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I
^
. Z^i
3ctffc^riff
füt
in SSecbtitbiins iftit
D. g. ^arnaif, ^lofeffor ber Ziieologie in SSnliii, D. SS. ^trnuann, $rO'
fclfoi btx %I)eologie in änarburg, D. 3. flaftui, ^tofefTor ber Z%to^0t
in Sätilin, D. 91. fttiWt, ^rofeffoi bei ^^eologie in ^aOe a. S., D. fl. SeD,
^tofeffor bet 2()eologie in Sonn,
Irerauägegeben
Blei'ieftnlev Jalireang.
£ ü 6 i ti g e n
«eilofl oon 3. S. «. 3m 0 ^ t (^oul «ubect)
1904.
^He 9ieci^te vorbehalten.
• - - •
^nid bon $. £au^^ jr in Tübingen.
J[ n Ir tt 1 1^
Seite
„SBer faget benn i^v, bag td) fei?'' SSon f ^ermaitn 6igul^, meUmtb
Sßrofeffor bcr ^^eologtc m®öttingen 1
SefuS ol§ fßrcbigcr. SBon 3» ^trjog, $ßfarvcr in(iJcrnngen . . 44
SO'loberne ^Igeologte. S3on $aftor i^. SB. Sretierabenb gu ^ u 6 e n a in
3)cutfcf)::§Äu6ranb 98
3ur 2)ogntotif. SJon 3uHu» Paftatt. IV. 6. 2:rinitat§Ic]^rc unb e^rifto«
logie 148
S93a§ tüir Don ben babt^Ionifd&en Sluggrabungcn lernen. S3on lic. theol.
?. »olj, @tabt))farrcr 193
^ie Uebeminbung ber nted^ioniftifd^en £e^re bom £eben in ber heutigen
SRatwrtoiffenfc^aft. »on lic. theol. 9^. Otto in @ ö 1 1 i n g c n . 234
3«r 9)ogmattf, »on 3MHtt3 ftttftan. V. 7. S)ie jPauIiniWe gJrebigt
Dorn ^xm 3efu (S^rifti 273
^ani unb bie ^^eologie ber ©egenmart. SSon 9Ra£ 9{eif4le .... 857
S)ie lebenbige ^erfönlic^feit (SJotteS, feine Smmanenj unb ^iranfgenbeng
als religiöfeS Erlebnis. S3on 2^« @teinmann, S)03ent am tl^eol.
©eminar in®nabenfelb 889
e^riftentiim unb ffampf um« S)afein. Sßon Lic. dmil 3fu<6«, 9^epetent
an ber Unioerptät ® i e 6 c n 465
SBa^r^eit unb 2)ic^tnng in unfrer Sfleligion. S3on ^. ßobftein ... 507
t i^ermaim Bä^nlli,
loeilanb ^rofeffor bcr 3:^eolo9tc in (Sbttingcn.
1. „9Ba^ büufct ®ud) um ®^riftu§?" 3)a§ lüav bic S^ragc,
mit bcr 3^fu§ feinen ©egnern in überlegener ^o^eit gegen*
übertrat unb i^rcn unfruchtbaren 2;f)eologenbüntel jum ©c^roeigen
brachte. „SÖSer f agen b ie SWenf d)cn, ba§ id) f ei? 9öa§
aber fagt ^t) r?" ba§ ift bic ^rage, mit bcr er ha^ 33 c«
f c n n t n i § feiner 3» ü n g e r forbertc, e^c er bcn legten fc^meren
aScg feinet Seben^ ging, ^eibe fragen tlingen Dcrmanbt, unb
boc^ ftnb fic i^rem tiefften ©inne nad) oerfc^ieben. „2Ba§ bünfet
@uc^ um ®^riftu§?" 5)a§ ift bic S^rage bcr 2:^eoIogyi. @o
t)abcn fd)on ^aulu§ unb ^o^anne^ gefragt. @o t|at bic ©tiriften«
i^cit tauge ^at)rf)unbertc l^inburd) gefragt, t)at ba§ ®e^cimni§ ber
®ottcöfo^nfd)aft unb ber @ottmeufd)^eit immer tiefer bur^bad^t,
immer feiner au§gctegt unb au§ fotd^en Deutungen ba§ ^^fanb
unb bic ^ebingung bcr ®clig!eit gemad^t. Unfere 3^it ^^t auf^
geiiört, fo ju fragen. 9lur in ber 3unft ber ®e(et)rten mirb nod| um
bic alten Formeln gcftrittcn unb an bem ®cf)cimniffe ber ®ott*
mcnfc^tieit meitergearbeitet. 3)en ©Triften unferer 2:age tritt
^cfu^ micber entgegen mie cinft ben ^fü^Ö^^n ju ©äfarea: fic
l)örcn feine ^rage, bic S^age an bic ®t|riften: „^4Ba§ fagt Ql)r,
ba§ id^ fei, ba§ id) ®ud) unb bcr SGBcIt fei?" Sic forgen fic^
nic^t um bic @rtcnntni§ ber 2^iefen ber ®ottt)eit, in ber bas ©e*
t)cimni§ ^cfu, mic alle ®e^eimniffe ber ®rbc, feinen legten ®runb
3eUft^riU füv X^eologic unb fttr<^f. U. ^af^x^., 1. §eft. 1
2 (S(%ul^: „SBcr fagct benn it|r, ba^ id^ fei?"
i|at, nic^t um ba§ a5crl)ä(tni§ üon ®öttlid|em unb 3)lcnf(^lid)cm
in i^m. 2lber fic füllen fid) mct)r unb mcf)r mächtig bcrocgt unb bz-
unrui^igt bur^ bic ^i^agc: 8GBa§ ift um» bicfcr Qcfu§, biefer
@o^n bcv @rbc? aBa§ bebeutet er für unfer Scben unb Sterben?
(Sinb xoxx nod) an i^n gcbunben in unferem eigenen religiöfen
&tbenl Ober ift er un§ geworben roie aubere ®ro&e in ber
SBeltgefc^id^te, beren Saaten unb SBorte fortleben in ber 3Äenfd|-
Iieit, bie aber längft ni^t mel^r perfönlic^ unb md)t oline ©in-
f(^ränfungen unb Sebingungen al§ §errfd)er anertannt werben
für ba§ fieben ber ©egeniüarl?
2. SBa§ bie jünger einft geantwortet Iiaben, ba§ \)at in
feiner urfprüngtic^en ®efta(t für bie Äinber unferer 3cit nur nod)
wenig 33ebeutung. @ie fpre^en: ,,3)u bift ®f|riftu§, be§ (eben*
bigen @otte§ ©o^n." 3lber wie fern fte^en unfere Oebanfen bem
©inne, in bem ba§ einft gefagt ift! 3^li^t aU wollten wir mit
fpi^finbigen Oele^rten ober mit ^^ebanten, benen nur bie äußere
äöirfüc^feit @ef(^ic^te ift, an biefer Stntwort jweifetnb beuten.
3Bo^t war ^efu^ uic^t ber S^riftu^, beffen 33ilb bie alte Sei§^
fagung in feinet aSoIfe§ ^erj geprägt ^atte, nid)t ber ^elb mit
®aüib§ Schwert, nid|t ber ^errfc^er in ©alomo§ ^^Srad)t, nicf)t
ber ©erretten ber ^eibenwelt. @r ^at ba§ aud^ nid^t fein wollen,
unb ^at be§l|alb ben 6^riftu§namen, an ben fic^ foldie ©ebanfen
fc^Iiegen mußten, fid^ nid|t e^er üon ben ©einen gefallen laffen,
bis fie Don it|m gelernt Ratten, basi 9leid) ®otte§ unb feine Orb=
nungen anber§ ju oerfte^en, at§ bie SßolfSmenge unb eine anbere
©c^ä^ung oon ^errfdjen unb ®ienen, oon ©enie^en unb ßeiben,
oon SRi^ten unb Sßergeben ju gewinnen. ®§ würbe un§ (Jl)riften
i>fv ©egenwart nict)t§ 9Befentlid|e§ genommen werben, wenn bie
moberne ©fepfiS ein 9led[)t f)ätte, ju behaupten, ba^ ^efu§ fic^
überl^aupt nic^t mit biefem Jitel ^abc fdjmüdEen wollen. 2lber
^efu§ ift bodt) für jeben (£l)riften, ber auf bie ©adie unb nid^t auf
bie äu&erli^e g^orm blidCt, ber (£^riftu§, ber @otte§|of)n, b. ^. ber
wirflidje Slbf^lu^ unb bie redete Strone ber großen geiftigen @e*
f^idf)te ber Sieligion in Israel, unb ber ^err unb 9iid)ter in bem
geiftigen Siei^e, ju bem bie bebeutung^oolle religiöfe SBelt in
biefer Ülation ftd) entfaltet I)at. Unb wer uic^t über 5lleinem
@d)uU: ,3er faflet benn i^r, ha^ ic^ fei?" 3
@ro$c§ ucvgeffcu rüiü, bcr roirb au^ nid^t bejroeifeln, ba§ 3>^iu§,
lüie er in feiner Q^xt unb in feinem SBoIfe mu^te, ba§ ®et)cimni§
feinet S35efen§ an bag alte l^eitige 9Bort ber 'ißrop^eten, an
ben (£f|riftu§namen gehiüpft ^at.
3fefu§ ift aud) nn§ ber ®^riftu§, auf ben bie altteftament*
lidjc aieligion, bie Sleligion ber ^rop^eten unb ^fatmen, I)infüt)rt.
@r ift ber @otte§fot|n, in bcm bie ®otte§fo^nfd^aft be§ SJolfeg
3[§rael fid^ üertlärt unb uoüenbet. S)iefe gefd)ic^tti(^e @^re wirb
fein Unbefangener, auc^ unter benen in ber SfJlenfc^^eit, bie fici)
nic^t ju i^m befennen mögen, i^m ftreitig mad)en. 2(ber t)a^
tann borf) nur menig für u n § bebeuten. Sangft ift un§ i5>^^öel§
5ReIigion^gefd)ic^te fremb geworben, fo fel|r mir unö auc^ cinjel-
ner Äleinobien freuen, bie au§ i^r in ba§ @rbe ber SWenfc^^eit
übergegangen finb. SQ3ir i)abzn gelernt, fie aU einjelne^ ®Iieb
in ben großen Organismus be§ religiöfen SebenS ber SWcnfc^l^eit
einjufügen, bcr für un§ ®efd)ic^te geroorben ift. 9Bir fennen ilirc
menfdölidien (Seiten, it)r ©tüdmerf, i^re ooItStümlid)e Sigenart, bie
unS, ben Sinbern anberer 3^iten unb anberer SSoltSart, fremb
bleiben mu^. deiner üon unS fü^lt fid) in feinem eigenen reli=
giöfen Seben burd) biejc 5RetigionSgefc^ic^te innerlich bet)errfd)t unb
befreit, fo lieb unb bebeutungSoott it)m aud) oieteS auS i^r feit
feiner Sinb^eit eben burc^ 3»efuS felbft geroorben unb geblieben
ift. @o üernetimlic^ unS ®otteS (Stimme auS ben SBorten ber
^ropt)eten unb auS ben l)eiligen Siebern be§ Sitten SeftamentS
entgegenflingt, fo gcroijg ift unS bod^ biefe 9teIigion in i^rer
eigentümlichen SebenSgeftalt ein ©tücf ber 93ergangent|eit. ®ie 9lnt«
roort: „3)u bift S^riftuS" t)at für ©Triften unferer 2:age feine
entfd)eibcnbe S3cbeutung mef)r.
3. Ober follen mir antworten : 3)u bift ber gro^e i{et)rer,
oon bem roir ha^ 93cfte ^aben, roa§ unfere (Seele tröftet unb er*
^ebt; bu bift ber gro^e ®otte§menfc^, beffen ®eftalt al§
unoergänglic^eS 93 c i f p i e l in unfer eigenes Seben I)ineinleud)tet?
6S ift roo^I fein ebler ajlenfdi, ber nidjt freubig fein „Qa" ju
biefer g^age fprädje. 2Iber roaS roäre unS 3cfuS, roenn er unS
nur ba§ bebeutete ? 8BaS ein SWann ber SSorjeit g e I e I) r t l^at,
baS bep^t bie ®egenroart aud^ o^ne ha^ fie einer ®emeinfc^aft
4 ©d^ulfe: «Set faget benn i^r, ba^ ic^ f^i?''.
mit feiner ^erfönli^teit fetbft baju bebürfte. ©te befi^t e§ al^
ein gciftigeg @rbe, ba§ boc^ tatfäc^Udi immer oermeI)rt unb oer^
änbert mirb bur^ ba§, xoa^ bie 3iCit)rtau[enbe an ®rtenntni§ unb
Srfa^rung liinjugcbradit l^aben, unb ba§ feinerfeitg unabtrennbar
mit bem Dcrbunben ift, ma§ ber Sel)rer felbft einft au§ [einer
93orjeit unb au§ feiner Oegenmart fid) al§ ®rbe angeeignet unb
al§ (Semeingut feiner Umgebung fd)on Dorgefunben t)at. 3Q3ie
leicht fc^rumpf t für ben f orfd)enben ^iftorifer ba§, mag bem 93li(f e
be§ Saien al§ ein uuüergleic^lic^e§ neue§ ®an}e§ erfc^eint, ju
einem aWofaif Don 9l(tem unb Steuern jufammen, in bem be§ rein
©elbftänbigen, beS mirtlic^ 9Jeuen unb Ueberragenben immer meni-
ger mirb. Unb ma^ einft gelet)rt marb, ba§ fann bre 9Jlenfcl)en
nic^t für aQe ^^iten binben unb löfen, ba§ muß fic^ immer mieber
mit neuen ^n^cif^f" i^nb g^'ögen, mit neuen ©egengebanfen unb
Sieftreitungen auSeinanberfe^cn. Unb mie foll un§ eine ^evfön=
lict)feit, bie in i^rcr evften 3iugcnb!raft üon ber ®rbe gefd^ieben
ift, pon ber mir nur für menige ^a^re i^re§ öffentlid)en 3Birfen§
eine fpärlic^e Ä'unbe befi^en unb nur au§ bem 3Jlunbe unhitifc^er
begeifterter 2(nf)änger, — mie foH un§ ba§ Äinb eine§ fremben
93oIf§ unb üergangencr Qtittn ein uni)ergänglic^e§ 95 o r b i t b
für unfer eigene^ Seben fein, ba§ fo ganj anbete ^ebingungen
erfüöen mu^, unb für unfere Oegenmatt, bie fo ganj anbete 9tn=
fptücf)e an ben a)lenfd)en ftellt? @in unoergänglic^e^ 93eifpiet
fönnte 3efu§ un§ boc^ nur in bem ©inne fein, ba§ bie @e«
finnung, in ber er fic^ feinem SBater rädf)altIo§ fjingegeben
^at a(§ SBäerfjeug füt ®otte§ gro^e§ SBerf an ben SWenfc^en, in
ber er in Siebe fic^ felbft für bie trüber geopfert, unb in lieili«
gcr Siein^eit für ben ©eift gelebt unb in ber unfidjtbaren 3Belt
gemanbett ^at, — auc^ un^ aU bie tiöc^fte etfdjeinen mu§, nad)
ber ein jeber ju trachten t)at. SBer roottte i^m ba§ beftreiten?
Unb borfi, luer tann in ba§ tieffte Oel^eimni^ eine§ SKenfd^ens
lebend liineinblirfen? SBer mill oetgleidien, mer mill gegenüber
ber 3WögUd)teit, ba^ jal^Uofe ebel geriditete 3Wenfd)en oergeffen
unb unbetannt geblieben finb, ben 93cn)ei§ fütjren, ba§ etma§
2let)nlid)e§ nirgenb§ möglid) unb mirftic^ geroefen fei ? 3Ber mitt
leugnen, ba| piele§, maS mir felbft in unferem Seben oon ebtem
©d^ul^: „SBer faget bcnn i^r, ba^ i(^ fei?" 5
©innc bei benen, bic mix lieb haben, erfahren bürfen, wenn e§
ani) an fic^ geringer ift unb abt)ängiger fi^ entfaltet t)ot, a(§
roaS in 3»^!"^ ift/ '^06) tI|atfäd)Ud) einen oicl ftärteren Sinbrud
auf un§ l^erüorbringt. ®^ ift gemi§ etroaS @ro§e§, ba^ bie ®e*
meine in ber ©eftalt ^f^fu g e f d) i c^ 1 1 i d^ ba§ befi^t, wö§ bie
SlBeisl|eit§fd)u(en be§ 2lltertums; fic^ burc^ eigene $t)antafie ju
f^affen fud)ten: „ba^ lebenbige Qbeal be^ rechten aJlenfd)en, in
einer n)irf(i(^en ^erföntid^feit angefc^aut, ba§ mau in bie ©eele
aufnehmen fann, mit bem man innerlid) uerte^rt, oor beffen
3lugen, in beffen geiftiger ©egenmart fid) gteic^fam ba§ innere
fieben Dolljiet|t unb baburrf) rein, teufc^ unb mit frommer ©^eu
erfüllt wirb." 2(ber aud) für biefe§ Oebiet bleibt bie ©rcnje
jmi[d)en bem @efc^i(^tlid)en, ba§ jum Qbeat geworben ift, unb
bem ^beate, baS fi^ auf ein @efd|ici^tlid)e§ niebergelaffen ^at, eine
n)iffenfd)aftlic^ unenblid) fd)roer ju beftimmenbe. Unb Oefu§ mürbe
feine ^ebeutung me^r unb meiir oerlicren, je mäd)tiger fid) ber (Seift,
ber oon i^m ausgegangen ift, in ^erfönlid)teiten unferer 2:age
offenbarte, bie in feiner J?raft nun u n f c r e 5^^ui>^« unb Seiben,
u n f e r e 2tufgaben unb Kämpfe, u n f e r e 35o(t§art unb ^ilbung
Dcrförperten unb üerftärten. ®ie Slntroort be§ frommen SJatio^
nali§mu§ entt|äU root|l ein gro§e§ unb bebeutung§ooHe§ ©tüd
ber 2Bat)r^eit. 2lber bie red)te Slntmort tann fie nic^t fein.
4. @ine grojae 2lnjaf)t frommer ©Triften ßntmortet: „QefuS
ift unfer @ott." 3luf it|n rid)tet fic^ unfer öeten unb ^offen.
^^n feilen mir al§ ben König im Slegimente ber SBelt ttironen.
93on i^m ermarten mir ^ilfe unb ©eligfeit für Seib unb ©eele.
@ine 3lntroort, in ber ein gro|e§ ©tüd be§ roatiren (£^riftentum§
liegt! ©ie ^at 3:aufenben Kraft in 9lot unb 2:ob gegeben, fie
lei^t ben fd)önften Siebern ber 6t|riftent|eit i^ren munberooüeu
innigen ®{auben§* unb Siebe§ton, ben feine Kunft unb fein ftaresi
2)enfen fpäterer Qt\tm erfe^en fann.
Unb boc^, mer bürfte biefer 2lntroort einfad^ juftimmen, roenu
er ben SUlann aufdjaut, ber e§ afö ba§ fjöc^fte ®ebot begeic^net
l^at, ben ©inen ®ott feiner SBäter uon ganjem ^erjen unb t)on
ganjer ©eele ju lieben unb if)n aHein anjubeten, ber ju feinem
93ater bie ©einen im ©ebete ^inmeift, unb ju allen 3ßitcn feines
6 ©c^uU: 3er faget bcnn if)r, ha^ id& fei?"
Scben§ üon bcm Sßater 3^^S"i^ abgelegt ^ot, ber aud^ fein ®ott
ift, ber i^n fenbet, ju bcm er fic^ tjinroenbet in 9lot nnb ©eelen*
quat, au§ beffen §anb er ben bitteren Scldti in (S(aubenggef)orfam
binnimmt? 2Ber bürfte fo ontiDortcn, roenn ®t|riftu§ fprid)t:
„i^ ge^e ju meinem 93atcr unb Surem SBater, ju meinem Oott
unb ©urem Oott", ober „ber SJater ift größer al§ ic^", — wenn
fein Slpoftel be!ennt „®f)rifti §anpt ift ®ott" unb „auc^ ber
©ol^n lüirb Untertan werben bem SSater, ba§ @ott fei atte§ in
aüem?" Keine Ueberlieferung ber Dogmatil wirb et)rlid)e bibel*
gläubige 6t)riften unferer S:age oergeffen lehren, bafe bic gröm::
migfeit, bie 3efu§ werfen moütc, bie g^römmigfeit bc§ ©Triften
feinen anberen Oegenftanb f)at unb traben barf, al§ ben einen
roatir^aftigen ®ott, unfern SSater, uor bem aud^ ber ^eilanb fid)
gebeugt l^at in finbtic^em ®ef|orfam unb 93ertrauen. 3^ebe 93er*
e^rung ^f^fu, bie nic^t aufrichtig unb fo(gerid)tig in ben ®renjen
bc§ @ebote§ bleibt: „bu fotift nid^t anbere ®ötter^aben neben mir",
Tüiberfprid)t ben fid)erftcu unb fefteften ^engniffen über bie 3=röm=
migteit unfere^ ^errn felber.
5. 2lt§ ®egenftanb unb Qn^alt ber ^Religion in bem ©inne,
ba& er felbft an ®otte§ ©teße ober neben ®ott träte, barf un§
<3cfu§ nid)t gelten. @o mad)t i^n bie ^römmigtcit vieler in
anberer SBeife jum ®Iauben§gegenftanbe. (Srft burc^ if)n foH
®ott in ba§ 33er]^ältni§ gnäbiger Siebe ju ben fünbigen 3)lenfd()en
gc!ommen fein. @r ift ber Sitgcr unferer S^ulb, ber für
un§ ba§ ®eric^t, für unö ®otteg 3«^^'" getragen bat. @r ift unfer
'!)Jrtefter, ber un§ mit bem Heiligtum oerbinbet, unb jugleidt) ba§
Opfer, burc^ ba§ unfer Heiligtum gemeitit unb bie ®emeinc mit
®ott t)erföt)nt mirb. — ©o lautet bic Slntmort ber gefamten
®^riftenl)eit , mit befonberem 9lad)brudte bic ber cüangclifc^cn
SJirc^en. 3)uvd) fic betommt bie bogmatifc^c Starrheit ber fie^rc
Don ber ®ottl)eit ®f)rifti mirflic^cö religiöfe^ 2^btn in ber ®emeine,
unb bie fefte ®runblage eines; wirflic^en d)riftlid^en ^ntereffe§.
©otc^c ®ebanfen finb Don ben 2lbenbma^l§n)ortcn ^efu an bi^
ju ben tf)eologifd^en ©^ftemen be§ ^aulu§ unb :3of)anne§ in bcm
ganjen 9leuen Jeftament oerbreitet. Unb ol^nc äroeifel enthalten
fic einen reichen Qn^alt oon 3öa^rl)eit, mit bem ba§ firc^fic^e
8*uU: „Ser fagct bcnn i^r, baj i* fei?" 7
K^riftcntum ftcfit uub fädt.
Unb bod), fo, wie man bicfc ®ebantcn gcroöfinlici^ oerfte^t,
fönntcn aucf) fic un§ bic le^te Slntroort auf bic ^xa%z, roa§ un§
^efu§ ift, md)t geben. 9Bir f ollen nur be§{)alb einen gnäbigen
(Sott i)abm, bev ©ünbcn ücrgicbt, roeil biefev ^t\vi^ in feinem
9efd)i^ttid)en Seben unb fieiben, in feinem Sterben unb 2luferftet)en
iinfcre ©djulb loeggenommcn, unfer ©eric^t getragen ^at? 9Q8ir
foücn unfer gottgefc^enfteg SRed)t, al§ bußfertige ©ünber (Snabe
uon ©Ott }u erwarten, an 33orgänge gebunben beuten, bie uor
^at)rtaufenben einmal auf biefer @rbe oorgegangen finb unb uon
benen un§ eine gefc^id)tlic^e Sunbe nur jugänglid) ift, reid} burc^*
rooben üon ©agengolb unb frommer unbemußter ©ic^tuug? ^a§
fann nic^t ba§ le^te SDBort be§ ©laubenö fein, mögen mir eg unS
burc^ juriftifc^e ober burd) mgftifd^^religiöfe ©ebanfen oermitteln,
es un§ burd) SBorgänge eine§ für unS erftorbenen Äultu§ erläu*
tern ober bur^ ©ebanfenbitbungen au§ ben l)öd)ften Oebieten bcr
Sittlid)teit.
Selirt boc^ bcrfelbe 3>cfu§ in feinen ©leic^niffen bie ©einen,
gauj ot)ne SHüctfi^t auf ba§, ma§ er f eiber tut unb leibet, an
ben Sßater glauben, ber ben nerlorenen ©o^n, menn er reuig um*
fcfirt, mit überftrömenber Siebe im 9Saterf)aufe begrüßt, ber i>a8
ocrlorene ©c^af, ben uerlorenen ©rofc^en fuc^t, meil fte il|m am
ijperjen liegen, ber bie Bettler uon ben 3^1^"^" i^^^ J^önig^ma^le
einlabct. ®r lel)rt fie beten: „oergib un§ unfere ©d^ulben, mie
mir unfern ©c^ulbigcrn Dergebcn". Unb bie d)riftlid)e ©emeine
fingt noc^ t)eute bie Sieber be§ 9(lten 93unbe§, bie otine irgenb
einen ©ebanfen an i^efuö unb an fein ^eil^merf bie @elig!eit
be^ ÜWcnfc^en preifen, bem ©Ott feine ©ünbe oerjietien I)at, unb
oon bem übcrfc^manglid)en ©lud be§ J^ommen fingen, ber feine
^eimat an ©otte§ 2tltären gefunben t)at, ber nid)t§ fragt nac^
^immel unb ©rbe, menn er feinen ©ott t)at.
Unb nod) etroa§ anbere§ ^inbert un§, einfach biefe Slntmort
anjune^men. 2Ba§ mir in ber 9leligion fuc^en, ha§ iftbod) nid)t
bloß bie aSergebung ber ©ünben. SOSa^ ba§ mirflic^e Qfntereffe
ber grömmigteit forbert, ba§ gel)t !eine§meg§ allein in i^r auf.
©eroiß, für eine fünbige 3Wenfc^^eit gibt e§ feine maf)re 9teli*
6 @rf)ul||: „«fficr faget benn i^r, ba^ id) fei?"
2cbcn§ t)on bem Sßatcr 3^ugni^ abgefegt ^at, ber aud) fein ®ott
ift ber i^n fcnbet, ju bem er fi^ l)inroenbet in 9lot unb ©eeten«
quat, au§ beffen ^anb er ben bitteren Sel^ in ©laubenigge^orfam
hinnimmt? SBer biirfte fo antworten, roenn ®^riftn§ fprid)t:
„ic^ ge^e ju meinem 93ater unb ©urern SJater, ju meinem @ott
unb ©Urem ©Ott", ober ,,ber Sßater ift größer al§ ic^", — wenn
fein 2IpofteI be!ennt ,,®f|rifti ^aiipt ift ®ott" unb „aud| ber
©o^n mirb Untertan werben bem Sater, ba^ @ott fei aüeS in
adem?" Keine Ueberlieferung ber 2)ogmatif wirb ef)rlicf)e bibel^
gläubige ©Triften unferer 2:age oergeffcn lehren, ba^ bie g^röm^
migfeit, bie 3efu§ roerfen rooUte, bie grömmigfeit be§ ©Triften
feinen anberen ©egenftanb ^at unb ^aben barf, al§ ben einen
wahrhaftigen ©ott, unfern 93ater, oor bem aud^ ber ^eilanb ftd)
gebeugt ^at in finbtic^em @ef|orfam unb SSertrauen. -^ebe SSer»
e^rung ^t^n, bie nic^t aufvid)tig unb fo(gerict)tig in ben ©renjen
be§ ©ebote§ bleibt: „bu fottft nidjt anbere ©ötter ^aben neben mir",
miberfpric^t ben ftct)erften unb fefteften ^eugniffen über bie %xönu
migteit unfere^ |)errn felber.
5. 311s ©egenftanb unb ^nl^alt ber ^Religion in bem ©inne,
ba^ er felbft an ©otteS ©teße ober neben ©ott träte, barf un§
3cfu§ nid)t gelten, ©o madjt i^n bie Jrömmigteit oielcr in
anbcrer ffieife jum ©(auben§gcgenftanbe. ®rft burc^ i^n fott
©Ott in ba§ aSerliältniS gnäbiger Siebe ju ben fünbigen ajlenfd)en
gc!ommen fein. ®r ift ber Silgcr unferer Sc^utb, ber für
un§ ba§ ©erid)t, für unS ©otteö Qoxn getragen ()at. ®r ift unfer
^^Jricfter, ber unö mit bem Heiligtum oerbinbet, unb jugleid^ ba§
Cpfer, burd) ba§ unfer Heiligtum gemeint uub bie ©emeine mit
©Ott oerfö^nt loirb. — ©o tautet bie 2(ntmort ber gefamten
®t)riftcn^eit , mit befonbcrem 9tad)brudc bie ber eoangelifct|en
Sirenen. S)urcf) fie betommt bie bogmatifc^e ©tarrf)eit ber fie^rc
üon ber ®ottl)eit ®f)rifti mirfli^eS religiöfeS Seben in ber ©emeine,
unb bie fefte ©runblage eines; mirfüdjen ct)riftlic^en Qntercffe§.
©olc^c ©cban!cn finb oon ben 2lbenbma^I§n)orten ^efu an bis
}u ben tbeologifc^en ©t)ftemen beS ^^JauluS unb 3^oE)anne§ in bem
ganjen 9ieuen Seftament oerbreitet. Unb ol^nc 3«>^ifet enthalten
fie einen reicf)en !^\\i)alt oon SBat)rl)eit, mit bem baS !ird)(id)e
S d| u t ö: „3Ber faget bcnn i^r, ba^ ic^ fei?" 7
g^riftentum ftct|t uub fäKt.
Unb hod), fo, lüie man bicfe ©cbanten gcroö^nlid) ocrftcl|t,
fönntcn and) fic un§ bic Ic^tc ^Introort auf bic J^'ogc, xoa^ un§
^cfu§ ift, nic^t geben. 9Bir f ollen nur be^^alb einen gnäbigen
©Ott l^aben, bcv ©ünbcn Dctgiebt, weit biefer ^f^f^i^ i« feinem
gefdf)i(^tUd)en ßeben unb Seiben, in feinem Sterben unb 9Iuferftel^en
unfere ©d)ulb meggenommen, unfer @erirf)t getragen ^at? SBir
foKen unfer gottgefc^enfte§ SRec^t, al§ bußfertige Sünber ®nabc
üon ©Ott ju erroarten, an 5ßorgängc gebunben beuten, bie oor
^atirtaufenben einmal auf biefer ©rbe oorgegangen finb unb üon
benen unS eine gefc^ic^tlic^e Ä'unbe nur jugänglid) ift, reid) burc^*
lüoben üon @agengo(b unb frommer unbewußter Sichtung? 2)a§
fann nid)t ba§ le^te 5lBort be§ ©laubenS fein, mögen mir e§ ung
bur^ iuriftifd)e ober burd) mgftifd^-religiöfe ©ebanfen oermitteln,
cä un§ burd) Sßorgänge eineg für un§ erftorbenen Äultu§ erläu-
tern ober burd) ©ebantenbilbungen au§ ben t)öc^ften ©ebieteu ber
Sittlidifeit.
Sel^rt boc^ berfelbe Qefu§ in feinen ©leic^niffen bie ©einen,
gauj ot)ne SHüdfid)t auf ba§, roa^ er felber tut unb leibet, an
ben 93atcr glauben, ber ben üerlorenen ©o^n, menn er reuig um*
Ui)xt, mit überftromenber Siebe im aSaterf)aufc begrüßt, ber ba§
oerlorene ©c^af, ben oerlorenen ©rofc^en fud)t, meil ftc if)m am
J^erjen liegen, ber bie 53ettler üon ben ß^unen jum Äönig§mat)le
einlabet. @r let)rt fie beten: „oergib un§ unfere ©d)ulben, roie
mir unfern ©c^ulbigern vergeben". Unb bie d)riftlic^e ©emeine
fingt no^ fieute bic Sieber be§ Sllten 33unbe§, bie o^ne irgenb
einen ©ebanfen an ijefu§ unb an fein ^eil§mert bie ©eligfeit
be§ ÜHcnf^en preifen, bem ©Ott feine ©ünbe i)erjiel)en l)at, unb
üon bem überfd)mänglid)€n ©lürf be§ ^^^ommen fingen, ber feine
^eimat an ©otte§ Slltären gefunben ^at, ber nic^t^ fragt nad)
^immel unb ©rbe, menn er feinen ©ott t)at.
Unb nod) ttwaS anbere§ l)inbert un§, einfad) biefe Stntmort
anjune^men. $Ba§ mir in ber 9leligion fuc^en, ba§ iftbod) nid)t
bloß bie Vergebung ber ©ünben. 3Ba§ ba§ roirtlid)e ^ntereffe
ber grömmigfeit forbert, ba§ gel)t feine§meg§ allein in i^r auf.
©eroiß, für eine fünbige aWen)d)f)eit gibt e§ feine ma^rc Sieli*
8 ©d^ulfe: „SBer faget bcnn i^r, ba^ ic^ fei?"
gion otinc bic fcftc ©runbtagc bev ©croi^tieit bcr SJcrgebung bcr
©ünbcn, b. \). o^nc bic Uebevjeugung, ba§ auc^ ©ünber gctroft
ju i^rcm @ott treten bürfen, ba^ er auc^ ifinen bie ©emcinfd^aft
feiner Siebe nid)t raeigert, roenn fte renig unb glanbenb i^m naiven.
2lber ba§ ift bo^ nur eine ©eite bcr SRetigion. Unb ba§ mirb
ba, xoo roirflid^e 9tcIigion lebcnbig ift, boc^ überall nur aU bie
fclbftnerftänblic^e SJoraugfe^ung unb 53cbingung be§ 93crl^ältniffc8
ju ©Ott cmpfunben, nict)t aU bcr eigentlicf)e ^n^alt beffen, voa^
bcr 3^romme befi^t. 3)aS ganje Sitte Scftament ift eine ge«
roaftigc 93u|prebigt gegen bie (Sünbe, bie tro^ig unb ungcl^orfam
©ottciS Drbnungen oerad)tet unb feinen ^eiligen SBiüen ocrunc^rt.
2lber für bic frommen, bic glaubenb unb ge^orfam fic^ i^rem
©Ott Eingeben, erfcfteint bie 9iücffic^t auf i^re ©ünben rocbcr aU
ztxva^, n)a§ il)nen i^rc religiöfe ©eligfcit trüben fönnte, noc^ er*
fd)eint bie Vergebung bcr ©ünben ate ba§ ^auptintcrcffc bcr
SRctigion. ^n bem religiöfcn SScr^ättniffe bcr gronunen ju ©Ott
fclbft ift bic aSergebung bcr ©ünben felbftoerftänblid). Sl)rc
©ünbc l^cbt bic ©erec^tigfeit nid)t auf; fie wirb au§ ©ottc§ ©nabc
immer neu mirtungSloS gemalt burc^ bie i^ciligcn Drbnungen be§
ÄultuS. 3)ic ©ünbc, bic allen SWenfrfienfinbcrn gemeinfam an=
Hebt, rocil fie aJienfd^en oon unreinen Sippen finb, roeit fie oon Un-
reinem aufgellen unb in ©ünbc empfangen fiub, barum uor ©otte§
2lugc niemals rein unb ooüfommcn fein fönnen, fie mac^t bcn
frommen feine 9tot unb 2lngft fo offen unb bemütig fie befannt
wirb. 9ii(^t ba§ ift ber ^auptjioedt bcr ^Religion, ba§ ©croiffcn
oon fot(^er ©ünbc ju entlaften: fie trennt ben ©ünber nid)t
üon ©ottc§ Siebe, fobatb er ein reuiger mxb glaubenbcr ©ünber
ift. 2lbcr ftd^ mit bem ©Ott 3f^racl§ al§ ein ©lieb ber ©cmcinc
bcr ©laubigen oerbunben ju miffen, fein SBerf ju tun, feine
Kämpfe JU fdmpfen, feine ©eric^tc ju ocrcliren, auf fein §eil ju
^offen unb- feine Orbnungen ju lieben, ba§ ift ber O^^ö^l bcr
grommigteit.
Unb im bleuen Scftamcnte ift c§ borf) md)t anberg. ^n ber
großartigen ©cbantenmclt bc§ SlpoftcU ^aulu§ crfcf)cint bic
SRüdfic^t auf ©ünbc unb ©ünbcnocrgebung xvoijl auf ben erftcn
581idE al§ bcr aUc§ bet)crrf^enbc SWittelpunf t bc§ ®t)riftcntum§. 3lber
©c^ul^: „Sföcr faget benn i^r, baj \6) fei?" 9
e§ fd)cint borf) nur bestialb fo, roeit ^^aulu§ bic f a I f c^ c Sieligion
nicbenocrfen m\l, bie ®ottc§ SBotilgefallen an ben 9)tenfct)en uub
i^r Siedet ju freubigcr ®emeinfd|aft mit i^m auf m c n f c^ li et) c
aSerbicnfte unb SBerfc grünben m\i, bic Sieligion be§
® cf c^e§, }u ber bie ^^atifäer bie SReligion beö Sllten 33unbe5
entftctit Ratten. 9lur bcS^alb ift e^ in ben 93riefen an bie 9iömer
unb ©alater fein t)ei§eg SSemü^cn, ju jeigen, roie ni(^tig bie
©erec^tigfeit ber SBerfe, wie fel)r ba§ SJertrauen auf fie eine un=
feligc Selbfttäufd)ung ift, wie ba, xvo e§ fic^ um 9t e d) t ^anbelt,
bie ganje aKenfcI)^eit ber 2lbam§fiuber gleich i^rem 2lt)nf)errn
oor (Sott in Sc^ulb unb ©eridit oerftridt ift. @r miU f (ar mad)en,
ba^ nur in ber alten @lauben§= uub ©nabenreligion 2tbral^am§
unb ber ^falmen (Sottet ^eil ju finben ift, nur menn ber Sötenfd)
mit feiner Sünbe fi^ auf ®otte§ SSer^eigung unb auf feine fün*
benoergebenbe SBaterliebe oerläpt ; ba^ ba§ ®efe^ überhaupt nidjt
beftimmt gcmefen ift, ba§ ^eil ju bringen ; ba§ e§ nur bie Ärifil,
nur bie (Steigerung ber Krant^eit ^erüorrufen foUte, bei ber bie
red)te Teilung beginnen tann, meil burc^ ba§ ®efe^ bie ©ünbe
ftd^ fteigert unb ate Sünbe beraubt wirb, alfo fid) Mar unb grunb*
fä^lic^ Don bem fd)eibet, ma^ Statur ift.
@o prebigt er oon ®f)riftu§, al§ bem 93ringer be§ verheißenen
2lbral)am§fegen§ , ber ben Sünbern mirfli^ bie ®nabe bringt,
bie oerfc^loffen ift, folange ba§ ®efe^ gilt. @r jeic^net i^n al^
ba§ ®egenbilb be§ Sünbenanfänger^, al§ ben 33ater ber neuen
SWenfdi^eit ber ®nabe unb be§ ®eiftesi; al§ ben, meld^er burd)
feinen Job bie große ®eI|orfam§tat oollbrac^t {)at, bie SMbams
Unge^orfam aufgebt, meld)er ben glud) oon ber 9Jlenfd)t|eit nimmt,
i^ren 2;ob überroinbet unb ba§ ®erid)t über i^re Sünbe jum
SBolljuge bringt. 9(lle, bie an i^n glauben, fmb mit i^m geftorben
unb auferftanben unb t)aben mit Sünbenflud^, mit Job unb ®e=
rid)t nic^t§ me^r ju tun. Sie finb ®lieber ber „®eifte§menfci^«
^eit", bie nac^ ®otte§ 53ilb gefd)affen ift, bie nid)t me^r oon bem
5leifd)e, fonbern oom ©eifte, b. \). oon göttlid)en eintrieben, in
il^rem ^^erfonleben bemegt mirb unb barum bie ©emiß^eit beö
Seben^ ^at.
ür ^]Jaulu^ ift alfo in biefen 33riefen ber ^err allerbingö
10 (3d)ulö: «Sßer fagct bcnn x^x, ba& ic^ fei?"
in erfter Sinic bcr, lücfc^cr bcn ©ünbcnfluc^ unb bic ©ünbenftrafc
für bic ©einen überrounbcn f)at. 9t6cv borf) nur, weit er t)ier
oon bcr S^age au^ge^t : SBerbienft ober @lanbz, ®efe^ ober ®nabe ?
weit e8 i^m borauf antommt boS K^riftentum üor jcbem Äom-
promi^ mit ber unfcligen Sietigion be§ ®efc^e§ ju bewahren,
bercn 3^(uc^ er an fic^ felbft erfaf)ren f)at. Unb babci ift bod)
nid)t ju Dergeffcn, ba§ er ba§ fe(igmad;enbe (S(auben§Derl|ältni§
SU ber fünbenuergebenben ®nabe ®otte§ auc^ in Slbral^am unb
in 2)aDib üorau^fe^t, ba^ i^m alfo im ®runbe QefuS bod^ bic
SBerroirtUd^ung unb Srfüflung oon Stmaö ift, ma§ in aücr maleren
Sieligion uon Slnfang an nic^t fcf)(t : freie ®otte§gnabc, bie 93er*
gebung bietet, unb finblid)er ®(aubc, bcr biefer @nabc fid| ge-
tröftet.
Unb fo oft ^^aulug bic Icbenbigc gi^ön^w^igf^it ^^^ ©Triften
felbft unb itirc bicibenbc ©teüung ju ^efu§ fcf)i(bert, f)ai er offen-
bar bic Vergebung ber im ©Triften norf) blcibcnben Sünbe meber
al§ bcn 9JiittcIpunft be§ religiöfcn ^ntereffe§ angcfc^en, noc^ fic
in unmittelbare 93ejic^ung ju Qt\vi^ gefegt. 2Bo er an fid) unb
an anberc c^tc ©Triften benft, ba crfd)eint i^m bic ©ünbc über*
^aupt grunbfä^tidj übermunben unb innerlid) nic^t met)r möglic^.
2Ber „gciftig" ift, bcr benft aud) „gciftig". 3lüerbingö ocrgipt er
nicf)t, ba^ bieg „moralifc^ Siotmenbigc", bod) immer jugtcid) für ir*
bifc^e SWcnfd^en eine 31 u f ga b c, ein ®ebot fein m\x% unb bap fic^
bic mcnfd^lic^c (Sd)it)ac^t|cit nur ju oft im äBiberfprud^c mit bem
jeigt, n)a§ bcr G^rift grunbfä^tid) ift. 2lbcr menn ba§ in „5Reuc"
jurüdfgenommcn mirb unb nid)t al§ ii)irtlid)er SRüdfall au§ ber ®e'
meinfd)aft mit Gl)riftu§ ba§ neue Sebcn unmöglich mac^t, bann er*
fd)eint e§ i^m offenbar nic^t at§ ®troa§, roa^ ctma burd) bcn ©üt)n*
tob 3efu erft für ®ott aufgcfjoben roerben mu^te. (S§ ift für i^n
augcnfd)cinlic^ überhaupt fein bcfonbcrs bcbcutfame^ SJlomcnt me^r.
®ie „Sfinber ®ottc§" in G^riftp bitten ocrtraucnSootl unb roiffcn,
ta^ ®ott gibt, mag fic bitten. SQ3enn aber ein ungciftlid)e§ Scbcn
bie fid) c^viftlid) nenncnbe "ißerfönlic^feit mirflic^ be^errfd|t, bann
mirb, folangc bicfcg SJcrliältniig nid|t in tatfräftiger 93u|c rücf*
gängig gemacht mirb, feine§n)cg§ G^rifti ©trafleibcn otinc mcitercä
al§ eine Sü^ne für folc^c „Sünbc" betrachtet, fonbcrn bcr SJlcnfc^
Sd^ul^: „Söcr faget benn tl)r, ba^ id^ fei?" 11
ift nid)t met)r „S^rifti", — alfo er bleibt in bem alten @efe^e§*
rechte unb unter bev alten @efe^e§ücrbammni§.
9llfo aud) für ^^aulu§ ift ^efu§ immer, wenn er an ben @e*
gcufa^ gegen bie jübifc^e 9Serbunf(ung be§ ®f|riftentum§ benft, in
erfter Sinie ber, welcher bie ©ünben= unb 2:obe^t)errfc^aft für bie
Seinen gebro^en unb ®otte§ ©nabc für fie gewonnen l|at.
SBeltgcfd^ic^tticf) betrachtet ift er ber 93efreier ber 3Dlenfd)t|eit
Dom @efe^e§f(uc^e, üon ©ünbe unb Xoh. 2lber mo ^aulu§
cf)riftlid)e g^ömmigfeit befc^reibt, ba crfc^eint Sefu§ al§ ber, in
u}eld)cm bie ma^re Sleligion, bie immer in ber 3JJenfc^l)eit uor-
tianben loar, üern)irflid)t unb üollenbet ift, in roeld^em eine neue
mit ®ott oerbunbene, feinem SBiHen entfpred)enbe, au§ 3Be(t==
fnecf)tfc^aft unb Job entt)obene, geiftigc 3Jlenfc^t|eit in bie @e*
fdlic^te eingetreten ift, für bie ftc^ bie Sßergebung ber Sünbe von
felbft üerfte^t, — aU ber, in melc^em mir ®otte§ eroigen guäbi^
gen 908iÜen mit un§ al§ fclige SQ3irtlid)teit unb lebenbige SKadjt
erleben, „^"^n 6t)riftu§ fein", b. 1^. ein neuer, mit @ott üerbun*
bencr, in ba§ ®e^eimni§ feinet SEBiden^ innertid^ eingelebter
ÜWenfc^ geworben fein, alfo ein 3JJenfd), ber ®otteg ®eift i)at
%\xä) für ?}aulu§ ift Q^f"^ ^^ legten ®runbe bie Offenbarung
®otte§ im Seben ber 3JJenfd)I|eit al§ roeltüberroinbcnbe 2Bivflid)='
feit. 2)a§ mar für fein eigene^ ®lauben§leben bie eigentlicl)e
33ebcutung Qefu.
^n allen an bereu 2Infd)auungen ber c^riftlid)en ^vömmig«
feit, bie im 9leuen ;£eftamente oertreten finb, nimmt bie 93erge-
bung ber ©ünben ate 95orau§fe^ung be§ ridjtigen 9Serl)ältniffe§ ju
®ott unb 3Bett jioar fclbftoetftänblid^ unter ben religiöfen ®ütern
be§ (Jf|riftentum§ einen ebenfo bebeutfamen roie unentbef)rlid)en
^^la^ ein. 9Iber bie Sebeutung ber $erfon ^efu unb feinet
8eben§roerfe§ für bie ®emeine roirb bod) feine§roeg§ au§fd)lie)3lid)
ober aud) nur in erfter Sinie auf biefe§ ®ut bejogen. Unb 3efu§
erfd^eint feine§roeg§ überall al§ ber, roeld^er biefe Sünbenoerge-
bung burd) feine Seiftung erft möglieft gemacht ftat. — ^m Briefe
an bie :^ebraer ift ba§ natürlid) anber§. 3)ie 2lbfid^t biefer ^o«
milie ift barauf gerichtet, bie ben alten Sunb überragenbe ^err«
Uc^feit be§ neuen an ben Heiligtümern beiber nac^juroeifen. Unb
12 ©c^ulft: ^®er faget benn i()r, ba^ ic^ fei?"
ba crfd)cint natürlid) ber liimmlifc^c |)ot|eprieftet be§ neuen 93un-
be§ unb fein bie ®emeine ein für allemat ,,ooKenbenbe§" Opfer
al§ ba§ t|öl)ere ©egenbilb ju ben „n)eltlid)en" aaronitifc^eu
^rieftem unb it)rem jät)rlid) bi« fuUifdie Steinzeit be§ JBolfeS
roieber^erftellenben äußerlichen 95erföt)nung§opfer. Slber wo ber
93rief in eigentlich bogmatifc^er 3Beife Qt^xi SBerbienft um bie
©einen fd^ilbert, ba bentt boc^ anö) er mef)r au bie 93efreiung
ber ®emeine Qt\\x oon bem S^obe unb ber 2:obe§furd)t.
3[ e f u § f e t b [t t)at e§ at§ feine Stufgabe bejeic^net, bie
äöerf e b e§ 93 ö f e n aufjulöfen. Unb er benft babei feiue^roegg
in erfter Sinie an bie ©rroerbung ber ©ünbenoergebung für bie
©einen, fonbern an bie Ueberroinbung ber in S^ob unb ^ranf^eit
fid) offenbarenben 3Jlad)t be§ Söfen in ber SÖBelt. 333o^l finb
if)m in einjetnen JSÖ^n „Teilung" unb „©ünbennergebung" gleich-
bebeutenb. 2lber boct) nur in einjelnen fällen. Unb feine fro^e
93otf^aft an bie SIrmen unb Traufen rebet boc^ niemals von
einer erft burd) fein äBert, in^befonberc burd) fein Seiben er*
mögtid)teu 93ergebung ber ©ünben, fonbern fie ift bie 9Jerl)eißung
üon bem 9}af)eu ber ^errfct)aft @otte§"'über bie Süleufd^en, unb
bie Slufforberung, fict) baju bereit ju Ratten. 9tatürtid) liegt in
biefer 93otfd)aft ebeufogut bie Slnerbietung ber oergebenben Siebe
®otte§ für bie ©ünber, bie fic^ ju biefem 9teid)e bereiten, roie
bie Jorberung, burd) 9lbroenbung oon ber roettlid^en ©inne^art
bie 5ä')i9f^i^ fß^' ba§ t)immtifcf)e Seben ju- gewinnen. 2lber nie«
manb wirb auS ben brei erfteu ©uangelien ben ©inbrudC emp=
fangen, ha^ ^efuö für feine erften jünger uor allem ber nur
33ergebung ifirer ©ünben fcl)affenbe ^eilanb geioefen ift unb fein
wollte, ©ie erl^offten in i^m glaubenb ba§ Jiommen be§ ®otte§*
reid)e§. Unb er erwartet unb forbert oon i^nen, baß fie in ben
neuen ©inn ber Siebe unb Kinbe^bemut, ber SRein^eit unb ber
^errfcf)aft über fi(^ felbft eingeben follen, ben er felbft offenbart
unb burc^ ben fic^ bie Rinber be^ ®otte§reicf)esi oon ben ©liebern
weltlicher SReidjc unterfdjeiben follen. 3Öer biefen ©inn mitbringt,
für ben ift ba§ Himmelreich aud) Vergebung ber ©ünben; benn
er oerftetit ®otte^ wafjre ®efmnung gegen feine Äinber.
Unb üoUenb^ im ®ebanfenfreife ber j o f) a n n e i f d) e n
©djulfe: „^tx faget benn i^r, ba& ic^ fei?'' 13
©c^riften tritt ber ©cfid^t^punft, ba& 3^efu§ bcu ©einen burd)
feinen 2;ob bic SSergebung ber ©ünben erroirbt (fo geroi^ er ^ie
unb ba Qud^ qI§ längft feftftetienber ©laube ber d^riftlidien ®e-
meine üorauögefe^t roirb), bod) im großen unb ganjen Dößig
jurüd. Oott mirb in ®t)ri[tu§ gcfc^aut : roer il^n fie^t, ber fiet)t
ben 93atcr. 3)a§ Sic^t, für welches; bie 2&elt nid^t empfönglid)
ift, tritt in \\)m a(§ eine gefdji^tlid^ menf^lii^e, aud^ ben ^inbern
ber (Srbe erfaßbare 9Birt(i(^teit in bie SDlenfc^^eit ein, unb über«
minbet bie ffielt. 3)ie in Qz\u^ erfd^loffene Srfenutni^ be§ matir*
Saftigen (Sottet ift ba§ emige Sehen. 9Kit bem offenbar luerben*
ben ©Ott erfc^lie^t fid) auc^ ber ma^re Qwzd ber 9Jlenfc^f|eit unb
i^rc ^eftimmung. 9tur inbem man felbft in baS 5Reid^ be§ Sid)t§
unb ber Siebe eingebt, oerftet|t man ®ott alS ba§ Sid)t unb bie
Siebe. Q[efu§ oerflärt ben 33ater in feinem Siebe^tobe; ber
^^ater oerflärt it|n burd) feine ©rl^ebung in ba§ 2tbtn ber eroigen
äBelt; unb ber SJröfter, ber ©cift beiber, oerflärt ba§, n)a§ 3^efu§
a(§ gefd)ic^tlid)e Sinjelperfon gemefen ift, ju bem bie 2iBelt erneuern^
ben unb ric^tenben ^^Jriujip.
©0 roirb man nad) ber biblifd^en ©efamtanfc^auung auf bie
Jrage, maö un^ 3»^fu§ fei, nic^t einfad) antmorten bürfen: „@r
ift ber, welcher un§ ©ünbenoergebung ermorben i)a{." Unb je
freier unb d^riftlic^er mir ba§ menfd)lic^e Seben üerftel)en lernen,
befto weniger werben mir geneigt fein, ben SÖtittelpuntt ber 9teli-
gion in ber ©emi^^eit ber ©ünbeuoergebung ju fet)en. ©ie bi{=
bet gcmi^ immer bie 9Sorau§|efeung, o^ne bie c^rifttic^eö 2eb^n
nic^t benfbar ift. 2lber fein eigentliche^ SBefen muffen mir in
einem p o f i t i o e n, f d) ö p f e r i f c^ e n 'ißrinjip fud)en.
6. ©0 ift 3fcfu^ un§ (£ l) r i ft u §. ®r ift un§ S e ^ r e r unb
93orbilb. ®r ift un§ ber, in meldiem mir @ott anbeten.
Sr ift un§ ber, in meld)em mir ber fünbeuüergebcnben ®nabe
®otteS un§ gemi^ füllen. Slber feine einjelne biefer 3lu§fagen al§
folc^e gibt bie oolle unb richtige Slntmort auf bie 3rage, bie un§ be=
fc^äftigt. '^Q, mir merben nad) ben uort)ergc^euben ©rmagungen
ni^t leugnen fönnen, ba§ jebe einjelne biefer 9lntmorten auc^ fo
gegeben merben fann, ba^ babei bie ^^erfönlid)teit Qefu felbft o^ne
eine entfd)eibenbe ^Sebeutung für unf er Seben bleibt, meil fid) ba^.
16 ©d^ult: //Söcr faget benn i^r, ha^ id| fei?"
fc^irfjte, gcgcnübcrftänbe, fonbcrn nur fo, ba§ ba§, n)a§ einft gc*
fd^ic^tlic^ war, t)on un§ nod) fortbauernb erfahren werben fann,
weil e§ auf unfer gegenroärtige^ retigiöfe§ Seben, nod| unmittct*
bar beftimmenb einwirft. 2Wfo nur bann, wenn i^r ©influ^, ben
roir erfat)rung§ma^ig in unferem 3^unern fpiiren, eine lebenbige
religiöfe Ueberjeugung in unS begrünbet unb bered^tigt. 2Itfo
fann ^t\\x^ nur f o unfer „^err" fein, ba^ bie von feiner ^tx^
fönlic^feit auSge^enben SBirfungen unfer innere^ 2^btn gegenwärtig
ebenfo jweifeUoö berühren, wie fie einft ba§ feiner 3^i^9^noffen
beftimmt ^aben.
8. 2lber aud) mit biefer 'Jlä^erbeftimijtung ift ba§ 95ert|ä(tni§,
um ba§ e§ fic^ l^anbelt, noc^ nic^t ju ftarem 9lu§brurf getommen.
©ine ^erfönlic^feit fann auc^ bui'd) ba§, roa8_ fie einft gefc^affen
t)at (einen Staat, ein ®efe^, eine Kirche), ober burd) ba§, xoa^ fie
juerft erfannt ^at (eine iJe^re, einen ®(auben), lebenbig ba§ Seben
ber <3^^tJ^it beftimmen, unb bod^ felbft für bie ÜJlenfd)en ber
©cgenwart im ®runbe gteid^gültig unb o^ne ®influ^ auf itir
innere^ 93ewu§tfein bleiben. @§ fann Döllig genug fein, ba^ fie
fic^ oon ben au^ biefer ^^erfönticf)teit ftammenben SBirfungen
wirflid^ beeinflußt wiffen. gür ben 33ürger eine§ lebenbigen
@taatöwefen§ fommt bie perfönlic^e 93eäiel)ung ju ben gelben unb
Königen, bie e§ einft gegrünbet ^ben, burc{)au§ nic^t me^r in
^rage, obwof)( er felbft unb atle^, ma^ i^m bebeutung^ooU unb
erfreulich ift, of)ne fie nid^t wäre, wa^ e§ ift. (Sein Sßer^ättni^
ju folc^en ^eroen, wenn er übert)aupt oon i^nen weiß, ift ge-
wiß ba§ ber ©ewunberung unb ber banfbaren ^^Jietät. SIber
ein guter 93ürger fann er au^ fein, o^ne üon i^nen ju wiffen
unb i^rer ju gebenfen. 9Ber üon ber ^römmigfeit einer Äird^e
getragen wirb, ber tonnte an fic^ fromm in muftergültiger SGBeifc
fein, and) wenn er nic^t§ von ben aJiännern wüßte, bie einft bie
Offenbarung gebrad)t t)abcn, bur^ bie biefe ^ird)e geftiftet ift.
So ift e§ in allem ^eibentum, fo in gewiffem Sinne audt) in
fotc^en ^Religionen, wie bie inbifc^en, bie pevftfc^e unb ber Q^^I^w^/
ja aud^ im eigentlid)en Qwbentum. ''Man fönnte fid) fogar
eine J^rm be§ d)riftlic^cn ft a t f) o l i j i ^ m u § oorftellen, für bie
„3i^fu§" burc^ bie lebenbige Äirc^e oöttig aufgefogen unb religiös
©c^ulfe: Mzx fagct benn i^r, ba^ i(^ fei?" 17
bebcutung§lo§ geworben wäre. ®aj5 e§ tatfäd)Iirf) nirf)t fo ift ba§
fommt bod) nur ba^er, ba^ eben biefe Äivd)e felbft in il)rem
ÄuttuS unb it)rem fie^rgefe^e eine beftimmte 33eret)rung (^efu unb
eine beftimmte 3lnfid^t über xi)n forbert. S)er Äatf)oIif
„fommt ju (£^riftu§ burc^ bie Äirc^e", aber er bt^
bürfte an fict) feiner perfönlid^en (Slaubeng^^
ft e C I u n g j u i ^ m neben feiner Stellung in b e r
Äirc^e. ®benfo fmb bie ©lieber einer S33ei§]^eit§fd)ule ober bie
fonfequent rationaliftifd) benfenben ^^rommeu in il)rem inneren
Seben boc^ im ®runbe oöllig unabhängig oon ben für fie ent*
fd)eibenben Se^rern unb SReligion^ftiftern, fo gemiß au(^ i^r reH=
giöfeö unb pl^ilofop^ifc^eg ^emußtfein niemals oljnc biefelben ju=
ftanbe gefommen märe. Qw allen biefen fällen mürbe bie fort*
mirfenbe ^erfönlic^feit ber fc^öpferifd)en 3Jlenfd)cn alfo allerbing§
bie unbemerfte treibenbe 5lraft in bem bleiben, ma§ bie Wenfc^en
bemegt, aber nur burd) bie oon i^r einft in Semeguug gefegten
unb au§gelöften SBirfungen, an benen man in ber ©egenroart,
bod) oi)m bemühte perionlid^e 53eäie^ung ju i^r teilnetimeu fann.
SBenn man fic^ übertjaupt für fie intereffierte, mürbe e§ mit ^e=
munberung, ^^3ietät unb 3)anfbarfeit gefd)et|en, aber burd)au§ o^ne
innere perfünlid)e 9Ibl)ängigfcit. 5efu§, in biefer SÖeife üerftan==
ben, mürbe in bie ^rolegomena be§ ©^riftentum§ unb in feine
©efc^ic^te ein^ureifien fein, ^w ber @laubenylel)re ^ätte er feinen
bered)tigten Sßlai^.
2Ilfo mu^ eig fid) für ben ©Triften um jmei 3)inge ^an«
bctn, mie ba§ bie in ber ©egenmart ftreitenben roirflict) firc^lic^en
■^^Jarteien aud) einmütig empfinben. i)efu§ fann 1. nic^t al§
©egenftanb ber SBiffenf^aft be^ Seben§ 0^1»/
fonbern nur aU bie in ber @ e m e i n e l e b e n b i g fort*
mirfenbe unb un§ mit it)ren 3Birfungen un*
mittelbar berüt)renbe ^erfönlid)feit, a(f o im
3ufammenl)ange feiner 9Sorau§fe^ungen unb SBirfungen, unfer
^eilanb unb ^err fein. 9lber 2. er fann e§ nur fein, menn
biefe SBirfungen uon feiner mirf lid)en gefd)id)t*
liefen ^^erf önlid)f ei t in ber SSeife unabtrennbar
f i n b, bap mir oon if)nen i n n e r l i d) nur b e r ü f) r t ro e r b e n
3cit^<^rift für a:^eoIogie unb Äirc^c. 14. ^a^rg., i. §eft. '^
16 (Sdjul^: „SBer fagct benn if)r, ba^ i^ fei?"
fc^ic^tc, gcgcnübcrftänbc, fonbcm nur fo, ba| ba^, xoa§ einft gc^^
f^ic^ttic^ mar, Don un§ noct) fortbauernb crfaf)ren werben fann,
TDett e§ auf unfer gegeniüärtigeö re(iglöfe§ Seben, noc^ unmittel*
bar beftimmenb einwirft. Sllfo nur bann, roenn if)r ©influ^, ben
xü'xx erfa^rung^mä^ig in unfcrem -^unern fpftren, eine lebenbige
rcligtöfe Ueberjeugung in un§ bcgrünbet unb berechtigt. Sttfo
fann 3efu§ nur fo unfer „§err" fein, ba§ bie oon feiner ^er*
fönlic^teit au^ge^enben SBirtungen unfer innere^ Seben gegenroärtig
ebenfo jroeifeUo^ berühren, lüie fie einft ba§ feiner 3^itg^noffen
beftiinmt I)aben.
8. 9tber aud) mit biefer 9Mf)erbeftim^iung ift ba§ 33erf)ä(tni§,
um ba§ e§ [vi) t)anbelt, noä) nic^t }u ftarem 9lu^brucf gefommen.
Sine ^crfönlid^teit fann aucf) buvc^ ba§, mag. fie einft gefc^affen
ijat (einen Staat, ein ®efe^, eine Kirche), ober burd) ba§, ma§ fie
5ucrft ertannt {|at (eine üetire, einen ©tauben), tebenbig ba§ Seben
ber <3e^t}eit beftimmen, unb bo^ felbft für bie ÜWenfdjen ber
©egenmart im ©runbe glei^güttig unb of)ne Sinflu^ auf it|r
innere^ 93en}u^tfein bleiben. S§ fann üöüig genug fein, baß fie
fic^ oon ben au^ biefer ^ßerfönlid)feit ftammenben SBirfungen
mirflic^ beeinflußt miffen. %\xx ben 33ürger eine§ lebenbigen
©taat§mefen§ fommt bie perfönlic^e Sejietiung ju ben gelben unb
Königen, bie e§ einft gegrünbet tiaben, burd)au§ nic^t mef)r in
5rage, obmo^I er felbft unb afle^, roa^ it|m bebeutung^oott unb
erfreulid^ ift, ot)ne fie nic^t wäre, roaS e§ ift. ©ein 33er^ältni§
JU fotc^en ^eroen, roenn er übertiaupt dou \f)m\x roeiß, ift ge*
roiß ba§ ber 33emunberung unb ber banfbaren ^|}ietät. 2lber
ein guter 33ürger fann er auc^ fein, o^ne oon i^nen ju miffen
unb i^rer ju gebenfen. 3Ber dou ber ^^ömmigfeit einer ftird^e
getragen wirb, ber fönnte an fic^ fromm in muftergültiger SBeife
fein, auc^ roenn er nic^t§ oon ben aWännern müßte, bie einft bie
Offenbarung gebrad)t ^aben, burc^ bie biefe Ä'ird)e geftiftet ift.
So ift e§ in allem .^eibentum, fo in gemiffem Sinne aud^ in
fold)en Sieligionen, mie bie inbifd^en, bie perfifc^e unb ber S^^öi^/
ja auc^ im eigentlid)en Qwbentum. ajlan fönnte fic^ fogar
eine ^ötm be§ c^riftlic^en ft' a 1 1) o l i j i ö m u § oorftellen, für bie
„Qefug" burc^ bie lebenbige Äirdje völlig aufgefogen unb religiös
©(^ur^: „aöer fagct benn if)r, ba& id> fei?" 17
bebeutungSloS geiüovben wäre. 2)a^ c§ tatfäd)tid) nirf)t fö ift, ba§
fommt boc^ nur baf)cr, bo^ eben biefe Äivc^e felbft in it)rem
Äultug unb it)rem Sef)vc\e)e^e eine beftimmte Sßeve^vung ^z\\x unb
eine beftimmte 2(nfid)t über i^n forbert. 3)ev Äatfiolif
„fommt ju ®t)riftu§ burc^ bte Äirc^e", aber er be-
bürfte an fid) feiner perföntid)cn ©laubeng^
ftellung ju i^m neben feiner Stellung in ber
Äirct)e. ©benfo pnb bie ©lieber einer 9Bei§I|eitsfd)ule ober bie
fonfequent rationaliftifd) benfenben g^rommen in i^rem inneren
Seben bod^ im CSrunbe uöüig unabhängig uon ben für fie ent^
fd)eibenben Se^rern unb SReligion^ftiftern, fo geroi^ auc^ i^r reli:=
giöfe^ unb p^ilofop^ifd)e§ 33en)UBtfein niemals ot)ne biefelben ju«
ftanbe gefommen märe, ^w allen biefen i^&ilen mürbe bie fort«
mirfenbe ^^erföntid)feit ber fd)öpferifd)en 3Jlenfd)en alfo allerbingS
bie unbemerfte treibenbe Straft in bem bleiben, ma§ bie OTenfc^en
bemegt, aber nur burd) bie oon ii)x einft in ^öemeguug gefegten
unb auggelöften SBirfungen, an benen man in ber ©egenmart,
bod) o^ne bemühte perfönlici^e Sejie^ung ju il)r teilnetimeu fann.
2Benn man fid) äberf)aupt für fie intereffierte, mürbe e§ mit ©e-
munberung, "^ßietät unb 2)anfbarfeit gefd)el)en, aber burc^au§ o^ne
innere perfönlid)e 2lbf)ängigfeit. Qt\\x^, in biefer 3Beife rerftan*
ben, mürbe in bie ^rotegomena be§ ®l)riftentum§ unb in feine
®efd)id)te einjurei^en fein, ^n ber ®lauben^let)re f)ätte er feinen
beredjtigten ^^3la^.
2llfo muß e^ fic^ für ben S^riften um jmei ®inge f|an-
beln, mie ba§ bie in ber ©egenmart ftreitenbeu roirflid) fird}lic^en
•ißarteien and) einmütig empfinben. i)efu§ fann 1. nid|t al§
©egenftaub ber 3Biffenf(^aft be§ Seben^ -Scfn.
fonbern nur al§ bie in ber © e m e i n e l e b e n b i g fort*
mirfenbe unb un§ mit if)ren äBirfungen un«
mittelbar berül)renbe $erfünlid)feit, alfo im
^ufammen^ange feiner 9Jorau§fe^ungen unb SBirfungen, unfcr
^eilanb unb ßerr fein. 3lber 2. er fann e§ nur fein, menn
biefe äßirfungen uon feiner mirflicl)en gefd)id)t*
ticken ^^erf önlid|f ei t in ber Seife unabtrennbar
finb, ba| mir oon i^nen innerlid) nur berül)rt ro erben
3cit5<l^rtft für Ideologie unb Äir(^e. U. ^a^rg., i. $eft. *^
18 © d^ u t ti : „®er faget bcnn t^r, ba& ic^ fei?''
fönncn, inbctn bicfcv gcf d)ic^ t (ict)c 9Wenfc^ [clbft
für unfcrc ©ectc bebcutfam unb entfc^cibcnb
roirb unb \x6) i^r al§ ^crr unb Mette v eriüeift.
9. 3)ie erfte Sebingung forbevt, bap unfere c^riftlidje
grömmighit fic^ auf ben in bei* @ e m e i n e unb in feinem
©eifte forttebcnben gef(^id)tfid)en ^efu§ bejic^t.
Qeber einjetne fommt mit Qt]\x^ junäd)ft nur in 33ei*üt)vung burc^
^erfönlid^teiten, bic ;3fefu§ al§ ben matiren 3^n^alt it)re^ inneren
Seben§ bcfi^en, alfo qI§ bog, rooburd^ fic un^ befc^ämen unb er=
lieben, ©obann in bem ^rifüidien @ e f a m 1 1 e b e n , mie e»
qI§ t)on biefem ^efu8 beftimmte^ Seben ju einer befonberen ©r-
f^einung innerhalb ber SJlenfc^^cit gemorben ift unb in immer neuen
@rfc^einung§formen neuer 9Wenfc^en ba§ üon 3^fu§ ftammenbe
fieben au§geftaltet. SWit 3«fu§ a^^ ^'"^^ perfönlid) fort»
tebenben (Sinjetperfönlic^feit tommen bie ®f)riften nic^t in innere
93erüt)rung. @rfat)rungen roie bie be§ 9tpofteI§ "ißaulu^ unb feiner
ajlitapoftel finb 3tu§na^men, bic mit ber SSerbejeit be§ S^riften*
tum§ }ufamment|ängen, unb merben oon i^nen fetbft al§ abge=
fd)loffen angefe^en. Unb gegen bie tünftlic^e SBieberbelebung
folc^er (Erfahrungen l^at bie gefunbe ^^ömmigteit in ber Jlird)e
fic^ mit Steigt ftet§ ablet)nenb oer^alten. 3Ilfo fann au^ bie Heber«
jeugung Don bem perföntic^en Sluferfte^en ,3efu roeber auf foIrf)e
(Sriebniffe gegrünbet merben, noc^ tann fie aU fi(^erc ®efd)ic^t§*
tatfac^e, al§ eine f e ft ft e ^ c n b e 95 o r a u § f e ^ u n g be§ ©lau*
ben§ an i^n betrad)tet merben. Sie mirb religiös uielme^r aU
bas notmenbige © r g e b n i § biefe§ ©(auben§ geroertet werben
muffen. ®ie ^erfönlid^teit, Don ber ber ©faubenbe fid) innerlich
be^errfd)t mei^, fann it)m natürlid) feine üergangeue, oon SBelt
unb 2ob übermunbene fein, ©r n)ei§ fie aH eine fiegreic^e unb
^errfd)enbe, a(fo in ©Ott lebenbige. So mirb fid^ un§ ber SSor*
gang, um ben e§ fid) ^anbett, folgenber maßen barftetlen. 3)er
g e f (^ i d) 1 1 i c^ e 3efu§, a ( ö in f e i n e u 3Ö i r t u n g e n auf
©rbenauc^für un§ erfal^rbarer, berül^rt un§ at§
ber in ber ©efd^ic^te fortmirfenbe 5unäd)ft in oon
i^m be^errfd)ten ^^erfönlic^feiten unb fingen, ^nbem er un§ in
biefer äBeife innerli^ SSertrauen unb Unterorbnung abgeminnt, mirb er
(5 d) u U : „ffier faget benn x\)x, ha^ id) fei?" 19
jum ©cgeuftaub unfcreS (Staubend. — Uub lüenn mau bic§ @rleb*
ni§ genauer betrachtet fo ift ba§, roa§ un§ berührt unb geroinnt,
boc^ nidjt eigeuttic^ bie gefcf)id)t(i^e ^;|3erföulic^teit Qefu, fonbcrn
bcr (Seift biefer ^erföulid^teit, in bem i^re irbi[cl)e
®eftalt uerflärt weiter roirtt. @ine "^^erfönti^feit ber Ser^
gangen^eit berülirt un§ nac^ i^rem Scheiben t)on ber @rbe eben
übcrt)aupt nur al§ „gefc^ic^tfirf)e", b. i). in ber geiftig fortroirten^'
ben Summe ber ge|d)ic^tlid) oon i^r in SGBirtung gefegten SJlotioe.
3)arin liegt bie 3Q3af)r^eit be§ 93eftreben§, jn)ifd)en 5efu§ unb
S^riftu^, b. i). jn)i)d)en bem gefc^ic^tlic^en Qnbiüibuum unb feiner
geiftig in ber ©efc^ic^te fortlebenben ©eftalt }u unterfc^eiben, fo
bebenflid) biefe^ Seftreben aud) a(§ 3luflöfung be§ gefrf)ic^tlicl)en
®^riftentum§ in gnoftifd)e 9ieIigion§pt|i(ofop^ie roirfen tann. 2)arin
liegt bie t)o^e 'öebeutung ber Se^re Dom ^eiligen ©eifte unb oon
ber .ipeil^orbnung, bie gegenroärtig über ber Betonung be§ gefd)id)t=
liefen 3»^fu§ iu oft üergeffen mirb. SBer nidjt ben „^^fii^ ^^^
5Biffenfd)aft be§ Seben§ ^efu" unb nic^t ben un§ perfönlic^ er^
fahrbaren üertlärten S^riftu^ miti, ber fann nur oon bem i n
feinem ®eifte un^ berü^renben 3ßfu§ reben.
10. 3)er jmeiten Sebingung gered)t ju merben oerfud)t bie
Slnfc^quung, loeld^e ben „biblif^en @;t)riftu§" im ©egenfa^
ju bem ^iftorifc^en 3efu§ at^ ba§ unferen ®(auben er-
roecfenbe ©ub)e!t bejeic^net. 2)er „biblifc^e" ®^riftu§ foll ber
loirflic^ gefd^ic^tlid)e ^z\\x^ fein. SQ3ir foUeu unfer Innenleben be*
einfluffen (äffen oon bem in ber Kird)e geprebigten unb in i^r
fortlebenben ^eilanb§bilb. äBa^bieg^römmigteitber erften ©emeine
in ;3efu gefe^en \)ai, ba§ follen mir at^ feine ^erfönlii^feit ^innel^^
men. 3)iefe 93e^auptung ift jebenfaU§ in ber ^orm unrid)tig, nad)
ber ba§ gefamte ®l)riftu§bilb be§ Steuen Jeftament^, mit @inf(^lu§
ber paulinifdien unb j|oI)anneifc^en 2:l)eologie, einfach ber -S^fu^
fein foll, ber für unfer religiöfe§ Seben entfd)eibet. 2Bir müßten
bann ben präeyiftenten unb poftejiftenten ©briftu^ famt feinen
altteftamentlid)cn Sorau^fe^ungen einfach al§ „3^fus" übernet)men.
5)anu märe religiöfer ©laube unb bogmatifc^e 2lufid)t gteid|be=
beutenb. Unfer ®t)riftentum märe nur burd) Se^arren bei bem
®ebanfenfreife beö antifen §elleni§mu§ unb bei ber ^Jiaioität ber
20 @ d^ u I fe : ,,9Bcu f aget bcnn \\)x, ba^ icfj fei V
alten ®cfc^ici^tgn)iffenf(i)aft möglirf). 3)cn n)ivf(id)en (Stauben an
^efu§ abn wccft in un§ bocf) nur bcr ©Inbrucf, bev beu ®(aubeu
ber evften (Semeine geroedft i)at, nid)t ba§ oon it|ver gvöm«
migfeit bavan 9efd)(off ene bogmatifdic >&'\lh. (Sine anbere 2lbt)ängigfeit
oon feiner ^erfon \)at ^t^n^ felbft bei bcn ©einen nie beanfprud)t
uub fonntc fte auc^ nid)t beanfpruc^en. ®r uertangt nur, baß fie in
it)m Ootte§ 3BiÜen§!unbgebung ^inne^men. @r frf)rcibt nic^t ein
3)ogma oor über if)n ober eine 3iM*"ttniung ju aKem t)on il^m
®rjäf)Uen ober eine frf)riftge(e^rte Äenutnig ber altteftamentlic^en
Sebingungen feiner (5rfd)einung. Unb biefer (Staube ber ©einen
beburfte in ben ©tunben bcr !tßcrfu(^ung roo^l ber Sefeftigung
uub ^teubclebung burc^ bie ®rfd)einungen be§ 2luferftan=
benen. 2lber fie f)aben it)n nict)t gefd)affen ober ju einem
an bereu gemad)t. (Sr mar in fid) felbft ftarf genug, über Stob
uub (Srab ]^iuau§ bie ®emein|d)aft ber in ^efu ^^Jcrfönlic^feit
murjeluben 5^*ömmigf eit ju ermatten. 3)ie „S^viftologic" be§ 9teuen
Seftament^ ift nic^t felbft ber feligmad)eube ©laube an bie ^er^^
föulic^feit ^efu, fouberu ber SJerfuc^, \i)\x gemä§ bem ©ebanfen«
material unb ber 59ilbuug jener Qnt in feineu Folgerungen ju
t)erftet)en unb au^eiuauberjulegen. 9latürlic^ \)aht\\ 9Jfönuer mie
^^aulu§ unb ^of|anne§ beibe§ nic^t au§einanberge^alten. Unb
aud) für ben gvommeu ber ©egenmart, ber obne ba§ 93ebürfui§
perföulid)en' fragen» unb Unterfuc^en^ gläubig im fiebeu ber Ä'irc^e
fte^t, ift ba§ oon ber Kird)e i^m entgegengetragene gefamte
„(£l)riftuöbilb" natürlid) ol)ne 93ebcnfeu ibentifc^ mit bem Qefu^/
bem feine Seele gef|ört, unb fotl e§ fein. 2lber fobatb man über^
t)aupt benfcnb uuterfd)eibet , fann ber ma^re ©ac^üer^alt nid)t
jmcifeltiaft fein. S)a», ma§ unfere ©eele perfönlid) ergreift, \m^
mir religiös erfatjren tonnen unb als l)errfc^enbe SJlac^t in un§
anerfennen, ba§ ift nid)t bie t^eoIogi)d)e ©efamtanfc^auung über
Oefu§, mie fie im bleuen Seftament ausgeprägt unb in ber Slirc^e
meitergebilbet ift, fouberu bie biefer @efamtanfd|auung ju (Sruube
liegenbe gefc^id)tlid)e ^)?erfönlic^feit ^efu in bcn oon il}r au§get)cn*
t)m religiöfen SBirfungeu.
2lber ba§ äBat)ie in biefer Stnfdjauung barf nict)t uertauut
mevben. 2)er ^efuS, ber nn^ in feinem (Seifte berüf)vt, tritt un§
Bd)ul1^: „3Ber fagct benn i^r, ba& icf| fei?" 21
bod) nirgenbg unücrfcunbar imb fid)er entgegen, als in ber Scl)rif t
be§ bleuen Jeftament^. äßiv finben il)n bort in ber gorm, wie
er jucrft ®Iauben erioedt l)at, unb aüt fid}eren unb juüerläffigen
©inbriidte feiner *^erfön(id)teit ftnb bod) fd)Iie§Ud) nur bort ju
geroinnen. ®er ®efd)id)t§forf^ung über <3efu§ bietet ba§ 9leue
Jeftament ein l)öd)ft fd)roieriges;, roo^I niemals befriebigenb ju
[ofenbe§ ^ßroblem. ^tber ba» religiöfe ®t)ri[tus;bilb, roeld^es
3efu§ gefc^id)tlirf) in bie ^erjen ber Seinen eingeprägt t)at, ift
^ier immer roieber in oöüig unoertennbarer unb autf)entifd)er gorm
JU finden. S§ ift nid)t bie tf)eotogifd)e Ueberjeugung ber neu=
teftamentlid)en Sd)riftfteKer, bereu 3Birtungen roir im Olauben
empfinbeu. ©ie bleibt ein 'tßroblem ber Jfieologie. 2lber ba§
9leue 2:eftament jeigt un§ bie roirtenbe ^erfönltd)feit <3^[W/ ^^^
er fie in bie ^erjen feiner jünger unb bamit in bie religiöfe ®e*
fd)id)te ber 3Jlenfd)f|eit eingeprägt \)at
11. S)er ^efu§, mit bem unfer innere^ religiöfe^ fieben e§ ju
tun t)at, ift alfo ber g e f c^ i (^ 1 1 i d) e 3» ^ f u § oon 9la}aret^,
beffen 93ilb un§ in ber ^. ©d)rift entgegentritt.
91 i d) t ber ^^3 r ä e 5 i ft e n t e , ber in ber eroigen ©ottegroelt
lebt. 6rft ouf ®runb be§ oorl)anbenen ®lauben§ an Qefu§ ift
biefe SSorftellung oon tlieologifd^em ®enfen gebilbet unb ju bil^
ben. äöa§ un§ berül)rt unb unfere ©eele geroinnt, ba§ ift eine
menfd)lid)e ®eftalt in menfdjlic^en a3erl)ältniffen.
3Bir fpüren, bap un^ ®ott in i^r berührt. 2lber roir fönnen ba§
junäc^ft nid)t in ber SBeife erfatiren, ba§ fic^ ®ott unferem Renten
al§ ein 33 e ft a n b t e i l b i e f e r ^ e r f ö n l i d) t e i t offenbarte,
— baoon religio» eine Srfa^run g ju gcroinnen, roürben roir ja an
fi^ oöUig au^er ©tanbe fein, — fonbern fo, ba^ ber ®ott, ber
un§ al^ religiöfe ^erfönli(^teiten rid)tet unb un§ nirgenbg fonft
oöllig feiig mad)t, fid) un§ in biefer menf(^lid)en ^erfönli^teit
unb burd) fie al§ befeligenb fühlbar mac^t. 31 u c^ b e r $ 0 ft=
cyiftente, ift nid)t ber SnMt unferer grömmigteit, ber alö
oertlärte ^erfönlid)teit mit feinem SSater ^errfd)t al§ ber Äönig
im 9teid)e beö ®uten. 9Bol|l ift e§ ein notroen biger ©d)lu§ besi
S)enfen§, roenn roir an \i)n glauben gelernt Ijaben, ba^ er in
®otteg ®emeinfd)aft f)errfd)t unb lebt. 2lber er felbft berüf)rt
22 ©d)ulft: „3öcr fagct bcnn i^r, baj irf) fei?"
uu§ borf) nac^ uuferev n)irttid)cn d)viftUc^en ®rfal)ruug, ber aud) uu*
fcrc Stixijz immer jugcftimmt ^at, nitfit met)r (ügl. 9tr. 9) in biefcr
fiebengf orm. @r roirtt auf un§ in bcn ® n a b c n m i 1 1 e I n , bic bcn
^n^alt bcsfgefd)id^tlicöcn Scben§ biefe§ ^cfu§, alfo
feine irbifdje, roirfeube ^erfönli^feit, unferer ©eele orbnung^mä^ig
unb ben ©efe^en be§ (Seelenleben^ entfprec^enb bavbieten. @r
beriif)rt un§ in feinem ® e i ft e , ber un§ ben ^nl)alt feinet 93e*
ruföleben§ unb feiner ^erfönUd)feit burrf) menfc^Iicl)e ^^Jcrföntirf)*
feiten, burc^ ba§ Seben ber ©emeine unb burd) Sd^rift unb Sa«
trament jum SSerou^tfein bringt. @o werben wir aüerbingg awd)
unmittelbar gemig, ba$ er ber fiebenbige, ber Sieger über ben
Job ift. 3Bir fpüren, ba^ er unfer ^err fein toi lt. 2lber
über bie befonbere 9trt, m i e er ben 2;ob überrounben f)at, unb
wie er je^t für f i d^ unb für @ o 1 1 lebt, f önnen wir au§ bem
©tauben felbft junäd^ft eine beftimmte Ueberjeugung nic^t befi^en.
3Bir tonnen fie un§ nur auf ©runb be§ ©laubeng bentenb
bilben, menn mir un§ nic^t mit ber einfadjen ^inna^mc be§
gefc^id)tlic^ @rjäl)lten begnügen moUen. 2)ie gef^id)tlic^e
93ejeugung ber 2luferftebung Qefu unterliegt für ben miffenfc^aft*
lid) ©ebilbeten an fic^ ber ^iftorifd)en 33eurteilung, mie jeber 93e*
rid)t in ber ©efc^id)te. 2lber unfer ©laube tann nic^t auf ba^
©rgebnig einer fold)en 93eurteilung märten ober oon il)m abhängig
fein unb er f o 1 1 eö nid)t. 6r grünbet fic^, mie ber ©laube ber
erften jünger, auf bie ©emip^eit, ba§ QefuS lebenbig auf un§
mirft unb un§ be^errfd)t. Unb oon ber 2trt, m i e mir un§ feine
gegenmärtige 3)afein§form t^eologifc^ benfen, ^ängt bie ©emi^l^eit
biefer 2:t)atfad)e fc^led)tl)in nid)t ab. 2lm menigften mirb fie fo
begrünbet, ba§ Sefu§ etma al§ ber 93ertlärte un§ fein oertlärte^
3)afein anfc^aulid^ madfjte unb fo offenbar merbenb in unfer fieben
einträte.
12. @§ ift ber g e f d) i d) 1 1 i d) e ^efu§, ber unfere f^xönu
migfeit beftimmt. 2lber nid)t ber ©egenftanb ber t)iftorifd)en ^ritif,
ber if)ren 3w)eifeln unb 2lngriffen unterliegt, ©in foldjer 3efu§
mürbe ja nur miffenfd)aftlid) ©ebilbete intereffieren, unb mürbe
nur '\i)x miffenfd)aftlic^eg ^ntereffe in Slnfprud) nehmen, nid)t \i)xt
retigiöfe Ueberjeugung. 3)er Qt\\x^, an ben mir glauben, fte^t
©ci^uU: 3er faget bcnn \f)x, ha^ icf) fei?" 23
f^led)t^in über ber roiffcnfc^afttic^en Ärittfunb bleibtun*
angreifbar für fte, al§ eine unmittelbar auf un§ rairfcnbe Satfad&e,
bie üöUtg eben fo gerot^ ift, roie jebe ©rf^etnung ber 3latur, unb
bereu roir in jebem Slugcnblict au§ i^ren ^Birfungen ebcnfo ge*
jui^ werben föuuen, löic bie 9kturn)iffenfd^aft bur^ ba8 ©yperi*
ment it)rer ©egenftänbe geroi^ roirb. 6r tritt un§ lebenbig ent*
gegen mit aßem bem, ma§ er felbft empfangen l|at au§ ber oon
©Ott geleiteten @cfd)ic^te ber menfc^Iidien ^Religion, mit aßem,
wa^ au§ ber Kraft feiner ^^5erföntic^!eit in ben ^cvjen feiner
©laubigen fic^ eingeprägt ijat Qe\\i§ ift e§ boc^, ber ba^ 93ilb
uon bem, n)a§ er mar unb roa^ er mollte, in bie .^erjen feiner
jünger aU fie beftimmenbe§ unb ummanbelnbeg l)ineingelegt unb
e§ bamit unoerlierbar in bie ©eele ber 3Dlcnfci^f)eit eingeprägt ^at,
ba^ 93ilb be§ SWenfc^en, ber bem SBillen ®otte§ entfprid)t, ber
fic^ in Äinbeöliebe mit ®ott feinem 93ater oerbunben mei$, ber,
in Siebe ju ben 53rübern unb in töniglic^cr 9Jlact)t be§ ©eifteS
über ba§ S^^ifd)/ ^ö§ 9leic^ ©otte§ auf ©rben in fid^ barftellt unb
ben SBiberftanb ber SBelt überminbet. 3)iefe ©eftalt ^efu ift im
bleuen Seftament in einer reiben ^-üüe oon ©inietbitbern au^*
geprägt. 9lic^t otine SSerfnüpfung mit einer Slei^e oon ©rjä^*
lungen, vox beuen bie Sritif jmeifetnb ftel)en mag. 9lici|t o^ne
©infügung in bügmatifd)e unb metap^rififc^e ©ebantengänge, bie
mit ber 93eränberung ber gefamten 2)enfn)eife au^ il^rerfeitS
gmeifet^aft unb bebeutung§lo§ werben fonnten. 2tber fie felbft,
biefe ©eftalt be^ neuen SÄenfd^en, ber in O^fu^ in bie geiftige
@efc^id)te ber 3Jlenfd)en eingetreten ift, fte^t im bleuen Seftamente
in DoUer Älarl^eit üor un§, DoUtommen unangreifbar für ben ge^^
f(f)id)tlic^en ober ben bogmatifc^en ^n^^if^I- ^^^^ ^in 2:t)or tonnte
beftreiten, baj3 mirflic^ ^efu^ felbft biefe feine ©eftalt in bie ^erjen
ber ©einen eiugejeic^net ^at, ba§ nic^t etwa i^re eigenen S^räume
fic^ {|ier ein pou it)m unabt|ängige§ ^beat gefc^affen ^aben. 2)enn
fie ^aben at§ bie ©einen gelebt unb finb at§ bie ©einen
geftorben, für i^n, ben fie ber 9Belt geprebigt l)aben. 2tu§ i \) m
ift in it)nen ba§ Seben geboren, ba§ i^nen ^infort al§ allein mert»
ooll gilt, ©ie ftellen fid) bebingung^lo^ unter feine in il)nen
lebenbe ^^3erfönlid)feit, al§ unter ben §errn, ber fie für fic^ ge*
24 ©ci^ul^: ,3er faget bcnn i^r, ba& id^ fei?"
tüonuen unb fic umgcftattet i)at. 2lIfo fclbft, lücun c§ iüd)t au
ftd) fd)on eine llnmöglidjtcit wäre, bafe bic ^tiantafic oön 5ifd)cru
unb 3öfl"^^i^ ^w^ ^ß"^ <3^rael ber @cl)riftgclef)rfamfcit unb bcs
^^3f)arifäi^mu§, bie ^t)anta[ie uon 9JJcnfrf)en, bic fiel) a(§ „fün-
big" unb ber SSergebung bebürftig raupten, bicfe ©eftalt l)ätte
fc^affen ober auc^ nur oerflären fönnen, roürbc e§ un§ jroeifeüoS
fein muffen : in bem ®l)riftu§bilb be§ 9leuen 2:efta=
m e n t e § , ba§ ben ©lauben ber erften Oemcine an i^n jum 9Iu5-
brudt bringt, ^aben wir ben g e f d) i d) 1 1 1 cf) e n ^ e f u § fo, wie
er feine ©eftalt in bie ^erjen ber Seinen eingeprägt ()at. 9lici^t
in ber ®t)riftoIogie ber tf)eotogifc^ benfenben 3ü"9^^' u"b nid)t in
ber ßegenbc ber erften fritiflofen ©emeine, aber in bem, oon
bem fie prebigen unb in bem fie leben.
13. 3)iefer QefuS tritt and) uu§ entgegen unb beanfprud}t
auf un§ ju roirten. ^n ber t). ©d)rift unb in ben Saframenten,
im Seben ber Slird)e unb in ^erfönlic^feiten, bie üon ^cfu^ er=
griffen finb, berülirt er un§, — im legten ®runbe bo^ überaH
burd^ bie t)eilige ©dirift. ©eine SBirtung auf un§ ift freiließ
immer oerbunben mit einer Summe üon gefc^i^tlid)en Ueberliefe*
rungen, bie nad| ben 3^*^<^tt^^^ wnb nac^ ber miffenfc^aftlid)en
93ilbung ber einjetncn fe^r t)erfd)ieben beurteilt merbcn. ©ie ift
immer begleitet t)on bogmatifc^en unb metapl^gfifc^en Ueber-
geugungen, bie nad) ber fir(^lid)en Srabition, nad^ ber ttjeologi-
fd)en Sitbung unb naä) bem fonftigen ©ebanfenfreife ber 9)ien*
fd)en üiclfad) mit einanber im ©treit fein merben. Unb für bie
SKe^rja^l ber 3^rommen gefc^iet)t bas ot)ue S^age fo, bap fie 5mi*
fdjen ber auf fie mirtenben gefd)id)tlid^en ©eftalt Qefu uub hm
@ef^id)t§anfid)ten unb tt)eotogi|c^en Urteilen, mit benen üerbun=
ben fie i^nen nat)cgebra^t wirb, mebcr mirflid) unterfd)eiben
nod) überf)aupt ju unlerfd)eibcn 9Inla^ ^aben. Slber in SBirflid)*
teit ift e§ bod) immer biefe ^erfünlid)feit f elbft allein,
auf bie e§ anfommt, mo d)riftlic^er ®(aubc entftefjeu foU.
Unb bei aller Sßerfc^ieben^eit ber ^iftorifc^en unb bogmatifdieu
2lnfic^ten ift e^ bod) immer bie gteid)e ©eftatt, bie allein ©egen^
ftanb be§ ©lauben^ fein fann, bie perfönlidjc ®efta(t be§ gefd)id)t*
Iid)en Qefn§, bie er in .^erj unb ©eioiffen ber tWenfd)f)eit ein«
©c^ul^: ,3er faget benn i^x, ba& i^ fei?" 25
geprägt ^at.
14. ©ic lücnbet fid) uid)t an ba§ ^ i ft o r i f d) e U r t c i (,
um eine gefd)id)tlic^c 9tnftc^t Ijcroorjurufen unb eine ioiffenfd)aft=
lic^c 3uftimmung ju bcgrünben. 3)a§ mag in fvülieren 3citöltern
üon naioerev 2lrt ein unbebenHic^cr SQ3eg gemefen fein, unb e§
mag aixd) je^t Saufenben oon frommen ©emütevn fo erfc^einen.
6§ mag i^nen felbftüerftänblid) bünfen, burd) bie l)iftorifc^e lieber*
jeugung üon ben in bev ©d)rift überlieferten SBorten unb Saaten
^efu, vox 9Iüem üon feinen SBunbern unb oon ber äußern "Slad}'
mci^barteit ber Öfter- unb 2ßeil)nacl)t^gefd)ic^ten jum rechten djrift*
lid|cn ©tauben ju fommen. Slber loer von ber 3Jlet^obe ber
roat)ren SBiffenfdjaft in ber @egenn)art etma^ meip, ber mirb aud)
roiffen, ba^ biefer 3Beg einen geroiffen^aften ©ebitbeten nic^t weiter
führen tann, a(§ ju fragen, ßw^^if^'" ^"b kämpfen, unb im beften
i^aüt JU einer üortäufigen 9Bal)rfc^einlic^teitsüber5eugung, bie mor*
gen neuer Ungeroi§l^eit ^ta^ mad)en !ann.
©ic menbet fid) aud) ni^t an ba§ t f) e o l o g i f d) e ® e n=
fen, um auf ®runb überlieferter fiel)rfä^e ber Stird)e, im beften
gatte unter bem Sinfluffe ber S^eologie ber neuteftamentlic^en
(Sdjriftfteller, eine 3uftimmung be§ 2)enten§ ju berjenigen bog*
matifdien 9Bertfd)ä^ung biefer '^erfönlid)teit ju geroinnen, bie ben
firc^Iic^en Slbftc^ten unb Ueberlieferungen entfpridjt. 2luc^ ba§
roar o^nc 93ebenten, folange ba§ firc^lid)e Stecht ber Seljrgefe^*
gebung unb bie Qnfpiration ber biblifd)en ©d)riftfteüer im ©inne
be§ alten 3)ogma al§ jugeftanbene 9Sorau§fe^ungen für jeben in
ß^riftenlänbern ^eranroac^fenben a)]enfc^en üon gutem äBillen gal=
ten. Unb roic e§ bem iiatt)oIifen ganj natürlich ift, fo mag e§
noc^ je^t nid)t roefentlid) anberö für bie „SKeinen" fein, benen
ber Unterrid)t ber Äird)e unb ba§ Einprägen beftimmter biblifc^er
©prüdje tatfad)Iid) ba§ gef (Raffen f)a6en, roa§ fie il^ren ©laubcn
nennen, ©ie ^aben, roenn fie u)at)rl|aft fromm finb, ja in ber 2:at
aud^ ben roaliren ®Iau6en, ben ^i^fusi ^^ecft. 2lber fie \)abtn \\)n in
einer ^üüe, bie an fic^ mit bicfem ©tauben in feinem unmittet*
baren 3ufommenf|ange ftef)t. 3)en llnterfc^ieb jroifd)en beiben
cmpfinbcn fxe nid)t unb finb nic^t t)erpftid)tet if)n ju cmpfinben.
3lber roer im Staube ift, bentenb ba§ SBefen be§ religiöfen ©tau-
26 Bd^uii^: ,3cr fagct beim if)r, ba^ i^ fei?"
ben§ ju ücrfte^en, unb roiffenfc^afttic^ in bie ©ebanfcnbilbung
cine^ ^^aulus! ober in ba§ SBerbeu ber tir^Iirf)en fietirformeln
t)ineinjub(irfeu, ber roei^ and), ba^ biefcr 3Beg jule^t ju tnec^tt=
feiern 33eu9en unter SDlenfcl)enautorität ober ju unfcliger ©fepfiö
führen wirb, unb ba^ bie ^uftimmung ju foIrf)eu Formeln an
fic^ ebenforocnig bie n)irtlict)e ©laubenöfteflung ju 3efu§ erjeugen
ober oerbürgen fann, n)ie eine 9tic^tbeacf)tung ober 9lid)ttenntni§
berfelben ben 3Jlenfc^en ju t)inbern oermag, ^efu in roatirem unb
ooüem c^riftlid^en ©tauben anjuge^ören.
3)ie ©eftalt Qt\n loenbet fid) an ba§ praftifc^e Sc*
ben unferer ©eele, an unfer Srfafjren unb Sm*
p f i n b e n. 3)a§ gcfc^icl)t in unenblic^ oerfc^iebenen ^o^»^^"-
3Im u) i r t f a m ft e n rootil burd^ ^ e r f ö n I i d^ t e i t e n , in
benen ^efu§ fd)on ©eftalt gewonnen t)at. 3tm ^ ä u f i g ft e n
burc^ bie ©inbrücf e ber @ r j i e ^ u n g ber Umgebung, ber felbft*
oerftdnblirf)en 6f)riftlid)feit ber 93erf)ältniffe. 9lic^t fe^r t)äufig
unmittelbar burd) bie 1^. Schrift. 2lber im legten ©runbe bo^
immer fo, ba§ fie e§ mittelbar ift, bie — in Unterrid)t,
©otteSbienft, ©efpräc^ unb Umgang — ben ©inbrucf oon ber
•ißerfönlic^teit ^lefu ^eroorruft. Unb bie ^rage, bie Qefu^ bann
an ben aWenfc^en richtet, ift ni(i)t: „f)ältft bu alle^ für gefc^id)tlic^
richtig, ma§ oon mir erjä^It roirb ?" ober „ftimmft bu allen Se^r»
fä^en JU, bie in ber Schrift unb in ber Sird)e über meine '^J^er-
fonlic^feit formuliert unb burc^gefe^t finb?" Sonbern fie lautet
einfach: „fütilft bu, ba^ bu fein foQteft, roaS ic^ bin unb ba§
bu e§ an bir felbft unb ol^ne micf) nic^t bift, ba^ bie oon mir
au§ge^enbe neue 2trt ber aHenfd)l)eit bie aWenfc^^eit be§ Sebenö
unb be§ 2id)t§ ift unb beine natürlid)e aWenfd)enart richtet", „ba§
mir ber ©ieg unb bie ^errfc^aft gebührt unb geljört", „ba^ in
mir bie roa^re befeligenbe Stellung be§ ÜKenfd)cn ju ©Ott unb
©otte§ JU ben SDIenfdien auc^ für bid) offenbar mirb?" Sßer auf
biefe fragen mit „^a" antroortet, alfo Qefuö feinen „^errn"
nennt, ber ift gläubig im Sinne be§ (£l)riftentum§. 3)em ift
-O^fu^, roas er einem (S^riften fein foU.
15. Slbcr mir muffen bod) meiter fragen: ma^ ift ^e*
fu§ einem fotd)en 9Jlenfd)cn? (£r ^at mof|l in biefem ©lauben
Sd)u(tj: ,,3Ber fagct bcnn i^x, bag id| fei?" 27
an (St)viftu§ unmittelbar eine ©umme von rcligiöfen @rfaf)rungcn,
bie feine ©efigfeit au§mad)en. Unb um ftd^ beffen bemüht ju
werben, bcbarf er feiner tfieologifd^en Silbung ober ©ebanten«
arbeit. 6r orbnet fein eigene§ Seben bem in S^ri[tu§ \i)m ent-
gegeutretenben unter al§ bem, n)et(^e§ auc^ für it|n gelten foK
unb \i)n befeligt. ©o üoö}iel)t er ben ^roje§ ber „93u§e" in
feiner aüein l^eilbringenben ©eftatt. (£r gibt fein eigenei^, natür*
Iid)e§ 9Befen in ben 2:ob, aU ein bem ®ericl)t DerfaKene§. Unb
er ^at fein ganje^ Seben ^inburc^ biefe^ 9[u§fd)eiben be§ „alten
ÜWenfc^en" ju üoUjie^cn. ®r tritt im Olauben in bie ®emeinfd)aft beS
gteid)en Qwtd^^ mit ^efu ein, meil ^^\\x^ \\)n roie ade ©ünberju bie*
fer ®cmeinfe^aft unb bamit jur ©emetnf^af t mit ®otte§ Qwzd ein*
labet. ©0 n)ci§ er, ba§ tro^ feiner ©ünbe ®ott aud) mit if)m in ®z^
meinfcfiaft fte^t, b. ^. i^m gcftattet, an feinem SBert unb ju feinen
3mecfcn mitjumirfen. SDamit l)at er bie einjige ^eilbringenbe ^orm
ber ®emi^^eit ber ©ünbenocxgebung. 3)€r ®egenfa^ ber
©ünbc gegen ®ott unb ba§ it|r gebü^renbe ®eri^t mirb meber
geleugnet noc^ oberflädjlic^ abgefd()märf)t. S)er 3Wenf(i) begnügt
fic^ ni^t in unfittlid)er 5^igt)cit mit ber |)üffnung auf einen ©traf*
erla§, fonbem er ift gemi^, ba§ \i)\\ feine bereute ©ünbe, roenn
er in ber ®emeinfd)aft ^z\n bleibt, nid)t trennen fann uon ber
Siebe§ein]^eit mit ®ott, — meil ®ott in QefuS ben ©ünbern fotc^e
®emeinfd)aft bietet. -3nbem er fic^ perfönlic^ oerbunben meife
mit bem Seben ^efu, ift er enblic^ gemi^, ba§ auc^ er über bie
©itelfeit ber SBelt erhoben unb in ba§ emige
Seben eingegangen ift, ba§ er an bem ©iege -^efu
über ben Job, an feiner 91 u f e r ft e ^ u n g unb feiner §err*
fd)aft über bie SBelt 2:eil \)at 3)ie mannigfaltigen
fittlid^en SWotioe unb Kräfte, bie bur^ fotc^en ®lauben, ber bie
93u§e einfc^Iie^t, entbunben^ werben, braudien ^ier nid)t weiter an*
gebeutet ju werben, gür unfere ^rage ^anbelt e§ fid^ nur barum,
baB ber ®^rift in ^t^n^ ber aSergebung ber ©ünben unb be§
ewigen Seben§ gewi^ ift, auf ®runb be§ ®lauben§, ber bie Söu^e
in fic^ fdjlie^t. Unb biefe jweifeKofe religiöfe ®rf alirungl f ann
man bei jebem oorauSfe^en, ber fid^ einen eoangelifd^en ©Triften
gu nennen baä SRec^t ^at, mag fie tlieologifc^ noc^ fo oerfd)ieben=
28 © d) u I|j: «9Bcr faget beim x\)x, ha^ irf) fei?"
artig bcgrünbct unb cntioicfeU rocvben.
16. 2lbcv aurf) ba§ ift uod) nirf)t eine gcnügenbc Slntiuort
auf unfcre ?5rage. 9Jlan tömitc un§ entgegnen: e§ foH nic^t be-
ftritten werben, baß bie oor^er gefdjilberte ©eroipelt roirtüd) ber
befeligenbe 33efi^ ber an ^efu^ Olaubenben ift. 2lber man fann
ba§ ®Ieid)e auc^ ot|ne biefen Q^fu^ t)aben. Sin SWenfc^, ber ernft-
^aft unb oou ber §eitig!eit be§ (5ittengefe^e§ in feinem ©eroiffen
getroffen ift, fann fic^ bod) aud) uor einem ibealen S^riftu^,
b. f). vox einem it|m oon feinem eigenen ©emiffen entgegengefialtenen
Urbilbe beffen, wa^ er fein fottte, ju berfelben Su§e getrieben
füllen. ®r tann aud) au§ ber bloßen ^^ßrebigt üon ®otte§
SSaterliebe bie 3uüerfid)t }u ber 93ergebung feiner Sünben fc^öpfen,
mie ja ^efu§ felbft, wo er in Oebet unb ©leic^ni^rebe uon ber
©ünbenüergebung fpri(^t, babei niemals^ in au§fd)Ue^enber SBeife
feiner gefd^id)tnd)en ^erfönlid)feit (Srmä^nung tut. ®r fann ber
©roigfeit feinet eigenen 2eben§ mitten in ber 33ergänglic^feit feines
äu§erlid)en 3)afein§ gemi^ werben, menn er fid) be§ eigenfteu
9Befen§ feiner g^^i^^it unb ©eiftigfeit bemüht wirb,
wie ja fo viele 3)enfer uor unb nad^ Sefu§ biefe Ueberjeugung
begeiftert befannt unb angefi(^t§ be§ Sobeg bewäfjrt t)aben, ot)ne
an 3^fu^ Jii benfen. Q\t bie gefd)id)tlici^e ^^erfönlic^fcit
Sfefu nic^t bod) für ben ©fauben unnötig gegenüber bem „SI)ri'
ftuöibeale" in ber eigenen Seele? 33efc^ränft fid) i^re 93ebeutung
nidjt bod), wie ber Stationali^mu^ meint, barauf, ba^ er bas,
wa^ an fid) aud) anbere benfen fönnen, mufterl)aft unb wirffam
für üiele üorgebad)t, unb ba^ er bem neuen Seben, ba§ jeber auc^
in fid) felbft erwecfen fann, einen wunberootlen, bie ©eele er-
greifenbcn, oorbilblid)en 9lu§brudt gefd)affen ^at? @r wäre ja
auc^ bann ein ^elb unb SBo^Itäter ber 9Jlenfd)en. Slber er wäre
im ®runbe bod) nur ein ©ro^er unter ben anberen religiöfen
Scannern ber SJienfc^^eit. Qft§ nid)t b(o§ eine liebgeworbene ©e-
Wohnung, wenn wir unfere beften religiöfen (£rfaf)rungen gerabe
an if|n anfd)lie^en, — eine ©ewöljnung, bie wot)t i^r oer^ättnisi-
mäfeige^ 9led)t ^at burc^ bie l)ersbewegenbe ©d)önl)eit feiner ©e=
ftalt, unb burd) bie erfjabene S^ragif feinet 8eben§werf§, unb bie
für bie gro^e SJlenge aud) nod) ^eute unentbef)rlid) fein mag, bie
Sd|ul^: ^fficr [agct bcnn xi)x, ba^ ici^ f«»'^" '-^
aber bod) im legten ©runbc nur eine lüo^ftätigc ^(lufion ift?
17. Sin 3fi^cöl lüirb ber 9Wcnfc^ auf einer geiüiffen ©lufc
ber fittlicl)en ©nttüidffuug notroenbig fid). felber bilben, ba§
93i{b beffen, n?a§ er nad) feiner eigenen Vernunft fein fotlle.
Unb biefe§ -Qbeal n)irb i^n richten, roo er oon i^m a6meid)t, nnb
roenn eine ^inreid)enbe Äräftigteit be§ SGBoKen^ in i^m ift wirb
e§ and) 93n§e in if|m erjeugen. Qn ben meiften ^aütn freilief)
ift e§ nur ein ^beat ioe(tlid)er Älugt)eit unb wettlidjen ®elingen§.
3)er Sd)merj, ben e§ ^eroorruft, ift bie „S^ranrigteit ber SBelt,
bie ben 3;ob n)irtt", au§ ber {einerlei religiös befreienbe
©irtungen l)erüorge^en fönnen. 2lber bei ben Sefferen, aud) ab--
gefe^en üon 3efu§, roirb e§ bo^ anber^ fein. 9Wag ba§ ^beat,
ba§ it)nen Dorfc^roebt, auc^ nod) fo tief unter b e ni fielen, was
n)ir al§ 6f)riften in <3^fiJ^ anfc^auen, e§ tann bod) ^oc^ unb flar
genug fein, um gegenüber bem iüirflid)en fitt(id)en (Sefamtjuftanbe
einen fortmirfenben umwanbelnben Svieb ber 33u§e ju erjeugen.
3hir baö !anu e§ nid}t bemirfcn, roorauf e§ jule^t allein an-
fommt. Solange e§ nur ein <3 b e a l ift, mu^ immer ber 2lugen=
blirf tommen, mo ber natürlid)e 3Wenfd) beffen aud) inne mirb,
unb fid) bamit ju tröften mei^, ba^ e§ eben nur ein 3^beal ift,
unb beS^alb auc^ nur ein ßiel, bem bie SBirtlic^teit nid)t ju
entfpred)en braud)t, meil fie i^m niemals entfprec^en fann.
Gin fol^es ^beat fann unb fott root)l ben 9Jlenfd)cn anfpornen
unb i^n ju rafttofer Slrbeit treiben. 3Iber e§ tann il)n nid)t wirf*
lid) r i d) t e n. ®enn lüer auf bem SBege ift, ber tann nic^t am
3iele fein. @in ^^beal ift in biefer SBelt be§ Slcalen nid)t ju
finben: ma§ mir nic^t fein tonnen, ba§ barf oon un§ aud^
nic^t 33crmirf(id)ung beanfprud^en. S)a§ ^beal tann nur bann
bauernb unb roirtfam al^ Rraft ber 93u^e in un§ mirtcn, roenn
eö un8 auc^ al§ SB i r f l i c^ t e i t in ber ajienfd)t)eit entgegen*
tritt, menn bie „neue 3Wenfd)^eit", bie ben Job be§ alten 9Ken«
fd)cn oerlangt, al^ eine 2:atfad)e, bie Untermerfung beifc^t, an
un§ tjerantritt. Unb mo foKen mir biefe Jatfadje finben? äÖenn
mir um un§ t)erblidEen, bann tritt un§ mot)l eine annäl)ernbe S3er*
roirflid)ung be^ ^beal^ in mand)erlei formen entgegen. 3)em
Äinbe mag in ©Itern unb fiet)rern, bem ©rma^fenen in befon-
30 8 d^ Ulli: „aöcr faflct benn x\)x, ba& id| fei?"
bcr§ ^orf) cntiDirfeltcn ©cftaltcn bc§ „guten ®f|ara!ter§" fein Qbeal
al§ Dern)ivf(irf)t erfd)einen. Slbev je naiver unb oevtrauen§oo[lev
lüir ben 9Wenfd)eu oevbunben lüerben, bie fold)e§ Vertrauen in
un§ crjeugt l^aben, befto me^r fe^en wir, bap auc^ in ifjuen ba§
^beal eben ein ^f^^al ift/ i>ö§ anä) x\)xt SBirttic^feit riditet.
Unb je weniger ba§ ber galt ift, je me^r für unfer 9luge ^beal unb
SBirüic^teit \\d) bauernb beden, befto au§nat|m§lofer Derne^men
lüir ba§ 93efcnntni^: „ma^ in un§ ber Siebe roert ift, ba§ ift
md)t unfer, e§ ift Qefu", „ii) (ebe, aber nun nic^t i^, fonbem
3[efu§ lebt in mir." (So t)ängt bie rcibergebcirenbe ÜKad}t be§
^bea(§ boc^ baoon ab, bafe es; in 3f^fw^ ju einer gefd)id)tlid^en
SBivflid)fcit in ber 3Jlenfd)f|eit gemorben ift, unb fic^ bleibenb a(§
lüirtfame ©eftatt in bie 2)lenfd)l)eit eingeprägt \)at, bap nic^t ein
Qbealbilb unferer eigenen Seele, nic^t ein eigener überf^roänglid^er
SSüütommen^eit^traum oon un§ ®et|orfam forbert, fonbern ba^
wir ba§ l)öc^fte menfc^Iic^e Qbeal, nor bem wir un§ innerlich
beugen muffen, bie ©eftalt be§ 9Jlenfd)en „nad) ®otte§ 93ilbe",
a(§ eine auf un§ lüirtenbe Xai\ad}t ber ©ef^ic^tc befi^eu, bie
it)r 9ied)t an un§ in jebem Slugenblirfe auf§ neue geltenb mad)t.
18. 5)er ©taube an bie Ißergebung ber ©ünben,
an einen ®ott, ber fic^ al§ ben gnäbigen unb barm^erjigen finben
Ici^t, ift in ber 3Wenfc^^eit immer lebenbig gemefen, auc^ loenu
er fid) t)inter abfurben unb greuelfiaften ©ü(|neformen oerfterfte.
Unb ba§ bie fd)ted)tl)in ooütommene ^erfönlid)teit nid)l bie fein
tann, bie mit bem 9Äa§c mec^anifd) red)tlic^er 9lotn)enbigfeit ge*
fü^üo^ Urfac^e unb aSirfung, 93erbienft unb &oi)\\ miteinanber
au^gleic^t, fonbern nur bie, meiere and) ba§ in fid) trägt, was
mir felbft al§ ba§ ©belfte in un§ unb anbern erfat)ren, ®üte,
Srbarmen unb SSerfö^nlic^feit, ba§ mirb ja oud) otjue ^efu§ ber
Seele einleud)ten. äBäre m\^ bamit bie ©eroi^^eit ber SSergebung
unferer Sünben oerbürgt, fo tonnte aud) ba§ oon <3efu§ gepre^
bigte (Soangelium allein, abgelöft uon .Qefu eigener ^^Jerfon unb
il)rem SBir!en, ba§ ©eroiffen burd) ben ©lauben an ©otte§ SSater*
liebe jur SRu^e bringen. Qa mir fönnten meinen, mit eigenen
©ebanfen unfer ©eroiffen befd)mid)tigen }u bürfen. 9(ber menn
eö ein SSertrauen auf bie fünbenoergebenbe SJaterliebe ©otte§ märe.
© d) u l ^ : 3et faget benn if)r, baft i^ fei?" 31
ba§ bcn ^eiligen SQBiberfprurf) ®otte§ flegen ba§ übcrfät|c, n)a§
nic^t fein barf unb foU, bann wäre c§ boct) eine feeleuüerberbenbe
(Selbfttäufc^ung, ber unfer Oeiuiffen tro^ otlev freunblid)eu 2:vö'
ftungen fd)lect)tl^in roiberfprec^cn mü§te. Söerjei^ung für ©ünbcv
fann nur jufammenge^cn mit bem 9tict)ten ber ® ü n b c unb mit
i^rem 3lu^ern)irfungfe^en, atfo mit einem @rl)eben be§ (Sünberö
in bie ®emeinfd)aft be§ göttlichen Söiücn^, fonft märe fie eine
unlieiligc ©rfjroac^lieit. Unb roer etma auf Sünbenuergebung rect)nen
roottte megen feiner Sleue, roegen feinet öefenntniffeS : „ic^ l|abe
geffinbigt in ben ^immel unb por bir", beffen 9Serföt)nung«;ge*
mipeit mü^te fdjmanfenb unb unfxd)er merben mit ben ©c^man^
fungen feiner eigenen Seelenoorgänge unb ber 3lrt, mie er i^rer
bemußt lüirb. Sie mürbe roadjfen unb abnef)men, befeligen unb
in 33erjmeiflung ftürjen, je nac^bem ber ÜKenfd) fid) in bcn ein=
jelnen SBanblungen feinet inneren Seben§ fagen ju tonnen meinte,
baj3 er mirflid) mit üoüem 5Ju^ernfte unb enbgültig ber ©ünbe
abfagt, ober fi(^ geftet)en mügte, ba^ er im ©runbe bod^ nur 5U
febr mit feiner Süube noc^ innerlich oerbunben bleibt, miti^r fpielt,
ja fie ^eimlic^ lieb t)aben mürbe, menn nur it)re bittere i^xu6)t
nic^t märe. Unb !eine fird)üc^e ^upc^^^'^ng, teine gotte^bienft*
lic^e 5^ier, fein root)lgemeinter greunbe^troft fann einen 3Wenf(i)en,
ber aufrichtig gegen fic^ ift, über biefe Unfeligfeit t|inroegt)elfen.
8D3ir brausen bie (Semig^eit, ba^ ®ott u n f e r e ©ünbe
oergibt, nict)t bIo§, ba^ er im aUgemeinen „©ünben t)er-
jei^t". SBir muffen bie ©id)er^eit befi^en, ba§ mir tro^ un=
ferer ©ünbe ju benen gel^oren, bie mit @ott in Siebe uerbunben,
nic^t im ®ericf)t uon i^m getrennt finb. 2Bir bebürfen einer
Offenbarung be§ lebenbigen @otte§, bie un§ beffen
gemi^ mac^t, in ©tunben ber ©d)mad)^eit, roie in ben ^öl)epunften
unfere§ geiftigen Seben§. Sticht auf un§, fonbern auf ®ott mu^
unfere ^eil§gemi|^eit ru^en. S)a tritt un§ ®ott in b i e f e m
3Wenfc^enfo!^ne entgegen unb rebet burct) bie Xat ju
un§. ^t^n menfc^Hc^eg Seben ift in reiner Siebe^gemeinfc^aft mit
bem 33ater uerbunben. @r tut be§ 93ater§ 933erf, baut fein 3teid)
ber Siebe auf Srben. ^ier ift ®otte§ SßJiße menfd)lic^ offenbar,
^ier ift ungetrübte ®emeinfd)aft mit bem ®ott, ber bie ©ünbe
32 © d| u U ? ,,fficc f ogct bcnn i^r, ba^ id) fei ?"
i)a^t, Unb ^cfu§ fprirfit: fommt ju mir, iDCvbct bie 3Hcincn.
©Ott roiU cuc^ fein, iüa§ er mir ift. @r fpric^t c§ ju 38öncrn
unb Sünbern. ®r labet fie ein: „tvo^ eurer ©ünben bürft i^r
lüie xä) mitarbeiten an bem SBerfe ®otte§, bürft mitfi^en an
feinem Jifd)e". 2Ber fid) im ©tauben benen jugefeltt, bie fic^
von i^m einlaben laffen unb mitfd)affen motten an feinem Sebeng*
merf, ber roei^, ba^ er mirflid) mit ©ott uereint ift tro^ feiner
©ünbe, bu^ er in ba§ Seben eingegangen ift, ba§ i^m feine (Sün*
ben »ergeben finb, folange er felbft ben ©cift ber Siebe für fein
2tbtn anerfennt, atfo ©enoffe im 5Reirf)e ©otteö bleibt. Unb menn
yiot unb Job bie ©eele bebrängen unb ängftigen, al§ mären fic
53oten be§ jürnenben ©otte§, ber un§ rid)ten miß, bann tritt un§
ber 3Kann ber ©c^merjen entgegen. ^efu§ l|at bie ganje ©c^mer*
jen^tiefe ber fünbigen ©rbe, ^at a\\6) ben 2:ob be§ Ä'reujeg für
fid) unb bie ©einen umgeroanbelt ju Offenbarungen eine§ ge*
f)eimni§uoüen Siebe^rates ©otte§. ®r ijat gluc^ unb ©eric^t au§
bem Seben ber ©einen meggcnommen. @r l)ai bie SWac^t ber
©uabe ©otte^ ermiefen, bie größer ift at^ bie ©ünbe unb bie
geinbfc^aft ber ^JBett. SBer in ®t|riftu^ lebt im ©lauben, mer in
bie in S^fu§ fi^ ^^^ erfc^lie^enbe ©emeinfc^aft ber Siebe auf
©rben eingefügt ift, bem finb bie ©ünben be§ alten 3Wenf^en
oergeben; benn ber alte aJlenfd^ ift in§ ©erid)t t)ingegeben. 3)er
barf freubig beten: „üergib un§ uufere ©c^ulb!". Unb Job unb •Jlot
finb xijxn au^ ©eric^ten ©otte§ ju ©aben feiner 93aterroei§^eit ge»
morben. ^Jlur ber gefc^ic^tlic^e 0^fu§, in bem ©ott un§ tro^
unferer ©ünbe einlabet, mitjuarbeiten an feinem 3Berfe, nur ber
©efreujigte, ber ben Job übermunben \)at, gibt un§ mirtlic^ eine
©eroi^eit ber Vergebung unferer ©ünbe, bie nid)t auf ben ©anb
unferer eigenen ©ebanten gebaut ift.
19. ©ine Ueberjeugung oon ber ©migfeit unfereflf
Seben§, oon feiner ©r^aben^eit über bie 93ergänglid)feit beS
©innlid)eu, t)at fic^ aud) of)ne 3^efu§ in oielen 3Söltern unb in
ber ©eele oieter 3)cnfer gebilbet. Unb fo menig fie fid) au§ Gr*
roägungen ber Söiffenfc^aft unmiberlegtic^ begrünben läßt, fo ent»
fc^ieben fpric^t boc^ in ber ©eele ber ©bleren für fie bie ©rfa^rung
üon bem über alle SWa^ftäbe ber ©innenmelt l)inau§ge^enben unb
Sd^ulfe: «Söer faget benn i^r, bap id) ^txV 33
auf @n)igc§ unb Unfid)tbare§ angelegten Seben in un§. Unb
bie ^errfc^aft bc§ @eifte§ über bie 2Bett, feine
gd^igteit, bie in it|m liegcnben 2Wa§ftäbe be§ @uten unb 9?ed)ten
tro^ aller SBiberfprüc^e ber Scfafirung jur ©eltung ju bringen,
tiaben bie SQSeifen aller Sßölfer in mannigfattigfteu g^ormen befannt
unb gepriefen. 2)er ©ieg be§ ®uten über bie SBelt ift ber ölte
Sraum ber 33eften unter ben 9Kenfc^en.
Unb boc^, roenn mir un§ bentenb in ba§ rafitofe Spiel ber
©lemente oerfe^en, au§ bem ba§ @e^eimni§ be§ Seben^ immer neu
geboren mirb, menn lüir oerfte^eu, roie atle^ fiebenbige nur im
S8erget)en ober beffer im ®inget|en in neue g^^nien fortlebt, mo
bleibt bie roirflid)e perfönlic^e ©emife^eit unferer Unoergänglic^*
feit? 3Bie rafd) mirb au§ ber @eiüi^t)eit SBat|ricI}einlicl)feit, au§
ber aSBa^rf^einlic^feit 3Köglid)teit, au§ ber 9)Wglic^feit Ungemi^^
^eit? SEBer möd)te auf foldien ®runb ba§ bauen, mag feinem
fieben 3^^! wub Stictitung, ^raft unb greubigfeit geben foU? Unb
roenn mir in bie Oefc^i^te ber einseinen mic ber 95ölfer l)iuein*
fd)auen, mo^er füll un§ bie ©emipeit fommen, ba^ ta^ ®ute,
ju bem unfer ©emiffen un§ oerpflid^tet, rnivflid) ftärfer ift al§ bie
3Belt, ba§ e§ bie SÄac^t i)at, biefe 9Belt ju be^errfc^en. ^n bem
einzelnen unterliegt c§ bod) fo oft unb fo erfd)redtenb ben
©ebingungen, bie ber ^^erfönlid)teit oon ber 3Belt geftellt merben,
in Sodung unb ®rof|ung. Unb in ber menfd)tid)en @cfd)id)te
fdieint e§ ber rot)en ©emalt, ber fünbigen Sift, ben blinben
SWdc^ten beS ßwfallS immer auf^ neue ju erliegen. SBo^er foH
un§ bie unentbe^rlid)e ?^reubigteit in ber Seben^arbeit unb im
Sebeu§fampfe tommen, bie boc^ nur au§ ber @eroi|^eit entfpringen
fann, ba§ ba§ @ute mirttid) bie 9Wac^t über bie äBelt, ba^ bie
3Belt „@otte§ 2Belt" ift?
9iur ber ge f d)id) tlic^ e ;3ßfw^ 9*^^^ ^^^^ Seineu im
©lauben biefe @eu)i§t)eit. ©Ott ftellt it)n mitten in bie oon ber
®elt unb il}rem Jobe be^errfc^te 9}Ienfd)^eit ber Slbamstinber.
y3\i i^m gewinnt ba§ ©ute, ber SBille ©otte§ , perfönlid) ©eftalt
unb mirb mirtfam. ©ott ftellt it)n l)inein in ttn Kampf gegen
atle^, roaö ftarf unb furd)tbar in biefer SBelt ift. ©r läpt i^n
alle§ erfahren, mag ba§ göttlid)e fieben in bei Seele überroinben
,Seitf<l^rtft für X^eologic unb Äirc^e. 14. Sa^rg., 1. $cft. '^
34 @ rf) uU: ^SBcr fagct bcnn i^r, baj id) fei?"
uub ftc unter bie 3Waci^t ber 9Belt beugen fann. 6v lä^t if|n
be§ Sobe^ furc^tbarfte Sitterteit !often, bettet l^n in» aSerbred^ev^
grab ber ©etreujigten. Unb er bleibt in allem ber Sieger, al§
feine ^einbe über i^n ju triumphieren meinen. (£r lebt, al§ er
ftirbt. @r mirtt, aU er leibet. SBerfu(^ung unb Sobeggrauen
werben il|m ju 9Jiittetn feiner ^errfdjaft unb ^errlic^feit. Unb
er ruft feinen 93rübern ju: „tommt ju mir, bie tl)r muffelig unb
belaben feib". SQ3er ficf) üon biefer ^erf6nUcf)teit im ©lauben
überminben lä^t, ber ^at bamit bie ©eroig^eit, M^ er nid^t ber
oergänglic^en 3Belt, fonbcrn ber ©migfeit angehört, i>a^ ber gute
®otte§n)itle, bem er fid) ju eigen gegeben l^at, bie ÜJlac^t über bie
äßett ift, bap aud) er in ber 3Jlad)t biefe§ guten 2Bi(Ien§ fic^ a(§
ein ^err unb Äönig ber SBelt füllen unb 2:ob unb 9Iot, greube
unb Sorfung be^errfd)en barf in ber Oemeinfc^aft biefeö 3Jlenfc^en*
fotincs!. — ^Jlur ber gefd)ic^tlid)e ^efu§ gibt bie ©lauben^geiui^^eit,
bie ber religiöfen (Seligfeit be§ ©fjriften ju ©runbe liegt.
20. SBaS ift unö ^efu§? 3Ba§ er unb er allein unö bringt,
l^aben mir gefel)en: mat|re ©u^e, fclige ©emi^^eit ber SSergebung
ber ©ünben, meltüberminbenbe ®en)i^l)eit non bem emigen Seben
in un§ unb üon ber 3Jlac^t be§ @uten über bie 2Birflid)teit. Unb
bamit miffen mir aucft, mag e§ ift, moburd) biefe ^^erfönlic^feit
für un0 religiös bebeutfam ift. ®§ fann nid|t§ anbereS fein, at§
eben baS, morin Qefu§ fid) al§ gefd)id)tlic^c ^erf önlic^feit
pon einem bloßen <3beale ober von einer bloßen ü e ^ r e
unterf (Reibet.
^n einem gefc^id)tlid)en 9Jlenfd)en erfc^lie^t unb offenbart
©Ott fid) un§ n)a^rl)aft unb oollfommcn. ®r Deriüirtlid)t ©otteS
eroigen SiebeSioillcn an ber SWenf^^eit ber ©ünber unb tritt ju
jebem oon un§, um auc^ if|n ju einem feligcn ©otteSfinbe unb
jum 9leid)§genoffen ber ©roigfeit ju mad)en. 3^fw^ ift ®otte§
perfönlid)e Offenbarung nid)t bto§ einmal in ber ©efc^id^te
geroefen, fonbern er ift e§ aud^ für jebe Seele aufS neue. Unb
er ift äuglei(^ eine roat)re gefc^id)tlid)e ^erfönlic^feit,
bie ]xd) felbft unoerfennbar unb unoergänglic^ in bie SJlenfc^lieit
eingeprägt i)at S)aS ift bas ©etjcimniö ber ^efu^geftalt, bie ben
aWittelpuutt be§ Sl)riftenglauben§ au^mad)t. „©otte§ Offen=
@d|ul^: „3Ber faget bcnn xl)x, boj id) feiV" 85
bavuug unb ein loalirer 3Wcnf c^." 3)ic alte Äü'd)c ^at ba§ r)ev=
fte^eu rooKen in ber Scl)rc Don bcu jiüei 9^aturen ®t)ri[ti.
Unb bic 2^t)coIo9ic ^at c§ immer Quf§ neue beffer unb oollftänbiger
auöjubrücfen üerfuc^t. 2lber wa^ fie befenneu rotü unb movan
bem ©tauben gelegen ift, ba§ ift im ©runbe bod) nic^t bie
bogmatifc^e %f)^oxu, fonbern biefe eine einfadje ®Iauben§übev*
jeugung. 2)ie gleiche einf|eitlid)e Oeftalt, bie un§ mivteub ent=
gegentritt, ift für ben (Stauben, je nac^bem er fie anfc^aut, ju-
gleic^ eine lüa^re gefrf|ic^tlic^e mcnfd)lic^e ^erfönlic^feit, unb bie
Offenbarung be» 6iuen ®otte§ felbft für un§, ber un§ in i^r
feinen mat)ren SBitlen ric^teub unb befeligenb auf)d)Iie§t, unb ber
in i^r mit un^ oerbunben fein mitt tro^ unferer ©ünbe. SlWenfd)
unb Oott, ^bee unb SRealität, @efc^id|ttid)merben be§ emigen
@otte§gebanten§ mit ber SJlenfc^^eit, ba§ bleibt bie entfd)eibenbc
©tauben^bebeutung ber ®t)riftotogie.
3)arin ift atle§ ent^atten, roa^ in ben t^eologifdien Se^veu
über 3efuä unb fein Söerf mirllid) 33ebeutung für ben ©tauben
^at, alfo alte§, voa^ jum ©oangelium getjört unb ber ©emeine
geprebigt merben tann unb fotl.
21. -3^fu^ ift eine gefd)ic^ttid)e ^^erfönlid)teit in ber SJlenfc^^
^eit, ber auc^ mir angel^ören, in meld)er mir beö ©inen magren ®otte§
©elbftoffenbarung im ©tauben erfaffen. SBer ba§ gtaubt, für ben
fann biefe menfc^tidje ^erf önlid)feit nid)t me^r ein
jufälligeg ®rgebni§ ber 3eit unb ©efdjic^te fein. @r tann
fie nur fo oerftetjen, bap fie if)rem mat)ren ^nt)atte nad) eroig
in ©Ott tebt unb in ©ülte§ ©ebanfen at^ ba§ Qkl ber SD^enfd)=
lieit ber gefc^id)ttic^en aJlenfd)t)eit Dorange^t unb fie bebingt.
©efc^ic^ttid) ift Qefu^ ber jroeite 2lbam, bie @rfd)einung
unb 3?erroirttid)ung beffen, mof)in bie ©efd)id)te ber natürtidjen
aJlenfc^tieit fütirt. aiber in ©Ott mu^ er al§ ber erfte, bev
^immtifd}e, SDIenfd) gebad)t werben, ber in ©otte§ geiftiger
3BeIt feiner ©rfdjeinung unb 98erroirftid)ung auf ©rben liarrte.
Ob man fic^ ba§ t^eologifd) in ber SBeife be§ antiten 9?eali§mu^
al§ ein reate§ geiftige^ ©jiftieren uorftetlt, ober in moberner 2trt
at^ bas emige Sein ber ^t^^ in ©ott, bie in ber ^eit üerroirts
Iid)t merben foU, ba§ ift eine grage ber aBiffenfd)aft. gür ©tau=
3*
36 ©c^ulfe: ^Söer faßct bcnn i^r, ba^ ic^ fei?"
ben unb ^vcbigt t)at fic feine ©ebeutung.
22. Unb biefe gefdjiditlic^e 'ißerfönUd}feit fanu nic^t au§ ip c 1 1=
lirf)eu 53cbiugungen, nic^t nt^ @rgebm§ bcr lüeltlid) ge-
richteten fünbigcn 3Wenfc^^cit oerftanben werben, fonbern nur am
bem Df fcnbarung^roillen beö®otte§, ber fic^ oon Siüig^
feit biefe§ ®efä§ feiner Offenbarung erfe{)en \)at unb e§ fic^ burd)
bie gcIieimnisüoHe äßnnbermad^t feinc§ fc^affenben Seiftet be*
reitet. @in ®c^eimni§ unb ein SB unb er mu| biefc ^^Jer^
fönlid)fcit bem ©(auben fein, nic^t erflärbar au§ ben ber @r*
faf)rung öerftänblic^cn natürlidien ©ebingungen be§ 3GBcrben§ eine§
©of)ne§ ber 3Kcnfd)^eit ober au§ ben 9Sert)ältniffen ber ®efc^id)te,
in benen fie entftanb. Ob er aud) ein „©aoib^f o^n", ein
Äinb 3§rae(s;, nad) bem ^t eifere, b. f), nad) feinen finnlic^*
natürlichen S)aiein§bebingungen ift, er ifl ein „® o tte^f o t)n",
ein ® 0 1 te^rounber, nac^ bem ®eI|eimnisJ feinet iniucn*
bigen Seben§. Ob man ba^ in ber SSSeifc ber altd)riftlid|en
95olföf römmigteit anfd)aulid) al§ ein eigentlid)es! 9i a t u r ro u n b c r
üorfteüt, bei bem bie natürlichen 93ebingungen be^ menfc^lid)en
SBerben§ übert)aupt aufgel}ört Ijaben ober boc^ nur teilmeife übrig
geblieben finb, ober al§ ein geiftige^ SBunber, in bem ®otte§
Sd)öpfcrmad)t burd) bie natürtid)en ^aftoren ^inburd) unb in
i^nen etma^ ^eroorgerufen t|at, mas für fte felbft al§ einjelne
uumöglii^ gemefen märe, ba^ ift eine J^rage ber S^^eologic, an
ber roeber ber ®laube noc^ bie ^^rebigt mirflid)e§ ;Jutereffe f)at,
^efuö, aU ber 2lnfänger ber neuen 3Wenfd)t)eit, al§ ber, beffen
©eftalt un§ rid)tet unb un§ mit ®ott oerbinbet, mup in ooH*
fommener ®emeinfd)aft ber Siebe mit ®ott unb in
oötliger @inl|eit mit bem ® ottc^millen in ber 9)lenfc^=
l)eit gebucht merben. 2lber an fid) folgt au§ biefem ®lauben
nid)t, ba^ er auc^ ®aben unb Kräfte für alle befonberen
■^lufgaben bes menfd)lid)en ®eifte§ gehabt ^aben mü^te
neben ben ®aben be§ 'ißrop^eten , ober ba^ er auf ben ®ebieten
ber angemenbeten Stbif aud) für bie ^^ebürfniffe unb 9lnfc^auungen
fpäterer 3^iten unb SSölfer muftergültig ju benfen fei. ®r mürbe
baburc^ auft)ören, ein in ber ®efd)id)te uerftänblid^er unb mit
iubioibueüer ^erfönlid)fcit au^geftatteter ^enfc^ ju fein. — 0]nr
©d^ulö: „aßer faget bcnn i^r, ba^ id) fei?'' 37
baoon muffen lüir überjeugt fein, ba^ in il|m au§ ber ©d^öpfev^
fraft be§ @cifte§ ®otte§ eine ÜWad)t ber religiög^fittli^en Einlage
^erüovgerufen ift, ftar! genug, ba§ Ueberroiegen bec roeltUc^en
Xviebe über ben ®eift ju l^inbcm. 2Bir empfinben biefe§ Ueber*
wiegen al§ „fünbigen muffen", roenn mir aud) jugleic^ fül^Ien,
ba§ ba§ ©ünbigen felbft in jebem fonfreten gatte immer ein freiet
unb oerantn)ortli(^e^ SBoHen, fein naturnotroenbige§ SÄüffen ift.
3)a§ fönnen mir in il|m nic^t benfen. Slber mir fiaben be§t)al6
boc^ teinerlei SBeranlaffung, anjunelimen, ba§ nic^t and) in i^m
bag finnlid)e Seben al§ folc^e^ ju finntid^er Sefriebigung unb
ju felbftif^er 33c^auptung brängte, ba^ alfo nic^t aud) in i^m
etma§ mar, xoa^ if|n an fid) ju beftimmen fuc^te, bem ®otte§roiQen
ju miberftreben. 9lu(^ fein „5I^ifd|" mar „©ünbenfleifd)", b. ^.
mcnn 3^fu§ bem '^ki^dje, \\a6) bcffen eigener 9trt, bie Q\x%d ge«
[äffen ^ätte, mürbe e§ aud^ i^n jur ©ünbc getrieben \)abzn, 2lud)
er ift be§^alb ma^r^aft oerfuc^t unb ^at fittlid) gefämpft,
gelitten unb übermunben. 9Ibcr e§ ift un§ gemi§, bafe bicfe§
g(eifd) in i^m nic^t bie fein ^^erfonleben übermächtig beftimmenbc
©emalt, alfo nid)t bie natürlicl)e ©runblage feiner ^erfönlid^feit
mar, fonbern nur bie @rfc^einung§form eine§ f)ö^eren Seben§,
nur ber © t o f f für bie munberbare 9Wac^t be§ in ©ott lebenbcn
unb oon @otte§ SBitten getriebenen @eifte§ (ö|xot(D|ia). ®§ ift
eine rein ttieologifc^e grage, ob für biefe Sinjigteit Qefu, bie
natürlich nur au§ @otte§ Offenbarung^miüen unb au§ feiner
fc^öpferifd)en @eifte§mad)t oerftänbtic^, alfo für un§ unerflärlid^
ift, ba§ SSSort „fünbtoä" ein jutreffenber unb au§reic^enber
Slusbrucf ift, ober ob man e§ auf jugeben unb burc^ ein beffereS
JU erfe^en t)at, meil e§, au§ einer ju niebrigen, gefe^li^en 9luffaf=
fung oon ©ittlid)feit unb ©ünbe geboren, entmeber oiel ju menig
aufjagt, nämlid) „nur ba§ J^^ten eine§ tatfäd)lid)en 333iberfprud)ö
gegen ®otte§ ®ebot", ober ju oiel bet)auptet, nämlic^ „eine ®r=
^abcn^eit über bie un§ t)erftänblid)e 2lrt, fittlic^e Slufgaben ju em=
pfinben unb ju ootl5iet)en", bie im ®runb bie ganje fittlidje 53ebeu=
tung feiner ^erfönlid)teit entmerten unb ba§ l^öd)fte ^etbenmerf auf
®rben ju einem mit 9laturnotmcnbigfeit fid) entfaltenben SUle^a-
ni§mu§ l^erabfe^en mürbe, unb bie fidj äberl)aupt mit gefunber
33 @d)ulft: „2öer fa^et bcnn itjx, bafe id& fei?"
incnfd)Iid^er 3latur unb mit ben Oefe^eu bev @ntit)icl(ung lüc^t
ücrträgt. 2)ic ^^rcbigt unb ber ©laubc üeränbern fid) in feiner
^-ffleife, rocnu man ftatt Don ©ünblofigteit ^efu uon feiner fitt-
lic^sreligiöfen SSoKfommeu^eit rebet nnb fo einen negatioen in einen
pofttioen 33egriff nmfe^t. ^n Qt\\x^ fonft noc^ etit)a§ anbere§ an-
june^men, n)a§ if)n au§ ben un§ oerftänbttc^en ©efe^en be§ 9GBer*
ben§ unb ßernen§, be§ @mpfinben§ unb ®id)entfa(ten§, alfo au§
ber uu§ jugänglic^en menfc^lid)Mrbifcl)en SQSirtlic^feit t|erau§f)eben
mürbe, baju gibt un§ ber ©laubc roeber 3Seranlaff ung noc^ iHed)t,
unb bie ®efd)icf)te feine§ @tben(eben§ oevbietet e» un§.
23. SBenn ®ott felbft burd) 3^iu§ auf un§ mirft, mu^ ber
@(aube i^n anfd)auen aU ben burd) Job unb äujsere^ Unter»
Hegen l^inburc^ leb enb igen ©ieger, ber je^t erftin ber ©eftalt
lebt, bie i^m feinem innei'ften SBcfen nad) gejiemt , unb in ber
^errUd^feit, in ber er uon ©migfeit üor ®otte§ 2(ugen ftanb. ®r
mu^ in i^m ben ^errid)er feljen, überall, mo unter SRenfc^en ba§
@ütte§reic^ mirb, alfo ben, welcher mit @ott tierrfd^t unb auf
@otte§ 2:^rone fi^t, unb in melc^em fic^ für ade 9Wenfd)en ent=
fd)eibet, ob fie @ott ober ber 5Be(t unb if)rem Jobe get)ören.
2lber e§ folgt feine^meg^ au§ bem ©(auben, ba& er, al§ aJlenf c^,
auc^fürbic nid)t menfd^lic^e Kreatur, coentuell für ba^ 9latur*
leben, ®otte§ Offenbarung märe ob^r fie be^evrfd)te. ®emi§
t)aben bie 3^itgenoffen ^efu fo(d|e ®ren}en nic^t gemacht, meil
i^nen bie @ r b e bie 3Be(t mar, unb bev ^immel ®otte§ J^ron
unb bie ©ngel ®iener ®otte§ für bie ajlenf(^f)eit, Unb auc^ je^t
tann bie einfad}e ^römmigfeit feinen 2Intafe l^aben, f)ier ju unter*
fd)eiben. Slber au§ bem ®lauben folgt boc^ nur, ba^ er at§
perflärter t>iinmlifc^er 9W e n f c^ lebt unb über ba§ SReid) ®otte§ in
ber 9Jlenfc^^eit l^errfd^t. SSötlig gleichgültig aber ift für ®lauben
unb ^^vebigt, m i e man fic^ ben äußeren SSorgang feiner
„31 u f e r ft e ^ u n g" benft: ob al§ ba§ (Srfte^cn beö ßeid)nam§
an§ bem ®vabe ober al§ bie @rf)ebung ber ^erfontic^fcit au§ bem
Jobe JU ^immlifc^em Scben in üerflärter Seibli^feit, — unb mie
meit bie ©rfi^einungen be§ 3Iuferftanbenen, auf bie fid) ja of)ne
3n)eifet g e f d) i d) 1 1 i c^ ber e^ovtbeftanb unb ber Sieg ber ®e*
meine ber ©laubigen gegrünbet {)at, bem ®ebiete be§ rein
©dfuU: „SBer faget bcnn i^r, ba^ xd) fei?" 39
äu^erlid)*fi«^^Iict)cn Scbcn§ angct|ört f)ahtn, ober ju ben
Sriebniffen ju red^ncn finb, bie aud^ oon bcftimmtcn gciftigen
93 c b i n 9 u n g c n mit abl^ängcn. 3)a§ ftnb fragen bcr ©cfc^ic^te
unb bev 9lu§(egung, bie nur für bic t^coIogifct)e SBiffcufc^aft üon
^jntcrcffc finb.
24. ©Ott fctbft offenbort fid) un§ in biefcm aJlenfd)en.
SßJir l^aben ®ott, roenn mx biefcn 3Äenfd|en gefunbcn ^aben.
SBer bog glaubt, bcm tann ©Ott nid^t mcl^r eine in fi^ oer*
fd)loffene, ber Sßelt gegenüber au^fc^Iie^enb in fiel) beliarrenbc
unb ftdi auf ftc^ fctbft befc^räntenbe "ißerfönlirfiteit fein, nid)t
ein in ba§ Ungeheure gcfteigerte§ ^i^btoibuum na^ 3lrt ber ge*
fdiaffcnen, an loeltlidie ©d)ranfen gebunbenen ^^erfönlid)feitcn.
3)er rüz\% ba§ auc^ in ber SSScIt n)at)re§ göttli(^e§ Seben
waltet, ba§ bic göttliche ^^erfönlic^teit fid) audjba aU fx6) felbcr
roei^ unb will, wo fte fc^affenb unb geiftig \\6) offenbarenb
fic^ felber gegenüberftef)t, al§ in anbeven rairfenbe. ©ott ift i^m
nic^t bIo§ ber alter 3BeIt gegenüber in einiger §eitigteit 93e]^arrenbe,
fonbern auc^ bcr in Siebe fid) 2luf f c^tic^enbc unb im
Sic^erfc^üe^en fid) fctbft Scfi^cnbc. Unb ba bie 2Bclt
nic^t i^rerfeit^ ©ott beftimmen fann, fonbern immer au§ ©ott ift
unb Don i£)m beftimmt mirb, muß biefc^ fid^ 9luffd)lic§cn ©otte§
ein cn)ige§ fein, ©ott befi^t unb miß fid^ felbcr oon ©roigfeit
in feinem Offcnbarung§n)illen (Sogo§) unb in feinem leben*
jeugcnben SBirfcn (©eift). — 3)ie SBctt^at i^rc aJiöglid^feit unb
il)re SBirfli^feit nur barin, ba^ ©ott in feinem SCBort unb ©cift
felbcr lebt unb mirft. Ol)ne biefe 33orau§fc^ung ^ättc aud^ <3cfu§
nur n>ic ein ^^rop^ct bie Offenbarung ®otte§ bcnfcnb empfangen
unb Ic^rcnb mitteilen fönnen. @r tonnte nn^ niemals per fön*
lid) eine mirflid^c Offenbarung ©otteö fein. Unb o^ne fic tonnte
un^ bcr ©cift, ber bic ©cmcinc ber ©laubigen oou ber natür*
liefen aWcnfc^ticit untcrf^eibet, nid)t§ fein al^ gefteigerter aWcnfc^en*
gcift, niemals roirtlid^ göttlic^e§ ficben, Seben ber ©migteit. 2llfo
an bcm cmig fid) crfc^lie|cnbcn Innenleben ©ottc§ unb an ber
9Bcfcn§glcid)]^eit beffen, n)a§ mir in 3efu§ unb im 1)1. ©eifte
f)abcn, mit bcm einen ©ott felbcr ^at bie ^i^ömmigtcit ba§ leben«
bigftc 3"tereffc. — 2lbcr nur bie tl^cologifc^e SCBiffenfc^aft ift an ber
40 © d) u Ife: „Sßcr faget bcnn \l)x, ba& i^ fei?"
gtagc beteiligt, ob bog SBort unb bev ®eift @otte§ lütrMid^ be=^
fonbcre ^erfönli^teiten finb ober nur roefcn^afte gormen be§
©cin§, in benen ber eine pcrfönlid)e ®ott fein Seben \)at unb
fein fieben in ber SBelt uerroirtlic^t. ®er einfädle ©taube wirb
niemals ju fold)en Unterfudjungen tommen. Unb bie Sibel foroie
bie gefunbe ^römmigteit lehren un§, ben einen roalir^aftigen
©Ott al§ unferen 9Sater anjurufen, ju bcm aud) 3fcfu§
gebetet i)at, unb ju bem ber ®eift in ber ©emeine fein
aibba ruft.
25. 3)a§ in ;3efu ber fid) offenbarenbe unb fid^ in feiner
Offenbarung felbft loiffenbe unb ujoüenbe 6ine ©ott felber un§
entgegentritt, nid^t menfc^lic^er ©eift in feiner f|öc^ften ©rl^ebung
unb ©ntfaltung, unb nid)t übermenfd^Iic^er unb boc^ freatürlic^er
©eift, oon bem eine mgt^ologifierenbe ^bantafie rebet, ba§ tft
eine SebenSbebingung unb eine unoerdu^erlic^e SBorau^fe^ung be§
d)riftli(^en ^eil^berou^tfein^, ba§ nur ba oor^anben fein tann,
n)o man mit bem mafir^aftigen ©ott burc^ 6^riftu§ in ©emein«
fd)aft tritt, ©benfo, ba| mir biefen ©ott nid^t in einem ^!ßl)an=
taftebilbe finben, ba§ fid) an ^^fu ©rfdjeinung angefc^loffen ^at,
ober in einer gefpenftifdjen ©eftalt, bie nur fc^einbar über biefe
©rbe gegangen unb in ber ©efc^ic^te ber 9Wenfd)en mitgeroirtt
l^at. 3)enu unfer ©rlö|ung§bemu|tfein rul|t barauf, ba§ un§ eine
meHfd)üc^e ^^Jerfönlid)feit entgegentritt, unb ein menfd)Ud^ ge|d)ic^t»
licfee^ SBerf un§ in fid) aufnimmt, ©nbtid) forbert unfere ^riftlic^e
grömmigfeit, ba^ bie fid) offenbarenbe ©ott^eit unb bie
menf^Iid^e '^erfönlic^feit meber fremb nebeneinanberfte^en,
nod) eine ber anbern i^re oolle SBa^rt)eit nimmt, nod) beibe fic^ a\i%'
fd^Ue^en mie auf bem ^Jlaturgebiete, mo emig unb gemovben, alU
mad)tig unb leibenb, attgegenmärtig unb räumlich einfache ©egenfä^e
bilben. SBielmc^r muffen beibe auf bem 93oben ber fittlid)en
^erföulicf)tcit geeint fein, mo gefc^affener ©eift unb fc^öpfe*
rifd)er ©eift auf ber gemeinfamen ©runblage be^ Q3egriff§ „©eift"
fic^ jufammenfc^Iiegeu unb roo 9leligion, SSernunftleben, ©ittlic^teit
©ebiete öffnen, auf benen ©ott unb ÜJlenfc^ fid) aufeinanber be*
jie^en unb fid) einigen fönnen. Unb gerabe bie gefc^id)tUc^e
menf^lic^e ^erfön(idf)feit mu§ uu^ jur ©elbftoffenbarung ©otte§
©d^utfe: ^3B€r faget bcnn if^x, bo^ ic^ fei?" 41
für un§ rocrbcu, unb bic auf bic SWenfd^en fid^ bejic^enbc ©ctbft*
Offenbarung ®otte§ bic ©igcnart bicfer nicnfct)Itc^cn ^^erfönlid)feit
crflärcn. ^tnn nur fo fönnen wir in bcm SRcnfc^en (Sott finbcn
unb au§ ®ott bicfcn 9Wcnf(^en oerftc^cn. ©o f)at ber d|vift(ic^c
©laubc an bem, looran bic 3)09menbi(bung ber Äivrf)e in \di)X'
^unbcrtelangem 9tiugen ftd) abgcmüt)t l^at, aUcrbingg ein 2ebcn§-
intereffc. Stbcr bod) nur an ben einfachen, jebcm frommen oer-
ftänblic^en unb crfa^rbarcn ©runbgcbanfcn bc§ „^irc^enbogma".
3)icfc§ fclber unb ber Streit um feine t^eologifdie 9lu§bilbung
unb 93otIeubung t|abcn fd)(ec^tt)in nur n)iffenfcl)aftlid)e^ :3"tereffe.
©laubc unb ^rebigt Iiaben nic^t§ mit it)m ju tun. Ob ©ott^eit
unb 3Wenfd)!^eit in ^orm oon jmei fic^ au§fd)Iie|enben SJaturen in
einer ^^crfon oerbunben roaren, bic ifirem ^erfonmefen nad) ©Ott,
i^rer ©rfc^einung^form nad^ 2Wenfc^ roar, — ob fie in rounber*
barer 3)urd)bringung beö 9Äenfc^lic^en burc^ ba§ ©öttnd)e it|re
nic^t weiter begreifliche ©in^eit gefunben, ober in ber @efd|ieben=
^eit geblieben finb, bic bem 9Serl)ältntffe ©otte^ ju ber Kreatur
entfpric^t, — ober ob in einer mcnfc^lid)en ^erfönlic^fcit ©Ott
feinem fic^ offenbarenben SBefen fd)öpferifd^ eine ©tätte bereitet
unb fic^ in ber gefd)i^tUd)5fittlic^en ©ntfaltung bicfer ^erfönüd)-
feit für bic 9)lenfc^en einen ooUfommenen Slusbrucf gefd)affen Ijat,
— ober loic immer bic S^eologic ocrfud)en mag, fid) ba§ benfenb
jurec^tjutegen, maS für Den ©lauben eine einfache feiige ©rfat)rung,
aber eben bcS^alb etioa§ fc^lec^t^in über bentenbc§ ©rflärcn unb
aSerftc^cn ^inau^licgenbeS ift, — baoon roirb bic d)riftlic^e S^öm=
migfeit nur be§f|alb berül^rt, meit bie ©eu)ot)nt)eit oon Qaljrl^un-
berten fie mit bem 33orurtcil erfüllt l^at, reiner ©taube ocrlange
vid)tigc J^cologic.
26. SEBer in 3>cfu§ bie lüaljre 93u^e unb bic ©en)i^t)eit ber
©ünbenoergebung, mer in if)m bie lleberjeugung oon bem emigen
Seben unb oon ber ÜJJadjt be§ ©uten über bie SSSelt befi^t, bem
muß au^ -S^fw irbifc^eS 95er uf kleben mit feinen 3Jiac^ttaten
unb feinen ßeiben jum ©egenftanbe be^ ©lauben§ merben. @r mu|
c^ al§ ba§ 9Bert anfd)auen, burc^ iocld)e§ er ©ottes aCBitlcn an
un§ ooübra^t unb ben ©einen ba§ gefdjaffen ^at, n)a§ fie ju
neuen SWenfdjcn mac^t unb bcfeligt. SSor allem mu| ^cf u 2 ob
42 @rf)ul^: „9öer fagct beim i^r, ba^ icf) fei?"
i^m ba§ (8et|eimni§ bev ©otte^mege rocvben. 3)enn ber SveujcS*
tob be§ @otte§fo]^ne§ ift cntipeber ein SletgevniS, an bem aßc
^Religion fc^eitern r\\n% ober er mu^ ein SWgfterium fein, in bem
ber 3yiitte(punft ber ^Religion liegt. 3)a§ 9leue Jcftament rebet
in taufenb Silbern unb Selirformen oon biefem S^obe. 3)er ^reuje§*
tob 3fcfu ift ber ©ieg über bie SÄac^t ber J^infterni^ unb
über it|re furd)tbarfte SEBaffe. (Sr ift ber ©ieg be§ ®uten über
alle mai)t be§ 33öfen, über aUen äSiberftanb ber SBelt. @r ift
ber Sieg be§ Seben§ über ben 2:ob. ®r ift baS @ingel)en
^efu in bie ganje Jiefe ber Unfeligfeit, meldte bie
menfd)lic^e Sünbc über bie SWenjci^eu gebradjt f)at, unb manbelt
biefe Unfeligteit um unb ma6)t a\x§ ber ©träfe be§ jürnenben
9licf)ter§, au§ bem 3lud)e be§ @efe^e§ bie ^öd)fte Offenbarung
ber Siebe, ba§ freiwillige, ftelloertretenbe Seiben in Oe^orfam unb
©lauben. 2)a§ 93lut ©t)vifti ift ba§ 93unbe§blut, burd) ba§
©Ott mit feiner ©emeine fid) }ufammenfd)lie^t ju bem neuen S3unbe
ber Jünbfc^aft unb ©ünbenuergebung. 3)a§ Slut ®f)rifti ift ber
"ißreiS biefer ©ünbenoergebung, ha^ "ißfanb ber 95ater*
liebe ©otte§. @§ ift ba§ Sofegelb, ba§ ©ott felbft gejault f)at,
um feine 9Wenfc^f)eit au§ ben ©flauenbanben ber ©ünbenmelt fid)
jum ©igentum ju geminnen. 3)a§ ßreuj ift bie 9luff)ebung
be§ ©efe^e§fluc^§, berauf ber aWenfci^^eit liegt, mo fie i^rem
©Ott at§ einem jürnenben SRic^ter gegenüberftet)t. ©^ ift bie
lleberminbung be§ SBcltfürften unb feiner 9Räd)te. ®§ ift
auc^ bie ©ntbinbung ^t\n felbft au§ ben ©c^ranten ber
gef c^i^tli(^en ©nbli^feit, feine SSertlärung, unb fo bie
53ebingung feine§ l^immlifc^en 2Birten§ burd^ feinen ©eift.
^n biefen unb anberen 93ilbern unb ©ebantenformen l^at ber
©laube ber ©emeinc biefe§ ©el)eimni§ au^jubrücfen oerfuc^t. 2lber
fie meinte bamit nic^t Dogmen ju formulieren, a\\ bie ber ©laube
gebunben märe, ©ie alle ^aben ifjren religiöfen SBert nur barin, ba§
fie anfc^aulic^ machen möd)ten, mie -3efu Seben, uor allem fein
aRittelpunft, ber Äteuje^tob im 2)ienfte be§ ©uten, nic^t blo^ ein
t)eilige§ SBorbilb für un^ fein fann, fonbern bie Seiftung, burc^
bie mir unfere ©^riftenfeligfeit l^abcn. 3)a6, moburc^ in un§
f eiber ber 3Biberfprud) gegen ©ott unb bie unfelige Äned)t§furc^t
8(f)ur|j: „SBer fagct benn i^r, baj icf| fei?" 43
oor i^m übcrtpunben werben üon ber 9I[(mad)t ber ©otte^Iicbe,
bie ^icr offenbar wirb unb unfere ^erjen fleroinnt unb un§ (o§
mac^t üon ben 95anben ber SBelt. ®a§, wobiirc^ ber glud), ber
auf ber SWenfc^^eit ber ©ünbe unb be§ ®efe^e§ liegt, ber Job
unb ba§ @erid|t , bie i^r gebühren , aufgef)oben unb in ©nabe,
©egen unb eroigeS Seben geroanbelt werben für bie, roeldie biefem
Seben gfaubenb angeboren. ®a§ ift ba§ „Soangelium", ba§ mit
taufenb 3i*"9^"' i^ taufenb ©eftalten in ber (Semeine laut mirb,
unb bod^ ba§ eine einfädle 95efenntni§ bleibt, ba§ ftef)en bleiben
mu&, „ob aud) ^immel unb @rbe unb aüe^ jufammenfaüe".
9Bie fic^ biefeö ©oangetium in gormein unb 93egriffe faffen
Ia§t, ba§ ^at mit bem c^riftlidien ©lauben unb ber d)rift(id)en
^^rebigt an fid) nid|t§ }u tun. @§ bleibt ber tf)eotogifc^en 2lrbeit
überlaffen. Ob fie uon bem ©iege über bie 9Käd)te be§ 93öfen
au§ge^t ober üon bem 9led)t§anfprudöe ®otte§ an bie SWenfc^en,
ober uon feiner rid)tertic^en ©eredjtigteit, bie ben 3tnfprud) auf
iStrafe nic^t fallen laffen barf, — ob fie an bie Offenbarung ber
ßiebe§mad|t @otte§ in biefe§ 3Jlenfd)en SBerf bentt, burd) meiere
bie Uebermadit ber Siebe über itiren (Uegenfa^, be§ 2eben§ über
ben Job, be§ ®uten über bie SBelt fid^ un§ funb tut, — e§ finb
alle§ 35erfud)c, allerbing§ oon fetir oerfd)iebenem SBerte, unter
benen eine gefunbe Jfieologie ba§ au§jufd)eiben fuc^en mirb, ma§
üon falfd)sred)tlidt)en ©efic^t^puntten ober uon mi}tt)ologifdt)en ®e*
banfen be§ 2lltertum§ barin ift. 3)ie ®emeine aber l|at uon biefer
Strbeit meber eine @rt)öt)ung i^rer ®lauben§gen)i§t)eit ju hoffen,
nod) braudjt fie ju fürd)ten, bafe itjrem ®lauben baburd) ein
@d)abcn gefc^et)e.
9iad)n)ort. 3n bem 9lad)la6 meine? einftigeii ^t^xtx^ unb fpätcren
SloQegen unb e^reiinbe« .^ermann ©c^iiltj fonb fid) ber Dorfte^enbe ^litffa^
brucffertig üor. 2(n8 H)eld)er ^t\i er ftammt, ift nic^t angegeben, ^ermutlidö
ettua aus bem ^a\)X 1898. S)enn bie 5lrbcit fd)cint ^43e3ng gu nehmen auf bie
in ben 3a6ren borber gefflbrte Äontrouerfe über bie iöegrünbung unfereS
^lauben^. ^i entfprad) ber ftlK ftnnenben ^^Irt beS Heimgegangenen, bag er
ben 9(uffa6 ntc^t fogleid} t)eröffentlid)te, fonbern meiterer Bearbeitung unter»
äog, beren ©puren ba« 3Wanuffript auftoeift. 'ATiod-avwv Sit XaXei.
Wiai 9leifd)le.
44
ason
3. ©erjog,
Pfarrer in (Scrlingcn.
33er ®efic^t§puTtft, unter bcm biefe§ 2:^^emQ l^ier attein jur
93efpred)ung tommt, ift md)t ber gefcl)id)tlid)e, genauer ber ber
neute[tamentlirf)en Slieologie, fonbern ber prinjipieUe unb praf-
tifd)e, ber in ber S^age gipfelt : 2Ba§ tonnen unb fotlen.
ttjir für unfere ^rebigt unb il^re ©eftaltung
unmittelbar oon ^efu§ lernen? ©c^on mit bicfer
gragefteflung ift eine boppelte 9Sorau§fe^ung gemacht, an bereu
Berechtigung ^eutjutage f aum me^r jemanb jroeifelt, einmal
bie, ba& Qefug al§ üoUer unb ganjer SWenfd^ aud) auf bie 9te*
geln unb ©efe^e fid| angeroiefen fat), nad) roeli^en ein 9Kenfd)
mit ber Äraft feinet ®eifte§ burc^ ha§ 2Ber!jeug be§ 9Borte§ auf
ben anbern einwirft, fei'g burc^ ba^ 3cwgni§, fei'S burc^ ben
33emei§, fei^§ burd) bie 33e^auptung, fei'g burc^ bie 3Jla^nung.
2lber c§ mill fd)on in biefer SSejie^ung üon oornfierein bead^tet
fein, ba^ er nac^ jwei 9iid)tungen eine 2lu§nal|meftellung ein-
nimmt, meiere feine SBorbilblic^feit ju mobifijieren, bejm. einju-
fc^ränten geeignet ift. Söar boc^ fc^on einerfeit^ bie ^erfönlidi*
1) 3)ic(cr Sdiffa^ tüurbe qI§ SJortrag für bie giucitc ^onfcrciig fc^wabifc^er
©ciftlidjcr in ©c^ro. ^all (7.-9. ©ept. 1903) mi^gcaibeitct unb am 8. @eps
tember gebalten. 3m folgenbeii ift er nur leife umgearbeitet, teiU gelürgt,
teil^ enueltert. ^em Vortrage lagen bie ^^eitfafje gugrnnbe, bie am Sd^Iuffe
angefügt finb.
©erjog: 3«fwg al§ ^ßrcbiger. 45
feit bc§ ^rcbifler§ aubcvS ate bic unfrigc! ®r lebte, roa§ er
le^vte, er t) a 1 1 e nic^t nur bie SCBafir^eit, fonbern er n? a r bie
2Ba^v^cit: „3)a§ 2Bort (®otte§) warb pfeifet)". Damm bilbet
bie Sluöftra^Iung feiner ^erfönlic^!eit ein On^ponberabite üon ber
aUcrgröfeten ©ebeutung. SOäie feine SBorte S:aten roaren, fo
waren feine SBerfe, fein ganje^ Sun unb 3Befen uub SBanbeln
ein ftilteg SBort.
Uub bamit t|ängt anbererfeit^ ein nid)t nur formaler, fon=*
bern aud) ein ben ^ n ^ a 1 1 ber Sßerfüubigung betreffenber Unter*
fc^ieb groifc^en ber ^rebigt <3efu uub ber unfrigeu jufamnien. @r
felber, feine ^erfönlic^feit , getjörte, fo tatfäd^Iic^ roie au^ge»
fprocl)enerma§en, in feine 33erf ünbigung, in ha^ @uan*
g e l i u m l) i n e i n. SBief ern nun in biefer boppeltcn Sejie^uug
ba§ "ißrebigerDorbilb Q^\\x^ eine eigeutümli^e Umrahmung unb
inforoeit Sinfc^räntung befommt, wirb im folgenben erfid)tlic^
werben.
Slber ift bie a n b e r e 93orau§fe§ung, auf meiere bie grage*
fteUung unfere^ Siema^ gebaut ift, ganj in 9{id)tigfeit ? ©oU
;3efu§ bem "^^rebigcr üon l^eute ein SBorbilb fein, fo mu§ bod)
bie Situation, barin er unb bariu mir ftet)en, unb bie ja
2(ufga6e, Qwtd unb 3^^^ ^^^ ^^Srebigt mefentlid) beftimmt, fid)
einigermaßen entfpred)en, 9luf ben erfteu Slnblid fc^eint im
©egenteil ber Unterfc^ieb ein funbamentaler ju fein. ^^]\i^ f)at
mit ber ©otfd.aft Dom 9tcid)e (Sottet etma§ burdjau§ 3t e u e §
gebrad)t unb mir bagegen (eben in einer d)riftlid)en SDBelt, bie
biefc originalen ©ebanfen längft im 2aufe ber 3^itcn in fid) auf=
genommen unb fxd^ affimiliert ^at ! Qa, fo f d) e i n t e§. ©ine
genauere, burd) bie Oberfläd)e ber 3)inge t)inburcl)bringeube Se*
trac^tung unb 93eobad)tung bes» Seben^ belehrt un§ eine^ anberen
unb fül)rt unS bie Satfac^e ju ®emüte, baß mir gerabe in un*
feren oolf^firc^lid)en 3uftänben mit bem Slngebot be§ SoangeliumS
unferen ^örern gegenüber in ganj ä^nlidjer Sage uub uor gauj
ä^nlid)en 2lufgaben fte^en, mie einft Qt\\x^ mit feiner SBevfünbi:*
gung im 9ieligiou§mefen feiner Qtxi unb feines 93olf^. 3Ba^ bie
^auptfadie, bie ^^rebigt oom Steige @otte§ betrifft, fo bebeutet
bieg immer unb überall etma§ f p e j i f i f d) 91 e u e § uub U e b e r«
46 ^ e r 3 0 0 : ^efuS aB ^«ßrebiger.
r a 9 e n b c § gegenüber bem gegebenen SJtenfdjenleben unb
äöeltiüefen, and) bem oon c^riftlic^cn ©ebant'en gefättigten unb
üon c^riftlidier ©vjie^ung getjobenen 3)Wieu. ^iltg ma6)t einmal
bavauf aufmerffam („53riefe" @. 100), ba& bag ©oangelium bas
3iel, eine neue 2ltmofpt)äre in ber SBelt — im großen — ju
f (Raffen, nac^ nal^eju jioei ^atirtaufenben noc^ nictjt erreicht l^abe :
„bie 2ltmofpt)äi*e, in ber bie meiften ©l^riften leben, ift bie ma-
terialiftifc^e geblieben" ! —
Oft bem fü, fo mirb fid) bie 5^*age um fo naiver legen, ob
fid) nid^t au§ ber — anfdjeinenb uu^ fo befannten unb vertrauten
— ^]ßrebigtn)eife ^efu Söinte unb ^Richtlinien entnet)men laffen,
bie un§ in (Staub fe^en, nid)t blop „teftgemä^", fonbern bem
Sinn unb ® e i ft e be§ 9Welfter§ gemäfe beö ^rebigtamt? ju
walten, unfere SBertünbigung in bie größtmögliche 2let)nlic^teit unb
Ucbereinftimmung mit ber ;3;efu ju bringen.
(£s! ift üielleic^t nic^t fd)mer, junäd)ft einmal altgemein unb
formal ju beftimmen, lua^ un§ al§ S^^^ oorfc^meben muß, um
ber 9Sorbilblid)feit ber ^rebigt ^e]\i gerecht ju toerbeu, aber nic^t
fo einfact) ift — bie ©ntberfung unb oollenb^ bie 2lneignung unb
aSermertuug ber getjeimni^oollen Jlraft feiner Sßerfünbigung. :3ene5
3iel mirb am tür/jeften burcf) ben Sinbrurf bejeid)net, ben feine
^orer t)on feiner ^^^rebigtmeife geioannen. „®aö 93olf entfette
fid)" OMt 7 2h), benn „er let)rte fie mie einer, ber äJollmactit ^at
(SGBeijfäcfer), unb nii^t luie i^re ©c^riftgele^rten". 2)iefe aJolU
macljt (e^ouata) mar offenbar eine boppelte : fie mar g ö 1 1 1 i d) e
5}eüollmäcl)tigung; mas er gab, war autl)entifd), aus
erfter ^anb, au§ ber gottlictien Urquelle gefc^öpft im Unterfc^ieb
oon ber abgeftanbenen unb aufgemärmten (Seelenfpeife, roeld)e bie
jünftigen ©c^riftgelel)rten }u bieten t)ermocl)ten. ©ie war aber
eben barum aud) ÜJla d)t unb ©emalt über bie ©emüter,
bie fie 5um ®el|orfam ber äÖa^r^eit üerpflicl)tete. @§ ift flar,
baß biefe boppelte 2lut^cntie, nicl)t mel)r unb nic^t roeniger,
auc^ uns not tut unb im @runbe bie einjige legitime $)eglaubi'
gung unferer "ilirebigt ift. ^n bem 9JJaße, als mir fie befi^en,
finb mir ^^rebiger uon (SotteS ®naben.
Unfere 3tufgabe ift nun, bem ©e^eimniffe biefer 93ollmad)t
© e r 3 0 0 : 3cfu§ al§ ^rcbiger. 47
forgfältig nac^}ufpürcn unb ba§ ©efunbcnc möglld^ft treu iu oer*
lücrtcn.
^m :3ntcreffc bcr Uebcrfid)tlicf|feit empfiehlt c§ fid), biefc
Stufgabe in einer breifad)en Stid^tung an juf äffen. 6^ gilt ijuerft,
:3efu ^rebigt formell unb materiell unb feine ^rebigerperfön*
li^feit ju ftijjieren, f o b a n n unfere liertömmlic^e 'ißrebigtmeife
i^r gegenüberjuftellen unb fie einer SReüifion ju unteriDerfen unb
e n b I i (^ barau^ einige praftifd)e Folgerungen ju jieljen in ©e^
jug auf bie 3tu§fc^eibung ber ftörenben ©jponenten unferer @t)an*
gelium^üerfünbigung unb bie Sättigung berfelben mit bem ©inne
unb ©elfte ^efu.
I.
SBir fudjen juerft einen ©inblirf ju geminnen in bie SBert=
ftätte be§ 3)leifter§ unb faffen foroo^l bie äßertjeuge, mit bencn
er umging, al§ ba§ 3Bert, ba§ er üoUbrad)te, unb enblic^ bie
fd)affenbe ^^Jerfönli^feit felbft inö 3luge.
1) Sä^t ftc^, ba§ ift bie e r ft e %xa%t, aud) abgefe^en oon
bem befonberen ^nlialt ber SJertünbigung Qt^n, in feiner
^^ r c b i g t m e i f e , alf o in formaler Sejie^ung etma^ ©pejifi^
fc^cö entbeden, morin ifire befonbere Kraft rul^t? ^u^öc^f* föö^
bem aufmertfamen 93eoba^ter nur etn)a§ an ben SReben Q^efu auf
unb ba§ ift eben i^re gro|e ®infad)t)eit unb 9iatürlid)^
feit. ®^ lo^nt fic^, biefer if)rer ©igenart nä^er narf)}ufinnen,
bie fo d)ara!teriftif(iö ift, ba§ fte meit über ben Krei§ ber ®läu=
bigen ober überhaupt religiös ©efmnten t)inau§ ba§ Qntereffe ber
9lad)bentenben auf fid) gejogen ^at. 3)iefe fieic^tigteit unb Un-
gejmungenlieit in ber 2lnfnüpfung an ba§ ©egebene, an bie
Situation, an bie äußeren ober inneren 3)ata be§ 2zben^, bie
eben vorliegen, einerfeit§ unb biefe 9^atürlic^feit unb 9Küf|elofig=
feit in ber Darbietung unb S)arftellung ber l^öc^ften 9Bal)rl)eiten
unb emigen, unfidjtbaren SDBirflid^feiten anbererfeitS — finbet
nirgenbS if|re§gleid|en. (93gl. nur Qo\). 4 n ff. ba§ ©efpräc^ mit
ber ©amariterin.) ^ j
1) ^Jacöträglicf) fiel mir im „Türmer" (aKai^cft 1903) ein SCii^guß ani
einem Don 9( n b r e f e n in ber ©egenroartueröffentlirfiten Sluffafe „jur C^^riftue*
48 $ c r 3 0 g : 3[efug al2 ^rcbigcr.
S)icfc SiatüvUc^feit fe^tc ein ®oppette§ oorau§. @ in mal
ba^ er ber SGBa^r^eit bie er jemeilS ju fagen unb anjubringen
t)at, unbebingt ftd^er unb ganj in xi)x ju §aufe ift. @r fpric^t
t)on ben geifttic^en ©ac^en unb ben eroigen S)ingen ganj in ber
3Äutterfprad)e, weil fie i^m betannt unb pertraut finb. ©obann
aber ift er ebenforool)! ju ^aufe in ber SÖBelt ber irbif^en 2)inge
unb auf§ innigfte pertraut mit ben 93ebürfniffen, bem 33egriff§'
material unb ber ©ebanfenmelt ber Seute, mit ifirem Sltltagglebcu
bi§ in bie geringften Ä(einigfeiten hinein unb immer bereit unb
fertig, baran anjutuüpfen. Unb ba§ ^nftrument, ba§ er gerabc
brau(^t, um an beu Seelen ju arbeiten, ift immer jur ^anb,
immer gefi^ärft unb braurf)bar, e§ fei ein 93i(b, ober ein ©leid):»
nii§, ein ©prid)iüort ober ein SWatinmort, eine ©emiffen^fragc
ober ein entfc^eibenbe§ SBotum. 3)abei ift aud^ etma^ bemerfeu§*
mert: 9Wit roem er e^ aud) ju t^un ^aben mag: er gibt [id)
immer 5Red)enfc^aft über ba§ ObjeEt, ba§ er uor fid|, auf ba§ er
JU mirfen ^at. (So fel}en mir i^n aud) ganj perfd)ieben ^anbetu
mit bem i)er}d)iebenen 9JJenfc^eumateriaI, ba§ er ju bearbeiten f|at.
'Dlun gehört bie weitere Verfolgung biefe§ @efid|t§puntt^ in bie
anbere grage Ijinein, mie 3efu§ aU ©eelforger ge^anbelt
t)at (obmot)! bie 3tufgabe be§ ^rebigerö ftet§ baoou berüf)rt mirb).
2lber um fo mii^tiger ift e§ ju ertenneu, m a § ba§ @e^eimni§
fraflc" in btc $nnbe, toortn bicj'cr einzigartige 3^0 i» ber ^rebigtweifc 3cfu
eine anfpred)enbe unb treffenbe ^eleud)tung ftnbet. @^ ^etgt ha u. a.i „"^an
»nnbcrt ftd), bn6 er bie ©d)rift fcnnt, wo er bod) ntrf)t ftnblert ^at S)abei
fcfetc 3efu§ bnrcft bie ÖJemalitöt in ber fjövm, burc^ bie 9latürlid)fett, ^tx-
ftänbltd)feit unb äJlarfigfeit bie ^örer in groge^ ©rftaunen unb brängte i^neu
allen ba^ Urteil auf bie £ippen, er le^re, mt einer, in bem Straft fei, unb
nic^t ivie bie (2d)riftgelet)rten 3cfn^ fprad) and) öon ben 6öd)ften 2)ingen
ftetd natürlich nnb o^ne ben ^inbrucf gu ermeden, a(^ ob er fc^tDer barüber
nadjbenfen nu'iffc". S3on S3elang ift auc^ bie ^icr Wetter angef (^(offene öe*
obad)tung: „''Md) fagt 3efu9 niemals: lieber btefeS ober jenes ^abe ic^ früher,
uor meinem offentlid^en ^(uftreten anbers gebad)t; aud) I)5ren toir niemals
ba6 er ira^renb ber 3cit fciueg 2Biifcn^ einen 5luöfprud) fpäter bereut ober
snrüdnimmt. @r ftanb auf einer fo ^o^en geiftigen @tnfe, bafs er ntemald
ctmag gu üerbcffern Ijatte. 9J2it überrafdjenbem ÖJviffc erlebtgte er nid)t nur
einen gerabe tiorliegciiben fjall, fonbern traf glcid)geitig eine grunbfä^Iidje
@ntfd)cibung für aüe ^Jäüe".
$erjog: S^fui al§ ^rcbigcr. 49
feiner roirfung^fiäftigen ^^Jrebigt geroefen ift, roenn er eine gc*
mif^te 3u]^örerfd)aft oor fic^ I)atte. S33a§ war ba§
®emeinfame, ba§ er bei alten oorau^fe^en unb woran er an*
fnflpfcn fonnte ? 3öeld)e 2:aften waren anjufd)Iagen, um bei ber
fomplijierten Älauiatur menfd|(ic^er ®ebanfen, ®efut)Ie unb Sriebe,
be§ 9latureU§ unb ber Oni>ioibuatitäten, ba§ O^^^^^P^ ju rüliren
unb in ©c^roingung ju uerfe^en?
SEBcnn man ber @acl)e auf ben ©runb gelten roiH, fo genügt
e§ nidit, im 93Iicf auf bie eben bejei^nete Sßevtrautfjeit beg ^errn
mit ber 2BeIt ber emigeu 3Baf)rt)eit einerfeitg, ber irbifc^en SDSirt*
lid)feit anbererfeitö nur luieber auf bie geniale £cicl)tigfeit unb
Ungejmungenlieit ^iujumeifen, mit ber er baö ®rö§te unb ba§
Äleinfte, baö ©öttlic^e unb ba§ aWenfc^lid)e lebenbig ju üerfnüpfen
VDix^U, foba& bie im irbifc^en 9lcbel materiettev O^^t^^^ff^n be^
fangene ©eele unoermertt in§ Sid)t ber SBaf)r{)eit fid) gefteUt fal),
fonbern biefe munberbare Sirtuofität — roenu biefer 9Iu§brud
l)ier erlaubt ift — forbert ju i^rer Srtlärung einen beftimmten
ein^eitli^en ©eftc^ti^punft, eine betierrfc^enbe Uebevjeugung, in ber
er feftftanb unb dou ber au§" er bie ©ebanfen, ^Regungen unb
SBiüen^bemegungen, SWotioe unb ^ntereffen mit ftd^evem 93lidE ju
orbnen unb biefer ^auptfac^e bienftbar ju machen n)u|te.
®in fefter ^^un!t, an bem man einfe^eu fann, ift j. 33. bar«
geboten in bem uielfagenbeu SOSort be§ ©oangeliften, ba§ offenbar
eine oon ^efuS felbft gelegentlid^ jum 3lu§brudt gebrarf)te Stirn*
mung unb melir al^ ba§, feine innerfte Ueberjeugung miebergibt
unb Da^er in ber Seele O^fu ju lefen oerftattet (SRattb. 9 se) :
„3)a er aber bie 9Waffen fat|, erbarmte e§ if)n i{)rer, ba§ fie mi§*
Rubelt unb preisgegeben maren, mie Schafe, bie feinen |)irten
t)abcn". Sann man aU ba§ aUgemeinfte 93ebürf!ii§ be« ÜJlenfcf)en
ben Surft nad) Seben, nad) einem gefättigten 3)afein, beaeid)nen,
fo mar ba§felbe bei ben oermalirloften üKaffen nid)t nur nic^t be*
friebigt, fonbern gröblich oernad)läffigt. 2)iefe§ 33ebürfni§ ift aber
offenbar ein boppelteS: einmal ringt ber SWenfd) um bie 9lot*
burft be§ äußeren SebeuS, fei'§ um fein 5)ur(^fommen, fei^S
um ben Ueberflu|. ^n jenem ^atte ftnb e§ bie Sorgen, in biefem
ber ©etrug beS SReic^tumS, maS eine a3ertned)tung an bie Area*
3citf<^rift für a:^€Oloftie unb StiViSfc. U. ga^rg., 1. i>eft. 4
50 ©et^og: 3efu§ al§ ^rebiger.
tut unb eine ^erabroürbigung be§ 393efen§ unb ber 53eftimmung
be§ aJienf^en bebeutet. Slnbererfeit^ aber gefit ha, wo nod)
„JHeligioii" in einem SSoIfe (ebt, biefem Ranipf um§ 2)afein eine
innere Unruhe unb 9lot jur ©eite : man will fromm fein unb
bringt e§ boc^ nic^t ju ©tanbe, bie 9Woral ift ein ^oi^, bie 9?e=
ligion ein @efe^, bie Rotieren triebe unb Sßerpflic^tungen eine
Saft, eine neue ju ber erften l)inju. Ueber biefer boppelten
9Wü!^e unb 3lnftrengung jerarbeitet fid) ber SWenfd) „in ber SMenge
feiner SBege" — 5u tot. ®enn biefe 9lot potenjiert fic^ nod)
baburd), ba^ biefe jroeierlei Xriebe nic^t nur m i t einanber ton-
!urrieren, fonbern miber einanber ftreiten. Stuf biefen jammer-
oolleu 3"ftanb ift ber erbarmenbe ©lief Qz\n gerid)tet, bie§ ift
bie traurige SSSirftid^feit, au§ ber ^erau§ er bie in ©^merjen fic^
roinbenbe aWenfc^Iieit ruft unb lodt mit ber ©inlabung: 5tommct
l^er ju mir, bie il|r muffelig unb belaben feib ! 2lm 2 e b e n ö ==
burft fa^t er ben 9Äcnfc^en, il|n miß er ftillen. 3)a§ tann er
aber nur, menn er biefer boppetten fieben^bemegung gerecht mirb
unb ba§ ^inroieberum tann er nur, roenn er biefen i^ren inneren
äöiberftreit löft unb fc^lidjtet. @r oermag beibe§ $u leiften:
^ en e §, inbem er fid^ immer in biefen SUlittelpunft be^ 9Jienfd)en=
mefen^, ben 2)urc^fc^nitt§punft ber boppelten Sinie menfc^tid)er
Seben^entmidlung, ber äußeren unb irbifc^en einerfeit^, ber gei=
ftigen, fittlid)=religiöien anbererfeitö Ijineinftetlt unb mit feinem
93licf beibe be^errfd)t; biefe§, inbem er ba§ SRätfel ber menfc^*
lid)en 93eftimmung löft, bie Urfdirift ber menfd)li(^en ©yiftenj ent*
jiffert unb ba§ emige ©efefe, ba§ bem 3Jlenfc^en eingeftiftet
ift, üon it|m geaf)nt unb empfunben al§ Ur|ad)e feiner fteten Vi\u
ru^e, aber nid)t erfannt unb üerftanben, gefc^roeige geliebt al§
bie ^erle feinet SBerteS — jur 5llar^eit ergebt, bas
®efe^, monad^ feine innere Seben^entmicflung über
feinen äBert, fein ma^reg 3Q3o^l unb SaSelje entfd)eibet ;3ft nic^t
eben bie§ bie 5}ebcutung jenes gemaltigen SOSorteS, ba§ üor i^m
noc^ über feines 3Jienfc^en üippen gegangen ift: „3Ba§ t|ülfe e§
bem 9Jlenfd)en, menn er bie ganje 9Belt gemänne, er fämc aber
um fein Seben? Ober mas tann ber SJienfd) jum 2:aufd^ geben
für fein Seben?" (3Jlatt^. 16 a«.) ^ft nid)t l)iemit jum erftenmat
© « 1 3 0 0 : 3>ef u§ aU ^rcbiger. 51
bcr Öcgriff be§ roa^rcn Seben^ be§ 51Wenfc^cn, b. 1^. feiner Seele
('I^/Jj)/ i^^ Klarheit herausgearbeitet roorbeti ? @e^t e§ feiner
© c e t e wohl, fo ge^t e§ \i)m n)o^(. 2)a§ aber biefe§ @efe^
beni SSSefen be§ SWenfd^en eingeftif tet , nidtit etwa etroaS il^m
grembe§, 3tufgebrungene§ tft, bafür bürgt ba§ in i^nt rourjelnbe^
nie ganj jum ©d^roeigen ju briugeube allgemeine SBa^r*
^ e i t § g e f ü ^ t , auf ba§ <3ef u§ ein fad) rechnet, roenn er
fagt : „SBer au§ ber SSJa^r^eit ift, ber i)öxtt meine Stimme",
ba§ ffia^r^eitsigefü^I, ba§ fic^ nad) ber fittlid)en ©eite im ®c*
roiffen reftetticrt al§ ba§ unbebingte „©oü", nad^ ber religiöfen
©cite afe bie fd|ted|tt)inige 9tbl)ängigfeit oon ®ott auf ele=
mentarer unb al§ ber 3 ii 9 iu ®ott auf ^ö^erer ©tufe. — 3)iefes;
allgemeine SBBa^r^eitSgefü^l ift ba§ eigentliche unb mefentlic^e ©üb*
[trat jenes tieffinnigen ©leid^niSmortS : „2)a§ Sluge ift beS SeibeS
Sidjt 2C." (SWt. 6 22f. unb fiuf. 11 34 ff.) — Unb bie l|ier ($8. 35) ein=
gefügte SGBarnung: „©o gib roo^l adjt, ba§ nid)t ba§ innere
Sict|t in bir finfter ift" läßt ebenjomot|l erfennen, mic an ber ®r:=
Haltung unb Semal^rung biefeS ©etjorganS ber ©eele für ben
ÜReufc^en fo gut mie a 1 1 e S liegt, mie anbererfeitS bie (bei Sufas)
I)injugefügte ^43efc^reibung be§ normalen ß^f^onbeS, beS rid)tigen
gunftionierenS beSfelben: „^ft bann bein ganger Seib ^ell unb
nichts JJi^ftereS baran, fo mirb ba§ eine ^elle fein fo nöüig, mie
Toenn bic^ ber Seuc^ter mit feinem ©tra^I befc^eint" einen an-
fdiaulic^en ©inbrurf oon ber Qntenfität unb ©ftenfität gibt, mit
rocidjer baS allgemeine 3Bat)r^eitSgefül)I baS Innenleben Qt\\i
burd)Ieuct)tet ^at.
2)iefer ©efic^tSpuntt ober uielme^r biefer 93 e griff, nod)
genauer bie barunter oerftanbene ©act)e ober SBefen^eit mar baS
oon ^efu meifter^aft ge^anbfjabte ^nftrument, mit bem er fort
unb fort an ben ^erjen unb ©emiffen arbeitete. ® a 1^ e r ftammt
bie S eic^tigf cit, mit ber er überall an bie gegebenen 3)aten
beS £eben§ anfnüpfen unb ex concessis bemeifen unb überfüljren,
ba.^er bie 9lat ürlid)f ei t, mit ber er fid) unb jugleid) bie
^öc^ften SBa^r^eiten ben einfac^ften Seuten oerftänblid() machen
fann — benn biefeS ©inmateinS bcS ©emiffenS oerftet)t jebermann
— batier bie b u r d| f d^ I a g e n b e Ä r a f t feiner Slrgumentatiou
4 *
52 ^erjog: IgefuS alß ißrebiger.
— bcnn „veritas vincit", mir fönneu nict|t§ gegen bie SSäa^r^eit
fonbern nur für bie 3GBal)r{)eit. 2)iefer 9IppeU an ba§ allgemeine
9Ba^rf|eit§gefü^l tönt laut ober leife burc^ alle SReben ^fcfu unb
umtleibet fie mit nmjeftätifc^er ©ouoeränitat, oor ber ber SBiber*
fpru^ oerftummt. ®r fd)rettet mit i^m, mie mit einer Seuc^te,
burc^ alle SBerl^ältniffe ^inburc^, ben 9}ebel unb 2)unft ber 9Sor*
urteile Derfd)euc^enb, bie ©pinnemeben ber fiift unb ©c^ult^eit jer«
rei^enb, in bie oerborgenften polten unb 9Q3iufel ber ^erjen hinein»
jünbenb, ben inneren ^au6l)att be§ @ebanten% 2:rieb' unb ®e*
fü^telebeng feiner $örer beleuditenb unb baburc^ orbnenb. Unb
roie er ben ^^inben ber SEBa^r^eit feine Unlauterfeit gefd)entt ober
ijat ^inge^en laffen, mitunter innerlich empört über i^re SBerftorft-
i)z\t, (}. 93. Warf. 85), fo freut ftd) umgefe^rt fein 3^W9«i^ ^^^
SEBat|rt)eit über alle§, n)a§ im 3Wenfc^engefc^led)t nod) „au§ ber
SBa^r^eit" ift, über jebe it)r matjtüermanbte ©pur uon ®utem
unb ®d)tem, entbecft jeben il)r entfprec^enben ^mq unter bem
SBuft unb @d)utt ber ©ünbe, ber ©elbftfud)t unb 93erfe^rt^cit
unb fnüpft liebeüotl an i^n an, ujn ben 3Jlenfc^en ^ö^er ju leiten,
»on ber 93armt|ersigfeit be§ ©amariter^ (ßuf. 10) unb ber Streue
beg Wirten (fiuf. 15iff.) bi§ ^erab ju ben ©efü^len ber SBäter
gegen i^re Äinber (aWattt). 7 9ff.). SDaburc^ eben ift er „ba§
Si^t ber 3Belt". „Qn Qefu 3Äunbe begegnen fid) SBa^r^eit unb
SBirflic^feit immer in reijüoller, eigenartiger unb unoergefelidier
ffieife". (S^o^fi), „®er SSSeg jum SBater", ©. 40.) „3)a§ 311U
tägli^e befommt, menn e§ <3efu§ fpricl)t, etma^ 93efoubere§, ba§
e§ in bie (Smigfeit ^inüberfüngt" (ebenba ©. 36).
9}immt man alle§ )ufammen, fo leuchtet ein, ha% e§ fic^ bei
biefer 91atürlic^feit ber 9tebemeife 3[efu, mit ber er oom Sleinften
jum ©rösten, oom 3^itlic^en jum ©roigen, oom SSBeltleben jum
^immelreid) bie ^rücte fd)lägt, nic^t um ein 93irtuofentum im
geroö^nli^en ©inn be§ $Borte§ ^anbelt, fonbern bie fefte, folibe
©runblage, auf ber er operiert, fmb bie eroigen ®efe^e unferer
53eftimmung, unfereö Urfprung§ unb unfere§ 3*^'^- Sbenbarum
barf tro^ ber einjigartigen ^ö^e, auf ber ^efu§ ftet)t, auc^ in
biefer 3Jejiet)ung, roa§ bie formale ©eite feiner ^rebigtrocife
betrifft, oon feiner SSorbilblic^feit gefprodien werben.
2) Unb cbeufo gi(t bicfclbc von bcm <3 n 1^ a 1 1 feiner Sßcv*
tfinbigung. 3)ie ^rage ift ^ier bie: 9Jllt rocte^en SWotioen
unb Cuictiüen ^at 3>ßfu§ gearbeitet? Slieber^
gall ^at in feiner Ie^rreid)en unb getialtuoÜen ^omiIctifd)en
Schrift „SGBie prcbtgen roir bem tnobernen SJlenfdien?", in ber
er ber 2:ec^nif ber ^rebigt eine Sorgfalt juroenbet, wie fie in
wenigen ^anbbudiern ber ^omitetif anzutreffen ift, bei ber 93e*
fprec^ung ber ^rebigtraeife 3^efu bie oerfc^iebenen aWotioe unb
Ouietioe, mit benen er auf feine ^örer voixtit, in i^rer ©d)icl)*
tung unb ^o^enlage anfprec^enb unb tic^tDoU befd)rieben. 2)ie
folgenben 2lu§fü^rungen fd)Iie^en \\i} an feine Unterfuc^ung an
unb rooüen nur bie ^auptpuntte ^erporlieben.
3)cr 2lu§gang^punft berfelben ift bie Ueberjeugung, ba§ ber
3Wenf^ ein Olürf^oeriangen in fic^ ^egt, na^ ben i^m entfprec^en*
ben ®ütern ftrebt unb bie il^m roiberfpred^enben Uebel fliel|t unb
meibet. SBenn man nun einen SJlenfc^en beeinfluffen unb bewegen,
wenn man i^n baju bringen roiü, „au§ bem 93au feiner ®igen«
liebe ^erau§ an bie freie ßuft eineiS Seben§ im®eifte be§ Outen
ju fommen", fo gilt e§, bie rid)tigen entfprec^enben iJWotiioe al§
^ebet einjufe^en, bie in ba§ SRäbermerf be)§ @eban!en=, ®cfü^l§^
unb Jrieblebenö am rechten Orte unb in ber paffenben 9lrt ein*
greifen, um e§ in ber gen)ünfd)ten SRidjtung in @ang ju bringen.
SCBcun man fagen moüte, z§ merbe fo bie ^rebigt Qefu oon oorne*
herein unter einen eubämoniftifc^en ®efid)t§punft gebradjt, fo
wirb bamit bie 9iict)tigteit biefer 93etrad)tung^tt)eife nic^t umge-
fto^en. 3)enn ber oberfte ®efic^t§puntt be§ ©oangelium^, ber
guten 93otfc^aft, ift ni^t§ anbereg al§ b a § ^ e i l. 3efu§ ift
gefommen, Seben unb ooUe^ ®euüge ju bringen. SBol^l aber ift
inncrl)alb biefe§ 93egriff§ oon Seben unb ^eil eine gro^e 2lb=
ftufung ber SBerte, 3Wa§ftäbe unb Qntereffen, auf roeldic bie Sßer^
fünbigung einjuge^en unb SRüdffidit ju nehmen i)at, um bie ^örer
auf bie ©tufc be^ magren £eben§ emporjufü^ren. 2)a]^er ift oon
Dorne^erein tlar, ba§ bie SJlotioe, mit benen 3ßfw§ arbeitet, nid)t
auf berfelben S^ädie, bejm. §öt|e liegen !önnen; eg gilt an
a3ort)atrt)cnes anjutnüpfen unb ®röj3ere§, 3leue§ ju bieten, für
beffen ©rfaffung unb oollenbö 2lneignung bie Organe fo}u=
54 ©crjog: QcfuS al8 ^rcbtt^ct.
fagcn evft jubeveitet werben muffen.
@ e g e b e n finb für bie SSerf ünbigung ^efu jroet ©vuppen
oon SBorfteUungen, bejro. SBerten, bie in bcr JRid^tung auf ba§
batjubietenbe ^eil al§ SBeroeggrünbe oerroenbet rocvben tonnen.
a) 3)ie eine ift bie Oruppe ber rationalen SD^otioe, bie
bem gefunben 9Wenfrf)ent)erftanb unb ber unbeftoc^enen fttt(irf)en
Urteil§traft anget)ören, roornac^ jebermann oon fid) au§ beurteilen
fann, n)a§ frommt unb n)a§ nid^t frommt, n)eld)e guten ober
fd)limmen ??olgen ba§ jeroeilige ^anbeln ober 'ßer^alten innertialb
be§ Seben§ felbft nacf) fic^ jiel|t. @d)on btefe SDlotioe, bie nac^
bem ©d)ema: 3Bei§^eit unb J^ortieit oerlaufcn, nefjmcn einen
breiten 9taum ein. ÜJlan ocrgl. Suf. 14? bie SRebe oom oben
unb unten an ©i^en, 3)lattt). 5 25 oon ber ^Bereitfct)aft jur a3er=
föfinung, oon ber 2:or^eit be§ S^ä^efammeln§ (3Ät. 6 19 ff., Sut.
12 13—21), ba§ @Ieid)ni§ 00m ungerect)ten, aber fingen §au§*
l)alter Suf . 10 1 ff. unb oiele anbere (Stellen.
9Jlan barf biefe rationalen ÜJlotioe, bie jum elementaren
©runbgeftein be§ fittlic^ n^eligiöfen fieben§ get)ören, !eine§n)eg§
niebrig einfcf)ä§en, umfomeniger, al§ e§ ganj auffallenb ift, roie
oft unb oiel 3f^fu§ ba§ ©e^aben ber 9Wenfct)en, il)re ®emot|n*
Ijeiten unb Urteile unter ben ®efi^t§punft ber SBei^^eit unb
Älugl)eit ftellt unb gerabe aud) i^r Sßer^alten ju ben ^öc^ften
Seben^fragen unter biefen @efic^t§punft bringt. 93gl. ba§ ©leic^*
ni§ üom :i:urmbau Suf. 14 28 ff. unb in anberer 93ejiel)ung bie
Streitrebe über bie 2:eufelau§treibungen SWattt). 12 25 ff., meldje
ben Unglauben ber ^ip^arifäer burc^ bie ©timme ber gefunben
Sogif richtet. S)er ©ebrauc^ be§ gefunben 9Wenfc^enoerftanb§ ift
il|m etmag fo SQBic^tige^, ja rec^t oerftanben §eilige§, ba& jene
übelberatene, mi^Derftänblid)e, roeil ba§ 3Q3ort be§ ^^Sautu§ 2. (£or.
10 :> grünblid) mi^oerftel^enbe SRebemeife 00m ©efangennel^men
ber SBernunft unter ben ®eI|orfam be§ @lauben§ (ober S^rifti),
furj j[eglirf)e§ sacriiicium intellectus, fic^ n i c^ t mit einer
©pur oon 9ied}t auf 3^fu^ berufen fann, fonbern burd^ feine
immer folgerid)tige ©tetlungnat)me gerabeju gerid)tet ift.
b) 2lber <3efu§ ift nid)t ber moralifc^e Utilarift, ju tem itin
ber $Rationali§mu§ gemacht f)at. .^ier ift met)r alö Äonfuciue !
'S> e r 5 0 0 : gcf u§ aU ^rcbigcr. 55
Sichtiger ift bie jrocitc, bcm uorgcfunbcncn religiös * fittttci)cn
93efi§ftQnb angc^örigc (Sruppc oon 3Kotbcn, rocl^c fid) auf ben
e^diatologifd^ bcftimmtcn |)ori}ont bc§ gegebenen ifraelitifc^en
©laubenö bejiel^t. $ier fte^t ber @eban!e be§ Sol^n§ unb bcr
©träfe, alfo ber 5?ergcltung, im 9Sorbergrunb. @§ ift nun
ganj felbftDerftänbli^, bQ§ er biefe ©ebanfen nic^t etroa nur au§
9lffommobation ober Äonbe^jenbena (ju ber aSoItömoroI), fonbern
mit fc^Iic^ter, üotler Ueberjeugung oertritt unb oermertet, aber e§
ift cbcnfo War, ba| bie entfprecl)enben SSorftclIungen in feinem
9Wunbe fou)ot)l ein neue§ ©emid^t befommen, al^ aud| eine innere
aSertiefung unb Umbilbung erfahren. 3 e n e § infofern, al§ er
in ber Xai in ber geglaubten, oon ben einen gefür^teten, Don
ben anbern erhofften e§d)atologifc^en aQ3irf(id}feit fo feften gu§
gefaxt ^atte, ba^ i^m bie SranSjenbenj unb ber e§c^ato(ogifd)e
Slirf nid}t nur ein ®efid}t§punft, fonbern ber ®efid|t§punft
roar, nid)t nur e i n ÜWoment neben anbern, n)eld)e§ bie im übrigen
im 9ietatioi§mu§ fid) beroegenbe SßJeltanfd^auung ergänjt unb forri*
giert ^ätte — ba§ mar mo^I ber oulgäre ©tanbpunft — fonbern
bie abfd)Iie§enbe Umrahmung bcr SBelt ber SBirflic^feit bebeutete.
SBie lebhaft ftet)t vor feiner ©eele „jener 3:ag" "Sülaiti), 7 22, ba§
iüngfte ©eric^t, an bem bie aj?enfd)en muffen 9ted)enfd)aft geben
oon einem jegtidien unnü^en 9D3ort, 9JJattt|. 12 3g, ber 2^ag, an
bem bie Sölfer oor i^m oerfammelt merben, SMattl). 25 31 ff. ! Sr-
^ält aber fo ba§ e§c^atoIogifd)e öitb oiel f^ärfere unb beftimmterc
Umriffe unb lebhaftere ^^axhtn, fo erfcit)rt anbererfcit§ ber
bamit oertnüpfte aSergeltung^gebantc eine roefentlid)e Umbilbung
gegenüber bem trabitioneüen unb lanbläufigen Segriff, ber oiel*
fad) äußerlich gebac^t ift unb einer Slbja^lung gleist. JJeben
bem ^inmeiö auf ben 3lu§glei(^ im @erid)t ber ®migfeit — in
bonam et malam partem (Suf. 16 19 ff., aber aud) £uf. 14 14 unb
16 9) — fte^en ®(eid)niffe, mie bie oon ben anoertrauten "ißfunben,
meldte ben Sol^n al§ bie au§ bcm Sun ober Saffen, ber Sätig^
teit ober Untätigfeit l|erau§mad)fenbe grud^t barftellcn, mie benn
anä) roiebcr^olt ba§ 93er^ältni§ be§ 93aum§ ju feinen grüd)ten
iur a3eranfc^aulid)ung beigejogen mirb, ogl. aWattt). 7 17 f. u. 19;
25 14 ff. ^ier ift ber ftrenge, ftarre aSergettung^gebanfc oergeiftigt
}
56 ©erjoö; Qefui^ atS ^rcbiger.
unb ücrinnernd)t, an bic Stelle bc§ med) anif d) en ©gftem^
tft ba^ 0 r 9 a u i f d) e ®efe^ be§ Scbens getreten.
@§ feud)tet üon felbft ein, ba§, n)a§ bie 9Sern)ertung biefer
SWotiüe betrifft, bem l^eutigen fittlid^^religiöfen 33en)ufetfein md)t
jener med)anifc^e, fonbern biefer organifc^e 95ergeltung§gebanfe
affimiliert werben fann. ^n biefer ©eftalt gel|6rt er, fc^on »er^
möge feiner SSeriuanbtf^aft mit ben ®ntn)irflnng§gebanfen, jum
eifernen 53eftanb ber mobernen 35Be(tanf(^auung. SWan bente nur
an f^edj\\tx§ „53üc^lein oom Seben nad) bem Sobe" *) unb an
®merf on'§ ©inleitung ju feinem (£ffai „2tu§g(eic^ungen", morin
er bie ^rebigt eine§ „rechtgläubigen" '»^farrerS fc^onung§lo§ friti*
fiert, meil fie eine m e c^ a n i f d) e 9tu§gleic^ung für bie ^öfen
unb ©Uten im Qenfeitg in 9lu§fid)t geftellt {)atte, bie Don bem
inneren 3wfammenl^ang pon SBoI)lbefinben unb 933o^ber^aIten
abfa^. —
SÄber, \m§ märe üiel gemonnen, menn man aud) für biefe
9D3a^rl|citen 3efu§ jum 3^"9^" anrufen fann unb barf? 9Jid)t
bie a33ei§t)eit, b. 1^. bie ©inft^t in bie Sorljeit be§ 93öfen unb
ber Sünbe im 93Iirf auf i^rc bitteren S^fgen, nid^t bie gro^e
2:atfad)e ber bie§feitigen unb jenfeitigen 93ergeltung unb bie ©r--
!enntni§ ber emigen organifd)en ©efe^e, bie bie (Sntroidfelung be§
SWenfdien ju einem guten ober böfen 3icl mit eherner 5otflcri(^tig*
feit beftimmen, t)eben an unb für fid) fc^on ben 9Kenfd)en au8
bem 93anntrei§ feines 3Befen§ ^rauS. Unb gerabe bie le^te, ju*
treffenbfte ©etrad)tung be§ üWenfc^enbafeins unb *Sofe§ fann
i^m nur über fein ©tenb bie 3Iugen öffnen (pgl. ©d)rempf§
„3Jienfc^enlo§" : „ic^ lebe nid)t, i^ merbe gelebt"), fo ba| er
baüor erfd)ridtt mie oor bem gorgonifd)en Raupte. 5)ie Summe
biefer elementaren ©efe^e beS 9}lenfc^enleben§ t|at Dielleic^t nic=
manb präjifer unb martiger auf ben Sluöbrucf gebradjt, al§ ber
l) a?gl. II. a. barin folgciibe @tcßc (3. 112): „^ai ift bic Qxo^t @c=
reditigfcit ber 6d)öpfinig, baß icbcv fid) bic JBcbinfltmßcn feine« jufunftigcn
©ein« felbft fd)afft. 2)ic ^anblimgen merbcn bem 9}?cufd)en nid)t burd) äufjcr«
lidjc Selo^mmgcu ober (Strafen üergolten . . . jenad)bem ber ü}lenfd) gnt ober
fd)Ied)t, ebcl ober gemein gefeanbelt, fleißig ober nnifeig gewcfcn, wirb er im
folgenben ßeben einen gefnnben ober franfcn, einen fdiönen ober ^ä6Iid)en,
einen ftarfen ober fd)tüad)en Organiömn* aU fein (S'igeutnm finben" 2C.
©erjog: ^e\ui al§ ^rebiger. 67
^^5()iIofop^ ®mcr[ou, wenn er in feiner Schrift „2)ie ^ü^li-'ung be^
Seben§" (Derbeutfd)t oon aWü^Iberg, Seipsig 1862, ©. 166) t)on
bem 3w[aninten^ang be§ irbifd)en unb be§ jenfeitigen Sebeng be§
SKenfd^en rebct u. u. a. fagt: ®ie üJlenfc^en würben mand)mal
frol^ fein, „ft^ ber ©ürben unb ^flict)ten best SebenS entlebigen
ju fönnen. 3lber x^x raeifeS ©eroiffen fragt: ,SBas; würbe ber
2:ob bir Reifen?' 5)urc^ ben 2:ob werben fie nic^t befreit, fie
bürfen au§ ^\xxä)t ben 2:ob nic^t roünfc^en. 5)ie aBud)t bes
ganjen Uniuerfunig ru^t auf ben ©djultern jebe^
moralif^en 3»»i>ioil>uum§ unb ij< il)n feft an feine
2lufgabe gefrf)miebet . . . 6uer 33äerf mu^ getan werben, beüor
e^ oon eud) genommen wirb".
35iefer Jatbeftanb ruft nur um fo bringenber nad^ einer
anbern S3otfd)aft, nad^ einem ©oangelium, ba§ met|r bringt
al§ nur eine 93eftätigung unb (^ubem oerfd)ärfte) 2lu§legung ber
in bie 3Wenfc^enbruft gef^riebenen ©efe^e.
c) 3efu§ bringt etwa§ burd)au§ yieue^, er bringt ba§
SR e i d^ @ 0 1 1 e § mit folc^en SJlotioen unb Ouietioen, bie im
©tanbc fmb, oermöge i^reä überragenben SBerte§ bie f^on ge-
gebenen in fic^ auf june^men unb abjulöfen, nad^bem fie il^ren o o r-
bereitenben S)ienft getan ^aben. 33äo^l nel)men biefe eine
relatioe Selbftänbigfeit ein, infoferu burd| if)re 53e^erjigung in
etl)ifc^er ©ejie^ung 3^^)* ^^^ Drbnung in ba§ ®efüge be§ menfd)*
liefen ©eelen{|au§^aU§ fommt unb in religiöfer ber fefte ^alt eine?
trangjenbenten ®Iauben§ bargeboten wirb, aber anbererfeit§ ftnb
ftc in fid) felbft ju o^nmöc^tig, um ben 3Kenfd)en über feinen 3»-
ftanb ^inau§ unb emporjut)eben, fie finb 9Jlotioe, aber noc^ feine
lebenbigen SWotoren, fie finb mel^r ein ©oII, aU ein ^aben.
S)afür bringt ^efu§ in feiner Sßertünbigung be§ 9teid)e§
@otte§ ober ber @otte5^errfd)aft ein l)öc^fte§ ®ut. 3)arum ift
biefer Segriff ber SWitteU unb Rrr|ftaUifation§puntt feiner ^rebigt,
bem alte anberen 3Jiotioe bienftbar gemad)t werben. S)ie wid)=
tigften ÜWomente be^felben werben wir, ot)ne weitere biblifc^-4^eo*
logifc^e 93egrünbung bafür beibringen ju muffen, in golgenbem
ertennen bürfen:
1. ®inmat wirb in i^m juattererft ein ®ut, eine ®abt
58 6 e r 5 0 g : 3cfw§ öl§ ^^Srebigcr.
bargeboten, nic^t eine gorberung geftellt, ein I|öc^fte§ ®ut ba§
burc^ feinen eigenen SDBert anjie^t unb im ©tanbe ift, relatioe,
niebrige ©üter auSjuIöfen, gefd^roeige oerte{)rte, ffinbige S^ricbe
unb 93eit)eggrünbe au§}ufto§en. 3)a^er net)men bie ^icrau§ ge»
fd)öpften SD^otioe g. X, ooBftänbig antit^etif^e formen an: „roev
fein Seben erl^alten roiö, ber wirb e§ verlieren" 2C. ; „wer 93ater
ober SWutter ac. mel^r liebt benn mic^, ber ift meiner ni(f)t wert",
unb ftellen ba§ aut-aut in ber benfbar fc^ärfften 2:onart, Sut.
9r>7ff., ober forbern eine ©ntfd^eibung auf ber ©teile (SWatt^.
19 21 ff.), ügt. öud^ bie fd)arfe Slntroort an ben SWann, ber fein
@rbe nid|t fatiren laffen rooHte. 3)iefe f)crben 9lufforberungen
mären eigentlich eine ©raufamfeit, menn nirf)t ba§ bärge-
botene @ut in einer für jeben el^rlirfien, nacf)benfenben unb fucf|en=
ben 2Jlenf(^en einleudjtenben SBeife feinen alle§ überragenben SBert
befäge unb bemiefe. Se^tere^ gefcl)ie^t benn aud) tatfäd^lic^^
b. i), burc^ ÜEatbemeife, meld)e bie SSertünbigung unb jumal bie
SJla^nrebe, ben ^mperatio: „2lenbert euren @inn", befmnet
eud^ um, erft triftig machen : ba§ ^immelreid) i ft ^erbeige*
fommen, @ott ift mit feiner Kraft unb mit feinem |)eiie jur
Stelle. S)a§ bemeifen bie SUiadjtmirtungen 3efu über alle S)ä'
monen unb all ba§ oielgeftaltige innere unb äußere ®lenb, ba§
auf ber 3Renfd)l|eit laftet. ^lai) aWattt). 12 28 ff. fott bag Sßolt
felbft barau§ ben @d)lu^ jie^cn, ba§ ba§ SReid) ®otte§ über e§
gekommen fei. 3)iefe§ SWoment be§ Satfäc^lidjen, ba§ bie eüan-
gelifc^e 95er!ünbigung trägt unb red^t eigentlich begrünbet, !ann
uid)t micf)tig genug genommen werben, ^^r eoangelifc^er
©fiarafter t)ängt ju allen 3^iten ganj unb gar eben boran.
„9ticl)t in 2)ienften, Opfern unb ©elübben, bie @ott
oon ben SJlenfc^en forbert, befte^t ba§ ®e^eimni§ ber d^rift*
liefen ©ottfcligfeit, fonbem oielmelir in 93 e r ^ e i§ u n g e n, @ r*
fütlungen unb 2luf opfern n g en, bie @ott jum 53eften
ber 9Äenfct)en getan unb g e l e i ft e t ; nicl)t im oornel)mften
unb größten ®ebot, ba§ er aufgelegt, fonbem im ^ö^*
ften ®ut, ba§ er gef c^en! t f)at; nid^t in ©efe^gebung
unb (Sittenlehre, bie blo§ m e n f c^ l i d) c ©efmnungen unb
^anblungen betreffen, fonbern in 3lu§fül)rung göttlicher Jäten,
6 c r 5 0 0: S^fwS a(§ ^rcbiger. 59
SQ8cr!c imb Slnftaltcn jum ^cil her ganjen 2Be(t". — 2)iefe§
«affifc^e SBort i)amann^§ (S^riftcn üon ^otf) VU, 58) lä&t
Mar unb frfjarf bcn 2!on ^croortreten, auf ben jebc SSertünbigung
geftimmt fein m\i% bic aU eüangclifd) unb bcm SBorbilb ^efu
cntfpred)enb gelten loiH!
2) 3)iefe§ bargebotene ®ut ift ebenbarum ferner ein nic^t
nur tran^jenbenteg, fonbern ein immanente^; ba§ 9teic^ ®otte§
nid)t nur ein jenfeitiger Ort Iiimmlifc^er ^errlid)teit, fonbern ein
^crrfc^aft^gebiet be§ geiftigen ®otte§ in ben 9Jlenf(^en, bic fic^
if|m anoertrauen. 3)amit ift gegeben: loer ju i^m gehört, b. i).
roer glaubt, ber ift fc^on gerettet oon bem fonimenben @erid)te.
3!)a§ ^eil ift ein g e g e n ro ä r t i g e §.
Unb bie§ ift e§ roeiter baruni, weil
3) ba§ 3f?eid) ®otte§ ein ®nt p e r f ö n li dje r, f i 1 1 1 i d) er
2lrt ift, ni(^t etroaS fpröbe§ 2leu§ere§, fonbern etroaS, n)a§ un=
mittelbar in ben SWenfc^en einget)t ; nict)t etit)a§, voa^ mittelbar
it)n beftimmt al§ So^n ober SSergeltung, fonbern birett i^n
beeinflußt burrf) feinen inneren SBert. S)a§ SWotio jum ®uten
liegt in ber Äraft, in bem ®eifte, in ber §errfcl)aft @otte§ felbft.
„®ott treibt Iieroor, n)a§ er in bem 3Äenfd)en fd^affen roiU". 35a
mirb bie ^örmel jur Söaftrl^eit: „Da quod jubes et jube quod
Tis«. (91. a. O. ©. 11 f.)
Unb roeil e§ ein perfünlid)e§ ®ut ift, nid)t eine ©ac^e, aud)
nic^t ein ©ijftem, fei e§ oon 2Baf)r^eiten, fei e§ oon 3^fiäi^ö^"/
fo tritt fofort bie 53ebeutung ber 'ißerfon ®l)rifti Iieroor. 2)a§
9flei(^ ®otte§ ift — urfprünglid) angef(^aut — er felber.
Qn i^m ift c§ ba. Xai)tx liegt am ®lauben, an bem Qmq ju
i^m, ber @t)mpatl|ie mit i^m atte§. „S)a§ Seben ber Seele ift
feine ©ad^e, feine ©ad)e ift ®otte§ (Baöi)^ unb bie ^auptfac^e
in ber 28elt — bie Sriebfebern ber g^rc^t unb ber fiolinfud)t
werben mc^r unb mef)r au§gefd)attet, „bie innere ©gmpat^ic mit
bem @ut unb bcn ^erfonen, bie c§ bringen (b. f). junäc^ft mit
3efu§, „ber Ursellc", mie einmal Sagarbe i^n nennt — unb fo=
bann mit benen, bic fid) an it|n angegliebert t)a6en), ift ber 2tn=
fnüpfung^punft im ©treben unb gü^len ber ©eelc" (?liebergall
a. a. O. ©. 13). 2)al)er tritt ba§ per f online SJloment im
60 © c r a 0 g : 9[efu« al§ ^rebiger.
a5crttaucn§üerl^ältm§ ju Qefu§, bcm SBringcr be§ 9teicl)e§, bem
Icbcnbigen SBürgen bafür, ba§ es ba ift, fo tietoor, ba§ bcr ©taube
an i^n fd)on auf feiner elementaren ©tufe fo oiel roagt unb fo
oiel oermag, forool^t in ber Slic^tung auf ba§ ^eit ba§ er bringt
für Seib unb ©eele (ügl. ba§ blutflüfpse SOSeib 2nt. 9 20 ff., ben
®id)tbrü^igen unb feine 3:räger 2Wt. 9 1 ff. — anbercrfeitö bie
gro^e ©ünberin Sut. Tseff.), aU in ber et^ifd&en 9lic^tung auf
bie gorberungen, bie er ftetlt ("üJlt. 19 27 ff.: „wir tiaben alle^
oerlaffen unb fmb bir nachgefolgt"). ^Jlan nimmt 9)ia^ftäbe an
unb 3Äotioe in fic^ auf, bie bem gemöl^ntic^en SRäfonuement
fd^nurftrarfg n)iberfprerf)en unb bie ©runbfa^e ber 3Q3elt auf ben
Äopf ftetten (aJiatt^. 18iff. u. a. St.). 3)arau§ gel)t weiter ^er:=
üor, ba|, um biefe fid) anjueignen unb folc^en (Sefinnung^mec^fel
ju Dotläie^en, bie SReffeyion meber nötig ift, nod) jurei^t; nur
bie 21 n c m p f i n b u n g , ba§ e§ f 0 etma^ gibt, mie ba§ Sieic^
@otte§ e§ ift, unb ba^ e§ in Qefu ba ift, man nenne e§, roie
man miß, am beften mit ben SSJorten be§ ^^aulu§: „®ered)tigteit,
triebe unb g^reube im 1^1. (Seifte", ift ba§ ©ntfc^eibenbe. §ier
^ört ba§ 53egreifen unb öemeifen mit Sßerftanbesfgrünben auf:
I)ier ift au6) ber ^un!t, an ben fic^ mit einem Scheine oon öe*
red)tigung bie mi^oerftänblidje S)eutung be§ 8Borte§ uom „®e*
fangenne^men ber SSernunft unter ben ®et)orfam (Jf)rifti" (2. (£or.
10 o) ^eften fann.
4) SDa^er lä^t fid) fc^lie§lic^ i>a§ ijo\)t @ut be§ »Jeirf)es;
®otte§ auc^ !onfret bejeidjnen al§ perföntic^e ®cmein*
fd^aft mit ©l^riftu^ unb burd) it|n mit @ott (ügf . 1 ^oi).
liff.). 3)e8^alb fe^rt bie g^tmel immer mieber: „um meinet?
mitten" ober „ber ift mein nid)t mert", ober „mer mic^ betennet 2c.".
3)iefe SWotioe alternieren, aU in concreto gleid^bebeutenb, mit
ben ba§ SWeic^ ®otte§ betreff enben unb nennenben : „%xa6)ttt am
erften nac^ bem Steid) ®otte§ 2c." u. a. 3)amit treten bie
a II e r i) ö d)ft e n ÜÄotioe in Kraft, bie 3ug^t)örigteit }u i^m unb
jur gamilie ®otte§, bie ®otte§finbfd)aft unb ibr 2lbel" : „euer
l^immlifd^er 9Sater": fo wirb ®ott genannt unb bie @otte§Knber
werben erinnert : „i^r foHt barmti^rjig {na^ Sufa§), ja o 0 11 =
6 0 m m e n (nac^ SJlattt).) fein, roie euer 95ater im ^immet ooU*
§cr,3 0ö: 3cfu5 a(§ ^rebigcr. 61
tommen ift". 3ln biefc§ ert)abciifte ®f|rgefüt|(, baS [ic alg „Riubcr
be§ 3tfler^öc^ften" fjaben foUcn, wirb aud) appelliert bei ber 3Wa^*
nung jur Seinbe^Uebe, ßut. 6 3.1. Noblesse oblige. 2)a§ ®c^o
biefer in bic ©eefc ber 3>ün8^^ ^ineiugefentten ^riüitegien unb
ber barauö enoac^fenben 'i]8flict)ten ^atlt nn^ beutlidj entgegen in
3eugniffen, wie 2. ^etr. 1 3 ff. (fl-eia^ xotvcDvot cpiaews). —
@§ ift oon größtem Qntereffe, biefe fo oie(fad^ abgeftuften
aWotiüe, mit benen Qt]uä an ben ©eelen geioirtt t|at, ju unter*
f cf)eiben, ju oerg(eirf)en unb ju f e^en, wie fie ineiuanber gearbeitet *
iDorben finb. SEBie bie juerft befdjriebenen (überfomincnen) frag^»
mentarifd)en SWotioe rationaler, ett)ifc^er unb religiöfer 2lrt einer-
feit§ ju üoHer ©eltung unb 3lu§n)irtung tommen, fo luerben fie
anbererfeit§ biefen legten, ^öc^ften ®efid)t^punften b i e n ft b a r
gemadit, fo ba§ fie in bcm Oeneratnenner be§ 9leid)e§ ®otte§
reftlo§ aufgeben.
2lu§ bem gegebenen Ueberblid lä^t fic^ aud) fc^on, n?a§ ben
oorbilbUc^en 3Q3ert ber ^^rebigt Qefu betrifft, eine breifac^e ^^l*
gerung für unfere Sätigteit jiebeu. Einmal: e§ l)anbelt fid)
bei it|r junäc^ft um eine möglid)ft roeitl)erjige unb «blirfenbe
95errocrtung aller SBal^rtieit^momente be§ oielgeftaltigen ÜWenfc^en»
leben§, um bie ^nanfprud^na^me ber aSernunftgrünbe unb fittlid)-
religiöfen Jriebtrafte überliaupt. ©obann tianbelt e§ fic^ um
eine jielben)u§te erjie^erifdie ^erau§arbeitung unb Suggeftion ber
^öc^ften SWotioe, bie fid) um ben jentvalen Oebanfen be§ 9ieid)e§
@otte§ gruppieren. 3)ie§ aber ift b r i 1 1 e n § nur bann mög^
lic^ unb erfpriejjlic^, menn ber ^^Jul§fd)(ag ber perfönlid^eu 33e^
jie^ungen, b. i). ber ©emeinfc^aft mit Qefu^ unb Oott, im ^^re=
biger lebenbig unb fo im Staube ift, auf bie |)örer anregenb unb
anjielienb ju mirten, in fie überjuge^en unb ba§ entfpred)enbe
^ntereffe ju roeden. 3)a§ mir gerabe in Unterer 53ejiet|ung unter
ber 9lad)n)irfung eine§ oielfac^ intelleftualiftifc^ beftimmten unb
barum oertürjten ®^riftentum§ fc^rocr ju tragen \)abtn unb in«
folge beffen an einem empfinblic^en 3)efijit leiben, loirb fic^ im
folgenben ergeben.
3)a|3 unb in melc^er SQBeife biefen 3WotiDen in i^rem abge«
ftuften ®emid)te bie entfpred^enben Quietine, b. l). 33eru^i'
60 © e r 3 0 g : 3|cfu« al3 ^rebigcr.
aScrtrauen§ücr]^ättni§ ju 3^fu§, bcm Sringcr be§ Sftcic^e§, bcm
Icbenbigcn 53ürgcn bafür, bag c^ ba ift, fo ^croor, ba| ber ©laube
an it|n fd)on auf feiner elementaren Stufe fo üict roagt unb fo
Diel oermag, foroo^I in ber Stiftung auf t>a^ ^eil ba§ er bringt,
für Seib unb ©eele (ogl. ba§ blutflüffige SOSeib a»t. 9 20 ff., ben
©ic^tbrüc^igen unb feine 2;räger 9Jlt. 9 1 ff. — anbererfeit§ bie
gro|e ©ünberin Sut. Tseff.)/ aU in ber et^if^en 9?id)tung auf
bie gorberungcn, bie er fteHt (3Jlt. 19 27 ff.: „wir l^aben aUe§
oerlaffen unb fmb bir nad^gefolgt"). SWan nimmt 9Kagftäbe an
unb SKotioe in fid) auf, bie bem geroötinlic^en Släfonnement
fci^nurftradf§ n)iberfpred)en unb bie (Srunbfa^e ber SBelt auf ben
Sopf ftellen (SÄatt^. 18iff. u. a. ©t.). 2)arau§ get)t weiter ^er*
t)or, ba§, um bicfe fic^ anjueignen unb foId)en ®efinnung§roec^fe(
ju Doßjie^en, bie Sfleffeyion meber nötig ift, nod) jurei^t; nur
bie 9t n e m p f i n b u n g , ba| e§ fo etma^ gibt, mie ba§ Sieic^
®otte§ e§ ift, unb bag e§ in 3^efu ba ift, man nenne e§, mie
man mitt, am beften mit ben SBorten be§ 'ißauluS: „@ered^tig!eit,
triebe unb ^reube im i)\. ®eifte", ift ba§ ©ntf^eibenbe. ,^ier
Ijört ba§ 93egreifen unb 33en)eifen mit 9Serftanbe§grünben auf :
^ier ift au^ ber ^unft, an ben fic^ mit einem ©ctjeine oon ^c*
red)tigung bie mi§üerftänblid)e Deutung be§ 2Borte§ üom „@e*
fangenne^men ber Vernunft unter ben ®e{)orfam ®f|rifti" (2. ©or.
10 5) heften fann.
4) ®a^er lägt fid) fd|lie&tic^ ba§ f)o^e ®ut be§ $Reic^e§
®otte§ auc^ tonfret bejeic^nen aU perfön lic^e ®emein =
fc^aft mit 6^riftu§ unb burd) i^n mit ®ott (ugl. 1 ^o^.
liff.). 3)eS^aIb fet)rt bie gotmel immer roieber: „um meinet?
mitten" ober „ber ift mein nic^t roert", ober „roer mic^ befennet 2C.",
5)iefe 3Jlotioe alternieren, aU in concreto gleic^bebeutenb, mit
ben ba§ 9Jeid) ®otte§ betreffenben unb nennenben : „2:rad)tet am
erften nac^ bem 9teid) ®otte§ 2c." u. a. 35amit treten bie
a II e r ^ ö d(ft e n Sölotioe in ^raft, bie 3"9^l)örigteit ju il^m unb
jur gamitie ®otte§, bie ®otte§finbfd)aft unb it)r 2lbel" : „euer
]^immlif(^er 9Sater" : fo roirb ®ott genannt unb bie ®otte§Einber
loerben erinnert: „i^r foltt barmli^rjig (nac^ Suta§), ja ooIl =
f 0 m m e n (naä) 3Äattl).) fein, mie euer SSater im ^immel ooU=
$er,5og: ^efuiS a(§ ^^rebiger. 61
fommcn ift". 2ln blefe§ crfiabcnftc ©tivgefü^I, ba§ fic al§ „Äiubcr
bc§ 2lBer^öd^ftcn" l^aben foKen, roivb aud) appelliert bei ber 50la]^='
nung jur 5^inbe§licbc, Sut. 6 a:,. Noblesse oblige. 3)a§ @c^o
biefer in bic ©eelc bcr jünger ^ineiugefentten ^rioilegien unb
bcv barau§ evmac^fcnben ^^Jflic^ten ^allt un§ beutlid) entgegen in
3^ugmffen, wie 2. 5ßetr. Isff. (S-efa; xotvwvoc cpOaea);). —
®§ ift oon größtem Qntereffe, biefe fo oielfad) abgeftuften
SKotiüe, mit benen ^t\\x^ an ben ©ecten geroirft i)at, ju untere
fd)eiben, ju oergIeid)en unb ju fc^en, wie fie ineinanber gearbeitet *
lüorben finb. SEBie bie juerft befrfiriebenen (überfommenen) frag«
mentarifcl)en SWotioe rationaler, ett)ifc^er unb religiöfer 3lrt einer=
feitö ju üoUer ®eltung unb 2tu§n)irfung fommen, fo werben fie
anbererfcit§ biefen legten, ^öd^ften ®efict|t^punf ten b i c n ft b a r
gemalt, fo ba§ fie in bem ©cueratnenner be§ 9Jeic^e§ ®otte§
rcftIo§ aufgeben.
2lu§ bem gegebenen Ueberblicf lä^t fidi aud) fd)on, tt)a§ ben
oorbilblic^en 3Q3ert ber 'i^Jrebigt Qefu betrifft, eine breifac^e ^oU
gerung für unfere Xätigteit jieben. @ i n m a l : e§ l)anbelt ftd)
bei i^r junäc^ft um eine möglid)ft roeit^erjige unb ^blidenbe
95ern)ertung aller 9Ba]^rt)eit§momente be§ oielgcftaltigen 9Jlenfd)en*
lebend, um bie ^nanfpruc^na^me ber 93ernunftgrüube unb fittlic^=
religiöfen Sriebfräfte überl^aupt. ©obann ^anbelt e§ fi^ um
eine jielberoujste erjiet|erifd)e ^erau^arbcitung unb Suggeftion ber
l)öc^ften SWotioe, bie fic^ um ben jentvalen ©ebanfen be§ 9iei(^e§
®otte§ gruppieren. 3)ie§ aber ift b r i 1 1 e n § nur bann mög^
lid) unb erfprie^tic^, roenn ber ^ßul^fdjlag ber perföntid|en 93e*
jie^ungen, b. l). ber ®emeinfd^aft mit <3^fu§ unb @ott, im ^]Jre=
biger tebenbig unb fo im ©taube ift, auf bie |)örer anregenb unb
anjiel>enb ju mirlen, in fie überzugeben unb ba§ entfprec^enbe
^ntereffe ju medten. ®a^ mir gerabe in Unterer 93ejie^ung unter
ber Sla^roirfung eine§ oielfac^ intelleftualiftifd) beftimmten unb
barum oertürjten S^riftentum§ fdiroer ju tragen ^aben unb in*
folge beffen an einem empfinblic^en 3)efijit leiben, mirb fic^ im
folgenben ergeben.
3)a6 unb in meldier SBeife biefen ajJotioen in i^rem abge-
ftuften ®en)id)te bie entfprec^enben Quietioe, b. l). Serut)i*
62 §^^500: Scf u§ al§ ^rebigcr.
guugggvünbe, juv Seite ge^en, bebarf feiner weitläufigen 2lu§=
füf)rung. S)od| ift e§ nid)t überflüffig unb nid)t unroefentlici^, auf
bie ®efaf(v ^injuroeifcn, bie fo naheliegt: ber Christus con-
solator iptrb oft perjeic^uet unb ^efu§ jum 2:röftev
im gen)öt)nlid)en laubläufigeu Sinne be§ SEBort§ in unb gegenüber
ben liebeln unb Seiben in bei Söelt gemad)t. 5)ie SRic^tigfteßung
biefer Sfuffaffung unb bie ridjtige SJerwertung ber 2:roftgebanten
aber gewinnt man unfc^roer, roenn man ben 3^«tralgebanfen be§
SReidieg @otte§ jum bet|errfd)enben @eficl)tspunft nimmt, unb jroar
in ber gaujen güüe feiner Sejie^ungeu. 3iad) jmei (Seiten ^in
überbietet biefe^ ^ödifte Quietio ba§ gemö^nlic^e 9Uoeau
ber 2iroftgebanten, worauf bie SJtenfcben 2(nfpruc^ ju madjen
pflegen. @ i n e r f e i t § ^at e§ S^fu§ "icf)t nötig, oiele SBorte
beö 3ufV^uc^§ unb Jroftgrünbe gegenüber ben gegebenen Uebetu
unb (Sc^merjen be§ 3)aiein§ einfc^lie^licl) be^ 2:obeslofe§ aufju*
loenben, au§ bem einfachen ®runbe, weil er über bie 2:ateu|prac^e
ucrfügte unb mit ber fiegreic^en |)ilfe auf ben ^lan trat. ©5 ift
un§ l^iemit ein äöinf gegeben, roiefern roir in ben oielberufenen
unb oerrufenen S8erfurf)en ber @ebet§= unb Slrantenbeilungen un=
ferer 3ßit nur eine Äaritatur oon urfprfinglid) bered)tigten, b. i).
in bem ootlen ©oangelium oom 9teic^e @otte§ begrünbeten ®e=
bauten unb ^^Softulaten (ogl. SKattb. 4 12 ff.) ju fe{)en ^aben. 3Jlau
barf auc^, obne ber ©efa^r ber @d)wärmerei fid) au^jufe^en, ge*
rabe im ©egenfa^ gegen bie oft fo meic^lidien, bem ©ebanfen
be§ ewigen Seben^ im ©inne ^efu fo ganj unb gar nid)t nac^
;3n^alt unb Umfang gered)t werbenbeu „Stimmen be§ Srofte§ an
ben ©räbern" ber (Jt)riflen eine wichtige Erinnerung, bie fi^o^fq
in feinem 33ud)e „Seben unb Sffiat)rl)eit" (2. Slufl. ®. 133 ff.) gibt,
nid)t üon ber ^anb weifen, wenn er u. a. fagt : „Unter un§ gibt§
ajlillionen, bie bem Jobe ungemeffene§ Stecht ju|pred)en, fogar
eine gewiffe Sßeref)rung jollen. ^a ba«; ©c^merjtic^fte ift eigent*
lid|, ba^ fogar t>a^ ganje S;un <3efu ©b^'ifti/ ben man al§ Stuf*
erftanbenen, alfo boc^ Sefieger un|ere§ (Jrbfeinbe§, be§ Sobeö
preift, in bem 2)enfen oieler ÜWenfi^en barin aufgebt, in t>a§ ein*
mal unoermeiblid)e Sobegfcbidffal eine freunblic^e .^offnung ein*
gewoben iu l^aben ober eine 9Jlöglid)teit ru^ig ju fterben gefd)affen
^eräog: S^fwö al§ ^rcbigcr. 63
ju ^abcn, wenn and) in fe^r bc)ct)ränftcm Umfange. 3)ic ®aä)^
3e)u (S^rifti eine Sterbegetegen^eit! D bu fd)WQrie 3la6)t ber
gtnftcrniS ! . . . 3efn§ ift baS Sebcn unb \jat mit bem 2:obc fc^(ed)t--
^in feine @emeinfrf)aft" 2c.
