®ott  gu  baben 
gelangt,  inbem  @otteS  Siebe  iftm  aU  baS  in  biefer  befonbren  ^otSBirl« 
fame  aufgebt;  tnobet  ic^  tjinjufnge:  „obne  f^rage  mirb  ftc^  mit  bem S)ru(f 
biefer  Situationen  ber  ^ilfiSbebürftigfeit  aucft  ba*  ®efüftl  ber  burcft  bie 
Sünbe  herbeigeführten  Untoürbigfeit  ftftörfenb  oerbinben  unb  bie  Svl- 
t^erfi^t  gu  ®otteS  ^ulb  barum  aucft  bie  ©emig^eit  ber  SSergebung 
einfc^Iiegen''.  "iBer  gmeite  gatt  ift  ber  ber  3ugenb,  bie  feine  Sorgen 
^at  unb  für  bie  baS  intenfitjc  ®efüftl  ber  ffirlöfungdbebürftigfeit  nidftt 
naturgemäß  ift,  befonberS  menn  fie  nidjt  unter  bem  5)ru(f  beS  ©efeJeS, 
fonbern  in  ber  Sltmofpbo^e  bed  Seifte«  Eftrifti  aufgcmacftfcn  ift.  3fir 
fie  ift  bie  erfte  gorm,  in  ber  fie  bie  §eilSgett)igfteit  erlebt,  bie  freubige 
Eingabe  an  ba§  c^riftlicfte  Qbeal  a(8  ein  föftlic^ed;  in  biefe  ift  eben  bie 
perfönli(^e  ©ewiß^eit  ber  4)ulb  ®otteS  eingefcftloffen.    @.  421  ftebe  icft 


@r!Iarung  gegen  D.  SBoIt^er  in  9loftocf.  463 

noc^  QUdbrücftic^  ^ert)or,  mt  aü'  baS  nic^td  baran  önbert,  bag  ber 
®runb  ber  ^eitdgemigijeit  bie  freie  ©nabenoer^eigung  @otted  in 
e^riftn«  ift. 

Sßad  ^at  nun  D.  SBalt^er  l^ierau^  gemacht  ?  gür  ben  ©a$,  bag  ® otted 
Siebe  ber  Seele  al«  ba^  in  ber  bcfonbren  Slot  SBirffame  aufgebt,  finbet 
er  jroei  mögliche  S)eutungen.  Sntiüeber  fönne  er  fagen,  bag  ber  äRenfc^ 
(Sott  aU  Urheber  biefer  $)iot  ertenne.  Aber  mie  folle  er  bieö  lun 
@otted  alö  Siebe  beuten?  2)ad  fönne  er  erft,  na  c^bem  er  burd^  bad 
Seib  5um  ©c^ulbbemugtfein  gebraut  fei  unb  bann  SJergebung  erlangt 
babe.  Ober  er  fönne  fagen,  ber  SRenfc^  erfahre  ®otte$  $ilf^  ^^ 
jciner  5Rot  unb  fütire  biefc  ^ilfe  auf  ®ottcd  Siebe  jurücf.  Aber  eine 
fo  vermittelte  |)ei(dgekt)iJ3i|eit  fei  Sinbilbung,  mie  benn  Sut^er  l^on  fold^en 
rebe,  benen  ®ott  ^eimlic^  feinb  fei,  mit  benen  er  aber  ^anble  als  feien 
fte  feine  lieben  ffiinber.  QSn  Sejug  ouf  bie  3ugenb  gibt  er  ungefähr  ju, 
bofe  folc^^  ibeate«  Streben  ber  normale  SBeg  fei  —  um  meiter  ju  fom* 
nien,  namlic^  jur  ©ünbenerfenntniö,  unb  um  fo  burc^  ben  Sngpag  ber 
©etoiffenSfc^recfen  erft  jur  $)eiI8gett)i6^eit  ju  gelangen.  SBenn  ic^  aber  meine, 
tai  in  iene  :pingabe  bie  perfönlic^e  ©emig^eit  ber  .^ulb  ©otteS  fc^on 
eingefc^loffen  fei,  fo  fomme  bad  leiber  uor;  ba  bilbe  ber  äJlenfc^ 
ftc^  ein,  ® Ott  fei  i^m  beS^alb  ^olb,  yd  eil  er  bem  ^beale  nac^ftrebe ; 
folc^e  auf  ber  ©elbftgerec^tigfcit  ru^cnbe  ^eilÄgetoigtieit  fei  bann  bie 
un^etldoUfte  @elbfttaufc^ung. 

SBad  ic^  an  SEBalt^erS  äSerfa^ren,  um  bon  Sinjel^eiten  abjufe^en, 
unerhört  finbe,  ift  bieS,  bag  er  üon  ben  85  Seiten  meine«  SluffafteS 
eine  einzige  herausgreift  unb  biefe,  um  ben  weiteren  unb  näheren  Qn* 
fammen^ang  unbetümmert  nac^  feinem  ?)elieben  interpretiert,  um  fie 
bann  gu  nickte  ju  urteilen,  ^ätte  er  nur  irgenbkoie  beachtet,  mad  ic^ 
immer  mieber  betone,  bag  nur  bie  objeftiüe  ©nabenbcr^eigung  @otteS 
in  S^riftuS  ber  ®runb  ber  ^eilSgetoig^eit  ift,  fo  ^atte  er  fieser  nic^t 
auf  ben  ©ebanfen  fommen  fönnen,  bag  i^  enttoeber  bie  augere  3ldt  als 
fol^e  ober  bie  ©rrettung  auS  biefer  als  itiren  ®runb  anfe^e,  fonbern 
b&tte  baran  beuten  muffen,  bag  im  Si($t  ber  Siebe  ®otteS  in  S^riftuS 
ber  innere  Segen  ber  3lot  ücrftönblic^  wirb.  SSor  allem  aber  ^ätte 
er  fic^  nid^t  ber  empörenben  äSerleumbung  f^ulbig  machen  fönnen,  bag 
i^  eine  ^eilSgemigtieit  ber  Qugenb  bel^aupte,  bie  auf  Selbftgcret^tigfeit 
beruhe,  ^c^  fage,  bei  Seac^tung  meines  ®runbgebanfenS  ^ätte  er  baS 
uic^t  fönnen,  auc^  menn  meine  (Sntgegenfe^ung  Don  Srucf  beS  ®efe^eS 
unb  freubigem  Streben  nad^  bem  ^beal  als  einem  töftlicben  i^m  un^ 
Derftänblic^  blieb  unb  auc^  menn  er  imftanbe  mar,  eS  gu  Dertoe^feln, 
bag  bie  ®emig^eit  ber  Jpulb  ®otteS,  tüie  i^  fage,  in  jenem  Streben 


464  ($r!(ärun9  degen  D.  Salt^er  in  dioftocf. 

e  i  u  g  e  f  c^  1 0  j  f  e  n ,  unb,  xok  er  mir  nac^fagt,  burc^  bad  'JSeiuugtieiu 
um  biefe^  b  e  9  r  ü  n  b  e  t  ift. 

Über  ic^  ^abe  iioc^  eine  fc^ümmere  Srfa^rung  mit  D.  SBaIt()er  ge« 
mac^t.  Um  bad  SReine  ba^u  jn  tun,  bag  bie  IBerbitterung  ber  unber^ 
meiblic^en  t^eotogt{d)en  $olemtt  burc^  bie  öffentliche  9(bme^r  folc^eu 
Sierfa^ren^  oermieben  merbe,  t)abe  ic^  mic^  brieflich  an  D.  SBalt^er  ge« 
n)anbt  mit  ber  2)arlegung  bed  Xatbeftanbd  unb  ber  ^llnfrage,  ob  er  nid)t 
fclbft  bie  erforberlic^e  ^Berichtigung  geben  motte.  ®r  erflärtc,  auf  mei* 
nen  4>öu))tbormurf,  bie  3fl"0'^i^i'^"»9  meiner  I^efe  Don  bor  Öegrün^ 
buug  ber  ^eildgemig^eit  auf  bie  ob|ettiDe  fönabenoerl^eigung,  erft  ant^ 
morten  5U  fönnen,  nac^bem  ic^  i^m  eine  aut^cutiic^e  Erläuterung  be^ 
SlbfafteS  S.  418/19  gegeben,  unb  fc^lug  fc^liefelic^  üor,  baß  er  ^roci 
meiner  @a^e,  bereu  Uebergel^en  icf)  i()m  borgemorfen,  bie  aber  bou  ettoad 
anberm  ^anbeln,  abbrühen  unb  beu  Sefern  ba^  Urteil  anbcimgeben  fülle, 
ob  unb  iumiemeit  baburcb  feine  ^arftettung  berüt)rt  merbe.  Ser  Srief, 
in  melc^em  ic^  biefen  Siorfd^lag  ald  ungenügenb  jurüdEmied  unb  bie  gc« 
münjc^te  Srlauterung  gab,  berjögerte  fic^  infolge  oon  Unmo^Ifein  unD 
onberem  um  einige  äBoc^en.  ^a^er  berjit^tete  ic^  je^t  auf  ^ne  'bt- 
ric^tigung  burc^  SSaltl)er  unb  bemertte,  bag  ic^  fie  gelegentli^  felbft 
üorne^men  motte  unb  ^offe  burc^  feine  nunmehrige  Slntmort  auf  meine 
$auptbe(c^merbe  in  ben  Staub  gefegt  gu  merben,  bied  o^ne  Scharfe  ju 
tun.  SSalt^er  antwortete  mir,  bag  er  mein  @c^meigen  atö  Suf^^^^u"9 
beutenb  (!)  feinen  )öorfci)Iag  im  X()eoI.  Siteraturblatt  fc^on  audgefu^rt 
^abe,  räumte  ein,  in  ber  3)eutung  bon  @.  418/419  i,nic^t  ganj  (sie!) 
meine  äReinung  getroffen  5U  ^aben",  lel^nte  aber  ein  (Singeljen  auf  meinen 
itBrief  ald  nu^lod  ab  unb  gab  bie  berfproc^ene  Slntmort  auf  bie  ^aupt« 
befc^merbe  nic^t.  ^iluf  meine  nochmalige  iiBitte,  mir  eine  „^j)eric^tigung 
ot)ne  ©cbörfe-'  burc^  eine  briefliche  Srtlärung  über  ben  $unft  ber  ob< 
ieftioen  ^egrünbung  ber  ^eildgemig^eit  5U  geben,  erfolgte  bie  runbe 
Steigerung :  „benn  mir  oerftc^en  nic^t  badfelbe  unter  ben  unoermeiblic^eii 
Begriffen''. 

^ad  Urteil  über  D.  SBaltljerd  äSerfa^ren  fann  ic^  getroft  ben  tiefem 
überlaffen.  gür  mic^  aber  fc^eibet  D.  äBalt^er  einftmeilen  aud  ber  3^^)^ 
ber  ©egner  auS,  benen  gegenüber  ic^  mic^  jur  IBeac^tung  unb  STu^in« 
anberfe^ung  berpflic^tet  fü^Ie,  meil  ic^  in  atten  2)ifferenien  unb  aud) 
äßigberftänbniffen  überjeugt  {ein  barf,  bag  ed  i^nen  um  bie  SBa^r^eit 
5U  tun  i)t. 

3.  (Sottfc^icf. 


465 


Lic.  gntil  9ui|8, 

9ief  ctcnt  an  bev  UniberfttSt  (Stehen. 


1.  Äann  kämpfen"  cf)riftlid(  fein? 

Obige  S^age  ift  ber  ®^riftent|cit  ju  einer  ernften  ©eroiffenS^ 
fadbe  gemad^t  worben  bur^  man^erlei  (Sreigniffe  ber  legten  ^df)xt, 
wie  bie  Oreuel  in  2lrmenien  unb  ber  93oeren!rieg,  vox  allem  aber 
bur^  9taumann§  ©teUungnalime  ju  biefen  ©reigniffen  unb  feine 
unumrounbene  ©rflärung,  ba^  er  nid)t§  leiften  tonne  in  ber  ^o* 
litif,  bag  man  übertjaupt  nid^tö  leiften  fönne  in  it)r,  wenn  man 
nur  nad)  ben  ^rinjipien  unb  2tntrieben  ber  ©t^if  be§  Stjriftens 
tum§  ^anble.  (SKan  oergl.  aifta  114.  119.  ®.  u.  Ä.  34)  i).  9iun 
tämpfen  mir  felbft  in  ©übroeftafrita  fol^  einen  ft'ampf.  Surfen 
wir  ba§  al§  ©Triften?  ®ürfen  mir  ru^ig  jufd|auen,  menn  unfer 
SSotf  e§  tut?  3Jlüffcn  mir  ni^t  abroel)ren? 

S^aumann  get)t  üon  bem  ©ebanten  au§,  baja  bie  d)riftlic^e 
®t!)it  jeben  Kampf  au§fd)lie^t.  2lber  oI)ne  Kämpfen,  manchmal 
mitIeibIofc§  Kämpfen,  ift  nirf)t^  ®ro§e§  burdiiufe^en.  2llfo  muffen 
mir  meiter  fämpfen,  au§  ^^Jflic^tgefütil  fogar.  3Bir  muffen  alfo 
neben  ber  ^riftlic^en  @tt)if  eine  32BeItet^if  i^abtw,  mit  ber  mir  bie 
großen  QkU  biefeö  fieben^  unb  biefer  SBelt  erftreben. 


1)  3^  cttiere  im  folgeuben  5).  u.  ^.  mit  Seitental)!  =  ^cmofrdtic 
unb  Äaifcrtum.  93r.  mit  ©citenaa^I:  ^Briefe  über  Dieligion,  nad^  ber 
SonberauSgabe. 

3eitf<^rlft  für  «^eoloßte  unb  Älrc^e.    U.  Jja^rg.,  6.  $eft.  32 


466  fjucf|§:  ©^riftentum  nnh  Äampf  um§  S)afein. 

3Wau  Tüirb  nic^t  ücrfcnncn  !önncn,  ba§  bicfc  ©tcttungnal^mc 
5taumann§  ein  ©tüd  au§  ber  ganjeu  ©mpörung  unferer  3^it 
gegen  bie  2)emut§et{)tf  ift,  jener  ©mpörung,  bic  in  9lie^id|e  i^ren 
energifc^ften  2lu§brudf  gefunben  t)Qt.  Slber  noc^  qu§  einem  an» 
bern  ©runbe  barf  man  ftc^  nid^t  rerfü^ren  laffen,  bie  ©ad)e  lei^t 
ju  nehmen:  ©in  Pfarrer  von  d^riftlid^em  <3bealisimu§,  c^riftlid)cr 
93armt|erjig!eit  getrieben,  legt  fein  ißfarramt  nieber,  mirb  ^otititer, 
um  beffer  lielfen  ju  tonnen  unb  mu^  bann  erftären,  mit  btefem 
einen  ^^rinjip,  ba§  biäl^er  mein  Seben  bel^errfc^t  l^at,  tommc  id| 
nid^t  au§,  tann  id)  gerabe  ba§  nic^t  erei(^en,  roa§  ic^  i^m  ju  lieb 
erreid)en  möd^te. 

91un  fann  eine  ni^treligtöfe  @t^if  ba§  oieKeic^t  ertragen. 
2lber  eine  ®t^it,  bie  auf  @otte§gIauben  rul|t,  tann  e^  nid|t.  SBenn 
e§  ein  ©ebiet  im  Seben  gibt,  roo  mir  fagen  muffen,  ^ier  ift  mit 
ber  cl)riftlici^en  ®t^if  nid|t§  au^juri^ten,  nic^t  ba§  ^öfe  ju  über= 
minben,  bann  bel^errfc^t  unfer  @ott  biefe§  ©cbiet  nic^t.  2)ic  SBor« 
auSfe^ung  jeber  c^riftlic^er  Seben^fü^rung  aber  ift,  ba§  ®ott  bie 
äßelt  gefi^affen  t|at  mit  bem  Qvotd  un^  barin  ju  einer  beftimm* 
ten  et]^ifd)cn  ©eftaltung  ju  erjie^en.  Stimmt  biefe  SBorau^fe^ung 
mijt  met|r,  bann  Iiaben  mir  biefen  @ott  nid)t  me^r. 

S)abei  ift  9laumann§  Stellungnahme  gar  nic^t  auf  ein  ®e= 
biet  JU  befc^ränten.  aWit  SRed^t  l^at  Sßeit  fofort  barauf  ^inge= 
miefen  (S^riftl.  3Q3eIt.  1901  0ir.  38),  bag  Kämpfe  aud)  im  ©e= 
fd)äft§leben  gefül^rt  werben  muffen  unb  ein  @efc^äft§mann  bie- 
felben  ©rünbe  jur  ©manjipation  oon  ber  c^riftlic^en  &ti)it  ^ot 
mie  ein  Staatsmann. 

Slaumann  ^at  auc^  barauf^in  in  ben  93riefen  über  Sleligion 
biefe  Äonfequenj  gejogen: 

„S)a§  roa§  id)  al§  ^otititer  über  bic  Stellung  ber  ^ßolitit 
jum  ©oangelium  ausgeführt  Iiabe  unb  Qi)x^t  J^rage  entfprec^enb 
auSfütiren  mu^te,  ift  gleid)jeitig  meine  9lntroort  auf  üiele  a^n- 
lidje  5^'agen.  3)er  ^fwrift  mu§  ätjnlici^  jum  SRedjt  jle^en,  ber 
Kaufmann  ä^nüd)  jum  ®efd|äft.  Unb  mer  oon  allen  benen, 
bie  t)eute  ermerben,  ift  nic^t  irgcnbmie  Kaufmann"  (55r.  50 
oergl.  auc^  37)? 
Sie  ^aben  aüz  neben  bem  S^riflentum  nod^  anbere   etl^ift^e 


5  u  d^  g :  ®{)riftcntum  unb  ^ampf  umä  '2)af ein.  467 

3JlotiDC  notiDcnbig.    ©nttöcbcr  mug  bcr  ^»öttgcr  ®f)riftt   au§  ber 

SEBelt  ^inau§cje^en  ober  er  fagt:  ,,^6)  voiH  ®t)rift  fein  fo  uicl  unb 

gut  e§  in  bicfcr  SCBcft  möglid)  ift !  ®r  ücrjic^tet  barauf  nur  djrift* 

lict)c  SWotiüc  ju  l^aben,  fonbcrn  i)at  fic  neben  anbcren"  (33r.  38). 

„aBcr  nun  fagt,  ba^  im  ©oangeUum  alle   Sitttic^feit  por* 

Rauben  ift,  bie  c§  für  un§  gibt,  ber  mu^  cntroeber  bie  bürger- 

tidie  ©ittlic^teit  bc§  Staates  übert)aupt   oon  fid)  weifen,   ober 

er  muj5  fte  umbeuten,  bi§   fie   fic^  einem  ©r)ftem   c^riftlitfier 

ÜJloral  einjufügen  fd^eint.  3)a§  le^terc  ift  ba§  t)äufigere.  9Jlan 

mad^t  ben  Staat  mit   aü^n   feinen  Kanonen    unb  Äerfern   ju 

einem  93eftanbteil  unb  Hilfsmittel  be§   5Reicf)e§  ©otteS.    ^Jtur 

fd)abet  man  bamit  bem  93ilbe  ^efu  me^r  alS  man   it)m  nü^t. 

3Kan  mu$  bann  bie  jarteften  unb  feinften  ^Regungen  ber  Seele 

J^efu .  bred)en.    ©erabe   barin  berut)t   feine  ©igenart,    ba^   er 

grop  ift  otine  allen  meltlid^en  ^errfd^aftSfinn"  (33r.  42). 

„3lIfo  entmeber  man  roagt  e§  ftaatSloS  fein  ju  moüen,  man 
Tüirft  fid)  aller  Sttnarc^ie  freiroittig  in  bie  9lrme,  ober  man  ent* 
fc^IieJ3t  fid),  neben  feinem  religiöfen  93efenntniS  ein  poIitifc^eS 
93etenntni§  ju  ^aben"  (93r.  48). 

„SEBir  teuren  jum  alten  großen  3)oftor  beutfdjen  ©laubenS 

(Suttier)  gurüdt,  inbem  mir  politifd^e  3)inge  al§    au^erl)alb  beS 

SDBirfungStreifeS  ber  ^eilSoerfünbigung  betrad)ten.    <3d)  ftimme 

unb   werbe   für   bie  beutfc^e  ^^lotte,  nid)t  meit   id)  ©firift  bin, 

fonbern  roeil  jd^  Staatsbürger  bin   unb   meil  id^  barauf  Der» 

jid)ten  gelernt  ^be,  grunblegenbe  Staats  fragen  in  ber   33erg* 

prebigt  entf(^ieben  ju  fe^en"  (53r.  50,   oergl.    aud)   43/44.  45 

46.  49). 

3)aS  Sd^timme  babei  ift  nun,  bag  bann  unfere  ^Religion  mol)l 

nod|  Sd^mudE  beS  SebenS,  mot)l  anä)  nod)  eine    oerebetnbe  5?raft 

für  einjelne  Seelen  unb  fleine  Sreife  fein  tann,   aber  nid)t  mel)r 

bie  eine  ftarfe  SBal)rI)eit,  auf  ber   mir   unfer  ganjeS  Seben  auf«' 

bauen  !önnen,  in  ber  baS  eine  ganje  Qkl   unfereS   SJBefenS  unb 

SBirtenS  gegeben  ift.    3)aS  l^at  bie   perljängniSoolle  Äonfequena, 

ba|  mir  ©ott  auc^  nur  noc^  für  beftimmte   ©ebiete  SBertrauen 

fc^enfen  tonnen.    S)er  Sßater  3>efu  ©f/rifti  miß  unS  in  beftimmter 

3lrt  ooHenben,  baS  glauben  mir  unb  barin  fönnen  mir  if)m  Dev=» 

32* 


468  3furf|8:  ®^rtftentum  unb  ^atnpf  uni§  ^afcin. 

trauen.     933ir  aber  brausen  für  unfer  Seben  noc^  anberc  SBerte, 
Sonnen  wir  i^m  bafür  aucf)  pertrauen?  9taumann  fagt: 

„3m  SQSort  Äampf  um§  S)afcin  liegt  eine  S33eltan[c^auung. 
SDer  Äampf  wirb  al§  ^rinjip  beS  5öttfd)ritte§  gefaxt  unb  jroar 
ber  ganje  brutale  egoifttfc^e  Äampf.  UeberaD  fie^t  ba§  Sluge, 
ha^  einmal  be§  Sampfe§  gcmol^nt  morben  ift,  feine  ©puren  , . . 
3Wan  fagt,  ba&  fein  ©pcriing  obne  @otte§  aSiUen  oom  3)ac^e 
fäKt,  nein,  nid^t  irgenb  jemanb,  fonbern  ^efuS  fagt  c§.  S)er» 
fetbe  Qe\vL§  fagt,  baj5  biefe  Sinber  met|r  mert  fmb  atö  oiete 
Sperlinge.  ®r  fagt,  ha^  fie  in  (Sottet  bcfonberer  Obt?ut  fteljen. 
Sföie  pa^t  ba§  jum  Kampfe  um§  S)afein,  ber  bie  ^ätfte  oon 
i^nen  t)orjeitig  üerfc^lingen  mirb?    ©oll  man  al§  ©l^rift  bie 

(Srlebniffe  ignorieren,  oon  bcnen  bie  ©tatifti!  rcbet? 

ajlein  5^'eunb,  ©ie  füt)len  mit  mir,  ba^  mir  Kein  unb  arm  oor 

bem  Problem  ber  Probleme  fte^en:   mir  ^aben   eine  SBelter« 

fenntni§,  bie  un§  einen  ©ott  ber  SJla^t  unb  ©tdrfe  leiert,  ber 

2:0b  unb  Seben  mie  ©rf)atten  unb  Sid)t  gleid^jeitig  Derfenbct, 

unb  eine  Offenbarung  unb  einen  ^eiteglauben,  ber  von  htm-- 

felben  ©ott  fagt,  bajs  er  aSater  fei.    3)ie  9lac^folge  bc§  SBelt* 

gotte§  ergibt  bie  ©ittlid)feit  be§  Kampfe^  um§  S)afein  unb  ber 

2)ienft  be§  9Sater§  Q^fu  S^rifti  ergibt  bie  ©ittlic^teit  ber  93arm* 

lierjigfeit.  ®§  fmb  aber  nid)t  jroei  Oötter,  fonbern  einer.  3^9^"^* 

mie  greifen  il|re  2lrme  ineinanber.    9lur  tann  tein  Sterblicher 

fagen,  mo  unb  mie  ba§  gefd)ie]^t.     3)er  einzelne  3Jlenfd)  tft  be» 

ftänbig  jmifdjen  beibe  geftellt  unb  jmif^en  beiben  fuc^t  er  fi^ 

mülifam  unb  um  Klarl^eit  ringenb  feinen  9Beg"  (53r.  44). 

Sltfo  jene§  eint)eitlid)e  ftarte  @ef ü^l :  l^ier  f)abt  id)  ertannt, 

xoa^  ©Ott  mit  mir  unb  ber  SBett  mill,  t)ier  merbe  ic^  i^n  auf 

meiner  Seite  l^aben,  auf  biefem  2Beg  merbe  i^  fiegen,  fei  e§  aud) 

im  Untergel^en  wie  ber  ©etreujigte,  —  biefen  ©lauben  gibt  e§  nic^t 

melir.     Sßon  gall  ju  g^H  muffen  mir  raten,  ob  mir  t)ier  ben  ®ott 

auf  unferer  ©eite  ^aben,  ber  un§  in  unferem  innerlirf)en  SBcfen 

reiner  unb  beffer  mad)en   miß,    ober  ob  f)ier  ber  ftärter  ift,  ber 

un§  in  h^n  ®ienft  äu§erlid)er  Joftoren  jmingt,  unb  mir  un§  bem 

ju  beugen  ^aben.    5)a§  Problem  ift  ein  alte§.    5Uur  nannte  man 

früher  ben  ©ott  biefer  SBelt  ben  S:eufel.    Slaumann  !ann  i^n  fo 


5ud^§:  ®^riftentum  unb  ^ampf  um§  S)afein.  469 

ni^t  me^r  nennen,  mtil  er  im  Slingen  biefcv  Gräfte  ju  ml  @ute§ 
ftc^t.    Oerabe  bie§  wirb  fpäter  noc^  ju  betonen  fein. 

Älar  ift  vooi)l  nac^  biefen  2lu§füf)rungen  roie  ernft  bie  S^rage 
ifl,  üor  bie  un§  9tanmann  gefteUt  t|at.  SDRag  er  perfönüd)  babei 
S^rift  bleiben  tonnen.  SBiele  —  id)  jät)le  mi(^  ju  i^nen  —  tonnen 
ni^t  einem  (Sott  bienen,  ber  l^ie  nnb  ba  einige  eble  SRegungen 
in  nn§  f)eroorruft,  aber  auf  ben  xüxx  tein  einl)eitfic^e§  reineS 
Seelenleben  bauen  tonnen  unb  ber  für  ba§  befte,  roa§  wir  im 
Seben  ju  leiften  ^aben,  nic^t  bie  tragenbe  Kraft  ift  (oergl.  §err= 
mann:  ®ie  fittl.  SBeifungen  <3efu  ©.  8  f.).  2)abei  ift  fo  unenb« 
lid)  oie(  SCBa^rlieit  in  biefen  2lu§fprü^en  gegen  bie  d^riftlid^e  (St^it. 
(S^  ift  |tc^cr  einer  ber  Orünbe  für  bie  ©nttirc^Iic^ung  gerabe  ernft 
bentenber  ajlenfdjen,  ba§  fie  bei  bem  einen  Pfarrer,  ber  ben  93e* 
bürfniffen  be§  fieben§  entgegentommt,  ba§  ©efü^I  ^aben:  er 
fc^mäc^t  bie  ^örberungen  be§  S^riftentum^  au§  n)eltli(^en  9iüdt== 
fiepten  ab;  bei  bem  anbern,  ftrengen,  unter  ber  Sanjel  fi^en  mit 
bem  ®efüt)l:  menn  idj  bamit  ernft  madie,  bin  id^  ruiniert,  nid)t 
nur  mit  bem,  n)a§  fc^led)t  an  mir  unb  meinem  ©efc^dft  ift,  fon* 
bern  auc^  mit  bem,  roa§  icf)  pflid^tgemä^  ju  oerteibigen  unb  ju 
ermatten  l^abe.  SBieoiet  ©elbftlofigteit,  Siebe  mirb  geprebigt  unb 
bie  ©emeinbe  roei^  ganj  genau,  ba^  ber  Pfarrer  felbft  nic^t  an 
bie  SWöglic^feit  bentt,  ba§  ju  oerroirtlic^en.  SCBie  oiele  5ßfarrer 
prebigen  2öo^ltun  unb  93armt|erjigteit  unb  lauten  fic^  motjlrocig* 
li^,  i^ren  ©emeinbegliebern  bie  entfprei^enben  ®elegenl)eiten  ju 
fd)affen  unb  prattifdjen  SQBinte  ju  geben,  o^ne  bie  fie  an  ©ruft 
niad^en  gar  nic^t  benfen  tonnen.  Qn  biefen,  bie  mit  bem  ©efü^t 
abfoluter  ^ilf(ofigteit  bafi^en,  nebme  man  noc^  ben  ©ojialbemo* 
traten,  bem  man  ben  d)riftUd^en  ©et)orfam  prebigt,  unb  man  ^at 
fi^on  eine  l^übfc^e  9ieil)e  praftifc^er  Qüuftrationen,  bie  un§  baut* 
bar  ftimmen  gegen  ben  SUlann,  ber  biefe  %xaQz  rüdtfic^t§lo§  auf* 
gerollt  ^at.  9Sor  allem  auc^  für  ben  Äonfirmanbenunterrid^t  ift 
e§  mic^tig,  Slarl)eit  gu  fdiaffcn  über  bie  'SxaQZ,  ob  mir  bie  Äinber 
]^inau§fd)i(fen  bürfen  in§  Seben  mit  bem  ©ebantcn :  ©eib  ©l)riften, 
bann  feib  il^r  ein  ©egen  für  euc^  felbft  unb  anbere,  ober  ob  mir 
i^nen  bamit  allein  etroa^  geben,  mag  it)nen  fel^r  rafd^  al§  %ox\)e'\t 
unb  Unmöglic^teit  erfd^eint,  fo  ba^  if)nen  bie   d)riftlid^e  ^Religion 


470  ^U(!^§:  Gi^rifientuin  unb  ^ampf  umi  ^afettt. 

balb  tote  eine  gro^e  2ücfi  porfommt. 

(Si)e  ic^  jeboc^  jur  ^u^fü^rung  übergeben  fann,  mug  i^  einem 
Irrtum  begegnen.  @§  fann  fic^  im  folgenben  nid^t  im  geringften 
borum  ^onbeln,  ob  man  mit  ben  einjelncn  gorberungen  ^t^M  ober 
anä)  mit  i^nen  a(§  einer  ©efamt^eit  @mft  mad)en  fann  ober  nic^t. 
2)iefer  Stanbpuntt  ift  tatfäc^Iic^  auf  eoangeIifd)em  ^oben  aufge« 
geben  unb  fe^t  eine  2luffaffung  oom  SGBefen  ber  ©ittlid)teit  oor- 
au§,  bie  mir  at§  eoangelifc^e  €^riften  nie  jugeben  fönnen.  SBKa^re 
©ittlic^teit  ift  für  un§  eine  au§  einer  beftimmten  ©efinnung  fiie* 
§enbe  2lrt  be§  Seben§.  3)iefe  allein  tann  unb  tonnte  un§  (£^riftu§ 
bringen.  ®urc^  feine  ©efmnung,  fein  ©emiffen,  bie  mir  au§ 
feinen  SBorten  unb  Säten  leuchten  fe^en,  fc^afft  er  un§  eine  ®e* 
finnung  unb  ein  ©eroiffcn.  2)ann  aber  fül|rt  er  un§  nic^t  am 
©ängelbanb  et^ifc^er  SJorfd^riften  ober  eine§  ct^ifd)en  SgftemS^ 
fonbern  fd)idEt  un§  al§  felbftänbige  Äinber  ®otte§  ^inausJ  in  bie 
aöelt,  bamit  mir  bort  biefe  ©efmnung  betätigen  in  Säten,  3Bor= 
ten  unb  ©ebanten  —  menn  mir  roiffenfc^aftlid)  beuten  auc^  burc^ 
^erftetten  eine§  et^ifd)en  or|ftem§  —  unb  fo  unfere  ©efmnung 
ooUenben  unb  jum  Sf)aratter  merben.  ®äbe  er  un§  ein  Sgflem, 
fo  mären  mir  emig  oou  it|m  getrennt.  SBaS  an  i^m  ba§  größte 
ift,  bie  große  freie,  ftarte  ^ßerfönlic^tcit  mürbe  er  un^  unmöglich 
madjen.  S§  ift  be§^alb  nid)t  eine  f^merjlidie  ®rtenntni3,  fonbern 
ein  ©Iflct  für  un§,  baß  Qt]\x§  al§  fold)e  9lutorität  un§  genommen 
ift.  (®tma§  anber§ :  ^errmann,  bie  fittl.  SBeifungen  Q^fu  S.  90  f. 
bod)  f.  auc^  ©.  36.  49.  60.)  So  fteüe  ic^  mid)  alfo  für  bo^ 
folgenbe  auf  ben  ©tanbpuntt,  ben  ^errmann  in  feinem  SBortrag 
auf  bem  eoangelifc^  fojialen  ilongre^  eingenommen  ijat  9Wan 
oergIeid)e  oor  allem: 

„3)ie  geiftige  3)lad)t  ^efu  f)at  längft  in  ber  ©tille  bei  ein» 
jelnen  ©Triften  ha^  befc^afft,  ma§  mir  an  bem  tirc^lirf)en  3Bovte 
Sutl^er§  oermi^ten,  ba§  ftttlid)e  SBerftänbniö,  morin  mir  Qt)\i^ 
bod)  al§  unfern  gül)rcr  evtennen,  unb  bie  leud)tenbe  Söa^r^eit 
ber  SBorte,  bie  al§  ®d)abtonen  oermenbet,  ben  3Kenfdjen  oon 
ber  833at|r^eit  unb  bes^alb  aud)  oon  ®^riftu§  f^eiben.  2ln 
einem  einjelnen  SBorte  Qefu  tann  ftd)  biefe§  95erftänbni5  eiit» 
jünben.    Unb  bod^  tann  un§   meber  ein  einjelne§  ©ort  Qt\u 


^ud)S:  Sl^riftetitum  unb  ^ampf  um§  ^afein.  471 

noc^  aÜc  jufammcn  eine  fold)c  @rf cnntnig  barbictcn.    SQSir  fön- 

neu  fic  nur  gciüinnen,  wenn  toir  i^n  fclbft  fuc^en.    ®amit  ift 

nid)t§  p]^Qntaftif(^c§   gemeint  fonbern  ba§  einfache  93emül^en, 

bic  ©efmnung  ju  erfaffcn,  au§  ber  biefc  rounberbaren,  fc^redt* 

liefen  unb  freunblid)en  SDBorte  gequollen  ftnb"  (93ert|.  be§  14. 

eo.   foj.   Jlongreffeg  1903.  S.  20.    ajlan  oergl.   aud)  @.  22. 

25/26.   ®ie  fitttid)en  aaSeifungen  ^efu  ©.  35  f.,   anä)  ©.  HI. 

25.  45.  49). 

3^   betone  btefe  ©ebanfen  fo  fd)arf,  weit  felbft  narf)  ben 

Haren  2lu§ffil)rungen  ^errmannö  in  ber  folgenben  Debatte  immer 

roieber  ba§  anflingt,  al§  l^anble  e§  fid^  um  ba§  aSerroirttidien  be* 

ftimmter  Sinjelforberungen,   ober   eine§  beftimmten  junädjft   ab^ 

[traft  Dor^anbenen  etf)ifd^en  ©gftemS.     2lud)  9iaumann  t|at  t)iele 

©teflen,  roo  ba§  antlingt.    ©eine  erften  ©c^riften  in  biefer  ©ad)e 

(teilen  nocf)  üöttig  auf  bicfem  ©tanbpunft. 

„©ie  (bie  ^olitif)   I|at  feine   aJlögli^teit,   eine  über   aKem 

Kampfe  ftef)enbe  ibeale  ett)it  ju  oermirtUdien"  (3).  u.  S^.  34). 

SBenn  bamit  bie  c^riftlic^e  ®tt)if  gemeint  ift,  fo  ift  ju  fagen, 

bag  biefe  feine  „ibeale  @t^if",  fonbern  eine  fe^r  reale  ©eftnnung 

ift  unb  fein  mu§. 

3)oc^  mie  gefagt,  eine  9lu§cinanberfeftung  mit  benen,  bie  ba§ 
G^riftentum  fo  auffaffen,  fott  ba§  folgenbe  ni^t  fein,  ^üv  bie, 
bie  bie  ®rfa^rung  gemacht  liaben,  ba|  unter  Qefu  ©inftu^  eine 
beftimmte  Ocfinnung  in  i^nen  ermad)t  ift,  roiH  e§  bie  5^age  be* 
antworten,  ob  biefe  ©efinnung  aKeinlierrfd^enb  fein  fann  unb 
barf  ober  nid)t. 

Sine  2{u§einanberfe^ung  mit  bem  anbern  ©tanbpunft  ift  um 
fo  weniger  notroenbig,  al§  JJaumann  in  ben  93riefen  über  dizlu 
gion  feinen  3(ngriff  Har  unb  bewußt  auf  biefen  ^erjpunft  ber 
©ac^e  gerid)tet  i)at 

„SD3ir  fmb  nic^t  nur  au^er  ©tanbe,  wie  fd)on  au§gefüt)rt, 
ben  genauen  Söortlaut  ber  93ergprebigt  in  bie  heutige  3^it  i^ 
oerfe^en,  nein,  wir  bringen  e§  nid)t  einniat  fertig,  ben  ®eift 
Q[efu  al§  ma^gebenbeS  ^rinjip  unferer  ©rwerbstätigfeiten  ju 
betrachten"  (93r.  38). 
2Bie  fel)r  bamit  wirflid)  bie   ^erfon  ^efu,  „er  felbft",  im 


472  $uc^§:  ^^Ttftentum  unb  ^ampf  um§  9)afein. 