SBe^ält man bie ganjc %üüz be^ ^cgriffig be§ 9leid)e§ ®ottesi
ober ber @otte§^err)d|aft im Sluge, f o mirb auc^ nad^ einer a n-
b c r c n ©eite t|in üerftänblid), mie fe^r bie Jroftgebanten Qefu bie
gemöt)nUc^en 33ebürfniffe überragen: fie nehmen Überwiegenbeine
anbere J^ontfteQung ein, a(§ biejenige gegenüber ben liebeln be§
3)aiein§ unb richten fid) in e r [t e r Sinie gegen bie 9tot ber ©ünbe
unb ber 'Scf)u(b, Don ber ber SWenfd) burd) bie SBergebung unb
bie ftinbegfteöung 5u @ott befreit wirb — ber ganje 3Jlenfc^ ift
auf eine neue Stufe be^ fieben^ oerfe^t — cbenbarum aud) gegen
bie Saft ber gefetjlic^en Jrömmigteit (9Rattt). 11 ©(^lufe) unb
gegen ben ©orgengeift, ber bem Äinbe @otte§ nid)t me^r anftel)t,
ja red)t oerftanben jur 3laturunmöglic^feit roirb (9)ktt^. 6 25 ff . :
in ber Jragc: @eib i^r benn nid)t niehne^r benn fie? finb al«
©ubjett nic^t bie SWenfc^en fc^Ied)tt)in, fonberu bie ftinber be^ ^imm-
lifc^en aSaterg ju oerfte^enj. Sbenbarum richtet fid) ber Jroft
unb 3wfpruc^ ^z]\x befonber§ ^äufig auf ben 3)rucf ber 33er::
folgungöteiben, bie um feinet* unb um be§ 9leid)e§ @otte§ witlen
feine -3ö»9C^' treffen.
@S ergibt ftc^ aud) ^ierau^, wie im @ute be§ 91 e i c^ e 6
@ 0 1 1 c ^ bie Quietioe i^re @inf)eit finben. ^ieoon gilt bud)=
ftäblic^ ba§ Siebermort : „(Srtang id^ bie§ Sine, ba^ alle§ erfe^t,
fo roerb id) mit einem in allem ergoßt". Unb ebenfo ergibt fic^,
baß im Snittelpuntt beS Srofte§ er fei ber ftel)t, SWattt). 11 ^s.
3. Qm 3Infd)luffe an ba§ ©efagte befommt barum bie S^age
ebenfowo^l ein befonbere^ ^fntereffe, al§ eine geroiffe @d)n)ierig'
feit: wie fte^t e§ mit ber 'ißerfönlic^feit ^efu be§ ^rebigerg felbft?
SBiefern fann pon beren SSorbilblic^teit für un^ noc^ ge=
fproc^cn werben, ba er boc^, wa§ ba§ SJerpltni^ feiner ^erfön=
lic^feit }u feiner 3Serfünbigung betrifft, eine wefentlic^e 2Iu2fnal)m6^
fteüung einnimmt? SEBenn auc^ non oorne^erein in bejug auf
biefeg 3Ser^ättni§ bie eine ©eite be§ ^roblem§ au^gef chattet wer=
ben mup, bie man f urj bie b 0 g m a t i f c^ e nennen fann, näm=
64 ^erjog: 9[efu8 al§ ^rebiger.
lid^ bic S^agc , in roicfcrn ^^\\x§ in ben Q n 1^ a 1 1 bc? @öan«
geliumS l^ineinge^ört, bie "^xa^e, bic $aulu§ präji§ fo beantwortet
(2 Äor 4 o) : „9tid)t unö felbft oertünbigen mx, fonbcrn ®^riftu§
^efu§ aU ben ^crm, un§ aber al§ eure Anette um ^cfu roiüen"
— fo bleibt felbftDerftänbUc^ baoon unberül^rt bie Jatfa^e, baj5
ein folibarifc^er ^ufammen^ang jroifd^en ber ^^erföntic^feit be§
'ißrebiger^ unb feiner Sßerfünbigung befte^t, für ben ba§ SBorbilb
<3fefu n)ie fein anbereS maj^gebenb ift. Unb ioa§ in biefer
Sejiel^ung fd)on ba§ ©eroiffen fagt, ba§ ergebt ba§ 3Bort :3efu
ju ooller Klarheit unb S3eftimmt]^eit: „wie mid^ ber SSater gefanbt
^at, fo fenbe id^ cud)" ^o\) 20 21). 3)ämit ift eine boppelte 93or=
au^fe^ung für bie rid)tige 2lu§übung be§ 2)ienfte§ am ©oangelium
feftgelegt. (Sinmal: ©eine ©ac^e ift unfere ©ad^e, fobann:
fie mufe unfere p e r f o n li rf) e 2lngelegenl^eit fein, ^n bem 3Ka^e,
al§ mir un§ mit unferer ^^rebigt ibentifijiereu rooüen unb
fönnen, tommen mir bem Sßorbilbe Qt\n nac^. 3)amit ift fieser*
li^ nid^t ju üiel oerlangt. ®2f fe^t nur ein Swie^ad^t^ uorau§,
n)a§ bie conditio sine qua non ber lebenbigen ^^rebigt überhaupt
ift: fefte Ueberjeugung unb innere Beteiligung, jeneg jufolfle be§
@runbfa^e§ ber SBa^rl^aftigfeit ; „mir reben, roa§ mir roiffen,
unbbejeugen, mas; wir gefe^en l^aben", biefe^ nac^ bem pfqd)o(ogi*
fd)en ®efe^ be§ inneren <3[ntereffe§ : „mir fönnen e§ ja nic^t un^
tertaffen, baoon ju reben, ma§ mir gefetien unb gehört ^aben"
ober, mie ^^aulu§ e§ noc^ ftärfer formuliert: „ic^ !ann nic^t an*
ber§, me^e mir, menn ic^ e§ unterließe" (1 Äor9io). 3)iefc ©0^
libarität iroifd)en ^erfon unb JRebe folgt au§ ber Statur ber ©ac^e.
®§ gibt mot)I eine theologia irregenitorum, aber feine 58er*
fünbigung be§ SReic^e^ ®otte§ feiten§ berer, bie nid|t barin pnb.
2)a§ „Objcftioe" fanu man etma barbieten of|ne innere 93eteili=
gung, j. 33. bie rationalen ^Jlotioe ober aud) ba§ retigiöfe ©pftem
einfd^tießtid) be§ e^c^atologifc^en ^intergrunb§, bie „fides quae",
ober enbtic^ bie «^iftorie, aud^ bie biblifc^e: aber ba§, mai^ im
9Jeid) ®otte§ ber SWittel:^ unb ^erjpunft ift, bie perfönlic^en 93c^
jiet)ungen unb Ä'räfte, fann niemanb meitergebeu, aU mer barin
fte^t unb baoon bemegt mirb (JRöm 12 7). 3)iefe ©olibaritöt jroi-
fd)en ^rebigt unb ^^rebiger begrünbet red^t oerftanben einen ge*
©erjog: 3«fw3 alg ^rcbigcr. 65
lüiff cn character indelebilis im coangelifdien ©innc be§
2Borte^, bem gegenüber ber fat^olif^e 93egriff fid^ nur n)ie ein
materialiftif^eS aWi^üerftänbni^ barfteCt. 3)aran änbcrt aud)
nic^t§ bie für jeben c^rlic^en Saugen ber SBa^rtieit fdjmcrjlic^e
Zat\a6)z — bie ben großen Slbftanb jwifd^en bem Urbilb unb
ben Slbbilbern, jroifdien bem SReifter unb ben :3üngern immer
neu }um ^emu^tfein bringt — baj3 mir bie SQBatir^eit be§ 6oan-
geltumS mit unferer ^erfon nic^t b e d e n f önnen , fonbern un§
umgefetirt unter i^r @erirf)t felber [teilen muffen. „SBer bann
ba§ Seben bc§ Sebenbigen al§ eine Sraftmirfung im eigenen fitt*
li^en Siingen erfal^ren tiat unb bie ®abt I|at, ©elbftempfunbene§
einfac^-natürUc^ mieberjugeben, tann in prop^etifc^er SRebe anberer
©emiffen aufrütteln unb ein roirfti^er Q^u^^ S^rifti merben".
(S. KeUer in „Sluf bein 9Bort" 1903, S. 280.)
n.
SBenn im norfte^enben ftet§ bie SSorau^fe^ung ftiüfd)n)eigenb
feftgetialten morben ift, ba^ unfere ^^rebigttätigfeit bie im mefent::
liefen Iiomogene ^^vtfe^ung oon berjenigen ^efu felbft fein foU
unb !ann, fo bebarf nid)t etwa biefe 93orau§fe^ung einer öe*
grünbung, root)! aber unfere l|ertömmlid)e ^^rebigtroeife
einer f orgfältigen ^]?rüfung unb SReoifion i{)re§ Betriebs :
2Bie ftettt fie fid| an bem Sna^ftab be§ Urbi(b§ unb Sßorbilbg
gemeffen bar? ©ie f oU ©oangelium^üertünbigung fein unb fann
e^ aud^ fein, ©ie foll e§ fein, benn bie ^rebigt („praedicare")
ift i^rem 93egriff nad) Söerfünbigung oon etma^ neuem — unb
ba§ 9ieid) @otte§ ift gegenüber bem gegebenen ^iatur^^ unb ^nU
turjuftanb, au^ ber d)riftlic^en 2ltmofpI|äre unb ©itte, in jebem
©efc^Icdite etma§ neue^, ein 9leu(anb ©otte^ — unb fie ! a n n
e§ jfein. 3)enn ber 9tü(fgang ju unb ba§ ©djöpfen au§ ber
urfprünglid)en Duelle ift ju jeber 3^it offen. 3)a§ Ouellmaffer
läßt fid) faffen. @o gemi^ e§ in ben mobernen ©ro^ftäbten mit
if)ren ^unberttaufenben möglid) gemacht ift, fo frifd^e§ unb reine§
SEBaffer ju trin!en, al^ märe e§ au§ bem 93orne im SBalbe gefc^öpft,
fo gemife ift un§ „©pätgeborenen" — ein relatioer Segriff! — nid)t
jugemutet, nad)bem bie Quelle be§ @oangelium§ fic^ jum ©trome
3citf<^rttt fflr X^eolDflie unb Äirc^c. 14. Sa^rg., 1. $eft. 5
66 © e r j 0 g : 3lcfug al§ ^rebiger.
crbrcitert ^at, bcr bic d)riftlic^c 2BeU bciüäffcvt mit fabcm, obge^
ftanbcncn glu^iüaffcr unfern 3)urft ju ftißen. 3)a nun aber an^
bcrcrfeitS nict)t geleugnet werben fann, ba^ bcr Slbftanb ber lanb*
läufigen ^rebigtroeife Don ber Q^efu ein ganj bebeutenber ift, fo
brängt fic^ bie ^rage auf: SWu^ ba§ fo fein? ober genauer:
roiefern ift biefe ©ntfernung einerfeit§ einfach gef^ic^tU(^ bebingt,
begreiflid^ unb al§ irreleoant unbebenffic^ Ijinjunel^men? roiefern
ift fie anbererfeit§ oer^ängni^oott unb aU Entartung ju oerur-
teilen? 3)a§ biefer Unterfdjieb gemacht werben muj3, ergibt fic^
ja für ben, ber bie 3)inge gefc^ic^tlic^ ju betrad)ten oerfte^t, pon
felbft. 3)er Qrv^ä biefer Unterfud|ung fd^Iiegt nun oon felbft ba§
®inge^en auf bie f ir djen gef c^irf) tli cl( e unb titurgifc^c
®ntn)idf(ung be§ „^rebigtgotte§bienfte§" bi§ auf bie ®egenn)art
unb fobann auf bie m e t ^ o b o f o g i f d) e unb t e d^ n i f d) e
grage, wie weit bie l)omitetifd^e Kunft al§ Hilfsmittel für bie
^rebigt be§ (SoangeliumS bienlic^ unb notmenbig fei, au§. ^n
jener ^Sejie^ung genügt bie ©rinnerung baran, bag bie 9tefor»
mation bie 'ißrebigt be§ göttlid)en 338ort§ fo fet)r in ben 9)]ittel*
punft be§ tir^lid)en Seben§ gefteUt unb fo fe^r al§ erftcS unb
pc^fte§ Onabenmittel gemertet l^at, ba§ „^rebigt unb ®otte§=
mort" (ogl. ben ^ated^iSmuS fiutl^erS) faft ju SBed)feI6egriffen,
ju Sgnon^men geworben finb. 5)ie§ märe ni^t gefd^e^en unb
biefeS teftamentarifc^e 33ermäd)tni§ an bie eDangelifd)e Äird)e märe
oon biefer ©eite nid^t ergangen, menn nid)t ber ®efid)tspüntt
ber be^errfc^enbe gemefen märe, ba^ bie ^rebigt ba§ eigcntli(^e
©efäfe be§ ®oangelium§, b. 1^. ber ^eilSoerfünbigung, fein
muffe unb fönne. SQBenn mir biefeS S^eftament t|o^l)alten, fo er-
gibt ]\i) für unfere ^rebigtmeife ber einfad)e Stanon: eine ^re*
bigt ift foüiel mert, gerabe fooiel (nidt)t me^r unb nid)t roe=
niger), al§ fie ©e^alt an (mirfli(^em, echtem) @oang et tum
befi^t. Unb barau§ ergibt fid^ meiter, ba§ innerl^alb ber eoau-
getifdf)en ilirc^e, mie aud) bie äußeren ^Jormen ber ^rebigtmeife
fid) gegenüber i^rer anfänglid)en ®eftalt gemanbelt t)aben mögen,
bie Kontinuität unferer SSerf ünbigung mit bem urfprung*
ticken ffioangelium prinzipiell gemat)rt ift. — SQ3a§ fobann bie
a n b e r e tfrage, bie nad) bem Söert unb Sinfluffe ber ^omitetif
^crjog: 3«f"^ öl§ ^tebigcr. 67
auf imfcre '^Jvebigtiüeife, betrifft, fo finb bic ^auptgcfic^tspunftc,
oon bencn au§ bcr Umfang unb bic ©rcnjc if)re^ aBevtc§ für
bic ridjtigc unb jioccfentfpred^enbc 9lcprobuttion bcö ®oangelium§
firf) ergeben, unfd)n)er ju bcftimmen. @inevfeit§ unterliecjt
c^ feinem Slnftanb, mit 93 in et (^omitetit, @. ß) ^w fagen: „bic
JR^etorif ift ba§ ®cnu§, bic |)omi(etif bie ©pejieg", b. h. e§ gibt
eine „Ä'anjclberebtfamfeit", obmo^I fie eine eben fo fdjönc, wie
gefä^rlid)e Slunft ift. ©arum foüte aud) nid)t bie S?unft beö
Sd)önen bem ^öd)ften @ut ber SBa^r^eit biencn? ^ft e§ boc^
aud) nid)t unberechtigt, ju fagen, ba§ mir "jßrebiger in biefer Se*
jie^ung ju unferem Urbitb im beften ^^alle fteben, mic i>a^ Jalent
]\iil jum @enie ucr^ält! Unb ba§ Jalent bebarf ber ^^^9^/ ^^^
9luebi(bung. 6nblid) befd)ränft fid) ber Söert ber ^omiletif für
bie SRebe nic^t nur auf bie gor m berfelbcn — golbene Slepfel
foHeu in filbernen Schalen bargeboten merben, für ben ^öc^flen,
roertooUfteu ^n^alt ift baS fdjönfte @cfä$ gerabe fd)ön genug —
f onbern er erftrerft fid) aud) auf ben ^ n t) a 1 1. Unb ba jum
^ n ^ a 1 1 ber ^rebigt nic^t nur ba§ 3^W9"i^/ ^^^ ^erolbsbienft,
fonbern aud) ber 93emei§, bie benfenbe äJcrarbeitung, gehört, fo
erforbert fc^on biefe Stufgabe gemiffen^afte Uebung unb Sinübung
unb ein SJertrautroerben mit ber ge^cimni^ooüeu Älaoiatur be§
menfd)lic^en ®eifte§(eben§. 9Baren e§ nid)t bicfe mit bem „3Bad)§*
tum be§ 9Sßort§" oerbunbenen, fic^ immer mäd)tiger unb bringen-
ber geftaltenben ^ebürfniffe unb ®rforberniffe ber SBortoerfünbi*
gung, meiere fc^on bie 2lpofte( jur Son jent rat ion auf ihre
Hauptaufgabe unb jur 93orna^mc ber 31rbeit§teilung 5mifd)en bem
3)ienft be§ 2Bortc§ unb bem „5:if^bienft" (Slpoftelgefd). 6 2) ge=
bicterifd) jmangen? 2(ber ba§ finb elementare äBal)r^eiten, bic
man ^eute nid|t erft betonen mu^. 2Bid)tiger ift e§ a n b e r e r f e i t §
auf bic ©renje ber gefunben unb bcr ungefunben 3}ermertung
ber t)omiIctifc^en Äunft ^in* unb bicfe le^tere in i^re ©c^ranfcn
ju mcifen. 3)cnn bic ®cfa^r itirer Ueberfd)ä^ung ift größer, at§
bie ber Unterfdjä^ung, unb bic SSarnung ber Königin a\\ ben
^o(oniu§ in ©t)afefpearc§ §am(et „me^r Qn^alt, roeniger Äunft"
bem ^crtömmlid)en ©etrieb gegenüber mcf)r angebrad)t, al^ bic
entgegengefe^te. ©omic bie Sunft irgenbmie ^eroortritt aB Selbft-
68 ©erjog: S^fuS al§ ^rcbiger.
ixütd, ftatt qI§ SRittcI jum S^^^^^/ ^^^ burd)fid^tige ^ttffe be§
inneren 9Bertc§ ber ©ac^e, fei§ in bejug auf bie ^^tm, al§ bic
„gewählten SBorte", fei§ auf ben ^^i^ölt, at§ bie fünft ^^ ober
aud^ geiftDolIen ©ebantengänge, fo ift e§ auf Soften be§ inneren
®e]^alt§, be§ eoangelifc^en ^n^alt^ gefd)e]^en, ber, roie ^autu§
l. Kor. 1 17 furj unb treffenb bemerft, nur barunter leibet, „au§*
geleert wirb." Qft fcf)on oom ä ft l) c t i f d) e n ©tanbpuntt au§
oor ieber Ueberrouc^erung be§ Äünftlidjen bringenb ju warnen —
roa§ ein 3lrd^iteft einmal fagt, „baj3 ein ©ebäube, n)elc^e§ feinem
Qwtd genau unb ooflfomnien entfpric^t, notwenbig auc^ f d) ö n
fein m\x^, obwohl ©c^önl^eit bei feinem Sau nid^t beabfidjtigt war",
ba§ gilt noc^ oiet met)r oom 93au ber SRebe. 3)a ift e§ fii^erlid)
„ein 3^i^^^^ ^ö" Sitbung, groge 2)inge in ber einfad^ften 2)la*
nier ju fagen" (Smerfon) — fo oerlangt erft re^t ber innere
SBert be§ Soangelium^, baj3 man nic^t uerfuc^e, ifjm auf= unb
nac^jul^elfen. @nblid() gilt: „Rieii de beau que le vrai" ; biefe
Söa^r^eit bejeugt in ber ganjen Siteratur nic^t§. fo unroiberleglid),
wie bie unoergleic^tic^ einfalle unb fdjöne Siebemeife Qefu, bei
ber man bcutlic^ fie^t, roie ber gro^e ^nl^alt ficb bie %ot\\\ oon
felbft gefc^affen l^at. —
5)a§ Oefagte roirb genügen, um ju beroeifen, bafe ber @in*
fluj3 ber tirc^engefd)i^tlid)en (Sntmidlung einerfeit§, ber tulturelten
3ufammen^änge unb fac^lid^en Schulung be§ ©tanbe§ ber ^^Jre«
biger anbererfeit^ nid)t etwa an fid^ fc^on ben großen 2lbftanb
unferer ^rebigtweife oon ber ^efu begrünben mü^te, roenn nid)t
befonbere, allerbing§ auf bem gegebenen 93oben unoermerft unb
ganj pon felbft erit)ad)fene, ftörenbe ©fponenten unferer 3Jer»
fünbigung ^injugetreten wären, gegen bie mir un§ ju mehren
l)aben, unb beren mir un§ erme^ren fönnen.
a) 3)en e r ft e n, bie Kraft unb Urfprünglic^feit unferer ©oan*
gelium^oertünbigung ^emmenben ^aftor möge eine perföntid)e @r*
innerung beleuchten. 2luf einer ©tubienreife nad^ Snglanb unb
S^ottlanb ^atte id) einft @elegent)eit, befonbers! im le^teren Sanbe
mit feiner religiös unb fird)lid) fo lebtiaft intereffierten unb fort=
gefdjrittenen Seüölferung, bie aSertreter ber oerfdjiebenen 3)enonü»
nationen fennen ju lernen unb mannen überrafd)enben 9Iuffd)lu|5
© e r 5 0 g : 3[cfu§ aU ^rcbiger. 69
über bie bort lüirffamcn Gräfte ju crljalten. 3)a wax mir bic
Untcrrcbung mit einem ^^rofeffor an bem Congregational College
befonber^ intereffant, aber aud) für unfere beutfc^en aSer^ältniffe
oon nieberf^Iagenber 3S3irfung. ^c^ meinte, menn irgenb etma^,
jo fei boc^ bie ^rebigt bei un§ in oer^ältni^mä^ig gntem ©tanbe.
®enn ic^ gebad)te ber üielen geiftootlen unb erliebenben ^ßrebig-
ten, bie ic^ gerabe aud) al§ ©tubent gehört unb moran id^ mid)
erbaut t)atte. ®r aber fa§te fein ©efamturteü in bem SBort ju*
fammen: „roie uiel gormali^mu^! ^c^ \)abt in
Seutfd^lanb oiel $^rafe gefunben."
S)a§ ift nun ein fe^r allgemeiner unb meitfd)i^tiger begriff ;
ic^ uerftanb ben Jlritifer juerft gar nidjt. 2lber aHmäl)lic^ ging mir
an bem üon i^m entroidtelten ©egenfa^ ein ßid)t auf. ®r fc^il^^
berte in lebenbigen garben bie jielbemu^te, aggreffipe ^rebigt,
ba§ miffionierenbe ^^^Ö^i^ feiner ^ird)engemeinfc^aft, bie Don
ben ^rebigern, ia fd)on üon ben Slanbibaten be§ ^rebigtamtS unb
ben Slfpiranten für bie ©eminarlaufba^n uerlangte ^robe be§ per^
fönlic^en 3^ntereffe§ unb entfc^iebenen, tatfäd^lid^en 3^ugniffe§, unb
mie§ barauf ^in, mie bagegen bei un§ in ®eutfd^lanb bie miffen»
fc^afttidie SSorbilbung einfc^lie^lid^ ber ®famen§note jur Orunb»
läge gemad)i merbe, bie p r a 1 1 i f c^ e gortbilbung oielfad^ mangle
unb bie ®efal|r be§ ©c^tenbrian§ in ben gegebeneu gebahnten ©e*
leifen bie Slttioität bebrol^e u. f. m. @r mollte turj gefagt jeigen,
wie unter ber SR outine ber funftgered^ten unb fd|ulmä§igen
^rebigtmeife ba§ einfadje, mirtung^träftige, inö Seben hinein«
greif enbe, ben §örer üor perfönlic^e ®ntfd)eibungen fteltenbe Qtn^'
ni§ ju furj fomme, jebenfalliS unter biefer Umflammerung leibe.
SGBaö mir bamal§ aufbämmerte, ba§ ift mir tieute in oiel=
fad)er Sejie^ung jur Ueberjeugung geworben: @^ ift in biefer
Sritif me^r atö nur ein Quentchen SOßa^r^eit enthalten. SOBir tei*
ben unter bem^ormali^mu^ nic^t nur in ber 93e-
jie^ung, bie oben fd)on berüt)rt rourbe, baJ3 ben 2lnfprüc^en ber
©c^ule, ber Äunft ober gar 2leftl)etit leicht bie gebieterifd)en go^*
berungen ber eigentlichen Srbauung, fei§ ber ©rmecfung, feis ber
Vertiefung, geopfert merben. 3Benn bagegen bem ^rebiger immer
bie cora animarum lebenbig oor ber (Seele fte^en ober auf bem
70 ©er^og: QcfuS alg ^rcbigcr.
^crjen bvcimcu lüürbe, einer|cit§ bic gütte unb ©voßc bc^ bar*
jubictcnbcn ^eil§, anbcvcrfeit^ bag bringenbc ^cbütfniö unb bic
fd)rcicnbe 9tot ber nod) in unerlcud)tetem unb unerlöflcm v'^uftanbc
bavniebcrlieflenbcn Seelen, fo ergäbe fid| eine fold)c Spannung
be§ 3>tttereffe§, roeldje bev fünfttic^en Hilfsmittel je länger, je
nietir entraten unb fid) einen 2(u§brucf fc^affen würbe, ber fid)
burd) feine 3GBat)r^eit unb 3)ring(i^teit felber beglaubigt. 2)amit
uerbänbe fidj, xoa^ aubererfeitS ben ^^^^Jj^^t betrifft, üon felbft
me^r 21 f t n a l i t ä t ber ^Urebigt, 2lttuatität in bem Sinne, ba^
bie a)]otiüe be§ ©oangeliumS met)r in ber 3rifd)c ber @leid)}eitig^
teit bargeboten unb fojufagen mobil gemadjt würben. 3Wangel au
Sttftualität ift e§, menn j. «. mit oiel a«üt)c unb Umftäublid)fcit,
bie bie ^örer ermübet, e^e fie felbft für it|re ^^erfon in Slnfprud)
unb oor genommen merben, bie gefd^id)tlic^en 33er^ältuiffe be§
jeweiligen JefteS befc^rieben unb ausgemalt werben, unb wenn
bann bie Slnwenbung auf bie ©egenwart, ber 2lngriff auf bie
©ewiffen unb bie 3ueignung an hk ©emüter erfolgen foUte, Seit
unb Sraft fd)on uerbrauc^t finb^). S)ie ^«^tge ^ieuon ift, ba^
betr. bie SBa^r^eit, fei eS eine ©abc ober Slufgabe, ©ebot ober
9lngebot, nur auf 2lbftanb wahrgenommen wirb unb i^re mag*
netifd)e Äraft oerfagt.
©ewi§ beginnt bic eigentli^e Sd)wierigteit ber 2lufgabc ber
^^rebigt, aber aud) ba§ ©el)eimni§ i^rer Sßirtung erft ba, wo ber
'ßrebiger baS 93ebürfniS ber ^örer in feine iUlebitation hinein*
nimmt unb mit ben 2:eEtgeban{en in lebenbigeu JlontaH bringt
— aber eine ©ifpenfation oon biefer ^^flid}t gibt e» nid)t. 3wm
minbeften ift oon jeber ^^rebigt fooiel ju oerlangen, ba§ irgenbwo
biefer Kontatt t)ergeftellt. wirb, bamit ber eleftrifdje Schlag er*
folgt ober ein neues Sic^t aufleudjtet. 2)ie ^örer ^abcn einen
1) 3n ber 2)i«fuffiort tonxht ber Olcfercnt gefragt, wa« unter »aftuett
prebigeii" gii üerfte^cii fcl. (§« tüurbe aucft barauf Iiiugcwiefcii, \>ab uiele
niciuen, mit ber ©egugua^me auf „brcnncnbe" gcitfragen {Jogiale uub Xagc«*
iutereffen k.) tuerbe bic ißrebigt aftued geftaltet. ^a8 finb aber offenbar dlt-
benbinge, Hilfslinien unb Stonftruftionen, bic jemeil^ ober mitunter jur Jln«
luenbung unb ©eltung fommeu bürfen. 3l!tueU prebigen im allgemeinen unb
normatiöen ©inne be« 2i>orte§ Reifet offenbar fo prcbigcn, bafe ber $örcr merft :
Tiia res agitur! 2)ie|e Slftualitöt foU immer gu ©teile fein.
© « 1 5 0 g: Qcfu§ aU ^rcbiger. 71
2lnfprud^ barauf, ba§ jte in bcr ^rebiflt ctraaS bctommeu, ctiua^,
voa^ anber^iDo nic^t 5u ^aben ober }u ()oIen ift.
@§ ift aucf) gar nid)t )d)n)er für beu 'ißrebigcr, eine Sclbft-
fontroHc nad) bicfcr Seite l^in ju üben, um ju ertenuen, roic roeit
er im 5örmQ(i^mu§ ftedten geblieben ober jur Slftualität üorge-
brungen fei. ^e „objettiücr", fci§ gefd)id)t(irf), fei§ bogmotifc^,
fein ^robuft ift, befto me^r ÜJlü^e wirb e§ i^n loften, e§ ju
memorieren, um bie ^^rcbigt „ablegen" ju fönnen. ^t me^r e8
fubjcttioeS ©igentum geworben ift, nid)t nur burc^bac^t, fonbern
burd)lebt, befto met)r luirb fid) ba§ nac^ge^enbe 3Iu§n)enbiglernen
Don felbft erübrigen. Unb menn bie Srfa^rung jeigt, ba§ jumeift
bie -Anfänger lang memorieren muffen, bie Oereiften weniger unb
immer weniger, Jo mü^te biefe @rfd)einung ganj auffallen b
fein, ba ja ba§ Oebäc^tni^ in jungen ^a^ren fd)neUer unb treuer
ift, al§ in älteren, wenn ee! fid) nid|t einfad) barau§ erttärte, bap
auf ber reiferen Stufe me^r Slftualität, b. i). ^Beteiligung ber
Subjcftioität an bem <3"l)olt ber ^^rebigt oort)anben ju fein pflegt.
b) 93ielteid)t bebarf biefer 5?anon einer ©infc^ränfung : „Uebung
mad)t ben 9JJeifter" unb mit bief er ÜJieifterfd^aft fann ber 3^or*
maliömu^ nid)t bto^ jufammenbefte^en, fonbern ~ teiber! —
barau§ feine 3taf)rung jiel)en. 3)ann nennt man it)n ^Routine.
2lber ba§ fonnte nid)t gefd)e^en, b. 1^. ba§ ©ewiffen lie^e e§ nic^t
}u — benn ^ier gä^nt fd^on bie ©efa^r ber ^eud)etei unb be§
Sc^aufpielertum§ ('^], 50 ig) — wenn nid)t ber gormati^mug einen
Öunbei^genoffen fänbe an einem } w e i t e n gefäf)rlid)en ®f ponen*
ten ber lanbtäufigen ^rebigtweife, ber fojufagen fcf|on oorl^er auf
bem "ißlan ift.
äßir J^eologen beuten Dielleid)t nic^t genug baran, baß wir
nid|t ungeftraft 2:f)eologen finb unb ben 'ißreig bafür jatilen
muffen. aBol)l bürfen wir aud^ fagen : äBeil wir Z^eotogen finb,
wollen wir unfer 3lmt preifen (5Köm. 11 is). 2)ie 2:^eologie ift
für bie Slir^e unb für ba§ 'ißrebigtamt ganj unentbehrlich, wo»
für fd)on ber gto^e Ideologe ^auluö mit feinem Seben§werf ben
unoergänglic^en Seweig liefert. Söic wäre fonft eine gefunbe
unb umfaffenbe Sßermittetung ber ewigen aEBa]^rl)eit be§ ©oan»
geliumö mit bem geiftigcn ^-Befi^ftanb ber jeweiligen Qnt an
72 © c r 5 0 g : ^t\n§ alg ^rcbtger.
a03iffenfcf)aft unb Kultur uub mit bcm bem aWcnfd)cn cingcftiftc*
ten ©tvcbcn nac^ uniDerfctlcr @rfenntni§ bcr SBal^vIicit mögtid)?
2lbcr in SBcjug auf ba§ aSert)ältni§ bcr ^^cologic jur ^rebigt
gilt cö in formeller rote materieller 93ejie^ung ben Unter[d)ieb
flar unb fcljarf ju faffen unb feftjul^alten jroifdien bem, roa§
(Slaube unb roa§ S^eologie, ober jroifc^en bem roa§ ©ac^c be^
S^riftcn, unb roa§ ©ac^e be§ Z^^oloQtn, be§ 5ad)manne§ ift.
2)ie 9Serroifrf)ung biefer ©renje t|at ben unfeligen ®ann be§ 5 n*
t e 1 1 e f t u a l i § m u § in bie eoangelifct)e Äirctje unb fpejieC in
it)re roidbtigfte gun!tion, bie ^rebigt, hineingetragen, gegen ben
e§ berou^t anjutämpfen gilt, foroo^l in formaler, roie in mate-
rialer 93ejie]^ung. SBebäc^te jeber prebigenbe 2:]^eologe, ba^ unfere
t^eologif^en 3^ormeln unb ©d)ulbegriffe oon ber 93u§e unb ^eite*
orbnung, ©ünbe unb ®nabe, ©rlöfung unb SJerfö^nung, SRec^t*
fertigung unb Heiligung u. f. ro. eben Hilfslinien unb ^ilfSton*
ftruftionen finb, mit benen mir bie ^Aufgaben unb ^^robleme be§
d^riftlic^en ®lauben§ unb Seben§ ju löfen, genauer eigentlid) blo^
ju e r ! l ä r e n fucf)en, fo roürbe er oielen unnü^en SJallaft au§
feinem Sßortrag entfernen. 6r foll bie ©act)en, ni(^t bie 93 e-
griffe barbieten, bie realen ®röpen, nid)t ba§ Schema ober ba§
©i)ftem. 2)er **!ßrebigt foH man baS tt)eologifc^e ©erüfte nidjt
anfe^en; eö mar nur ÜJJittel jum 3^^^^; nötig für bie SWebi*
tation: bie grageftellungen , ®efid)t§punf te , bie ©rfinbung, bie
Orbnung ber Probleme oerbanfte er jum großen Jeile biefem
t^eologifd)en, fad)lid)en SRüftjeug. 3lber er mute ber ®emeinbe
nicf|t ju, feine Vorarbeit i^m nad^jufonftruieren. ^n bem 9Jla§e,
aB ein 2:^eologe l|ierin ©elbftentfagung ju fiben, ben J^eologen
auSjujie^en unb bie 9Bal)rt|eit ber ©ad^e felbft Iieroor unb ans
Sic^t treten ju taffen oermag, roirb er al§ ^rebiger feiner 3tuf*
gäbe genügen. S)iefe $fli^t greift bal^er aud) in ba§ SJlateriale
ber ^rebigt über. Um feinet g^^eS roiCen tann ben Jtieologen
man^e 5^age, mandjeS **ßroblem aufS I)öd)fte intereffieren, bt-
fdjäftigen unb umtreiben. 3)em einfadjen ©Triften aber ift ce
l^öc^ft gleichgültig, roeil unoerftänblid^, e§ mad}t i^m nic^t l^eip,
roeil erS nic^t roei^. ©eine 53ebürfniffe ge^en t)in auf ba§ ^rot
ber ©eele ober auf ben @ m p f a n g ber Strjnei für feine ®e*
© c 1 5 0 g : !3cfu§ al§ ^rcbigcr. 73
breiten, nid^t auf bic 3)arlegung unb Stnalgfc bcrfelbcn burd^ bcn
fa^oerftänbigcn gac^mann. Qnx SBcrmcibung von SJü^Dcrftänb^
niffcn ift €§ roo^l faum nötig, auSbrüdEIic^ barauf l^injumcifen,
baJ3, roic bie ©rcnjc üon Jf)coIogic unb @(aubc tatfcid)li^ flicßcnb
ift, fo a\x6) btc 95crn)cnbung unb 95ern)crtung t^eologifc^cr, jumal
pvinjipieücr S^agcn in bcr ^rcbigt unter Umftänben geboten
ift (dqI. barüber in biefer 3^itfd)nft <3at|rgang 1901, ©. 47—61).
^ier ^anbelt e§ ftd) nur barum, ein @eejeirf)en aufjupftanjen,
um Dor ber @efat)r ju warnen, bie im t^eologifdien 3» ^^ t ^ I '
Iettualiömu§ brotit, unb um bie S^ragroeite unb 3nfanimen=
I|änge berfelben nod) abfrf)(iepenb l^erDorju^eben, fei nur auf brei
3Jlomente l^ingemiefen. (Sinmal mirb ber ^rebiger in bem
3)]a^e, aU er auf ber ßanjel tt)eologifiert, entroeber über bie
Äöpfe tjinroegprebigen, ober aber einen Unterfc^ieb jroifc^en ben
iutettettueü Oeförberten unb 3u^öcfgebliebenen aufrichten, ber bem
©Dangelium, ba§ bod) ein ©emeingut ift, mie Suft unb fiid)t,
fd|nurftracf§ juroiber märe unb ooUenb§ bem großen SBort SDkttf).
11 25 f. geraberoeg^ roiberfpräd)e. 3)amit t)erbinbet fic^ bie @^^
fal^r, bafe innert)alb ber eoangelifd^en Sirene ein ^apat ber ©c^rift^
gele^rfamfeit aufgerid^tet werben tonnte, ba§ bem ^ierarc^ifcljen
im ^attjolijiömug einerfeit§, bem „'^^Japat ber SBiffenfd^aft" an*
bererfeit§ an (S^äblict)feit nic^t oiel nachgäbe, unb auf ben bas
SBe^e ß^rifti über bie ©d)riftgelet|rten juträfe, bie „ben ©c^Iüffel
ber 6rfenntni§ roeggenommen fjaben". Suf. 11 52. ©obann
aber räd)t fic^ jebeg imgefunbe Uebergeroic^it be§ <3[nteüeftuali§=
mu§ in ber ^rebigt gerabe in ber ©egenmart auf eine gerabeju
oerl>ängni§ooüc 9Beife. SBo nod) firc^Ii^er Sinn unb Streue
gegen ben ©lauben ber Sßäter ^errfdit, uermag auc^ bie ©emeinbe
ber tl^eologifdien @d)ulfprac^e ju folgen unb bie religiöfen SBerte
unb Slealitäten in unb au§ i^ren 5 0 r m e I n ju empfangen
unb JU geniepen: mo aber bie tird^lic^e ©itte gelodfcrt ift unb
breite 3Jlaffen au§ bem SBerbanbe ber fird)Ii^en Drbnungen ent-
laffen ftnb, ba jeigt fic^ bie furdjtbare Äetirfeite biefe§ 3uftönbe§:
bie ganje innere ©nterbung unb ©ntfrembung gegenüber ben
religiöfen ©ütern tritt unoerI)üttt t)erDor. ^atte man fte über-
loiegenb nur al§ Se^re ber @c^riftgelet)rten, b. \), be^ geiftlid)en
76 ^ e r s 0 g : 3cf uS al§ ^rebiger.
ba§ ©Dangclium roirb ju einer prattifd^en Stngetegen^eit bcs
aWenfc^en unb ber 3intpct:atii) : Slette beine ©eele ! jum bc^errf d)eu*
ben ©efic^t^punfte. 2)a§ ift gut unb ba§ mupte fo fommen.
SGBenn aber nur nicl(t üon einer neuen ©eite eine ©efa^r bro^te!
3)ie 5^'age ift, ob nic^t balb ein ^Iu§, balb ein 3Jlinu§ gegen=
über bem urfprünglic^en (Soangelium mit biefer neuen ^rebigt=
roeife fic^ nerbinbet, roefc^e^ bei allem ©ruft unb (Sifer it)xtn
SBert roieber ^erabfe^t: ein ^|}lu§, infofern an6) bei il^r oietfa^
ba§ ©gftcm unb bie 3Wet^obe bie einfad)e Darbietung ber ©nabe
unb SBBatir^eit ummoben l^at unb mit in ben Sauf genommen
merben mu§, ein SJlinuS, ba§ bie Äe^rfeite baoon ift, nömlid)
eine Sßerengerung ber guten 93otfc^aft infofern, al§ bie eoangeli*
fatorif(^e ^rebigt, bie ben 3Jtenfc^en im innerften Sern feinet
SGBefeng ju erfaffen ftrebt, ben oieloerjmeigten Sejiel^ungen be§
gefellfd)aftlid)en, roirtfc^aftlic^en unb Mturelten Seben§ fetten ge=
nug gered)t wirb. 93ejeid^nenb ift fc^on bie Sritü, bie einft
Oetinger bem größten ©oangeliften be§ 18. Qa^r^uubert^, bem
©rafen ßi^^J^^^^rf, angebeitien lä^t, menn er urteilt: „3^"*^"'
borf fpringt mit beiben ^ü^en t)inein unb fagt nur: <3efuS
6^riftu§! mogegen er barauf bringt, bap ber sensus communis,
ba§ allgemeine 3Ba^rl|eit§gefül|l, mit feinen 93ejie{)ung§linien unb
3lnfnüpfung§puntten im uielgeftaltigen 3Wenfcf)en- unb SBeltleben
forgfältig gepflegt unb in 2lnfpruc^ genommen merbe. 9)amit ift
bem 93orbilb ber ^rebigt Qefu geroi^ beffer genügt.
3)ie befd)riebene ©efa^r, bie fid) furj mit bem gefd^ic^tlic^
geprägten 3QBorte 9)letl)obi§mu§ bejeidinen lä^t, foll nicl)t aus;-
füljrlirf) noc^ nad) ber ©eite f)\n beleuchtet werben, ba^, menn
ba§ ©e^eimni§ ber erroectli^en epangeltftifc^en ^rebigt in bem
3)afein unb 3Q3irfen ber ben SBorten entfpredienben ©eifteg*
mad)t beftet)t — biefe SBoUmad^t ift bie conditio sine qua non
ber ed)ten ©oangelifation unb ber SBertmeffer it|re§ ©ef)alt§ unb
©emid)t§ — ber etroaige SJlangel baran jur ^olge ^at, ba§ ein
5ormali§mu§ in neuer ©eftalt fieroor* unb ba§ Surrogat an bie
©tette be§ aOBefen^ tritt.
SBenn man bie gefd^ilberten SJlängel unb ©efal^ren unferer
^rebigtmeife, üon benen man nid^t mirb fagen bürfen, ba§ fie
© c r 5 0 0 : ^efuS al§ ^tebigcr. 77
in ju büftcrcn gerben gemalt worbcn finb, crnftli^ eriüägt, fo
ift bic S^agc um fo bringcnbcr, ob unb it)ic fic ci'folgrcid) be=
fämpft unb fiberrounben rocrbcn fönnen. 3)ic§ fül^rt un§ auf
bcn legten ^unft biefcv Darlegungen, auf bie prinzipiellen
unb praftifd^en Folgerungen, bic wir an^ ber aufgejeig*
ten ©ac()Iage unb au§ i^rcm SBergleid^ mit ben üorbilblic^en
3ügen ber ^rebigt Qf^fu ju jielien l^aben.
m.
®ie Frage ift: 3Bie !ann unfere ^rebigt in bie möglich fte
Uebereinftimmung ober Slel^nlic^teit mit ber SJerfün«
bigung Q^\\x gcbrad^t roerben? SBBenn fid) biefelbe oon
fclbft in bie boppelte jerfpaltet: l) 9Bie fönnen voix bie ftören*
ben unb ^cmmenben ©fpouenten unferer ^rebigtmeife, bie bem
SBcfen be§ ®Dangelium§ fremb fmb, fiberroinben unb au§f^alten?
2) SBie tonnen wir un§ mit feinem ®eifte unb feinen Gräften
fättigen ? fo entfprid^t e§ nur ber yiainx ber ©ac^e, ba§ ba§
^^ofitioe, alfo ba^ (entere, ba§ ©eftimmenbe unb SHa^gebenbe
fein mu§. 3)enn ba§ SBefentlic^e, Kraftootle, ©cfunbe treibt baS
Seere, Sraftlofe unb ßränflidie uon felbft ab. ©o roerben bie
Folgerungen, bie roir ju jie^en l^aben, fic^ met)r al§ S)efibcrien,
bic mir liegen, benn al§ SRcgeln unb ©efe^c, bie roir un§ ju
mad|cn unb befolgen f)abeu, barftetten. 9lber blo^c fromme
SBünfdjC brausen fie beSmegen nic^t ju fein. SQBer fid) ftrebenb,
fo arbeitenb mic bittcnb, barum bemüht, roirb ftd^erti^ aud) oor*
n)ärt§ tommen. ®a§ Qxti, nad) bem ^in wir un§ beioegen muffen,
läpt fic^ auf ®runb ber im 93ilb ^efu gefdjauten {)auptfäd)lid)cn
3ügc eine§ 35crfünbiger§ be§ (äDangeliumg in brci !urje F^tbc^
rungen faffen: SJiel^r SBirflic^teit, met)r Statürlic^teit, melir 'i}Jers
fönlidjfeit! S)a§ ift§, n)a§ un^ not tut.
1. SRctir aQ3irflic^!eit. 3)a§ n)iß befagen: mx fotten
un§ fcft ouf bcn 93oben ber Satfac^en ftelfen, fomot)! fubjeftio al§
objettio, b. 1^. foioo^l mit bem mn^ loir ju bieten, al§ mit ben
Obicften, auf bie mix ju mirten ^aben. „SBir reben, maö
xoxx miffen unb jeugen oon bem, ma^ mir gefcljeu ^aben" unb
roieberum: „ic^ glaube, barum rebe id)": biefe ©runbfä^e muffen
78 ©er^og: 3>cfu§ a(§ ^rebiger.
für bcn :3"^^lt tt^ic für bcn Umfang bcr 93cr!ünbigung ma§*
gebenb fein, ©inniat fubjcftiu: Qz mct)r Stealität, beftome^v
Slutorität. SDBenn aber bic 93otfd)aft bic wir ju bringen l^aben,
an§ einer anberen 9Belt ftammt, ate bie gegebene ift nnb rocnn
ba§ 9Bort Sagarbe'§ iDQ^r ift: Sieligion iftSinn für SReali^
tat, ncimlid) für bic wahren, realen SQBerte, fo werben wir in
bem aWa^e tüchtig fein, biefe 93otfd)aft an§jurid)ten, al§ mv barin
tieimifc^ fmb. 2)aran§ ergibt fid) bie boppclte 5^age: 1) SBa§
ift in biefem (£rforberni§ eingefd^loffen ? unb 2) xva^ ift ber befte
3Beg, um fid) biefe§ @rforberni§ anjueignen? 3ßa§ nun bie erftc
grage anlangt, fo foütc e§ feiner (ärmä^nung bebürfen, bafe jn
allernädjft bie fefte Ueberjeugung oon ber ^Realität ber emigen
9Bett be§ ®uten unb ber 3Bat)rl)eit, ber „@erecf)tigteit be§ gric=
ben§ unb ber 5^'eube", mie ^^aulu^ ba§ iKeic^ @otte§ befiniert,
in ber ©eele be§ ^rebiger§ bie 6errfct)aft geroonnen ^aben muß.
3lber fo felbftoerftänblic^ ba§ ift, fo bringt bort) bie ©rfa^rung
uns immer jum 'Öeiuuj3tfein, ba§ e§ nur ©tunben ober klugen =
blicte finb, in benen unfer ^orijont fic^ fo erhellt, unfer 93lirf
fid) fo flärt, ba^ mir ben |)immel offen unb bie äBelt ju unferen
^ü^en feilen, mä^renb 3lefu§ in biefer äöelt ber SBa^r^eit un*
oerrüdft lebte unb mebte, barin unb barau§ atmete. (Sbenfo jeigt
ber ©lidt auf ba§ (cl)riftlic^e!) SBolf^leben ganj beutlic^, ba§ es;
gilt, bie 9Beltanfrf)auung, ®ent= unb @efü^l§rocifc ber ^örer fo=
jufagen umjufe^ren. 3)enn biefe gött(id)e 303elt f (^ m e b t me^v
in luftiger ^öt|e über it)nen, i^rem gemo^ntcn ©ein, al§ ba§ fic
es trüge unb Ijöbe. 3)ie Smigteitsgebanten finb me^r ^^^osi=
pt)ore§cen}en, alö tatfräftige 3Wotoren in iljrcm geiftigen ^au§*
^alt; bie materiellen ^ntereffen unb 9Jla§ftäbe übcrmiegcn mcit.
9Bie roict)tig alfo, ba§ bie SSerfimbiger be§ Soangelium^ über
einen fid)eren 33efi^ oon cmigen Ueberjeugungeu unb SJlotioen
oerfügen ! Qu biefer allgemeinen 33orau§fe^ung, bie man al§ bas
Slfiom ber (Smigfeit^empfinbung (nad) §ebr. 6 lo) bejeid)nen !önnte,
gel)ört al§ fefte§ Junbament ber 33oben ber (ärfal^rung, in ben
jene Slirfe unb Smpfinbungen eingcgrünbet werben muffen. ®§
gilt, ba§ 2:errain im ^leulanb be§ geiftlid)en Seben§ ©d)ritt für
Schritt, ©trecte für ©trecte ju erobern : ©r^örung be§ Oebet^,
^crjog: !3cfu§ atS ^rebiger. 79
@(aiibc an bic göttlirfic Sßorfet)ung unb ßeitung, 53Iidc in bic
göttlid)en ©eridit^^ unb ©nabenraegc, unb last not least bic ©r*
fo^rung bcr ocrfötinenbcn unb crlöfenben ®nabc ®ottc§ — bie
etroa fo ober anbcr§ ocrmittclt fein fann, j. 93. nad) bem f(affi=
fc^en 93er§ von 9loDali§:
^Untcr öicic« frol^cn ©tunbcn,
@o im £eben id| gefuuben,
$Iteb mir eine nur getreu:
S)a \d) unter taufenb 6d)mergen
®inft erfuhr in meinem ©ergen,
2Ber für mic^ geftorben fei."
3)iefe unb ät)nlid)e ©vfebniffe unb (Sntbedungen muffen fefte
3)ata be§ inneren ficben« werben. 3)ann wirb man ein 3^wge,
nic^t metjr ein Sdjmä^er fein. 3ßie bejeic^nenb ift in biefer 530-
jietiung bic ®rfat|rung ©d^öner§ in 9lürnberg (f 1818), bie
ben größten 5Benbepunft in feiner ^ßrebigerlaufbatin bitbete. 91I§
er noc^ ein 9lt)etor auf bcr ^anjel mar, ber nad^ (Sffcft unb 93ei*
fatt t)afd^te, f^lo^ er am 2. 3Beit|nad)t§feiertag 1776 feine ^rebigt
ungefähr fo: „Unb mer biefen lebenbigen ©laubcn an (S^riftum
ni^t l^at, ber ^at feinen S^cil an (Sott; benn er t)at feinen leit
an ber burd^ Qefum ermorbenen ©nabc, feinen 2;ei( an ben füfeen
Oaben be§ l|I. @eiftc§, no^ an ber ©emeinfc^aft bcr Zeitigen.
^\)m bleibt in biefem Qwftanb ber ^immel auf immer oerfc^loffen,
unb bie ganje bunftc 9tac^t ber ©migfeit tiinburd) rul^en auf i^m
bic SBetterroottcn be§ 3övne§ @otte§". 2ll§ er ba§ fagte, mar
e§ i^m, mie wenn ein @trat)t au§ biefen SBolfcn it|n felbft ge-
troffen t|ätte, . @r füllte, bag er über fid) felbft ba§ Urteil ge=
fproc^en tiabe, ba er felber biefen ©laubcn nic^tt^atte, unb
e§ mar i^m, mie menn bcr 3^^^« ©otte§ mie eine 3^^*"^rfoft
auf i^m liege. 2)a§ ©c^lu^gcbet fonnte er nid)t mel^r Icfen, er
erblaßte unb manfte ^in unb t)cr, fo ba^ er al§ franfer SJlann
t)eimgefü]^rt merben mu^te. 3)reiDierteI ^a^re ^atte er Qtxt, ber
Sataftrop^e nad^jubenfen ; benn fo tauge ocrmod)te er, tro^ met)*
rerer SScrfuc^e, nid}t mef)r eine ^rebigt ju ©taube unb ju ©nbe
ju bringen : bann ertebtc er ba§ ©el)eimni§ ber SSerfö^nung mit
©Ott unb mürbe an ©eetc unb Seib gefunb, um fortan ein
3cuge, ni(^t me^r ein ©dt)6nrebner ju fein.
70 $er$OQ: ^cfuS alg ^tcbiger.
§cv;\en brennen würbe, einerfeit^ bie güüe unb ©röpc be^ bar^
jubietenben $eil§, anbercrfeit^ bQ§ bringenbe ^ebürfni^ unb bic
fc^reienbe 9lot ber nod) in uncrleuc^tetem unb uncriöftem ^^uftaube
barnieberliegenben Seelen, fo ergäbe fic^ eine foldje Spannung
be§ 3[ntereffe§, roeldie ber tünftlidjen ^ilfsimittel je länger, je
nie^r entraten unb fic^ einen 2tu^brucf fc^affen würbe, ber fid)
burd) feine SQBa^r^eit unb S)ringlic^teit fclber beglaubigt. 3)amit
oerbänbe fid), voa^ anbererfeitig ben <;5n^ölt betrifft, uon felbft
mel^r 31 f t n a l i t ä t ber ^Btebigt, 3lftua(ität in bem Sinne, ba&
bie 9)lotir)e be§ ©oangeliumsi me^r in ber 3rifct|c ber Oleic^ieitig-
feit bargeboten unb fojufageu mobil gemacht würben. 3Wangel an
Slftualität ift e§, wenn j. 93. mit oiel aJlüf)c unb Umftäublid)feit,
bie bie ^örer ermübet, e^e fie felbft für i^re ^^erfon in 3lnfprud)
unb Dor genommen werben, bie gefc^ic^tlid^en 33erf)ältniffe be§
jeweiligen Sefte» befd)rieben unb ausgemalt werben, unb wenn
bann bie Slnwenbung auf bie ©egeuwart, ber 2lngriff auf bie
©ewiffen unb bie 3u^i9"ung an bie Oemüter erfolgen follte, 3^^^
unb Äraft fd)on uerbraudjt finb^). 3)ie ^olge tiieuou ift, ba§
betr. bic SBa^r^eit, fei eS eine ®aht ober Slufgabe, @ebot ober
3lngebot, nur auf 9lbftanb wahrgenommen wirb unb i^re mag-
netifd)e Kraft oerfagt.
®ewi§ beginnt bie eigentlii^e Sdjwierigteit ber 2lufgabe ber
^]?rebigt, aber aud) ba§ @et)eimni§ i^rer SQBirfung erft ba, wo ber
^}Jrebiger ba§ iBebürfni^ ber $örer in feine 3)]ebitation hinein*
nimmt unb mit ben S^ejtgebanfen in lebenbigeu J?ontaft bringt
— aber eine 3)ifpcnfation uon biefer ^^Jflid)t gibt e§ nid)t. 3w>"
minbeftcn ift uon jeber ^^rebigt fouiel ju oerlangeu, ba^ irgenbwo
biefer ftontaft ^ergeftellt. wirb, bamit ber elettrifdje Schlag er-
folgt ober ein neue^ £id)t aufteudjtet. 2)ie ^örer l)aben einen
1) 3« ber 2)i«fuffiort tüurbc ber ^tefercnt flcfragt, \mi unter »aftucll
prebifleii'' gu ücrftcfteii fei. ®« tuurbc aud) barauf ^tnöcmiefeu, ba6 Diele
meinen, mit bei* ©cjUflnaftnie auf „brcnncnbc" 3citfragen (foäiale unb Xaße««
intcreffcn 2c.) ttjcrbc bic ^rcbigt aftuell gcftaltet. ®a« finb aber offcubar dh*
bcnbingc, Hilfslinien unb Slonftruftioncn, bic icmeil« ober mitunter gur Jln*
tucnbnng unb ©eltunn fonunen burfcn. SlftucQ prcbigen im allgemeinen unb
normativen ©innc bc« 2Bortc« l)ei6t offenbar fo prcbigcn, bafe ber ^örcrmertt:
Tua res agituri 3)iefc 9lftualität foü iuimer gu (Stelle fein.
Ö er sog: 3efu§ aU ^rcbiger. 71
SCnfprud) barauf, ba| fie in ber 'ißrebicjt etroaä bcfommeu, ctiua^,
tt)a§ anbcv§w)o nic^t ju ^aben ober ju f)o(en ift.
@§ ift and) gar nid^t fd)n)er für ben 'iJJrebigcr, eine Setbft*
fontroüc nad) biefcr Seite ^in ju üben, um ju erfennen, mk raeit
er im Sormali^mu^ fteden geblieben ober jur Slftualität uorge-
brungen fei. Qe „objeftioer", fei§ gefd)id)tlirf), fei§ bogmatifc^,
fein ^robuft ift, befto me^r 3Wüf)e wirb e§ it)n !often, e§ ju
memorieren, um bie ^rebigt „ablegen" ju fönnen. Qt mef)r e§
fubjettiocg ©igentum geworben ift, nic^t nur burrf)baci^t, fonbern
burc^Iebt, befto met)r wirb fid) ba§ nacf)gel^enbe ätuSmenbiglernen
üon felbft erübrigen. Unb menn bie ®rfat)rung jeigt, ba| jumeift
bie 2(nfänfler lang memorieren muffen, bie ©ereiften weniger unb
immer weniger, Jo mü^te biefe ®r|cf)einung ganj auffallen b
fein, ba ja ba§ ®ebä^tni§ in jungen ^f^^^'cn fd)neller unb treuer
ift, af§ in älteren, wenn e^ fid) uic^t einfach barau§ erflärte, ba^
auf ber reiferen Stufe mef)r 2lftualität, b. i). ^Beteiligung ber
Subjeftioität an bem Qn^alt ber ^^rebigt Dort)anben ju fein pflegt.
b) 93ieHeid)t bebarf biefer Sanon einer ®infd)ränfung : „Hebung
mac^t ben 9Jleifter" unb mit biefer 3Jleifterfc^aft tann ber 5ot=
mali^mui^ nid)t bto^ jufammenbeftef)en, fonbern — leiber! —
barau5 feine 9la^rung jiel)en. ^amx nennt man i^n SRoutine.
3lber ba§ fönntc nidjt gefc^ef^en, b. f). ba§ ©ewiffen (ie|e e§ nicl)t
gu — benn f)kx gä^nt f^on bie ©efa^r ber ^eudielei unb be§
Srf)aufpielcrtum§ (^^f. 50 ic) — wenn nicf)t ber govmali^mu^ einen
Sunbc^genoffen fänbe an einem j w e i t e n gefäf)rlid)en ©fponen«
ten ber lanbtäufigen ^rebigtweife, ber fojufagen fc^on oor^er auf
bem ^lan ift.
2Bir S^cologen benfen oieüeic^t nid)t genug baran, bag wir
n i c^ t u n g e ft r a f t S^eologen finb unb ben ^^3rei§ bafür }af)(en
muffen. 3Bot|l bürfen wir aud) fagen : äöeil wir Stieologen finb,
wollen wir unfer 3lmt preifen (9töm. 11 13). 3)ie 2:^eologie ift
für bie Äird)e unb für ba§ 'ißrebigtamt ganj unentbef)rlid), wo=
für fd|on ber gro^e If)eologe $aulu8 mit feinem £eben§werf ben
unDerganglid)en S8ewei§ liefert. 3öie wäre fonft eine gefunbe
unb umfaffenbe Sßermittelung ber ewigen SBa{)rf)eit be§ ©oan*
geliumö mit bem geiftigen 33efi§ftanb ber jeweiligen Q^it an
72 §crjOg: ScfuS alg ^rebigcr.
3QBiffen[d^aft unb Sultuv unb mit bem bcm SWcnfc^en eingcftifte*
tcn ©tvebcn nad| uniocrfcücr ©rfcnntniö bcr äBal^r^eit möglich?
2l6cr in 93ejug auf ba§ 93cr{)ältni§ bcr S^cologic jur ^rcbigt
gilt e§ in formcücr ime materieller Sejieliung ben Unterfd)icb
Kar unb fc^arf ju faffen unb feftjuljalten jroifc^en bem, roa^
©laube unb n)a§ 2^^eologie, ober jmifdien bcm n)a§ (Sac^e bc^
©Triften, unb xoa^ ©ac^c bc§ 2;^eoIogcn, be§ g^ci^ntanncS ift.
3)ie SBcrmif c^ung bicfcr ©rcnjc t|at ben unfeligcn 93ann be§ 5 "'
t c 1 1 c f t u a l i § m u § in bie cr)angclifrf)c Äirrf)e unb fpejicH in
itirc micfatigftc Ji^nftion, bie ^rebigt, hineingetragen, gegen ben
e§ bemüht angufämpfcn gilt, forootit in formaler, roie in mate-
rialer ©ejiel)ung. Sebäc^tc jebcr prebigenbe 2:t)eoIogc, ba^ unfere
tt)eoIogifc^en 5*>^*»^cfn unb ©djulbegriffc oon ber 93u^e unb ^eilö«
orbnung, ©ünbe unb @nabc, Srlöfung unb aSerfo^nung, SRed)t*
fertigung unb Heiligung u. f. m. ^bm Hilfslinien unb ^ilfston*
ftruftionen fmb, mit benen mir bie ^Aufgaben unb Probleme beS
c^riftlic^en ©laubenS unb fiebenS ju (öfen, genauer eigentti^ blo§
ju erftären furf)en, fo mürbe er oielen unnü^en 93attaft aus
feinem SBortrag entfernen. Sr foU bie ©a3)en, nici)t bie 93 e=
griffe barbieten, bie realen ©rö^en, nid)t ba§ ©rf)ema ober basi
©i)ftem. 2)er 'ißrebigt foU man ba§ t^eoIogifd)e ©crfifte ni^t
anfe^en; c§ mar nur 9)litte( jum Qw^d; nötig für bie SWebi«
tation: bie J^^agefteKungen , ®cfid)t§punf te , bie ©rfinbung, bie
Orbnung ber Probleme oerbantte er jum grojsen %ziU biefem
t^eofogifdjen, fad)lic^en SRüftjeug. 2lber er mute ber ©emeinbc
nicf)t JU, feine SSorarbeit i^m nad)}u!onftruieren. Qn bcm SWa^e,
als ein J^eologe !)ierin ©elbftentfagung ju üben, ben 2;f)eo(ogen
auSjujie^en unb bie SEBa^r^eit ber ©a^c felbft tieroor unb an§
Sid)t treten ju laffen oermag, wirb er al§ ^^irebiger feiner 2luf*
gäbe genügen. 2)iefe ^fli^t greift ba^er auc^ in ba§ 9Jlaterialc
ber ^rebigt über. Um feincS "^^6)^^ miÜen fann ben 2;^eoIogen
manche g^^age, mand)e§ ^ßroblem aufS t)öd)fte intereffieren, be=
fc^äftigen unb umtreiben. 3)em einfachen G^riften aber ift e«
^öc^ft gleichgültig, meil unocrftänblid), eS madjt i^m nid)t ^ei$,
weil erS nic^t mei|. ©eine 93ebürfniffc gc^en l)in auf ba§ Srot
ber ©eetc ober auf ben ® m p f a n g ber Strjnei für feine ®e*
© e r 5 0 g : 3efu§ atö ^xebigcr. 73
brechen, nid)t auf bie Darlegung uub Sltialpfc bcrfelben burc^ ben
fadjücrftänbigen g^a^monn. ^i\x SSermcibung oon SWi^oevflanb*
niffcn ift c§ rootit faum nötig, au§brüdtlic^ barauf {(injumcifen,
ha% rote bic ®vcnjc ooii 2:t)coIogic unb ®(aubc tatfäd){id) flie^enb
ift fo auc^ bic SSerrocnbung uub Serrocrtuug tf)eoIogif(^cr, jumal
priujipieücr fragen in ber ^^rebigt unter Umftänben geboten
ift (ogl. barüber in biefer 3cttfd)rift ^^^tgang 1901, ©. 47 — 61).
^ier ^anbett e§ fi^ nur barum, ein ©eejeid)en aufjupflauien,
um oor ber Oefa^r ju roarnen, bie im ttieologifc^en <3? u t e I *
leftualiömuS broI)t, unb um bie Siragroeite unb ^nfammen-
^Quge berfelben nod) abfcf)(ie^enb l^erporjulieben, fei nur auf brei
9Womentc tiingeroiefen. ® i n m a I roirb ber ^^rebiger in bem
SWa^e, al^ er auf ber Äanjel t^eologifiert, entroeber über bie
Köpfe ^inroegprebigen, ober aber einen Unterfc^ieb jroifc^en ben
iuteUeftueü ©eförberten unb 3w^ücfgebliebenen aufrirf)ten, ber bem
(Soangelium, ba§ bod) ein ©emeingut ift, roie Suft unb Sid)t,
fc^nurftrarf^ juroiber märe unb ooüenbs bem großen SBort SDkttt).
11 2:>f. geraberoeg§ roiberfpräd)e. ®amit oerbinbet fic^ bie ©e^
fatir, ba§ innerhalb ber eoangelifc^en S?ircl)e ein ^apat ber ®d)rift*
getef)rfamfeit aufgerid)tet werben fönnte, ba§ bem t|ierarc^if(^en
im ßatt)oli}i§mu§ einerfeit^, bem „^apat ber 3öiffenfd(aft" an=
bererfeit§ an ©c^äblic^teit nic^t oiel nad^gäbe, unb auf ben bas
aSBe^e G^rifti über bie ©c^riftgeletirten juträfe, bie „ben ©^lüffel
ber @rfenntni§ roeggeuommen l)aben". Sut. 11 .-,2. ©obann
aber rädjt fid) jebeg ungefunbe Uebergen)id)t be§ ^nteßettualisi^
mu§ in ber ^rebigt gerabe in ber ©egenmart auf eine gerabeju
t)ert)ängni§ooUe 3QBeife. 3Bo nod) fird)lic^er ©inn unb 2:reue
gegen ben ©lauben ber SJäter tierrfc^t, uermag aud) bie ©emeinbe
ber t^eo[ogifd)cn ©c^ulfprad^e ju folgen unb bie religiöfen SEBerte
unb SR e a I i t ä t e n in unb au§ it|ren g 0 r m e I n ju empfangen
unb JU genießen: roo aber bie tird^lic^e ©itte gelodert ift unb
breite 9Waffen au§ bem SSerbanbe ber tir«^lid)en Drbnuugen ent*
laffen finb, ba jeigt fid) bie f urd)tbare Äe^rfeite biefe§ 3uftanbe§ :
bie ganje innere ©nterbung unb ©ntfrembung gegenüber ben
religiöfen ©ütern tritt unoer^üllt f)erDor. ^atte man fte über*
roiegenb nur al§ Se^re ber ©d|riftge(el^rten, b. \). be^ geiftlid)en
84 ö e r j 0 g: 3[«fu§ ot§ ^rcbiger.
geleierten unb bie freie eoangelifd^e Suft unb ©timmung, auS
roeldier l^erauS 3lefu§ fpric^t unb bie ber 3fftn9crt*^ci^ eingeatmet
f)ai, fcl^r fd^ön einanber gegenüber unb bettagt bie Satfadie, bog,
al§ „bie 3Wenge" diriftli^ rourbe, bie gefe^Iid^e 3lrt roieber auf-
fommen mu^te. ®§ ift in ber Sat fo, t>a% nac^bem bog ©oan*
gelium in ber fatfjolifd^en Äir^e jur nova lex begrabiert mar
— n)a§ ja feine geroid^tigen gefc^id^tlid^en ®rünbe \)atk — e§
aud) in ber eoangelifc^en Sirene nict)t jur SBoDau^roirfung feiner
5reit|eit§mad|t gefommen ift. 2)ie§ log unb liegt nic^t nur an
bem „jroifc^eneingetommenen" Sel^rgcfe^ ber SRec^tgläubigleit, oiel^
me^r ift biefe§ nur ein SHefley unb Orimptom einc§ tieferen
aWangel§, ba^ nämlid^ tatfä^Iic^ bas^ ©oangelium felbft nur un*
Dolltommen atS ®efe^ ber greitieit, be§ (Seiftet erfaßt ba§ e§
nic^t einfach aK neuc§ Seben unb neue Seben^Iuft im ®lauben
an unb in ber ©emeinfci^aft mit bem ^errn oerftanben roorben
ift. ®a§ Programm be§ eDangelifd)en Sl^riftentumö, roie e§
Sut^er§ genialer „©ermon öon ber Jrci^eit eineS ©Triften*
menfc^en" in muftergültiger 3Beife aufgeftellt ^at, bebeutet eine
^ö^e eoangelifc^er @rtenntni§ unb ^riftlid)en Seben§oerftanbc§,
n)eld)e bie nad^folgenbe firc^lid^e SSerHinbigung nic^t ju beliaupten
Dermo(^te, oon ber fie, um ber „^erjen§^ärtigteit" ber ©Triften*
menfd^en mitten, mie fie eben einmal waren, unoermertt mieber
^erabgegtitten ift. ©o ftel^en bie 3)inge unb ba§ ift bie trübe
Äel^rfeite ju bem üielberufenen unb oielgerül^mten SBorte ®oet^e§,
momit er ber QvoanQ^la%z, in ber ftd^ bie Äirc^e, qua SJolf^tird^e,
nun einmal befinbet, fo entgegenfommenb unb ^uman SRec^=
nung trägt: „3)a§ Sidjt ber ungetrübten göttlid)en Offenbarung
ift niel ju rein unb glänjenb, al§ ba^ e§ ben armen, gar fc^roac^en
^öienfcieen gemä§ unb erträglid) märe. SDie Äird)e aber tritt
als mo^ltätige ^Vermittlerin ein, um ju bämpfen unb ju
ermäßigen, bamit atten geholfen unb Dielen rool^l merbe". 2)a§
ift gut unb freunblid^ gerebet, aber man fei fid) babei ftar bar-
über, ba§ mit biefer üermittelnben, tempcrierenben g^nttion ber
Äirc^e auf ber einen ©eite ba§ gefe^lic^e SEBefen, auf ber anbe*
ren ber 2Ibta§, b. ^. fomo^l ein Stb^ug an ber eoangelifc^en grei*
^eit, als ein 91ac^la§ an feiner SReintieit fi^ t)erfnüpft — benn
$ e r 5 0 0 : 3^f uS ol^ ^rebiger. 85
beibeS forbert fic^ gegcnfeitig — .
aimx ift, unter gegebenen Umftänben, e i n e § fieser ju üer»
langen: Tlan fod au$ ber ^ot feine Sugenb machen, unb roenn
man über bie ®oangeIien prebigt, bie oon Detinger a. a. O. in
bcr genannten ^rebigt, ber er ba§ geiftüotlc Stiema gegeben ^at
,,6^riftu§ be§ ©efc^eö @nbc", auögefproc^ene 3Barnung tief ju
^erjen faffcn: „Satan ge^t auf nid)t^ fo liftig au§, at§ bafe er
nur ©c^riftgele^rtc unb ©ettierer in 3Jlenge erroede, bie ben
@(auben§n)eg }u einem ©efe^eSmeg machen, bamit bie £eute feine
fiuft befommen, fonbem bajs fte ®fel unb SSerbru^ föff^n an bem
(Soangetium, ba^ bie ©c^riftgele^rten ju lauter ®efe^ machen",
dagegen betont er : „SBer nur Suft ^at, mer nur 3^funt ^erslicf)
lieb ^at, mer nur bie ©lieber ^efu um ber fc^önen ©ac^e O^fu
willen liebt, e^rt, in Obad^t nimmt unb bei ber Äaltfinnigfeit
biefer 3^it P^ ^eroortut, ber ^at Seil an bem großen ^eil in
e^rifto". — ®§ ift nic^t ju oiel gefagt, menn man annimmt, ba$
an bem meitoerbreiteten ungünftigen Vorurteil, ber ftillen ober
lauten Slbneigung, unter bem ber geiftlic^e ©tanb leibet, bie Sat*
fac^e mit fc^ulbig ift, bie auc^ 2trt^ur Öonu§ in feiner
©c^rift „^Religion al§ Schöpfung" in feiner fc^arffantigen SBeife
djarafterifiert, ba^ ba8 (J^riftentum meift alö @efe§, ber Se^re
unb bc^ gebend, empfunben merbe, nic^t al§ fc^öpferifc^e aWadit.
2)er geiftlic^e ®tanb befommt baburc^ etmaS ^^olijeilic^eS, bie
^ißrebigt mirb, im biametralen ©egenfa^ ju i^rem urfpränglid)en
©inn, jur S3u§s unb ©trafrebe, jur ßw^^^itung unb „Saft" (ganj
ä^nlic^ roie ju ber ^rop^eten 3^^*^" »M^ Soft ^^^ ^erm" jum
unangenehmen ©c^lagmort geprägt rourbe, ^er. 23 33 ff. ; man
ogl. nur ben lanbläufigen ©prad)gebrauc^ be§ 3Q3orte§ „prebigen"
unb bie Sieberjeile: „3)er fd)ilt bie fünb'ge ©eele au§").
2)emgegenüber follen mir un§ ^ineinbenfen unb *fi^^i^w
in bie SEBa^r^eit, bie ein franjöfifdjer ©c^riftfteQer in ben geift«
ootlen SEBorten ausJfpri^t (Dgl. ^iltg, 53riefe ©. 100) : L'evangile
est une vie; 11 ne consiste pas seulement k se tenir en garde
contre tel ou tel peche et k accomplir teile oii teile bonue
action. II est une atmosph^re, dans laquelle on vit constani-
ment, et si le contact avec le monde nous en a fait sortir,
86 § e r a 0 0 : 3cfuä al§ ^rebigcr.
il doit en resulter du trouble dans notre Interieur'', ^u biefc
Ucbcrjcugung unb bie baburc^ bcbingtc ©timnmng mu^ bcg ^Ißxt^
bigevs ©innen unb 9lac^bentcn eingctaud^t fein, bann werben bie
©^ran!en faden, mit benen teils lird^lic^e SRoutine, teit§ ber (£in=
f(u§ be§ fie^rgefe^e§, teil§ praftifc^e 2lengftlici^feit ba§ urfprüng«
Iid)e ©üangelium umjogen unb feine göttlid)*menfd^üci^e 9iatür-
lidjfeit oerftcUt l)aben. 3^e tiefer unb urfprünglic^er man ba§
©pangelium erfaßt, befto me^r offenbart fid) feine SEBeit^erjigfeit,
fein öfumenifc^er S^arafter, befto entbeljrlic^er werben bie Ic^r-
gefe^Uc^en ©toffierungen unb (leiber aud)) aSerflaufulierungen
lüie bie tir(^lid)en Stempel ^).
1) ^afe es uic^t überflüffig ift, ben 9luf imd) ine^r 9i a t ü r l i c6 f e i t
aud) inbesug auf ben Sn^alt ber SSerfünbigung erfd)al[eu gu laffeu, bafür bieue
üum SBetuei^ eine uulaugft iu einem d)riftltd)en iölatte — ba« über 1(X)000
?lbonnenten goölt — erfd^iencne öctraditung über ba« ©Dauflelium oom barm-
bcrgiflen «Samariter. 2)iefclbc t)at, im flerabcn ©eöcnfa^ jn Octinger« 93cbanb=
luno^toeife, gum 2:^ema genommen: „@ie finb aüjumal ©ünber, fomobl ber unter
bie SJ^örber gefadene, aU bie 9}2örber, a(d ber $riefter unb l^eoite, aU enb-
lic^ ber (Samariter, ^er erftere (ätte nic^t aUein ge^en foüen. „^ir Ie=
fen auc^ nic^t, bag er mit ©ebet unb (Sottet SBort" Don ^auie fortgegangen
fei. (&x ift „ein 5lbbilb ber aüermeiften SKenfd^en, bie, o^ne üiel nac^§ubenfcn,
in i^rem Sl(Itag«g(anben meitermacf)en, bid plö^Iidi bie Pforte ber ^migfeit
oor il^nen fiA auftnt" — bie beiben mittleren ©nippen fallen felbftoerftänbs
lic^ unter baS Urteil be^ Zt)tma^. ^ber aud) ber le^te, ber eble 8amas
riter. ^ac^bem feinem @belmut aUe ^ilnerfennung gesollt toorben, mirb be-
tont: „Unb boc^ eined fel^lt aud) i^m nod) gum <SeIigmerben, etiuad ba«^ . . .
nad) bem SBorte ®otte« ... einft entfdjeiben wirb über unfcr eioigcS SBo^I unb
iöe^e: 211^ „Samariter" entbehrte biefer "^lami ber rid)tigen ®rfenntni* in
göttUdien fingen, in^Sbefonbere ber ^rfenntni)» besi ©o^nes^ Q5ottei$. SS^er ben
oo^n ©otted f)at, ber f|at baS 2eben 2C. 1. 3o^. 5 12 . . unb auc^ für eble,
braue, madere 3}}eufd)en, toie gen)iB ber bannl)cr5ige Samariter einer luar,
gibt ed feinen anbern ^eg al^ ben. .: „fie merben ol)nc S^erbienft gered)t an^
feiner Önabe" 2c. — 2Bo nid)t eine @ntfd)ulbigung, fo boc^ eine ® r f l ft r u n g
für biefe 2.^errüdung beS eoajigclifcöen @eftd)t«punft« unb feine SSerfteöung
f)inter ha^ )Bef)rgefeQ ift in ber Einleitung gegeben, monad) ber ^erfaffer in
einer äl^erfanunlnng bie ^nfprac^e eines „SeltuianneS" gehört l)atte, bie mit
ben iBorten fd)log: „bleibet, loie \\)x bisher gemefen feib: ebel, bilfreid) nnb
gut !" — 3)arouS ge^t Fieroor, bafe bie (gcmi& axii innerer Uebergcugung f^tx-
vorgegangenen) !^e!lemmnngen über biefen ^elagianiemuS bie Unterlage für
btcfe unbegreijlidie 'J}{igbeutnng gebilbet f)abcn. ^ötte aber nic^t bem SBer-
§ ^ 1^ 8 ö g : 3ef u§ al§ ^rebiger. 87
SSielleid^t barf ()iebci noc^ eine Erinnerung nid)t unterbrüdEt
werben. @ö ift eine oft beliebte, balb unbewußte, balb eräroun*
gcne Slbroei^ung öon bent (Seleife ber Slatürlid^teit wenn bie
t^eologifd^e unb I)omiIetifd^e ßunft ben ^rebiger auf bie 93a^n ber
älllcgorefe oerleitet, ol)ne ba§ bie (Jiexaßaai^ eis aXko yivo;,
offen eingeftanben wirb. SBenn mau fid^ beraubt bliebe, n)ie auc^
baburd) bie leidjte ©infac^^eit be§ Soangeliumg oerfrfiränft unb
bie 91atürtid)teit ber Äünftlic^feit geopfert wirb, fo roürbe man
üou biefer nur unter beftimmten S3ebingungen erlaubten SRebe^
figur einen fparfameren ©ebrauc^ mad)en.
2)a aber bie Erreichung biefe§ QitU einer möglic^ft natür*
lidien Serfünbigung be^ ®Dangelium§ im legten ®runbe an bie
'öebingung gefnüpft ift, ha^ bie Äraft be§ ©oangeliumg im ^re^
biger lebenbig, ba§ perfönlictje E^riftentum in it)m 9latur mirb
(b. i). ein organifd(e§ @eroäd^§), meldte ba§ i^m grembe oon
felbft abftö^t, fo meift ebenfo biefe jmeite gorberung, fo gut
mic bie e r ft e , nod| mef)r SBirf lid^teit, fc^lie^lid) auf ben ^^Junft
^in, ber entfrf)eibenb ift: SBie ftet|t e^ mit ber ^erfönlid)!eit?
mit bem 3^ii9"i^ be§ Seben§, ba§ un§ allein erlaubt, !räftig ju
prebigen unb barum perfönlic^ ju prebigcn?
3. SJle^r ^erfönlid)teit! tautet bie britte ^orberung unb
fte bebeutet im älnfdjlu^ an baö ©efagte beibe§ : ber ^rebiger foU
eine d)riftlic^e ^$erfönli(^!eit m erben, bann fann er perfönti^er
prebigen. S33a§ ba§ er fte betrifft, fo ift freiließ mit bem ajio'
matifdjen 9lu§fpru(^ 95inet§: „qui n'apastoute la vie, n'a pas
non plus toute la v(5rite" eigentlid) allen ©Triften im Söerglcic^
mit 3^fu ^^ibtx bag Urteil ber SJiinbermertigfeit unb Unjuläng*
lidjfeit gefproci^en. Slber mir tiaben biefem Styiom einen 9Jla§s
ft Q b für unfere äBirffamfeit unb ein 3 ^ ^ ^ fö^ ^^\^^ ©treben
ju entnehmen. Qene§ infofern, afe mir un§ barüber tlar fein
muffen, ba§ ba§ <3fmponberabile be§ perfönli^en ®inbrurf^ ni^t
nur ebenbiefelbe, fonbern eine größere 2:ragroeite ^at, al§ bie
5orm unb ber <3nl|alt ber Sßerf ünbigung, ba§ bal^er jebe fpürbare
^utongruenj oon ©ein unb Sieben if)re ©diatten mirft auf ba§
faffcr eine innere IBcflcmninng auc^ bariibcr erwacficn follen, ba6 er rcd)tfllQU=
biger fein toollte, als ber §crr unb SWeifter felbft?
88 $ e r 3 0 g : l^ef ud alsi ^rebtger.
abgelegte 3^w9i^i^ ^^^ ^^^^^ 2lbjug uerurfa^t au feiner ®laub=
roürbigteit unb burc^f^Iagenben Kraft. 3)enn wenn bie ©orte
bcr ^rebigt oer^aüt finb ober aurf) — Dergeffen, fo bleibt bie
9lu§ftrat|lung ber ^^erfönlic^feit, bie im günftigen unb bie im un=
günftigen ©inne. 3Jlöc^te, ja mu^ e§ barüber jebem ^rebiger
bange werben — benn wer tann mit feinem perfönlic^en Seben
bie (Sröjse unb SRein^eit, bie SGBärme unb Kraft be§ ©Dangelium^
beden? — fo ift e^ freilid) anbererfcit§ ein ftet§ un§ Dorfc^roebcus^
be^, nie erreic^te^ 3^^^/ "^^"^i ^^^ ^'^ ^bentität oon SBort* unb
2:at}eugni§ ju oer mir flicken ftreben. 3lber e§ ift barum no(^ fein
^^Jt)antom, bem mir nadijagen, feine unmögli^e Slufgabe, an ber
mir un§ ju jerarbeiten l^ätten. ®§ gibt beftimmte, gebahnte
SBege, meld)e gortfdjritte in ber SWic^tung ju biefem Qxti oer*
fprec^en unb oerbürgen. 3)er erfte Schritt unb bie fclbftoer»
ftänblicf)e Orunblage für baö glaubmürbige 3^W9ni§ be§ ©oange-
Uum§ ift ja bie^, baj3 ber ^rebiger für feine eigene 'ißerfon
be^felben teilhaftig unb biefeö 93efi^e§ f t o t) geworben ift. 3)er
©runbton ber ^i^eube über bie erfahrene 33arm^erjigfeit mirb
bann in ber 3Serfünbigung bie Dominante bilben. Unb ba§ ift
bie erfte öebingung bafür, ba| fie ein lebenbige§ ®d)o in ben
^erjen ermecfe. ®iefer ©runblage entf priest bann ber weitere 3Beg
jur perfönlic^en ^Beglaubigung be§ ^rebiger§: ®§ ift ber ber
^emut unb ^ufric^tigteit. Sag babei bie äBa^r^eit be§
SebenS eS oerlangt unb baS ci^riftlid)e unb firc^lic^e 2)eforum e$
nic^t oerbietct, in bejenter aGBeife in ba§ SRingen ber eigenen ^er»
fönlic^feit bem ßu^örer einen 93licf ju oerftatten, bebarf faum ber
®rinnerung. ©obann get)ört ju ber fittlic^^religiöfen Seglaubi*
gung be§ ^rebigerg al§ eine§ 3^ugen ber 9Ba^rI|eit bie untrüg*
lid^e, tatträftige Ueberf üt)rung ber 3u^örer bann, bag eS i^m um
©ottesi, nid|t um feine @^re, um bie ^a^rl^eit, nic^t ben ^ei>
fall ber SBclt ju tun ift, unb bag er gefinnt ift wie $aulug : „idj
fu(^e nic^t ba§ eure, fonbern euc^." darüber barf unb fann er
bie ©emeinbe nic^t im unflaren laffen. SSBie aber bie Ke^rfeite
^ieoon ift, bag er an ber ^^Sflic^t, ber gßttlid)en 3Bal)r^eit „fterbf
lic^eä Oefäg" ju fein, einen ©tai^el befi^t, ber i^n beftcinbig
treibt, an feiner 2)urc^bilbung unb Säuterung ju arbeiten, fo ift
©crjog: 3cfu§ al§ ^tebiger. 89
mit bicfcr Eingabe an bie gro^e ©qc^c üon üorncljcrcin auc^ ber
SBcfx^ bc§ ^öd^ftcn @ute§ oerbunbcn. 3)cmt „bcr Ärfcr§man«,
bcr bcn 2lrfer baut, barf bie Jrüc^tc am crftcn c|enic|en" (2. Jim. 26).
3)amit ift fc^on bie anbete ©ette berüljrt: e§ gilt per fön*
lic^ ju reben, rec^t üerftanben im 5Reben perfönlic^ }u werben.
SBic ha§ 9teben t)on ber eigenen ^erfon, Doßenb§ ba§ etroaS au§
ftd| 2)laci^en burd^ bie richtige, felbfttofe, ^eilige 93eruf§auffaffung
von felbft au§gefc^Ioffen ift, — fo ba^ber rechte ®cbrau^ bcr
pcrfönli^en gürroörter: ic^, bu, er, mir, i^r, fte unb last, aber
Qttd^ least, „man" t)on innen ^erau§ fic^ ergibt, o^ne eine ted^«
nifd)e ^nftruftion ju erforbern — fo ift in folc^en perföntirf)en
®rnft eingefd)Ioffen ba§ ^erfönlidimerben im ©inn ber beut*
Iid)en 2lpoftropf)e an bie ^örer. 3)a§ mar, mic erjäl^tt wirb,
bie Sraft eine§ SB 1^ i t e f i c I b. ©o roirb ber SJebner nic^t met)r
über bie Röpfe roegprebigen, fonbern roirb jum ^feil, ber bie
©emiffen trifft. Äierfegaarb ^at in feiner fc^arfen SBeife in
feiner „Sinfibung im ©^riftentum" in bie ®efa]^r l^ineingeleuc^tet,
in bie mir burc^ bie ,,33etrac^tungen" attmä^Uc^ hineingeraten
finb. „©etrad^tungen", fagt er, „fommen roeber bcm Siebenben,
no^ bcm ^örenben ju nalie, bie Betrachtung fiebert ganj juoer*
läffig bagegen, ba§ e§ nid^t jum ^erfönlic^roerben fommt. . . .
Unter ^erfönli^roerben üerfte^t man ja ein unjiemlic^cS, unge*
bitbetc§ Setragen, 2ln}ügtic^teiten, unb alfo ge^t c§ ni^t an, per*
fönlid) ju reben {aU rebenbe§ ^c^) unb ju ^erfonen ju reben
(bcm l^örenben S)u). Unb gel|t ba§ nid^t an, fo ift ba§ ^rebigen
abgefc^afft." 9Jlan roirb fid) bem (SinbrudE nic^t entjiel^en fönnen,
ba§ ber fc^onung§Iofe Sritüer in bem ^auptpunfte SRec^t ^at,
bag in ber lanbläufigen ^rebigtroeifc ju oiel „Betrachtung", ju
rocnig Slpoftrop^c ift. Qfeber ^^Jrebigcr erfäiirt e§ an fic^ felbft,
ba§ c§ Ici^t ift, Betrachtungen ansuftcHen, bagegen ein SD3age=
ftfidt, im ^ßrebigtoortrag bie eigene ?ßerfon eiujufe^en unb bie
ber ^örer in 9lnfpruc^ ju nehmen, fein ©eroiffen fagt il^m aber
auc^, roaS me^r frommt. Unfere ^rebigtcn f outen, roo nid^t
©c^Iad^ten, fo boc^ jum roenigften 2;aten fein, ni^t geiftlid)e
SWanöoer. 3)a§ mit biefem „^erfönlid^roerben" ein allgemeinere^
@rforberni§ fi^ oon felbft Dcrbinbet, ba§ roeiter au§jufü^ren nic^t
90 © e r 5 0 g : ^^\\xS aB ^rebiger.
not tut, nämlid) bie ßi^^^^w^ugt^cit, wonach bic ^^Srcbigt bie
9lufga6c ^at, einen bcftimmten Qxotd bei ben $6rem (fei eg @r«
fenntnig ober 3BiUen§entf d)Iu6 / ®ntfd)eibung ober 2:roft) ju er*
reicf)en, bebarf nur ber (Erinnerung.
3)ie[e enge a3ejiel)ung jroifc^en ^^erfonlic^teit unb "ißrebigt ift
— ba§ möge jum ©c^luffe nod) gefagt werben — rote ber jar*
tefte 9iero unferer Seruf^roirffamfeit, fo juglei^ bie Ärifi§ in
unferer ©eruf§lauf6al)n, ber $untt, ber barüber entfi^eibet, ob e§
aufioärtg unb oorroärt^ ober abroärtg unb rüdtioärtg mit bem
^rebiger felber ge^t.
Q\t e§ bem 3Infänger nod^ mögli^, feine ^^rebigt ju fertigen
unb bann „abjulegen", mie ein ^cnfum ober ein ©yamen, roeil
er erften^ mit bem S^ec^nifc^en noc^ fooiel 2lrbeit i^at unb roeil
jmeiten^ bie afute 9lä^e }mifd)en bem ^^n^alt be§ SBortrag^ unb
bem ©rieben ber >ßerfon nod^ nid)t oöüig erreicht ift ober toenig=
ften§ nicf)t jum ooüen öeiou^tfein tommt, fo treten im fiauf ber
3eit unb im 3)rang ber @rfat)rungen unb S}erpflid)tungen biefe
beiben ®rö^en einanber immer nä^er unb fe^en fic^ freunblic^
ober feinblict) austeinanber unb jmar in ber S5ruft be§ ^rebiger«.
3)ie roeitere naturnotmenbige (Jntmidlung ber Sac^e ift bie, bafe
e§ i^n entmeber nad) oben rei^t ober abroört^ jief)t, baß cnt=
roeber feine ©elbfterfenntnig unb fein ^ebürfniö nad) göttlicf)er
^raft unb ®nabe oertieft, ober aber er abgeftumpft unb oerf^ärtet
roirb.
®§ fönnten nun mo^l aufecr biefen brei gorberungen be§
Strebend nac^ SlBirf lirfjteit , S^atürlid^feit unb ^^Serfönlid^teit nod)
anbere aufgemiefen werben, bie bemfelben 3iclc iufü^ren, ba^ wir
ber ^^rebigtmeife be§ 3Jleifter§ un§ affimilieren, aber fie berü^*
ren unb oerbinben fid) bod) auf§ engfte mit ben aufgejeigten
ßinien. SÖenn e§ fomiefo mandjem fd)einen mag, aU ob barin
un§ metir aufgegeben merbe, aU mir leiften tonnen, fo roirb bas
^öd)fte Quietio, ba^ mir "ißrebiger immer braud^en unb auf
beffen g^ftigteit unb Sragfraft mir ftet§ angemiefen bleiben, n)enn
bie 9}erantmortlid)feit unfere§ 93erufe§, ba§ fc^merjlidie ©efübt
ber Unjulängtic^feit unb ba§ nod) empfinblid)ere ber Sünben unb
Sßerfäumniffe fic^ auf bic Seele legt, ta^ fein: e^e mir barauf
$ e r $ 0 g : :3efu§ alg ^tebiger. 91
Slnfpru^ ma^cn, 9lac^a^mer unb 9lac^bilber be§ ^crrn al§ ^rc*
biger ju fein, tootten loir für unfere ^erfon einmal feine @r=
Ißften fein, bie fid| roie alte unfere 93rüber ber SJergebung ber
©ünben getröften unb ebenbamit ba§ elementare SRed^t ^aben,
3eugen be§ (SoangeliumS ju fein unb ju bleiben.
Seit f ä^c.
I. ((Einleitung), ^er prafttfdie @c^\d}t^puntt, üon bem mir ^iev bie ^xaQt
anfaffeii, beftimmt biefelbe nS^er ba^in; morin unb inmiefern tann unb
foU 3efu9 fflr und als Sßrebiger uorbilblicbfein? ^aS 3tel ift btebei btefe^,
ba6 mir fo t)tel aU möglich Don feiner „^oümad^i" (3Jlt 7) erlangen.
A. 3efuS $rebigt formell unb materiell betrachtet.
IL Sladi i^rer formalen 6eite fennseic^net ftcfj bie ^rebigtmeife 3efu burcf)
tbre eingigarttge 92atürli$!eit, bie barauf beruht, bag er 1) in ber (me^^
fentlic^en) SBa^rbeit gan^ ju $aufe ift 2) ba6 er bie ^ebftrfniffe ber $örer
genau fennt unb oermertet unb 3) ba^er indbefonbere bad Snftrument be^
aQgenieiuen SBabrbeitdgefübld (sensus communis) meifterbaft b<inbbabt.
III. ^aö) ibrer i u b a 1 1 1 i d) e n @eite bifferengiert fie ftcb» toa^ bie Tlo'
tioe (unb DnietiDe) betrifft, in breifacber ^bftufung: über ben gegebenen 1)
rationalen (aHgemeiusmenfcbncben, bej. etbifcbeu) unb 2) religidfen, beg. efcba«
tologifcben SRotiuen erbebt ftd) 3) a(9 neued unb originales bie geiftige $0-
teng bed SieicbeS (^otteg. @ofern bad i n i b m felbft urfbrünglicb erfcbienen,
nimmt innerbalb bei^felben feine $erfon eine gentrale Stellung ein.
IV. ^t^f)alb ift bie Sßrebigerperf önlirf) f eit 3c|u teilmeifc xw
unb t)0rbilblid)f teilmetfe aud) unnacbabmlid) unb unerreid)bar.
6. Unfere gegebene (lanbläufige) $r ebigtmeif e.
y. @e^en mir üon einer llntcrfucbung il^rer gefcbi^tlidien (a(fo relatiu
notmeubigen) (Sntmidehmg bi9 auf ibre heutige (l^eftalt ab, fo geigt fcbon ein
Ouerfcbnitt burcb le^tere ben großen 2lbftanb öon ber %xt Sefn. S)cr=
felbe ift einerfeitl^ burcb bie Umftänbe bebingt unb alfo begreiflieb unb mibe«
benfücb bingune^men, anbererfeits aber bebenflid) unb megen einer brei-
facben (^efabr unferer $rebigtmeife gu beanftanben:
1) ber ©efal^r beS ^ormatiSmud,
2) ber beS SuteaeftualiSmu^i,
3) ber beS S^et^obiSmud.
C. Sf olgerungen.
VI. SBie lann unfere $rebigt in bie gröBtmögndje Uebereinftimmung mit
ber 3cfu gebrocbt merben?
^ntm.: X'xt gegebenen, teiU gu tragenben, teils auSgufc^altenben, ftö«
92 © e r § 0 g : 3«fwj^ ol§ ^tcbigcr.
r e n b e n @£ponenten uuferer $rebtgttt}trffam!eit toerben nur babur^ Don innen
f^txanS übertounben, bag mir üon feinem @inn unb (3etft burd)brungen unb
gefattigt kuerben. ^te^ gilt befonberd nad) brei Ülic^tungen:
2Btr braudien 1 ) mel^r SB i r ! I i d) f e i t (inbem mir und fubjeftit) mie
objeftiü nte^r auf ben S3oben bcr @rfa^rung ftcttcn).
2) ^tf)v D'latürlic^fett (nid)t nur im CS^egenfa^ ^ur @teif^eit unb
@e3mungen^eit fonberu aucg gur (^efe^Itc^feit unb ^emaUfamfeit, beg. Wlad^t).
3) 2Jlet)r $ e r f ö n 1 1 d) f c i t (fowol^l im ©ein al^ im Stieben).
93
S8on
}u ^ubcna in S^eutfd^-Slutlanb.
Seit einiger Qtit fc^roirrt bie Sejcic^nung moberne Sfieologie
burc^ oße 2:a9e§jeitungen, ein ^enbant auf religiöfem unb firc^*
liebem ©ebiet ftgnalifierenb gu ©rf^einungen auf aütn möglichen
anbeten ©ebieten, ein ^enbant ju Slnfc^auungen, Seftrebungcn,
SRic^tungen, bie, n)ie l^cterogcn fonft, in bem einen fid) bereit*
1) ^en (^egenftmib bei* üorliegenbeit ^b^aubliing ^abt td) bereite im
^erbft 1902 ben üerfammelten $rebigern beS ^urlonbifdjen ftonrtftorialbcsirf^
Dorgetragen, mit ber Slbftcbt unb bem 3^ccle, ben 9Imtdbrfibern bie ®emeg«
grünbe unb bie 3i^Ie in ben ^eftrebungen ber neueften (^ntwidlungSp^afe ber
cbangelifd)en ^^eologie uorgufn^ren, gur Prüfung unb §ur ernften Q^rn)ägung
anzuregen. S)er SSerfnd) miglang ooUftänbig. ^ie Tlt\)xf^t\t fa^ barin nur ein
Attentat auf i^re ©laubendfteHnng, bad mit $roteft BMtüdfsutDeifen fei. ^a«
burdi niurbe eine fac^Iid) gan$ unberedjtigte ©enfation erregt, bie namentlid)
bort, )D0 man fid) auf ^eric^te gmeiter unb britter $anb angemiefen fa^, t>bU
Itg ungeheuerliche ©erüc^te über ba^ ©efc^el^ene gur Solge l^atte. @^ liegt
ebenfo im Sntereffe ber Badjc tolt meiner unb fc^Iteg(id) aUer, bag ant^entifd)
feftgcfteUt toirb, mad bamalS uerlautbart morben ift. £eiber n^ar ber S^or»
trag, ba nic^t borl^ergefe^en \Dtxhtn fonnte, ha^ er eine foId)e 3Btc^ttg!eit gu er»
langen imftanbe märe, nid)tfür bie ä^eröffentlid)ung bered)net, unb er entgie^t
fi4 t^r ai\^ me6rfad)en (^rünben. 21ber ber uorliegenbe 9(uffa$ bietet in a\u
berer Umrahmung unb fonftiger formeQer Umgeftaltung baS 8ad)Uc^e in jenem
S^ortrage im gangen unt)erfürfit unb unüeranbert Xtx ä^erfaffer.
Sladjfd^rift ber 9tebaftion: 2)er folgenbe ^luffafe, berinberbal»
tifc^en ä)7onatMd)rift bereite gebrudt mar, f^at infolge ^erbotd ber S^^tfur bort
nicfit oeröffentlic^t merben tonnen.
Sritfd^ft für %f)toloq\t unb flirc^f. 14. ^a^rg., 2. $eft. 7
94 f^re^etabenb: SD'loberne ^^eologte.
lüiflig jufammcnfinbcn, ba§ fic üor allem „mobern" fein rooKcn.
3)ie 93ejei^nung ^at fid^ in allen ©gmptomen fc^nell ju ber un*
^eimli(^en SKac^t eme§ @d)lagroort§ auSgemad^fen, bte ^ßarojgg^
men cntgegengefe^ter 2lrt erjeugt, bie einen frf)n)ärmen mac^t in
®ntjüdfen, bie anbern erregt ju sornigem SBiberfpruc^. 3)er ^o^e-
puntt ber Seibenfrf)aftlic^teit ,mirb natürlich wie billig auf bem
©ebiete religiofer J^ägen ertlommen werben, menn fid) erft bie
9Jleinung§Derfc^ieben^eit borüber, ob „bie fjorberung eineö mo*
bernen ®^riftentum§ unb einer mobenien S^eologie berechtigt"
fei ober nic^t, fd^ärfer äufpi^t unb für weitere Streife oon SBe-
beutung mirb. Sciber pflegen Älar^eit ber ©infidit unb Umfi(^*
tigfeit ber ©rroägung im umgeteljrten Sßer^ältni^ ju bem aufge=
roanbten ®ifer ber Äampffertigfeit ju ftetjen. Sfflan er^i^t fid)
für ba§ aWoberne unb erboft fi^ bagegen, otine ree^t ju mtffen,
ma§ e§ im tiefften ©runbe um ba§ 3Jloberne fei. ©leiben mir
auf unferem ©ebiete, fo l^ie|e e§ i3or allem einmal ber 5^age auf
ben ©runb fet)en: ma§ ift moberne 2:^eologie? S5a fmb nun
man(^e mit ber 3lntroort fc^nell bei ber ^anb. SUloberne 2:^eo=
logie ba§ bebeutet i^nen bie S^^eologie nad^ ber neueften 2:age§'
mobe. Unb ba SWoben betanntli^ fel^r fdinell med) fein, fo ift
biefer 2luffaffung oom SDiobernen ber ephemere ©fiarafter ber mo-
bern genannten St)eologie }meifello§. g^eilic^ roenn man ftc^ an
bie ©t^mologie unb ben urfprünglic^en ©pradf)gebraud^ be§ SEBor»
te§ mobern galten mill, fo l^ätte ja bie angeführte 3Reinung nid)t
fo Unred)t. 2lllein roenn man nic^t an ber Dbecflci^e ber 6r«
fdjeinung Heben bleiben unb fidt) mit einer Slarifatur begnügen
mill, roirb e§ bod) gelten etma§ roeiter au§äut)olen unb mel)r in
ben ^ern ber (Sad)e einzubringen, ^ft e§ roirflid) möglich unb
tunlid^ ba§ überall auffladternbe Streben nad) bem, roa§ wenig
fd)ön unb au^reic^enb mobern genannt roirb, hirjertianb al8 eine
SJlobetorl^eit, roie ja beren unfere Q^xt tatfäd^lid^ oiele jcigt, nur
fo abjufd)ütteln? Saju ift e§ bod^ ju umfaffenb, ju tiefge^enb
unb tritt mit ju bebeuteuben Seiftungen auf ben ^^lan. SGBa§ ein
ganje§ 3^it<Jltc^ berartig beroegt, alle§ ^ergebrad^te umpflügt unb
felbft bie 3Biberftrebenben in feinen S3ann jiefjt, inbem e§ fie jur
2lu§einanberfc^ung mit fid^jroingt, ba§ !ann nid)t etroa§ jufällig
^ei^erabenb: Tlohzxnt ^^eologie. 95
3(uftauc^cnbc§ unb fffid^tig loieber a3crfd)n)inbenbc§ fein, ©eine
Surjel mu^ tief retd)en unb mit bem Seben^grunbc felbft irgenb*
roie in 3uf<i^^n^^>^^öng fielen. ®a§ beroä^rt fid) a\xi) an ber neuen
J:^eologie. 21. $R i t f c^ l bat fic ja nic^t erft aufgebracht. 833ar
benn bic fg. negatio^tritifc^e, ober bie fpetutatioe Xbeotogie nirf)t
in ibrcr 2lrt niobern ? Unb © d^ l e i c r m a d) e r , ber Sßater aller
feitberigen Sb^ölogie? Unb bie Stuf flärungst^eologcn ? Suttier
roar in oielen ©türfcn ein mittetalterlid^ benfenber unb empfin*
benber 9Wenfc^. Slber in feinen eigentümlicbften unb bleibcnbften
flonjeptionen putfiert ba§ ^erj einer neuen Q^\t ^a no^ weiter
bürfen wir gurürffcbauen. ©elbft ein SJlann wie ber Kirdjenpater
21 u g u ft i n ^at 2:öne gefunben, bie ber Siefe bc§ @eifte§ ent*
ftammen, roie er in bem 3Jlenfc^en ber Oegenroart mcbt. 93on
ba aber fc^en mir un§ al§balb nod) meiter jurücfgefübrt auf
5ßauluö, ben großen 9Jliffionar ber ^eibenmett, unb fielen
bobei |d)on in ben 2lnfängen be§ S^riftentum§. 9Sie oer^ält e§
fic^ mit biefer größten Srfcbeinung ber 9Kenfd(bßit^fl^W^t^? ®c*
^ort fte nid)t am @nbc felbft auf bie ©eite be^ SJJobernen? 3)ar*
fiber fann gar fein 3">^ifßl f^i^^ ^^^^^ ^^^ ^^^ SWoberne nun-
mebr al§ ben ©egenfa^ jur Slntife oerftetien lernen. 3)a§ ©b^if^^"'
tum felbft ift bie ©runblage, ober beffer auSgebrürft: bic SBurjel
be§ 9Wobernen. 9lu§ ifim ftammt at§ frifc^er Srieb alle§ Seben§=
oolle bi§ if^xab auf bie 2^f)eologie, bie im 2lugenblirfe mobern
genannt wirb, im ®runbe aber nic^t ifotiert für fid) baftet|t, fon-
bem nur ba§ jur ßeit jüngfte ©lieb in einem organifci) ermad)*
fenen ©ebilbe barftellt, morin bie SBuvjel ifjre SebeniSfraft am
energif^ften jum 9lu§brucf bringt. 3)a§ finb freilid) ©e^aup^
tungen, benen c§ junäc^ft an mebr ober meniger erregtem SBiber«
fprucb nicbt fetalen mirb. ®er 93emei§ fann erft am ©d)Iu^ al§
beigebracht erachtet werben. 9Kögen e§ atfo bi§ batjin nur S^befen
fein, bic mir aufftetlen. ©ooiel merben bocb aucb bic ®egner
nidjt in Slbrebc ftcUcn, ba§ ba§ ©b^iftcntum im ^nnerften einen
©egenfa^ jur 2lntifc bilbet, roenn c§ aucb ^^^^ feiner Urgeftalt
feinesmegg unocrmittelt unb unoorbereitet in bie SBett getreten
ift, nod) aucb ganj unoerflodjtcn mit cbarafterifti)d)en ©lementen
ber 9lutife geblieben ift.
94 ^et)erabenb: a^oberne ^(^eologte.
roiflig jufammcnfinbcn, ba^ fie vox allem „mobern" fein wollen.
3)ie 93ejeid)nung \)at fid| in alten (Symptomen fd^neU ju ber un*
^eimlic^en Sffla^t eine§ ©c^lagmortS auggemad^fen, bie ^arof9§=
meu entgegengefe^ter 2lrt erjeugt, bie einen fd)n)ärmcn madjt in
®ntjüden, bie anbern erregt ju jornigem SSiberfprud). 3)er |)öt|e'
punft ber Seibenfc^aftlic^feit ^mirb natürlich wie billig auf bem
©ebicte religiöfer 3=rägen ertlommen werben, wenn fid^ erft bie
SDleinung^oerfc^ieben^eit barüber, ob „bie ^o^berung eine§ mo*
bernen ®^riftentum§ unb einer mobernen äil^eologie bered^tigt"
fei ober nic^t, fdiärfer jufpifet unb für weitere Sreife oon Se=
beutung wirb. Seiber pflegen Klarheit ber @infid)t unb Umftc^^
tigfeit ber ©rmägung im umgete^rten Sßerl^ältni^ ju bem aufgc*
manbten (Sifer ber Äampffertigfeit ju fte^en. SWan er^i^t ftc^
für ba§ Sffloberne unb erboft fic^ bagegen, ol^ne rec^t ju wiffen,
was e§ im tiefften ©runbe um ba§ SOtoberne fei. bleiben wir
auf unfcrem ®ebiete, fo l^ie^e eS oor allem einmal ber S^age auf
ben ©runb fe^en: voa^ ift moberne 2:^eologie? ®a finb nun
man^e mit ber Slntwort fd)nell bei ber ^anb. iäJioberne 2:^eo=
logie ba§ bebeutet i^nen bie 2:^cologie nac^ ber neueften S^ageö-
mobe. Unb ba SJloben betanntlic^ fel^r fcf)nell wed)feln, fo ift
biefer Sluffaffung oom 9Äobernen ber ephemere (J^arafter ber mo-
bern genannten 3:^eologie jweifeltoS. greili^ wenn man fic^ an
bie ©t^mologie unb ben urfprünglii^en Sprad/gebraud) be§ Sffior*
te§ mobern l^alten will, fo ^ätte ja bie angefülirte üWeinung nic^t
fo Unrcdit. Mein wenn man nic^t an ber Oberfläd)e ber ®r*
fdjeinung fleben bleiben unb \ici) mit einer Äarifatur begnügen
will, wirb e§ boc^ gelten etwa§ weiter au§jul|olen unb me^r in
htn Jlern ber ©ad^c einjubringen. ^\t e§ wirtlid() moglii^ unb
tunlidf) ba§ überall auffladternbe ©treben na(^ bem, roa^ wenig
fd)ön unb au^reic^enb mobern genannt wirb, turjerl}anb al§ eine
2Jlobetorl^eit, wie ja beren unfere 3^it tatfäd^lic^ oiele jeigt, nur
fo abjufdiüttcln? ®aju ift e§ bod^ ju umfaffenb, ju tiefge^enb
unb tritt mit ju bebeuteuben Seiftungen auf ben ^lan. aBa§ ein
ganjeS ^^it^tter berartig bewegt, alle§ ^ergebrad^te ump^ügt unb
felbft bie SSSiberftrebenben in feinen 93ann jief)t, inbem c§ fie jur
9Iu§einanberfe^ung mit fidjjwingt, ba§ taxm nid)t ctwa§ sufältig
'Geologie.
97
nub SJatcr
'■>\
•»ti-
K
rTcn
-,ien uub
3d)öpfung
. ber Statur.
ai)t gciüorbeu
.13 Sid^t geftcUt
oiutgeifterung bcr
luivb fagcn muffen,
.ajebcn l|at, roaS bcr
opfung^gebict in feiner
c^mä^ig georbnete§ uub
. ucje^alteneS ®anje§. SDBa^
' fclbftperftänblic^ geworben
i unbefannt. ®a§ aber bie
^)runblage gefunben ^at, bafür
anfbar beroeifen, gegen baS fo
-vftanb poltern. Merbingg nur
oa§ burc^ ben ©intritt be§ ©Triften*
.11. 2Bal|r^eiten oon fol^er Jrag«
iiie^ung unb Slu^wirtung eine§ lang-
\ ba§ treiben oon innen ^erau§, ba§
leifen jeben jä^en SBec^fel unb über*
ijlieBcn. 3)er (Sauerteig verlangt feine
ä^( ju burdibringen. 6iner oberfläc^lid)en
•te e§ be§^alb fo erfc^einen, al§ ob ba§
3Infange bie l|ergebrad)te äBeltan[d)auung
möfe^ung nimmt, fo boc^ roenigften§ auc^
u uaio bejaht. 3)ie§ wäre um fo el|er mög=
•lettierenbe Äritif jebenfaßg fernliegt unb au§
96 S^e^erabenb: iEnoberne 2:^eo(ogie.
gtagcn roir nun: roorin befielt bcr ©egcnfa^ be§ ®t|viftcn==
tum§ unb ber Slntifc?
@r betrifft ba§ fiepte unb ^öd^ftc, maS cS für ba§ bcntenbc
93cn)u|tfcin gibt: 9latur unb ®eift, 9laturbafein unb pcrfönlic^cS
Sebcn, roorin ber perfönlic^e ©eift fic^ über bie Statur ergebt
unb i^rer mächtig fü^lt. 3)er antiten SSBelt fliegt bcibeS ganj
unb gar burc^einanbcr, in loeld^em 3Wa§e, ba§ tonnen wir unS
am türjeften unb einfai^ften burc^ 2luffrifc^ung einer ©c^ulerin*
nerung beutlid^ t)eranfd)auli^en. äBtr brausen nur an Ot)ib§
9Jletamorpt)ofen ju benfen unb e§ fte^t unS cor Singen, roie tu
nerfeitS SBaffer unb gete, SBaum unb Sier unS au§ perfonlidien
3ügen anblidfen, unb anbcrerfeit§ urfprünglid) perfönlid^e^ fieben
fortroä^renb in blo§e§ 9taturba[ein übergebt. ®§ roogt formti(^
burc^einanber o^ne beflimmte, fefte ©renje. S)ementfpre^cnb ge*
ftaltet fic^ aud) bie 9lnfc^auung non ber ®ottt)eit. 3)ie 9latur
ift nid^t nur „ber ©ott^eit lebenbigeS Äleib", fonbern gerabeju ber
eigentliche Urgrunb, worauf erft ba§ perfönti^ geiftige SEBefeu
ber ©ott^eit erroäd^ft, foroeit banon überhaupt bie SRebe ift; benn
bei ber ^errf^enben ©runbanfd)auung fann e§ nic^t befrcmben^
ba§ eine fc^ittembe Unbeftimmt^eit unüberroinbbar bleibt. 3)ic
©ott^eiten taffen fict) uon i^rem ©lement nicf)t Io§Iöfen, unb ber
antife aJlenfd) ^at auc^ gar tein ernftlid|e§ 93ebürfni§ bafür.
©elbft in ber geläuterten ©otteSibee, bie bie ^tiitofop^ie erarbeitet
l|at, bleibt bei aller ©ublimierung burc^ ben 'ißrojeg be§ reinen
3)enten§ geroiffermafeen ein unentfernbarer S3obenfa§, ein Siatur*
reft, eine 2Jrt non @rbenfcf)n)ere tro§ aller ®rl)aben^eit über bie
©elt bi§ }ur ©leid^gültigfeit gegen fie.
SBBeld)en Sßanbel ^at nun l^ierin baS ©^riftentum gefc^affen?
3unäd)ft fei negatio feftgeftellt, ba& ber ©anbei nic^t etroa
bewirft ift burc^ eine 3lrt Don p^ilofopl^if^er Stritit an ber früher
t)errfd)enben SBelt» unb ©otteöanfci^auung. 9li(^t au§ nerftanbeS*
mäßiger SReflefion ift bcr Umfd)n)ung ^eroorgegangen. ©eine
Duelle ift uielmelir ba§, roa^ man fubjeftip angefe^en religiofeS
SSemu^tfein, objeftiD genommen Offenbarung nennen mug. 2luf
bem 3uf^"^w^^"f^Iw& beiber ru^t baS religiöfe ®rlebni§, baö in
ber ©efc^id)te ber SDlenfc^lieit ju einem neuen 2lu§gang§punfte
f^e^erabenb: SRoberne ^l^eologte. 97
wirb, ^n 3fcfu8 ©l^riftug M P* bcffcu Oott uub SBater
funbgctan afö ®eift b. ^. als bcr perfönlic^c, in beraubter Slb»
ft(^t auf uns gerichtete SDBitle, ber al§ ©d|5pfer unb ©r^atter
oder ^inge fotvo^I beS 3^i^(i^^^ ^^^ i>^^ @iDigen mächtig ift,
unb bcibe§ Ien!t ju bem S^tUf öHe§, roaS ^erfon l^ei^t, ju oev«
einen in feinem überroeltlid^en Sleic^e jum ®enuffe eroigen fiebernd,
nämli^ ber feiigen ©emeinfc^aft mit i^m. ^n biefer ®otte§offen-
barung erf^eint ber ^err aOer ®inge in feinem perfönlic^ geifti«
gen 2Befen gefc^ieben üon allem, roa§ 9ktur ift, unuerflod^ten uub
unoerroirrbar bamit. Unb bie ^erfonen im 93evei^e ber Schöpfung
gehören als foldie auf bie ©eite ®atte§, ni^t auf bie ber Statur.
®amit ift erft bem perfönlic^en Seben fein oolleS SWed^t geroorben
unb feine eroige ©ebeutung, feine eroige SBürbe inS fiid^t geftellt.
greilict) l^at äft^etifc^ fc^roSrmenber 9Wunb über ®ntgeiflerung ber
9latur geHagt. Slber ein unbefangenes Urteil roirb fagen muffen,
bag auc^ ber Statur erft baS @^^riftentum gegeben l|at, roaS ber
9latur roar. ®enn nun erft ^at biefeS ©d)öpfungSgebiet in feiner
©igenart fid^ erfaffeu laffen als ein gefe^mä^ig georbneteS uub
burd) biefe Orbnung einl^eitli^ jufammengel)alteneS ®anje§. SDBaS
uns als „9taturgefe§" fo geläufig uub felbftperftänblic^ geroorben
ift, roar ber 9(nti!e gan) unb gar unbefannt. ^a^ aber bie
jloljc 9laturroiffenf^aft biefe il^re ®runblage gefunben l^at, bafür
foQte fte ftc^ bem @:^riftentum banfbar beroeifen, gegen baS fo
mand)t i^rer ^ü^ger in Unoerftanb poltern. SlllerbingS nur
grunbfä^lid) sunäc^ft roar alles baS burc^ ben Eintritt beS S^liriften^^
tumeS in bie SBelt entfd^ieben. SBa^r^eiten oon fold^er 2:rag-
roeite bebürfen ju i^rer 2)urc^je^ung unb äluSroirfung eines lang«
bauernben $ro}effeS, roobei baS S^reiben oon innen ^erauS, baS
organifc^e SBßac^fen unb Steifen jeben jä^en 3Bec^fel unb über»
ftürjtcn gortf^ritt auSfc^liegen. S)er Sauerteig ocrlangt feine
3eit, um bie brei Steffel ju burd^bringen. ®iner oberfläc^li^en
Setrad^tungSroeife fönnte eS beS^alb fo erfd)einen, als ob baS
ß^riftentum in feinem 2lnfange bie liergebradjte SBeltanf^auung
roenn nic^t jur SSorauSfe^ung nimmt, fo bod) roenigftenS auc^
nic^t ablehnt, fonbern naio bej[af)t. ®ieS roäre um fo el^er mög*
lic^ geroefen, als refleftierenbe Äritit iebenfatlS fernliegt unb auS
98 g^cgcrabcub: Üöiobcrnc 3:t)Coloflie.
b€r SSergangentieit at)ncnbe Sejcugungen bcr S03at)r^cit roic ^xo^
V^ctcnftimmen ^crübcvtöncn. 2)ic Dorct)ri[lIid|C S^'xi ift ja üott bcr
©chatten bc§, ba§ jufünftig voax, bcr Äörpcr aber war bod) crft
in ß^rifto. Qmmcr^in: au^ t)ier !cin plötzlicher 93rud(. Unb
beim Uebergang auf ben 93obcn bcr gricc^ifdi^^römifc^cn SScIt eine
aScrmä^lung be§ 6^ri[tcntum§ mit ber 93lütc bcr 3lntife, eine
gefd)id^tlid) notroenbige ©ntmicfctung^p^aje, beren Slu^geftaltung
un§ ©pätgcboreuc atlcrbing^ red)t merfmürbig anmutet unb noc^
mertroürbiger unb frembartigcr, ate e§ tatfäc^lid^ ber %a\i ift,
berütircn f o 1 1 1 c. ®cnn xoa^ gcfc^ic^tlid) unerläßliche ©c^alc
mar, ba§ möctjten nun nur ju üiele gauj ober tcilmeife roenigftenS
alö blcibenben ftern feft^altcn. SBiebcrtjott ^at e§ fo gcfdjicnen,
als folltcn bic SSJaffcr ber „SScrmcltlic^ung" über bem ßpange»
lium jufammenfc^lagen unb c§ oerfdjlingen. ©ic ^abcn fic^ boc^
immer mieber verlaufen unb ba§ (goangelium ift geblieben. ®in
21 u g u ft i n ift für ein ^at)rtaufenb immer mieber ber SBcg*
meifer ju i^m gefoefen, unb ber ®efang „ber SBittenbcrgifc^ 9lac^*
tigall" ^at einen neuen feimfroI)en grüt)ling eingeleitet. 3)er
^^3roteftanti§mu§ ift unbejmeifelbar ber Siräger be§ gefc^id)tlic^cn
®ntmicfelung§gange^. 3)rei unerfdiüttcrlic^e ©äulen ber SBa^r*
^eit I)at er aufgerichtet: ben lauteren SBerftanb be§ reinen @va\u
getiumS, bic ©elbftänbigfcit be§ ©taatS in feinem 93erufe unb
bie grei^eit bcr SBiffenf^aft in itirer S^rfd^ung. 3)arauf ru^t
eine neue äBeltanf^auung, bie im ©egenfa^c }u bcr fo ganj an«
berS gearteten Slntife, menn mir furj fein moUen, bocf) eben füg»
lic^ bie moberne ju nennen fein mirb. ©ic abfc^ütteln unb i^r
entflicl^cn fönneu mir cinfad) gar \nd)t 3)enn fic ift nicl)t nur
bie fiuft, bic mir atmen, fie ift ba§ 93lut, ba§ burc^ unfere 9lbern
rinnt unb unfer SBcfcn fonftituiert. SGßir fönnen bie gefc^id)t»
liefen gaftoren unfereS 2)afein§, roorauf bie 9lamen Ä o p c r*
nifuS, Jtemton, ©oct^c, ©exilier, ©c^lcicrma*
c^ e r, 93 i § m a r d meifen, nicl)t fortfctiaffen, um ju fein unb
un§ JU betätigen, at§ mären fic nie gemefen. 2)cr feiige SEuaf
ift mit feiner ißermcrfung bc§ Sopernitanifc^en SSScltfgftemS boc^
ein einfamer ©onberling geblieben. SBir alle nehmen bie 6te*
mcnte ber mobernen äBeltanfci)auung at§ feftfte^enbe, felbftuer»
Set)erabenb: 9Tloberne 2:(^eoIo9ie. 98
ftönbtic^e äBal^r^eiten, reben unb ^anbeln nod) bem SBettbtIbe,
ba§ un§ oon bort^er gegeben ift. 9tur roenn roir ba§ ©ebiet ber
9teIigion betreten, bann l^olten mele eS für geboten, f)ier noc^
al8 SDSal^rl^eit gelten ju laffen, n)Q§ nur unter SSorau^fe^ung
überrounbener SBeItanfd)Quung einen ©inn l^atte, mit ber jeboc^,
ju ber ©Ott un§ geführt i)at, nic^t gereimt merbcn fann. ©otlte
e§ benn aber nic^t unfere ^^flic^t fein, aud| bie 9Belterfenntni§,
bie un§ (Sott ermöglicht ^at, nict)t ju oerad)ten, fonbern fie als
feine ®abe f)ei(ig }u galten unb un§ unoerbrüd)lic^ fein ju laffen?
greilic^ ^nfonfequcnj, Surjfid^tigteit unb ber fromme SDSal^n,
©Ott babei woijl gar befonber^ angencf)m ju fein, treiben it)r
täufc^enbe^ Spiel mit ber „bona fides". 2lber afö ©pietmerf
folc^er ©emalten mad)en mir un§ bod) mo^l nic^t befonberS ftatt-
li^. Unb maS ba§ ©^limmfte ift: in bem 3Jla^e al§ mir bie
SBa^rlieit eingefapfelt in itiren jeitgefc^id)tli4en, ber SBergängli^»
teit verfallenen füllen feft^alten, oerfennen mir xi)xm @migteit§«
geaalt, ber felbft gerabe in bie neuen gormen einjuftrömen ftrebt,
um feine ooUe lebenbigmadienbe Äraft ju entfalten. 2Bir brücfen
basi, ma§ unfer Seben erft xed)t jum Seben mad)en foUte, gu
einer toten ^Reliquie fjerab, ber nur unfere ^^ietät noct) eine 93e*
beutung für bie gegenmärtige SBirtlic^teit oerlei^t. Unter biefen
Umftänben muffen mir unfererfeit§ unfere SReligion „f(i)ü§en",
md^renb bie lebenbige SReligion eine folc^e 3Wac^t ift, ba§ mir
in rut)iger 3"0^^fic^t ^^^ w^ter it|ren ©d|ilb unb Sd^irm bergen
burften. ®arum ift e§ oon jelier ber ©ang ber SBBege ©otteS
gemefen bie überlebten Heiligtümer ju jerfci)lagen, menn ber ©laube
falfc^ermeife fid) an fie Hämmert, ftatt fein Sßertrauen rechter*
roeife auf ben lebenbigen ©Ott ju fefeen. ^aben mir ben 2lnfang
beS ®erirf)t§ am ^aufe ©ottc§ nic^ bereite erlebt? 2lber mie
menige laffen fi^ baoon jur magren ®in!et)r unb ®infi(^t leiten!
©te^en benn nic^t unfere Sirdien noc^, unb t)ält ftd) nic^t bie
SWe^r^eit unentroegt in ben alten ©eleifen? 2)a{)in menbe man
ben 93li(f, unb fiet)e: e§ ift eitel 5^iebe. 9lur bie „Slntifird^lic^en"
ftören bie JRul^e mit Kaffanbrarufen. 2lber finb e§ nidfjt blo^
ein paar ^^rofefforcn mit bem bünnen Häuflein if)rer 33emunberer,
geftac^elt oom „Unglauben"? ©o fann e§ nur benen crfcl)einen.
100 ^eperabenb: iEnoberne St^eotogie.
bic bcn Äopf jum Sräumen in ben @anb ftcdtcn. 3)cr nioberne
®cift rumort nid|t bto^ burc^ eine ^anboott ©efe^rte in ben ^örfälen
ber Uniperfitäten, e§ ^anbelt pc^ nid)t nur um „S^^cofogengejänf " :
eine 3Q5eItanfd)auung, bic baS gefamte fieben ber gebilbctcn SÄcnfd^s
^eit umfaßt unb bemgemä^ mit ber ©ematt eine§ unmiberfte^»
Iid)en (Strome^ l^eranbrauft, po6)t an unfcre 2;ore. ®ie ewige
SSSa^r^eit beS @Dange(ium§ braucht ftd^ freiließ aud) baoor nid^t
ju fürchten. Sber umfo bringtid^er erl^cbt fid) bie ^roge: grfln»
ben wir un§ aud) auf biefe SBa^r^eit? ober liaben roir am (£nbc
fiatt be§ gelfen§ ben anliegenben ©anb jum gunbament genom=
men, ba§ un§ ber erfte SlnpraH ber ©emäffer roegfc^memmt ?
3ur ©elbftprüfung in ber Slic^tung biefer fragen foHte un§ bie
moberne Sil^eotogie jebenfaüS anregen unb bienen. ;3gnorieren
fäfet fie fid| ni^t me^r. ©ie fpuft nic^t nur in ben Äöpfen neue*
rung§fü(^tiger 2:t)eologen. ©ie ift ^inau^gcbrungen in bie n»ci»
teften Äreife unb fd^Iägt i^re SBogen in ^aläften unb ^ütten.
^arnarfg SBorIcfungen über ba§ SBefen be§ S^riftentumö roer*
ben ben gefd^id^tli^en 9iul|m behalten, bie fragen, worüber lange
unter ben 5öd)mdnnern t|in unb I|er geftritten roorben mar, mit
einem ©daläge ju brennenben für bie ganje gebitbete SBelt ge-
mac^t JU ^aben. 2)a§ ift erreid)t burdi eine feltene 93erbinbung
ebelfter ^Popularität mit umfaffenbfter äBeite be§ S8IidEe§, tieffter
©ele^rfamfeit, märmfter ®rgriffent|eit oon bem fieiligen ©egen«
ftanbe unb el^rfur^tgebietenbem ©rnfte. aBetd)e ©elegen^eit, bic
eigene ©tellung ju prüfen, ju reoibieren ober ju befeftigen! 9lber
fo ober fo, mir foßten nur Söeranlaffung ju lebl)aftem ®anf fin=
ben. Unb boc^, ma§ für ein leibenfc^afttidjeö ^roteftieren, Ätagen,
Slnfd^utbigen, 93erbäd)tigen unb 9Serbammen ^at baS 93ud^ gerabe
in ben Jlreifen ^croorgerufen, bie eS am tiefften l^ätten würbigen
fotten! aOBeldje glut üon Singriffen! ^ am ad befenut, er ^abe
barau§ leiber nid)t§ lernen tonnen, ©oroeit id^ für meine ^erfon
baoon 9iotij genommen \)ab^, mu^ id) i^m juftimmen : e§ ift Don
bort faum ^tmaS ju lernen, ©ie fräufeln an ben SQBolfen, i)k
unb ba nid)t ganj o^ne ©runb ; aber ber SWonb bal^inter ^at oor
i^nen gute SRu^e. Unb bod| brauste man fid) feine§weg§ we^r=
Io§ gefangen ju geben. ®aö 93ud^ l^at eine prinjipieüe ©c^wä^e.
^e^erabenb: S^obeme ^^eologie. 101
©ie ftedtt ntc^t in bcr gebotenen ©a^e, fonbern in ber beobad^^
tetcn ÜÄet^obe. 3Wit bzn 3RittcIn ber ^iftorifd)=fritifd)en ®iffen^
fc^aft n^iQ ftc^ ^ornact feinet ©egenftonbe^, be§ äBefen^ be§
S^riftentumS, bemächtigen, älbet e§ fragt fid^: ift bieS Untere
nehmen burc^fü^rbar? ^arnarf felbft fielet fic^ genötigt ©renj*
linien ju jie^en: bi§ l^ier^er reid^t bie SBiffen[d)aft. 3Bare er
nun wie fo manche Snt^ufmften ber SEBiffenfc^aft ber SWeiuung:
barfiber ^inauS gibtS eben nichts ; bann n)äre mit i^m oon feinem
©tanbpunfte au§ nic^t ju redeten. SÄber er ftcttt auSbrüdlic^ feft,
ba$ bie Sffiiffenfd^aft nid^t atte§ ju umfpannen oermöge. ®mpfinbung
unb SBiOe reichen na^ i^m meiter^ unb bie perfönlid^e Srfal^rung
ergreift, roaS über alte SBernunft ift, burc^ eine fubjeftioe %at.
S)arin t|at er mieber lebiglidi red^t, unb mir freuen un8 l^erjtic^
biefe^ S8e!enntniffe§ auS bem ÜMunbe be§ unerbittlidien 5orfd)er§.
(£§ ift auc^ ganj in ber Orbnung, ba§ roiffenfd^aftlid^e SHefuItate
unb ®(auben§befenntntffe nic^t burd^einanber gemengt werben,
fonbern oielme^r bie ©renjlinien mögli^ft fc^arf fic^tbar geliatten
werben. 2lber n?te geftaltet fid^ unter biefen Umftänben ber
aSerfuc^, gefc^ic^tlii^ baS SBefen beS ©^riftentumS feftju*
[teilen? Siegt biefe§ SBefen reftto§ innerl^alb beS SBereic^S, ba§
bie SBiffenfc^aft be^crrfd^t, fo umfpannt ja biefe tbm atle§.
Ober tut fie ba§ nid^t, bann fann man boc^ aud) mit il^rer
^itfe oUein nic^t ba§ SBefen be§ ®^riftentum§ umfdtireiben.
^ier ftedtt ein unlösbarer innerer SBiberfprud), ber fic^ nur bann
befeitigen lä^t, wenn man barauf oerjictitet, burd^ bie @efdf)ic^t8==
n)iffenfd)aft ba§ SBefen beS S^riftentumS ju beftimmen. ®§
tann fid| nur um bie oiel befd^eibenere grage l^anbeln: 3Q5a§ lä§t
fid> gefc^ic^tlid^ ate ©runbtage be§ (J^riftentumS feftftellen? 2)em=
entfprec^enb mü^te aud) ber Sitel lauten. ®er gegentoärtige for^
bert baS SWi^oerftänbniS gcrabeju l^erauS, ba^ alle§, maS au§
bem gegebenen gefc^id^tlid^en Umri§ herausfällt, ni^t§ SDBefent^^
li^eS fein folle. ®in paar ©teilen, bie bie entgegengefefete Sin-
fi^t bejeugcn, genügen nic^t jur 2lbn)el|r beS SHipoerftänbniffeS.
Unb ber ©c^abe läuft aud) x\xi)t nur auf ein 3Wi^üerftänbni§
^inauS. ®er 893iberfprud^ im 2lnfa^ mu^te aud) in ber 3lu§=
fü^rung irgenbmie nac^mirten unb er l^at fic^ bemerkbar gemacht.
92 6 c r § 0 0 : 3efu§ aI8 ^rebigcr.
r e u b e n @£ponenteit unterer !ßrebigttotrffam!eit tuerben nur baburc^ Don innen
heraus übertt^unben, bag n^ir Don feinem Sinn unb (§)etft burd)brungen unb
geföitigt loerben. ^teS gilt befonberd nacf) brei Stic^tungen:
3Bir 6raud)en 1) me^r äBir!Iicf)f eit (inbem totr und fubjeltto njte
objeftiü mel^r auf btn 93obcn bcr ©rfa^rung fteUcn).
2) äO^el^r 9latilrlic^!eit (nid)t nur im CS$egenfa^ %nx Steifheit unb
^estoungen^eit, fonbern auc^ pr ®efe^Iicf)fett unb ^etoaltfamfeit, beg. Tlad^t).
3) äRebr $erfönlid)fett (fomol^t im «Sein al^ im Sieben).
93
$on
^ßaftoc ff. m. ^tmtaitni
2U Xub«na in Seutf<^«9iuf(anb.
Seit einiger Qtxt fc^roirrt bie 93eici^nung moberne S^cofogie
burc^ aüe 2iige^aeitungen, ein ^enbant auf religiöfem unb firc^*
lid^em ©ebiet fignattfierenb ju ©rfc^einungen auf allen mögli^en
anbeten ©ebieten, ein ^enbant ju Slnf^auungen, 93eftrebungen,
SHi^tungen, bie, wie heterogen fonft in bem einen fic^ bereit«
1) 3)en ^egenftanb bei* uorltcgenben 2(b6anbliiitg l^abe \ö^ bereite im
^erbft 1902 ben öerfammcUcn ^rcbigcrn bc8 S?urlänbifd)en Äonrtftorialbeairf«
Dorgetragen, mit ber S(bftd)t unb bem 3^^^^ ^cn 9Imtdbrubern bie 93etDeg»
grünbe unb bie 3icle in ben ^eftrebungen ber neueften ©ntiDicflung^p^afe ber
eüangelif^en 2:^eologie uorjufn^renr gnr Prüfung unb 5ur ernften SrlDägung
anzuregen. S)er SSerfuc^ mißlang t^ottftanbig. ^ie äJleljr^eit fa^ barin nur ein
Sittentat auf i^re ©laubendftellung, ha^ mit $roteft SMrüdfgntoeifen fei. ^a«
burc^ tvurbe eine fad)Iidj gan$ unbered)ttgte ©enfation erregt, bie namentlid)
bort, mo man fid) auf !8eric^te gmeiter unb britter $anb angehliefen fa^, völ-
lig ungeheuerliche (S^erüc^te über ba^ ®efd)e^ene jur e^olge f)attt. ($d liegt
ebenfo im Sntereffe ber Saö^t mie meiner unb fcf)IieBlid) aUer, ha^ aut^entifc^
feftgefteüt tt)irb, mad bamaU Derlautbart morben ift. £eiber tuar ber ä^or»
trag, ba ntd^t üor^ergefe^en toerbeu fonnte, bag er eine foId)e SBic^tigfett p er-
langen imftanbe toare, nic^tfur bie ä}erdtfentUcf)ung berechnet, unb er entgie^t
ficf) i^r an^ uiel6rfad)en (^rünben. 21ber ber borltegenbe ^uffa^ bietet in a\u
berer Umrahmung unb fonftiger formeOer Umgeftaliung bai @ad)(icf)e in jenem
S^ortrage im gangen unberfür^it unb unüeranbert. ^er ^erfaffer.
9{a(^fc^rift ber 9tebaftion: 3)er folgenbe ^tuffa^, berinberbal*
tifc^en äRonatdfd)rift bereite gebrudft n^ar, l^iot infolge Verbots ber 3c"fur bort
nid^t Deröffentli4)t merben fönnen.
3eitf<^ft für X^toloQxt unb Stwdie. 14. ^affvq., 2. $eft. 7
104 gre^erabenb: SO^obeme ^()eo(ogie.
Öctra^tungSiücifc un§ ju locrgcgenmärtigcu. ®arum erfd^eint
bcncn, bic utiüorbcreitct ju ^axnad fonimcn, c§ f o, als ob in
bicfcm „äöcfen bc§ ®^riftentum§" fo gut roic nid)tS baoon ju
finben fei, voa^ fic von ÄinbcSbcincn an für ba§ S^riftcntum gc-
l^alten liabeu. ®§ roävc für bic, n)cld)c in einer, fagen roir ein*
mal: in ber „Krd^Udi gläubigen" ^ötm be§ ®t)riftentum§ fic^
lieimifc^ füllen, oline ä^^if^I ^"^^ Erleichterung be§ SJerftänb*
niffe§ geroefen, wenn bie ^ a r n a cf'fd)en SJorlefungen eine 2lu§*
einanberfe^ung mit bem ^evgebrad|ten unb eine fc^onenbe lieber*
leitung ju bem bleuen böten. äBarum tritt ba§ fo ganj jurüd?
@§ laffen fid) mandiertei ®rünbe beuten. 3)er auSfc^Iaggebenbe,
meine id|, wirb roo^t ber gemefen fein, ba^ ^ a r n a rf in ber
3Jlaffe feinet 3lubitorium§ feine „tird^lid^ gläubigen" 2lnfnüpfung§-
punfte unb 93ebürfniffe ^at oorauSfe^en fonnen. SWan l|at bicfe
SBorlefungen Über ba§ SEBefen be§ ß^riftentumS oielmit ©d)Ieier'
mac^er§ berühmten „Sieben über bie Sleligion an bie ©ebitbe*
ten unter i^ren 9Seräd)tern" oerglid^en. Qd^ (äffe bie ^Berechtigung
biefer parallele in allen anberen Sejiet)ungen bal)ingeftellt fein.
2lber roie able^nenb man fiel) ju biefer SSergleic^ung uer^alteu
möge, ba§ ift barin boc^ entfc^ieben jutreffenb, ba^ auc^ ^ a r*
nacf ba§ S^ü oerfotgt l^at, mit biefen Sorlefungen, bie oor ei-
nem Slubitorium oon praeter propter taufenb 3ul|örem au§ allen
Jafultäten gehalten finb, S^ragen, bie bi§ in§ 3^"t^um ber clirift«
liefen SBa^r^eit führen, fold^en nal^e unb bi§ in§ ^erj ju bringen,
bie oielleicl)t noc^ nie in ifirem Seben berartige§ einmal ernftliclj
erwogen ^aben, ja Dielleid)t jebe 3wmutung in biefer SRid)tung
oon ^aufe auS abjule^nen geneigt gemefen mären, ©o fmb alfo
bie 93orlefungen ein apologetifc^er SBerfud), für ben man ^ar*
n a rf im ^inblirf auf bie SBer^ältniffe, wie fie liegen, nur bant*
bar fein follte. SQBir fmb gemotint ©d^lciermac^erS Stehen
als eine rettenbe Jat ju feiern, wenn mir einmal in ben ^all
fommen oon ber @efdt)id^te jener 2:age ju fpred)en. 93efc^ränftcn
mir uns aber nic^t auf baS greifen, fonbern läfcn einmal jene
SluSlaffungen beS großen Ifieologen, fo mürbe unS ma^rf(^einlid)
(Sntfe^en barüber erf äffen, maS in biefen Steben als SReligion em*
pfol^len mirb. 9lun, (Sci^leiermad)er t)at auct| noc^ ©effereS
f$ei)ecabenb: 9Tlobente ^^eologie. 105
ju fagcn gcrou^t ®^rift(ic^erc§, roarum l^at er c§ nic^t on jener
©teile gefagt? SßJarum ^at er fid) ^ier fo gehalten, ba& mi i^m
Itnre^t täten, roenn roir feine „S^eologie", fein „S^riftentum"
bIo§ nac^ biefen SRebcn beurteilen rooHten? 3)a8 fte^t im engften
3ufammen^ang mit ber apologetifc^en Slufgabe unb bem apolo-
getifc^en 3^^^- 2)^^ Slpologet mürbe feines Qxoedz^ total fet)(en,
menn er ftc^ nic^t ju ber Sluffaffungömeife, bem ^nt^^^ff^ unb
ben 3i^l^" ^^^^^ I)erablie^e, an bie er fiij menben miti ; menn er
in gelaffener ©ac^Iict)teit feinen ©egenftanb entmirfelte, ftatt pah
fenb ad hominem ;u reben. SDarum ift bie 9}ed)tgläubig!eit ber
SÄpoIogeten aller 3^^*^" ™ beften g^tle fe^r fd(itternb gemefen
unb fie liaben fid) non benen, bie ftreng in ber „reinen £et)re"
maren, immer ate ^albc ober gonje Sßerräter anfeilen laffen muffen.
SWein ^oi^oerel^rter fie^rer SWori^ o. ®ngell|arbt t)at bem
bcrülimteften 2lpologeten be§ 3lltertum§, bem SJlärtprer ^fuftin,
in feinem SBerfe über beffen ©l^riftentum fd)lie&tid) ba§ ©liriftcn*
tum fo gut mie abgefprocl)en. 2ltle 3>been bes üKärtgrerS mur*
selten im ©runbe im ^eibentum, fo ba§ nur c^riftlid^ fd)einenbe
Jünc^e nachbleibe. Sngel^arbt t)at bem 2tpologeten im >!ßi)u
lofop^enmantel mo^l Unred)t getan, älber and) @ngelt)arbt
^atte re^t. 9Jel|mt ben 2tpologeten beim 3EBort unb er roirb
balb genug feinen ^^Jla^ au^er^alb be§ Sager§ fuc^en muffen.
2)amit foll mm in ber 2lnmenbung fpejielt auf §arnadE teineS*
roegg gefagt fein, ba^ er nor einem „fird)lid) gläubigen" Streife
Dotl befriebigenbe „Sir^lid)teit" bo!umentiert liaben mürbe. 2lber
c§ erftärt fid) fo jum menigften, roarum in ben SBorlefungen bie
ort^oboye g^'^geftellung fo menig berüdfid)tigt unb oon bort^cr
entfpringenbe Qnt^^cffen oft fo unbefriebigt gelaffen finb. ©ie
lagen eben ^arnarfS 3u^örern fern unb liefen fic^ jumeift
il)nen nic^t einmal mit 2lu§fid|t auf irgenb einen Srfolg nal)c==
bringen. @ine grage mie bie nad) ber „roefentlid)cn ©ott^eit
K^rifti" unb i^re 93eantmortuug in 2lu^einanberfe^ung mit ber
ort^oboyen ®ogmatif f|ätte ^arnadS 2lubitorium oermutüd)
fi^nell geleert, mä^renb fie unS in bie leb^aftefte Spannung oer^
fe^t ^ätte. @« ift ba^er ba§ „2Bcfen be§ ©liviftentumS", biefeö
am Icbliafteften umftrittene Sud), ba§ taufenb 5^*^S^^^ anregt.
106 gfc^erabenb: ÜWobcme a;l^coIogte.
unb bcm barum ein bcfonber§ \)o^ex Srufrüttetung^ioert jufommt
lüeniger geeignet unb nanienttid) au^reid^enb al§ ©runblage jur
geftftellung ber ^auptpofitioncn in ber mobernen S^eologie, ju»
mal eine fold^e ^^ftftellung o^ne eingelienbe Stu^einanberfe^ung
mit ben entfpre^enben SluffteUungen ber überlieferten 2luffoffung
nid)t in üoQem Umfange uerftönblic^ märe. äBa§ nun bie 9Sov=
lefungen über ba§ SBefen be§ 6;t)riftentum§ ni(^t bieten, ba§ fin*
ben mir in umfo ausgiebigerem 3Wa§e in be§felben ^arnadö
S)ogmengcfd^ic^te, bem monumentalen SBBerfe, mit beffen @eifte§*
traft man elirlid^ gerungen I)aben mu^, e^e man ein Sfted)t ge=
minut, ein Urteil über moberne St^eologie abzugeben, ^ier ifl
ber ©egenftanb nid|t nur mit ooUcr miffenfc^aftlid)er ©c^ärfe unb
Strenge be^anbelt unb nac^ allen ©eiten bi§ in bie legten 2lu§*
läufer oerfolgt, fonbern auc^ burc^ bie ganje ©ntmicfelung^ge^
fd^i^te ber ^ird^e unb be§ (J^riftentum§ begleitet. SBelc^e t^eo*
logif(^en S^agen un§ auc^ auffteigen mögen, t)ier fönnen mir auf
jebe bie au§reicl)cnbfte, beftimmtefte Stntmort ert^alten, bie allen
3weifeln ein ®nbe mad)t. 3)arum gilt e§, ftd^ be§ ^nl)alt§ ber
S)ogmengefd)ici^te ju bemä(^tigen.
fiä^t fid) biefe 9lufgabe überhaupt fo löfen, ba§ biefe Ueber*
fi^tlic^teit nichts fc^roinbet unb anbererfeit§ ber erforberlic^cn SSoIl*
ftänbigfeit nid)t abgebrod)en roirb? 9^atürlid^ nid)t, wenn man
an bie fd)ier unerme§lid|e g^ülle be§ ®etail§ benft, ba§ in ben
brei Doluminöfen 33änben ber S)ogmengefc^ic^te aufgefpeic^ert tft.
2lber barauf tommt e§ aud) für unferc Q\md^ gar nid^t an. @§
tianbclt fic^ ni^t um bie ^injeltieiten, fonbern um bie jufammen*
faffenbe, orbnenbe unb gcftattenbe ^bce be§ ®anjcn. 3)ie läßt
fid) fe^r mot)l aud) in ber Äürje eine§ SleferateS uor 2lugen ftellen.
©rfaffen mir ba§ geiftige 93anb, bann merben mir un§ au^ fd)on
jurec^tfinben in bem, ma§ eS jufammen^ätt.
S§ mirb fid) empfelilcn, bei ber geftfteUung ber leitenben
Qbee ber 2)ogmengefd)id)te nom (Snbpunft auSjuge^en unb fo rüdE«
märl§ JU ben 2tnfängen be§ ®^riftentum§ oorjufc^reiten, ganj fo
mie |) a r n a dt gmeifello§ bie <3bee feinet 2Berte§ tonjipiert ^at.
6r füf|(t fic^ ja al§ ein ®o^n ber ^Reformation. Sluf bem 53oben
ber Sieformation fu^t er. aSon bem @efic^t§punfte au§, ben bie
greperabenb: SO'lobente ^f^eologie. 107
^Reformation eröffnet, oerftel^t ber SDogmentiiftorifer bie i^m oor^
Uegeube Sntiüicfetung unb fc^Ubert er fie. 9Ba§ ift i^m nun bie
SReformotion? 3)ie 9ieformation ift, furg gefagt. Satter. ®a|
in ber ©eele biefe§ rounberbaren SRanneS, ber feine^gteid^en, rürf -
loärt^ gefd^aut, evft etroa in bem Äir^enoater Sluguftin l^at,
— 'ißaulug, 3luguftin, Sut^er, bie brei in cinfamer
^6t|e ragenben ©ipfel ber religiöfen ©ntroidfelung innert^alb be§
®t)riftententum§ — , ba|, fage i^, in ber ©eele fiut^er^ ba§
Gpangelium nac^ langer SSerf^üttung wie mit elementarer @e*
loalt burc^= unb ^eroorbrad) ai^ religiöfe Äraft, al§ bie Kraft
©otteS, bie in 61) r ifto 0 ^ f u ben ©lauben be§ ^erjenö f^iafft,
ber fi^ gegen alle§, maä äBett ^eigt, geborgen roei^ in feinem
©Ott, bem ©d)6pfer, Srlöfer unb ^eiliger: ba§ ift, menn man
eine 3ufammenfaffung in fnrjen SDBorten beget)rt, bie ^Reformation
in i^rer unoergängtic^en n)eltgefd)id)tlid)en 93ebeutung. Sie ift,
fo angefel^en, Sutf)er§ ®rlebni§, nic^t feine ©d^opfung. ®r
ift fiel) immer beffcn bemüht gemefen, ba§ er nic^t§ t)on fic^ au^
„gemalt" ^abe. 2Rit bem 2lpoftel ^^ a u l u § burf te er fagen :
3)a e§ aber ©Ott roo^Igefiel, ber mi(^ oon meiner 2Rutter Seibe
an \)at auSgefonbert unb berufen burc^ feine ©nabe, ba§ er feineu
©o^n offenbarte in mir, ba^ id) i^n burc^§ ©oangelium nerfün*
bigen f ollte unter ben Reiben ; alfobalb f u^r i^ ju, unb befpra^
mic^ nid)t barfiber mit 'Si^\\6) unb 93lut. ^n biefem ©eiou^tfein
^at er fid) unüberminblic^ gcfät)lt, unb mit Siecht. 3)enn l|ier
liegt ba§ Unoergänglid)e. ©iet|t man bie ^Reformation oon biefer
©cite, fojufagen i^rer 3i«nenfeite, an, nimmt man fie al§ religio
6fe§ ^rinjip ober aU geiflige Kraft, ober mie man§ nun in biefer
53etrad|tung§roeife nennen miß, bann ift ber 2lnfang auc^ gleidj
ba§ oottenbete Qbeal. S33ir werben über ba§ Etiriftentum Sut^er§,
wie e§ al§ fides qua creditur in i^m lebenbig mar, nid)t t)iuau§-
fommen, muffen uu§ oielmel)r glücftid) fd)ä^en, menn uu§ ge^^
geben mirb, e§ \i)\n nacherleben gu bürfen. Q^ber aber, ber beffcn
geroürbigt mirb, follte ftd) au^ bantbar jum ®eit)u|tfein bringen,
ba| er allein be^^alb ^ier fidjer SBeg unb Qkl finbet, meil ber
treue S^^Q^ norangegangen ift. @r roirb unfer ©lauben^oater
bleiben unb bie ^Reformation in bem eben befproc^enen Sinne
108 ^zii)ttabtnh: aWobcrnc S^^eoloflic.
baS bcbeutfamftc unb Ijöc^fte ©rcigniS für baS rcligiöfe ficbcn ber
9Äenfd^l|cit fcjt bcn (Srbcntagcn unfcre§ ^crrn.
©0 ficf)er unb freubig man nun aber aud^ baS fagcn barf^
ctroaS ganj anbcre§ ift eS um bic Sieformation al§ äugcrlid^
burd)gefttf)rtc§ 2öcrt, aU gefci^ic^tlid)e 3[u§prägung bc§ 3beal§,
ba§ in Sut^crS rcligiöfem @runbcrlebni§ Dorbilblic^ gegeben
ift. 2)ie ^Reformation in biefem SBerftanbe ift nic^t§ weniger atö
loottenbet ju nennen; oielmelir im g^fuge nur ju fdjnell gei^emmt,
in $albt)eit ftedfen geblieben, Derfümmert unb oerborben. Unb
groar mu§ man fo urteilen, au(^ menn man bie Sieformation nur
mit bem 2Wa§ftabe il)re§ eigenen ^rinjipS mi^t. ©ie ©erträgt
alfo nid^t nur, fie forbert bringcnb SBerbefferung, SSotlenbung,
entmeber in aCBeiterfülirung, ober in Umfe^r ju i^ren mefcut«
lid^en 9Sorau§fe^ungen unb in Erneuerung be§ 93aue§ Don biefem
@runbe au§.
2)a§ ift eine äBatir^eit, bie nii^t gern gehört mirb. Tlan
möd^te, wa^ von S u 1 1) e r § innerem |)eil§erlebni§ gilt, auc^ otjnc
meitercS übertragen miffen auf ben Jlird^enbau, ben er aufgeführt
^at. ^nbeö mie pietätooH mir un§ auc^ baju ftetlen mögen, e§
gibt bod^ ©eiten an bem äußeren SBäerfe Sut^erö, bie man
nur JU ermähnen brandet, um it)re Unjulänglid^feiten unb SOlänget
empfinben ju laffen. ®enfen mir j. 53. baran, in melcliem 3"*
ftanbe un§ Äird^enregiment, Kirc^enoerfaffung, Oemeinbeorgani*
fatiou, unb ma§ baf)ineinfc^lägt, au^ ber SReformationSieit über*
tommen finb, f o mirb fid| mo^l felbft unter ben entf d)iebenften Sut^c*
ranern fcf)mertic^ jemanb finben, ber bafür eintreten motlte, ba^ biefe
3)inge at§ ibeal anjufelieu feien. SWan mirb am ®nbe mo^l ober
übel jugefte^en muffen, ba§ bie ^Reformation in biefer ©ejie^ung
eö nur ju tümmerlidjen ©ebilben gebracht f)at, unter bereu SWanget«
^aftigteit mir je länger je me^r feufjen.
^ a r n a dE ift nun ber 2lnfid^t, ba^ au^ in anbern ©tücf en
nod) bie ^Reformation, immer nacft bem SRa^ftabe itjreä eigenen
$riniipe§, nur l^albe Slrbeit getan l^at. ©agen mir eS gleid)
runb l)erau§: au^ oon ber ^auptfac^e, ber fogenannten fiet)rc,
bem 93etenntni§, ober mie man e§ nennen mill, ift nad) ^arnadf
JU urteilen, ba^ S u 1 1^ e r leiber auf l^albem 2Bege fte^en geblieben
{^egerabenb: SJloberne ^^eologie. 109
ift. 35cr ^Reformator i)at ^alt gemocht uor bcm ©ogma bcr Äird^c,
roä^rcnb ^ a r n a et § ajlcinung bo^in gc^t, ba§ an biefcm fünfte
bie Meformotion erft if)rc Hauptaufgabe gu löfen gehabt ^ätte.
Svs>ax ba§, voa^ bie mitte(alterlid)e Sird}e bem 2)ogma, im älteren
©inne, l^injugefügt i)atU, bie ©atrament§Ie{)re, jeneS ©riftem, mo=
burd) bie 'ipapftfirdie ntc^t nur if)r ^terarcl)ifd)eig SBefen au^ge*
prägt, fonbern aud) bie gläubigen Oemiffen in eherne Jeffein ge=
fd)Jagen i)atU, — b a § mu^te ja fallen unb ift gefallen ; f onft
wäre e§ übert)aupt ju feiner religiöfen Erneuerung in meitcren
gefd)toffenen @emeinfd)aften getommen, ober beren Spur märe
längft mieber ausgetilgt morben, obgleid) S u t ^ e r S Dptimi§mu§
e§ anfangt, meuigftenS für ba§ Qnbioibuum, al§ möglich erad)tet
^at, aud) bei Ot)renbeic^te unb SWeffe feinem ©Ott al§ eoangetis
fd)er E^rift ju leben. 3)ie SBer^ältniffe l|aben \i)n hod) baju gc^
brängt, mit ber ©atramentite^re, mit biefem ©tücf be§ 2)ogma§
unb feinen praftifc^en ^onfequenjen aufjuräumen, um bem ®oan-
gelium Salin ju fdjaffen. aber er ift ftet)engeblieben oor bem
5)ogma im engern Sinne, bem 2)ogma ber alten Äird)e, b. \). ber
Irinität^telirc unb bcr S^riftologie beS fogenannten SJlicäno^Äon^
ftantinopolitanum§. Qa, er ^at feiner Haltung eine SEBenbung
gegeben, bie ju ben mer!u)ürbigften in ber @efc^id)te geliört, bie
ber folgerichtigen ®ntmicfelung eine rer^ängniSooUe Sc^ranfe ge*
jogen ^at unb bie Duelle unfäglic^er SSerroirrung pon jenen 2^agen
an bi§ ^crab auf unfere kämpfe geworben ift. "SJlan roirb ber
Stellung SutlierS jum 3)ogma nod) nic^t ganj gered)t, menn
man fid) bal)in auSbrüctt: er \)abt oor \i)m $att gemadjt. Q\i
ben articuli Smalcaldici finbet man alS erften Seil bie gormu«
lierung bcr 2:rinität6le^re unb ber S^riftologie nac^ bem 2)ogma
ber alten Kirche. 2ll§ jmeiter 2:eil folgt bie eoangelifdie £et|rc
oom 2lmt unb äBert ^t\u ©^rifti ober unfcrer ©rlöfung.
3Benn nun ^ier, beim jmeiten Seil crtlärt roirb : SBon biefem Sir*
tifel fann man nid)t§ meieren ober nad)geben, eiS falle ^immel
unb @rben ober roa§ nid)t bleiben roill! — fo ift ba§ nictjt fo
ju Derftet)en, al§ ob fi u 1 1) c r bamit biefcn Slrtifel, bie ©oterio*
logie, Dor jenen, bie bie J^eologie unb (S^riftologie befaffen, an^'-
jeid)nen rooUte. 9Jielmet)r liegt bie Sac^e f o, ba§ S u 1 1) e r bei
3tttf<^ft für XfftoloQu unb Äirc^e. 14. 3a^rg , 2. ^cft. ^
110 3r e X) c r a b c n b : SDlobcme 3:^cologic.
bcn rr^o^en Slrtiteln bcr göttUd^cn SKajeftät", 2;riiütätgtcl|rc unb
altlird^Ud^c S^riftologie, eine folc^c QScmcrtung au^jci^nenbcr %xt
gar nid^t erft für nötig t)iclt. (£r fal^ an biefem ?ßunttc über*
l^aupt feinen Qawt ober (Streit bro^en. Seibe 3:ei[c waren feiner '
SJJleinung nad) in biefem ©tficfe einig. ®ie SDifferenj fing i^m
erft in ber ©oteriologie an, Qa e§ mu^ ^injugefügt werben,
ba^ ß u 1 1| e r nic^t nnr, im permeintlic^en ©inüerftänbniS mit
feinen ©egnern, ba§ ®ogma t)at gelten laffen, fonbern ba§ er
baran uielmelir eine @tü^e, ein fefteS gunbament gefud|t unb gc*
funben l^at, ba§ er fic^ oft mit 93efriebigung in ben gormein bes
3)ogma§ (biefe§ ^infort immer nur im engern ©inne oerftanbcn)
beroegt unb barin ben ®Iauben, beffen er lebte, mit 93orliebc jum
Sluöbruct gebracht l^at. S^ro^bem meint ^arnarf, ba^ Sut^er
^ier nur binter ficb felbft jurüctgebliebcn fei unb ba§ bie Sd)ranfe,
bie er fo burc^ feine Slutorität ber ©ntroictetung ber Sieformation
gejogen \)aie, unbebingt faüen muffe. 6§ Iä§t ftc^ Dorau§febcn,
ba^ biefe Zi)z\t ^ a r n a dE § genügt, um einen Sturm ber Snt*
rüftung ju entfeffeln. SIber mit ©ntrüftung ift bicr nid)tö getan.
Unb jubem: welcher Orunb liegt oor fidf) ju entrüften? Sut^er
felbft ^at einen großen S^eil be§ 3)ogma§ abgetan. SBenn er
einen anbern ^at fte^en laffen, fo mad)t feine SiHigung biefen
SReft boc^ nod^ nic^t fafrofanft, fo ba^ fd)on bie ®rmdgung, ob
biefer 9left nic^t am (Snbe ebenfomenig b^ltbar fei al§ bie bereite
oermorfene erfte Hälfte, al§ Safrileg ju betrad)ten märe. Ober
I|ätte ba§ ^ogma ber alten ^ird^e formeQ etmaS oorau§ oor bem
®ogma ber mittelalterlichen? Slber bie alte ^irdje ift ebeufomenig
unfehlbar gemcfen mie bie be§ SWittelalter^, unb bas; 3)ogma ift
oom ®nbe bis jum 3lnfange nic^tö al§ menfc^lic^c Formulierung,
bereu 93ered^tigung ftet§ erneuter Prüfung unterliegt. ®oangeli»
fd)e ©b^iften muffen ficb mobl in ac^t nehmen jemals in ben 9iuf
einjuftimmen : 3B3a§ bebürfen mir weiter 3ewgni§! Qijxt SRcgel
mu§ boc^ oielmebr ba§ apoftolifcbe SKabnmort bleiben : prüfet
alle§ unb baö 93efte behaltet! ®in SJlann wie ^arnact gibt
un§ in feinem SSerbalten unb Urteilen immer etma§ ju lernen,
auc^ wenn ber 3Beg, ben er einfd)lägt, fidi fc^lie^Iicb nid)t aU
ber richtige ermeifen foltte, unb mir ba§ ©rgebni^, moju er ge«
f^e^erabenb: Tlobzxm ^^eologie. 111
langt einmal ntc^t annehmen formten. @r tut ja feinen Schritt
o^nc beact)ten8tt)erte , fc^roerroiegenbc ©rünbe. 3etft5rung§Iuft
treibt i^n bod} rooljt ni(i)t. 9Iuc^ Scic^tfertigteit pflegt fo ^eroi=
fc^en 9hbeitern ni^t gu eignen. Slber üieücidit \)a)i)t er nad^
ber ®unft bcr 9Renge ? 9ld|, er brauchte ja nur fid) nad) ber an--
bern ©eite ju neigen, unb er tjerrfc^tc in ber „firc^Ii^en" SBelt
unfehlbarer unb vergötterter aU ber $apft auf ber Äat^ebra ^^ctri.
Säufc^en roir un§ nic^t ju unferem eigenen Schaben! Amicus
Plato, magis amica veritas. ®a§ ift für it)n ber entf(^eibenbe
©nmbfa^ unb nid)t§ fonft.
Unb nun: raa^ beftimmt i^n baju, ba§ ®ogma, tro§ Sutl^er^ge^
fc^id)t{id|er ©teDung ju biefem @rbe au§ ber alten Äirdjc, im ®runbc
für unuereinbar mitbem (Stauben ber ^Reformatoren gu eradjten?
3)er ©runb liegt fe^r tief. @r ift im ®otte§begriff ju fuc^en.
35cr @ottc»begriff be§ 3)ogma§ ift ein anberer al§ ber Sutt)er§,
ift aud) nic^t ber ®otte§begriff ber 9lpofteI, nic^t ber unfere§
|)erm ^cfu (S^rifti, überhaupt nid)t ber ®otte§begriff ber
Offenbarung unb ber l^eiligen ©c^rift in i^rem ganjen Umfange.
SBq§ ift benn ba§ für ein ®otteäbegriff? 2ßo fommt er ^er?
SBBie ift er cntftanben? ©agen mir e§ furj: e§ ift ber ®otte§be*
griff ber Stntife, fpejietl bcr griedjifd^cn ^^ilofop^ie unb i^rer
fpäteu 91ad^blüte im §elleni§mu§. 3)a§ ift feine |)i)potl)efe, fon=
bern eine offen ju Sage liegenbe Satfac^e, ju bereu ®rfenntni§
man eben nur nötig I|at, fi^ an^ ber ®efd)ic^tc ber ^^l^ilofop()ie
bie erforberlidie Qfnfoi'mation ju Ijolen. 2)a§ Slbfolute, ber Sogo^
unb ber ganjc 93egrifföapparat, ber bamit im ßufammenl^anfl flet)t,
fmb in bcr SDBett ber Slntife älter at§ in ber Äirc^e. @§ ift be§=
^alb oergeblidi ben ®ottc§begriff be§ 3)ogma§ aus; bern 9J^ueu
Seftamente ableiten ju wollen. ®t)riftlid) ift an biefem ®otte§'
begriffe ni^t§. @r ift ein ©rjeugnig ber SWenfc^euuernunft unb
bog Srgebni§ be^^alb aud) fet)r Dcrfd)ieben uou ber ®rfd)einung
bc§ lebenbigen ®otte§ ber Offenbarung. 3)ie ®otte§ibee be§ Dog-
mas ift toömologifc^cn Urfprung^, b. 1^. ^eruorgegangen au§ ber
benfenben 33etrad^tung ber SBelt. 2)ie 3Q3elt ift bie gro^e ^Realität,
bie fid) junäd)ft ber SQ3a^rnef|mung aufbrängt. 3)em Slugenfc^ein
ftetlt fic fid| al§ unenblic^e 95ielt|eit einjetner unb be^^alb gegen»
8*
112 g-egerabenb: SWoberne 3:f)coIogic.
fd^tt^cr, bcf d)ränttcr, cnbfic^cr Singe, atS ücrtoirrcnb bunte
SJlannigfaltigtcit, al§ bcftänbigcr Jlufe/ — Tcavxa ^er, fagtc fd|on
^cratlit —, al§ unauf^örlidieS 2luf* unb Jiicberroogen , al§
SBcrbcn unb SScrgc^cn bar. ^ci bicfer SBa^vnc^mung ücrmog bcr
bcnfenbe ®cift nic^t ftefien }u bleiben. ®r f^öpft barau§ gerabe bcn
9tntrieb, über bie ©rfc^einung, bo§ blo^ „'iß^anomcnale", ^inau§*
pfommen unb eine f. g. „mctap^rififdie" (£rtcnntni§ ber Singe
}u geroinnen. Siefe ©rfenntniö ift ©ad)e ber Scmunft, bie
aßein burc^ ba§ „^^^änomenote" jum „^f^teßigibeln" oorju»
bringen vermag. ®§ ift fc^on ein ©rf)ritt auf biefer SBa^n, wenn
bie 3Siel^eit aufgehoben wirb in ben ®eban!en be§ einen, ba§
at§ ganjeS oXiz^ (Sinjelne in fid) befaßt. 2)a§ „Unioerfum" ift
feine empirifd)C Salfad)e, fonbern eine 93ernunftibee. Slber an ber
(ebifllic^ numerifd)en Sin^eit lä^t fic^ bie benfenbe Vernunft norfj
nid^t genügen. @ie fd)reitet a(§ba(b weiter uor jur qualitatiuen
(Sin^eit, luonad) aüe§ einjelne feine notroenbige Stelle in ber
Otieberung jum ganjen f|at. (So ergibt fic^ bie Qbec be§ „Äo§»
mo§", ber SSBelt al8 eine§ iüot)lgeorbneten ©anjen, ba§ in leben»
biger Seiüegung ba§ einjelne au§ ftc^ l|crau§fe^t unb roieber in
fic^ jurüdtnimmt, um in biefem Kreislauf fic^ felbft in unoerdn»
berlid)em ®leic^gen)id)t unb in ungeftörter Harmonie ju ert)alten.
3)oct) aud) in bem ©ebanfen be§ Ko§mo§ fommt ber vernünftige
@eift noc^ nid)t jur 9lu^e. 2)iefe§ allumfaffenbe unb orbnenbe 6ine,
biefc§ ev xaJ ttäv, ftcllt al§ empirif^ bewegtet boc^ noc^ nid)t
ba§ abfolute ©ein in feiner 9teinl)eit bar. 3)as „reine Sein"
rodre eben übert)aupt nic^t mel^r irgenbroie üergduglid). 9Ba§
fd)ted^terbing§ ift, ba§ ift aud) unoerdnberlic^ unb eroig. SBerbeu
unb aScrgel^en ^dngt mit ber 93efd)rdnftl^eit be§ pljdnomenalen
Sein§ jufammen. aBa§ tann aber bie ©c^ranfe am ©eienben
anber§ fein al§ ba§ 3Jic^tfein? 2)a^ p^dnomenale ©ein ift eben
barum nic^t reinem ©ein, meil in if)m ©eienbe§ immer bef^rdntt
unb fo glei^fam verunreinigt ift von 9lid)tfein. 3)urc^ bie ^e»
fc^rdntung er^dlt ba§ pt)dnom£nale ©ein fein inbioibuelle^, unter*
f^ieblidjeö, gegenfd§tid)e§ unb barin fein mannigfaltige^ ©eprdge.
SBitl man jum reinen, abfohlten, eroigen ©ein emporfteigen, fo
mu| man bie Unterfd)iebe, ©egenfd^e, Oualitdten unb Kategorien
5c9c^<i'^c"i>* äWobernc 2:i^eologic. 113
negieren. 2)emgcmäl5 wivb bic „via negationis", bie auc^ in ber
c^rijilic^en @otte§fe^re eine ]o gro^c Stolle gefpielt ^at, betreten.
®ine ^^räbijierung nad) ber anberen fällt, um ba§ abfolute immer
reiner ju crfaffcn, bi§ fd)lie|li^ nic^tg me^r au§gefagt werben
fann, nic^t einmal me^r ba§ ©ein. 3)a§ reine ©ein in feiner
abfoluten SßoHenbung ift gtcic^ bem „iit) ov", bem 9lid)t§. ©o enbet
bie Spi^c ber fublimen ©pefulation im fc^led)t^inigcn 9ii^ili§mu§.
©Ott al§ abfolute ©ubftanj ift in ber 95olleubung feiner <3bee
aU reine§ ©ein — ba§ SSlxdjt^, iebenfall^ für un§, benn wie
bilblid) gefagt mirb: er ift bie atyi], ba§ ©d^meigen. ®r l|at
feine benfbare 93ejiet)ung. 3a er ift ber ßuS-ö;, ber 2lbgrunb,
ber alle§ ücrfdilänge, roa§ mit it|m in unoermittelte 93erü]^rung
fänie. ®et)t man ju weit, menn man urteilt, ba^ biefer ©Ott,
ber boc^ eigentlich nid^t§ anbere§ ift al§ ber loefenlofe ©chatten
berSBelt, projijiert in ha^ abfolute TOd^tö, baJ5 biefer (Sott nid)t
bie entferntcfte 2le]^nli(^teit t)at mit bem lebenbigen ®ott ber Offen=
barung, am toenigften mit bem I|immlifd)en 93ater, ben un§ unfer
l^err unb ^eilanb 3^efu§ ®l|riftu§ bejeugt l^at al§ ben, oftne
beffen JBitlen !ein ^aar oon unferm Raupte fällt unb beffen bc=
ftänbige^ ©treben barauf gerid)tet ift, un§ an fein §erj ju jietien,
auf ba^ wir in feinem SRei^e unter i^m unb feinem lieben ©oline
leben in emigcr ®ered|tigfeit, Unfc^ulb unb ©eligfeit, ba l^in-
gegen ba§ abfolute nid)t§ oon un§ meig, nodi miffen mill, unb
wenn e§ fic^ eine SSejieljung auf un§ geben fönnte, un§ oer^^
fd)lingen mü^te, wie in ber 5abcl©aturn feine Äinber? S)iefe§
Slbfolute, biefe leere Slbftrattion, bicfe§ aWenfc^engebilbe -- : l^aben
bie fo Unred^t, meldje fagen : ®§ ift ein toter unb ftummer ®ö^e,
tro§ aller f^illemben ©pefulation nid^t beffer, fonbern eben bc§=
^alb gerabe fdfjlimmer alä bic fonftigen ®ö^en ber Reiben? SQ3a§
^aben mir eoangelifdl|C ®t)riften für eine 3Jeranlaffung, maS für
einen ®runb, un§ mit biefer Slnfc^auung für folibarifd^ ju er-
flaren, un§ für biefen au§ bem ^cibentume ftammenben ®otte§=
begriff in§ 3eug ju werfen unb in bem 2)ogma, ba§ auf it)m
beruht, ein Heiligtum unfere§ ®lauben§ ju fe^en?
3Iber ift e§ benn audt) fo fi(^er, ba§ biefer ®otte§begriff bem
S)ogma ju ®runbe liegt unb baoon nid)t met|r ju trennen ift?
114 5ei)crabcnb: 3)Joberne 2;f)coIogic.
®§ gibt ein untrüglidic^ Äennjeid^en bafür. 3)a§ ift bic
bogmatifc^e 2Iuffaffung bcr ®ott^eit bc§ ©ot|nc§, bcr jiueiten
^crfon bcr JCvinität. öcfanntüc^ ift bie SogoSfpcfuIation für
bic alte Kird)c ba§ SWittcI geiüefcn bic ®ott^eit be§ ©o^ne^ bog-
matifd) ju crfaffcn, fcftjuftcKcn unb au^juprägen. 2lud) bic Sogos;»
fpc!uIation ift nid|t d)riftlici^em 53obcn cutfpvoffcn. @ic ift bie
@rgäujuug ju bcr ©pcfulation über bog ^bfolutc, mouon bereits
bie SRebe xoax. S)a§ 3lbfoIutc, roie €§ befrf)riebeu würbe, ift in
feiner oottenbeteu S^raufcenbenj unb baburd) bebingteu Qnbifferenj
fo gut wie o^ne allen religiöfen SBcrt. 8Ba§ foU bem SWenfc^cn
ein ®ott n)ic jener 93^11)05? 9lun aber ftrebt bod| ouc^ bic
natürliche 3Beltanfd)auung, fc^on ganj unwilttürlic^, nac^ einem
geroiffen religiöfen 33er^ältni§ ju bem ©roigen. Unter bem (Sin»
fluffe biefeö ^ntereffe^ befommt bie ©pctulation über bas reine
©ein boc^ aud) nod) eine etn)a§ anbere äöenbung, al§ bie ift,
n)eld)e ju bcr ni^iliftifc^cn ©pi^e in bem ^gt^o^, bcr ©ige, fü^rt.
©Ott foll bcr empirifd^en 3Belt gegenüber benn bod) nic^t blo&
©ige unb SSgt^o^, er foll auc^ TTr^yr^, Oueße alle§ ©eienbcn, fein.
3)a§ wirb bcr 2lnfnüpfung§' unb 3lu§gang§punft für eine ®e»
banfenrei^e, roorin bie ©ottl^eit nid^t fomo^l nac^ i^rer fc^lec^t*
Einigen Sranfccnbenj in 93etrac^t fommt, als; oielmef)r angefc^aut
wirb au§ bem ®efic^t5punft, wo fie fic^ barfteüt al§ bie ^üHe,
bie alle§ erfüllt. 93eibe ®ebanfenreit|en finb logifc^ nid)t rec^t su
reimen. 9lur notbürftig werben fie miteinanber oerbunben burc^
eine 93orftellung, bie ein mr)tt)ologifierenbe§ ®lemcnt enthält: bie
©manatiou, ein ^^Sroje^ be§ 2lu§flie^en§ au§ bem unerme|lid|cn
Urgrunbe be§ 3lbfoluten. äiBcnn über ben 939t^o§, bic ©ige im
Sntereffe bcr abftraften 2:ranfcenbenj fc^lic^lid^ nic^t§ auöpfagen
war: bei bem 2lu§flu^ bcr ^^ege, be§ Urqueüö, fällt ba§ ^inbet'
nig ja fort. Unb anbererfeit^ gibt boc^ bie ®manation8ibee auc^
wiebcr eine gewiffe öegrünbung bafür, ba§ auf ben abgeleiteten
®ott alle bentbaren SSollfommen^citeu in pofitiuen 3lu§fagen ge*
t)äuft werben. 3)a§ ift benn bcr Sogo^, bie göttliche aSernuuft,
ibentifd) mit ber obieftioen 3öeltoernunft, bie güUe bcr ^been,
ber Urbilbcr ber 3)inge, ber xoafios vorjTÖ^, bie intelligible SEBelt.
3)er Sogo^ ift fonad) fc^on in feinem SBcfen angelegt auf bie
^c^crabcttb: SWobcnic 2:^colo9ie. 115
SioKe be§ ffieltfc^üpfcrö, unb aU @ott jnjcitcn ®rabe§ aud) bc«
ffi^igt, eine SRetation jur ftd^tbaren SBelt ju Iiaben, aWittler ju
fein jroifc^en ©nblic^em unb Unenblid^em u. f. n). @§ ift nid)t
mflglid) unb auc^ nic^t nötig an biefer ©teile bie ganje Sogo§*
Ief)rc ju n)iebert)oIcn. Un§ ^anbelt e§ fic^ l^ier nur um bie g^ft*
ftellung ber 2:atfad)e, ba§ bie Sogo§fpcfu(ation ba§ notroenbtge
Komplement ber fo§mologif^en ®otte§ibee ift. 9Bo ®ott nac^
ber fo^motogifc^en ®otte§ibee oorgefteDt wirb, ba finbet fid) aud)
ber £ogo8 al§ ber SWittlergott ein. Umge!e^rt: roo ber Sogo§
eine SioOe fpiett, ba ift bie fo§mologifd)e, ftarre, undjriftlic^e
®otte§ibee bie notroenbige 93orau§fe§ung. 3)enn o^ne biefe 93or«
Qu§fe§ung mdre ein jroeiter, ein SJlittlergott, eben überffüffig, unb
ber moniftifc^e Qmq ber ©petulation über ba§ SÄbfoIute mürbe
fi^ feiner gern entfebigen. ®a§, roaS an fid) abfurb erfc^eint,
mirb nur burd| ba§ ^inüberfc^manten ber ©pefulation auf bie
religiofe ©eite gemifferma^en l^erbeigejmungen. 2lber ber Sogo§
belialt be§^alb auf bem 99oben be§ reinen ^eibentum§ immer
etroag ^liefeenbeö unb 3ctffie^enbe§ gegenüber bem Slßeinen. @rft
bie JBermäl^tung ber ©pe!uIation mit bem ©^riftentum ^at, fo«
gufagen, eine größere Äonfiftenj be§ SogoS ^erbeigefülirt. ®r
wirb aU jroeite „^erfon" ber ®ott^eit fiyiert. ^üx ba§ ©tiriften*
tum roaren bie ^^ßerfonen ba§ ®egebene. 9Son ber anberen ©eite
fam bie Sttuffaffung ber ®ott^eit at§ ber abfoluten ©ubftanj.
3)ie SBerbinbung fteHte bie 9Iufgabe ber bialeftif d| = fpetulatiuen
98ermittelung jmifd)en bem ©inen unb ben SDreien. 3)a§ ift ba§
S^ema ber t^eologifc^en unb i^riftologif^en Bewegungen be§
d^riftlidien 3lttertum§ gemefen. SQ3iß man ben ^at^n, ber burc^
biefe§ £abt)rint^ fü^rt, nid)t oerlieren, fo muB man bie ©üb*
ftanjibee im 9Iuge bel)a(ten. 2)ie ®ottt)eit ift bie abfolute ©ub^^
ftanj, aber in brei ^^Jerfonen. ^n jeber ber brei ift bie ©ubftanj
ganj, ungeteilt, ot)ne ba§ bod) bie 'ißerfonen in ein§ jufammen«
fliegen. ®§ gibt nid^t brei ®ötter, fonbern bloß einen ®ott.
2lber e§ gibt gleid)mo^l nic^t bloß eine ?5erfon, mennfc^on ber
eine ®ott nid^t unperfönlid) genommen merben barf , fonbern
e§ gibt brei ^erfonen. ®a§ bogmengefc^id)tlid)e SRefultat lief
barauf f)inau§, auf bem fpinöfen ®ebiet, ba§ burc^ bie 5^^"^^*
116 JJci)crabenb: 9Wobernc 2:^eologte.
umfcf)ricbcn ift: ein göttlid^cS SBBefen tu brci ^erfonen, — bic
gangbaren ^fabc burd) fpi^finbige, feinen yßiberftnn fdjeuenbc
gormein fo ju oerjaunen, ba^ jeber, ber biefe Jormetn beachtet
unb ftc^ burd) fte leiten lä^t, ftc^er ftinübertommt, o^ne in bie
Slbflrünbe ber Äe^erei ju flürjen. 2)a§ 2:t)ema, ba§ bie t^eolo^
gif(^en Streitigfeiten aufgenommen hatten, wirb in bm d^rifto^
logifd^en weitergefponnen. 2lud) i)kx ift bie ©ubftanjibee bie
burd)greifenbe, entf^eibenbe, aKe^ bi§ in§ einjclne beftimmenbe.
S)er ©ot)n ift wahrer ®ott oon ©roigfeit l^er, mett in feiner ^er«
fon bie göttli(^e ©ubflanj ift. ®r ^at fic^ jum ®^riftu§ gemad)t,
inbem er unfere 9iatur (ba§ menfd)li(^e ©attung^mefen) mit ber
göttlid)en ©ubftanj jur Sinl^eit gottmenfd)Iid)er ^erfon üerbunben
l^at. ©0 ift er unfer Sriöfer gemorben, meil er unfere menfc^=
Iid)e 9tatur burd^ jene SSerbinbung oergottet unb baburd) oon
bem Sßerberben ber SnbUc^feit, SBergänglidifeit unb 9itc^tigfeit
befreit l^at. 2)ie Sriöfung mirb fomit ju einem ptipfifc^'^qper*
p^rififd^en ^roje^, in ®{)riftu§ felbft Dofljogen mit bem SWomentc
ber Qnfarnation, für un§ menigftenS grunblegenb baburc^ an-
gebahnt.
^[ntereffant geftaltet fid) auf biefem ^intergrunbe bie Stuf«
faffung ber fubjeftioen §eil§aneignung. SDBie fommt ber eingetnc
jum ^eit? 9lun, natür(id) ^at er Dor allen 3)ingen ju „gtau*
ben". 3)a§ trinitarifc^e unb d)riftoIogif(^e SJogma t|ält i^m bie
l^öd)ften @Iauben§objefte oor. ®ie SJlutter Sirene verbürgt fid)
für if)re l^eilfame SBa^rl^eit. 3)aj3 bie Oottf^eit abfolute Sub=
ftanj fei, mar ja nun bamal§ leicht ju „glauben". Sagte c§
bod) atterorten bie ^öd)fte aQ3eltroei§^eit. ®a§ bie güttlid)e Sub=
ftanj in ®t|riftu§ bie menfci^Iid)e 91atur uergottet ^abe, mar fc^on
fd)merer ju „glauben", ^ier t)alf bie ^öd)fte geiftlic^e 2tutoritat
nac^. 333er felbft fa^ig jur Spefulation mar, lie§ überhaupt ben
„©tauben" hinter fic^, inbem er ftd) in bie 2letf|er^ü^en ber
®nofi§ emporfd)mang. 3)en fd)Iic^ten G^riften mar biefer SBeg
oerfc^Ioffen. S)ie „glaubten" alfo, b. i). hielten auf Slutorität
^in für ma^r, ma§ man i^nen al§ ^eiligen ©egenftanb be§ ®lau*
ben§ oorftellte, unb bei ber 93efd)affen^eit ber ®(auben§objefte
mar ja aud) eine anbere 9Irt be§ @Iauben§ nic^t möglid). 3lber
Jc^crabcnb: SWobernc ^^cologic. ^ 117
roa^ tlQtten ftc benn an unb in folc^em ®Ianbcn al§ d)riftlic^e§
^citegut? 9lun, ftc I)attcn oor aüem bic Rtrd)c unb i^rc @e*
meinfd^aft al§ bic gro^c gegenwärtige SRcalität unb Ratten barin,
TOa§ roir aud> Don unfercm ©tanbpunttc au§ nic^t untcrfc^ä^en
bürfcn, immerf)in nod) einen geroiffen, rocnn aud) felir abge*
blatten unb Dcrroorrcnen ßwfönimcn^ang mit bem Ur^riftentunt.
3)tc Äird)c garantierte it)ren ©laubigen bic aSerroirHirf)ung ber
bcntbor l|öc^[tcn 2lu§ftcht in ber juKinftigen SEBelt ber SSoIIcnbung.
©ie tat nic^t nur ba§, fonbem fie gemährte aud) fc^on ^ier,
roenigften^ fflr 9Womente, einen feiigen 93orfc^niarf in ber mt)fti:=
fc^en (är^ebung be§ @ottc§bienfte§ unb ber Kontemplation. 2)a§
3icl n)irb natürlid) um fo ooHtommener erreici)t, je energifc^er
man „gtaubt" unb je melir man au§ folc^em perbienftli^en ®Iau*
ben ben 9(ntricb ju einem ^eiligen Seben entnimmt, ba§ bem,
ber fid) burc^ bic Äird^c leiten Id^t, nottauf möglid^ fein foH.
3)ic Äir^engef^id)te berichtet un§ ja auc^ non eyemplarifdien
^eiligen, unb barunter oon fotcften, bic e§ in ber 93irtuofität ber
Kontemplation unb ber mriftifc^en Sntgüdtung bat)in brachten,
ba§ ÜKgfterium ber Srinität ober ber Qntarnation mit Slugen
}u fdjauen. Sluf unferer ©eite l^errfd)t nod) immer fo oiel pro*
teftantifc^e 9lü^tern^eit, ba§ mir un§ angemanbclt füllen foId)c
ffiytranaganjcn at§ ©djminbel ju beurteilen. Sc^roinbel ift ba§
nid)t. ®§ ift nietme^r ba§ eigentlid^c Qkl, ba§ unter SBorau^^^
fe^ung be§ ®ogma8, al§ ©runbtage ber SBa^r^eit, unb be§
9W9ftiji§mu§, aU red)ten aWitteI§ ber religiöfen 2lnbac^t, erftrebt
rocrben muJ5, unb menigften§ uon einigen auf ajlomente erreid)t
roorben fein fott. greitic^ ein merfmürbigeS 3^^^/ ^ö§ ben meiften
überhaupt nic^t in (5id)t tommt! 2:ro^ bereitmittigen „@Iauben§",
tro^ unbebingter Unterorbnung unter bic fir(ftlid)e ^Regelung unb
Scitung beS 8eben§ bod) feine au§reic^enbc ^citigfeit, fonbem
ftet§ fid) crneuernbc unb ^äufcnbe aWenfd)Iid)tciten beben!(i(^fter
9lrt auf aßen Seiten, ffiogu fott man bem gegenüber feine 3"'
ffuc^t nehmen? 3)ic fird^Iidjc ^^Jrayi§ ermal)nt 5U fleißigerem
©ebraudi ber (Snabenfd|ä^c in ben ©a!ramenten, biefen „Kanälen
ber ^ciligteit". @^ fann nad^ bem ©efagten nic^t überrafd^en,
baß bie roirtfame ®nabe in biefen ©nabenmittetn fubftantiett.
118 g-e^erabenb: üJ'lobeme ^^eologie.
ftoffüd^ gebadet ift. Qn faframcntater ^orm unb SBcrmittelung
wirft ^ier bicfelbe ©ubftanj, bic in ®^riftu§ unferc 9ktur ocr^
(jottct ^at, unb roirft natürlid) in bcrfelben 9lid)tung unb fi^n*
Iid|ern)cifc. ^ie^en bod) bic ©aframentc bcjcic^ncnbcrnm^en
SWpftcricn, unb bog ^5d)ftc aJl^fterium, ba§ Slbcnbmal^l, mit feinem
9BanbIung§n)unber, feiner Sronlfubftantiation, fielet im engften
3ufQmmenl|angc mit ber ^»nf^^^^ötion. 9K§ cpapiiaxov dd-avaaia^
fc^afft unb na^rf e§ ben geiftlidien fieib ber 9luferfte^ung unb
be§ lünftigen 2eben§.
@tn)a§ Qnber§ i)at ftc^ \a bie Sluffaffung ber ©rlöfung im
9t6enb(anbe geftattet. i^ier l|errfd|t ber @efic^t§punft be§ SBer*
bienfte§ Dor. ®§ lianbelt fid^ bei ber Srlöfuug barum, ber Sei*
ftung be§ ®rlöfer§ einen unenblic^en SBert oor unb für ®ott ju
fidjern. 2lber bicfe ©etrad^tung^meife, wie ri^tig ober unri^tig
an ftc^, \)at jebenfallg ju feiner burc^greifenben Slenberung ber
©ubftanjtfjeoric be§ 3)ogma§ unb feiner 2lu§läufer in ber firc^:=
Iid)cn ©aframent^Iefire geführt. 3)ie göttli^e ©ubftanj in ber
^erfon ®t|rifti ift t|ier ber roiUfommene ©yponent, ber bei allen
Slnfa^en ber SRe^nung jum oorauS ba§ ^a^xt ber Unenbli^feit
oerbürgt. ®ie ©ubftanj ber ©ottl^eit mad^t ba§ aSerbicnft S^rifti
ju einem unerme^Iid^en, fad^lic^ oorliegenben @c^a§, roooon burc^
bic ©atramente, bie bie Äird^e oermaltet unb fpenbet, ben ©lau«
bigen i^r Xeil in gorm „fubftantietter" @aben jur 93egrünbung
unb SWcfirung i^re§ 9Serbienfte§ jugefü^rt mirb. S)ic „®nabe"
mirb i^nen eingegoffen, mcnn fic fic^ nur nic^t fträuben. SBSirfen
boc^ bie ©aframentc ex opere operato. 3)a§ fte aber überl^aupt
etmag roirfen, baffir t)at man fi^ auf bic Slutoritat ber Sirene
ju tjcrlaffen.
©0 geftattet ftd) „S^riftentum" auf ®runb be§ 3)ogma§ unb
feiner treibenben Qbeen. demgegenüber braud)t e§ ^roteftanten
nic^t JU eifen mit einer cinge^enben Kritif. 2)a§ ein 2:ei( be§
ffijjierten ©t)ftem§ oon einem proteftantifc^en 93en)u§tfein nur
abgelelint merben fann, barüber bürfte immerl^in uon oorn^erein
©inigfeit l^errfd^en. 9Kan barf ftd) bod^ rool^l ber Hoffnung ^in^
geben, ba| e§ unter etangelifd^en ©Triften nur ocrfctjämte 2ln»
tjänger ber ©aframent§magie geben mirb, bie bie notroenbigc
JJc^erabcnb: 3Jlobcmc ^^cofogie. 119
ejolgc oon Slpplijicrung überuatürUd)er „©ubfianjcn" an un§
fein mu§. 3lud) bic ^uffaffung hz^ d)viftli(^en ®faubcn§ at§
blogeS 5ütroat)rl^alteii, beg c^riftlic^cn fiebcn§ in feiner Spaltung
jroifdjen ttigfltfd^em, b. l). unfagbarem @efüt|l§taumel unb roibcr*
williger ©efe^lic^feit ber Äird^e afö ©nabcnanftalt unb ber @r*
lofung al§ Statur- ober SRec^t^projeH wirb fc^iüerlic^, follte man
benfen, jemanb in ber f^orm bet)aupten wollen, wie fie in ber
alten Äir^c entroicfelt roorben ift. Um fo entfc^iebener aber
meint bie gro^e SJle^r^eit aud) ber ^roteftanten in ber S^rifto»
logic unb 2:t|eologie bei ben altberoä^rten gormein, mie man fie
nennt bleiben ju foUen. SWan überftel|t babei unter anberem,
baj5 ba^ 3)ogma ein etiern gefc^loffeneS unb oerflammerte§ ©e-
füge ift n)orau§ man nid^t nad) 53elieben ein ©tüdE ^erau^ne^men
tonn, ^ier ^anbelt e§ ftd) um ein Sntmebcr — Ober, ganj ober
gar nic^t. 3lud) oou ben ©ä^en be§ 2)ogma§ gilt ba^ SBort:
Sint ut sunt, aut non sint! Unb abgefet)en non ber gefd)loffe*
nen Sin^eit, bie nic^t§ l^erau^julofen geftattet fann e§ einen
iS i n n ^aben, bic ©ubftanjauffaffung in ber ^^erip^erie al§ oer*
roerflid) unb f(^äblid) }u befeitigen, aber im3^ntrum ebenbiefelbe
ate 95Bertüollfte§ feftjut)alten unb ju ^egen?
3lllein laffen mir un§ nic^t nerleiten, borf) fc^on ^ier eine
fritifc^e Prüfung unb aEBürbigung be§ 2)ogma§ im ganjen unb
im einzelnen anjutreten. SBir t)aben ba§ (Jl)riftentum be§ Sog*
ma^ im UmriJ5 ju Deranfd^aulic^en oerfud^t. @g mirb am geeig=
netften fein, bamad) juoörberft bie 5^'age ju beantworten: 3Öie
ftellt fid) benn bem gegenüber eoangelifd)e§ (Jliriftentum bar?
3)a ift e§ benn für ben, ber biefe 2(ufgabe mit noHer ©nergie
in lebcnbigcm Slontatte mit bem ©oangelium erfaßt i^n l^öd)ften
©rabc bebeutfam, bie SBal^rnelimung ju mad)en, ba§ fid) bie ®ar-
ftellung be§ eüangelifd)en ©lauben§ überl^aupt gar mijt parallel
bem ®ogma in ber entfpred^enben Slbfolge non ©ä^en geben lä|t.
3)a§ erfte, worauf wir flogen, ift ein biametraler ©egenfa^ in
ber 9Wett)obe. ®§ ift unmoglid), wie e§ ba§ ®ogma tut, auc^
unfererfeit§ im ^immel ju beginnen unb oon bort auf bie ©rbe
^erabjufteigen. 3)a§ ©oangelium unb ber eoangelif^e ©laube üer=
langen ben umgefet)rten 2Beg. SEBie oft wie energifd) I)at Sutf)er
120 3rci)crabenb: SWobcrnc St^eoloßic.
cingefd^ärf t : nid^t oon oben nad) unten, fonbern oon unten nad)
oben ! Slber abgefe^en oon feiner 2lutorität : biefe ÜRetliobe liegt
im aSBefen ber ©ac^e. 9Bir fe^cn barin ba§ ^auptoerbienft S u^
tf)er§, ba§ er bie SRed^tferttgung burc^ ben @(ouben roieber jur
SInerfennung gebrad^t l^at. ^a^ bebeutet t>a§ aber? 5)a§ bebeutet
üorab, ba^ an bem ©tauben aHe§ Ijängt. 2ln roeffen ©lauben?
^üx mid) natürlich an meinem eigenen, perfönlidjen, inbioibueßen
©lauben. Kein«§ anbern ©laube, wie fdf)ön er aud^ fei, fann mir
I)elfen. aWein ©laube mu§ e§ tun, roie mir ben §errn im ©üan*
gelium fo oft in ber 2;at fagen ^ören: ®ein ©taube t)at bir ge^
l^olfen. ®a§ bebeutet, baJ5 bie retigiöfe SB3al|rl|eit§ertenntni§ im
eüangetifc^en SBerftanbe für jeben i^re SGBurjel in bem 3^"^^^"^
feiner eigenen ^erföntid^teit l)at nur oon ba au§ erfaßt, in i^rem
93eftanbe unb in if)rer ma^fenben 2lu§geftaltung gegebenenfalls
befrf)rieben werben fann. ^^embe ©ebanfen über ©Ott, mögen fic
aud) an fid) nodt) fo n)at)r unb fc^ön fein, fönnen unb bürfen mir
nic^t in ber SBeife aufnehmen, ba§ wir fie für roalir Iiatten unb
bann oerfud)en unfern ©lauben barnai^ ju mobein. Sut^cr in
feiner ^ü^nbeit ^at fid^ nic^t gefd^eut, ba§ gerabe ©egenteil ba*
oon al§ ba§ SRid^tige ju bcliaupten. Qm großen Äatec^i§mu§
fagt er, mie oft gitiert roorben ift, jum erften ©ebot: „SBBa§ Reifet
einen ©Ott liaben, ober roa§ ift ©Ott? Slntroort: ©in ©ott ^eigt
ba§, baju man fid) oerfe^en foll alte§ ©uten unb S^flu^t ^aben
in aüax Slöten, alfo ba§ einen ©ott liaben nid)t§ anbere§ ift,
benn i^m oon ^erjen trauen unb glauben, roie ich oft gefagt
tiabe, bag allein ba§ 2:rauen unb ©tauben be§ §erjen§ mac^t
beibe : ©ott unb 9lbgott. Qft ber ©laube unb ba§ Sßertrauen rcd^t,
fo ift aud) bein ©ott red)t; unb mieberum: mo ba§ SSertrauen
falfc^ unb unrecht ift, ba ift auc^ ber rechte ©ott nid)t. ®enn
bie jroei gel)ören jut)auf: ©taube unb ©ott." SBenn ^arnacf
biefe äBorte gefdf)rieben l^ätte, fo mürbe e§ l^ei^en: „5)a fielet man
red)t, wie fidf) ber mobernen 2;^eologie alle§ in§ ©ubjettioe auf*
töft. 5)er ©taube mad)t fid) feinen ©ott unb betet it)n bann an.
3ft nid)t fo ber ÜWenfd) ©df)öpfer ©otte§, genau genommen felbft
ber eigenttid)e ©ott? 2)a aber jum ©tüdt Sut^er e§ ift, ber
fid) fo geäußert ^ai, fo mirb e§ bod) oielleid^t nod^ gelingen ba*
gre^erabenb: äJ'loberne ^^eologie. 121
»on ju übcrjcuflcn, ba§ bic SBortc nic^t fo ju Dcrftet|cn finb, wie
bic beliebte Äonfequenjmad^erei fie einem „3Wobernen" jiüeifcUos^
auslegen mochte, ^ie ^roei, fagt £ut^er, gel^ören ju^auf : @laube
unb @ott. 2)q^ ^eigt natürlid) nict)t: @rft lege ic^ mir meinen
©lauben jurec^t, unb bann bilbe id) mir ben ©ott, bem ic^ ben
@taubeu mibme. älud^ baS freiließ fann man \a tun. 3Ba§ fann
man nid)t? 3lber ha^ Ergebnis mirb babei nur älberglaube unb
Stbgott fein. i{utt)er ^at im Sluge ben „Olauben beg^erjens".
2Ba§ er fo c^aratterifiert, ift ber (Staube, ber nur jroif^en $er*
fönen in it)rem SSer^ältni^ ju einanber befte^t unb nad) ber ©ac^«
ertlärung be§ 9leformator§ roefentli(^ 9Sertrauen ift. 3Sertrauen
fann ftrf) überhaupt niemanb felbft geben, e§ mu§ erroedt werben.
üBenn nun Sut{)er baö 93ertrauen, worin fic^ ber ©ünber ge«
red)tfertigt mei§, jufammenbinbet mit bem magren lebenbigcn @ott,
fo ift feine Ueberjeugung bie, ba§ biefer ©laube fein millfürlidje^
aWenfc^engebilbe ift, fonbem nur entftet)en fann, wenn ®ott i^n
fdjafft, inbem er felbft in unjroeifel^after SBeife ben ©ünber be*
rü^rt mit ber beftimmten Äunbgebung: 5)ir finb beine ©ünben
vergeben, bu wirft nic^t fterben, fonbem leben in meiner ®emein*
fd)aft tro^ beiner ©ünbe. 3)arin ift befd)loffen: erftli^ bie ®e-
iDi^t)eit, e§ mit @ott felbft ju tun ju ^aben, unb fobann in biefer
93egegnung mit i^m bie ßufic^erung feiner ©nabe ju oerfte^en,
bie bie ©ünbe oergibt unb ben ©ünber jur fieben§gemeinfd)aft
mit ©Ott er{)ebt. 3)iefe ©nabenoffenbarung be§ ^ebenbigen ©otte§
tonn aber einjig unb allein fein flarer, offenbarer
äBille, mit biefem ^n^alte unb biefer 9tid)tung auf mid), fein.
9tid)t§ anbereö. Unter biefer SöorauHfe^ung t)aben iJ u t f) e r §
SSorte einen ^errlic^en©inn: bie jwei get)ören ju^auf, ber ©laube
unb ©Ott. &§ ift etwa§ fo ®rope§ um ben red)ten ©lauben,
ba§ aSertrauen be^ ^erjen§, ba§ jeber ©ebanfe baran fd)wiuben
mu§, i^n burc^ 3Wenfc^enwerf t)er}uftellen. 9lur ber lebenbige
©Ott fann it)n geben al§ ein ©efdjenf feiner ©nabe, bie bie ©ünbe
©ergibt unb tro§ il)rer ein fieben in ©otte§ ©emeinfc^aft eröffnet.
Unb umgefe^rt: weil ic^ ba§ SBunber be§ ©lauben§ erlebt l)abe
al§ ein Sßerf ©otte^ felbft in meiner 9ied)tfertiguug, be§f)alb bin
id) in biefem ©lauben ©otte§ gewi^ unb fro^, genieße im ®lau=
122 g= e 9 e t a b e n b : 3)'loberne ^l^eologie.
bcu bie ©ctigfcit ber |)erjcn§* unb ficbcnSgcmeinfc^aft mit i^m.
9lu^crt|atb bicfc§ ®(aubcn§ fann c§ roo^I l^ol^c unb in i^rer Slrt
]^crr(ic^e ©cbanten pon ©ott geben, aber feine ©eroä^r i^ret
S3Bat)r^eit unb feinen 2^roft au§ i^nen für ein ^erj, bem feine
©ünbe Unruhe fc^afft. 2)arum ift jeber blo^ tl)eoretifd)e Unter*
bau für bie SReligion na6) eoangelifi^em a3erftänbnl§ au§fle=
fd)Ioffen. Srlebte SBirflic^feit ift ^ier alle§. 2Bo ift uns biefe
SJÖirtlic^fcit ju erleben gegeben unb mie gelangen mx baju? 3)av»
auf ^at ba§ @oange(ium nur eine 2lntn)ort: Äomm unb fiel^!
3)er ®eift unb bie 33raut jeugen : ^ e f u § ® f) r i ft u § ift biefe
SBirfUd^feit. @r ift in unferer SBelt bie gefd)id)tli(i| fic^ bar=
bictenbe %at\a6)t, baJ5 @ott bie ©ünbe oergibt unb ben ©ünber
f 0 jur Seben§gemeinfc^af t annimmt. SBoburc^ ift ® ^ r i ft u §
biefe Satfac^e? 2)a§ tann feine 9Irgumentation „bemeifen", feine
©pefulation, feine Sßergleid^ung von SBei^fagung unb ©rfüDung,
feine ^eranjiel^ung ber SBunber, noc^ enblid) eine Kombination
atte§ beffen mit einer SReifie oou 3(usfprüd)en, bie ju einem „©elbft=
jeugni^ ^efu" oerbunben finb. ®§ gibt t)ier nur einen öemeiS,
ba§ ift ber religiöfe be§ ©eifteg unb ber Kraft. S)iefer 93en)ei§
ift nur für ben ©lauben oor^anben. 3)cr (Staube ift fic^ felber
bet 93emei§, fofern er fid) ber Srfo^ruug beroujst ift, burc^ Qe^
f u § ® t) r i ft u § gefc^affen ju fein, nic^t burc^ ben 3» ^ f " ^/ ^^^
mit feiner @efd)id)te bto^ eine Steige üon 33lättern in einem Suc^e
füttt, fonbern burd) ben, ber aU ber Oeift bemegenbe Sebensmac^t
in ben ©einen ift, unb burd) ba§ 3^wgni§, moju er fic antreibt,
bafür im befonbern fort unb fort forgt, ba^ fein ®e]^ei§ erfüQt
merbe: ®el^et ^in unb oerfünbiget ba§ ©oangelium aller Kreatur.
2luci^ bie§ Soangelium läfet fid) freilidi lange al§ ein Sieben
über -Öefuö ©firiftu^ aufnel^men, moju mir unfereSBorbc^
Ijalte mit menn unb aber mad)en. SBer fid) aber nid)t jule^t in
®leic^gültigfeit, Seid^ttierjigfeit ober gar 93ö§milligfeit abmenbet,
bem fommt ber Slugenblidt, roo ber ^err felbft ju i^m fpridjt unb
it)n jmingt. Singe in Sluge ftanbjutiaUcn. ®inem jeben fc^lägt bie
©tunbe, bie eine ä^nlid)e SBenbung bringt, roie einft ber ©ama*
riterin ba§ SBort: „®e]^e ^in, rufe beinen 9Jlann unb fomm ^er!"
1)ann beroätirt -3efu§ feine Kraft, un§ ®ott gegenüberjuftellen.
{^ei)erabenb: 9J2oberne i^^eologie. 123
Sber ©Ott ift bann in i^m boc^ nicf)t buntle ^a6)t, unfapare
©ubftanj, nid)t ctn)o§ Unbcgrciftic^eö, UnfagbaveS, fonbcrn ber
beutUc^e, innige fiicbcSroiUc, ber bei allem @rnft gegen unfeve
©ünbe bod) un§ fud^t unb un§ nac^ge^t, um un§ ju retten unb
gu neuem Seben ju bringen. 3^^^"^ ber ^err un§ fo Oott offen^
bart in feinem 92amen, b. \). in feiner Derftäubli^en Sunbgebung,
evmeift er fid) al§ ben ©eift, ber bie ^erjen umfi^afft ju bem
©lauben, morin fie es; auf ©ott wagen, loie Sut^er fagt. ^abc
ic^ aber ben ©lauben, ber 3[efu oertraut, baß id) in bem, was
ic^ üon i^m erfahre, gered^tfertigt, bcgnabigt unb befeligt bin por
©Ott, bann ift mir in biefem ©lauben unmittelbar Qe^n ©Ott-
^eit gegeben. 3)enn bie jmei gehören ja ju^auf : ©laube unb ©ott,
— roic un§ fintier geletirt i)Qt Qn ber ©rfal^rung ber Siecht»
fertigung, bie Vergebung ber ©ünben unb (Schaffung be§ ©laubens^
in einem einjigen 2lfte ift, erleben mir geiftlic^ bie ®reieinigleit
be§ aSater^, bcö (3o^ne§ unb be§ ^eiligen @eifte§. ®iefe SBa^r:'
^eit bebarf feiner fpefulatioen Segrüubung, benn fie ermädift oou
felbft unb ftet§ oon neuem au§ bem religiöfen Seben be§ K^riften,
ba§ ein ©d^öpfen au§ ber g^ülle bes; ©o^ne^ ©otte§, ein ®ffeu
oom 93rote be§ Seben§, ein ©ein unb ^Bleiben in bem rechten 2Bein=
ftorf ift, ber feinerfeit^ bie 3"^^ift^ ^^^gt unb mit bem fruc^tfd)af'
fenben fieben^faft bur^bringt. 0^ne93itb: ift e§ bie Eingabe au
i^n in bem Sßertrauen, ba^ er ben ©otte^roillen, ber in il|m offen*
bar ift, aud) an un§ ju unferer ©eligfeit ootläicl)t.
3)iefer ©laube, worin wir nid)t§ Iciften, fonbern unausgefe^t
empfangen, umfaßt unfere ganje gerabe 33ejie^ung ju ©ott. Silier
übrige ©otteöbienft ^at fi^ al§ Siebe am 9täd)ften ju betätigen.
aiüx fo ift baö ß{)riftentum, b. f), ba§ 83etenntniö ber ©ott-
^eit ß^rifti, grei^eit unb SBa^r^eit unb Ä'vaft. ©e^t man ba-
gegen ba§ 53etenntni§ ber ©ott^eit ß^rifti in bie ^5eiat)ung beio
trinitarifc^en unb c^riftotogifd)en 3)ogma§, fo bebeutet c§ bie Kned)^
tung ber ©ewiffen. 3)abei barf man fic^ auc^ nic^t ber Hoffnung
Eingeben, ba§ e§ ^inter^er fd)on beffer werben möchte, etwa nad)
ber 93ert)ei§ung : ^^r werbet bie SBat)r^eit ertennen unb bie9Bal^r=
^eit wirb euc^ frei machen. 3)iefe Hoffnung wäre eitel. ®enn
ber SBeg jur SB3at|r^eit ge^t nic^t, wie e§ in biefem gälte gefc^e^eu
12-i JJ c 9 e r a b e n b : äTiobcrne 3:f)colo0ie.
mü^tc, buvc^ innere Unn)af)rl)aftigteit. 2Ba§ an§ berSEBurjel Qt^
loadfifen ift, fann e§ roeber jur ^r^i^^it nod) jur greubigfeit, noc^
jur Äraft bringen.
Slber wo bleiben bie ^eifstatfac^en? 5(n i^»«" ^at man boc^
iDofjl bie rect)te Segrünbung ber ©ottlieit ©^rifti ju fud)en, uorab
in ber 2luferftel)nng§tat| ad)e?
@§ wirb immer benfiüürbig bleiben unb einen tiefen ©inbrurf
JU mad)en nic^t üerfe^len, wenn roir fef|en, roie bie ^ufcrftetjung
für bie SSerfünbigung ber apoftolifd)en 3cit im SJorbergrunbe gc*
ftanben i)at ®ie älpoftel tjaben unbefangen oon ber äufcrftebung
a(§ einer ^^atfac^e gefproc^en, bie eine§ weiteren öeiueife^ al§
il)re§ 3^^9>^iff^^ "'^^ bebürfe. 2)arin befunbet fic^ in ergreifen*
ber SBJeife bie unerfc^ütterlid)e ©emip^eit if)rer Ueberjeugung ^in«
fic^tlic^ ber Dftertatfac^e. ®eiüi^ mürben aud) mobernen ßmeiflern
oor berartigen Qut^entifd)en unb fraftüolten 3^W9c^ ^^^ St'agcii
oerftummen. SDa§ f^riftlic^ überlieferte 3^U9^'^ ber Urgemeinbc
i)at in biefem fünfte erfat)rung§gemä§ nid)t me^r ganj biefelbc
äßirfung. SBäre e§ benn nun nid)t eine fläglid)e 3lu§tunft, ju
fagen: ©leic^uiel! Sie 3lpoftet tjaben jroeifello^ bie 2luferfte^ung
al§ Satfacbe angefe^en ; fie ^aben aud) bie (J^riften^eit ber Urjeit
üollauf überjeugt; folglid) t)aben auc^ mir bie 3luferfte^ung uon
uorn^erein at§ gegebene 2:atfad)e jn nehmen unb barauf unfern
©lauben an bie ®ottl|eit (J^rifti }u grünben. 2)a§ ergäbe ein
innerlid) ebenfo unmat)re§, unfreie^ unb t)altlofe§ ©^riftentum,
mie c§ ba§ ift, meld)e§ mit ber Sejatjung be§ 3)ogma§ begin*
nen folt.
^JW^er jur SBa^r^eit t)in träfe man fd)on mit einer ©rrnä»
gung mie etroa ber fotgenben. Salb jmeitaufenb 3^al)re bient nun
fc^on bie SSertünbigung Don®^riftu§ ber religiöfen 2lnbac^t unb
©rbauung ber 9Jlenfd)^eit. ©ollte man ba nic^t ju befürchten ^a*
ben, i)a^ ber ^nt)alt enblid) au§gefc^öpft fein mü^te, bafe bie un*
auf^örlic^e 3Qäieberf)olung biefer SJerfünbigung anfangen müßte,
i^rer SQSirfung unb bamit be§ regten 3"^^^^^ i" fehlen? ©tatt
beffen fe^eu mir aber, ba§ ba§ Qutereffe nic^t nur unweränbert
geblieben ift, fonbern beftänbig mäc^ft unb fid| vertieft, ^n biefer
SQ3aI)rne^mung braucht un§ auc^ bie ®t)riftu§feinbfd|aft unferer
gre^erabenb: Snobeme ^^eologie. 125
3eit ni^t }u beirren. @ie ift t)te{me^r eine ^eftätigung bafür.
S)enn fie jeigt nur, ba^ @)I)riftuS fogar bie nic^t loSta^t, bie
roiber [einen ©tac^el löden. SQ3enn aber SfjriftuS fo mit ftei*
genber ä^ac^t bie SRenfc^Iieit ben)egt inbem er fte }n)ingt @otte§
)u gebenfen unb fid) mit i^m auSeinanberjufe^en, ift ba nic^t ber
Sc^lu§ unoermciblid), bajj n)ir e§ bei i^m ni^t Wo§ mit enblic^er
@etfte§ma(^t }u tun {)aben?
2)iefe ©etrai^tung fd)(iept ba§ SRid)ti9e in ficf|, ba^ fie von
ber gefc^ic^tlid) fcftfte^enben unb in bem eigenen Scben gemacf)ten
(Srfa^rung ber SEBirfungen 6t)rifti auöge^t. 2lber ©c^(u&folge=
rungen, bie ®t)riftu§ (ebiglid) al^ ein ^eobac^tunggobjett inöe^
tratet jiet^en, erreid)en bod) no^ nid|t bie ^ö\)t be§ veligiöfen @r»
lebniffeS, n:)orin ber @(aube at§ ^erjen^^ingabe im 93ertrauen ge^
boren wirb, ^n biefem @rlcbni§ ift bie SReflefion überhaupt oer*
jiummt oor ber 2Infc^auung ber ^ßerfon be§ ^errn unb ber Eingabe
an bie ©eifteSmirtung, bie Don i^r über uns fommt. S)iefcm @r*
lebni^ entfpringt baS £^oma§6efenntui§: mein ^err unb mein
®ott! nid)t al§ eine ©d)(u&foIgcrung irgenbme(d)er 2(rt, fonbern
afö bie fpontane 2lntn)ort auf bie erfal)rene Sunbgebung ®otte8
in 6f)rifto. 3ft eS benn nic^t eigentlid) auc^ felbftoerftänblic^,
bag ung feiner @ottI)eit S^riftuS fetbft, burc^ perfönlic^e ^unb-
gebung, gen^i^ mad)en m\x% menn mir i^rer gemi^ merben foQen?
Mein man fagt mo^l: bu fpric^ft uiet Don ©olt^eit 6:^rifti,
aber bu jeigft unS nic^t beutUc^, n)a§ biefe ®ott{)eit fein foQ. 9(lS
Subftanj f ollen mir fie nic^t faffen. 3lber als maS benn?
91un, Dielleid)t gelingt eS }ur ^lar^eit ju !ommen, menn mir
ben 93erfuc^ mad)en einen fiaien ju befragen, ber ernft fei, auc^
fromm, boc^ ot)ne eigentlid) bogmatifc^eS ^ntereffe. 3Jlöge er fxi)
über feinen ©otteSglauben unb beffen ®runb au§fpred|en. ®r be*
fennt etma junädjft, bajj ber fiauf ber SBelt, unb ma§ ber mit
fi^ bringt, eS il)m oft rec^t fc^roer mad^e gu „glauben", ba^ ®ott
lebt unb regiert. 3)ie ©ibel fagt eS mot)r; aber fpri^t nid)t im«
mer roieber fo gut mie alle§ bagegen? ©elbft bem erfahrenen
©Triften perbunfelt pd) im SlUtagSgetriebe je unb je nur ju be«
bentlid) baS Semufetfein ber 9lä^e ®otte§ unb ber göttlichen gür«
forge. ^n folc^cr religiöfen 2lbfpannung unb rooI)l gar Stumpf =
3ettf^rift far X^coloflie unb jttrd^e. 14. ^af^v^., 8. ^eft. 9
126 S^e^erabenb: Snobeme ^^eologie.
I^eit !ommt man mandi Ue6e§ SKal gum (Sotte^bienft, uerlöjst ihn
foflar om @nbc nid)t rpcfentlic^ gef örbcrt roiebcr unb fcfilcppt fidj
flügellatim weiter. Slber I)eute, — loo^er unb loie c§ tarn, man
iDü^te eS felbft ni^t ju fogen, — i)eute fü()tt man ftc^ plö^tic^
innerlich gefaxt. 3)aS mar ein Son, ber oon bem ^errn fom!
Unb e§ ift einem, afö ob er fagte: ^e^t moKen mir un8 einmal
beine befonberen Slngelegen^eiten anfef)en. SBunberbar! fie fe^en
einem fe(bft nun DoQftänbig oeränbert au§. SBo man ganj unb
gar im SRed^t ju fein glaubte, fte^t einem Unrecht üor Singen.
9Bo man glaubte aQe§ getan ju l^aben, entlädt ftc^ nun, — o
mie piel! — ^flic^tocrfäumni^, ©leic^gültigteit, Seic^tfertigfeit,
Sieblofigteit, Untreue jeber Slrt. Unb über bem allen ha^ 2luge, ba§
mit milbem @rn[t ju fragen fd^cint: Oft ba§ an bir bie 5ru<^t
meiner 3Jlü^en, meinet ©uc^enS nac^ bir, meinet Slingen^ um bic^,
meines SreujeS, meiner ®aben, meinet ®eifte§? 3)ann meint
nmn ju uerfmfen mie $ e t r u § , aber im 9lufblicf §u bem ^errn
tommt einem non il^m aud) ba§ gläubige $}ertrauen unb bariii
bie ©emi^^eit, bajj feine $anb un§ ^ält unb mieber emporjie^t,
unb man t)at in biefem ©lauben 5>^i^i>cn flcs^w ®ött, unb grcubc
im t)ei(igen ®eifte, unb Äraft, fic^ oon neuem auf feine Jyüpe ju
fteQen unb ju manbetn. SBenn aber jemanb auf @runb eine§
fold)en rein religiöfen @rlebuiffe§, ba§ fi^ nic^t gerabe unter ber
Äanjet ju ereignen braucht, — ber ^err prebigt ni^t nur oou
ber Jlanjel unb am SlUar, nic^t nur in ben ©c^ulcn, fonbem auc^
im ^aufe, im 33oote, auf bem 93erge unb auf bem 5^lbe, im
©ebränge ber ajlenfd)en unb unter oier Singen, — wenn jemanb,
fage id), auf ©runb eine§ folgen tqpif^ ftijjierten ©rlebniffe^
befennte : 9lun mei^ ic^, mo ic^ ©otteS unerfc^ütterlic^ gemig bin
unb immer mieber oon neuem geroife merbe, menn bie ginftemi§
biefer 3Belt i^n mir oerbuntetn mitt. ©el)e id) i^n nirgenb me^r,
in bem 9lngeftd)te ®f)rifti ift er mir fid)tbar, unb tritt Ijcroor,
nid|t nur aU eyiftierenb, fonbern al§ ber, ber fic^ mit mir in mei*
ner gegenmärtigen 93ebrängni§ befaßt, mic^ ftraft unb jurec^tmeift,
aber bod) auc^ barin fd)on mic^ nur bie Siebe fügten lä&t, bie
mein ^ei( fudjt, !urj: t)ier i)abt id) ©ott aU ben, ber ]ii) mir
al§ ber f)immlifd)e 95ater offenbart, in bem, maS mein ^eilanb
f^ei^erabenb: ST^oberne ^^eotogie. 127
an mir tut. 3)arum ^angc ic^ im ©tauben an ®^riftu§, mcil
ic^ mid) in it)m ftct§ juvüdffinbc ju ®otte§ SBaterl^cvj, morein x6)
mid) bergen fann. SBenn jemanb fo befennt, märe benn ba§
nid)t bas rechte i8etenntni§ jur ©ott^eit S^rifti? SÄu^ \>a^
rechte 93etenntniö nid)t fo mie l)ier ermad)feu au§ bem eigenen
©rieben, a\\^ ber erfatjrenen ©r^ebung burd) ©^riftu§ ju ©Ott?
äu§ ber ©nge in bie SBeite, au§ ber 2iiefe in bie ^öi) fü^rt
ber ^eilanb feine Seute, ba§ man feine SBunber fe^, ^ei^t e§ in
bcm Siebe. SBotjl, feine SBunber fmb täglid^ ju fdjaucn für je^
ben, ber i^rer nur achten miß. SWan mu^ blo^ biefe SJBunber
nirf)t fuc^en in ben ge^eimni^oollen ^intergrünben feiner ^erfon,
in beren „9latur", fonbern in bem offenbaren Siebe^roiflen, morin
ber Sot)n unb ber 93ater ein§ finb. ®e§ buufeln ®el)eimniffe§
bfeibt un§ nod) genug unb übergenug, menn mir ber Unerforfc^=
lic^feit feines „SBefen§" unb ©ein§ gebenfen, mooor felbft bie
moberne Sorf^ung ftiüe l^alteu mu^. Selbft bie juoerfiditlirfifte
3Biffen|c^aft mu^ fid) befd)eiben, in ba^ 9Kr)fterium feinet @o^ne»=
bemuBtfein§ bem SSater gegenüber nic^t einbringen ju fönnen,
obgleid) es ftc^tbar mie bie ©oune am fetten S^age in unoerän-
berlidier, ungetrübter Älartjeit über biefem Seben fdimebt. ^n
biefcr $inrid)t roirb e^ ^inieben bleiben beim Ignorabimus. SBasi
aber be§ 35ater§ SBitten unb 9latfd)tu§ ju unferm ^eil anlangt,
fo ift hierin c§ ba§ SEßo^lgefallen oor il)m gemefen, uu§ in
©^riftu§ nic^t im Unklaren, nad) feiner Seite irgeubmie in Un-
gemi^^eit ju laffen. ^i^ber fann im ©tauben t)ierin ©otte§ inne
werben, mie er maf)rf|aft ift, b. f). als perfönlid)er ©eift fid) funb-
gibt in 9lic^tung feinet 9Bitlen§ auf un§. 9Jur fo, burd) foldje
pcrfonlic^e Offenbarung, ift ja aud) red)ter, eoangelifdier ©taube,
bo§ Vertrauen be§ $erjen§, möglid). S)iefer ©taube ift nic^t
unfer SlBerf, er ift ©^rifti (5d)öpfung, unb ©otte^ in ©t)rifto.
^ber er ift bennod) nid)t magifd) in un§ ^eroorgejaubert, fonbern
bei ber ©inmirfung ©otteö burd) SBermittelung ber ^ßerfon ©^rifti^
beren SBiüe gegen un§ offen barliegt, oerfotgen mir mit ftarem
^emu§tfein baoon, nm§ ©Ott an unb mit un§ tut, bie ®ntftet)ung
unb ©ntmidetung be^ ©tauben^ in un§. Unter biefen Umftän=
h^n ift ba§ neue Seben, b. I). tbzxi ber ©taube, ganj ®otte§
128 gr e 9 e I a b e n b : SDloberne S^eologie.
©nabengefc^euf unb boc^ feine mogifd^e Umjauberung, tüie nol<
loenbig bort, voo göttliche @ubftans toirffam gebeert luirb. @o
grünbet ber @(aube in ber äBal^r^eit bie frei mac^t unb ftart.
®er ^err, fagt ber 9U)oftcI, ift ber (Seift, H)o aber ber ®eift be§
^errn ift, ba ift g^ei^eit. SBaS jeboc^ märe bQ§ für eine grei»
Ijeit, bie nor aQem Unterwerfung unter bunKe SRäc^te unb un«
begreipidie @ä^e forberte? Sticht Unterwerfung uerlangt baS @oan«
geliuni, Jonbern Eingabe an bie offenbare 3EBaI)rI)eit in ber ^er*
fon unfereS $erru. S)a l)aben xoxx bie SBa^r^eit, bie un§ na<4
ber SSer^ei^ung frei nia^t.
SBir ^aben un$ bie iDefentU^ften Slnfd^auungen ber fog.
mobernen £(|eo(ogie, fon)oi)t bie nerneinenben, als bie beja^enben,
in notgebrungener ${ßr)e, aber bod^ in gefc^Ioffenem ^ufammen»
^ange oergegenroärtigt. SWid) bflnft, bafe in ber 2luffaffung unb
SBerroertung be§ ®Dangelium§ l^ier SUlomente oon einer 33ebeutung
^eroorfpringen, roie fie auf eoangelifc^e ®btiften, jumat auf t^eo»
logifc^ gebilbete, i^reS ©inbrurfS nic^t perfef)Ien foüten. SSSaS
re^tfertigt benn bie lanbläufigen 93orn)firfe, ba§ „biefe S:f)eoIogie"
ja nur niebcrrei^e unb ba§ fie bie§ 3Berf bereits weit genug
geförbert ^abe, um baS „3^"^^""^ ^^^ ^eilS" ju erfc^üttern?
äBenn man fi^ bod} einmal red)t flar mad^en wollte, bag auf
bcm ®ebiete, oou bem mir reben, nid)t fc^neH genug nieberge*
riffen unb entfernt werben fann, roa^ fiel) überl)aupt „nieber*
reiben" lä^t; ba^ aber anbererfeitS baS ^eil unb gar baS 3«»*
trum biefe§ ^eilS burd) feine SJlac^t ber SBelt ju erfc^üttern ift,
weil eS ber @runb ift, beu (Sott felbft gelegt t)at. 9luc^ ber
fann ja bejweifelt, geleugnet, oerworfen werben. 3)cr Unglaube
tut eS o^ne Unterlaß. 3(ber wenn wir beSlialb fc^on baS 3cn<
trum be§ ^eil§ für erfcl)üttert anfef)en, wa^ für ein 3^i^9wi^
ftetlen wir bamit unferm eigenen ©lauben au§? 3)er ®laube,
ber fic^ getragen weig oon bem ®runb, ber unbeweglich fte^t,
ob @rb' unb ^immel untergel)t, biefer ®laube muß boc^ jum
minbeften gleid)mütig bleiben, wenn oorgeblid)e Slefultate ber
SBiffenfc^aft nod) fo lout uertünbeten, ber alte ^eilägrunb fei
jertrümmert. 31id)t bie O^ren juju^alteu unb ju fd)reien siemt
uns, fonberu bie ©eifter ju prüfen in unbefangener unb ge*
e^e^erabenb: SJ^loberne 2:^eolo0ie. 129
laffener 5Ruf)e. Unb roävc c§ ber ®eifl bc§ 9lbgrunbe§: tennen
loir bcnn nic^t, roa§ auc^ i^n bannt?
^n unferem eigenften Qntcrcffc foUten mx fu^en unS aller*
n>enigftcn§ ju btefer ©timmung unoerjagter Prüfung ^ a r n a c!
unb ber fog. mobcmcn 2:]^coIogle gegenüber jurüdjufinben. 3)er
SSorroutf, ba§ 3^"t^iiw^ ^^^ .^eilgbefi^eö erf füttert ju ^aben, jielt
ja VDO^l ^auptfac^lid) auf einen 9tu§fpruc^ in ^ a r n a rf ^
SBcfen be§ ®t)riftentum8, auf ben ©a^: „9tic^t ber ©oljn, fon*
bcm allein ber 93ater gehört in ba§ ©DaugcUum, roie e§ 3efu§
wrtunbigt i)at, I)incin." ^c^ l^abe e§ felbft auf§ lebl)aftefte be-
bauert , ba§ ^ a r n a d 8 g^nnulierung auf biefen @a^ geraten
ip, weil man, roie ^ a r n a d nun einmal aufgenommen, gelefen
unb beurteilt roirb, üorau§fe^en mujjte, mag für ein nic^t mieber
etnjufangenber ©dimarm non SKifebeutungen ftc^ an biefe SBorte
^eftcn merbe. S^aufenbe a^ten, nad)bem fte biefen ©a^ gehört
^aben, überl^aupt auf nichts mefir baneben. S)enn nun ift eS tl)nen
tlar: ^arnad gcl)ört ju benen, bie beS @rlöfer§ nic^t me^r
bebürf en. ®ott unb bie ©eele, bie ©eele unb i^r ®ott ! ®er ©ot)n
gehört ja nid)t me^r in baS Soangelium hinein. $at bod^ felbft
ein SRann mie 9Äartin ^ä^er nid^tS eiliger gel^abt , al§
DOC bcm beifall§fid)eren Slubitorium einer Sonferenj bagegen einen
auSgebe^nten JBortrag ju tialten, ber feftftetlen folt, mie ber ©ol^n
bod) in§ ©oangelium l^ineingefiört. SWeiner Slnfi^t nad) märe c8
perbienftlic^er gemefen, ber Äonferenj unb bent nod) weiteren Äreife
ber Sefer, an bie fid) ber SSortrag nac^ feiner Sßeröffentlic^ung
iDanbte, tlarjumad^en, ma§ ^arnad eigentli(^ gemeint f)abe.
3>cnn ba^ er ba§ nid^t gemeint ^aben fann, al§ ob in bem 95er*
^ättnt« ju ©Ott unb in bem 93er!et|r mit il^m oon Qf ^ f " § über*
^aupt abjufcl^en märe, ba§ brauchte nic^t einmal, mie injroifc^en
gefc^e^en ift, auSbrüdlid) ertldrt ju merben, fonbem ^ätte ftd^ boc^
roo^l aud) o^nebem eine felbft ganj oberflächliche Sefinnung unb
©rmägung fagen muffen. Ober mie tonnte ^ a r n a d fonft, non
altem übrigen abgefelien, nodf) auf berfelben ©eite, bie jenen er*
regenben ©a^ enthält, fctjreiben : „SBaS Q e f u § perfönlid^ leiftet,
mirb burc^ fein mit bem 2:obe gefrönte§ 2eben eine entfdl)eibenbe,
f ortroirtenbe Satfa^e bleiben audt) für bie ßw^w^f * : ® ^ t f* ^ ^ ^
130 fjegcrabcnb: SWobcrnc a:^co(ogie.
9Q3eg jumSater unb et ift al§ ber üom SSatcrgim
flcfc^tc aud) bev 9lic^tcr 9ii(^t wie ein SBeftanb*
teil gehört er in ba§ ©üangclium fjimin, fonbern er ift bie
pcrfönlid^e Seriüirflic^ung unb bie Äraft be§
^DQngetiumS geroefeu unb roirb noc^ immer al§
folc^e empfunben.'' 3)a^ biefe ©ät(e bie 2lnfd)auung au§^
fcl)Iie^en, aU ob man beim ®üangetium oon ^efuö abfegen
fönne, liegt auf ber ^anb, roenn man überhaupt fc^en miH. Um
aber bie üolte S^ragroeite biefer ©ä^e ju mürbigen, mu^ man fi<^
oergegenmärtigen, n)a§ Soangelium in biefem ßufammen^ange be-
beutet. aSom 33oben be§ 3)ogma§ au§ geftaltet firf) ba§ ©oange*
lium aU „fiet)re". ^n einem foId)en ©oangelium ift axxd) ®t|riftu§
nur ein Se^rftüd neben oielen anberen: pom Slbfoluten, »on ber
SlBeltfdiöpfung, bem SWenf^en, bem SBeltelenb, ber ®rlöfung§*
bebürftigfeit unb (grlöfung^fd^igfeit u. f. m. ©§ gibt d)riftlic^e
unb eoangelifc^e (!) @Iauben§tet)ren, in benen man ^unberte üon
©eiten lefeu tann, ol^ne aud) nur auf ben ^tarnen 3^f " ®^tifti
}u fto^en. ©0 Derfte^t §arnacf ba§ ©uangelium natürlid) nic^t.
(äoangelium ift il)m ba§, rooburd) ic^ armer fünbiger aWenfd) mic^
unmittelbar cor (Sott gefteÜt meife, ber mir meine ©ünbe tiefer,
a(§ id^ fte je geahnt i)aht, babei ju empfinben gibt, aber nur, um
fie bem SReuigen }u pergeben unb mid) tro^ ©ünbe unb ©c^ulb
gnäbig in feine ®emeinfd)aft ju jiel^en, bamit ic^ in einem neuen
Seben nor i^m manbete. (Sin fo(d)e§ ©oangelium Iä§t ficft in
aCBa^r^eit al§ „Set)re" überhaupt nid)t begrünben. Söomit fott e^
begrünbet werben? 9tad) bem ®ogma ^ätte 3^efu8 jur ©c-
grünbung auf bie göttlid^e ©ubftanj in fi(^ l)inmeifen muffen;
aber abgefef)en baoon, bajj bie eoangelifci^e (Sefd)ic^te pon einer
fpld^en ©ubftanj überl)aupt nid}t§ mei^, ipie fott felbft bie 9ln=
nat)me pon it)rem 95ort)anbenfein ben ©ünber ber gnäbigen ®e*
finnung ©otteg gegen if)n überfütiren? Seine 93emei§fü^rung,
feine ^Berufung auf Sunber unb 3cid)en ipirb, mie bereits gc*
fagt, bieg Uuglaublic^fte glaublich machen; ic^ mu§ e§ al§ mirf^
li^ erleben, ba§ bie SiebeSgefinnung @otte§ in biefer Slbfic^t auf
mid| gerid)tet ift unb ifjre 2lbfid)t al§ üMad)t, bie über allen
meinen Gräften tfiront, an mir PoUsietit. 3Bo ift biefe gSBirtlictj«
I^e^erabenb: 9Robente 2:^eoIogie. 131
feit in ber ©cit ju finbcn, bog wir fagen muffen: „®ott ift
gegenroärtig, laffet unS anbeten unb in 6f>rfurc^t oor i^n treten.
®cr i^n fennt, wer i^n nennt, fc^logt bie 3Iugen nieber, tommt,
ergebt eud| roieber" ?" ^ier ift in ber ^at bie Sffiirtliditeit alleö. SQBaS
ift bicfe SSirflic^feit für un§ ? darauf antwortet §arnadC: Qt\n^
ift bie perfönli^e !tBern>irf Uc^ung unb bie ^raft be§ Soangelium^, beS
(SDangeIium§ in biefem Sinne, ift e§ für ben ©tauben, ber fid) a\x^ ber
Äraft biefer SEBirf H^feit geboren roeijg. @rmi§t man, roaS bamit gefagt
ift? ^n biefer ©d)ö})fung beS @Iaubcn§, bie erlebt fein roiü, ift
3 c f u § unb ®ott unmittelbar einö. -3 ^ f ii ^ if* ^ur in @ott ju
folc^em Schaffen befätiigt, unb (Sott ift au^ertialb 3 e f u als @ott
be§ SoangeliumS überhaupt nict)t erfaßbar. @ben beSljalb ift ba§
Soangelium nic^t fonftruierbar aU eine 9iei()e von fieljren: von
@ott, üom 3Äenfc^en, vom aWittler jmifd)en beiben u. f. m., fon»
bern ba§ ©oangelium lä|t fid) nur barftetlen al§ 33efc^reibung
ber 9B8irflic^!eit, worin un§ @ott offenbar ift als ber SiebeSmille,
ber ben ©lauben in unS fd)afft unb unS fo in bie ©emeinfc^aft
feines eroigen 2eben§ ert)ebt. 3Bo ift biefe SBirflic^feit, roenn nic^t
in bem ©ol^ne, ben ®ott ber SBelt gab, unb ben er in ber ®^'
meinbe, bie unfer Seben umfaßt, als ben @eift malten ld|t, beffen
f(^öpferifd)er Äraft auc^ unfer ©laube fein 3)afein oerbanft?
(gine ^öl)ere, bleibenbere 53ebeutung ber ?ßerfon S^rifti läjjt
ftc^ nic^t auSfagen, nic^t beuten, als bie: «ÖefuS ift baS ®oan*
flelium, nic^t blo§ ein Selirftüd barin, mie nad^ ber alten 2luf«
faffung, er ift bie ©nabenoffenbarung ®otteS an bie SWenfc^t)eit,
fid> felbft immer oon neuem in ftraft begeugenb burcl) bie f(^öpfe*
rifc^e Srroedtung beS ®laubenS, ber bie ^erjen gottergeben unb
gottinnig ma^t.
3inbeS baS 2Wi§trauen bamit fc^on befe^rt ju t)aben, barf
man fic^ ja nid|t fci^meid^eln. @S ^ord)t nac^ einem ©tid)it)ort,
unb ber 2trgn>ot)n erhält fid) nid)t nur, fonbcrn fteigert fid) mo*
mögli^, roenn baS Stichwort ausbleibt, ©o roirb eS ia root)l aud^
^ier jum S^lu^ t)ei§en : SSon ber „roefentlid)en" ©ott^eit ® l) r i ft i
ift bod| nic^t bie Siebe. 3)aau tann ftc^ \a ber „StationaliSmuS"
nic^t ^erbeilaffen , unb ber bamit oerbunbene „"^elagianiSmuS"
brauct)t fie auc^ nirf|t. „SBefentlid)" alfo mu^ bie ©ott^eit in
132 f^ e i) e T a b e n b : SWobctne 3:5eolo0ie.
©l^viftuS fein. 3)a roärc benn bod) junäc^ft eine Sßerftdnbi*
gunfl barfiber oonnöten, xoa^ bie§ SBort, — benn mel^r tft cS bod^
an ft^ ni^t, — id) fage: xoa^ bie^ SBort in feiner Stnroenbung
auf bie ®ottt|eit ju bebeuten I)abe. SOSenn man Don ber gefc^i^t*
lid)en ®rfci^einung 3 e f u f agt ba§ fte bie 3EBirf lid)feit unb Rraf t
be§ ©ottegroidenS gegen bie SBelt fei, bann ift man meinet Stn-
fic^t nac^ boc^ oollauf bem apoftolifc^en 333ort geregt gemorbeu:
©Ott mar in (S^rifto unb oerföfinte bie 3BeIt mit i^m felber.
SBitl man aber meiter argumentieren : 2Bo ber SBiße ift, ba mujj
boc^ aud) baS SBefen at§ fein 3;räger fein. Unb roiU bann man bar»
über ju fpetulieren anfangen, mie ba§ SBefen an ftc^ bef^affcn
fein muffe, unb mie e§ fic^ in ber ^erfon beS gef(i^i^tlicl)en @t*
I5fer§ mit beffen anenfd)f)eit oerbunben Ijabe, fo überfd)reitet man
bie ©renjen ber Stetigion unb begibt fi^ auf ba§ ©ebiet ber
ißt)iIofop]^ie. Qn folc^en 5^agen maltet fein efgenttid) religiöfe§
^[ntereffe mel^r ob, fonbern bie Steugier, bie aud) baS gern miffen
möd^te, xoa^ fd)tec^terbing§ oerborgen ift in ©ott. Sßor nid)t8 ^at
S u 1 1^ e r au§ bem ©eftc^t^puntte eoangelifdien ©(auben§ euer«
gifc^er unb inftänbiger gemarnt, al§ oor fold)er fpetulierenben
9teugier. SOBaS ^aben mir benn gemonnen, menn mir unS oon ber
oerfc^oHenen SBeltmeisIieit längft vergangener 2;age ©otte§ SDSefen
aU abfolute ©ubftanj angeben laffen? -3ft e§ ^ier nid)t ridjtiger
unb am ©nbe auc^ frömmer ftd^ ju befc^eiben im 9tic^tmiffen
beffen, ma§ ©ott felbft oerborgen ^at, unb ftd) genügen ju laffen
an bem, \va^ er offenbart I)at, feinem ©nabenmiüen? @o bleibt
ber Unterfd^ieb: bie „moberue J^eologie" finbet auc§ i^rerfeit^
©Ott in ®^riftu§ fo „mefentli^", al§ er nur fibert)aupt für
un§ erfaßbar ift unb fid) un§ Ijat offenbaren motten, aber fie
le^ut al§ ©rttärung für biefen religiöfen Satbeftanb bie 9lnna^me
einer göttlichen ©ubftanj in ©tiriftuS ab, bleibt melme^r ba*
bei, baj3 ber „SBefenSgrunb" ber ©in^eit ©^rifti unb ©otte§
für un§ ein ebenfolc^e§ unerforfd^li^eS SJlgfterium fei, mie ®otte§
„3Befen" an fid) übertiaupt. SEBir tonnen un§ ber ©emö^nung
noc^ nid)t entfd)lagen, bie überlieferte, im 3)ogma ausgeprägte ®r*
Härung biefer aWpfterien an ber $anb ber Subftanjibee als baS
SBic^tigfte im (£^riftentum anjufe^en. ©emonnen ift babei ^erjtic^
Sre^erabenb: 9)^obeme 2:^eologie. 133
rocnig, benn bie „®rHärung" crKärt im ®runbe boc^ miebcr rein
itid>t§. 9lbcr babei \)aUn wix unfern rcligiöfen ©tauben, ber auf
uncrf^ütterli^em gefd)ic^tlid|em ©runbe rulien foHte, f)alb unbe«
löu^t üetfe^t auf ben gcfäl)riic^en 53oben einer mel^r al§ anfec^t*
baren ^^tlofop^ie. 3)ie SJifferenj fonjentriert ficf) fc^Iie§Ud^ in
bcm ©ubftanjbegriff. 3)er unbeftreitbarc Umftanb, baJ5 biefer SBe»
griff ber tieiligen ©d^rift fremb ift, in biefer 95ern)ertung jum
TOenigften, follte bod) jebenfallä fo weit mäjaigenb auf bie Ueber^
fpannung be§ @egenfa^e§ einroirfen, ba§ roir eine ©rWärung be§
(Soangcliumg ol^ne Sßerroenbung biefeS 53egriffe§ nic^t um be§
willen fd^on be§ 2lbfaU^ oom ®^riftentum begid^tigen, fonbern bie
©ubftanjauffaffung minbeften§ ju ben fingen redinen, bie mir
na6) Sutl^er mit „®elel(rten, Vernünftigen ober aud| unter un§
felbft" oerl)anbeIn fönnen, mit ooBer ^rei^eit mie jur Slnnaljme,
fo jur 3lble^nung.
3lber bie ^[blelinung fotl ja bem „Sftötionali^musi" unb
,,*ißclagiani§mu§" entfpringen. 3)enen fonnen mir boc^ nid^t 0laum
geben?
9lun , ^ a r n a dt ift auc^ ein au§gejeid)neter Äenner be§
9iationali§mu§ unb be§ ^eIagiani§muS. ®r mei§ auc^ fe^r ge--
nau, ma§ fu^ etma t)on biefem @tanbpunfte au§ gegen ba§ 2)ogma
Dorbringen lä^t, unb er oerfte^t auc^ ba§ @emid)t ber rationa*
liftifc^en ®rflnbe ju fdt)ä^en. SBenn man aber mä^nt, ba§ ratio*
naliftifc^e§ JRäfonnement ber Äem ber Äritif fei, bie ^ a r n a rf
unb feine fjreunbe am 3)ogma üben, fo ©errät man nur, ba§
man urteilt, o^ne fx6) gel^örig informiert ju f)aben, ein ffierfal^ren,
ba§ ja l^eutgutage oieUeid^t ba§ aUermobernfte auf bem ®ebiete
t^eotogifd[|er ^olemif ift. 5Rein : ^ a r n a dt ift ber tiefen Ueber*
jeugung, ba§ eine religiöfe ^ofttion, mie ba§ ®ogma immerl^in
boc^ eine fold^e oertritt, niemals burd^ blo^e SBernünftelei, fonbern
nur burd) eine anbere überlegene religiöfe ^ofition ju überminben
ift. ffir bilbet fid) freilirf) nic^t ein, miffenfd^aftli^ argumentieren
ju fönnen ol^ne Sogü, ober gar unter Verachtung ber Sogit, aber
er ift auc^ innig burd^brungen baoon, ba^ Vernunft unb SBiffen*
fc^aft allein, mit blo§ negatioer Äritit, ba§ 2)ogma auf feinem
^errfc^aft§gebiete in ber Sirdf(e nod) nid)t entmurjeln fönnen, ba§
134 S^e^erabenb: äJlobeme 3:f)eolo0te.
bagu Diedne^r bie @eltenbmac^ung einer pofttiüen 9[nfc^auung er^
forberlid^ x% bie fic^ religiös loertootler erioeift al§ bie, bie vom
©ogma bargeboten wirb unb in it)m i^re 3lu§prägung gefunben
\)at, ®iefe8 >ßofitioe fud^t ^ a r n a d in bem richtiger unb tiefer
Derftanbenen ©pangeUum. 2)a§ bietet il^m bie @runblage für feine
jiritif an bem 2)ognia. 3lu§ bem ©oangelium fd)öpft er feine
Äraft ju i^rer fiegreid)en 5)urc^fä^rung. Ober muffen mir ni^t
felbft jugeben, ba§ ba§ 33ilb be§ f|imm(ifd|en a3ater§ unferS ^erm
3[efu ®t)rifti, ba§ ba§ ©oangetium un§ jetgt wie e8 unuer*
einbar ift mit bem ?ßt)iIofop^em be§ Slbfoluten, fo anbererfeit§
nur lebenbig oergegenmärtigt ju merben braucht, um unfer ^erj
gefangen ju nef)men? Ober ift bcr aJlenf^enfot>n, bie perföntic^c
58ern)irMid)ung unb Kraft be§ ®oangeIiumS in bem (Sinne, ba§
mir in bem unS jugemenbeten ^Ingeft^t beö ©obneS, in feinem
Sebcn unb 933ir!en 3u9 ^^^ 3^9 be§ SßaterS auf un§ gerid)teten
OnabenroiQen üerfotgen unb in feiner fc^öpferif^en Äraft an unS
erfahren tonnen, nic^t unenbtic^ üiel me^r al§ ba§ mqfteriöfe
3)oppeImefen be§ S)ogma§, roorin mir göttliche ©ubftanj geeint
mit unferer „91atur" annel)men fotfen ? 2lm menigften aber !ann
bie ajerföf)nung§^ unb ©rlöfungSt^eorie, bie fid) oon ben 3Sorau§=^
fe^ungen be§ ^ogma§ ergibt, ftic^tialten gegenüber ber SJerfün*
bigung be§ @DangeUumg. 2)arum trife(t eS aud) ju aQermeift an
biefcm fünfte, felbft in fogenannten firdjtirf) gläubigen, b. ^. an
ber @runbanfd)auung be§ 2)ogma§ feft^altenben Greifen. ®§
mehren fxä) gerabe oon biefer ©eite ^er bie 33eiträge jur 9Ser*
föl)nung§le]^re, bie aber totgeborene SBerfudje bleiben muffen, fo
lange man fic^ nic^t entfc^lie^en !ann, auf bie Subftanjibee 5U
oerjic^ten unb unbefangen oon bem au^juge^en, ma§ fid) einfach
ate gefc^i^tlidjer ^n^att beS ®oangelium§ gibt. 95orber^anb ift
baju nod) roenig 3tu§ftd)t. 3)enn wer ba§ oerfuc^t, mu§ fid) be§
^Rationalismus unb ^elagianiSmuS jei^en laffen. Unb boc^ ift
gerabe beS S)ogmaS äBurjel unb eigentlid)e SebcnSfraft Sia*
tionaliSmuS, menn aud| ein SRationaliSmuS, bcr fiel) fpcfulatio inS
Jranfjenbentale überfliegt unb an einige religiös intereffierte Qhtm
anlei)nt. äßeil eS fo ift, barum ^at aud) ber 9tationaliSmuS aller
3eiten mit bem 3)ogma gute 5reunbfd)aft gefialten, ober fic^
^ei^erabenb: 9)<lobeme ^^eologie. 135
icbcnfa[(§ mit i^m abjufinben geraupt. 9lur mit bcm fd)Iid|tcn
©oaugclium oermag bcr ed^tc 9tationaU§mu§ ni(^t§ $Re(i)te§ anju*
fangen. 9locf) in unfcrcn S^agen ifabtn bic Saffon, g art-
mann u. a. m. gegen ^arnadE für ba§ ®ogma eine Sanje ge-
brod)en unb erflärt, wenn ba§ ®t)riftentum irgenbmo eine „fefte
Stätte l^abe, fo mü§te e§ bod) im 3)ogma ju finben fein". SKutet
e§ nic^t mie eine Satire an, ba^ unfere „Jlird)lic^en" biefe 2lttefte
fc^munjetnb einftreid)en unb fict) gegen ^arnadf in bemfelben
3Woment barauf berufen, mo fie i^n be§ 9iationaIi§mu§ auflagen?
SBäre ^arnadt 9iationaIift, ba§ ®ogma ^ätte gute SRuI^e cor it)m,
Unb ^elagiani§mu§ ? 2Bei§ man benn nid^t, ba^ bie genuinfteu
SRepräfentanten be§ 2)ogma§, bie Orientalen ber alten Äird^e,
gegen ^^3etagiu§ unb feine Sel)re feinerjeit nichts etnjuroenben
gehabt traben, unb ba§ ba§ ®ogma no^ I)eutigen 2:age§ i|öc^ften§
gegen ^^clagiani§mu§ im ^iftorifd)en Sinne fc^ü^t ? Stein, f o leid)t
ift ^ier nid)t 9tationali§mu§ unb ^elagiani§mu§ nac^jumeifen.
9Jlan roürbe julegt auf ba§ (Soangelium fetbft fto^en, beffen
SBaffen ^arnadf unb bie moberne S^^eotogie überl^aupt füt)rcn.
9lber menn bie fad^lic^en ®rünbe erfd)öpft finb, bann flüchtet
man fi^ unter ben Sd[)u^ oon STutoritäten. Unb xoa§ für eine
Slutorität ftel)t liier jur 93erfügung! ^^t nid()t aSater Sutlier,
bcr 9Äann, ber im eoangelifd^en ©laubcn gelebt unb gemebt ^at
wie feiner oor it|m unb feiner nac^ i^m, tro^bem beim 3)ogma
geblieben? Unb er ift babei nid)t nur üerblieben, fonbcrn ^at
barin feine ©efriebigung , feinen S^roft, feine Stärfe gefudjt
unb gefunben. Unb nun fommen bie „3Wobernen" unb wollen
burc^au§ erroeifen, ba§ fiel) ba§ ®ogma loeber mit bem
(Suangelium , nod^ mit bem ©lauben £ u 1 1| e r § vereinen
laffe. ^a, Don biefer Jatfac^e foll nidl)t§ abgebrodjen unb
ni^t§ abgebungen werben, ^ier liegt ba§ fdjmerfte ^inberni§
•für ben göttfd^ritt ber eüangelifd[)en @rfenntni§: bie gefcl)id)tlid)e
Stellung jum S)ogma, bie ß u 1 1) e r eingenommen ^at. Äeinem
eoangelifdien ^erjen fann e§ gleidigültig fein, mie Sut^er fic^
ju einer gegebenen 5^'age geftellt l^at. Unb bennod), baran fann
ja anbercrfeitg ebenfomenig gebad)t werben, ba& mir feine Snt^^
jc^eibung einfad^ alö ein ®efe^ auf un§ nel)men. 3)amit mürben
136 fjc^crabenb: SWobernc %^ cologic.
luir im ^nnetftcn gerabc pon i^m rocid^cn. S)cnn er fclbft loürbc
Sroeifellog f agcn : SBic \\)x cud^ auc^ entfd^cibct au§ bem (Stauben
mu| e§ gelten; au§ bcm ©tauben be^ ^erjen^, ber eg auf @ott
roagt, tnu§ e§ mit innerer S^riebfraft erroac^fen, fonft ift§ ®e=*
fe^egmerf, baS feinen ©egen, fonbern %lvii) bringt. Rann ba§
S)ogma fo für un§ jum SebenSnero unfere§ ©laubenS werben,
roie e§ bei S u 1 1^ e r nod) mögtic^ gemefen ift? ®a§ ift bie fyrage.
SBer fic^ roiffenf^aftlic^ tiefer einbringenb um ein 93erftänbni§ ber
Stellung S u 1 1) e r § jum SDogma bemül^t, mu| ju bem @rgebm§
tommen, bajs feine tatfäd^Iid^e Stellung baju für i^n, ben 3Jlann
eoangelif(^en ©laubenS, nur mögtic^ gemefen ift, meit er fid) in
feiner gefc^idjtlidjen Situation über ben mal)ren Sinn ber ?3egriffe
unb ^ö^^^f^ iw^ 5)ogma getäufc^t t|at. 2)iefe Jäufc^ung ^at i^m
geftattet unb get^olfen, feine eoangelifdie ©rfenntntS unbefangen in
ba§ 3)ogma liineinjutegen unb f)ineinjubeuten. ®a§ mar in feiner
fiage unb bei feinem gefdjid^tlid^en ^orijont fein SBBunber, unb
e§ ift feine Sd)anbe für ben, ber in fo oieten Stüdten unerreicht
bafte^t, unter ben gegebenen Umftänben feiner Q^xt einer fold^en
2:äuf(^ung ertegen ju fein. 3lud) ber umfaffenbfte, gemattigfte
©eift umfpannt nicftt mit einem Sd^lage dfiz^. S u 1 1^ e r § refor-
matorifd)er SBBiberfpruc^ I)at fid^ in erfter Sinie unb im roefent«
tid^en gegen bie ^ofttionen ber mittelattertid^en Kirche gerichtet
Sein ^iftorifc^er @efid)t§frei§, innerhalb beffen feine SBalirnetimung
ffar unb f^arf blieb, erftredt fic^ jurüd bi§ ju ber ©renjiinie
be§ 5WitteIalter§ gegen ba§ firc^ti^e Slttertum. S38a§ fjinter jener
®ren jlinie jurüctlag, bas; t)crf c^mamm bem SRef ormator, mie § a r»
nad treffenb unb l^übfc^ fagt, in ber einen golbenen Sinie
be§ 9ieuen SeftamentS. lieber ba§ firci^tid)e 3lltertum felbft
unb beffen ©ntmidttung , fpejieU über Urfprung, SBerben unb
malere ^ebeutung be§ attfir^Iid)en ^ogma§ l^at unS erft bie
tl)eologifdf)e 5<>^f^*i^9 ^^^ neueften 3^^* tieferen unb ge*
naueren 2luffc^tu^ gebraut. SEBenn nod| in unferen 2^agen unter
eüangelifd)en 2:i^eoIogen bie Sogmenentmidffung ber atten Äirdjc
aU „gefunb" Ijat getten fönnen, mie foUte e§ nid)t oottauf bc*^
greif ti^ fein, ba^ S u 1 1| e r fte feinerjeit fo angefe^en ^at, ba er
roeber 3Wu^e nod^ 9Wittet jur einbringenberen Prüfung ber Sad^e
f^et^erabenb: SOloberne ^^eologie. 137
befa&, unb gegenüber ber fpdtereu ^ierarc^eiifird^e bie Berufung
auf bie „lieben 93äter" eine überaus roifltommene unb wirffame
SBaffe n)Qr, bie namentlid) ani) ben SSornjurf be§ fd^ranfenfofcn
„9iabitali8mu§" fo ern)ünfd|t abfc^nitt, nic^t nur üor ben @eg*
nern, fonbem auc^ für ba§ eigene öenjujjtf ein , ba§ fic^ bei ber
Oröjje ber Umroäljung felbft, in aQem ^eroi§mu§, bang oom
Sc^roinbel angeroanbelt füllten mujste. SKlfo S u 1 1) e r § ©teDung
unb Haltung ift burc^auS oerftänbüc^. @§ fragt fic^ nur, ob
biefe ©tetlung im ^^rtfc^ritt ber S^xt unb ber Klärung be§ eoan*
gelifc^en SJerftänbniffeö au^ für un§ nod^ möglich ift. 3iebenfatt§
müßten wir fiutl)er ganj folgen^ fofern er fic^ nid)t nur be*
ru^igt ^at bei bem 3)ogma, fonbem barin auc^ ben treffenben
9tu§brurf feine§ ^erjen§glauben§ immer mieber t)on neuem ge-
funben l^at. 3^nbem er ba§. 3)ogma fo aufnal)m unb oermertete,
^at er bem ju feiner Qtit bereite toten ©ebilbe eine 2lrt neuen
2eben§ eingel^auc^t. @^ ift boc^ nur ein Scheinleben gemefen.
S)a§ 3)ogma ift tot unb feine SWac^t ber ®rbe fann e§ mieber
}um Seben bringen. Jlur ungern fcl)reibe id) biefe SBorte nieber,
ba manche eoangelifc^e (S^riften oon ^erjtic^ frommer ®efinnung
folc^e Sleugerungen nur mit 9lbfcf)eu aufnehmen. Sie getiören
jeboc^ JU einer rüdtjaltlofen Äennjeid^nung ber mobernen S^^eo«
logie, Don ber xd) nic^tö oertuf(^en barf, um eine meines ®rait'
tenS ungeredjtfcrtigte ©mpfinblic^teit ju frfjonen. 3Man ffi^lt fic^
perfönlic^ oerle^t, meil angeblicf) gerabe beS eoangelifc^en ©(aubeuS
$erj getroffen fei. @S mirb babei einfach angenommen, ba§ baS
S)ogma mit bem @oangelium, mie ba§ 9leue 2^eftament e§ bietet,
fongrucnt fei. Slber baS SHeue Jeftament, mie man fid^ bod) leidet
foltte überjeugen fönnen, fief)t nie in @ott „baS Slbfolute", ober
fpric^t oon jmei „9laturen" in ber ^erfon beS ©rlöferS, oon
welchen bie eine bie göttliche „Subftanj" märe, ober oerrät auc^
nur eine ©pur baoon, ba^ bie ©aframente ben 3^^^<* Ratten unS
bie @nabe ©otteS in fubftantieDer g^tm, etma als eine 2lrt geift^^
li(i^cn SWebif amentS , beijubringen. Unb menn manche feufjcn:
SBie fott jemanb, ber ju ben 3Äobernen neigt, noc^ baS Slpofto-
lifum oor ber ©emeinbe unb mit i^r oor ©Ott befennen? fo ift
biefe beforgte grage fonberbar genug, infofern bie babei gemachte
188 JJcvcrabcnb: SWobeme a:]&eoIogie.
SßorauSfe^ung, al§ ob ba^ Slpoftolifum bie 2lnfc^auung be§ Sog«
mas; jum 2lu§brud bringe, ein pöüig bobcnlofcr ^^-'i^tum ift. 9Äan
fcl^e fid^ borf) nur bic brci 2lrtifcl an. 9Bo ift ba oom Slbfotuten,
oon ber S^riftotogie ber ^loturcn, bcr fog. „aBcfenStrinität", furj
üon bcm ganjcn ptiilofoptiifd^^^bogmotifdien 93egripapparat bes
S)ogma§ ttwa^ ju fpilren? SIKc^ ba§ ift erft jum S)ogma, b. ^.
ju einer Se^re, bic bei Sßerluft bcr ©eligteit bejaht rocrbcn mup,
erf)obcn lüorben ju beginn bc§ jroeitcn SBicrtcl^ be§ üierten ^a))X'
I)unbert^ nad) ®t)rifto. ®§ roar ber 9iieberfd)lag einer langen
9(rbeit oon 2:t|eologen, bic it)re 33ilbung unb i^r gele^rte^ Siüft*
jeug au§ ber einjigen 9Biffenf(^aft, bie e§ gab, ber I|eibntfd)en
'ißflitofop^ie get)ott Ratten. 3tber bie c^riftlic^e Oemeinbc ^at bi^
jum 3ticänum nic^t§ baoon gemußt, bag man jene gormein be*
feunen muffe, um feiig ju merben. Unfer apoftolifd^e^ ©laubenS*
befenntni§ ift mit ein 3^ii9"i^ ou§ jener Urjeit be^ ®^riftentum§,
mo e§ nod| fein 3)ogma gab. SBoI|t un§, ba^ mir bie§ ©gmbol
in ber Siturgic unb im firc^lic^en Unterrid^t jur gegebenen ®runb*
läge l^aben, benn e§ blicft nad) ber ©eite be§ ©oangelium^ ^in
unb nid)t jum ®ogma. Seffen 9lnfc^auung ift ja nun frei(id) feit
bem oicrten ;3a^rt)unbert in ungefähr meiteren oier <3a^v^unbcrten
at^ Sef)rgefe^, oerbinblic^ de salute, mie man fagte, langfam
burc^gefe^t morben. Slber roenn man auc^ fagen barf, ba^ biefer
©ieg be^ 2)ogma§ feinerjeit oon ®ott gewollt gemefen ift unb
ba§ S^riftentum in bebro^lic^en ^rifen gerettet ^at, fo folgt boc^
nid)t Darauf, bap mir bie gormein bei§ ®ogma8 ate bleibenbc
3öat|r^eit anjufel^en, ba§ S)ogma nid)t oom ©oangelium au§ ju
forrigieren, fonbern t)ielmet)r ba§ Soaugelium nac^ bem 3)ogma
äu interpretieren l^ätten. Jßcrgeffen roir^ nid^t unb oermifc^en mir!
nid)t, baB im (Soangelium göttlidie Offenbarung oorliegt, im
3)ogma aber, mie e§ auc^ fei, iebenfall§ erft ein im oierten bi§
ad)ten ^atir^unbert nad) ®^riftu§ ooHenbete^ 3Äenf(^cnmerf. Sluc^
b a § f|at feine 2lufgabe im Sieic^e @otte§. Slber mie alle§ 9Äen*
fc^enmert ^at e» feine 3^il- ^i^ ^^ gefommen ift, fo mu^ e§ auc^
mieber oerge^en. 3)ie moberne 2:^eoIogie meint oom 3)ogma, ba§-
e§ bereite abgeftorben fei. Unb menng fo märe, ma§ märe benn
babei? 3Bäre bamit ber gel§ unfereS §eil§ umgeftürjt? 9Ran
{^et^erabenb: SD^oberne ^^eologie. 139
foBtc fid) fc^ämcn, fo unoer ftdnbig 511 vebcn. SBer fann bcnn
& ^ r i ft u S unb fein @pangelium ftürjen ? Rängen bie am 3)og«
ma? 3ür«)a{)r, roir foüten, unerfc^ütterlid) im (Stauben fufeenb
auf beffen fieben^grunbe, mit ^erjU^em ®(eid)mut bie S^uage ev-
roägen, wie e§ mit bem SJogma fte^t, ob e§ nod^ einen g^nfen
Don Scbcn in fid) ^at, ober nac^ ber 58ef)auptung ber SWobernen
bereite gar erftorben ift. 3ft für ba§ le^te am ®nbe nic^t ein
unioiberleglic^e§ 3^W9"i^/ w^^"" ^^ ^^^ allgemein anertannte 3Q3a^r=
tjeit gilt: nur ja feine bogmatifd)en ^rebigten! 3)a§ 3)ogma inter=^
cfficre, pade, bewege nic^t. 3)asi ift, allgemein genommen, gar
nid)t einmal ma^r. S^refft nur ba§ ®ogma, ba§ einen Seben^nero
in ©djioingung oerfe^t, unb feine 3Serfünbigung rei^t alle§ fort.
9(ud) baS alte ®ogma ^at feine 3^it geljabt, ba bie oerjmidteften
Formulierungen, bie feinem ©oben entfproffeu fiub, ein gerabe-
ju fiebert)afte§ ^ntereffe erregten. SGBarum ift ba§ bei un§ nid)t
mel^r ber gall, felbft bei benen nic^t, bie ba§ ®ogma at§ ioert=
ooüfte^ Heiligtum preifen? 3)ie ©ad)e ift fet)r einfad). 3)amal^
u)ar basi 2)ogma eine lebenbige SKad^t in ben ©emütern, für un§
ift e§ unmieberbringlic^ ba^in, loeit unfere SEBeltanfc^auung eine
anbere geworben ift, al§ fie baö ®ogma oorau^fe^t, unb oor
ädern, weil wir bie äBa^rl^eit be§ (SuaugeliumS nad) i^rem ge-
fc^ic^tlidieu Sinn beffer oerftef)en gelernt t)aben. 3)ag S)ogma
wirb nur nod) oon oieten wie eine l)eilige 9)eliquie mitgefc^leppt.
9lad) me^r ober weniger fd)weren Stampfen tiaben fie fid) babei
„beruhigt", ba§ ba§ nun einmal mit jum S^rifteutum gcl)ört,
ba§ it)nen fonft wert ift. 2lber i^r ®laube, wenn e§ benn eoau*
gclifc^er ®laube ift, it)r ©laube lebt in etwa§ ganj anberem, xoa^
be§ @lauben§ fiebenSelement ift, nämlich : S^riftuS unb fein (Suan-
gelium. 6ö läuft alfo im bcften ^^alk bie Stellung, bie gegeu=
wärtig bem ^ogma gegenüber möglid) ift, barauf ^inau§, bag
man fic^ babei beruhigt, ©aju aber ift ba§ 5)ogma, wenn c5
benn eins geben foU, fd)led)terbing§ nid)t ba, bamit man fid) ba-
bei beruhige. Soll e3 überl)aupt einen Sinn Ijaben, fo mu^ e^
bie lebenbige, treibenbe ftraft in bem ®lauben§befenntni§ fein.
@ine blo^e 95eru^iguug bei bem 3)ogma würbe S u 1 1^ e r aufö
fc^ärffte al§ unfittlid) unb irreligiös oerbammen. 3)enn t)ier, vomn
140 ^e^erabenb: SVlobetne 3;^eoIogie.
irgenbmo, l^atte für i^n bo^ 3Bott Geltung: SBa^ md)t auS bem
©lauben geltet, ba§ ift ©ünbe. 3Bo ift benn aber ^eutjutagc bcc
®(aube, ber {td) unrotUfürlid) im 3)ogma ä(uSbrudE gäbe ober ju
geben Dermöc^te? 3)aju gehörte uor oUem rec^t mel UniDiffen^eit
©obann refotutc SSerac^tung ber SEßelt, Tooriii unfer ficbcn in
äBir!(id)feit gelebt n)trb, unb @infpinnung in ein äBeltberougtfein,
haS oon ber ©egenroart auf @d)ritt unb Stritt Sügen geftraft
rnirb. 9Ba$ fann ba nur ba§ Qid fein? ^oc^ jebenfaH^ nic^t
bie SGBal^r^eit, a(S bie ftc^ unfer ^err be^eidinet l)at. @S ift ^eut«
jutage ffir nüchterne unb n7a^rl)eitS(iebenbe ä^enfc^en fd^Iec^ter«
bingS jur UnmögUd|feit geroorben^ fid) noc^ auf bie ©tedung jur
@ac^e, bie Suti)er einft gan; naiu eingenommen ^at, jurflcfju«
fd)rauben. Unter biefen Umftänben ift bie überfommene offijieUe
Geltung beS 3)ogma§ in unferer ^irc^e, bie bod^ bie ^ird)e be§
@laubenS aU be§ (ebenbigen freien ^erjenStriebeS fein miQ, nic^t
bie Slirc^e beS @(auben§ a(§ gefe^lic^en @e^orfam§, gerabeju als
bie fritifcl)fte Kalamität ju be^eic^nen. (Sine 9Bei(e mag eS ja
bei unferer ©emeinben naioer ^^ietät für ba§ hergebrachte no(b
fo weitergeben. Unruf)e {)ineiniutragen burc^ 3)ogmenftürmerei
mdre ein 9Serbre^en. 2lnbererfeit8 aber barf man fic^ nic^t bar-
über täufdien, bap bie 3^it tommt, roo bie Kriftö afut roirb^ unb
©Ott meig mie balb ber ÜÄoment ba ift. 3)ie mobernen SBer«
^ältniffe bringen eS mit fic^, bag bie ©ntmicfelung in rapibem
2:empo fortfd)reitet. SEBelc^e folgen niu§ e§ ^aben, »oenn ba§
offijielle Äirrf)entum bie giftion aufrecht er^tt, ba^ baö SBcfen
be^ ©firiftentumS im 3)ogma ftede? S)ie oer^angniöootten Solgen
tonnen nur bie fein, ba§ bie ©egner be§ 3)ogma§ ju bem 9?a«
bitaUSmu^ getrieben merben, mit bem 2)ogma auc^ ba§ G^^riften-
tum unb baS ©oangeUum, al§ angeblich untrennbar oom 3)ogma,
JU oermerfen. Unb bie b a § nic^t moüen, werben baju genötigt,
fid) in bem ^ogma auf eine ^orm be§ &t)riftentum^ ju uerfteifen,
bie feine eoangelifdje me^r märe. 3)enn fobalb erft burc^ ben
©egenfa^ ba§ 3)ogma in ben Sflittelpunft be§ 33emuBtfein§ ge»
rücft mirb unb biefe§ anfängt mit i^m ®ruft ju madjen, bann
roirb ber ®Iaube ge^orfame ^Äeja^ung non 5)ingen, bie nic^t in
\)a^ ©oangelium hinein, fonberu oon i^m abführen. 3>aS 3)ogma
^e^erabenb: SDIobeme 2:f)eologie. 141
ijl nic^t n>ie bic trabitioncKe Qttuffton anno^m, 3wfammenfaf»
fung be§ (SDangeliumS in jutreffenbfter Formulierung, fonbern
ba§ 3)ogmQ löfc^t mit feinen metap^i^fifc^en ©pefulotionen unb
Sbeen ba§ ©oangelium, f ofem e§ gefc^ic^tlic^e Offenbarung ®otte§
in Sl^riftu^ ift gerabeju au$.
93iel(eid)t gelingt e§ biefen Satbeftanb am el^eften ing fiid^t
}u rudten, menn mir unfere 9lufmerffamteit einmal auf einen
einjetnen fonfreten ^^unft rieten. Qä) greife beS^alb auf ba§ ju*
xüd, ma§ fc^on Dort)in über bie ©rlöfungS- unb SSerföl^nungS^
le^re bemertt roorben ift. 9leuerbing§ l^at Äonrab @ra^ eine
fleißige ©tubie üeröffentlict)t, bie unter bem Sitel „ßur Se^re pon
ber ®ottf)eit £i>rifti" bie S^age be^anbelt, marum nur ber Xoh
bc§ @ottmenfd)en erlöfenbe SBirfung ^aben tonnte, ©rag be*
f priest juerft bie morgenlanbifc^e, bann bie abenblänbifd^e älnt«
mort auf biefe '^xa^^, fritifiert unb oerroirft beibe. S)ie Oott^eit
fei bei 3«fu Xobe nur al8 ru^enb gebac^t unb fpiele nur bie
9totle eine§ SücfenbüßerS. S)arum fie^t ftd) ®rag nac^ einer
britten S^eorie um, bie aümä^tic^ feit ben Ziagen ber SReforma*
tion ^eroorgemac^fen fei, @c^on fiutlier l)abe bie @ottl)eit
S ^ r i ft i in biefem 3ufammen^ange nid)t blojs als mertoerleil^enb,
fonbern and) al§ mitmirfenb gebaut, unb bei SJleland^ tt|on,
&f)tmvii^ u. a. begegne un$ bie 3lnfc^auung, bag beim Sobe
(£ ^ r i ft i bie göttliche ?latur bie .menfc^tid)e geftärft unb auf»
red^t erhalten ^abe, bamit fie bie unenblic^e Saft ber SBeltfünbe unb
be§ gangen 3orne§ @otte§ ertragen tonnte, ©omit tommt ® r a §
in 2lntnüpfung baran ju bem @rf)tu§, bag ® f) r i ft u § nur al§
@ott imftanbe mar, bie ©ottoerlaffen^eit, meltf)e er in feinem
SobeSleiben ju empfinben betam, aufjulieben in bie ungeftörte
@otte§gemeinf(^aft, unb fo bie ©rlöfung im ©inne ber SBieber*
I)erftellung ber ©otte^gemeinfci^aft }u ootliie^en. ©omeit @ r a g.
9lun, menn bie ©ott^eit ^efu babei „mobern" al§ @ott*
ein^eit aufgefaßt mirb, bie ber ©etreujigte gegenüber ber furcht»
baren ©pannung be§ 2:obe§leiben§ in ©ottinnigteit bur^ uner*
fc^ütterlidjeS ©tanb^alten in ©laube, Siebe unb Hoffnung fieg*
reic^ behauptete: bann ift ©olgat^a ber religiöfe ©ipfelpuntt ber
3Wenf^^eit§gefd^ic^te unb bie ftral)lenbfte ©rfc^einung be§ l)eiligen
3rttf4rift für X^eotoflie unb Atrt^e. 14. Qaf)XQ., 2. $fft. 10
142 f^e^erabenb: ä^oberne ^^eologie.
fiiebeSn)iUen§ ©otteS in \i)x. 2)ann ift I)iet oor oUem }u flauen
bie ©rfiiauttg be§ aBorteS : 5nun ift bc§ SWenfc^en ©of|n ocrttäret,
unb Oott ift octftärct in i^m. Unb über ©olgat^a prinaipalitcv
gehört bann gleic^fam afö Ucbcrfi^rift l^in ba§ Slpoftetoort : @ott
geoffenbaret im ^^eifd^! ©o oerftanben fann Oolgat^a nie auf*
Pren ber SBattfai^rt^ort ber 9Wenfc^{)eit ju fein, ju bem bie ©eifter
immer mieber ^in^ ober ju bem fie immer mieber jurfldlenfen,
weil ba§ Rreu} ®^rifti ber fiebenSbaum bleibt, ber bie ^^ruc^t
ber ®otte§gemeinfct|aft barbietet jum emigen Seben. S)iefe SSe-
traci)tung§metfe f<i^öpft ben gefc^id^tlic^en @inn be§ ßreujeS @;t|riftt
au§ unb mac^t ba$ @oangeIium in feinem ^empunfte ju einem
emig fprubeinben Duett ber 2lnbac^t im ^öc^ften ©inne.
9lber nun nel^me man e§ einmal baneben im altbogmotifd^en
93erftanbe, an bem auc^ ®xa% feft^ält. 3)ie ©ottl^eit f ott in ber
^erfon <3efu at§ ©ubftanj angefel^en werben, nur nic^t blo^
ate ru^enbe, fonbern al§ mit in 2lttion tretenbe. ©tetten n)ir
un§ rec^t Ubi)a\t oor, bafe bem ©efreujigten in bem, äu^er*
lid) angefe^en, rettung^tofen 3)unlel oon ©olgat^a bie „©ubftanj
ber ©ott^eit" berart jur SJerfügung ftanb, ba| er i{)re Kräfte
gegen bie 2lnfec^tung in SBirffamteit fe^en tonnte: welcher @mfl
rootint bann nod^ bem ganjen SSorgange inne? ®r mirb ju einem
bloßen Sd^ein, ju einem ®(eic^ni§, menn man mitt; aber mit ber
tatfäc^Ii^en ^egrünbung unfereS $eilS ^at er an ftc^ menig ju
fc^affen. Sft e§ nic^t le^rreicti, ba^ baS ftreuj S^rifti für
bie 93äter be§ 3)ogma§ oerf)äItni§mä§ig geringeig Qntereffe ^at?
^finen ift bie Srlöfung befc^toffen in bem SWoment ber ^nfar*
nation. Sitten, maS fo(gt, fommt ^öc^ften§ aU @jrp(i!ation, al§
Qttuftration ober al^ ©yemplifitation in 53etrac^t, aU Slnregung
}u erneuter Sßerfenfung in jene§ 9Bunber atter SBunber, aber
mefentlic^e ^ebeutung für bie @r(öfung l^at bie @efc^id)te nic^t.
SBer mit feiner @rIöfung§^offnung in bem <3ntarnation§n)unber
ru^t, ber freut fic^ mol^t gar ber oermeintlic^ fpielenben fiei^tig*
feit, womit fic^ ber ©ottmenfd) über fieiben unb lob er^ob ; benn
eben in biefer Seic^tigteit ber Ueberminbung finbet er ba§ 3^"9'
ni§, bafe bie ©ott^eit mit im Spiele mar. Un§ aber mu| boc^
gerabeju ein ©rauen erfaffen, mie ber ©runbgebanfe beS 3)og«
f^e^erabenb: Snoberne ^f)eologie. 143
mQ§ ben Tüirflicl)cn 5e(§ unb ^ort be§ ^eif§ in ber eoangetif^cn
@e|"d)ic^te auflöft unb ocrffüc^tigt , um aHc§ ju reDujieren auf
einen aWoment, ber au§ aller ®c|c^ict)tc herausfällt unb im @Dan=
gclium fclbft feinen 2fnl)alt ^at. aQ3a§ aber oon bem befprodjenen
96fct)nitt ber eoangelif^en ®efd)ic^te gilt, baS gilt ebenfo oon
allen übrigen unb non bem @an}en. 3)}an oerfud^e nur in ber
ffijjierten SBcife etina @etf)femane, ober ben granbiofen 21nfang
ber eoangelifdien ©efc^id^te im engern ©inne, bie 93erfuc^ung beö
|)errn, dou ben SSorauSfe^ungen be§ 3)ogma§ au§ aufjufaffen:
eS löft fic^ alles in einen roefenlofen Sdjein auf. 2)ie lebcnbig^
madienbe ^raft be§ gefc^id^tlic^ üerftanbenen unb erfajjten Soan-
geliumS wirb parati)fiert ju Ounften eincS Sl^eologumenonS, ba§
erft in bie ®efd)ic^te {)ineingebeutet werben mu|.
©lüctlic^erroeife oergeffen unfere ©emeinben fiber bem Soan*
geliuin, baS fie ^ören, ba§ 3)ogma. Slber bie geinbfeligfeit gegen
bie moberne J^eologie unb im befonbern gegen ^ a r n a d fc^eint
jur ©tärtung ber leibenfd^aftlic^en Spannung auf baS 3)ogma
iurflcfgreifen 5U mollen. ®aS n)äre ein t)erl)ängniSuotleS beginnen.
3)er ÜEBiberfprud) gegen baS ®ogma, ba§ follten luir nid)t uer*
geffen, ruf)t auf bem ®üangelium. S)em foll freie 93a^n gefdjaffen
werben. 3)a müßten mir ^arnarf banf roiffen, ba^ er unS
bie Singen geöffnet t|at über ba§ roa^re SBefen be§ 3)ogma§, beffen
Unüereinbarfeit mit bem (Snangelium, ia beffen lätimenbe @egen=
roirfung, rooburc^ baS 3)ogma jum fd)limmften ^emmniS beS
6oangelium§ roirb. 95Benn fid) aber bie ©ac^e fo ftellt: 3)ogma
ober (Soangelium, — !önnen mir benn ba nod) über bie SBa^l
fc^roanfen? Ober bod^? ^a, bann Ratten mir allen ®runb unS
an eine befannte STnetbote 00m Sage ber 2luguftana ju erinnern.
SBit^etm üon ©aiern, ber !atl)olifc^ gefmnte Jürft, er*
innerte ®dt an fein 5Berfprcct)en, ba§ luttierifc^e 93etenntni§ ju
roiberlegen. ®d aber unter bem SinbrudC ber aSerlefung ant^^
»ortete fleinlaut: 2luS ben UJätern unb ber Jrabition getraue ev
fic^'S roo^l, aber au8 ber ©d)rift fei eS unmöglid). 2)a ^at ber
^«tjog mit grimmigem ©arfaSmuS aufgerufen: SBo^l, fo t)öre
ic^. bag bie Sut^erifc^en i n ber ©c^rift fi^en unb mir ^ontificii
baneben. ^arnact f u|t auf bem ©oangelium. 5)eff en Äraf t
10*
144 f^e^erabenb: 'SRohtxm 2:^eo(i>9ie.
mac^t er gcttcnb. Qu bcffen @^rc fic^t cv. SBoHtcn mir un§ an
baS S)ogma Hammern, nun gut: bann fä^en mir baneben. 3u
@ott mug man ^offen, bag ba§ Ungel^euerli^e abgemanbt merbe :
ba§ 3)ogma feftl^atten unb baS Snangelium barüber fahren laffeu.
SGBag fönnten mir aWenfc^en baju tun? 9tun, nor allem treue
3eugen be§ fc^Iic^ten @oangeIium§ unb feiner bauenben SSi^a^r^
\)txt fein, bamit ber lebenbige eüangetifc^e ®Iaubc ermac^e, ber
ba§ 2)ogma ganj pon felbft in ben ^intergrunb bröngt unb ab-
ftö^t. aBer aber jum Se^rer unb Seiter berufen ift, ber foHte
f\6) mit aller Energie ju Karen fuc^en über bie fragen ber mo*
bernen S^^eologie, über tf)re SWotine unb über t^re ßiele. 2)a^
man fic^ menigftenö nerftüube ju erneuter e^rli^er Prüfung, tiefer»
grabenber gorfc^ung, reifli^er Ueberlegung!
@§ ift ja bis ju einem gemiffen @rabe ju oerfte^en, ba| baS
neue ungemol^nte fiid^t blenbet. SoQ e§ benn gar (ein SDogma
geben? 3Bie foU bann bie Äird^e befielen? 3Bie l^at fte benn
beftanben bie Q^^^^iinberte ^inburd^, benor e§ ein ®ogma gab?
@§ ift boc^ ein gauj uubemiefeneS 93orurtei(, bag ein ^ogma bie
^ird^e bauen unb jufammen^alten mu^. 3)a§ Soangelium tut
e§, unb ber, ber im (Soangelium al§ ber (Seift ju un§ tommt^
unb in feiner Offenbarung un8 ben SBater fo bringt, ba§ unfere
^erjen unter ber lebenbigen ^erü^rung biefeS breieinigen @otte§
umgefc^affen werben ju bem ®(auben, ber oertrauenb, liebenb unb
^offenb in bem altmä^tigen ®ott rul^t. 3)iefer ©laube, ber 2e»
benSfraft ift, bie in jebem, unbefc^abet i^rer mefentlic^en ©leic^»
l^eit, bodti roieber inbioibueH werfc^ieben pulfiert, lä^t fid) nic^t in
eine gormel faffen, bie ein einfüraHemat fertiges ©c^ema bar*
fteßte, roorein fic^ jeber bei SBerluft feiner ©eligteit }u fd^iden
^ätte. 6rft in folc^er unoerbrüc^lic^en 95erbinblid)!eit für oUe
unb jeben Ratten mir mieber ein 2)ogma. Slber mie miQ man
baju auf eDangelifdfjem Süoben gelangen? 3)er ®Iaube fie^t 3«*
fum (£i|riftum an. Sßer baS ift, uerfünbet boc^ baS ©oange«
lium taut unb beutlid^ genug, ^ie miQ man bie ^ier mir!fame
SebenSmadjt in ben engen Stat^men eines menfc^Iic^ ^ergefteQteu
®ebi(beS jmängen?
2tber fott eS benn auc^ fein ©efenntniS me^r geben? @eroiß.
ffcrierabcnb: SWobcrnc 2:^co(o9ic. 145
3eber ^at fein§. Unb c§ gibt fogar ein§, ba§ für alle in gleicher
Seife unbebingt oerbinblict) ift beim ber ^err fctbft bat e§ oor*
gefdjrieben, wenn er fagt: ®abei n)irb jebermann evfennen, bap
i^r meine jünger feib, fo i^r Siebe untereinanber ^abt. ®a§ ift
bo§ unoergangltci^e allgemeine ©ijmbolum ber 3iängerf(i)aft 3[efu
® ^ r i ft i. 9Ba§ Ratten wir nodf) baran ju fe^en, ba§ biefe§ 93e*
tenntni§ in un§ allen SBa^rl^eit lüäre, bie ber ganjen SBelt funb
würbe! ©onte man irren in ber 2lnna{)me, ba§ bie allgemeine
energif^e 3lblegung biefe§ 95efenntniffe§, wenn alle Don nun ab es
barauf anfe^ten im (Seift unb in ber äBa^ri^eit, eine neue fc^önere
Stera für bie eoangelifdie Äird)e l^eraupl^ren mügte? 9Jlanc^em,
. ber jum crftenmal ba§ neue Sicf)t bämmern fie^t, mag e§ fo er==
fc^cinen, al§ bcleudjtete bicfeS Si^t ein Deröbete§ 2:rümmerfelb.
S)ie ftoljen ©äulen unb ^immelanflrebenben SBogcn be§ 3)ogma§
liegen jerf plagen am a3oben, unb bie J^ütte ®otte§ bei ben 3Ren^
fc^en büntt einem bagegen ärmlicf) fc^lid)t. 2lber laffen mir un§
nic^t beftec^cn! 2Bie fagt ber Slpoftel? S83a§ töricht ift oor ber
SBelt, ba§ ^at @ott ermäf|let, baj3 er bie 3Seifen ju ©d)anben
machte: unb ma§ fd^mac^ ift vox ber SBelt, ba§ I)at ®ott er^
rodelet, bag er ju ©c^anben mad^te, ma§ ftarf ift: unb ba§ Un»
eble unb ba§ SBerac^tete ^at ®ott ermal^let,. unb ba§ ba nict)t§
ift, ba^ er juni^te machte, ma§ etmaS ift, auf baj5 ftd) cor i^m
fein %Ui]6) rül^me. Unter ber 2legibe be§ S)ogma§ ift einft bie
^o^e 9Kenfd)enmei§^eit in ben 2:empel @otte§ eingejogen unb t|at
SBefi^ üon it|m genommen. 2lu^ unfere SBäter ber 9teftauration§=
epoc^e feit ben Sagen ©c^leiermacl)er§ l^atten oon bem fd)äu=
menben ©cifterfelifl^e genippt, ben i^nen bie ©d)elling unb
^ e g e t boten. 3)cö^alb morf|ten fie bie 53rüdCen nid)t abbred^en,
bie ba§ ®ogma l^inüberfc^lug ju ber t|o^en Äunft in SBorten
menfdjli^er SBeiS^eit. 2lber fie muffen abgebrochen merben. 9lid)t
ba§ mir bie ^^ilofop^ie abfd)affen möd)ten! SQBollte @ott, ba§
fie mel^r unb fleißiger, einbringlic^er betrieben mürbe! 2lber auf
bem 53oben bc§ ©oangeliumö l^at fie nid)t§ ju fd)affen. 3)enn
^ier mirb fie eben oon bem (Soangelium nid|t gelitten unb oev^
tragen. 3)a§ (äoangelium mill an feinem Orte aHein bie Seud)te
fein, bie leuchtet l^ier unb bort. Unb man glaube boc^ nur nid)t,
146 ^ e 9 e r a b e u b : ^oberne ^fieologie.
ba| man baburcf) ärmer mürbe! 35oS ift eine 90115 uubegrünbetc
3lngft. 9Jian lüirb im ©egenteif balb ftauncn, lüic t)iel reicher
mau in ber SSefc^räntung auf ba§ rein religiös uerftanbenc ©Dan*
gelium geworben fein roirb. 3)a§ ®ogma fcffelt bie treibenbe
?5üHe be§ @DangeIium§. 9lef)mt bie geffeln bc§ ®eifte§ weg, unb
\i)x at)nt nid)t, roie e§ bann fproffen unb blühen unb griic^te
tragen wirb, ^m 3)ogma, ba§ au§ ber Slntite ftammt ^anbelt
e§ fic^ um Subftanjen unb bemgemäg um magifd)e SBirtungen,
bie in mei]^rau^gefd)n)ängerter Sltmofpl^äre ein efftatifd)e§ Sraum*
leben at§ ©r^ebung in§ ^f^nfeit^ oorfpiegeln. S)a§ ©oangelium,
in feiner 9leinf)eit erfaßt, jeigt un§ überall ^^erfonen unb per*
fßnlid)e rcligiö§:=fittlidf)e Gräfte, bie ju bem Dernünftigcn @otte§*
bienfte im ®eifte unb in ber aBa{)r^eit führen unb befät)igen.
^ier liegen nic^t nur in 933a!|r^eit bie unerfc^öpflid)en duellen
be§ Scbeng, ba§ oon einer ^lar^eit fortfdtireitet jur anbern, fou:^
bern t)ier allein ift 3Befen, Äraft unb ^eil. ®ort bagegen ^errfc^t
:3llufion, ©ntneroung, al§ ^^^Ige ber Ueberreijung im SWgftiäi^-
mu§, unb ein luefenlofe^ ©c^attenfpieP).
3)oc^ Ueberrebung fann ja bie red)te ®ntfd)eibung nic^t ^er=
beijmingen. ?Jur ein§ fann Reifen: unbefangene SBerfentung in
ben einfältigen ©inn be§ @oangelium§. ®§ rebet eine ^inreic^enb
1) S)iefe (S^arafterifienmg gilt natürlid) nur für bie, bie in ber 'I^at gninb*
jä^Iid) ba^ SDogma guni ®IaubenSo6jeft mad)en unb feinen S^onfequensen freie
'43a^n jur (Entfaltung getoä^ren. 93IoB auf bem 93oben beS .Vtatgoliai^mud
ift ha^ t)ertDirfIicf)t. ^ag bie gegebene @d)ilbernng auf eüangelifc^e (Sänften,
bie and) baS ^ogma, mie man fagt, vfeftl)alten'' moQen, nid)t paßt, ift felbft^
oerftönblicf). 3c^ tt)i(I e§ aber noc^ au^brüdlid) bemerfen, ba ed fc^on fo miß»
Derftanben morben ift. i^ie folltc e^ benn mir beifommen anjune^men, bas
bie eoangelifc^en trüber, bie baS Dogma nod) md)t miffen gu fönnen meinen,
t^r (iilauben^leben bed^alb and) nun anS bem Dogma sieben, ba^ bafur
gar feine 9{ö^rtraft ^at. 9ktürlid) leben fie bt^ (Glaubens, ber aus bem
@k)angelium fommt, unb be^^alb trägt aud) i^r fieben in (Sott anbere 3üge,
mie id) fie ald Xriebe bed Dogmaif mit aller @c^&rfe ^ingeftellt i)aht. dlxitit
bad galt eS ^ter ju ueranfc^aulidien, mad baS (Suangelium nod) t r 0 ( be«
Dogmas juftanbe bringen fann. ^aS fann auc^ auf bem S3oben be« übcr<
5eugtcften 5!at^oliäidmu9 erftaunlid) uiel fein. $ t e r mar üor ^ugen su fteUen,
loaS baS Dogma rein für fid) ergibt. @o ttWia^ begegnet nur au6er^a(b
ber ©rcniien unferer Äird)c. Slber eS ift nüftlictl einmal feften ©liefe« babin
gu fe^en. Vestigia terrent. Terreant!
^et)erabenb: SD^oberne Sf)eologie. 147
ocrfianbltd)e ©prac^c, wenn wir nur unfcrcrfclts unferc üerbilbctcn
O^ren unb ^crjen loicber auf feine ©^Ud)t^cit ftimmen Wnnten.
3)a^tn jielt, barum ringt bie oiclgefd^mo^te „ntobemc S^l^eologie".
3)ie Sefeitigung be« ®ogma8 ift il^r nid^t Selbft* unb @nbjrocd.
@ic ift i^r nur SJlittcl ju bem eigentli^cn, bcm ^öd)ften bcn!=
baren Qxotd, baj3 ber 9GBeg )u unferen ^erjen frei werbe für bie
ooHc, ooflenbete @inn)ir!ung be§ ©oangeliums;.
3)iefe§ Qid inu§ erreid^t werben unb wirb erreidtit werben.
®a§ ^erj fcbtägt ^öl^er bei bem ©ebanfen an bie g^reubc,
bie benen beoorftel^t, oon bereu Stugen bie 3)edCe faQen wirb.
2)ann werben wir aud^ ganj anber§ nocf) oon ber SBa^rl^eit
}€ugen: freier, freubiger, wirffamer.
Unb ba§ tut un8 boc^ eigentlich bitter not.
148
SBon
MM ftaftan.
C. <Btn;^lne ^t^ttn.
6) 2;rinität§lc]^rc unb ©I^riftologie.
®§ liegt mir felbfioerftdubtid) fern, bie beiben in ber Ueber-
fc^rift genannten Seigren f)ier nodimalS üortragen ju motten. £e^
biglid^ um einige (Ergänzungen ju ber im 93ud) gegebenen älu^^
einanberfe^ung fann unb foU e§ fid) ^anbeln. ®§ fmb gerabe
l^ier ®rmägungen, bie id^ gern bei ber neuen 9luf(age ber S)og«
matit bem Su^ felbft eingefügt l^ötte, roaS aber nic^t ol^ne beffen
©fiarafter ju ftören l^ätte gefdie^en tonnen, ^n biefem 2luffa^
mirb e§ fid) bal^er etma^ beftimmter al§ in ben frut)eren geltenb
machen, ba| fie eine SBegleitfd^rift jur neuen Sluflage ber 3)og*
matit fmb. SieUeic^t liegt e§ in ber 5iatur be§ S^emaS, baß
ba§ bei ber JBerl^anblung über einjelne Set^ren ftärter ^eroortre*
ten muj3.
2tuf brei ^untte möchte id) nac^einanber turj eingeben, ju*
erft auf ba§ SSerl^ältni^ oon StrinitätSle^re unb 6;^rifto(ogte ju
einanber unb bann auf jebe ber beiben Seigren für fic^ unab-
l^ängig oon ber anbern.
1.
<3[n feiner ®Iauben§Ie]^i!e l)at ©ci^Ieiermad)er an le^ter
©tette in einem „©c^Iu^" überfdfjriebenen 2tbfct)nitt turj oon ber
^ a f t a n : Qux '2)0()mattf . 149
£rinitäts(e^re ge^anbelt. Xahtx ift e§ il|m mel^r al^ um bie 9(n«
beutungen für eine SEBeiterbilbung ber Se^re, bie er gibt, unt
Betonung beffen ju tun gcwefen, ba§ I|ier ber rid^tige Ort fei,
baS I^enm ju erörtern. 2)ie jroeite $d(fte be§ jn>eiten %tiU,
fagt er, ^at oon eben bem ge^anbelt, roa^ in ber Uebertieferung
ouc^ in biefer 5<>^>"/ i" i>cr ber Irinität§Ie^re, turj jufammen«
gefaxt gegeben ift. 2lber natürlich ift bie rid^tige ©a^orbnung
bie, jucrft bie einjelnen ©ebanfen in i^rer fontreten 93ebeutung
für grömmig!eit unb ®(aube ju befpred)en unb erft jum (Sd)lu§
i^rer ^wföw^wienfaffung in ber JrinitätSle^re ju gebenfen. 9lur
fo ^at, roa§ biefe befugt, bie nic^t felbft Slu^brudt be§ @Iauben§
ift unb fein fann, ©inn unb einen i^rem 3>"^Q't angemeffenen
^fa§ im 3uföntment)ang ber ®Iauben§Iet|re.
SWeineg Sra^tenS ift hiergegen nichts einjuroenben, fobalb
man bie 93orau§fe^ungen für jutreffenb ^ält, uon benen ©d)leier*
machet ausgebt. Stauen jufolge ift bog d)riftlid) fromme ©elbft«
bemu^tfein ba§ eigentliche 2:I|emQ ber @IaubenS(eI|re. ©ie bringt
biefe§ mit feinem it)m eigentümlichen Qn^alt unb weiter mie fiel)
bie SBelt barin fpiegelt unb ®ott al§ fein Ie^te§ SDBot)er jur ©ar-
ftetlung. Ober — in etmaS anberer ^Beübung — fie entroidelt,
roa§ fein mu§, meit ba§ ct)riftIicI|sfromme ©elbftbemu^tfein ift.
Ob aber fo ober fo — fie gel)t oom ©egebenen, bem frommen
©elbftbemu^tfein be§ (S^riften, au§ unb fteigt oon ba auf ju fei»
neu entfernteren Urfact)en, ^anbelt üon ber testen, l^ö^ften Urfad^e,
Don ®ott an le^ter ©teile. Sie ift eben SiePejion über bie fub*
jeftioe fjrömmigteit unb geroinnt i^re ©ä^e au§ biefer Stefteyion.
9)a ift bann ni^t mol^I etmaS älnbereS möglich, als ba^ bie Sri-
nität§Ie^re i^ren $la§ am ©ci^Iu§ be§ 3:eil§ angemiefen erl|ätt,
ber üon bem fpejififc^en fonfreten ^n^alt ber ®rlöfung§reIigion
^anbelt.
3)iefefbe grunbfä^lic^e ^^ffung ber 2(ufgabe I|at ©c^teier*
mac^er baju ueranlagt, bie Se{)re oon ®ott at§ Se{)re oon ben
göttli^en ®igenfc^aften auf bie einjelnen 3lbfc^nitte feiner ®tau=
ben§lel)re ju oerteiten. 2)agegen ift bann unter feinen SSorauS*
fe^ungen ebenf omenig etma§ einjumenben. ®§ entfpridtit burd)--
aus ber ganjen 9tnlage ber. fielire, mie er fie oortragt, unb ben
150 ^ a f t a n : 3uv Xoömatif.
©runbfa^en, bie if|n babei leiten.
Qn le^terem f)at er nun feine 9lad)foIger gefunben, Unb
mit 9{ed)t nid)t! @ott ift ber eigentliche unb im legten @runb
einzige ©egenftanb be^ @lauben§. 3111er @laube ift ©otteSglaube,
alle aus bem @lauben gefc^öpfte (Srfenntni^ ®otte§erfenntniS.
^olglic^ gehört ani) in einer ®lauben§lel)re bie fie^re oon @ott
ungeteilt an bie @pi^e beS ©anjen. 3)a§ ^at fid) fomeit auc^
bei benen burd^gefe^t, bie ©cf)leiermac^er§ ©puren folgen,
ba§ e§ in biefem ^Ißuntt bei ber alten Siegel unb 2lnorbnung gc«
blieben ift.
@6en barin jeigt fid) aber, bag bie oben ern)ä^nten SSorau^«
fe^ungen unb ©runbfä^e ©c^leiermac^erS irrig fmb. SBiv
f)aben nid)t ^Reflexionen über bie fubjettioe ^^ömmigfeit oorju*
tragen, fonbern bie d)riftlic^e ©laubenSerfenntniS barjuftellen, bie
bem eben Oefagten jufolge in erfter Sinie ®otte§erfenntni§ ift.
^ieroon ^anble id) nic^t nochmals, im ^nä) ift immer mieber
baoon bie Siebe, unb ber jmeite biefer äluffa^e ^at fid) auSfä^r-
lid)er mit ber ®ad)e befaßt.
SBenn aber, bann muj3 aud) bie Folgerung
für bie S^rinitätSlel^re gejogen merben. ®ibt c§
eine fold^e fie^re, bann ift fte jebenfallg ein ©eftanbteit ber c^rift»
lid)en fie^re oon ®ott unb ge{)ört folglid) in baS erfte ^auptftüd
ber 3)ogmatif, ba§ uon ®ott f)anbelt. ©ntmebcr — ober! @nt*
tDeber l^at @c^leiermad)er Siecht, bann mujs man in allen
©tüdten, roaS bie Se^re oon ®ott betrifft, feinem SBorbilb folgen.
Ober menn feine metf)obifd)en ©runbfä^e ber SEBa^r^eit nic^t ent=
fpre^en, bann ift aud) feine 93el)anblung ber 2:rinitat§le^re, bie
Stellung berfelben an ben ©c^lu^ beS ®anjen, irrig.
©0 fc^eint e§ menigftenS ! 3nand)e ^ogmatifer jebod) folgen
in biefem ^untt feinem S3eifpiel, obrooI)l fie e§ in ben anbern
teilen ber Seigre oon @ott nic^t tun. Sßon ber SSoraugfe^ung
aus, ba^ eS fo baS Süchtige fei, ift aud) gegen meine ^arftellung
ber @inn)anb erhoben morben, ba^ eS i^rem ganzen 2:enor nic^t
entfprec^e, bie S^rinitätSle^re üoran}uftellcn unb bie 6f)riftologie
erft n)eiterf)in ju bel^anbeln. ^n ber S^riftologie unb ©oteriolo*
gie tommt nämlid) jur Sprache, mooon man meint, ba§ eS »or
S^aftan: 3"^ ^ogmatif. 151
bcv 2^riuität§Ict|ic erörtert werben muffe. Unb ba nun bie ©o*
tcriologic in ber alten Jorm bei mir roegfäüt, ber ©toff berfelben,
ber für bie 2irinität§Ie^re in 93etrad)t tommt in bie fie^rc Dom
3Bert ©^rifti, alfo in bie ©l^riftotogie aufgenommen ift, fo f)at
ber ©inroanb f olger id^tig bie eben angegebene 5otm erf)alten. ©o
überjeugt fmb alfo mandje 3)ogmatifer oon ber iJiotroenbigfeit,
bie 2:rinität8le]^re an jroeiter ©tette ju be^anbeln, bafe fic e§ Qt--
rabeju al§ einen g^tjler betrad)ten, ro^un cS nic^t gefc^ie^t.
2UIcrbing§, gegen bie alte gorm be§ bogmatifc^en ©qftem§
iDirb ber gleiche Sinmanb nic^t erhoben. 3^^ fc^eint e§ üielmel)r
angemeffen ju fein, bie S:rinität§lel|re ooranjuftetlen. SEBo aber
roie in meinem 33ud) bie SReform ber Dogmatil burd) ©djteier*
tnac^cr aner!annt unb beffen 2lrbeit fortjufe^en oerfud^t rairb,
ba foB e§ in 9Biberfpruc^ mit ben fonft befolgten metf)obifd)en
@runbfa§en ftel|cn, menn bei ber ©inorbnung ber 2;rinität§le{jre
in ba§ ©anje ba§ alte bogmatifd^e ©gftem jum SWufter genom*
mcn roirb.
3)iefen ©inmanb oermag id) jebodti nic^t aU ridtitig anjuer*
fennen. Q\i bem ^unft, ber ba in 53etrac^t tommt, \)abi id) bie
mettjobifd^en ©runbfä^e ©c^Ieiermad^erS niemals anertannt,
auc^ nirgenbS befolgt, fonbern feit me^r at§ 20 Qö^^^n bei jebem
^nlag nac^brürflidf} befämpft. ^i) l^abe tbtn ftet§ unb aud^ in
biefen Sluffä^cn mieber (XIII, 132) bie 2Inftdt)t oer treten, ©^leier*
mad)er§ 9teform ber ®lauben§let)re merbe nur burd^gefü^rt unb
ju allgemeiner 2lnerfennung gebrad)t werben fönnen, menn aud)
in i^r ju ooHer ©eltung fomme, ba| e§ [läj um @otte§erfennt=
ni§ ^anble unb ba^, maS fonft in ber S)ogmatif oorgetragen
werbe, burc^ bie ©otteSertenntniS feinen S^arafter erlialte. ®aju
gefrört bann aber auc^, ba§ bie 2:rinität§lel)re i^ren alten $la^
bel|ält. ^a, ba§ e§ gefc^ie^t, roirb bie ^robe auf§ ®yempel fein.
SEBenn eS in meiner Sogmatit ber "^all ift, fte^t ba§ bat)er nid)t
in SEBiberfprud^ mit ben oon mir befolgten metl^obifc^en ©runb-
fä^en, fonbern fie !ommen barin ju einem befonber§ beuttid^en
3IuSbrud(.
3Wan roirb entgegenl)alten, bie 2:rinität§le^re fei ein jufam»
menfaffenbeS 3)ogma, e§ muffe alfo uor it)r felbft jur Srörterung
152 ^ a f t a n : 3ut <LoQinati!.
fontmen, roaS nun in i^r gufammengefa^t fei, fonft fel^Ie e§ i^r
cnhpcber an bcn nötigen SSorauSfe^ungen, ober werbe in i^r f c^on
Dorläufig einmal erörtert n^a^ bann nadj^er au^fu^rlid) jur Spraye
lomme, unb laufe t§ alfo auf unerträglid)e SBieberl^oIungen ^in-
au§. 5ianientlid^ werbe bei biefem SBerfa^ren bie XrinitätSlcIire
mit ber (S^riftologie nic^t au^einanberge^atten merben tonnen.
SSielmel^r muffe jte an ben ©c^Iu| gefteüt werben; bann feien
läftige 3Bieber^oIungen ju oermeiben, ba e§ nun in biefer Se^re
bei einer ganj furjen ®eleud)tung be§ f^on SBorgetragenen unter
bem neuen unb eigenartigen ©efid^tSpuntt fein SSemenben ^aben
tonne.
hierauf ift aUererft ju erroibevn, ba^ e§ fid) in ber 2:rini»
tät^le^re um bie fie^re oon ©Ott ^anbelt. @§ ift bie (^riftüc^e
@otte§ertenntni§, bie barin jum 9luSbrurf fommt. 2lIfo
ift e§ auc^ @Iauben§le^re, ein ©lauben^fa^, ber barin oorge«
tragen wirb. 3)enn @ott wirb nur im ©tauben erfannt, einen
anbern 9Beg jur ®otte§ertenntni§ gibt e§ überf)aupt ni^t. 3)ann
get)ört bie Srinität^te^re aber au^ in ben ^wf^nimen^ang ber
©otteöle^re, bie nai^ ber fiogif ber ©ac^e in jeber Sogmatit aU
erfte alleg anbere bebingenbe Se^re vorgetragen werben mup.
Slnbernfatlg bringt man e§ überhaupt nic^t ju einer 3;rinität§*
le^re, fonbem nur ju einigen 9lefteyionen über fc^on oorgetrage*
nen ©toff, bie an unb für fidti ebenfogut fel^Ien tonnten, bie nur
beS^atb l^injugefügt werben, weil e§ nun einmal in ber Srabition
biefen @eftc^t§puntt ber 5:rinität§[e^re gibt. 3)a§ f^eint mir ein
ftrifte§ Sntweber — Ober ju fein. Unb ic^ würbe ^injufüg^n,
ba^ e§ nic^t wo^lgetan ift, üxDa§ al§ Seigre oon @ott oorju*
tragen, baS nic^t wirfti^ bie 95ebeutung ^at, bieS ju fein. 3)a§
fte^t nic^t in ©intlaug mit ben SWajeftät^rec^ten ®otte§, bie aber
bod) nirgenb§ unb nie, au^ in bogmatifc^er Seigre unb SReftejrion
nic^t, beeinträchtigt werben bürfen.
3ft bie§ rid^tig, bann tommt e§ für bie ^Rechtfertigung mei=
ne§ aSerfa^reng oor allem barauf an, ju jeigen, ba§ e§ fic^ in
ber 2:rinität§lel|re um einen @lauben§fa^ ^anbelt, ber im 3ufam*
mcn^ang be§ ©anjen einen notwenbigen ^^la^ auffüllt. 34 wiH
aber je^t unb ^ier biefen ®]^aratter ber Seiire al§ ©laubenSle^re
^ a f t a n : ^nx Dogmatif . 153
nic^t nä^er erörtern. XaDon mug gleich bie 9lebe fein, menn bie
IrinitätSlelire felbft für fic^ genommen ben ©egenflanb ber ®r*
örterung bilbet. ^d) befc^ränfe mid^ i)izx auf i^r aScrI|ältni§ jur
6)^rifto(ogie ober benn ü6er{)aupt ju bem übrigen 3nl)a(t ber
©lauben^Iel^re. ®enn id^ will nid)t DöQig in 3lbrebe fteDen, bog
bie Seigre etmaS oom @^{)ara{ter eine§ sufammenfaffenben 3)ogma§
l)at unb fic^ mit Späterem roie oor allem ber S^riftologie berührt,
ja berühren mu§. "iflnx, meine i^, merbe baburc^, mag ^ier be»
tiauptet mirb, ni^t aufgehoben, fonbern erft rect)t beftätigt, ba e^
etmaS ift, ma§ fic^ notmenbig au§ ber Stellung ber fie^re oon
®ott im (Sanken ber ®ogmatit ergibt unb oon biefer Sef)re über*
^aupt, nic^t blo§ Don ber £rinität§lel|re gilt.
3)a§ ^angt bamit jufammen unb ergibt ftd) baraug, ba^ ber
c^riftlic^e, ja jeber religiöfe ®(aube mie oft ermähnt unb auc^
eben mieber berührt, mefentlid) ©otteSglaube ift. ^ie ganje @lau«
benslefire ift batier in gemiffem ©inn nic^t§ al§ fief)re oon ®ott,
oon feinem emigen SGBefen unb feinen @igenfd)aften, oon feiner
Offenbarung unb Betätigung in ber 9Q8elt. @§ ift ba^er nic^t
oermunberlirf) unb liegt nic^t an mangelljafter 3lu§füf)rung, fon*
bem ift in ber Sogif be§ ©laubenö unb ber ®lauben§ertenntni§
begrünbet, bajs jmifc^en ber fietire oon ®ott unb ben übrigen
Se{)ren ber Dogmatil ein fold^er innerer ß^fönimenl^ang ftatt*
finbet, in jener oorroeggenommen erfc^eint, roa§ fpäter au^fül^rlid^
erörtert wirb, unb biefe 9GBiebert)olungen enttialten, fofem fie auS^
fül^rlic^er unb unter anberem ®efid)t§punft entmideln, ma§ bod^
fd)on einmal, nämlid) in ber Se^re oon ®ott, jur ©prad)e tam.
3)es^alb mar e§ auc^ fein müßiger ©infaH oon ©c^leiermac^cr,
fonbern ^atte einen 2lnl)att§punft in ber Sac^e, ba§ er bie Seigre
oon ®ott auf bie oerfc^iebenen Slbfdjnitte feiner ®lauben§le]^re
©erteilte. ®r irrte nur barin, ba§ er fie al§ Slnney ber anbern
Se^ren be^anbeln ju fönnen meinte, mälirenb fie in äBal^r^eit bie
@runblage berfelben ift.
2(m beutlic^ften tritt ber tbm ermähnte ©acf)oerf)att in ber
Se^re t)on ben göttlichen ©igenfc^aften ju tage. So ift befannt,
ba§ baS baoon ^anbelnbe Selirftücf ftd) in einem wenig befrie»
bigenben ß^f^nb befinbct, unb oft Sßerfud^e gemac{)t morben finb.
154 Ä a f t a n : Qux S)O0matif.
bem ab}ul^elfen. ®m\^ fomnten nun au^er bem {)ier befpro^enen
auc^ anbcrc ®ejtci^t§pun!tc in 93ctrad)t unb ift für bic Scl^roer»
befferung burc^ bcrcn 33erüdtrtci^tigung ncucrbing^ mand^eS ge-
f^et)cn. 93or attcm aber wirb t)ier nur ber ba§ Steckte treffen,
ber ftd) jenen inneren ^"[^"^»"^"^öng ber Se^re oon ®ott mit
ollen übrigen Se^ren ber ®ogmatif flar mac^t unb baoon auS-
get)t ba^ bie ©d^roierigteit in ber ©ad^e fctbft liegt, ba§ fie burd)
leine Jlonftruftion weither 3lrt immer gänjtic^ befeitigt, fonbern
nur burd^ bie auf haS ©anje ber 3)ogmatit (nic^t bIo| bieS ein-
jelne Set)rftüd!) gerict(tete SRefIejion einigermaßen ausgeglichen roer=
ben tann.
2lud) in ber Se^re oom SDSefen ®otteS fe^lt bieS erfc^roercnbe
^Koment nid)t. 9Benigften§ bann nid|t, menn fie als ®lauben§*
lef)re oorgetragen wirb. ®§ ift unerläßlidi, babei auf bie ©elbft=
beurteilung be§ 6;t)riften einjuge^en, bie ba§ SWittel ber ®otte§'
erfenntnig mirb, fo wie biefe in ber inneren Srfa^rung juftanbe=
fommt. ©benfo ift €§ nid)t anberä möglich als ben SBeltgebanfen
in ben Streik ber ®rfenntni8 ^ineinjujie^en, ba mir ®ott nur er*
tennen, meil er unfer ®ott unb ber ®ott unferer SBelt gemorbcn
ift. ®in§ mie ha§ anbere tann aber älnlaß baju bieten, bem
Dorjugreifen, ma§ eigentlich erft in einen fpäteren äwfon^n^^M^ong
get|ört.
2lu§ bem allen folgere \ä) al§ eine Wegel unb eine ^robe
für bie SRi^tigteit unb ben facligemdßen ®ntrourf ber ®lauben§*
let)re, baß bie Se^re üon ®ott unb ber übrige 3»"^ölt ber Se^re
ober fie^ren fict| bedten muffen. SEBie fann aber bann im
3ufammen^ang ber Se^re üon ®ott üon ber 2:rinitfit8le^re ab=
gefeiten werben? Q\t e§ nic^t t)or allem ©^riftuS unb maS fi^
an feinen 9lamen tnüpft, mooon bie mic^tigften ®lauben§le^reu
l)anbeln? Unb ba§ follte bann in ber ße^re oon ®ott ni^t jum
SKuSbrudt tommen? ^6) mürbe fagen: offen!unbig oerlangt bie
innere Sogit be§ Se^rgebäubeS baS ®egenteil, baß nämlicl) bie
JrinitätSIe^re aU integrierenber 93eftanbteil ber Se^re oon ®ott
au bie Spi^e be§ ®anäen tritt, ©ntmeber — Ober! Sntmeber
ift, ma§ mir oon ®ott ju fagen ^aben, überhaupt nur Folgerung
aus bem, roaS birett ben ®egenftanb beS 9lad^benfenS unb ber
^af tan: 3^^ ^ogntatü. 155
Sc^re bilbct. 9S8er mit ©d)lcierma(^cv fo bafür ^ält, mag
mit bemfelbcn au6) bie SrinitätStc^rc an ben ©d^lu^ ftctlen ober
rocnigftenS nad) ber S^riftotogic einorbncn. Ober aber c§ oer^
^dlt fxö) \\mQzltf)xt ®ie Se^re oon @ott ift ba§ gunbament alter
@(auben§le^re unb get)ört an ben 3(nfang. Unb bann mug fic^
in i^r and) für bie Jrinität^Iel^re 5Raum finben.
ainx e i n ©inmanb ift (hiergegen mög(id). SJlan mü^te fogen,
e§ fe^le fd)on ganj abgefe^en von ber Srinitätöle^re nic^t, mag
in ber Se^re oon ®ott ber S^riftologie uub ©oteriotogie ent*
fpred)e. Reine cf)riftli^e fie^re oon ®ott, bie nic^t mefentlirf) unb
üor attem Set|re oon feiner ^eiligen Siebe ift! Unb feine Iieilige
fiicbe ift e^ bod^ eben, oon beren Offenbarung unb Betätigung
biefe onberen Se^ren ^anbeln. @ut! 2)agegen (ä^t fid) nid)tS
fageu. gormeü ift bie ©ad^e aud| o^ne 2^rinität§lel)re in Orb-
nung, bie eben befprod)ene fiogif be§ fiet)riufammen^ang§ fann
au^ o^ne bie§ gema^rt merben. ^a^ gebe id) o^nemeitereS ju.
folgert man aber ^ierau§, eS laffe fid) alfo bie 2:rinität§=
le^re, mie ©c^Ieiermad^er tat, an ben ©d^Iu^ fteßen, fo ift
biefe Folgerung folfd). SBaS folgt, ift oielmel^r, ba^ bann auf
bie 3:rinität§tet)re überl^aupt oerjic^tet merben muj5, ba§ e§ eine
fold^e gar nid)t gibt, ba^, maS man fo nennt, nur ein ©chatten
ift, ben eine innerli^ erftorbene 2^rabition in bie Ijeutige 3)og=
matif mirft, beffen 83ebeutung fc^tieglid) nur bie ift, bie alte 2;ri=
nitätSle^re, bie nun einmal )um gefc^id^tlic^en @toff ber S)ogmatif
gehört, in i^r nic^t unbefprod^en ju laffen. 3)a ift bann jiemtidj
gleichgültig, roo biefe 93emertungen eingefügt merben, ob am 9ln^
fang in ber Se^re oon ®ott ober am ©^lu^ ober mo fonft.
aber bo§ ift eine 3lnfic^t, bie ^ier nid^t roeiter in Betrad)t tommt.
9nit i^r fe^e id) mic^ gleich in ber näd)ften Erörterung auSein-
anber. ^ier gilt al3 ^orau^fe^ung, ba§ e§ eine Jrinität^le^re
gibt unb geben foll. 3!)a§ thema probandum ift, ba§, menn e§ fie
gibt, fie in bie £et)re oon ®ott an ben älnfang ber ^ogmatif
get)drt. Unb ba§ meine id) jje^t gejeigt ju ^aben.
3mei «fragen bleiben. (Srften§ bie, ob an bem i^r ba-
mit angemiefenen Ort bie SWittel gegeben finb, eine fold)e Sel)re
abjuleiten unb ju begrünben. 2)a§ ift bie oon aller Sogif un*
156 Ä a f t a n : 3«!^ ^Oömatif .
abhängige quaestio facti. Staun man iDirfüc^ eine fiet|re oon
bcr Srinität entroidteln, o^ne auf ben ©toff ju rcfurrieren, bec
erft in bcr ©^viftologie jur Sprache tommt? in ber S^riftologie,
oon ber t)ier boä) bel^auptet wirb, ba§ fie erft in einem ber fpa»
ter f olgenben fiel^rftüdEe ju erörtern fei ? Unb bie j w e i t e eng
f)iermit jufammen^ängenbe S^age ift bie anbere, ob fic^ bei einem
folc^en aSerfa^reu unerträglid^e SBieber^oIungen oermeiben laffen.
Sluf bie erfte grage ift einfach ju ermibern: ba§ tommt auf
bie 'ißrolegomena an. 3Jian I|at fid) oielfac^ geroö^nt, oon biefen
oeräc^tlic^ )u reben unb auf fie a(§ auf ein Konglomerat unju«
fammenge^örigen Stoffe oorne^m ^erabjufet)en. 3)a§ ift eine 2Cn*
fid^t, bie ic^ nie geteilt t)abe, ja bie ic^ nic^t einmal oerftet^e.
SWan mag an einer beftimmten gorm ber ^rolegomena änftog
nehmen, manc^e^ in i^rem trabitionellen Stoff überflüffxg finbcn
unb anbere§ barin oermiffcn. S)a§ lä^t fti^ ^ören. 3^ fritifdjeu
53eben!en unb aSerbefferungen ift ba reid)lid^ Oelegenl^eit gegeben,
^ber entbehrlich fmb bie ^rolegomena nic^t überhaupt. Unb
ebenfomenig taun e§ ber SBiOtür überlaffen bleiben, mad fie bie-
ten, ©ie muffen in einer eoangelifc^en 3)ogmatif 9lu§tunft bar»
über geben, in ioeld)er SDSeife bie Se^re, ba§ Sogma, auS bcr f|ei=
ligcn ©c^rift unb bem f irc^lid^en 93etenntni§ ber SReformation ju
fdiöpfen ift. 2:un fte ba§ — unb fie fo ju geftalten ift in mei^
ner 3)ogmatif oerfu^t loorben — bann bieten fie bie @runbtage
für bie @ntmidE(ung aUer @lauben^tet)ren, unb e§ befielt nic^t
ber minbefte ®runb bafür, erft bie Kfiriftologie abjumarten, e^e
man bie 2irinität§(e^re befpric^t, ftatt fie ba einzufügen, mof|in
fie gehört, in bie Se^re oon ®ott. ^a^ man etmaS anbereS
für notmenbig erflärt, tommt nur oon ber falfd)en üWet^obe ^er,
bie bogmatifc^en fiefiren a\x^ ber frommen ®rfa^rung be§ ®t)riften
abjuleiten, ftatt fie au§ i^ren mirflic^en Duellen, ©c^rift unb
SetenntniS, ju fc^öpfen.
SCBaö aber bie SBieber^oIungen betrifft, fo ift freilid^ ric^ticj,
bag 6^()rifto(ogie unb 2:rinität§(e^re nic^t übert)aupt auSeinanber^
gehalten roerbcn tonnen. ®a§ ift in bcr alten Sc^re möglid), in
loetc^er fie bie beiben ^älften bcSfclben Sel^vjufammen^ang^ biU
ben, aber fid) nid|t in ilirem 2:l)ema becfen. ^w eine ®laubcn§*
^ a f t a n : 3ur Dogmatil 157
Ic^rc, b. ^, eine 2)09matif ber coangelifdicn Kirche, paffen jcboc^
biefc alten Se^ven nic^t. ^icr flilt oielme^r al§ oberfte Flegel,
bog in ber Sc^re bcv innere ßwfammen^ang i^reS ©egenftanbeS
mit bem perfönlic^cn ©tauben unb Seben beg glommen aufge*
ipiefen werben mu§. Unb barau§ ergiebt ftd^ bann, ba^ roir eS
aUerbingS in ber JrinitätSlelire unb in ber ©firiftologie mit bem=
fe(ben Si^ema ju t^un ^aben, nnb ba^ barauS fet)r (eid)t mannig«
fac^e SBiebcrtioIungen ^erDorget)en fönnen.
Sro^bem meine id), ba^ fie ju cermeiben finb, menn in
ber 2ru§fü^rung jeber Se^re ftreng an bem für fie d)aratteriftifc^en
@efid|tspunfte feftgef)alten mirb. S3enn i>a^ biefe @efic^t§punfte
ganj oerfdjiebener 2lrt finb, t)abc id) in meinem 93uci^ g^icigt,
auc^ oerfud)t e§ in ber ©ntmirflung ber Sef)ren burc^jufüliren
unb i^r S^einanberlaufen ju uertiüten. Unter ber SSebingung
nun, bag ba§ gelingt, fdjeinen mir bie SBiebev^oIungeu fic^ barauf
ju rebujieren, ba| folc^e, mie oben barget^an mürbe, überhaupt
ämifd)en ber Se^re üon @ott unb ben übrigen bogmatifc^en Se^ren
unuermeiblidi fmb. Sle^nlic^e 3Biebert)olungen au§ ber @otte§*
Ic^re roSren in ber ©ntmidtlung ber SDBeltanfc^auung unb in ber
Se^re oon ber ©ünbe leid)t nad^jumeifen. Sie finb fein 5eI|Ier,
fonbem ein ©emei^ bafür, ba§ bie Slufgabe ber ©laubenölel^re
richtig erCannt unb in Angriff genommen ift.
Ob e§ mir freiließ gelungen ift, baö für rid)tig ©rfannte
roirtlid) auljufü^ren, ift eine grage für fic^. 3)a gegen bie 2ln*
orbnung ber Se^re in meinem Suc^ au^ ber ©inroanb erl)oben
lüorben ift, id) fei baburc^ in SBiebcrl|olungen geraten, ne^me xä)
an, ba§ e§ nid^t ber JöK fei. ®a id) jebod) felber nicl|t t|abe
auSpnbig mad^en fönnen, roa§ bamit gemeint mar, fo t|abe ic^
ben geiler in ber neuen 2tuflage nid^t oerbeffern fönnen. Unb
im übrigen — ba§ möchte idt| bei biefem 2lnla^ befennen — ic^
befpre^e l^ier bie ©runbfä^e unb mie fie au^gefül^rt merben foU*
ten. ®g fann nic^t meine 9Weinung fein unb ift nic^t meine
SWeinung, fügen ju motlen, fie feien in meiner ®ogmatif in oott^
tommener 9Beife burd)gefüf)rt. ^d) bet)aupte nur, ba§ id^ fte in
xt)X burc^gufü^ren oerfuc^t l)abe,
3ettf(^ft fflr Z^eolDflle unb Stixdft. 14. 3a^rg., 2. $cft. 11
158 Ä a f t a n : Qm S)ogtnatif.
2.
S)ic 2:viuitatS(cl^rc ^ät i()rc SBurjclu im c^riftlic^cn ®lauben
unb 5Jleucn 2:cftamcnt, nic^t in ber griec^ifc^en ^^ilofop^ic. ®§
ift toiebcrum inncrl^alb bcg bleuen a^cftamcnteS nid^t crft ba8 oicrte
®Dangclium b. ^. bic in i^m oorliegcnbc 2lnhiüpfung an bcn
^ellcni§mu§, bic bcn Slnfa^ baju enthält, ©c^on ?ßautu§ l^at bic
3ufammcnftcllung oon SSatcr, ©ol^n unb Ocift. Unb roa^ bei
i^m fid) barin sufammcnfa^t, wirb * nid^t al§ ein @in[cf)u| grie^i*
fc{)cr ©ebanfcn in feine ^rebigt in 2lnfpruci^ genommen iperbcn
fönnen. @§ ift alfo ba§ Ur^riftentum felbft unb nlc^t erft ber
bdrin einbringenbe ^etleni§mu§, roooon bie <3mpulfe jur 2:rinität§^
le^rc ausgegangen finb. &ben bie§ roirb auc^ burd) ben Sauf«
befel^I SWatt^. 28 beftätigt, ber ja iebeufallS in bie 3«it ^or ber
Slmalgamierung mit griec^ifdien ®eban!en jurüdgreift, mag e§
im übrigen mit feiner ©ntfte^ung auf fic^ ^aben n)a§ eS roiU.
2ltf 0 ber c^rifttic^e ©laube, ber uom ©ol^n ®otte§ unb üom ®ei|l
®otte§ ju fageu meig, ol^ne beSl^alb auc^ nur um eineS ^aareS
93reite pom ÜUtonot^eiSmuS abjumeic^en ober abn}eid)en ju moDen^
l^at in ber c^riftlic^en Äir^e jur XrinitätSle^rc gefflt)rt.
©benfo gemi^ ift freili^, ba§ bic S^rinitätslcl^rc nur unter
tief eingreifenber ÜJlitmirfung griec^ifc^er ©cbanfenfreife bie ^otm
crlialten i^at, bie im ®ogma vorliegt. @S finb baS bie ®cban!en^
frcife, bie fid) furjmeg al§ bie fiogos>fpetuIation bejeic^nen laffen
unb oon mir ber Äürje t)atber in meinem 93u^ f o bejeic^net mor«
ben finb. 3)ic SKeinung ber eben auSgefproc^enen 2:^efc fann
batier nid^t bie fein, ju fagen, ba^ bie Rr(^lic^e SrinitätSlc^re
ot)nc bie gried)if(^e ^{|i(ofop^ic entftanben fei ober o^nc fie l^abc
entfte^en fönnen. S^^gt "tan aber bann, ob au^ o^nc bereu
SWitmirtung eine berartige fiel)re nur eben in anberer gorm ^ätte
entfte^cn muffen, fo fragt man, n)a§ niemanb beantmorten fann,
ber fidt) nic^t in muffige ©pefutationen ücrlieren loiK. S33ir muffen
uns an ba§ ®egebenc galten. 3)a§ ift bic tir^lidie 2;rinitätS*
Ic^rc. 3ß^'9li^bcrn mir bic unb bie ^rojcffc, in benen fie ent«
ftanben ift, fo finben mir, ba^ itire SWotioc im d)riftlid}cn ©lau-
ben liegen, bag fie aber au§ ber 2lneignung biefeS ©laubenS
burc^ ben gried|ifc^en ®eift entftanben ift unb anberS gar nic^t
Ä a f t a n: Qur '3)08matif. 159
bättc entließen fönncn.
9lun ^at c§ aber mit bem 93citrag bcr grtcc^ifd^cn ^^ilofo^
p^ie ju biefcr Se^rc eine anbete öemanbtnig al8 mit it)ven ur-
fprünglic^en, im ©lauben liegenben Tlotmn. S)ie leiteten unb
n)a§ fi^ unmittelbar au§ i^nen ergeben l^at finb etma§ Unre«
flettiertc^, einfad)er 2lu§brud ber 53ebeutung, bie ;3efu§ ®]^riftu§
für biefen ©(auben ^at, unb ber SSoUenbung ber @otte§ertenntni§,
bic man in i^m ju erreid^en ftd^ bemüht ift. ®§ finb blo^e Be-
hauptungen, e§ fott bamit nichts erfiärt werben, e8 liegt nid^tS
barin, ma§ man ate ein fpefutatioe§ SWoment bejeidjnen tonnte.
9Rit ber Sogo§fpefuIation ift eg bagegen auf eine umfaffenbe
SBSeltformel, auf ein te^te§ t|öc^fte§ 93erftänbni§, eine abfd^Iie^enbe
®rflarung ber SBeltmirflic^feit abgefe^n. SDSeg^alb e§, menn man
bie Urfprünge ber tirc^Iidien Xrinität^Ie^re in§ Sluge fa§t,
^eipen mup, ha^ ein 3)oppeIte§ in i^r liegt, eine Formulierung
c^riftlic^er ®{auben§er!enntni§ unb — e§ wirb feinem SKißoer*
ftonbni§ begegnen, menn ic^ eg fo auSbrürfe — eine umfaffenbe
Formel be§ SEBeltoerftänbniffeg.
3)ürfen mir nun behaupten, le^tereS fei bem ^riftltd)en ©lau*
beu frembartig ober gar jumiber, e§ muffe batier au§ ber ©lau*
benöle^re üom breieinigen ©ott auSgemerjt merben? 3Jleine§ 93es
bfinten§ nid)t. 2ll§ ®otte§erfenntni§ ift ber ©laube ba§ le^te
5Berftänbni§ ber SBirKic^teit, ba§ e§ giebt, ober bel^auptet menig*
^en§ es ju fein. Siefe ©otte§er!enntni^ fo ju geftalten, ba^ fie
jugleic^ ba§ c^riftlic^e SBerftänbniS ber 33Belt, aller un§ gegebenen
®irtti(^feit ausbrüdt, ift bal)er bem diriftlid^en ©lauben nic^t an
unb für ftc^ entgegen.
Sii^t al§ rooßte ic^ nun hiermit für bie firc^lid)e 2^rinität§*
le^re apologetifc^ eintreten. ®§ ift für mid^ eine au§gemacf)te
SBa^r^cit, bag jener tielleniftifc^e ©ebanfenfrei§, ber bei i^rer
(£ntftef)ung mitgemirft I)at, bem c^riftlic^en ©lauben nid)t entfpricftt,
pielme^r in äBiberfpruc^ mit i^m fte^t. @§ finb pantf)eiftifc^e
@eban!en, bie ba^inter fte^en ober i^n be^errfd)en. ®ie oertragen
fid) aber nic^t mit bem d)riftli^en ©runbgebanfen ber Schöpfung,
oon bem boc^ nicf)t§ abgebrochen merben fann ober barf. SEBeber
bie c^riftlic^e ©otteöerfenntni^ noc^ ba§ c^riftlic^e aBettoerftänbni§
11*
160 St o f t a n : Qvlx %og,maixt
la§t e8 ju. 2)er crftc 2lrti!cl unfcrc§ ©laubenS roirb bamit auf«
gel^oben. ^c^ tüei^ idoI^I;, ba^ ha^ nic^t unbebingt oon oKen an«
cvfannt wirb. Sffiir fmb ja fo geroöf^nt baren, ju meinen, e§
^anble ftc^ bei Sntfd^eibung fotd^er t^ragen um eine bem SSerftanb
gefteHte Slufgabe, unb eS ift bod^ fo ftnnroibrig, bergleic^en atte
©rfa^rung unb jeben SSerftanb überragenbe Probleme mittclft be§
SSerftanbeg löfen ju moQen, bag e§ fein 9Bunber ift, menn mir
mit unferen Erörterungen barüber üielfad^ im 9lebel ^erumtappen.
8BeiJ5 man, ba^ biefe fragen oor ein ganj anbercS 5<>^"^ 9^'
^ören, unb t^ut banadb, bann tann ^ier eine ^rage ober ein
3meifel überhaupt nid^t auftommen. 3)er ©ebanle ber ©c^o«
pfung ift ein notmenbige§ Korrelat ber ^riftli^en ©elbftbeurtei*
lung. 8D3cr fid) felbft im 93emu§tfein ber $erfönlid^!eit über bic
S33elt ergebt unb i^r gegenüber fi^ in fic^ jufammenfafet, fann
nid^t an einen in ber SBett unb mit ber SGBelt jerfliepenben @ott
glauben, ©rünbet fic^ bo^ jene feine eigne ©elbftbeurteilung
barauf , bag er in ® o 1 1 einen ^alt über ber äBelt gefunben
I)at. S)arum ift ber 2lrtifet oon ber ©(^öpfung ein ©runbartifcl
be§ d)rift(ic^en ®(auben§, unb ftetien aQe @ebanfen über ®ott
unb ffielt, bie i^n antaften, in 333iberfpruc^ mit biefem ®Iauben.
®8 tann alfo feine Siebe baoon fein, bie SogoSfpefulation
)u acceptieren. SGßer oom ^riftUc^en ©lauben au§ge^t, mug jum
entgegengefe^ten Urteil fommen. 3lber baS ^ebt nic^t auf, bag,
roenn burd) bie SWitmirfung biefer ^etteniftifdien ©ebanfen in ben
2lnfa^ ber 2:rinität§lel^re aud^ bie SRic^tung auf eine umfaffcnbc
9Beltformel aufgenommen roorben ift, ba^ ba§ an unb für fic^
nid)t in SBiberfprud) mit bem c^riftlid)en ®Iauben fte^t. ®anj
im ®egenteil! 3J2u^ e§ um be§ ®(aubeniS miQen bei ber %x'\nu
tätölebre fein SBeroenben ^aben, moran ic^ nic^t jmeifle (f. u.),
bann ift gerabeju ju forbem, ba§ fte aud^ biefem anbern öebürf *
ni§ genüge. ®in§ liegt unmittelbar im anbern. 3fft ^^^ ®ött«
^eit be§ ^erm ein notmenbiger ®ebanfe beg c^riftli^en ®lauben§^
finbe id^ bie 9iötigung in mir, uom ®eifte ®otte§ ju fagen, in
bem mir SWenfc^en an ®ott felbft unb feinem Seben 2:eil geroin»
nen, roie foHte bann bie bementfpred^enbe Formulierung ber ^rift-
liefen ®otte§erfenntni§ nid)t audf) für mic^ bic S3ebeutung einer
Sl a f t a n : 3ur 3)0ömati!. 161
unifaffctiben SBcItformct !)abcn? 3d) bctjouptc alfo, ba^ bic ^t'u
nitat§fc^rc biefcm boppeltcn Qrotd bicnen muj5, ba^ fie nur ift,
roa§ fic fein fott, wenn c§ bcr gaC ift.
9lun ift bie tird)Iic^c 2^rinität8lc^re in bcr SQBcife cntftanbcn,
bie loir fennen^ au^ bem Suf^^^^^^i^'^^i^ ^^^ d)riftlid)en ©(au-
ben§ unb ber SogoS)pefuIation. darauf nä^er ein}uge^n liegt
feine SJeranlaffung Dor. 2)ie S3ctannt)c^aft bamit barf f|ier oor=*
auSflcfe^t werben. Sinjig bie S^agc fann t)ier intereffieren, unb
bei ber Derroeiten wir einen SJloment, ob benn bie fo juftanbege»
fomniene Se^re bem boppciten 93ebürfni§, ba^ fie befriebigen foU,
it)irt(id) entfpric^t.
3)a§ auffattenbe, um nic^t ju fagen Derblüffenbe Siefuttat
einer folc^en Prüfung lautet bo^in, ba^ loebcr ba§ eine noc^ ba§
anbere ber ^a\l ift. 3)ie beiben ^aftoren, bie bei ber ©ntftel^ung
ber Se^re beteiligt finb, ^aben einer ben anbern oerborben, fo
bog ber urfprüngli^e ©ebanfe beiber oerloren gegangen ift. Qn*
bem bcr c^riftUc^c ®laube an SBater, ©o^n unb @eift in bic fjor*
men ber gried)ifci^en ßogo§fpefulation gepreßt mürbe unb nun
iroar in ber Set)re bie Ober^anb behielt, aber in anberer, if)m
on unb für fic^ fern liegenber äBenbung feiner ©runbgebanfen,
ocrior er feinen bem ®Iauben lebenbigen ^f^^olt. Unb fo and)
roieber umgete^rt. 3»iil>^n^ i>i^ pl|i(ofop^ifc^en ©cbanfen nur al§
SRittel oermertet mürben, ben c^riftlid)cn ©tauben ju formulieren,
ift bie umfaffcnbe SBeltformel, bic ben urfprünglic^en QxH)alt ber
Sogo^fpctulation ausmachte, ju ®runbe gegangen: bic ©efc^ic^tc
beö 3)ogma§ ift ja gcrabcju bie ®efd)id)tc ber allmä^Iid^cn aSer*
brängung unb fc^licj5lid)en 2lu§merjung beg äBcttgcbantenS au§
biefem 3wfammcnl)ang.
®anacl) fc^cint bic ^rage roo^Ibcrec^tigt, ob mir irgcnb mel*
c^en ®runb ^abcn, an ber 2:rinität§lel^rc feftju^alten. 3). 1^. für
bie eoangetifc^c Äirc^e unb Dogmatil entftet)t biefe S^age, 2luf
fat^olifc^em 93oben liegen bic ^ingc anberS. ^a§ l^at feinen
@runb barin, ba^ bic tat^olif^e gorm be§ 6;f)riftentum§ in bem=
felben 3wfö"^>"«nt)ang cntftanben ift, in metd)em ber d^rifttic^e
©taube bie Ummanblung jum 3)ogma erfuhr — ein ^ufammen^
^ang, ber unoerfennbar ift, fobalb man bie ®efci^id)tc beS S)og=
162 ^af tan: Qnx ^ogmattt
ma§ al§ 3lu§fcf)nitt qu§ ber ©efd^i^te ber ci)rtftlic^en Sleligion
(unb nid|t oor aUein bcv ^^3t|i(ofop^ic) \)ai Icfen unb oerftc^cn
lernen. 3)q§ ift in meiner 2)09matit eingel^enb unb immer wie*
ber, e§ ift bort aurf), roa§ bieö fpesiette ©ogma betrifft, gcjeigt
morben. ^ier braucht nid)t meiter baoon get)anbeU ju n^erben.
Slber n)Q§ foU un§ @oangeIifd)en eine Se^re, bie un§
nid)t ®(anben§tn^alt (ebenbig Dergegentvartigt unb ebenfo menig
eine innerlid) aufjunel^menbe unb anjueignenbe SrfenntniS bietet?
^n ber %\)at ift, ma^ un§ in ber eüange(ifcf)en Äird)e an
bie Jrinität§IeI|re (in ber götm be§ 3)ogma§) binbet, nic^t§ aU
ba§ ©c^tt)ergen)id)t ber Jrabition, be§ ©emol^nten unb (Singe»
rourjelten. Ober meint jemanb, ba& bie SSerfu^e älterer unb
neuerer ®ogmatifer, ha§ 2)ogma fpetutatiu ju „tonftruieren", ih
btefem 3ufömmenf|ang ju nennen feien? Qä) finbe, an biefen
95erfud|en fei ba§ einjig 53emer!en§merte, ba§ in ber Qdt l^eutiger
SDSiffenfd)aft (früher, aU bie ganje SQäiffenfd^aft ba§ ©tabium
freier ©ebantenprobuftion nod) ni(^t überrounben t)atte, lagen bie
2)inge ganj anber§), alfo ba| tieute nod) gefc^etbte Seute, fc^arf*
finnige SUlänner fold^e (Sebanfenrei^en üortragen unb bamit tt)rem
eignen unb anberer inteüettuettem 93ebürfni§ ju genügen meinen.
^6) fc^Iie^e barau§, ba^ aud) bei biefen J^eologen felbft, ni^t
blo^ bei ber ©emeinbe, ganj etroag 2lnbere§ al§ ba§ eigentlich
SBirffame, aU bie entfd)eibenbe S^pönj im ^intergrunb fielet.
Unb biefeö 2lnbere ift t)a^ tbtn (benannte, \>a^ Sc^mergemic^t ber
Srabition.
dUd)t blo^ äugerlic^, and) innerlich mac^t e^ ftc^ geltenb.
Dbtooijl fc^on ba$ rein 3leu§ere nic^t gering anjufc^tagen ift.
3a]^rf)unberte laug, ja über ein ^al^rtaufeub ^at biefe ©ebanteu*
oerbiubung in ber S^riften^eit al^ oberfte 9Sorau^fe^ung aüe§
6^riftentum§ unangetaftet feftgeftanben. SBie ferner ift e§ aber
nic^t, aud) in minber midjtigen 3)tngen, eine eingerourjelte S^enf*
gemo^n^eit ju erfc^üttern, ja e^ aud) nur bal^in ju bringen, ba§
bie 2Ibn)eid)ung üon anbern überhaupt pcrjipiert wirb! 9Bie be*
greiflid) ift e§ nid)t, ba^ fi(^ unter ben frommen niemanb barauf
einlaffen mitl, an ber 2trinität§(e^re ju anbern ober gar fie an«
Sutaften! 3)aju tommt bann ein ^nneriid)e§. Slu^er ben pri»
^ a f t a n : Qnx ^ogmatit 163
mären religiöfcn ©cfü^Icn gicbt €§ ani) fefunbärc, unter benen
bag ®efü^t ber ^^Jietät baS roi^tigfte ift. Unb eben bie§ ©efü^I
binbet innerlid) an bie uralte Ucberlieferung ber ©t)riften]^eit. ^n
i^rem Rampf um bie ^errfd)aft über ba§ geiftige Seben ber d^rtft*
lid^cn aSöIfer t)at bie Rir^e ba§ ®ogma üon ber 2irimtät ge*
bilbet unb burdjgefe^t. S)aS gel|6rt ju i^ren glorreidiften unb
ftoljeften Erinnerungen. Unb n)eld)e SBcfriebigung gewährt e§
ni(^t, ftc^ in bem 93efenntni§ jum breieinigen ®ott ein§ ju miffen
mit ber gefomten Ebriftenl^eit, ben ©Triften aller ßeiten unb
Orte? (5§ ift ^ierau§ DoKtommen oerftänblid), ba| biefe 2et)re
au^ in ber eoangelifc^cn ®^riftenl)eit fo jäl) feftge^alten wirb,
unb bie eben erroä^nten 93ebenfen nid^t bagegen aujtommen.
greilid) braucht man anbrerfett§ nur bie ^robe ju mad)en,
um inne ju werben, ba§, roaS hierin mirtt, ed^t fattiolifc^e SKo«
tioe ber grömmigfeit fmb. 93ei näfierem 9lac^fragen [teilt fid^
ndmlic^ balb ^erau§, ba^, roa^ t^eologifc^ nic^t gebilbete ©liriften
fid) bei ber 2:rinität§le^re benfen, bem 2:ritl^ei§mu§ re^t nal)e
f ommt. ©ie betonen biefe fief)re, legen ben größten SDBert barauf,
finben jebe Sritit baran fe^erifdi unb abfd)eulid^; maS fie fic^
aber felber babei beulen, ift im (Sinn ber Sßäter be§ 3)ogma§ unb
aller mirflid) ort^obojen Se^rer — eine ber fc^limmften unb greu*
lic^ften Äe^ereien, bie e§ giebt.
2Wad|t man nun auf biefen ©ac^oert)alt aufmerffam, fo tann
man mit großer 35Ba^rfd)etnlicl)feit auf bie Slntmort red)nen, ba^
e§ ©ac^e ber S^^eologen fei, hierüber genauer ©efc^eib ju miffcn,
fie i^rerfeit^ rooUten fid) an ben ©lauben ber Äird^e l^alten, an
ben ©lauben ber SBäter, bei bem e§ fein 93en)enben l^abcn muffe.
3)ag ^ei^t mit anbern SQäorten: mir glauben, n?a§ bie Äird^e
glaubt, unb überlaffen cg ben Sec^nifern, ju roiffen, roa§ ba§ ift
— genau mie e§ im römifc^en Äatl^oliii§mu§ oorgefcbrieben ift.
Site worin unb womit e§ fid) wieber burc^fe^t, ba§ bie Seigre in
ben fatl^olifc^en 3wföJnn^^ttt)ang getiört. ©ntfpred^enber SGBeife
fommt fic, obwol^l bie ©runblel^re ber S^riftentieit, in unferen
euangelifdien ®otte§bienften ber SRegel nac^ nur al§ liturgifc^e
Jormel uor. 3)e§t)atb liegt aber aud) in bem allen nid^tö, xoa^
uns ber grage übertiebt, ob wir in ber eoangelifrf)en Kir^e wirf^
164 ^ a f t a n : 3»^^ ^ogmatif.
lic^ baucrnb an bic alte Se^rc gcbunbcn fmb.
^ierau§ ift e§ nun ganj n)o^( gu Dcrftel^en, ba^ nic^t tuenige
neuere 2:i^eoIogen ber 2^rinitot§le^re gegenüber eine Haltung ein«
nehmen, bie fiel), wie oben (©. 155) jur Sprache tarn, nid^t roe*
fentUc^ Don 2lb(el^nung unterfd)eibet. S)em in i^r jufammenge-
fa^ten ®Iauben§inbalt ftef|t man freilid^ nic^t gleichgültig gegen«
über. ^I^n fud)t man in ben einzelnen barauf bejügüc^en Se^ren
für ben ©lauben unb bie ®rfenntni§ ber ©emeinbe lebenbig ju
machen. 9ln ber jufammenfaffenben gormel al§ folc^er haftet
t>a^ Q^tereffe nic^t, fie mirb nad) ©^Ieiermac^er§ SBorfc^Iag
am ©rf)Iu§ ober fonft irgenbroo, iebenfallS aU etroaS Siebenfach*
Iid^e§ abge^anbe(t. Unb oieOeic^t barf e§ feigen, ba| e§ fo auc^
bem n)irflicf)en ©emeinbeglauben entfprid^t, fofern baneben bie
alte fie^re nur al§ ^^ormel erl^alten bleibt. 3)enn ict) will mit
bem oor^in ©efagten nid^t behauptet ^abcn, ba^ ftd^ bie bort ci-
tierten frommen Saien an ba§, maS ben ^f^^^ölt ber Se^re aus»
mac^t, nid^t in eoangelifc^em ©lauben gebunben füf|Ien, an SBater,
©o^n unb ®eift; ba§ ift ganj mo^l vereinbar bamit, bag in ber
^Betonung ber jufammenfaffenben ^otmel ein tatt|o(ifd) geartete^
HWotio ber grömmigfeit burd^f^Iägt. Unb fo Ui)xt t)ier nun boc^^
tiic^t mie in ber erften ©rörterung formal, fonbern facl){icf) be*
grünbet, bie 5^age roieber, ob mir nic^t am beften baran tt)un,
nuf biefem SBege ju bleiben, eben mir nic^t an bie 2:rabition ge*
bunbenen g^eunbe unb SBertreter einer eoanglifc^en ©laubens*
le^re.
3tnbere neuere SDogmatifer, „liberale" 2:t|eolbgen alten ©til§,
beren geiftige 2lrt burd^ bie ^egelfd^e "ißliilofop^ie il^r ®epräge
erhalten ^at, urteilen umgefe^rt. 2)a alle§ ®efcl)ic^tlid[)e für fie
nur al^ SÄuSbrudt ber Qb^z 93ebcutung ^at, legen fte auf ben
gefc^ic^tlic^en ^n^alt ber alten Se^re fein gro^e^ ®emid)t. 3Bot)l
aber fc^eint it)nen biefe Se^re felbft etroa§ SBic^tige§ unb ^Bleiben*
be§ gu enthalten. 3l)r ^fntereffe baran ^gel^ört ber in i^r ent^
l^altenen fiogo^fpetulation, bie fie mieber ju beleben fu^en, in
i^riftli^er SWobifigierung natfirlidl), aber fo, ba§ bie fpetulatioe
^ebeutung ber ©ä^e, — bie§, ba^ fie eine u m f a f f e n b e
gormel be§ geiftigen 9Beltoerftanbniffe§ ent*
Ä a f t a n : Qux ^ogmatif. 165
galten, al§ bic ^auptfad^c l^croorgefe^rt roirb. ©o finben wir
eS j. 93. in 93icberntann§ ®ogmatit. 3>ft babci bic aWcinung,
roQ§ fo ^crauSfommt für ben in bcr gcfd^ic^tüd^cn ®ntn)ictlung
^erau§gefteQten geiftigen @e^alt, bie QbaquQte, gebantenmä^ige
gaffung bcr in bcr Äird^cnlc^rc cntfialtcncn SBa^r^cit ju crtlarcn,
fo ift ba§ ein offcnfunbigcr ;3rrtuni. @r wirb cinfad^ baburc^
wibcrlcgt ba| bic ©ntftcl^ungggcfc^i^tc bcr Sc^rc bic ©cfc^idjtc
ber Slu^mcrjung bicfcr p^iIofopI|ifcf)cn ©cbanfcn ift. darüber ift
fein SD3ort weiter ju Dcrlicrcn. Slbgcfe^n aber dou einer folci^en
irrigen 3)eutung bcr fiir(^cnlct|rc unb i^rer @efd)ic^tc liegt aud^
in einem berartigen SSerfud), bcr 2:rinität§[e^re eine bicibenbe
3Ba^rI|cit abjugeroinnen, ctroaS 9ii^tige§. ^^ erbtidfc e§ barin,
ba^ ocrfud)t mirb, etn)a§ wiebcr lebenbig ju mad)en, n)a§ im
Slnfa^ bcr 2;rinität§Ie^re aU 6crcd)tigte§ ^ntcreffe ocrfolgt mürbe,
bann aber ju ®runbc ging, meil e§ mit ben au§ bcm diriftlid^en
©laubcn ftammenben SDiotiücn bcr fie^rc nid^t in ©intlang ge»=
bracht roerben fonntc.
3)anad) fte^t bic Sac^e fo, ba^ bic t^cotogifd)C Slrbeit in
ber einen roie in ber anbern Sinie jur ®eltung ju bringen fuc^t,
ma§ ate ein urfprüngli^e§ 3"tcreffc ber Se^rc bcjcidönet merben
barf. Sort ift e§ ber au§ ber gefc^id)tlic^en Offenbarung ftam*
menbe Q^^ialt ber Setire, ber bem coangeUfd)cn ©tauben fein
Cbjeft bietet, l^ier bagegen bie umfaffenbc g^ormet beS 2Bettoer=
ftanbniff c§, bic in i^rer pt|itofop^if(^en, f)etlcniftifct|en ©cftalt bcm
c^rifttic^en ©tauben at(erbing§ nic^t cntfprac^, aber an unb für
fi^ aud| oon ber abfd^tic^enben d)rifttid)en ®otte§erfenutniS cr=
roartet merben mu|. ®ic atte Srinität^Ie^rc gc^t babci im einen
roie im anbern gati ju ©runbe. S)ort inbem fie }u einer e^rmür*
bigen, aber an ftrf) nebcnfäc^tid)en jufammcnfaffenben gorm rocrt=
ootlcn Qnl^attö mirb, l^icr, inbem bic pant^eiftifd^en ©cbanten ber
SogoSfpefutation ben au§ bcr gcfc^ic^tticl)cn @otte§offcnbarung
ftammenben ^n^alt abfto^en. ^n ber alten Set)rc ift eben roie
gefagt baS eine 3>"tcreffc burd) ba§ anbere gefreujt unb gehemmt
roorben. ©otl roieber ctroa§ 2tnberc§ atS eine Iiturgif(^e formet
au§ if)r gemacht roerben, ftetten fid^ biefe gotgen non fetber ein.
3)er Don mir cingef^Iagcnc SBcg ift jebod^ ein anberer. ®§
166 Ä a f t o n : 3«t S^ogmati!.
fd^eint mir uncrlä^Ii^, an bcr Sirinitätölcl^rc aU bcr alten ga^ne ber
(J^riften^cit fcftju^alten. 3>d) bctrai^te e§ gerabeju aU eine ^^robe
für bic SRic^tigtcit einer ^Jcugeftaltung ber eoangelifc^en ®(aubenS*
lettre, ob ba§ gelingt. Srfte 93ebingung bafür ift, roa^ je^t roiebet
berütirt n)urbe, bie ®infxc^t ba§ roir in einer 3)ogmatif ber SRc«
formationSfirc^e nic^t auf bem SBeg be§ 3)ogma§ bleiben bfirfen.
S)ie 2lufgabe ift auc^ in biefer Seigre biefelbe roie fonft, bic
@rfenntni§ be§ eoangelifdicn ®Iauben§ gum 9lu8brud ju bringen.
3[nbem aber bie Slufgabe fo formuliert mirb, liegt barin bie 95e*
^auptung, ba§ ber ©a^ oom breieinigen ®ott felber ein ©taubcnS*
fa^ ift unb ni^t btog eine ^^f^mmenfaffung anberer @tauben§«
fä^e. SGBeiter ift meine 9Weinung, ba| in ber fo oerftanbenen,
bementfpredjenb geftalteten 2:rinität§le]^re auc^ eine umfaffenbe
gormel be§ SBettoerftanbniffe§ geboten mirb. 9tun jiebocJ^ fo,
ba^ ba§ nic^t in SQ3iber|prud) mit ber d)riftlid)en @rtenntni§ oer»
midfelt, fonbern au§ it)r i^rem genuinen ©inn nad) abgeleitet mirb.
®in§ nac^ bem anbern miß i^ furj befpred)en. 3uerft alfo: bie
Jvinität^le^re ift felbft ® l a u b e n § le^re.
3lber natürtid) roiU ic^ nic^t bie ©ntmicflung ber Se^re, wie
fie in ber 3)ogmatif oorgetragen roorben ift, l^ier roieber^olen.
3)a§ bort ®efagte barf unb mu^ id) bei ber je^igen ©rörterung
DorauSfe^en. Qä) rebe alfo je^t nidit baoon, ba^ bie d^riftlidie
®otte§er!enntni§ an bie ©rtenntni^ ^efu S^rifti gebunben ift,
unb ba§ fie fic^ nur in bem ootlenbet, ber fie al§ SWitteilung
be§ göttlid)en ®eifte§ unb ^ineinoerfe^ung in ®otte§ ®eift unb
iieben inne mirb : lebiglic^ auf bie ßufammenfaff ung atleg beffen
in bem ©a^ oon bem breieinigen ®ott rid)tet ftd^ ^ier unb je^t
unfere 3Iufmerffamteit. ®ie 5^age lautet, ob baS, biefer jufammen*
faffenbe ©a^ felber, ein ®lauben§fa^ fei, fo ba^ bie Formulierung
be^fetben einem 93ebürfni§ be§ ®lauben8 unb ni^t blo^ ber }u*
fammenfaffenben SReflejion über ben ®lauben entfpric^t.
93erfte^t man bie 5^age empirifd), mu^ fie freiließ oerneint
werben. ®ä tann unb foU nid)t bef)auptet werben, ei^ fei ba^
ein 33ebürfni^, ba§ fi^ jebem frommen ©l^riften in feinem ®tau*
ben ergebe, auc^ bann nid)t, menn er roeber an ber ®ottt)cit beS
^errn, nod) an bem ®eifte§befi§ be§ ©Triften jioeifelt. 93ielleid)t
Ä a f t a it : 3ur ^ogmatif . 167
fann jcber, bcm biefc SSovauSfe^ungen fcftftcl)n, baju angcl^altcu
lüerben, e§ ju empfinben, aber baj5 c§ jcbcr o^nc iücitcre§ tf|ut,
möchte i^ nic^t bel|auptcn. SÄÖein, cS ^anbclt fid) in bct 2)09==
matif nid)t um ben ©laubeu, roic er fid) je unb jic gcftaltct,
fonbeni um ben ©lauben an fic^, um ben Olaubcn, roie er
fein foff. S)a§ ift in ber 3)o9matit immer roieber betont unb
bana(^ in i^r ©erfahren worbcn. 3luc^ unb namentlich bei ber
\)kx erörterten ^rage mu^ man ba§ in ©ebanten behalten, ^n--
bem ic^ baoon au§ge(|e, bejcic^ne i^ e§ al8 eine unjroeife(t)afte
SEBa^r^eit, ba^ e§ ber (^riftlidie ©laube felbft ift, au§ bem fid)
bie 6rtenntni§ be§ breieinigen ®otte§ ergiebt, ber fid^ nic^t anber§
al§ in biefer Formulierung ber il^m feftfte^enbeu SBaf)r^eit genug
t^ut. ffiinc boppelte turje ©rroägung foll unb mirb ba§ jeigen.
@inmat ergiebt e6 fic^ o^ne weitere^ au§ bem 2)lonott)ei§mu§
ber rf)riftlid)en Sieligion: ®in ^err unb (Sin ©ott, fo Hingt e§
fd)on burd) bie SReben ber ^^Jrop^eten, ba§ ^at ber jübifd)en ©e«
meinbe unoerbrüc^Iid) feftgeftanben, fo bilbet e§ bie felbftoerftänb^
lii^e aSorauSfe^ung aller SJerfünbigung im 9ieuen Jeftament, ba«
von ift man aud) in ber c^riftlidjen Sirdjc nidjt gemieden unb \)at
in feiner SBeife baoou meid)en motten. 3)iefer 9JJonott)ei§mu§
giebt bem ©a^ uom breieinigen ©ott feinen religiöfen Slccent,
feinen S^arafter al§ ©lauben^fa^.
Unter ber SSorauSfe^ung nämlid), ha^ mir nid)t anber§ Un^
ncn, al§ üon ber ©ottt)eit ^efu ®f)rifti fagen unb an bem mal)r*
Saftigen ®eifte§befi^ ber ©Triften feftl}alten. ©emi^, roer ba§
md)t tt)ut, finbet !einen 2lnta§, ben breieinigen ©ott ju glauben
unb }u befennen, er fo wenig roie ber 2ln^änger einer anbern
monot^eiftifd^en 9tetigion. @r bleibt aber auc^ t)inter ber Son?
fequenj be§ d)riftlid)en Offenbarung§glaubeu§ jurücf ober mad)t
ntc^t ©mft bamit, ba^ im ©l)riftentum i>a^ abfolute Qxd alter
Steligion, bie ®inf)eit mit ©ott, roirflic^ erreid)t wirb.
a3ieneid)t erfd)eint e§ paraboj, roeun fo ber 3JJonott|ei§mu§
al§ ba§ religiös Sebeutfame an ber Sc^re oon ber 2:rinität
betont mirb. ^d) ermähnte oort)in, ba| fromme Saicn int ©egen-
teil geneigt finb, bei ber 2:rinität an 2:ritt)ei§mu§ ju beuten. 9lid)t
minber ftetten fid) aufgeregte 2lufflärer etma§ 2le^nlid^e§ baruutcr
168 S! a f t o n : 3"^^ ^ogmatif .
t)or. ©er aber bie ^robc mac^t, lüirb leicht fiubcn, baß er im
93efenntni§ ju 93ater, ©ol|n unb ®eift al§ por einer @otte§*
läfterung baüor jurfirfbebt, mit biefem 59e!enntni§ aud) nur im
geringften oom monott|eiftifd;en ©lauben ju roeid)en. SBie foB er
aber bann, roa§ er meint, anber§ ju äöorte bringen, ate inbem
er mit ben SSätern oom breieinigen ®ott fagt ? ©benfo roei| ber
Äunbige, ba^ and) in ben Sel^rftreitigfeitcn ber alten Sirene ber
3Wonotf|ei§mu!S, bie innere 9tötigung, baran feftiul^alten, nid)t gum
roenigften für bie bann firdjlid) unb allgemein geworbene ^^ffung
ber Sef)re in§ ©eroid^t gefallen ift. 3)arauf möcl)te ic^ befonber»
ben ginger legen, ^ier mie fc^on im Suc^ gefc^ef)en ift. (S§ fteüt
tro^ allem einen Suf^ntmen^ang ^er jn)ifd)en ber alten Se^re unb
ber Se^re be§ eoangelifd^en @lauben§. SBeil mir ftrenge 50lono*
tt)eiften finb unb bleiben moHen, tonnen mir um be§ ©taubene;
mitten nid^t oon ber 2:rinität§tel)re laffen.
SBebeutfamer norf) erfrf)eint mir eine anbere ©rmägung. 3). 1^.
an unb für fid) fann ja nict)t§ mid)tiger fein, aU ber ftrenge aWono*
t^ei§mu§ unferes; ©lauben«;. 9lur gilt, ba^ bie§ ctma§ ©elbft*
oerftänblic^e§ ift unb ftc^ notmenbig burd^fetjt, fobalb bie a?orau§*
fe^ungen aner!annt merben. ®ie jmeite ©rmägung liegt nidjt fo
auf ber ^anb unb ift boc^ nic^t minber jmingenb, fü^rt in ba§
^nnerfte ber diriftlic^en JJrömmigfeit t)inein.
©ie bilbet infofern ba§ ©cgenftürf jur erften, al§ in it|r bie
Sin^eit mie in biefer bie 3)reil)eit ber 2lu§gang§punft ift. SSer»
gegenmärtigen mir un§ ben Olauben an SBater, ©o^n unb ®eift,
fo empfinben mir bie 9iötigung, jum StuSbrucf }u bringen, bafe
e§ aber bod) ber ©ine emige ®ott ift, ben mir meinen. Umge*
feiert, menn mir feiner, be§ ®inen geroi^ unb fro^ finb, ift e§
un§ als ©tiriften unentbe^rlid) ^injujufügen : Jßater, ©o^n unb
®eift! 5Die ©elbftbetjauptung ber d^riftlic^en grömmigfeit in i^rcr
©igenart nötigt baju.
9Jämlic^ menn e§ babei bleibt, ba^ mir im c^riftlid^en ®lau=
ben, in ber ®otte§ertenntni§, bie unS barau§ ermäc^ft, bie ©in^eit
mit ©Ott erreichen! 3)enn biefe ©in^eit mit ®ott erf^öpft fit^
nid)t in ber Uebereinftimmung be§ SBittenö. üWan mag noc^ fo
oft betonen, eS gebe jroifc^en ^erfonen feine anbere ©inf)eit aU
^ a f t a n : 3ur 5)o0matif . 169
bicfc, fo roirb man boc^ beu entgegcngcfc^tcn ©inbruct bamit uid)t
nicbcrfc^Iagen, ba§ e§ im SRcucn 2:cftament nod^ ttvoa^ Slnbcrc^
bebeutet, lüenn e§ pon ben ®I)riften l^ei^t, ba§ fte ben ©eift
®ottc§ empfangen. @benf omenig roitt fid) ba§ fromme ®efü^t
barein fc^icfen, ba^ e§ nur biefen ©inn tiaben foH. 2Bir fönnen
e§ nid)t in beftimmte SCBorte faffen. 3)ie oerfagen ^ier mie immer,
menn e§ fi^ um ba$ hineinragen be§ @migen in bie jeitlid^e
Srfa^rung l^anbelt. 2lbcr baburd) mirb bie unmittelbare, gefügig«
ma^ig crfalirene ®emi§t)eit nic^t aufgcl^oben. @§ ift mirt(id^ fo,
bag bcr ®f)rift fic^ bur^ ©otteS Oeift mit if)m ju (Sinem @eift
unb Seben oerbunben mei§, fid) ^ineinoerfe^t roei§ in ben emigen
©Ott. 9Jur fo ooHenbet \xä) (i)xi\tl\i}Z J^ömmigfeit unb ®otte§=
erfenntni§.
Slttcin, baran fnüpft fic^ nun bie ©efa^r einer 2}erfd)iebung
in ben ^^ant]^ei§mu§. ®§ ift etma§ SIementareS in ber menfc^«
liefen ©cele, ma§ bamit entbunben mirb. Sie miß über i^re
Orcnjen I)inau§, e§ ift, al§ raufd^e ber ©trom ber Smigteit burc^
fie ^inburdi unb jiel^e fie meit t)inau§ in baS alleS erfüKenbe,
in altem roaltenbe Seben ®otte§. 2)a§ finb ja ©rfc^einungen,
bie in ber ®efcl)id)te be§ religiöfen Seben§ immer mieberfet)reu.
SBer fotc^e Erfahrungen fennt, meig, ba& auf ben SRauf^ bie
6rnüct)terung folgt, unb lernt fic^ unter bie Snö^t ber Offen«
barung fteDen. 9li^t, um megjumerfen, roa§ er al^ bie SBoü«
enbung erfal)ren l^at unb \i)m unoerlierbar in ber ©eele lebt —
wie e§ gefc^ä^e, menn er fi(^ barauf jurücfjöge, ba§ ®inl)cit
iroifd^en **ßerfonen nur Uebereinftimmung be§ 9Billen§ bebeute.
SBielmetir befmnt er fid) auf ben 3ufamment)ang, in ben er fid)
burd) feinen Offenbarung^glauben ^ineingeftellt fie^t. S3ir tennen
feine ©elbftoffenbarung ®otte§ im Stilleben be§ Unioerfum^: er
ift ber ^err, ber ©d)öpfer, ber ®ott ber ®efc^ic^te : in bem aJien*
fc^en 3fefu§ ®^riftu§ ift bie ooUtommene Offenbarung ®otte§
gefc^e^cn. ©benfomenig miffen mir oon einer ©elbftmitteilung
@otte§ in ber 9latur unb burd) bie natürlid^en Jlräfte ber ©eele.
©Ott giebt feinen ©eift benen, bie an ^efu§ ®t)riftu§ glauben
unb in i^m @ott finben lernen. 3)urd) fold^e ©elbftbefinuung
gewinnt bie c^riftlic^e J^^ömmigfeit it)r (et^ifd)e§) SRüdfgrat. @»
170 ^ a f t o n : 3"^ 5)0ömatt!.
fommt babur^ in baS ©riebniig bcr ©celc oon ber ®in^cit mit
®ott bic notrocubigc ®iftanjicrung. 2)ic ©cbanfen be§ d^rifi*
liefen ®Iaubcn§ oon ®ott erhalten fo bic ©üebcrung, in ber fte
QÜcrcrft ba§ wirtliche Korrelat bcr c^riftlic^cn grömmigfeit fmb,
bic 2Baf)rl^eit, au§ ber biefe ba§ Seben fc()öpft.
3a, aber wenn ic^ nun bie§ atlcö au^jubrücfen, in eine gor*
mel ju f äffen furfie, roic fanu ba§ anber§ gefc^c^en, al§ inbcm
mir bcr ©a^ oon bem brcicinigen @ott qI§ Ö^^aft meinet ®Iau»
ben§ ben)uj3t mirb? 9lic^t fo, ba^ i^ refleftierenb in einer fol*
cl)en Se^rc äufammcnfaffe, ma§ nur jcbcg für fic^ bcn ®fauben
uumittetbar angelet, mä^renb bic jufammenfaffcnbe Se^re fclbfl
i^m nic^tö bebeutet. 9lein, oielme^r fo, ba& bic unmittelbare
grömmigfeit fid) an biefe jufammcnfaffenbe Se^re t)ält ©ie felbft
ift ®(auben§n)a^vl|eit, ®lauben§erfenntni§. ®er ®(aubc ertennt
in it)r feineu eigeuen 2Iu§brudE unb fc^öpft au§ bcr in it|r i^m
objeftio gemorbeneu ffial^vl^cit toie au§ allen Se^ren, oon benen
ba§fctbe gilt, Ävaft unb ^(ar^cit.
2)anac^ fe^e i^ nidjt anber§, at§ ba^ mir allen ®runb ^aben,
an ber 2:rinität^lel|rc al§ fold)er feftju^alten unb fie al^ integrie-
renben 93eftanbteil ber d)riftli^en Se^rc oon ®ott mit unb in i^r
an bic ©pi^c alter ®taubensle^ren ju ftellen. Unb nun fragt
fid) meiter, ob biefe Jirinitat^lel^rc fic^ barin beroä^rt, ba§ fte,
inbcm fte bcr grömmigfeit bie§ ift unb bebeutet, i^r auc^ eine
umfaffenbe "^oxmd be§ SBcltocrftänbuiffeg bietet.
^n ber 2)ogmatit ^abe id) bereits behauptet, in ©ac^en biefer
Seigre fei, fo lange bic Sntmidtung in ber 3^it bauve, eine bop-
peltc ^Betrachtung unoermeiblid): bic eine, bic erftc gef^ebe sub
si)ecie aeterni, richte firf) unoermanbt auf bcn eroigen ®ott, roiffc
nur oon i^m unb nichts oom 3lblauf ber 3^it bic anbeve bagegeu
bleibe mit ber 2lufmerffamfeit bei biefem fle^n, miffe ni(^t§ ate
i^n unb ftcUe it|n al§ ©anjeS bem croigen ®ott gegenüber, ber
JJe^ler fei geroö^nlic^ ber, ba§ man beibc 33etrad)tungen l^albierc
unb bic beibeu ^ätften ineinanber fc^iebe, al§ roorau§ bann fcftiefc
©ebanten unb unmöglidie X^eorien entftänben.
Qnbem ic^ ^ier an biefe Unterfcbeibung antnüpfe, ^ebe ic^
tieroor, ba& in ber 3:rinität§te^re al§ ®lauben§le^re (oon ber bi§«
Ä o f t a n : 3ur S^ogmatif. 171
^er bie SRebc max) bie erftgenannte Sctrac^tungSroeifc bie Dor=^
^errf^enbe i[t. Statürlid)! @ie ift öcftanbteil ber ScI^rc von
@ott. SBom eroigen ®ott l)anbelt fie. Unter biefen ®eft^t§pun!t
ift ^ict attc§ gcftcßt unb aufgefaßt. @benfo fel^r in bcr ©ac^c
begrünbct ift e§ aber, ba^, rocnn wir in ber 2lrinität§Ie^rc eine
Jyormel uinfaffenben SBeltoerftänbHiffeS [u(^en, bann bie groeite
^etrac^tungSroeife jur (Geltung tommt. ®enn nun ^anbelt e^ fid)
ja barum, au^ ber 6rfenntni8 ®otte§ baa le^te, ^öd^fte SSerftänb*
ni§ be§ in ber Qtxt oerlaufenben 9Bettprojeffe§ ju geroinnen. S)a
roirb aKe§ unter biefen ®efid)t§puntt be§ 2lb(aufS in ber 3^it
gefteflt.
333eiter neunte id) bie ®eban!en ber SogoSfpefuIation jum
äu^alti^puntt. (5S roäre meiner SWeinung nac^ ganjlic^ üerfe^tt,
^ier etn>a§ fc^Ied|t^in 3leue§ vorbringen unb mittelft irgenb eine§
QuSgeflflgelten tl^eologifc^en $ünb(ein§ fo großen fragen n)ie ben
^ier oerl^anbeUen genugt^un ju iDoUen. 9}ein, lebiglic^ ba§ ift
ju erwägen, ob nic^t biefe ®ebanf enoerbinbung , oor balb jroei
Sa^rtaufenben geprägt, immer mieber auftaudjenb, nod^ im vorigen
9[a^r^unbcrt bie ®emüter jeitmeife belierrfc^enb, ob nic^t fie fo
ju mobifijieren ift, ba§ fte ber l^eutigen 9Beltfenntni§ unb bem
c^viftlic^eu @otte§glauben gteid) fel^r entfpric^t. 3)a8 fei, meine id),
ber %a\l. 3)er ®ebanfe, ber mid) leitet, inbem id) eine folc^e
9Robififation ber alten ®eban{engänge fär möglich t)alte unb oer«
fu^e, mag ^ier gleich an bie ©pi^e geftellt werben. ®r lautet
bo^in, ba^, roä^renb in ber überlieferten Äonftruftion bie ®e'
fd)ic^te unter bem @erid)t^punft be§ xo^iiog aufgefaßt mirb, mir
vielmehr baran gcroiefen finb, ben xoajios unter bem ®efi^t§5
punft ber ®ef^i^te aufjufaffen. ®ntfpre^enber SBeife ^at e§
ber i^riftlic^e ®laube nie anber§ gemußt, at§ ba& mir bie Offen-
barung ®otte§ primär in bcr @ef^id|te, erft fefunbär im x6o|io?
)u fu^en ^aben: in ber ®efd)ic^te mirb ®ott felbft offenbar bis
jur ©rfc^einung im gt^if^e ^in, in ber Statur bagegen, bie er
gef^affcn ^at, bie ba§ SBerf feiner ^änbe ift, nur fo, mie
eben einer ftd) in feinen SBerfen bet^ätigt unb offenbart, bie boc^
niemals er felber fmb ober merben.
SSielertci lie^e fic^ fagen unb eingel^enb erörtern, maS }unäd)ft
172 Ä a f t a n : 3ur ^ogmattt
jum S3en)ci§ bcr SSel^auptung biencn roürbe, ba^ loiv ^eute oon
fclbft bal^in gefütirt roerben, ba§ Untocrfum unter bcm Oeft^tö*
punft bcr ®cfcf)i^tc aufjufaffen. Q^ nenne nur in aCer Äürje
ein paar ber roefentlicftften aÄomeüte.
3uerft ba§ Sl^atfädjU^e! ^eber n)ei^, \va§ bcr ®ebante bcrSnt»
roidluncj ^eutc in ber Slaturforfc^ung unb für fie bebeutet. 3^ber^
ber voiü, fann barau§ erfcl^en, ba§ fie me^r unb mel^r baju ctc-
brängt roirb, ©efd^ic^te ju fdjrciben unb, inbeni ftc bQ§ t^ut,
i^re Ic^te 3lufgabe ju erfüllen. 91ic^t alle 9laturn)iffenfd|aften
unb teine§roeg§ fo, ba^ e§ in benen, bie biefen SBeg einfc^Iogen
muffen, Don allen i^nen geftellten Slufgaben gilt. SBo^l aber ift
bie Slötigung baju unabweisbar, fobalb ein SBerfuc^ jufamuieii*
faffenber naturn)iffenfd)aftlici^er ©efc^reibung beffen, u)o§ e§ um
ben xoanos, roaS e§ um ba§ Unioerfum ift, gemad^t mirb. SDleineg
SGBiffenS ift ba§ in ber ©ac^e fo begrünbet, ba§ niemanb baran
benift ober beuten fann, e§ anber§ anjufaffen. 9Mit anbern 3&ov^
ten: e§ ift bie in unferer l^cutigen SSSiffenfdiaft am meiften ^ev*
Dorftec^enbe 2:f}atfoc^e, ba& u)ir un§ barauf gemiefen fe^n, ba§
Unioerfum, fo meit mir e§ oerfte^en lernen fönnen, al§ ®efc^id)tc
JU oerftcl)n.
@o gro§ nun aber bie ^ortfc^ritte finb, bie mir ^eute in
ben 9Biffenfd)aften gemacht l^abcn, fo menig ^at bie mirflic^e ©c^u*
lung be§ 3)enten§ bamit Schritt gel^alten — begJ ©entenS, ic^
meine : ber auf ta^ ©anjc geri^teten Jä^^gf^it be§ @etfte§, atle§
mo^l abjumägen, jcbe§ an feinem Ort gu mürbigen unb auS bem
gefamten Stoff eine root)l6egrünbete ainfidjt uom SBeltjufammen*
^ang aufjubauen. 3)a§ erl^ellt bcutli^, fobalb man beachtet, ba§
in ber @efc^i(^te be§ UnioerfumS überall Südfen Haffen, unb in
®rroägung jiel^t, mie fid^ bie SBcrtreter ber ejatten SBiffenfc^aft
baju oerl^alten. Sßon benen abgcfel^en, bie bie fiücfen nid^t feigen
ober nirf)t felien moUen unb barüber ju g^natifern unb ^i)an*
taften merben, l^alten bie einen an ber 9Sorau§fe§ung feft, ba§ e§
einmal gelingen muffe, alleö „naturmiffenfc^aftlic^" ju erflären,
mä^rcnb bie anbern bie innere Unmoglic^teit bicfer Raffung ein«
fe^enb eine tleine SWetap^gfit erfinben, mittelft bereu „fie fic^ er*
Haren, maS pe nicf(t oerfte^n." 2lber mo ftnb bie, bie mit einem
Sl a f t a n : 3ur 5)ogmatif. 173
Kröpfen p]^i(ofopt|ifcI)€n Oel§ gcfalbt bcn rctatioen ®t|araftcr aller
Cfaft natutTPiffenfdöaftUcticn ©rffärung oerftclien? bic§, ba§ fie
niemals an§ ®anjc ^cranrcirf|t unb ju feiner 3^^* einen ©^ritt
meiter ju gelten bered^tigt, al§ man ju bieferßeit gefommen ift?
— e§ fei benn in §t)pot^efen, bie neue Slufgaben [teilen unb für
bie 3ufuttft weitere SRefultate oer^ei^en. <3nbeffen, wo füllten fie
au^ ^ertonimen? Qnx Q^xt ift ber (Sinbrucf ber gortfc^ritte un^
fcrer SRaturwiffenfc^aft noc^ fo überroältigenb, ba§ e§ fogar nic^t
wenig Stieologen giebt, bie e§ für bie $ö^e ber 9Bei§^eit lialten,
roa§ ate gorfd^ungSprinjip ber 9laturn)iffenfd)aft bered)tigt ja nn=
entbe^rlid) ift, in eine „SBeltanfc^auung" umjufe^en, unb mitlei«
big auf un§ anbere ^crabfe^en, bie wir biefe ^ö^e nidjt ju er*
flimmen oermögen.
Qn SOBa^rl^eit bürfte e§ nid^t allju fdjroer fein, in biefen
fragen bie richtige Stellungnahme ju treffen. ©id)erlid) finb bie^^
jenigen im üiec^t, bie nid)t baoon laffen wollen, ba§ alle§ natur^^
lüiffenf^aftlic^ erflärt roerben fann. S)a§ ift eben ba§ unent*
be^rlic^e 5örfd)ung§prinjip ber ?laturwiffenfcf|aft, oon bem ic^
gerabe fagte. ®§ bebeutet, bap feine ©renje loillturlid) abgefted't
werben fann ober barf: wer wei§ benn, wie weit bie Kräfte rei*
c^en, unb wie weit mir 9Jlenfd^en e§ noc^ bringen werben? SJlit
biefem Urteil oerträgt fid| in benfelben ^^rfc^ern ganj wüt|l bie
Qnbere ®infid)t (re(^t oerftauben ift fie beffen Korrelat), t>a^ e§
innerlici^ unmöglich ift, jemals mit unferer SBiffenfd^aft an^ @nbe
be§ 3Bäege§ ju fommen. 9]ur follte biefe @infid)t nidjt baju oer=
führen, metap^ppfdie iSä^e in ben ßufammen^ang ber SJatur-
forf^ung einjufügen. 3)aran, ba§ fie für biefe gorfc^ung
fteril finb, fte^t man, ba§ fie ni^t in il^ren 3ufammen^ang
geboren. SSielme^r f^lie^t bieg 35erfa^ren einen boppelten <3rrtum
ein. ®rften§ wirb bie 9laturforfd^ung baburc^ geliemmt: ^öut-
fiffen fmb immer bie fd^limmfte Hemmung. 3weiten§ aber unb
namentlid) ift e§ gerabeju monftrö§, au§ ber naturwiffenfc^aftlic^
erforfc^ten SBirflic^feit aU foldier, au§ i^r für fid), folc^e St)efen
ju entnehmen. 2)arin oor allem jeigt fid) bie mangelnbe ©d^u-
lang be^ ®enfen§ bei ben gorf^ern, bie fo argumentieren. Stein,
mo bie Slaturwiffenfc^aft ju ®nbe ift, fängt bie ^^^ilofop^ie an.
3eUft^nft für ^^«ologte unb ftirc^«. 14. ^a^rg., 2. §eft. 12
174 Äaftan: S^x ^ogmatif.
Unb bic i ft nur, lücnn fic ba§ Slugc auf b a § @ a u j c geric^lct
l^ält, mit i^rem ^M baS gciftigc Scben foroo^l al§ bic SRatur
umfpamit.
Scl^r bcutlid^ wirb ba§ aud^, iDcnn man na^er befielet, 1008
ha in ben 3wfammcn^ong bcr Skturforf^ung eingeführt wirb.
@8 ^anbelt fi^ immer um einen Qxotd unb um eine naturmif*
fenfd^aftlid) ni(^t me^r faßbare Seitung be§ ®efc^e^en§ auf biefen
3roerf i^in. 3)amit fmb mir aber mitten in ba§ geiftige Sefaen ocrfe^t.
^d) mürbe nac^ meinen 3Jorau§fe^ungen fagcn: mitten in ben
retigiöfen ©laubcn — nur ba| biefe gefpenftif^en Keinen ^err^^
götter nid^tS an fic^ l^aben, ma§ ben ®eift befriebigen fönntc.
Slber baS nebenbei! 3f^benfall§ geraten mir ^ier in ba§ @ebiet
be§ ®eifte§. Unb jebenfaKS fte^t e§ fo, ba§, roaS un8 bie „eyafte"
äSiffenfc^aft bietet, nic^t l^inreic^t, baiS auSiufü^ren, moju fte felbft
fo mannigfache eintriebe enthält, näm(id) bie @efd)ic^te beS Uni«
üerfumS ju fd^reiben unb barin unfere gefamte ©rtenntnig ein==
^eitlic^ pfammenjufaffen. 9tur eine ^^iIofopt|ie ift biefer 2luf*
gäbe gemad)fen, bie eigne unb eigenftänbige (b. ^. von ber 9la»
turmiffenfc^aft unabl^ängige) ©ebanten über ben legten geiftigen
®runb unb Qrotd aüer 3Bir!Iic^!eit an bie Sttufgabe mit ^eron^^
bringt.
@§ l^anbelt ftc^ tjier ni^t um eine apologetifc^e $)etrac^tung.
^c^ oerfolge bafjer biefe ®eban!enrei^en nid)t weiter. SWir f^at
e§ fic^ immer roieber unb in fteigenbem 3Äa^ beftätigt, ba§ nur
eine Statur« unb ®ef^ic^t8pl)i(ofopbie ba§ letjte 3i^t '>'^^ ®r!en*
nenö unb feine reife fü^e ^xnö^t fein tann, beibe ein ®an}e§,.
beibe jufammen bie ®efc^icf)te be§ UnioerfumS, in bereu 5^ftfieU
lung SBiffenfd^aft unb ®Iaube ftc^ uereinigen, inbem jene fo wenig
ber ®Iauben8gebanfen roie biefer ber SRefuItate ber S33iffe,nf^aft
entraten fann. 2lber 93etra^tungen barüber gel|ören tu einen
anberen ßufammenl^ang. ^üx f)kx genügt, üxoaS naber auSge*
fü^rt SU ^aben, roa§ id) fagte, bag mir im Unterfc^ieb vom ben
Sitten baran gemiefen fmb, ben xöafio^ unter bem ®efi^t§puntt ber
®efc^ic^te unb ni^t roie fie bie ®efrf|i^te unter bem be§ xöojio^
aufaufaffen. ©§ ift roirttid) fo, unb ba§ anbere ift nic^t minber
geroip, bag ein roie nun immer nä^er ju beftimmenber ®ebantc
Se a f t a n : 3uv ^ogmott!. 175
oon einem l^öd^ften Qxo^d unb einer aße§ barauftiin lentenben
geiftigen Äraft babei ber leitenbe fein mu^.
Sin roie immer naiver ju beftimmenber ®eban!e — un§
©Triften ift nic^t groeifet^aft, mie bie nähere Seftimmung lauten
mu§. 9tur ber ®ebanfe oom lebenbigen ®ott ift bie 2lntmort
auf äße biefe fragen unb bie ©tiDung aller biefer (inteßettueßen)
Sebürfniffe. 3)a§ ift ber Sa^ocr^alt, t)on bem id) bel^aupte, in
i^m fei bie aKöglid)fcit gegeben, bie eoangelifdie @lauben§lel|re
oon bem breieinigen ®ott al§ umfaffenbe gormel be§ aSäeltoer«
fidnbniffeS geltenb ju machen.
3)enn wenn mir nun (mit ber fiogo§fpetulation) fagen, bie
SBelt fei bie Offenbarung @otte§ unb ber enblid^e ©piegel feiner
emigen ^errlic^feit, fo liegt in bem, mie mir bie SBelt üerftel^en
gelernt ^^ahtn unb perftel^en muffen, ba^ fie ©liebcrung unb 216*
ftufung einfc^liegt. 3)ie 9)ifferenaierung oon ®eift unb Statur ift
bo§ ©^arafteriftifum be8 c^riftlic^en ®lauben§. ®r oerträgt e§
roeber, ba§ ber ®eift in bie ©inl^eit be§ Jlaturlebenig eingeregnet,
noc^ bag bie Statur auf geiftige ^rojeffe gurüdfgefü^rt roirb.
aSeibeS I)ebt bie c^riftli^e Selbftbeurteilung auf. 9)er ®ebanfe
aber einer ®efc^i^te be§ Unioerfum§ ate ber Offenbarung ®otte§
Iä|t bem ®eban!en einer fteigenben Slnnäl^erung biefer Offenba«
rung an eine eigentlid^e ©elbftoffenbarung oofltommen Slaum.
3)ie 9latur ift ba§ äBcrf feiner ^änbe, in bem geiftig=gefd)id)t*
lidjen Seben maltet er mit feinem ®eift, in bem Sinen -S^fu^
tritt er felbft in bie ®efd)i(^te ein, burdf) i^n oermirflic^t ftd^ ber
ba§ ©anje bel^errfdjenbe ^mect göttlidier ©elbftmitteilung an bie
5treatur. 3)ie8 aße§ ift e§ aber, ma§ in bem ©a^ oom breieinigeu
©Ott jufammengefa^t ift, mie i^u ber eoangelifd)e ®laube ^at
oerfte^en lernen. 3)iefe ße^re bietet un§ gugleicf) eine umfaffenbe
Formel be§ 9Beltoerftanbniffe8.
^ierju mu§ id^ noc^ einige 3lnmertungen madjen, bamit nid)t
mifoerftanben mirb, xoa^ xö) meine.
® r ft e n § ^ebe ic^ l^eroor, bag ^iemit nic^t eine oernünftige,
abgefel^n oom ®lauben in fid) felbft begrünbete SEonftruftion ber
2:rinität§le^re gegeben fein fofl. 2)a§ fann unb mufe oon ber
Sogo^fpetutation behauptet merben. 2ll§ fo8mologifd)e 2:i^eorie
12*
176 ^aftan: 3ur 5)O0mati!.
ift fic in i^rcn ©runbjügcn vox bem ß^riftcntum ober lücnigftcn^
abgcfcl^n oon i^m f^on ba. ©ie ift i^rcv 9lrt wai) vom ®Iau*
bcn unobl^ängigc p^itofop^ifd^c Sl^coric. Unb gcrabc in bcr SBcr*
binbung mit bem ©laubcn t)Qt fic au§ bcn mc^rfarf) erroo^nten
©rünbcn i^rcn urfprünglic^cn ©inn als obcrfte SBettcrtlärung ein*
gebüßt. SBSirb nun I|icr an bic Sogoäfpcfulation angefnüpft,
fönntc c8 fd^cincn, olS feien bic porgetragenen ©cbanfen im felben
©inn gemeint, nur eben in beffcrer Stnpaffung an bcn ^riftlic^en
@otte§glauben, fo ba§ fic in bcr IrinitätSlel^re roirtli^ erholten
bleiben, ©o mitt id) e^ aber nid)t oerftanben l^abcn. ^i) bin
überjeugt, ba^ bcr c^riftlid^c ©laubc unb bic (äntmidEtung^lel^re,
meil fie in bcr 2:i^at jufammengcl|ören, fid^ einmal pnben roerben,
finben muffen. ©^ fd^cint mir aber im allgemeinen fc^on oon
bcr größten Sebcutung ju fein, ba§ bcr ©unb nic^t Doreilig ge-
fd^loffen mirb. ®§ mu^ erft coibent unb in feiner ®Dibenj er*
fannt unb anerfannt fein, ha^ bic ^laturmiffenfdjaft bic Soften
einer auf bicfem (Sebanfen ftc^ aufbauenben ©cfc^ic^tc be§ Uni*
ücrfumS aus eigenen 3Äitteln nid)t beftreiten fann, ba§ e§ fic^ in
il^r nid^t um 2Biffenfd)aft, fonbern um ^^ilofop^ic ^anbelt, ber
©cbarife oon ©ott unb einem geiftigen 3^^^^ anberämic gegeben
fein mu§, locnn e§ geraten fein foH, fic^ auf bic ©ac^c einju^
laffen. ©onft läuft e§ auf naturaliftifc^c SBerf{ad)ung ober
S8ert)unjung be§ ®^riftentum§ unb ber ^^ilofop^ie l)inaug.
SSoUcnbS fann e8 nirf)t bic 9)]einung fein, au§ biefen ©ebanten
bic 2:rinität§lel)rc „tonftruieren" ju moKcn. 6t|riftUdE)er ©laubc
unb SrinitätStelire merben al§ gegeben oorausgefc^t. Se^auptet
wirb nur, ba§ biefe Se^re für bcn, ber bic c^riftlic^e SBa^r^eit
erfennt, jugleic^ eine umfaffenbe gormcl be8 SBcItoerftänbniffeS
enthält, beren SBorauSfe^ungen nad) ber ber SSSiffenf^aft juge*
manbten ©cite fic^ mit biefer in Sinttang befinben.
3 m e i t c n § foU nidjt unermä^nt bleiben, bafe id) bic ^icr auS«
gefpro^enen ©cbanfen in anberem 3"fömmenf|ang unb in entfpre=
c^enb anberer gorm f^on früher oertreten liabc, in ber 3)ogmatitfetbft
fomo^l al§ in bem 93uc^ über bic SEal^rl^eit be§ d)riftlic^en ®lau*
ben§. 9J?eine 3Äeinung gef)t ba^in, ba§ bie S'^age, ob mir bcn
3ufammcn^ang oon @ott unb äBett anberS al§ im ©lauben ju
Ä a f t a n : 3ut 'Dogmatü. 177
erfcnncn pcrmögcn, Dcrfc^iebcu beantwortet roerben mu&, je nady
bem ob mx ben SWoment, bcn momentanen Duerfdinitt bev SQ3elt«
entn)irf(ung im Stuge \)abm ober biefe al^ ®anje§ in ber Säng§==
rirfituug i^res; gefamten SBerlaufS. @rftere§ ift unmöglid^. SBir
fönnen ben eroigen @ott unb ben SDloment ber ß^it "Jd^t in ber
6int)cit eines Urteifö erfennenb sufammenf äffen. ®a§ ift eine
ber feften ©renjen unferc§ @rfennen§. 5Da ift nur ber ®(aube
am ^fa^, ber biefem Objeft gegenüber üor allem SBiHenSatt ift.
®anj anber§, roenn e§ fid) um ba§ ®anje ber SBeltentroirflung
^anbclt. 3)a§ fönnen mir bem eroigen ®ott gegenüberfteßen, mit
i^m üergleidien, ben 3ufamment|ang jroifd)en feinem eroigen SBefen
unb SBiüen unb bem Uniuerfum ju beuten uerfud)en — oerftän*
big baüon reben, roenn'S auc^ nur ein ©tanmieln ift.
®ritten§ enblic^ mag jur @rroägung gefteHt roerben, ob
nid)t in einer 93etrad)tung roie ber t)ier Derfud^ten etroa§ ftecft,
roa§ als 3lnerfennung einer relatipen 9Bat)rt)eit be§ ^antt|ei§mu§
bejeic^net roerben tann. ^m aögemeinen ift ba§ eine S^efe, in
bie mein ®eift fid^ nid)t fd)idten roill. äBirb fie roie j. 93. oon
g r a n f unter SBerroertung einer ber platonifd^en ^beentel^re üer==
roanbten ®eban{enrei^e aufgeftedt, fd^eint pe mir mit bem ®runb=
artifel be§ c^riftlic^en ®fauben§ oon ber ©d)öpfung in 3Ö3iber-
fpruc^ JU fte^en. 3S8enn roir aber ba§ Unioerfum al§ eine ®e*
fc^id)te oerfte^en (emen, in bie ®ott felbft ftufenroeife eingetit bi§
jur ooMommenen Offenbarung in einem 3Äenfd)en unb bi§ jur
3Witteitung feine§ ®eifte§ an bie Ü)]enfd^en f)in, fo liegt barin
eine 3itfammenfaffung oon ®ott unb SBelt, bie ein pantt)eiftifc^e§
©Icment entl)ält, of)ne ba§ fid) ft^nlidie ®inroänbe auS bem ®f)ri=
ftentum bagegen erl^eben laffen. 9J?an tann bie ^robe baran
ma^en, ba§ ber ®mft unb ber 9lad)brudt ber Se^re in grage
geftetlt erfc^eint, roenn roir auf bie§ SWoment in i^r Deriid)ten.
^nfofern mö^te auc^ ic^ mic^ ju jener X^t]^ befennen.
2)amit ift erf^öpft, roa§ i^ über bie 2:rinitat§Ie]^re t|ier jur
Srgänjung ber 2lu§fü^rungen meiner ®ogmatif Dortragen rooflte.
3.
6inige 95emerfungen jur ®f)riftoIogie foöen ben 3lbfc^Iu^ bie*
178 Sl a f t a n ; 3ur SJogmatif.
feg 2luffa^c§ bilbcn. ^n i^ncn ift e§ mir ni(^t wie in ber 6r*
örterung über bie Zxxnität§lti)xt um eine ©rganjung be§ 93uc^§
ju t^un. Qä) möchte nur einige fünfte au8 bcm 3ufönimenl^ang
ber bort vorgetragenen Se^re ^erau^^eben unb nac^brücflid) be*
tonen.
3uerft aber bie§, ba§ bie .®t)riftologie entmeber Se^rc Don
ber ©ott^eit ®]^rifti ober überI|oupt nid^tS ift. 93etont foü baS
merben ber Unffar^eit gegenüber, bie ^eute fo t|äufig begegnet,
ba§ man von Qefu^ ß^riftug fagt, roa§ il^n über alle 3Kenfc^en
I|inau§]^ebt, unb bod) fid^ an eine Se^re oon ber ©ott^eit beS
^erm nid^t ^eranmagt, fte rool^I gar bei benen, bie ^ier fd^ärfer
unb tiefer fe^en, für einen tünftli^en SRepriftination^oerfuc^ ^ält.
9lein, ba§ ift fie nid)t, fonbern fie entspringt ber Ueberjeugung,
bie fo üiele, auc^ mandtje unter ben ^ier 93cfämpften teilen, bap
Qefu§ ni(^t ein SOTeifter mar mie anbere SWeifter, unb ber @in*
fic^t, ba§ ba§ entmeber eine nic^t§ bebeutenbe SRebenöart ift ober
ju einer S^riftologie al§ Seigre oon ber ® o 1 1 ^ e i t 3iefu ®l^rifii
füi^ren mu§.
Unter bem ^eroifc^en oerftel^en mir baS ÜRenfc^li^e in auger«
orbentli^er Steigerung, bie ^eroen fmb in einer ober ber anbcrn
S8eiiel)ung 9lu§na]^memenfd)en, bie f\6) über ba§ Siioeau beg 3)urc^»
fc^nittli^en erl)eben. SSBieberum finb im ^eroifc^en äbftufungen
möglid^. SßieHeic^t liege fid) jeigen, bag ^rop^eten ober reli=
giöfc ^croen ben ^ö^ften SiripuS be§ ^eroif^en barftellen.
®. \). ii) mü ba§ nidf)t pofxtio betjaupten, i^ beute eS mir nur
ate möglichen ©c^ritt auf bem 3Beg, bie Sebeutung 3«fu S^rifti
ju oerbeutlid^en unb ju umfc^reiben, o^ne über ba^ änenfd^Iic^e
H^inauSjugreifen. ®er (e^te ©d^ritt auf biefem SBege rodrc bann
roieber ber, barjut^un, bag Qefu§ unter ben religiöfen ^eroen ben
unbeftreitbar oberften 5ßla^ einnel^me.
3mar, \)aht id) biefe ®eban!enrei^e ju @nbe geführt, em*
pfinbe ic^ unroilHürlic^, bag fie ber ©adE)e nic^t entfprid^t. Unb
biefer SinbrudE meiert nic^t, fonbern mirb oerftortt, menn iäf baS
©nangelium auff(^lage, unb ba§ in i^m gejeid^nete 83ilb ^efu
mir oor bie ©cele tritt, ©eine unoerglei^Iic^ ^ol^e 3lrt liegt in
etmaS ganj anberem alS in ber ^ödE)ften ©teigerung be§ ^eroifc^en.
Ä a f t a n : 3ur 5)08mati!. 179
Sr ftetit un§ gctoö^nlii^en 3Kcnfd^cu nä^et al§ bic ^erocn, bic
ctiüQg grcmbeS, 5^rnc§, aud^ leicht ctroaS Ungleichmäßiges l^aben
unb bel^alten. Unb n)enn ii) mid) frage, ob e§ ort bem Spiegel
liegt in welchem un§ baS gefd^ic^tU^e 93ilb Qe\vi allein 8ugäng=
lic^ ift: etoa, bie ^fünger unb erften ©Triften l^aben in il^rer SBie-
bergabe ba§ ^eroifdie, ba§ im 2luftreten unb in bet ^erfon ^fcfu
lag, ^erabgefe^t — fo fc^eint mir ba§ Oegenteil oiel roa^rfc^eln*
lieber }u fein. 3)ann fage ic^ mir aber: e§ muß etmaS SBunber«
bare§, Unoergleic^Iii^eS um i^n gemefen fein, eine ^Bereinigung
oon 3ägen, bie ft(^ fonft auSfd^Iießen, ein SWenfd^ mie mir, fein
^ero^, fonbern einer in ber SReif)e unb boc^ mel^r al§ ein 2Wenfd^
je gemefen; fein ©pieget mar fä^ig baS 93ilb rein aufjunel^men
unb roieberjugeben, mir fönnen aber a^nen, mie üiel größer bie
8BirfIid|feit mar, bie l^inter ben 93erid)ten ftet|t, größer — jebocl)
in einem anbern ©inn, al§ in bem mir fonft oon großen SOTen-
feigen reben. 3)a§ ^eroifd)e mag man a(§ 3lnalogie jum a3er=
gleie^ ^eranjie^en, e§ trifft bie ©ac^e felbft nic^t. Unb fo fieser
bin id) biefer SinbrüdEe, baß idt) behaupten möd^te : jeber empfin«
bet e§ äl^nlid^, e§ finb ni(^t bloße SinbrüdEe, fonbeni etmaS, ma§
fi^ aus ber ©a^e aufbrängt.
®a§ jeigt oon einer anbern ©eite, mie fdjmierig e§ mirb,
bie Säebeutung ber ?ßerfon ^efu ®t|rifti in ben Kategorien ge*
fteigerter SWenfc^l^eit ju mürbigen. 2lber felbft menn e§ beffer
gelänge, mürbe eS un§ nid)t barüber hinausheben, baß mir eS
auf bicfem SBeg ju feiner ©^riftologie brächten, ©ine S^rifto*
logie giebt e§ nur, menn e§ babei bleibt, baß Ocfu§ Objeft be§
®lauben§ ift. ®enn nur bann ift e§ gerechtfertigt, it|n jum ®e*
gcnftanb einer befonberen Seigre ju madien. SöenigftenS menn eS
emft mit bem genommen mirb, ma§ ©laubenSlel^ve ift unb fein
foll. 3ft fi^ m6)t^ als eine ©ammlung oon gef^i(^tlid)en 93e*
trac^tungen, SReflejionen über bie fubjettioe grömmigfeit unb an*
bem 3wrüftungen ju einer ©loubenSle^re, furj oon aßem 9Kög=
li^en, bann ^inbert nichts, aud^ in ber einen ober anbern äBeife
— mie, bliebe bem ©efd^mad unb ber SBillfür beS 3)ogmatiferS
anheimgegeben — oon -QefuS ®^riftu§ in biefem ^uf^mmenl^ang
ju ^anbeln. Slber baß unfere gegenmärtige 2)ogmatif, xd) roill
180 Ä a f t a n : 3ur ^oömat«.
nid^t fagcn, einen folc^en ©^arafter trägt, VDof)l aber bag fie i^n
noc^ nidit roirflid^ überrounben \)at, oielfai^ roenigftenö nid)t, ba§
erflärt m boc^ nur baraug, ba§ wir in einem Uebergang bc=
griffen finb. 3)er alte ortl)obofe Xr)p\x^ ift bal^in, ber neue Xx)-
pu§ eoangelifc^er @lauben§(e^re nod) nic^t Mar unb fic^er l^erau§*
gearbeitet. Sft Ie^tere§ gefd^e^en, !ann nid)t bejroeifelt werben,
bafe es feine ®^riftoIogie giebt, roenn lüir Qefug nid)t aU Objeft
be§ ©laubenS anfe^en bürfen. Qfft er aber Objeft be§ @{auben§,
bann gel)ört er un§ gegenüber mit ®ott jufammen.
Sffiieber meine \6) befjaupten ju bfirfen, e§ fei nirf)t ein in-
biüibuetter ©inbrurf, ba§ e§ irgenbmie l^ierbei oerbleiben muffe:
;3efu§ ift nic^t mie anbere aJlenfdien, ^efu« ift roirttii^ unb roa^r*
^aftig Objeft be§ ®lauben§, er gel^ört un§ gegenüber mit @ott
jufammen. 9DBir empfinben in ber d|rifttid)en ©emeinbe fc^licfe«
lic^ aKe fo. 3)arau§ erflärt fic^ bie ^albl^eit unb Unflar^eit,
bie ficf) in allerlei boppelbeutigen S^ormeln auöfpric^t. ÜWan meint
mit bem ©a^ oon ber Oott^eit ^efu S^rifti irgenbroie bie ^wzu
naturenlel^re anjune^men, roaS man bo^ nic^t fann unb ni^t
mifl: be^^alb, menn ic^ re^t t)erftet|e, milf man bie alte flare
Formel nicf)t gebrauten. (Bbzn bemgegenüber möchte ic^ aber
nad)brüdtlic^ betonen, bafe cg fein 2lu§roeid^en giebt. ®ntmeber
mir Iiaben eine (J^riftologie, bann aber, of)ne Umfc^meife — al§
Se^re uon ber ©ott^eit ^e]Vi ®^rifti. Ober mir fagen mit Sie«
ber mann, ba§ an bie ©teile ber S^riftologie eine Erörterung
über ha^ ^^rinjip be§ ®f)riftentum§ ju treten l^at, unb oon ber
gefd)id)tlicf)en "ijJerfon Qz\\i ha ju reben ift, mo bie ©nabenmittel
ben ©egenftanb ber Set)re bilben. 2llle§, roa§ bajmif^en liegt,
ift 3Wqt^ologie unb getiört nic^t in eine ^riftlic^e ®lauben§Ie§re.
Sle^nlid) \)at frf)on bie ^Argumentation berer gelautet, bie bas
2)ogma gefcl)affen ^aben. Unb babei mu^ e§ aud) in ber eoangeli*
fc^en ®lauben§let)re bleiben, meil e§ unabmei§bar in ber ©ac^e liegt.
2lber warum bie 2)inge fo auf bie ©pi^e treiben? roarum
mit fold)cn au§frf)lie&enben gormein umgef)n? mu§ baS nic^t
©treit Iieroorrufen, leidet aud^ unter benen, bie fid) in bem, xoaS
fie meinen, na^e ftetin? äBo^l, ii) ^abe oolleg SBerftänbniS für
fold)e Sebenfen. ^n ber firc^lid)en ^rajiö ftnb fte burc^au§ be*
^ a f t a n : 3ur ^ogmati!. 181
red^tigt. &§ wäre unrocifc, l^icr immer auf prinjipieKc Ätarl^cit §u
buingen, bienun einmal nii^t jebermann§ 2)ing ift. 2)a§ fönnte
Uid)t bal^in fül^rcn, in ber ©emeinbe einen gormetbienft ju etab*
licren, ber ein arger ©djäbling an ber ^römmigfeit ift. §ier
l^anbclt e§ fid^ aber um bie ©ogmatif. Unb in it|r mu§ ebenfo
unroeigerlic^ auf pringipietle ftlarl^eit gebrungen werben, al§ \oU
(^e§ S)rängen in ber ^^rajiS gelegentU^ ©^aben ftiften tann.
^n ber 3)ogmatif unb bei ben S)ogmatifern — b. \). nx6)t nur
bei benen, bie jur engften ^unft get)ören, fonbern bei allen, bie
in bicfer Srage lel^renb Dor ber Deffenttid^teit ba§ SBort ergreifen,
„aWeifter in ^f^rael" ftnb unb bafür gelten e§ äu fein. SB3ie ba§
niemanbem, einerlei roeldt)e§ gad^ er fonft pflegt, niemanbem, ber
fic^ baju berufen fii^It, nermelirt merben fann, fo fdjlie^t e§ für
jeben bie entfprec^enbe ^flid)t ein, für Mare, unjroeibeutige Sef)re
in ber ©emeinbe ©orge ju tragen.
^flic^t ift e§ aber in biefer Situation, meil mir fonft nic^t
barüber l^inauStommen, ba§ bie einen in ber fattiolifd^en Qvotu
naturcn(e]^re ftedfen bleiben, unb bie andern un§ in aufftärerifd^e
Jlad^^eit l)ineintreiben. 3Wit jenem ift un§ , jebod^ fo menig
gebient roie mit biefem. 3Bie mir unfere, bie eoangelifc^e Jrini*
tdt§lef>re ^aben rooHen unb ^aben muffen, fo aud^ unb im engften
3ufammen^ang bamit unfere b. I). bie bem eoangelifcticn ©tauben
entfpredjenbe ©^riftologie, bie fo roenig S^^i^^^turenle^re wie
auff(arerifd)e SBorbilb^t^eorie ift. 2)a§ gel^ört auc^ jur ®efun=
bung unfere^ (Slauben§ unb ®emeinbeleben§. Unb be^tjalb mu&
immer mieber ber gi^fl^^ barauf gelegt unb eingefd^ärft roerben:
enhoeber — ober, entmeber mir l^aben überhaupt !eine ©firifto-
logie, bcm (^riftlidjen Olauben ift ba§ ^erj au§gebrod)en , ober
bie ©^riftologie ift oud) bei un§, ma§ fte allein fein fann: Setire
Don ber ©ott^eit ^efu ©^rifti. —
äBeiter foll in alter ^ürje oon ber SluSfü^rung ber ©^rifto*
logic bie 9lebe fein. Siadt) bem eben Oefagten bleibe id^ mit ootter
Ueberjeugung babei, ba§ jebe ©^riftologie, wenn fie ift, ma§ fie
^eigt, ben ©at^, ba§ ber SWenfc^ Öefu§ ®^riftu§ ®ott ift, ju
i^rem eigentlid^en unb einjigen 2:t)ema ^at. ©ie tann unb foll
ni(^t§ anbere§ fein al§ bie 2lu^füf)rung biefe§ ©a^e§. Unb eben
182 Sl a f t a n : 3ur Dogmatil.
über bic 2lu§fül|rung, bic er in meiner ©ogmatif gefunbeu l^at,
möd)te ic^ je^t ein paar SEBorte fagen.
aOBaS mir SBeranlaffung baju bietet, i[t, ba| gerabe bie 2lrt,
mie id) bie ©l^riftologie üorgetragen l^abe, melfad^en Sebenten be*
gegnet ift. 9li^t eigentlic!^ beftimmte ©inroänbe f)abt id) babei
im ©inn — auc^ an folgen \)at e§ ni^t gefehlt, unb id) bin in
ber neuen 3luflage barauf eingegangen — fonbern allgemeine 93e'
merfungen, bie barauf tiinau^taufen, bafe etma§ ®cfünftelte§ barin
liege. 9Äan nermi^t alfo offenbar einen einfachen Haren 2lufbau
ber 2et)re, eine beutlid)e unb burc^fid^tige ©lieberung ber ©ebanfen.
ajlit biefem allgemein gefaxten (Sinroanb möd)te i^ midj ^ier an^-
einanberfe^en.
^m (Sro^en unb ©anjen bin ic^ in folgen fällen immer ge=
neigt bem 2 e f e r Siedet ju geben. 3ln il^n menbet ftd) bie 3)ar«
fteüung. §at er einen ®inbrudf mie ben eben miebergegebenen,
bann mag ber 2lutor no^ fo fel^r entgegengefe^ter 2Weinung fein,
er mu| fid) bod) fagen, bafe e§ it|m ni^t gelungen ift, feine Slb^
fi^t fo au^jufü^ren, ba§ fte n)irfli(^e§ SßerftänbniS gefunben ^at.
Kann id^ mid| in bem oorliegenben g^aH nic^t einfa^ hierbei be*
rul^igen, fo liegt e§ baran, ba§ ber ©inmanb ftd) mir oor altem
gegen bie oon mir befolgte ©arftellung^meife
unb ni^t f 0 fel^r fpejiell gegen meine ©arfteUung ju rid)ten fdtjeint.
Unb roät)renb id^ nun mag bie le^tere betrifft bereitwillig alle^
jugebe, rvai man bagegen einmenbet — ic^ felbft meig am beftcn,
mie meit idö I)inter bem mir oorfd^mebenben 3fbeal jurüdgeblieben
bin — fo mö^te id^ bod^ bie 3)arftellung8meife al§ in ber Sluf*
gäbe begrünbet in @d^u^ nel^men.
3fd) bin nämlid^ ber SWeinung, ju roiffen, marum fie melen
gefünftelt unb unangemeffen erf^eint. @§ tommt, menn id) rec^t
fe^e, bei einem fold)en Urteil nic^t blo^ auf ben ©egenftanb, ber
beurteilt mirb, fonbern auc^ auf bie SBorauSfe^ungen an, bie ber
Sefer mitbringt. SEBenn fo ju fagen baS geiftige 2luge anberS
eingefteKt ift, al§ ber Oegenftanb oerlangt, b. 1^, menn ber Sefer
auf eine anbere 3)arftel(ung§meife rennet, al§ bie il^m nun ent«
gegentritt, bann empfinbet er ba§ Vorgetragene aU fc^ief unb
munberlid) unb gefünftelt, o^ne ha^ e§ ba§ in SBa^r^eit au^
Ä a f t a n : 3ur ^ogmatü. 183
roirftid) ju fein braud)t. Unb fo fd^eint mir btc ©a^e l^icr ju
(iegen.
SBaS un§ aßen ate bie Orunbform ber bogmatifd)en ©^rifto*
logie oorfd)ix)cbt ift bic 3n?einaturcnle^rc. S)ie[e ftanb urfprüng^^
li^ in einem fe^r beftimmten religiöfen ^uförnmenl^ang, ^atte ben
$eif§apporat ber Äirc^c, namentlich bie ©aframente ju i^rem
notroenbigen Korrelat. 2)aüon mirb aber in ber eoangelifdien
3)ogmatit grunbfa^Iid^ abgefelin. 3)enn bie 9leformation bat mit
biefen prattifdien Folgerungen au§ bem alten 3)ogma aufgeräumt.
3Bir roiffen in unferer Siixd)t nichts vom ©aframent im fatl^o-
lifc^en ©inn. ^fw^mer^in liegt in ben bogmatifc^en 2lu§einanber*
fe^ungcn, bie burd| fi u t ^ e r § Seigre oom 3lbenbmo^l ueranla^t
rourben, eine (Erinnerung an ben nrfprünglic^en ^ufammen^ang.
9Wd|t ol§ mcnn ic^ biefe Seigre für tatl^olifd) ober fat^olifierenb
hielte. 9lber baS ju erörtern gehört nic^t ^ier^er. 2:^atfarf)e ift
ja, ba^ ßut^er burd) biefe feine Seiire baju geführt rourbe, auf
bie 3n>einaturente]^re jurürfjugreifen. Unb einjelne 2teu§erungen
jeigen unjmeibeutig, ba§ barin ein 3ufammenl|ang mieber auflebt,
ber ber alten Sir^e angel^ört unb fatI)olifterenbe Sel^rmeinungen
wie oon felbft in ben SJlunb legt. 2)a§ liebt bal^er nidit auf,
fonbem jeigt erft red^t, mag ber natürlid)e 3ufammen^ang ber
3roeinaturenle^re ift. ®oc^ ift biefe 9temini§cena ou§ ber alten
Äird^e fein fefteö ©lement ber enangelifdjen 2)ogmatif gemorben.
818 SRegel gilt in il|r, ba§ oon ben praftifd)en Folgerungen au§
bem alten S)ogma abgefelien mirb. 3)ie S^riftologie ift eine
„obieftioe" Seigre. äBa§ in i^r üer^anbelt mirb, ift ein meta*
p^9fifc^e§ Problem, .ba8 (ber bem alt!ir^lid)en 3)ogma ju ©runbe
liegenben SBorauSfefeung na^) jugleic^ ba8 religiöfe ©runbproblem
be§ S^riftentum« unb folgli^ ber d)riftlid)en ®ogmatit ift.
9luf eine berartige fiel^re rechnet nun unmilltürlid^ jeber, ber
an einen Sntmurf ber ©liriftologie in einem Set|rbud| ber 3)og»
matit prüfenb tierantritt. @ntmeber auf bie 3n>^i^oturenle]^re
felbft, fei eS aud^ in oerbcfferter Oeftalt, j. 33. auf bie KenofiS«
le^re, ober fonft auf eine analoge fieJ)rbilbung, analog eben in
ber 93e}ie^ung, ba& fte objeftioe 2lu§funft barüber geben miH,
mag e§ um äicfu8 ®l^riftu§ geroefen fei. ©tatt alles anbern er-
184 ^ a f t a n : 3ur Dogmatil.
innere id) nur an bie üon Sanberer ftammenbc Formulierung
ber Orunbfragc aller ©firiftologie^ ba§ fie nämtic^ laute, ob bic=
felbe ^ttieocenetrifd) ober ant^ropocentrifd^ ju entwerfen fei. 2)a ift
bie S^ageftettung ber Qxot\natvixtnUi)xt einfad) acceptiert, e§ ift al§
fetbftuerftänblid^e 9Sorau§fet|ung genommen, bap oerfuc^t werben f oU,
über ba§ SEBefen Q^efu (Jljrifti, über bie ^Bereinigung oon ®ott unb
3Jlenfc^ in feiner ^^erfon „objeftioe" 3lu§tunft ju geben. 2lud) menn
neuere 3)ogmatifer oielfac^ urteilen, e§ fei in ber S^riftologie ba§
gef^idfjtUc^e Scben^bitb be§ ^errn jum 2lu§gang§puntt ju net)men,
liegt barin rool^l noif) eine 9iad)n)irfung biefe^ in ber 2:rabition
feftgerourjetten @eficf)t§punfte§. @§ ift nic^t ba^felbe, fonbern nur
etwa eine 9tad)n)irfung, ba e§ fid) um S^eologen ^anbelt, bie
oon Slitfc^l beeinflußt fmb unb ba^er miffen, baß e§ nur für
ben ©lauben eine (Srtenntni§ ber ©ott^eit ^efu S^rifti giebt.
@d)leiermad)er nämlid^ unb Stitfc^l ^aben jeber in fcU
ner SDBeife biefen anbern ®eftd)t§punft in bem (Sntmurf i^rcr
c^riftologif^en 2:f)eorieen berüdtfic^tigt. @^leiermad)er t^ut
eö, inbem er in bie ®rfenntni§ ^efu al§ be§ ®rlöfer§ pon oorn«
tierein ba§ au§ il|m entftammenbe ©cfamtleben einbejietit, in voeU
d^em bie- 9Kitteilung ber Äräftigfeit feinet ©otte^berou^tfeing ftatt^
finbet, Slitfdjl, inbem er betont, bie ©emeinbe fei \>a^ Äorrc*
lat ber ©ott^eit ®t)rifti, au§ i^r werbe bieS ^räbitat auf \f)n
übertragen, unb nur in i^r tomme bie fo lautenbe @rtenntni§
<3efu ©firifti juftanbe. 3)a§ unb weö^alb id) biefen ©ä^en an
unb für fi^ nic^t iuftimme, brauche ic^ je^t nid)t nod^malS }u
fagen unb ju begrünben. ^ier tommt nur in 93etrac^t, ba§ ber
©ntiourf ber (£f)riftologie, ben id) in ber 2)ogmati! oorgctragen
t)abe, in biefer Sinie ber ©ntwidlung liegt unb bc§*
t)alb ben (Sr Wartungen nic^t entfprid)t, mit benen ber Sefer in
ber Siegel an eine folc^e Se^re herantritt.
3)a§ 2(bfe^en war barauf gerii^tet, aud) ^ier ben ©runbfa^
tonfequent burdjjufütiren, baß eoangelifc^e fie^re au8 bem ©lau*
ben erwäc^ft, ber fi^ bie göttliche Offenbarung aneignet, baß,
wag wir fo ertennen, allerbingg objeftioe in ©ott gegrünbete
äBa^r^eit ift (oerfte^t fi^ in bilblic^er gorm oergcgenwärtigt,
weil etwa§ anbereS gar nid)t möglich ift), baß fic un8 aber nur
Ä a f t a n : S^^ 3)o0mati!. 185
jugSnglid^ roirb, inbcm jtc in äBcd^fctoirfung mit unfcrcm per»
fönlic^cn Sebcn tritt, ©o \)abz x6) überf)Qupt in allen it)rcn
Seilen bie 3lufgabe ber ©taubcnsilelire ocrftanbcn unb au§iufä]^rcn
oerfuc^t. ©elbftoerftänblid) alfo oud^ in ber S^riftotogie ! SBenn
bie aWet^obc l^ier oerfagt t|ätte, roäre fie bamit überl^aupt qI§
uitanroenbbar erroiefen. Slieb ic^ aber l)ier auf bem 2Beg, ben
ic^ in aßen anbern Setirftüden aud) gegangen bin, bann mu^te
bie S^riftologie fo auffallen, im ©ro^en unb (Sanjen menigften^,
lüie ic^ fte t)orgetragen ^abe. 2). i). id) bin aufrichtig ilberjeugt,
ha^ bie 2)arftenung im einjetnen lüefentU^ rcrbeffert unb nament-
lich vereinfacht mcrben fönnte, für jiebc ©elel^rung, bie mid) ba^u
in ben ©tanb fe^te, märe ic^ üon ^erjen banfbar. Slber bie
3)arftcllung§meife mu§ icl| al§ bie in ber ©acl)e liegenbe, burct>
bie Slufgabe felbft gebotene in ©d)u^ nel)men.
93or allem trete ict) ein für bie erfte SSetrai^tung (§ 45),
ber ic^ bie Ueberfc^rift gegeben ^abe: ber ertiö^te ^err! S§ t|an«
belt ftc^ in i^r um ben SBerfud^, bie S^riftologie im ©inn be§
eoangelif^en @lauben§ ju formulieren. SBir bürfen bod) nict)t
babei fielen bleiben, bie fatl^olifctie 3"^^i"öturenlet)re in irgenb
einer Slbroanblung ju reprobujieren, mit aSerbefferungen (Senofi§=
le^re) etma, bie, fo üerftänblict) unb berecl)tigt bie ^mpulfe finb,
bie baju geführt l^aben, in 2Bal)r]^eit feine SSerbefferungen finb,
fonbem in§ SDlgt^ologifc^e übergel^en. @benforoenig ift un§ mit
einer Se^re gebient, bereu ^auptgebante bie SSerneinung be§ 35og:=
mag ift. SBa§ mir brausen, ift ein ©egenftücf jur alten Set)re,
ba§ au§ bem eoangelifc^en ®lauben geboren ift. Qxi bem @nbe
ift e§ unerlä^lid), bie alte Se^re nid^t als; 2:f)eologumenon blo^
ober ^^ilofop^umenon ju mürbigen, fonbem aud) l)ier bie ©og^^
mengef^i^te al§ 9ieligion§gef(^ic^te ju lefen. ®ie 9tufgabe uer*
langt, bie Seljre in i^rem urfprünglic^en religiöfen 3ufam==
menliang ju fixieren unb nun ju fragen, mic fraft berfelben barin
maltenben Sogit bie eoangelifdfie Sel)re bei ber für fie ma^geben«
ben uerdnberten Orunbpofition lauten m\x% Qnbem ii) fo Der*
fu^r, bin ic^ ju ber Se^re ge!ommen, bie i^ oorgetragen ^abe,
unb bie i^ ^ier nid^t ju mieber^olen braud)e.
3ln§befonbere l^ebe xi) l)ert)or, ba^ bei biefer 33etra^tung§'
186 S^ a f t a n : 3ur ^oömatü.
rocifc bie fat^olifc^cn ©ahamcntc, namentlich haS ©aframcnt be§
2Utar§ mit bcr barin fic^ unaufhörlich roicbcr^olenbcn aWcnfc^^
TOcrbung, in bcn ^^f^n^nicnl^ang ber alten Set)re ^ineingel^ören.
^ieroon miffen mir ©oanflelifc^en nid^t§. 2lber bann mu| auc^
unfere ß^^riftologie fo lauten, ba^ fte bie§ alles fiberflufftg ma^t^
inbem jie ftatt beS falfcl)en ben magren 3wfammenl)ang jroifc^en
®^ri[tu§ unb feinen ©laubigen ^erftellt. ®a§ t^ut jie aber nur,
menn fie bie Setire üon bem er^ö^ten ^errn ift, mit bem al§ bem
^aupt bie an i^n ©laubigen at§ bie ©lieber )ur ©inl^eit eineS
SeibeS oerbunben ftnb. Ober foUten mir mirflic^ an ber fat^o*
lifd^en Sel)re, aber o^ne i^re prattifi^e religiöfe ©pi^e, genug
l^aben? Sie mu§ ferner beutlic^ machen, ba§ unb wie ^t^nS
S^riftuS ate ©egenftanb unfrei @lauben§ ber lebenbig ®egen»
märtige ift — ma§ fie mieber nur in ber eben ermaf|nten ^^ffung
als Se^re oon bem erl^ö^ten ^errn t^ut. Ober foBte eS roirflid)
genügen, einfad^ ben gef^icl)tli^en ^efuS @i^riftu§ als ©egenftanb
beS ©laubenS su bejeic^nen? ^ft ni^t, roaS Objeft beS ©lauben^
ift, niemals etmaS blog ©efc^ic^tlid^eS, fonbern immer oor aOem
etmaS lebenbig ©egenmärtigeS? Unb mie mill man enblid^ bie fiepte
oon bcr ©rlöfung an bie Se^re uon Q^fuS 6;^riftuS antnüpfen,
menn nid)t gejeigt merben tann, ba^ biefe in jener i^re ^ortfe^ung
finbet, beibe jufammen ein untrennbares ©anjeS bilben? ©o bc-
bingt auc^, maS oom 9Berf beS ©rtöferS ju fagen ift, gerabe biefc
unb feine anbere Se^re vom ©rlöfer felbft.
Qnbem i^ micf) fragte, maS ju ben l^ier befproctienen 33c^
beuten gegen meinen ©ntmurf ber @)^riftologie SSeranlaffung ge-
geben liaben tonnte, glaubte id) annehmen ju foUen, eS fei oor
allem ber eben mieber etmaS nät)er ausgeführte ^unft. ^^ebenfattö
unterfc^eibet mein ©ntmurf fic^ baburd^ oon anberen 93erfud^en,
bie ®f)riftologie neu ju geftalten. ©erabe barauf lege tc^ aber
aus ben angeführten ©rünben entfd^eibenben SBert. ^6) behaupte,
ba§ nur fo eine ®f)riftologie erreict)t mirb, bie ben ^la^ einer
fold)en im ßufammen^ang ber eoangelifclien ©laubenS-
le^re auSfüHt, mie bie ßw^^i^ötw^c^l^^^« bie S^riftologie beS
tatl^olifc^en SpftemS ift.
9Äu§ eS aber bcmnacli f)ierbei bleiben, bann au^ bei ber
R a f t a n : 3ur 2)O0mati!. 187
Sonberung in bic brci 93ctrad|tungen über bcn crl)ö^tcn ^errn,
ben gefc^i^tlid)en ^eilanb unb ben @n)igen, bie jebe ftd) auf ba§
ganjc 2^cma erftrcden, aber je unter einem anbern ®efid^t8pun!t.
Unb ba§ bürfte ber jroeitc ^unft beö 2lnfto§e8 fein. <3o wenn
bie Se^re fad^lid) in Slbfc^nitte jerfätlt oon benen jeber einen
Jeil be§ ©anjen be^anbelt unb alle mit cinanber ein ©anjeg biU
ben, fc^eint e§ eine angemeffene Orbnung ju fein, etroaS S^atür^
K<^e8 unb nid)t§ ®etünfte(te§. So mie e§ bei meiner Sarftel«
Iung§njeife fid^ ergiebt, miß e§ ftd) bagegen in bie 5Borau§fe§ungen
nic^t fc^iden, bie man mitbringt, ^übfi^ ber Steige nac^, mit
bcm beginnenb maS jeitlid^ baS erfte ift, üon ber SlJlenfc^merbung,
©om ©ottmenfc^en unb nun uon feiner @r^öf|ung ^anbeln —
ba§ ift natürlich unb in ber @a(^e begrünbet. 3)agegen ^at e§
leine 2lrt unb ift — nun eben gefünftelt, menn nad^einanber brei-
mal baSfelbe unter üerfc^iebenem ®efid|t8punft abgel)anbeft mirb.
Slttein, bie§ Urteil ift miebcr uon ben f alfd(en SBorau^fe^ungen
eingegeben, bie man an bie Sac^e heranbringt, ^m ^ufammen-
^ang beS euangelif^en @lauben$ mu^ bie ^auptle^re, bie eigent«
lic^e ©l^riftologie al§ fiel)re uon ber ©ott^eit ®l)rifti, fo ausfallen,
mit eben mieber angegeben mürbe, ^ie erftredtt fid^ aber bann
auf baS ®anje. S)er ^inmeiS auf ba§ eoangelifc^e SebenSbilb
3efu al§ Qn^alt unfereS ®lauben§ an feine ®ott^eit tann eben=
foroenig barin festen, mie ber auf ba§ emige ©ein ^efu in ®ott.
6rfterc§ gehört mefentlic^ jur Sa^e, unb le^tere§ !ann fc^on
megen ber 2lbgrenjung ber eoangelifd^en (Jfiriftologie gegen ba§
®ogma nic^t unerörtert bleiben. 3)ennoc^ ift bie näliere 2lu§füt)*
rung in ber ^auptle^re felbft unmöglid), mürbe bereu SRal^men
gänjlic^ fprengen. 2lud( ift biefe nähere 9Iu§fü^rung ni^t in
berfelben SBeife de fide mie bie ©rfenntniS ber ®ottf)eit 3»«fu
®^rifti felbft. @§ ift de fide, ba§ man biefe Probleme fie^t unb
biefe fragen ftellt, berührt aber ben ®lauben ni^t, menn firf) in
ber ^uftöfung ober 93eantmortung Unterfd|iebe ergeben, ©o fel|e
\i) nid)t anber§, als ba^ bie ©onberung in ber oon mir einge«
^altenen g^tm ftd^ uon felbft ergiebt, fobalb feftftet|t, ba§ e§ fid^
in ber eoangetifc^en ®lauben§le]^re barum l^anbeln mu|, bie bem
eoangelifc^en ®lauben entfprec^enbe @rfenntni§ ber ®ott^eit ^efu
188 ^ a f t a n : 3ut ^ogmatif.
®f)riftt borjulcgen, unb ba§ bicfe ®rfennttii8 fo ober ä^n(ic^ lau*
ten tnu§, roie id) fte üorgetragcn \)aht. äBobei ii^ nic^t ocr^c^tcn
n)itt, ba^ id) mit biefcr ©intciluug in brei 93ctra(^tungeu gerabc
bcr Haren ©Heberung unb 3)ur^fic^tigfeit ber Sef)re gebient ju
tiaben meinte — unb im ®runbe nod) je^t fo ben!e. —
©inen britten unb legten "^^unlt mödf)te i^ enblic^ noc^ in
aller ^ürje jur ©prad|e bringen.
9Ba§ mid^ oeranla^t I)at, bie ©^riftologie ate Seigre oon ber
©ott^eit be§ ^errn fo ju geftaften, mie e§ ber %all ift, ^abe ic^
eben micber befproc^en. ®§ mar mir um ben 9Ser|uc^ ju t^un,
eine eoangelifc^e i^e^re al§ ©egenftürf jur tat^olifdien auf jufteHcii.
3)iefe Sel)re mu§ aber ben er{)ö^ten ^errn }um ©egenftanb l|aben.
3)enn nur fo mirb e§ oerftänblid) — o^ne bie oon i^m au^ge*
gangene ^ierurgie ober feine fid)tbare 3)arfteBung in ber „ta-
tl^olifdien" ^ir^c einbeziehen ju muffen — ba§ er ni^t ein ®c»
mefener blo§ ift, fonbern ber, in bem unb bur^ ben mir, bie an
it)n ©laubigen, mit ©ott uerbunben finb. 9tur fo gilt, ba§ fein
^iatu§ beftet|t smifc^en bcr Uebung c^riftli(^er 5^ömmig!eit, bie
mir in ber eoangelifd)en Äir^e pflegen, unb ber in bcr 2)ogma*
tit oerjeidjneten S^riftologie. So foH e§ aber boc^ fein: unfer
aSerftänbnig oon ®^riftu§ foO un§ in ber Uebung ber fjrömmtg*
feit leiten, unb biefe ift, roie mir fie pflegen, ber 2lu§brurf ber
©^riftologie, ju ber mir un§ mirtlid^ betennen. S)iefe 35eroonbt*
niig \)at e§ mit ber ©l^riftologie, mie id^ fie oorgetragen I)abe, unb
l)ierauf grüube id) bie innere 93ered|tigung, bie id) für fie in 2In*
fprud) ne^me.
©ie grünbet fic^ alfo nid)t birett auf gefc^i^tlid^e (£r«
mägungen über ba§ ^JJeue 2^cftament unb bie bogmengefc^id^tlic^e
(äntmirftung. ©elbftoerftänbli(^ ^at, ma§ mir ^ier Iiaben, inbi*
ref t babei mitgemirft — in jeber SBeife fogar. Säber ber fpringenbc
^untt ift ba§ eben mieber ©enannte, bie SHi^tung auf eine ©lirifto*
logie be§ eoangelifd)en ©tauben^, ^n jmeiter Sinie jeboc^ lege
id) ben größten SBert barauf, ba§ biefe (S^riftologie fid) auc^ auf
ba§ 9teue 2:eftament begrünben unb al§ bas Siefultat ber ®nt*
mirflung in ber Äirc^c oerftänblic^ machen lä^t. Unb barüber
m6d)te id) nod) ein äBort ^injufügen.
Saft an: 3ur ^oßmatif. 189
S)aS d^riftologifd^e 3)ogma {nüpft an baiS Dierte SoangeUum
an, 3)iefc§ bilbct in gcroiffer SlBcifc bcn SlnfangSpunft ber ®nt:=
»idlung, bie mit bcm fertigen SDogma abfd^lie^t. ^n if)m ift
ber entf^eibenbe ©d)ritt fd^on gefd)e^en, roa§ 3efu§ (St|riftu§
bem c^rifHid^cn ®lauben bebeutet, in ben formen be§ gried)ifd^en
@eifteS anjueignen unb mit ben 93egriffen biefer ^^^ilofop^ie au§«
jubrüden. 3)ie nun für baS ®ogma eintreten, fe^en eS fo an,
ba^ ba§ Dterte (SDangelium mieber ben 3lbfd)(u^ be§ ^Jleuen S^efta^^
menteS, ber in il^m »orliegenben erften ©ntroicftung ber (^riftli^en
©ebanfen, bilbet. 3)arauft|in sroeifeln fie nic^t, bie 3tt)einaturen«
lel^re fei f^riftgemä^, 9ieue§ Xeftament unb ®ogma gel)örten ju=
fammen.
hiergegen ift aber fc^on eiujumenben, ba^ eine Setire nur
bann fc^riftgemS^ ift, menn bie i^r ju Orunbe tiegenben reli*
giöfcn SWotioe ber ©c^rift entfpred)en. 3Kan braucht bie
grage aber nur fo }u fteüen, um inne ju merben, ba§ bie 3tt)ei=
naturen(ef|re im 3i^f^i^iii^ii^<ittg einer Umbilbung ber djriftUc^en
9i e l i g i 0 n entftanben ift unb barum nic^t auf ba§ 9leue Sefta*
ment begrflnbet merben tann. älber aud^ menn id^ baüon abfetje
unb bie fiet)re al$ fo(d^e xnS äluge faffe, finbe id^, ba^ bie eben
angefül^rte ^Beurteilung beS ©ad^oert|alt§ nid^t jutrifft.
®a^ oierte (£t)ange(ium ift fomol^t ein Slbfc^Iujs als ein ä(n^
fang. @§ fragt fic^ nur, ob beibe§ in einem unb bemfelben liegt,
unb bie @ntn)idt(ung auS bem 9}euen Seftament }um S)ogma eine
gerabe Sinie bilbet, ober ob e§ uerfd^iebene 9Komente ftnb, mo-
burc^ ba§ oierte Soangelium jeneS unb biefe§ ift, fo, ba^ bie ge-
nannte fiinie al§ eine gebro^ene bejeid^net werben mu^, ba^ fie
eine fc^arfe SBenbung einfdjlie^t, bereu Slngelpuntt im oierten
©pangelium liegt. 3Jleine§ 33ebünfen§ !ann nic^t smeifeltiaft fein,
ba^ le^tere^ ber ^all ift.
3)a§ ®oangelium 3fo^anni§ ift einerfeitS eine 3"fonimen*
foffung ber gefd^ic^tlii^en (Erinnerung an Q^fw^ ®t)riftu§ unb be§
apoftolifc^en ©laubenS. oon il^m als bem x6pco$, ber burd) Soten«
auferfte^ung jum ©o^ne ®otte§ in ^raft eingefe^t ift (5Röm. 1,4).
äuS biefem ©lauben tierauS wirb feine ©efd^ic^te nod^ einmal
erjai^lt, bamit, bie e§ lefen, an il|n al§ ben ©o^n ©otteS glauben
3ettf<*rift für Z^teloQxt unb Äirc^e. 14. Sa^vg., 2. $<ft. 13
190 Äaftan: 3ur 5)ogmatif.
lernen. @o angefel^cn, alfo oon bem au§ gefe^en, n)o8 fl^m oor*
angebt, ift bie§ ©oangelium ein 3lbfc!^lu§, aber tin roirflic^cr ju=
fammenfaff enber Slbfci^IuB : eine go^tfeijung in gleid^er Sinie giebt
eS barüber t)inau8 nic^t. 2lnbererfeit§ ift e§ ein Slnfang. ®§
roenbet ftd^ an einen Seferfreiö, bem gried^ifd^e 93ilbung geläufig
ift unb fnüpft, um bei it|m Eingang ju finben, im ^JJroIog an
ben Sogo8gebanten an. ©eine ß^riftologie ift überroiegcnb
oon bem OffenbarungSgebantcn beftimmt, entl^ält aber baneben
3üge, in benen baS öilb ^efu gefteigert erfc^eint, über bie f^tic^te
menf^lic^e ®rfci^einung l^inau§: ic^ menigftenö mö^te ntc^t in
Slbrebe ftetten, bajs 9lnt)alt§punfte bafür gegeben fmb, ben S^riftuS
be§ oierten @üangelium§ al§ Sogo§*®^riftuS ju ^arafterifieren,
fo übertrieben unb irrefü^renb e^ mir erfc^eint, menn man hierin
ba§ aBefentU(^e ober gar baS @anje ber joI)annei[d)en S^rifto*
logie erblirfen gu bürfen meint.
3ft bie§ richtig, bann ergiebt [16), ba§ bie 3üg^ ^^ Dierten
©oangeliumS, bie bem ®ogma jugemanbt finb, burd^ bie eS ein
3(nfang ift, uom bleuen Seftament au§ gefe^en in ber ^erip^eric
liegen. Sleuteftamentlic^ ift eine S^riftologie nic^t, bie bie§ SHo*
mcnt mit ber QxotmatVLXtnU^xt als ba8 933efentti(^e im Sleuen
2:eftament erad)tet. 3lur oon ber fann e§ gelten, bie baS ge*
famte 9leue Seftament oermertet, aud^ ba8 oierte ©oangelium, ge»
xd'\% aber biefeS, mie e§ atö 9lbf(^lu§ ber im 9ieuen Xeftament
bejeugten ©ntmidftung ein integrierenbeS le^teS ©lieb in biefer
bilbet, morin bod^ oor aQem anä) feine Sebeutung liegt. @ine
folc^e ©^riftologie nun mirb baburd^ c^arafterifiert fein, ba§ fie
ben apoftolifd^en, Dor aQem ben paulinifd^en @lauben an ben er«
tjöl^ten ^errn }um ^uibrudC bringt, fo jeboc^, ba^ bie SSergegen^
mörtigung be§ gef^id|tli^en ^ilbeS Qt^n als grunblegenb bafür
ermiefen wirb. 3)ementfpred^enb tiabe id^ bie ©^riftologie for^
muliert unb netime bal^er für fte in älnfprud^, mie ein SluSbru^
beS eoangelifd^en ©laubenS gu fein, fo bie @umme beffen gu ent«
galten, maS un§ ba§ 9Uue 2:eftament oon ^efuS G^^riftuS fagt
Um fo weniger mirb freiließ, f^eint eS, oon i^r gelten fön*
nen, ba§ fie ber ©ntmictiung be§ S^riftent^umS unb feiner fiepten
in ber Kirche entfpric^t. 2)enno^ l^abe ic^ aud^ baS oon i^r 6e«
Äaftan: 3ur ®ogmaä!. 191
Rauptet unb möchte eä an biefem Ort nod^mal^ auSbrücftid^ 6e«
tonen. 2luffaHen fann c§ nur, weil xöxx unS fo baran gcroöl^nt
fyibm, bie ^riftlic^e £el)re im @inn be§ fatl^olifc^en ®ognta§ als
eine ^{J^ilofopl^ie über bie @(auben§objette anjufei^en, ba^ eine
anbere ^etrad^tunct^meife junäc^ft taube Citren finbet unb nid^t
einmal perjipiert roirb. ^n meiner Sogmatif ift mit biefer 2ln*
jic^t rabttal ju bredfjen unb ftatt beffen bie Seigre al§ Slu^brud
be§ @Iauben§, ber SReligion ju roürbigen oerfud^t morben, wenn
e§ au^ no(^ nic^t gang gelungen fein mag. ©o forbert e§ eben
bie Slufgabe, fobalb fie bem eoangelifc^en öegriff üom Olauben
entfpred^enb gefaxt mirb. Unter biefer SBorauSfe^ung aber gilt,
bojs bie et)angelifc^e (S^riftologie gugleic^ baS organifd^e ^robuft
ber porangegangenen fird|lid)en ®ntmirflung ift.
©0 genommen barf nämlic^ bie ©ntmicHung be§ ®ogma§
ni^t für fic^ gefel^n unb ate ein SluSfd^nitt au§ ber ©efc^ic^te
ber ?ß^ilofopl^ie gemürbigt merben. ©ie gliebert fic^ in haS (Sanje
ber ®ntn)i(flung be§ (£ l) r i ft e n t u m § ein. 5Die 5^'age ift nid)t:
wie mu§ id^ lel)ren, wenn meine S^riftologie al§ ha§ Stefultat
ber S e ^ r entmidftung in ber Äird^e erfd^einen folt? 2luf biefe
Srage wäre übrigeng aud^ nur ju antworten: i>a§ ®ogma ift
fertig unb abgefc^loffen fo mie e§ oorliegt, j|ebe angeblid)e SSer*
befferung ^ebt eS in feinem @runbgeban!en auf. 3)ie ^rage lautet
aber oiclme^r: roie entfprid^t bie eoangelifc^e ©l^riftologie ber SBor-
bereitung auf ber früheren ©tufe be§ abenblänbifd^en ®^riftentum§?
Unter biefem ©eft^tSpunft ergiebt fic^ bann mieber eine S^rifto^
togie fo ober ä^ntic^, mie id^ fte fomtuliert ^abe.
3)a8 alte S)ogma ift eigentlich ju ^aufe auf ber ©tufe be§
griec^ifi^en ß^riftentum^, auf meldier ba§ S^riftentum als 3)ogma,
ate ^icrurgie unb Äultuä fid^ geftaltet . I^at. Qn ber römifd^en
Äircfte ift eS in ben ^intergrunb gebrängt, ^ier lautet ba§ So=
fungSroort, ba§ l^eute nodf in it|r lebenbig ift unb bie S^römmig^
teit in ii^r bel^errfd^t: ba§ ®^riftentum ift Äirdtie, bie Äirc^e ift
C^riftui^. 3)aS ift bie l^ier mirtlid^ lebenbige S^^riftologie : bie
ftird^e afe bie bleibenbe S^nfarnation ©otteS in ber SBelt ! S)aran
fc^lie^t fic^ bie eoangelifdie ©liriftotogie an aU bie Sel)re oon bem
er^S^ten ^erm in ber ©inl^eit mit allen an il^n ©laubigen! ©S
192 ^aftan: 3ut ^ogtnotif.
ift bic fpejififcl^ abcnblfinbifc^c S^riftologic, nur roicbcr innerlich
unb geiftig gefaxt, tok eiS bei $aulu§ ber ^aQ ift beffen ©e-
banfen burdi 9[uguftin§ SSermittlung ben Stuggang^punft ber
abenblanbifc^en Se^re btiben.
©0 roeit id^ roei^, ftnb bicfc oon mir in ber S)ogmatit oor«
getragenen @ebanfen nid^t beamtet n)orben. Q6) ^abe ba^er fär
rid)tig gehalten, auc^ an biefem Ort barauf ju nerrocifen unb fie
no^maB nad|brfi(flid^ jU betonen.
193
^üB mit mn htn Iroli^lomri^jen |lu$$ralmn$en Ittntn.
lic. theol. ^. aSoIj, ©tabtpfarrcr.
2)ie iBab^IonoIogie (|Qt eine mäd^tige gtut erlebt unb ift nun
im ^Begriff jt^ roiebcr ju berul^tgen. ®8 war, wie wenn bie Un*
iafjil bet ausgegrabenen $unbe^ ha^ ^otoffale ber bab^Ionifd^en
3)cnfmä(er, bie JRiefenl^aftigfeit ber Stuinenpgel ba§ ma^ooHe
3)cnfen ber gorf^er oerroirrt I)ätten, roie wenn ber babglonifd)*
affprifd^e ®eift felbft, ber ®eift ber Cluantität, be§ SWaffen^aften,
fici^ n)ieber erl^oben ^atte, um aUeS, au^ ben @inn für bie in«
ncren SBerte unb für bie unfic^tbaren ©rö^en gu oerfd^Iingen.
3)ie Srreger ber g'^t fxnb oor allem SBincfler unb ®eli^fc^ ge«
mefen; ba§ fte eine gl^t erregen fonnten, beroeift für if)re roif^
fenfc^aftli^e Sebeutung. S)ie beiben ^aben inbeS in ganj per«
fd^iebener SDSeife getrie6en unb übertrieben. SBindler ^at un§
baS 3luge geöffnet für bie gro^e Äulturmad)t SabglonienS unb
für bie JultureHpolitifd^e 33erfc^lungent|eit be§ roinjigen -3frael8
mit ber bamaligen SBeltbel^errf dierin ; er ^at barin übertrieben,
t>a% er neben bem bab^lonifc^en Ungetieuer nirgenbS me^r felb*
ftänbigeS Seben feigen mollte unb in§befonbere bie religiöfen ^e»
megungen in ^frael mit bem reinmenfd^lic^en, ja mit bem politi«
f(^en Wla^t gemeffen ^at. 2)eli^f(^ i^at bie meite äBelt auf bie
9(b(|ängigfeit biblifd)er Stoffe oon SBabglonien aufmerffam ge-
mad^t unb ^at ei^ laut auSgefproc^en , bag in ber Sibel rein
menfc^tid^e SBeftanbteilc liegen; er l^at barin übertrieben, bajs er
dcttf(^ft für 2;^co(oflic unb jtirc^e. 14. ^affVQ., $eft. 8. 14
194 SBoI^: ®aS ipir Don ben bab^Ionifc^en $(it§grabungen lernen.
bcn ©eift be8 2llten 2:e[tament§ für babglonifdi erftärtc.
©ooiel nun ani) pon ben Uebertreibungcn geftric^cn werben
mu§, e§ bleibt nod) genug übrig, n)a§ n)ir üon ben babgtonifd^en
2lu§grabungen ju lernen l^aben. 9lid|t Mo§ ber 3lltteftamentlcr,
ber SReligionSgefd^ic^tter unb ber greunb ber 93ibel, fonbem eben*
fo ber ©rforfc^er ber Kultur, ber ®ef(^id^te unb be§ SRed^t^, ja
ber tieutige SUlenfc^ überl)aupt t|at bic babijlonif^en gunbe mit
^reube begrübt unb mit ®ifer betrai^tet. S)q§ golgenbe oerfudit
bie ^auptfa^en baoon, o^ne 3lnfpru^ auf ©elbftänbigfeit , ju*
fammenjufteüen.
SDie 2lu§grabungen finb ein Äinb ber neueren 3^^^
benn fie fe^en bie heutigen meltumfpanuenben 33er!e^r§mittet unb
ba§ ö^tereff e für bie @ef c^ic^te f rcmber ffiölf er oorauS ; fic fe^en
au^erbem oorauS, ba§ bie Staaten 6uropa§ ben emigen Krieg
unter fn^ begruben unb fi^ ber großen Kulturaufgabe jumanbten,
aud^ in ben anbern ©rbteiten bie europäifd)e go^ne aufjuftedCen.
S)ie babglonifc^en 2lu§grabungen , begrünbet hux6) ba§ roiffen*
fd^aftlic^e Qfntereffc jmeier in SWefopotamien ftationicrten ®c«
fanbten, beginnen mit ben 2lnfängen be§ 19. Qf^i^r^unbert^, unb
bie erften ^Rationen, bie fid| an ber ©rabarbeit beteiligten, waren
bie ©nglänber unb bie gi^anjofen. 3)ie ^auptfunbc fmb
im Sauf ber 3^it folgenbe gemefen: um 1850 fiel eö ben Sng*
länbern ju, bie gro^e ©tabt 9linioe au§ ben 2:rümmer^ügeln
gegenüber üon äRoful (Kujunbf^if) Iieröorju^olen ; eine l)errlic^e
Sammlung Don bort füllt einen ganjen "Sln^ti unb mele SGBänbe
im britifdjen 3Jlufeum; babei rourbe bie 93ibliot^ef be§ fünft- unb
literaturliebenben aifft)rcrfönig§ äffurbanipal (©arbanapal) ent<
bedt, unter anberem bie feilinfd|riftlici^en Seric^te ber ©c^öpfuug
unb ber Sintflut, bic biefer 93ibliot^ef einoerleibt maren. 3)te
Jranjofen fobann l^aben uon bem fübbabglonifc^en ^ügel Ztlio
U\Ü\i)t Kunftbenfmäler be§ 3. :3a^rtaufenb§ unb au§ bem perfi*
fc^en ©Ufa überraf^enbc babglonifc^e gunbe, vox allem in jüngfter
3eit ben Kobej: ^ammurabi in ben Sonore gefütirt. ®ann fmb
aud) bie älmeritaner auf bcn ^lan getreten, bie Unioerfität oon
"^^cnnfriloanien I)at mit amerifanifd^ reii^cn 9Witteln bei ber ur*
alten ©tabt Stippur eine mächtige 2:empelanlage unb eine reiche
^ola: f&Q^ mix von bcn babglonifd^en 2(u§grabungcn lernen. 195
JempeMiteratur ju Sag geförbert. @anj fpät, na^bem bie Sei^
fung faft gefc^c^en, tarn aud^ bcr SJeutfd^e; ju bcm großen Äut=
turauffc^iüung, ber bcm Krieg oon 1870 folgte, gel)örte bie @rün«
bung einer beutfd)en Orientgcf ettf c^af t , bie ^auptfäd^Hc^ auf bem
Stabtgebiet ber ©tabt öabel felbft arbeitet unb für bie SDeli^fc^
mit feinen SBorträgen werben vooUtt. ^m öertiner SWufeum be=
finbct fic^ au^erbem ber gröjste 2:eil be§ wichtigen gunbeS oon
bem äggptifd^en Sei el STmarna (1888), ©eftanbteile eine§ ptiarao*
nifc^en 2lr^ii)§, baS einige jroifd^en jroei ^tiaraonen unb jroei
babglonif^en 9Wonar^en (um 1400) gemedifelte Schreiben unb
eine 3Kenge ©riefe Don affgrifdien, mefopotamifd)en, cgprif^cn
Äonigcn unb üon p^önijifctien unb fanaanäif(^en SSafaüenfürften
an beu ^l^arao entljält; merfroürbigermcife ift biefer 93riefoerfe]^r
mit bcm ?ßt)arao fo gut mic ganj in babglonif^er ©prad^e geführt.
938 a S i ft nun a\i^§ im cinjelnen au§ bcn babg*
lonifc^cn ©räbern an§ Sid^t gefommen? 93crf^üt=
tetc ©täbte unb ©cbäube, 3;empcl, ^aläfte unb 93efeftigung§n)erte,
©tatucn unb obeliSf artige ©iege^fäulcn, munberbare 9ftelief§ meift
in SHabafter, 93afalt, 2:on ober gtaftertem 3*^9^^ ^^ bcn Qnncn*
ober äufecnmänbcn ber ©cbäube unb an bcn Dbeti§fcn ; allerlei
arc^fiologifc^eS SWaterial unb Dor allem eine Unmenge oon %o\u
tafeln, *$ri§mcn unb s^plinbern. Sie SOBänbe unb gugböben
ber ©cbäube, bie ©tatucn, ©äulen unb gcl^blörfe, ba§ SMeer ber
Siegelftcinc fmb mit ^^^fc^^ift^n bebedtt. ©ic übermitteln un§
gefc^ic^tlidic 53eric^te unb c^ronotogifc^e Siften, aftronomifc^c 93e-
obad^tungcn, Äalcnbcr unb aftrologif^c^ ©c^eimroiff cn , geleierte
2lb^anblungen unb 3Börterbüd)er , mt|t^ologif(^c ober religiöfe
®rjä^lungen unb Sieber, @e|et3c unb politif^e 9lften, öffcntlid)c
unb prioate SSerträge; au^ prioate Briefe Iiaben mir, bie in ein
3iegclftcinfouocrt mit bcm Flamen bc§ 3Ibfenber§ unb be§ 2lbref=
faten geftcrft fmb. ®ic 3^^^^^^ ^^^ Kcilfd^rift finb mit
einem feinen 3»nftrument mic Äeile In bcn 2^on, 2llabaftcr, gel^«
ftein tiincingefc^nitten, breit anfangenb, fpi^ au^laufcnb, fcnfrcd)t
ober magre^t ober fdj)räg gcfät)rt, fo, ba§ bur<^ bie Kombination
bcrfclbcn bie oerfd^iebenen SBörter ober Saute entftcl^cn. S)ie
erfte Äunbc oon biefen merfmürbigcn 3^i^c" f^m fd[)on im 16.
14*
196 SBolg: SßaS n)ir oon ben bab^lonifd^en Ausgrabungen lernen.
/ Qal|rl|unbert nac^ ©uropa; i^re ©ntjiffcrung ift aber erfi im^a^r
1802 burd^ ben ©öttingcr ©qmnaftatle^rcr ©rotefenb in ben
©runbjügen geteiftet roorben. SBaS bie ©ammlungen an feilin*
fc^riftlic^em SRaterial bergen, ift bei meitem Xix^ic^ nid^t aOe§ ent*
jiffert, t)ielmef|r erforbert bie (Sntjifferung be§ bi§ je§t Dor^an-
benen eine treue pl^iIo(ogifd)e älrbeit oon Dielen ;3^^v}e^nten, ba§
alles ungerechnet, n)aS faft täglich neu jum SSorf^ein fontmt
SBir fuc^en nun au§ bem teilinfd^riftlic^en 93efi^ L bie
Äultur 53abi)Ionien§ für fic^, IL il^re ©ebeutung
fürbieSBeltfuItur, IH. i^r eSebeu tung für 3fracl
iennen ju lernen. 3)abei oer^e^Ien wir un§ nic^t, ba§ ber 2lu§«
brudt „Sabqlonien" !ein fc^arf umgrenjter ift; in ber^auptfa^e
meinen wir bamit ben burc^ bie ©umerier (oor 3000) unb ben
burc^ bie ^ammurabiperiobe (um 2250) gefc^affenen Rulturbeftanb.
I. ®ie babglonifd^e Äultur.
3[n weiter grauer gerne, meit l^inter bem gried^ifc^en unb
römifd^en 9l(tertum fteigt jje^t t)or unS baS 3l(tertum ber babg«
lonifc^en Kultur auf, beren SInfänge ft^ junäc^ft bis über baS
Qatir 3000 o. ®l^r. ©erfolgen laffen. Unb jmar erl^ebt fic^ ba
bie Kultur eines @taateS, nic^t etma baS primitioe £eben
eines 9laturoolfeS, eine Äuttur oon einer ^ol^e, bie ju i^rer not«
auSge^enben (SutmidHung felbft mieber einen längeren 3^itraum
DorauSfe^t unb bie fpäter in manchen fünften, ä^nli^ mie in
äleggpten, überhaupt ni^t me^r erreid^t morben ift. 3)iefe ftultur
ift älter als ber babglonifd^femitif^e ®eift, fie ftammt Don bem
f ogen. fumerifc^en 93olf, oon bem in ber f^olgejeit nod^ bie ©prad^e
im Äult unb in ber SBiffenfd^aft, wie bie lateinifd^e im SWittelaltcr,
fortbeftanb. SEBenn fo am älnfang ber unS betannten ©ef^id^te
gleid) ein imponierenber geiftiger Äörper ftel&t, fo ift baS ein neuer
SBemeiS bafür, ba| bie @ntn)ictlung ber 93flenf^^eit nic^t in ruhiger
allmählicher SlufmärtSbemegung ftd^ ooQiie^t, fonbern mit ^ö^en
unb 9}ieberungen, ober mie eS auSgebrüd(t mürbe, bag eS eine
Bewegung oon äBellcnberg ju SBeQenberg ift. 3BaS bie ^oc^^
ragenben alten Kulturen umftürjte unb neue ©ebilbe an i^re
©teile rüdtte, waren oielfad^ bie ftegreii^en Söorftö^e junger bar«
^olj: ^a§ tPtr t)on ben bab^Ionifd^en SluSgrabungen lernen. 197
borifd^cr aSößer, bic bie beftc^cnben Staaten über ben Raufen
loarfcn unb im weiteren SBerlauf bie bi^l^erigc Kultur mit i^rem
eigenen SJBefen oerfdimoljen, fo etma mie bie jungen ©ermanen
ber SBöltcrmanberung mit it(rem ®rbe umgegangen finb.
S)ie gro^e Äunft ber atten 93abglonier ift bie Slftronomie
gcroefen; fie belogen barin ein SBiffen, ba§ fd^merlic^ oon irgenb
einem 33oIt be§ 2lltertum§ ober be§ 9D?itteIatter§ erreicht rourbe,
unb jroav fdjeinen fd)on bie fumerifc^en Urberoo^ner ben ®runb
biefe§ aEBiffcng gefc^affen ju l^aben. 3^ einem fel)r alten SBuc^
(„SBeoba^tungen be§ 33el", um 2000) ift niebergelegt, ma§ biefe
„SQSeifcn be§ 3WorgenIanbe§" im Sauf langer 3öf)tf)unberte oon
bem burd^fid^tigen ^immel be§ Oriente abgelefen t)aben. ä^Jiäci^ft
(fc^on im 4. <3a^rtaufenb) biente bie ^immeI§beoba^tung praf=^
tilgen Qtotdtn unb in§befonbere aftrologifc^en ^Jntereffen,
unb bie olteften oor^anbenen ä^afeln finb uon ^ofaftrologen be-
fc^rieben, bie bie regelmäßige Slufgabe Ratten, bem Äönig für feine
Staats* unb ^rioatattionen ben (Spruc^ ber ©terne ju oermit*
teln. ®§ barf nic^t cerfc^miegen werben, baß biefe ^alb^^
roiffenfd)aft ber 2lftroIogie, an bie fic^ bie oieloergmeigte ^unft
be§ SBo^rfagenS unb ber 3eic^enbeutung l^icng, einen unnerlialt*
ni§maßig großen 2:eil ber babglonifdjen ©etel^rfamteit in Slnfprud^
na^m. Slber bo^ fütirte bie 9tftrologie attmä^Iic^ ju ber ftrengen
unb reinen SGBiffenfc^aft ber Stftronomie, beren au§gebilbete§ ©9*
ftem mir gegenwärtig big etwa jum ^a\jx 700 oor (S^r. I)inauf
oerfolgen fönnen. grütie fd^on ^abcn bie SBabgtonier bie ©terne
ju Sternbilbern gruppiert, ber ^immet§frei§ rourbe in 360 @rabc
geteilt, ber XiertreiS unb beffen 3n)6tfteitung reid^t in feiner ®nU
fte^ung ma^rfi^einlic^ über 3000 0. ®^r. jurüdt, bilblicfte 3)ar*
ftettungcn fämtlid^er jmötf SierfreiSbilber finben fi^ fc^on im
12. ^di)x^. 0. ®]^r., bie fieben Planeten werben aufgeführt unb
bie ®jiftenj einer Slnjal^l oon Planeten* unb 2Wonbftationen ift
l^on in fe^r alter Qtxt betiauptet. 93efonber§ genau würben bie 93e*
loegung be§ ajlonbeS unb ber ©onne unb bic ginfterniffe ftubiert;
bie alten SBabglonier beobachteten bie ^erioben, nac^ benen bie
Sinfierniffe, bie fc^einbare Stellung ber Planeten unb bie ®r*
f(^cinungen im SWonblauf regelmäßig wieberfel^ren, ftc notierten
196 ^oty. 9Ba§ mir oon ben bob^Ionifc^en Ausgrabungen lernen.
bte fiometen unb 3Reteore, fannten bte größte unb bie fletnfte
@ef(^n)inbigfett ber Sonne unb bt§ 3flonb§, bQ§ genaue 93er«
^altniS jn>t)c^en 9Ronb(auf unb ©onnenja^r, bte Sänge ber oer«
fc^iebenen Srten ber 3Ronbmonate; fte fijrterten ba§ ©onnenja^r
auf 365^4 S^oge unb erfanben mehrerlei @c^altmet^oben, um ben
ftatenber in Crbnung gu bringen. ^a§ ^a^r n)urbe in groölf
9Ronate, ber 2:ag in }n)ö(f Soppelftunben, biefe roteber in fec^ig
2;ei(e geteilt unb ouS ber fiange be§ (Sonnenfc^attenS n)urbe ba§
^ortfc^reiten ber ZageSjeit unb ^^^^^it hinftooD beregnet.
2)iefe§ aftroIogi[(^:^aftronomifc^e SBiffen iDurbe an uerfc^iebenen
9Ijlronomenfc^u(en gelehrt, aQmä^Ii^ )u einer feflen Terminologie
auSgebilbet unb in ein blenbenb fc^5ne§ (Softem gebrad^t.
9Bir ^aben e$ ^ier mit einer gang munberfamen ^aft unb
^(arbeit be§ antifen S)enfen§ ju tun. Unb oieQeic^t ru^te biefe
umfaffenbe ^immelSbeobac^tung auf einer tieferen geiftigen :G^bee.
SBenn mir ben Ausführungen 9ßinrfler§ folgen bürfen, fo Ratten
bie alten SSab^tonier eine auSgebilbete 9BeItanf^auung unb biefe
SBeltanf^auung mar eine religiös a ftronomifdie.
3)amac^ äußerte fxd) in ber ®efe§mä§ig!eit ber ©eftirnc ber 3Biüe
ber ©ott^eit, ja bie göttlid^e Offenbarung beftanb in ber ftberife^en
Crbnung. SEBer in bie ©efe^e ber ©tcme einbrang, ber brong
in bie liefen ber @ott(|eit ein^ unb mer biefe am ooQfommenflen
fenncn lernen moHte, ber mupte an ben ^untt jurüdfgc^en, roo
bie fiberifd^e Orbnung ein für attemal fcftgefe^t roorben mor.
9Ba§ im Sauf ber ^a^rl^unberte neu ftd^ l^erauSfleQte, mar nic^t
eine neue Offenbarung, fonbern nur ein neueS (Einbringen in bie
oon 2lnfang an begrünbete Orbnung. Unb meil nun meiter ber
Sauf ber ©eftime ba§ Seben ber 8B8ett unb ber 3Renf(^en be^
ftimmte, fo mu^te ber ©laube an bie 5Bor^erbeftimmung entfte^en,
monac^ aQe§ oon Einfang an, oon ber ©runblegung ber SBelt an,
oorauSbeftimmt mar, fo fic^er unb gemi| mie ber ©ang ber ®e=
ftirne felbft. SBir miffen au§ ber ^inb^eitSgef^ic^te ^^n, mie
jene babglonifd^en ©ternfetier aug ben SSorgängen am ^immel
auf bebeutfamc Vorgänge in ber menfd^lid^en ©efc^i^te f^loffen.
Qa, man na^m an, ba§ bie ©efc^id^te ber ©rbe unb be§ 3Ren*
fc^en nur ein Stbbilb ber am ^immel fid) abfpielenben 2)inge
SBolj: SBa§ mix Don bcn bab^Ionifdien Slu^ö^abungcn lernen. 199
war; bicfetben ©inteilungggcfe^e unb SJer^ältni^bcftimmungen,
bie in bcr fiberifdjen fRegion galten, fanb man au^ in ber un«
tcren SBclt, im großen unb im Keinen: bie SEBeltperiobcn be§
SBelttauf§ j. 33. entfpre^en ben großen (Beitritten im @ang ber
©cftirne (3bee bcr t)erf(^iebenen Qtxtalttx); bie SJletaHe I)aben
bie ijarben ber Planeten unb ftetien mit il^nen in einer gelieim«
ni^oollen Sßerbinbung; ba§ Sßer^ältniS oon (Silber unb ®olb ift
gleid) bem SBerlialtniS jroifdien SWonbumlauf unb Sonnenumlauf;
bie SWaJBe unb ©eroi^te l^aben il)ren legten ©runb in aftrono«
mifdjen @r!enntniffen unb ba§ ju bemunberungSmürbiger ©intieit
gef(^toffenc Softem ber Qt'xU unb SRaummeffung ift »on ber fc^ein*
baren 93eroegung ber (Sonne abgeleitet ; bcr SKenf c^ f elbft ift nac^
bcmfelben ®inteilung§gcfe^ gegliebcrt, ba§ im ganjen SQBcltbau
^errfc^t, unb bie oon feinem Sörper genommenen 9)laj5ein^citen
(ginger, gu§, ®lle) merben ju ben großen SWagen be§ aBeltall§
in aScjicl^ung gefegt, ©emi^ ift, ba§ bie 93abr)lonier einen mcrf«
loürbigen Sinn für bie .^armonie bc§ SBcltganaen t)attcn unb ba§ fie
bie äuj5cren SBcr^dltniffe be§ Seben§ unb bc§ 3)lenfd)en nac^ ben
gleiten einfa^*gro§cn ©cfc^cn ju orbnen fud^tcn. 3)iefer ©inn
Toar rool^l ba§ befonberc ©efc^enf, ba§ jenem älteften Äulturoolf
oon bem §crrn ber 3Bcltgcfdl)ict|te gegeben mar.
(£§ ift im aSor^erge^enben fcf|on gcfagt, ba§ bie SRcffung
ber Qtxt unb be§ SRaum§ auf ber Slftronomie rutjte. Slu^erbem
ftanb bie 9Jlat!^ematif' unb in mand^er ^infic^t aud) bie SReligion
im 3iifönimenl^ang mit jener ÜÄuttcrmiffcnfc^aft. 3)ie 9JlatI|e«
matif ift in SSabglonien fc^r alt, fie mar oon ^au§ au§ ganj
eine 3)ienerin ber ^immelsberedinung unb baute fid^ auf ben 93o*
ben ber göttlid^en ©eftirnorbnung ; fo mar au^ bie Qa\)l etmaS
^eilige§, roeil fie im ©efc^buc^ ber ©terncnmelt gegeben mar.