©innc  ^errman§  gemeint  ift,  loirb  Hat,  loenn  man  f olgenbe  ©teüen 
oergleic^t: 

„Sie  erlebten  bie  unenbli^  tiefe  ^^erfSnli^teit  3fc[u  unb  bc* 

famen    an  i^r  @otte§a^nungen ic^  ^abe  gefagt,  bo^ 

e§  bie  neuere  9laturerFenntni§  nid^t  fernerer  mac^t  al§  bie  alte, 
gottgläubig  ju  fein.  Db  mir  e§  aber  ftnb,  ^ängt  nic^t  uon 
ben  9taturforfd)em  ab,  fonbem  Don  unferem  93er^ältni§  }U 
ben  fc^öpferifc^en  ©eelen,  bie  ®ott  füllte.  ®a§  unter  biefen 
©eelen  3efu§  ®bri[tu§  obenan  fte^t,  bebarf  für  unferen  euro- 
päifc^en  Äulturfrei§  feiner  meiteren  SSorte"  (Q3r.  22). 

„@§   fe^lt  bie   geiftige  ©egenmart   ber  3^"traIperfon  be§ 
abenblanbe§",  ^ei^t  e§  t)om  Orient  (93r.  23). 

„fjromm  fein  ^ei|t:  einen  ©eelenjuftanb  geroinnen,  mie  er 

in  Qt\u§  in  überroältigenber  fS&näjt  oor^anben  ift"    (93r.  29. 

ajtan  uergl.  auc^  9.  11/12.  24.  30). 

Sabei  mirb  oollftänbig  berüdtfid^tigt,  ba^  biefelbe  @efinnung 

l^eute  unter  ben  oeränberten  SSer^ältniffen  in  oöttig  peranberten 

äußeren  g^^^tt^^^  eyiftieren  Eönnte: 

„3)a§  ma^  ^efu§  bietet,  ift  bie  Äinbfc^aft  @otte§  in  ©aliläa 

^d)  lege  ©eroic^t  barauf  ju  fagen :  bie  Äinbfc^aft  ©ottcl 

in  ©aliläa.  ®ine  ^inbfc^aft  @otte§  in  5ßari§  ober  Sonbon  ober 

33crlin  ift  nid|t  genau  baSfelbe.    Qxoax  bleibt  bie  Äinbfc^aft 

®ottc§  in  i^rem  innerlic^ften  SBefen  bie  gleici^e,  aber  fie  äußert 

fid^  in  oerf^iebener  Umgebung  üerfd^icben"  (93r.  33,  oergl.  34). 

Unb  Don   biefer  nad^  ben  Umftänben  in  i^rer  SÄeu^erung 

fic^  änbernbcn  ©efinnung  gilt  e§  für  9^aumann,  ba|  fte  für  unfere 

3eit  nid^t  mel^r  genügt,  ba^  eine  anbere  roeltlic^e  ©t^if,  anbere 

geiftige  2:riebfräfte  neben  fte  treten  muffen. 

^xt  allen  biefen  Sluöfül^rungen  fc^eint  mir  Slaumann  ftavf 
beeinflußt  ju  fein  oon  $aulfen,  ber  in  feiner  @t^if  (1889)  unb 
in  Slrtifeln  in  ber  c^riftlirfien  SBelt  (1899.  ©.  385.  415.  726) 
einen  ä^nlicfien  ©tanbpunft  oertritt. 

SQ3ie  9taumann  fd^ä^t  ^aulfen  bie  Sebeutung  beS  ©Triften« 
tum§  unb  feiner  ©t^if  für  bie  aWenft^l^eit  ungeheuer  ^o^.  S^ 
l^at  ba§  ©mpfinben  ber  aSölfer  in  ber  9Sergangent)eit  gerabe  in 
besug  auf  Ärieg  unb  ^olitif  oerebelt  (©I)riftl.  SDSelt  1899.  417); 


3^ud^§:  ©l^tiftcntum  unb  ^ampf  um§  S)afein.  473 

c§  l^ält  i^nen  ba§  l^ö^ftc  3'^^^  ^ör,  bcm  fie  jujuftreben  tiaben 
(ebenba  416).  SSeinal^c  noc^  cnergifd^er  betont  er  bieg  in  feiner 
6t^if:  „3)a§  ©tiriftentum  ift  eine  SBirtlic^teit  in  bem  gefc^id|t* 
lidjen  Scbcn  ber  europäifc^en  Sßölfcr  geworben,  bie  überl^aupt  nic^t 
unroirflic^  unb  unn)ir!fam  werben  tann;  erft  mit  biefen  93oIfern 
felbft  fönnte  e§  angfterben.  SBSiße  unb  ®emüt  biefer  SBölfer  fmb 
unter  feiner  (Sinwirtung  geworben,  roa^  fie  finb,  unb  barum 
tonnen  feine  3öge  in  i^rem  ©epräge  nic^t  au§gelöfd)t  werben" 
{®ti)xt  123,  oergt.  oud)  22  f.).  ©nergifc^  fü^rt  er  bann  au§, 
ba§  ba§  (S^riftentum  au6)  un§  nod)  notwenbig  bleibt  al§  (Srl^e* 
bung  über  ba§  Seib  be§  ®nblid)en,  ®cwiffen§fd^ärfung  unb  (£r* 
I)ebung  über  ©ünbc  unb  ©d)ulb,  al§  Äraft  fid^  felbft  jum  Dpfer 
ju  bringen  (@tl|it  124  ff.).  ®§  ift  ber  ftarte,  unbeugfame  (Staube 
an  ein  Qkl,  bie  SßoKcnbung  im  <3enfeit§  über  allem  Seib,  allem 
Kleinen,  allem  ©d}le(^ten  i)kx,  an  bie  SWac^t,  bie  alle§  jum  ©ieg 
be§  Outen  lenft,  btn  bie  9JJenfci^t|eit,  ben  oor  allem  bie  Sblen  in 
it)r,  nie  entbehren  fönnen  al§  Qxd,  2lntrieb  unb  erjiet)cnbe  9Jlad)t 
(@tt)it  338  f.). 

®§  ift  wo^l  gerabe  ba§  S3ebürfni§,  biefe  über  bie  SBelt  er^^ 
tiebenbe  unb  erjie^enbe  Kraft  d)rifttid)er  ®tt|if  ju  ertialten,  ba§ 
^aulfen  treibt,  i^re  Ueberweltlic^teit  unb^^ß^^f^iiiflfcit^fo  ftarf  ju 
betonen.  Sitten  SBerfud^en,  ;3efu§  ju  einem  9Dlenfd)en  ju  mai^en, 
ber  auc^  SQBerte  be§  ®ie§feit§  fannte  unb  erftrebte,  ftellt  er  ^art 
unb  unnad)giebig  bas:  „2Jiein  Steic^  ift  nid)t  oon  biefer  SBelt" 
gegenüber :  „<3efu§  unterfagt  nid)t  nur  ben  ©ebraurf)  ber  ©ewalt, 
fonbern  aud)  ben  Kampf  um§  Siecht  oor  @ericf)t.  Unb  er  mad)t 
feinen  93orbel)alt:  93ift  bu  aber  Kaifer  ober  Kurfürft  ober  beffen 
3)iener,  fo  barfft  bu  mit  bem  Schwerte  bein  SWeic^  oerteibigen. 
©onbern  er  fagt:  „3Jlein  Steid^  ift  nid^t  oon  biefer  Söelt,  barum 
fämpfen  meine  Wiener  nidE|t  für  mid)  mit  bem  ©ct)werte"  (©^riftl. 
583.  1899.  722). 

©0  mu^  bie  ®tl|if  ber  Qnnerlic^feit  urteilen,  bie  nur  ein 
®ut  fennt,  ben  neuen  9Wenfdt)en,  ber  feine  ^eimat  unb  aSoöen- 
bung  im  9tei^  ®otte§  l)at  (ett)if  @.  50  ff.).  §ier  gibt  e«  leine 
Kompromiffe.  ^ier  aber  fe^t  nun  bie  Sd)wierigteit  ein,  oor  ber 
wir  l^eute  ftef)en. 


474  JJuc^S:  ®f)rtftcntum  unb  ^ampf  um§  5)afcin. 

3Äit  biefem  djriftli^cn  ^htal  ift  c§  nid^t  möglid^,  bie  SfiJcIt 
}u  gcftaltcn  unb  ®ic§feit§n)erte  ju  cnoerbcn  unb  ju  fc^ü^cn :  „Cb 
eine  diriftlic^e  SBcIt  in  biefem  ©inne  mögli^  ift?  Ob  ein  d^rift- 
lii^er  ©taat  möglid^  ift?  9efu§  bel^auptet  e§  md)t;  er  fagt  oieU 
metir:  SÄein  Sieid^  ift  nic^t  von  biefer  SBelt.  „S^riftuSreid)" 
unb  „aSelt"  finb  ©egenfä^e"  (©^riftl.  SBelt  122).  Unb  im  3ln* 
fct)Iu^  an  bic  ^^i^berung  ^efu  allen  Sefi^  ben  3trmen  ju  geben 
(reicher  ^tüngling)  I)ei§t  e§:  „Söian  fagt  bie  Erfüllung  biefe§  ®c= 
bote§  mürbe  unfer  ganje§  Kulturleben  jerftören.  S§  ift  fe^r  ma^r» 
fc^einlid^/  ba^  ba§  ber  %a\l  fein  mürbe.  2lber  xoa^  bemeift  bQ§ 
ijier?  Sföo  ftet)t,  ba§  e§  erhalten  merben  muffe"  {(&ti)it  62)? 

9lur  mir  heutigen  fönnen  biefe  Äonfequenj  ber  ^riftKd)en 
®tt|if  nid)t  mel^r  eiufad)  l|innef)men,  meil  mir  2)ie§feit§merte  miebcr 
f^ä^cn,  al§  moberne  3Jlenfc^en  fc^ä^en  muffen.  @§  ift  ba§  gric* 
(i)ifdt|e  Obeal  —  nac^  ^aulfen  —  ber  SCBeltmertung,  ba»  miebcr 
aufgelebt  ift,  unb  un§  be^errfc^t,  mä^renb  mir  jugleic^  bie  er* 
^ebenbe  unb  erjie^enbe  3Jla^t  be§  (]^rifttidf)en  nic^t  entbehren  tön* 
nen  (Sttlif  21  ff.). 

®ie  Söfung,  bie  ?ßaulfen  finbet  ift  bie,  ba§  er  jebe  St^if 
fefttjült.  3)ie  d^riftlid)e,  bie  un§  immer  mieber  ^inauf^ebt  über 
ba§  treiben  be§  3)ie§feit§  ju  ben  innerlichen,  emigen  ^Berten,  bie 
biegfeitige,  bie  unfere  irbifdf)en  ^medfe  fielet,  oerftel^t  unb,  mit  ber 
mir  für  biefe  arbeiten.  „S^eleologif^e  ober  utilitariftifc^e"  ?^e= 
tracf)tung§meife  nennt  ^aulfen  bie,  auf  ber  biefe  jmeitc  2lrt  ber 
et^if  ftc^  aufbaut  (ßti)'\t  174/75).  @ie  ift  in  bie  SBiffenfc^aft 
mieber  eingefütirt  oon  %i).  ^obbe§  ober  oielmel^r  Öacon  (Stbif 
136  f.).  ®oc^  ift  eö  falfdf),  menn  man  annimmt,  ber  Qmtä,  ben 
biefe  ©tl^if  al§  ben  tiödiften  fe^t,  muffe  ^eboniftifd)en  K^aratter 
baben.  ®§  ift  Satfac^e,  ha^  für  ben  SJienfc^en  ber  SQSert  bc^ 
2eben§  burc^au^  nic^t  in  bem  ^Reinertrag  ber  Suftgefü^le  fielet, 
fonbcrn  „in  ber  normalen  ober  gefunben  2lu§übung  aüer  Scben^= 
funitionen  felbft,  morauf  bie  9latur  biefe§  3Befen§  angelegt  ift''. 
„<3ebe§  lebenbe  SBefen  miß  fein  2zbtn  leben  b.  1^.  aüe  Sebens« 
betätigungen  üben,  ju  benen  bie  Slnlagen  unb  Kräfte  feiner  9latur, 
mic  fie  burd)  bie  ©attung  beftimmt  ift ,  •  oortianben  fmb.  .  .  . 
Saffelbe  gilt  oon  bem  aJienfd)en:   fein  SBilte  ift  überall  barauf 


tJurf)§:  (5f)riftcntum  unb  ^ampf  um§  ® afein.  475 

gcrid^tct,  alle  bicjenigen  gunftionen  ju  üben,  ju  bencn  bic  ^ö^ifl' 
feiten  in  feiner  ?latur  liegen:  er  roiH  fpielen  unb  arbeiten,  er* 
werben  unb  genießen,  bilben  unb  fd^offen,  lieben  unb  liaffen,  ge^ 
^or^en  unb  fierrf^en,  träumen  unb  bieten,  forfd)en  unb  beuten ; 
unb  alle§  bic§  in  ber  JReil^enfolgc  ber  ®ntn)idElung§ftufen,  roie  fie 

ha§  Sebcn  bietet 9llfo  2lu§bilbung  aller  natürtid)en  Stnlagen 

JU  Kräften  unb  gö^ifl^^i^^^/  8"  Süd^tigfeiten  unb  2^ugenben, 
}u  93etätigung  alter  in  einem  oollen  5Ulenfc^enleben,  ba§  ift  ba§ 
obfolute  3iel,  morauf  ber  SBitle  eine^  SJlenfd^en  gerietet  ift" 
(et^if  210  f.). 

9iun  l^aben  fid^  aber  innerl^atb  ber  9Kenfd)t|eit  biefe  5äl)ig- 
teiten  unb  ©ebürfniffe  immer  reii^er  entmidtelt.  2ll§  bie  l|öd)ften, 
bic  er  au§bilben  fann,  [inb  fditie^lict)  bie  be§  fojialen  unb  intellef* 
tuellen  SebenS  l)erau§getreten,  fie  merben  at§  bie  l^öd^ften  empfunben. 
„2öir  mürben  alfo  Ijiernac^  fagen:  ein  aJlenfdt)enleben  l^at  um  fo 
^öl^ercn  S33ert,  je  mel)r  in  il^m  bie  fpejipfd^en  unb  l^öd^ften  guuf* 
tionen  entroidCelt  finb,  unb  je  mel^r  biefe  bie  nieberen  ju  i^rem 
3)ienft  erjogen  t)abeu"  (®t^if  215). 

3ift  aber  einmal  ®efüf)l  unb  a3erftänbni§  für  ba§  fojiale 
Seben  au^gebilbet,  fo  orbnen  fid^  bie  Seben§merte  mieber  in  per- 
fc^iebener  ^öt)enlage.  ®er  l^at  bie  meiften,  ber  ber  größeren 
©emeinfdjaft  bient.  ®er  bem  33olfe  bient,  l^at  me^r  al§  ber,  ber 
nur  ber  gamilie  bient.  3BBer  ber  ganjen  3JIenfd^^eit  etn)a§  leiftet, 
mel)r  at§  bie  beiben  anbem.  3Bir  f)aben  l)ier  einen  na^eju  ab« 
foluten  SJla^ftab:  „S)ic  poUfommene  (Entfaltung  ber  menf^lidf)cn 
91atur  in  bem  unenblic^cn  Steic^tum  eigentümlidjer  unb  fd)öner 
©eftaltungen,  mel(^e  fie  julä^t,  ba§  ift  ber  le^te  ?5unft,  roeld)en 
mir,  in  empirifd)er  ^^etrad)tung  ber  ^rage  nad^  bem  l|öd)ftcn 
@ut  nac^get)enb,   ju  erreichen  oermögen"  (@tl)i!  216). 

3Iber:  „@in  le^ter  unb  äu^erfter  ©d)ritt  bliebe  oon  l)ier  au§ 
nod^  übrig:  ba§  ajlenfdl)t|eit§leben  al§  ©lieb  eineg  @efamtlebeu§ 
be§  Uniocrfum§  anjufe^en.  SQ3ir  uerlaffen  bamit  gänjlic^  ben 
©oben  realifierbarer  SJorftellungen  unb  befinben  un§  ganj  im  ©e^« 
rcic^  be§  2:ranf}enbenten;  f)ier  I)ört  alle  fonfrete  93efd^reibung  auf; 
e^  gibt  nur  noct)  fpmbolifd^e  Slu^brüdEe  für  ba§  Unau§benflid)e 
unb  Unau§fprerf)lid|e :  mir  nennen  ba§  2ltlmirflic^e,  fofern  mir  e§ 


476  3^  u  d^  3 :  ©^riftentum  unb  Äampf  umS  SJafcin. 

al§  ba§  l^öc^fte  @ut  betrad^tcn,   @ott,  unb  feine  3)arfteIIung  in 
ber  unermeßlichen  SBirttiditeit  ®ottc§  SRcic^"  (©t^if  217). 

3)iefe  SJonftatievung  eine§  uniocrfalen  ®ottc§reici^e§  auc^  oon 
ber  teleologifc^en  @t^it  au§,  ^ebt  ben  ®uali§mu§  ber  ®t^if  tei:^ 
ne^roegS  auf.  ®r  oerfdjärft  il)n  oielme^r.  ®a§  :3beal  bicfe§ 
SReic^eS  ®otte§  ift  bie  ooUe  Sntfaltung  aüer  im  SBeltatt  Dor^an= 
bcnen  eigenartigen  Äräfte,  oielme^r  —  biefe  ®ntfaltung  ift  ja 
ba  —  bie  @rt|ebung  be§  SUlenf^en  ju  ber  gä^igteit,  fie  aCe  ju 
üerftetien,  ju  betrauten,  baran  doH  unb  überall  gcnießenb  teil» 
netimen  ju  fönnen. 

SSJir  merben  biefe  jroeite  SReif)e  in  ber  St^if  ^aulfen§  nid)t 
ablehnen  tonnen.  ®r  l^at  üoUftänbig  red)t  mit  ber  ©el^auptung^ 
ba§  mv  moberne  2)lenfc^en  an  fie  gebunben  fmb.  ©te^t  fie  je* 
bod)  im  ©egenfa^  jur  d^riftlic^en  St^it,  fo  ift  biefe  al§  roirflic^ 
religiöfe  Stl^if,  al§  auf  ®otte§glauben  bafiert,  nid|t  feft  ju  galten, 
benn  ®otte§  SBille  muß  alle§  in  allem  fein,  ba§  einjige  malere 
®ut  für  un§,  ober  er  ift  ni(^t§.  Umgefetirt  fann  ber  ajlenfc^ 
audf)  nic^t  boppelte  ct^ifd)e  ^rinjipien  in  fiel)  ertragen.  Ober  foll 
e§  möglich  fein,  ba|  ber  9Kenfc^  auf  ber  einen  ©eitc  fid)  vom 
®t)riftentum  über  biefe  833elt  mit  il^ren  ®ütem  jum  jenfeitigen 
3iel  ert)eben  unb  mahnen  läßt  unb  anbrerfeit^  mit  ber  oollen 
Suft  unb  Kraft,  ber  ooDen  3)ie§feit^freubc,  bie  ba§  anbere  Qbeal 
üorauSfe^t,  bem  jmeiten  etl)ifd)en  QkU  juftrebt?  Sntmeber  er 
üergißt  ba§  ^enfeit§,  ober  er  ^at  ein  böfe§  ®eimffen  im  3)ie§fcit5. 
93eibe§  finben  mir  beim  mobernen  3Kenfd)en  fel)r  oft  jufammcn 
in  einer  ©eele. 

®en  2Beg  jur  Söfung  ber  ©djmierigteit  batinen  mir  uns, 
menn  mir  bie  intialtlic^en  2lngaben,  bie  ^aulfen  über  ba§  SDBefen 
ber  d^riftlidien  ®tt)it  mad)t,  etma§  nä^er  prüfen.  SWan  f|at  oieb 
leicht  fc^on  bei  Seftüre  ber  obigen  2)arftellung  ber  3)ie§fcit§et^if 
^aulfen§  ba§  ®efül|l,  baß  biefe  nic^t  überall  mit  ber  c^riftlic^en 
im  aSiberfpruc^  ftet)t.  ©et)r  energifd)  aber  wirb  ber  Sffiiberfpruc^ 
eoangelif(^er  ®^riften  ermacf)en,  menn  ^aulfen  ba§  SBefen  ber 
d)riftlic^en  ®t^it  gerabe  au§  ben  3lu5fprüd^en  herleiten  roiü,  in  benen 
3efu§  unb  ba§  Urc^riftentum  fid)  able^nenb  ju  ben  SSSerten  ber 
bamatigen  SEBelt  fteüten.    ®ine  ®emeinfc^aft,  bie  ftd^  bemußt  ift. 


3^  u  d^  § :  ©l^riftcntum  unb  ^ampf  utng  S)afcin.  477 

ber  3lnfang  einer  neuen  SBelt  gegenüber  einer  untergel^enben  ju 
fein,  roirb  bicfe  untergel^enbe  notroenbig  Dementen  unb  eine  SSer« 
mifd^ung  mit  xi)x  ablel^ncn.  S)a§  läjgt  jebocf)  nic^t  fofort  bcn 
©d^Iu^  JU,  ba|  biefe  negatiüe  ©tellung  „bie"  @t^i!  biefer  Seute 
ift.  2lu§  berartigen  2Iu§fprüd)en  Qe^u  fpric^t  \\ä)zx  bie  ®ntfd)ie* 
bcnl)eit  mit  ber  er  jebe  §erabjie{)ung  feine§  et^ifd^en  ^beafö  ab'^ 
lehnte,  ob  aber  biefe^  ett)if(^e  ^beal  unter  anbern  Umftänben  fic^ 
burc^  9lblel|nung  allein  auf  feiner  ^öl^e  t)atten  fonn,  ob  e§  nirf)t 
manchmal  gerabe  nur  burc^  2lrbeit  in  ber  SBelt  fic^  bel)aupten 
fann,  ift  bamit  nod)  ni(^t  entfc^ieben  (uergt.  ^errmann,  bie  fittt. 
aSeifungen  Qefu  ©.  27  ff.  29  f.  47  ff.), 

^lUbem  ^aulfen  au§  biefer  Stcltungnal^me  Qefu  allein  beffen 
ct^if^e  9lid)tung  flar  jU  mad^cn  fud)t,  tommt  er  ju  einer  ©leicl)* 
fteHimg  ^^fu  n^it  ©aoonarola  (®tt)if  77  2lum.),  bie  beutlic^  be« 
roeift,  ba§  l)ier  etroa§  nid)t  erfd^öpfenb  bargeftellt  ift.  J)enn  ein 
Unterf^ieb  jn)ifd)en  ©aoonarola  unb  ^efu^,  and)  jroifc^en  gran^^ 
ciScug  unb  il^m  ift  bod)  ba.  @§  wirb  fpäter  noc^  oerfud^t  wer* 
ben,  ba§  gu  bemeifen  unb  ba§  Unterfd)eibenbe  ju  faffen. 

©benfo  ift  e§  eine  Sonfequenj  biefer  Sluffaffung,  ba§  bie 
®ti|if  Qefu,  foroeit  fie  bann  auf  bie  einjelnen  S^ragen  be^  tag* 
lidt)en  Seben§  2lnn)enbung  finbet  b.  i).  al§  praftifc^e^  "iprinjip,  nur 
afe  33arml|erjigteit  gefd)ilbert  roirb,  genau  roie  bei  Jlaumann. 

53armf|erjigfeit  ift  ^efu  ganje  ©efinnung  in  ^efu§  al§  95ot!§* 
mann  unb  91aumann  l^at  ba^  fpäter  aud)  ntd)t  übermunben,  fon* 
bern  ftellt  nur  neben  ^efu  ®tl)if  ber  93arm^erjigfeit  bie  SCBelt^ 
et^if  be§  ^ampfe§  um§  3)afeiu. 

„2ln  bie  ©teile  all  ber  natürlirf)en  2^ugenben  be§  ®ried)en* 
tum§  fe^t  ba§  ©l^riftentum  eine  einjige  neue:  bie  33arml|erjigfeit 
ober  bie  brüberlid)e  Siebe  be§  5Räd)ften",  fagt  ^aulfcn  (ett)if  64). 
„©0  menig  bie  d)riftlid^e  5täd)ftenliebe  il^rc  SJBurjeln  in  bem  Srieb 
l^at,  burc^  liilfreic^e  Betätigung  feine  eigene  Ueberlegenlieit  ju  ge- 
nießen, fo  roenig  ern)ädf)ft  fte  auc^  au^  ben  natürlicf)en  2:rieben 
ber  ©gmpat^ie,  roeldie,  im  @attung§leben  murjelub,  ben  SJJen- 
fc^en  mit  feinem  9läd^ften  oerbinben."  „2Ber  ift  benn  mein  9täct)* 
ftcr?  3)er  natürlid)e  3Jlenfd|  antwortet,  meine  gamilie,  meine 
Äinber,  meine  ®ttem,  mein  SBeib  ....  ^t\\xS  belel^rt  if)n:   nic^t 


478  fJud^S:  (S^riftentum  unb  ^ampf  um3  S^afeiit 

bicfc,  fonbern  bcr  crftc  bcfte,  bcm  bu  bcgcgneft  unb  ber  9lot 
Icibct".  „3)a§  |)öd)ftc  aber  ift:  ben  gcinbcn  felbft  ®utc§  tun; 
um  bc§  ®utcn  roillen  ®öfc§  Icibcn  unb  nic^t  jür= 
n  c  n  ^),  ba§  ift  SSo[[!ommcnf)cit.  ©aoonarola  fa^t  einmal  bic 
©umme  be§  ®^riftentum§  in  bie  SBBorte:  „9Jlein  ©of|n,  gut  fein, 
l^ei^t  @ute§  tun  unb  93öfe§  leiben  unb  bariu  nid)t  mübc  werben 
big  äum  ©nbe"  (@tl)if  65  f.).  Stifo  ©arm^eraigtcit,  bic  Stugenb, 
bie  bie§  arme  roerttofe  ©rbenbafein  ben  anbern  noc^  fo  erträglich 
machen  roiö,  mie  möglich,  bie  fid^  unb  anbere  mit  ni^t§  barin 
beläftigen  unb  behelligen  roiH,  beren  Sonfequenj  ift,  ba^  man  ftc 
avi6)  m6)t  mt\)x  mit  feiner  ^erfon  bet)elligt  unb  in  bie  3Büfte 
gef|t,  nic^t  9tad)fommen  mit  ber  SBelt  beläftigt  unb  e^elo»  bleibt, 
ift  bie  praftifd)e  ©tl^if  Qefu.  ®ö  ift  oieHei^t  etn)a§  Äonfequeni* 
madjerei,  ba§  fo  }u  formulieren.  2t6er  Sarmt)erjigteit  allein  ift 
eben  biefe  negatioe  2;ugenb,  beren  Äorrelat  jener  ®ott  ift,  bcr 
Ijänberingenb  ob  all  bem  Jammer,  ben  ©ünbe  unb  Scufel  auf 
(£rben  angeri(^tet  ^aben,  im  ^immel  fi^t  unb  beffen  ganje  Siebe 
barin  beftet|t,  einjelne  au§  bem  Q^mmer  ju  ftfc^en. 

Ob  ba§  3[efu  @t^if  ift,  ob  in  ^efu  ©t^if  aud)  nur  Hnfa^e 
bagu  ju  finben  finb,  ift  bie  grage.  SÄit  feiner  ^erfon  ^at  Qt^n^ 
bie  SBelt  fe^r  bel)etligt  unb  jroar  nic^t  nur  im  ©inne  ©aoonarotaä 
aU  SBertreter  be§  gegebenen  SQ3illen§  ®otte§,  fonbern  mit  ber 
^orberung  an  bie  SJÄenfc^en,  fic^  unb  \i)x  Seben  nai^  feiner  neuen 
2luffaffung  oon  ®otte§  SBillen  ju  geftalten.  ®arin  liegt  me^r 
at§  93arml)erjigfeit  unb  me^r  al§  SD8eltflud)t. 

®^e  ba§  im  einjelnen  geprüft  werben  tann,  ift  nod^  ein  an* 
bere§  abjulelinen,  ba§  bei  ^aulfen  für  ben  Slufbau  feiner  6t^it 
beinahe  grunblegenb  ift,  bie  ®egenüberftellung  oon  c^riftlic^er  unb 
teleologifc^er  ©t^if  al§  fic^  au^f^lie^enb. 

S)ie  Sr^ebung  über  ba^  Qf^^bifdie  unb  bie  ©d^affung  bc§  neuen 
9Jlenfd)en  ift  bort  auc^  ein  2:elo§.  SBenn  aber  ^aulfen  bamit 
jmci  Slnfc^auung^meifen  c^arafterifteren  miß,  oon  benen  bie  eine 
ein  fic^tbareS,  ober  fid^tbare,  bie§feitige  3^^^^/  ^'«  anbere  jenfeitige, 
unfapare  ^at,  morauf  feine  ®lei(^fteltung  oon  teleologifc^er  unb 


1)  S8on  mir  gefperrt. 


3rud^8:  ©^nftcntum  unb  Slampf  uin§  ®afetn.  479 

utüitariftifd)cr  (£t!)if  beutet,  fo  ift  ju  bemer!en,  ha^  er  bo^  and) 
felbft  fc^IieBttd^  bei  einem  l^öd^ften,  unf  äff  baren  ßirfß  ^i^i>et  (f.  @.  11) 
unb  ba§  umgetetirt  a\i6)  ba^  d)riftli^e  3*^1  faParere,  realere 
Unterjicte  ^at,  felbft  in  ber  S^ffung  üon  ^aulfen,  wie  j.  93.  bie 
93en)al)rung  ber  Q^ungfräulic^feit,  ba§  ©orgen  für  bie  Slrmen  u.  f.  ro. 

®oc^  Dieüeid)t  ift  bie  Unterfd^eibung  nod|  anber§  gemeint. 
Seleologif^  ift  bie  (Sti)\t,  beren  Betätigung  at§  folc^e  unmittelbar 
ber  SBeg  jum  Qkl  ift,  bie  fojufagen  eine  bem  ^anbeln  imma^ 
nente  Jeleologie  befi^t.  9lid)t  teleologif^,  fupranaturaliftifd),  ift 
bie  ®^i!,  bie  nur  irgenbroie  Sßorbebingung  eine§  burc^  eine  l^öl^ere 
9Wa^t  ober  abfolute  Umgeftattung  ber  SQSelt  burc^  äußere  @reig* 
niffe  ju  fc^affenben  t|öd|ften  ®ute§  ift.  Sann  ift  üor  allem  bie 
3ufammenfteHung  oon  utiütariftifc^  unb  teleologifd)  abjuletinen. 
Utilitariftifd)  ift  nad)  bem  einmal  eingebürgerten  ©prac^gebraud^ 
bie  ®tt)it  bie  i^re  ^öd)ften  SJBerte  in  finnlic^en  ©ütern,  im  ir» 
bifd)  nü^Ud)en  fie^t,  mie  e§  bei  93acon  unb  ^obbe§  tatfäd)lid^ 
ift.  Bei  il^nen  fte^t  utilitariftif^e  ©efmnung  neben  ber  teleo- 
logifrf)en  93etraci)tung§n)eife.  3)a§  t|at  root)t  bie  SSermed^^lung 
beiber  begünftigt.  S)e§t)alb  ift  bod)  beibe§  au§einanberjuf|alten. 

®ine  utilitariftifd^e  (£t^it  fann  baneben  unteleologifd),  fupra= 
naturaliftifc^  fein,  ©in  großer  2:eil  ber  S^iliaften  maren  SWen- 
fd)en,  bie  nur  finnlid)e  ©üter  fannten  unb  erftrebten,  alfo  fid}er 
in  ifirem  praftifc^en  Seben  uti(itariftifd)  bad)ten  unb  l^anbelten, 
bie  aSoÜenbung  i^re^  t|öd)ften  ®ute§  erwarteten  fie  burd)  ein 
aSBunber.  Sbenfo  ift  in  ber  ©osialbemofratie  üiel  Utilitari^mu^, 
Streben  nad)  nü^tid)en,  finnlid)en  SBerten  unb  leiber  menig  2^eIeo^ 
logie,  fonft  mürben  fie  fid)  praftif^  an  bie  Strbeit  madjen,  i^re 
3Berte  burd)  Betätigen  im  ßffentHd)en  fieben  ju  erreid)en. 

Umgefe^rt  fann  eine  ®tt|if  ein  überfinnlic^e§  3^^^  Iiaben 
unb  fein  (5r(ang<en  t)on  ber  et^ifd)en  Betätigung,  bem  innern  Steifen 
be§  3Jlenfc^en  baju,  allein  abf)ängig  madjen.  S)ie  beutfd^cn  Qbea* 
liften  t)aben  bod)  ganj  geroi§  biefe  immanente  Seleologie,  ba§  @r= 
reid^en  be§  ett)ifd)en  3'^^^^  i^urc^  etf)ifd|e  Betätigung  unb  bod^ 
ein  überfinnlid|e§  Out. 

2Bie  fte^t  ^ier  ba§  et)riftentum  ?  ©ottfd)idE  (S^riftl.  SBelt 
1900)  gibt  barauf  bie  ftare  SÄntmort:  ©§  ift  teleologifc^e  @tl|i!. 


480  %ud^^:  ^^rifieittuin  unb  ^ampf  um§  ^afeiit. 

Slar  unb  bcutli^  jcigt  3cfu§  ein  S^^U  ba§  SRcic^  ®ottc§,  bic 
ftttli^e  ©emcinfc^aft  bcr  SJlcnfc^cn  unb  er  bringt  —  ba§  ifi  bie  33c' 
beutung  feiner  $erfon  für  un^  —  „bic  ©rfüüung  ber  ganjen 
Seele  mit  bem  ®ute  bcr  fittlic^en  ©emeinfc^aft"  (ß^riftl.  SBelt 
1900  loo).  3roar  ift  roie  ^]JauI|en  mit  Stecht  betont,  bie  Sleali* 
fierung  biefe»  3icle»  fupranaturaliftifc^,  burc^  einen  SEBunbcraft 
®ottc§  gebad|t.  2lbcr  minbeften§  ber  2lnfa§  jur  teleologifc^en 
33etrac^tung  ift  mit  biefer  3i^I^cf^Jwtmung  gegeben.  2)ie§  Qxd  ift 
unben!bar  ol^ne  ba§  innere  Steifen  ber  ^erfönlic^teit  baju  burc^ 
i^re  praftifc^e  Betätigung.  3efu§  unb  noc^  $autu§  ^aben  beut^ 
Iid>  baDon  eine  SSorfteüung  (^?^il.  3,2 ff.).  Um  fo  mel)r  ift  @oit» 
f^id  im  9ted)te,  roenn  er  betont,  ba|  eine  anbere,  no^  energifd)er 
teIeo(ogifd)e  SSorfteOung  oom  Slommen  be§  9teic^e§,  feine  @c^ei^ 
bung  nom  pofitioeu  ^n^alt  ber  ®t^if  ^efu  bebeutet,  folange  man 
fic^  mit  it)m  in  ber  in^altli^en  3Irt  ber  Sieic^S^offnung  einig  mei^. 

3efu§  fanntc  nur  innere  Bereitung  für  ba§  9ieici^,  ba§  burc^ 
einen  93rud)  mit  ber  SBelt  fommen  mu^te.  SBir  l^offen  auf  ein 
Kommen  be§  SReid)e§  bur^  bic  Strbeit  ber  fic^  in  biefer  2lrbeit 
innerlirf)  baju  bereitenben  $erfonlid)feiten.  35a§  ift  eine  fie^re, 
bie  un§  ©Ott  burd)  bie  ©efc^ic^tc  nac^  Qefu  gegeben  Ijat.  SEBir 
\)abzn  nic^t  nur  ba§  Stecht,  fonbern  bic  ^flid)t  fie  anjune^men, 
otinc  ba§  mir  un§  oon  Qt^n^  unb  feinem  ®ott  baburd)  gefc^ieben 
fügten. 

SBon  ^ier  au§  fci)rcitet  ®ottfd)icf  ju  einer  pofitiuen  SBertung 
be§  gefamten  ®emeinfci^aft§Icben§  nor.  3»^bc  ©emeinfc^aft  l^at 
il^ren  3Q3ert  für  i>a§  SI)riftentum,  meit  ftc  eine  SSorftufe  ift,  burc^ 
bereu  SQBciterentmictlung  bie  ^ödjfte  ©emeinfdiaft,  ba§  SRcic^  ®otte§, 
ermögüi^t  merben  fotl.  3)a^er  ^at  biefe  ®emcinfrf)aft  bie  ^fiic^t 
ber  (SetbfterE)a(tung.  S)er  ®f)rift  ^at  bic  ^flic^t,  bie  ®emcinfc^aft, 
in  bcr  er  für  ia§  Jlommen  be§  9ieic^e§  arbeitet,  mit  oHen  Kräften 
}U  förbern. 

Oft  nun  ein  3Jlann  fpcjictt  mit  ber  Sorge  für  biefe  ®emein' 
fc^aft  beauftragt,  fo  ift  bie  ©r^altung  biefer  ®cmcinf^aft  bie 
i)'6d}\k  fittüc^c  ^fticf)t,  bic  er  in  biefer  Stellung  für  ba§  SRcic^ 
®ottc§  l^at.  Q^x  gegenüber  treten  bic  ^^flid)ten  gegen  einjclnc 
unb  bereu  pl)r)fifcl)c§  Sebcu,  \a  gegen  rec^tlid^e  SBcrl^ältniffe  unb 


&  u  c^  § :  ©^riftcntum  unb  Äampf  um§  5)af ein.  481 

cinjelnc  ct^ifdic  Sfloxmm  jurürf. 