3)ie ÜHcnge ber matf)ematifd)cn SBerfe, bie in ben 93ibliott|efen
|t(^ anfammetten, bemeift, mit meinem ©ifer biefe 338iffenfc^aft
in ben ^riefterf^ulcn betrieben mürbe unb ju meld^er SBlüte fie
fi(^ in 93ab9lonien entfaltete. 6§ finben fiel) aSerjei^niffc oon
Ouabrat' unb Äubitja^len, 3Wultiplitation§tafeln nad) Slrt unfcrer
Sogarit^mentafcln, aud) bie 3öt|l für ba§ 5}er^ältni§ ber $cri*
p^eric jum Rrci§burd)meffer (tc) ift auf etma§ met)r al§ 3 be*
200 ^ols: %aS toxx von ben bob^lonifd^en Ausgrabungen lernen.
rechnet, ^ie Sabi|(oniet l^atten gmei 3<i^I^nf9fi^in^/ ^<^^ ^^i^^
malf^flem unb ba§ eigentlid^ n^iffenfc^ftli^e @ejragefimaU ober
2)uobeiimaIf9ftem mit ben @runbia^(en 60 unb 12, bie au§ bev
93eobac^tung aftronomifc^er @rö§enDerl^aItniffe genommen mürben.
ä(u^ bie ^Religion enbli^ ge^t auf manchen Sinien gemeinfam
mit bet 3lfttonomie. 3)ie ^auptgott^eiten ftnb bie @terngötter,
mit bem Sonnengott, bcm ÜÄonbgott unb bem ®ott ber 5rü^*
Ung^fonne an ber @pi^e; bie 3;empeltürme fmb ftebenftufig ge»
ma^ ben fieben Planeten; bie 3ni|tl^en finb teilmeife ftberifc^en
UrfprungS; bie XorfteOung, bog aflt§ in ben ©eftimen oorauS»
beftimmt fei, l^at i^re religidfen ^onfequenjen unb bie SSorfteQung,
bag ba§ 3rbifd)e ein älbbilb be§ ^immlifc^en fei, ebenfalls : ber
SBiUe @otte§ gefc^ie^t auf ®rben mie im ^immel, ber Äönig ift
ber ©teHoertreter ber (Sott^eit, ber Stempel entfpri^t bem ^im*
mcl§^au§. aSenn cnblic^ SWarbuf in öab^Ion, ^a^roe in 3frael
mie ber 9lpi§ in äleg^pten in @tiergeftalt oere^rt mürben, fo
brängt fi^ bie 93ermutung auf, ob biefe glei^mägige @rfc^einung
nic^t igenbmie mit bem SBorrürfen ber grül^IingStag' unb 9la^t*
gleiche in ba§ S^\6)tn be§ ©tier§ (oom ^di)t 3000 ab), alfo mit
einem neuen großen (Stritt im ®ang ber ©eftirnmelt unb bamit
beS ganzen ^oSmoS sufammenjubringen ift.
@S ift nic^t oon ungefätir, ba^ ba§ alte babglonifd^e ftultur«
potf, ba§ in ber 2lfironomic oorne bran ftel^t, auc^ ein auf^
fallenb entmidelteS 3tec^tSmefen gefd^affen ^at;
benn mie bie älftronomie fic^ mit ber Drbnung beS ^immelS be»
fd^äftigt, fo ba§ Siecht mit ber Orbnung ber @rbe. 2)ur(i^ ben
oor jmei ^al^ren in @ufa gefunbenen 2)enfftein $ammurabi§ i{i
ber babqlonifdie 9tec^t§ftaat oor unferem ä(uge mieber erftanben.
3)er S^önig ^ammurabi, oon bem baS benfmürbige @efe^ ausge-
geben mürbe, regierte um 2250 o. 6^r.; er mar ber 33egrünber
ber ^a6)t SSab^IonS unb ber (Einiger beS babglonifc^en 9ieic^eS,
ber bie @int|eit feines 93olteS burd^ baS gemeinfame @efe^ be»
feftigen moUte, fid^erlic^ ein SWann, ben bie ©efc^ic^te ben großen
Flamen beS 3l(tertumS jujugä^Ien tiat. 3)ie oon i^m ftammenbe
©d)öpfung ift nun baS ältefte ®efe^, baS mir fennen, ^erDor:^
ragenb babur^, ba^ eS bie einjelften SSer^ältniffe beS 93oltSlebenS
^oI§: f&a^ roh t)on ben bab^Ionifc^en SluSgrabungen lernen. 201
mit binbenber ®en?alt umfpannt. ®§ ^at feine ©eltung beliauptet,
\o lange ber babr|Iontjd^aff9rifd)e Staat übertjaupt beftanb, unb
roir bürfcn gcn)i§ annel^men, ba^ fein (Sinflu^ über SSabglonten
^itiou§ in bic übrige üorberafiatifd^e Kulturroelt ^ineinreid^te.
@etnem ^n^alt nai^ ift e§ ein faft rein bürgerlid^er ^obey; benn
au&cr wenigen ©ä^en ift baö ®ebiet be§ ^ultu§ unb beS ©lau*:
bcn§ nic^t berül)rt, unb ber ©efe^geber ift ber Äönig, ber atter-
bing§ ba§ ganje ®efe^ als ein ©efd^enf ber l^o^en ©ott^eit betrad^tet
ipiffen mö^te. ®er ®eift be§ föniglic^en ®cfc^geber§ ift ber beS
@taat^foiiaUSmuS auf abfolutifiifdier ®runblage; ber mäd^tige
^errfc^er beftimmt, ba^ fein 3BitIe in ädern gcfd^el^e, aber er er»
Märt, wie ein SBater für feine Untertanen fein ju rooUen unb mit
bcm ®efe^ inSbefonbere ben Sc^roa^cn einen ©d^u§ ju »erleiden.
3)ic 5önn ber Har geprägten 93eftimmungen ift bie be§ tripifc^en
^aQe§; bie ®efe^e erftredten f\6) auf bie mannigfaltigen ®ebietc
be§ priuaten unb be§ öffentlirf)en Sebcn§. ©ie motten nic^t b(o§
ein fefteS ©taatämefcn f^affen, fie fe^en oielmel^r bie ßulturbe*
bingungen baju üorauS, fo ba| mir aud^ ^ieburc^ auf einen meit
vox 2250 liegenbcn 2lnfang ber babqtonifdien Ä'uttur jurüdtge^^
fü^rt merben. SWan^c rot)en Ueberrefte unb graufame ©trafen
bcroeifen freiließ, ba^ ber Äönig ^ammurabi bie Äuttur jum teil
im ftampf mit ber ©arbarei erft burd^fe^en mu^te. ^m übrigen
bcf ommen mir ben ©inbrurf lebenbiger 2lrbeit auf aUen ®ebieten ;
^anbmerf, 2lrc^ite!tur unb ©d)iff§bau, fianbmirtfdt)aft unb SQBalb*
hiltur merben gehegt unb geförbert, Äanatifation unb Semäffe*
rung, ol^ne bie in Sab^Ionien feine Kultur gebeil^en fonnte, ftetien
in bef onberem ©^u^ : mer einen S)ammrife falirläffig üerfc^ulbet,
^at baS oerborbene ®ctreibe gu erfe^en unb für ben angeri^teten
^lurfc^oben ju l^aften. ©ingetienb unb I|uman finb bie 93cftim*
mungen über Kapital unb 3'^^ ^^^ ^^^^ ©c^ulbga^lung, mie
}. 93. öerfflgt mirb, ba§ ber ©^ulbner in einem ^ai)x ber SUli^*
ernte auf SÄuffdfiub feiner 3öf)lung Snfprud) t)abe. ^n fojiater
^infic^t gliebert fx^ ba§ fßolt naä) bicfem 9led)t§buc^ in ©flaoen,
greigetaffenc, %xtk unb fürfttid)e Se^en^männer ; ber ^of unb
ber iempel l^aben namhafte SSergünftigungen ; ber Kaufmann fte^t
oHem nac^ im ®ienft be§ SempelS unb ber ^riefterf^aft. S)ie
202 SB 0 1 3 : SS^ctS n>tr pon ben bab^lonifc^en ^ui^grabungen lernen.
Slerjtc unb S^ierärjte lüerbcn ju ben ^anbroerfcm gerechnet unb
il^re ®e6üt|r ift genau im @efe^ geregelt ; örjtlic^e ^ni^griffe xott-
ben auf§ ^ärtefte geftraft, ein Qz\i)zn bafür, roie anä) ^icr bie
Sultur mit ber 93arbarci, bie SWebijin mit bem Ouadfalbcrtum
aufräumen miü. SBe[onber§ au§ffit|rlic^ ift baS ®^e* unb ga*
miltenred)t be^anbelt, wobei ber grau eine nic^t unroürbige ©tel*
(ung jugemiefen mirb. äBa§ mir au|er biefem @efe^bud) über
bie aWoral ber alten 93abt|Ionier f^Iie^en tonnen, ift naturgemäß
nicf)t üiel; geroiß fatten unter ben ^Begriff be§ non ber ©ott^eit
gea^nbeten Unred^tS oormiegenb fultifciie SSergel^ungen, aber auc^
fittlidie Untaten, bereu Slufjäl^lung mit ben jel^n ©eboten wie
mit ben SBeftimmungen ber anberen gefitteten SSöIfer fic^ berührt
(pgf. bie 93efci^mörung§tafeln Sc^urpu).
SWer!roürbigermeife ftef)t gerabe ber ^ö^epunft ber babg*
lonifc^cn Sunft am SSnfang oon allem bem, roa§ mir oon
93abi)tonien roiffen, unb e§ gilt ^ier wie in Sleggpten, ba§ biefe§
!laffifd)c Slltertum fpätcr nid^t metir übertroffen, nic^t einmal me^r
erreid)t rourbe. ®ie graujofen l^aben in 2:ello ©tatuen gefunben,
bereu majeftätifdie ©c^ön^eit unb tec^nifc^e Steife man junäc^ft
bloß burd) bie Sinmirfung ber griec^ifc^a'ömifc^en Äunft meinte
erflären ju fönncn, bie aber in SBirfli^feit jmifc^en 3000 unb
2500 entftanben finb. ^[tinen gefeiten ft^ bie in SHppur gefun*
bencn 3)entmäler mürbig ju. Älcibung unb ^aartrac^t biefer
©tatuen bemeifen jugleic^, baß bie SBabglonier jener ^eriobc bereits
t)erf)ältni§mdßig ]^od)jioilifierte 3Kenfc^en maren, mieber ein 3^*^^"
bafür, mie roeit mir bie 3tnfange ber babglonifc^en Kultur jurüd ju»
oerlegen l^aben. Slucf) bie 2:atfad)e, baß ba§ SWaterial ber ©tatuen
üon rocit ^er nai^ ^Sab^lonien gel^olt mürbe, fpricbt für bie ^o^e
Slüte ber Äunftübung in jener faft märd(enf)aften SBorgeit. Sbenfo
bemunberung§roürbig mie biefe ©tatuen ift bie triegerifc^e ©jene
auf einem ©tege§benfmal au§ bem 3. Qa^rtaufenb, bie fi^ burc^
fü^ne Äompofition unb lebenbige 93e]^anblung au§jeic^net. Qm
ganjen trägt bie babglonifdi-affgrifc^c Kunft ben ©^aratter bcS
3Wafftgen, ©igantifd^en unb ift in erfter Sinie ard^ttettonifdj. ®ie
^aläfte unb ^^empel maren mä^tige 3lnlagen. Sin ben Soren ber
^aläfte ftanben bie riefigen, f elf en^aft ruhigen ©tier* ober Sömen»
%ol$: SBSa§ wir uon htn babglonifd^en StuSgrabungen lernen. 203
toloffc mit Slblcrflügeln unb bärtigem 3Wenfd)enfopf, bie bic feinb*
liefen 3)ämonen obrocliren follten unb bie für bie babglonifdi'affg-
rifc^e fiunft eigentlid^ tijpifc^ finb. Slu^en^ unb ;3nnenn)änbe ber
?ßalafte marcn mit einer Unja^l oon SReliefS meift in 3llabafter oer«
jicrt, bereu naturaliftifd^e Sarfteßungen au§ bem Ärieg§:= unb
J^agb^ bem ^of* unb bem bürger(id)en fieben, namentli^ in ber
93e^anblung ber Siere un§ bi§meilen ganj mobern anmuten unb
ftct§ auf§ neue feffeln. S)ie Sempel umfaßten au§er bem
Scmpelraum allerlei fonftige ©ebäube, @erid)t§* unb Sant^äufcr,
oicifad) eine grofee, nad) n)iffen|(^aftli(i)en ^rinjipien georbnete
33ibliot^et mit Unterrichte* unb ©tubierjimmer für bie ^riefter
unb bie ©^üler; aujserbem ftanb bei jebem 2:empel ber meift
ficbenftufige, jumeilen in ben fieben garbcn ber Planeten au^ge^
führte Sempelturm, auf ber oberften ©tufc mar bie ©ternmartc,
n)ät|renb ba§ innere ber 2:ürme mol^I alö 9WaufoIeum üon @öt*
tern ober Äönigen biente. — 2lu§ ber S i t e r a t u r be§ bahr)-
lonifdjen 2lltertum§ ift oor allem ein umfangrcid|e§ Slational-
uttb $elbenepo§ (ba§ @itgamef^=@po§) ju ermähnen, mit bem bai^
alte SSabglonien ben anbern SBöttern rü^mlid^ oorangefcftritten ift.
6nbli^ no^ ein S3Bort über bie ba bplonifc^e ^Religion.
©ie mar mie gefagt itirem Orunbjug na^ eine ©ternreligion unb
^at 2let)nlic^feit mit ber griec^ifc^en ©ötterle^re ber flaffifd)en
3eit: cig ift ein monard)ifd^ georbneteS SSielgötterfgftem unb bie
®öttcr* unb ©ngelgeftalten merben at§ fc^öne, eble SWenfd^en bar^^
gefteHt. kleben biefer jioilifterten g^orm ber Vielgötterei, bie bem
ÄuUurftaat entfprid^t, ftel)en mol^l einerfeite Stauungen unb oer-
eiujelte 2lnbeutungen baoon, ba^ l^inter bem SSielgöttermefen eine
eiu^eitli^e ©ott^eit ju beuten fei, anbererfeitS aber ber maffioe
9tberglaube, 93efc^mörung§funft unb 3)ämonenfurcf|t, 91aturbicnft
unb 2:cmpeIproftitution. 3)ie oorl^in genannten ©tufentürme, bie
attemna^ auf bie fumerif^e Qtxt jurüdge^en, fc^einen eine be=
beutfame religiäfe ^\>t^ oeranfc^aulid^en }u foHen, nämlid) bie
Gin^ett be§ in ©todfmerte (^immet, ®rbe unb Untermelt) ge*
teilten 9Q3eItaIte. ®ie jat)lreic^en ©ötterl^gmnen, bie unS erl^alten
finb unb bie fic^ in ber gorm mit ben ifraelitifclien ^^falmen be=
rühren, atmen jum teil einen eblen fittlid)en ®mft unb einen
204 S3 0 ( 5 : ^a§ mir Don ben bab^Conifc^en ^[u^grabungen (emen.
poetifd^cn ©ci)n)ung. 93on ben rcligiöfcn Siebern ^aben bie fog.
Su^pfalnten ba§ meifte ^fntereff e auf fic^ gelenW; fie fmboer*
mutli^ im Sauf ber 3fö^>^taufenbe (oom 3. ^ötirtaufenb ab) auS
beftimmten einjcinen 3luläffen entftanben unb bann in ben litur-
gifc^cn ®ebrauc^ übernommen morben. S33a§ mir an i^nen Der*
miffen, tft einmal ba§ Hare unb tiefe ©ünbengef ü^l; benn e§ roirb
ni^t crft^tlid), ob ber reuige SBeter über feine ©ünbe tiagt ober
nur über bie burd^ bie ©ünbe ^eroorgerufene ®otte§ftrafe unb
ob er nic^t etma erft au§ ber @otte§ftrafe auf eine oor^anbene
©ünbe an fid^ jurürffc^lie^t; fobann fe^tt bie frö^Iic^e innerlt^e
®emi§^eit ber ©ünbenoergebung unb ber ^erjenSbefreiung, bie
in ben bibltfc^en ^u^pf atmen bod) immer bur^brid^t; ber bab^«
lonifi^e SBeter nimmt an, ba§ feine ©ünbe burd^ bie erlittene 9iot
in ber ^auptfad)e gebüßt fei unb ba^ ®ott ooDeubS ben SReft
ber 83u^e in ®naben erlaffen lönnte.
S)a§ 33i(b ber aItbabglonif(f(en Kultur märe nic^t oollftänbig,
menn mir nic^t beifügen mürben, ba§ biefe Kultur }um großen
2:eil unb ju gemiffen Szxkn normiegenb unter bemSBalten
ber ^riefterf^aft ftanb. Qn SBindEter§ etma§ ptiantafieooQer
3)arfteÜung erfcf)eiut bie babglonifd^e ^riefterfc^aft al§ eine über
bie 3^i^^n ^in unb über bie räumlid^en ®ren3en be$ SanbeS ^in«
au§ feftgeglieberte 3Wad^t, bie in allen Säubern an aUen ©roß*
tempeln i^re tteritaten SBerbünbeten ^atte unb eine 2lrt gciftiger
SBeltlierrfd^aft auSjuüben fuc^te. :3^re SÄa^t ftanb auf jmei
Pfeilern, auf bem SBefi^ ber SBiffenfc^aft unb auf bem 93efi§ beS
®etbe§. S)ie ^eimat ber 3Q3iffenfc^aft maren bie Stempel;
bort mürben auf ber ©ternmarte bie ®efe^e be§ ^immet§ bcob*
achtet, bort maren ^riefterfc^ulen, in benen mit allem S^eif ge*
arbeitet mürbe; e^ ftnb un§ auiS ben 3ibliotl^e!en eine SRenge
miffenfc^aftli^er SQBerfe überliefert, ®rammatiten unb ?ßarabig*
menfammlungen, fumerifdf)*femitifc^e SBörterbüc^er, bie bem ^totd
ber ©prad^forfd^ung bienten, Siften oon ©pnonrimen, Kommentare
ju alten gelieiligten 93üc^ern, matl^ematifdje SBerfe unb geogra»
pl^ifc^e aSerjei^niffe, S^afeln Don botanifd^em, joologif^em unb
mineralogifd^em Qn^alt, mobei j. ©. bie Stiere flaffifijiert mcrben
unb jebeS 3:ier einen boppelten, ben oolfömä^igen unb ben miffen*
$ o 1 5 : ^a§ it)iY Don ben bab^lonif d^en ^uägtabungen lernen. 206
fd)aftli^cn Flamen fü^rt. S)a bicfc Siafcin jum teil jrocifprad^ig
abgefaßt jmb, l^aben toir tool^t anjuncl^men, ba§ fd^on bie fumc*
ri|(^cn ®inn)ot|ncr fol^c ©tubien trieben. ®ie materielle Unter*
läge ber geiftigen ^riefter^errfd^aft aber n)ar baburc^ g^fc^offen,
ba^ ani) ba§ ®elbn)efen unb ber n)eiti)erin)eigte ^ anbei, bie
Raufntannjc^aft unb bie Santen mit bem Stempel Derbunben maren.
3)iefc mächtige ^rieftcrfd^aft fann ben Äönigen nid^t immer an*
genehm gemefen fein. So laffen ftc^ aud) in ber ©efd^id^te 93a*
bgbnien^ unb 2Iffprien§ ©puren finben oon einem intereffanten
ftampf jmifc^en ^ilitärmarf)t unb ^ierard^ie, ober roenn man [o
fagen will, jmifd^en ©taat unb Äird^e, unb in biefcm Äampf be*
beutet S3abqlon ba§f elbe wie SRom ; bief e SQBeltftabt be§ SlttertumS
erlebt bie gleidie gefd^ic^tlic^e äBanblung mie bie äßetropole be§
ÜWittelaIter§, inbem fie au§ ber ÄönigSftabt fpäter^in jur ^od^burg
ber ^ierarc^ic geworben ift.
II. 3)ie Sebeutung ber babglonifd^en Äultur
für bie SBcItfuttur.
9lad^bem ba§ ©c^lagmort 93abel*$ibel einmal geprägt mar,
geriet man in ben großen gel^ler, bie babglonif d^en 2lu§*
grabungen immer nur jur öibel unb jum SSoI! Qf*
racl in ©ejiel^ung ju fe^en. S)a8 mag für ben 2^cologen,
für ben religiös intereffierten SWenfd^cn unb für ben öibetlefer
too^I ba§ roi^tigfte fein, aber e§ ift bod^ nur eine fet)r einfeitige
aSetrac^tung, burd^ bie @ro^e§ pertleinert unb Kleine^ ungebü^r^^
li^ Dergrö^ert morben ift. S3Bir werben fel)en, baj5 bie 93ebeu*
tung ber babtjlonif^en Kultur für Sfrael unb für bie 93ibel in
ein Heines SWa§ gefaxt merbcn fann, mir felien umgefel^rt, ba§
ber <£influ§ 93abglonien§ auf bie aOßeltfultur jeitlii^ unb
roumlic^ roeitl^in gereicht ^at. 3)iefer Unterf(^ieb l^at feinen legten
@runb barin, ba§ ber SRu^m be§ alten 93abr)Ionien§ ni^t bie
SReligion, fonbern bie Kultur mar.
3)ie S33eÜfultur alfo l^at fi^ in bem alten 3«>eiftromlanb
üiele§ geholt. @§ ift ja an fic^ unmöglich ju beulen, ba^ ein
geiftiger Sörper oon fold^er Äraft mie ber babglonifd^e in. feiner
206 SBols* ^^^ ^i^ ^on ^^^ bab^tonifd^en Ausgrabungen lernen.
SBirfung foQte auf ben 9}aum be§ eigenen Sanbe^ befc^ranft ge=
blieben fein. 3^^«"^ machen wir un§ leidet ein falf^eS SBilb von
ben SBer^ältniffen be§ antifen 95erfet|r§; wir meffen i^n am
l^eutigen, fe^en il^n jum tieutigen in (Segenfa^ unb fornmen ju
ber $$ermutung, bag ba§ Rittertum überall ©renjpfä^te^ iBerfe^r§«
fc^ranfen, örctterroänbe jroifc^en feine einjetnen SSölfer gefterft
unb jebeg Sanb, inSbefonbere bie Heineren Sdnb^en jebeS ein ©tili*
leben für fic^ geführt t)ätte. ^aoon ift aber fogut n)ie baS ®t'
genteil ri^tig. 2)ie antiten Sänber unb bie antifen 3)lenf(i^en
!amen ebenfo untereinanber unb ebenfo in lebenbige unmittelbare
gütilung miteinanber mie bie äßenfci^en Don lieute. ^urc^ ^ara<
manen unb ©c^iffal^rt, burd^ ben ^anbel§Derfe^r unb bie unauf«
l^örtic^en Kriege, inöbefonbere burc!^ bie Deportationen unb SBölfcr»
manbcrungen ftanben bie Stationen unb bie ^fnbioibuen oom
@upl(rat unb Sigrid bis jum 9]il unb bis nac^ 2lrabien unb ^n*
bien in einem fortroätirenben S)uvc^einanber unb Q^^einanber; bie
fü^rcnben SSölter Ratten i^re ©efanbten an ben fremben ^öfen
unb frembe ©efanbte an ben eigenen ^öfen, bie Potentaten waren
in brieflid)em SSerte^r oerbunben, bie ^riefter ber oerf^iebcnen
größeren Tempel n)aren oielleic^t fogar }u einer geheimen Siga
miffenfdjaftlic^cr unb politif^er 9latur jufammengefc^loffen. ©i*
d^erlid) tiaben bie Kulturoölfer beS 3lltertum§ bei biefem gegen«
feitigen 5ßerfe^r nid)t blo§ materielle ©egenftänbe, fonbern auc^
bie ®üter ber geiftigen Äultur auSgctaufc^t unb ^aben bie Heineren
SSötfcr il)rc§ aJlaci^tbereirf)§ baoon teilroeife ernät)rt. S)a nun unter
ben üorberafiatif^en Äulturftaaten be§ 3lltertumS ber babt)lomfd>e
entfcf)iebcn an gefc^loffener Kraft obenan ftetit, fo ift anjune^mcn,
baß ber ©influß ber babt)lonif c^en Kultur am roci*
teften unb nad^t)altigften geroirtt ^at. @S ift ja au^ in
biefem ©türf in le^ter Qtxt mandjmal übertrieben morbcn; man
i)at oon einer gemeinfamen üorberafiatifd)en Kultur gefprorf)en,
bie 2leggpten, 93abglonien unb 2lrabien mie einen einjigen Or-
ganismus umfaßte unb in ber 53abi)lonien ben Son angab, man
l^at bie rocltmeitc Stellung SabglonienS mit ber beS QSlam im
3Jlittelalter ober mit ber grantreidiS im 17. unb 18. ^atir^un*
bert oerglidjen, eS mar in ber antifen unb in ber mobernen SBelt
$0 1$: SBad n>ir x>on ben bab^Ionifc^en ^uiSgrabungen (emen. 207
faft nic^t§ nte^r, bQ§ man nict)t fojufagen auf t)a6t)(onifc^en Ur»
fprung anfo^; ober ba§ Uebertreibenbe unb boS UntontroQterbare
abgejogen, bleiben bod^ groge unb fleine @(emente babglonifc^et
fiultur befielen, bic fic^ in ber Süntite unb bi§ auf ben je^igen
£ag ausgebreitet unb forterl^alten ^aben.
3Bir fteQen un§ alfo oor, n)ie ba§ Slltertum manc^e§
bobplonifc^e j%apita( übernommen t|at, unb n}erben
bann n)eiter einige @rbftudte ju nennen ^aben, bie
noc^ tieute pon SBabglonien t)er unter unS uorf)an»
ben f t n b. ®ie alte 3^it perbanb mit bem 9lamen „®t|albäer"
bie SBorfteöung ber ®elet)rfamteit , inSbefonbere ber get)eimen
Stemmiffenfdiaft unb ber 3ci<^^nbeutung. Unb roorin biefcS ur*
ölte aSolf tatfäc^lic^ SDIeifter mar, barin l|at eS aud| Diele anberen
unterri^tet. SEBäl^renb man früher bie aleyanbrinifc^en ©ele^rten
ate bie Se^rer in ber 2lftronomie für bie 3Sölfer ber alten
6rbe anfe^en mu§te, ergibt ftd) nun, ba^ biefe ©elefirten felbft
nrieber ©c^üIer ber babqlonifc^en 3Jieifter waren. 3)a§ babglo*
nifd^e Softem ber SWonbftationen j. 93. I^at feinen SBeg nad^ 3!ni>i^"/
Arabien unb ®^ina gemacht, ein 93emeiö für ben 3iiföntmenl)ang
ber antifen 338elt. 93efonber§ frud)tbar in if)rer SSerbreitung mar
bie ßunft ber 3(ftrotogie unb ber oermanbten fünfte, unb aud)
bie oon ben ©ternen abgeleitete Qhtt ber uerfc^iebenen 3^i^ölter
ift jum ©emeingut be§ 2llterlum§ gemorben. Sei allem fobann,
roa§ in ba§ ®ebiet ber Qa\)l gehört, ^aben mir ©runb, nad^
babqlonifdicr ^er!unft ju fragen. 2)ie ^eimat ber pt)tI|agoreifd)en
3o^tenp^ilofop^ie, ja fogar be§ pgt^agoreifc^en fiel)rfa^e§ felbft
ift aüemna^ meber ©ried^entanb no^ auc^ ^nbien, foubern juerft
Sabqlonien gemefen, unb e§ ift bie§ oiellcid^t nur ein 93eifpiel
für mond)c§ anbere ©tüdt alter (Sele^rfamteit, ba§ oon 93abr)»
lonien nac^ ^erfien unb ^ubien ober nad) ^^liönisien unb ftlein«
afien unb oon biefen Sänbern nad) ©ried^enlanb gemanbert ift,
3)urd| bie babqlonifc^en 2lu§grabungen ift bie ^^rfc^ung fomit
inftanb gefegt, ben SBeg, ben bie im Sii^t be§ gried)ifci^en 3lltcr«
tum§ flar bafte^enben ^bztn oon i^ren Urfprüngen t)er gegangen
fwb, um ein ganj beträc^tli^eö ©tüd roeiter jurüd ju oerfolgen,
unb eS entfielet bie reijootle Slufgabe, bie ein3elnen 9Scrbinbung^=
208 SBoIg: 9BaS tpit von hm bab^lonifd^e^ Sluj^flrabungen (emen.
ftredcn auf bicfcm langen SEBcg aufjufpürcn. Sludf} bie @ninb*
läge ber SBiffcnf^aft, bie l^anblic^c ©c^rift, ^abcn bic SBabg-
lonicr einer großen SKniatil oon Sßöltern übermittelt benn ba§
Äeilfi^riftfgftem forool^t wie ba§ gebräuc^tict)c SRatcrial ber Äeil*
fd^rift, ber 2:on, jtnb pom SWutterlanb au§ nac^ allen ^immete*
gegenben ^in üerpftanjt roorben. SBeiter ift bie Sßermutung er*
laubt^ ba^ abl^ängig unb unabtiängig pon ber Verbreitung ber
babgtonifd^en @d)rift unb Sprache ^eile ber babglonifc^en Site»
ratur, ber 2Dlptt)en unb ®pen, ju ben SRad^barn unb über fic
l|inau§brangen, roie man j. 33. ©puren uon bem ermäl^nten ®il*
gamefd)=@po§ unter anberem in ber gried^ifd^en ©agenmelt finben
miU. 3»n öDcn B^it^i^ ip ^^ fobann be[onber§ ber ©trom beS
^anbelS, ber bie Äulturelemente oon einem Sanb inS anbere über*
leitet, unb ba eine fotd^e ©ro^mad^t wie bie bab9lonif(^e meift
au^ bie tommersieDe SSor^errfc^aft füt)rte, fo ^ot ber ^anbel tnel
©abglonifd^eS in bie SBelt hinaufgetragen. 3unäd^ft bic SRittel
be§ äußeren SJerfel^r^; faft alle SÄa^e unb ©eroic^tc be§
2lltertum§ ftammen oon ©abglonien, ba§ überaus einfädle, praf*
tif^e SWa^friftem ber SSab^lonier, baS wie unfer iffletcrfgftem
Sängenma^ unb ^örperma^ oerbanb, fomie ba§ Don il^nen feftge«
legte S3er^altni§ jmifdtien Äupfer*, ©ilber* unb ©olbroert ^aben
für ba§ antite aBirtf(^aft§leben ^eroorragenbe Sebeutung geroon*
nen. Slöeiter fmb bie ^fni^up^i^ unb Kleinfunjl, inSbcfon^
bere bie Seppic^meberei, bie SSuntjiegeltec^ni! unb bie ©teinfd^neibe*
tunft bem alten ^ulturlanb mannen 3)an! fc^ulbig, mie Dermut«
lid) bie SBurjeln ber ttaffifd^griec^ifc^en ^laftif bi§ in ben rcid^en
93oben 93ab9lonien§ unb SlffgrienS l^inunterreid^en. ©nblic^ gingen
mit bem ^anbel aud^ ©tüdFe ber babQlonif(^en iRe^tSanfc^au«
ung unb ©efeüfd^aftgorbnung in ben Ärei§ ber antifen SBcltein
unb l^aben fdt)lie^lic^ i^ren Slnteil an bem großartigen ©aumerf
be§ römifdjen Siec^t^f^ftemS mitgehabt.
^a baS @efe^ t>on ber @rt|altung ber ^raft au^ im geiftigen
Sebcn gilt, fo mu§ eine gortroirlung ber bobqlo*
nifdien Kultur bi^ in bie heutige ffielt hinein an*
genommen werben. 9Ba§ oon babglonifd^em ©toff in ben antifen
grie^ifc^en Organismus überging, ma§ bann fpäter in bie SRifc^^
$ 0 1 §: äSSaS mit oon ben bob^lonifd^en iKu^gtabungen lernen. 209
bilbung be§ oricntalifci^«europäifc^cn ^eßcniSmug Slufna^me fanb
unb roa§ enblid) oon babglonifc^en 3^becn im ^fubentum, ©Triften*
tum unb Qilam fid) nieberfc^tc, baS ^at fic^ irgenbmic in üer*
borgener ober offenfunbiger, erfennbarer ober ntd^t me^r erfenn«
barer SBeife in ber abenblänbif^en Äultur forterl^atten. Qxoax
bie ganjc bab5foni|d)e SBeltanfd^auung oon bem @inftu& ber ®e*
jiirne auf ba§ Seben ber Srbbemo^ner ift mit bem 3)urc^bru(^
ber neuen SOBelt* unb ^imme(§erfenntni§ ju it)rem ®nbe gefom*
men unb e§ ift beseid^nenb, bag ber ^ofaftrolog @eni, ber fo
lebhaft an jene ©elel^rten ber ©ternroarten am ©upl^rat unb a:igri§
erinnert, ein le^ter SSertreter jeneg alten Olaubeng mar, ber nad^
Sopemituö unb Äepler fid) nic^t metir galten !onnte. 2luc^
fd)aut ber. 9Wenfc^ ber neuen ßeit nidjt me^r mie ber 93abglonier
auf bie oon Slnfang an f eftgelegte Urorbnung ber fo§mif^en 9la=
tur jurücf, fonbern auf bie immer meiter ge^enbe ©ntfaltung be§
menfc^Iic^en ®eifte§, ba§ golbene Zeitalter ift i^m nic^t, roie im
Altertum überall, eine SQSieber^olung beS erften göttlichen 3lnfang§,
Jonbern bie fc^lie^tic^e SSoHenbung ber fämttic^en oon ber ©ott:^
^eit geliehenen Kräfte. 2lber einjelne ft(^tbare ©puren oerraten
boc^, ba§ oon ber uralten babglonifc^cn ft'ultur bi§ jur I)eutigen
eine ununterbrochene Sinie läuft, ©o l^aben fic^ bie ©runbjüge
icnc§ erften §immel§f9ftem§, bie (Sinteilung ber (äfliptif, blcibenb
feftgefe^t; aud) mad)t fic^ bie fieutige Slftronomie baran, ju ben
alten ©^albäern roieber in bie ©djule ju ge^en unb i^re Seob^
Q^tungen über ben 3Wonblauf, bie Planeten unb bie g'^ft^^^^ff^
ftc^ JU nu^ ju machen. 3)a§ Üierfrei^friftem unb bie meiften SRa*
men ber Sierfrei^bitber (j. 95. SBibber, ©tier, 3^ißi"9^/ ©forpion)
jinb je^t norf) biefelben mie etiebem; bie Benennung ber SBoc^en«
tage na^ ben Planeten ^at fid^ erhalten, ©elbft ba§ äBort -3fftar,
ba§ im SSabplonifc^en oft ein ©ammelname für „©lerne" ift,
roill man aU SWuttermort für ©lern, aaxpov, englifc^ star beijiet)en.
Unferc „^eiligen S^^^en", oor allem bie 3^^!^^ 7 unb 12, l^abeu
an^ jener Urheimat ber Slftronomie il)ren ^eiligen ©^aratter bi^
}u un§ mitgenommen, ebenfo fd)eint bie Unglürf^jat|l 13 oon bem
babglonifc^en 13. (Unglü(jf§--)2yionat, bem überjäfiligen ÜWonat,
^erjurü^ren, ber jum Sxozd ber Äalenberorbnung oon Qdt ju
Britftl^ft für Ideologie unb Äir(^e. 14. 3o^rg , 8. $eft. 15
210 ^ 0 1 j: 9Ba$ toix von ben bab^Ionifd^en ^(uiSgrabungen lernen.
3cit aU ©c^altmonat eingefc^oben rourbe unb beffcn 3:iertrei6*
jeic^eu ber Stabe, ber UnglücfSrabe, roar. 2)a§ 3iff^^^tött ber
U^r mit feinen 12 Stunbenjiffem unb feinen 60 SWinutenein*
f^nitten rul|t auf ber babgfonifd^en ^immetömeffung; ba§ größte
bab^Ionif^e Sängenma^ war bie 3)oppelftunbe, bie Iieutige 9WeiIe,
ein ©eifpiel für bie SBerbinbung üon Sängen» unb 3^ihiiö§, roie
fte von ben SSabgloniern geübt rourbe. ®a§ ©eyagefimal* unb
3)uobejimaIfi)ftem t|at [xi) über bie äßelt ^in verbreitet unb j. 9.
im ®u§enb, im (Srofc^en unb im ^enng, bem 3"^ö^ft^'f^ißiwg,
Stad^fommen gefunben. SSon folgen Äleinig!eiten lie^e fic^ nod^
mand)eS anführen unb wirb no6) manc^e§ im Sauf ber ^orfc^ung
ftd)ergefteKt werben ; e§ finb für fi^ betrachtet f (eine S)inge, ober
jufammengenommen fte^en fie ate ©eroeiS bafür ba, ba§ bie 9tr»
beit ber alten ^utturDöIfer nic^t umfonft mar unb ba§ fie mit
bem Untergang biefer 93ölfer nic^t aud^ untergegangen ift. SJiel^
teid^t bürfen mir jufammenfaffenb fagen, ba^ bie 9)lenfd)^eit,
menn fie ^eute in bem oberen ©todmert be§ ©ebäubeS ber SBelt*
fultur TOO^nt, juüor burd) ba§ mittlere ©todtroert ber gricc^ifc^«
römifc^en unb burc^ ba§ untere ber oorberafiatifct)en (babglonifc^*
äggptifc^en) Kultur gefc^ritten ift unb ba§ burc^ bie babqtonifc^en
2lu§grabungen biefe§ untere ©todfroert immer me^r bloßgelegt
mirb, roä^renb ba§ mittlere, ba§ ber gried)ifc^=römifc^en Äultur^
un§ fd)on feit langem betannt mar.
in. S)ie Söebeutung ber babijtonifd^en Kultur
für 3if^a«I-
3u ben Sanbem, bie im ©d)atten SSabglonienS fapen, ge»
^ört aud^ ^aläftina, unb gumeilen l|at fid) feine @efct)idE)te mit
ber be$ ©roßftaateS aufS engfte oerbunben. 'S)ie StuSgrabungen
jmingen baju, mit ber ^folierung be§ biblifc^en 93oIte§
einSnbe ju machen. 3)iefe ^folierung mar oon ^auS au§
eine bogmatifc^e, eine Qfolicrung ber Offenbarung unb ber 9le*
ligion Qfrael§, fie t)atte aber weiter ju ber SWeinung oerfü^rt,
baß biefe^ SSölfc^en audt) in politifd^er unb tulturcUer ^infic^t
wie in einem ©otte^garten für fid^ gcmad^fcn fei, inbem foroobl
bie guten 5^üd)te al§ ba§ Unfraut ganj allein axx^ bem einge»
y
^01$: SS^od xoxx oon ben bab^Ionifd^en ^[udgrabungen letnen. 211
friebigtcn ©oben fclbft l^croorgcfommen Toären. ®iefc 3lnf(^auung
loiberfprid^t allem Seben, auc^ allem antifen Scben, fie mibcrfprici^t
bem biblifc^cn Seric^t unb fte mirb burc^ bic SluSgrabungen doI*
lenb§ utimögli^ gemacht. SSielmel^r erfahren mir au§ ben ivi--
inf^rif Hieben 3)entmälern, in meieren Sebcn§bebingungen unb
3eitoer^ältniffen 3f[rael aufgemadjfen ifl. 3">if4^n bie großen
fiulturftaaten be§ alten Oriente, bic unter fi^ burc^ S3erfe^r§*
ftra|en Derbunben maren unb bie i^re fleineren 9h^barn unter
i^rem Sinflu^ hielten, lag ba§ minjige Qfrael ^ineingebettet, unb
mir ^aben anjunetimen, ba^ nic^t blo| ber materielle ^anbel unb
SSerfe^r feine ^lä^e in ^aläftina ^atte, fonbcrn ba^ auc^ ein
geiftiger 3lu8tau|c^ jmifd^en ben großen Äulturlänbern unb bem
Meinen Kanaan beftanb. ®a§ SÄlte 2:eftament bringt ^fract l^aupt*
fdc^lic^ mit ©abglonien unb SKegppten in SBerbinbung; t% ift ber
nationalen ^bftammung nac^ ein älbleger Don SBabglonien, fofern
äbra^am auS SKefopotamien !am ; el^e Qfracl fic^ fobann ju einem
3Jolf jufammenfctilog, ftanb eg in ber unmittelbaren ?lä^e ber
dggptifc^en Sultur unb bei ber Organifation be§ jungen 93olf§==
rocfenS ^atte ber äggptifc^ gefd)ultc 9Wofe au^erbem einen SRi«
bioniter an feiner ©eite. Un§ intereffiert im Slugenblid nur bie
Sejie^ung 93abglonien§ ju Qf^^el, bie entfpre^enb ber nationalen
Sermanbtfc^aft auc^ bie engfte geroefen fein mu^. 2luf biefem
$unft aber, auf bem bie ^lut ber ©abrilonologie fid) am mäd^tigften
ergoffen ^at, ift por allem SSorftd^t oor Uebertreibung nötig. @§
ijt nid^t rec^t, bem Sßolf Qfrael, ba§ freiließ ber Quantität nac^
eine SBinjigfeit mar, ba§ aber j. 93. eine eigene ©d^rift befa|,
alle politif^e unb fommerjielle ©elbftänbig!eit, ja fogar bie re«
ligiöfe (Sigenart abjufpredtien, unb au^erbem barf bie 93ejie^ung
dfrael^S ju Arabien, älegi^pten unb anbern ^ulturlänbern ni(^t
oerfc^roiegen ober mieberum babgloniftert merben. 2lnbrerfeit§
ift aUerbingS roal^rf^einlid^, ba§ im nieberen 95olf§leben 3>frael§
mond)e§ babglonif^e ©lement mar, oon bem mir auö bem 21. 2:.
nichts ober nic^t§ beutlid)e§ erfaliren.
9laturgemä^ mar bie 93erü^rung jmifc^en ©abglonien
unb ^aldftina bejm. ^^fraet nic^t immer gleid) ftarf;
e§ gab 3^^*«"/ n>o ber babglonifc^e Körper nid)t imftanb mar,
15*
212 )B 0 1): 9BaS mix oon ben babqlonifc^en Ausgrabungen lernen.
n)eit aber fi^ i)\na\xS ju roirfen, umgetetirt {amen 3^^^^^/ ^^ ^^^
nen ein mächtiger ^auc^ Don xf)m auiSging, ober 3^iten, in benen
bie ^fraeliten in bie unmittelbare 9lä^e feinet ®influffe8 gcjogen
maren. 2)ie erfte ^erü^rung ift n)ot)t bamit gegeben, ba| bie
Sinnen ber :3fraeliten auS SRefopotamien famen, ju einer 3^tt,
n)o bie babglonifc^e Kultur löngft i^re Entfaltung gehabt ^atte;
mir l^aben feinen ®runb an biefer Slngabe ber ifraelitifc^cn @e»
fc^ic^tfc^reiber }u jmeifeln, mornac^ alfo oon 9lnfang an bahrf*
lonifd^eS SBlut in ben Slbern be§ bibtifd^en fßolt» gcffoffen ift.
Sie jmeite namliafte ^erül^rung mirb au$ bem 2iel=^l«amama«
f unb erfid^ttic^, ber bie 3^it «m 1400 beleuchtet unb un§ belehrt,
ba^ ^aläftina mit feinen yiaö^haxn bis auf Slegppten fic^ gu jener
3eit ber bab^Ionifdien Spraye at§ ber Sprache be§ polttifd^en
£e6en§ bebiente unb ba^ e§ mol^l auc^ fonft unter ben @influg
ber babglonifd^en Äultur einbegriffen mar; jebenfaU^ mu^te eS
bo^ für ba§ jmifc^enliegenbe ^aläftina feine Säebeutung ^aben^
menn ber bab^lonifc^e @ro^tönig mit bem $^arao im unmittet«
baren politifc^en 93erfe^r ftanb. Sarnac^ mare alfo fomo^l bie
Oegenb, in ber 3Wofe ftc^ mit feinem 9SöItc^en juerft einbürgerte,
a(§ auc^ ba^ fianb, in ba§ fpater bie oerfd^iebenen Stämme i^^fraelS
einsogen, in ber Sphäre ber babglonifd^en SBelt^errfc^aft gemefen.
©e^r bead)tenSmert ift, baj5 jroifc^en 1400 unb etwa 900 ein
birefter potitifd^er 3wföntnten^ang jmifd^en ber SRorbmac^t unb
Kanaan nic^t beftanben t)at. Qn ber ifraelitifc^en Hdnig§}eit ift
bann bie mefopotamifdje ®rogmac^t bem {leinen 93ol{ ganj na^e
gerüdtt, fo na^e, ba^ ba^felbe oon i^r politifc^ erbrüdtt mürbe
unb e§ in feiner potitif^en ^ilffofigfeit nac^ ber Sletigion be«
ftarten gcinbe^ griff, unb i>a% bie geiftigen %ü\)xtx beS SBoKeS fid^
potitifc^ unb religiös beftänbig mit ber ©rogma^t auSeinanber«
gufe^en Ratten. Sßieoiel bie 3f^Q^(iten fobann in unb na^ bem
babglonif^en Sfil oom fremben Sanb angenommen ^aben, iji
nic^t Ieid[)t ju fagen, mo^l me^r auf bem @ebiet ber duneren als
auf bem ber inneren Kultur; befonberS ift bejttglic^ geroiffer re»
ligiöfer ^bcen be§ nadiejüifc^en ^lUbentumS, benen man gerne einen
babt)lonifc^en Urfprung gibt, fc^mcr ju entfc^eiben, jn melc^er
3cit fic in ben ifraetittfc^cn 93efi^ übergegangen fmb.
^ 0 1 5* ®^^ ^i^ ^on ^^n bab^Ionifd^en ^ui^grabungen lernen. 21B
SBSaS erfahren wir nun burdi bic 3Iu§3rabungeu über ^ff^acl
unb Aber bic Sebeutung Sab^IonicnS für Qfrael im einjelnen?
3unäc^ft geben unS bic Reitinf Triften bantenSroerten Sttuf«
f(^Iu$übcr bic ©cfc^ic^tc Qf^öcU. SBir bctommen j. 93. al§
fefte S^W^ ^ött bcn S)cnfntälern bic ßa^ten 854 (Si^lad^t bei
Rartar groifc^en ©almanaffar II unb feinen f9rifc^*paläftinenftfd)cn
©egnem, worunter 2l^ab) unb 842 (Iributiciftung bcS 3cl|u an
©almanaffar II), rooburc^ unfcre bi§^erige biblifdie ®^ronoIogte
um einiget geänbert rourbe ; wir erfclien, roa§ für ein bebeutenber
fiönig politifi^ betrad)tet ber ^önig äl^ab mar, ber in ber reli«
gtofen 93etrad)tung ber SBibel mcgen feinet ®öfeenbienfte§ oer*
bammt unb burc^ bic ^erfönlid)feit be§ @lia üerbcdtt mirb;
mir lernen bcn großen Jiglat ^ilefcr tennen, ber S)ama§fu§
fifirjte, ba§ 9lorbrcic^ <3fraet big auf ba§ ©tabtgebiet oon ©a*
maria cinjog unb ber äußere 2lnla^ ber großen prop!)cttfci^cn ^c«
roegung in Qfracl murbc; mir Icfcn bcn ^od^töncnben 93erid^t beS
©an^crib über feinen ©icge§jug in <3ubäa, über bic 6innat)mc
Don £atifc^ unb feinen unocrric^tctcn plö^tic^cn älbmarfc^ von
Serufalcm; mir ocrftctjcn, marum SWcrobac^ (3Warbuf) S3ataban,
ber 93afagIonicr unb Slioale ber Stffgrer, mit bem ^önig ^i§fia
unb anberen Äleinfönigen einen 93unb fd^liefeen moHtc, um bic
affgrifc^c SSor^errfd^aft ju breiten. Oanj befonber§ intcreffant
ift cS, itac^ bcn fieilinfc^riftcn ju ücrfolgcn, mic bicfc @ro§mäd)tc,
bie babg(onifc^c unb im SEBcc^fcI mit i^r bic affririfc^e, genau fo
mic bic I|cutigcn @ro|mäc^tc, SRu^Ianb ober ©nglanb, bcn ®I)a*
rafter be^ greffenben an fic^ l^aben; fo lag e§in ber 9tatur ber
mefopotamifc^cn @ro|mac^t immer meiter nad^ äBcften unb ©ü«
ben oorjubringcn, junäi^ft nac^ ©grien, bann nad) Kanaan unb
über Äanaan nad^ 2lepr)pten. SCBar bic Oro^mac^t irgenbmic im
Snncm mit fid^ felbft befc^äftigt, fo gab ba§ für bic fleincrcn
Weiche, ®ama§tu§, Of'^ael u. f. m., eine ßeit ber 9lul)c unb be§
95Iü^cn8; fo tonnte ba§ ifraelitifd^c fiönigreic^ unter ©aut, ®a*
oib unb ©alomo um baS 3at)r 1000 cntftel)en, mcil Slffur ba*
mute gerabe burd> innere Sttufftänbc genug mit fic^ felbft ju tun
^ottc. 2)er näd^fte Stioalc für ^\xa^l mar 3)ama§fu§, unb roenn
ber ®roJ5^crr au^er ©ic^t mar, fo mact)tc fic^ 2)ama§tu§ auf bcn
214 SB 0 1 j: ®a§ wir von ben bab^Ionifc^cn ^luSötobungcn lernen.
©pning, um Q\xatl ju Dcrf cfilingen, wie j. 93. in bcr 3«it 3[^ab§ ;
fobalb ber affgrifc^e Söroe ^erannal^tc, blieb ben tlcincrcn Staaten
nid|t§ anbere§ übrig, al§ gegen ben ftärferen jtd) gu oerbflnben.
3)ama§fu§ war jugleid^ ba§ Soüroer!, ba§ 3^fracl gegenüber Slf«
fprien oorgelagert voax ; al§ biefc§ ©oHrocrt im ^df)x 732 fiK ^<^
bauertc e§ nur noc^ jel^n ^df)x^ unb ba§ 5Worbreic^ ©amaria
üerfc^manb gIeid|faH§ au§ ber ©efc^i^te. SBeiter erfe^en roir
aus ben Äeilinfc^riften, mie bie fleinen 9ieid)e bc§ @üben§ in ber
9lot naturgemäß nad) 2legr)pten blidtten, benn bicfeS unb bic mefo*
potamifd^e ©roßmac^t ftritten um bie SEßett^errfc^aft unb 9legw*
ten mar ber ftänbige ©egner be§ größeren Rutturftaate§ im 9tor*
ben; ha aber ba§ Siitlanb ein jU fd^Iaffer Drgani§mu§ mar, fo
oerfagte e§ immer im entfc^eibenben SDloment. S)ie ^olitif ber
^ropl^eten, bie ©rmal^nung jum ©tiKefcin unb gottoertrauenben
©tittebleiben, ermeift fid) aud^ nac^ ben Äeilinfc^riften al§ bie po*
litifc^ einjig richtige für ben religiöfen Qxotd 3>[tael§; gegenüber
bem Ungcl^euer 2lff grien mar eine politifdie ©elbftänbigteit ab*
fotut auggefci)toffen, Ratten ftc^ nun ^[raet^^fuba freimiüig unter«
morfen, fo t)ätten fie aU affgrifd^e ^roüinj roic in bcr nac^eji*
lifd^en 3ßit eine ruhige unb fidlere ©fiftenj l^aben unb bcr Sie*
ligion leben tonnen. 2lber ber Patriotismus, mit bem baS if*
raelitif^c 93ölflcin für feine ©elbftänbigfeit tdmpftc unb ftarb,
ift menfd)tic^ betrad^tet auc^ eines SÄitleibS mert. ®nblid^ bürfen
mir mol)l noc^ bie ©rgebniffc beS S^clsel^amamafunbeS für bie
Kenntnis ber ifraelitifdien @ef(^ic^te anfül^ren. 3Bir erfahren
barauS, baß fc^on umS ^a^r 1400 bic ©tabt Urufalim Oeru-
falem) eine bebeutenbe gü^ft^nrefibenj m/ir, eincS ber ©tabttönig*
tümer, in bie baS Sanb Kanaan jcrfiel unb bic unter bcr ^o^eit
beS ^^arao ftanben ; außcrbem l|5ren mir tjon ben ©tiabiri, fd^mdr«
menben 9lomaben unb ^albnomaben, bie immer von 3cit Ju 3^^'
t)on Often ober ©üben t|er in baS Äulturlanb bcr fanaanitifc^en
©tabttönige einfielen unb fi(^ üon ben le^tcrcn als ©olbner in
bem beftänbigen 93rubcrfrieg anmcrbcn ließen. 3)icfeS SEBort G^a»
biri roirb mit bem 333ort Hebräer ibentifijiert unb man nimmt
an, baß auc^ bie Hebräer, ouS bencn bic Qfraelitcn l^croorgingen
(benn ber 93cgriff Hebräer ift roeiter alS ber Segriff Qfraetiten)
$ 0 1 §: SIBoig mix von ben bab^lonifd^en ^uiSgrabungen lernen. 215
in ber glcii^en SBeife fc^roärmenb in Slanaan cinbrangcn, fid) aD«
md^Ii^ gruppcnrocife ha unb bort f eftfe^ten, 6t§ fie fdjlie^lic^ ba§
Sanb in il)rcn Sep^ befamen. 9Han \)at au6) barauf aufmcrffam gc*«
mad)t, ba§ roir in unfcrcr Slnfic^t über ben Urftanb be§ SSolte^ ^tf^^^t
feit bem Slmarnafunb bjro. überhaupt feit ben babgtonifdien 2lu§*
grabungcn rec^t bebeutenb umlernen muffen ; ^atte man fid^ frütjer
bo§ SSoIf 9Äofe§ atljufe^r in einem anfänglid^cn Slomabenjuftanb
gebaut, auS bem e§ fid^ potitifc^ unb religiös QQmä^(id) gu einem
bduerlid)en Äulturoolf entmidfclt ^attt, fo feigen mir je^t ba§fetbe
oon ^au§ au§ in bem 93creid) einer umfaffenben Kultur anfäffig.
35q§ ift roid|tig für bie ©ef^ic^te ^fraeB unb für bie ©ef^ic^te
ber 0teligion 3^frael§. Unb enblic^ befommen mir burd) bie 2lu§*
grQbungen 2lnlaj3, über bie ©efc^id^tlid^teit ber erften Slnfänge
be§ biblifd)en SSolfeö unb ber ^erfönlic^teit beS SWofe etroa§ ju*
Dcrfw^ttic^er aU h'\Sf)tx ju benfen ; feitbem jene graue ©ergangen*
^eit roieber aufgeftanben ift, fönnen mir e§ mo^l nic^t mel^r für
unmoglid) galten, ba§ me^r al§ taufenb Qa\)xt fpäter ein Heiner
9tec^t§ftaat au§ ber ^anb 3)iofe§ l^erüorging.
2)ie ^olitifer Qfrael§ unb ^iitbaS ^aben einftenö balb nad^
3leg9pten balb nac^ 9Iff grien unb 93abqlonien auSgefc^aut; bem*^
entfprec^enb ift für bie Kenntnis ber ifraelitifd^en @efc^idt)te un«
bebingt mertüoH, bie ©cfd^i^te jener Kutturftaaten aud) in ben
SinjeE^eiten ju miffen. Qn ber 2:at mirb un§ ber Seben^gang
bes; Hiinen 3Sölflein§ in Äanaan erft rec^t plaftifc^ unb in Dielen
3ügen erft rec^t oerftänblic^, menn ba§ Sid)t ber Seilinfc^riften
barauf fällt unb menn mir i^n in bem 93uc^ ber SEßeltgefd|id^te
ocrfotgen, ba§ auf ben babglonifc^-affgrifc^en ®en!mälern ge*
fc^ricbcn ift. 6§ ift bieg m. 3[. nac^ ber größte Sinken, ben
bie Äcilinfdiriften nwä bejügli^ be§ 31. X. geleiftet
^aben unb no(^ leiften merben, ber Stufen im ©ebiet ber ^ro*
fangefc^ic^te Qff^o^tS- 93ermanbt bamit ift ber 2)ienft, ben bie
Äeilinfd^riften ber altteftamentlidien gorfd^ung baburc^ leiften, bajs
fie geograp^ifc^e unb ardtjäologifc^e 93eftimmungen, bie bie ^ebräifc^e
95ibcl gibt, tontrollieren, beftätigen ober erflären; cbenfo ftef|t bie
^ebräifc^c ©prad^miffenfc^aft in einem lebt)aften SEßec^feloer^ältni§
mit ber affgriologifd)en ©rammatitfunbe unb Sejifograp^ie.
216 $ 0 I5: ^aS toxt Don ben bab^lDnifc^en Ausgrabungen lernen-
^m 6i§l^erigen i)at un§ ba§ befdidftigt, roa§ bic Äeilinfc^riftcn
utt§ von Q^frael er jähren; im folgenbcn jucken roir jufammenju*
ftellen, n)a§ oon bem großen Äulturlanb in ba§ Heinere SSoK
^inübergefloffen ift. O^ne 3^^^^ ^öb^n roir ein SRec^t ju fagen^
baj3 ^]xad feine Sultuv in weitem Umfang ben SBa*
bgloniern oerbanft. 3)er babqlonifdie Staat ift um ^a^r-
taufenbe älter aU ber 3lnfang be§ ifraelitif^en SBolfeS; al§ Of*
raet geboren mürbe unb an ber ^anb SIÄofcS bie erften (Schritte
tat, l^atte ba§ @efe^ $ammurabi§ (um 2250) f^on taufenb Qai^xe
in ber äöett fein SBefen gehabt. 9[I§ ba^er ba§ junge SBoff fi^
in Äanaan einftebelte^ traf e§ bort eine il^m überlegene ßioilifation
an, bie gemi§ mit oielen babglonifc^en ©tementen burd^fe^t roar,
^m eigentIidE)en ©ebiet ber Kultur ift Q\xatl roo^l überhaupt
lebenSlfinglicti abtjängig geblieben, ba§ Meine SSolf mar nic^t im»
ftanbe, al§ felbftänbiger gaftor in bie @ef^id)te ber Jfultur ein*
jugreif en ; e§ mar numerif c^ ju f^road^ unb ju ungünftig gelegen
unb bo^ anbererfeit§ nid^t abgefd^loffen genug, um für fic^ ju
bleiben unb fic^ für ftc^ 5U entmidCeln, fonbcrn mitten ^ingcfe^t
auf bie ©tra^e jmifd^en Sabplonien unb 2leggpten. 5Run ifi e#
ja boc^ überall fo im Seben ber SSölfer, bafe bie ^ufl^^örigteit
gu bem politifc^en SSerbanb eine§ großen SReic^eg aud) bie ful*
tureHe 2lb^dngigfeit üon bem betreffenben (Sro^ftaat in fic^ fd^liefet,
mie ba§ gemaltige römifdie SReic^ bie götmen feiner ßi^i^if^tion
überall l^intrug, ober ha^ ein Keiner, ber SUationalitfit nad^ oev»
manbter ©tamm in fultureller ^infid)t mit bem größeren ©ruber
marfd)tert, mie bie beutfc^e @d)meij unb ba§ beutfc^e 9teic^ fic^
fultureH jufammenrec^nen. 3)ementfprec^enb mirb auc^ Qf^ael
eben ein S^^^i ön bem großen Söaum ber babplonifd^en ÄuUur
gemefen fein.
3meifello§ l^at Qfrael bie ^ii^bamente ber rein äu^e*
ren Äultur, be§ roirtf d^aftlid^en Sebeng unb be§
fommerjiellen 33erfe^r§ oon bem älteren unb bebeutenberen
©taatSroefen übernommen. ^a% ®emi(^t unb ®elb tiabcn bie
;3fraelitcn bei i^rem (Eintritt in Kanaan, bei i^rem 2luStritt auS
ber 93arbarei in bie 3itJilifation, al§ bab^lonifc^eS ©emeingut an*
getroffen unb fortgefüt)rt, bie ^ebräifdlien 9tamen für ba§ @olb*
^ 0 1 ): SßoiS n)tv Don ben bab^Ionifd^en ^Ui^gvabutigen lernen. 217
geroid^t (©(^etel) unb für ba§ @ilbergcn)td|t (SWine), foroie baS
2Bort für ©über j. 83. ftammen au§ bem babglonifdien Seyifon,
unb iDte ber ^abritonier mijst aud^ ber 3f^<^^Iite na6) ben r^om
menfc^li(^en Körper genommenen 9Wa§en (©He, ©panne, Ringer).
3tuc^ bie äJorliebe für beftimmte 3^^!^« (^^iKge 3^^!^"^ n)ic be-
fonber§ bie 30^^^^^ 7 unb 12), fomie für bie ganje fcl)ematifd)e
ß^ronologie fc^einen bie ifraelitifc^en Oefd^iditfc^reiber nic^t oon
felbft gefaxt, fonbern im legten Orunb x)on ber babplonifdien
SQäiffenfc^aft unb oon ber oftronomifd^en aBeItanfd)auung jener
^rieftergele^rten entnommen ju ^aben. ®ie ©ntbedfung be§ Äobej
^ammurabi fobann ^ot natürlid^ ju einem SSergleic^ ivoU
f^en bem altbabglonifdien Siedet unb ber 2:ora
3 f r a c 1 8 lebl)af t aufgemuntert, ^fnöbef onbere gibt ba§ fog.
^unbe§buc^ eine SRei^e merfroürbiger ^^SaraHeten }u bem ®efe§
be§ ^ammurabi. S)ie bud^ftäblic^fte 3le^nli(^feit befte^t gmifd^en
bem ifraelitifc^en jus talionis (2Iuge um Sttuge . . .) unb bem ent-
fpre^enben Paragraphen be§ ^ammurabi: menn jemonb einem
anberen ba§ 2luge jcrftört, fo foH man it)m ba§ 2luge jerftören;
roenn jemanb bie Säf)nt oon einem anbern fcine§gleid|en au§*
f^Idgt, fo fott man i^m bie Qatfnt au§fd)tagen. S)a unb bort
erf^eint aUerbing§ bie 2iora foroo^I in ber g^orm al§ in ber 2ln-
f^auung primitioer, älter aU ba§ babplonifd)e Siecht, bod^ l^at
bieg feinen ©runb mo^l nid)t barin, ba§ beibe 9tc^tsft)fteme auf
ein gemeinfameg ältere^ jurüdf gingen , oon bem bie 2iora bie
frühere 5Qff"^9 barfteDen mürbe, oielmel^r oertritt bie 2:ora in
mandier ^injic^t, roie j. 93. im ®ebot ber 93Iutrad^e, ben roheren
Äutturjuftanb, in bem ba§ tieranioa^fenbe ^fraet nod) mar. ®a^
ba§ ifraelitifc^e @efe^ oom Äobej ^ammurabi abhängig ift, fann
taum geleugnet merben, j|ebenfall§ ift fieser, baj3 bie Sora auf
bem bur^ ha^ ^ammurabigefe^ gebilbeten Kulturboben aufbaut,
anbcrerfeitö läjjt fic^ ni^t beftreiten, ba& bie ^ff^öetiten auf bem
gegebenen 93oben fic^ ein felbftänbigeS 9ted)t gefdiaffen Ijaben.
Qn^befonbere meift ber religiöfe ©fjarafter be§ ifraelitifc^en ®e*
fe^eg auf eine prinjipieüe S3erfd)iebenl|eit be§ @eifte§ ber beiben
9ied>t§fi(fteme.
®benfomenig mie baS ifraelitifdie 9ted)t barf ber ifraelitifd)e
218 §8 0 1 $: ^ag n)ir t)on ben bab^Ionifd^en Ausgrabungen lernen.
Äultu§ jum bloßen Plagiat au§ bem SSabptonifc^cn gemacht wer*
ben. 2lber wir finben bei einer 3)urd^jtd)t be§ teilinfc^riftlic^en
9WateriaI§, ba§ im tultifd)en Seben3fracl§, inber
äußeten ^anb^abung ber SReligion, eine vielfältige SBerroanbt*
fcl)aft mit ben babglonifc^cn formen mar. SWe^rere 93e*
jeic^nungen t)on Opfern unb rituellen ^anblungen ^aben bie 3f*
raeliten mit ben S3abr|loniern gemein (sebach, nesek, 5fetoret,
Ifiddasch, l^adesch, 5fipper [urfpr. = abmifc^en], salach), roei*
tcr aber aud| oerfd^iebene Dpferarten unb bie 9luffaffung bcr*
felben, bie Qbee be§ 2iieropfer§ aU eine§ ftelloertretenben Opfert,
bie jmölf ©d^aubrote, bie Seftimmungen über bie Dualifitation
ium ^riefterbienft, 3le^nlid^teiten im Orafelmefen unb in ben
Srauerbräuc^en. 3)ie SBerroanbtfd^aft roeift nic^t immer auf 3lb*
l^ängigteit unb manc^eg oon bem Slufgejäl^lten mag feinem Ur»
fprung na^ nid)t bIoJ3 babqlonifd^, fonbern allgemein menfd)lic^
fein, aber ba§ natürlic^fte ift, ha^ bie 3»f^öeliten e§ oon ber
babglonifd^en ^ulturroelt übernommen l^öben, benn aucti ber Sul*
tu§ gel^ört jum ganjen äußeren 33eftanb ber Kultur. ®irette @nt*
lef)nungen tultifd^er 33räuc^e oon Slffgrien unb Sabglonicn, mic
fie in ber Sönig§jeit Dorfamen unb oon ben ^ißrop^eten al§ ©öfeen*
bicnft bejeid^net mürben, brauchen mir ^ier nic^t ju ermahnen.
3)er ®abbat fobann al§ 2lbfc^lu§ ber fiebentägigen SBoc^c ^at
fic^ möglid^ermeife au§ ber ä^nlid^en ®inrid)tung be§ babplonifc^en
schabattu ^erau§entmi(felt; bie ?leumonbfeier mirb üon ber ^cimat
ber SKonboere^rung au§ fid^ verbreitet l^aben ; ber 9lame Qa^roe
finbet fid) auf ben S^ontafeln in au^erifraelitifc^em ®ebrauc^, j. 35.
al§ 93eftanbteil oon fr|rifct)en gü^ft^^^^ömen unb üielteidit auc^ üon
alten babplonifd^en Spanien, meift in ber gorm 3!a^u, au§ ber fic^
bann bie ^ebräifc^e gorm ^af^vot gebilbet ^ätte. ferner ift ba§
tiebräifd^e SBort für ^rop^et, nabi, ^5(^ftma^rfci^einli^ mit bem
babt|lonifd)en nabu oermanbt; nabu ift ber Sprecher, ber SJer*
fünbiger, unb jroar ber Sßerfünbiger be§ ©c^icffal§, Siabu (SRtbo)
ber ©Ott ber ©c^irffal§beftimmung, fo ba^ alfo ber nabi oon
^au§ an^ ber Serfünbiger be§ ©d)idtfal§* mdre, mag mit bem
^JQSefen ber ifraelitifdien ^rop^etie porjüglic^ übereinftimmt. @nb*
lic^ ift bie formelle Slb^ängigfeit ber ifraelitifc^en ^ßfalmcn oon
$ 0 ($: ^a§ mix ron ben bab^tonifd^en Ausgrabungen lernen. 219
ben babglonifc^en faum ju leugnen, wenn and) bie Jöerfd^iebcn^cit
be§ ®eifte§ gröjäer ift aU bie 2le^nli(^feit be§ äußeren ©eroanbe^.
®ic t)on ©ab^Ionien au^gc^enbc aftronomifd^e SBelt*
anfc^auung ^at bie ifraelitifd^e ©ebanfcnroelt in manchen
©tüdfen beeinflußt, ©o ru^t bie priefterlic^e ®f)ronoIogie be§
l)eiligen S3oIte§ auf bem ^rinjip ber ©eftirnberoegung unb bie ^
räumliche ©inteilung be§ l^eiligen Sanbe§ in jroölf 2EeiIe, bie bem
Jiertrei^ ent[pri(^t ift auf ba§ ^immel§fr)ftem gegrünbet, cbenfo
fönnen roir bie tünftlic^e 2lnlage be§ ßager§ unb beS 2empel§, wie
fie ber ^riefterfobey befc^reibt, fultifc^e ©gmbole, wie ber ficben*
armige Seud|ter, ©pefulationen über bie Sngel unb ben So§mo§,
roie in ©jed^icl unb in ber 3i0^anne§apotalripfe, mit ^itfe be§
in 95abglonien entftanbenen aftronomifcfien S)enfen§ beffer üerfte^en.
9(ud> bie Sebeutung be§ 93egriff§ derek = ^anblunggmeife läpt
burd^bliden, roie bie ^immlifcfie Orbnung ber ©eftime jugleitf)
bie yioxm, be§ göttli^en SBitlcn^ unb bie fittli^e Orbnung in ber
2Wenfd|enroelt ift. Ueberl^aupt nimmt ba§ 21.2:. an ber oon '^abr}-
lonien I|er befannten 3^bee teil, ba§ Jjie ©rbe ba§ Stbbilb
be§ ^immel§ fei unb bie irbifdgen Sßorgänge unb ©inric^:?
tungen ben ^immtif^en tongruieren. ®er 3Wenf^ ift ba§ 93ilb
®otte§, bie Sfraeliten fmb bie ©terne bejro. bie guten ©terne
Qaffwe Qthaot ba^er gleidierroeife ber ©Ott ber iiimmlifd^en roie
ber irbifd^en ^eerfdjaren), bem 2Ibfatt ber ©terne entfpridjt ber
äbfatl ber Reiben, bie abgefallenen ©terne finb aU ©ötter über
bie Reiben gefegt. S)iefe ©leid^^eit ber irbifd^en unb ber l)imms
lifdien äJorgänge !ommt befonber§ in ber ©^(^atologie jum 2lu§*
brucl, ober genauer, für bie le^te 3cit n^i^^b ein 3ufammenflieJ3en
ber irbifc^en unb ber ^immlifc^en ©pl|äre geglaubt: e§ tritt eine
(!^aotifdt)e Unorbnung in ber ©temenroelt unb in ber SJlenfd^en*
roelt ein, ber ^immetemenfc^ nimmt bie gü^nmg im äBeltaU an,
bie 3Wenfc^en roerben ju ben ©ternen ert)oben, ^immel unb ©rbc
roerben ©in ©ebilbe, eine neue 333elt. 2lu(^ bie anbere Äonfe^
quenj ber aftronomifc^en SEßeltanfdtiauung, bie roir oorne erroä^nten,
bie 3ibee ber ^ r ä b e ft i n a t i o n ift in ben jübifdjen ©(aubenS*
beftanb übernommen roorben, ber ©ebante, bajs ber 333elt(auf üon
Uranfang an feftgelegt fei, baß ©Ott feine au^erlefenen SQSertjeuge
220 SB 0 1 3 : 9BaiS mix Don ben bab^lonif c^en Ausgrabungen lernen«
von lange l^er ju i^rcm bcfonberen 2)ienft oerorbnct ^abe, ba^
aüe bic @reigniffe ber ®efd)i^te int Dorau§ in ^immlifc^en 93ü*
(^ern eingcfc^riebcn feien unb fid^ ba^er mit unabänberli(^er Slot*
roenbigfeit ooügie^en, ba§ in ber „%Mt ber 3^'^^""/ ^- ^- ^^^^^
bie oon ®ott oorauSbeftimmte 3^it oollenbet ift, ba§ enoartetc
®nbe eintreten roerbe. hiermit berührt fic^ noi) bie SBorfteQung
t)on bem ^ni) beS fiebenS unb pon ber älufjeic^nung ber böfen
unb ber guten SBerfe, bie fid^ im ^tubentum mie juerft in Sabp«
lonien finbet. äBciter erinnert bie scheol be§ 21.1. an bie babglo*
nifc^en ©d)ilberungen ber Untermelt, unb überaus roa^rf^einlic^
ift ber babglonifc^e ®inffu§ in ber Se^re t)on ben ®ngeln unb
3) ä m 0 n e n: bic fieben ©rjengcl, bie t)ier Verübe, bie SBorftellung
oon ben menfrf)engeftaltigen geflügelten Sraftmefen, oon ber ^imm»
Iif(^en SRat^oerfammtung unb oießeic^t auc^ oom ©atan finb oer*
mutlic^ au§ SSabglonien in bie ifraelitifc^sjübifdie (roie jum Seil
in bie perfifd^e) ©petulation übergegangen. S08a§ enblic^ bie alt*
teftament(irf)==iübifc^e @§ci^ato(ogie betrifft, fo l^at fic^ am
Slu^cnroerf berfelb^, roie eben bemertt, manches al§ babglonifc^
I)erausgcfteüt ; bie gorfdtier ge^en aber noc^ weiter unb rooKen
bie ganje Qfbce oon einem äBelterlöfer, ber bie Sämonen be*
jroingt, aKe eJinftcrni^ ocrtreibt unb bie SBSelt^errfc^aft befommt,
auf ba§ Urbilb oon bem ®ott SWarbut jurüdffü^ren, ber al§ ber
®ott bc§ £irf)t§ ben ©ieg über bie ginfterniS feiert unb bie ^err«
fd)aft über ba§ 2111 empfängt.
2)cr Jag, an bem man auf ben 2:ontafeIn ben Seric^t über
bie ©intflut fanb, ift im Äalenber ber ÄeiIfc^riftforf(^ung ftetS
als ein befonberer aufgefül^rt roorben. Unb bie golgejeit fd)ien
immer neue Ueberraf (jungen über bie 2le]^nlic^feit ber bib«
lifc^en unb ber babr) lonif d) en Urgefd^ic^tc bringen
ju rooflen. ^nbcm mir bie urgefc^ic^tlid^en ©rjä^Iungen ber
SRei^e nad) anfül^ren, erroätinen roir nur bie SBerül)rung§puntte,
fobann ba§ äußere unb ba§ innere 3Ser^äItni§ ber beiberfeitigen
Seri^te. 3)abei b^nbelt e§ fi^ ni^t blog um einen SSergleic^
mit ben babglonifd^en Urgefd)id)ten, fonbern mit ben babqlonifc^en
2tnfd|auungen übert)aupt. 2lud) bie Ä'cilinfc^riften geben mehrerlei
©d)öpfung§beridt)tc, einen ^auptberic^t, ben man mit
S o I $: 9BaS xoix Don ben bob^lontfc^en älu^grabungen lernen. 221
@en 1 0€rglet(^t unb bcr bie ©d^öpfung be§ SÄenfc^cn al§ 21 6==
fc^lu§ bringt unb einen ber roie ®en 2 bie ©d^öpfung be§ a)len=
fc^cn an bcn Slnfang rüdtt, ftc geben bie SBorftetlung üom 9Wen*
fc^n o(S einem von Sonerbe genommenen unb als einem nac^
bem Silbe ber ©ott^eit gef^affenen SBefen. gerner erfd^eint ba§
(£^ao§ in ®cn 1 wie ein mgt^ologifd)er, oon au§märt§ einge*
brungcner SReft; bie Tehom (artifeüoS mie ein Sigenname) er*
innert an baS Urungeiieuer Tiämat ber babgtonifd^en @age, baS
ber ®ott SWarbuf auSeinanberfpaltet, unb an bie aud^ fonft im
3(.2:. fic^ finbenbe aSorftcHung oon bem roilben 9Weer, bem Urroaff er,
ba§ oon bem ©d^öpfergott jum ©c^orfam gejmungen roirb; ber
$lurali§ in ®en 1 26 unb bie ^fbce beS gottgleic^en Urmenfd)cn 1 2?
berühren frembortig. 9)iC' ganje Sluffaffung ber SEBeltfd^öpfung
al§ be§ frül^iä^rlidien Seben§anfange§ nac^ ber ^eriobe be§ bc=
ftdnbigen 9iegcn§, bie Spaltung ber oberen unb ber unteren
SSBaffer, bie Sammlung ber 333affer in ben unterirbifc^en Ojcan,
auf bem bann bie trodfene ®rbe mie ber ®edEeI auf einem Sopfe
liegt, ftimmen jum babglonifdien SBeltbifb. ©obann ift ber ba*
bijlonifd^e ^auptberic^t auf fieben S^afcln oerjeidtinet, mie bie 33ibel
oon ben fieben 3;agen ber ©c^öpfung§n)odt)e rebet, wobei freiließ
bie 2:afeln ben Sagen im einjelnen nid^t entfprec^en. 3)ie SRei^en«
folge bcr gef(^affenen Sebemefen ift beibemal in ber ^auptfadje
biefelbe : ©terne, Siiere, SUlenfcti ; bie ©terne folgen in ®en 1 ben
^flanjen, roeil fte ßeberoefen finb unb weil fie ba^er ju ben S3e*
roo^nem get|ören, bie oom oierten bi§ fec^ften 2^ag in bie 9iäume
^ineingebradl|t merben, meldte oom erftcn bis jum britten 2:ag er*
ftonben.
3n)ifd)en ber biblif(^en 'ißarabiegerjäl^lung unb bem
babglonifc^en Slbapamijtl^ug ift feine innere Sßermanbtfc^aft, benn
äbapa tommt um ba§ $arabie§ bejm. um bie Unfterbli^feit nii^t
burc^ ©ünbe, fonbern burdi ein 3Jli§oerftänbni§. 3Iud) fonft
finbet fid^ ju ber ®rjäf)lung oom ©ünbenfall feine babrilo*
nifc^e parallele. ®emeinfam ift inbeS bev ®efdt)ict)te oon ®en 2 f.
unb jenem SWijtfiuS bie SHefleyion über bie @ntftef)ung ber menfd^*
liefen ©terblid^feit überl^aupt, aud) ift bie SSorftedung oom ^ara*
bie§ fetbft, Dom SebenSbrot unb SebenSroaffer, roie mir fel)en, in
222 ^ 0 ( § : 3Bag tuir von ben bab^Ionif d^en Ausgrabungen lernen.
SSabglonien ju ^aufe. SCBeitcr^ui jcigt nun ber !cilinfc^riftlic^e
©intflutberic^t eine mertroürbige Uebercinftimmung mit
wandten ®etail§ ber biblifd^en ®efd|ic^tc: ber J^elb ber Sintflut
ift ber le^te einer Steige üon jef)n Uroätern bejn). Urfönigen, bie
alle ungeheuer lang gelebt ^aben. ®ie Sintflut erftrerft fic^ über
bie ganje SUlenfc^l^eit unb fommt al§ ©trafgerictit ber ®ötter wegen
ber Sünbe ber SWenfctjen, einer ber oerfc^iebenen babplonifc^cn
Scripte üertritt biefe 9luffaffung befonberS beutlic^. Utnapifc^tim,
ber Siebling be§ ®otte§ @a, roirb oon feinem ®ott o^ne SBSiffen
ber anbcrn ©ötter burc^ ein J^raumgefic^t in Äenntniö g^f^^t unb
angeroiefen, ein ©d)iff nac^ beftimmten SWajsen ju bauen, e§ mit
(£rbpe(^ bi^t ju mad)en unb Seben§famen aßer 3lrten auf ba^fclbe
ju bringen, Utnapifd)tim nimmt feine gamilie, alle 2lrten oon
Sebemefen unb bie Sunft^anbroerter auf ba§ Schiff, burc^ roelc^
le^teren Qnq ba§ ^ortbefte^en ber Äultur gefidjert wirb ; ju ber
üon ®ott beftimmten ©tunbe oerfd)lie&t er baS 2:or. 9lun bricht
bie Sintflut to§, Sturm unb äBaffer bringen ben SWenfc^en ben
Untergang fe(^§ 2:age lang. 2lm SJlorgen bc§ achten 2:age§ fi§t
ba§ Sd)iff auf einem Serg auf unb bleibt ba weitere fec^§ 3:age.
Sobann lä&t Utnapifc^tim eine Staube au§, bie mieber jurüdtfe^rt,
eine Sc^malbe, bie gleid^faU^ roieber tommt, unb einen 9taben,
ber nic^t mel^r jurüd roitl. ®arauf^in Derlä^t Utnapifc^tim ba§
Sd)iff unb bringt ben ®öttern ein 3)anfopfer jum ®eru^ be§
aßol^lgefalleng. ®a bittet ben Obergott 93el, boc^ in ^^lunft
feine Sintflut me^r über bie ÜMcnfd)en ju ner^ängen. — 3)ie
®ef(i|i^te üom 2:urmbau finbet fid^ in ben fieilfd)riften (bi5
je^t menigfteng) ni(J)t üieHeic^t ift fte originalifraelitifc^ unb roill
ben ^od)mut babqtonifc^er Kultur malen; i^re SSorlage ^at fte
atlerbing^ in ben babglonifc^en Stufentempeln, bie eine SBerbinbung
ämifc^eu §immet unb ®rbe barftelten foHen.
9Jlan fielet, bie Sletinlici^teit jroifd^en SSabglonien unb ^ffrael
ge^t gerabc in biefem oielbeliebten ^unft, in ber Urgef^ic^te, in
aSirflic^teit fel^r nal|e jufammen. 3)oc^ bleibt bie SScrroanbtfc^ft
in einigen äußeren Sinjelbingen beftefien, unb (ie oerlangt eine
®rf lärung : ift ber biblifdie SBeri^t oom babgtoni*
fc^en abhängig ober lä^t fic^ bie SSerroanbtfc^aft anbcrSmie
$ 0 1): ®aS toxx Don ben bab^lonifd^en Ausgrabungen lernen. 223
begreifen? S)tefe ^i^agc pngt mit bcr allgemeineren jufammen,
ob bie urgefc^id)tlic^en @v}ä^lungen ein ^^robult ber @ele^rfamfeit
ober ein DolfStümlic^eS ©ebilbe maren, unb ba mir jmar ber
©intflutberid)t al§ etwaS 93oH§tümüc^e§ erfdjeint, bie ©djilberung
oon ®en 1 aber nid)t fo" empfiehlt e§ fi^ mir, beibe§ getrennt
}u betrauten. 2)ie (Srjä^lung oon ®en 1 get|t gemijs
nic^t auf eine Uroffenbarung jurüdt, bie fic^ in i^rer reinen ©e-
ftalt auf bie biblifc^e 95eric^terftattung fortgeerbt, in 93abqlonien
ober bie pol^tl^eiftifdie^^rm angenommen ^ätte: ebenforoenig liegt
bem beibcrfeitigen Seri^t bie Erinnerung an eine gefd^i^tlic^e
Urtatfac^e ju grunbe, oielmelir ^aben loir eine ©pefulation über
bie fo§mologif^e $rage oor unS, bie ba§ benfenbe @emüt eine§
Äutturmenfc^en ioot|l frü^e bemegen mochte. 9lun ift ber bib*
lifdje Seric^t um oiete t)unbert ^fal^re jünger al§ ber babr)lonifd)e
unb enthält frembartige ®lemente, bie mir au§ ber Sieligion Qfraels;
nic^t, a\i§ ber babglonif^en (Situation unb ©ebanfenmelt aber
}um Seil begreifen f önnen (Urroaff er, 2;e^om) ; eg ift ba^er über=
au§ roa^rfc^einlid), ha^ ber biblifc^e @d)riftfteller bie babglonifd)e
©pefulation übernommen ^at, wobei mir glauben bürfen, ba^ ber
alte babc^lonifd^e (Sc^öpfungSm^t^uS ben ifraelitifc^en @ebilbeten
jeberjeit jur SJerfügung ftanb unb ba| er oon ben ^oeten (^^3fal-
wen, ^iob) in feiner plaftifc^eren g^tm be§ Kampfe^ jmifrf^en
So^roe unb bem 3Weerunget|euer, oon bem ^rieftergetel)rten in
einer ocrgeiftigten SSäeife benu^t rourbe. SBielleic^t mar ber aWr)t^u§
ben ©cbilbeten innerhalb ber Äulturnationen im Sauf ber Qaf)X'
l^unberte fo allgemein befannt geworben, ba^ man an feine ^er*
!unft birett gar nic^t mel)r ba^te.
93ci ber © i n t f l u t erl^ebt ficf) junädjft bie 5^age, mag biefe
Srjä^lung fagen miß, ob fie urfprünglid^ ein ©onnen* bjro. 9Wonb*
mpt^uS mar ober nic^t oielmet)r, ma§ mir roat)rfc^einlicl)er ift,
auf ein gef^ic^tlic^e§ ®rtigni§ jurücfgct)t unb erft fpäter bann,
wie manche anbere ©agen, ju einem fiberifd^en iSflx)ti)\x§ oerman»
belt mürbe. 3)iefe§ gefi^id^tlidje ®reigni§, auf ba§ ber teilin-
fc^riftlic^e mie ber biblifc^e 93erid)t anfpielt, mu^ iebenfaü§ in
SBabglonien gefd)e^en fein; ba§ ift ber einjig mögliche 93obcn ber
5lut, bort t|at bie glut fogar bie d^ronologifc^e ©ebeutung einer
224 $ 0 1 s : ®a§ wie von ben bab^lonif d^n SluiSgrabungen lernen.
Spoc^e befommeit („oor ber g(ut", „nati) bcr S^wt"). ©benfo
fieser ift ba^ bie biblifc^e @rja^(ung mit ber bab^Contfc^en, im
Unterfc^ieb oon ben übrigen ^lutfagen ber äBelt eng pfammen^
gehört unb ba§ ber bab^Ionifc^e ^ertc^t lang por bem ifraeliti«
fc^en entftanben ift, ba bie feilinfc^riftlic^e Sttufgeic^nung, bie roit
^aben, nod| über 2000 hinaufreicht. SBie ift nun bie Scrroanbt*
fc^aft ju erttären? ^ier mie beim ©(^öpfung^berid^t Ictinen roir
bie älnnal^me einer göttlich gegebenen Urtrabition, bie ftc^ in§
9l.£. hinein untabelig, in ^ab^bnien at$ 3Ri§bi(bung forter^alten
^ätte, al§ unermiefen unb unma^rf(^ein(ic^ ab. ätud^ baS ift fc^roer
glaubl^aft, ba§ bie ^l^nen ^fraelS no(^ eine Erinnerung an ben
gef(^i(4tlic^en SSorgang ber mirflic^en @intflut nac^ Kanaan mit«
gebracht unb il|ren 9la^!ommen überliefert Ratten, o^nc bie *e*
fanntf^aft mit ber babgtonifc^en @r)ä^lung ; bie Uebereinftimmung
in ben einjelnen fleinen 3ö9en ber 93crid)tc fprid|t bagegen. 9Bir
luerben oietmel^r anjunel^men ^aben, ba^ bie biblif(^e @t^a^tung
au$ ber babglonifc^en ^eroorgegangen ift, moburi^ un^ aud^ etliche
primitioe SSorfteQungen in ben biblif^en Kapiteln begreiflicher
merben. Unb jmar glauben mir, ba^ bie bab^Ionifcfie @age in
Kanaan betannt mürbe, ba§ bie ^f^^eliten fie bei i^rem (Eintritt
in Kanaan ober fpdter tennen lernten unb fid^ aneigneten unb
ba^ bie ifraelitifc^en ©^riftfteller fie ^emad^ aufnahmen unb für
i^rc SJarfteDung bearbeiteten. @§ märe bann mit bem bab^loni*
fc^en ©intflutberid^t ätinlid^ ergangen mie mit bem Slbapamgtl^u^,
uon bem mir au§ ben älmarnatafeln miffen, ba^ er in Kanaan
im Umlauf mar.
S)urc^ biefe§ 3eugni§ ber babrjlonifc^en ©enfmaler ©er*
lieren bie biblifdien @rja^lungen nid^tS oon i^rer
@rö§e. ^m ©egenteil. 3">ö^ muffen mir offen unb e^rlic^
jugeben, ba§ bie biblifdien ©ef^i^tf^reiber frembe ©toffe, menfc^*
lid^e ©toffe aufgegriffen ^aben unb ba§ oieleS oon bem xoa^ in
ber Urgefd)id)te fle^t, nic^t göttliche Offenbarung ift, fonbern menfc^-
lic^e ©age unb menfc^licl)e ©pefulation. 2lber mir feigen, ba§
bie biblifc^en ©ct)riftfteller nid)t etroa ben babglonifi^en @eift über«
natimen, au§ bem bie Urgcfc^icl)ten entftammtcn, ba§ fie oielme^r
jene babr)lonifd)en 2^rabitionen in ben ^eveic^ i^re§ eigenen, burc^*
$ol^: fl&a^ loir t>on ben bab^Iottifd^en ^uiSgrabungen lernen. 225
au§ oerfdjiebenen ®eifte§ ^crcinjogcn. Unb fcitbcm xoxx burc^ bie
Ausgrabungen biefe menfc^tid)en Srabitionen fcnnen, roiffen wir
erfl, roie gro§ unb ftarf bcr propI|etifd)e, gottgegebene ©eift 3>f*
racfö geroefcn ift. aWan ijat mit SRed^t an gauft erinnert unb
barauf l^ingeroiefen, xoa§ bie maffiüe 93oIf§fage oom ^auft in ber
fouüerdnen ^anb @oct^e§ geworben ift; man fann an ©tatuen
ber Haffifc^en griedjif^en Äunft benfen, bie ber äußeren ^^rm
nac^ i^re 3tbftammung oon unbel^olfencn antifen SBorbilbern oer*
raten, aber bod| gegenüber ben Unteren mie eine Offenbarung er«
fc^einen. S)er ©eift, au^ ber ®eift @otte§, fd^afft nic^t au§ bem
3l\d)t^, fonbern er bel^anbelt ben gegebenen primitioen, ro^en
Stoff. SBBa§ ^at ber prop^etif^e ®eift ber biblifd^en ©efc^id^tS«
f^reiber au§ bem bab9lonifd)en ©intflutberi^t gemacht! 2)ie bib«
lifc^e Srjä^lung ift ia felbft in manchen S%^^ ^i"^ ünbli^e ©r«
jäf)Iung, aber fie fte^t f)oä) über ber bab^Ionifd^en ba: bie 2lu§«
lieferung be§ göttlichen 93ef(^luffe§ an Utnapifd^tim ift ein SBerrat
be§ einen ®otte§ an ber ©ötteroerfammtung; Utnapifd^tim wirb
nic^t wegen feiner grömmigteit bematirt, fonbern miber ben SBißen
be§ Obcrgotteg burd^ Sift errettet; afö bie 2eute ben babglonifc^en
9ioat| fragen, warum er bie 2lrdf|e baue, muß er fie na^ feinet
@otte§ SRat ^interg Sic^t fül^ren, bamit fie umfo fidlerer in il^r
aSerber6en rennen; wie bie Unwetter ber Sintflut ein^erftürmen,
wirb e§ ben ®öttern felbft angft unb bang, gleicf) bem QaubtX'-
le^rüng, ber bie ®eifter rief; nad^ gefd)el)ener ^(ut ftreiten bie
®ötter miteinanber, ba§ fo t)iel Unzeit angerichtet würbe, unb
enblid^ wie ber babgIonif(^e 3lodt) fein Opfer jurid^tet, ba l^ei^t
e§: bie @ötter rod^en ben 3)uft, bie ®ötter rod^en ben guten ®uft,
bie ®ötter fammelten fi^ wie bie fliegen um ben Opferer. ®benfo
wirb bie babplonifclie Sc^öpfungSbarfteHung üon bem Äampf jwif d^en
SRarbut unb bem Ungeheuer Tiamat, bei bem bie anbern ®ötter
oott Slngft unb 93egier jufdöauen, weit e§ fid^ für fte um ©ein
ober 9lid)tfein l^anbelt, in ber 93ibel ju einem ^rei§ auf bie laut*
lofe 2lüma(^t ®otte8. ©(^on bie perfifc^e ^Religion, bie biefen
SKarbuffampf übernimmt unb barau§ ben ©ieg be§ Sidf)tgotte§
über ben bofen ©atan mac^t, f|at ba§ babgtonifc^e ®efäg, bie
9laturfage, mit ganj neuem fittlic^em ®ef)alt gefüllt; in ber bib*
drttff^nft ffir Xfftoloqit unb jtirc^e. 14. ^a^rg., 8. $eft. 16
226 )iBoI$: 98a§ loir von h^n bab^lonifd^en ttu^grabungen lernen.
lifd^cn ®arftcüung oon ®en 1 ift fein ^mpf mc^r jroifd^en jroei
©croalten, fonbcm ba§ rein gciftige ©c^öpfungSroort beS einen
guten @otte§.
@§ ift alfo jroifd^en ben beiberfeitigen ^erid)ten n)o^l etlid^e
Slel^nlic^tcit in ber gorm, aber ein .funbamcntaler Unterfd^ieb be§
®eifte§, unb ba§ roaS für un§ religiös unb fitttt^ wichtig ift, baS
finben wir nid^t in ber babglonifc^en, fonbern in ber biblifc^en
©arfteHung. 3)ie ®ötter ber feilinfc^riftlid^en ©rjä^Iung fmb ni^t
fd^Iec^ter unb nic^t beffer aU bie ©ötter unb ©öttinnen, bereu
Seben§' unb fiiebeSgefc^i^ten wir au§ ben griecftif^en ©agcn*
büdjern roiffen; fie leben in ber 9Jieberung menfd^lid^er Seiben*
fd^aften unb weifen fic^ baburd^ aU ©ebilbe ber unfertigen ^^^an-
tafie bc§ SRcnfc^cn au^. — ®benfo wie mit ben urgefc^i^tlic^en
SBeri^ten oerl^ält e§ fi^ mit bem ©abbat; ber 3iame unb bie
allgemeine gorm ber (Einrichtung mögen übernommen fein, ber
©inn ber (Einrichtung ift ein ganj anberer geworben, ^n 33a«
bglonien ift ber ©abbat ein 2lberglaube, ein Unglüdf§tag, an bem
alle ®efd)äfte ftiUfte^en, meil fein ©egen barauf liegt, er ift ein
SBu^tag, an bem ber 3öru ber ®ötter oerfö^nt werben mu§; in
3ffrael ift er ein göttlid^er Sag ber Sftu^e unb be§ befonberen
©cgen§ geworben. Snblid^ ift ba§ Sßortommen bc§ 3» a 1^ w e n a*
mens au^erl^atb ^fraelS für bie ®ntfte^ung unb ®ntwidtlung
ber -Qfal^weibee innerhalb Qfraete o^ne tiefere SBebeutung.
3)lit ben bisher be^anbelten ®egenftänben finb wir in ber
^auptfa^e nur an ber ^eripl^erie ber ifraelitifd^en SReligion ge«
ftanben, benn wir werben weber bie fultifd^en ®efe§e no^ bie
genannten urgefc^id^tlic^en ©rjälilungen in erfter Sinie ftubieren,
wenn wir bie SReligion bc§ biblifd^en SSolfeS fennen lernen wollen.
@§ ift inbe§ in le^ter 3^it bel^auptet worben, ba§ auc^ ber @e*
banfe be§ 9Äonot^eiSmu§, ber bie propl^etif^e SÄeligion
3[frael§ oon SWofe an auSjeic^net, in 85Birflicl|feit oon SBabp*
lonien ftamme unb oon bort^er ju ben Jül^rern be§ ifraeliti»
fd^en SSolfeS gefommen fei. 2)ic infd^riftlic^en 93elege, bie man
jum ©ewei§ l^iefür l^erbeitrug, ^aben fid^ jwar nidjt als fti^^altig
erwiefen; aber e§ würbe bie tiefer einfc^neibcnbe 2lnfid^t aufge-
ftellt, ba| ber 3Jlonothei§mu8 eine uralte ^bee fei, bie inöbefon*
SSoIj: Sßa§ xoxx t)on ben bab^Ionifc^en Ausgrabungen lernen. 227
bcre oon ben gebifbeten ^riefterfd^aften ber alten Jlulturoölfer,
alfo in erfter Sinie oon ber 93abglonien§, oertreten unb oon i^nen
au§ fojufagcn als ein Slcment ber roiffenfc^aftUd^en Silbung überall
^in oerbreitet roorben fei. @in an ben 2:ag getretenes 95eifpiet
^ieffir fei bie monot^eiftifdie JReform beS ^^arao (J^uenaten um
1400, bie un§ belehren fönne, wie bie monot^eiftif^e 3ibec im
©e^eimen immer beftanben l^abe unb an geroiffcn fünften in bie
Oeffentli(^teit gerüdtt rourbe. SSon ber babgtonifc^en ^riefterfc^aft
Qu§ fei bie monott|eiftifd|e ^bee auc^ in ben ätnfc^auungSfreiS
ber Slfraeliten eingegangen; bort aber — unb ba§ fei baS 2lu§*
jeic^nenbe an ^frael — fei biefe ^fbce nic^t @el)eimbeft§ ber
$riefter bejm. ber ©ebilbeten geblieben, fonbern ba§ gunbament
be§ SBott§berouJ5tfein§ geworben. 3)er Äern biefer religionSge^^
ft^ic^tlid^en S^^eorie liegt in ber Stuftest, ba^ bie religiöfe (&nU
roidlung Qffi^ö^l^ öu§ ben oon SSabglonien ^er gegebenen Gräften
erfldrbar fei. Unb bie§ l^ängt mit ber allgemeinen 9lnna^me ju*
fammen, ba§ ber materielle unb gciftige 93cfx^ be§ SBolfeS Qfrael
fic^ rein au8 ber Äraft ber alten babglonifdien Kultur l^erauSge^^
bilbet ^abe. @§ ift bieg eine Slrt beiftif^er SBeltanf djau-
u n g ; lüie man in ber älteren S^eologie oon einer Uroffenbarung
fprac^, bie am älnfang alles @ef(^e]^enS gegeben mar unb Don
ber au8 fic^ aUeS einjelne im Sauf ber aMenfd)^eitSgefc^ic^te ent«
roirfelte, fo märe ^ier an ben 2tnfang beS @efd|et|enS eine Ur«
fraft gefegt, bie Urfraft ber babglonifc^en bejm. oorberaftatif^en
'Äultur, au§ ber fic^ aUeS weitere, baS ßeben ber Keinen ein»
jelnen SBölfer, in materieller unb geiftiger, futtureller, fittli^er
unb religiöfer ^infxd|t entfaltet ^ätte. 33ei biefem SntfaltungS»
proje^ l^dtten bann inSbefonbere bie fittli(^en unb religiöfen Sin*
fc^auungen ba§ 3)laffit)e, ^olgtl^eiftifc^e unb S^atur^afte abgeftreift
unb fxd) immer mel^r gereinigt bis ju ber $öl|e ber ©ntmidtlung,
wie fie in ^frael ftdjtbar wirb. 93ei biefer 2:]^eorie mu^ natur*
gemä^ bie 93ebeutung jener Urfraft möglid^ft ftarf unterftric^en,
bie Originalität unb ©onberart ber fpäter entftanbenen Sßölfer,
wie bcfonberS 3ffraelS, möglic^ft befc^ränft werben, bamit nichts
über ben Stammen jener oon Slnfang gegebenen Urpotenj ^in:^
auSrage.
16*
228 SBol^: SSaS wit von ben babt^Ionifci^en Ausgrabungen lernen.
®iefe reIigion§gefc^i^tli(^e %^zom oon ber SBcrbreitung beS
SJlonotl^eiSmuS a(§ einer babglonifd^en @pefu(ation unb von ber
allmä^lid)en (Sntnoicflung ber ifraelitifc^en Sieligion qu$ ber ba«
b^lonifdien Kultur l^erauS l^at inbeS n^enig SBal^rf^einlid^eS unb
83efriebigenbe§ an fi(^. SDcnn einmal \)at ber ®laube an ben
®inen ®ott ^fö^«)^ i" Öfraet nid^t alS eine fpe!u(atipe
3ibee priefterlic^cr Äreife begonnen, fonbem al§ eine burc^au§
praftifc^e Slngelegen^eit be§ religiöfen ®emüt8, wobei Qa^roe ju*
näc^ft nid^t jur SBelt, fonbem ju Qfrael in ©ejie^ung gefegt
roar. 3)ie eigentli^e monot^eiftifc^e Zf)toxxt, baS Serou^tfein pon
ber SEBettbebeutung beS früheren aSottSgotte^ 3ö^n>«/ wni> bainit bie
bogmatif^e ©eroeiSfü^rung unb ^olemit fmb in 3^frael fooiel roir
fetjen erft mit S)euterojcfaia redjt leberibig geworben, ©obann
aber ift e§ unmögli^, bie Sieligion 3^frae(§ blo^ af§ eine gort*
entmidttung ber babglonif^en Urform ju oerfte^en. ©erabc bie
genauere Kenntnis ber babglonifc^en Kultur unb SRcligion, bie
mir burd) bie 3lu§grabungen erhielten, ^at bie totale SBerfdöies
benlieit ber ifraelitifd^en unb ber babglonifc^en 9teli-
gion flar gefteHt. SBSenn au^ einjelne Sle^nlic^feiten in gorm
unb ^fnl^alt ba finb, ber ©eift beiber ^Religionen ift ein grunb»
fä^lict) anberer unb bemegt fid^ gerabe in entgegengefe^ter SRic^«
tung, ber eine in ber SRid)tung be§ SSergänglic^en, ber anbere in
ber SRi^tung be§ ©migen. ©ritinem mir un§ no^ einmal, mit
roeldtier Uebertegenl^eit ber ifraelitifc^e ©laube bie babglonifc^cn
Urgefd^id^ten au§ bem 2)unfel in feine reine 3ltmofp]^dre jmang,
ober oerglei^en mir bie Su^pfalmen ber Sabglonier, ba§ Ute*
rarifdje Kleinob i^rer ^Religion, unb bie öufepfalmen ber ^ebi:aer,
fo ertennen mir biefe grunbfä^lic^e Sßerfd^iebcn^eit. Unb maS wir
in 58abglonien an e^ter g^ömmigfeit finben, fmb 3lu§na^men,
pereinjclte ^öl^epunfte, fiic^tblidEe einzelner erleudjteter ©eifter, bie
il)r ©e^eimroiffen für fi^ behielten, in eigenem ^f^^tereffe ober
meil bie SRaffe unreif bafür mar. S)aneben breiten fi^ in ber
babglonifd|cn 9leligion bie blinbe SSiclgötterei unb ber Silber*
bienft, bie ß^uberei unb ber unftttlic^e 9laturbienft ungehemmt
unb als bie mefentlic^en ©tüdfe beS eigentlid^en offijiellen Rultu§
aus. ^n <3frael bagcgen feigen mir faft oon 3lnfang an, b. ff.
Sol^: 9Ba^ loir von ben bab^lonifd^en Ausgrabungen lernen. 229
Don SWofc bcgro. Slbra^am an, ben roirffamen Äampf jroifd^en
bcn aSertrctern ber l^ö^eren SBelt unb ben Sßertvetcrn be§ 2)ie§*
fcit^, jroifc^cn bcn ^tebigern ber fultlofcn ©ittUd|!cit unb ber
opfcroerlangenben ^riefterf(^aft jroifd^en ben ^rop^etcn unb ben
'^olitifcrn, unb btefc SSertreter ©otteö jiel^cn fid^ mit i^rem ©lau«
ben unb SBiffen nid)t in bie SÄgflericnroelt jurüdt, fonbern ftc
prebigen eS laut auf ber ©äffe; fte unterliegen ixoax bei fieb«
gelten, aber e§ gelingt i^nen hod), ba| ba§ 'Sßolt im Sauf ber
j^ci^tl^unberte an ben ©inen ©Ott al^ an ben @^öpfer unb SRe«
gcntcn ber SSSctt glaubt, ba§ t^ feine ftttltd)en ©efe^e für fetbft*
Derftänblid) ^ä(t, unb ba^ bie ^rebigt me^r gilt al§ ber ^uttuS,
bie ©gnagoge me^r al§ ber 2:empel. Unb gmar l^aben bie SSer*
tretcr ber Jfteligion unb ber ©ittlid^feit in ^\xatl biefen it)ren ^ampf
$um 2:eil gerabe im ©egenfa^ ju ben religiöfen Uebungen unb
3Cnf(^auungen ber bena^barten babijlonifd)en ©ro^mad)t geführt
unb ^aben ilirem SSotf an biefem ©egenfa^ bie eigene SBal^r^eit
flar ju mad)en gefu(^t. älu^erbem ift e§ oor altem eine ©rfc^ei^^
nung gteid) beim ©intritt ber ifraelittf^en ^Religion in bie 3EBelt,
bie biefe 9ieligion als etmaS ©injigartigeS au§ ben Sieligionen
^erau§^ebt, ba§ ift bie @rfenntni§ t)on bem gefc^ic^tlid)en SBäefen
be§ 3a^megotte§, beffen größte Säten in ber gü^rung feinet
aSoIteS, in beffen äußerer unb innerer Drganifation gefdiel^en.
S)amit ift biefer ©Ott ^fraete oon oorn^erein über bie ©ötter
ber Statur hinauf geftellt unb bie ifraelitifc^e SBettanfd^auung weit
me^r mit gefc^ic^tlidiem unb fittlic^em ©el^alt gefüllt aU bie ha*
bglonifc^e, beren Äern bie äußere fiberifd^e Drbnung unb beren
Äonfequenj bie aSeret)rung be§ Slaturl^aften gemefen ift. Unb
roie bie JReligion ^ff^oete oon $au§ au§ ben gefc^id^tlid^en 3^9
an ftd) ^at, fo erlennen mir in i^r aud^ im ganjen weiteren 93er*
lauf ba§ ^inftreben auf ein beftimmte§ Qxzl, ba§ planmäßige
SSaumerf, bei bem jebe aftioe ©eflalt i^ren beftimmten Pat; l^at,
bei bem inSbefonbere jeber ber propl^etifdien ©eifter jufammen*
roirfenb feinen unentbel^rlid^en d^arafteriftifc^en 93eitrag gibt, ©o
fönnen mir fd|lie|lirf) oon einem gef^id^tlidlien ©rgebniS ber ifrae*
ütif^en 9ieligion fpred)en, fofern fie in ba§ ©^riftentum hinüber«
gefül^rt l|at, roä^renb bie babglonifc^e SReligion in ben 3iiP^^i>
L>30 SBoI): SaiS toix von ben bab^lonifd^en Ausgrabungen lernen.
ber Sffiüfte ücrfici.
3)a§ aSerftänbniS für bcn gciftigen ©c^alt biefer oon Snfang
bi^ jum @c^tu| iroedterfüQten 9{e{igion filiert ttotmenbig ba}u,
in i^r ein 8B3etf OotteS ju erbliden, in oiel tieferem ©inn ate
tS oon anberen 9{eIigionen gilt. äBir lönnen eS in ber religiöfen
©efd^ic^te 3ff^ael§ mit ^änben greifen, mie ber lebenbige
©Ott biefeS SBoIf oom erften 93eginn an nai) ben liefen
feinet ©eifteS für feinen gemiffen ^lan erjogen ^at.
SBir finben mo^I bie Spuren biefer göttlichen ©t^ie^ung auc^
au|erl|alb Qfraete bei anberen SSöIfem. 3)ie religiöfen unb fitt*
lid)en ^öt)epun!te in bem ©ang ber anberen großen SBöIfer finb
auc^ au§ ©otte§ unmittelbarer Äraft, fo bie SReform be§ ©^uenaten
in Slegiipten, ber bie SSere^rung be§ ©inen ©otteS burc^^ufe^en
ftrebte unb bie Stempel ber anberen ©ötter in ©d^utt legte, baS
ajiotto beS 3öratuftra in ber altperfifc^en Stcligion: 9trbeit beS
fittlid^en SWenfd^en für ben ©ieg be§ Sid^tgotteS, bie fd^roungooBe
ätnbetung in manchen ©öttertigmnen ber alten JBabglonier unb
bie Slnfänge be§ ©c^ulbbeniu^tfeinS in i^ren öu^fpolmen. aber
biefe ©rf^einungen l^aben ben ©Ijarafter be§ 3luiSna]^mSn)eifen
an fic^ unb ftetlen ft^ ni^t in bie gro^e Sinie eine§ gefc^ic^t»
liefen ^lan§, mie mir it|n bei 3^fraet erfennen, fte üermögen ba«
^er aud) nic^t, ber SReligion, ju ber fte gel^ören, in i^rer ©efamt*
l^cit ben Dffenbarung§mert ju oertei^en. ^n ber SebenSgefc^ic^te
:3frael§ bagegen feigen mir \)a§ einheitliche SGBerf ©otteS: göttlich
ift ber föftlic^e 3>«^olt, ber oon 2lnfang an in ba§ ©efä§ Öfraete
gefaxt mar, mobei bie Unfc^einbarfeit be§ ©efä&eS ba§ SBunber*
l^afte bc§ 3in^alt§ ooltenbg ermeift; gottgemirtt ift bie f orttauf enbe
Steige rcligiöfer ^eroen, bie ben geiftigen ^eiligen ©Ott in i^rer
perfönlic^en ©rfal^rung erlebten unb biefeS ©rlebniS jum ©emein«
befi^ ju machen fud^ten.
S)urc^ biefe SKänner ift ^fraet nac^ ©otteö 9iatfcl)lu| jum
3Sol! ber SReligion gemorben ; mirf lief) mertooU an 3f rael ift
nur feine SReligion unb oerglid^en mit ben übrigen 9leligionen
at§ ©efamterf^einungen ift bie ifraelitifcl)e in i^rer ©efamt^eit
Dffenbarungäreligion. 3)urc^ eine fortbauernbe, im Sampf mit
bem gemeinen 3Jlenfd)engeift fiel) burc^fe^enbe ©rjie^ung ^at ©ott
Sola: Sßad toir von bett bab^lonif^en ^uigtabungen lernen. 231
bicfe§ SGBer! in Qfracl oollbrad^t ; bief e @r jie^ung ® ottcS ift nid^t
in eine Urtraft ober eine Uroffenbarung bef^Ioffen, roir benfen unS
@ott ni^t als einen fterbenben SBater, ber bei feinem Eingang
ben unmünbigen Äinbern feine ©rjie^ungSgrunbfd^e I|interlä§t,
fonbem als einen lebenbigen Sßater, ber bie (Srjiel^ung feiner
@d^ne befiänbig beforgt. 2)ie @rjie^ung @otteS ift aud^ nic^t mit
bcm ibentif d|, xoaS im Slften 2:eftament fte^t ; mir burf en im ®e»
genteil gerabe bem jüngftgefü^rten ©treit um bie babglonif^en
gunbe banfbar fein, menn er baS SSerftanbniS bafür verbreitert
^at, ba| im 93u^ ber ifraelitifd)en SReligion allerlei aJlenfd^lid^eS
unb 9J{angelt)afteS ft^ finbet, mand)er SluSfprud^ be§ jübifd^en
StaffengeifteS, man^e tinbli^e ©otteSbarftellung, manche 93erir«
rung inS ^teinlidje unb Sleu^erlic^e, @rfc^einungen, bie ben alten
QnfpirationSglauben in bie ©c^ranfen feiner ©ere^tigung jurürf=
weifen möchten. Q[fraet ^at fpäter^in feinen befonberen 93eruf
felber erfannt unb ^at fic^ beSmegen ben (Srftgeborenen ©otteS
genannt unb obwohl auc^ au§er!|atb 3frael§ ed)te ^Religion lebte,
ift biefer Sttnfprud^ boc^ rirf)tig unb ift Q\xaü hoi) ba§ SBolf ber
Slcligion gemefen, mie aud^ au^er^alb Orie^enlanbS e^te ^unft
roar unb mir boc^ bie ©riedtjen ba§ SBolf ber Äunft nennen bürf en.
®§ fd^eint, ba| bie antifen SBölter bie S3auftetne jum gunbament
beS geiftigen 93auS ber üWenfd)^eit jufammentragen mujsten, mo»
bei jebeS SBolt feine befonbere 2tufgabe l^atte, unb e§ \6)tint, ba§
fie noc^ mel^r al§ bie SSölter oon l^eute auf biefe 2lufgabe be*
fc^rdnft maren, um Oro^eS in il^r ju leiften: roie bie ©ried^en
bie tlaffifd^e Äunft ]^erbeibrad)ten, bie JRömer ba§ SRe^tS» unb
©taatSmefen, bie Sabplonier ben Sinn für bie gefe^mäJBigc 93en)e»
gung ber irbifd^en unb ber ^immlifd)en 2Belt, fo bie Qfraeliten bie
Sieligion. 5lBa§ alfo Sabrilonien ber SBelt geleiftet ^at, baS ift zbzn
n\ä)t bie Steligion, fonbem baS SßerftänbniS für bie jalitenmä^ige
Orbnung beS SBeltbilbeS ; roaS ^fftael ber SBelt geleiftet ^at, liegt nic^t
im Oebiet ber Sultur, fonbem ber Sieligion. Unb mir erfatjren burc^
einen Sßerglei^ jmifd)en SBabptouien unb ^frael, bafe ein SBölfd^en
fulturell oon bem größeren 9lac^barn abhängen mag unb boc^ l^in«
fid|tlic^ ber Sieligion unb ©ittlid)fcit einen burd^auS eigenen unb
weit bebeutenberen SBSeg geführt werben fann.
282 liBola« 33<^3 wi^ von ^^^ bab^Ionifc^en SdtiSgtabungen lernen.
Soffen roir jufammcn, n)aS rotr oon bcn babx)^
lontfc^en Slu^grabungen lernen:
1) ®ie Äeilinfc^riften madjen un§ bie ®ef(^id^tc 3>f^ael§ le*
bcnbig unb ^ell; fie jeigcn, roic ba§ 93auernoöttd^cn ber ^\xat'
Htm auf bem bab^Ionifd^en ^ulturboben aufmu^S, mit e§ in bie
SBeltpoIitit ber @ro|mäc^te hineingezogen rontht, xok e§ fid) tapfer
wehrte unb roic e§ tapfer unterlag.
2) 3)ie Seilinf^riften letiren un§ ferner, ba§ ba§ SSott 3f*
rael aud) in Iuttifd)er unb religiöfer ^infid)t man^eS oon bem
großen unb älteren 93ruber übernahm; roir fmb banfbar bafür,
ba^ xo'xx einige SBorlagen bibttfd^er Seri^te fennen lernten; wir
werben baburd^ aufgeforbert, ba§ SWenfi^Iic^e unb ba§ (Söttli^e
an ber biblifc^en ®e]d^id)te ju unterf^eiben, bie menfd^ti^e über^^
fommene gorm unb ben göttüd^en prop^etif^en ®eift, ber bie
babglonif^e gorm original unb meifterlic^ bel^anbelte.
3) SBir fönnen gerabe au§ ben Äeitinfc^riften beroeifen, ba|
bie prop^etifd^e 9teligion ;3fraelS ttxoa^ SinjigartigeS toar unb
ba^ biefe§ Einzigartige anS SBabe( nic^t erflärbar ift; mzU
me^r ru^t e§ auf ber ©elbfterfd|lie^ung unb auf ber eigen^än*
bigen ©rjieliung ®otte§. gür bie Sibel bienen atfo bie Äeilin*
fc^riften me^r inbireft aU hxxttt, me^r in ^erip^crif^em ate in
3entralem; weitaus ba§ SQäid^tigfte, maS voix uon ben 9tu§gra«
bungen lernen, liegt
4) auf bem ®ebiet ber ^ßrofangefd^ic^te unb ber ^rofantul*
turgefd)i^te. ^ier l^abcn bie Äeilinf^riften bi§ je^t fc^on ®ro|3e^
geleiftet. ©ie werfen einen Soten auf, ber Qo^rtaufenbe lang
im ©^laf lag. S)iefer 2:ote ift bie alte bab^lonifc^e Sulturmad^t ;
wir feilen mit ©taunen, wie fd^on jwifc^en 4000 unb 3000 oor
©^r. eine gewaltige Äulturwelt lebte unb wirtte, weithin fw^
ausbreitete unb in mand)en ©rbftüden bis je^t no^ fortbauert
3)iefe Jlulturwelt ift für unS intcreffant aud^ ganj abgefe^en oon
ber Sibel unb oon ber SSejieliung ju Qfrael; wir ^aben fo oiel
greube an ber ®efc^ic^te, ba§ wir fie um i^rer felbft wiüen,
n\6)t blo§ lim ber ^Religion willen betrad^ten. @S gelüftet ben
menfd)lid)en ®eift, alle fernen beS SBeltallS ju er!ennen, oon
einem ^ol jum anbern, eS gelüftet i^n glcid^erma^en, äße %tx*
$ols: ^^^ ^i^ ^^n ^^^ bab^Ionifd^en SluSgrabungen lernen. 233
ncn ISngft ©ergangener 3^^*^^ 8^^ ergrünben unb bi§ ju ben Sin*
fangen beS 3Wenf^engefd^tec^te§ grabenb unb taftcnb üorjubrlngen.
Unb meil bie ^unbe oon ben babglonifd^en äluSgrabungen in ben
legten aWonaten weithin in ber jioilifierten SB3elt gel^ört n)urbe,
bftrfen wir oieHei^t hoffen, ba§ babur(^ bei bentenben SJlännern
unb 5^auen ber ©inn für ba§ SSSerben ber ®inge um einen @rab
freier unb iceiter geworben ift.
2B4
in itx ^tvAx%tn Itotuntrtffenfd^aft
üc. theol. % Dtto in Oöttingen.
Qu einem frül^eren Sluffa^e über „bie med^aniftifc^e SebenS*
tl^eorie unb bie S^l^eologie" ^) war oerfud^t raorben, bic 2;t|eoriccn bar*
aufteilen, mit benen heutige ^Biologie unb ^^pfiologic perfud^t^ ba§
@e^eimni§ be§ Seben§ aufjulöfen unb aud^ auf biefem ©ebiete
bie „rein faufale" SBetrad^tung unb jmar im ©inne d^emifc^^p^g«
ftfd^er unb le^tlid^ med^anifc^er Äaufalität, matl^ematifc^^quantita*
tioem ©rmeffen fid) fügenb, einjufül^ren. 2)ie fed^S Sinien, auf
benen babei il^r Unternel^men oorangel)t unb i^re Söeroeife fid^ be*
wegen, waren gejogen roorben, unb nac^bem burc^ fic i^r 93ilb
im gangen umriffen mar, mar erroogen, ob Jll^eologie, menn etmo
bie medjaniftifd^e 93etradE)tung gelänge, ju it)r ein SBerl^altniS ge*
minnen tonne. 2)ie Söfung ber ©ad)e burc^ ben $inmci§^ ba$
2:eleologie faufale§ ®rflären nidjt auSfd^lie^e fonbem forbere, in
bem ©inne, mie fio^e bieS f^on feinerjeit na^gemiefen l^atte, ^atte
fidf) al§ jur ^älfte auSr^d^enb erroiefen, jur ^älfte nid^t. @e*
mid^tige allgemeine @inmänbe gegen ba§ 9{ed^t ber me^aniftif^en
SBetrad^tung Ijatten fid^ t)on fetber eingefteUt. Unb ein Ueberblitf
über bie je^t fic^ mieber emeuenbe unb immer me^renbc Rritif
ber fjö^männer gegen bie ©infeitigfeiten ber lange ^errfc^enben
1) Sa^rg. 13, $eft 3, ©. 179—212.
Dtto: ^ie Uebenoinbung ber med^amftifd^en Seigre 2C 235
S^uKclire toar in 9lu8fic^t genommen roorben. — 3)a8 leitete
foH im folgcnbcn Dcrfuc^t werben, ®§ mirb ft^ tianbeln um eine
S)ürf}cIIung ber neuen iBeroegung im Oebiete ber SebenSlel^rc, bie
man jiemlid^ unjulöngtid^ bie .^neoüitaliftif^e" ju nennen pftegt. @ie
ift ber S^eologie in mel^r al8 einer 93ejie^ung intereffant, ba fte in
ber 2:at eine Uebem)inbung be$ 9Jled^ani§mu§ bebeutet unb ber re«
ligiöfen SBeItbetrad|tung erlaubt, ft^ auf einer breiteren ©runbtage
}u bemegen al8 auf ber etmaS f^maten fio^e'f^en. 9Bie fel^r unb
rote ferne, ha^ mirb fxc^ im SBerlaufe ber Ueberft^t beutlii^er
^erauSfteQen.
@§ ftel|t mit ber 2eben§le]^re iwxitxt ganj überrafd^enb
ä^nlic^ wie mit it)rem Äomplement, ber fie^re non ber allgemein
nen Sntmirftung ber Organi^menmelt. Sie großen ©d^ulle^ren,
^ier ber 2)armini8mu§ unb bort bie med^anifd^e ®eutung be§
fiebcnbigen, f ommen in8 S33anten, nidit bur^ bie Äritif ber Sluj^en*
fie^cnben, fonbern burd) bie Scanner be§ ^a6)t^ unb ber ©d)ulc
fclbcr. Unb baS Sfnt^i^cff^/ i>ö§ bie S^l^eologie baran l^at, ift bei«
berfeitig glei^ : ba§ tranSgenbente aBefen ber 3)inge unb bie 2:iefe
ber Srf^einung, bie jene SCtieorieen leugneten ober jubecften, rei^t
fi^ mieber auf. ®a§ ^[nfommenfurable unb baS Oel^eimniS ber
2Belt, beffen bie SReligion jum Sltmen oielleic^t nod^ nötiger bebarf
al§ be$ SRec^te^ ju teIeoIogifd)er iBetrai^tung, brid)t beutlid) mie«
ber in bie afljufe^r rationalifterte unb matl^ematifierte SBelt l^er*
ein unb fteQt ftc^ mieber ^er gegen bie jä^en, anbauernben 9Scr»
fuc^c, e§ ju uergemaltigen. 3""^ SBorteite üon beiben: ber Sta«
turmiffenf^aft mie ber SReligion. ®er Sieligion: benn fte oer-
trägt ft^ fdimer mit ber Mgemein^errf^aft matt)ematifd)er Se«
trac^tung. 3)er Slaturmiff enf d)af t : benn inbem fie bie (Sinför*
mig!eit quantitatioer 93etra^tung aufgibt, gibt fte nid)t i^re
„®runblagc" unb i^r „2)afein§rec^t" auf, fonbern eine petitio
principii unb ein SBorurteil, ba§ fte nötigte, bie 3lat\xx ju ent»
leeren ftatt fie ju erflären unb ber 9latur SBege oorjuf^reiben
ftatt bie SBege ber Statur ju finben.
3)er SRücffd^fag gegen bie einfeitig^med^aniftifc^en 2:i^eorieen
ift fe^r mannigfaltig oerf Rieben: er ge^t bei ben einjelnen gor«
feiern au§ teils oon ber SCtieoric at§ ©angem, teils t)on einjelnen
236 Dtto: %xz Uebertoinbung ber med^aniftifc^en 8e^re 2C.
Seilen unb auf einjcinen Sinien berfelben. ®r I)ebt an mit ber
bloßen Rritit unb ©inroenbungen, bie fic^ begnügen ju üerfici^etn,
ba^ man „vorläufig" boc^ nod) meit entfernt fei oon einer ^emifd^«
pf)9ftf^en 2luf (öfung be§ Seben§rätfel§, unb fteigert fi^ burc^ alle
©rabe bi§ jur oöHigen cmpl^atifdien SBerroerfung ber Se^re at§
einer bie g^orfc^ung ^emmenben QtiU ^bxo^r^ntxafit unb tritif*
lofen ©c^ulooreingenommenl^eit. ®r bleibt bei bloßem ^ßrotefte unb
ber @rn)eifung ber Unjuldngli^feit ber mec^aniftifc^en @rF(ärung
ftcl^en, oline für ba§ (Sebiet be§ Sßitaüen eine eigene felbftänbige
tI|eoretifd)e Formulierung ju oerfu(^en, ober er unternimmt eine
Sebenöle^rc aU felbftänbige ©runbmiffenf^aft mit älutonomie
ber SebenSoorgänge, ober er erweitert fid^ entfd|loffen ju meta»
p^t)fifc^er 93etra^tung unb ©pefulation. ^n aUebem gibt er
einen fo eigenen 2lbfc^nttt l^eutiger 3>been« unb ^roblem*?3en)e*
gung, ba§ er anjiel^enb märe aud^ o^ne ba§ ^fnt^^^ff^/ roclc^e^
i^m oon feiten religiöfer unb allgemein ibealiftifd^er SBeltauffaf*
fung t)er in fo befonberem 'Sfla^z jufommt. 3)ie angegebenen
©egenfä^e unb Unterfc^iebe geben gugleic^ ben geeigneten fieitfa*
ben ab, na6) bem fi^ unfer Stoff gruppiert. 2lm mapgebenbften
ift babci ber ©efid)t§puntt, miemeit ber SBiberfpru^ gegen ben
3Weci^ani§mu§ rein ^roteft unb Äritit bleibt, unb miemeit er ft<i^
ju eigenen pofitioen Seigren ergebt unb pfammenfa^t.
5Jlod) Siebig unb Qo)). SJlüUer maren tro§ ber ^arnfäure
unb ber fid^ immer me^renbcn organifd^en Sßerbinbungen, bie eS
gelang rein auf d^emifd^em 9Bege l^erjuftellen, SSitaliften geblieben.
®ie folgenben ©enerationen erft, etma von ber 9Witte beS oorigen
Qa^r^unbert§, maren bei un§, befonber§ unter ber gö^irung oon
©uboig^SRegmonb, jum entfc^iebenen 3Jiec^aniSmu§ übergegangen
unb l^atten bie 2lnfd)auungen ber Schule immer ftegreid^er be*
ftimmt. 2)od^ blieb and), menn fd)on gehalten unb oorfic^tig, ber
SBiberfprud) oon 9lnfang an nidjt au§. 3)er tgpifc^e „93orfid^tige"
ift l|ier, ganj ebenfo roie in ©adien be§ ungefäl^r gleidijeitig auf*
!ommenben 3)armini§mu§ '), 9iubolf SBirc^om. ©eine 93ebenfen
1) S3gt. über feine gana gleid^laufenbe ©tcllung jum 5)am)inigmu§:
^^col. SRunbfd^au, S^rg. VI, S. 186 ff., in Dtto ^5)armini8mu!8 oon ^eute
unb il^eologie".
Dtto: ^te Ueberroinbung ber med^antftifc^en 2t\)xe zc. 237
unb ©infc^ränfungcn fc^en fel^r balb naä) bcm 2luftrctcn ber
neuen Se^re felber ein. ^n feiner „jEeHutar^^attioIogie" ^) von
1855 unb in feinem 2luffa^e „alter unb neuer 9Sita(i§mu§" 1856")
rcbet er Quf§ neue einer „vis vitalis" ba§ SBBort. Satfc^ fei
ber alte aSita[i§mu§. 6r l^abe eigentlid^ nic^t oon einer vis
fonbern einem spiritus vitalis gerebet (®. 9). 5RatürIi^ l^aben
bie ©toffe im lebenben unb nid^t (ebenben Körper burc^=
Qu§ bie gleichen ©igenfc^aften. Slber tro^bem „mujs man bo6)
einmal bie naturmiffenfc^aftlic^e ^rüberie aufgeben, in bcn Seben§=
Vorgängen burd^au§ nur ein med|anifc^e§ Siefultat ber ben fon*
ftituierenben Körperteilen inl^firicrenben SWoIefularfrdfte ju fe^cn"
(Vin 23). 2)er mefentli^e ©runb be§ £eben§ ift eine mitge*
teilte abgeleitete Rraft neben bcn 3JloIefuIar!räften (@. 20). SBo*
^er fte tomme, fagt er nii^t. (Sr gfeitet um ba§ Problem tierum
mit fetir aUgemeinen SÄu^brüden, bie feine felbftüerftänblid)e Qn-
ge^örigteit jur neuen ©c^ule retten foUcn unb bie jugleii^ bie
ouffälligc Unfä^igfeit SßirdjomS für präjife^ ^roblemftellen offen*
baren, ^n einer „gcroiffen Qdt ber Sntroidlung ber ®rbe" ent*
ftanb fte, aU bie gemö^nlid^en mec^anifd^en 53emegungen in Ditale
„umfc^lugen" (22). Slber aU foId|e mar fie bann „eine befon*
bere Jorm üon 93emegung, meiere üon ber grojsen Äonftante ber
allgemeinen Seroegung abgelöft, neben berfelben in fteter SSejiel^ung
§u berfelben i^inläuft" ( — mef)r ^at mo^I nie ein Sitalift bel)aup=
tet — ). 9?ac^bem fo ber SRüdfjugSmeg be§ „Umfd)Iagen§" „ju
einer gemiffen S^xt ber ®ntmidtlung" gefid^ert ift unb bie nötigen
35erfid)erungen gegen ben „biametralen, bualiftifd)en ©egenfat;"
eingelegt pnb, werben nun faft alle ®inroürfe gegen ben 9Wed)as
ni§mu§ gema(^t, bie bem 98itali§mu§ jur Sßerfügung ftel^en. S^on
bie fatalgtifd)en 5äf)igfeiten- ber 3^ermentförper finb oberhalb ber
„gemö^nlidjen" pt|t|fifalifc^en unb ^emifd^en Kräfte (23). 2lud|
mit ber Bewegung b€§ Äriftatlifiereng ift bie ßeben§beroegung nn-^
oergleic^lid). S)enn Sebengfraft ift nid^t ben Stoffen immanent,
fonbern immer ^robuft oor^ergegangenen Seben§ (26). ^m ein*
1) ^Irc^it) für patfiolog. 9(natomie unb ^^gfiotogte. f&b, VIII.
2) SBb. IX.
238 Dtto: ^ie Uebenoinbung ber med|aniftif(^en Se^re k.
fad^ften äBad^StumS« unb (Srnd^rungSoorgonge fpielt bte vis vitalis
fd^on als vitalis eine 9toQe. Sßiemelme^r in ben $ormgeftaItung§«
Vorgängen. Qn ben „SReijoorgängcn" beroeift ba§ fieben feine
(Spontaneität in „Slntroorten" u. f. ro. „Peu d'anatomie patho-
logique ^loigne du yitalisme, beaucoup d'anatomie pathologi-
que y ram^ne." — SBiel „anjufangen" ift mit einer folc^en ©tel*
Inngnal^me nic^t. @ie Idgt bie S^eorie bem einen ber ©egner^
bie ^rajiS bem anbcrn, unb ba§ Problem auf bem ?ßunfte, roo
e§ mar.
3nit 93irc^om märe au§ älterer @eneration auc^ noc^ ber
^^gfiologe SBiüiam ^reger ju nennen, ber „2Re(^ani5mu§" unb
„SBitaliSmuS" unb „®ua(i§mu8" gleich fe^r beftritt unb gegen
bie „SebenSfraft" bie fc^on folenn unb offijieß gemorbenen @r»
ftärungen erlief unb bod) fi^er von ben 3Jled)aniften mie 93ita«
liften für einen SBitaliften erttärt merben mü^te. (SSgl. „Ueber
bie Slufgabe ber 9laturroiffenfd)aft", ^tna, 1876. „Slaturmiffcn*
fd)aftlid^e 2:atfac^en unb Probleme", „^^gfiologie unb Sntmicf«
lungglel^re" 1886, in ber Sammlung be§ allgemeinen SBerein^ für
bcutf^e Literatur. Unb „2lu8 SJlatur* unb üWenfci^enleben". ®bb.)-
®r ift nod^ entfd^iebener al§ SSird^om, fofern er fi^ nid)t mit
beffen allgemeinen ©rftärungen pom „Sntfte^en" ber Seben§fraft
unb oom „Umfd^lagen" ber bto| me^anifc^en ®nergieen in bie
tjitale abfinbet fonbern entfij^ieben feftplt an bem omne vivum
e vivo unb be^megen bie ©roigfeit beS Sebenbigen in ber SSSelt
le^rt unb bie generatio aequivoca abmeift. 3)er gro|e S^^tum ber
med^aniftifd^en ^rotefte entftanb bur^ bie fid| l)äufenben p^gfi«
falifd)en (ävflärungen cinjelner ScbenSerfd^einungen unb bur^ bie
Dielen 9iac^bilbungcn d^emifc^er ©rjeugniffe be§ 3:ier* unb ^flanjen*
©toffroed^fel§. 3lber barau§ jog man einen g^^lf^lu^. „9Q3er
aus ben c^emifd^en unb pl^gfifd^en @igenfd^aften beS befrud^teten
@ieS bie Slotmenbigteit l^erjuleiten ^offt ba^ barauS na^ einer
gemiffen ßeit ein Sier I)eroorge^en merbe, oon junger unb Siebe
geplagt, ber i)at eine Derjmeifelte älebnlid^teit mit bem armfeligen
^omun!ulu§fabritanten". 3)a8 Seben gehört ju ben nic^t abju*
leitenben unb nic^t aufjulöfenbcn ©runbfunttionen beg SBeltfeinS.
9tur au§ Seben erjeugt fic^ oon Smigfeit l^er 2thzn. — S)a auc^
Otto: ^ie Uebenoinbung ber med^aniftif d^en Se^re 2c. 239
^W)tx bic Sant='SapIacefci^c ^gpotl^cfe anerfcnnt, fo ftcigt ör ju
©ebanfen auf, bic mit ^^d^ncrS „foSmoorganifi^cn" Scrülirungcn
fyibm. 3t\x6) im fcucrflüffigcn ©onncnbalt \)at Scbcn feinen ©i^,
pieHeic^t met aDgemeiner unb reifer als wie e§ jetit ifi. Unb
ba§ ie^ige ift oicDeid^t nur eine geringere unb ifoliertere fSRohu
filation jcne§ allgemeineren *).
^n jüngeren unb jüngften ©enerationen finb unter ben 9Wän»
nem beS %a6)tS als ©egner ber met^aniftifd^en ©infeitigfeiten
1) ^icfe ®cban!en reifen ficfi nid^t au§ unb oerüeiben fid^ poetifd^,
}. S5. wenn er baS ©piet ber iJlammen felber mit ScbenSprojeffen vtx-
gleicht. 3(ber i^rcS poctifc^en S^eiroerfeS entfleibet geben fie i^rcn guten
6mn, auf ben man immer geleitet roirb, wenn man nid^t naturatiftifd^
üoreingenommen ift ober anbererfeitS ant^ropomorpl^e SSorfteHungen vom
^er^ältniffe beS Unenblid^en aum @nbUd^en, beS ©öttltd^en pm 9Za^
turli^en mitbringt. 2a^t man nur bie ganj« ober l^albmaterialiftifc^e
SorfteUung betfeite, al§ ob teIcoIogifd)cä ®efc^ef)cn, Sebcni^oorgänge,
fc^Ite&Kc^ ©mpfinbunggs unb ©erou^tfeingjuftänbe ^^Örunftion" einer „©üb*
fton^", eines @toffeS fein foUen, fo !ann man gan^ mo^l oon il^nen a(S
allgemeinen ^.foSmoorganifd^en'' grunftionen beS ^eltfeinS reben in bem
Sinne nämlic^, ba^ fie überaU ba mit S^otmenbigfeit auftreten, mo bic
©ebingungen baju fid^ oerroirnid^en. 3[n ber SöorftellungSmeifc ber ^o«
tens^ unb ^ftuSIe^rc mürbe baS Reißen, ba^ aUe möglid^en @tufen ^5l)eren
unb ^öd^ften ©cfd^e^enS semper et ubique potentiett im SBeltbafein ge*
fctft fmb unb bann unb ba fld^ aftualtfiercn, roo bie p!)9ftfc^en ^rojeffe
foTOcit gebieten finb, ba^ fie tl)nen bic Söflöglid^feit ba^u geben. — ^regerS
©ebanfen fangen in aUerleftter Seit roieber an lebenbig ^u werben. SBor*
läufig in romantifrf)er ff orm, 5. SB. in SBittri ^aftorS „ßebenSgef rf)irf)te ber
^be". (geben unb SBiffen, ©b. 1. ßpjg. 1903). Unb ged^ncr fci)eint in
gerotffen Greifen, bie burd^ bie gleid^^eitige S}eref)rung unb Sßerbinbung
von mobemer S^aturmiffenfc^aft, ©ftdCel, SRomantif, SfloüaliS unb anbern
@egenfä^en gefennseid^net merben, bireft eine ^uferfte^ung erleben 5U
foflen. XijpuS biefeS Greifes ift etwa 2Ö. «ölfd^e. — @e^r naturaler*
loeife ift ^aftor aud^ aufmerffam geworben auf hit neuerlichen 3(nfd)aus
ungen oon ©d^roenS begüglid^ ber ^ftaUtfation. %a^ omne crystallum
e crystallo, ganj cbcnfo mic omne vivum e vivo, mar eigentlid^ längft
ein 9liegel gegen med^aniftifd^eS Slbleitcn. @d^roen aber fe^t hiz Äriftal*
lifation in parallele mit organifd^en SBorgdngen, fo ba^ nun nic^t bic
ongcblid^e ^larl^eit unb ©oiben^ beS Unorganifc^en — nac^ frül)cr be«
licbter Met^obe — über bie ©tufen ber ÄriftaKifation ing SReirf) beg Se::
benbigen einbringen, fonbem umgefelirt baS ©e^etmnig beS SebenS nad^
unten ju ftd^ auSbe^nen unb fortfe^en mürbe.
240 Otto: Xie Uebenoinbung bet me^aniftifd^en Se^re :c
Tüol^l am mciften genannt bic Sungc, Stinbflcifc^, Äcmer oon
aWarilaun, 9Jeumciftcr, SBolff. ®ittc eigene nic^t ganj beutli^ ju
rubrijierenbe ®ruppe unter it)nen fönnte man bie Settoniften
nennen. Wlit i^nen im fac^Uc^en 3uf<^ninten^ang fte^t 9lein{e§
„3)ominantenle]^re" . S)riefc^ ift non il^nen ausgegangen unb bie*
tet baS anjiel^enbfte ^eifpiel einer {onfequenten ^ortentmidlung
oon ber @infi^t in bie Unmögli^feiten ber Snec^aniftif ju eigenen
auSgeftalteten uitaliftif^en S^eorien. 3Bieber eine fe^r eigene
©teÖung ju ben Problemen nimmt ^ertroig ein. S)te origi*
ncUfte Srfc^einung auf bcm ganjen ©ebiete ift oielleic^t 2Hbre(i^tS
Sel)re ber „oerfc^iebenen Öetrac^tungSroeifen". aWit Ä. ©^neiber,
bei bem bie neuen @ebanfen ftc^ in metap^qftf^er (Spetulation
fortfe^en, märe etma bie 9leii)e ju fc^Iie^en. SKe^rete 95e*
gleiter unb ßw^if'^^^Sli^^^^ föfl^" P^ biefen ^aupterf^einungen
I ein.
i
öead^tenSroert unb oiel bead^tet ift ber atlerbingS etmaS anbeut*
lic^e 2luffa^ be§ SDBürjburger ^at^ologen @. dou SRinbfleif^ „9leo«
uitaligmuS" (in „SDeutfc^e mebijinifd)e SBodienfc^rift" 1895 9lr. 38).
9Jlc^r aber als er fte^t im Sßorbergrunbe beS ©treiteS @. 93unge
in 33afel, ber unter bcn ^^qfiologen fc^on feit längerer 3^it ^^^
SßitaliSmuS oertreten unb oerfud^t ^at, 3lnaIogien unb SSeranfc^au*
Iid}ungen pitaler %emir!ung gu fc^affen. äluSfü^rlic^ f^on in feinem
„Se^rbuc^e ber pl^gf . unb pat^ol. S^emie" (2. 9Iufl. 1889), in beffen
erftem Ä'apitel „SöitaliSmuS unb SWed^aniSmuS". ajlec^aniftift^e
SRüctfü^rung beS SebefTSgefc^e^enS auf nur p^gfifalifd^'^emifc^e
Gräfte fei unmöglii^. @S merbe au^ immer unmöglid^er bei
naiverer ÄenntniS. Orabe für biefeS Buf^mmenfinfen mec^anipif^
fc^einbar fd^on gefunbener Söfungen fütirt er eine Slei^e über*
jeugenber S3eifpiete an. S)ie STufna^me beS ©peifefafteS bur^
bie SDBänbe beS ©armtanateS ^inburi^ fd)ien ein mec^anifd^ Der*
ftänblid^er Söorgang Don ©nboSmofe unb S)iffufion ju fein, aber
in SBa^r^eit ftedt fid) l^erauS, ba§ eS oielme^r ein SEBal^Ioorgang
ift, ausgeübt burd) bie Q^ütn beS ®arm=®pit^elS gauj in Slna*
logie beS SBäl^lenS unb Serfc^mä^enS ber 9la^rung etma ron
atmöben. ©benfo „xoaW baS Spitzel ber aWil^brüfe bie jmed*
mäßigen ©toffe auS bem 93lute auS. SÄed^anifc^ unmöglich iu
D 1 1 0 : %\t Uebertoinbung ber mec^antftifd^en Se^re 2C. 241
erf(äreu ift bie S)ireftiDe ber ja^Itofen einzelnen pJ^^fifaUfd^en unb
^emifc^en SBorgänge im Organismus, ftnb bie oerblüffenb fmn»
poffen SReaftionen im (äinjelleben ber Qzüt (©clbftregulation ber
ärccHen burc^ OaSblaSc^en), bie auf pft)d)ifc^e ^rojeffe im ^(aSmo
beuten, finb bie 9tät|el ber gormgeftaltung unb befonberS ber
SJercrbung: mie leiftet e§ ein ©permatojoon, pon bem ööoaKiH,
auf eine ^ubif(inie ge^en, ade Sigentämlid^feiten vom 93ater auf
ben ©o^n ju übertragen ! ^n Sorlefung III f e^t ©unge fic^ mit
bem ©efe^e Don ber @r^a(tung ber ^raft auSeinanber. 3)ie ^uS«
einanberfe^ung ge^t unbemu^t mieber in ben 93a^nen beS S^arteftuS:
alle ^emegungSoorgänge unb 9lrbeitSleiftungen in ber lebenbigen
©ubftanj fmb SÄuSmirtungen gefpeidjerter ©pannfräfte, mobei fic^
bie Summen Don Seiftung unb ^(nmenbung gleid^ bleiben. 3lber
beren 2(u§Ißfung unb babei beren Slic^tung ift ein ^öttor für
fic^, ber felber bie ©umme ber ©pannträfte meber me^rt noc^
minbert. „Occasio" unb „causae" treten roieber inS ©piel. 3)ie
©pannfrdfte fmb ba§ Oefc^el^en-SSBirfenbe, bebürfen aber i^rer
occasiones jur SluSlöfung, roie ein ©tein jur @rbe fällt oermöge
ber bei feinem 9luf^angen gefpeic^erten potentiellen Snergie, aber
erft fallen fann, menn ber gaben burc^fc^tiitten marb. 2)ie Seiftung
ber occasio felber ftel^t babei brausen unb au^er SBerl^ältniS jur
uerurfaditen SBirfung: eS ift einerlei, ob man ben gaben mit ei*
nem 9tafiermeffer leid)t bur^fc^neibet ober mit einer Äanoncn*
fugel burd^fc^ie^t. — Qnjroifd^en ift ©ungeS 93u^, erweitert, in
fünfter 2luflage erfc^ienen, alS „Sel^rbud^ ber 5]Stigfiologie beS
SWenfc^en" (Spgg. 1901). 3)ie betreffenben früheren 3lusfül^rungen
erfc^einen l^ier mieber unter bem Sitel: „Qf^^oliSmuS unb 3)2e*
c^aniSmuS". 3!)ie ©infprac^en finb biefelben geblieben. 9Man meine,
e§ fei nur eine grage ber 3^it fo muffe eö gelingen, ben 9lac^*
roeiS JU fül)ren, ba| ber ganjc SebenSprojc^ nur ein fomplijierter
83en)egung§oorgang fei. 2lber bie (Sefc^id^te ber ^^gfiologie leiere
genau baS @egenteil (©. 3). Sllle SSorgänge, bie ftc^ mec^anifc^
erflären laffen, fmb grabe feine Seben§erfd)einungen. ^n ber
ättioität — ba ftecft baS Siätfet be§ SebenS. — Söfung biefeS
JRatfelS nun wirb ^ier noc^ entf^iebener aber nic^t fetir beuttic^
im „QbealiSmuS" t)om ©elbftberou^tfein unb feinen Seiftungen
i)ettf(^ft für Z^eologtc unb Atrd^e. 14. ^a^rg., 8. ^eft. 17
242 Dtto: ^te Uebertoinbung ber med^aniftif^en 8e^re ic
aus gcfuc^t. „Physiologus nemo nisi psychologus" (©. 11)^).
SBic roeit man felbft auf feiten entfc^Ioffcn mcd^aniftifd^er
93etrad^tung bod^ ber Sritit entgegentommen mu|, bafür ift ^af=
fon)i§: Mgemeine ^Biologie (2 SSbe., S33ien, 1899) ein le^rreic^e^
S3eifpieL ©el^r crnft^aft ge^t er in langer 3lu§fü!|rung unb ^rü*
fung ben oerf(^iebenen SBerfuc^en unb 2:l|eorieen na^, bic ^aupt-
erfd^einungen be§ Seben§ mec^aniftifd^ abjuleiten (I ©. 13). 3)ic
2:t)eorieen Dom Organismus als SBärmemafc^ine, bie oSmottfc^e,
bie germenten^ bie elettro^bgnamifi^e, bie molefular^p^gfitalifc^e
2:t|eorie werben in ^ap. 3—14 mit erftaunlic^er ©a^tid|feit unb
(Sorgfalt geprüft unb im „^[gnoramuS" oon £ap. 15 ber ÜWiß*
erfolg biefer jumeift mit einem fo enormen Slufmanbe non ©c^arf-
fmn gefc^affenen ^gpot^efen feftgeftettt. „2)er SWi^erfolg ....
ift ein . . . eflatanter . . .", unb offen mirb eingeftanben, ba§
in fc^rittem ©egenfa^e ju früherer ^offnungSfrcubigfeit fic^ je|t
in 33ejug auf mec^aniftif^^^ejperimentette ®urd)forfc^ung ber le*
benben Organismen roieber refignierte ©timmung geltenb madft
unb fogar gad^männer erften SRangeS mieber ernftlic^ mit ber
SebenStraft ju red)nen anfangen. Qznt ßufammenbrüc^c unb
biefe 3wgcpänbniffe geben nic^t eben ein großes SBorurteit für bie
nun boc^ felber neuoerfud^ten medtianiftif^en 2;t)eorieen.
©lei^fam atS ^fi^cat fc^ien ber mec^aniftifc^e ©tanbpuntt nod^
in bem umfaffenben Se^rbuc^e ber p^pfiologifd^en S^emie oon 91.
Sieumeifter (2. SÄufl. 1897) feftge^alten ju fein. (Sgl. ©. 3
„oorläufig ju oerjicftten".) ®anj oerlaffen aber unb energifc^
befämpft mirb er in beffen neuefter ©^rift „93etrac^tungen fiber
baS aaSefen ber SebenSerfd^einungen" (^ena 1903). @r lä|t bie
ganj grojaen 5ßrobleme oitalen @efd)e^enS, roie gormgeftaltung,
Sßererbung, ^Regeneration auS unb bejie^t fic^ mefentli^ auf bic
pfl9fiologifc^en Seiftungen beS ^rotoplaSma, fpeaielt auf bie
9iat|rungSaufnal|me unb ben ©toffroec^fel. Unb teils mit 93unge5
teils mit eigenen öeifpielen erroeift er in enger güt)lung mit
äBunbtfd^en 2lnfd[)auungen, ba^ auc^ biefe unteren SebenSer«
frficinungen unmöglid^ ju erflären finb auS Urfadien c^emifc^cr
1) %k Ausführungen finb gefonbert crfcf)iencn alS ©injeloortrag:
(3. $unge, ^italiSmuS unb iKHec^amSmuS, ^tvp^iq, 1886.
Otto: 3)ic Ucbetroinbung ber med^aniftifd^en Cel^rc 2C. 243
Affinität, p^^ftfalif(^er 2)io§mofc u. [. lü. 93ci bcn SB3al^It)or*
gangen (g. 93. beim 2lu§fd)eiben bc§ ^arnftoffe^ unb bem geft=
galten bc§ Qndzx^ im 93Iute) ift ber „Sro^i tlax, ber ®runb
nic^t }u erfennen". ^fgd^ifd^e ^rojeffe mirten im ^ßrotopIaSma
bereits mit alS quali^^ unb quantilatit)eS (Smpftnbung^Dermögen.
Unb alle mec^anif^en "^^rojeffe im Sebcnbigen jtnb bur^ foId)e
erft eingeleitet unb birigiert. 2)ie pl^gfifalifd^en, c^emifc^en, me«
^onifc^en ©cfe^c gelten ooDmertig, aber fie bel^errfdien ni^t ooU*
fommen (©. 29). Unb bie lebenbige ©ubftanj ift ju befinieren
ate „ein eigentümliche^ d^emifd)e§ Softem, beffen aWofetüIe burc^
eine eigenartige 3Bed|fe(n)ir!ung pfpc^ifd^e unb materielle SBorgänge
in ber 3Bei[e erjeugen, ba^ bie ^rojeffc ber einen 2trt ftetS oon
ben ^rojeffen ber anbern 2lrt urfad^üd^ bebingt unb eingeleitet
werben" (©. 56). 2)ic pfg(J)ifd|en (Srf^einungcn felber gelten
i^m al§ tranfjenbent, überfinnlid), „mgftifd^", i^rerfeitä fraglos
aud) ftrcng faufatem ßufammenl^ange unterftetienb, aber einem foU
c^en, beffen Äaufalität un§ für immer oerfd)Ioffcn ift. SSon biefer
®runbanfd)auung au§ roeift er in ausführlicher 2tu§einanberfe^ung
bie Srftärungen burc^ bie Slnalogieen ber Fermente, ©njgme
(©. 72: nur fpattenbe, feine aufbauenben ©njgme. @. 86. @n-
j^mroirfung intracellufar aber nic^t intraprotopIaSmar), fatalg^^
tifc^er aSorgänge jurücf, im einjelnen befonberg gegen OftroalbS
SnergiSmuS unb aSermornS 93iogenf)r)pot^efe fid) ri^tenb ^).
/ 5ieumeifter§ Ueberlegungen bewegen fic^ — angreifenb —
auf ber „jmeiten Sinie" ber med^aniftifd^en 2:^eorie. Sel^rrei^
für bie „fünfte", für baS 5ßrobIem ber g^rmgeftaltung in feiner
heutigen Sage, ift ber furje in^altooCe 3luffa^ ton 5^. SÄertel
(9Jad^rid|ten ber t. ©efettfi ber SBf^ften. ju ©öttingen. ®e=
fc^dftl. Smitt. 1897, $eft 2). „ffielctie Äräfte mxUn geftaltenb
auf ben Äörper ber äWenfctien unb 2:iere?" 3)er 2luffa§ ^ätt fid),
offenbar abfi^ttid^, fern t)on ben ©c^Iagroorten ber Äontrooerfe.
Surj mirb bie mec^anifdt)e a3etracl)tung unb ba§ Spiel mit me«
1) @. 97. 98. SBcrroornS SBeifptel con ber ©d^rocfetfdurefabrtfation.
%l. in unferem früt)eren Sluffatjc bie „^roeite ßinie" ber mcc^aniftifc^ett
X^corie, auf ber fid) bie 9^eumetfterfd)c ©cf^rift roefentlic^ bewegt. Sögl.
^cf. S^rg. 13, @. 189.
17 ♦
244 Dtto: ^te Uebern>inbung ber med^anifttfd^en Se^re 2C.
d|anifci|en Slnalogieen unb SKobcUcn abgcroicfcn. (©. 30) „3Benn
3)tnge, noeld^e an fid^ medjantfd^en (Srüatungen guganglic^
xo&xtn, Dor ftc^ flctien, oI|nc ba§ bie nied(anifc^en ^rämiffcn gc*
geben finb, bann muffen wir nad^ anbeten Kräften fachen, welche
unfer aSerftänbnig förbern". Unb rul^ig fe^rt man jurüdt ju ber
alten fc^lid^ten 3Sorftetlung§form ber „regulatioen" unb ber „for*
matben Kraft", bie als SSermögen sui generis ben „©nergiben",
ben eigentli^ lebenbigen Steilen ber Qtllt beigelegt merben. 3)ie
3eKenenergibe trägt in ftc^ baS „SWufter" ber Organifation unb
bie teitroeife ober oolHommene „gertigfeit" ben ganjen Drganiö«
mu§ l^eroorjubringen unb roieber l^eroorjubringen. ®ie beiben
„Kräfte" aber „bebienen" ftc^ al§ il^rer SBerfjeugc im einjelnen
ber p^pfifalif(^*^emifd|en Kräfte. — ®ie 2)inge fo befc^reiben,
l^eißt natürlid^ nic^t, ba§ Problem löfen, fonbern e§ oerbilblic^en.
2l6er ba§ man tieute mieber fo oerfä^rt unb ©erfahren mu|,
menn man bie S)inge einfad^ unb fo mie fie fic^ wirMi^ geben
bejcii^nen miK, ba§ grabe ift ba§ Se^rreic^e baran.
Unter ben Iieutigen SBitaliften faft ber meiftgenannte (außer
©riefdi mo^l überl^aupt ber meiftgenannte) ift ®. SQBoIff, ^rioat*
bojent, früher in aBürjburg, je^t in Safel. ®r \)at nur turje
Stuffä^c unb aSorträge oeröffentlid^t, bie fic^ junäc^ft aud^ nic^t
fomo^I auf ben STtei^aniSmuS aU fpejieQ auf bie Kritif be§ 9)ax*
n)ini§mu§ bejogen („Sei träge 3ur Kritif ber barminfc^en Se^re"
al§ SlbbrudE auS bem biologif^en ä^ntratblatte 1898 gcfonbert
erfc^ienen). Slber fc^on in biefen mar ba§ ^auptargument bcS
be§ ©dilußfapitete : bie fpontane äw^^^w^äfeisf^it beS Sebenbigen
felber, bie alle 3"föö^t]^^orieen jur ©rflärung ber 3">^*"^ä6*9*
feiten in Dntogenie unb ^ßl^glogenie beifeite fc^iebt. Unb in fei*
nem Sßortrage „3Jlec^ani§mu§ unb SJitaliSmuS" (Spjg. 1902), in
meldiem er pc^ befonber§ gegen 93ütfd^ti8 SSerteibigung beS 3We*
d^aniSmug roenbet, tritt bie un§ ange^cnbe 5^age allein in ben
aSorbergrunb. Xxoi^ itjrer Kürge Iiaben biefe ©(^riften bie Kon«
trooerfe fe^r ftart auf fiel) gebogen, roeil ^icr befonber§ präji^
ba§ ®igentümli(^e ber ©tanbpuntte umfd^rieben unb ba§ ^^Jroblem
^erau§geftellt rourbe. SSSaS feinen Kritüen 2lu§gang unb befon^
bereu QmputS gab, ba§ mar ein oon i^m fclber burc^ ein fc^t
D 1 1 0 : ^te Uebenoinbuttg ber med^atitftifciien 2t^u tc. 245
glüdßd^eS (Sjrperiment beigebra^ter empirif^er SetDeiS ber er«
ftaunlid^cn SRegencrationSfä^igfeit unb be§ fpontanen Qvozdi)an^
beln§ bc§ Sebenbigen. @§ gelang if|m, ben 93en)eiS ju tiefern,
ba| eine 2:riton*®ibect|fe, ber bic SÄugenlinfe herausgenommen
warb, imftanbc ift, biefelbe neujubilben. ®a§ Oemidit btefeS 53e«
roeifeS fteigert fid) nod), menn man im eingelnen bie ^ier auf*
tretenben unb tonfurrierenben Unmöglid^feitcn mei^aniftifc^er S)eu*
tung Derfolgt. (NB ! 9li^t „SBieberbilbung oon ber 2öunbe au§,
fonbem ®rfa§bilbung non anberem Drte l^er." 3)riefd^.)
aWan foHte ermarten, ba§ roenti irgenbroo fo in ber ^flan*
jenbiologie bie mcd)aniftifc^e Setra^tung t|ätte burc^bringen müf*
fen. 3)cnn bie ^ßflanjen als beraubt ber ^nnerlic^feit, be§ „^fg*
c^ifc^en", ber ®mpfinbung, unb als mec^anifd)e ©qfteme, d)e*
mifc^e Saboratorien unb SRefleymec^aniSmen ju betrachten, ift faft
3[fiom unb rourbe bei ber im SBergleic^e jum Jierifc^en au^er»
orbentfic^cn ©ebunben^eit unb Unfreiheit i^rer SebenSporgänge
Don vorneherein erlei^tert. 2lber aud^ baS ift nic^t ber %a\i.
35cr 3QBiberfpru(^ gegen bie merfianiftifd^en 2:^eorteen ift l^ier
cbenfo gro§ ats auf ber anberen (Seite unb oon ben S^agen SBi«
ganbS l^er ift er ununterbrochen im ©ange geblieben *).
SSejeic^nenb ift fct)on ^fefferS ^ffanjenp^pfiologie (1897),
bie burd^auS auf med^aniftifc^em 93oben ftetien roitt. ®er „S3i=
taliSmuS" ift nac^ i^m jmar bur^auS abjule^nen (©. 10), aber
nun treten ftatt ber „fiebenSfraft" unter Umftänben bie nun ein*
mal „fo gegebenen ®igenf haften" unb bie angeblid^ maftf)inellen
Strufturen im SlHertleinften ein. ^n ^Betreff jum 93eifpiel beS
SRätfelS ber ©ntmidtlung unb ©eftaltung muffen mir eS als eine
„gegebene ®igenfdt)aft" l)inne^men, ba§ auS ber ®ic^el immer nur
ein ©c^baum roirb (20.) 3urüdtiun)eifen ift bie d)emifc^e ®rflä*
rung ber SebenSfunftionen beS ^rotoplaSma: mie eine einge*
ftampfte U^r feine U^r metir ift, tro^bem fie d^emifd^ baSfelbe
1) 5Bor SEBiganb« größeren SBerfen fd^on Fed. Delpino: Applicazione
della teoria Darwiniana ai fiori ed agil insetti visitatori dei fiori. (Bull,
della Bocietä entomologica ital. Fir. 1870) ,un principio intrinseco, rea-
gente, finchd dura la vita, contro le influenze estrinseche ossia contro
gli ageuti chimici e fisici*.
246 D 1 1 0 : ^ie UebertDtnbung ber mec^aniftif^en iSel^re zc.
bleibt, fo ba§ ^rotopIaSma. ®ic beftcn d^cmifc^cn ^cnntntff c bcr
in il^m tjorlomtncnbcn ©ubftanjcn ftnb für ftd) allein unfähig
jum aSerftänbniffe ber tjitalen ^rojcffe. ^icr irie überall iji es;
nötig mit testen „®igenfd^aften (®ntität), bie roir nid^t iDciter
jergliebern wollen ober fönnen", ju rechnen. „3)en legten ®runb
ber ®inge vermag ber SWenf^engeift fo wenig roic bie Unenb*
lid|feit 8U erfaffcn" u. f. xo. 3)a§ alle§ ftnb ainfä^e oon Slnfc^au*
ungen, bie jur Äonfequenj gebrad^t bie SRüdCfü^rung auf ba§
allgemein d^emifo-pl^rififc^e ©ef^el^en uielmel^r unterbred^en at§
förbern mürben. — 3ll§ mirflidien Sßitaliften gibt fi^ bemugt
ferner oon SÄarilaun in feinem „^flanjenlebcn", inbem er oud^
l|ier mie an manrf)en anberen fünften ben gängigen ©c^uüe^ren
(S)arroini§mu§) roiberfprid)t. Qxoax finb oiele Srfd^einungcn an
ben ^flanjen rein med^anifd^ ju crtlären, aber nur fold^e, bie fi(^
eoentuell auc^ an leblofen ©ebilben oorfinben. ©rabe bie fpeji»
fifc^en Seben§äu§erungen aber fmb e§ nic^t. @r jeigt baS na^er
an bem grunblegenbftcn Don allen oitalen ^rojeffen im ^flanjen*
förper, an bcr Spaltung ber Ko^lenfäure burd) ba§ ©^lorop^ptl
jur ©eroinnung be§ @runbelemente§ alle§ Sebenbigen, be§ Kohlen»
ftoffe§. SJBir fennen bie babei fpielenben 93ebingungen: bie ju-
ftrömenben Sio^ftoffe, bie oermanbte ©nergie be§ ©onnenlic^teö.
Slber mie ba§ ©^loropl^tjH e§ anfangt, oermoge biefer beiben bie
Spaltung ju leiften unb bie bann folgenben ©pntliefcn be§ Äo^«
lenftoffe§ in ben ^od^fomplijierten organifc^en Sßerbinbungen ein*
juleiten, ift rätfcl^aft. Unb fo aufroärt§ mit allem eigentli^ vU
taten ©efdie^en. — ©a^lid^ eigentlid) ganj glei^ liegen bie 3)inge
bei 3Bie§ner (Slemente ber mfc^. 93otani!, 93iologie ber ^^Jflanje).
©e^r einbrudSooll fmb I)ier bie SRätfel be§ ®I|emigmu8 ber ?ßflanje
gefd^ilbert: wie gering bie Sai)l ber 9lal^rung§mittel unb 9lo^*
ftoffe ber $flanje ift im SBergleii^e ju ben 2:aufenben I|oc^fom*
plijierter d^emifdier ;3nbioibuen, bie fte probujiert; mie gro| bie
fieiftungen im 2)e§05t}bieren ber 5Ra^rung unb im ©gnt^efieren,
3n)ar mu§ aud) l^ier bie „Seben§traft" bie übliche Stürfmeifung
erfaliren. 2lber „im Organi§mu§ begrünbete ©runbeigentümli^*
feiten bc§ Sebenben", unb ba8 geftfteHen, ba§ bie ^flanjen eben
„reijbar", „l^eliotropifd)", „geotropifd^" feien, ift ja au^ nur ba§*
Otto: ^ie Ueberroinbung ber nted^aniftifdEien Se^re zc 247
fclbe, roa^ „ScbenSfraft" war, nämlic^ nid^t eine Srftärung fon»=
bem eine Benennung bc§ ©onbcrprobIcmcS bc§ Sebcnbigcn. ®r
felbcr beflätigt ba§, lücnn er an anbcrcr Stelle erflärt: „5Beun
ic^ bie Organismen mit ben 2Inorgani§men pergleid)e, fo finbe
ic^, ba^ mit bem g^ttfc^reiten unfereS SBiffen§ bie Kluft immer
großer mirb, bie beibe trennt!" — 3lm entfd^loffenften bredjen
bie antimec^aniftifc^en ^Regungen mol^l burd^ bei gr. fiubroig
(Se^rbud^ ber 93iologie ber ^:ßflan8en. ©tuttg. 1895). Qm @*lu&^
fopitel, nad) SluSeinanberfe^ung ber Se^ren SJarminS, 9iageliS,
3Bci§mann§, poftuliert er, fpejieH für Variation, SSererbung, 2lrt:=
btibung, „noc^ anbere Kräfte, al§ bie ptigfifalifc^-c^emifc^en".
„9tennen mir fie ol^ne meitereS pfr|d^ifd)e". — Sel^rreic^ bafür,
Tüie grabe beim ©injelftubium unb beim ©tubium be§ Sttllerfleinften
bie „oitaliftif^en" Slnfd^auungen roieber l^erauSbrec^en, fmb ®.
SratoS „Beiträge jur 3lnatomie unb ^tigfiologie be§ Elementar«
Organismus". (So^n, ^Beiträge jur Biologie ber ^flanjen, Vn
407 ff. aSgl. bcf. ben @(^lu§ : „SinigeS über gunftionen ber
einjelnen Q^üoxQam" ,) SBie baS fiebenbige in§ immer Kleinere
hinein immer noc^ einmal mieber lebenbig ift (amöboibe SBeme«
gung gemiffer ^laftine, ber ^^t)foben . .), mie unnergleid^lic^ mit
bem, womit feine Reiniger eS am liebften üerglei(^en, mit einer
„9Rafc^inc", mie eS ftd^ felber baut, leitet, unb feuert, baS „©pie*
Icnb' leichte", mit bem eS bie rounberbarften unb jierli^ften ^or*
men probujiert, Sßerbinbungen fd^afft unb löft, mie analog alleS
bem „Können" unb bem „SQBollen" ift, tritt anfc^aulidt) ^er*
Dor^).
1) @tn ©eitenftücf ba^u au§ ber 3ooIogte mdre etiva @. ^ei(f)mannS
®in5elunterfud)ung „über bie SBejic^ung jn)tfrf)en 3lftrofp]^ären u. g^urc^cn.
^perimenteUe Untcrfud^ungcn am ©ceigetei". (3lrrf). f. ®ntro. 9Jicd^. XVI 2
1903). Stuf ,,pf9d)tfd)eS'' ®efd)c{)en, „können" unb „2Bonen" wirb l^icr
nic^t rcPcftiert, roaS für eine eyafte Untcrfud^ung fidler nur ju billigen
ift. 2lber hi^ mcd^aniftifd^en S)eutungen ber ®ntroicflung§oorgdnge im
ßlcinften (mf)umblcr. ©. früheren Sluffafe, @. 190. ßic§ „®aftruIation" ftatt
©aftruftation) werben oorficf)tig eingefd)rän!t unb „fjunbamentaleigen*
fc^aftcn ber lebcnbcn ©ubftanj, bie mir alS gegebene f)innel)men muffen",
werben angebeutet. Unb nod£) auSgcfpro^ener in 2;ab. öJarborosifiS prad^t-
coö auggeftatteten „9Jh)rp^ogenetif(i)en @tubien, a(§ ^Beitrag 5ur 3J?etl)obo=
248 Otto: ^ie Uebenombung ber tnec^aniftifd^en Seigre 2C
©cl^r übcrftditU^ unb originell cnblic^ fc^ilbcrt Sorobin,
^ßrofeffot bcr ©otanif in Petersburg, bie l^eutige Situation in
feinem 2luf[a^e „Protoplasma unb SebenSfraft" (überf. oon Sci)in=
fotin. Beilage jur Slügemeinen 3eitg. 3Mün^cn, 1898, Str. 166
unb 167). @r geißelt fc^arf bie ®infeitigfciten unb SJoreiligfeiten
ber medianiftifd^en Si^eorie, ^ädfelS „@ntbedung" beS 93at^9biuS
unb bie femlofen SBafterien. ®ie te^teren jtnb problematifc^ unb
ber erftere mar eine ^fßwflon. 2)a§ ©inbringen in baS innere
ber SebenSoorgänge ift baS ©eroa^rroerben oon ftufenroeig oer*
tieften Stätfeln. Unb „^rotopIaSma" ober „lebenbeS (Siroeife"
ober überl^aupt einen einl|eitli^>:einfad)en „SebenSftoff" gibt e§
nic^t. 3)ie Wnftli^en „Oelamöben" (öütfAli, f. früheren 2luffa^,
@. 190) ©erhalten ftd^ ju ben mirHi^en loie bie fünftli^e ®nte
9Saucanfon§ ju einer mirflic^en: nämtid) garniert. Unfer „?ßroto*
plaSma" ift fo mgftifc^ roie bie alte SebenStraft, unb beibe gleit^
fetir ein ßagcr^of für unfer Unmiffen. 2Wecl|aniSmu§ fo gut wie
2ltomt^eorie finb ni(^t ©rgebniffe ejafter gorfdiung fonbem Se^n*
ftüdte au§ ber ^^ilofop^ie. ®ie tgpif(^*DitaIen JBorgänge ber Stcij»
barfeit unterfui^en wir jroar auc^ nac^ p^gfitalifc^en SWet^oben.
Sttber bie Slntroorten, bie ber Organismus auf bie p^gfifalifc^en
2:orturen gibt, fönnte man faft atS einen ^ol^n auf bie ^^9frf
bcjeid^nen. 33ie 9We(^aniften Reifen fic^ mit groben Sinologien
aus bem SRafci^inelten, berfen baS Problem s^t wit bem 9lamcn
„SReijbarfeit" unb befeitigen bamit baS ®rftaunlici^fte. ©elbft
loßie joologifd&cr fJorfd)unfl." @ie getiören eng l^inetn in bcn ©cbanfcn-
freiS ber 5)ricfd£) unb Söolff, bie beibe F)äufig mit großer ^Inerfennung
jiticrt roetben, unb finb ein oorjüglidieS ©eifpiel für bie Stimmung ber
©rmübung unb beS ^roteftcS gegen bie ^S)ogmen'' ber ^cScenben^', Sc*
Ieftion«= unb ©tammbäume^Soologie, bie in ber jüngften Generation oon
^orfd^em ficf) mcl^rfac^ regt. ©arbomSfi (e^nt §äc(elS ©ntroicflungSle^ren,
befonberS baS „biogenetif^e ©runbgefefe" unb bie „Oafträalebre" häftig
ab, baju bie ,,med)aniftifd)en'' (^^erimente ber ^eimeSentmicflung, mit
benen man „morp^ologifc^ bie ßeberoefen in einer SBeife betrachtet, aö
ob eS firf) nirf)t um SebenSein^eiten, fonbem um ©lafen, Sßal^en, platten
l^anbele", bie „fünftlid^en Slmöben", bie fic^ bewegen, fortfriec^en, teilen,
unb nur eins ni^t tun, nämlid) Uhtn. %a^ ^hzal ber Biologie ift natut«
lid^ immer eine Sßiffenfdiaft mit ©efe^en unb (Gleichungen, aber bie
€d)Iüffel x\)xzx ®Ieici)ungen loerben nid^t in ber SO^eci^anif liegen.
D 1 1 0 : ^ie Uebern)inbung ber med^aniftif dien l^e^re zc, 249
mm bic fiebcnSfraft au§ i^ren bumpfcn Q^üzn rufen würbe:
„btt bin ic^", fo würbe man barin Dermutlid^ einen merfroürbigcn
gttll oon „SReijbarteit" fe^cn. 9Red)ani§mu§ ift ebenfoiüenig roie
ber SBitaUömug tatfäd)Iid)e§ 3Biffcn fonbcrn nur ein ®Iaubcn§*
bogma ber 9Äe^rja^l ber mobemen 9laturforfc^er.
3)ie bigl^erigen ^roteftierenben Ratten au^cr i^rer ^ritif ber
me^aniftifd)en Sefire leine pofitioe eigene Sefire ober bo^ nur ju
ftioppe Einbeulungen, etwa in pfgc^iftif^er Einfielt geben tonnen.
@§ gibt anbere, bie ben 3nec^ani^mu§ überwinben TDoQen bur^
ein eigenes tiefere^ (Srfaffen Dom SBefen ber „^raft" überl^aupt.
S^re aSerfud^e finb mannigfaltig, bewegen ftd^ aber jumeift in
einer SRic^tung, bie roo^l am ftraffften unb !nappften angebeutet
roirb burd) Slopb 9Worgan§ Slnfc^auungen, roie fie j. 93. in feinem
«uffa^e „Vitalism" (the Monist, 1899, ©. 179 ff.) gefummelt
jinb. ^m 3lnfange biologifc^er fiel)rbüd^er finbe fic^, fagt er,
itoax gemß^nüd) aud) ein Äapitel über ba§ 3Befen ber „Sraft".
aber e§ fei „like grace before meal" — without influence on
quality or digestion. 3)iefe S^^öge aber fei in§ reine gu bringen,
beoor man ju einem aSerftänbniffe be§ ganjen ©ebietes; tommen
tonne. 93ei allen 93erfuc^en ber „Slücffü^rungen" fei ju über*
legen, ba| überhaupt „^raft" if)r SBefen in immer l^ö^eren ©tufen
offenbare, oon benen jebe neu fei. ©d^on ©otjäfton fei nid)t
rüdfü^rbar auf ©raoitation, unb bie ^emifd^en SKffinitäten unb
9Wo[etu(arträfte mieber nid)t auf ein ^rimitioereS. ©ie fd)on finb
etroaS outside the recognised order of nature. Qw mieber
^S^erer gorm erfd)lie§e fid| „Kroft" in ben 5liiftaUifation§*3Jor=»
gdngen. 93eim erften KrgftaUe bereits fe^e eine birigierenbe Hraft
• ein, ganj gleichen ®f)arafterS wie ber SBitle beS 93i(b{)auer§ bei
ber SBenu§ oon 2ÄtIo. 3)a§ jebeSmal neu einfc^ie^enbe 3Womcnt
fei mit Herbert ©pencer (Principles of Biology) due to that
ultimate Reality which underlies this manifestation as it un-
derUes all other manifestations. „SBerfte^en" im ©inne oon
„f)inter bie S)inge tommen" tann eS md)t geben : felbft bie ^anb-
lungen of brüte matter finb nid)t ju „oerftef)en". Unb ba§ Qn^
fadSfpiel erfläre nid)t nur nid)t baS Sebenbige fonbern au(^
nid)t baS Unlebenbige („Intrinsically absurd"), ©pejiell aber
250 Otto: ^te Uebertoinbung ber med^aniftifd^en Se^re ic
ba§ Scbcn fönnc roebcr Don au^cn in bie StUt importiert fein
nod^ crMärt werben aU einfa^ emerging from the Cooperation
of the components of protoplasma unb fei in its essence not
to be conceived in physico-chemical terms fonbem fteKc bar
new modes of activity in the „noumenal cause", bie eben weil
fie noumenal ift, fic^ unferer ^i^Iänglic^feit entjie^t. 3)enn nur
Jß^änomcna finb accessible to thought.
Unter ben ©iologen felber, bie tief ere ©rmagungen anftcöen,
berührt fi^ mit bicfen ©ebanten inl^altlic^, fo menig e§ öugerlid)
fd)eint, O^far ^ertmig, 3)ireftor be§ anatomifc^en QnftituteS in
93erlin. (SSgt. „SntroidElung ber ©iologie im 19. Siö^^^i^unbert".
(Skturforfd^erocrfammlung, 1900) unb „QtiU unb Streitfragen
ber Biologie" 1894—97, befonber§ |)eft2: „aWec^anif unb ©io«
logie''). @r mid ben gemöl^nlic^en 3nec^ani$mu$ fojufagen bur^
einen 3Weci^ani§mu§ ert)ö^ter ©tufe überroinben, prüft unb ner*
tieft babei bie Iiertömmlic^en 93egriffe üon Urfä^tic^feit unb „Rraft"
unb umgrenzt boS 9ied)t unb Unrecht quantitatio^mat^ematifc^er
93etrac^tung in 93ejug auf SrHärung non 9]atur überhaupt unb
3)lcc^ani! im 33efonbern. 3)abei ge^t er bemüht in SBa^nen
So^e§, mcniger fofern bicfer faufale unb teleologif^e 93ctrad)tung
al§ jufammengel^örenb ermie^, al8 fofern er ben Segriff ber Ur-
fäct)Iic^feit umformte. O. ^ertroig fe^t fid^ befonber§ mit S38. 9touj
au^cinanber, bem 93egrünber ber neuen „3wfwwft^^iff^^f^öft"
ber mec^anifd^en unb bamit erft miffenf^aftlid^en, ber nid^t mtf)x
nur befc^reibenben fonbem nerftel^enben, ber attein !aufal er*
flärenbcn ®ntn?idtlung§le^re. („2lrc^io für @ntn)idf(ung§mec^a»
nif".) ^"'ßj^^^^i 9Jicc^ani§mu§ gibt e§: ben p^ilofop^if(^ fo be*
nannten, ben im i)ö^eren ©inne, unb ben im ftrengen pl)gfi!ali«
fc^en Sinne, ^encr erftere fagt, bafe alle ®rf (Meinungen oer*
fnüpft finb nad) bem fieitfaben urfäc^Ii^en 3ufammen^ange§ unb fic^
taufal erflären. 2ll§ folc^er ift er berechtigt unb felbftoerftänblic^
aud^ für ba§ (Sebiet ber Sebcn§erfd)einungen. Unberedjtigt wirb
er aber, wenn man Urfac^e oftne weitere^ gleic^fe^t mit unb ein«
fd)ränlt auf „Kraft", menn man f aufale SBerfnüpfung nur jutopt
im ted)nif(^en Sinne oon mec^anifctjer Kraftübertragung unb =um-
fe^ung, unb menn man obenbrein meint, baburd^ ein „®rf(ären"
Dtto: ^ic Ucberwinbung ber med^aniftifdien Seigre ic. 251
im ©inne Don bie 3)mgc fclbcr cinfelicn ju l^abcn. 2tud^ SKcdbanit
ift (mit Rird^l^off) „bc[(^rcibenbc" SBiffcnfd^aft. ^cbe erfte ur*
fprünglid^e 9latur „traft" ift (mit ©d^opcn^uer utib So^c) eigen*
tflmlic^, nic^t rüdffül^rbar unb oon qualitatioer Sefonberung, ift
^qualitas occulta", ni^t p^pftfd^er, nur metap^gfifi^er (Srflä*
rung fa^ig. Unb fo fd|Iie§en bie Unterfud^ung Slbroeifungen be§
SKec^onismu^ im groben ©inne. (©. 85 :) 2ll§ fold^er I|at er nur
6efc^ränften (Spielraum im SReic^e be§ fiebenbigen. 3)ie ®efd|i^te
ber mec^aniftifc^en SBorftettungen ift eine Oef^ic^te i^rer 3ufom*
menbrüi^e. Oft ift rerfudjt n)orben, ba§ Drganifd^e birett au§
bcm 2lnorganifrf)en abjuleiten. Slber alle berartigen SSorfteHungen
fmb immer balb roieber befeitigt. „SJlit gemiffem SRed^te !önnte
„man je|t fogar fagen, ba§ bie Kluft jroifd^en ben beiben 5latur*
„rcid^en in bemfelben SWa^e tiefer geworben ift, ate ftd) unfere
„p^gfifalif^e unb (^emifd^e, unfere morp^ologifdie unb pl^gfiolo*
„gifc^e ®rfenntni§ ber Organismen oertieft f)at". SWac^S SEBort
Don ber „med^anifrfien 9Rgt^oIogie" folgt unb eine feine 2lu§*
fü^rung über bie Unjulänglid|!eit mat^ematifi^er 93etrad)tung über*
^aupt mac^t ben 93ef d)Iu§ : „SÄat^ematif ift nur ein 3)en!mittel,
„nur ein oorjügli(^e§ ^anbn)ert§jeug be§ menfd^li^en ^erjenS,
„aber unenblid^ oiel felitt baran, ba§ alte§ 3)enten unb ©rfennen
„fidj jemate nur in biefer einfeitigen SRid)tung beroegen unb ba^
„ber ^nlialt unfereS ®eifteS jemals burd) fie einen erfc^öpfenben
„9lu§brudt finben fönne". —
Sluf eigene 35Jeife Derfuc^t weiter ber Kieler Sotanüer SReinte,
feinen ©egenfa^ jur pt)9fifo*d^emif^en SebenSauffaffung ju einer
eigenen SebenSle^re jufammenjufaffen in feiner S)ominantenIe^re.
(„35ie Organismen unb i^r Urfprung"/ SSortrag, erfd^ienen in
5Rorb unb ©üb, XVni, ©. 201 ff. — „S)ie SÖSelt alS Sat".
3}erlin 1899. Qnjroifc^en in jmeiter 2luflage. — „(Einleitung in
bie t^eoretifc^e 53iologie". 1901. — Unb „®er Urfprung be§ Se*
benS auf ber @rbe'' im 2;ürmer=3at)rbucl), 1903). Unter ben
Biologen, bie felber ftd^ jur nted^aniftifdben Sct)re betennen, gibt
eS einige, bie mit 9lad^brudt bie ©rflärung etma auS d^emifdien
unb p^gfttaUf(^en ^ßrinjipien im allgemeinen ablehnen unb euer*
gifc^er als anbere betonen, ba^ biefelben bie eigentümlirfien SebenS*
252 Dtto: ^ie Ueberroinbung ber mec^aniftifdicn Seilte ic.
erf^cinungctt uitb tjcnüidcitcn öeioegunaSoorgängc nur l^crDor*
bringen tonnen auf ©runb einer ^oc^ft fein btfferenjierten ©trul*
tur unb 2:eftonif ber Icbenbcn Subftanj im 9lDer!Ieinftcn unb fci^ott
int @i. ©ie fc^affen bie eigenttid^e „SWafc^inentl^corie" unb man
fönnte jte jufammenfaffcnb bie 2^eftoniften nennen. „@ine U^r,
bie man einftampft, ift feine U^r melir". ©o ift ba§ blo^ poff*
Iid)e unb d^emifd^e nic^t ba§ mefentlid^e am Sebenbigen, fonbern
[eine Xeftonif, feine „mafd^ineHe" ©truttur. ®ie ©runbanfc^au*
ung ift l^ier gang bie So^e'S. 9lid^t ein „mpftif(^e§" fiebcni-
pringip foQ bie pl^^fifc^en unb d^emif^en 93orgänge im au^ge«
bilbeten ober merbenben Organismus einleiten, banbigen unb re«
geln. ©onbern inbem fie fidt) abfpielen in unb an einem gcgc*
benen eigentümtid^en mafd^inetten Slufbau unb ©etriebe, empfangen
fte 3)ireftioe unb 3>ttipuIS. 3)iefe Se^re f)at aüt Ungeheuer ber
^räformationen im Seime, ber SW^t^oIogicn beS SMHerEIeinften
bei fi^ unb leibet fo mannigfadt) ©d^iffbrud^, at§ fie ©eiten unb
2;eile l^at. Slber fte l^at ba§ SBerbicnft, bie Unmöglic^feiten ber
rein d^emif^en ©rflärungen ^eH in§ Si^t ju ftcQen. 33on foI(^en
teftonifd)en Sßorftetlungen ausgegangen ift and) 9tein!e§ 3)omi*
nanten^Se^re unb urfprünglii^ aud^ ®riefd^'S JieooitaüSmuS, von
bem unten jU reben ift.
SHeinfeS 3Infd|)auungen beuteten fid) fc^on an in feinen „©tu*
bien über baS ^rotoplaSma" (1881) unb in feinem „fie^rbud^
ber allgemeinen 93otanif" (1880). Ueberfi^tlic^ jufammengefaj^t
unb im roefentlidien fi^on fertig geben fie fi^ in feinem fe^r
einbrudESüoHen erftgenannten SSortrage. S^gpifc^ nerfd)icben ifi
alles Sebenbige tjom Unlebenbigen. SSaS ertlärt ben Unterfc^ieb?
^x6)t bie „burd^auS unMare ^gpot^efe oon ber SebenStraft".
2lud) ba§ im Organismus Gräfte ttwa pfpd^ifd^er Statur fpielen,
mirb beifeite gef^oben. S)aS Seifpiel ber U^r l|i(ft jum 33er*
ftänbniS. SDie treibenbe Äraft ift burc^auS nur bie gemö^nlic^e
©^roerfraft beS ©eroic^teS ober bie allgemeine ®laftijität beS
©ta^lS. 9Iber bie SBirfung folc^er einfadier Gräfte tann jur un*
enblid^en 2Wannigfaltigteit gefteigert werben burc^ bie „Sonftruf»
tion beS 2lpparateS", auf n)eldt)e fte einmirfen. fieben ift bie
3trbeit einer ganj eigenartigen, berounbernSmcrt fompUjierten un*
Otto: ^te Uebenoinbung ber me^aniftifd^en IBe^re :c. 253
no(|a^mU(^cn ©attung Don SKafc^inen. @inb fie gegeben, fo
ooBjie^en p^ an i^nen bic oerroidfeltcn ^rojeffc mit -Jlotroenbigs
leit, oon felber, unb o^ne (Eingreifen befonberer SebenSträfte.
SBic aber tonnten fte gegeben werben? ®a^ einjige 2Inatogon
ift ba§ 3^Pö^^^f*>"^w^^" wirMidier 3Mafc^inen, ber Slunftprobufte
im Untcrfdiiebe üon 3ufatt§probutten. @ie fönnen nid^t juftanbe
fommen ol|ne ©influ^ unb 93en?irfung Don SfnteHigenj. 3)en un«
Derglei(^{i^ tunftDoQen unb Dern)ic!e(ten älufbau ber SebenSma«
fc^inen burd^ „jufaßigeS" ©ntfte^en unb ^uf^ntmengeraten ber
cinjelnen SKomente ju erMären, wäre abfurber, aU ba§ 3"Pönbe*
fommen einer Ul^r fid^ fo ju beuten. ®ie ^errfd^aft einer fc^af*
fenben ^htt ift unuerfennbar. ®ine intelligente, jielberou^te, it^re
SWittel berec^nenbe Staturfraft ift uorau§jufe^en, wenn wir unfer
fiaufalitätSbebürfnig roirtlid^ befriebigen wollen. ®§ fommt auf
bic perf online Ueberjeugung an, bicfe in „®ott" ober im „Slb*
foluten" JU finben.
3n „bie aaSelt al§ XaV ') (bie »ebeutung be§ XitelS Ieu(^tet
nadi bem SSorange^enben oon felbft ein) unb in ber „t^eoreti*
fdjen ©iologie" ^) fmb biefe Slnfc^auungen ooHer entmidtelt jur
S)ominantenIe^rc. ©e^r fräftig unb überjeugenb fmb bie in
bciben SBSerfen gegebenen Slbmeife ber naturaliftifd^en S^eorien
Dom Sebenbigen, ber „©elbftentfte^ung" be§ Sebenbigen. ^n allen
SebcnSoorgängen fprid^t ein „p^gfiologifdieg 3£" mit, ba§ nic^t
augjumerjen ift unb bem fieben feine eigene nid^t abjuleitenbe
ärt gibt. @§ ftnb „Gräfte jroeiter §anb", „Oberfräfte", „S5o=
minanten", bie ha^ Eigentümliche ber gunttion juSBege bringen
unb bie^rojeffe birigieren. ®abei mirb „33itali§mu§" im eigent*
liefen Sinne au^ l^ier abgemiefen; bie aWafd)inentt|eorie be§ Se»
benbigen foH gelten. „Dominanten" gibt e§ aud( an unferen
SBetfjeugen, an Jammer unb Söffel. 2Iuc^ bereu „SBirtung"
erflart fid^ nic^t rein ^emif^^pl^gfitalifd), fonbern burd) bie „3)o*
minanten" i^rer gorm, i^re§ 2lufbaue§, it|rer ß^f^mmenfe^ung,
bic bie Stntelligenj in fie hineingetragen l^at. S)er 3^fö"^"^^"^ß'^9
1) 9lu3fü^rltd)cr bcfprod^cn in 3:^eoL Sitcraturacitung, 1900, 9^. 14.
2) %l. bic SBcfprcd)ung von 21. ®rcit)§ in ^rcufe. Sa^rbb. 1902, Oft.,
6. 101 ff. ,,lRein!c§ ®inleitung in bic t^corctif^e SBiologic".
254 Dtto: ^ie Ueberwinbung ber mec^anifttfc^en Se^re zc.
mit ber Slnf^auung ber 2:c!toniften ift l^ier nod^ ganj offenbar
unb e§ gefi^ie^t ganj notroenbig, ba§ fie Sieinte für fi(^ in Slnfprud^
nelimen. («gl. Soero, im SBioI. 3entralblatte XIX 653.) 2lber
fc^nelt erweitert fic^ ber 93egriff ber „3)ominante". @§ gibt nun
and) Dominanten ber gormgeftaltung, ©ntmidlung u. f. xo. 3tu§
a3eftimmtt|eiten ber ©truftur unb 2:eftonit merbcn iiemlid^ unbe*
fetienS bgnamifdie gorm* unb ©eftaltungSprinjipien, bie mit ber
3Waf(^inenle^re nid|t§ me^r ju tun liaben unb in ber 3n>^i*
naturiert^eit if|re§ SBefcn§ ni(^t eben fe^r braud^bare 35eranf(^au*
lid^ungen unb SßerftänbigungSjeidien abgeben. ®er 2Beg, ben
l^ier bie SBorfteHung ging, ift mol^l giemli^ oerftänblid^. S)ic2ln*
fdiauung ging urfprüngli(^ au§ oom lebenben Drgani§mu§ al§
fertigem, befonber§ im ©toffmec^fel fun!tionierenben. ^ier fann
man etwa ben 93ergleid^ eine§ 3)ampfmafd|inenbetriebe§ mit ©elbft*
regulatorcn unb ©elbftfpeifung l^eranjie^en, oon „Dominanten"
im Sinne ber SJlafc^inenbominanten reben. 9iun foll ber einmal
gefunbene S3egriff aud) allgemeinen 3)ienft leiften. Unb fo er*
geben fid^ bann „Dominanten" ber ©ntmidlung, ber gormge*
ftaltung, fogar ber p^glogenetifc^en ©ntmidtlung, („p^glogenctifd^e^
©ntmidtlunggpotential"). Qmmer neue fe^cn ein, immer me^r
entfernen fte ft(^ oon ber „SDIafi^inentlieorie" unb immer rätfei»
l^after unb — oitaliftifd^er merben fie.
a3Ba§ fid) bei Steinte unoermertt ooUjiel^t, ba§ ift bei Driefc^
mit ooUem Semu^tfein, mit aller Slbfic^t in ftufenmeifer ©igen»
burd)bilbung unb tonfequentem jä^em ©erfolg be§ ^robleme^ ge«
leiftet morben. ©eine mit ©diarffinn geführten Ueberlegungen,
fein jal^relange^, tonjentrierteö öemü^en, feine umfaffenbfte Äcnnt*
ni§ unb 93el|errfc^ung be§ ©toffeg, bie innere Sogif unb tonfe*
quente ®oolution feiner „©tanbpunfte", bie eyperimenteH^empi*
rifctie ©runblage unb bie p^ilofop^ifd^ gebilbete t^eoretifc^e Durc^«
bringung be§ ©cgenftanbeö ma^cn i^n ju bem rool^l le^rreic^ften
^^arabigma, ja gerabeju ju einer SSerförperung ber ganjen ©trcit»
frage felber. — 1891 erfc^ien feine ©c^rift, mit ber er juerfl
ben Soben be§ ?ßrobleme§ betrat: „bie mat^ematif(^*mec^anifc^e
Söetrad^tung morp^ologifc^er Probleme ber Biologie", ©ie menbet
fid^ junä^ft gegen bie blo§ „t)iftorif^e" SWett(obe ber ^Biologie,
Otto: S)ie Uebcxwinbung bcr me(%amftif(i)Ctt Setire :c. 255
wie fie bic gängige ©^ullc^re in bcr fjorm bc§ 3)arn)ini§mu§
übte unb wirb baburd} ju einem 2lngriffe auf ben S)arroini§mu§
ätinlic^er 2lrt, wie i^n 3Ä. ©reger in „Sidt unb SBege biologi*
fc^er gorfc^ung" and) übt ®arn)ini§mu§ unb Scfjenbenjte^re
fmb bislang nid^tö al§ eine „Sl^nengallerie", unb bie SBiffenf^aft
unter i^rer ga^ne ift nur befd^reibenb ni(^t üerfte^cnb. (Statt
ber 3wfaB§tt)eorien gilt e§, eine 5,95orfteIlung" ber inneren im
Subftrat felber liegenben 9lotn)enbigfeit, mit ber bie formen
i^ren 2lu§brudt fanbe« (@. 48), eine ^lotroenbigfeit, bie ber in
bem ^otmgeftalten ber ^rgftaüe entfpred)enb ift (©. 48), ju finben,
Srperimenteüe Unternehmungen unb ®ntbedtungen unb meitere§
Slac^benfen ergaben 1892 „®ntmi(Mung§me^anifc^e ©tubien" unb
fül^rten baju weiter, ju forbern, mag ber Site! feinet SBerfeä au§
1893 befagt: eine „Biologie al§ felbftänbige ©runbmiffenfc^aft".
^icr ermarfifen jmei bebeutfame ©rtenntniff e. Slämlid), bajs 93iotogie
otterbingg ©jatt^eit fudien mu§, aber ba^ Sfaft^eit für fie ni^t
befielen fann in ©uborbination unter fonbern in Koorbination
mit ?ß^pfif. ©ic foll neben ba§ Oanje ber ^l^pfif treten aU
eine „felbftänbige @runbmiffenf(^aft" unb jmar aU Seftonit.
Unb anbererfeitS, ba§ ber teleologif^e ®eftc^t§punft neben ben
foufalen ju treten l^at. @rft in beiben ift 93ioIogie aU SBiffen»
fd)aft oollenbet. — 2)ie „analgtifdie S^^eorie ber organifdien @nt:=
wirflung" (Scipjig, 1894) fnüpft roieber ba an, mo bie oorige
Schrift ben gaben falten lie§, unb fpinnt it)n meiter, babei jum
2eil „bie bi§I)erigen t^eoretifd^en unb ejperimentellen 2lrbeiten
burc^freujcnb". Slu^ fie fud)t fid^ noc^ im SRa^men ber 2:et=
tonit unb ber SKafd^inentl^eorie ju galten, borf) oerbiegen fic^
fc^on ein mcnig bie SWänber. ®a§ Seben foß fein ein 5!Jled)ani§»
mu§ auf ber ^afiS gegebener ©truftur (©. 165), {aüerbing§ ba=
mit jugleid) eine 3Wafd)ine, bie fid^ felber bcftänbig um* unb au§*
baut!) 3)ic Dntogenefe *) fott ein ftreng „taufaler" ^ufammen*
l^ong fein, aber aflerbing§ nad) „einem in lauter Siätfeln ein=
1) „Dntogenefe" ift n)of)t von allem fc^Ierf)ten ©riec^ifd^, ba§ S^oto-
Oic probujierte, ba§ f(f)IedE)tefte. „SBctben be§ ©eienben" ! @§ ftef)t im
©egenfotj ju ^^glogenefe. Sterben be§ ©tammcö, ber 2lrt, unb foU ©nt*
midtung be§ ^njetmefenS bebeuten.
256 Otto: ^ie Uebermnbung ber mec^anifttfdEien Seigre 2C
^etfd^rcitcnben Slaturgefc^c" (ntit SBiganb). ®ic Urfäci^li(^teit ooB*
jic^t fic^ nämti^ burc^ „SluSlöfungcn" (©. 127), b. \). Urfa^c
unb aSirfung finb cinanber nid)t gleich im Quantum ber Seiftung,
unb alle aCBirtung ift tro^ faufater Sebmgt^eit bod^ etn)a§ burc^*
au§ neues, au§ ber Urfad^e nid^t ju berec^nenbeS, fo ba| oon
aWed^aniSmuS im ftrengen ©inne nid^t bie Siebe fein tann (©. 160,
wo ber ©ebanfe ber erften ©^rift.pon „mat^ematifd^'-med^anifc^er"
2luflöfung burd^broc^cn wirb). Unb ba§ ®anje ift birigiert oom
Qmedf (130. Xrefflid^e Slnmerfung über „Qwtä". SÖBenn jroei
ober me^r Äaufattetten einmal jufammentreffen, rebet man non
Zufall; roenn ftetS unb in t^pifc^er SQäeife, Don B^edE). 2)ie
SebenSoorgänge nötigen ju bem Urteile, „ate ob" ^fnteUigenj
Dualität unb Orbnung beftimmen. — Sinen ganj eigenen ®ang
nefimen bann 2lu§fü]^rungen mie bie oon ©. 162. (93gl. ^emac^
bie 2lnf(^auungen oon 2ltbrec^t.) Sffieber burd^ taufale 93etra(^*
tung nod^ burdi teleologifi^e bringen mir in§ SBefen ber S)inge.
3lber fie ftnb — mit S?ant — jroei 93etrac^tung8roeifen, bie
beibe glei^ fe^r ein ^oftulat unfere§ @rfenntni§Derm5gen§ bitben.
93eibe ftelien ganj für fid^ unb beibe bürfen in il^rer SRei^e ni^t
burc^ ©rfa^ftüdfe ber anbern geftört merben — e§ gibt im ®e*
biet be§ Äaufalen fomenig teleologifc^eS (ärflären unb umgefe^rt,
roic c§ eine optifc^e ®rflärung ber Sfläafferfpnt^efe geben !ann —
aber beibe fe^en mal^reS an ilirem ^la^e. 3)ie madonna della
sedia mifroffopife^ betrachtet ift ein Raufen Älerffe, mafroffo*
pifd) betraditet ein SBilb. 93eibe§ „ift" fie. — äfmmer poran
treiben ft^ bie fingen ©rroägungen, beftanbig oon ©fperimcntat
ftubien geleitet, ^w „bie SDlafc^inentlieoric be§ Seben§", SioL
3cntrbl. 1896, ©. 353 ff. ge^t er mit berounbernSmerter @nt*
f^loffentieit feinen bisherigen 2:^eorien ju Seibe, gie^t f^onungS*
loS bie ungetieuerlid^e Sonfequenj, ju ber fie fül^ren, unb jeigt,
ba§ fie an biefer Konfequenj fterben. SöiS^er ^abe er ertlart,
anfangs auSbrüdlid), fpäter mit Qö^txn, (mir fallen oben, wie),
ba^ jcber einjelne SebenSoorgang d)emifdt)=pt)qfifc^er 9lrt fei auf
©runb ber gegebenen „©truftur" beS lebenben SBefenS. S)a§
lebenbe SBefen felbcr aber ift nun ja erft ein ©rgebniS ton 2c*
benSoorgängen, nämlid) ber ©ntmicflung. ©ollen au^ biefc
Otto: ^ie Ueberioinbung bet ine<^aniftifd)en iBe^re }c. 257
„me^anifc^" ju Dcvftef|cn fein (aU ^cm.»pl^Qfifc^c SJorgängc auf
©runb mQfd)inetIcr ©truttur), fo mu§ ba§ ®i im ÄIcinften bicfe
unenbli^ feine ©truftur beft^cn, permöge beren e§ foroo^l feine
eigenen pl^gfiologif^en @r^altung§ptojeffe ooUiiel^t al§ aud^ ju»
reidjenbcr ®runb be§ folgenben Slufbaueö ift. @§ mu§ ben 2Irt*
unb 3iii>i9it>uum§tijpu§ al§ Einlage in feiner ©truhur tragen.
3eber Slrtlgpu^ aber foH ja nac^ ber Slbftammungölel^re burc^
unenbli^en @ntmid(ungdpro}e§ fic^ in aUmätili^er älbfolge ^er«
leiten i?om Ururorgani§mu§. ©anj analog mie beim mec^anifd)en
SBSerben beS SinjelmefenS ift bann aud) t)ier nötig, ba§ biefe§
Ururei* ober Qtüt fo ungeheuerlich fein unb \)o6) ftruiert mar,
bag au§ i^m aDe SBerbe« unb (Sntmidlung^projeffe ber nad^fom«
menben Ontogenien, ^fi^Iogenien, Siegenerationen u. f. m. mög*
lid) mürben. 3)a§ ift bie notmenbige ^olgc, menn bie SKafc^inen*
t^eorie SRedjt ^at unb man bie fpejififdje @efe§Uc^feit be§ 8eben§*
gefd)e^en§ oermirft. 5Diefe 5^19^ ift ungeheuerlich unb bie Seigre
ber 2:eftonifer barum falfc^. Oft fi« ober falfc^ — ,fXoa^ bann" ?
— ©0 fc^lie^t ber 3luffa^.
2)ie 2Intmort gibt 3)riefc^ in „2)ie Sotalifation (= örtlid)e
Seftimmung) morp^ogenetifd^er SSorgänge, ein 95emei§ oitaliftifd)en
®efc^e^en§", 1899. (Q[m 2lrc^io f. entm.^aWedianit VHIlff. u.
gefonbert erfc^ienen), in „bie organif^en ^Regulationen, aSor=»
bereitungen }u einer S^eorie beS Seben§". Spjg. 1901, unb in
„bie „©eele" al^ elementarer Siaturfattor", ©tubien über bie 93e*
roegungen ber Organismen. Spjg. 1903. ®ine @efamtüberfict)t
über feine eigene ©ntmidlung gibt er in „©übbeutfdje SJlonat^^
^efte" 1904 ^önuar^eft : „SDie ©elbftänbigfeit ber Biologie unb i^re
Probleme". — ^n biefcn ©ct)riften erreichte er feinen enbgiltigen
Stanbpuntt unb oertieft il)n me^r unb me^r. — 2luSbrücf(ic^
aufgehoben mirb l^ier bie „3Jlafc^inent^eorie" unb alte i^r ätin-
lictjen. ©ie finb fritiflofer 3^ogmatiSmu§ einer materialiftifcl)en
3)enfart, bie aüz^ ©ef^e^en an einen ©toff binbet unb ^mma*
terietteS ober bgnamifc^eö ®efcl(e^en nicl)t jugebcn mill. ®ie angeb-
lic^e 2lu§gang§ftruttur ift nirgenbS ju finben. Unb ber SSerfolg ber
3)inge inS Kleinfte beutet nirgenbS bergleict)cn an. S)a§ ©liro*»
matin — in bem bie mic{)tigften Seben^projeffe anheben — ift
äettfc^rift für «^eolOflU unb Ätr(^e. 14. 3o^rfl., 8. ^eft. 18
258 Otto: ^ie Uebenotnbung ber tnedianiftifdien Se^re }c.
njeit oon 3Äafci)inenbau entfernt. @§ l&at eine einförmige ©traf*
tur. S)ie ©telettbilbung j. 93. einer ^luteuölaroe gefc^ie^t huxä)
fried^enbe, ftc^ felbcr wieber beroegenbe Sz\lzn (äl^nlid) ben 2eu!o*
cijten unfereS eigenen ÄörperS, beren ©c^roarmen unb Seiften oiel
e^er einem fojialen Organismus als mafc^ineOen 9Befen gleicht),
u. f. m. 3)er Organismus gel^t f)txx>ox nid^t auS maf(^ineUen
fonbern auS „l^armonifd^säquipotentieQen ©^ftemen", b. f). auS
fold^en, non bcnen jebeS ©tement jebeS überhaupt leiftbare glei*
d)ermaj3en leiften fann, alfo eigentlich jjebeS einjelne gleic^erroeife
baS ganje potentiell in fid) trägt, ein Unbing für mec^anifc^e 93e«
tra^tung. 3)ie experimentelle ©runblage für biefe fielire ^atte
2)riefc^ fic^ fetber fd)on früher gefd^affen burc^ SSerfuc^e Don 2ln*
fangSftabien ber Sntmirflung oon ©eeigeln, ©eeftemen, ^ftanjen«
tieren u. bergl. Sin $lanarias933urm in 2;eile jerfc^nitten bitbet
fid( in üertleinerter ©eftatt neu auS jebem Seil. ®ine jerfd^nit*
tene ^tuteuSlaroe bilbet 3)armtanal unb fidt) fetber in tgpif^er
Jorm mieber. 5Iod^ l^ö^er griff fein SSerfud^ Don 1892 hinauf,
bie oier erften ^ur^ungSjeHen beS ©eeigeleieS ju trennen unb
aus jebem ein merbenbeS Xier l^eroorgefien ju laffen. 3)iefe Xat--
fad)en nötigen, ein ©efd^e^en sui generis anjune^men, b^nami*
fd)er 2trt, eine „profpcftiue Jenbenj", bie ein Unterbegriff ber
2lriftotetif(^en Suvajit^ ift. Unb ber roefenttit^fte Unterf^ieb ibrer
9luSn)tr!ung gegen mafd^inetle ift, ba| immer ber gleiche tqpifd^c
@ffe!t erreicht mirb, aud) menn ber ganje normale Äaufaloerlauf
geftört mirb. 3lu^ auf ben aufgejmungenen Umwegen ge^t eS
jum gleidien Skk. 3)amit ift ber „95italiSmuS", b. t). bie ©elb*
ftänbigteit unb 2lutonomie ber fiebenSoorgänge beroiefen. ®cr
jmedEmä^ige ®ffeft mirb errei^t burc^ „gernroirtungen" , eine
©efd^e^enSart, bie fpejififc^ unterfd^iebcn ift oon allem auf anor«
ganifdiem ©ebiete fi^ finbenben, unb bie i^re S)irettioe j. 93. bei
SRegenerationen abgefd)nittener Steile ni(^t in ber SluSgangs*
ftelle ober bergl. finben — in bem ©inne fmb nur ^ier unb ba
grobe Orientierungen gcmiffer jufammengefe^ter Organe oerftdnb*
lid) — fonbem in bem ju crrei^enben Qwtdt. — Qn „bie or*
ganif(^en ^Regulationen" fammelt 3)riefc^ {5:eil A) junäc^ft auS
ben alleroerfc^iebenften ©cbietcn ber 93iologie bie immer erftaun*
Otto: ^ie Uebertumbung ber med^aniftifd^en Seigre zc 259
lieferen 6rn)eife für bie Slttioität bc§ Sebcnbigcn gegenüber bem
p^9fifo=c^einif(^cn ©efc^el^en unb für bie fonberbare gäl^igfeit beS
Sebenbigen „ftd^ felber l^elfen", bie tgpifrfie gorm, ben ju errci*
c^cnben Qxotd buri^fe^en ju fönncu anä) bei mannigfaltigft oer^
änberter Verfettung ber S3ebingungen. 2)a§ 9Äaterial ift ebenfo
enorm n)ie bie Ueberfx(^t be§ 93erfaffer§, unb niä^t ba§ geringfte
3Serbienft ift, ba§ bie Derroirrenbe ^M^ unb S3unt^eit ber ®r«
fc^einungen, au§ benen fonft geroöl^nlidi siemlid^ planlos unb roiü*
fürlid) cinjelne^ herausgegriffen §u werben pflegt, I|ier nad^ ben
d)arafteriflifd)en Unterf(^ieben unb nad) bem ®e{i^t§puntte immer
|t^ fteigember ®eutlid^teit ber „9lutonomie" ber SSorgänge in ein
förmlid)e§ ©gftcm auSeinanbertritt, ba§ mit ben aftinen regula»
torifc^en Seiftungen be§ Sebenbigen fc^on im ®^emi§mu§ be§
©toffn>e^feI§ (og(. befonberg bie QmmunifierungSerfd^einungen)
beginnt, bur^ ©tufen auffteigt unb mit ben SBäieberJ^erfteÜungS*
regulationen enbigt. 9ii^t einbrudESüoKer al§ fo fonnte gcjeigt
werben, roie unoergIeid)lid^ ba§ Seben unb feine „^Regulationen"
finb mit ben „©elbftregulationen" t)on 3Jlafd)inen ober mit ben
SBieber^erfteUungen üon tgpifc^en Oleic^geroic^tS' unb gormju»
fianbcn im ^^gfifatifc^en unb S^emifc^en, auf bie oon feiten ber
SWe^aniften mit SBorliebe ^ingemiefen wirb. S)ie l^ier bur^ (am*
pirie gegebenen Jatfac^en fotten in S^eil B unb C oom Segriff
burd^brungen unb erfenntni§tt)eoretifd^ ergänjt werben. SÖBir laffen
beifeite, roa§ an mobernem <3beali§mu§, -Smmanenjp^ilofopl^ic,
©olippmuS ft(^ mit einbrängt. S)a§ aQe§ ergibt fic^ ni^t un«
mittelbar au§ ben oitaliftifd^en Ueberlegungen, fonbern biefe wer*
ben in ben SRal^men jener eingefügt, atuggejeid^net anfd^aulid^ ift
ber ffiyfurS über Sttmung unb 2lffimilation (aliz ©rint^efen unb
©paltungen gelten notorifd^ im Organismus ftetS unter ganj an»
beren Umftänben por fid) als im Saboratorium. ®S ift im Orunbe
überhaupt unmöglich, oon einer lebenben „©ubftanj" nad^ ber
formet C,HyO, . . . ju rcben, bie fid) (sibi) affimiliere unb biffi*
miliere). ®benfo ber über bie materialiftifc^en 93eranfdf)autic^ungen
oon SSererbung unb g^ormgeftaltung. ®anj unmögtid) ift, beibe
epigenetifd) auf materialiftifc^er (Srunblage ju oerfuc^en. {Q. 93.
^aad^.) SBeiSmann bat infofern oon materialiftifc^er ^^rämiffe
18*
260 Otto: ^ie Uebertoinbung ber mec^onifttfd^en Se^re zc.
au§ ganj Stecht, bcn ©pigcnctifern gegenüber ^aformation ju fon*
ftruicren. aber feine unb alle berlei 2:^eorien fönnen ni(^t§ dS
bQ§ Problem inS unenbU^ Keine hinein pl^otogrop^ieren. 2)a§
Sormgeftatten unb ^Regenerieren ber 2:iere unb ^flanjen „ertloren"
fte, inbem fte roieber unenblic^ Meine 3:iere unb ^flanjen ton*
ftruieren, bie %otm geftalten unb regenerieren. Unb unmöglich
ift e§, eine fomplt)ierte Seltonit auf bie (SIemente eines äquipo*
tentieHen ^SpftemeS ju Derteilcn. SWit bem ablehnen ber mate«
rialiftif(^en @pigeneftSle^re „burt^freujt" ®rief^ roieber entfc^Ioff cn
eine feiner eigenen früheren 2(nfd)auungen. ®ben ba§ tut er, roenn
er im S^eil C je^t bie SBerfö^nung jroifc^en Äaufalität nnb Je»
leologie bur^ oerfc^iebene „paraKeliftif^e" Setrac^tungSiDeife ab*
lel^nt, bie i^m felber (f. o.) früher fic^ gelegentlich angeboten
^atte. 3)a§ 2:eleologifc^e ftedt felber als SWoment, al§ mitfon*
ftituierenber ^attor im taufalen ©etriebe (215) unb mac^t cS fo
teleologif^. Sa§ töfenbe SBort ift bie „®ntelec^ie" beS ariflo»
teleS, bie biologifc^e Äonftante, eine Äonftante sui generis in
l^öl^erer Orbnung als bie Jionftanten ber ^^t)fif unb als bie fc^on
über biefe (als „inten fioe SWannigfaltigleiten") f)inauSgreifenben
Äonftanten ber ©l^emie. — ^ier alfo ift ber ©tanbpunft erreicht,
ben SBunbt als ben eigentlich oitaliftifdien unterfct)eibet oom ani»
miftifc^en. Unb ^roar in ganj fonfequenter, reingejogener 93a^n.
S3ei anberen 33italiften fel)en mir oft einen etroaS fc^nelten SftefurS
auf „pf9ct)ifd)e" SSerurfac^ung einfe^en. 3)riefd^ ^at in feiner
©ntmidtlung biefen SluSgang rein gemieben. Qmmer f^mebt
i^m oor unb in feiner „Sntelec^ie" brüdt er auS eine teleolo«
gif(^e 93ilbungSgefe^tid^teit, bie fo ^anbelt, „als ob" <3tttcffi9^"J/
93emu|tfein beS 3roecfS, 2:rieb in i^r läge, aber felber ni^tS oon
biefen ift. SSielmelir bie fx6) felber burc^fe^enbe ;3bec unb ratio
beS merbenben 3)ingeS rein atS tcleotogifc^e SilbungSgefe^lic^feit,
als Xoyo; hoXoQ, alS bem ®inge immanenter unb eS beftimmen*
ber 93egriff, unb fomit in ber 2^at bie ©ntelec^ie, bie rein bp-
namifd) i^m einmol^nt (beren materialiftifd|*ptumpe ffiergröberung
SBeiSmannS unb anbere ^räformationSt^eorien barftetlen) unb bie
bilbenben gerntrdfte birigiert, ift gemeint. — S)iefe ^Meinung ift
DöUig beutlid), forbert atlerbingS ^eutc immer no^ mie im ^^i-
Otto: ^ie UebertDtnbung ber med^aniftif<^en Sefjte ic. 261
Iebo§ bie fofratifc^e ^rage ]^erau§, ob cS voOs xal Xoyos geben
fönne aveu ^{'^X^s- ®i^ loürbc paffen, roenn ba§ Sebenbige nur
„©id)*au§'ft<:^*berocgen" unb „gormgeftalten" unb nid^t eben ju«
gleich 95efcelte§ wäre.
®§ fd^eint crft, aU ob ber intereffantc $roje^ bialeftifc^er
Selbftberocgung im 3)enfen Sriefc^g ju biefer S'^age ftd^ fort*
treibe in feinem legten SBerfe „®ie „©eele" aU elementarer "^la^
turfaftor". 3)ie ©c^rift fd)Iießt fogar mit bem au§brüdElid)en
^inmeife auf be§ 2lriftotele§ „nepl <^uxfj<;"^ roaS jene (Srmartung
noc^ fteigem fönnte. ®enn bei SlriftoteleS liegt e§ ja fo, baj3
i^m ^ux^ al§ cpuitxYj junä^ft in ber 2^at ganj ©ntelec^ie ift unb nur
biefe§, ba§ aber bie ©ntele^ie auf l^ö^erer ©tufe ( — mie? — )
ju ^I^ux^ i"^ ©inne be§ ^fgc^ologifc^en fid^ „attualiftert". 2lber
S)rief(% bleibt fid^ fonfequent. SSon feinem ibealiftif(^en (fogar
„folipflftifc^" fagt man l^eute mit 9Sorliebe unb 9lac^brudt) ©tanb*
punftc au8 foD e§ ein Unbing fein, oon 93emu§tfein au^er bem
SSeroufetfein unb jroar au^er „meinem" Scmufetfein gu reben. 9iein
„objcttale" SßJenbung ift ben 3)ingen ju geben, aQe pfgd^ologi^
fierenben SKomente finb beifeite ju laffen, unb allein oon teleolo^
gifdf) geridt|teten öeroegungSoorgängen mu§ bie SRebe fein. ®a8
SRid^tenbe ift bie ©ntelec^ie, fie ift nid^t ^fgc^e fonbern ^fgd^oib ju
nennen, nur bilblic^ burd^ pfgd^ologifd^e 2lu§brürfe ju befc^reiben.
So I>ei§t ber Untertitel ber ©d^rift ganj ernfttiaft „©tubien über
bie ©emegungen ber Organismen", ©emeint finb l^ier nic^t bie
93en)egung ber ©toffteile in ben Organismen (ba§ mar in ben
früheren ©d^riften erlebigt unter ©toffme^fel, gormgeftaltung,
^Regulation u. f. m.), fonbern il^re ©elbftbemegungen, angefangen
oon ben primitioften SemegungSreaftionen auf „SWeije" als SRid^«
tungSbemegungen bis ju ben SRefleyen, nadt) ber mec^aniftifc^en
Jtieorie angeblid) ertlärt unb lofalifiert in ben „nieberen ncroöfen
3entren", bis ju ben eigentlichen freien jroedfmä^igen „^anblungen"
im eigentli^en ©inne, mie fie fid^ DöHig entroidtelt nur beim
SRenfd^en finbcn. ®anj entfpred)enb ber oor^ergel^enben ©d^rift
wirb ^ier ber SRac^meiS gefüt)rt, ba^ pligfifd^^d^emifc^e unb me*
c^anifd^e ©rflärungen nic^t jureidien, ba§ bie i^nen notmenbigen
^gpotl^efen oon ber gunftion ber nieberen Qtntx^n, ber Sffuffaf*
262 Otto: %it UebetiDinbung bec me^anifttfi^en Se^re zc.
fung be§ ncroöfen ©pftcmS ate 9icflcy=„aWc^anismu§", ber ^eft«
gebunbcn^cit ber 2lntrt)ort§funftioncn an ba§ Sofalc nic^t ju*
langen. UeberaQ fe^t fic^ bie Slutonomie beg Sebenbigen burc^
unb crroeift fic^ bcfonbcrS au6) ^icr int SBifariercn, in ber faft
fc^rantenlofen SBertrctbarteit eines 2:eile§ be§ ©gfteme§ burc^ ben
anbcrn. (9Iu^ ba§ ^irn ein ^armoni[d)'aquipotentieHe§ ©pftem).
3ene§ „2lgen§", jener „autonome 5<ittor" be§ S^eleotogifd^en, ben
bie ^Regulationen auf feinen nieberen ©tufen oerfolgten, crroeift
ftd) l^ier mit brei weiteren bebeutfamen ©rroeifen. (Sie^c bie
„5 Seroeife" ©. 74 ff.) ®§ „oernimmt" ben ftörenben ©ingriff^
ben burc^ ba§ neroöfe ©pftem (qualitatio) jugeleiteten SReij, eS
antwortet jroedtma^ig barauf, unb e§ befi^t „objeftaleS ?|Srimär»
miffen", e§ „mei^" porfatlenbe Slnomalie unb „miH" Slbl^ilfe. GS
„fann" biefe leiften. 3)enn bie pfpd^opl^tififdie S^eorie oom blo^
%m ^araUelgefien be§ Steellen unb QbeetJen ift falfc^ unb roirb
©. 60 trefflich tritifiert; bie oon i^r bel^auptete Sücfenlofigteit be§
p^t)ftf^en @efd)e^en§ ift ni^t Dorf)anben, oielme^r in feine Süden
tritt roirtli^ roirfenb baS „^^fg^oib". Äurj eS mürbe ganj ge*
nau baS fein, maS alle SSelt mit ^ft)c^ifc^em meint, mcnn e§
feine folipftftifd)en ©änfefü^i^en ablegen moüte, unb bie gan$c
©d^rift ift fo jugleic^ in ber S^at eine ber beften Äritifen gegen
materialiftifd)e SBergemattigungen be§ ^fgc^ifi^en unb einer ber
beften (Srmeife oon beffen älutonomie unb ©elbftänbigfeit gegen*
über bem SWaterieKen bis gu bem alten 93eifpiele, ba^ baS ®e*
l^irn ^nftrument unb Ätaoier fei be8 eigentlichen „STgenS", ja bis
jum „©i^e" ber „©eele" hinunter. ®ie SJorfteKungen im ganjen
finb in ber 2^at bis jum ©id)becten na^c benen ©c^opcn^auerS
unb 0. ^artmannS oom unbemupt S33iffenben unb SBottenben
unb eigentlid) nur eine Ueberfe^ung auS ber ©prad^e beS ^f pc^iSmuS
unb SßoluntariSmuS in bie beS reinen „SSitaliSmuS" im ©innc
ber ©ntelec^ie ^).
1) 3n »iol. 3bl. 1903, 3unif)eft ©. 427 wirb 5)ncfd> oon SWo^S'
foroSü fritificrt. ^crfelbc Ic^nt ben tcleoloflifc^cn ©tanbpunft S)ncfc§S ob.
9Ibcr roicroeit bie Uebcrrotnbung bcS SWcc^antSmuS ge!ommen ift, jcigt
grabe biefe ft'ritif, inbcm aud^ f^e auf einem, etroaS unbcutUc^cn, S^gna*
miSmuS fte^t, bie (f)emifO'pf)i)rtf(^e unb jebe mafdiinede ^üdrung al4
Dtto: ^ic Ueberroinbunfi bcr mcd^attiftifc^cn Sc^tc jc 263
aBunbt l^at in bcr ©cf)luj56ctrad)tung feiner p^^fiotogif^en
^ftjc^ologie (in ©onberau^gabe, fipjg. 1903) über „3Wec^ani§mu§
unb 9SitaIi§ntu§" ganj fpejieH biefen SBitaüSmu^ ber „®ntrfed|ie"
im äuge (im Untertriebe oom älteren angebli^ „animiftifc^en")
unb fritifiert ®rie[c^. 3)riefd) betjält SBunbt gegenüber auf aßen
?ßunften Sted^t mit feinen Seroeifen für bie 2lutonomie ber Seben^::
oorgänge, SBunbt i^m gegenüber bamit, baJ5 un§ jum SBerftdnb-
niffe teleologifdien Oefc^el^en^ nur ein @d)[üffel gegeben ift: ber
SBitte. — „aocpca (iYjv xod voö; dcvsu 4^i>X^« ®^^ ^'^ ^o'^s yevo-
Original unb eigentümlich mirb eine geroiffc 2Infd^auung unb
3ured)tlegung ber ®inge, bie auc^ bei ®riefd^ fid) gelegentlidj
fonb aber uerlaffen warb, üon @ugen 2llbred)t, ^rofe!tor unb
^at^ologen in SWünc^en, au§geftaltet („SBorfragcn ber 93iologie",
1899. S)ie „Ueberminbung be§ SDIcd^aniSmus" in ber S3ioIogie.
«ioL 3entr. »latt. 1901, ©. 130 ff.). ©§ ift bie Slnf^auung
bcr „oerfricbenen 93etrac^tung§n)eifen". 9Wit @ntfc^iebenl)eit wirb
f)kx bie d)emifd)c unb p]^r)fifd)e Deutung ber Seben^oorgänge feft*
gehalten, itire approyimatiue SSoKcnbung auf i^rer Sinie al§ Qkl
bcr 9Biffenf(^aft ^ingeftellt, il^re grunbfd^lidje 3^Iänglici^feit be=
Rauptet. ®iefe ®eutung fei richtig, aber ber 3et)Ier unb bie@in=
fcitigfcit bcr medianiftifc^en ©d)ule fei, biefe 3)eutung unb 93e=
trad)tung für bie einjige unb für bie „eigentliche" ju galten, ^e
nac^bem mir un§ innerlidi „cinftcKen" auf bie 3)inge unb it)re
Seränberungen, crfc^cinen fie un§ in gänjiict) eigenen ^ölg^*
3ufammen^ängen, bie jeber in fid) eine gefc^toffene Sinie bilben,
ju einanber aber parattct laufen unb nic^t etma, ber eine in bie
Süden be§ anbern crgänjcnb ineinanber greifen. ©cf)on mafro^
ffopifcf)e unb mifro|fopi)ct)e 93etracl)tung ber 2)inge ergibt folctjc
gcfonbcrten, gefc^loffencn 33etrad)tung§rei^en. 93erfoIg unb 2lbbition
be^ Sinfac^en „erflärt" nic^t bie Söirfung bc§ Söerbunbenen. ®itt
ättorb unb feine 2Birfung mirb nid)t „oerftanben" burc^ 2luflöfung
in bie cinjclnen Jone. 35a§ f(affiicf)e Seifpiel für bie ganje 9tn*
fc^oung ift bcr pf9d)0=p^9fi[c^e 5ßaratteli§mu§. 2)a§ (Sefc^e^en
burc^ %xit\d) überrounbcn jugeftc^t, unb bie ©ntele^ie („Sv laüicp xö leXog
ixo''*) aner!ennt. (®ine ©ntelec^ie ol)nc ziXo^l)
264 Otto: ^te Uebertutnbung ber nted^anifttf d^en iBe^re ic
al§ ^fri^ifdlcS ift nic^t „crHärt", wenn man e§ auf bcr forreta*
tiDcn Sinie ber materiellen Sßeränberungen unb ©ef^c^niffe im
neroöfen ©gftcme ocrfolgt l^at. ©o tritt bie SRei^e be§ „üitaleu"
®efd^e^en§, ber „oitalen" ^Betrachtung, ber ^Betrachtung unter bcm
@efic^t§punfte ber „lebenben görm" gefonbert neben bie ber ^e*
mifc^en unb p^pfifc^en 3luflöfungen ber Seben^oorgänge. ^a, ti
beutet fid^ gelegentlich an, ba§ e§ nic^t nur biefe brei ^araHcIen,
fonbem niete, im (Srunbe unenblict) nicle folc^er ^aratlelbetra^»
tungen geben muffe. Q^bt aber non biefen ift „eigentlich" ju
net)men. 3)enu falfcf) ift bie geläufige ©cf)eibung non „©dt^ein"
unb non „SBefen" ber 2)inge, bie immer nur eine ber mögltci)en
93etrad)tungen j. 93. bie mectianifd^^taufale al8 bie mefentlic^c, bie
anberen nur ate begteitenben @^ein fa^t. „S)ie . . . SWeinung eine
ober jmei biefer Slei^en ftellten ba^ „roa^re SBefen" ber ©rfc^einung
bar, fann nur . . . al§ ein mo^lfeileS Sogma gelten", ^cbc ift
in ftcli gef^loffen unb lüdEenlo§ folgt auf ilirer Sinie jeber fol=
genbe ^uP^nb au§ jebem oor^erge^enben unb ertlärt fi(^ nur
au§ biefem. ^n biefem Umftanbe liegt ba§ relatioe SRe^t ber
immer ftc^ erneuernben SHeattionen be§ „iBitali§mu§". — 3)iefe
9lnfci|auung 2llbrec^t§ ^at alle Steije unb alte ©c^roierigfeiten ober
Unmögliclifeiten paraHeliftifc^er Betrachtung überhaupt an fic^.
3^r SReci)t märe ju bi§!utieren am Syempel ber pfg^opl^gfifdicn
^araHelent^eorien. ©ie mü^te, um fid| ju funbamentieren, erft
ba§ Äaufalitätgproblem in§ Steine gebrad^t unb bie gro^e grage,
ob an bie ©teile non Scmirtung bloj^e notroenbige 2lbfolge —
benn bei biefer enbet fie — treten mu^, beantwortet ober min»
beften^ beutlidt) geftetlt l^aben. 3)er ©cl)lu6, ber in Sejug auf
bie biologifdje 9lrbeit§met^obe unb ba§ 9lrbeit§ibeal ber rein me*
c^aniftifc^en Betrachtung mieber alle Äonjeffionen ju machen fc^eint,
leuchtet nac^ ben ^rämiffen nid^t ein: ift mirflicf) bie Steige be§
93italen eine „eigentliclje", fo mü^te man \a gerabe ermarten, ba§
eine SSitaliftit mit eigener 9Rett)obe unb eigenem Qklt geforbert
merbe, fo gut roie man eine eigene ^fgc^ologie mai^t. 3)ie 2lnna|me,
ba§ jebe Steige lüdenlo^ oerlaufe, bajs infonber^eit bie reftlofe
2luflöfung ber Seben^oorgänge mec^anifc^ le^tlic^ möglich fein
miiffe, ift petitio principii unb jerbri^lt an ben SEBiberfprüc^en
Dtto: %\z Ucbcrroinbung bcr mcrfianiftif^en ße^rc jc. 265
her „SBitaliften". S)a§ jentralftc Problem in bcr ganjcn grage,
namli^ ba§ SSerl^ältntS Don ^aufat unb 2:eIeologtf^, tft noc^ gar
nic^t bcrül^rt. 93cibc ^Begriffe würben natürlich nid)t noc^ roicber
„^rallelcn" abgeben, fonbern Oeftd^tSpunfte fein, bie nun eoen*
tucD auf jebe 9ietl^e roieber angemcnbet werben müßten ( — aller*
bingS au^ fe^r leicht fönnten). 3)rlefd^§ 93eifpiel jeigt, roeldien
3Beg eine berartige 2I|eorie nelimen wirb, wenn fie in bialeftifd^e
©elbftbenjegung gerät. 3)a§ atte§ aber fd^lie^t oietmel^r ein al§
au§, ba§ Sltbred^tS „Söorfragen ber ©iologie" oielleic^t ba§ feinfte
unb intereffantefte ftnb, roaS in le^ter 3^it ^^^f biefem eigentüm*
liefen 3n>if^^ngcWete oon S3iotogie unb ®rfenntni§t^eorie — ju*
mal in fo prägnanter Kürje — gefc^rieben ift. öefonberS ber
3(rt bürften feine SKu^ful^rungen fein über ba§ ©c^öpferifc^e ber
©rintliefe: ba§ (Sanje („Säfforb") ift immer jugleid^ mel)r al§ bie
Summe feiner Steile, baö komponierte ein 5Reue§ gegenüber fei*
neu Äomponenten. 9D3ie bei ©riefet Don ber einen fo ^ier oon
einer anbern ©eite erplt ^egel bei ben 9ieueften ©uffur§ ^). —
3m n)efentlid)en eine SBiebergabe oon 2llbrec^t§ ©ebanfen gibt
Dr. 3Jlarianne ^e^n: „a)a§ Problem be§ Seben§", SBerlin 1900.
„©eele", ^fpc^ifc^eg im eigentlii^en ©inne mitt Ä. ©amitto
©^neiber, ^rioatbojent in SBien, jur ©rffärung be§ Sßitalen
fe^en. 3Ba§ im ©tiUen unb ®injelnen bei einer 2lnja^l ber oben
genannten aSitaliften fd)on gemeint mar, aber eigentlid) immer
foiufagen at§ a3erlegen^eit§au§funft unb getegentlid)e Kel^rfeite
i^rer 9]egationen gegen ben 9Kec^ani§mu§ aufbudte, wirb I)ier
mit ®ntfc^ieben^eit jur 2:t)eorie ju geftalten oerfuc^t ©c^neiber
wogt bamit nur, ba§ entfd^Ioffen au§jufprec^en, roaö ungejroungene
S3etrad)tung ber Singe, mag alle un§ jugänglid^en 2tnalogien at§
bie natürlidifte ®eutung barbieten unb maö abjule^nen ber med)a*
niftifc^en Set)re nur burc^ ®ntfd|loffen^eit nid|t burd) 2Bat)rftf)ein«
lid^fcit gelingt. Qn feiner oerglei^enben §iftologie ^atte ©d)neis
ber feine p^pfiotogifc^en unb morpt)ologif(^en 2tnfd^auungen nie*
bergctegt. Qn „93itali§mu§" (Elementare SebenSfunftionen. SDBien
1) %l. a:ab. ®arboro3fi, aJlorpf)ogenetifd)e ©tubien, ©. 167. ^ag
^ier angemanbte ®leid^ni§ »om ©ogen unb bcm „grormsaug-^ormserflären"
mürbe eine gute ^itif mancher Ausführungen Albrec^tS fein.
266 Dtto: S)ie Ueberroinbung ber tncd^aniftifc^cn 8cl^rc 2c.
1903) fa^t er feine mtaliftifdjen Slnfcl^auungen jufammcn. ®§
tft ein umfängliche^ 9D3erf, ba§ voo\)l am meiften oon alten feinet*
gleid^en in bie (äinjelerörterung unb 9lac^prüfung ber einjelnen
Seben§erfc^einungen get)t. ^^ft wirb e§ baburd^ ju einer felb-
ftänbigen ^Biologie. S^f^^'ä 9e!ommen fmb bie eigentüd) „oi»
tolften" ^Probleme, bie bei 3)riefci^ am meiften ju il)rem SRed^te
fommen: g^ormgeftaltung, SWegeneration, SSerevbung. Qn Aap. 11
unb 12 n)ä(^ft fi^ bie grage nad^ bem S}itali§mu§ ju loeitgrci*
fenben fragen ber 9D3eltanfd)auung im altgemeinen au§^). SEBir
übergel^en ^ier feine allgemeinere SBeltanfc^auung. 2luc^ er rech-
net ficf) ju bem ^fg^i§mu§ jüngfter SRid^tung, ber auf 3lnre*
gungen pon SJJac^, Slüenariug, ber „Qmmanenj-^l^ilofop^ie" ^in
grabe unter ben jüngeren ^^^pfiologen unb Siologen, oon ©c^nei*
ber ju 3)riefd^ ju 93ern)om ju 2llbred^t u. f. m. fic^ burc^bric^t,
ber mit ber uralten (Selbftoerftanblic^feit, ba§ ba§ un§ (Segebene
©mpfinbung ift, in überrafd|ter greube „SWateriali§mu§" unb
„9ieali§mu§" überminbet, ber bie ©egenfüj^ler Kant unb ^Scrteleg
t)ermed)felt unb gleidife^t unb ftc^ fclber mit „©olipfiSmug", ber
vorläufig nod^ in fc^mantenbfter Srfd^einung fc^roebt unb ber bie
SrfenntniSt^eorie üietleic^t noc^ einmal il^ren alten SQBeg oon ber
©opI)iftit JU ^lato, von ^ume ju Kant ju ge^en nötigen wirb.
Qxüax bei @d)neiber ift bie bünne ^^ut biefe§ neueften ©enfua»
li§mu§ burdf)fe§t mit fouiel ©infic^ten unb 2l^nungen be§ tieferen
Söefeng be§ (Srfennen^, ba^ nmn balb gefpannt ift, wie biefe
feltfame 9Jlifct)ung oon ^albmateriali§mu§, 3beali§mu§, ©olipfis»
mu§ unb ®efü^l§apriori§mu§ fi^ einmal au§ i^rem oorläufig
^öd)ft labilen in ftabilere ®lei(^geroi(^t§äuftänbe ^inüberbegeben
wirb, balb für^ten mu|, ba^ nic^t al§ ©egenmirfung auf bie
3:ortur be§ @mpiri§mu§ unb ^fr|c^i§mu§ über furj ober lang
einmal roieber aJlriftijiSmuS unb Dffulti§mu§ unter ben Sleueften
^erau^fdtilägt. (93gl. ©. 295 ff.) 2)a§ ^auptoerbienft be§ »u(^c§
liegt in ben Kapiteln 2 — 10 unb feinen grünblic^en 2lbrect|nungen
mit ben djemifc^en, pl^gfifalifc^en, mec^aniftifc^en S^^eorien auf
i^ren einjclnen Sinien. ©c^neiber feiert bod), tro^ ®rief(^, }u
1) 3n einem Sluffafe über „^^italtämuS" in ben ^rcu^. Sa^rb. 19«J.
^uguft^eft, @. 276 ff., f)at ©c^neiber noc^ einen ^ac^trag gegeben.
Otto: ®ic Ucberrotnbung ber mcct^aniftifc^en Scl^rc ic. 267
bem fc^r problematife^cn ^Begriffe einer „SebenS^Subfianj" (Söio*
molefüle) jurficf. ©ein ©emimateriali§mu§ jroingt i^n ju for*
bem, ba& anä) pf9d|ifd)e Söirfung ein „©ubftrat" l^abe. ©onft
f^ioebe fie in ber Suft, bemerft er gegen 2)rie[^. (2)riefd) fönnte
i^m antworten, bei i^m fx^e fie auf @tül)len.) @r fud^t biefe
lebenbe ©ubftanj in ben feften 93cftanbtei[en unb ben ©erüften
be^ $rotopIa§ma. 2lm roic^tigften ift, ba^ er in grünblid^er
Sinjelunterfuc^ung bie ©teilen nac^roeift, roo bie ^emifdi^pl^gfi*
fd)en 3wfömmen^änge f ojufagen abreißen unb bie 9Biüen§n)irfung,
fei e§ bur^ bie Sleruenfubftana, fei e§ burc^ bie lebenbe ©üb*
ftanj überhaupt oermittelt, Derurfac^enb unb beroirfenb einfe^t.
6r befdireibt e§ fo, ba^ bie lebenbe ©ubftanj nidf)t etwa tatalri*
tifdi, bur^ ©elbftjerfe^ung unb ©elbftroieberaufbau, SDSirfungen
^eroorbringt — biefe angeblid^e ©elbftjerfe^ung, bie ©runbfor-
berung aller ^emifctien ©rtlärungen be§ £eben§ — finbet über*
^aupt nid^t ftatt — fonbern fo, ba^ in ber ©ubftanj eigentüm*'
lic^e „©rregung^juftänbe" qualitatioer Slatur eintreten, bie fic^
au§roir!en- Q\)xt SBeife ber 9D3ir!ung ift am ®]^emifd)*^f)r|fifd^en
gemeffen irrational. Unb l^eroorgerufen werben fie fpontan burd)
bie ^nnerlic^feit, roeldie ben 93iomolefülen anl^ängt: burd) ®m*
pftnbung, ®efü^l, Oefü^lSmotit), SBBille unb SDBillengroirfung, bie
real ift unb auf ben 3uftö"i> ^^^^^ 2:räger§ roirflic^en oeränbern*
ben ®influ§ ^at, entgegen ber Q[rrte^re be§ pf^d^op^rififc^en
^araUeli^muig. — ®ie ganje 93etrad|tung gleicht etroa^ ber Tiveöiias
Se^rc ber alten ^^gfiologen. ®a§ Ttveupia xoax ein feinfter SebenS«
^au^ unb ^©toff, ber ben Äörper burd)jie]^enb i^m ^rinjip xoat
be§ „©ic^au§ftd)ben)egen§". 5latürlid| xoax e§ ein ©toff, aber
ein fel^r bfinner, ber eg baburd^ leichter l^aben fotlte, voo\)l aud|
$fgc^ifd|e§, SBiUe, ©mpfinbung ju fein. Ob man ^neuma ober
^iomole!ül fagt, mad)t nid)t oiel Unterfd^ieb, fotange man ernft*
^aft babci bleibt, ^ft|d|ifdje§ al§ gunftion eine§ ©ubftrateg ju
„ertlaren". @§ mu^ feinen ^flodE tiaben, an ben ei§ „gebun*
ben" ift. — S)a§ SSerl^ältni§ oon ^fpdiifc^em ju ^^rififd^em
läßt fic^ nic^t auf ber Safi§ oon ^^gfiologie ju ®nbe bringen,
aber baß aud^ bie einfa^ften Söorgänge be§ fieben§ nid|t otine
primitioc ©mppnbung^fä^igfeit, 3Ba^lt)anblung, Söirfen unb (är*
268 Dtto: %it Uebermnbung ber tnedianiftifd^en Seigre 2C.
ftrcbenoon 3w'ß^wtäl5i9^n^/ ^i^t o^nc „SBittc" juftanbc fommcn,
unb ba§ al§ [ol(f)e§ baS ^fgd^ifc^e fd)on al§ „^^ßf^^te" unb
^rotopIa§mabe(ebung Sfeatität unb ^aufoHtät beft^t, ba§ fann
^tigfiologie jeigcn, roic ©d^ncibcrS 93uc^ berocift. Unb rocnn bcr
93obcn bc§ bIo| ^ß^qfiologifc^cn ücrlaffen, bic ^^roblcmc bcr all*
gemeinen jroedEmägtgen Slnpaffung, bie (Selbftbirettton ber 6nt*
roidlung auf ba§ ^beat ber fertigen gorm l|in, ba§ l^ierju be*
fonberg, aber überall fxi) betätigenbe ®emcinfc^aft§ „wollen" ber
unteren SebenSeinl^citen jum 2lufbau jur SBoHenbung unb jwedtmäli*
gen gunftion be§ ©anjen in§ Sluge gefaxt rairb, fo oerf^roinbet
bie „Q^fl^ztU" njieber al§ nur primitioe unb rol^efte 3leu&erung
eineg üiel umfaffenberen unb tieferen ®efc^e!^en§, ba§ man in ber
"ilat fid^ begnügen lönnte „(Snteled^ie" ju l^ei^en, wenn nid^t bie
„lebenben" Körper eben de facto „befeelte" mären unb menn nic^t
bie einjige ^robe fotd^en entelec^iaten ®cfd^el|en§ ba§ märe, roa^
fid) im bumpfen 2:riebe oorbereitet, ma§ im bemühten SlBotten
aufblül^t.
®ine eigentümtidf)e SKittelfteltung jmifd^en ben 2:eftoniften
ben S)riefd^ unb ben Sc^neiber nimmt noc^ mieber ber gebanfen*
reii^e Sluffa^ üon SDIare§, ^^Jrofeffor ber ^ß^gfiologic an ber bö^-
mifdien Uniuerfität ju ^rag, ein über „ba§ ©nergieprinjip unb
bie energetifdie S3etra(^tung^roeife in ber ^f)t)ftologie" (Siot. 3bl.
1902, ©. 282). aWare§ fpmpatl^ifiert mit ber Raffung be§ ®e*
fe^e§ non ber Äonftanj ber Energie, mie e§ fi^ im Unterfd^ieb
oon ^elml^ot^ bei Stöbert SWa^er finbet (@. 338), ftreitet gegen
bie falfc^en Probleme, bie bie d^emif(^e 93etrac^tung§roeife ber
^^ligfiologie oorfpiegelt, gegen bie ®nj9met^eorieen, gegen bie
paratleliftifd)en Slieorieen ac, älinlicb mie Sleumeifter unb ©^nei*
ber. 2)a§ SRätfel be§ Seben§ ift xf)m ein metapligfifc^eö, ade
menfd)lid)e ©rfal^rung überfteigenbe§ unb burd^ bic SGBiffcnfc^aft
nict)t aufjulöfenbe^. — ®rabe biefe SWannigfaltigfeit ber ©tanb»
punfte unb ber bei jebem eigenartigen 3)en!er mieber eigenartige
Slüdffc^tag gegen bie mec^aniftifc^e Si^eorie jeigt, ba| mir e§ in
i^r, mie auct) in ber ©eleftionöt^eorie 9)armin§, mit einer Snt«
f(i)loffen]^eit§t^eorie unb ßn'ongSoereinfac^ung ber ©rfc^einungen,
nid^t mit einer objeftioen unb rulieoollen Eingabe an bie ^inge
Otto: %it Uebem»tnbung ber med^aniftifc^en Seigre zc. 269
ju tun ^aben, mit einer 21)eorie, bei ber „simplex" §um „sigillum
falsi** wirb.
3)ie lieute loieber fid^ poOjiel^enbe Ueberiutnbung be§ SDIed)a«
nismuS trägt, toie auf ber ^anb liegt, oiel au§ für eine tiefere
Srfoffung unb 3)eutung ber 3Birfltd){eit im allgemeinen unb ba-
mit für eine religiöfe im 33efonberen. 93ei weitem bie §aupt*
fac^e babei ift ba§ neue S)urd)brec^en ber 2:iefe ber 3)ingc
unb ber (Srfdieinung, bie oerfd)ärfte Sinfic^t, ba§ unfer (Srfennen
ein ©rfennen ift am Oe^eimniS ^in. Unb man !önnte fragen,
ob baran Sieligion nic^t allein fc^on genug ^at ®enn mie fte nun
@e^eimni§ beute, beuten moUe unb bürfe, ba§ foU it|r garnidit
weiter au§ 9laturbetrad^tung erma^fen, fonbern mu§ il^r anber§*
rootier unb au§ neuen Duellen werben. 3)a§ weitere ®rgebni§
ift, ba§ Ideologie, ^errfc^aft ber Qbee, Sinn unb ^lan im
9Jaturgefd)ef)en al§ maltenbe SWädite fid) mieber anfangen burd)*
jufe^en, unb fo, ba| fte nic^t auf Umwegen unb burd) „S3e«*
tra^tung§weifen" l)erjugebrad)t werben, fonbern au§ bem ®e-
fc^e^en felber beutlid^ aufteu^ten. Sewd^rt fic^ aber bie 3»bee
afe traftige§ ^rinjip im fpejififc^ SBitalen, im pl)r)fiologifd^en
$rojeffe unb in ber ^ormgeftaltung unb (Sntwidttung be§ ©injel:«
roefenS, fo ifl bamit jugleid^ allen „3iiföBs!tl)eorieeu" im gefamten
Skturgefc^e^en, befonberS in ber ©efamtentwictlung be§ Seben*
bigen überl^aupt ein SWiegel oorgef(^oben unb bem barwinifc^en
ftampfc gegen ben Qw^d ein @nbe gemadjt, wie benn alle nacf)«
benflid^eren 2lntimec^aniften auc^ 3lntibarwiniften finb. 3)a§ aber
bereitet wieber oor, um fo melir in ber SBelt be8 ®eifte§ unb
ber @efc^id(te 3:elo§, 9lu§ unb £ogo§ auf§ neue feft ju grünben.
SWe^r nun brandet religiöfe 93etract|tung fic^erlid^ nid)t, um
fic^ oon feiten ber 9laturbetrad)tung in ^rei^eit gefegt ju felien
unb biefen gegebenen Stammen mit i^ren Ueberjeugungen ju er*
füllen. ®§ ift weniger ©ac^e ber Sieligion aU unfere§ allge*
meinen fpefulatiuen SriebeS unb unferer ^tiantafie, wenn wir
etwa weiterfc^reitenb nac^ äJeranfc^aulic^ungen unb (Stellungnahme
im Sinjelnen fuc^en. Qxoax bieten fie fid) faft Don felber an
270 Otto: S)ie UcbctiDinbung ber ntcd^aniftifc^ctt Sc^rc jc.
unb bürftcn ctroa biefclben SQäcgc ju gelten vox fid) ^abcn, bie
bei $(ato einfe^en unb bi^ lieute fid^ jiemUd) gleid^geblieben fmb.
3fm ^^l^itcbo^ beginnen fte bcibe unb gelten fort ju Äant unb
ju @. V. ^artmann.
®inerfeit§ nämlic^ l^anbelt e§ fid^ um bie attgemeinerc SBefmnung
auf bie Slufgabe unb Seiftung unfere§ ®rfennen§ überl^aupt. „®cge«
ben" ift bem ©rfenntniSoennögen ba§ „jubeftimmenbeUnbeftimmtc".
Unb ©rfennen ift, bem „&mipov" bag „nipou;" fe^en, ba§ an fic^
„Unbeftimmtc" „beftimmen", tategorifieren, burd^ bie (a priori)
99eftimmung§ocrmögen unb gönnen ber SBemunft. ©o roirb
„SQäelt" unb „9J3elterfal|rung". ^m ®enten, fpejiett im roiffen»
fd^aftUc^en 2)enfen, DoKjie^t fic^ biefer ^rojeg unb in ber fort*
ge^enben Sluffteüung be§ „®efe^c§" ooDjie^t er feine ^aupU
leiftung. S)er ^roieJ5 gel^t aber fort in§ Unenblic^e. 2)enn bo§ „Um
beftimmte" ift jugleic^ ötTcetpov (Unenbli^e§) im eigentlichen ©inne.
®§ gteid^t einem Segel, ber bem ®rtenntni§oermögen unb bem oer*
nünftigen Äategorifieren feine ©pi^e barbietet unb beffen SBafi^
im Unenbtitf)en liegt. Unfer 93eftimmen bringt grabmeife an i^m
oor, aber meber umgreifen bie Stinge, bie nad^ einanber oorge*
f(^oben werben, ben Kegelmantel jemals ganj, fie Maffen je me^r,
je meiter fie fortrüdfen — nod^ fönnen mir meinen, ju ®nbe ju
fommen. „SBiffen" ift grabmei^ üorrüd!enbc§ definieren an bem
in toto ^nbefiniblen (irepa; am dcTcetpov), SRationalmac^en be^
irrationalen „®egebenen", Äommenfurieren be§ S^tommenfurablen.
Unb fein SBorbringen ift oielleid^t nic^t afpmptotifc^, fo ba| Un*
beftimmteg unb SBeftimmung in unenblic^er Slpprojimation auf
einanbet ftünben, fonbern gleid)t bem ©i^norroärt^fc^ieben ber
„SRinge" am Kegelmantel, bie oon Dorn^erein nie ganj f^loffen,
bie immer weiter aufraffen unb beren Sßorrttdten inö Unenblic^e
fortgebt. 3)arin märe SGBert unb ©c^rante mec^anifc^en, p^pft»
fd)en, c^emifd^cn, oitalen „Srflärenö" gegeben.
2lnbrerfeit§ brängt, mie SDriefd) mo^l am beutlic^ften emppn«
bet, bie aSorftellung unb ^^antafte immer roieber ju ben „Gnte*
lei^ieen", „fubftantiellen formen", fid) burd^fe^enben „^becn",
bie in allem fi^ entroirfelnben, im Sebenbigen befonber§, Oefe^e
unb Xgpen be§ ©injelroerben^ finb. 3)amit aber notroenbig auä)
D 1 1 0 : ^ie Uebcnoinbung bcr med^atiiftiftiien Seigre 2c. 271
— tro§ 3)ricfc^ — ju bem ^latonif^cn Oebanfen ber ^\^x^i.
gin „®efc^", eine „3fbee" wirft nic^tg, fonbem ift gorm cine§
SBirfcnben. @in Agens in ben 3)ingen, bcr SBirhmg, ©eftaltung
unb „jielftrebenben" 3)ireftion über bic 3)inge fät|ig, ift unau§*
ipeic^Ii^, mag man e§ nisus formativus, unbemuJBten SBcrbe*
brang, „SGJeltfcele" ober mie immer nennen. Unb tut man e§,
fo rcbet man fc^on oon „SBiKe" unb bie alten SDeutungen be§
3BeItroerben§ burd) ben SBitten, ber ba§ SGBerben burd^maltet,
ber im nieberften üebemefen ]id) regt, ber feiner felbft no6) un=
beraubt bie Seben^projeffe birigiert, ber ber ibeenootte roirtenbe
5aKor ber gormgeftaltung ift, ber ftufenmeifc fid) aufringt ^u
immer ^ö^erer ©elbftentfaltung, ber enblid^ im SDlenfdien burc^-
bri^t au§ bumpfem 2)range ju madjem Selbftbemu^tfein unb
ou§ bloßem Sriebc jum SBitlen im l^ö^eren (Sinne, fo erft „Seele"
merbenb, um ju ®eift fw^ ju bilben, ftetlen fid^ roieber ^er unb
om beften in il^rer tiefen fc^önen S^^ni, mie fie nic^t ^artmann,
ni(!^t ©c^openl^auer unb ni(ä)t ©djeüing, fonbern %\(i)tz in feiner
alljuoergeffenen ©d^rift „bie ©eftimmung be§ 9Kenfd^en" gefc^affen
bat, biefer fc^önften, männlid)ften unb tief ften (Erneuerung, bie ^latü§
Se^re oon „yheoig" unb „^\jxh" 9«funben l^at. 2)ie tieffinnigen
S^eorieen be§ jüngeren gid^te über ba§ Unbemu^te, ba§ fxd) ben
Äörper baut, bie glei^faßg hinter ®. o. $artmann§ ©ebanfen
gonj überfe^en loerben, grabe au^ oon aJIännern, bie il)m fo
relatio nal^c ftel^en mie SDriefdf) unb ©dineiber, mären f)injuju«
nel^men. ®ie ÜBenbung, bie biefe 2tnfrf)auung nehmen mu| unb
lann, um in religiöfe äberjugef)en, liegt fo auf ber ^anb, ba§
man fie laum anjugeben brandet, ©ie ooKjic^t fidf) bei gidite
befanntlic^ in ber „9lnmeifung jum feiigen Seben", roo er bie
ungcnügenbe unb oorläupge Qbentifijierung be§ „3Bilten§" mit
bem ©öttlic^en oerlä^t unb oon ^fw^w^önenj ju 2:ran§jenbenj über=
gc^t. Äein SBerben ol^ne ©ein, feine ^otenj ol)ne ben 2Ittu§
juoor. ©Ott, ba§ emige ©ein, fe^t biefe SBelt be§ fid^ fteigern*
ben 8GBitten§, bamit fie in eigener ©elbftoerroirflic^ung bie güfle
ber ewigen ^fbeen reatifiere, ju aKenfd), (Seift, g^reitieit, ^n^
bimbualität aufbringenb ba^ göttlid)e ®benbi(b oerioirflidie, f^on
auf ben ©tufen ber @e6unbenf)eit unb Unbemu^t^eit in ber ©pon=
272 Otto: ^ie UebertDinbung hex tnec^aniftifd^en Se^re tc
tanettät be§ Sebenbigen in bem (hinaufarbeiten unb ^inaufbr&ngen
bereits eine SSorabfd^attung gebenb beffen, roa^ einmal als
menf^liclje grci^eit, ©elbftbeftimmung unb ®eiftc§entn)icKung er»
fc^einen foH. — ®a^ folc^e gic^tefd^e SBeltbetrat^tung bur^ „^^n*
tafte" gewonnen ift, ift gen)i§. SKber pl^antaftemä^ig ift jebe SBelt»
beutung. SD3a8 fmb Sltome, SWoIefüIe unb „Gräfte", n>a§ fmb
concursus unb influxus anbereS? „Ql)x werbet e§ roiffen, baf
eure ^^antafie e§ ift, welche für ®uc^ bie Sffiett erfdjafft". @e»
Tüi^ ift auc^, ba^ 9teIigion eineS folc^en p^antaftema^igen 9b>
fc^tuffcS ber SBeltanfc^auung nid^t bebarf, wenn il^r gerodl^rleiftet
ift, voaS oben angegeben war. ©ud^t fie il^n aber, fo wirb fie
i^n in biefer 3tid^tung finben. Unb bie l^eutige SlaturerfenntniS
fann fie baran nic^t I)inbern, ' bie heutige Uebern>inbung bcS
SWec^amSmuS in ber SebenSlel^re leiftet i^r babei SBorfd^ub.
273
^ur $00ntatik.
SBon
duHuS ftaftan.
C. (Binitlnt Stljttn.
7. S)ic ^aulinifd^c ^rebigt t)om Ärcuj ^cfu ©tirifti.
aSorbemcrfung.
(£§ wirb sunäd^ft eincS aSortcS bcr ©rHärung bebürfen, ba§
ic^ bicfcr Sici^c t)on 2luffd^en jur 3)ogmatif einen mit roefentlid^
neuteftamentlidiem, 6ibUfd)*tt)eoIo9ifd^em 3fn^alt einfüge. 5)ie erfte
Seranlaffung baju ift eine äu|er(id)e. SEßaS bie folgenben SSIotter
bieten, ift im SBefentlic^en bie SSorlefung, bie id^ beim S3eriiner
gerienfurS im t5^-ül|iat)r 1901 gel^alten f)aU. 3)ie mieber^olt an
mid^ ergangene Sluffotberung, fte brurfen ju laffen, ^abe id^ ba«
mafe abgelet)nt. @§ fd^ien mir bei bcn üblichen ©epflogenl^eiten
nic^t ongängig, bie SBorlefungeix al§ einen Beitrag jur biblifd^en
X^eologie ju veröffentlichen, o^ne fie nidjt menigftenS in 3lnmer»
fungen nad)trägli^ mit bem gemö^nlic^en SRegiftrierapparat aller
jemals geäußerten bea^ten§n)erten aWeinungen unb fritifdier 2lu§*
einonberfe^ung mit i^nen auSjurüften. ©aju aber empfanb ic^
nic^t bie minbefte 5Reigung, mie i^ benn fürd)ten muß, baß e§
mir. rote an ber redeten Stufnal^mefä^igfeit für biefen 2:eil ber ge*
lehrten Slrbeit, fo aud^ an ber ®abe fe^It, barin etn)a§ görberlic^eS
ju teiften. dagegen meine ic^ oerantmorten ju fönnen, roenn ic^
biefe ^Betrachtungen ^ier otine alle foId()e 3uti)aten Deröffentlic^e,
3«itf(^rift für X^eologte unb Äirt^e. 14. 3a^rg., 4. ^eft. 19
274 Ä a f t a n: 3wt ^ogmati!.
100 e§ fic^ auggcfprod^cnermagen barum Iianbclt, lote loir unferc
©ogmatif gcftattcn fotten. 3)icfeni Qxotd cntfprec^enb ift auc^ ber
urfprünglii^e ^eyt in cinjclnen Partien ntc^t uniocfentlid) ocränbcrt
loorbcn. 3)cr S^itcl ber SJorlcfungcn ^atte bcn 3u[a^: unb i^re
Scbcutung für unfcre ^rcbigt! SBa^ fid) nun barauf bcjog, ift
l^ier weggefallen unb bie 93ejie^ung auf bie 3)ogmatit an bie
©teUe getreten. 9Jur bap bieä in ber Ueberfc^rift ^eroorju^eben
überflüfftg erfd^ien, ba e§ in bem ©efamttitel aller biefer STuffä^e
8um 2lu§brud fommt. SQBobei ic^ nic^t unerrofi^nt laffen will,
ba^ biefe 2(enberung me^r formater al§ fad^Iidier 2(rt ift, ba nac^
meiner Sluffaffung 3)ogmatit unb ^ebigt fic^ na^e berühren.
Slber natürlld) genügt bie§ je^t ^eroorge^obene nid^t jur SWec^t*
fertigung meines Unternel^menS. ®ie liegt erft barin, ba^ c§ mir
93ebürfni§ war, bie bibIifc^*t^eologifc^en ©rörterungen meiner 3)og^
matif in biefem ^unft, roo fte nid^t lebiglic^ SBermertung aner-
fannter 9JefuItatc finb, etmaS nd^er auSjufül^ren unb ju begrün*
ben. ^6) ^abe babei einen boppelten Oegenfafe im 2tuge. ©inmal
bie 2lnfid^t unb ^rayiS berer, bie nac^ mie oor bie ©ä^e ber
ürd^lic^en 3)ogmatit au§ bem 9ieuen S^eftament unb namentlicö
aud^ au§ ben $aulinifd)en 93riefen entnehmen. Soor allem aber
bie übli^e aJleinung, bie ^aulu8 jum 3)ogmatifer ftempelt, ob
fie e§ i^m nun jur ©ered^tigteit ober Ungere^tigfeit redjnet, meiere
aWeinung mir als ein SJorurteil erfc^eint. Könnte ic^ ein wenig
baju beitragen, bieS Vorurteil ju entmurjeln, mürbe eS mir jur
großen 93efriebigung gereichen. 2llfo im Oegenfa^ ju biefen bei«
ben 2lnfirf)ten möchte ic^ erftenS jeigen, ba§ man ^auluS miß*
t)erftel|t, menn man i^n oor allem al§ 3)ogmatifer nimmt, unb
jmeitcnS barlegen, maS unb mie mir tro^bem in ber ®ogmatit
oon ^^aulu§ lernen fonnen unb follen.
aWit bem jule^t ©efagten l)ängt ein ^w^^iteS eng jufammen,
maS l)ier in ber Sorbemertung mit ein paar SSSorten erflart roer^
ben mu§. ®ieS nämlid^, ba§ i^ al§ Zl)tma bie ?ßaulinif(^e
^ r e b i g t oom Kreuj ©^rifti genannt ^abe. 9Bir fagen fiatt
beffen gemö^nli^: bie Seiire beS Slpoftete oom Äreuj. Unb
baS, maS man geioölinlic^ f o nennt, ift ^ier gemeint. 9lber roarum
benn ^rebigt unb nic^t Seiire? 3)ie 2Bal|l be§ aBorteS tonnte ol«
Ä a f t a n: Sur ^Jogmattf. 275
eine 6Io^ jufdQige erfc^einen, ttxoa baburd) bebingt ba^ in ber
}u @runbe (iegenben SSorlefung eine 3^f<^^^^^f^^Ku^9 ^^^ ^^^*
linifd^en Sßerfünbigung mit unferer I)eutigcn ^ßrebigt bie prattifd)e
©pi^e bilbete.
@o jebod^ Derl^ält e§ |t^ nid^t. SJlit beraubter Slbfic^t ift,
n)QS $Qutu§ uns aber baS ^reuj be§ ^eilanbS fagt aU ^rebigt
unb nict)t ate Se^rc d)arafterifiert. Slid^t ate foCte beibeS cinan*
ber überhaupt gegenübergeftellt werben. ®ine ^rebtgt, in ber
nic^t gelehrt wirb, entfpridE)t i^rem Qxoed nid^t: man !ann nid^tö
SIeibcnbe§ barau§ mitnel^men. 3lber ber Unterfd^ieb ift bod^ fein
geringer.
©agte id^: bic Sc^re be§ 2lpoftete, fo noäre bamit x)orau§*
gefegt, ba^ feine ©ebanten unb 2lu§fpräc^e über ba§ Äreuj beS
^erm eine tl^eoIogifd)e ©inl^eit barfteüten. @o alfo, ba§
er über eine einheitliche Seiire Dom Äreuj oerf ügt l^ätte, unb bie märe
nun bei allen feinen 2lu8fül|rungen über ben ©egcnftanb bie für
i^n felbftoerftänblic^e, ftiltfc^meigenbe SBorauSfe^ung. ®ann ftellte
fid) bie Aufgabe fo, ba§ mir aui§ biefen feinen Sttu^fül^rungen
bie ju ©runbe liegenbe ein^eitlid^e Se^re ju ermitteln Ratten.
®ben bie§ jeboc^ l^alte id^ für falf^. ®ie ©ebanfenmelt be§
SlpoftelS ^aulu§ ift feine t^eologifc^e @inl)eit. ©ie ift e§ über*
^aupt unb im ©anjen nic^t. ©ie ift eö auc^ nicl)t, ma§ biefen einen,
i^ren mid^tigften ©egenftanb, ba§ Äreuj be§ ^errn, betrifft. 8GBol|l
aber ift fie eine r e l i g i ö f e ®inl|eit. 9teue gro^e 9)enf * unb
SebenSformen — unb eine fold^e ift e§, bie un§ bei ^auluS ent»
gegentritt — finb jmar nie eine oollfommene ©in^eit. 3)a§
fönnen fie ni^t fein, ba fie nad^ rüdfmärtS unb üormärt§ blidfen,
i^re tiefen SBurjeln in altem Sßorangegangenen liaben unb mit
i^ren t?ü^lfdben in bie fernfte 3wfw^^ft teic^en. 2l6er mit biefem
JBorbe^alt gilt, ba^ bie ©ebanfen be§ 3lpoftel§ eine religiöfe ®in*
^eit finb. ^m ®anjen — unb fo au^ xoa^ baS Kreuj beiS ^errn
betrifft. @ben be§^alb aber finb fie nic^t eine tlieologifd^e, bog*
matifc^e Set)re, fonbern ein Soangelium, eine ^rebigt, unb ift
biefer 9iame ber eigentlich jutreffenbe. 2ll§ ?ßrebigt muffen fie
gemürbigt unb bargefteQt merben.
3)anac^ mu^ fid^ bann aud) ba8 aSerfalircn richten. SEBtr
19*
276 ^ a f t a n : 3ur ^ogmatit
fud^en nid^t in aQen 3(eugerungen eine t^nen ju ©runbe (iegenbe
einl^eitlic^e Seigre. @tatt beffen fud^en mit bie einzelnen ©ebanfen
unb ©cbanfcngtuppen ha auf, roo fie im ^ufammcnl^ang mit bem
perf6nli(^cn ®(auben unb ©rieben be8 SHpoftetö entftanbcn fmb.
^er ^err ift i^m cor S)amQ§!u$ erf^ienen, ba^er ftammt aUt^,
n)QS uns ^autuS ju fagen ffat 9Bir merben e§ nur richtig oer-
ftel^en, wenn roir e§ in biefer feiner Oenefig begreifen, unb bie
©ebanfen baburd^ für unS lebenbig n:)erben.
i^reilid^ gewinnen wir fo junäd^ft @eban!enreil^en, ©ebanlen«
gruppen, bie ^mar in ber retigiöfen SOSurjel jufammen^ängen, aber
als tl^eologifc^e 3)eutungen beS £obeS S^rifti neben einanber
ftel^en unb unter ftd^ biSparat ftnb. Sann mag 5um @€^tu^ eine
ein^citli^e 3uföwimenfaffung oerfu^t werben. Slid^t in bem oor»
\)\n abgewiefenen @inn, als wäre biefe (Sin^eit bei $autuS bie
immer Dorl^anbene 93orauSfe^ung gewefen, fonbern nur im ©inn
einer grage, ob etwa? ob fid) für ?ßauluS fetbft eine fol^e Qu*
fammenfaffung als ein gelegentlid^ fie^teS, mit bem ©ebanfen
©eftreifteS ergeben l^at ? @o alf o, ba| ber @^werpunf t bur^auS
in ben einjelnen @ebantenreil^en liegt. 9Bie benn au^ nur in
i^nen gefüllt werben fann, waS für bie 3)ogmatif l^eute fo ober
fo üon SBcbeutung ift.
2)ieS 9}erfa^ren tritt aber in einen gewiffen (Segenfa^ ju
bem, was üblid^ ift. @S finb erft bie ^nfd^e ju einer neuen
93etrad^tungSweife ba. Ueblic^ ift immer noc^ gan} überwiegenb
baS oben }urüdtgewiefene 93erfa^ren, eine einheitliche Se^re bei
^auluS ju fuc^en. Sie einen galten i^n für einen 3^ugen ber
anfelmifd)en, tirc^lic^en Sßerfö^nungSle^re. SefonberS in ber $rajriS
ift eS fo baS @ewö^nlic^e. 3lud) in ber S^eologie, namentlich
bei ben Sogmatifern, begegnet eS no^ oft genug, i^mmerl^in
überwiegt ^ier bie gefd^i^tlic^e SWet^obe. Slber aud^ beren SBer»
treter ftnb infofern nod^ oielfad^ an baS alte SBorurteil gebunben^
als eS eine fie^re, eine Sogmatit ober eine iReligionSp^ilofop^ie
ift, bie fte bei ^auluS ermitteln unb als ^aulinifc^ barftellen.
@o gilt eS j. 33. felbft oon ^ol^mann, na^ beffen 2luffaffung
^auluS pon teils jübif(^cn, teils ^eUenifcIien SßorauSfe^ungen auS
ein merfwürbig t)erwidtelteS ©pftem ber SReligionSpl^ilofop^ie er-
^ a f t a n: Qux ^ogmatÜ. 277
bac^t unb oorgetragen f)at, ba§ faum für anbrc als bic Xicdinifcv,
bic S^eologcu, Derftänblid^ ift unb cigcntlid^ au^ für bicfc nur,
wenn fic i^rc fiebcn^arbcit baron rocnbcn.
3)iefem ©tanbpunft unb jwar oflen feinen Sluancen gegen«
Aber ift gcttenb gu ma^en: e8 l^anbelt fi^ im bleuen Sieftament
nic^t um ©ogmatit, meber neue nod^ alte, unb ebenforoenig um
9leligion§p^iIofopt)ie, c§ l^anbelt fid^ melme^r um SRetigaon, um
©Dangelium, um SBerfünbigung, bie au8 bem ©tauben gel|t unb
©lauben roeden miß unb fann. SKan üerfte^t bie 3)länner, bie
in i^m ju un§ reben, oor allem ^aulu§, nur bann redjt, wenn
mon erfennt, mie aud^ itinen felbft biefe Söerfünbigung bie ^aupt-
fac^e unb, ma§ fic an 2^^eoIogie I)aben, etroa§ ©efunbäre^, 9Ib*
geleitetes gemefen ift. ®erabe bie§ betone id^. S)abur^ !ommt
erft ber (Segenfa^ ^erauS. Sttud^ bie SBertreter ber älteren aWe*
t^obe miffen natfirli^, baj3 aUemege bie SWeligion bie ^auptfac^e
ift, Slbcr bur^ ba§ intelleftualiftif^e @d)ema ber alten Sogmatif
gebunben meinen fie, and) ^aulu§ l^abc mie ein fpäterer 3)ogma*
titer burd^ jufammenl)ängenbe Selirformulierung ba§ religiöfe 93e*
bürfniS ju befriebigen gefud^t, anftatt au§ ben religiöfen :3»ntpulfen
^erau§ feine Oebanfen ju bilben, bie itim gar nid)t al§ eine Set)re,
fonbem al§ SJerfünbigung felbft erlebter göttlidier J^aten im 93e*
mu^tfein ftelin.
SBenn i^ red)t felie, ift eS bie in einem ber früf)eren 2(uf*
fä^e f^on berülirte SSSanblung ber t^eologifd^en 3Wett|obe, bie bei
biefem Unterfdf)ieb ber Sluffaffung ju ®runbe liegt. SBie in ben
anbem 2)i§jiplinen — in 2)ogmengefd)id^te unb ©pmbolif unb
in ber ®ogmatif felbft — fo mac^t fie fid) au^ in ber foge*
nannten biblifd^en Si^eologie geltenb, bie SBanblung au§ einer
8Biffcnfd)aft oon ®ott in eine äBiffenfd^aft oon ber d^rifttic^en
JReligion. ©tiH unb unauf^altfam ooUjie^t fie fidf) unb wirb fid),
mu^ f\6) burdife^en. ®enn fie bebeutet nid)t§ anbre§, als ba|
mir jur ©ac^c felber fommen unb bie ©egenftänbe unfrer gor«
frfiung aus if)nen felber, oon i^rem eignen Sölittelpunft auS ju uer*
ftel^en fudjen.
®S ift balier fein miHfiirlid^er (äinfaH, menn id) bie ^auli-
nifc^e ^rebigt unter einem etroaS anbem als bem üblidien ®e«
278 Äaftan: Snx Dogmatil.
ftc^töpuntte betrad)te. (£$ l^anbelt fic^ babei um eine 3(enberung
be§ SBerfa^reni^, bie in einem größeren ßufammenl^ang ftel^t unb
ber m. @. unjmeifel^aft bie 3^^^"^!* flc^ört.
S)er Ueberfic^t falber roitt id^ bie (grörterung in mehrere
Slbfc^nitte jerlegen. Unb jmar beginne i^ bamit, in einem erflen
Slbfd^nitt Dormiegenb fritif^er Slrt ben SSSeg jum SSerftanbniS su
bahnen. Äritifrf)er 2lrt — aber nun nid^t me^r in formeDer^
fonbern in fac^tid^er 83ejiel|ung.
1.
Sfn feiner ^autinifc^en a:^eoIogie, bie md) feinem Sobe 1898
l^erau§gegeben morben ift, fagt Äarl ^olften, bie SDarftettung
ber ^ßaulinif^en 2:^eoIogie fei frfil^er nur eine oerftänbig orbnenbe
gemefen: etma in ber 9{eif)enfoIge beS 9{ömerbrief$ feien bieJ^aupt<
gebanfen na(^ einanber befpro^en morben. 3)en 3lnfang einer
anbern Raffung ber Slufgabe, ben 93erfu^, bie ?ßauUnif(^e ®e*
bantenmelt qu§ i^rem Urfprung 2u perfte^n unb ju entn)irfeln,
batiert er üon feinen eignen Slrbeiten, bie freiließ roieber i^rc ^fm»
pulfe oon 5- ®^^- 93a ur§ gorfi^ung erl^alten l^atten.
9nan fann m. @. bem Selbftgefül^I, ba§ in biefer 9(eu^erung
^olftenS jum äluSbrudt fommt, bie Sered^tigung ni^t abfprec^en.
^ 0 1 ft e n ift ^ier in ber 2:^at ber 93a]^nbrerf)er gemefen. 3a,
feine Äonftrultion ift bisher eigentlich ber einjige SSerfuc^ geblieben,
bie ^aulinifc^e @eban!enmelt oon innen ^erauS ju uerfte^n.
2)ie (Späteren manbeln auf ber t)on i^m gebrod^enen 8a^n. Um
bie ^aulinifc^e ©ebanfenmelt im ®anjen l^anbelt e§ fi^ ba. aber
beren ^Jlittelpuntt ift, wa^ $aulu§ t)om ^reuj S^rifti ju fagen
^at. Um biefeS bemegt ftd) bal^ec a\xi) bie ^onftruftion ^oljlenS.
(Sr Derfte^t bie ^^aulinifdie Se^re als ermac^fen au§ ber bem
älpoftel ^auluS eigentfimli^en (SnoftS be§ ^reujeS (S;^nfti. 3)a«
nad^ f^eint t8 mir geboten, ^ier an bie ^onftruttion ^olflenS
anjutnüpfen. SBobei id) nid^t unermäf)nt laffen mitl, ba| e§ ni^t
ba§ eben genannte pofttjume ^uc^ ift, baS in 93etra(^t fommt
Qn H)m ift er mie anbere, beren 3lu§gang8punft in ber ^egcl'«
fc^en ^l|ilofopl)ie liegt, ber S3erfud)ung erlegen, alleS in einem
einjigen ermübenben unb bürren @eban!enfd^ema aufmarfdjieren
Ä a f t a n : gut 5)oömatü. 279
ju laffen. @§ finb feine früheren ©dfjriften, auf benen ber S33ert
feiner 2lrbeit beruljt. gür unS fommt namentlidi roieber bie erfte
unter biefcn in SBetrac^t, bie üon ber ©^riftugoifton beS ^aulu§
^anbelt.
fianberer ^atte am ®rabe 93a ur§ in ber ©d)ilberung be8
SSerftorbenen gefagt, ba^ eS il^m boc^ ni^t gelungen fei, ba§ 5Bun*
ber aus bem Urd^riftentum ju eliminieren; bie 83efel^rung beS
$aulu§ bleibe aud) bei feiner Äonftruftion ate ein ni^t ju er*
flärenbe§ SGBunber befte^n. S)ie§ reijte ^olften, f\6) an ber ba*
mit gefteüten 9Iufgabe ju nerfu^en. ©o ift ber genannte Sluffa^
entftanben. ©eine 2:enbenj ift, eine natfirlid^e ©rtlärung ber 93es
fe^rung be^ ^aulu§ por 2)ama§fu§ ju geben. 2lber ba§ laffe ic^
^ier ganj bei ©ehe. 2lHe biefe @rflärung§üerfucl^e Iiaben üvoa^
©ejroungeneg unb fo aud| ber ^olftenö. ©ie mögen benen 93e*
bfirfniä fein, beren SBorauSfe^ung e§ ift, alle§ ®ef^el)en fei mie
man fagt „gefe^Iid^" oermittelt. ^d) teile biefen ©tanbpuntt unb
ba^ barau§ ermac^fenbc 93ebürfni§ nic^t. Unb ba§ fd)eint mir
feftjufte^n, ba§ bie gefc^ic^tlic^e Ueberlieferung einfad^er unb oer=»
ftänblic^er ift, roenn man bei ber alten, bem 53en)u^tfein be§ 3lpo-
ftefö felbft entfpred^enben Sluffaffung bleibt, bie in feiner 93ete^*
rung ein SSäunber (Sottet fie^t. 2lber, mie gefagt, e§ fommt ^ier
nic^t in 93etracl)t. ®a§ dou ^olften entmidfelte Sßerftänbni§ be§
^aulinifc^en 6üangelium§ uom Kreuje ©l^rifti ftel|t unb fällt
feine§n)eg§ mit feiner rationaliftifd^en ©rtlärung be§ SBorgang«
ber ©efe^rung. ®r f onftruiert nämlidi alle^ barau§, ba^ ber ge*
fe^e§eifrige ^^arifäer bamafö im ÄreujeStob be§ SReffiaS ba§ ^eil
erfannte unb ergriff. Unb ba§ bleibt ja ftef)n, ba§ e§ mit bem
inneren Vorgang bei feiner 93efe]^rung biefe 93en)anbtni8 l^atte,
mag man ba§ 6reigni§ felbft in feinen Urfad)en nun fo ober an*
ber§ juftanbegefommen beuten.
2llfo — ^aulu§ mar ein gefe^eSeifriger ^^arifäer unb eiferte
afe fol^er für ba§ @efe^ unb bie oäterli^en Ueberlieferungen
me^r al§ jeber anbere unter feinen 2llter8genoffen. ©o fagt er
felbft. 3)a fam ber über itin, ber mäd^tiger mar afö er. ®r
tonnte nic^t melir miber ben ©tad^el löden, ber ©etreujigte er*
mieg fi^ in ber (ärfc^einung be§ 3luferftanbenen als ber SWeffiaS.
280 Ä a f t a n: 3ur S)o0mattf.
^aulu§ nun bettet fid^ nac^ biefem (SrIebniS nic^t mit ^(etfc^ unb
SBlut, fonbern ging in bie ®infomfeit nad| Slrobien btei Qa^te
lang, ffiort ffat fid^ ber Umf<^n)ung aßer feiner ©ebanten doB«
jogen, beffen SRefuttat ba§ üon il)m Dertünbigte SDangelium tft,
ba8 (Spangelium für bie Reiben. @S ift erroac^fen ou§ ber ®noft§
be8 2:obeg 6:^ri[ti al§ beS ^eitöprinjipS. Qa, baS ift bie ^awpU
fa^e fcineg ©oangeliumS, biefe @nüfi§ be§ aKeffta§tobcS. (So roie
er fie oorträgt, mu^te fte fic^ in bem Bis ba^in fo gefe^e§eifrigen
aWann geftatten.
9lämlid), für il|n roar eine innere Unmögli^feit, roaS nac^
^olften (er entnimmt e§ au8 ®al. 2) ber Orunbgebanfc beä
^etrinifc^cn ®oange(iumS mar, baS 5lebeneinanber oon ®efeft
nnb @Iaube an ba§ ^reu}. @d^on el^e er 6)^rift unb älpoftel
mürbe, mar für ^auIuS beibe§ in einen au^fc^Iiefeenben ©cgenfa^
ju einanber getreten: entmeber — ober, entmcber ba§ @efe^ ber
aSäter ober ba§ Äreuj. Unb gmar mar il^m urfprünglic^ ba§ Oe«
fe§ aKe§. 3)e8^alb oerfolgte er bie ®f)riften, bie einen gefreu-
jigten 3Äeffia§ oerlünbigten, xoa§' i^n, ben ^^arifäer, eine ®ottc§=
läfterung beuchte. 5Run trat ber Umf^mung ein. 2lber bei bem
augf^Iie^enben ®egenfa^ bel^iett eS fein 93emenben. 9lur eben nun
in ber fad|Iic^ entgegengefe^ten aSSeife: ba§ ftreuj ift alleS, unb
ba§ @efe^ ift nid^tS. 2)amit jog er bie ^onfequenj be8 d^riftlic^en
5ßrinjip8: ®ercd^tigfeit nid^t burd^ beS ©efe^eS SBerte, fonbern
allein burd^ ben ®Iauben an bie ^eilStl^at ®otte8 im ^reuje ßi^rifti.
©onft märe ja ber SJlefftaS umfonft geftorben unb biefe gemaltige
-alle§ oeränbernbe ^eil§tl|at ®otte8 eine ßuyuStliat gemcfcn (@al.
2, 21). 2)er S^ob beS ^eilanbS fommt babei aber nä^er ju ftc^n
.al§ ftelloertretenb für bie ©ünber. 2luf ben ©ünblofen l^at ®ott
bie ©träfe gelegt, babur^ finb bie ©ünber gerecht gemorbcn.
SBciter fügt ^ o t ft e n l|in ju : biefe Setire oom Äreuj ß^rifti
beroegt fid) in ben äu^ertid^^^gefet^lic^en Kategorien be§ jübifc^en
93emu§tfein8. SÄn fie fd^lie^t fid^ bei ^aulu§ eine anbere, et^ifc^
bebingte ©ebanfenreil^c an, ba§ namlic^ burd^ ben 2;ob S^rijti
bie ©ünbe in ber aap^, im ^l^if^ ^18 ilirem ©i^ Eingerichtet
morben ift (SRöm. 8, 3). Unb xoai fo äu^erlid) im Stöbe ß^rifli
flef^efien ift, baö mädjft ben ©laubigen al§ innerer, etliifc^er @e*
Ä a f t a n : 3ur 5)O0niatif . 281
roinn ju, fie finb mit ®^rifto geftotben unb oufcvftanben (9töm.
6, 1—11). ®a§ ift eine innerlidie, jugtei^ m^ftifdie unb etl^ifc^e
JBetrad^tungSroeife. Qn i^r ift nic^t bie jübifc^e SSorftellung x)on ®e*
fe^ unb @ere(^tigf'eit ma^gebenb, fonbern ber ^ellenifdie ©egenfa^
oon aapg unb 7rv£ö|ia. S)iefe jroeite Betrachtung ift für ba§ Se«
©u§tfein be§ 2lpoftete ber erften jübifc^^Iieofratifc^en 93etrQrf)tung
untergeorbnet. S)er 3Wittetgebanfe ift etwa ber 2 Äor. 5, 14: ift
einer für olle geftorben, fo finb fie alle geftorben. gür bie mo*
berne ätuff äff ung — meint ^ o l ft e n — [teilt e§ fid^ umgef etirt.
®anac^ ^anbelt e§ ftd| in ber erften ©ebanfenreilie um eine Ueber-
roinbung be§ jübif^en 83erou|tfeing, um eine in feinen eignen
Äatcgorien ftd) üoBiiel^enbe Slblöfung oon i^m. ®er bleibenbe
©e^alt be8 ^aulini§mu§ liegt jiebod) in ber anbern ®ebanfen=
reitie, ber ^ellenifdien, pl^ilofopl^ifrfi bebingten, bie eine 2tneignung
in ben Kategorien ber mobernen, maleren unb ba§ l^ei^t bei
^olften ber ^egelfdjen $f|iIofopI|ie julä^t.
©0 bie Äonftruttion be§ ^^aulini§mu§, bie ^olften oorträgt.
Unjroeifel^aft entliält jie eine bleibenbe aQäa^rl^eit. SGBoHen mir bie
©ebanten be§ 2{pofteI§ oon Stec^tfertigung unb SBerfötinung im
Äreujc ®l)rifti oerftel^n, werben mir uon biefer Ummanblung be§
^^{jarifäerS, bem ba§ ©efe^ atle§ mar, in ben Stpoftel unb ^^re^^
biger be§ ©laubenö auSge^n muffen, ©ie allein bietet l)ier ben
©c^lüffel ju einem inneren SBerftänbni§. 2lber l^öfjer nod) ate bie^,
voa^ m. 6. aud^ f a (^ li d) rid)tig ift, fd^Iage ic^ ba§ Slnbere an,
ba| ba§ aSerfal^ren in formaler SBejie^ung oorbilblic^ ift. 9hir
auf biefem SBeg werben mir ^aulu§ ocrftet^en lernen. 3Bir muffen
auf ba§ a^ten unb uon bem au§ge^n, ma§ er felber a(§ bie Offen*
barung be8 ©ol^ne§ @otte§ in it)m, al§ ben Urfprung be§ i^m
nic^t oon SWenf^en ober burc^ aWcnfd)en, fonbern oon ©ott hnxä)
3efu§ S^riftuS gegebenen ©oangelium§ angefel^n unb bejeid)net
^at. ajon bem nämlid), ma§ er oor 2)ama§fu§ erlebte. 9lur fo
fuc^en mir feine ©ebanfen ba auf unb finben fie ba, mo fie im
3ufammen^ang mit feinem perfßnti^en Seben entflanben finb.
aifo bie§ SBerbienft ^olften'g mu^ in jeber SBeife anerfannt
werben. ®a§ ^ebe id) fo nad)brüd(id) l^eroor, weil id) nid)t mi^*
oerftanben roiffen möd)te, ma§ id) jur Äritil biefer Äonftruttion
282 ^ a f t a n : ßut ^ogmotif .
iu fagen ^abe. ^ä) mu§ etit)a§ länger babei Dermeiteti. 3)aS tDoUe
bcr Scfcr fxi) n\d)t ocrbric^cn laffen. 6S l^anbclt fi^ ni^t blo^
um ^elften, e§ l^anbelt fi^ barum, ben richtigen @(^lüffet jum
iBerftänbniS be$ ^aulinifd^en @oangeItumS au§finbig ju ma^en.
®cr erftc (Siniüanb ift Qbcr bcr, ba^ ^olftcn in bcr alten
bogmatifc^cn, intetlcftualtftif^cn Sluffaffung unb SEBürbigung bcr
^aulinif^en @cban!en ftcdten geblieben ift. begreiflich ift baS
bei einem t)on ^egcl ausgegangenen unb bauernb oon beffen
^t)ilofop]^ie beeinflußten gorf^er. S)iefe neue gorm be8 alten
^[rrt^umS ift aber um nichts beffer, ate wenn bicSlltcn meinten,
bie 2)ogmatit fei, mie für fte, fo auc^ fär ben ätpoftel bie ^aupt«
fac^e, \a ba§ ®anje gemefen. SRan bebenfe: ^auluS jic^t na^
S)ama§fuS, um bie @:^riftcn bort n)ic anbermärtS gu ncrfolgcn.
2)a§ @efe^ ift il^m alle§ unb ba§ ^reuj ba§ große 9tergcmi§, boS
er Dcrnic^ten, ausrotten miH. ®a mirb er non ®ott innerlich er«
griffen unb genöt^igt, in bem ©cfreujigten unb Sluferftanbenen
roa^r^aftig ben SWeffiaS, ben ß^rift beS ^errn, ju erfennen. SBaS
tl^ut er nun barauf^in? @r ge^t in bie SEBfifte nad) Slrabien
brei <3a^re lang, um ftc^ ein neueS religionSpl^ilofopl^if^eg ©9*
ftem au§5ubenfen. Unb nac^bem er bamit glfidli^ fertig gemorben
ift, tritt er al§ ein bleuerer in bcr Oemeinbc auf, fein Softem in
bewußter Oppofition bem il^rer biSl)erigen %ixf)xtx entgegenfe^enb.
^n Sßa^v^eit ift ba§ eine ganj unt>ol(}ie^bare SSorftcQung.
(So fpiegeln fid) bie 3)inge im Kopf eineS mobemen 9{cligion^«
p^ilofop^en, bcr ftc^ felbft, feine ©ebanten unb ^ntcreffen, in jene
3eit l^ineintragt. 3n ber ©cf^ic^tc get)t cS fo nic^t }u. äRen«
fc^en, bie unter bem ungeheuren Sinbrudt leben, baß bie 6nb*
oollenbung angebro^en ift, baß bie S^it brängt, :38rael gu be«
fe^ren unb au8 ben Reiben ^injujut^un, maS fic^ erraffen läßt,
bis ber ^err fommt, fol(^e SWenfc^cn ^aben feine 3«it religionS*
pl)ilofopl|ifc^e @r)fteme gu bauen. S)ie @ad)e lag für $aulu^ un»
enblic^ oiel einfacher, ©rtannte er in bem ©etreujigten unb 9luf«
erftanbenen ben aWef fiaS, fo ließ er fid^ taufen, trat in bie c^rip»
glaubige ©emeinbe unb ^ub an, 3»ßfum aU ben aWefftaS ju ocr«
tünbigen. ©0 bejeugt e§ bie gefamte Ueberlieferung, unb eS giebt
in xi)x gar nirf)t8, mag eine anbre Sluffaffung erlaubte.
Ä a f t a n : 3ui^ S)09matit 283
35eibcm Don ^olftcn befolgten SBerftäubnig eliminiert man
bie ^Quptfac^e, ba§^ xoaS bie felbfioerftänblic^e ©runblage unb
SBorauöfe^ung olle§ Uebrigen bilbet. ^aulu§ ift ®t)rtft gemor«
ben, ift in bie ©emeinbc eingetreten, l^at bie in i^r oorlianbene
Ucberlieferung übernommen, ift in allem SBef entließen ju*
näc^ft eben ein SSertreter unb ^rebiger ber bem Ur^riftentum ge*
mcinfamen @eban!en geworben, ©eroi^ l^at fid) bann eine ©igen*
ort feiner ^rebigt ^erau§geftellt. Unb gemi^ ift eS fc^lie^lidi ju
crnftcn Äonfliften jmifdien il|m unb ben Urapofteln gefommen.
Slber ba§ ift erft ©ac^e ber ©ntmidflung geroefen. ©iebjel^n
3a^re na^ feiner öcfe^rung l|at bie erfte SJer^anblung barüber
unter it)nen ftattgefunben, na^bem bie „falf^en Srüber" ^aulu§
S^roicrigteiten in feinen Oemeinben bereitet liatten. ^a, xoa^ ift
bcnn injmif c^en gemef en ? 5iun, eben bie Qext, in ber ^aulu§ bag
Snangelium oertünbigte mie bie anbem aud^, in feiner 333eifc,
aber fo, ba^ ba§ nid^t al§ 2)ifferenj empfunben rourbe; ^aben
ftd) bod) auc^ bie nun eintretenben ^wiftigfeiten gar nic^t an feine
$rebigt, fonbern an bie oon il|m befolgte ^raji§ angefd^loffen —
wie baoon weiterhin be§ Jlä^eren ju reben fein roirb.
©0 jeigt bie wirtliche ®efd|i(^te un§ ein ganj anbreS 93ilb
ol^ bog oon ^olften entworfene. Qö^ fü^re oorläufig fd^on ein
paar ®aten an, bie ba§ ju erliärten bienen.
®ie 2lnna^me eine§ breij[äf)rigen 2lufentl^alt§ in 2lrabien ift
au§ ber Suft gegriffen. ^aulu§ läjst nic^t unerroäl^nt, ba^ er na^
feiner 99efel|rung oon 5Dama§IuS au§, ftatt Qerufalem auf jufuciien,
nad) ärabien gegangen fei. ®r fagt bann weiter, fein erfter 93e*
fuc^ in S^J^ufoI^n^ ^öbe erft brei ^la^re nac^ ber 93efe^rung ftatt*
gefunben. 2lber ni(^t§ berechtigt ju ber 2lnnal|me, er ^abe biefe
brei3iat|re in ber arabifdien SBüfte jugebrac^t, mit religion^p^i*
lofop^ifc^em ©rübeln befd)äftigt.
(ferner : fein SBertiältniS su ben ©emeinben in Qubäa mar
bieg, ba§ fie i^n perfönlic^ nidf|t fannten, aber fie mußten oon
i^m, ba§ er, ber oormalige SSerfolger, ie^t felber ben ©lauben
oerfflnbige, unb priefen (Sott be^^alb. 2)iefe eine 9totij ®al. 1,
23 unb 24, wirft bie ganje Konftruttion ^olften§ über ben
§oufen. ©ic beleud^tet ben wirfli^en Hergang auf§ ^ellfte: ^^au*
284 ^ a f t Q n : 3ur ^oßmatü.
lu§ Dcrfünbigtc bcn gcmcinfornen Olauben an bcn 9Weffia§. 3)ie
9luancen bcr ^rcbigt famen bcm gegenüfbcv nid|t in ®etrac^t. Sie
waren nid^t ©egenftanb ber SKufmcrffamfeit. 3)a§ roaS ^auluS
mit aUen anbern gemeinfam ^atte, \va^ i^m unb i^nen ba§ SEBtd^
tigftc roar, füllte bie ©cbanten au§, fo ba^ aüe§ 2Cnberc ba^intet
jurürftrat.
gerner : ^aulu§ erinnert einmal bie Korint^er ganj f urj an
feine ^rebigt in i^rer 9Kitte. 3)a§ ift bie ?ßrebigt oon ®f|rifti
Sreuj unb 2luferftel|ung gemefen. 2(ber nic^t bie Icifefte Slnbeu-
tung finben mir, bag ^aulu§ ftc^ einer anbern ^rebigt oom Sreuj
6:f)rifti bemüht mar als ber gemein urd^riftlidien. ^m ©egenteil,
er betont ben 3uf(tntmenf)ang mit ber gemein d)riftUc^en Ueber«
lieferung: id) l^abe eud) gegeben, voaS x6) a\x6) empfangen ^abe,
ba§ ®f)riftu§ geftorben fei für unfere ©ünben nad^ ber ©c^rift
1 Äor. 15, 3.
Unb enblid^, maS barin f^on liegt: bie urd^riftlic^e ^ßrebigt
ift ni^t erft burc^ ^aulu§ ju einer ^rebigt oon S^rifli Rreuj
unb Sluferfte^ung gemorben. S)a§ ift fie an unb für fic^ fc^on
geroef en : für un§ f el|r auffallenb. Un§ f c^eint, bie Ueberlicferung
ber ^errenmorte mü^te bie $auptfarf)e in ber ^rebigt geroefen
fein. Unb bie mu^ ja in ber Xi)at nebenher gegangen fein, fonji
märe fie nid^t auf unS getommen. SÄber foüiel mir irgenb fe^en
tonnen, ift baüon in ber ^rebigt immer nur ganj fummarifc^ bie
SHebe gemefen. 3)ie ^ointe mar immer bie: bie Qiuben ^abenibn
an^ ^reu) gefd)lagen, ®ott aber I^at i^n aufermedt.
^n berSumma alfo: nid)t§ ift oerfe^lter als biefe^olften»
fc^e J?onftruftion non einer in ber arabifd)en SBüfte auSgefiedten
neuen Setjre, bie ^aulu§ nun im ©egenfa^ jur Urgemeinbe oer*
treten unb jur ©eltung ju bringen perfuc^t ^ätte. Stein, S^riii
gemorben f|at ?Paulu§ fid) burc^ bie 3lrt feiner S3e!et|rung, burd) bie
il^m gemorbene ®rfd)einung beS 2luferftanbenen auc^ jum Slpoftcl
berufen gemußt unb ^at alSbalb angefangen, mit ben übrigen Stvi%tn
ben getreujigten unb auferftanbenen S^riftuS ju oerfünbigen, aDen
alles merbenb, fotange bie 3cit noc^ bauerte, um überaQ etlic^
ju geroinnen, bie mit it|m unb bcr ©emeinbe märten auf bie beoor*
ftet)enbe munberbare (Srf^einung uufereS §errn Q^fu ©lirifti.
Äaftan: 3ur 3)ogmatif. 285
aber no^ ein jroeite§ 83ebenfen brängt fid) auf. S)a§
^Qtte i^ Dorl^in qI§ bie Sßal^vl^eit unb baS $et)er3igen^n;)erte an
^olftcnö @rfIärung§Derfud) bejcid^uet ba§ er ba§ ©üangclium
beS ^IßauIuS Don bem @r(e6ni§ Dor 3)ama§fuS au§ ju Derftel^en
fuc^t. 3)arin, meinte id^, müßten wir unS i^m anfc^Uegen. @r«
n)dgt man aber bie 9Irt, mie biefer ri^tige ©runbfa^ Don i^m
befolgt mirb, fo brängt ftc^ einem unmiUfürlic^ bie S'rage auf:
ja voaS f^at er benn bamaB erlebt? "Sflai) ^olften befte^t ba§
@r(ebni§ barin, ba^ i^m l^ier mit unmiberftel^tic^er Ueberjeugung^«
froft ber ® e b a n f e aufgebrängt mirb : ber ©etreujigte ift tro^
aOebem ber ä)leffia§. Unb barauf^in gel^t er bann nad) Slrabieu,
um feine I)iermit au§ ben Slngeln gel^obene Oebanfenroelt roteber
in Orbnung ju bringen. 3)a§ SEBefentfidie ift ber @inf(u^, ben
biefer neue @ e b a n ! e auf feine biSl^er oom ®efe^ be^errfct)ten
©ebanfen ausübt. 3). \). aUe§ ift üon oom herein in Jftefleyion
getaud^t. 2)a§ unmittelbare mirt(id)e (Srieben mirb nur in feinem
Cinfiul auf bie 9tefIeyion unb ba§ ©gftcm in öetrac^t gejogen.
©ein (Srtrag ift bat)er auc^ erft fertig unb mirb erft mirtfam,
na^bem bie baburd) in SBemegung gefegten ®ebanten mieber in
einem neuen ©gftem jur SRu^e gekommen finb. ^autuS ift eben
S^eoretiter, S)ogmatifer, ^t)itofop^ oon ^aö) geroefen, mie mir
e§ ^eute in unferen ©tubierftuben fmb.
3lber ba§ fc^eint mir nun. mieber eine ganj unmöglid^e SBor*
fteHung }u fein. 3^ fteKe bem entgegen, ba{5 $aulu§ oor 3)a*
maSfug etma§ erlebt ^at, roa§ in feinem 3wftönbetommen unb
feiner SBirfung non ber SRefleyion unabhängig mar. ®ben, e§
roat ein r e li g i ö f e § ©rlebnig, nid^t ber 9lnfto§ ju einer neuen
©ebantenbilbung, fonbern eine SReooIutton be§ inneren Seben§.
Unb ma§ er erlebte, fteflt fid) un8 in bem bar, roorin ber 35or*
gang, menigftenS nac^ bem 93emu§tfein be§ 2lpofteI§ felbft, be*
ftanb: er ^at ben ^errn gefe^en, ben Sluferftanbenen, ben 9Scr«
Warten. ®amit ift i^m aber biefe S:^atfac^e ber 2luf erftel^ung
3efu jur ©eroi^l^eit geworben. Unb jmar in ber 93ebeutung, bie
fie für bie gefamte urc^riftlid)e ©emeinbe Iiatte. 9lämlid) als bie
beginnenbe SJerroirflic^ung ber ^eilöjutunft, ber ®nbju!unft. Unb
ba^ nun nic^t als ein ®ebanfe, als eine blo^e SReflejion: alfo
286 ^ a f t a n : Qwc i)ogmati!.
ift c8 fo weit, baä @nbc fommt, wir muffen unfcre ©cbanfcn
unb unfcre Se^re bem anpaffen, ©onbern ba§ alk§ ate ein über«
noättigenbeg ®rlebni§, ba§ mit Se^ve unb Umbilbung ber Se^re
in feinem ©inn etroa^ ju tl^un ^at. 3)ie Sluferiüedtung 3cfu pon
ben Soten ift feine Se^re, fonbern eine 2f)atfac^e. @benfo ift eS
eine ^^atfac^e, ba^ n)ir, bie mir nun an i^n glauben unb burc^
ben ©lauben mit if)m nerbunben ftnb, bem atwv jisXXwv ange»
l)oren, x)on ben Äräften ber jufünftigen SBelt getragen, burc^ ben
VOM -SefuS auSgel^enben ®otte§geift regiert werben.
2)a^ ift z^, xoaS $auIuS bamatö erlebt l^at, xoaS oon oben
mit jroingenber, übermättigenber ®emalt über i^n gefommen ift.
aOäcr bie ^autinifd^en S3riefe fennt, mei§, aud^ ol^ne ba^ id^S im
®iujelnen au^fü^re — auf ba§ ©injelne mu| ic^ fpäter cingel^n —
oon melc^er S3ebeutung biefe eben erroäf)nten ©ebanfen für feine ^re«
bigt ftnb. 9ii^t§ ift gemiffer, atö ba^ eS eben bie§ ift, roa§ er oor 3)a»
ma§fu§ erlebt ^at, unb ma§ bleibenb ber äOtittelpunft feiner ^rebigt
oon ©^riftuS gemefen ift: bie SBerbinbung mit i^m, bem ©efreusig»
ten unb 2luferftanbcnen, jur ©in^eit eineS ®eifte§ unb Sebcn§.
S)arauS ergiebt ftc^ nun junä^ft eine 93eroolIftänbigung beS
oor^in ©efagten. 3^ ermähnte fd^on, etmaS, worin ^auluä mit
ber gefamten ©emeinbe einig mar, fei für i^n fo gut roie für bie
©emeinbe ba§ eigentlich SB e f e n 1 1 i c^ e gemefen, ^abe bie felbjt*
uerftänblici)e ©runblage unb 93orau§fe^ung aUeS ätnbern gebi(bet.
3fe^t erhellt, ma^ biefe§ „etroa§" mar. 9li^t eine Se^rc ober
eine (Summe oon fietiren unb ©ebanten, fonbern bie§, ma§ "^au«
Iu§ jc^t erlebt fiatte, ma^ ^etrusi unb bie übrigen Slpoftel oor
it)m erlebt l^atten, aud) 500 trüber auf einmal : bie ^eiföjufunft
ift jur ©egenmart gemorbcn, mir gefiören bem a?(üv jx^XXcdv an,
nid^t beuten mir, ba^ e§ fo ift, fonbern ba8 ift lebenbige @egen*
mart in un§ unb um un^.
gerner aber erl)ellt je^t mieber unb je^t erft rec^t, mie ab»
furb e§ ift, }u meinen, ein SDleufd^ in biefer Sage ^abe nun baS
93ebürfnig empfunben, brei Qa^re lang über einer neuen Orbnung
feiner ©ebanfen ju brüten unb bann ba$ glüdfli^ erbac^te neue
©gftem im ©egenfa^ ju feinen 33rübern geltenb ju machen, mit
benen er bie§ ®runberlebni§ gemein fiatte, mit benen er in einer
Ä a f t a n : 3ur ® ogmatü. 287
neuen feiigen ©egenroart lebte. D nein, 5ßaulu§ f)at — ba| id)
fo fagc — am näc^ften SWorgen begonnen, baS ju bejeugen unb
}u pvebigcn, n)a§ nun ber ^n\)alt feinet a3ett)u|tfctn8 unb SebenS
geworben ift. ®eroi§ ift e§ bann roeiter^in ju ben ©ifferenjen
unb ©treüigfeiten getommen, bie mix fennen. SBir werben gleid^
fe^en, roorum e^ fid^ babei gel^anbelt l|at. Slber !eine SRebe ba*
mxi, ba§ ba§ oon oornl)erein im SBorbergrunb beS Serou^tfeinS
gepanben unb barauf beruf)t l^ättc, ba^ ^auIuS fid^ ^etruS unb
ben anbern gegenüber bi§ in§ ^fn^^^^ft^ l^inein fremb gefüIiU ^ätte^
wie § 0 1 ft e n ft^ einmal auSbrüdft. ®§ ift oielmel^r fo juge«
gangen, wie e§ alle pfgc^ologif^c unb gefc^idjtU^e SlBal^rfd^ein*
Iid(teit für fi^ ^at: ^aulu§ ift in bie SBertünbigung eingetreten,
bie er oorfanb, ju 35ifferenjen unb DoßenbS jum Äonftift ift e§
erft fpäter getommen.
Slber menn e8 an bem ift, menn bie§ ba§ @rlebni§ oor S)a*
ma§fu§ mar, unb menn biefem ®rlebni§ grunblegenbe 95ebeutung
für t>a^ 93erftänbni§ ber ^auUnifc^en ^rebigt, oor allem auc^
feiner ?ßrebigt oom Äreuj ®t)rifti jutommt, bann ergiebt fid| au§
bem ®orgeIegten eine Folgerung, bie für un§ t|ier oon ber größten
Tragweite ift. Sie lautet fo: e§ ift überliaupt falfd^, im 93er=
ftänbnig ber ^aulinifc^en ^rebigt oon ben ©ebanten auöjugetien,
bie fic^ um SRed^tfertigung unb 93erföl^nung, um ®efe^ unb grei*
^eit oom @cfc^ gruppieren. 9tatürlidl) ni(^t, al§ foKte bie 93e*
beutung biefer Oebanfen in ber ^autinifc^en ^rebigt überhaupt
uemcint ober au^ nur gering angefdjlagen werben, ©ie finb
unb bleiben ein gro^e§ ^auptftüdf feiner ^rebigt. 2lber fte finb
nic^t ba§ ®rfte unb (Srunblegenbe. SBir bürfen bie§ nici^t jum
2lu8gang§punft be§ SBerftänbniffe§ nehmen. 3)enn barin behält
^ 0 l ft e n gie^t : ba§ ift ©ad)e be§ ©^luff e§. SuS bem, maS
^aulu^ unmittelbar erlebt \)at, fc^lie^t er, ba§ er burd^ ben ©lau*
ben oline @efe^ gered^tfertigt ift oor @ott. Unb mie er ba§ mit
bem Sobe ®^rifti oerfnüpft, ift ©ac^e ber ®nofi§. Qä) glaube
ni^t an bie 2lrt, mie § o l ft e n biefe ©nofiS juftanbe getommen
bentt. 2lber ba§ ift etma§ 9lnbere3. ®§ mirb fpäter nä^er ba«
oon JU reben fein, gür je^t tommt nur in 53etradt)t, ba§ ba§
etmaS irgcnbmie @rfc^loffene§ ift, ni(^t 2:^atfacl)e be§ unmittel*
288 ^ a f t a n : 3ur i)O0mati(.
baren @r(e6enS tPte jenes Slnbere, ba^ mx nun burc^ bie Snqit^
l^örtgteit ju S^riftuS au§ biefer Sßelt ^erauSgel^oben fmb unb
ber jufünftigcn SBelt be§ @eifte§ unb ber Soga angel^ören. aber
bieS unmittelbar ©riebte ift bod) ba§ ®rfte. 3)aS muffen wir
bal^er aud^ jum SluSgangSpuntt beS 93erftdnbniffe§ nehmen.
3fnbem x6) fo urteile, trete id) in einen ouSgefprodienen @e*
genfa^ jur gefamten 93 a u r'fd^en Äonftruftion beS Urc^riftentumS.
Unb ic^ tann bie eben aufgefteUte £^e[e nur baburd^ er^arten^
ba§ ic^ biefen @egenfa^ etmaS näl^er ausführe unb begrünbe. 3)aS
ift überiiaupt notmenbig, menn baS bisher 2)argelegte in feiner
guten gefd|id|ttic^en 93egrünbung beutlic^ gemacht merben foCL
älber ba§ ift nid^t ba§ ©injige. 2)ie 2:^efe tritt auc^ in ®egen«
fa^ ju ber überlieferten 2)eutung ber ^aulinifc^en $rebigt Dom
^reui 6)^rifti. ^enn auc^ biefe l^ält für bie ^auptfac^e, roa^
von ®efe^ unb ©crccbtigfeit vox ®ott unb fteÖDertretenbem Straf«
leiben gefagt ift. begreiflicher SBeife ! 3)ie Ueberlieferung in un*
ferer Äir^e ift ^ier burd) bie Sieformation beftimmt. SJon ber
SHedjtfertigung au8 ba§ 9SerftänbniS gu fud^en ift babur^ inbijiert.
^d^ n)iU nun meine S^efe in biefem boppelten @egenfa$
etma§ nö()er begrünben. ^a^ foll ben älbfc^lug biefeS erften tri«
tif^cn 2lbfrf)nitt§ bilben. Q6) noerbe jetjt nic^t erft noc^ ju fagen
i>xa\x6)ti\, bag e§ ftd) babei ni(^t um eine blo|e fritifc^e (Sinlei«
tung jur ©ad^e, fonbern um bie ©ac^e felbft, um unfer eigent*
lic^eS ^^ema l^anbelt.
®egen bie ^S a u r^c^e ^onftruf tion be§ Urc^riftentumS ge^t
eS junäd^ft. 93on i^r ift $ o l ft e n ausgegangen, unb in fte
gliebert fid) bie Deutung ein, bie er bem (Soangelium beS ^u«
lu§ giebt. 9luc^ ba mu^ aber ber ^ritil bie Slnertennung oor«
auSge)d|irft werben. 33 a u r ift ber @rfte gemefen, ber baS Ur*
d)riftentum gcfd|ic^tlid^ ju ocrftel^en, als lebenbige ©emegung unb
(£ntn)idE(ung Derftänblic^ ju ma^en gefuc^t ^at. 2)aS bleibt fein
aSerbienft, mcnn aud^ feine Äonftru!tion felbft pd> nic^t bemd^rt.
SSie biefe im Singelnen gelautet ^at, braud)e id^ ^ier übrigens
nidt)t oorjufütiren, fonbern barf eS als betannt DorauSfefeen. gur
uns !ommt auc^ nur it|r ©ruubgebante in 93etrad^t, ba| ber @e*
genfa^ jroifc^en Q;ubend[)riftcntum unb ^eiben^riftentum ben 2luS«
^ a f t a n : Quv ^ogmatü. 289
gongSpuntt ber (SnttDirflung bilbete, bie in bem adma^Iid^en 9lu§«
glcid^ beiber SRic^tungen beftanb unb ba§ ©l^riftcntum ber altfa*
t^oHfc^cn Rir^c jum SRcfuItat l^attc. 9lbcr, wie gcfagt, bic ©a^e
ift betannt genug, ^d) tann^ o^ne länger babei ju Derroetlen, gut
Sritif äbergetien.
SRid^tig erfc^cint mir an 93aur8 S^eorie, ba| er im 9Ser«
ftänbnt§ be§ ®^riftentum§ Dom ^ubentum au§gct|t. 3)enn auf
bem ©oben be§ ;3ubentum§ f)at fid) bie neue ^Religion gebilbet,
i^re erfte ©ntmicllunggp^afe ift oon ben tjierburd^ beftimmten
Seiten bel^crrfc^t. SKber irrig ift e§, wenn 83 a u r gefolgert l^at,
mithin fei bie ftontrooerfe über ba§ @efe^ ber beroegenbe 9RitteI»
pun!t beg Urc^riftcntum§ unb feiner ©efc^id^te geroefen. 9iein,
bQ§ ^wbentum gur 3^*t S^rifti t|at — um mi^ eine§ neuerbingS
oielfac^ gebrausten 9Iu5brudE§ ju bebienen — ba§ ^»ubentum I|at
bamal§ jroei ^ole geljabt: ben 3tomi§mu§ unb ben aWefftani^mug.
®er Irrtum 93 a u r § mar, ba§ er im SBerftänbniS be§ ®^riften=»
tum§ Dom 9lomi§mu§ be§ bamaligen ^ubentum^ auSgel^en ju
foßcn glaubte. SSielme^r aber liegt e§ in ber ©ad)e felbft, ba§
ba§ S^riftentum im aJleffiani§mu§ feinen jübifi^en 3lnfa^* unb
äu^ganggpunft ^at. 3)enn ba§ ber 3Jleffiag in b e m Q^M ^^^
Slajaret^ erfc^ienen ift, ben fie an§ ßreuj gefd)Iagen ^aben, ben
©Ott aber auferroedft l^at oon ben Soten, — ba§ ift ber neue
©faube, um ben fid^ bie diriftli^e Oemeinbe fammelt. Unb ba§
ift roicber fo fetir bie ^auptfac^e, ba§ aKe§, aud^ ba§ SBic^tigfte
fonft, ba^inter jurücf unb in bie jmeite ßinie tritt.
9Wan roirb entgegentialten: la, aber jeigcn ni(^t bie 93riefe
be§ 2lpofteI§ felber, ba| feine gefe^freie ^rebigt in ber ©emeinbe
t)eftigc ® egner f anb ? ba§ e§ fein fieben^f ampf gemef en ift, bief e
©egner nieberjutämpfen unb ba§ ©firiftentum bamit befinitio au§
bem ^^ubentum loSjulöfen? ^d) it)ürbe fagen: gen)i§, unb ba§
foll in feiner SBeife geleugnet werben. ®§ ift aber ein großer
Unterfd(ieb, ob man angunetimen ^at, baj5 biefe Sontrooerfe ba§
E^riftentum felber roar, b. i). ob fie fid) um ba§ bemegte, mag
für beibe Steile fo ober fo ba§ ©firiftentum au§mad^te — ober
ob man meife, ba§ e§ tro^ biefer Äontrooerfe etroa§ au§erf|atb
itirer ©te^enbeS gab, mag atten gemeinfam mar unb fie in einer
3eitWrtft für X^eologtc unb Ätrd^e. 1*. ^a^rg., 4. $cft. 20
290 i! a f t a n: Qnx ^ogmattf.
©cmcinbc jufammcn^iclt. 9luv fo entfprii^t eS aber bcn 3J|at«
fad^en. Unb bie§ ©emeinfame toar nid)t bie trodene 2:^efe,
ba§ <3cfu§ bcr aWefpaä fei. SBielmel^r, c§ war ber ©taube an
ben aufer ftanbenen @^t)riftuS, bie ©emig^eit, in ber man
lebte, ba^ ber atcov (idXXwv angebrochen fei, roie ja an ben roun«
berbaren Oeifte^roirtungcn in ben ©cmeinben mit Slugen ju felien
mar.
3a mel^r no^, ba§ bie§ bie eigentliche ©ubftanj be§ urc^rift*
li^en @(auben^ mar, mad^t e§ aQererft üerftänblid^, bag fo(^
Seute roie bie jubaiftif^en ©egner be§ 2lpoftel§, bie falfc^en
©rüber, mie er fie nennt, ©lieber ber ^rifttid^en ©emeinbe maren.
S)enn ma^ ^atte fte, bie Dormaligen ^^arifäer, in bie ©emeinbe
be§ oon i^ren ©efmnungSgenoffen an§ ^reu) gebrad^ten Snefjta^
geführt? ?lun, bie 5ßrcbigt oon ber Stuferfte^ung, bag 3efu§
S^riftu§ oon ben Soten erftanben fei, ba§ ©nbe unb bie tÄufer*
fte^ung ber ©erec^ten oor ber 2)^ür fte^e. 3)enn bei ber 2lufer*
fte^ung ^anbelte ed fid^ um baS ©runbbogma ber p^arifäifc^en
Partei, um bie 3ufunft§^offnung, in ber fie lebte, ben ängel*
punft i^re§ religiöfen ©laubeng. $autu§ felbft l^at nac^ act. 23, 6
oor bem ^ol^en 9lat bie f^rage oon ber Sluferfte^ung für bie ^aupt«
fad)e im 6)^riftentum alg einer innerj[übifd|en ©emegung erflört.
3)aS ift nac^ bem 93eri^t bort $oliti! oon feiner ©eite. aber
biefe $oIiti{ l^at aur SSoraudfe^ung, bajs eS fo a(§ bie ^anpU
fac^e am ©^riftentum empfunben mürbe. Unb fo crHärt eö fic^,
mie eine au§ oormaligen ^^arifdern gebilbete ^^artei in ber Ur»
gemeinbe oor^anben fein fonnte, meiere bireft in ben ^ampf gegen
^autuS eintrat. Sllfo, bie 93ebingungen, unter benen bie fiontro*
ocrfe über t>aS ©efe^ entftanb, fmb nur barauS oerftänblic^, ba§
ba§, morum fid^ biefe ^ontrooerfe breite, nic^t bie ^auptfad^e im
Ur^riftcntum mar,
SBic^tiger no^ ift, ba§ mir biefe Äontrooerfe felbft, morum
e§ fi(^ nämlid^ in i^r l^anbelte, nur richtig oerfte^en merben,
menn mir erfennen, ba§ fte bei aller S3ebeutung, bie i^r im Seben
ber ©emeinbe ju!am, bo^ einen i^r gegenüber neutralen ©tau*
ben jur 93orau§fe^ung tiatte, ber ba§ eigentliche SBefen be« Ur^
^riftentumS au^mac^te. ^er Streit al§ folc^er l^at nic^t, roie
Ä a f t a n : 3ur ^ogmati!. 291
c§ im anbcrn ^ali ju fielen fommt, ^ßrinjip:' unb fie^rfragen ge»
gölten, fonbem großen unb brennenbcn fragen ber SWiffionäprayiä
unb be§ praüifc^cn ®cmeinbclcben§. 5Wd^er f)at e§ bamit bie
fofgcnbc SBcroanbtniö.
®§ ^anbcltc fic^ 8unäd)ft um bie ^cibenfragc, barunt, unter
n^elc^en 93ebingungen unb in n)eld)er äBeife bie Reiben in bie
^riftlic^e ©emeinbe aufgenommen merben follten. darüber t|at
in ber Urgemeinbe anfangs feine Älarl^eit beftanben. SBa^rfd^ein*
lic^ l^at man angenommen, bie Qnt bis sum anbern kommen be§
^erm reiche nur gerabe ^in, um bie ^rebigt burc^ ganj ^t^rael
}u tragen unb baS auSermä^lte 3$oIt in ber c^riftgläubigen ®e«
meinbe ju fammeln (üWatt^. 10, 23), bann tomme ber ^err, unb
mürben aud) bie 93ö(ter ^injuget^an merben. ^auIuS bagegen
^at, in ber 3)iaSpora mirlenb, Reiben a(S ooQe ©lieber in bie
@emeinbe aufgenommen, ot)ne i^nen ®efe^ unb ^efc^neibung auf>
julegen. 2)em miberfe^te ftc^ bie jubaiftifc^e Partei, bie au§ oor*
maligen ^^arifäern beftanb, bie bem ^autuS feinblid)e Partei
ber Urgemeinbe. ®ie wollte auc^ bie Reiben befrf)neiben unb jur
gefe^lic^en fiebenSmeife verpflichten, maS bat)in geführt ^ätte, baS
€^riftentum befinitio in ben gormen be§ ^ubentumS feftjul)atten.
3!)aS mar ber eine erfte ©treitpunft, ber roefentli^fte infofern,
als e§ fid) in i^m mirflid) um eine ^rinjipfrage, um Sein ober
9li(^tfein beS ®t)riftentum§ l^anbette.
hieran fcl)lo^ fic^ ein 3n>«ite8 an. S)ie pon ^autuS gegrfin*
beten ©emeinben waren jener feiner SMiffionSprajiS gemä^ inSge«
famt gemifc^te ©emeinben. Unb barauSentftanbnunbie^rage: mie
follten ftd) bie uormaligen ^nhzn in biefen ©emeinben jum ©e*
fe^ oerl^atten? follten fie nad| bem ©efe§ leben, mie eS bie Ur*
gemeinbe in ^^erufalem unb überhaupt bie Qubenc^riften in ?ßa*
läftina traten? SEBenn ja, bann fielen bie ^aulinifrfien ©emeinben
auScinanber. 3)enn bann burften bie ®^riften auS ber 93ef(^nei«
bung ni^t mit ben ©Triften in ber Sßor^aut effen. Ratten fte
aber !eine 2:ifd)gemeinfc^aft miteinanber, fonnten fie auc^ baS
^errenma^l nic^t jufammen feiern. ®amit ^örten fie jcbo^ auf,
eine religiöfe ©inl^eit ju fein, unb baS fiebenSmerf be§ SäpoftelS
?ßaulu§ mar in grage gefteHt. Ob aber fo ober fo, ba§ mar ber
20*
292 ft a f t a n : 3ur ^oßmatif .
jiüeitc ©trcitpunft. Unb barübcr ift e§ ju 3)iffercn§cn unb tu
gcntlidiem ©treit a\x6) jnjifd^cn ?ßaulu§ unb ben 3n)oIfcn gc*
tommcn.
Qn bcr gragc bcr ^cibcnmiffion Ratten biefe für ^aulu§
unb gegen feine ©egncr ©tetlung genommen. 2lnfang§ fc^ienen
fie aud^ mit ^autu§ in ben gemifd^ten Oemeinben bic weitere
Äonfequenj ber 9Ibrogierung be§ ®efe^e§ für bie uormaügcn 3u«
ben jielien ju motten. SB3enigften§ \)at ^etru§, qI§ er noc^ 2ln*
tio(ftien tarn, fid^ junäd^ft unbefangen an bie Orbnung bort an*
gefc^Ioffen, ^at mie bie übrigen Qfubenc^riften mit ben Reiben«
c^riften gegeffen. Um e§ ju oerfte^en, mu^ man [xif ffar ma^en,
ba§ bie 5^'agc in Qf^rufalem überliaupt ni^t eyiftierte, nur in
ben gemifc^ten ©emeinben auftauci^te unb brennenb mürbe, ^rin»
jipiette 93ebenten ^at ^etru§ ni^t gehabt, eine ^rayig au^jubilben
mar bi§l|er feine ©clegen^eit gemefen — atfo tl^ut er in 2lntio*
^ien mie bie anbern aud^. Stber bann fommen bie Seutc oon
3atobu§ unb fc^ärfen if)m ba§ ©emiffen: S)u bift bcr Sttpoftel
ber 93cfd^neibung, giebft bu ba§ Seben nact) bem ©efe^ auf^ bann
jerfc^neibeft bu ba§ 93anb jmifd^en bir unb bcinem Söoltc unb
mac^ft bid^ unfähig, unter 3»§rael ju mirten, mirft i^m ju einem
Äe^er unb Reiben. Unb ba§ ^at gemirtt. SCBic für ben ^ciben^^
apoftel $aulu§ fein SebenSmert in ben gemifc^ten ©emcinben an
biefer ^rage ^ing, fo für ben 3«wbenapofteI fein 2lmt unb feine
SBirtfamteit in -3§racl. @o I|at e§ eine 3^it i" ber Urgemcinbe
gegeben, mo atteS auf bem ©piel ju fielen fd|ien, ?ßaulu§ unb
^^etru§ jeber mit feinem Sln^ang in bie entgegengefe^tc Slic^tung
getrieben mürben.
3)a§ maren bie Rontrooer§punfte : bie ©runbfS^e ber Reiben«
miffton unb namentlich ba§ ©ermatten ber ^f^benc^riften §um
Seben nact) bem ©efefe. Sie ©teUungna^mc be§ 3lpoftel§ ?ßaulu§
in beiben fünften berut|te auf prinjipietter Starl|cit über baS
©efe^ unb feine oorübergebenbe Sebeutung. gür i^n ^ing ^ier«
mit \>a§ ^rinjip be§ ©tauben», mie er e§ oerfünbigte, jufammen.
Unmittfürlic^ fte^t er atte Oppofition, mit ber er ju fampfen bot,
im 2x6)t einer entgegengefe^ten prinjipieflen ©teffungnalime. Sber
bie eigentlichen ^ontroocr^punfte maren bie praftifc^en
Ä a f t a n : 3ur S)o0tnatif. 293
fragen, an bcncn momentan für bcibe Steile atle§ ju Rängen fd|ien.
®anj anbcr§ fteHt fi^ bie @ac^e nac^ bev Konftruftion üon
Säur unb § o I ft e n. SBir roiffen ^eute, ba§ bic mirlUdhen
Sontroocrgpunftc nur porübcrgctjcnbc 33ebcutung gcliabt l^abcn.
2)er weitere SBerlauf ift ja ber geroefen, ba§ bie Sirene fic^ au§
ben ^eibenc^riften bilbete, unb e§ balb jiemlid^ gleii^gültig mürbe,
roie bie Qubenrfirtften fi^ babei perl^ielten. 3)a erfd^eint e§ un«
benfbar, ba§ eine foId)e untergeorbnete S^age eine fo tiefge^enbe
©treitigfeit ^erüorrufen fonnte, unb gar eine ©pattung ber ba*
maligen S^riften^eit barau§ ju merben bro^te. Unb ba nun bie
praftifdien fragen in ber 2:^at auf ^^rinjipfragen t|inau§Iiefen
ober üielme^r, mie e§ Dorfic^tiger ^ei|en muj5, für ^aulu§
in biefem ^^f^n^wien^ang ftanben, fo fd^eint fic^
eine anbere 2luffaffung oon felber barjubieten. 2Jlan bre^t bie
©ac^e einfad) um. 3Ba§ fontrooerS mar, ftnb biefe ^rinjipfragen
geroefen. ^aulu§ l^at fid^ na^ feiner 53efe^rung in bie orabifc^e
SBfifte jurüdgejogen unb !^at bort ba§ neue religion§*p^iIofopt)ifd^e
Softem erbac^t. SBaS it)m gegenüberftc^t, ift aud^ ein berartigeS
©gflem, ba^ fic^ um biefelben 2Ingelpuntte bemegt, in beneu
für i^n bie entfdjeibenben fragen liegen, nur ba§ eben biefe
%xaQm etroa§ anber§ unb jum Jeil entgcgengefe^t beantwortet
werben. Qa, ^olften unternimmt e§, au§ ®a(. 2, 16 l^erauS*
jutonftruieren, mag bie oon ^^etru§ eingenommene ©teßung mar,
wie er oon ber Sle^tfertigung lehrte. Unb fo ift bie ©ac^e in
ber 9Beife jurec^tgerüctt, ba§ fte aud) einem mobernen JReligiouö*
p^ilof op^en ber aWü^e mert ju fein fd^eint. (S^ ift eine £ e I) r*
ft r e i t i g t e i t gemefen, mie mir ja au§ ber fpäteren ©ef^idtjte
ber Üirc^e miffen, ba§ folc^e ©treitigfeiten in i^r mit großer (Sr-
bitterung ouf beiben ©eiten geführt morben finb unb bie ^irdje
im ^nnerften erfc^üttert l)aben. ^n weiterer golge mirb ber
ganje ^aululf, bie gefamte $aulinifd)e ^rebigt au§ biefem ©e^
fic^tgpunft gebeutet unb in^befonbere au^ barau§ abgeleitet, mie
5|5au(u§ ben 2:ob be§ §eilanb§ oerftanben l^at. S)ie 5)eutung au^
bem ©efetj ift i^m bie ^auptfac^e geroefen. ®enn bie bitbet ben
entjc^eibenben ^unft in feinem bem ^etru§ entgegengefe^ten ©gftem.
2tber ba§ aüeö ift nid)t roirtlic^e ®ef(^ic^te, fonbern eine
294 Ä a f t o n : 3ut ^ogmat«.
unter moberncn SBorauSfe^ungcn an bcftimmtc 2InI|alt8punttc an*
gefnüpftc ftonftruttion. ^n aBa^r^eit ift ^ßauIuS in bcr ^aupt*
fac^c mit bcr gefamtcn urd^riftlic^cn Ocmeinbe einig gcwefen.
3)iefe ^auptfad^e ift, ba§ mit ber Slufermerfung Qefu Don ben
Xoten bie jufünftige 9Be(t i^ren Slnfang genommen ^at, unb »ir
it|r burc^ ben ®Iauben bereits angehören. 3)ie Äontrooerfc, bie
bann ba« ®efe^ betreffenb entfte^t, ift eine abgeftufte gemefen,
rote eben gejeigt rourbe. ®ie Stellung, bie ber 2lpofteI ^auIuS
barin eingenommen I|at, l^ängt mit anbem Orunbgebanfcn feiner
93erfünbigung jufammen. Unb aud^ in biefem 3uf<^i^ii^^n^^i^g
ergiebt fid| i^m eine ©eutung beS SobeS ®^rifti. 2lber nic^t barf
ber ganje $au(ug unb ma§ er Dom 2^ob g^brifti ju fagen n>ei^,
primär unb e i n f e i t i g ^ierauS unb b. f). au§ bem ®efe§
perftanben werben.
®§ erübrigt nod^, in aller Äürje menigftenS einen 95tidE auf
bie Urfunben ju merfen, au8 benen wir bei ber SSergegenmartigung
biefer SBer^ältniffe fc^öpfen. @§ pnb baS namentli^ ber ©alater»
brief unb bcr 9tömerbrief.
SSor aQem ber ©alaterbrief fommt in öetrad^t. ©igentfim*
lic^ genug ift e§ freiließ, ba^ fic^ auf biefem Sricf bie öaur'*
fcl)e Äonftruftion ^at aufbauen fönnen. ©igentümlic^ nämlid^
beS^alb, n)cil genau ermogen aud^ fein SBort in biefem ©rief
auf eine fold^e ^ontrooerfe jmif^en ^auluö unb ben 3^ölfen
fü^rt, mie fie oon S5aur unb feinen ©c^ütern behauptet wirb.
2lt§ ©treitpuntte treten un§ lebiglic^ bie prattifc^en S^ageu ent*
gegen, bie bie ^eibcnmiffion unb ba§ Seben nac^ bem ®efe^ be*
treffen. S)ie gegen ^ctruS gerichteten SBortc (2, 14 — 21) roerben
unoerftdnblic^, menn man nid^t bie tontrete ©ituation in 3lutio»
d)ien unb b. \). ben ©treit über bie gefe^ti^e Sebensroeife im
Sluge betjält (mag freilid^ bie meiften SluStcger nic^t ^inbert, biefen
einjigen ©c^Iüffel jum 93erftänbni§ roegjumerfen unb ben Slbfdinitt
unoerftänblic^ ju mad^en). hierauf roibertegt ^^jJauIuS feine ei*
gentlic^en ©egner, bie SSerfü^rer ber galatifd^en ®emeinbeu, au§
ber ©d^rift. ®nb(ic^ folgen bie prattifcben SÄnroenbungen unb
aJlalinungen, roic bie Situation in ben ®emeinben fie forberte.
^6) mieberliolc: nii^t ein SBort fü^rt auf eine fold)e 2)ifferenj
^ a f t a n : 3ur ^ogmatit 296
jiDif^cn ?ßaulu§ unb bcn Uropofteln, wie bie 2:ftbingcr ©d^ule
fte annahm.
Unb bod) ^at man bei bcr £c!türe be§ ©olatcrbrief^ immer
roiebcr einen ®inbrurf, ber jener Sttuffaffung geneigt mac^t. 5lBoran
liegt ba§? 3)ie @r!(ärung fc^eint mir t)er^ltniSmägig einfach gu
fein. ^auluS ^at ben (Salaterbricf in ber l^öd^ften Erregung ge*
fc^rieben. 3)er 93rief fällt in bie Qtxt, in ber bie oorl^in gefd^il*
berte Sontrooerfe auf i^rem §ö^epun!t mar. ®ie ^^Jaulinifd^en
©emeinben bro^ten ju jerfattcn ober gar inSgefamt, au^ bie
^eibend^riften, oon il|m abjufallen unb fid^ bem Qoä) beS ®e*
fc^e§ JU beugen, ©eine nädiften ©egner finb bie falfc^en SSrüber,
bie p^arifäifrfien ^fubend^riftcn, bie i^n unb bie g^ei^eit feiner
©cmeinben. belauern unb befämpfen. Slber bie berufen fid^ in
ben ©emeinben auf bie Urapoftel unb fpielen bereu Sttutorität
gegen ^aulu§ au§. Unb biefe felbft finb in ben Slugen be§ 9tpoftet§
^albe Seute, bie, inbem fie bie 3^ubenc^riften bei bem Seben nad^
bem @e|c^ feft^atten moHen, roieber bauen, ma§ fic eingeriffen traben.
S)ie bittere (Stimmung be§ 9IpofteI§ au^ gegen fie ift ootllommen
begreiftid). 2lu§ it|r l^erau§ fc^reibt er ben ©alaterbrief, roe§böt6
eS ertlärlid^ ift, ba0 biefer ben ©inbrudt mad^t, al§ biete er ber
Sfibinger Äonftruttion 2tn^alt§puntte.
3n 3Bat)r^eit jcbodi muffen mir, roenn mir bie in it)m be*
richteten S^atfad^en, ben Ueberblicf über bie vorausgegangene ®nt*
roicflung, ben er giebt, ridtitig t)erftcl|en motten, bie äugen*
btictlid)e Stimmung, in ber er gefc^rieben ift,
in 2(bjug bringen. 3)urc^ fte ^at atte§ in feinem 93erid^t
eine ^ufpi^ung unb Slbfid^tlic^feit erhalten, bie urfprünglid^ nic^t
barin tag. 9Jlan braucht nur bie gange Situation ju oergegen*
»artigen, um ba§ einjufel^n. Äein ^iftorifer barf in ber SCBertung
feiner Ouetten eS anberö l)a(ten. 93aur unb ^otften bagegen
verfahren gerabc umgef e^rt. ©ie beuten bie Stimmung
be§ fdjreibenben 2lpoftel8in bie oon it|m berid)*
teten 3;^atfac^en hinein. SJabur^ fonftruieren fie für
ba§ S3erftänbni§ beS ^eyteg einen ^intergrunb, ber ben Sieft in
einem falfdjen Si^t fe^en unb perfte^en lä^t. S)er SBorttaut mirb
feinem Haren Sinn jumiber gebeutet, menn§ bie 5Borau§fe^ungen
296 ^ a f t a n : 3ur ^ogmattt
fo forbcrn. 3)a§ ift ja nun ganj bcgrciffid^. Slbcr roenn manS
begriffen l^at ift man bagcgen gefeit, ftc^ bie 3:übinger Sluffaffung
um be§ @alaterbrief§ mitten oufreben gu laffcn.
8B3a§ bann ben SRömerbricf betrifft, fo ift bic fiegenbc auf*
getommen unb roirb mit ^ä^igfeit f eftgetialten , er fei auS
bem 93ebürfni§ be§ SIpoftete hervorgegangen, ber römifc^en ®e*
meinbe feine Se^rgebanten im 3"fömmen^ang oorjutragen. SBäir
^rofefforen fe^en leicht auc^ bei anbern Seuten profefforcn^ofte
Q3ebürfniffe oorau^. ^n SBa^rl^eit l^at $aulu§ unb ^aben über«
l^aupt bie erften 3^ugen be§ 6^^riftentum§ immer nur unter bem
brängenben 3mang praftifc^er 9lötigungen gefc^rieben. 3)e§^alb
ift auc^, ma§ fte gefd^rieben, nid^t in ber älrt afabemifc^er Sb-
Iinnblungen getialten, fonbern geuer, Oeift unb Seben. 3)ag gilt
aud^ oom Slömerbrief.
@g ift ein SBerbienft 33aur'8, aud^ biefen Srief, inbem er
feinen ß^f^mmen^ang mit ber Jtontrooerfe über ba8 ©efefe auf*
mie§, ber lebenbigen gefd^i^tli^en (SntmidUung eingeorbnet }u
I)aben. @r irrte jroar, inbem er bie römifc^e ©emeinbc für
eine j;uben<^riftlid^e l^ielt. ©ie ift fo gut mie bie galatifc^en @e»
meinben eine übermiegenb l^eibenc^rifttic^e gemefen. aiber ba§
ift eS, ma§ ^auluS angeftc^t^ ber älgitation feiner @egner, bie i^m
in§ SIbenblanb gefolgt finb, mit bem 93rief begmedCt: bie römifc^e
©emeinbe gegen biefe Stgitation ju ftd)ern. ®arin behält S3aur
batjer Sted^t, ba& ber SBrief mit Sßejiebung auf biefe Äontrooerfe
gefdirieben ift.
Sticht bie allgemeine ©ünbl^aftigfeit ift ba§ thema proban-
dum in ben erften Kapiteln, fonbern ba| aud^ bie ^uben o^ne
®t|riftu§ bem 3^^"^ ®otte§ oerfaUen muffen. 5Ric^t bie SRec^t*
fertigung burc^ ben ©lauben ift oon 3, 21 ab ba§ eigentlich
2:^ema, fonbern ba^ bie 3fuben(^riften leine Sßorjuggftellung in
ber c^riftlidien ©emeinbe I)aben. Slber biefe 3lu§fü^rungen fmb
mit bemunbernSmerter Äunft einer prinjipieHen ©rörterung über
bie ©laubenggered^tigfeit eingefügt ®ie ^olemif ift eine inbirefte.
®a§ muJBte fie ber römifc^en ©emeinbe gegenüber fein, bie in
einem anbern 93er^ältni§ jum 2lpoftel ftanb al§ bic anbern g. 33-
bie galatifc^en ©emeinben, bie er felbft gegrünbet ^atte. 3luc^
Ä a f t a n : Qux S)ogmatif . 297
^otte man in 9Jom no^ nic^t roic in ©alaticn ben 35crfü^rern
]^Qlbn)eg§ nod^gegeben. 3)aburd^ ift ^ier Q((e§ anbevi^, bie prin-
jipicllc Erörterung bietet ben Sfta^mcn, ber praftifc^e Qxotd be*
bingt bie 2lrt, wie er aufgefüllt wirb, roä^renb umgefc^rt im
©alaterbrief bie prinjipielle Erörterung bem praftifc^en Swzd
untergeorbnet ift.
®en)i^ ergicbt fxä) nun fo au§ bem SRömevbrief, ba§ bie
Stellung, bie ^autuS in ber ßontrooerfe über bie prattifdien
fragen einnatim, für il^n in bem grojaen prinzipiellen 3ufammen*
^ang fte^t, ben mir aud) l^ier gemal^ren. 2lber nid)t bürfen mir
folgern, e§ ^abe fxä) um eine Sontrooerfe über bie ^rinjipien al§
fol^e ge^anbelt. 3)ie ftel|t ba^inter. 3Bir geben $aulu§ Siecht,
wenn er ba§ erfennt unb jur ©eltung bringt. Slber ber ©treit
mit ben ©egnern l^at ben oft erroa^nten fontreten ^i^^ölt. SJer*
mutlid^ I|at fic^ aud) für ^auluö felbft an i^m, an bem ©treit
barüber erft bie prinjipielle Sllar^eit ergeben.
Unb ba§ mag für je^t genug fein, äßir I)aben nad^ alle
bem feinen ®runb, anjune^men, ba§ bie ©ebanten über ben Xoh
ß^rifti, bie ftc^ für ^aulu§ im 3iifömmenl)ang mit ber Äontro*
oerfe über ba§ @cfe^ ergeben ^aben, für if)n felbft bie einjigen
ober au^ nur bie erften, bie grunblegenben gemefen finb. @ben*
foroenig, ba§ er ftc^ felber bemüht gemefen ift, in biefen ©ebanten
fi^ etmaS 91 e u e § auSgebac^t ju l^aben. S)ie Folgerungen finb
teilroeife neu. 3lber ben 2tu§gang§puntt bilbet, mag er empfangen
^at, unb maS i^m mit ben übrigen Qm^tn gemeinfam ift, ha^
3cfu§ geftorben ift für unfere ©ünben nad^ ber ©c^rift.
SEBir erinnern unS je^t baran, ba& e§ nic^t blojs 93 a u r
unb ^olften fmb, bie bie ®eutung beö 2:obe§ ^efu au§ bem
@efe^ für bie eigentliche unb fpejipfc^ ^aulinifd)e Se^re über
biefeg 2:^ema l^alten. ©ie treffen barin mit ber Ueberlieferung
jufammen, bie i^ren Urfprung mieber in ber Sieformation l^at.
2)iefe l^at ja bewirft, ba| bie ^ßaulinifd^e "ißrebigt in ber eoange==
lifc^en Kirche in einer SBeife wie bi^lier noc^ nirgenb^ mirffam
geworben ift, fo gmar, ba0 barin bie Slnmeifung lag, oon bem
(Sebanten ber ^Rechtfertigung au^ in bie ^5aulinifd)e Oebanfen*
weit einjubringen unb aud^, maS ^aulu§ über ben Xoh be§ ^^'u
298 ^ a f t a n : Qnx ^ogtnatif.
Ianb§ fagt, auSfd^IicjiU^ unter biefcm ©cfic^Öpuntt ju lourbigen.
SSJir rocrbcn un§ alfo nid^t barübet rounberii, ba| e§ in ber
Ueberlieferung rote ein Slyiom gilt, fo unb nid^t anber§ f)abt man
?Paulu§ ju oerfte^n.
9lber irrig ift bie 2lnnal^me bod^. @o roeit fic fx6) auf bie
Urtunben ftü^t, ift e§ oor allem ber SRömcrbrief, ber il^r eine
©tü^e gu bieten fc^eint. ^ier fielet \a bie Seigre oon ber SRec^t^
fertigung Doran. Unb er foll bie fgftematifc^e Sel^rentroirflung
beS 3lpoftel§ entl^alten. ällfo roirb il^m aud^ ba§ bie ^auptfa^e
unb ^auptlel^re fein, roaä er ^ier »oranfteUt. 9tun ift e§ jeboci^
mit biefem @^^ara!ter be§ 9lömerbriefS alg atabemifc^er älb^anb«
lung nid^tS, roie fd^on jur iSprad^e tarn. SBielme^r ift au^ ber
SRömerbrief ein roirflii^er ©rief, b. i). eine ©elegen^eit^fc^rift.
S)ie Orbnung ber ©cbanten ift bem bamit verfolgten Qwtd an»
gepaßt. ®ie SBoranftellung ber ©rörterung über bie ®lauben§*
gered)tigfeit c. 1 — 5 entfpri(^t nic^t bem „Softem" be§ 2lpoftefö,
fonbern bem üor^in erroälinten Qv[>^d, bem ber SBrief bient. Unb
bie Slrt, roie ^aulu§ oon c. 5 ju c. 6 übergebt, beröeift, ba^ i^m
bei feiner ^ßrebigt oon ber ®lauben§gerecl)tigfeit üwa§ SlnbercS
al§ felbftoerftänblidt)e ©runblage unb SBorau^fe^ung gilt.
@r ^at bie 2:^efe, ba^ roir geredet roerben allein burc^ ben
©tauben 5, 12—21 ba^in jugefpi^t, ba^ e§ auf unfer eigene^
äierl^alten gar nic^t anfommt, ba^ aud| ba§ ©efe^ nur baguge«
geben ift, bie Uebertretungen ju mehren, hieran fnüpft er bie
grage, ob roir benn bei ber ©finbe bleiben follen, bamit bie ©nabe
um fo reici)lid)er roerbe? 6, 1. Unb er roeift biefe ^qpot^etift^
gejogene Folgerung jurüdE, inbem er barauf oerroeift, ba§ e§ ftc^
ja um ®f)riften tianbelt, bie ber ©ünbe geftorben finb unb ju
einem neuen ßeben erroedtt. Sticht jiel^t er bamit IJolgerungen
au§ ber S^l^re oon ber ©laubenSgerec^tigfeit, roie man geroö^nlic^
fagt. 2)iefe üblid^e 2lu§legung ift oielmel^r angefic^t§ be§ £efte§
eine gerabegu erftaunlic^e äUi^beutung, ba in i^m auc^ gar nic^tiS
auf eine Folgerung fü^rt. ©ie erflärt fic^ nur au§ bem ^en»
fdtjenben SBorurteil, oon bem bie 5Rebe roar, unb ba§ fid^ felbft
bamit roiberlegt, ba§ e§ ju folc^er SBergeroaltigung be§ Scfte^
nötigt. Stein, ^ßaulu§ greift t|ier auf eine anbere Betrachtung
Ä a f t a n : 3ur 5)09matif. 299
unb 2)eutung U§ £obeS S^rifti jurüdf, bie t^m bei aütm, xoa^
er Don ber Sicditfertigung gefagt i)at, afö felbftDcrftänblic^c 93or*
QU^fe^ung gilt. Unb biefc ift e§, auf bie e§ Dor aßern antommt.
3n i^r ^anbelt eS fic^ um haS, n)a§ für ?ßaulu§ bie ©ubftanj
be§ ©l)rifteutumS ausmacht. 3)ic grage, loorin fic befielt, roirb
baS ^Qupttliema ber fotgenben Erörterungen fein, ^ier tommt e§
nur auf ba§ SBer^ältniS ber beiben (Sebanf enrei^en ju einanber an,
unb rva^ fid) barauS über bie @ad^orbnung ber $aulinifd)en @e«
bauten crgiebt, ba§ 9töm. 6—8, nic^t 1 — 5 fac^Iid^ poranftel^t.
®ben baSfclbe lä^t fic^ überall roa^rne^men. ^a, eS finb
oer^ältnigmä^ig nur wenige ©teilen ber ^aulinifd^en 33riefe, bie
auf bie SRed^tfertigung eingeben. Unb faft immer fold^e ©teilen,
in benen bie Äontrooerfe über ba§ ®efe§ ba§ S^ema bilbet: ab*
gefe^en oom SRömerbrief ®al. 2 unb 3. ®ann ein turjeS rlie*
torifd^ jugefpi^teS SBort 2 Äor. 5, 21 unb 5ß^il. 3 roieber im 3^*
fammenliang einer ©rinnerung an ben Äampf mit feinen ©egnern.
S)emgcgenüber bilben bie ®eban!en au§ SRöm. 6 unb maS eng
mit i^nen jufammenge^ört ba§ in ben uerfd^iebenften SBenbungen
immer roiebertetirenbe I^ema feiner Darlegungen, ©o entf^eibet
auc^ ber X^atbeftanb in ben ^aulinifdien ^Briefen bafür, ba^ mir
Don biefeu ©ebanten al§ ben eigentlid^ mefentlid)en ®eban!en ber
^aulinifc^en ^rebigt auSjuge^en ^aben.
93on if)nen foll nun im nädbfteu, bem 5 weiten 2lbfrf)nitt
bie Siebe fein, ^d) mill ju jeigcn Derfudien, meiere 3)eutung be§
SobeS (£E)rifti fid) barauS ergiebt unb bei ^aulu^ bie t)errfc^enbe
ift. Unb jroar fo, ba§ erliellt, roie er barin mit bem überein*
ftimmt, mag ber ®runbton aller urc^riftlidjen ^ßrebigt bilbet. ^n
eigenartiger 2lu§füt|rung allerbing§! 3lber nic^t in gegenfä^lic^er
SSeftimmt^eit gegen eine anbere 2luffaffung, fonbern ate SBeiter*
fü^rung unb S^fpi^ung gemeinfamer ®cbanfcn. 2)ann foll in
einem britten 2lbfd)nitt üon ber Deutung be§ 2:obe§ ®f)rifti
im 3i*fönimen^ang ber SRec^tfertigungSle^re ge^anbelt werben.
6nblid) will id^ in einem Dierten 2lbfct)nitt bie ^i^age bi§tu»
tieren, ob eä möglich ift, bie oerfcliiebenen ©ebanfenrei^en —
benn im 3ufammen^ang ber SRe(^tfertigung§let|re wirb un§ wie«
ber eine boppelte Deutung begegnen — einheitlich jufammenju*
300 Ä a f t a n: 3ur S)oflmatit
faffen b. ^. ob ©runb ju bcr Slnna^mc oorlicgt ba§ bcm Slpoftcl
eine folc^e cinl^eitUci^e S^^föntmenfaffung oorgefc^roebt \)at
2.
9iad| bem S^obe ^^\u roax bie ©tunmung im ;3üngertrei§
bie ber aSerjroeiffung an attem, roa§ fie evroartet unb gehofft ^at«
ten. ©ie fpiegclt fid) in ben äBovten ber ©mmauSjünger £uc.
24, 21: wir aber f|offten, er fei 6 {leXXtov XutpoöaÖ-at xiv lapxr^X,
©ie hofften ba§ — jefet ift eS vorbei. Unb fie begeii^ncn at§ ben
Qn^alt i^rer Hoffnung bie Srtöfung QSraelg. 9lad) Set. 1, 6
l^aben bie Sfünger auc^ ben 2tuferftanbenen no(^ gefragt: wirft
bu ju biefer Q^xt (wenn ber ®eift fommt, ben er oer^ei^t) bein
SReid) aufrichten? 5lad) £uc. 22, 24 ^aben bie jünger noc^ am
legten Slbenb barüber geftritten, wer unter i^nen ber grö^efte fei.
Offenbar, fte l^aben bi§ jule^t erwartet, ba| ber ^rop^etenmantel
il^re§ aJleifterä fid) in ben mefftanifdjen ÄönigSmantcl oenoanbeln
werbe. 3Q3a§ er oon feinem 2:obe gefagt l^atte, ba^ er notrocnbig
fei jur ©rrcttung ber oielen, bafe aber ber 93ater i^n au6 bem
2;obe führen unb erretten werbe, ^aben fie nur in ber jroeiten
^älfte roirttic^ begriffen. a)a§ über ben %oh ©efagte ift i^nen
nur al§ |)inn)ei§ auf bie Einleitung ber göttlichen 3Jlac^tt^at er*
fc^ienen, auf bie fie gewartet Ratten, feitbem fie i^n als ben aRe|=
fia§ ertannten unb bef annten : gleic^f am ber Sob nur ein oorüber«
ge^enbeS 9Jloment in bem, worum eS ft^ eigentlich ^anbelt, in
ber 2lufrici)tung be§ 9iei(^§ unb ber ©infe^ung ^efu jum mef'
fianifc^en ^önig. 2lber nun l^aben fte Qefum gcfreujigt, er ift ge*
ftorben, fc^on ift e§ ber britte 2:ag — wir aber hofften, er werbe
Q^xad erlöfen.
SBenn wir un§ in biefe ©timmung I)ineinbenten, lernen wir
Derftelien, oon welctjcr 93ebeutung bie 2luferwerfung ^t\u ß^rifti
oon ben 2:oten für bie urcl)riftlid^e ^^ömmigfeit gewefen ift. Sie
ift bie ©runbtliatfac^e beS Urc^riftentum§ gewefen. Sticht bie Ron»
trooerfe über ba§ @efe^, fonbern bie 3luferftet|ung 3efu mar ber
SDIittelpunft aller ®eban!en. 9^i(^t at§ Se^re, fonbern al§ fieben,
al§ ©rfal^rung^tfiatfai^e, unter beren ©inbrudt, ber bi§ in bie in»
nerfte giber i^re§ ®afein§ reicht, fie benfen unb leben. Unb jwar
Ä a f t a n : 3ur ^ogmati!. 301
no^er fo, bag bie Stuferfte^ung ii|r Äorrclat an bcr unmittelbar
bcDorfte^cnbcn aOBicbcrfunft bc^ ^crrn ^at. 9Jlit bcr Sluferroedung
fyit bic jufünftigc SCBeltücrMärung, bic SBicbcrgcburt aller S)inge,
bie 9leufd)öpfung begonnen. ®anj real oerftanben: an biefem
einen 5ßunft, bem Seibc Q[efu, ^at ber gro^e SB3eItuntn)anblung§=
projel eingelegt. @§ ift nur eine grage t)on wenigen Qaliren,
bi§ auf ben bie gortfe^ung oerbürgenben 2lnfang bie gortfe^ung
fclbft unb bie SBoßenbung folgt. 3lttem 2lnf^ein nad) ^at au(^
3efu§ felbfi e§ fo angefe^n unb fie in biefem ©inn beletirt: inner-
halb einer ©eneration foB fi^ aUe^ nollenben, e§ leben f^on, bie
e§ erleben roerben.
2lud) ^eute wirb xüoifi in ber ©emeinbe, namentlid) bem mo«
bemen 3^^'f^^ gegenüber, auf bie SQBirtlic^teit ber 2luferftet)ung
©eroic^t gelegt, ^^ber bie (Sebanfen fmb bod) ganj anbere. ©ie
erfc^eint al§ ein @reigni§ in ber 5Reit|e ber göttlid^en 3:l|aten jum
^eil ber 3Jlenfci^en. ^a, abgefel^n oon bem eben ermähnten ftep*
tifdien ®egenfa^, innertialb ber d^riftlic^en ©ebanfen felbft gar
nic^t al§ etma§ befonber^ 3G8id|tige§. 2lnbere§ mie bie ©enbung
be§ ©ot|ne§ unb fein Kreujeötob für bie ©ünbc ber ÜWenfd)en
wirb Diel ftärfer betont. ®ie 2luferftet}ung mit ber ©r^ö^ung
jum Sater erfd)eint nur al§ bie, man mö^te fagen, felbfioerftänb*
lie^e 9fiüdtfe^r bc§ ©ol^neS in ba§ eroige ©ein bei ®ott, al§ beffen
Unterbre^ung unroiHfürlidi fein ®rbenleben aufgefaßt roirb, 93or
allem aber treten für bie heutige ©emeinbe 2luferftel|ung unb
SBieberfunft oöllig auSeinanber. -^ene gehört ber Sßergangenlieit
an, oon ber mir burc^ ^o^rtaufenbe getrennt finb. SDiefe ba*
gegen, bie SBiebertunft, gel^ört einer fernen ungeroiffen 3wfunft
an unb ift burd|au§ in bie ^eripl^erie beS 93erou§tfein§ ber @e*
meinbe gerürft.
3)ie§ atle§ jeboc^, roie e§ un§ lieute erf^eint, muffen roir
gänjlidi oergeffen, roenn roir ba§ 9leue 2:eftament ücrftelien rooHen.
2)a ift bie SluferroedEung ni(^t eine§ unter anberem, fonbern bie
gro^e ^eilSt^at @otte§ unb jroar nic^t aU etroa§ 95ergangene§,
fonbern al§ etroa§ in feinen SOSirfungen unter ben ©firiften leben*
big ®egenroärtige§. S5iefe leben in ber furjen Qzxt, bie jroifdjen
ber Suferroedung al§ ber erften unb ber SBieberfunft al§ ber
302 ^ a f t a n : Qux ^ogmatt!.
jiüeiten ^älftc bcr großen 2:^at @ottc§ au§gcfpannt ift. ®a§ ift
t^re ©egeniDart. SRan fann bie§ nid^t nad^brärflt(^ genug ein-
fc^ärfcn im ©egcnfa^ ju bcr üblidien ©yegefc, bei bcr man nic^t
baron bcn!t ba^ bic Seutc^ bic I|icr }u un§ reben, gemörttg fmb,
jcben Sag bic gro^c ^ataftrop^c bcr @nb}cit }u erleben, woiiH
aber ben S^ejten Stntroorten auf 5^agen bcr fpäteren ®ogmatif
abquält, bic biefc 3lutoren ficfi niemals porgclcgt l^abcn. ©tatt
beffcn füllen mir un§ barin ^ineinbenten, ma§ baS l^ci^t, ba^
biefc SKenfc^cn täglid) beten: !omm ^err3[efu! unb tdglic^ nac^
bem 3ei^en be§ SRenfd^enfo^nö am ^immel auSfe^n. 9lur fo
mcrben mir au^ bic ©ebanfen oerfte^cn, in benen fic i^ren ©lau«
ben jum 2lu§brucf bringen.
Q6) fagte eben, in bcr Urgemeinbc fei bic Slufermcdtung O^fu
als etmaS in ber ©emeinbc @egenm&rtigc§ unb lebenbig SCBirtfame^
cmpfunben morben. 3)iefc SBirfungen ftcHen fic^ öor altem im
©eifteöcmpfang unb ©eifteSbefi^ bar. 3)arin jeigt ftc^, ba§ ber
aicov fieXXwv angebrochen ift. ®enn bcr ©eift ift ©ottc§ ©eift.
Sft er mit feinen ©aben unter unS, fo ift ba§ bic lebenbige @e*
genmart ber jufünftigen SBelt in unferer 3Mitte. Unb jmar ift e§
ber er^ö^te ®^riftu§, ber feiner ©emeinbc ben ©eift unb bic ©aben
be§ ©eifte§ oermittelt. Q\xx SRcditen ©otteS ft^enb, in bic gott*
lid^c 3)afein§meifc be§ TtveOfia unb bcr 66?a eingetreten, fcnbet er
bcnen, bic an i^n gläubig mcrben, biefen feinen ©eift.
Slnfd^aulic^ tritt un§ ba§ Qfo^. 20, 22 entgegen, mo e§ ^eipt,
ber 2luferftanbene l^abc bic -jünger angc^aud)t mit ben SBorten
Xaßexe 7iv6ö|ia dcyiov. ©runbfa^mä^ig roirb cö au§gcfprod|cn 3o^.
7, 37—39. S)a Reifet e§, ba§ QefuS rief: mer an mi^ glaubt,
oon bcfe Seibe merben ©tröme lebenbigen 2Baffcr§ flicfeen. 3)er
©oangclift fügt l^inju: ba§ fagte er oon bem ©eift, ben bie an
i^n ©laubigen empfangen foUten; oÖTtw yap ^v uveufia, Sxt Iijaoü^
ouSsTTw iSogaaäT). 3)a§ ift nid^t eine 2^^eoric be§ oicrtcn ©oange»
liftcn. ^n biefer 3)cutung fpric^t fi^ ba§ urci^riftlid)c S3emu|t«
fein al§ fold)e§ auS. In nuce enthält baS SBort ba§ ©anje: mit
ber aSerflärung Qfefu b. 1^. feinet Seibcä beginnt bic 33er!larung
ber aCßclt. 3)amit ift nun ber ^unft gegeben, mo baS Ueberroclt»
lid|e, ©öttlii^c, ^neumatifd)e in bic SBelt einftrömt: bei ber bal«
Ä a f t a tt : 3iit S)oflmatif . 303
bigen SBicbcrtunft Q^f" n)itb ba§ ju einer offenbaren SBirfü^feit
werben unb bem gefamten ®afein eine neue gorm geben.
aWan ift ba^er aud| erft ®^rift nai) urdjriftlid^em ©ewu^t*
fein, wenn man ben ©eift t|at, unb beffen au^erorbentUc^e SBir«
fangen l^eroortreten. 2lfe ber ©eift in ©amaria ausblieb, reiften
bie Slpoftel l|in, um bem 3Wangel objutielfen act. 8. 2luf bie aSer^
fammlung im ^au§ be§ Cornelius faßt ber ©eift, mätirenb ^etru8
noc^ rebet act. 10. 9tod) niel fpäter, als ^auIuS bie 30^9^'^
finbet, bie nur oon ber 2^aufe be§ Qo^anneS miffen, tauft er
fie, unb fte empfangen ben ©eift act. 19. Unb baS mag genug
fein. SebeS Slatt faft beS bleuen SeftamenteS, fomeit e§ nid^t
Ueberlieferung beS SebenS unb ber Se^re ;3fefu ift, legt 3cii9"i^
baoon ab, ba§ bieS je^t 3)argelegte bie ©ubpanj beS ©Triften*
tumS in ber alten ©emeinbe mar. ^6) menbe mid) je^t com 2111*
gemeinen su ^auIuS im Sefonberen.
SlKererft erinnere id^ aber ba baran, i>a^ ^auIuS burd| ba§
@rlebni§ \>ox ®ama§fu? eben in biefen je^t gefi^ilberten S^if^w^*
men^ang l^ineingeftellt roorben ift. Sluc^ für i^n ift eS ni(^t @arf)e
ber 2:i^eorie gemefen, loaS er nun geprebigt I|at, fonbern tebenbige
felbft erfahrene SBBirtlic^feit. ®r mei^ fid^ als einen, ber aus ber
gegenwärtigen argen SBelt lierauSgeriffen ift, mit S^rifto ber ju*
lünftigen SBelt angel|ört unb wie alle, bie feine ©rfc^einung lieb
^aben, auf ben großen 2:ag beS ^crrn märtet. Unb bieS ift bei
i^m fo gut mie bei ben anbern S^^S^^ ^^^ 3lnfangS ber ^aupt*
in^alt feiner ^rebigt gemefen, mie fic^ baS non felber üerftanb
unb gar ni^t anberS fein fonnte. 3)aS roitl ic^ je^t im ©injelnen
etroaS nä^er auSjufüIiren nerfud^en.
2In bie ©pi^e ftelle i^ einen fc^einbar nebenfäd[)li(^en 3w9
aus bem erften S^^effalonic^erbrief. ^n 2:^effalonic^ begab eS firfi,
ba^ unter ben ©Triften etlii^e ftarben, el^e ber ^err tam. ®aS
gereid^te ber ©emeinbe jur fdjmeren 93e!ümmerniS, fte tiatten ge»
^offt, inSgefamt baS ©nbe ber ®inge ju erleben. 9BaS roirb nun
mit ben @ntfcl)lafenen fein? SBerben fie auc^ unb merben fie im
DoUeu 9Wa§ teilliaben an ber $errli(^teit beS ^errn, menn er
fommt? ^ßauluS tröftet fie barüber: bie ©ntfdilafenen werben
auferftel^n, bann erft merben mir, bie Ueberlebenben, nermanbelt
304 Äaftan: 3ur Dogmatil
toerbcn, um nun mit jenen bem ^erm entgegengerüctt ju werben
in bie Suft 1 SCtieff. 4, 13—18. Slber nid^t biefer Stroft interef*
ftert ung l^ier, fonbern bie 3:l|atfa^e, bie ju bem tröftenben
SBort bie SBeranlaffung gegeben l^at. ©ie lö^t un§ einen 95lid
tt|un in ba§ ®emüt ber ®l^riften in einer ^auti*
nifc^en ©emeinbe, einer @emeinbe überbieS, bie $qu(u§
auf feiner fogenannten jmeiten SKiffiongreife u. b. ^. na^ ben
SSerl^anblungen jU 3»€t:ufalem in§ Sebcn gerufen ffat SBir bürfen
barauS einen @cl^Iu^ auf bie $rebigt be§ SlpofteU
jietien. Unb jroar weift er un§ auf eben jenen fiebenS» unb ©e*
banfenjufammen^ang be§ Ur^riftentum^ l^in, Don bem bie 9lebe
mar. ©o t|at ^aulu§ ba§ Soangelium Derfünbigt, bafe biefer ba§
Seben unb 2)enfen in ben ©emeinben bel^errfd^te. 3^d) fteüe baS
an bie ©pi^e, meit c§ un§ bie 'SJJrebigt be§ 2lpofteI§ jeigt at§ ba^,
maö fie juerft unb üor allem geroefen ift, eine SJertünbigung üon
S^riftu^, mie fie im Urc^riftentum bie allgemeine, bie c^riftlic^e
Sßertünbigung fc^ted)tmeg mar. ©tatt mit ^olften oon einem
urfprünglid^en ®egenfa§ be§ ^aulu§ gegen bie Urgemeinbe au§*
jugelin, muffen mir ^$aulu§ melme^r in erfter 8inie al§ ben an*
fe^n, burc^ ben mir wie burd^ feinen anbern — wir f|aben ja
nur fpärlidie imb mcift fefunbäre 9lad)rici^ten barüber — ba§ ge*
mein Urd^riftUc^e, b. f). ba§ allen ©emeinfame fennen lernen.
äBeiter l)ebe ic^ ^eroor, ba| auc^ ^aulu§ überaQ bie 91ä^e
be§ @nbe§ Dorau^fe^t. Unb jwar bur^weg in ber SBeife, ba^
er felber e§ nod^ im Seibe ju erleben ^offt. @rft fpäter im (gwei*
ten Äorintl^erbrief unb) ^^ilipperbrief, an ben befannten ©teilen
be§ erften Äapitelg, t)at er bie SWögli^feit feine§ 2lbf(I>eiben§ oor
bem ®nbe bcftimmt in§ Sluge gefaxt, 95. 21 u. 23. 2lber auc^ ba
nii^t in bem ©inn, al§ wäre ba§ @nbe felbft ^inau§gefc^o6en.
®erabe im ^$f|ilipperbrief tiei^t e§ K. 4 93. 5: ber ^err ift na^e!
3)iefe SorauSfe^ung erhält fic^ ja überE)aupt big in« jweite ^af^x--
^unbert. ^[nbeffen ift e§ boc^ ein Unterfc^ieb, wie fie empfunben
wirb. %nx bie ältefte ©eneration ift e§ nid)t eine auf bie S^*
fünft gerichtete Hoffnung, wäf)renb man in feiner eignen ©egen*
wart ate einem früheren 3ßitabfd)nitt lebt. SSietme^r: bie 3"*
fünft ift felbft fc^on ©egenwart, bie 3^»?""?* ^öt "^it ^^^ ^"f*
^ a f t a n : 3ur ^ogmatif . 805
errocdung ^t\u i^rcn Stnfong genommen unb wirb alsbolb pol«
Icnb§ offenbare SBirtlic^Ieit merben. (So aud) bei ^aulu8: in
biefer Stimmung lebt, mirft unb benft er.
@nb(i^ \)at $au(u^ Aber ben ©eift sunädift nid()t anber^ ge«
bac^t ai^ bie ©emeinbe. @r l^at bem ©ebonlen bann eine et^ifdje
äBenbung gegeben; e§ mirb glei^ nä^er baoon ju reben fein.
aber bie ©runblage bilbet aud) bei ibm bie allgemeine urd^rift«
lic^e SKuffaffung. 95or allem fielet ber Oeifte^empfang aud^ il^m
im engften 3ufammen^ang mit ber angebrodienen SSoQenbung unb
^eil§jufunft. S)er ©eift ift bie inoLp'/ii be8 emigen SebenS ber
aJottenbung. ®r wirft bie dTccXuipwat^ be8 inroenbigen SRenfd^en^
bie Befreiung nom ®efe^ ber ©ünbe unb beS 2:obe§ 9töm. 8,2;
worauf mir nod) roarten, ift bie ÄTtoXuxpcoat? toö a(i)|AaTo?, wie
eS 91dm. 8, 23 ^ei^t. Unb bejeid^nenber noc^ mirb ber ©eift
ber äppaßä)v be^ emigen SebenS genannt 2 Stox. 1,21; 5,5;
&p\). 1, 14. 3)aS 2lngelb ift ba8 erfte @elb einer ©umme,
eine§ Sof|n§ ober bergleic^en, ba§ man als ^fanb unb ^ürgf^aft
be§ ©anjen empfängt, ^at man ba§ 3lngetb, fo l^at man ibeeU
fc^on ba§ ©anje. Unter biefem ^ilb fielet ^auIuS bie @abt beS
®eifte§, meiere bie ®f)riften l^aben. 3)a§ ®anje beftel^t aber barin,
ba§ ber ®eift auc^ für ba§ leibliche fieben beftimmenb mirb, unb
bie ©Triften fo an ®otteg 56§a teil gewinnen. 2)er xuptoc wirb
fie gleic^geftattet mad^en feinem ^errlic^feit§leibe 5ß^il. 3, 21 ;
mir werben oerwanbelt werben oon einer ^errlic^teit gur anbern
xaftdcTiep &nb xupioü TweOfiaTo^ 2 Sor. 3, 15. Unb biefer ®eifteS*
befi^ ift etwas Uebernatfirlid^eS, Ueberf^wenglic^eS, auS ber obe«
rcn SBelt ©tammenbeS, beren ®egenwart in ber SBelt ^Sefunben*
be§. ^n ben ®eifteSgaben jeigt fic^ biefer 53efi^. Unb unter ben
©eifteSgaben ftel^t baS yXcoGaat; XaXetv allen übrigen ooran, e!«
ftatifdieS Sieben, bei bem ber voö? jurüdEtritt. ®. t). ^auluS fteflt
baS TTpocfTjTeuetv ^öt)er, waS bie Srbauung ber ®emeinbe betrifft.
9l6er in feiner SRebe )d)immert beutlic^ hnxi), bag baS 3ungen*
reben als baS eigentliche SJlerfmal beS ©eifteSbefi^eS gilt, unb
wie ^od) aud^ er an fid) (abgefetin eben oon ber 93etf|ätigung in
ber ©emeinbe) baoon beutt. 3)aS ift nid)tS atS biefelbe ©runb*
anfdiauung, bie baS gefamte Urd)riftentum bel^errfc^t.
806 Ä a f t a n: 3ur ^ogmatif.
SBir fommen ju ben bem SIpoftel $aulu§ eic^entfimlic^en
3ügen. ®a ift jucrft ju nennen, ba^ ftd^ it|m bie SBorfteKung
t)on bem ^ufommcnl^ang be§ neuen Seben§ unb ®eifte§befi^e§ mit
bem x6pcos anber§ geftaltet. Sie urfprüngtic^e 2ln[c^auung ift,
ba^ 3fcfu§ jur SRed^ten @otte§ erl^ötjt ben ®eift fenbet ober boc^
bie ©enbung oermittelt. SBei ^aulu§ fteDt e§ fic^ fo, ba§ er biefen
93efi^ auf bie, mie mir fagen, mgftifc^e ^Bereinigung be§®Idubi'
gen mit ®^riftu§ jurürffül^rt. ®§ ift bei ?ßaulu§ nur jroeierlei
2lu§brudt für biefelbe ©ac^e, bafe bie ©laubigen „in ©^rifto fmb"
unb ba§ fie ben @eift l^aben. ^eibeS mirb in ber Strgumentation
SRöm. 8, 5 — 11 promiScue gebraust. Sinmal ^ei^t e§ gerabcju: ber
§err ift ber ®eift 2 Äor. 3, 17. 9lid|t im ©inn eineg S^eologu*
menon, in melc^em (Jl^riftu§ ober ber fiogo§ mit bem ®eift iben«
tifi jiert mirb, mie bergleic^en fpäter oortommt. 3)a§ ift bei ^auluS
nac^ bem allgemeinen mie fpe}ieQen S^^f^ini^^n^a^g g^^i au$ge*
f^Ioffen. 3)er ©inn ift ber eben genannte, ba§ mir ben ®eift
l^aben, meil mir burd) ben ®Iauben in S^rifto fmb.
Unb bie§ Sv XpioTcp e!vat ift nun überl^aupt ber ®runb9e*
banfe ber ^aulinifd^en Sriefe. 2) e i S m a n n ^at über biefe ^x-
mel 1892 in einer befonberen ©c^rift ge^anbelt. 3)ie gormel ift
fpejififc^ ^aulinif^. ©ie fommt (nad) ®eigmann§ 3ä^Jw"9^
in ben acta unb im 1. ^etru^brief jufammen 8 mal, bei 3^o^anne§
24 mal, im übrigen bleuen 2:eftament überhaupt ni^t, bei ^aulu§,
164mal Dor. Semnad) ift mit großer SBalirf^einlidifeit ju oermu«
ten, ba§ er fie gebitbet, bie anbern fie üon i^m übernommen ^aben.
aWit Siecht marnt aber 3)ei§mann baoor, bie SRebeform irgenbmie
im übertragenen ober uneigentUc^en ©inn ju nehmen, ©ie ifl ber
in i^r gebrausten ^räpofition ev entfpred^enb lofal ju üerfte^n.
3)er K^rift ift hnxä) ben ®Iauben in ben nerflärten S^riftuS ein--
gegliebert unb gehört babur^ ber juf ünftigen SBelt an. ®al. 3, 27
mirb biefe 93crbinbung mit ®^riftu§ al§ ein S^riftum-angejogen«
l^aben bejei^net unb in bie S^aufe oerlegt. ^w biefcr 3ufammen«
get|örigteit mit ®t|riftu§ bitben bie ®Iäubigen mit i^m ben eJ;
Xptato;, ben einen ©amen 2lbral)am§, bem bie SSer^eigung gilt
®al. 3, 15—29. 3)erfelbe ®ebanfe mirb ausgeführt im SBilbe Dom
oö>iL% XptaioO 1 Äor. 12, 13; SHöm. 12, 3. Unb biefe« iBilb mirb
Ä a f t a n : 3ur S)ogniatif. 307
in bcn fpStercn ©riefen an bie Soloffer unb ©pl^efer naiver qu§*
geführt. 2)enn ein 53ilb ift ba§ n)ie anä) ber 2lu§brurf, ba§ bie
©Triften ®^riftum angezogen tiaben. ffiir miiffen un§ aber pten,
nic^t etroa ben ganjcn ®ebantenfrei§ in bilblic^e SRebe aufjulöfen.
pr ben 3lpofieI ift ba§ SReoIität unb (Srfalirung, biefe QuQ^i)i^
rigfeit ju S^riftuS: nid^t melir er lebt fonbern S^rifluS lebt in
i^m, unb baburd^ ift er, aber ni^t er fpejieK fonbern bie ©Triften
überhaupt, biefer argen 8B3elt entriffen unb überl^oben, ®§ ift bie
gemeinfamc urc^riftlid)e 2lnfd)auung oon ber in biefer SBelt gegen«
roartig geworbenen jutünftigen SBelt, bie ber SKpoftel in biefer i^m
cigentflmtici^en SBeife geftaltet unb oorträgt.
3GBeiter ift c§ nun aber bem 2lpoftel eigentümlich, ba§ er
ben Sob ®^rifti in biefe S8etrad)tung l^ineinjie^t. 2ln unb für
fic^ ift in i^r ber ©ebanfe üon ber 3luferftel)ung ber l^errf^enbe.
Ober beffer: bie Sluferroedfung ift bie fie bctierrfd^enbe Sl&atfad^e
al§ Slnbrud) ber SBiebergeburt unb 9teufc^5pfung ber SEBelt. ©e^r
na^e liegt e§ offenbar, barauö bie ^otgctung ju jielien, ba§ ber
2ob ©^rifti ba§ ®nbe ber gegenwärtigen aCBelt ift. ©oroeit ic^
fe^e, finbet ftd) iebod^ biefe Folgerung fonft im 9teuen Seftament
nic^t gejogen. $aulu§ ^at fie gejogen. Unb ba§ ift bie 95etrad)*
tung be§ 2obe§ ©l^rifti, bie mir aU bie burd|fd)Iagenbe, grunb*
legenbe bei it|m jU f onftatieren l^aben : 3:ob unb Sluferroedtung
3efu S^rifti finb bie Söenbe ber 3^it^^/ ^^^
atcöv oizo i; unb be§ aTwv [leXXwv. ^i^bem ®t|riftu§
ftarb, ift bie alte SBett be§ gleifd)e§ geftorben. Onbem ®^riftu§
ou§ bem ®rabe lieroorging, ift bie neue SEBelt be§ ®eifte§ lebenbig
gegcnmdrtige SGBirflid^feit gcmorben.
(£§ ift üor aUem ber f^on ermahnte Slbfc^nitt 9töm. 6, 1—11,
in ioelcf)em ^aulu§ barauf al§ auf bie S3orau§fe§ung alle§ Slnbern
jurüdfgreift. Unb jmar an biefer ©teile fo, bafe bie etl)ifcf)e
93ejie^ung babei aU ba§ SQSefentlic^e tjeroortritt. 3)er alte SWenfc^
ber © ü n b e ift geftorben, unb mir finb burrf) (£^riftu§ ju einer
xatvoTTj; tfj? t^o)^; gekommen. 6^ ift aber nid^t richtig, l^ierin
bie ©ad|e fetbft gu fud^en. S)er übergeorbnete ©ebanfe ift
ber, bag mir ber SBelt geftorben finb ober bie SBelt un§ geftorben
ift — gefreujigt, mie e§ nac^ ber gefc^id|tlid^en Sobeöart ^t^n
21*
308 Ä a f t a n : 3ur ^ogmatü.
{)ei^t ®al 6, 14. 2)a^ e§ fo x% I&^t ft^ auc^ au§ bem Slbfc^nitt
SRöm. 6 fclber entnehmen unb jcigen. fSflan mu§ nur bic oorge*
fagte 3neinung, e8 l^anble ftd^ t)ter um eine bilbltd^e, f^mbolifc^e
aSeranfc^Qutic^ung ber S5u§e, gänjüc^ beifette laffen.
@S l^ei^t bort nic^t: n)ie S^riftuS geftorben unb auferftonben
ift, fo fotlen n)ir ba§ nun in unferem inneren Seben nai^bilben,
ber ©ünbe fterben unb einen neuen SBanbel fül^ren. 9luc^ ba§ ifl
ni^t bie SMeinung, ba§ in ber laufe mit un§ etmaä oorgegangen
ift, xoaS \xi) a(§ ein Slnatogon beS 2;obeS unb ber 3(uferfte]^ung
©lirifti anfe^en lä^t. Obmol^I bei ber SBilbung be§ 3lu!§bruct§
t)ier, ba^ oon einem SBegrabenmerben bie SRebc ift, ber Umftanb
mitgeroirtt ^aben wirb, ba^ ba^ Untertauchen im SEBaffer unb ba§
Sluftaud^en au§ il^m al§ eine fgmbolifc^e Siad^bilbung beS 95e»
gräbniffeS unb ber Stuferfte^ung Qf^fu erfc^ien. ©ie^t man aber
nä^er ju, finbet man: ber SDIoment, in bem bieg ®e»
ftorbenfein unb Stufe rmedttfein fic^ jugetragen
liat, ift nid^t ber SWoment ber Saufe, fonbern
ber aWom ent, ba 3»cfw^ ftarb, begraben murbc
unb aus bem ©rabe miebertam. 9Rit i^m finb aDe,
bie ju it|m geliören, geftorben unb auferftonben, roie e§ 2 Äor,
5, 15 tiei^t: ift einer für aüe geftorben, fo fmb fie äße geftorben;
mir fmb in (S^rifto eine neue Äreatur, ha^ 2llte ift ©ergangen,
fief)e, e§ ift allcS neu gemorben.
3Ber fold^e SBorte unb SluSfprüd^e mit unfrer S)ogmatif ju
oerftelien unb ju beuten unternimmt, mu§ freilid) auf bie munber*
lic^ften (SinfäKe geraten, moran e§ benn in unferen Kommentaren
au^ nid)t ju mangeln pftegt. SBer bie ®runbanfd)auung M Ur*
^riftentumS im ©inn beliält, beren Urfprung in ber SKufermerfung
3[efu liegt, unb ^injunimmt, ba§ ^aului^ ben Xob be§ ^eilanb*
barin einbezogen ^at, bem fägt fid) atle§ ju einer einfa^en Haren
aSorfteHung: mit S^riftuS ift bie alte SBelt geftorben, mit i^m bie
neue au§ bem ®rab ^eroorgegangen, unb baS ^at nun feine @ul*
tigfeit für alte, bie an i^n glauben unb burd) bie Slaufe in ben
mpftifc^en 3wfQ"^nteuI)ang mit i^m eingepPanjt, baburrf) mit fei«
nem ©terben unb Sluferftelin oermact)fen fmb.
SßoUenbS mirb bie§ Mar, wenn man beachtet, ba^, roa§ Möuu
Ä a f t a n : 3ur ^oötnatit 809
ß, 1—11 aU ein in bcr 2:aufc gcfc^el^ene^ gaftum l^ingcftellt wirb,
anberroartS unb gleid^ 9löm. 6, 12—14 aU 3Wa^nung auftritt:
galtet cu^ baf ür, ber ©ünbe gcftovben ju fein, !reujiget euer r^Ui^ä)
famt ben Süften unb 93egi erben. @ben, ba^ ©tl^ifc^e lommt nid)t
o^ne ben eignen 9Bi0en juftanbe. @S forbert immer irgenbn)ie
bie eigne SÄnftrengung. ©eS^alb ift aber ba§ nom Oeftorben» unb
Stuferroedtfein nic^t eine blo^e SReben^art. 5Rein, bie SBelt ift
bo§ birette Sejie^ungSobjeft biefe§ SEBiberfa^rniffeS. Unb fofern
nun ©ünbe unb %U\\6) in biefer SBelt i^r SBefen l^aben, ift bie
Befreiung oon ber 3BeIt auc^ bie grei^eit non ©ünbe unb gt^ifc^-
SRur ba| ba§ nid)t pon felber fommt, fonbern juglei^ fittlidje
Srbeit forbert. a5Ba§ aber unter bem (Sefefe unmöglid^ mar, ift
je^t benen möglidi, bie in S^rifto S^fu finb. Sie l^aben eine
®abc ©otteS, bie i^nen bie fittlidje Erneuerung oerbürgt, wenn
fie fie, mie fie foflen, fid^ ju fold^er ©rneuerung bienen laffen.
2lIfo, baS ift ber ©runbgebanfe oom S;obe ©^rifti bei ^au*
luS: fein Sterben unb Sttuferfte^n bie SäJenbe ber 3«^*^"- ^^^
S^rift gehört S^rifto unb bur^ i^n ber oberen SBelt an, unb
roaS er no^ lebt im fjteif^, ba§ lebt er im ©e^orfam be§ ©oline^
®otte§, ber für il^n geftorben ift. ®a§ ift bie fclbftoerftänblic^e
aSorau^fe^ung aüe§ Uebrigen, namentli^ aud) beffen, maä ^aulu8
oon ber SHe^tfertigung ju fagen ^at, n)ie ber Uebergang oon SRöm. 5
)u 9i5m. 6 bemeift. Unb al§ fold^e SSoraulfefeung mirb eS ba*
burc^ legitimiert, bag e§ nid)t eine t^eologifc^e S^eorie ift ober
eine 3ieIigion§p^iIofopt|ie, fonbern bie fjorm, in ber fid^, n)a§
©runbt^atfa^e unb @runberlebni§ beS gefamten Ur(^riftcntum§
war, für ^auluS geftaltet ^at.
(änblic^ oerroeilen mir noc^ mit ber 2lufmerffamteit bei bem,
mag nun ba§ fpejififc^ 9leue bei ^auluS ift, moburc^ er fid^ oon
ben aubem 3^w9«n be§ Urc^riftcntum§ abgebt. ®a§ ift bie SBen*
bung aufs ffitf|ifd|e, oon ber oben fc^on bie SRebe mar. 3»^ «r*
innere baran, ba^ ^aulu§ au^ ben @eifte§befit> al§ neue§ et^i*
f^e§ ^rinjip mürbigt. S)er aCBanbel nad^ bem ®eift fann unb foU
nun für bie ©Triften an bie ©teile be§ 2Banbel8 nac^ bem gleifc^
treten, bie grüßte be§ @eifte§ an bie ©tette ber SBerfe beS g(ei*
f(^e§. Qä) braud^e ba§ nid^t nälier au§jufüf)ren, ba eS allgemein
310 Ä a f t a n : 3"^ S)ogmatit
befannt unb aiierfannt ift. 3!d^ l^cbe nur noc^maI§ l^eroor, bafe
ber Ucbergang pom Xxan^\ctnhmU®§6)atoloQ\\6)tn jum ^rtma-
nent*®t]^if(^en bei ^autue beutli^ er!cnnbar ift. ®r oottjic^t fid^
in bcr aBcifc, bo^, xoit oben gcjcigt, au§ ber gunäc^ft c^c^atolo*
gifd^ gebac^tcn ©rlöfung, ^Befreiung oon bcr SBelt ct^if^e 5o(ge=
rungcn gcjogcn werben. 2lber jelt l^anbelt e§ ftc^ nic^t me^r um
ben Uebergang, fonberu um bie SBcnbung gum (Jtl^ifc^en felbft.
Slllererft aber bie grage: wie lommt ^auluS baju? n)a§ ifi
ber Urfprung biefer bebeutfamen ©ebanfenroenbung? 3)ie änt»
n)ort mu§ lauten : er liegt in bem @rlebni§ be§ äpoftete oor Sa*
ma§!u§, ift l^ierauS ol^ne weitere^ üerftänblic^.
Slämlic^, mx lönnen au§ feinen Sleu^erungen entnehmen,
ba§ e§ i^m, aurfi al§ er ein ®iferer für ba§ Oefefe roar, borum
ju t^un geroefen ift, bie aftioe Oered^tigteit, bie Don ®ott gefor*
berte aSoOüommenl^eit \xa6) bem Oefe^ ju erringen unb §u ocr^
roirflid^en. 3Kit ber ganjen Äraft feiner ©eele l^at er banac^ ge»
trachtet unb barum gerungen. S)afür legt bie @c^ilberung beS
©tanbe§ unter bem ®efe^ 3?öm. 7, 7—25 vollgültiges 3«wgnig ab.
(Sr jeigt ^ier unb roiß ^ier jeigen, ba^ ber ©tanb unter bem
©efefe ein ©tanb unter ber ^errfc^aft ber ©ünbe ift. 3)ie ©c^il»
bcrung fielet in bem S^f^mmenl^ang, ba^ entwirfelt wirb, über
bie Kfiriften merbe bie ©ünbe nid|t me^r ^errfc^en, roeil fie unter
ber ®nabe fte^n unb nid^t unter bem @efe^ SRöm. 6, 14, 3"fö*
fern bient fte ber Erörterung einer allgemeinen SBa^r^eit. aber
bie fjarben ju biefem 93ilbe t|at ^auluS auS feiner eignen St»
fa^rung entnommen. 2)a§ brängt fic^ jebem beim fiefen unmittel-
bar auf. ©o fcf)reibt niemanb, ber nur eine oerftänbige le^r^afte
SRefleyion oorträgt. @§ ift feine eigne unter bem ®efe^ gemachte
Erfahrung, bie er ^ier fd^ili^^^t.
aSer^ält eS fic^ jebod) fo, bann ift eS aud^ feine eigne ©r*
fafirung, maS er SRöm. 8, 2 fo auSbrüdft: ba8 ©cfeti beS ©eijie^
be§ fieben§ in ®^rifto Q[efu l^at mid^ (bi^) befreit oom ®efe^ ber
©ünbe unb beS SobeS. 2118 ein übermältigenbeS erlebni« ift e5
über i^n gcfommen, fortan loei^ er fic^ in ber ^iifl^^ö^igf^i* ä"
®^riftu8, im Sep^ feines ®eifte8 liinauSgel^oben über ben alten
Bmiefpalt. @r ift je^t einer, in bem ba§ 8txaia)|ia be§ ©efe^eS
Ä a f t a n : Qux ^ogmatit 311
erfüllt lüirb. aCBic foHtc er benn ni^t biefem neuen fieben beu ©l^a*
rafter por allem ber fxttlid^en 9leut|eit jufprcc^en, wenn er cS felbft
gerabc and) al§ eine fittli^ befreienbc 2Wad|t erfaliren ^at? ©o
bfirfte biefe folgenreiche SQSenbung aufö St^ifc^e bei ?ßaulu§ in
ber einfadiftcn SBeife erftärt fein. Zoi> unb Sluferroedung (Sl^rifti
ate bie aCBenbe ber QnUn unb ber SBelten wirb für ben (S^riften
burd) bie ®rfal)rung, bie er bapon mad^t, jum S^ob be§ alten
2)lcnfd)en ber ©ünbe unb jur Sluferftel^ung be§ neuen ©eifteS*
menf^en.
S)arau§ ergeben fid) bann aber eine SReil^e pon weiteren @r«
roägungen, bie für bai^ SBerftänbniS ber ^aulinifc^en ^rebigt unb
be§ bleuen 2:eftaniente§ pon 93ebeutung finb.
6 r ft c n § ein mel|r 2leu^erlid|e§ : ^ o l ^ m a n n erf lärt, bie
^^robleme ber ^aulinifdien 2:l|eologie lägen por allem in ber 5^age,
mie ft^ 3üi>ifc^€^ unb ^eltenifd|e§ bei i^m einigt. 2lu^ ^ f l e i«
ber er legt hierauf gro^e§ @ett)id)t. ©o liatte fdt|on ^olften
biefe ^^aulinifd^e Oebantenreil^e Pon aap^ unb Ttveuiia, pom S^obe
ber ©ünbe im ^l^ifd^, gegenüber ber Pon ber SRe^tfertigung al§
^ellcnifc^ d)arafterifiert. ajlan fann alfo fagen, e§ fei ba§ eine
gemeinf ame Slnfid^t einer ©ruppe Pon gorfd^ern unb jmar folc^er
gorfc^er, auf bereu ©timme mit SRec^t geliört wirb.
3ft iebod^ irgenb ric^tig^ roa^ ^ier entmicfelt rourbe, bann
trifft bie§ Urteil nid^t ju, mu^ bie ganje Srage Pom Qübifc^en
unb ^ellenifd)en bei ^aulu§ al§ nebcnfäd[)lid| bejei^net merben.
®enn roa§ fann, um es fo augjubrüden, urjübifc^er fein, auf baS
barin permertete pordt)riftlic^e ©ebantenmaterial gefel^n, als biefe
urc^riftlic^e 2lnfd|auuug Pon ber SBenbe ber 3^^*^" '^ 2:ob unb
Sluferfte^ung beS ^errn? Unb boc^ begegnet gerabe liier ber
©egenfa^ Pon aap? unb TtvsOjAa, auf beffen ^eHenifctje ^erfunft
fo großes ©emid^t gelegt wirb. SBir muffen ba^er urteilen: l|at
^aulu§ ben mirHi(^ au§ ber ^ellenifc^en ^^ilofop^ie entnommen
(maS ict) nur fel^r bebingter SGBeife für ri^tig l^alten !ann, mag
aber nic^t ^iertier geliört unb ba^er l^gpot^etifd^ jugegeben merben
mag), fo ift boc^ mit ber Äonftatierung biefer Sil^atfadje für ba§
SBerftSnbniS ber $aulinif(^en ©ebanfen wenig ober nid^tS geleiftet.
2Bie eS benn m. @. überhaupt fe^r fraglii^ ift, ob eS Por allem
312 ft a f t a n : 3ui: ^ogmatif.
auf bic ^crfunft bc§ ®ebanfcnmatcriat§ antommt, mittelft bcffen
un§ $au(ud ein uöQig 3lem^, Originales bietet, nömtic^ baS
®^riftentum, bie bie folgenben ^Q^rtaufenbe be^errjc^cnbe ®etfte§*
mad^t unter ben Äulturoöllern. ®§ fommt mir ba§ vox, wie wenn
man eS bei bem SSerftänbniS eineiS liod^ragenben iWarmorbomS
für ba8 aCBid^tigfte l^alten mürbe, feftjufteüen, in mel<^en, ©ergen
ber babei jur Sßermenbung ge!ommene SRarmor gebro^en fei.
SQBid^tiger ift ein 3w)eite§. ®ie 8D8enbung aufS (Stl^ifc^e
ift fpejififc^ ^aulinifc^. 3). ^. ^aulu§ l^at ba§ ©t^ifc^e fefi ein*
gefügt in biefe @runbgeban!en beS Urd^riftentumS unb beSS^ri«
ftentumS überl^aupt, in bie @ebanfen Don ®rl5fung, ^efreiunc)
ou§ ber SBelt unb oon bem emigen fieben, ba§ un§ bur^ ben
®Iauben an ®]^riftu§ jur gegenmartigen SBirllic^teit gemorben ifl
unb un§ über ben seitlichen %oh ^inauS mit bem emigen ®ott
Derbinbet. 3)a§ ift fo unb babei l^at e8 fein ©emenben. 3)o(^
mu§ eine boppelte ®infd^ränfung babei gemad^t merben.
©inmal bie, ba^ e§ bie 2lrt ber a3er!nüpfung ober benn biefe
aSertnüpfung felbcr ift, bie ba§ Sieuc bei ^auIuS barftelll. Sticht
aber überl^aupt bie 99etonung beS Stl^ifc^en! 2)ie gehört fo not-
menbig )um ®^riftentum, ba^ fie aud^ im Urd^riftentum bei fei«
nem ber 3^wgen fel^It.
SBor allem aber: in ber urc^riftlid^en ©emeinbe ift biefe
SSerlnüpfung etmaS 9leue§, |ebod^ ni^t im ®^riftentum überhaupt.
S)enn roenn mir nä^er jufel^n, finben mir, ba^ fie fid^, menn auc^
in anbrer g^rm, f^on in ber ^rebigt Qefu finbet. 3)a§ jufünftige
®otte3rei^ ift burd^ i^n für feine 3»ünger gegenmärtige, erreid)«
bare 8B3irtlid|feit gemorben. Unb er ^at bie attioe ®ered^tigtcit,
bie er oon il^nen f orbert, mit biefem 33efi§ in eine innere 95er«
binbung gebrad^t. S)a§ f ann l^ier nid^t im ®in}elnen oerfotgt mer«
ben. ®§ brängt fn^ m. @. jebem auf, ber bie ^rebigt Qefu ate
®anje8 ju oerftcl^en fud^t. ®a§ SßerftänbniS penbelt ja ^in uub
l^er, au^ in ber ®egenmart gerabe mieber. 3alb foQ ba§ ®t^ifc^e
alles fein unb baS 2^ranSfcenbent«®§d^atologif^e nur eine jufaQige
5orm, balb bagegen biefeS bie ©ac^e fclbft unb baS ®t^ifc^e ent*
meber ein fpäterer ^^^f^^ ober etmaS roa§ unoermittelt nebenher*
läuft. 3lber bieS ?ßenbetn ^at feine 3^^*/ ^iä baS ®leid^gemic^t
Ä a f t a n : Qux ^Bogmatif . 813
wenn au^ in neuer ^orm wieberl^ergeftettt ift. 2)enn barin, b. ^.
in ber SSertnüpfung t)on beibcm, liegt bie aCBa^rl^eit. Unb ^auIuS
ift nic^t einer, ber baS Soangelium burd) frembortige 3ufä^e auS
bcr 3)ogmatif ober SReligionSpl^ilofop^ie entftettt \)at, fonbem er
iß ber 3«W9« Qf^fu ®t|rifti, ber bem ©nangelium Qcfu bie gorm
gegeben i^ai, bie e8 burd) ben 2lbfd)Iu§ ber Offenbarung in 2:ob
unb Sluferfte^ung (S^rifti erl^alten ntugte. 2)ic ©age non ber Äluft
jroifc^en 3»ßfug unb ^aulu§ gel^ört in baS Üteic^ — nun eben ber
Sagen unb SWarc^en.
@nbli^ ein 2) r i 1 1 e § ! (£§ fc^eint mir möglich, eine formet
|u prägen, bie ba§ Sleue 2:eftament, feinen Qn^ölt, turj jufammen*
fügt unb bei bem 93erftänbniS aOe^ (Sinjelnen leitenb fein mu|.
3)iefe fjormel lautet: bie ^eil^iufunft ift jur ®egen»
mart gemorben unb l^at bod^ nid|t aufgel^ört ju«
ffinftig gu fein. S)a§ ift ber ©runbgebante in ber ^rebigt
3efu, nic^t minber im Urd^riftentum, ?ßaulu§ cingefc^Ioffen. @o=
fem nun bai 9}eue Seftanient ben (el^r^aften 9}ieberfd^Iag be§
älteften (£t)riftentumS enthalt, ergiebt ftc^, bag ha^ aQeS ooQ non
SBiberfprüc^en ift. SQBie tann — um nur eines, ba§ SBic^tigfte
ju nennen — mie !ann bie ^eil^jutunft gegenwärtig unb banad^
baS ®cri^t porüber fein, mä^renb e§ anbverfeitS, eben biefeS
felbe @erid)t, alS jufflnftig unb benorfte^enb geprebigt mirb?
2>onn !ommen bie Sferjte unb motten Reifen, b. 1^. l^ier bie SEBiber*
fprfic^e roegerflaren, fo ober fo, oon bogmatifc^cn ober fritifc^en
aSorauSfe^ungen auS. Slber ma^rlid^, ber geiler liegt nic^t am
Cbjeft, fonbem an benen, bie e§ betrad)ten. ©ie muffen eben
fic^ aUererft mit ber ®rtenntniS burc^bringen, ba§ ba§ 9teue 2:eftas
ment ein großes ^arabo; ift, unb bie eigenartige unmieber^olbare
gefc^ic^tlic^e Situation nac^empfinben, in ber biefe ©ebantenroelt
cntftanben ift unb ftel^t. SEBer baS nid^t fann ober nii^t mitt, wirb
notroenbig in bie ^frre get(n. &S giebt feine ärgere SSerfünbigung
gegen baS 9leue 2;eftament, al§ menn man auf biefe ©ebanfen
fdimere ^änbe legt unb fie mit abftratter fiogit jureditjurürfen
ober ju meiftern unternimmt.
3um ©^fug be§ 2lbfc^nitt§ brängt fid) bie '^xa^z auf, ob
314 Ä a f t a tt : 3itr ^ogmatit
unb in n)cld)cr SBeifc roir in unfercr heutigen ®ogmatif biefc
©cbantenfreifc ber ^aulinifdien ^rcbigt Derrocrtcn foßen unb fon*
ncn. aBcnigftcn§ rocm e§ mit bcm 2lutorität§prinjip ber ^eiligen
©c^rift in ber 3)ogmati! ernft ift, fommt um biefc 5^'agc nic^t
l^erum. @ie ift gcrabc ^icr befonberS bringlid^. S)enn roaS roir
bei ^aulu§ gefunben l^aben, ^ängt einerfeits; mit ber unmieber^oU
baren Sage ber ur^riftlidtjen ©emeinbe, bie bie na^e SCBiebcrfunft
il^reS ^errn erwartete, ungertrennlic^ jufammen unb fc^eint ba^er
burd^auS unübertragbar ju fein. Slnbrerfeit§ ^anbelt e§ ftd| in biefen
©ebanfen nic^t um irgenb etma§ am S^riftentum, fonbern um ba8
©l^riftentum felbft, roie eS $aulu§ oerftanben l^at; fönnten wir
il^m nun barin nid^t folgen, maS l^at e§ bann noc^ für einen @inn,
}u fagen, bie ^eilige ©c^rift unb t)or altem baS 9teue Jeftament
fei ba§ 6rlenntni§prinjip ber S)ogmatif? 3[n ber 2:^at fle^t e^
fo, ba^ bie proteftantifd^e ®ogmatit mit biefen ©ebanfen nichts
anjufangen roei^, mit biefen ©ebanfen nämlid^, mie fie urfprüng^
lic^ gemeint maren. ©ie werben auf bie S3u|e gebeutet unb in«
fofern nac^ i^rer ettjifd^en Seite angeeignet. Slber ba| eS fic^ um
bie ©riofung pon ber 333 ett l^anbelt, unb bag im ®^riftentum
eine fotc^e ßel^re pon ber ©rlöfung burd^ S^rifti ©terben unb
9luferftel|n in ben SWittelpunft ber S)ogmatif gebort, oon
Sled^tö wegen roenigften§, roo ift benn baoon etma§ ju lefen? S)ie
o§f etif^e Sitteratur mei^ bauon. ©ottfrieb Slrnolb fingt un§
in feinen ergreifenben fiiebern biefe SBat|rt)eit inS ^crj hinein.
9l6er bie 3)ogmatif fc^meigt barüber, fte fennt eine fold^e Se^re
überl^aupt ni^t. Unb wer ben ginger barauf legt unb betont:
l^ier l^anbelt e§ fid) um ba§ ^erj be§ 6^riftentum§: bem wirb
bebeutet, ba§ pielmel^r im ©^riftentum bie ©rlöfung ouf ba§
et^if(^e ©ebict übertragen ift unb mit bem jufammenfäflt, voa^
mir oon SSergebung ber ©ünben unb SSerfö^nung mit @ott
ju leieren Iiaben. Unb fo roenig wie bie mobemen 2:^eologen
wollen bie SBibUciften etwaö baoon wiffen, bie nur für biblifd^
galten, xoa^ im Jionoentifel Kur§ ^at. aWit anbern aBorten alfo:
waS für ^.ßautuS 21 unb O ber ^Jrömmigfeit war, foß ^eute über«
l^aupt nic^t mel^r jum ©t)riftentum gel^ören.
©^ ift gefc^idt)tlid^ oerftänblid^, wie e§ l^ierju gefommen ift.
Ä a f t a n: Qux ^oömatif. 315
3)i€ Srroavtung ber na^en SEBicbcrfunft bcS ^errn ift im jtüciten
Oa^t^unbert aümo^lii^ oerbtafet. S)ic ©tcKung, bic bic alten
E^riftcn jur SBcIt einnahmen, bic 2lnfirf)t Dom Scbcn unb bie
Scbcnöfü^rung, bie f\ö) il^nen barouS ergaben — b. 1^. alle§ ba§,
wa^ fic^ fär ]le an iene @rn}artung be§ naiven @nbe§ anfc^Iog^
mu^tc aufl^oren ober anberc JJormen annehmen. @§ \)at fid) in
bic Älöfter geflüci|tet, in i^nen ^at ftc^ bie urc^riftUc^e Stimmung
erhalten, nic^t unroefcnttic^ ücränbcrt, aber boc^ in bcm ®runb=
gebauten ber SBcltocrleugnung mit i^r jufammentreffenb. S)iefc
3nftitution ber alten unb mittelalterlichen Äirc^c l^at nun bie SHc*
formation permorfcn. SKit gutem ©runb! SBon SInfang an mar
bie mönd)if^e J^ömmigteit eine 93erffirjung beS 6^riftentum§ ge*
mefen. Unb bie ®ejc^id|te l^attc überbieg gelehrt, ba^ eine folc^e
©timmung, menn fxc ^iiftitution mirb unb auf Statuten geftellt,
i^re innere S33a]^rt)eit nur ju leicht Derliert, nici(t in alten aber
in oiclen, ja in ber SJlaffe jur ^euc^elei wirb unb auf eine Aar«
rifatur beS @^riftentum§ hinausläuft. 2Wit 9Je^t ^at alfo bie
Deformation alle§, ma§ SWönc^tum unb Slofterroefen ^ie§, au§*
gefc^ieben. 2lber fie ^at bann in biefem 5ßunft nid^tg
au bic Stelle ju fe^en gemußt.
SEBenn an irgenb etma^, fann man I)ierau ftubieren, oon
roelc^er unermefelidien 53cbeutung für un§, für unfere Äird)e unb
bie in i^r gepflegte g^ömmigfeit bie Seigre, bie ®ogmatit
ift. Sic Sinpitutionen ber !at^olifcf|en ^ird)c finb i^r fremb unb
fönncn in i^r nic^t mieber^ergeftellt merben. SEBie aber bas; Kf)riften*
tum brübeu Qnftitutiou ift, fo ift§ in ber Kird^e ber ^Reformation
@ l a u b e unb b. l). eben objef tio ausgeprägt fie^rc als ^luSbrud
beS ®laubcn§. SBeil bie Sieformation unb bie reformatorifd)c
i^eologie feine Se^rc oon ber ©rlöfung gefc^affen ^at, nur oon
5Bcrfö^uung unb SRed^tfertigung burc^ ©^rifti 2iob unb 2lufer*
ftc^ung roei|, begl^alb ift ein mefentlic^eS 9Woment be§ ©Triften*
tum§ in i^r unfid^er gemorbcn. Slud) bic ®ogmatif be§ ^ietiS*
mnS, ber biefem ^Rangel abiu^elfen fuc^t, l^at t)ieran ni^tS ju
befferu gemußt. ®er 5ßietiSmu§ ^at eö thm 5U feiner bleibenben
unb nac^l^altigen Sßirfung bringen fönncn, mcil er cS nid)t auf
eine SSerbcf f erung ber ße^rc abfal). 3Booon aber baS
316 ft a f t a n : 3«^ 5)oömatif.
nic^t gilt, bleibt in unfrcr Äird^e unfid^er unb pcr=
fct)It bic aBirfung auf 8 Oanje, 98olIenb§ liegt e§ ber ©e-
genioart fern, bie unerlebigte 2lufgabe anjugreifen. S)te neuen
^ropl^etcn, bie fic^ l^eute oernel^men laffen, meinen t)ielme^r, cS
fei an ber Qtxt, bie negatiüe „fat^olifd^e" ©teöung }ur SBelt auä
bem ©^riftentum au^jumcrsen. ^n meiner ^fugenb fuc^ten bie
greunbe @ötl^e§, bie fxä) jum S^riftentum betannten, ju jeigen,
ba^ aud^ er fein ^eibe gemefen fei. .^eute fc^eint er (auf bem
Ummeg über ©arlgle?) mel^r unb me^r ju einem ^eiligen er*
l)oben }u merben, t)on bem mir ba§ ma^re @it|riftentum ju lernen
^aben.
2lber ba§ fmb oorübergel^enbe Stimmungen. Unjmetfel^aft
ift e$ bie älufgabe unb bleibt e§ bie älufgabe ber eoangeltfc^en
^Dogmatil, 93erfäumte§ nac^ju^olen, bie fie^re non ber Sriöfung
bur^ ©lirifti Xoh unb 3luferfte^ung — a(§ Srlflfung oon ber
SEBelt unb bar um t)on ©ünbe unb '$Ui\ij — jU f Raffen unb
in ben SJlittelpunft ber c^riftU(^en SJerfünbigung unb Uebung ber
grömmigteit ju fteüen. SBirflid^ bringenb ift beSl^alb bie fjrage,
mie mir bie ^ier befprod)cnen ©ebanfentreife beö SIpoftete ^ißautu^
ju oermerten l^aben. 3)enn babei ^anbclt eS fic^ eben um bie je^t
l^eroorgeliobene Slufgabe, bie eine ber mid^tigften unter aflen ift.
3lict)t fotlen mir eine ^aulinifdie Seigre in ben 3^fö"iJw^"'
l^ang unferer ®ogmatif einführen. 3)aö ift überhaupt unb l^ier
erft re^t unmöglid). SBir lönnen nid)t mel^r lehren, ber Xoi
be§ ^errn fei bie SBenbe ber aSSeltjeitaltcr, ber gegenwärtigen
unb jutünftigen SBelt gemefen — etma§, maS Icine§ 9loc^n)eife§
meiter bebarf. älber au^ bei $aulu§ ^anbelt e§ fi^ ja gar nic^t
um eine fot^e Se^re. @rft menn mir e§ auS feinem 3Runbe
nähmen, mürbe e^ für un§ eine (tote) ße^re merben. 3m SRunbe
bc§ 9lpofteI§ ift e§ 3^^9ni^ ^^m @runberlebni§ beS 6^^riften.
3Ba§ ftc^ fragt, ift, ob bie§ mirüic^ an ben (für und ni(^t me^r
möglichen) ©ebantenjufammen^ang beS uri^riftlic^en ®Iauben§ ge«
bunbcn ift.
SDaS mirb niemanb, ber be§ inneren SebenS funbig ift, be*
l^aupten moßen. Q6) tamx ganjlic^ bal^ingefteHt fein laffen, maS
eS mit bem Snbe ber 3)inge auf fic^ ^at, ob e§ fommt unb mann
5e a f t a n : 3ur Dogmatil 817
e^ fommt, unb tonn bod| am Sterben unb 3luferfte^en Sefu
©^rifti bie gro^e SBenbc erleben, bie ^ineinoerfe^ung in ®otteS
eroigeS fieben unb bie 2lb!e^r Don ber SBelt. ®cr entf^eibenbe
?ßun!t ift nid)t ba§ ®rum unb 3)ran, fonbem bieS, ba^ ein
SWenf^ unb ob ein aWenfc^ im @n)igen aU in feiner
®egenn)art leben, unb bag er bie^ fieben im @n)igen
richtig Derfte^en lernt — rict)tig im Sinn 3^efu S^rifti unb
feiner erften QtuQzn. ©erabe ba§ Sterben 3f«fu al§ ber 2lbfd^Iu§
feines armen SebenS in ber SBelt einerfeitS, al8 ba8 gro^e Opfer
ber Siebe anbererfeit§, bietet baS SÄittet, jebem beutli^ ju madjen,
roorum e§ ftc^ ^anbelt, jebem, ber lialbmegS geöffnete Dfiren ^at.
^nbeffen, i^ mill unb barf l|ier ni^t roieber^olen, maS ic^
ol8 Se^re t)on ber ©rlöfung in ber 3)ogmatif oorgetragen ^abe.
Qcf) ^übt barin jufammengefa^t, n>a§ un§ ba§ 9leue Sieftament
bietet, nid)t du^erli^ jufammengebogen, fonbem au§ ber SBurjel
^erauS in feiner inneren ®in^eit aufgeroiefen. @anj pon felbft
ift e§ aber l)ier mie fonft namentlid) bie ^aulinifc^e 93er!ünbigung
geroefen, bie ben redeten SBeg jur äufon^ntenfaffung geroiefen f|at.
3Äan fann alfo an bem bort Vorgetragenen fe^en, in welcher
SBSeife ic^ biefe ©ebanfentreife beS SlpoftelS bogmatifd^ oermerten
ju foUen meine.
9totflrlid^ bilbe \6) mir nid)t ein, bamit bie fo bringenbe Sluf gäbe
roirfli^ gelöft gu ^aben. ©aoon fann bei einem folgen erften
SBerfuc^ teine SRebe fein. @§ fommt junäd^ft nur barauf an, bie
äufmerffam!eit auf bie 9tufgabe al8 folc^e ju lenten, bamit fie
in bie 3)i§!uffion eingeführt unb ernftlid^ angefaßt loerbe.
^od) möchte ic^ nid)t gern ben (Sinmanb ^ören, eS ^anble
fic^ in bem SBorgetragenen um geMnftelte ©ebanfen unb fompli*
gierte Se^re. Ober ben anbern, e§ fei baS etmaS, roaS bem mo*
bernen aufgefldrten SWenfc^en oöHig fern getreten unb fremb ge»
morben fei. 9Ber ba§ meint, foU nur oerfuc^en, im Sinn biefer
Se^re ju prebigen. @r wirb balb entbeden, ba§ fotc^e ^rebigt
aud) Ijeute offene O^ren unb fe^nfüc^tige ^erjen finbet. 3)a§ barf
ic^, ber ic^ fein g^embling auf ber Mangel bin, au§ eigener @r«
fa^rung begeugen. ?larf| nichts oerlangt bie Seele met)r, unb
nichts oerbinbet un§ S^riften inniger unter einanber al3 baS
818 ^ a f t a n: 3ur S)ogmoti!.
SBort oon Kfiriftt Sterben unb 2luferftc^en, ba§ roir au§ bem
5!Jlunbe feine§ größten 9Ipoftefö nehmen.
3.
3)ie ®eban!en be§ 2{pofteI§ fmb eine religiöfe, feine t^eo*
logif^e ®inf|eit — fo l^abe ic^ gleii^ SBtnfang8 geltenb gemacht.
SGBir bürfen ba^er anä) ben Uebergang Don ben bi§ je^t oerge-
genttJdrtigten ®eban!en be§ SlpoftelS über bie SBenbe ber SBelt*
jeitalter in ©^rifti 2;ob unb 2luferftet)ung ju ben anbern über
bie Offenbarung ber ©erec^tigfeit oor @ott in feinem ßreuj —
roir bürfen il|n nid^t birett fud^en. 2)ie eine Seutung IS^t fic^
nic^t au§ ber anbern ableiten, roeber biefe au§ jener nod^ jene
au§ biefer. 93eibe fte^en junäi^ft neben einanber. S)er innere
Sufammenl^ang ift nic^t tJ^eoIogifd^, fonbern burd^ bie (Sin^eit
be§ religiöfen @rlebniffe§ nermittelt.
9lämlic{), xva^ ^au(u§ unmittelbar erlebte, ma^ ben ^nl^alt
feine§ ®rlebniffe§ au^ma^te, mar ber ®eifte§empfang burc^ ben
®lauben an ®^riftu§, bie mpftifc^e ^Bereinigung mit i^m. Unb
barin erbtidt ^aulu§ mit bem gefamten Urc^riftentum ben Stu«
brud^ ber jufünftigen SBelt: bie ^eil§ju!unft ift jur ©egenmart
gemorben. Sann liegt aber barin ol^ne meitere§ jugleic^ bie ooU*
fommene ©ünbenoergebung ober bie SRed^tfertigung berer, bie
burrf> (J^riftum be§ göttlichen ®eifte§ unb SebenS teilhaftig ge«
morben fmb.
S)a§ ift ein innerer 3i4fö>""^^n]^öng, ber nic^t erft fonftruiert
ju werben braucht, oon bem fd)on bie Sßorgefc^id^te biefer ®e»
bauten in ber altteftamentli^en ®emeinbe verbürgt, baß er al§
fetbftDerftänbtid^ galt unb in aller ^erjen lebte. 3)a§ Seiben ift
©träfe für bie ©ünbe. S)ic Sitte um Vergebung ift ibentifd^
mit ber 53itte um 2lufl|ebung be§ ©trafoeri^ängniffeS b. ^. beS
Seiben§. Qu biefer Sluf^ebung mirb bie Vergebung erlebt. 2)em*
entfpred^enb mirb aud^ bie ^eitejutunft oorgeftellt. 3)ie ooHfom^
mene ©ünbeuüergebung ift bie 93ebingung ber ®rlöfung oon allem
Uebel unb bem 2:obe felbft. Ober umgefe^rt: bie ®rlöfung ifi
ber 2:^atermei§ ber Dotlfommenen 93ergebung. ^aben mir in
®f)viftu§ bie ©rtöfung unb ben ^iiS^ng jur gutünftigen SQSelt, fo
Raftan: 3ur ^oßtnati!. 319
ijt ba§ ber 2:^aterit)ei§ bcffcn, ba§ wir in it|m Sßcrgcbung unb
SHcc^tfcrtigimg ^abcn. 3n bcm ©mpfang be§ ®cifte§ liegt alfo
eo ipso bic 93crgcit)ifferung ber göttlichen SSergebung ober be§
rcc^tfertlgenben Urteil ®ottc§. ®§ war mittiin für ^aulu§ eine
£^atfa^e ber (Srfo^rung, ba^ i^m im @Iauben an (£^riftu§ @ün«
bcuDergebung ober SRe^tfertigung gegeben fei.
®al. 3, 1 — 3 erinnert ber Slpoftel bie Sefer baran, ba§ fie
burc^ bie ^rebigt be§ ®lauben§ ben ®eift empfangen ^aben.
3)aran fc^Iie^t er 95. 6 bie SBorte an : wie 2lbra^am ®ott glaubte,
unb i^m baS jur ®erec^tigteit gered^net rourbe — obmo^t im
aSor^erge^enben oon ber ^Rechtfertigung gar nicl|t bie SRebe ge*
loefen ift. ®in§ liegt eben unmittelbar im anbern: ber ©eifteS«
empfang ift 2:^atern)eig ber Sixatoouvyj. @benfo ift biefer not«
roenbige innere 3wfonimen^ang oon ©erec^tigteit unb Seben bie
al§ felbftoerftänblic^ genommene SSorau^fe^ung ber SIrgumentation
be§ 2lpoftel§ SRöm. 1, 18—5, 11. 2)entt man fie tiinmeg, fättt
bie ganje 93etrac^tung ^in. 2)a§ eben ®efagte ift alfo nid^t eine
^gpot^efe, bie man roiberlegen fönnte, fonbern etroa§, xoa^ bei
^auluS felbft offen ju tage liegt.
®anad^ ift ber 3wföntmen§ang roefentlid) anber§ ju beur*
teilen, al§ bei ^olften gefcl)ie^t. Q^^m jufotge empfängt $aulu§
au§ bem ®rlebni§ oor ®ama§fu§, ba§ i^n ber SWefftanität be§
©efreujigten oergemiffert, ben 2lnlag ju ber il^m eigentümlid)en
@noft§ be§ Sreujeg K^rifti, melclie jur dlteften urcf|riftlict)en ^re*
bigt in einen relativen ®egenfa^ tritt. ®a§ SRefultat biefer ®nofi§
ift feine SSerfünbigung oon ber ^Rechtfertigung burc^ ben ®lauben.
3n SEBal^rl^eit liegt bei ^autu§ in bem, ma§ er erlebt, bie aSer*
gebung ober Rechtfertigung implicite mit brin. 3)a^ er fte an
ben Job ©tirifti anfnüpft, oerftetit fic^ oon felbft. 3)enn fo l|at
er e§ empfangen, unb fo ift e§ oon Slnfang an in ben ©emein«
ben oerfünbigt roorben, ba§ (£t)riftu§ geftorben fei für unfere
©ünben nad^ ber ©c^rift. Stlfo baju l^at e§ nid^t erft einer bog==
matifdien Ueberlegung beburft, beren fic^ ^aulu§ al§ etioa§ ©on*
berlii^en bemüht geroefen märe. @r ift au(^ in biefer 93ejie^ung
einfad) in bie SSerfünbigung eingetreten, bie in ber urc{)riftlict)cn
©emeinbe gang unb göbe mar. ®ann t)at fi^ freiließ bei ^aulu§
i 320 Ä a f t a n: 3ur "^oqmakit
oßmä^Iid^ ein bcfonbercr 2:gpu8 biefcr aScrfünbigung entroicfelt.
®a§ ftc^t im 3wfQnintßn^an9 mit feiner Stellung jum ©efe^.
S)arauf \)at bat)cr and) bic Äontroocrfe übet ba§ @efe^ einen
@inf(u^ ausgeübt. 9lber baS ift ein Späteres^ aamäilic^ @e«
morbcneS unb nic^t ba§ ©runbgefüge aller ^aulinifc^en SBerfün*
fünbigung, meber 3lnfangig noc^ jemals im weiteren SSerlauf.
5Jiatürlic^ fann unb foll ni(^t oon norn^erein abgelehnt wer»
ben, ba^ e§ mit ben babei tierauSgefommenen ©ebanlen bic pon
^^olften betiauptete ober boc^ eine ätinlic^e S3eroanbtnig ^at.
933ir werben ja [e§eu, mie e§ fic^ bamit »erhält, roenn mir gleich nä^er
auf bie ©ac^e eingeben. S)ie ^auptfad)c ift, ba| ^olften in
ber 9lrt, mie er ben 3wfammen^ang üorftctit,
irrt. @§ ift nid^t an bem, ba§ ^aulu§ ftc^ als SBorauS»
f e § u n g feiner SSertünbigung eine 2:^eorie ausgebaut ^ätte, bie
in einen (relativen) @egenfa§ ju ber oon i^m oorgefunbcnen ge*
treten märe. ®§ ^anbelt fid| in i^r oielmel^r jebenfaHS um eine
befonbere 2lu§prägung gemeinc^riftlic^er ©ebantcn. Unb man ^at
eS ftd^ fo oor^uftellen, bag aKe biefe @ebanfen bei ^auluS leben«
big unb flüffig maren.
^iernac^ mug fic^ au^ bie 3etrac^tung§meife richten. 9Bir
^aben aud^ t|ier nid^t etma hinter allen l^ierl^ergel^örigen Sleuge«
rungen be§ SlpoftelS eine fefte, fic^ überall gleich bleibenbe Si^eorie
}u fuc^en, fonbern mir ^aben ben SSerfuc^ ju machen, ob mir
un§ bie 5Ber!ünbigung beS 2lpoftelS al§ ein ^robutt auS ben oer«
fc^iebenen babei gufammenmirfenben tJ^ftoren erHären fönnen.
9tur fo merben mir anö) biefe S)eutung be8 SobeS ß^rifti bei
^^auluS als etmaS SebenbigeS oerfte^en lernen.
2lllererft ift aber ju betonen, ba| auc^ in biefem 3ufönimen«
^ang bem ©runbgebanfen beS SReuen SeftamcntS oon ber gegen*
märtig gemorbenen ^eilSjufunft maggebenbe ^ebeutung jutommt.
SB i r tiaben unS längft gemötint, bie Sünbenoergebung ober SRed^t»
fertigung als ^rinjip ber c^riftlic^en grömmigteit oon ben @e*
banfen über baS erfc^ienene @nbe gänjlic^ iu trennen. Slatflrlid^
^aben mir baS getf)an, mir fonnen gar nic^t anberS. (£8 ifi
©otteS gü^rung in ber Äird^e, baS 2tuSbleiben ber SBieberfunft
3^efu, maS baju genötigt ^at. Slber mir bürfen baS nic^t in baS
H a f t a n : 3ui Dogmatil. 321
.9}eue ä^eftament gurüdftragen. ^ier gel^ört (iDietd^ o6en fd)on auä«
führte) @üttbenDerge6ung unb ^Rechtfertigung mit ber @rlöfung
unb 9Be(t9erHärung nottoenbig jufammen. S)a§ ift nid^t fpejififc^
$aulinif(^, fonbem aQgemein urc^riftlic^. S)amit, ba^ ha§ @nbe
ber SBelt avL\ unS getommen ift, ift e§ Dertnüpft, ober bamit ift
e§ gegeben, bo^ xüxx bie PoQtontmene SSergebung ber @ünben
^aben: ber aber unS ou^gegoffene @eift ift ber 2;i^atern)eiS beffen.
©pejififd^ 5ßaulinifc^ ift eö jeboc^, ba^ er ftatt Don ber SSer«
gebung ber ©ünben oon ber SRed^tfertigung rebet — roe*
nigftenö burdiroeg, bie SDSortDerbinbung äcpeat; töv ifiapitöv fommt
nur fetten bei i^m oor. ©emeint ift mit ber SRed^tfertigung ba§*
felbe, benn $aulu§ Derfte^t barunter, xoa^ x6) als anerfannt oor^
ausfegen barf, baS freifpred^enbe, loäfprec^enbe Urteil ®otte§ über
bie ©finber. 9io^ beftimmter als ber SerminuS „©ünbenoer*
gebung" roeift aber biefer anbere ScrminuS „SRec^tfertigung" auf
ba§ nunmehr erfc^ienene @nbe ber SBelt ^in. Sie Ste^t«
fertigung ift gar nid^tS anbereS als baS freifpred^enbe Urteil @otteS
im jüngften (Scric^t. SRöm. 2, 13 in bem ßufammen^ang, in bem
'ißauluS jeigt, ba| bie 3Renfc^en, Quben wie Reiben, otine ©^riftuS
bem gottlidien ßorn oerfaüen muffen, finben mir baS SSäort aud)
bei i^m in biefem feinem urfprflnglic^en ßufammenl^ang gebraust,
©agt er oon ben ©Triften, bafe fie nun gerecht ftnb oor ®ott
bur^ ben ©lauben, unb bejei^net er biefe @ered^tigfeit auS bem
@lauben als Hauptinhalt feines (SoangeliumS, fo fpric^t er aud)
bamit aus, ba| bie SSoUenbung ba, bie ^eitSjutunft jur ©egenmart
gemorben ift. 9Bobei bann freiließ ^ier befonberS in ©ebanfen
behalten merben muJ5, baj5 bie 3iifw^ft anbrerfeitS nic^t aufge*
^ört ^at, jufünftig ju fein — bie paraboje SSorfteßung, bie für
baS Uri^riftentum unb baS SReue 2:eftament d^arafteriftifc^ ift.
^tagen mir roeiter, mie ^autuS baju tommt, biefcn 2:ermi*
nuS ber ^Rechtfertigung in ben 3wfommen^ang ber c^riftlidjen
aSerfünbigung einjufül(ren, fo ift bie näc^fte 2lntroort leicht: eS
ift ber oormalige ^^arifäer, ber baS tl|ut. ®S mar baS ein fefter
JerminuS ber p^arifäifctjen ©ogmatit. 3)aS ift niclitS, als maS
mir burd^meg im 9leuen 2:eftament unb auc^ fonft in großen
geifiigen 93eroegungen finben: bie Söäorte merben auS ber aScr«'
3dtf<^rift für «Geologie unb Stixdft. 14. 3o^rfl., 4. $eft. 22
322 Ä tt f t a n : 3ur ^oßmatit
gangen^eit ^erübergenommen^ erhalten nun aber im neuen 3^'
fammen^ang einen neuen ©inn. ©o au^ ^ier ! SÄber ^ier gerabe
n)irb e§ ni(^t iufädig ober unben)u^t ftc^ fo geftaltet ^aben. @S ift
beiDu^te ^bftd^t, bie babei gehaltet ^at ^auluS \)at }um Stu^-
brudE bringen n)o((en ben ©egenfa^ be^ SnangeliumS gegen bie
p^orifäifc^e ©runbanfd^auung. 3)e§^alb bebient er fid^ be^felben
SBorteS, aber im entgegengefc^ten ©inn: Siec^tfertigung, aber
nid^t n)ie bie ^^arifder lehren, auf gute 3B3erfe l^in, jo baj3 ©ort
mittelft biefeö Urteils eine im 3Jienf(^en nor^anbene ©erec^tigfeit
anerfennt, — nein, ®ott red^tfertigt ben ©ottlofen, SRed^tfertigung
o^ne be§ ©efetjeS 9Berf e allein burd^ ben ©tauben ! ©o wirb ber
©egenfa^ jmifd^en ber p^arifäif(^en älnfc^auung unb bem @pan<
geUum non ©^rifto auf§ S)eutlid^fte, auf§ ©c^rofffte ausgeprägt,
fragen wir bann aber roieber nac^ bem ©runb biefer 93er!ün*
bigung, fo werben mir i^n ni^t mit ^olften in einer neuen
S^eorie über ben 2;ob ®^rifti fud)en. ®a§ bilbet jmar ben feften
unb felbftoerftänblid^en ^intergrunb, ba^ ber 2:ob beS ^eilanbS
bie l^ier in ^etrai^t tommenbe 2:()atfac^e ift. 9lber baS ^at ^au^
Iu§ au§ ber Ueberlicferung empfangen : er ift geftorben für unfere
©ünben nad^ ber ©^rift! 3Ba§ fic^ fragt, ift, roie er baju ge«
fommen ift, im Unterfc^ieb oon ben anbern ben ©rtrag beg io*
beS S^rifti für bie ©emeinbe in biefe antip^arifäifc^e g^rm ju
f äffen: SRed^tfertigung bur^ ben ©lauben!
Offenbar ift e§ bie ©teOung be§ 3lpoftel§ jum ©efe^, bie
ba entfd^eibenb in 93etrac^t {ommt. ©c^on ganj im -JtOgemeinen.
@r ^at eS mit bem ©efe^ unb ben oäterlic^en Ueberlieferungen
in jeber SBeife oerfu^t. Slber oergeblid^! ©ine oor ©ott genu*
genbe ©ered^tigfeit ift auf biefem 2Beg nic^t ju erreichen. 3)aS
ift aud^ nic^t ©otteS SEBitte. 9lu§ ©naben, mie ber 3lpoftel je^t
felbft erfaliren l^at, giebt er bem ©lauben. 3)a§ ©efe|; ifi gar
nid^t baju gegeben, um alS ^eilSprinjip ju bienen, eS ift nur
jroifc^eneingefommen jmift^en 33er^ei§ung unb ©rfüüung, um ju
oer^üten, bafe S^fraet oor ber ooii ©ott beftimmten Qtxt be§ ©rbe§
teilhaftig rolrb.
ajlittelft biefer ©rtenntniS ^ebt ^aulu« bie 2:]^oro in ber
c^riftli^en ©emeinbe auS ben 2lngeln — nic^t blo^ für bie in
Ä a f t a tt : 3"!^ S)ogmatif. 323
fte eintrctcnbcn Reiben, fonbcrn auc^ für bie oormaligen 3>ubcn.
Unb mit biefet feiner Stellung )um @efe^ ^angt e§ offenbar }u«
fammen, bag $autu§ ftc^ jum Slpoftel ber Reiben, jum SSertfln«
biger be§ SDongeliumS in ber aSöIferroelt berufen roei^. ®eun
bQ§ ift i^m, TOo^t Don feiner ©efetirung unb ©erufung l^er (®at.
1, 16), innere ©eroi^^eit, ba§ @ott it)n baju beftimmt ^at. 9lä*
^cre§ erfahren roir barüber nic^t. 2Bir fönnen nic^t fagen, ob
$au[u§ bei bem @rle6ni§ oon 9)QmaS!uiS eine @timme l^örte, bie
i^tn einen fo(c^en Sluftrag gab, ober ob e§, atS er nun in bie
SSeifünbigung eintrat unb i^m bie neue (ScfenntniiS be§ @efe^e§
fic^ feftfteÖite, ob eS i^m im 3"fömmen^ang bamit (xax' inoy.ciX\)^iy
naturlid)) jur inneren ©eroi^^eit geworben ift, ^ier liege bie oon
(Sott i^m jugeroiefene aufgäbe. 3Q8ie gefagt, ba§ miffen mir nid^t,
ba 5|}aulu§ un8 nid^tS barüber gefagt t|at. Ob aber fo ober fo, jeben*
falls ^öngt es mit ber pl^rung beS ätpoftelS burd^ baS ®efe^
jum ©oangelium jufammen, ba§ er ber Slpoftel ber Reiben ge*
roorben ift, unb ba§ er ben ®rtrag be§ 2:obe§ S^rifti für unfere
Sünben in biefe ^^rm gefaxt ^at: ^Rechtfertigung o^ne ba§ ®e*
fe§ burd^ ben Olauben.
älQein, bieS genfigt nod^ ni(^t jur @rflarung. 9Ba§ bis j|e^t
ertoogen mürbe, reicht nid^t meiter, at§ ha^ bamit bie 2:^ora unb
baS fieben nac^ i^ren Orbnungen für bie d^riftlic^e ©emeinbe,
3uben mie Reiben, inbifferenjiert mirb. Obmo^l auc^ ba§ fd^on
eine gro|e ©aifte ift. 3)arum ^anbelt e§ fic^ oor allem ®al. 2, 1 1
big 21. STber ?ßaulu8 ^at ber ganjen 2;t|ora, auc^ bem Sitten*
gefe^ in it|r, überl)aupt bem ®efe^ als ®efe^ jiebe 93cbeutung
in ber d^riftlii^en ®emeinbe abgefproc^en. ®aS „otine bcS ®e«
fc^eS aSäerfe" befaßt auc^ bie SBcrfe beS fittli^en ®e^orfamS
gegen ©otteS ®ebot unb ®efe§ unter fidi. Unb baS ju erflären
reicht boc^ ber ®egenfa^ beS SlpoftelS gegen bie £^ora als ^eilS«
prinjip nic^t auS.
SDSir merben unS ^ier oietmetir beffen erinnern muffen, bafe
5ßauluS bie ©rfd^einung beS §errn, bie xi)n oon ber SBelt er*
löfte unb befreite, als eine neue Kraft beS fittlidien SebenS er»
fu^r. ^e^t ftrömte i^m ju^ maS er unter bem ®efe^ oergeblic^
erfetint unb erftrebt ^atte. ^fefet ertennt er: ber ©taub unter
22*
324 Saftan: 3ur ^ogtnatil
bem @efe$ ift ein @tanb unter ber ^errfd^aft beS f^eif^eS unb
ber Sünbe. SBir aber werben nic^t me^r Don ber ©ünbc be*
t)errf^t weit von nic^t me^r unter bem ®efe§ finb, fonbem un*
ter ber ®nabe Stöm. 6, 14. ^a, ba§ ®efet( ift eine Orbnung
®otte8 in ber atten ©elt ht^ gleifc^S. Sfubem wir mit E^riftu»
ber SBelt unb ber @ünbe geftorben ftnb, ftnb mir aud) bem ®e*
fe^ geftorben. ällfo ^aben mir ani) ba§ ®efe^ nic^t oon ®ott
erhalten, um baburd^ geredet p merben. 2)ad ®efe^ ^at bamit
gar ni^t^ ju t^un unb ebenfomenig unfere äBerte. C^riftu^ ifi
un^ gegeben, ba^ mir burd^ ben ®(auben an i^n geredet merben
unb ba§ Seben ererben. 9tec^tferttgung mithin o^ne beS @efe^e$
3Berfe aQein burd^ ben ®Iauben!
^(fo, meil ^aulu§ bie ®nabe ®otteS als bie ftttli^ be«
freienbe Äraft erfal^ren ^at, uermirft er ba8 ®efe^, au^ ba*
@ittengefe^, fd)(ec^tmeg alS ^ebingung beS ^eilS. 3)a^ mir
ba§ ®efe^ erfüllen, ift nid^t bie porlaufenbe Siebingung beS ^eil^
empfangi^. ®ott giebt ba§ ^eil, er re^tfertigt und bebingungd*
Io§. ^a§ ®efe^ ju erfüQen fäDt und im ^eitöempfang fe(ber
a(§ ein integrierenbeS SJloment bedfetben ju. SBenn ba^er auS
feiner ^rebigt pon ber SRe^tfertigung unb ber für bicfen Qa*
fammen^ang üoQsogenen Slbrogierung bed ®efe^ed gefolgert mirb :
alf 0 motten mir ber ©ünbe bienen ! — f o antmortet er : wie f ott«
ten mir, ba mir ja ber Sünbe gefiorben ftnb ? I^ier jeigt ftc^ ba«
^er beutti^, ba^ für ^aulud felbft bie an erfter @teOe befpro^ene
®ebantenrei^e ^ebingung unb äJoraudfe^ung feiner ^^rebigt oon
ber 9led)tfertigung ift.
älber no^ ein anbereS äRoment greift t|ier beftimmenb ein.
3)ad ift bie Stelle ber ®eneft8 über Slbra^am : älbra^am glaubte
@ott, unb bod marb i^m pxx ®erec^tigteit gered^net. ätngefid^td
®al. 3 unb 9{öm. 4 fd^eint eS mir unmöglich, }u oerfennen, bag
bie§ SBort auf bie 93ilbung ber ^aulinifd^en ®ebanfen unb gor*
me(n entf^eibenb eingemirtt ^at. SSiedeic^t ift ed i^m in ber
3eit be§ (SifernS um baS ®efe^ fdjon ein 9lnfto6 gemefen unb
mirb i^m je^t na^ ber großen SBenbe in feinem Seben }ur @tü^e
unb 3um feften 3ln^alt. 0^rei(id^, iened ift nur eine immerhin
gemagte 93ermutung, um fo gemiffer bagegen bui jmeite. 9)ad
^ a f t a n : Qux ^ogmati!. 825
SSBott tft i^m 3um @d^(üffel fftr baS äSerftänbniS ber Dorange^
gangcncn ®ottc§offcnbarung gcioorbcn. ^n Slbral^am \)at ®ott
bie @emeinbe ber ©laubigen begrünbet, haS @efe^ tft nur )n)t='
ft^eneingefommen, roa^ bamalS SJer^ei^ung war, ift je^t in S^riftuS
iSrfüQung gen)orben. 2)amit tft ba§ @efe|| aud^ logifdi^prinsipieK
in ber ^riftU(i)en ©emeinbe au8gef(^Ioffen. ®enn Sßer^ei^ung
ober @nabe unb ©laube auf ber einen, @efe^ unb ©el^orfam auf
ber anbem (Seite ftnb oerfc^iebene, einanber auSfc^lte^enbe ^rin*
}ipien. 3)ie ©emeinbe ©otteg ift aber auf ©nabe unb ©tauben
gegrfinbet oon Slnfang an, t)on ben klagen Slbra^amS l^er —
bamit ift ba§ ©efe^ auägefc^Ioffen. Uit)n:)eifel^aft ift bieS SQBort
Aber älbra^am unb feinen ©tauben für ben 3lpoftet ^dfvozt in bie
Sßagf^ate gefallen. ©§ ^at ben)irft, ba| eS ^ei^t: burd) ben
©lauben — o^ne beS ©efe^eS SEBerfe burd^ ben ©tauben. 2)a§
ftnb bie gaftoren, au8 beren 3wfammenn)irfen ftc^ bie üon ^au«
(u§ gebitbete formet erftärt: 9iec^tfertigung ol^ne beS ©efe^e§
9Ber!e burc^ ben ©tauben!
53ei alte bem bilbet ieboc^, roie gleid^ SlnfangS betont rourbe,
ber 3:ob (S^rifti für unfere ©ünben na^ ber ©c^rift ben hinter*
grunb, bie fetbftoerftänblid^e unb unerläßliche 93orau§fe^ung. 9iun
fragt eS ftc^, mit $autu^ ben Zoh S^rifti in biefem 3itf<^inmen'
^ang oerftanben unb gebeutet ^at.
3)a ift aber vor altem ju betonen, baß baS „nac^ ber Schrift''
für $autu§ an unb für ft^ f(^on ein entfdjeibenbe^ äRoment ift.
©ine rein autoritatioe 93en)eigfüt|rung mitt unS nid^t einleuchten,
eine nebenher taufenbe fa^lic^e 9notit)ierung f^eint unS unertäB'
lic!^ 3u fein. 3)anad^ beurteilen mir bann auc^ ben 9lpoftet. 93ol«
lenbS fdnnen mir e^ nic^t reimen, baß man allen ©rnfteS fo ar«
gumentiert unb glei(^jeitig bie ©d^riftmorte, auf bie man fic^
ftü^t, nic^t gefc^ii^ttid^ beutet, fonbern t^nen einen ©inn anS bem
©igenen unterlegt. S)a§ f^eint un§ ein offenbarer SBiberfprud^
}u fein, ben mir unmitttürtic^ auc^ bem älpoftet nic^t zutrauen ju
bürfen meinen. Unb boc^ ift nid^t§ gemiffer, al§ baß er ber ejc*
getifc^en Äunft feiner Qtit entfprec^enb fo argumentiert ^at. 3tm
te^rrei^ften f^eint mir in biefer öejiel^ung ba§ je^nte Äapitel
bc8 SRömerbriefS ju fein. SSäaS mir ba tefen, ift ein ©d^riftbe*
326 ^ a f t a n : Qux Dogmatil
roei§ im ftrengen ©inn be§ SBortS: ba§ 93en)cifenbc ift ba§ au*
toritatipc ©^riftroort al8 folc^cg, freilid^ in ber ©cutung, bie
$aulu8 i^nt gicbt, aber fo, ba^ bcr Äcrn ber 2Irgumcntation,
mit bcm ftc ftc^t unb fällt, ba§ „c8 fte^t gcfc^ricbcn" ift. 3)aoon
mollcn aber bie 2lu§leger in ber SRegel nid^t§ miffen. Ober ric^«
tiger: meil e§ ilinen nic^t einleud^tet, benfen fte gar nic^t baran,
bag ^^auluS eS fo gemeint liaben lönnte. 2)arauf^in oerroanbeln
fie bie flare ©ebanfenentmidtelung beS Seyteg in rounberlic^e ©e»
ban!enfpielereien, bie jte ^icr vorgetragen finben. 2luc^ fonft finbet
fid^ älel^nli^e§ genug, in ber äluSlegung Don @al. 3 unb 9löm. 4
jum 93eifpiel. demgegenüber ift ber roirflidje ©ac^oer^att, bafe
5ßaulu§ eben boc^ in biefer SBeife argumentiert ^at, nad^brücflic^
ju betonen. Mererft barau§ ergiebt fid^ ba§ (Semi^t ber SBorte
„nad^ ber ©d^rif t" in ber ©runbf ormel : er ift geftorben für um
fere ©ünben nad^ ber ©d^rift.
SZatürlid^ aber, e§ ift etwa« ganj SBeftimmteS unb Äonfrete§
in ber ©d^rift, roa§ er babei im Sluge l^at. Unb e§ fragt fic^
nun weiter, n)a§ ba§ ift. ®ie Slntroort mu^ lauten : ba§ Opfer.
Sieben bem Opfer l^at in ber ©^rift, roenn mir uon üercinjelten
©teilen über ba§ Seiben ber ©ereilten abfegen, ^ef. 53 bem ur*
c^riftlid^en teufen (mie au^ un§ ^eute nod^) einen älnl^alt^punh
für ba§ aSerflänbnig be§ Sobe§ (E^rifti nad^ ber ©^rift geboten.
S3ei $aulu§ fet|lt aber jebe unsroeibeutige Sejugna^me auf ^i^f- 63.
dagegen oermertet er roieberl^olt ben Opfergebanfen. ällfo ift e§
flar, ba§ er bie§ meint, menn er oon bem 2:obe S^rifti für um
fere ©ünben nac^ ber ©d^rift rebet, — übrigen^ au6) barin
mo§l ftc^ feiner befonberen S^eorie, fonbern be8 ©inflangS mit
bem urd^riftlid^en S)enfen berouj^t.
@§ finb freili^ nur wenige ©teilen, in bcnen auf ba§ Opfer
auSbrüälic^ %e)ug genommen wirb, eigentlich au^er bem äSerglei^
mit bem ^aff a^opfer, 1 Äor. 5, 7, nur in bilblid^er Siebe ©p^. 5, 2
unb au§fül)rlic^er baS einjige 9Wal Stöm. 3, 25 unb 26. aber
mir bürfen annelimen, ba§ ber Opfergebanfe überhaupt ben^iit*
tcrgrunb bilbet unb überall gemeint ift, mo o^ne nähere Stu^fü^»
rung oon bem 2:ob be§ ^eilanbS für bie ©ünben ober oon bet
»ebeutung feinet 93lute§ bie Siebe ift. gür ba§ aSerftänbni«
$1 a f t a n : 3ui: ^ogmatii 327
fxnb loir aber auf bic eine SRömerfteHe angcrotefen.
^ier nun wirb ber £ob ^t^n ©^rifti mit bem ^ol^epriefters
liefen Opfer am großen S3erfö^nung3tage oerglic^en. @ott l^at
barin bie längft oorgefel^ene neuteftamentli^e ©nabenorbnung auf*
gerichtet. 2)er am ^reuj ^ängenbe^ mit ^(ut überfträmte ^eilanb
ip bie Äapporetl^ in ber ©emeinbe beS 9leuen 95unbe§, l^ier ftnbet
ber ©laube ben gnäbigen @ott, ber bie ©finbe oergiebt. Unb
ba§ bejeid^net $au(u^ jugleid) al§ bie Offenbarung ber ©ere^tig«
feit ®otte§ für ben ©lauben 3, 21. 3)enn c8 leibet mo^l feinen
3roeifel, ba§ er bort fc^on bei bem Tiecpav^pwiat ben %oh Qefu
S(|rifti im Sinn l^at. ^ier ift alfo aud) bie Kombination be§
OpfergebanfenS mit ber SRe^tfertigung burc^ ben ©lauben ooH*
jogen. dagegen ift gar nicf|t§ oon einer ber göttlichen ©trafge*
rec^tigteit geleifteten ©enugtl^uung gefagt. ®a^ ift lebiglid^ ®in=
tragung. Q6) fomme weiterhin barauf jurürf. ^ier mag jur
3Bibcr(egung genügen, ba§ e§ bann ^ei^en mü^te: auf baj3 er
fei gered)t unb re^tfertige benSünber. ©§ ^ei§t ftatt beff en :
5txatov xal Stxatoövta töv ix maxecog (Irjaoö). 3Ba§ i^m bei bie*
fen SBBorten oorfc^mebt, ift nic^t ein 9lu§gleid) jmif^en @otte§
©eredjtigfeit unb feiner ©nabe gegen bie ©ünbe. 9Sietmet|r leitet
er ba8 Stxatoöv feitenS ©otte§ barau§ ah, ba^ ©Ott StxaLo; ift,
mic 1 3^0^. 1, 7 bie Vergebung ber ©ünben auf bie ©erec^tigfeit
@otte§ jurüdtgefü^rt mirb.
9Kan fönnte fagen: e§ liegt aber bod) im ©ebanfen oom
Opfer, ba& in i^m ©ott eine ®aht bargebra^t mirb; ber Sßer»
gleich a(§ fol^er enthält ba^er unmittelbar ben^inroeiS auf eine
SEBirfung in ©ott, bie mit bem Sob ©lirifti beabfxc^tigt unb erjielt
roorbcn ift ; ot|ne meitereä ift babur(^ biefe S^atf ad^e in ba§ Si^t
einer menfc^Iid^en Seiftung gefteüt, bie eine gnäbige ©efmnung in
©Ott ^eroorruft. SÄn unb für fid) märe ha^ ganj rid)tig. ®a8
liegt im Opfergebanfen at§ folc^em. Stber ba§ 2luffallenbe, um
nic^t ju fagen SBerblüffenbe, ift bie§, ba§ ?ßaulu§ nirgenbg ben
Opfergebanfen in biefem ©inn menbct. 6^riftu§, ber ba§ Opfer
bringt, fommt nic^t als ©teüoertreter ber SJlenfc^en ©ott gegen«
über ju fte^n, fonbern al§ ber, burd^ ben ©ott feine Siebe be*
t^dtigt. ©0 SRöm. 3, 25 f. unb namentlid) 9töm. 5, 6 u. 8. SJlu^
328 Loftan: 3ur Xogtnatif.
pon einer 93erfd^nung @otteS mit ben Snenfd^en toei^ $quIu^
nid^tS, fonbern nur oon einer SSerfö^nung ber 37lenfc^en mit ®ott
bur^ ^efum ß^^riftum.
9lun lie^e ftc^ ^mor ein ätuiSgleid^ treffen. äJIan !dnnte barauf
Dermeifen, bo^ ba§ Opfer fc^on im Sllten 2:eftament nic^t al^ eine
menfd^li^e £eiftung gemertet n)irb^ bie al& fol^e, qI§ menfc^Uc^e
fieiftung fül^nenbe Äraft ^at. ©eine SBirfung beruht ftatt beffeii
fc^Iie|ttd^ barauf, ba^ @ott feinem 93otf baS Opfer gegeben ^at
jur SBebedCung feiner ©ünben. 2)a ift alfo baS Opfer fc^on ba*
l^in umgebogen, ba^ ed nid^t als menfd^lid^e§ 2^un, fonbern afö
göttli^e @abe n)irffam ift. 9Ba§ auf Seiten ber SAenfc^en in
SBetrad^t fommt, ift bie bußfertige ©ejinnung, in ber fie ©otteS
@abe aufnel^men. 3Jlan !dnnte fagen, in biefer fiinie liege bie
SSermertung be§ OpfergebantenS bei $au(uiS. 3)ann bliebe ber
©runbgebante ber, baß ®ott im £obe ßi^rifti bie neuteftament»
Uc^e @nabenorbnung aufgeri^tet ^at. Unb ber ©e^orfam ^^efu,
in welchem er fic^ al8 SWittler für bie SJermirflic^ung ber gott*
lid^en @nabe bemä^rt l^at, mare e§, morauf bai^ SBo^IgefaQen beS
SSaterS ru^te {mm. 5, 19; $^i(. 2, 8). Mt^ ©ac^Iid^e märe av^
gef^Ioffen, baS ^erfönlid^e aU foIc^eS träte als baS äBefentli^e
l^eroor. 2lttein — ic^ ameifte ftarf, baß ^auIuS biefe Äombina«
tion ooQjogen ^at. @ie paßt ju gut in eine heutige 3)ogmatit
auc^ in bie meinige j. 93., um als ^aulinifc^ qnjumuten. 9Bo
t^eologifc^e 2:i^eorien in t^rage fte^n, ift immer ma^r«
fc^einlic^, baß, maS unS ^eute befriebigt, bem (SebantenfretS ber
neuteftamentlid^en Slutoren fem lag unb umgefe^rt. ^6) mage ba«
l^er ni(^t ju behaupten, ^auIuS ^abe in ber eben nerfuc^ten SSBeife
refieftiert. Sffiie bem fei, id^ ftetle eS einftmeilen jurüdC, um ben*
jenigen äleußerungen beS 9tpoftelS nad^}uge^n, in benen er gmeifet«
loS ben 2:ob beS |)ei(anbS als fteQoertretenbeS ©trafleiben wertet.
3^ fomme jum ©d^luß auf bie je^t ermähnte Srage jurudC.
®ie äleußerungen bcS 2lpoftelS über baS fteüoertretcnbc ©traf»
leiben, bie id^ meine, fmb aber bie 2tuSfprfid)e ®al. 3, 13 unb
Stol 2, 14. SBeibe fmb am ©efefe orientiert. 2ln ber ©alaterftefle
^eißt eS, ©liriftuS ^abe unS loSgcfauft oom g^ud) beS ©efe^eS,
inbem er am Kreuje ^ängenb ein gludt) warb für unS. 35er 3«*
ft a f t a n: Qm Dogmatil 329
fammen^ang ift ber: $qu(u§ ^at au§ ber (Schrift betoiefen, ba^
c8 ber ©taube (unb nid^t etioa bie 93efc^neibung) ift, looburd^ man
ein älbra^amStinb n)irb unb 3luSftci^t auf ba§ Der^ei^ene @rbe
gennnnt. @6enfo i)at er auS ber @^rift ben)iefen, ba^ baS (Se-
fe^, ftatt jum ^eil ju filieren, unter ben glu^ oerl^aftet. ©eine
@egner wollten ben ©alatem einreben, bie SBefd^neibung fei not*
n)enbig, um be§ 9l6ra^am§fegen§ teilhaftig ju rottbtn, unb nur
bur^ baS ®efe^ fül^re ber 9Q3eg jum £eben. ^nx6) ben ®egen«
fa^ ^terju ift bie Siebe be§ StpoftelS bebingt, wu er aud^ au8
bemfetben @runbe ade^ au§ ber Schrift bemeift, meil jebe anbere
SeroeiSfül^rung in ber gegebenen Situation unmirffam gemefen
wäre. S)iefe ®ebanfcnreit|e bringt er aber bann gum 2lbfc^lu§,
inbem er barauf oerroeift, ba§ ©l^riftu? für un§ ben @trafflu(^
beS @efe^e$ getragen ^at fo baj^ roir il^m entronnen fmb, maS
gleid^faU^ auS ©d^riftfteden ben)iefen mirb.
SBieberum an ber ^oIofferfteQe (2, 14) ^ei^t e§, ®ott ^abe
bie roiber und (autenbe ^anbf^rift beS ®efe^e§ auS bem äJlittel
get^an unb auSgeIdfd)t, inbem er fie anS ^reuj nagelte. S)ag ift
bilblic^ gerebet. Slber offenbar ift ber ©ebante berfelbe mie ®at.
3, 13. Unb ba§ ift beig^alb mertooK^ weil im Solofferbrief ber
©(i^riftberoeiS fe^It. S3ei ber ®alaterftelle fann man fragen, ob
ber @ebante ^ier nid)t lebiglid) au§ ber Kombination ber beiben
angefül^rten ©d)riftftellen ermac^fen ift. greilid^ ift baS an unb
fär fic^ f^on nic^t ma^rf^einlic^; eS ift aber boc^ mertooK, ba^
biefe Slnna^me burc^ bie Äolofferftelle ftrifte miberlcgt mirb. ®enn
fie beroeift, ba^ eS ein bem 2lpofteI auc^ au^erl^alb beS fpejiellen
3ufammen^ang§ feftfte^enber ®eban!e geroefen ift, ben 2:ob ©^rifti
am ®efe^ ju beuten: er ^at ben ©trafflud^ be^ ®efe^e§ getragen
unb ^at i^n babur^ für bie unroirffam gemacht, auf benen er lag.
hieran tnüpft fic^ nun bie grage, ob bieg oielleid)t ber lei-
tenbe ®ebanfe beS SlpoftetS bei bem SSetftänbniS beS SobeS (S:§rifti
geroefen ift, ba§ er im 3^fönin^^"^ö"9 feiner ^rebigt üon ber
SRe^tfertigung oorgetragen l)at. ajJeine§ Srad^tenö iebod^ mu§
biefe Srage junäc^ft roenigftenö — auf ben 3"fött^"i^tt^ö^9 ^^^
beiben ©teilen gefc^n — runbmeg ocrneint merben. Unb jmar,
weil ^ßauluä biefe 3)eutung lebiglid) auf bie oormaligen Q^uben
330 ^ a f t a n: 3ut ^ogmotit
bejicl)t. 3»tincn ift bo§ ®cfc^ gegeben; auf i^nen liegt ber ^luc^
be§ ©efe^eS, ba§ fte ui^t gehalten ^aben; tuiber fte [priest bie
^anbfc^rift al§ gegen fte lautenber ©d)ulbfc^ein, 9iur für fte f)at
ber 2:0b beg ÜÄittlerg alfo bie SBebeutung, biefe Saft t)on i^ncn
ju nehmen.
$i6) glaube nici^t, ba§ e8 an biefer X^atfa^e etroaS ju bcu*
teln ober ju bre^en giebt. ®ie SBertreter ber anbern Sluffaffung,
nad^ tDeldjer eS ftc^ l^ier um ben centralen ©ebanfen ber ^^uti«
nifc^en ^rebigt 00m ^reuje ©^rifti ^anbelt, roeifcn bie eben oor»
getragene 2tuSlegung ab, wie wenn ba§ eine auf ©(^rauben ge»
fteüte, oon bogmatif^en SBorurteiten geleitete ®jegefe rodre. 3c^
lüü^te nic^t, xoa^ weniger begrünbet fein tonnte, ©ie Dielme^r
tt)un bem 2^ej:t @en)alt an, inbem fte i^n unn)il(türlic^ i^rer oor^
gefaxten ^Jleinung anpaffen. 3ln beiben ©teilen ift bie au^f^Ueg«
lic^e ^ejie^ung auf bie ^uben auSbrüctti^ l^eroorge^oben unb
beftimmt ben ©ebanfen. Seibe SWale wirb nämlic^ auc^ ber ^ei*
ben im ßufammen^ang gebac^t. ^n ber ©alaterfteQe f 0 : S^riftud
l^at ben $luc^ getragen, babur^ ift baS ®efe^ befeitigt unb ba$
gefallen, mag bie Reiben oon ber ©emeinbe ®otte§ trennt, fo baß
nun fie be§ i^nen f^on in Slbral^am oer^eigenen ©egenS teil»
t)aftig merben. 2ln ber ÄoIofferfteBc fo: ba| bie roiber 3Srael
lautenbe ^anbfc^rift beg @efet(e§ aug bem SDIittel getrau ift, ^at
für bie SBöltermelt bie golge, ba§ bamit bie über fie l^errfc^enben
3mif(^engemalten (®eiftmefen, 3)ämonen) überrounben finb. 2)enn
bie ©^ranfe jmifc^en i^nen unb bem SBolf ©otteS ift mit ber 83e»
feitigung beg ®efe^e§ aufgel)oben, fo bag fte nun be§ magren
®otte§ merben tonnen. Qnbirett tommt eg alfo aud^ ben Reiben
JU gut, bag ^t^n^ ben auf Qi^rael laftenben ©traffluc^ be§ @c*
fe^eS getragen ^at. 2lber ba8 fteßoertretenbe ©trafleiben 3efu
wirb birett nur auf 3§rael bejogen. 3)ann tann jeboc^ biefe 3)eu*
tung bei ^aulu§ nid)t bie jentrale fein. @S wirb bamit nurge*
fagt, ba§ bur^ ben Job K^rifli bag gmifc^eneingetommene ®ef€$
mieber befeitigt ift.
älQein, ift e§ überhaupt ri^tig, bie beiben ®ebantenrei^en,
bie bur^ ben Opfergebanten beftimmte unb bie burc^g ®efe^ be*
lierrf d)te, auSeinanberju^alten ? 9{ad) ber gemöl|n(ic^en äluffaffung
Ä a f t a n : 3Mt 3)ogmaa!. 331
ift ba§ falf^. 9Kan i)at eben ba§ Opfer im juriftifd^en ©inn ju
nehmen: ©ü^ne burd) ftelloertretcnbeö ©traf leiben. S)a§ foll bie
einfache unb Harc 2:t|eorie beS SlpoftclS fein, ©o nac^ bem Urteil
ber ©emeinbe, ba§ pon ber firc^lic^en 9Jerfö^nung§le^re beftimmt
©irb, unb fo au§ bemfelbcn ®runb audti rielfac^ naä) ber 9Rei«
nung ber S^^eologen. Slber eg ftnb nid)t bie SSertreter ber Krd^*
li^cn Sirabition, bie l^ier in erfter Sinie ju nennen fmb. @§ gilt
ganj befonber§ oon einer Sfteil^e unabhängiger tritifd^er Sl^eologen,
ba§ fie fo urteilen. ^6) nenne ^olften, ?ßfleiberer unb
^ol^mann. Unb jroar (eignen bie beiben erften ben Opferge*
banfen überl^aupt ab, inbem fie urteilen, bie ©ebanfen be§ Säpo*
ftet§ feien ^ier rcd^t eigentlid^ jjuriftifd^er 2lrt. 3)a§ t^ut ^ol^*
mann nic^t, er nimmt aber eine juriftif^e 2luff äff ung be§ OpferS
als bie bamate ^errfct)enbe an, ma§ bann fa^lii^ auf ba§fclbe
^inauSfommt. @§ fragt ftd^ nun, roie barüber ju urteilen ift.
3)a nun ber Dpfergebanfe nid^t überl^aupt ju eliminieren ift (aud^
^fleiberer t^ut e§ nic^t mel|r unbebingt), fo lautet biegrage,
ob man biefen ®eban!en ber juriftif^en 3)eutung ungejmungen
ein- unb unterorbnen fann.
®a§ bie altteftamentltd^e Opfertt)eorie anber§ lautet, ift fein
©cgengrunb. (ä§ fragt fid^ nid^t, mie biefe lautet, fonbem mie
fie bamals im jeitgenöffift^en ^fubentum oerftanben rourbe. ®arin
^at ^ol^mann unjmeifel^aft SRed^t. ®§ ge^t nic^t an, baS 9ieue
2:eftament einfach au§ bem 9llten ju beuten, mie SRitfd^l e§ ge*
rabc au^ in bem ^ier befprod^enen ^unft moHte. 3)a§ bajmifc^en
licgenbe ^ubentum barf nie überfelin werben.
SDBa§ miffen mir benn nun aber oom Q[ubentum in bem l^ier
fraglichen ^unft? ®§ ift immer mieber SBeberS ©gftem ber
f^nagogalen palöftinenfifdtien Sl)eologie, auf meldte oermiefen mirb. .
2)a§ ^ei^t: ber SCalmub mirb al§ Stn^t für bie 2:t|eologie ange«
fü^rt, bie ^aulu§ ju ben göfecn be§ ©amaliel gelernt I|at. Ueber
bie baimifd^en liegenben 3»Q^^t|unberte wirb l^inmeggefe^n. SSäaS
in ber reifenben ©aat (bem Salmub) an ben %aQ fomme, muffe
aud^ in ber 3^'^ ^^^ 93Iä^en§ unb SB3ad)fen§ (in ber jübifc^en
J^eologie jur 3^it be§ ?ßaulu8) por^anben geroefen fein — fagt
^ol^mann. ^f^beffen, biefe Argumentation ift nic^t überjeu*
332 Ä a f t a tt : 3ur ©ogmatif.
genb. ©^lücrlid^ rourbc bcrfetbc 2:^coIog ftc gelten laffcit, loeim
jte gegen eine oon i^m vertretene 3lnfid^t geteert würbe. 3»oimer*
^in aber, e§ fei — u)o§ n)ei§ benn SDSeber au§ bem 2^Imub }u
berieten? 5Run, etroa§, roaS fe^r na^e an« ni^tS grenjt. aWan
!ann l^öd^ftenS fagen, ba^ ber ©ebanfe vom [teßoertretcnben ©traf»
leiben im Opfer unter unb neben melen anbem anftingt. 9Benn
man bei ben genannten äi^eologen lieft, bie Slad^meifungen bei
SB e ber liefen feinen äiü^if^'t übrig, fo ift man gerabeju verblüff t,
in feinem ©crid^t nid^tg 2(nbcre§ unb nic^t me^r ju ftnben. ^
urteile bal^er, baj5 bie ^Berufung auf ben Salmub in biefer @a^e
überhaupt nid^t§ nerfc^lägt.
©benfomenig verfangen bie 2lu8fprfi(l^e au§ bem geitgenoffi*
f^en Qfubentum, auf bie man fid^ beruft. ®§ ftnb vereinjclte
Sßorte, im 4. ^u^ ber Snaüabaer vor allem, in benen ber 91 u §-
brucf (e§ ^anbelt fi^ um ben ©egen, ber vom Seiben ber @e*
regten ausgebt) eine ^egie^ung auf ben Opfergebanfen enthalt.
SGBie foHte baburd^ bemiefen werben fönnen, ba§ bie juriftifc^e
2)eutung be§ Opfert im bamaligen ^ubentum bie l^errf^enbe
mar? @§ wirb melmel^r bei bem Urteil ©menb§ in feiner alt-
teftamentlidfien SReligion^gefc^i^te beroenben muffen: eine präcife
Slntmort auf bie fjrage nac^ ber SOBirtung be§ Opferbienfte§ auf
©Ott mu^te man faum ju geben. S)a§ Opfer mar eben einfach
— ba§ Opfer, ba§ für ft^ felbft fprad^, ba§ man burc^ eine be»
gleitenbe S^eorie ju erflären fein 33ebürfni8 meiter empfanb, baS
nerfc^iebene unb verfd^iebenartige @ebanfen im frommen @emüt
anflingcn lie^.
Qn eine fold^e S)enfmeife, für bie ba8 Opfer vor allem eine
felbftverftänblid^e ;9nftitution ift, vermögen mir un§ nic^t p ftn*
ben. SB3ir fragen f of ort na(^ ber Se^re, nadö ber 2:^eorie, bie ba»
I)inter fte^e ober barin ftccte. Unb ba8 beuten mir bann auc^ in
$aulu§ unb bie anbern hinein. SÄber bie l^atten ni^t baS 95e*
bürfniS, ba§ Opfer ertlärt ju befommen, fonbern erflärten an*
bere§ au$ bem Opfer. @o aud^ ben %oi> be^ ^eilanbS, o^ne ba^
baS ben @inn einer beftimmten fie^re unb 2^t|eorie ^atte.
©elbftvcrftdnblid^, I|ierau8 foU ni^t gefolgert werben, baB
*^aulug ni^t tro^ allem ha§ Opfer juriftifc^ verftanben ^aben
^ a f t a n : 3ui^ 50ogmati!. 333
fönnte unb bem entfpred^enb geleiert l^ätte. 9BqS folgt, tft nur
bieS, ba| c§ irrig ift, ju meinen, eS loffe ftd^ ba§ ou§ einer im
bamaligen <3ubentum ^errfc^enben Slnfd&auung entnehmen unb bfirfe
ba^er bei bem SSerftäubniS ber ^autinif d)en 2:eyte al§ SB o r a u ö*
fe^ung gelten. 9Bir {tnb oietme^r au^fc^Iie^Hc^ auf biefe unb
hcS, mos fte ergeben, angemiefen. ®ie ^^age lautet, ob ft^ au8
il)nen barttiun lä^t, ^auIuS fei oon einem juriftifc^cn SSerftänbniS
beS Opfert geleitet gemefen. ^ jroeifie aber nidE)t, ba§ biefe
^rage verneint merben mu^ unb jmar au^ folgenben @rünben.
Säflein fd^on bie ©ebanfenentroicflung SRöm. 1—6 entfc^cibet
bagegen. SBSäre ^aulu§ l^ier, roo er ben Dpfergebanfeu oermertet,
t)on ber juriftifd^en 2luffaffung auiSgegangen, ^ätte feine Srgu*
mentation ganj anberS lauten mfiffen, als e§ ber %aü ift. 9larf)bem
er ben ©erid^t^orn ®otte§ gefd)ilbert ^at, bem niemanb entrinnt
ober JU entrinnen imftanbe ift, ^dtte er geigen muffen, ba§ Qt\vS
G^^riftuS i^n für unS getragen, um barauS ju folgern, bajs mir,
bie an i^n ©laubigen, nichts me^r baoon gu fürd|ten ^aben. @ine
»om ©ebanfen be§ ftettoertretenben ©trafteibenS beljerrf^te ©ar^
(egung ^ätte nic^t mo^I anberS uerlaufen fönnen. SBaS (efen mir
ftatt beffen ? ffiS mirb ber 3omoffenbarung ©otteS über bie ^ei*
ben, ber au^ bie 3^^^^ im beoorftelienben ©eric^t nic^t entrin«
nen werben, gegenübergeftellt bie Offenbarung ber ©cre^tigteit
©otteS für ben ©tauben, bie in ber ^f^^tjeit gef^el^en ift, oorl^er
fc^on bejeugt burc^ baS ©efe^ unb bie ^ropl^eten 3, 21. Qn
biefem ßufammen^ang mirb ber 2:ob S^rifti al8 bie Sil^atfadie
genannt, in ber fotd)e Offenbarung gefc^e^en ift unb jmar inbem
er mit bem ^o^epriefterHd)en Opfer oergUdien, au$ il|m gebeutet
wirb. 2)a ift oon einer ber göttlichen ©trafgerec^ttgteit geteifteten
©enugt^uung meber bireft noc^ inbireft etmaS gefagt. S)ie Stxaco-
(jü^rq a-eoö, oon ber $aulu§ fpric^t (3, 26), ift roie oben 3, 5 ate
eine ber ©nabe oermanbte @igenfd)aft ju oerftetin. ffiaS mir
Strafgerec^tigleit nennen, liei^t bei i^m öpy-^ ober Offenbarung
ber Stxacoxptata ©otteig (2, 5). 9lamentlic^ mü^te auc^ ber ©d|lu^
oon 93. 26 anber§ lauten, menn e§ geftattet fein folfte, anjunel^»
men, ba§ bie juriftifdie ®eutung bc§ Opfert ^ier ju ©runbe läge
(ogl. 0.). ®S ift c^arafteriftifc^, ba^ ^otfemann biefen ©c^lu§
834 ^ a f t a n: 3ut ^ogmatit
gelegentlich einmal fo roiebergiebt: „wobei er (®ott) fi^ aU ge^»
tec^t (mit SBejug auf bie ©ü^neleiftung feineS ©ol^neö) unb re^t*
fertigenb (mit ^Sejug auf ben ©ünber) gugleid) erroeift". Mer*
bing§, fo mflgte eS feigen, menn bie 2)eutung auS bem )uriftif(^
oerftanbenen Dpfergebanfen bere^tigt fein foUte. 9tun ^ei^t e§
aber ftatt beffen xöv Ix moreü)?, unb ba§ iuriftif(^e SJcrftdubniä
beS Opfers liegt bem 2lpoftel ganj fern.
hiergegen fönnte eingemanbt merben, bie Slnorbnung ber ®e»
bauten SRom. 1 — 4 fei ni^t ma^gebenb, fie fei burc^ baS bem
2lpoftel bei ber ganzen ^Argumentation oorfc^roebenbe 3f"tereffe
betierrfd^t, nac^juroeifen, ^ja^ bie Stuben feine SorjugSftellung in
ber d)riftli^en ©emeinbe ju beanfprud^en l^atten. 2lber felbft wenn
ba§ begrünbet märe (maS e8 nic^t ift), Uejje boc^ ber 9lbfc^lu§
ber ganjen Slrgumentation SRöm. 5, 1—11 feine ^intert^ür me^r
offen, ^ier jeigt ber Slpoftel, ba^ mir, burc^ ben ©tauben ge*
rec^t geworben, juoerftclitliciö l^offen bürfen, bem ©eric^tSjorn ®ot*
te§, bem babur^ oerl^angten SSerberben ju entge^n. SBSare nun
bie üon mir beftrittene SWeinung ri^tig, bann mü§tc bie SBe*
grünbung lauten: baS bürfen mir juoerfn^ttic^ l^offen, weil ®^ri*
ftuS ba§ ©trafoer^ängniS für unS getragen ^at. ©tatt beffen
lautet fie in SlBa^rl^eit: ©ott l^at un§, ba mir noc^ ©ünber roa*
ren, im Jobe S^rifti bie SJerfö^nung gegeben — mic ©ielmc^r
roirb er un§, ba mir nun oerfö^nt unb gerechtfertigt finb, auS
bem SSerberben erretten. ©§ ift ein ©d^lu| a majoii ad minus.
Sie überfd^mengli^ gro^e ©abe oerbflrgt uniS bieS äBeitete. 2)a*
mit ift aber au§gefcI|loffen, ba^ eine juriftifc^e S)eutung be§ Opfert
ben ^intergrunb ber ganjen Slrgumentation bilben foQte.