3^reilic^  bcr  ®cban!c,  ba§  biefc  ftaatlid^c  ©cmcinf^aft  aud) 
Tüieber  eine  Slufgabe  für  ba§  kommen  be§  9ieic^e§  ®otte§  l^at, 
ift  ^ier  eine  ftarfe  Äorrettur.  S)er  Staat  !ann  unb  barf  nid)t 
mit  SWitteln  erl^alten  werben,  burc^  bie  feine  2lufgabe  für  ba§ 
9leid)  @otte§  unmögli^  gemadit  wirb.  SDat)in  get|ören  roo^l  aüe 
bie,  bie  ba§  ettjifc^e  @cmeinfd)aft§Ieben  innerl^alb  be§  (Staates 
jcrrütten  (®ett)altl)errfcl)aft  üon  oben,  unfittlid^e§  ^arteitreibcn 
üon  unten)  unb  bie  nad)  au^en  geeignet  finb,  ©emeinf^aften,  bie 
gleichen  SDBert  für  @otte§  SReid^  ^aben,  ju  oernid^ten  ober  xi)xt 
innere  2lnnät|erung  ju  ftören.  3)a|  menfd)lid)e  S^roäc^e  unb 
Äurjfid|tig!eit  beibe§,  aud)  bei  bem  beften  SCBiUen  nid)t  nermeiben 
fann,  lüirb  ©ottfc^id  gerne  jugeben,  aber  ber  gute  SBille,  bie 
Siormierung  nad^  bem  Qbeale  ^at  ba  ju  fein  unb  über  bie  SDBa^t 
ber  SWittel  ein  Urteil  abjugeben.  Slber  ben  Kampf  führen  für 
feine  @emeinfd)aft  barf  ber  9Jlenf^  nad)  ©ottf^id^). 

®§  ift  nid)t  nur  eine  formale  2lenberung,  bie  ©ottfc^idf  ^ier 
einfül^rt.  (£r  fteßt  ein  neue§  ^rinjip  ber  dt)riftlid^en  (St^it  gegen- 
über ^aulfen  unb  9laumann  auf.  9iic^t  mef|r  „öarm^erjigfeit" 
fonbem  „Söotten  beö  3fiei(^e§  ©ottc§",  ba§  Streben  ber  Seele, 
überall  bie  fittli(^e  ©emeinf^aft  l^erjufteHen  unb  ju  erl^alten,  ift 
bie  treibenbe  Kraft,  "ißaulfen  unb  9kumann  werben  jebodi  nid)t 
jugeben,  bag  <3^fu  9teidt)§begriff  fid^  in^altlid)  mirtlid^  mit  bem 
©ottfd|id^§  bedte,  unb  ba§  mit  einem  gemiffen  SRedjte. 

®§  ift  bo^  mieber  oiel  weniger  ba§  Steifen  ber  aWenfd^en 
jur  fittlid)en  ©emeinfc^aft,  ma§  bei  ^z^n^  im  SSorbergrunb  fte^t, 
roenn  er  uom  SReic^e  ©ütte§  fptic^t,  fonbern  bie  %at  ©otte^.  ©ewig 
Sünbe  unb  Sünber  toerben  weggefegt  werben  burd)  fein  ©eric^t, 
aber  neben  ben  anbern  Uebeln,  bie  in  biefer  SBelt  ber  DolIen 
Seligfeit  entgegenfteben.  Keinesfalls  tiat  Qefu§  fo  bewußt  unb 
!lar  im  SReic^  ©otte§  ba§  Qbeat  ber  fittlic^en  ©emeinfdE)aft  ge= 
feben,  wie  e§  nun  @ottfd)id  unter  biefem  9iamen  barftellt.  @§ 
ift  ibm  oielmebr  ba§   burc^   bie  Kataftropbe  oom  ®ie§feit§  ge* 

1)  3Wan  ücrgl.  I)ieräu  @ottfrf)tcf^  3lrttlel,  bcr  im  folgcnbcn   oielfad^ 
berudfid)tt9t  ift. 

Beitft^rlft  für  Ideologie  unb  Äirc^e.  14.  ^affXQ.,  6.  ^cft.  33 


482  3:  u  d^  § :  6;^riftentum  unb  ^ampf  utn§  ^af ein. 

fc^icbcnc  Steid).    3)te  eSc^atoIogif^c  gorm  ift  oicl  mc^r  für  3f«fuS 
ar§  ber  fittli^c  Qn^alt  be§  öcgriffeS. 

Sro^bem  glaube  id^,  ba§  ©ottfd^icf  in  feinem  SBcgriff  bes 
SRei^eS  @otte§  oiel  mcl^r  ben  n)irtlid)en  Qn^alt  ber  QÜ)it  Qcfu 
trifft  al§  ^ßaulfen  unb  9laumann  in  i^rer  Slbleitung  au§  bem 
e^c^atologifc^en  ©ebanfenfreiS  ;3efu.  9tur  barf  man  eben  Qefu 
St^it  ni(^t  au§  bem  93cgriff  be§  SRei^e^  ®otte§  bei  il^m  fd)Iie^en 
motten.  3)iefe  liegt  oietme^r  in  feiner  prattifd^en  Haltung  ju  ben 
9Äenfc^en  unb  feinem  ®otte§glauben.  2^atfäd)Iid^  finb  bie  mobem 
bogmatifd^en  begriffe  oom  9leic^  @otte§  alle  barau^  gebilbet. 
2)oc^  barf  man  bann  nic^t  oergeffen,  ba|  3efu§  felbft  eben  ben 
fiberlieferten  ©ebdnfenfreiS  burc^au§  nic^t  fiberad  nac^  feiner 
inneren  SteKung  ju  ®ott  geftaltet  unb  umgebilbet  ^at,  fonbem 
nur  ba,  roo  birette  ©egenfd^e  in  ben  gö^^w^S^^  feinet  £eben$ 
fi^  l^erauSfteUten.  2)ie  @^^riftenl^eit  l^at  injmifd^en  no^  üiele  an- 
bere  ©egenfä^e  jmifc^en  ber  in  ber  ^ßerfon  ^t\vL  oermirf fiepten  unb 
ber  feinen  Gegriffen  au§  ber  Ueberlieferung  antiaftenben  @eifte§» 
art  ertannt  unb  mit  Sted^t  bie  ^Begriffe  nac^  ber  praftifc^en  31rt 
^efu  weiter  umgebilbet. 

3)aju  fommt,  ba^  ein  fold^  feftgeprägtcr  93egriff,  mie  „9teid) 
(Sottet"  bei  @ottf(^idf  e§  ift,  fe^r  notroenbig  unb  brauchbar  ift 
für  bie  fgftematifc^e  ®arftellung,  aber  boc^  nur  für  ben  mirttic^ 
überjeugenb  unb  genügenb,  ber  ba§  ganje  reid^e  Seben,  ba§  ber 
betreffenbe  ©gftematiter  jufammenfaffenb  bamit  bejeic^nen  roiü, 
bann  immer  fielet  unb  empfinbet.  3)a  nun  nur  fe^r  menige 
ajienf(^en  e§  oerfteljen,  fi^  einen  53egriff  lebcnbig  }u  machen,  fo 
ift  ba§  ^ineinjeid^nen  be§  Seben§  gerabe  in  ber  et^ifdjen  3)ar' 
fteltung  ungel)euer  wichtig.  9)leiften§  wirb  man  nur  mit  ^ilfe  biefe^ 
jmeiten  mirtlid^  überjcugen  fönnen.  ®iefe§  hinein jei(^nen  be^ 
fieben§  gefrf|iel)t  nun,  wenn  man  oon  ber  Sat,  ber  ©efinnung, 
bem  <3»ttbioibuellen  au§ge]^t,  mie  e§  ^errmann  immer  tut  Sei 
ber  SBergleic^ung  uon  ^errmann'ö  unb  ®ottfd)id'§  3lu8fü^rungen 
über  biefen  ^untt,  ift  mir  ttar  gcmorben ,  marum  @d)leierma(^er 
bie  3)arftenung  ber  ©t^if  unter  ben  brei  ®eft^t§punften  „^od^fics 
@ut,  ^flid^t,  Sugeub"  forbert.  SBom  ^öc^ften  ®ut  au§  ergibt 
fid^  bie  friftematif^e  S)arftellung  ber  ®t^if,  mie  fie  ®ottf^ic!  oom 


3^u(f|§:  (S^!|tiftentum  unb  ^ampf  um§  ^afein.  483 

©egriff  „Sftcic^  ®ottc§"  au§  gibt.  ,,^flt(i|t"  jeidinct  bcn  notrocn* 
bigcn  (Sang  ju  bicfem  Qkl  im  ®injelnen,  ha§  Scbcn,  ba§  no^ 
por  bem  ®{)riftcn  liegt.  „2:ugenb",  „®cftnnung"  [teilt  ben  mo« 
mentancn,  praftifc^en  $abitu§  be§  2Kenf(4en  bar,  fein  lebenbiges 
Rängen  an  fittlic^en  Oütevn,  ben  SGBert  berfelben  für  it|n.  ©ie 
jei(^nct  bie  ootle  SRealität  gegenmärtiger,  fittli^er  ©efinnungcn 
unb  93etätigungen.  SBon  l^iev  möi^te  id)  bei  ^fefu^  au§ge^en  unb 
bie  9Irt  feiner  fittli(^en  ©efinnung  feftfteüen. 

©ie  ift  furj  ba§,  n)a§  Oottfd^id  aud|  al§  bie  bem  SReic^ 
@otte§  entfpre(^enbe  ©efxnnung  bejeic^net,  „felbftlofe  fiiebe"  (®^riftl. 
SQgelt  1900  ißo).  „Siebe"  fagt  ^crrmann  (35ie  fittlid)en  SBeifungen 
^efu  ©.  39 ff.).  2Ba§  ift  Siebe?  2)arauf  gibt  e§  fo  t)iele  Slnt:: 
roorten,  al^  e§  üerf^iebene  fittlii^e  Slic^tungen  gibt.  Siebe  im 
c^riftlidien  ©inn  fd)eint  mir  nur  eine§  ju  fein:  ©ie  ift  baö  Se« 
Toufetfein  be§  9Jlenf(^en,  ba§  im  aWenfc^en,  b.  \).  in  ben  um  il|n 
^er  unb  in  i^m  felbft,  t)ö^ere  ®üter  liegen  al§  in  allem,  mag 
auperl^alb  be§  menfc^lid^en  @eifte§  unb  @emüte§  mertoott  unb 
wichtig  ift.  S)ie  bementfprec^enbe  ®ebunbenf)eit  an  aKcnfd)en, 
ba§  93ebürfni§  geiftigen  2lu§tauf^e§  unb  geiftiger  Slnnä^ernng, 
^ö^crentroidElung  biefer  ®eifte§art  unb  ©ui^en  barnacf)  in  anbern, 
ift  Siebe,  ©ie  entfte^t  in  un§  burc^  33erü^rung  mit  e^ten,  liebe== 
oolten  ajlenfclien.  ©ie  bilbet  fid^  fc^on  in  ber  ^fugenb  burd^  bie 
Srfa^rung  ber  @(t)tt)eit  ber  aWutterliebe,  bilbet  fic^  meiter  ober 
ftodt,  je  nad^bem  mir  mit  echteren,  tieferen  SWenfd^en  in  33erüt)* 
rung  tommen  ober  ni(^t.  Serü^rung  ift  l^ier  auc^  ba§  Sßerftänb» 
ni§  ber  ®ro§en  ber  äJergangen^eit. 

®§  ift  febr  fc^mer  ju  fagen,  mag  eigentlid)  bie§  SOSertoolle 
im  S^nnenleben  be§  ÜUlenfc^en  ift.  Q6)  raupte  nict|t,  ba^  e§  irgenb 
jemanb  fc^on  begrifflich  au§gefprod)en  ^tte.  9Sor  allen  fingen 
feffelt  unb  begeiftert  un§  5Bat)rbaftigteit,  jener  reine  9Jlut,  ber 
überall  fic^  felbft  gibt,  feine  3lrt  ju  fül^lcn  unb  ju  benten  andti 
gegenüber  Vorurteilen  unb  engberjigen  ©itten,  mie  er  überall  au§ 
Sut^er§  SBorten  leuchtet  unb  fie  begeifternb  mac^t,  menn  fie  au^ 
oft  no(^  fo  berb  fmb.  2)ann  ift  e§  jeneg  tiefe  SRingen  um  ernfte 
Probleme,  baS  n)ir  bei  ^aulu§  burc^  bie  ^rcmbartigteit  feiner 
^Begriffe  ^inbur^  im  bunflen  ®runb  feiner  ©eele  empfinben.  ®8 

33* 


4&1  gru^iS:  G^riftentum  unb  ^ampf  um§  ^afetit. 

ift  bann  bic  ^rt  bic  oor  großen  Stufgaben,  in  ftartcr  ^Scgeifte* 
rung  fic^  felbft  oergeffen  fann  unb  bie  boc^  in  i^rer  burc^fc^lagen» 
bcn  Sraft  ein  ftarte§,  eigenartige^,  roa^r^aftige^  Innenleben  ent* 
^äQt.  @§  ift  ba§  aUe§  gufammen,  roaS  ftc^  im  9i(be  ^efu  }u 
bem  (Sinbrucfe  ftra^Ienber,  finblidier  SRein^eit  unb  boc^  ftarfer 
©c^t^eit  unb  ernftcr  Siefe  nerbinbet,  ber  jebe  Seele  feffelt,  mit 
Siebe  erfüllt,  bie  i^n  roirtli^  fennen  lernt. 

3)oc^  ift  ba§  alle§  in  geroiffem  ©inne  nur  9lu§enfeitc.  SBo 
wir  ba§  finben,  a^nen  roir  jeneS  fuc^enbe,  lebenbige,  nac^  %t\U 
na^me  lec^jenbe  unb  na^  (Sblem  ringenbe  äBefen,  baS  voix  in 
un§  felbft  ^aben,  unb  biefe  9lt)nung  feffelt  un§  mit  bem  ®efä^Ie, 
bap  ^ier  allein  unfer  SRingen  ©enoffenfc^aft,  9Serftdnbni^  unb 
fc^lie^lic^  9iu^e  finben  fann.  5lic^t  roaö  aU  SBerftanb,  Vernunft, 
6t)arafter,  ©eroiffen  eines  SRenfc^en  ju  tage  tritt,  ift  e§,  roa§ 
unö  feffelt.  @§  ift  bie  ©efamt^eit  be§  Innern,  beffen  3)arftcl» 
lung  pe  finb  unb  ba§  mir  bur^  fie  empftnben.  3)iefc  SBerte  fo 
ftarf  empfinben,  ba§  alleä  anbere  barüber  oerfc^roinbet,  gering 
erfd)cint,  ift  Siebe. 

S)a6  fold)e  Siebe  gemeinf^aftbilbenb  ift,  ift  Kar.  3n  jebem 
3Wenfd|en,  ber  il|r  begegnet,  fud)t,  empfmbet,  liebt  fie  biefe§ 
innere  unb  fud)t  e§  beS^alb  auc^  bem  jum  ^emu^tfein  )u  bringen, 
ber  €§  no^  nic^t  einmal  in  fic^  gefunben  ^at.  ©ie  erjie^t.  ®r* 
jieljung  aber  fcl)afft  bie  engfte  unb  ftärffte  geiftige  ©emeinfc^aft. 
(änblic^  einmal  mit  allen  folc^en  SGBefen  in  ©emeinfc^aft  gleicher  53e« 
geiflerung,  gleid)er  ^Betätigung  für  biefe  inneren  ©üter  f^n  flehen,  ift 
^ier  ^örf)fteS  ®ut,  ba§  9icic^  @otte§,  mte  mir  e§  mobern  faffen,  nic^t 
mie  3^efu§  e§  fafete  (f.  ^errmann:  fittl.  Söeifungen  :^t]n  S.  45  f.). 

3lber  ift  ba§  mirftic^  „Siebe"  im  ©inne  Qefu?  S3egripc^ 
^at  er  ba§  nie  gefaxt,  tatfäd|tid)  ^at  er  biefe  Siebe,  ©ie  in  i^m 
geftaltete  ba§  93ilb  be§  ®otteS,  ber  nid)t  bie  SWenfc^en  unter  Sq|* 
ungen  beugen,  mit  ©eboten  brechen  will,  fonbern  ber  nur  i^re 
begeifterte  Eingabe  an  i\)\\,  ben  95ater,  begehrt.  S)ie  Siebe  em* 
pört  fid)  gegen  ba§  $f)arifäertum,  ba§  eine  roa^rt)aftige,  eigen* 
artige  (Sntmicftung  ber  Sülenfc^enfeele  unmöglich  machte.  Sie 
bvanbmarft  ^eud)clei  al§  bie  fdjlimmfte  aller  ©ünben.  2)iefe  jer* 
ftört   ja   ba§   ^^nnenleben,   uerarfitet  e§.    2)er  Siebe  genügt  e^, 


fjud&§:  ®]^rtftcntum  unb  ^ampf  um§  5)afcin.  485 

roenn  ftc  in  bcn  ©ünbcrn  Tüatiruimmt  ba§  fie  i^n  lieben,  ba§ 
i^nen  ber  SEBert  einer  anbern  SKenf^enfcelc  in  feiner  ^crjon  auf* 
gegangen  ift,  fo  ftart  ba§  fie  gegen  alle  93orurteiIe  ber  3^it  in 
i^m  bcn  Söoten  ®otte§  fe^en  fönnen.  S)a  perlangt  er  gar  nid)t§ 
mel^r,  ba  ift  ba§  re^te  9Ser^äItni§  ju  bem  ®ott,  ber  biefe  SCBcfen 
gcfd)affen  \)at,  tiergefteDt.  3)a§  ift  Sat  bei  \i)m,  bic  93egriffe 
fönnen  erft  wir  baju  finben. 

5ßor  allen  S)ingen  aber:  biefe  fiiebe  nötigt  er  un§  ab  in 
feinem  fc^Iid)ten,  roaliren  SBefen,  feinem  gewaltigen  ©tauben  an 
ba§  9ted|t  biefer  maleren  9lrt  ju  fein,  feinem  gewaltigen  ©lauben 
an  feine  ®otte§finbfc^aft  gegenüber  bem,  mag  SMutorität  unb  Ueber^» 
lieferung  al§  ®otte§tinbfct)aft  priefen,  mit  feinem  ftarten  ®ang 
jum  Söbe,  roeil  er  firf)  nic^t  oerleugnen,  bie  anbern  nid|t  bred^en 
laffen  moüte.  S)ann  ftelien  mir  nad^  feinem  9iufe :  „3Wein  ®ott, 
mein  ®ott,  marum  Iiaft  bu  mic^  üerlaffeu",  unb  bie  2:iefen  un* 
ferer  ©eele  fpredjen:  3)a§  ift  ni^t  ba§  @nbe.  S)iefe  Äraft  ift 
mcf)t  tot.  ^ier  ift  ba§  Smige  unb  beS^alb  ber  ©ieg.  2Ieu^er* 
lid)  ftarb  er,  aber  fein  ©otte^glaube,  fein  ®Iaube  an  feine  SBa^r* 
^aftigfeit  ift  bod^  bie  Söfung  aller  9tatfel. 

5)urdb  i^n  ift  bie  9BaI)rl^aftigfeit,  9leinl)eit,  Kraft  unb  eble 
^ö^c  be§  menfd^li(^en  Innenlebens  mit  ber  ^Religion  unabtrennbar 
üerfnüpft,  bie  unfere  ©eele  immer  mieber  pactenbe  S3cl^auptung 
aufgefteat,  ba^  l)ier  ba§  3iel  ber  SBBelt,  bie  Sinbf c^aft  ®otte§,  be§ 
^erm  ber  SGBett,  gegeben  fei. 

®a§  ift  metir  roie  SUlitleib  unb  93armt|erjigfeit,  mel^r  ate  ein 
jcnfeitigeS  Qkl,  mie  e§  if)m  felbft  in  feinen  ®ebanfen  oorfd^roebte. 
3)a§  rief  unb  ruft  in  ben  SKenfdtien  ein  ftarte§,  unnadigiebigeS 
JRingen  unb  Kämpfen  xoad),  in  fid)  unb  anbern  ba§  ju  roerfen 
unb  äu  erl)atten.  Qt\\x^  unb  bie  ©einen,  üerfd^roinbenb  in  einem 
3Jleer  oon  5!Jlillionen,  bie  e§  nad)  il^rem  ©mpfinben  nid)t  Ratten, 
tonnten  nur  baran  beuten,  einzelne  barau§  ju  geminnen.  3)ie 
SBollenbung  tonnte  nur  ba§  SBunber  bringen.  Sut^er  tann  fd)on 
ganj  anber§  ber  jünbenben  üJlac^t  be§  2Borte§  bie§  SGBunber  ju* 
trauen.    ®§  ^atte  ja  injroif^en  eine  SBelt  erobert. 

SBir  l)aben  injroifd)en  baju  tennen  gelernt  bie  ungetieure  SWai^t 
ber  aSer^ältniffe,  oor  allem  auc^  ber  umgebenben  ®emeinfc^aften  über 


486  ^  u  (i|  § :  6:f)nftentuin  unb  ^ampf  um§  ^afein. 

bcn  aWcnfd^cn.  SBir  fügten,  bog  bicfe  ©emeinfc^aftcn  fc^on  in 
oielem  f o  roirfcn,  ba§  bie  ©cmütcr  Dertieft  unb  i^m  gcnätjcrt  rocrbcn. 
9Bit  !onnen  fte  baju  noc^  me^r  geftalten  burc^  unfere  Mitarbeit. 
6§  wäre  ber  bireftc  93crrat  an  bcr  ©cjtnnung  ^ti\x,  mx  Ratten 
feine  Siebe  nii^t,  rocnn  n>ir  bie  pofitioe  SWitarbeit,  ben  cncrgifd)en 
ftampf  um  ©eftoltung  ber  ®emein[c^aften  aufgeben  fönnten. 
S)iefelbe  9tot,  für  bie  er  2:roft  nnb  SWut  fuc^te  im  ©tauben  an 
ba§  SReic^  ®otte§  unb  beffen  n)unberbare§  Kommen,  bie  2;atfac^e, 
ba§  fo  niele  unter  ben  93er^Itniffen  beö  SebenS  geiftig  unter* 
ge^en,  mu§  un§  treiben  jum  Kampf  für  äße,  für  bie  ©intenbcn, 
für  bie  ©eftaltung  afler  SSerl^ältniffe  fo,  bafe  fie  nic^t  me^r  SWen- 
fc^en  oernict)ten,  fonbern  SRenfc^en  I|inauft)eben  jur  $ö^e,  jum 
9Serftänbni§  <3efu.  3)iefe§  „frei  für  anbere  leben"  (^errmann: 
SDie  fittlidien  SBeifungen  <3efu  ©.  5  ff.,  46),  in  bem  man  „ein 
im  33emu§tfein  feinet  emigen  SWed)te§  geeinigteg  SBoIIen"  ^at 
(ebenba  ©.  36),  ift  Kampf.  „Kämpfen"  mu§  ber  ß^rift.  Kämpfen 
für  ba§  9led|t  unb  bie  3EBat|rI|aftigfeit  feine§  eigenen  inuern  Sebcn§, 
Kämpfen  aber  auc^  um  bie  3nöglid)feit,  mit  anbern  in  auStaufc^enbe 
unb  erjie^enbe  ®emeinfd)aft  ju  treten.  3)aju  gehört  groeierlci. 
Sinmal  bie  21u§geftaltung  be§  Seben§  nad)  feiner  (Eigenart,  bie 
3JlögIid)feit  einen  eigenen  Krei§,  ^au§,  g^milie,  5^cunbeötrei§  §u 
bilben,  inbem  fein  eigene^  Seben  fid^  ftarf  genug  realifiert  unb 
realifieren  tann,  um  burc^  fein  blofeeö  3)afein  eine  9Wad)t  in  bcr 
2BeIt,  oor  aßen  3)ingen  eine  erjie^enbe,  gemütSbilbenbe  Tlad)t 
für  bie  fommenben  ©enerationen  ju  fein.  3llfo  ber  S^rift  ^at 
bie  ^flid)t,  nad)  ©eftaltung  eine§  fold)en  eigenen  $au§n)efen§, 
Familienleben^  ju  ftreben.  ^aju  gel|ört  aber,  ba§  er  ftnanjiett 
fid)  über  SGBaffer  t|ä(t.  ®r  mu§  alfo  ben  Kampf  um§  3)afein 
führen,  ju  bem  3^^^^^  pd)  unb  feine  Jamilie  in  folc^er  finan^ 
jieüen  fiage  ju  erhalten,  ba§  innerliches  Familienleben,  ©rjie^ung 
}u  ftarter  Q[nnertid)teit  möglid^  ift.  ^^  enger  ber  Krei§,  befto 
leid)ter  ift  ba§,  je  weiter  ber  KreiS,  ben  man  überfc^aut  unb  be* 
wältigen  mu^,  befto  fd)n)erer. 

Siefer  Kampf  um§  2)afein  ift  für  atte  ©tänbe  ^flic^t 
oon  ber  ^riftlid)en  ©tl)it  au§.  ©r  ift  oor  allem  'ißflic^t  für  ben 
{)eutigen  2lrbeiterftanb  mit  feiner  9GBoI)nung§not  unb  Frauenarbeit. 


JJ  u  ci^  § :  (S^rtftentum  unb  ^ampf  um§  ^af ein,  487 

®r  ift  $flid)t  für  bic  grauen,  beren  ganje  (Srjie^ung  barauf  ^in* 
TDirft,  fic  ju  Wienerinnen  be8  3Wanne§  ju  bred^en  unb  nie  jur 
©igengeftaltung  be§  Seben^  tommen  ju  laffen.  ®r  ift  ^flic^t  für 
bie  gebilbeten  Scanner,  benen  im  gegenwärtigen  (Stiftern  bie 
eigene  ©eftaltung  be§  fiebenS  in  immer  fpätere  Qzxt  ©erlegt  mirb, 
beren  beftc  Äraft  be§^alb  für  et^ifd)e  Sßertiefung  unbrau^bar  ge* 
mad)t  mirb. 

SSBciter  ftet)t  ber  aJlenfd>  mit  ben  ©einen  in  einer  großen 
©emeinfc^aft.  ®§  ift  nid)t  t)or  aüem  bie  be§  Staate^,  fonbern 
bie  be§  9SoIte§.  2)urd)  ba§  SSoI!  unb  feine  großen  SÄänncr  tarn 
an  i^n  t)eran,  maS  il|n  ju  biefem  geiftigen  3CBefen  gebilbet  t)at. 
So  fielet  er  mitten  brin  in  einem  großen,  weiten  geiftigen  Seben, 
ba§  i^n  crjogen  ^at,  in  beffen  STrt  er  geartet  ift,  oon  bem  er 
®ute§,  @ble§,  Äraft  aufnehmen  tann.  9Öir  unterfc^ä^en  oft  bie 
Sebeutung  be§  SSoIf^tümlid^en  für  i>a§  geiftige  Seben  beS  ©injelnen. 
Slbcr  man  fann  gctroft  fagen,  unmittelbar  oerebclnbe,  geiftige 
Äraft  mirb  für  ben  SD^enf^en  nur  ba§,  n)a§  it|m  im  ©eifte,  in 
ber  ©igenart  feine§  95olfe§  entgegentritt.  SBBir  rennen  unfere 
großen  S)id)tcr  ftolj  jur  SQSeltliteratur.  3Iber  fcf)on  ber  ©nglänber 
Derftc^t  ©oet^e  nid^t  me^r.  ®r  mirb  i^m  nic^t  mel^r  jur  geiftigen 
^raft  roie  un§.    3lod)  oiel  me^r  gilt  ba§  üon  Sutl^er. 

^ier  rutjt  bie  Sebeutung  be«  Sßolteg  für  ba§  SReid)  ®otte§. 
3erf^Iägt  man  ein  SBolf^tum,  fo  werben  mo^I  nod)  einjelne  l^oc^- 
fte^enbe  SKänner  fid)  an  frembem  SBoIf^tum  ober  an  ber  SSer« 
gangenl^eit  nähren  fönnen.  gür  bie  SRaffe  bc§  S3oIfe§  ift  ber 
Kanal  jerftört,  burd)  ben  @ble§,  @r^ebenbe§,  geiftige^  Seben  ju 
i^m  fommt.  2)a§  mar  e§,  wa^  bie  SWänner  ber  greif)eit§frtcge 
empfunben  Ratten.  3)e§^alb  fann  unb  barf  ein  ®^rift  ni^t  taten^ 
lo§  jufel^en,  wenn  fein  9Solf  in  ®efat|r  ift.  ®r  mu§  e§  fc^ü^en. 
®§  ift  ba§  ajlittel,  burc^  ba§  ®eifte§leben  i^m  unb  ben  i^m  na^e* 
ftel^enben  juflie^t  unb  in  beffen  SSSeiterbilbung  e§  [\6)  betätigt. 

2Iu§  bemfelben  ®runbe  mu^  ber  S^rift  aud^  für  bie  äwf^nft 
feines  SBoHeS  forgen,  b.  b.  er  mu^  oorauSfc^auenber  ^olitifer  fein, 
fo  TOcit  ba§  mögli^  ift  aud)  für  fommenbe  3)afein§!ämpfe  bie 
möglidjft  günftigen  93orbebingungen  fd^affen,  jc^t  fc^on  ju  forgen 
beginnen,   ba|  bie  93cbingungen,  bie  in  100  ^a^ren  Sjiftenjbe* 


488  S^  u  ^  § :  ^^riftentum  unb  ^ampf  nm9  ^af ein. 

bingungen  fein  merben,  bann  nic^t  fehlen  (ÄoIonialpoHtif)  u.  f.  xo. 
®a§  xoäxt  fein  c^riftlid^er  (Staatsmann,  ber  bafür  nic^t  [orgte, 
ben  Äampf  barum  fc^eutc  unb  bafür  anbcrn  nid^t  ju  nal^e  treten 
roottte.    ®r  mu§  e§. 

3m  3?nnem  ^at  berfelbe  ®^rift  bie  ^flidjt,  feine  Slnfc^au«: 
ungen  üon  ber  gcfunben  ©eftaltung  beS  aSolf§(ebcn§  burc^jufe^en. 
3luc^  baS  wirb  immer  Kämpfe  foften.  ©elbft  ©Triften  werben 
babei  oft  uneinig  fein.  2l6er  mir  muffen  energifc^  tampfen,  ba* 
mit  fid^  nur  ba§  burd^fe^en  fann,  roaS  roirtti(^  ftarf,  ba§  ftärtfte 
ift  unb  fo  jum  ^eil  mirb. 

©c^Iie^Uc^  ^at  ber  ©tjrift  ba§  ©eine  beijutragen,  ba§  in 
biefem  ganjcn  93olfö(cben  ber  Kampf  um§  Safein  nic^t  ba§  gciftige 
Seben  unmögli^  ma^t.  3)ie§  gcfc^iel^t  bur^  bie  Siegulierung 
biefeS  Kampfes  im  9ie(^t,  bur^  bie  Streue  im  93eruf,  bie  e§  für 
unrecht  l^ält,  feine  ©yiftenj  oon  ber  ©emeinfc^aft  ju  nel^men  ol^ne 
i^r  feine  Kräfte  roirflic^  in  ben  Sienft  ju  fteüen,  burc^  baS  ®e* 
rei^tigteitSgefü^I,  ba§  audf|  ba§  Kämpfen  be8  anbern  in  feiner 
93ered)tigung  oerftet)t. 

2)aS  ift  eine  anbere  St^it  als  bie  beS  SWitleibS  unb  ber 
93arml)erjigfeit.  Qä)  merbe  t)erfu(^en,  beren  S3ercd)tigung  neben 
ben  anbern  ^rinjipien  nod)  nad^juroeifen.  ^ier  nur  baS  eine: 
aJlitleib,  93arm]^erjig!eit,  roo  fte  mirlli^  bie  einjigen  2:riebträfte 
etl^if^er  Betätigung  mären,  finb  fo  menig  ^riftlic^,  ba§  fic  oie^ 
me^r  nur  oerfeinerter  SJWatcrialiSmuS  ftnb.  Qft  eS  nid^t  auc^ 
3Wateriali§muS,  menn  meine  ganje  (Stimmung  unb  mein  ^anbeln 
anbern  gegenüber  burd^  baS  ©effi^I  beftimmt  ift,  baß  i^nen 
äußere  ©üter  festen,  ba^  fie  in  9lot  unb  UnglüdC  fmb?  Sieben 
anberm  muß  bieg  ©efü^I  fein.  Mein  barf  eS  nie  ba  fein,  fonft 
überf(^ä^t  man  biefe  äußeren  ®üter. 

n.  2Bie  fämpft  ber  (£^rift? 

3)er  ®t)rift  barf  alfo  nid^t  nur  fämpfen.  ®r  muß  tämpfen. 
3)ie  aSelt,  in  ber  mir  fielen,  ift  fo  befc^affen,  ba^  mir  @uteS 
nur  fdiaffcn  fönnen  burd)  Kampf.  Kampf  aber  ift  nid^t  möglid), 
ol^ne  ba§  mx  anbere  f^äbigen.  3)aS  ift  baS  guri^tbare  baran, 
ta^  mir  in  bem  bercd)tigten  33eftreben  unS  burc^jufe^en,  unfere 


3^  u  d^  S :  (^()riftentum  unb  ^ampf  um§  ^afein.  489 

innere  Äraft  ju  crl^alten  unb  ju  ftärfen,  un§  eine  ©fiftenj  unb 
einen  SBirfunggfreiS  ju  [(Raffen,  anbete  niebertreten,  ®ute§  um 
un§  ^er  t)ernicl)ten.  3)ürfen  roir  ba§?  ®§  ift  perftanblic^,  ba§ 
oiele  biefem  S^^i^fpoW^  gegenüber  erlahmen,  fi^  mit  befd^eibener 
^rioateyiftenj  begnügen  unb  nid^t  me^r  ju  tämpfen  wagen.  3)od) 
ift  ba§  tatfäd)Iic^  ein  ©rla^men  be§  @otte§g(auben§.  Sicfer  fagt 
un§,  ba|  unfere  ^raft  unfere  Oaben,  unfer  ©eroiffen  Don  ®ott 
flammen  unb  93etätigung  in  ber  SBelt  ^aben  muffen,  f\ä)  ent* 
roirfeln  muffen,  alfo  and)  i^r  SRec^t,  jö  i^re  ^lotroenbigteit  l^aben 
im  Kampfe,  greilid)  fe^r  ernft  muffen  mir  un§  bie  5^age  uor* 
legen,  roie  roeit  barf  ic^  gel)en  im  Äampf  ober  oielme^r :  mie  weit 
mu§  id)  ge^en,  benn  in  biefem  galt  foU  e§  bod)  fo  fielen,  ba§ 
ein  ©l^rift  miberftrebcnb  ^ineingctjt,  au§  $fli(^tgefüt)l  ^),  aber  aud) 
au§  ^flid)tgefü^I  fo  weit  getjt,  al§  er  um  ber  ^pid)t  millen  mu§, 
an  biefer  ©renje  aber  gern  §alt  mad^t. 

SSBerfen  mir  nun  einen  ©lidf  auf  bie  Derfd)iebenen  Oebiete 
be§  Sampfe§.  3)a  ift  juevft  ba§  oiel  Umftrittene  ber  ^otitif. 
K^riftlid^e  ©ittli(^!eit  in  ber  ^^olitif  bafiert  auf  bem  ©mpfinben 
bafür,  ba§  ba§  eigene  SBolf  eine  eigene  2Irt  be§  @elfte§Ieben§  ^at, 
burc^  bie  feine  ©lieber  jum  (Sblen  erjogen  werben,  oI)ne  bie  fie 
ben  geiftigen  Qntialt  unb  §alt  oertieren  mürben,  bie  fid^  burc^ 
eigenartige  formen  bc§  3ufammenleben§,  ber  Sunft,  be§  3)enfen§, 
ja  ber  g^^^^^/  93crgnügungen  unb  33efd)äftigungen,  ©lieberung 
ber  93erufe,  2lrt  ber  crjiel)enben  unb  regierenben  ^öftoren  fort*^ 
pflanjt,  au§bi(bet  u.  f.  m.  2Ber  einmal  unter  einem  anbern  SSolfe 
gelebt  l^at,  mei§,  mie  fc^r  burd^  äße  biefe  ^öftoren  bie  (Jigenart 
be§  geiftigen  Seben§  ^inburc^ge^t,  erf)alten   unb  geförbert  mirb, 

SBer  nun  ba§  fittlic^c  3Bertgcfül|l  bafür  ^at,  mirb  bie  ^flidit 
in  fic^  fpüren,  biefe§  eigenartige  Seben  —  ber  (J^rift  wirb  e§ 
faffen  aU  ®otte^  eigenartige  Srjie^ung  gerabe  gegenüber  biefem 
95oIfe  —  JU  ert)alten.  3)aju  get)ört  oor  allem  bie  ®rl|altung 
feiner  ®f iftenjbebingungen,  feiner  roirtfd)aftlic^en  Kraft  na^  au^en. 
SDBie  üerfdiulbete  ^ötnilien,  fo  merben  aud)  roirtf^aftlic^  unfelb^ 
ftänbige  SSölter  ^arafiten,  fönnen  fein  froI)e§,  traftüoUe§  SBeiter- 

iTs^atürridö  fann  biefeä  5ßflid&tgcfül)l  alg  ®efüf)l  ber  gottgcfc^cnftcn 
^raft,  ^txoa^  burd^jufeftcn,  ein  frcubigcg,  rocnn  aud)  immer  fef)r  ernftc^  fein. 