Unb ma§ fi(^ fo am SRömerbrief bart^un lä^t, wirb burc^
allgemeinere 93eobad)tungen beftätigt. 3)er Äem ber juriftifc^en
S^eorie ift bie ber göttlichen ©ere^tigteit bur^ (S^rifti Zoh oer*
fc^affte ©enugttiuung. 2lber auc^ nirgenbS mirb etroa§ 3)erartigeS
bei ^^auluS erroäl)nt. ©benfo mirb ©^riftuS nirgenbö als ©egen«
ftanb be§ göttli^en ©eric^tSjomS ^ingeftellt. 2luc^ nic^t mit einer
©ilbe! ^ol^mann urteilt gmar, eS laufe auf baSfelbe ^inauS,
menn e§ @al. 3, 13 ^eige, ba§ ©^riftuS unS loSgefauft ffabt oora
gluc^ beS ©efefeeS, inbem er ein S^ud) marb für unS. aber ba«
^ a f t a n: 3ur ^ogmatit 335
mit loirb unter bem ®rud einer oorgefa^ten SWeinung biefem
ganj anberS orientierten 3luSfpruc^ ein i^m frember ©inn beige*
legt. Qn SGBai^r^eit !ennt ^^au(u8 einen fold^en (Sebanten über*
^aupt nic^t. Sr fennt ®^riftu8 in feinem Sobe, fofem bie 93e*
Sie^ung auf ®ott in ^etrad^t lommt nur a(8 ben, burd) ben @ott
feine Siebe bet^ätigt l)at, ober aU bzn, ber @ott gel^orfom mar
bi§ jum 2:obe am Rreuj. @nbli^ ^ei^t e§ nirgenb^, bajs (S^^riftu§
eine ©ered^tigfeit ermorben ^abe, bie nun auf bie ©laubigen über*
tragen ober il^nen jugerei^net werbe. @§ Reifet ftatt beffen: ber
@Iaube mirb jur @ere^tigfeit gerechnet. @§ ift bur^auS miU*
fürüc^, wenn ^ol^mann meint, e§ fei jufättig, ha^ bie anbere
2lu§brud§form jic^ ni^t finbe, ©d^Iiefelid) mirb eö jum 2)ogma
erhoben, ba§ ^^aulu§ fo gebac^t ^at, unb für lebiglicfe JufäHig er*
Hart, ba§ er eS ni^t fagt.
®§ bleibt ba^er ate einjige^ 3lrgument für biefe Kombination
nur bie @teQe 2 Rox. 5, 21 übrig, an ber e8 i^ei^t: er ^at ben,
ber oon feiner @ünbe mu^te, für un§ jur @ünbe gemacht, auf
ba§ mir mürben ®erec^tigteit @otte§ in il|m. Slber biefe ©tede
aOetn lann baS ©emid^t ber ©egeninftangen nid)t auf{|eben. Qn*
mal ber älu^fprud) im eigentli(^en @inn gar nid^t gemeint fein
fann. 3)a^ ©ott i^n jur ©ünbc gemad^t ^abe, wie ber 8B3ort*
laut befagt, ergiebt überl^aupt feinen faparen ©inn. SJlan beutet
ou§ ber juriftifd^en Dpfert^eorie: ©ott ^at i^n ju bem gemarf)t,
ber bie ©träfe ber ©ünbe getragen \)at Unb bagegen märe
nichts einjumenben, menn nac^ anbern SBorten be§ 3lpoftel§ feft*
ftänbe, baj5 berartige ©ebanten ihm geläufig maren. ^a, id| gebe
gern ju, ba^ biefe Deutung nac^ bem SBortlaut bie nä^ftliegenbe
ift, au^ in ben 3i*fommen^ang paffen mürbe. SBieöeid^t barf e§
feigen: ba§ ^eroorfted^enbe SÄertmat beS 2lu§fpruc^§ ift bie r^e*
torifd) jugefpi^tc 2lu§brudf§meife, bie jebenfalfig beabfic^tigt ift.
©inen Sel^rgebanten bamit ju formulieren l^at bem SÄpoftel jeboc^
ganj fern gelegen. @r ift an einer fold^en Seigre überl)aupt nic^t
interefftert. ®ie SJorfteltungen fmb nod^ flüffig. SBorauf e§ if)m
antommt, ift, ba§ ©tiriftuS geftorbcn ift für unfere ©ünben nad)
ber ©c^rift, unb ba§ in feinem Sobe bie ©erec^tigfeit ©otteö für
ben ©lauben offenbart ift. ©ofem aber in jenem 2lu§|prudt) ein
836 ^aftan: Sux ^ogmati!.
Sel^rgcbanle anflingt tft eS bcr beS 3lu§taufc^c8: unfere (ber 6^ri«
ften) @ünbe tparb auf il^n gelegt gutn Sxotd ber Uebertragung
feiner ©erei^tigteit auf unS. 9tur ift e§ ooDig jrocierlei, ob wir
eine fold^e S^eorie al§ feftftel^enbe fie^re be§ älpoftelS anpne^nten
l^aben, ober ob ein folc^er ©ebante (neben oieten anbem) in einer
r^etorif(^ pgefpi^ten 3^orm einmal anflingt. SWit fie^terem roäre
(wenn eS benn überhaupt richtig ift) für ben @m>ei§ ber ^ier be*
ftrittenen 2i^efe ni^tS erreicht — xoa^ id) nic^t erft nfi^er au^jn«
fütiren brauche.
SQSir ftnb olfo mit biefem SBerfud^, bie beiben bei $au(uS
aufgemiefenen ®ebanfenreit|en ju fombinieren, nid^t weiter ge!om^
men. @ie bleiben neben einanber fte^n. 3)enn natürlid^, ba§
bie Kombination fd^eitert, ^at m6)t ben @inn^ ba§ bie juriftifd^e
©ebantenreitie nid^t oor^anben ift. ©ie ift fo gut ba roie bie an*
berc, bie ®eutung au§ bem Opfer. ©8 fragt fxä), ob bie cnt«
gegengefe^te Kombination mögtid^ ift, bie namlic^, ba§ toir bie
juriftifd^e ^b^^^i^ ^^^ Dpfertbeorie unterorbnen.
9ln unb für fid) ift ba^ felir gut möglic^. Slnbeutungimeife
berührte ic^ eiS fd^on. ^6) erinnere baran, ba^ bie 2>eutung avA
bem 5fucb be8 ®efe^e§, fo roie roir fie bei ^aulu§ finben, nur
auf ö§rael bejogen ift. 3)enn baS @efe^ mar 3i§raet gegeben,
unb nur Q^xad ftanb unter bem gi^w^ ^^ ®efe§e8. 9lun ne^*
men roir binjU/ baJB ba§ @efe^ nad^ ber Se^rc be§ StpopeÖ nur
groif^eneingetommen ift. SBon SSnfang an roar eS abgefe^n auf
bie Drbnung be§ ® I a u b e n § in ber ®emeinbe ©otteS auf @rben.
2)a§ erf)eUt barauS, ba§ bem Sttbra^am, bem burcb ®Iauben ge«
re^t geroorbenen, i^m unb feinem anbern, bie 93erl|ei§ung gegeben
ift. S)a§ ®cfc^ ift nur jroifi^eneingefommen, um ben ®(auben
oorjubereiten. 9tun entfpric^t bie 3)eutung auS bem Opfer ber
^auptünie ber Sntroidflung. ®arin erroeift fid^ ber 2ob 6^rifti
als bie ®rffiHung ber SSer^eij^ung, bie bem Slbrabam gegeben roar.
2)urd^ feinen Opfertob ift bie Orbnung be§ ®Iauben8 in ber @e»
meinbe ®otte§ auf Srben eine befinitioe geroorben. 3)ie 2)eutung
au§ bem @efe^ ift bem untergeorbnet. Sie befagt, ba| mit bem
2obe ©brifti ba§ jroifd)eneingefommene ®efe|; abgetl^an ift. ©ie
bejiel^t fic^ nur auf bie 3fuben, roie benn baS ®efet^ nur bem
S a f t a n : 3ur Siogtnati!. 337
®ott ^Sracl gegeben war. Unb fo ift fie felbftücrftänblii^ ber
onbcm 3)eutung aU ber übergreifenben, auf alle bejägli^en unter*
georbnct.
3)ergeftatt fügen pc^ biefe ^ßaulinif^en (Sebanten groanglo^
in einanber. Ob freiließ 5ßaulu§ felbft fid^ eine folc^e 3ufammen*
faffung oergegenroärtigt Ijat, mug ba^ingeftetlt bleiben. 3)a er
^ier roie fonft an le^rl^after ^i^föinnienfaffung als foldier gar
nic^t intereffiert ift f)at er ftd) nirgenb§ barüber au^gefproc^en.
Slber felbft rocnn ^aulu§ felber biefe Sombination tJoUjogen ^ätte
— eine einheitliche S^^eorie über ben 2ob Kl^rifti roare auc^
ba§ nic^t. ®in^eitlid^ roäre nur bie ßufömmenorbnung in einer
gef(^ict)tlic^en Stnf^auung von ber Oetonomie ber göttli^en ^eite*
Offenbarung^ etn)a§, n)a§ $aulu§ übrigen^ allem älnfd^ein nad^
für roid|tiger gehalten ()at alS bogmatifd^e £el^ren im engeren
©inn. . Slbgefe^en banon läge bie 3iifö"^"^cnföffung nur in bem
©ebanten, ba§ ber Sob S^rifti für ^nh^n roie Reiben ^eil be»
grünbenb ift.
®a§ ift er erftenö, roeil in i^m bie ^eiteorbnung beS 9leuen
5Bunbe§ aufgerid^tet ift, in il|m als bem großen ©ünbopfer für
bie ©ünbe ber SEBett. 3)a8 ift er jroeiteng, roeil ®^riftu§ in
i^m fteüüertretenb für bie Ouben ben fjlud) be§ ®efe^e§ getragen
^at. ®aburc^ ift QSrael oom gluc^ befreit unb ba§ ®efe^ au§
bem SWittel gettjan. ^f^birett tommt ba§ ben Reiben ju gut, roeil
nun bie ©^ranfe gefallen ift, bie fie oon ber ©emeinbe @otte§
auf @rben trennte, unb fie nun 93ürger roerben tonnen in it)r,
ber fie bisher fern unb fremb gegenüberftanben. ©o fa^t e§ ftd)
jroar unter bem leitenben ©ebanten Dom ^eil aller jufammen,
fie^t aber einer ein^eitlid^en bogmatifc^en S^eorie auc^ nid^t ein*
mal ä^nlid^.
®a}u fommt bann noc^ bie Slntinomie ober ^arabojie in
ber 3)eutung a\\^ bem Opfer, non roelc^er bie SWebc roar. Qfc^
meine bie§, ba^ bie Q3et]^ätigung ber göttli^en Siebe im 2:obc
S^rifti bie ^auptfad^e, ba§ ^eil 93egrünbenbe ift, roä^renb ba§
Cpfer bie entgegengefe^te SRic^tung be§ @ebanfen§ inbijiert, nic^t
oon ©Ott auf bie 5Wenfd)en, fonbern oon ben SJienfc^en auf ©Ott
^in. aiuc^ baS ift in fid) roieber feine einl)eitlic^e Se^re. @§ lä|t
3eitf<l(frlft fflr X^eoloflie unb ftlrc^e. 14. ^a^rß., 4. $eft. 23
888 ^ a f t a n : Qnx ^ogmati!.
fic^ auf bas ®anjc bcr biblifd^cn ®ottc§offcnbarung gefe^n gonj
n)oI|l baju gcftoltcn, loic porl^in jur ©prad^c tarn (@. 328). aber
man mug 95cbcnfcn tragen, eine Ueberlegung biefcS ^n^ts bei
$aulu§ al§ in feinem ^emu^tfein (ebenbig Dorau§}ufe^en. e^ür
$aulu§ bleibt bie ^auptfac^e bie§: et ift geftorben für unfere
©ünben nac^ ber Schrift — fo nämlid^, ba§ in biefer Qx>
lenntni§ bcr biblifi^en 95egrünbung baö fein t^eoretifc^e§ 93ebürf«
ni§ Säefriebigenbe liegt, nidit in einer nun mieber au§ ber ©c^rift
aufgebauten X^eorie. Unb ndt)er ausgeführt: fein %oh ift ba^
gro^e Opfer für bie ©ünbe ber SBelt: ^ier ^aben mir SJergebung
ber ©ünben, ^ier pnben mir ben gnäbigen ®ott! 2(ber mieber
fo, ba§ ber 2;on für $auIuS barauf liegt: ba§ ©ünbopfer aflen
8ugut; unb nic^t auf einer im ^intergrunb liegenben Opfert^eorie,
au§ ber er mieber baS 93erftänbni§ be§ OpfertobeS (S^rifti abge«
leitet ^ätte.
®a§ @rgebni§, ba§ mir bamit gemonnen ^aben, erfc^eint nun
an ben gemö^nlid^en JßorauSfe^ungen unb Slnfprü^en beurteilt
aU ein überaus bürftigcS. SfWan ^at fi^er ermartct, eS werbe
aud^ l^ier eine runbe unb gefd^Ioffene 2:^eorie über ben 3^ob beS
^ei(anbS bei $auIuS ermittelt unb nad^gemiefen merben. 2)er'
gleichen bietet ja jebe neuteftament(ic^e 2;^eo(ogie, fei eS auc^ n7ie
bie oon ^ot^mann unter Älagen über bie für unS faum me^t
oerftänblidie ÄompUjiert^eit biefeS au§ jübifd^ct unb l^eHenifc^er
SBeiS^eit fünftlic^ jufammengemobenen ©gftemS. ©tatt beffen
I)aben mir, t^eologifc^, bogmatifc^ betrautet, nur membra disjecta
gefunben, bie an atten 5ßunften auSeinanberjufatten bro^en unb,
menn man bie ©ebanfen genau fiyiert, feltfame SßJiberfprüc^e ent*
l^alten. ^06) glaube ic^ nic^t, ba| eä mein g^e^ler ift, wenn
bie ^ier gefunbenen SRefultate einen folc^en ®inbruc! be§ Unfle«
nügenS madjen. SRo^ meniger liegt ber geiler bei bem aipoftel.
S)er 5«^lcr liegt oielme^r in ben SBoraugfe^ungcn, mit benen man
inSgemein an it)n I)erantritt.
aSir ©erfahren nid^t me^r bogmatif^, fonbem ^iftorif^ ^^^
neuteftamentlic^e 2:^eologie ift eine ^iftorif^e 3)iSiiplin, ba§ wirb
l^eute in jeber SBeife betont. 2lber mie mirb e§ oerftanben? 9lun
fo, ba| mir nic^t mel|r bie tir^tic^e ®ogmatif auS ben ^autini»
ft a f t a n : 3ur ^Ofltnotif. 339
fc^cn 2:cjtcn ^erau^ju^olcn unS oerpfüd)tct fütitcn. 2lbcr eine 3)og»
matif boc^ ! 9iur eben etroaS, roaS ^ßaulinifd^e ©ogmatif fein foH.
@S gilt ja bei oieten qI§ 3lj^iom, $au(u§ f)abt ba§ Q^^rifientum ba«
burc^ oerborben, ba^ er e§ in eine ^ogmatif Dern)anbelte. Slber
aurf) ^ier mug ftatt ber 3)ogmatif bie äteligion in ben äufam«
men^ang ber 93etrad)tung eingeführt werben. (£rft bann wirb biefe
wirf lid) eine gefc^idjtUd^e b. \). eine bem gefd)id)tlic^en ^^atbeftanb
entfpre^enbe fein. Unb wenn wir un§ auf biefen ©tanbpuntt
fteQen, bann fte^t aud) ba§ Don unS ermittelte 9tefultat ganj an«
ber§ au^. 2)ann ftedt eS fi^ al§ eine (Sinl^eit bar^ unb finb bie
in SBetrac^t ju jie^enben gaftoren einfach unb oerftanblid^.
^aulu§ ift attererft al§ ein SBertreter be§ Ur^riftentumö an*
jufe^n unb ju würbigen. Jür i^n ift wie für bie gange ©emeinbe
Job unb 2luferfte^ung ®t)rifti bie abfdjliefeenbe ©otteöoffenbarung,
bie burd^ bie SluSgie^ung beS ®eifte§ bie bie gefamte ©emeinbe,
i^r Seben unb S)enfen betjerrf^enbe SGBirfIid)!eit ift. ^n biefen
3ufammen]^ang ift ^autuS bur^ ba§ @r(ebni§ Dor ®ania§tu§
eingetreten, ©eit biefem ift er einer üon benen, bie ben gefreu*
jigten unb auferftanbenen (£^riftu§ oertünbigen. (Soweit bie SSer^
fünbigung in t^eologifc^e Betrachtung unb 53eweigfü^rung a\x^'
louft, beruht biefe auf ber Sdirift. 3)a§ aUeg l^at ^aulu§ mit
ben übrigen gemein, wenn eS auc^ jum 2:eil in befonberer 5Ruan*
cierung bei i^m auftritt.
SEBaS i^n oon ben übrigen wirfUc^ unterfcf)eibet, ift feine
Stellung jum ®efe^, bie fic^ au§ feiner p^arifäif(^en SBergangen*
I>eit jufammen mit feinem ®rlebni§ Dor S)ama§tu§ erftärt. S)a--
^er bie SSäenbung auf§ ©t^ifc^e in ber Deutung unb bem SBer»
ftänbniS be§ ©runberlebniffeS (mit ©^rifto geftorben unb aufer^
ftanben!) unb ba^er wieber im 3ufammenl^ang l^iermit feine ^Pre«
bigt oon ber ^Rechtfertigung allein burct) ben Olauben. SBaä
^aulu§ oon ®^rifti Äreuj ju fagen wei§, ba§ ftnb bie 3lu§ftra]^»
lungen biefeg inneren Sebeng, ba§ ber ©efreujigte unb Stuferftan*
bene in i^m gewedtt f|at. ©e^r üerfc^iebenartig finb biefe @e»
banfenrei^en je nacl) ben fie bel^errfc^enben inneren religiöfen 9Jlo*
tioen. 2)a§ ift aber gar nic^t wunberbar, fonbern natürlid^ unb
fclbftoerftänblid^. 6§ erfd^eint nur bann auffaUenb, wenn man
23*
340 ^ a f t a n : 3ur 5)Dgmati!.
bei $QuIu§ eine bogmatifd^e 2:^eorie als oQen 9[eu§erungeit }u
®ninbe liegenb oorau^fe^t. Sine fotc^e l^at er aber ni^t gehabt.
®tebt e§ bo^ aud^ feine einjigc Slrgumentation in ben ©riefen
be^ 2lpoftel§ — etwas, xoa§ ic^ nod| befonber« betonen m6d)te —
feine einjtge Slrgumentation, bie bem 3"^^* bient, eine folc^e
S^eorie ju entroidfeln. Unb bann foHte eine fold^e 2:^eorie für
i^n ber SWittelpunft afler feiner ©ebanfen geioefen fein? 3)a§
glaube, loer fann! S)ie eigentlich t^eoretif^en Darlegungen be§
3lpoftel8 beroegen fi^ um ein neue« SJerftänbniS ber Offenbarung
unb i^rer ©ntmidtung in ber ©efd^ic^te, ftnb, menn mir einen
fpäteren Slamen barauf übertragen bürfen, gefc^id)t§p^itofop^ifc^er
unb ni^t bogmatifd^er SHatur.
9lu(i| l^ier füge idt) ein SBort über bie Slnmenbung unb 95er*
mertung ber ^aulinifd)en ©ebanten in unferer l^eutigen 3)ogmatif
^inju. Unb jroar aüererft um no^malS ju betonen, ba| nid^t ju«
trifft, ma§ fo melfad) bel^auptet mirb, ba§ mir in bem Slpoftel
^autuS oor allem einen 2)ogmatifer vox unS l^aben, ber begriff»
lid^ fonftruierte Se^ren vorträgt unb baburd^ bie grömmigfeit in
falfdie «abnen leitet. SBer bie «riefe beS Slpoftefö fo liefl, ^at
au§ bem (Signen l)tneingetragen, ma§ er ^erauSnimmt. 2lu§}u»
führen brause xd) ba§ jet^t nic^t nochmals, ^n ber eben ange*
[teilten 93etrarf)tung l^at eS ftd^ immer mieber ergeben unb ift eS
aud| bei jeber (Gelegenheit l^eroorge^oben morben. ^aulu§ ift fein
S)ogmatifer gemefen unb ^qt e8 felber nid^t fein moDen. 2)og«
matifc^ angefel^n finben mir bei il|m nichts ate merbenbe ©ebanfen,
als „üerfudE)te ^been", bie iliren ßufammenl^ang, i^re ©inl^eit in
ber religiöfen 33erfünbigung f)aben, um bie e8 t^m felbft in SBa^r*
^eit allein ju tl)un ift.
aBa§ folgt nun l)ierau§ für bie Slneignung ber ^auUnifc^en
®ebanfen in unferer eoangelifc^en SJogmatif? 9lun, oor aüem
bie§, bafe e§ feine ^aulinifc^e Set)re giebt, bie mir einfa^ in biefe
tierüberne^men fflnnten. ®a§ märe fd)on an unb für fic^ unmög»
lic^, meil Seigre nic^t einfad) au§ einer 3«it in bie anbere über»
tragen mcrben fann, fintemal ba§ babei beteiligte t^eoretifc^e 93e«
bürfniS nad) 2lu§mei§ ber ®e|d)irf)te bem 9Bed)fel unterworfen ijl.
r
Ä a f t a n: 3ur 2)o0matit 841
@§ ift aber auc^ bcö^alb unmöglit^, tpcil ?ßaulu8 feine fefte, be«
grifflic^ aufgeführte £e{)re gel)abt ^at. Ueber^aupt nid)t unb auc^
ni^t roa§ bas ^ier oorliegenbe 21^ema betrifft.
3)ie Vertreter ber firc^lidien ^irabitlon finb tüo^I nirgenbi
mel^r ate in biefem Se^rftüdt oon ber guten biblifd)en öegrünbung
bcffen, n)a§ fie oortragen, überjeugt. Unb fie l^aben babei roieber
vox atlem ben SSpoftel ^aulu§ als @en)äl^r§mann im ©inn. S)a§
foU ja nun aud| ni^t überhaupt in 3lbrebe geftedt n)erben. SBirb
man bod) fagen bürfen^ ba^ eg l^eute bie aUermenigfteu fmb, bie
no(^ ber begrifflichen Äonftruftion al§ fol^er religiöfen SBert
bcimeffen. Slud) benen, bie bie alte Se^rc na(^brürflici^ betonen,
ift e§ babei jumeift um biefe al§ SluSbruc! be^ eoangelifd^en ®lau<
bcn§ unb ber grömmigfeit ju t^un. Unb infofern fmb fie nun
gemi§ berechtigt, ftc^ auf $aulu§ ju berufen. fiutl^eriS £e^re
öon ber ^Rechtfertigung trifft in ben inneren aWotioen — mar bod)
auc^ bie Situation, in ber beibe bie§ ®oangelium formulierten
unb oertraten, innerlich genommen, ungefähr biefelbe — fo ndi)t
mit ber ^rebigt be§ 3(poftel§ jufammen, at§ e§ ber Unterfct)ieb
ber 3^it^^ irgenb geftattet.
2lber ni^t richtig ift e§, ein OegenftüdE ber begrifflid^en Äon-
ftruftion ber ^ir^enle^re bei ^auluS auffinben unb nac^meifen ju
motlen. 2)enn aiS begriffliche ^onftruftion ^at bie Hird^eule^re iliren
fte be^errfc^enben 3Rittelpunft an bem S3egriff ber Sati^faftion. ®er
ift jeboc^ bem Slpoftel unb feiner Söerfünbigung fremb. SWan
fann ^6^ften§ fagen, ba§ unter ben mancherlei (Sebanten, bie mir
bei ^auluS finben, baS eine SWal 2 Äor. 5, 21 ber ©ebanfe be§
2lu§taufd)e§ jmif^en ber ÜJlenfc^en ©ünbe unb ©^rifti ®erecl)tig*
feit antlingt — .in einem rfjetorifd) lautenben ©pru(^, ber auf
alles anbere als eine ju ®runbe liegenbe Se^rabfic^t fclilie^en
ld§t. SJaS mirb aber niemanb al§ biblif(^en 93emei8 für bie
©atiSfaftionSle^re permerten mollcn.
®ie gefc^ic^tlic^e ^Betrachtung giebt un§ eine ganj anbere 2lu§*
fünft über bie ©ntfte^ung ber Äirc^ente^re al§ bie, ba§ fie anS
bem 9Jeuen Seftament, anS ^aulu§ lierübergenommen fein follte.
Sie ift in ber abenblänbifcl)en Äirc^e be§ SJlittelalter^ anS ben
bie grömmigteit in if|r bet|errfcl)enben 3Jlotioen entftanben. 6ie
842 ^ a f t a n : Qux ^ogmatü.
f)at in ber JReformationSjeit al§ ber felbftocrftanblic^c ^intergrunb
bcr ?ßrebtgt oon ber Slec^tfertigung bur^ bcn ©laubcn gegolten.
3unäd)ft fo, ba^ fie ein Q3eftanbtcil ber 9iec^tfertigung§Ie^rc xoax,
unb auf biefer ber 2:on lag. SHdmä^Iic^ in ber Sntroicflung fo,
bag fie bie ^auptfa^e n)urbe, bie ^auptle^re, bie 9{ect)tferttgung§«
Iet)re eine bloge Folgerung au§ il^r. SBomit bann eine folgen«
fdiroere SSerfd^iebung bcr ©ebanten ftattfanb, eine ®inorbnung ber
neuen fiel^re in bie üom ®eban!en be§ ©efe^eS be^errfc^te Se^r»
Überlieferung. ©d^Iagenb tritt ba§ jebem, ber feigen roxll, barin
entgegen, ba§ in ben neueren bogmatifc^en ©riftemen, bie fic^ an
bie Rirdjenlel^re anfd^Iie^en, ber ©ebanfe be§ ®efe§e§ jum ®runb»
Pfeiler ber epange(ifd)en ^römmigteit unb 3)ognmtif gemalt roirb,
obvo6t)l e§ ber Slero ber ^Reformation roar, bie d^riftlic^e ?Jrom*
migteit in ber ^ir^e aber bie gefe^Iic^e (Spl^äre ^inaui^ju^eben.
©0 bie Sttu^funft ber ®efd(ic^te über bie begriffliche Ron»
ftruttion bcr Äir^enlcl^re oon bcr SSerfö^nung! Unaroeifel^aft aber
werben bie Vertreter biefer Se^re jebem, ber fie auf ®runb einer
fotc^en 93etrad|tung für bie eoangclifd^e S)ogmatit beftreitet, bie
3lutorität be§ 9kuen £eftamentc§, be$ ^poftel^ ^]ßaulu§ oor aDem
entgegenl^altcn. Unb be§^alb f^eint e§ mir juerft unb nament*
lic^ um biefe§ mid^tigen frltifc^en 3iiitereffe§ roiüen non ber größten
Sebcutung ju fein, ba^ ber 3lpofteI ^aulu§ in SBal^r^eit ju Un«
red|t al§ 3^uge für bie begriffliche Äonftruftion ber Äir^enle^re
angerufen wirb. SDringt biefe ®inft^t burd^, mirb unb mufe fte
un§ mit ber 3^it oon einer Se^re (ber ©atiSfaftionSlel^re) be*
freien, bie unter bem SJHoeau ber eoangelifd^en g^römmigfeit liegt
unb für biefe ocr^ängni§ooö merben fann, roeil fie auf einem
falfc^en aScrftänbniS ber göttlichen Siebe beruht.
SWeinc 9Keinung babei ift bann freilicl) nic^t bie, eine anbere
Setire at§ bie mirtlid^ ^aulinifc^c an bie ©teile ber Äird)enle^re
ju fe^cn ober al§ ®rfa^ bafür ju empf eitlen, ©old^e JBerfuc^e
finb bi§t|er immer gefc^eitert unb muffen fd^eitem — au§ oft er*
n)äf)nten ®rünben, bie icf) nid)t ju roieberl^olen brauche, 6§ ijl
eben ein faifctjer ©d)riftgebrauc^, ben man befolgt, einerlei ob man
bie tirct)Iid)e Se^re au§ ^aulu§ ju begrünben ober feinen ©riefen
einen ®rfa§ für fie ju entnef)men fud)t — fatfc^ oor aüem be^--
Ä a f t a n : 3ur ® ogmatif . US
f)alb, lücil er gar nid^t burd^gcfül^rt rocrbcn fann, unb c8 auf
Selbfttdufdiung beruht, tDenn einer auf biefem äBeg SRefuttate ju
gciöinnen meint.
SQSoQte man aber folgern, alfo fei e§ überliaupt nic^t^ mit
ber biblifdien Segrünbung einer l^eutigen 3)ogmatit, fo märe baS
erft red^t oerfe^lt. Um eine biblifc^e Segrünbung fxnb mir nid^t
oerlegen, fobalb mir einen anbern ©d^riftgebraud^ al§ ben trabi*
tioneBen befolgen, mie ba§ in meiner ©ogmatif oerfuc^t morben
ift — morüber id^ mid) ^ier nid)t nä^er auSjuIaffen brauche. JBic
felir biefer ©c^riftgebrauc^ ber in ber ©ac^e liegenbe, oon ber SKuf«
gäbe felbft geforberte ift, erbeut namentlii^ barau§, ba§ mir burd^
i^n in ben ©tanb gefegt merben, au§ $aulu§ eben bie ©ebanten
SU entnehmen unb ju oerroerten, um bie e§ il^m felbft in feiner
Serffinbigung ju t^un gemefen ift. SQSir fud^en bergeftalt bie Sin«
tjeit mit i^m nid|t in ber Seiire, in ber begrifftidien Verarbeitung,
fonbern im ©lauben, in ber gi^ömmigfeit, b. l|. in bem, roa§ bie
©Triften aud| über 3fö^^l|unberte unb Qal^rtaufenbe l)inmeg mirt?
lic^ mit einanber oerbinbet. Unb jmar finb bie ^autinifc^en ®e«
banfen, bie nun banad) in ©etrad^t fommen, bie folgenben.
(£ r ft e n § bie 93erfünbigung oon ber unauSfpred^Iic^en Siebe
@otte§, bie fii) ber ©ünber erbarmt unb um iliretmiKen ben
eignen ©oI|n in ben 2:ob ba^ingegeben l^at. ©o gro§ ift biefe
Siebe, ba§ ba§ tiöc^fte Dpfer it|r nidjt ju l)o6) gemefen ift. SD3o*
bei ber Jon auf bem Unermarteten, Unoermuteten biefe§ gött«
(ic^en @rbarmen§ liegt.
3 m e i t e n § ber ©ebanfe oon bem oollf ommenen ©e^orfam
be§ SWenfc^en 3^efu§, ber fid^ bi§ jum 3:obe am Kreuj bemäl^rt
^at, rooburc^ mir i^m ju unau§(öfc^(ic^er ®anfbarfeit unb ®egen*
liebe oerpflic^tet finb.
3) r i 1 1 e n § enbtirfi ber ©ebanfe, ba^ ber ^eilanb für unö
fteDoertretenb getragen ^at, ma§ at§ ©träfe ber ©ünbe in bie
3BeIt gefommen ift — bi§ jum f^mad^Dotlen Äreuje^tob l^in, ber
fogar ba§ ©efü^l ber ©ottoerlaffenl^eit einfc^tog. 9lllerbing§ l^at
^IJauIuö felbft bei biefer Seutung be§ 2:obe§ ©Ijrifti nur ba§ SSoIf
3§rael im äuge get)abt. ©§ ift alfo eine Ueberfdjreitung ber
-^Jaulinifdt)en ©ebanten, mcnn mir it)r einen für bie gange ©e«
844 ^ a f t a n: 3ur ^ogmotit
meinbe 6Iei6enb gültigen @inn abgetoinnen. 916er gerabe $aulu$
\)at un§ bie Sebeutung beiS ®efe^e§ in ber morolifd^en ©efc^ic^te
jiebeg 9Ken[^en, ob ^fube ober ^eibe, oerfte^en leisten, fo ba| wir
il^n bei biefer 9lnn)enbung für un§ ju tiaben überzeugt fein bfirfen.
SÖSobei freili^ jleber ®eban!e an eine ber göttlichen ©erec^tigfeit
geleiftete ©enugt^uung au^jufc^Ue^en ift, atö t)on melc^er $aulu^
nichts roei^, unb bie qu^ teine§n)eg§ einen notn^enbigen ©ebonfen
in biefem 3ufantmen^ang bilbet. 3)Qrüber ift ba§ 9}a^ere in
meinem ^ud^ no^julefen. 9)ie ©rmagungen, bie bafür ma^gebenb
ftnb, geliören u n f e r e r begriffenen 3lu§prägung ber Se^re an
unb l^aben mit $Qu(uiS ni^tä ju t^un. ^ier fommt nur bet
religiöS'fittlic^e 3lnfnüpfung3pun!t in SSetra^t, ber anii bem
SKpoflel nid)t fremb ift.
@o mirb na6) meiner SReinung eine mirtlic^e Uebereinflint-
mung in ben @runbgeban!en be^ ®IaubenS^ ber fie^re erreicht.
3)ie begrifflid^e ^Verarbeitung, au^ bie begriffliche 93erhiüpfung
biefer ©runbgebanlen ift eine anbere unb mu0 ^eute eine anbete
fein. 3>n einer eoangelifd^en ®ogmatif foH fie baburc^ beftimmt
merben, ba^ e^ ftd^ um 2)arftellung ber @rlenntnis ^anbelt, bie
ber ®laube au^ ber 9lneignung ber göttli^en Offenbarung ge«
minnt. 93ei biefer 33eftimmung ber Slufgabe roirfen aber bann
©efic^tSpunlte mit, bie bem 3lpoftel fremb roaren, i^m fremb fein
mußten. 3)ie autoritatioe 93egrünbung bafür lautet nic^t bog
$auluS fo gelehrt l^at, fonbern ba^ ba§ eoangelifc^e $e«
fenntniS e§ forbert.
9^0^ mö^te i^ fragen, ob e§ ^eute in unfrer eoange^
Uferen ^irc^e gefunbe unb eifrige 3}er!ünbigung be^ (Soange«
lium§ giebt, bie eS mit ber äSermertung $aulinifd)er ©ebanfen
anber^ ^ält, atö ^ier für ri^tig erflärt marb. ®iebt eS ^ute
noc^ ^rebiger, roeldje auf ber Äanjel bie begriffti^e ftonftrultion
ber @ati§fa!tionSle^re oortragen? 93or menig ^a^rje^nten ^ate^
fie nod^ gegeben, barunter folc^e, bie eS nic^t zufällig waren, fon«
bem ^rebiger oon @otte§ ®naben, wie Sllilfelb in Seipjig.
tSber ob e§ fte ^eute nod^ giebt? ülad) meiner (Srfa^rung nur
etroa ein junger ^rebiger, ber oon einer ort^oboyen ^oc^f^ule
fommt unb bie l|ot)e, ^eilige ^unft ber ^rebigt erft ju lernen im
^ a f t a n : 3ur Dogmatil. B45
JBcgriff fte^t. Ober erfatirenc unb gcbicgcnc ?ßrcbigcr etroa ein«
mol am 5«fttag, lüeitn fxc bcr SBcrfuc^ung erliegen, im Übeln Sinn
ju bogmatifiercn. ^m attgemeiuen ift auä^, maS biefe ficl^rc be=
trifft, ba§ ®ogma in feiner ftarren begrifflichen SluSprägung oon
ben ftanjeln oerfdfmunben, qu^ bei benen, bie im ^rinjip baran
feft^alten. aBa§ ber befte 93en)eiS ift, wie notmcnbig mir eine
anbere 2)ogmatiI alg bie alte überlieferte brauchen. 3)enn mögen
bie geborenen ?ßrebiger immerhin für fic^ felbft forgen — bie
öielen, bie e§ nic^t finb, tonnen nur burd) bie 2)ogmatif auf ben
rechten SB3eg gefül^rt unb barauf erl^olten merben.
4.
^n einer lurjen ©dilugbetra^tung foll bie J^age ermogen
n>erben, ob mir nic^t boc^ bei ^^aulu§ bie @puren einer ein^eit^
liefen alles }ufammenfaffenben S^eorie über ba§ ^reuj @^^rifti
finben. älber e^e id) barauf eingebe, mug ic^ ber äluSeinanber«
fe^ung be§ 2lpoftel5 1 Äor. 1 unb 2 gebenfen. Sine ®arftellung
ber ^aulinifc^en ^rebigt oom Äreuj märe o^ne 93ejugna^me barauf
nic^t DoQftänbig'.
(£§ ^anbelt ftd^ ba um bie (Stellung, bie ba§ Soangelium
oom gefreujigten @^]^rtftuS ju ben @ebanfen unb SBünfdjen ber
bamaligen 9Belt einnimmt. ^aulu§ ift fid^, fo fe^en mir auS
biefen 2leu§erutigen, ber ooKenbeten ^araboyie be§ SDBorteS oom
Äreuj oollfommen bemüht. SBaS bie Quben »erlangen, fmb mun*
berbare 3^'^^" ^^^ ^immel, unb monac^ bie ©riechen fragen,
ift 9Bei§^eit. 2)aS ©ort oom gefreujigten ©l^riftuS ift jenen ein
3lergerniS unb biefen eine S^or^eit.
5lämlid), für ba§ jübifc^e S3emu§tfein ift bie 2lttmad)t, mit
ber ©Ott über ^immel unb ®rbe oerfügt, ber allein mögliche unb
überjeugenbe 93emei§ beö göttlichen Urfprung§. ©ie erroarten ba*
^er aud) einen S^effiaS, ber burc^ munberbare Slraftbet^ätigung
fi^ als ©otteS Soten unb ben ®^rift beS ^errn erroeift. 3)aB
3[efuS gefreujigt roorben ift, baS ift für itire ©enfroeife bie enb-
gültige SBiberlegung feines 9lnfpruc^S, ber ÜÄeffiaS ju fein. 2)ie
S3e^auptung, er ber ©efreujigtc fei bennoct) ber 9JleffiaS, erfc^eiut
i^ncn nic^t blo^ als etmaS Unglaublicl)eS, fonbern gerabeju als
346 Ä a f t a n : 3ur ® ogmatif.
ein 9lergerni§, al§ eine @otte§Iäftcrung. ®aS lücig $aulu§, loeil
er felbft fo gebaut ^at, al§ er bic ©cmcitibc verfolgte.
3lbev nid^t rocniger gro^ ift bcr ®cgcnfa% gegen bic grie*
c^ifc^e Sentipeife. 93ei ben ©riei^en gilt nur bie SBeiöl^cit etn)a§,
n)ie fte in ben p^ilofopl^ifc^en (Bauten gelehrt n)irb unb fid^ oIS
eine au§ aßgcmeinen ©ebanfen entnommene 2^^eorie, ate ein ben*
tenb gen)onnene§ äBeItner[tänbni§ barftellt. 3Ba§ bebeutet i^ncn
ba§ 9Bort oom Kreuj, bie 93e^auptung, ba§ ®ott burc^ biefe
%i)at bie aSelt befeligt unb unö in i^r ben ©(ftlüffel jum 9Ser*
ftänbniS ber SQBelt gegeben l^at? ®a§ ift eine gar nic^t bi§tutier*
bare 2:^or^eit, fie fällt au§ aller Slnalogie l^eDenifc^er SlBeig^eit
t)erauS.
Unb mag ftellt nun ^aulu§ bem entgegen? ©infac^ ben
©a^, ba§ ba§ Rreuj fi^ an benen, bie ba glauben, ober für bie,
bie ba errettet merben, ate ®otte§ Äraft unb ®otte§ SBei^^eit
ermeift. ®r Derjic^tet auf eine bialeftif^e ^uSeinanberfe^ung mit
biefen Sinmänben. . SQBer ba§ Sreuj rid^tig oerfte^en foH, mu§ )u
ben ©laubigen, ju ben ©rretteten gel^ören. 9iur wer ^ier eigne
©rfatirung l|at, wirb inne, roie t^öric^t unb unbegrünbet bie ©in*
roänbe bagegen finb. 3)ie ©rfa^rung aber, bie er meint, ift bie,
bie er felbft gemacht l^at : ber ®eifteSempfang in ber SSereinigung
mit ©^riftu§. ©o bitbet bie Äraft @otte§ gleich am ©ingang
ber SRebe 1 Äor. 1, 18 ben ®egenfa§ jur %\)ox})^\t: benen, bie
oerloren gel^n, ift ba§ Äreuj ©^rifti eine S^orlieit, benen, bie er*
rettet merben, ift e§ — nun nid^t etwa SDSeiS^eit, fonbem Suva-
jjLc; «•eoö. 2It§ Äraft ®otte§ ift e§ bann fetbftoerftänbli^ auc^
bie t|öd|fte aBei§t)eit. ©o gefdial^ auc^ feine ?ßrebigt an bicÄo*
rint^er nid)t in überrebenben SEßorten menf^tidier SD8ei§^eit, fon*
bern in ©rroeifung be§ ©eifte§ unb ber Kraft 1 Kor. 2, 4. 2)ie
©alater erinnert er, bafe bie anfc^aulic^e ?ßrebigt be§ getreujigten
©^riftug in i^rer üKitte ©eiftegempfang unb göttliche SHac^tt^aten
jur 5olge Ijatte. ®amit ermeift fid^ bie fc^einbare ©c^moc^e
©ottcg, bag bie 2)len|c^en feinen ©o^n Ereujigen tonnten, al§
ftdrfer benn alle Kraft ber aWenfd^en 1 Kor. 1, 25.
2tber baneben fte^t nun jugleid^, ba§ ©^riftu§ für bie ©lau»
bigen jur SÖBei^^eit geworben ift, unb baß bie fc^einbare I^or*
Ä a f t a n : 3ur S)oömatif . 347
^eit ®otte§ lücifcr ift afö bic SBcig^cit bcr 3JlenfcI|cn 93. 25 u. 30.
3m roeitercn SScrIauf ücrfic^ert ber 3lpoftcI 2, 6 ff.: roir rebcn
SBci^^cit unter bcn xiXetot, bcn ©ingcroeititen — eben nur eine
anbere 9Bct§^eit ate bic SBeiS^eit biefer SBelt bie biöl^cr im @e^
^cimniS verborgene 833ei§^eit @otte§. 2)q§ ift bie SBeiS^eit, bie
ber ®eift giebt, bie ber 7cveü|xaxtx6s I|at, n)ät)renb ber tj;uxcx6s
nic^t§ booon roei^ unb oerfte^t. S33ie l^aben roir nun biefe SBBei§*
^cit ju beuten, über bie $aulu§ ju uerfügen ftct) beraubt ift?
SWan ftettt ben 3ufantmen^ang roo^I fo oor: ^aulu§ uer»
neine atlerbingS bie grie^ifc^c SB3ei§^eit, behalte aber vor, ba^ e§
eine SBei^^eit gebe a\x6) für ben ©Triften, nur eben unter aUor«
auSfe^ung be§ ©laubenS. Unb baS wirb bann al§ Segrünbung
beö Unternel^menS oerroertet, ben d^riftlic^en ©lauben in t^eolo*
gif^e Sa3ei§f|eit umjufe^en. S)ergleid)en ^abe auc^ 5ßaulu§ fd}on
Dorbel^alten. Qa, naä) ^olften ift bie ganje ^rebigt be§ 2[po*
ftel§ ©rjeugnig fol^er SBeig^eit, ber ®noft§ be§ Äreuäe§ ©l^rifti.
3^ glaube aber nicht, ba§ biefe Beurteilung jutrifft.
®abei fommt e§ nämlid^ fo ju fte^n, ba^ bie SQBei^^eit, bie
^^aulu§ unter ben xiXeioi rebet, ber 3lrt na^ bie gleidje ift
roie bie oon ben ^eflenen geforberte unb oermi^te. 3)er Unter»
fd)ieb ift ber, ba^ ber ^nl^ölt ein anberer ift, bie ©ebanten fic^
in anbern SÄngelpunften bewegen, in 2Bat|r^eiten, bie nur bem
©laubigen jugänglid^ finb. SSielme^r ift ber ©egenfa^ aber
ber, ba§ bie 9Bei§]^eit ni^t in Überrebenben SBorten liegt, fon«
bern il^rer 2lrt nac^ eine anbere ift. ©ie ift eine S2Bei§^eit
ber göttlichen Si^atfac^en, eine SBei^tieit ber ©e^eimniffe unb
Offenbarungen. ®ie teilt ber ©eift mit, unb bereu mirb man
burd) ben ©eift gemi^. Ql^r Slngelpuntt ift unfere 93eftimmuug
jur Soga.
Ober no^ anber^: baS SBeroeifenbe, ba§, rooburd^ bie SßJeig*
^eit fic^ al§ SBeiS^eit ermeift, ift. nic^t bie 3)enfarbeit be§ menfc^«
lid)en ©eifte§, fonbern bie UebcriDältigung burd) göttlichen ©eift
unb göttliche Äraft. SBenn $aulu§ fortfäl^rt, er liabe ju it)nen
nic^t alö ju Tcveufiaxcxot reben fönncn, tonne e§ aud^ je^t nicl)t,
ba fie nod^ aapxtxo: feien, fo barf man nic^t an einen Unterfdjieb
bcr intcUettuellcn 2lufnal|mefäl)igteit beuten. 3)ci§ ift na^ bem
S48 ^ a f t a n : 3ur 3)O0matit
ganjen äwfammcn^attg au§gcf^Ioffen. ©in S3ctfpicl bcr SBci^^eit,
oon ber $aulu§ unter bcn x^Xetot rcbct, ift SRöm. 9 — 11: auä
bcr ©c^rift wirb fic entroidtelt unb gipfelt in ber 9Sertünbigung
eine§ göttlid)en, bem 2lpofteI offenbarten @e^eimniffe§. Sllfo, bo*
mit n^irb ntc^t etn^a ein SSerftänbniS be§ $quIu§ legitimiert mel«
d^e§ ben Äern feiner 5ßrebigt in einer oon i^m ouSgebiftetten
2:^eorie über ba§ Äreuj S^rifti finbet. ®S bleibt bei allem, maS
mir uns in biefer ^ejiel^ung auf ben Doranfte^enben Glattem
oorgel^alten l^aben.
älber mistiger nod) ift, ba^ mir bemna^ auc^ ni^t ber 3nei«
nung ftnb, je^t jum @d^Iu^ baS oerfud^en ju moUen, maS bisher
fo bejibievt abgelehnt morben ift. 9lic^t8 liegt mir femer, aö
eine fold^e S^eorie bei ^autuS auSfinbig mad^en ju moQen. 3fi
bei ?ßaulu8 etroa§ mie eine einheitliche ^ufammenfaffung üor^an»
ben, bann nur in ber ^orm eine§ eint^eitlid^en 3iiföi"n^^nfc^auen^
ber oerfdjiebenen SRomente, bie in ber göttlichen 2;^at be§ 2:obe8
unb bcr Sluferroedfung ^efu S^rifti liegen. @o alfo, ba| eben
bie göttlid^e ^at unb nic^t eine S^eorie barüber für i^n ba§
äßcfentlict)e ift. @benfomenig ge^t meine 37leinung ba^in, bad
SBcrftänbniS ber cinjclnen ^aulinifct)en ®eban!engruppen oon ber
©rfaffung biefeS einheitlichen ©inn§ abl^ängig ju beulen. SBü§
ii) meine, ^at nur ben ©inn einer IJrage, ob etma bei ^aulu§
gelegentlid) in cinjclnen aiuöfprüc^en etma§ 2)erartige§ wie eine
einheitliche ^i^föntmenfaffung bcr oerfd^iebenartigen Betrachtungen
JU finben fei. SDleinc^ 93ebün{en§ läßt fid^ baS nic^t ganj be»
ftrciten. SDie Sefcr merben glei^ fe^n, ba^, ma§ mir babei nor-
fc^mcbt, fd^led)terbing§ nic^t in eine heutige SDogmatit pa|t. Sie
braucf)en alfo auc^ nid)t }u beforgen, ba^ id^ |e^t jum ©c^lu^
etma ber gemöl)nlid^cn Sßerfuc^ung be§ ®ogmatifer§ erliege, für
irgenb eine felbft erfunbene 2:^eorie ben Sttpoftet $aulu§ sunt
beugen ju geminnen.
®§ fiub roefentlic^ brei ^Betrachtungen, bie mir bei ?PauluS
gefunben ^aben. Qi) erinnere noc^ einmal an bie Orunbgebanfen.
1) S:ob unb 2luferfte^ung S^rifti ift bie 3Benbc ber Otiten, ber
gegenmärtigen unb ber gutünftigen SSelt: mit biefen Sreigniffen iji
bie alte aSelt geftorben, mit i^nen bie neue SBelt angebrochen. 2) 5)er
S{ a f t a n: Qnx ^ogmatif. a49
Job S^rifti ift hai Opfer für bic ©ünbc bcr SDäelt, in il^m l^abcn
mir ©laubigen bie SBergebung bcr (Sfinben, er ift bie Offenba»
ning ber ©erec^tigfeit ®otte§ für ben ©lauben. 3) S)er Job
ß^rifti ift ftellocrtretenbe§ ©traf leiben für ba§ Sßol! Qfrael: er
^at ben auf bem 93oIf laftenben @trafflu(^ be§ ©efe^e^ abgelöft,
befeitigt unb bamit baS ©efe^ überhaupt au8 bem Snittet getl^an,
roaS inbireft auc^ ben Reiben gu gute fommt, fofern bamit ge«
fallen ift, n)a§ fte bisl^er t)on bcr ©emeinbe ©otte§ trennte. 3)a§
fmb bie brei ©ebanten, rodele je bie 33etra^tung§n)cifen c^araf«
tcrifieren, bie wir gefunben ^aben.
3)ie ©in^eit aller biefer ©ebanten liegt in ber ©in^eit be§
religiöfen ©rlcbniffes, ba§ ju ©runbe liegt. SSSeiter barin, ba§
bie ©nbereigniffe mit Job unb SSuferfte^ung S^rifti angebrod)cn
finb, bie ^eitejufunft barin jur ©egenroart gemorben ift. ©nblic^
barin, ba| e§ aßeS gefd^el^cn ift nac^ ber ©^rift unb an ber
©^rift ate ©rfüHung beS SBorte^ ©ottcfi; erroiefen rocrben fann.
Sber Don biefer ©in^eit ift je^t nic^t roieber ju reben. SBir fragen
je§t nac^ ber 3ufammcnfaffung aller biefer ©ebanten in einer
ein^eitti^en S^eorie.
Offenbar bietet nun aber bie ©ebanfenrei^e über ba§ Opfer
feinen Sln^altSpunft, bie anbem ©ebanfcnrcil^cn i^r einjuorbnen.
S)arau§, ba§ ber a:ob ©^rifti ba§ Opfer ift für bie ©ünbe bcr
SBelt, bie oon ©ott unS gegebene neuteftamentlirfie ©nabenorb*
nung, barau§ folgt in feiner SBSeife, ba§ er baS ©nbe ber alten
5tcif(^e§mclt unb bie 2luferftet|ung ber Slnfang bcr neuen SBelt
beS ®eifte§ ift. ©benfomenig lä§t fid) bie ©ebanfcnreibe über
ha§ ©efe^ fo ermeitern, ba§ fte bic übrigen ©cbanfen unter ftd^
befaßt. 2)agcgen entf^eibet, bag fte bei $aulu§ au§fc^lie^lid)
eine 93cjiet|ung auf ba§ Sßolf -Sfracl t|at. ®a§ barf nic^t auf
bie 9Jlenf(^^eit crmeitert unb biefe ©rrocitcrung für ben ©runb*
gebanfen feiner 2^eorie über ben 2:ob ©^rifti ausgegeben roerben.
S)enfelben ©cbanfen aud| in baS Opfer ^ineinjubcuten ift gleich*
fall^ unmöglicl), wie früher ausführlich gejeigt roorben ift. ®§
bleibt alfo nur bie erfte ©ebanfenrcil^e nom Sobe ©t)rifti als bem
©nbe ber glcif^cSmelt.
2ln unb für ftd^ freiließ {)at biefe ©cbanfcnrci^c ifirc beftimm:»
350 Ä a f t a n: 3^t 2)ogmatit
tcn 93cäi^^ungcn in bem 9Womcnt bc§ ^cil§, ba^ c§ Sefteiung
Don bcr Söelt bcr ©ünbc ift unb @infüf|rung in ein ncue§ Scbcn
bc§ @ciftc§ unb ber jufünftigen ^errli^fcit. ®er %o\> ©^rijii
ift bamit nic^t in eine 93eleud)tung gefteßt in ber er al§ Offen-
barung ber @ered)tigfeit @otte§ für ben ©fauben t)erftdnblic^
wirb. S)te grage mu^ ba^er fo louten, ob ^auluS biefcm ®e«
banfen oom @nbe ber ?5leifc^e§n)elt im 2:obe ®^rifti mrgenb§
eine SDßenbung gegeben l^at, in ber er jugteic^ bie ^Änfnüpfung
für bie SRe^tfertigung bietet?
3)a§ nun, meine id^, fei ber goK i^ ^^^^ 3lu§f pruc^ 9l5m. 8, 3 :
®ott fanbte feinen ©o^n ^v 6{totü)(iaTt aapxö? äjiapxtac unb xai-
£xptvev T^v iftapxfav h x^ aapxu SWit faft ollen 9lu§Iegern
ne^me ic^ an, ba§ biefe§ xaxexptvev oom Xobe ®^rifti ju oer«
ftcl^en ift. ©omol^l naä) bem 3ufammen^ang ber ©teile wie mit
bem (Sanjenber^aulinifc^en Se^roerfünbigungfc^eint mir ein an«
bere§ 9Serftänbni§ nic^t mo^l möglid^ ju fein. Sro^ be§ abroci*
c^enben Urteile üon 93. 2Bei^, ber l^ier an baS fünblofe Seben
Qfefu gebac^t roiffen miß, barf bie§ aSerftänbniS mol^l al5 feft*
ftel^enb erachtet werben. Kaxaxptvetv ^ei^t nun eigentli^ üerur*
teilen, @§ ift aber l^ier ni^t bto§ an einen UrteilSfpru^ ju
beuten, fonbern an ein tl^atfäi^Uc^ ooCjogene^ Urteil. 2luf beutf^
etma: er l^at bie ©ünbe im fjleif^ gerid)tet — baS SRic^ten, roie
e§ t>a^ fprac^lid^ t)ei§en fann, im ©inn non ^inri^ten genommen.
3)a§ aOSort fte^t nun freilid^ junäd^ft im ^iiföniwien^ang ber
@ebanfenreil)e, ba| mir im Sobe S^rifti mitgeftorben unb mit»
aufermedt finb. ^^auluS fü^rt auf biefe ®otte§tt|at an S^rifto
jurüc!, mag er 8, 2 al§ (fein) @rlebni§ genannt ^at: baS ®efe§
bca ®eifte§ be§ Sebcn§ in S^rifto ^t\n t)at mic^ (bic^) befreit
oom ®cfe^ ber ©ünbe unb be§ 2:obe§. Unb roa§ ®ott bamit
bejmedEt unb errei(^t l^at, ift, ba§ mir nun ba§ ®efe§ erfüllen,
inbem mir nid)t me^r nac^ bem ^leifd^ manbeln, fonbern nac^
bem ®eift. ®ott t|at bamit t^atfäd^Uc^ au§gerid^tet unb oerroirf»
lid^t, ma§ ju bemirten bem ®efe§ um ber ©c^ma^^eit be§ %ku
fc^e§ mitten unmöglich mar. S)iefe näc^ften 93e}ic^ungen bcig 9(u§'
fprud|§ ftet)en oötlig auger 3^cif^I-
®a§ @igentt)ümlid^e be§ in i^m gemäfitten 2lu8brud(8 ift aber,
Ä a f t a n : 3ur 5)ogmattf . 851
ha^ bcr 3:0b beS ^cUanb§ l^ier nid^t bIo§ aU göttli(^e Sttnorb«
nung, fonbern al§ göttltd)e S^^at in ber 9iid|tung auf i^n aU ben
2:räger bc§ ©ünbcnflcifd^cS crfc^cint. Unb loeitcr !ommt in ©c»
tra^t bag bie göttliche Zi)at als ein t^atfä^Ii^ DoQjogeneS @e«
ric^töurtcil ^arattcrificrt n)irb. S)enn bamit fommcn roir in bic
©p^ärc bcr ©ebanfen uon ©cric^t, Sicc^tfcrtigung unb neuer ®e*
red^tigfeit. ®S fann ba^er, wie mir fc^eint, ernftlid) gefragt wer*
ben, 06 n)ir ^ier nic^t ein baS @Qnje ber ^aulinifc^en @ebanten
über ben 2:ob ©l^rifti jufammenfaffenbe^ Urteil tiaben. SBcrroanbt
ift i^m ber 2lu§fpru^ SRöm. 6, 10, ba§ ®^riftu§, voaS er ge-
jiorben ift, ber ©ünbe geftorben ift. 3)enn ba§ fann aud) nur
I)ei^en, ba| er burdi ben 2:ob au^er 93ejie^ung jur ©ünbe ge*
treten ift, ju ber er als Siräger be§ ©ünbenffeifd^eg in SSejie^ung
ftanb. 5^rner ift 2 Stox. 5, 14 ju nennen : ift einer für (ÖTiep)
aBe geftorben, fie^e fo finb fie alle geftorben. ®§ Iieifet freili^
nic^t bircft: ftatt i^rer, fonbern: i^nen ju gut. SKCein, roenn
fein 2:0b i^ncn fo ju gute fommt, ba^ fie babur^ be§ 2:obe§
überhoben fmb, fo liegt ber @eban!e ber ©tcüoertretung inbirett
barin. SHber noc^ jroei weitere jmeifetloS ^aulinifdie ©ebanfen
muffen mir ^injune^men. ®innial ben, baj3 ber 2;ob burc^ bie
©ünbe in bie SBett ge!ommen ift 9löm. 5, 12 unb ber 2:ob ba«
^er ber ©ünbe ©olb ^eijat SRßm. 6, 23. SBeiter aber bie nun
oft erroäl^nte ©rmartung ber balbigen SBieberfunft be§ §errn,
bie§, ba§ ^autu§ fie no^ felbft ju erleben ^offt.
9te]^men mir nun bie^ allc§ jufammen, lie^e fid) folgenbe
S^eorie beuten.
@§ ift ba§ ®nbe ber 3^iten, ba§ auf un§ gefommen ift.
3e^t ^at ®ott eingegriffen, um feinen oerborgenen emigen Slat*
fc^lu§ ju oermirtlid^en. Qn bem ®nbe ^at er feinen ©o^n in
SJad^bilbung be§ ©ünbenfteif(^e§ gefanbt. SBie ba§ näf)er ju
beuten ift, tann ba^ingefteltt bleiben. <3[cbenfafl§ ^at Qt\\xS nac^
?ßaulu§, obmo^t er oon teiner ©ünbe mu&te, b. l), teinc attioe
©ünbe in il^m mar, eine aap? i|xapT:a; gel)abt. Unb fein 2;ob
ift nun beibe§ in einem, baö le^te ®erid)t, bie t^atfä^lidie SSer*
urteilung ber ©ünbe im i^ki^d) unb bie SBernic^tung ber alten
SEBelt, mä^renb mit feiner 2luferfte^üng aU bem 93eginn ber 9teu=
352 Ä a f t a n : 3ui^ ^Oömati!.
fcf)öpfung bie neue SBelt erftel^t. 2)amit f|at ftc^ ba§ X6b^^t*
f(^idt au^getüirit ba^ al§ ©trofe mit berSünbe oerbunben toar.
^ie an S^^riftum glauben, fte^n nun nic^t mel^r a(S jum 2:obe
verurteilte ©ünber, fonbern al§ jum Seben beftimmte ©erec^te
Dor ®ott. ©ie bürfen ba^er erwarten, bireft auS bicfem Seibe§»
(eben in baS neue Seben be§ @eifte§ unb ber ^errli^feit ju ge*
langen. Sttc^t minber aber fmb fic burc^ ©btifti S^ob ber ^err»
fc^aft ber ©ünbe, ber fre um beS gleifc^eS mitlen bienen mußten,
überl^oben. S)ie ©ünbe ift im gleifd^ I)ingeri^tet. SBer in @^^rifto
I ift, ift eine neue Kreatur. Q6) fage: biefe 2it|eorie liefee fic^ benfen.
9lämlid^ aU eine üon ^au(u§ gebilbete. SDäir moHen fe^n, ob
! fid( ba§ im ©ingeinen bemä^ren läfet.
SDaS Q3ebenten liegt na^e, ba^ nun aber boc^ aud^ bie S^riften
fterben muffen, unb e§ alfo mit i^rer ^Befreiung pom lob burc^
ben Sob ©{(rifti ni^t§ ift. 3)ie§ 93ebenten lä^t fi^ aber un»
firmer miberlegen. ®enn ba§ ift nid)t§ 3lnbere§, ate baS ^$ara*
boy, bo§ ben ©runbgebanten ber neuteftamentlic^en SJertünbigung
überhaupt, nic^t blo^ ber ^^aulinifc^en ausmacht : bie ^eiUjufunft
ift jur ©egenroart gemorben, ofine bafe fie aufgehört ^ätte, ju*
fünftig JU fein, ©emi^ a(fo lä^t ftc^ biefeS SBebenten ergeben,
I ©§ fte^t aber feft, ba§, roaS ?ßau(u§ gelehrt ^at, eben biefen pa*
! raboyen ©ebanfen einfd)liefet. 2tlfo ift e8 fein ©egenbemei§ ba*
I gegen, ba§ bie Set|väu§erungen be§ 9lpofteI§ auf eine fol^c ein«
^eitlicf)e 2:^eorie roie bie, bie eben ftijjiert roorben ift, ju führen
i fd)einen.
SBeiter fragt fi^, ob bie brei nun oft ermahnten ©ebanfen^
. reil^en in biefcr oerfud)§meife fonftruierten Iffeorie aufge^n, ob
fie fie berf t. Unb ba ift t(ar, ba^ bie an erfter ©teDe entroictcite
I o^ne 2Bcitere§ mit il^r jufammenfätlt. 9lur mit ber SWobifitotion,
I ba§ ber Untergong ber gleifc^e^roelt afe ein ©erid^t ®otte§ über
j fie tiingefteßt wirb, ©benfo bürfte bie am ©efe^ orientierte ©e«
i banfenreifie o^ne SBeitereö barin aufge^n. 3)iefe ift geroifferma^en
ein 2lu§fc^nitt barauS. Sem ©ebanfen, ba§ im Xobc ©^rifÜ
eine t^atfäd|Iid)e SJerurteitung unb $inrid)tung ber gteifc^eSroelt
ftattgefunben ^at, lägt fict) ganj mo^l bie SBenbung abgemin»
I nen, bag er bamit ben ©trafffud^ be§ ©efe^eS getragen ^at, ber
Ä a f t a n; 3"r ^oömatif. B53
um bcö @efe^c§ roillcn fpejiell auf Q]xatl lag. @§ tft nur eine
©pejifijicrung bc^fclben Oebantcn^, um bie e§ [x6) ba ^anbclt. @8
bleibt bic Srage, ob aud^ bic 3)cutung au§ bcm Opfer, bag fein
Job ba§ Opfer mar für bie ©ünbe ber SSSelt, unb be§^a(b bie
Offenbarung ber ©erec^tigteit ®otte§ für bcn ®Iaubcn, ob aud^
bie fid^ barunter begreifen lä^t.
^n einer 93egie^ung: ja! ®enn ber tl^atfäd^lid^e aSoüjug beS
®ert^t§ am gleifc^e ®^rifti t|at o^ne SD3eiterc§ bie g^lge, ba§
bie, benen ba§ ju gute tommt, bamit be§ ®erid)t§ überhoben fmb
unb ber SBergebung teill^aftig werben, ^n anberer S8ejiel|ung
bagegen ni^t. 3)er Opfergebanle aU fold^er bleibt biefem 3^*
fammen^ang fremb. 3)er leitenbe ®ebanfe im Opfer ift ein an*
berer al§ ber be§ ®eric^t§DoHjug§, wie banon eingel)cnb bie Siebe
roar. 3lber ba fommt nun in Setrad^t, ba| bie§ für ^auIuS
ein gegebenes SWoment geroefen ift. 2lUer SD3aI|rfd^einIic^teit nac^
menigftenS. 3)a§ „geftorben für unfere ©ünben nad^ ber ©dirift"
mar bie Uebertieferung in ber ®emeinbe, bie er über!ommen ^at.
Unb jmar mirb angenommen merben bürfen, ba| ba§ frf)on in
ber ©emeinbe bie beftimmtere ®eftalt ber Deutung au8 bem Opfer
angenommen ^atte. ^t^ffalh ift eS nic^t fo auffattenb, ba& e§
ote ein gegebenes SJJoment nic^t ganj in bie eigne oon ^auIuS
felbft gebilbete 2^eorie aufgebt, ^fnfofern roare bie 2Innaf)me
bod^ nic^t unmöglich gemad)t, ba| eine fold^e 2:I|eorie bei if|m
oorliegt.
3lber, mir l^aben ja ausführlich beftritten, ba§ ber ®ebante
eines ftettoertretenben ©trafleibenS ber ®runbgebante ber 5ßau«
linif^en Seigre oom Jobe S^rifti fei. Äommt, maS je^t bel^auptet
roorben ift, nic^t mieber auf biefen juerft fo lebl^aft beftrittenen
®ebanfen l^inauS ? 2)aS ift oielteic^t f^einbar. ^n SSäabr^eit je*
bo^ oerl^ält eS fi^ anberS. Sinmal fel^It bei jener 2:t|eorie ber,
bag id^ fo fage, eSi^atoIogifcfie ^intergrunb. 3)er ift aber in bem,
maS id^ je^t ^ripot^etifc^ atS eint)eitlid)e Sel)re beS 2lpoftelS oor*
trug, bie ^auptfad)e, zhzn bieS, ba§ fid) im 2^obe ®f)rifti baS
le^te ®erid)t ®otteS auSgemirtt t)at. ?Jemer aber : in jener 2:i^eorie
ift ber leitenbe ®ebanfe ber einer Uebertragung ber ©^ulb unb
©träfe oon ben ©diulbigen auf ben Unfdtjulbigen. ®aS fet|It t)ier
3eitf(^rift für «Geologie unb Äirt^e . 14. 3o^rß., 4. §cft. 24
354 ^ a f t a n : 3ur ^ogmatit
bagegcn DoUftdnbig. $ier ift bcr Icitenbc ©cbanfc ber Don bcr
aSoUjicl^ung be§ ®ert(^t§ am ©ünbcnflcifc^, an bem bcr So^n
©otteS Seit gcioann, inbctn er in§ %U\\äi fam. Slid^t er ate ©üb«
jcft ift Ocgcnftanb be§ ®cric^t§, fonbcrn in il^m wirb ba§ ®m^
bcnf[cifc^ getroffen. ®er Sob aU ber ©ünbe ©olb wirft fxä) ate
göttttd)e§ ©erid^t au§ an ber fünbigen gleifd^eSroelt, inbem er fic^
an 6^riftu§ ooßjie^t.
Qfnbeffen, e§ foK nid^t geleugnet werben, ba§ bei alle bem
ber S3ebenfen genug bleiben. 3»^^ n^^ine nic^t gegen bie S^eorie
felbft. SDarüber brauet e§ j|a feincS SBorteg weiter, ba§ fie für
unfer t|eutige§ S)entcn unannel^mbar ift. 9iic^t Wo§ beSl^alb,
weit für un§ bie ^auptfac^e fel^lt, bie fefte Ueberjeugung, ba^
wir im SSoQpg ber ©nbfataftrop^e brin ftel^n. Slu^ beS^alb
ni^t, weil fie aßen möglichen ®inwänbcn unterliegt. 9liemanb,
bem e§ um eine bogmatifc^e ^eorie ju tl^un ift, um beren ein«
wanbfreie SluSgeftaltung, wirb mit folc^en ©ebanfen bem 93ebürf«
ni§ genügen )u fönnen meinen. 3lber baS entf^eibet nid^t ba>
gegen, ba§ ^aulu§ fo gebadet l^aben fönnte. @r ift eben nid^t
t^eoretifd^ intereffiert. ®§ ^anbelt ft^ anö) liier nic^t um begriff*
tic^e ätrbeit al§ fold^e, fonbern um ein gelegentlid^eS 3wfammen*
fd)auen ber t)erf^iebenen in ber Deutung beS S^obeS @^l^rifii oon
if)m befolgten @eftdE)tSpunfte. S)iefe allgemeine SSebcnfen würbe
ic^ bal^er nic^t ju l^oc^ anfc^lagen.
Slber ganj abgefel^en baoon lägt fic^ auS 5ßaulu8 felbft man»
derlei bagegen geltenb machen. SUamentlii^ fd^eint mir in bicfem
©inn au^ ^ier bie Slrgumentation SRöm. 1—5 in§ ©ewic^t ju
fallen, ^ätte ^aulu§ ni(^t in beren 3w[fl"^n^^^ö"9 unter 88or*
au§fe§ung einer fold^en Xi)zoxk folgern muffen, wir feien bem
@eri(^t§iorn ©otteg entnommen, weil baS ©eric^t ©otteS über
bie fünbige 3Belt im 2:obe ®^rifti fc^on ooUjogen fei? ^otte er
unter folrf)er 93orau§fe^ung oor allem fd^reiben'!önnen, xoa^ wir
SRöm. 5, 1—11 bzi i^m lefen?
Qi) wügte nur ju erwibern, ba§ nac^ ber oon mir ange*
nommenen 2:^eorie oon einem legten ®zx\i)t überhaupt ni(^t me^r
bie SRebe fein bürfte. Unb bann würbe ftd^ baS 93ebenfen loie*
ber bamit erlebigen, ba§ l^ier baS öfter erwähnte ?ßaraboj be*
Ä a f t a n : 3ur ^ogmatü. 356
9{euen 3:cftamcntc8 eingreife. 3Iber wie bem fei — ouf aDe gälte
ifl e8 nur ein ^qpot^etifd^er SBerfud^, roaS I)ier al§ eintieitüd^e
SC^eorie beS 2tpoftei§ fonftruiert roarb. 9ii^t§ liegt mir ferner,
ate bel^aupten ju wollen, eg laffe fi^ mit SBeftimmtl^eit ermitteln
unb bart^un, ha^ $aulu§ fo gebadet ^abe. ^6) miQ eigentlich
ni^t mel^r bamit fagen, aU ha% menn man boc^ bei $au(uS
eine ein^eitli^e S^eorie annel^men ju foHen glaubt — ni^t al§
SSorauSfe^ung, fonbern al8 gelegentlid^e ^i^f^'^w^^'^föffung ber
einjelnen ®eban!enrei]^en — fie meinet 93ebunfen8 in biefer 9lic^s
tung gefugt merben mu§.
Ser fibermiegenbe @inbriidt bleibt alfo ber, ba§ bie oerfd|ie«
benen ©eutungen bei ^aulu§ neben einanber I)er(aufen unb
i^re roa^re ©inl^eit in ben brei oft ermäl)nten UKomenten l^aben :
bie ®inl^eit be§ religiöfen ®riebniffe§, bie ©intieit in bem ®^^
banfen ber ^eilSooHenbung, bie ©in^eit in bem, ba§ e§ fo ge^
f^el^en ift na^ ber ©c^rift. Unter allen Umftänben liaben mir
un§ in ber l^euttgen eoangelif^cn Dogmatil bei 2lnetgnung unb
35ern)ertung ber ^ßaultnifdien ^rebigt in ber früher befproc^enen
SBeife an biefe einjetnen Oebanlenreilien ju galten, inbem mir fie
bem 3iifott^w^^^i^cing einer bem reformatorifd^en 93e!enntniö ent»
fpre^enben Seigre einorbnen.
357
aRa£ 9letfd|Ie.
2)ic ^unbertjä^vigc ®cbad)tni§feicr oon ÄantS S^obcStag ift
nid)t nur in p^ilofop^if^en JErcifen begangen roorben ; aud) tf|co*
logifdie 3ci^f<il^ift^tt unb Sird^enblätter tiaben boS 2lnbenten beS
^^ilofop^en erneuert. — SWit gutem ®runb! 2)enn tatfäd)(i^ ift
Sant§ ®inf[u§ auf bie S^eologie unb beren Sntroidtlung ein fe^r
bcbeutenbcr geroefen. 9lur geroefen? Ober l^at Sant§ ©ebanfen*
arbeit i^ren unmittelbaren SGBert aud^ noc^ für bie S^eologie ber
©cgenroart? Unb inmiemeit ^atfieil^n? 2lngefi^t§ be§ 2lriftoteIe§,
beig magister in temporalibus, ftetite einft bie mittelalterliche S^eo«
logie bie 5^age, inmiemeit über it)u ein „tenetur" ober „non te-
netur" au^gefprod)en werben muffe. Un§ brängt fid; beim ©e*
bauten an Kant eine öf|nlid)e 5^age auf.
Um un§ barüber SRed^enfdiaft ju geben, üergegenmärtigen mir
un^ juerft Sant§ ©ebantenroelt. SBo^I ift ba§ nur (Erinnerung
an SBetannteS ! 2lber biefe ©rinnerung mag baju bienen, in freier,
aber bo^ fioffentlic^ ber (Sacf)e nad) getreuer 3)arftellung gemiffe
©auptpunfte fo gu beleud^ten, ba^ if)re 93ebeutung f(ar f|eroor=
1) 2)em ^Jofgenben liegt ein SBortrag ju ®runbe, ben id| am 13. Slprit
1904 in ©^cmnift auf ber „fä^fifdien ürc^lic^en Ä'onfercnj" gcfiatten ^abe.
S)er Vortrag ift in freier 9Beife roicbcrgegcben, an manchen Stellen aud^
erweitert S)an!cn§n)erte Slnregung jur Söerbeutlicöung cinselner fünfte
gaben in ber Debatte befonbcrg §crr P. prim. Dr. ^afecr unb §err ^ro*
fcffor D. aneI)I^om.
3eitf(^nft fär X^eologie unb jttrdpe. 14. 2Ea^rg., 5. ^eft. 25
358 9leif(^le: ^ant unb bie ^^eologie ber ©egeiuDart
tritt. 3)ann mag fid^ weiter bie ^xaqt anfc^Iie^en, tDie rocit auc^
^eutc tioc^ biefe ©ebanten in Äraft ftel)en unb in ber J^eofogie
Derrocrtbar finb.
I.
Um bie Slntmort auf biefe g^age üorjubereiten, tonnen mir
in Äant§ Oebanfenroelt bie jroei Seiten unterfd)ciben, bie
bei alten großen ®eiftern ber menfc^li^en ®efd)ic^te un§ entgegen-
treten: einerfeit§ ben ßwföw^wicn^ang feinet 3)enfcn§ mit ber 9Ser=
gangen^eit, anbererfeit§ feine Originalität.
1. ®erabe bei ben großen 3) e n f e r n fann jene Sttnfnüpfung
an bie Vergangenheit am roenigften festen: nic^t nur in fü^nen
intuitioen ^been tann ba§ menfd)li^e ®enten noranfc^reiten ; fon=
bern au^, mo fie aufleuchten, muß fid) bamit bie bi^furftoc 2(rbeit
eines 3)urc^benten§ be§ fc^on jur Ueberlieferung geworbenen 3Bif=
fen§=^ unb 93egriff§material§ oerbinben. ®abei merben geläufige
iJrageftetlungen, geprägte formen unb ©^emata, eingebürgerte
®en!roeifen, ja, fofern ba§ 3)enfen an^ bem gefamten ©eifteSfeben
l)eroorroöc^ft, überhaupt ®eifte8rid)tungen ber Sßergangen^eit mit
übernommen. So ift e§ aud) bei Sant. 9tad) ber einen Seite
ift er bur(^au§ So^n feiner 3«it- SBenn mir mit unfern
heutigen retigiöfen 2lnf^auungen, 3»ntereffen unb Stimmungen
in ÄantS ®ebanfengebäube eintreten, fo finben mir un§ oon einer
fremben Suft umme^t, oon Suft ber 21 u f f I ä r u n g. SBir fül)leii
un§ l)ier oon jener großen geiftigen Strömung berührt, bie, ISngfi
vorbereitet unb ftcf)er, menn auc^ aCmä^Iid) unb ungteic^mäpig
DormärtSbringenb, im 18. Qal^rljunbert innerl^alb ber d)riftlid)en
Äulturnationen bie gebilbeten Greife ergriff. 5ßor^er mar bie
53itbung in meitem Umfang beflimmt burc^ bie Äirc^e. Soflanb
e§ befonberS in !att|oIifd^en 3:erritorien, mo nad) ben Seaman-
tungen, roeldje bie SReformation unb fc^on bie Slenaiffance gc--
bracht, eine SReftitution ber tat^olifc^en Senfmeife ftattgefunbcn
l^atte ; aber aud^ in eoangeIifd)en fianben ^atte jufammen mit ei'
nem ^lieberfd^Iag ref ormatorifc^er ®ebanfen eine auö l^umaniftifc^en
unb biblifdjen 2;rabitionen gebifbete, fird)lid^ legitimierte SBelt« unb
fieben§anfd(auung fic^ feftgefe^t. S)ie 2tufttärung bebeutete baä
iHeifd^Ie: ^ant unb bie ^^eologie ber (SegentDatt 359
©mporfoinmcn einer ro e 1 1 1 i c^ e n 93 i I b u n g, bie ftd^ oon ber
f ir^Iic^en ©eDormunbung emanjipierte. 9li^t nur in ber getel^r*
ten SBelt breitete fie fid> qu§, in ber fie [ct)on längft i^re Pflege
gefunben ^atte, fonbern fie erfaßte, getragen üon ber allgemein
bilbenben unb fc^öngeiftigen fiiteratur, um bie SWitte be§ 18. Qdi)X'
^unbert§ metir unb me^r bie Steife ber Oebilbeten überl)aupt.
— ©runblegenb für bie neue Silbung roar bie 91 ü t u r m i f*
f e n f d) a f t: ba§ SBeltbilb beS Sopernifu§, bie aftronomifc^e 3tn*
fc^auung t)on ber ^immetömett, ber ©ebanfe be§ 9laturgefe^e§
rourbe je^t erft eine 3Äaci^t im ©eifteSleben ber ^eit. 3)aneben
prägte bie auflebenbe pragmatif^e ®efc^id)t§forfd|ung
bie Ueberjeugung ein, ba§ auc^ in allem gefd)ici|tlid^en 3£Berben
natürliche Urfac^en, oft allerlei üeintic^e unb jufättige Umftänbe,
menfc^Iid)e (3d(n)arf|f)eiten, Irrtümer unb S^orl^eiten, i^re mci(^tige
9ioIle fpieten. 3luf biefer ©runblage ber empirifd)en äBiffen-
fc^aften aber oerfud^te man eine nernünftige ©otteö* unb
SEßcItanfc^auung aufzubauen ; ober oieImel)r auf ®runb jener
TOiffenf^aftlic^en S)aten mürbe bie (^riftlid)4^eoIogifcf)e ©otteg-
unb SEBeltanfd^auung ju ben Oebanfen einer natürlid^en ober oer-
nünftigen Sieligion oerbünnt. 2ln ben Qbeen ber greil)eit unb
Unfterblid^feit l^ielten, menigftenS in Seutfd^lanb, bie meiften 3luf«
Mdrer feft, ja fie fud^ten itinen erft bie reifte ©anttion burd) ben
9la^mei§ i^rer SSernünftigteit ju geben. ®benfo blieb bie Qbee
©otteS in ©eltung; nur erl|ielt fie eine beiftif^e SÖäenbung, in-
tern bie SBelt ate gefe^mä^ig georbnete betrad)tet mürbe. 2lber
babei behauptete fid^ bod^ bie teleologifc^e Ueberjeugung oon ber
IRü^Iic^feit ber Sßelt unb il^rer ©inrid^tung für ben 3Wenfci)en.
5)er 9tuf nac^ „IBernünftigfeit" unb „5«atürlid)teit" erfc^ott aber
nic^t nur in ber SB3iffenfd)aft unb ^Religion, fonbern mürbe auf
allen ©ebieten be§ prattifc^en Seben§ erl^oben: „oer*
nünftige SRec^t§Ie^re" ober „9taturrec^t" aU SWa^ftab alteö be*
fteljenben 9le^t§, oemünf tige Orbnung ber gangen menfc^licl)en
©efetlfd^aft oernünftige ober natürlii^e 3ÄoraI ftatt ber autori*
tatioen Äird^enmoral.
9lu^ Äant liejs fid| oon biefer 93emegung tragen unb mu^te
ji^ felbft mit ©tolj al§ Präger ber 3lufflärung. ®er
25*
360 91 e i f d^ ( e: ^ant unb bie 3:^eo(ogie ber ©egentoart
©cc^jigjä^rigc beantioortctc bic gvagc: „9Bo§ ift Slufffärung?"
(1784) bo^in: „Slufflärung ift ber 9lu§gang bc§ SWenfi^ctt au§
feiner felbft oerf^ulbeten Unmünbigfeit . . . Sapere ! aude ^be
ÜRut, bic^ beine§ eigenen SBerftanbe^ ju bebienen, ift alfo ber
aSa^lfpru^ ber 2lufHärung". S)q§ Zeitalter ber 3lufHarung ift
angebrod^en mit griebrid) bem ©ro^en. 3)enn wenn ber ©injelne
a\x6) auf feinem bürgerlid^en Soften ober in feinem SKmtc feinen
aUernunftgebrau^ unb feine Äritif cinfd^rän!en mu§, fo ift boc^
in ber ßffentlid^en literarifc^en Sßer^anblung bic ooHe Jrci^eit be§
Siäfonniereng gegeben, auc^ in 9teligion§fad)en. ^ant felbft fu^tte
fid| f)eimif^ in biefem 3^it<iltß^-
@g mar aber ntd}t nur im aQgemeinen ber ®runbfa| ber
^rei^eit be§ Senten« unb öffentlichen SBert|anbeIn8 roiffenfi^aftlic^er
fragen, ber il^m biefeö ®efüf|I gab, fonbern feiner ganjen
9lic^tung nac^ mar Aant§ 3)enten mit ber Slufflärung na^e
oermanbt. Kant§ Sid mar, mie ba8 ber Slufflärung, eine auf
reinen SSernunf tgrunbf ä^en aufgebaute SBiffenf^aft. Unb auc^
in ber fritifc^en ^eriobe feinet ^l^ifofop^iercnä ift überall bie
^rage nac^ ben adgemeingültigen unb notmenbigen (Elementen
be§ menfd^Uc^en 2)enten§ leitenb. ©benfo wie bie 2lufltärer fuc^te
er ferner bic ©runbfä^c einer ücrnttnftigen SWoral unb eine^
üernünftigen SRec^tc^ ^erau^juarbeitcn, al§ SWa^ftab aHc§ em«
pirifd) gegebenen fittli^en unb rci^tlic^en SebcnS. 8D3a§ fic^ in
biefem nic^t ate oernunftgemäg red|tfcrtigeu lä^t, ^at auc^ no^
Äant !ein S)afein§reci^t, ob e§ au^ gefc^ic^tlic^ gemorben ift unb
merben mu^te. Sluc^ in ben grageu ber SReligion mar ftont§
2)enten barauf geri(^tct, jene brei :3been, „grci^cit, Unfterblic^»
feit, ©Ott", oor bem SRi^terftu^f ber äJernunft ju prüfen unb fw
womöglich als oernunftgema^ ju ermeifen. 2lDc gefc^ic^tlic^en
Sieligionen ^at Kant nur barauf angefe^cn, mie meit fie jenen Der«
nünftigen Qbeen, ob auc^ in mancherlei ^üflcn, jum 3lu8bruct
bienen unb bem moralifc^en Seben jur 5ö^'^«^u"9 gereichen.
3mar l^at neuerbing§ @. 3:rö(tfc^ in einer fc^arfilnnigen
unb ftoffreid)en 2lrbeit über „ba§ ^iftorifrf)e in ÄantS SRefigionS*
p^ilofop^ie" mit SRec^t barauf I)ingemicfen, ba§ Äant me^r, aK
man in ber SRegel mei^ unb bead)tet, fic^ für bie SReügion^»
9letf ^le: ^ant unb bte ^^eologie ber Q^egentoart. 361
gcf^ic^te intcrefftcrt unb mit i^r bcfd)äftigt ^at. Stuf @runb
biefe^ Slad^iocifeS bcfämpft 2:röltfc^ bcfonbcrS ben @a^, ba§ bic
Sluftlärung unb mit il^r aui) Sant bc§ „^iftorifd)en ©inncS"
ermangelt ^abe. 2lber fooiel bleibt oon biefem ©a^ bod^ beftel^cn :
ba§ @efci^id|t(ic^e Ijat für Äant nur infomeit ©ebeutung, al§ e§
Qntrobultion^' unb ^fßiifi^ötionSmittet für bie SBemunftretigion
ift; c§ ücrliert nad) fiant feine 83ebeutung für ben einjelnen in
bem SWag, ate er felbft bie Qb^m ber UJernunftreligion in i^rer
inneren SBa^rl^eit erfennt unb al§ SRegufatit) feine§ £eben§ an-
erfennt. Äant ^atte rool^t bie flare ©infi^t, ba§ bie SBcrnunft*
religion nur in gefci^id)tfid^er Sntmidlung oon nieberen 2tnfängen
aus merben fonnte unb ba|^ aud) burc^ bie Sßtit^ologien ber 9te«
ligionen „unbewußt bie religiöfe Qbee fic^ einen 2lu§brudt Der«
fc^afft" ; aber es fehlte i^m ba§ aSerftänbniö für ba§, n)a§ ©oet^e
in feinen SKofimen unb SReffejionen I (Sottafc^e 2lu§gabe 1874
in 15 SBdnben, 93b. 2 ©. 516) in bic SBorte fa^t: „S)aS 93efte,
roa^ voix non ber @efc^id^te ^aben, ift ber @ntf)ufta§muS, ben fie
erregt". @§ fehlte i^m barum auc^ ba§ üofle SßerftänbniS für
bie ©ebeutung be§ ®ef^ici^tlid)en in ber Sieligion, nömlic^ bafür,
ba| eine grömmigteit wie bie diriftlidje nid)t nur gefd|ic^tlid) ge*
roorben ift, fonbern auS ber ®efd)id^te bauernb itir Seben unb
i^re 93egeifterung fc^öpft. ^n biefer SRic^tung allein, in biefer
aber aud) roirMid^, ^at Äant be§ „gefct)iei^tlid|en Sinnet"
ermangelt. Qn feiner Q^xt freilid^ mürbe baS öon ben meiften
ni^t als anlanget empfunben. Sag toä) gerabe barin ein ftarfes
SBanb, ba§ ^ant mit ber 2lufflärung oerbanb.
©0 l^at benn bie Slufflärung i^n freubig al§ einen ber
irrigen begrübt, ©ie ^at eS an ®^rungen beS ^^^itofopl^en nid)t
fehlen laffen : nid)t nur ©tubenten t)aben i^n angebid)tet, auc^ bie
©ele^rten fc^auten mit ®^rerbietung ju il^m auf. 2lber feine ma^re
@rö§e liegt für un§ melmetjr an ben ^^unften, an benen er über
feine Qext l^inauSgefi^ritten ift unb für bie 3"^"^!* ^^"^ 3Bege
gebatint, barum aud) mandjeS bebenflidje Sopffc^ütteln feiner QziU
genoffen erregt I)at.
2. SGBae maren jene neuen, eigenartigen Oebanfen,
bie fd)on bamalS 2tuffel)en, auc^ SBiberfpruc^ erregten? ©ie liegen
362 9leif (i|(e: Stant unb bie ^^eologte bet (S^egenioart
<iuf bem ©cbiet jicncr brei g ragen, bic Äant fclbft in feiner
aJtett)obcnIe^re ber „Kritif ber reinen SBcmunft" unterfd)eibet:
„xoa^ fann i^ roiffen? roaS foU t^ tun? roaS barf ic^ ^offen?"
ober — ba§ bürfcn wir für ba§ le^te ©lieb einfe^en — „mä
barf ic^ glauben?"
a. 3)ie aufftärerifi^c beutfc^c 5ß^ilofopl|ie wiegte fi^, ftatt
biegrage: roaö fann id) roiffen? mit ooöem Srnfte ju fteüen,
in bem 2:raum, man fönne mit ^ilfe be§ menfd^Iidien 5Denfen8
bis ju ben legten unb l^öd^ften g^agen oorbringen unb bic J^been
ber S^ei^eit, ber Unfterblic^teit, @otte§ bemeifen. SDag Äant,
ber „3(tteSjermatmer", biefe SBemeife feiner oernic^tenben Sritif
untermarf, \)at in ber aufflarungSfrol^en 3^it einen befonberS möc^*
tigen ©inbrurf gemacht. 216er wichtiger unb jutunftSreic^er als
bie Sritif felbft, in ber Äant bod^ fc^on ^ume ju feinem SSor»
ganger l^atte, mar bie neue 93egrünbung, bie Äant i^r gab,
nämlidö bie umfaffenbe Unterfuc^ung über bie roefentlic^en S^
bingungen be§ menf(^lic^en ©rfennenS unb über bie ©rengen, bie
fein rechtmäßiges ©ebict umfc^ließen. — 3Q3a§ ift unfer ©v*
fennen? ®S ift ein 2tuff äffen unb Drbuen be§ 3EBa^rne^mung§«
ftoffS in bem ein^eitlid)en erfennenben 33emußtfein. 3)iefeS aber
ift nur möglid^ in ben g^ormen unfereS erfennenben 93en)u6t*
feinS. 9tad^ ben inneren Äonftruftion§gefe§en unfereS Sänfc^auenS
muffen mir jenen ©toff in unferen Slnfc^auungSformenom
orbnen, einerfeitS ju einem SRaumbilb ber roirflic^en SDäelt, an«
bererfeitS ju einer jeitlidien SRei^e ber 95orgänge. Slbcr ein 3^-
fammenfaffen ber unenblidien äBeite, bie in ber SRaummelt fic^
oor uns auSbe^nt, ein g^eftfialten be§ ©tromeS, ber mit unfern
93orftellungen, jeben Slugenblicf fid) änbernb, burd^ unfer Seroupt*
fein flutet, fann nur gefc^elien, inbem mir jugleicl) gemiffe S)enf»
begriffe anmenben. 5Die med)felnben ©inneSempfinbungen f äffen
wir als Sßeränberungen an einem bleibenben SQgirfli^en, aÜ
aSorgänge an einer SBelt von 3) in gen, mit ifiren ©igenfc^aften
unb Swftänben. 3)ic üerfd^iebenen SSorgänge felbft bejie^en wir
aufeinanber mit ^ilfe beS 33egriffS oon Urfac^e unbäBit«
f ung — man benfe an alle bie Dielen tranfitioen SSerba, bie
unfere ©prad)e in 2lftiu* unb ^affioform anmenbet — , alte 3"-
SHeif^le: ^ant unb bie Geologie bet ©egentDart 863
[tänbe unb SSorgängc bcr 3)mgc begreifen wir in einem großen
^ufammcn^ang ber SEBec^feIn)ir!ung. — @§ ift junä^ft eine un*
willfürlidie 2;ätigfeit, in ber roir fo unfer 93i[b ber SBelt in
uns aufnehmen, aber auf biefer ©runbfage beginnt bann eine
obfid^tSooIIe Sttrbeit, ben un§ gegebenen @rfenntni§ftoff burd)
93eoba(^tung, bur^ ©Warfen unb SBeroaffnen ber Sinne noc^ au§*
juroeiten, jugtcic^ aber i^n in einem ©gftem t)on ^Begriffen
unb ©efe^en ju orbnen. 3)amit ift aber Kar, mo ba§ eigent«
lic^e ©ebiet ber @rfenntni§ liegt. 2Iuf bem 93oben ber ©rfa^*
rung! Kant ift ber grojse ^erolb ber ®rfal)rung§n)iffenfc^aft ge*
morben. ®ort jeigt fi(^ un§ „ba§ ßanb ber a33at)r^eit (ein rei*
jenbcr 9lame)", wie e§ Äant felbft (Kr. b. r. Sßern. ed. Äel^rbac^
S. 221) bejeic^nct. „Qn§ Qnmxt ber Statur bringt 93eoba^tung
unb 3^^9Keberung ber (£rfd)einungen, unb man tann nid)t roiffen,
wie weit biefe§ mit ber Qtxt ge{)en merbe" (ebenba ©. 251). —
9{ber bamit ergeben fic^ jugleic^ bie ©renjen ber ©rfennt«
ni§ Dor unfern Slugen. SBer über ba§ ©ebiet ber Srfa^rung,
auf bem 93eoba^tung, ©yperiment, aud) ertlärenbe ^gpot^efe i^re
©tätte ^aben, hinaufbringen miü, roer aufjufteigen t)erfud)t ju
bem erften ©runb aUer 3)inge, ber oerlä^t jenen fieberen 93oben
unb fallt bem ©diein ant)eim. ®enn jene§ Sanb ber SOäa^r^eit
ift „eine Qn\d unb burd) bie 9}atur felbft in unoeränberlidie
©reujen eingef^loffen. ®§ ift . . . umgeben üon einem meiten
unb ftürmifc^en Djean, bem eigentlid)en ©i^e be§ ©d)ein§, roo
mandje 9iebclbant unb manc^e^ balb megfc^metienbe @i§ neue
Sauber lügt, unb inbem e§ ben auf Sntberfungen l^erumfd)roärmen*
ben ©eefa^rer unauf^örlid) mit leeren Hoffnungen taufest, i^n in
2lbenteuer Derflid)t, dou benen er niemals abtaffen, unb fie bod^
aud) niemals ju @nbe bringen fann" (ebenba ©. 221). 9Iber
burd) jene 6inftd)t in bie 93ebingungen unferer SrtenntniS finb
biefer nid)t nur fefte ©renjen nac^ au&en l)in gejogen, fonbern
auc^ unüberfd)reitbare innere ©c^ranten gefegt. SDBir oermö*
gen bie SBelt immer nur fo ju fe^en, mie fte im ©piegel unfereS
enblid)en, menfd^lid)en 93en)u§tfeinS fi(^ fpiegelt, nur fo, mie fie
pon uns enblidjen ©eiftern erfaßt merben fann. a3or bem 2luge
eines fd)öpferifdjen ©eifteS, eineS intellectus archetypus, menn
864 9ieif^le: ^ant unb bie ^^eologie ber ©egentoaTt
toir einen folgen junäd^ft andj nur rein l^gpotlietif^ unS bcnten,
mag fte anbcr§ baftelien, oI§ fte — um ben 2lu§brucf au§ ®oet^e§
gouft ju gebraud^en — für „meiner Slugen jcit» unb erbgemä^
Organ" fid) barftetlt.
©türjt aber mit biefer @rfenntniS!ritif nic^t bie ganje über*
f innlidie SBelt jufammen? @o ^at ber 9leufantiani§mu§ jum
3:eil Rant Derftanbcn unb fortgebitbet; er ift jum $ofitioi§muS
fortgefc^ritten, ber überhaupt auf jeglic^e^ ^inaugge^en über ba§
in ber ®rfal|rung (Segebene oerjid^tete. 3lber er ift bamit Äant
ober iebenfaÖg ben ^bfid^ten Äant§ oöCig untreu geworben,
gür biefen mar fo mid^tig mie bie ®rfenntni§fritit bie Unterfu»
d^ung be§ fittU^en SebenS unb bie geftfteßung feiner Slßgemein*
güttigteit, ja burd^ bie ®rfenntni§tritif mac^t er nur Siaum für
biefe. —
b. 2lu(^ in ber 5^age „voaS foll i^ tun?" blieb Äant§
^p^ilofop^ie nid)t einfach in ber 93a^n ber Slufflärung. 3">ö^
trat aud) biefe jum S^eil al§ energifd^e 93or!ämpfertn ber ©ittlic^^
feit auf. 2lu§erl|atb S)eutfc^Ianb§ l|at bie 2lufttärung§p^ilofop^ie
jum 2:eil auc^ an ben ftttlid^en Gegriffen unb ©runbfäfeen mit
geiftreid)en 3^cifcln ^^"^ frioolem ©pott genagt, ^n 3)eutfd|*
lanb ^atte fic^ bie SKufflärung biefer SRid^tung im roefentlic^en
ferngel^alten. Qa fie moQte ba§ ftttlic^e ®ebot gerabe baburc^
nod^ einbringtic^er madjen, ba^ fte an bag natürlid^e ©efül^t be§
aÄenfd)en appellierte ober au^ ben Seutcn oorred^nete, mie nü§*
lid) e§ fei, gut ju fein. — demgegenüber ^at Kant bie leitenbe
Sbee be§ fittli^en Seben§, nämlic^ bm Segriff be§ fittti^en
@efe^e§ auf§ f^ärffte ju f äffen gefud^t, unb jmar in unerbitt*
lid^ ftrenger Unterfdieibung oon aller natürlid^en Steigung unb
eblen 9legung be§ ^erjen§, oon aller ^lug]^eit§* ober Slü^lic^--
Ieit§regel. ®er „fategorifd)e 3fi«peratio", b. l). ba§ unbebingt
forbcrnbe „bu foUft", ift i^m bie altein mirtlid^ jutreffenbe b. d.
bie ©ad^e felbft bejeic^nenbe gorm eine§ fittli^en ®ebote§. S^er
©runbgebanfe, ber barin ftedft, lä^t fi^ in einer allerbing§ fe^r
freien ®rläuterung am einfad)ften oerftänbtii^ mad)en. SSBenn nur
bie gorberung ber SBa^rl^aftigteit ober S^rtid^fcit ober ®ol)l'-
tätigfeit mirflid) al§ fittlid^e§ ®ebot baftel^t, roa§ ift bann
[HeifdiU: ^ant unb bic ^^eoloflie ber ©cgenroart. 365
ba§S8eä€i^nenbcbicfcr9leflcl? Slntiüort: bicUnbcbingt^eit! SD3a^r»
^aftigtcit tann gar n)ol|l au^ einmot meiner Steigung entfpre-
d^en : e§ ift mir nid)t mo^I babei, menn id^ einen anbern anlüge.
|)äufig aurf) ift mir SBa^rl^aftigfeit fd)on burd^ Älugt)eit ge^
boten, ba xti) burc^ eine Unmal^rl^aftigteit alten gefdjäftlid^en Äre^^
bit ju üerlieren fürd^ten mu^; ba§ ©ebot „fei roafir^aftig", fann
alfo 9lü^lic^teit§regel für mid^ fein. Qn gemiffem Umfang
ift awä) f^on burd) bie @ef ellfd)aft§fitte bie Uebung ber
SBa^rl^aftigfeit mir Dorgejei^net: burc^ eine plumpe Süge riöRere
ic^ ben aSerluft meiner gefetlf(^aftlid[)en @^re. Qa, unter gemiffen
Umftänben, j. 93. bei ber ©teuererflärung, ift fie mir fogar burd)
ba§ SRe^tSgefe^ geboten; e§ ftet|t (Strafe auf ber unmaliren
Sfngabe meiner 93ermögen8oer!^ältniffe. — 2lber mit allem bem ift
bie gorberung ber SDBa^r^aftigteit, ob fte baburc^ mir aud) nod^
fo fc^arf eingeprägt mirb, nod) !eine§meg§ al§ fittlic^e§ ©ebot
für m\6) aufgert^tet. SD8enn id) ba§ ©ebot „fei ma^rl^aftig" al§
ftttlid^e§ ©ebot für mi^ anerfenne, fo liegt barin üielmeljr: nid)t
nur rocnn, meil unb folangc al§ e§ mit meiner Steigung überein-
ftimmt ober mir Stufen üerfc^afft nid^t nur wenn, meil unb fo-
lange bie öffentliche 3)leinung ober ba§ 9ied)t§gefe^ ba^inter ftel)t,
gilt bie§ ©ebot für mic^, um beifeite gefc^oben ju werben, fobalb
e§ üon jenen ©tü^en oerlaffen mirb; fonbern unbebingt ftet)t e§
bo, ot)ne alle fold^e „wenn unb aber". Qa fogar im ©egenfa^
JU i^nen bleibt e§ beftel^en. © e l b ft menn ba§ Sieben ber SQBa^r*
^eit mir \)'6ä)\t unangenehm ift, ja menn e§ mir n)irflid)en ©dja*
ben, oieIleicl)t fogar ©d)aben an Seib unb Seben bringen fann,
felbft roenn eine oerberbte a)leinung fel^r lay über feinere Sügen
urteilt, felbft wenn ba§ 9iec^t§gefe^ in feiner 2Beife meine Süge
JU a^nben vermag, id) foH roa^r^aftig fein unter allen Umftänben,
unbebingt! 2)arin aber liegt jugleid) bie gorberung befc^loffen:
bic ©efinnung felbft foU auf ba§ Qid ber ©al^r^aftigfeit gerid)^
tet fein. ®a§ fittlic^e ©ebot ber SBa^rl^aftigfeit get|t nic^t etroa
nur ba§ äußere ^anbeln, fonbern ben SBillen an. ®§ mill in
feiner Unbebingt^eit felbft ber oberfte SJeftimmung^grunb be§
SBiUenS fein; alle anbern inneren ©rünbe ober äußeren aJiäd)te,
bie unter geioiffen Umftänben mir bie äöa^r^aftigfeit empfetilen.
866 9leif^le: ^ant uttb bie ^^eologie ber ©egenroart.
anraten ober gebieten, muffen fic^ bem einen ©runb unterorbnen,
ba^ i^ bem unbebingten @efe^, ba§ al§ @emiffen§gefe^ in meinem
@emüt ©ingang finbet, treu bleiben roill.
^n ber weiteren 2lu§fü^rung biefeS einfa^ftcn 9RerfmalS
fitttic^er ©ebote, ber Unbebingt^eit, finben fic^ bei Äant mancher«
lei ©c^mierigteiten. ©ine folc^e liegt j. 33., wie mir fc^eint, in
bem 95er^ältni§ be§ aJlerfmate ber 2lUgemeingültigteit }u bem ber
Unbebingt^eit, fomie in ber 2lrt, mie Äant bie Quaüpfation cineS
@ebot^ ju einer aQgemeinen ©efe^gebung nic^t nur jum $triterium
cine§ fittlid)en @efe§e§, fonbern felbft auc^ jum SSeftimmungS*
grunb be§ SBiUenS ju erl^eben t)erfud)t. Slber aud^ menn loir
nur bei jenem Warften SJiertmat, bem ber Unbebingt^eit, fte^en
bleiben, lägt fic^ bie 33ebeutung be§ fittli^en @ebote§
für ben 9Jlenfd)en oerbeutlic^en, unb jmar in birettem 9lnfc^(u^
an ©ebanten Äant§. (Suchen mir fie in einfad^fter gorm un§
na^e ju bringen ! — <3ft e§ nid^t eine fmntofe ©elbftquälcrci, ba^
mir un§ unter ba§ ^oc^ eine§ unbebingteu @efe^c§ ftellen unb
unfer eigene^ Sun barnad^ beurteilen ? SBäre e§ nic^t beffer, biefe
beengenbe ^effel abjumerfen unb frei ju leben? — 2lte ob bic§
Jrei^eit märe ! Solange mir nur nacf) SQSiBfür leben motten, laffen
mir un§ borf) nur oon unfern trieben treiben, oon unfern fieiben*
fc^aften fül)ren unb finb beren Sflaoen. Unb auc^ wenn lüir
nur nad) ben 93erec^nungen be§ 9lu^en§ un^ riditen ober ber Wladft
ber (Sitte unb be§ 9ted)t§gefe^e§ un§ fügen, ftnb mir bod^ nur
einem fremben ®efe^e untermorfen. SÖBir ftnb Slaturmefen,
menn aud) t)öc^ft raffinierte Slaturmefen; mir bleiben im ©tanbe
ber ,,^eteronomie". @rft menn mir einem unbebingten @efe^e,
ba§ im ©emiffen fid) bejeugt, unö freimiUig beugen unb batan
un^ felbft meffen, merbeu mir „autonom", b. ^. mir folgen bem
eigenen, nämlic^ bem oon un§ felbft gebac^ten unb anertannten
@efe^. 3)arum allein in ber ^wgfamfeit unter ba8 ^oc^ be^
©ittengefe^c§ ift gr e i t) e i t oom Oiaturgefe^ unb matjre „SB ür b e"
be^ 9Jlen|cf)en ju finben ; auf biefem SBege allein mirb ber iDlenfc^
„''^Jerf önlid)f eit", bamit jug(eid) @(ieb einer ^ö^eren geiftigcn
SBelt.
e. @ü fe^t l)ier bie 2lntmort auf bie britte Jragc ein:
9i eif c^le: ^ant unb bie ^^eotogie ber ^egemoart. 367
VDa§ barf ic^ glauben? 3Jlit bcm fttttic^cn ®cfe^ tut eine
SBctt nid)t bc^ ^laturgcfe^c^, fonbern ber greife it fid) auf:
tiic^t eine ©inncnroclt, bic unfercr Safirnc^mung unb ®rfaf|ruTig
jugänglic^ iräre, fonbern eine überfinnHd)e 933 elt, bie mx
nur mit unfern ©ebanten erfaffen unb in bie wix nur bur^ fitt^«
Ii^e§ SQ8otten eintreten fönnen, baburdi, ba& rair felbft un§ al§
freie JBernunftroefen nadt) SBernunftgefe^ betätigen. ®em fittlid)
roottenben SWenfdien get)t jugleic^ ber ©ebanfe @otte§ in fei*
ner n)at)ren Sebeutung auf. 5)er @otte§gebante ift me^r al§ bie
^bee eine§ legten ®runbe§^ einer prima causa aller 3)inge. @r
TOirb au^ nod) nid)t erreicht burc^ ba§ 2lu§fd|auen nad) einem
äugerlid^en So^n ober ©ntgelt jur ©ntfcliäbigung für bie Saft
bc§ ftttlidien ^anbeln§. ©onbern bie Icitenbe Slnfdiauung, auf
bie ^ant abjielt, bie er aber nid^t immer mit ooHer @idjert|eit ju
faffen permod)te, ift bie üon einer SWac^t, bie bem ©uten jum
©elingen, alfo jum ©ieg aud^ in ber naturgefe^lid^ georbneten
aOSelt üer^ilft, bie alfo felbft bie Staturroelt auf ben fittli(^en ®nb*
jtüerf ]^in beftimmt I)at. Unb jugleid) mit ber ©otteSanfi^auung
ergebt fic^ ber roa^re ©ebante ber Unfterblic^feit, nid^t bie
Qbee einer ©eelenfubflauj, fonbern bie Ueberjeugung, ba^ mit bem
Xob unferm fittlidt)en ©treben fein ®nbe bereitet, fonbern ber
SSSeg jur fittti(^en SSoHenbung ber ^}5erfönlid)feit eröffnet ift. —
m^ „fittlidje ^oftulate" füf)rt Slant ben ®otte§:= unb Un^
fterblid)teit§gebanfen ein. Sie finb nid)t beweisbar für ba§ tl)eo*
retif^c ©rfennen, nid^t benfnotmenbig, aber fie finb lebenSnot-
luenbig, menigften^ für ben ftttlid)en SDienfc^en. D^ne fie müpte
er auf fein fttttid)e§ S^ti oerji^ten. 2lber meil er nid)t auf biefe§
oerjid)ten miß unb tanu, ert)ebt er fid^ ju ber Ueberjeugung, baj3
roir enblic^e ©innenroefen, bie mir nur üerfc^minbenbe ®lie*
ber biefer in 9taum unb 3cit greujenlofen ©innenmelt finb, bod^
ju einem SHeid) fittli^er, freier "ißerfönlic^feiten, ju einem $Reicl)e
®otte§ berufen finb.
3)iefe§ 9teid) ber greitieit ertjebt fid) un§ über bem SReid) ber
9ktur unb ©efe^mä^igteit. Qzm§ üielcitierte SÖBort Jlant§ Don
bem „beftimten ^immel über mir unb oon bem movatifdien ©e«
fe^ .in mir" (^r. ber pr. SSern. ed. S?et|rba^ ©. 193 f.) ftettt
368 91etf c^Ie: üant unb bie ^^eologie ber (^egeniuart
un§ bie ©eftimtoelt nic^t etioa nur al§ @egen[tanb afi^etifc^et
SciDunbcrung bar, fonbcm ate bie Sßerförperung be§ 9laturge*
fc^c§, unb [e^t i^r mein roa^reS unfid)t6are§ ©ctbft, meine ?ßer*
fönlic^teit unb bomit eine SBelt gegenüber, ber „malere Unenb-
lic^feit", ni^t blog ©renjenlofigtett in SRaum unb 3cit („f^Iec^te
Unenbli^feit", wie e§ ^egel ou§brücft) jufommt. „2)er erfte Sn*
bficf einer ja^Kofen SBeltenmenge oernic^tet gleid)fam meine 9Bic^«
tigteit al§ eine§ tierifc^en ©efd^öpfg, ba§ bie SWateric, bar*
au§ c§ marb, bem ^ßlaneten (einem bloßen ^unft im SQScftaß) wie«
ber jurficfgeben m\x% na^bem e§ eine furje Q^xt (man meig nic^t
mie) mit SebenStraft Derfel^en geroefen. 3)er jmeite ergebt ba*
gegen meinen SBert, aU einer Sntelligenj [= al§ eine§ gei=
ftigen 8Befen§] unenblic^, burc^ meine ^erfonlt^feit, in rocl^cr
ba§ morafif^e @efe§ mir ein oon ber 2^ier^eit unb felbfl üon
ber gangen ©innenmelt unabhängige^ Seben offenbart menigften^
fooiel fic^ au§ ber jroedmä^igen Seftimmung meines 3)afeinS burc^
biefe§ ®efe^, roel^e ni^t auf 93ebingungen unb ©rengen biefe§
Seben§ eingefd^ränft i\t, fonbern in§ Unenblic^e gel^t, abnehmen
läfet." — 3)ie beiben änfc^auungen liaben eine gauj oerfc^iebene
83egrünbung; aber fie [teilen nid)t im SBiberfprud^ miteinanber.
3)afür forgt uon ber einen ©eite ^er bie 95egrenjung ber 6r*
fenntniS. Äant l^at fie oorgenommen, um ben SRaum für jene
fittlidf)en Ueberjeugungen frei ju machen, ©ie tonnen oom ©tanb*
punft be§ t^eoretifc^en @rtennen§ au§ nic^t miberlegt merben,
aüerbingg auc^ nid)t bemiefen. Slber au^ bie UnbemeiSbarfeit ift
eine roeife Orbnung @otte§; benn märe ein 55emei§ möglich, fo
mürbe bie fittlic^e grei^eit baburd^ erbrüdt. S)ann „mürben
©Ott unb ©migteit mit i^rer fur^tbaren ÜÄajeftät, uns
unabläffig oor 2lugen liegen (benn roa§ mir ooUfommen be*
meifen fönnen, gilt in 2lnfe^ung ber ©emi^^eit un§ fooiel, al§
moüon mir un§ burd) ben 2lugenfd^ein oerfictiem). S)ie Ueber-
tvetung be§ ©cfe§e§ mürbe freilid) oermieben, ba§ ©ebotene ge*
tan merben; meil aber bie ©efinnung, au§ melc^er ^anblungen
geid)e^en foHen, hnxä) fein ©ebot mit eingeflößt merben fann,
ber ©tac^el ber Sätigfeit i)ier aber fogleic^ bei ^aub, unb äujjer»
lid) ift, . . . fo mürben bie metireften gefe^mä^igen ^anblungen
9leifd^le: ^ant unb bie St^eologie ber (S(egenn)art. 369
au§ 5urd)t, nur lücnigc au8 Hoffnung unb gor feine au§ ^fli^t
gefc^e^en, ein moralif^ev SBert ber ^anblungen aber, worauf boc^
olfein ber S33ert ber ^erfon unb felbft ber ber SlBelt in ben 2lu*
gen ber l^öc^ften SBei^^eit anfommt, roüvbe gar nic^t eyiftieren.
S)o8 93er^alten ber aWenfclien, fotange i^rc 9latur, roie fte je^t
ift, bliebe, Tuürbe alfo in einen bfo§en 2]fleci^ani§mu§ nermanbelt
werben, roo, roie im SWarionettenfpiel, aßeS gut geftifutieren,
aber in ben giO^ten bo^ fein Seben anjutreffen fein würbe
.... 2lIfo mö^te e§ aud^ l^ier wo^I bamit feine SRiditigfeit l^abcn,
roa§ un§ ba§ ©tubium ber Slatur unb be§ 3Wenfc^en fonft ^in*
rcic^enb le^rt, ba^ bie unerforfc^Iii^e 2Bei§t|eit, burd) bie wir eyi*
jiieren, ni^t winber Derel|rung§würbig ift in beni, wa§ fie un§
ocrfagte, al§ in bem, roai fie uu§ ju teil werben liefe" (Ar. b. pr.
ggem. ed. Äe^rba^ @. 176 f.). SSon ber anbern Seite l|er
wirb bie Harmonie jwif(^en ©lauben unb 35Biffen baburc^ gefi*
c^ert, ba6 ber ©taube bie SRätfet löft, bie ba§ SOBiffen übrig lägt,
greili^ ift eS ni(^t eine Söfung, bie wir nun an bie ©pi^e un*
fere§ @rfenntni§f9ftem§ rüden unb jur ©runbfage unferer wiffen-
fc^aftU^en SBelterftärung mad^en f önnten ; wo^l aber fönnen wir
biefer Söfung bie richtige Seitung für unfer praftifd)eö Seben ent*
nehmen.
3. ®a§ in ben brei oon un§ l^eroorge^obenen ©ebanfen^^
treifen ^ant§, in feiner @rfenntni§begren}ung, feiner Seftimmuug
be§ fittlic^en Seben§ unb feiner 2Iuf fteKung ber praftifc^en ^oftu«
lote, neue unb originelle ft'onjeptionen ^eröortraten, war fd)on ber
Slufftärung wo^l bewufet. 2Iber e§ waren nid)t nur einjelne @e*
banfengruppen, in beuen ba§ 9]eue ber J£autfd)en 5ßf|ilofop^ie
lag; fonbern bie ©efamtric^tung ber p^ilofopf)if c^en 2lr=
b e i t war eine anbcre geworben. 3)ie 2luf tlärung ging biref t auf
ba§ 3i^t lö^/ i^^* SBernunftgebäube aufjurid)ten unb eine ®ott=^
SBelt:=Sel^ve ju geftalten. 5)a§ war ba§ 3^^^ ^^^ fd)olaftifc^en
^l^itofop^ie gewefen; fie ^atte barin ba§ ®rbe oon "ißtato unb
äriftoteleg angetreten. 2lu^ ®arlefiu§, ©pinoja, Seibni^ folgten
nod| bemfelben Qn^e, — Äant bagegen lenft bie p^ilofopl^ifc^e
Unterfuc^ung in erftcr Sinie auf ein anbereg Qkl, al§ auf ®ott
unb bie SÖBelt. ©runbfötyli^ folgt er jenem alten SBort, ba§ an
870 9leifd)le: ^ant unb bie ^^eologie ber ©egenroart.
bcr ©pi^c ber ^^S^i(ofop^ie''@efd)id)tc fd^on auftaud)t, bem ©pruc^
bc§ bclpl^ifd^en 2lpolIo: ,Yvö)*t aeautov' (ogl. 36enop^. SWcmorab.
IV, 2,24). ©0 aualgfiert Äant jucrft bic mcnfd)ftc^c ©rfcnnt^
niStdtigtcit. ^n roct^cm Sinn, ba§ roirb uiiS fc^on au§ ber
„J?riti! ber reinen Vernunft" (1781) beutlic^. 9tid)t um bie pftj*
^ologifdie ätuf^eflung be§ Srfenntni^Dorgangö ober um bie (Sr*
forfc^ung ber babei beteiligten pfgc^ifc^en ^u^W^nen ift e§ i^m
ju tun. ®arauf liatten bie englifc^en ^^ilofoplien, befonber^
Sorfe, bie Slufmerlfamteit gerid^tet. Äant§ Qntereffe bagegen loar
ein tritifc^e§: bie leitenben ©ebanfen unb ®runb[ä§e, bie
3iele unb ©renken be§ menfc^lic^en ®rtennen§, feine ^ebeutung
für ba§ geiftige 2zbtn be§ SWenfc^en moüte er feftfteHen. — 3lna*
log baju geftaltet fid^ bie Slufgabe, bie ben anbern tritifc^en SBer-
fen Äantö jufällt. 3>n§gefamt bilben fie einen 3ufttwiJwcn^öng,
ber für Äant§ 2luffaffung oon ber SÄufgabe ber ^^ilofopI|ie be^
bcutfam ift. 9tacl)bem er bie ®rfenntni§arbeit tritifc^ untcrfuc^t
loenbet er fic^ mit ber „(Srunblegung jur SWetap^gftf ber Sitten"
(1785) unb mit ber „Äriti! ber prottlfd|en Vernunft" (1788),
bem oernünftigen 3Botlen be§ SKenf^en ju; er anal^ficrt
bie barin leitenben ®eban!en unb (Srunbfä^e unb prüft, xocS fic
für ba§ SBernunftmefen be§ SWenfc^en erbringen. ®r jie^t fpätcr
awi) ba§ SRe^töleben unb bie fritifc^en ®runbfaBe, nac^ bc«
nen e§ beurteilt merben mu^, in biefe Unterfu^ung herein. 9)lit
ber „Äritif ber Urteil§fraft" (1790) fa^t er eine weitere mefent*
lid)e ©eifteStätigfeit in§ Sluge, bie äft^etifd)e, um bie ^^Jrin*
jipien be§ äft^etifd)en Urteile ^erau^juftclten. Qm jmeiten Jeil
berfelben ©rf)rift befc^äftigt it)n bie Qxoed'' unb 9Bertbeur=
teilung ber äßelt überf)aupt. ©(^on bamit fc^reitet er meiter
jum religiöfen Seben be§ aWenfc^en; unb in ber „Sieligion
innerhalb ber ®renjen ber bloßen äJernunft" (1793) prüft er
biefe^ noc^ eingetjenber, um ju entfd^eiben, nm§ oon ben religi«
Öfen, befonber§ d)riftlid)'religiöfen 2lnfd)auungen oor bem 9lic^ter«
ftu^l ber Sßernunft beftetien tann. — SQSie ftellt ftc^ in biefer
ganjen 9ieit)e ber fritifd)en SBerte bie ^^ß^itofop^ie felbft bar?
Sie ift nic^t met)r bie alte ©ott^SOBelt^^Selire ; fonbern fie ift ju
ber Sßiffenfc^aft oon ben mef entließen Betätigungen
[H elf c^Ie: ^ant unb bie ^^eologie ber ®egenn)att. 871
bc§ menfd)It^cn ®eifte§ gciporbcu. S)cr fopcrmfonifd)c <8u9/
ben ftant fflr feine SrfenntniStritif felbft in 2lnfprud) genommen,
ge^t burc^ aße Seile feiner ^^ilofop^ie ^inburd). 5iuv oon bie-
fem feften 93oben qu§ fud)t ftant aud) bie roefentlidieR ®ebanten
unb Uebei^eugungen über ®ott unb äBelt, über finnfidie unb fitt*
tiefte SBelt ju gewinnen.
Qn ber ©injelauöfü^rung mag bie ^t)itofopl^ie Äant§ mancfte^
aSeraltete an fid) ftaben; fie mag gebrücft fein burd^ fd)oIaftifd)e
3)iftinftionen, burd^ oerfc^nörfelte Äünftlid)feiten ber 2lrd)itetto*
nit. Qf)xzm ^nl|alt nacft mag fte in oielen fünften nod) ber
2Iuff(ärung oermanbt fein. 35a§ alle§ ^ebt nidjt auf, ba§ ^ant
nid)t nur eine Sftei^e einjetner großer ©ebanfen in ber ^t)ilofo*
p^ie gefd)affen, fonbern aucft burcft bie ganje 9ieif)e feiner ^aupt-
werfe bie moberne Stiftung p^i(ofop^ifd)er 3lrbeit traftüoll an*
gebai)nt f)at
n.
1. SBeldien SBert ^at aber bie Santfdje ^^ilofop^ie für
bie Jl^eologie? ^at fie eine 93ebeutung aud) nocft für bie
X^eologie ber ©egenmart? Unb menn biefe S^rage bejalit werben
barf, in meieren fünften fönnen mir aucft tjeute nod) un§ an
Staut anf^Iie^en?
a) S)a§ SQBertoolIfte, ma§ Sant ber 2:I)eologie gegeben I)at,
fd)cint mir auc^ l^eute noc^, tro^ aller g^ortfcftritte p^ilofop^ifd)er
unb tljeologif d)er 2lrbeit, feine ®rfenntni§begrenjung
ju fein.
2lüerbing§ nid)t oou allen wirb bie§ Urteil geteilt. 2luf§
tief fte ift oielen ba§ alte Q^beal ber'Slpologetif eingeprägt, ben
djriftlicften ©lauben felbft burd) t^eoretifd)e 33eioeife ju unterbauen
unb iftm baburc^ (Sid)er]^eit ju oerleit)en. Qd) fann ben 5Reij
biefer SBerfuc^e mo^l oerfte^en. ^abt id) bod) einft felbft, im
©efolge Siebermann^, in ben 33emü^ungen micft bewegt, bie ^rift*
ti^en ©runbanf^auungen, oor allem ben d)riftlic^en @otte§ge*
banfen, auf bem SD8ege p^ilofoptjifcften ®en!en§ ju gewinnen,
©dieint bod) bamit jenen bie ficfterfte ©runblage gegeben ju fein.
— 31 ber wir bürfen bie Jle^rfeite nid)t überfeinen. 3Q3irb bem
372 fHeif d^Ie: ^ant unb bie 2:^eoIogie ber (^egenioart.
tfjcovctifc^cn Srtcnncn bic gätjigfeit bcigcmeffcn, 93croctfc für bie
d^riftti^e @otteSanf^auung beizubringen, fo mu^ man i^m Qud|
bic Äraft jutrauen, auf biefem (Sebiete ein SRic^teramt §u üben,
unb man mufe mit ber SRöglidjteit rechnen, bafe bic ^^ilofop^ie
mit 93erufung auf ba§, roaS benfnotmcnbig ift, auc^ ©egenbe*
meifc gegen bie diriftlic^en ®(auben§Dorftcttungcn oorjubringen
fud)t. 2)ie ©efc^i^te ber Slpologetif gibt un§ reic^fid^c SBeifpiele
t)on einem fold)en Umfc^fag. S)ie Karfte ^^robe ^aben mir an bem
©ntmidlungggang ber ^egelfd)en ^^ilofop^ic. Sßic bcgeipert
rourbc 001) bic[er ber eroige 93uub jroifdien ^^ilofop^ic unb Ideo-
logie oerfünbet! Unb roic t)erbe fpottet ©trau^ in ber Einleitung
feiner „6:f|riftlid)en ®(auben§Ie^re" (Tübingen 1840) über ben
rafd) jerronnenen Iraum! — ®arum ift e§ im ©runbe bic gün*
ftigere fiage für bie c^riftlic^e ®otte§« unb 3QSeItanfd)auung,
roenn e§ bem t^eoretifc^en (5r!cnnen überhaupt benommen ift, über
biefe 2)inge ju ent|(i)eiben. 3)enn bamit ift aud) ben 33eftrcitcm
be§ ci)riftlid^en @(auben$, bie fid) mit SSorlicbe auf bic Stcfultate
ber SBiffenfc^aft unb beren SBiberfpruc^ gegen ben rf|riftlic^en
©tauben berufen, biefer 95en)ei§grunb entjogen. 9lur fo ift ber
Äampf auf einen Waren ©oben oerfe^t. 2)ic öctämpfer be§
(£^riftentum§ bürfen nid)t me^r ben SHuf ergeben: t)ier SEBiffen*
fc^aft, bort ©laubcn; fonbern in ben ^öd)ften fragen, ju bcncn
aud^ bie SEBiffenfd)aft nic^t mc^r ^eranrei^t, fte^t i^rc ®(auben§»
ober oielme^r Ung(auben§entfc^eibung gegen bic d)riftlic^e Ueber*
jeugung. ©laubc gegen ©lauben!
2tber freilid), ni(t)t barauf fommt c§ in le^tev Sinie an, ob
bie an Äant firf) anle^nenbe crtcnntnigfritifd)C 9lnfic^t unfcrem
d^riftlic^en ©tauben eine gün ftigere ^Option oerfc^afft. äuc^
bie ©vroägungen, bic mir foebcu in biefer Stic^tung angcfteüt,
fottten nur ba§ SBoruvteil jurüdtmeifen, ber c^riftlict|C ©laube roerbc,
menn man bie 3Kögtid^teit t^eoretifd)er 93en)cifc für i^n leugnet,
einer befonber^ fieberen unb roidjtigen ©tü^c beraubt. SSbcr por
allem ^anbelt e§ fic^ bo^ um bic grage, o b Rant mirflic^ ben
Sad^ucrtialt rid^tig beftimmt, alfo bic ©renjen be§ t^eorc»
tifc^en ©rfenncn^ rirf)tig gejogen ^abe, roenn er i^m bie gä^igfeit
abftreitet, gu bem ©runb aKer 2)ingc oorjubvingcn.
IRetf d|Ie: ^ant unb bie X^eologte ber ©egenmart 37S
®icfc 5^age tä^t ftc^ nun aöcrbingg nid)t im SJorüberflcl^en
lof cn ; nur burc^ eine 9iarf)prüfung ber ganjen Äantfd^en ©rtennt*
ni§fritif fönnten roir i^r SRed^t bartun. 2lber für unfere Qmtdt
mag e§ genügen, barauf f)injun)eifen, ba§ [ogar bie ®egner
ber ftantfd)en ©rfenntni^tritit ein geroiffeS QtuQni^
für fie ablegen. 9lud) biejenigen 2:^eo(ogen, bie ju bem 2Beg
be§ t^coretifc^en @rfennen§ ba§ ßutrauen ^aben, ba§ er fie bi§
§um legten ©runb aller 3)inge l^infül^rc, üben ^eutjutage in ber
Slufnalime metaptigfifd^er Qbeen eine oiel größere 3u^ä(f^öltung,
al§ in ber SBlütejeit ber fpefulatiüen $^ilofopl|ie. aSorfid)tig rebet
man nur oon metap^g fif d)en ^gpotl)efen, bie man jur Srflä*
rung beö gegebenen Jatbeftanbe^ ber Sffielt aufflellen muffe. SQSiDig
gefielt man in weiten Greifen ju, ba§ fic^ biefe ^gpot^efen ftetg
in einer geroiffen 2lllgemeinf)eit lialten muffen: jroar fönne man
bcn 9flücffc^lu§ auf einen ein^eitlidien SBettgrunb ma^en, auc^
feine geiftige 2lrt tonne man erfc^lie^en, ba er fonft nic^t bie ®r»
tldrung für ba§ geiftige Seben in ber 2Belt abjugeben oermödjte;
aber aDc beftimmtere in^altli^e 6rfenntni§ be§ Stbfoluten t|änge
oon ber Slncrtennung beftimmter SBerte in ber Sßelt, befonberg
in ber (Sefc^id)te ab. — SBoHenbS aber roirb auc^ oon foldjen
S^eologen, bie fic^ n\6)t auf Sant§ ©tanbpunft ju ftetlen oer*
mögen, zugegeben, ba& bie ©egner ber diriftlic^en ®otte§* unb
3Beltanfd)auung ju ifiren bogmatifc^en miberc^rifttic^en 93e*
^auptungen nur gelangen, inbem fie bie ®renjen beg ®rtennen§
übcrfc^reiten unb bie ^öd^ften SOBerte, bie ba§ ß^riftentum temit,
ignorieren. 8abenburg§ becibierte (nact)t)cr freilid) fel^r ahc^t^
fc^mdc^te) ®ypeftorationen über ben ®lauben an ein g^ortleben
nad) bem 2:obe, mie ^äctelg leid)tfertige Urteile über bie ffiorfteU
lung einc§ perfönlicljen ®otte§ ru^en nic^t auf burc^fc^tagenben
miffenfc^afttidjen ®rünben, fonbern barauf, ba§ beibe 53eftreiter
be§ ®^riftentum§ üon ber d|riftli(^en ©c^d^ung be§ perfönlic^en
Sebenö in feiner ®r^aben{)eit über bie Statur nic^t§ miffen unb
miffen moHen. ^m Jlampf gegen berartige ®renjDerle^ungen roirb
fetbft oon folgen, bie Kaut§ ©rfeuntui^fritit tritifd} gegenüber*
fielen, ifir SCBert nid)t einfad) geleugnet.
3d( ge^eroeiterin ber ß^Piwtmungju Kant.
deitf<9nft für Xfftoio^it imb Stitdft. 14. ^a^rfl., 6. ^eft. 26
874 9leif d^Ie: ^ant unb bie S^eobgie ber (^egentoart.
©einen (Spuren folgenb gelange id^ ju bem (Ergebnis, ba^ bQ§
^öd^fte, wag mx auf bem ^oben bc§ t^eoretifc^en @rtenncn§
nod) erteilten fönnen, bie Qbee einer ®in^eit aller Siealitat unb
ba§ ^oftutat einer Stngemeffen^eit be§ @rfenntni§ftoff§ ju ben
^bealen unfereS @r!ennen§ x% bafe bagegen atte ^ppot^efen, bie
ben ein^eitlid^en SBeltgrunb genauer ju beftimmen üerfuc^en, oon
ber 9Wöglid)feit einer entfc^eibenben SBerifitation Dertaffen ftnb. —
Slber ob nun in biefen fragen ba§ aJla§ be§ 3lnfct)Iuffe§ an Äant
ein grö|ere§ ober geringere^ fei^ jebenfallS oerbanft e§ bie S^eo*
logie bem tritifc^en ^^J^ilofopl^en, wenn ^eutjutage in ber Slpolo-
geti! mand)e brüchige ©tilgen gefallen ftnb unb bei aßen 93egrün«
bungen beS c^riftlic^en ®Iauben§ bie ftrengfte 9iec^enfd)aft barfiber
oerlangt mirb, rote roeit fte auf ®entnotroenbigfeit Slnfprud^ ma*
^eu fönnen, roie roeit fte bagegen auS perfonlid) bebingter aSSert«
beurteilung ftammen.
b) Slber inbem Äant un§ jur hritifd^en öefinnung über bie
@rfenntni§grcn}en anleitet, ^ilft er un§ jugleic^, roenigfteng nac^
einer ©eite t|in, jur Älar^eit barüber, roa§ ®laubc ift.
aSor aUem in ber „Kriti! ber Urteil^traft" l^at er auf§ fc^ärffte
ben ©ebanfen ausgeprägt, ba§ „@laube" in feiner 3B8eife auf ber
gleitcnben ©fala, bie oon ber roa^rf^einlicfien SKeinung jum aSBiffeu
fül^rt, untergebrad^t roerben barf. 3)amit ^at er jiebeufallS bie
negatioe SBorbebingung für bie richtige begriffliche Raffung
be§ reformatorifc^en @lauben§begriff§ gefc^affen. — aber er gibt
un§ aud^ in p o f i t i ^ ^ i^ Slic^tung eine Einleitung jum richtigen
aSerftänbniS be§ eoangelifd^cn @lauben§begriff§. 2)er @laube ifi
nac^ Äant eine für ben fittli^en ajlenfc^en teben§no troen«
bige Ueberjeugung, eine ©eroi^^eit, bie au§ SWotioen bes
perfönlidf)en 8cben§ eutfpringt unb oon i^nen getragen lüirb. (5ben
bie§ aber ift jebenfaHS ein roefentlid)er ^untt in ber (ärfenntniS
ber Sleformatoren baoon, roa§ „©laube" ift. 8lllerbing§ ^aben
fte auf ganj anberem 35Jege, nämlid) burc^ SRüdtfetir oon ber f^o-
taftif^en Sluffaffung ber fides jum perfönlic^en S^riftentum be§
bleuen SeftamentS, biefe ©eite perftel^en lernen. 3"^^ Haren be*
grifflic^en @r!cnntni§ biefe§ fünftes ^at bod^ erft Rant unS Der=
l^olfen, roenn roir auc^ in 93ejie^ung auf eine anbere roefentlidje
9leif^le: ^ant unb bie ^^eologie bet ©egentoart. 375
@eite beS ©(aubenSbegriffS einen äRangel bei i^m nadi^er merben
fonpQtieren muffen, ^n ber ftarfen 93etonung be§ ©a^eS, ba§
ber ©laubc fetbftdnbige OcroiffenSüberjeugung
ift, i)at [xi) Äant in ber Xat al§ ben ^^ilofop^en be§ ^roteftan=
ti§mu§ eriüiefen. Ob er felbft fic^ biefe§ inneren 3ufammen^ang§
Mar beiouftt roar, mad^t in biefer grage nic^t§ au5; genug, ba&
ber ©ac^e na^ biefe Uebereinftimmung oorliegt!
93ei ^ant fte^t feine Sluffaffung üon „©lauben" in engem Qn-
fammenl^ang mit feiner 2lnfd)auung oon ben jmei SGBetten.
hinter unb über ber SEBelt ber ©inne unb ber 5naturgefe^ti^!eit
ge^t i^m eine anbere ^ö^ere 33BeIt auf, bie nur in Oebanfen ju
ergreif enbe („intetligible") 3ö3elt be8 @eifte§ unb ber 5^ei^eit. Unb
fie erft ift bie roa^re SCBirtlic^feit gegenüber ber äBelt ber ©ic^t-
barfeit Qn biefer Sluffaff ung aber berührt fid^ ^ant mit me*
f entließen ^rifttic^en ©faubenSanf^auungen. ©inen Unterbau fin*
ben biefe 3^een Slanti^ in feinem ^ ^ ä n o m e n a l i 8 m u 8. SBaö
ift bie ganje SGBelt unferer @rfa^rung§ertenntni§ ? ©ie ift bod)
nur ein Stuffaffen beS ©mpfinbunggftoffeS in ben formen unfere§
ertennenben 93en)u6tfein8, be8 93cn)uJ5tfein§ pon enblid^en 3Befen. —
Ober tragen nii^t in ber Xat bie ®rfenntni§formen, bie mir anmen*
ben, bie beutlic^en ©puren baoon an fic^? Unferer 5Raumoorftel=
I u n g gegenüber mu^ ber 3tt>^if^t erroad^fen, ob aurf) ein nid)t
cnblic^e§ 93eroufetfein, ob ®ott, ber f^öpferifd^e ©eift, an fte ge=
bunben ift. SEBir bringen oon unferem ©tanbort au§ in ber @r»
!enntni5 ber SEBelt ooran, inbem mir in räumlicher ©gntliefe ©toff
an ©toff reitien unb bringen fc^rittroeife oormärt§ ju immer ferneren
9taumen. 3lber mag ni^t — mir reben freilid) baoon nur im
93ilb unb ®Ieic^ni§ — bem fc^öpferifc^en Sluge ®otte§ ba§, ma§
fern unb voaS na^e ift, auf einen 93lirf überfei) bar fein, aUeg in
gleicher ©egenmart oor il|m fdjmebenb? — Unb ebenfo erinnert
uns unfere 3citanfd^auung an unfere ©nblic^feit. gür unS
ift bie aSergangenl^eit nic^t met)r, unb bie 3wfwnft ift nod^ nic^t ;
nur bie ©egenmart, fo fagen mir, ift roirttic^. 2lber ma§ ift fie
felbft? ©in Slugenblidf, nie oermeilenb, im Kommen felbft fd^on
micber oerf c^munben : „^feilf^nett ift ba§ Qti^t entflogen". 9Bir
in bie jeitlid^e Slnfc^auung unb in baS jeitlid)e 2tbm gebannte
26*
376 9leifc^Ie: üant unb bie 2:^eoIogte ber ©egenroart
SBefcn gleichen einem 3Wen[(^en, ber in roilbcm Strom oon SiS*
fd)o(Ie ju @i§fd>oUe fpringt: fomie er bie auftauc^enbe berührt,
ierbric^t fie unter feinen ^ü^tn, unb batb mu§ er felbft im ©trom
oerfmten. SWag nic^t oor bem eroigen ®eifte be§ SBäettenfc^opferS
bie 3^itenrei^e in ganj anberer SEBeife gegenrofirtig fein ? ÜRag nic^t
für i^n, and) roenn fie i^m nic^t eroiger ©tiDftanb ift, fonbem
ein Sortrüden ber 3Bir!(ic^feit bebeutet, boc^ bie SSergangen^eit
mel^r ate ein bto^e§ 9tic^tmel|r, bie ßwfunft, bie er felbft fc^afft
me^r al§ ein blo^eö 9loc^nid^t fein? — Unb roie tft§ mit unfern
©enfbegriffen, oor allem mit ber Äaufalorbnung?
äBir reiben Urfad^e unb 9Birfung äugerlid^ }ufammen, uor aDem
ba, roo roir irgenb eine berechenbare Proportionalität ^roifc^en
jroei ®ruppen oon SBorgängen ^erjuftetlen oermogen. 2tber er*
fc^öpft biefe äu^erlic^e ^[neinanberfügung oon Urfad)e unb 9Bir*
fang bie ©ad)e ? ^ft ®ott, bie causa prima, ni^t felbft i n allen
(Elementen unb SBorgängen ber SBelt roirtfam? (Ste^t in i^m nic^t
ba§, roa§ für un§ nur in räumlid^ fortroirfenber ©eroegung, in
jeittic^er 9lufeinanberfolge, in berechenbarer Proportionalität fi^
barfteHt, t)ielmet)r in einem inneren gebanfenmä^igen Bufammen«
^ang?
^ber inbem ^ a n t unS biefe SBett in eine (Srfc^einungSiDelt
auflöft, gibt er unS iugleid^ bie ätnbeutung, bog roir auc^
in unferem c^riftlic^en ©upranaturali§mu§ nic^t etroa äußerlich*
quantitatio jroei SBelten, bie natürli^c unb bie übernatürliche, neben*
cinanber fteHen bürfen, in ber SBeifc, ba§ biefe etroa auf jene einen
@influ§ ausübte, ber al§ fonfurrierenb mit bem Sßirfen ber na«
türlic^en Urfactjen ber Sfficlt ju beulen roäre. Söielmelir erreichen
roir ben ^riftlic^en Supranaturali§mu§ nur, roenn un§ innert)alb
biefer unferer @rfc^einung§roelt felbft ein geiftig ftttlic^er 2Bert unb
3roerf entgegentritt, ber, obroo^l in ber Qnt fic^ für un§ oerroirf*
lic^enb, un§ boc^ aU ein eroiger, bie 3^^*"^^^* be^err*
fc^enber S^^^ geroi^ roirb. Unb fo gelangen roir benn
auc^ JU ber (^riftlic^en 2lnfci^auung oon einem überroeltli^en per«
fönlic^en @ott nur bann, roenn roir @ott oerftel^en als bie leben«
bige aJlac^t, bie in bem ß^it^^^^uf ber 3Belt felbft roirtfam ift
unb mit biefem auc^ un§ felbft einem überroeltlic^en, perfönlic^en
SR eiferte: ^ant unb bie %i)toloqit ber ©egentoart. 877
3n)cd cntgcgenfü^tt. — ®ie§ in ©pcfulattoncn über ®ottc§ SQBcfcn
unb SGBirten au^jufü^ren, baran ^inbcrt un§ freiließ bic aWal^nung
be§ ^ritijiSmuS anben bilblic^^analogifdien (S.i)axah
t e r unfercr @otte§t)orftcDung. 2lbcr Äant rocift un§ jugleic^ bat^
auf ^in, ba§ boc^ jene SBorfteCungcn ni^t roinfürlic^c unb be«
licbig peräubcrlic^e ^^antafien fmb, fonbem ba^ in i^nen ein
für un§ roefentli^er, inoariabter ^nf)alt ftd| birgt. Äant felbft
aüerbing§ ^at biefen rocfentlic^en, bleibenbcn 3»ni^ölt n u r in ben
fittH^cn ^Ißoftulaten gefunben. Ob er bamit bie ©ad^e erfc^öpft,
roerben roir na^lier ju fragen ^aben; aber ein tiefet SRec^t liegt
jebenfan§ in ber 93etonung be§ engen 3w)<^Jnwten^ang§ oon ©lau*
ben unb fittlic^em Seben.
c) 3)a§ aber fann nur beutlic^ werben, roenn u)ir juerft feft*
ftctten, baj5 überl^aupt Äant§ Slnfc^auung Dom fittHd)en fie*
ben oon uuüeräu^erlid)em SBert aud^ für bie Oegenroart ift. ©c^on
JU feiner Q^xt war e§ oon größter 93ebeutung, ba§ Slant§ fitt^
ii^e Strenge aller gvioolität franjöfif^er Slufttärung ben B^G^ng
roe^rte. 2luc^ bie beutfd)e flafficiftifd^e 93en)egung blieb Don bein
@influ§ feiner fittli^en ©ebanfen ni^t unberül^rt: nid^t nur @d)iller
^at fxä) il)m n)illig l^ingegeben, aud^ ®oett|e l^at fid^ i^m nic^t ju
cntjic^en uermoc^t. Unb aud) auf baö prattifc^e Seben jener Qtxt,
auf bie Pflichtübung ber preu|ifd)en Beamten unb Dffijiere, b^t
Äant§ emfte Sttuffaffung Don ber ^flid)t geifteSmä^tig eingewirft. —
Stber au^ unferer 3^'* t^* ^^ i^öt, ba§ fte ben ernften ^erolb
be§ unbebingten @efe^e§ nii^t üergeffe. Qu ben p]^ilofop^ifd)en,
fünftlerifct)en unb praftif^cn Strömungen unferer 3^it ringen fid)
man^erlei ©eifter bebenltic^er Slrt empor. 3)en einen erf^eint
ba§ fogenannte „fittlic^e ©ebot" nur al§ ein Söegmeifer be8 ge-
meinen 9lu^en§ ber menfd)lid^n ©efellfdiaft, ber einjelne aJienfd)
nur alö eine Slrbeitefraft im 9Birtfc^aft§getriebe, al§ eine Qi^tx
in ber ^ntereffenberec^nung. 3)ie anbem führen bireft ben
Kampf gegen ben alten 2)ra(^en „bu foUft", unb f orbern ba§ freie,
fiegreid)e ©id^au^leben be§ genialen ajlenf(^en, ba§ rüdtfid^t^Iofe
^errfc^en ber ^errennatur. ®em allen gegenüber merben auc^
mir nur auf Sant§ ©ypofttion be§ ©ittengefe^e§ jurüdgreifen
fönnen. 3ln ber Beugung unter ein ©emiffen§gefe^, an ber 2ln*
378 9ietf ^le: ^ant unb bie X^eologte ber ©egenioort
crfcnnung einer unbebingten Slorm unb einer unoerbrüc^Uc^en
9iorm ^dngt bie aßfirbe bcS 3Wenf^cn. Unb an ben ©ejie^ungen
ber Sichtung, be§ SBertrauenS, ber Siebe, roeldfe bie SWenfc^en mit
einanber oerbinben, l^ängt ber roa^re SiBert, bie SQBürbe auc^ ber
menfd|lic^en ©emeinfi^oft. 2KIe jene 93ejie]^ungen aber fitib nur
mögti^, roo roir mit ben anbern al§ mit folgen oerte^ren bürfen,
bie nid^t etroa nur üon il^ren natfirlidien trieben getrieben ober
burd^ bie ©efellfc^aftSorbnung gejäl^mt fmb, fonbem [elbft ein
^Pic^tgefefe für fid) anerfennen.
3)iefe ftttlid^en Slnf^auungen Äantg l^aben aber i^rc ©tätte
auc^ auf bem 33 oben beg Sl^riftentumg. SCBenn roir ate
©tiriften oon einem göttlid)cn ©ebote für unfer Seben in ber
SQBelt, oor aöem für unfer SBer^alten gegen ben Siäc^ftcn reben,
fo liegt auc^ barin ber ®ebante be§ unbebingten ©eboteö, ba^
at§ SRegel nic^t nur für unfer äu^ercö ^anbeln, fonbem für um
ferc ©efinnung bafte^t. 3a aud^ ber Äantfc^e ©ebanfe ber 3lu*
tonomie mirb nid)t etma auSgefc^Ioffen bur^ bie c^riftlic^e 2:^eo»
nomie. Qn rechter 3Beife fann auc^ ber K^rift bag göttliche ®e*
bot nur erfüllen, wenn er e§ nid^t aU ein frembeä ®efc^ ftc^
auferlegen lä^t, fonbem e§ al§ ein „®efc^ ber grei^cit" felbfl
frei anerfennt unb ju feinem eigenen ®cfe^ mac^t. S)arum ift
audf) ber 2: Geologie für bie Darlegung be8 c^rift(ic^=fittlic^en
®ebotc§ oon Kant eine roertootte Slnleitung gegeben. — 3)icfc
®eban!en aber ftnb au^ in ber d^riftlid^en Slpotogetif be*
beutfam. 9li(^t jeber ®laube ift gteic^ gut ober gleich fc^Mt;
nid^t auf bie jufdUige fubjeftioe ®emüt§ftimmung nur tommt e5
an bei ber 5^age, ob biefer ober jener ®laube roa^r ift. ©onbem
oon entf^eibenbem ®eit)i(^t für bie Beurteilung einer SReligion
ift e§, ob unb in roeli^em 9Jla§ fie mit ben mefentli^en fittli(^en
2lnfd)auungen oerbunben ober oon it)nen burd^brungen ift. 9lur
mo bie§ ber gatt ift, l^at mirtlid^e ®en)iffen8überjeu9ung i^re
©tätte. 9tur barum fann aud^ ba§ ®f|riftentum an ba§ ©emiffen
ber SWenfc^en appellieren, meil in i^m bie ganje SReligion — ber
®ebante ®otte§, feineS Sleid^eS, ber ©rlöfung, beS emigm gebend
— fittlidf) beftimmt unb bie ganje ©ittlid^teit auf bie ®runbtage
religiöfen ®lauben§ geftellt ift. S)ie d|riftlid)e Slpologetif loirb in
IReifd^le: ^ant unb bie ^ijeologie bet ©egenwart. 379
biefen trogen immer mteber an Äant fid^ jurcc^tfinbcn muffen,
auc^ menn fie in bet meiteren SluSffil^rung anbere ^a^nen ein«
f(^(agen mu^.
2. ©0 oiel ge^t fc^on au§ unferer ganjen 3)arftcnung ^er*
oor^ bag e§ ftc^ ni^t um eine me^anifd^e ^anb^abung,
fonbern nur um eine freie Sßermertung ber Kantfd^en ^^i-
tofop^ic in ber t^eologif(^cn Slrbeit ^anbeln fann. ^a nod^ mel^r!
3n allen ben einjelnen "^^unften, bie mir al§ mertootl für bie
2:^eologie auf jaulten, werben mir fogar 93erid|tigungen unb
Serdnbcrungen an Kant§ p^llofop^ifd^en ©ebanten t)orju=^
nehmen l^aben. ÜlBir fönnen auc^ furj fagen: mand^e 9tefte
oon 2lufMärung§p]^ilofop^ie, bie feinem 3)enfen nod) anfangen,
werben no^ abgeftreift werben muffen.
a) ©e^en mir, wenn mir biefe ©ebanfenlinie aufnehmen, bei
bem jule^t befprod^enen fünfte, bei ber Sittenlel^re Äant§,
ein! ^ant ^at ftc^ nid)t bamit begnügt baS ftttli^e SBollen ju
analgfteren, ben in i^m leitenben ©ebanfen be§ unbebingte.n Oe«
boteg unb beffen 93ebeutung für ba§ g^iftige fieben beS 2Jlenfc^en
feftjufteUcn unb baburc^ einen fritifc^en SWagftab für bie in ber
©ef^id^te un§ begegnenben fittli^en ^beate }u 'gewinnen; er ift
nic^t loSgefommcn Don bem 93eftrebcn ber 2luftlärer, eine altge*
meine SBernunftmoral nad) reinen aSernunftgrunbfäfeen ju
fonftruieren. ©o ^at er ben — gewi^ ^ö(^ft fc^arfpnnigen —
aSerfuc^ gemadl)t, au§ ber götm beS ©ittengefe^e§, nämli^ au§
beffen 93eflimmung ju einer allgemeinen ©efe^gebung, ben ^fnl^ölt
abjuleiten. — 9Iber biefe auf logifdiem SDßeg cerfuc^te 3lbleitung
unterliegt [elbft mand^en ©ebenfen; unb ber Qnl^alt, ber babci
^erau§fommt unb in Äantä „metap^ijftfctien 2lnfang§grünben ber
lugenblcfire" f^ftematifd) gcorbnet oorliegt, ift rec^t bünn
ausgefallen, Derglid)en j. 93. mit ber d)riftlic^en St^if.
®a§ ift auc^ fe^r wo^l cerftänblic^. SDcnn in SBBa^r^eit e r«
wäc^ft boc^ alle in^altDoUe fittlic^e ©rfenntniS im ge«
fd|id^tli^en Seben. Qnnerl^alb beö gefetlfc^aftlidien 3ufam*
menlebenS bilben fic^ mand)erlei ®üter unb Qrotd^, auf bie baS
©treben ber SRenf^en fic^ rid^tet, mancherlei aOSecöfclbejiel^ungen
ber gegenfeitigen görberung unb ^emnmug in jenem ©treben.
380 9leif(4(e: ftant unb bie 3:^eologie ber OegenioaTt.
manc^rlei Snforberungen, bie an ben einjelnen ergeben. 2)iefe§
gatije 9RatertaI loirb nun tnner^I6 ber @efeQfd)aft nad) aUge^
meinen ©runbfä^en, unb iwax junäc^ft beS 9{ec^t§ unb ber Sitte,
georbnet. 3)ie 9{ec^t§gefe^e unb bie @efeOfc^aft§fttte geben felbft
ben grunblegenben O^^alt be§ {tttlic^en @en)if|en§ ab, weitere
ftttli^e Aufgaben unb QxtU n)a(^fen no6) l^inju. ^fi^renbe @eifter,
@efe^geber, 3>i(^ter, 2)enter, nor attem SRetigion^fttfter greifen
mit beftimmenber äJlac^t bei biefer Silbung be§ fittü^en ©e-
miffenS mit ein.
Aant ^at biefen ^iftorifdien ^roje^ ber ®enefi§ unb $ort»
bilbung fittlic^er (£rfenntni§ teine^megS uSQig fiberfe^en. Sber
er ^at boc^ au§ biefer (Sinft^t in ba§ ^ijlorifd^e äBerben be^ @e«
n)iffen§in^a(te§ nic^t bie ooQe ^on[equen} gebogen. @ie märbe
lauten: bie miffenfc^aftUc^e, pl^Uofop^ifd^e @ittenle{)re mu| über«
^aupt barauf uerjic^ten, ein in^altSooIIeS fittlic^eS ^beal ju ent-
werfen ober ein Softem ber ^i^ten unb ^ugenben gu entmicteln.
@ie fann wirHic^ nichts anbereS (elften, al§ maS ^ant fetbf} (in
ber aSorrebe jur Äritif ber prattifc^en 93ernunft ed. ße^rbac^
©. 7 2lnm.) i^r olä Aufgabe gefteDt ^at: fie ^at „fein neue§
^rinjip ber 3Woralitat", fonbern nur „eine neue gormel" auf»
jufteUen. „SBer moQte aber auc^ einen neuen @runbfa^ aDer
(Sittlic^teit einführen unb biefe gleic^fam juerft erfinben? glei^
als ob oor i^m bie äBelt in bem, xoa^ ^fli^t fei, unwiffenb
ober im burd(gängigen <3rrtum geroefen wäre". 3)ie „neue
gormcl" ober, roie ic^ lieber fagen mochte, bie Jötmulierung
beS wefentlic^en QxotdS unb @inn§ aütx ftttU^en ©ebote, näm-
lich ba^ fie jur SSerroirfüc^ung ber freien ?ßerfflnlid)teit unb ber
geiftigen @emeinfd|aft bienen foBen (f. oben @. 366), mag auc^
aU tritif^er ä^a^ftab an bie mancherlei ftttUc^en ^^beale angelegt
rocrben, bie in ber ©efd^ic^te aufgetreten fmb. 9tur mirb e5 fic^
babei weniger um bie togifc^e @rmägung ^anbeln, ob fte fä^ig
ftnb, ju einer aQgemeinen @efe^gebung ert|oben gu werben, al$
um bie teIeo(ogifd)e älbwägung, ob unb wieweit fte jenem S^^^
ber freien ^erfönUd(feit unb ber geiftigen ®emeinfct)aft entfpre»^
d|enb fmb. 9In biefem 9J2agftab mag au^ baS fttttic^e 3beal be§
S^riftentumS gemeffen werben. 3tbcr wenn biefe Prüfung ju bem
iHeif d)(e: ^ant unb bte ^^eologie ber ©egentoart. 381
3irf fü^tt baß in il^m ba§ roal)re „^rinjip ber 9Woralttät" un§
fd)on gegeben ift, wie bieg bei Äant ber gaß ift, fo fotlte bie
p^itofop^ifc^e ©ittente^re ber d^rift liefen ©ittenlel)re bie 2luf-
gabe überantworten, biefeS d^riftlid)*ftttli^e ^beal in feinem Qn--
fammcn^ang mit bem c^riftlic^en ©tauben barjulegen, unb foHte
auf ben SSerfud^ ber Sttufflärer oerjic^ten, eine „allgemeine SBer*
nunftmoral" ju entmictcin. 9Kad|t fie i^n bennod), fo muß biefe
ocmimftige 9WoraI fi^ notroenbig neben bem d^riftlid^en @itt(i(^-
feitSibeat re^t bürftig au^nc^men. Unb nic^t nur ba§! SSSenn
ba§ fittlic^e ^beal, ^erauSgelöft au§ feinem religiöfen 3ufammen*
l^ang, rein nac^ SSernunftgrunbfä^en fonftruiert mirb, fo fann in
i^m aud) bie 9Äotioation^f raft, bie bie d)riftti(i)e ©tl^if au^
jenem religiöfen 3iifö"^w^^^^^ö"9 fc^öpft, nid)t jur ©ettung fom*
men. 3^ne§ Qbeal erfd^eint nur in ®eftalt be§ reinen @efe^e§^
ba§ feine unbebingte gorberung an ben SWenfc^en [teilt, aber il^m
!eine Äraft jur Erfüllung ju geben oermag.
b) S:amit fmb mir fc^on jubem j weiten 5ßuntt gelangt,
on bem ein SRangel ber Kantfc^en $f)ilofopl^ie, unb jmar ber
für bie S^eologen bebeutfamfte, fic^tbar mirb. 2)en ©lauben
ober bie SReligion l^at Äant roeber nad^ Qf^l^att nod[) 2lrt
befriebigenb ju beftimmen oermoc^t.
©benfo wie er im ©inn ber Sluftlärung eine Sßernunftmoral
au^fü^rte, oerfuc^te er eine allgemein oernünftige ^Religion mit
i^rem 3»n^alt oon ©lauben§le^ren ju gewinnen unb biefeu „in^^
mxi)alb ber ©renjen ber bloßen Sßernunft" erreid)baren 9ie(igion§-
in^alt barjulegen. 3lud) biefer aber nimmt fid|, ebenfo wie ber
^[n^alt ber Sßernunftmoral, neben bem ber mirfUcIien SReligionen,
befonberS ber c^riftlid^en, rec^t bürftig an^, \a er ift im ©ruube
nichts anbere§ al§ eine tritifdt)e 9iebuftion be§ c^rifttii^en ©lau=
ben§. — ^tmx SSerfudf) mar aber oon oorn^erein oerfe^lt. 2)ie
SReligion ift nic^t ein ^robutt be§ oernünftigen ®enfen§, ba§ au§
ber aKen TOenf^en gemeinfameu praftifc^en 95ernunft fic^ ent*
mideln ließe, ©ic märf)ft oielmel^r in ber menfd)licl)en ©efd)id^te
unb ©emeinfc^aft tieroor. Unb smar wirft in ben l)5t|eren SRe*
ligionen ba§ gefd|id)tUd)e Seben felbft, mit feinen für ba§ @e«
beiden ber Sßölter gewid)tigen ©reigniffcn, mit feinem ©intreten
382 üieifd^le: ^ant unb bte ^^eologie ber Gegenwart
oon großen SWännem, »or aScm oon fü^rcnbcn fittltd^cn unb rcK«
giöfcn 5ßcrfönlid)feitcn, bcftimmcnb auf bcn ^rH)alt be§ rdigiöfen
@(auben§ ein. 3enc8 ftctS roeitcrfd)reitcnbc gcfc^ic^tUd^e Scben
lägt fid) aber ni^t nacf) aUgemeinen 93ernunftgrunbfä|en ableiten,
barum auc^ ni(^t ber fontrete 3nl^<ilt ber 9ieIigion, ber burc^ bie
©efc^ic^te bcftimmt ift. 9^ur roer biefcn au§ ber ©efc^i^te ftam*
menben ^n^alt ber 9ieIigion, auc^ be§ @^rtftentum§, al§ )ufdl<
ligeg SBeiroerf, aU blogeS ^introbuftionSmittel anfielet unb abtut,
fann e§ untemetimen, eine „attgemeine SSernunftreligion" mit
ifirem Qn^alt oon aSernunftbogmen gu geftalten. ®a| aber bei
Äant jene aSorau§fe^ung jutraf, m. a. SD8., bag er in feiner 3tuf*
faffung ber SReligion be§ gefd)i^tlic^en ©innS ermangelte, erfann=
ten mx fc^on oben (©. 360 f.) al§ etroaS, xoaB er mit ber Auf*
flärung gemeinfam l^atte. 5Rur ba^er feine öemü^ungen um ben
Sttufbau einer ocrnünftigen SReHgion§leI)re ! — SGBirb bagegen an«
ertannt, bag bie SReligion mit SRed^t au§ ber ©efc^idjte i^re 6r«
fenntniiS beS göttlichen äßillen^ f<4Spft fo n^ug auc^ auf jenei
93emüt|en oerjid^tet merben. S)ie 9lufgabe ber „pl^ilofop^ifc^n
SieligionSte^re" ober, mie mir fagen, SReligionSp^ilofop^ie
bleibt e§ bann nur, ba$ in ber ©ef^id^te gemorbene religiofe £eben
}u analrifieren unb bie in i^m leitenben formalen ^been ober
grageftellungcn ^erau^juarbeiten, bie Sntroirftung felbft, näm«
lic^ bie in i^r roirffamen allgemeinen aWotioe unb in i^r ertenn«
baren ©tufen, ju erforfd^en, enblic^ ben ©inn unb SSBert ber 5Re=
ligion für ba§ geiftige Seben be§ aWenfdien unb ber 9Renf(^l^eit
ju oerbeutlic^en, unb barauS momoglid^ einen aJl a g ft a b jur Se«
urteilung ber einjclnen gefd)i^tlid)en 9teligionen }u ergeben.
Slber gerabe bei biefen religionSgef^ic^tlic^en Unterfuc^ungen
ftetlt fid) ^crau§, bag Äant auc^ bie 2lrt be§ religiöfen £e«
ben§ nid)t ooHftänbig erfaßt l^at, wenn er bie @laubeu8fä|e burc^
ben ©egriff be§ fittlid)en ^oftulate§ bejeic^net. 3^ar ift fo*
üiel unleugbar, bag ein vidjtiger ®laube in ber Zat bie 33e*
f riebigung be§ tief ften fittlid)en S3ebürfniffe§ mu| geben (S. 378 f.)
unb eine fclbftänbige ©emiffen^überjeugung (©. 374 f.) m\\%
fein fönnen. 2lber eine fd^iefe SBenbung bringt ber ?ßoftu«
latSbegriff infofern t)erein, al§ bur^ i^n ba8 fittlic^e 9emu|tfein
^ieifc^Ie: ^ant unb bte ^^eologte ber ©egetttioart. 383
fclbft ju bcr bcn (Slauben ^eroorbrinflenbcn fd^öpferifc^cn 9Wad|t
erhoben roirb. — ®arin liegt einmal eine innere ©^roievig*
feit. 3)em fittlic^ ftrebenben 9)lenfc^en roirb jugemutet, au§ ber
Äraft feines ftttlic^en ©trebenS bie Ueberjeugung t)on @ott unb
einer fittli^en SBBeltorbnung ^eroorjubringen. ®r foB bie ©teßung
einnehmen : fo xoat)v, als ic^ ein fittlidieS Qkl mir ftecf e unb nid)t
barauf oerjici^ten miß, mu§ ein ®ott fein, ber bie SBett einem
fittlic^en ©nbjroed entgegenfü^rt! 2lber mic nun, roenn burc^ ben
übermächtigen Sinbrud beS naturgefe^lid^en i?aufS bcr S)inge jenes
^oftulat uns roantenb gemacht mirb? Scheint bocf) baS 9iatur*
gefc^e^en gleichgültig ju fein gegen bie fittlic^en QitU ber 3Ren»
f^en, inbem eS bem Slugenfc^eine nad| auc^ bie 3lec!^tfc^affenen,
„bie ba glauben tonnten, @nbjmcc! ber ©d^öpfung ju fein, in ben
@(^lunb beS jmecflofen ß^aoS ber SWaterie jurüdmirft, auS bem
ftc gejogen maren" (Ar. ber Urteilskraft, ed. Jlel^rbad^ ©. 350).
©ollen mir in folcl)en 3w^if^Iii ^^^^ "u^ baburd^, ba^ mir felbft
uns ju neuer moralifc^er (Sefinnung aufraffen, baS oerlorene ^o*
ftulat uns mieber erobern? 2lber bie moratifd^e Oefinnung mirb
ja burd^ jeneS SBanfen beS fitlli^en ©laubenS felbft fd)on einen
Slbbrud^ erleiben! SBir fotlen alfo biefen auf jene grünben! unb
boc^ ift jene felbft mieber oon biefcm abhängig! 3)aS ift bie in«
nere 9lot, in bie ber ganje 5ßoftulatSftanbpunft l^ineinfül^rt. 2lber
ju biefer inneren ©cfimierigteit tritt meiter bie 93eobad)tung,
ba§ im mirtlicl)en gef^idf)tlict)en fieben ber religiöfe
®laube boc^ nic^t als ^oftulat auftritt. SefonberS ber c^riftlid)e
®laube l^at einen ganj anbern K^arafter: er ift nic^t träftigeS,
tüIineS kopulieren beS feiner fittli^en 93eftimmung bemühten
9Jlenfd^en, fonbern ein üertrauenbeS ©id)^ingeben an ein unS ent«
gegenfommenbeS äBirfen ©otteS. 2)er S^rift fd^aut innerl)alb
ber menfd^li^en ©efd^id^te in bem ^erfonleben 3f^fu ®t)rifti unb
in bem oon i^m auSgei^enben ©eifteSmirten bie il^n erlöfenbe SBBirf *
famleit ®otteS, bie x^P*^ '^^^ Ssoö, atdvt^pio; izotoiy äyd-pünoig,
7ra:5e6ouaa T^pta?, unb mirb im SBer trauen ju i^r ber SBirt«
tief) feit beS erlöfenben ®otteS inne. Unb and) in ben anbern
Sfleligionen ift ber ®laube ein gü^len unb ginben ®otteS auf
@runb irgenb melcl)er ©rmeifungen ober Offenbarungen, bie bem
382 dleifd^le: ^ant unb bte ^^eotogie ber ©egenioart
T)on groJBcn 9Wänncrn, cor afiem oon fü^renbcn ftttttc^en unb rcli«
giöfcn ^erfönlid^teitcn, beflimmcnb auf bcn ^^n^alt bc§ reügiöfen
®Iaubcn§ ein. 3enc§ ftct§ lüeitcrfcftrcitcnbc gefc^ic^tlic^e Scbcn
lä^t ftd) aber nic^t naä) aUgemeinen 93ernutiftgrutibfä^en ableiten,
barum aud) nid)t ber fontrete Qn^alt ber SReligion, ber burd^ bic
©efc^ic^te beftimmt ift. 9lur wer biefen au8 ber ®efd)ic^te ftam*
ntcnben Qn^alt ber SReligion, aud^ beS ®^riftentum8, ate jufäl*
lige§ 93ein)erf, ate blo^eS ^ntrobuItionSmittel anfiet|t nnb abtut
fann e§ untemel^men, eine „attgemeine SBernunftretigion" mit
if)rem On^ialt pon SBernunftbogmen ju geftalten. 2)a§ aber bei
Kant jene 93orau§fe^ung jutraf, m. a. SD8., ba§ er in feiner Stuf^
faffung ber SReligion be§ gefd)i^tfi(^en ©inn8 ermangelte, crfann=
ten n)ir fd^on oben (©. 360 f.) aU etma§, maS er mit ber auf*
{(ärung gemeinfam ^atte. 9lur ba^er feine ^emfil^ungen um beit
Stuf bau einer pernünftigen SHeligionSle^re! — SBirb bagegen an*
ertannt, ba& bie SReligion mit 5Red^t au8 ber ®efc^id)te i^rc @r«
fenntni^ be§ göttlichen 9ßillen§ f^öpft, fo mug auc^ auf jeneS
93emül|en uerjic^tet merben. ®ie Slufgabe ber „p^ilofop^if^en
SReltgionälel^re" ober, wie mir fagen, SReligionSp^ilofop^ie
bleibt e§ bann nur, ba§ in ber ®ef(^ici^te geworbene retigiöfe £eben
ju anaigfieren unb bie in i^m leitenben formalen Qbeen ober
$ragefte((ungen herauszuarbeiten, bie ®ntmicflung felbfl, nöm^
li^ bie in if|r mirtfamen aOgemeinen 9)lotioe unb in i^r ertenn^
baren ©tufen, ju erforf(^en, enbli^ ben ©inn unbSD8ert ber Sic*
ligion für ba§ geiftige Seben be§ 3Jlenfd)en unb ber 9Renfc^l^eit
}u oerbeutlic^en, unb barau§ momögtid^ einen äß a ^ ft a b }ur SBe<
urteilung ber einjcinen gefcl^icl)tlid)en JReligionen ju ergeben.
^ber gerabe bei biefen reIigion§gef^ic^tti(^en Unterfuc^ungen
ftctlt fid) t|erau§, ba§ Äant aud^ bie 2lrt be8 retigiöfen Se*
ben§ nirfjt t)oßftänbig erfaßt ^at, menn er bie ®Iauben§fä§e bur^
ben Segriff be§ fittlicl)en ^oftuIateS bejeic^net. Qxoax ift fo*
üiet unleugbar, ba§ ein richtiger ®laube in ber S^at bie ©e*
friebigung be§ tief ften fittlic^en SSebürfniffeS mu§ geben (©. 378 f.)
unb eine fclbftänbige ©emiffenSüberjeugung (©. 374 f.) mu|
fein fönnen. 3lber eine fd)iefe äBenbung bringt ber ^oftu*
latSbegriff infofern f)erein, als burdi it)n baS fittlic^e 33emu|tfein
dleif^le: ^ant unb bte ^^eologie ber ©egeniDatt 383
jcfbft }u ber bcn ®Iauben ^croorbrincienbcn fd^öpfcrifdien SWad^t
crt)obcn roirb. —- 3)arin liegt einmal eine innere ©c^roierig^
feit. ®em fittlic^ ftrebenben 3)lenfc^en roirb jugemutet, au§ ber
Kraft feinet ftttlid^en ©trebenS bie Ueberjeugung üon @ott unb
einer ftttlic^en SBeltorbnung ^eroorjubringen. (Sr foB bie ©tettung
einnehmen : fo roal^r, ate ic^ ein fitttic^e§ Qkl mir ftecf e unb nic^t
barauf Derjid^ten miH, mug ein @ott fein, ber bie SBelt einem
fittlic^en ©nbjmecf entgegenfü^tt! Slber mie nun, menn bur^ ben
übermä^tigen ©inbrudt be§ naturgefe^li^en iJauf§ ber 3)tnge j|ene§
ißoftulat un§ roanfenb gemacht wirb? ©d^eint borf) ba§ 9latur*
gefdie^en gleichgültig ju fein gegen bie fttttic^en Qkk ber ^Slzn^
fd)en, inbem e§ bem 2lugenfc^eine nad^ au^ bie 9ied^tfd)affenen,
„bie ba glauben tonnten, ^nbjmecf ber ©c^öpfung ju fein, in ben
©d^tunb beS jmedtlofen ®]^ao§ ber SWaterie jurfidmirft, au§ bem
fte gejogen maren" (Ar. ber Urteil§!raft, ed. Jle^rbad^ ©. 350),
©ollen mir in folgen 3"^^if^t" ^^"^ ^^^ baburd^, ba§ mir fclbft
un§ JU neuer moralifc^er ©efmnung aufraffen, ba§ oerlorene ^o»
ftulat uns mieber erobern? Slber bie moralifc^e ©efmnung mirb
ja bur^ jene§ SEBanfen be§ fittlidien ®lauben§ felbft fc^on einen
9tbbru(^ erleiben! SBir foHen alfo biefen auf jene grünben! unb
boc^ ift jene felbft mieber oon biefem abl^ängig! ^a§ ift bie in«
nere 9lot, in bie ber ganje ?ßoftulatgftanbpuntt hineinführt. Slber
ju biefer inneren ©c^mierigfcit tritt meiter bie 93eobad)tung,
bag im mirtlt^en gefc^idjtlidjen fieben ber religiöfe
©laube boc^ nic^t al§ ^oftulat auftritt. 93efonber§ ber c^rifttic^e
®laube l^at einen ganj anbern (S^aratter: er ift nid^t fräftigeS,
fü^ne§ ^ßoflulieren be§ feiner fittlic^en öeftimmung bemühten
SJlenfd^en, fonbem ein oertrauenbeS ©ic^^ingeben an ein un§ ent*
gegenfommenbeS SBirfen @otte§. ®er S^rift fc^aut innerhalb
ber menf^li^en ©efc^ic^te in bem ^erfonleben ^efu ©Ijrifti unb
in bem t)on i^m auSge^enben ©eifte§mir!en bie il^n erlöfenbe SBBirt
fam!eit ©otteS, bie x^P^^ '^ou fleoö, awnf^pto; ttägcv av9-pd)7coi;,
TZ(xiSex)o\}<jx T^|iä?, unb mirb im Vertrauen ju i^r ber SBirt-
lirf)teit be§ erlöfenben ©otte§ inne. Unb au(^ in ben anbern
SReligionen ift ber ©laube ein gü^len unb fjinben ©otte§ auf
©runb irgenb meld)er ©rroeifungen ober Offenbarungen, bie bem
384 [Reif (f|le: ^ant unb bte ^^eologie ber ©egentoart
aWcnfd^en a(§ göttliche fid^ aufbrängcn.
Slnbcrc 3)cnfcr, bic ber Slufflärung freier gegenübcrftanben
unb bie burd^ unfere beutfc^en Älaffiter, befonberS burd^ ^erber,
gelernt t)atten, fic^ inniger in gefc^ic^tli^eS ficben ^ineinjuleben,
mußten fommen^ um biefe SKrt beg religiöfen ®Iauben§ jur pl^i*
lofopljif^en Rlarl^eit ju bringen. 93efonber§ ©c^Ieiermadier
roax baju berufen. Äant ffird^tete, bafe, foroie man ben Olauben
nic^t rein auf baS fittlid^e ®enfen begrunbe, fonbern i^n on eine
ertennbare Offenbarung @otte§ roeife, man in einen unfontrolüer*
baren 9K9ftiji§mu§ gerate, in ©ebanfen oon mirMic^en unb boc^
nic^t finnüd^en 2lnfci^auungen, etma beS unfi^tbaren 9leic^e§ ®otte§.
SBei foId|en „überfinnlic^en 2lnfc^auungen" aber bad)te er fogleid^
an Ueberfd^mängliditeiten mie bie üon ©roebenborg, ber mit ber
Oabe eine§ 9lnfd)auen§ ber ^immel§melt begnabet ju fein meinte
(ügl. j. 93. Sr. ber pr. Vernunft ed. Se^rbac^ ©. 86 f.). Unb
boc^ ift ein Srtenneu ®otte§ in feiner Offenbarung möglich, ba§
burd)au§ nic^t§ Sc^märmerifc^eS an fic^ ^at. ^m S^riftentum
ricf)tet e§ fid^ auf gefc^ic^tlid^e ®rö^en, bie ber 6rf(^einung§roeU
angel^ören, auf ^z\\xm Stiriftum unb fein äBirfen; bur^ bicfe
@röj3en wirb bem 9Wenfd|en, in bem baS fittlid^e ©eroiffen rege
mirb, ba§ Urteil abgenötigt, ba§ er l^ier einem g6ttlid)en 938erte
gegenüberfte^e. Unb über biefe§ Urteil lä^t fi^, gerabe weil es
nid[)t nur bur^ unbeftimmte ®efüt)l§einbrfidfe l^eroorgerufen, fon*
bevn in bem fittlidt)en SUlenfc^en lebenbig mirb, aud) Stechen«
fii)aft uor anberen ablegen.
SBer aber in bem auf unfer fittlid)e§ ®en)iffen roirtenben
©eifte O^fu ®f)rifti bie Offenbarung ®otte§ er!ennt, für ben wirb
and) ber :3nt|alt be§ ®otte§gtaubenS ein Diel rei(f)erer ai§
für Sant. @r ^ält fic^ nicf)t nur an ben ^eiligen ®efe^geber, ben
allmeifen unb gütigen SRegierer, ben geredeten 9tid[|ter, fonbern an
ben un§ erlöfenben unb erjiel^enben ®ott, ber in ber ®efc^i^te,
bcfonberS in ;3efu ß^rifto, unb in unferm eigenen fieben mit un§
^anbelt.
c) S)arin, ba^ ^ant für ben ®Iauben SRaum gefc^affen ^at
burc^ feine @rfenntni§begrenjung, erblidEen mir, mie mir
fc^on frütier (@. 371 ff.) au^gefü^rt l^aben, eine feiner roertooBjieii
91 e i f c^ ( e : $tant unb bie ^^eologie ber @egenn)art. 885
Sciftungcn für bie S^cologie. Slbcr ift nic^t oud) in biefem ©türf
fein ©rgcbniö ju mobifijiercn? — 3^mmcr roicbcr crt|cbt fic^ bie
Slage, bQ§ bei Äant ein „fc^roffer 2)uali§mu§" Dovliege
jroif^en tl^eoretifd^cr unb prattifc^er SBernunft jmifc^en ber 2Bett
ber SBiffenfd^aft mit i^rer naturgefe^Iic^en Orbnung unb ber fitt*
liefen aSBelt mit i^rer grei^eit. 3)ie ©c^roffl^eit biefer ©egen-
überftellung ertlärt fid) barau§, ba^ Jlant bei feiner SBeftimmung
beffen, xoa§ SBBiffenfc^aft ift, ganj lüefentlic^ oon bem ©ebanfen
an bie matt|ematifci^^med)anifd)e Sioturmiffenfci^aft geleitet ift.
SJaju bilben ja in ber 2^at bie fittlid^en 2Infcl)auungen einen fcl)arfen
©egenfa^, ber nur baburd^ erträglid) wirb, ba^ jene SBelt ber
9laturn)iffenfc^aft jur bloßen ©rfc^einungSmelt ^erabgefe^t ift.
2l6er fo berei^tigt e§ ift, ba^ Sont bie beiben Sftreme be§
naturn)iffenfd)aftlic^en (£rtennen§ unb be§ ftttlicl)en ®enfen§ fd)arf
miteinanber fontraftiert, fo bürfen mir bod) nid)t überfcljen, ba§
aRittelglieber jmifd^en i^nen beftefien. 2tuf eine§ biefer 93inbe*
glieber ^at Kant felbft I)ingeroiefen. S)ie 9taturmiffenfd|aft fuc^t
jroar alle Sßorgänge ber 5iatur nad) matf)ematifd)'bere^enbaren
©efe^en ju erHären, aber fd)on fie fann bei ber mec^anifi^en Stuf^
faffung nic^t fte^en bleiben. Sluf bem gangen @ebiet.be§ orga*
nif^en Seben§ tann fie ben 3n>^rf9«i>önf^n nic^t entbehren,
ber im Segriff be§ Organismus felbft entlialten ift. 9iur roenn
fie ben 3tt^^^9^^ö"fß» menigftenS als einen regulatioen 93egriff
onroenbet, tann fie biefeS ganje ®ebiet für unfer ®rfennen orb*
neu. — SCBeniger t(at bagegen Sant feine 2lufmer!famfeit auf bie
©eifteS* unb ©ef^ic^tSroiffenfdjaften gelentt. 3lber ge*
rabe in i^nen ^aben mir ein ©ebiet, auf bem mit ber mat^ema*
tif^*naturmiffenf(i^aftlic^cn ®r!lärung nod^ meniger auSjutommen
ift. ©in ganj anbereS SSerfal^ren mu^ t)ier angeroenbet merben : baS
©ic^l^ineinleben in baS gefd)id)tlid)e 2tbzn ift grunblegenb für bie
gef^ic^tlic^e SBiffenfc^aft; unb nur burc^ baS SBejietien ber ge*
fc^ic^tlic^en SBorgänge auf SBerte, bie aud) unS nod) als folc^e
oerftanbti(^ ftnb, ift eine 3luSroa^t beS „gefd)id)tlic^en" ©toffS,
ein roirflid^eS SSerftetien feiner 93ebeutung unb ein überfic^tlic^eS
Orbnen ber uermorrenen 93emegungen möglic^. — Üld)ten mir auf
biefe 93erfc^iebent)eit ber SEßiffenfc^aftSgebiete, fo erhalten mir nid)t
386 9leif (^le: ^ant unb bie X^eologie ber Oegentoart.
ben fc^arfcn @ct)nitt jroifc^en t^eorctifd^cr unb praftifc^cr SBcmunft,
beu Sant gemacht f)at, fonbern eine ©tufenleiter, bie pon
bev mat^ematifd)cn ®rfenntni§ ber 9^atur jur Betrachtung ber
ovganifc^en 9iatur mit if)ren Jtaturjroeden, oon ha jur (Srfennt*
ni§ be8 geiftig*gef(^i^tUd|en ScbenS unb enblic^ jur fittlic^ be*
grünbeten ®(auben§ertenntni^ ^inanfteigt. a3ei biefer Stufenleiter
roirb aber bod^ bie Unterfc^eibuug jn^if^en bem auf ber 9{ötigung
ber SDBaI)rne]^mung unb be§ 3)enteng beru^enben tl^eoretifc^en (Jr*
tennen unb in)ifc^en bem auf SBertungen ru^enben praftifc^en
SBernunfterfennen nic^t einfach aufgehoben. Sßietme^r gerabe ba»
burd) wirb jene (Stufenleiter l^ergeftellt^ bag in ber ®r!enntni§*
tätigfeit in f ortfc^reitenbem 3Ra^ bie SBBertbeurteilung aufgenommen
lüirb. — 3)amit aber fteüt fid^ aud^ bie ©laubenSertennt»
ni§ anberS bar aU bei ^ant: fie ift nic^t etmaS plö^Iic^ unb
jufammenf)ang(o§ ©intretenbei»^ fonbern fie ift ber frönenbe
2( b f d^ l u ^ für jene Stufenleiter beS ®rfennen^. ©cfton bie
unteren ©tufen meifen l^in auf jene ßufönimenfaffung in einer
^()d)ften ©in^eit.
®amit erfiebt fld^ aber jugleic^ au^ ber unabmei^bare 93er«
fucf), eine einl^ei tlic^e SBeltanf d^auung in ber SEBeifc
SU geft alten, ba^ bie @rfenntni§ ber unbelebten unb belebten
9{atur, fomie be§ gef^id^tlid^en £ebenS ber @(auben§er!enntni§
unter* unb eingeorbnet mirb. 2In oielen fünften jmar roirb biefe
älufgabe immer unlösbar bleiben: e§ gibt oiele S^atfac^en in Dk-
tur unb ©efc^ic^te, angefid^tS beren mir auf ein birefteö teleolo«
gi)(^e§ Serfte^en im 3ufcimmcn^ang unfereS ©laubenö oerjic^ten
muffen, Dielmel^r un§ nur au§ ber ftarren SBelt ber SDlaffen unb
au§ ber Unerbittlic^feit be§ fiaufS ber ©efc^ic^te burd) ein !ü^ne§
S)ennod^, ba§ boc^ nic^t unfere Sat, fonbern burc^ begeiftembe
Offenbarung gemedft ift, in bie ©elt be8 ©laubcnS ju flüchten
permögen. — 2l6er an anbern ^^ßunften Ia§t fic^ boc^ bie 9latur*
unb ®efd)id^t§n)elt a(S äRittel für @otteiS (£nb»
j m e dt oerfte^en. 3)a^cr ber immer roieber fid) emeuernbe 9Jer*
f ud), in einer ©pef ulation biefe Einfügung ber SBelt in ben ^öc^ften
göttlid^en (Snbjmedt barjulegen! Unb ermutigt unS baju nic^t
Sant felbft, menn er ber ^^gfifot^eologie i^ren 9(6fci^Iu^ in
d^etfd^le: ^attt unb bie Z^zoIoqxz ber (^egenroart. 387
bet ©t^itot^eologic Derl^ci^t (ogl. bcn Stn^ang juv „Sritif ber
Urteiföfraft")? ©prid)t er boc^ fogar felbft bie ftitte Hoffnung
au§, „e§ oieüeic^t bcrcinft bi§ jur ©infi^t ber ©tn^elt bc§ ganjen
reinen aSemunföücrmögen^ (be§ t^eoretifc^en foroo^l al§ pxah
tifc^en) bringen unb alleS au§ einem ^rinjip ableiten ju fön*
nen ; n)eld)e§ baS unüermeiblic^e 93ebürfni§ ber menfdjli^en SBer*
nunft ift bie nur in einer nottftänbig fqftematifdien ©in^eit i^rcr
Srtenntniffe oöHige 3wfrieben^eit finbet" (Rr. ber px. SSernunft
ed. Äe^rbac^ @. 110). — Slber im üorauS lä^t fic^ au§ Äant^
ganjer 3lrbeit entnetimen, ba^ biefe ©pefulation nid)t,
mie ^egel meinte, eine rein logifd^e Sntmicflung ber 3Beltibee fein
fann, fonbern ein Don 3Bertungen getragenes SOßeltoerftänbuiS,
ba^fte, mit einem 2Bort, eine ©pef ulation be§ (Slaubens
fein mug. 95erfuc^e einer folc^en fmb in feiner 3Beife gu oer*
bieten, menn fie ftc^ nur flare Mec^enfc^aft geben über bie ^^ro-
uenienj ber ^Optionen, non benen fie ausgeben, unb ftc^ tritifc^
i^rer ©renjen bemüht bleiben. ©eibe§ aber leiert unS fein an*
berer fo mie Sant.
3. ©ine nic^t geringe 3^^^ ^^n ^^unften t|at fid) un§
ergeben, in benen bie S^eologie über Haut t|inau§ftrebt unb
in benen in ber 3;at eine SWobififation ber Äantfd)en ^i)u
lofop^ie notmenbig erfc^eint. Unb boc^! gerabe ba§, maS mir
jule^t befproc^en, l^at uu§ baran erinnert, mie häufig J^ant
f e l b ft mit bem 9teic^tum feiner ©ebanfen, ber ju gro^ mar, um
überall jur oöUigen 3ufommenftimmung gebrad)t merbcn ju fön«
nen, un§ gemiffe 91 n beutungen gibt, in mefc^er 9tic^tung
mir über il^n felbft t)inau§juge^en l)aben. — Unb in einem nod)
umfaffenberen Sinn fönnen mir fagen: bei aQer greil^eit Kant
gegenüber galten mir un§ hoi) ftetg auf feinem 93oben.
^ätte er, in ber SDBeife be§ 2lriftoteIe§, ein ©i)ftem ber ®ott=
aBelt*^f)itofopt)ie entmorfen, fo müßten aud) bei it)m ben Set)ren,
in quibus magister tenetur, biejenigen gegenübergefteöt merben,
in quibus magister non tenetur. 9lber Slaut f|at bie ^t)iIofO'
p^ie auSgeftattet jur fritifc^en Unterfuc^ung ber mefentlid)eu ®eifte6=
betätigungen be§ 9Wenfc^en, b. \). jur metf)obifc^en 9lrbeit. ftant
mottte ni^t eine ^t|iIofopt)ie, fonbern er mottte pf)ifofop^ieren
388 SReifc^Ie: ^ant unb bie ^^eologie bet (^egenioart
lehren. Savum !ommt e§ aud) toeniger barauf an, baß n^tr ein-
jctnc SRefultatc feiner ^{jilofop^ie anncf)men unb in ber ä^^eologic
üerroerten, al§ barauf, ba§ roir un§ auf ben 95obcn feiner
2lrbeit§mett|obe [teilen, ^n biefer 93ejie^ung oor allem fmb wir
Kantianer unb bürfen fagen, ba§ er ber magister ber neueren
2^f)eoIogie ift, unb ba^ ein tenere ma^strum möglich ift auc^
wenn man Don feinen Siefultaten abmeii^t,
SßJenn aber bie ^^itofopl^ie in biefem ©inn oerfianben wirb,
fo ift aud^ flar, ba^ bie 2:^eotogie in allewege ber '^^i-
lofop^ie bebarf. @§ ift ein törichter ©ebante, menn man
meint, biefe^ 53anb fönne jerfc^nitten werben. ®§ mar j. ©. auc^
ein red^t bornierte^ aSerftänbniS ber aiitfc^lf^en 2^eologie, menn
einige biefe SGBirfung üon i^r erI)offten ober für ^teten. 3)ie fij*
ftematifc^e 2!^eologie mu§ bod^ immer roieber gü^lung fu^en mit
ber ®eban!enroelt unferer 3^Jt ^^^ P^ i« ^^^ ^^ilofopl^ie fiäf
mieberfpiegelt. Qa me^r al§ ba§! ©ie mu§ felbft immer xoit^
ber hinein in bie p^ilofop^ifc^e Slrbeit; benn ein n)if>
fenfc^aftli^e§ aSerftänbni§ be§ c^riftlid^en ®lauben§, feiner @runbe
unb feinet ^ul^alts, ift nur ju gewinnen im 3wfö^"^^^^ö"9 ^^^
ber met^obifd)en ©rforfc^ung unfere§ ®eifte§IebcnS unb feiner
roefentlid^en g^nftionen. @ine fold)c ^t)ilofop^ie aber ^at nic^t
bie 2lrt jener cptXoao^ta xaJ xevij äticcttj, bie i^ren ©lauben bem
d^riftlidben entgegenfe^t, fonbern fte ift eine Helferin jur Haren
@rfenntni§ von 2lrt unb 3^n^alt unfere§ ®lauben§, eincS Jener
aWittel, ba§ ber S^rift gebrauten barf unb foU nad) bem ®runb*
fa^ : Tiavxa Ojiöv.
389
%^. Stetumantt,
S^ojent am t^eol. Seminar in ®nabenfelb.
3u bcn funbamcntaten 93orftcUungcn beS cl)rift(ic^en ©laubcnS
gehört bic 3>bec oon @ott aU Icbcnbigcr ^crf önli^teit ; baran
fann fein 3n)eifel fein. 2Bo im ^fntereffe ber g^^ömmigteit oor
ber mobernen SQBiffenfd^aft ber profanen ober ber t^eologifc^en,
al§ oor einer glaubenjerftörenben 9Wac^t geioarnfr wirb, fa^t fid^
barum anä) aße^ öebenfen gern in ben aSorrourf jufammen, biefe
mobeme SEBiffenf^aft raube un$ ben (ebenbigen perfönlid^en @ott.
©ntioeber bränge fie il^n ganj unb gar axi^ ber SEBelt unb un*
ferer ®rfa^rung ^erau§; nirgenbg fei er me^r in feinem lebenbigen
perfönlic^en SBatten gegenroärtig, unb e§ bleibe ^öc^ften§ bie ganj
abgeblaßte Qfbee einer ooUftänbig tranfjenbenten Söefen^eit beftef)en.
Ober e§ werbe bie göttlid^e ÜJlac^t fo oottftänbig in biefe SEBelt
^ineingenommen, bag fie fid) mit bem mirtfamen SQBeltganjen iben*
tifijiere; auc^ fo aber gel)e bie eigenmirtfame lebenbige ©ottper*
fönlic^feit oerloren, ber ja bod) ein freiem SBalten in ber SOBelt
unb eine bie SBett tranf jenbierenbe felbftänbige ©jifteni mefenttic^
fei. 2lIfo entmeber neben ber entgotteten SQSclt bie ^bee einer
nur tranfjenbenten oerborgenen 9Jlad)t, ober eine bi§ jur oöttigen
Qmmancnj ber ©otttieit burd)gottete SBett; auf feinen %a\i aber
eine lebenbige ®ottperfönlid)teit, bie in i^rem innerften 93eftanb
ber a33elt tranfjenbent bod) jugleid) in if)r lebenbig mirfe unb matte.
3ettf<^rift für «Geologie unb Äirc^e. U. Qo^rg., 6. §eft. 27
890 (Steinmann: ^ie (ebenbige $erfön(ici^!eit ©otted 2c.
SBBir galten bicfen SBorrourf nic^t für berechtigt. ®ie lieber*
}eugung pon @ott aU einer (ebenbigen, in ber 9Be(t n)aUenben
unb jugleic^ il^ren SBcftanb tranfjenbierenben ^erfönliditeit fc^eint
un§ burc^ feinerlei roiffenfd^Qftlici^e Slneignung ber @rfa^rung in
groge gefteüt*). ®§ !ommt nur barauf an, ba§ man aß biefe
eng jufammcnge^örigen religiöfen 3SorftelIungen : ®otteS ^er«
fönli^teit, bie ficbenbig!eit feine§ perfönlic^cn SBal«
ten§, feine 2;ranfjenbenj unb feine 3iW^>no'i^^U ^i^tig er«
faßt. Unb ,,ric^tig", ba§ fotl ^ier ni(^t ^ei^en ,,p^i(ofop^ifc^
richtig" b. \). fo, roie e8 fid) oon ben SBorauSfc^ungen ber rotffen*
fc^af tlic^en gorfc^ung au§ etwa na^e legen f önnte» SBielme^r meinen
mir bamit „t^eologifc^ richtig" b. f)., wie eS ber rcligiöfen 6r*
fa^rung entfpric^t. 2)a8 eben erfc^eint un§, abgefe^en »on
mancherlei erfenntni§tt)eoretii^er SBeriuirrung, ate bie le^te Ur»
fa^e ber apologetifc^en 9^ot, bie an biefem fünfte oielfac^
^errf^t, ber 93eflemmungen, bie man ben Sftefuttaten ber SBiffen*
fc^aft gegenüber empfinbet, unb ber oerjmeifeüen 5^c^t«rtu"f^'
ftücf c^en, mit benen man fic^ ju Reifen fuc^t : man ge^t oon f aU
fcl)en bogmatifc^en SBorauSfe^ungen au§. — Slber aucl) bie @Iau*
ben§Ie^re forbert in it)rem eigenen 3>ntereffe immer erneute ^e*
mü^ungen um eine jutreffenbe Srfaffung biefer religiöfen SJor«
fteüungen. Qt gemiffer e§ ift, ba§ e§ fid^ ^ier um jentrale Qbeen
ber ciiriftlic^en Ueberjeugung l^anbelt, um fo bringenber ift biefe
t^eotogifd^e ^flid^t i^rer immer flareren ©rfaffung. SWan müßte
benn annehmen, ba^ mir in biefem ^^Junfte fc^on fertig fmb unb
ber bogmütif(^en SBciterarbeit nic^t bebürfen. Unfere äßeinung
ift ba§ nic^t Sßielme^r miß e§ un§ fo fc^einen, al§ fei ^ier für
bie ^ogmatif no^ mancherlei )u tun. @c^on bie apo(ogetifd)e
3Jlifere, bie mir foeben ermähnten, ift un§ bafür 93eroei§ genug.
®ie fotgenben 3)arlegungen moßen barum oerfuc^en, jur Rareren
^crauöfteflung jener Q[been einen Seitrag ju liefern.
1) aSgl. 12. 3a^rgang biefer Seitfc^rift @. 429 f.: ^$)a5 «eioufetfein ber
t>oUtn SBirfIid)fett ©otte^". ^aMeinerlei kuiffenfc^aftlic^e Aneignung ber
Srfal^rimg bem ^otteiSgtauben etroaS angu^aben Dernmg, ift bort aQerbing«
ntcöt bireft oii»gcfü^rt. ®8 bcbürflc ba« o^nc S^^^cifcl weiter au^^olenber
evfenntnt«t]&eoretifc6er (Sriüägungcn. 3)ort festen »fr un8 nur mit beftimnttcn
iRefuItateu ber naturn)i|fenfd)aftric^en @rfenittniS au^einanber.
©t einmann: ^ie lebenbigc ^erföntid^feit ®ottcS w. 891
I.
®Q§ ®ott ^erfönlid^fctt ift, fann in jroeifad^er SBeife
i)€rftanbcn racrbcn unb roirb and) tatfäc^Iid) je nad) bcr SRcife
ber rcligiöfen @rfcnntni§ batb in bicfcm, batb in jenem ©inne
ocrftanben. Ober e§ getien rool^l auc^ bcibe ^erfönlid^feitSoov*
ftettungcn burc^einanber. ©o finben roir t§ üielfad) im 3iiföw^-
men^ange ber (^rifttid^en Ueberjeugung oon @ott. 2)abei fe^It
bann leicht ein beutlid^e§ ©efü^l für ben prinjipieüen Unterfd^icb
bcr elnjelnen Seftanbteile ber religiöfen OefamtoorfteKung, unb
bann jugleid) aud) bie unmittelbare Betonung beSjenigen, xoaS an
ber c^riftlic^en -Qbee ber ^erföntic^teit ®otte§ roefentlic^ unb be*
bcutfam ift, im Unterfc^ieb oon anberen, jugleic^ anber§ gearteten
unb unmefentlid)en (Elementen. SDarin aber tommt eine geroiffe
Unfidier^eit be§ d^riftlic^en S3en)ufetfein§ jum 2lu§bruc!, fofern ^ier
gans glei^mägig geroertet mirb, ma§ tatfädjUd) nid)t nur irgenb*
mie üon einanber oer|(^ieben ift, f onbern ganj bireft ocrfc^iebenen
©tufen be§ religiöfen ®Iauben§ angehört.
S)er unfere§ ®ra^ten§ bebeutfame Unterfc^ieb, welcher l^ier
met)r beachtet werben foKte, aB e§ gefdjie^t, ift berjenige jroifc^en
einer geiftigen unb einer pftid^ifc^en ^erfönU^feit§*3>bee ®otte§
refp. einer geiftigen unb einer mgt^ologifierenben Sluffaffung ®otte§
ate ^erfönlic^teit. ^n boppelter ^infii^t alfo ^anbett e§ fic^ ^ier
um einen tiefgreifenben Unterfi^ieb: einmal l^infi^tlic^ be§ 9n=
^aüe§ ber ®otte§DorfteHung, fobann mag bie innere Slrt be§ gei*
ftigen SSer^alteuS betrifft, ba§ biefe SBorfteüung trägt. ®er in*
^altlid^en 2)ifferenj ber Sßorfteßungen gaben mir foeben 2lu§brurf
burd) bie SBegriffe „pfgc^ifdje" unb „geiftige" ^ßerfön(id)feit; ba^
oerfd|ieben geartete religiöfe SSerl^alten fud^ten mir gegen einanber
abjugrensen burc^ bie Segeic^nungen „mqt^ologifierenb" unb
»S^iftifl"- 9EBi^ fönnten Unteren Unterfc^ieb aud) fennjeic^uen,
inbem mir „mgt^ologifc^e 58orfteüung" unb „Ueberjeugung" ein»
anber gegenüber fteüten. 93eibe ©ifferenjen, jene in^altlidie unb
biefe met^obifc^e, gilt e§ nun in au^fül^rlic^erer Darlegung $u
entmideln. —
ßuna^ft alfo: roa% meinen mir mit pfgc^ifdier ^erfön»
lic^feitSibee unb bereu 2lnmenbung auf ®ott?
27*
392 @teinmann: ^ie lebenbtge $erfonltc^!eit (S^otted :c.
Unter pfg^if^cr ^crfönlid^fcit pcrftc^en roir ganj im aßge*
meinen eine beftimmte fj^rm be§ feelifd^en fieben§. ©ie finbct ftc^
nur im 33ereic^ ber SDlenf^l^eit unb bort t)erfd)ieben weit entroirfelt.
2)ie d^arafteriftlfc^en ÜWerfmate ber ?ßerföntic^teit§form be§ fee«
lif^en Sebeu§ ftnb bemühte ©in^eitlic^Ieit unb ©tetigfcit —
^[rgenbmelc^e ®in^eit ift atleS einjetne ©eelifc^c; menigftenS
ift eS mol^I bie näd^ftliegenbe 9(nna^me auf @runb feiner jufam^
menftimmenben fiebenSäu^erungen, bag irgenb eine (Sini^eitUd^feit
biefen ®rf(^einungen ju ®runbe liegt. Stber erft eine bemühte
@inl^eit nennen mir ^erfon. Solange bei einem 9)?enfd)en ba$
@in]^eit§bemu^tfein erft im SBerbenift, ift er nod) m6)t, fonbem
mirb erft eine ^erfon. Unb roo bei einem SWenfd^en ba§ ©in^eit^bc»
mufetfein geftört ift, reben mir, eben meil e« ftc^ um einen 9Renfct|en
lianbelt, oon pfp^ifdier Störung. SGBo fx6) aber weiter bei einem
SJlenfc^cn nur ®in^eit§bemu6tfein unb feine pfpdjifc^e ©tetigfeit
finbet, ba ift root)I eine '^^erfönlidifeit, aber eine unfertige. ®§
fel^lt tUn no^ ber anbere ©f)arafterjug be§ ausgereiften >$erfön«
Iid)feit§Ieben§. ^erfönlid|feit ift j. ©.'baSÄinb unb ber 9latur»
menfc^, fofern fie beibe Sin^eiteibemu^tfein befi^en; in i^ren fee=
Iifd)en SebenSäugerungen aber finb fte ©om Slugenblid unb feinen
Qmpulfen abhängig. 9teben ber ©inl^eit beS @eIbftbemu|tfeinS
fte^t alfo t|ier eine eigentümliche 3^^fo^ten^eit be§ feelifc^en Se*
benS. Jreilicli feine abfolute ßerfa^ren^eit. Sine geroiffe ©tetig«
feit mac^t fid^ auc^ t)ier bemerfbar, bie ©tetigfeit nämlic^ be§
}um SBemu^tfein ermac^ten ©elbftbe^auptung§triebe§. ®iefer felbfi
aber äußert ft(^ jiemlid^ biffolut. Sei ber ausgereiften ^^erfon»
li^teit tritt an ©teße biefer 3«vfat|ren^eit bie ©tetigfeit }ufam>
menfaffenber 2lbftd)ten unb ^läne, beftimmtcr Orunbfä^e u. bergl.
3um (Siu^eitSberoußtfein tritt ^inju jene ©tetigfeitSein^eit, bie
ein ^robuft ber aBillenSanftrengung unb ©elbftjuc^t ift. ^ier
merben mit jäl^er ©nergie, b. f). mit einer bauernben 3ufammen*
faffung aller 93egel)rungSfraft meitauSfc^auenbe ^äne, bie einer
fonjeutrierten 93etätigung ber ^ntetligenj entfprungen fmb, ftetig
verfolgt. ^^ nad) ber 93erfd)ieben^eit biefer beftimmenben 6in«
I)eitSrid)tungen geftalten fid) bie biSfreten perfönlic^en ^nbioibua*
litaten unb ®l)araftere.
©teinmann: ^ie Ubenbige ?ßerfönlic^!cit ©ottel ic. 393
3»eue primitioc fjorm bcr ^erfönlid)feit ließe fi^ bejeid^nen
ate 9iaturpcr[6nli(^feit biefe gcreiftere aU Äulturperfönlic^teit
ober etroa auä) gefc^idjtlid^e ^erfönlic^teit. ffiä^renb bie erftere
am Slnfang beä menfd^lid^en S)afein§ fie^t, rao e§ fid) au§ bem
untermenfd^li^en ©eeüfd^en al§ ein Sigenartige^ l^erau^l^ebt, ift
bie leitete ein ^robuft ber bamit einfe^enben fpejififc^ menf^^-
liefen @ntn)idf(ung. Ober a\x6) : ber SWenfd^ gel^t f)eroor au^ ber
^anb ber Statur aU 9laturpcrfönlid^feit unb wirb Äulturperfön--
lic^feit in ber 3«^^ ^^^ ©efc^ic^te, beren j^n^alt ba^ gefamt*
menfc^tid^e Sutturleben ift. 3)anac^ finb auc^ jene beiben öejeid^*
nungen genjäl^It : Slaturperf önlid^f eit unb KulturperfönU^f eit ober
gefc^ic^tlidie ^erfönlic^teit. — @tne eigentümliche 21 r t bifferenj
foUen biefe beiben ^ejeid^nungen nid^t anbeuten. @S l^anbelt ft^
oielmc^r nur um 9tamen für oerfd)iebene ©ntinidEelungSftufen ber*
jenigen @in^eitlie^feit§ f o r m be§ feelif^en Seben§, bie fid^ nur
bei 5äÄenf^en finbet unb bie mir pfgc^ifc^e ^erfönlid^felt nannten.
^n bem eben entroidelten (Sinne ^^erfönlii^feit ift nun jebe
©ott^eit ber polgtl^eiftifd^en SReligion^ftufe b. I|. alfo pfij(l)ifd)e
?ßerfönlic^teit, unb jmar je na(ftbem bIo§e 9taturperfönlid^feit ober
Rulturperfönlid^teit. ®ic religiöfe SWieberung befi^t in i^ren S)ä'
monen unb ©efpenftern SBefen oon berfelben primitio^perfönli^en
%ct, wie fie ben SJlenfc^en jener ©tufe eigen ift; e§ fmb mot)l
bcmu^tfeinSeinlieitnd^e, aber nid|t mirflic^ perfonaleinlieitlic^c unb
inbioibueße SEBefenl^eiten. SBo bagegen ber SDienfc^ fetbft Kultur*
pcrfönlic^feit ift, finb eS au^ feine ®ötter. @^on au§ bem
3)urd)einanber be§ ^olpbämoni^muS lieben fid) mol)! I^ie unb ba
äu^erlid) me^r inbioibnalifierte, biSfrete ©eftalten ab. 3)iefe ge*
roinncn bann ©d^ritt oor ©d^ritt auc^ beftimmter au^gefproc^ene
innere Eigenart, bi§ fc^Iie^Iii^ eine größere ober geringere Qal^t
in ocrfd^iebenen Oraben ber SBeftimmt^eit djarafterlid) tierauSge*
ftalteter göttli(^er KuIturperfönU(^feiten oor un§ ftet|t, eine jebe
oon i^nen ein nac^ beftimmter SRic^tung entfalteter Sulturmenfd^.
Me biefe attäc^te ragen nun freilid) burcf) irgenbmeldjc er«
ftaunlic^e @igenfd()aften generell göttlii^er ober inbioibuetler Slrt
über ba§ menfd^lic^e Slioeau empor, burdt) übermenfc^lidie fieben§*
bauer, @d)ön^eit, Kraft, SöBeig^eit u. bergl. 3lber au^, mo ber
394 ©teinntann: ^ie lebenbtge ^erfönltd^fett (^otteS 2c.
^olr)t^ci§mu§ in biefcr SRtc^tung fein ^öc^fte§ erteilt, ift bod^
nirgcnbS mcl^r oorl^anbcn al§ eine bur^ fol^e ©injeljüge geftci*
gette menfc^tic^e Äulturperfönlic^feit. 9lirgenb§ burc^brid^t bie
polgtl^eiftifrfie ©ottperfönlid^feit roirtlii^ bie ^Jormen be§ feelifc^cn
^erfönlic^teit§leben§, wie fe^r fie auc^ bercn Umriffe in8 @en>at
tige fteigern mag. ©elbft bie inbimbuette Äörper^aftigteit eine§
menfc^Iid^en Organi§mu§ gehört l^ier ja mit jur perfönlic^en (gyi*
ftens ber göttlichen Sfflädite^). @§ ift barum ^öc^ft jutreffcnb^
menn man jene perfönli^en ©ottl^eiten be§ ^ol^t^ei^muS al§ Der^
grö|erte 3Dlenf^en bejeic^net ^at.
SB3ir gelten nun über ju ber — turj bejeidjnet — met^o*
bifdien ©eite ber ©ad^e. Unfre 93e^auptung mar, biefe in^alt*
lid^e ©igentümlidifeit ber ©otteSoorftetlung fte^e im 3u[ammen^ang
mit einer beftimmten 2lrt, fid^ SBorfteüungen oon (Sott ju bilben,
bie mir al§ mpt^ologifxerenbe oon einer geiftigen unterfc^ieben.
3meierlei ©igentümlid^feiten biefer mgt^ologifterenben 3)ent«
weife finb für un§ l^ier oon Sebeutung. 3)ie erfte biefer ©igen*
tüm{id)teiten finbet ganj unmittelbar in ber 53ejeic^nung i^ren
2lu§bru(t, bie mir jur ftenngeic^nung biefer ®entroeife genoa^It
l)aben. ©ie f)at il^ren 9tamen oon bem bunten unb oerfi^Iungencn
Sianfenmerf ber 9Wr|tf|en. ^n biefen ®rjä^lungen oom 2:un unb
2;reiben ber (Sötter betätigt fic^ eine lebl^afte antl^ropomorp^ifiercnbe
^^antafie. @§ fmb Si^tungen oon allerlei SWenfc^enfc^idffal, in
eine übermenfc^Iic^e ©p^äre oerlegt. 3^i|re le^te SOSurgel ift eine
naioe Sluffaffung ber Sßorgange be§ 9taturleben§. 3)ie erften 2tn«
fonge baoon finben mir \6)on in ber religiöfen 9lieberung, rocnn
bort aße^ oon feelenartigen unb infofern menfc^enäfinKc^en "Sla^
turgeiftern belebt erfdieint. Unb mag ate antl^ropomorp^iftcrenbe
9taturbid|tung feinen 3lnfang na^m, entroidEelt fic^ bann ju ma«
nigfac^en ©rjä^tungen freier geftaltenber ^^antafte oon aüer^anb
menfdt)tid)em Xmx ber ®ötter. 9tun gel^ört jmar ni^t äße biefe
mgt^ifd^e S)id)tung jur eigentlidjen ©ubftanj ber Steligion ; e§ ijl
ba oielerlci ^^antaftegefpinnft babei, ba§ bie ©öttergeftalten be§
religiöfen Olauben§ nur ganj lofe umflattert. 3)od) aber Iä§t
1) ©öttcrbilbcr finb barum für bicfc ®rfaffung ber ®ötter aU ^erfön«
lic^feiten gan§ mefentUc^.
©teinmann: %xz Icbcnbige ^etfönlid^fcit ®otte3 jc. 395
ftd) bcr ©öttertn^t^uS nic^t vom ©öttcrglaubcn löfen. @ic bilbcn
jufammen gleid^fam einen Organismus, genol^rt oon bemfelben
SebenSblut. ®ben biefelbe pfgd^if^c ^^unltion, roeld^e in bem mp*
t^ologifierenben SRantenroert lebt unb treibt, eben bie ift e§ a\x6),
bie jenen ©ott^eiten il^re anfc^aulid^e pfgd^ifc^e ^erfönlic^teit gibt.
S)arum eben bient ja au^ ber SWgt^uS bcr beutlid^eren perfön*
li^en ^erauSgeftaUung ber ©ottl^eiten. SWan oergteic^e in ber
Einfielt nur j. 53. bie mpt^enumranften ©ottl^eiten ©rtei^cnlanbS
mit ben Iialb gefpenftifd^en, m^t^enarmen römifd^en 9lumina. ©o
gehört baS alfo atleS in einen grojsen ^^f^mmenl^ang, bie mg*
t^ologifc^e 9taturauffaffung, bie pfqd^ifci^e ^erfönlic^teit ber ©ötter
unb ber frei bic^tenbe aWpt^uS, unb ermäd^ft atteS au§ bcrfelben
SQBurjel. Unb biefe SDBurjel ift eben jenes balb mel^r naioe balb
me^r bemühte antl&ropomorpl^ifierenbe ©eftalten ber ^^antafie.
©inb bie göttli^en ^erfönlid^teiten vergrößerte SJlenfdien, fo finb
fte ba§ auf Orunb einer eoentuell ibealifierenben pl^antafiemäßigen
Uebertragung ber 3^9^ ^^^ menfd^Hc^en 5perfönIid^feitSleben8 auf
bie jenfcitigen SWäc^te.
hieben biefem bi^terifd)en Slnt^ropomorpl^ifieren ^aben mir
als jmeiten ©runbjug ber mgtliologifdtien S)entmeife folgcnbeS
l^eroorjutieben. 3[eme^r biefe Sentmeife fic^ unoermorren mit
anbermeitigen religiöfen Stimmungen auslebt, umfome^r gelten
biefe il^re 9lntI)ropomorp]^iSmen alS eine birefte 93efd^reibung ber
göttlichen Syiftenj. ©o ift bie ©ott^eit mir! lief), mie fte ^ier
gefi^ilbert wirb. ®enau fo, mie man baS perfönlic^e ©ein eineS
SÄenf^en burc^ ©efc^reibung feiner Äörperbefd^affenl^eit, feineS
S^arafterS, feiner SebenSftellung unb feiner gäl^igfcit nac^ aßen
9tid)tungen auSfc^öpft, fo ift eS auc^ mit jenen perfönlic^en ©ott*
Reiten. 9Äan weiß, wie fxe ausfegen unb mie fte in i^rem in*
nerften SBefen befc^affen finb. — Unb fold^e Sta^ebringung ber
göttlichen 3Ääc^te ift nid)t nur eine ©ad^e beS bloßen aJlgt^uS
unb feiner nic^t mel^r eigentlich religiöfen 2lu8ran!ungen, fte ift
ni^t nur eine bloß poetifdt)e SBergegenftänblic^ung. 9Sielmct)r
t)anbelt eS fiel) hierbei boc^ jugleid^ aud^ um eine r e l i g i ö f e
9lal^ebringung ber ©ottl^eiten. © o eben finb fie bem 9Jlenfdt)en
etmaS ^ofttioeS, 53eftimmteS ; er roeiß nun genau, roaS er an il^nen
386 9ieif d^U: ^ant unb bie S^eologie ber (^egentoart.
ben fd^arfcn ©^nitt jipifd^en ti^eorctift^er unb praftifc^cr SBcrnunft,
bcu Stant gemacht \)at, f onbcrn eine Stufenleiter, bie von
bev matl^ematifrf)en ®rfenntni§ ber Statur jur öetrai^tung ber
organifc^en 9tatur mit i^ren ^taturjroecfen, oon ha jur Srtennt*
ni§ be§ geiftig»gefd)i^tlic^en SebenS unb enblic^ jur fittli^ be-
grünbeten ®tauben§erfenntni^ ^inanfteigt. 33ei biefer Stufenleiter
wirb aber bod^ bie Unterfc^eibung jn)ifd|en bem auf ber Slötigung
ber SQ3al)rne^mung unb be§ 3)enten§ berutienben t^eoretifi^en @r=
fennen unb jroifc^en bem auf SBertungen ru^enben praftifc^cn
93ernunfterfennen ni^t einfach aufgehoben. 93ie(me^r gerabe ba*
burd) roirb jene Stufenleiter l^crgefteUt, baj3 in ber ®r!enntni§*
tätig!eit in f ortfc^reitenbem ajla^ bie SDBertbeurteilung aufgenommen
wirb. — 3)amit aber ftellt fid) aiidj bie ® l a u b e n § e r f e n n t-
ni§ anber^ bar al^ bei ^ant: fie ift nic^t etmaS plö^Iic^ unb
jufammen^anglo§ ®intretenbe§, fonbern fie ift ber f r ö n e n b e
2(bfct)luj3 für jene Stufenleiter be§ ®rfennen§. Sc^on bie
unteren Stufen meifen l^in auf jene 3ufammenfaffung in einer
l^6cf)ften ®inl)eit.
2)amit ergebt fid^ aber juglei^ auc^ ber unabmeiSbare 93 e r-
fud), eine einheitliche SBettanf^auung in ber SSeife
i u g e ft a 1 1 e n , ba|3 bie @rfenntni$ ber unbelebten unb belebten
9ktur, fomie be§ gefd^i^tlid^en Seben§ ber ®lauben§erfenntni§
unter« unb eingeorbnet roirb. Sin oielen fünften jmar mirb biefe
2lufgabe immer unlösbar bleiben: eS gibt oiele 2;atfac^en in 91a»
tur unb ©efc^ic^te, angeftd^tS beren mir auf ein bireftcS teteolo*
gifc^e§ 33erfte^en im ßwfammenl^ang unfereS ©laubenS oerjic^ten
muffen, oielmel^r un§ nur au§ ber ftarren SQäelt ber SKaffen unb
au§ ber Unerbittlid)feit be§ Sauf8 ber ©efc^ic^te burd) ein !ü^ne§
2)enno^, ba§ boc^ nic^t unfere 3:at, fonbern burc^ begeifternbc
Offenbarung geroedt ift, in bie 3Belt be§ @laubcn§ ju fluchten
vermögen . — 9lber an anbern fünften la§t fic^ boc^ bie 9iatur*
unb @efd)ic^t§melt at§ a»ittel für ®otte§ ®nb«
j m e d oerfte^en. S)a^er ber immer roieber fx6) erneuembe 9Ser*
fud), in einer Spekulation biefe Einfügung ber SBelt in ben ^öc^ften
göttlichen ®nbjn)ed barjulegen! Unb ermutigt un§ bogu nic^t
Haut felbft, roenn er ber ^^gfifot^eologie i^ren Slbfd^lu^ in
91 e i f d^ ( e : ^ant unb bie £f)eo(ogte ber ©egenroart. 387
bcr (St^itot^cologic üerl^ci^t (ogl. bcn 2ln^ang jur „firitif ber
Urtcitefraft")? ©pri^t er boc^ fogar fclbft bic ftittc Hoffnung
Qu§, „e§ oiellcic^t bcrcinft bi§ jur ®infic^t bcr Sin^cit bc§ ganjcn
reinen 3Semunft§üermögen§ (be§ t^eoretifc^en foroo^I al§ praf=
tifc^en) bringen unb alteö au§ einem ^rinjip ableiten ju fön«
nen ; welches bag unüermeiblic^e 93ebürfni§ ber menfd)Ii(^en SJer-
nunft ift bie nur in einer ooßftänbig fqftemotifc^en (äinl^eit il^rer
(Srfenntniffe DöKige 3wf^i^benl^eit finbet" (Kr. ber pr. Vernunft
ed. Äe^rbact) ©. 110). — 2lber im t)orau§ läjst fic^ au§ Sant§
ganzer Sttrbeit entnetimen, bajs biefe ©pefulation nid)t,
mie ^cgel meinte, eine rein logifd^e ©ntmicflung ber SDBeltibee fein
fann, fonbern ein t)on SBertungen getragenes SBeltoerftänbniS,
bafefte, mit einem SBort, eine ©pef ulation be§ ®Iauben§
fein muj3. SBerfuc^e einer folc^en fmb in feiner äBeife ju oer*
bieten, wenn fic ftc^ nur Kare 9ted|enfc^aft geben über bie ^^Jro*
penienj ber ^ofitionen, non benen fie ausgeben, unb fic^ tritifc^
i^rer ®renjen bemüht bleiben. SBeibeS aber lel^rt unS fein an*
berer fo mie Kant.
3. ®ine nic^t geringe S^^^ ^^n "ißunften l^at fid) un§
ergeben, in benen bie 2:^eoIogie über Kant ^inau§ftrebt unb
in benen in ber Sat eine 3Wobififation ber Äantfdien ^^i*
lofop^ie notmenbig erfc^eint. Unb bod^! gerabe baS, n)a§ mir
jule^t befprodien, ^at un§ baran erinnert, mie ^äufig Kant
f c I b ft mit bem 9teid)tum feiner ©ebanfen, ber ju gro^ mar, um
überatt jur völligen 3wfammenftimmung gebraci)t werben ju fön*
nen, un§ g^roiffe 9Inbeutungen gibt, in melc^er SHic^tung
mir über if|n felbft ^inauSjuge^en ^ben. — Unb in einem nod)
umfaffeuberen (Sinn fönnen mir fagen: bei aller J^^i^^i^ ^^^"t
gegenüber Ratten mir unS boc^ ftetS auf feinem S3oben.
^ättc er, in ber 5lBeife be§ SlriftoteleS, ein ©t)ftem ber ®ott*
3Belt*^^ilofopt|ic entmorfen, fo müßten aud) bei it)m ben Set)ren,
in quibus magister tenetur, biejenigen gegenübergeftellt merben,
in quibus magister non tenetur. 2lber Kaut ^at bie ^l)ilofo-
p^ic auSgeftaltet jur fritifc^en Unterfuc^ung ber mefentlirfien ®eifte5=
betatigungen beS 9Jlenfc^cn, b. t|. jur mett)obifd)en Sttrbeit. Kaut
mollte nid)t eine ^l|ilofopt)ie, fonbern er moüte pt)ilofop^ieren
398 @ t e t n m a tt tt : ^ie Icbenbtge ^erfönlt(%!cit ®ottc§ ic.
werben. 3)ie geiftige ^crfönli^feit f)at i^ren ÜÄittelpuntt an biefer
ifirer Slufgabe; ba§ natürli^e Seben bagegen, au6) roo e§ alS
pf^d^ifc^eS ober im befonberen tulturperfönli^e§ gelobt roirb, ^at
feinen ÜÄittelpunft am ©elbfter^altungStriebe. ^ier fonjentriert
fid) aHe§, wenn e§ fi^ nämlic^ in ber gorm ber Ruitutperfön»
lic^fcit fonjentriert, um ein inbioibuelleg öege^ren, bort um ba§
©emu^tfein beftimmter 2lufgaben unb ?ßPi(^ten. liefen ju bicnen,
baS ift bie Slrt unb SSeife, mie fii) bie geiftige ^erfon be^ouptet.
^a nod^ mel|r, fie bel^auptet ftd^ nid^t eigentlidi fo, fonbern
fte gewinnt ftd^ fo erft felbft. Unb ba§ nun bebeutet eine weitere
SDifferenj jroifc^en natttrlid^em 3)afein unb geiftigem ^erfonen«
leben. SBä^renb ba§ natürliche 3)afein, auc^ wo eS pf^^ifc^e
$erfonIic^fcit§form beft^t ober bie no^ einl^eitli^ere %oxm ber
Rulturperfönti^feit, im roefentlic^en ein juftänblid^e§ iji^
mag e§ im einjelnen nod^ fo oiel QitU erftreben, ift ba8 Sebcn
ber geiftigen ^erfönlid^feit feiner eigenen innerften ©ubftanj nad^
ein teIeologifd)e§ ; eS i ft nid^t eigentlid^ feiner innerften ©ubftanj
nad^, fonbern e§ ro i r b. @§ ^ängt ba§ innerlic^ft mit feiner
ganjen SIrt jufammen, fofern l^ier im SÄittelpunlt eine Slufgabe
ftel^t, beren reftlofe Söfung immer Stufgabe bleibt. Unb bement^»
fpre(^enb gel^ört jur SSoHEommenl^eit be§ geiftigen ?ßerfönli(^feit§*
Ieben§ grabe auc^ ein lebtiafteS 53en)uBtfein baoon, ba^ e8 ni^t
fertig ift, fonbern fid^ nod) immer ju geroinnen fu^t. 3)arum
lägt e§ ftc^ aud) garnidt)t ate erreid^ter 3wftanb befd)reiben, fon»
bern nur ba§ lägt fid^ angeben, roa§ ju werben e§ ft^ mfi^t in
welker Sftic^tung e§ ftrebt.
2lugerbem ift ein eigentümlid)er S^aratterjug beS geiftigen
^^Jerfonlid^!eit§Ieben8 barin ju erblidfen, bag eS, auc^ ate ®e*
f a m 1 1( e i t betradtitet, im Unterfcf)ieb oom natürlid^en ©efamt«
leben in eigentümlicher Sffieife unfertig ift. S)iefe Unfertigfeit be»
fielet in ber 3^rfWftung be§ geiftigen ©efamtlcbenS. SBir meinen
bamit folgenbe§. S)a§ natürlid^e Seben wirb, >innerlidt) betrachtet,
in lauter inbioibueUer SBereinjelung gefüfirt. @§ ^anbelt fic^ l|ier
um lauter fict) felbft bel^auptenbe ©injelpuntte, jwifc^en benen etwa
gleid^e Qntercffen nur eine ganj äugerlid^e, Oefü^le ber ©pm-
patl^ie nur eine jufäüige innere S8ejiel)ung ^erftellen. ®robe fo
6 1 c i n tn a n n : ^ie lebeitbigc ^erfönlid^fcit ®otteg 2C 399
aber ift baS natürlid^c Sebcn in feiner 2lrt fertig. @§ entfpric^t
ganj unb gar feiner inneren SBef^affen^eit, ba§ e§ jt^ al8 eine
ÜÄenge roiberftrebenber Qnbiüibuen barftettt; benn i^m ift ja bie
blo§e ©elbftbel^auptung grunbmefentlic^, unb bie lebt fid) eben in
fol^cr SBeife au§. 2lnber§ ba§ geiftige 5ßerfonenleben. S)a§ geiftige
^erfonenleben wirb an jebem einzelnen ^untt gerabe nid^t auS
fold^er Sereinjetung ]^erau§ gelebt unb fann gar nitf)t fo gelebt
werben, ©ein aWittelpunft ift jeroeilen eine gefc^id^tlic^e Stuf gäbe;
e§ cntjünbet p^ an einem genteinf^aftlic^ 3Wenfd|^eitlid^en. 3)arum
ift e§ in feiner innerften SBurjel ®emeinfamfeit§Ieben. ®§ !ann
gar nic^t fein o^ne ©emeinfc^aft b. 1^. e§ wirft ftet§ gemeinf^aft«
bilbenb, ja in feiner innerften 2:enbenj ift e§ fogar gerabeju uni*
uerfal menfc^^eitlid). S^ro^bem nun ift ber SlBiberftreit im 93erei^
be§ geiftigen ^erfönUd|!eit§IebenS nid)t minber ftart, roie ber
Kampf um8 2)afein auf natürüd^em Oebiet. SWan benfe ba etma
an ben nid)t enben mollenben 3Biberftreit gmifdien grömmigfeit
unb miffenfc^aftlic^em SQ3al^rl^eit§ftreben, fittlic^er gorberung unb
äft^etif^er 2eben§Derttärung. Oemi^ ift oielcg bavon golge ber per*
f önlid)en Unfertigteit ber ©injelnen, au(^ fofem fie natürüdie Selbft*
be^auptung mit it)rem geiftigen Streben oermengen. Qu biefer Un*
fertigteit an jebem einjelnen ^unft tritt aber l^inju eine Unfertig*
feit be§ ©angen, bie in einer fc^einbar unoermeibli^en ©infeitig*
feit ber Derfd)iebenen SRic^tungen beftel^t, in meldten ba§ gefd)id)t*
lic^e ©cifteSleben fic^ entmidfelt. ©old)er 3Biberftreit mar na*
t ü r I i ^ für baS anbere Oebiet be§ 3)afein§, 1^ i e r bagegen mu|
er al^ eine Unfertigfeit bejeidinet roerben, eben wegen jener oben
gcfennjei^neten unioerfalen Senbcnj be§ geiftigen ^erfonenlebenS.
3)ann gilt aber aud) uom ©efamtbeftanbe beS geiftigen ^erfön*
Iic^feit§Ieben§, ba§ e§, im Unterfd)ieb oom ©ebiet be§ 9latürlic^en,
feinen fertigen 3iift^"b barfteüt, fonbern feiner innerften ©ubftanj
nad) ein 5B3erbenbe§ ift. —
Qn welcher SBeife nun finbet biefer ^x(i)alt be§ menf^Uc^*
geiftigen ^erfonenIeben§ eine Stnmenbung auf ®ott? 2Iuf ber
©tufe be§ ^ßotr)tt)ei§muS unb S)ämoni§mu§ bedfte [\ä) bie religiöfe
SBorftettung oon ben ©öttern in^altlid) im roefentli(^en mit ber
pfgc^if^en ^erfönlid)feit§art ber betreffenben ©tufe; e§ waren
400 S t e i n m a n n : ^ie lebenbige ^erfönlic^feit ©otteS 2C.
nur einige SDlerfmale l^injugefügt, bie nic^t eine eigcntlid)e 2)urc^'
bred^ung biefer SBorftellung bebeuteten, oielnte^r nur eine geroiffc
„aSergrö^erung" ber 2lnfc^auung mit f\ä) brad)ten. 3[ft (Sott ate
geiftige ^erfon in ber nämlichen, SBeife bem geiftigen ^erfonen«
leben beS ÜJlenfc^en in^altlid^ ibentifd^, unb xoxü [eine Sejeic^nung
al§ geiftiger ^erfon tbtn ba§ jum SluSbruct binngen, fo ba^ man
and) \)kx ben perfönlid^en ®ott mit SRec^t einen vergrößerten
3)lenfci^en nennen fönnte? S)ie 9Intmort auf biefe ^Jrage fann nur
oerneinenb lauten. ®ott ift nic^t in bemfelbcn ©inne geiftige
^erfon, mie bie Oottl^eiten beS ?ßoIgt^ci§mu§ pfgc^ifc^e $erfonen
fmb. ©Ott ift geiftige ^erfon, ba§ bebeutet nic^t: er ift ein
SSSefen oon genau berfelben SebenSform wie bie SWcnf^cn. 2)urc^
bie 93ejeici^nung ®otte§ al8 geiftige ^ßerfon wirb oielmel^r eine
anber^artige ^ejiel^ung jmifc^en @ott unb bem geiftigen ^erfonen«
leben jum Slu^brucf gebrad^t, nid)t eigentlich eine formale ^ben«
tität beS ©öttlic^en unb SJlenfc^Iid^en, fonbem ein urfdd|Ii(^e§
aSer^ältniS. Qmmer^in aber umf^Iiegt biefe§ urfäc^li^e ffier^ält*
ni§ @otteS jum menfc^Iidien ®eifte§(eben, menn au^ nidjt eine
begriffliche ^bentität, fo boc^ ben ©ebanfen einer gemiffen quali»
tatioen ©lei^roertigfeit beS betreffenben menf^lic^en unb be§ gött«
Iict)en Seben§. ^ül^ren mir ba§ foeben älngebeutete meiter aus!
3unäcl^ft alfo ^anbelt e§ ftd^ ^ier ni^t barum, bag oon ®ott
bireft bie betreffenbe menfc^lic^e 2)afein§form au8gefagt roürbe^
mie eS bei 2lnmenbung beS pfr)c^ifd)cn ^erfönlid^teitgbegriffe^
auf bie göttlichen 2ßäc^te beS ^olgt^eiSmuS ber ^^aD ift. .^ier
!ann eS fic^ aud| gar nid)t barum l^anbeln. 2>a$ geiftige ^er«
fonenteben beS aWenfc^en ift nic^t oon ber 2lrt, ba| eS eine
folc^e birefte 3Inmenbung auf @ott 5ulie|e. SOIan märbe ja bann
auf ®ott bie biefem menfc^Iic^en ^erfönlic^feitSleben na^ feiner
eigenen ©elbftbeurteilung ro e f e n 1 1 i d) eignenbe Unabgefd^loffen=
t)eit mit übertragen muffen, jenen S^aratter beS 9licl)tfertigfein6,
fonbem immer nur S33erben§. 2llfo bie ganje niemals juftänb»
lic^e, fonbern ftet§ teleologifc^e Slrt be§ geiftigen ^erfonenlebenS
©erbietet fol^e birefte Uebertragung feiner ©runbjüge auf ®ott.
S)arum, menn @ott j. S. bie geiftigen S^arafterjüge ber ffiabr«
^aftigfeit, ^eiligteit unb ®erect)tigtcit beigelegt werben, fo roiü
@teinmann: ^ie (ebenbige $erfönli(!)!ett ®otte§ 2C. 401
ba^ jebenfatl^ ni^t fagen, ba^ er tDal^r^aftig, Ifeilig unb gerecht
fei irgenbirie in ber 9lvt wie wir e§ finb, bie roir ba§ atle§ im^^
mer nur me^r nnb mef|r annätiernb werben.
SRun ^anbelt e§ ftd^ ja aber bei ber ©rfaffung ber polg*
t^eiftifc^en ®ottt)eiten aU pfgi^ifdier ^erfönlic^feiten au^ nic^t um
eine bIo|e Uebertragung, fonbem jugteic^ oft genug um eine ge*
roiffe (Steigerung ber menfcl)Ud)en ßeben§form bei if)rer Slnroen*
bung auf bie ©ötter. @ntt)ä(t DieQeic^t ber ©laube an @ott al§
geiftige ^erfönlid|feit aud) eine fold)e ftcigernbe Uebertragung?
3)a§ roäre bann etroa in ber SQBeife ju beufen, ba^ aüe§, n)a§
oom menfc^Iic^en ^erfönlic^teit^leben beftänbig al§ Qid erftrebt
mirb, ®ott aU uottenbet gebad)te ©igenfc^aft beigelegt würbe.
9luc^ bie§ aber trifft nic^t ju. @§ ift pielmel^r ganj unmöglicl),
irgenb einen 3^9 ^^^ roerbenben menfdilic^en "»^erfönlidifeitglebeng,
auc^ menn berfelbe al§ ooKenbet gebad)t ift, bireft üon @ott
auSjufagen al§ einen inneren ©^aratterjug feine§ göttlichen ?ßer*
fönlic^teit§leben§. ®enn gefegt einmal, wir fönnten un§ Don
geiftigem ^erfönlicl)!eit§leben menfd^tic^er 3lrt al§ einem abge*
f^loffenen unb in fid) ootlenbeten überhaupt eine SBorftetlung ma«
c^en, fo mürbe biefc SBorftellung boc^ jebenfallg bie ^izz be§ ®e*
roorbenfeinS, eineS langen jurücf gelegten 9Bege§ unb überftanbener
kämpfe in fid^ enttjalten muffen, foHte fie für un§ überhaupt noc^
porftellbar fein. 3Jlan fu^e fi^ nur einmal einen roirflid^ üoll*
cnbeten fittlii^en ®f)araftcr ober einen burd) unb burd) miffen*
fd)aftlid) matir^aftigen ober äft^etifc^ bercid)erten unb oerebelten
9Äenfd)en oI)ne ba§ ©emorbenfein ju bcnfen, alfo mit 9Beglaffung
all be§ 2Btberfianbe§ unb ®egenfa^e§, moran fid) feine Äraft er^
probt ^at! SBon alle bem mu$ nun aber gerabc abftrat)iert mer«
ben, menn jene SSorfteHung oollenbeten geiftig perfönlid)en 2)afein§
auf ©Ott i^re 3lnmenbung foll finben föunen. @r ift eben bod|
nid|t ei-ft ^erfönlic^teit geworben.