490  f^ndt^S:  Gl^riftentum  unb  ^ampf  um§  ^afein. 

ftrcben  me^r  l^abcn.  @§  ftnb  ni(^t  nur  bie  Icitcnben  ©taatö* 
männcr,  bic  bicfcn  Kampf  um  bie  äußere  Syiftcnj  fülircn.  ^^bu* 
ftric,  ^anbcl  unb  oor  aßcm  bic  Stimmung  bc§  SBoItcS  gegenüber 
ben  patriotifc^en  SGBerten,  alfo  and)  bie  SKrbeit  berer,  bie  biefe 
(Stimmungen  pofttin  ober  negatio  beeinfluffen,  roirten  ba  mit. 
S)od)  fallt  natürlid)  bie  Hauptaufgabe  ben  (eitenben  @taat§männem 
ju,  SBenn  nun  ein  Sßolf  feine  ©fiftenj  einem  SWanne  anoertraut, 
fo  mu^  eS  oon  biefem  forbern,  ba^  er  rüdfftc^t§Io§  in  feinem 
2Imte  nur  nod^  biefen  einen  3Bert  fennt  unb  i^n  oertritt,  nic^t 
fragt,  men  ober  roie  er  fd)äbigt,  fonbern  nur,  mie  er  für  ©egenroart 
unb  3ufunft  bie  (Sfiftenj  biefe§  95oIfe§  fiebert.  2:ro^bem  gibt  e§  für 
biefen  Staatsmann  ©ittlic^teit  unb  Unftttlid^teit.  ©ie  liegt  nidit  in 
ber  einjelnen  2;at,  ba  liegt  ©ittlid^teit  in  bem  ©inne  mie  bie  dirift* 
lidie  ®ti)xt  fie  auffaffen  foQtc,  nie.  ©ie  liegt  in  ber  ©efmnung. 
®ie  ©ittli^teit  aud^  be§  ©taatSmanneS  ift  ba§  äBertgefü^l 
für  bie  geiftige  ©igenart  feinet  SSolfeg,  ba§  9Witleben  in  feinem 
geiftigen  Seben,  ba§  ©emorbenfein  unb  äBerben  mit  i^m  jufammen. 
®inem  foldjen  ©taatSmanne  wirb  e§  baS  erfte  fein,  bie  fittli^en 
Kräfte,  bie  im  SSolfe  liegen,  ju  erl^alten  unb  jur  SQBeiterentroicf* 
lung  ju  bringen.  9tatürlid|  mirb  !einer  alle  SBerte  perfte^en  unb 
entmidfeln  fönnen.  S)er  eine  mirb  ttarer  i^re  93ebingt^eit  burc^ 
bie  äußere  ©yiftenj  empfinben  unb  biefe  fd^ü^en,  ber  anbere  me^r 
il)ren  3wfamment|ang  mit  ben  inneren  ©rjie^ungS*  unb  SBerroal* 
tungSoerl^ältniffen.  2)er  eine  roirb  meiter  feigen  unb  für  bie  S^* 
fünft  f^on  bie  93ebingunflen  ju  fd^affen  fuc^en,  unter  benen  ge* 
rabe  bie§  Sßolf  bann  roirb  leben  muffen,  unb  bie  bie  SBeiterent« 
roidtlung  gerabe  biefeS  geiftigen  Seben§  förbern  werben.  3)er  an* 
bere  roirb  feine  9lot  mit  ber  ©egenroart  ^aben  ober  Je^ler  ber 
33ergangen^eit  gut  machen  muffen.  3>ebe§mal  aber  ift  fo  oiel 
©ittlid^feit,  (^riftli^e  ©ittlid^teit,  in  i^rem  ^anbeln,  aU  e§  be* 
bingt  ift  burd^  ba§  ©efü^l  für  bie  geiftige  ©igenart  biefe§  SBolfeS  unb 
burdt)  ba§  ©eroiffenSurteil,  ba^  gerabe  bie§  ^anbeln  notroenbig  ift, 
um  fte  ju  erlialten.  S)ieS  Urteil  mug  natürlich  ni(^t  immer  ein  beroup* 
teS  fein.  6§  liegt  ja  meiften§  nur  im  unberou§ten  ober  ^albberou^ten 
©mpfinben,  roie  bie  ganje  93egeifterung  be§  üKenfc^en  für  9Jolf 
unb  9Saterlanb. 


^uc^S:  ©^Tiftentum  unb  ^ampf  um§  ^afein.  491 

Staatsmänner,  bie  biefc  ©itttic^fcit  Ratten,  waren  ©tein  unb 
93i§mard.  9Kit  ganjer  Seele  Hebten  fie  bie  ftttUc^e  Eigenart 
i^re§  a3olte§.  ©ie  waren  ein  Seil  biefcr  Eigenart,  ^üx  ftc 
fdmpftcn  fie.  ^})x  rooHten  fie  ba§  cr^altenbe  @efä^  fd^affen. 
93ei  beiben  empfinben  roir  i^ren  Kampf  au^  ba  ate  berechtigt, 
roo  fie  bie  SRec^te,  ja  bie  ^yiftenj  oon  SRenfc^en  unb  Staaten 
antaften.  ®§  gef^a^  um  be§  fittlic^en  2Berte§  roitten,  ben  fie 
Dertreten  mußten.  Ober  wäre  e§  fittlic^,  „d^riftU^"  geroefen, 
lüenn  5Bi§mard  bie  Siechte  ber  Meinen  beutfdjen  dürften  ^ö^er 
gead)tet  ^ätte  al§  bie  jentralen  Seben§intereffen  feinet  93ol!e§,  wie 
e§  oielfac^  im  Flamen  be§  ®f)riftcntum§  verlangt  roirb? 

6in  anberer  beutfc^er  Staatsmann  ^at  ba§  getan,  SHetternic^. 
Qm  ©egcnfa^  ju  ben  beiben  anbern  beruft  er  fic^  auSbrüdtlic^ 
auf  ein  etl^ifdieS  ^rinjip,  bie  Segttimität.  Sd^einbar  ©ere^tig* 
feit  in  ber  ^ö^ften  ^otenj  unb  @en)iffenf}aftig!eit  ift  bo^  biefeS 
^rinjip  nur  ber  grenjcnlofe  9lefpe!t,  nic^t  Dor  geiftigen  SBerten, 
fonbern  nor  ererbten  Sled)ten,  2^iteln,  ©ütern  unb  SBorurteilen, 
unb  grenjenlofe  SBerac^tung  ber  geiftigen  SBerte,  bie  im  Oemein« 
fc^aftSleben  ber  SJölfer  liegen.  SBöIfcr  unb  SÖJcnfc^en  waren  für 
3Wettemid)'S  ^oliti!  3ot)tcn.  3)ie  SBelt  jerfiel  i^m  in  ^roDinjen^ 
bie  man  ^eute  ^ierljin,  morgen  bort^in  fd^Iagen  fonnte,  roie  SBor- 
teil  unb  Qi^t^^^ff^  be§  „Scgitimen"  eS  forbertc. 

2)ie  9ÖeItgefd)ic^te  I)at  bie  Sraft  beiber  2lrten  oon  ^olitif 
fc^on  gerid^tet.  Stein  unb  93iSmard  fd^ufen  ein  ftarfeS  3SoIf  unb 
entfeffelten  einen  gewaltigen  gortfc^ritt  beS  OeifteStebenS. 

Dcfterreic^  war  1809  unter  Stabion  norf)  tebenbig  in  feiner 
begeifterten  ©r^ebung  jum  g^rei^eitstampf.  3)rei  ^a^re  unter 
SDZetternid),  unb  93egeifterung  war  nid)t  me^r  aufjubringen  (1812). 
^[a^rje^nte  biefer  ^olitif  unb  ber  Staat  war  fertig,  ber  nidE)t 
leben  unb  nic^t.  fterben  fann,  beffen  wid)tigfte§  SIement,  bie 
S)eutfd^en,  loSgcriffen  fmb  oon  ben  geiftigen  ©ütern,  an  benen 
fie  erftarJt  waren. 

Qb\tn  l)at  in  ben  Kronprätenbenten  jwei  fot^e  Staatsmänner 
einanber  gegenübergcftettt :  ber  eine,  ber  ed)te  König,  ber  fein  SSol! 
als  einheitliche  geiftige  ©röge  begreift,  weit  er  fein  Seben  mit 
ganjer  Seele  mittebt,   ber  beSl)aIb  ben  großen,   geftaltenben  ©e* 


492  ^uc^§:  6;^riftetttum  unb  ^ampf  um§  ^afetn. 

banfen  für  c§  ^at,  unb  i^n  au§fü^rt,  bcr  anbcrc,  bcn  bcr  (S^rgeij 
treibt,  beffcn  Sittlic^tcit  nur  in  Sl^tung  t)or  überliefertem  9lcd>t 
unb  ©efe^  ate  ben  ^^rgeij  einft^räntcnber  3Jla6)t  befte^t,  ber 
beö^alb  nic^t  fc^afft,  fonbem  jerftört. 

3Ran  roiih  mir  entgegenhalten,  bag  ba§  ju  unrealer  @efä^I§' 
politif  fü^rt  mie  man  fte  im  95oerenfrieg  unb  gegenüber  ärme^ 
nien  oon  unferer  ^Regierung  oerlangt  ^abe,  burc^  bie  man  ftc^ 
nur  in  unHuge  SSermidfungen  begebe.  S)a§  ift  falft^.  Sticht  vor 
momentanen  (Stimmungen  foU  ftc^  ber  (Staatsmann  beugen,  benen 
foU  er  mit  feiner  befferen  ©a^fenntniS  unb  unter  Umftänben  al§ 
bie  überlegene  ^erfönlic^feit,  bie  ben  entf^eibenben  geifligen  SEBert 
beffer  fpürt,  entgegentreten  fonnen.  ^at  er  neben  bem  SWiter- 
leben  biefer  333erte  „ftrengeS,  ^erbe§  politifc^e§  ®enten"  *)  unb  ©inn 
für  bie  garten  9{ealitäten,  fo  ift  baS  nur  ein  @(ü({.  2)a§  muß  er 
^aben,  fonft  ift  er  fein  Staatsmann.  äBenn  man  aber  auS  Slngft  oor 
bem  3nißbraud)  ber  gemütlichen  unb  et^ifc^en  gaftoren  biefe  ganj 
befeitigen  mid,  benft  man  noc^  nic^t  ^erb  unb  ftreng  genug. 

:3ebenfaDS  mu^  ein  Staatsmann  ju  einer  fo  tiefge^enben, 
mit  bem  3^"*^^"^  ^^^  g^iftig^n  SebenS  feineS  93oIfeS  jufammen* 
^ängenben  SSeroegung,  roie  fte  bie  be§  35oerentriegeS  mar,  ein 
SJer^ältniS  finben  fonnen,  fonft  beroeift  er,  ba|  er  bie  ©eifteSart 
feines  93oIfeS  nic^t  oerfte^t  unb  nid)t  a^tet. 

©egenüber  anbem  SBotfem  loirb  biefe  fittlic^e  politif  immer 
gu  ber  einfachen,  flaren  SRcoIitdtenpolitif  roerben,  bie  feinen  3w>^ifcl 
(ä§t,  ba|  fie  bie  mirflic^en  ^ntereffen  it|reS  93oIfeS  na(i^brfi(f(ic^ 
oertritt,  eoentueU  auc^  mit  ©emalt,  bie  ftc^  aber  auc^  baburd^ 
3ld)tung  ermirbt,  bog  fie  nur  roirfli^e  SebenSintereffen  oertritt, 
©efü^l  bafür  ^at,  mo  biefe  liegen,  unb  fo  i^ren  feften  SBeg  ge^t. 
©crabe  baS  feblt  ber  heutigen  beutfd)en  politif.  6S  ift  bie  ^o= 
litif :  ^^  ne^me,  roaS  ic^  friegen  fann,  ^eute  mit  bir  im  33unbe, 
morgen  mit  beinem  geinb.  3)aS  ift  bie  „fluge"  politif  o^ne  mo» 
ralifd)e  SWapftäbe,  bie  für  fleine  Vorteile  i^re  Kräfte  oerjettelt, 
fic^  um  bie  2ld)tung  bringt,  fein  ©efü^l  für  bie  jentraten  93c» 
bürfniffe  unb  beSbalb  feinen  floren  SEBeg  ^at.  ®S  genügt  nic^t, 
baB  ein  Staatsmann  fü^lt,  ic^  muß  mein  93olf  gro^  machen,   ©r 

1)  '^ergr.  3eit  1902  9lr.  39  S.  389. 


fj  u  d^  § :  ©^rtftentum  unb  ^ampf  um§  5)afcin.  493 

mag  mitfühlen,  roorin  gcrabc  bic  (Srö^e  unb  Äraft  bic[c§  SJoIfcg 
liegt  unb  fic  cntfeffcin. 

Sine  folc^c  an  bcn  njirfUd)  jentrolen  3>ntereffcn  normierte 
?ßotitif  roirb  fettener  jum  ^rieg  fommen  al§  eine  anbere.  ©ie 
wirb  if|n  md)t  immer  oermeiben  fönnen.  ^ann  bod^  ber  %all  ein« 
treten,  bag  jmei  Stationen  um  n)irflid)e  Seben^intereffen  unter* 
einanber  ringen  muffen.  3)afür  ift  ^rieg  notmenbig.  @§  ift  alfo 
and)  berechtigt,  i^n  tapfer  ju  führen.  @r  ift  bann  bie  S\x(i)trüai)l, 
bie  ben  ftärfften  au§n)ä^(t  jum  gü^renben  in  ber  ©efc^id^te.  ®er 
galt,  ba§  ber  geiftig  ftärtere  p^tjftfd)  unterliegt,  ift  möglid). 
Sann  mirb  er  aber  nad)träglic^  geiftig  ben  anbern  erobern  unb  i^n 
jum  ®iener  feiner  geiftigen  Gräfte  mad)en. 

SGBie  aber  ftel^t  e§  mit  bireften  @roberung§friegen,  befonber^ 
in  ber  ÄotonialpoUtif?  Sin  Staatsmann  mu§  einem  roac^fenbeu 
aSoIfc  für  ein  roac^fenbeS  2lbfa^*  unb  3ufw^rgebiet  forgen.  93e- 
fonber§  ein  beutfd)er  Staatsmann  mü^te  bafür  Sorge  tragen,  ba§ 
bie  auSmanbernben  ©lieber  eineS  SSolfeS  biefem  nid)t  immer  roieber 
perloren  gctien,  \a  feine  g^inbe  geiftig  ftärfen.  2)aS  märe  ein 
notmenbiger,  fittlic^er  Qrozd  unferer  Äolonialpolitif,  für  unfere 
äußere  unb  innere  Sfiftenj  notroenbig,  unS  ein  2IrbeitSgebiet  für 
fitttic^e,  organifatorifd)e,  erjie^erifd^e  ^Betätigung  eröffnenb.  ©o 
mürbe  unfer  geiftigeS  Seben  für  -3öt)rt|unberte  oor  Stagnation 
bemaf)rt,  unb  unfere  äußere  ©fiftenj  oon  ber  äBiüfür  anberer 
SSölter  unabhängig  geförbert,  alfo  inbireft  ber  ^rieben. 

9lun  beginnt  aber  gerabe  mit  ber  Äolonialpolitif  bie  Unfitt* 
Iid)teit.  ®S  ift  baS  momentan  bequemfte  unb  oorteiltiaftefte ,  bie 
Kolonien  ber  ©efc^äftSroelt  jur  SttuSbeutung  ju  überlaffen.  So 
jertritt  man  bie  untermorfenen  Sßölfer,  benen  bie  ©r^ie^ung  burd) 
baS  I)ö^erftet|enbc  SBoH  ein  Segen  fein  tonnte,  burc^  S(^napS, 
9Jlißf)anblung,  Unju^t^),  Sd)ulbenmirtfc^aft.  3)a§  ift  nur  möglich, 
meil  man  ben  oben  genannten  fittlic^en  Qwzd  ber  SloIoniatpoIitiE 
ni(^t  feft  unb  ftarf  im  Sluge  bet)ä(t.  Sonft  mürbe  man  bie  tüc^- 
tigften,  gemiffent)afteften,  fitttid)  t)oc^ftef)enbften  Beamten  bort  i)\\\' 

1)  aJian  Ufc  bie  ©d^ilbcrung  cineS  ^lugenjeugen  in  ber  „Äirc^Iid^cn 
©egenroart"  3a^rg.  1904  ^x.  20  f.  ©.  309  f.  Sßcrlag  o.  93anbeu^oed  unb 
9luprcd)t,  ©öttingen. 


♦ 


494  S^ud^S:  (Sf)nftentum  unb  ^ampf  umS  ^afein. 

fcnbcn,  iDO  man  einem  neuen  3wjcig  be§  alten  35oIfe§  eine  $ei= 
mat  fc^affen,  unb  wo  man  milbe  fßolht  ju  einem  SWaterial  bilben 
mil,  ba§  mit  unfern  eigenen  SSolf^genoffcn  ju  einem  tü^tigen 
Stamme  oerfc^meljen  fann.  2lu^  biefe  fittlic^e  ^ßolitit  wirb  ftreng 
unb  feft  biefe  SBöüer  nieber^alten.  ©ie  wirb  ba§  tun  mit  ber 
feften  Uebetjeugung,  bafe  fie  ba§  im  S)afein§fampf  für  il^r  SBol! 
mu§,  ba^  e§  i^re  fitttidie  ^flidjt  tft.  2lber  fd|on  um  be§  eigenen 
aSolfeü  mitten,  roirb  fte  nic^t  moralifd)  nernic^ten,  fonbem  erjic^en. 

Sine  ^Regierung,  bie  bie  geiftigen  SBerte  fü^It,  !ann  jene 
au§beutenbe  Äolonialpolitif  nic^t  treiben.  Sic  fann  e§  aud^  be§* 
l^alb  nic^t,  meil  fo(d)e  ^oUtif  jerrüttenb  gurüdtmirtt  auf  ba§ 
ganje  SBoIt.  SSBir  muffen  un§  flar  werben,  mie  fe^r  bie  weithin 
ftc^tbare  ©eftalt  eine§  Staatsmanns  baS  fittlid)e  ©mpfinben  bilbet. 
Qnftinttiü  empfinbet  man  bi§  in  bie  fleinfte  glitte  bie  SSBerte, 
nac^  benen  er  mi|t,  unb  ftredft  fid)  nac^  i^nen,  wenn  fie  ^o^ 
finb,  bemoratiftcrt,  rocnn  fie  niebrige  fmb.  Unfer  SBolf  ^at  fidj 
jur  3^it  ^^^  93oerenfriegS  nod)  energifc^  gemehrt  gegen  folc^c 
Seeinfluffung.  3Wan  ^at  beutli^  baS  Oefü^I,  atS  ob  baS  be* 
ftänbige  SUlitanfe^en  biefer,  bie  et^ifc^en  ÜJlotioe  glei^gültig  bc« 
läc^eluben  ^olitit  aQmä^tic^  abftumpft.  SRan  gemö^nt  fic^  baran 
unb  ma^t  e§  fd)lie^Ii^  mit'). 

3)iefe  rüdmirfenbe  Sc^äbigung  beS  eigenen  fittlic^en  SebenS 
hvLxä)  unmoraIifd)e  ^olitit  t)at  ©nglanb  im  93oerentrieg  auSgiebig 
erfat)ren.  Statt  ben  Sßerfuc^  ju  mad^en,  burc^  beffere  aSoItSbif» 
bung  unb  geiftige  SWittel  bie  Stellung  (gngtanbS  in  ^anbel  unb 
^nbuftrie  ju  t)alten,  rooUte  man  ben  SWarft  erobern.  9Won  ent= 
feffelte  ben  englifd)en  K^auoiniSmuS,  ber  atteS  §eil  in  ber  mSg* 
Iid)ft  weiten  SluSbe^nung  be§  worldwide  empire  fiebt  —  ma- 
teriaüftifc^en  Patriotismus  nannte  if)n  ein  engtifc^eS  93latt  — 
unb  biefer  entfeffelte  (£E)auoiniSmuS  machte  baS  gange  93oIf  un- 
fäf)ig  baS  ju  fet)en  unb  ju  tun,  maS  il^m  oor  allem  not  ift,  euer* 
gifc^e  erjiet)erifc^e  2Irbeit  für  ^oc^  unb   nieber,  ©ilbung,  geiftige 

1)  $ume  fagt  in  einem  feiner  @ffat;S,  für  ben  ^^itofop^en  fei  bie 
Seid)tig!eit  überrafd^enb  ,with  which  men  resign  their  own  sentimenU 
and  pasBions  to  those  of  their  rulers'^.  SSßelc^e  ©efa^r  bebeutet  au^erbem 
bie  d^dUf)v  fold^er  i^ertommenen  ^olonialbeamten  für  bie  ^eimat 


^u^§:  ©^riftentum  unb  ^ampf  umS  ^afein.  495 

2)i§jiplin,  ©clbftbc^errf^ung  ju  fc^affcn.  ®er  afritanifc^e  ©icg 
ift  ein  nationale^  Unglücf  für  ©ngtanb.  ®§  lüirb  lange  bauem, 
bi§  bem  diauüiniftifc^  t)errot)ten  SSoIfe  gegenüber  eine  ernfte  nad) 
fittlid^er  Erneuerung  ftrebenbe  Siic^tung  auffommen  !ann. 

©ro^ma^en  fann  ein  95olf  nic^t  ber  ©taatömann ,  ber  e§ 
für  materielle  Qxo^d^,  äußere  @rö^e  fanatifiert.  6in  foId)er  mag 
in  feinem  perfönüd^cn  Scben  fittlic^e  SGBerte  feft^alten.  @r  ar^^ 
beitet  für  nidjtfittlidje.  ®r  ift  ein  gebrochener  Sf)arafter  unb  !ann 
anbere  nur  bred^en.  ®r  uerfülirt  immer  me^r  jur  2:rennung  von 
2lrbeit  unb  ©ittlid^teit,  von  SBaterlanbsIiebe  unb  ©emiffen,  jum 
^urra^patrioti§mu§  in  feiner  ganjen  fittlidien  @rbärmlicl)feit. 
®ro§mad)en  fann  ein  SBolI  nur  ber  Staatsmann,  ber  für  gro^e 
3iele  begeiftert  ift  unb  eS  begeiftern  tann.  3)er  aber  treibt  feine 
^olitif  be§  ®^aui)ini§mu§  unb  ber  9iiebertrac^t. 

SCBenn  nun  gar  ju  ben  größten  ©rinnerungen  eine§  93olfe§ 
grei^eit^fämpfe  gehören,  wie  bei  un§,  unb  ein  Staatsmann  treibt 
eine  "^^Jolitif,  bie  ein  $o^n  ift  auf  jebe  2tc^tung  unb  Segeifterung 
für  ^rei^eit,  ol)ne  Sffiiberftanb  }u  finben,  bann  ift  ba§  ein  3^id)en, 
baj3  baS  geiftige  fieben  niebergc^t,  bie  großen  ©rinnerungen  uer^ 
ge^en  unb  ber  Profit  ju  ^errfc^en  beginnt.  2)ann  nähert  man 
fid^  bem  fünfte,  wo  man  fein  95olf  mel^r  ift,  fonbern  eine  ©e* 
meinfd^aft,  beren  93anb  gemeinfd)aftlic^er  Sd)ad)er  ober  gemein- 
f^aftltc^e  SRaubjüge  finb. 

2Bir  fjaben  in  ®eutfd)Ianb  alle  Urfac^e  unfere  Stimme  laut 
JU  ergeben,  bamit  ba§  Serougtfein  mieber  ermacftt:  Unfer  93oIf 
lebt  von  geiftigen  ©ütern.  3)urc^  fte  ift  eS  geeint  unb  bie  ^^o- 
litif  barf  fie  nic^t  oerac^ten.  2)ieS  ju  oergeffen  märe  für  S)eutfc^' 
lanb  oiel  t)erl)ängni§Dol(er  mie  für  ©nglanb.  2)a§  meniger  tiefe 
unb  jarte  geiftige  Seben  ®nglanb§  fi^Iie^t  ^ompromiffe  mit  bem 
9Waterialt§mu§,  o^ne  fofort  ju  ©runbe  ju  ge^en.  ®er  ©nglänber 
mit  feinem  äu^erli^en  Staat§==  unb  greil^eitSibeal  bleibt  patrio* 
tif ^  auä)  gegenüber  bem  Staate ,  ber  nur  erobert,  ni^t  erjie^t. 
®§  fc^eint,  ba§  ber  ©nglänber  ben  Staat  nur  al§  9Jlad)tfaftor 
unb  jufammen^altenbe  Organifation  innerli^  notrocnbig  f|at.  Unfer 
geiftige§  Seben  ftirbt  fofort  am  9Kateriali§mu§.  Unfer  Patriotismus 
erlifd)t,  menn  ber  Staat  fürS  geiftige  Seben  nichts  me^r  ift.   2)ie 


496  JJurf^S:  (S^riftentum  unb  Äampf  umS  ^afcin. 

S^atfac^cn  rcbcn  laut. 

aSenn  nad)  allen  bicfcn  2Iu§fü^rungen  no^  jemanb  fagcn  rootttc, 
fofd^c  2lrt  bc§  Sampfc§  fei  au  jart  unb  ju  fc^road^  für  bic  SRealitdt 
be§  poütif^en  £eben§,  bem  ^6e  id^  x\od)  einS  ju  antworten. 

Kampf  ift  berechtigt,  aber  nur  ber  Kampf  für  ein  roertüoHeg 
3)afein.  2Ka(^en  wir  unfer  SSolt  gro§  mit  SDlitteln,  bie  i^m  fein 
Oeroiffen,  feine  ©^affcn§freubig!eit,  feine  ©elbfttritit  nehmen,  e§ 
gegen  fein  geiftigeS  Seben  gleichgültig  maciien,  bann  ^aben  roir 
fein  9le(^t  jum  Kampfe  SQ3a§  Ratten  mir  auct|  baoon,  roenn  in 
100  ober  200  ^^al^ren  ein  geroaltigeö  ^anbelS«,  SRaub*  unb  Ko* 
lonialrei^  beftünbe,  ba§  ben  Flamen  3)eutfc^lanb  trüge,  aber  oon 
beutfc^em  ®eift,  beutfc^em  3^beati§mu§,  beutfcf)em  ©emiffen  unb 
©emüt  nid)t§  me^r  ^tte.  3^id^t  einmal  bie  Seute,  bie  bann  lebten, 
^tten  etma§  baoon.  Ober  finb  ©aufen,  Soben,  ©port  unb  an* 
bere  nette  Vergnügungen  ol)ne  geiftige§  Seben  ein  gtüdfc^affenber 
^nf)alt  be§  aWenf d)enleben^  ? 

SBofür  mir  fämpfen  muffen,  ba§  finb  bie  du^ern  unb  innern 
ajiittet  ber  geiftigen  ©fiftenj  unfere§  9Solfe^,  SHaum  für  feine  2:at* 
fraft  fic^  ju  entfalten,  ©tätten  feiner  2lrbeit,  an  benen  feine  ©ei- 
fte^fraft  2lnregung  unb  2lufgaben  empfängt,  ba^  fic  nicl)t  faul 
roirb.  ^ier  motten  mir  fämpfen  mit  ©nergie,  mit  Slufbieten  alter 
ajtittel,  ja  mit  $Rü(ffxd)tglofigteit,  aber  nic^t  mit  3WitteIn,  bie  rürf* 
mirfenb  un§  töten,  nicl|t  mit  brutaler  (Seroalt,  roo  geiflige  Sieg* 
famfeit,  ©elbftjuc^t  am  $la^e  ift. 

3)aB  Krieg  babei  erlaubt  ift,  ift  flar.  SSSie  fteljt  e§  mit  ber 
^interlift?  ©§  gibt  5»otlügen,  bie  fittlic^e  $flict|t  fmb.  SBenn 
id^  ein  ®ef)eimni§  ju  beroal^ren  t)abe  oor  ber  ©etbftfuc^t,  bie  eö 
gegen  ben  anbern  mißbraud^en  mürbe,  ober  oor  ber  Ktatfc^fucijt, 
bie  ba§  innere  Seben  eineig  anbern  entmei^en  roürbe,  mürbe  id) 
tatfäct)li(^  ba§  t)öt|ere  ett)ifc^e  ®ut  preisgeben,  menn  ict)  au§  ©c^eu 
oor  ber  Süge  mir  mein  ®ct)eimni§  entreißen  liefee.  3)ie  Süge  ift 
bann  nid^t  meine  ©ct)ulb,  fonbern  bie  ©cl)ulb  berer,  benen  man 
fein  ajertrauen  fct)enfen  barf.  fSJlzxnt  ©d)utb  nur  infofern,  al§  ic^ 
oietleic^t  nic^t  bag  3^ötige  getan  I)abe,  meine  Umgebung  jur  9Ser* 
trauenSmürbigfeit  ju  erjietien,  ein  SSertrauenSoer^ältniS  5U  fc^affen. 
9hd)t  bie  einzelne  Süge,    ba§  gefamte   aSer^ältniS  ift  bie  ©ünbe. 


^ud^S:  (E^riftentum  unb  Stampf  umS  ^afein.  497 

@o  fielet  c§  an6)  im  53ert)ältni§  bcr  Icitcnbcn  ©taat§manncr 
—  bicfc,  m6)t  bie  SSöltcr,  belügen  einanber  — .  2ln  ©teile  be§ 
ftoljeu  9Jlute§,  ber  fagt:  ^c^  bin  abfolut  rüdCfic^t§lo§,  egoiftif^ 
für  mein  SSolf,  ift  bie  ^eucftelci  getreten,  bie  ein  abftrafteS  ®e* 
rec^tigteit§bilb  qI§  I)ö*ften  aWa^ftab  oorf^ü^t.  2In  ©teüe  be§ 
93ertet|r§  von  3Kann  ju  SJlann  fte^t  gerabe  in  ber  biplomati[d)en 
aSäelt  bie  gefeUfc^aftlic^e  ©leifnerei  in  all  i^rer  äu^erlid)en  greunb^^ 
lic^feit.  (Statt  ju  fagen:  §ier  fmb  meine  Qntereffen,  ^aft  bu 
gleiche,  bann  gel^'  mit,  ^aft  bu  entgegengefe^te:  9Bir  motten  un§ 
au^einanberfe^en,  fuc^t  man  ben  anbern  in  '^aütn  unb  9ie^e  ju 
toden.  ^n  SQSirflic^feit  ge^t  er  natürli^  beften  gaU§  boc^  nur 
ein  paar  (2d)ritte  auf  bem  falfc^en  2Beg  mit  unb  lo^nt  mit  bop« 
pelter  ^eimtürfe  unb  ^a&. 

2lber  bie§  ganje  Oebiet  ber  3Serlogenl)eit  ift  nii^t  oon  einem 
aWann  mit  einem  ©c^lag  ju  änbem.  @r  mup  it)iffen,  ba^  e§  fo 
fte^t,  mu|  ba§,  roa§  an  i^n  herantritt,  barnac^  beurteilen,  unb 
ma§  er  fagt  unb  tut,  mu^  eben  fo  gefagt  fein,  roie  man  gu  l)in^ 
terliftigen  g^eunben  rebet  b.  1^.  SSertrauen  unb  SBa^rf)eit  fönncn 
nic^t  immer  barin  fein.  2:ro^bem  mirb  ein  freimütiger  3Wann  f^on 
einen  Schritt  jur  2öal|r^aftigteit  tun  !önnen.  SSietleic^t  mirb  er  im 
Greife  ber  Diplomaten  um  fo  energifc^er  roirten  unb  um  fo  met|r  er* 
reid^en,  je  roal|rt)aftiger  er  ift.  9Jlac^t  man  bo^  fd|on  im  geroo^nlic^en 
Seben  bie  ®rfa^rung,  ba^  @l|rti^teit  bie  befte  ^olitif  ift,  meil  man 
bann  Vertrauen  gewinnt  unb  bie  ^intertiftigen,  bie  ja  bod)  nic^t 
glauben  fonnen,  ba|  einer  e^rlicfi  ift,  il)re  fallen  boc^  nic^t  auf 
ben  SGBeg  legen  werben,  ben  man  i^nen  al§  ben  feinigen  ange« 
geben  l^at.  9Sor  allem  aber  ba§  ©rmerben  be§  93ertrauen§  ift 
entfc^eibenb.  ftein  Staatsmann  mirb  gro^e  ©rfolge  auf  bie  ®auer 
^aben  o^ne  e§.  (Ss  roirb  ermorben  bur^  ben  9Jlut  ber  3ßa^rt|eit. 
3luc^  in  ber  Diplomatie  t)at  bie  ftärffte,  el)rlid)fte  ^erfönlicl)teit 
fc^fie^lic^  bie  größte  Äraft  unb  ben  entfc^eibenben  ©rfolg.  2lud)  für 
bie  innere  ^olitif  ergeben  ftd)  entfdieibenbe  JWegulatioe,  menn  man  i^r 
al§  ]^ö^fte§  ßiel  ba§  geiftige  SBo^l  be§  93olfe§  fe^t.  ^\)m  gegen* 
über  ift  ber  Staatsmann  fd)on  al§  ^erfönlic^feit  erjiel^enbe  3Jlad)t 
unb  ^at  alfo  baS  Sßorbilb  einer  reinen,  ftarten,  e^rlid)en  unb  mu- 
tigen "ißerfönlic^feit  ju  geben,  mie  oben  f(^on  au§gefüt)rt. 

3<ltf(^rift  für  Ideologie  unb  Älr(!^«.  14.  Ojo^rg.,  6.  ^eft.  B4 


498  5J  u  (^  § :  ©^riftcntum  unb  Äampf  uin§  ^afcin. 

Unb  bann  ba§  ^ßartcilcbcn.  @§  bringt  überallhin.  6§  fßnntc 
eine  crjicl^cnbc  SDlac^t  crften  SRangcg  fein,  inbem  e§  überatt  eine 
el^rli^e  unb  SBa^r^eit  fuc^enbe  Si^fuffion  über  bie  brennenben 
©yiftenjfragen  be§  SBolf»Icben§  l^crbeifü^rte.  3)a  aber  ba§  ^öc^fte 
®ut  unfercr  ^olitif  9Kad)t  ber  Partei,  b.  f).  in  fester  Sinie: 
3Sla(i)t  für  fid),  ift,  fo  ift  fie  bie§  ganje  niebrige,  ocr^e^cnbe 
abreiben,  in  bem  e§  ^artcibogmen,  aber  fein  ©u^en  nad|  SBa^r» 
^eit  unb  ©orgen  für  ba§  SBo^I  be§  »olfeg  me^r  gibt.  3lDe 
3^ragen  werben  ^arteifragen,  b.  1^.  unter  bem  @efid)t§puntt  be» 
l^anbelt :  SBie  machen  n)ir  barau§  ein  Slgitation^objett,  roie  muffen 
wir  un§  fteüen,  um  bie  SSorurteile,  Setbenfd^aften,  3)umml^cit  ber 
9Jlaffe  auf  unferer  ©cite  ju  tiaben?  @§  roirb  nic^t  gefragt :  SBie 
wirb  ^ier  ba§  SBo^l  be§  SBolteS  geförbert?  9tun  rairb  ja  ba^ 
roo  ^Parlamentarismus  ^errfc^t,  bie  grage  nac^  ber  Oeminnung 
be§  aSoIfeS  eine  jentrale  fein  für  jeben,  ber  politifc^  etmaS  für 
e§  tun  miß.  Qft  unS  ba§  SBo^I  be§  3JoIfe§,  ber  Äampf  für  fein 
geiftigeS  Seben  bie  ^auptfad^e,  bann  werben  mir  eS  geminncn 
burc^  eine  cnergif^e,  tiefgelienbe  ®rjie^ertätigfeit.  Siaumann  ^atte 
fte  angefangen.  ®§  ift  l^öd^fte  3^'*/  ^o&  öß^/  ^^^  för  i^r  SJoIt 
ein  ^erj  tiaben,  fiel)  ^ier  in  bie  2lrena  begeben,  al§  politifc^e 
9SoIf§erjiel|er.  SBenn  mir  nur  ba§  eine  täten,  ba§  mir  aU  ge* 
bitbete  SWänner  unS  ju  öffentlid)er  ®i§fuffion  in  frieblic^cn, 
Dorne^men  g^ormen,  mit  bem  3i^I  ^i^  SBal^r^eit  ju  finben  über 
alte  brennenben  S^^gen,  jufammenfd^Io^cn.  ©oId)e  2lu§taufcbDer* 
einigungen  mürben  balb  eine  ftarfe,  gefmnungSbilbenbc  SWac^t 
?laumann  ^atte  etma§  berartigeS  angefangen.  SBo^in  ber  ©tanb* 
punft  ber  morallofen  ^olitif  fül^rt,   jeigt  ein  Slrtifel  ber  |)ilfe. 

^n  \i)m  l^ei^t  eS,  religiöfe,  päbagogifd^e  ^ntereffen  mögen 
ja  für  bie  fonfcffioneCe  ©c^ule  fprc^en,  ba§  politifdie  ^ntereffe 
jmingt  un§,  gegen  fie  ju  fein.  Sllfo  fc^Iec^te  ®rjiet|ung  be§  SBolfeS, 
Job  feiner  JHetigiofität,  ba§  alle§  miegt  nid^t.  @§  miegt  aber, 
ob  biefe  ober  jene  Partei  geftärft  ober  gefdimäc^t  mirb.  ®a§  ift 
morallofe  ^otitit. 

aaSer  bie  Äü^n^eit  t|at,  at§  ^olitifer  an  ber  großen  aufgäbe 
ber  ©orge  für  ba§  SBoltSmot)!  mitarbeiten  ju  moDen,  ben  mu^ 
bie  Kraft  feine§  ®efü^I§  für  ba§  ©eifteSleben  feine«  93oIfe§  babei 


fjud&g:  ©^riftentum  unb  Äampf  um§  S)afctn.  499 

bcl^crrfc^en  unb  leiten.  SEBo  er  aixütx6)t,  begel^t  er  nid^t  nur 
einen  oerjci^Uc^en  geiler,  fonbern  ein  55  e  r  b  r  e  (^  e  n.  @r  wirb 
jur  9Äad^t  ber  Semoralifation  für  fein  ganje§  SSoIt.  Steine,  be=» 
geifterte  ^olitü,  fittlid^e  ^olitit  getragen  non  ftttlic^en,  begeifter* 
ten  aWännern,  baS  muffen  wir  fd^affen  in  ben  nä^ften  jet)n  Sla^^ß«/ 
ober  roir  gelten  unter ;  benn  fittlid)e  ^ßolitit  nac^  innen  unb  au^en 
ift  erfte  ©fiftenjbebingung  eine§  a8olfe§. 

®§  war  oben  fc^on  baoon  bie  SRebe,  ba|  ber  @eift  ber  ^olitif 
burd^ficfert  jum  Jßolfe.  ®8  ift  noc^  ein  anberer  SBeg  ha,  auf 
bcm  ba§  gefc^iet)t.  SBir  tonnen  ba§  gerabe  in  unferen  2:agen 
fel)r  beutlic^  oerfolgen. 

3[e  me^r  ein  3Wann  an  irgenb  einem  fünfte  unfittlid)en  93c» 
n)eggrünben  Staum  gibt,  feinen  S^arafter  bredjen  lägt,  befto  mel^r 
oerliert  er  ba§  ©efü^I  für  bie  SBi^tigteit  biefer  ffierte  unb  für 
i^r  aSor^anbenfein  in  anbcrn.  ®r  fie^t  nur  noc^  barauf,  inroie* 
roeit  biefe  anbern  brauchbare  SBerfjeuge  finb  ober  nid)t.  ©te^t 
ein  fotd^er  SWann  nun  an  l^eroorragenber  ©teile  im  ©taatSleben, 
fo  n)irb  er  bie  ju  fic^  tjinaufjiel^en,  bie  fic^  burd)  i^re  ©efügig« 
feit,  ni^t  biejenigen,  bie  fid^  burd^  2:üd^tigfeit  empfel^Ien.  3)a§ 
Strebertum  ol^ne  Oeroiffen  unb  perfönlidie  Ueberjcugung  für  bie 
Slufgaben  beS  betreffenben  9lmte§  ^at  baS  gelb.  @benfo  nergibt 
man  ^lä^e  unb  ©teilen  nad)  ^arteirüdEftc^ten  mit  bem  ^inter* 
gebauten,  läftige  ^ünber  ju  ftopfen,  mächtige  Seute  ju  geminnen 
o^ne  JU  fragen,  ob  für  bie  9lufgaben  biefer  ©tetlung  ber  betreff 
fenbe  ber  SRic^tige  ift.  9Son  biefen  au§  gel^t  bann  baäfelbe  ©gftem 
nad^  unten  meiter.  @S  beginnt  ft^  bie  93eamtenfd^aft  mit  benen 
}u  burc^fc^en,  bie  nad^  unten  treten,  nac^  oben  tried^en,  rafd^ 
oormärtS  tommen  unb  menig  oormartg  bringen,  bie  brennenbften 
fragen  unberührt  laffen,  weil  fte  unbequem  unb  bem  gorttom* 
men  gefätirlic^  finb.  Qe  l^ö^er  man  ben  crjiel^enben  ©influg  an* 
f^lägt,  ben  bie  beutfd^e  SSeamtenfd^aft  auf  ba§  beutf^e  aSolt  ge* 
^abt  \)at,  befto  me^r  mu§  man  Don  biefer  ®efa^r  für^ten.  3)er 
beutfd^e  ©eamte  oon  el^emaK  in  ©adjnerftdnbni^  unb  ^flic^tbe- 
mugtfein  lehrte  bur^  fein  93eifpiel  alle  fragen  rul^ig  anfaffen, 
geregt  prüfen  unb  mül^fame  Slrbeit  nic^t  fd^euen.  Ob  er  e§  no^ 


B    J 


500  ^uä^S:  (^^riftentum  unb  ^mnpf  umS  ^afein. 

(cl^rt?    a3iclfa(^  fielet  ntd^t. 

SBir  fmb  ^icr  toicbcr  mitten  im  Äompf  umS  3)afcin.  2tuc^ 
ein  53eamter  ate  folc^er  mu§  i^n  fampfen.  ®r  mu§  ftrebcn, 
feine  ©ad)uerftänbni§,  feine  $Iäne  unb  ®eban!en  für  baS  SBcfte  be§ 
®ebiete§,  ouf  bem  er  arbeitet,  jur  Slnertennung  ju  bringen.  ®r 
mu^  alfo  ®inf[u|  unb  Tla6)t  fuc^en,  in  bic  ^ö^e  !ommen  moUen, 
je  bebeutenber  er  ift,  um  fo  l^ö^er.  3)a§  ift  feine  ^flic^t  fogar. 
2lber  er  mu^  baS  tun,  meil  er  fül^tt,  ba§  er  mit  feiner  2lrt  etmaS 
leiften  fann,  oerbeffern  tann,  bog  SBolfSleben  innerlich  ober  äuger- 
li^,  für  fein  ®e6iet  roenigftenS  förbern  wirb,  b.  ff.  er  mug  93e^ 
geifterung,  ®efü^l  für  bie  SBerte  be§  S8ot!§Ieben§,  Suft  an  i^rem 
3ortfc^reiten  unb  Sßermel^ren,  SBiUe  mitju^elfen,  Äraft  mitju^elfen, 
in  ftd^  ^aben.  ^at  er  fie  in  ft^,  bann  l^at  er  ®efü^l  für  bie 
SBerte,  t)on  benen  (^riftlic^e  Stl^if  fagen  mu^:  biefe  ju  förbern 
ift  beine  3lufgabe  al§  Beamter. 

3[ft  il^m  aber  fein  l^ö^fter  SBert  ber  2:itel  unb  ber  ®el^alt, 
bann  ^anbelt  er  unftttUi^.  ®en)ig  l^at  ber  ^Beamte  ba§  9}e^t, 
ben  So^n  ju  forbem,  beffen  er  wert  ift,  fx6)  eine  finanjieDe  ©tcl* 
lung  JU  fiebern,  bie  it|m  freubige§  Slrbeiten  mit  üoüer  Straft  er- 
möglicht unb  il^m  ben  anbem  SSoItStreifen  gegenüber  ba§  9(n« 
fetien  gibt,  ba§  er  braucht,  um  mit  il^nen  unb  für  fie  mirfen  ju 
fönnen.  2Iber  bie  ^auptfac^e  mu§  it|m  bieg  SSJirfen  fein.  9lun 
fann  freiließ  nic^t  jeber  geiftige  SSJerte  felbft  f(^affen,  ober  felb» 
ftänbig  fie  in  Drganifationen  u.  f.  xo.  realifieren.  ©eSl^alb  mu| 
ni^t  jeber  in  leitenbe  ©teDung.  2lber  jeber  mu§  fic^  in  eine 
Stellung  l^ineinarbeiten,  in  ber  er  feine  Gräfte,  feine  JBegeifterung 
jum  SBol^I  be§  ®anien  betätigen  !ann.  ^eber  ^at  au^  bie  ^Pic^t, 
bie  anbern,  nid(tbegeifterten,  bie  ©treber  fo  oiel  roie  möglich  ju= 
rfidFjubrängen.  ®§  ift  man^mal  ein  t)arter  ^ampf.  @r  mug 
geführt  werben  unb  e§  mu^  babei  bie  innere  Äraft  feftgetioUen 
unb  erfämpft  merben,  ba^  man  nid^t  um  feiner  felbft  miflen,  fon* 
bem  um  ber  ©ad^e  roiüen  fämpft  unb  in  bie  ^ö^e  miU.  S)ann 
mirb  man  fd)on  in  ber  2tu§n)a]^l  ber  ÄampfeSmittel  oorfic^tig 
merben.  3Ber  in  bie  ^öl^e  mitt,  um  für  baS  fittli^e  SBo^I  bcS 
33oIte§  arbeiten  ju  fönnen,  mirb  ni^t  um  bie  ®unft  berer  buhlen, 
bereu  ®unft  er  nur  ^aben  tann,  menn  er  fic^  binben  lä^t,  ge» 


fjurf|§:  ®f)riftcntum  unb  Kampf  um§  S)afein.  501 

fügigcg  SBcrljcug  ift.  ®r  wirb  nid|t  in  bie  ^o^e  ftrcben  mit 
©^araftcr  ucrbcrbcnbcn  SJlitteln,  ba§  er  bann  al§  gebrochener  ®l^a* 
rafter  gar  niditS  mel^r  leiften  fann.  ®r  wirb  and)  nic^t  mit  SBcr- 
l^c^en  unb  SBerärgern  feiner  SWitarbciter  ooritärtSftreben.  O^ne 
fie  fann  er  aui^  nid^tö  leiften.  ®r  mirb  überl^aupt  ba§  Sebürf* 
ni§  ^aben,  allein  feinen  innern  SBert  aU  entfc^eibenben  ^altor  in 
bie  SBagfd^ale  gu  werfen  unb  fein  SWittel  anjuroenben,  burc^  ba§ 
er  f^lie^Iic^  einen  beffern  jurüdtbrängen  fönnte.  S)a§  ift  ©itt* 
li^feit  im  Kampf  um§  S)afein  be§  S3eamtenleben§. 

8Ba§  ba§  Strebertum  in  ber  93eamtenfd^aft  ift,  ift  ber  mit 
unfittlidien  3Jlitteln  geführte  Äonturrenjtampf,  ha^  Unreelle,  in 
ber  ®efd|äft§roelt.  ®a§  @efc^äft§leben  ift  x)on  eminenter  53ebeu* 
tung  für  ba§  Sßolf^leben,  einmal  al§  einer  ber  mic^tigften  %ah 
toren  in  ber  ©idjerung  ber  äußeren  Syiftenj,  ber  finanjietlen  ®e* 
funb^eit  unb  SKai^tfteHung,  bann  aber  al§  ba§  ©ebiet,  burc^ 
bcffen  2lrt  unb  ©eift  ber  ©tiarafter  unjäbliger  entfc^eibenb  beein* 
flu^t,  auf  bem  unb  in  beffen  aSerfud^ungen  unb  Kämpfen  ber 
roerbcnbe  ©l^aratter  fi(^  übt.  SBir  fe^en  fofort,  ba^  für  ba§ 
gciftige  SBo^l  be§  aSoIfeö  jmeierlei  oon  SSebeutung  ift.  ®inmal, 
ba§  bort  ©itten  unb  Oebräu^e  l^errfi^en,  bie  bie  ©fiarafterbilbung 
nid^t  }u  f d^roer  machen ;  bann  ba^  bie  tüc^tigften,  beften  @ef d)äf tS^^ 
leute,  bie  flügften,  gef^idtteften,  meitfc^auenbften  fid)  in  bie  ^ö^c 
arbeiten  unb  bie  g^tirer  ber  @efd)äft§n)elt  im  ©jiftenjtampf  na^ 
au^en  werben. 

®a§  bebingt  eine  boppelte  fittlidje  ^flidjt  be§  einseinen  ©e« 
f^äft§manne§.  @r  mu^  feine  ganje  Kraft  aufbieten,  um  alle  bie 
©itten  unb  ©ebräud^e,  bie  ben  ®^aratter  bebrotien  unb  unter* 
graben,  ju  befeitigen.  ©erabe  bie  ©efc^äft^melt  ift  baran  reic^. 
©0  roenig  roie  in  ber  biptomatif^en  SOBelt  fann  ba§  mit  einem 
©c^log  befeitigt  merbcn.  2lu^  bie  ^orDerung  an  ben  ©injelnen: 
bu  barfft  baoon  nichts  mitmachen,  ift  ni^t  beredjtigt.  ^i)x^  ©r= 
fflüung  mürbe  jur  golgc  l^aben,  ba§  bie  @efc^äfl§melt  t)on  il^ren 
ftttlic^  ftärfften  ©liebern,  bie  fic  bitter  nötig  t|at,  gefäubert  mürbe, 
©elbftnerftänblic^e  SSorauSfe^ung  ift,  ba§  ber  ©efd)äft§mann  ba§ 
2Wa§  be§  inoffijiell  jum  SRe^t  geftempelten  Unrechts  nid|t  über* 
fdireitet.    ®ic  ©efd^äftSleute  felbft  ^aben  ein  fd^arf  ausgeprägtes 


502  gr  u  c^  S :  ^^riftentum  unb  ^ampf  umS  ^afein. 

©cnforium  bafür,  voo  nur  bcr  einmal  notrocnbtgc  ftniff  ober  n)o 
Unreellitdt  oorlicgt  unb  l^anbcln  barnad^.  2)iefe§  in  feiner  bc* 
bingten  ^ere^tigung  i^nen  jujugefte^en^  fträubt  man  fiä),  meil 
man  fonft  fürd|tet,  ben  fittlic^en  9Jla^ftab  it)nen  gegenüber  über« 
^aupt  ju  verlieren.  3)a§  ift  aber  burc^au§  ni^t  notmenbig.  ®er 
©efc^äftSmann  mei^  ganj  genau,  ba|  biefe  Kniffe  i^n  fittlic^  ge- 
fo^rben.  9Iur  ift  i^m  ber  9tigori§mu8,  ber  i^n  ruinieren  roürbe 
unb  bie  mirflid)  Unreeßen  jur  ^errfc^aft  bringen  würbe,  unau§* 
fü^rbar.  3ugangU(^  ift  er  für  ben  ^inmeiS  barauf,  ba§  fein 
©^aratter  in  biefer  @efci^äft§prayi§  nid^t  erliegen  barf  unb  ba§ 
baS  bebeutet  fiampf  gegen  aQe§  Unred|t  barin.  35enn  ein  S^a- 
rafter,  ber  nid^t  mel)r  !ämpft,  ift  ja  gebrochen,  ^ier  l^at  ber 
Raufmann  eine  ernfte  ^pic^t  gegen  feinen  ganjen  ©tanb,  ba§  ein* 
gef^li^ene  Unred^t  l^inauöjufd^affen  unb  bafür  ju  forgen,  baj5  e§ 
m6)t  roä^ft.  2lu^  l^ier  gilt  i^m  roieber  ba§,  ba^  ber  fo  aUmä^« 
lid^  Dom  Unrecht  fi^  befreienbe  Saufmann  baS  SBertrauen  ber 
anbern  unb  be§  ^^ublitumS  in  immer  f)öt|erem  ®rabe  genießen, 
mirb,  mag  auc^  im  ®efd)äf trieben  oon  entfrfieibenber  ©ebeutung  ift. 

daneben  nun  ^at  bcr  ©efdiäft^mann  ben  Äonturrengfampf 
mit  allen  il^m  ju  ©ebote  ftel)enben  3MitteIn  ber  (Energie  unb  Älug= 
^eit  JU  füt)ren.  ©el^en  babei  anbere  ju  ©runbe,  fo  tann  er  baS 
nic^t  änbern.  Seine  $fli^t  gegen  fein  3Solt  ift,  ju  forgen,  ba§ 
im  ©efc^äft^Ieben  ber  energifc^fte  ftart  mirb,  gül^rer  roirb.  ®e= 
rabc  biefe  ^flirf)t  aber  oerbietet  il^m,  unreeüe  SWittel  ju  ge* 
brauchen.  Unreelle  SWittel  fc^affen  ni^t  ben  tatfäc^lic^  ©tärtften 
unb  ©efünbeften  oormärt^,  fonbern  ben  niebrig  ©efmnten,  ber  bie 
n)irftidf)e  J^raft  be§  ©efd)äft§lebeu§  nid)t  förbert.  ®amit  f^äbigt 
er  alfo  nid^t  nur  bie  Äon!urrenten,  fonbern  bireft  ba§  ganje  fßolt, 
oor  allem  aber  bur^  SBermetirung  be§  Ungered^ten  im  Seben,  bie 
©^aratterbilbung  innerl^alb  feinet  ©tanbe§. 

Sin  all  bem  mirb  nid^tS  geänbert,  menn  man  in  93etra^t 
jiet|t,  ba^  ber  ©efd)äft§mann  aud)  für  bie  Sjiftenj  feiner  ^omitie 
ben  Kampf  fü^rt.  ^m  ©egenteil,  biefer  @efid)t§puntt  oerftärft 
bie  et^ifc^e  ^ofition.  ©inen  fittli(i)en  3Bert,  für  ben  gefdmpft 
werben  barf,  t)at  nur  bie  ^omilie,  bie  eine  erjiel)enbe,  ftttli^ 
ftärtenbe  9Jlad)t  für  it(re  ©lieber  ift.  Saju  muffen  aber  bie  9Ma§= 


3rud^§:  ©^riftctttum  unb  l^am^jf  untS  ^afcin.  503 

gcbcnbcn  barin,  SSater  unb  SKutter,  ©^arattcrc  fein,  ©in  un- 
cl^rlii^cr  @cfd^äft§mann  ift  aber  ein  ocrgiftcnbeS  ©Icment  aud^  in 
feinem  Familienleben.  SWan  wirb  nid)t  ermatten  tonnen,  ba^  er 
ftttlidie  SCBerte  bei  ben  ©einen  fdiafft  unb  ftärft.  @in  JRei^t,  für 
bie  Syiftenj  feiner  gamilie  bie  anberer  ju  gefäl^rben,  \)at  er  üom 
fittlid^en  ©tanbpunfte  au§  nic^t  me^r. 

©0  finb  alfo  bei  biefcm  Slampf  um§  SDafein  alle  SWittel  auS* 
gefd)Ioffen,  burd)  bie  fid^  ba§  minbermertige  (Clement  über  ba§ 
SQSertüolle  ju  erl)eben  fud)t  unb  alle,  bie  ein  ^^^Pö^^^  ^^^  ^^^' 
rattert  für  ben  barin  ©tel)enben  bebeuten.  So  roenig  im  Beamten* 
ftanb  allein  um  @^re  unb  2^itel  getämpft  werben  barf,  fo  menig 
im  ®efd^äft§Ieben  um  (Selb  allein.  ®§  ^at  feine  Slufgabe  für 
ba§  3wf<^"^w^^i^f^^^^  be§  Sßol!e§  unb  mir  ^aben  biefe  ben  ©efc^äftg- 
teuten  met)r  unb  mel)r  mieber  Ilar  ju  madjen. 

Siefelbeu  ©runbfä^e  finb  auf  ben  Kampf  ber  untern  ©tänbe 
um  9Sormärt§fommen,  beffere  Söl^ne,  freiere  Stellung  anjumenbcn. 
Sie  fmb  fitttid^  bered^tigt,  bcnn  ba§  alle§  ift  SBorau^fe^ung  einer 
immer  madtifenben  Sefc^äftigung  mit  geiftigen  3)ingen  unb  ©e« 
ftaltung  be§  inbioibuellen  unb  gamilienleben§  burd)  fie.  ®er 
ganje  Kampf  mürbe  fofort  jum  Unglüd  für  ba§  ganje  SJolf  unb 
für  biefe  Stäube  felbft,  roenn  bie  äußere  Seite  ber  Sac^e  bie 
^auptfad)e  märe  unb  bliebe.  $ot)er  SoI)n,  menig  2lrbeit  madfjt 
niemanb  glüdtlid),  niemanb  ju  einer  mertoollen  ^erfönlid^teit.  ©lüdE 
gibt  nur  geiftigeS  Seben.  91un  fönnen  bie  aufftrebenben  Stäube 
natürli^  nic^t  fofort  fe^cn,  wa^  fie  brauchen.  Sie  empfinben  ju- 
näc^ft  unb  Dor  allem  bie  äujsere  ^Jeffel.  ^t)nen  bie  2lugen  ju 
offnen  für  bie  Slotmenbigteit  be§  ©eiftigen,  i^nen  bieg  ju  bieten 
unb  fie  burd)  e§  ftarf  unb  juf rieben  p  mad^en,  ift  unfere  3Iufs 
gäbe.  Söfen  mir  fie,  bann  roerben  mir  htn  fojialen  Kampf  cer- 
fittlid^en.  ©r  mirb  immer  roeniger  mit  ^a§  unb  95ert)e^ung  ge* 
fü^rt  merben,  je  me'^r  man  ben  3CBert  ber  innern  (Süter  erfennt 
unb  fie  nic^t  fd)äbigen  mill. 

Umgefel^rt  b^ben  mir  ben  ^ö^eren  Sc^id^ten  ber  ®efellfd)aft 
ba§  SRed)t  ber  Slrbeiter  auf  eigene^  gciftige§  fieben  flar  ju  mad^en 
unb  aud)  fie  }u  fittlidjer  2lrt  be§  Kampfes  mel^r  unb  me^r  ju 
ergießen. 


504  f^  u  d)  § :  G^^riftentum  unb  ^ampf  umS  ^af ein. 

©0  ift  überall  ber  Äampf  oom  (^rifttic^en  ©tanbpunft  au§ 
bcrcd^tigt.  ®r  ift  ^fiic^t  be§  K^riften.  aSorau§fc^ung  frcilid^  ift, 
ba§  er  an  fi^  arbeitet,  fid)  ju  einer  roertooöen  ^ßerfonlic^teit  ju 
ma^en  fu^t,  bie  ber  ©elbftbe^auptung  wert  ift.  3)ann  aber  ^at 
er  ftc^  unb  feine  SBerte  burc^jufe^en  unb  ju  erhalten,  um  be§  ©c» 
roiffenS  roiHen.  3)a^  ber  ßantpf  mand^mal  fo  heftig  wirb,  ba§ 
©d^road^e  neben  il|m,  bur^  il^n,  ju  ®runbe  gel)en,  entbinbet  i^n 
nic^t  t)on  ber  ?Pflid)t,  feine  ^erfönli^teit,  bie  SEBerte,  bie  fein 
©eroiffen  als  bie  ^öd^ften  empfinbet,  jU  behaupten,  feine  2lufgabc 
in  ber  SBelt  ju  tun.  ®ott  l^at  nun  einmal  ben  Kampf  al§  ba^ 
SKittel  georbnet,  ©tarfe§,  auc^  ftarfe  ®l)ara!tere  ju  f(^affen,  unb 
mir  l^aben  tt|n  ju  ffil^ren. 

greilic^,  mer  fämpft  um  feiner  fitttic^en  ^erfönlid^teit  millen, 
für  ftttlic^e  SBerte,  ber  ^at  auc^  ba§  SBertempfinben  für  ben  SBert 
jeben  menfd^lid^en  <3nbit)ibuum§,  baS  für  fold)e  SBerte  gefc^affen 
ift.  S)e§^alb  mirb  er  ben  ®afein§tampf  nic^t  mit  ber  blutigen 
.^ärte  beS  (Sgoiften  führen  fönnen.  @§  fommen  bie  beiben  mit* 
bemben  ©timmungen  als  Slegulatioe  in  93etrac^t,  SKitleib  unb 
Öarml^erjigteit.  ^t  !larer  mir  er!ennen,  ba§  mir  ben  Kampf 
fül)ren  muffen,  je  mel^r  mir  fül|len,  ba^  ©(^onen  beS  ©d)ma^en 
im  3)afein§fampf  eine  ©ünbe  gegen  bie  etbifdien  SSßerte  ber  ®e* 
meinf^aft  ift,  befto  mel^r  muffen  mir  alleS  tun,  ma§  mir  fönnen 
in  gürforge  für  biefe  ©^mac^en,  (ärjie^ung  ju  Kraft  u.  f.  m.,  in* 
bem  mir  bie  SSJelt  mit  foldien  SSeranftaltungen  burdife^en,  bie  ba§ 
tun,  otine  bod)  ben  Sieg  ber  ©tarfen  aufjutjalten.  §ier  ift  bie 
gürforge  für  bie  2lrmen,  ba§  ©c^affen  oon  2Irbeitiggelegent|eiten, 
ba§  SBSieberaufric^ten  gebrod)ener  ©yiftenjen,  ba§  ®rjiet|en  über 
bie  ©ünbe,  ba§  9iac^ge^en  gegenüber  SSerbrec^ern  unb  ©efaltenen 
am  ^(a^.  ®§  ift  ein  Sebenöintereffe  ber  ©emeinfc^aft,  alle  biefe 
ftnfenben  Kräfte  mieber  in  bie  Slrbeit  für  ba§  @ute  ju  ftellen.  9lur 
fage  man  nid)t,  ba|  ba§  nor  allem  anbern  ba§  SGBefen  d^riftlic^er 
Siebe  fei.  K^riftli^e  Siebe  mu|  baS  tun.  ©ie  allein  ift  bi§  je^t  ftart 
genug  gemefen  ^ier  }u  arbeiten,  mo  e§  gar  feinen  äußeren  So^n 
gibt.  2tber  e§  ift  nur  eine  9leu§erung  biefer  Siebe,  menn  auc^ 
nielleic^t  i^re  rül^renbfte.  3)iefetbe  Siebe  mu^  bie  ftarfe,  begei* 
fternbe  Kraft  be§  gefamten  93olfgleben§  fein  al§  ber  fefte,  reine 


fj  u  d^  8 :  S^riftcntum  unb  Äatnpf  um§  S)afettt.  506 

9Biüe  im  Äampf  unb  in  bcr  3lrbcit  gciftige  SSJcrte,  ©^araftcrc 
ju  f^affcn  unb  ju  crl^altcn.  §ö^cr  ate  SDlitIcib  unb  S3armt)erjig» 
feit  ftc^t  ba§  ©Raffen  unb  ©r^attcn  ber  ©tarfcn,  natürlid^  bcr 
ftttlid^  ftarten.  S)a  roir  aber  aßc  bic  5ßunttc  ^aben,  wo  mir 
fc^road^  jtnb,  unb  ba§  fd|onenbc,  bcffernbe  ©ingreifcn  jener  für* 
forglidien  Siebe  brausen,  werben  wir  l^offenttic^  au(^  alle  e§  ben 
anbern  su  Jeil  werben  laffen,  fonft  werben  wir  boä)  ©goiften 
unb  lämpfen  tatfäcf(Iici^  ni^t  für  geiftige  SBerte. 

greitid^,  nie  bürfen  wir  3Äittelb  unb  SSarm^erjigfeit  fo  weit 
treiben,  bajj  wir  un§  unb  unfere  geiftigen  SBerte  ni(^t  me^r  burd^- 
fe^en,  weil  wir  anbere  bamit  fc^äbigen  würben,  ba§  wir  bie  poji* 
tioen  2lufgaben  Dernai^Iä^igen,  weil  un§  bie  ^ntäjt,  einem  kleben« 
menf^en  ju  na^e  ju  treten,  bie  ^änbe  binbet. 

9loc^  eine  ^xaQt  ift  l^ier  auf juwerfen :  Surfen  gange  ©tänbe 
3Witleib  unb  53arm^erjigteit  in  2lnfpruc^  nel^men.  ©anj  gewi^. 
@ben  foweit  fie  f^wad^e,  fittlid^  gefd^rbete,  finanziell  unterge^enbe 
©tänbe  finb.  2)ann  aber  muffen  fte  jugefte^en,  ba^  fie,  foweit 
unb  folang  jte  3)litfeib  in  Slnfpruc^  nel^men,  al§  ©lieber  betrachtet 
werben,  bie  ba§  SBoKSteben  l^emmen,  auf  bie  man  nur  foweit 
SRüdEfid^t  nehmen  barf,  al§  bie  oorwärt^ftrebenben  ©tänbe  nid^t 
gel^inbert  werben.  3)en  üorwärtSftrebenben  um  be§  fmfenben 
willen  ^emmen,  barf  man  nic^t.  ©egen,  Kraft  ift  ber  ©taat  nur, 
foweit  er  felbft  fämpft,  SBerte  fd^afft,  fic^  oben  erhält,  ©in 
©tanb,  ber  SKitleib  unb  93arm^erjigfeit  verlangt,  folange  er  noc^ 
fämpfen  tann,  ift  faul  unb  burc^  ©(^läge  auf jurütteln,  nic^t  burd) 
53emitleiben  unb  ©d^meidEieln  weiter  ju  oerberben  (j.  93.  bie  93auern). 

5Ba§  iä)  jeic^nen  woHte,  ift  ein  Q^beal.  —  93ielleid^t  aber 
gibt  e§  bo^  met)r  SJlänner  al§  man  glaubt,  bie,  wenn  aud^  un* 
bewußt,  fo  !ämpfen.  3»^ber  oon  un§  tämpft  aud|  auf  unftttlid^e 
Slrt  neben  bem,  worin  er  rein  Kmpft.  Qeber  oon  un§  bemit* 
leibet  auc^  auf  unfittlic^e  2lrt  neben  ber  reinen  Seilnal^me  gegen 
bie  geiftigen  SEBefen  um  it|n.  SBir  l^aben  immer  mel^r  barnac^ 
ju  ftreben,  baj3  ba§  anber§  wirb.  Unfer  Seben  muj3  ein  Kampf 
fein  für  bie  ^otien,  geiftigen,  innern  SBSerte,  mu^  burd(brungen 
werben  oon  ber  garten  —  mandimal  mödt|te  man  fagen  „grau= 


506  ^ud)S:  (S^^riftentum  unb  ^ampf  um§  ^af ein. 

famcn"  —  SSegciftcrung,  bie  p^gfifd^c§  fiebcn  jertretcn  tann,  wenn 
nur  gciftigcS  burc^  bic  Äataftrop^cn  gcforbcrt  wirb,  roic  c§  ©ottcö 
„Siebe"  im  Saufe  ber  333elt  felbft  tut.  2)iefc§  cttiifc^e  ^rinjip 
fann  jur  furchtbaren  Oefa^r  werben,  wenn  e§  ate  SReben^art,  ate 
SBormanb,  al§  ^albtieit  oon  ©emütern  angeroenbet  wirb,  bie  fi^ 
nid)t  ganj  bem  unterorbnen  rooQen.  3)a  n)äre  mand)mal  reine 
9Jlitteib§et^i!  beffer  —  unb  bod)  nic^t  beffer,  benn  aU  gro§e§, 
l^ctligeg  Qid  mu^  un§  biefe  2lrt  immer  oorfc^meben,  bie  nur 
Smigteit^merte  fennt  unb  bie  irbifc^en  oergi^t.  Unfer  fieben, 
unfer  ganje§  Sßotf§teben  tann  nur  an  biefer  „Siebe"  gefunben. 
SWöglic^  ift  fie.  ©efunbe  ©runbfä^e  get)en  au§  i^r  l^eroor  für 
ade  ®cbiete  be§  Sebeng.  S)a§  moBte  i^  bcroeifen.  93Bo  man  il^r 
na^ftrebt,  lernt  man,  i>a^  a\x6)  ber  bitterfte  Äampf  um§  3)afein, 
ber  Äampf,  ber  un§  felbft  an  ben  Manb  ber  SBcrjmeiflung  bringt, 
Don  (Sott  ftammt,  nidjt  ein  notmenbigeS  Uebel  ift,  fonbcrn  ein 
gro^eg  @ut  bie  ^eitf^e,  mit  ber  un§  @ott  an§  ber  materialifti» 
f^en  Sequemlic^feit  erft  jur  Slrbeit  überhaupt,  bann  jur  SÄrbeit  für 
i^n  unb  feine  fittlic^en,  innern  ©üter  treibt.  SUlitten  im  S?ampf 
um§  S)afein  fann  man  S^rift  fein.  9iur  im  rcc^t  gefül)rten  Kampf 
um§  3)afein  ift  man  e§. 


507 


palirljett  «tri  f  tdituitg  in  mfxtx  ^üx^xm. 

SBon 


SScrel^rtc  ^crrn,  liebe  93rübev! 

2)er  juraeifen  mit  geröufc^Dolfer  Stetlame  gefütirte,  im  legten 
©runbe  jebo^  oon  religiöfen  unb  noiffcnfc^aftlic^en  ^ntereffen  ge^^ 
tragene  ©treit  über  93ibel  unb  93abcl  \)at,  fomeit  e§  fic^  um  gc-^ 
fieberte  Srgebniffe  ^anbelt,  nichts  tDefentlid^  neue§  an§  Sic^t  ge^ 
förbert;  er  t|at  aber  mand^e  S^agen  raieber  in  5^^^  gebraut, 
manche  Probleme  in  ein  neue§  Sid)t  gerüdtt.  Qn  biefen  gehört 
auc^  unfcr  Stiema.  Ol^ne  3"^^ifcl  bringt  bie  Formulierung  be§= 
[elben  ©efütjlc  unb  ®eban!en  jum  3lu§brudE,  bie  ben  meiften  Don 
Ql^nen  fci^on  natie  getreten  finb.  @ie  bebürfen  nid)t  erft  bicfe§ 
9ieferate§,  um  ju  erfenncn,  ba^  t)ier  für  bie  3:t)eoIogie  ein  ernfte§ 
Problem  vorliegt,  bem  mir  in§  ©efi^t  ]el)en  muffen,  unb  i>a% 
biefeS  Problem  ber  Sird|e  eine  Slufgabe  ftellt,  bie  unmittelbar  in§ 
praftifi^e  Seben  eingreift  unb  a\x6)  ba§  Q^ntereffe  berer  in  3lnfpru^ 


1)  SRefcrat  Dorgetragen  in  ©tta^burg,  am  31.  aWai  1904,  auf  bcr  aU- 
gemeinen  ^aftoralfonfercnj  von  ®Ifa&=Öott)rinflen.  ®ai  SReferat  mitb  f)ier 
abgebrurft,  mie  eg  ber  ^onfcrcnj  oorgetcgt  rourbe;  bie  n)irf)tigften  ®in= 
menbungcn,  bie  roäfirenb  bcr  5)i§fuffion  crf)obcn  mürben,  finben  in  einigen 
^Inmerfotngcn  58erücffirf)tigung ;  ^offentUrf)  finb  bamit  bie  münfd^enSmerten 
©rgönjungen  menigfteng  angebeutet,  fomic  bie  burc^  ben  9ief.  oerfd^ut* 
beten  ÜRi^ocrftänbniffc  befeitigt. 


506        £  0  b  ft  e  i  n:  SBol^T^ett  unb  ^ic^tung  in  unfret  ^Religion. 

nimmt,  bic  fid)  für  rein  t^eoretif^e  ^^agcn  nlc^t  gu  crroärmen 
Dermogen. 

Sie  bfirfen  beS^alb  qu^  ni^t  bie  Erwartung  liegen,  bo^  :3^nen 
in  ber  Darlegung  biefe§  ®egenftanbe§  SteueS  geboten  roerbc.  äAein 
3«>erf  wäre  erreicht,  wenn  ic^  9{aum  fc^affen  tonnte  für  eine 
frud^tbare  S)i§fufrion,  beren  @(emente  in  ftürge  oorjulegen  ftnb. 
3)ag  Qu§  biefen  SSer^anblungen  ^örberung  unb  (Seioinn  gu  er« 
^offen  ift,  barf  um  fo  e^er  angenommen  merben,  qI§  e§  fi^  boc^ 
nid^t  in  erper  Sinic  um  prinjipieBe  Erörterungen  ^anbelt,  fonbem 
um  praftifc^e  Folgerungen  unb  Slnroenbungen  wichtiger  rcligiöfer 
unb  t^eologifc^er  ©runbfö^e.  9lic^t  ein  Kapitel  an§  ber 
9le(igion§p^iIof  op^  ie,  fonbem  einen  Seitrag 
}ur  praftifc^en  3:^eoIogie  foll  biefe§  9ieferat 
lief  er  n.  auf  biefem  ®ebiete  bin  i^  ber  Semenbe,  unb  ic^ 
werbe  mit  aufrid)tigem  2)anf  mid^  oon  aWännern  belehren  laffen, 
bie  mit  ben  lebenbigen  93ebürfniffen  unferer  ©emeinben  unmitteU 
bare  ^yü^Iung  ^aben  unb  benen  Erfahrungen  gu  @ebote  [teilen, 
bie  mir  fehlen. 

Um  einen  anregenben  @ebanfenauStaufc^  in  meiteftem  Umfang 
gu  ermöglichen,  mivb  e§  mein  Seftreben  fein,  mi^  furg  gu  faffen. 
@ie  merben  mir  geftatten,  oft  nur  anbeutenb,  nic^t  auSfü^renb 
gu  oerfa^ren.  Sluf  eine  Siei^e  oon  religionSp^ilofop^ifc^en  unb 
reIigion§gefd|ic^tlid)en  Problemen,  bie  mit  unferem  @egenftanb  gu- 
fammen^ängen,  fann  oon  oom^erein  nic^t  eingegangen  merben. 
9Bie  oertjält  ft^  ber  religiöfe  Srieb  gum  öft^etifc^en  ?  Sßie  fteDt 
fic^  ba§  religiöfe  fieben  in  feinen  oerf^iebenen  ^rten  unb  @tufen 
bar?  aSaS  ift  Offenbarung?  SGBorin  liegt  bie  SBebeutung  be§ 
^iftorifdjen  im  S^riftentum?  9BoDten  mir  gunäc^ft  biefe  pringi« 
pieden  fragen  gu  beantworten  fuc^en,  fo  famen  mir  überhaupt 
nic^t  me{)r  bagu,  ba§  Xi)^ma  gu  be^anbeln,  auf  melc^eS  t§  un§ 
anfommt.  j^nbeffen,  menn  mir  aud^  eine  fold^e  oorbeieitenbe  Slu^^ 
einanberfe^ung  nid)t  oorauSfc^iden  tonnen,  mirb  ^offentU^  ber 
folgenbe  93eri^t  barum  nic^t  in  berSuft  fc^meben;  mirb  e§  hod^ 
Uxä)t  gu  erFennen  fein,  bag  er  auf  beftimmten  93orau§fe^ungen 
beruht,  bie  eine  (Stellung  gu  jenen  Problemen  in  fic^  fc^ltegen. 
9lic^t  um  einer  pringipieQen  Erörterung  au§  bem  SEBege  gu  ge^en. 


iBobftein:  SBal^rl^eit  unb  ^ic^tung  in  unfrer  dleligiott.        509 

fonbcrn  um  ben  ^auptgcgcnftanb  unocrtümmert  jur  ©ettung  ju 
bringen,  bcfd^ränft  fid|  unfcr  SRcferat  auf  bic  in  ben  2:t)cfcn  au§* 
gefproc^cncn  ©ebantcn.  3)iefe  ju  crfc^öpfen,  wirb  allcrbing^  nic^t 
mögüd^  fein :  fie  beftimmt  ju  formulieren,  bie  in  i^nen  enthaltenen 
©lemente  fd^arf  t)erau§juarbeiten,  bie  ©runbfrage  baburc^  ju  er« 
meitern  unb  ju  vertiefen,  baju  jä^te  id)  auf  ^^xt  SJlitarbeit. 