®a§ bie religiöfe Ueberjeugung oon ©ott al§ einer geiftigen
^erföntic^feit nid)t eine unb fei e§ au^ fie fteigernbe SJlnroenbung
ber 3^9^ ^^^ menfdjlic^en ^cvfönlic^feit§leben^ auf ©ott bebeutet
ober bebeuten fann, biefer ©infic^t erroäd)ft nod) eine QSefeftigung^
wenn mir ©ott mirt(id) ju allem merbenben geiftigen ^erfön«
402 ©teinmann: %xt (ebenbige $erfonIid^f ett ®otteiS it.
lic^feitöteben b. ^. jum ©anjen beS gefc^ic^tlic^en ®etfte§(eben§
in religtöfe SSejie^ung glauben fe^en ju bürfen. 98ie n)ir un3
fc^on a\x^i\>xaä)e\\, roirb biefe§ ©anje ixoax sufammenge^alten burc^
ben c^arafterifttfc^en gemeinfamen 3^9 ber überjeugung^ooUen,
felbft(o[en ^inroenbung jum 2)ienft einer gefc^ic^tlic^en ätufgabe,
ift babet aber in feiner empirifi^en @r[^einung reic^ an inneren
®egenfäf(en unb SBiberfpruc^en. Unb nun oerfuc^e man einmal,
bie ©runbgüge biefeS un§ gefc^idjtlic^ befannten, innerlich bis ju
©egenfä^en bifferenjierten @efamtperfonlic^{eit§(eben§ auf @ott
anjuroenben als @runbjüge feineS ^erfönlic^feitSlebenS. (SS ift
fc^led)t^in unmöglich. @ntn)eber n)ir uolljie^en biefe ätnmenbung
b i r e f t ; bann müßten mir auf @ott aUeS mögliche oon inneren
(Btrebungen jufammentragen, xüa^ ft^ mol^l in einer gemeinfamen
©runbtenbenj jufammenfinbct, in ber 2luSmirfung aber meit auS-
einanber ge^t. 2)aS {)iege aber @ott in bie SCßirrniffe beS nod)
unfertigen unb barum in fic^ entjmeiten, merbenben ©eifteSlebenS
l)inabjte^en. Ober mir fu^en bei ber Slnmenbung auf ®ott bie»
feS geiftige @efamt(eben auS ber Unoollenbung in bie SSoQenbung
ju ftcigern, unb bann müßten mir unS ein ©eifteSleben ausbeuten,
baS all bie fid^ annod^ miberftrebenben 2^enbenjen beS geiftigen
iSebenS als eine miberfpruc^Slofe @in^eit umfaßt, eine Slnfc^auung,
bie mir gar nic^t uolljiel^en tonnen.
©0 ergibt fic^ unS auf jebe äBeife, bafe bie SBejeic^nung
©otteS als geiftiger ^erfönlic^teit nic^t als eine, fei eS birefte,
fei eS fteigernbe 2lnmenbung ber ©runbjüge beS menfdjUc^en
©eifteSlebenS auf i\)\\ gemeint fein tann. 9Kc^t nur alfo bebeutet
^^erfönli^teit im g e i ft i g e n ©inn etmaS ganj anbereS, als ber
SBegriff „pf^d^if^c ^erfönlic^fcit" auSbrücft ; eS l^at au^erbem mit
ber 2lnmcnbuhg bicfeS 93egriffeS auf @ott aud) eine ganj anbere
93emanbtniS als mit ber ©rfaffung ber göttlid^en 3Wäd^te nacj^
bem 95ilbe pfr)d^ifc^=perfönlic^en 2)afeinS. 2)ie SBenbung: ®ott,
als ^^Serfönlid)feit gefaxt, fei einfad) ein vergrößerter 9Kenfc^, bort
ganj angebra^t, ift barum l^ier nid|t am ?ßla^e.
SBaS fonft meint benn aber bie ©ejei^nung ®otteS als ^er*
fönli^teit im geiftigen ©innc, menn ni(i)i biefeS barunter oerftan*
ben werben tann, maS ficf| in 2lnalogie mit ber pfgd^ifc^en ^]ßer*
@ t e i n m a n n: ^ie Ubenbige ^erfönlic^feit ©otteS zc. 403
fönlid^feitöfaffung @otteS am meiften no^elegt? 98ir fagten es:
oben fd)on: in ber ^ejei^nung @otteS qI§ geiftige $erfönlid)feit
finbet eine eigentümlid)e u v f ä (^ I i c^ e Seiie^ung @otte§ jum
gciftigen ^erfonenfeben ber SWenfd^^eit i^ren Slu^brucf. 3)a§ gilt
e§ je^t nä^er auszuführen.
SSo geiftigeS 5ßerfönlic^feit§Ieben unter bem St\6)^n ber gröm*
migfeit fielet, ba ift e§ getragen t)on ber Ueberjeugung, oon ®ott
geforbert ju fein. S)a§ ift aber eine 2lrt urfäc^lic^er 93eiief)ung
,@otte§ JU biefem ^erfönlic^teitSleben. 95efouber§ innig geftaltet
fic^ biefe§ urfäc^lic^e aScr^ältniS für ben djriftlic^en ©lauben.
Unfre d^riftlidje Ueberjeugung ift xooi^l and), bap @ott geiftige§
^erfonenleben forbert. 2lber er forbert e§ nidit nur, er wirft es
auc^ felbft. 5iur burd) feine SQSirfung ift e§ übertiaupt in§ 3)a*
fein getreten unb tritt beftänbig nur burc^ feine SBBirfung in§ ®a*
fein, mo immer e§ im einjelnen ^^üe jum 3)afein !ommt, SltleS
fic^ @mporringen geiftigen Seben§ erfd)eint ^ier ni^t aU eine
oereinjelte nur inbipibueUe 53emü^ung an einem Dereinjeltcn 5ßunfte
ober in feiner ©efamt^eit at§ eine nur menfc^Ud^e 33emüt|ung,
fonbern e§ ift eine SBirfung ber eine ganje aOSelt foldien SebenS
überall forbernben unb roirfehben ©ott^cit. ®arum eben rul^t all
ba§ Streben unb Kämpfen ber im äBerben befinblic^en geiftigen
'ißerfonen, einer Ueberma^t oon äBiberftanb unb ber SRiefengrö^e
ber Slufgabe jum 2:ro^, auf ^^Ifengrunb ; bie SKad^t, welche eine
aWac^t über aüe SBelt ift, befinbet ftd) ja ^ier am SQäerte. Unb
baS eben ift ber @inn beS @laubenS an ©ott al§ eine geiftige
5ßerfönlid^feit, biefe 3wtüdffü^rung alleS geiftigen ^erfonlic^feitS-
lebend auf i^n unb biefe SRu^e ber einjelnen roerbenben ^erfön*
lic^feiten in feinem allmächtigen ©nabenmißen.
3l^rc parallele auf ber (Stufe be§ ^olpt^eiSmuS ^at biefe
urfäc^licl)e Sejie^ung ©otte§ jum menfc^lic^en ^erfönlic^feitsleben
nid)t in ber pfpc^ifc^en ^erfönlic^feit eineS 3^^*^/ Snbra ober
SWarbuf. aSielme^r ift ^ier ju beuten an bie religiöfe 93ejie^ung
jener ®ottf)eiten ju ben ©ütern unb ^flic^ten be§ ftaatUc^eu unb
tulturellen 2eben§. SWarbut al§ SBolföfönig, 3eu§ Spxtos, 2lt^ena
al8 SBei§^eit§göttin unb ä^nli^e§, nict|t bie ant^ropomorp^iftifd)en
Rulturperfönlidifeiten biefer ©ott^eiten finb al§ bie Sßorftufen ber
404 ©teinmann: 5)ic lebcnbigc $erfonltd^!ett ®otteS jc
@etftperfönlic^fett ©otteS gu betrachten. @S ba^nt ft^ ja auc^
grabe in biefer rcligiöfen ^fnbejiel^ungfe^ung bcr göttli^en SWäc^te
gum fulturcllen Seben jene innere SBergeiftigung berfelben an, bie
fic^ fc^on bort anf^icft, bte formen be§ pfgc^ifc^en ?ßerfonen«
Ieben§ roirKic^ ju burdibred^en, n)a§ ^ier aber nid)t weiter oer*
folgt werben foH.
®iefe urfäc^lidie Sejie^ung @otte§ jum geiftigen ?ßerfonen*
leben f^Iie^t nun aber für ben religiöfen ©tauben boc^ auc^ eine
geroiffe inl^altlic^c 33eftimmtt|eit be§ götttidjen SBefenS in fi4
2le^ntic^e§ finbet ftd) ja fc^on bort, loo bie ©ott^eit afö ©arantin
äußerer Kulturgüter oerel^rt wirb, ^[e mel^r nun aber ba§jenige
innerlid^ gefaxt wirb, xoa^ in ber gottli^en gorberung begrünbet
ift, um fo metir erfc^eint bie göttUd^e g^orberung ate bcr 2lu§bru(f
eine§ entfpre^enben inneren SBefen§ ber ©ott^eit. U n f c r
©taube nun rebet ni(^t nur oon göttlidien gorberungen inner*
lic^fter 2lrt; t)ier fte^t oietmel^r bie 3^bee ber ©otteggemcinf^aft
im 3^ttt^wnt. darunter ift ju nerfte^en nic^t nur eine SBec^fef*
bejieliung ganj dunerer 2lrt oon SBertrauen unb ^ilfe, auc^ nic^t
nur bie t)iel innerlichere üon ^^tberung unb ©e^orfam. ©onbem
bar in befte^t bie ©otte§gemeinfct)aft; baj3 ©ott at§ SBeroirter beS
geiftigen ßeben§ einen 9lft ber ©elbftmitteilung Dottjie^t. Ober
aucfi : ©Ott f orbert oon un§ ein ^ineinroac^fen in fein Sebcn, unb
ba§ eben ift unfer loerbenbeö ^erfonenleben.
2)a§ fd^eint nun aber boct) roieber auf bie Strt 9tu8fagen
über ©otte§ perfönlict)e§ S)afein ^inauöjulaufen, wie mir fie oben
glaubten ablehnen ju muffen, ^oä) e§ f cl) e i n t roirüic^ nur fo.
3Ba§ mir bort ablef)nten, mar eine birette 2lnmenbung bcr Six%t
be§ merbenben ober anä) im Qbeal feiner SBoUcnbung gebeerten
menfcf)licl|eu $erfönlicl|teit§leben§ auf ©ott. 3)a§ bleibt aber auc^
^ier au§gefd)loffen. Unb jmar eben ber Umftanb fc^lic^t ^ier
bergleicf)en oon oornetjcrein au§, ba§ ©ott ber unerfc^öpflic^ reiche
Söirfer unb SDlitteiler folc^en fiebenS ift unb eben bamit feiner
ganjen 2lrt na^ über all biefe§ oon i^m gcmirfte Seben ^inauS«
liegt. Unb all bie innere ©emeinfc^aft, bie mir bei unfercm in*
neren geiftigen SCBac^^tum an feiner 2lrt geminnen bürfen, ift ja
boc^ gemi| nic^t gemeint al§ ein mirElicl)eS SBoHauSfoften feinet
©teinmann: ^te lebenbige $erf5nltc^!eit ®ott^ ic 405
götttidicn ®cifte§le6cn§, fonbern als ein tci(nel^mcnbc§ hinein*
iDQcfifen gteid)fam nur in bie Ste^nti^feit feines iBilbeS. ^troaS
©ntfpredöenbeS gilt \a f^on t)on bem S^rifto ©leic^geftattctroer*
ben bcS El^riften. 9lud) baS ift ja niemalen ein roirflic^eS @r«
reid(en, fonbern immer nur ein annä^ernbeS 3le^nlid)n)erben ; eS
ift and) n\6)t eine 2lnnal|erung an ein in ber 2:^eoric erreichbares
ibealeS SSorbilb^), fonbern eS bleibt fd^on t|ier eine geioiffe 3lrt*
bifferenj beS inneren SebenS befielen, mie fie j. 93. ©cf)felcrmad)er
in feiner ©laubenSlelire begrifflid^ ju faffen oerfuc^t. Qn weit
gcfteigertem SWa^e gilt baS oon jenem 2lnteilne^men an ©ottcS
Seben ober ber 3Dlitteilung feines SebenS an unS, wie eS fic^ in
unferm ^erfönlid)teitmerben ootljie^t. ®S tommt ja ^ier nod^
biejenige roirHicIie Slrtgleid^l^eit in SBegfaH, mie fie ben menfd^*
liefen (ärlöfer mit ben ©rlöften oerbinbct, fofern fie beibe jeneS
&^btn als mitgeteiltes befi^en.
SQSenn mir bemnac^ auf ®runb ber Ueberjeugung, ba^ unfer
OeifteSleben unS auS OotteS SebcnSfülle mitgeteilt ift, Oott gei«
ftige ^erfonlic^feit nennen, fo fann baS atfo ni^t bebeuten, ba§
n)ir nun bod^ mieber ben Qn^alt unfereS geiftigen ©afeinS, baS*
felbe oottenbet gebad)t, oon Oott auSfagen rooHten. (Sonbern baS
roiU eS bebeuten: mir fud^en unS mittelft fold^er 93eieic^nung
©otteS oon feiner überfc^manglic^en SebcnSfülle in ber SR i d)*
t u n g unfereS fid) ooüenbenben geiftigen ^erfönli^feitSlebenS eine
ungefähre SBorftellung ju machen. —
®aS eben ©efagte nun füt)rt unS einen ©d^ritt weiter in
unfern Darlegungen, ^anbelte eS ftrf) im biSlierigen um bie
gans mefentlii^e in^altlidie SSerfd^iebenl^eit jroifdien ber SSorfteUung
@otteS als pfgc^if^er ^^ßerfönlic^feit unb ber -S^ee ber geiftigen
^^ßerfönli^feit ©otteS, fo fte^en mir je^t unmittelbar üor ber
grage nac^ bem met^obifc^en Untcrfc^ieb jmifdtien ber mp*
t^ologifterenben unb ber geiftigen 3)en!meife über @ott.
1) 2»ir toia Meinen, bicfe burc^au« nnäutrcffenbe SBorftcHung faun ftc^
immer nnr bort cinfteßen, tüo ber ßangc ®rnft unb bie ßange $ö^c unb ba*
mit and) bie gange @d)tt)erc ber reltgiöfcn Sßflic^t no* md)t aufgegaiiflen ift.
®8 ^anbelt pd) ^ier fc^merlid) nur um eine ijrage be« j^iftorifc^en SBerftönb*
niffeS ber ^erfon 3efu.
SeitWrift für «^«logte unb Älrc^e. W, ^afiVQ., 6. $eft. 28
406 @tetnmann:S)ic lebenbige ^crf önlid^fcit ®ottcS k.
SDer mr)tt)oIogiftcrcnben 3)cnfir)eifc galt bQ§ plaftifc^e ant^ro^
pomorp^ificrenbc 58Ub ber ©ott^citcn qI§ eine toivfiidie 53efc^rei*
bung tt)re§ realen S)afein§. ®ie ®ötter ftnb, wk oon if)nen ge*
rebet wirb, ©rabe mittelft biefer 93efc^reibung erfoffen mix fie
in il)rem eigentlichen ©ein. 2)er ©faube an ©otte^ g^tftige ?ßer»
fönlic^fett bebient fi^ bei feinen 2lu§fogen über ©ott ganj ä^n*
Kd^ Mingenber 3Benbungen. ®od) ift l^ier ein me^r ober weniger
beutlid^eS 83en)u^t[ein bafür oor^anben, ba^ aüc foldje 3lu8fagen
nid^t eigentlich, fonbern „frimbolifc^" gemeint fmb unb barum nic^t
einer eigentlid^en ©efc^reibung ©otte§ gleid^fommen. Unb biefe§
93en)uJ5tfein für ben „fgmbolifc^en" ©^arafter alter 2lu§fagen über
©otteg 3)afein wirb um fo tiarer, je lebenbiger bie Unüergleicl)*
barfeit ©ottcä mit allem SWenfc^licIjen empfunben roirb. 3)ic leb-
hafte ©mpfinbung l^ierfür rodc^ft aber ganj bireft au§ ber reli^
giöfen ©rfal^rung l^erauS, bie mit ber ©rfaffung ©otte§ alö gci-
ftiger ^erfönlic^feit jufammen^ängt. SBo^l trägt auc^ bie genauere
©rf enntni§ ber SBelt baS irrige baju bei, ba§ ©ott für unfere 5Bor*
ftellung über alle menfc^tid^en SWa^e ^inau§roä^ft. 2)er ©infiuB
biefeS göftor^, grabe aud) für ba8 religiöfe JBerou^tfein unferer
3eit, foll geroig nid^t üertannt werben. 9Bir braucf)en un8 aber
auf ben ©treit über 5Red^t ober Unrecf|t biefeS ©influffeS ^ier
garni^t einjulaffen. 3)enn aud^ bie Sieligton ganj bei fic^ felbfl
entroidfelt fiel) in berfelben SRic^tung auf eine immer ftärferc Sc«
tonung be§ ©el^eimniSoollen in ©ott, ba§ fic^ allem 93cgreifen
nac^ menfd^lic^en SJlagftäben entjie^t. @§ ift ba§ eine genuin
religiöfe 3)entroeife. 9Bie grabe ein immer ooöenbetere^ unb tie*
fereg hineinleben in ba§ oon ©ott geroirtte geiftige fieben in bie=
fer Stiftung roirfen mug, ba§ eben mar e§ hoi), roa§ roir un§
foeben oergegenroärtigt l^aben. Unb roenn mir baoon rebeten,
bag alle 2lu§fagen über ©ott als ben fjorberer unb 3Äitteilcr
alle§ geiftigen fiebenS au§ bem Sfnn^tn feiner eigenen Seben§fülle
aSerfuc^e fmb, biefe g6ttlid)e SebenSfüHe in ber $Hid)tung
be§ fxd) ooHenbenben menfc^li^en ^erfönlidt|feit§leben§ oorfteüig
ju mact)en, fo \)k^ ba§ bod^ ni(i)t§ anber§, al§ ha% alle biefe 9lu§»
fagen über ©ott nii^t eigentlich, fonbern „fpmbolifc^" gemeint fmb.
93on biefer „frimbolifc^cn" 2Irt ift j. 93. bie Uebertragung
@teinmann: ^ie lebenbige $erfönlt4)!ett ©otteS 2C. 407
bct :3bcc cine§ geredeten SRid^terS auf ben geiftpcrfönli^cn @ott.
SEBcnn auf bcm ©tanbpunft ber mgt^ologifiercnben ©cnfipeifc biefc
SSorftettung auf ®ott angeiüenbct mixt), fo gilt ba§ bort al§ eine
ipirfli^e ©ein§au§fage über @ott unb fein 2:un. Sßon @otte§
inneren ®ntfdt)Iie|ungen fdieint burc^ folc^e SluSfage ein ganj gu«
treffenbe§ 93ilb gewonnen, foraie aud| von ber Slrt, roie er feine
®ntf(i^lüffe au§fü^rt. ®§ ift bei @ott in beiben ^infi^ten genau
fo wie bei einem geredeten SRic^ter. ©elbft ein @efe^bud|, ein
SRic^terftu^I unb allerlei greifbarer ©trafoolljug gehören ^ier ei*
gentli^ mit baju. Slnberö, n)0 (Sott im 3iifoJ^n^^"^öng mit bem
geiftigen ^^erfonenleben al§ gerechter SRic^ter bejeid^net mirb. S)a§
ift bann nic^t al§ eine mirflid^e (5ein§au§fage über @ott gemeint,
al§ ob er mirtlic^ etroa§ 9le^nlid^e§ an innerer 93efd()affen^eit märe,
wie ein ibealer menf^Iid^er 9lid)ter. ©onbern l^ier mirb baburc^
jum 9lu§brudt gebraut, mie alle Sntfd^eibung, unb jmar eine fe^r
crnfte unb wahrhaftige, ba§ 3"«^^*« be§ SWenfd^en treffenbe ®nt=
fc^eibung dou @ott allein abfängt. Unb biefeS fein SSer^ältni^
ju un§ mirb nun in ber SRic^tung begjenigen oorgeftellt, mag
un§ in ben menfi^lic^en 38erl)ältniffen 2lnaloge§ oon benfbarfter
JßoHEommen^eit gegeben ift. 3)a§ ^eij3t aber, bie 93ejcid)nung
@otte§ al§ gerediter Slid^ter ift nid^t mpt^ologifterenb, fonbern
,,fijmbolif^" gemeint.
@o ift e§ auc^, menn mir oon ©otteS „Soxn** reben. ®anj
fidtjer foll bamit oon ®ott nid)t ber un§ befannte menf^lid^e 9tffeft
bireft au^gefagt merben. ©benforoenig, menn mir un§ ber aQ3en=
bung bebienen: „®ott f)a^t bie ©ünbe". 3)a§ fo ganj mörtlid)
nel)men, ba§ märe bie 2Irt ber mgt^otogifierenben 3)enfmeife.
©onbern au^ t|ier ^anbelt e§ fx6) um einen 9lu§brucE für ben
bitteren ©ruft be§ oon ©ott gemirften geiftigen fieben§, ba§ fein
Mattieren tennt unb auf ©ntf^eibung bringt. Unb barum fuc^en
Toir un§ ©otte§ 9Befen in ber Slii^tung beSjenigen oorftcHig
äu madien, xoa^ un§ oon SKeu^erungen au^gereiftefter ©ntf^ieben*
^cit be§ ©eiftigen befannt ift. Ober follte e§ mirttic^ bie SReinung
fein, ©Ott burdt) Beilegung fol^er ^räbifate in bie inneren 3or'
neSaufmatlungen unfereS roerbenben ©eifte§leben§ Iierabjujie^en,
benen fo üiel affettooUe §ärte antiaftet unb bie mit fo oiel realem
28*
408 <^teinmann: ^te Ubenbige $erfönUc^!eit (^otte^ :&
©^mcrjgefül^t oerbunben ftnb?
Qa felbft bcr 58erfuc^, glcid)fam bcn 3fnbcgriff bc3 geiftigen
SDSefcn^ OottcS burc^ ba§ SBort „ßicbc" ju erfaffcn, ucrlcugnct
nid)t bicfcn „fgmbolifc^cn" S^arafter, ®anj unroillfürlid^ fügen
wxx ^icr bet Siebe ba^ ^räbifat „fittlic^" ^inju, um baburt^
beutUc^ }um ^u§brudt ju bringen, n)ie ba^ menfc^Iidi ©egebene
}ur öejeic^nung göttlicher SRegung oerfagt. Qfft i>o^ mit biefer
ftttlid)en Siebe ®otte^ nic^t nur bie unS n)ot|( menf^Ii^ befannte
„üerfittlic^te Siebe" gemeint. 2lber auc^ nid)t etwa nur ba^ Don
aDem roerbenben ©eifte^Ieben unabtrennbare 9Witteilung§ftreben,
haS fid) ia aud) „fttt(id)e Siebe" nennen lägt, foQ in ber un§
menfd^Iic^ bekannten SBeife, freilid) auf« ^öc^fte geftcigert, als
eine innere Siegung in ®ott miebergefunben werben, ©onbem
er i[t ja ber erliabene Urheber unb SWitteiler aKe« biefeS gciftigen
Seben^ mitfamt feinem SKitteilungäbebürfniS unb feiner SKittei»
Iung8pfli(i)t, auc^ mit all feinem ©Iflrf unb feinem @rnft. 3)aS
©eiftesileben, uou bem all biefeS ^erftammt, baS ift me^v al§ aQe
uns befannte ftttlid^e Siebe, mag eS auc^ in ber 9tict|tung beS
SBoHfommenften, waS mir bapon fennen, gefugt werben. 3)arum
ftammelt felbft baS 958ort „ftttlic^e Siebe" oon ®ott in ber ©pra^e
ber retigiöfen ©gmbolif.
@S fei tytx nun enblic^ no^ auf eine ^ennjeic^uung beS
geiftigen äBefenS ®otteS ^ingemiefen, bie mo^l am beutlic^ften
jeigt, mie eS fic^ ^ier überall nic^t um roirftic^e SSefc^reibung,
fonbern um ^'"fl^^i^ifl^ ^anbelt. ®ott ift in feinem innerften
SBefen „^eilig". ®urd) feine ©ejcic^nung al8 „^eilige Siebe"
fu^en mir mot)l nod) }u überbieten, maS mir mit ^ilfe beS Slit^*
tung meifenben SBorteS „fittlic^e Siebe" pon i^m auSjufagen per«
fuc^en. 3)ieS 9Bort „^eiligfeit" fübrt unS nun fc^einbar über
alle ©^mbolif t)inauS. 2lber meldjen Qn\)alt fyxt biefeS SBort?
3[ft eS nic^t felbft ein grogeS ©qmbol eben für baS fpejifif(^
®öttlic^e an ®otte§ geiftigem ^erfonfein? ®egenüber allen SBer«
fu^en, bei einem einzelnen ©rimbol fte^en ju bleiben, als bringe eS
uns mel^r als nur eine beftimmte Slngabe ber 3Begrid|tung unferer
SBorfteQung pon ®otteS ^erfonenleben, fte^t ba nic^t biefeS ©ort
„^eilig" por unferen 3lugen mie ein 2Begmeifer, ber unS uner^
<Steinmann: ^ie (ebenbige $erfönli(i^!ett (^otteg 2c. 409
bittlid) immer micbcr über alle biefe SBenbungen ^inauSmeift ?
©0 ^anbelt eS fi^ olfo ^ier bei allen etttielnen 9lu§fagen aber
©otteS 9eiftperfönlid)e 2lrt nirgenb^ um eine mtit^ologifierenbe
bire!te SSefd^reibung feines innerften SEBefenS, fonbern ftetS nur
um fgmbolifd^e ®rfcnntni§. — 3)amit l^ängt ein SOBeitereS ju*
fammen. @S wirb l^ier au^ ntc^t irgenbmie ein abgefc^loffene§
©itb uon ©otteä geiftigem ©ein erftrebt. derartige abgefd)loffene
©ebilbe jtnb bie Rulturperfönlid^feiten ber l^öc^ftentroidelten mt|*
t^ologifterenben 3)enln)ei[e; fo in fid) gefd)loffen fmb biefe @e^
palten jum 2:eil, ba§ mir fie gerabeju uor un§ fe^en fönnen.
SBo eS fic^ bagegen um lauter „fgmbolifdje" 2lu8fagen Iianbelt,
bie me^r in einer beftimmten SWic^tung weifen, als ba§ fte un§
beftimmt umgrenjte S)etail§ in bie ^anb gäben, ba la^t fic^ ein
abgefd^loffeneS, bem Original entfprec^enbeS 93ilb nid)t entwerfen.
Unb wenn ein frommes ©mpfinben jeber SBerfuc^, ®otteS geiftige
^erfönli^feit gteid^fam p^otograp^ifd^ nad)jubilben, als etmaS
UnfrommeS anmutet, fo ift baS eben eine burdiauS berechtigte
Sleattion gegen einen JRücffall in mt)t^ologifierenbe 2lrt.
9Bir Wnnen an biefer ©teile eine turje Slbfd^meifung nid)t
umgel)en. ^n bem bisher 2lu8gefü^rten beutet fid^ f^on an, maS
unfere 2lnjtd)t ift über bie rid)tige 2lrt, ©laubenSauSfagen über bie
geiftige $erfönlid)feit ®otteS ju bilben. 3)a legt fi(^ fd)on l|ier
loenigftenS ein abgrenjenber ©eitenblid auf biejenige 9MetI)obe
ber ®laubenStet|re na^e, bie mir als bie altbogmatifc^e bejeid^nen
motten. ®ort bominiert unfereS ®radE)tenS bie mpt^ologifierenbe
S)entmeife. ^nl^altlic^ biffcriercn fie ja freilid) ganj bebeutenb,
bie plaftifd) anfc^aulid^e Sorftellung üom o(r)mpifd)en Q^n^ unb
bie substantia spiritualis infinita ber alten ®ogm^tit. 2lber bie
2:enbenj bei ber ©rfaffung beS ©öttlic^en ift bod^ in einer roefent*
Kd)en ^infid|t bie nämliche. ®otteS eigentümlid^eS ®afein bei
fic^ felbft foU beibemal in abfc^lie^enber 9Beife erfaßt merben;
nur befc^reibt eS baS einemal bie geftaltenbe ^^antafte, baS an<
beremal ber jergliebernbe SBerftanb. 3)arum ift baS 9lefultat in
bem einen "^aü, ein beutlid^ umriffeneS 53ilb beS göttlid)en 3)afeinS,
baS anberemal ein flarer 95egriff. 2lud) bie genauere Darlegung
biefeS göttlichen S)afeinS erfolgt ja nic()t in ganj übereinftimmen*
410 Stein mann: ^ie lebenbige $erfönUc^!ett @otte§ }c
ber äBetfe. ^ier eine anfc^auUc^e ^efc^reibung be§ mächtigen«
lorfenumroaßten ^auptc§ — e§ ftnb fc^roarje Sorfen — mit
bcn föniglic^en 3^8^^ ^^^ ^^^ ©eroäl^rung nirfenben Sraue;
bort eine betaiQierte unb möglid)ft erfc^öpfenbe 9lufjä^Iung oUer
3Befen§eigenfd^aften jener substantia spiritualis infinita, aKe§
genau befiniert, bebujiert unb ttaffifijiert. @ö ift aber boc^ in
bcibcn gätten roieber biefelbe S^enbenj, jene SBirKid^teit in t^rem
Oefamtbcftanb ju bef^reibcn, man bebient fic^ babei nur oerfc^ie»
bener SWittet. — @§ ift ^icr nun aber nic^t nur an biefe ®otte§*
befc^reibungen ber altort^oboyen 3)ogmatif ju benfen. IBielme^r
überaß, mo fxä) in einer @Iauben§Ic^re eine ebenfo genaue 3)ar»
legung beiS göttlichen 2Befen§ in ad feinen @igenfd)aften finbet, unb
operiere fte au^ mit ganj anberen, mit geiftigeren 33egriffen, ba
ift eg im @runbe immer biefelbe @ac^e. SDag man ein fo fc^ön
abgefd^IoffeneS unb infofern befriebigenbe^ ©egripbilb oon @otte§
geiftiger ^erfönlii^feit ju erhalten fuc^t, ba§ eben ift unfere§ (Sx*
achtens ba§ 9nange((|afte unb eine 3lu§n)irtung be§ mqt^ologi*
fc^en Sauerteige^. @§ I|at für ba§ entmidfeltere fromme ®efü^t
immer etma§ $einlid^e§, menn ein ®ogmatiter in ®otte§ geifi«
perfönlidiem SOBefen fo genau öefd^eib §u miffen oorgibt roie in
feiner SBeftentafc^e.
Slber ein Sinmurf liegt na^e. ®ott foQ und boc^ ba§ ®e«
miffefte oom Oemiffen fein; mir muffen i^n barum mirflici^ föfl^n
unb greifen fflnnen. S3ei jener fgmbolifd)en ^Bebeutung aller 2lu§*
fagen über (Sott jerflie^t aber atle§ fc^einbar in§ Seere. SGBir
l)aben alfo ju jeigen, ba§ ba§ teineSmegS ber gaU ift. 3" ^^^
3medE werben mir auf bie SBurjel all biefer fgmbolifc^en 2lu^*
fagen über ©ott al§ gciftige ^erfßnlic^feit jurürfjuge^en ^aben.
©s; mirb fic^ ^eraudftellen, ba§ biefe SßJurjel, bie jugleic^ ben ei»
genttic^en rcligiöfen Kern biefer ©gmbole bilbet, in fic^ fclbft alle
nur u)ünfd)en§n)erte ®reifbarfeit unb 93eftimmt^eit beft^t, unb
bafe barum mir!lid) feine ©efa^r oor^anben ift, eS merbe bei ber
®rtenntni§ be§ fijmbolifc^en ®^arafter§ ber religiöfen SBorfleüungen
fic^ alle§ in eine gro|e 2}erfd}mommen]^eit unb Unfa^lic^teit oer»
lieren. — Unb bamit tommen mir jugleid) auf einen weiteren^
tiefgreifenben Unterfc^ieb „met{)obifd)er" 9lrt jmifc^en ber m^t^o«
steinmann: ^ie (ebenbtge $erf5nlid)!eit (^otte§ k. 411
logifxcrcnbcn unb her gciftigcn SÄuffaffung ©ottcS aU ^erfönli^fcit.
3)ic cntroirflungggcfd^id^tlid^c SOBurjel bcr Srfaffung bcr ©Ott«
Reiten al§ Äulturpcrfoncn fanben wir in ber naipcn ant^ropomor*
pf)ifxercnben Sluffaff ung alleS @cf(i^e^cn§. @^ Iianbclt fx6) bäum
eine 2:ätigfeit bcr geftaltenben ^^^antafie, bie fxd) bcn unbeftimmten
SinbtudC baburd^ na\)e bringt bo^ fte i^m au§ bem bekannten tu
genen ßebenStreifc t)erau§ greifbare ®e[taft gibt. 3)iefe pl^antaficmä«
|ige ant^ropomorpt)ifierenbe Oeftaltung unb jugleid^ 5Wa^ebringung
be^ Unbeftimmten unb menig ©reifbaren, bag aber bod^ fortbaucmb
ober immer mieber einen ftarten ©inbrudt mad)t, ift auc^ tätig
bei aller ©eftaltung ber ®ottt|eiten nad^ bem S3ilbe ber pfgc^ifd)en
^erfönlic^feit. ®ie ganj unbeftimmte, auf ©inbrüdten berut)enbe
UJorftellung üon einer 9Mad^t, bie ba ift unb lebenbig roirft, unb
mit ber firf) ein SSerfel^r bürfte ermöglidjen laffen, gewinnt ba«
burd), je nad) bem ®rabe unb ber 2lrt ber aufgemenbeten ^^^an*
taftefraft, me^r ®reif barfeit unb ®eftalt. (Sol(^ebefriebigenbe@reifs
barteit unb Seftimmt^eit beft^en t)ier erft bie mgttiologifc^ fertigen
®eftalten. ^t weiter mir bagegen üon biefen SRefuItaten ber reli*
giöfen ^ß^antafie au§ bie ©ad^e ju il)rem Urfprung jurüdEüerf olgen,
um fo unbeftimmter wirb atte§. ®§ lä^t ftd^ freilid) nid()t behaupten,
ba| mir babei ftet§ unb überall in eine abfolute Unbeftimmt^eit
hineingeraten mürben; nur auf ber primitiven ©tufc bürfte ba§
mo^l oft genug bcr %a\l fein, ©ofern bie göttlichen ^^crfönlid^ä*
feiten ju einer beftimmten 9laturerfc^einung ober einem bcftimmten
®ut be§ Sulturlebeng in einer feftcn 93ejiel|ung fielen, mürbe bei
aller Sluflöfung be§ fa^lic^cn ^^antafiebilbc§ bod^ ein gemiffer
einbeutiger unb bcftimmtcr Sieft übrig bleiben. 93erglic^en aber
mit bem mijtliologifdt) ooU au§geftalteten ®ebilbe ift biefer SReft
in jebem %a\l ein relatio ®cftaltlofe§, etma eine balb gan$ oage,
balb beftimmtere ®mpfinbung einem Jtatureinbrudf gegenüber ober
bie ^bee einer göttli^en ©anftion ober SBcrurfad^ung einc§ Sul»
turgute§. 2Jlit biefem Ucbrigblcibenben ift nun jugleic^ immer
ba§ eigentlirf) unb bireft 9tcligiöfe an bem betreffenben ©otteg»
glauben ober ba§ betreffcnbe religiöfe ®runberlebcn au§ ber mg*
t^ologifc^en ^üHe ^erauögcfd)ält. 3)iefem relatio unbeftimmten
Sern be» rcligiöfeu ®runberlebcn§ gibt erft jene ^ülle bie ooHe
412 ©teinmann: %k (ebenbige ^etfönlid^feit ®otte§ :c.
©egcnftänblic^tcit, bcrcn c§ ju einer tebenbigcn retigiöfen Sejie^
l^ung bebarf. Unb e§ ift für un§ nun gerabe pon Qntcreffc, ba§
l^ier bie genauere ©eftaltgcbung oornel^mltc^ ein SCBert bcr ant^ro«
pomorp^ifterenben 5ß^anta[ie ift. ®§ übt ja roolil auc^ jener re*
ligiöfe Sern auf bie ©eftaltung be§ mpt^ologif^en 93ilbe§ einen
geiüiffen ®influ| au§. ^z naä) ber 2lrt biefe§ @influ[fe§ mac^t
fi^ eine üergeiftigenbe 2:enbenj bemerf bar ober nic^t. 3)a§ cigent*
lid^ ©eftaltenbe unb gormenbe ift aber bod| bie m^tj^ologifierenbc
^^antafic. ®a§ religiöfe ©runberleben l^at in fid| felbft ni^t
genug eigenartige e^üQe unb ^eftimmtl^eit be§ eigenen ©e^alteS;
bamit ztxoa^ ®reifbare§ l^eraugfomme, bebarf e§ ber ^ilfe jene§
anberen, im ©runbe nic^t religiöfen gattor§.
® a§ ®^arafteriftifci^e ift l^ier alf o : bei Unbeftimmt^eit unb 2lr*
mut be§ religiöfen @runberleben§ hoö) SBeftimmt^eit unb inhaltlicher
Sleic^tum ber SReligion banf ber mrjt^ologifierenben fjunftion.
3)arum njürbe ^ i e r freiließ eine etwaige ^Betonung be§ nur f^m-
bolifc^en äBerte§ ber religiöfen SJorfteHungen alle ga^li^feit unb
93eflimmt^eit ber SRetigion auflöfen unb bamit i^r felbft an§ ficben
greifen. Siatfäd^li^ ^ai ftd^ \a auä) aQe f^mbotifd^e Raffung ber
aSorftellungen mgt^ologift^er ^Religion immer in§ Scere ©erloren.
SWit ber 3fbee bcr (Seiftperfönlic^feit ®otte§ l^at e§ eine ganj
anbere, gleid^fam entgegengefe^te SBemanbtniä. ^ier murjett oüe§
grabe in einem Mar beftimmten unb an 3>nt|alt reid^en religiöfen
©runberlebcn. 3)ie religiöfen SBorfteHungen n)ad)fen bort ^erauS
unb gewinnen oon bort ^er mannigfad^en ^n^alt unb SBeftimmt*
^eit, fie fmb ein 2lu§brud! biefe8 6rteben§ al§ eine§ ®rteben§ mit
@ott ober eines Lotterlebens. (SS märe allenfalls ganj au§}u«
fommen o^ne baS 93eimerf ber mgt^ologifierenben ^^^antafie.
Seilen mir unS biefeS 9Ser^dltniS näl)er an.
3)a8 religiöfe ©runberleben, ober mir fönnten auc^ fagen^
ier religiöfe SebenSprojejs ift I|ier baS menfc^lid)e ®eifteSleben
imb jmar als ein religiös geftimmteS. ®S !ann nun l^ier unmög*
lid) unfere SKufgabe fein, oon biefem Seben in all feiner ^nüt
unb aH feiner 93eftimmt^eit ein irgenbroie auc^ nur annä^ernb
erfd^öpfenbeS 33ilb ju entwerfen. SDem lie§e fid) nur burd^ fo
meit auSfi^auenbe unb umfaffenbe Unterfuc^ungen ©enüge leiften.
@teinntann: 2)te lebenbige $erfön(id^!eit Q^otteiS 2C. . 413
XDXt ftc uns j. 93. ®Ia§ unb nantcntlid^ ©udfcn gcfd^enft ^aben.
3)cr blo^c ^iniDciS auf bicfc fo umfangreichen unb int)altli^ be-
ftimntten 2)arlegun8en ift j|a f^on wie ein SBeroeiö bafür, ba§ eS
fic^ ^ier um einen großen, greifbaren unb in fid^ gefcl)Ioffencn
3ufamment)ang I)anbelt. 9SBir muffen un§ I)ier mit einer ganj
ffijjen^aften Äennjeic^nung biefe§ Seben§projeffe§ begnügen. Unb
fold^e genügt ^ier aud^ mirflid^, ba jo jebem, ber in bicfen 3)ingen
mit}ureben ein Siecht ^at, au^ menn i^m pl^ilofopliif^e 3)ar(e'
gungen über biefe§ Seben ni^t oertraut fmb, boc^ biefeS Seben
felber au§ eigener (Srfa^rung befannt fein mu^.
©cl|en mir junäc^ft einmal ab non ber religiöfen 93ejiel)ung
be§ geiftigen 2eben§projeffe§ unb befc^ränfen un§ au^erbem, mie
ba§ unfer S^f^itimen^ang ja nahelegt, auf feine ftttlic^c gorm.
S)iefe 93efd)rän!ung l^at überbem aui^ infofern i^r gute§ SRe^t,
al§ in aller geiftigen 2lrt ein fittlid)cS 3Jloment mit mir!fam
ift. O^ne 3^^if^t nun ift ber fittlic^e SebenSproje^ eine in fic^
gefc!^loffene ®rö|e oon ganj beftimmter 2lrt, bie in ftc^ eine rei^c
5üHe oon Qxit)alt befc^lie^t. SEBir benfen f)ierbei natürlid) nict)t
an ben eigentli^ nod^ oorfittlic^en ^^ftanb, ber nur etma§ roei§
oon einjelnen gorberungen, ganj äußerlicher, oielleid^t aud) ba=
jroifc^en me^r innerlicl)er 2lrt; ba freili^ finbet fid^ fein gefd)lof*
feneS ®anjcg oon beftimmter 2lrt, ba§ ftc^ in reid)er 9Jlannigfal*
tigfeit auslebt, ©onbem e§ ift l^ier ju benfen an jene innerlirfje
^flic^tergriffentieit, bie mirtlid) auf bag ©anje be§ Seben§ 93ejug
^at unb au§ fic^ ^erauS oor eine güUe oon ^Aufgaben ftellt, bie
bei aller äWannigfattigfeit unb bei alter 2lu§breitung über alle
inneren unb äußeren S8erl|ältniffe be§ ®afeinS boc^ eine rouriel-
Ijafte geiftige @in^eit bilben. O^ne 3^^ifß'^ ^P ^'^^ ^^^ gvoßer,
greifbarer unb in fxd^ gefc^loffener, jugleid) unenblic^ reid)er 3"«
fommenl)ang.
@ben biefer 2eben§jufammen^ang gewinnt nun bie 93ebeutung
be§ oben genannten religiöfen ®runbpvo}effe§. S)ann erfc^eint er
felbft oon ber einen ©eite au§ betrad^tet al§ ein (Sud)en ber
@otte§gemeinfc^aft, unter anberm ©efic^tSpunft al8 bie f ortlaufenbe
SRealifierung biefer ®emeinf(^aft oon ®ott t|er. 3)ie religiöfe
SBec^felbejiet)ung ju ®ott ift nic^t etma§ 5ßage§ unb Unbeftimmte§
414 ©teinmann: ^ie (ebenbige $etf5nU<^!eit (S)otteS zc.
baneben ober barüber ^inauS; fie ift gleid^fam ganj ^meingenom«
men in bicfcn ctt)ifc^en Scbcngprogc^ unb nimmt teil an feiner
gütle, an feinem @rnft unb an feiner 93eftimmtl)eit. @o ergibt
fid) ein gefrfjloffener ^^fammen^ang bei aller SWannigfattigteit
bod) gleid^artiger, bei aller 2^iefe hoä) fa^lic^er unb beftimmter
religiöfer ©trebungen, @efül)le, ©rlebniffe als bie eigentli^e le=^
benbige 9teligion. S3egleitet ift ba§ aßeS oon bem Maren 93emu|t*
fein: „^6) ^abe e§ l^ier immer unb überall mit ®ott ju tun".
S)iefe§ religiöfe ©runberleben, fofern e§ felbft eine ganj be*
ftimmt geartete, reid^e unb jufammenl^ängenbe Lebenserfahrung
ift, entlialt fomit gang unmittelbar ein gan§ beftimmter
unb reidieS ein]^eitlid)eS Seroufetfein oon (Sott. 3)ie flare SBc=
ftlmmt^eit eineS in^altlid^ reiben (SotteSberou^tfeinS rourjelt ^ier
ganj bireft in ber Maren 93eftimmt^eit unb bem inneren 9leic^*
tum ber ®otteSerfat)rung, @S bebarf l^ier nid|t einer m^t^olo«
gifierenben ^ß^antafie, um ber ©otteSibee ju reifer ^üüt unb
flarer ©eftaltung ju üerlielfen.
„®ott geiftige ^erfönlic^feit" : baS ift alfo gar ni^t eine
@ad)e mptliologifterenber Slnfd^auung beS göttlid)en SQBefcnS, eS
ift überliaupt nid^t eine ©ac^e irgenb roeld^er öef^reibung beS-
felben, fonbern eS ift birelter SluSbrudf ftattfinbenber SebenSer*
fat)vung. ®S tianbelt fid^ l^ier nid^t um bie ®eminnung fei eS
eines anf^aulid)en, fei eS eineS abftraften SBilbeS oon ®ott, fon»
bern um ein lebenbigeS ©rfa^ren unb ®rgreifen ®otteS. 3)ur(^
bie 33ejeid^nung ®otte8 als geiftiger ^erfönlic^teit fotl auSgefpro»
d^en werben, ba§ eS roirtlic^ ®ott ift unb fein innerfteS ©ic^*
regen, moju mir in bem auf ®ott ^ingeri^teten geiftigen SebenS»
proje^ birefte Sejiel^ung gewinnen. ®ie öejei^nung ®otteS felbfl
als feiner 2lrt nad^ geiftiger ^erfönlii^teit ift ber unmittelbare
2luSbrudE bafür; baS ift bie eigentlid^e praftifdlje religiöfe ^al^r«
l^eit biefeS ©a^eS über ®ott unb aH feiner weiteren 3!uSeinanber*
legung mct)r iuS einjelne.
SBenn mir nun erfennen, ba§ alle 9lnmenbung ber einjelnen
3üge beS menfdf)lid)en ^^crfönlic^teitSlebenS auf ®ott nic^t etroaS
9luSfdE)öpfenbeS unb im genauen ©inn 3lbäquateS ^at, baj5 felbfl
bie 33eieid)nung ©otteS als geiftiger ^crfon nur eine fgmboKfdie
Stetnmann: ^te lebenbtge $erf5nlid^!eit @otte§ ac 415
SDBaI)r]^eit bcft^t, fo änbcrt baS gar nid^ts au bem tatfäd|ti^cn
rcligiofcn ©adjücr^alt. S)cr rcligiöfc ©runbprojc^ fclbft bcl^ält
ja bo(^ na6) n>ic t)ov all feinen intiattlic^cn 9ieid)tum unb üer*
licrt nic^tö t)on feiner intialttid^en 93eftimmtl)eit ; unb nacf) roic
t)or ift unb bleibt biefer religiöfe geiftige @runbprojeJ3 für ba§
fromme 93en)uJ3tfein ein mirflic^eg Seben mit ®ott unb 2:etlges
minnen an feinem Seben. @§ bleibt alfo allc§ genau fo flar unb
beftimmt, mie e§ oor^er mar. 9lic^t§ mirb oerfd^roommener unb
unbeftimmter. ®ott rüdtt au^ unferem reügiöfen SBer^ältniS ju
it)m nid^t meiter in bie gerne ; er bleibt un§ oielme^r ganj gleid^
natie. 5lur tritt mit ber Betonung be§ ©rimbolifc^en in jenen
2Iu§fagen ju bem allen bie flarere @infid|t l^inju, roie e§ ja bod^
® 0 1 1 ift, ber un§ in unferm mcrbenben ^erfönlid^feitSleben natie
tritt, unb roa§ ba§ bebeutet bag e§ @ott ift. SWe^r al§ ba§ be»
fagt ja bod^ bie ®r!enntni§ be§ fgmbolifd^en ®^arafter§ du un»
fcrer ®lauben§au§fagen über ®ott nic^t. SDaoor aber braud)en
mir un§ gemi^ nic^t ju für^ten, menn mir fcften ®runb reid^er
unb beftimmter ®otte§ erfal^rung unter ben 8^ü|en l^aben. —
SDSir fönnten ba§ eben dargelegte aud| folgenberma^en au§=
brüden: S)a§ ®ott geiftige ^erfönlid^teit fei, ift eine Ueber*
jeugung oon ®ott; e§ ^anbelt fx(^ babei aber nid^t um ein
eigentliches SOäiffen über ®ott, roie e§ für bie mpt^ologifc^e 3)enf*
roeife in ber ant^ropomorpljifierenben ^bee ber ^erfönliditeit
®otte§ menigften§ fd)einbar uorliegt. Unb meil e§ fic^ l^ier um
eine folc^e „Ueberjeugung" l^anbelt, nid)t um ein „aCBiffen", eben
barum änbert ber frimbolifc^e ©tiarafter ber 9lu§fagen über ®ott
nichts an ber 93eftimmt]^eit unb (Sic^er^eit be§ religiöfen ajerfjält«
niffeS. 2^ro^ be§ häufigen unb fe^r geläufigen Operierend mit
ben ®egenfä^en „lieber jeugung" unb „SBiffen" ober „®laubeu"
unb „SEBiffen" bebarf bie foeben angebeutete etroa§ oeränberte
gaffung be§ ®ebanfen§ moI|l boc^ einer weiteren 2lu§füt)rung,
bie un§, fo tioffen mir, weitere Ä'lärung bringen mirb.
Ueberjeuguug unb SBiffen unterfi^eibet fic^ oornet)mlicl) in
jroeifad)er ^infic^t oon einanber. — ®rften§ befte^t jroifc^en
SBiffcn unb Ueberjeuguug ein ganj bebeutfamer Unterf^ieb, roa§
ben 3 ^i ^ 0 1 1 ber beiberfeitigen ®rfenntni§au§fagen betrifft.
416 @ t e i n m a n n : ^ie lebenbige $erf5n(t(^!eit ©otteS tc
2)icfcr Untcrf^icb Iä§t fi(^ ganj furj auf bic gövmcl bringen:
älQeg SBtffen enthält bie 3RögIic^!ett einer genauen 3)atlegung
be§ „n)ie" feineiS ObjettS, bie Ueberjeugung bagegen enthält ein
einfaches „ba^". ®ag SDBiffen um eine ©ac^e heftest in ber
SWögtid)feit einer erfd)öpfenben SBefc^reibung berfelben, wel^e 53e'
fd)rei6ung je nad^bem anfd^oulic^ ober begriffli^ erfolgen lann.
93in i^ im ftanbe, mir etroa oon ber ölüte ber Sinbe ein wirf*
lic^ }utreffenbe§ SBi(b ju ma^en, bann beft^e id) ein anfc^auIi^eS
SBiffen oon biefem ©egenftanb. Ober ic^ oermag einen 9latur*
oorgang j. 93. ba§ @^o miffenf^aftlic^ erfcl)öpfenb ju befc^reiben;
bann f)abt id) baoon ein begriffti^e§ SBiffen. Qn jebem fJaUe
befielet mein Sffiiffen in einer bei mir oor^anbenen 2rtöglid)feit
einer erf^öpfenben 93efc^reibung ober auc^ ber genauen 3)arle*
gung beg „roic" einer ©ad|e. 2)a§ bie 2luSfagen ber anfd^auli^
m9tf)oIogif(^en unb ber altbogmatifc^en ®en(art über ®ott oon
biefer 93efc^affen^eit ftnb ober boc^ )u fein beanfprud^en, mithin
SBiffenSc^arafter tragen, mürbe oben fd)on ausgeführt.
Qnmiefern nun enthält bie Ueberjeugung ein einf a^e§ «ba§" ?
— aWonica mar überjeugt, ba§ i^r geliebter ©o^n bereinft bem
S^riftenglauben merbe miebcrgemonnen werben. 3)iefe 2:atfac^e
ftanb H)x feft; m i e baS aber gefd^e^en merbe, baS hätte fie nie*
nmnbem genau barlegen fönnen. 9Bol^( tiatte fte oieOeid^t auc^
barüber mancherlei ©ebanfen ; baS maren aber ni^t Ueberjeugungen,
fonbern nur SSermutungen. 3)cr gläubige ©eter ift überjeugt,
ba§ i^m ®rl)örung ju teil merben mirb ; er mei| aber nic^t roie,
unb betet er mirflid^ fromm, unterfaßt er fogar alle UJermutungen
über ba§ „mie". 3»ßber ©laubige ift überjeugt, ba& ®ott i^m
in ben ^ö^^wngen feineS Seben§ begegnet, unb bie 3urücffü^rung
ber einjelnen Sreigniffe auf menfc^lidie unb natürliche 9Ber^euge
^inbert i^n nic^t an ber Ueberjeugung, ba| (Sott in bem aßen
mirft; bie Darlegung bagegen über bie Sttrt unb äBeife ber QbtU
lid)cn SBirfung, mie fie etma bie ort^oboye ®ogmatif in i^rer
fie^re oom concursus dei ju geben Derfud)t, baS ift, maS eS auc^
fonft fein mag, jebenfatlg nid^t me^r ©a^e ber Uebergeugung.
Ober enblic^ bie ^riftli^e 93ollenbung§überjeugung ! ©ie ift eine
Oeroi^^eit barüber, ba^ einft eine SSoUcnbung fein mirb ; barüber
@t ein mann: ^ie lebenbige $erfönlt(j[)!eit ®otte§ k. 417
aber, njie biefe SßoKcnbung in§ 2)afein treten ipirb, entl|ält bie
lieber jeugung felbft nichts. ^ebenfaD§ fann fie fe^r fromm unb
in i^rer 2lrt feft fein aud) o^ne jegll^e^ notiere SSiffen^).
fjreilic^ entl|ält aud) bie Ueberjcugung ein „wie". @§ ift
nid)t eine blo^e 3ut)erfid)t, b a § @ott unfcr Seben leitet, fonbern
ha% er e§ gnäbig leitet; unb in biefem „gnäbig" liegt ber gauje
reid>e 3»»^ölt ber d)riftlid)en ®otte§bejie^ung barin. 3)iefe in»
tialtUd^e 33eftimmt^eit ber Ueberjeugung ift aber bodti Don fpejififc^
anbcrer 2lrt al§ bie bem Slöiffen eigentümlid^e genaue Slngabe be§
„roie". S)ort nämlic^ ^anbelt e^ ftc^ um bie SWöglid^feit einer
genau jutreffenben unb erfd^öpfenben 3)arlegung, mie e§ fo ge»
fommen ift unb u)ie e§ fid) @d)ritt vox Schritt Doltjogen I|at
ober regelmajsig ju üotljie^en pflegt. 3)aoon wei§ bie Ueberjeu«
gung nid)t§; fie bejie^t fid| mit i^rer inl)aUIic^en 93eftimmtt)eit
lebigüc^ gleic^fam auf bie innere Qualität ber ©reigniffe. ©ie
enthalt nichts barüber, mie ftd) aUeS im einjetnen abmidelt ober
abroideln mirb, fonbern nur biefe§ entf)ätt fie, baJ5 etma§ ift ober
fein wirb, aber freilid) nidjt ein leeret StmaS, fonbern ein inlialt»
lic^ t)ieUet^t fe^r beftimmteS. 9JJit biefem Satbeftanb aber oer*
trägt fic^ ganj mol^t unfere obige furje Formulierung be§ Unter»
fd)iebe§ jroifc^en Ueberjeugung unb SlBiffen: 2llte^ SBiffen enthält
bie 3Wöglid)feit einer genauen Darlegung be§ „wie" einer ©ac^e,
bie Ueberjeugung bagegen enthält ein einfac^e§ „ba^".
SÖBie nun bie pfr)d)ifd^e ^erfönlid)teit§Dorfteltung oon ®ott
ate eine genaue 93efc^reibung ber Slrt feinet 2)afein§ 333iffen§*
^aratter trug, fo trägt bie geiftige ^bee oon ®otte§ ^erföntid)feit
ben ©^arafter ber Ueberjeugung. 2ln bie 3Jiöglid|feit genauer S)ar»
legung be§ „wie" irgeub einer ©ac^e mirb t)ier gar nid^t gebac^t.
93ei aller int)attlid)en Seftimmt^eit ber 93e^auptung Iianbelt e§
fi^ oielmelir nur barum, bafe in ben ganj beftimmten @rfat|*
rungen unb im äBac^§tum unfer§ geiftigcn Seben§ ®ott un§ in*
1) ©cirnu befdirctbenbc iß^aiitafien über biefe 3uf"»ft flibt e8 freilid) ge«
mig, fogar folc^c, bie mit grofecr ©etuife^cit auftreten. S)a« ift aber bann
ntcf)t eigentliche UeberäeugungSgetriööcft, fonbern bie ©cmife^eit be8 Slu«
torttät^^glaubenS, ober anc^ biejenige ber efftattfd)en ober fanatifcfien Erregung,
ber erregten unb befriebigten ^^antafte unb bergl.
418 ©teinmann: ^ie (ebenbige ^erfönlid^feit ©otteiS zc.
nerlic^ na^e ift. 2)a§ ergibt eine ganj beftimmte Ueberjeugung
oon i^tn, nämlic^ eben bie Ueberjeugung, ba§ er unS roirtlic^
uub roa^r^aftig ^ier innerlid^ begegnet; e§ ift aber bei aller @e=»
wi^eit nic^t ein eigentliches SQ3iffen um i^n unb um bie 2trt
unb äBeife, roie er e§ ma^t un§ fo na^e ju fommen.
3u biefer ®ifferenj bejüglid^ be§ Qn^alteS ber ©rfennt*
ni§au§fagen be§ 3Biffen§ unb ber Ueberjeugung (©. 415 ff.)
!ommt nun alä jmeiteS eine S)ifferens in ber 9lrt ber ®en)i|^eit§»
begrünbung. 3)amit führen mir nic^t nur unfrc Unterfu^ung
um einen bebeutfamen ©d^ritt meiter, fonbern mir betreten ba*
mit juglei^ ein ©ebiet, ba§ überreich ift an Problemen. 6§ gibt
ja bo^ fo mand^erlei formen ber Oemi^^eit, bie fic^ no^ boju
in mannigfa^fter SBeife ineinanber fc^lingen. 9EBollen mir unfrc
Unterfu^ung nii^t ju einer er!enntni§t^eoretifc^en au§mad|fen
laffen, bann merben mir üerfuc^en muffen, au8 ber ^&\i^ ber
Probleme grabe nur ba§ ^erauSjugreifen, roaS fic^ unmittelbarft
mit unfrer gegenwärtigen 5rage berührt, äöir l^aben e§ aber äugen*
blirflic^ tebigtid) mit berjenigen SSerf^iebenarttgfeit ber Oemi^^eitju
tun, bie ftatt^at, menn man bie ^bt^ ber geiftigen ^erfönlic^teit
®otte§ teilt, — bann, meinten mir, ^anble e§ fx^ um Ueberjeu«
gung — unb menn man bie ©ott^eiten für pfgc^ifc^e ^^Jerfön»
lid^feiten ^ält — ba^ galt un§ als eine 2lrt ffiiffen. ®Sinteref*
fiert uns barum mirflic^ nur baSjenige, xoai uns ben bur^ biefe
beiben 93egriffe gefennjeic^neten Unterfc^ieb ber ©cmife^eitSart
grabe in feiner Slnmenbbarfeit auf unfern 5^11 tlöt machen tann.
^m allgemeineren Sinn nennen mir Ueberjeugung jcbe fub»
jeltio gegrünbete 3woerfid^t. S3eibeS mu§ Dor^anben fein, menn
fid) ber 53egriff „Ueberjeugung", mie mir i^n uerfte^en, foü an*
menbeu laffen : f omol^l bie Q^uerfic^tlic^teit als au^ bie f ubjeftioe
©rünbung berfelben. Ueberjeugt fein in biefem Sinne fann man
barum nid)t oon einer legten ^gpotl^efe ber ®r!enntniS. ^ier
ift mof|l üor^anben ein gemiffeS le^t|inigeS 2luSfd)laggeben fub*
jeftioer SKomente, ba bie ftreng objettioe 3)ebuttion fomeit nicftt
reict)t; aber eS fel|lt, menigftenS fofern ein 93emu^tfein bafür Dor*
t)auben ift, ba§ eS fid) ^icr um eine le^te taftenbe 2luSfage ber
pl)i(ofop]^ifci^en ©rfenntniS ^anbelt, jeneS SMoment ber 3uoerfi(^tr
©teinmann: ^ie lebenbige $erf5nlidE|!eit ®otte3 2C. 419
nd)teit unb !ann fid^ aud| gar n\6)t einfteKen. älUe $en)ä^vung
bcr ^qpott)efc, fofcrn eine foId)e möglich ift, ffilirt Dielmetir nur
burd) eine fortfi^reitenbe ^u^ä^^^ängunfl ber fubjeftioen 93egrün*
bung immer met)r in bie 5läl&e ber ttieoretifc^en ©eroi^^eit, näm*
li^ be§ aBiffen§^). 2luf ber anbern ©eite: menn man ftd^ burdf)
2;atfad)enben)eife üon ber ©d^ulb eine§ SWenfc^en — mie ber
©pradigebrau^ fagt — „überjeugen lä^t", fo l^anbelt es fic^ aud)
roiebcr nic^t um ba§, roa§ mir f)ier Ueberjeugung nennen. 3)enn
bie 93egrünbung ber gemonnenen ®emi|^eit üon einer ©ac^e ift
in biefem g^Ue grabe nic^t fubjeftio, fonbern objettiu, nämlid)
burd^ einleuc^tenbe 93emeife ; unb barum iff § aud^ nid)t 3uocrfid)t
fonbern tl^eoretifc^e ®eroij5t)eit. Ueberjeugung bagegen in unferm
©inne ift bie ©emi^l^eit ber SRutterliebe, ba§ ber geliebte ©oI)n
ein Unre^t gar nid^t getan Iiaben lönne, ober aud) bie ©emig-
^eit eineö ftrebenben 3Jlenfd)en, ba^ er fein 3'^^ erreichen werbe.
§ier ^anbelt e§ ftd) mirfiid) um 3wi^^^f^t beren ©rünbung le^
bigtic^ im ©ubjeft felbft liegt. Unb aud^ ba§ ift Ueberjeugung,
menn id) einem beftimmten anbern ÜJlenfd^en nur ®ute§ jutraue.
^ier fpielt ja freilid) bebeutfam ber ©inbrudf mit, ben id^ t)on
ber betreffenben ^erfon empfangen l^abe. 3)o^ aber ift jene @e=
mi^l^eit eine fubjeftio begrünbete. @§ mar ber lebenbig empfun=
bene ®inbrud beftimmenb, nid)t bie oerftänbige Slnalpfe feinet
(£^arafter§. ®§ ift ja aud) bie ©ntbedung, ba§ ic^ mic^ mit
meiner ^u^^^P^t Qmxt l^abe, nic^t eine bloße SHi^tigfteHung mei=
ner @infid)t, fonbern eine ©nttäufc^ung. S)iefe Seifpiele werben
unfere Definition ber Ueberjeugung aU einer fubjeftio gegrünbeten
3uoerftd)t genügenb oerbeutIid)t Iiaben. 3)abei tann, in unferem
3ufammenl)ang, ganj ba^ingefteüt bleiben, ob biefe fubjeftio ge=
grünbete 3w^^^'f^t in ben tatfäd|lid)en SBerljättniffen it)re 33e=
1) 9J?an foQte bod) enblict) einmal aufhören, bie leisten $t)|)ot^efeii ber
SBiffenfd^aft unb bit Sliigfagen be« relifliöfcn ©laubcu« mibefe^cn als irgcnb»
tt)tc ®Iei(^artigc« 311 be^anbeln. 2Bic hjcit biefe llnflar^eit oerbreitet ift, bc*
iDcift 3. S3. \^v SBorfommen bei S)enuert: SBibel unb 9?atumiffenfd)oft, ber
burcö ba8 befjnbarc „öJIaiibe" ha^ iunerlid) Söerf(f)iebenartigftc gufammenbringt,
iinb guglett^ bei 9iiebergafl: ®in 5ßfab gnr (SJeiüifefjeit, ber bie religiöfe ^r-
fenntnig mit ber toiffenfc^nftlic^en ^tipot^efe in parallele fefet.
420 @ t e i n m a n n: ^te (ebenbige $erfotiIid)!eit ©otteS zc
ftötigung finbet ober nic^t. @§ tommt ung ^ter nur auf bte in^
nere 2lrt bcr ©croi^^eit an.
S)ic religiöfe ©croig^eit oou einem geifiperfönüc^en @oü ift
nun aber nic^t nur Ueberjeugung in biefem aflgemeinen ©inne.
2Bir üerftel^en oielmet)r in biefem ß^f^^^^^J^^öng unter Ueber^
jeugung eine ganj beftimmte 2lrt im ©ubjeft gegrünbeter 3ut>er*
fid)t. ®iefeu engeren ®ebrau^ be§ 3Borte§ gilt e§ je^t noc^ feft*
jufteßen. SDßir begegnen i^m j. 93. in ber 3lu§fage, ein äRenfc^
^abe feine Ueberjeugung. @§ ift bamit gemeint, baß folc^em
$Wenfd^en eine in einer ganj beftimmten inneren 93efd)affen^eit
feiner ^erfon gegrünbete ßuüerfic^t fel|le. Unb biefe innere 93c«
fd)affent)eit ift nun eben nid^tö anbere^, aU bie Strt be§ gciftigcn
Sebeng. Ueberjeugung in biefem fpejipfc^en Sinne ift eine 2e*
bengdußerung geiftigen ^erfonenteben§, eine mit fofc^em ?ßerfonen*
leben jugleid) gegebene ß^^^^^fi^^- ®o ift ber geiftig ftrebenbc
Siünftter „überjeugt" uon bem menf^^eitlic^en SEBert ber oon i^m
erftrebten 3i^lß ; ber ÜWann ber 333iffenfc^aft ift „überjeugt" nic^t
nur üon bem ^flic^tc^arafter ber roiffenfd^af tli^en SBa^r^aftigfeit,
fonbern jugleid) etma aud) t)on bem fortfc^reitenben ©ieg ber
miffenfdiaftlid^en 2Ba^rl|aftigfeit über atte§ ^albmal^re Äompro*
mißmefen; ber fittlidje ©tiarafter trägt in fid) bie felfenfefte „Ueber=
jeugung" von ber aUe§ überragenben 93ebeutung be^ @uten unb
woi)l aud) üon feiner enblic^en SSoöerfc^einung. SKB biefe 3"*
Derfidjt ift teil§ ©runblage eine^ geiftigen SQ3olIen§, tei(§ borin
gegrünbet. @S fü^rt aber aOeS (e^tlic^ jurücf auf einen ftarten
inneren Sinbrurf, ber oon einer ©ac^e, ^fCic^t, ^beal, ober roic
mir e§ fonft nennen mögen, ausging unb eine freiperfönlic^e ^in*
menbung jum SDienft biefer ©a^e beroirfte. ®iefer perfönlic^e
3ufammenfd)fuj5 mit fol^er 2lufgabe ift in feinem innerften 9Be»
fen felbft Ueberjeugung unb äußert fid) jugleid) atS 3"^^^^^^
fünftigen ©iege§.
S5on biefer 2lrt ift nun aud) bie ©emiß^eit oon @otte§ gei*
ftiger ^erfönli(^feit. ©ie ift in i^rem innerften Rem eine @c«
mißt)eit über ba§ geiftige ^erfonenleben. 3B5äI)renb eS ftc^ bei
fonftiger Ueberjeugung um eine ©eioiß^eit bejüglic^ ber mancher»
lei Slufgaben unb ^fli^ten be§ geiftigen ^erfonenlebenS ^anbett.
st ein mann: ^te lebenbige $erfönlicl^!eit Q^otteS k. 421
ift e§ ^ier eine ©eroifetieit über biefeS ^erfonenlcben fclbft, näm*
tid^ eben bie ©eroi^Iieit oon einer SEBurjefung biefe§ ^erfonen*
fcbenS in ®otte§ innerftem SBefen. 2luc^ biefe Ucberjeugung
beruht auf einem tebenbigen ©inbrurf; nid^t aber roie jene an»
bcren Ueberjeugungen auf bem lebenbigen ©inbrud ber 2lufgaben
unb ?ßflid|ten, an benen gciftige§ $erfönlid)teit§teben ^eranit)äd)ft,
fonbern auf einem lebenbigen Sinbrud oon jenem geiftigen ^er*
fonenicben felbft. 3)a^ biefer lebenbige ©inbrud am ftärfften in
ber 93erü^rung mit bem ^^erfonleben ^efu gewonnen roirb, roel*
d)cö fid) in eigentümlid^ urfprünglic^er SBeife in @ott gemurjelt
n)ei§, mcrbe ber SSoüftänbigfeit megen no^ I|injugefügt. ©o er«
mäd^ft alfo bie bem religiöfen Orunbproje^ eignenbe S^^^^^f^^t
unb ber eigentlidje Ueberseugnngöfern jeneg unerfc^ütterlic^en „ha^"
au§ bem lebenbig angeeigneten Sinbrudt be§ geiftigen ^erfonen*
lebend a(§ einer @efamterfcl)einung, oome^mlid) aber unb lourjel»
^aft au§ bem lebenbig angeeigneten ®inbrucf oon ber ^erfon be§
gotteinigen @eifte§menfc^en ^efuS ^). Qn roeld^er SSeife nun alle
unfrc auf biefer Ueberjeugung fu^enben 3lu§fagen über ©Ott atö
gciftige ^erfon biefer religiöfen 3u^^^^P^t '^ ^^^ Sprache ber
religiöfen ©gmbolif menfc^Iid^e ©egenftänblid^feit ju geben oer*
fuc^cn, baoon mar fc^on oben bie 5Rebe.
2)a^ e§ mit ber ©rfaffung ber götttid^en SKäc^te al§ pfg*
c^ifc^er ^erföntic^teiten biefe ©eioanbtnig nic^t ^at, bebarf ja
faum weiterer 2lu§füf)rung. „Ueberjeugung" in biefem fpejifif^en
©inne ift ba§ nic^t unb !ann e§ aucft gar nid)t werben ; benn f olc^e
Ueberjeugung ^at e§ nur mit 2)ingen be§ geiftigen ^$erfonenleben§
ju tun. ©omeit i)kv ©emi^^eit oortianben ift, ift e§ oielmetir
©cmi^^eit oon berjenigen 21rt, wie fie jeber Ueberlieferung otjue
weitere^ eigen ju fein pflegt. 3febe Ueberlieferung^gemijs^eit aber
ift ni^t ^uoerfic^t; ift aud) nic^t etioag fubjeftio ®egrünbete§
ober ^ßerfönlic^eg. ©§ ift oielme^r einfad) eine ßuftimmung ju
SBorftellungen, mit benen feine anberen ernftlic^ tonfurrieren, eine
1) 25afür fönncn toir andj faflen: (Sott offenbart ficf) uit« tu Scfug
als @eiftperfdnli(^feit unb unjere reügiöfe Ueberjeugung Don (9ott beruht auf
Offenbarung; bcrgl. meine Ec^rift: ^ie geiftigc Offenbarung ®otte« in ber
gefc^ic^tUd)en $erfon 3efu.
Beitfi^rift für X^eotogic unb Ätrd^«. 14. Sa^rg., 6. $eft. 29
422 ©teinmann: ^ie lebenbige $erfönlid^!eit ©ottei^ zc.
in ben objcftiüen SScrl^ältniffcn gcgrünbctc ©croi^^cit. Unb eS
unterfd^eibet fid) and) bicfc UcbcrlicfcrungSgcrüife^cit auf bem ®c*
biete ber SReligion in feiner SBeife fpejififc^ von fonftigcr Ueber*
Iieferung§gen)i^]^eit. ®ie pfpd^if^e ^erföntic^feit ber ©ott^eitcn
ift genau in berfelben 2Beife geroife, wk bie ©reigniffe beS txo-
janifc^en Äriege§, bie (Syiftenj ber ^ggmaen ober bie aEBirtlic^tcit
ber ®ra!en*). ®a§ finbet gerobe aud^ barin feinen 9lu§brucf,
ba^ e§ fxäi ^ier ebenfo wie bei jeber anberen Ueberlieferung um
bie objeftioe unb genaue Darlegung eine§ ©ac^Der^a(te§ tianbclt,
um bie jutreffenbe 93efc^reibung einc§ „roie". 3)ie ^uftimmung
ju all bergleic^en ffiarlegungen über ganj objettioe Scr^altniffc,
bie mit unfrer perfönlic^en 2lrt in feinem 3^fönunen^ang ftc^cn,
uoüjiel^t fid^ aber immer auf einem ganj objeftioen SSBege unb taun
ftc^ aud^ gar nic^t anber§ DoHjie^en. 9iur ift e§ bei ber Ueber*
lieferungggemi^^eit ni(^t eine ä^^fti^^w^^ng auf ®runb trgenb roel*
c^er 33en)ei§fü^rung burc^ SBernunft ober ®rfa^rung, fonbern bie
unmittelbare 3^Piw^"^u^9 i^ ^^^ cinjig ©egebcnen unb o^nc
ernftli^e Äonturrenj ©ültigen.
®iefe objeftioe 3lrt ber ©emi^^eit aber nennen loir, §um
Unterfd)ieb oon ber fubjeftio gegrünbeten 3woerfic^t ober lieber»
jeugung, SQSiffen. 2llle Ueberlieferungggemi&l^eit ift ein lieber*
lief erung§miff en ; fo auc^ bie lleberlieferungSgemi^^eit auf reU=
giöfem ©ebiet, SBie man mcijS/ ba§ eS ^ß^gmäen gibt, genau
ebenfo m e i § man um bie pfpc^ifd^c ^erfönlidifeitSeyiften} ber
®ötter; eine Ueberjeugung ober fubjeftio gegrünbete 3w^^^fi<^t
f)at man aber meber bejüglic^ be§ einen nod) bejüglid^ be§ anbern.
9Son @otte§ geiftiger ^erfönlic^feit bagegen tann man folc^e§
UebertieferungSroiffen eigentlid) gar ni^t befi^en. SBo^I iji e§
möglich, ba^ man bie fpmbolifd^en SBorftellungen über @otteS
geiftperfönli(^e§ 3)afein in ber 3EBeife ber Ueberlieferungggcmip^eit
teilt. @§ werben bann aber biefe fpmbolifc^en 2lu6fagen immer
1) 3!)a6 bei ber ©ctüi&l^cit über eine pft)cf)tf(^ Jjerfönlic^e 2lrt ber &ott>
f)tikn immerl^in ein (StmaS üon fubjelttD gegrünbeter 3uuerft(^t mit im Spiele
ift, tDenn auc^ nic^t Uebergeugung im engeren ®inn beS SBorted, bad toerbeit
mir bei ber 3bee ber £ebenbigfeit ©otteS gu berücffidjtigeu ^aben. ^ter (onu-
ten mir bauon suuüc^ft nod) abfegen.
r
@teinntann: ^ie (ebenbige $erfbnlid^!eit ®ottz^ k. 42B
q(S eigentliche, ganj objettiD gemeinte ^efc^reibungen aufgefaßt
werben; benn alle blo^e UcberlieferungSgeroi^^eit ift i^rem innerften
SBefen nact) ein Uebertteferung§roiffen oon objeftioem S^atbeftanb.
5)ev nur überlieferungSgeroiffen Slneignung jener 2lu§fagen wirb
barum ol^ne roeitereS alle fgmbolifd^e @rfenntni§ ber Oeiftperiön-
lic^teit ®otteS unter ben ^änben ein birefter 2lnt^ropomorp]^i§-
mu§. @§ ift feine 2lneignung jener Slu^fagen oon innen l)tx,
nämlic^ burc^ ein perfönlid)e§ @inge^en auf ben religiöfen @runb«
ptoje^, fonbern nur eine Stneignung ganj objeftiuer 2lrt, lebigli^
Don äugen I|er, unb barum aud^ eine ä(neignung, als märe e§
etma§ ganj ObjeftioeS. 93eftänbig begegnen mir ja auc^ folc^er
aSerfe^ung ber Qbee ber @eiftperfönlid)feit ©otteS in ein bloge«
UeberlieferungSmiffen.
3[ft bie ©emig^eit ber mgt^ologifierenben ®entart ein lieber-
Iieferung§miffen, fo l^anbelt e§ fi^ bei ber ©emig^eit ber altbog*
matifc^en 2)en(art, mo biefelbe tl^eologifc^ burd^gebilbet ift um
eine fortgefc^rittenere gorm be§ SD3iffen§, nämlic^ um ein 9Q3iffen
auf ®runb döu 93emei§, fei berfelbe nun rein rational geführt
ober als ®rfat|rung§bemei§ ober al§ jufammen^ängeube 3)arte*
gung ber offenbarten 3EBa^r^eit eineS infpirierten 3EBiffenStom=
penbium§. —
3)er funbamentale Unterfd)ieb jmifc^en ber Slnmenbung ber
geiftigen $erfönlic^feit§ibee auf ®ott auf ber einen, ber 2luffaf»
fung @otte§ alä pfgdiifctie ^$erfönlid)feit auf ber anbern (Seite
bürfte je^t mol^I flar fein, fomol^l ma§ ben Qnliatt jener Qbeen
betrifft, alö auc^ bie 9lrt ber STuSfagen unb bie 2lrt il^rer @e*
mig^eit. SBir fönnten fomit je^t bie ^btt ber Sebenbigteit ©otteS
einer ätinti^en Unterfuc^ung unterbieten, um bann mit ^ilfe ber
gewonnenen SRefultate bie oerfdjiebenen 93eftanbteile be§ empirifc^en
©efamtbilbeg ber c^riftlic^en Ueberlieferung oon ©ott nad) i^rem
retigiofen 3Bert gegeneinanber abjugrenjen. @^e mir baju über*
ge^en, bebarf e§ aber noc^ jmeier ergänjenber ^injufügungen ju
bem bisher 2lu§gefüt|rten. Unfer ^inmeiS auf ben religiöfen
©runbprojeg al§ ben eigentlichen Sern beS ©otteSglaubenö, beffen
9lu§fagen nur eine fgmbolifc^e aBal)rl)eit ^aben, unb ber ^inroeiS
auf ben UeberjeugungSc^aratter ber ©emigl^eit über ©ott bürfte
29*
424 .Steinmann: %it (ebenbige $erfönlt^!eit ®otte§ zc
fonft leidjt geioiffen 9Jli§beutungen au^gefc^t bleiben; eine SBer»
n)ec^f(ung mit ä^nlid^en @tanbpun{ten tonnte fic^ na^e legen.
9Q8ir werben oerfu(i)en muffen, bem oorjubeugen.
3)ie ®en)igt)eit oon @otte§ geiftperföntic^ev ^rt bejei^neten
wir al§ eine Ueberjeugung. @ben mit biefcm SBorte „Ucberjeu»
gung" aber wirb gegenwärtig oft genug ein eigentümli^er ro«
mantifd)er Äu(tu§ getrieben. 3)ie Ueberjeugung erfd^eint ha aU
eine (Saci)e, bie gleic^fam in ber Suft l^ängt unb fid^ felbft tragt.
@ie ift etwa§ krampfhaftes, forciertes, beinah mö^te man fagen,
@igenfinnige§; etwas ganj unb gar @ubjeftioeS. @ie ift wie ein
lautes unb l^eftigeS: „^d) will!" ©ie ge^t beftänbig gerüftct ein*
l)er wie ein l^eimatlofer, fa^renber ^elb, ber fic^ oon einem ^ampf
um feine Syiftenj in ben anbern ftürjt.
3)iefe STrt Ueberjeugung meinen wir nid^t. 3)aS ift eine
neroöfe Ueberjeugung, barum oieQeid^t wo^I eine Ueberjeugung für
unfer unrul^igeS ®efc^led)t. Unb atS SOtittebenbe biefeS (Sefc^lec^teS
oermögen aud^ wir fie wo^t mitjuempfinben. SBir laffen fte au(^
gerne gelten als eine moberne ©pielart ber d)riftlict|en (Sottet*
überjeugung unb ma^en barum niemanbem einen SBorwurf bar»
aus. yinx erfc^eint fie unS bod) f e ^ r als eine Slbartung. 9Bir
bejweifeln ftarf, bag fte auf il^rem SBege wirtlich bem ru^ig
juoerfic^tlidien SUianne auS Slajoret^ begegnet ift; an beffen
.^anb braucl)t man fiel) nid|t fo unruhig ju gebärben. ^reilic^
wie oft wirb nic^t etwaS oon biefer unruhigen ä(rt in bie ^erfon
Qefu t|ineingefül)lt!
9Bir bejeid^neten im Unterf^ieb ^ieroon Ueberjeugung ald
innerlich gegrünbete 3wß^fü)t — mit ooQfter Sbfid^t xoäfjfU
ten wir ba grabe biefeS S33ort „ßuoerfid^t", in bem nid>tS oon
neroöfcr Unruhe unb ^rampf^aftigfeit ift — unb führten fie ju*
rüct auf ben Sinbruct, ben ein ObiettioeS auf unS mac^t, näm«
lid^ baS geiftige ^erfonenleben in feiner unfer (Sinjelftreben weit
überbietenbeu ©efamt^eit, oornelimlid) aber bei bem einen, ber
eS als ein gottgcgrünbeteS führte.
Unb nun bie anbere älbgreujung! 3luci) ber iRfictgang oon
ben religiöfen SSorftetlungen auf ben religiöfen @runbprojeg tann
oon romantifc^er Stimmung begleitet fein. 3)iefe fnüpft fw^ ^ier
©teinmann: ^ie lebenbige $etf önlid)!eit ©otteiS 2c. 425
an bic (ärfcnntniS be8 fginbolifc^en ®^arofter§ unfrer SluSfagen
über @ott. fSflan tommt ^er pon ber alten ®en)öt)nung an ein
flenanc§ „aOgiffen" um @ott. Soft fid) nun bicfe« aBiffen auf,
bann fc^eint an ©teile be§ 33eftimmtcn junäctift eine geroiffe Un»
beftinimt^eit ju treten, an ©teile eiue§ ganj g^^lic^en bie Unfa^-
barteit. ^nftatt nun ba§ rut)ig ^injunel^nien a(S eine und SRen^
fc^en gefegte ®renje, bie wir in bemütiger SBere^rung anerfennen
mfiffen, unb fi^ an baSjenige )u galten, xoa^ ganj beftimmt unb
fa^lic^ ift, nämlid^ ben religiöfen Orunbproje^ aU ein reales ©r*
leben mit ®ott ftatt beffen bleibt man grabe mit einem ©efü^le
romantifc^en ©c^auerS bei ber Unfa^lid)feit fte^en. 9Kit tiefer
6rgriffent|eit rebet man baoon, ba§ mir in bic Unenblic^teit ^in*
ein „Sßater" fagen unb üon bem ®migen nur ju ftammeln oer*
mögen. 9Bir moQen biefe ©timmung burd)au§ nid^t Derurteilen.
SBir üermögen fie auc^ nic^t nur mitjuempfinben al§ SBlitlebenbe
unfrer Qtxt; etmaS bauon erfd)eint un§ fogar al§ ganj berec^*
tigt, nämlid) eben jene ftiüe unb e^rfurd|t§Poüe 2lnerfennung ber
un§ 3Wenfd)en geftedten ©renjen. 9lur barf biefe ©mpfinbung
nic^t ju ftarl merben. 3Bir bürfen nid)t fteden bleiben in folc^er
romantifd)en Unbeftimmt^eit ; ba§ märe gleid) einem ©tel)enbleiben
auf falbem SBege, ben 93lid rürfmärt§ geroenbet. ^ener SBeg
nämlic^ fü^rt oon ber altbogmatifc^en S)enfmeife, bie ganj 93e»=
ftimmtes; oon @ott m e i § , über bie ®rfenntni§ be§ fgmbolifc^en
S^aratterS unfver ®(auben§au§fagen jur eigentlich religiöfen S)ent^
roeife, bie ganj SeftimmteS mit Oott unb non Oott erlebt
b. \). aber, er fül)rt gerabe jur eigentlid)en religiöfen ©eftimmt»
^eit. 9)iefe ^eftimmtbeit gilt e§ al§ eine mirfli^e 93eftimmt^eit
unb al§ bie einjige ^ier juläffige QSeftimmtl^eit erfennen. 9Kan
blide nic^t beftänbig auf ©runb nacbn^irfenbcr Oemo^n^eit auf
bie alte oerloren gegangene 2li't ber 93eftimmt^eit jurüct. S)ann
ift ©efa^r, ba^ jene romantifc^en Smpfinbungeu ju ftarf merben
unb übevmuc^ern ; unb man fie^t nid)t, wie gefte§ unb ©olibeS
burc^ ben SRüdgang auf ba§ religiöfe ©runberteben gemonuen
roorben ift. Unfre 2lnfid)t menigftcnS ift, bei aller ®infid)t in
ben fgmbolifdien Sfiarafter aü unfrer 3tu§fagen über @ott grabe
an bem lebenbigen religiöfen ®runbproje§ bc§ (J^riftentumS etroaS
426 (Steinmann: ^te lebenbige ^erfönnd^feit ®otte§ :c
ganj SagUc^cS unb in fi^ fclbft mannigfoltig unb reic^ 93efltmmteS
an ©otteScrfal^rung gewonnen ju l^aben. ®ie weiteren ®arte*
gungen, fo l^offe i^, werben ba§ betätigen.
II.
SBir Iiaben im bisherigen bei unfrcr ©e^anblung ber reli«
giöfen ^hz^ ber $er[önli(^teit ®otte§ einen religiös grabe fc^r
bebeutf amen 3^9 ^n biefer 9»bee junäc^ft unberüdtfic^tigt gelaff en :
SlQe perfönlidbe fSfla6)t eines religiöfen (SlaubenS ift l e b e n b i g
mirtfam. Qm ^ntereffc ber SBereinfad^ung unfre? ^roblemS em*
pfal^I eS ftc^ aber, junäd^ft einmal t)on biefem fünfte abjufe^en.
3)od^ fielen bie perfönlidie Söffung ber (Sott^eiten unb i^re 6r=
faffung al§ lebenbig waltenber 3Wdd^te in benfbar engftem 3u«
fammenl^ang. SBotlen wir eine irgenbwie erfc^öpfenbc 93e^anb»
hing ber auf bie ®ötter angewenbeten ^erfönlid)feit8ibee geben,
bann muffen wir biefe§ einfad^ baju gcl^örige ©türf je^t nac^«
träglic^ no^ ju feinem Siecht fommen laffen.
SBir fe^en oorauS, ba^ bie 3ibce ber Sebenbigfeit ©otteS fic^
ber 3}erfcl)iebenartigfeit ber ^erfönlic^feitsibec entfprei^enb oer*
fd)iebcn ausnehmen werbe. 2)arum legen wir aud) ^ier unfrc
Unterfud)ung üon vorneherein jweiteilig an unb fragen junä^ft
nac^ ber 2lrt ber Sebenbigfeit ber p f g d^ i f c^ perfönli^ gebeerten
©ott^eiten. — S)ie ®ötter als pfgd^ifc^e refp. Äulturperfönlic^«
feiten befi^en bie fpejififc^ pfgd^ifc^c Sebenbigfeit. @S ift ba§
ganj unmittelbar mit ber antl^ropomorpl^ifierenben ©rfaffung ber
©ott^eiten gegeben, ©ofern itinen als ^erfönlic^feiten bie QüQt
beS menfd^lic^en ©eefenlebenS eignen, eignen i^nen eben bamit ju*
gleich bie 3üge menfd)li^ feelifc^er Sebenbigfeit. SJiefe pf9d^ifc^c
Sebenbigfeit aber ift ber jebem feelifc^en 3)afein eigentümlici^e
SGBec^fel innerer 3uftänbe, mit weld)em eS auf ben SD3ed)fel äußerer
®inbrüde in ibm eigentümlid)er SBeife reagiert burd) mannigfoc^
fic^ ablöfcnbe ©mpfinbungen unb Stimmungen unb 9lffefte, 95e*
gel)rungcn unb ©ntfc^Iüffe. ©eelifc^ lebenbig ift ja boc^ baS
SBefen, welches auf bie SSeränberungen in ber 2lu§enwelt, fofem
eS oon benfelben berütirt wirb, in biefer wedifetnben 3Beife ant*
wortet; wo ein fol^er SCBedtifel oon innen ^erauS erfotgenber
st ein mann: ^ie lebenbige ^erfönüc^fcit ©otteS jc 427
SRcattioncn ni^t ftattfinbct, ba l^errfc^t fcclifci)cr %ob. 3)iefcr
SBBc^fcl ber inneren ^wftänbe unb bemcntfpred)enb auc^ bcr 93c*
tätigungen nad) au^en ift gerabeju ba§ c^arafteriftifc^e 9Ker!nxal
feelifdier Sebenbig!cit.
S)iefe 3trt fiebenbigfeit alfo befi^en bie al§ pfgc^ifc^e ?ßer*
fönlic^teiten oorgeftellten göttlichen 3Wäd|te o^ne roeitereg, eben weil
fie pfgc^ifc^c ^er|önli(^feiten [tnb. Unb barum t|at c§ mit biefer
Sluffaffung ber ®ötter al§ tebenbiger SWäd^te ganj biefelbe 93en)anbt*
ni§ wie mit i^rer 2luffaffung aU pfg^ifdier ^erfönlid^teiten über*
^aupt. 2llte§ roa§ mir üon ber inl^altlidien 93efc^affen]^eit biefer
retigiöfcn Sßorftellung, oon il^rcr roörtlid)en ®rtenntni§bebeutung
unb t)on ber SÄrt i^rer ©emi^tieit au§gefül^rt l^aben, ba§ gilt a\xdf
t)on ber mit ilir fo eng jujammen^ängenben 93orfteHung ber fie*
bcnbigteit ber ©ötter. 3lu^ l|ier atfo ^anbelt e§ fid^ um ein fel^r
anf^auli^e§ Ueberlieferung^miffen von ber ©yiftenj unb bem
Seben ber ©ötter bei ft^ felbft. Unb neben biefem mel^r an*
fc^aulic^en Ucberlieferung§miffen gibt e§ auc^ l^ier ein abftraftere§
SBiffen burc^ 93emei§. SBie genau mei^ nidjt 3. 93. bie altbog*
matifc^e 2lrt auf er bem 2)afein ®otte§ au^ fein SBirfen ju be*
finieren unb ju bebujieren! — 2Bir oermeilen un§ aber nic^t bei
einet au§fü^rlid^eren Darlegung be§ eben 2Ingebeuteten ; mir mür*
ben ja bamit im mefentlidien nur fd)on ®efagte§ miebert)olen.
9iur bejügtid) ber ©emif l^eit t)on ber Scbenbigfeit biefer
göttlichen SWäd^te ift t|ier nod^ einiget ju bemer!en^).
©ofcrn bie ©ottl^eiten im pfg^ifi^en ©inne lebenbig fmb,
änbern fie j|e nad) ben Umftänben im einjelnen if)re ©ntfc^lie*
jungen. 2)iefer Qvlq göttlicher fiebenbigfeit nun ift für bie religiöfe
^raji§ Don 93ebeutung, fofern fie eine ber menfc^lidien 2lrt ana*
löge ©eftimmbarfeit einfc^lieft. ©ben biefe 93eftimmbarfeit ber
©Otter aber ift bie aSorau§fe^ung ber ganjen polgt^eiftifc^en ©ötter*
oerelirung. 93ebeutet l)ier bod) ber Sultu§, wenn ni(^t au§fd)lieg*
li^, fo boc^ in altermeiteftem Umfang, einen SSerfudt), uon ben
©Ottern etma^ ju erlangen. S)a§ eben ift ba§ 93ebeutfamc an
jenen überlegenen ajJäcf)ten, baf man beffen geroif fein tann, fie
get)en auf bie SBünfc^e unb 93itten ber 3Jlenfc^en ein, roenn au^
1) SSergl. bie Sliimerfuiig auf 8. 422.
428 (Steinmann: ^ie febenbtge $erfönli(^!eit (^otteS 2C
nict)t ol^nc i^rcrfcit§ beftimmtc Scbingungcn gu ftcüen, wie . e§
i^vem S^araftcr aU ©arantcn beftimmtcr Kulturovbnungen cnt*
fpric^t. ^ebenfalls, ein ®oü, bev nic^t in bem ©inn lebenbig
ift, bafe al§ 3lntn)ort auf ben SBec^fel beö menfd)lic^en 35er^a[ten§
auc^ Don i^m ein SBed)fel ber ©timmungen unb @ntfd)Iüffc unb
barau§ folgenb ein SGBec^fel feiner Betätigung gegen ben 9)]enfrf)en
eriüartet werben fann, ba§ ift nid^t ein lebenbiger ®ott tüic i^n
biefe 9ieligion§ftufe bc^ do, ut des braucht;
3Son ^ier au§ nun tritt bem Ueberlieferung^roiffen über bie
©Otter ein Qvlq fubjettio bebingter @en)ipf|cit l^inju. SBBeun loir
ndmlic^ bie göttlid)e Sebenbigfeit in biefem religiös bebeutfamen
©inn oerftc^en, b. \). aU eine ^ä^iflfcit unb SöiÜigteit, ben aWen*
fd)en auf i^r red)te« SKnfud^en ^in ju Reifen, bann fönnen xoxv
fe^r roo^t fagen: auc^ ber ant]^ropomorpl)ifterenbe ^olgt^eiSmuä
ift oon ber Sebenbigfeit feiner ®ötter überjeugt. SBBir oer*
raenben babei ba§ SCBort Ueberjcugung in feiner allgemeineren Se»
beutung. ®§ mirb gelten, feftjufteQen, mie fic^ biefe innerlich
gegrünbete ©eroi^tieit oon ber Ueberjeugung im fpejififc^en ©inne
unterfc^eibet unb oon roel^er befonberen 2lrt fie ift.
3)ie Slbgrenjung gegen bie Ueberjeugung im engereu ©inne
be§ aCBorteS ift leicht DoDjogen : e§ ^anbelt fid^ l^ier nic^t um eine
im geiftigen Seben^proje^ gegrünbete ©emi^^eit. 933el^eS aber
ift bie b e f 0 n b e r e älrt biefer fubjeftiüen ©emi^eit bejfigUd)
ber pfric^ifc^en Sebenbigfeit ber ©ott^eiten? 3i^ren mir un§ nic^t,
bann lägt fic^ jur K^arafterifierung biefer ©emig^eit l^erbeijie^en^
mag man gelegentlid^, miemo^l mit Unred^t, jur ©rflärung ber
©ötteroorfteQung überl^aupt l^at uermenben moUen. ^ie man
bort bie ©Otter burd^ il)re 93e}eid)nuug als äBunfc^mefeu glaubte
fomo^l erflärt al§ genügenb gefennjeic^net ju traben, genau fo^
nur eben mit met)r Sle^t, möchten mir jene ©emig^eit al§ eine
SBunfc^gemig^eit bejeidinen. ®ag ber bloge SBunfc^ nad^ ftarfer
^ilfe allen möglichen 9töten gegenüber rein au§ fic^ ^erau« bie
©emig^eit erftanfänglic^ follte erfd^affen ^aben, eS gebe ir=
genbmo unb irgenbmie ju folc^er ^ilfe befähigte SDSefen: ba§ ift
ja gewiß eine Sf^eorie, bie alle 2lnalogie mit ber pfgc^ifc^en 6r*
fa^rung hinter fic^ jurürflägt. 2lnber§ aber fte^t e§ mit ber ©e*
©teinmann: ^te lebenbige $erfönlid^!eit @ottz2 ic. 429
ipi^l^cit i>ci^ mcnfc^cnartigc, übcrmcnfc^lic^c Sffiefen, faü§ fie al§
Dor^onben angenommen roerben, mit fic^ l^anbeln laffen, olfo and)
aU Reifer ju gewinnen finb. S)iefc ©emi^l^eit, nidjt oon ber
Sjiftenj folc^er 3EBefen überhaupt, fonbern (nad|bem i^re Sjiftenj
anberroeitig fc^on feftftünbe) oon itjter Jöereitmittigteit, unter bc*
fonberen ^ebingungen }u l^elfen: baS lie^e fic^ gerabe in ä(na«
logie mit fonft befannten feelifc^en SSorgängen al§ SBunfc^ge«
Tüi&^eit oerfte^en*).
Sq^ eS etmaS berartigeS mie äBunfdigemi^^eit gibt, ift ja
befannt genug. SBir braudien ba nur ju erinnern an bie güüe
t)on felbfttäufdienber ©emi^^eit, beren etwa bie natürliche SWutter^»
liebe fä^ig ift, ober an bie naioe ©emi^^eit einer jeben Station
pon i^rer jic^ ftetS beroätirenben überragenben 93ortreffIid)feit —
SBeiter geben xüix ju bebenfen, baß mit §ilfe biefer pfgc^ifdien
9lnaIogie nidjt bie SBorftellung irgenbmeldier 93e[timmbar!eit ber
©Otter überl^aupt erflärt werben foK, fonbern bie ä^^^^P^t be§
SWenfc^en jur ^ i I f e feiner ©ottt)eiten, faU§ er ndmli^ bcftimmte
93cbingungen erfüllt l^at. 3)er 3Serfuc^ bagegen, jene menfd)en=
ä^nlid^en 3Wäd)tc überhaupt burd) ®aitn ju beftimmen, ift etma^
fo unenblic^ 9la^eliegenbeS, roo einmal bie Sßorftellung oon fold)en
9Jldd|ten oort|anben ift, baß er fic^ bann gan} oon felbft einftel^
len mirb. ©iner befonberen ©eroiß^eit bebarf eä eigentlich nur
barüber, baß biefen fo na^eliegenben 93emü^ungen unter beftimm«
ten Umftänben ein ©rfolg f i d^ e r ift. 2)aß er irgcnbmie al§
m ö g l i d) erwartet roirb, ift eigentlid) eine ganj felbftoerftänblid)e
©ac^e. S)ie SBunfc^geroiß^eit fe^t alfo erft bort ein, roo bie af^
pfgdiifc^ tebenbig, b. l). aber auc^ al§ beftimmbar gebac^ten 9Q3e*
fen grabe aU Reifer in allen möglichen Slöten aufgefaßt mer^'
ben, ober wo an ©teile ber Ungemißlieit gegenüber allen mög*
lid^en, immerhin aud) beftimmbaren, bämonifd)en SWäc^ten bie
3uoerfi^t ju oeret)rten, ganj fidier beftimmbaren ©ottlieiten ge»
treten ift. 3)enn oline ^J^^if^l M* ^i^ lebenbige ©ott^eit überall
ein SBefen, ju beffen |)ilfe feine a3erel)rer irgenbroie 3u^«^'ficf)t
1) ^ie e^rage banad), mie too^I bie S3orfteQung bou jenfeitigen ^ad)ten
fiber^aupt guftnnbe oefoniinen fein bürfte, intereffiert imS ^ier nid)t imb !amt
in unferm ^iifaniuieii^ang interörtert bleiben.
430 @tetnmann: ^te lebenbige ^erfönlic^feit ®otte$ 2c
Ijabcn. 2)icfc 3"^JC^ri^t nun aber crHärt fi^ oottauf auf her einen
(Seite au§ ber gefteigerten Sßorfleüung oon ber ©ott^eit, auf ber
anbern ©eite aber eben burc^ bie fubjettioe Äraft be§ 95ege^ren§
nad) folc^er ^i(fe. @§ ift äl^nli^ m^ bei ber 9Bunf^gen)i^^eit
eine§ Firmen, ber einen aU pgängUc^ befannten äJlä^tigen auf
jenem rool^Igefäßige SBeife um feine ^ilfe angebt. 3lur ^at jener
2lrme e§ f^roerer, feine äBunfc^gemi^^eit feftjul^atten. 3)enn ber
einjelne fromme fielet fid^ ja bod^ ringg oon äl^nlid)er ^^^erfic^t
umgeben, bie in ganj berfelben SRic^tung ge^t 2lu§erbem ift eine
b i r e f t e SBiberlegung feiner @en)i|^eit au§gefc^(offen. SIuc^
loenn fi(^ i^m feine 93itte ni^t erfüllt, ift e§ boc^ nid^t ber bi=
refte 93efc^eib: e§ fällt mir nid^t ein, bir ju Reifen; unb immer
ift ber SRüdfjug auf bie SBorfteHung möglich, ba§ eben oon feiner
©eite nodö ein met)rere§ I|ättc getan merben muffen.
<3n biefem ©inne alfo ift bie Qhtt ber Sebenbigfeit ber pfp*
6)X]d) perföntic^en ®ott{)eit ni^t nur ein ©egenftanb beS objeftio
gegrünbeten UeberlieferungSmiffenS, fonbern juglei^ ber fubjeftio
gegrünbeten 9Bunfd|gen)i|^eit. 3)iefe Sffiunfc^gemi^^eit crftredt
fid) aber nic^t auf alle 309^ ^c^ anfd^aulic^ l^erau^geftalteten
^ulturperfönlid|teit ber ©ott^eit, fonbern lebiglid) auf i^re pfg*
c^ifd^e Sebenbigfeit al§ eine ^ereitmiUigteit, fid) burd^ menfc^Uc^e
Sitte unb ®abz beftimmen ju laffen. Unb fte ^ängt innerlich
jufammen mit ber SBorfteHung oom religiöfen Sßerl^ättniö al§ ei*
nem SSerl^ältniS be§ do, ut des. ®rabe auc^ bie§ gilt e§ im
2luge ju bel)alten. —
SBic nun ftellt fid) bie Sebenbigfeit ®otteS im ßwf^"^^"^"*
^ang mit feiner ©rfaffung al§ geiftige ?ßerfönlid^feit bar?
<^ier l^anbelte e§ fi^ ja nid^t um eine eigentlich ant^ropo-
morp^ifierenbe SSorftetlung oon @ott. Qmmer^in mürbe aber
bod) (Sotte§ Söefen in ber Slic^tung be§ ooHenbeten menfc^lic^en
^^?erfönlic^feit§(eben§ gefud)t unb fgmbolifd) burd^ ßüge be§ te§*
teren bejeid)net. 3)arum loirb un§ eine flare ®infi^t barüber,
in n)eld)cm Sinne eine menfd^lidje geiftige ^erfonlic^feit
lebenbig genannt wirb, immert)in oon 9lu^en fein tonnen. —
93on lebenbigem religiöfen ©lauben reben mir, um auSjubrürfen,
ba$ ba§ perfönlic^e Seben t)ier in feiner religiöfen Jorm au§ge*
8t einmann: ^ie lebenbtge ^erfönlid^feit ®otte§ k. 431
reift ift, b. f). aber, bag e§ 2:tcfe unb ©tetigfeit gewonnen ^at
unb fic^ jo in jeber Seben^Iage au§roirtt. ©benfo ift c§ mit le*
benbigem ftttlic^en ©mpfinben, lebenbigcr fünftlerifc^er 2lrt, leben«
bigcm wiffenfc^aftlic^en ©inn. ^n^mcr l^anbclt e§ fic^ barum,
ba§ bie betreffenbe geiftige 'Slrt in fxd) geftigfeit unb 93eftanb
unb auSreic^enbe 2:iefc gewonnen l^at unb fid) auf @runb beffen
in jeber Situation bur^jufe^en n)ei|. 93ei biefer Sebenbigteit
tommt e§ nid^t auf ben SBec^fcl ber (Stimmungen an. gür bie
f cclifc^e Sebenbigfeit xoax gerabe ba§ entfdjeibenb bebeutfam.
SBenn j. 93. eine pfgd)if(I)e ÄuUurperfönlid)!eit in bem leb^afteften
SBcd^fel innerer 3wpänbe unb unter beftänbigem ©anbei it)rer
®ntfd|Ififfe unb äußeren SWa^na^men ft^ nur felbft ju bel^aupten
roeijs, fo pulftert fie oon ftarfem fieben ber i^r jufommenben 2Irt.
®oId)e gtejibititcit befi^t bie geiftige ^erfönlid)feit grabe nic^t,
^icr fommt eS geroi^ nic^t an auf ben beftänbigen SBBedifel ber
(Stimmungen unb ein immer erneutet (5id|aftommobieren ber ®ut*
fd|lüffe. (Sonbern ba§ ift ba§ i^r eigentümlidje Seben, ba§ i^r
eine beftimmte 3i^I^i^*^^9 gemiefen ift, bie fi^ nun mel^r unb
me^r in aller ^raft burc^fe^t, unb baj3 bie Eigenart ber Son*
jentration alle§ ®afein§ na6) biefer beftimmten SRic^tung immer
tiefer bur^lebt mirb. Ober, roie mir fc^on fugten: ©tetigfeit,
geftigfeit unb Siefe — unb bem fönnten mir etma noc^ 9Baf)rs
^aftigfeit ^injufügen — fmb bie ©l^arafterjüge ber Sebenbigteit
be§ geiftigen ^erföntid)feit§(eben§.
2let|nlic^e§ nun bebeutet bie Qbee ber Sebenbigfeit im Qn^
fammenl^ang ber (Srfaffung Oottes at§ geiftiger ^erfönlic^feit.
903enn ^ier eine 2lnnät|erung an eine SBorftellung oon ©ottes
SBefen nur in ber Slid^tung be§ merbenben geiftigen ^erfoucn-
lebend gefud^t wirb, ni(^t bur^ gefteigerte Uebertragung oon Qüc^tn
ber feelifd^en $erfönli^feit§art be§ SUlenfc^en, bann tiaben mir
un§ bod^ mo^l aud) bie Sebenbigfeit @otte§ nid^t nac^ 9tnalogie
mit ber feelifd()en Sebenbigfeit au§jumalen, muffen un§ t)ielmef)r
bei aUen Slu^fütirungen barüber in ber SRidtjtung beSjenigen be*
megen, roa§ mir foeben al§ Sebenbigfeit bes geiftigen ^erfonen*
lebend bezeichneten. SQ3irb l^ier ®ott betonenb „ber lebenbige" ge^»
nannt, fo ift alfo bamit nid)t gemeint ein SÖSe^fel oon ©tim*
432 @ t e i n m a n n : Die lebenbige $erfönU^!eit (3ottt^ 2C
mutigen unb ©ntfc^Iüffeti in ber 6ecle ®ottc§, fonbern, in äna*
logie mit ber SSoUenbung geiftiger fiebenbigfeit bie unermfibtic^e
©tetigtcit unb Kraft feintö jielmirtenben croigcn SEBefenS. Unb
bafe ©otteS Sebenbigteit non ber religiofcn (Sprache (man bente
3. ^. an ba§ 9(Ite Seftament) unenbU^ oft mirfUc^ fo gemeint
ift, bcbarf ja nur ber Srinnerung.
@§ ift nun aber meiter f(ar, ba^ e§ fid) babei and) ^ier
mieber ni^t eigentlid) um eine b i r e 1 1 e Uebertragung ber gei«
ftigen Sebenbigteit auf @ott ()anbeln !ann. @o mirb von ber
2iiefe unb geftigteit feineö inneren Seben^, fomie ber inneren
SEßa^r^aftigfeit feiner geiftigen 2lrt entmeber gar nic^t ober nur
in fe^r übertragenem ©inne gerebet werben tonnen. 2lu^ biefe
©ejeic^nungen beS göttli(^en SBefen^ unb äBirfenS ftnb nic^t 35e*
finitionen ober bem 2l€^nlicf)e§, fonbern SGBegroeifer für unferc ®r*
faffung feineS 3Befen§. Ueber^aupt tommt ja bie Konzeption ber
religiöfen ^bcc ber Sebenbigteit be§ perfönlic^en ®otte§ gar nic^t
auf bem SBege einer blopen Uebertragung ber Orunbjügc ber
geiftigen Sebenbigteit auf i^n juftanbe, al§ ob eS ftc^ an biefem
$untte im 3uf^tn^^n^^i^9 ber Ueberjeugung oon @ott al§ gei-
fliger ^crfönlic^feit bod^ loieber um eine mritl^ologifierenbe ^c*
fd)ieibung feiner inneren SRegfamteit l^anbeln tonnte. 2luc^ ber
©a^, ba^ ber perfönlid)e @ott ein lebenbiger ®ott ift, fpric^t
nic^t ein berartige§ SQBiffen über ®ott au§, fonbern oielmel^r eine
3ui)erftc^t ju i^m. „Unfev ®ott ift ein lebenbiger ®ott", ba§
l)ei&t für bie djriftlic^e grömmigteit, ba§ auf i^n ein felfenfefter
aScvIa^ ift in ben inneren 9töten unb Unfertigfeiten beS roerben»
ben geiftigen Scben§, mie man fic^ auf bie uuroiberftetilic^e ätt*
gemalt eines ganj unb gar ftetigen geiftigen SBSillenS unbebingt
oerlaffen tann.
®iefe religiöfe 3uDerfid)t }u ®ott, bie mir un§ jum 93en)uBt«
fein bringen, inbem mir .it)n ben „Icbenbigen" nennen, ift nun
aber gar nic^t irgenb etmaS, maS gu ber Uebergeugung oon @otte§
geiftiger ^erfönlid^teit nod^ Ijinjutreten mügte. ©c^on bie ®e*
jeic^nuug @otte§ ate geiftiger ^erfönli^teit überhaupt mar jo
2tu§bruct ber äw^^^^fi^t be§ roerbenben ®eifteSleben§ 5U i^m.
Selbe Q3ejeid|nungen finb rourjeleinig. g^r ben ®lauben ift
stein mann: S)ie Icbenbige ^erfönlic^fcit ®otte3 :c. 433
®ott geiftigc '»ßcrfönlid^fcit eben al§ (cbenbiger unb febenbig in
ber 5orm geiftiger ^erfönlic^teit. 2)tc ^fbee ber Sebenbigtcit
bringt nur beuttic^er al§ bie anberc @ottc§ 95ejiel|ung }um menfd)*
li^en ^erfonenleben jum 2lu§brud. ®iefelbe liegt ja freilid) in
®otte§ allgemeiner öejeic^nung al§ geiftige ^erfönlid)feit eigent*
(Ictj fd|on mit barin; benn geiftige $erfön(id)feit entfjätt ja boc^
unmittelbar baS SWoment ber tätigen 93e}ie]^ung auf anbere, unb
oornefimlic^ @otte§ 33e}eid)nung al§ geiftige ^erfönlid)teit meint
i^n ja bod^ al§ ben gorberer unb SSemirfer geiftigen ^erfonen«
lebend au§ feiner innerften ßebcn§füfle ^erau§, unb nid^t fonft*
mie. Qn ber Qbec ber Sebcnbigfeit mirb aber biefe§ 3Koment
ber tätigen 93e}iet|ung ®otte§ jum roerbenben ^erfonenleben be«
fonber§ ]^eroorgel)oben unb mit befonberem 3lu§brucf
bejcic^net. Unb biefe befonber§ au^gefproc^ene 3u^^^nd)t
ju i^m fleiben mir nun im einselnen in f^mbolifc^e ric^tuug*
meifenbe 2lu§fagen über ii|n, inbem mir, bem menfc^Iic^en ®eifle§*
leben 93oKenbung§jüge entletinenb, etma üon @otte§ Streue, Qiu
perläffigteit, SBa^r^aftigteit, ^eiligem 3Biüen u. f. m. rcben'). —
2luc^ bei biefer 3ut>crfic^t }um lebenbigen (Sott ^anbelt eS
ftd) nun gemi^ nic^t um eine romantifct)e lieber jeugung§geroi|t|eit
üon ber 9lrt, gegen bie mir unfern ©tanbpunft oben abjugrenjen
oerfu^ten. @§ ift nic^t irgenbmie eine 93el)auptung in§ leere
unb ungeroiffe hinein, nur getragen t)on einer 2lrt ©elbftbel^aup*
tung^trieb be§ merbenben ®eifte§leben§ , ober eine 2lrt geiftiger
8Sunfd)gen)i^^eit. ©o wenig mie bie Ueberjeugung Don ®otte§
geiftiger ^erfönli^feit etmaS berartige§ ift, fo wenig au(^ biefe
Ueberjeugung oon feiner geiftigen Sebenbigteit ; ba§ eine ift ja
bod) in unb mit bem afibern gegeben. SBielme^r, mie bie Qu-
perfid)t be§ cinjetnen merbenben ®eiftegteben§ ju einem e§ be*
1) STel^nHc^ alfO; mie gut j)fDcf)ifcöen Sßevfonlicöfcit ber ©öttcr t^re pfQ*
d)tfc^e Sebcnbigfeit o^iie meitere« mit baju gehört, laffcn ftd) aud^ @otte^
geiftige Sßerfj>nlid)feit unb feine Sebcnbigfeit nid)t uoneinanber trennen. ^Jlur
ift ber 3"föinmenöang l&icr ein onberer tüic bort. ®ort ift c8 bie 3ufaiumen*
ge^örigfeit einer cin^citlid)en Slnfc^auung, bie al« ganje auf bie (Sott^citen
migetuenbct toirb ; ^ier ift eS ein 3"fatt"wenöaiig ber religiofcn Swöerflc^t bc«
geiftigen 2tbtn^ ju @ott.
434 <Steinmann: ^ie lebenbtge $erfönlic^!eit ©otteiS zc
roirfenbcn unb forbcrnbcn gciftperfonlic^cn @ott auf einem (Seiftet-
ertebniS an ber ©efamt^eit be§ ^erfönlic^teitslebenS beruht, im
befonbcren auf bem ©inbrud von ber gleic^fam sentralen ^crfon*
lic^teit biefe§ geiftigeu @efamtlc6en§, beten ganje^ ^erfönltc^*
feitSleben berou^tevma^en üon ®ott l^er mar (üergt. ©. 421), fo
auc^ bie 3woerfic^t jum lebenbigen @ott in bem foeben bärge*
legten ©inne. SBenn wir au§)pred|cn, ba§ ber geiftperfßnfid^e
®ott ein tebenbiger ®ott ift, fo geben mir auc^ bamit einer ganj
beftimmten religiöfen ©rfa^rung in ber Sprache
ber religiöfen ©gmbolit jutreffenben 2Iu§brurf. — Qnbem mir
uu§ nun biefe @rfal^rung beutlid^er ju oergegenmärtigen fuc^en,
werben mir jugteid^ üon bem oben (©.420 ff.) angebeuteten reli*
giöfen ©runberleben ein flareö 33Ub gcminnen. ^tmx e§ l^anbelt
fid) f)ier ja, mie gefagt, nic^t um jmeierlei Vorgänge, fonbem im
legten ©runbe um ganj biefelbe ©ac^e; ber geiftperfönlic^e ®ott
wirb immer jugleic^ al§ ber lebenbige erfahren. 3)iefe§ geiftige
©rieben nun ift fo(genbe§.
SDBir finben un§ mit unferm einjelnen merbenben ®eifte§»
leben in einen umfaffeuben 3ufammenl|ang beä geiftigen Sehens
^ineingefteDt. SBiemo^l ba§ geiftige ßeben etma§ SlHerperfönlic^ftc^
ift, in feinem jebe^maligen ©rroac^en ©ad^e ber perfönlic^en 6ut*
fd)eibung be§ einjelnen unb in feinem gortfc^ritt immer miebcr
bie Satfraft be§ einzelnen aufrufenb, boc^ fte^t e§ nic^t eigent«
lid) auf ber 3:at be§ einjelnen. SBielme^r ein jeber, ber fein in^
biüibueUeS @eifte§ringen mit einiger Älartieit über fein SBo^er
unb aSie barlebt, wirb fic^ ooUfommen beutlic^ beffen bemüht
fein, mie es; in einem umfaffenben geiftigen ®efamtleben murjelt.
aSon borttier treten an ben einjelnen beftänbig SRa^nungen, 5or»
berungen unb 3umutungen ^eran, benen freilid) in feinem Innern
etn)a§ antwortet, bie aber nic^t in feinem -Innern urroü^fig ent*
ftanben finb. Unb nidjt nur foli^e 3^>^^wtungen erlebt er uon
bort, fonbern aud| bireftere Kräftigung unb ©tärfung burc^ un«
mittelbar erl)ebenbe ®inflüffe, bie i^n gleid^fam mit fortreiten.
©0 erroad)t im einjelnen ba§ ®eiftige ftet§ oon biefer ©efamt^eit
l)er unb mirb oon it|r t)er auc^ bauernb geförbert unb angeregt*
ffiie im erften ©eifte^ermac^en, fo aud) fernerhin mit feinem gan«
<3teinmann: ^te lebenbige $erf5ttltd^!ett Q^otteS 2C. 435
jen inneren 93eftanb fü^It fic^ fo ber einjelne von biefem ®e^
famtleben nid)t nur weiter gebrängt, f onbern umhegt unb getragen.
Uub oornel^ntlic^ bei ben ©d)n)anfungen feinc§ roerbenben 6in§el«
perföntic^feit§Ieben§ ift bie§ üon großer ©ebeutung. Söie felir in
i^m felbft aDe§ unfertig unb fdiroanfenb fein mag, in feinem gort*
gang, mol^l gar in feinem 93eftanb, immer roieber in g^age ge*
fteHt — bcftänbig gleich bleiben jene 3Jlal^nungen unb gorbe«
rungen unb fräftigenben ®inflüffe non bort ^er. 3)a ift etma^
por^anben, ba§ an i^m mie mit unermübtic^er Xreue weiter mirft
unb feine JRu^e lä^t. — Unb ba§ nun eben ift jene ©rfa^rung
üctt ber Sebenbig!eit @otte§ al§ einer ftetigen SUladitmirfung auf
ba^ eine 3i^t ^i"- ©o rein für fi^ genommen ift e§ \a freilid)
nic^t unmittelbar ® o 1 1 e § erfa^rung. Unb e§ fül^rt aud) alle
Vertiefung in biefe§ allgemeine geiftige ®rlebni§ nid)t oou fid)
felbft au§ baju, barin @otte§ Sebenbigfcit ju erblidten. 3)aju
bebarf e§ glei^fam einer befonberen 9lugenöffnung, wie fie fid)
an uns; erft oolljie^t burc^ ba§ innere 91nteilgeminnen am reli*
g i ö f e n (Sefamtleben, ba§ in 3»^fu§ murjelt, unb im befonberen
burd^ eine birefte innere 93erü^rung mit biefer ^erfon felbft.
®ann aber wirb un§ eben ^ier @otte§ lebenbige§ SBBirfen fie*
benSerfatirung. @§ift ^ier nid)t oor^anben nur bie 58e»
^auptung oon einem etma gar irgenbroo in jenfeitigen Stegionen
fid) ooUjietienben SBolleu unb SCBirfen ®otte§, fonbern mir erleben
ganj bireft biefeig lebenbige SBatten @otte§ an unferm roerbenbeu
@eifte§leben. 9lnbere erleben ba§ a\x6); ber religiöfe ®laube ift
anwerbe m überzeugt jumiffen, n)a§ er bamit erlebt. SÖBeil il^m bie
Slugen glei^fam meiter geöffnet finb, barum ftel)t er ^ier überall
®ott am SBBerfe. Unb inbem er fid) über biefe feine lebenbige
®otteSer f a^r ung au§fprid)t, rebet er oon ber geiftigen £e*
benbigfeit ®otteö b. \). t)on ber unermüblid)en ©tetigfeit uub
Jreue feinet l)eiligen SBBilleng.
9Rau roirb nun aber oietleic^t bie ©mpfinbung t)aben, al§
feien pfg^ifc^e unb geiftige Sebenbigfeit ®otte§ in unfrer 3)ar>
ftellung meiter au^einanber gerüdtt loorben, al^ e§ bem (5ad)Der«
^alt entfpric^t, roenn mir bie geiftige Sebenbigfeit ®otteg mit
biefer erfaf)rbaren ©tetigfeit unb 2ireue feinet l)eiligen roirffamen
436 ©teinmann: 3)tc (ebcnbtgc ^crf önlic^feit ©otteS :c
S33ittcn§ oottftanbig glci^fc^tcn. 2)iefer ©mpfinbung Hegt cttoaS
©crcditigteg ju ©runbe. Ot)ne 3"^^'!^^ njiÜ ja bod) bic93egeic^*
nung ®otte§ al§ be§ Sebcnbigcn auc^ für bic ©tufc feiner über*
jeugung^mä^igen geiftigen ©rfaffung me^r befagen, al§ roir bisf^
I)er afö ben religiös bebeutfamen unb erfa^rbaren Sem biefcr
^bee l^erau§juftcl(en üerfud^ten. Unb eben biefe§, beffcn 6rn)ä^*
nung wir üorerft noc^ jurürfgefteßt ^aben, ift geeignet, bie beiben
Sitten ber Sebenbigteit @otte§ einanbev in ^ö^erem aWage üer»
lüanbt erfd^einen ju taffen. 6§ wirb fic^ frei(id) auc^ l^ier bei
einer tieferge^enben Unterfuci^ung jeigen, n)ie fe^r boc^ bie loefent*
lic^e SJifferenj eine geroiffe ganj äu^erlic^e 9le^nli^feit überwiegt.
SBenn ber JJromme ben geiftperfönlid)en (Sott al8 lebenbig
bejeid^net, fo benft er fic^erlid) nic^t nur an bie ffraft unb SJlac^t
unb ©tetigfeit feine§ ^^erfönli^feitöroitlenS. ®§ ift bamtt auc^
gemeint, bafe ber geiftperfönli^e (Sott gerobe in oUem SBec^fel
ber @d)icffQle unb in aüen SDSanblungcn be§ äußeren unb inneren
Seben§, foroo^l be§ einjelnen aU ber (Sefamt^eit, ftet§ roirffam
gegenwärtig ift. 2)a§ fd)eint eine geroiffe ^t^yibilitat unb SBanbel*
barfeit ®otte§ ju umfd)lie§en, bie an bie innere 9en)eglict)feit
unb 93eftimmbarteit be§ pfgc^ifc^en Seben§ erinnert. SGBir werben
ju geigen ^aben, wie fe()r eS im tiefften @runbe bo^ etwa§ ganj
anbere§ ift.
3unäd)ft: 3)ie SWeiuung, bafe ®ott lebenbig fei im @inne
ber ^eftimmbarfeit, ^at itircn religiös bebeutfamen Äern in ber
Erwartung, ba§ er mit fid) l) a n b e l n lägt, beeinflußbar ifl
burd) ba^ menfd)licl^e Zun. aCBo bie ©ottlieiten in erfter Sinie
5)tot^elfer finb, ift ba§ ja eine ganj felbftoerftänblidie SBorauS*
fe^ung be§ gefamten religiöfen SBer^alten^. So aber ift e§ boc^
nid)t gemeint, wenn wir un§ ben geiftperfönlic^en @ott in altem
SBe(^fel unb SÖSanbel ber ©reigniffe lebenbig gegenwärtig wirf»
fam beuten, ^ier ift oielmef)r ba§ ber religiöfe Rern ber @ad)e,
bag wir un§ feinen ftetigen ^eil§ willen überall unb in je»
ber Sage naf)e wiffen bürfen, grabe al§ einen folc^en, ber immer
berfelbe ^eil§wille ift, un§ aber nal)e grabe ate biefer immer
gleiche unb umwanbelbare in aller bunten iWannigfaltigteit unfrer
Seben§fü^rung unb ber Seben§fü^rung ber ÜWenfc^^eit. 2llfo nic^t
©tcinmann: S)ie lebcnbige ^crfönlid^feit ®ottc§ iz. 437
ba8 ift ba§ (Sroj^e unb Sebcutfame, ba§ luir i^n jcbcrjeit um*
ftimmcn tonnen — beffcn bebarf c§ t|icr ja gar nid^t — , fonbcrn
ba§ roir i^m immer unb überall begegnen !önnen, wenn mir i^n
nur rec^t fud^en ^). 3)ann aber I^anbelt e§ ftd) I|ier hoä) nidit '
um etroa§ ber pft)c^ifd)en Scbenbigfeit ®otte§ SBermanbteS, bie
ja in ttirem tiefften religiöfen Äern 93eftimmbarteit ift. ©oubern
e» ^anbelt firf) um ben ©tauben an bie b e ft ä n b i g e Stalle ber
ftet§ gleidjen Xreue (Sottet.
3)amit liegt jugleic^ auf ber ^anb, ba§ bei biefer geiftigen
3tuffaffung @otte§ aU be§ ftet§ lebenbig gegenroSrtigen nii^t an
eine „93efd)reibung" be§ göttlichen äBefeng gebadjt mirb ; wie I|ier
ja überl^aupt nii^t oon etroa§ bie SRebe ift, mag fid^ anfdiaulid) be*
fc^reibcn liefee. 2Iuc^ ba§ ift mefentlic^ anberö al§ bei ber pfg*
c^ifdien Sebenbig!eit @otte§. ^ene lä^t eine fotc^e anfc^aulic^e
53efd^reibung root|l ju. 9tatürlid), benn c^ I)anbelt fid^ babei ja
lebigli^ um bie Uebertragung eines ber Dielen anfd)aulic^en 3üge
be§ feelifd) perfönlid^en 3)afein§ auf bie jenfeitige SUladjt. S)iefe
^bcc ber lebenbigen ©egenmart ®otte§ bagegen lä^t fic^ gar nid|t
jur 3lnfc^auung bringen. 9Ba§ baran anfd)autic^ ift, fmb grabe
lebiglic^ bie mect)felnbcn irbifd)en Sßorgänge, nid)t aber bie gött*
lic^e tcleologifd^e 3>n^nianenä in biefen SSorgängen. (Sollte biefeS
yWitbabeifein ®otte§ anfc^aulid) werben, bann mü^te e§ grabe in
ein anfd)auli(^e§ 91 e b e n einanber ju biefen SSorgängen treten,
in ber 2lrt, mie bie p f 9 (^ i f c^ lebenbigen ©ott^eiten neben unb
jroifd^en ben ®ingen unb in Söec^fetmirfung mit i^nen, beftimmt
unb beftimmenb, i^r SCBer! au§rid)ten; ba§ ^ei|t aber, e§ mü^tc
ba§ eigentümlich unmittelbare 3ufammen ber lebenbigen ©egen*
ipart ©otte§ ganj aufgel^oben werben. Unb bocli ift ba§ Sebeut*
fame an biefer ^bee ber geiftigen Sebenbigfeit ©otteS eben bie§,
ba§ ber g^romme ©ott felbft unb feinem SBirfen immer grabe
unmittelbar in ben ©reigniffen be§ Seben§ begegnen fann,
ot|ne baJ5 er ju bem Qxotd irgenbmelct)e anfcl)aulicl)e Sc^eibung
1) Unb biefeS ift bann auc^ 3^^^^ unb 2lufgabe beS roirfltd) frommen
(Gebetes. S'S ift ein Snc^en ©otteiS grabe in ben tatfad)Iid)en @reigniffen,
ntc^t ein SBerfudi, feine pft}d)if(^e £ebenbig!eit unb mittelft berfelben bie ^r^
etgniffe nad) ben eigenen äönnfc^en ju bceinfluffen.
Bntft^rift für X^eologie unb jttrc^e. 14. ^a^rg., &• $eft. 30
438 ©teinmann: %iz lebcnbtgc $crf önlic^feit ®ottcä k.
ooUjicfien, ®ottc§ 2^un au§ bcm Ocfamtgefd^etien glcic^fam ifoliert
greifbar ticrauS^eben mu§. 2llfo auc^ t|icr lütcbcr jener un§
fdjon geläufige Unterfd^ieb, i>a^ e§ fic^ auf ber einen ©eite um
eine anfd^auli(f)e Sef^reibung mit genauer 2lu§funft über ba§
„wie" ber SSorgänge l^anbelt, auf ber anbern Seite um feinerlei
2tu§tünfte über biefe§ „wie", üielme^r um bie ®rfaffung eine§
„ba§". ®a§ eine ift feinem ^fn^alte nad^ ÜWgt^oIogic, ba§ an*
bere Ueberjeugung.
Unb enbtic^ ift aud^ bie Slrt ber ©eroi^^eit in beiben hätten
roefentlid^ oerfd^ieben. 3)ie ^bee ber pfg^ifdien Sebenbigteit
®otte8 ift teil5 Ueberlieferung§miffen, teil§ SBunfc^gemifetieit. 2)ie
(ebenbige ©egenmart be§ geiftperfönlic^en @otteS fann bagegen
gar nic[)t UeberlieferungSmiffen fein; ba§ ©igentli^e ber ©a^e
Iä|t fic^ einfach nic^t in ber 2lrt be§ SBiffenS weitergeben. 9lllcn=
fadS bie bloge 93orfteDung einer göttlichen Sldgegenmart lägt fic^
als ein SBiffen mitteilen; ba§ ift aber eine leere ^ülfe, eine je»
beS faglid^en ^n^atteS bare, taum voQjie^bare älbftraftion. 9>a§
©igentlid^e ber @ac^e bagegen, nämlic^ bie lebenbige ©egenmart
nicl)t irgenb einer ©otte§abfira{tion, fonbern eben be§ geiftper«
fönlid^eu ©otteS, baiS !ann in feiner anbern SBeife überl^aupt er^
griffen unb begriffen werben al§ auf bem 333ege mit bem Ueber*
jcugungSleben jufammentiängenber eigenartiger ©rfa^rung. O^ne
baS bleibte ein bIo§e§ SBort, unenbtid^ oiel ärmer al§ bie an»
fd)aulid)c Sebenbig!cit ber ^^Jerfönti^feiten eine§ 3^"^/ ^i^^^ SCt^enc
u. f. ip« ätlle ^eftimmt^eit liegt eben au(^ ^ier
iptebcr in ber (ebenbigen retigiöfen ©rfa^rung
ober im religiofen ©runb^roje^.
"Jiacb bicfer 'älbgrenjung ber geiftigen £ebenbigfeit ©otte^,
aud) in ibrer jmeiten ^^affung, gegen bie pf^d^ifc^e £ebenbigfeit
polDtbciftif(i)cr ©ottbeiten gilt eS nun auc^ oon i^r, mie Dortiin
oou ber (ibce ber Stetigteit unb Sreue be§ göttlichen 3BattenS,
bunt Darlegung bc^ bctrtffenben religiofen ©runberleben§ ein
bcutlid)crc*5 '^ilb ju gcuMunen. 9Bir fragen barum: 333elc^eg ift
icnc Icbcnbigc religiöic (Jx'fabrung, auf meld^er ^icr alle§ beruht?
(>\^ ift aud) bicr uncber fo, wie eS oben fc^on bargelegt
univbc: bie (Jnfabrung ber i?cbcnbigteit ©otteS tritt ni^t irgenb*
©teinmann: S)ic lebcnbige ^erfönlid)!ctt ®otte§ ic, 439
roic }u bcr Ucbcrjcugung oon feiner geiftperfönlid^en Sttrt al§ ein
ganj 9leue§ t|inju, fonbcrn e§ ift 6eibe§ in ©inern gegeben. Qm
religißfen ©runbprojeg wirb ber geiftperfönli(^e Oott immer ju*
gleid^ aU lebenbig gegenroärtig erlebt ; unb gmar foIgenberma|en.
SBer immer com ringenben ®eifte§Ieben au§, au^ o^ne jebe
auggefprod^en religiöfe 95eftimmtt|eit beSfelben, feine (Erfahrungen
an ber SDSirflic^teit mad)t, bem wirb aKe§ ©rieben eine fortlau«
fenbe Steige Don 3lufgaben. ®§ ift ba fd)Ie^tt|in nid^tg oon ir*
gcnb welcher 93ebeutfamteit, ba§ nid)t irgenbmie eine 3^w^^tii"9
enthalten fann, fei e§ eine pofttioe, fei e§ eine negatioe. ;3mmer
unb au§ jeber Situation l|erau§ ertönt gleid^fam bie ^atinung
an ba§ mad^fenbe unb ringenbe @eifte§Ieben, biefe§ ju tun unb
jcne§ ju meiben. Qa fetbft bie @rfoIgloftg!eit emften inneren
©treben§ nad) auj^en unb bie ftänbige 3WangeIl^aftigIeit alle§ innertid^
(Erreichten f oU nid|t ein bIo|e§ SBerl^dngniö fein ; aud^ ba§ ift eine
3umutung, nun unter grabe b i e f e n ©rfal^rungen in beftimmter
Slic^tung innerlich ju n)a(^fen an innerer Streue, bie fid^ burd^
ni^t§ irre mad^en lä^t, unb an ber großen ®emut, roel^e am
meiften über alle felbftifc^e unb felbftgefäHige 2lrt triumpl|iert.
®iefer SBäeg bcr beftänbigen ^"J^wtungen ift wie ein SEBeg ber
©rjiel^ung. — 2ll§ (Srjieliung erfc^eint bie lebenbige (ärfatirung
be§ geiftigen Seben§ in i^rer n)ed^felnben 93erüt|rung mit ber
äBirflic^teit aber no^ in einer anbern ^inftd^t. 95lid£t ber geiftig
reifenbc SDlenfd) auf ben SBäeg jurüdf, ber l^inter it|m liegt, bann
roirb er au(^ ju reben miffen oon einer Srjie^ung, bie ftdf), im
Unterfc^ieb oon biefer foeben genannten, unmertlic^ an i^m au§*
gemirft ^at. @r ^at feine Zumutungen empfunben ; oielmetir ganj
o^ne fold^e I)at bie§ ober jene§ feinen förbernben ®influ§ geübt,
i^m faum bemüht, unb erft jurüdEblidfenb ertennt er ban!bar ba§
glei(^fam gefd|en!te geiftige aOBad>um.
3ludt| l^ier ift e§ nun mieber bie fromme 3luffaffung ber gei*
ftigen Seben^erfa^rungen, ber fic^ gleic^fam i^r lefeter (Sinn er»^
fc^liejjt, menn ber fromme in bem allen ben lebenbigen ®ott ju
erleben überjeugt ift. SBie bem merbenben ©eifte^menfdjen jeg*
lic^e^ 93egegnig eine Zumutung ift, fo aud^ bem frommen, beffen
^römmigteit ben SBäeg geiftigen SBäad^stumS ge^t. ©ei e§ Seib,
30*
440 ©tetnmann: ^ie lebenbige $erf5nlid)!eit ®otte§ :c.
fei c§ grcubc, xoa^ il^n trifft, fei e§ ®ro|e§, fei e§ SlleineS, im*
mer ift§ it)m eine 2lufforberung feine§ @otte§, innerlich fic^ ju
bcroäl^ren ober ju n)ad)fen; im Seib ftarf unb oertrauenb ju blei-
Ben, fxä) von it)m in bie 2^iefe fül^ren unb Idutern ju laffeit,
!omme nun ba§ fieib als äußeres Ung(üdE ober aU erfo(glofe§
(Streben ober al§ innere ÜJiutlofigfeit ; im ©lürf banfbar ju fein
unb @otte§ }u gebenfen unb berer, bie Seib tragen; fic^ burc^
ÄleineS unb SleinfteS nidit oerbrie^en unb burrf) ®ro§e§ unb
®rö§te§ nic^t au§ ber SRu^e in ®ott ^erauSfc^reden ju laffen.
Unb baju bann bie tagtäglic^en 3untutungen an ben ftttli^en
®rnft unb ba§ ftttli^e g^einempfinben. Qn aüebem erlebt ber
fjromme feine§ ®otte§ lebenbigeS SBirfen ju feinem ^eil, Sag
au§ Sag ein. 2)a§ ift ein mirKic^er lebenbiger SBerfe^r mit @ott.
SWan begegnet il^m roirflic^ in allen ^ö^l^u^Ö^n be§ SebenS, !lci*
nen unb großen, menn man fein geiftigeS Seben nur ac^tfam lebt.
Unb lebt man e§ nic^t mit ac^tfamem ^lid auf bie tagtaglic^en
3umutungen, bann fmb biefe ebenfouiele oerfäumte Begegnungen
mit bem lebenbigen ®ott. ©elbft in biefen 95erfäumniffen liegt
aber boc^ mieber eine neue Zumutung ber unermüblic^en ©otteS-
treue; e§ fann boc^ immer nod^ menigftenS bie Steue ju einem
ertenncnben 93egegnen mit ®ott führen. SEBünfc^t jemanb roirf«
lid) melir oon Srfa^rung ber fiebenbigfeit be§ göttlichen perfön*
liefen SGBirten§, al§ in biefer frommen fiebenSerfa^ruitg gegeben
ift? Kann @ott greifbarer lebenbig mitten in unfer Seben unb
all feine SBanblungen l)ineintreten al§ fo?
3irgenb eine objeftioe S^eorie über ®otte§ Sebenbigfeit ergibt
fid) freiließ au(^ l^ier mieber nic^t. ®§ ift alle§ fromme Sebenäer»
fül^rung be§ in @otte§ ftraft ringenben ®eifte§menfc^en. 6§ er»
fd)eint mir aber grabe al§ bebeutfam unb wichtig, ba^ I>icr ba§
lebenbige SBirfen ®otte§ eben nid|t eine ©adje ift, bie fic^ fo
ganj objettio bef^rciben unb nai^rec^nen lä§t, mie etroa bie SBirf»
famfeit irgenb einer 9laturfraf t ; fonbern fie ift mirtlid) ganj in
ba§ fromme Seben unb fein 9Bac^§tum an ben äußeren unb in*
neren ©reigniffen ^ineingenommen, felbft ganj unb gar eine (Badft
ber lebenbigen ®rfal)rung be§ merbenben ®eifte§menfc^cn. ®§ ift
nic^t eine ftarre abftratte ^bee, fonbern eine lebenbige fonfrete
(Steittmann: %xe (ebenbige ^erfönUd^feit ©otteS k. 441
Scbcn§it)ir!H^fcit. Unb an6) ba§ ift t|icr bcbcutfam, ba§ bicfc
®rfa^run9 fid) barum eben nid^t oon fclbft mac^t, fonbcm, roic
üQe gciftige ©rfal^rung, errungen fein roiH. SBer ®otte§ leben^*
bige§ äBirfcn erleben roiü, ber mu§ bie mandjerlet erjietienben
3umutungen feiner Sebeni^fülirung roirfli^ erleben; bie erleben
ftcti aber nic^t oon felbft, bleiben oielmelir überall bort unbemerft,
xüo feine geiftige SEBac^famfeit oorl^anben ift. ;3nfofern rooUen
biefc religiöfen @rfat|rungen wie alle§ (Seiftige, geiftig errungen
werben ^).
®§ ift inbcffen bod) auc^ oon 9Bid)tigfeit, bafe un§ bie gei*
ftige @rfal|rung oon @otte§ ftet§ gegenroärtigem lebenbigem aBir=»
tcn nocb in anberer ^^rm jugänglic^ ift. 9lid^t nur in ber
beftänbigen 2lnftrengung be§ ringenben ®eifte§Ieben§ erleben xoxx
immer roieber erjiel^erifc^e Begegnungen mit bem lebenbigen ®ott;
in unfrer religiöfen ©rfa^rung fommt and) jum Slusbrucf, n)ie
®otte§ lebenbigeS SSBirten fid) beftänbig ooKjie^t, aud) wenn mir
e^ ni^t unmittelbar merfen, unb jugleic^ unabl^ängig oon biefer
unferer geiftigen 93emüt|ung. Unb l^ierbei tianbelt e§ fid) nun
um ba§ religiöfe 9Serftänbni§ jene§ gteic^fam gefc^enften geiftigen
SD8ac^§tum§, oon meinem oben au^ f(^on bie SRebe mar. SBir
^aben mirilid) nichts baju getan ; ganj unoermerft ^aben un§ bie
3Ser^ttniffe innerlich gereift, fo ba§ mir rücfblidfenb barüber
ftaunen, ma§ al(e§ 9teue§ in un§ lebenbig gemorben ift. 2)er
frommen Srfa^rung ift ba§ nun me^r al§ nur in unbeftimmter
93ilblic^!eit gerebet ein ®efc^en!; e§ ift mirtlic^e ®abe ®otte§.
SDarum fe^cn mir I)ier, roie ®ott immer am 3CBcr!e ift; nid)t
nur, roo mir feinem lebenbigen 3Bir!en in gorm oon allerlei 3^*
mutungen begegnen, fonbern auc^ no(^ roeit barüber ]^inau§, in
ben Keinen unb fleinften 93e}iel)ungen unfer§ 2eben§, mo mir
nid)t§ oon beftimmten Slufgaben unb 3uniutungen merfen. S)ie
ftänbige ®egenmart ber lebenbigen SBirffamf eit ®otte8
in allem ®ef(^et|en unfer§ Scben§ wirb f o nod^ um oiete§ greif^^
1) daneben boltc mau einmal, loaS unfre ©onntag^blattcr üon ©rfal^*
rungen ber ßcbcnbigfcit ®otte§ gu crjä^Icn njiffcn. 2luS einer hJtc gang an?
beten geiftigen £uft flammen bocf) bie meiften biefer ©rgä^Iungen; mie fe^r
fef)It i^nen meift biefer geiftige $nIiSfd)lag be^ magren Lotterleben^.
442 (Steinmann: ^ie lebenbige ^erfönlid^feit ®otte§ ic
barer. @ott ift anä) ha n)ir!fam gegeniDartig, vdo xoxx e§ nic^t
unmittelbar roatime^men. 3^91^^^ i^iflt pc^ i>i^ göttliche SBaltcn
grabe barin in feiner üoKen ©ouDeranität. @§ ift unabhängig
Don ben ©c^roanfungen unfere§ ringenben inneren £eben§. @ott
vermag etroa^ barüber auc^ o^ne unfer ben)u^te§ @ntgegenfommen.
©id)er ift ba§ eine religiös bebeutfame (ärgänjung jene§ SBe^fel-
oerfe^r^ mit bem lebenbigen ®ott, ber fid^ mitten im gciftigcn
Streben t)OÜjiel|t. (Srft t|ier feftigt f\6) ba§ SSertrauen in ®otte§
lebenbige§ SBäalten ju ber unerfc^ütterlic^cn äuoerfi^t, bie fprec^cn
(ann:
S)u iDtrft bad gute 9Ber!, bad bu felbft angefangen,
^idjt laffen unüoQbrac^t. 3c^ bleibe an bir bangen
Unb miE geborfam fein in greub unb aud^ in 2t\b,
80 lang bu mid) nocb f)itv midft ^aben in ber 3c<t.
3)urd^ biefe legten SluSfü^rungen (oon ©eite 436 an), meiere
un§ bie Qbee ber geiftigen Sebenbigteit ®otteS oon einer neuen
gleic^fam beweglicheren ©eite fennen lehrten, l^at fic^ un§ biefe
3bee ganj geroi^ bebeutfam erweitert, aber fie ^at fic^ babei nic^t
eigentli^ oeränbert. 2)enn auc^ I)ier l^anbelt e§ fid^ um geiftige
Srfal^rung. 9llfo bleibt e§ babei: 9lnber§ al§ auf ®runb einet
folc^en ©rfa^rung lä^t fic^ Don biefen 2)ingen eigentlich gar nic^t
reben ; einen greifbaren -Qn^alt befi^t biefe SBorfteüung ber fie*
benbigteit ®otte§ nur in ber lebenbigen ®rfa^rung be§ „inneren
ÜWenfc^en".
III.
^nbem mir nun rücf blictenb fiberfd^auen, xoaS unfere Unter«
fuct|ungen un§ eingetragen ^aben, !önnen mir folgenbeS al§ un*
fern ®eroinn Derjeicf)nen :
1) ®§ ift un§ je^t rool^l noltfommen tlar, um wie ganj oet*
fd^iebene 3)inge e§ fi^ l)anbelt, ob man ®ott ^erfonlic^teit unb
Sebenbigteit im pfric^ifi^en ©inn beilegt, ober ob biefe 93e§eic^»
nungen geiftig gemeint fmb. Unb jmar ift oerfc^ieben nicfjt nur
ber Qn^alt, ber jebe^mal bejeid^net werben foU, fofern pf^clfifc^e
unb geiftige ^erfönlic^feit wie Sebenbigteit oon oome^erein ganj
oerfcliiebene^ bebeuten: fonbern e§ ift auc^ nerfd^ieben ber (Sfyi*
©tcinmann: S)ie lebenbige ^crf önlid)!cit ®otte3 tc. 443
ra!tcr biefcr 93cäcid)nungcn — ba§ eine 3Slal finb fie eigentUd^
gemeint, ba§ anbete 2WaI fgmbolifd); oerfc^ieben ift bie Strt bcr
S3eftimmtt|eit — ba§ eine SJlal liegt fie in ber 2lnfcf)auung ober
ani) im 33egriff, ba§ anbete ÜJlal in ber teligiöfen ©tfa^tung,
mä^tenb bie oetmenbete aSotfteHung nut bie ©ebeutung unb Se*
ftimmt^eit einet SOäegroeifung befi^t; oetfc^ieben ift enblic^ bie 3ltt
ber ©emi^^eit — im einen gatt Uebetliefetunggmiffen unb SBunf^*
gewi^^eit, im anbetn gaU Uebetjeugung unb geiftige ©tfal^tung.
2) 3)a§ gcfte unb ©ic^ete be§ teligiöfen ©tauben^ an einen
Icbenbigen g e i ft petfönlidien ®ott liegt im geiftigen teligiöfen
®tunbptoje§ unb feinen mannigfaltigen, ftetö abet inl)altlid) be*
ftimmten @tfal|tungen b. i), abet : e§ ift i^iet im Untetfc^ieb oon
bet mt)t]^ologif^en ©tufe eine ganj beflimmte unb teic^e ©tfal)*
rung oon @otte§ geiftperfönlid)et Sebenbigteit ootI)anben. 3)iefe
©tfa^tung ift ba§ ©tunblegenbe unb bie eigentlid^e SReligion ate
ein beflimmt geattete§ Seben mit ®ott; unb eben l|iet liegt übet*
^aupt alle 93eftimmt^eit fomo^l al§ ©emi^^eit be§ teligiöfen 2:at*
beftanb§. 3>ie teligiöfen SSotfteÜungen bagegen finb fetunbät,
ein baoon 3lbgeleitete§. 3^te 3Bal)t^eit ift batum nid^t bie SOäal^t*
^eit t^eotetifc^et ®ä^e, fonbetn fie liegt batin, ba§ ftc^ in i^nen
ba§ religiöfe ©tunbetleben mit ©Ott einen jutteffenben STugbtud
ju geben fuc^t.
3) @g ttagen batum alle 2Iu§fagen übet ©ott unb fein le»
benbigeö äBatten nut megmeifenben obet fgmbolifd^en Q.i)axattzx
unb geben un§ feine mitfüre S3efc^teibung oon ©ott unb feinem
Seben, feine Slntroott auf bie S^age nad) bem „mie" bet gött*
lid)en ©fiftenj unb fiebenbigteit. 2)iefe ©infic^t abet bebeutet
feinen teligiöfen SJettuft. S)enn fie bringt ja nut jum 2lu§btudt,
ba^ ©Ott eben ©ott ift; fie liefett un§ au^etbem nic^t itgenb«
roeli^er teligiöfen Ungeroife^eit obet Unbeftimmt^eit au§, benn im
teligiöfen ©tunbptoje| al§ bem ©tleben mit ©ott ift ja alleä
geroig unb beftimmt, ^iet abet liegt bet Äetn bet geiftigen SRe*
ligion. —
Se^en mit nun bie c^tiftlic^e ©efamtübetliefetung übet ©ott,
feine $etfönlid|feit unb fein lebenbige§ aBalten in SBejie^ung ju
biefcn unfetn SRefultaten.
442 ©tcinmann: %it lebcnbigc ^cr[önlid)!eit ®otte§ 2C.
S)a§ l^icr biefc oon un§ aufgcbedtcn SBcr^altniffc immer
burd)QU§ flar roärcn, läfet fxd) ni^t behaupten. @§ ift auf bcn
crflcn SBüd, ein buntc^ 3)urd)cinanber her 2lu§fagcn über ®ott
unb feine Sebenbigteit oon beiberlei ^crtunft. SBäir ^ören ba nic^t
nur oon @otte§ ^eiliger Siebe, @ered)tigfcit unb SBa^r^eit, fon*
bern au^ oon (Sottet 3otu unb ©rimm, oon feiner ©arm^erjig*
feit unb ©fite, ja felbft oon einem ©tu^l ©otteö im ^immet ift
bie SRebe, oon bem ©otte§auge, ba§ atte§ fie^t, unb oon bem
Slufmerfen feiner O^ren auf ba§ @Qbü be§ 5^ommen. 2lIfo neben
unb burd^einanber mit Qü^zn geiftig perfonaler 3lrt 3^9^ K'^f^
ber Körperlid^teit be§ pfgdiifc^en "ißerfonenlebenS. Unb fo auc^
betrep ber Sebenbigteit ©otteg. ©ott ift treu ; er ^at fein ffiert
in un§; alle ffiinge muffen benen, bie ©ott lieben, junt 93efteu
bienen — aber au^ : ©ott f a§t ©ntf ^lüff e unb änbert feine ab*
fiepten, er greift in ben Sauf ber ©reigniffe ric^tunggebcnb unb
l^emmenb ein u. bergl. melir.
2)a§ ber fgmbolifc^e (Sliaratter alt biefer 2luSfagen über ©ott
überall beutlid) roäre, läfet fi^ aud) nic^t fagen. ©rabe lebenbige
grömmigfeit nimmt gern unb leicht oiele§ baoon für roirtli^ im
©inn oon bef^reibenben 2lu§fagen über ©otte§ ©ein unb 5!Bir*
ten. ©elbft 3üge ant^ropomorp^er ^erfönlic^teit unb ßebenbig»
!eit ©otte§ merben für in biefem ©inne jutreffenb gehalten,
daneben freilief) regt ftd^, roenn aud| oft menig beftimmt unb obnc
flare Slnroenbung auf bie einjelnen 2Iu§fagen über ©ott, ein ®e-
fü^t bafür, mie ©ott alle§ menfd)lic^e 33egreifen überfteigt; unb
biefem 93en)u^tfein begegnen mir grabe au^ roieber bei befonberer
Sebenbigteit unb 2:iefc ber religiöfen ©mpftnbung.
Unb enblid) ift bie ®emi^l)eit über ©ott in roeiteftem Um=
fange einfa^e§ Ueberlieferung^miffen, momit fic^ cinjcine Ueber«
jeugung§momente mifc^en, biefe etma noc^ oerquidt mit bloßer
9D3unf^gemi|^eit. 9Bo aber red)tc grömmigfeit oor^anbcn ift,
ba ^ören mir bod) auc^ immer mieber, mie man c§ au§ innerer
unb äußerer ©rfatirung roiffe, mie roatir jene Ueberlieferung fei.
®iefe§ Urteil bejiel^t fic^ bann aber oft genug ni(^t nur auf bie
geiftigen QÜQt am überlieferten ©otte§bilbe.
3u biefcn SBer^ältniffen werben mir ©tellung nehmen muffen.
©tcinmann: S)ic Icbcnbigc ^erfönlid^feit ®otteä :c. 445
aCBir rocrben un§ barfibcr Älarl^cit ju ücrfd^affen fudjcn, tüoran
biefc 9ScrI)äItniffc i^rc Urfad)c fjabcn, roiciöeit fic ctroa unoer«»
mcibUdj fxnb ober ob unb roieracit an il)nen geanbert rocrben barf
unb mug.
®ic focben fuvj gcfcnngeic^nctc Situation l^ängt jum guten
Seit mit bemjcnigen jufammcn, wa^ ic^ bcn tonferoatiocn (£^a=
ra!ter allcS SReligion§fortf(^rittc§ nennen möd)te. ^ii^wt^^ nimmt
bic (ebenbige 5^ömmig!eit t)iele§ oon i^rer 9SergangenI)eit auf
i^ren weiteren 3Beg mit, einfach be§f)alb, roeil ftd) grabe auf bem
©ebietc ber 9leIigion in ganj befonberer SBJeife jeber gortfdjritt
nirgenb^ al§ ein bloßer 93rud| mit ber ganjen 93ergangent)eit oott*
jie^t, oielmelir überall roirflic^ auö ber 95ergangent|eit tieraug^'
roäc^ft; benn e8 trägt \a ho6) roo^I oon allem ®eifte§Ieben ber
©efc^ic^te ba§ religiöfe am meiflen biefen E^arafter be§ ^ofitioen.
3)arum ooüäie^en fic^ benn aud) bie prinjipietten ©d^eibungen
nic^t überall unb auf ber ganjen Sinie gleid)fam oon felbft; e§
bleibt oielme^r mand^e^ baoon ber geiftigen SBertiefung unb ^er*
anretfung am einjelnen ^untt überlaffen unb tritt barum in inbi*
oibueU mannigfad) oerfc^iebener 3Beife in§ 2)afein. 5^ie 3^^ötf=
fü^rung be§ gefamten l^iftorif(^en Steligion§beftanbe§ auf ba§ ei=
gentlid^e geiftige ©runberleben, bie eigentlii^en perfönlid^en Sin-
cignungen, bie fidj infolgebeffen ergeben, ober bie Sßermanblung
be§ Ueberlieferung^roiffenS in perfönlid)e Ueberjeugung, bie ©d)ei*
bungen oon SGBefentlid)em unb Unroefentlidjem, jentralen ©rieb-
niffen unb mel^r ober meniger periptierifd^er 9Sorftellung§einfleis
bung biefe§ (£rleben§, roie fte mit fol^er 2lneignung jufammen*
l^ängen: ba§ alle§ ift barum eine fic^ immer erneuernbe 2lufgabe.
S)iefer fonferoatioe (£f|arafter be§ 5Religion§fortfd)ritte§ nun
jeigt fid) in befonberer SCBeife grabe auf bem ©ebiete be§ reli*
giöfen Sßorftellen^. S)a§ ftet)t im 3uföniment)ang mit einer mei*
teren ®igentümlic^fett allen religiöfen 2eben§, — SBir fpra^en
un§ au§, mie ber ^ern ber religiöfen @otte§ibee bie religiöfe
@otte§erfat)rung ift unb mie biefe le^tere einen inl)altlid^ reichen
unb beftimmten Seben^jufammenl^ang barftellen fann, nämlid) auf
ber ©tufe ber geiftigen SWeligion. ®iefe lebenbige religiöfe ®r*
fa^rung be§ geiftigen £eben§ fc^afft ftd) einen 2lu§brud in allen
446 Steinmann: ^te lebenbige $erf 5nlt^!eit ®otte§ sc.
jenen 2lu§fagen, bic @otte§ attgegenroärtigeö treuem SBirfen unb
ben inneren SBefen^jufammenliang bc§ geiftigen fiebenö mit @ott
jum ©egenftanb l^aben. ®§ ftnb ba§ jene roegroeifenben ober
fgmbotifc^en SBorfteBungen üon Oott unb feinem 3D8aIteu, beren
eigentliche aBat|rI)eit ni^t auf ber Oberflä^e be§ 2Borttaute§ liegt,
fonbern barin, ba§ mittelft \\)xex bie religiöfe SebenSerfa^rung
il)ren möglic^ft jutreffenben 3tugbrucf finbet. ®aoon mar f^on
metirfa^ bie SRebe. @§ erf^öpft fi^ nun aber bie ©prai^e ber
^Religion nic^t in biefen, nennen mir fte einmal „primären", 35or»
ftellungen unb tann fid| auc^ gar nic^t barin genügen, ©crabc
bie SWannigfaltigfeit unb ber SBec^fel ber religiöfen ©rlebniffe
treibt ju immer neuen 33Benbungen, in benen fic^ au^ bie feineren
9luancierungen unb ©df)attierungen be§ religiöfen ©runbprojeffe^
jum 2lu§brud bringen motten. 9tamentli^ für bic SWitteilung
ber ganjen güße be§ religiöfen ©rieben^ an anbere unb üorne^m*
li^ für ba§ auf ber gegenfeitigen 9Witteilung beru^cnbe ©effi^l
ber inneren religiöfen ©emeinfc^aft bebarf e§ einer möglic^ft reid^en
unb möglidift mannigfaltig geftalteten religiöfen SBorftellungSroelt.
ffienn bie t;^ligiöfen ©rlebniffc, um meiere e§ ftd^ l^icr ^anbelt,
in itirer bunten SWannigfaltigteit, mie beftimmt geartet ein jebe^
oon il^nen aud^ fein mag, finb nic^t felbft bireft mitteilbar, lüie
ba§ bei primitio religiöfem ©rregung^juftanb ber gaß ift. ©ie
finb ja bod^ oielme^r Don ber gleichen 2lrt mit fonftigcn geiftigen
©rlebniff en, etma 3uftänben tiefer ®rgriffenl|eit ber SBelt, beftimm«
ten Vorgängen ober beftimmten ^erfonen gegenüber, ©ergleid^en
mu^ ftd) erft ju größerer objettioer ©reifbarfeit ober Slnfc^auli^*
!eit l)erau§geftalten, foH e§ oon einem ^nbioibuum jum anbern
übergeben fönnen. 3lm geldufigften ift un§ biefer S^atbeftanb ber
geiftigen SWitteilung oiellei^t auf bem ©ebiete ber Äunft ; e§ gilt
aber ®ntfpred)enbe§ oon aller inneren ©rgriffen^eit. 3)ie ©cele
be§ inneren ©rlebenS mu^ fxi) einen „anf^aulic^en" Seib ber
SJlitteilbarteit fdiaffen, fonft bleibt fie in i^rer SBereinjelung unb
unoerftanben.
2lber nic^t nur um SJiitteilbarfeit ober SOi^tmitteilbarfeit
banbelt e§ fid) ^ier, um bie ajlöglid^leit ber religiöfen $ropa*
ganba unb ber religiöfen ©emeinfi^aft. ©in „anfc^auli^eS" ^er»
©ttfinmann: ^te Icbenbtge ^crfbnlid^feit ©otteS 2C. 447
austreten ber mancherlei SBäanblungen be§ religiöfen Orunbpro^
jeffe§ in einem möglic^ft umfaffenben unb in oieten ©injeljügen
au^gefülirte.n 95ilbe ift aurf) noc^ in einer anbern ^infic^t oon
großer 93ebeutung. 2)a§ religiöfc ®injelleben bebarf au(^ ju fei*
ner eigenen 93eftimmtf|eit im cinjelnen folc^er auögeftalteteren 95or»=
fteüungSjufammenl^änge. SBo^l finb bie testen großen 3u[ammen*
^änge be§ religiöfen @rleben§ Don großer 93eftimmt^eit unb Klar»
^eit. Siic^t irgenbroel^e üerf^roommencn .®efüt)le, fonbern ganj
beftimmte geiftige Vorgänge bilben ben eigentlidien religiöfen ©runb*
proje^. S)arum ^erum fc^lingt fic^ aber ein Sianfenmerf oon
toed^fetnben ©mpfinbungen unb Stimmungen mannigfad^er 2lrt,
entfpre^enb ben man^erlci med^felnben Sagen be§ frommen, bie
aQe jur lebenbigen Sieligion mit baju gehören, ©in religiöfe§
Seben, ba§ oon allebem ooHftänbig abfetienb fic^ nur an bie jen«
tralen ®rlebniffe unb Slufgabcn unb beren oorftellungSmägige
2Iu§prägung (jene primären SSorftellungen) hielte, ba§ märe auc^
mieber, freitid^ in anberer ^inftc^t, einer ©eele o^ne Seib ocr*
gleid^bar. — 3111 biefeS SRanfenroerf ift nun aber in fic^ felbft
meniger fijiert, al§ bie jentralen religiöfen SBorgänge e§ finb.
9Bie fel^r c§ ftc^ baran anfc^lie^t unb bort t|erau§n)äd)ft, e§ ift
eben bod) nic^t oon bort^er in^altli^ ootl beftimmt. ©onbern,
mie anbere med^felnbe Stimmungen unb ©mpfinbungen, bebarf
eS einer 2lrt oorftetlungSmä^iger Sßergegenftänblidiung, foH au§
bem Unbeftimmten ein 93eftimmte§ unb bem, ber'§ erlebt, felbft
Mar SöpareS, in feiner ©rinnerung ^aftenbe§ unb für feine Qn^
fünft grui^tbareS merben. ©o mad^fen bie religiöfen SBorftel»
lungen unoermeiblid) über jene primären 2lu§fagen in bunter
SRannigfaltigfeit ^inau§.
Slber aud^ jener primären SBorftellungen bemächtigt fid^ ganj
unmittelbar biefe S^enbenj auf meiterge^enbe a3eranfd^aulid|ung.
©obalb oon ben (Srlebniffen ber ©eele mit (Sott überhaupt in
allgemein f a^li^er 3Beife gerebet werben foU, bebarf e§ et*
maö mel^r aU nur ber Sßerroenbung ber primären fgmbolif^en
93orfteltungen. SGBo nocl) fein entfprecf)enbe§ religiöfen ©runber*
leben oorl^anben ift, ba mürbe bie religiöfe ©pra^e ja faum ein
6d)o loedfen, menn fte bie religiöfen ©runbibeen nic^t in ein finn-
448 ©teinmann: ^ie lebenbtge $erfdnltd^!eit ®otte§ tc
lic^ Qnfd^QuIid)ere§ ©eroanb ^üQte. 9lud^ brangt bie ^üQe unb
firaft bcr rcligtöfen ^^"tralcrfalirungcn ganj oon fidj au§ auf
eine fraftooOe güDe ber rcligiöfcn 3lnfc^auungen, bie fie jum
2lu§brud bringen foüen. ^t me^r ba§ 3>nncre roirtlic^ ergriffen
ift um fo weniger obftraft abgemcffen, um fo leben^oollcr roirb
bie SSorfteKung barau§ l^erüorbre^cn.
©0 ift alfo au§ mand^erlei ©rünben ber SReligion unb i^rem
©efamterleben ein mäd|tige§ (Streben naij Slnfc^aulid^feit eigen.
@§ genügt bem religiöfen ©runbprojefe nic^t, fic^ unb fein 6r*
leben mit (Sott lebigli^ in ben primären fgmbotif^en 2lu§fagen
über ®otte§ SBefen unb SOäirten au§jufprec^en ; e§ ^üHen fic^
üielmel)r jene 2tu§fagen in ein meiteg anfc^auli^e^ ©eroanb oon
religiöfen SSorfteHungen fetunbärer 2lrt. Unb ^ier nun eben be»
tätigt fxä) bie fonferoatioe SÄrt ber Religion. 3)ie geiftige ^er*
fönüc^teit ®otte§ mirb hutdj 3üfl^ Pf^^U^ perfonaler 2irt bem
SBe^fel be§ religiöfen ®injelerleben§ unb ber 2lnfd)auung nä^er
gebrad^t, unb ebenfo bie geiftige Sebenbigfeit @otte§ burc^ 3^9^
pft)d)ifd^er Scbenbigfeit. 3)a§ I^ei^t aber: jene fefunbären 5Bor»
fteßungen entnimmt bie geiftige ®otte§erfa]^rung ben mpt^ofogi*
fierenben @otte§befd)reibungen ber Sßorftufe. 3)at|er ba§ ^netn*
anber unb Surd^einanber pfgd^ifd^er unb geiftigcr ^erfonenart
unb Sebenbigfeit in ber (^riftlii^en Sßorftetlunggüberlieferung oon
©Ott.
®amit t)ängt nun meiter jufammen, ba§ bie ©emi^^eit über
©Ott aud) I)ier in ber gorm eine§ Ueberlieferung§roiffen§ auf*
treten tann; unb baran roieber fnüpft fi^ aüe§ baS, roa^ fonft
oben jur ©^araftcrificrung ber d)riftn^en ©efamtüberlieferung unb
i^res; 3Jlifc^c^arafter§ gefagt rourbe.
Qn biefer Sage nun ift bie 2lufgabe ber fgftematifd^en 2:^eo*
logie nid)t, in unoerftänbigcm puriftifdiem 9iabi!ali§mu§ ber c^rift*
liefen Ueberjeugung ba§ anf^aulid^e ©emanb jener fefunbärcn
aSorftellungen einfad) abjuftreifen ; baJ3 bergteid)en nidjt angebt,
erließt ja grabe au§ bemjenigen, xva^ mir foeben über bercn Un*
oermeiblictifeit fagten. ©onbern e§ ergibt fid) au§ biefer ©ad)»
läge eben b i e 2lufgabe, an beren Söfung mir un§ in biefen un*
feren Darlegungen oerfudjt ^aben. ®§ mu^ fiargelegt merben^
©tcinmann: ^tc Icbenbigc $erfönUci^!eit ©otteg ac. 449
roclc^erlei ocrfc^icbcnc 93cftanbteilc in bcr ^riftlid^cn ©efamtübcr*
Ueferung üon ®ott ocreinigt finb, tt)a§ baran glitte ift, tdqö Kern,
n)a§ birctt mit bcm religiöfcn ©runbproje^ jufainmenl)ängt n)a§
nur in lofcrem 3ufcimmcn]^ang bamit fte^t al§ weitere pl)antafie*
mäßige SBeranf ^aulid)ung ; ober, wie mx un§ oben au§brürftcn,
n)e((^e§ primäre unb roeldieS fefunbäre religiöfe SSorfteHungen finb.
aSornetimUd} aber mu§ im 3i*fömment)ang bamit immer mieber
über alle SBorfteHungen, fefunbäre unb primäre, jurücf gegriffen
roerben auf ben rcligiöfen ®runbproje§, ma§ nic^t abgebt o^ne
einen ^inn)ei§ auf ben fr)mboUfd|en, nur megmeifenben 6t)arafter
bcr primären unb bie nur oeranfc^aulic^enbe 93ebeutung ber fe=
funbären 93orfteUungen. 2)amit aber mirb nid)t nur einem t^eo*
rctif^en Qntereffe gebient, nämlid) bemjenigen Harer ®infi(^t in
einen gegebenen Satbeftanb. 2)iefe ©c^eibung jn)ifct)en Centralem
unb ^erip^erif^em unb ber §inroei§ auf ba§ le^te eigentliche
3entrum aCer 2Iu§fagen über ®ott im ©runbproje^ ber religiöfen
®rfa^rung, ba§ ift grabe and) uon eminent praftifd)er 93ebeutung.
@§ ^ilft nämlid) jener ©efal^r entgegenmirten, bie mit bem ©id^*
auSmirfen ber SReligion in einer anfc^aulid)en SßorftettungSüber»
lieferung oon ®ott gegeben ift, ber ®efa^r nämli^, ba§ infolge*
beffen bie d^rifttii^e SReligion immer mieber auf bieStufe bloßen
Ueberlieferung§miffeng ^erabfintt. SBeiter ift auc^ ju befürd)ten,
ba§ naturreligiöfe ^'^tereffc bc§ do ut des fönne fid) an jenen
fefunbären, ber SBorftufe entnommenen pf^diifc^en Six^^n be§ ^rift«
liefen ®otte§bilbe§ in ungebüt|rlirf)er SBeife roieber aufri^ten, mie
e§ ja aud) tatfäd^tic^ immer mieber gefd|ief|t. 2)a ift e§ üon
^öd)ftem SBerte, roenn aud) burd^ bie tf)eologifc^e Stefteyion ber
93lid£ oon allem peripljerifc^en 93eiroerf auf ba§jenige gelentt roirb,
roorin alle fpejififd)e ©eftimmt^eit ber c^riftlidjen Ueberjeugung
oon ®ott einjig unb allein muvjelt unb mo allein eine roirftic^
innere ©emip^eit oon ®ott im fpcjififc^ d)rifttic^en ©inne ge*
roonncn werben fann, auf ben geiftigen ®runbproie| ber d^rift*
liefen Sieligion mit feinen ®rfaf)rungen unb 2lufgaben. 3)ie ^rift*
li^e SOäa^r^eit oon ®ott fann in i^rem ganjen Umfang unb in
allen il^ren roefentlid^en QixQtn n u r in lebenbigem geiftigem 3tingen
unb ©treben ergriffen werben, ^ier aber wirb auci^ alleS ein ®r*
450 ©teinmann: ^ie (ebenbige ^erfönlic^feit ^otteS 2C
Iebni§, roag bcr J^ommc oon (Sott ju fagen roci^: ba§ ift bic
gro^e praKifd^c 9Ba^rt|cit, roeldjc au§ unfercn Darlegungen ^er*
auöfpringt. Unb ba§ eben ift ber Beitrag bc§ ttieologifc^cn 9tad^*
benten§ ju bem beftänbig ju erneuemben Stingen gegen eine UJer*
fladjung ber ©otteSüberjeugung in frittflofeg UeberlieferungSroiffen
unb eine S33unfc^gen)i^t)eit, bie fic^ an ganj ^eript|erifd^e§ an-
Hämmert.
S)a^ fic^ oon I)ier au§ auc^ geroiffe gorberungen fonio^I für
bie fr|ftematifd)e Darlegung ber (^riftlic^en ©lauben^oorfteUungen
ergeben roie auc^ für bie d)riftlid)e Slpologetif, unb n)elci^e§ biefe
gorberungen fmb, ba§ fei ber SSottftänbigfeit wegen roenigftenS
in aller Äürje norf) angebeutet.
3)ie (^riftlid^e @Iauben§te^re wirb au8get|en muffen Don ei^*
ner Karen ©rfaffung be§ religiöfen ©runbprojeffeS — benn fonft
fc^roebt l|ier \a alleö in ber Suft — ; unb fie mirb burc^brungen
fein muffen oon ber ©infid^t in ben roegmeifenben ©^aratter ber
primären unb ben oeranfd^auli^enben ©l^aratter ber fcfunbfiren
religiöfen SSorftellungen, foroie oon ber beutlic^en @rtenntni§ be§
UnterfdiiebS jmif^en primären unb fe!unbären JBorfteHungen ol§
me^r jentralen unb me^r peripheren Seftanbteilen bcr religiöfen
33orfteltung§n)elt. ©ie mirb fii) barum befleißigen, immer auf
ba§ religiöfe ©runberleben jurüdjugreifen unb bie @lauben§Dor-
ftellungen in lebenbigem 3wfön^'"C"^öng bamit jur DarfteBung
JU bringen, fid^ beffen bemußt, baß biefer ^ufammenl^ang ein an-
berer ift bei ben primären, ein anberer bei ben fefunbären 93or*
ftellungen. Darum mirb fie au^ bei ben primären SBorftellungcn
nad) größtmöglicher ©inbeutigteit unb Seftimmt^eit ftreben —
benn in ilinen fpiegelt ftc^ ja unmittelbar ba§ religiöfe ©runber«
leben; l^ier muffen barum bire!t normatioe giyierungen erreicht
rocrben. ^ür ba§ ©ebiet ber fefunbären 38orftetlungen bagegen
mirb fie fx6) begnügen fönnen, gemiffe 9iid)tlinien ju geben ober
©renjen be§ ©rlaubten abjufteden, bamit ber freien Seroegli^teit
ber oeranfd^aulid^enben 5ß^antafie ber Spielraum bleibe, beffen
bie lebenbige Duelltraft be§ religiöfen ©injelerlebenS bebarf.
gür bie 5B[pologeti! ergibt fic^, baß fie fidt) um bie fefunbä*
ren SBorftellungen überl)aupt nid|t wirb ju bemütien l^aben. ©inb
@tetnmann: %xz lebenbige $erfönltd^!ett ®otte§ 2c. 451
bicfelben Icbigtii^ au^malcnbc aScranfd^auIid^ungcn citic§ inneren
@efd|c^en§, fo fann üon i^ncn eine b i r e f t e Uebereinftimmung
mit ber empirifdien 2Bir!tid)feit cbenforoenig verlangt werben,
wie etvoa oon ®oet^c§ Sieb be§ ®rbgeifte§ in S^uft, bcffen
„938a^rt)eit" ja boc^ ganj geroi^ fein 3Jlen[c^ naä) bem äußeren
SBortlaut ber barin oortommenben äBenbungen „SBebftu^I", „Ic*
bcnbige§ 0eib" u. f. xo. unb beren empirifc^er ©eltung bemeffen
loirb. Slber aud) bie primären religiöfen 93orfteIlungen n)irb eine
cinfn^tige Slpologetit nid^t einfai^ fo rein für ftc^ nehmen. ®a§
ocrbtetet x\)x lebiglii^ roegroeifenber ober fgmbolifc^er ©^arafter;
ba§ Derbietet aud^ ber Umftanb, ba§ fie eben beSroegen in i^rer
3[foIierung al§ blo^e JßorfteUungen überl^aupt nici^tS finb. ®ie
apologetifc^e SKrbeit roirb fic^ oielmelir um ben religiöfen ©runb-
projeg bemühen b. 1^. aber, fic wirb oerfudien, bie SBernünftigfeit
bc§ religio^ Ueberjeugtfeinö aufjuroeifen, ba§ in jenen primären
SSorfteHungen feinen unmittelbaren unb jutreffenben 9lu§brurf
finbet ^).
IV.
®§ erübrigt nun noc^ jur SSeroottftänbigung unferer 3)ars=
legungen über bie d)riftti^e ©rfaffung @otte§ al§ febenbiger ^er«
fönlic^feit bie Qf^een ber <3mmanenj unb ber göttlichen Jranfjen*
benj Don benfelben ®eft^t§puntten au§ turj ju be^anbetn. ®otte§
rcligiöfe ^f^^manenj nämlic^ unb feine Sebenbigteit, wie wir fic
glauben Derftetjen ju muffen, ®otte§ Sranfjenbenj unb feine (Seift*
perfönli^feit ftel^en in fo engem ß^f^mmen^ang miteinanber,
ba§ bie 93e^anblung be§ einen nid^t ooQftänbig märe o^ne eine*
93erüdffic^tigung auc^ be§ anbern.
Ueber bie religiöfe Qbee ber ^»n^n^önenj (Sottet bebarf e§
taum nod^ oieter SBorte. 2lu(^ l)ier ^anbelt e§ fid^ um ein ©gm*
bol, eine primäre religiöfe Sßorftellung, bie eine ®rfa^rung be§
geiftigen Seben§pro}effe§ unmittelbar jum aiu§brudE bringt. Unb
jmar ift biefe <3bee ber ^ii^manenj ©otte§ ni^t§ anbere§ al§ ber
1) ®tnc ©figse foldjcit apologctifc^cn Sßcrf aureus ^labc iä) im 11. 3al)rs
gang biefer 3eitfcÖJ^ift 3U geben üerfiic^t.
452 Steinmann: 2)ic lebenbige ^crfönlid^feit ©otteS 2c
jutrcffcnbc Slu^brudt für bic ©rfal^rung ber Scbenbigfcit ®otte§,
roie fic oben bef^vicbcn lüurbc. ®ort war bat)on bic SRebc, ba§
wir ganj bireft mitten im Sauf ber 3)inge unb Srcigniffe bem
3BaIten ®otte§ begegnen. 9li(^t irgenbmic roettfern ift ®otte§
fiebenbig!eit, fonbern fo gang unb gar meltburd^mirfenb unb wirf-
li^ ganj bireft roeltburdiroirtenb, ba§ ein anberer aU ber J^ommc
anftatt Don @otte§ lebenbigcm SDBalten Don ben 3umutungen re»
ben mirb, bie in ben med^felnben Sßer^ättniffen be§ @injelleben§
unb ber @ef(^id)te liegen, unb uon bem erjie^enben ©influ^ bc§
Seben§. 2)iefe religiöfe ©rfa^rung x)on ®ott in aßen tatfäc^lic^cn
©reigniff en bejeicftnen mir mit bem 2tu§brudt : ^mmanenj ®otte§.
2)a§ biefe ^n^nianenj ®otte§ nic^t ganj oon felbft erfahren
wirb, ba§ e§ oielmetir eine 2lufgabe be§ geiftigen Seben§ ift, bie
®rfa^rung oon ®otte§ Qmmanenj immer Don neuem ju roicber*
^olen, ba§ ift bamit jugleid) unmittelbar gegeben. @^ ift bie-
felbe 2lufgabe, üon welcher oben fdjon bie Stebe mar, afö mir bie
®rfa^rung oom lebenbigen ^Balten ®otte§ be^anbelten. Unb no^
einmal fei tieroorgeljoben : 9tid^t§ ift ^ier gleidjfam objeftiu ge-
geben, fonbern e§ miH roirtli^ alle§ a(§ Ueberjeugung unb geiftigc
@rfa{)rung geiftig errungen fein, wie bie mirftid^e Srfaffung ber
^bee ber ^erfönlic^feit ®otte§ fo au^ bie mirtlidie Srfaffung
feiner Sebenbigteit unb feiner Qmmanenj. 2lud| über le^tere tann
nur reben, mer ®ott in feinem Seben beftSnbig furf)t unb finbet,
meil er auf bie 2lufgaben feine§ SebenS ad^tet unb feine 3wfötn^
men^änge banfbar überfd^aut. 3)aoon (oögelöft bagegen ift auf
bem 93oben ber Sieligton bie JRebe oon ®otte§ 3»i"^önenj eben*
fofetir eine infialt^leere ^^rafe mie bie 5Rebe oon ®otte§ ^^erfön»
U(^teit e§ bort ift, mo fein ^crfönlic^feit^leben au§ ®ott gelebt
mirb.
Söir !önnten e§ mit biefen furjen 93emertungen über ®otteS
^mmanenj genug fein laffen, menn bag 9Bort „Qmmanenj" nic^t
gar fo lei^t ben SBerbac^t enoedtte, e§ lauere ba^inter ein ocr*
ftedfter "ißantlieigmug. — ©oUte biefer SSormurf unferen 2)arle»
gungen gegenüber mirflid) nod^ erl^oben merben, bann fann ja
fid)erlic^ nur ba§ aCBort „^mmanenj" baran fc^utb fein. 3)enn
bie religiöfen ©rfa^rungen, für roeldie mir jenen Segriff al8 ben
©teinmann: ^ie lebenbige $erf5nlid^!eit ®otte§ 2c 453
jutrcffcnbftcn Sluöbrudt roäl^ltcn, l^abcn \a ganj gcroija nt(i)t§ mit
^ant]^ci§mu§ ju tun. SBarum t)crmeibcn töir bann aber nic^t
bicfcn fo Ux6)t mi|t)crftänblid^cn 2lu§bru(f? ^fö, rocnn fid) nur
eine anbere gteicli jutreffenbe Äennjei^nung jener reügiöfen @r*
fat)rungen auf finben Ue§e ! SQBorauf e§ l^ier anf ommt, ba§ ift bod^
bie[e§, ba§ @ott nidtjt nur irgenbroie jroifdien ben roirflid^en ®r*
eigniffen l^inburd^ ju ergreifen ift b. i). aber, anftatt bireft in
biefen (Sreigniffen irgenbroie neben ober jroifd^en i^nen, in roel-
d|em fJaHe ®otte§ 2:un ftc^ auc^ äu^erlic^ bemertbar oon bem
anbern Oef^e^en abgeben mü§te unb barum allenfalls auc^ oline
eine beftimmte innere ©rfaffung ber (Sreigniffe mü^te erfaliren
werben lönnen. SSielmel^r, baj5 un§ @otte§ lebenbigeS SBalten
mirflid^ ganj bireft in allem ©efc^e^en unmittelbar felbft na^e
ift unb t)on un§ grabe barin gefunben werben foll, inbem mir
in ri(^tiger 3GBeife auf biefe Sreigniffe geiftig reagieren : baf ür fu*
d^en mir einen mirtlid) bejeic^nenben 3tu§brudt. Unb einen foldien
finben mir nic^t fc^on in ber relatio unbeftimmten ^bee ber 9111»
gegenmart, fonbern crft in ber religiöfen ^mmanenjporftellung.
2)enn nur biefe bringt grabe auc^ bie 2Ible^nung einer unbe*
ftimmten SlUgegenmart nur jmifd^en ben 2)ingen unb Vorgängen
Mar }um ©emu^tfein.
2lber ba§ SBort „^mmanenj" ftetjt nun einmal in bem 93er*
bac^t, e§ fönne nur pantlieiftifc^ gemeint fein. SCBir moQen un§
barum bie SWül^e nic^t oerbrie^en laffen, biefe unfere religiöfe ^m*
manenjibee nod^ ganj beftimmt gegen alle§, ma§ mir! lid| pant^eif*
tifc^ ift, abjugrenjen. ®rrei^en mir baburd^ jugleid) eine meitere
Älärung ber begriffe, bann ift e§ iebenfaHS nid^t verlorene aJJül^e.
3 m e i formen be§ ^ant^eiSmuS tommen l^ier in 93etra^t.
3)a ift junä^ft berjenige ^anttieismuS, ber ®ott unb ba§ SBelt*
ganje einfad^ gleii^fe^t unb in biefem ©inne Don einer -^mma*
nenj ®otte§ in ber SBelt rcbet. Statt Qmmanenj @otte§ mü^te
e§ ^ier aber mo^l eigentlich ^ei^en: 3^bentität @otte§ unb ber
3Belt. i^ier ift ba§ SBeltganje, fei e§ aU eine emige ©efe^mä^ig*
teit, fei e§ al§ ©ntmidfelung gefaxt, ganj unmittelbar ba§ fid^
entfaltenbe ®ottc§leben felbft. S33ir bagegen ooHaie^en grabe nic^t
eine fotc^c birette ^neinSfe^ung be§ miffenfd^aftlid) erfaßten SQSelt»
Seitfc^rift für Xtfcolo^xc unb Äirc^e. 14. ga^rg., 6. ^cft. 31
451 eteinmann: $Dte lebenbige ^erfonli^feit (^otte§ :c.
gef(^e^en§ mit bent göttlichen 3Birf en ; loir behaupten oielmel^r 3m^
manen) be§ göttli(^en 3Birfen§ im SBeltgefc^e^en. Unb roir iDoDen
bamit, mie oben au^gefu^rt mürbe, lebiglid^ ^eroor^eben unb Hat
au^fpred^en, bag unS @otte§ lebenbige^ SBaUen mirflic^ im reden
©efc^e^en felbft überall unmittelbar erlebbar na^e ift, ni^t ir*
genbmie nur bajmifc^en ^inburc^ ergreifbar; mir meinen aber nic^t
ba§ alle§ ©efd^e^en grabe fo, mie e§ entmeber burc^ unfere ober*
fläc^en^afte 3lnfc^auung ober bur^ irgenb eine metap^^fifc^e (Sin^
jtc^t au^gefc^öpft roirb, unmittelbar mit @otte§ 2:un ibentif^ fei,
fo ba§ eine anf^aulic^e ober miffenfd)aftlid)e 93efc^reibung biefc5
®efc^e^en§ inqUiä) eine birette SSefc^reibung ber gottli^en S^ätig*
feit märe, mie ba§ für jenen pantlieiftifc^en ©tanbpuntt ber gall
ift. — Unb ba§ fü^rt un§ unmittelbar ju einer roeiteren, §u ber
eigentlich grunblegenben 3)ifferenj jmifc^en jenem $ant^ei§mu§
unb unferer religiöfen 3fn^wianenjibee.
3)ort ^anbclt e§ fic^ um eine pf)ilof op^ifd^e 2:l|eorie ; bei un8
um eine religiofe ©rfa^rung unb beren möglid^ft jutreffenben 3Sor*
ftcllung^Qu^brucI. 3)ie p^ilofopI|ifd)e 2:]^eoric mill ®r!enntniS
oermittcln oon ber 2lrt miffenfd^aftlic^er ©infic^t; ftc fagt un§
barum genau, ma§ ba§ gottlicl)c SBaltcn ift unb mie e§ ftc^ ooB*
jiel^t. ®btn jene ©cfc^mä^igfeit ober jene lebenbige ©efamtent--
mirf elung ift'g ; unb inbem mir biefc miff enfc^aftlic^ jutreffenb be*
fc^reiben, bcfcl|reiben mir bamit jugleic^ ba§jenige, ma§ allein ®otte§
aOBirtcn genannt merben fann, unb jmar fo, mie eS tatfäc^lict) oor fic^
ge^t. Un§ bagegen oermittelt bie rcligiöfe Srfal^rung an ber SBirt*
lic^teit lebigli^ bie Uebcrjcugung, ba^ mir überall bem ^eite--
roirfen @otte§ begegnen; ftc oerfi^afft un§ aber nic^t genauere
Kunbc baoon, m i e ®ott bem SBeltgefd^elien immanent roirtt unb
JU mirfen oermag. @§ ift ja aber auc^ oööig genug, ba^ mir
il^m bei unferem geiftigen Streben in mirtlicl) altem immer roie«
ber begegnen unb i^n noc^ über biefe unfere @rfat)rungen ^inau§
in aUem beftänbig am SBerte roiffen. 3ln ber genauen (Sinfic^t
in ba§ „mie" biefer religiös erfa^rbaren ^mmanenj ®otte§ ^aftet
fein religiöfeg ^ntereffe.
SSieHeid^t gibt man un§ je^t immerhin fooiel ju, ba§ jener
^antt)ei§mu§ unb unfere <3bee ber religiöfen ^»nimanenj fe^r oer*
©teinmann: S)te l^bmh\Q^ $crfönlid^!eit ®ottc§ 2c. 455
fc^iebcnc 2)in9e finb. $at aber bic ocrgleid^cnbc ©cgenüberftcl«
lung bcibcr 2lnfcl|auungcn ni(^t grabe bie unfere in einem fe^r
ungünftigcn fiid)t gejeigt? Qft biefer Stanbpunft ber rcligiöfen
^mmanenj ni^t einfat^ ein abfi(^tlic^c§ Stehenbleiben bei ganj
unüaren 93orfteBungen ? 2lu(^ ba§ religiöfe Seben bebarf aber
boc^ einer geroiffen Älar^eit [einer SBorftellungen. — ®en)i§ be*
barf ba§ religiöfe fieben foldjer Älarlieit, aber als einer Maren @r*
faffung feiner ©rfal^rungen ober at§ ber ^far^eit barüber, rocldjer'
lei 2lu§fagen biefe ®rfat|rung am jutreffenbften jum 2lu8brucf
bringen. @§ bebarf aber nid^t flarer SSorfteßungen in bem (Sinne,
bag e§ un§ burd)au§ gelingen mü§te, j. ö. bie religiöfe Qbee
ber 3«n^w^önen} be§ göttlid)en 9Birten§ auf eine bem Sßerftanbe
einleui^tenbe Formel ju bringen, meiere bie religiöfe ©rfa^rung
jugleic^ bireft roiffenfc^aftlid} faj^licli mac^t. S)er Irrtum, ba§
bie SRetigion in b i e f e m ©inne f (arer SBorfteHungen bebürfe, ift
nod^ weiter oerbreitet, al§ man benft. Qxxzn n)ir un§ nic^t,
ftedtt grabe biefe irrige SWeinung aud) in jenem ©inmurf, ben
mx un§ foeben felbft madjen liefen. 9tur barum bod) erfd^eint
ber ©tanbpunft ber religiöfen ^mmanenj bei einer SBergleid^ung
mit ber pantl^eiftifc^en ^f^^ntifijierung ®otte§ unb ber SBelt in
einem fo ungünftigen Si^t, weit man anftatt religiöfer SSorftet«
lungen metaptigfif^e 2:]^eorien ju tiören erwartet. S)a betonen
roir benn nod) einmal: 9Bir l^aben e8 l)ier ganj unb gar nid^t
mit metaptigfifc^en Slieorien ju tun, fonbern einjig unb aHein
mit ©gmbolen religiöfer ®rfabrung. SBenn mir oon einer Qm-
manenj be§ göttli^en 3Bir!en§ im realen SGBeltgefdielien reben, fo
motten mir bamit {einerlei roiffenfdjafttid^e Sinfid^t ober 2le^n*
Ii^e§ ©ermitteln, fonbern bie fromme ®otte§erfa^rung be§ roer^
benben ®eifte§menfd)en auf einen Haren 2lu§brudE bringen. 2)arum
eben mipuerftel^t un§ jeber, ber in unfere 33etonung ber religiöfen
Smmanenj etma§ t)on bem eben abgelel^nten „roiffenfc^aftlic^en"
5ßantl|ei§mu§ ^ineinbeutet. Unb menn jemanb biefe§ ©teilen-
bleiben bei ber religiöfen Q[bee ate bem reinen 2lu§brudt einer
geiftigen ®rfa^rung§tatfac^e unb Ueberjeugung nic^t rec^t befrie-
bigenb finbet unb möd)te bie ©a(^e „Harer" ^aben, fo tonnen
mir il^m nur ju bebenten geben, ob er fic^ nid)t oietteic^t noc^
456 ©tetnmann: ^ie (ebenbige $erf5nli^!eit (S^otted zc.
nic^t oöüig genug oon einer inteHettualiftifc^en Sluffaffung ber
^Religion gelöft t)at. —
Sieben benjenigen formen be§ ?ßantl)ei§mu8, bie @ott unb
SBelt bireft in ein§ fe^en, [teilen anbete gormen (ein ?ßant^ei8«
muS Don ganj anbetet 3ltt) benen ®ott ftc^ beutlid^er oon ber
SBelt fc^eibet. ®§ finb bie oetfc^iebenen ©pielatten eine§ ttanf«
jenbentalen, \a fogat afo§miftifd)en 5ßant]^ei8mu§. ®ag ^ier ®ott
nid^t fd)Iec^t^in mit ber SBett ibentifijiert roirb, unterfc^eibet biefen
$ant^ei^mu§ oon bem oorgenannten unb lä^t i^n jugleid^ unfetm
©tanbpuntt e^et oetroanbt etf^einen. 3)afüt abet ift bei biefer
ganjen ©enfroeife bie ©ottl^eit im SBeltgefc^el^en ni^t eigentlich
mirtfam gegenmärtig ; im ©egenteil, eS gibt ja 2Ibarten biefeS
^ant^ei§mu§, benen ba§ eigentliche aBeltgefdiel^en fogar für oott»
[tänbig gottlog gilt. 3)ie Oottl^eit roeilt ^ier nur im tiefften,
innerften Orunbe ber SBelt unb ber 3)inge; fie ift allem, roa^
fid) auf ber Dberjlädie be§ S)afein§ regt, abfolut unoergleid^lic^
unb fern, ^ält fic^ ganj fülle unb überlädt e8 gleic^fam bem
SWenf^en, fie §u finben. gür un§ bagegen ift ber lebenbige ®ott
grabe im ©efc^e^en ber SCBelt immer mitten barin unb teilt bort,
mo biefeg aOBeltgefc^e^en für unfere ©rfal^rung gipfelt, nämtic^
im merbenben geiftigen ^^-fonenleben, au3 feiner 2)afeingf üUe mit.
SQBir alfo oertreten, wenn man fo miß, bie religiöfe ^fbee ber
^Immanenj ®otte§ lebhafter als biefer afoSmiftifc^e ^^8ant^ei§mu5
eS tut; unb bieS barum, meil unS bie ®ott^eit eine lebenbige
9Jiad)t ift, ganj anber§ at§ jenem ^antl|ei§mu§.
3)iefcr funbamentale Unterfc^ieb jmifd^en jener unb unferer
S)enfn)eife mad^t jugleic^ beutlid^, ba^ bie oor^anbene Ueberein»
ftimmung, fofern nämlid^ l)ier mie bort baS SGBeltgefc^e^en unb
ba§ göttliche ®afein unb SGBirfen nic^t einfach ibentifijiert wirb,
nur auf eine ganj äugcrlic^e 3Ief)nli(^feit hinauslaufen fann. Se*
biglid^ barin beftetjt biefe 3lel|nlic^feit, ba^ in beiben hätten irgenb*
meiere ^bee ber 2^ranf jcnbenj neben ben Qmmancnjgebanten tritt.
3)iefe ^bee aber bebeutet für un§ etmaS ooUftänbig anbereS afö
für jene pant^eiftifd^en äßeltauffaffungen. 3)ort ift e« überall
lebiglid) bie Sranf jenben j ber du^crften 2lbftraf tion ; ^ier bagegen
eine eigentümliche geiftige Jranfjenbenj, bie eine lebenbige Se*
©tcinmann: 2)ic lebcnbige ^crf önlid^f cit ©otteS :c. 457
jie^ung ju unfercr- fonftigen @rf a^rung grabe ganj unmittelbar ein-
f daließt. ®oc^ baoon genauere^ im folgenben! ©ooiet bürfte iebenfaÜ^
f (ar fein, ba^ unfere religiöfe Qmmanenjibce mit bemjenigen, mag
unter ?ßant^ei§mu§ Derftanben mirb, mirflid) ni^t§ ju tun ^at ^). —
Unb nun enbli^ noä) bie 3^ r a n f j e n b e n j be§ geiftper*
fönlidien @otte§ ate eine 2;atfa^e ber religiöfen ®rfa^rung, ju-
rüdgefü^rt auf ben religiöfen ®runbproje§ unb in i^rer inneren
Ücbercinftimmung mit ber religiöfen ^tw^manen-sibee !
SQ3ir greifen ^ier junäc^ft mieber jurüdE auf allgemeine geiftige
©rfal^rungen. 2lüe§ geiftige Streben unb Slingen erlebt am 3)a*
fein einen großen ®egenfa^. @d)on überall bort, mo unfer ®r»
leben an ber SBirllic^teit bie g^rm ber ^i^w^^tung befi^t, fpielt
biefe§ 3Äoment mit l^inein. Söie fe^r al§ le^tcg 3^^! öU^^ 3^'
mutungen, bie an un§ l^erantreten, bie ©tärfung be§ Oeiftigen
betrachtet werben fann, bod^ ftnb alle 3wi^"tiii^9e" ebenfofel^r
aSerfuc^ungen mie 3uniutungen. 3)a§ gilt nid^t nur oon jenen
3umutungen, beren ^tnl^alt lebigli(^ bie 2lufforberung ift, geiftige
Äraft unb geiftige§ SBad^§tum burc^ t)erneinenbeg SBefl^alten ju
betätigen, alfo oon ben eigentlid^en SSerfu^ungen. SJielmel^r aud^
bann, menn auö unferen Seben^erfa^rungen eine pofitioe 2luffor*
berung an un§ herantritt, bur(^ Siätigteit in einer beftimmten
9tic^tung unfer merbenbe§ ©eifteöleben fei e§ in feinem erreichten
1) @d fei l^ier nod) auf einen eigeniilmlic^ d)aralteriftifd)en Sh ^er gu
gmeit genannten pant^eiftifd)en @otteSauffaffung l^ingemiefen, in bem fte ft^)
mit nnferer c^riftUd)en ^rfaffung Qiottt^ berül^rt. ®^ ift haQ eigentümliche
S^ebeneinanber bon Sntmaneng unb Stranfgenbeng unb in SBerbinbung bamit
eine getoiffe begriffliche Unabgefd)Ioffenbeit, .ja gerabegu Unabfd)liegbarfeit ber
religiöfen 3been. Smmaneng unb 2^ranfscnbeng finb SßorftcIIungen, bie grabe
nad) entgegengefefeten 9'lid)tungen ttjcifen. ^ür baS begrifflicfte S)enfen finb e^
(^egenfäge, bie nid)t gufamntenpaffen tDoQen. S)ie {^römmigfeit bagegen, in
biefer »ie in jener gorm, üerntag baS 3"fa>"J"cnfcin biefeS ©ntgegengefeftten
gu ertragen, fie fommt fogar nicf)t barum berum, unb ber ^larbeit unb ^-Be»
ftimnitl^eit beS religiöfen (SrIebenS twi biefeS 3ufammenerleben be« begrifflich
auSeinanberftrebenben unb erfenntni^mögig Unbereinbaren feinen (Eintrag. 6o
ift uns biefer tranfgenbentale ^antbei^nm^ ein ^emeiS ine^r bafür, bag reli«
giöfc 3been nicf)t naci) ben 3Wa6ftöben flarer miffenfcbaftlicber (5inficf)t genieffen
fein motten. — @« gilt ba§ übrigens öon bem gangen menfcbltcben Ueber*
geugungSleben, biefem ©ebiet nnferer tiefften (Srfabrungen am ^afetn unb
legten (Sinficbten uon i^m. ^iebiel aber mirb bagegen nod) gefünbigt!
458 ©teinmann: ^ie lebenbige $erf5nlt(^!eit ©otteS zc.
95eftanbc ju ftärtcn, fei c§ einen neuen ©d^ritt oorroärtS ju führen,
ober au^ burc^ aneignenbeS (Singel^en auf irgenbn)elc^e ^nre«
gungen e§ innerlid^ ju bereichern ober ju oerticfen: felbft bann
fe^lt ber Zumutung ba§ ÜWoment be§ 93erfuc^ii(^en nid^t. ®8
ftet)t nämlid) aud^ bann jebeSmal n)enigftenS ba§ rid^tige iBerl^al-
tcn oon unferer ©eite in 5^age. S)enn ba§ geiftige Seben ringt
jxc^ nic^t nur an einem SBiberftanb oon au^en empor, ber fc^ritt«
weife fiberrounben werben mu§; e§ ift au^erbem ftetö gegenroär»
tig ein Sßiberftanb oou innen. SSorne^mlic^ megen biefeS inneren
SBiberftanbeS ift jebe 2lufforberung eine 3umutung unb ent»
^ält jebe 3ii"^iitung etmaS 93erfuc^lic^e§, fei e§ au^ nur al§
ganj (ei)e Steigung, ber neuen 2lnregung gegenüber beim bi^^er
®rreici^ten fielen ju bleiben ober ber geforberten Xättgfeit bie SRu^e
oorjujie^en. 3fni>"c^ ^^9^ fi<^ I^ifc ii" ©runbe ber nämliche innere
SQSiberftanb gegen ba§ ©eiftige unb feine SJiü^fal, ber bie birettc
a3erfud)ung oon au^en fo au^gefprod^enermagen jur SBerfuc^ung
werben lä^t. ©o fül^It fic^ ba§ werbenbe ©eifteSleben ni^t nur
irgenbroie unterfd^ieben oon einer anberen 9lrt unb in irgenbrocl^em
Oegenfa^e ju i^r; e^ füf)It fic^ oon biefer entgegengefe^ten ärt
wirflic^ bebrängt unb in feinem SBeftanbe, bem ba§ gortfd^reiten
roefentlic^ ift, immer roieber in ^rage geftetit. — Unb ba^er nun
ftettt fid^ bei aUem ernftlidf) ringenben geiftigen fieben eine 91ei*
gung ju bualiftifc^en SBorfteßungen faft unoermeiblid) ein. ®n
©gmptom bafür ift ber faft inftinttioe ^ßroteft jeber bcroufeten
geiftigen 3lrt gegen aCe Sßerfud^e, ba§ ©eiftige mit biefem i^m
ffintgegengefe^ten einfach auf eine fiinie ju fteHen, inbem man e§
j. 93. üon bortl)er ableitet. 2Bie man nun au^ fonft über biefen
^roteft benfen mag, jcbenfaüö ift er ein beutli(^er 93cn)ei§ für
bie ®inbrüdEIi(^teit ber bualiftifdien ©rfal^rungen, burc^ meiere ba§
roerbcnbe ®cifte§Ieben ^inburc^ mu§.
S)iefer bualiftifi^en 6rfal|rung am ©afein entfpri^t e§ nun
weiter, wenn ba§ an allen ben einjelnen ^ßunften fic^ empor*
ringenbe geiftige ©cfamtleben al§ in feinem Urfprung ber fonfiigen
©egeben^eit tranfjenbent aufgefaßt wirb. ©§ fann \a hod), )o
anber^artig wie biefe, ja fo im 2Biberfpru(^ mit i^r, nic^t oon
il|r t)cr feinen Urfprung l^aben. Unb fefet e§ fic^ tro^ feiner
©teinmann: %ie Icbenbige ^crfönlid^feit ©otteiS :c. 459
fc^iücrcn 93cbrän9ni§ immer mct)r ftcgrcid) burd^, fo mu| c§ au^cr*
bcm mit all feiner ringenben Unfertigteit jen[eit§ ber empirifc^en
Sage aud) irgenbmie feinen bleibenben übermä^ligen SRüdt^alt
l^aben. 3)em bient gur ©eftatigung, ba§ biefe il^m fo gegenfä^*
Itd^e emplrifd^e 9Birftid)feit fd^lieglid^ bod^ jur ^örberung unb
Äräftigung be§ Oeiftigen bienen m\x% fofern nur ben in il|r ent*
^altenen 3wwiii^ungen ju innerer unb äußerer Slrbeit Jolgc gc»
Iciftct mirb. ^a fogar ol^ne fold)e§ SHingen mit i^r fönnen oon
i^r ganj unmittelbar erjielili^e SSSirfungen auSgel^en, moDon ja
au^ fdf|on oben bie SRebe mar. Unb e§ ift enblic^ ba§ 9Bad)§s
tum beä ©eiftigen jugteid^ Ic^tlid) nid^t eine SSernic^tung, fonbern
eine Sßertlärung be§ 9tatürli^en.
SGBie fe^r fid^ alfo ba§ merbenbe ®eifte§teben jum empirif^en
3)afein im ®egenfa§ roei|, jene ^otenj, oon ber e§ feinen Ur*
fprung l^at unb an welcher e§ feinen fidleren SRürffialt befi^t,
fonn nic^t felbft in biefen ©egenfa^ ocrftridtt fein; fie erfd^eint
oielmel^r al§ ^errin aud^ über all jene§ ©egenfä^lid^e. ©ie felbft
fte^t baju nid)t eigentli(^ in bualiftifc^em ©egenfa^, fonbern im
93er^ältni§ ber übermä^tigen S^ranfjenbenj. @ben bamit aber
tranfjenbiert fie aud^ ba§ gange merbenbe geiftige ©efamtleben
unferer unmittelbaren @rfal|rung, fofern biefe§ als merbenbeS
grabe unter bem roirflidtien 3)rudt jeneS ®egenfa^e§ ftel)t.
2lud^ alle biefe geiftigen ©rfal^rungen nun treten bem f r o m«
men trieben unter einen neuen ®efid^t§puntt, oon bem au§ fie
erft in i^rer ooHen 93ebeutung burc^f^aut werben; ba§ ift loe«
nigften§ fo bie Ueberjeugung be§ glommen, ©ie mcrben \i)m
®otte§erfal|rungcn unb Ueberjeugungen oon ®ott. Unb tbtn fie
fmb ba§ 9Befentlid)e unb ®runblegenbe feine§ 93emu§tfein§ oon
ber S^ranfjenbenj be§ perfönlid^en ®otteS.
3)a§ bem ^^ommen alle§ baS, mag er im 9Q3erben unb SBad^S*
tum feines geiftigen SebenS erfährt, ®otte§erfal^rung ift, bebarf
ja nur ber Srinnerung. 33ei biefer religiöfen SBerfnüpfung ber
:3been aber mirb un§ eben in jenem bualiftifc^en ©egenfa^, ben
mir al§ merbenbe ®eifte§menfd)en immer aufS neue erleben, ®otte§
^[enfeitigteit ein ©rlebniS. 2llle görberungen, bie unfer merben*
be§ ®eiftige§ oon einem geiftigen ©efamtleben ^er erfätirt unb
460 iStcinmann: S)ic lebenbigc ^erfönlid^feit ©ottcS 2C
äße gorbcrungcn, bie oon bortl^cr crgcl^en, ftnb ja boc^ bem from*
men trieben ©otte^iDirfungen. @ben btefe ©ottegtoirfungen aber
erfahren mir als ©rregerinncn bicfcS Ocgcnfa^cS. @ottc§ 2lrt
ift ber notürüc^cn cntgcgcngefc^t ; fein 3)afctn unb baS Slatürlic^c
fd^Iiegen fid) au§. ®a§ aber ebtn ift feine qualitative S^ranfjen^
benj, bie uns; in unferen geiftigen ©rlebniffen jur ©rfa^rung
fommt. @ine räumli^e ^enfeitigteit @otte§ lä^t ftc^ nid^t er»
fal^ren, xo6f)l aber biefe qualitatioe. — 3)arum fud^en wir benn
aud^ ben Urfprung be§ @eiftigen nid)t me^r nur fo aQgemein in
®ott, fonbern in @otte§ jenfeitiger SGBelt. Qn biefer gotm einer
^ertunft be§ ©eiftigen au§ ber jenfeitigen SBelt ©otteS erfc^eint
im 3ufammen^ang be§ religiöfen (SrIebenS jene unbeftimntte 3bee
irgenbipelc^en jjenfeitigen UrfprungS be§ ©eiftigen.
S)amit aber ift bie c^ r i ft I i c^ fromme ©rfa^rung ber 2;ranf»
jenbenj ©otte§ ni^t erfdjöpft. ®a§ eben ©enannte für fid) allein
fü^rt ja nur ju einer bualiftifc^en ©rfaffung ber Sranfjenbenj
©otteS, xüit e§ \a aud) in ben bualiftifd^en Erfahrungen be§ gei«
ftigen Seben§ rourjett. ^n bem d^riftUd^en ©egriffe ber Sranf»
jenben} liegt aber nic^t nur bie ^bee eineS l^eitigen ©egenfa^e^
®otte§ jum natürlid^en S)afein, fonbern auc^ bie 93orfte(Cung einer
abfoluten 2BeItüberIegenl)eit ©otteS. ©Ott ift ^err auc^ über ben
©egenfa^. Unb ba§ nun erfahren mir oomel^mHc^ in jener burc^
au biefen ©egenfa^ Ijinburc^, i^n gleid^fam überminbenb, un§ ju
teil merbenben erlöfenben ©rjietiung unb gugleic^ 93erttarung be5
Jlatürli^en! 3)ie§ ba^ religiöfe aScrftänbni^ ber görberung, bie
bem ringenben ©eifte§Ieben mitten au§ allem ©egenfa^ l^erauö
bod) immer mieber juflie^t, ber SBerflärung beS 9latürlic^en bur^
ben ringenben Slnfturm be§ ©eiftigen, jeneig übermächtigen bleiben*
ben 9lürft|atte§, ben aü jene Unfertig!eit an i^rem meltüberlegenen
Urfprung befi^t. Unb fo erft befi^en mir bie c^riftlic^e SBotter«
fa^rung oon ©otte§ S^ranfjenbenj, inbem mir baS SEBirffamfein
einer fomo^I in i^rer 2lrt überroeltlic^cn afö auc^ in i^rem SBer*
mögen aUc§ aSeltti^e weit überragenben 9Rac^t beftänbig erleben.
2)iefe nii^t nur bualiftifdie Jranfäenbenjibee umfd)lie|t nun
aber bie ^bee ber göttlid^en Qmmanenj. ©8 pnb ganj biefelben
©rfa^rungen, in benen un§ ©otte§ ber SBelt immanente^ SEBirfen
©tcinmann: 2)ie lebenbige ^crfönli^feit ©ottcg :c. 461
unb jugteic^ bic SlBeltfibericgcn^cit bicfe§ 2Birfen§ entgegentritt, wenn
®ott mitten in ber SBirflid)fcit, bie unfer ringenbe§ ®eifte§leben be*
brängt, ju feiner görberung roirtfam ift ; unb jroar, unferer Srfal)*
rung gemäfe, nid)t inbem er an biefer SQBirtlic^feit l^erumforrigiert,
fonbern inbem er ganj bireft au§ it)r ^erau§ gu mirfen uermag.
2)a§ freiließ nun ift eine Siranfjenbenj @otte§, bie mir, im
Unterfc^ieb oon jener juerft genannten qualitatioen Qenfeitigfeit,
al^ abfolute 2^ranf jenbenj begeidinen möchten. S3ääl)renb mir ung
oon ber erfteren auf ®runb be8 merbenben ©eiftigen, ba§ in un§
ift, menigften§ eine 9It)nung ju bilben uermögen, überfteigt biefe
abfolute S^ranfjenbenj ®otte§, biefeS fein aUumfaffenbe^ unb tro§
atte^ ®egenfa^e§ allbe^errfc^enbeS SlBatten, mie fel^r e§ un§ er-
fahrungsgemäß gemiß ift, boc^ all unfer 93egreifen. ®§ verliert
fic^ aber auc^ bie qualitatiüe Sranfjenbenj ®otte§ in§ Unfaßbare,
menn mir erroögcn, baß für fein Seben jene ®egenfä§e nid^t Dor*
Rauben fein fönnen, unter benen unfer geiftigeS 35afein ftc^ mü^t.
3)amit ftnb mir am ©ctjluffe unferer Darlegungen. 2)a fei e§
bann notf) einmal t|eruorgel)oben: Älarl^eit religiöfer ^hten ift
etmaS anbere§ al§ Slartieit roiffenfd^aftli^er Segriffe. SEBer ^ier
miberfpruc^§lofe miffenfc^aftlidie 93egriffc fuc^t, ben merben aud)
bie legten Darlegungen nic^t befricbigen. 2Bir bürfen e§ aber
mo^l auSf predien : e§ ift feine ®d)ulb; xoa^ fuct)t er galfc^eS an
falfc^em Ort! 3Jlan rebet ja fonft fonicl baüon, baß SReligion
unb miffenfdiaftlic^e SrfenntniS jmeierlei fmb. 2)a§ jeigt fid)
eben ^ier, unb foUte fic^ mo^l übertiaupt in bogmatifd)en 3)ar*
legungen me^r jeigcn, al§ e§ ber ^^tl ift. Dogmatifc^e 3)ar*
tegungen ^aben eS ja bod) mit ber Steligion }u tun. Me§ aber,
maS jur SReligion gehört, Ijängt jufammen mit frommer Siegung
unb Sebenöerfa^rung. 3)a§ miß in ber ®IaubenS(el)re über fic^
felbft jur Klarheit fommen, nic^t aber in bie Q^orm begrifflid)
mo^l auSgegtätteter ®rfenntnigau§fagen l^ineingeprcßt merben.
Unfere geiftige unb religiöfe Srfa^rung am Dafein ift baju oiel
JU reic^ unb mannigfach unb oor allem aud) oiel ju fet|r ein an*
fängerliafteS. 3l\xx mer biefe 3lnfc^auung teilt, mirb in unferen
Darlegungen 93efriebigenbe§ liaben finben fönnen.
81*
462
(IBrlilärimg geg^n D. Pdtirer in $0^ik*
^rof. D. aSatt^cr t|at in feiner Schrift „S)o^ Stbc ber 9icfor=
mation" $eft 2 @. 23—27 einen 3lbjafc meiner «b^anbtung „S)ic ©eilS»
ßemig^eit be« etjangeüfc^en e^riften", 3. f. I{|. u. ß. 1903 in gröbtieft
entftetlenbcr SBeife befprocften. 3cft »erfolge in jener 9[bftanb(ung öon
V(nfang bis ju (Snbe ben audgefprocftenen Sxo^d gu jeigen, bag bie
^eildgemig^eit im @inne Sut^erd ald bie perfönticfte ©emig^eit einen
gnabigen itnb üerjeiftenben ®ott gu ^aben ancft für ben mobemen
aJlenfc^en b a « religiöfe 5ßroblcm ift, unb baß SJutfterS fpejififc^c ßöfung
bcSfelben, bie Segrünbung jener Oemigbeit auf bie 0 b j e f t i ü e ©na»
bent)er{)eigung ©otteS in (S^riftuS bie eingig befriebigenbe ift. Unter
biefer SiJorauSfe^ung lebiglicft [jaht icft ed atd eine ju eng gemorbenc
@($abIone begeid^net, menn für Sut^er bie .!peildgemigfteit erftnmUg fo
ju ftanbe fommt, bag ber unter bem 3)rudE ber SKatftt unb ©c^ulb ber
©ünbe SSerimeifelnbe ben Iroft ber SSergebung erfaßt unb i^ren ^rieben
erfäüjrt. "äh anbere formen i^rer Sermirflic^ung füftre ic^ @. 418/419
jnjei t^pifcfte gälle an. S)er erfte ift, bag ber äRenfc^ burdft fonfrete
SebenSerfa^rung beS (SIenbS inne n)irb, o^ne ®ott fein ju muffen
. in biefer SBelt, unb nun }ur ®emig^eit einen gnabigen ®ott gu baben
gelangt, inbem @otteS Siebe iftm aU baS in biefer befonbren ^otSBirl«
fame aufgebt; tnobet ic^ tjinjufnge: „obne f^rage mirb ftc^ mit bem S)ru(f
biefer Situationen ber ^ilfiSbebürftigfeit aucft ba* ®efüftl ber burcft bie
Sünbe herbeigeführten Untoürbigfeit ftftörfenb oerbinben unb bie Svl-
t^erfi^t gu ®otteS ^ulb barum aucft bie ©emig^eit ber SSergebung
einfc^Iiegen''. "iBer gmeite gatt ift ber ber 3ugenb, bie feine Sorgen
^at unb für bie baS intenfitjc ®efüftl ber ffirlöfungdbebürftigfeit nidftt
naturgemäß ift, befonberS menn fie nidjt unter bem 5)ru(f beS ©efeJeS,
fonbern in ber Sltmofpbo^e bed Seifte« Eftrifti aufgcmacftfcn ift. 3fir
fie ift bie erfte gorm, in ber fie bie §eilSgett)igfteit erlebt, bie freubige
Eingabe an ba§ c^riftlicfte Qbeal a(8 ein föftlic^ed; in biefe ift eben bie
perfönli(^e ©ewiß^eit ber 4)ulb ®otteS eingefcftloffen. @. 421 ftebe icft
@r!Iarung gegen D. SBoIt^er in 9loftocf. 463
noc^ QUdbrücftic^ ^ert)or, mt aü' baS nic^td baran önbert, bag ber
®runb ber ^eitdgemigijeit bie freie ©nabenoer^eigung @otted in
e^riftn« ift.
Sßad ^at nun D. SBalt^er l^ierau^ gemacht ? gür ben ©a$, bag ® otted
Siebe ber Seele al« ba^ in ber bcfonbren Slot SBirffame aufgebt, finbet
er jroei mögliche S)eutungen. Sntiüeber fönne er fagen, bag ber äRenfc^
(Sott aU Urheber biefer $)iot ertenne. Aber mie folle er bieö lun
@otted alö Siebe beuten? 2)ad fönne er erft, na c^bem er burd^ bad
Seib 5um ©c^ulbbemugtfein gebraut fei unb bann SJergebung erlangt
babe. Ober er fönne fagen, ber SRenfc^ erfahre ®otte$ $ilf^ ^^
jciner 5Rot unb fütire biefc ^ilfe auf ®ottcd Siebe jurücf. Aber eine
fo vermittelte |)ei(dgekt)iJ3i|eit fei Sinbilbung, mie benn Sut^er l^on fold^en
rebe, benen ®ott ^eimlic^ feinb fei, mit benen er aber ^anble als feien
fte feine lieben ffiinber. QSn Sejug ouf bie 3ugenb gibt er ungefähr ju,
bofe folc^^ ibeate« Streben ber normale SBeg fei — um meiter ju fom*
nien, namlic^ jur ©ünbenerfenntniö, unb um fo burc^ ben Sngpag ber
©etoiffenSfc^recfen erft jur $)eiI8gett)i6^eit ju gelangen. SBenn ic^ aber meine,
tai in iene :pingabe bie perfönlic^e ©emig^eit ber .^ulb ©otteS fc^on
eingefc^loffen fei, fo fomme bad leiber uor; ba bilbe ber äJlenfc^
ftc^ ein, ® Ott fei i^m beS^alb ^olb, yd eil er bem ^beale nac^ftrebe ;
folc^e auf ber ©elbftgerec^tigfcit ru^cnbe ^eilÄgetoigtieit fei bann bie
un^etldoUfte @elbfttaufc^ung.
SBad ic^ an SEBalt^erS äSerfa^ren, um bon Sinjel^eiten abjufe^en,
unerhört finbe, ift bieS, bag er üon ben 85 Seiten meine« SluffafteS
eine einzige herausgreift unb biefe, um ben weiteren unb näheren Qn*
fammen^ang unbetümmert nac^ feinem ?)elieben interpretiert, um fie
bann gu nickte ju urteilen, ^ätte er nur irgenbkoie beachtet, mad ic^
immer mieber betone, bag nur bie objeftiüe ©nabenbcr^eigung @otteS
in S^riftuS ber ®runb ber ^eilSgetoig^eit ift, fo ^atte er fieser nic^t
auf ben ©ebanfen fommen fönnen, bag i^ enttoeber bie augere 3ldt als
fol^e ober bie ©rrettung auS biefer als itiren ®runb anfe^e, fonbern
b&tte baran beuten muffen, bag im Si($t ber Siebe ®otteS in S^riftuS
ber innere Segen ber 3lot ücrftönblic^ wirb. SSor allem aber ^ätte
er fic^ nid^t ber empörenben äSerleumbung f^ulbig machen fönnen, bag
i^ eine ^eilSgemigtieit ber Qugenb bel^aupte, bie auf Selbftgcret^tigfeit
beruhe, ^c^ fage, bei Seac^tung meines ®runbgebanfenS ^ätte er baS
uic^t fönnen, auc^ menn meine (Sntgegenfe^ung Don Srucf beS ®efe^eS
unb freubigem Streben nad^ bem ^beal als einem töftlicben i^m un^
Derftänblic^ blieb unb auc^ menn er imftanbe mar, eS gu Dertoe^feln,
bag bie ®emig^eit ber Jpulb ®otteS, tüie i^ fage, in jenem Streben
464 ($r!(ärun9 degen D. Salt^er in dioftocf.
e i u g e f c^ 1 0 j f e n , unb, xok er mir nac^fagt, burc^ bad 'JSeiuugtieiu
um biefe^ b e 9 r ü n b e t ift.
Über ic^ ^abe iioc^ eine fc^ümmere Srfa^rung mit D. SBaIt()er ge«
mac^t. Um bad SReine ba^u jn tun, bag bie IBerbitterung ber unber^
meiblic^en t^eotogt{d)en $olemtt burc^ bie öffentliche 9(bme^r folc^eu
Sierfa^ren^ oermieben merbe, t)abe ic^ mic^ brieflich an D. SBalt^er ge«
n)anbt mit ber 2)arlegung bed Xatbeftanbd unb ber ^llnfrage, ob er nid)t
fclbft bie erforberlic^e ^Berichtigung geben motte. ®r erflärtc, auf mei*
nen 4>öu))tbormurf, bie 3fl"0'^i^i'^"»9 meiner I^efe Don bor Öegrün^
buug ber ^eildgemig^eit auf bie ob|ettiDe fönabenoerl^eigung, erft ant^
morten 5U fönnen, nac^bem ic^ i^m eine aut^cutiic^e Erläuterung be^
SlbfafteS S. 418/19 gegeben, unb fc^lug fc^liefelic^ üor, baß er ^roci
meiner @a^e, bereu Uebergel^en icf) i()m borgemorfen, bie aber bou ettoad
anberm ^anbeln, abbrühen unb beu Sefern ba^ Urteil anbcimgeben fülle,
ob unb iumiemeit baburcb feine ^arftettung berüt)rt merbe. Ser Srief,
in melc^em ic^ biefen Siorfd^lag ald ungenügenb jurüdEmied unb bie gc«
münjc^te Srlauterung gab, berjögerte fic^ infolge oon Unmo^Ifein unD
onberem um einige äBoc^en. ^a^er berjit^tete ic^ je^t auf ^ne 'bt-
ric^tigung burc^ SSaltl)er unb bemertte, bag ic^ fie gelegentli^ felbft
üorne^men motte unb ^offe burc^ feine nunmehrige Slntmort auf meine
$auptbe(c^merbe in ben Staub gefegt gu merben, bied o^ne Scharfe ju
tun. SSalt^er antwortete mir, bag er mein @c^meigen atö Suf^^^^u"9
beutenb (!) feinen )öorfci)Iag im X()eoI. Siteraturblatt fc^on audgefu^rt
^abe, räumte ein, in ber 3)eutung bon @. 418/419 i,nic^t ganj (sie!)
meine äReinung getroffen 5U ^aben", lel^nte aber ein (Singeljen auf meinen
itBrief ald nu^lod ab unb gab bie berfproc^ene Slntmort auf bie ^aupt«
befc^merbe nic^t. ^iluf meine nochmalige iiBitte, mir eine „^j)eric^tigung
ot)ne ©cbörfe-' burc^ eine briefliche Srtlärung über ben $unft ber ob<
ieftioen ^egrünbung ber ^eildgemig^eit 5U geben, erfolgte bie runbe
Steigerung : „benn mir oerftc^en nic^t badfelbe unter ben unoermeiblic^eii
Begriffen''.
^ad Urteil über D. SBaltljerd äSerfa^ren fann ic^ getroft ben tiefem
überlaffen. gür mic^ aber fc^eibet D. äBalt^er einftmeilen aud ber 3^^)^
ber ©egner auS, benen gegenüber ic^ mic^ jur IBeac^tung unb STu^in«
anberfe^ung berpflic^tet fü^Ie, meil ic^ in atten 2)ifferenien unb aud)
äßigberftänbniffen überjeugt {ein barf, bag ed i^nen um bie SBa^r^eit
5U tun i)t.
3. (Sottfc^icf.
465
Lic. gntil 9ui|8,
9ief ctcnt an bev UniberfttSt (Stehen.
1. Äann kämpfen" cf)riftlid( fein?
Obige S^age ift ber ®^riftent|cit ju einer ernften ©eroiffenS^
fadbe gemad^t worben bur^ man^erlei (Sreigniffe ber legten ^df)xt,
wie bie Oreuel in 2lrmenien unb ber 93oeren!rieg, vox allem aber
bur^ 9taumann§ ©teUungnalime ju biefen ©reigniffen unb feine
unumrounbene ©rflärung, ba^ er nid)t§ leiften tonne in ber ^o*
litif, bag man übertjaupt nid^tö leiften fönne in it)r, wenn man
nur nad) ben ^rinjipien unb 2tntrieben ber ©t^if be§ Stjriftens
tum§ ^anble. (SKan oergl. aifta 114. 119. ®. u. Ä. 34) i). 9iun
tämpfen mir felbft in ©übroeftafrita fol^ einen ft'ampf. Surfen
wir ba§ al§ ©Triften? ®ürfen mir ru^ig jufd|auen, menn unfer
SSotf e§ tut? 3Jlüffcn mir ni^t abroel)ren?
S^aumann get)t üon bem ©ebanten au§, baja bie d)riftlic^e
®t!)it jeben Kampf au§fd)lie^t. 2lber oI)ne Kämpfen, manchmal
mitIeibIofc§ Kämpfen, ift nirf)t^ ®ro§e§ burdiiufe^en. 2llfo muffen
mir meiter fämpfen, au§ ^^Jflic^tgefütil fogar. 3Bir muffen alfo
neben ber ^riftlic^en @tt)if eine 32BeItet^if i^abtw, mit ber mir bie
großen QkU biefeö fieben^ unb biefer SBelt erftreben.
1) 3^ cttiere im folgeuben 5). u. ^. mit Seitental)! = ^cmofrdtic
unb Äaifcrtum. 93r. mit ©citenaa^I: ^Briefe über Dieligion, nad^ ber
SonberauSgabe.
3eitf<^rlft für «^eoloßte unb Älrc^e. U. Jja^rg., 6. $eft. 32
466 fjucf|§: ©^riftentum nnh Äampf um§ S)afein.
3Wau Tüirb nic^t ücrfcnncn !önncn, ba§ bicfc ©tcttungnal^mc
5taumann§ ein ©tüd au§ ber ganjeu ©mpörung unferer 3^it
gegen bie 2)emut§et{)tf ift, jener ©mpörung, bic in 9lie^id|e i^ren
energifc^ften 2lu§brudf gefunben t)Qt. Slber noc^ qu§ einem an»
bern ©runbe barf man ftc^ nid^t rerfü^ren laffen, bie ©ad)e lei^t
ju nehmen: ©in Pfarrer von d^riftlid^em <3bealisimu§, c^riftlid)cr
93armt|erjig!eit getrieben, legt fein ißfarramt nieber, mirb ^otititer,
um beffer lielfen ju tonnen unb mu^ bann erftären, mit btefem
einen ^^rinjip, ba§ biäl^er mein Seben bel^errfc^t l^at, tommc id|
nid^t au§, tann id) gerabe ba§ nic^t erei(^en, roa§ ic^ i^m ju lieb
erreid)en möd^te.
91un fann eine ni^treligtöfe @t^if ba§ oieKeic^t ertragen.
2lber eine ®t^it, bie auf @otte§gIauben rul|t, tann e^ nid|t. SBenn
e§ ein ©ebiet im Seben gibt, roo mir fagen muffen, ^ier ift mit
ber cl)riftlici^en ®t^if nid|t§ au^juri^ten, nic^t ba§ ^öfe ju über=
minben, bann bel^errfc^t unfer @ott biefe§ ©cbiet nic^t. 2)ic SBor«
auSfe^ung jeber c^riftlic^er Seben^fü^rung aber ift, ba§ ®ott bie
äßelt gefi^affen t|at mit bem Qvotd un^ barin ju einer beftimm*
ten et]^ifd)cn ©eftaltung ju erjie^en. Stimmt biefe SBorau^fe^ung
mijt met|r, bann Iiaben mir biefen @ott nid)t me^r.
S)abei ift 9laumann§ Stellungnahme gar nic^t auf ein ®e=
biet JU befc^ränten. aWit SRed^t l^at Sßeit fofort barauf ^inge=
miefen (S^riftl. 3Q3eIt. 1901 0ir. 38), bag Kämpfe aud) im ©e=
fd)äft§leben gefül^rt werben muffen unb ein @efc^äft§mann bie-
felben ©rünbe jur ©manjipation oon ber c^riftlic^en &ti)it ^ot
mie ein Staatsmann.
Slaumann ^at auc^ barauf^in in ben 93riefen über Sleligion
biefe Äonfequenj gejogen:
„S)a§ roa§ id) al§ ^otititer über bic Stellung ber ^ßolitit
jum ©oangelium ausgeführt Iiabe unb Qi)x^t J^rage entfprec^enb
auSfütiren mu^te, ift gleid)jeitig meine 9lntroort auf üiele a^n-
lidje 5^'agen. 3)er ^fwrift mu§ ätjnlici^ jum SRedjt jle^en, ber
Kaufmann ä^nüd) jum ®efd|äft. Unb mer oon allen benen,
bie t)eute ermerben, ift nic^t irgcnbmie Kaufmann" (55r. 50
oergl. auc^ 37)?
Sie ^aben aüz neben bem S^riflentum nod^ anbere etl^ift^e
5 u d^ g : ®{)riftcntum unb ^ampf umä '2)af ein. 467
3JlotiDC notiDcnbig. ©nttöcbcr mug bcr ^»öttgcr ®f)riftt au§ ber
SEBelt ^inau§cje^en ober er fagt: ,,^6) voiH ®t)rift fein fo uicl unb
gut e§ in bicfcr SCBcft möglid) ift ! ®r ücrjic^tet barauf nur djrift*
lict)c SWotiüc ju l^aben, fonbcrn i)at fic neben anbcren" (33r. 38).
„aBcr nun fagt, ba^ im ©oangeUum alle Sitttic^feit por*
Rauben ift, bie c§ für un§ gibt, ber mu^ cntroeber bie bürger-
tidie ©ittlic^teit bc§ Staates übert)aupt oon fid) weifen, ober
er muj5 fte umbeuten, bi§ fie fic^ einem ©r)ftem c^riftlitfier
ÜJloral einjufügen fd^eint. 3)a§ le^terc ift ba§ t)äufigere. 9Jlan
mad^t ben Staat mit aü^n feinen Kanonen unb Äerfern ju
einem 93eftanbteil unb Hilfsmittel be§ 5Reicf)e§ ©otteS. ^Jtur
fd)abet man bamit bem 93ilbe ^efu me^r alS man it)m nü^t.
3Kan mu$ bann bie jarteften unb feinften ^Regungen ber Seele
J^efu . bred)en. ©erabe barin berut)t feine ©igenart, ba^ er
grop ift otine allen meltlid^en ^errfd^aftSfinn" (33r. 42).
„3lIfo entmeber man roagt e§ ftaatSloS fein ju moüen, man
Tüirft fid) aller Sttnarc^ie freiroittig in bie 9lrme, ober man ent*
fc^IieJ3t fid), neben feinem religiöfen 93efenntniS ein poIitifc^eS
93etenntni§ ju ^aben" (93r. 48).
„SEBir teuren jum alten großen 3)oftor beutfdjen ©laubenS
(Suttier) gurüdt, inbem mir politifd^e 3)inge al§ au^erl)alb beS
SDBirfungStreifeS ber ^eilSoerfünbigung betrad)ten. <3d) ftimme
unb werbe für bie beutfc^e ^^lotte, nid)t meit id) ©firift bin,
fonbern roeil jd^ Staatsbürger bin unb meil id^ barauf Der»
jid)ten gelernt ^be, grunblegenbe Staats fragen in ber 33erg*
prebigt entf(^ieben ju fe^en" (53r. 50, oergl. aud) 43/44. 45
46. 49).
3)aS Sd^timme babei ift nun, bag bann unfere ^Religion mol)l
nod| Sd^mudE beS SebenS, mot)l anä) nod) eine oerebetnbe 5?raft
für einjelne Seelen unb fleine Sreife fein tann, aber nid)t mel)r
bie eine ftarfe SBal)rI)eit, auf ber mir unfer ganjeS Seben auf«'
bauen !önnen, in ber baS eine ganje Qkl unfereS SJBefenS unb
SBirtenS gegeben ift. 3)aS l^at bie perljängniSoolle Äonfequena,
ba| mir ©ott auc^ nur noc^ für beftimmte ©ebiete SBertrauen
fc^enfen tonnen. S)er Sßater 3>efu ©f/rifti miß unS in beftimmter
3lrt ooHenben, baS glauben mir unb barin fönnen mir if)m Dev=»
32*
468 3furf|8: ®^rtftentum unb ^atnpf uni§ ^afcin.
trauen. 933ir aber brausen für unfer Seben noc^ anberc SBerte,
Sonnen wir i^m bafür aucf) pertrauen? 9taumann fagt:
„3m SQSort Äampf um§ S)afcin liegt eine S33eltan[c^auung.
SDer Äampf wirb al§ ^rinjip beS 5öttfd)ritte§ gefaxt unb jroar
ber ganje brutale egoifttfc^e Äampf. UeberaD fie^t ba§ Sluge,
ha^ einmal be§ Sampfe§ gcmol^nt morben ift, feine ©puren , . .
3Wan fagt, ba& fein ©pcriing obne @otte§ aSiUen oom 3)ac^e
fäKt, nein, nid^t irgenb jemanb, fonbern ^efuS fagt c§. S)er»
fetbe Qe\vL§ fagt, baj5 biefe Sinber met|r mert fmb atö oiete
Sperlinge. ®r fagt, ha^ fie in (Sottet bcfonberer Obt?ut fteljen.
Sföie pa^t ba§ jum Kampfe um§ S)afein, ber bie ^ätfte oon
i^nen t)orjeitig üerfc^lingen mirb? ©oll man al§ ©l^rift bie
(Srlebniffe ignorieren, oon bcnen bie ©tatifti! rcbet?
ajlein 5^'eunb, ©ie füt)len mit mir, ba^ mir Kein unb arm oor
bem Problem ber Probleme fte^en: mir ^aben eine SBelter«
fenntni§, bie un§ einen ©ott ber SJla^t unb ©tdrfe leiert, ber
2:0b unb Seben mie ©rf)atten unb Sid)t gleid^jeitig Derfenbct,
unb eine Offenbarung unb einen ^eiteglauben, ber von htm--
felben ©ott fagt, bajs er aSater fei. 3)ie 9lac^folge bc§ SBelt*
gotte§ ergibt bie ©ittlid)feit be§ Kampfe^ um§ S)afein unb ber
2)ienft be§ 9Sater§ Q^fu S^rifti ergibt bie ©ittlic^teit ber 93arm*
lierjigfeit. ®§ fmb aber nid)t jroei Oötter, fonbern einer. 3^9^"^*
mie greifen il|re 2lrme ineinanber. 9lur tann tein Sterblicher
fagen, mo unb mie ba§ gefd)ie]^t. 3)er einzelne 3Jlenfd) tft be»
ftänbig jmifdjen beibe geftellt unb jmif^en beiben fuc^t er fi^
mülifam unb um Klarl^eit ringenb feinen 9Beg" (53r. 44).