®in  folc^eg  3iifommenroirfen  erl^cifd)t  felbftoerftanbli^  bie 
rüdtl^altlofefte  Dffenl^eit  in  ber  gegenfeitigen  2lu§fprad^e.  ^ier  ift 
bie  Älarl^eit  nid^t  nur  eine  elementare  miffenf^aftlic^e  gorberung, 
fte  mu^  fic^  oietmel^r  jur  pttlic^en  Siugenb  ber  9Iufric^tigteit  unb 
ber  ®]^rlid^!cit  vertiefen. 

©ie  mürben  e§  mir,  oereljrte  ^errn  unb  SBrüber,  ni^t  oer* 
jei^en,  menn  ic^  e§  oergeffen  fönnte,  ba§  ic^  eg  nic^t  mit  ßaien 
JU  tun  \)ahe,  benen  in  ben  meiften  fjäüen  bie  SBorauöfc^ungen  für 
ein  miffenfc^aftli^e§  SBerftänbni^  ber  religiöfen  Probleme  fel^Ien, 
fonbern  ba^  i^  ju  tI)eoIogifc^  gebilbeten  ©ienern  unfrer  eoange* 
(if^en  Kirche  rebe,  bie  jmar  ocrfdiiebenen  SRid|tungen  angel^ören 
unb  mand)erlei  2luffaffungen  vertreten,  alle  aber  in  ber  einen 
Ueberjeugung  fi^  begegnen,  bie  ber  gro^e  9ieIigion§forfc^er  SJlaf 
aWüDer  auggefproc^en  l)at:  „SBa^r  fein  ift  beffer  al8  alle  SBatir- 
l^eiten  befi^en!" 

Unb  nun  jur  ©ad)e!0 


1)  1.  —  3m  ©egenfa^  "jum  abftraüen  33crftanbeSrigon§mu§  einer 
bogmatiftifd^en  Drt^obo^ie  unb  etne§  gefd)i(i)t§lof en  9^ationaIt§mug  mu^  bie 
pfgd^ologifd^e  unb  gef^ic^tlicfie  S^otroenbigfeit  btc^= 
terifrf)eT  ^ebilbe  jur  ®  arfteUung  unb  fjortpflanjung  retigiöf  er  Soor* 
gdnge  offen  unb  rücf{)altIog  anerfannt  werben. 

2.  —  ®er  SBert  biefer  birf)terifcf|en  ©ebtibe  ift  burrf) 
bie  jeweilige  3lrt  unb  Stufe  ber  9leIigton  bebingt,  auf  bercn  JBoben  fte 
erroac^fen  finb. 

3.  —  2luf  bem  SBobcn  ber  Slaturreligio  nen  betätigt  fi(%  ber 
religiöfe  a:rieb  in  ber  ^erfonififation  ber  S^laturlraft  unb  in  ber  barauf 
berubenben  "3)ramatirierung  ber  9laturpI)änomene,  »or  allem  ber  $immel§= 
erf^einungen. 

4.  —  ^uf  bem  93oben  ber  b  t  ft  o  r  i  f  rf)  e  n  9i  e  I  i  g  i  o  n  e  n  ift  ber 
Stoff  ber  religiöfen  ^bantapetätigfeit  burd^  etbif (%e,  in  ber  ©efd^ic^te  mir!- 
fame  fjaftoren  bebingt,  obne  ba^  auf  biefer  @tufe  bag  ©ereinragen  unb 
9^ad^roirfen  ber  fonft  prinjipieö  überrounbenen  SJlaturreligionen  au§ge= 


I 

1 


510        S  0  b  ft  e  i  n :  SBafirl^eit  unb  ^ic^tung  in  unfret  ^Religion. 

Unter  bcn  ©eelcnoevmögcn  bc§  9Wcnf(^cn  ift  ba§  crfte,  baS 
im  ®ciftc§Icbcn  erroa^t,  bic  ©inbilbung^fraft.  S)icfc  ^Priorität 
bcr  ^^antafic,  an  bcrcn  Betätigung  oon  2lnfang  an  ba§  ®efü^l 
einen  roefentlic^en  2lnteil  \)at,  jeigt  fid)  forool^t  im  Seben  be§  ein- 
jelnen  al§  in  bem  ber  JBöIter.  8Q3ir  lernen  früher  mit  ber^^an* 
tafie  unb  bem  ©efül^l  ertennen  als  mit  bem  SSerftanb,  mir  al^nen 
früher  al§  mir  benfenb  erfennen.  3)ie  93ölferpfgc^ologie  beftätigt 
bie  93eobad^tungen  unb  Erfahrungen  and  bem  (Singelleben.  ^tbt 
@ef c^i^te  beginnt  mit  ©agen,  jebe  Siteratur  ^ebt  an  mit  Siebem : 
immer  unb  überaß  erfc^eint  bie  ^oefie  vox  ber  ^rofa. 


fd^Ioffen  mdte.  @o  l^aben  man^erlei  au$  ber  bobgtonifc^en  SD'lQt^oIogie 
ftammenbe  ©lemente  in  ber  propl^ctifd^en  Sleligion  3frae(S  eine  Umbie« 
gung  be§  9latur^aften  ing  @tE)ifd^e  unb  eine  ^uflöfung  bed  ^olpt^eiftif^en 
ins  SRonot^eiftifc^e  erfal^ren. 

5.  —  ^uf  bem  SBoben  bcr  altteftamentlic^en  ^rop^etcn« 
religion  finb  beS()alb  auc^,  fei  ed  unter  bem  ©emanbe  abftc^tdloiS  bid^ 
tenber  ^olf^poefte,  fei  eS  in  ber  ^orm  plant>o0  arbeitenber  ^unftbid^tung, 
ber  9)lenfc^t)eit  ^enntniffe  Dermittelt  toorben,  in  benen  baS  re(igi5S  em« 
pfängli^e  ©emüt  g5ttli<f|e  Offenbarungen  ma^rpne^men  genötigt  ift. 

6.  —  2luf  bem  JBüben  be§  ©^riftcntumS  fteUt  fic^  bie  ©pnt^efe 
religi5fer  SS^af^rl^eit  unb  bid)terifci^er  (^nüeibung  in  einem  großen  SReic^s 
tum  oerfc^iebener  f^ormen  bar:  bafür  jeugen  nic^t  nur  bie  (S^leic^mffe 
:3efu  unb  bie  Allegorien  ber  neuteftamentUd^en  6d^riftfteüer,  fonbem  au^ 
mid^tige  ^eftanbteile  ber  eoangelifc^en  Ueberlieferung,  bie  ^mar  nidit 
al§  I)iftorifc^  mirffi^  gelten  fönnen,  barum aber  b o c^  a(§  re(igiöS 
rDaf)x  3u  merten  finb. 

7.  —  5)ie  ric^tigeJBer^dltniSbeftimmung  oonSBa^r« 
^cit  unb  5)i^tung  in  unfrer  9lcUgion  barf  bcn  Anfprud^  erbeben, 
einen  mefentUc^en  Beitrag  ^ur  Apologie  beiS  ^^riftentumd  )u 
liefern,  fofcm  fie  bcn  unfcrer  3eit  fic^  aufbrängcnbcn  ^onf(i!t  sroifc^en 
bem  lHcfpc!t  oor  bcr  gcfd^ic^tlic^cn  9Bir!lic^!cit  unb  ber  ^etdt  gegen  bie 
religibfc  Uebcrlicfcrung  ^u  fc^li^ten  t^crmag.  ^on  bcn  berufsmäßigen 
Vertretern  bcr  ^rifttid^cn  9leligion  ift  beSbalb  eine  prinzipielle  ^inftd^t 
in  biefen  ©ad^oer^alt  §u  forbern. 

8.  —  ^ie  f)icr  ocrtretenc,  in  ber  ^onfequenj  beS  rcformatorifc^en 
©laubcnSprinjipS  licgenbc  (SifcnntniS,  meldte  suglei(^  eine  geiftige  Se^ 
freiung  unb  eine  rctigiöfe  Bereicherung  unb  Vertiefung  mit  fic^  fu^rt, 
mn^  fomeit  a(S  moglid^  non  bcn  i^ettern  unb  Sc^rern  ber  ^r^e  burd^ 
ade  päbagogif  c^  entf  prcd^cnbcn  Mittel  unfern  ©emeinben  jugäng« 
lic^  gcmad)t  merbcn. 


fiobftein:  Söatjrl^eit  unb  5E)iciötung  in  unfrcr  SHcIigion.        511 

©bcnfo  Dcrl^ält  c§  fic^  mit  bcm  rcligiöfcn  ©rfenncn.  @§  tritt 
junä^ft  af§  p^antaftcmä|igc§  ©rtcnncn,  aU  retigiöfe§  3l^ncn  auf: 
bic  @ottc§a^nung  ift  unfcrc  frül)cftc  rcligiöfc  ®rtcnntni§.  ©obatb 
fid^  biefc§  elementare  religiöfe  (Srfennen  in  ber  ©cfdiid^te  objef* 
tioiert,  fdjafft  e§  fxdj  eine  S)arfteQung,  bie  nod^  ben  ©tempet  ber 
Unmittetbarfeit  unb  Urfprüngtic^feit  an  fic^  trägt;  biefe  S)ar* 
fteHung  ^at  notmenbigermeife  einen  frimbolifc^en  S^aratter:  nur 
in  ber  ©eftalt  be§  93ilbe§  ift  ber  religiöfe  SBorgang  bem  Äinber« 
gemüt  überhaupt  erreichbar  unb  üerftänblic^  ^). 

3n  biefem  ©inne  mu§  gefagt  merben,  ba|  bie  9Jlr|t^ologie 
bie  etementarfte  ^^rm  ber  religiöfen  ©ntmidlung  ber  SBöIter  bil= 
bet^).  5Diefer  ätuSbrudf  ^at  l^ier  {einerlei  üble  9tebenbebeutung. 
®§  ift  ein  93emei§  oberfläd^lic^fter  SBerftänbni^topgteit  unb  öbeften 
3ntene!tuali§mu§,  menn  man  baran  2lnftoJB  nimmt,  ba|  bie  reli* 
gtöfen  ©ebanfen  nid^t  junäc^ft  in  ber  ©eftalt  abftratter  begriffe, 
fonbern  im  ©emanb  poetif^er  33ilber  unb  ©gmbole  i^ren  ©ang 
burd)  bie  ®efcf)i(^te  l)alten.  Unb  bo^  faßt  e§  fo  oielen  unenb* 
lief)  fd^mer  bie  pfgc^ologifc^e  unb  ^iftorifc^e  Siotmenbigteit  biefe§ 
geiftigen  ^rojeffeS  einjufe^en.  ®§  ift  al§  ob  bie  gewaltige  ©eiftc§* 
arbeit  ber  großen  3)enfer  unb  ^^orfd^er,  bie  fi^  in  ba§  „religiöfe 
3)l9fterium"  oertieft  l^aben,  fpurlo^  an  ben  meiften  unter  unferm 
©efd)lec^t  oorübergegangen  fei.  Sergeblid^  l^at  Hamann  feinen 
^roteft  gegen  bie  einfeitige  §errf(6aft  be§  9Serftanbe§rigori§mu8 
erl^oben,  melc^er  bie  SGBatir^eit  nur  al§  abftraften  ©egriffgforma* 
li§mu§  ju  beft^en  roätint;  oergeblid)  ^at  ^erber  auf  bie  gel^eim* 
ni§oollen  liefen  ber  SSolf^feete  liingemiefen,  au§  n)eld)er  bie  Siebei 
^eroorquellen,  bie  un§  bic  ©igenart  be§  religiöfen  unb  poetifdien 
©emüt§  mit  ergreifenber  9iaiuetät  offenbaren;  oergeblid^  l^abcn 
Otfrieb  SWüHer  bie  2lnfänge  ber  griec^ifc^en  Kultur,  9iiebul)r  bie 
Urfprünge  ber  römifc^en  ©efdji^te  auf  ifire  fagenl^aften  Seftanb* 
teile  unterfud)t,  —  ba§  intetleftualiftifrfje  SBorurteil  eine§  gefc^id)t§* 


1)  Sabatier,  Esquisse  d*une  philosoi^hie  de  la  religion  d'aprös  la 
Psychologie  et  Thistoire,  Paris  1897,  pg.  34  suiv.  (bcutfrf)e  Ucbcrfe^ung 
Don  Dr.  «8aur,  @.  27).  —  SRotI)e,  3ur  ^ogmati!  18692,  (g.  4_5. 

2)  Heyne:  A  inythis  omnis  priscorum  hominum  cum  historia  tum 
philosophia  procedit.  —  ©trauj,  S)a§  Öcben  Sefu  tritif^  bearbeitet,  I,  28- 


612        Sobftcin:  aSa^r^cit  unb  ^id&tung  in  unfret  ^Religion. 

lofcn  5Rationali§mu§  unb  einer  bogmatifterenbcn  Ort^oboyic  fc^eut 
fic^  noc^  immer  oor  ber  Slnna^me,  ba|  bie  rcligiöfen  @eban!en 
unb  ©riebniffc  unter  ber  gorm  ber  Sichtung  bcn  ©efc^Iec^tem 
mie  ben  ©injelnen  oermittelt  merben  fottten.  3)afür  ^tte  bas 
acttertum  ein  beffere§  aSerftänbnig  aU  unfre  bur^  dieflerion  unb 
9Ibftraftion  ärmer  geworbene  Kultur.  ®ort  geboren  2)i4ter  unb 
SD3eife,  Siebter  unb  ^rop^cten,  ^oeftc  unb  ©otteäbicnft  jufammcn. 
Vates  bejeic^net  jugteii^  ben  SBci^fager  unb  bcn  ©änger,  ben 
©e^er  unb  ben  Siebter.  3lud^  bie  alttcftomentli^en  ^rop^eten 
finb  jum  größten  Siieile  ®i(^ter  im  engeren  ober  weiteren  ©inn 
geroefen. 

SEBarum  !oftet  eS  felbft  mond^em  ©ebtibeten  immer  noc^  fo 
oicl  SJlfi^e,  fic^  in  biefe  ©ad)lage  ^ineinjufinben  ?  SD3arum  rour^ 
ben  fic^  bie  meiften  norf)  fd^euen,  ba§  SSBort  eine§  ber  freiften  unb 
frömmften  2:]^eologen  be§  oorigen  ^föi^^^unbcrtS  nac^jufprec^en  ? 
„@§  9et)ört,  fagt  Siotl^e,  mefentlic^  mit  jur  SSoIltommen^eit  ber 
9ieIigion,  atfo  aud|  ber  ^riftlic^en,  eine  SW^t^ologie,  eine  religiofe 
^^antafieroelt  ju  ^aben"  ^).  —  Offenbar  meil  man  fic^  über  bas 
SEBefen  unb  bie  ©igenart  ber  3)icl)tunfl  in  i^rem  93er^ältni§  jur 
^teügion  nid|t  dar  ift.  (Sinmal  erblidtt  man  in  fotc^en  2)i(^tungen 
nur  SBerte  ber  SEBillfür  unb  ber  fiüge,  blo|c  pöbeln,  bie  in  i^rer 
©ntfte^ung  unb  i^rem  ©efamt^arafter  ba§  Urteil  i^rer  SJerwerf- 
lic^fert  unb  ilirer  9Serbammni§  mit  fid)  filieren.  Sunt  jroeiten 
überfielt  man,  bag  ber  3(naIogiefc^Iu§  oon  ben  au^erbiblifc^en 
religiöfen  3)ic^tungen  auf  bie  Ueberlicferungen  be§  alten  ober  neuen 
leftamentS  nur  bie  gorm  unb  ©rfc^einung  ber  ©c^öpfungen  ber 
^^antafte  betrifft:  über  <3nl)alt  unb  SQSert  folc^cr  3)i^tungen  ift 
burc^  jenen  2tnaIogiefd)lu^  nod)  ni(^t§  au§gefagt.  93ei  aller  for= 
malen  2let)nlid)feit  ber  poetifc^en  ©ebilbe  befte^en  jmifc^en  ben= 
felben,  bem  ^nt)alt  unb  bem  SBerte  nac^,  roefentlic^e  Unterfdiiebe, 
bie  in  ber  SSerfd^ieben^eit  ber  9Jeligion§ftufen  unb  ber  9leligion§= 
arten  begrünbet  fmb.  SBölfer  ober  3>nbiDibuen  mögen  in  benfelben 
formen  ben!en,  fie  mögen  bief elbe  ©prad)e  reben :  in  ben  gleid)en 
formen  lebt  nid)t  ber  gleid)e  ^n^alt,  bie  ocrmanbtc  ©prac^e  birgt 
ni^t  bcn  fclben  Ocift. 

l)  3t.  a.  D.  @.  6. 


öobftetn:  9öa^rl)cit  unb  3)id)tun0  in  unfrer  SHeligion.        513 

3)lefc§  nad^juiüeifen  unb  ju  bcgrünben,  foH  in  htn  folgcnben 
aiu^fül^rungcn  t)erfud)t  rocrben.  ^n  bem  3Äa^c  atö  un^  bicfcr 
SBctfuc^  gelingt,  roirb  c§  un§  mögti^  fein,  ba§  unljcimlic^c  @c= 
fpenft,  ba§  in  bcn  ©emütcrn  fpu!t  unb  bcn  reblic^ftcn  ^crjen 
oft  namcnlofc  Slngft  einjagt,  cnbgültig  ju  bcfc^roören  unb  ju 
bannen. 

2Iuf  bcm  93obcn  bcr  91  a  t  u  r  r  c  I  i  g  i  o  n  c  n  betätigt  fid^  ber 
religiöfe  Sirieb  in  ber  bid)tcrif^en  ^^erfonifitation  ber  9laturträfte. 
3)er  finntid^en  $f)antafic  ber  auf  biefer  Sntroidtlung^ftufe  fte^en^ 
ben  SBölfer  gelten  bic  äußeren  SUaturobjefte  niemals  ate  bfo^  finn= 
lict)e  2)inge,  fonbern  al§  befeelte  3Q3efen.  Stuf  biefer  (Eigentums 
tirf)teit  beruht  bie  ®ramatifierung  ber  Jkturoorgänge,  üor  allem 
ber  ^immel§erfd)einungen.  ®ie  periobifd)  roieberte^renben,  l^äufig 
beobad)teten  ^t)änomene  üerbic^ten  fic^  ju  einmaligen,  an  einem 
beftimmten  Ort,  ju  einer  beftimmten  3eit  gefc^etienen,  unmieber- 
^olbaren  Sßorgängen.  Qeben  Slbenb  get|t  bie  ©onne  im  glühen- 
ben  geuermeer  il)rer  Stral^len  unter:  nur  einmal  ftirbt  §erafle§ 
inmitten  ber  glammen  be§  oon  il^m  felbft  angejünbeten  ©c^eiter^^ 
t|aufen§.  ©o  poßjielit  fid|  bie  2lnfd)auung  unb  bie  noc^  inein= 
anber  flie^enbe  religiöfe  unb  n)iffenf(^aftlid)e  ©rttärung  ber  9latur 
in  bcr  ©eftalt  be§  9laturmr|tt|u^.  2)erfelbe  mac^t  fiel)  aUmä^lii^ 
aU  tatfäct)lid)e§  @reigni§  geltenb,  unb  im  Seiuu^tfein  ber  folgen^ 
ben  ©efd^lec^ter  erlifc^t  bie  Srinnerung  an  Urfprung  unb  Eigen- 
art ber  Kräfte  ober  ber  ^^änomene,  burd^  meldje  bie  poetif^en 
©ebilbe  oeranla^t  ober  gefc^affen  mürben^). 

^nncrl^alb  ber  gefc^ic^tlic^en  SWeligionen  f ommt 
bie  bid)tenbe  ^t)antafie   nid)t  jur  SRu^e  ^) ;  fie  ^at   e§  aber   mit 

1)  iSicbecf,  Se!)rbud)  ber  SReUgion§pl^itofopf)ie,  1893,  ©.  5  f.  A.  Reville, 
Prolegomenes  de  l'histoire  des  religions,  1882,  p    153  suiv. 

2)  ^iefe  @r!etmtnig  gilt  auf  bem  ®cbictc  bcr  ^rofanlitcratur  fd)on 
(ongft  al§  allgemein  ancrfannte  SBat)r^eit.  Sögl.  bie  Söemertungen,  bic 
.§.  ©cf|ut^  bereits  in  ber  2.  2tu§g.  feiner  ^Itteftamentlicfien  3:^eoIogie 
(1878),  (S.  27—28,  l^ierübet  frf)reibt:  „^ic  Gage  lä^t  un§  in  bag  innerfte 
§er5  eines  SBotfigtumg  blicfen,  bort  bie  treibenben  unb  bewegcnben  Slräfte 
fe^en,  aug  benen  ba§  gcfci)id^tli(^e  Seben  berfelben  quillt,  ©o  finb  ja  in 
einem  Db^ffeug  unb  3lcf|iU  biz  G^arafterjügc  ^ellenifd)cr  9lrt,  fo  in  einem 
Siegfrieb  u.  §agen  bic  ber  gcrmanifd^en  ^olf§tümlic^feit  oiel  greifbarer 
ausgeprägt  alg  in  gcfrf)ic^tli(f|en  ®cftalten  biefer  S^ölfer". 

Beitft^rift  für  X^eoloflie  unb  Ätrt^e.    14.  ?|o^rg.,  6.  $eft-  35 


514        Sobftcin:  SSal^rl^eit  unb  S)ic^tun0  in  unfrcr  SHcIigion. 

neuen,  oorroiegcnb  burc^  et^ifd^e  gattoren  bebingten  iStoffen  ju 
tun;  fie  [d)afft  ba^er  gcfc^i^tli^e  ©cftaltcn  ober  tnüpft  mit  SBor* 
liebe  an   gcfc^id)tlid)e  ^erfönUc^feiten  unb  @reignlffc   an.    ^icv 
gelten  öfter§  3)i  9 1  ^  e  n  unb  (Sogen  ineinanber  über,  üKgti^cn, 
b.  f).  bid)terifc^e  @int(eibungen  religiöfcr,  p^iIofopl^ifd|cr,  et^nolo* 
gifc^cr  ©ebanten,  unb  ©agen,  nämlid)  9ta(^tlänge  roirtlic^er,  aber 
burc^  bie  abfic^t§lo§   bic^tenbe  SBolfepl^antofic  umgeftaltetcr  ZaU 
fad)en.     „®in  folc^eg  unmerHi(^e§  gemeinfame^  ^robujieren  wirb 
babur^  möglid^,  ba^  babei  bie  münblic^e  Ueberlieferung  ba§  ÜWe= 
bium  ber  Sßittcilung  ift",  roaö   ba§   „fc^neebaflartige  9luroac^fcn 
ber  Srabition"    hinlänglich   erflärt^).    3)a   bie  ©renje   jroifc^en 
Slaturreligionen  unb  gefc^ic^tlidien  ^Religionen  eine   flie^cnbe   ift, 
fo  roirfen  häufig  in  biefen  mancherlei  Elemente  nac^,  bie  au5  jenen 
entftammen.    2)ie  93eobaci)tung  folc^er  Uebergänge   unb  SJennit' 
telungen,  bie  niemals  reine  Entlehnungen  barfteUen,  fonbem  ftet^ 
eigentümlidie  SBanblungen  mit  fid^  führen,  ^at  für  ben  9ieligion§= 
pt)ilofop^en  einen  befonberen  SReij.   Slamentlict)  bieten  bem  d)rift* 
lictien  Jlieologen  bie  Berührungen  ber  alt*  unb  neuteftamcntlic^en 
SReligion   mit  ben  au^erbiblifc^en  ^Religionen  ein  ^eroorragenbcö 
^[ntereffe.    ®  a§  «er  l)ä  ltni§  ber  SReligion  ^[fraeU 
jur  babplonifcljen  Kultur  unb  3R9  t^  ologie,  mie 
e§  fic^  befonber§  in  ben  ©c^öpfung§==  unb  ©intflutbericf)ten  funb 
gibt,  liefert  un§  bie  treffenbfte  ^lluftration   gur  g^ftftellung   unb 
3lufl)ellung  biefer  religion§gefcl)ic^tlic^en  Sßorgange  *). 

®§  ift  über  jebeu  3">^if^I  ergaben,   t>a%  baö  SBorfteüungs» 


1)  (Strauß,  a.  a.  D.  I,  74. 

2)  '^lud  ber  bereits  unüberfel^baren  Literatur  über  biefen  ©egenftanb 
würben  ^icr,  au^er  ben  SBortrdgen  von  JJ.  ^cliftfc^,  bcfonberS  Dcnücrtet; 
Dcttli,  S)cr  ^ampf  um  fSahü  unb  S3ibel,  Scipaiß  1902;  §.  Ounfel, 
Sfrael  unb  «abglonien,  ©öttingen  1903;  2b^x,  Söabcl  unb  bie  biblif*c 
Ur0efct|id)te,  «reglau  1903;  ^'  ö  b  e  r  l  e,  S^ab^Ionifc^ic  Rultur  unb  biblifd^c 
Religion,  9Jiünc^en  1903;  ®icf  ebrc^^t,  gfricbe  für  SBabel  unb  Sßibel, 
Königsberg  1903 ;  93  u  b  b  e ,  SBa§  fott  bie  ©emeinbe  aug  bem  Streit  um 
«ibcl  unb  93abc(  lernen?  StübingemSeipaio  1903;  a:^ieme,  ^er  Offene 
barungSglaube  im  Streit  über  SBabel  unb  «ibel,  ßeipaig  1903.  SSgl.  aud) 
bie  sa^lrei(^en  ^luffäfee  x)on  K  ü  d)  I  e  r,  ®  u  n  f  e  I,  )ö  0 1  j,  in  ber  (S^riftL 
®elt  1902—1904. 


öobftein:  SBa^r^cit  unb  ^i^tung  in  unfrer  SReligton.        515 

matcrial  jener  ©d)öpfun9§*  ^"^  Sluttrobitioncn  au§  2Iffgrien 
ftammt.  ©benfo  fieser  ift  ein  jroeiter  "fißunft:  biefc  Slrabitioncn 
fmb  ©id^tungcn.  3)er  Sdiöpfung^berid^t  fann  nur  ein  aWpt^ug 
fein,  benn  er  bringt  Sßorgänge  jur  S)arftellung,  bie  jenfeitg  aller 
®rfa^rung  liegen.  S)ic  gluterjä^lung  mag  an  ©reigniffe  an^^ 
fnüpfen,  bie  ftc^  t)ieUeid)t  in  uralter  3^it  öuf  bem  33 oben  be§ 
ßroeiftrömelanbeS  jugetragen  l^aben.  SBie  bem  au^  fei,  nic^t 
^iftorifc^e,  tatfäd^lid^e  Gegebenheiten  im  ftrengen  ©inne,  fonbern 
t)olf§tümticl)e  poetifc^e  ©ebilbe  orientalifc^er  ^^antafie  bilben  ben 
^n^alt  jener  aJlgt^en  unb  ©agen.  3)a§  l^at  un§  nid^t  erft  bie 
Slffpriologie  gelehrt,  ba§  l^atte  man  längft  auS  anbern  SUiertmalen 
erfannt,  ba§  follte  für  jeben  ©ebilbeten  felbftüerftänblirf)  fein^). 
®iefe  au§  ber  babglonifc^en  5IWgt^ologie  ftammenben  ©lemente 
bilben  ben  Stol^ftoff,  ber  in  ber  ifraelitifc^en  SReligion  eine  mun* 
berbare  Umbilbung,  eine  Umbiegung  be§  9laturl)aften  in§  ©t^ifd^e, 
eine  Sluflöfung  be§  $olr)t^eiftif^en  in  ba§  9Jlonotl|eiftifc^e  erful)r  *) : 
bie  l^ebräifc^en  ©rjäl^tungen  fielen  über  ben  babglonifd^en  fo  ^o^ 
mie  ber  et^ifc^e  9Jlonot^ei§mu§  Qfraelg  über  bem  ro^en  ^olrjt^eiS* 
mu§  «abel§  ftet|t «). 

3)ie  SQSerfftatt  biefer  religiöfen  Umfc^meljung  mar  ber  ^ro* 
pbrti§mu§:  er  geftaltcte  bie  mgt^ologifdien  ©agen  S8abel§  ju 
2:rägern  unvergänglicher  SBal^r^eiten ,  ju  Offenbarung^m^ttjen, 
au§  roeldjen  noc^  ^eute  bie  c^riftlic^e  ^^ömmigfeit  bie  reid^fte 
9la^rung  fc^öpft,  an  benen  fic  fid|  ^eute  noc^  erquidtt,  ftärtt  unb 
erbaut. 

Offenborung§mijtl)en,  —  ba§  ^ei§t  ©ic^tungen,  bie 
ni(^t  ate  bucl)ftäblicbe  SEBirflic^feiten  ju  faffen  finb,  bie  fic^  aber 
bem  empfängli^en  ©emüt  al§  religiöfe  3D3al|rl^eit  erfc^liegen  unb 
legitimieren.  SEBenn  irgcnbmo,  fo  jeigt  ftd)  ^ier  mit  fd^lagenber 
©oibenj,  ba§  2)  i  d^  t  u  n  g  unb  SB  a  ^  r  1^  e  i  t ,  roeit  entfernt  einen 
fic^  aufbebenben  ©egenfa^  ju  bilben,  fic^  in  ber  ©p^äre  ber 
Offenbarunggreliflion  ju  einer  l^ö^eren  ©inl^eit  jufammenf äffen. 
2luf  ber  geiftigen  ©ntmicf lung^ftufe,  ju  melier  fi^  ba§  aSolt  Qfrael 

1)  ®unfcl,  3fr aet  unb  »ab^Ionicn,  28. 

2)  3^.  md^Ux,  ©^r.  SB-,  1902,  ©p.  946. 

3)  &mU\,  ©f).  SBv  1903,  ©p.  130. 

35* 


516        ^obftein:  SBa^T^ett  unb  ^ici^tung  in  intfrer  Religion. 

geführt  fa^,  ipurbe  in  bem  @c^dpfung§m9t^u§  biefem  93o(fe  bie 
@rfenntni§  be§  @men  oQmad)tigen  unb  gütigen  @otte$,  be^  fiber- 
rocÜli^cn  ©c^6pfcr§  unb  Scnlcr§  aller  ®ingc  unter  ®arflettung§* 
formen  vermittelt,  bie  fic^  aU  bur^fi^tige  Symbole,  a($  bienft- 
bare  ^üUen  einer  6i§  ba^in  unerreichbaren  SBa^r^eit  bemä^rten. 
3)iefelbe  (St^ifierung  erfuhr  bie  ©intflutfage.  „SBcnn  mir  bie 
ifraelitifc^e  {^(utfage  allein  lefen,  fo  {tnb  mir  meOeic^t  geneigt, 
barin  befonber§  ba§  un§  grembartige,  bie  naioen  Slnt^ropomor- 
Prismen  ju  fe^en  unb  biefe  Srabition  gering  }u  merten;  menn 
mir  aber  ba§  ^ab^tonifci^e  bagegen^alten,  erfennen  mir  erft,  mie 
^oc^  bie  9leIigion  biefer  @rjä^Iung  mirflic^  fielet"  ').  @o  ^at 
bie  ©igenart  ber  ^Religion  ^fraefe,  in  melc^er  mir  genötigt  finb, 
ben  göttlichen  Offenbarung§geift  ju  erfennen,  eine  9}eubilbung 
üoQjogen,  Dor  melc^er  mir  ftaunen  muffen:  fte  ^at  (S^laclen  in 
@olb  uermanbelt.  9B3ie  füllten  mir  al§  ©Triften  un§  nicljt  freuen  *), 
ba|  mir  an  jenen  babglonifdjen  Urrejenfioncn  einen  ÜMa§ftab  bc* 
ft^en,  ber  un§  geftattet  ju  beurteilen,  mie  üiel  nä^er  al§  93a6el, 
ba§  alte  -Sfrael  bem  ®ott  gemefen  ift,  an  ben  mir  glauben.  SEBcr 
(Sinn  für  Sieligion  unb  aScrftänbni^  für  9leligion§gefc^ic^te  ^at, 
mirb  biefe  ©leic^ung  oon  3)icl)tung  unb  Sßa^r^eit  mit  3)ant  unb 
93emunberung  ma^rne^men ! 

^agfclbe  aSertiältni^  oon  i^nl^alt  unb  J^nn,  biefelbe  innere 
SßJal^loermanbtf  d^aft  p^antafiemä^iger  SÄpt^cnbilbung  unb  religiöfer 
Dffenbarung§ma^r]^eit  tritt  uns  in  ber  Srjä^lung  oom  ©ünben* 
fall  entgegen.  2luc^  I)ier  liegt  ber  bi6lifct)en  3)arftellung  ein  au§ 
oerf^iebenen  religion§gefrf)ic^tlict)en  Cuellen  gefcf)öpfte§  9Waterial 
jugrunbe;  aber  ani)  l^icr  ift,  bti  allem  g^ttbeftel^en  naioer  9ln* 
t^ropomorp^i§mcn  ber  überlieferte  Stoff  oon  bem  ®eifte  be§  'ijjro* 
pt|eti§mu§  burc^brungen.  3Q3ie  ergaben  ift  ber  (Sebante  be§  ^ei- 
ligen, über  ba§  ^öfe  gürnenben,  unb  bod)  jugleic^  gütigen  unb 
mitleibigen  ®otte§!  SBie  ergreif enb  ift  ber  fittli^e  S^aratter  be§ 
3Wr)t^u§,  na^  meinem  ba§  ^arabie§  burc^  ©ünbe  oerloren  ge^t ! 
3Wit  roeld^  feiner  Kenntnis  bc§  SÄcnfc^en^erjenS  ift  bie  ^fp^ologie 
be§  ^a\l^  ju  lebenbiger  ^nfc^auung  gebrad)t!    9Ber  moQte  be- 

1)  ©unfel,  a^.  m,  1903,  Sp.  127—128,  DettH  a  a.  D.,  20 f. 

2)  ®un!cl,  Sfracl  unb  SBobgloniett,  23. 


Sobftctn:  3öal)rf)eit  unb  ^tdjtung  in  unfrer  SlcKgton.        517 

Raupten,  ba^  bicfe  unnerglcid^lic^e  ©d^ilbcrung  baburd^  an  SBal^r* 
tieit  ®inbu^e  ericibct,  ba^  bic  cinjclncn  Qn^t  nx6)t  buc^ftdblic^  ju 
ncfjmen  jtnb  ^)? 

2lu§  bcn  bi^l^crigcn  Slnbcutungen  ergibt  ftdf),  ba§  bic  ©in* 
rcil^ung  3^[rael§  in  bcn  großen  rcIigion§gcfd)id)tIic^en  3wfömmcn' 
tiang  bcr  au^erbiblif^cn  SSöltcrgruppcn  bcn  fpcjififd^cn  Sßorjug, 
bcr  bcm  Iiebräifc^cn  ?ßrop]^eti8mu§  gcbül^rt,  in  fcinerici  933cife  auö« 
fd^tie^t  ober  l^crabfc^t.  Unb  rocnn  lüir  anbcrcrfcitö  in  bcr  SRcIi* 
gion  Qf^örf^  babrilonifd^c  ©Icmcntc,  üicücic^t  roid^tigc  unb  wzxU 
ooBc  ©tüde,  cntbcdcn,  fo  foHtc  fi^  unfcr  ©(aubc  freuen,  ba§  fi^ 
bic  SBelt  un§  je^t  auftut,  unb  roir  ®otte§  SlBalten  au(^  ba  feigen, 
wo  wir  e§  früher  nid)t  geahnt  Ratten !  ^) 


1)  ^öbcrlc  (a.  a.  D.  ©.  24)  erinnert  mit  9lc(f)t  an  ®oet^e§  SBort 
(ajiayimen  unb  ^Reflcjrfoncn,  Slugg.  ©öbcrfe,  Stuttgart  1885, 1,  793):  „%a^ 
fd)5nftc  3eugni§  ber  Originalität  ift  e§,  wenn  man  einen  empfangenen 
©ebanfen  bergeftalt  frurf|tbar  ju  entroidfeln  mei^,  ba^  niemanb  leicfit,  wie 
niel  in  itim  verborgen  liege,  gefunben  I)dtte."  —  Q^unfet,  ©.  22:  „SBer 
glaubt,  baj  ®oetl)e§  5)id)tung  geringer  roerbe,  wenn  man  auf  bag  SßolfSs 
bud)  t)on  ^auft  al§  feine  Quelle  ^inmeift?  ^m  ©egenteil,  erft  bann  er? 
fennt  man  feine  ®rö^e,  wenn  man  beobad^tet,  roa§  er  au§  bem  ungefügen 
unb  rof)en  8toffe  gemacht  ^at." 

2)  ®un!el,  ©t).  m,  1903,  Sp.  492.  —  „%aS  ^ubentum,  hti  bem 
fid^  aicligiöfeg  unb  SiZationaleg  ftetg  innig  tjcrbinbet,  mag  2lngft  Ifiaben, 
\>a^  il)m  eine  SPerle  feinet  Ärone  geraubt  merbe ;  mag  aber  gel^t  unS  ber 
nationale  3lnfpru(^  be§  3u^entum§  an?  Söir  erfennen  freubig  unb  el^rlicf} 
(Sottet  Offenbarung  überaU  ha,  mo  ficf)  eine  menf^licfie  ©eele  il)rem  ®ott 
nat)e  fü^lt  unb  fei  e§  unter  ben  bürftigften  unb  elementarften  formen." 
(®unfel,  Qfrael  unb  SBabplonien,  ©.  15.)  —  „SBollen  mir  bie  S3ibelmie* 
ber  ju  ($^ren  bringen,  fo  muffen  mir  erft  einmal  auf  alle  tl)eologifd)en 
Älaufeln  unb  ^autelen  ücrjiditen  unb  fie  gan§  unbefangen  t)iftorifd|  be* 
^anbeln.  ^elifefd)§  SHabifali§mu§  gegen  bic  altteftamentlici)e  SReligion 
barf  ung  feine  beutlid^  auggefpro^ene  2lbfi(^t  nid^t  nerbunfcln,  nämlid^ 
bie  53orgefd^irf)te  beg  ®l)riftentumg  auf  eine  oiel  breitere  SBafig  ju  fteöen- 
®ag  ift  in  ber  ^at  bringenb  nötig,  ^eroorragenbc  ©eifter  beg  2.  ^a^r? 
^unbertg  I)aben  entfd^loffen  aUeg  ®ute  beg  ^eibentumg  alg  Söorläufer  beg 
(Sliriftentumg  proflamiert.  ®em  gegenüber  ftedCen  unfere  „§eilggefd)i(^ten" 
in  einer  (Sngigfeit  unb  ©infeitigleit,  bie  unferem  IReid^tum  an  neuen  @r= 
fenntniffen  nid)t  x)on  ferne  entfpredE)en.  $ier  liegt  ber  ^auptroert  ber 
ganzen  aff^rifi^-bab^lonifdien  SBiffenfdiaft :  fie  ermeitert  abermals  bie 
3öeltgefc^id^te  ein  ©tüdC  nad&  rürfmdrtg.    3ft  aber  bie  SBelt  älter  unb 


518        Sobftein:  SBa^r^ett  unb  Xt(^tung  in  unfitr  SU&gion. 

^efe  SSermittlung  offenbarungSmägiger  äBa^r^en  burd^ 
bic^terifc^e  (Schöpfungen  befc^rönft  fic^  ntd^t  auf  bie  Urgeic^id^te 
ber  @encfi§.  ®a§  ganjc  2lUc  2:cftamcnt  ift  bic  reifte  ^nbgnibe 
religiöfer  unb  poetif^et  Ueberlteferungen.  @oU  ic^  an  bie  finnige 
gleic^faQg  nur  alS  ÜDtqt^u^  perftänbKc^e  (Stgä^Iung  1.  Könige  19, 
3—14  erinnern?  ©turnt  unb  geuer  tut§  nic^t;  bie  9B8ege  @otte§, 
bie  jum  3'^'^  führen,  geben  fic^  burc^  ba§  fünfte  Säufein  ^e^ren 
^riebenS  unb  (Segen§  ju  erfennen.  ®iefe  erft  bent  ausgereiften 
^rop^etengeift  jugänglic^e  @rfenntni§  tritt  in  ber  f^mbolifc^n 
Jorm  einer  SBifion  auf,  bie  burd)  fpatere  ^anb  in  einen  ganj 
anberS  gearteten  3wfönimen^ang  eingefügt  roorben  ift.  aber  auc^ 
l^ier  biente  baS  poetifc^e  @en)anb  be§  3!flx)tt)n^  jur  (SinHeibung 
eine^  religiöfen  @ebanten§,  ber  nur  als  eine  }um  SnangeUum  ^in< 
ftrcbcnbe  Offenbarung  geroertet  werben  fann. 

SlUein  nic^t  blo§  in  ber  J^rm  abfic^tStoS  bi^tenber  ©ogc, 
als  allmähliche  Schöpfungen  mi)t^enbi(benber  ^^antafie  traten 
religiöfc  SEBa^r^eiten  im  propl^etifc^cn  SBerou^tfein  auf,  um  bann 
als  ©emeingut  ber  JHeligion  ^tf^aelS  in  bie  gefd^ic^tlic^e  ®ntn)i(f * 
lung  überjugc^en.  @ibt  eS  boc^  im  Sitten  2:eftament  ganje  SBüc^er, 
bie  als  abfict)tlicf)c  planooUe  ^robufte  ertjabener  Sunftpoefie,  balb 
tieffinnige  Probleme  ju  löfcn  unternel)mcn,  balb  beu  ^citgenoffen 
fct)n)er  jugängUct)e  3B3a^r]^eiten  perfünben,  balb  unmittelbar  religiöfe 
ober  fittlic^e  SCBirfungen  I)eroorjubrtngen  ftrcben.  3)tc  ^ert»or* 
ragenbften  biefer  ©ctiriften  finb  oon  bcn  nad)foIgenben  ©efc^Iec^* 
tern  als  buct)ftäbli(^  ju  nelimcnbe  ©rjä^lungcn  aufgefaßt  unb  ge* 
roürbiflt  morben.  Q\)x  religiöfer  SCBert  fc^ien  burd)  bie  ^iftorifc^e 
aßirtlic^teit  beS  ©argeftellten  erft  oollfommen  fi^er  geftetlt,  fo  bajj 
bie  Stuna^me  tatfädjlid^en  ®ef(^e]^enS  als  93eftanbteil  unb  93cmeiS 
beS  religiöfen  ©laubenS  gelten  mugte. 

3)iefe  93erquirfung  jmeier  ber  2lrt  nac^  perfc^iebenen  @r!ennt* 
ntffe  löfte  fid)  in  bem  SWa^e  auf,  als  bie  ©igcnart  jener  ©(^riften 
tiarer  unb  poKer  ju  i^rem  Siechte  tam.  ®rft  feitbem  man  mie» 
berum  bcn  urfprünglict)en  ®t)aratter  unb  bie  malere  öebeutung 

perganflen^eitSreic^er  al8  wir  baditcn,  fo  ift  fte  anii^  no^  jünger  unb  ju- 
!unftSreict)er".  (®  a  a  b ,  (£1^.  20-,  1903,  322.)  «gl.  D  e  1 1 li ,  3)cr  Äampf 
um  »ibcl  unb  »abel,  ©.  31—32. 


fiobftcin:  SBa^r!|cit  unb  ^id)tung  in  unfrcr  SRcItgion.        519 

bcrfclben  cntbcdt  ^attc,  würben  bic  reichen  ©d|ä^c  flcI)oben,  bic 
in  i^rcm  (Sd)o§c  verborgen  lagen.  S38o  ift  ba§  ^ßroblem  ber 
2^eobicee  ergreifenber  jur  3)arftcüung  gebrad|t  roorben,  ate  in  bcm 
großartigen  ®ebid)te  be§  93ud)e§  ^iob?  9Bo  t|at  ftd^  ber  religiöfe 
UniDerfaIi§mu§  ber  fortgefc^rittenen  ^rop^etie,  ber  über  jebeS 
nationatftolje  ^^arifäertum  fn^  er^cbenbe  Olaube  an  ben  aUbarm«' 
I)erjigen  Oott  einen  einbringlid)eren  2lu§bru(i  gef^affen  aU  in 
bem  fiel)rgcbic^t  üon  QonaS?  SBel^eö  protofottarifd)  üerbürgtc 
2lftenftücf  läßt  un§  tiefere  SBIicIe  in  bie  (Seele  eine§  aSoCfe§  tun, 
al§  bie  Flugblätter,  bie  unter  bem  Flamen  2)aniel§  ben  religiöfen 
'^Patriotismus  nährten  unb  ®cbulb  unb  Sirene,  OlaubenSmut  unb 
SWärtgrerfreubigfeit  in  ben  §erjen  jaI)üofer  ©enerationen  entflamm* 
ten?  3)aß  bie  2luflöfung  ber  tatfäd^Iic^en  SBirEüc^feit  ber  in  jenen 
33üd)ern  beri^teten  SSorgänge  bie  I)ergebrad)te  ®r!Iärung  auf§ 
ticffte  bcunrut)igt,  ift  nid^t  ju  oermunbem;  mie  mirb  aber  biefer 
fd)cinbare  SSertuft  burc^  ben  unenblic^cn  Oeminn  aufgewogen,  ben 
baS  t)iftorif^e  SSerftänbniS  unb  bie  religiöfe  SCBürbigung  jener 
SBerfe  gebracht  ^at! 

3Q3er  bie  innige  SSermä^lung,  meli^e  SBatir^cit  unb  3)ici^tung 
forool^I  in  ber  SDIgtl^enbilbung  als  in  ber  ^unftpoefte  Q^fraelS  ein^ 
gegangen  l^aben,  mit  liebeDoDem  SBerftänbniS  betrad)tet,  mirb  fic^ 
ber  SBal)rne^mung  nid^t  oerf^Iießen,  baß  bie  l^errlid^ften  ®rtennt* 
niffe  unb  bie  ertiabenften  ®(aubenSgebanten,  bie  bem  SBoIfe  ^\xatl 
juteil  mürben,  unjäfjtige  SKale  crft  unter  bem  ©d^Ieier  ber  ^oeftc 
©eftalt  unb  fiebcn  erlangten,  erft  als  Didjtung  SB a ^ r ^ ei t 
mürben. 

Surfen  mir  I|ier  fte^en  bleiben?  @ibt  eS  fad)Iic^e  ©rfinbe, 
bie  uns  jroingen,  bie  neuteftamentlicf)en  ©d)riftcn  unb 
bie  c^riftlidje  Sieligion  auS  bem  33ereici^  jener  burc^  ^fg:^ 
c^ologie  unb  ©efc^ic^te  belegten  ©efe^e  ju  ejimieren  ?  3)lüff en  mir 
für  baS  @;t)riftentum  eine  2luSna^meftellung  ftatuieren,  bie  baS* 
felbc  außert)alb  jener  2lnalogie  mit  ben  übrigen  Sieligionen  als 
eine  unnal^bare  ^nfel  im  93ölfermeere  fennjei^nen  mürbe?  ^i^bet 
jene  munberbare  ©gnt^efe  oon  religiöfer  SBa^rl^eit  unb  bic^terifd)er 
©infleibung  auf  bem  ©oben  unferer  SReligion  !einc  2Inmenbung? 

S)iefe  burd^  2lbfperrung  oon  bcm  Seben  ber  übrigen  SWenf^* 


520        S  0  b  ft  e  t  n :  Sa^tl^cit  unb  5)trf)tun0  in  unfrer  SHeligion. 

I^cit  Dcrfud)tc  SBcrl^crriid^ung  bc§  ®t)riftcntum§  mu§  allen  benen 
unhaltbar  erfd)eincn,  bic  [xi)  beftrebcn,  baSfcIbc  al§  gcfd^ic^tUc^c 
^Religion  ju  Dcrftc^cn  unb  in  i^m  bic  Erfüllung  unb  aScrtlärung 
bcr  altteftamcntlic^cn  ^rop^cttc  crblidEcn.  Unb  biefc  ©rroartung 
wirb  burd^  eine  unbefangene  SBürbigung  be§  Satbeftanbe^  beftätigt. 

Ober  fönnten  xoxx  üergeffcn,  ba^  bic  perlen  bcr  cDangcIifc^en 
Ueberlieferung  (Srjäl^Iungcn  finb,  bie  al§  freie  Schöpfungen  bcr 
^fiantafte  bic  tiefften  unb  einfadiften  ©el^eimniffc  be§  ®ottc§reid)e§ 
uerfünbcn?  §ei§t  e§  Qefu§  l^erabfe^cn,  roenn  man  il^n  ben  gott« 
erieud)tcten  3)id^ter  unb  Offenbaret  nennt,  bcr  „tiintcr  bem  Scheine 
bie  SBirKid^teit  fielet,  ba§  gro^e  Seben,  ba§  unfer  Seben  umfaßt 
unb  leitet,  gu  fpüren  unb  ju  beuten  roei^"^)  unb  ocrgänglic^e 
2)ingc  unb  irbif(^c  Vorgänge  ju  Prägern  unb  93oten  be§  ©roigen 
unb  @ottIid)en  Derflärt?  ©inb  biefc  ©feic^niffe  nic^t  bie  töftlic^ftc 
5rud|t  ber  üollenbetcn  3)urd^bringung  oon  SQSal^r^eit 
unb  2)  i  d)  t  u  n  g ,  bie  fi^  auf  ber  Ijöd^ften  ©tufe  ber  SReligton 
Doßjie^t? 

3löcrbing§  finb  bie  einjclncn  3äge  biefer  "ißarabcln  bem  53cs 
reid)C  be§  mirflid^en  @ef^el^en§  entnommen,  unb  e§  geben  fic^ 
biefc  ®rjäl|Iungcn  oon  ooml^ercin  für  frei  geroä^Ite  SBcranfc^au« 
lic^ung  innerer  ©riebniffe,  für  ^ttuftrationen  aQgemeiner  93orgänge 
ober  ®cfe^e  be§  @otte§reic^e§.  3)a§  änbert  aber  nici^t§  an  bcr 
Jatfa^e,  auf  meldte  e§  anfommt:  um  Seben  ju  rocdEcn,  um  bos 
©emiffen  ju  rid)ten  unb  ju  retten,  um  ba§  ^erj  ju  treffen,  rcbct 
bic  933at|rt|cit  bic  (5prad)c  ber  Si^tung. 

Sieben  biefer  plaftifd^en  2lu§prägung  ber  ^örf)ftcn  religiofcn 
©cbanten  treten  bie  anberen  2)arfteUung§mitteI,  bereu  fic^  bic  ncu= 
teftamentlic^en  SWänner  bebienen,  jurücf.  ®§  barf  aber  nic^t  übcr= 
feigen  roerben,  ba^  and)  in  ben  3lDegorien  eine§  ^auluö  ober  Qo- 
Joannes,  in  ber  ©t)mboUt  ber  Slpofalgpfc,  bic  5:ätigfcit  bcr  reli^ 
giöfen  ^^antafie  fid)  geltcnb  mac^t.  Sro^  ber  rocfeutlic^cn  Un* 
tcrfd)icbe,  bic  jmifd)en  biefen  ®rö^en  obroaltcn,  nehmen  fic^  bic* 
felbcn  al§  befonbere  3Jlobififationcn  eine§  ©runbtgpu^  au§: 
überaß  fd)afft  fid^  ber  religiöfc  ®eift  eine  gorm,  bie  nid)t  o^ne 
meitcreg  ai§  n)irflid)er  SBorgang,  al§  matcrieöc  ®cf^id)tc  gebeutet 

1)  ©0  SBeinel,  2)ie  ®Ictd)niffc  Scfu,  1904. 


fiobftein:  9Ba]^rl)eit  unb  ^tc^tung  in  unfrer  dlettgion.        521 

werben  fann.  9lu(^  l^ier  treten  SBa^r^eit  unb  5)tci^tun8 
nic^t  in  ©egcnfa^  jueinanber,  auc^  l^icr  ^at  jene  in 
biefer  it)re  entfpred^enbe  ^ülle  9efud)t  unb  gefunben. 

Ueber  bie  bi^l^erige  Söertung  ber  neuteftamentlid)en  ®ebanfen* 
roelt  werben  bie  2tuffaffungcn  roo^l  taum  weit  auöeinanber  get)en. 
S)agegen  bürftc  man  fdiroerlid)  auf  biefelbe  Uebereinftimmung 
jal^Ien,  wenn  bie  S^oge  aufgeworfen  wirb,  ob  bie  birf)tenbe  ^$^an= 
tafie  aud)  nod)  an  ber  Silbung  anberer  ©tücle  be§  bleuen  Siefta^ 
ment§  beteiligt  ift,  al§  an  ber  ©c^öpfung  ber  ®(eici|niff e ,  ber 
Megorie,  ber  anertannterma^en  religiöfen  Silberrebe.  ®ibt  c§ 
im  bleuen  2:eftament  religiöfe  3Bal)rt|eiten,  bie,  jwar  al§  wtrttid) 
gefd)el)en  überliefert,  fic^  bennod^  nic^t  al§  tatfäd)lic^e  3Q3irfiid)feit 
galten  laffen? 

3)ie  ^iftorifd)-fritifc^e  gorfc^ung  l^at,  nad)  gewiffentjafter 
'^^Jrüfung  be§  2:atbeftanbe§ ,  biefe  ^rage  bejaht.  @§  !ommt  l|ier 
nid)t  barauf  an,  wie  weit  man  bie  ©renjen  ftedt  unb  wie  ^od) 
man  bie  Qai^l  ber  ate  2Wr)tt)u§,  (Sagen  ober  ©rimbofe  ju  bejeid)= 
nenben  Elemente  abfd)a§t.  OP  nur  an  einem  ^untt  ber  eoange^^ 
Uferen  Ueberlieferung  ber  Stad^weig  be§  bilbUd)eu  ®f)aratter§  ber 
religiöfen  3Ba^rl|eit  erfolgrei^  gefüfirt  worben,  fo  tut  fid)  bie 
3Wöglid)feit  einer  fold)en  ^Interpretation  aud^  für  weitere  ©lemente 
auf^).  3)a|  in  unferen  Soangelien  fold)e  3^9^  oorljanben  finb, 
wirb  ber  entfd)iebenfte  SSertreter  ber  Jrabition  jugeben  muffen. 
Oft  e§  nötig,  einzelne  S3elege  anjuf ü^ren  ?  3)er  bereite  im  Hebräer- 
brief  bejeugte  ©taube,  ba§  hnxd)  ben  2:ob  be§  neuteftamentlid)en 
^ol^enpriefter§  ein   freier  SwS^nfl  ju  ©Ott  ermöglid)t  ift  (§ebr. 

1)  ^ie  JJorberung,  bie  in  ber  Debatte  gcftellt  würbe,  c§  wäre  bie 
Slufgabe  be§  93erid^terftatter§  gewefen,  in  eine  näf)ere  5Jcr^äItni§beftim= 
mung  oon  Söa^rl^eit  unb  ^icf|tung  in  ber  rf)riftUd)en  Oieligion  eingutrelen, 
muj  id)  aU  unbegrüubct  jurücfroeifen.  ^ie  JJragc:  ,,SBa§  ift  nun  'J)ic^' 
tung  unb  2Bat)rl)eit,  inSbcfonbere  in  ben  aU  ®efrf)ici^te  fic^  gcbenben  SBe- 
rid)tcn,  in  ben  I)iftorifd^en  Steilen  ber  ©d^rift"  lä^t  firf)  gar  nid^t  in  SBaufrf) 
unb  S3ogen  beantworten;  oor  allem  ocrträgt  fie  !cinc  rein  quantitatioc 
93etra(^tung  unb  (Sntfd)eibung.  <Sie  unterliegt  cinerfeit^  einer  wiffenfd)afts 
Ud^en  ^Beurteilung,  bei  weld^er  hit  f)iftorifd)c  Äriti!  bag  mafegebenbc  ©ort 
5u  fagen  ^at,  anbererfcitö  einer  religiöfen  Söertfd)äfeung,  bie  fid^  an  ber 
allgemeinen  SJragc  nad)  ber  93ebcutung  bes(  $iftorif(^cn  im  ^l)riftentum 
ju  orientieren  l^at.    hierüber  ftel)e  weiter  unten. 


510        Sobftetn:  Sföa^rl^eit  unb  ^id^tung  in  unfter  SHeligicn. 

Unter  bcn  ©eelcnoermögcn  be§  SKcnfci^cn  ift  ba§  crftc,  ba§ 
im  ®ciftc§Icbcn  crroad^t,  bic  @inbilbung§fraft.  ®icfc  ^Priorität 
bcr  ^l^antafic,  an  bcrcn  S3ctätigung  üon  Stnfang  an  ba§  ®cfü^I 
einen  roefentlic^en  2lnteit  ^at,  jcigt  jtd^  forool^t  im  Seben  bc§  ein- 
jelnen  aU  in  bem  ber  SBölter.  SEBir  lernen  frut)er  mit  ber^^an* 
tafte  iinb  bem  ©efül^t  ertennen  al§  mit  bem  95erftanb,  wir  al^nen 
früher  al§  mir  benfenb  er!ennen.  ®ie  38ölferpfgct|ologie  beftdtigt 
bie  93eoba^tungen  unb  Erfahrungen  au§  bem  ©injelleben.  ^ebe 
@ef d^ie^te  beginnt  mit  (Sagen,  jebe  Siteratur  l^ebt  an  mit  Siebem : 
immer  unb  überaß  erfd^eint  bie  ^oefie  oor  ber  ^rofa. 


fd^loffen  ro&tc.  @o  ^aben  mandjcrlci  an^  ber  babpfonifc^cn  SW^t^oIogie 
ftantmenbc  ©Icmente  in  ber  ptop^etifc^en  SReligion  SfraelS  eine  Umbie* 
gung  bcS  ^laturl^aften  in§  (£t^ifd|c  unb  eine  3luflöf ung  be§  ^olpt^ciftifc^cn 
ing  aWonotl^eiftifd^e  erfahren. 

5.  —  ^uf  bem  ©oben  ber  alttcftame  ntlid^en  ^ropl^cten* 
religion  ftnb  beS^alb  aud^,  fei  e$  unter  bem  ©emanbe  abftd^tStoS  bi<i^ 
tenber  SBoIUpoefte,  fei  eS  in  ber  g^orm  planvoU  arbeitenber  ^unftbic^tung, 
ber  9Kenf(^^eit  ^enntniffe  üermittelt  n^orben,  in  bencn  baS  religiös  cm- 
pfdnglid^e  ©entüt  göttlid^e  Offenbarungen  roa^rjune^men  genötigt  ift. 

6.  —  9luf  bem  SBoben  bc§  (S^riftentumä  fteUt  fic^  bie  ©pnt^efe 
religiöfer  SS^a^rfieit  unb  bid^terifd^er  ©intleibung  in  einem  großen  dlei^« 
tum  ©erfc^icbener  g^ormcn  bar:  bafür  jeugcn  nic^t  nur  bic  ©leic^niffe 
3efu  unb  bie  ^lUegorien  bcr  neutcftamentli(^en  ©c^riftftcUer,  fonbem  au(% 
n>id|tigc  SBeftanbtcilc  bcr  eoangelifc^en  Ucbcriieferung,  bic  jroar  n  i  cft  t 
al§  l)iftorifc^  mtrfHd^  gelten  fönnen,  barum  ober  b o d^  al§  religiös 
roal^r  ju  merten  finb. 

7.  —  ®ic  rid^tigcSBcr^SItniSbcftimmung  DonSBa^r^ 
^cit  unb  2)i(^tung  in  unfrer  ^Religion  barf  bcn  ^nfpru^  ergeben, 
einen  mcfcntUd)cn  ^Beitrag  5ur  Apologie  bcS  Q^^riftentumS  ju 
liefern,  fofern  fic  bcn  unferer  3eit  fid&  aufbr&ngcnbcn  ^onflift  groifd^cn 
bem  IHcfpcft  cor  bcr  gcfd^ic^ttic^cn  9Bir!Itc^!cit  unb  bcr  ^etdt  gegen  bie 
rcligiöfc  Ucbcriicfcrung  ^u  ^d)liä)Un  ocrmag.  $on  bcn  berufdm&^igen 
iBcrtrctcm  bcr  d^riftli(^cn  9lcUgion  ift  bcdbalb  eine  prinsipicUc  ©inftc^t 
in  biefen  @ad)t)cri|alt  gu  forbem. 

8.  —  5)ic  l^icr  vertretene,  in  bcr  ^onfequcnj  bc8  reformatorifd^en 
©laubcngpringipS  licgcnbc  @r!enntni§,  mcl^c  guglcic^  eine  gciftigc  SBe? 
freiung  unb  eine  rcligiöfc  93crci^crung  unb  iiBertiefung  mit  ftd^  fü^rt, 
mu^  fomeit  aU  mögtid^  Don  bcn  J^ettcrn  unb  Scfircrn  bcr  ^rc^e  burc!^ 
aQcpäbagogif^cntfprcd)cnbcn  äJlittcl  unfern  ©cmeinben  sugäng? 
li(^  gemacht  merbcn. 


i^obftein:  SBal^r^eit  unb  ^ic^tung  in  unfrer  IReltgion.        511 

@benfo  oerl^ält  e§  fic^  mit  bem  religiöfen  @rfennen.  @§  tritt 
junä^ft  al§  p^antafiema^igeS  @rfennen,  alS  retigiöfeS  äl^nen  auf: 
bic  ®otte§a^nutig  ift  unfcre  frü^cfte  rcligiöfc  ®rtenntni§.  ©obalb 
fi^  bicfcg  elementare  religiöfe  (ärtennen  in  bcr  ©efd^id^te  obje!* 
tioiert,  fc^afft  e§  fic^  eine  2)arfteUung,  bie  noc^  ben  ©tempel  ber 
Unmittetbarteit  unb  Urfprünglic^teit  an  fic^  trägt;  biefe  3)ars 
ftcHung  I)ot  notmenbigerroeife  einen  fgmbolifc^en  S^ara!ter:  nur 
in  ber  ®eftalt  be§  93ilbe§  ift  ber  religiöfe  SBorgang  bem  Äinber* 
gemüt  überhaupt  erreid^bar  unb  uerftänblic^  *). 

3n  biefem  ©inne  mu|  gefagt  werben,  ia^  bie  9Jlpt^oIogie 
bie  elementarfte  5^^^  ^^^  religiöfen  ©ntroirftung  ber  SBölter  bi^ 
bet  *).  3)iefer  2lu§brurf  I)at  l^ier  feinerlei  üble  9lebenbebeutung. 
®§  ift  ein  93emei§  oberflä^lid^fter  93erftanbni§loftgteit  unb  öbeften 
3nteUettuali§mu§,  wenn  man  baran  2lnfto§  nimmt,  ba^  bie  reli^ 
giöfen  @eban!en  ni^t  junäc^ft  in  ber  Oeftalt  abftrafter  Segriffe, 
fonbern  im  ©eroanb  poetifc^er  ©ifber  unb  Srimbole  il^ren  ®ang 
bur^  bie  ®efd)id^te  l^alten.  Unb  bod^  fäQt  eS  fo  Dielen  unenb« 
lic^  ferner  bie  pfgc^ologifc^e  unb  l^iftorifc^e  Sbtmenbigfeit  biefe§ 
geiftigen  ^rojeffeS  einjufe^en.  S§  ift  aU  ob  bie  gemaltige  ®eifte§* 
arbeit  ber  großen  3)en!er  unb  gorfc^er,  bie  ftc^  in  ba§  „religiöfe 
aWgfterium"  oertieft  tiaben,  fpurlog  on  ben  meiften  unter  unferm 
®efc^(ec^t  vorübergegangen  fei.  93ergebli^  l^at  Hamann  feinen 
^roteft  gegen  bie  einfeitige  ^errfdjaft  be§  SSerftanbe^rigori^mu^ 
erhoben,  welcher  bie  SD3a^r^eit  nur  al§  abftratten  93egriff§forma* 
Ii§mu§  ju  befi^en  mäl^nt;  üergeblic^  ^at  ^erber  auf  bie  ge^eim^^ 
niSooüen  liefen  ber  SBolf^feele  ^ingeroiefen,  au§  roeldier  bie  Siebei 
^erDorquellen,  bie  un§  bie  Eigenart  be§  religiöfen  unb  poetifc^en 
@emüt§  mit  ergreifenber  9laioetat  offenbaren;  oergeblic^  ^aben 
Otfrieb  3Wütter  bie  3lnfdnge  ber  griec^ifc^en  Kultur,  9tiebu^r  bie 
Urfprünge  ber  römifc^en  ®efc^ic^te  auf  i^re  fagentjaften  SBeftanb- 
teile  unterfu^t,  —  ba§  intelleftualiftifc^e  SBorurteil  eine§  gefc^id)t^* 

1)  Sabatier,  Esquisse  d'une  philosophie  de  la  religion  d'apr^s  la 
Psychologie  et  Thistoire,  Paris  1897,  pg.  34  suiv.  (beutfd)e  Ucberfeftung 
©on  Dr.  SBour,  ©.  27).  —  SRotlie,  3ur  ^^ogmatif  1869»,  @.  4—5. 

2)  Heyne:  A  mythis  omnis  priscorum  hominum  cum  historia  tum 
philosophia  procedit.  —  Strauß,  S)a§  ßeben  3efu  fritif^  bearbeitet,  1, 28. 


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fiobftein:  SBa^rl^cit  unb  ^idjtung  in  unfrer  SRcIigion.        623 

unberührt  bleibt.  35a§  aber  mu§  im  ^»ntereffe  ber  grömmigfeit 
unfer  93eftreben  fein,  ba§  xoxt  jur  SSegrünbung  ber  d^riftlic^en 
®en)i§l^eit  einen  ©tanbort  geroinnen,  ber  nid^t  allem  SBanbel  unb 
3D3ed)feI  ber  ftet§  ftd)  erneuernben  ^otfc^ung  preisgegeben  fei. 
2)iefe  Unab^ängigteit  ber  religiöfen  ^ofition,  biefe  greiftetlung  be§ 
eoangelifc^en  ^eil§gtauben§  oon  ben  ^iftorifd)en,  fritifi^en,  p^ilo^' 
fop^if^en  Untcrfu^ungen  ift  un§  nur  bann  möglid^,  roenn  mir 
ju  ber  (5rfennlni§  burc^bringen,  ba§  felbft  im  Heiligtum  ber  c^rift* 
lidjen  Sieligion  ba§  fc^6pferifci)e  ^^rinjip  be§  göttlichen  Offenbar 
rung§geifte§  nic^t  unauftöStid)  gebunben  ift  an  bie  oft  jeitgefc^ictjt' 
lic^  bebingten  füllen,  burd)  roetc^e  fiä)  biefer  ©eift  funbgibt  unb 
betätigt.  3)a§  lie^e  fic^  cor  allem  an  ben  apofal9pti|d)*ef^ato* 
logifc^en  Äategorien  nac^roeifen,  in  benen  ba§  religiöfe  @o^ne§* 
berou^tfein  Qefu  fid)  auSfprai^,  ol^ne  in  benfelben  aufgegangen  ju 
fein.  ®arum  l^at  auc^  bie  bur^  ®ott  felbft  geleitete  SntroidClung 
be§  c^riftlidjen  (Seiftet  biefe  au§  bem  bamaligen  SWilieu  entftam* 
menbe  ©rimbolit  abfto^en  fönnen,  oline  bafe  baburc^  ba§  ^erj  be§ 
@Dangelium§  getroffen  roorben  roäre.  ^ft  fomit  ba§  SEBefen  be§ 
6^riftentum§,  ba§  gottgeoffenbarte  unb  gottgeroirfte  Seben,  ba§ 
un§  burd^  ®t)riftu§  oermittelt  roirb,  lösbar  üor  bem  93orftelIung§' 
material,  in  bem  e§  fid^  urfprünglic^  ausprägte,  fo  fällt  ber  reti* 
giöfe  §eil§glaube  nid^t  mit  ber  f  ides  histori  ca,  mit  bem 
gürroafjrl^alten  ber  tatfäd^li^en  SD3irflid)feit  jufammen :  bie  eoan= 
getifdie  Ueberlieferung  bleibt  ein  roertüoller  2lu§brudt  ber  djrift* 
lid)en  ^eil§roat)r^eit,  fte  ^ört  auf,  bie  binbenbe  g^orm  ber  perfön - 
ticken  ©laubenSüberjeugung  ju  fein  ^). 


1)  ®cgcn  biefe  ^ofition  ift  im  ^amtn  ber  neueren  „religionggcfd^ic^t* 
lidjen  ©etradjtung  ber  ©dirift"  eine  SRei^c  oon  (Sinroenbungen  erhoben 
roorben.  Sie  laffen  fid^  auf  jroci  fünfte  jurü(ffüt)ren,  fofem  man  bie 
S5erec^ttgung  unb  bie  9Jl o g l i d) f e i t  einer  ©onberung  oon  3öef cn 
unb  @rfd)ctnung,  oon  ^em  unb  ©i^atc  beftritt.  ©inmal  l^abc  bie  Sfleli- 
gionSgcfc^id)te,  bie  e§  auf  bie  ©rfaffung  ber  roirflic^cn  Icbcnbigen  9leli- 
gion,  ber  tatfäd^lid^en  iBoItSfrömmigfett  abgefet)cn  I)at,  bargetan,  baj,  mag 
roir  big^er  alg  nebenfäd)li(^  angef  el^en,  oielmc^r  gerabe  al§  $  a  u  p  t^^ 
fadie  bicfer  5römmig!eit  geroertet  werben  roiH,  unb  roa§  roir  jcftt  seitge* 
fd^id^tlid)e  §ülle  p  nennen  belieben,  fonftituierenbeg  (Clement  ber  ^Religion 
ift:  bie  finnli^  maffioe  SSilberroelt  beg  IReucn  2:cftament§,  bie  bämonolo* 


510        S  0  b  ft  e  i  n :  SBal^rl^eit  unb  ^t<^tung  in  unfrer  9leligion. 

Unter  ben  ©eclenocmiögcn  bc§  3Wcnfci^cn  ift  ba§  crftc,  ba§ 
im  @ciftc§Icbcn  crroa^t,  bie  ©inbilbungSfraft.  S)icfc  Priorität 
bcr  ^l^antafic,  an  bcren  Betätigung  von  2lnfang  an  ba§  ©efü^l 
einen  roefentlic^en  2lnteit  t|at,  jeigt  jid^  foroo^l  im  Seben  be§  ein* 
jelncn  aU  in  bem  ber  SBöIfer.  3Bir  (ernen  frfil^er  mit  ber  $^an* 
tafie  unb  bem  ®efü^t  ertennen  at§  mit  bem  9Serftanb,  wir  a^nen 
früher  al§  mir  bentenb  ertennen.  ®ie  SBöUcrpfgc^otogic  beftätigt 
bie  SBeobad^tungen  unb  ©rfa^rungen  au§  bem  ©injelleben.  S^be 
©efc^ic^te  beginnt  mit  ©agen,  jebe  fiiteratur  ^ebt  an  mit  fiiebem: 
immer  unb  überall  erfd^eint  bie  ^oefie  oor  ber  $rofa. 


f(^li)ffen  n)dre.  @o  l^aben  mand^erlei  auS  bet  bobt^lonif^en  SD^t^oIogie 
ftammenbe  Elemente  in  ber  prop^ettfd^en  dleligion  Sf^aelS  eine  Umbie« 
gung  be§  S^aturl^aften  in§  (^t^ifd^e  unb  eine  ^ufl5f ung  beS  ^ol^t^eiftifd^en 
ins  SDfionot^eiftif^e  erfal^ren, 

5.  —  ^uf  bem  SBoben  ber  altteftame  ntlid^en  ^rop^eten« 
religion  ftnb  beSl^atb  aud^,  fei  t§  unter  bem  ©eroanbe  ahfid^täloS  bid^ 
tenber  ^oÜSpoefie,  fei  eS  in  ber  g^orm  plant^oS  arbeitenber  ^unftbi^tung, 
bcr  2Wcnfd)]^cit  ^enntniffe  Dermittelt  roorbcn,  in  benen  bag  religiös  cm» 
pfänglid^e  ©emüt  gottlid^e  Dffenbarungcn  roa^rjune^mcn  genötigt  ift. 

6.  —  5luf  bem  SBobcn  bc§  (S^riftcntumä  ftcUt  ftd^  bie  Spnt^cfc 
religiöfer  38a^r!^cit  unb  bid^terifd^cr  @tn!Ieibung  in  einem  großen  SRetc^- 
tum  Dcrfc^icbcncr  f^ormen  bar:  bafür  ^eugcn  ni^t  nur  bie  ©leic^niffe 
3cfu  unb  bie  Allegorien  bcr  neuteftamentli^en  ©d^riftfteUer,  fonbem  ouc^ 
mistige  ^cftanbteile  ber  eoangelift^en  Ueberlicferung,  bie  gmat  nic^t 
als  I)iftorif^  mirüid^  gelten  fönnen,  barum  aber  bo(^  al^  reHgiöiS 
mafir  ju  rocrtcn  finb. 

7.  —  S)ic  rid^tigcSBcr^dltnigbeftimmung  tJonSßa^r- 
l^eit  unb  ^id^tung  in  unfrer  9leUgion  barf  ben  Anfpruc^  ergeben, 
einen  mcfentlic^en  ^Beitrag  pr  Apologie  beS  (S^l^riftentumiS  a^ 
liefern,  fofcrn  fie  ben  unferer  3eit  fidEi  oufbrängenben  Äonflüt  gwifc^en 
bem  IRefpeft  oor  bcr  gefd^ic^ttic^cn  SBirflic^fcit  unb  bcr  $iet&t  gegen  bie 
rcligiöfe  Ucberlicfcrung  su  fdEiIid^ten  oermag.  $on  ben  berufsmäßigen 
SBcrtretem  ber  c^riftUrf)en  ^Religion  ift  beg^alb  eine  prinzipielle  ©infic^t 
in  biefen  ©ad^ocr^alt  ju  forbem. 

8.  —  ^ic  f)icr  oertretenc,  in  ber  ^onfcqucns  beS  reformatorif(^en 
©laubenSprin^ipS  licgenbe  ©rfcnntniS,  meiere  ^uglci^  eine  geiftige  Se^ 
frciung  unb  eine  retigiöfc  ©creid^crung  unb  ^Ucrtiefung  mit  fi(^  fu^rt, 
muß  fomcit  alS  möglich  oon  ben  Scitern  unb  Se^rern  bcr  ^rc^e  burc^ 
alle  päbagogifd^  entfprcc^enben  ^ttel  unfern  ©cmeinbenj^ug&ng' 
lid|  gemad^t  merbcn. 


fiobftein:  ^al^r^eit  unb  ^i^tuttg  in  uttfrer  dleligion.        511 

©bcnfo  ocrl^ält  e§  ftd^  mit  bcm  rcligiöfcn  ®r!enncn.  @§  tritt 
gunäd^ft  al§  p^antaficmä^igeö  Srfcnncn,  ate  rcligiöfc^  Sinnen  auf: 
bic  @ottc§al|nung  ift  unfcre  frül)cftc  rcligiöfc  @rtcnntni§.  ©obalb 
fid)  bicfc^  elementare  religiöfe  ®rtcnnen  in  ber  ®efct|id)te  objet:» 
timert,  f^afft  e§  fiel)  eine  ©arfteßung,  bie  nod^  ben  Stempel  ber 
Unmittelbarfeit  unb  Urfprünglic^teit  an  ftd^  trägt;  biefe  ®ar* 
ftcHung  ^at  notmenbigerroeife  einen  fgmbolifc^en  Kl)aratter:  nur 
in  ber  ©eftalt  be§  93ilbe§  ift  ber  religiöfe  Vorgang  bem  Äinber* 
gemüt  überhaupt  erreichbar  unb  uerftänblidi  ^). 