Sltfo jene§ eint)eitlid)e ftarte @ef ü^l : l^ier f)abt id) ertannt,
xoa^ ©Ott mit mir unb ber SBett mill, t)ier merbe ic^ i^n auf
meiner Seite l^aben, auf biefem 2Beg merbe i^ fiegen, fei e§ aud)
im Untergel^en wie ber ©etreujigte, — biefen ©lauben gibt e§ nic^t
melir. Sßon gall ju g^H muffen mir raten, ob mir t)ier ben ®ott
auf unferer ©eite ^aben, ber un§ in unferem innerlirf)en SBcfen
reiner unb beffer mad)en miß, ober ob f)ier ber ftärter ift, ber
un§ in h^n ®ienft äu§erlid)er Joftoren jmingt, unb mir un§ bem
ju beugen ^aben. 5)a§ Problem ift ein alte§. 5Uur nannte man
früher ben ©ott biefer SBelt ben S:eufel. Slaumann !ann i^n fo
5ud^§: ®^riftentum unb ^ampf um§ S)afein. 469
ni^t me^r nennen, mtil er im Slingen biefcv Gräfte ju ml @ute§
ftc^t. Oerabe bie§ wirb fpäter noc^ ju betonen fein.
Älar ift vooi)l nac^ biefen 2lu§füf)rungen roie ernft bie S^rage
ifl, üor bie un§ 9tanmann gefteUt t|at. SDRag er perfönüd) babei
S^rift bleiben tonnen. SBiele — id) jät)le mi(^ ju i^nen — tonnen
ni^t einem (Sott bienen, ber l^ie nnb ba einige eble SRegungen
in nn§ f)eroorruft, aber auf ben xüxx tein einl)eitfic^e§ reineS
Seelenleben bauen tonnen unb ber für ba§ befte, roa§ wir im
Seben ju leiften ^aben, nic^t bie tragenbe Kraft ift (oergl. §err=
mann: ®ie fittl. SBeifungen <3efu ©. 8 f.). 2)abei ift fo unenb«
lid) oie( SCBa^rlieit in biefen 2lu§fprü^en gegen bie d^riftlid^e (St^it.
(S^ ift |tc^cr einer ber Orünbe für bie ©nttirc^Iic^ung gerabe ernft
bentenber ajlenfdjen, ba§ fie bei bem einen Pfarrer, ber ben 93e*
bürfniffen be§ fieben§ entgegentommt, ba§ ©efü^I ^aben: er
fc^mäc^t bie ^örberungen be§ S^riftentum^ au§ n)eltli(^en 9iüdt==
fiepten ab; bei bem anbern, ftrengen, unter ber Sanjel fi^en mit
bem ®efüt)l: menn idj bamit ernft madie, bin id^ ruiniert, nid)t
nur mit bem, n)a§ fc^led)t an mir unb meinem ©efc^dft ift, fon*
bern auc^ mit bem, roa§ icf) pflid^tgemä^ ju oerteibigen unb ju
ermatten l^abe. SBieoiet ©elbftlofigteit, Siebe mirb geprebigt unb
bie ©emeinbe roei^ ganj genau, ba^ ber Pfarrer felbft nic^t an
bie SWöglic^feit bentt, ba§ ju oerroirtlic^en. SCBie oiele 5ßfarrer
prebigen 2öo^ltun unb 93armt|erjigteit unb lauten fic^ motjlrocig*
li^, i^ren ©emeinbegliebern bie entfprei^enben ®elegenl)eiten ju
fd)affen unb prattifdjen SQBinte ju geben, o^ne bie fie an ©ruft
niad^en gar nic^t benfen tonnen. Qn biefen, bie mit bem ©efü^t
abfoluter ^ilf(ofigteit bafi^en, nebme man noc^ ben ©ojialbemo*
traten, bem man ben d)riftUd^en ©et)orfam prebigt, unb man ^at
fi^on eine l^übfc^e 9ieil)e praftifc^er Qüuftrationen, bie un§ baut*
bar ftimmen gegen ben SUlann, ber biefe %xaQz rüdtfic^t§lo§ auf*
gerollt ^at. 9Sor allem auc^ für ben Äonfirmanbenunterrid^t ift
e§ mic^tig, Slarl)eit gu fdiaffcn über bie 'SxaQZ, ob mir bie Äinber
]^inau§fd)i(fen bürfen in§ Seben mit bem ©ebantcn : ©eib ©l)riften,
bann feib il^r ein ©egen für euc^ felbft unb anbere, ober ob mir
i^nen bamit allein etroa^ geben, mag it)nen fel^r rafd^ al§ %ox\)e'\t
unb Unmöglic^teit erfd^eint, fo ba^ if)nen bie d)riftlid^e ^Religion
470 ^U(!^§: Gi^rifientuin unb ^ampf umi ^afettt.
balb tote eine gro^e 2ücfi porfommt.
(Si)e ic^ jeboc^ jur ^u^fü^rung übergeben fann, mug i^ einem
Irrtum begegnen. @§ fann fic^ im folgenben nid^t im geringften
borum ^onbeln, ob man mit ben einjelncn gorberungen ^t^M ober
anä) mit i^nen a(§ einer ©efamt^eit @mft mad)en fann ober nic^t.
2)iefer Stanbpuntt ift tatfäc^Iic^ auf eoangeIifd)em ^oben aufge«
geben unb fe^t eine 2luffaffung oom SGBefen ber ©ittlid)teit oor-
au§, bie mir at§ eoangelifc^e €^riften nie jugeben fönnen. SBKa^re
©ittlic^teit ift für un§ eine au§ einer beftimmten ©efinnung fiie*
§enbe 2lrt be§ Seben§. 3)iefe allein tann unb tonnte un§ (£^riftu§
bringen. ®urc^ feine ©efmnung, fein ©emiffen, bie mir au§
feinen SBorten unb Säten leuchten fe^en, fc^afft er un§ eine ®e*
finnung unb ein ©eroiffcn. 2)ann aber fül|rt er un§ nic^t am
©ängelbanb et^ifc^er SJorfd^riften ober eine§ ct^ifd)en SgftemS^
fonbern fd)idEt un§ al§ felbftänbige Äinber ®otte§ ^inausJ in bie
aöelt, bamit mir bort biefe ©efmnung betätigen in Säten, 3Bor=
ten unb ©ebanten — menn mir roiffenfc^aftlid) beuten auc^ burc^
^erftetten eine§ et^ifd)en or|ftem§ — unb fo unfere ©efmnung
ooUenben unb jum Sf)aratter merben. ®äbe er un§ ein Sgflem,
fo mären mir emig oou it|m getrennt. SBaS an i^m ba§ größte
ift, bie große freie, ftarte ^ßerfönlic^tcit mürbe er un^ unmöglich
madjen. S§ ift be§^alb nid)t eine f^merjlidie ®rtenntni3, fonbern
ein ©Iflct für un§, baß Qt]\x§ al§ fold)e 9lutorität un§ genommen
ift. (®tma§ anber§ : ^errmann, bie fittl. SBeifungen Q^fu S. 90 f.
bod) f. auc^ ©. 36. 49. 60.) So fteüe ic^ mid) alfo für bo^
folgenbe auf ben ©tanbpuntt, ben ^errmann in feinem SBortrag
auf bem eoangelifc^ fojialen ilongre^ eingenommen ijat 9Wan
oergIeid)e oor allem:
„3)ie geiftige 3)lad)t ^efu f)at längft in ber ©tille bei ein»
jelnen ©Triften ha^ befc^afft, ma§ mir an bem tirc^lirf)en 3Bovte
Sutl^er§ oermi^ten, ba§ ftttlid)e SBerftänbniö, morin mir Qt)\i^
bod) al§ unfern gül)rcr evtennen, unb bie leud)tenbe Söa^r^eit
ber SBorte, bie al§ ®d)abtonen oermenbet, ben 3Kenfdjen oon
ber 833at|r^eit unb bes^alb aud) oon ®^riftu§ f^eiben. 2ln
einem einjelnen SBorte Qefu tann ftd) biefe§ 95erftänbni5 eiit»
jünben. Unb bod^ tann un§ meber ein einjelne§ ©ort Qt\u
^ud)S: Sl^riftetitum unb ^ampf um§ ^afein. 471
noc^ aÜc jufammcn eine fold)c @rf cnntnig barbictcn. SQSir fön-
neu fic nur gciüinnen, wenn toir i^n fclbft fuc^en. ®amit ift
nid)t§ p]^Qntaftif(^c§ gemeint fonbern ba§ einfache 93emül^en,
bic ©efmnung ju erfaffcn, au§ ber biefc rounberbaren, fc^redt*
liefen unb freunblid)en SDBorte gequollen ftnb" (93ert|. be§ 14.
eo. foj. Jlongreffeg 1903. S. 20. ajlan oergl. aud) @. 22.
25/26. ®ie fitttid)en aaSeifungen ^efu ©. 35 f., anä) ©. HI.
25. 45. 49).
3^ betone btefe ©ebanfen fo fd)arf, weit felbft narf) ben
Haren 2lu§ffil)rungen ^errmannö in ber folgenben Debatte immer
roieber ba§ anflingt, al§ l^anble e§ fid^ um ba§ aSerroirttidien be*
ftimmter Sinjelforberungen, ober eine§ beftimmten junädjft ab^
[traft Dor^anbenen etf)ifd^en ©gftemS. 2lud) 9iaumann t|at t)iele
©teflen, roo ba§ antlingt. ©eine erften ©c^riften in biefer ©ad)e
(teilen nocf) üöttig auf bicfem ©tanbpunft.
„©ie (bie ^olitif) I|at feine aJlögli^teit, eine über aKem
Kampfe ftef)enbe ibeale ett)it ju oermirtUdien" (3). u. S^. 34).
SBenn bamit bie c^riftlic^e ®tt)if gemeint ift, fo ift ju fagen,
bag biefe feine „ibeale @t^if", fonbern eine fe^r reale ©eftnnung
ift unb fein mu§.
3)oc^ mie gefagt, eine 9lu§cinanberfeftung mit benen, bie ba§
G^riftentum fo auffaffen, fott ba§ folgenbe ni^t fein, ^üv bie,
bie bie ®rfa^rung gemacht liaben, ba| unter Qefu ©inftu^ eine
beftimmte Ocfinnung in i^nen ermad)t ift, roiH e§ bie 5^age be*
antworten, ob biefe ©efinnung aKeinlierrfd^enb fein fann unb
barf ober nid)t.
Sine 2{u§einanberfe^ung mit bem anbern ©tanbpunft ift um
fo weniger notroenbig, al§ JJaumann in ben 93riefen über dizlu
gion feinen 3(ngriff Har unb bewußt auf biefen ^erjpunft ber
©ac^e gerid)tet i)at
„SD3ir fmb nic^t nur au^er ©tanbe, wie fd)on au§gefüt)rt,
ben genauen Söortlaut ber 93ergprebigt in bie heutige 3^it i^
oerfe^en, nein, wir bringen e§ nid)t einniat fertig, ben ®eift
Q[efu al§ ma^gebenbeS ^rinjip unferer ©rwerbstätigfeiten ju
betrachten" (93r. 38).
2Bie fel)r bamit wirflid) bie ^erfon ^efu, „er felbft", im
472 $uc^§: ^^Ttftentum unb ^ampf um§ 9)afein.
©innc ^errman§ gemeint ift, loirb Hat, loenn man f olgenbe ©teüen
oergleic^t:
„Sie erlebten bie unenbli^ tiefe ^^erfSnli^teit 3fc[u unb bc*
famen an i^r @otte§a^nungen ic^ ^abe gefagt, bo^
e§ bie neuere 9laturerFenntni§ nid^t fernerer mac^t al§ bie alte,
gottgläubig ju fein. Db mir e§ aber ftnb, ^ängt nic^t uon
ben 9taturforfd)em ab, fonbem Don unferem 93er^ältni§ }U
ben fc^öpferifc^en ©eelen, bie ®ott füllte. ®a§ unter biefen
©eelen 3efu§ ®bri[tu§ obenan fte^t, bebarf für unferen euro-
päifc^en Äulturfrei§ feiner meiteren SSorte" (Q3r. 22).
„@§ fe^lt bie geiftige ©egenmart ber 3^"traIperfon be§
abenblanbe§", ^ei^t e§ t)om Orient (93r. 23).
„fjromm fein ^ei|t: einen ©eelenjuftanb geroinnen, mie er
in Qt\u§ in überroältigenber fS&näjt oor^anben ift" (93r. 29.
ajtan uergl. auc^ 9. 11/12. 24. 30).
Sabei mirb oollftänbig berüdtfid^tigt, ba^ biefelbe @efinnung
l^eute unter ben oeränberten SSer^ältniffen in oöttig peranberten
äußeren g^^^tt^^^ eyiftieren Eönnte:
„3)a§ ma^ ^efu§ bietet, ift bie Äinbfc^aft @otte§ in ©aliläa
^d) lege ©eroic^t barauf ju fagen : bie Äinbfc^aft ©ottcl
in ©aliläa. ®ine ^inbfc^aft @otte§ in 5ßari§ ober Sonbon ober
33crlin ift nid|t genau baSfelbe. Qxoax bleibt bie Äinbfc^aft
®ottc§ in i^rem innerlic^ften SBefen bie gleici^e, aber fie äußert
fid^ in oerf^iebener Umgebung üerfd^icben" (93r. 33, oergl. 34).
Unb Don biefer nad^ ben Umftänben in i^rer SÄeu^erung
fic^ änbernbcn ©efinnung gilt e§ für 9^aumann, ba| fte für unfere
3eit nid^t mel^r genügt, ba^ eine anbere roeltlic^e ©t^if, anbere
geiftige 2:riebfräfte neben fte treten muffen.
^xt allen biefen Sluöfül^rungen fc^eint mir Slaumann ftavf
beeinflußt ju fein oon $aulfen, ber in feiner @t^if (1889) unb
in Slrtifeln in ber c^riftlirfien SBelt (1899. ©. 385. 415. 726)
einen ä^nlicfien ©tanbpunft oertritt.
SQ3ie 9taumann fd^ä^t ^aulfen bie Sebeutung beS ©Triften«
tum§ unb feiner ©t^if für bie aWenft^l^eit ungeheuer ^o^. S^
l^at ba§ ©mpfinben ber aSölfer in ber 9Sergangent)eit gerabe in
besug auf Ärieg unb ^olitif oerebelt (©I)riftl. SDSelt 1899. 417);
3^ud^§: ©l^tiftcntum unb ^ampf um§ S)afein. 473
c§ l^ält i^nen ba§ l^ö^ftc 3'^^^ ^ör, bcm fie jujuftreben tiaben
(ebenba 416). SSeinal^c noc^ cnergifd^er betont er bieg in feiner
6t^if: „3)a§ ©tiriftentum ift eine SBirtlic^teit in bem gefc^id|t*
lidjen Scbcn ber europäifc^en Sßölfcr geworben, bie überl^aupt nic^t
unroirflic^ unb unn)ir!fam werben tann; erft mit biefen 93oIfern
felbft fönnte e§ angfterben. SBSiße unb ®emüt biefer SBölfer fmb
unter feiner (Sinwirtung geworben, roa^ fie finb, unb barum
tonnen feine 3öge in i^rem ©epräge nic^t au§gelöfd)t werben"
{®ti)xt 123, oergt. oud) 22 f.). ©nergifc^ fü^rt er bann au§,
ba§ ba§ (S^riftentum au6) un§ nod) notwenbig bleibt al§ (Srl^e*
bung über ba§ Seib be§ ®nblid)en, ®cwiffen§fd^ärfung unb (£r*
I)ebung über ©ünbc unb ©d)ulb, al§ Äraft fid^ felbft jum Dpfer
ju bringen (@tl|it 124 ff.). ®§ ift ber ftarte, unbeugfame (Staube
an ein Qkl, bie SßoKcnbung im <3enfeit§ über allem Seib, allem
Kleinen, allem ©d}le(^ten i)kx, an bie SWac^t, bie alle§ jum ©ieg
be§ Outen lenft, btn bie 9JJenfci^t|eit, ben oor allem bie Sblen in
it)r, nie entbehren fönnen al§ Qxd, 2lntrieb unb erjiet)cnbe 9Jlad)t
(@tt)it 338 f.).
®§ ift wo^l gerabe ba§ S3ebürfni§, biefe über bie SBelt er^^
tiebenbe unb erjie^enbe Kraft d)rifttid)er ®tt|if ju ertialten, ba§
^aulfen treibt, i^re Ueberweltlic^teit unb^^ß^^f^iiiflfcit^fo ftarf ju
betonen. Sitten SBerfud^en, ;3efu§ ju einem 9Dlenfd)en ju mai^en,
ber auc^ SQBerte be§ ®ie§feit§ fannte unb erftrebte, ftellt er ^art
unb unnad)giebig bas: „2Jiein Steic^ ift nid)t oon biefer SBelt"
gegenüber : „<3efu§ unterfagt nid)t nur ben ©ebraurf) ber ©ewalt,
fonbern aud) ben Kampf um§ Siecht oor @ericf)t. Unb er mad)t
feinen 93orbel)alt: 93ift bu aber Kaifer ober Kurfürft ober beffen
3)iener, fo barfft bu mit bem Schwerte bein SWeic^ oerteibigen.
©onbern er fagt: „3Jlein Steid^ ift nid^t oon biefer Söelt, barum
fämpfen meine Wiener nidE|t für mid) mit bem ©ct)werte" (©^riftl.
583. 1899. 722).
©0 mu^ bie ®tl|if ber Qnnerlic^feit urteilen, bie nur ein
®ut fennt, ben neuen 9Wenfdt)en, ber feine ^eimat unb aSoöen-
bung im 9tei^ ®otte§ l)at (ett)if @. 50 ff.). §ier gibt e« leine
Kompromiffe. ^ier aber fe^t nun bie Sd)wierigteit ein, oor ber
wir l^eute ftef)en.
474 JJuc^S: ®f)rtftcntum unb ^ampf um§ 5)afcin.
3Äit biefem djriftli^cn ^htal ift c§ nid^t möglid^, bie SfiJcIt
}u gcftaltcn unb ®ic§feit§n)erte ju cnoerbcn unb ju fc^ü^cn : „Cb
eine diriftlic^e SBcIt in biefem ©inne mögli^ ift? Ob ein d^rift-
lii^er ©taat möglid^ ift? 9efu§ bel^auptet e§ md)t; er fagt oieU
metir: SÄein Sieid^ ift nic^t von biefer SBelt. „S^riftuSreid)"
unb „aSelt" finb ©egenfä^e" (©^riftl. SBelt 122). Unb im 3ln*
fct)Iu^ an bic ^^i^berung ^efu allen Sefi^ ben 3trmen ju geben
(reicher ^tüngling) I)ei§t e§: „Söian fagt bie Erfüllung biefe§ ®c=
bote§ mürbe unfer ganje§ Kulturleben jerftören. S§ ift fe^r ma^r»
fc^einlid^/ ba^ ba§ ber %a\l fein mürbe. 2lber xoa^ bemeift bQ§
ijier? Sföo ftet)t, ba§ e§ erhalten merben muffe" {(&ti)it 62)?
9lur mir heutigen fönnen biefe Äonfequenj ber ^riftKd)en
®tt|if nid)t mel^r eiufad) l|innef)men, meil mir 2)ie§feit§merte miebcr
f^ä^cn, al§ moberne 3Jlenfc^en fc^ä^en muffen. @§ ift ba§ gric*
(i)ifdt|e Obeal — nac^ ^aulfen — ber SCBeltmertung, ba» miebcr
aufgelebt ift, unb un§ be^errfc^t, mä^renb mir jugleic^ bie er*
^ebenbe unb erjie^enbe 3Jla^t be§ (]^rifttidf)en nic^t entbehren tön*
nen (Sttlif 21 ff.).
®ie Söfung, bie ?ßaulfen finbet ift bie, ba§ er jebe St^if
fefttjült. 3)ie d^riftlid)e, bie un§ immer mieber ^inauf^ebt über
ba§ treiben be§ 3)ie§feit§ ju ben innerlichen, emigen ^Berten, bie
biegfeitige, bie unfere irbifdf)en ^medfe fielet, oerftel^t unb, mit ber
mir für biefe arbeiten. „S^eleologif^e ober utilitariftifc^e" ?^e=
tracf)tung§meife nennt ^aulfen bie, auf ber biefe jmeitc 2lrt ber
et^if ftc^ aufbaut (ßti)'\t 174/75). @ie ift in bie SBiffenfc^aft
mieber eingefütirt oon %i). ^obbe§ ober oielmel^r Öacon (Stbif
136 f.). ®oc^ ift eö falfdf), menn man annimmt, ber Qmtä, ben
biefe ©tl^if al§ ben tiödiften fe^t, muffe ^eboniftifd)en K^aratter
baben. ®§ ift Satfac^e, ha^ für ben SJienfc^en ber SQSert bc^
2eben§ burc^au^ nic^t in bem ^Reinertrag ber Suftgefü^le fielet,
fonbcrn „in ber normalen ober gefunben 2lu§übung aüer Scben^=
funitionen felbft, morauf bie 9latur biefe§ 3Befen§ angelegt ift''.
„<3ebe§ lebenbe SBefen miß fein 2zbtn leben b. 1^. aüe Sebens«
betätigungen üben, ju benen bie Slnlagen unb Kräfte feiner 9latur,
mic fie burd) bie ©attung beftimmt ift , • oortianben fmb. . . .
Saffelbe gilt oon bem aJienfd)en: fein SBilte ift überall barauf
tJurf)§: (5f)riftcntum unb ^ampf um§ ® afein. 475
gcrid^tct, alle bicjenigen gunftionen ju üben, ju bencn bic ^ö^ifl'
feiten in feiner ?latur liegen: er roiH fpielen unb arbeiten, er*
werben unb genießen, bilben unb fd^offen, lieben unb liaffen, ge^
^or^en unb fierrf^en, träumen unb bieten, forfd)en unb beuten ;
unb alle§ bic§ in ber JReil^enfolgc ber ®ntn)idElung§ftufen, roie fie
ha§ Sebcn bietet 9llfo 2lu§bilbung aller natürtid)en Stnlagen
JU Kräften unb gö^ifl^^i^^^/ 8" Süd^tigfeiten unb 2^ugenben,
}u 93etätigung alter in einem oollen 5Ulenfc^enleben, ba§ ift ba§
obfolute 3iel, morauf ber SBitle eine^ SJlenfd^en gerietet ift"
(et^if 210 f.).
9iun l^aben fid^ aber innerl^atb ber 9Kenfd)t|eit biefe 5äl)ig-
teiten unb ©ebürfniffe immer reii^er entmidtelt. 2ll§ bie l|öd)ften,
bic er au§bilben fann, [inb fditie^lict) bie be§ fojialen unb intellef*
tuellen SebenS l)erau§getreten, fie merben at§ bie l^öd^ften empfunben.
„2öir mürben alfo Ijiernac^ fagen: ein aJlenfdt)enleben l^at um fo
^öl^ercn S33ert, je mel)r in il^m bie fpejipfd^en unb l^öd^ften guuf*
tionen entroidCelt finb, unb je mel^r biefe bie nieberen ju i^rem
3)ienft erjogen t)abeu" (®t^if 215).
3ift aber einmal ®efüf)l unb a3erftänbni§ für ba§ fojiale
Seben au^gebilbet, fo orbnen fid^ bie Seben§merte mieber in per-
fc^iebener ^öt)enlage. ®er l^at bie meiften, ber ber größeren
©emeinfdjaft bient. ®er bem 33olfe bient, l^at me^r al§ ber, ber
nur ber gamilie bient. 3BBer ber ganjen 3JIenfd^^eit etn)a§ leiftet,
mel)r at§ bie beiben anbem. 3Bir f)aben l)ier einen na^eju ab«
foluten SJla^ftab: „S)ic poUfommene (Entfaltung ber menf^lidf)cn
91atur in bem unenblic^cn Steic^tum eigentümlidjer unb fd)öner
©eftaltungen, mel(^e fie julä^t, ba§ ift ber le^te ?5unft, roeld)en
mir, in empirifd)er ^^etrad)tung ber ^rage nad^ bem l|öd)ftcn
@ut nac^get)enb, ju erreichen oermögen" (@tl)i! 216).
3Iber: „@in le^ter unb äu^erfter ©d)ritt bliebe oon l)ier au§
nod^ übrig: ba§ ajlenfdl)t|eit§leben al§ ©lieb eineg @efamtlebeu§
be§ Uniocrfum§ anjufe^en. SQ3ir uerlaffen bamit gänjlic^ ben
©oben realifierbarer SJorftellungen unb befinben un§ ganj im ©e^«
rcic^ be§ 2:ranf}enbenten; f)ier I)ört alle fonfrete 93efd^reibung auf;
e^ gibt nur noct) fpmbolifd^e Slu^brüdEe für ba§ Unau§benflid)e
unb Unau§fprerf)lid|e : mir nennen ba§ 2ltlmirflic^e, fofern mir e§
476 3^ u d^ 3 : ©^riftentum unb Äampf umS SJafcin.
al§ ba§ l^öc^fte @ut betrad^tcn, @ott, unb feine 3)arfteIIung in
ber unermeßlichen SBirttiditeit ®ottc§ SRcic^" (©t^if 217).
3)iefe SJonftatievung eine§ uniocrfalen ®ottc§reici^e§ auc^ oon
ber teleologifc^en @t^it au§, ^ebt ben ®uali§mu§ ber ®t^if tei:^
ne^roegS auf. ®r oerfdjärft il)n oielme^r. ®a§ :3beal bicfe§
SReic^eS ®otte§ ift bie ooUe Sntfaltung aüer im SBeltatt Dor^an=
bcnen eigenartigen Äräfte, oielme^r — biefe ®ntfaltung ift ja
ba — bie @rt|ebung be§ SUlenf^en ju ber gä^igteit, fie aCe ju
üerftetien, ju betrauten, baran doH unb überall gcnießenb teil»
netimen ju fönnen.
SSJir merben biefe jroeite SReif)e in ber St^if ^aulfen§ nid)t
ablehnen tonnen. ®r l^at üoUftänbig red)t mit ber ©el^auptung^
ba§ mv moberne 2)lenfc^en an fie gebunben fmb. ©te^t fie je*
bod) im ©egenfa^ jur d^riftlic^en St^it, fo ift biefe al§ roirflic^
religiöfe Stl^if, al§ auf ®otte§glauben bafiert, nid|t feft ju galten,
benn ®otte§ SBille muß alle§ in allem fein, ba§ einjige malere
®ut für un§, ober er ift ni(^t§. Umgefetirt fann ber ajlenfc^
audf) nic^t boppelte ct^ifd)e ^rinjipien in fiel) ertragen. Ober foll
e§ möglich fein, ba| ber 9Kenfc^ auf ber einen ©eitc fid) vom
®t)riftentum über biefe 833elt mit il^ren ®ütem jum jenfeitigen
3iel ert)eben unb mahnen läßt unb anbrerfeit^ mit ber oollen
Suft unb Kraft, ber ooDen 3)ie§feit^freubc, bie ba§ anbere Qbeal
üorauSfe^t, bem jmeiten etl)ifd)en QkU juftrebt? Sntmeber er
üergißt ba§ ^enfeit§, ober er ^at ein böfe§ ®eimffen im 3)ie§fcit5.
93eibe§ finben mir beim mobernen 3Kenfd)en fel)r oft jufammcn
in einer ©eele.
®en 2Beg jur Söfung ber ©djmierigteit batinen mir uns,
menn mir bie intialtlic^en 2lngaben, bie ^aulfen über ba§ SDBefen
ber d^riftlidien ®tt)it mad)t, etma§ nä^er prüfen. SWan f|at oieb
leicht fc^on bei Seftüre ber obigen 2)arftellung ber 3)ie§fcit§et^if
^aulfen§ ba§ ®efül|l, baß biefe nic^t überall mit ber c^riftlic^en
im aSiberfpruc^ ftet)t. ©et)r energifd) aber wirb ber Sffiiberfpruc^
eoangelif(^er ®^riften ermacf)en, menn ^aulfen ba§ SBefen ber
d)riftlic^en ®t^it gerabe au§ ben 3lu5fprüd^en herleiten roiü, in benen
3efu§ unb ba§ Urc^riftentum fid) able^nenb ju ben SSSerten ber
bamatigen SEBelt fteüten. ®ine ®emeinfc^aft, bie ftd^ bemußt ift.
3^ u d^ § : ©l^riftcntum unb ^ampf utng S)afcin. 477
ber 3lnfang einer neuen SBelt gegenüber einer untergel^enben ju
fein, roirb bicfe untergel^enbe notroenbig Dementen unb eine SSer«
mifd^ung mit xi)x ablel^ncn. S)a§ läjgt jebocf) nic^t fofort bcn
©d^Iu^ JU, ba| biefe negatiüe ©tellung „bie" @t^i! biefer Seute
ift. 2lu§ berartigen 2Iu§fprüd)en Qe^u fpric^t \\ä)zx bie ®ntfd)ie*
bcnl)eit mit ber er jebe §erabjie{)ung feine§ et^ifd^en ^beafö ab'^
lehnte, ob aber biefe^ ett)if(^e ^beal unter anbern Umftänben fic^
burc^ 9lblel|nung allein auf feiner ^öl^e t)atten fonn, ob e§ nirf)t
manchmal gerabe nur burc^ 2lrbeit in ber SBelt fic^ bel)aupten
fann, ift bamit nod) ni(^t entfc^ieben (uergt. ^errmann, bie fittt.
aSeifungen Qefu ©. 27 ff. 29 f. 47 ff.),
^lUbem ^aulfen au§ biefer Stcltungnal^me Qefu allein beffen
ct^if^e 9lid)tung flar jU mad^cn fud)t, tommt er ju einer ©leicl)*
fteHimg ^^fu n^it ©aoonarola (®tt)if 77 2lum.), bie beutlic^ be«
roeift, ba§ l)ier etroa§ nid)t erfd^öpfenb bargeftellt ift. J)enn ein
Unterf^ieb jn)ifd)en ©aoonarola unb ^efu^, and) jroifc^en gran^^
ciScug unb il^m ift bod) ba. @§ wirb fpäter noc^ oerfud^t wer*
ben, ba§ gu bemeifen unb ba§ Unterfd)eibenbe ju faffen.
©benfo ift e§ eine Sonfequenj biefer Sluffaffung, ba§ bie
®ti|if Qefu, foroeit fie bann auf bie einjelnen S^ragen be^ tag*
lidt)en Seben§ 2lnn)enbung finbet b. i). al§ praftifc^e^ "iprinjip, nur
afe 33arml|erjigteit gefd)ilbert roirb, genau roie bei Jlaumann.
53armf|erjigfeit ift ^efu ganje ©efinnung in ^efu§ al§ 95ot!§*
mann unb 91aumann l^at ba^ fpäter aud) ntd)t übermunben, fon*
bern ftellt nur neben ^efu ®tl)if ber 93arm^erjigfeit bie SCBelt^
et^if be§ ^ampfe§ um§ 3)afeiu.
„2ln bie ©teile all ber natürlirf)en 2^ugenben be§ ®ried)en*
tum§ fe^t ba§ ©l^riftentum eine einjige neue: bie 33arml|erjigfeit
ober bie brüberlid)e Siebe be§ 5Räd)ften", fagt ^aulfcn (ett)if 64).
„©0 menig bie d)riftlid^e 5täd)ftenliebe il^rc SJBurjeln in bem Srieb
l^at, burc^ liilfreic^e Betätigung feine eigene Ueberlegenlieit ju ge-
nießen, fo roenig ern)ädf)ft fte auc^ au^ ben natürlicf)en 2:rieben
ber ©gmpat^ie, roeldie, im @attung§leben murjelub, ben SJJen-
fc^en mit feinem 9läd^ften oerbinben." „2Ber ift benn mein 9täct)*
ftcr? 3)er natürlid)e 3Jlenfd| antwortet, meine gamilie, meine
Äinber, meine ®ttem, mein SBeib .... ^t\\xS belel^rt if)n: nic^t
478 fJud^S: (S^riftentum unb ^ampf um3 S^afeiit
bicfc, fonbern bcr crftc bcfte, bcm bu bcgcgneft unb ber 9lot
Icibct". „3)a§ |)öd)ftc aber ift: ben gcinbcn felbft ®utc§ tun;
um bc§ ®utcn roillen ®öfc§ Icibcn unb nic^t jür=
n c n ^), ba§ ift SSo[[!ommcnf)cit. ©aoonarola fa^t einmal bic
©umme be§ ®^riftentum§ in bie SBBorte: „9Jlein ©of|n, gut fein,
l^ei^t @ute§ tun unb 93öfe§ leiben unb bariu nid)t mübc werben
big äum ©nbe" (@tl)if 65 f.). Stifo ©arm^eraigtcit, bic Stugenb,
bie bie§ arme roerttofe ©rbenbafein ben anbern noc^ fo erträglich
machen roiö, mie möglich, bie fid^ unb anbere mit ni^t§ barin
beläftigen unb behelligen roiH, beren Sonfequenj ift, ba^ man ftc
avi6) m6)t mt\)x mit feiner ^erfon bet)elligt unb in bie 3Büfte
gef|t, nic^t 9tad)fommen mit ber SBelt beläftigt unb e^elo» bleibt,
ift bie praftifd)e ©tl^if Qefu. ®ö ift oieHei^t etn)a§ Äonfequeni*
madjerei, ba§ fo }u formulieren. 2t6er Sarmt)erjigteit allein ift
eben biefe negatioe 2;ugenb, beren Äorrelat jener ®ott ift, bcr
Ijänberingenb ob all bem Jammer, ben ©ünbe unb Scufel auf
(£rben angeri(^tet ^aben, im ^immel fi^t unb beffen ganje Siebe
barin beftet|t, einjelne au§ bem Q^mmer ju ftfc^en.
Ob ba§ 3[efu @t^if ift, ob in ^efu ©t^if aud) nur Hnfa^e
bagu ju finben finb, ift bie grage. SÄit feiner ^erfon ^at Qt^n^
bie SBelt fe^r bel)etligt unb jroar nic^t nur im ©inne ©aoonarotaä
aU SBertreter be§ gegebenen SQ3illen§ ®otte§, fonbern mit ber
^orberung an bie SJÄenfc^en, fic^ unb \i)x Seben nai^ feiner neuen
2luffaffung oon ®otte§ SBillen ju geftalten. ®arin liegt me^r
at§ 93arml)erjigfeit unb me^r al§ SD8eltflud)t.
®^e ba§ im einjelnen geprüft werben tann, ift nod^ ein an*
bere§ abjulelinen, ba§ bei ^aulfen für ben Slufbau feiner 6t^it
beinahe grunblegenb ift, bie ®egenüberftellung oon c^riftlic^er unb
teleologifc^er ©t^if al§ fic^ au^f^lie^enb.
S)ie Sr^ebung über ba^ Qf^^bifdie unb bie ©d^affung bc§ neuen
9Jlenfd)en ift bort auc^ ein 2:elo§. SBenn aber ^aulfen bamit
jmci Slnfc^auung^meifen c^arafterifteren miß, oon benen bie eine
ein fic^tbareS, ober fid^tbare, bie§feitige 3^^^^/ ^'« anbere jenfeitige,
unfapare ^at, morauf feine ®lei(^fteltung oon teleologifc^er unb
1) S8on mir gefperrt.
3rud^8: ©^nftcntum unb Slampf uin§ ®afetn. 479
utüitariftifd)cr (£t!)if beutet, fo ift ju bemer!en, ha^ er bo^ and)
felbft fc^IieBttd^ bei einem l^öd^ften, unf äff baren ßirfß ^i^i>et (f. @. 11)
unb ba§ umgetetirt a\i6) ba^ d)riftli^e 3*^1 faParere, realere
Unterjicte ^at, felbft in ber S^ffung üon ^aulfen, wie j. 93. bie
93en)al)rung ber Q^ungfräulic^feit, ba§ ©orgen für bie Slrmen u. f. ro.
®oc^ Dieüeid)t ift bie Unterfd^eibung nod| anber§ gemeint.
Seleologif^ ift bie (Sti)\t, beren Betätigung at§ folc^e unmittelbar
ber SBeg jum Qkl ift, bie fojufagen eine bem ^anbeln imma^
nente Jeleologie befi^t. 9lid)t teleologif^, fupranaturaliftifd), ift
bie ®^i!, bie nur irgenbroie Sßorbebingung eine§ burc^ eine l^öl^ere
9Wa^t ober abfolute Umgeftattung ber SQSelt burc^ äußere @reig*
niffe ju fc^affenben t|öd|ften ®ute§ ift. Sann ift üor allem bie
3ufammenfteHung oon utiütariftifc^ unb teleologifd) abjuletinen.
Utilitariftifd) ift nad) bem einmal eingebürgerten ©prac^gebraud^
bie ®tt)it bie i^re ^öd)ften SJBerte in finnlic^en ©ütern, im ir»
bifd) nü^Ud)en fie^t, mie e§ bei 93acon unb ^obbe§ tatfäd)lid^
ift. Bei il^nen fte^t utilitariftif^e ©efmnung neben ber teleo-
logifrf)en 93etraci)tung§n)eife. 3)a§ t|at root)t bie SSermed^^lung
beiber begünftigt. S)e§t)alb ift bod) beibe§ au§einanberjuf|alten.
®ine utilitariftifd^e (£t^it fann baneben unteleologifd), fupra=
naturaliftifc^ fein, ©in großer 2:eil ber S^iliaften maren SWen-
fd)en, bie nur finnlid)e ©üter fannten unb erftrebten, alfo fid}er
in ifirem praftifc^en Seben uti(itariftifd) bad)ten unb l^anbelten,
bie aSoÜenbung i^re^ t|öd)ften ®ute§ erwarteten fie burd) ein
aSBunber. Sbenfo ift in ber ©osialbemofratie üiel Utilitari^mu^,
Streben nad) nü^tid)en, finnlid)en SBerten unb leiber menig 2^eIeo^
logie, fonft mürben fie fid) praftif^ an bie Strbeit madjen, i^re
3Berte burd) Betätigen im ßffentHd)en fieben ju erreid)en.
Umgefe^rt fann eine ®tt|if ein überfinnlic^e§ 3^^^ Iiaben
unb fein (5r(ang<en t)on ber et^ifd)en Betätigung, bem innern Steifen
be§ 3Jlenfc^en baju, allein abf)ängig madjen. S)ie beutfd^cn Qbea*
liften t)aben bod) ganj geroi§ biefe immanente Seleologie, ba§ @r=
reid^en be§ ett)ifd)en 3'^^^^ i^urc^ etf)ifd|e Betätigung unb bod^
ein überfinnlid|e§ Out.
2Bie fte^t ^ier ba§ et)riftentum ? ©ottfd)idE (S^riftl. SBelt
1900) gibt barauf bie ftare SÄntmort: ©§ ift teleologifc^e @tl|i!.
480 %ud^^: ^^rifieittuin unb ^ampf um§ ^afeiit.
Slar unb bcutli^ jcigt 3cfu§ ein S^^U ba§ SRcic^ ®ottc§, bic
ftttli^e ©emcinfc^aft bcr SJlcnfc^cn unb er bringt — ba§ ifi bie 33c'
beutung feiner $erfon für un^ — „bic ©rfüüung ber ganjen
Seele mit bem ®ute bcr fittlic^en ©emeinfc^aft" (ß^riftl. SBelt
1900 loo). 3roar ift roie ^]JauI|en mit Stecht betont, bie Sleali*
fierung biefe» 3icle» fupranaturaliftifc^, burc^ einen SEBunbcraft
®ottc§ gebad|t. 2lbcr minbeften§ ber 2lnfa§ jur teleologifc^en
33etrac^tung ift mit biefer 3i^I^cf^Jwtmung gegeben. 2)ie§ Qxd ift
unben!bar ol^ne ba§ innere Steifen ber ^erfönlic^teit baju burc^
i^re praftifc^e Betätigung. 3efu§ unb noc^ $autu§ ^aben beut^
Iid> baDon eine SSorfteüung (^?^il. 3,2 ff.). Um fo mel)r ift @oit»
f^id im 9ted)te, roenn er betont, ba| eine anbere, no^ energifd)er
teIeo(ogifd)e SSorfteOung oom Slommen be§ 9teic^e§, feine @c^ei^
bung nom pofitioeu ^n^alt ber ®t^if ^efu bebeutet, folange man
fic^ mit it)m in ber in^altli^en 3Irt ber Sieic^S^offnung einig mei^.
3efu§ fanntc nur innere Bereitung für ba§ 9ieici^, ba§ burc^
einen 93rud) mit ber SBelt fommen mu^te. SBir l^offen auf ein
Kommen be§ SReid)e§ bur^ bic Strbeit ber fic^ in biefer 2lrbeit
innerlirf) baju bereitenben $erfonlid)feiten. 35a§ ift eine fie^re,
bie un§ ©Ott burd) bie ©efc^ic^tc nac^ Qefu gegeben Ijat. SEBir
\)abzn nic^t nur ba§ Stecht, fonbern bic ^flid)t fie anjune^men,
otinc ba§ mir un§ oon Qt^n^ unb feinem ®ott baburd) gefc^ieben
fügten.
SBon ^ier au§ fci)rcitet ®ottfd)icf ju einer pofitiuen SBertung
be§ gefamten ®emeinfci^aft§Icben§ nor. 3»^bc ©emeinfc^aft l^at
il^ren 3Q3ert für i>a§ SI)riftentum, meit ftc eine SSorftufe ift, burc^
bereu SQBciterentmictlung bie ^ödjfte ©emeinfdiaft, ba§ SRcic^ ®otte§,
ermögüi^t merben fotl. 3)a^er ^at biefe ®emcinfrf)aft bie ^fiic^t
ber (SetbfterE)a(tung. S)er ®f)rift ^at bic ^flic^t, bie ®emcinfc^aft,
in bcr er für ia§ Jlommen be§ 9ieic^e§ arbeitet, mit oHen Kräften
}U förbern.
Oft nun ein 3Jlann fpcjictt mit ber Sorge für biefe ®emein'
fc^aft beauftragt, fo ift bie ©r^altung biefer ®cmcinf^aft bie
i)'6d}\k fittüc^c ^fticf)t, bic er in biefer Stellung für ba§ SRcic^
®ottc§ l^at. Q^x gegenüber treten bic ^^flid)ten gegen einjclnc
unb bereu pl)r)fifcl)c§ Sebcu, \a gegen rec^tlid^e SBcrl^ältniffe unb
& u c^ § : ©^riftcntum unb Äampf um§ 5)af ein. 481
cinjelnc ct^ifdic Sfloxmm jurürf.
3^reilic^ bcr ®cban!c, ba§ biefc ftaatlid^c ©cmcinf^aft aud)
Tüieber eine Slufgabe für ba§ kommen be§ 9ieic^e§ ®otte§ l^at,
ift ^ier eine ftarfe Äorrettur. S)er Staat !ann unb barf nid)t
mit SWitteln erl^alten werben, burc^ bie feine 2lufgabe für ba§
9leid) @otte§ unmögli^ gemadit wirb. SDat)in get|ören roo^l aüe
bie, bie ba§ ettjifc^e @cmeinfd)aft§Ieben innerl^alb be§ (Staates
jcrrütten (®ett)altl)errfcl)aft üon oben, unfittlid^e§ ^arteitreibcn
üon unten) unb bie nad) au^en geeignet finb, ©emeinf^aften, bie
gleichen SDBert für @otte§ SReid^ ^aben, ju oernid^ten ober xi)xt
innere 2lnnät|erung ju ftören. 3)a| menfd)lid)e S^roäc^e unb
Äurjfid|tig!eit beibe§, aud) bei bem beften SCBiUen nid)t nermeiben
fann, lüirb ©ottfc^id gerne jugeben, aber ber gute SBille, bie
Siormierung nad^ bem Qbeale ^at ba ju fein unb über bie SDBa^t
ber SWittel ein Urteil abjugeben. Slber ben Kampf führen für
feine @emeinfd)aft barf ber 9Jlenf^ nad) ©ottf^id^).
®§ ift nid)t nur eine formale 2lenberung, bie ©ottfc^idf ^ier
einfül^rt. (£r fteßt ein neue§ ^rinjip ber dt)riftlid^en (St^it gegen-
über ^aulfen unb 9laumann auf. 9iic^t mef|r „öarm^erjigfeit"
fonbem „Söotten beö 3fiei(^e§ ©ottc§", ba§ Streben ber Seele,
überall bie fittli(^e ©emeinf^aft l^erjufteHen unb ju erl^alten, ift
bie treibenbe Kraft, "ißaulfen unb 9kumann werben jebodi nid)t
jugeben, bag <3^fu 9teidt)§begriff fid^ in^altlid) mirtlid^ mit bem
©ottfd|id^§ bedte, unb ba§ mit einem gemiffen SRedjte.
®§ ift bo^ mieber oiel weniger ba§ Steifen ber aWenfd^en
jur fittlid)en ©emeinfc^aft, ma§ bei ^z^n^ im SSorbergrunb fte^t,
roenn er uom SReic^e ©ütte§ fptic^t, fonbern bie %at ©otte^. ©ewig
Sünbe unb Sünber toerben weggefegt werben burd) fein ©eric^t,
aber neben ben anbern Uebeln, bie in biefer SBelt ber DolIen
Seligfeit entgegenfteben. Keinesfalls tiat Qefu§ fo bewußt unb
!lar im SReic^ ©otte§ ba§ Qbeat ber fittlic^en ©emeinfdE)aft ge=
feben, wie e§ nun @ottfd)id unter biefem 9iamen barftellt. @§
ift ibm oielmebr ba§ burc^ bie Kataftropbe oom ®ie§feit§ ge*
1) 3Wan ücrgl. I)ieräu @ottfrf)tcf^ 3lrttlel, bcr im folgcnbcn oielfad^
berudfid)tt9t ift.
Beitft^rlft für Ideologie unb Äirc^e. 14. ^affXQ., 6. ^cft. 33
482 3: u d^ § : 6;^riftentum unb ^ampf utn§ ^af ein.
fc^icbcnc Steid). 3)te eSc^atoIogif^c gorm ift oicl mc^r für 3f«fuS
ar§ ber fittli^c Qn^alt be§ öcgriffeS.
Sro^bem glaube id^, ba§ ©ottfd^icf in feinem SBcgriff bes
SRei^eS @otte§ oiel mcl^r ben n)irtlid)en Qn^alt ber QÜ)it Qcfu
trifft al§ ^ßaulfen unb 9laumann in i^rer Slbleitung au§ bem
e^c^atologifc^en ©ebanfenfreiS ;3efu. 9tur barf man eben Qefu
St^it ni(^t au§ bem 93cgriff be§ SRei^e^ ®otte§ bei il^m fd)Iie^en
motten. 3)iefe liegt oietme^r in feiner prattifd^en Haltung ju ben
9Äenfc^en unb feinem ®otte§glauben. 2^atfäd)Iid^ finb bie mobem
bogmatifd^en begriffe oom 9leic^ @otte§ alle barau^ gebilbet.
2)oc^ barf man bann nic^t oergeffen, ba| 3efu§ felbft eben ben
fiberlieferten ©ebdnfenfreiS burc^au§ nic^t fiberad nac^ feiner
inneren SteKung ju ®ott geftaltet unb umgebilbet ^at, fonbem
nur ba, roo birette ©egenfd^e in ben gö^^w^S^^ feinet £eben$
fi^ l^erauSfteUten. 2)ie @^^riftenl^eit l^at injmifd^en no^ üiele an-
bere ©egenfä^e jmifc^en ber in ber ^ßerfon ^t\vL oermirf fiepten unb
ber feinen Gegriffen au§ ber Ueberlieferung antiaftenben @eifte§»
art ertannt unb mit Sted^t bie ^Begriffe nac^ ber praftifc^en 31rt
^efu weiter umgebilbet.
3)aju fommt, ba^ ein fold^ feftgeprägtcr 93egriff, mie „9teid)
(Sottet" bei @ottf(^idf e§ ift, fe^r notroenbig unb brauchbar ift
für bie fgftematifc^e ®arftellung, aber boc^ nur für ben mirttic^
überjeugenb unb genügenb, ber ba§ ganje reid^e Seben, ba§ ber
betreffenbe ©gftematiter jufammenfaffenb bamit bejeic^nen roiü,
bann immer fielet unb empfinbet. 3)a nun nur fe^r menige
ajienf(^en e§ oerfteljen, fi^ einen 53egriff lebcnbig }u machen, fo
ift ba§ ^ineinjeid^nen be§ Seben§ gerabe in ber et^ifdjen 3)ar'
fteltung ungel)euer wichtig. 9)leiften§ wirb man nur mit ^ilfe biefe^
jmeiten mirtlid^ überjcugen fönnen. ®iefe§ hinein jei(^nen be^
fieben§ gefrf|iel)t nun, wenn man oon ber Sat, ber ©efinnung,
bem <3»ttbioibuellen au§ge]^t, mie e§ ^errmann immer tut Sei
ber SBergleic^ung uon ^errmann'ö unb ®ottfd)id'§ 3lu8fü^rungen
über biefen ^untt, ift mir ttar gcmorben , marum @d)leierma(^er
bie 3)arftenung ber ©t^if unter ben brei ®eft^t§punften „^od^fics
@ut, ^flid^t, Sugeub" forbert. SBom ^öc^ften ®ut au§ ergibt
fid^ bie friftematif^e S)arftellung ber ®t^if, mie fie ®ottf^ic! oom
3^u(f|§: (S^!|tiftentum unb ^ampf um§ ^afein. 483
©egriff „Sftcic^ ®ottc§" au§ gibt. ,,^flt(i|t" jeidinct bcn notrocn*
bigcn (Sang ju bicfem Qkl im ®injelnen, ha§ Scbcn, ba§ no^
por bem ®{)riftcn liegt. „2:ugenb", „®cftnnung" [teilt ben mo«
mentancn, praftifc^en $abitu§ be§ 2Kenf(4en bar, fein lebenbiges
Rängen an fittlic^en Oütevn, ben SGBert berfelben für it|n. ©ie
jei(^nct bie ootle SRealität gegenmärtiger, fittli^er ©efinnungcn
unb 93etätigungen. SBon l^iev möi^te id) bei ^fefu^ au§ge^en unb
bie 9Irt feiner fittli(^en ©efinnung feftfteüen.
©ie ift furj ba§, n)a§ Oottfd^id aud| al§ bie bem SReic^
@otte§ entfpre(^enbe ©efxnnung bejeic^net, „felbftlofe fiiebe" (®^riftl.
SQgelt 1900 ißo). „Siebe" fagt ^crrmann (35ie fittlid)en SBeifungen
^efu ©. 39 ff.). 2Ba§ ift Siebe? 2)arauf gibt e§ fo t)iele Slnt::
roorten, al^ e§ üerf^iebene fittlii^e Slic^tungen gibt. Siebe im
c^riftlidien ©inn fd)eint mir nur eine§ ju fein: ©ie ift baö Se«
Toufetfein be§ 9Jlenf(^en, ba§ im aWenfc^en, b. \). in ben um il|n
^er unb in i^m felbft, t)ö^ere ®üter liegen al§ in allem, mag
auperl^alb be§ menfc^lid^en @eifte§ unb @emüte§ mertoott unb
wichtig ift. S)ie bementfprec^enbe ®ebunbenf)eit an aKcnfd)en,
ba§ 93ebürfni§ geiftigen 2lu§tauf^e§ unb geiftiger Slnnä^ernng,
^ö^crentroidElung biefer ®eifte§art unb ©ui^en barnacf) in anbern,
ift Siebe, ©ie entfte^t in un§ burc^ 33erü^rung mit e^ten, liebe==
oolten ajlenfclien. ©ie bilbet fid^ fc^on in ber ^fugenb burd^ bie
Srfa^rung ber @(t)tt)eit ber aWutterliebe, bilbet fic^ meiter ober
ftodt, je nad^bem mir mit echteren, tieferen SWenfd^en in 33erüt)*
rung tommen ober ni(^t. Serü^rung ift l^ier auc^ ba§ Sßerftänb»
ni§ ber ®ro§en ber äJergangen^eit.
®§ ift febr fc^mer ju fagen, mag eigentlid) bie§ SOSertoolle
im S^nnenleben be§ ÜUlenfc^en ift. Q6) raupte nict|t, ba^ e§ irgenb
jemanb fc^on begrifflich au§gefprod)en ^tte. 9Sor allen fingen
feffelt unb begeiftert un§ 5Bat)rbaftigteit, jener reine 9Jlut, ber
überall fic^ felbft gibt, feine 3lrt ju fül^lcn unb ju benten andti
gegenüber Vorurteilen unb engberjigen ©itten, mie er überall au§
Sut^er§ SBorten leuchtet unb fie begeifternb mac^t, menn fie au^
oft no(^ fo berb fmb. 2)ann ift e§ jeneg tiefe SRingen um ernfte
Probleme, baS n)ir bei ^aulu§ burc^ bie ^rcmbartigteit feiner
^Begriffe ^inbur^ im bunflen ®runb feiner ©eele empfinben. ®8
33*
4&1 gru^iS: G^riftentum unb ^ampf um§ ^afetit.
ift bann bic ^rt bic oor großen Stufgaben, in ftartcr ^Scgeifte*
rung fic^ felbft oergeffen fann unb bie boc^ in i^rer burc^fc^lagen»
bcn Sraft ein ftarte§, eigenartige^, roa^r^aftige^ Innenleben ent*
^äQt. @§ ift ba§ aUe§ gufammen, roaS ftc^ im 9i(be ^efu }u
bem (Sinbrucfe ftra^Ienber, finblidier SRein^eit unb boc^ ftarfer
©c^t^eit unb ernftcr Siefe nerbinbet, ber jebe Seele feffelt, mit
Siebe erfüllt, bie i^n roirtli^ fennen lernt.
3)oc^ ift ba§ alle§ in geroiffem ©inne nur 9lu§enfeitc. SBo
wir ba§ finben, a^nen roir jeneS fuc^enbe, lebenbige, nac^ %t\U
na^me lec^jenbe unb na^ (Sblem ringenbe äBefen, baS voix in
un§ felbft ^aben, unb biefe 9lt)nung feffelt un§ mit bem ®efä^Ie,
bap ^ier allein unfer SRingen ©enoffenfc^aft, 9Serftdnbni^ unb
fc^lie^lic^ 9iu^e finben fann. 5lic^t roaö aU SBerftanb, Vernunft,
6t)arafter, ©eroiffen eines SRenfc^en ju tage tritt, ift e§, roa§
unö feffelt. @§ ift bie ©efamt^eit be§ Innern, beffen 3)arftcl»
lung pe finb unb ba§ mir bur^ fie empftnben. 3)iefc SBerte fo
ftarf empfinben, ba§ alleä anbere barüber oerfc^roinbet, gering
erfd)cint, ift Siebe.
S)a6 fold)e Siebe gemeinf^aftbilbenb ift, ift Kar. 3n jebem
3Wenfd|en, ber il|r begegnet, fud)t, empfmbet, liebt fie biefe§
innere unb fud)t e§ beS^alb auc^ bem jum ^emu^tfein )u bringen,
ber €§ no^ nic^t einmal in fic^ gefunben ^at. ©ie erjie^t. ®r*
jieljung aber fcl)afft bie engfte unb ftärffte geiftige ©emeinfc^aft.
(änblic^ einmal mit allen folc^en SGBefen in ©emeinfc^aft gleicher 53e«
geiflerung, gleid)er ^Betätigung für biefe inneren ©üter f^n flehen, ift
^ier ^örf)fteS ®ut, ba§ 9icic^ @otte§, mte mir e§ mobern faffen, nic^t
mie 3^efu§ e§ fafete (f. ^errmann: fittl. Söeifungen :^t]n S. 45 f.).
3lber ift ba§ mirftic^ „Siebe" im ©inne Qefu? S3egripc^
^at er ba§ nie gefaxt, tatfäd|tid) ^at er biefe Siebe, ©ie in i^m
geftaltete ba§ 93ilb be§ ®otteS, ber nid)t bie SWenfc^en unter Sq|*
ungen beugen, mit ©eboten brechen will, fonbern ber nur i^re
begeifterte Eingabe an i\)\\, ben 95ater, begehrt. S)ie Siebe em*
pört fid) gegen ba§ $f)arifäertum, ba§ eine roa^rt)aftige, eigen*
artige (Sntmicftung ber Sülenfc^enfeele unmöglich machte. Sie
bvanbmarft ^eud)clei al§ bie fdjlimmfte aller ©ünben. 2)iefe jer*
ftört ja ba§ ^^nnenleben, uerarfitet e§. 2)er Siebe genügt e^,
fjud&§: ®]^rtftcntum unb ^ampf um§ 5)afcin. 485
roenn ftc in bcn ©ünbcrn Tüatiruimmt ba§ fie i^n lieben, ba§
i^nen ber SEBert einer anbern SKenf^enfcelc in feiner ^crjon auf*
gegangen ift, fo ftart ba§ fie gegen alle 93orurteiIe ber 3^it in
i^m bcn Söoten ®otte§ fe^en fönnen. S)a perlangt er gar nid)t§
mel^r, ba ift ba§ re^te 9Ser^äItni§ ju bem ®ott, ber biefe SCBcfen
gcfd)affen \)at, tiergefteDt. 3)a§ ift Sat bei \i)m, bic 93egriffe
fönnen erft wir baju finben.
5ßor allen S)ingen aber: biefe fiiebe nötigt er un§ ab in
feinem fc^Iid)ten, roaliren SBefen, feinem gewaltigen ©tauben an
ba§ 9ted|t biefer maleren 9lrt ju fein, feinem gewaltigen ©lauben
an feine ®otte§finbfc^aft gegenüber bem, mag SMutorität unb Ueber^»
lieferung al§ ®otte§tinbfct)aft priefen, mit feinem ftarten ®ang
jum Söbe, roeil er firf) nic^t oerleugnen, bie anbern nid|t bred^en
laffen moüte. S)ann ftelien mir nad^ feinem 9iufe : „3Wein ®ott,
mein ®ott, marum Iiaft bu mic^ üerlaffeu", unb bie 2:iefen un*
ferer ©eele fpredjen: 3)a§ ift ni^t ba§ @nbe. S)iefe Äraft ift
mcf)t tot. ^ier ift ba§ Smige unb beS^alb ber ©ieg. 2Ieu^er*
lid) ftarb er, aber fein ©otte^glaube, fein ®Iaube an feine SBa^r*
^aftigfeit ift bod^ bie Söfung aller 9tatfel.
5)urdb i^n ift bie 9BaI)rl^aftigfeit, 9leinl)eit, Kraft unb eble
^ö^c be§ menfd^li(^en Innenlebens mit ber ^Religion unabtrennbar
üerfnüpft, bie unfere ©eele immer mieber pactenbe S3cl^auptung
aufgefteat, ba^ l)ier ba§ 3iel ber SBBelt, bie Sinbf c^aft ®otte§, be§
^erm ber SGBett, gegeben fei.
®a§ ift metir roie SUlitleib unb 93armt|erjigfeit, mel^r ate ein
jcnfeitigeS Qkl, mie e§ if)m felbft in feinen ®ebanfen oorfd^roebte.
3)a§ rief unb ruft in ben SKenfdtien ein ftarte§, unnadigiebigeS
JRingen unb Kämpfen xoad), in fid) unb anbern ba§ ju roerfen
unb äu erl)atten. Qt\\x^ unb bie ©einen, üerfd^roinbenb in einem
3Jleer oon 5!Jlillionen, bie e§ nad) il^rem ©mpfinben nid)t Ratten,
tonnten nur baran beuten, einzelne barau§ ju geminnen. 3)ie
SBollenbung tonnte nur ba§ SBunber bringen. Sut^er tann fd)on
ganj anber§ ber jünbenben üJlac^t be§ 2Borte§ bie§ SGBunber ju*
trauen. ®§ ^atte ja injroif^en eine SBelt erobert.
SBir l)aben injroifd)en baju tennen gelernt bie ungetieure SWai^t
ber aSer^ältniffe, oor allem auc^ ber umgebenben ®emeinfc^aften über
486 ^ u (i| § : 6:f)nftentuin unb ^ampf um§ ^afein.
bcn aWcnfd^cn. SBir fügten, bog bicfe ©emeinfc^aftcn fc^on in
oielem f o roirfcn, ba§ bie ©cmütcr Dertieft unb i^m gcnätjcrt rocrbcn.
9Bit !onnen fte baju noc^ me^r geftalten burc^ unfere Mitarbeit.
6§ wäre ber bireftc 93crrat an bcr ©cjtnnung ^ti\x, mx Ratten
feine Siebe nii^t, rocnn n>ir bie pofitioe SWitarbeit, ben cncrgifd)en
ftampf um ©eftoltung ber ®emein[c^aften aufgeben fönnten.
S)iefelbe 9tot, für bie er 2:roft nnb SWut fuc^te im ©tauben an
ba§ SReic^ ®otte§ unb beffen n)unberbare§ Kommen, bie 2;atfac^e,
ba§ fo niele unter ben 93er^Itniffen beö SebenS geiftig unter*
ge^en, mu§ un§ treiben jum Kampf für äße, für bie ©intenbcn,
für bie ©eftaltung afler SSerl^ältniffe fo, bafe fie nic^t me^r SWen-
fc^en oernict)ten, fonbern SRenfc^en I|inauft)eben jur $ö^e, jum
9Serftänbni§ <3efu. 3)iefe§ „frei für anbere leben" (^errmann:
SDie fittlidien SBeifungen <3efu ©. 5 ff., 46), in bem man „ein
im 33emu§tfein feinet emigen SWed)te§ geeinigteg SBoIIen" ^at
(ebenba ©. 36), ift Kampf. „Kämpfen" mu§ ber ß^rift. Kämpfen
für ba§ 9led|t unb bie 3EBat|rI|aftigfeit feine§ eigenen inuern Sebcn§,
Kämpfen aber auc^ um bie 3nöglid)feit, mit anbern in auStaufc^enbe
unb erjie^enbe ®emeinfd)aft ju treten. 3)aju gehört groeierlci.
Sinmal bie 21u§geftaltung be§ Seben§ nad) feiner (Eigenart, bie
3JlögIid)feit einen eigenen Krei§, ^au§, g^milie, 5^cunbeötrei§ §u
bilben, inbem fein eigene^ Seben fid^ ftarf genug realifiert unb
realifieren tann, um burc^ fein blofeeö 3)afein eine 9Wad)t in bcr
2BeIt, oor aßen 3)ingen eine erjie^enbe, gemütSbilbenbe Tlad)t
für bie fommenben ©enerationen ju fein. 3llfo ber S^rift ^at
bie ^flid)t, nad) ©eftaltung eine§ fold)en eigenen $au§n)efen§,
Familienleben^ ju ftreben. ^aju gel|ört aber, ba§ er ftnanjiett
fid) über SGBaffer t|ä(t. ®r mu§ alfo ben Kampf um§ 3)afein
führen, ju bem 3^^^^^ pd) unb feine Jamilie in folc^er finan^
jieüen fiage ju erhalten, ba§ innerliches Familienleben, ©rjie^ung
}u ftarter Q[nnertid)teit möglid^ ift. ^^ enger ber Krei§, befto
leid)ter ift ba§, je weiter ber KreiS, ben man überfc^aut unb be*
wältigen mu^, befto fd)n)erer.
Siefer Kampf um§ 2)afein ift für atte ©tänbe ^flic^t
oon ber ^riftlid)en ©tl)it au§. ©r ift oor allem 'ißflic^t für ben
{)eutigen 2lrbeiterftanb mit feiner 9GBoI)nung§not unb Frauenarbeit.
JJ u ci^ § : (S^rtftentum unb ^ampf um§ ^af ein, 487
®r ift $flid)t für bic grauen, beren ganje (Srjie^ung barauf ^in*
TDirft, fic ju Wienerinnen be8 3Wanne§ ju bred^en unb nie jur
©igengeftaltung be§ Seben^ tommen ju laffen. ®r ift ^flic^t für
bie gebilbeten Scanner, benen im gegenwärtigen (Stiftern bie
eigene ©eftaltung be§ fiebenS in immer fpätere Qzxt ©erlegt mirb,
beren beftc Äraft be§^alb für et^ifd)e Sßertiefung unbrau^bar ge*
mad)t mirb.
SSBciter ftet)t ber aJlenfd> mit ben ©einen in einer großen
©emeinfc^aft. ®§ ift nid)t t)or aüem bie be§ Staate^, fonbern
bie be§ 9SoIte§. 2)urd) ba§ SSoI! unb feine großen SÄänncr tarn
an i^n t)eran, maS il|n ju biefem geiftigen 3CBefen gebilbet t)at.
So fielet er mitten brin in einem großen, weiten geiftigen Seben,
ba§ i^n crjogen ^at, in beffen STrt er geartet ift, oon bem er
®ute§, @ble§, Äraft aufnehmen tann. 9Öir unterfc^ä^en oft bie
Sebeutung be§ SSoIf^tümlid^en für i>a§ geiftige Seben beS ©injelnen.
Slbcr man fann gctroft fagen, unmittelbar oerebclnbe, geiftige
Äraft mirb für ben SD^enf^en nur ba§, n)a§ it|m im ©eifte, in
ber ©igenart feine§ 95olfe§ entgegentritt. SBBir rennen unfere
großen S)id)tcr ftolj jur SQSeltliteratur. 3Iber fcf)on ber ©nglänber
Derftc^t ©oet^e nid^t me^r. ®r mirb i^m nic^t mel^r jur geiftigen
^raft roie un§. 3lod) oiel me^r gilt ba§ üon Sutl^er.
^ier rutjt bie Sebeutung be« Sßolteg für ba§ SReid) ®otte§.
3erf^Iägt man ein SBolf^tum, fo werben mo^I nod) einjelne l^oc^-
fte^enbe SKänner fid) an frembem SBoIf^tum ober an ber SSer«
gangenl^eit nähren fönnen. gür bie SRaffe bc§ S3oIfe§ ift ber
Kanal jerftört, burd) ben @ble§, @r^ebenbe§, geiftige^ Seben ju
i^m fommt. 2)a§ mar e§, wa^ bie SWänner ber greif)eit§frtcge
empfunben Ratten. 3)e§^alb fann unb barf ein ®^rift ni^t taten^
lo§ jufel^en, wenn fein 9Solf in ®efat|r ift. ®r mu§ e§ fc^ü^en.
®§ ift ba§ ajlittel, burc^ ba§ ®eifte§leben i^m unb ben i^m na^e*
ftel^enben juflie^t unb in beffen SSSeiterbilbung e§ [\6) betätigt.
2Iu§ bemfelben ®runbe mu^ ber S^rift aud^ für bie äwf^nft
feines SBoHeS forgen, b. b. er mu^ oorauSfc^auenber ^olitifer fein,
fo TOcit ba§ mögli^ ift aud) für fommenbe 3)afein§!ämpfe bie
möglidjft günftigen 93orbebingungen fd^affen, jc^t fc^on ju forgen
beginnen, ba| bie 93cbingungen, bie in 100 ^a^ren Sjiftenjbe*
488 S^ u ^ § : ^^riftentum unb ^ampf nm9 ^af ein.
bingungen fein merben, bann nic^t fehlen (ÄoIonialpoHtif) u. f. xo.
®a§ xoäxt fein c^riftlid^er (Staatsmann, ber bafür nic^t [orgte,
ben Äampf barum fc^eutc unb bafür anbcrn nid^t ju nal^e treten
roottte. ®r mu§ e§.
3m 3?nnem ^at berfelbe ®^rift bie ^flidjt, feine Slnfc^au«:
ungen üon ber gcfunben ©eftaltung beS aSolf§(ebcn§ burc^jufe^en.
3luc^ baS wirb immer Kämpfe foften. ©elbft ©Triften werben
babei oft uneinig fein. 2l6er mir muffen energifc^ tampfen, ba*
mit fid^ nur ba§ burd^fe^en fann, roaS roirtti(^ ftarf, ba§ ftärtfte
ift unb fo jum ^eil mirb.
©c^Iie^Uc^ ^at ber ©tjrift ba§ ©eine beijutragen, ba§ in
biefem ganjcn 93olfö(cben ber Kampf um§ Safein nic^t ba§ gciftige
Seben unmögli^ ma^t. 3)ie§ gcfc^iel^t bur^ bie Siegulierung
biefeS Kampfes im 9ie(^t, bur^ bie Streue im 93eruf, bie e§ für
unrecht l^ält, feine ©yiftenj oon ber ©emeinfc^aft ju nel^men ol^ne
i^r feine Kräfte roirflic^ in ben Sienft ju fteüen, burc^ baS ®e*
rei^tigteitSgefü^I, ba§ audf| ba§ Kämpfen be8 anbern in feiner
93ered)tigung oerftet)t.
2)aS ift eine anbere St^it als bie beS SWitleibS unb ber
93arml)erjigfeit. Qä) merbe t)erfu(^en, beren S3ercd)tigung neben
ben anbern ^rinjipien nod) nad^juroeifen. ^ier nur baS eine:
aJlitleib, 93arm]^erjig!eit, roo fte mirlli^ bie einjigen 2:riebträfte
etl^if^er Betätigung mären, finb fo menig ^riftlic^, ba§ fic oie^
me^r nur oerfeinerter SJWatcrialiSmuS ftnb. Qft eS nid^t auc^
3Wateriali§muS, menn meine ganje (Stimmung unb mein ^anbeln
anbern gegenüber burd^ baS ©effi^I beftimmt ift, baß i^nen
äußere ©üter festen, ba^ fie in 9lot unb UnglüdC fmb? Sieben
anberm muß bieg ©efü^I fein. Mein barf eS nie ba fein, fonft
überf(^ä^t man biefe äußeren ®üter.
n. 2Bie fämpft ber (£^rift?
3)er ®t)rift barf alfo nid^t nur fämpfen. ®r muß tämpfen.
3)ie aSelt, in ber mir fielen, ift fo befc^affen, ba^ mir @uteS
nur fdiaffcn fönnen burd) Kampf. Kampf aber ift nid^t möglid),
ol^ne ba§ mx anbere f^äbigen. 3)aS ift baS guri^tbare baran,
ta^ mir in bem bercd)tigten 33eftreben unS burc^jufe^en, unfere
3^ u d^ S : (^()riftentum unb ^ampf um§ ^afein. 489
innere Äraft ju crl^alten unb ju ftärfen, un§ eine ©fiftenj unb
einen SBirfunggfreiS ju [(Raffen, anbete niebertreten, ®ute§ um
un§ ^er t)ernicl)ten. 3)ürfen roir ba§? ®§ ift perftanblic^, ba§
oiele biefem S^^i^fpoW^ gegenüber erlahmen, fi^ mit befd^eibener
^rioateyiftenj begnügen unb nid^t me^r ju tämpfen wagen. 3)od)
ift ba§ tatfäd)Iic^ ein ©rla^men be§ @otte§g(auben§. Sicfer fagt
un§, ba| unfere ^raft unfere Oaben, unfer ©eroiffen Don ®ott
flammen unb 93etätigung in ber SBelt ^aben muffen, f\ä) ent*
roirfeln muffen, alfo and) i^r SRec^t, jö i^re ^lotroenbigteit l^aben
im Kampfe, greilid) fe^r ernft muffen mir un§ bie 5^age uor*
legen, roie roeit barf ic^ gel)en im Äampf ober oielme^r : mie weit
mu§ id) ge^en, benn in biefem galt foU e§ bod) fo fielen, ba§
ein ©l^rift miberftrebcnb ^ineingctjt, au§ $fli(^tgefüt)l ^), aber aud)
au§ ^flid)tgefü^I fo weit getjt, al§ er um ber ^pid)t millen mu§,
an biefer ©renje aber gern §alt mad^t.
SSBerfen mir nun einen ©lidf auf bie Derfd)iebenen Oebiete
be§ Sampfe§. 3)a ift juevft ba§ oiel Umftrittene ber ^otitif.
K^riftlid^e ©ittli(^!eit in ber ^^olitif bafiert auf bem ©mpfinben
bafür, ba§ ba§ eigene SBolf eine eigene 2Irt be§ @elfte§Ieben§ ^at,
burc^ bie feine ©lieber jum (Sblen erjogen werben, oI)ne bie fie
ben geiftigen Qntialt unb §alt oertieren mürben, bie fid^ burc^
eigenartige formen bc§ 3ufammenleben§, ber Sunft, be§ 3)enfen§,
ja ber g^^^^^/ 93crgnügungen unb 33efd)äftigungen, ©lieberung
ber 93erufe, 2lrt ber crjiel)enben unb regierenben ^öftoren fort*^
pflanjt, au§bi(bet u. f. m. 2Ber einmal unter einem anbern SSolfe
gelebt l^at, mei§, mie fc^r burd^ äße biefe ^öftoren bie (Jigenart
be§ geiftigen Seben§ ^inburc^ge^t, erf)alten unb geförbert mirb,
SBer nun ba§ fittlic^c 3Bertgcfül|l bafür ^at, mirb bie ^flidit
in fic^ fpüren, biefe§ eigenartige Seben — ber (J^rift wirb e§
faffen aU ®otte^ eigenartige Srjie^ung gerabe gegenüber biefem
95oIfe — JU ert)alten. 3)aju get)ört oor allem bie ®rl|altung
feiner ®f iftenjbebingungen, feiner roirtfd)aftlic^en Kraft na^ au^en.
SDBie üerfdiulbete ^ötnilien, fo merben aud) roirtf^aftlic^ unfelb^
ftänbige SSölter ^arafiten, fönnen fein froI)e§, traftüoUe§ SBeiter-
iTs^atürridö fann biefeä 5ßflid&tgcfül)l alg ®efüf)l ber gottgcfc^cnftcn
^raft, ^txoa^ burd^jufeftcn, ein frcubigcg, rocnn aud) immer fef)r ernftc^ fein.
490 f^ndt^S: Gl^riftentum unb ^ampf um§ ^afein.
ftrcben me^r l^abcn. @§ ftnb ni(^t nur bie Icitcnben ©taatö*
männcr, bic bicfcn Kampf um bie äußere Syiftcnj fülircn. ^^bu*
ftric, ^anbcl unb oor aßcm bic Stimmung bc§ SBoItcS gegenüber
ben patriotifc^en SGBerten, alfo and) bie SKrbeit berer, bie biefe
(Stimmungen pofttin ober negatio beeinfluffen, roirten ba mit.
S)od) fallt natürlid) bie Hauptaufgabe ben (eitenben @taat§männem
ju, SBenn nun ein Sßolf feine ©fiftenj einem SWanne anoertraut,
fo mu^ eS oon biefem forbern, ba^ er rüdfftc^t§Io§ in feinem
2Imte nur nod^ biefen einen 3Bert fennt unb i^n oertritt, nic^t
fragt, men ober roie er fd)äbigt, fonbern nur, mie er für ©egenroart
unb 3ufunft bie (Sfiftenj biefe§ 95oIfe§ fiebert. 2:ro^bem gibt e§ für
biefen Staatsmann ©ittlic^teit unb Unftttlid^teit. ©ie liegt nidit in
ber einjelnen 2;at, ba liegt ©ittlid^teit in bem ©inne mie bie dirift*
lidie ®ti)xt fie auffaffen foQtc, nie. ©ie liegt in ber ©efmnung.
®ie ©ittli^teit aud^ be§ ©taatSmanneS ift ba§ äBertgefü^l
für bie geiftige ©igenart feinet SSolfeg, ba§ 9Witleben in feinem
geiftigen Seben, ba§ ©emorbenfein unb äBerben mit i^m jufammen.
®inem foldjen ©taatSmanne wirb e§ baS erfte fein, bie fittli^en
Kräfte, bie im SSolfe liegen, ju erl^alten unb jur SQBeiterentroicf*
lung ju bringen. 9tatürlid| mirb !einer alle SBerte perfte^en unb
entmidfeln fönnen. S)er eine mirb ttarer i^re 93ebingt^eit burc^
bie äußere ©yiftenj empfinben unb biefe fd^ü^en, ber anbere me^r
il)ren 3wfamment|ang mit ben inneren ©rjie^ungS* unb SBerroal*
tungSoerl^ältniffen. 2)er eine roirb meiter feigen unb für bie S^*
fünft f^on bie 93ebingunflen ju fd^affen fuc^en, unter benen ge*
rabe bie§ Sßolf bann roirb leben muffen, unb bie bie SBeiterent«
roidtlung gerabe biefeS geiftigen Seben§ förbern werben. 3)er an*
bere roirb feine 9lot mit ber ©egenroart ^aben ober Je^ler ber
33ergangen^eit gut machen muffen. 3>ebe§mal aber ift fo oiel
©ittlid^feit, (^riftli^e ©ittlid^teit, in i^rem ^anbeln, aU e§ be*
bingt ift burd^ ba§ ©efü^l für bie geiftige ©igenart biefe§ SBolfeS unb
burdt) ba§ ©eroiffenSurteil, ba^ gerabe bie§ ^anbeln notroenbig ift,
um fte ju erlialten. S)ieS Urteil mug natürlich ni(^t immer ein beroup*
teS fein. 6§ liegt ja meiften§ nur im unberou§ten ober ^albberou^ten
©mpfinben, roie bie ganje 93egeifterung be§ üKenfc^en für 9Jolf
unb 9Saterlanb.
^uc^S: ©^Tiftentum unb ^ampf um§ ^afein. 491
Staatsmänner, bie biefc ©itttic^fcit Ratten, waren ©tein unb
93i§mard. 9Kit ganjer Seele Hebten fie bie ftttUc^e Eigenart
i^re§ a3olte§. ©ie waren ein Seil biefcr Eigenart, ^üx ftc
fdmpftcn fie. ^})x rooHten fie ba§ cr^altenbe @efä^ fd^affen.
93ei beiben empfinben roir i^ren Kampf au^ ba ate berechtigt,
roo fie bie SRec^te, ja bie ^yiftenj oon SRenfc^en unb Staaten
antaften. ®§ gef^a^ um be§ fittlic^en 2Berte§ roitten, ben fie
Dertreten mußten. Ober wäre e§ fittlic^, „d^riftU^" geroefen,
lüenn 5Bi§mard bie Siechte ber Meinen beutfdjen dürften ^ö^er
gead)tet ^ätte al§ bie jentralen Seben§intereffen feinet 93ol!e§, wie
e§ oielfac^ im Flamen be§ ®f)riftcntum§ verlangt roirb?
6in anberer beutfc^er Staatsmann ^at ba§ getan, SHetternic^.
Qm ©egcnfa^ ju ben beiben anbern beruft er fic^ auSbrüdtlic^
auf ein etl^ifdieS ^rinjip, bie Segttimität. Sd^einbar ©ere^tig*
feit in ber ^ö^ften ^otenj unb @en)iffenf}aftig!eit ift bo^ biefeS
^rinjip nur ber grenjcnlofe 9lefpe!t, nic^t Dor geiftigen SBerten,
fonbern nor ererbten Sled)ten, 2^iteln, ©ütern unb SBorurteilen,
unb grenjenlofe SBerac^tung ber geiftigen SBerte, bie im Oemein«
fc^aftSleben ber SJölfer liegen. SBöIfcr unb SÖJcnfc^en waren für
3Wettemid)'S ^oliti! 3ot)tcn. 3)ie SBelt jerfiel i^m in ^roDinjen^
bie man ^eute ^ierljin, morgen bort^in fd^Iagen fonnte, roie SBor-
teil unb Qi^t^^^ff^ be§ „Scgitimen" eS forbertc.
2)ie 9ÖeItgefd)ic^te I)at bie Sraft beiber 2lrten oon ^olitif
fc^on gerid^tet. Stein unb 93iSmard fd^ufen ein ftarfeS 3SoIf unb
entfeffelten einen gewaltigen gortfc^ritt beS OeifteStebenS.
Dcfterreic^ war 1809 unter Stabion norf) tebenbig in feiner
begeifterten ©r^ebung jum g^rei^eitstampf. 3)rei ^a^re unter
SDZetternid), unb 93egeifterung war nid)t me^r aufjubringen (1812).
^[a^rje^nte biefer ^olitif unb ber Staat war fertig, ber nidE)t
leben unb nic^t. fterben fann, beffen wid)tigfte§ SIement, bie
S)eutfd^en, loSgcriffen fmb oon ben geiftigen ©ütern, an benen
fie erftarJt waren.
Qb\tn l)at in ben Kronprätenbenten jwei fot^e Staatsmänner
einanber gegenübergcftettt : ber eine, ber ed)te König, ber fein SSol!
als einheitliche geiftige ©röge begreift, weit er fein Seben mit
ganjer Seele mittebt, ber beSl)aIb ben großen, geftaltenben ©e*
492 ^uc^§: 6;^riftetttum unb ^ampf um§ ^afetn.
banfen für c§ ^at, unb i^n au§fü^rt, bcr anbcrc, bcn bcr (S^rgeij
treibt, beffcn Sittlic^tcit nur in Sl^tung t)or überliefertem 9lcd>t
unb ©efe^ ate ben ^^rgeij einft^räntcnber 3Jla6)t befte^t, ber
beö^alb nic^t fc^afft, fonbem jerftört.
3Ran roiih mir entgegenhalten, bag ba§ ju unrealer @efä^I§'
politif fü^rt mie man fte im 95oerenfrieg unb gegenüber ärme^
nien oon unferer ^Regierung oerlangt ^abe, burc^ bie man ftc^
nur in unHuge SSermidfungen begebe. S)a§ ift falft^. Sticht vor
momentanen (Stimmungen foU ftc^ ber (Staatsmann beugen, benen
foU er mit feiner befferen ©a^fenntniS unb unter Umftänben al§
bie überlegene ^erfönlic^feit, bie ben entf^eibenben geifligen SEBert
beffer fpürt, entgegentreten fonnen. ^at er neben bem SWiter-
leben biefer 333erte „ftrengeS, ^erbe§ politifc^e§ ®enten" *) unb ©inn
für bie garten 9{ealitäten, fo ift baS nur ein @(ü({. 2)a§ muß er
^aben, fonft ift er fein Staatsmann. äBenn man aber auS Slngft oor
bem 3nißbraud) ber gemütlichen unb et^ifc^en gaftoren biefe ganj
befeitigen mid, benft man noc^ nic^t ^erb unb ftreng genug.
:3ebenfaDS mu^ ein Staatsmann ju einer fo tiefge^enben,
mit bem 3^"*^^"^ ^^^ g^iftig^n SebenS feineS 93oIfeS jufammen*
^ängenben SSeroegung, roie fte bie be§ 35oerentriegeS mar, ein
SJer^ältniS finben fonnen, fonft beroeift er, ba| er bie ©eifteSart
feines 93oIfeS nic^t oerfte^t unb nid)t a^tet.
©egenüber anbem SBotfem loirb biefe fittlic^e politif immer
gu ber einfachen, flaren SRcoIitdtenpolitif roerben, bie feinen 3w>^ifcl
(ä§t, ba| fie bie mirflic^en ^ntereffen it|reS 93oIfeS na(i^brfi(f(ic^
oertritt, eoentueU auc^ mit ©emalt, bie ftc^ aber auc^ baburd^
3ld)tung ermirbt, bog fie nur roirfli^e SebenSintereffen oertritt,
©efü^l bafür ^at, mo biefe liegen, unb fo i^ren feften SBeg ge^t.
©crabe baS feblt ber heutigen beutfd)en politif. 6S ift bie ^o=
litif : ^^ ne^me, roaS ic^ friegen fann, ^eute mit bir im 33unbe,
morgen mit beinem geinb. 3)aS ift bie „fluge" politif o^ne mo»
ralifd)e SWapftäbe, bie für fleine Vorteile i^re Kräfte oerjettelt,
fic^ um bie 2ld)tung bringt, fein ©efü^l für bie jentraten 93c»
bürfniffe unb beSbalb feinen floren SEBeg ^at. ®S genügt nic^t,
baB ein Staatsmann fü^lt, ic^ muß mein 93olf gro^ machen, ©r
1) '^ergr. 3eit 1902 9lr. 39 S. 389.
fj u d^ § : ©^rtftentum unb ^ampf um§ 5)afcin. 493
mag mitfühlen, roorin gcrabc bic (Srö^e unb Äraft bic[c§ SJoIfcg
liegt unb fic cntfeffcin.
Sine folc^c an bcn njirfUd) jentrolen 3>ntereffcn normierte
?ßotitif roirb fettener jum ^rieg fommen al§ eine anbere. ©ie
wirb if|n md)t immer oermeiben fönnen. ^ann bod^ ber %all ein«
treten, bag jmei Stationen um n)irflid)e Seben^intereffen unter*
einanber ringen muffen. 3)afür ift ^rieg notmenbig. @§ ift alfo
and) berechtigt, i^n tapfer ju führen. @r ift bann bie S\x(i)trüai)l,
bie ben ftärfften au§n)ä^(t jum gü^renben in ber ©efc^id^te. ®er
galt, ba§ ber geiftig ftärtere p^tjftfd) unterliegt, ift möglid).
Sann mirb er aber nad)träglic^ geiftig ben anbern erobern unb i^n
jum ®iener feiner geiftigen Gräfte mad)en.
SGBie aber ftel^t e§ mit bireften @roberung§friegen, befonber^
in ber ÄotonialpoUtif? Sin Staatsmann mu§ einem roac^fenbeu
aSoIfc für ein roac^fenbeS 2lbfa^* unb 3ufw^rgebiet forgen. 93e-
fonber§ ein beutfd)er Staatsmann mü^te bafür Sorge tragen, ba§
bie auSmanbernben ©lieber eineS SSolfeS biefem nid)t immer roieber
perloren gctien, \a feine g^inbe geiftig ftärfen. 2)aS märe ein
notmenbiger, fittlic^er Qrozd unferer Äolonialpolitif, für unfere
äußere unb innere Sfiftenj notroenbig, unS ein 2IrbeitSgebiet für
fitttic^e, organifatorifd)e, erjie^erifd^e ^Betätigung eröffnenb. ©o
mürbe unfer geiftigeS Seben für -3öt)rt|unberte oor Stagnation
bemaf)rt, unb unfere äußere ©fiftenj oon ber äBiüfür anberer
SSölter unabhängig geförbert, alfo inbireft ber ^rieben.
9lun beginnt aber gerabe mit ber Äolonialpolitif bie Unfitt*
Iid)teit. ®S ift baS momentan bequemfte unb oorteiltiaftefte , bie
Kolonien ber ©efc^äftSroelt jur SttuSbeutung ju überlaffen. So
jertritt man bie untermorfenen Sßölfer, benen bie ©r^ie^ung burd)
baS I)ö^erftet|enbc SBoH ein Segen fein tonnte, burc^ S(^napS,
9Jlißf)anblung, Unju^t^), Sd)ulbenmirtfc^aft. 3)a§ ift nur möglich,
meil man ben oben genannten fittlic^en Qwzd ber SloIoniatpoIitiE
ni(^t feft unb ftarf im Sluge bet)ä(t. Sonft mürbe man bie tüc^-
tigften, gemiffent)afteften, fitttid) t)oc^ftef)enbften Beamten bort i)\\\'
1) aJian Ufc bie ©d^ilbcrung cineS ^lugenjeugen in ber „Äirc^Iid^cn
©egenroart" 3a^rg. 1904 ^x. 20 f. ©. 309 f. Sßcrlag o. 93anbeu^oed unb
9luprcd)t, ©öttingen.
♦
494 S^ud^S: (Sf)nftentum unb ^ampf umS ^afein.
fcnbcn, iDO man einem neuen 3wjcig be§ alten 35oIfe§ eine $ei=
mat fc^affen, unb wo man milbe fßolht ju einem SWaterial bilben
mil, ba§ mit unfern eigenen SSolf^genoffcn ju einem tü^tigen
Stamme oerfc^meljen fann. 2lu^ biefe fittlic^e ^ßolitit wirb ftreng
unb feft biefe SBöüer nieber^alten. ©ie wirb ba§ tun mit ber
feften Uebetjeugung, bafe fie ba§ im S)afein§fampf für il^r SBol!
mu§, ba^ e§ i^re fitttidie ^flidjt tft. 2lber fd|on um be§ eigenen
aSolfeü mitten, roirb fte nic^t moralifd) nernic^ten, fonbem erjic^en.
Sine ^Regierung, bie bie geiftigen SBerte fü^It, !ann jene
au§beutenbe Äolonialpolitif nic^t treiben. Sic fann e§ aud^ be§*
l^alb nic^t, meil fo(d)e ^oUtif jerrüttenb gurüdtmirtt auf ba§
ganje SBoIt. SSBir muffen un§ flar werben, mie fe^r bie weithin
ftc^tbare ©eftalt eine§ Staatsmanns baS fittlid)e ©mpfinben bilbet.
Qnftinttiü empfinbet man bi§ in bie fleinfte glitte bie SSBerte,
nac^ benen er mi|t, unb ftredft fid) nac^ i^nen, wenn fie ^o^
finb, bemoratiftcrt, rocnn fie niebrige fmb. Unfer SBolf ^at fidj
jur 3^it ^^^ 93oerenfriegS nod) energifc^ gemehrt gegen folc^c
Seeinfluffung. 3Wan ^at beutli^ baS Oefü^I, atS ob baS be*
ftänbige SUlitanfe^en biefer, bie et^ifc^en ÜJlotioe glei^gültig bc«
läc^eluben ^olitit aQmä^tic^ abftumpft. SRan gemö^nt fic^ baran
unb ma^t e§ fd)lie^Ii^ mit').
3)iefe rüdmirfenbe Sc^äbigung beS eigenen fittlic^en SebenS
hvLxä) unmoraIifd)e ^olitit t)at ©nglanb im 93oerentrieg auSgiebig
erfat)ren. Statt ben Sßerfuc^ ju mad^en, burc^ beffere aSoItSbif»
bung unb geiftige SWittel bie Stellung (gngtanbS in ^anbel unb
^nbuftrie ju t)alten, rooUte man ben SWarft erobern. 9Won ent=
feffelte ben englifd)en K^auoiniSmuS, ber atteS §eil in ber mSg*
Iid)ft weiten SluSbe^nung be§ worldwide empire fiebt — ma-
teriaüftifc^en Patriotismus nannte if)n ein engtifc^eS 93latt —
unb biefer entfeffelte (£E)auoiniSmuS machte baS gange 93oIf un-
fäf)ig baS ju fet)en unb ju tun, maS il^m oor allem not ift, euer*
gifc^e erjiet)erifc^e 2Irbeit für ^oc^ unb nieber, ©ilbung, geiftige
1) $ume fagt in einem feiner @ffat;S, für ben ^^itofop^en fei bie
Seid)tig!eit überrafd^enb ,with which men resign their own sentimenU
and pasBions to those of their rulers'^. SSßelc^e ©efa^r bebeutet au^erbem
bie d^dUf)v fold^er i^ertommenen ^olonialbeamten für bie ^eimat
^u^§: ©^riftentum unb ^ampf umS ^afein. 495
2)i§jiplin, ©clbftbc^errf^ung ju fc^affcn. ®er afritanifc^e ©icg
ift ein nationale^ Unglücf für ©ngtanb. ®§ lüirb lange bauem,
bi§ bem diauüiniftifc^ t)errot)ten SSoIfe gegenüber eine ernfte nad)
fittlid^er Erneuerung ftrebenbe Siic^tung auffommen !ann.
©ro^ma^en fann ein 95olf nic^t ber ©taatömann , ber e§
für materielle Qxo^d^, äußere @rö^e fanatifiert. 6in foId)er mag
in feinem perfönüd^cn Scben fittlic^e SGBerte feft^alten. @r ar^^
beitet für nidjtfittlidje. ®r ift ein gebrochener Sf)arafter unb !ann
anbere nur bred^en. ®r uerfülirt immer me^r jur 2:rennung von
2lrbeit unb ©ittlid^teit, von SBaterlanbsIiebe unb ©emiffen, jum
^urra^patrioti§mu§ in feiner ganjen fittlidien @rbärmlicl)feit.
®ro§mad)en fann ein SBolI nur ber Staatsmann, ber für gro^e
3iele begeiftert ift unb eS begeiftern tann. 3)er aber treibt feine
^olitif be§ ®^aui)ini§mu§ unb ber 9iiebertrac^t.
SCBenn nun gar ju ben größten ©rinnerungen eine§ 93olfe§
grei^eit^fämpfe gehören, wie bei un§, unb ein Staatsmann treibt
eine "^^Jolitif, bie ein $o^n ift auf jebe 2tc^tung unb Segeifterung
für ^rei^eit, ol)ne Sffiiberftanb }u finben, bann ift ba§ ein 3^id)en,
baj3 baS geiftige fieben niebergc^t, bie großen ©rinnerungen uer^
ge^en unb ber Profit ju ^errfc^en beginnt. 2)ann nähert man
fid^ bem fünfte, wo man fein 95olf mel^r ift, fonbern eine ©e*
meinfd^aft, beren 93anb gemeinfd)aftlic^er Sd)ad)er ober gemein-
f^aftltc^e SRaubjüge finb.
2Bir fjaben in ®eutfd)Ianb alle Urfac^e unfere Stimme laut
JU ergeben, bamit ba§ Serougtfein mieber ermacftt: Unfer 93oIf
lebt von geiftigen ©ütern. 3)urc^ fte ift eS geeint unb bie ^^o-
litif barf fie nic^t oerac^ten. 2)ieS ju oergeffen märe für S)eutfc^'
lanb oiel t)erl)ängni§Dol(er mie für ©nglanb. 2)a§ meniger tiefe
unb jarte geiftige Seben ®nglanb§ fi^Iie^t ^ompromiffe mit bem
9Waterialt§mu§, o^ne fofort ju ©runbe ju ge^en. ®er ©nglänber
mit feinem äu^erli^en Staat§== unb greil^eitSibeal bleibt patrio*
tif ^ auä) gegenüber bem Staate , ber nur erobert, ni^t erjie^t.
®§ fc^eint, ba§ ber ©nglänber ben Staat nur al§ 9Jlad)tfaftor
unb jufammen^altenbe Organifation innerli^ notrocnbig f|at. Unfer
geiftige§ Seben ftirbt fofort am 9Kateriali§mu§. Unfer Patriotismus
erlifd)t, menn ber Staat fürS geiftige Seben nichts me^r ift. 2)ie
496 JJurf^S: (S^riftentum unb Äampf umS ^afcin.
S^atfac^cn rcbcn laut.
aSenn nad) allen bicfcn 2Iu§fü^rungen no^ jemanb fagcn rootttc,
fofd^c 2lrt bc§ Sampfc§ fei au jart unb ju fc^road^ für bic SRealitdt
be§ poütif^en £eben§, bem ^6e id^ x\od) einS ju antworten.
Kampf ift berechtigt, aber nur ber Kampf für ein roertüoHeg
3)afein. 2Ka(^en wir unfer SSolt gro§ mit SDlitteln, bie i^m fein
Oeroiffen, feine ©^affcn§freubig!eit, feine ©elbfttritit nehmen, e§
gegen fein geiftigeS Seben gleichgültig maciien, bann ^aben roir
fein 9le(^t jum Kampfe SQ3a§ Ratten mir auct| baoon, roenn in
100 ober 200 ^^al^ren ein geroaltigeö ^anbelS«, SRaub* unb Ko*
lonialrei^ beftünbe, ba§ ben Flamen 3)eutfc^lanb trüge, aber oon
beutfc^em ®eift, beutfc^em 3^beati§mu§, beutfcf)em ©emiffen unb
©emüt nid)t§ me^r ^tte. 3^id^t einmal bie Seute, bie bann lebten,
^tten etma§ baoon. Ober finb ©aufen, Soben, ©port unb an*
bere nette Vergnügungen ol)ne geiftige§ Seben ein gtüdfc^affenber
^nf)alt be§ aWenf d)enleben^ ?
SBofür mir fämpfen muffen, ba§ finb bie du^ern unb innern
ajiittet ber geiftigen ©fiftenj unfere§ 9Solfe^, SHaum für feine 2:at*
fraft fic^ ju entfalten, ©tätten feiner 2lrbeit, an benen feine ©ei-
fte^fraft 2lnregung unb 2lufgaben empfängt, ba^ fic nicl)t faul
roirb. ^ier motten mir fämpfen mit ©nergie, mit Slufbieten alter
ajtittel, ja mit $Rü(ffxd)tglofigteit, aber nic^t mit 3WitteIn, bie rürf*
mirfenb un§ töten, nicl|t mit brutaler (Seroalt, roo geiflige Sieg*
famfeit, ©elbftjuc^t am $la^e ift.
3)aB Krieg babei erlaubt ift, ift flar. SSSie fteljt e§ mit ber
^interlift? ©§ gibt 5»otlügen, bie fittlic^e $flict|t fmb. SBenn
id^ ein ®ef)eimni§ ju beroal^ren t)abe oor ber ©etbftfuc^t, bie eö
gegen ben anbern mißbraud^en mürbe, ober oor ber Ktatfc^fucijt,
bie ba§ innere Seben eineig anbern entmei^en roürbe, mürbe id)
tatfäct)li(^ ba§ t)öt|ere ett)ifc^e ®ut preisgeben, menn ict) au§ ©c^eu
oor ber Süge mir mein ®ct)eimni§ entreißen liefee. 3)ie Süge ift
bann nid^t meine ©ct)ulb, fonbern bie ©cl)ulb berer, benen man
fein ajertrauen fct)enfen barf. fSJlzxnt ©d)utb nur infofern, al§ ic^
oietleic^t nic^t bag 3^ötige getan I)abe, meine Umgebung jur 9Ser*
trauenSmürbigfeit ju erjietien, ein SSertrauenSoer^ältniS 5U fc^affen.
9hd)t bie einzelne Süge, ba§ gefamte aSer^ältniS ift bie ©ünbe.
^ud^S: (E^riftentum unb Stampf umS ^afein. 497
@o fielet c§ an6) im 53ert)ältni§ bcr Icitcnbcn ©taat§manncr
— bicfc, m6)t bie SSöltcr, belügen einanber — . 2ln ©teile be§
ftoljeu 9Jlute§, ber fagt: ^c^ bin abfolut rüdCfic^t§lo§, egoiftif^
für mein SSolf, ift bie ^eucftelci getreten, bie ein abftrafteS ®e*
rec^tigteit§bilb qI§ I)ö*ften aWa^ftab oorf^ü^t. 2In ©teüe be§
93ertet|r§ von 3Kann ju SJlann fte^t gerabe in ber biplomati[d)en
aSäelt bie gefeUfc^aftlic^e ©leifnerei in all i^rer äu^erlid)en greunb^^
lic^feit. (Statt ju fagen: §ier fmb meine Qntereffen, ^aft bu
gleiche, bann gel^' mit, ^aft bu entgegengefe^te: 9Bir motten un§
au^einanberfe^en, fuc^t man ben anbern in '^aütn unb 9ie^e ju
toden. ^n SQSirflic^feit ge^t er natürli^ beften gaU§ boc^ nur
ein paar (2d)ritte auf bem falfc^en 2Beg mit unb lo^nt mit bop«
pelter ^eimtürfe unb ^a&.
2lber bie§ ganje Oebiet ber 3Serlogenl)eit ift nii^t oon einem
aWann mit einem ©c^lag ju änbem. @r mup it)iffen, ba^ e§ fo
fte^t, mu| ba§, roa§ an i^n herantritt, barnac^ beurteilen, unb
ma§ er fagt unb tut, mu^ eben fo gefagt fein, roie man gu l)in^
terliftigen g^eunben rebet b. 1^. SSertrauen unb SBa^rf)eit fönncn
nic^t immer barin fein. 2:ro^bem mirb ein freimütiger 3Wann f^on
einen Schritt jur 2öal|r^aftigteit tun !önnen. SSietleic^t mirb er im
Greife ber Diplomaten um fo energifc^er roirten unb um fo met|r er*
reid^en, je roal|rt)aftiger er ift. 9Jlac^t man bo^ fd|on im geroo^nlic^en
Seben bie ®rfa^rung, ba^ @l|rti^teit bie befte ^olitif ift, meil man
bann Vertrauen gewinnt unb bie ^intertiftigen, bie ja bod) nic^t
glauben fonnen, ba| einer e^rlicfi ift, il)re fallen boc^ nic^t auf
ben SGBeg legen werben, ben man i^nen al§ ben feinigen ange«
geben l^at. 9Sor allem aber ba§ ©rmerben be§ 93ertrauen§ ift
entfc^eibenb. ftein Staatsmann mirb gro^e ©rfolge auf bie ®auer
^aben o^ne e§. (Ss roirb ermorben bur^ ben 9Jlut ber 3ßa^rt|eit.
3luc^ in ber Diplomatie t)at bie ftärffte, el)rlid)fte ^erfönlicl)teit
fc^fie^lic^ bie größte Äraft unb ben entfc^eibenben ©rfolg. 2lud) für
bie innere ^olitif ergeben ftd) entfdieibenbe JWegulatioe, menn man i^r
al§ ]^ö^fte§ ßiel ba§ geiftige SBo^l be§ 93olfe§ fe^t. ^\)m gegen*
über ift ber Staatsmann fd)on al§ ^erfönlic^feit erjiel^enbe 3Jlad)t
unb ^at alfo baS Sßorbilb einer reinen, ftarten, e^rlid)en unb mu-
tigen "ißerfönlic^feit ju geben, mie oben f(^on au§gefüt)rt.
3<ltf(^rift für Ideologie unb Älr(!^«. 14. Ojo^rg., 6. ^eft. B4
498 5J u (^ § : ©^riftcntum unb Äampf uin§ ^afcin.
Unb bann ba§ ^ßartcilcbcn. @§ bringt überallhin. 6§ fßnntc
eine crjicl^cnbc SDlac^t crften SRangcg fein, inbem e§ überatt eine
el^rli^e unb SBa^r^eit fuc^enbe Si^fuffion über bie brennenben
©yiftenjfragen be§ SBolf»Icben§ l^crbeifü^rte. 3)a aber ba§ ^öc^fte
®ut unfercr ^olitif 9Kad)t ber Partei, b. f). in fester Sinie:
3Sla(i)t für fid), ift, fo ift fie bie§ ganje niebrige, ocr^e^cnbe
abreiben, in bem e§ ^artcibogmen, aber fein ©u^en nad| SBa^r»
^eit unb ©orgen für ba§ SBo^I be§ »olfeg me^r gibt. 3lDe
3^ragen werben ^arteifragen, b. 1^. unter bem @efid)t§puntt be»
l^anbelt : SBie machen n)ir barau§ ein Slgitation^objett, roie muffen
wir un§ fteüen, um bie SSorurteile, Setbenfd^aften, 3)umml^cit ber
9Jlaffe auf unferer ©cite ju tiaben? @§ roirb nic^t gefragt : SBie
wirb ^ier ba§ SBo^l be§ SBolteS geförbert? 9tun rairb ja ba^
roo ^Parlamentarismus ^errfc^t, bie grage nac^ ber Oeminnung
be§ aSoIfeS eine jentrale fein für jeben, ber politifc^ etmaS für
e§ tun miß. Qft unS ba§ SBo^I be§ 3JoIfe§, ber Äampf für fein
geiftigeS Seben bie ^auptfad^e, bann werben mir eS geminncn
burc^ eine cnergif^e, tiefgelienbe ®rjie^ertätigfeit. Siaumann ^atte
fte angefangen. ®§ ift l^öd^fte 3^'*/ ^o& öß^/ ^^^ för i^r SJoIt
ein ^erj tiaben, fiel) ^ier in bie 2lrena begeben, al§ politifc^e
9SoIf§erjiel|er. SBenn mir nur ba§ eine täten, ba§ mir aU ge*
bitbete SWänner unS ju öffentlid)er ®i§fuffion in frieblic^cn,
Dorne^men g^ormen, mit bem 3i^I ^i^ SBal^r^eit ju finben über
alte brennenben S^^gen, jufammenfd^Io^cn. ©oId)e 2lu§taufcbDer*
einigungen mürben balb eine ftarfe, gefmnungSbilbenbc SWac^t
?laumann ^atte etma§ berartigeS angefangen. SBo^in ber ©tanb*
punft ber morallofen ^olitif fül^rt, jeigt ein Slrtifel ber |)ilfe.
^n \i)m l^ei^t eS, religiöfe, päbagogifd^e ^ntereffen mögen
ja für bie fonfcffioneCe ©c^ule fprc^en, ba§ politifdie ^ntereffe
jmingt un§, gegen fie ju fein. Sllfo fc^Iec^te ®rjiet|ung be§ SBolfeS,
Job feiner JHetigiofität, ba§ alle§ miegt nid^t. @§ miegt aber,
ob biefe ober jene Partei geftärft ober gefdimäc^t mirb. ®a§ ift
morallofe ^otitit.
aaSer bie Äü^n^eit t|at, at§ ^olitifer an ber großen aufgäbe
ber ©orge für ba§ SBoltSmot)! mitarbeiten ju moDen, ben mu^
bie Kraft feine§ ®efü^I§ für ba§ ©eifteSleben feine« 93oIfe§ babei
fjud&g: ©^riftentum unb Äampf um§ S)afctn. 499
bcl^crrfc^en unb leiten. SEBo er aixütx6)t, begel^t er nid^t nur
einen oerjci^Uc^en geiler, fonbern ein 55 e r b r e (^ e n. @r wirb
jur 9Äad^t ber Semoralifation für fein ganje§ SSoIt. Steine, be=»
geifterte ^olitü, fittlid^e ^olitit getragen non ftttlic^en, begeifter*
ten aWännern, baS muffen wir fd^affen in ben nä^ften jet)n Sla^^ß«/
ober roir gelten unter ; benn fittlid)e ^ßolitit nac^ innen unb au^en
ift erfte ©fiftenjbebingung eine§ a8olfe§.
®§ war oben fc^on baoon bie SRebe, ba| ber @eift ber ^olitif
burd^ficfert jum Jßolfe. ®8 ift noc^ ein anberer SBeg ha, auf
bcm ba§ gefc^iet)t. SBir tonnen ba§ gerabe in unferen 2:agen
fel)r beutlic^ oerfolgen.
3[e me^r ein 3Wann an irgenb einem fünfte unfittlid)en 93c»
n)eggrünben Staum gibt, feinen S^arafter bredjen lägt, befto mel^r
oerliert er ba§ ©efü^I für bie SBi^tigteit biefer ffierte unb für
i^r aSor^anbenfein in anbcrn. ®r fie^t nur noc^ barauf, inroie*
roeit biefe anbern brauchbare SBerfjeuge finb ober nid)t. ©te^t
ein fotd^er SWann nun an l^eroorragenber ©teile im ©taatSleben,
fo n)irb er bie ju fic^ tjinaufjiel^en, bie fic^ burd) i^re ©efügig«
feit, ni^t biejenigen, bie fid^ burd^ 2:üd^tigfeit empfel^Ien. 3)a§
Strebertum ol^ne Oeroiffen unb perfönlidie Ueberjcugung für bie
Slufgaben beS betreffenben 9lmte§ ^at baS gelb. @benfo nergibt
man ^lä^e unb ©teilen nad) ^arteirüdEftc^ten mit bem ^inter*
gebauten, läftige ^ünber ju ftopfen, mächtige Seute ju geminnen
o^ne JU fragen, ob für bie 9lufgaben biefer ©tetlung ber betreff
fenbe ber SRic^tige ift. 9Son biefen au§ gel^t bann baäfelbe ©gftem
nad^ unten meiter. @S beginnt ft^ bie 93eamtenfd^aft mit benen
}u burc^fc^en, bie nad^ unten treten, nac^ oben tried^en, rafd^
oormärtS tommen unb menig oormartg bringen, bie brennenbften
fragen unberührt laffen, weil fte unbequem unb bem gorttom*
men gefätirlic^ finb. Qe l^ö^er man ben crjiel^enben ©influg an*
f^lägt, ben bie beutfd^e SSeamtenfd^aft auf ba§ beutf^e aSolt ge*
^abt \)at, befto me^r mu§ man Don biefer ®efa^r für^ten. 3)er
beutfd^e ©eamte oon el^emaK in ©adjnerftdnbni^ unb ^flic^tbe-
mugtfein lehrte bur^ fein 93eifpiel alle fragen rul^ig anfaffen,
geregt prüfen unb mül^fame Slrbeit nic^t fd^euen. Ob er e§ no^
B J
500 ^uä^S: (^^riftentum unb ^mnpf umS ^afein.
(cl^rt? a3iclfa(^ fielet ntd^t.
SBir fmb ^icr toicbcr mitten im Äompf umS 3)afcin. 2tuc^
ein 53eamter ate folc^er mu§ i^n fampfen. ®r mu§ ftrebcn,
feine ©ad)uerftänbni§, feine $Iäne unb ®eban!en für baS SBcfte be§
®ebiete§, ouf bem er arbeitet, jur Slnertennung ju bringen. ®r
mu^ alfo ®inf[u| unb Tla6)t fuc^en, in bic ^ö^e !ommen moUen,
je bebeutenber er ift, um fo l^ö^er. 3)a§ ift feine ^flic^t fogar.
2lber er mu^ baS tun, meil er fül^tt, ba§ er mit feiner 2lrt etmaS
leiften fann, oerbeffern tann, bog SBolfSleben innerlich ober äuger-
li^, für fein ®e6iet roenigftenS förbern wirb, b. ff. er mug 93e^
geifterung, ®efü^l für bie SBerte be§ S8ot!§Ieben§, Suft an i^rem
3ortfc^reiten unb Sßermel^ren, SBiUe mitju^elfen, Äraft mitju^elfen,
in ftd^ ^aben. ^at er fie in ft^, bann l^at er ®efü^l für bie
SBerte, t)on benen (^riftlic^e Stl^if fagen mu^: biefe ju förbern
ift beine 3lufgabe al§ Beamter.
3[ft il^m aber fein l^ö^fter SBert ber 2:itel unb ber ®el^alt,
bann ^anbelt er unftttUi^. ®en)ig l^at ber ^Beamte ba§ 9}e^t,
ben So^n ju forbem, beffen er wert ift, fx6) eine finanjieDe ©tcl*
lung JU fiebern, bie it|m freubige§ Slrbeiten mit üoüer Straft er-
möglicht unb il^m ben anbem SSoItStreifen gegenüber ba§ 9(n«
fetien gibt, ba§ er braucht, um mit il^nen unb für fie mirfen ju
fönnen. 2Iber bie ^auptfac^e mu§ it|m bieg SSJirfen fein. 9lun
fann freiließ nic^t jeber geiftige SSJerte felbft f(^affen, ober felb»
ftänbig fie in Drganifationen u. f. xo. realifieren. ©eSl^alb mu|
ni^t jeber in leitenbe ©teDung. 2lber jeber mu§ fic^ in eine
Stellung l^ineinarbeiten, in ber er feine Gräfte, feine JBegeifterung
jum SBol^I be§ ®anien betätigen !ann. ^eber ^at au^ bie ^Pic^t,
bie anbern, nid(tbegeifterten, bie ©treber fo oiel roie möglich ju=
rfidFjubrängen. ®§ ift man^mal ein t)arter ^ampf. @r mug
geführt werben unb e§ mu^ babei bie innere Äraft feftgetioUen
unb erfämpft merben, ba^ man nid^t um feiner felbft miflen, fon*
bem um ber ©ad^e roiüen fämpft unb in bie ^ö^e miU. S)ann
mirb man fd)on in ber 2tu§n)a]^l ber ÄampfeSmittel oorfic^tig
merben. 3Ber in bie ^öl^e mitt, um für baS fittli^e SBo^I bcS
33oIte§ arbeiten ju fönnen, mirb ni^t um bie ®unft berer buhlen,
bereu ®unft er nur ^aben tann, menn er fic^ binben lä^t, ge»
fjurf|§: ®f)riftcntum unb Kampf um§ S)afein. 501
fügigcg SBcrljcug ift. ®r wirb nid|t in bie ^o^e ftrcben mit
©^araftcr ucrbcrbcnbcn SJlitteln, ba§ er bann al§ gebrochener ®l^a*
rafter gar niditS mel^r leiften fann. ®r wirb and) nic^t mit SBcr-
l^c^en unb SBerärgern feiner SWitarbciter ooritärtSftreben. O^ne
fie fann er aui^ nid^tö leiften. ®r mirb überl^aupt ba§ Sebürf*
ni§ ^aben, allein feinen innern SBert aU entfc^eibenben ^altor in
bie SBagfd^ale gu werfen unb fein SWittel anjuroenben, burc^ ba§
er f^lie^Iic^ einen beffern jurüdtbrängen fönnte. S)a§ ift ©itt*
li^feit im Kampf um§ S)afein be§ S3eamtenleben§.
8Ba§ ba§ Strebertum in ber 93eamtenfd^aft ift, ift ber mit
unfittlidien 3Jlitteln geführte Äonturrenjtampf, ha^ Unreelle, in
ber ®efd|äft§roelt. ®a§ @efc^äft§leben ift x)on eminenter 53ebeu*
tung für ba§ Sßolf^leben, einmal al§ einer ber mic^tigften %ah
toren in ber ©idjerung ber äußeren Syiftenj, ber finanjietlen ®e*
funb^eit unb SKai^tfteHung, bann aber al§ ba§ ©ebiet, burc^
bcffen 2lrt unb ©eift ber ©tiarafter unjäbliger entfc^eibenb beein*
flu^t, auf bem unb in beffen aSerfud^ungen unb Kämpfen ber
roerbcnbe ©l^aratter fi(^ übt. SBir fe^en fofort, ba^ für ba§
gciftige SBo^l be§ aSoIfeö jmeierlei oon SSebeutung ift. ®inmal,
ba§ bort ©itten unb Oebräu^e l^errfi^en, bie bie ©fiarafterbilbung
nid^t }u f d^roer machen ; bann ba^ bie tüc^tigften, beften @ef d)äf tS^^
leute, bie flügften, gef^idtteften, meitfc^auenbften fid) in bie ^ö^c
arbeiten unb bie g^tirer ber @efd)äft§n)elt im ©jiftenjtampf na^
au^en werben.
®a§ bebingt eine boppelte fittlidje ^flidjt be§ einseinen ©e«
f^äft§manne§. @r mu^ feine ganje Kraft aufbieten, um alle bie
©itten unb ©ebräud^e, bie ben ®^aratter bebrotien unb unter*
graben, ju befeitigen. ©erabe bie ©efc^äft^melt ift baran reic^.
©0 roenig roie in ber biptomatif^en SOBelt fann ba§ mit einem
©c^log befeitigt merbcn. 2lu^ bie ^orDerung an ben ©injelnen:
bu barfft baoon nichts mitmachen, ift ni^t beredjtigt. ^i)x^ ©r=
fflüung mürbe jur golgc l^aben, ba§ bie @efc^äfl§melt t)on il^ren
ftttlic^ ftärfften ©liebern, bie fic bitter nötig t|at, gefäubert mürbe,
©elbftnerftänblic^e SSorauSfe^ung ift, ba§ ber ©efd)äft§mann ba§
2Wa§ be§ inoffijiell jum SRe^t geftempelten Unrechts nid|t über*
fdireitet. ®ic ©efd^äftSleute felbft ^aben ein fd^arf ausgeprägtes
502 gr u c^ S : ^^riftentum unb ^ampf umS ^afein.
©cnforium bafür, voo nur bcr einmal notrocnbtgc ftniff ober n)o
Unreellitdt oorlicgt unb l^anbcln barnad^. 2)iefe§ in feiner bc*
bingten ^ere^tigung i^nen jujugefte^en^ fträubt man fiä), meil
man fonft fürd|tet, ben fittlic^en 9Jla^ftab it)nen gegenüber über«
^aupt ju verlieren. 3)a§ ift aber burc^au§ ni^t notmenbig. ®er
©efc^äftSmann mei^ ganj genau, ba| biefe Kniffe i^n fittlic^ ge-
fo^rben. 9Iur ift i^m ber 9tigori§mu8, ber i^n ruinieren roürbe
unb bie mirflid) Unreeßen jur ^errfc^aft bringen würbe, unau§*
fü^rbar. 3ugangU(^ ift er für ben ^inmeiS barauf, ba§ fein
©^aratter in biefer @efci^äft§prayi§ nid^t erliegen barf unb ba§
baS bebeutet fiampf gegen aQe§ Unred|t barin. 35enn ein S^a-
rafter, ber nid^t mel)r !ämpft, ift ja gebrochen, ^ier l^at ber
Raufmann eine ernfte ^pic^t gegen feinen ganjen ©tanb, ba§ ein*
gef^li^ene Unred^t l^inauöjufd^affen unb bafür ju forgen, baj5 e§
m6)t roä^ft. 2lu^ l^ier gilt i^m roieber ba§, ba^ ber fo aUmä^«
lid^ Dom Unrecht fi^ befreienbe Saufmann baS SBertrauen ber
anbern unb be§ ^^ublitumS in immer f)öt|erem ®rabe genießen,
mirb, mag auc^ im ®efd)äf trieben oon entfrfieibenber ©ebeutung ift.
daneben nun ^at bcr ©efdiäft^mann ben Äonturrengfampf
mit allen il^m ju ©ebote ftel)enben 3MitteIn ber (Energie unb Älug=
^eit JU füt)ren. ©el^en babei anbere ju ©runbe, fo tann er baS
nic^t änbern. Seine $fli^t gegen fein 3Solt ift, ju forgen, ba§
im ©efc^äft^Ieben ber energifc^fte ftart mirb, gül^rer roirb. ®e=
rabc biefe ^flirf)t aber oerbietet il^m, unreeüe SWittel ju ge*
brauchen. Unreelle SWittel fc^affen ni^t ben tatfäc^lic^ ©tärtften
unb ©efünbeften oormärt^, fonbern ben niebrig ©efmnten, ber bie
n)irftidf)e J^raft be§ ©efd)äft§lebeu§ nid)t förbert. ®amit f^äbigt
er alfo nid^t nur bie Äon!urrenten, fonbern bireft ba§ ganje fßolt,
oor allem aber bur^ SBermetirung be§ Ungered^ten im Seben, bie
©^aratterbilbung innerl^alb feinet ©tanbe§.
Sin all bem mirb nid^tS geänbert, menn man in 93etra^t
jiet|t, ba^ ber ©efd)äft§mann aud) für bie Sjiftenj feiner ^omitie
ben Kampf fü^rt. ^m ©egenteil, biefer @efid)t§puntt oerftärft
bie et^ifc^e ^ofition. ©inen fittli(i)en 3Bert, für ben gefdmpft
werben barf, t)at nur bie ^omilie, bie eine erjiel)enbe, ftttli^
ftärtenbe 9Jlad)t für it(re ©lieber ift. Saju muffen aber bie 9Ma§=
3rud^§: ©^riftctttum unb l^am^jf untS ^afcin. 503
gcbcnbcn barin, SSater unb SKutter, ©^arattcrc fein, ©in un-
cl^rlii^cr @cfd^äft§mann ift aber ein ocrgiftcnbeS ©Icment aud^ in
feinem Familienleben. SWan wirb nid)t ermatten tonnen, ba^ er
ftttlidie SCBerte bei ben ©einen fdiafft unb ftärft. @in JRei^t, für
bie Syiftenj feiner gamilie bie anberer ju gefäl^rben, \)at er üom
fittlid^en ©tanbpunfte au§ nic^t me^r.
©0 finb alfo bei biefcm Slampf um§ SDafein alle SWittel auS*
gefd)Ioffen, burd) bie fid^ ba§ minbermertige (Clement über ba§
SQSertüolle ju erl)eben fud)t unb alle, bie ein ^^^Pö^^^ ^^^ ^^^'
rattert für ben barin ©tel)enben bebeuten. So roenig im Beamten*
ftanb allein um @^re unb 2^itel getämpft werben barf, fo menig
im ®efd^äft§Ieben um (Selb allein. ®§ ^at feine Slufgabe für
ba§ 3wf<^"^w^^i^f^^^^ be§ Sßol!e§ unb mir ^aben biefe ben ©efc^äftg-
teuten met)r unb mel)r mieber Ilar ju madjen.
Siefelbeu ©runbfä^e finb auf ben Kampf ber untern ©tänbe
um 9Sormärt§fommen, beffere Söl^ne, freiere Stellung anjumenbcn.
Sie fmb fitttid^ bered^tigt, bcnn ba§ alle§ ift SBorau^fe^ung einer
immer madtifenben Sefc^äftigung mit geiftigen 3)ingen unb ©e«
ftaltung be§ inbioibuellen unb gamilienleben§ burd) fie. ®er
ganje Kampf mürbe fofort jum Unglüd für ba§ ganje SJolf unb
für biefe Stäube felbft, roenn bie äußere Seite ber Sac^e bie
^auptfad)e märe unb bliebe. $ot)er SoI)n, menig 2lrbeit madfjt
niemanb glüdtlid), niemanb ju einer mertoollen ^erfönlid^teit. ©lüdE
gibt nur geiftigeS Seben. 91un fönnen bie aufftrebenben Stäube
natürli^ nic^t fofort fe^cn, wa^ fie brauchen. Sie empfinben ju-
näc^ft unb Dor allem bie äujsere ^Jeffel. ^t)nen bie 2lugen ju
offnen für bie Slotmenbigteit be§ ©eiftigen, i^nen bieg ju bieten
unb fie burd) e§ ftarf unb juf rieben p mad^en, ift unfere 3Iufs
gäbe. Söfen mir fie, bann roerben mir htn fojialen Kampf cer-
fittlid^en. ©r mirb immer roeniger mit ^a§ unb 95ert)e^ung ge*
fü^rt merben, je me'^r man ben 3CBert ber innern (Süter erfennt
unb fie nic^t fd)äbigen mill.
Umgefel^rt b^ben mir ben ^ö^eren Sc^id^ten ber ®efellfd)aft
ba§ SRed)t ber Slrbeiter auf eigene^ gciftige§ fieben flar ju mad^en
unb aud) fie }u fittlidjer 2lrt be§ Kampfes mel^r unb me^r ju
ergießen.
504 f^ u d) § : G^^riftentum unb ^ampf umS ^af ein.
©0 ift überall ber Äampf oom (^rifttic^en ©tanbpunft au§
bcrcd^tigt. ®r ift ^fiic^t be§ K^riften. aSorau§fc^ung frcilid^ ift,
ba§ er an fi^ arbeitet, fid) ju einer roertooöen ^ßerfonlic^teit ju
ma^en fu^t, bie ber ©elbftbe^auptung wert ift. 3)ann aber ^at
er ftc^ unb feine SBerte burc^jufe^en unb ju erhalten, um be§ ©c»
roiffenS roiHen. 3)a^ ber ßantpf mand^mal fo heftig wirb, ba§
©d^road^e neben il|m, bur^ il^n, ju ®runbe gel)en, entbinbet i^n
nic^t t)on ber ?Pflid)t, feine ^erfönli^teit, bie SEBerte, bie fein
©eroiffen als bie ^öd^ften empfinbet, jU behaupten, feine 2lufgabc
in ber SBelt ju tun. ®ott l^at nun einmal ben Kampf al§ ba^
SKittel georbnet, ©tarfe§, auc^ ftarfe ®l)ara!tere ju f(^affen, unb
mir l^aben tt|n ju ffil^ren.
greilic^, mer fämpft um feiner fitttic^en ^erfönlid^teit millen,
für ftttlic^e SBerte, ber ^at auc^ ba§ SBertempfinben für ben SBert
jeben menfd^lid^en <3nbit)ibuum§, baS für fold)e SBerte gefc^affen
ift. S)e§^alb mirb er ben ®afein§tampf nic^t mit ber blutigen
.^ärte beS (Sgoiften führen fönnen. @§ fommen bie beiben mit*
bemben ©timmungen als Slegulatioe in 93etrac^t, SKitleib unb
Öarml^erjigteit. ^t !larer mir er!ennen, ba§ mir ben Kampf
fül)ren muffen, je mel^r mir fül|len, ba^ ©(^onen beS ©d)ma^en
im 3)afein§fampf eine ©ünbe gegen bie etbifdien SSßerte ber ®e*
meinf^aft ift, befto mel^r muffen mir alleS tun, ma§ mir fönnen
in gürforge für biefe ©^mac^en, (ärjie^ung ju Kraft u. f. m., in*
bem mir bie SSJelt mit foldien SSeranftaltungen burdife^en, bie ba§
tun, otine bod) ben Sieg ber ©tarfen aufjutjalten. §ier ift bie
gürforge für bie 2lrmen, ba§ ©c^affen oon 2Irbeitiggelegent|eiten,
ba§ SBSieberaufric^ten gebrod)ener ©yiftenjen, ba§ ®rjiet|en über
bie ©ünbe, ba§ 9iac^ge^en gegenüber SSerbrec^ern unb ©efaltenen
am ^(a^. ®§ ift ein Sebenöintereffe ber ©emeinfc^aft, alle biefe
ftnfenben Kräfte mieber in bie Slrbeit für ba§ @ute ju ftellen. 9lur
fage man nid)t, ba| ba§ nor allem anbern ba§ SGBefen d^riftlic^er
Siebe fei. K^riftli^e Siebe mu| baS tun. ©ie allein ift bi§ je^t ftart
genug gemefen ^ier }u arbeiten, mo e§ gar feinen äußeren So^n
gibt. 2tber e§ ift nur eine 9leu§erung biefer Siebe, menn auc^
nielleic^t i^re rül^renbfte. 3)iefetbe Siebe mu^ bie ftarfe, begei*
fternbe Kraft be§ gefamten 93olfgleben§ fein al§ ber fefte, reine
fj u d^ 8 : S^riftcntum unb Äatnpf um§ S)afettt. 506
9Biüe im Äampf unb in bcr 3lrbcit gciftige SSJcrte, ©^araftcrc
ju f^affcn unb ju crl^altcn. §ö^cr ate SDlitIcib unb S3armt)erjig»
feit ftc^t ba§ ©Raffen unb ©r^attcn ber ©tarfcn, natürlid^ bcr
ftttlid^ ftarten. S)a roir aber aßc bic 5ßunttc ^aben, wo mir
fc^road^ jtnb, unb ba§ fd|onenbc, bcffernbe ©ingreifcn jener für*
forglidien Siebe brausen, werben wir l^offenttic^ au(^ alle e§ ben
anbern su Jeil werben laffen, fonft werben wir boä) ©goiften
unb lämpfen tatfäcf(Iici^ ni^t für geiftige SBerte.
greitid^, nie bürfen wir 3Äittelb unb SSarm^erjigfeit fo weit
treiben, bajj wir un§ unb unfere geiftigen SBerte ni(^t me^r burd^-
fe^en, weil wir anbere bamit fc^äbigen würben, ba§ wir bie poji*
tioen 2lufgaben Dernai^Iä^igen, weil un§ bie ^ntäjt, einem kleben«
menf^en ju na^e ju treten, bie ^änbe binbet.
9loc^ eine ^xaQt ift l^ier auf juwerfen : Surfen gange ©tänbe
3Witleib unb 53arm^erjigteit in 2lnfpruc^ nel^men. ©anj gewi^.
@ben foweit fie f^wad^e, fittlid^ gefd^rbete, finanziell unterge^enbe
©tänbe finb. 2)ann aber muffen fte jugefte^en, ba^ fie, foweit
unb folang jte 3)litfeib in Slnfpruc^ nel^men, al§ ©lieber betrachtet
werben, bie ba§ SBoKSteben l^emmen, auf bie man nur foweit
SRüdEfid^t nehmen barf, al§ bie oorwärt^ftrebenben ©tänbe nid^t
gel^inbert werben. 3)en üorwärtSftrebenben um be§ fmfenben
willen ^emmen, barf man nic^t. ©egen, Kraft ift ber ©taat nur,
foweit er felbft fämpft, SBerte fd^afft, fic^ oben erhält, ©in
©tanb, ber SKitleib unb 93arm^erjigfeit verlangt, folange er noc^
fämpfen tann, ift faul unb burc^ ©(^läge auf jurütteln, nic^t burd)
53emitleiben unb ©d^meidEieln weiter ju oerberben (j. 93. bie 93auern).
5Ba§ iä) jeic^nen woHte, ift ein Q^beal. — 93ielleid^t aber
gibt e§ bo^ met)r SJlänner al§ man glaubt, bie, wenn aud^ un*
bewußt, fo !ämpfen. 3»^ber oon un§ tämpft aud| auf unftttlid^e
Slrt neben bem, worin er rein Kmpft. Qeber oon un§ bemit*
leibet auc^ auf unfittlic^e 2lrt neben ber reinen Seilnal^me gegen
bie geiftigen SEBefen um it|n. SBir l^aben immer mel^r barnac^
ju ftreben, baj3 ba§ anber§ wirb. Unfer Seben muj3 ein Kampf
fein für bie ^otien, geiftigen, innern SBSerte, mu^ burd(brungen
werben oon ber garten — mandimal mödt|te man fagen „grau=
506 ^ud)S: (S^^riftentum unb ^ampf um§ ^af ein.
famcn" — SSegciftcrung, bie p^gfifd^c§ fiebcn jertretcn tann, wenn
nur gciftigcS burc^ bic Äataftrop^cn gcforbcrt wirb, roic c§ ©ottcö
„Siebe" im Saufe ber 333elt felbft tut. 2)iefc§ cttiifc^e ^rinjip
fann jur furchtbaren Oefa^r werben, wenn e§ ate SReben^art, ate
SBormanb, al§ ^albtieit oon ©emütern angeroenbet wirb, bie fi^
nid)t ganj bem unterorbnen rooQen. 3)a n)äre mand)mal reine
9Jlitteib§et^i! beffer — unb bod) nic^t beffer, benn aU gro§e§,
l^ctligeg Qid mu^ un§ biefe 2lrt immer oorfc^meben, bie nur
Smigteit^merte fennt unb bie irbifc^en oergi^t. Unfer fieben,
unfer ganje§ Sßotf§teben tann nur an biefer „Siebe" gefunben.
SWöglic^ ift fie. ©efunbe ©runbfä^e get)en au§ i^r l^eroor für
ade ®cbiete be§ Sebeng. S)a§ moBte i^ bcroeifen. 93Bo man il^r
na^ftrebt, lernt man, i>a^ a\x6) ber bitterfte Äampf um§ 3)afein,
ber Äampf, ber un§ felbft an ben Manb ber SBcrjmeiflung bringt,
Don (Sott ftammt, nidjt ein notmenbigeS Uebel ift, fonbcrn ein
gro^eg @ut bie ^eitf^e, mit ber un§ @ott an§ ber materialifti»
f^en Sequemlic^feit erft jur Slrbeit überhaupt, bann jur SÄrbeit für
i^n unb feine fittlic^en, innern ©üter treibt. SUlitten im S?ampf
um§ S)afein fann man S^rift fein. 9iur im rcc^t gefül)rten Kampf
um§ 3)afein ift man e§.
507
palirljett «tri f tdituitg in mfxtx ^üx^xm.
SBon
SScrel^rtc ^crrn, liebe 93rübev!
2)er juraeifen mit geröufc^Dolfer Stetlame gefütirte, im legten
©runbe jebo^ oon religiöfen unb noiffcnfc^aftlic^en ^ntereffen ge^^
tragene ©treit über 93ibel unb 93abcl \)at, fomeit e§ fic^ um gc-^
fieberte Srgebniffe ^anbelt, nichts tDefentlid^ neue§ an§ Sic^t ge^
förbert; er t|at aber mand^e S^agen raieber in 5^^^ gebraut,
manche Probleme in ein neue§ Sid)t gerüdtt. Qn biefen gehört
auc^ unfcr Stiema. Ol^ne 3"^^ifcl bringt bie Formulierung be§=
[elben ©efütjlc unb ®eban!en jum 3lu§brudE, bie ben meiften Don
Ql^nen fci^on natie getreten finb. @ie bebürfen nid)t erft bicfe§
9ieferate§, um ju erfenncn, ba^ t)ier für bie 3:t)eoIogie ein ernfte§
Problem vorliegt, bem mir in§ ©efi^t ]el)en muffen, unb i>a%
biefeS Problem ber Sird|e eine Slufgabe ftellt, bie unmittelbar in§
praftifi^e Seben eingreift unb a\x6) ba§ Q^ntereffe berer in 3lnfpru^
1) SRefcrat Dorgetragen in ©tta^burg, am 31. aWai 1904, auf bcr aU-
gemeinen ^aftoralfonfercnj von ®Ifa&=Öott)rinflen. ®ai SReferat mitb f)ier
abgebrurft, mie eg ber ^onfcrcnj oorgetcgt rourbe; bie n)irf)tigften ®in=
menbungcn, bie roäfirenb bcr 5)i§fuffion crf)obcn mürben, finben in einigen
^Inmerfotngcn 58erücffirf)tigung ; ^offentUrf) finb bamit bie münfd^enSmerten
©rgönjungen menigfteng angebeutet, fomic bie burc^ ben 9ief. oerfd^ut*
beten ÜRi^ocrftänbniffc befeitigt.
506 £ 0 b ft e i n: SBol^T^ett unb ^ic^tung in unfret ^Religion.
nimmt, bic fid) für rein t^eoretif^e ^^agcn nlc^t gu crroärmen
Dermogen.
Sie bfirfen beS^alb qu^ ni^t bie Erwartung liegen, bo^ :3^nen
in ber Darlegung biefe§ ®egenftanbe§ SteueS geboten roerbc. äAein
3«>erf wäre erreicht, wenn ic^ 9{aum fc^affen tonnte für eine
frud^tbare S)i§fufrion, beren @(emente in ftürge oorjulegen ftnb.
3)ag Qu§ biefen SSer^anblungen ^örberung unb (Seioinn gu er«
^offen ift, barf um fo e^er angenommen merben, qI§ e§ fi^ boc^
nid^t in erper Sinic um prinjipieBe Erörterungen ^anbelt, fonbem
um praftifc^e Folgerungen unb Slnroenbungen wichtiger rcligiöfer
unb t^eologifc^er ©runbfö^e. 9lic^t ein Kapitel an§ ber
9le(igion§p^iIof op^ ie, fonbem einen Seitrag
}ur praftifc^en 3:^eoIogie foll biefe§ 9ieferat
lief er n. auf biefem ®ebiete bin i^ ber Semenbe, unb ic^
werbe mit aufrid)tigem 2)anf mid^ oon aWännern belehren laffen,
bie mit ben lebenbigen 93ebürfniffen unferer ©emeinben unmitteU
bare ^yü^Iung ^aben unb benen Erfahrungen gu @ebote [teilen,
bie mir fehlen.
Um einen anregenben @ebanfenauStaufc^ in meiteftem Umfang
gu ermöglichen, mivb e§ mein Seftreben fein, mi^ furg gu faffen.
@ie merben mir geftatten, oft nur anbeutenb, nic^t auSfü^renb
gu oerfa^ren. Sluf eine Siei^e oon religionSp^ilofop^ifc^en unb
reIigion§gefd|ic^tlid)en Problemen, bie mit unferem @egenftanb gu-
fammen^ängen, fann oon oom^erein nic^t eingegangen merben.
9Bie oertjält ft^ ber religiöfe Srieb gum öft^etifc^en ? Sßie fteDt
fic^ ba§ religiöfe fieben in feinen oerf^iebenen ^rten unb @tufen
bar? aSaS ift Offenbarung? SGBorin liegt bie SBebeutung be§
^iftorifdjen im S^riftentum? 9BoDten mir gunäc^ft biefe pringi«
pieden fragen gu beantworten fuc^en, fo famen mir überhaupt
nic^t me{)r bagu, ba§ Xi)^ma gu be^anbeln, auf melc^eS t§ un§
anfommt. j^nbeffen, menn mir aud^ eine fold^e oorbeieitenbe Slu^^
einanberfe^ung nid)t oorauSfc^iden tonnen, mirb ^offentU^ ber
folgenbe 93eri^t barum nic^t in berSuft fc^meben; mirb e§ hod^
Uxä)t gu erFennen fein, bag er auf beftimmten 93orau§fe^ungen
beruht, bie eine (Stellung gu jenen Problemen in fic^ fc^ltegen.
9lic^t um einer pringipieQen Erörterung au§ bem SEBege gu ge^en.
iBobftein: SBal^rl^eit unb ^ic^tung in unfrer dleligiott. 509
fonbcrn um ben ^auptgcgcnftanb unocrtümmert jur ©ettung ju
bringen, bcfd^ränft fid| unfcr SRcferat auf bic in ben 2:t)cfcn au§*
gefproc^cncn ©ebantcn. 3)iefe ju crfc^öpfen, wirb allcrbing^ nic^t
mögüd^ fein : fie beftimmt ju formulieren, bie in i^nen enthaltenen
©lemente fd^arf t)erau§juarbeiten, bie ©runbfrage baburc^ ju er«
meitern unb ju vertiefen, baju jä^te id) auf ^^xt SJlitarbeit.
®in folc^eg 3iifommenroirfen erl^cifd)t felbftoerftanbli^ bie
rüdtl^altlofefte Dffenl^eit in ber gegenfeitigen 2lu§fprad^e. ^ier ift
bie Älarl^eit nid^t nur eine elementare miffenf^aftlic^e gorberung,
fte mu^ fic^ oietmel^r jur pttlic^en Siugenb ber 9Iufric^tigteit unb
ber ®]^rlid^!cit vertiefen.
©ie mürben e§ mir, oereljrte ^errn unb SBrüber, ni^t oer*
jei^en, menn ic^ e§ oergeffen fönnte, ba§ ic^ eg nic^t mit ßaien
JU tun \)ahe, benen in ben meiften fjäüen bie SBorauöfc^ungen für
ein miffenfc^aftli^e§ SBerftänbni^ ber religiöfen Probleme fel^Ien,
fonbern ba^ i^ ju tI)eoIogifc^ gebilbeten ©ienern unfrer eoange*
(if^en Kirche rebe, bie jmar ocrfdiiebenen SRid|tungen angel^ören
unb mand)erlei 2luffaffungen vertreten, alle aber in ber einen
Ueberjeugung fi^ begegnen, bie ber gro^e 9ieIigion§forfc^er SJlaf
aWüDer auggefproc^en l)at: „SBa^r fein ift beffer al8 alle SBatir-
l^eiten befi^en!"
Unb nun jur ©ad)e!0
1) 1. — 3m ©egenfa^ "jum abftraüen 33crftanbeSrigon§mu§ einer
bogmatiftifd^en Drt^obo^ie unb etne§ gefd)i(i)t§lof en 9^ationaIt§mug mu^ bie
pfgd^ologifd^e unb gef^ic^tlicfie S^otroenbigfeit btc^=
terifrf)eT ^ebilbe jur ® arfteUung unb fjortpflanjung retigiöf er Soor*
gdnge offen unb rücf{)altIog anerfannt werben.
2. — ®er SBert biefer birf)terifcf|en ©ebtibe ift burrf)
bie jeweilige 3lrt unb Stufe ber 9leIigton bebingt, auf bercn JBoben fte
erroac^fen finb.
3. — 2luf bem SBobcn ber Slaturreligio nen betätigt fi(% ber
religiöfe a:rieb in ber ^erfonififation ber S^laturlraft unb in ber barauf
berubenben "3)ramatirierung ber 9laturpI)änomene, »or allem ber $immel§=
erf^einungen.
4. — ^uf bem 93oben ber b t ft o r i f rf) e n 9i e I i g i o n e n ift ber
Stoff ber religiöfen ^bantapetätigfeit burd^ etbif (%e, in ber ©efd^ic^te mir!-
fame fjaftoren bebingt, obne ba^ auf biefer @tufe bag ©ereinragen unb
9^ad^roirfen ber fonft prinjipieö überrounbenen SJlaturreligionen au§ge=
I
1
510 S 0 b ft e i n : SBafirl^eit unb ^ic^tung in unfret ^Religion.
Unter bcn ©eelcnoevmögcn bc§ 9Wcnf(^cn ift ba§ crfte, baS
im ®ciftc§Icbcn erroa^t, bic ©inbilbung^fraft. S)icfc ^Priorität
bcr ^^antafic, an bcrcn Betätigung oon 2lnfang an ba§ ®efü^l
einen roefentlic^en 2lnteil \)at, jeigt fid) forool^t im Seben be§ ein-
jelnen al§ in bem ber JBöIter. 8Q3ir lernen früher mit ber^^an*
tafie unb bem ©efül^l ertennen als mit bem SSerftanb, mir al^nen
früher al§ mir benfenb erfennen. 3)ie 93ölferpfgc^ologie beftätigt
bie 93eobad^tungen unb Erfahrungen and bem (Singelleben. ^tbt
@ef c^i^te beginnt mit ©agen, jebe Siteratur ^ebt an mit Siebem :
immer unb überaß erfc^eint bie ^oefie vox ber ^rofa.
fd^Ioffen mdte. @o l^aben man^erlei au$ ber bobgtonifc^en SD'lQt^oIogie
ftammenbe ©lemente in ber propl^ctifd^en Sleligion 3frae(S eine Umbie«
gung be§ 9latur^aften ing @tE)ifd^e unb eine ^uflöfung bed ^olpt^eiftif^en
ins SRonot^eiftifc^e erfal^ren.
5. — ^uf bem SBoben bcr altteftamentlic^en ^rop^etcn«
religion finb beS()alb auc^, fei ed unter bem ©emanbe abftc^tdloiS bid^
tenber ^olf^poefte, fei eS in ber ^orm plant>o0 arbeitenber ^unftbid^tung,
ber 9)lenfc^t)eit ^enntniffe Dermittelt toorben, in benen baS re(igi5S em«
pfängli^e ©emüt g5ttli<f|e Offenbarungen ma^rpne^men genötigt ift.
6. — 2luf bem JBüben be§ ©^riftcntumS fteUt fic^ bie ©pnt^efe
religi5fer SS^af^rl^eit unb bid)terifci^er (^nüeibung in einem großen SReic^s
tum oerfc^iebener f^ormen bar: bafür jeugen nic^t nur bie (S^leic^mffe
:3efu unb bie Allegorien ber neuteftamentUd^en 6d^riftfteüer, fonbem au^
mid^tige ^eftanbteile ber eoangelifc^en Ueberlieferung, bie ^mar nidit
al§ I)iftorifc^ mirffi^ gelten fönnen, barum aber b o c^ a(§ re(igiöS
rDaf)x 3u merten finb.
7. — 5)ie ric^tigeJBer^dltniSbeftimmung oonSBa^r«
^cit unb 5)i^tung in unfrer 9lcUgion barf bcn Anfprud^ erbeben,
einen mefentUc^en Beitrag ^ur Apologie beiS ^^riftentumd )u
liefern, fofcm fie bcn unfcrer 3eit fic^ aufbrängcnbcn ^onf(i!t sroifc^en
bem lHcfpc!t oor bcr gcfd^ic^tlic^cn 9Bir!lic^!cit unb ber ^etdt gegen bie
religibfc Uebcrlicfcrung ^u fc^li^ten t^crmag. ^on bcn berufsmäßigen
Vertretern bcr ^rifttid^cn 9leligion ift beSbalb eine prinzipielle ^inftd^t
in biefen ©ad^oer^alt §u forbern.
8. — ^ie f)icr ocrtretenc, in ber ^onfequenj beS rcformatorifc^en
©laubcnSprinjipS licgenbc (SifcnntniS, meldte suglei(^ eine geiftige Se^
freiung unb eine rctigiöfe Bereicherung unb Vertiefung mit fic^ fu^rt,
mn^ fomeit a(S moglid^ non bcn i^ettern unb Sc^rern ber ^r^e burd^
ade päbagogif c^ entf prcd^cnbcn Mittel unfern ©emeinben jugäng«
lic^ gcmad)t merbcn.
fiobftein: Söatjrl^eit unb 5E)iciötung in unfrcr SHcIigion. 511
©bcnfo Dcrl^ält c§ fic^ mit bcm rcligiöfcn ©rfenncn. @§ tritt
junä^ft af§ p^antaftcmä|igc§ ©rtcnncn, aU retigiöfe§ 3l^ncn auf:
bic @ottc§a^nung ift unfcrc frül)cftc rcligiöfc ®rtcnntni§. ©obatb
fid^ biefc§ elementare religiöfe (Srfennen in ber ©cfdiid^te objef*
tioiert, fdjafft e§ fxdj eine S)arfteQung, bie nod^ ben ©tempet ber
Unmittetbarfeit unb Urfprüngtic^feit an fic^ trägt; biefe S)ar*
fteHung ^at notmenbigermeife einen frimbolifc^en S^aratter: nur
in ber ©eftalt be§ 93ilbe§ ift ber religiöfe SBorgang bem Äinber«
gemüt überhaupt erreichbar unb üerftänblic^ ^).
3n biefem ©inne mu§ gefagt merben, ba| bie 9Jlr|t^ologie
bie etementarfte ^^rm ber religiöfen ©ntmidlung ber SBöIter bil=
bet^). 5Diefer ätuSbrudf ^at l^ier {einerlei üble 9tebenbebeutung.
®§ ift ein 93emei§ oberfläd^lic^fter SBerftänbni^topgteit unb öbeften
3ntene!tuali§mu§, menn man baran 2lnftoJB nimmt, ba| bie reli*
gtöfen ©ebanfen nid^t junäc^ft in ber ©eftalt abftratter begriffe,
fonbern im ©emanb poetif^er 33ilber unb ©gmbole i^ren ©ang
burd) bie ®efcf)i(^te l)alten. Unb bo^ faßt e§ fo oielen unenb*
lief) fd^mer bie pfgc^ologifc^e unb ^iftorifc^e Siotmenbigteit biefe§
geiftigen ^rojeffeS einjufe^en. ®§ ift al§ ob bie gewaltige ©eiftc§*
arbeit ber großen 3)enfer unb ^^orfd^er, bie fi^ in ba§ „religiöfe
3)l9fterium" oertieft l^aben, fpurlo^ an ben meiften unter unferm
©efd)lec^t oorübergegangen fei. Sergeblid^ l^at Hamann feinen
^roteft gegen bie einfeitige §errf(6aft be§ 9Serftanbe§rigori§mu8
erl^oben, melc^er bie SGBatir^eit nur al§ abftraften ©egriffgforma*
li§mu§ ju beft^en roätint; oergeblid) ^at ^erber auf bie gel^eim*
ni§oollen liefen ber SSolf^feete liingemiefen, au§ n)eld)er bie Siebei
^eroorquellen, bie un§ bic ©igenart be§ religiöfen unb poetifdien
©emüt§ mit ergreifenber 9iaiuetät offenbaren; oergeblid^ l^abcn
Otfrieb SWüHer bie 2lnfänge ber griec^ifc^en Kultur, 9iiebul)r bie
Urfprünge ber römifc^en ©efdji^te auf ifire fagenl^aften Seftanb*
teile unterfud)t, — ba§ intetleftualiftifrfje SBorurteil eine§ gefc^id)t§*
1) Sabatier, Esquisse d*une philosoi^hie de la religion d'aprös la
Psychologie et Thistoire, Paris 1897, pg. 34 suiv. (bcutfrf)e Ucbcrfe^ung
Don Dr. «8aur, @. 27). — SRotI)e, 3ur ^ogmati! 18692, (g. 4_5.
2) Heyne: A inythis omnis priscorum hominum cum historia tum
philosophia procedit. — ©trauj, S)a§ Öcben Sefu tritif^ bearbeitet, I, 28-
612 Sobftcin: aSa^r^cit unb ^id&tung in unfret ^Religion.
lofcn 5Rationali§mu§ unb einer bogmatifterenbcn Ort^oboyic fc^eut
fic^ noc^ immer oor ber Slnna^me, ba| bie rcligiöfen @eban!en
unb ©riebniffc unter ber gorm ber Sichtung bcn ©efc^Iec^tem
mie ben ©injelnen oermittelt merben fottten. 3)afür ^tte bas
acttertum ein beffere§ aSerftänbnig aU unfre bur^ dieflerion unb
9Ibftraftion ärmer geworbene Kultur. ®ort geboren 2)i4ter unb
SD3eife, Siebter unb ^rop^cten, ^oeftc unb ©otteäbicnft jufammcn.
Vates bejeic^net jugteii^ ben SBci^fager unb bcn ©änger, ben
©e^er unb ben Siebter. 3lud^ bie alttcftomentli^en ^rop^eten
finb jum größten Siieile ®i(^ter im engeren ober weiteren ©inn
geroefen.
SEBarum !oftet eS felbft mond^em ©ebtibeten immer noc^ fo
oicl SJlfi^e, fic^ in biefe ©ad)lage ^ineinjufinben ? SD3arum rour^
ben fic^ bie meiften norf) fd^euen, ba§ SSBort eine§ ber freiften unb
frömmften 2:]^eologen be§ oorigen ^föi^^^unbcrtS nac^jufprec^en ?
„@§ 9et)ört, fagt Siotl^e, mefentlic^ mit jur SSoIltommen^eit ber
9ieIigion, atfo aud| ber ^riftlic^en, eine SW^t^ologie, eine religiofe
^^antafieroelt ju ^aben" ^). — Offenbar meil man fic^ über bas
SEBefen unb bie ©igenart ber 3)icl)tunfl in i^rem 93er^ältni§ jur
^teügion nid|t dar ift. (Sinmal erblidtt man in fotc^en 2)i(^tungen
nur SBerte ber SEBillfür unb ber fiüge, blo|c pöbeln, bie in i^rer
©ntfte^ung unb i^rem ©efamt^arafter ba§ Urteil i^rer SJerwerf-
lic^fert unb ilirer 9Serbammni§ mit fid) filieren. Sunt jroeiten
überfielt man, bag ber 3(naIogiefc^Iu§ oon ben au^erbiblifc^en
religiöfen 3)ic^tungen auf bie Ueberlicferungen be§ alten ober neuen
leftamentS nur bie gorm unb ©rfc^einung ber ©c^öpfungen ber
^^antafte betrifft: über <3nl)alt unb SQSert folc^cr 3)i^tungen ift
burc^ jenen 2tnaIogiefd)lu^ nod) ni(^t§ au§gefagt. 93ei aller for=
malen 2let)nlid)feit ber poetifc^en ©ebilbe befte^en jmifc^en ben=
felben, bem ^nt)alt unb bem SBerte nac^, roefentlic^e Unterfdiiebe,
bie in ber SSerfd^ieben^eit ber 9Jeligion§ftufen unb ber 9leligion§=
arten begrünbet fmb. SBölfer ober 3>nbiDibuen mögen in benfelben
formen ben!en, fie mögen bief elbe ©prad)e reben : in ben gleid)en
formen lebt nid)t ber gleid)e ^n^alt, bie ocrmanbtc ©prac^e birgt
ni^t bcn fclben Ocift.
l) 3t. a. D. @. 6.
öobftetn: 9öa^rl)cit unb 3)id)tun0 in unfrer SHeligion. 513
3)lefc§ nad^juiüeifen unb ju bcgrünben, foH in htn folgcnben
aiu^fül^rungcn t)erfud)t rocrben. ^n bem 3Äa^c atö un^ bicfcr
SBctfuc^ gelingt, roirb c§ un§ mögti^ fein, ba§ unljcimlic^c @c=
fpenft, ba§ in bcn ©emütcrn fpu!t unb bcn reblic^ftcn ^crjen
oft namcnlofc Slngft einjagt, cnbgültig ju bcfc^roören unb ju
bannen.
2Iuf bcm 93obcn bcr 91 a t u r r c I i g i o n c n betätigt fid^ ber
religiöfe Sirieb in ber bid)tcrif^en ^^erfonifitation ber 9laturträfte.
3)er finntid^en $f)antafic ber auf biefer Sntroidtlung^ftufe fte^en^
ben SBölfer gelten bic äußeren SUaturobjefte niemals ate bfo^ finn=
lict)e 2)inge, fonbern al§ befeelte 3Q3efen. Stuf biefer (Eigentums
tirf)teit beruht bie ®ramatifierung ber Jkturoorgänge, üor allem
ber ^immel§erfd)einungen. ®ie periobifd) roieberte^renben, l^äufig
beobad)teten ^t)änomene üerbic^ten fic^ ju einmaligen, an einem
beftimmten Ort, ju einer beftimmten 3eit gefc^etienen, unmieber-
^olbaren Sßorgängen. Qeben Slbenb get|t bie ©onne im glühen-
ben geuermeer il)rer Stral^len unter: nur einmal ftirbt §erafle§
inmitten ber glammen be§ oon il^m felbft angejünbeten ©c^eiter^^
t|aufen§. ©o poßjielit fid| bie 2lnfd)auung unb bie noc^ inein=
anber flie^enbe religiöfe unb n)iffenf(^aftlid)e ©rttärung ber 9latur
in bcr ©eftalt be§ 9laturmr|tt|u^. 2)erfelbe mac^t fiel) aUmä^lii^
aU tatfäct)lid)e§ @reigni§ geltenb, unb im Seiuu^tfein ber folgen^
ben ©efd^lec^ter erlifc^t bie Srinnerung an Urfprung unb Eigen-
art ber Kräfte ober ber ^^änomene, burd^ meldje bie poetif^en
©ebilbe oeranla^t ober gefc^affen mürben^).
^nncrl^alb ber gefc^ic^tlic^en SWeligionen f ommt
bie bid)tenbe ^t)antafie nid)t jur SRu^e ^) ; fie ^at e§ aber mit
1) iSicbecf, Se!)rbud) ber SReUgion§pl^itofopf)ie, 1893, ©. 5 f. A. Reville,
Prolegomenes de l'histoire des religions, 1882, p 153 suiv.
2) ^iefe @r!etmtnig gilt auf bem ®cbictc bcr ^rofanlitcratur fd)on
(ongft al§ allgemein ancrfannte SBat)r^eit. Sögl. bie Söemertungen, bic
.§. ©cf|ut^ bereits in ber 2. 2tu§g. feiner ^Itteftamentlicfien 3:^eoIogie
(1878), (S. 27—28, l^ierübet frf)reibt: „^ic Gage lä^t un§ in bag innerfte
§er5 eines SBotfigtumg blicfen, bort bie treibenben unb bewegcnben Slräfte
fe^en, aug benen ba§ gcfci)id^tli(^e Seben berfelben quillt, ©o finb ja in
einem Db^ffeug unb 3lcf|iU biz G^arafterjügc ^ellenifd)cr 9lrt, fo in einem
Siegfrieb u. §agen bic ber gcrmanifd^en ^olf§tümlic^feit oiel greifbarer
ausgeprägt alg in gcfrf)ic^tli(f|en ®cftalten biefer S^ölfer".
Beitft^rift für X^eoloflie unb Ätrt^e. 14. ?|o^rg., 6. $eft- 35
514 Sobftcin: SSal^rl^eit unb S)ic^tun0 in unfrcr SHcIigion.
neuen, oorroiegcnb burc^ et^ifd^e gattoren bebingten iStoffen ju
tun; fie [d)afft ba^er gcfc^i^tli^e ©cftaltcn ober tnüpft mit SBor*
liebe an gcfc^id)tlid)e ^erfönUc^feiten unb @reignlffc an. ^icv
gelten öfter§ 3)i 9 1 ^ e n unb (Sogen ineinanber über, üKgti^cn,
b. f). bid)terifc^e @int(eibungen religiöfcr, p^iIofopl^ifd|cr, et^nolo*
gifc^cr ©ebanten, unb ©agen, nämlid) 9ta(^tlänge roirtlic^er, aber
burc^ bie abfic^t§lo§ bic^tenbe SBolfepl^antofic umgeftaltetcr ZaU
fad)en. „®in folc^eg unmerHi(^e§ gemeinfame^ ^robujieren wirb
babur^ möglid^, ba^ babei bie münblic^e Ueberlieferung ba§ ÜWe=
bium ber Sßittcilung ift", roaö ba§ „fc^neebaflartige 9luroac^fcn
ber Srabition" hinlänglich erflärt^). 3)a bie ©renje jroifc^en
Slaturreligionen unb gefc^ic^tlidien ^Religionen eine flie^cnbe ift,
fo roirfen häufig in biefen mancherlei Elemente nac^, bie au5 jenen
entftammen. 2)ie 93eobaci)tung folc^er Uebergänge unb SJennit'
telungen, bie niemals reine Entlehnungen barfteUen, fonbem ftet^
eigentümlidie SBanblungen mit fid^ führen, ^at für ben 9ieligion§=
pt)ilofop^en einen befonberen SReij. Slamentlict) bieten bem d)rift*
lictien Jlieologen bie Berührungen ber alt* unb neuteftamcntlic^en
SReligion mit ben au^erbiblifc^en ^Religionen ein ^eroorragenbcö
^[ntereffe. ® a§ «er l)ä ltni§ ber SReligion ^[fraeU
jur babplonifcljen Kultur unb 3R9 t^ ologie, mie
e§ fic^ befonber§ in ben ©c^öpfung§== unb ©intflutbericf)ten funb
gibt, liefert un§ bie treffenbfte ^lluftration gur g^ftftellung unb
3lufl)ellung biefer religion§gefcl)ic^tlic^en Sßorgange *).
®§ ift über jebeu 3">^if^I ergaben, t>a% baö SBorfteüungs»
1) (Strauß, a. a. D. I, 74.
2) '^lud ber bereits unüberfel^baren Literatur über biefen ©egenftanb
würben ^icr, au^er ben SBortrdgen von JJ. ^cliftfc^, bcfonberS Dcnücrtet;
Dcttli, S)cr ^ampf um fSahü unb S3ibel, Scipaiß 1902; §. Ounfel,
Sfrael unb «abglonien, ©öttingen 1903; 2b^x, Söabcl unb bie biblif*c
Ur0efct|id)te, «reglau 1903; ^' ö b e r l e, S^ab^Ionifc^ic Rultur unb biblifd^c
Religion, 9Jiünc^en 1903; ®icf ebrc^^t, gfricbe für SBabel unb Sßibel,
Königsberg 1903 ; 93 u b b e , SBa§ fott bie ©emeinbe aug bem Streit um
«ibcl unb 93abc( lernen? StübingemSeipaio 1903; a:^ieme, ^er Offene
barungSglaube im Streit über SBabel unb «ibel, ßeipaig 1903. SSgl. aud)
bie sa^lrei(^en ^luffäfee x)on K ü d) I e r, ® u n f e I, )ö 0 1 j, in ber (S^riftL
®elt 1902—1904.
öobftein: SBa^r^cit unb ^i^tung in unfrer SReligton. 515
matcrial jener ©d)öpfun9§* ^"^ Sluttrobitioncn au§ 2Iffgrien
ftammt. ©benfo fieser ift ein jroeiter "fißunft: biefc Slrabitioncn
fmb ©id^tungcn. 3)er Sdiöpfung^berid^t fann nur ein aWpt^ug
fein, benn er bringt Sßorgänge jur S)arftellung, bie jenfeitg aller
®rfa^rung liegen. S)ic gluterjä^lung mag an ©reigniffe an^^
fnüpfen, bie ftc^ t)ieUeid)t in uralter 3^it öuf bem 33 oben be§
ßroeiftrömelanbeS jugetragen l^aben. SBie bem au^ fei, nic^t
^iftorifc^e, tatfäd^lid^e Gegebenheiten im ftrengen ©inne, fonbern
t)olf§tümticl)e poetifc^e ©ebilbe orientalifc^er ^^antafie bilben ben
^n^alt jener aJlgt^en unb ©agen. 3)a§ l^at un§ nid^t erft bie
Slffpriologie gelehrt, ba§ l^atte man längft auS anbern SUiertmalen
erfannt, ba§ follte für jeben ©ebilbeten felbftüerftänblirf) fein^).
®iefe au§ ber babglonifc^en 5IWgt^ologie ftammenben ©lemente
bilben ben Stol^ftoff, ber in ber ifraelitifc^en SReligion eine mun*
berbare Umbilbung, eine Umbiegung be§ 9laturl)aften in§ ©t^ifd^e,
eine Sluflöfung be§ $olr)t^eiftif^en in ba§ 9Jlonotl|eiftifc^e erful)r *) :
bie l^ebräifc^en ©rjäl^tungen fielen über ben babglonifd^en fo ^o^
mie ber et^ifc^e 9Jlonot^ei§mu§ Qfraelg über bem ro^en ^olrjt^eiS*
mu§ «abel§ ftet|t «).
3)ie SQSerfftatt biefer religiöfen Umfc^meljung mar ber ^ro*
pbrti§mu§: er geftaltcte bie mgt^ologifdien ©agen S8abel§ ju
2:rägern unvergänglicher SBal^r^eiten , ju Offenbarung^m^ttjen,
au§ roeldjen noc^ ^eute bie c^riftlic^e ^^ömmigfeit bie reid^fte
9la^rung fc^öpft, an benen fic fid| ^eute noc^ erquidtt, ftärtt unb
erbaut.
Offenborung§mijtl)en, — ba§ ^ei§t ©ic^tungen, bie
ni(^t ate bucl)ftäblicbe SEBirflic^feiten ju faffen finb, bie fic^ aber
bem empfängli^en ©emüt al§ religiöfe 3D3al|rl^eit erfc^liegen unb
legitimieren. SEBenn irgcnbmo, fo jeigt ftd) ^ier mit fd^lagenber
©oibenj, ba§ 2) i d^ t u n g unb SB a ^ r 1^ e i t , roeit entfernt einen
fic^ aufbebenben ©egenfa^ ju bilben, fic^ in ber ©p^äre ber
Offenbarunggreliflion ju einer l^ö^eren ©inl^eit jufammenf äffen.
2luf ber geiftigen ©ntmicf lung^ftufe, ju melier fi^ ba§ aSolt Qfrael
1) ®unfcl, 3fr aet unb »ab^Ionicn, 28.
2) 3^. md^Ux, ©^r. SB-, 1902, ©p. 946.
3) &mU\, ©f). SBv 1903, ©p. 130.
35*
516 ^obftein: SBa^T^ett unb ^ici^tung in intfrer Religion.
geführt fa^, ipurbe in bem @c^dpfung§m9t^u§ biefem 93o(fe bie
@rfenntni§ be§ @men oQmad)tigen unb gütigen @otte$, be^ fiber-
rocÜli^cn ©c^6pfcr§ unb Scnlcr§ aller ®ingc unter ®arflettung§*
formen vermittelt, bie fic^ aU bur^fi^tige Symbole, a($ bienft-
bare ^üUen einer 6i§ ba^in unerreichbaren SBa^r^eit bemä^rten.
3)iefelbe (St^ifierung erfuhr bie ©intflutfage. „SBcnn mir bie
ifraelitifc^e {^(utfage allein lefen, fo {tnb mir meOeic^t geneigt,
barin befonber§ ba§ un§ grembartige, bie naioen Slnt^ropomor-
Prismen ju fe^en unb biefe Srabition gering }u merten; menn
mir aber ba§ ^ab^tonifci^e bagegen^alten, erfennen mir erft, mie
^oc^ bie 9leIigion biefer @rjä^Iung mirflic^ fielet" '). @o ^at
bie ©igenart ber ^Religion ^fraefe, in melc^er mir genötigt finb,
ben göttlichen Offenbarung§geift ju erfennen, eine 9}eubilbung
üoQjogen, Dor melc^er mir ftaunen muffen: fte ^at (S^laclen in
@olb uermanbelt. 9B3ie füllten mir al§ ©Triften un§ nicljt freuen *),
ba| mir an jenen babglonifdjen Urrejenfioncn einen ÜMa§ftab bc*
ft^en, ber un§ geftattet ju beurteilen, mie üiel nä^er al§ 93a6el,
ba§ alte -Sfrael bem ®ott gemefen ift, an ben mir glauben. SEBcr
(Sinn für Sieligion unb aScrftänbni^ für 9leligion§gefc^ic^te ^at,
mirb biefe ©leic^ung oon 3)icl)tung unb Sßa^r^eit mit 3)ant unb
93emunberung ma^rne^men !
^agfclbe aSertiältni^ oon i^nl^alt unb J^nn, biefelbe innere
SßJal^loermanbtf d^aft p^antafiemä^iger SÄpt^cnbilbung unb religiöfer
Dffenbarung§ma^r]^eit tritt uns in ber Srjä^lung oom ©ünben*
fall entgegen. 2luc^ I)ier liegt ber bi6lifct)en 3)arftellung ein au§
oerf^iebenen religion§gefrf)ic^tlict)en Cuellen gefcf)öpfte§ 9Waterial
jugrunbe; aber ani) l^icr ift, bti allem g^ttbeftel^en naioer 9ln*
t^ropomorp^i§mcn ber überlieferte Stoff oon bem ®eifte be§ 'ijjro*
pt|eti§mu§ burc^brungen. 3Q3ie ergaben ift ber (Sebante be§ ^ei-
ligen, über ba§ ^öfe gürnenben, unb bod) jugleic^ gütigen unb
mitleibigen ®otte§! SBie ergreif enb ift ber fittli^e S^aratter be§
3Wr)t^u§, na^ meinem ba§ ^arabie§ burc^ ©ünbe oerloren ge^t !
3Wit roeld^ feiner Kenntnis bc§ SÄcnfc^en^erjenS ift bie ^fp^ologie
be§ ^a\l^ ju lebenbiger ^nfc^auung gebrad)t! 9Ber moQte be-
1) ©unfel, a^. m, 1903, Sp. 127—128, DettH a a. D., 20 f.
2) ®un!cl, Sfracl unb SBobgloniett, 23.
Sobftctn: 3öal)rf)eit unb ^tdjtung in unfrer SlcKgton. 517
Raupten, ba^ bicfe unnerglcid^lic^e ©d^ilbcrung baburd^ an SBal^r*
tieit ®inbu^e ericibct, ba^ bic cinjclncn Qn^t nx6)t buc^ftdblic^ ju
ncfjmen jtnb ^)?
2lu§ bcn bi^l^crigcn Slnbcutungen ergibt ftdf), ba§ bic ©in*
rcil^ung 3^[rael§ in bcn großen rcIigion§gcfd)id)tIic^en 3wfömmcn'
tiang bcr au^erbiblif^cn SSöltcrgruppcn bcn fpcjififd^cn Sßorjug,
bcr bcm Iiebräifc^cn ?ßrop]^eti8mu§ gcbül^rt, in fcinerici 933cife auö«
fd^tie^t ober l^crabfc^t. Unb rocnn lüir anbcrcrfcitö in bcr SRcIi*
gion Qf^örf^ babrilonifd^c ©Icmcntc, üicücic^t roid^tigc unb wzxU
ooBc ©tüde, cntbcdcn, fo foHtc fi^ unfcr ©(aubc freuen, ba§ fi^
bic SBelt un§ je^t auftut, unb roir ®otte§ SlBalten au(^ ba feigen,
wo wir e§ früher nid)t geahnt Ratten ! ^)
1) ^öbcrlc (a. a. D. ©. 24) erinnert mit 9lc(f)t an ®oet^e§ SBort
(ajiayimen unb ^Reflcjrfoncn, Slugg. ©öbcrfe, Stuttgart 1885, 1, 793): „%a^
fd)5nftc 3eugni§ ber Originalität ift e§, wenn man einen empfangenen
©ebanfen bergeftalt frurf|tbar ju entroidfeln mei^, ba^ niemanb leicfit, wie
niel in itim verborgen liege, gefunben I)dtte." — Q^unfet, ©. 22: „SBer
glaubt, baj ®oetl)e§ 5)id)tung geringer roerbe, wenn man auf bag SßolfSs
bud) t)on ^auft al§ feine Quelle ^inmeift? ^m ©egenteil, erft bann er?
fennt man feine ®rö^e, wenn man beobad^tet, roa§ er au§ bem ungefügen
unb rof)en 8toffe gemacht ^at."
2) ®un!el, ©t). m, 1903, Sp. 492. — „%aS ^ubentum, hti bem
fid^ aicligiöfeg unb SiZationaleg ftetg innig tjcrbinbet, mag 2lngft Ifiaben,
\>a^ il)m eine SPerle feinet Ärone geraubt merbe ; mag aber gel^t unS ber
nationale 3lnfpru(^ be§ 3u^entum§ an? Söir erfennen freubig unb el^rlicf}
(Sottet Offenbarung überaU ha, mo ficf) eine menf^licfie ©eele il)rem ®ott
nat)e fü^lt unb fei e§ unter ben bürftigften unb elementarften formen."
(®unfel, Qfrael unb SBabplonien, ©. 15.) — „SBollen mir bie S3ibelmie*
ber ju ($^ren bringen, fo muffen mir erft einmal auf alle tl)eologifd)en
Älaufeln unb ^autelen ücrjiditen unb fie gan§ unbefangen t)iftorifd| be*
^anbeln. ^elifefd)§ SHabifali§mu§ gegen bic altteftamentlici)e SReligion
barf ung feine beutlid^ auggefpro^ene 2lbfi(^t nid^t nerbunfcln, nämlid^
bie 53orgefd^irf)te beg ®l)riftentumg auf eine oiel breitere SBafig ju fteöen-
®ag ift in ber ^at bringenb nötig, ^eroorragenbc ©eifter beg 2. ^a^r?
^unbertg I)aben entfd^loffen aUeg ®ute beg ^eibentumg alg Söorläufer beg
(Sliriftentumg proflamiert. ®em gegenüber ftedCen unfere „§eilggefd)i(^ten"
in einer (Sngigfeit unb ©infeitigleit, bie unferem IReid^tum an neuen @r=
fenntniffen nid)t x)on ferne entfpredE)en. $ier liegt ber ^auptroert ber
ganzen aff^rifi^-bab^lonifdien SBiffenfdiaft : fie ermeitert abermals bie
3öeltgefc^id^te ein ©tüdC nad& rürfmdrtg. 3ft aber bie SBelt älter unb
518 Sobftein: SBa^r^ett unb Xt(^tung in unfitr SU&gion.
^efe SSermittlung offenbarungSmägiger äBa^r^en burd^
bic^terifc^e (Schöpfungen befc^rönft fic^ ntd^t auf bie Urgeic^id^te
ber @encfi§. ®a§ ganjc 2lUc 2:cftamcnt ift bic reifte ^nbgnibe
religiöfer unb poetif^et Ueberlteferungen. @oU ic^ an bie finnige
gleic^faQg nur alS ÜDtqt^u^ perftänbKc^e (Stgä^Iung 1. Könige 19,
3—14 erinnern? ©turnt unb geuer tut§ nic^t; bie 9B8ege @otte§,
bie jum 3'^'^ führen, geben fic^ burc^ ba§ fünfte Säufein ^e^ren
^riebenS unb (Segen§ ju erfennen. ®iefe erft bent ausgereiften
^rop^etengeift jugänglic^e @rfenntni§ tritt in ber f^mbolifc^n
Jorm einer SBifion auf, bie burd) fpatere ^anb in einen ganj
anberS gearteten 3wfönimen^ang eingefügt roorben ift. aber auc^
l^ier biente baS poetifc^e @en)anb be§ 3!flx)tt)n^ jur (SinHeibung
eine^ religiöfen @ebanten§, ber nur als eine }um SnangeUum ^in<
ftrcbcnbe Offenbarung geroertet werben fann.
SlUein nic^t blo§ in ber J^rm abfic^tStoS bi^tenber ©ogc,
als allmähliche Schöpfungen mi)t^enbi(benber ^^antafie traten
religiöfc SEBa^r^eiten im propl^etifc^cn SBerou^tfein auf, um bann
als ©emeingut ber JHeligion ^tf^aelS in bie gefd^ic^tlic^e ®ntn)i(f *
lung überjugc^en. @ibt eS boc^ im Sitten 2:eftament ganje SBüc^er,
bie als abfict)tlicf)c planooUe ^robufte ertjabener Sunftpoefie, balb
tieffinnige Probleme ju löfcn unternel)mcn, balb beu ^citgenoffen
fct)n)er jugängUct)e 3B3a^r]^eiten perfünben, balb unmittelbar religiöfe
ober fittlic^e SCBirfungen I)eroorjubrtngen ftrcben. 3)tc ^ert»or*
ragenbften biefer ©ctiriften finb oon bcn nad)foIgenben ©efc^Iec^*
tern als buct)ftäbli(^ ju nelimcnbe ©rjä^lungcn aufgefaßt unb ge*
roürbiflt morben. Q\)x religiöfer SCBert fc^ien burd) bie ^iftorifc^e
aßirtlic^teit beS ©argeftellten erft oollfommen fi^er geftetlt, fo bajj
bie Stuna^me tatfädjlid^en ®ef(^e]^enS als 93eftanbteil unb 93cmeiS
beS religiöfen ©laubenS gelten mugte.
3)iefe 93erquirfung jmeier ber 2lrt nac^ perfc^iebenen @r!ennt*
ntffe löfte fid) in bem SWa^e auf, als bie ©igcnart jener ©(^riften
tiarer unb poKer ju i^rem Siechte tam. ®rft feitbem man mie»
berum bcn urfprünglict)en ®t)aratter unb bie malere öebeutung
perganflen^eitSreic^er al8 wir baditcn, fo ift fte anii^ no^ jünger unb ju-
!unftSreict)er". (® a a b , (£1^. 20-, 1903, 322.) «gl. D e 1 1 li , 3)cr Äampf
um »ibcl unb »abel, ©. 31—32.
fiobftcin: SBa^r!|cit unb ^id)tung in unfrcr SRcItgion. 519
bcrfclben cntbcdt ^attc, würben bic reichen ©d|ä^c flcI)oben, bic
in i^rcm (Sd)o§c verborgen lagen. S38o ift ba§ ^ßroblem ber
2^eobicee ergreifenber jur 3)arftcüung gebrad|t roorben, ate in bcm
großartigen ®ebid)te be§ 93ud)e§ ^iob? 9Bo t|at ftd^ ber religiöfe
UniDerfaIi§mu§ ber fortgefc^rittenen ^rop^etie, ber über jebeS
nationatftolje ^^arifäertum fn^ er^cbenbe Olaube an ben aUbarm«'
I)erjigen Oott einen einbringlid)eren 2lu§bru(i gef^affen aU in
bem fiel)rgcbic^t üon QonaS? SBel^eö protofottarifd) üerbürgtc
2lftenftücf läßt un§ tiefere SBIicIe in bie (Seele eine§ aSoCfe§ tun,
al§ bie Flugblätter, bie unter bem Flamen 2)aniel§ ben religiöfen
'^Patriotismus nährten unb ®cbulb unb Sirene, OlaubenSmut unb
SWärtgrerfreubigfeit in ben §erjen jaI)üofer ©enerationen entflamm*
ten? 3)aß bie 2luflöfung ber tatfäd^Iic^en SBirEüc^feit ber in jenen
33üd)ern beri^teten SSorgänge bie I)ergebrad)te ®r!Iärung auf§
ticffte bcunrut)igt, ift nid^t ju oermunbem; mie mirb aber biefer
fd)cinbare SSertuft burc^ ben unenblic^cn Oeminn aufgewogen, ben
baS t)iftorif^e SSerftänbniS unb bie religiöfe SCBürbigung jener
SBerfe gebracht ^at!
3Q3er bie innige SSermä^lung, meli^e SBatir^cit unb 3)ici^tung
forool^I in ber SDIgtl^enbilbung als in ber ^unftpoefte Q^fraelS ein^
gegangen l^aben, mit liebeDoDem SBerftänbniS betrad)tet, mirb fic^
ber SBal)rne^mung nid^t oerf^Iießen, baß bie l^errlid^ften ®rtennt*
niffe unb bie ertiabenften ®(aubenSgebanten, bie bem SBoIfe ^\xatl
juteil mürben, unjäfjtige SKale crft unter bem ©d^Ieier ber ^oeftc
©eftalt unb fiebcn erlangten, erft als Didjtung SB a ^ r ^ ei t
mürben.
Surfen mir I|ier fte^en bleiben? @ibt eS fad)Iic^e ©rfinbe,
bie uns jroingen, bie neuteftamentlicf)en ©d)riftcn unb
bie c^riftlidje Sieligion auS bem 33ereici^ jener burc^ ^fg:^
c^ologie unb ©efc^ic^te belegten ©efe^e ju ejimieren ? 3)lüff en mir
für baS @;t)riftentum eine 2luSna^meftellung ftatuieren, bie baS*
felbc außert)alb jener 2lnalogie mit ben übrigen Sieligionen als
eine unnal^bare ^nfel im 93ölfermeere fennjei^nen mürbe? ^i^bet
jene munberbare ©gnt^efe oon religiöfer SBa^rl^eit unb bic^terifd)er
©infleibung auf bem ©oben unferer SReligion !einc 2Inmenbung?
S)iefe burd^ 2lbfperrung oon bcm Seben ber übrigen SWenf^*
520 S 0 b ft e t n : Sa^tl^cit unb 5)trf)tun0 in unfrer SHeligion.
I^cit Dcrfud)tc SBcrl^crriid^ung bc§ ®t)riftcntum§ mu§ allen benen
unhaltbar erfd)eincn, bic [xi) beftrebcn, baSfcIbc al§ gcfd^ic^tUc^c
^Religion ju Dcrftc^cn unb in i^m bic Erfüllung unb aScrtlärung
bcr altteftamcntlic^cn ^rop^cttc crblidEcn. Unb biefc ©rroartung
wirb burd^ eine unbefangene SBürbigung be§ Satbeftanbe^ beftätigt.
Ober fönnten xoxx üergeffcn, ba^ bic perlen bcr cDangcIifc^en
Ueberlieferung (Srjäl^Iungcn finb, bie al§ freie Schöpfungen bcr
^fiantafte bic tiefften unb einfadiften ©el^eimniffc be§ ®ottc§reid)e§
uerfünbcn? §ei§t e§ Qefu§ l^erabfe^cn, roenn man il^n ben gott«
erieud)tcten 3)id^ter unb Offenbaret nennt, bcr „tiintcr bem Scheine
bie SBirKid^teit fielet, ba§ gro^e Seben, ba§ unfer Seben umfaßt
unb leitet, gu fpüren unb ju beuten roei^"^) unb ocrgänglic^e
2)ingc unb irbif(^c Vorgänge ju Prägern unb 93oten be§ ©roigen
unb @ottIid)en Derflärt? ©inb biefc ©feic^niffe nic^t bie töftlic^ftc
5rud|t ber üollenbetcn 3)urd^bringung oon SQSal^r^eit
unb 2) i d) t u n g , bie fi^ auf ber Ijöd^ften ©tufe ber SReligton
Doßjie^t?
3löcrbing§ finb bie einjclncn 3äge biefer "ißarabcln bem 53cs
reid)C be§ mirflid^en @ef^el^en§ entnommen, unb e§ geben fic^
biefc ®rjäl|Iungcn oon ooml^ercin für frei geroä^Ite SBcranfc^au«
lic^ung innerer ©riebniffe, für ^ttuftrationen aQgemeiner 93orgänge
ober ®cfe^e be§ @otte§reic^e§. 3)a§ änbert aber nici^t§ an bcr
Jatfa^e, auf meldte e§ anfommt: um Seben ju rocdEcn, um bos
©emiffen ju rid)ten unb ju retten, um ba§ ^erj ju treffen, rcbct
bic 933at|rt|cit bic (5prad)c ber Si^tung.
Sieben biefer plaftifd^en 2lu§prägung ber ^örf)ftcn religiofcn
©cbanten treten bie anberen 2)arfteUung§mitteI, bereu fic^ bic ncu=
teftamentlic^en SWänner bebienen, jurücf. ®§ barf aber nic^t übcr=
feigen roerben, ba^ and) in ben 3lDegorien eine§ ^auluö ober Qo-
Joannes, in ber ©t)mboUt ber Slpofalgpfc, bic 5:ätigfcit bcr reli^
giöfen ^^antafie fid) geltcnb mac^t. Sro^ ber rocfeutlic^cn Un*
tcrfd)icbe, bic jmifd)en biefen ®rö^en obroaltcn, nehmen fic^ bic*
felbcn al§ befonbere 3Jlobififationcn eine§ ©runbtgpu^ au§:
überaß fd)afft fid^ ber religiöfc ®eift eine gorm, bie nid)t o^ne
meitcreg ai§ n)irflid)er SBorgang, al§ matcrieöc ®cf^id)tc gebeutet
1) ©0 SBeinel, 2)ie ®Ictd)niffc Scfu, 1904.
fiobftein: 9Ba]^rl)eit unb ^tc^tung in unfrer dlettgion. 521
werben fann. 9lu(^ l^ier treten SBa^r^eit unb 5)tci^tun8
nic^t in ©egcnfa^ jueinanber, auc^ l^icr ^at jene in
biefer it)re entfpred^enbe ^ülle 9efud)t unb gefunben.
Ueber bie bi^l^erige Söertung ber neuteftamentlid)en ®ebanfen*
roelt werben bie 2tuffaffungcn roo^l taum weit auöeinanber get)en.
S)agegen bürftc man fdiroerlid) auf biefelbe Uebereinftimmung
jal^Ien, wenn bie S^oge aufgeworfen wirb, ob bie birf)tenbe ^$^an=
tafie aud) nod) an ber Silbung anberer ©tücle be§ bleuen Siefta^
ment§ beteiligt ift, al§ an ber ©c^öpfung ber ®(eici|niff e , ber
Megorie, ber anertannterma^en religiöfen Silberrebe. ®ibt c§
im bleuen 2:eftament religiöfe 3Bal)rt|eiten, bie, jwar al§ wtrttid)
gefd)el)en überliefert, fic^ bennod^ nic^t al§ tatfäd)lic^e 3Q3irfiid)feit
galten laffen?
3)ie ^iftorifd)-fritifc^e gorfc^ung l^at, nad) gewiffentjafter
'^^Jrüfung be§ 2:atbeftanbe§ , biefe ^rage bejaht. @§ !ommt l|ier
nid)t barauf an, wie weit man bie ©renjen ftedt unb wie ^od)
man bie Qai^l ber ate 2Wr)tt)u§, (Sagen ober ©rimbofe ju bejeid)=
nenben Elemente abfd)a§t. OP nur an einem ^untt ber eoange^^
Uferen Ueberlieferung ber Stad^weig be§ bilbUd)eu ®f)aratter§ ber
religiöfen 3Ba^rl|eit erfolgrei^ gefüfirt worben, fo tut fid) bie
3Wöglid)feit einer fold)en ^Interpretation aud^ für weitere ©lemente
auf^). 3)a| in unferen Soangelien fold)e 3^9^ oorljanben finb,
wirb ber entfd)iebenfte SSertreter ber Jrabition jugeben muffen.
Oft e§ nötig, einzelne S3elege anjuf ü^ren ? 3)er bereite im Hebräer-
brief bejeugte ©taube, ba§ hnxd) ben 2:ob be§ neuteftamentlid)en
^ol^enpriefter§ ein freier SwS^nfl ju ©Ott ermöglid)t ift (§ebr.
1) ^ie JJorberung, bie in ber Debatte gcftellt würbe, c§ wäre bie
Slufgabe be§ 93erid^terftatter§ gewefen, in eine näf)ere 5Jcr^äItni§beftim=
mung oon Söa^rl^eit unb ^icf|tung in ber rf)riftUd)en Oieligion eingutrelen,
muj id) aU unbegrüubct jurücfroeifen. ^ie JJragc: ,,SBa§ ift nun 'J)ic^'
tung unb 2Bat)rl)eit, inSbcfonbere in ben aU ®efrf)ici^te fic^ gcbenben SBe-
rid)tcn, in ben I)iftorifd^en Steilen ber ©d^rift" lä^t firf) gar nid^t in SBaufrf)
unb S3ogen beantworten; oor allem ocrträgt fie !cinc rein quantitatioc
93etra(^tung unb (Sntfd)eibung. <Sie unterliegt cinerfeit^ einer wiffenfd)afts
Ud^en ^Beurteilung, bei weld^er hit f)iftorifd)c Äriti! bag mafegebenbc ©ort
5u fagen ^at, anbererfcitö einer religiöfen Söertfd)äfeung, bie fid^ an ber
allgemeinen SJragc nad) ber 93ebcutung bes( $iftorif(^cn im ^l)riftentum
ju orientieren l^at. hierüber ftel)e weiter unten.
510 Sobftetn: Sföa^rl^eit unb ^id^tung in unfter SHeligicn.
Unter bcn ©eelcnoermögcn be§ SKcnfci^cn ift ba§ crftc, ba§
im ®ciftc§Icbcn crroad^t, bic @inbilbung§fraft. ®icfc ^Priorität
bcr ^l^antafic, an bcrcn S3ctätigung üon Stnfang an ba§ ®cfü^I
einen roefentlic^en 2lnteit ^at, jcigt jtd^ forool^t im Seben bc§ ein-
jelnen aU in bem ber SBölter. SEBir lernen frut)er mit ber^^an*
tafte iinb bem ©efül^t ertennen al§ mit bem 95erftanb, wir al^nen
früher al§ mir benfenb er!ennen. ®ie 38ölferpfgct|ologie beftdtigt
bie 93eoba^tungen unb Erfahrungen au§ bem ©injelleben. ^ebe
@ef d^ie^te beginnt mit (Sagen, jebe Siteratur l^ebt an mit Siebem :
immer unb überaß erfd^eint bie ^oefie oor ber ^rofa.
fd^loffen ro&tc. @o ^aben mandjcrlci an^ ber babpfonifc^cn SW^t^oIogie
ftantmenbc ©Icmente in ber ptop^etifc^en SReligion SfraelS eine Umbie*
gung bcS ^laturl^aften in§ (£t^ifd|c unb eine 3luflöf ung be§ ^olpt^ciftifc^cn
ing aWonotl^eiftifd^e erfahren.
5. — ^uf bem ©oben ber alttcftame ntlid^en ^ropl^cten*
religion ftnb beS^alb aud^, fei e$ unter bem ©emanbe abftd^tStoS bi<i^
tenber SBoIUpoefte, fei eS in ber g^orm planvoU arbeitenber ^unftbic^tung,
ber 9Kenf(^^eit ^enntniffe üermittelt n^orben, in bencn baS religiös cm-
pfdnglid^e ©entüt göttlid^e Offenbarungen roa^rjune^men genötigt ift.
6. — 9luf bem SBoben bc§ (S^riftentumä fteUt fic^ bie ©pnt^efe
religiöfer SS^a^rfieit unb bid^terifd^er ©intleibung in einem großen dlei^«
tum ©erfc^icbener g^ormcn bar: bafür jeugcn nic^t nur bic ©leic^niffe
3efu unb bie ^lUegorien bcr neutcftamentli(^en ©c^riftftcUer, fonbem au(%
n>id|tigc SBeftanbtcilc bcr eoangelifc^en Ucbcriieferung, bic jroar n i cft t
al§ l)iftorifc^ mtrfHd^ gelten fönnen, barum ober b o d^ al§ religiös
roal^r ju merten finb.
7. — ®ic rid^tigcSBcr^SItniSbcftimmung DonSBa^r^
^cit unb 2)i(^tung in unfrer ^Religion barf bcn ^nfpru^ ergeben,
einen mcfcntUd)cn ^Beitrag 5ur Apologie bcS Q^^riftentumS ju
liefern, fofern fic bcn unferer 3eit fid& aufbr&ngcnbcn ^onflift groifd^cn
bem IHcfpcft cor bcr gcfd^ic^ttic^cn 9Bir!Itc^!cit unb bcr ^etdt gegen bie
rcligiöfc Ucbcriicfcrung ^u ^d)liä)Un ocrmag. $on bcn berufdm&^igen
iBcrtrctcm bcr d^riftli(^cn 9lcUgion ift bcdbalb eine prinsipicUc ©inftc^t
in biefen @ad)t)cri|alt gu forbem.
8. — 5)ic l^icr vertretene, in bcr ^onfequcnj bc8 reformatorifd^en
©laubcngpringipS licgcnbc @r!enntni§, mcl^c guglcic^ eine gciftigc SBe?
freiung unb eine rcligiöfc 93crci^crung unb iiBertiefung mit ftd^ fü^rt,
mu^ fomeit aU mögtid^ Don bcn J^ettcrn unb Scfircrn bcr ^rc^e burc!^
aQcpäbagogif^cntfprcd)cnbcn äJlittcl unfern ©cmeinben sugäng?
li(^ gemacht merbcn.
i^obftein: SBal^r^eit unb ^ic^tung in unfrer IReltgion. 511
@benfo oerl^ält e§ fic^ mit bem religiöfen @rfennen. @§ tritt
junä^ft al§ p^antafiema^igeS @rfennen, alS retigiöfeS äl^nen auf:
bic ®otte§a^nutig ift unfcre frü^cfte rcligiöfc ®rtenntni§. ©obalb
fi^ bicfcg elementare religiöfe (ärtennen in bcr ©efd^id^te obje!*
tioiert, fc^afft e§ fic^ eine 2)arfteUung, bie noc^ ben ©tempel ber
Unmittetbarteit unb Urfprünglic^teit an fic^ trägt; biefe 3)ars
ftcHung I)ot notmenbigerroeife einen fgmbolifc^en S^ara!ter: nur
in ber ®eftalt be§ 93ilbe§ ift ber religiöfe SBorgang bem Äinber*
gemüt überhaupt erreid^bar unb uerftänblic^ *).
3n biefem ©inne mu| gefagt werben, ia^ bie 9Jlpt^oIogie
bie elementarfte 5^^^ ^^^ religiöfen ©ntroirftung ber SBölter bi^
bet *). 3)iefer 2lu§brurf I)at l^ier feinerlei üble 9lebenbebeutung.
®§ ift ein 93emei§ oberflä^lid^fter 93erftanbni§loftgteit unb öbeften
3nteUettuali§mu§, wenn man baran 2lnfto§ nimmt, ba^ bie reli^
giöfen @eban!en ni^t junäc^ft in ber Oeftalt abftrafter Segriffe,
fonbern im ©eroanb poetifc^er ©ifber unb Srimbole il^ren ®ang
bur^ bie ®efd)id^te l^alten. Unb bod^ fäQt eS fo Dielen unenb«
lic^ ferner bie pfgc^ologifc^e unb l^iftorifc^e Sbtmenbigfeit biefe§
geiftigen ^rojeffeS einjufe^en. S§ ift aU ob bie gemaltige ®eifte§*
arbeit ber großen 3)en!er unb gorfc^er, bie ftc^ in ba§ „religiöfe
aWgfterium" oertieft tiaben, fpurlog on ben meiften unter unferm
®efc^(ec^t vorübergegangen fei. 93ergebli^ l^at Hamann feinen
^roteft gegen bie einfeitige ^errfdjaft be§ SSerftanbe^rigori^mu^
erhoben, welcher bie SD3a^r^eit nur al§ abftratten 93egriff§forma*
Ii§mu§ ju befi^en mäl^nt; üergeblic^ ^at ^erber auf bie ge^eim^^
niSooüen liefen ber SBolf^feele ^ingeroiefen, au§ roeldier bie Siebei
^erDorquellen, bie un§ bie Eigenart be§ religiöfen unb poetifc^en
@emüt§ mit ergreifenber 9laioetat offenbaren; oergeblic^ ^aben
Otfrieb 3Wütter bie 3lnfdnge ber griec^ifc^en Kultur, 9tiebu^r bie
Urfprünge ber römifc^en ®efc^ic^te auf i^re fagentjaften SBeftanb-
teile unterfu^t, — ba§ intelleftualiftifc^e SBorurteil eine§ gefc^id)t^*
1) Sabatier, Esquisse d'une philosophie de la religion d'apr^s la
Psychologie et Thistoire, Paris 1897, pg. 34 suiv. (beutfd)e Ucberfeftung
©on Dr. SBour, ©. 27). — SRotlie, 3ur ^^ogmatif 1869», @. 4—5.
2) Heyne: A mythis omnis priscorum hominum cum historia tum
philosophia procedit. — Strauß, S)a§ ßeben 3efu fritif^ bearbeitet, 1, 28.
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fiobftein: SBa^rl^cit unb ^idjtung in unfrer SRcIigion. 623
unberührt bleibt. 35a§ aber mu§ im ^»ntereffe ber grömmigfeit
unfer 93eftreben fein, ba§ xoxt jur SSegrünbung ber d^riftlic^en
®en)i§l^eit einen ©tanbort geroinnen, ber nid^t allem SBanbel unb
3D3ed)feI ber ftet§ ftd) erneuernben ^otfc^ung preisgegeben fei.
2)iefe Unab^ängigteit ber religiöfen ^ofition, biefe greiftetlung be§
eoangelifc^en ^eil§gtauben§ oon ben ^iftorifd)en, fritifi^en, p^ilo^'
fop^if^en Untcrfu^ungen ift un§ nur bann möglid^, roenn mir
ju ber (5rfennlni§ burc^bringen, ba§ felbft im Heiligtum ber c^rift*
lidjen Sieligion ba§ fc^6pferifci)e ^^rinjip be§ göttlichen Offenbar
rung§geifte§ nic^t unauftöStid) gebunben ift an bie oft jeitgefc^ictjt'
lic^ bebingten füllen, burd) roetc^e fiä) biefer ©eift funbgibt unb
betätigt. 3)a§ lie^e fic^ cor allem an ben apofal9pti|d)*ef^ato*
logifc^en Äategorien nac^roeifen, in benen ba§ religiöfe @o^ne§*
berou^tfein Qefu fid) auSfprai^, ol^ne in benfelben aufgegangen ju
fein. ®arum l^at auc^ bie bur^ ®ott felbft geleitete SntroidClung
be§ c^riftlidjen (Seiftet biefe au§ bem bamaligen SWilieu entftam*
menbe ©rimbolit abfto^en fönnen, oline bafe baburc^ ba§ ^erj be§
@Dangelium§ getroffen roorben roäre. ^ft fomit ba§ SEBefen be§
6^riftentum§, ba§ gottgeoffenbarte unb gottgeroirfte Seben, ba§
un§ burd^ ®t)riftu§ oermittelt roirb, lösbar üor bem 93orftelIung§'
material, in bem e§ fid^ urfprünglic^ ausprägte, fo fällt ber reti*
giöfe §eil§glaube nid^t mit ber f ides histori ca, mit bem
gürroafjrl^alten ber tatfäd^li^en SD3irflid)feit jufammen : bie eoan=
getifdie Ueberlieferung bleibt ein roertüoller 2lu§brudt ber djrift*
lid)en ^eil§roat)r^eit, fte ^ört auf, bie binbenbe g^orm ber perfön -
ticken ©laubenSüberjeugung ju fein ^).
1) ®cgcn biefe ^ofition ift im ^amtn ber neueren „religionggcfd^ic^t*
lidjen ©etradjtung ber ©dirift" eine SRei^c oon (Sinroenbungen erhoben
roorben. Sie laffen fid^ auf jroci fünfte jurü(ffüt)ren, fofem man bie
S5erec^ttgung unb bie 9Jl o g l i d) f e i t einer ©onberung oon 3öef cn
unb @rfd)ctnung, oon ^em unb ©i^atc beftritt. ©inmal l^abc bie Sfleli-
gionSgcfc^id)te, bie e§ auf bie ©rfaffung ber roirflic^cn Icbcnbigen 9leli-
gion, ber tatfäd^lid^en iBoItSfrömmigfett abgefet)cn I)at, bargetan, baj, mag
roir big^er alg nebenfäd)li(^ angef el^en, oielmc^r gerabe al§ $ a u p t^^
fadie bicfer 5römmig!eit geroertet werben roiH, unb roa§ roir jcftt seitge*
fd^id^tlid)e §ülle p nennen belieben, fonftituierenbeg (Clement ber ^Religion
ift: bie finnli^ maffioe SSilberroelt beg IReucn 2:cftament§, bie bämonolo*
510 S 0 b ft e i n : SBal^rl^eit unb ^t<^tung in unfrer 9leligion.
Unter ben ©eclenocmiögcn bc§ 3Wcnfci^cn ift ba§ crftc, ba§
im @ciftc§Icbcn crroa^t, bie ©inbilbungSfraft. S)icfc Priorität
bcr ^l^antafic, an bcren Betätigung von 2lnfang an ba§ ©efü^l
einen roefentlic^en 2lnteit t|at, jeigt jid^ foroo^l im Seben be§ ein*
jelncn aU in bem ber SBöIfer. 3Bir (ernen frfil^er mit ber $^an*
tafie unb bem ®efü^t ertennen at§ mit bem 9Serftanb, wir a^nen
früher al§ mir bentenb ertennen. ®ie SBöUcrpfgc^otogic beftätigt
bie SBeobad^tungen unb ©rfa^rungen au§ bem ©injelleben. S^be
©efc^ic^te beginnt mit ©agen, jebe fiiteratur ^ebt an mit fiiebem:
immer unb überall erfd^eint bie ^oefie oor ber $rofa.
f(^li)ffen n)dre. @o l^aben mand^erlei auS bet bobt^lonif^en SD^t^oIogie
ftammenbe Elemente in ber prop^ettfd^en dleligion Sf^aelS eine Umbie«
gung be§ S^aturl^aften in§ (^t^ifd^e unb eine ^ufl5f ung beS ^ol^t^eiftifd^en
ins SDfionot^eiftif^e erfal^ren,
5. — ^uf bem SBoben ber altteftame ntlid^en ^rop^eten«
religion ftnb beSl^atb aud^, fei t§ unter bem ©eroanbe ahfid^täloS bid^
tenber ^oÜSpoefie, fei eS in ber g^orm plant^oS arbeitenber ^unftbi^tung,
bcr 2Wcnfd)]^cit ^enntniffe Dermittelt roorbcn, in benen bag religiös cm»
pfänglid^e ©emüt gottlid^e Dffenbarungcn roa^rjune^mcn genötigt ift.
6. — 5luf bem SBobcn bc§ (S^riftcntumä ftcUt ftd^ bie Spnt^cfc
religiöfer 38a^r!^cit unb bid^terifd^cr @tn!Ieibung in einem großen SRetc^-
tum Dcrfc^icbcncr f^ormen bar: bafür ^eugcn ni^t nur bie ©leic^niffe
3cfu unb bie Allegorien bcr neuteftamentli^en ©d^riftfteUer, fonbem ouc^
mistige ^cftanbteile ber eoangelift^en Ueberlicferung, bie gmat nic^t
als I)iftorif^ mirüid^ gelten fönnen, barum aber bo(^ al^ reHgiöiS
mafir ju rocrtcn finb.
7. — S)ic rid^tigcSBcr^dltnigbeftimmung tJonSßa^r-
l^eit unb ^id^tung in unfrer 9leUgion barf ben Anfpruc^ ergeben,
einen mcfentlic^en ^Beitrag pr Apologie beS (S^l^riftentumiS a^
liefern, fofcrn fie ben unferer 3eit fidEi oufbrängenben Äonflüt gwifc^en
bem IRefpeft oor bcr gefd^ic^ttic^cn SBirflic^fcit unb bcr $iet&t gegen bie
rcligiöfe Ucberlicfcrung su fdEiIid^ten oermag. $on ben berufsmäßigen
SBcrtretem ber c^riftUrf)en ^Religion ift beg^alb eine prinzipielle ©infic^t
in biefen ©ad^ocr^alt ju forbem.
8. — ^ic f)icr oertretenc, in ber ^onfcqucns beS reformatorif(^en
©laubenSprin^ipS licgenbe ©rfcnntniS, meiere ^uglci^ eine geiftige Se^
frciung unb eine retigiöfc ©creid^crung unb ^Ucrtiefung mit fi(^ fu^rt,
muß fomcit alS möglich oon ben Scitern unb Se^rern bcr ^rc^e burc^
alle päbagogifd^ entfprcc^enben ^ttel unfern ©cmeinbenj^ug&ng'
lid| gemad^t merbcn.
fiobftein: ^al^r^eit unb ^i^tuttg in uttfrer dleligion. 511
©bcnfo ocrl^ält e§ ftd^ mit bcm rcligiöfcn ®r!enncn. @§ tritt
gunäd^ft al§ p^antaficmä^igeö Srfcnncn, ate rcligiöfc^ Sinnen auf:
bic @ottc§al|nung ift unfcre frül)cftc rcligiöfc @rtcnntni§. ©obalb
fid) bicfc^ elementare religiöfe ®rtcnnen in ber ®efct|id)te objet:»
timert, f^afft e§ fiel) eine ©arfteßung, bie nod^ ben Stempel ber
Unmittelbarfeit unb Urfprünglic^teit an ftd^ trägt; biefe ®ar*
ftcHung ^at notmenbigerroeife einen fgmbolifc^en Kl)aratter: nur
in ber ©eftalt be§ 93ilbe§ ift ber religiöfe Vorgang bem Äinber*
gemüt überhaupt erreichbar unb uerftänblidi ^).
3n biefem ©innc mu§ gefagt merben, ha^ bie SKrit^ologie
bie elementarfte gorm ber retigiöfen ®ntn)idflung ber 9Sölter bil=
bet*). 3)iefer 2lu§brudE l^at ^ier teinerlei üble 91ebenbebeutung.
®§ ift ein 93emei§ oberfläd^lic^fter aSerftänbni§lofigteit unb öbcften
<3ntelle!tuali§mu§, menn man t>axan 3lnfto^ nimmt, ba§ bie reli*
giöfen ©ebanten nid^t junäd^ft in ber ©eftatt abftratter Segriffe,
fonbern im ©eroanb poetifi^er 93ilber unb ©gmbole il^ren ®ang
burd) bie ®efd[)id^te l)alten. Unb boc^ fäHt e§ fo oielen unenb*
lid) \d)xütx bie pf^c^otogifc^e unb t|iftorifdt)e 9iotn)enbig!eit biefe§
geiftigen ^rojeffe§ einjufel^en. ®§ ift al§ ob bie gemaltige ®eifte§=
arbeit ber großen 2)enter unb gorfc^er, bie fn^ in ba§ „religiöfe
3Wt|fterium" oertieft l^aben, fpurlo§ an bcn meiften unter unferm
©efc^led^t üorübergegangen fei. SSergeblid) ^at Hamann feinen
^roteft gegen bie einfeitige ^errf^aft be§ aSerftanbe§rigori§mu§
erl^oben, roeld^er bie SEBa^r^eit nur al§ abftraften 93egriff§forma=
li§mu§ ju befi^en roatint; oergebli^ ^at ^erber auf bie ge^eim^^
nigoottcn 2:iefen ber SJoltäfeele l^ingeroiefen, au§ melc^er bie Sicbex
i^eroorquellen, bie un§ bic ©igenart be§ religiöfen unb poetifc^en
®emüt§ mit ergreifenber ^amtat offenbaren; oergeblid[) l^aben
Otfrieb aWütter bie Slnfänge ber griec^ifc^en Kultur, 9]iebut)r bie
Urfprflnge ber römifdjen ®efc^ic^te auf i^re fagent)aften 93eftanb=
teile unterfud^t, — ba§ inteBettualiftifdje SBorurteil eine§ Qz^i)iä)t^'
1) Sabatier, Esquisse d'une philosophie de la religion d'aprös la
Psychologie et Thistoire, Paris 1897, pg. 34 suiv. (bcutfd)e Uebcrfeftung
tjon Dr. Söour, ©. 27). — «Hotlie, 3ur ^ogmati! 18692, (g. 4—5.
2) Heyne: A mythis omnis priscorum hominum cum historia tum
philosophia procedit. — ©trau^, S)a§ Seben Sefu fritifd) bearbeitet, 1, 28.
512 Sobftcin: Söa^rl^cit unb ^ic^tung in unfrer g^leligion.
lofcn SRationaU§mu§ unb einer bogmatifiercnben Ort^obojie fd)eut
fic^ norf) immer üor ber 3lnnat|me, ba§ bie religiöfen ®cbanfen
unb ®rlebniffe unter ber gorm ber ®id)tung ben ®cfd)lec^tem
rote ben Sinjetnen oermittett roerben foQten. ®afür \)atte ba§
ailtertum ein beffereg aSerftfinbniS al§ unfre bur^ SRef(eyion unb
9lbftraftion ärmer geworbene Kultur. ®ort gehören 3)i(^ter unb
SBeife, Siebter unb ^rop^eten, ^oefte unb ©ottegbienft jufammen.
Vates bejei(^net jugleid) ben SBeigfager unb ben ©änger, ben
@e^er unb ben ^ic^ter. ^nd) bie altteftamentUd^en ^op^eten
finb jum größten 2ieile Stifter im engeren ober rociteren ©inn
geroefen.
SBarum foftet e§ felbft mand^em ©ebilbeten immer no^ fo
oiel SWü^e, flc^ in biefe ©ad)lage ^ineinjufinben ? Sffiarum roür=
ben fic^ bie meiften nod) fd^uen, bag SEBort eineg ber freiften unb
frömmften Sl^eologen be§ oorigen ^f^W^^^^^t^ nac^iufpredjen ?
„@§ getiört, fagt 9?otl^e, rocfentli^ mit jur aSoKfommenlieit ber
SReligion, alfo anä) ber c^riftlid^en, eine ajigt^ologie, eine religiöfe
^^antafteroelt gu ^aben" '). — Offenbar roeil man fic^ über bas
333efen unb bie ©igenart ber 2)id)tung in it)rem 9Ser^aItni§ jur
SReligion nic^t flar ift. @inmal erblicft man in foId)en 3)ic^tungen
nur SQSerte ber aOBillfür unb ber Süge, blo^e ^abtUx, bie in i^rer
©ntftel^ung unb il^rem ©efamtc^aratter ba§ Urteil i^rer Ißcrroerf-
li^fert unb itirer SBerbammnis; mit ftd| führen. 3«"^ jrocitcn
überfielt man, ba§ ber 2lnalogiefcfttu§ oon ben au^erbiblifc^en
retigiöfen 3)ic^tungen auf bie Ueberlieferungen be§ alten ober neuen
Jeftamentg nur bie S«^^"^ "^^ ®rfcl)einung ber ©ct)öpfungen ber
^^antafie betrifft: über 3^nt)alt unb SBert folcI)er 3)ic^tungen ift
burc^ jenen 2lnalogiefc^lu| nod) ni(^tg au§gefagt. SBei aller for=
malen 2lel|nlid)!eit ber poetifcl)en ©ebilbe befte^en jroifc^en ben-
felben, bem <3nt)alt unb bem 3Berte nad), roefentlic^e Unterfc^icbe,
bie in ber Sßerf^ieben^eit ber 9ieligion§ftufeu unb ber SReligionS*
arten begrünbet finb. 9Söltcr ober ^nbioibuen mögen in benjelbcn
?5ormen beuten, fie mögen biefelbe ©prad^e reben : in btn gleidjen
formen lebt nid)t ber gleid^e ^n^alt, bie oerroanbte ©prac^e birgt
ni^t ben felben ®eift.
1) 31. a. D. @. 5.
Sobftcin: SBafirl^eit unb ^id^tung in unfrer 9teIigion. 513
S)icfc§ nad^juiDcifcn unb ju bcgrünben, fott in bcn folflenbcn
Stu^fütirungen pcrfuc^t rocrbcn. ^n bem aWa|e al§ un§ bicfer
Sßcrfud) gelingt, wirb e§ un§ mögli(^ fein, bas unJ^eimlidie @e=
fpenft, ba§ in ben ©emütern fpu!t unb hm rebli^ften ^erjen
oft namenlofe Slngft einjagt, enbgültig ju befc^roören unb ju
bannen.
2luf bem 93oben ber 9ft a t u r r e I i g i o n e n betätigt fic^ ber
religiöfe Jrieb in ber bid)terifd|cn ^^erfonifitation ber 9laturfräfte.
Ser fmnlidien ^^antafie ber auf biefer ©ntroidtfung^ftufe fte^en=
bcn aSölEer gelten bie äußeren SJiaturobjettc niemals ate blo^ fmn*
lidje ®inge, fonbern al§ befeelte SBBefen. Stuf biefer ©igentüm*
Iirf|teit berut)t bie ®ramatifierung ber ^taturnorgänge, nor allem
ber ^immel§erfd)einungen. 2)ie periobifi^ n)ieberfet)renben, i^äufig
beobad)teten ^^änomene t)erbid)ten fic^ ju einmaligen, an einem
beftimmten Ort, ju einer beftimmten Qni gefc^e^encn, unmieber*
^olbaren SSorgängen. :3eben Slbenb ge^t bie ©onne im glühen-
ben geuermeer it|rer ©trat)len unter: nur einmal ftirbt ^eraffeg
inmitten ber g'^"^"^.^^ ^^^ ^on il^m felbft angejünbeten Sctieiters
l|aufen§. ©o ooUjie^t fid) bie 3tnfd)auung unb bie nod| inein*
anber flie^cnbe religiöfe unb miffenfd^aftlidie @rf (ärung ber SJlatur
in ber ©eftalt be§ S^aturmgt^u^. 2)erfelbe mac^t fic^ aümät)lid)
al§ tatfäd)lic^e§ @reigni§ geltenb, unb im Seiuu^tfein ber folgen-
ben @efd)led)ter erlifc^t bie ©rinnerung an Urfprung unb Eigen-
art ber Äräfte ober ber ^^änomene, burd) welche bie poetif(^en
©ebitbe oeranla^t ober gefd)affen mürben *).
Snnerl^alb ber gefc^id)tlid|en ^Religionen f ommt
bie bid)tenbe ^^antafic nid)t jur 9tu^e^); fie t|at e§ aber mit
1) ©icbed, ßef)rbuc^ ber 9flcU0iongpf)iIofop^tc, 1893, ©. 5 f. A. Reville,
Prolegomenes de Thistoire des religions, 1882, p 153 suiv.
2) ^icfc ®r!cnntuig gilt auf bem ©ebictc ber ^rofanliteratur fd^on
längft als allgemein anerfannte Söal^r^cit. Sögt, bie Söemcrfungen, bie
§. @d)ul^ bereits in ber 2. 2lugg. feiner Utltteftamentlic^en ^t)eologie
11878), (5. 27—28, hierüber fcftreibt: „%k ©age Id^t unä in bag innerftc
^erj eine« S8ol!Stum3 bliden, bort bie treibenben unb bcioegenben Slräfte
fet)en, au^ benen t>a§ gefc^id^tlic^e Seben berfelben quillt. 8o finb ja in
einem Db^ffeug unb 3(c^ill bie (S;^ara!ter5Üge l&cUcnifd^er 9lrt, fo in einem
£iegfrieb u. ©agen bie ber germanifd^en 5Bolf§tümlid5!eit x)iel greifbarer
ausgeprägt ak in gefd^ic^tli^en ©eftalten biefer Söölfer".
3eitfc^rift für X^eologtc unb Ätrc^e. 14. ^aftvQ., 6. §cft. 35
530 Öobftcitt: SBal^r^eit unb ^ic^tung in iinfrer JHcltgion.
tigfeit unb ®c[unb^cit bcr ©ectc ju retten al§ aud^ bie veligiöfe
®Iauben§9en)i^^ett unb ben ^rieben be§ ^erjen§ ju beroaliren?
®iefe 5^age, bie fic^ im Oeroiffcn eine§ jeben aufridjtigen
Jfieologen mit me^v ober weniger Rtarl^eit regt, bürfen roir freu=
big bejahen, — freiließ aber nur unter ber 93ebingung, ba| roir
ben im 93or^erget|enben gefd^ilberten SÖBeg betreten. ®§ ift ber
SBeg, auf ben unfere 5Heformatoren un§ tiinmeifen, inbem fic un§
bie malere 9latur unb bie Sigenart be§ eoangelifc^en ^eil§glauben§
entljütlen. ^ft biefcr ©tauben feinem 3Q3efen nac^ ni^t ba§ gur-
mat)r^alten irgenb einer l^iftorifd^en 2^atfa^e, fonbern ba§ Ver-
trauen auf ben un§ in ®^riftu§ funbgctanen ^eilömiKen @otte§,
fo ift gerabe bamit bie SBorau§fe^ung für unfere ^^roblemftellung
unb 4öfung gegeben: ©egenftanb unferer perfönlic^en ^eilSgemife*
^eit ift nur bie göttliche DffenbarungSma^r^eit; bie @(auben§fragc
ift balier oon ben ]^iftorifd)*fritifd^en Problemen lösbar ; jene allein
ift für unfer innere^ Seben entf c^eibenb , biefe get)ört »or ba§
gorum ber SBiffenfd^aft. 3)ie Untcrfdieibung oon ^iftorifc^er
SQSirflic^feit unb religiöfer aQBat)rt)eit, bie Ueberjeugung, ta^ un§
@otte§ ©nabenmitle auc^ in formen oermittett werben fann, bie
nid)t at§ finuli(^ watirnel^mbare @reigniffe ju faffen fmb, mit
einem SBort, ber ©runbgebanfe unfrer ^^efen ift nur bie fonfe*
quente Folgerung au§ ber reformatorifc^en "^^ofition, bie aßfeitige
SInroeubung be§ eüangetifc^en ®tauben§begriff8. 9tid)t al§ ob
Suttier unb feine ®enoffen mit Harem 93eit)u§tfein biefe golge«
rung gejogen ober biefe SÄnroenbung gemacht l^ätten! ^aben fie
bod) einer fold^en ^^ageftetlung niemals in§ Stuge gefeiten. ®iefe
liegt aber nic^t§beftomeniger in ber Konfequenj be§ oon il)nen
formulierten ^rinjip§.
^n biefer ®rtenntni§ liegt jugleic^ eine geiftige 93efrei=
ung unb eine religiöfe 33ereic^erung unb SBertiefung.
@ine geiftige 93efreiung. SÖBir fmb oon bem 93anne ber ^urc^t,
— ber 'SviXii)t oor ber Äritit, erlöft. ®§ oerfcl^minbet bas; 9Wi&=
trauen, ba§ ben frommen ©Triften fonft leicht gegen miffenfc^aft^
lic^e gorfd^ung befd)teid)t. 3)ie S:t)eoIogie erfc^eint nic^t me^r ate
ein notmenbige§ Uebel, bem man ftd) fügen mu|; fic wirb ju
einer unfc^ä^baren ®abe, für bie mau banfen barf, unb ju einer
fi 0 b ft e i n : Sßa^rl)cit unb ^ic^timg in unfvcr SHcIigion. 531
bcvrlidien Stufgabe, bic man mit gutem Oemiffen unb frö^lic^em
3Wute treibt. 3)iefer t^eologifc^en 3lrbcit fd)reibeu mir nic^t Don
üornliercin it|rc 5Refuttatc t)or, mir oerlangen uon \i)x nur S33at)r-
ftoftigfeit, @t)rlicl)!eit, @rünblid)tcit, a((e (Sigenfc^aften unb 2;ugen«
ben, bic mir uon jeber anbern SBiffenfc^aft f orbern. Unb mir
^aben bie 3uoerfic^t, ba§ bje SSSibertegung ber begangenen l^xx--
tümer, bie Uebcrminbung ber bem ^Jorfc^er bro^enben ©efabrcn,
bie 2lu§fd)eibung ber Uebertreibungen, ©infeitigteiten unb 2Billfur==
fic^feiten, bie mit unterlaufen mögen, fic^ bur(^ ben fortlaufenben
^ßroaeJB ber miffenfcl)aftlic^en 2lrbeit felbft poUjiel^en merben. 9lict)t
burd) ba§ Eingreifen einer äußeren, it|r fremben 2lutorität, nid)t
burd) tonfiftoriale ober fijnobale 9)lad)tfprüd)e, fann l^ier geholfen
merben. SWau vertraue ber ber 5löiffenfd)aft immanenten Jlraft;
biefe übt bie ftrengfte, unbefted^Iidjfte, jule^t erfolgreic^fte Äritif;
fte mirb. fid) al§ bie läuternbe unb flärenbe, aU bic befeftigenbc
unb pertiefenbe aJlad)t bemäl^ren. ^at nicl)t ber Sibel* unb öa*
belftreit biefe immer no(^ oerfannte, barum aber nic^t minber un=
leugbare SSSatirticit auf§ neue beftätigt unb ittuftriert? <3[ft ni^t,
aix^ allen 93erf)anblungen für unb miber, ber Dffenbarung§c^arat*
ter be§ Sllten Seftamente§ für benjenigeu mit überjeugenber Jltar^
f)eit fieroorgegangcn, ber ber religiöfen Sigenart ber propl)etif(^en
93erfünbigung ein empfänglid)e§ ®emüt entgegenbringt?
SBo biefer tongeniale ©inn mirflic^ lebenbig unb rcgfam ift,
tann er burc^ feine a83iffenfd)aft jerftört merben. SSictmefir ge^t
bie geiftige Befreiung nid)t ot|ne religiöfe 93ereid)erung unb SBer-
tiefung. ©el|en mir un§ bod) fc^lie^Iic^ auf bie Slarbinatpuntte
unferer 9teIigion jurücfgcmorfen. S33o ber rationaüftifd)e ober
ortl)obofiftifc^e 3nteße!tua(i§mu§ eine Verarmung unb eine SSer*
ftümmelung be§ ©uangelium^ erblidt, bürfen mir eine S^onjentra^
tion be§ ®tauben§ auf ba§ aBefent(id)e ,unb Unoergängli^e be=
grüben, äöic oft fönnte aud) ber tt)eoIogif^en SIrbeit ba§ SBort
entgegengel)alten merben: „S)u ^aft uiet ©orge unb 3)lüt)e! 6in§
aber ift not!" ^ei( un§, menn bie§ ®ine mit ftet§ mad)fenber
Äraf t unb Klarheit fid) un§ erfdjlie^t : bie SRebuf tion, bie barau§
crmäc^ft, ift ni^t SBerluft, fonbern ©eminn!
aSeretirte ^erren! Siebe 33rüber! 21I§ eoangetifd)c ©Triften
36*
532 So bft ein: 2Ba()rt)eit unb ^i^tung in unfret SHeligion.
tiegcn wir bie Uebcrjcugung, ba§ bcr @an^ unfcrer tt|coIogifcf)cn
ffiiffenfc^aft ni^t ©ad)c leeren BufattS ober blinber ©ittfür ift,
Jonbern bei aßen ^ftrungen unb S^äufc^ungen ber ©injelnen, SBei^^
fungen folgt, bie Oott fetber in ben Jatfadjen ber ®efd)t(^te un--
ferm ©efc^lec^te erteilt. 2Ba§ un§ bie innere ^reubigteit ju un*
ferm 93crufe ftet§ auf§ neue erjeugt unb oerbürgt, ift bie lieber-
jeugung, ba& ®ott nicl)t nur überhaupt im SHegimente fi^t unb
alles njoi^l fütirt, fonbern ba§ roir biefen roeltüberroinbenben 93or*
fel)ung§glauben a\xi) auf ba§ Meine unb enge gelb unfrer Slrbeit
anroenben bürfen. SBie befc^eiben biefe aud) fein mag, mit roel*
d^en SKängeln fie bel^aftet fei, Oott mei^ fie fo ju oermerten, ba§
barau§ ein (Segen für bie ©aci^e feinet 9teic^e§ I>erDorgel)e. S)em
miberfpri^t jmar oft genug ber in bie 2lugen falleube ©d)ein.
SSernel^men @ic I)ierüber bie SEBorte eine§ 5!Ranne§, ber nic^t ju
ben 55ül)rern ber tritifc^en Ji^eologie ju jälilen ift : „@§ gehört ju
ben aSegen ®otte§, ba| er bie größten ©aben, bie er feiner ®c*
meinbe ober feinen einjelnen Äinbern fc^enten will, in ein mög=
lic^ft unanfef)nlic^e§ ©eroanb ju tleiben unb barunter ju ocrfteden,
\a ein religiöfes ^lu^ unter ber gorm eineS fct)einbaren 9Kinu§
barjubieten liebt. ®er größte gortfd)ritt be§ SReid^eS ©otteS ift
felbftoerftänblid^ in ber ©rfc^einung (J^rifti gegeben. 2lber beren
erfter ©inbrurf mar, ba^ fie weit hinter ben ©rwartungen bcS
aSolI§ Sfrael gurüdblieb. i^cin SUleffiaS in äußerer ^errlid)teit,
fein irbifc^ glanjooDeS SReic^, feine ©rleid^terung ber fd^meren
fojialen unb politifc^eu ^JJöte. 2tber richtig betrad)tet blieben bod)
bie I)errlid)ften 3wfu"ft^^ill>^^ i>^^ Sllten 2:eftament§ weit jurüct
hinter bem, \va§ in ber unfc^einbaren ©eftalt biefc§ 3efu§ üon
Slajaretl) gegeben war. ^^inter einem fd)einbaven 9Äinu§ ein un-
au§benfli^e§ ^lu§. 5lid^t anberS jur 3cit ber Sieformation : wie
oiet mu|te ber römif^e ©l^rift üon bem brangeben, wa§ er für
wefentlid^e ©üter ber ^irc^e gel^atten l^atte ! Slber wenn er e§ tat,
jeigte fi^, bajs biefe§ fc^einbare 2Winu§ aufgewogen würbe burrf)
ein gewaltige^ religiöfeS ^lu§, ba| er nidtjt oerlor, fonbern ge*
wann, ©o aucf) je^t"^). ^ft e§ Selbftüber^ebung, wenn ©ric^
^aupt biefe SQSorte gerabe auf bie tl)eologifd|e Slrbeit ber ®egen=
1) §aupt, %xz SBebeutung ber ^eiligen ©rf^rift für h^n coangeCifc^en
fiobftcin: SBa^rl^eit unb %id)tnnq in unfrer 9len0ion. 53B
iDart anmcubet? Qc^ bcnfc nii^t: c§ lüirb fid) oiclmel)r tierauS-
ftcKcn, ba| bicfclbc bic unoeräu^crli^en ^»»tereffcn bc§ CDongcli*
)rf)cn ^ril^gtaubeng ui^t nur wa\)xt, fonbcrn in weiterem Umfang
unb in DoÜerem 3JlaJ3e jur ©cltung bringt.
Oft bieg unfre tief begrünbetc Ueberjeugung, fo fteüt fic^ uu§
f)iermit eine 21 u f g a b e , auf roetd^e nod^ f urj l^ingemicfeu roer^
ben mug.
5löeld^e§ war ba§ bi§t|er gemonncne @rgebnig? Unfre 93i6el
entt)ält S)i^tungen üerfc^iebenfter 2lrt unb in mannigfattigfter
g^orm, 3Jlt)tt|en, in benen bie religiöfe ?ßt)antafie bie @el)eimniffe
be§ Seben§ ju beuten unternatim, (Sagen, bie felbft „bie 3)eutung
ber ©efd)ic^te in gefd)id)tlid^er ©infleibung" barbieten, Schöpfungen
ber (Sinbilbungsitraft gottbegnabeter 2)ic^ter, bie l)ö^ere SDäa^rbeiten
einbringlid) jum 3lu§brudE bringen wollten. SDiefe ®id)tungen
gel)ören mit jum SBertoollften, n)a§ un^ bie i). (Sct)rift überliefert
^at. S8on i^nen gilt erft red)t, ma^ ^äufig auf bem ©ebiete ber
fog. ^^rofangefc^icf)te unb Literatur mieber^olt worben ift: „Sagen
finb ba§ föftlirf)fte ©ut, ba^ ein antiteg »olü überf)aupt befi^t,
unb fie befonber§ finb imftanb, bie ©ebanfen ber Sieligion au^-
äufpred)en" ^).
3)iefe ©rfenntniffe l)aben mir Jlieologen uicf)t für uu§ ju be==
l^alten. SBollten wir fie unferm @efcf)lec^te vorenthalten, fo loür*
ben wir an il)m ba§ fd)merfte Unrei^t beget)en, ja mir mürben
bie bro^enbften ©efal^ren herauf befd)mören. @g ift gerabeju un=
erträglicl), ba^ in ber Rivd^t nid)t al§ aDBaI)rt)eit anerfannt mirb,
ma§ auj^erl^alb ber Kirct)c jeber fac^tunbige 9Äenfct) al§ felbftoer*
ftänblic^ unb einfad) ermiefen annimmt. Unfre ©emeinben ^aben
ein 9led)t barauf, ba^ itjuen bie Siefultate einer ftrengen unb
reinen 9teligiongmiffenfd)aft bargeboten merben, unb ba^ fie bafür
empfänglid) finb, mer mollte e§, nad) ben Srfal^rungen ber legten
^a^re, in Slbrebe ftellen? @g l^at fid) gejeigt, ba§ unfer aSolt,
bei aller (£nttird)lic^ung unb @ntc^riftlid)ung, ben fragen, bie fid)
(S^f)riften, S8ieIefe(b=Seipaig 1891, ©. 15-16; Söubbe, SSaä foK bie ®e=
mcinbe au§ bcm ©treit über 93ibel unb JBabel lernen? <5. 5—6.
1) ®un!er, .3frael unb 93abi)lomen, @. 20.
5.^ Sobftein: 9Ba^t{)eit unb ^ic^tung in unferer IHeHgton.
auf unfrc 33i6cl bcjlc^cn, nid^t gicidjgültig ober gar fciubfelig
gegenüber fteljt. ^mmer beutlid)cr wirb ein Verlangen nac^ ©e=
le^rung laut, ba§ mand)cn bie freubigfte Ueberrafd)ung bereitete,
allen aber, bie 2tufgabe, bie un§ obliegt, bringenb jum 93ew)u|t=
fein bringt^).
®enn bie 2lufflärung über biefc ©egenftänbe mu| oon ben
Seitern unb Se^rern ber Äird)e felbft au^ge^en^). ©ie oUein fmb
imftanbe, äugleid) pietätooU unb frei bie ^eilige ©i)mbolif ber
Ueberlieferung ju interpretieren unb unfre Saien jum geid)ic^t=
lidjen unb religiöfen 3Serftänbni§ unfrer biblifdjen unb firct)lic^en
Jrabition 5u erjie^cn. Sun loir l)icrin unfre ©c^ulbigteit nic^t,
fo wirb fid) bic§ Sßerfäunuiig ■fd)n)er genug räd^en. 3)ie Slrbeit,
bie loir au§ ben ^änbcn geben, loirb bem frioolen treiben einer
oerftänbnigtofen 3Jlaffc antieimfallen, bie nid)t innerlid) befreienb
unb religiös erbaucnb, fonbern nur brutal jerftörenb loirfen tann.
§at nid)t ber n)ot)lfeile §ot|n, ben 93oltaire auf bie ®enefi§, ba§
1) &5rftcr, G^. 9Ö. 1902, ©p. 189; ®un!el, a^. 2Ö. 1903, ©p. 122;
Siauftfc^, Jöibelu)iffcnfd)aft unb Dtelifliongunterridit, 1903^ 30-31;
®un!el, 3frael unb ^abi)lomen 2ö.
2) ^iefe Slufgabe würbe ^wax mit oerfc^icbencn SJ^obififationcn unb
in abfleftuftcr Söcife, aber boc^ in oöUigcr CSin^cüigfeit oon ben SJtitgUe^
bem ber ^^Jaftoralfonfercn,^, bie fid) juni Söorte melbeten, anerfannt 2)ie
Sc^wierißfeiten, bie ber ©rfüdung biefer ^ßflicf)t im äöege flehen, lourben
babei nic^t untetfc^ä^t: eS fei bie^atfac^e nidjt auS ber Seit ^u fc^affen,
ha^ für baö 5Jerftdnbni§ biftorifd^er fragen eine gemiffc ^iftorifc^c SBiI=
bung nötig ift, bie nic^t jeber ^aben fann, unb ba^ e^ o^ne biefe $or*
au^feftung unmöglich ift, geioiffc (^rfenntniffc in fruchtbarer 2Beife ju oer?
mittein. SS^ie oiel übrigens auf t>k perfönlic^e SteUung be§ C^eiftlic^en
5U feiner öemcinbe anfommt, lourbe mit $Rcc^t betont: e§ fei boc^ einiger-
maßen oerftönbigen unb ni^t aufgelegten eoangelifc^en ^aien bie (^inr^ci^t
^ujutrauen, baf? ber ^$farrer oermöge feiner befonbern 3-acf^bilbung ^ier
für fid) ^4^robIeme ju tragen unb ju oerarbeiten i)at, bie für anbere boci^
nur von fefunbäreni Qntereffe fmb. JJüliren mir unfere ßu^örer in boö
Zentrum bin^i"/ in ba§ C^ine, roasJ not tut, bann werben fte un3 Dcr*
trauen, wenn mir an ^iebenfad^en Äritil üben. Se^r einleuc^tenb mar
bie ^ilnalogie, bie oon einem ber 9icbncr t)erüorget)oben mürbe, ^mifc^en
ber Stellung be§ ®eiftlid)en ju ®efd)ic^ten m9tl)ifd)en 3nl)alti^, unb ber
Steüung yutl)er§ ju ben öebräudjen, ©eiligenbilbcrn, SHeliquicn ber fat^o^
Uferen kir^c, oon benen er fagt, baß man fie betjalten fönne, wenn nur
bie Ceutc xf)x 5ßertrauen nic^t barauf feften.
Sobftein: fBaf)xf)z\t unb Xid^tung in unfrcr Dteligion. 535
^ona^bnd) unb anbvc aSeftanbteile bcr 93ibel auSgcgoffcn I|at,
feine befte 9tal^rung au§ bcr tvabitioneßcn SSorau^fe^ung pon ber
budiftäblid^en aBirHicf)fcit jener Ueberliefcrungen gejogen?
(£§ ftet|t mir nidjt ju, im einjeluen bie 3WitteI anjugeben,
roie biefe 9lufgabe ju töfen ift. ©rfreulidie Slnfänge finb aUerort§
im ©ange. 3wnä(^ft lüirb e§ oline Unfi^ertieit, n?ol|l aud) otine
aÄijsgriffe nid)t getin, e§ barf un§ aber biefe ®rfa^rung nic^t an
unfrer ^^ftic^t felber irre machen. 3)lit ber 3?W9^i^b i)öt|erer fiel)r=
anftatten wirb ju beginnen fein, unb xvix fegnen bie Set)rer, bie
ernft unb geroiffenl^aft biefem Berufe religiöfer 93efreiung unb
Vertiefung fic^ lüibmen! 3)en ®rn)ad)fenen gegenüber finb jufam*
menl^ängenbe 9}or träge unb populäre ®d)riften ber geroiefene, be*
reit§ burd) @rfo(g empfot)Iene 3Beg. ®a| bie ^anjel jur 93el^anb*
lung fold^er fragen nid)t ber geeignete Ort ift, mu§ im alfge:«
meinen feftgel^alten merben. 2lber aud^ bie eoangelifd^e ^rebigt
wirb mittelbar uon ber geläuterten unb vertieften SReligion^er=
tenntni§ reidjen ©eminn gießen. 2^atfäc^lic^ mirb aud) ber ort^o^
bofefte ^^Jrebiger bie oon i^m aU mirflid) angefe^ene Ueberliefe^^
rung praftifd^ fo uermertcn, ba§ er bie religio^- fittlid)e SJBa^rlieit
berf elben geltenb mad)t ; er wirb alfo in biefer 93ejief)ung Dor bem
fritifd) gefc^uUen @eiftlid)en nid)t§ üorau§ l^aben. 3)iefer ^at
feinerfeit^ ba§ JHec^t, an bie Ueberlieferung aujufnüpfen unb bie*
felbe fo JU be^anbeln, ba^ fofort \>a^ SDSefentli^e be§ religiöfen
Offenbarung§get|aIte§ burd) ben (5d)teier ber poetifd)en ©intleibung
t)inburd)Ieud)te. 2)a§ ift feine unreblid^e SMftommobation , feine
boppelte S3uci^füt)rung ; benn burd) ein foId)e§ aSerfat)ren feiert ja
ber Sfiebner ju bem urfprünglid^en Äern ber Ueberlieferung jurüdt,
er wirb ber eigentlidjen 93ebeutung berfelben gered)t, er mad)t
mieber bie 2:riebe lebenbig, au§ meld)er bie bic^terifd)e gorm l)er^
oorgemac^fen ift. 33eiberfeit§ aber mirb bie SBerfünbigung be§
®oangelium§, befreit üon fritifc^en ©orgen unb apologetifd)en ^Se-
ftrebungen, in it)rer religiöfen ©igenart jur oolten ©eltung fommen
fönnen. 2)enn beiberfeit§ fann bie Ueberjeugung gleid) lebenbig
fein, ba^ ® o 1 1 ju ben ^erjen ber SWenfdjen rebet, ob burd^ bie
Sßermittelung tatfäc^lid^en @efd^ef)eng, ober burd^ bie ^ülle fgut^^
bolifc^er ®id^tung.