3n  biefem  ©innc  mu§  gefagt  merben,  ha^  bie  SKrit^ologie 
bie  elementarfte  gorm  ber  retigiöfen  ®ntn)idflung  ber  9Sölter  bil= 
bet*).  3)iefer  2lu§brudE  l^at  ^ier  teinerlei  üble  91ebenbebeutung. 
®§  ift  ein  93emei§  oberfläd^lic^fter  aSerftänbni§lofigteit  unb  öbcften 
<3ntelle!tuali§mu§,  menn  man  t>axan  3lnfto^  nimmt,  ba§  bie  reli* 
giöfen  ©ebanten  nid^t  junäd^ft  in  ber  ©eftatt  abftratter  Segriffe, 
fonbern  im  ©eroanb  poetifi^er  93ilber  unb  ©gmbole  il^ren  ®ang 
burd)  bie  ®efd[)id^te  l)alten.  Unb  boc^  fäHt  e§  fo  oielen  unenb* 
lid)  \d)xütx  bie  pf^c^otogifc^e  unb  t|iftorifdt)e  9iotn)enbig!eit  biefe§ 
geiftigen  ^rojeffe§  einjufel^en.  ®§  ift  al§  ob  bie  gemaltige  ®eifte§= 
arbeit  ber  großen  2)enter  unb  gorfc^er,  bie  fn^  in  ba§  „religiöfe 
3Wt|fterium"  oertieft  l^aben,  fpurlo§  an  bcn  meiften  unter  unferm 
©efc^led^t  üorübergegangen  fei.  SSergeblid)  ^at  Hamann  feinen 
^roteft  gegen  bie  einfeitige  ^errf^aft  be§  aSerftanbe§rigori§mu§ 
erl^oben,  roeld^er  bie  SEBa^r^eit  nur  al§  abftraften  93egriff§forma= 
li§mu§  ju  befi^en  roatint;  oergebli^  ^at  ^erber  auf  bie  ge^eim^^ 
nigoottcn  2:iefen  ber  SJoltäfeele  l^ingeroiefen,  au§  melc^er  bie  Sicbex 
i^eroorquellen,  bie  un§  bic  ©igenart  be§  religiöfen  unb  poetifc^en 
®emüt§  mit  ergreifenber  ^amtat  offenbaren;  oergeblid[)  l^aben 
Otfrieb  aWütter  bie  Slnfänge  ber  griec^ifc^en  Kultur,  9]iebut)r  bie 
Urfprflnge  ber  römifdjen  ®efc^ic^te  auf  i^re  fagent)aften  93eftanb= 
teile  unterfud^t,  —  ba§  inteBettualiftifdje  SBorurteil  eine§  Qz^i)iä)t^' 

1)  Sabatier,  Esquisse  d'une  philosophie  de  la  religion  d'aprös  la 
Psychologie  et  Thistoire,  Paris  1897,  pg.  34  suiv.  (bcutfd)e  Uebcrfeftung 
tjon  Dr.  Söour,  ©.  27).  —  «Hotlie,  3ur  ^ogmati!  18692,  (g.  4—5. 

2)  Heyne:  A  mythis  omnis  priscorum  hominum  cum  historia  tum 
philosophia  procedit.  —  ©trau^,  S)a§  Seben  Sefu  fritifd)  bearbeitet,  1, 28. 


512        Sobftcin:  Söa^rl^cit  unb  ^ic^tung  in  unfrer  g^leligion. 

lofcn  SRationaU§mu§  unb  einer  bogmatifiercnben  Ort^obojie  fd)eut 
fic^  norf)  immer  üor  ber  3lnnat|me,  ba§  bie  religiöfen  ®cbanfen 
unb  ®rlebniffe  unter  ber  gorm  ber  ®id)tung  ben  ®cfd)lec^tem 
rote  ben  Sinjetnen  oermittett  roerben  foQten.  ®afür  \)atte  ba§ 
ailtertum  ein  beffereg  aSerftfinbniS  al§  unfre  bur^  SRef(eyion  unb 
9lbftraftion  ärmer  geworbene  Kultur.  ®ort  gehören  3)i(^ter  unb 
SBeife,  Siebter  unb  ^rop^eten,  ^oefte  unb  ©ottegbienft  jufammen. 
Vates  bejei(^net  jugleid)  ben  SBeigfager  unb  ben  ©änger,  ben 
@e^er  unb  ben  ^ic^ter.  ^nd)  bie  altteftamentUd^en  ^op^eten 
finb  jum  größten  2ieile  Stifter  im  engeren  ober  rociteren  ©inn 
geroefen. 

SBarum  foftet  e§  felbft  mand^em  ©ebilbeten  immer  no^  fo 
oiel  SWü^e,  flc^  in  biefe  ©ad)lage  ^ineinjufinben  ?  Sffiarum  roür= 
ben  fic^  bie  meiften  nod)  fd^uen,  bag  SEBort  eineg  ber  freiften  unb 
frömmften  Sl^eologen  be§  oorigen  ^f^W^^^^^t^  nac^iufpredjen  ? 
„@§  getiört,  fagt  9?otl^e,  rocfentli^  mit  jur  aSoKfommenlieit  ber 
SReligion,  alfo  anä)  ber  c^riftlid^en,  eine  ajigt^ologie,  eine  religiöfe 
^^antafteroelt  gu  ^aben" ').  —  Offenbar  roeil  man  fic^  über  bas 
333efen  unb  bie  ©igenart  ber  2)id)tung  in  it)rem  9Ser^aItni§  jur 
SReligion  nic^t  flar  ift.  @inmal  erblicft  man  in  foId)en  3)ic^tungen 
nur  SQSerte  ber  aOBillfür  unb  ber  Süge,  blo^e  ^abtUx,  bie  in  i^rer 
©ntftel^ung  unb  il^rem  ©efamtc^aratter  ba§  Urteil  i^rer  Ißcrroerf- 
li^fert  unb  itirer  SBerbammnis;  mit  ftd|  führen.  3«"^  jrocitcn 
überfielt  man,  ba§  ber  2lnalogiefcfttu§  oon  ben  au^erbiblifc^en 
retigiöfen  3)ic^tungen  auf  bie  Ueberlieferungen  be§  alten  ober  neuen 
Jeftamentg  nur  bie  S«^^"^  "^^  ®rfcl)einung  ber  ©ct)öpfungen  ber 
^^antafie  betrifft:  über  3^nt)alt  unb  SBert  folcI)er  3)ic^tungen  ift 
burc^  jenen  2lnalogiefc^lu|  nod)  ni(^tg  au§gefagt.  SBei  aller  for= 
malen  2lel|nlid)!eit  ber  poetifcl)en  ©ebilbe  befte^en  jroifc^en  ben- 
felben,  bem  <3nt)alt  unb  bem  3Berte  nad),  roefentlic^e  Unterfc^icbe, 
bie  in  ber  Sßerf^ieben^eit  ber  9ieligion§ftufeu  unb  ber  SReligionS* 
arten  begrünbet  finb.  9Söltcr  ober  ^nbioibuen  mögen  in  benjelbcn 
?5ormen  beuten,  fie  mögen  biefelbe  ©prad^e  reben :  in  btn  gleidjen 
formen  lebt  nid)t  ber  gleid^e  ^n^alt,  bie  oerroanbte  ©prac^e  birgt 
ni^t  ben  felben  ®eift. 

1)  31.  a.  D.  @.  5. 


Sobftcin:  SBafirl^eit  unb  ^id^tung  in  unfrer  9teIigion.        513 

S)icfc§  nad^juiDcifcn  unb  ju  bcgrünben,  fott  in  bcn  folflenbcn 
Stu^fütirungen  pcrfuc^t  rocrbcn.  ^n  bem  aWa|e  al§  un§  bicfer 
Sßcrfud)  gelingt,  wirb  e§  un§  mögli(^  fein,  bas  unJ^eimlidie  @e= 
fpenft,  ba§  in  ben  ©emütern  fpu!t  unb  hm  rebli^ften  ^erjen 
oft  namenlofe  Slngft  einjagt,  enbgültig  ju  befc^roören  unb  ju 
bannen. 

2luf  bem  93oben  ber  9ft  a  t  u  r  r  e  I  i  g  i  o  n  e  n  betätigt  fic^  ber 
religiöfe  Jrieb  in  ber  bid)terifd|cn  ^^erfonifitation  ber  9laturfräfte. 
Ser  fmnlidien  ^^antafie  ber  auf  biefer  ©ntroidtfung^ftufe  fte^en= 
bcn  aSölEer  gelten  bie  äußeren  SJiaturobjettc  niemals  ate  blo^  fmn* 
lidje  ®inge,  fonbern  al§  befeelte  SBBefen.  Stuf  biefer  ©igentüm* 
Iirf|teit  berut)t  bie  ®ramatifierung  ber  ^taturnorgänge,  nor  allem 
ber  ^immel§erfd)einungen.  2)ie  periobifi^  n)ieberfet)renben,  i^äufig 
beobad)teten  ^^änomene  t)erbid)ten  fic^  ju  einmaligen,  an  einem 
beftimmten  Ort,  ju  einer  beftimmten  Qni  gefc^e^encn,  unmieber* 
^olbaren  SSorgängen.  :3eben  Slbenb  ge^t  bie  ©onne  im  glühen- 
ben  geuermeer  it|rer  ©trat)len  unter:  nur  einmal  ftirbt  ^eraffeg 
inmitten  ber  g'^"^"^.^^  ^^^  ^on  il^m  felbft  angejünbeten  Sctieiters 
l|aufen§.  ©o  ooUjie^t  fid)  bie  3tnfd)auung  unb  bie  nod|  inein* 
anber  flie^cnbe  religiöfe  unb  miffenfd^aftlidie  @rf (ärung  ber  SJlatur 
in  ber  ©eftalt  be§  S^aturmgt^u^.  2)erfelbe  mac^t  fic^  aümät)lid) 
al§  tatfäd)lic^e§  @reigni§  geltenb,  unb  im  Seiuu^tfein  ber  folgen- 
ben  @efd)led)ter  erlifc^t  bie  ©rinnerung  an  Urfprung  unb  Eigen- 
art ber  Äräfte  ober  ber  ^^änomene,  burd)  welche  bie  poetif(^en 
©ebitbe  oeranla^t  ober  gefd)affen  mürben  *). 

Snnerl^alb  ber  gefc^id)tlid|en  ^Religionen  f ommt 
bie  bid)tenbe  ^^antafic   nid)t  jur  9tu^e^);  fie   t|at   e§   aber   mit 

1)  ©icbed,  ßef)rbuc^  ber  9flcU0iongpf)iIofop^tc,  1893,  ©.  5  f.  A.  Reville, 
Prolegomenes  de  Thistoire  des  religions,  1882,  p    153  suiv. 

2)  ^icfc  ®r!cnntuig  gilt  auf  bem  ©ebictc  ber  ^rofanliteratur  fd^on 
längft  als  allgemein  anerfannte  Söal^r^cit.  Sögt,  bie  Söemcrfungen,  bie 
§.  @d)ul^  bereits  in  ber  2.  2lugg.  feiner  Utltteftamentlic^en  ^t)eologie 
11878),  (5.  27—28,  hierüber  fcftreibt:  „%k  ©age  Id^t  unä  in  bag  innerftc 
^erj  eine«  S8ol!Stum3  bliden,  bort  bie  treibenben  unb  bcioegenben  Slräfte 
fet)en,  au^  benen  t>a§  gefc^id^tlic^e  Seben  berfelben  quillt.  8o  finb  ja  in 
einem  Db^ffeug  unb  3(c^ill  bie  (S;^ara!ter5Üge  l&cUcnifd^er  9lrt,  fo  in  einem 
£iegfrieb  u.  ©agen  bie  ber  germanifd^en  5Bolf§tümlid5!eit  x)iel  greifbarer 
ausgeprägt  ak  in  gefd^ic^tli^en  ©eftalten  biefer  Söölfer". 

3eitfc^rift  für  X^eologtc  unb  Ätrc^e.    14.  ^aftvQ.,  6.  §cft.  35 


530        Öobftcitt:  SBal^r^eit  unb  ^ic^tung  in  iinfrer  JHcltgion. 

tigfeit  unb  ®c[unb^cit  bcr  ©ectc  ju  retten  al§  aud^  bie  veligiöfe 
®Iauben§9en)i^^ett  unb  ben  ^rieben  be§  ^erjen§  ju  beroaliren? 

®iefe  5^age,  bie  fic^  im  Oeroiffcn  eine§  jeben  aufridjtigen 
Jfieologen  mit  me^v  ober  weniger  Rtarl^eit  regt,  bürfen  roir  freu= 
big  bejahen,  —  freiließ  aber  nur  unter  ber  93ebingung,  ba|  roir 
ben  im  93or^erget|enben  gefd^ilberten  SÖBeg  betreten.  ®§  ift  ber 
SBeg,  auf  ben  unfere  5Heformatoren  un§  tiinmeifen,  inbem  fic  un§ 
bie  malere  9latur  unb  bie  Sigenart  be§  eoangelifc^en  ^eil§glauben§ 
entljütlen.  ^ft  biefcr  ©tauben  feinem  3Q3efen  nac^  ni^t  ba§  gur- 
mat)r^alten  irgenb  einer  l^iftorifd^en  2^atfa^e,  fonbern  ba§  Ver- 
trauen auf  ben  un§  in  ®^riftu§  funbgctanen  ^eilömiKen  @otte§, 
fo  ift  gerabe  bamit  bie  SBorau§fe^ung  für  unfere  ^^roblemftellung 
unb  4öfung  gegeben:  ©egenftanb  unferer  perfönlic^en  ^eilSgemife* 
^eit  ift  nur  bie  göttliche  DffenbarungSma^r^eit;  bie  @(auben§fragc 
ift  balier  oon  ben  ]^iftorifd)*fritifd^en  Problemen  lösbar ;  jene  allein 
ift  für  unfer  innere^  Seben  entf c^eibenb ,  biefe  get)ört  »or  ba§ 
gorum  ber  SBiffenfd^aft.  3)ie  Untcrfdieibung  oon  ^iftorifc^er 
SQSirflic^feit  unb  religiöfer  aQBat)rt)eit,  bie  Ueberjeugung,  ta^  un§ 
@otte§  ©nabenmitle  auc^  in  formen  oermittett  werben  fann,  bie 
nid)t  at§  finuli(^  watirnel^mbare  @reigniffe  ju  faffen  fmb,  mit 
einem  SBort,  ber  ©runbgebanfe  unfrer  ^^efen  ift  nur  bie  fonfe* 
quente  Folgerung  au§  ber  reformatorifc^en  "^^ofition,  bie  aßfeitige 
SInroeubung  be§  eüangetifc^en  ®tauben§begriff8.  9tid)t  al§  ob 
Suttier  unb  feine  ®enoffen  mit  Harem  93eit)u§tfein  biefe  golge« 
rung  gejogen  ober  biefe  SÄnroenbung  gemacht  l^ätten!  ^aben  fie 
bod)  einer  fold^en  ^^ageftetlung  niemals  in§  Stuge  gefeiten.  ®iefe 
liegt  aber  nic^t§beftomeniger  in  ber  Konfequenj  be§  oon  il)nen 
formulierten  ^rinjip§. 

^n  biefer  ®rtenntni§  liegt  jugleic^  eine  geiftige  93efrei= 
ung  unb  eine  religiöfe  33ereic^erung  unb  SBertiefung. 

@ine  geiftige  93efreiung.  SÖBir  fmb  oon  bem  93anne  ber  ^urc^t, 
—  ber  'SviXii)t  oor  ber  Äritit,  erlöft.  ®§  oerfcl^minbet  bas;  9Wi&= 
trauen,  ba§  ben  frommen  ©Triften  fonft  leicht  gegen  miffenfc^aft^ 
lic^e  gorfd^ung  befd)teid)t.  3)ie  S:t)eoIogie  erfc^eint  nic^t  me^r  ate 
ein  notmenbige§  Uebel,  bem  man  ftd)  fügen  mu|;  fic  wirb  ju 
einer  unfc^ä^baren  ®abe,  für  bie  mau  banfen  barf,  unb  ju  einer 


fi  0  b  ft  e  i  n :  Sßa^rl)cit  unb  ^ic^timg  in  unfvcr  SHcIigion.        531 

bcvrlidien  Stufgabe,  bic  man  mit  gutem  Oemiffen  unb  frö^lic^em 
3Wute  treibt.  3)iefer  t^eologifc^en  3lrbcit  fd)reibeu  mir  nic^t  Don 
üornliercin  it|rc  5Refuttatc  t)or,  mir  oerlangen  uon  \i)x  nur  S33at)r- 
ftoftigfeit,  @t)rlicl)!eit,  @rünblid)tcit,  a((e  (Sigenfc^aften  unb  2;ugen« 
ben,  bic  mir  uon  jeber  anbern  SBiffenfc^aft  f orbern.  Unb  mir 
^aben  bie  3uoerfic^t,  ba§  bje  SSSibertegung  ber  begangenen  l^xx-- 
tümer,  bie  Uebcrminbung  ber  bem  ^Jorfc^er  bro^enben  ©efabrcn, 
bie  2lu§fd)eibung  ber  Uebertreibungen,  ©infeitigteiten  unb  2Billfur== 
fic^feiten,  bie  mit  unterlaufen  mögen,  fic^  bur(^  ben  fortlaufenben 
^ßroaeJB  ber  miffenfcl)aftlic^en  2lrbeit  felbft  poUjiel^en  merben.  9lict)t 
burd)  ba§  Eingreifen  einer  äußeren,  it|r  fremben  2lutorität,  nid)t 
burd)  tonfiftoriale  ober  fijnobale  9)lad)tfprüd)e,  fann  l^ier  geholfen 
merben.  SWau  vertraue  ber  ber  5löiffenfd)aft  immanenten  Jlraft; 
biefe  übt  bie  ftrengfte,  unbefted^Iidjfte,  jule^t  erfolgreic^fte  Äritif; 
fte  mirb.  fid)  al§  bie  läuternbe  unb  flärenbe,  aU  bic  befeftigenbc 
unb  pertiefenbe  aJlad)t  bemäl^ren.  ^at  nicl)t  ber  Sibel*  unb  öa* 
belftreit  biefe  immer  no(^  oerfannte,  barum  aber  nic^t  minber  un= 
leugbare  SSSatirticit  auf§  neue  beftätigt  unb  ittuftriert?  <3[ft  ni^t, 
aix^  allen  93erf)anblungen  für  unb  miber,  ber  Dffenbarung§c^arat* 
ter  be§  Sllten  Seftamente§  für  benjenigeu  mit  überjeugenber  Jltar^ 
f)eit  fieroorgegangcn,  ber  ber  religiöfen  Sigenart  ber  propl)etif(^en 
93erfünbigung  ein  empfänglid)e§  ®emüt  entgegenbringt? 

SBo  biefer  tongeniale  ©inn  mirflic^  lebenbig  unb  rcgfam  ift, 
tann  er  burc^  feine  a83iffenfd)aft  jerftört  merben.  SSictmefir  ge^t 
bie  geiftige  Befreiung  nid)t  ot|ne  religiöfe  93ereid)erung  unb  SBer- 
tiefung.  ©el|en  mir  un§  bod)  fc^lie^Iic^  auf  bie  Slarbinatpuntte 
unferer  9teIigion  jurücfgcmorfen.  S33o  ber  rationaüftifd)e  ober 
ortl)obofiftifc^e  3nteße!tua(i§mu§  eine  Verarmung  unb  eine  SSer* 
ftümmelung  be§  ©uangelium^  erblidt,  bürfen  mir  eine  S^onjentra^ 
tion  be§  ®tauben§  auf  ba§  aBefent(id)e  ,unb  Unoergängli^e  be= 
grüben,  äöic  oft  fönnte  aud)  ber  tt)eoIogif^en  SIrbeit  ba§  SBort 
entgegengel)alten  merben:  „S)u  ^aft  uiet  ©orge  unb  3)lüt)e!  6in§ 
aber  ift  not!"  ^ei(  un§,  menn  bie§  ®ine  mit  ftet§  mad)fenber 
Äraf t  unb  Klarheit  fid)  un§  erfdjlie^t :  bie  SRebuf tion,  bie  barau§ 
crmäc^ft,  ift  ni^t  SBerluft,  fonbern  ©eminn! 

aSeretirte  ^erren!   Siebe  33rüber!   21I§  eoangetifd)c  ©Triften 

36* 


532        So bft ein:  2Ba()rt)eit  unb  ^i^tung  in  unfret  SHeligion. 

tiegcn  wir  bie  Uebcrjcugung,  ba§  bcr  @an^  unfcrer  tt|coIogifcf)cn 
ffiiffenfc^aft  ni^t  ©ad)c  leeren  BufattS  ober  blinber  ©ittfür  ift, 
Jonbern  bei  aßen  ^ftrungen  unb  S^äufc^ungen  ber  ©injelnen,  SBei^^ 
fungen  folgt,  bie  Oott  fetber  in  ben  Jatfadjen  ber  ®efd)t(^te  un-- 
ferm  ©efc^lec^te  erteilt.  2Ba§  un§  bie  innere  ^reubigteit  ju  un* 
ferm  93crufe  ftet§  auf§  neue  erjeugt  unb  oerbürgt,  ift  bie  lieber- 
jeugung,  ba&  ®ott  nicl)t  nur  überhaupt  im  SHegimente  fi^t  unb 
alles  njoi^l  fütirt,  fonbern  ba§  roir  biefen  roeltüberroinbenben  93or* 
fel)ung§glauben  a\xi)  auf  ba§  Meine  unb  enge  gelb  unfrer  Slrbeit 
anroenben  bürfen.  SBie  befc^eiben  biefe  aud)  fein  mag,  mit  roel* 
d^en  SKängeln  fie  bel^aftet  fei,  Oott  mei^  fie  fo  ju  oermerten,  ba§ 
barau§  ein  (Segen  für  bie  ©aci^e  feinet  9teic^e§  I>erDorgel)e.  S)em 
miberfpri^t  jmar  oft  genug  ber  in  bie  2lugen  falleube  ©d)ein. 
SSernel^men  @ic  I)ierüber  bie  SEBorte  eine§  5!Ranne§,  ber  nic^t  ju 
ben  55ül)rern  ber  tritifc^en  Ji^eologie  ju  jälilen  ift :  „@§  gehört  ju 
ben  aSegen  ®otte§,  ba|  er  bie  größten  ©aben,  bie  er  feiner  ®c* 
meinbe  ober  feinen  einjelnen  Äinbern  fc^enten  will,  in  ein  mög= 
lic^ft  unanfef)nlic^e§  ©eroanb  ju  tleiben  unb  barunter  ju  ocrfteden, 
\a  ein  religiöfes  ^lu^  unter  ber  gorm  eineS  fct)einbaren  9Kinu§ 
barjubieten  liebt.  ®er  größte  gortfd)ritt  be§  SReid^eS  ©otteS  ift 
felbftoerftänblid^  in  ber  ©rfc^einung  (J^rifti  gegeben.  2lber  beren 
erfter  ©inbrurf  mar,  ba^  fie  weit  hinter  ben  ©rwartungen  bcS 
aSolI§  Sfrael  gurüdblieb.  i^cin  SUleffiaS  in  äußerer  ^errlid)teit, 
fein  irbifc^  glanjooDeS  SReic^,  feine  ©rleid^terung  ber  fd^meren 
fojialen  unb  politifc^eu  ^JJöte.  2tber  richtig  betrad)tet  blieben  bod) 
bie  I)errlid)ften  3wfu"ft^^ill>^^  i>^^  Sllten  2:eftament§  weit  jurüct 
hinter  bem,  \va§  in  ber  unfc^einbaren  ©eftalt  biefc§  3efu§  üon 
Slajaretl)  gegeben  war.  ^^inter  einem  fd)einbaven  9Äinu§  ein  un- 
au§benfli^e§  ^lu§.  5lid^t  anberS  jur  3cit  ber  Sieformation :  wie 
oiet  mu|te  ber  römif^e  ©l^rift  üon  bem  brangeben,  wa§  er  für 
wefentlid^e  ©üter  ber  ^irc^e  gel^atten  l^atte !  Slber  wenn  er  e§  tat, 
jeigte  fi^,  bajs  biefe§  fc^einbare  2Winu§  aufgewogen  würbe  burrf) 
ein  gewaltige^  religiöfeS  ^lu§,  ba|  er  nidtjt  oerlor,  fonbern  ge* 
wann,  ©o  aucf)  je^t"^).  ^ft  e§  Selbftüber^ebung,  wenn  ©ric^ 
^aupt  biefe  SQSorte  gerabe  auf  bie  tl)eologifd|e  Slrbeit  ber  ®egen= 

1)  §aupt,  %xz  SBebeutung  ber  ^eiligen  ©rf^rift  für  h^n  coangeCifc^en 


fiobftcin:  SBa^rl^eit  unb  %id)tnnq  in  unfrer  9len0ion.        53B 

iDart  anmcubet?  Qc^  bcnfc  nii^t:  c§  lüirb  fid)  oiclmel)r  tierauS- 
ftcKcn,  ba|  bicfclbc  bic  unoeräu^crli^en  ^»»tereffcn  bc§  CDongcli* 
)rf)cn  ^ril^gtaubeng  ui^t  nur  wa\)xt,  fonbcrn  in  weiterem  Umfang 
unb  in  DoÜerem  3JlaJ3e  jur  ©cltung  bringt. 

Oft  bieg  unfre  tief  begrünbetc  Ueberjeugung,  fo  fteüt  fic^  uu§ 
f)iermit  eine  21  u  f  g  a  b  e ,  auf  roetd^e  nod^  f urj  l^ingemicfeu  roer^ 
ben  mug. 

5löeld^e§  war  ba§  bi§t|er  gemonncne  @rgebnig?  Unfre  93i6el 
entt)ält  S)i^tungen  üerfc^iebenfter  2lrt  unb  in  mannigfattigfter 
g^orm,  3Jlt)tt|en,  in  benen  bie  religiöfe  ?ßt)antafie  bie  @el)eimniffe 
be§  Seben§  ju  beuten  unternatim,  (Sagen,  bie  felbft  „bie  3)eutung 
ber  ©efd)ic^te  in  gefd)id)tlid^er  ©infleibung"  barbieten,  Schöpfungen 
ber  (Sinbilbungsitraft  gottbegnabeter  2)ic^ter,  bie  l)ö^ere  SDäa^rbeiten 
einbringlid)  jum  3lu§brudE  bringen  wollten.  SDiefe  ®id)tungen 
gel)ören  mit  jum  SBertoollften,  n)a§  un^  bie  i).  (Sct)rift  überliefert 
^at.  S8on  i^nen  gilt  erft  red)t,  ma^  ^äufig  auf  bem  ©ebiete  ber 
fog.  ^^rofangefc^icf)te  unb  Literatur  mieber^olt  worben  ift:  „Sagen 
finb  ba§  föftlirf)fte  ©ut,  ba^  ein  antiteg  »olü  überf)aupt  befi^t, 
unb  fie  befonber§  finb  imftanb,  bie  ©ebanfen  ber  Sieligion  au^- 
äufpred)en"  ^). 

3)iefe  ©rfenntniffe  l)aben  mir  Jlieologen  uicf)t  für  uu§  ju  be== 
l^alten.  SBollten  wir  fie  unferm  @efcf)lec^te  vorenthalten,  fo  loür* 
ben  wir  an  il)m  ba§  fd)merfte  Unrei^t  beget)en,  ja  mir  mürben 
bie  bro^enbften  ©efal^ren  herauf befd)mören.  @g  ift  gerabeju  un= 
erträglicl),  ba^  in  ber  Rivd^t  nid)t  al§  aDBaI)rt)eit  anerfannt  mirb, 
ma§  auj^erl^alb  ber  Kirct)c  jeber  fac^tunbige  9Äenfct)  al§  felbftoer* 
ftänblic^  unb  einfad)  ermiefen  annimmt.  Unfre  ©emeinben  ^aben 
ein  9led)t  barauf,  ba^  itjuen  bie  Siefultate  einer  ftrengen  unb 
reinen  9teligiongmiffenfd)aft  bargeboten  merben,  unb  ba^  fie  bafür 
empfänglid)  finb,  mer  mollte  e§,  nad)  ben  Srfal^rungen  ber  legten 
^a^re,  in  Slbrebe  ftellen?  @g  l^at  fid)  gejeigt,  ba§  unfer  aSolt, 
bei  aller  (£nttird)lic^ung  unb  @ntc^riftlid)ung,  ben  fragen,  bie  fid) 

(S^f)riften,  S8ieIefe(b=Seipaig  1891,  ©.  15-16;  Söubbe,  SSaä  foK  bie  ®e= 
mcinbe  au§  bcm  ©treit  über  93ibel  unb  JBabel  lernen?  <5.  5—6. 
1)  ®un!er,  .3frael  unb  93abi)lomen,  @.  20. 


5.^        Sobftein:  9Ba^t{)eit  unb  ^ic^tung  in  unferer  IHeHgton. 

auf  unfrc  33i6cl  bcjlc^cn,  nid^t  gicidjgültig  ober  gar  fciubfelig 
gegenüber  fteljt.  ^mmer  beutlid)cr  wirb  ein  Verlangen  nac^  ©e= 
le^rung  laut,  ba§  mand)cn  bie  freubigfte  Ueberrafd)ung  bereitete, 
allen  aber,  bie  2tufgabe,  bie  un§  obliegt,  bringenb  jum  93ew)u|t= 
fein  bringt^). 

®enn  bie  2lufflärung  über  biefc  ©egenftänbe  mu|  oon  ben 
Seitern  unb  Se^rern  ber  Äird)e  felbft  au^ge^en^).  ©ie  oUein  fmb 
imftanbe,  äugleid)  pietätooU  unb  frei  bie  ^eilige  ©i)mbolif  ber 
Ueberlieferung  ju  interpretieren  unb  unfre  Saien  jum  geid)ic^t= 
lidjen  unb  religiöfen  3Serftänbni§  unfrer  biblifdjen  unb  firct)lic^en 
Jrabition  5u  erjie^cn.  Sun  loir  l)icrin  unfre  ©c^ulbigteit  nic^t, 
fo  wirb  fid)  bic§  Sßerfäunuiig  ■fd)n)er  genug  räd^en.  3)ie  Slrbeit, 
bie  loir  au§  ben  ^änbcn  geben,  loirb  bem  frioolen  treiben  einer 
oerftänbnigtofen  3Jlaffc  antieimfallen,  bie  nid)t  innerlid)  befreienb 
unb  religiös  erbaucnb,  fonbern  nur  brutal  jerftörenb  loirfen  tann. 
§at  nid)t  ber  n)ot)lfeile  §ot|n,  ben  93oltaire  auf  bie  ®enefi§,  ba§ 

1)  &5rftcr,  G^.  9Ö.  1902,  ©p.  189;  ®un!el,  a^.  2Ö.  1903,  ©p.  122; 
Siauftfc^,  Jöibelu)iffcnfd)aft  unb  Dtelifliongunterridit,  1903^  30-31; 
®un!el,  3frael  unb  ^abi)lomen  2ö. 

2)  ^iefe  Slufgabe  würbe  ^wax  mit  oerfc^icbencn  SJ^obififationcn  unb 
in  abfleftuftcr  Söcife,  aber  boc^  in  oöUigcr  CSin^cüigfeit  oon  ben  SJtitgUe^ 
bem  ber  ^^Jaftoralfonfercn,^,  bie  fid)  juni  Söorte  melbeten,  anerfannt  2)ie 
Sc^wierißfeiten,  bie  ber  ©rfüdung  biefer  ^ßflicf)t  im  äöege  flehen,  lourben 
babei  nic^t  untetfc^ä^t:  eS  fei  bie^atfac^e  nidjt  auS  ber  Seit  ^u  fc^affen, 
ha^  für  baö  5Jerftdnbni§  biftorifd^er  fragen  eine  gemiffc  ^iftorifc^c  SBiI= 
bung  nötig  ift,  bie  nic^t  jeber  ^aben  fann,  unb  ba^  e^  o^ne  biefe  $or* 
au^feftung  unmöglich  ift,  geioiffc  (^rfenntniffc  in  fruchtbarer  2Beife  ju  oer? 
mittein.  SS^ie  oiel  übrigens  auf  t>k  perfönlic^e  SteUung  be§  C^eiftlic^en 
5U  feiner  öemcinbe  anfommt,  lourbe  mit  $Rcc^t  betont:  e§  fei  boc^  einiger- 
maßen oerftönbigen  unb  ni^t  aufgelegten  eoangelifc^en  ^aien  bie  (^inr^ci^t 
^ujutrauen,  baf?  ber  ^$farrer  oermöge  feiner  befonbern  3-acf^bilbung  ^ier 
für  fid)  ^4^robIeme  ju  tragen  unb  ju  oerarbeiten  i)at,  bie  für  anbere  boci^ 
nur  von  fefunbäreni  Qntereffe  fmb.  JJüliren  mir  unfere  ßu^örer  in  boö 
Zentrum  bin^i"/  in  ba§  C^ine,  roasJ  not  tut,  bann  werben  fte  un3  Dcr* 
trauen,  wenn  mir  an  ^iebenfad^en  Äritil  üben.  Se^r  einleuc^tenb  mar 
bie  ^ilnalogie,  bie  oon  einem  ber  9icbncr  t)erüorget)oben  mürbe,  ^mifc^en 
ber  Stellung  be§  ®eiftlid)en  ju  ®efd)ic^ten  m9tl)ifd)en  3nl)alti^,  unb  ber 
Steüung  yutl)er§  ju  ben  öebräudjen,  ©eiligenbilbcrn,  SHeliquicn  ber  fat^o^ 
Uferen  kir^c,  oon  benen  er  fagt,  baß  man  fie  betjalten  fönne,  wenn  nur 
bie  Ceutc  xf)x  5ßertrauen  nic^t  barauf  feften. 


Sobftein:  fBaf)xf)z\t  unb  Xid^tung  in  unfrcr  Dteligion.        535 

^ona^bnd)  unb  anbvc  aSeftanbteile  bcr  93ibel  auSgcgoffcn  I|at, 
feine  befte  9tal^rung  au§  bcr  tvabitioneßcn  SSorau^fe^ung  pon  ber 
budiftäblid^en  aBirHicf)fcit  jener  Ueberliefcrungen  gejogen? 

(£§  ftet|t  mir  nidjt  ju,  im  einjeluen  bie  3WitteI  anjugeben, 
roie  biefe  9lufgabe  ju  töfen  ift.  ©rfreulidie  Slnfänge  finb  aUerort§ 
im  ©ange.  3wnä(^ft  lüirb  e§  oline  Unfi^ertieit,  n?ol|l  aud)  otine 
aÄijsgriffe  nid)t  getin,  e§  barf  un§  aber  biefe  ®rfa^rung  nic^t  an 
unfrer  ^^ftic^t  felber  irre  machen.  3)lit  ber  3?W9^i^b  i)öt|erer  fiel)r= 
anftatten  wirb  ju  beginnen  fein,  unb  xvix  fegnen  bie  Set)rer,  bie 
ernft  unb  geroiffenl^aft  biefem  Berufe  religiöfer  93efreiung  unb 
Vertiefung  fic^  lüibmen!  3)en  ®rn)ad)fenen  gegenüber  finb  jufam* 
menl^ängenbe  9}or träge  unb  populäre  ®d)riften  ber  geroiefene,  be* 
reit§  burd)  @rfo(g  empfot)Iene  3Beg.  ®a|  bie  ^anjel  jur  93el^anb* 
lung  fold^er  fragen  nid)t  ber  geeignete  Ort  ift,  mu§  im  alfge:« 
meinen  feftgel^alten  merben.  2lber  aud^  bie  eoangelifd^e  ^rebigt 
wirb  mittelbar  uon  ber  geläuterten  unb  vertieften  SReligion^er= 
tenntni§  reidjen  ©eminn  gießen.  2^atfäc^lic^  mirb  aud)  ber  ort^o^ 
bofefte  ^^Jrebiger  bie  oon  i^m  aU  mirflid)  angefe^ene  Ueberliefe^^ 
rung  praftifd^  fo  uermertcn,  ba§  er  bie  religio^- fittlid)e  SJBa^rlieit 
berf elben  geltenb  mad)t ;  er  wirb  alfo  in  biefer  93ejief)ung  Dor  bem 
fritifd)  gefc^uUen  @eiftlid)en  nid)t§  üorau§  l^aben.  3)iefer  ^at 
feinerfeit^  ba§  JHec^t,  an  bie  Ueberlieferung  aujufnüpfen  unb  bie* 
felbe  fo  JU  be^anbeln,  ba^  fofort  \>a^  SDSefentli^e  be§  religiöfen 
Offenbarung§get|aIte§  burd)  ben  (5d)teier  ber  poetifd)en  ©intleibung 
t)inburd)Ieud)te.  2)a§  ift  feine  unreblid^e  SMftommobation ,  feine 
boppelte  S3uci^füt)rung ;  benn  burd)  ein  foId)e§  aSerfat)ren  feiert  ja 
ber  Sfiebner  ju  bem  urfprünglid^en  Äern  ber  Ueberlieferung  jurüdt, 
er  wirb  ber  eigentlidjen  93ebeutung  berfelben  gered)t,  er  mad)t 
mieber  bie  2:riebe  lebenbig,  au§  meld)er  bie  bic^terifd)e  gorm  l)er^ 
oorgemac^fen  ift.  33eiberfeit§  aber  mirb  bie  SBerfünbigung  be§ 
®oangelium§,  befreit  üon  fritifc^en  ©orgen  unb  apologetifd)en  ^Se- 
ftrebungen,  in  it)rer  religiöfen  ©igenart  jur  oolten  ©eltung  fommen 
fönnen.  2)enn  beiberfeit§  fann  bie  Ueberjeugung  gleid)  lebenbig 
fein,  ba^  ®  o  1 1  ju  ben  ^erjen  ber  SWenfdjen  rebet,  ob  burd^  bie 
Sßermittelung  tatfäc^lid^en  @efd^ef)eng,  ober  burd^  bie  ^ülle  fgut^^ 
bolifc^er  ®id^tung.